Johann Schmid Die Dialektik von Angriff und Verteidigung
Globale Gesellschaft und internationale Beziehungen Herausge...
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Johann Schmid Die Dialektik von Angriff und Verteidigung
Globale Gesellschaft und internationale Beziehungen Herausgegeben von Thomas Jäger
Johann Schmid
Die Dialektik von Angriff und Verteidigung Clausewitz und die stärkere Form des Kriegführens
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Frank Schindler | Verena Metzger VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18085-4
Inhalt
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Inhalt
Vorwort: Entstehungsgeschichte und persönliche Motivsetzung
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Inhaltliche / methodische Vorbemerkungen
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1 2 3 4 5
19 20 20 22 23
Hintergrund Ziel Mittel: Vorgehen, Gliederung, Methodik Stand der Forschung Zweck: Praktische Relevanz und ein besseres Clausewitzverständnis
I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
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32 33 34 35 37
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Der chinesische Kriegerphilosoph Sun Tsu (ca. 500 - 300 v. Chr.) 1.1 Hintergrund 1.2 Vorteile der Verteidigung 1.3 Vorteile des Angriffs 1.4 Abschließende Bewertung Friedrich II. als Vollender absolutistischer Kabinettkriegführung (1712 - 1786) 2.1 Hintergrund 2.2 Offensive Grundausrichtung 2.3 Betrachtung der Defensive 2.4 Abschließende Bewertung Napoleon Bonaparte und die französische Revolutionskriegführung (1769 - 1821) 3.1 Hintergrund 3.2 Dominanz des Offensivdenkens 3.3 Abschließende Bewertung Ergänzende Betrachtung 4.1 Hintergrund: Kriegführung in der Renaissance 4.2 Hintergrund: Französische Revolutionskriegführung 4.3 Hintergrund: Engels Militärische Schriften 4.4 Hintergrund: Deutsche Einigungskriege 4.5 Hintergrund: I. Weltkrieg 4.6 Hintergrund: II. Weltkrieg 4.7 Hintergrund: Golfkrieg 1991 4.8 Hintergrund: Cyber War
38 39 40 42 44 46 46 48 55 56 56 57 57 58 59 60 60 62
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Inhalt
4.9 Hintergrund: Schach 4.10Hintergrund: Terrorismus, das offensive Kampfmittel des Schwachen Kontroverse Diskussion: Zusammenfassung des Ergebnisses
II. Kapitel: Verständnis der Clausewitzschen These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ 1
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Begriffsbestimmung von Angriff und Verteidigung 1.1 Angriffs- / Verteidigungsmittel 1.2 Begriff und Merkmal 1.3 Zwecksetzung 1.4 Wechselwirkung von Angriff und Verteidigung Ganzheitlich dialektische Methode und Anspruch auf logische Konsistenz 2.1 Logik 2.2 Dialektik 2.3 Interpretationsproblem Grad der Verbindlichkeit 3.1 Unverbindliche Meinungsäußerung 3.2 Gesetzescharakter 3.3 Häufigkeit des Sieges 3.4 Grundsatzcharakter 3.5 Ergebnis Anspruch auf zeitlose Gültigkeit 4.1 Vermeintliche Aktualität 4.2 Selbstverständnis seiner These 4.3 Zeitgebundenheit 4.4 Anspruch auf zeitlose Gültigkeit 4.5 Inhalt und Methode 4.6 Ergebnis Ebenenspezifische Einordnung der These (Strategie, Taktik, Politik) 5.1 Taktische / Strategische Ebene 5.2 Politische Ebene Ätiologie der Clausewitzschen These 6.1 Politische Herausforderung 6.2 Eigene Kriegserfahrung und Auswertung des historischen Erfahrungsraumes 6.3 Kritische Distanz zum herrschenden Denken seiner Zeit 6.4 Theoretische Hintergründe
63 64 65 67 68 69 70 72 78 88 88 92 95 96 96 98 100 100 104 105 105 107 108 113 115 116 117 117 119 121 122 122 123 125
Inhalt
7 8
Mögliche Auswirkungen der Tatsache, dass das Werk „Vom Kriege“ unvollendet blieb Verständnis der Clausewitzschen These: Zusammenfassung des Ergebnisses 8.1 Begriffsbestimmung 8.2 Methode 8.3 Hintergrund
III. Kapitel: Kriegsgeschichtlich / empirische Betrachtung der Clausewitzschen These 1
2
3
Angriff aus Schwäche: Offensive am Isonzo 1917 1.1 Ein Sieg 1.2 Der Entschluss 1.3 Der Widerspruch 1.4 Angriff als die stärkere Form 1.5 Mögliche Einwände 1.5.1 Der Kulminationspunkt im Angriff 1.5.2 Deutsche Verstärkung 1.5.3 Resultat Besser „Praevenire als Praeveniri“: Der Sechstagekrieg 1967 2.1 Der Präventivangriff als Widerspruch zur Clausewitzschen Theorie 2.2 Israels Präventivangriff 2.3 Angriff als die stärkere Form 2.4 Ergebnis 2.5 Mögliche Einwände 2.5.1 Geostrategische Lage 2.5.2 Politische Zwecksetzung 2.5.3 Abwarten als Möglichkeit? 2.5.4 Resultat Kriegsgeschichtliche Betrachtung: Zusammenfassung des Ergebnisses
IV. Kapitel: Kritische Analyse und Bewertung der Clausewitzschen Argumentation 1
„Natur der Sache“ 1.1 Der negative Zweck als Stärke 1.1.1 Großer Zweck erfordert mehr Kraftaufwand 1.1.2 Erhalten leichter als Gewinnen? 1.1.3 Negative Zwecksetzung nur in der Verteidigung?
7
126 128 129 131 133 135 137 137 138 141 143 147 147 149 150 152 152 154 155 159 160 160 161 162 162 163 167 168 168 169 170 172
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Inhalt
1.1.4
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Verteidigung, die sich nicht mit der Zwecksetzung des Erhaltens begnügt 173 1.2 Vorteil des Abwartens 175 1.2.1 „beati sunt possidentes“ 176 1.2.2 Zeitgewinn 178 1.2.2.a Verteidigung in der Offensive 178 1.2.2.b „Abwarten“ als Vorteil des Angriffs 179 1.2.2.c Zukunft 180 1.2.2.d Überraschung 181 1.2.3 Einseitige Betrachtungsweise 181 1.2.4 Mangelnde Entschlossenheit 183 1.2.5 Entschleunigung / Siegverweigerung 185 1.2.6 Fazit 186 1.3 Zusammenfassung / Ergebnis 186 Logik 190 2.1 Mangelnde Folgerichtigkeit des Schlusses 191 2.2 Fehlerhaftigkeit einer Prämisse 192 2.3 Angriff als die zu bevorzugende Form des Kriegführens? 192 2.4 Zusammenfassung / Ergebnis 194 Die „Prinzipe des Sieges“ 196 3.1 Die „Prinzipe des Sieges“ als Begründung der „größeren Stärke der Verteidigung“ 196 3.2 Gesamtstruktur der Argumentation / Dogmatismus 197 3.2.1 Erstes Auswahlkriterium: „Willkür des Feldherrn“ 198 3.2.2 Zweites Auswahlkriterium: Besondere Beziehung zu Angriff und Verteidigung 199 3.2.2.a „Überlegenheit der Zahl“ und „Übung“ 200 3.2.2.b Initiative 202 3.2.3 Zusammenfassung / Ergebnis 205 3.3 Überraschung 206 3.3.1 Überraschung als das erste „Prinzip des Sieges” 206 3.3.2 Kritik der Clausewitzschen Argumentation 208 3.3.3 Zusammenfassung / Ergebnis 211 3.4 Vorteil der Gegend 212 3.4.1 Vorteil der Gegend als das wichtigste Prinzip des Sieges 212 3.4.2 Erste Voraussetzung 214 3.4.3 Zweite Voraussetzung 216 3.4.4 Hindernis des Zugangs 217 3.4.5 Nutzung des Beistands der örtlichen Lage 219 3.4.5.a Auswahl des Geländes 219
Inhalt
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3.4.5.b Vorbereitung des Geländes 220 3.4.6 Zusammenfassung / Ergebnis 222 3.5 Anfall von mehreren Seiten 226 3.5.1 Der Anfall von mehreren Seiten als das dritte Prinzip des Sieges 3.5.2 Kritik der Clausewitzschen Argumentation 226 3.5.3 Zusammenfassung / Ergebnis 229 3.6 Beistand des Kriegstheaters, Beistand des Volkes und Benutzung großer moralischer Kräfte 230 3.6.1 Die drei Hauptprinzipe der strategischen Wirksamkeit 230 3.6.2 Kritik der Clausewitzschen Argumentation 231 3.6.3 Zusammenfassung / Ergebnis 237 3.7 Die Prinzipe des Sieges: Zusammenfassung des Gesamtergebnisses 239 Der Gegenangriff 239 4.1 Unvorteilhafte Verteidigung als Hauptnachteil des Angriffs 239 4.2 Erster Einwand: Gegenangriff als Stärke der Verteidigung? 241 4.3 Zweiter Einwand: „Unvorteilhafte Verteidigung“ als potenzielle Stärke des Angriffs! 241 4.4 Gegenangriff ist Angriff 242 4.5 Zusammenfassung / Ergebnis 243
Schlusswort: Zusammenfassung / Ergebnis / Thesen
245
1 2 3
245 250 252
Zusammenfassung Ergebnis Thesen
Literaturverzeichnis
258
Anhang
272
Inhalt
11
„Daß die Verteidigung leichter sei als der Angriff, ist schon im allgemeinen bemerkt, da aber die Verteidigung einen negativen Zweck hat, das Erhalten, und der Angriff einen positiven, das Erobern, und da dieser die eigenen Kriegsmittel vermehrt, das Erhalten aber nicht, so muß man, um sich bestimmt auszudrücken, sagen: die verteidigende Form des Kriegführens ist an sich stärker als die angreifende.“ (Carl von Clausewitz: Vom Kriege. VI, 1, Mit historisch kritischer Würdigung von Prof. Dr. Werner Hahlweg, Bonn 1980, S. 615)
„Nicht was wir gedacht haben, halten wir für einen Verdienst um die Theorie, sondern die Art, wie wir es gedacht haben.“ (Hinterlassene Werke des Generals Carl von Clausewitz über Krieg und Kriegführung, Bd. VII, Berlin 1835, S.361; vgl. Dietmar Schössler: Carl von Clausewitz. Hamburg 1991, S. 136)
„... denn mein Ehrgeiz war, ein Buch zu schreiben, was nicht nach zwei oder drei Jahren vergessen wäre, und was derjenige, welcher sich für den Gegenstand interessiert, allenfalls mehr als einmal in die Hand nehmen könnte.“ (Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Vorrede, S. 175)
Vorwort: Entstehungsgeschichte und persönliche Motivsetzung
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Vorwort: Entstehungsgeschichte und persönliche Motivsetzung
Als ich vor gut zwei Jahrzehnten, zu Beginn meiner Offizierausbildung, erstmals eine Ausgabe des Werkes „Vom Kriege“ erstand, war mir der Name „Clausewitz“ nur durch Zitate und Bezugnahmen auf seine Theorien in verschiedenen militärischen Publikationen bekannt. Ich erstand das Werk des preußischen Generals und Kriegsphilosophen eher beiläufig, da ich es zufällig im Regal einer Buchhandlung stehen sah, und der Meinung war, dass man so etwas als angehender Offizieranwärter gelesen haben sollte. Während ich zunächst, eher skeptisch nur einzelne Kapitel des Werkes, die mir besonders interessant erschienen, las, entwickelte ich sehr bald ein großes Interesse für den Autor, seine Theorie und Methode, welches sich, je mehr ich mich in seine Gedankengänge vertiefte, zunehmend weiter festigte. Ein Buch über den Krieg von dieser Art und Qualität hatte ich bis dahin, nicht kennen gelernt. Da ich mich seit geraumer Zeit mit Geschichte und Theorie des Krieges beschäftigt hatte, begann ich Clausewitz systematisch durchzuarbeiten und seine Theorien mit den erworbenen Kenntnissen zu vergleichen. Dadurch sind mir eine Vielzahl von Gedanken und Überlegungen im Kontext von Krieg und Politik verständlicher geworden, und ich entdeckte Zusammenhänge, die mir bisher nicht bewusst waren. Einer dieser Zusammenhänge war die dialektische Wechselwirkung von Angriff und Verteidigung. Hierbei stieß ich insbesondere auf die von Clausewitz formulierte These, wonach die Verteidigung die an sich „stärkere Form des Kriegführens“ sei. Ich hatte den Eindruck, dass Clausewitz dieser These große Bedeutung beimaß, da er sie häufig wiederholte und auf unterschiedliche Art und Weise zu begründen versuchte. So sehr ich mich auch darum bemühte, konnte ich diese Behauptung dennoch nicht nachvollziehen und meinte, in der Begründung derselben einzelne argumentative Unschärfen entdeckt zu haben. Zudem stellte ich mir die Frage, ob der preußische Kriegsphilosoph in diesem Zusammenhang seiner eigenen so charakteristischen, antidogmatischen Methode treu geblieben sei. Ohne hierauf zunächst eine Antwort zu finden, setzten sich diese Überlegungen mit einem großen Fragezeichen versehen bei mir fest. Einen neuen überraschenden Aufschwung erhielt der Gedanke, als ich mich etwa anderthalb Jahre später, meine künftige Verwendung als Zugführer in der Kampftruppe vor Augen, mit Erwin Rommels Kriegserfahrungen aus dem I.
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Vorwort: Entstehungsgeschichte und persönliche Motivsetzung
Weltkrieg, die er unter dem Titel „Infanterie greift an“ veröffentlicht hatte, beschäftigte.1 Dabei untersuchte ich unter anderem die Zwölfte Isonzooffensive an der Alpenfront des Ersten Weltkrieges. Die Entscheidung der deutschösterreichischen Führung im Oktober 1917 zum Angriff überzugehen, weil sie glaubte für eine Verteidigung zu schwach zu sein, schien mir mit der Theorie von Clausewitz nicht nur nicht erklärbar, sondern in klarem Widerspruch zu dieser zu stehen. Wie kann sich eine Krieg führende Partei, die gemäß der Überlegungen von Clausewitz die Verteidigung als die „stärkere Form des Kriegführens“ betrachtet, sinnvoller Weise für die „schwächere Form“ - den Angriff - entscheiden und damit durchschlagende Erfolge erzielen, wenn sie andererseits für die vermeintlich „stärkere Form“ - die Verteidigung - zu schwach ist? Oder, um es aus dem entgegen gesetzten Blickwinkel zu betrachten: Wer stark genug ist, sich der „schwächeren Form des Kriegführens“ mit Erfolg zu bedienen, müsste gemäß Clausewitz erst recht stark genug sein, wenn er gleichzeitig auch noch die „stärkere Form“ wählte. Durch diese Entdeckung verstärkten sich meine ursprünglichen Zweifel an der Clausewitzschen Argumentation, und die praktische Relevanz der Fragestellung wurde mir bewusst. Ich begann daher die Ansichten anderer bedeutender Kriegstheoretiker und Feldherren hinsichtlich ihrer Vorstellungen zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung zu untersuchen. Hierbei stellte ich fest, dass sich in dieser Frage selbst die Vorstellungen namhafter Autoritäten zum Teil diametral entgegenstehen. Ich entdeckte unter ihnen nicht wenige, die, ganz im Gegensatz zu Clausewitz, den Angriff als die grundsätzlich „stärkere Form des Kriegführens“ betrachteten und mit Nachdruck für diese Vorstellung eintraten. Jedoch fehlt diesen Gedanken in der Regel eine umfassende, theoretisch fundierte Begründung. Dies alles überzeugte mich von der Notwendigkeit einer systematischen Klärung dieser Frage. Auch eine Untersuchung der verschiedenen Clausewitzinterpretationen brachte keinen endgültigen Aufschluss. Selbst angesehene Clausewitzrezensenten hatten sich dieser Frage allenfalls oberflächlich angenommen, ohne auf die diesbezügliche Argumentation des Kriegsphilosophen in ihrem Kern einzugehen oder diese gar kritisch zu hinterfragen. Daher vermutete ich, auf eine Lücke sowohl in der Clausewitzforschung als auch in der Theorie des Krieges insgesamt gestoßen zu sein. Nach diesen umfassenden Recherchen erkannte ich aber auch, welche Bedeutung dem preußischen Kriegsphilosophen in dieser Frage zukommt. Er war der erste und bisher einzige, der sich überhaupt umfassend und systematisch mit dieser Fragestellung beschäftigt und dabei eine theoretisch fundierte Begründung angestrebt hatte. Auch wenn diese nach meinem Dafürhalten eine Reihe von 1
Rommel, Erwin.: Infanterie greift an. Potsdam 1941
Vorwort: Entstehungsgeschichte und persönliche Motivsetzung
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Unschärfen enthält, schmälert dies in keiner Weise das Verdienst von Clausewitz, diese Frage überhaupt erst aufgeworfen und dazu eine Reihe von Argumenten zur Diskussion gestellt zu haben. Inspiriert von dem Gedanken, auf eine noch offene Frage gestoßen zu sein, und im Bewusstsein der Tatsache, dass Clausewitz selbst sein Werk als eine noch „ziemlich unförmige Masse“ bezeichnet hatte, die durchaus noch einmal umgearbeitet werden sollte2, hoffte ich von da an, möglicherweise einen kleinen Beitrag zur Weiterentwicklung der Clausewitzschen Überlegungen, ganz in dessen eigenem Sinne, leisten zu können. Eine neue Qualität erhielten meine Bemühungen, als ich während meines Studiums Gelegenheit erhielt, mit Professor Dr. Schössler in Gedankenaustausch zu treten. Da ich bei ihm stets ein offenes Ohr für meine Überlegungen fand, er diese jedoch sehr kritisch hinterfragte, war ich ständig gezwungen, meine Argumente zu verbessern, und es entwickelten sich eine Reihe neuer, sehr fruchtbarer Gedanken. Ich begann die Clausewitzsche Argumentation nicht nur genauestens auf ihre Schlüssigkeit hin zu untersuchen, sondern darüber hinaus auch einen Ansatz zu entwickeln, um der Frage, inwiefern man von einer stärkeren oder schwächeren Form des Kriegführens überhaupt sprechen kann, näher zu kommen. Eine Bestätigung, in diesen Bemühungen möglicherweise auf einer richtigen Fährte zu sein, erhielt ich durch einen Aufsatz des Generals von Bernhardi, welcher in einer Schrift aus dem Jahre 1911 die Behauptung von Clausewitz hinsichtlich der Verteidigung als der „stärkeren Form des Kriegführens“ zu widerlegen versuchte.3 Obwohl diese Schrift aus meiner Sicht nicht tiefschürfend genug war, und letztendlich zu einem Ergebnis führte, das mir nicht akzeptabel erschien4, war sie für mich dennoch sehr bedeutend, da ich mich in einigen zentralen Kritikpunkten an der Clausewitzschen Argumentation durch seine Überlegungen bestätigt fand. Durch zwei weitere Entdeckungen wurde ich in meinen Überlegungen bestärkt. Ich stellte mir zum einen die Frage, ob es neben dem Beispiel der Zwölf2 Vgl. Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Mit historisch-kritischer Würdigung von Prof. Dr. Werner Hahlweg, Bonn 1980, S. 179. Bei sämtlichen Bezugnahmen auf das Werk „Vom Kriege“ wird diese Ausgabe seines Werkes verwendet. Das jeweilige Buch in „Vom Kriege“ wird dabei durch römische, die Kapitel durch arabische Ziffern gekennzeichnet. Bezugnahmen auf Werner Hahlweg stammen aus nämlicher Ausgabe. 3 Bernhardi, F. v.: Clausewitz über Angriff und Verteidigung, Versuch einer Widerlegung. In: Beiheft zum Militärwochenblatt, Berlin 1911 4 Bernhardi kam zu der Schlussfolgerung, dass der Angriff eindeutig die stärkere Form des Kämpfens und Kriegführens sei. Aus Sicht eines Kavallerieführers der damaligen Zeit ist diese Schlussfolgerung insofern nachvollziehbar als sich Kavallerie als Truppengattung grundsätzlich nur eingeschränkt zur Verteidigung eignet und ihre eigentliche Wirkung erst im Angriff richtig zur Geltung bringen kann.
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Vorwort: Entstehungsgeschichte und persönliche Motivsetzung
ten Isonzooffensive noch weitere Ereignisse in der Kriegsgeschichte gäbe, die mit den Theorien von Clausewitz nicht zu vereinbaren sind. Dabei stieß ich auf das Phänomen des Präventivangriffes, welches ich am Beispiel des Sechs-TageKrieges von 1967 näher untersuchte. Welchen Sinn konnte die Entscheidung Israels haben, einen Präventivangriff - mit all seinen negativen politischen Implikationen - in dem sicheren Bewusstsein zu führen, andernfalls innerhalb kürzester Zeit selbst angegriffen zu werden, und damit den Vorteil zu erhalten, sich der vermeintlich „stärkeren Form des Kriegführens“ bedienen zu können? Meine zweite Entdeckung wurde ausgelöst durch den Clausewitzschen Vergleich des Krieges mit dem Zweikampf.5 Dieser veranlasste mich, einige persönliche Erfahrungen aus dem Bereich des Kampfsports mit in die Überlegungen einzubeziehen. Dabei schien mir ein Sachverhalt von besonderem Interesse. Ich hatte wiederholt die Erfahrung gemacht, gegen bestimmte „Gegner“, solange ich mich selbst einer defensiven Vorgehensweise bediente, wenig Chancen auf Erfolg zu haben, obwohl gerade dieses Verhalten in anderen Fällen äußerst effektiv war. Es zeigte sich jedoch, dass diese „Gegner“ häufig relativ schwach waren, wenn sie selbst aktiv angegriffen und zur Verteidigung gezwungen wurden. Hier drängte sich mir die Vermutung auf, es könne möglicherweise vom jeweiligen Einzelfall abhängig sein, ob Angriff oder Verteidigung die „stärkere Form des Kämpfens“ sei, womit eine pauschale Antwort in dieser Frage - wie sie von so vielen, sowohl in der einen als auch in der anderen Richtung, versucht wurde gar nicht möglich wäre. Diese Vermutung leitete von da an meine Bestrebungen, und ich bemühte mich, dieselbe auf eine theoretische Grundlage zu stellen oder, falls dies nicht möglich wäre, sie zu falsifizieren. Als sich mir im Rahmen meines Studiums die Frage eines Themas für eine Diplomarbeit stellte, entschloss ich mich sofort, diese Thematik weiter zu vertiefen. Ich sah darin eine willkommene Gelegenheit, meine Überlegungen einer kritischen Prüfung unterziehen zu können, weil ich gezwungen war, diese schriftlich auszuformulieren. Zudem stellte es eine Herausforderung für mich dar, eine noch weitgehend offene Fragestellung zu bearbeiten, und dabei meine eigenen Gedanken weiterzuentwickeln. Obwohl ich in den darauf folgenden Jahren auf Grund meiner militärischen Verwendungen zunächst nur wenig Gelegenheit hatte mich mit der Thematik weiterhin intensiv zu befassen, verfolgte ich die Fragestellung dennoch weiter und versuchte, auch mit einem gewissen zeitlichen Abstand und einem erweiterten Erfahrungshorizont, meine Argumentation immer wieder aufs Neue zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Dies führte neben sprachlichen und stilistischen Anpassungen auch zu einer Entschärfung einzelner in „Eifer des Gefechts“ ab5
Vgl. Vom Kriege. I, 1, S.191
Vorwort: Entstehungsgeschichte und persönliche Motivsetzung
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gegebener Bewertungen. Am Kern meiner Argumentation glaubte ich jedoch unverändert festhalten zu können. Mit den Anschlägen vom 11. September 2001 und einer Verwendung im Bereich der Sicherheitspolitik und Militärstrategie erhielten meine Überlegungen einen kräftigen neuen Impuls. Zu meinen Kernaufträgen gehörten hierbei unter anderem die Analyse und Bewertung aktueller Kriegs- und Konfliktbilder. Hierbei hatte ich mich unter anderem mit Terrorismus und anderen Formen asymmetrischer Kriegs- und Konfliktformen auseinanderzusetzen. Das gleiche galt für entsprechende politisch/militärische Gegenreaktionen Seitens staatlicher Akteure. Hierbei erkannte ich, dass Terrorismus als offensive Form gewaltsamer Auseinandersetzung, insbesondere Seitens des Schwachen, einen geradezu exzellenten Beleg dafür liefert, dass Angriff in dem betrachteten Fall selbst für den schwächsten Akteur zu der für ihn stärkeren Form der Auseinandersetzung werden kann. Der von schwachen i.d.R. nichtstaatlichen Akteuren (bis hin zu Einzeltätern) betriebene Terrorismus verdeutlicht dies besonders anschaulich, da derartige Akteure für jede andere Form der Auseinandersetzung viel zu schwach sind und sich - analog zur deutsch-österreichischen Führung an der Isonzofront 1917 gerade auf Grund dieser Schwäche, des Angriffs als der für sie stärkeren Form des Kämpfens bedienen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch die Gegenreaktion auf die terroristische Herausforderung neben defensiven Schutzmaßnahmen zunehmend auf offensives Vorgehen setzt. Präemptives und proaktives Handeln wurde hierbei zum Kernelement US-amerikanischer Antiterrorstrategie. Damit erschien mein Untersuchungsgegenstand vor dem Hintergrund tragischer weltpolitischer Ereignisse plötzlich hoch aktuell und von unmittelbar praktischer Relevanz zu sein. Neben dieser inhaltlichen Befassung ermöglichte mir diese Verwendung die Verbindung und den Gedankenaustausch mit der deutschen aber auch internationalen sicherheitspolitischen Gemeinschaft. Hierbei konnte ich feststellen, dass sich das Interesse an Kriegstheorie und damit an Clausewitz´ Werk, welches im Ausland, insbesondere in der angelsächsischen Welt immer gegeben war, sich allmählich auch in Deutschland wieder entwickelt. Damit verbunden ist die Bereitschaft sich auch auf intellektuelle Auseinandersetzungen zu kriegstheoretischen Fragestellungen einzulassen. Dies hat mich ermutigt, meine Arbeit weiter fortzusetzen um damit einen Beitrag im Rahmen dieser aufkeimenden Diskussion zu leisten. Die Gelegenheit hierfür bot sich mir am Lehrstuhl für Politikwissenschaften der Universität zu Köln bei Herrn Professor Dr. Jäger, dem ich für seine anregenden inhaltlichen Impulse, wie auch für die im Rahmen des Doktorandencolloquiums praktizierte kreative Methode der Selbstreflexion und die hieraus zu ziehenden Erkenntnisse sehr dankbar bin.
1 Hintergrund
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Inhaltliche / methodische Vorbemerkungen
1
Hintergrund
Die Dialektik von Angriff und Verteidigung und die Frage, welche der beiden „Hauptformen“ des Kriegführens und Kämpfens die „stärkere“ ist, beschäftigt politisch-militärische Denker und Entscheidungsträger zu nahezu allen Zeiten und ist eine der grundlegenden Fragestellungen in Krieg und Konflikt. Sie erfordert eine permanente Beurteilung auf allen Entscheidungsebenen und wird damit zum zwingenden Bestandteil einer jeden politisch-militärischen Lagebeurteilung und daraus resultierender Entscheidungen für praktisches Handeln. Selbst in Fachkreisen herrschen in dieser Frage jedoch die unterschiedlichsten Ansichten vor. Nicht selten wird hierbei gerade dem Angriff eine grundsätzlich größere Stärke unterstellt. Der erste und bisher einzige, der diese Frage ihrem Wesen nach, systematisch und theoretisch fundiert zu beantworten suchte, war der preußische General und Kriegsphilosoph Carl von Clausewitz. In seinem Werk „Vom Kriege“ vertritt er sehr nachhaltig die Überzeugung, dass die Verteidigung die „stärkere Form des Kriegführens“ sei.6 Diese mache einen Sieg nicht nur leichter, sondern auch wahrscheinlicher, erfordere weniger Kräfte als der Angriff und stelle damit einen sehr wesentlichen Faktor im Resultat einer kriegerischen Auseinandersetzung dar.7 Wer für den Angriff stark genug sei, behaupt er, sei es erst recht für die Verteidigung.8 Daraus folgert Clausewitz, dass der Angriff nur bei eigener physisch/moralischer Überlegenheit9 motiviert und Erfolg versprechend sei, während sich der Schwächere grundsätzlich der Verteidigung als der stärkeren Form zu bedienen habe.10 Diese Vorstellung steht im Widerspruch zu den Ansichten namhafter Autoritäten verschiedener Epochen insbesondere auch aus der Zeit des Kriegsphilosophen selbst. Die Verabsolutierung des Angriffsdenkens durch Napoleon Bonaparte ist hier im besonderen zu nennen. Gleichzeitig steht die Clausewitzsche Theorie von der größeren Stärke der Verteidigung im Widerspruch zu bestimmten, wiederkehrenden Phänomenen der Kriegswirklichkeit. Der Angriff aus 6
Vom Kriege. VI, 1, S. 615, 616 Vom Kriege. VI, 8, S. 649; VI, 9, S. 669 8 Vom Kriege. VII, 5, S. 880 9 Gemeint ist das Produkt aus physischer und moralischer Stärke. Der Begriff Moral ist hier im Sinne von Wille, Motivation und psychischer Stärke zu verstehen. 10 Vom Kriege. VII, 15, S. 615, 903, 904 7
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Inhaltliche / methodische Vorbemerkungen
Schwäche wie auch der Präventivangriff sind mit dieser Theorie nicht erklärbar und liefern einen klaren Beleg für die Unvereinbarkeit dieser Clausewitzschen These mit der Wirklichkeit des Krieges. Im Folgenden wird aufgezeigt, was mit dieser Arbeit erreicht werden soll, wie sich die Vorgehensweise hierbei inhaltlich und methodisch gestaltet und wozu die Studie letztendlich dienen kann. In den Worten von Clausewitz ist ersteres Ziel, zweiteres Mittel und letzteres Zweck der Arbeit.
2
Ziel
Die vorliegende Studie befasst sich mit dem Stärkeverhältnis der beiden Hauptformen des Kriegführens und Kämpfens, dem Angriff und der Verteidigung. Zentraler Untersuchungsgegenstand ist hierbei die These des preußischen Generals und Kriegsphilosophen Carl von Clausewitz, wonach die Verteidigung die an sich, das heißt ihrem Wesen nach, „stärkere Form des Kriegführens“ sei. Ziel der Arbeit ist es, die Stimmigkeit dieser These zu überprüfen, um festzustellen inwiefern die Verteidigung tatsächlich ihrem Wesen nach die stärkere Form des Kriegführens darstellt. Dazu soll der von Clausewitz entwickelte Theorieansatz sowohl im Lichte der Kriegswirklichkeit als auch hinsichtlich seiner argumentativen Logik untersucht und bewertet werden.
3
Mittel: Vorgehen, Gliederung, Methodik
Das Vorgehen zur Untersuchung dieser Fragestellung gliedert sich in vier Schritte, welche aufeinander aufbauen und den einzelnen Kapiteln der Arbeit entsprechen. Erstes Kapitel: Mit dem ersten Kapitel wird der eigentlichen Argumentation des Kriegsphilosophen ein Ausschnitt aus der zum Teil sehr kontroversen Diskussion in der Frage nach der stärkeren Form des Kriegführens vorangestellt. Selbst führende militärische Denker vertreten in dieser Frage Auffassungen, die sich untereinander stark widersprechen und häufig im völligen Gegensatz zu den Theorien Carls von Clausewitz stehen. Zweck dieser Untersuchung ist es, die Notwendigkeit einer umfassenden, theoretisch fundierten Klärung dieser Frage zu verdeutlichen, sowie auf deren praktische Relevanz hinzuweisen. Gleichzeitig sollen Vergleichsmöglichkeiten hinsichtlich der Clausewitzschen Argumentation geschaffen werden, um deren Einordnung und Bewertung zu erleichtern. Zu betonen ist, dass an dieser Stelle noch keine Klärung der aufgezeigten Fragestellung und auch noch keine Beurteilung der Clausewitzschen Argumentation ange-
3 Mittel: Vorgehen, Gliederung, Methodik
21
strebt wird. Auch kann und soll es sich nicht um eine umfassende Darstellung der in dieser Frage geführten Diskussion handeln. Es kommt darauf an, die Vorstellungen einzelner, sehr bedeutender militärischer Führer und Denker, deren Sachkompetenz über jeden Zweifel erhaben scheint, und die zudem in einer gewissen Beziehung zu Clausewitz stehen, herauszuarbeiten. Unter Berücksichtigung des jeweiligen gesellschaftlich/historischen Kontexts sollen ihre jeweiligen Vorstellungen verdeutlicht, und dabei insbesondere die Argumente, welche sie zur Begründung ihrer Theorien verwenden, hervorgehoben werden. Zweites Kapitel: Im zweiten Kapitel wird die Frage untersucht, wie Clausewitz seine Theorie von der stärkeren Form des Kriegführens überhaupt verstanden wissen wollte. Was meinte er damit, wenn er behauptet, die Verteidigung sei an sich die stärkere Form des Kriegführens? Eine Beantwortung dieser Frage ist notwendige Voraussetzung für jede weitergehende Untersuchung und Bewertung seiner These und der diesbezüglich von ihm entwickelten Argumentation. Unter Bezugnahme auf die Methode, derer sich Clausewitz bedient, soll daher versucht werden, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Die Betrachtung seiner Methode schafft zudem die Voraussetzung, um überprüfen zu können, inwiefern der Kriegsphilosoph bei der Begründung seiner Theorie den Forderungen, die er an sich und seine Methode stellt, selbst gerecht wird. Drittes Kapitel: Im dritten Kapitel wird die Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ im Lichte der Kriegswirklichkeit betrachtet und bewertet. Dazu sollen zwei kriegstheoretische Phänomene - der Angriff aus Schwäche und der Präventivangriff - die mit der Theorie von Clausewitz nicht erklärbar sind und mit dieser im Widerspruch stehen, aufgezeigt und anhand kriegsgeschichtlich-empirischer Beispiele näher untersucht werden. Hierdurch soll die Clausewitzsche Theorievorstellung an der Wirklichkeit des Krieges gemessen und gleichzeitig die praktische Relevanz der Fragestellung verdeutlicht werden. Viertes Kapitel: Ausgehend von dem im zweiten Kapitel geschaffenen grundlegenden Verständnis der Clausewitzschen Theorie und der im dritten Kapitel aufgezeigten Unverträglichkeit seiner These mit bestimmten Phänomenen der empirischen Wirklichkeit des Krieges, wird im vierten Kapitel die Clausewitzsche Argumentation als solche kritisch hinterfragt. Hierin ist gleichzeitig der Schwerpunkt der Studie zu sehen. Die unterschiedlichen Begründungsansätze, welche Clausewitz zur Herleitung und Verteidigung seiner These verwendet, sollen dabei systematisch herausgearbeitet, untersucht und bewertet werden. Dabei soll seine Argumentation insbesondere im Hinblick auf logische Konsistenz, Treue zu seiner eigenen Methode und Vereinbarkeit mit den Erfahrungen der Kriegsgeschichte untersucht werden. Die Arbeit stützt sich hierbei in erster Linie auf das Werk „Vom Kriege“ selbst, da die vorhandenen Clausewitz-
22
Inhaltliche / methodische Vorbemerkungen
interpretationen hinsichtlich der zu untersuchenden Fragestellung kaum weiterführen.
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Stand der Forschung
Was den Stand der Forschung in der zu untersuchenden Fragestellung anbelangt, so ist festzuhalten, dass sich militärische Denker beinahe zu allen Zeiten mit dieser Frage beschäftigt und hinsichtlich des wechselseitigen Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung die unterschiedlichsten Ansichten vertreten haben. Auf drei der bedeutendsten, nämlich Sun Tsu, Friedrich II. und Napoleon Bonaparte wird im Rahmen dieser Studie genauer eingegangen. Der erste und bisher einzige, der sich jedoch umfassend und systematisch mit dieser Frage auseinandergesetzt und dabei eine theoretisch fundierte Begründung angestrebt hatte, war Clausewitz. Seine These, wonach die Verteidigung die stärkere Form des Kriegführens sei, löste zum Teil heftige Widersprüche aus und führte dazu, dass seither auch eine Reihe von Clausewitzinterpreten auf diese Problematik eingegangen ist. Hierbei wird der Kern der vorliegenden Fragestellung i.d.R. jedoch nur am Rande gestreift und kaum der Versuch einer tiefergehenden Untersuchung oder gar Weiterentwicklung der Clausewitzschen Gedankengänge unternommen. Die beinahe einzige Ausnahme hiervon bildet Friedrich von Bernhardi, welcher in einem Aufsatz aus dem Jahre 1911 die These des Kriegsphilosophen zu widerlegen versuchte.11 Obwohl auch diese Schrift nicht tiefschürfend genug war und letztendlich zu einem nicht zu akzeptierenden Ergebnis führte, stellt sie dennoch eine der bisher ergiebigste Auseinandersetzung mit der Clausewitzschen Argumentation dar. Einzelne konstruktive Beiträge zu dieser Frage (auf die an entsprechender Stelle eingegangen wird) finden sich u.a. bei Gat, Aron, Wallach und Fuller. Was die Funktion der in der vorliegenden Arbeit verwendeten Fußnoten betrifft, so erwies es sich als zweckmäßig, diese nicht nur zur Angabe von Quellenbelegen einzusetzen, sondern darin auch einzelne Sachverhalte zu erklären oder weiter zu vertiefen, ohne allzu häufig die zentrale Gedankenführung unterbrechen zu müssen.
11 Vgl.: Bernhardi, F. v.: Clausewitz über Angriff und Verteidigung, Versuch einer Widerlegung. In: Beiheft zum Militärwochenblatt, Berlin 1911
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Zweck: Praktische Relevanz und ein besseres Clausewitzverständnis
Wozu kann die Untersuchung einer theoretischen Fragestellung, wie sie der vorliegenden Studie zugrunde liegt, dienen? Handelt es sich um eine bloße Spielerei, welche bestenfalls Unterhaltungswert besitzt und für die sicherheitspolitische und militärische Praxis irrelevant ist? Oder kann vielleicht auch der politisch Verantwortliche bei der Entscheidung über den Einsatz von Streitkräften oder der militärische Führer bei der Führung seiner Truppen im Einsatz Nutzen daraus ziehen? Damit stellt sich die grundlegende Frage, ob für das praktische Handeln in Krieg und Konflikt eine Theorie überhaupt möglich, notwendig oder nützlich sein kann. Es soll hier kein Nachweis über den Einfluss von Theorien auf die Kriegführung angestrebt werden. Dieser wurde bereits von anderen Autoren erfolgreich geführt.12 Es soll an dieser Stelle genügen darauf hinzuweisen, dass gerade die in der Praxis erfolgreichsten militärischen Führer und Feldherrn besonders deutlich die Notwendigkeit von Theorie hervorhoben. Der preußische Generalleutnant von Scharnhorst hat dies auf sehr anschauliche Art und Weise getan: „Diejenigen, die alles von der Praxis erwarten, sind den stolzen Menschen zu vergleichen, die alles durch sich selbst wissen wollen. Bringt sie denn nicht schon die bloße Vernunft darauf, daß die Theorie, d.h. ein auf Erfahrung und Beurteilung der größten Krieger gegründeter Unterricht des militärischen Verhaltens, den Krieg richtiger und geschwinder als die eigene Erfahrung lehre. Von diesem Standpunkt aus erscheint sie notwendiger als die Erfahrung.“13
General Friedrich von Bernhardi betont die Notwendigkeit einer Theorie für die Praxis folgendermaßen: „Der bloße Routinier scheitert und muß scheitern, sobald die großen und schwierigen Aufgaben moderner Kriegführung an ihn herantreten. Er wird sie immer mit den unzulänglichen Mitteln zu lösen suchen, die sich ihm aus seiner beschränkten Erfahrung bieten. Auch der Hofgeneral, der sein Leben in Nichtigkeiten zuzubringen gezwungen ist, und keine Zeit hat für ernste militärische Studien, kann den Anforderungen der Zukunft niemals genügen. Das sollten alle beherzigen, die berufen sein können, vor dem Feinde zu befehligen. Nachholen läßt sich im Kriege die Denkarbeit nicht, die im Frieden versäumt wurde. Die Zeiten des Paradegenerals sind un-
12 Vgl. hierzu Jehuda L. Wallach: Das Dogma der Vernichtungsschlacht. Frankfurt am Main 1967. Wallach weist in dieser Studie den Einfluss der Theorien von Clausewitz und Schlieffen auf die Führung der deutschen Seite in den beiden Weltkriegen nach. 13 Vgl. Militärische Gedankensplitter aus vergangener Zeit. In: Österreichische Militärische Zeitschrift. 80. Jg., I.Bd. (1903), S. 26
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Inhaltliche / methodische Vorbemerkungen wiederbringlich vorüber, und auch in niederen Stellungen wird der bloße Draufgänger dem bewußt Wagenden unterliegen.“14
Dass auch Clausewitz selbst überzeugt davon war, dass es möglich sein müsse, eine „gute, d.h. der Praxis nützliche Theorie“15 aufzustellen, wird u.a. in einem Brief aus dem Jahre 1807 deutlich, worin er Bezug auf die preußische Niederlage von Jena und Auerstedt nimmt: „...Von allem dem, was ich in der Kriegskunst erlebt habe, habe ich unsererseits nicht das Mindeste ausführen sehen; überall aber habe ich in der Wirklichkeit die Wahrheit dessen erkannt, was die Theorie mich gelehrt hat, und überall mich von der Wirksamkeit ihrer Mittel überzeugt...“16
Diese Äußerung verdeutlicht die Grundeinstellung, mit welcher Clausewitz an die Ausarbeitung seiner Theorie heranging. Zu beachten ist, dass, wie Malmsten Schering formuliert, eine Theorie nur dann als gut bezeichnet werden könne, wenn sie der Praxis nütze, weshalb Clausewitz die Wiedervereinigung von Theorie und Praxis unter Anerkennung des Primats des praktischen Handelns anstrebe.17 Der Beginn der Theorie sei die Wirklichkeit des Krieges, betont Jehuda L. Wallach.18 Die Praxis unterziehe dabei die Theorie einer genauen Prüfung, und letztere leite die Praxis. Nach diesen Überlegungen kann man es als die erste und allen anderen übergeordnete Aufgabe der Theorie bezeichnen, dass sie dem Handeln zu dienen hat.19 Dieses „Dienen“ besteht unter anderem darin, die Vergangenheit zu analysieren und verständlicher zu machen, um somit das Urteil des Handelnden für die Bewertung von Fragen der Gegenwart und Zukunft zu schulen. Es sei die Theorie, welche der Geschichte oder vielmehr der aus ihr zu ziehenden Belehrung diene, so Clausewitz.20 Erfahrungen der Kriegsgeschichte 14
Friedrich von Bernhardi: Vom heutigen Kriege. Berlin 1912, Bd. II, S.221 Vgl. Walther Malmsten Schering: Die Kriegsphilosophie von Clausewitz. Eine Untersuchung über ihren systematischen Aufbau, Hamburg 1935, S. 19 16 Brief vom 2. April 1807 aus Paris, zitiert in Karl Schwarz: Leben des Generals Carl von Clausewitz und der Frau Marie von Clausewitz. Berlin 1878, Bd. I, S.261 17 Vgl. Malmsten Schering a.a.O., S. 19, 24 18 Vgl. Jehuda L. Wallach: Das Dogma der Vernichtungsschlacht. Die Lehren von Clausewitz und Schlieffen und ihre Wirkungen in zwei Weltkriegen, Frankfurt am Main 1967, S. 5 19 Vgl. Malmsten Schering a.a.O., S. 19 20 Vgl. Vom Kriege. II, 5, S. 313 Vgl. auch Wallach: a.a.O., S. 5, 9: "Eine vernünftig begründete Theorie ist deshalb ebenso für das Verständnis vergangener Kriege wie für die erfolgreiche Durchführung eines kommenden Krieges unerläßlich." "Um eine Theorie aufzustellen, die dem Ansturm des wirklichen Krieges gerecht werden kann, muß die Theorie in zwei Richtungen wirken: sie untersucht die Vergangenheit - mit Hilfe der Kriegsgeschichte - und trennt das Wesentliche, das dauernden Wert besitzt, vom Zufälligen und kristallisiert auf diese Weise das Grundsätzliche heraus. Auf der anderen Seite legt sie diese Prinzipien immer wieder auf den grausamen Prüfstand des Krieges und trennt so die immer gültigen Grundsätze von 15
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können dadurch weitervermittelt und nutzbar gemacht werden, ohne dass sie stets von neuem mit dem Blut von Soldaten erkauft werden müssen. Dabei ist es Aufgabe der Theorie, Zusammenhänge von Ursache und Wirkung des kriegerischen Geschehens deutlich zu machen und zu begründen. Dies bezeichnet Clausewitz als besonders schwierig, da die Wirkungen im Kriege selten aus einfachen Ursachen hervorgingen, sondern aus mehreren gemeinschaftlichen.21 An anderer Stelle fasst er zusammen, worin seiner Meinung nach die Aufgaben einer Theorie liegen: „Untersucht die Theorie die Gegenstände, welche den Krieg ausmachen, unterscheidet sie schärfer, was auf den ersten Blick zusammenzufließen scheint, gibt sie die Eigenschaften der Mittel vollständig an, zeigt sie die wahrscheinlichen Wirkungen derselben, bestimmt sie klar die Natur der Zwecke, trägt sie überall das Licht einer verweilenden kritischen Betrachtung in das Feld des Krieges, so hat sie den Hauptgegenstand ihrer Aufgabe erfüllt. Sie wird dann demjenigen ein Führer, der sich mit dem Kriege aus Büchern vertraut machen will; sie hellt ihm überall den Weg auf, erleichtert seine Schritte, erzieht sein Urteil und bewahrt ihn vor Abwegen.“22
Ein Beitrag zur Erziehung des Urteils muss nach diesen Überlegungen auch in der Bewertung des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung gesehen werden. Ob in dieser Frage die Clausewitzschen Theorien aber vor Abwegen bewahren oder gerade zu diesen führen, ist Hauptgegenstand der vorliegenden Studie. Sicher ist, dass, wenn richtige theoretische Vorstellungen der Praxis nützen können - was wohl nicht ernsthaft bezweifelt werden darf - unzutreffende Theorien in gleicher Weise Schaden anrichten. Falsche Doktrinen hätten den Untergang ganzer Staaten verursacht, betont Jehuda Wallach und verweist dabei auf die preußische Niederlage von 1806.23 Dass die Frage nach der stärkeren Form des Kriegführens für die militärische Praxis von großer Bedeutung sein kann, scheint bereits aus dem gesunden Menschenverstand hervorzugehen. Wer von der Vorstellung ausgeht, die Verteidigung sei grundsätzlich die stärkere Form des Kriegführens, wird sich in bestimmten Situationen anders verhalten, als jemand, der die gegenteilige Auffassung vertritt. Auch die Tatsache, dass sich viele bedeutende, erfahrene und erfolgreiche Feldherrn und Soldaten zu verschiedenen Zeiten, von Friedrich dem Großen, Clausewitz und Jomini über Moltke, Schlieffen, Foch bis hin zu Beck und Manstein mit dieser Frage beschäf-
dem, was vergänglich ist. Auf diese Art leiten die Erfahrungen der Vergangenheit die Überlegungen über die Gegenwart und die Zukunft, und das ist es, woraus die geistige Arbeit eines Feldherrn besteht." 21 Vgl. Vom Kriege. II, 5, S. 313 22 Vom Kriege. II, 2, S. 291 23 Vgl. Wallach a.a.O., S. 7
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Inhaltliche / methodische Vorbemerkungen
tigten, woraus ein Streit entstand, der nach Malmsten Schering das militärische Publikum lange Jahre in zwei feindliche Lager getrennt habe24, unterstreicht zusätzlich die praktische Relevanz dieser Frage. Die Auswirkungen dessen, was Clausewitz über die stärkere Form des Kriegführens gesagt hat, reichen dabei bis in unsere Tage, und schlagen sich u.a. in den Dienstvorschriften verschiedener Armeen nieder. So heißt es im U.S. Army Field Manual 100-5, der grundlegenden Vorschrift der amerikanischen Armee: „The defense is the less decisive form of war. The defense may nonetheless be stronger than the offense, thus METT-T may necessitate defense in a campaign for a force-projection army prior to conducting offense operations. The advantage of cover and concealment, advance siting of weapons, shorter LOCs, and operations over familiar terrain among a friendly population generally favour the defender.“25
Auch die ehemals sowjetischen Auffassungen zum Verhältnis von Angriff und Verteidigung lassen sich nach Pellicia größtenteils auf die Vorstellungen von Clausewitz zurückführen.26 Die ausgehend von den USA und Großbritannien auch auf Deutschland übergreifende Renaissance Clausewitzscher Gedanken, bringt es mit sich, dass der Name des preußischen Kriegsphilosophen wieder in aller Munde ist, und häufig auf seine Werke Bezug genommen und aus ihnen zitiert wird. Clausewitz sei eine Autorität, die zur Legitimation politisch und militärisch relevanter Positionen angeführt wird, betont Hartmann.27 So erfreulich diese Tatsache auf der einen Seite ist, so muss doch vor den Gefahren gewarnt werden, welche damit verbunden sein können. Die erste besteht in einer leichtfertigen unkritischen Wiedergabe aus dem Zusammenhang gerissener Äußerungen von Clausewitz, womit sein Werk zu einem bloßen Zitatensteinbruch herabgewürdigt wird.28 Seinen Namen führten 24
Vgl. Malmsten Schering a.a.O., S. 15 U.S. Army Field Manual 100-5. Fighting future wars, published with the Institute of Land Warfare Association of the U.S. Army, Washington 1994, S. 6 - 19 (vgl. METT-T: mission, enemy, troops, terrain and weather, and time available; LOC: line of communication) 26 Vgl. W. Hahlweg: Nachrede zur 19. Auflage. Weiterentwicklung und Differenzierung des Clausewitzbildes seit 1972, Bonn 1980, S. 1278. Vgl. auch Alfred Ernst: Die Konzeption der schweizerischen Landesverteidigung 1815-1966, Bern 1972. Der schweizerische Oberstkorpskommandant betont dabei, dass für die Landesverteidigung der Schweiz der Satz von Clausewitz, die Verteidigung sei die stärkere Kampfform als der Angriff, auch heute noch gelte. 27 Vgl. Hartmann, Uwe: Carl von Clausewitz. Erkenntnis, Bildung, Generalstabsausbildung, München 1998, S. 12 28 Vgl. dazu die Benutzung von Clausewitz durch Adolf Hitler verdeutlicht von W. Hahlweg: "Hitler arbeitete Clausewitz kaum systematisch-kritisch durch, sondern benutzte ihn nach der Art Halbgebildeter eher als Zitatenschatz,..." Werner Hahlweg: Das Clausewitzbild einst und jetzt. Mit textkritischen Anmerkungen, Bonn 1980, S. 108 25
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viele im Munde, seine Gedanken seien aber von zu wenigen verstanden worden, betont Ulrich Marwedel.29 Eine zweite noch weitaus größere Gefahr geht von einer allzu wörtlichen, rezepthaften Interpretation der Clausewitzschen Gedanken im Sinne einer positiven Lehre aus, mit der Neigung, seine Theorien zum unantastbaren Dogma zu erheben. Dies scheint überhaupt die schlimmste Art der Verunglimpfung Clausewitzscher Gedanken zu sein, widerspricht sie doch völlig seiner ureigensten Intention und Methode. Liddell Hart verdeutlicht dies folgendermaßen: „Wie so oft in der Geschichte, haben auch die Schüler von Clausewitz dessen Lehren in ein Extrem gesteigert, wie es der Meister selbst nicht beabsichtigt hatte. Mißverstanden zu werden, ist das übliche Schicksal der meisten Propheten gleich welchen Gebiets. Ergebene, aber nicht tiefschürfende Schüler haben der ursprünglichen Konzeption mehr Schaden zugefügt als von Vorurteilen und blinder Abneigung getriebene Gegner:“30
Es muss an dieser Stelle betont werden, dass eine Dogmatisierung der Clausewitzschen Gedanken eine kritische Analyse derselben verhindert, und damit ein Verständnis seines Werkes unmöglich macht. Konstruktive Kritik wird dabei häufig durch bloße Lobeshymnen ersetzt. Des weiteren wird eine gehaltvolle inhaltliche Auseinandersetzung mit seinen Werken, insbesondere auch mit spezifisch militärischen Fragen, zunehmend vernachlässigt, wodurch sich die Clausewitzforschung immer mehr auf eine bloße Beschäftigung mit dem Lebenslauf und der Person des Kriegsphilosophen (so wichtig diese für das Verständnis seiner Werke natürlich sind) und ein dogmatisches Wiedergeben einzelner Formulierungen des „Meisters“ reduziert. Der englische Gruppenkapitän der Luftstreitkräfte R. A. Mason verweist auf einen sehr wichtigen Punkt, wenn er betont, dass Clausewitz` Bedeutung für uns nicht daran gemessen werde, wie tief wir über ihn dächten, als vielmehr daran, wie tief er uns überhaupt selbst veranlassen würde, über die Dinge nachzudenken.31 Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass der tiefere Sinn der Clausewitzschen Theorien nur durch kritisches Lesen und Hinterfragen seiner Gedankengänge möglich ist.32 Immer wieder muss die 29
Vgl. Ulrich Marwedel: Carl von Clausewitz. Persönlichkeit und Wirkungsgeschichte seines Werkes bis 1918. Wehrwissenschaftliche Forschungen, Abt. Militärgeschichtliche Studien, Bd. 25 (1979), S. 230 30 B. H. Liddell Hart: Strategie. Wiesbaden 1935, S. 416 f 31 Vgl. R. A. Mason: The challenge of Clausewitz. In: Air University Review. March-April 1979, Vol. XXX, Nr. 3, S. 75 ff. Vgl. Hahlweg a.a.O., S. 1278 32 W. Hahlweg verdeutlicht die richtige Herangehensweise an das Werk "Vom Kriege" folgendermaßen: "Freilich dürfte die Kenntnis selbst des besten Fachschrifttums niemals ein planmäßiges eigenes, kritisches Durcharbeiten des Werkes "Vom Kriege" überflüssig machen. Grundsätzlich sollte man Genauigkeit und Sorgfalt beim Lesen walten lassen: über jede These des Autors meditieren, sich ganz in seine Ausführungen hineinversenken und sich jeweils der gesellschaftspolitischen Be-
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Inhaltliche / methodische Vorbemerkungen
Frage nach dem „Warum“ seiner Argumente gestellt werden.33 Ein bloßes Hinnehmen seiner Behauptungen führt nicht weiter und wird zur Gefahr, wenn es sich mit Dogmatismus verbindet. Auch eine Weiterentwicklung der Clausewitzschen Gedanken in seinem eigenen Sinne, die wohl größte Herausforderung, welche sich der Clausewitzforschung heute stellt, würde durch ein solches Herangehen an sein Werk unmöglich gemacht. Mit der vorliegenden Arbeit soll daher auch ein Beitrag dazu geleistet werden, den aufgezeigten Fehlentwicklungen der Clausewitzrezension entgegenzusteuern. Es kommt in diesem Zusammenhang darauf an, vor einseitigen Extremvorstellungen zu seinen Theorien, wie sie so häufig die Diskussion beherrschen, zu warnen. Weder eine völlige Nichtbeachtung (Eisenhower: „Ich habe niemals Clausewitz gelesen.“34) oder eine vorschnelle Verurteilung (Stalin: „Es ist geradezu lächerlich, heute bei Clausewitz in die Schule zu gehen.“35), noch ein oberflächliches unkritisches Hinnehmen oder gar eine Dogmatisierung seiner Gedanken kann dem Werk des Kriegsphilosophen gerecht werden. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass mit der dieser Studie zugrunde liegenden kritisch-analytischen Betrachtungsweise der Clausewitzschen Gedanken auch zu einem besseren Verständnis seines Werkes insgesamt beigetragen werden kann. Der Schlüssel zu einem solchen Verständnis muss insbesondere in der Methode von Clausewitz gesehen werden. Es sei die von ihm entwickelte Denkmethode, welche den eigentlichen bleibenden Wert seiner Theorie und damit den des Werkes „Vom Kriege“ ausmache, betont Hahlweg.36 Das Wesen dieser Methode gründet im Verständnis der Theorie, nicht als einer „notwendig positiven Lehre, d.i. Anweisung zum Handeln“37, im Sinne von „Gesetzen“38, sondern im Verständnis der
dingtheiten bewußt sein. Clausewitz` Werk "Vom Kriege" ist kein Zitatenschatz. Man muß vielmehr geradezu mit dem Stoff ringen, um den letzten Sinn der dort enthaltenen Gedanken in ihrer Realität zu erfassen." Werner Hahlweg: Schrifttum zur Geschichte und zum Studium des Werkes "Vom Kriege". Bonn 1980, S. 1359 f 33 Diese Forderung ergibt sich bereits aus der Methode, welche Clausewitz seinen theoretischen Betrachtungen zugrunde legt. Es kommt ihm darauf an, dass eine Theorie nicht in erster Linie angibt, wie man sich zu verhalten habe, sondern vielmehr ergründet, warum man sich so verhalten muss. In diesem Sinne will er auch sein Werk verstanden wissen. Es macht keinen Sinn, darin nach positiven Handlungsanweisungen zu suchen, ohne die Begründung derselben zu hinterfragen und sich kritisch mit seinen Argumenten auseinander zu setzen. Vgl. auch Malmsten Schering a.a.O., S. 39, 43 34 Vgl. Christ und Welt. 4. Jg. Nr. 15, v. 12. 4. 1951, "Eisenhower - ein seltsamer Mann". Vgl. W. Hahlweg: Das Clausewitzbild einst und jetzt. Mit textkritischen Anmerkungen, Bonn 1980, S. 104 35 Vgl. General A. Guillaume. Warum siegte die Rote Armee? (Baden-Baden 1950), S. 154. Vgl. W. Hahlweg: a.a.O., S. 100 36 Vgl. Hahlweg a.a.O., S. 26 37 Vgl. Vom Kriege. II, 2, S. 290 38 Vgl. Vom Kriege. II, 4, S. 306 f. Der Begriff des Gesetzes könne in der Theorie der Kriegführung weder im Bezug auf das Erkennen, noch im Bezug auf das Handeln gebraucht werden, betont Clau-
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Theorie als „Betrachtung“39, als „Anhalt für das Urteil“40 bzw. als Mittel zur Schulung desselben. Mit dem so geschulten Urteil aber begibt sich der Feldherr (unter Zurücklassung der Theorie) ins Gefecht. Somit wird das geschulte Urteil (als Ergebnis der Theorie) zum Bindeglied zwischen Theorie und Praxis, und verdeutlicht damit die praktische Relevanz der Theorie. Clausewitz selbst verdeutlicht seine Methode folgendermaßen: „Sie (die Theorie) soll den Geist des künftigen Führers im Kriege erziehen oder vielmehr ihn bei seiner Selbsterziehung leiten, nicht aber ihn auf das Schlachtfeld begleiten; so wie ein weiser Erzieher die Geistesentwicklung eines Jünglings lenkt und erleichtert, ohne ihn darum das ganze Leben hindurch am Gängelbande zu führen. Bilden sich aus den Betrachtungen, welche die Theorie anstellt, von selbst Grundsätze und Regeln, schließt die Wahrheit selbst in dieser Kristallform zusammen, so wird die Theorie diesem Naturgesetz des Geistes nicht widerstreben, sie wird vielmehr, wo sich der Bogen in einem solchen Schlußstein endigt, diesen noch hervorheben. Aber sie tut dies nur, um dem philosophischen Gesetz des Denkens zu genügen, um den Punkt deutlich zu machen, nach welchem die Linien alle hinlaufen, nicht um daraus eine algebraische Formel für das Schlachtfeld zu bilden;“41
sewitz. Grundsätze, Regeln, Vorschriften und Methoden aber seien für die Theorie der Kriegführung unentbehrliche Begriffe, insoweit sie zu positiven Lehren führten,... An dieser Stelle muss vor einer weitverbreiteten Fehlinterpretation von Clausewitz gewarnt werden. Es wird ihm häufig, so auch von W. Hahlweg (vgl. Hahlweg a.a.O., S. 8), unterstellt, er habe im Hinblick auf die Theorie des Krieges eine positive Lehre für unmöglich gehalten. Zu beachten ist jedoch, dass er eine positive Lehre nur im Sinne von Gesetzen für unmöglich und unsinnig hielt, während er eine solche, gebildet durch Grundsätze, Regeln, Vorschriften und Methoden, als unentbehrlich bezeichnete. 39 Vgl. Vom Kriege. II, 2, S. 290 40 Vgl. Vom Kriege. II, 5, S. 315 41 Vom Kriege. II, 2, S. 291
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
Mit dem vorliegenden Kapitel wird der Untersuchung der Clausewitzschen Argumentation, ein Ausschnitt aus der breiten und äußerst kontroversen Diskussion hinsichtlich der Frage nach der stärkeren Form des Kriegführens vorangestellt. Diese Diskussion, die beinahe so alt ist wie die Kriegsgeschichte selbst, hat von jeher Militärs und Feldherrn aber auch politische Herrscher und Führer bewegt. Ihre jeweiligen Erfahrungen und theoretischen Erkenntnisse könnten dabei jedoch unterschiedlicher kaum sein. Exemplarisch sollen daher einleitend drei bedeutende Autoritäten militärischen Denkens und Handelns ausgewählt und ihre jeweiligen Vorstellungen in dieser Frage aufgezeigt werden. Zweck dieses Kapitels ist es zum einen, die Vielfalt und Gegensätzlichkeit der in dieser Frage vorherrschenden Ansichten aufzuzeigen und die Notwendigkeit einer theoretisch fundierten Befassung mit dieser Frage zu verdeutlichen. Zum anderen soll die Auseinandersetzung mit der Clausewitzschen Theorie durch die Schaffung von Vergleichsmöglichkeiten vorbereitet werden. Als erstes wird dabei auf die Theoreme des chinesischen Kriegerphilosophen Sun Tsu eingegangen. Seine Bedeutung für die vorliegende Arbeit ergibt sich insbesondere aus der Tatsache, dass seine Überlegungen trotz eines zeitlichen Abstandes von knapp zwei Jahrtausenden in vielerlei Hinsicht Parallelen zur Argumentation von Clausewitz aufweisen.42 Zudem verdeutlicht das Werk dieses wahrscheinlich ersten Kriegsphilosophen, wie alt und grundlegend die Frage nach dem Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung tatsächlich ist. Im Anschluss daran werden die Vorstellungen Friedrichs II. und Napoleon Bonapartes betrachtet. Die Ansichten dieser beiden Feldherrn und Staatslenker sind für die vorliegende Studie besonders deshalb interessant, weil es die von ihnen geführten Kriege, Feldzüge und Schlachten sind, welche Clausewitz (vor allen anderen) als historisch-empirische Grundlage für die Entwicklung seiner Theorie des Krieges nutzte. Zudem nimmt Clausewitz häufig auf diese Bezug, um seine theoretischen Überlegungen zu veranschaulichen. Als Zeitgenossen des preußischen Kriegsphilosophen, mit einem ähnlichen, und was Napoleon betrifft, zum Teil identischen Erfahrungshintergrund43, ist die Vergleichbarkeit ihrer 42
Vgl. dazu Shu Kono: Europäische Militärkonzeption und „Sun Tsu“. In: Revue Internationale d’Histoire Militaire, No. 38 (1978), S. 117 ff. Vgl. auch Hahlweg a.a.o., S. 1321 Die Teilnahme von Clausewitz an der Schlacht bei Borodino (1812) auf russischer Seite macht diesen identischen Erfahrungshintergrund besonderes deutlich. Vgl. dazu: Herfried Münkler: Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Göttingen 2006, S. 75 ff 43
J. Schmid, Die Dialektik von Angriff und Verteidigung, DOI 10.1007/978-3-531-93037-4_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
theoretischen Vorstellungen mit denen von Clausewitz in besonderem Maße gegeben. Die Betrachtung Friedrichs II. erhält zudem Relevanz durch die Tatsache, dass jener „nicht nur ein bedeutender Feldherr, sondern darüber hinaus auch ein anerkannter Kriegstheoretiker“44 war, bei dem Theorie und Praxis in unmittelbare Verbindung treten. Hervorzuheben ist, dass Clausewitz trotz dieses gemeinsamen Hintergrundes und trotz seiner grundsätzlichen Anerkennung für beide Feldherrn, in der Frage des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung eine gänzlich andere Auffassung vertritt als jene und damit eine direkte Gegenposition zu den bedeutendsten militärischen Autoritäten seiner Zeit entwickelt. Im Unterschied zu jenen strebt Clausewitz danach, das Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung im Bezug auf das Wesen, nicht nur hinsichtlich singulärer Erscheinungsformen, des Krieges zu erklären. Er löst sich damit weitgehend aus der Zeit- und Situationsgebundenheit der Überlegungen Friedrichs II. und Napoleons und entwickelt, ein umfassendes und systematisch angelegtes Theoriegebäude mit dem Anspruch auf allgemeine und zeitlose Gültigkeit. Die am Ende eines jeden Unterpunktes grafisch zusammengefassten Argumentationsansätze sollen dazu dienen, einen Vergleich mit den Gedankengängen von Clausewitz zu erleichtern. 1 1
Der chinesische Kriegerphilosoph Sun Tsu (ca. 500 - 300 v. Chr.) Der chinesische Kriegerphilosoph Sun Tsu „Vergleiche die Stärke des Gegners mit deiner eigenen und du wirst wissen, was ausreichend vorhanden ist und woran es mangelt. Danach kannst du die Vorteile eines Angriffes gegen die einer Verteidigung abwägen.“ Wang Xi45
44
Vgl. Volkmar Regling: Grundzüge der Landkriegführung zur Zeit des Absolutismus und im 19. Jahrhundert. In: Deutsche Militärgeschichte in sechs Bänden 1648-1939, Band 6: Grundzüge der militärischen Landkriegführung, München 1983, S. 113. Friedrich II. betrachtete beispielsweise den Zweiten Schlesischen Krieg (1744/45) als eine "Schule der Kriegskunst", deren Lehren er in seinen Schriften theoretisch ausarbeitete. Die so gewonnenen Erkenntnisse setzte er wiederum im Siebenjährigen Krieg (1756-1763) erfolgreich in die militärische Praxis um. 45 Sun Tsu: Wahrhaft siegt, wer nicht kämpft. (Die Kunst der richtigen Strategie), bearbeitet von Thomas Cleary. Freiburg im Breisgau 1990, S. 144. Wang Xi soll Gelehrter an der kaiserlichen Akademie zur Zeit der Song-Dynastie des frühen elften Jahrhunderts gewesen sein und dabei Kommentare zu den Schriften von Sun Tsu verfasst haben. Auf die Frage nach der realen Existenz Sun Tsus bzw. seiner diversen Kommentatoren soll im Rahmen der vorliegenden Studie nicht näher eingegangen werden. Vgl. auch Michael Handel: Masters of War. Classical Strategic Thought, US Naval War College, 1996.
1 Der chinesische Kriegerphilosoph Sun Tsu
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1.1 Hintergrund Sun Tsus Werk „Die Kunst des Krieges“ stammt vermutlich aus der Zeit der „Streitenden Reiche“ des chinesischen Altertums um 500 bis 300 v. Chr.46 Diese Epoche war geprägt durch den Zerfall der Zhou-Dynastie, den Zusammenbruch alter Ordnungsstrukturen und mit diesen einhergehenden Kriegen. Das Werk des Kriegerphilosophen besteht aus einer Reihe von Aphorismen und ist maßgeblich geprägt von den Ideen des Taoismus, welcher als Wurzel aller chinesischen Kampfkünste bezeichnet werden kann. Sun Tsus Werk gilt als Klassiker und ist noch heute eines der weltweit einflussreichsten und am meisten geschätzten Bücher über Kriegsphilosophie und Strategie. Der Stil des chinesischen Kriegerphilosophen ist jedoch aus heutiger und zudem westlicher Sichtweise nicht immer ganz unproblematisch. Zudem formuliert Sun Tsu häufig auch sehr trivial anmutende „allgemeine Wahrheiten“. Dennoch liefern seine Gedankengänge hinsichtlich der Überlegungen zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung einige sehr anregende Impulse und weisen interessante Parallelen zu den Theorien von Clausewitz auf. Eine erste grundlegende Parallele besteht darin, dass bereits Sun Tsu die Kriegführung ihrer Form nach in Angriff und Verteidigung unterteilt hat. Eine Gemeinsamkeit, die bei einem zeitlichen Abstand von mehr als zwei Jahrtausenden und einem völlig anderen räumlichen, gesellschaftlichen und technologischen Kontext keineswegs als selbstverständlich anzusehen ist. Hinzu kommt die Tatsachen, dass sich Sun Tsu primär an den asymmetrischen Bürger- und Imperialkriegsszenarien im Reich der Mitte zu seiner Zeit orientierte, während für Clausewitz, wenn auch nicht ausschließlich, die europäischen Staatenkriege als empirische Grundlage im Vordergrund standen. Welche Bedeutung bereits Sun Tsu den beiden Hauptformen des Kriegführens, Angriff und Verteidigung, beimaß, verdeutlicht er mit der Feststellung, dass derjenige, der weder die „Künste der Verteidigung“ noch die „Künste des Angriffs“ kenne, im Kampf verlieren werde.47 An keiner Stelle seines Werkes drückt Sun Tsu explizit aus, ob er eine der beiden Formen des Kriegführens als die grundsätzlich stärkere betrachtet. Es wird jedoch sehr deutlich, wie er das Verhältnis von Angriff und Verteidigung grundsätzlich bewertet und insbesondere, worin er Stärken der einen bzw. der anderen Form sieht. Bei der Untersuchung seines Werkes lassen sich fünf Kategorien von Aussagen zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung fest46
Vgl. u.a. Martin, Van Creveld: The Art of War. Sun Tsu a.a.O., S. 111. Diese Anmerkung zu Sun Tsu stammt von Zhang Yu. Er lebte zur Zeit der Song-Dynastie (960-1278 n. Chr.) und wurde bekannt durch seine Kommentare zu „Die Kunst des Krieges“. 47
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
stellen. Je zwei dieser Kategorien beziehen sich auf Stärken der Verteidigung bzw. des Angriffs, während die fünfte Kategorie auf das unmittelbare Wechselverhältnis dieser beiden Formen der Kriegführung eingeht. 1.2 Vorteile der Verteidigung Einen ersten Vorteil, den der Verteidiger insbesondere auf der taktischen und operativen Ebene besitzt, erkennt Sun Tsu in der Möglichkeit den Angriff des Gegners abwarten zu können und sich nicht auf jenen zu bewegen zu müssen. Er verdeutlicht diesen Zusammenhang, indem er darauf verweist dass jene, die sich als erste am Schlachtfeld einfänden und den Gegner erwarteten, entspannt seien; während sich jene, die als letzte am Schlachtfeld einträfen und sich übereilt in den Kampf stürzten, sich verausgaben würden.48 Deshalb, so folgert er, veranlassten begabte Krieger die anderen, auf sie zuzukommen und gingen nicht von sich auf andere zu.49 Einen weiteren Teilaspekt bringt der Kommentator Jia Lin ins Spiel, wenn er schreibt, dass jene, die als erste an einem vorteilhaften Ort Stellung beziehen und den Gegner dort erwarteten, vorbereitet und daher ihre Truppen entspannt seien.50 Hier wird deutlich, dass Sun Tsu neben der Möglichkeit, den Angriff des Gegners abwarten zu können, einen weiteren Vorteil des Verteidigers darin erkennt, dass er den Kampf in einer von ihm gewählten und durch das Gelände begünstigten Stellung, in der er sich entsprechend vorbereitet hat, führen kann. Sun Tsu unterstreicht die Bedeutung des Geländes durch den Hinweis, dass ein geschickter Krieger eine Stellung auf einem Terrain beziehen würde, auf dem er unbesiegbar sei,51 und man den Gegner sogar mit weichen, schwachen Truppen besiegen könne, wenn man den Vorteil des Geländes auf seiner Seite hätte.52 Bei der Untersuchung der Frage, in welchen Situationen anzugreifen und in welchen zu verteidigen sei, kommt Sun Tsu zum Ergebnis, dass die Verteidigung in Zeiten des Mangels; der Angriff in Zeiten des Überflusses angezeigt sei.53 Verdeutlicht wird diese Haltung durch eine Reihe von Äußerungen seiner Kommentatoren „Wenn wir in der Defensive sind dann deswegen, weil es uns an etwas mangelt und wir daher den Sieg nicht erringen können. So warten wir auf das, was wir brauchen. 48
Ebenda, S. 131 Ebenda, S. 131 50 Ebenda, S. 131. Jia Lin lebte zur Zeit der Tang-Dynastie (618-906 n. Chr.) und wurde bekannt durch seine Kommentare zu Sun Tsu’s Werk. 51 Ebenda, S. 119 52 Vgl. dazu den Kommentator Zhang Yu: Ebenda, S. 195 53 Ebenda, S 115 49
1 Der chinesische Kriegerphilosoph Sun Tsu
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Wenn wir in der Offensive sind, dann deshalb, weil wir mehr als genug von dem haben, was wir brauchen, um den Gegner in die Knie zu zwingen. So gehen wir zum Angriff über. Dies bedeutet, daß wir uns nicht auf einen Kampf einlassen werden, wenn wir uns des vollständigen Sieges nicht sicher sind; wir werden nicht kämpfen, solange wir nicht Gewißheit haben, daß wir kein Risiko eingehen.“54
Diese Äußerungen könnten den Schluss nahe legen, Sun Tsu vertrete wie Clausewitz die Meinung, die Verteidigung sei die stärkere Form des Kriegführens, da mit ihr „Mangel“ bzw. „unzureichende Stärke“ ausgeglichen werden könne. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass Sun Tsu an dieser Stelle unter „Verteidigung“ nicht primär eine kämpfende Verteidigung versteht, sondern ein defensives Verhalten, bei dem es darauf ankommt, die Entscheidung durch Kampf nach Möglichkeit zu vermeiden. So setzt der Kommentator Cao Cao „defensives Verhalten“ gleich mit „sich auf keinen Kampf einlassen“. Wang Xi betont, dass jene, die sich in der Defensive befänden, dies täten, weil sie nicht „genug“ hätten, um zu gewinnen. Er schreibt nicht, dass sie nicht „genug“ hätten, um angreifen zu können, was natürlich einen fundamentalen Unterschied ausmacht. Deutlich wird dies auch bei Zhang Yus Kommentaren. Er betont, dass man sich auf keinen Kampf, das bedeutet natürlich weder auf einen (kämpfenden) Angriff noch auf eine (kämpfende) Verteidigung einlassen solle, solange man sich des vollständigen Sieges nicht sicher sei. Es kann daher als eine zentrale Überzeugung und Botschaft Sun Tsus festgehalten werden, dass der Schwächere, der, dem es an etwas mangelt, am besten überhaupt jeglichen Kampf vermeiden sollte. Ob er für den Fall, dass dies nicht möglich ist, besser die Verteidigung oder besser den Angriff wählen sollte, geht aus seinen diesbezüglichen Überlegungen nicht hervor. 1.3 Vorteile des Angriffs Aus einer dritten Kategorie von Aussagen lassen sich verschiedene Vorteile des Angriffs ableiten: 54 Ebenda, S. 115 f. Es handelt sich um ein Zitat von Zhang Yu. Vgl. auch Wang Xi, ebenda, S. 115.: "Jene, die sich in der Defensive befinden, tun dies, weil sie nicht genug haben, um zu gewinnen. Jene, die sich in der Offensive befinden, tun dies, weil sie mehr als genug haben, um zu gewinnen.“ Vgl. auch Li Quan, ebenda, S. 115.: "Jene, deren Stärke unzureichend ist, sollten sich verteidigen, jene deren Stärke im Überfluß vorhanden ist, sollten angreifen." Li Quan lebte zur Zeit der TangDynastie (618-906 n.Chr.), war Anhänger des Taoismus und wurde berühmt für sein Wissen über Militärstrategie. Vgl. darüber hinaus Cau Cau, ebenda, S. 102: "Sind deine Kräfte denen des Feindes gleichwertig solltest du, auch wenn du gut bist, aus dem Hinterhalt angreifen und Überraschungsattacken durchführen, damit du die Oberhand über den Gegner behältst. Sonst verhalte dich defensiv und lass dich auf keinen Kampf ein." Cau Cau (155-200 n. Chr.) war ein erfolgreicher General, der sich in seinen Feldzügen im Wesentlichen an die Lehren Sun Tsu’s hielt.
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion „Sind die Formationen des Gegners verwundbar, dann ist es an der Zeit, hervorzutreten und anzugreifen.“55 „Eine Lücke anzugreifen bedeutet nicht nur, eine Stelle anzugreifen, die der Feind nicht verteidigt. Solange die Verteidigung nicht lückenlos und die Stellung nicht scharf bewacht ist; solange die Generäle schwach und die Truppen ungeordnet sind; solange der Nachschub unzureichend ist und die Streitkräfte isoliert sind, werden die Reihen deiner Gegner vor dir in Auflösung geraten, wenn du ihnen nur mit einer geordneten wohlvorbereiteten Armee entgegentrittst.“56
Ein Vorteil des Angriffs lässt sich in diesen Äußerungen insofern erkennen, als eine gegenwärtige Schwäche beim Gegner nur durch Angriff, nicht aber durch Verteidigung zum eigenen Vorteil ausgenutzt werden kann. Nur durch Angriff kann der Gegner zu einem für ihn ungünstigen Zeitpunkt zum Kampfe gezwungen werden. Verstärkt wird dieser Vorteil dadurch, dass der Angreifer, da er die Initiative besitzt, durch eine für den Verteidiger unvorhergesehene Wahl von Ort und Zeit des Kampfes in der Lage ist, diesen unvorbereitet zu treffen und damit zu überraschen. Der Kommentator Meng Shi merkt dazu an, dass man immer siegreich sein könne, wenn man seinem Gegner Ort und Zeit des Kampfes nicht wissen lasse.57 Letzteres fällt natürlicherweise dem Angreifer leichter als dem Verteidiger, da er (in der Regel) im Besitz der Initiative ist. Wang Xi verdeutlicht dies durch die Forderung beim Angriff überaus flink zu sein und Nutzen daraus zu ziehen, dass man vom Gegner nicht erwartet werde.58 Eine vierte Kategorie von Aussagen bezieht sich auf die psychologisch / moralische Ebene und impliziert eine weitere Stärke des Angriffs. Sun Tsu schreibt: „Im allgemeinen besteht das Prinzip einer Invasion darin, daß die Eindringlinge um so geeinter sind, je tiefer sie ins gegnerische Gebiet vordringen. Dann kann die sich verteidigende Führung sie nicht mehr bezwingen.“59 „Führe sie in Stellungen, die keinen Ausweg offen lassen, und sie werden nicht fliehen, auch wenn sie sterben müssen.“60 55 Ebenda, S. 115. Diese Äußerung stammt von Du Mu (803-852 n. Chr.). Du Mu war Ritter, erreichte einen hohen akademischen Grad und diente in verschiedenen Positionen am Kaiserhof. 56 Ebenda, S. 134. Anmerkung von Chen Hau. Er war Staatsbeamter zur Zeit der Song-Dynastie (frühes zwölftes Jahrhundert). 57 Ebenda, S. 142. Meng Shi lebte zur Zeit der Liang-Dynastie (502-556 n. Chr.). Er verfasste Kommentare zu Sun Tsu’s Werk "Die Kunst des Krieges". 58 Ebenda, S. 116 59 Ebenda, S. 191 60 Ebenda, S. 192
1 Der chinesische Kriegerphilosoph Sun Tsu
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Cao Cao verdeutlicht diesen Sachverhalt durch die Feststellung, dass Streitkräfte leicht zerfallen würden, wenn die Soldaten dem Land verbunden seien und nahe der Heimat eingesetzt würden.61 Sun Tsu erkennt demnach einen weiteren Vorteil des Angriffs, insbesondere wenn es sich dabei um einen tiefen Vorstoß auf feindliches Gebiet handelt, darin, dass durch diesen Vorstoß die angreifende Streitmacht zusätzlich geeint wird und an Entschlossenheit gewinnt. Dies führt er darauf zurück, dass in diesem Falle den Soldaten jeglicher Ausweg, beispielsweise in Form von Fluchtmöglichkeiten, verwehrt ist. So kann seiner Meinung nach eine angreifende Armee an moralischer Stärke gewinnen, wenn sie tief in Feindesland eindringt. Dieser insbesondere psychologischen Bewertung steht Clausewitz These von der „abnehmenden Kraft im Angriff“62, die er insbesondere als Folge räumlicher und logistischer Überdehnung betrachtet, in dialektischer Weise entgegen. Ein praktisches Anschauungsbeispiel dazu liefert Napoleons Russlandfeldzug von 1812, den Clausewitz in russischen Diensten stehend persönlich miterlebte. Eine anschauliche praktische Bestätigung für die prinzipielle Richtigkeit von Sun Tsus These bietet ebenfalls Bonaparte mit Blick auf seinen ägyptischsyrischen Feldzug von 1799. Er betont diesbezüglich die stark disziplinierende Wirkung auf seine Armee, die von den sie permanent verfolgenden und bedrängenden Beduinen ausgegangen sei.63 1.4 Abschließende Bewertung Die Betrachtung und Untersuchung der Theoreme Sun Tsus zeigt, dass er sowohl dem Angriff als auch der Verteidigung bestimmte Vorteile bzw. Stärken zuordnet, wobei ihm die Überlegung fern ist, eine der beiden Formen des Kriegführens als die grundsätzlich stärkere zu bezeichnen. Diese Haltung wird besonders in der fünften Kategorie von Aussagen deutlich, die Sun Tsu zum Wechselverhältnis von Angriff und Verteidigung macht. Dazu ein Beispiel: „Vergleiche die Stärke des Gegners mit deiner eigenen und du wirst wissen, was ausreichend vorhanden ist und woran es mangelt. Danach kannst Du die Vorteile eines Angriffes gegen die einer Verteidigung abwägen.“64
Sun Tsu verdeutlicht hier, dass für ihn die Frage nach der stärkeren bzw. schwächeren Form des Kriegführens nur im Einzelfall bestimmt werden kann, und eine 61
Ebenda, S. 186 Vgl. Vom Kriege. VII, 4, S. 877 Napoleon Bonaparte: Napoleon I., Mein Leben, Gesamtausgabe der Autobiographie, Band 2, Meine ersten Siege, Der Ägyptisch-Syrische Krieg. Mundus 1999, S. 88 ff 64 Sun Tsu a.a.O., S. 144 62 63
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
pauschale Antwort in dieser Frage nicht möglich ist. Hierin kann zusammenfassend die grundsätzliche Haltung Sun Tsus zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung gesehen werden. Tabelle 1: Sun Tsu: Vorteile / Stärken von Angriff und Verteidigung Angriff 1. 2. 3. 4.
Initiative: BestimmungvonOrtundZeiteiner Auseinandersetzung, AngriffaufLücken/Schwachstellen desGegners Überraschung: MöglichkeitdenGegnerinderWahl vonOrtundZeitdesKampfesunvorbeͲ reitetzutreffen Schwächenausnutzung: MöglichkeitdieSchwächendesGegͲ nersaktivauszunutzen Moral: MoralischeFestigungdurchtiefen VorstoßauffeindlichesGebiet! KeineFluchtmöglichkeitfüreigene Kräfte
Verteidigung 1. Abwarten: Verteidigerkannabwartenundist dadurchphysischentspannt 2. Gelände: MöglichkeitdasGeländezum eigenenVorteilauszuwählen 3. Stellung: NutzungvorbereiteterStellungen 4. Täuschung: Kräfteleichterzuverbergen
Gesamtergebnis: Situationsabhängigkeit des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung. Eine entsprechende Bewertung ist daher nur im Einzelfall möglich. 2
Friedrich II. als Vollender absolutistischer Kabinettkriegführung (1712 - 1786)
2
Friedrich II. als Vollender absolutistischer Kabinettkriegführung „Aber wie alle großen Feldherren war auch er (Friedrich II.) der Ansicht, daß die Offensive der Verteidigung stets überlegen und daher gerade für den numerisch Schwächeren geboten sei.“ Friedrich von Bernhardi65
65
Friedrich von Bernhardi: Clausewitz über Angriff und Verteidigung, Versuch einer Widerlegung. In: Beiheft zum Militärwochenblatt, Berlin 1911, S. 412
2 Friedrich II. als Vollender absolutistischer Kabinettkriegführung
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2.1 Hintergrund Die Epoche Friedrichs II. war geprägt von einer absolutistischen Staats- und Herrschaftsordnung und der damit einhergehenden begrenzten Kriegführung. Kennzeichnend für diese Zeit war eine weitgehende Trennung des zivilen Lebens vom Kriegsgeschehen, eine auf Operationen in geschlossener Ordnung beschränkte Taktik66 und eine Strategie, die häufig das Manövrieren in den Mittelpunkt stellte.67 Bei dieser so genannten „Manöverstrategie“, als deren Schöpfer der französische Feldherr Turenne (1611 - 1657) gilt, wurde die Forderung, das operative Ziel mit möglichst geringen eigenen Verlusten zu erreichen, zur obersten Maxime, da die teuer zu bezahlenden Söldner schwer zu ersetzen waren.68 Obwohl sich Friedrich II. in der Endphase des Siebenjährigen Krieges dieser Vorstellung tendenziell annäherte, wäre es falsch, ihn als „Manöverstrategen“ zu bezeichnen, da er häufig sehr wohl die Schlachtentscheidung angestrebt hatte.69 Da es ihm die besonderen Umstände des Kriegswesens seiner Zeit und die begrenzten Mittel Preußens nicht ermöglichten, auch nur einen seiner Gegner gänzlich niederringen zu können, kann Friedrich II., mit Hans Delbrück zu Recht als „Ermattungsstratege“ bezeichnet werden.70 In dieser Hinsicht ist er mehr „Vollender“ einer Kriegführung des 18. Jahrhunderts denn Wegbereiter der Napoleonischen „Niederwerfungsstrategie“.71 Zu bedenken ist jedoch, dass Friedrich II. auch nicht die Möglichkeit hatte, zwischen diesen beiden strategischen Methoden wählen zu können, da ihm die gegebenen Mittel und Möglichkeiten eine Niederwerfung seiner Gegner nicht erlaubten. 66
Nicht zuletzt, um die Desertion aus den eigenen Reihen in Grenzen zu halten. Vgl. J. F. C. Fuller: Die entartete Kunst Krieg zu führen. Köln 1964, S. 20 f 68 Vgl. Regling a. a. O., S. 49 ff 69 Vgl. Delbrück, Hans: Geschichte der Kriegskunst: Die Neuzeit. Vom Kriegswesen der Renaissance bis zu Napoleon, Sonderauflage, Berlin 2003, S. 493 70 Ebenda S. 496, 553. Diese Feststellung Delbrücks löste den sogenannten „Strategiestreit“ aus, bei dem es im Wesentlichen um die Frage ging, ob die Kriegführung Friedrich II. als Ermattungs- oder als Niederwerfungsstrategie zu betrachten sei. Interessant ist hierbei der Bezug zu Clausewitz, den beide Parteien als Autorität für sich zu vereinnahmen suchten. In seiner „Nachricht“ aus dem Jahr 1827 hegte der preußische Kriegsphilosoph den Wunsch, sein Werk vom Kriege u.a. hinsichtlich der „doppelten Art des Krieges“ noch einmal umzuarbeiten. Er unterscheidet hierbei zwischen den Kriegen, „wo der Zweck das Niederwerfen des Gegners ist“ und denjenigen „wo man bloß an den Grenzen des Reiches einige Eroberungen machen will“. Vgl. Ebenda S. 599. Hieraus leitet Delbrück die Existenz zweier „großer strategischer Prinzipien“ nämlich der „Niederwerfung“ und der „Ermattung“ ab und erhebt den Anspruch in dieser Hinsicht Clausewitz weiterentwickelt zu haben. Vgl. Ebenda S. 609. Vgl. auch Sven Lange: Hans Delbrück und der Strategiestreit. Kriegführung und Kriegsgeschichte in der Kontroverse 1879-1814, Freiburg im Breisgau 1995, Einzelschriften zur Militärgeschichte, 40, S. 95-97. Vgl. auch Raimond Aron: Clausewitz. Den Krieg denken, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1980 71 Ebenda S. 558, 566 67
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
2.2 Offensive Grundausrichtung Die Kriegführung Friedrichs II. war in starkem Maße von der Offensive geprägt. Das gilt sowohl für die strategische als auch für die taktische Ebene. So spricht beispielsweise Clausewitz von den „durch Bewegung und Offensivmittel errungenen Siegen Friedrichs des Großen“.72 Der Preußenkönig selbst verdeutlicht seine Haltung folgendermaßen: „Die ganze Stärke unserer Truppen liegt im Angriff; wir würden töricht handeln, wenn wir freiwillig darauf verzichteten.“73
An anderer Stelle äußert er: „Eines der falschesten Prinzipien im Kriege ist, in der Defensive zu bleiben und den Feind offensiv handeln zu lassen; auf lange Sicht muß derjenige, der sich defensiv verhält, unweigerlich verlieren.“74
Auch für die strategische Verteidigung fordert Friedrich II., im Gegensatz zur herrschenden Auffassung seiner Zeit, offensives Handeln.75 Er distanziert sich außerdem von der durch die Kriegstheorie Montecuccolis (1609 - 1680) geprägten Vorstellung, wonach für einen Angriffskrieg die eigene Überlegenheit vorauszusetzen sei.76 Von ganz besonderer Bedeutung war für Friedrich die Offensive zu Beginn eines Feldzuges. Hier kam es ihm darauf an, gleich mit dem ersten Angriff eine entscheidende Überlegenheit über den Feind zu bekommen, um damit den Krieg möglichst schnell beenden zu können.77 Diese Betrachtungen legen den Schluss nahe, dass die von Bernhardi vertretene Meinung, Friedrich II. habe die Offensive stets für die überlegene und damit stärkere Form des Kriegführens gehalten, dessen Ansichten gerecht würde. Hier muss jedoch ein einschränkender Zusatz gemacht werden. Wenn Friedrich II. diese Vorstellung vertritt, so hat er dabei stets die besondere Situation Preußens vor Augen. Da ein länger andauernder Krieg die wirtschaftlichen Kräfte des Landes überfordert hätte, kam es für Preußen darauf an, jeden Krieg durch eine schnelle Entscheidung möglichst bald zu beenden.78 Dies führte zwangsläufig dazu, dass Friedrich II. im Hinblick auf seine konkrete Situation, nicht jedoch als 72
Vom Kriege. VII, 10, S. 891 Fiedrich der Große: Militärische Schriften. In: Die Werke Friedrichs des Großen, Sechster Band, Berlin 1913, S. 68 74 Dieses Zitat stammt aus einem Brief Friedrichs an den Erbprinzen von Braunschweig vom 8. Januar 1779. Vgl. Christopher Duffy: Friedrich der Große, Ein Soldatenleben. London 1985, S. 430 75 Vgl. Regling a.a.O., S. 116, 122 76 Ebenda, S. 91 77 Ebenda, S. 121 78 Vgl. Regling a.a.O., S. 118, 122, 135 73
2 Friedrich II. als Vollender absolutistischer Kabinettkriegführung
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allgemein gültige Regel, den Angriff als die stärkere Form des Kriegführens betrachtete, da nur durch ihn ein der Entscheidung ausweichender Feind zur Schlacht gezwungen werden konnte. Eng damit verbunden war die Tatsache, dass die „hervorragende Qualität und taktische Überlegenheit der preußischen Infanterie“79, insbesondere in der entscheidungssuchenden Feldschlacht, nicht aber in einem langwierigen Kleinkrieg zur Geltung gebracht werden konnte. Friedrich schreibt dazu: „Für uns Preußen ist es sehr schwer, einen solchen Defensivkrieg gegen die Österreicher zu führen, und zwar wegen ihrer großen Überlegenheit an leichten Truppen zu Fuß wie zu Pferde. Unsere Infanterie gleicht den römischen Legionen: sie ist für Schlachten geschaffen und ausgebildet; Ihre Stärke liegt in ihrem Zusammenhalt und ihrer Widerstandskraft.“80
Neben den speziell aus preußischer Sicht sich ergebenden Vorzügen der Offensive, hebt Friedrich eine Reihe allgemein geltender Stärken derselben hervor. So macht er darauf aufmerksam, dass Fehler bzw. augenblickliche Schwächen des Feindes nur durch Angriff zum eigenen Vorteil ausgenutzt werden könnten. Ein Grundgedanke, den bereits Sun Tsu betont hatte. Friedrich merkt in diesem Zusammenhang an, dass man sich nie völlig auf die Defensive beschränken, noch sich des Vorteils begeben dürfe, aus den Fehlern des Feindes Nutzen zu ziehen.81 Diese theoretischen Vorstellungen setzte Friedrich eindrucksvoll in die Praxis um, als er 1756 zu Beginn des Siebenjährigen Krieges der Einkreisung durch seine Gegner (Österreich, Russland, Frankreich, Sachsen-Polen) mit einem Präventivangriff zuvorkam.82 Mit der handstreichartigen Eroberung Sachsens schuf er die logistische und finanzielle Basis seiner weiteren Kriegführung.83 Er nutzte dabei die Schwäche seiner Gegner aus, ihre Truppen nicht so schnell mobilisieren zu können wie Preußen.84 Damit einher ging der Vorteil, nicht der geballten Macht aller seiner Gegner auf einmal gegenüber zu stehen, sondern, diese jeweils einzeln unter maximaler Konzentration der eigenen Kräfte schlagen zu
79
Ebenda, S. 115 Friedrich der Große a.a.O., S. 109 Ebenda, S. 109 82 An dieser Stelle könnte die Frage vertieft werden, ob es sich hierbei um einen Angriff unter dem Haupttitel der politischen Verteidigung handelte oder ob der Krieg primär offensiv im Kontext der politischen Großmachtambitionen Preußens zu sehen ist. Dass die Antwort hierauf in erster Linie vom jeweiligen politischen Standpunkt abhängig ist, liegt auf der Hand. 83 Vgl. Klaus-Jürgen Bremm: Preußens Einmarsch in Sachsen 1756 – Präventives Vabanque oder geniale Strategie? In: Österreichische Militärische Zeitschrift, XLV. Jahrgang, Heft 1, Wien, Jänner/Februar 2007, S. 58 ff 84 Vgl. Olaf Groehler: Die Kriege Friedrichs II. Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1986 80 81
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können. Ein Vorteil, auf den Friedrich bei defensiver Kriegführung völlig hätte verzichten müssen. Dies erkannte auch Clausewitz indem er schreibt: „Wenn Friedrich der Große im Jahre 1756 den Krieg als unvermeidlich ansah, und seinem Untergang nur entgehen konnte, wenn er seinen Feinden zuvor kam, so war es notwendig, den Krieg selbst anzufangen [...].“85
Damit unterstreicht Clausewitz die Richtigkeit der Entscheidung Friedrichs für den Präventivangriff. Als Friedrich II. im Verlauf des Krieges zunehmend in Bedrängnis geriet, bediente er sich einer Defensivstrategie, deren entscheidendes Element aus kontrollierten Offensivstößen bestand. Die hierbei gelieferten Angriffsschlachten sollten seine Gegner binden, abnutzen, vor allem aber Schrecken verbreiten und ihnen den Mut zur weiteren Fortsetzung der Kampfhandlungen nehmen.86 Dies verdeutlicht, wie wichtig für den Preußenkönig die Offensive selbst im Rahmen übergeordneter Defensivoperationen war. Einen weiteren Vorzug der Offensive, insbesondere auf der strategischen Ebene, erkannte Friedrich in der Möglichkeit, dass der Angreifer sich aus dem Lande des Gegners ernähren und damit den Krieg auf dessen Kosten führen kann. In seiner kriegstheoretischen Auswertung des Siebenjährigen Krieges spricht er sich daher für den Fall einer künftigen Auseinandersetzung mit Österreich dafür aus, die Kriegshandlungen möglichst weit an die Donau vorzutragen, um damit die „Armee auf Feindeskosten zu ernähren“.87 2.3 Betrachtung der Defensive Neben all den Vorzügen des Angriffs, erkannte Friedrich aber auch die Stärke der taktischen Defensive, die sich für ihn insbesondere aus vorbereiteten Stellungen in unzugänglichem Gelände ergab. Dazu merkt er an: 85
Vom Kriege. III, 6, S. 368 Vgl. Bremm a.a.O. S. 58 ff Vgl. Regling a.a.O., S. 136. Vgl. auch Fuller a.a.O., S. 24. Fuller zitiert Anmerkungen von Sir John Fortescues über die Kriegführung des 18. Jahrhunderts: "In jenen Tagen war das Ziel eines Feldzuges nicht unbedingt, einen Gegner aufzuspüren und ihn zu schlagen. Die maßgeblichen Fachleute schrieben als Alternative vor: entweder zu kämpfen, wenn man überlegen war, oder seine Kräfte auf bequeme Weise zu erhalten. Das bedeutete im günstigsten Falle, daß man auf Kosten seines Gegners lebte. Ein Feldzug, bei dem das Heer aus dem Land des Gegners lebte, ... war überaus erfolgreich, selbst wenn kein einziger Schuß fiel. Den Feind zu zwingen, von seinen eigenen Vorräten zu zehren, war schon viel; ihn zu zwingen den Gegner zu versorgen, war mehr, und am meisten schätzte man, sein Winterquartier auf gegnerischem Gebiet zu beziehen. Wenn man es fertig brachte, nach Überschreiten der Grenze den Gegner wochenlang hin und her marschieren zu lassen, ohne ihm die Möglichkeit zu einem Angriff zu bieten, so war das an sich schon ein Erfolg. Auf diese Weise wurden weniger befähigte Heerführer, wie Wilhelm von Oranien, zur Verzweiflung und ins Unglück getrieben."
86 87
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„Angriffe auf starke Stellungen darf man nur im äußersten Notfalle unternehmen. Warum? Weil alle Nachteile auf Seiten des Angreifers sind.“ „[...] Denn eine feste Stellung läßt sich nur mit großen Opfern erobern, [...].“88
Angriffe gegen Anhöhen bezeichnet Friedrich als das „Allerschwierigste im Kriege“.89 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang die seit Beginn der Neuzeit zunehmende Feuerkraft der Heere, welche nach Regling auf taktischer Ebene die Wirksamkeit der Verteidigung gegenüber dem Angriff erhöhte.90 Das trifft vornehmlich für die relativ unbewegliche Artillerie zu, die zur Zeit Friedrichs besonders in der Gefechtsart Verteidigung ihre Stärken zur Geltung bringen konnte. Das Beziehen starker Defensivstellungen ist nach Friedrich für denjenigen zweckmäßig, der den Kampf zu vermeiden sucht und durch das Einnehmen einer solchen Position den Gegner von einem Angriff abhalten will. Das Lager von Bunzelwitz, welches Friedrich im Sommer 1761 bezog, ist ein vollendetes Beispiel für diesen Zusammenhang. Es gilt als strategische Meisterleistung des Preußenherrschers und entschied militärisch den Siebenjährigen Krieg zu seinen Gunsten, indem es die zahlenmäßig überlegenen Gegner Preußens zur Selbstlähmung verurteilte, während es ihm die Reorganisation seiner Armee und den erneuten Übergang zur Offensive ermöglichte.91 Dieses defensivstrategische Bravourstück muss jedoch als Ausnahme in der ansonsten stark angriffsbetonten strategischen Handlungsweise Friedrichs verstanden werden. Welche Bedeutung Friedrich II. der Ausnutzung des Geländes beimaß, wird im Folgenden deutlich: „Jetzt will ich von den Defensivlagern reden. Ihre Stärke liegt allein in dem Gelände. Sie haben keinen anderen Zweck, als einen Angriff des Feindes zu verhindern.“92 „Ein Feind, der den Kampf vermeiden will, sucht seinen Vorteil in einem schwer zugänglichen Gelände, das von Schluchten und Hohlwegen durchschnitten, von Wäldern oder Flüssen beengt ist. Er lagert sich auf den Gipfeln von Bergen oder Anhöhen, besetzt Dörfer, errichtet Batterien, befestigt sein Gelände je nach dessen Beschaffenheit, stellt jede Waffe an den geeigneten Fleck, ... deckt sich durch spanische Reiter, Schanzen und Befestigungen.“93
88 Friedrich der Große: Die Politischen Testamente. Übersetzt von Friedrich v. Oppeln-Bronikowski, München 1941, S. 171 89 Friedrich der Große: Militärische Schriften. a.a.O., S. 158 90 Vgl. Regling a.a.O., S. 76 91 Venohr, Wolfgang: Der große König. Friedrich II. im Siebenjährigen Krieg, Bergisch Gladbach 1995, S. 294 f, 358 f 92 Friedrich der Große: Militärische Schriften. a.a.O., S. 26 93 Ebenda, S. 91
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
Trotz der taktischen Vorzüge derartiger Defensivstellungen lehnte Friedrich II. diese für seine Kriegführung weitgehend ab. „Ich habe schon gesagt und ich wiederhole es: ich möchte meine Armeen nie verschanzen, außer bei einer Belagerung; und auch dann wäre es besser, dem feindlichen Entsatzheere entgegenzurücken.“94
Der Grund für diese Ablehnung ist darin zu sehen, dass zur Zeit Friedrichs eine Verteidigungsstellung in den seltensten Fällen so an das Gelände angelehnt werden konnte, dass eine Umgehung derselben auszuschließen war. Die meisten Verschanzungen würden erobert, weil sie nicht hinreichend angelehnt seien, betont er.95 Somit verliert selbst die taktisch stärkste Defensivstellung jeglichen Wert, da sie in der Regel operativ/strategisch umgangen werden kann. Eine Ausdehnung der Verteidigungsstellungen zu langen Verteidigungslinien, um damit einer Umgehung vorzubeugen, lehnt Friedrich gänzlich ab. „Sind schon die Verschanzungen mit so vielen Mißständen verknüpft, so ergibt sich naturgemäß, daß die Verteidigungslinien noch viel weniger taugen ... denn sie nehmen mehr Gelände ein, als man Truppen zu ihrer Besetzung hat.“96
Damit verdeutlicht Friedrich das Raum-Kräfte-Verhältnis seiner Zeit, welches sich erst 1914 an der Westfront grundsätzlich ändern sollte.97 2.4 Abschließende Bewertung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Friedrich II. sowohl auf strategischer als auch auf taktischer Ebene den Angriff als die stärkere Form des Kriegführens betrachtete, wobei ihm die taktischen Vorzüge vorbereiteter Defensivstellungen in günstigem Gelände durchaus bewusst waren. Zu beachten ist allerdings, dass er bei seinen Überlegungen immer und ganz bewusst die spezifische Situation Preußens vor Augen hatte.
94
Ebenda, S. 46 Ebenda, S. 60. Vgl. auch S. 64 f: "Die meisten Verschanzungen werden gestürmt, weil sie nicht nach den Regeln angelegt sind, weil der Verteidiger umgangen wird, oder die Truppen feig sind, und weil der Angreifer in seinen Bewegungen freier und kühner ist. Überdies haben Beispiele gezeigt, daß, wenn eine Verschanzung an einer Stelle gestürmt ist, die ganze Armee den Mut verliert und sie verläßt." 96 Ebenda, S. 64 97 Erst 1914 waren die Heere so groß und ihre Feuerkraft hatte sich derart gesteigert, dass eine die ganze Frontbreite umspannende Verteidigungslinie von den Alpen im Süden bis zum Kanal im Norden errichtet werden konnte, welche nicht zu umgehen und nur schwer zu durchbrechen war. 95
2 Friedrich II. als Vollender absolutistischer Kabinettkriegführung
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Tabelle 2: Friedrich II.: Vorteile / Stärken von Angriff und Verteidigung Angriff Verteidigung 1. Entscheidung: 1. Geländeauswahl: KannEntscheidungerzwingen(umKrieg MöglichkeitderAuswahldesGeländes schnellzubeenden/wirtschaftlicheBeͲ zumeigenenVorteil(Anhöhen,WälͲ lastungenzureduzieren) der,Sümpfe,...) 2. Kosten: 2. Geländeverstärkung: MöglichkeitdenKrieginFeindesland MöglichkeitderVerstärkungdesGeͲ aufKostendesGegnerszuführen ländesdurchStellungsbau,VerschanͲ zungenundHindernisse 3. Schwächenausnutzung: 3. VorbereiteteStellungen: MöglichkeitdieSchwächenundFehler Artillerieeingeschossen,vertrautes desGegnersaktivauszunutzen Gelände,Führungerleichtert 4. Umgehungsmöglichkeit: 4. Artillerie: MöglichkeiteinenGegnerinstarkerPoͲ EffektivereNutzungderArtillerie sitionzuumgehen 5. Bewegungsfreiheit: KühnerundfreierinderBewegung 6. Psychologisch/moralische Überlegenheit: u.a.durchdas„Schockprinzip“(vgl.BaͲ jonettangriff) 7. QualitätderTruppe: NutzungderbesonderenQualitätder preußischenTruppen:Ausbildungsstand undAngriffsgeist
Gesamtergebnis: Die Stärken und Vorzüge des Angriffs dominieren eindeutig, insbesondere vor dem Hintergrund der besonderen Situation Preußens.
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
Napoleon Bonaparte und die französische Revolutionskriegführung (1769 - 1821) „Ich bin mit Friedrich II. der Ansicht, daß man immer als erster angreifen sollte. ... Es ist ein sehr schwerer Fehler, zuzulassen, daß man angegriffen wird. ... führt den Krieg offensiv wie Alexander, Hannibal, Caesar, Gustav Adolf, Turenne, Prinz Eugen, Friedrich II. ...“ Napoleon I.98
3 Napoleon Bonaparte und die französische Revolution 3.1 Hintergrund Mit der Französischen Revolution und dem durch sie hervorgerufenen gesellschaftlichen Umbruch veränderten sich ausgehend von Frankreich Charakter und Erscheinungsform des Krieges grundlegend. Die entscheidendste Neuerung dieser Zeit war die Ausrufung der „levèe en masse“ am 23. August 1793 durch den Konvent in Frankreich. Grundlage für die Schaffung dieser durch den revolutionären Geist beflügelten bürgerlichen Massenarmee war ein Erlass, dessen erster Artikel wie folgt lautete: „Von diesem Augenblick an bis zu jenem, da wir unsere Feinde vom Gebiet der Republik vertrieben haben, werden alle Franzosen ständig für den Dienst in der Armee herangezogen.“99
Damit stand dem revolutionären Frankreich ein riesiges „Menschenreservoir“ für den Militärdienst zur Verfügung. Bisher waren Soldaten teuer, analysiert der britische General Fuller, von nun an sind sie billig. Man hatte (in der Vergangenheit) Schlachten vermieden, nun suchte man sie.100 Hierin ist das zentrale Merkmale napoleonischer Kriegführung zu sehen. Die revolutionäre Begeisterung des Volkes in Verbindung mit der Wehrpflicht führte aber nicht nur zu Massenarmeen von bisher ungekannter Größe, sie veränderte darüber hinaus auch die Taktik derselben. Diese Entwicklung von der Lineartaktik im friederizianischen Sinne hin zur Tirailleur- und Kolonnentaktik war zum einen bedingt, zum anderen aber auch erst ermöglicht durch den revolutionären Wandel. Liddell Hart macht dies folgendermaßen deutlich: „Der revolutionäre Geist, der die französischen Bürgerarmeen beherrschte, schuf sowohl die Voraussetzung als auch gleichzeitig den Impuls. Der übliche Drill (notwendig für das Funktionieren der Lineartaktik) war nicht möglich, doch zum 98
Fuller a.a.O., S. 51 f Ebenda, S. 33 100 Ebenda, S. 36 99
3 Napoleon Bonaparte und die französische Revolution
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Ausgleich dafür brachte dieser revolutionäre Geist das taktische Gefühl (als Voraussetzung für das Tirailleurgefecht, d.h. das Kämpfen in lockeren Schützenschwärmen unter Ausnutzung des Geländes) und die Initiative des Individuums (als Grundbedingung des auf seine psychologische Schockwirkung setzenden Kolonnenangriffes) zur Wirkung.“101
Zwei weitere Neuerungen kennzeichnen die Kriegführung zur Zeit Napoleons. Zum einen die Aufteilung der Armee in selbständige, aus allen Waffengattungen (Infanterie, Kavallerie, Artillerie) bestehende Korps bzw. Divisionen, und zum anderen das sich auf Requisitionen aus dem Lande stützende Verpflegungswesen (womit ein großer Teil des schwerfälligen Trosses eingespart werden konnte).102 Beide Faktoren förderten die Schnelligkeit und Reichweite der Revolutionsheere sowohl in taktischer als auch in strategischer Hinsicht.103 Durch die revolutionär veränderten gesellschaftlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Kriegführung wurde möglich, was Friedrich II. noch verwehrt geblieben war, die Niederwerfung des Gegners. Napoleon strebte diese i.d.R. mit einem direkten Angriff auf die gegnerische Hauptstadt an, mit dem Ziel, auf dem Weg dorthin die Hauptmacht des Feindes zur Entscheidungsschlacht zu stellen und zu schlagen.104 Insofern kann von einer grundsätzlichen Verschiedenartigkeit zwischen der Kriegführung Friedrichs II. und Napoleons gesprochen werden.105 Napoleon kann daher zu Recht als „Schöpfer“106 einer neuzeitlichen Niederwerfungsstrategie bezeichnet werden, die in der Folge u.a. von Gneisenau und später von Moltke aufgenommen und weiterentwickelt wurde. Zum eigentlichen Problem der Napoleonischen Strategie wurde der Feldzug von 1812. Obwohl Napoleon bei Borodino einen taktischen Erfolg gegen die russische Armee erzielte und in der Folge sein strategisches Ziel, die Einnahme Moskaus, realisieren konnte, verlor er durch die Verweigerungshaltung des russischen Zaren und seine eigene logistische Überdehnung nicht nur fast seine gesamte Armee und damit den Feldzug, sondern auch den Nimbus seiner Unbesiegbarkeit. Auch vor dem Hintergrund
101
Liddell Hart: Strategie. Wiesbaden 1953, S. 134. Vgl. auch: Bernard Law Viscount Montgomery of Alamain: Weltgeschichte der Schlachten und Kriegszüge, Band 1, München 1975, S. 364 f: "Die Gefechtstaktik war einfach und verlustreich, aber sie paßte zu zahlenmäßig starken und begeisterten Truppen, die von jungen Offizieren geführt wurden, die mehr Energie und Mut besaßen als Erfahrung und militärisches Geschick. ..." 102 Vgl. Liddell Hart a.a.O., S. 135 103 Vgl. Fuller a.a.O., S. 37 104 Vgl. Delbrück a. a. O., S. 551 105 Vgl. Ebenda, (Kommentar von Otto Haintz) S. 602 106 Vgl. Ebenda, S. 566
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
der ihm zur Verfügung stehenden Kräfte und Mittel war die offensive Niederwerfungsstrategie an ihre Grenzen gelangt.107 3.2 Dominanz des Offensivdenkens Napoleons Kriegführung war wie keine andere beherrscht vom Offensivdenken. Er hat, laut Fuller, beginnend mit seinem ersten Einsatz bei der Belagerung von Toulon (1793) bis zum Verlassen des Schlachtfeldes von Waterloo niemals eine rein defensive Schlacht geschlagen.108 Aber nicht nur auf der taktischen Ebene der Schlachtentscheidung, sondern auch auf strategischer Ebene bei der Führung seiner Feldzüge war Napoleon stets offensiv.109 Hier drängt sich der Gedanke auf, Napoleon habe den Angriff grundsätzlich als die vorteilhaftere oder stärkere Form des Kriegführens betrachtet. Auch eine Reihe von Äußerungen des Kaisers weisen in diese Richtung. So betont er, es sei ein sehr schwerer Fehler, zuzulassen, dass man angegriffen werde, und fordert dazu auf, den Krieg offensiv zu führen und immer als erster anzugreifen.110 Es könnte aufgrund derartiger Äußerungen noch weiter vermutet werden, er habe es sogar als einen Grundsatz der Kriegführung betrachtet, möglichst immer als erster die Offensive zu ergreifen. Napoleon ging davon aus, dass es im Krieg bestimmte Grundsätze gebe. Diese seien auch von dem nach „innerer Eingebung“ handelnden Genie als „Achsen“ zu betrachten, um welche sich eine „Bewegung“ zu vollziehen habe. Weiter betont er: „Man hat meine großen Erfolge meist dem Glück zugeschrieben, man wird nicht verfehlen, bei Mißerfolgen von meinen Fehlern zu sprechen. Liest man die Geschichte meiner Feldzüge, so wird man nicht wenig erstaunen, zu erfahren, daß in beiden Fällen, überhaupt immer, meine Vernunft und meine Fähigkeiten nur in Übereinstimmung mit gewissen Grundideen oder Prinzipien in Tätigkeiten kamen.“111
Da Napoleon selbst keine eigene Kriegstheorie entwickelt hat112, und auch das von ihm mehrfach ins Auge gefasste Werk über die Grundsätze des Krieges 107
Vgl. Ebenda, S. 576 Vgl. Fuller a.a.O., S. 54 109 Vgl. Montgomery a.a.O., S. 367 110 Vgl. Fuller a.a.O., S. 51 f 111 Napoleon I.: Kaiser von Frankreich, Berühmte Aussprüche und Worte Napoleons von Corsika bis St. Helena. hrsg. v. Robert Rehlen, Leipzig 1927, S. 178, 192 112 Liddell Hart a.a.O., S. 136-139. Es muss jedoch betont werden, dass Napoleon die kriegstheoretischen Werke seiner Zeit intensiv studierte. Hier verdienen insbesondere die Schriften von Robins, Bourcet, du Teil, Gribeauval, Guibert und Friedrich dem Großen Erwähnung. Diesen Überlegungen fügte Napoleon nur wenige theoretische Erkenntnisse bei, belebte sie aber durch ihre Umsetzung in die Praxis.Vgl. auch Craig a.a.O., S. 91, sowie Montgomery a.a.O., S. 365 108
3 Napoleon Bonaparte und die französische Revolution
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seiner Nachwelt schuldig geblieben ist113, müssen die Gründe für sein stets offensives Handeln anhand der Praxis seiner Kriegführung untersucht werden.114 Was die strategische Ebene anbelangt, so ergab sich schon allein aus den politischen Zielsetzungen Bonapartes die Notwendigkeit zu offensiver Kriegführung. Die Verbreitung der Ideale der französischen Revolution, wie auch sein Vorherrschaftsstreben über Europa, war nur durch aktive Niederwerfung seiner Gegner zu erreichen und erforderte daher die strategische Offensive. Diese Zielsetzung in Verbindung mit dem ungestümen Geist Napoleons115 kann auf der Ebene der Strategie als Hauptgrund für seine offensive Kriegführung betrachtet werden. Daneben kann ein weiterer Grund für seine Bevorzugung einer offensiven Strategie, der bereits andeutet, dass Bonaparte sich von der Wahl derselben auch gewisse Vorteile versprach, darin gesehen werden, dass er nur durch Angriff einen der größten Schwachpunkte seiner Gegner zu seinen Gunsten ausnutzen konnte. Dieser lag in der Uneinigkeit, Schwerfälligkeit und der mangelnden Koordination seiner aus wechselnden Koalitionen bestehenden Gegner.116 Durch schnelle energische Angriffe und das Behaupten der Initiative hatte er die Möglichkeit, diesen stets zuvorzukommen, sie einzeln zu schlagen und damit ein geschlossenes politisch wie militärisch koordiniertes Vorgehen der jeweiligen
113
Der Gedanke Napoleons, ein Buch mit den Grundsätzen der Kriegführung zusammenzustellen, wird in verschiedenen seiner Äußerungen deutlich: "Wenn ich einmal die Zeit dazu haben werde, möchte ich in einem Buch die Grundsätze des Krieges so genau darlegen, dass sie allen Soldaten zugänglich werden und wie eine Wissenschaft zu erlernen sind." Vgl. Fuller a.a.O., S. 51. An anderer Stelle äußert er: "Friedrich von Preußen hat in seinen "Instruktionen" nicht alles sagen wollen; er hätte sie besser machen können, aber er hat es nicht gewollt. Ich hätte Lust, über diesen Gegenstand zu schreiben; aber hinterher sagen die Generäle, wenn sie geschlagen sind, sie hätten nur die Grundsätze befolgt, die man ihnen eingeprägt hätte. Es handelt sich im Kriege um so viele verschiedene Elemente." Napoleon I.: Worte Napoleons. a.a.O., S. 191 114 Eine treffende und prägnante Schilderung der Kriegführung Bonapartes liefert Gneisenau in einem Brief an Alexander I. von Russland vom 2. Juni 1812: "Alle Feldzüge des Kaisers Napoleon waren auf eine kurze Dauer berechnet. Sich rasch bewegen, den Feind durch Bewegungen umfassen, ihn im einzelnen schlagen, durch den Schrecken lähmen und einen kurzen Krieg durch einen raschen Frieden endigen, der dem französischen Soldaten den Stolz des Sieges sichert, seiner Willkür die von ihm überschwemmten Länder überliefert, das ist die Art des Krieges, worauf der französische Kaiser ausgeht. Aber sobald man ihn zwingt, einen langsamen Krieg zu führen, sobald man dem französischen Soldaten die Möglichkeit nimmt, auf Kosten eines unterdrückten Volkes zu leben, sobald man ihm einen langen und harten Kampf in Aussicht stellt, dann kann man sich schmeicheln, ihn bereits geistig besiegt zu haben, und selbst erfochtene Siege können ihn zu rückgängigen Bewegungen zwingen." Neidhardt von Gneisenau: Ausgewählte militärische Schriften. in: Schriften des Militärgeschichtlichen Instituts der DDR, herausgegeben von G. Förster und C. Gudzent. Berlin 1984, S. 223 f 115 Vgl. dazu John Keegan: Das Antlitz des Krieges. Die Schlachten von Azincourt 1415, Waterloo 1815 und der Somme 1916. Frankfurt 1991, S. 141 116 Vgl. dazu: Frhr. v. Freytag-Loringhoven: Die Heerführung Napoleons. Berlin 1910, S. 426
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
Koalitionspartner zu verhindern.117 Aus diesem wiederkehrenden Muster seines praktischen Handelns kann gefolgert werden, dass Napoleon eine wesentliche Stärke der Offensive darin sah, hierdurch die Schwächen seiner Gegner besser zum eigenen Vorteil ausnutzen zu können, als dies in der Verteidigung möglich gewesen wäre. Im Bestreben Napoleons, seine Gegner durch schnelle Bewegungen und unerwartete Kräftekonzentrationen strategisch zu überraschen, wird ein weiterer Vorteil deutlich, welchen er in einer offensiven Kriegsführung sieht. Fuller spricht von einem „unabänderlichen Vertrauen“ Napoleons zum Angriff und zur Schnelligkeit, mit welcher die Zeit genutzt und strategische Überraschung erzielt werden konnte. Er betont dabei, dass Napoleons Überraschungsmanöver selten taktischer, vielmehr fast ausschließlich strategischer Art gewesen seien, wie etwa die Schlachten von Marengo (1800), Ulm (1805), Jena (1806) sowie der erste Teil der Schlacht von Waterloo (1815).118 Hervorzuheben ist die große Bedeutung, welche Napoleon dem Faktor Zeit beimaß: „Im Krieg ist der Verlust an Zeit nicht wieder gutzumachen. Gründe, die für den Zeitverlust angeführt werden, sind wertlos, denn Operationen schlagen nur durch Verzögerungen fehl.“
117
Der Feldzug von Ulm (1805) ist ein vollendetes Beispiel dieser Vorgehensweise. Montgomery liefert dazu folgende Beschreibung: "Wenn Napoleon nicht die Initiative ergriff und als erster zuschlug, mußte er damit rechnen, daß der Gegner 140.000 Mann am Oberlauf der Donau bei Ulm versammelte, um von dort gegen Frankreich zu marschieren. Napoleon rechnete, die Entfernung von Boulogne, wo er seine Armee versammelt hatte, nach Ulm sei geringer als die von Rußland in den gleichen Raum. Er entschloss sich daher, frühzeitig und schnell zuzuschlagen und seine Gegner einzeln zu erledigen. Dabei wollte er zunächst die österreichische Armee bei Ulm angreifen und dann donauabwärts marschieren, um den Kampf mit den Russen aufzunehmen." Montgomery a.a.O., S. 371. Auch in seinem letzten Feldzug, dem von 1815, ergriff Napoleon genau aus diesem Grunde die strategische Offensive. Er hoffte, die Armeen Wellingtons und Blüchers schlagen zu können, bevor die Österreicher mit 200.000 und die Russen mit weiteren 150.000 Mann gegen ihn aufmarschiert wären. Nur eine rasche Offensive bot ihm die Möglichkeit, seine Gegner einzeln, d.h. unter für ihn günstigeren Zahlenverhältnissen, zu schlagen und außerdem einen Krieg im eigenen Lande zu verhindern. Der Anfang des Feldzuges verlief strategisch brillant. Es gelingt Napoleon durch einen schnellen überraschenden Vorstoß entlang der Grenze zwischen der britischen und der preußischen Armee, letztere isoliert bei Ligny zur Schlacht zu stellen und zu schlagen. Nur dem Entschluss Gneisenaus, trotz der Niederlage und obwohl die Briten ihre Unterstützung für Blücher bei Ligny versagten, Wellington zu Hilfe zu eilen, ist der Sieg über Napoleon bei Waterloo zu verdanken. Damit wurde erstmals der ewige Zwiespalt zwischen den Koalitionspartnern überwunden. Vgl. Keegan a.a.O., S. 140 ff. 118 Vgl. Fuller a.a.O., S. 51-53. Vgl auch Montgomery a.a.O., S. 365-367, sowie Elmar Dinter: Nie wieder Verdun. Überlegungen zum Kriegsbild der 90er Jahre, Herford 1985, S. 60. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Äußerung Bonapartes über den Feldzug von Ulm (1805): "Da hätten wir also die erste Schlacht mit unseren Beinen gewonnen,..." Napoleon I.: Worte Napoleons. a.a.O., S. 186. Damit unterstreicht er die Bedeutung schneller Bewegungen für seine Feldzüge.
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„Raum läßt sich wiedergewinnen, verlorene Zeit niemals.“119
Aus dieser Einstellung wird deutlich, dass Napoleon dem Angriff eine weitere, für ihn ganz entscheidende Stärke zuordnet, nämlich die Fähigkeit, über die Zeit in weit größerem Maße bestimmen zu können als die Verteidigung. Dies ergibt sich daraus, dass der Angreifer aller Regel nach die Initiative besitzt und damit einen wesentlich stärkeren Einfluss auf den Zeitpunkt eines Gefechts und damit auf den Verlauf eines Feldzuges nehmen kann als der Verteidiger.120 Ein potenzieller Angreifer, der zu einem bestimmten Zeitpunkt noch kein Gefecht führen will, braucht nicht anzugreifen. Natürlich sind auch Gründe denkbar, die einen Akteur dazu veranlassen können, zu einem für ihn ungünstigen Zeitpunkt offensiv zu werden. Dabei hat er jedoch immer die Wahl, dies zu unterlassen, wenn ihm die Umstände für einen Kampf zu ungünstig erscheinen. Der Verteidiger dagegen ist in seinen Möglichkeiten, ein Gefecht zu vermeiden, weitaus stärker eingeschränkt, da er von der Initiative des Angreifers getrieben wird. Er hat zwar die Möglichkeit, einem Angriff auszuweichen oder schwer angreifbare Positionen zu beziehen, aber ersteres ist nicht unbegrenzt möglich, wenn er das zu schützende Objekt dem Angreifer nicht kampflos überlassen will, und im zweiten Fall besteht für den Angreifer i.d.R. die Möglichkeit, derartige Stellungen zu umgehen, oder, entgegen der Erwartung des Verteidigers, doch anzugreifen. Ein Gefecht zu einem für ihn günstigen Zeitpunkt erzwingen kann der Verteidiger im Gegensatz zum Angreifer nur sehr begrenzt. Wenn er dies anstrebt, muss er demnach selbst die Initiative ergreifen und offensiv werden. Somit wird klar, warum nach Napoleons Vorstellungen der Angreifer in der Regel in weit stärkerem Maße als der Verteidiger über den Faktor Zeit gebieten kann. Dass er dies als eine Stärke des Angriffs betrachtete, liegt auf der Hand. Anzumerken bleibt, dass dieser aktiven entscheidungssuchenden Nutzung der Zeit ein passiver entscheidungsvermeidender Gebrauch derselben entgegengestellt werden kann. Clausewitz spricht hierbei vom „Borgen von Zeit“ der Verteidigung. Hierbei wird Raum gegen Zeit eingetauscht die Entscheidung bewusst vermieden und der Krieg in die Länge gezogen. Abhängig vom jeweiligen Raum-KräfteVerhältnis können auch durch einen derartigen strategischen Gebrauch der Zeit Feldzüge, Schlachten und Kriege gewonnen werden, wie Napoleons gescheiterter Russlandfeldzug von 1812 beweist. Dieser Entschleunigung der Kriegführung nicht gewachsen gewesen zu sein, kann als einer der größten Schwachpunkte napoleonischer Kriegführung betrachtet werden. Gleichzeitig wird hierin eine der größten Schwächen des 119
Vgl. Fuller a.a.O., S. 53 Dass der Angreifer diesen Vorteil nicht immer auf seiner Seite hat, ist klar. Ebenso die Tatsache, dass im Einzelfall auch der Verteidiger denselben für sich beanspruchen kann.
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
Angriffs im Allgemeinen deutlich. Diese ist darin zu sehen, dass der Angreifer, wenn er den Angriff erst einmal begonnen hat, i.d.R. zum Erfolg gezwungen ist, während es für den Verteidiger oftmals genügt durchzuhalten und dem Angreifer den Erfolg zu verwehren. Der Faktor Zeit in seiner entschleunigten Dimension kann in diesem Sinne insbesondere von der Verteidigung zum eigenen Vorteil genutzt werden und sich daher als eine eindeutige Stärke derselben erweisen. Um in der Clausewitzschen Terminologie zu bleiben lässt sich sagen: Nicht „Erhalten ist leichter als „Erobern“, aber es ist oftmals leichter einen Erfolg des Gegners zu verhindern als selbst aktiv einen Erfolg zu erzielen. Hinzu kommt, dass einer der bedeutendste Faktoren für das Erzielen von Überraschung in der Wahl eines für den Gegner unerwarteten Zeitpunktes für den Kampf liegt.121 Unter Berücksichtigung der größeren Verfügungsgewalt des Angreifers über den Faktors Zeit folgt daraus, dass dieser das Überraschungsmoment in weit größerem Umfang für sich nutzen kann als der Verteidiger, was Napoleon zu Recht als Vorteil der Offensive betrachtet. Der praktische Wert des Überraschungsmoments für den militärischen Erfolg bedarf keiner näheren Erläuterung. Hierbei darf jedoch nicht übersehen werden, dass auch der Verteidiger die Möglichkeit zur Überraschung besitzt. Clausewitz geht sogar soweit zu behaupten, dass Überraschung als ein „Prinzip des Sieges“ zum „größeren Teil“ dem Verteidiger zu Gebote stünde.122 Ein weiterer Grund für das fast immer offensive Verhalten des Kaisers liegt darin, dass er sowohl auf taktischer als auch auf strategischer Ebene seine Kampfweise und Kriegführung auf das so genannte „Schockprinzip“ ausrichtete und darin einen ganz wesentlichen Schlüssel seiner Erfolge sah. Das Schockprinzip Napoleons kann vereinfacht ausgedrückt als ein Produkt aus Masse (Konzentration), Bewegung (Schnelligkeit, Überraschung, Zeit) und moralischer Wirkung betrachtet werden.123 Insbesondere letzterem ordnet er hierbei größte Bedeutung bei, während er die Elemente Masse und Bewegung hauptsächlich dazu benutzte, die moralisch-psychologische Wirkung des Schocks zu verstärken. Eine Reihe seiner Äußerungen zeigen dies sehr deutlich: „Zwei Armeen sind zwei Korps, die sich bewegen und sich Grauen einjagen, und es kommt ein Augenblick panischen Schreckens, ihn muß man zu benutzen verstehen; es beruht alles auf einem mechanischen und auf einem moralischen Prinzip.“ 121
Andere Faktoren Überraschung zu erzielen, können unter anderem in der Bildung unerwarteter Schwerpunkte, der Verwendung neuartiger Waffensysteme oder in der Variation von Kampftaktiken und Methoden gesehen werden. 122 Vgl. Vom Kriege. VI, 2, S. 618 f 123 Vgl. dazu Dinter a.a.O., S. 60. Dinter spricht hier nur von den Faktoren Masse und Bewegung und übersieht dabei die moralische Komponente als das zentrale Element des napoleonischen Schockprinzips.
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„Die moralische Kraft mehr als die Zahl, entscheidet den Sieg.“124
Zentral ist hierbei, dass die drei Elemente des Schockprinzips nur im Angriff ihre volle Stärke entfalten können, und der „Schock“ somit in erster Linie vom Angreifer zu dessen Gunsten genutzt werden kann. Was das Element Bewegung betrifft, so ergibt sich schon aus der Definition von Angriff und Verteidigung, dass es dem Angreifer in erster Linie zukommt. Ohne „Bewegung“ kein Angriff und ohne „Abwarten“ keine Verteidigung. Dass beispielsweise ein statisch eingesetzter Kavallerieverband auf einen Gegner weniger furchteinflößend und schockierend wirkt, als eine im Galopp vorgetragene Attacke desselben Verbandes, scheint schon in der Natur der Sache und in der psychischen Konstitution des Menschen zu liegen. Somit ist Bewegung eine notwendige Voraussetzung des Angriffs und damit Angriff eine Notwendigkeit, um aktiv Schock zu erzielen. Auch die einzige bedeutende taktische Neuerung, die Napoleon einführte, der schwerpunktmäßige Einsatz der Artillerie (in der Vergangenheit wurde die Artillerie weitgehend gleichmäßig auf die gesamte Schlachtreihe verteilt), war ganz auf den Angriff ausgerichtet und diente dazu, durch zusammengefasstes Feuer riesiger Batterien die feindlichen Linien oder Karrees sturmreif zu schießen. 125 Da einzelne auf eine geschlossene Verteidigung anstürmende Angreifer noch keine nachhaltige psychologische Wirkung beim Gegner auszulösen vermögen, muss auch der Faktor Masse oder Konzentration als notwendiger Bestandteil des Schockprinzips angesehen werden. Konzentration aber lässt sich im Angriff in der Regel leichter erzielen als in der Verteidigung. Das liegt daran, dass der Angreifer, weil er im Besitz der Initiative ist, Ort, Zeit und Schwerpunkt des Kampfes in weit stärkerem Maße bestimmen kann als der Verteidiger. Jenem bleibt (weil er Ort und Zeitpunkt des Angriffs in der Regel nicht genau kennt) häufig keine andere Möglichkeit, als auf die Kräftekonzentration des Angreifers zu reagieren, mit der Gefahr, dass dieser inzwischen die Oberhand gewinnt. Die napoleonische Kolonnentaktik, ein reines Offensivmittel (denn in der Verteidigung sind Kolonnen aufgrund ihrer nur geringen Feuerkraft unzweckmäßig), war geradezu ideal dafür geeignet, auf taktischer Ebene ein Höchstmaß an physischer Konzentration zu erreichen.126 124
Napoleon I.: Worte Napoleons. a.a.O., S. 179-181 Vgl. dazu Liddell Hart a.a.O., S. 152, sowie Montgomery a.a.O., S. 368, und Keegan a.a.O., S. 185 ff. Die Tatsache, dass es in der Kriegsgeschichte kaum einen verbürgten Fall des direkten Bajonettkampfes zweier Armeen miteinander gibt, unterstreicht diese Tatsache nur allzu gut. Vgl. Keegan a.a.O., S. 233, sowie Dinter a.a.O., S. 60 f 126 Welche Bedeutung Napoleon den Faktoren Konzentration und Initiative beimaß, drückt er selbst sehr eindeutig aus: "Der Krieg ist nichts anderes, als an einem gewissen Punkt mehr Kräfte als der Feind zu vereinigen." "Die beste Art sich zu verteidigen, ist oft die anzugreifen, und die Kunst der 125
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
Was die moralisch-psychologische Wirkung des Schocks betrifft, so wird deutlich, dass diese bei defensiver Kriegführung und Kampfweise weitgehend verloren gehen würde. Nur in Verbindung mit einer offensiven Strategie konnte Bonaparte seine Gegner allein durch den Schrecken und den Ruf seiner Unbesiegbarkeit lähmen. Gleiches gilt auch auf taktischer Ebene. Nur mit einem schwungvoll vorgetragenen Bajonettangriff, nicht aber mit einem Abwarten in der Verteidigung, konnte er darauf hoffen, den Gegner allein durch den Anblick des „blanken Stahls“ in Furcht und Schrecken zu versetzen, und ihn ohne dass es tatsächlich zum Kampfe kommt, in die Flucht zu schlagen. Somit kann festgehalten werden, dass Napoleon im „Schockprinzip“ eine weitere wesentliche Stärke des Angriffs sowohl auf taktischer als auch auf strategischer Ebene gesehen hat, welche er zeitweise sehr erfolgreich zu nutzen verstand. Eine zusätzliche Stärke des Angriffs liegt für Bonaparte darin, dass in der Ausrichtung auf Angriff und Schockprinzip die besonderen Stärken der französischen Armee zur Geltung gebracht werden konnten, welche in der Defensive ungenutzt geblieben wären. Der revolutionäre Enthusiasmus des französischen Soldaten127 war beispielsweise ideale Voraussetzung für die in erster Linie auf psychologische Schockwirkung setzenden Kolonnenangriffe der napoleonischen Heere. Auch die Gliederung der Armee in selbständige Divisionen, sowie die neue Art des Verpflegungswesens wirkten sich, da sie die Schnelligkeit und Reichweite der Armee erhöhten, besonders vorteilhaft im Angriff aus. Im Sinne paradoxer Logik kann die Frage gestellt werden, ob die wenig ausgebildeten Soldaten des revolutionären Frankreich zu einer geordneten Verteidigung überhaupt in der Lage gewesen wären. Ein durch Schützenschwärme (Tirailleure) vorbereiteter Kolonnenangriff ist, bei entsprechender Motivation der Soldaten, leichter zu organisieren und erfordert weniger Ausbildung und Disziplin als Verteidigung und Feuerkampf in geschlossener Formation (Linie oder Karree). Es kann daher vermutet werden, dass Napoleons angriffsbetonte Kampfweise auch daher rührte, dass er sich auf Grund des mangelnden Ausbildungsstandes seiner Soldaten in der linearen Fechtweise für eine Verteidigung als zu schwach betrachtete.
Kriegführung besteht hauptsächlich darin, die Initiative zu ergreifen, wenn man sie durch die ersten Erfolge des Feindes verloren hat." Napoleon I.: Worte Napoleons. a.a.O., S.178 127 So spricht beispielsweise Lazare Carnot, der von 1792 bis 1797 dem Komitee für öffentliche Sicherheiten angehörte und dabei maßgeblich die französische Strategie beeinflusste, davon, dass es dem Nationalcharakter der Franzosen entspräche, immer und überall anzugreifen. Vgl. Montgomery a.a.O., S. 364. Hier lässt sich ein Einfluss auf die Haltung Napoleons vermuten, der diesbezüglich die gleiche Meinung vertrat. Vgl. auch Regling a.a.O., S. 203
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3.3 Abschließende Bewertung Zusammenfassend ergibt sich aus der Betrachtung seiner Kriegführung, dass Napoleon im Angriff so große Vorteile und Stärken sah, dass er sowohl auf taktischer als auch auf strategischer Ebene fast ausschließlich offensiv handelte. Die Vorteile und Stärken des Angriffs resultierten für ihn u.a. aus den spezifischen Eigenarten der französischen Revolutionsarmeen und wurden begünstigt durch den offensiven Geist des Kaisers. Es kann festgehalten werden, dass Napoleon den Angriff eindeutig als die für ihn stärkere Form des Kriegführens betrachtete. Zu bedenken ist, ob nicht gerade in dieser Überbewertung der Offensive einer der Gründe für das letztendliche Scheitern Napoleons gesehen werden muss. In diesem Zusammenhang ist eine Äußerung von Gordon A. Craig besonders interessant: „Napoleon had succeeded by breaking the stupid rules of custom and adhering to the sensible rules of nature and reason. But he had gone on to break a few of the rules of nature and reason also, ...“128
Ein Brechen dieser sog. „rules of nature and reason“ durch Napoleon kann in der absoluten Überbewertung der angriffsweisen Form des Kriegführens gesehen werden, weil damit der beständigen Wechselwirkung von Angriff und Verteidigung, den wechselseitigen Vor- und Nachteilen und damit der Natur des Krieges, nicht ausreichend Rechnung getragen wurde. Tabelle 3: Napoleon Bonaparte: Vorteile / Stärken des Angriffs Angriff 1. Schwächenausnutzung: SchwächendesGegnerskönnenbesserzumeigenenVorteilausgenutztwerden MöglichkeitgegnerischeStreitkräftegetrenntvoneinanderzuschlagen DamitAusgleichzahlenmäßigerUnterlegenheit 2. Überraschung: Zeitfaktor 3. Psychologisch/moralischeÜberlegenheit: Psychologisch/moralischeWirkungdes„Schockprinzips“resultierendauseiner KombinationvonBewegung,MasseundMoral
128 Gordon A. Craig: The Classics of the Nineteenth Century. Interpreters of Napoleon, in: Makers of Modern Strategy (Military Thought from Machiavelli to Hitler), Princeton 1973, S. 91.
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4. BesondereStärkenderfranzösischenArmee: kommenbesondersimAngriffzurGeltung WäreninderVerteidigungvonweitgeringererBedeutung RevolutionäreBegeisterung TirailleurͲundKolonnentaktik Divisionsgliederung BeweglicheLogistik SchwerpunktmäßigerArtillerieeinsatz 5. KonzentrationderKräfte: DadurchörtlicheÜberlegenheitzuerreichen(auchbeigegnerischerGesamtüberleͲ genheit) LeichterzuerreichenfürdenAngreifer,dadieseri.d.R.imBesitzderInitiativeist WichtigfürDurchbruch 6. Initiative: 7. Kosten: VermeidungvonKriegimeigenenLand 8. VermeidungeigenerSchwächen: Verteidigung,KampfimeigenenLand
Gesamtergebnis: Stark einseitige Hervorhebung der Stärken des Angriffs! 4
Ergänzende Betrachtung
Da es sich bei dieser Untersuchung lediglich um einen Ausschnitt aus der kontroversen Debatte hinsichtlich des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung insgesamt handeln kann, soll im Folgenden ein kurzer Ausblick auf den Umfang der Diskussion angedeutet werden: 4.1 Hintergrund: Kriegführung in der Renaissance Niccolo Machiavelli (1469-1527) untersucht in seinen „Discorsi“ die Frage, ob es besser sei, bei einem befürchteten Angriff selbst loszuschlagen oder den Krieg abzuwarten. Er hat dabei die strategische Ebene im Blick, bei der er zwischen einem eigenen Angriff und der Möglichkeit, den Krieg im eigenen Land abzuwarten, differenziert. Er betont hierbei die vielen Vorteile, die eine Kriegführung im eigenen Land hätte, sofern ein Herrscher über ein „gut bewaffnetes und kriegstüchtiges Volk“ verfüge (vgl. Schweiz).129 Im Falle eines „unbewaffneten Volkes“ und einem „zum Krieg ungeeigneten Land“ rät er hingegen dazu, den 129
Vgl. Machiavelli, Niccolo: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, Deutsche Gesamtausgabe übersetzt, eingeleitet und erläutert von Dr. Rudolf Zorn, Stuttgart 1977, S. 197 ff
4 Ergänzende Betrachtung
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Krieg möglichst weit von den eigenen Grenzen entfernt zu halten (vgl. Karthago). Grundsätzliche Überlegungen zu Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung trifft er hierbei nicht. 4.2 Hintergrund: Französische Revolutionskriegführung Der Schweizer Kriegstheoretiker Antoine Henry Jomini (1779-1869), ein Zeitgenosse von Clausewitz, der u.a. die Kriegführung Napoleons analysierte, kommt zu der Auffassung: „..., daß in der Taktik sich Angriff und Verteidigung die Waage halten“, während er in der Strategie den Angriff als „... fast immer vorteilhaft.“ bezeichnet.130 4.3 Hintergrund: Engels Militärische Schriften Für Friedrich Engels bedeutet Angriff im allgemein strategischen Sinne das Ergreifen der Initiative in einem Scharmützel, einem Gefecht, einem Treffen oder in einer regelrechten Schlacht. Dabei müsse notwendigerweise immer eine Seite mit offensiven, die andere mit defensiven Operationen beginnen. Der Angriff, so betont er, gelte allgemein als die erfolgreichere Operation. Deswegen leiteten Armeen, die in der Defensive handelten, oft offensive Operationen ein und lieferten selbst in defensiven Kampagnen offensive Aktionen. Hiermit, so führt er weiter aus, solle erreicht werden, dass die verteidigende Armee durch Wechsel von Ort und Schauplatz der Kampfhandlung die Berechnungen des Feindes störe, ihn von seiner Operationsbasis wegzieht und ihn zwinge, zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort zu kämpfen, als er erwartet und in seinen Vorbereitungen berücksichtigt hätte, was vielleicht sehr stark zu seinen Ungunsten ausfalle.131 Die Formulierung „Angriff als die erfolgreichere Operation“ lässt hierbei eine Gedankenverwandtschaft mit den Clausewitzschen Überlegungen vom „positiven Zweck“ des Angriffs erkennen. Die Betonung der Initiative als entscheidendem Kennzeichen des Angriffs mit der Möglichkeit und wesentlichen Stärke des Angriffs, den Gegner unter für ihn ungünstigen Bedingungen zum Kampf zu zwingen findet, sich in dieser Deutlichkeit bei Clausewitz nicht. Bezüglich der Art, wie eine Verteidigung zu führen sei, erläutert Engels, dass die Geschichte der größten Schlachten der Welt zu beweisen scheine, dass die defensive Aktion, die sicherste ist, wenn die angegriffene Armee eine genügend feste und hartnäckige Ausdauer besitze, um ungebrochen Widerstand zu leisten, bis sich Erschöpfung und Depression beim Angreifer einstellten, und sie 130
Vgl. Antoine Henry Jomini: Abriß der Kriegskunst. Übersetzt und erläutert durch von Boguslawski, Berlin 1881, S. 77 f 131 Engels, Friedrich: Ausgewählte Militärische Schriften. Band I, Berlin 1958, S. 687
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dann ihrerseits zur Offensive und zum Angriff übergehen könne.132 Diese Überlegungen sind deckungsgleich mit dem Clausewitzschen Verständnis von der Bedeutung des Gegenangriffs, „dem blitzenden Vergeltungsschwert“ als dem Wesenselement einer guten Verteidigung. Zur Bedeutung von Angriff und Verteidigung im Aufstand äußert sich Engels Folgendermaßen: „Hat man einmal den Weg des Aufstands beschritten, so handle man mit der größten Entschlossenheit und ergreife die Offensive. Die Defensive ist der Tod jedes bewaffneten Aufstandes; er ist verloren, noch bevor er sich mit dem Feind gemessen hat.“133 Diese Überlegung hat insbesondere in den zahlreichen Aufstandsbewegungen des 20. und 21. Jahrhunderts eine vielfache Bestätigung erfahren und zeigt, dass dem Schwächeren gerade auf Grund seiner Schwäche nur die Offensive als einzig möglicher Option verbleibt und er sich gerade wegen seiner Schwäche eine Verteidigung nicht leisten kann. Eine Vorstellung, die mit Clausewitz Theorie von der größeren Stärke der Verteidigung nicht zu vereinbaren ist. 4.4 Hintergrund: Deutsche Einigungskriege Helmuth Graf von Moltke (1800-1891), der Feldherr zweier siegreicher Kriege, deren Erfolg auf kühner Offensive beruhte, formulierte seine Ansichten zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung folgendermaßen: „Meiner Überzeugung nach hat durch die Verbesserung der Feuerwaffen die taktische Defensive einen großen Vorteil über die taktische Offensive gewonnen.“134 Weiter präzisiert er, dass die Verteidigung die materiellen Vorteile auf ihrer Seite habe, während der Angriff über die moralischen Vorteile verfüge. Auf den Punkt bringt der Feldherr, seine Auffassung in der Formulierung: „Die taktische Defensive ist die stärkere Form; die strategische Offensive die wirksamere, welche allein zum Ziel führt.“135 Mit der Formulierung „Die beste Verteidigung ist der Angriff“136 macht Generalfeldmarschall Graf Alfred von Schlieffens (1833-1913) seine Haltung zum Wechselverhältnis der beiden Hauptformen des Kriegführens und Kämp-
132
Engels a.a.O., S. 688 Engels a.a.O., S. 198 Moltke: Feldherr und Kriegslehrmeister. In: Ausgewählte Werke, Berlin 1925, S. 335 135 Vgl. Oertzen, K. v.: Angriff und Verteidigung. In: Wissen und Wehr, Monatshefte, Neunter Jahrgang, Berlin 1928, S. 472 136 Vgl. Schlieffen, Graf Alfred von: Cannae. Mit einer Auswahl von Aufsätzen und Reden des Feldmarschalls sowie einer Einführung und Lebensbeschreibung von General der Infanterie Freiherr von Loringhoven, Berlin 1925, S. 281 133 134
4 Ergänzende Betrachtung
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fens deutlich. Weiter fordert er, dass der Unterlegene oder sogar nur der Unterlegene immer und überall angreifen müsse.137 4.5 Hintergrund: I. Weltkrieg General Friedrich von Bernhardi (1849-1930) vertritt in einer Studie aus dem Jahre 1912 folgende Auffassung: „... ich bin dabei zu der Überzeugung gelangt, daß gerade im modernen Waffenkriege die Offensive die weitaus überlegene Form des kriegerischen Verfahrens ist.“138 Erich Ludendorff (1865-1935) bringt seine diesbezügliche Einstellung auf folgende Art zum Ausdruck: „... so vermag ich z.B. der Ansicht, die im Werke „Vom Kriege“ ausgesprochen ist, daß die verteidigende Form des Kriegführens an sich stärker als die angreifende ist, nicht zuzustimmen.“139 Generalleutnant Konrad Krafft von Dellmensingen (1862-1953), Gründervater der bayerischen Gebirgstruppen und Kommandeur des Deutschen Alpenkorps im I. Weltkrieges, betont mit Bezug auf die Kriegführung im Gebirge: „Der Angriff bleibt daher im Gebirge noch in höherem Grad die stärkere Form des Kampfes wie im flachen Lande.“140 Der französische Marschall Ferdinand Foch (1851-1929), der den Offensivgedanken schon beinahe zum Fetisch erhob, betont, dass allein der Angriff mit allen Mitteln den Sieg herbeiführen könne.141 Der britische General und Historiker John C. Fuller (1878-1966) verdeutlicht seine diesbezügliche Haltung folgendermaßen: „Weder die Verteidigung noch der Angriff sind ihrer Natur nach stärker oder schwächer; sie sind Wirkungen, die einander bedingen. Ob Angriff oder Verteidigung geeigneter sind, hängt immer von den Umständen ab.“142 Von Oertzen untersucht in einer Studie aus dem Jahre 1928 die Frage, inwiefern die Aussagen Moltkes d. Ä. zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung vor dem Hintergrund der Erfahrungen des I. Weltkrieges bestätigt werden könnten. Hierbei stellt er fest, dass die „Abneigung gegen die Verteidigung verhinderte, dass ihre materielle Kraft richtig bewertet wurde“, was zu einer Unterschätzung der in ihr liegenden Kraft führte.143 Er konstatiert der Ver137
Vgl. Wallach a.a.O., S. 121 Bernhardi a.a.O., S. 399 139 Vgl. Wallach a.a.O., S. 348 140 Konrad Krafft von Dellmensingen: Der Durchbruch am Isonzo. Teil I, In: Schlachten des Weltkrieges, Berlin 1926, S. 178. Krafft von Dellmensingen war Chef des Generalstabes der 14. Armee, welche im Oktober 1917 den Angriff gegen die Italiener am Isonzo führte. 141 Vgl. dazu Fuller a.a.O., S. 132 142 Fuller a.a.O., S. 78 143 Vgl. Oertzen, a.a.O., S. 474 f 138
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
teidigung, insbesondere mit Blick auf „verstärkte Stellungen“, eine „außerordentliche Stärke“, betont jedoch auch, dass der Verteidiger nicht die Vorteile finden konnte, die gemäß Clausewitz mit ihr verbunden sein sollen: „Die Überraschung und der Anfall von mehreren Seiten“.144 Insgesamt betrachtet er den „alten Grundsatz von der Überlegenheit des Angriffs“ als noch immer gültig.145 4.6 Hintergrund: II. Weltkrieg Generaloberst Ludwig Beck (1880-1944) verdeutlicht seine Vorstellungen von Offensive und Defensive folgendermaßen: „Es ist bedauerlich, daß unsere militärischen Theoretiker, selbst die, welche Clausewitz für sein Verständnis der Größe Napoleons loben, den Teil seines Werkes ablehnen, in dem er zugunsten der Defensive spricht. Wenn Clausewitz zu einer Zeit, in welcher der napoleonische Offensivgedanke seine glänzendsten Erfolge gefeiert hat, trotzdem der Verteidigung den Vorzug einräumt, so geschieht es, weil er eine tragische Periode, aus der ein unbefangener Geist die verschiedensten Lehren ziehen kann, mit weitem Blick übersehen hat.“146 4.7 Hintergrund: Golfkrieg 1991 Bei Norman Schwarzkopf, dem siegreichen Feldherrn des ersten amerikanischen Golfkrieges gegen Saddam Hussein finden sich verschiedene Anmerkungen mit Bezug auf das Wechselverhältnis von Angriff und Verteidigung. Nach dem Aufmarsch zu „Desert Shield“, der Operation zur Verteidigung Saudi Arabiens gegen einen möglichen Angriff Saddam Husseins, beurteilte er die Erfordernisse hinsichtlich einer möglichen Bodenoffensive mit dem Ziel der Rückeroberung Kuwaits folgendermaßen: „Verteidigungsplan solide. Wie wir dem Präsidenten in der ersten Augustwoche versprochen, sind die Streitkräfte der Vereinigten Staaten nun in der Lage, SaudiArabien zu verteidigen und eine Vielzahl von Gegenschlägen gegen den Irak zu führen.“147 „Mein Stab und ich waren ratlos, denn wie wir es drehten und wendeten, wir sahen keine Lösung, wie wir mit den Streitkräften, über die wir verfügten, eine siegreiche Offensive zustande bringen könnten.“148 144
Vgl. Oertzen: a.a.O., S. 477 Vgl. Oertzen, a.a.O., S. 477 146 Ludwig Beck: Studien. Herausgegeben und eingeleitet von Hans Speidel, Stuttgart 1955, S. 189 147 Vgl. Schwarzkopf, Norman H.: Man muß kein Held sein. Die Autobiographie, Aus dem Amerikanischen von Hans-Jürgen Baron von Koskull und Stephen Tree, München 1991, S. 474 148 Vgl. Schwarzkopf, a.a.O., S. 467 145
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„Sie als Inspekteur des Heeres sollten dem Präsidenten sagen, dass wir keinesfalls in der Lage sind, in die Offensive zu gehen, solange wir nicht mehr Streitkräfte haben.“149 „Ich habe doch die ganze Zeit gesagt, dass wir nicht über genügend Truppen für eine Bodenoffensive verfügen.“150 „Wenn wir in die Offensive gehen müssen, brauche ich mehr Truppen.“151
Schwarzkopf macht mit diesen Äußerungen deutlich, dass er die zu diesem Zeitpunkt vorhandenen Kräfte zwar für eine Verteidigung Saudi-Arabiens gegen einen Angriff Saddam Husseins für stark genug hält, dass er für einen eigenen Angriff zur Rückeroberung Kuwaits jedoch ein erheblich stärkeres Kräftedispositiv für erforderlich hält. Eine generelle Schlussfolgerung hinsichtlich des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung läst sich aus diesen Überlegungen jedoch nicht ableiten. Zum einen ist es im Kriege zumeist besser mehr Truppen zu haben als weniger und die Forderung des verantwortliche Feldherrn danach (zumal wenn jene verfügbar sind) nur allzu verständlich. In dieser Hinsicht folgt Schwarzkopf dem Clausewitzschen Gedanken von der Bedeutung der Überlegenheit der Zahl als einem der zentralen Prinzipe des Sieges. Zum anderen lässt auch der erfolgreiche Feldzugsverlauf keinen direkten Rückschluss auf die tatsächliche Notwendigkeit der gestellten Forderung zu. Die letztendlich relativ geringe Widerstandskraft der irakischen Streitkräfte lässt, aus der komfortablen ex post Betrachtung heraus, zumindest vermuten, dass auch zahlenmäßig deutlich schwächere Angriffskräfte ein ähnliches Resultat hätten erreichen können. Entscheidend ist jedoch ein anderer Punkt, der gleichzeitig deutlich macht, dass Schwarzkopf nicht so ohne weiteres, wie man es vielleicht auf den ersten Blick vermuten könnte, in die Reihe der Verfechter der Clausewitzschen These von der größeren Stärke der Verteidigung einzuordnen ist. Die Verteidigung Saudi-Arabiens einerseits und die Rückeroberung Kuwaits inklusive der Ausschaltung des irakischen Bedrohungspotenzials andererseits waren fundamental unterschiedliche politische Zwecksetzungen, die wiederum völlig unterschiedliche militärische Zielsetzungen erforderlich machten. Im ersten Falle ging es um die Erhaltung des Status quo und um lediglich eine politische Zwecksetzung, nämlich die Verteidigung Saudi-Arabiens gegen einen zwar denkbaren, wenn auch nicht besonders wahrscheinlichen, Angriff des Irak. Im zweiten Fall ging es um eine aktive Veränderung des Status quo bei der drei politische Zwecksetzungen kombiniert wurden, nämlich die Verteidigung Saudi-Arabiens (wie auch im 149
Vgl. Schwarzkopf, a.a.O., S. 473 Vgl. Schwarzkopf, a.a.O., S. 475 151 Vgl. Schwarzkopf, a.a.O., S. 483 150
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
ersten Fall), die Rückeroberung Kuwaits sowie die Ausschaltung des irakischen Bedrohungspotenzials durch die Zerschlagung der irakischen Invasionstruppen. Dass eine ambitionierte politische Zwecksetzung i.d.R. stärkere Kraftanstrengungen erfordert als eine weniger ambitionierte sollte hierbei nicht weiter verwundern, wobei die größere Ambitioniertheit in diesem Fall nicht so sehr in der Tatsache des Angriffs sondern in der „Verdreifachung“ der politischen Zwecksetzungen zu sehen war. Dies jedenfalls kann als Resultat einer zeitpunktbezogenen Betrachtung auf der kurzen Zeitachse gesehen werden. Eine interessante Perspektive eröffnet sich bei einer Langfristbetrachtung dieser Frage: Eine Verteidigung Saudi-Arabiens und der kleineren Golfstaaten gegen einen potenziellen Angriff des Irak auf unbestimmte Zeit (das heißt über Jahre oder Jahrzehnte) sicherzustellen war auf der langen Zeitachse betrachtet eine möglicherweise schwierigere Zielsetzung, die mehr Kraftanstrengungen erfordern würde als die einmalige angriffsweise Ausschaltung des irakischen militärischen Bedrohungspotenzials. Diese wurde 1991 eingeleitet und mit der amerikanischen Intervention 2003 vollendet. Insofern kann der Angriff in diesem Zusammenhang, in Übereinstimmung mit Clausewitz, als die entscheidendere Form des Kriegführens mit dem „positiven Zweck“ bezeichnet werden, während er gleichzeitig, dies jedoch im Gegensatz zu Clausewitz, als die „leichtere“ und damit stärkere Form des Kriegführens anzusehen wäre. 4.8 Hintergrund: Cyber War Vor dem Hintergrund des Kampfes um Informationsüberlegenheit und der Einbeziehung des elektromagnetischen Spektrums und elektronischer Kommunikationssysteme in die Kriegführung stechen insbesondere die Vorteile und Stärken, die der Angreifer („Cyber Attacker“) gegenüber dem Verteidiger („Defender“) auf diesem Feld besitzt, hervor. Der Hauptvorteil des „Cyber Attackers“ kann hierbei in dessen Entscheidungshoheit über die Angriffsmethoden und die zu treffenden Schwachstellen des Gegners gesehen werden, die er gemäß seiner übergeordneten Zielsetzug entsprechend frei wählen kann. Der Verteidiger hingegen muss ständig auf alle denkbaren Möglichkeiten eines Angriffs eingestellt sein, wobei die Vielzahl verwundbarer Stellen und die Vielfalt denkbarer Angriffsmethoden eine Verteidigung, welche beständig versucht auf alles vorbereitet zu sein, sehr leicht zu praktischer Ineffizienz verurteilen kann. Zwei weitere Aspekte unterstreichen die besondere Stärke des Angreifers im Bereich der Cyber-Kriegführung. Zum einen ist ein Cyberangriff nicht mit den menschlichen, materiellen, moralischen und legitimativen Risiken verbunden, die in der Regel mit einem Angriff durch militärische Streitkräfte einhergehen. Zum anderen ist der „Cyber Attacker“ in der Regel nicht direkt fassbar und häufig noch nicht
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einmal erkennbar. Beide Aspekte in Kombination bedeuten, dass ein Cyberangriff viel leichter unternommen werden kann, erheblich geringeren Risiken ausgesetzt ist (auch im Falle eines Scheiterns) und seine Basis sich einer Fassbarkeit und damit der Möglichkeit zu ihrer Ausschaltung weitgehend entzieht. Dass das Stärkeverhältnis zwischen Angriff und Verteidigung im Bereich der Cyberkriegführung natürlich in starkem Maße vom Stand der technologischen Entwicklung abhängig und damit grundsätzlich wandelbar ist, bedarf keiner weiteren Erklärung. 4.9 Hintergrund: Schach Der langjährige Schachweltmeister Garri Kasparow betont in seinem Werk „Strategie und die Kunst zu leben“ dass er seine besten Erfolge seiner Angriffshaltung zu verdanken habe und dass Aggressivität in vielen Lebensbereichen ähnlich erfolgreich sei wie im Schach.152 Hierbei hebt er insbesondere die Bedeutung der Initiative hervor, die es zu ergreifen und durch Druck und Drohung in Gang zu halten gelte. Die Vorteile des Agierens (dem Gegner einen Schritt voraus zu sein) erkennt er insbesondere in der Möglichkeit, den Spielfluss zu kontrollieren, wodurch die Züge des Gegners beschränkter und damit vorhersagbarer würden. Dadurch ließen sich eine bessere eigene Position aufbauen und Schwächen des Gegners provozieren, wodurch jener, da er gezwungen sei die entstandenen „Löcher zu stopfen“, aus dem Gleichgewicht gebracht werden könne. Weiter weist Kasparow darauf hin, dass man in der Defensive eher einen Fehler machen würde als im Angriff, da derjenige, der das Geschehen selbst bestimme mehr Handlungsoptionen besitze und sein Schicksal fester im Griff habe, was gleichzeitig positive moralische Kräfte freisetzen würde. Kasparow verdeutlicht einen interessanten Zusammenhang, indem er darauf verweist, dass in einem veränderlichen Umfeld und mit zunehmendem Tempo des Agierens der Vorteil der Initiative sich immer stärker der angreifenden Seite zuwende. Über das Feld des Schachspiels hinausgehend betont er, dass in der heutigen „beschleunigten High-Tech-Welt“ die Verteidigung an Bedeutung eingebüßt habe und der Angriff einträglicher geworden sei. Ohne die Risiken eines Angriffs zu verkennen, hebt er insbesondere die Risiken des nicht Agierens, Abwartens und „Nichtangreifens“ hervor. Mit Blick auf die militärische Ebene betont er, dass (auf Grund des technischen Fortschritts) die Kunst der militärischen Verteidigung heutzutage fast obsolet geworden sei, und es daher insbesondere darauf ankäme als erster zuzuschlagen und das möglichst hart. 152 Kasparow, Garri: Strategie und die Kunst zu leben. Von einem Schachgenie lernen, München 2008, S. 225 - 239
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
4.10 Hintergrund: Terrorismus, das offensive Kampfmittel des Schwache Wie kein anderes Ereignis verdeutlichen die terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 auf die Machtzentralen der einzig verbleibenden Supermacht, die enormen Möglichkeiten offensiver Methoden der Gewaltanwendung. Selbst schwächste Einzelakteure können durch dieses Offensivmittel eine Stärke und Handlungsreichweite entwickeln, die ansonsten nur Staaten und deren Streitkräften zur Verfügung steht. Bezeichnend ist, dass es gerade die Schwäche dieser Akteure ist, die sie zum Mittel des terroristischen Angriffs greifen lässt. Auf Grund ihrer Schwäche sind sie zu keiner anderen Kampfesweise fähig. Dies gilt insbesondere für jede Form der Verteidigung, da es hierzu notwendig wäre, Position zu beziehen und sich damit fassbar zu machen. Nichtfassbarkeit stellt die einzig wirksame „Verteidigung“ terroristischer Akteure dar und wird somit gleichsam zum entscheidenden Kriterium der Bestimmung des asymmetrischen Momentums aktueller Konfliktszenare. Kriegstheoretisch betrachtet, handelt es sich um das Phänomen eines Angriffs aus Schwäche durch einen Akteur, für den Angriff in Form terroristischer Anschläge nicht nur die stärkere sondern auf Grund seiner Schwäche, auch die einzig mögliche Form der Auseinandersetzung ist. Die besondere Stärke dieses „Offensivmittels“ ergibt sich dabei wesentlich aus seiner destruktiven, auf Zerstörung und die Verbreitung von Angst und Schrecken ausgerichteten Zielsetzung. Damit werden sämtliche Glieder und Elemente eines Akteurs - im Falle eines Staates die gesamte Bevölkerung, staatlichen Institutionen, Infrastruktur, Gesellschaftsordnung und psychisch moralische Verfasstheit einer Nation - zum potenziellen Angriffsziel. Schutz-/ Verteidigungsmaßnahmen gegen eine solche Art der Bedrohung sind nur in begrenztem Umfang möglich und erfordern einen Kräfte- und Mittelansatz, der mit dem Aufwand für die Durchführung von Terroranschlägen in keinem Verhältnis steht. Die Verteidigung wird hierbei, auf Grund des enormen Kräfte- und Mitteleinsatzes, den sie erfordert und der Unmöglichkeit sämtliche verwundbare Stellen schützen zu können, zur eindeutig schwächeren Form der Auseinandersetzung. Aus diesem Grund erfordert auch die „Bekämpfung“ von Terrorakteuren eine starke aktiv-offensive Komponente, um den terroristischen Kreislauf aus ideologischer Indoktrinierung, Rekrutierung, Planung, Vorbereitung und Durchführung von Anschlägen frühzeitig erkennen und bereits im Vorfeld unterbrechen zu können. Sowohl für den Terrorakteur als (bis zu einem gewissen Grad) auch für seinen „Bekämpfer“ wird damit die Offensive zur stärkeren Form der Auseinandersetzung.
5 Kontroverse Diskussion: Zusammenfassung des Ergebnisses
5
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Kontroverse Diskussion: Zusammenfassung des Ergebnisses
Als wichtigste Ergebnisse dieses Kapitels sind insbesondere fünf Punkte festzuhalten: Erstens: In der Frage hinsichtlich des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung bestehen in der Fachwelt zum Teil sehr unterschiedliche, bisweilen auch völlig gegensätzliche Ansichten. Das gilt selbst für militärisch/strategische Denker und Führer ein und derselben Epoche mit gemeinsamem Erfahrungshintergrund. Besonders augenfällig wird dies, wenn man die diesbezüglich völlig gegensätzlichen Vorstellungen Napoleons mit denen von Clausewitz vergleicht. Trotz identischem Erfahrungshintergrund gelangten beide zu völlig unterschiedlichen Ansichten hinsichtlich des Wechselverhältnisses von Angriff und Verteidigung. Zweitens: Obwohl sich alle drei hier betrachteten Autoritäten mit der Frage des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung Gedanken befassten und sich dazu auch äußerten, ist in keinem Fall ein systematisch theoretischer Ansatz zur Klärung dieser Frage auf der Wesensebene erkennbar. Es kommt daher Clausewitz der Verdienst zu, sich als erster systematisch und umfassend mit dieser Frage auseinandergesetzt und eine Beantwortung derselben auf der Wesensebene angestrengt zu haben. Drittens: Sowohl bei Friedrich II. als auch bei Napoleon ist eine sehr große Übereinstimmung ihrer jeweiligen theoretischen Vorstellungen mit der Praxis ihrer Kriegführung erkennbar. Dies unterstreicht die Bedeutung zutreffender Theorien für die militärische Praxis, verdeutlicht aber auch die Relevanz praktischer Erfahrung für die Theoriebildung. Viertens: Was die Begründung ihrer jeweiligen Thesen anbelangt, sind in den hier betrachteten Fällen einzelne argumentative Übereinstimmungen erkennbar. So weisen beispielsweise alle drei untersuchten Autoritäten auf die moralische Überlegenheit des Angriffs hin. Fünftens: Insgesamt macht das Ergebnis deutlich, dass hinsichtlich der Frage nach der stärkeren Form des Kriegführens, erheblicher Klärungsbedarf besteht und eine umfassende theoretisch fundierte Problematisierung dieser Fragestellung ihrem Wesen nach geboten erscheint.
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I. Kapitel: Kontroverse Diskussion
Tabelle 4: Vergleichende Gesamtübersicht: Vorteile / Stärken von Angriff und Verteidigung SunTsu
FriedrichII.
Napoleon
Clausewitz
1.
Initiative
2.
Entscheidung erzwingen Überraschung
3. 4. 5. 6. 7.
SchwächenͲ ausnutzung Moral Konzentration Zahl Kosten
Qualitätder Truppe 9. BewegungsͲ freiheit 10. Vermeidungfdl. Stärken 11. Abwarten
A
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A
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8.
12. Gelände 13. Stellung 14. Täuschung 15. Artillerie 16. BeistandKriegsͲ theater 17. BeistandVolk 18. Anfallvon mehrerenSeiten Ergebnis:
4:4
7:3
8:0
4:7,5
A=V
A!!>V
A!!!
A<V!!
II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ 67
II. Kapitel: Verständnis der Clausewitzschen These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ Voraussetzung für eine kritischen Diskussion der Clausewitzschen These von der Verteidigung als der „an sich stärkeren Form des Kriegführens“, ist ein zutreffendes Verständnis darüber, wie der preußische Kriegsphilosoph selbst seine diesbezügliche These verstanden wissen wollte. Der Schlüssel zum Verständnis der Clausewitzschen Theorie und damit seiner Gedanken zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung kann nur in einer ganzheitlichen Betrachtung seines Werkes unter Berücksichtigung seines methodologischen Ansatzes liegen. Erst die Aufdeckung seines „philosophischen Untergrundes“ gebe das Mittel an die Hand, den „Einheitspunkt“ seiner Gedanken und ihren strengen Zusammenhang zu erkennen, ohne den sein Werk nur als eine von äußerlich aneinander gereihten, zuweilen sogar widerspruchsvollen einzelnen Lehren erscheinen müsse, betont Malmsten Schering.153 Diesen Einheitspunkt scheinen eine Reihe seiner Kritiker nicht erfasst zu haben, wenn sie, wie beispielsweise Fuller, das Werk „Vom Kriege“ als eine „pseudo-philosophische Darstellung“, einen „Wirrwarr von Abhandlungen, Aufzeichnungen und Notizen“, „weitschweifig“ und voll von „nichtssagenden Bemerkungen und Gemeinplätzen“ bezeichnen;154 oder wie Jomini in „diesem gelehrten Labyrinth“ nur eine kleine Zahl erleuchteter Gedanken und hervorragender Aufsätze finden, wobei ihn (Jomini) kein Werk mehr als das „Vom Kriege“ die Notwendigkeit einer guten Theorie hätte fühlen lassen.155 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass Clausewitz als eigenständiger philosophischer Denker betrachtet werden muss, der unabhängig von den großen Philosophen seiner Zeit (Kant, Hegel) eine eigene philosophische Grundhaltung einnahm. Malmsten Schering verdeutlicht dies im Rahmen seiner Untersuchung der Kriegsphilosophie von Clausewitz und kommt dabei zu folgendem Ergebnis: „Clausewitz kommt unmittelbar von der Philosophie des 18. Jahrhunderts her und ist von der zeitgenössischen Philosophie nicht wesentlich beeinflußt. Seine Philosophie bedeutet einen selbständigen Zweig der Philosophie des beginnenden 19. Jahrhun153
Vgl. Malmsten Schering a.a.O., S. 11 Vgl. Fuller a.a.O., S. 67 f Vgl. Jomini a.a.O., S. 13. Im Übrigen bedauert es Jomini, dass das Werk „Vom Kriege“ geschrieben wurde, bevor dessen Verfasser seinen „Abriss der Kriegskunst“ kennen gelernt hatte, weil er überzeugt davon war, dass jener demselben Gerechtigkeit hätte widerfahren lassen.
154 155
J. Schmid, Die Dialektik von Angriff und Verteidigung, DOI 10.1007/978-3-531-93037-4_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
68 II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ derts, der mit dem Wege des deutschen Idealismus von Kant bis Hegel nicht zusammenfällt, sondern ein realistisches Gegenstück dazu bildet. Es kommt dem großen Kriegsphilosophen daher eine besondere Stellung in der deutsche Geistesgeschichte zu,...“156
Unter Berücksichtigung der besonderen philosophischen Methode von Clausewitz, wird im Folgenden seine These zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung untersucht. Dabei kommt es zunächst darauf an, systematisch zu erschließen, wie Clausewitz diese These überhaupt verstanden wissen wollte. Dies ist umso bedeutsamer, als seine Ansichten zum Verhältnis von Angriff und Verteidigung von allen seinen Theorien die wohl größten Missdeutungen erfahren haben.157 Die Grundlage der Clausewitzschen Methode, das Verhältnis von Theorie und Praxis, wurde bereits einleitend betrachtet, weshalb es an dieser Stelle genügt, noch einmal auf das Grundsätzliche dieser Beziehung hinzuweisen. Die Theorie ist nach Clausewitz nicht so sehr eine Lehre als vielmehr eine Betrachtung. Sie begleitet den Feldherrn nicht auf das Schlachtfeld, sondern dient der Schulung seines Urteils und leitet ihn bei der Selbsterziehung desselben. Dieser Grundgedanke darf bei den folgenden Überlegungen nicht aus dem Auge verloren werden. 1
Begriffsbestimmung von Angriff und Verteidigung
Das erste Geschäft einer Theorie sei das Aufräumen der durcheinander geworfenen und sehr ineinander verfilzten Begriffe und Vorstellungen, betont Clausewitz. Erst wenn man sich über Namen und Begriffe verständigt habe, dürfe man hoffen, in der Betrachtung der Dinge mit Klarheit und Leichtigkeit vorzuschreiten, dürfe man gewiss sein, sich mit dem Leser immer auf demselben Standpunkt zu befinden. Wem dies alles nichts sei, fährt er fort, der müsse entweder gar
156
Malmsten Schering a.a.O., S. 123 Vgl. Otto Hennicke: Clausewitz. Bemerkungen zur Bedeutung seiner Kriegstheorie für seine und unsere Zeit, in: Militärwissenschaftliche Aufsätze, Schriftreihe zur Diskussion über Fragen des Krieges, der Armee und der Militärwissenschaft, Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung, Berlin 1957, S. 50. Dass ein erfolgreiches Studium des Hauptwerkes von Clausewitz heute nur mit Hilfe der Leninschen Auszüge und Bemerkungen möglich sei, kann dem Autor (Hennicke) allerdings nicht zugestanden werden. Vgl. dazu S. 52 157
1 Begriffsbestimmung von Angriff und Verteidigung
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keine theoretische Betrachtung gestatten, oder seinem Verstande müssten die verworrenen und verwirrenden, auf keinen festen Punkt gestützten, zu keinem ruhigen Resultat gelangenden, bald platten, bald phantastischen, bald in leerer Allgemeinheit schwimmenden Vorstellungen noch nicht weh getan haben, die sie über die eigentliche Kriegführung deswegen so oft hörten und lesen müssten, weil noch selten ein Geist wissenschaftlicher Untersuchung auf diesem Gegenstand geruht habe.158 Diese Äußerung macht deutlich, welch großen Wert Clausewitz auf die Verwendung klarer Begriffe und eindeutiger Definitionen legt, und welch ausgesprochene Abneigung er gegen das „allzu üppige Wuchern des philosophischen Geistes“159 und gegen die Verwendung nur oberflächlicher allgemeiner Begriffe empfand. Clausewitz stehe damit in sichtbarem Gegensatz zu einer zunehmend abgeschliffenen, entleerten westdeutschen Umgangssprache, merkt Werner Hahlweg in diesem Zusammenhang an, welche gern mit unklaren, verschwommenen Begriffen arbeite, die alles und nichts besagten und damit die Dinge nicht in ihrer vollen Realität erfassen würden.160 Deshalb soll zunächst untersucht werden, wie der preußische Kriegsphilosoph die beiden „Hauptformen des Krieges, Angriff und Verteidigung“161 versteht und definiert, worin er Gemeinsamkeiten und insbesondere worin er die Abgrenzung der beiden Begriffe voneinander sieht. Hierbei sind sowohl die Mittel von Angriff und Verteidigung, als auch Begriff und Merkmal sowie der den beiden Formen zugrunde liegende Zweck zu betrachten. 1.1 Angriffs- / Verteidigungsmittel Krieg in seiner eigentlichen Bedeutung sei Kampf, betont Clausewitz; denn Kampf sei allein das wirksame Prinzip in der mannigfaltigen Tätigkeit, die man in der weiteren Bedeutung Krieg nenne. Kampf aber sei ein Abmessen der geistigen und körperlichen Kräfte vermittelst der letzteren.162 An anderer Stelle bezeichnet er das Gefecht als die „einzige Wirksamkeit im Kriege“, und fügt hinzu, dass im Gefecht die „Vernichtung“ der feindlichen Streitkraft das Mittel zum 158
Vgl. Vom Kriege. II, 1, S. 177 f Vgl. Karl Linnebach: Die wissenschaftliche Methode in Clausewitz` Werk „Vom Kriege“. in: Wissen und Wehr, Vierzehnter Jahrgang, Berlin 1933, S. 481 160 Werner Hahlweg: Weiterentwicklung und Differenzierung des Clausewitzbildes seit 1972. Bonn 1980, S. 1286 161 Vom Kriege. IV, 5, S. 437. Zu untersuchen wäre an dieser Stelle, inwiefern es nach Clausewitz auch „Nebenformen“ des Krieges gibt. Die Verwendung des Begriffes „Hauptformen“ des Krieges deutet darauf hin, dass Clausewitz zumindest an die Möglichkeit gewisser Nebenformen gedacht haben muss, da er anderenfalls einfach nur von den beiden „Formen“ des Krieges hätte sprechen können. 162 Vgl. Vom Kriege. II, 1, S. 269 159
70 II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ Zweck sei. Sonach, so folgert er, sei diese Vernichtung die Grundlage aller kriegerischen Handlungen.163 Clausewitz unterstreicht die Bedeutung des Kampfes noch zusätzlich, indem er diesen als das einzige Mittel im Kriege bezeichnet.164 Auch in der im ersten Kapitel des ersten Buches vorgenommenen Definition des Krieges, betont Clausewitz, dass physische Gewalt das Mittel desselben sei.165 Aus diesen Überlegungen ergibt sich folgendes: Wenn, wie bereits dargestellt wurde, Angriff und Verteidigung die beiden Hauptformen des Kriegführens sind, Kampf (bzw. physische Gewalt, oder anders umschrieben das Gefecht und die damit verbundene Vernichtung der feindlichen Streitkraft) aber das einzige und entscheidende Mittel des Krieges darstellt, so ergibt sich daraus, dass Kampf das einzige wie auch das gemeinsame Mittel von Angriff und Verteidigung sein muss. Somit ist eine Unterscheidung zwischen Angreifer und Verteidiger hinsichtlich der verwendeten Mittel nicht möglich. Bereits in einer seiner Vorarbeiten zum Werk „Vom Kriege“, „Skizze eines Plans zur Taktik oder Gefechtslehre“, verdeutlicht Clausewitz diesen Sachverhalt: „Aber die Verteidigung bedient sich ja überhaupt derselben Waffen wie der Angriff und auch derselben Gefechtsformen von Feuergefecht und Handgefecht. Man muß also die Verteidigung als einen Kampf betrachten, so gut wie den Angriff.“166
Um zwischen Angriff und Verteidigung unterscheiden zu können, müssen daher andere Kriterien als die verwendeten Mittel herangezogen werden. Deshalb soll im Folgenden ein Blick auf Begriff und Merkmal der beiden Formen des Kriegführens geworfen werden. 1.2 Begriff und Merkmal Clausewitz bezeichnet das „Abwehren eines Stoßes“ als den Begriff der Verteidigung und das „Abwarten dieses Stoßes“ als das Merkmal derselben. Dieses Merkmal also mache jedes Mal die Handlung zu einer verteidigenden, und durch dieses Merkmal allein könne im Kriege die Verteidigung vom Angriff geschie163
Vgl. Vom Kriege. I, 2, S. 225 Vgl. Vom Kriege. I, 2, S. 222. Vgl. auch S. 223: „Es bezieht sich also alle kriegerische Tätigkeit notwendig auf das Gefecht, entweder unmittelbar oder mittelbar. ...; die Vernichtung der feindlichen Streitkraft ist also immer das Mittel, um den Zweck des Gefechts zu erreichen.“ 165 Vgl. Vom Kriege. I, 1, S. 192 166 Hahlweg a.a.O., S. 1138. Vgl. auch Vom Kriege. VI, 7, S. 644. An dieser Stelle weist Clausewitz darauf hin, dass die Verteidigung den Kampf zum unmittelbaren Zweck habe, weil Abwehren und Kämpfen offenbar eins sei. Kämpfen aber bedeutet den Gebrauch der Waffen und insbesondere den der Schusswaffen, womit erneut gezeigt wird, dass der Abwehrende nicht zum Angreifer wird, nur weil er die gleichen Mittel verwendet, was wiederum bedeutet, dass ein Schuss nicht notwendigerweise einen Angriff darstellt. 164
1 Begriffsbestimmung von Angriff und Verteidigung
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den werden.167 Der Verteidiger werde in der Taktik wie in der Strategie als abwartend, also als stehend, der Angreifende als in Bewegung gedacht, und zwar sich bewegend in Beziehung auf jenes Stehen.168 Wichtig für die weitere Untersuchung ist, dass Clausewitz unter dem „Stoß“, welchen der Angreifer führt, keine Kampfhandlung versteht, sondern die Bewegung des Angreifers in Richtung auf den abwartenden/stehenden Verteidiger zu, um mit diesem überhaupt erst ins Gefecht treten zu können. Unter dem Stoß ist also eine Bewegung, aber noch nicht die Kampfhandlung als solche zu verstehen. Das bedeutet, dass ein Schuss oder ein Schwerthieb noch nicht als „Stoß“ in dem aufgezeigten Sinne bezeichnet werden kann. Dies ergibt sich schon aus dem, was über die Mittel im Kriege dargelegt wurde; dass Angriff und Verteidigung sich derselben Gefechtsformen, nämlich des Hand- sowie des Feuergefechts bedienten und somit der Angreifer nicht allein durch den Gebrauch der Schusswaffe definiert werden kann. Es muss daher vor der Gefahr gewarnt werden, den Schuss fälschlicherweise bereits als angriffsweisen Stoß (im oben erwähnten Sinne) zu betrachten. Dies wäre auch insofern unsinnig, als damit der abwartende Verteidiger, sobald er beginnt auf den stürmenden Angreifer zu schießen, selbst zum Angreifer würde, und damit eine begriffliche Unterscheidung zwischen Angriff und Verteidigung (jedenfalls auf taktischer Ebene) jeglichen Sinn verlieren würde. Dass Clausewitz im „Abwarten“ des Feindes, sowohl auf taktischer als auch auf strategischer Ebene, das einzige und damit entscheidende Merkmal zur Definition der Verteidigung sieht, macht er im Folgenden deutlich: „In der Taktik ist also jedes Gefecht, groß oder klein, ein verteidigendes, wenn wir dem Feind die Initiative überlassen und sein Erscheinen vor unserer Fronte abwarten. ... In der Strategie tritt zuerst der Feldzug an die Stelle des Gefechts und das Kriegstheater an die Stelle der Stellung; sodann aber auch der ganze Krieg wieder an die Stelle des Feldzuges und das ganze Land an die Stelle des Kriegstheaters, und in beiden Fällen bleibt die Verteidigung was sie in der Taktik war.“169
167
Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 613 Vgl. Vom Kriege. VI, 4, S. 628 169 Vom Kriege. VI, 2, S. 614 f. Auf politischer Ebene bezeichnet Clausewitz einen Krieg dann als Verteidigungskrieg, wenn dieser für die eigene Unabhängigkeit geführt wird. Diese Interpretation übernimmt er jedoch nicht in Sein Werk „Vom Kriege“. Vgl. dazu Clausewitz: Übersicht des Sr. königl. Hoheit dem Kronprinzen in den Jahren 1810, 1811 und 1812 vom Verfasser erteilten militärischen Unterrichts. Hahlweg a.a.O., S. 1075. Mit dieser Definition wird in den Begriff der „Verteidigung“ eine positive moralische Wertung impliziert. Eine solche Vorgehensweise muss jedoch als sehr fragwürdig und wenig aufschlussreich bezeichnet werden, da selbst der „schlimmste Aggressor“ vorgeben oder auch tatsächlich überzeugt davon sein kann, nur im Dienste der eigenen Unabhängigkeit zu kämpfen. Auch ist der Begriff dieser „Unabhängigkeit“ sehr vielseitig interpretierbar und in starkem Maße abhängig vom jeweiligen politischen Standpunkt des Betrachters, womit er nur eine geringe Trennschärfe besitzt. Da Clausewitz im Werk „Vom Kriege“ von einer Definition des Ver168
72 II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ Diese Vorstellung vom „Abwarten“ als dem einzigen Merkmal zur Unterscheidung von Angriff und Verteidigung entwickelte sich bei Clausewitz schon sehr früh und wird bis zum Schluss in allen seinen Schriften beibehalten. Im Rahmen des dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm von Preußen erteilten Unterrichts beschreibt Clausewitz diesen Zusammenhang sehr anschaulich, indem er feststellt, dass doch ein höchst wesentlicher Unterschied zwischen Angriff und Verteidigung bestehe, welcher auch der einzige im Prinzip sei: nämlich der, dass der Angreifende die Handlung (das Gefecht) wolle und ins Leben rufe, der Verteidiger aber dies abwarte.170 Diese Äußerung steht in dialektischem Gegensatz zu anderen Vorstellungen des Kriegsphilosophen, wie beispielsweise der, dass der Angreifer am liebsten friedlich (ohne Kampf) ins Land kommen würde und dass der Zweck der Verteidigung der Kampf sei. Was letztendlich bedeuten würde, dass nicht der Angreifer sondern der Verteidiger das Gefecht wolle und herbeiführe. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang die hinter dem „Abwarten“ beziehungsweise „Handeln“ stehende Motivation. Hier kommt Clausewitz auf den Zweck von Angriff und Verteidigung zu sprechen und definiert diesen im Falle des Angriffs als „positiv“ und den der Verteidigung als „negativ“. Das Bestreben mit dem positiven Zweck (dem Angriff) rufe den Verteidigungsakt ins Leben, das Bestreben mit dem negativen (der Verteidigung) warte ihn ab, betont er.171 Auf diese Unterscheidung legt Clausewitz großen Wert. Es muss daher näher darauf eingegangen werden, um deutlich zu machen, in welcher Weise der preußische Kriegstheoretiker den „Zweck“ zur Definition von Angriff und Verteidigung und insbesondere zur Abgrenzung der beiden Formen des Kriegführens voneinander verwendet. 1.3 Zwecksetzung Ziel / Zweck: Ausgehend von der Überlegung, dass sich Angriff und Verteidigung als die beiden Hauptformen des Krieges immer auf die Entscheidung desselben beziehen, ist zunächst ein Blick auf das Ziel des „kriegerischen Aktes“172 insgesamt zu werfen. Dieses Ziel bestehe darin den Feind „wehrlos zu machen“173, oder, mit anderen Worten, ihn „niederzuwerfen“174, stellt Clausewitz teidigungskrieges auf politischer Ebene absieht, kann vermutet werden, dass er von dieser These im Laufe der Zeit Abstand nahm. 170 Vgl. Hahlweg a.a.O., S. 1138 171 Vgl. Vom Kriege. I, 2, S. 228 172 Vgl. Vom Kriege. VIII, 1, S. 949 173 Vgl. Vom Kriege. I, 1, S. 192 174 Vgl. Vom Kriege. VII, 3, S. 875
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fest. An anderer Stelle spricht er von der „Überwindung des Gegners“ und macht gleichzeitig deutlich, was er darunter versteht: „Was ist die Überwindung des Gegners? Immer nur die Vernichtung seiner Streitkraft, sei es durch Tod oder Wunden oder auf was für eine andere Art, sei es ganz und gar oder nur in einem solchen Maße, dass er den Kampf nicht mehr fortsetzen will. Wir können also, so lange wir von allen besonderen Zwecken der Gefechte absehen, die Vernichtung des Gegners ganz oder teilweise als den einzigen Zweck aller Gefechte betrachten.“175
Clausewitz geht sogar noch einen Schritt weiter und betont, dass, da im Kriege alles unter einem höchsten Gesetz, dem der Waffenentscheidung stehe, die Vernichtung der feindlichen Streitkraft unter allen Zwecken, die im Kriege verfolgt werden könnten, immer als der über alles gebietende erscheine.176 Aus diesen Überlegungen folgt ein ganz wesentlicher Gesichtspunkt, nämlich die Tatsache, dass dieses „Vernichten des Gegners“, da es Zweck aller Gefechte und außerdem das „Hauptprinzip“177 des Krieges sei, logischerweise auch der wichtigste Zweck sowohl des „offensiven“ als auch des „defensiven Gefechtes“ sein muss.178 Eine besondere Qualität erhält der Zweck des Vernichtens darüber hinaus durch ein sogenanntes „Doppelgesetz“, dessen Teile sich gegenseitig tragen würden, führt Clausewitz weiter aus. Demnach sei die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte hauptsächlich in großen Schlachten und ihren Erfolgen zu sehen, und der Hauptzweck der großen Schlachten müsse die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte sein.179 Im Allgemeinen bleibe es vorherrschend wahr, dass Hauptschlachten nur zur Vernichtung der feindlichen Streitkräfte geliefert, und dass diese nur durch die Hauptschlacht erreicht werde.180 Aus der Gemeinsamkeit des Vernichtens als Zweck von Angriff und Verteidigung ergibt sich für Clausewitz, dass der Sieg, um den der Kampf geführt werde, eben so gut Zweck der Verteidigung wie des 175
Vom Kriege. IV, 3, S. 423. Diesen Sachverhalt macht Clausewitz auch an anderer Stelle deutlich. Vgl. dazu Vom Kriege. IV,3, S. 422: „Gefecht ist Kampf, und in diesem ist die Vernichtung oder Überwindung des Gegners der Zweck; der Gegner im einzelnen Gefecht aber ist die Streitkraft, welche uns entgegensteht.“ Vgl. auch Vom Kriege. VIII, 1, S. 949: „Und (wir) sind bei dem Resultat stehen geblieben, daß die Niederwerfung des Feindes, folglich die Vernichtung seiner Streitkräfte das Hauptziel des ganzen kriegerischen Aktes sei.“ 176 Vgl. Vom Kriege. I, 2, S. 229 177 Vgl. Vom Kriege. IV, 11, S. 467 178 Vgl. Vom Kriege. IV, 5, S. 437 f. In einer Gegenüberstellung der verschiedenen Zwecke des offensiven und des defensiven Gefechts macht Clausewitz deutlich, dass in beiden Fällen die „Vernichtung der feindlichen Streitkräfte“ der wichtigste unter diesen Zwecken sei. Damit würde dieser Zweck im Gegensatz zu den anderen durch die beiden Hauptformen des Krieges, Angriff und Verteidigung, auch nicht modifiziert. 179 Vgl. Vom Kriege. IV, 11, S. 467 180 Vgl. Vom Kriege. IV, 11, S. 468. Vgl. auch IV, 5, S. 438: „...; sodann, daß der erste dieser Zwecke (die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte) in der Hauptschlacht immer vorherrschen sollte.“
74 II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ Angriffs sei181, und sich beide Formen der „kriegerischen Tätigkeit“ auf die Entscheidung beziehen würden.182 Als kurze Zwischenbilanz bleibt festzustellen, dass gemäß Clausewitz die Vernichtung der feindlichen Streitkraft sowohl Zweck des Angriffs als auch Zweck der Verteidigung ist, dass dieser Zweck als einziger allen Gefechten zu eigen und darüber hinaus der wichtigste und in der Hauptschlacht auch meist der einzige Zweck derselben ist. Dies bedeutet gleichzeitig aber auch, dass es nach diesen Überlegungen keine Verteidigung geben kann, die sich auf den Zweck des „Erhaltens“ beschränkt. Die Interpretation der Clausewitzschen Gedanken durch Raymond Aron, wonach das „immanente Ziel“ von Verteidigung und Angriff einerseits Erhalten und andererseits Erobern sei, muss in diesem Zusammenhang als unzutreffend, weil den Überlegungen von Clausewitz nicht entsprechend, zurückgewiesen werden. Nach Clausewitz kann das „Erobern“ bzw. „Erhalten“ im Einzelfall Zweck (Ziel) von Angriff bzw. Verteidigung sein, was jedoch nicht zwingend erforderlich ist. Der einzige immanente Zweck von Angriff und Verteidigung ist gemäß Clausewitz das „Vernichten“ der feindlichen Streitkräfte. 183 Positiver / negativer Zweck: Was aber meint Clausewitz damit, wenn er den Angriff als die schwächere Form (des Kriegführens) mit dem positiven Zweck und die Verteidigung als die stärkere Form mit dem negativen Zweck bezeichnet?184 Was ist unter dem „positiven Zweck“ oder „Motiv“ zu verstehen, welches der Angriff habe, die Verteidigung aber entbehre?185 Aus dem bisher Gesagten ergibt sich diesbezüglich folgendes: Der positive Zweck des Angriffs darf nicht in der Vernichtung der feindlichen Streitkräfte gesehen werden, weil diese Vernichtung sowohl Zweck des Angriffs als auch Zweck der Verteidigung ist, somit eine Gemeinsamkeit nicht aber ein Unterscheidungsmerkmal der beiden Formen des Kriegführens darstellt. Würde man daher die Vernichtung des Feindes als den „positiven Zweck“ betrachten, so müsste man konsequenterweise auch der Verteidigung einen solchen unterstellen, womit eine Unterscheidung in „positiv“ und „negativ“ überflüssig würde. Clausewitz macht an mehreren Stellen seines Werkes deutlich, worin er das „Positive“ bzw. „Negative“ des jeweiligen Zweckes sieht. So bezeichnet er das „Erhalten“ als den negativen Zweck der Verteidigung, während er das „Erobern“ 181
Hahlweg a.a.O., S. 1138 Vgl. Vom Kriege. I, 1, S. 205. Diese Grundüberlegung, dass auch die Verteidigung, nicht nur der Angriff, sich letztendlich auf die „Entscheidung“ beziehen muss, scheint heute zunehmend in Vergessenheit zu geraten. So verdeutlicht beispielsweise die FM 100-5 der US-Army: „Offensive action is the most effective and decisive way to attain a clearly defined common objective.“ 183 Vgl. Raymond Aron: Clausewitz. Den Krieg denken, Frankfurt 1980, S. 248 184 Vgl. Vom Kriege. VI, 4, S. 631 185 Vgl. Vom Kriege. I, 1, S. 204 182
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als den positiven Zweck des Angriffs betrachtet und hinzufügt, dass jener die eigenen Kriegsmittel vermehre, das „Erhalten“ aber nicht.186 Genauer führt er aus, dass sich dieses „Erobern“ sowohl auf einen Ort, als auch auf einen Gegenstand beziehen könne, während das „Erhalten“ in der „Verteidigung eines Ortes“ oder auch eines „Gegenstandes“ zu sehen sei.187 Somit wird klar, worin Clausewitz die „besonderen“ (vgl. Zitat S. 7) oder „anderen“ Zwecke des offensiven wie auch des defensiven Gefechtes sieht, welche neben dem Zweck der „Vernichtung der feindlichen Streitkraft“ (als Zweck eines jeden Gefechtes) sogar vorherrschend werden könnten. Im Falle des „offensiven Gefechtes“ sind dies die Eroberung eines Ortes sowie die Eroberung eines Gegenstandes, während die Verteidigung eines Ortes und die eines Gegenstandes Zweck des „defensiven Gefechtes“ sind. Dem „offensiven Gefecht“ ordnet Clausewitz einen weiteren Zweck zu, welcher darin bestehe, den Gegner zu einer falschen Maßregel zu verleiten, oder mit anderen Worten: ein Scheingefecht zu liefern.188 An dieser Stelle kann der Interpretation Herberg-Rothes, Clausewitz habe den positiven Zweck des Angriffs darin gesehen, einem Gegner den eigenen Willen aufzuzwingen, nicht uneingeschränkt gefolgt werden. Bei dieser Zwecksetzung handelt es sich gemäß Clausewitz um den Zweck des Krieges insgesamt, sowohl in seiner offensiven, wie auch in seiner defensiven Ausrichtung. Wie bereits ausgeführt betrachtet Clausewitz das „Erobern“ als den positiven Zweck des Angriffs. Herberg-Rothe scheint hier zwischen der Zwecksetzung des Krieges insgesamt und den Zwecksetzungen dessen beider Hauptformen im Besonderen nicht hinreichend zu differenzieren. Dies zeigt sich auch daran, dass er die 186
Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 615. Zu untersuchen wäre an dieser Stelle, inwiefern ein Angriff die eigenen Kriegsmittel tatsächlich vermehrt und nicht etwa verringert. So finden sich in der Kriegsgeschichte nicht wenige Beispiele von Feldzügen, in denen durch einen Angriff die eigenen Kriegsmittel in keinster Weise vermehrt, häufig sogar in erheblichem Maße verringert wurden. Man denke nur an Napoleons Russlandfeldzug von 1812 oder die (unter etwas geänderten Vorzeichen erfolgte) Neuauflage dieses Unterfangens durch Adolf Hitler 1941. Auch steht diese Behauptung in krassem Gegensatz zu dem, was Clausewitz in seinen Überlegungen über die „Abnehmende Kraft des Angriffs“ und über den „Kulminationspunkt des Angriffs“ schreibt. Vgl. Vom Kriege. VII, 4, 5, S. 877 ff, sowie Vom Kriege. VII, 21, S. 936. Vgl. auch Vom Kriege. IV, 5, S. 438. An dieser Stelle weist Clausewitz darauf hin, dass die Verteidigung eines Ortes oder die eines Gegenstandes solche Zwecke beim Defensivgefecht seien, die keine Zinsen tragen würden; die ganz negativ seien und nur mittelbar, indem sie irgend etwas anderes Positives erleichterten, nützlich werden könnten. 187 Vgl. Vom Kriege. IV, 5, S. 437 188 Vgl. Vom Kriege. IV, 5, S. 437. Clausewitz behauptet, dass sich dieser Zweck nur offensiv denken lasse, was aus heutiger Sicht allerdings nicht bestätigt werden kann. Man könnte an die Anwendung von Täuschungsmaßnahmen, beispielsweise die Verwendung von Attrappen, denken, mittels derer man stärker erscheint, als man tatsächlich ist, um den Gegner damit von einem Angriff abzuschrecken. Dies wäre zweifelsohne eine defensive Ausrichtung dieses Zweckes. Auch die Verwendung von Tarnmaßnahmen (Tarnen ist ja nichts anderes als eine bestimmte Art des Täuschens) fällt unter diese Kategorie.
76 II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ Unterscheidung in positiven und negativen Zweck in freier Interpretation direkt aus der Clausewitzschen Kriegsdefinition ableitet. Dass Clausewitz jedoch neben der Zwecksetzung des Krieges insgesamt die Zwecke von Angriff und Verteidigung gesondert definiert, scheint Herberg-Rothe dabei zu übersehen. Sein weiterer Gedanke, bei der Verteidigung gehe es wesentlich darum, sich den gegnerischen Willen nicht aufzwingen zu lassen, ist eine interessante Perspektive mit erheblichem Diskussionspotenzial. Diesen Gedankengang jedoch Clausewitz in den Mund zu legen, ist anhand der Quellenlage nicht nachvollziehbar.189 Die Clausewitzsche Unterscheidung in positiven und negativen Zweck beinhaltet aber auch einige Probleme und Unstimmigkeiten, die nicht übersehen werden dürfen. Allein die Tatsache, dass Clausewitz dem Angriff generell einen positiven und der Verteidigung einen negativen Zweck zuordnet190, widerspricht zum Teil seinen vorausgehenden Überlegungen. Da, wie er selbst argumentiert, nicht jeder Angriff den Zweck des Eroberns verfolgt, außerdem der wichtigste Zweck191 des Angriffes im Vernichten der feindlichen Streitkräfte (nicht etwa im positiven Zweck des Eroberns) zu sehen ist, und dieses Vernichten in der Hauptschlacht sogar meist den einzigen Zweck darstellt, muss unterstellt werden, dass in vielen Fällen und darüber hinaus in den wichtigsten (nämlich in der Hauptschlacht), der Angriff gar nicht den „positiven Zweck“ des Eroberns verfolgt. Demnach stellt sich die Frage, ob es konsequent ist, wenn Clausewitz dem Angriff generell diesen positiven Zweck unterstellt (den dieser natürlich in bestimmten Situationen durchaus haben kann) und daraus dann verallgemeinernde Schlussfolgerungen ableitet. Gleiches gilt analog für die Verteidigung, welche auch nicht zwingend das „Erhalten“ und damit den seiner Meinung nach negativen Zweck anstrebt. Verschärft wird diese Problematik zudem durch die Tatsache, dass Clausewitz seine Begriffsdefinitionen „positiver/negativer Zweck“ wertend versteht, indem er behauptet, die verteidigende Form des Kriegführens habe ohnehin den „bloß negativen Zweck“, während er im Falle des Angriffs von einem „höheren Zweck“ spricht, hinsichtlich dessen es sehr natürlich sei, ihn mit größeren Opfern (als den negativen Zweck der Verteidigung) zu erkaufen.192 Hier stellt sich die Frage, warum das „Erhalten“ ein geringerer, weniger erstrebenswerter Zweck sein soll als das „Erobern“. Was für einen Nutzen, könnte man fragen, hat überhaupt eine Eroberung, wenn das eroberte Gebiet oder der eroberte Gegenstand 189
Andreas, Herberg-Rothe: Das Rätsel Clausewitz. Politische Theorie des Krieges im Widerstreit, München 2001, S. 190 190 Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 615 191 Vgl. Vom Kriege. IV, 5, S. 438 192 Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 617. Ähnlich wertende Formulierungen finden sich an verschiedenen anderen Stellen. Vgl. dazu Vom Kriege. III, 16, S. 407: „Der Angreifer aber hat den positiven Zweck, der Verteidiger einen bloß negativen;“. Vgl. auch Vom Kriege. I, 2, S. 228
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nicht erhalten werden kann? Eine solche Eroberung müsste als unsinnig bezeichnet werden193, und es wird deutlich, warum das „Erhalten“ ein mindestens ebenso wertvoller und erstrebenswerter Zweck sein kann. Diese Überlegungen zeigen, dass eine Unterscheidung der mit Angriff und Verteidigung verfolgten Zwecksetzungen in „positiv“ und „negativ“, wenig sinnvoll ist194, insbesondere wenn damit eine Wertung einhergeht. Es scheint vielmehr angebracht, den jeweiligen Zweck (Erobern/Erhalten) direkt beim Namen zu nennen und auf eine wertende Umschreibung zu verzichten. „Reiner Widerstand“: Abschließend zu den Überlegungen der Zwecksetzung von Angriff und Verteidigung muss noch auf einen wichtigen Gesichtspunkt der Clausewitzschen Überlegungen hinsichtlich des „reinen Widerstandes“ hingewiesen werden. Der kleinste Zweck, den man sich vorsetzen könne, betont Clausewitz, sei der reine Widerstand, d.h. der „Kampf ohne eine positive Absicht“. Wie weit könne nun diese Negativität gehen, fragt er sich, und kommt zu dem Schluss, dass diese offenbar nicht bis zur absoluten Passivität führen dürfe, denn ein bloßes Leiden sei kein Kampf mehr; der Widerstand aber sei eine Tätigkeit, und durch diese sollten so viele von des Feindes Kräften zerstört werden, dass dieser seine Absicht aufgeben müsse.195 Es sei also ein großer Irrtum in den Grundvorstellungen, führt er weiter aus, zu glauben, dass das negative Bestreben dahin führen müsse, die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte nicht zum Zweck zu wählen, sondern eine unblutige Entscheidung vorzuziehen.196 Es bleibt daher festzuhalten, dass selbst im sogenannten „reinen Widerstand“, oder mit anderen Worten ausgedrückt in der passivsten Form der Verteidigung, die Vernichtung der feindlichen Streitkraft, und damit die Entscheidung, immer Zweck derselben bleibt. Dass der „reine Widerstand“ jedoch im Einzelfall sehr weit führen kann und durchaus die „positive Absicht“ der Entscheidung und des Sieges verfolgen und auch erreichen kann zeigt die Kriegsgeschichte immer wieder. Dabei ist ein Sieg über den Gegner auf strategischer Ebene auch ohne Gefecht, ja selbst bei ausschließlich eigenen Niederlagen denkbar. Die russische Verteidigung gegen Napoleon 1812 liefert ein anschauliches Beispiel dafür. Entscheidend für die Niederlage Napoleons war hierbei nicht so sehr die russische Gefechtsführung, der es letztendlich nicht gelungen ist die Einnahme Moskaus (das strategische 193
Die Eroberungen der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg stellen ein sehr anschauliches Beispiel einer sinnlosen Eroberung dar. Zu einer ähnlichen, wenn auch anders begründeten Schlussfolgerung kommt Raymond Aron. Er weist darauf hin, dass, wenn man wie Clausewitz die Gegenoffensive und den Sieg mit in die Bezeichnung der Verteidigung aufnehme, man nicht mehr das Recht habe vom negativen Zweck (der Verteidigung) zu sprechen. Vgl. R. Aron: Clausewitz. Den Krieg denken, Frankfurt 1980, S. 229 195 Vgl. Vom Kriege. I, 2, S. 220 196 Vgl. Vom Kriege. I, 2, S. 228 194
78 II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ Ziel Napoleons) zu verhindern, sondern die reine passive Leidensfähigkeit und Verweigerungshaltung Russlands. Die schlichte Weigerung zu kapitulieren in Verbindung mit einer Taktik der verbrannten Erde und den winterlichen Witterungsverhältnissen ließen den logistisch überdehnten Angreifer letztendlich an sich Selbst und den äußeren Umständen scheitern. Das „blitzende Vergeltungsschwert“ des Gegenangriffs („Rückstoßes“), ohne den, wie Clausewitz im siebenten Buch hervorhebt, eine Verteidigung gar nicht gedacht werden könne, war hier überhaupt nicht erforderlich.197 Dieses Beispiel zeigt, dass im Kriege „Leidensfähigkeit“ und „Siegverweigerung“ Kampf bis zu einem gewissen Grad ersetzen kann. Auch die Clausewitzsche Überlegung dass Kampf das einzig wirksame Prinzip im Kriege sei muss daher von dieser Seite her einer gewissen Relativierung unterzogen werden.198 Vor dem Hintergrund, dass Clausewitz selbst in beratender Funktion an den Geschehnissen in Russland teilhatte, ist es umso erstaunlicher, dass er die Rolle des „reinen Widerstandes“, der Leidensfähigkeit und der Verweigerung nicht gebührend würdigte. 1.4 Wechselwirkung von Angriff und Verteidigung Welch enger Zusammenhang nach Clausewitz zwischen Angriff und Verteidigung besteht, welche Wechselwirkungen und engen Verzahnungen zwischen diesen beiden Formen des Kriegführens vorliegen, und wie schwierig es demnach ist, die eine von der anderen zu trennen, wird insbesondere deutlich, wenn man einen Blick auf den Gegenangriff (Rückstoß) richtet. Diesem misst Clausewitz entscheidende Bedeutung bei, indem er betont, dass ein schneller, kräftiger Übergang zum Angriff - das „blitzende Vergeltungsschwert“ - der glänzendste Punkt der Verteidigung sei; wer ihn sich nicht gleich hinzudenke, oder vielmehr (und hier wird die enge Verzahnung von Angriff und Verteidigung besonders deutlich), wer ihn nicht gleich in den Begriff der Verteidigung aufnehme, dem werde nimmermehr die Überlegenheit der Verteidigung einleuchten.199 An anderer Stelle bezeichnet er einen Krieg, bei dem man seine Siege bloß zum Abwehren benutzen, gar nicht „widerstoßen“ wollte, als ebenso widersinnig wie eine Schlacht, in der die absoluteste Verteidigung (Passivität) in allen Maßregeln herrschen sollte.200 Die Verteidigung, so definiert Clausewitz, sei nichts als eine stärkere Form des Krieges, vermittelst welcher man den Sieg erringen wolle, um nach dem gewonnenen Übergewicht zum Angriff, d.h. zu dem positiven Zweck des Krieges, überzugehen. Selbst wenn die Absicht des Krieges bloße Erhaltung 197
Vgl. Vom Kriege. VII, 2, S. 871 Vgl. S. 53 bzw. Fußnote 145 199 Vgl. Vom Kriege. VI, 5, S. 634 200 Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 615 198
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des Status quo sei, so sei doch eine bloße Zurückweisung des Stoßes etwas dem Begriff des Krieges Widersprechendes, weil Kriegführung unstreitig kein Leiden sei. Habe der Verteidiger einen bedeutenden Vorteil errungen, so habe die Verteidigung das ihre getan, und er müsse unter dem Schutz dieses Vorteils den Stoß zurückgeben, wenn er sich nicht einem gewissen Untergang aussetzen wolle. Der Übergang zum Rückstoß, so folgert er, müsse als eine Tendenz der Verteidigung, also als ein wesentlicher Bestandteil derselben gedacht werden, und überall, wo der durch die Verteidigung errungene Sieg nicht auf irgendeine Weise in dem kriegerischen Haushalt verbraucht werde, wo er gewissermaßen ungenutzt dahinwelke, werde ein großer Fehler gemacht.201 Er geht sogar noch weiter und betont, dass eine absolute Verteidigung dem Begriff des Krieges völlig widerspreche, weil bei ihr nur der eine Krieg führen würde, und man, um wirklich auch seinerseits Krieg zu führen, dem Feind seine Stöße zurückgeben müsse. Daraus folgert er, dass auch im Kriege die Verteidigung nur relativ sein könne, und jenes Merkmal (das Abwarten des Stoßes durch den Verteidiger) nur auf den Totalbegriff angewandt, nicht auf alle Teile von ihm ausgedehnt werden könne. Er macht dies an einem Beispiel deutlich, indem er darauf verweist, dass man in einem verteidigenden Feldzug angriffsweise schlagen, in einer verteidigenden Schlacht angriffsweise einzelne Divisionen gebrauchen könne, endlich in der einfachen Aufstellung gegen den feindlichen Sturm schicke man ihm sogar noch die offensiven Kugeln entgegen. Die verteidigende Form des Kriegführens sei also kein unmittelbarer Schild, sondern ein Schild gebildet durch geschickte Streiche.202 Mit diesen Überlegungen verdeutlicht Clausewitz einige Zusammenhänge, die für das Verhältnis von Angriff und Verteidigung entscheidend sind. Indem er darauf verweist, dass die Verteidigung im Kriege nur relativ sei, macht er klar, dass es zur Unterscheidung von Angriff und Verteidigung ganz wesentlich darauf ankomme, welche Ebene man gerade betrachte. So ist vorstellbar, dass beispielsweise ein Feldzug angriffsweise geführt wird, einzelne Gefechte desselben aber defensiv angelegt sind und in diesen Defensivgefechten bestimmte Truppenkörper wiederum offensiv eingesetzt werden. Diese Vorstellung könnte bis hinunter zum einzelnen Soldaten fortgesetzt werden, und es folgt daraus, dass von Angriff und Verteidigung sinnvollerweise nur im Hinblick auf eine jeweils anzugebende Ebene gesprochen werden kann. Ein weiterer eng mit diesen Überlegungen verbundener Sachverhalt, welchen Clausewitz hervorhebt, ist die Forderung nach Aktivität auch und gerade für den Verteidiger. So lehnt er eine absolute oder rein passive Form der Verteidigung entschieden ab und bezeichnet eine solche als „dem Begriff des Krieges 201 202
Vgl. Vom Kriege. VI, 5, S. 633 Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 613 f
80 II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ völlig widersprechend“.203 Er fordert, die in der Verteidigung gewonnene Überlegenheit auszunutzen, und „unter dem Schutz dieses Vorteils“204 dem Feinde durch einen Gegenangriff den Stoß zurückzugeben. In der Möglichkeit, nach einem in der Verteidigung erfolgreich abgewehrten Angriff des Gegners unmittelbar zum Gegenstoß überzugehen, solange der Feind noch angeschlagen, unkoordiniert und seine Abwehr noch unvorbereitet ist, erkennt er eine ganz wesentliche Stärke, die es wann immer möglich auszunutzen gelte.205 Neben diesen zweifelsohne sehr wesentlichen Erkenntnissen für das Verhältnis von Angriff und Verteidigung stellt sich aber auch die Frage, ob Clausewitz mit einzelnen seiner Überlegungen und Formulierungen nicht etwas zu weit geht. Die Behauptung, dass die Verteidigung kein absolutes Abwarten und Abwehren, also kein vollkommenes Leiden sei (an anderer Stelle bezeichnet er eine bloße Zurückweisung des Stoßes als etwas dem Begriff des Krieges Widersprechendes, weil Kriegführung unstreitig kein Leiden sei206), sondern ein relatives, folglich mit mehr oder weniger offensiven Prinzipien durchdrungen, und die daraus abgeleitete Schlussfolgerung, dass die Verteidigung ohne Rückstoß gar nicht gedacht werden könne und dieser somit ein notwendiger Bestandteil derselben sei207, weist gewisse argumentative Unschärfen auf, die näher untersucht werden müssen. So scheint die Gleichsetzung von „Abwehren“ oder „Zurückweisung eines Stoßes“ (und sei es in der passivsten Form einer Verteidigung) mit „vollkommenem Leiden“, oder die in die gleiche Richtung zielende Behauptung, dass eine absolute Verteidigung dem Begriff des Krieges völlig widerspreche, weil bei ihr nur der eine Krieg führen würde208, sehr fragwürdig. Von rein passivem „Leiden“ könnte ja nur dann gesprochen werden, wenn der Verteidiger sich nicht wehren, also nicht kämpfen würde. Dann kann aber auch nicht mehr von „Verteidigung“ die Rede sein, weil diese (wie unter Punkt II.1.1 dargestellt wurde) den „Kampf“ als notwendige Bedingung voraussetzt. Sobald aber der Angegriffene zu kämpfen beginnt (und sich dazu als Mittel des Hand- oder auch des Feuergefechtes bedient), um den Stoß des Angreifers abzuwehren, kann nicht mehr von vollkommenem Leiden gesprochen werden (man könnte sich auch fragen, ob im Einzelfall der Angreifer nicht sogar mehr leidet als der Verteidiger), was aber noch nicht bedeuten muss, dass ein Gegenangriff geführt wird.
203
Vom Kriege. VI, 1, S. 613 Vom Kriege. VI, 5, S. 633 Dieses Prinzip wurde von Feldmarschall v. Manstein als „Schlagen aus der Nachhand“ bezeichnet, und es verhalf der deutschen Wehrmacht nach Stalingrad (Winter 1942/43) noch einmal zu großen Erfolgen gegen die angreifenden Sowjetarmeen. 206 Vgl. Vom Kriege. VI, 5, S. 633 207 Vgl. Vom Kriege. VII, 2, S. 871 208 Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 613 204 205
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Clausewitz spricht zwar von den „offensiven Kugeln“209, welche der Verteidiger dem feindlichen Sturm entgegenschickt; diese Formulierung darf jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass das Schießen des Verteidigers bereits als Stoß oder Rückstoß anzusehen sei.210 Dass Clausewitz dies unmöglich so gemeint haben kann, wurde bereits unter den Punkten II.1.1 und II.1.2 dargestellt.211 Auch würde eine derartige Interpretation der von Clausewitz vorgenommenen Definition der Verteidigung widersprechen, wonach diese nichts sei als eine stärkere Form des Krieges, vermittelst welcher man den Sieg erringen wolle, um nach dem gewonnenen Übergewicht zum Angriff überzugehen.212 Da ein Sieg in der Verteidigung in der Regel den Gebrauch der Schusswaffen erforderlich macht, der Gegenangriff aber erst nach diesem Sieg geführt werden soll, so ergibt sich bereits aus der Logik dieser Definition, dass der Feuerkampf (die „offensiven Kugeln“) des Verteidigers noch nicht den Rückstoß (Gegenangriff) desselben darstellen kann. Gegen seine Behauptung, dass die Verteidigung ohne Rückstoß gar nicht gedacht werden kann, führt Clausewitz selbst das Argument ins Felde, dass man viele Beispiele von Kriegen anführen könne, wo die Verteidigung in ihrem letzten Ziel nur verteidigend blieb, und an eine offensive Rückwirkung nicht gedacht war.213 Er entkräftet diesen Einwand aber sofort wieder, indem er darauf verweist, dass dieses Argument nur dann stichhaltig wäre, wenn man vergessen würde, dass hier von einer allgemeinen Vorstellung die Rede sei, und dass die angeführten Beispiele sämtlich als solche Fälle zu betrachten seien wo die Möglichkeit der offensiven Rückwirkung noch nicht gekommen wäre. Gegen diese Entkräftung (seines eigenen Einwandes) lassen sich allerdings einige Argumente anführen, die nicht übersehen werden dürfen. So muss es sich in den genannten Fällen keineswegs ausschließlich um Situationen handeln, in denen die Möglichkeit der „offensiven Rückwirkung“ noch nicht gekommen ist. Zu denken wäre beispielsweise an Fälle, in denen eine „offensive Rückwirkung“ gar nicht nötig ist, weil der Angreifer bereits durch die reine Abwehrleistung des Verteidigers geschlagen wurde, und jener seinerseits gar kein Interesse daran hat zu erobern, weil ihm die Sicherung des Status quo genügt. Auch sind Situationen vorstellbar, in denen eine „offensive Rückwirkung“ nicht sinnvoll oder zweck-
209
Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 614 General von Bernhardi weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es der Natur der Dinge widerspräche, in der Feuerabgabe des Verteidigers einen Moment der Offensive zu erblicken. Dem Schießen des Verteidigers läge keinerlei offensive Absicht zugrunde, sondern lediglich und ausschließlich der Gedanke der Abwehr. Erst durch die Absicht, den Angriff durch das Schießen vorzubereiten, werde die Kugel zu einem Element der Offensive. Vgl. Bernhardi a.a.O., S. 401 211 Vgl. Vom Kriege. VI, 5, S. 633 212 Vgl. Vom Kriege. VI, 5, S. 633 213 Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 615 f 210
82 II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ mäßig erscheint, weil man beispielsweise dem Gegner seinerseits nicht die Möglichkeit zu einem Gegenangriff bieten will. Hier stellt sich die Frage, inwiefern es berechtigt ist, dass Clausewitz den Rückstoß (Gegenangriff) als notwendigen Bestandteil in den Begriff der Verteidigung aufnimmt, während er andererseits den „Akt des Angriffs“ als einen „an sich vollständigen Begriff“ bezeichnet, in dem die Verteidigung an sich nicht nötig sei.214 Damit macht er den Angriff zu einem vollständigeren Begriff als die Verteidigung, was zu Widersprüchen mit seiner Vorstellung führen muss, nach der die Begriffe Angriff und Verteidigung „wahre logische Gegensätze“ bildeten, wobei der eine das Komplement des anderen werde, und im Grunde aus dem einen schon der andere hervorgehe.215 Nach dieser Vorstellung wäre zu erwarten, dass Angriff und Verteidigung in einer symmetrischen Wechselbeziehung zueinander stünden, wobei die eine Form mit der anderen in gleicher Weise zusammenhängt wie umgekehrt. Darüber hinaus könnte man einwenden, dass auch die Verteidigung den Angriff (im Sinne eines Gegenangriffs) keinesfalls zwangsläufig benötigt, was beispielsweise in der Möglichkeit reiner Defensiverfolge zum Ausdruck kommt Raymon Aron weist darauf hin, dass Clausewitz` Denken seine endgültige Form noch nicht gefunden habe, wenn er vom negativen Zweck der Verteidigung spricht, gleichzeitig aber den Gegenangriff mit in den Begriff der Verteidigung aufnimmt. An anderer Stelle macht Aron deutlich, dass die beiden von Clausewitz gewählten Definitionen der Verteidigung, einmal als die „stärkere Form des Kriegführens mit dem negativen Zweck“ und zum anderen als die „stärkere Form des Krieges, um den Gegner um so sicherer zu besiegen“, sich widersprechen. Aron sieht den Widerspruch darin, dass der Sieg über den Gegner nicht mehr als „negativer Zweck“ betrachtet werden kann. 216 Als Ausweg stellt er die Vermutung an, dass Clausewitz möglicherweise gleichzeitig zwei Definitionen der Verteidigung gebrauche, wobei nach der ersten Definition die Verteidigung erhalten wolle und sich im Abwehren auswirke, während gemäß der zweiten Definition die Verteidigung mit dem Abwarten beginne und mit dem Gegenangriff aufhöre.217 Dieser „Ausweg“ ist jedoch nicht schlüssig, da beispielsweise das „Abwarten“ das entscheidende Merkmal einer jeden Verteidigung ist und gemäß Clausewitz auch das einzige Unterscheidungskriterium von Angriff und Verteidigung darstellt, somit also nicht nur von der von Aron vorgeschlagenen zweiten Definition beansprucht werden kann. „Abwehren“ bezeich214 Vgl. Vom Kriege. VII, 2, S. 871. Nur Zeit und Raum, an welche der Angriff gebunden sei, führten ihm (dem Angriff) die Verteidigung als ein notwendiges Übel zu, merkt Clausewitz an. 215 Vgl. Vom Kriege. VII, 1, S. 869 216 Vgl. Aron a.a.O., S. 220 217 Vgl. Aron a.a.O., S. 229
1 Begriffsbestimmung von Angriff und Verteidigung
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net Clausewitz als den „Begriff“ der Verteidigung und zwar ebenfalls ausnahmslos und nicht nur für eine bestimmte Art der Verteidigung. Auch der Gegenangriff wird von Clausewitz bereits in den Begriff der Verteidigung aufgenommen und kann somit kein Unterscheidungsmerkmal verschiedener Formen derselben darstellen. Lediglich vom Zweck her wäre (gemäß der Clausewitzschen Gedanken) eine Unterscheidung in verschiedene Formen überhaupt möglich; je nachdem ob dieser Zweck im Vernichten der feindlichen Streitkraft oder im Verteidigen (Erhalten) eines Gegenstandes oder eines Ortes liegt. Aron spricht jedoch nur von einem dieser Zwecke, nämlich dem „Erhalten“, so dass eine Unterscheidung dahingehend entfällt. Als Lösung des Problems bietet sich stattdessen an, auf die Formulierung „positiver/negativer Zweck“ generell zu verzichten und den Gegenangriff nicht bereits vom Begriff der Verteidigung vereinnahmen zu lassen. Aufgrund dieser aufgezeigten Unstimmigkeiten scheint es angebracht, zwar die Möglichkeit zu einem Gegenangriff mit in den Begriff der Verteidigung aufzunehmen und in der möglichen Option, nach einer erfolgreichen Verteidigung unter günstigeren Voraussetzungen zum Angriff übergehen zu können, auch eine Stärke der Verteidigung zu sehen. Der Gegenangriff selbst (als solcher) sollte jedoch als Angriff (wie der Name sagt) betrachtet und nicht bereits vom Begriff der Verteidigung vereinnahmt werden.218 Für diese Bestimmung spricht unter anderem auch die Tatsache, dass ein Gegenangriff zwar im Rahmen einer Verteidigung auf höherer Ebene erfolgen kann219, was aber nicht notwendigerweise erforderlich ist. Der Gegenangriff definiert sich ja nicht dadurch, dass er im Dienste einer übergeordneten Verteidigung steht, sondern dadurch, dass er auf eine (wie auch immer geartete) Abwehr eines gegnerischen Angriffs erfolgt. Das bedeutet, dass ein Gegenangriff natürlich auch im Rahmen einer übergeordneten „Offensivhandlung“ geführt werden kann oder dass er gar zu einer solchen werden kann. Ein weiteres Argument für obige Begriffsdefinition ist die Tatsache, dass Angriff und Verteidigung zwar in ständiger Wechselwirkung miteinan218
General von Bernhardi vertritt eine ähnliche Meinung, wenn er betont, dass er die von Clausewitz zugrunde gelegte Voraussetzung nicht gelten lassen könne, wonach der Gegenstoß zum Wesen des Verteidigungskampfes gehöre. Nach seiner Vorstellung läge eine rein abwehrend geführte Verteidigung durchaus im Bereich des Möglichen. Man könne sich ein Gefecht auch unter modernen Verhältnissen sehr gut vorstellen, verdeutlicht er weiter, bei dem der Verteidiger in rein abwehrender Haltung seine Waffen lediglich gebrauche, um den Angriff des Gegners abzuweisen, in der Hoffnung, dass jener sich durch die erlittenen Verluste von weiteren Angriffen werde abhalten lassen. Der Gegenstoß sei daher keineswegs eine logisch notwendige Forderung des Verteidigungskampfes, und alle Schlüsse, die auf solchen Voraussetzungen beruhten, müssten als unhaltbar zurückgewiesen werden. Vgl. Bernhardi a.a.O., S. 402 f 219 Dies scheint auch die Art des Rückstoßes zu sein, welche Clausewitz ausschließlich betrachtet, während er den Gegenangriff, der im Rahmen einer übergeordneten Offensive geführt wird, völlig außer Acht lässt.
84 II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ der stehen und sich in unterschiedlichster Art und Weise und auf den verschiedensten Ebenen miteinander kombinieren und vermischen können (womit eine klare Trennung in der Praxis oftmals unmöglich wird), dass aber andererseits diese beiden Formen des Kriegführens jeweils für sich als vollständige Begriffe anzusehen sind.220 Das gilt sowohl für die theoretische Vorstellung, als auch für die kriegerische Praxis.221 Somit kann festgehalten werden, dass Angriff und Verteidigung zwar in gewisser Weise auseinander hervorgehen und sich gegenseitig bedingen, dass jedoch keine der beiden Formen die jeweils andere zwingend beinhalten kann.
220
Was den Angriff anbelangt, so stimmt dem (wie bereits dargelegt wurde) auch Clausewitz zu. Im Hinblick auf die Verteidigung erkennt er zumindest an, dass es in der Empirie viele Beispiele von Kriegen gebe, in denen die Verteidigung letztendlich verteidigend geblieben sei. Seine Begründung für diese Feststellung geht allerdings (wie bereits diskutiert wurde) in eine etwas andere Richtung. 221 Es ist möglich, ausschließlich anzugreifen oder ausschließlich verteidigend zu kämpfen und dabei auch noch zu siegen. Dies wird zwar in der Praxis nur äußerst selten vorkommen, (selbst in der defensivsten Form der Verteidigung werden zumeist auf taktischer Ebene mit kleineren Verbänden einzelne örtliche Gegenstöße erfolgen) ist aber durchaus vorstellbar (als Beispiel könnte jede Belagerung einer Festung dienen, bei der der Verteidiger sich auf die Abwehr des Angreifers beschränkt und auf Ausfälle aus der Festung oder auf das Heranführen von Entsatzkräften verzichtet). Das soll natürlich nicht heißen, dass eine solche Kampfweise anzustreben sei. Ganz im Gegenteil muss einer Kampfweise mit ausgewogenem und zweckmäßigem Wechsel von Angriff und Verteidigung unbedingt der Vorzug gegeben werden.
1 Begriffsbestimmung von Angriff und Verteidigung
Abbildung 1:
Definition des Krieges nach Clausewitz: Vom Kriege. I, 1
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86 II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ Abbildung 2:
Definition der Verteidigung nach Clausewitz: Vom Kriege. VI, 1
1 Begriffsbestimmung von Angriff und Verteidigung
Abbildung 3:
Begriffsbestimmung von Angriff und Verteidigung bei Clausewitz: Vom Kriege. VI, 1
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88 II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ 2
Ganzheitlich dialektische Methode und Anspruch auf logische Konsistenz
Clausewitz` philosophische Methode wird wesentlich durch die Komponenten Logik und Dialektik bestimmt, wobei, wie Werner Hahlweg hervorhebt, ein zweckvolles Zusammenspiel dieser beiden „Denkstrukturen“ zu beachten ist.222 An anderer Stelle erwähnt Hahlweg, dass mit der Art der angewandten Methode Clausewitz` ganze Theorie mit ihren in und über der Zeit stehenden Aussagen stehe oder falle.223 Daher ist es unerlässlich, zum Verständnis seines Werkes auf die entscheidenden Charakteristika seiner Denkmethode einzugehen. Gerade für die Untersuchung des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung scheint dies von besonderer Bedeutung zu sein, stellen die beiden Formen des Kriegführens doch das klassische Beispiel einer dialektischen Beziehung dar und basiert die Clausewitzsche Argumentation zur Begründung der größeren Stärke der Verteidigung doch wesentlich auf logischen Überlegungen. Daher sollen im Folgenden in zwei Schritten die Aspekte Logik und Dialektik betrachtet werden, um danach in einem dritten Schritt auf ein mögliches Interpretationsproblem hinsichtlich dieser beiden Denkmethoden aufmerksam zu machen. 2.1 Logik Clausewitz sei ein Repräsentant der Ratio, des konsequent Logischen gewesen, betont Schössler.224 Von einem „ausgeprägten Hang zur logischen Analyse“225 und der „Beherrschung einer logisch fundierten Methode der Analyse“226 spricht Paret. Auch Malmsten Schering gelangt zu einer ähnlichen Einschätzung, wenn er betont, dass die Systematik bei Clausewitz die logische Ordnung, d.h. die Erfüllung der immanenten Denkgesetzlichkeit der Theorie, bedeute.227 Er hebt dabei besonders die streng logische Form des ersten Kapitels des ersten Buches, sowie die des zweiten und dritten Kapitels des zweiten Buches hervor.228 Die Ursprünge dieser betont logischen Denkweise von Clausewitz müssen in der Zeit gesehen werden, welche er als Hörer an der Berliner Kriegsschule zubrachte (1801 - 1804). Scharnhorst (1755 - 1813) hatte dort in der offiziellen Funktion 222
Vgl. Hahlweg a.a.O., S. 1274, 1332 Vgl. Hahlweg a.a.O., S. 1284 224 Vgl. Dietmar Schössler: Carl von Clausewitz. Hamburg 1991, S. 135 225 Vgl. Peter Paret: Clausewitz und der Staat. Bonn 1993, S. 109 226 Ebenda S. 434. Die „Beherrschung einer logisch fundierten Methode der Analyse“ betrachtet Paret neben einem „sicheren Blick für das Verhältnis zwischen Theorie und Wirklichkeit“ als die Grundvoraussetzung für eine „umfassende Interpretation des Krieges“. 227 Vgl. Malmsten Schering a.a.O., S. 104 228 Ebenda S. 26 223
2 Ganzheitlich dialektische Methode und Anspruch auf logische Konsistenz
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als zweiter Direktor der Schule mit seiner Reformarbeit begonnen und legte bei der Ausbildung der künftigen preußischen Generalstabsoffiziere besonderen Wert auf die (zivilen) Fächer Mathematik und Logik, weil er, so Schössler, diesen Fächern prägende Wirkungen auf Intellekt und Urteilskraft zumaß.229 Schössler äußert in diesem Zusammenhang die Vermutung, dass gerade diese „zivilen“ Fächer größten Einfluss auf Clausewitz ausgeübt hätten. An der Begrifflichkeit und den Auffassungen des Theoretikers Clausewitz lasse sich diese philosophische Schulung noch erkennen, so dass zu Recht der Kantianer Kiesewetter zu den für die weitere intellektuelle Entwicklung von Clausewitz wichtigen Mentoren gezählt werde.230 Der Kant-Schüler Gottfried Karl Christian Kiesewetter (1766 - 1819) unterrichtete an der Kriegsschule die Fächer Mathematik und Logik, und übte insbesondere mit seinem zweibändigen Werk „Grundriss einer allgemeinen Logik nach Kantischen Grundsätzen“ (Berlin 1802) großen Einfluss auf Clausewitz aus. Nach Hahlweg steht es gleichsam an der Wiege der modernen Militärtheorie, dieses Werk Kiesewetters als ein philosophischpraktisches Grundwerk zu werten, soweit man Clausewitz als ihren Begründer werten wollte.231 Da es für Clausewitz, fährt Hahlweg fort, beim theoretischen Denken neben der Berücksichtigung der Tiefe des historischen Erfahrungsraumes und einer fachlich kompetenten Beobachtung von Militärwesen, Krieg und Kriegführung der eigenen Zeit auch darauf ankam, der Form zu genügen, hätte sich die Logik (materielle und formale Logik), wie Kiesewetter sie darstellte, angeboten. Hahlweg betont, dass für Clausewitz die Theorie mit ihren Erkenntnissen und Formulierungen dann der Wirklichkeit entspreche, wenn sich die Aussagen von materieller Logik (Übereinstimmung der Vorstellung mit dem Gegenstand, auf welchen sie sich beziehe) und formaler Logik (Übereinstimmung der Vorstellungen oder Aussagen in ihrer Verbindung mit den Gesetzen des Denkens) im Urteil der Menschen deckten.232 Bestimmend für die Theorie nach Clausewitz sei also insbesondere logisches, formal richtiges (folgerichtiges) Denken, wobei Hahlweg von einem Appell der Clausewitzschen Theorie an logisches Durchdenken der jeweiligen Probleme spricht. Dabei hebt er besonders 229
Vgl. Schössler a.a.O., S. 31 Vgl. Schössler a.a.O., S. 31. An anderer Stelle weist Schössler darauf hin, dass der ausgesprochen philosophische Charakter von Clausewitz` Beschäftigung mit den ihn und seine Zeitgenossen bedrängenden politischen Fragen immer wieder die Debatte darüber angeregt habe, ob es wirklich der Einfluss Kants war, der Clausewitz letztlich entscheidend prägte. Die Bandbreite reiche hier von vorsichtig zustimmenden Stellungnahmen (Werner Hahlweg, Peter Paret) über dezidiertere (Raymond Aron, Ernst Vollrath) bis hin zu eher ablehnenden (Hans Rothfels). Dieser Einfluss werde jedoch nicht bestritten, wobei auch der Vermittler Kiesewetter stets angeführt werde. Vgl. Schössler a.a.O., S. 32 231 Vgl. Hahlweg a.a.O., S. 1284 232 Vgl. Hahlweg a.a.O., S. 1285 230
90 II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ hervor, dass Clausewitz allemal klare Begriffe, präzise Definitionen fordere und gebrauche, die sich mit dem Gegenstand in seiner Realität deckten, auf welchen sie sich bezögen.233 Dass Clausewitz dieser Forderung jedoch nicht in jedem Falle hundertprozentig genügen konnte, wurde in der vorausgehenden Untersuchung, insbesondere bei seiner Definition von Angriff und Verteidigung durch den jeweils verfolgten Zweck, und im Hinblick auf die Einordnung des Gegenangriffs hinsichtlich der beiden Formen des Kriegführens deutlich. Clausewitz weist auch darauf hin, dass die „Natur der Sache“ in bestimmten Fällen eine genaue Bestimmung militärischer Gegenstände oftmals nicht zulasse. Um aber zuweilen nicht ganz missverstanden zu werden, fährt er fort, müsse man sich den Sprachgebrauch, an den man sich in den meisten Fällen gerne halte, etwas deutlicher zu machen suchen.234 Durch solche Äußerungen erhält Clausewitz` logische Methode eine gewisse, der Natur der Sache angepasste Relativierung. Diese resultiert insbesondere aus dem von ihm erkannten Unterschied zwischen „absolutem“ und „wirklichem Krieg“. Aufgrund dieses Unterschiedes betrachtet Clausewitz ein allzu strenges und spitzfindiges Verfolgen der logischen Konsequenzen des absoluten (abstrakten) Krieges als wenig sinnvoll („ein bloßes Büchergesetz“), weil es der Wirklichkeit des Krieges nicht immer gerecht wird. Clausewitz verdeutlicht diesen Sachverhalt im ersten Kapitel des ersten Buches unter der Überschrift „Modifikation in der Wirklichkeit“: „... ; wollten wir also aus dem bloßen Begriffe des Krieges einen absoluten Punkt für das Ziel, welches wir aussetzen, und für die Mittel, welche wir anwenden sollen, ableiten, so würden wir bei den beständigen Wechselwirkungen zu Extremen geraten, die nichts als ein Spiel von Vorstellungen wären, hervorgebracht durch einen kaum sichtbaren Faden logischer Spitzfindigkeit. Wenn man, fest an das Absolute haltend, alle Schwierigkeiten mit einem Federstrich umgehen und mit logischer Strenge darin beharren wollte, daß man sich jederzeit auf das Äußerste gefaßt machen und jedesmal die äußerste Anstrengung daransetzen müsse, so würde ein solcher Federstrich ein bloßes Büchergesetz sein und keins für die wirkliche Welt.“235
Im Hinblick auf den wirklichen Krieg macht Clausewitz deutlich, dass auf Grund der großen Zahl von Dingen, Kräften und Verhältnissen, welche der Krieg im Staatsleben berühre, und durch deren unzählbare Windungen, die logische Konsequenz sich nicht wie an dem einfachen Faden von ein paar Schlüssen fortfüh233
Vgl. Hahlweg a.a.O., S. 1286 f. Klare Begriffe und eindeutige Definitionen müssen als die Grundlage jeglichen logischen Denkens betrachtet werden. Daher sollten die im vorausgehenden Abschnitt angestellten Überlegungen zur Definition und Abgrenzung der Begriffe Angriff und Verteidigung in engem Zusammenhang mit Clausewitz` logischer Denkmethode gesehen werden. 234 Vgl. Vom Kriege. V, 2, S. 500 235 Vom Kriege. I, 1, S. 195 f
2 Ganzheitlich dialektische Methode und Anspruch auf logische Konsistenz
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ren lasse; in diesen Windungen bleibe sie stecken, und der Mensch, der gewohnt sei, im großen und kleinen mehr nach einzelnen vorherrschenden Vorstellungen und Gefühlen als nach strenger logischer Folge zu handeln, werde sich hier seiner Unklarheit, Halbheit und Inkonsequenz kaum bewusst.236 Zudem macht Clausewitz darauf aufmerksam, dass der Krieg auf einem Spiel von Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten, Glück und Unglück beruhe und sich daher die strenge logische Folge oft ganz verliere und zu einem sehr unbehilflichen, unbequemen Instrument werde.237 Diese Äußerungen des Kriegsphilosophen dürfen aber nicht dahingehend missverstanden werden, dass er die Mittel der Logik im Hinblick auf eine Betrachtung des Krieges abgelehnt habe. Sie zeigen jedoch, dass sich Clausewitz der Grenzen dieses Mittels (welche sich insbesondere aus der Unzulänglichkeit des menschlichen Geistes ergeben, die komplexen Wechselwirkungen einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren, durch die der „wirkliche Krieg“ gekennzeichnet wird, in ihrem logischen Zusammenhang zu durchschauen) durchaus bewusst war. An verschiedenen Stellen seines Werkes macht Clausewitz allerdings unmissverständlich klar, dass er größten Wert auf logische Konsistenz legt, insbesondere wenn es sich um die Ableitung theoretischer Erkenntnisse aus der Kriegsgeschichte handelt. So wirft er dem französischen General Marquis de Feuquieres (1648 - 1711) vor, dass die in seinen militärhistorischen Memoiren gezogenen Folgerungen nicht notwendig aus dem inneren Zusammenhang der erzählten Ereignisse hervorgingen.238 In einer „leichtsinnigen, oberflächlichen Behandlung der Geschichte“ erkennt Clausewitz außerdem ein „Hauptübel“, weil von dieser dann „hundert falsche Ansichten und theoretische Projektmachereien“ entstünden. Diese wären nie zum Vorschein gekommen, wenn der Schriftsteller die Verpflichtung hätte, alles, was er Neues zu Markt bringe und aus der Geschichte beweisen wolle, aus dem genauen Zusammenhang der Dinge unzweifelhaft hervorgehen zu lassen.239 Seine Forderung nach logischer Schlüssigkeit und der Verwendung präziser Definitionen lässt Clausewitz insbesondere auch im Hinblick auf philosophische Begriffe, die zu irgendeiner Quelle von Bestimmungen gebraucht werden könnten, erkennen.240 Diese Forderung muss auch für die Begriffe und das Verhältnis von Angriff und Verteidigung gelten, welche nach Clausewitz „wahre logische Gegensätze“ bilden. Dabei werde der eine das Komplement des anderen, und so gehe im Grunde aus dem 236
Vgl. Vom Kriege. VIII, 2, S. 953 Vgl. Vom Kriege. VIII, 2, S. 954 f 238 Vgl. Vom Kriege. II, 6, S. 339 f 239 Vgl. Vom Kriege. II, 6, S. 340 240 Vgl. Vom Kriege. V, 2, S. 502. Clausewitz grenzt dabei philosophische Definitionen von anderen (herkömmlichen) Begriffen ab, bei denen eine geringere Schärfe in Kauf genommen werden könne, weil diese Begriffe nur dazu dienten, der Sprache etwas mehr Klarheit und Bestimmtheit zu geben. 237
92 II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ einen schon der andere hervor.241 Diese Äußerung gibt bereits einen Hinweis auf die Dialektik, als der zweiten wesentlichen Denkstruktur der Clausewitzschen Methode. 2.2 Dialektik Vorausgeschickt werden muss, dass Clausewitz zwar an verschiedenen Stellen seines Werkes die „Logik“ als einen wesentlichen Bestandteil seiner Methode hervorhebt, dass er aber auf seinen dialektischen Ansatz an keiner Stelle explizit zu sprechen kommt. Immerhin ist sich die Clausewitz-Forschung dahingehend einig, dass sich der preußische Kriegsphilosoph einer dialektischen Erkenntnismethode bedient habe.242 So verweisen die führenden Clausewitzkommentatoren übereinstimmend auf die „dialektische Qualität des Denkens und der Methode“243 von Clausewitz. Besonders im Hinblick auf das Verhältnis von Angriff und Verteidigung wird die Bedeutung dieser dialektischen Betrachtungsweise hervorgehoben. Schössler spricht beispielsweise von der „grundlegend bedeutsamen dialektischen Konzipierung des Verhältnisses von Angriff und Verteidigung“, und verweist auf die direkte Übernahme derselben durch Marx und Engels.244 Aron betrachtet neben den Gegensatzpaaren Moral-Physis sowie Mittel-Zweck die „Antithese“ Verteidigung-Angriff als eine der wesentlichsten dialektischen Beziehungen in den Theorien von Clausewitz.245 Damit wird die Bedeutung dieser Betrachtungsweise gerade für die der vorliegenden Studie zugrunde liegende Fragestellung unterstrichen. Da der Begriff Dialektik sehr unterschiedlich interpretiert werden kann, stellt sich die Frage, wie diese Denkstruktur im Rahmen der Clausewitzschen Methode zu verstehen ist. Hahlweg gibt dafür eine sehr prägnante und treffende Beschreibung, indem er die Dialektik (bei Clausewitz) als „die Verbindung des kleinsten oder geringsten Details jeweils mit den größeren Zusammenhängen, 241
Vgl. Vom Kriege. VII, 1, S. 869 Vgl. Hartmann, Uwe: Carl von Clausewitz. Erkenntnis, Bildung, Generalstabsausbildung, München 1998, S. 11 243 Vgl. Schössler a.a.O., S. 121. Vgl. auch Aron a.a.O., S. 140. Aron weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Mehrzahl der Kommentatoren erkannt habe, dass Clausewitz dialektisch dachte. 244 Vgl. Schössler a.a.O., S. 121 245 Vgl. Aron a.a.O., S. 140 f. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich mit Malmsten Schering. Dieser verweist darauf, dass die Dialektik von Begriff und Wirklichkeit den Grundzug der Clausewitzschen Philosophie bilde und dass man ohne Beachtung dieser Dialektik als einer philosophischen Methode nicht in seinen Gedankengang eintreten könne. Vgl. Malmsten Schering a.a.O., S. 27 f 242
2 Ganzheitlich dialektische Methode und Anspruch auf logische Konsistenz
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dem Ganzen, und umgekehrt“, bezeichnet. Nichts werde isoliert, für sich gesehen, und stets sei ein kritisches Herangehen an die einzelnen Fragen, Probleme oder Erscheinungen vonnöten.246 Eine ähnliche Haltung findet sich unter anderem auch bei Schössler, wenn er von der „Welt der Totalerscheinung“ spricht, welche Clausewitz in den Blick nehme247, oder bei Paret, der auf die „Suche nach dem Wesen oder Seinszusammenhang des Ganzen“ als „Motiv“ bei Clausewitz verweist.248 Einen zusätzlichen Gesichtspunkt bringt Hahlweg ins Spiel, wenn er an anderer Stelle stichwortartig Dialektik als „Einheit der Gegensätze; Blick allemal auf den Gesamtzusammenhang bei gleichzeitiger genauer Erfassung auch des geringsten Details“249 definiert. Den Teilaspekt der Beziehung gegensätzlicher Begriffe rückt Aron bei seiner Definition von Dialektik stark in den Vordergrund, indem er von „unaufhörlichen Übergängen von einem Gegensatz zum anderen“ spricht.250 Clausewitz, so Aron weiter, spiele mit den Paaren entgegengesetzter Begriffe, und man habe die größte Chance, zugleich die Art und Materie seines Buches zu erhellen, wenn man die wesentlichen Gegensätze oder Antithesen auswähle.251 Clausewitz selbst verdeutlicht seine Methode mit Bezugnahme auf die Wechselbeziehung von Angriff und Verteidigung folgendermaßen: „Wenn zwei Begriffe wahre logische Gegensätze bilden, der eine also das Komplement des anderen wird, so geht im Grunde aus dem einen schon der andere hervor; wo aber auch die Beschränktheit unseres Geistes nicht gestattet, beide mit einem Blicke zu übersehen und in der Totalität des einen durch den bloßen Gegensatz die Totalität des anderen wiederzufinden, da wird doch in jedem Fall von dem einen immer ein bedeutendes und für viele Teile genügendes Licht auf den anderen fallen. So glauben wir, daß die ersten Kapitel der Verteidigung ein hinreichendes Licht auf den Angriff werfen in allen Punkten, welche sie berühren. Aber so wird es nicht durchgehends bei allen Gegenständen sein; das Gedankensystem hat niemals ganz erschöpft werden können, es ist also natürlich, daß da, wo der Gegensatz nicht so unmittelbar in der Wurzel des Begriffs liegt wie bei den ersten Kapiteln, aus dem, was in der Verteidigung gesagt ist, nicht unmittelbar dasjenige folgt, was vom Angriff gesagt werden kann. Eine Veränderung des Standpunktes bringt uns dem Gegenstande näher, und es ist also natürlich, dasjenige, was man aus dem entfernten Standpunkte überblickt hat, aus diesem näheren in Betrachtung zu ziehen. Es wird
246
Vgl. Hahlweg a.a.O., S. 1285 Vgl. Schössler a.a.O., S. 86 248 Vgl. Hahlweg a.a.O., S. 1294 249 Vgl. Hahlweg a.a.O., S. 1332 250 Vgl. Aron a.a.O., S. 219 251 Vgl. Aron a.a.O., S. 140 247
94 II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ also eine Ergänzung des Gedankensystems sein, wobei nicht selten das, was vom Angriff gesagt wird, noch ein neues Licht auf die Verteidigung wirft.“252
Hier wird vor allem deutlich, dass die Betrachtung eines Sachverhaltes von verschiedenen Standpunkten als ein wesentliches Merkmal der Clausewitzschen Dialektik anzusehen ist. Ein weiteres Kennzeichen seiner dialektischen Betrachtungsweise, das sich insbesondere auf die Reihenfolge in der Vorgehensweise seines Werkes bezieht, verdeutlicht Clausewitz bereits im ersten Kapitel des ersten Buches. So betont er, dass er bei der Entwicklung seines Gegenstandes vom Einfachen zum Zusammengesetzten fortschreiten wolle, es aber als notwendig betrachte, mit einem Blick auf das Wesen des Ganzen anzufangen, da mit dem Teil auch zugleich immer das Ganze gedacht werden müsse.253 Sein Hauptaugenmerk liegt hierbei, wie er auch an anderer Stelle deutlich macht254, eindeutig auf der Entwicklung vom Einfachen zum Zusammengesetzten. Der Blick auf das „Wesen des Ganzen“ kann dabei nur als richtungsweisender Anhalt betrachtet werden, weil das „Ganze in seinem inneren Zusammenhang“ erst dann endgültig erfasst werden kann, wenn ein zutreffendes Bild der einzelnen „Teile“ und „Glieder“ des betrachteten Gegenstandes (Krieg) gewonnen wurde. Daraus folgt, dass eine unzutreffende Vorstellung hinsichtlich einzelner Teilaspekte, beispielsweise ein falsches Bild vom Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung, zwangsläufig auch zu einer unzutreffenden Gesamtvorstellung vom Kriege führen muss. Abschließend ist erneut auf Hahlweg zu verweisen, der im Hinblick auf die dialektische Methode von Clausewitz sehr wichtige Hinweise zur Herangehensweise an das Werk „Vom Kriege“ gibt und darüber hinaus deutlich macht, warum Clausewitz’ Argumentation mit Sätzen und Gegen-Sätzen in der Theorie des Krieges nicht nur sinnvoll, sondern geradezu notwendig ist. Man solle es tunlichst vermeiden, betont er, Clausewitz „im Auszuge“ oder in „gekürzter“ Ausgabe zu lesen; ein rechtes Verständnis des Buches „Vom Kriege“, die Erkenntnis des inneren Zusammenhanges, der Systematik seines Inhalts erschließe sich letzthin nur einer Durcharbeit des ganzen Werkes. Man müsse sich schon die Mühe machen, den Autor aus der Gesamtheit seiner Gedankenwelt zu begreifen. Vor allem, fährt er fort, müsse der Leser Klarheit gewinnen über das Wesen der Methode, der Dialektik, welche dem Aufbau des Werkes „Vom Kriege“ zugrunde liege. Clausewitz vermeide kategorische Sätze und jede starre Dogmatik, Untersuchung und Betrachtung seien die Grundpfeiler seiner Theorie. Er prüfe jeweils kritisch alle Seiten eines Problems, gehe allen Beziehungen nach, stelle 252
Vom Kriege. VII, 1, S. 869 Vgl. Vom Kriege. I, 1, S. 191 254 Vgl. dazu Vom Kriege. III, 1, S. 350 253
2 Ganzheitlich dialektische Methode und Anspruch auf logische Konsistenz
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Vor- und Nachteile eines Verfahrens einander gegenüber. Selten nur werde er seine wahre Meinung in einem einzigen Satz wiedergeben. Vielmehr finde jeder Satz seinen Gegen-Satz, den man nicht nur suchen, sondern auch finden müsse, um die wirkliche, feststehende Ansicht des Autors über ein Problem kennen zu lernen. Wer also Clausewitz’ Werk „Vom Kriege“ mit Gewinn durcharbeiten wolle, müsse es verstehen, die zusammengehörenden Sätze und Gegen-Sätze herauszufinden, die freilich nicht immer in dem gleichen Abschnitt stünden, sondern teilweise verstreut an anderen Stellen und in anderem Zusammenhang anzutreffen seien. Bei Fragen von zentraler, grundsätzlicher Bedeutung, führt Hahlweg weiter aus, handelt es sich um ein ganzes System von Aussagen und Gegen-Aussagen. Sie wirkten wie Gewichte und Gegen-Gewichte, zitiert er Linnebach, durch deren Spiel und Gegenspiel gewissermaßen die Waage der Wahrheit ins Gleichgewicht gebracht werde. Soldaten und Politiker, so Hahlweg weiter, hätten diese Grundlagen vielfach übersehen, zumindest sie nicht genügend beim Studium des Werkes „Vom Kriege“ berücksichtigt und dadurch ihren Blick für den wahren Zusammenhang der Probleme getrübt. Entscheidend ist die Feststellung Hahlwegs, dass die Tatsache unbeachtet bleibe, dass es kaum eine kriegstheoretische Wahrheit gebe, die sich lediglich in einer einzigen Aussage fassen ließe, sondern dass stets mehrere Aussagen in dialektischer Weise erforderlich seien, die einander entgegenstünden, sich ergänzten, berichtigten und einschränkten.255 2.3 Interpretationsproblem Vor dem Hintergrund dieser methodologischen Überlegungen muss vor einer Gefahr hinsichtlich der Interpretation der Clausewitzschen Theorien gewarnt werden. Diese besteht darin, dass unter Berufung auf die ganzheitlichdialektische Methode von Clausewitz die gleichzeitig von ihm (an sich selbst und auch andere) gestellte Forderung nach logischer Konsistenz vernachlässigt oder gar übersehen wird. Dies kann dazu führen, dass selbst grobe logische Unstimmigkeiten einzelner Argumente als „Kennzeichen“ der Clausewitzschen Dialektik betrachtet und ohne eine kritische Überprüfung einfach hingenommen werden. Mit einer solchen Herangehensweise an die Interpretation der Clausewitzschen Theorie ließe sich selbst für völlig abwegige Behauptungen noch eine Rechtfertigung finden, und jeder Ansatz zum kritischen Hinterfragen seiner Argumente würde von vorneherein im Keim erstickt. Dem Dogmatismus würden Tür und Tor geöffnet, und an eine konstruktive Weiterentwicklung der Clausewitzschen Gedanken könnte nicht mehr gedacht werden. Aus diesen 255
Vgl. Hahlweg a.a.O., S. 1360 f
96 II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ Gründen und weil es der eigentlichen Intention des Kriegsphilosophen völlig widerspricht, muss eine solche Vorgehensweise vermieden werden. Es ist zu betonen, dass der dialektische Ansatz von Clausewitz nicht als Rechtfertigung für etwaige logische Unstimmigkeiten einzelner seiner Argumente missbraucht werden darf. Logik und Dialektik sind wesentliche Bestandteile der Clausewitzschen Methode, die gleichsam den zwei Seiten einer Medaille entsprechen und nicht je nach Bedarf gegeneinander ausgetauscht werden können. Jedes einzelne Argument muss in sich den Anforderungen logischer Schlüssigkeit gerecht werden. Dialektik darf daher nicht als Ersatz für folgerichtiges Denken betrachtet werden. 3
Grad der Verbindlichkeit
Eine wesentliche Voraussetzung zum Verständnis der Clausewitzschen These, von der Verteidigung als der stärkeren Form des Kriegführens, ist in der Frage zu sehen, welchen Grad an Verbindlichkeit der Kriegsphilosoph seiner Theorie zu Grunde legt. Hierbei sind zwei grundsätzlich divergierende Denkrichtungen möglich. Zum einen könnte die These als allgemein gültiges Gesetz betrachtet werden, welches ausnahmslose Gültigkeit beansprucht, zum anderen aber auch nur als eine unverbindliche Äußerung betrachtet werden, welche lediglich den Leser zum eigenen Nachdenken über diese Problematik anregen will. Aus der Untersuchung und Gegenüberstellung dieser Möglichkeiten soll versucht werden, den Clausewitzschen Vorstellungen näher zu kommen. 3.1 Unverbindliche Meinungsäußerung Dass eine allzu unverbindliche Interpretation seiner These nicht der Intention des preußischen Kriegsphilosophen entsprechen kann, scheint sich bereits aus der Häufigkeit zu ergeben, mit der Clausewitz diese These wiederholt. In allen acht Büchern seines Werkes „Vom Kriege“ und in einer Vielzahl einzelner Kapitel kommt er immer wieder auf diesen Gegenstand zu sprechen. Auch die Entschlossenheit, mit der Clausewitz seine These vertritt, und sein Bemühen, den Leser durch eine Vielzahl verschiedenster Begründungsansätze von seinem Standpunkt überzeugen zu wollen, spricht eindeutig gegen eine solche Auffassung. Dieses Bemühen müsste als geradezu widersinnig bezeichnet werden, wollte man Clausewitz unterstellen, nicht etwa selbst von seiner Theorie überzeugt gewesen zu sein - d.h. sie auch so gemeint zu haben, wie er sie formuliert hatte - und andere davon überzeugen zu wollen.
3 Grad der Verbindlichkeit
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Die Tatsache, dass Clausewitz zur Begründung seiner These betont, dass sich die größere Stärke der Verteidigung schon allein auf Grund logischer Überlegungen ergeben würde, und seine Überzeugung, dass die Verteidigung eine „natürliche“ Überlegenheit über den Angriff besäße, unterstreicht zudem, wie sehr er im Grunde von seiner Ansicht über das Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung überzeugt war. 256 Ein weiterer sehr wichtiger Grund, der gegen die Interpretation einer unverbindlichen Meinungsäußerung spricht, ist die Tatsache, dass Clausewitz sich auch in den (seiner Meinung nach) am weitesten zur Vollkommenheit gebrachten Teilen seines Werkes eindeutig zu dieser These bekennt. So betont er in der 1827 verfassten „Nachricht“: „Die großen Schwierigkeiten, welche ein solcher philosophischer Aufbau der Kriegskunst hat, und die vielen sehr schlechten Versuche, welche darin gemacht sind, hat die meisten Leute dahin gebracht, zu sagen: es ist eine solche Theorie nicht möglich, denn es ist von Dingen die Rede, die kein stehendes Gesetz umfassen kann. Wir würden in diese Meinung einstimmen und jeden Versuch einer Theorie aufgeben, wenn sich nicht eine ganze Anzahl von Sätzen ohne Schwierigkeit ganz evident machen ließe: daß die Verteidigung die stärkere Form mit dem negativen Zweck, der Angriff die schwächere mit dem positiven Zweck ist; ...“257
Die Tatsache, dass Clausewitz seine These hinsichtlich der stärkeren Form des Kriegführens als den ersten der Sätze bezeichnet, welcher „sich ohne Schwierigkeit ganz evident machen ließe“, verdeutlicht, wie sehr er selbst von diesem Gedanken überzeugt war und welch hohen Stellenwert er dieser Überlegung beimaß. Auch im ersten Kapitel des ersten Buches, dem einzigen, welches er selbst als vollendet betrachtete258, bringt der Kriegsphilosoph an verschiedenen Stellen diese Überzeugung zum Ausdruck: „Angriff und Verteidigung sind Dinge von verschiedener Art und ungleicher Stärke, ...“259 „Allein die kriegerische Tätigkeit zerfällt in zwei Formen, Angriff und Verteidigung, die, wie wir in der Folge sächlich dartun werden, sehr verschieden und von ungleicher Stärke sind.“260 „Die Wirkung der Polarität wird oft durch die Überlegenheit der Verteidigung über den Angriff vernichtet, ...“261 256
Vgl. dazu Vom Kriege. VI, 1, S. 616 f, sowie VI, 2, S. 621 Vom Kriege. Nachricht, S. 182 258 Vgl. Vom Kriege. Nachricht, S. 181 259 Vom Kriege. I, 1, S. 204 260 Vom Kriege. I, 1, S. 204 f 261 Vom Kriege. I, 1, S. 205 257
98 II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ „Ist die Form der Verteidigung stärker, als die des Angriffs, wie wir in der Folge zeigen werden, ...“262 „Da nun nach unserer Überzeugung die Überlegenheit der Verteidigung (richtig verstanden) sehr groß und viel größer ist, als man sich beim ersten Anblick denkt, ...“263
Gerade mit diesem letztgenannten Zitat unterstreicht Clausewitz die sehr große und für die Entwicklung seiner Theorie in vieler Hinsicht entscheidende Bedeutung, welche er dieser Grundüberzeugung beimisst. Es wäre daher falsch, dieser die ihr zugedachte Strenge zu nehmen und sie lediglich als unverbindliche und frei interpretierbare Meinungsäußerung zu betrachten. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Clausewitz von der größeren Stärke der Verteidigung überzeugt war und diese Vorstellung beinahe zu einer fixen Idee machte, die er beginnend mit seinen ersten Schriften264 bis hin zu den am weitesten ausgereiften Teilen des Werkes „Vom Kriege“ in unveränderter Form beibehielt. 3.2 Gesetzescharakter Clausewitz verwendet an einzelnen Stellen seines Werkes den Begriff des Gesetzes. So spricht er beispielsweise von einem „Gesetz für die Strategie“265, von einem „Urgesetz des Krieges“266, von einem „allgemeinen Naturgesetz des Gefechts“267 oder dem so genannten „Doppelgesetz“.268 Da Clausewitz den Begriff des Gesetzes jedoch in zweierlei Bedeutungen verwendet, einmal im engeren Sinne, um damit die Ausnahmslosigkeit eines Zusammenhanges auszudrücken und zum anderen im weiteren Sinne, als Oberbegriff für andere (weniger strenge) methodologische Begriffe wie „Grundsatz“ oder „Regel“, liegt die Vermutung nahe, dass jene als „Gesetz“ bezeichneten Zusammenhänge eher im Sinne von Grundsätzen zu betrachten sind. Clausewitz unterstreicht diese Art des Verständnisses, indem er darauf verweist, dass „der Grundsatz“ gleichfalls ein solches Gesetz sei, und „Regel“ häufig im Sinne von Gesetz genommen werde und dann mit „Grundsatz“ gleichbedeutend sei.269 Sehr eindeutig gegen den Begriff des Gesetzes im Bereich der Kriegführung äußert sich Clausewitz, indem er 262
Vom Kriege. I, 1, S. 205 Vom Kriege. I, 1, S. 205 264 Vgl. Carl von Clausewitz: Strategie aus dem Jahr 1804 mit Zusätzen von 1808 und 1809. Hamburg 1941, S. 55 265 Vgl. Vom Kriege. III, 11, S. 388 266 Vgl. Vom Kriege. III, 11, S. 389 267 Vgl. Vom Kriege. IV, 4, S. 433 268 Vgl. Vom Kriege. IV, 11, S. 467 269 Vgl. Vom Kriege. II, 4, S. 305. In diesem Zusammenhang bietet die von Malmsten Schering vertretene Ansicht, wonach es für Clausewitz, solange nur vom abstrakten Krieg die Rede sei, sehr wohl Gesetze gebe, weitere Anregungen zur Diskussion. Vgl. Malmsten Schering a.a.O. S. 36, 43 263
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darauf verweist, wie wenig auf die kriegerische Tätigkeit der Gedankenschematismus der Künste und Wissenschaften passe und von daher zu begreifen sei, wie das beständige Suchen und Streben nach Gesetzen, denen ähnlich, welche aus der toten Körperwelt entwickelt werden könnten, zu beständigen Irrtümern hätte führen müssen.270 Diese Überlegungen des Kriegsphilosophen zeigen, dass Clausewitz nicht in das gegenteilige Extrem verfiel, seine diesbezügliche Überzeugung (von einer unverbindlichen Meinungsäußerung) zum Gesetz zu erheben und ausnahmslose Gültigkeit für sie zu beanspruchen. Sowohl im Bezug auf das Erkennen als auch im Bezug auf das Handeln lehnt der preußische Kriegsphilosoph den Begriff des Gesetzes im Bereich der Kriegführung ab. „Der Begriff des Gesetzes in Beziehung auf das Erkennen kann für die Kriegführung füglich entbehrt werden, weil die zusammengesetzten Erscheinungen des Krieges nicht so regelmäßig, und die regelmäßigen nicht so zusammengesetzt sind, um mit diesem Begriff viel weiter zu reichen als mit der einfachen Wahrheit. Wo aber die einfache Vorstellung und Rede hinreicht, wird die zusammengesetzte, potenzierte preziös und pedantisch. Den Begriff des Gesetzes in Beziehung auf das Handeln aber kann die Theorie der Kriegführung nicht gebrauchen, weil es in ihr bei dem Wechsel und der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen keine Bestimmung gibt, die allgemein genug wäre, um den Namen eines Gesetzes zu verdienen.“271
Schon aufgrund dieser Vorstellungen, kann ausgeschlossen werden, dass Clausewitz für seine Theorie hinsichtlich der stärkeren Form des Kriegführens ausnahmslose Gültigkeit im Sinne eines Gesetzes beansprucht habe, oder sie gar als verbindliche Handlungsanweisung für die Praxis habe verstanden wissen wollen. Hinzu kommt, dass er selbst seine These mit gewissen Einschränkungen und Relativierungen versieht, was ebenfalls einer Interpretation als Gesetz entgegensteht. So spricht er beispielsweise von möglichen, wenn auch sehr seltenen Ausnahmefällen seiner These272, oder weist darauf hin, dass die Verteidigung nicht immer dieselbe Überlegenheit über den Angriff haben werde273, oder er erklärt, wie (im Hinblick auf den Kulminationspunkt des Sieges) der Unterschied, welcher in der Stärke der offensiven und defensiven Kriegsform ursprünglich bestanden habe, nach und nach geringer werde, ganz verschwinden und auf kurze Zeit in die entgegengesetzte Größe übergehen könne.274 Eine Interpretation der Clausewitzschen These als ausnahmslos gültiges Gesetz würde dessen Gedanken daher in unzulässiger Weise dogmatisieren. 270
Vgl. Vom Kriege. II, 3, S. 303 Vom Kriege. II, 4, S. 306 f Vgl. Vom Kriege. VII, 2, S. 872 273 Vgl. Vom Kriege. VII, 20, S. 943 274 Vgl. Vom Kriege. VII, 20, S. 944 271 272
100II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ 3.3 Häufigkeit des Sieges In diesem Zusammenhang muss aber noch vor einer anderen Fehlinterpretation seiner Gedanken gewarnt werden. Diese würde darin bestehen, aus seiner Behauptung, die Verteidigung sei die stärkere Form des Kriegführens, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass der Verteidiger immer oder zumindest häufiger siegen müsse als der Angreifer. Dies wäre eine völlige Verdrehung seiner Gedanken, denn Clausewitz will mit seiner These lediglich deutlich machen, dass der Verteidiger durch die Wahl der (seiner Meinung nach) stärkeren Form des Kriegführens einen zusätzlichen Vorteil beziehungsweise eine zusätzliche Stärke erhält. Jene ist selbstverständlich als ein Faktor im Produkt des Sieges zu betrachten, stellt jedoch nur einen unter vielen Faktoren dar, welche den Ausgang einer kriegerischen Auseinandersetzung beeinflussen können und lässt daher für sich betrachtet keinerlei Aussage über deren letztendlichen Ausgang zu. Umgekehrt wäre es ebenso unangemessen anhand empirischer Erfolge des Verteidigers auf eine Bestätigung oder anhand empirischer Niederlagen des Angreifers auf eine Widerlegung der Clausewitzschen These schließen zu wollen. 3.4 Grundsatzcharakter Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich für die Klärung der qualitativen Bedeutung beziehungsweise des Grades der Verbindlichkeit, welche der preußische Kriegsphilosoph seiner Theorie von der stärkeren Form des Kriegführens beimisst, Folgendes: Weder eine Interpretation als ausnahmslos gültiges Gesetz noch eine solche als unverbindliche und völlig frei interpretierbare Meinungsäußerung können seinen Gedanken gerecht werden. Eine Antwort muss vielmehr zwischen diesen beiden Extremvorstellungen gesucht werden. Wie bereits ausgeführt wurde, ist die These von der größeren Stärke der Verteidigung für Clausewitz ein zentrales Element seiner Kriegstheorie, welche er zunächst auf das Wesen des Krieges bezieht aber auch auf der Erscheinungsebene, das heißt in der Wirklichkeit des Krieges, in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle für zutreffend hält. Clausewitz´ Verständnis lässt sich daher dahingehend interpretieren, dass er diese These als einen im Wesen des Krieges liegenden Grundsatz betrachtet, der sich von einem Gesetz nur insofern unterscheidet, als dessen Ausprägung auf der Erscheinungsebene unterschiedlich stark sein kann. Im vierten Kapitel des zweiten Buches definiert Clausewitz den von ihm verwendeten Begriff des Grundsatzes. Dabei geht er vom Gesetzesbegriff aus. Gesetz als ein Gegenstand der Erkenntnis sei das Verhältnis der Dinge und ihrer Wirkungen zueinander; als Gegenstand des Willens sei es eine Bestimmung des Handelns und dann gleichbedeutend mit Gebot und Verbot. Der Grundsatz, fährt
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er fort, sei gleichfalls ein solches Gesetz für das Handeln, aber nicht in seiner formellen definitiven Bedeutung, sondern es sei nur der Geist und der Sinn des Gesetzes, um da, wo die Mannigfaltigkeit der wirklichen Welt sich nicht unter die definitive Form eines Gesetzes fassen ließe, dem Urteil mehr Freiheit in der Anwendung zu lassen. Da das Urteil die Fälle, wo der Grundsatz nicht anzuwenden sei, bei sich selbst motivieren müsse, so werde er dadurch ein eigentlicher Anhalt oder Leitstern für den Handelnden.275 Clausewitz weist ausdrücklich darauf hin, dass Grundsätze, Regeln, Vorschriften und Methoden für die Theorie der Kriegführung unentbehrliche Begriffe seien, insoweit sie zu positiven Lehren (d.h. Anweisungen zum Handeln) führten. Dabei sei die Taktik derjenige Teil der Kriegführung, in welcher die Theorie am meisten zur positiven Lehre gelangen könne.276 Hier wird deutlich, dass Clausewitz eine positive Lehre im Hinblick auf die Theorie der Kriegführung, solange es sich dabei um Grundsätze, Regeln oder Methoden, nicht aber um Gesetze handelt, nicht nur für möglich, sondern sogar für dringend erforderlich hält. Ausgehend von der Überlegung, dass die Theorie eine Betrachtung und keine Lehre sein solle, weist Clausewitz darauf hin, dass dieselbe nicht notwendig eine positive Lehre, d.h. Anweisung zum Handeln zu sein brauche.277 Aus dieser Formulierung folgt, dass sie (die Theorie) es, wie bereits dargelegt, in vielen Fällen durchaus sein kann und auch sein muss. Wäre Clausewitz der Meinung gewesen, dass die Theorie in keinem Fall eine positive Lehre sein könne, so ergäbe die Formulierung, dass sie es nicht notwendigerweise zu sein brauche, keinerlei Sinn, weshalb letztere Interpretation nicht der Intention des Militärphilosophen entsprechen kann. Der Einwand, er habe eine positive Lehre generell abgelehnt und wolle daher seine These hinsichtlich der stärkeren Form des Kriegführens keineswegs so ernst verstanden wissen, wie er sie formuliert habe, sondern betrachte sie lediglich als unverbindliche Anregung für den Leser zum eigenen Nachdenken, muss daher als Fehlinterpretation der wahren Intention des Kriegsphilosophen zurückgewiesen werden. Hierbei ist zu betonen, dass Clausewitz’ These von der stärkeren Form des Kriegführens als solche noch keine positive Lehre darstellt, da sie an sich keine unmittelbare Anweisung zum Handeln erteilt. Dies schließt natürlich nicht aus, dass sich aus dieser Vorstellung indirekt ein bestimmtes Verhalten für die Praxis ableiten lässt. Wer der Auffassung ist, dass die Verteidigung grundsätzlich die stärkere Form des Kriegführens ist, wird sich in bestimmten Situationen anders verhalten als jemand, der die gegenteilige Auffassung vertritt. Somit beinhaltet seine These mittelbar sehr wohl Elemente einer positiven Lehre. 275
Vgl. Vom Kriege. II, 4, S. 305 Vgl. Vom Kriege. II, 4, S. 307 277 Vgl. Vom Kriege. II, 2, S. 290 276
102II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ Zu einem weiteren Missverständnis könnte auch die (an einzelnen Stellen vorgenommene) Ergänzung seiner These durch den anscheinend relativierenden Zusatz „an sich“ führen: „ ... die verteidigende Form des Kriegführens ist an sich stärker als die angreifende.“278 Dieses „an sich“ bezieht sich jedoch nicht auf die relative Häufigkeit oder Unverbindlichkeit, mit der Clausewitz seine These für zutreffend hält oder nicht, sondern auf die Tatsache, dass er seine Aussage auf das Wesen von Angriff und Verteidigung (vgl. „die Verteidigung an sich“), nicht auf ihre singulären, je unterschiedlichen Erscheinungsformen bezieht. An dieser Stelle könnte der Einwand erfolgen, die Theorie diene gemäß Clausewitz nicht dazu, Handlungsanweisungen für die Praxis zu entwickeln, sondern habe in erster Linie die Aufgabe, das Urteil des Soldaten (im Hinblick auf die militärische Praxis) zu schulen, wobei die letztendliche Entscheidungsfindung immer jenem und seinem Takt des Urteils überlassen bleibe. Obwohl diese Feststellung nur unterstützt werden kann, lässt sie jedoch keinesfalls die Schlussfolgerung zu, Clausewitz wolle seine These gar nicht so verstanden wissen, wie er sie formuliert habe. Woran sollte das Urteil des Soldaten oder Feldherrn geschult werden, wenn nicht an bestimmten sich aus der Kriegsgeschichte ergebenden, anhand der Praxis geprüften und immer wieder neu zu überprüfenden Grundsätzen? Wenn Clausewitz nicht überzeugt davon gewesen wäre, dass der von ihm aufgestellte Grundsatz hinsichtlich der größeren Stärke der Verteidigung nicht nur dem Wesen, sondern auch der Wirklichkeit des Krieges gerecht würde, so wäre der Nachdruck, mit dem er diesen vertreten hat, nicht zu verstehen. Was könnte schlimmer sein für einen verantwortlichen Entscheidungsträger im Kriege als ein an falschen Grundsätzen geschultes Urteil? Wenn es Clausewitz’ Bestreben gewesen wäre, lediglich den Leser zum eigenen Nachdenken über diese Problematik anregen zu wollen, so würde sein entschiedenes Eintreten für die These hinsichtlich der stärkeren Form des Kriegführens als geradezu widersinnig erscheinen. Es ist deshalb davon auszugehen, dass Clausewitz diese These nicht nur so verstanden wissen wollte, wie er sie formuliert hatte, sondern dass er auch bestrebt war, seine Leser von der Richtigkeit derselben im Sinne eines Grundsatzes zu überzeugen. Auch an verschiedenen anderen Stellen seines Werkes macht der Kriegsphilosoph deutlich, dass Grundsätze im Hinblick auf die Theorie des Krieges durchaus nicht mit seiner Methode im Widerspruch stünden: „Bilden sich aus den Betrachtungen, welche die Theorie anstellt, von selbst Grundsätze und Regeln, schließt die Wahrheit von selbst in diese Kristallform zusammen, so wird die Theorie diesem Naturgesetz des Geistes nicht widerstreben, sie wird
278
Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 615
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vielmehr, wo sich der Bogen in einem solchen Schlußstein endigt, diesen noch hervorheben.“279 „..., denn ein General muß, nachdem er zwölf Feldzüge mitgemacht hat, wissen, daß der Krieg ein großes Drama ist, in welchem tausend Ursachen einen Einfluß von größerer oder minderer Stärke ausüben, und den man niemals auf mathematische Berechnungen zurückführen kann. Aber ich darf ebenso ohne Umschweife eingestehen, daß eine zwanzigjährige Erfahrung mich nur in den nachfolgenden Überzeugungen befestigen konnte: Es besteht eine kleine Anzahl von Fundamentalgrundsätzen für den Krieg, von denen man sich nicht ohne Gefahr entfernen kann, und deren Anwendung im Gegenteil fast zu allen Zeiten durch den Erfolg gekrönt war.“280
Dieses letztgenannte Zitat stammt von Antoine Henri Jomini (1779 - 1869) und veranschaulicht sehr gut die Übereinstimmung der beiden Kriegstheoretiker hinsichtlich der Verwendung theoretischer Grundsätze im Bereich des Krieges.281 Nach der Feststellung, dass es sich bei der Clausewitzschen These um einen Grundsatz handelt, ist zu klären, wie dieser im Rahmen seiner Theorie zu bewerten ist. Hier bietet sich ein Vergleich mit den Überlegungen an, welche der Kriegsphilosoph im achten Kapitel des dritten Buches hinsichtlich der „Überlegenheit der Zahl“ anstellt. Er macht hierbei deutlich, dass diese in einem Gefecht nur einer der Faktoren sei, aus welchen der Sieg gebildet werde und man weit davon entfernt wäre, mit der Überlegenheit der Zahl alles oder auch nur die Hauptsache gewonnen zu haben, wobei, abhängig von den jeweiligen Umständen, vielleicht noch sehr wenig damit erreicht wäre. Allerdings räumt Clausewitz ein, dass die Überlegenheit der Zahl der wichtigste Faktor in dem Resultat eines Gefechtes sei. Nur müsse diese groß genug sein, um den übrigen mitwirkenden Umständen das Gleichgewicht zu halten. Die unmittelbare Folge davon wäre, dass man die möglichst größte Zahl von Truppen auf den entscheidenden Punkt ins Gefecht bringen müsse. Diese Überlegungen bezeichnet Clausewitz als den „ersten Grundsatz in der Strategie“.282 In ähnlicher Weise muss auch seine These von der größeren Stärke der Verteidigung gesehen werden. Die stärkere Form des Kriegführens - d.h. gemäß Clausewitz die Verteidigung - gewählt zu haben, muss ebenfalls als einer der Faktoren betrachtet werden, aus welchen der Sieg gebildet wird. Wenn dieser 279
Vom Kriege. II, 2, S. 291 Jomini a.a.O., S. 17 Zumindest in diesem Zusammenhang sollte Jomini der so oft gegen ihn erhobene Vorwurf des Dogmatismus erspart bleiben. 282 Vgl. Vom Kriege. III, 8, S. 374 280 281
104II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ Faktor auch nicht der allein entscheidende ist, so betont Clausewitz doch, dass die Überlegenheit der Verteidigung sehr groß und viel größer sei, als man sich beim ersten Anblick denke.283 Somit scheint es angemessen, diesen Faktor in seiner Theorie als einen sehr wichtigen Grundsatz in dem Resultat eines Gefechts anzusehen. Hervorzuheben ist, dass sich aus beiden Grundsätzen bestimmte Folgen für die Praxis ergeben (vgl. „...die möglichst größte Zahl von Truppen auf dem entscheidenden Punkt ins Gefecht zu bringen.“), womit dieselben jeweils indirekt zu einer „positiven Lehre“ werden, weil aus ihnen bestimmte Anweisungen zum Handeln abgeleitet werden können. Diese „Handlungsanweisungen“ sind jedoch im Falle des Grundsatzes von der Überlegenheit der Zahl erheblich konkreter, als das beim Grundsatz von der größeren Stärke der Verteidigung der Fall ist. Aber auch aus diesem leitet Clausewitz konkrete Anweisungen für das praktische Handeln, das heißt eine positive Lehre, ab: „Ist die Verteidigung eine stärkere Form des Kriegführens, die aber einen negativen Zweck hat, so folgt von selbst, daß man sich ihrer nur solange bedienen muß, als man sie der Schwäche wegen bedarf, und sie verlassen muß, sobald man stark genug ist, sich den positiven Zweck vorzusetzen.“284
3.5 Ergebnis Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass Clausewitz seine These hinsichtlich der stärkeren Form des Kriegführens als Grundsatz betrachtet, welchen er primär auf das Wesen des Krieges bezieht und in der weit überwiegenden Mehrzahl seiner Erscheinungsformen auch für zutreffend hält. Dieser Grundsatz stellt für sich betrachtet noch keine positive Lehre dar, führt aber indirekt zu einer solchen, weil aus ihm bestimmte Anweisungen für praktisches Handeln abgeleitet werden können. Für die weitere Untersuchung ist es daher angebracht, die These des Kriegsphilosophen im Sinne eines Grundsatzes zu verstehen, sie als solchen in Frage zu stellen und zu prüfen, inwiefern sie in dieser Hinsicht der Wirklichkeit des Krieges gerecht wird. Dabei stellt sich die Frage, ob diese These – selbst in ihrer Interpretation als Grundsatz - nicht dennoch zu allgemein, zu positivis283
Vgl. Vom Kriege. I, 1, S. 205 Vom Kriege. VI, 1, S. 615. Diese „Anweisung für das praktische Handeln“ findet sich in ähnlicher Form bereits in Clausewitz’ Strategie aus dem Jahr 1804: „Eine solche Defensive wird man da führen, wo man sich schwächer als der Feind glaubt, und damit nie eine Defensive mit stärkeren Kräften stattfinde, so wird man entweder, so wie man stärker wird, zur Offensive übergehen, oder man wird die überflüssigen Kräfte von diesem Kriegstheater abführen auf ein anderes offensives. Man sieht hieraus, daß ein Defensivkrieg, der nicht fehlerhaft sein soll, nur da geführt werden darf, wo die Kräfte nicht stark genug sind, um ihn offensiv zu führen, d.h. da, wo die entscheidendsten Operationen, welche im Gebiet unserer Kräfte liegen, noch nicht zur Offensive (d.h. zum Angriff des feindlichen Kriegstheaters) führen.“ Carl von Clausewitz: Strategie aus dem Jahr 1804 mit Zusätzen von 1808 und 1809. Hamburg 1941, S. 55
284
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tisch und zu dogmatisch formuliert ist, womit sie in Widerspruch zu Clausewitz’ ansonsten betont antidogmatischer Methode treten würde. 4
Anspruch auf zeitlose Gültigkeit
4.1 Vermeintliche Aktualität „Nun ist allgemein anerkannt, daß an sich die Verteidigung die stärkere Form des Krieges ist.“285 „Sicher war der Gedanke bestechend, daß wir uns fortan der Verteidigung als der an sich stärkeren Kampfform bedienen sollten.“286 Erich von Manstein
Diese fast wörtliche Bezugnahmen des Feldmarschalls Erich von Manstein auf Clausewitz, im Kontext der deutschen Kriegführung gegen die Sowjetunion, macht deutlich, welch hohe Aktualität den Theorien des Kriegsphilosophen hinsichtlich des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung auch mehr als ein Jahrhundert später noch beigemessen wurde. Auch in anderen Zusammenhängen und unter Berücksichtigung des insbesondere durch den technischen Fortschritt gewandelten Kriegsbildes wird von verschiedenen Experten immer wieder auf die Clausewitzsche Theorie Bezug genommen und ihr damit entsprechende Aktualität beigemessen: So betont der General der Artillerie Horst von Metzsch in einer Schrift aus dem Jahr 1937, dass man zur Abwehr weniger Kräfte brauche als zum Angriff und damit gemäß Clausewitz die Verteidigung die stärkere Form des Kriegführens sei. Das sei auch durch den Weltkrieg bestätigt und durch den heutigen Krieg nicht widerlegt.287 Major E. Marcks vertritt eine ähnliche Meinung, indem er Clausewitz’ Lehre von Angriff und Verteidigung in einem 1930 verfassten Aufsatz als „auch heute unwiderlegt“ bezeichnet und darauf verweist, dass dieselbe durch den Weltkrieg wieder in vollem Umfang bestätigt worden sei.288
285
Erich von Manstein: Verlorene Siege. Erinnerungen 1939 - 1944, Koblenz 1987, S. 310 Manstein a.a.O., S. 475 287 Vgl. Horst von Metzsch, General der Artillerie z.V.: Clausewitz Katechismus. Berlin 1937, S. 27 288 Vgl. Major E. Marcks: Clausewitz’ Lehre vom Kriege. in: Wissen und Wehr, 11. Jg. 1930, S. 273 286
106II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ Im Hinblick auf das militärische Geschehen im Ersten Weltkrieg hebt der amerikanische Politologe und Stratege Bernard Brodie Clausewitz’ Überzeugung hervor, dass die Verteidigung die stärkere Form des Kriegführens darstelle.289 Otto Hennicke äußert in einem Aufsatz aus dem Jahr 1957 die Überzeugung, dass Clausewitz’ Ansicht über das Verhältnis von Angriff und Verteidigung bis heute im Wesentlichen ihre Gültigkeit bewahrt habe.290 In ähnlicher Weise unterstreicht Generalleutnant von Caemmerer die Aktualität des Clausewitzschen Satzes „Die Verteidigung ist die stärkere Form mit dem negativen Zweck“, indem er darauf verweist, dass dieser alles in allem (im Hinblick auf die militärischen Neuerungen und Veränderungen, welche bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erfolgten) für die Strategie doch in vollem Umfang bestehen bleibe291, und auch in der Taktik die Verteidigung ein „merkliches Übergewicht“ über den Angriff behalte.292 Die Aktualität, welche den Clausewitzschen Gedanken über die Verteidigung als der stärkeren Kriegsform beigemessen wird, zeigt sich auch in der sowjetischen Konzeption des Wechselverhältnisses von Angriff und Verteidigung, welche nach den Äußerungen des italienischen Generals Antonio Pellicia unzweifelhaft auf Clausewitz zurückgingen.293 Abschließend soll auf die tradierte und auch heute immer wieder zitierte militärische Faustformel verwiesen werden, nach welcher der Verteidiger angeblich einen Vorteil von drei zu eins über den Angreifer besitze.294 Clausewitz hat sich zwar an keiner Stelle in einer solch dogmatischen Weise geäußert, dennoch muss der Grundgedanke dieser Formel auf ihn als den Begründer der Idee von der größeren Stärke der Verteidigung zurückgeführt werden. Dabei ist freilich festzuhalten, dass durch diese Formel die Clausewitzschen Gedanken in unzulässi289
Vgl. Hahlweg a.a.O., S. 1321 Vgl. Hennicke a.a.O., S. 54. In diesem Zusammenhang verweist Hennicke darauf, dass man überhaupt feststellen könne, dass die Theorien von Clausewitz um so schneller und gründlicher veralteten, je mehr sie das bewegliche Element der Kriegskunst, die Taktik, betreffen würden. Sie seien um so bleibender und gültiger, je mehr sie sich auf die Strategie und das Wesen des Krieges beziehen würden. 291 Vgl. R. von Caemmerer, Generalleutnant z.D.: Clausewitz. Erzieher des Preußischen Heeres, Leipzig 1905, S. 112 292 Vgl. Caemmerer a.a.O., S. 108 f 293 Vgl. Hahlweg a.a.O., S. 1278 294 Elmar Dinter beispielsweise nimmt bei seinen Überlegungen zum Kriegsbild der neunziger Jahre Bezug auf diese „tradierte militärische Erfahrung“. Er kommt dabei zwar zu dem Schluss, dass das Verhältnis von drei zu eins heute nicht mehr stimme, betont aber, dass aufgrund einiger Faktoren, welche eher dem Verteidiger als dem Angreifer nützten, der Gesamtumfang der Verteidigungskräfte im Krieg eben doch nicht ganz dem des potentiellen Angreifers entsprechen müsse. Vgl. Elmar Dinter: Nie wieder Verdun. Überlegungen zum Kriegsbild der 90er Jahre, Herford 1985, S. 112, 120, 124 290
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ger Weise dogmatisiert und mathematisiert wurden und somit ein Negativbeispiel der Aktualität des Kriegsphilosophen darstellen. 4.2 Selbstverständnis seiner These Angesichts dieser Äußerungen stellt sich die Frage, inwiefern der Kriegsphilosoph für seine These von der stärkeren Form des Kriegführens selbst zeitlose Gültigkeit beanspruchte oder sie möglicherweise nur im Hinblick auf seine Zeit und deren Besonderheiten so verstanden wissen wollte. Diese Frage ist von entscheidender Bedeutung für die weitere Analyse und Bewertung seiner diesbezüglich verwendeten Argumente und Begründungen und muss daher genauer untersucht werden. Es liegt auf der Hand, dass ein Argument, welches zeitlose Gültigkeit beansprucht, ganz anderen inhaltlichen und qualitativen Anforderungen gerecht werden muss, als ein solches, das sich nur auf eine ganz bestimmte Zeit oder Situation bezieht. Für die im vierten Kapitel angestrebte Untersuchung und Bewertung der Clausewitzschen Argumentation ergibt sich zudem folgende Konsequenz: Je mehr man seine These von der größeren Stärke der Verteidigung nur auf seine Zeit und Situation bezogen betrachtet, desto weniger angreifbar würde diese Behauptung dadurch, - was natürlich nicht bedeutet, dass sie in diesem Falle nicht in Frage gestellt werden könnte - desto fragwürdiger werden dann allerdings die Begründungsansätze, welche er zur Begründung seiner Theorie dieser Behauptung verwendet. Außerdem wäre seine These in diesem Falle als weniger allgemein zu betrachten und würde an praktischem Nutzen für die Gegenwart und Zukunft verlieren. Noch aus einem zweiten Grund ist eine Klärung dieser Frage wichtig. Da im Zuge einer allgemeinen Clausewitz-Renaissance häufig auf die Theorien des Philosophen Bezug genommen wird, um damit eigene Gedankengänge zu untermauern und ihnen durch die Berufung auf seine Autorität ein größeres Maß an Glaubwürdigkeit verleihen zu wollen, wächst die Gefahr möglicher Fehlinterpretationen der Clausewitzschen Gedanken. So wäre beispielsweise eine Berufung heutiger Clausewitzinterpreten auf seine These von der stärkeren Form des Kriegführens, um damit die Überzeugung zu stützen, dass auch heute noch die Verteidigung als die stärkere Form zu betrachten sei, gegenstandslos, wenn Clausewitz diese These nur im Hinblick auf seine Epoche und deren Besonderheiten so formuliert hätte. Auch die Behauptungen der eingangs zitierten Experten, wonach Clausewitz’ Gedanken über die stärkeren Form des Kriegführens bis in die (jeweils) heutige Zeit ihre Gültigkeit bewahrt hätten und unwiderlegt seien, wären unter diesen Umständen zu hinterfragen, weil sie die Intention des
108II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ Kriegsphilosophen dann völlig verkannt hätten und ihm einen Anspruch unterstellen würden, den er möglicherweise selbst gar nicht hatte. Um auf die Frage, inwiefern Clausewitz für seine These von der Verteidigung als der stärkeren Form des Kriegführens zeitlose Gültigkeit beanspruchte eine Antwort zu finden - es geht hierbei noch nicht um die Frage, inwiefern diese These tatsächlich zeitlose Gültigkeit besitzt – muss daher sein Werk als Ganzes im Hinblick auf Argumente und Äußerungen untersucht werden, die für oder gegen einen möglichen Anspruch des Philosophen auf Zeitlosigkeit seiner These sprechen. Erst nach einer Klärung dieser Frage, ist eine Bewertung derselben überhaupt möglich. Auch können seine Gedanken nur dadurch vor groben Fehlinterpretationen und Missverständnissen bewahrt werden. Festzuhalten ist zunächst, dass sich Clausewitz selbst an keiner Stelle seines Werkes konkret zu diesem Punkt äußert. Auch konnte kein Rezensent seiner Theorie gefunden werden, der sich tiefgreifender mit dieser ganz konkreten Überlegung befasst hätte. In der folgenden Untersuchung sollen daher zunächst die Argumente betrachtet werden, die darauf hindeuten könnten, dass Clausewitz seine These möglicherweise als zeitgebunden verstanden wissen wollte, um in einem zweiten Schritt auf die Argumente einzugehen, welche einen Anspruch auf zeitlose Gültigkeit unterstreichen. 4.3 Zeitgebundenheit Der deutsche Militärhistoriker und Clausewitzforscher Werner Hahlweg betont, dass das Werk „Vom Kriege“ in der Tat Abschnitte enthalte, die zeitgebunden und daher - naturgemäß - in ihrem Aussagewert für die Belange unserer Epoche begrenzt seien.295 Dass sich auch Clausewitz der Zeitbedingtheit bestimmter militärischer Zusammenhänge bewusst war, wird in verschiedenen seiner Äußerungen deutlich: „Was ist natürlicher, als daß der Krieg seine eigentümliche Weise hatte, die Dinge zu machen und welche Theorie hätte die Eigentümlichkeit mit aufzufassen vermocht? Das Übel ist nur, daß eine solche, aus dem einzelnen Fall hervorgehende Manier sich selbst leicht überlebt, weil sie bleibt, während die Umstände sich unvermerkt ändern; ...“296
An anderer Stelle weist er darauf hin, dass die neue Verteidigungskunst in verschiedenen Bereichen der Strategie durch ein anderes Verfahren unmerklich andere Grundsätze herbeigeführt habe.297 In diesem Zusammenhang betont der 295
Vgl. Hahlweg a.a.O., S. 1360 Vgl. Vom Kriege. II, 4, S. 311 297 Vgl. Vom Kriege. VI, 3, S. 623 296
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Kriegsphilosoph beispielsweise, dass, wenn man die neueste Kriegsgeschichte ohne Vorurteile betrachte, man gestehen müsse, dass die Überlegenheit der Zahl mit jedem Tage entscheidender werde; man müsse also den Grundsatz, möglichst stark im entscheidenden Gefecht zu sein, allerdings jetzt etwas höher stellen, als er ehemals gestellt worden sein mag.298 Angesichts solcher Äußerungen liegt der Gedanke nahe, dass, wenn Clausewitz davon ausgeht, dass bestimmte Grundsätze zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich zu bewerten seien oder gar durch neue ersetzt würden, er möglicherweise auch den Grundsatz von der größeren Stärke der Verteidigung als zeitbedingt betrachtet haben könnte. Diese Vermutung scheint sich in einer historischen Analyse299 des Wechselverhältnisses von Angriff und Verteidigung zu bestätigen, welche Clausewitz im zweiten Kapitel des sechsten Buches unter der Überschrift „Wie verhalten sich Angriff und Verteidigung in der Taktik zueinander“ liefert. In dieser Untersuchung von zwei Jahrhunderten Militärgeschichte zeigt der Kriegsphilosoph, wie, ausgehend vom Dreißigjährigen Krieg und dem Spanischen Erbfolgekrieg über den Siebenjährigen Krieg bis hin zu den Revolutions- und Napoleonischen Kriegen, das Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung durch neue Entwicklungen in einer sich periodisch ändernden Kriegskunst immer wieder von neuem auf den Kopf gestellt wurde: „Gehen wir die Ausbildung der neueren Kriegskunst durch, so war im Anfange, d.h. im Dreißigjährigen und im Spanischen Erbfolgekriege, die Entwicklung und Aufstellung der Armee eine der großen Hauptsachen in der Schlacht. Sie war der größte Teil des Schlachtplanes. Sie gab dem Verteidiger in der Regel große Vorteile, weil er schon aufgestellt und entwickelt war. Sobald die Manövrierfähigkeit der Truppen größer wurde, hörte dieser Vorteil auf, und der Angreifer bekam auf eine Zeitlang das Übergewicht. Nun suchte der Verteidiger Schutz hinter Flüssen, tiefen Taleinschnitten und auf Bergen. Dadurch bekam er abermals ein entschiedenes Übergewicht, welches solange dauerte, bis der Angreifer so beweglich und gewandt wurde, daß er sich in die durchschnittene Gegend selbst wagen und in getrennten Kolonnen angreifen, also den Gegner umgehen konnte. Dies führte zu der immer größeren Ausdehnung, bei welcher nun der Angreifende auf die Idee gebracht werden mußte, sich auf ein paar Punkte zu konzentrieren und die dünne Stellung zu durchstoßen. Dadurch bekam der Angreifende das Übergewicht zum drittenmal, und die Verteidigung mußte ihr System abermals ändern. Das hat sie in den letzten Kriegen getan. Sie hat ihre Kräfte in großen Massen zusammengehalten, diese meistens unentwickelt, wo es anging, auch verdeckt aufgestellt, und sich also bloß in Bereitschaft ge-
298
Vgl. Vom Kriege. V, 3, S. 503 Azar Gat bezeichnet diese Analyse als „eines der bemerkenswertesten Beispiele für Clausewitz’ scharfsinnige und umfassende geschichtliche Analyse“. Vgl. Azar Gat: Clausewitz über Verteidigung und Angriff. in: Journal of Strategic Studies, März 1988, S. 10
299
110II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ setzt, den Maßregeln der Angreifenden zu begegnen, wenn diese sich näher entwickeln würden.“300
Angesichts dieser Schilderungen könnte man zu der Schlussfolgerung gelangen, Clausewitz habe das Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung (zumindest in der Taktik) als in starkem Maße zeitbedingt und wandelbar (in Abhängigkeit von den je spezifischen Umständen einer Epoche) betrachtet301, wobei er im Hinblick auf den aktuellen Entwicklungsstand seiner Zeit die Verteidigung als die stärkere Form angesehen habe. Zu dieser Schlussfolgerung kommt beispielsweise Raymond Aron. Er betont in diesem Zusammenhang, dass die doktrinären Thesen von der taktischen Überlegenheit der Verteidigung oder des Angriffs von der (den Theorien von Clausewitz widersprechenden) unzulässigen Verallgemeinerung eines vorübergehenden Moments der Kriegskunst herrührten. Weiter stellt er sich die Frage, warum, wenn es (nach Clausewitz) keine unumstößliche Überlegenheit des Angriffs oder der Verteidigung in der Taktik gebe, es sie dann in der Strategie gebe. Clausewitz relativiert seine Schilderung jedoch durch eine einleitende Bemerkung, in welcher er darauf verweist, dass eigentlich die Geringschätzung der Verteidigung immer die Folge einer Epoche sei, wo eine gewisse Manier der Verteidigung sich selbst überlebt habe.302 Hier ist jedoch einzuwenden, dass dieses Argument genauso gut auch umgekehrt aufgebaut werden könnte, wobei eine sich selbst überlebte Manier des Angriffs als Ursache für die zu bestimmten Zeiten größere Stärke der Verteidigung betrachtet werden könnte. Aufgrund seiner Relativität kann diese Anmerkung nicht als ein schlüssiges Argument betrachtet werden, um damit die „Konsequenzen seiner historischen Darlegungen einzudämmen“, wie Azar Gat in ironischer Weise anmerkt. Er kann nur unterstützt werden, wenn er in diesem Zusammenhang auf eine „Clausewitz’ eigene Spannung zwischen seiner dominierenden universalistischen Denkungsart einerseits und seiner stark historischen Orientierung andererseits“ aufmerksam macht.303 Alles in allem kann diese historische Analyse des Kriegsphilosophen als Argument dafür betrachtet werden, dass er das Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung zumindest auf taktischer Ebene als in gewisser Weise zeitbedingt betrachtete, wobei bestimmte, dem Argument eigene Unstimmigkeiten nicht ganz von der Hand zu weisen sind. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kann auch eine zweite historische Untersuchung Anlass geben, in welcher der preußische Kriegstheoretiker auf die 300
Vom Kriege. VI, 2, S. 620 f Vgl. Aron a.a.O., S. 223 302 Vgl. Vom Kriege. VI, 2, S. 620 303 Vgl. Gat a.a.O., S. 11 301
4 Anspruch auf zeitlose Gültigkeit
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Entwicklung der Reiterei seit dem Mittelalter zu sprechen kommt. Dabei hebt er insbesondere die im Vergleich zu seiner Zeit viel größere Wichtigkeit der Reiterei im Mittelalter hervor. Diese sei als die „Hauptsache“ und „Hauptwaffe“ der damaligen Heere zu betrachten, weil sie die „stärkere Waffe“ war.304 Die Reiterei, fährt er fort, hätte, wenn ihre Zahl (im Verhältnis zu der des Fußvolkes) bloß nach ihrem inneren Wert hätte bestimmt werden sollen, nie zu stark sein können.305 Das heißt, eine Armee in welcher alle Soldaten zu Reitern ausgerüstet wurden, wäre nach Clausewitz das militärische Optimum der damaligen Zeit gewesen. Dass de facto nur sehr selten reinrassige Reiterheere gebildet wurden, erklärt er damit, dass aufgrund der sehr hohen Kosten eines Reiters alles, was man nicht zu dieser viel kostbareren Waffengattung stellen konnte, als Fußvolk gestellt wurde.306 Interessant ist nun, diese Gedanken mit einer Überlegung in Verbindung zu bringen, die Clausewitz in demselben Kapitel über das Wesen von Angriff und Verteidigung und die daraus resultierenden Folgen für die einzelnen Waffengattungen anstellt. Das Wesen der Verteidigung sei es, fest zu stehen wie eingewurzelt im Boden; das Wesen des Angriffs sei die Bewegung. Die Reiterei entbehre dabei die erstere Eigenschaft ganz und genieße die letztere vorzugsweise. Sie sei also nur zum Angriff geeignet.307 Aus diesen Überlegungen ergibt sich Folgendes: Wenn die Reiterei einerseits nur zum Angriff geeignet ist, gleichzeitig im Hinblick auf das Mittelalter aber als die „stärkere Waffe“ bewertet wird, so muss aus diesen von Clausewitz vorgegebenen Prämissen zwingend folgen, dass während des Mittelalters (gesetzt den Fall, dass man sich eine genügende Anzahl von Reitern leisten konnte) der Angriff die stärkere Form des Kämpfens war. Da nach den Worten des Kriegsphilosophen die Reiterei seitdem von jener Wichtigkeit (und damit natürlich auch von ihrer Stärke) immer mehr eingebüßt habe308, muss davon ausgegangen werden, dass dies auch Auswirkungen auf das Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung hatte. Somit könnte Clausewitz aufgrund der logisch aus seinen Gedanken ableitbaren Konsequenzen unterstellt werden, dass er im Bereich der Kampfesweise und Taktik
304
Vgl. Vom Kriege. V, 4, S. 513 f Vgl. Vom Kriege. V, 4, S. 514 f 306 Vgl. Vom Kriege. V, 4, S. 514 307 Vgl. Vom Kriege. V, 4, S. 507. Die Behauptung, dass die Reiterei nur zum Angriff geeignet sei, kann sich natürlich nur auf deren Kampfesweise und die taktische Ebene (also auf die Ebene eines einzelnen Gefechts) beziehen. Im strategischen Bereich (d.h. im Hinblick auf die Führung eines ganzen Feldzuges oder Krieges) lässt sich die Reiterei sehr wohl auch defensiv einsetzen, selbst wenn sie in einzelnen Gefechten dann wiederum angriffsweise gebraucht wird. 308 Vgl. Vom Kriege. V, 4, S. 514 305
112II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ von einer Wandelbarkeit und damit Zeitgebundenheit des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung hätte ausgehen müssen.309 Abschließend soll noch auf zwei Überlegungen eingegangen werden, die Clausewitz im vierzehnten Kapitel des vierten Buches über „das nächtliche Gefecht“ anstellt, welche ebenfalls darauf hindeuten, dass er seine These möglicherweise als zeitgebunden betrachtet haben könnte. So weist er zum einen darauf hin, dass die nächtlichen Überfälle aufgrund von Veränderungen in der Taktik und in der Lagerungsart in den neueren Kriegen schwieriger seien als in den früheren.310 Daraus folgt, dass in den neueren Kriegen die Verteidigung im Nachtgefecht gegenüber dem Angriff an Stärke gewonnen haben muss. Diese Überlegung setzt jedoch voraus, dass Clausewitz grundsätzlich von einer Wandelbarkeit dieses Stärkeverhältnisses (auch hier bezogen auf die taktische Ebene) hätte ausgehen müssen und dass, wenn er dieses Verhältnis im Nachtgefecht als wandelbar betrachtete, kein vernünftiger Grund dagegen sprechen kann, dass dies auch für das Gefecht bei Tage zu gelten habe. In der zweiten Überlegung, welche zum Teil aus der ersten resultiert, betont Clausewitz, dass unter den gegebenen Umständen seiner Zeit wegen der großen Vorteile, die der Verteidiger gegenüber dem Angreifer im Nachtgefecht besitzt, nur besondere Ursachen zu einem nächtlichen Angriff bestimmen könnten.311 Das bedeutet, dass die Stärke der Verteidigung gegenüber dem Angriff vom Tag auf die Nacht zunimmt (oder, vom entgegengesetzten Standpunkt aus betrachtet, dass die Stärke des Angriffs vom Tage zur Nacht geringer wird), womit eine gewisse Wandelbarkeit dieses Verhältnisses unterstellt werden muss. Wenn dieses Stärkeverhältnis aber von einem Faktor wie der Tageszeit abhängig ist, warum sollte es dann nicht auch von einer Vielzahl anderer Faktoren (z. B. dem Wetter,...) beeinflusst werden können? Und wenn einmal von einer größeren (vgl. Nachtgefecht) und beim anderen mal von einer geringeren (vgl. Gefecht bei Tage) Überlegenheit der Verteidigung (im Sinne einer zusätzlichen Stärke) über den Angriff ausgegangen wird, warum sollte es dann nicht auch Faktoren geben, die dazu führen können, dass sich dieses Verhältnis im ein oder anderen Fall gänzlich wandelt und der Angriff zur stärkeren Form des Kämpfens (um auf der taktischen Ebene zu bleiben) wird?
309
Es ist in diesem Zusammenhang unerheblich, ob die von Clausewitz formulierten Prämissen historisch den Tatsachen entsprechen oder nicht, weil es an dieser Stelle nur darauf ankommt, sein Denken zu erschließen und zu ergründen, ob er das Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung als zeitbedingt oder zeitlos betrachtete. 310 Vgl. Vom Kriege. IV, 14, S. 490 311 Vgl. Vom Kriege. IV, 14, S. 490
4 Anspruch auf zeitlose Gültigkeit
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4.4 Anspruch auf zeitlose Gültigkeit „... denn mein Ehrgeiz war, ein Buch zu schreiben, was nicht nach zwei oder drei Jahren vergessen wäre, und was derjenige, welcher sich für den Gegenstand interessiert, allenfalls mehr als einmal in die Hand nehmen könnte.“312
Mit dieser Äußerung verdeutlicht Clausewitz auf prägnante Art und Weise sein eigentliches Erkenntnisinteresse. Er unterstreicht sein grundsätzliches Bestreben, eine Theorie zu entwickeln, mit welcher er unabhängig von den je spezifischen Eigenarten einer Epoche für alle Zeiten Gültigkeit beanspruchen konnte.313 Um dies zu erreichen, strebte er danach, das Wesen des Krieges zu erfassen, um damit die nötige Weite zu erhalten, welche seinen Gedanken zeitlose Geltung sichern konnte.314 Schon der Titel des ersten Buches „Über die Natur des Krieges“315 lässt erkennen, dass es dem Autor nicht in erster Linie um eine Betrachtung der zweifelsohne wandelbaren Erscheinungsformen des Krieges gehen konnte. Namhafte Experten weisen übereinstimmend auf diesen Zusammenhang hin. Mit Bezug auf Clausewitz zeitübergreifendes Verständnis von der Natur des Krieges – „all wars are things of the same nature“ – verweist der amerikanische Strategietheoretiker Colin S. Gray auf die Zeitlosigkeit der Clausewitzschen Theorie des Krieges („Clausewitzs timeless theorie of war“) und konstatiert dem Kriegsphilosophen eine zeitübergreifende Universalität seiner Autorität („the timeless universality of Clausewitz´s authority“). Weiter betont Gray, dass auch an Clausewitz´s eigener Überzeugung von der universalen Reichweite („universal reach“) seiner Theorie des Krieges kein Zweifel bestehen könne.316 Schössler betont, dass Clausewitz auf Grund seiner revolutionären Methodologie, die Wesen und Erscheinung auseinander zu halten vermag, zwischen dem stets gleich bleibenden Wesen des Krieges und den Erscheinungen, die zeitgebunden sind, unterscheidet.317 312
Vom Kriege. Vorrede, S. 175 Dass Clausewitz heute zu Recht insbesondere wegen seiner Methode, d.h. der Art und Weise wie er das Phänomen Krieg betrachtete, zeitlose Gültigkeit konstatiert wird, ist nahezu unumstritten und soll daher auch nicht näher betrachtet werden. Vgl. dazu u.a. Uwe Hartmann: Carl von Clausewitz, Erkenntnis, Bildung, Generalstabsausbildung. München 1998, S. 13, 42. Interessant für die vorliegende Studie ist vielmehr die Frage, inwiefern Clausewitz nicht nur hinsichtlich seiner Methode sondern auch für die inhaltlichen Aussagen seines Werkes (u.a. für seine These von der stärkeren Form des Kriegführens) zeitlose Gültigkeit beanspruchte. 314 Vgl. Marcks a.a.O., S. 275 f 315 Vom Kriege. I, S. 189 316 Vgl. Gray, Colin S.: Clausewitz, history, and the future strategic world. In: Murray, Williamson und Sinnreich, Richard Hart (Hrsg.): The past as prologue. The importance of history to the military profession, Cambridge, S. 111 ff 317 Vgl. Schössler, Dietmar: High Intensity – Low Intensity Conflict. Zur „Reichweite“ der Clausewitzschen Kategorien bei der Analyse des modernen bewaffneten Konflikts. In: Schwarz, K. D.: Weltpolitik im 21. Jahrhundert, (Festschrift), 2004 313
114II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ Im Folgenden ist auf die verschiedenen, dem Werk immanenten, Erkenntnisebenen einzugehen, ohne deren Berücksichtigung ein Verständnis der Clausewitzschen Gedanken nicht möglich ist. Es lassen sich hierbei drei Ebenen unterscheiden: Erstens die Erscheinungsebene, zweitens die Wesensebene und drittens eine darüber liegende Metaebene. Auf der Erscheinungsebene wird der Krieg als ein empirisches Phänomen gesehen, wobei in erster Linie seine äußere (sinnlich wahrnehmbare) Erscheinung betrachtet wird. Clausewitz spricht im Hinblick auf diese Ebene auch vom so genannten „wirklichen Krieg“ im Unterschied zum „abstrakten Krieg“, worunter er den Krieg seinem Wesen nach versteht. Dieses Wesen einer Sache oder eines Gegenstandes kann auch als Grund/Ursache seiner Erscheinung betrachtet werden. Es sind darunter diejenigen Merkmale zu verstehen, welche diesen Gegenstand definitorisch ausmachen, die ihm notwendig zukommen und ihn erst zu dem machen, was er ist. Schössler spricht in diesem Zusammenhang auch von der „Natur der Dinge“.318 Diese unterscheidet sich von der Erscheinung einer Sache insbesondere dadurch, dass sie nicht durch empirische (sinnliche) Beobachtung erfassbar ist, sondern eine tiefer gehende geistige Reflexion erfordert. Die über der Erscheinungs- und Wesensebene anzuordnende Metaebene schließlich kennzeichnet den Bereich, den der Betrachter einnimmt, sobald er damit beginnt, sich über die Erscheinung und das Wesen einer Sache Gedanken zu machen. Durch sie wird das Clausewitzsche Werk zu einer Philosophie. Wichtig für die weitere Untersuchung ist die Erkenntnis, dass die Erscheinungen des Krieges einem ständigen Wandel unterworfen sind, während das Wesen desselben, zumal wenn es sich um die tiefsten Schichten seines Wesens handelt, unverändert bleibt. Somit ist eine Aussage um so zeitgebundener, je mehr sie sich bloß auf die Erscheinung des betrachteten Gegenstandes bezieht (das heißt, je mehr das Wesen zum Sein wird), und sie wird um so zeitloser, je stärker sie auf das Wesen einer Sache eingeht. Es stellt sich somit die Frage, inwiefern Clausewitz seine These zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung auf das Wesen der beiden Formen des Kriegführens bezieht. Dass dem so ist, scheint sich schon aus der Tatsache zu ergeben, dass der Kriegsphilosoph hinsichtlich dieser These immer nur von „dem Angriff“ oder „der Verteidigung“ spricht, ohne dabei irgendwelche Einschränkungen vorzunehmen, die darauf hindeuten könnten, dass er möglicherweise ganz bestimmte (zeitbedingte) Erscheinungsformen des Angriffs oder der Verteidigung vor Augen gehabt hätte. Eine besondere Art der Formulierung, die Clausewitz an verschiedenen Stellen seines Werkes wählt, bestätigt diese Annahme:
318
Vgl. Schössler a.a.O., S. 96
4 Anspruch auf zeitlose Gültigkeit
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„... : die verteidigende Form des Kriegführens ist an sich stärker als die angreifende.“319
Mit diesem „an sich“ und seiner Bezugnahme auf die „Form“ des Kriegführens verdeutlicht der Kriegsphilosoph, dass es ihm nicht um die Verteidigung in einem ganz speziellen, empirisch feststellbaren Einzelfall und auch nicht um die ebenfalls empirisch festzumachende Erscheinung der Verteidigung zu seiner Zeit oder in irgendeiner bestimmten Epoche geht, sondern vielmehr um die Verteidigung ihrem Wesen nach. Er hätte analog auch von der „Verteidigung als solcher“ oder dem „Wesen der Verteidigung“ sprechen können. Auch die Art der Argumente, welche Clausewitz zur Begründung seiner These verwendet, macht deutlich, dass sich jene sinnvoller Weise nur auf das Wesen von Angriff und Verteidigung beziehen können. So betont er, dass der Verteidigung immer der Beistand der Gegend gewiss sei und ihr im allgemeinen ihre natürliche Überlegenheit sichern würde.320 Hier ist zu beachten, dass es nur dann Sinn macht von einer „natürlichen Überlegenheit“ der Verteidigung zu sprechen, wenn sich diese Überlegenheit nicht nur auf ganz bestimmte Einzelfälle zu einer bestimmten Zeit bezieht, sondern (insbesondere auch zeitliche) Allgemeingültigkeit besitzt. An anderer Stelle verweist Clausewitz darauf, dass die Überlegenheit der Verteidigung gegenüber dem Angriff sich schon allein aufgrund logischer Überlegungen ergeben müsse.321 Auch dieser Gedanke lässt sich nur verstehen, wenn er auf das Wesen von Angriff und Verteidigung bezogen wird. Geradezu unsinnig wäre es, die Überlegenheit der Verteidigung an sich aus logischen Überlegungen heraus ableiten zu wollen, wenn man gleichzeitig diese Überlegenheit nur auf eine Gruppe empirischer Einzelfälle so verstanden wissen wollte. Somit lässt sich festhalten, dass sich die entscheidenden Argumente, welche Clausewitz zur Begründung seiner These von der stärkeren Form des Kriegführens verwendet, nur dann verstehen lassen, wenn man sie auf das Wesen von Angriff und Verteidigung bezieht und seiner These gleichzeitig den Anspruch auf zeitlose Gültigkeit unterstellt. 4.5 Inhalt und Methode Abschließend soll vor einer denkbaren Fehlinterpretation hinsichtlich der Zeitkontingenz des Clausewitzschen Werkes gewarnt werden. Zutreffenderweise wird häufig auf den zeitübergreifenden Wert gerade der Clausewitzschen Er319
Vom Kriege. VI, 1, S. 615 Vgl. Vom Kriege. VI, 2, S. 621 321 Vgl. Vom Kriege VI, 1, S. 616. Dieses Argument wird im dritten Kapitel noch genauer untersucht werden. 320
116II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ kenntnismethode verwiesen und damit die zeitübergreifende Bedeutung seiner inhaltlichen Gedanken zumindest implizit relativiert.322 Mit Bezug auf die Methode, wie er das Wesen des Krieges analysiert habe, betont Clausewitz selbst: „Nicht was wir gedacht haben halten, wir für einen Verdienst um die Theorie, sondern die Art, wie wir es gedacht haben“323
Dies unterstreicht den Anspruch des Kriegsphilosophen auf den zeitübergreifenden Wert seines Werkes gerade auch auf Grund der von ihm entwickelten und angewandten Erkenntnismethode. Dies wird in der Clausewitzforschung übereinstimmend anerkannt und bestätigt. Hieraus jedoch ein „Primat der Methode vor dem Inhalt“ abzuleiten, wie es beispielsweise Hartmann zu tun scheint324, kann nur als ein zu weitgehender Eingriff in die eigentliche Intention des preußischen Kriegsphilosophen gewertet werden. Clausewitz in seiner zeitübergreifenden Bedeutung auf die bloße Erkenntnismethode zu reduzieren, hieße gleichsam sein zentrales Bestreben, das Wesen des Krieges ergründen zu wollen, zu verkennen. Gleichzeitig würde damit eine inhaltliche Auseinandersetzung mit seinem Werk und eine Weiterentwicklung seiner zentralen Gedanken verhindert. Inhalt und Methode lassen sich bei Clausewitz nicht trennen und stellen in einer perspektivisch-dialektischen Betrachtung lediglich die zwei Seiten seines Werkes dar. 4.6 Ergebnis Zusammenfassend bleibt bei einer ganzheitlichen Betrachtung des Werkes „Vom Kriege“, festzuhalten, dass Clausewitz seine These von der Verteidigung als der an sich stärkeren Form des Kriegführens, im Kontext seines kriegstheoretischen Erkenntnisstrebens über das unveränderliche Wesen des Krieges und seiner beiden Formen - Angriff und Verteidigung - formulierte und so auch verstanden wissen wollte. Der Clausewitzsche Erkenntnisgegenstand - das unveränderliche Wesen des Krieges - bedingt daher auch den Anspruch auf zeitübergreifende Gültigkeit seiner These von der stärkeren Form des Kriegführens. Damit macht Clausewitz diese These zu einem Kernelement seiner Philosophie mit dem Anspruch auf zeitübergreifende Gültigkeit. Zwar finden sich an einzelnen Stellen seines Werkes Hinweise, die eine Zeitgebundenheit seiner Überlegungen vermuten lassen könnten. Diese Argumente bewegen sich jedoch fast ausschließlich auf der Ebene der Kampfesweise 322
Vgl. Hartmann a.a.O., S. 13, 44 Vgl. Hinterlassene Werke des Generals Carl von Clausewitz über Krieg und Kriegführung, Bd. VII, Berlin 1835, S. 361 324 Vgl. Hartmann a.a.O., S. 42 323
5 Ebenenspezifische Einordnung der These (Strategie, Taktik, Politik)
117
und der Taktik und beziehen sich, was entscheidend ist, auf je zeitbedingte spezifische Erscheinungsformen des Krieges. Dass diese Erscheinungsformen, auch nach den Vorstellungen von Clausewitz, zeitbedingt und daher wandelbar sind bedarf keiner weiteren Erörterung, unterscheidet diese jedoch von seinem eigentlichen Erkenntnisinteresse auf der Wesensebene. Die Argumente, mit welchen Clausewitz die zeitlose Gültigkeit seiner These zu belegen sucht, beziehen sich dementsprechend auf das Wesen von Angriff und Verteidigung und sind überhaupt nur in diesem Kontext zu verstehen. 5
Ebenenspezifische Einordnung der These (Strategie, Taktik, Politik)
5.1 Taktische / Strategische Ebene Clausewitz unterscheidet zwei Ebenen der Kriegführung. Zum einen die Taktik, welche er als die Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht bezeichnet, und zum anderen die Strategie, als die Lehre vom Gebrauch der Gefechte zum Zweck des Krieges.325 Weiter präzisiert er, in der Taktik seien die Mittel die ausgebildeten Streitkräfte, welche den Kampf führen sollten. Der Zweck sei der Sieg. Vermittelst dieses Sieges erreiche die Strategie den Zweck, welchen sie dem Gefecht gegeben habe, und der seine eigentliche Bedeutung ausmache.326 Die Strategie habe ursprünglich nur den Sieg, d.h. den taktischen Erfolg, als Mittel und, in letzter Instanz, die Gegenstände, welche unmittelbar zum Frieden führen sollten, als Zweck.327 Hervorzuheben sind die Wechselwirkungen und die sich hieraus ergebenden Interaktionen, welche Clausewitz zwischen den beiden Ebenen sieht. So betont er, die Strategie bestimme den Punkt, auf welchem, die Zeit, in welcher, und die Streitkräfte, mit welchen gefochten werden solle; sie habe also durch diese dreifache Bestimmung einen sehr wesentlichen Einfluss auf den Ausgang des Gefechts. Habe die Taktik das Gefecht geliefert, sei der Erfolg da, er möge nun Sieg oder Niederlage sein, so mache die Strategie denjenigen Gebrauch davon, welcher sich nach dem Zweck des Krieges davon machen lasse.328 Dieser Zweck ist nach Clausewitz die „politische Absicht“, welche er als das „erste Motiv“ be325
Vgl. Vom Kriege. II, 1, S. 271 Vgl. Vom Kriege. II, 2, S. 292 Vgl. Vom Kriege. II, 2, S. 293 f. Die militärische Praxis zeigt aber auch Extrembeispiele in denen die Interdependenz dieser beiden Ebenen auf den ersten Blick paradox erscheinen mag. Zum einen ist hierbei an den Fall eines „Sich zu Tode Siegens“ (Phyrrurssieg) auf taktischer Ebene bei gleichzeitigem strategischen Scheitern, zum anderen an strategische Erfolge, die ohne taktischen Sieg auf dem Schlachtfeld (vgl. Russland 1812) erreicht wurden, zu denken. 328 Vgl. Vom Kriege. III, 8, S. 373 326 327
118II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ zeichnet, das den Krieg als Mittel der Politik ins Leben gerufen habe.329 Damit wird deutlich, dass Clausewitz die Zweck bestimmende politische Ebene als konstituierenden Faktor militärischen Handelns über die beiden Ebenen der Kriegführung - Strategie und Taktik - stellt. Seinen Grundsatz hinsichtlich der Verteidigung als der stärkeren Form des Kriegführens bezieht er dabei sowohl auf die taktische als auch auf die strategische Ebene. Dies wird insbesondere im zweiten und dritten Kapitel des sechsten Buches deutlich, in denen er die Frage untersucht, wie sich Angriff und Verteidigung zum einen in der Taktik und zum anderen in der Strategie zueinander verhalten.330 Er kommt dabei unter Bezugnahme auf zum Teil identische, zum Teil unterschiedliche Argumente zu der Schlussfolgerung, dass sowohl in der Taktik als auch in der Strategie die Verteidigung als die stärkere Form des Kriegführens zu betrachten sei.331 Auf die politische Ebene dehnt er seine Aussage jedoch nicht aus, da für ihn der Krieg als Mittel der Politik Gegenstand der Betrachtung ist, nicht aber die Politik als solche.332 Aus diesen Feststellungen ergeben sich zwei wesentliche Konsequenzen. Zum einen ist es entscheidend, bei jeder theoretischen oder praktischen Fragestellung im Bezug auf die Dialektik von Angriff und Verteidigung genau zu bestimmen, welche Ebene gerade betrachtet wird. Ansonsten besteht die Gefahr, dass verschiedene Ebenen vermischt und daraus möglicherweise unzutreffende theoretische Schlussfolgerungen gezogen werden. Heute ist diese Forderung umso dringlicher, als zur klassischen Unterscheidung von Strategie und Taktik die Ebene der Operationsführung als Zwischenebene oder Bindeglied hinzukommt.333 Zudem lassen sich auch Strategie und Taktik wiederum in verschiedene Ebenen und Dimensionen untergliedern. 329
Vgl. Vom Kriege. I, 1, S. 210 Vgl. Vom Kriege. VI, 2, 3, S. 618 - 627 331 Über die Tatsache, dass der Kriegsphilosoph dies so gesehen hat, ist sich die Clausewitzforschung weitgehend einig. Vgl. dazu beispielsweise Hermann Hagena: „Offensive“ Verteidigungsstrategie im Lichte von Lenin und Clausewitz. Hamburg 1988, S. 179. „Es bedarf keiner weiteren Ausführung, daß Clausewitz, der die strategische und taktische Verteidigung als stärkere Form des Kriegführens bezeichnet hatte, den Gedanken der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit verworfen hätte.“ 332 Dementsprechend entwickelt Clausewitz auch keine tiefergehende Bestimmung des Politikbegriffes, sondern begnügt sich mit einer allgemeinen Definition von Politik als „Repräsentanten aller Interessen der gesamten Gesellschaft“. Vgl. dazu Marwedel: Carl von Clausewitz. Persönlichkeit und Wirkungsgeschichte seines Werkes bis 1918. Boppard am Rhein, 1978, S. 82 f. 333 Mit Helmuth Graf von Moltke (1800-1891), wurde die Ebene der Operationsführung in das preußisch/deutsche militärische Denken eingeführt. Über ihn, als geistigem Erbe der Clausewitzschen Kriegsphilosophie, wurden viele Gedanken des preußischen Kriegsphilosophen in das militärische Vorschriftenwesen Deutschlands implementiert. Die Heeresdienstvorschrift HDV 100/100 „Truppenführung“ verdeutlicht dies u.a. (Vgl.: HDV 100/100: Truppenführung. DSK HH320220020, Oktober 1998). 330
5 Ebenenspezifische Einordnung der These (Strategie, Taktik, Politik)
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Als zweite Konsequenz ist die Wechselwirkung zwischen den einzelnen Ebenen in Rechnung zu stellen. Hier gilt, es die Unterschiede und Implikationen zu bedenken, die sich beispielsweise für eine Verteidigung auf taktischer Ebene ergeben können, je nachdem ob diese in eine übergeordnete Defensiv- oder Offensivoperation eingebunden ist. Gleiches gilt für den Angriff, der sowohl im Rahmen einer übergeordneten Verteidigung (u.a. als Gegenangriff) als auch im Rahmen einer Offensive erfolgen kann. In diesem Zusammenhang ist die zentrale Botschaft Clausewitz’ zum Wechselverhältnis von Krieg und Politik, von ganz entscheidender Bedeutung. Da der „politische Zweck“ als erstes Motiv den „kriegerischen Akt“ ins Leben gerufen habe und diesen in allen seinen Facetten und Dimensionen durchziehe und fortwährenden Einfluss auf ihn ausübe, kommt es darauf an, diese Bestimmung und ständige Einflussnahme der politischen Ebene auf die militärische entsprechend zu berücksichtigen.334 Die politische Zwecksetzung stellt dazu das entscheidende Kriterium dar. „Krieg ist nichts als Politik“ betont Clausewitz an anderer Stelle, und bringt damit diesen alles entscheidenden Zusammenhang auf den Punkt. 5.2 Politische Ebene Was die politische Ebene anbelangt, so kann die Frage gestellt werden, ob Clausewitz’ These zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung, auch auf diese übertragbar ist. Es könnte vermutet werden, dass ein unter dem politischen Vorzeichen der Verteidigung handelnder Akteur, in Anlehnung an Clausewitz These, an Stärke gewinnt. Dass Clausewitz selbst seine These von der größeren Stärke der Verteidigung nicht auf die Ebene der Politik überträgt, obwohl das Wechselverhältnis von Krieg und Politik sein zentrales Thema darstellte, mag in diesem Zusammenhang zunächst verwundern. Voraussetzung hierfür wäre allerdings eine Übertragbarkeit der Kategorien Angriff und Verteidigung auf das Feld der Politik. Auch dazu findet sich bei Clausewitz keinerlei Ansatz, obwohl die Begriffe Angriff und Verteidigung umgangssprachlich häufig in diesem Zusammenhang genutzt werden. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die Frage, ob ein Krieg auf politischer Ebene als defensiv oder offensiv zu bezeichnen ist, letztendlich kaum zufriedenstellend beantwortet werden kann. Das liegt zum einen an der Vielfalt, Nichtfassbarkeit und damit Nichtobjektivierbarkeit politischer Motive. Während das Handeln von Streitkräften, d.h. ihre Bewegungen in Raum und Zeit noch einigermaßen nachweisbar sind, trifft dies auf politische Intentionen und politisches Handeln nur sehr bedingt zu. Die politischen Beweggründe zu einem 334
Vgl. Vom Kriege. I, 1, S. 210ff
120II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ Krieg, sofern überhaupt bekannt, sind i.d.R. äußerst vielfältig, komplex verwoben und damit nur schwer nachzuweisen. Hinzu kommt, dass sich eine kriegführende Partei i.d.R. aus einer Vielzahl von Teilakteuren mit je unterschiedlichen politischen Motiven zusammensetzt, die ihrerseits wiederum sehr unterschiedlich ausgerichtet sein können. Wer vermag heute die Vielzahl der Gründe, die zum jüngsten Krieg gegen den Irak (2003) führten, aufzuzeigen und ihrer Bedeutung nach zu gewichten? Von einer Kategorisierung in offensive und defensive Absichten ganz zu schweigen. Zum anderen hängt eine derartige Bewertung in hohem Maße vom Standpunkt des Betrachters ab. Sie ist damit subjektiv und wertend. Politisch und deklaratorisch gesehen ist jede kriegführende Partei stets bemüht sich selbst als die Verteidigende darzustellen, da der Begriff Verteidigung in der allgemeinen Wahrnehmung als gerechtfertigt und gut anerkannt wird. Schon allein aus propagandistischen Gründen wird dies beinahe zum Erfordernis jedweder Kriegführung, um damit Gefolgschaft in den eigenen Reihen, internationale Unterstützung sowie eine Diskreditierung des Gegners zu erreichen. In den meisten Fällen ist darüber hinaus davon auszugehen, dass sich jede Partei in ihrer Selbstwahrnehmung als die Verteidigende sieht. Das gilt auch dann, wenn auf militärischer Ebene in höchstem Maße offensiv agiert wird. Das militärisch stets offensive Handeln Napoleons darf beispielsweise nicht darüber hinwegtäuschen, dass er aus seiner und der Sicht Frankreichs in weiten Teilen nur das „defensive Ziel“ einer „Verteidigung“ der Werte und Ideale der französischen Revolution verfolgt haben mag.335 Dieses Beispiel zeigt, dass offensives Handeln auf militärischer Ebene, stets in den Kontext einer übergeordneten politischen oder auch ethisch/moralischen „Verteidigung“ gestellt werden kann, und es beinahe als ein „Naturgesetz“ des Krieges angesehen werden muss, dass dies aus Rechtfertigungs- und propagandistischen Gründen auch so geschieht. Daher würde eine Untersuchung der Frage, wie sich das „Vorzeichen“ einer Verteidigung auf politischer Ebene auf das militärische Wechselverhältnis von Angriff und Verteidigung auswirken könnte, zu einem kaum durchführbaren Unterfangen. Es verwundert daher nicht, dass Clausewitz einen solchen Versuch gar nicht erst unternommen hat und seine Begriffe von Angriff und Verteidigung auch nicht auf die politische Ebene als solche zu übertragen versuchte. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass im Clausewitzschen Sinne die beiden Hauptformen des Kriegführens als politisch und auch ethisch/moralisch neutral
335 Vgl. Cronin, Vincent: Napoleon. Stratege und Staatsmann, Aus dem Englischen von Martin Berger, Düsseldorf 1995, S. 307f, 335f
6 Ätiologie der Clausewitzschen These
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zu bewerten sind. Militärisch offensives Handeln darf daher nicht automatisch mit politischer Aggression gleichgesetzt werden.336 Hinsichtlich einer weiteren Untersuchung der Frage, ob die Verteidigung gegebenenfalls auf politischer Ebene die „stärkere Form“ der Auseinandersetzung darstellt, bietet sich als Ansatzpunkt lediglich die kaum objektivierbare Kategorie einer „gefühlten Verteidigung“. Aus dem Grad dieses „Fühlens“ sowohl der kriegführenden Parteien als auch der Öffentlichen Meinungen könnte dann wiederum ein politisch/moralischer Impetus erwachsen, der den stärker „sich verteidigend Fühlenden“ und auch von außen so „Wahrgenommenen“ begünstigen könnte. Entscheidend ist hierbei nicht so sehr die politische Realität, sondern ihre Wahrnehmung. Als abschließende Anregung bleibt festzuhalten, dass die Begriffe Angriff und Verteidigung aus den dargelegten Gründen kaum geeignet erscheinen, politisches Handeln trennscharf zu kategorisieren. Als Unterscheidungskriterium bietet es sich vielmehr an, auf die Erhaltung bzw. Veränderung des Status quo einer politischen Situation abzustellen und diese zunächst strikt wertneutral zu betrachten. Ob sich aus einer derart oparationalisierten „politischen Verteidigung“ im Sinne einer „Erhaltung des Status quo“ eine zusätzliche Stärke ergibt, wie sie Clausewitz für die Verteidigung im militärischen Sinne postuliert, muss einer weiterführenden Untersuchung vorbehalten bleiben. Dass hier ein interessanter Ansatzpunkt zur Weiterentwicklung des Clausewitzschen Theoriegebäudes zu sehen ist, erscheint unzweifelhaft. Mit Blick auf die hier zu untersuchende Fragestellung bleibt festzuhalten, dass die Untersuchung der politischen Ebene keinen erkenntnistheoretischen Mehrwert erwarten lässt, da Clausewitz seine These nicht auf dieses Feld ausdehnt und ab einer bestimmten Ebene jede kriegführende Partei zum „Verteidiger“ wird. 6
Ätiologie der Clausewitzschen These
Im Folgenden sollen einige grundsätzliche Aspekte aus dem persönlichen Erfahrungshintergrund von Clausewitz betrachtet werden, die möglicherweise Einfluss auf die Entstehung seiner Theorie von der größeren Stärke der Verteidigung hatten und daher zu einem besseren Verständnis seines Werkes beitragen können.
336 Für Clausewitz, als Kind seiner Zeit, war dieser Sachverhalt weitgehend irrelevant, da Angriffskriege im 19. Jahrhundert noch keiner völkerrechtlichen Ächtung unterlagen.
122II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ 6.1 Politische Herausforderung Als zentraler Hintergrund des Clausewitzschen Erkenntnisstrebens muss das revolutionär-expansive Frankreich gesehen werden, dem es aus preußischer Sicht Einhalt zu gebieten galt. Auf diese revolutionäre Herausforderung reagiert Clausewitz, indem er, wie Schössler hervorhebt, das herkömmliche Theorie-PraxisKonzept umkehrt und von der (neuen, revolutionären) Praxis her die Anforderungen an die Theorie entwirft.337 Seine theoretische Analyse war geleitet und motiviert von einem ganz konkreten praktischen Interesse. Bezeichnend für seine Überlegungen ist dabei der „relativ frühe Abschluss seiner grundlegenden Erkenntnisse und Ansätze“ (Schössler)338, welche er konsequent beibehält und in seinem Hauptwerk „Vom Kriege“ lediglich weiterentwickelt. Das gilt auch für den zentralen Gedanken von der stärkeren Form des Kriegführens, welcher schon in der „Strategie von 1804“ zu erkennen ist und sich von da an immer mehr verfestigt. 6.2 Eigene Kriegserfahrung und Auswertung des historischen Erfahrungsraumes Die Ursprünge dieses Grundgedankens von der Überlegenheit der Verteidigung müssen dabei unter anderem in sehr frühen eigenen Kriegserlebnissen des Philosophen gesehen werden. Schössler weist darauf hin, dass sich dieses „wichtige Element seiner künftigen Kriegslehre“339 bereits während des Rhein-Feldzuges 1793 herausbildete. Clausewitz erlebte damals als junger Fähnrich, wie bei Kaiserslautern eine nur 20.000 Mann zählende preußische Armee die Offensive einer doppelt so starken französischen Armee zum Stehen brachte. Dieses Ereignis sollte ihm in Erinnerung bleiben und ihn dazu veranlassen, in „Vom Kriege“ allgemeine theoretische Schlüsse daraus zu ziehen. Die große Bedeutung, welche solche persönlichen Erlebnisse für seine Theorie hatten, zeigt sich darin, dass er zur Begründung seiner These, „die verteidigende Form des Kriegführens ist an sich stärker als die angreifende“, unter anderem darauf verweist, dass dies in der Natur der Sache läge und von der Erfahrung tausendfältig bestätigt werde.340 Zu einer interessanten Feststellung bezüglich der Erfahrungshintergründe der Clausewitzschen These gelangt Bernhardi:
337
Vgl. Dietmar Schössler: Das Wechselverhältnis von Theorie und Praxis bei Carl von Clausewitz. in: Archiv für Geschichte der Philosophie, 71. Band 1989, Heft 1, Berlin 1989, S. 40 Ebenda S. 42 339 Vgl. Schössler: Carl von Clausewitz. a.a.O., S. 21 340 Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 615 338
6 Ätiologie der Clausewitzschen These
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„Ich habe den Eindruck gewonnen, daß er (Clausewitz) sich dadurch zu einem Trugschluß hat verleiten lassen, daß die Grundanschauung, von der er ausgeht, nicht ganz einwandfrei gefaßt ist. Wie mir scheinen will, ist er auf diesen Weg gedrängt worden durch den Eindruck zweier gewaltiger Erfahrungen, die ihm persönlich nahegerückt und wohl geeignet waren, nicht nur die Phantasie gefangen zu nehmen, sondern auch das Urteil zu bestechen: nämlich unter dem Eindruck des Siebenjährigen Krieges, der die schließliche Überlegenheit zäher Defensive zu beweisen schien, und des Feldzuges von 1812 in Russland, in dem der gewaltigste Angriffsfeldherr der neueren Zeit sehr mittelmäßigen Strategen unterlag. Für diese scheinbar so überzeugende Lehre der Erfahrung hat er die theoretische Erklärung gesucht und ist damit zu einer Reihe von Schlüssen gelangt, die die klaren und großen Züge seiner sonstigen Ideenwelt nicht überall aufweisen.“341
Mit dem Russlandfeldzug von 1812 verweist Bernhardi auf ein weiteres Beispiel der praktischen Kriegserfahrung von Clausewitz.342 Er muss als eine der zentralen Erfahrungsgrundlagen für seine Überzeugung von der größeren Stärke der Verteidigung betrachtet werden. In seiner Analyse des Feldzugs von 1812 formuliert Clausewitz erstmals die These, dass die Angriffsform die schwächere und die Verteidigungsform die stärkere im Kriege sei, wobei erstere aber die positiven, also die größeren und entscheidenderen, letztere nur die negativen Zwecke habe, wodurch seiner Ansicht nach das Bestehen der beiden Formen nebeneinander erst möglich werde.343 Der Hinweis auf den Siebenjährigen Krieg verdeutlicht, dass Clausewitz für die Entwicklung seiner theoretischen Grundsätze nicht nur die zeitgenössische militärische Praxis berücksichtigte, sondern auch die Tiefe des historischen Erfahrungsraumes mit in seine Betrachtungen einbezog. Dabei waren die Feldzüge Friedrichs II., die er sorgfältig studierte, analysierte und interpretierte, von ganz besonderem Interesse für ihn. General von Caemmerer hebt hervor, Clausewitz denke im allgemeinen bei seiner Lehre von der Verteidigung überall an das ewig mustergültige Beispiel Friedrichs des Großen, dessen wundersame Verbindung von rücksichtsloser Kühnheit und weiser Mäßigung ihm im Kampfe gegen drei Großmächte den Sieg verbürgt hätte.344 6.3 Kritische Distanz zum herrschenden Denken seiner Zeit Als weiterer wichtiger Hintergrund für die Entstehung der Clausewitzschen These von der größeren Stärke der Verteidigung muss die Tatsache berücksichtigt 341
Bernhardi a.a.O., S. 400 Clausewitz hatte den Feldzug von 1812 als Oberstleutnant in russischen Diensten miterlebt. 343 Vgl. Herberg-Rothe: Das Rätsel Clausewitz. Politische Theorie des Krieges im Widerstreit, S. 189 344 Vgl. Caemmerer a.a.O., S. 99 342
124II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ werden, dass diese Behauptung der damals „herrschenden Meinung“345 völlig entgegenlief. In der Tradition der Angriffsbevorzugung Friedrichs II. (welche man in unzulässiger Weise zum Dogma erhoben hatte) und unter dem Eindruck der Napoleonischen Offensiverfolge betrachtete man den Angriff als die bei weitem überlegene Form des Kriegführens. Clausewitz bringt dies an verschiedenen Stellen seines Werkes zum Ausdruck. So weist er darauf hin, dass man sich trotz des großen Vorteils, welchen die Gegend dem Verteidiger biete, zur Stunde noch nicht von den „alten Begriffen“ hätte losmachen können, als sei eine angenommene (d.h. eine verteidigende) Schlacht schon eine halb verlorene.346 An anderer Stelle spricht er von der „dunklen Vorstellung“ derjenigen, die beim Angriff nur an Mut, Willenskraft und Bewegung, bei der Verteidigung aber an Ohnmacht und Lähmung denken würden, weshalb für sie (fälschlicherweise) der Angriff gegenüber der Verteidigung so leicht und unfehlbar erschiene, und jene gegenüber dem Angriff eine so schlechte Rolle spiele.347 Man ging sogar soweit, die Verteidigung nicht als selbständige Gefechtsart anzuerkennen sondern als minderwertige Kampfhandlung dem Angriff unterzuordnen.348 Dieser einseitig doktrinären Vorstellung entgegenzutreten, war dringendes Anliegen des preußischen Kriegsphilosophen. „Große Beispiele sind die besten Lehrmeister, aber freilich ist es schlimm, wenn sich eine Wolke von theoretischen Vorurteilen dazwischenlegt, denn auch das Sonnenlicht bricht und färbt sich in Wolken. Solche Vorurteile, die sich in mancher Zeit wie ein Miasma bilden und verbreiten, zu zerstören, ist eine dringende Pflicht der Theorie, denn was menschlicher Verstand fälschlich erzeugt, kann auch bloßer Verstand wieder vernichten.“349
345
Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 615 Vgl. Vom Kriege. VI, 2, S. 620 347 Vgl. Vom Kriege. VI, 5, S. 635 348 Vgl. dazu Adolf Leinverber: Mit Clausewitz durch die Rätsel und Fragen, Irrungen und Wirrungen des Weltkrieges. Berlin 1926, S. 200 f. Leinverber weist darauf hin, dass vor dem I. Weltkrieg im deutschen Heere die Verteidigung als minderwertig betrachtet wurde. Dies habe selbst in Situationen gegolten, wo der strategische Zweck es gebieterisch erfordert hätte, sich zu verteidigen. Ähnlich, fährt er fort, sei es im preußischen Heer 1806 gewesen, wo man angegriffen habe, wo man hätte verteidigen sollen. Denn das hätte man ja hunderttausendmal gelehrt, empfohlen und gepredigt, dass der Angriff im Kriege immer das beste sei und große Vorteile gebe, und dass den preußischen Truppen diese Gefechtsform ganz besonders zusage. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass erstmals 1933 in der von Beck und Stülpnagel entworfenen Vorschrift „Truppenführung“ (Hdv 300/1) „der Abwehrgedanke aus der bislang vorherrschenden funktionalen Unterordnung unter den Angriffsgedanken herausgelöst“ und somit „der Abwehr-Begriff erstmals gleichrangig neben dem Angriffs-Begriff verwendet wurde“. Vgl. dazu Dietmar Schössler: Die Weiterentwicklung der Militärstrategie, Das 19. Jahrhundert. in: Strategiehandbuch Band 1, Herford Bonn 1990, S. 52 f 349 Vom Kriege. IV, 11, S. 473 346
6 Ätiologie der Clausewitzschen These
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Somit muss Clausewitz’ These von der stärkeren Form des Kriegführens auch als „Opposition gegen die anerkannte Autorität“ (Paret)350 verstanden werden. Daher stellt sich die Frage ob der Kriegsphilosoph (eventuell aus rhetorischen Gründen, um seine Kritik an der herrschenden Meinung besonders deutlich zu machen) nicht möglicherweise in das gegenteilige (und damit ebenso fragwürdige) Extrem verfiel, indem er die Verteidigung als die stärkere Form des Kriegführens bezeichnete. Beck jedenfalls scheint nicht dieser Meinung gewesen zu sein, wenn er sich in diesem Zusammenhang folgendermaßen äußert: „Es ist bedauerlich, daß unsere militärischen Theoretiker, selbst die, welche Clausewitz für sein Verständnis der Größe Napoleons loben, den Teil seines Werkes ablehnen, in dem er zugunsten der Defensive spricht. Wenn Clausewitz zu einer Zeit, in der der napoleonische Offensivgedanke seine glänzendsten Erfolge gefeiert hat, trotzdem der Verteidigung den Vorzug einräumt, so geschieht es, weil er eine tragische Periode, aus der ein unbefangener Geist die verschiedensten Lehren ziehen kann, mit weitem Blick übersehen hat.“351
Vielleicht aber, könnte man mutmaßen, hat Clausewitz’ These von der größeren Stärke der Verteidigung ihren Ursprung gerade nicht darin, dass er jene Periode mit weitem Blick übersehen hat, sondern genau im Gegenteil, nämlich in der Tatsache, dass er (wie auch Bernhardi andeutet) beeindruckt von den großen Ereignissen seiner Zeit (vgl. Russlandfeldzug 1812, Volksverteidigungskrieg in Spanien 1808-1814) und unter dem Druck, den einseitigen und falschen Vorstellungen seiner Zeitgenossen entgegentreten zu müssen, besonders stark auf die jeweiligen Umstände seiner Epoche fixiert war. 6.4 Theoretische Hintergründe Zum Abschluss muss auf einen theoretischen Aspekt eingegangen werden, der Clausewitz möglicherweise zur Formulierung seiner These von der größeren Stärke der Verteidigung mit angeregt, oder in welchem er zumindest eine Bestä350
Vgl. Paret a.a.O., S. 434. Paret betont in diesem Zusammenhang, Clausewitz sei von Jugend auf skeptisch gegenüber der Autorität gewesen, die Regeln für militärische, politische und soziale Beziehungen festgelegt habe. Er habe diese Regeln verworfen, weil er sie für nutzlos hielt und, was noch schwerer wog, weil sie die Wirklichkeit der Beziehungen, auf die sie angewandt werden sollten, verfälscht hätten. Paret kommt zu dem Schluss, dass nicht nur das Streben nach Erkenntnis, sondern auch Opposition gegen die anerkannte Autorität Triebfeder und bestimmender Faktor seiner Analysen gewesen sei. 351 Ludwig Beck: Studien. Herausgegeben und eingeleitet von Hans Speidel, Stuttgart 1955, S. 189. Dabei scheint Beck allerdings völlig zu übersehen, dass Clausewitz keineswegs der Verteidigung den Vorzug einräumte, sondern ganz im Gegenteil im Angriff die erstrebenswerte und zu bevorzugende Form des Kriegführens sah. Dass er die Verteidigung als die „stärkere Form“ betrachtete, darf damit nicht verwechselt werden.
126II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ tigung derselben erblickt haben könnte. Clausewitz stellte sich die Frage, wie der empirisch relativ häufig zu beobachtende „Stillstand im kriegerischen Akt“352 erklärt werden kann. Dabei kommt er zur Schlussfolgerung, dass ein sehr großer Teil der Stillstandsperioden im Kriege (ohne dass man dabei auf einen inneren Widerspruch schließen müsse) mit der sehr großen Überlegenheit der Verteidigung erklärt werden könnte.353 Es lässt sich daher vermuten, dass Clausewitz bei der Ausarbeitung seiner These (von der größeren Stärke der Verteidigung) nicht ganz unbeeinflusst war vom Wunsch, eine Antwort auf diese für ihn sehr bedeutsame Frage zu finden und dieser Wunsch möglicherweise zum Vater seines theoretischen Gedanken geworden sein könnte.354 7
Mögliche Auswirkungen der Tatsache, dass das Werk „Vom Kriege“ unvollendet blieb
7
Mögliche Auswirkungen des unvollendeten Werkes „Vom Kriege“
Als Clausewitz am 16. November 1831 an der Cholera stirbt, hinterlässt er sein Hauptwerk „Vom Kriege“ unvollendet. Lediglich das erste Kapitel des ersten Buches bezeichnet er in einem seinem Nachlasse entnommenen, ebenfalls unvollendeten Aufsatz sehr neuen Datums als vollendet. Dieses Kapitel werde wenigstens dem Ganzen den Dienst erweisen, die Richtung anzugeben, die er überall hätte halten wollen, betont er.355 Über den Rest seines Werkes äußert sich Clausewitz sehr kritisch:
352
Vgl. Vom Kriege. I, 1, S. 201 Vgl. dazu Vom Kriege. I, 1, S. 205, sowie III, 16, S. 406 ff 354 Vgl. dazu auch die Überlegungen von Smith. Smith, Hugh: On Clausewitz. A Study of Military and Political Ideas, New York 2005, S. 151 ff. Obwohl es in bestimmten Fällen sicherlich denkbar ist, dass der Angreifer von der Stärke der gegnerischen Verteidigung abgeschreckt, seine Angriffshandlungen unterlässt oder hinauszögert und sich somit bestimmte Fälle des „Stillstandes im kriegerischen Akt“ (und auch der Kriegsvermeidung insgesamt) erklären lassen, so eignet sich dieses Erklärungsmuster kaum zur Verallgemeinerung. Es lassen sich eine Vielzahl weiterer Ansätze zur Erklärung, bestimmter Stillstandsphasen im Kriege finden. Eine Reihe dieser Faktoren wurde von Clausewitz selbst aufgezeigt, wobei der Faktor „Friktion“ einen der bedeutendsten darstellt. Weiterhin ist zu bedenken, dass das Nichtagieren im Kriege in erster Linie ein Indiz dafür darstellt, dass beiden Seiten noch nicht nachhaltig genug an einer Entscheidung gelegen ist. Sei es, dass eine Entscheidung nicht so dringend benötigt wird, dass man sich bessere Voraussetzungen für eine Auseinandersetzung in der Zukunft erwartet oder dass man sich allgemein für eine Entscheidung zu schwach fühlt, unabhängig davon ob diese offensiv oder defensiv ausgetragen würde. Die Schwäche zum Entscheidungskampf im Allgemeinen erklärt mehr als die Stärke der Verteidigung in bestimmten Fällen den „Stillstand im kriegerischen Akt“. 355 Vgl. Vom Kriege. Nachricht, S. 181. Dieser unvollendete, nicht genau datierte Aufsatz muss als die wohl neueste und letzte Anmerkung des Kriegsphilosophen zu seinem Werk „Vom Kriege“ betrachtet werden. 353
7 Mögliche Auswirkungen des unvollendeten Werkes „Vom Kriege“
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„Das Manuskript über die Führung des großen Krieges, welches man nach meinem Tode finden wird, kann, so wie es da ist, nur als eine Sammlung von Werkstücken betrachtet werden, aus denen eine Theorie des großen Krieges aufgebaut werden sollte. Das meiste hat mich noch nicht befriedigt, und das sechste Buch ist als ein bloßer Versuch zu betrachten; ich würde es ganz umgearbeitet und den Ausweg anders gesucht haben.“356
Die Unvollendetheit seines Werkes, besonders aber die ausgesprochen selbstkritische Beurteilung des sechsten Buches von der „Verteidigung“, geben Anlass zu der Frage, ob Clausewitz, wenn ihn nicht ein früher Tod ereilt hätte, möglicherweise gewisse Änderungen an seiner Lehre von der stärkeren Form des Kriegführens vorgenommen hätte. Es muss daher geklärt werden, inwiefern der Philosoph auch im letzten Entwicklungsstadium seiner Gedanken der These von der größeren Stärke der Verteidigung treu blieb. Zu bedenken ist hierbei, dass Clausewitz, als er Anfang 1827 seine Arbeit zum ersten Male „abgeschlossen“ hatte357, damit begann, das gesamte Werk umzuarbeiten. Zwei Gedanken lagen dieser Umarbeitung zu Grunde. Zum einen wollte er die „doppelte Art des Krieges“ überall schärfer im Auge behalten. Dabei sollten hinsichtlich des Zwecks zwei Arten des Krieges unterschieden werden. Einmal der Krieg, wo der Zweck das „Niederwerfen des Gegners“ ist, und zum anderen der Krieg, bei dem es lediglich darum geht, an den Grenzen des Reiches „einige Eroberungen“ zu machen. Zweitens wollte Clausewitz den Gedanken stärker in sein Werk integrieren, dass der Krieg nichts sei als die fortgesetzte Staatspolitik mit anderen Mitteln.358 Dadurch sollte die permanente Durchdringung des ganzen kriegerischen Aktes durch die Politik stärker zum Ausdruck gebracht werden. Bis zu seinem Tode konnte Clausewitz nur Teile des ersten, zweiten und achten Buches im Sinne dieser beiden Grundgedanken umarbeiten. Aus der Art dieser Gedanken scheint sich jedoch schon zu ergeben, dass es sich bei dieser Umarbeitung nicht etwa um eine Abkehr von bestimmten seiner Grundanschauungen handeln konnte, sondern lediglich um eine Vertiefung und Akzentuierung derselben in einer bestimmten Richtung. So warnt beispielsweise Malmsten Schering davor, diese „Wendung“ als grundsätzliche Wandlung der Grundanschauungen des Kriegsphilosophen misszuverstehen, also etwa anzunehmen, er habe seine bisherigen Lehren geändert. Das sei keineswegs der Fall. Clausewitz habe vielmehr an den grundlegenden Gedanken, die er schon frühzeitig ange356
Vom Kriege. Nachricht, S. 181 Clausewitz ließ damals eine Abschrift der ersten sechs Bücher seines Werkes erstellen. Vom siebenten Buch waren zu jener Zeit nur die Skizzen zu den einzelnen Kapiteln, vom achten Buch gar nur einzelne Kapitel entworfen. Vgl. Vom Kriege. Nachricht, S. 180 358 Vgl. Vom Kriege. Nachricht, S. 179. Die Nachricht ist genau datiert und stammt vom 10. Juli 1827. 357
128II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ nommen beziehungsweise selbst konzipiert habe, ständig festgehalten.359 Zu diesen angesprochenen Grundanschauungen muss natürlich auch seine These von der größeren Stärke der Verteidigung gerechnet werden. Auch Aron, der sich sehr ausführlich mit dieser Frage beschäftigt hatte, kommt zu einer ähnlichen Schlussfolgerung. Er betont, dass nichts in den letzten Überlegungen von Clausewitz, so wie sie im VIII. Buch und in den umgearbeiteten Kapiteln des I. Buches zum Ausdruck kämen, auf eine andere militärische Auffassung der Verteidigung, auf eine andere Rechtfertigung der innerlich größeren Kraft der Verteidigung hinweise.360 Man könnte, wenn man sich die jüngsten (letzten) Ausarbeitungen von Clausewitz vor Augen hält, sogar zu der Vermutung kommen, er habe dabei seine These von der stärkeren Form des Kriegführens noch einmal besonders deutlich machen wollen. So versucht Clausewitz in dem bereits zitierten unvollendeten Aufsatz (der letzten Anmerkung zu seinem Werk „Vom Kriege“) die grundsätzliche Bedeutung und Realisierbarkeit einer Theorie des Krieges hervorzuheben, indem er darauf verweist, dass es eine ganze Anzahl von Sätzen gebe, die sich „ohne Schwierigkeit ganz evident machen“ ließe. Als ersten dieser Sätze nennt er den, dass die Verteidigung die stärkere Form mit dem negativen Zweck, der Angriff die schwächere mit dem positiven Zweck sei.361 Auch im ersten Kapitel des ersten Buches (dem einzigen zur Vollendung gelangten Teil seines Werkes) bringt Clausewitz diese Überzeugung zum Ausdruck und zwar in besonders deutlicher Form. Er betont, dass die Überlegenheit der Verteidigung sehr groß und viel größer sei, als man sich beim ersten Anblick denke.362 Es kann daher festgehalten werden, dass, um es mit den Worten von Aron auszudrücken, die Dialektik und Dissymmetrie (ungleiche Stärke) des Angriffs und der Verteidigung für Clausewitz auch im letzten Stadium seines Denkens gültig bleibt363, und somit auch bei Vollendung seines Werkes eine Änderung diesbezüglich nicht zu erwarten gewesen wäre. 8 8
Zusammenfassung des Ergebnisses Verständnis der Clausewitzschen These: Zusammenfassung des Ergebnisses
Ziel dieses Kapitels war es, die Frage zu klären, wie Clausewitz seine These von der Verteidigung als der „an sich stärkeren Form des Kriegführens“ verstanden 359
Vgl. Malmsten Schering. a.a.O., S. 23 Vgl. Aron a.a.O., S. 239 f Vgl. Vom Kriege. Nachricht, S. 182 362 Vgl. Vom Kriege. I, 1, S. 205 363 Vgl. Aron a.a.O., S. 215 360 361
8 Zusammenfassung des Ergebnisses
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wissen wollte. Hierzu war es erforderlich insbesondere seine philosophischtheoretische Erkenntnismethode, wie auch seinen persönlichen Erfahrungshintergrund zu untersuchen. Als Ergebnis können folgende Punkte zu Begriffsbestimmung, Methode und Hintergrund seiner Argumentation festgehalten werden. 8.1 Begriffsbestimmung Mittel / Form: Für Clausewitz ist Kampf das allein wirksame Prinzip und das entscheidende Mittel im Kriege. Angriff und Verteidigung stellen für ihn die beiden Hauptformen des Kriegführens dar. Daraus folgt, dass Kampf das einzige wie auch das gemeinsame Mittel von Angriff und Verteidigung ist, womit eine Unterscheidung zwischen Angreifer und Verteidiger hinsichtlich der verwendeten Mittel nicht grundsätzlich möglich ist. Begriff / Merkmal: Clausewitz betrachtet das „Abwehren eines Stoßes“ als den Begriff der Verteidigung und das „Abwarten dieses Stoßes“ als das Merkmal derselben. Dieses Merkmal stellt für ihn das alleinige Unterscheidungskriterium zwischen Angriff und Verteidigung dar. Er macht es damit zum entscheidenden Definitionskriterium der Verteidigung. Ziel / Zweck: Das Ziel des kriegerischen Aktes liegt für Clausewitz in der Wehrlosmachung oder Niederwerfung des Gegners durch die Vernichtung seiner Streitmacht. Diese Vernichtung (nicht notwendigerweise im wörtlichen Sinne) stellt für ihn die dominierende Zielsetzung oder (mit anderen Worten) das „Hauptprinzip“ im Kriege dar. Angriff und Verteidigung als die beiden Hauptformen des Krieges beziehen sich gleichzeitig immer auch auf die Entscheidung. Aus diesen Überlegungen folgt, dass die Vernichtung der feindlichen Streitmacht für Clausewitz sowohl Zweck des Angriffs als auch Zweck der Verteidigung ist. Diese Zwecksetzung ist als einzige allen Gefechten zu Eigen und stellt gleichzeitig die wichtigste und häufig auch die einzige derselben dar. Dies bedeutet auch, dass es für Clausewitz keine Verteidigung geben kann, die sich auf den Zweck des „Erhaltens“ beschränkt. „Erobern / Erhalten“: Gemäß Clausewitz kann „Erobern“ Zweck des Angriffs bzw. „Erhalten“ Zweck der Verteidigung sein. Diese Zwecksetzung stellt jedoch keine Notwendigkeit dar, da der einzige immanente Zweck von Angriff und Verteidigung für ihn in der „Vernichtung“ der feindlichen Streitkräfte liegt. Zweck des Krieges: Dem Gegner den eigenen Willen aufzudrängen, ist gemäß Clausewitz Zweck des Krieges insgesamt, sowohl in seiner offensiven, wie auch
130II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ in seiner defensiven Ausrichtung und kann daher nicht als Unterscheidungskriterium der beiden Formen des Kriegführens herangezogen werden. „Positiver / negativer Zweck“: Clausewitz bezeichnet das „Erhalten“ (eines Ortes oder Gegenstandes) als den („bloß“) negativen Zweck der Verteidigung, während er das „Erobern“ (eines Ortes oder Gegenstandes) als den („höheren“) positiven Zweck des Angriffs betrachtet und hinzufügt, dass jener die eigenen Kriegsmittel vermehre, das „Erhalten“ aber nicht. Der positive Zweck des Angriffs muss daher gemäß Clausewitz in der „Vermehrung der eigenen Kriegsmittel“ und darf nicht in der Vernichtung der feindlichen Streitkräfte gesehen werden. „Vernichten“ stellt für Clausewitz sowohl Zweck des Angriffs als auch Zweck der Verteidigung dar und ist somit eine Gemeinsamkeit nicht aber ein Unterscheidungsmerkmal der beiden Formen des Kriegführens. „Reiner Widerstand“: Auch in der passivsten Form der Verteidigung, dem sogenannten „reinen Widerstand“, bleibt für Clausewitz die Vernichtung der feindlichen Streitkraft, und damit die Entscheidung, immer Zweck derselben. Wechselwirkung: Zwischen Angriff und Verteidigung besteht für Clausewitz eine enge Verbindung und Wechselwirkung. Diese wird in seiner Forderung nach Aktivität auch und gerade für den Verteidiger wie auch in der Tatsache, dass er den Gegenangriff als notwendigen Bestandteil bereits in den Begriff der Verteidigung aufnimmt, besonders deutlich. Die Verteidigung, ist für Clausewitz eine stärkere Form des Krieges, um damit den Sieg zu erringen und nach dem gewonnenen Übergewicht zum Angriff, d.h. zum positiven Zweck des Krieges, überzugehen. Einen schnellen, kräftigen Übergang zum Angriff - das „blitzende Vergeltungsschwert“ – bezeichnet er als den glänzendsten Punkt der Verteidigung. Wer ihn sich nicht gleich hinzudenke, oder vielmehr (und hierin wird die enge Verzahnung von Angriff und Verteidigung besonders deutlich), wer ihn nicht gleich in den Begriff der Verteidigung aufnehme, dem werde die Überlegenheit der Verteidigung niemals einleuchten. So fordert Clausewitz, die in der Verteidigung gewonnene Überlegenheit auszunutzen, und „unter dem Schutz dieses Vorteils“ dem Feinde durch einen Gegenangriff den Stoß zurückzugeben. In der Möglichkeit, nach einem in der Verteidigung erfolgreich abgewehrten Angriff des Gegners unmittelbar zum Gegenstoß überzugehen, solange der Feind noch angeschlagen, unkoordiniert und seine Abwehr noch unvorbereitet ist, erkennt er eine ganz wesentliche Stärke, die es wann immer möglich auszunutzen gelte. Dadurch, dass Clausewitz den Gegenangriff als notwendigen Bestandteil in den Begriff der Verteidigung aufnimmt, während er andererseits den „Akt des
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Angriffs“ als einen „vollständigen Begriff“ bezeichnet, in dem die Verteidigung an sich nicht nötig sei, macht er den Angriff zu einem vollständigeren Begriff als die Verteidigung, was zu Widersprüchen mit seiner Vorstellung führen muss, nach der die Begriffe Angriff und Verteidigung „wahre logische Gegensätze“ bilden. Seine Vereinnahmung des Gegenangriffs durch den Begriff der Verteidigung bedarf daher einer weiteren Prüfung. Relativität: Clausewitz verweist darauf, dass die Verteidigung im Kriege nur relativ ist, weil beispielsweise in einem verteidigenden Feldzug angriffsweise geschlagen werden kann, und er macht damit klar, dass von Angriff und Verteidigung sinnvollerweise nur im Hinblick auf eine jeweils anzugebende Betrachtungsebene (z. B. die Ebene der Taktik oder die strategische Ebene) gesprochen werden kann. 8.2 Methode Logik: Bestimmend für den Theorieansatz von Clausewitz ist seine streng logisch fundierte Methode der Analyse. Die Clausewitzsche Theorie appelliert geradezu an ein logisches Durchdenken jedweder Fragestellungen und Probleme. Logik bedeutet für Clausewitz die Erfüllung der immanenten Denkgesetzlichkeit durch formal richtiges (folgerichtiges) Denken (formale Logik). Hierzu fordert er insbesondere die Verwendung klarer Begriffe und präziser Definitionen, die sich mit dem Gegenstand, auf welchen sie sich beziehen, in seiner Realität decken (materielle Logik). Diese Forderung nach logischer Konsistenz macht Clausewitz an verschiedenen Stellen seines Werkes deutlich und betont diese insbesondere hinsichtlich der Ableitung theoretischer Erkenntnisse aus der Kriegsgeschichte. Logische Schlüssigkeit und die Verwendung präziser Definitionen strebt Clausewitz insbesondere auch für die Begriffe und das Verhältnis von Angriff und Verteidigung an. Diese bilden für ihn „wahre logische Gegensätze“, wobei der eine das Komplement des anderen werde, und aus dem einen schon der andere hervorgehe. Hierin zeigt sich die enge Verknüpfung seines logischen Ansatzes mit der Dialektik, als der zweiten wesentlichen Denkstruktur seiner Methode. Dialektik: Für das Verständnis der Clausewitzschen Theorie ist die dialektische Qualität seines Denkens und seiner Methode von entscheidender Bedeutung. Dies gilt insbesondere für seine Konzeption des Verhältnisses von Angriff und Verteidigung. Die Antithese Angriff - Verteidigung kann als eine der wesentlichsten dialektischen Beziehungen in den Theorien von Clausewitz betrachtet werden. Dies wird besonders deutlich in seiner Formulierung von der Verteidi-
132II. Kapitel: Clausewitzsche These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ gung als der „stärkeren Form mit dem negativen Zweck“ und dem Angriff als der „schwächeren Form mit dem positiven Zweck“. Im Sinne von Clausewitz bedeutet Dialektik vor allem Einheit der Gegensätze, Blick auf das kleinste Detail bei gleichzeitiger Erfassung des Gesamtzusammenhangs, und fortschreitende Entwicklung eines Gedankens vom Einfachen zum Zusammengesetzten in Sätzen und Gegen-Sätzen. Interpretation: Logik und Dialektik als prägende Kennzeichen des Clausewitzschen Denkens und seiner Methode, sind wie zwei sich wechselseitig ergänzende Seiten einer Medaille zu betrachten. Für das Ableiten kriegstheoretischer Erkenntnisse fordert Clausewitz von sich und anderen logische Konsistenz für jedes einzelne Argument. Der gleichzeitig von Clausewitz verfolgte Ansatz einer ganzheitlich-dialektischen Betrachtungsweise darf in diesem Zusammenhang nicht als Ersatz für folgerichtiges Denken missverstanden werden. Die Argumentation des Kriegsphilosophen zur Begründung seiner These von der Verteidigung als der stärkeren Form des Kriegführens ist daher im Folgenden sowohl hinsichtlich ihrer Ganzheitlichkeit als auch hinsichtlich ihrer logischen Stringenz zu untersuchen. Grad der Verbindlichkeit: Weder eine Interpretation als ausnahmslos gültiges Gesetz noch eine solche als unverbindliche und völlig frei interpretierbare Meinungsäußerung können der Clausewitzschen These von der größeren Stärke der Verteidigung gerecht werden. Eine Antwort muss vielmehr zwischen diesen beiden Extremvorstellungen gesucht werden. Clausewitz betrachtet seine These als einen Grundsatz, welchen er primär auf das Wesen des Krieges bezieht und in der weit überwiegenden Mehrzahl seiner Erscheinungsformen, das heißt in der Wirklichkeit des Krieges, auch für zutreffend hält. Er betrachtet seine These als einen im Wesen des Krieges liegenden Grundsatz, der sich von einem Gesetz nur insofern unterscheidet, als dessen Ausprägung auf der Erscheinungsebene unterschiedlich stark sein kann. Für die weitere Analyse ist die These des Kriegsphilosophen daher im Sinne eines Grundsatzes zu untersuchen und zu prüfen, inwiefern sie in dieser Hinsicht mit der Wirklichkeit des Krieges zu vereinbaren ist. Häufigkeit des Sieges: Clausewitz trifft mit seiner These von der Verteidigung als der stärkeren Form des Kriegführens keine Aussage über die empirische Verteilung der Häufigkeit von Sieg oder Niederlage zwischen Angreifer und Verteidiger. Er will mit seiner These lediglich deutlich machen, dass der Verteidiger durch die Wahl der (seiner Meinung nach) stärkeren Form des Kriegführens einen zusätzlichen Vorteil beziehungsweise eine zusätzliche Stärke erhält. Jene ist selbstverständlich als ein Faktor im Produkt des Sieges zu be-
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trachten und stellt seiner Theorie gemäß einen sehr wichtigen Grundsatz im Resultat einer kriegerischen Auseinandersetzung dar. Sie ist jedoch gleichzeitig nur einer unter vielen Faktoren, welche den Ausgang im Kriege beeinflussen können und lässt daher für sich betrachtet noch keine Aussage über deren letztendliches Ergebnis zu. Anspruch auf zeitlose Gültigkeit: Clausewitz´ These von der größeren Stärke der Verteidigung muss in den Kontext seines kriegstheoretisches Erkenntnisstreben nach dem unveränderlichen Wesen des Krieges eingeordnet werden. Damit macht Clausewitz diese These zu einem Kernelement seiner Philosophie mit dem Anspruch auf zeitübergreifende Gültigkeit. Die Argumentation des Kriegsphilosophen zur Begründung seiner These unterstreicht diesen Anspruch zusätzlich, da der Grossteil seiner Argumente überhaupt nur in diesem Kontext zu verstehen ist. Ebenenspezifische Einordnung: Clausewitz bezieht seine These von der größeren Stärke der Verteidigung sowohl auf die Ebene der Taktik als auch auf die übergeordnete Ebene der Strategie. Die zur Begründung verwendeten Argumente sind hierbei für beide Ebenen weitgehend deckungsgleich und lediglich im Bereich der Strategie etwas breiter aufgestellt. Clausewitz berücksichtigt hierbei auch die Wechselwirkung zwischen beiden Ebenen, d.h. die Besonderheiten der einen Gefechtsart, eingebunden in den übergeordneten Kontext der jeweils anderen. Auf das Feld der Politik überträgt Clausewitz seine Theorie jedoch nicht, da für ihn der Krieg als Mittel der Politik Gegenstand der Betrachtung ist, nicht jedoch die Politik als solche. Politische Herausforderung: Herausgefordert durch die revolutionäre Kriegführung Frankreichs stellt Clausewitz das ursprüngliche Theorie-Praxis-Konzept auf den Kopf und versucht insbesondere aus der revolutionären Praxis des Krieges Anforderungen an die Theorie abzuleiten. Clausewitz kommt dabei sehr frühzeitig zum Abschluss seiner zentralen inhaltlichen Gedanken, welche er konsequent beibehält und in seinem Werk „Vom Kriege“ lediglich weiter entwickelt. Dies gilt auch für seine These von der größeren Stärke der Verteidigung, die sich bereits in der „Strategie von 1804“ andeutet und sich von da an immer weiter verfestigt. 8.3 Hintergrund Eigene Kriegserfahrung: Persönliche Kriegserlebnisse spielen für Clausewitz und die Entwicklung seiner Theorie eine entscheidende Rolle und wirken prä-
134 gend auf sein Verständnis vom Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung. Der Rhein-Feldzug (1794) als Erlebnis in früher Jugend wie auch der Russlandfeldzug (1812), an dem Clausewitz in russischen Diensten teilgenommen hatte, sind hierbei als empirische Basis seiner Theoriebildung im Besonderen zu nennen. Distanz zum herrschenden Denken seiner Zeit: Clausewitz´ These von der größeren Stärke der Verteidigung muss im Kontext einer einseitigen und doktrinären Angriffsbevorzugung seiner Zeit gesehen werden. Sie begreift sich auch als bewusste Opposition gegen das herrschende Denken seiner Zeit. Theoretische Hintergründe: Clausewitz versucht seine These von der Verteidigung als der stärkeren Form des Kriegführens mit anderen kriegstheoretischen Fragestellungen in Verbindung zu bringen. Er glaubt mit dieser Erkenntnis beispielsweise eine Erklärung für das in der Praxis häufig zu beobachtende Phänomen des „Stillstandes im kriegerischen Akt“ gefunden zu haben. Diese (vermeintliche) Plausibilität mag ihn zusätzlich hinsichtlich der Richtigkeit seiner These bestärkt haben. Unvollendetheit seines Werkes: Auch im letzten Stadium seines Denkens hält Clausewitz an den zentralen inhaltlichen Grundgedanken seines Werkes fest. Seine These von der größeren Kraft der Verteidigung wird durch die von ihm geplante und in Teilen begonnene Umarbeitung seines Werkes ausdrücklich nicht in Frage gestellt.
8 Zusammenfassung des Ergebnisses
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III. Kapitel: Kriegsgeschichtlich / empirische Betrachtung der Clausewitzschen These III. Kapitel: Kriegsgeschichtlich / empirische Betrachtung Im vorliegenden Kapitel wird die Clausewitzsche These von der Verteidigung als der „an sich stärkeren Form des Kriegführens“ auf ihre Vereinbarkeit mit der Wirklichkeit des Krieges untersucht. Zwei in der Praxis wiederkehrende kriegstheoretische Phänomene erscheinen hierbei geeignet, die Gedanken des preußischen Kriegsphilosophen in Frage zu stellen. Der Angriff aus Schwäche und der Präventivangriff. Beide Phänomene lassen sich mit dem Clausewitzschen Theoriegebäude nicht nur nicht erklären sondern stellen dieses direkt in Frage. Daher sollen beide Phänomene jeweils anhand eines kriegsgeschichtlichen Beispiels näher untersucht und bewertet werden. Als Resultat aus Kapitel 2 wird dazu hinsichtlich des Verständnisses der Clausewitzschen Gedanken von folgender Grundüberlegung ausgegangen: Für Clausewitz ist die Verteidigung die „an sich stärkere Form des Kriegführens“. Die stärkere Form zu sein heißt für ihn, dass sich aus der Wahl dieser Form eine zusätzliche Stärke beziehungsweise ein zusätzlicher Vorteil ergibt, der dazu beiträgt, dass bei Wahl der verteidigenden Kriegsform der Sieg leichter zu erreichen, außerdem wahrscheinlicher und um so sicherer wird.364 Das bedeutet nicht (wie im zweiten Kapitel bereits dargelegt wurde), dass der Verteidiger empirisch häufiger oder gar immer siegen würde, oder dass die verteidigende Form eine notwendige Bedingung militärischen Erfolges wäre. Es bedeutet aber, dass man, zur Abwehr weniger Kräfte brauche als zum als zum Angriff365, woraus sich entsprechende Konsequenzen für das praktische Handeln ergeben. Alle Vorteile, welche der Verteidiger in der Natur der Lage finde, könne der Angreifer nur durch Überlegenheit gutmachen, betont Clausewitz. Fehle also dem Angriff die physische Überlegenheit, so müsse eine moralische da sein, 364
Vgl. dazu: „Schon früher ist gesagt worden, was die Verteidigung überhaupt ist: Nichts als die stärkere Form des Krieges, vermittelst welcher man den Sieg erreichen will, ...“ Vom Kriege. VI, 5, S. 633. „..., daß die Verteidigung nichts sei als die stärkere Form des Krieges, um den Gegner um so sicherer zu besiegen;“ Vom Kriege. VI, 8, S. 649. „Wir sagen also: die Verteidigung ist die stärkere Form des Krieges, um den Gegner leichter zu besiegen, ...“ Vom Kriege. VI, 8, S. 649. „... wir behaupten unbedingt, daß in der Kriegsform, welche wir Verteidigung nennen, nicht allein der Sieg wahrscheinlicher sei, sondern auch eben die Größe und Wirksamkeit erlangen könne wie beim Angriff, ...“ Vom Kriege. VI, 9, S. 669 365 Vgl. Metzsch a.a.O., S. 27
J. Schmid, Die Dialektik von Angriff und Verteidigung, DOI 10.1007/978-3-531-93037-4_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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III. Kapitel: Kriegsgeschichtlich / empirische Betrachtung
um die Nachteile der Form aufzuwiegen, und wo auch diese fehle, sei der Angriff nicht motiviert und werde nicht glücklich sein.366 Clausewitz setzt physische oder moralische Überlegenheit voraus, bevor ein Angriff mit Aussicht auf Erfolg erst geführt werden kann und sinnvoller Weise auch erst geführt werden darf. Nur wer stark genug zu sein glaube, sich der schwächeren Form zu bedienen, der dürfe den (im Angriff liegenden) größeren Zweck wollen, folgert er. Wer sich den geringeren Zweck (der Verteidigung) setze, könne dies nur tun, um den Vorteil der stärkeren Form zu genießen.367 Der Schwächere hat sich, so Clausewitz, der Verteidigung als der stärkeren Form zu bedienen, weil (und solange) er dieser seiner Schwäche wegen bedarf. Erst dann, wenn er stark genug ist, sich den positiven Zweck vorzusetzen, darf (und muss) er diese Form verlassen und zum Angriff übergehen.368 Dies bedeutet, dass gemäß der Clausewitzschen Vorstellung eine Armee, welche zum Angriff zu schwach ist, sehr wohl in der Lage sein kann, erfolgreich zu verteidigen. Für den umgekehrten Fall - dass eine Armee, die für die Verteidigung zu schwach ist, erfolgreich angreift - gilt dies seiner Theorie gemäß nicht, weil sich für ihn der Erfolg der Verteidigung ganz wesentlich aus der größeren Stärke ihrer Form ergibt und der Angriff dieser Stärke entbehrt. Des weiteren folgt aus den Überlegungen von Clausewitz, dass derjenige, der in der Lage ist, erfolgreich anzugreifen, auch in der Lage sein muss, sich mit Erfolg zu verteidigen, denn, so betont er, solange man für die schwächere Form noch Kräfte genug habe, müssten diese um so mehr für die stärkere ausreichen.369 Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Reflexionen des preußischen Kriegsphilosophen ist daher die Frage zu stellen, ob diese Vorstellungen mit der praktischen Wirklichkeit des Krieges zu vereinbaren sind. Diese Frage erscheint umso bedeutsamer, als (wie im ersten Kapitel bereits dargestellt wurde) seine diesbezüglichen Überlegungen in direktem Gegensatz zu den Ansichten einer bedeutenden Anzahl namhafter Autoritäten stehen. Im Folgenden soll daher die
366
Vgl. Vom Kriege. VII, 15, S. 903 f Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S 617. Vgl. auch Vom Kriege. VIII, 9, S. 1013: „Es kommt also alles darauf an, ob sich der Angreifende stark genug fühlt, nach diesem großen Ziel zu streben.“ 368 Vgl. dazu Vom Kriege. VI, 1, S. 615: „Ist die Verteidigung eine stärkere Form des Kriegführens, die aber einen negativen Zweck hat, so folgt von selbst, daß man sich ihrer nur solange bedienen muß, als man sie der Schwäche wegen bedarf, und sie verlassen muß, sobald man stark genug ist, sich den positiven Zweck vorzusetzen.“ 369 Vgl. Vom Kriege. VII, 2, S. 872. Dieser Sachverhalt wird auch in folgenden Äußerungen des Kriegsphilosophen deutlich: „Es gibt strategische Angriffe, die unmittelbar zum Frieden geführt haben - aber die wenigsten sind von dieser Art, und die meisten führen nur bis zu einem Punkt, wo die Kräfte noch eben hinreichen, sich in der Verteidigung zu halten und den Frieden abzuwarten.“ „..., denn solange die schwächere Form stark genug bleibt, ist man es ja für die stärkere um so mehr.“ Vom Kriege. VII, 5, S. 879 f 367
1 Angriff aus Schwäche: Offensive am Isonzo 1917
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Clausewitzsche Theorie anhand zweier kriegsgeschichtlicher Beispiele auf ihre Vereinbarkeit mit der praktischen Wirklichkeit des Krieges untersucht werden. 1
Angriff aus Schwäche: Offensive am Isonzo 1917
1.1 Ein Sieg 24. Oktober 1917, zwei Uhr: Heftiges Trommelfeuer und Gasbeschuss leiten die deutsch-österreichische Offensive am Isonzo ein. Es ist der Auftakt zur zwölften Isonzoschlacht an der Alpenfront des Ersten Weltkrieges. Elf italienische Angriffe in zwei Jahren waren dieser ersten Offensive der Mittelmächte vorausgegangen. Keiner führte zu einem Durchbruch der österreichisch-ungarischen Stellungen. Trotz größter Verluste konnten nur marginale Geländegewinne erzielt werden.370 Was den Italienern versagt geblieben war, gelingt jetzt ihren Gegnern auf Anhieb. Im ersten Ansturm werden die italienischen Stellungen durchbrochen. Am 28. Oktober bricht die italienische Front von Flitsch bis zur Adria zusammen. Nach drei Wochen ist ein glänzender Sieg errungen, der Italien an den Rand der Kapitulation führt. Die Verluste der Italiener übersteigen alles bisher Dagewesene. Sie verlieren nahezu 800.000 Mann371 und ein Gebiet von 12.000 Quadratkilometern.372 Tausende von Geschützen, Minenwerfern und Maschi370
Ziel der Italiener war dabei die Eroberung von Triest. Mit dem Fall von Triest wäre für Österreich-Ungarn die Anlehnung seiner Front an das Meer verlorengegangen. Dies hätte eine ganz erhebliche Verlängerung der Front nach sich gezogen, wozu den Mittelmächten die Kräfte fehlten. Italien wäre infolgedessen in der Lage gewesen, seine zahlenmäßige und materielle Überlegenheit voll zur Geltung zu bringen, was zu einem beschleunigten Zusammenbruch Österreich-Ungarns und damit zu einer vorzeitigen Entscheidung des Krieges führen konnte. Die Italiener eroberten in ihren elf Offensiven ganze 335 Quadratkilometer an Boden, wobei ihr weitester Vorstoß sieben Kilometer betrug. Ihre Verluste waren dabei horrend und beliefen sich im Schnitt auf 5.400 Mann pro Quadratkilometer. Vgl. dazu Christian Zentner: Geschichte des Ersten Weltkriegs. München 1980, S. 272. In anderen Quellen werden die Verluste der Italiener am Isonzo (bis zur elften Schlacht) mit nahezu 300.000 Toten und 740.000 Verwundeten angegeben. Vgl. Anton Wagner: Die 12. Isonzoschlacht. Vom Isonzo zum Piave, München 1966, S. 194. Dazu muss dann noch eine beträchtliche Anzahl an Gefangenen und Vermissten hinzu addiert werden. 371 Die Verluste der Italiener beliefen sich nach ihren eigenen Angaben auf ca. 10.000 Tote, 30.000 Verwundete, 300.000 Gefangene (bei Tannenberg und an den Masuren waren es „nur“ jeweils 100.000 Gefangene gewesen), sowie über 400.000 Versprengte und Deserteure. An schweren Waffen verloren sie 3.152 Geschütze (die k.u.k. Armee hatte den Krieg mit nur etwa 2.000 Geschützen begonnen), 1.732 Minenwerfer, sowie 3.000 Maschinengewehre. Vgl. Alfred Krauß (General der Infanterie): Das „Wunder von Karfreit“. Im besonderen der Durchbruch bei Flitsch und die Bezwingung des Tagliamento, München 1926, S. 105 372 Vgl. Zentner a.a.O., S. 272
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III. Kapitel: Kriegsgeschichtlich / empirische Betrachtung
nengewehren, sowie riesige Mengen an Munition, Verpflegung, Bekleidung und sonstiger Ausrüstung werden von den Deutschen und Österreichern erbeutet. Zehn französische und britische Divisionen müssen zur Unterstützung nach Italien verlegt werden und fehlen in Frankreich. Nur mit letzter Kraft gelingt es, den 150 Kilometer tiefen Vorstoß der Deutschen und Österreicher am Piave zum Stehen zu bringen und den drohenden Zusammenbruch der italienischen Armee zu verhindern. Die Verluste der Mittelmächte sind demgegenüber „minimal“ und bei weitem geringer als in jeder der vorangegangenen elf Isonzoschlachten, in denen sie in der Verteidigung gekämpft hatten. 1.2 Der Entschluss Was aber war die geistige Grundlage für diesen großen Sieg? Welche Ausgangsüberlegungen standen hinter diesem Angriff? Um auf diese Fragen eine Antwort zu finden, muss man sich die Lage verdeutlichen, in der sich die österreichischungarische Armee nach der 11. Isonzoschlacht befand. Ein italienischer Durchbruch konnte zwar mit letzter Kraft und unter großen Opfern gerade noch verhindert werden, aber die Widerstandskraft und die Moral der k.u.k. Armee am Isonzo waren gebrochen, und es machten sich deutliche Zerfallserscheinungen bemerkbar. Alarmierendes Anzeichen hierfür war die hohe Zahl (20.000 Mann) an unverwundeten Gefangenen.373 In den vorangegangenen zehn Schlachten hatte die Gefangenenzahl nur einen Bruchteil davon ausgemacht. Bedenklich stimmten zudem die sehr hohen Verluste (100.000 Mann)374, die ÖsterreichUngarn in der 11. Isonzoschlacht insgesamt hatte hinnehmen müssen und die es nicht mehr ersetzen konnte. Als Ergänzung kamen fast ausschließlich nur wiedergenesene Verwundete in Frage, während die kräftemäßig ohnehin viel stärkere italienische Seite auf ein deutlich überlegenes Rekrutierungspotenzial zurückgreifen konnte.375
373
Vgl. Krauß a.a.O., S. 18, sowie Zentner a.a.O., S. 257 Bundesarchiv: Der Weltkrieg 1914 - 1918. Dreizehnter Band, Die Kriegführung im Sommer und Herbst 1917, Berlin 1942, S. 212 375 Vgl. Georg Veith: Die Isonzoverteidigung. in: Militärwissenschaftliche Mitteilungen, Ergänzungsheft 3 zum Werk „Österreich-Ungarns letzter Krieg“, Wien 1932, S. 32 f. Veith weist darauf hin, dass das „Menschenmaterial“, das 1917 auf Seiten Österreich-Ungarns die Hauptlast des Krieges trug, nur mehr zum allergeringsten Teil von jener „physischen Beschaffenheit“ war, die man im Frieden als „kriegstauglich“ bezeichnet hätte. Gesunde kräftige Männer in den besten Soldatenjahren seien nur noch vereinzelt vorhanden gewesen, die große Masse bildeten alte Leute oder blutjunge Burschen sowie Kriegskrüppel, d.h. Menschen, denen man vor dem Kriege niemals zugemutet hätte, im Brennpunkt des Kampfes zu stehen. 374
1 Angriff aus Schwäche: Offensive am Isonzo 1917
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Hinzu trat der Verlust der ausgebauten Gebirgsstellungen als Folge des italienischen Vorstoßes.376 Dieser Verlust konnte sich im Falle einer erneuten italienischen Offensive verhängnisvoll auswirken, womit sich die k.u.k. Armee in einer sehr ungünstigen, operativ kaum haltbaren Lage befand. Verschlimmert wurde diese Situation zudem durch die katastrophale Versorgungslage der Armee. Die Soldaten (und Pferde) waren nur noch unzureichend versorgt und ausgerüstet.377 Die physische Verfassung des Heeres war an einem Tiefpunkt angelangt und verminderte damit die Kampfkraft ganz erheblich, während der Gegner nach wie vor bestens ausgerüstet und versorgt war und sich auf eine deutliche materielle Überlegenheit abstützen konnte. Österreich-Ungarns Armee drohte im Erschöpfungskrieg am Isonzo zu unterliegen (Weber).378 Bedingt durch diese äußeren Umstände, vor allem aber durch den jetzt schon mehr als zwei Jahre andauernden, entnervenden Stellungskampf in der Verteidigung, lag auch die Moral der Truppe danieder.379 Angesichts dieser Umstände gelangte die k.u.k. Führung unter Berücksichtigung der Erfahrungen der letzten Schlacht zu der Einschätzung, dass man einem zwölften Angriff der Italiener in der Verteidigung nicht würde standhalten können, womit ein solcher unweigerlich zu einem endgültigen Durchbruch mit all seinen negativen Begleiterscheinungen führen musste.380 So wurde aus dem Gedanken heraus, für die Verteidigung zu schwach zu sein, der Entschluss gefasst, selbst anzugreifen. General der Infanterie Alfred Krauß, Befehlshaber des k.u.k. I. Korps (welches den Durchbruch bei Flitsch zu führen hatte), auf dessen Gedanken die Grundidee der 12. Isonzooffensive zurückzuführen war, äußerte sich dazu folgendermaßen:
376 Die 11. Isonzoschlacht brachte den Italienern ihren bisher größten Raumgewinn. Ihr Vorstoß war zwar nicht besonders tief (7 Kilometer an der weitesten Stelle), führte aber für die Österreicher an weiten Teilen der Front zum Verlust der ausgebauten Gebirgsstellungen, deren erneute Anlage im Karstgebirge äußerst mühevoll und zeitraubend war. Vgl. dazu Gustav Stöckelle: Die zweite Offensive gegen Italien. Die entscheidenden Tage der 12. Isonzoschlacht vom 24. bis 27. Oktober 1917, in: Österreichische Militärische Zeitschrift, 5. Jahrgang, 1967. Vgl. auch Krafft von Dellmensingen (General der Artillerie): Der Durchbruch am Isonzo. Teil I, in: Schlachten des Weltkrieges, Berlin 1926, S. 11 377 Vgl. Krafft von Dellmensingen a.a.O., S. 11, vgl. auch Veith a.a.O., S. 23 378 Vgl. Fritz Weber: Isonzo 1917. Wien 1920, S. 104 379 Vgl. Krauß a.a.O., S. 17, 53. Zudem wirkten sich auch die nationalen Spannungen innerhalb der Donaumonarchie negativ auf die Moral der Truppe aus. Vgl. dazu Wagner a.a.O., S. 193 380 Vgl. Krauß a.a.O., S. 18: „Jetzt erkannten das Heeresgruppenkommando Boroevic und das AOK Baden, daß ein zwölfter Angriff Cadorna (italienischer Oberbefehlshaber) an sein Ziel bringen müßte, daß aber mit dem Verlust der Isonzofront jeder weitere Widerstand gegen die gewaltige zahlenmäßige Übermacht der Italiener aussichtslos sei, weil mit dem Verlust von Triest die Anlehnung an das Meer verloren gehen mußte, so daß dann die Überzahl der Italiener in einer Überflügelung unserer Front zum Ausdruck kommen konnte.“
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III. Kapitel: Kriegsgeschichtlich / empirische Betrachtung „Schon der Entschluss des AOK Baden zum Angriff gegen Italien war nicht dem starken Siegeswillen entsprungen, Italien zu vernichten und damit den Frieden endlich zu erreichen, sondern er war nur von der Not aufgezwungen worden. In elf schweren Isonzoschlachten hatten die Italiener mit achtungswerter Tapferkeit und Zähigkeit versucht, unsere Isonzofront zu zerbrechen. Immer und immer wieder trieb der unbeugsame energische Wille Cadornas seine Italiener zu neuem Angriff vor. Immer und immer wieder begnügte sich unsere Heeresführung mit der reinen Abwehr. Unsere Truppen mußten immer und immer wieder das furchtbare italienische Artilleriefeuer ertragen und dann verlorene wichtige Stellungen in örtlichem Gegenangriff zurückerobern. Im Blute unserer braven Soldaten wurden so alle Angriffe der Italiener erstickt. Nie fuhr eine von frischem Wagemut geführte Faust dem Italiener in seine Angriffsvorbereitungen hinein, um selbst einmal unsere Truppen im erfrischenden Angriffssturm Vergeltung an den Italienern nehmen zu lassen. Jeder Soldat weiß, daß man nur durch den Angriff endgültige Erfolge erringen kann, daß nur der erfrischende, von Erfolg zu Erfolg eilende Angriff die Truppe kampffroh und kampffähig erhält, daß aber der entnervende, langdauernde Stellungskampf endlich die Kraft der besten Truppe zermürben muß. ... Da entschloß man sich endlich dazu, den Italienern im Angriff zuvorzukommen. Weil der Angriffsgedanke nur dieser Not sein Dasein verdankte, begnügte man sich in voller Verkennung der politischen Lage und ihrer Forderungen mit dem nächsten militärischen Ziel, die Italiener aus ihrem gut vorbereiteten Angriffsgelände zurückzudrängen.“381
Auch der von der deutschen Führung zur Erkundung an die Isonzofront entsandte Generalleutnant Konrad Krafft von Dellmensingen (Chef des Generalstabes der den Hauptstoß bei Tolmein-Karfreit führenden deutschen 14. Armee) kam zu dem Ergebnis, dass sich das österreichisch-ungarische Heer am Isonzo in einer „unhaltbaren Lage“ befand und den nächsten Großkampf keinesfalls dort erwarten durfte, wo es stand. Weil die gegenwärtigen Stellungen in der Verteidigung unhaltbar erschienen, galt es einem erneuten Stoß der Italiener durch einen eigenen Angriff zuvorzukommen.382 Es kann daher festgehalten werden, dass die österreichisch-ungarische Seite aus der Not heraus, weil sie für eine Verteidigung zu schwach war, den Entschluss fasste, selbst anzugreifen. Betont werden muss, dass dieser Entschluss zum Angriff im Bewusstsein der Tatsache erfolgte, dass der Gegner, was die physischen Kräfte anbelangte, deutlich überlegen war383, während im Hinblick 381
Krauß a.a.O., S. 17 f. Vgl. dazu auch Veith a.a.O., S. 33, sowie Wagner a.a.O., S. 194 und August von Cramon: Unser Österreichisch-Ungarischer Bundesgenosse im Weltkriege. Berlin 1922, S. 114 382 Vgl. Krafft von Dellmensingen a.a.O., S. 11 - 14 383 Selbst im Angriffsraum (Flitsch-Tolmein), dem Abschnitt der Front, in welchem die Mittelmächte ihren Kräfteschwerpunkt gebildet hatten, standen den 238 italienischen Bataillonen nur 171 österreichisch-ungarische und deutsche gegenüber. Vgl. Krauß a.a.O., S. 106, sowie Veith a.a.O., S. 40, sowie Weber a.a.O., S. 109. Weber weist darauf hin, dass dieses Kräfteverhältnis zwischen Angreifer und Verteidiger den Regeln der Kriegskunst keineswegs entsprochen habe. Er hebt insbesondere auch die deutliche Überlegenheit der Italiener an schweren Waffen hervor. Vgl. auch Theodor
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auf die moralische Verfassung beide Armeen in etwa gleich zu bewerten waren.384 1.3 Der Widerspruch Wie verträgt sich dieser Entschluss mit den Theorien von Clausewitz? Lässt er sich mit den Vorstellungen, die der preußische Kriegsphilosoph bezüglich der Dialektik von Angriff und Verteidigung hat, vereinbaren? Clausewitz geht hier von folgender Grundüberlegung aus: „Daß die Verteidigung leichter sei als der Angriff, ist schon im allgemeinen bemerkt, da aber die Verteidigung einen negativen Zweck hat, das Erhalten, und der Angriff einen positiven, das Erobern, und da dieser die eigenen Kriegsmittel vermehrt, das Erhalten aber nicht, so muß man, um sich bestimmt auszudrücken, sagen: die verteidigende Form des Kriegführens ist an sich stärker als die angreifende.“385
Davon ausgehend stellt er folgende Behauptung auf: „Ist die Verteidigung eine stärkere Form des Kriegführens, die aber einen negativen Zweck hat, so folgt von selbst, daß man sich ihrer nur solange bedienen muß, als man sie der Schwäche wegen bedarf, und sie verlassen muß, sobald man stark genug ist, sich den positiven Zweck vorzusetzen.“386
Konopicky und Edmund Glaise-Horstenau: Vom Isonzo zur Piave. in: Der Weltenkampf um Ehre und Recht, Leipzig 1922, S. 431 384 Krauß äußert sich im Hinblick auf die moralische Verfassung beider Armeen folgendermaßen: „Man sagt jetzt oft, die Italiener von 1917 waren bereits zermürbt - gewiß waren sie das, aber alle anderen Armeen waren es zumindest im gleichen Verhältnis. Unsere Truppen von Flitsch waren trotz allem mit unseren zuerst ins Feld gestellten doch nicht zu vergleichen. Dazu kam bei unseren Truppen die physische Entkräftung infolge der ganz unzulänglichen Ernährung. Unsere moralischen Kräfte waren darum bei Beginn unserer Angriffsvorbereitungen durchaus noch nicht höher als die der Italiener.“ Krauß a.a.O., S. 53. Im Nachhinein spricht Graf Cadorna (Marschall von Italien) in einem in „Durchbruch am Isonzo II“ abgedruckten Brief von einem Tiefstand der moralischen Verfassung der Italiener um den 24. Oktober 1917. Diese Behauptung wird jedoch von Krauß als eine nachträgliche Entschuldigung der eigenen Niederlage erkannt. Krauß betont, dass das italienische Heer durchaus in guter moralischer Verfassung und voll Selbstvertrauen gewesen sei. Aus Äußerungen der italienischen Kommandanten kurz vor Beginn des Angriffs gehe hervor, dass keiner derselben etwas von einem moralischen Tiefstand der Italiener (wohlgemerkt: vor Beginn des Angriffs) gewusst habe. Auch die italienische Untersuchungskommission (nachträglich eingesetzt, um die Ursachen der Niederlage zu erforschen) habe keinen solchen Tiefstand der Moral feststellen können, der gerade am 24. Oktober den Höhepunkt erreicht haben sollte. Vgl. Krauß a.a.O., S. 108 f, vgl. auch Dellmensingen a. a. O. (Durchbruch am Isonzo II) S. 275 f, sowie Stöckelle a.a.O., S. 11 385 Vom Kriege. VI, 1, S. 615 386 Vom Kriege. VI, 1, S. 615
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In dieser Äußerung wird deutlich, dass Clausewitz die Verteidigung als ein notwendiges Übel betrachtet, dessen sich derjenige bedienen muss, der für einen Angriff noch nicht stark genug ist und der sich deshalb den positiven Zweck noch nicht vorsetzen kann. Er benutzt die Verteidigung, die nach seinen Worten den „bloß negativen Zweck hat“ nur, um seine eigene Schwäche durch die Wahl der vermeintlich „stärkeren Form des Kriegführens“ zu kompensieren.387 Dieses Gedankengebäude schließt jedoch einen Fall gänzlich aus, nämlich dass ein Akteur deshalb angreift, weil er für die Verteidigung zu schwach ist. Dieser Grundgedanke aber lag dem Entschluss der k.u.k. Führung zu ihrer Offensive im Oktober 1917 zugrunde. Ein militärisches Phänomen, das nach den Theorien von Clausewitz nicht nur nicht definiert ist, sondern das von seinen Überlegungen geradezu ad absurdum geführt wird. Er schreibt dazu: „... denn solange die schwächere Form (der Angriff) stark genug bleibt, ist man es ja für die stärkere (die Verteidigung) um so mehr.“388
Das heißt, wer stark genug ist anzugreifen, ist erst recht stark genug zu verteidigen, womit der Fall, dass ein Angriff geführt wird, weil man für die Verteidigung zu schwach ist, bei Clausewitz ausgeschlossen wird. Denn, so muss aus der Behauptung von Clausewitz zwingend folgen, wer für die „stärkere Form des Kriegführens“ nicht stark genug ist, kann es sich natürlich nicht erlauben, die „schwächere Form“ zu wählen, womit der Entschluss der k.u.k. Führung zu ihrer Offensive am Isonzo, nach den Grundgedanken von Clausewitz, als abwegig hätte abgelehnt werden müssen und ihr Erfolg damit nicht möglich gewesen wäre. Die Konfrontation der Clausewitzschen Theorie mit der Realität des Krieges führt also in dem betrachteten Fall zu einem Widerspruch.389 Ein weiterer Widerspruch ergibt sich aus der Tatsache, dass Clausewitz Überlegenheit in physischer oder moralischer Hinsicht voraussetzt, bevor er einen Angriff für (militärisch) gerechtfertigt hält und ihm eine Chance auf Erfolg einräumt: „Fehlt also dem Angriff die physische Überlegenheit, so muß eine moralische da sein, um die Nachteile der Form aufzuwiegen, und wo auch diese fehlt, ist der Angriff nicht motiviert und wird nicht glücklich sein.“390 387
Vgl. auch Vom Kriege. VII, 5, S. 879: „... wo die Kräfte noch eben hinreichen, sich in der Verteidigung zu halten ...“ 388 Vom Kriege. VII, 5, S. 880 389 Vgl. dazu Vom Kriege VII, 5, S. 880 „... scheinbarer Widerspruch ...“ Der innere Widerspruch seiner Theorie ist von Clausewitz möglicherweise erahnt worden, worauf die Bezeichnung „scheinbarer Widerspruch“ hindeutet. Die Begründung, warum es sich seiner Meinung nach nur um einen „scheinbaren Widerspruch“, nicht um einen tatsächlichen handle, ist der Kriegsphilosoph jedoch schuldig geblieben. 390 Vom Kriege. VII, 15, S. 904
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In der 12. Isonzoschlacht wurde demgegenüber deutlich, dass ein Angriff selbst bei starker physischer Unterlegenheit und moralischer Gleichwertigkeit zu einem durchschlagenden Erfolg führen kann. Das kriegstheoretische Phänomen eines Angriffs aus Schwäche stellt daher ein klares Beispiel für die Unvereinbarkeit der Clausewitzschen Theorie von der Verteidigung als der „stärkeren Form des Kriegführens“ mit der Wirklichkeit des Krieges dar.391 1.4 Angriff als die stärkere Form Was aber berechtigte die österreichisch-ungarische Führung im Oktober 1917 dazu, trotz eigener Unterlegenheit einen Angriff für Erfolg versprechender zu halten, als den Kampf in der Verteidigung? Als Verteidiger hätte man doch, so Clausewitz, die Vorteile der „stärkeren Form“ auf seiner Seite gewusst, welche einen Sieg nicht nur leichter und wahrscheinlicher, sondern auch umso sicherer machten.392 Zudem sei die Überlegenheit der Verteidigung sehr groß und viel größer, als man sich beim ersten Anblick denke.393 Es waren insbesondere vier Argumente, welche den Entschluss der k.u.k. Führung von einem bloßen Vabanque-Spiel zum operativ-strategischen Kalkül erhoben und gleichzeitig deutlich machten, dass in diesem Falle nicht die Verteidigung, sondern der Angriff die stärkere Form des Kriegführens war: 391
Ergänzend ist darauf zu verweisen, dass auch das reziproke Phänomen, nämlich die bewusste Wahl der Verteidigung trotz überlegener eigener Kräfte im Widerspruch zu den Clausewitzschen Überlegungen steht. Clausewitz fordert, dass man die verteidigende Form des Kriegführens verlassen müsse, sobald man stark genug sei sich den positiven Zweck vorzusetzen. Vgl. dazu Vom Kriege. VI, 1, S. 615. Dass es demgegenüber sinnhaft, Erfolg versprechend oder sogar notwendig sein kann trotz eigener Überlegenheit und Stärke bewusst die verteidigende Form zu wählen verdeutlicht Garejew am Beispiel des sowjetische Verhaltens in der Schlacht von Kursk. Garejew, Machmut Achmetowitsch: Konturen des bewaffneten Kampfes der Zukunft. Ein Ausblick auf das Militärwesen in den nächsten 10 bis 15 Jahren, Baden-Baden 1996, S. 83 f. Gleichzeitig macht er deutlich, dass die Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg keineswegs die theoretische Annahme bestätigt hätten, wonach zur Abwehr eines feindlichen Angriffs nur die Hälfte bis zu einem Drittel der Kräfte erforderlich seien wie für einen eigenen Angriff. Dieser Annahme wurde durch die Clausewitzsche Theorie nachhaltig Vorschub geleistet, wenn er beispielsweise betont, dass Erhalten leichter sei als gewinnen und schon daraus folge, dass die Verteidigung bei vorausgesetzten gleichen Mitteln leichter sei als der Angriff.“ Vom Kriege. VI, 1, S. 614-616). So habe es, so Garejew, während des Krieges keine einzige erfolgreiche Verteidigungsoperation gegeben, die mit erheblich weniger Kräften ausgekommen wäre als der angreifende Feind. Garejew bezieht sich hierbei insbesondere auf die operativ-strategische Ebene während er lediglich der taktischen Ebene die Möglichkeit zur Abwehr überlegener Feinkräfte zugesteht. Zudem verdeutlicht er, dass Liddell Hart mit Blick auf den Kalten Krieg den Nachweis führte, dass die NATO für eine erfolgreiche Verteidigung Kräfte von annähernd der gleichen Stärke wie die des Angreifers bereitstellen müsse. Vgl. Garejew a.a.O. S. 83 f 392 Vgl. dazu Fußnote 296 393 Vgl. Vom Kriege. I, 1, S. 205
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III. Kapitel: Kriegsgeschichtlich / empirische Betrachtung
Moral: Der erste und wahrscheinlich wichtigste Grund für diese Entscheidung ist darin zu sehen, dass das Bewusstsein, selbst der Angreifer zu sein, der deutlich angeschlagenen Moral der österreichisch-ungarischen Armee einen neuen, gewaltigen Aufschwung verlieh. Die Truppe hatte damit wieder ein klares Ziel vor Augen und sah das Ende ihrer Leiden im zermürbenden Verteidigungskampf, den sie nun schon seit mehr als zwei Jahren zu führen gezwungen war, gekommen. Begeisterung erfasste daher alle an diesem Vorhaben beteiligten Soldaten. Weber spricht gar von einem „seelischen Wunder“, für das es nur die Aufbruchstimmung vom Sommer 1914 als Beispiel gebe.394 Krauß betont, dass zu Beginn der Angriffsvorbereitungen die eigenen moralischen Kräfte noch keinesfalls höher gewesen seien als die der Italiener. Dann aber seien sie, durch die Führung geweckt, stark angestiegen, während bei den Italienern der „Antrieb des Angriffs“ entfiel.395 Es muss betont werden, dass die Mittelmächte auf diesen „Antrieb“ völlig hätten verzichten müssen, wenn sie weiterhin in der Verteidigung geblieben wären. Deshalb ist in im diesem Falle der moralische Aufschwung allein dem Angriff als eine zusätzliche Stärke zuzuschreiben. Schwächenausnutzung: Der zweite Vorteil, den der Angriff (im Unterschied zur Verteidigung) für die k.u.k. Armee mit sich brachte, ist darin zu sehen, dass er die Möglichkeit bot, die erkannten spezifischen Schwächen des Gegners aktiv zum eigenen Vorteil auszunutzen. Als wichtigste Schwäche der Italiener muss hierbei ihre „Naturlage der geringen Zähigkeit besonders in der reinen Abwehr“ (Krauß)396 hervorgehoben werden. Diese Schwäche konnte natürlich nicht zum eigenen Vorteil ausgenutzt werden, solange der Gegner im Angriff war und nicht gezwungen wurde, sich zu verteidigen. Auf diese Abwehrschwäche der Italiener, und die ihnen gänzlich fehlende Eigenschaft der „Zähigkeit im Unglück“397, war der gesamte Plan zur Offensive am Isonzo aufgebaut. Der Verlauf der 12. Isonzoschlacht bestätigt die Richtigkeit dieser moralisch/psychologischen Einschätzung des Gegners und macht deutlich, dass die hier aufgezeigten Schwächen der italienischen Seite in einer weiteren Verteidigungsschlacht (der k.u.k. Armee) niemals zum eigenen Vorteil hätten ausgenutzt werden können. Weitere Schwachpunkte der Italiener, die nur durch einen eigenen Angriff getroffen werden konnten, waren ihre insgesamt etwas zu kurz gekommenen Verteidigungsmaßnahmen398 - zurückzuführen auf die Tatsache, dass sie bereits ihre nächste eigene Offensive planten - und die teilweise mangelnde Wachsamkeit ihrer Truppen, insbesondere an den Abschnitten der Front, die bisher von größerer 394
Vgl. Weber a.a.O., S. 105 Vgl. Krauß a.a.O., S. 53 Vgl. Krauß a.a.O., S. 53 397 Ebenda 398 Vgl. Konopicky und Glaise-Horstenau a.a.O., S.431 395 396
1 Angriff aus Schwäche: Offensive am Isonzo 1917
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Kampftätigkeit verschont geblieben waren. Als Angreifer, d.h. im Besitz der Initiative und mit der letzten Entscheidungshoheit über Ort und Zeit eines Kampfes, hatten die Deutschen und Österreicher die Möglichkeit, sich eine besonders schwache Stelle der gegnerischen Front für den eigenen Angriff auszusuchen. Mit ihrer Offensive im Raum Flitsch-Tolmein - das italienische Stellungssystem war dort am schwächsten ausgebaut - gelang es ihnen, den Gegner an seiner schwächsten Stelle zu treffen, was nicht unerheblich zum eigenen Erfolg beitrug. Überraschung: Als dritter Vorteil muss das Überraschungsmoment in Betracht gezogen werden, welches im vorliegenden Falle der Angreifer in weitaus stärkerem Maße für sich nutzen konnte, als dies dem Verteidiger möglich war. Durch eine geschickte Wahl von Ort und Zeit399 der Offensive sowie durch eine unorthodoxe Angriffsmethode400 gelang es den Deutschen und Österreichern ein Maximum an Überraschung beim Gegner zu erzielen. Dies führte zu einer „fast völligen Lahmlegung der italienischen höheren und höchsten Führung“ (Krauß)401 sowie dazu, dass es den Italienern an weiten Teilen der Front nicht mehr gelang, rechtzeitig ihre Stellungen zu besetzen.402 Dadurch wurde den angreifenden Deutschen und Österreichern ein rascher und durchschlagender Sieg bei verhältnismäßig geringen eigenen Verlusten ermöglicht. Es muss betont werden, dass man als Verteidiger auf diese Vorteile des Überraschungsmoments völlig hätte verzichten müssen. Schwerpunktbildung: Der vierte Vorteil, der sich für die k.u.k. Armee aus dem Angriff ergab, ist darin zu sehen, dass dieser das Prinzip der Schwerpunkt399 In dem gewählten Angriffsraum Tolmein-Flitsch hatten bislang noch keine größeren Kampfhandlungen stattgefunden, weshalb der Gegner dort nicht mit einer entscheidenden Offensive rechnete. Sein Stellungssystem war in diesem Raum vergleichsweise schwach ausgebaut und die Wachsamkeit der Truppe durch die langen Warteperioden herabgemindert. Weil die italienische Führung hier nicht mit einer größeren Offensive rechnete, waren auch ihre Reserven für diesen Fall sehr ungünstig plaziert und standen zu weit entfernt. Zudem wogen sich die Italiener durch das für einen Angriff vermeintlich recht ungünstige Gelände zusätzlich in Sicherheit. 400 Entgegen dem bisher geltenden Grundsatz, wonach der Angriff im Gebirge entlang der beherrschenden Höhen zu erfolgen habe, entschied sich die k.u.k. Führung diesmal für den Angriff im Tal (der nur flankierend durch Angriffe auf die Höhenstellungen begleitet wurde). Krauß betrachtete die beiden Talstöße (bei Flitsch und Tolmein) als entscheidend für den „Riesenerfolg“, weil diese bereits in den ersten Stunden der Schlacht den Zusammenbruch der italienischen Hauptstellung mit sich gebracht hätten. Vgl. Krauß a.a.O., S. 109. Vgl. auch Weber a.a.O., S. 109 f. Zusätzliche Überraschung erzielte der Angreifer mit einer unerwarteten Form der Artillerievorbereitung, die verhältnismäßig kurz (6 Stunden; verglichen mit den oft tage- oder wochenlang dauernden Artillerievorbereitungen, wie sie bisher üblich waren) aber intensiv war und bei der auch Giftgas eingesetzt wurde. Es muss hinzugefügt werden, dass der Einsatz von Gas (beim damaligen Stand der Technik) sinnvoller Weise nur im Angriff möglich war, womit man als Verteidiger auf den Einsatz dieser Waffe hätte verzichten müssen. 401 Vgl. Krauß a.a.O., S. 109 402 Vgl. dazu Erwin Rommel: Infanterie greift an. S. 253-342. Die Schilderungen Rommels, der als Oberleutnant eine Abteilung an der Spitze des Angriffs führte, verdeutlichen dies sehr anschaulich. Vgl. auch Krauß a.a.O., S. 15
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III. Kapitel: Kriegsgeschichtlich / empirische Betrachtung
bildung ganz wesentlich begünstigte. Dies war gerade für die numerisch unterlegene Seite von ganz besonderer Bedeutung, weil sie sich nur durch eine Konzentration von Kräften an bestimmten Stellen erhoffen konnte, wenigstens eine örtliche Überlegenheit über den insgesamt stärkeren Gegner zu erzielen. Die Wichtigkeit einer solchen (numerischen) Überlegenheit unterstreicht Clausewitz selbst, indem er die „Überlegenheit der Zahl“ als den „ersten Grundsatz in der Strategie“ und als den „wichtigsten Faktor in dem Resultat eines Gefechts“ bezeichnet.403 Weil der Angreifer (im Unterschied zum Verteidiger) in der Regel die Initiative besitzt, womit er die letzte Entscheidung darüber hat, wann und wo gekämpft wird, ist er in der Lage, seine Kräfte in Raum und Zeit so zu konzentrieren, dass er damit eine örtliche Überlegenheit erreicht, auf die der Verteidiger dann gezwungen ist zu reagieren. Daher ist in der besseren Möglichkeit zur Schwerpunktbildung (insbesondere für den numerisch Unterlegenen) eine besondere Stärke des Angriffs zu sehen. Aus diesen vier Argumenten folgt, dass für die k.u.k. Armee an der Isonzofront im Oktober 1917 nicht die Verteidigung sondern im Gegenteil der Angriff die stärkere Form des Kriegführens darstellte. Jener brachte ganz erhebliche Vorteile mit sich, auf die man als Verteidiger in dieser Situation völlig hätte verzichten müssen. Krafft von Dellmensingen stellt in diesem Zusammenhang in einer abschließenden Bewertung fest: „Der Angriff bleibt daher im Gebirge noch in höherem Grade die stärkere Form des Kampfes, wie im flachen Lande.“404
Die Entscheidung, trotz eigener Unterlegenheit zum Angriff überzugehen, war daher kein Vabanque-Spiel, sondern stützte sich ganz wesentlich auf die (in diesem Falle) größere Stärke der angreifenden Form des Kriegführens. Es kann daher (in Ergänzungen zu III.1.3) als dritter Widerspruch zu Clausewitz festgehalten werden, dass es in der Kriegsgeschichte sehr wohl Fälle gibt, in denen der Angriff eindeutig als die stärkere Form des Kriegführens zu betrachten ist. Dies soll jedoch keinesfalls bedeuten, dass der Angriff grundsätzlich die genannten Vorteile/Stärken besitzen würde oder gar die grundsätzlich stärkere Form wäre (wie General Krafft von Dellmensingen anzunehmen scheint). Betont werden muss außerdem, dass nicht (ex post) aus der Tatsache des Sieges auf die stärkere Form rückgeschlossen werden kann. Selbst wenn die Deutschen und Österreicher mit ihrer Offensive gescheitert wären, wäre jene in diesem Falle dennoch die stärkere Form gewesen. Die stärkere Form ist nur einer von 403
Vgl. Vom Kriege. III, 8, S. 373-375: „Wir glauben also, daß gerade in unseren Verhältnissen sowie in allen ähnlichen die Stärke auf dem entscheidenden Punkt eine große Hauptsache, und daß dieser Gegenstand in der Allgemeinheit der Fälle geradezu unter allen der wichtigste sei.“ 404 Krafft von Dellmensingen a.a.O., S. 178
1 Angriff aus Schwäche: Offensive am Isonzo 1917
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vielen Faktoren im Produkt des Sieges. Sie leistet in vielen Fällen einen wesentlichen Beitrag zum Sieg, entscheidet diesen aber keineswegs ausschließlich. 1.5 Mögliche Einwände Im Folgenden sollen zwei Einwände betrachtet werden, durch die eine Verwendung der 12. Isonzooffensive als Beispiel für einen Angriff, der trotz und gerade wegen eigener Unterlegenheit geführt wurde und in dem betrachteten Fall eindeutig als die stärkere Kriegsform zu betrachten ist, hinterfragt werden könnte. 1.5.1 Der Kulminationspunkt im Angriff Ausgehend von der Clausewitzschen Theorie vom „Kulminationspunkt des Angriffs“405 könnte ein Einwand lauten, dass der Angriff im Oktober 1917 nicht aus einer Situation der Unterlegenheit heraus erfolgt sei, weil die italienische Armee sich in elf (mehr oder weniger) erfolglosen Offensiven so erschöpft habe, dass sie in dem Produkt aus Physis und Moral deutlich schwächer gewesen sei als ihr Gegner. Damit sei auch die von Clausewitz für einen Angriff erforderliche Überlegenheit vorhanden gewesen sei. Diesem Einwand liegt die Clausewitzsche Theorie vom „Kulminationspunkt des Angriffs“ zugrunde. Sie besagt, dass der Angriff, weil sich („in der großen Mehrheit der Fälle“406) seine Kraft nach und nach erschöpfe und immer schwächer werde, irgendwann zu einem Punkt gelange, wo seine Kräfte noch eben hinreichten, sich in der Verteidigung zu halten. Diesen Punkt bezeichnet er als den „Kulminationspunkt des Angriffs“.407 Jenseits dieses Punktes liege der „Umschwung/Rückschlag“, und es ist dann (für den Gegner) an der Zeit, im Sinne des „blitzenden Vergeltungsschwertes“ zum Gegenangriff überzugehen, weil der Angreifer nach dem Überschreiten des Kulminationspunktes seine Kräfte so weit geschwächt/überdehnt hat, dass er sich selbst in der Verteidigung (der „stärkeren Form“) nicht mehr halten kann. Der Einwand könnte daher lauten, die italienische Armee habe mit der 11. Isonzooffensive ihren Kulminationspunkt überschritten, und somit sei der Angriff der Deutschen und Österreicher aus einer Situation der physisch/moralischen Überlegenheit heraus ganz im Sinne des „blitzenden Vergeltungsschwertes“ von Clausewitz erfolgt. Dieser Einwand würde jedoch die Kräfteverhältnisse, wie sie sich im Oktober 1917 am Isonzo nach weitgehend übereinstimmender Beurteilung durch beide Gegner tatsächlich gestaltet hatten, völlig verkennen. An einer deutlichen 405
Vgl. Vom Kriege. VII, 5, S. 879 Ebenda 407 Ebenda 406
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III. Kapitel: Kriegsgeschichtlich / empirische Betrachtung
physischen Überlegenheit der Italiener konnte überhaupt kein Zweifel bestehen, und hinsichtlich der Moral gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass die Verfassung der Italiener schlechter gewesen sein sollte als die ihrer Gegner.408 Auch würde dieser Einwand der deutsch-österreichischen Seite unterstellen, eine völlig falsche Beurteilung der Lage durchgeführt zu haben. Wenn man gemäß diesem Einwand davon ausginge, dass die italienische Armee nach ihrer elften Offensive den Kulminationspunkt im Angriff überschritten hätte, so wäre die Furcht, einem zwölften Angriff der Italiener in der Verteidigung nicht mehr standhalten zu können, geradezu absurd.409 Da der Entschluss der k.u.k. Führung zum Angriff aber gerade dieser Furcht entsprang, müsste ihre Lagebeurteilung völlig unzutreffend gewesen sein. Wenn man sich weiter die Frage stellt, worin überhaupt die Ursachen für die Schwächung des Angriffs liegen sollten, so fällt auf, dass keiner der sieben Gründe, die Clausewitz in diesem Zusammenhang nennt410, für die Italiener am Isonzo zutreffen konnte. Clausewitz führt die Schwächung unter anderem darauf zurück, dass der Angreifer, je weiter er fortschreite, immer mehr Kräfte benötige, um das von ihm eroberte Land zu besetzen, seine Verbindungslinien zu sichern, Festungen einzuschließen und zu belagern, und dass er sich zu seinem Nachteil immer weiter von seinen eigenen Ergänzungsquellen entferne. Clausewitz hat hier offensichtlich einen Angriff wie den Napoleons gegen Russland vor Augen, weil das Wirksamwerden dieser Gründe einen tiefen Vorstoß auf feindliches Gebiet voraussetzt. Diese Voraussetzung war am Isonzo (bei einem Vorstoß der Italiener von nur 7 Kilometern) natürlich nicht gegeben. Als weiteren Grund nennt Clausewitz das „Abtreten von Verbündeten“ des Angreifers. Auch dieser Punkt entfällt für die betrachtete Situation, wobei festgestellt werden kann, dass Frankreich und Großbritannien sogar erhebliche zusätzliche Unterstützung an ihren Verbündeten Italien leisteten. So bleiben noch das „Nachlassen in den Anstrengungen“, sowie die in Gefechten und durch Krankheiten hervorgerufenen Verluste als Ursachen für eine mögliche Schwächung des Angriffs übrig. Diese beiden Aspekte waren am Isonzo zweifelsohne gegeben und trugen mit Sicherheit zu einer Schwächung der angreifenden Seite bei. Es muss dem jedoch entgegengehalten werden, dass diese Gründe in gleicher Weise auch den Verteidiger schwächten, womit sich das Kräfteverhältnis 408
Vgl. dazu die Fußnoten 381 und 382. Diese Absurdität ergibt sich daraus, dass ein Angreifer, der den Kulminationspunkt überschritten hat, gemäß Clausewitz nicht einmal mehr in der Lage dazu wäre, sich erfolgreich in der Verteidigung zu halten. Damit wäre er dann erst recht nicht mehr dazu fähig, erfolgreich anzugreifen, weil der Angriff als die schwächere Form zu seinem Gelingen Überlegenheit voraussetzen würde. Hätte die italienische Armee also tatsächlich den Kulminationspunkt im Angriff überschritten gehabt, so wäre jede Furcht vor einer weiteren italienischen Offensive völlig unbegründet gewesen. 410 Vgl. Vom Kriege. VII, 4, S. 877 409
1 Angriff aus Schwäche: Offensive am Isonzo 1917
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zwischen beiden Gegnern letztendlich nicht veränderte. Zu bedenken ist außerdem, dass die österreichisch-ungarische - als bisher verteidigende Seite - durch die entstandenen Verluste in weit stärkerem Maße geschwächt wurde, weil sie als physisch Unterlegene diese kaum noch ersetzen konnte. Man könnte daher - analog zur Clausewitzschen Formulierung von der „abnehmenden Kraft des Angriffs“ - von der „abnehmenden Kraft der Verteidigung“ sprechen. Dass dies keineswegs im Widerspruch zu den Gedanken des Kriegsphilosophen steht, geht aus einer Äußerung hervor, in welcher er betont, dass die Schwächung des Angriffs durch die Schwächung der Verteidigung zum Teil oder ganz aufgewogen oder überwogen werden könne.411 Letzteres muss für die Beurteilung der Lage am Isonzo im Oktober 1917 unterstellt werden. Es wäre daher unzutreffend, ein Überschreiten des Kulminationspunktes durch den Angreifer anzunehmen. Vielmehr müsste von einem „Kulminationspunkt in der Verteidigung“ gesprochen werden, den die k.u.k. Armee bei einem weiteren Abwarten in der Verteidigung aller Voraussicht nach überschritten hätte. 1.5.2 Deutsche Verstärkung Ein zweiter Einwand könnte unterstellen, dass der Angriff der deutschösterreichischen Seite im Oktober 1917 nicht aus einer Situation der Unterlegenheit/Schwäche heraus geführt wurde, da die k.u.k. Armee am Isonzo durch sieben deutsche Divisionen verstärkt wurden. Diese hätten die für einen erfolgreichen Angriff (gemäß Clausewitz) notwendige Überlegenheit gegenüber dem Verteidiger herbeigeführt. Demgegenüber muss, wie bereits beim ersten Einwand, betont werden, dass trotz dieser Verstärkungen das physisch-moralische Kräfteverhältnis, wie es sich im Oktober 1917 am Isonzo gestaltete, gegen diesen Einwand spricht. Die italienische Armee war physisch zweifelsohne überlegen, und ihre Moral wurde durch die Tatsache, nun auch deutschen Truppen gegenüberzustehen, noch zusätzlich gestärkt.412 Die moralische Überlegenheit der Deutschen und Österreicher, wie sie sich dann im Kampfgeschehen zeigte, ist dabei (wie bereits dargestellt wurde) ursächlich auf die Tatsache zurückzuführen, dass sie selbst die Angreifer waren. In der Verteidigung wäre eine solche Steigerung der Moral nicht zu erwarten gewesen. Zu beachten ist außerdem, dass auch die Italiener Unterstützung in Form von 10 französischen und britischen Divisionen erhielten. Gegen den Einwand spricht zudem die Tatsache, dass der Entschluss der k.u.k. Führung, selbst zum Angriff überzugehen, dem Ersuchen um deutsche 411
Vgl. Vom Kriege. VII, 4, S. 877 Vgl. H. v. Tieschowitz: Erinnerungen des Generals Cadorna. Der Krieg an der italienischen Front (24.5.15 bis 9.11.17), in: Wissen und Wehr, Berlin 1927, S. 118 412
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III. Kapitel: Kriegsgeschichtlich / empirische Betrachtung
Unterstützung voranging. Das heißt, der Entschluss zum Angriff wurde in jedem Falle aus einer Situation der Unterlegenheit heraus gefasst, weil man erkannt hatte, dass in der gegebenen Lage der Angriff als die stärkere Kriegsform zu betrachten war.413 Abschließend muss betont werden, dass, selbst wenn dieser Einwand zutreffen würde, damit der „dritte Widerspruch“ zu Clausewitz, der darin besteht, dass die Kriegsgeschichte durchaus eine ganze Reihe von mitunter sehr bedeutenden Fällen kennt, in denen der Angriff eindeutig als die stärkere Kriegsform zu betrachten ist, völlig unberührt bliebe. Die unter III.1.4 aufgezeigten Vorzüge/Stärken des Angriffs gehen ja nicht verloren, wenn man eine wie auch immer geartete physisch/moralische Überlegenheit gegenüber seinem Gegner besitzt. Hinsichtlich der Verstärkung durch sieben deutsche Divisionen ergibt sich für den Angriff noch eine weitere zusätzliche Stärke. Diese ist darin zu sehen, dass die Verstärkung durch deutsche Kräfte nur für wenige Wochen zur Verfügung gestellt werden konnte und in der Verteidigung (für den Fall, dass der Gegner in dieser Zeit nicht angreifen würde) möglicherweise gar nicht zum Einsatz hätten gebracht werden können. Ihre Wirkung wäre in diesem Falle verpufft. Nur durch den Angriff war es demnach möglich sicherzustellen, dass diese augenblickliche eigene Stärke auch zum eigenen Vorteil genutzt werden konnte. 1.5.3 Resultat Abschließend kann festgehalten werden, dass die beiden untersuchten Einwände als nicht stichhaltig zurückgewiesen werden müssen. Weder die Bezugnahme auf die Clausewitzsche Theorie vom „Kulminationspunkt des Angriffs“, noch der Hinweis auf deutsche Verstärkungskräfte ist geeignet die grundsätzliche Schwäche und physisch/moralische Unterlegenheit der Mittelmächte in Frage zu stellen. Es kann daher hinsichtlich der 12. Isonzooffensive eindeutig von einem Angriff aus Schwäche gesprochen und damit ein Widerspruch zur Clausewitzschen Theorie aufrechterhalten werden.
413 Ob der Angriff auch ohne deutsche Unterstützung erfolgreich gewesen wäre oder nicht, ist eine Frage, die in diesem Zusammenhang gar nicht weiter relevant ist und die zudem in den Bereich der Spekulation fallen würde. Letzteres trifft auch für die Frage zu, ob man, selbst mit der deutschen Unterstützung, in der Verteidigung erfolgreich gewesen wäre. Es lässt sich vermuten, dass für eine erfolgreiche Verteidigung noch weit größere Verstärkungskräfte erforderlich gewesen wären.
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Tabelle 5: Zwölfte Isonzooffensive 1917 ZwölfteIsonzooffensive1917 AusderGefechtsartAngriffresultierendeVorteile/StärkenderMittelmächte PrinzipedesSieges WirkungdurchInitiativfunktiondesAngriffs Moral x MoralischerAufschwung(„AntriebdesAngriffs“) x Aufbruchstimmung,Begeisterung,„Seelisches Wunder“ x SteigerungvonSiegeswillenundSiegeszuversicht x FixierungaufeineklareZielsetzung x HoffnungaufEndedeszermürbendenStellungsͲ kampfes x AusnutzungmoralischerSchwachstellendesGegͲ ners(„fehlendeZähigkeitimUnglück“) Überraschung x Zeit:Gegnerunaufmerksam,Stellungennicht rechtzeitigbesetzt,bereitetselbstAngriffvor x Ort:Unerwartet,bishervomKampfgeschehen weitgehendverschont,Verteidigungsanlagen schwächer x Art/Methode:„Talstoß“vs.„Höhenstoß“ x Führung:LahmlegungdergegnerischenFührung Vermeidungeigener x PhysischeUnterlegenheit(Kräfte,Material,VerͲ Schwächen sorgung) x Moralangeschlagen:ZermürbungimverteidigenͲ denStellungskampf x UnzureichendephysischeGrundlagefüreine langfristige„Ermattungsstrategie“ x OperativinderVerteidigungkaumhaltbarePosiͲ tion:VerlustderausgebautenGebirgsstellungen Ausnutzunggegnerischer x Kampfesform:AbwehrschwächedesGegners Schwachpunkte x Moral:„FehlendeZähigkeitimUnglück“ x Disziplin:Unaufmerksamkeitanbisher„ruhigeͲ ren“Frontabschnitten Konzentration/SchwerͲ x Ort/Kräfte:ÖrtlicheÜberlegenheitdurchSchwerͲ punktbildung punktbildungmitKräftenundMaterialbeiinsgeͲ samtphysischerUnterlegenheit x Zeit/Kräfte:Nutzungvonzeitlichnurbegrenztzur VerfügungstehendendeutschenVerstärkungsͲ kräften x Moral:Geistig/moralischeKonzentrationaufeine klareZielsetzung
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III. Kapitel: Kriegsgeschichtlich / empirische Betrachtung Besser „Praevenire als Praeveniri“414: Der Sechstagekrieg 1967
2.1 Der Präventivangriff als Widerspruch zur Clausewitzschen Theorie Neben dem Gedanken, einen Angriff zu führen, weil man für die Verteidigung zu schwach ist, steht eine weitere militärische Grundüberlegung im Widerspruch zur Clausewitzschen These von der größeren Stärke der Verteidigung: der Präventivangriff. Das heißt ein Angriff, der dem gegnerischen Angriff unmittelbar zuvorkommt, und dessen Hauptmotiv gerade in diesem Zuvorkommen begründet liegt. Der Widerspruch zu Clausewitz ist darin zu sehen, dass es nach dessen Theorie keinen Sinn ergeben kann, einem unmittelbar bevorstehenden Angriff des Gegners zuvorzukommen, weil man sich dazu des Angriffs und damit der schwächeren Form des Kriegführens und Kämpfens bedienen muss, während man auf der anderen Seite nur den Angriff des Gegners abzuwarten bräuchte, um damit in den Vorzug der Verteidigung als der seiner Ansicht nach stärkeren Form zu gelangen. Um zu präzisieren muss betont werden, dass es hierbei nicht um die Art von vorgezogenen Angriffshandlungen geht, die geführt werden, um einen späteren Kampf unter dann ungünstigeren Kräfteverhältnissen zu vermeiden, weil beispielsweise der Gegner ungleich günstigere Bedingungen von der Zukunft (z.B. Verstärkungen, Verbündete, ...) zu erwarten hat als man selbst.415 Zu untersuchen sind hier die Fälle, bei denen ein Abwarten des gegnerischen Angriffs möglich ist und keine nachteiligen Kräfteverhältnisse oder sonstige negativen Umstände in der Zukunft bedingen würde. In diesen Fällen erfolgt der Angriff nicht aus einer Zwangslage heraus - weil man den Kampf nicht später unter dann ungünstigeren Verhältnissen führen will - sondern „freiwillig“ und in dem Bewusstsein, dass entgegen der Clausewitzschen These von der größeren Stärke der Verteidigung gerade der Angriff große Vorteile416 mit sich bringt und damit zur stärkeren Form des Kriegführens wird. Dass es sich bei diesen Überlegungen nicht nur um eine theoretische Fiktion fern jeglicher Realität handelt, zeigt der Sechstagekrieg von 1967. Als Israel am 5. Juni 1967 einen Präventivangriff gegen die zum Angriff aufmarschierten arabischen Streitkräfte führt, erfolgt dieser im Bewusstsein, dass ein Angriff der 414
Friedrich II. zu Beginn des Siebenjährigen Krieges. Vgl. dazu Wolfgang Venohr: Der große König. Bergisch Gladbach 1995, S. 49. 415 Als Beispiel kann der Präventivangriff Friedrichs II. zu Beginn des Siebenjährigen Krieges (1756) dienen, mit dem der preußische König einem koordinierten Vorgehen der gegen ihn gerichteten Koalitionsarmeen zuvorkam. 416 Beispielsweise durch das Überraschungsmoment.
2 Besser „Praevenire als Praeveniri“ : Der Sechstagekrieg 1967
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arabischen Seite unmittelbar bevorsteht. Aus dem Abwarten desselben war daher für Israel keine zu seinen Ungunsten sich entwickelnde Verschiebung der Kräfteverhältnisse zu erwarten. Ganz im Gegenteil hätten sich aus dem Abwarten sogar deutliche Vorteile ergeben. Die israelischen Streitkräfte wären in der Lage gewesen, ihre Mobilmachung geordnet durchzuführen und Verstärkungen an Waffen und Gerät zu organisieren.417 Da für Israel (in dieser Hinsicht) keine Notwendigkeit bestand selbst anzugreifen, liegt, wollte man die Konsequenzen aus der Clausewitzschen These von der Verteidigung als der stärkeren Form des Kriegführens ziehen, der Schluss nahe, den Angriff der Gegenseite abzuwarten, um dadurch in der Verteidigung die „Vorteile“ der stärkeren Form nutzen zu können. Zwei weitere gewichtige Argumente hätten zudem für ein Abwarten des gegnerischen Angriffs in der Verteidigung gesprochen: zum einen die mit einem Präventivangriff verbundenen negativen politischen Folgen und zum anderen die zahlen- und waffenmäßige Überlegenheit der arabischen Streitkräfte.418 Es war zwar zu erwarten, dass letztere zumindest teilweise durch die größere moralische Stärke der israelischen Streitkräfte ausgeglichen werden konnte, womit dann aber noch nicht die notwendige Überlegenheit gegeben war, die Clausewitz für einen erfolgreichen Angriff voraussetzt.419 Ein Präventivangriff Israels musste daher aus der Sicht von Clausewitz geradezu unsinnig erscheinen, weil damit auf die Vorteile der „stärkeren Form“ - die einen Sieg nicht nur leichter, sondern auch um so wahrscheinlicher und sicherer machen - völlig grundlos verzichtet worden wäre.420 Auch der von Israel verfolgte politische Zweck machte einen Angriff nicht erforderlich, da es Israel nicht um die Eroberung fremden Territoriums, sondern um den Erhalt der eigenen Existenz ging.
417
So wurden beispielsweise noch am Vorabend des Angriffs 20 französische Mirage-Jagdbomber von Frankreich nach Israel überführt. Vgl. dazu Gustav Däniker: Israels Dreifrontenkrieg. Tatsachen und Lehren, Stuttgart 1967, S. 40. Bei weiterem Abwarten wären noch erheblich größere Verstärkungen zu erwarten gewesen. 418 Vgl. dazu Jehuda L. Wallach: „... und mit der anderen hielten sie die Waffe“. Die Kriege Israels, Koblenz 1984, S. 107. Die arabischen Streitkräfte hatten demnach eine quantitative Überlegenheit von etwa 2:1 bei den Luftstreitkräften und im Hinblick auf die Mannschaftsstärke, während sie bei Panzern und Artillerie eine dreifache Überlegenheit besaßen. Diese Überlegenheit war außerdem nicht nur quantitativer Art, sondern auch die Qualität vieler Waffensysteme übertraf die der israelischen. 419 Vgl. dazu auch Däniker a.a.O., S. 115: „Es steht geschrieben, daß ein dreifaches Übergewicht nötig ist, um angreifen zu können - die Israelis haben einen dreifach überlegenen Feind angegriffen und geschlagen.“ 420 Zudem steht ein Präventivangriff im Widerspruch zu Clausewitz’ These, wonach es der natürliche Gang im Kriege sei, mit der Verteidigung anzufangen und mit der Offensive zu enden. Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 615
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III. Kapitel: Kriegsgeschichtlich / empirische Betrachtung
2.2 Israels Präventivangriff Dennoch entschließt sich die israelische Führung am 5. Juni 1967 zum Präventivschlag. Um 7:45 Uhr beginnt der Angriff der israelischen Luftwaffe auf die Luftwaffenbasen der Ägypter.421 Die Überraschung des Feindes gelingt perfekt. Der Erfolg übertrifft selbst die kühnsten Erwartungen.422 In weniger als drei Stunden wird die ägyptische Luftwaffe ausgeschaltet. 309 der ehemals 340 einsatzfähigen Kampfflugzeuge werden zerstört. Die meisten davon am Boden. Am selben Tag wird die jordanische Luftwaffe vollständig und die syrische zu zwei Dritteln vernichtet.423 Die israelischen Verluste sind vergleichsweise gering und belaufen sich am ersten Tag auf 19 Flugzeuge, während auf der anderen Seite annähernd 400 arabische Maschinen zerstört werden.424 Innerhalb kürzester Zeit gelingt es der israelischen Luftwaffe, die absolute Luftherrschaft an allen Fronten zu erringen. Damit wird die Voraussetzung für den Erfolg der Bodentruppen geschaffen. Die Luftstreitkräfte stehen bereits nach wenigen Stunden zur deren Unterstützung zur Verfügung und haben wesentlichen Anteil am Sieg.425 Nicht zu unterschätzen war dabei (insbesondere im offenen Wüstengelände) der Vorteil, dass sich die Kolonnen der israelischen Panzerdivisionen auf Grund der eigenen Luftherrschaft ohne Feindeinwirkung aus der Luft frei bewegen konnten, was die Geschwindigkeit ihres Vormarsches deutlich erhöhte und ihre Verluste verringerte.426 Chaim Herzog bezeichnet den Präventivschlag der israelischen Luftwaffe als „das herausragende Ereignis des Sechstagekrieges“. Dieser habe in einem sorgfältig geplanten Angriff die ägyptischen und anderen Luftstreitkräfte überrumpelt und nach dreistündigem konzentriertem Einsatz die vollständige Herrschaft im Luftraum an allen Fronten erreicht. Dieser Schachzug habe den Weg zum Sieg der Bodentruppen geebnet.427
421
Ägypten wurde von Israel insbesondere wegen seiner starken Luftmacht als die Hauptbedrohung angesehen, die es als erstes auszuschalten galt. Vgl. dazu Warren C. Wetmore: Die Offensive der israelischen Luftstreitkräfte als Hauptfaktor im Nahost-Konflikt. USA 1967, S. 5 422 General Mordechai Hod, der Oberbefehlshaber der israelischen Luftwaffe, äußerte sich nach dem Angriff folgendermaßen: „Ich habe natürlich gewusst, dass wir es schaffen werden, aber in meinen rosigsten Träumen hatte ich einen so schnellen und totalen Sieg nicht erwartet.“ Vgl. dazu Ernst Trost: David und Goliath. Die Schlacht um Israel 1967, Wien 1967, S. 113 423 Vgl. Chaim Herzog: Kriege um Israel 1948 bis 1984. Frankfurt 1984, S. 181 424 Vgl. Wetmore a.a.O., S. 1 425 Vgl. dazu Edward Luttwak and Dan Horowitz: The Israeli Army. New York 1975, S. 230. 426 Vgl. dazu Däniker a.a.O., S. 34-36, sowie Trost a.a.O., S. 122 427 Vgl. Herzog a.a.O., S. 224
2 Besser „Praevenire als Praeveniri“ : Der Sechstagekrieg 1967
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2.3 Angriff als die stärkere Form Hier stellt sich die Frage, welche Rolle es für diesen Sieg gespielt hat, dass Israel selbst der Angreifer war. Wäre ein ähnlicher Erfolg, das heißt ein so schneller, eindeutiger und mit so geringen eigenen Verlusten erzielter Sieg, auch denkbar gewesen, wenn Israel den Angriff der vereinigten arabischen Streitkräfte in der Verteidigung - der nach Clausewitz stärkeren Form des Kriegführens - abgewartet hätte? Hätten sich in dieser Situation für Israel aus der (vermeintlich) „stärkeren Form“ überhaupt irgendwelche Vorteile ergeben können? Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, muss man sich verdeutlichen, worin die Hauptursache für die rasche Vernichtung der feindlichen Luftstreitkräfte (den Schlüssel zum Sieg) zu sehen war. Diese lag in aller erster Linie im Überraschungsmoment, welches die israelischen Streitkräfte vorzüglich für sich zu nutzen wussten. Die zentrale Bedeutung des Überraschungsmoments beruhte in diesem Falle auf der großen Verwundbarkeit sowohl der arabischen als auch der israelischen Luftstreitkräfte. Beide Seiten hatten ihre Kampfflugzeuge auf relativ wenigen, von der Gegenseite genauestens aufgeklärten Flugplätzen bereitgestellt. Die Maschinen standen völlig offen und ungeschützt auf den Rollbahnen, da auf keiner Seite Betonunterstände vorhanden waren. Der zweite Grund für die große Verwundbarkeit der Luftstreitkräfte ist darin zu sehen, dass die damaligen Kampfflugzeuge lange, betonierte Start- und Landebahnen benötigten, die relativ leicht durch Bombenangriffe zerstört werden konnten. Außerdem war damals die Abwehrfähigkeit der bodengebundenen Luftabwehr gegenüber einem im Tiefflug unterhalb des Radarschirmes geflogenen Angriff des Gegners vergleichsweise schwach entwickelt. Diese leichte Verwundbarkeit der Luftstreitkräfte forderte gerade dazu heraus, den Gegner durch einen überraschenden Angriff zu überfallen, dabei seine Rollbahnen zu zerstören und seine Flugzeuge möglichst noch am Boden, ehe sie in der Luft zum Einsatz gebracht werden konnten, zu vernichten. Besonders begünstigt wurde im vorliegenden Fall ein Überraschungsangriff zudem durch die relativ kurzen Entfernungen zum Gegner und die damit verbundenen sehr knappen Vorwarnzeiten von nur wenigen Minuten. Es ergab sich daher für denjenigen, dem es gelang, seinen Gegner zu überraschen, die Möglichkeit, diesen mit einem einzigen konzentrierten Schlag außer Gefecht zu setzen. Gleichzeitig war die Wahrscheinlichkeit des Gelingens eines solchen überraschenden Schlages - auf Grund der, verglichen mit den Fähigkeiten zum Angriff, relativ schwach entwickelten Abwehrkapazität der damaligen Luftstreitkräfte und der bodengebundenen Luftabwehr - relativ groß. Welche Konsequenzen ein derartiger Zusammenhang für das Verhältnis von Angriff und Verteidigung nach sich zieht, wird offensichtlich. Da das Überra-
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III. Kapitel: Kriegsgeschichtlich / empirische Betrachtung
schungsmoment das alles entscheidende Faktum zum Sieg darstellte, dieses aber ausschließlich dem Angreifer zugute kam428 - durch ein Abwarten in der Verteidigung konnte eine Überraschung der gegnerischen Luftstreitkräfte am Boden nicht erreicht werden - folgt daraus, dass der Angriff (in der gegebenen Situation) zur stärkeren Form des Kriegführens und Kämpfens wurde. Dieser Sachverhalt wurde von der israelischen Führung unter Verteidigungsminister Mosche Dayan klar erkannt und stellte den Hauptgrund für die Entscheidung zum Präventivangriff dar. Der israelische Generalstab betrachtete es als eine große Gefahr, dass die arabische Seite zuerst angreifen könnte, weil damit die israelischen Truppen aller Vorteile des taktischen Überraschungsmoments beraubt würden. Zudem rechnete er in diesem Fall mit wesentlich höheren eigenen Verlusten und großen Ausfällen bei den eigenen Luftstreitkräften. Aus diesem Grund drängte der Generalstab auf einen möglichst baldigen eigenen Präventivangriff.429 Die in einer derartigen Situation sich aus dem Angriff ergebende, ganz entscheidende zusätzliche Stärke wird auch bei der Auswertung der taktischen Lehren des Sechstagekrieges immer wieder deutlich hervorgehoben. So kommt der amerikanische General Hamilton Howse zu folgendem Schluss: „ [...] Diejenige Partei, die als erste zu einem allgemeinen Luftangriff ansetzt, gewinnt damit einen Vorteil, den der Gegner nur schwer oder gar nicht wettmachen kann. Die ägyptische Luftwaffe starb in den ersten wenigen Stunden, die jordanische und die syrische Luftwaffe kurze Zeit später. Die arabische Seite konnte diesen Verlust unmöglich überdauern.“430
428
In dieser Tatsache ist auch ein Widerspruch zu der Clausewitzschen Behauptung zu sehen, wonach die Überraschung als ein „Prinzip des Sieges“ nur zu einem geringen Teil der Angreifer für sich habe, während der „größere Teil“ derselben dem Verteidiger zu Gebote stünde. Vgl. Vom Kriege. VI, 2, S. 619 429 Vgl. Luttwak und Horowitz a.a.O., S. 223. Vgl. auch S. 221: „After some initial hesitations, the generals agreed that war was inevitable and that Israel had to strike before the Egyptians did so.“ „The generals demand for a pre-emptive attack derived from their prudent assessment of the Arab threat - and especially the vulnerability of the Air Force concentrated as it was on a small number of virtually unprotected airbases.“ Mosche Dayan forderte, dass Israel aufgrund der zahlenmäßigen Überlegenheit der Araber wenigstens den Vorteil der Überraschung für sich nutzen müsse. Man müsse zumindest selbst entscheiden, wann, wo und wie der Kampf angefangen werde. Vgl. Sebestyen a.a.O., S. 189 f 430 Hamilton H. Howse: Die taktischen Lehren des Sechstagekrieges. USA 1967, S. 4 f. Für die amerikanischen Luftstreitkräfte in Europa fordert Howse als Konsequenz aus den Lehren des Sechstagekrieges den Bau von Schutzunterständen für Kampfflugzeuge. Man könne das Überleben der eigenen Luftstreitkräfte in Europa nicht davon abhängig machen, dass man selbst den ersten Schlag durchführe, betont er. Die israelische Luftwaffe sei von der Betonpiste abhängig gewesen, aber ihr eigener Angriffserfolg beweise das Verhängnisvolle dieser Abhängigkeit.
2 Besser „Praevenire als Praeveniri“ : Der Sechstagekrieg 1967
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Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich, den Jehuda L. Wallach im Rahmen seiner Auswertung der militärischen Lehren des YomKippur-Krieges von 1973 im Hinblick auf den Sechstagekrieg anstellt. Betont werden muss dabei, dass Israel 1973 von einem Angriff der arabischen Seite überrascht wurde und daher nicht die Vorteile eines Präventivangriffes auf seiner Seite hatte. „Operationen aus der Hinterhand. Während man bei den zwei vorangegangenen Waffengängen (1956 und 1967) sofort zur offensiven Phase übergehen konnte, wurden diesmal alle drei Phasen durchgespielt. Das bedeutete, dass man auf den prä-emptiven Schlag mit allen seinen Vorteilen verzichtet und auf eine Strategie der Operation „aus der Hinterhand“ angewiesen war. Es wurde offensichtlich, dass diese Strategie unter dem Einfluss der modernen Technologie sehr viel problematischer geworden war. Während zur Zeit der Kavallerie und zu Fuß marschierender Infanterie und selbst noch im Zweiten Weltkrieg im Zeitalter des Propellerflugzeuges und der damaligen Panzer - diese Strategie gute Erfolgschancen versprach, haben diese sich in der Ära der Überschallflugzeuge und Raketen sehr verringert. Der Übergang zur Gegenoffensive des den feindlichen Schlag Abwartenden (der nun auch möglicherweise zum Überrannten wurde) ist jetzt weitaus schwieriger geworden als in früheren Zeiten. Es soll damit keineswegs der politischen Führung das Recht abgesprochen werden, eine Strategie der Operationen aus der Hinterhand zu beschließen und zu befehlen. Es muss aber nachdrücklich betont werden, dass die Staatsmänner sich über die besonderen Konsequenzen dieser Handlungsweise völlig im Klaren sein müssen. Dasselbe gilt selbstverständlich auch für Militärs.“431
Des Weiteren stellt er unter der Überschrift „Defensive versus Offensive“ fest: „Es ist unverständlich, wieso namhafte Militärexperten aufgrund des Yom-KippurKrieges zu der Ansicht kommen konnten, dieser Krieg habe endlich das Übergewicht der Verteidigung über den Angriff bewiesen. Wenn schon, so scheint er gerade das Gegenteil bewiesen zu haben. Wurde doch im ersten Stadium des Krieges sowohl an der Nordfront als auch am Suezkanal die israelische Verteidigung beim feindlichen Ansturm durchbrochen, und bei einer besseren feindlichen Führung wäre es wahrscheinlich viel schwieriger geworden, den Angriff aufzufangen und die Lage zu stabilisieren. In der Phase der israelischen Gegenoffensive gelang es erneut, die feindlichen Verteidigungsmaßnahmen zu überwinden. Da zukünftige Großkriege wahrscheinlich von äußeren hemmenden Einflüssen, wie sie immer wieder in begrenzten Kriegen (und hauptsächlich im vorderen Orient!) auftreten, frei sein werden, wird sich voraussichtlich das Momentum der Offensivkraft noch unbeschränkter auswirken.“432
431 432
Wallach a.a.O., S. 143 Wallach a.a.O., S. 145
158
III. Kapitel: Kriegsgeschichtlich / empirische Betrachtung
Auch die ägyptische Militärführung wertete die Erfahrungen des Sechstagekrieges aus. Dabei wurde es als einer der Hauptfehler des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser bezeichnet, dass er die „entscheidende Bedeutung des ersten Schlages“ (Chaim Herzog) nicht erkannte, wodurch das „mächtige Potential eines Erstschlages“ nicht genutzt werden konnte. Die ägyptische Militärführung habe später diese Irrtümer analysiert, führt Herzog weiter aus, und die Planungen und die Eröffnungsphase des Krieges von 1973 hätten bewiesen, dass Präsident Anwar Al Sa’adat und seine Generäle Nassers Fehler verstanden und die Lektionen aus dem Sechstagekrieg gelernt hätten.433 Wie aber konnte es der israelischen Luftwaffe trotz der fehlenden Möglichkeit zur strategischen Überraschung434 gelingen, auf taktischer Ebene einen derart absoluten Überraschungserfolg zu erzielen. Hier spielten die bereits angesprochenen, einen Angriff begünstigenden äußeren Umstände eine wesentliche Rolle. Diese können zum Einen in den sehr kurzen Entfernungen zum Gegner gesehen werden, womit dem Verteidiger nur sehr wenig Zeit für Abwehrmaßnahmen blieb, und zum anderen im damaligen Stand der Waffentechnik. Jener begünstigte ebenfalls den Angreifer, weil die Luftabwehr des Gegners relativ leicht im Tiefflug unterlaufen werden konnte. Betont werden muss, dass nur der Angreifer Vorteile aus diesen äußeren Umständen ziehen konnte, nicht aber der Verteidiger. Zwei weitere Faktoren waren entscheidend für den Überraschungserfolg Israels, nämlich die Bestimmung von Zeit und Ort des Kampfgeschehens. Der Angreifer hat, weil er sich durch den Besitz und die Nutzung der Initiative bestimmt, in der Regel einen weitaus größeren Einfluss auf die zeitliche und örtliche Bestimmung eines Gefechts oder einer Kampfhandlung und kann seinen Gegner dahingehend in weit stärkerem Maße überraschen, als dies umgekehrt der Fall ist. Im Sechstagekrieg bestimmte der Angreifer nicht nur die Zeit, sondern auch den genauen Ort des Kampfgeschehens, und zwar nicht bloß bedingt oder teilweise, sondern absolut und ausschließlich.435 Das heißt, die zeitliche und örtliche Überraschung lagen vollständig auf Seiten des Angreifers. Nur dadurch war es möglich, den Verteidiger an dem für ihn ungünstigsten Ort, an seiner verwundbarsten Stelle, zu treffen, nämlich am Boden auf seinen eigenen Flugplätzen, noch bevor er in der Lage war, seine Maschinen in die Luft zu bringen. 433
Vgl. Herzog a.a.O., S. 225 Vgl. Charles Messenger: Blitzkrieg. Eine Strategie macht Geschichte, Bergisch Gladbach 1980, S. 372 435 Da Flugplätze statische, völlig unbewegliche Einrichtungen sind, besteht für sie nicht (wie das beispielsweise bei beweglichen Truppenteilen der Fall ist) die Möglichkeit, dem Angriff des Gegners auszuweichen, wenn man die Zeit oder den Ort des Kampfes für ungünstig hält. Der einzige Ausweg besteht darin, dem Angriff des Gegners durch einen eigenen Angriff zuvorzukommen. 434
2 Besser „Praevenire als Praeveniri“ : Der Sechstagekrieg 1967
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Begünstigt wurde diese örtliche Überraschung zudem durch die unerwartete Richtung, aus welcher der Angriff erfolgte. Die israelischen Piloten näherten sich ihren Zielen nicht auf dem erwarteten direkten Weg, sondern indirekt in einer Ausholbewegung über das Mittelmeer.436 Auch der Zeitpunkt des Angriffs wurde von den israelischen Streitkräften geschickt ausgewählt. Sie griffen nicht etwa, wie das von den der ägyptischen Führung erwartet worden war (und auch der gängigen Ausbildungsnorm entsprochen hätte), beim ersten Tageslicht an, sondern drei Stunden später. Damit umgingen sie die Zeit der höchsten Alarmbereitschaft der ägyptischen Luftwaffe und trafen diese umso überraschender.437 2.4 Ergebnis Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass in der Eröffnungsphase des Sechstagekrieges, die sich als entscheidend für dessen Ausgang erwies, ausschließlich der Angreifer die Vorteile des Überraschungsmoments für sich in Anspruch nehmen konnte, da der Verteidiger keinerlei Einfluss auf Zeit und Ort des Kampfgeschehens hatte. Da die Überraschung aufgrund der großen Verwundbarkeit beider Seiten den wichtigsten Faktor zum Siege darstellte, muss der Angriff in dieser Situation, entgegen der Theorie von Clausewitz, als die stärkere Form des Kriegführens und Kämpfens betrachtet werden. In der verteidigenden Form waren keinerlei militärische Vorteile sondern ausschließlich unübersehbare Nachteile zu erkennen. Somit steht das Beispiel des Sechstagekrieges in klarem Widerspruch zur Clausewitzschen These von der (vermeintlich) größeren Stärke der Verteidigung. Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, muss noch auf zwei Punkte hingewiesen werden. Es sollte bei dieser Untersuchung nicht der Eindruck erweckt werden, als hätte Israel den Krieg von 1967 ohne eigenen Präventivangriff nicht gewinnen können. Auch kam es bei der Feststellung, dass im Sechstagekrieg der Angriff die stärkere Form der Auseinandersetzung war, nicht auf den siegreichen Ausgang des Krieges an, obwohl dieser den Sachverhalt natürlich zusätzlich unterstreicht. Sieg und Niederlage hängen von einer Vielzahl verschiedenster Faktoren ab. Die Wahl der („jeweils“) stärkeren Form des Kriegführens und Kämpfens stellt dabei nur einen dieser Faktoren dar, der aber wie das betrachtete Beispiel zeigt, im Einzelfall sehr bedeutend sein kann.
436 437
Vgl. dazu Messenger a.a.O., S. 372 Vgl. dazu Messenger a.a.O., S. 372
160
III. Kapitel: Kriegsgeschichtlich / empirische Betrachtung
2.5 Mögliche Einwände Abschließend sollen denkbare Einwände untersucht werden, die gegen die Behauptung angeführt werden könnten, Israel habe in erster Linie deshalb präventiv angegriffen, weil es im Angriff große militärische Vorteile gegenüber der Verteidigung sah und auf diese nicht verzichten wollte. So könnte beispielsweise unterstellt werden, Israel sei schon allein aus verschiedenen anderen Gründen, beispielsweise auf Grund seiner geostrategischen Lage, seiner politischen Zwecksetzung oder aus wirtschaftlichen Gründen zu einem offensiven und präventiven Vorgehen gezwungen gewesen. Es muss allerdings betont werden, dass, unabhängig davon, worin die Hauptgründe für die Entscheidung Israels zum Präventivangriff lagen, die Tatsache, dass im Sechstagekrieg für Israel der Angriff die stärkere Form der Auseinandersetzung darstellte, nicht in Frage gestellt würde. Dennoch macht es Sinn, auf diese Einwände zu sprechen zu kommen. Wenn gezeigt werden kann, dass der Hauptgrund für den Angriff Israels in der Tatsache zu sehen ist, dass es in dieser Form des Kriegführens und Kämpfens größere Vorteile erblickte als in der Verteidigung und diese für sich nutzen wollte, so erhält das Beispiel des Sechstagekrieges um so mehr Gewicht als Beleg für die Unvereinbarkeit der Clausewitzschen These von der „stärkeren Form des Kriegführens“ mit dem Präventivgedanken in dem hier betrachteten Sinne. 2.5.1 Geostrategische Lage Als erstes soll der Einwand betrachtet werden, Israel hätte sich auf Grund seiner geostrategischen Lage, der Enge seines Territoriums und seiner geringen räumlichen Tiefe, eine Verteidigung militärisch gar nicht leisten können und sei deshalb gezwungen gewesen anzugreifen unabhängig davon, ob im Angriff als solchem Vor- oder Nachteile zu sehen waren. Dieser Einwand ist für sich betrachtet nicht ganz von der Hand zu weisen. Als Argument gegen die hier aufgezeigte Clausewitzkritik eignet er sich jedoch nicht, da ein solcher Einwand nach den Theorien von Clausewitz gar nicht erfolgen dürfte. Der Kriegsphilosoph macht seine Theorie von der Verteidigung als der stärkeren Form des Kriegführens nicht etwa von der jeweiligen geostrategischen Lage abhängig. Die Verteidigung ist für ihn grundsätzlich die stärkere Form völlig unabhängig von Größe und räumlicher Tiefe des Kriegstheaters. Zudem betont er, dass derjenige, der stark genug sei, sich der schwächeren Form zu bedienen, erst recht stark genug sein müsse, die stärkere zu wählen. Das heißt, der Fall, dass ein Akteur zu der Einschätzung gelangt für die Verteidigung (d.h. für die vermeintlich „stärkere Form“) z.B. aufgrund einer ungünstigen geostrate-
2 Besser „Praevenire als Praeveniri“ : Der Sechstagekrieg 1967
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gischen Lage zu schwach zu sein und deshalb den Angriff und damit die „schwächere Form“ wählt, steht in völligem Gegensatz zu den Gedanken des preußischen Kriegsphilosophen. Wollte man dennoch auf dem oben genannten Einwand beharren, so würde man damit unterstreichen, dass der Angriff in dieser Situation die stärkere Form der Auseinandersetzung war. Denn wenn man sich die Verteidigung in diesem Falle aus militärischen Gründen nicht glaubte leisten zu können, so wäre es äußerst widersprüchlich, diese in dem betrachteten Fall als die stärkere Form zu bezeichnen. 2.5.2 Politische Zwecksetzung Als nächstes soll der Einwand betrachtet werden, Israel sei schon allein aus politischen Gründen dazu gezwungen gewesen, selbst anzugreifen, weil die eigenen Kriegsziele nur durch Angriff erreichbar waren. Untersucht man die Kriegsziele Israels jedoch im Einzelnen, so wird deutlich, dass dieser Einwand mehr als fragwürdig ist. Das erste und wichtigste Ziel, die Selbstbehauptung Israels als Staat und Nation, d.h. die Sicherung des Status quo, machte einen Angriff nicht erforderlich. Es ging Israel nicht etwa darum, Ägypten oder Syrien zu erobern. Auch das zweite Kriegsziel, die Vernichtung der auf dem Sinai zum Angriff gegen Israel aufmarschierten ägyptischen Streitkräfte, erforderte nicht notwendigerweise einen eigenen Angriff. „Vernichten“ ist (wie im zweiten Kapitel bereits dargestellt wurde) gemäß Clausewitz gleichermaßen Zweck von Angriff und Verteidigung. In beiden Fällen musste nach den Theorien von Clausewitz ein Abwarten des gegnerischen Angriffs in der Verteidigung viel sinnvoller erscheinen, weil man dadurch die Vorteile der „stärkeren Form“ auf seiner Seite gehabt hätte und somit die eigenen Kriegsziele um so leichter und sicherer hätte erreichen können. Zwei weitere Ziele Israels, die Öffnung der Meerenge von Tiran und - wenn man es wirklich als ein Kriegsziel annehmen will - die Eroberung eines Faustpfandes für spätere Verhandlungen, schienen allerdings einen eigenen Angriff erforderlich zu machen. Hier muss jedoch eingewandt werden, dass ein solcher Angriff genauso gut auch als ein im Rahmen der Verteidigung geführter Gegenangriff im Sinne des „blitzenden Vergeltungsschwertes“ (von Clausewitz)438 hätte erfolgen können, und man daher den Vorteil der „stärkeren Form“ nicht hätte aufgeben müssen. Somit lässt sich festhalten, dass für Israel auf Grund der
438
Vgl. dazu Vom Kriege VII, 2, S.871ff.
162
III. Kapitel: Kriegsgeschichtlich / empirische Betrachtung
verfolgten Kriegsziele keine Notwendigkeit dazu bestand, selbst präventiv anzugreifen. 2.5.3 Abwarten als Möglichkeit? Ein weiterer Einwand könnte in der Frage bestehen, ob ein Angriff der arabischen Seite auch tatsächlich erfolgt wäre, und ob Israel es sich aus wirtschaftlichen Gründen (durch die Mobilmachung der Reservisten wurden der israelischen Wirtschaft wichtige Arbeitskräfte entzogen) überhaupt hätte leisten können, einen solchen abzuwarten, womit schon allein aus diesen Gründen ein Zwang zum Angriff bestanden hätte. Es soll hier nicht die Frage vertieft werden, ob die arabischen Staaten Israel tatsächlich angegriffen hätten oder nicht. Es gibt gewichtige Argumente, die dafür sprechen.439 Hinsichtlich der zu untersuchenden Fragestellung sind derartige Überlegungen jedoch irrelevant. Für die Entscheidung Israels, entweder selbst präventiv anzugreifen oder aber einen Angriff der Gegenseite in der Verteidigung abzuwarten, konnte es überhaupt keine Rolle spielen, wie die Gegenseite letztendlich wirklich gehandelt hätte. Selbst aus heutiger Sicht lässt sich diese Frage nicht definitiv beantworten. Wichtig war einzig und allein, wie die israelische Führung die zu erwartende Handlungsweise der arabischen Seite einschätzte. Hinsichtlich dieser Einschätzung lässt sich sagen, dass für die führenden israelischen Militärs allein die Möglichkeit, von einem arabischen Angriff überrascht zu werden, so bedeutsam war, weil man erkannt hatte, dass eine Verteidigung ganz entscheidende militärische Nachteile zur Folge haben würde, dass schon allein aus diesem Grund die Frage, wie wahrscheinlich ein solcher Angriff tatsächlich war und ob Israel aus wirtschaftlichen Gründen auch in der Lage wäre, einen solchen abzuwarten, völlig in den Hintergrund trat. Israel erkannte die gewaltigen militärischen Vorzüge, die ein Präventivangriff mit sich brachte, und glaubte daher, sich schon allein aus militärischen Gründen ein Abwarten in der Verteidigung nicht leisten zu können. 2.5.4 Resultat Es kann festgehalten werden, dass der Hauptgrund für die Entscheidung Israels, einen Präventivangriff zu führen, darin zu sehen ist, dass die israelische Führung den Angriff in der vorliegenden Situation als die eindeutig stärkere Form des Kriegführens und Kämpfens erkannte und nicht auf seine, in diesem Falle gewaltigen, Vorzüge verzichten wollte. Somit ist das Beispiel des Sechstagekrieges 439
Vgl. dazu Luttwak und Horowitz a.a.O., S. 221-224, sowie Sebestyen a.a.O., S. 189
3 Kriegsgeschichtliche Betrachtung: Zusammenfassung des Ergebnisses
163
geeignet, um damit die Unvereinbarkeit des Präventivgedankens mit den Theorien von Clausewitz zu unterstreichen. Tabelle 6: Der Sechstagekrieg 1967 DerSechstagekrieg1967 AusderGefechtsartAngriffresultierendeVorteile/StärkenIsraels PrinzipedesSieges WirkungdurchInitiativfunktiondesAngriffs Überraschung Enorme Bedeutung des Überraschungsmomentes durch die EntscheidendeBedeutungdeserstenSchlages: x Wechselseitige hohe Verwundbarkeit insbesondeͲ rederLuftstreitkräfte(keineBetonunterstände) x Stand der Waffentechnik: Luftangriffsfähigkeit vs. Luftabwehrfähigkeit x KurzeEntfernungenzumGegner x KurzeReaktionszeit x GeringeräumlicheTiefedeseigenenTerritoriums x Bestimmung von Ort und Zeit des KampfgescheͲ hens,sowiederMethodedesVorgehens Vermeidungeigener x Hohe Verwundbarkeit insbesondere der eigenen Schwächen Luftstreitkräfte x BegrenzteLuftabwehrfähigkeit(StandderTechnik) x GeringeräumlicheTiefedeseigenenTerritoriums AusnutzunggegneriͲ x HoheVerwundbarkeitdergegnerischenLuftstreitͲ scherSchwachpunkte kräfte x BegrenzteLuftabwehrfähigkeit(StandderTechnik) x AbwehrschwächedurchoffensivenAufmarsch Ausnutzungeigener x Führungsfähigkeit Stärken: x MoralischeÜberlegenheit x AusbildungsniveauderStreitkräfte x BeweglicheGefechtsführung
3
Kriegsgeschichtliche Betrachtung: Zusammenfassung des Ergebnisses
Ziel dieses Kapitels war es, das Clausewitzsche Theorem von der Verteidigung als der „an sich stärkeren Form des Kriegführens“ auf seine Vereinbarkeit mit der praktischen Wirklichkeit des Krieges zu untersuchen. Dazu wurden die Clausewitzschen Überlegungen mit zwei in der Praxis wiederkehrenden kriegstheoretischen Phänomenen konfrontiert, welche mit seinen Gedanken nicht vereinbar erscheinen. Dem Angriff aus Schwäche und dem Präventivangriff. Beide
164
III. Kapitel: Kriegsgeschichtlich / empirische Betrachtung
Phänomene wurden je anhand eines praktischen Beispiels näher auf ihre Vereinbarkeit mit der Clausewitzschen Theorie des Krieges untersucht und bewertet. Als Ergebnis dieser Untersuchung können folgende Erkenntnisse festgehalten werden: Erstens: Bestimmte kriegstheoretische Phänomene, wie z.B. der Angriff aus Schwäche und der Präventivangriff, sind mit der Clausewitzschen Theorie von der Verteidigung als der an sich stärkeren Form des Kriegführens nicht erklärbar und stellen diese unmittelbar in Frage. Sie liefern einen klaren Beleg für die Unvereinbarkeit der Clausewitzschen These mit der Wirklichkeit des Krieges. Im Falles des Angriffs aus Schwäche, ist der Widerspruch darin zu sehen, dass Clausewitz die Verteidigung als ein notwendiges Übel betrachtet, dessen sich derjenige bedienen muss, der für einen Angriff noch nicht stark genug ist, und der sich deshalb den positiven Zweck noch nicht vorsetzen kann. Er benutzt die Verteidigung, die nach Clausewitz` Vorstellungen den „bloß negativen Zweck hat“ nur, um seine eigene Schwäche durch die Wahl der vermeintlich „stärkeren Form des Kriegführens“ zu kompensieren. Dieses Gedankengebäude schließt jedoch den Fall, dass ein Akteur deshalb angreift, weil er für die Verteidigung zu schwach ist, gänzlich aus. Denn wer stark genug ist anzugreifen, ist den Überlegungen von Clausewitz zufolge erst recht stark genug zu verteidigen, womit der Fall, dass ein Angriff geführt wird, weil man für die Verteidigung zu schwach ist, ausgeschlossen wird. Denn, so muss aus seiner Behauptung zwingend folgen, wer für die „stärkere Form des Kriegführens“ nicht stark genug ist, kann es sich natürlich nicht erlauben, die „schwächere Form“ zu wählen. Beim Präventivangriff, das heißt bei einem Angriff, der dem gegnerischen Angriff unmittelbar zuvorkommt, und dessen Hauptmotiv gerade in diesem Zuvorkommen begründet liegt, ist der Widerspruch zu Clausewitz darin zu sehen, dass es nach dessen Theorie nicht sinnhaft erscheinen kann, einem unmittelbar bevorstehenden Angriff des Gegners zuvorzukommen, weil man sich dazu selbst des Angriffs und damit der schwächeren Form des Kriegführens und Kämpfens bedienen muss, während man auf der anderen Seite nur den Angriff des Gegners abzuwarten bräuchte, um damit in den Vorzug der Verteidigung als der stärkeren Form zu gelangen, die einen Sieg nicht nur leichter sondern auch wahrscheinlicher und sicherer machen würde. Zweitens: In der Kriegsgeschichte finden sich bedeutende Ereignisse, wie z.B. die 12. Isonzooffensive von 1917 oder der Sechstagekrieg von 1967 in denen sich, im Widerspruch zur Clausewitzschen Grundüberlegung von der größeren Stärke der Verteidigung, eindeutig der Angriff als die stärkere Form des Kriegführens erwiesen hat. Die Wahl der angreifenden Form war in den betrachteten Fällen durch die zusätzlichen Vorteile und Stärken, die sie vermittelte, entscheidende Voraussetzung für den Gesamterfolg.
3 Kriegsgeschichtliche Betrachtung: Zusammenfassung des Ergebnisses
165
Drittens: Militärischer Erfolg im Angriff setzt nicht notwendigerweise physisch/moralische Überlegenheit voraus, sondern ist, wie die Beispiele von 1917 und 1967 zeigen, auch bei eigener Unterlegenheit möglich. Die Clausewitzsche Forderung, wonach sich der Schwächere grundsätzlich der Verteidigung zu bedienen habe, ist damit nicht haltbar. Viertens: Es gibt Situationen, in denen der Angriff die zweckmäßigere, effektivere und damit stärkere Form des Kriegführens und Kämpfens darstellt, obwohl an einen solchen in den betrachteten Fällen nach den Überlegungen von Clausewitz gar nicht zu denken wäre. Anzugreifen, weil man für die Verteidigung zu schwach ist, stellt hierbei den stärksten Widerspruch zur Theorie von Clausewitz dar. Widerspruch: Hinsichtlich dieser vier Gesichtspunkte besteht ein Widerspruch zwischen der Clausewitzschen Theorie und der praktischen Wirklichkeit des Krieges. Es kann unterstellt werden, dass ein Denken, zu sehr verhaftet am Wortlaut des preußischen Kriegsphilosophen, die deutsch/österreichische wie auch die israelische Führung die gewaltigen Vorzüge des Angriffs in den aufgezeigten Situationen von 1917 und 1967 mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte verkennen lassen. Konsequenzen: Es kann darüber hinaus in Frage gestellt werden, ob eine Führung, die sich (in dieser Hinsicht) an der Clausewitzschen Theorie orientiert hätte, überhaupt auf die Idee hätte kommen können, selbst anzugreifen, weil ihre Gedanken, eingeengt von der These, die Verteidigung sei die stärkere Form des Kriegführens, den Angriff nicht als die in den betrachteten Fällen stärkere und vorteilhaftere Form erkannt haben würde. Somit wären zwei bedeutende militärische Erfolge in dieser Form möglicherweise nicht realisiert worden, wenn das Urteil der jeweils verantwortlichen Führer in zu starkem Maße in den Theorien von Clausewitz verhaftet gewesen wäre. Interpretation: Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, muss abschließend auf folgende Punkte hingewiesen werden: Es soll aus diesen Überlegungen nicht gefolgert werden, dass in Umkehrung der Clausewitzschen Vorstellungen der Angriff die grundsätzlich stärkere Form des Kriegführens wäre. Es sollte auch nicht der Eindruck erweckt werden, man könne etwa aus der Tatsache des Sieges auf die stärkere Form rückschließen. Wie bereits hervorgehoben wurde, haben Sieg und Niederlage eine Vielzahl von Ursachen, und die Wahl der stärkeren oder schwächeren Form der Auseinandersetzung ist nur eine davon. Auch sollte im Hinblick auf die betrachteten kriegsgeschichtlichen Beispiele nicht gesagt werden, dass der Sieg ausschließlich der Tatsache des Angriffs zuzuschreiben wäre. Wohl aber muss betont werden, dass die aus dem Angriff sich ergebenden Stärken und Vorzüge in den betrachteten Fällen einen ganz wesentlichen Beitrag zum Sieg geleistet haben. Es darf sehr stark bezweifelt werden, dass
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III. Kapitel: Kriegsgeschichtlich / empirische Betrachtung
die jeweils erzielten Erfolge in der Verteidigung auch nur annähernd hätten realisiert werden können.
167
3
IV. Kapitel: Kritische Analyse und Bewertung der Clausewitzschen Argumentation IV. Kapitel: Kritische Analyse und Bewertung Der aufgezeigte Widerspruch, in dem sich die Clausewitzsche Theorie von der Verteidigung als der „stärkeren Form des Kriegführens“ mit der praktischen Wirklichkeit des Krieges befindet, macht es erforderlich, die Argumentation des Kriegsphilosophen zur Begründung seiner These genauer zu untersuchen. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass eine der grundlegenden Forderungen, welche Clausewitz selbst an die Theorie stellt, darin besteht, dass sie nicht in Widerspruch mit der Erfahrung stehen dürfe. Die Theorie müsse in jedem Falle das, was sie von den Dingen aussage, entweder aus der Kriegsgeschichte abstrahiert oder wenigstens mit ihr verglichen haben.440 Bei der Untersuchung seines Werks wird deutlich, dass Clausewitz zur Begründung seiner These von der größeren Stärke der Verteidigung eine Reihe sehr unterschiedlicher Argumentationsansätze verwendet, die mit Schwerpunkten im VI. und VII. Buch auf sein ganzes Werk verstreut, an verschiedenen Stellen immer wieder aufgegriffen und mit unterschiedlicher Akzentsetzung neu betrachtet werden. Die einzelnen Argumente hängen dabei zum Teil eng zusammen und stehen in gegenseitiger Wechselwirkung. Grundsätzlich lassen sich vier Argumentationslinien unterscheiden: Erstens: Die Begründung seiner Erkenntnis durch die Nature der Dinge. Zweitens: Die Ableitung seiner Theorie aus rein logischen Gesetzmäßigkeiten. Drittens: Die Begründung seiner Theorie mit den Prinzipen des Sieges. Viertens: Die Ableitung seiner These aus dem Phänomen des Gegenangriffs. Da es Clausewitz nicht vergönnt war sein Werk „Vom Kriege“ zu vollenden, kann seine Argumentation insgesamt mit Gat441 als zum Teil relativ „unsystematisch“ bezeichnet werden. Im Folgenden sollen die einzelnen Begründungsansätze des Kriegsphilosophen sowie der zwischen diesen bestehende Zusammenhang dargestellt, analysiert und kritisch bewertet werden.
440 441
Vgl. dazu Linnebach a.a.O., S. 486 Vgl. Gat a.a.O., S. 6
J. Schmid, Die Dialektik von Angriff und Verteidigung, DOI 10.1007/978-3-531-93037-4_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
168 1
IV. Kapitel: Kritische Analyse und Bewertung
„Natur der Sache“
Der zentrale Bezugspunkt für alle Argumente, die Clausewitz zur Begründung seiner Theorie von der größeren Stärke der Verteidigung anführt, liegt in seiner Überzeugung, wonach die Überlegenheit der Verteidigung über den Angriff bereits in der „Natur der Sache“442 zu sehen sei. Diese Überzeugung stellt für ihn in dialektischer Weise gleichzeitig Ausgangspunkt und Ergebnis seiner Überlegungen dar. Jeden einzelnen Faktor für die größere Stärke der Verteidigung führt Clausewitz ursächlich auf die „Natur der Dinge“ zurück. So betont er, dass dieser sich aus Begriff und Zweck ergebende Vorteil der Verteidigung in der Natur aller Verteidigung liege.443 Immer aber, so führt er weiter aus, werde ihr (der Verteidigung) der Beistand der Gegend gewiss sein, und weil Gegend und Boden jetzt mehr als je den kriegerischen Akt mit ihren Eigentümlichkeiten durchdringen, ihr im allgemeinen ihre natürliche Überlegenheit sichern.444 Mit Verweis auf das zweite und dritte Kapitel des sechsten Buches glaubt Clausewitz gezeigt zu haben, wie die Verteidigung im Gebrauch der von ihm entwickelten sechs „Prinzipe des Sieges“, d.h. dem Beistand der Gegend, der Überraschung, des Anfalls von mehreren Seiten, des Beistandes des Kriegstheaters und des Volkes sowie in der Benutzung großer moralischer Kräfte, eine natürliche Überlegenheit habe.445 Daher, so folgert er im siebten Buch, müsse der Angreifende seinen „natürlichen Nachteil“ durch Überlegenheit in physisch/moralischer Hinsicht gutmachen.446 1.1 Der negative Zweck als Stärke Hinsichtlich dieser Argumentation stellt sich die Frage, auf welche der Verteidigung natürlicherweise zukommende Eigenschaft der preußische Kriegsphilosoph die Überlegenheit der verteidigenden Form des Kriegführens und Kämpfens gründet. Clausewitz geht hierbei von der Überlegung aus, dass ein großer Zweck mehr Kraftaufwand erfordere als ein kleiner. Der kleinste Zweck aber, den man sich vorsetzen könne, sei der reine Widerstand, d.h. der Kampf ohne eine positive Absicht. Einem solchen Kampf attestiert Clausewitz daher eine „negative Natur“. In dieser liegt seiner Meinung nach der „Ursprung des das ganze Gebiet des Krieges beherrschenden Unterschiedes von Angriff und Verteidigung“.
442
Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 615 Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 614 Vgl. Vom Kriege. VI, 2, S. 621 445 Vgl. Vom Kriege. VI, 6, S.636 446 Vgl. Vom Kriege. VII, 16, S. 911 443 444
1 „Natur der Sache“
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Weiter betont er, dass aus dieser negativen Absicht selbst alle die Vorteile und so alle die stärkeren Formen des Kampfes abgeleitet werden könnten, die der Verteidigung zur Seite stünden. Die negative Absicht, d.h. die Vereinigung aller Mittel im bloßen Widerstand, gibt daher gemäß Clausewitz eine Überlegenheit im Kampf.447 Zu betonen ist, dass, wie der Kriegsphilosoph an anderer Stelle deutlich macht, die Verteidigung nur indem sie sich mit dem bescheidenen Ziel der Erhaltung des Besitzes begnügt zu den Vorteilen der stärkeren Kriegsform gelangen könne.448 Auf den Punkt bringt Clausewitz seine Vorstellungen im ersten Kapitel des VI. Buches: „Was ist der Zweck der Verteidigung? Erhalten. Erhalten ist leichter als Gewinnen, schon daraus folgt, daß die Verteidigung bei vorausgesetzten gleichen Mitteln leichter sei als der Angriff.“449
1.1.1 Großer Zweck erfordert mehr Kraftaufwand Folgt man der Clausewitzschen Argumentation, so kann seine Ausgangsthese, wonach ein großer Zweck mehr Kraftaufwand erfordere als ein kleiner, bis zu einem gewissen Grad noch nachvollzogen werden. Wobei bereits einschränkend anzufügen ist, dass eine große / ambitionierte Zwecksetzung, wie man sie beispielsweise in Form der Wahrnehmung existenzieller / vitaler Interessen sehen kann, i.d.R. auch größere eigene Kraftreserven zu mobilisieren vermag als ein kleiner. Das bedeutet gleichzeitig, dass man damit an zusätzlicher Stärke gewinnt und das relative Stärkeverhältnis zum Gegner verändert wird. Der zentrale argumentative Schritt von Clausewitz besteht darin, dass er den seiner Ansicht nach kleinstmöglichen Zweck im Kriege, im reinen Widerstand oder im Kampf ohne eine positive Absicht zu erkennen glaubt, und aus dieser „negativen Absicht“ eine Überlegenheit im Kampf ableitet. Hierbei setzt er den Zweck des reinen Widerstandes und die negative Absicht gleich mit dem „bescheidenen Ziel der Erhaltung des Besitzes“. Er bestärkt seine Argumentation mit der unbegründeten Behauptung, wonach Erhalten leichter sei als Gewinnen und folgert daraus, dass die Verteidigung leichter und stärker sei als der Angriff. Diese Schlussfolgerung wird von Clausewitz nicht weiter begründet und beruht letztendlich auf seiner Definition von Angriff und Verteidigung im Rahmen derer er das Erhalten zwar der Verteidigung (und dieser ausschließlich) nicht aber dem Angriff als Zweck zuordnet.
447
Vgl. Vom Kriege. I, 2, S. 220 f Vgl. Vom Kriege. VI, 8, S. 649 f 449 Vom Kriege. VI, 1, S. 614 448
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IV. Kapitel: Kritische Analyse und Bewertung
Die Stimmigkeit dieser von Clausewitz aufgebauten Argumentationskette hängt insbesondere von drei Prüffragen ab, die im Folgenden näher untersucht und bewertet werden sollen: a. Ist Erhalten, wie von Clausewitz unterstellt, tatsächlich leichter als Gewinnen? b. Ist die kleinstmögliche oder negative Zwecksetzung aus der Clausewitz die Überlegenheit der Verteidigung schlussfolgert nur im Rahmen der Verteidigung denkbar? c. Wie ist die Clausewitzsche Argumentation hinsichtlich einer Verteidigung zu bewerten, die sich nicht mit dem bescheidenen Ziel des Erhaltens begnügt? 1.1.2 Erhalten leichter als Gewinnen? Die Behauptung, wonach Erhalten leichter sei als Gewinnen, mag auf den ersten Blick plausibel erscheinen. Das ist sie jedoch, wenn man nach den Gründen fragt, keineswegs. Warum sollte das dauerhafte Erhalten einer Eroberung grundsätzlich leichter sein als der Eroberungsakt selbst? Die Clausewitzsche These scheint schon allein durch die Vielzahl empirischer Beispiele widerlegt, in denen es nicht gelungen ist eine durch erfolgreichen Angriff gemachte Eroberung verteidigender Weise zu erhalten. Ein Blick auf die großen Eroberungsunternehmungen der Weltgeschichte von Alexander dem Großen, über Dschingis Kahn bis hin zu Napoleon und Hitler macht deutlich, dass entgegen der Clausewitzschen Vorstellung das „Erhalten“ einer Eroberung in vielen Fällen weit schwieriger sein kann und mehr Kraftaufwand erfordert als der Eroberungsakt selbst. Das Unvermögen große, im Angriff gewonnene Gebiete, Imperien oder Kolonialreiche auf Dauer verteidigender Weise zu erhalten, legt vielmehr den Schluss nahe, dass entgegen der Clausewitzschen Überlegung, in vielen Fällen der dauerhafte Erhalt einer Eroberung die eigentliche Herausforderung darstellt. Hierbei kann sich insbesondere auf lange Sicht der Faktor Zeit als Verbündeter des Angriffs erweisen. Während der Verteidiger dauerhaft erfolgreich und daher vorbereitet und wachsam sein muss, um zu erhalten, was er besitzt, genügt es für den Angreifer ein einziges Mal stark und erfolgreich sein, um den Verteidiger zu überwinden. Gat stellt in diesem Zusammenhang fest, dass sich viele Beispiele für das Gegenteil (der Clausewitzschen Behauptung) anführen ließen und man ohne weiteres behaupten könne, dass Nehmen leichter sei als Erhalten. Er führt die Clausewitzsche These auf dessen persönliche Eindrücke zurück, mit welchen dieser jedoch den Anspruch erhebe, universelle Wahrheiten zum Ausdruck zu
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bringen.450 Die Neigung des Kriegsphilosophen zu unzutreffenden Verallgemeinerungen durchaus zutreffender Einzelwahrnehmungen kann als eine grundlegende, wiederkehrende methodische Schwachstelle seines Werkes und seiner Argumentation betrachtet werden. Die von Gat aufgezeigte Tendenz scheint sich in aktuellen Konfliktszenaren zu bestätigen, bei denen wie im Irak oder in Afghanistan, nicht die einleitende offensiv geführte Intervention sondern die anschließende Phase der Stabilisierung zum Zweck der Erhaltung des Erreichten zur entscheidenden und andauernden Herausforderung wird. Die Notwendigkeit von Truppenverstärkungen gerade für diese Phase der Auseinandersetzung451, mit der Zwecksetzung einen bereits erreichten Zustand oder eine „Eroberung“ verteidigender Weise zu erhalten, macht dies nur allzu deutlich. So weist der amerikanische Chef der Vereinigten Stabschefs Mullen im Bezug auf die Situation in Afghanistan darauf hin, dass man zwar genug Kräfte habe, um im Kampf erfolgreich zu sein, dass man jedoch nicht über genügend Kräfte verfüge, um das freigeräumte Territorium auch zu halten. Daher ergibt sich gerade für die Phase des „Erhaltens“ einmal gewonnenen Territoriums die Notwendigkeit von Truppenverstärkungen.452 Wenn aber das Erhalten mehr Kräfte erfordert als das Erobern, so deutet dies darauf hin, dass in dem betreffenden Fall das Erobern offenbar leichter war als das Erhalten und die Clausewitzsche Schlussfolgerung, wonach Erhalten grundsätzlich leichter sei als Erobern, so nicht zutreffen kann. Ein möglicher Gedanke, der die Clausewitzsche Interpretation, zumindest ein Stück weit erklären kann, könne darin gesehen werden, dass der angreifende Akteur häufig nicht nur erobern / gewinnen, sondern gleichzeitig das, was er schon hat, erhalten will und damit zum zeitgleichen Verteidiger wird, während sich der „reine“ (bloße) Verteidiger mit dem Erhalten begnügt. Das heißt, nur Erhalten könnte im Einzelfall eine leichter zu erreichende Zwecksetzung sein, als Erhalten und gleichzeitiges Gewinnen. Das bedeutet jedoch nicht (so die implizite Fehlinterpretation), dass Erhalten an sich leichter ist als Erobern. Der Angreifende Akteur verfolgt nur mitunter eine doppelte Zwecksetzung, die in ihrer Gesamtheit im Einzelfall schwieriger sein kann, weil sie ihn zum gleichzeitigen Verteidiger macht. Zu bedenken ist hierbei die Tatsache, dass der Angriff immer auch ein Stück weit zur eigenen Verteidigung beiträgt, da er den Gegner zu Verteidigungsmaßnahmen zwingt, die gleichzeitig dessen Offensivpotenzial reduzieren. Die Redewendung wonach „Angriff die beste Verteidigung sei“ hat daher durch450
Vgl. Gat a.a.O., S. 6. Vgl. die Phase des „Surge“ im Irak, und die aktuell angekündigten Truppenverstärkungen für Afghanistan. 452 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 299, 22.12.2008, S. 8 451
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IV. Kapitel: Kritische Analyse und Bewertung
aus einen wahren Kern, solange sie nicht verabsolutiert wird. Das erklärt bis zu einem gewissen Grad auch, dass der reine Widerstand oder eine passive, rein defensive Art der Verteidigung nur selten zum Erfolg führt, da sie es dem Angreifer erlaubt sich ganz auf seine Offensive zu konzentrieren. Es ist erstaunlich und widersprüchlich zugleich, dass Clausewitz, obwohl er diesen Zusammenhang klar erkannt hatte und daher grundsätzlich einer aktiven Verteidigung mit offensiven Elementen das Wort redet, gleichzeitig versucht aus dem „reinen Widerstand“ eine besondere Stärke der Verteidigung abzuleiten. Vor dem Hintergrund der besonderen Herausforderung mehrere Zwecksetzungen gleichzeitig zu verfolgen erklärt sich auch die besondere Stärke von Akteuren, die nichts zu verteidigen haben und daher ihre gesamte Kraft in den Angriff legen können. Als Beispiele hierfür können Revolutionäre Bewegungen oder Akteure genannt werden, deren zu schützende Basis der Reichweite des Gegners entzogen bleibt. Zu denken wäre hierbei an Reiternomaden, Seevölker mit insularer Lage oder irreguläre Terror- oder Guerillaakteure, die sich durch die Verschmelzung mit der Bevölkerung einer Fassbarkeit entziehen. Eine größere Leichtigkeit des Erhaltens und damit eine größere Stärke der Verteidigung ist aus diesen Überlegungen keinesfalls abzuleiten. Da Clausewitz selbst keine Begründung für seine These anführt, wonach die Zwecksetzung des „Erhaltens“ als grundsätzlich „leichter und einfacher“ als die des angriffsweise Eroberns zu betrachten sei, und es bei der bloßen Behauptung belässt, gibt es keine Anhaltspunkte diese These als bestätigt anzusehen. Sie kann daher nicht als argumentative Grundlage für seine Theorie von der „stärkeren Form des Kriegführens“ betrachtet werden. 1.1.3 Negative Zwecksetzung nur in der Verteidigung? Weitere Unstimmigkeiten lassen sich in der Argumentation des Kriegsphilosophen erkennen, wenn man sich die Frage stellt, nach welchen Kriterien ein großer von einem kleinen Zweck zu unterscheiden ist, und warum die Zwecksetzung im Angriff als grundsätzlich größer als in der Verteidigung zu betrachten sein solle. Clausewitz bleibt eine systematische Antwort schuldig. Er verweist lediglich darauf, dass der kleinste Zweck, den man im Krieg verfolgen könne, der reine Widerstand sei, dem er in der Folge eine negative Natur konstatiert. Unterstellt man, dass Clausewitz den „reinen Widerstand“ als einen Kampf zur bloßen Selbsterhaltung betrachtet, so bleibt weiter unklar, warum er diesen Kampf grundsätzlich mit Verteidigung gleichgesetzt und nicht auch angriffsweise zu denken vermag. Ganz abgesehen davon, dass ein Kampf mit der alleinigen Zwecksetzung des „reinen Widerstandes“ eine ganz spezifische Konstellation
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darstellt, die nicht ohne Weiteres auf die Gesamtheit aller Verteidigungssituationen übertragen werden kann. Im Unterschied zu Clausewitz lässt sich ein Kampf ohne positive Absicht, d.h. ein Kampf begrenzt auf den reinen Selbsterhalt, oder - umgekehrt ausgedrückt – ein Kampf begrenzt darauf dem Vernichtungswillen des Gegners zu widerstehen, durchaus auch angriffsweise beispielsweise in der Form eines offensiv geführten Existenzkampfes um das eigene Überleben, denken. Der Krieg Israels von 1967 kann, jedenfalls in Teilen, als Beispiel hierfür dienen. Eine andere Form eines offensiv geführten Kampfes mit negativer Absicht lässt sich in der Form von Verwüstungskriegen, Terror oder Strafexpeditionen denken. Eine destruktive Zielsetzung, wie z. B. Zerstören oder dem Gegner in irgend einer Form Schaden zufügen, wird dabei mitunter viel leichter zu erreichen sein als das verteidigender Weise Erhalten des eigenen Besitzes. Ein Angriff, der sich mit diesem bescheidenen Ziel des Zerstörens begnügt, kann dabei enorm an Stärke gewinnen, weil ihm kaum in geeigneter Form zu begegnen ist. Die Terrorangriffe des transnationalen islamistischen Terrorismus sind hierfür ein anschauliches Beispiel. Dieses Beispiel erhält umso mehr Aussagekraft als es sich beim islamistischen Terrorismus um eine Form des Angriffs aus Schwäche Seitens eines Akteurs handelt, der für jegliche Form der Verteidigung, selbst wenn diese auf den „bloßen Widerstand“ beschränkt bliebe, viel zu schwach ist. Wenn aber der Kampf ohne eine positive Absicht, beziehungsweise der Kampf zum reinen Selbsterhalt, auch angriffsweise geführt werden kann, und mitunter sogar nur in dieser Form möglich ist, so kann diese kleinstmöglichen Zwecksetzung im Kriege nicht mehr als Argument dafür dienen, hieraus einen grundsätzlichen Vorteil oder eine grundsätzliche Stärke der Verteidigung abzuleiten. Vielmehr ist die Clausewitzsche Definition des Krieges dahingehend zu erweitern, dass das Erhalten, selbst in seiner bescheidensten Form des Selbsterhalts und des dem gegnerischen Vernichtungswillen Widerstehens, nicht nur eine Zwecksetzung der Verteidigung ist, sondern auch eine Zwecksetzung des Angriffs sein kann. Es scheint daher angemessen, davon auszugehen, dass die Größe der in und mit einem Krieg verfolgten Zwecksetzung ihrem Wesen nach nicht von der Form des Kriegführens abhängig ist und der Angriff genauso wie auch die Verteidigung fallweise „große“ oder „kleine“ Zwecksetzungen verfolgen kann. 1.1.4 Verteidigung, die sich nicht mit der Zwecksetzung des Erhaltens begnügt Clausewitz verdeutlicht mit seiner Argumentation, dass er die sich aus der Natur der Dinge ergebende Überlegenheit der Verteidigung ursächlich auf den im „Erhalten“ liegenden negativen Zweck derselben zurückführt. Das bedeutet im Um-
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kehrschluss, dass eine Verteidigung, welche sich nicht mit diesem „bescheidenen Ziel“ (des Erhaltens) begnügt, demnach auch nicht zu den Vorteilen der stärkeren Kriegsform gelangen kann. Da aber, wie unter II.1.3 bereits dargestellt wurde, gemäß Clausewitz das „Erhalten“ keineswegs der ausschließliche Zweck einer jeden Verteidigung ist – neben diese Zwecksetzung treten wahlweise die Vernichtung des Gegners oder das Erringen einer siegreichen Entscheidung - folgt aus der seiner Argumentation innewohnenden Logik, dass seine These von der größeren Stärke der verteidigenden Form des Kriegführens für eine Verteidigung deren Zwecksetzung über die „bescheidene“ Ambition des „Erhaltens“ hinaus geht, nicht gelten kann. Aus dem Spezialfall einer Verteidigung, welche sich das „Erhalten“ zum Zweck gesetzt hat und sich mit dieser Zwecksetzung auch begnügt, allgemeine Schlussfolgerungen über das Wesen dieser Form des Kriegführens und Kämpfens ableiten zu wollen ist aber offenkundig unzulässig. Dem preußischen Kriegsphilosophen kann aus diesen Gründen der Vorwurf einer in sich widersprüchlichen Argumentation nicht erspart werden, wenn er einerseits die Verteidigung „an sich“, d.h. ihrem Wesen nach,453 als die stärkere Form des Kriegführens bezeichnet, gleichzeitig aber die Begründung dieser These auf eine ganz bestimmte Art der Verteidigung beschränkt. Er beansprucht Allgemeingültigkeit, wo sich allein aus der Folgerichtigkeit seiner eigenen Argumentation eine solche nicht ergeben kann. Der Versuch des preußischen Kriegsphilosophen aus der, seiner Definition gemäß nur einer ganz bestimmten Art der Verteidigung ausschließlich zukommenden Zwecksetzung des „Erhaltens“, eine grundsätzliche, in der Natur der Sache liegende Überlegenheit der Verteidigung ableiten zu wollen, ist daher bereits aus der seiner eigenen Argumentation und Definition von Angriff und Verteidigung innewohnenden Logik nicht haltbar. Es ist daher als unangemessen zu bezeichnen, wenn Clausewitz vor dem Hintergrund dieser nur partiellen Begründung von einer „natürlichen Überlegenheit“ der Verteidigung spricht. Dies wäre nur dann angemessen, wenn diese Überlegenheit grundsätzlich einer jeden Verteidigung zu Eigen wäre. Sie müsste sich daher auf eine Eigenschaft stützen können, welche grundsätzlich jede Verteidigung besitzt. Dafür kommt, wollte Clausewitz sich an seine eigene Definition und Differenzierung von Angriff und Verteidigung halten, nur das „Abwarten“ als das „Merkmal“ der Verteidigung in Frage, weil er dieses als einziges Unterscheidungskriterium von Angriff und Verteidigung definitorisch einer jeden Verteidigung zuordnet.454 453 454
Vgl. dazu II. Kapitel, Punkt 3 Vgl. dazu II. Kapitel, Unterpunkt 1.2.
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1.2 Vorteil des Abwartens Interessant und widersprüchlich zugleich ist die weitere Argumentation des Kriegsphilosophen. Ausgehend von seiner These, wonach Erhalten leichter sei als Gewinnen und schon allein daraus folge, dass die Verteidigung leichter sei als der Angriff, stellt Clausewitz sich die Frage, worin die größere Leichtigkeit des Erhaltens oder Bewahrens liege. Dazu führt er an, dass alle Zeit, welche ungenutzt verstreiche, in die Waagschale des Verteidigers falle. Dieser ernte, wo er nicht gesät habe. Jedes Unterlassen des Angriffs aus falscher Ansicht, aus Furcht, aus Trägheit, komme dem Verteidiger zugute. Dieser aus Begriff und Zweck sich ergebende Vorteil läge in der Natur aller Verteidigung und sei im übrigen Leben, besonders in dem dem Kriege so ähnlichen Rechtsverkehr455, durch das lateinische Sprichwort beati sunt possidentes fixiert. Ein anderer Vorteil sei der Beistand der örtlichen Lage, welchen die Verteidigung vorzugsweise genieße.456 Ist diese Begründung des preußischen Kriegsphilosophen stichhaltig? Zur Beantwortung dieser Frage soll zunächst sein erstes, auf den Faktor Zeit Bezug nehmendes Argument betrachtet werden. Clausewitz spricht diesbezüglich auch häufig vom Vorteil des „Abwartens“457, welchen die Verteidigung gegenüber dem Angriff besitze. Dieses „Abwarten“ betrachtet er als das „Hauptmerkmal“ und gleichzeitig als den „Hauptvorteil“ der Verteidigung.458 Clausewitz legt auf diese Feststellung sehr großen Wert und hebt den (angeblichen) Vorteil des „Abwartens“ an verschiedenen Stellen seines Werkes immer wieder hervor. Demgegenüber lässt er eine befriedigende Antwort auf die Frage, worin dieser „Hauptvorteil“ der Verteidigung eigentlich konkret zu sehen sei, vermissen. Aus verschiedenen seiner Bemerkungen kann lediglich erahnt werden, worin er diesen „Vorteil“ zu sehen glaubte. Clausewitz spricht davon, dass alle Zeit, welche ungenutzt verstreiche, in die Waagschale des Verteidigers fallen würde, und dieser ernte, wo er nicht gesäet habe. Jedes Unterlassen des Angriffs aus falscher Ansicht, aus Furcht, aus Trägheit, komme dem Verteidiger zugute.459 Hieraus 455
Eine These, die man durchaus auch kritisch sehen kann, da der Rechtsverkehr einem eindeutigen Regelwerk aus Paragraphen unterliegt, was im Kriege gerade eben nicht der Fall ist. Es ist erstaunlich, dass Clausewitz, der den Krieg u.a. als eine freie Seelentätigkeit beschreibt, für die es keine verbindlichen Regeln oder Handlungsanleitungen geben kann, einen derartigen Vergleich überhaupt anstellt. 456 Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 614. 457 Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 613, 615 458 Vgl. Vom Kriege. VI, 8, S. 647. An anderer Stelle betont Clausewitz, dass das Abwarten „einer der größten Vorteile“ sei, den die Verteidigung vor dem Angriff voraus habe. Vgl. Vom Kriege. VI, 30, S. 834 459 Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 614
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ergeben sich zwei Möglichkeiten, worin Clausewitz den sich aus dem Abwarten ergebenden Vorteil gesehen haben könnte. 1.2.1 „beati sunt possidentes“ Den ersten Vorteil könnte der Kriegsphilosoph darin vermutet haben, dass der (potentielle) Angreifer („der, an welchem das Handeln ist“460), wenn ihm die „notwendige Entschlossenheit“461 fehlt, seinen Angriff gänzlich unterlässt, und der Verteidiger damit gemäß dem Sprichwort „beati sunt possidentes“462 seinen Zweck des Erhaltens erreicht hätte.463 Diese, auf den ersten Blick durchaus plausibel klingende Überlegung, kann jedoch bei genauerer Untersuchung unmöglich als ein Vorteil der Verteidigung angesehen werden. Die gesamte Logik dieser Argumentation bricht zusammen, sobald man sich die Frage stellt, was mit diesem Vorteil geschieht, wenn es tatsächlich zu einem Angriff kommt. Da dieser angebliche Vorteil des Abwartens gerade darin bestünde, dass ein Angriff nicht erfolgte, müsste er, wenn dieser Fall dennoch eintritt, zwangsläufig entfallen. Das würde bedeuten, dass dieser „Vorteil“ der Verteidigung nur dann vorhanden wäre, wenn es nicht zu einem Angriff kommt. Das heißt, er bestünde definitorisch genau immer dann nicht, wenn er gebraucht würde und sich unter Beweis stellen könnte. Eine derartige Chimäre kann natürlich unmöglich als ein im Wesen der Verteidigung liegender Vorteil betrachtet werden. Zudem muss betont werden, dass ohne vorhergehenden Angriff eine Verteidigung undenkbar ist, weil sie sich gemäß Clausewitz als „das Abwehren eines Stoßes“464 definiert und damit letzteren notwendigerweise voraussetzt. Man würde also von einem Vorteil der Verteidigung sprechen, während gleichzeitig das Vorhandensein dieses „Vorteils“ eine Verteidigung definitorisch ausschließt. Wollte man unterstellen, dass in dieser denkbaren Vorstellung des preußischen Kriegsphilosophen doch ein Körnchen Wahrheit enthalten sein müsse, so würde erneut deutlich werden, dass der Kriegsphilosoph mitunter dem Versuch verfällt, aus einzelnen Spezialfällen ohne Berücksichtigung der besonderen Bedingungen, unter denen diese stehen, allgemeine Schlussfolgerungen abzuleiten.
460
Vgl. Vom Kriege. VII, 21, S. 943 Vgl. Vom Kriege. VII, 21, S. 943 Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 614. „Glücklich sind die Besitzenden.“ 463 Zu einer solchen Interpretation kommt beispielsweise Azar Gat. Er fügt jedoch hinzu, dass dies nicht heißen solle, dass die Verteidigung generell stärker sei als der Angriff, sondern nur, dass im Falle der Parität und eines Patts der Verteidiger, weil der Status quo unverändert bleibe, ipso facto immer noch sein Ziel erreiche. Vgl. Gat a.a.O., S. 10 464 Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 613 461 462
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Natürlich sind Situationen vorstellbar, in denen sich einer (und nur einer) der beiden Gegner durch entsprechende politische, wirtschaftliche oder sonstige Rahmenbedingungen dazu gezwungen sieht, eine siegreiche Entscheidung erringen zu müssen, weil selbst ein Unentschieden die Niederlage bedeuten würde. So hatte beispielsweise General Lee seinen Feldzug in Pennsylvania 1863 deshalb verloren, weil es ihm nicht gelungen war, die nordstaatlichen Truppen in der Schlacht von Gettysburg zu schlagen. Er hatte damit den Feldzug strategisch verloren, weil er die Schlacht taktisch nicht gewinnen konnte. Aus derartigen Situationen könnte man versucht sein, insofern einen Vorteil der Verteidigung ableiten zu wollen, als derjenige, der eine Entscheidung dringender benötigt, sich dazu gezwungen sehen könnte (beispielsweise weil mit einem Angriff des Gegners nicht zu rechnen ist) selbst unter sehr ungünstigen Bedingungen anzugreifen. Der Zwang, einen Angriff unter sehr ungünstigen Bedingungen führen zu müssen, kann jedoch, weil es sich hierbei um einen nur unter besonderen Bedingungen gegebenen Spezialfall handelt, unmöglich als ein im Wesen der Verteidigung liegender Vorteil betrachtet werden. Genauso unlogisch wäre es, eine Situation, in der man unter widrigen Umständen zur Verteidigung gezwungen wäre, als einen im Wesen des Angriffs liegenden allgemeinen Vorteil desselben anzusehen und daraus in Umkehrung von Clausewitz eine grundsätzlich größere Stärke des Angriffs ableiten zu wollen. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass derjenige, der in stärkerem Maße auf eine Entscheidung angewiesen ist, nicht zwangsläufig auch der Angreifer zu sein braucht.465 Der Zwang, eine Entscheidung, beispielsweise einen Angriffserfolg des Gegners, unter allen Umständen verhindern zu müssen, kann in gleicher Weise zu einer Verteidigung unter sehr ungünstigen Bedingungen führen. Beispielsweise kann die Notwendigkeit zum Schutz der eigenen Hauptstadt, kritischer Infrastruktur oder entscheidender Ressourcen schnell in eine Verteidigungssituation unter sehr ungünstigen Bedingungen münden. Hieraus einen im Wesen des Angriffs liegenden grundsätzlichen Vorteil ableiten zu wollen wäre jedoch der falsche Ansatz. Abschließend ist in diesem Zusammenhang eine ganz entscheidende Stärke des Angriffs hervorzuheben, die Clausewitz hinsichtlich seiner Theorie zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung unberücksichtigt lässt. Im Unterschied zur Verteidigung besitzt der Angriff durch seine Initiativfunktion die Möglichkeit eine Entscheidung in Zeit und Raum aktiv erzwingen zu können. Er 465
So hatte General Lee bei Gettysburg die Wahl, die Schlacht entweder selbst angriffsweise zu führen oder aber sich im Sinne indirekter Strategie durch das Einnehmen einer Position, mit welcher er die Hauptstadt und die Verbindungslinien seines Gegners bedrohen konnte, angreifen zu lassen. Vgl. dazu K. v. Goßler: Die Schlacht bei Gettysburg am 2. und 3. Juli 1863. in: Beiheft zum Militärwochenblatt, Berlin 1913, sowie Craig L. Symonds: Gettysburg. Baltimore 1992
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bietet dadurch gleichzeitig die Möglichkeit durch die eigenständige Wahl von Ort und Zeit der Auseinandersetzung, wie auch durch den Gestaltungsvorsprung beim Ansatz der Kräfte und der Art des Vorgehens, eigene Stärken nutzen und besonders zur Geltung bringen zu können und die des Gegners zu vermeiden. Oder umgekehrt betrachtet, die Schwächen des Gegners aktiv und gezielt auszunutzen und die eigenen zu vermeiden. Die hieraus resultierenden Vorteile werden von Fall zu Fall unterschiedlich groß sein und in unterschiedlichem Maße den Ausgang einer Konfrontation bestimmen. Da diese Stärke jedoch unmittelbar aus dem Merkmal der Initiative entspringt und jene den Angriff in gleicher Weise kennzeichnet wie gemäß Clausewitz das Abwarten die Verteidigung, so ist zu folgern, dass hierin eine im Wesen des Angriffs liegende allgemeine Stärke desselben zu sehen ist. Da Clausewitz diesen entscheidenden Faktor hinsichtlich des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung unberücksichtigt lässt, muss seine These von der vermeintlich größeren Stärke der Verteidigung schon allein aus diesem Grund fragwürdig erscheinen. 1.2.2 Zeitgewinn Die zweite Möglichkeit, worin Clausewitz den „Vorteil“ des Abwartens gesehen haben könnte, besteht darin, dass der Angreifer - aufgrund mangelnder Entschlusskraft - seinen Angriff zwar nicht gänzlich unterlässt, aber hinauszögert, womit, in dem dadurch erzielten Zeitgewinn466, ein Vorteil des Verteidigers vermutet werden könnte. Alle Zeit, welche ungenutzt verstreiche, - das wäre die Zeit, welche bis zum Beginn eines Angriffs vergeht -würde nach seinen Worten in die Waagschale des Verteidigers fallen.467 Hinsichtlich einer derartigen Interpretationsmöglichkeit finden sich jedoch an verschiedenen Stellen des Werkes „Vom Kriege“ eine Reihe einschränkender Bemerkungen, mit denen Clausewitz den sich aus dem Abwarten ergebenden (angeblichen) Vorteil der Verteidigung in starkem Maße relativiert. Damit stellt er selbst seine eigene Ausgangsthese in Frage, wonach der sich aus Begriff und Zweck ergebende Vorteil (des Abwartens) in der Natur aller Verteidigung läge468 und zudem noch der „Hauptvorteil“ derselben sei. 1.2.2.a Verteidigung in der Offensive Die erste Einschränkung sieht Clausewitz im Hinblick auf eine Verteidigung, die in eine Offensivbewegung verflochten ist oder gar erst nach einem erschöpften 466
Vgl. Vom Kriege. VI, 8, S. 652 Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 614 468 Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 614 467
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Angriff eintritt. Eine solche Verteidigung, insbesondere wenn sie auch noch auf erobertem Boden stattfinde, sei in allen ihren Hauptprinzipien geschwächt und habe nicht mehr die Überlegenheit über den Angriff, welche ihr ursprünglich zugekommen sei. Explizit weist Clausewitz darauf hin, dass der „Vorteil des Abwartens“, welchen er an anderer Stelle als den „Hauptvorteil“ der Verteidigung bezeichnet hatte, in dem genannten Fall „sehr geschwächt“ werde.469 Diesen Überlegungen des preußischen Kriegsphilosophen ist uneingeschränkt zuzustimmen. Gleichzeitig verdeutlicht diese Argumentation, dass Clausewitz, jedenfalls in diesem Kontext, das Erhalten einer Eroberung zutreffender Weise nicht bereits derart unter dem „Haupttitel“ des Angriffs subsumiert, als dass er nicht mehr von Verteidigung sprechen würde. Damit nimmt der Kriegsphilosoph selbst jenen Argumenten den Wind aus den Segeln, die das Erhalten einer Eroberung so weitgehend mit dem Angriff verschmelzen wollen, dass diesbezüglich gar nicht mehr von Verteidigung gesprochen werden könnte. Festzuhalten bleibt daher, dass Clausewitz mit diesen Überlegungen eine Fallkategorie aufzeigt, in welcher der Verteidiger massiv geschwächt ist und nicht auf die ihm ansonsten von Clausewitz „natürlicherweise“ unterstellten Stärkeelemente zurückgreifen kann. Allein diese Feststellung lässt es mehr als fragwürdig erscheinen der Verteidigung ihrem Wesen nach grundsätzlich eine größere Stärke zuzuordnen. Vielmehr wird deutlich, dass die von Clausewitz aufgezeigten Stärkeelemente der Verteidigung einer ganz bestimmten Art derselben geschuldet sind und sich in stärkerem Maße aus der Besonderheit der Situation als aus dem Wesen der Kriegsform ergeben. 1.2.2.b „Abwarten“ als Vorteil des Angriffs Eine zweite Einschränkung ergibt sich daraus, dass Clausewitz bei seinen Überlegungen zur „Verteidigung eines Kriegstheaters, wenn keine Entscheidung gesucht wird“ einen Fall aufzeigt, bei dem, ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Vorstellung, wonach alle Zeit, welche ungenutzt verstreiche, in die Waagschale des Verteidigers falle, der Angreifer die „Früchte, die sich ihm im Verlauf der Zeit darböten, ernten würde. Das hieße, dass der in der Natur aller Verteidigung liegende „Vorteil“ des Abwartens in einer derartigen Situation nicht nur entfallen, sondern gar in sein Gegenteil umschlagen und zu einem Vorteil des Angriffs werden würde. Damit ist es in diesem Falle nicht mehr ausreichend, lediglich von einer Einschränkung seiner These zu sprechen, es handelt sich vielmehr um einen klaren Widerspruch.
469
Vgl. Vom Kriege. VII, 21, S. 943
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1.2.2.c Zukunft Eine dritte, sehr weitgehende Relativierung seiner These nimmt Clausewitz vor, indem er darauf hinweist, dass ein „Abwarten“ dem Verteidiger nur dann vorteilhaft sei, wenn dieser und nicht der Angreifer, von der Zukunft günstigere Bedingungen zu erwarten habe. „Das Abwarten bis zu besseren Augenblicken setzt voraus, daß wir von der Zukunft dergleichen zu erwarten haben, und es ist also dieses Abwarten, d.h. der Verteidigungskrieg, allemal durch diese Aussicht motiviert; dagegen ist allemal der Angriffskrieg, d.h. die Benutzung des gegenwärtigen Augenblicks da geboten, wo die Zukunft nicht uns, sondern dem Feinde bessere Aussichten gewährt.“470
Mit dieser Überlegung stellt Clausewitz dem der Verteidigung attestierten „Vorteil“ des Abwartens den Vorteil der Benutzung des gegenwärtigen Augenblicks, welcher dem Angriff zukommt, gegenüber. Er erkennt, dass das „Abwarten“ dem Verteidiger keineswegs grundsätzlich Vorteile bringt und ihm in bestimmten Situationen, nämlich in den Fällen, in denen die Zukunft dem Gegner bessere Aussichten gewähre, sogar schaden könne. Damit stellt der Kriegsphilosoph seine These, wonach der sich aus Begriff und Zweck ergebende Vorteil des Abwartens in der Natur aller Verteidigung läge, in Frage.471 Diese Konsequenz scheint ihm jedoch etwas zu weit zu gehen, weshalb er versucht, selbige wiederum einzuschränken. Er erkennt zwar an, dass es Fälle gebe, wo sich die Zeit dem Verteidiger verderblich gezeigt habe, weist aber darauf hin, wie unendlich viel zahlreicher die Beispiele seien, wo die Absicht des Angreifenden darüber ganz verfehlt worden sei.472 Dies muss jedoch als eine rein willkürliche Behauptung angesehen werden, die auch durch das angeführte Beispiel des Siebenjährigen Krieges nicht an Beweiskraft gewinnt. Es lässt sich kein vernünftiger Grund dafür angeben, warum die Zukunft, in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle, ausgerechnet demjenigen, der die Verteidigung gewählt hat, bessere Aussichten gewähren müsste. Clausewitz nimmt aber bezüglich der Konsequenzen seines eigenen Einwandes noch eine zweite, im Hinblick auf seine Wissenschaftlichkeit äußerst bedenklich erscheinende, Einschränkung vor. Während er es einerseits als einen Vorteil der Verteidigung betrachtet, einen späteren günstigeren Augenblick für den entscheidenden Kampf abwarten zu können, ist er auf der anderen Seite nicht bereit, den aus dem Besitz der Initiative resultierenden grundlegenden Vorteil des Angriffs, eine Entscheidung zu einem augenblicklich günstig er470
Vom Kriege. VIII, 15, S. 984 Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 614 472 Vgl. Vom Kriege. VIII, 9, S. 1023 f 471
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scheinenden Zeitpunkt erzwingen zu können, als solchen anzuerkennen.473 Dies muss jedoch als ein ganz zentraler Vorteil des Angreifenden bewertet werden, weil dieser dadurch in die Lage versetzt wird, eine augenblickliche Schwäche des Gegners aktiv zum eigenen Vorteil ausnutzen, sowie eine für die Zukunft zu erwartende größere Stärke des Gegners vermeiden zu können.474 Es ist erstaunlich, dass Clausewitz, trotz seiner Kenntnis der Kriegführung Friedrichs II. und Napoleons, den von diesen ganz klar erkannten und praktizierten Vorteil der Initiative (vgl. I.2 sowie I.3) nicht als eine grundsätzliche Stärke des Angriffs anerkennen wollte. 1.2.2.d Überraschung Eine vierte Einschränkung ergibt sich für den Fall eines überraschenden Angriffs oder Überfalls. Es ist unschwer einzusehen, dass man in einer Situation, in der man nicht mit einem Angriff des Gegners rechnet, auch keine über das „normale Maß“ hinausgehenden Verteidigungsanstrengungen unternimmt, jedenfalls aber weit hinter den Maßregeln zurückbleiben wird, die man ergreifen würde, wenn man mit einem Angriff rechnete. Der „Vorteil“ des Abwartens würde in einer solchen Situation insofern entfallen, als der Verteidiger, in Unkenntnis der drohenden Gefahr, die Zeit bis zum Beginn des Überfalls ungenutzt verstreichen ließe, womit jene, entgegen der Clausewitzschen Behauptung, ausschließlich in die Waagschale des Angreifers fallen würde. Obwohl Clausewitz den Überfall bzw. den Faktor Überraschung als einen „Vorteil des Angriffs“ erkannt hatte475, lässt er diesen Sachverhalt hinsichtlich seiner These von dem vermeintlich „in der Natur aller Verteidigung“ liegenden Vorteil des Abwartens unberücksichtigt. 1.2.3 Einseitige Betrachtungsweise Allein diese von Clausewitz selbst vorgebrachten Einwände machen es unmöglich, das „Abwarten“ als einen in der „Natur aller Verteidigung“ liegenden Vorteil oder gar als den „Hauptvorteil“ derselben zu betrachten. Damit zeigt sich ein innerer Widerspruch seiner eigenen Argumentation. Darüber hinaus wird diese Behauptung des Kriegsphilosophen durch weitere Überlegungen in Frage gestellt. So ist beispielsweise keineswegs einzusehen, warum, wie Clausewitz unterstellt, „alle Zeit“, welche ungenutzt verstreiche, in 473
Vgl. Vom Kriege. VIII, 5, S. 985 Das heißt, der Angriff gewährt für den Fall, dass man von der Zukunft eine Verschlechterung der eigenen Lage zu erwarten hätte, den Vorteil, nicht zu einem späteren Zeitpunkt unter dann ungünstigeren Bedingungen kämpfen zu müssen. 475 Vgl. Vom Kriege. VI, 5, S. 634 474
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die Waagschale des Verteidigers fallen müsse und damit nur diesem zugute kommen könne.476 Dass sie ihm zum Beispiel für seine Verteidigungsvorbereitungen nützlich sein kann, ist unbestritten. Daraus jedoch abzuleiten, dass sie nur ihm, nicht aber dem Angreifer nützen könne, muss doch als sehr fragwürdig bezeichnet werden. Es lässt sich kein vernünftiger Grund dafür angeben, warum der Angreifer diese Zeit nicht mindestens ebenso sinnvoll für seine Angriffsvorbereitungen - welche mitunter umfangreicher und aufwendiger sein können als die Vorbereitungen des Verteidigers - gebrauchen kann. Zu denken ist außerdem an Situationen, bei denen die bis zum Angriff verstreichende Zeit dem Verteidiger in keiner Weise nützt und ausschließlich dem Angreifer zugute kommt. Das könnte beispielsweise dann der Fall sein, wenn der Verteidiger seine Vorbereitungen längst abgeschlossen hat (womit er gar keine weitere Zeit benötigen würde), und nur der Angreifer die verstreichende Zeit beispielsweise für seine Angriffsvorbereitungen nutzen kann. Darüber hinaus ist ein weiterer Aspekt zu berücksichtigen, der zudem als einer der größten Nachteile der Verteidigung angesehen werden kann. Während der Angreifer im Regelfall durch den Besitz der Initiative, bestimmen kann, wann, wo und mit welchen Kräften er den Kampf führen will, ist der Verteidiger, wenn er sich nicht der Gefahr aussetzen will, überrascht zu werden, dazu verurteilt, permanent mit einem großen Teil seiner Kräfte in Bereitschaft zu stehen. Dies kann zur Folge haben, dass bedingt durch das lange Warten und „Nichtstun“, sowie durch das Fehlen einer eindeutigen Zielsetzung, beim Verteidiger Disziplin, Aufmerksamkeit und Moral nachlassen. Als Beispiel kann die k.u.k. Armee am Isonzo angeführt werden. Während ihre Moral in den ersten elf verteidigender Weise geschlagenen Schlachten immer weiter absank, wurde sie in der zwölften Schlacht durch das Bewusstsein, ein klares Ziel vor Augen zu haben und nun selbst der Angreifer zu sein, wieder beflügelt. Natürlich hat auch der Verteidiger ein Ziel. Aber dieses ist in der Regel sehr viel weniger konkret und fassbar als das exakt zu bestimmende Ziel des Angreifers. Während der Verteidiger (am Beispiel der Isonzoschlachten) das sehr allgemeine Ziel verfolgte, einen mehrere hundert Kilometer breiten Frontabschnitt auf unbestimmte Zeit zu halten, ohne sich über Ort und Zeit der eigentlichen Kampfhandlungen im Klaren sein zu können, hatte der Angreifer die unmittelbare Entscheidung darüber, wann, wo und mit welchen Kräften er die Offensive führen wollte. Darüber hinaus kann die permanente Ungewissheit stark an der Psyche der Soldaten zehren. Verschlimmert wird eine solche Situation zusätzlich, wenn der Verteidiger, wie das insbesondere für die Materialschlachten des I. Weltkrieges 476
Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 614. Clausewitz meint hier die Zeit, welche (aufgrund der mangelnden Entschlusskraft des Angreifers) bis zum Beginn des Angriffs verstreichen würde.
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typisch war, oft wochen- oder monatelang unter Artilleriebeschuss oder, wie im II. Golfkrieg477 unter Luftangriffen ausharren muss, dabei Verluste erleidet und selbst zum Nichtstun verurteilt bleibt. Zu den rein physischen Verlusten wird in solchen Situationen nicht selten ein starkes Absinken der Kampfkraft durch die moralische Zermürbung hinzutreten. Hierdurch wird deutlich, dass entgegen der Clausewitzschen Vorstellung die bis zum eigentlichen Angriff verstreichende „Zeit“ dem Verteidiger sehr häufig nicht nur nichts nützt, sondern ihm durchaus auch schaden kann und damit zu einem Verbündeten des Angreifers wird. Da Clausewitz dies völlig unberücksichtigt lässt, muss ihm in dieser Hinsicht ein verengter Blickwinkel sowie eine sehr einseitige Betrachtungsweise unterstellt werden. Wie anders sollte man es bezeichnen, wenn einerseits die Vorteile der Verteidigung hervorgehoben und einseitig verabsolutiert werden, während auf der anderen Seite die Schwächen der Verteidigung sowie die Stärken des Angriffes weitgehend unberücksichtigt bleiben. 1.2.4 Mangelnde Entschlossenheit Hinsichtlich der beiden (unter IV.1.2.1 und IV.1.2.2 dargestellten) Möglichkeiten, worin Clausewitz den sich aus dem Abwarten ergebenden (vermeintlichen) „Vorteil“ der Verteidigung gesehen haben könnte, ergibt sich aber noch ein weiterer, grundsätzlicher Kritikpunkt. Dieser besteht darin, dass nach den Überlegungen des Kriegsphilosophen der „Vorteil“ des Abwartens, unabhängig davon ob man diesen darin sehen will, dass der Angreifer seinen Angriff gänzlich unterlässt oder diesen nur verspätet beginnt, notwendig die Unentschlossenheit478 des Angreifers voraussetzt. Als Ursachen für letztere nennt Clausewitz „Furcht“, „falsche Ansicht“ sowie „Trägheit“.479 Im dreißigsten Kapitel des VI. Buches verdeutlicht er seine diesbezüglichen Vorstellungen genauer: „Wir haben schon im dritten Kapitel dieses Buches gesagt, daß das Abwarten einer der größten Vorteile ist, den die Verteidigung vor dem Angriff voraus hat; es geschieht überhaupt im Leben selten, aber am allerwenigsten im Kriege alles, was nach den Umständen geschehen sollte. Die Unvollkommenheit der menschlichen Einsicht, die Scheu vor einem üblen Ausgang, die Zufälle, von welchen die Ent477 So ist im Hinblick auf den II. Golfkrieg nicht anzunehmen, dass die Zeit, welche bis zum Angriff der Amerikaner am 24. Februar 1991 verstrich und von diesen für ihren Aufmarsch und ihre Luftvorbereitung genutzt wurde, dem irakischen Verteidiger (damit soll nicht unterstellt werden, dass der Irak nicht politisch der Aggressor gewesen sei) zugute gekommen wäre. Diese Zeit nützte ausschließlich dem Angreifer, was sogar soweit führte, dass bei Angriffsbeginn die Moral der irakischen Armee bereits weitestgehend zusammengebrochen war, und sie kaum noch ernsthaften Widerstand leistete. 478 Vgl. Vom Kriege. VI, 8, S. 651 sowie VII, 21, S. 943 479 Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 614
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IV. Kapitel: Kritische Analyse und Bewertung wicklung der Handlung berührt wird, machen, daß von allen durch die Umstände gebotenen Handlungen immer eine Menge nicht zur Ausführung kommen. Im Kriege, wo die Unvollkommenheit des Wissens, die Gefahr der Katastrophe, die Menge der Zufälle unvergleichlich viel größer sind als in jeder anderen menschlichen Tätigkeit, muß deshalb auch die Zahl der Versäumnisse, wenn wir es so nennen wollen, notwendig viel größer sein. Dies ist nun das reiche Feld, auf dem die Verteidigung Früchte erntet, die ihr von selbst zuwachsen.“480
Hier stellt sich die Frage, warum diese „Versäumnisse“ nur den Angreifer betreffen sollten, nicht aber auch den Verteidiger. Es ist nicht nachvollziehbar, warum der Verteidiger nicht in gleicher Weise von der „Unvollkommenheit der menschlichen Einsicht“, der „Scheu vor einem üblen Ausgang“ oder von „Zufällen“ beeinträchtigt werden könnte. Wollte man einwenden, dass der Verteidiger zwar in gleicher Weise von diesen Übeln betroffen sein kann, es sich aber für ihn nicht so negativ auswirke (wie für den Angreifer), wenn diese Umstände seine Entschlossenheit beeinträchtigten, so soll demgegenüber nur darauf verwiesen werden, dass ein Mangel an Entschlossenheit zur Verteidigung sich für den Verteidigenden ebenso fatal auswirken kann wie ein Mangel an Entschlossenheit zum Angriff für den Angreifenden. Nicht umsonst nennt Friedrich II. mangelnden Mut (des Verteidigers) als eine der Hauptursachen dafür, dass häufig auch sehr starke Verteidigungsstellungen erobert würden.481 Im Sinne von Clausewitz könnte man jedoch einwenden, dass sich in Bezug auf diejenigen Fälle, bei denen es dem Angreifer tatsächlich an Entschlossenheit mangelt, sich daraus ein Vorteil der Verteidigung ergeben könne? Trotz der grundsätzlichen Stimmigkeit dieser Überlegung ist jedoch zu bedenken, dass sich auf der anderen Seite auch aus der Unentschlossenheit des Verteidigers Vorteile für den Angreifer ergeben. Wobei jener die Schwächen des Verteidigers aktiv ausnutzen kann, während der Verteidiger, wenn er nicht selbst zum Angriff übergehen wollte, die Schwächen des Angreifers allenfalls indirekt für sich nutzen kann. Es ist daher wenig überzeugend, wenn Clausewitz aus möglichen Fehlern („Versäumnissen“) des Angreifers einen grundsätzlichen Vorteil der Verteidigung konstruieren will. Da der „Vorteil“ des Abwartens notwendig den „Fehler“ mangelnder Entschlossenheit (von Seiten des Angreifers) voraussetzt, kann schon allein auf Grund dieser Überlegung das Abwarten unmöglich als ein grundsätzlicher oder gar in der Natur der Dinge liegender Vorteil der Verteidigung betrachtet werden. Wie könnte man etwas als einen im Wesen der Verteidigung liegenden Vorteil bezeichnen, wenn dazu erst ein Fehler des Angreifers 480
Vom Kriege. VI, 30, S. 834 f Vgl. Friedrich der Große: Militärische Schriften. a.a.O., S. 60. Vgl. auch Erstes Kapitel, Punkt 2 (Fußnote 78) 481
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erforderlich ist? Bernhardi hat diesen Mangel in der Argumentation des Kriegsphilosophen klar erkannt und äußert sich dazu folgendermaßen: „Noch weniger statthaft aber ist es, wie mir scheinen will, Unterlassungen des Angreifers der Verteidigung als an sich bestehende Vorteile beizumessen. ... Wollte man schließen wie Clausewitz, so könnte man ebenso gut sagen, daß alle Fehler, die die Verteidigung möglicherweise mache, an sich bestehende Vorzüge des Angriffs seien, was offenbar unzulässig ist.“482
1.2.5 Entschleunigung / Siegverweigerung Über die Clausewitzsche Argumentation hinausgehend, könnte man sich die Frage stellen ob in der Möglichkeit einer Entschleunigung und Verschleppung des Krieges und in letzter Konsequenz in der Möglichkeit dem Gegner einen Sieg zu verweigern nicht ein potenzieller Vorteil der Verteidigung gesehen werden könnte. Das von Clausewitz gebrauchte Kriterium des „Abwartens“ könnte diesbezüglich in einer freien Interpretation im Sinne eines „Durchhalten Können“ erweitert werden. Hierbei könnte unterstellt werden, dass die Verteidigung eine Entscheidung nicht so dringend benötigt, wie der Angriff, und der Verteidiger damit über eine grundsätzlich größere Durchhaltefähigkeit verfügen könnte. Des Weiteren könnte in einer Verhinderung des gegnerischen Angriffserfolges bereits eine Entscheidung zu Gunsten des Verteidigers gesehen werden. Einer solchen Verhinderung des gegnerischen Angriffserfolgs könnte unterstellt werden, dass sie möglicherweise leichter zu erreichen ist als die aktive, angriffsweise Erzwingung einer Entscheidung. Entschleunigung und Siegverweigerung stellen strategische Optionen dar, die sich insbesondere für einen Akteur anbieten, der zu einer schnellen Niederwerfung seines Gegners nicht in der Lage ist, der jedoch über ausreichend physisch / moralische Ressourcen und Leidensfähigkeit verfügt, um eine lang andauernde Auseinandersetzungen durchstehen und auch zeitweilige Rückschläge verkraften zu können. Für einen solchen Akteur bietet es sich an, einer schnellen Entscheidung auszuweichen und einen Sieg auf der langen Zeitachse anzustreben. Ein derartiges Vorgehen wird umso erfolgreicher sein, je weniger der Gegner über eine vergleichbare Durchhalte- und Leidensfähigkeit verfügt. Im Extremfall kann dies soweit führen, dass die Siegverweigerung selbst nach einer militärischen Niederlage auf politischer Ebene fortgesetzt wird. So war die russische Strategie der „Verbrannten Erde“ und die Weigerung des Zaren, selbst nach dem Verlust seiner Hauptstadt, eine Niederlage anzuerkennen, entscheidend für das Scheitern des Napoleonischen Russlandfeldzuges von 1812. Ein Beispiel für 482
Bernhardi a.a.O., S. 403
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einen durch Entschleunigung und Siegverweigerung erzielten Erfolg des Verteidigers. Hieraus kann jedoch nicht schlussgefolgert werden, dass Entschleunigung und Siegverweigerung primär strategische Optionen des Verteidigers wären. Vielmehr sind es Optionen, die demjenigen zukommen, der über die genannte physisch moralische Durchhaltefähigkeit verfügt, unabhängig davon, ob es sich hierbei um den Angreifer oder den Verteidiger handelt. Als Beispiel für einen durch Entschleunigung und Siegverweigerung erzielten Erfolg des Angreifers kann die kommunistische Revolutionskriegführung in Vietnam dienen. Trotz des kompletten militärischen Scheiterns ihrer Tet-Offensive von 1968, weigerten sich die Kommunisten eine Niederlage anzuerkennen und setzten ihre Aufstandsbewegung offensiv weiter fort. Durch die zeitliche Verlängerung des Krieges und die Verlagerung ihrer Offensive auf die propagandisisch-politische Ebene gelang es ihnen, den Durchhaltewillen der amerikanischen Bevölkerung zu brechen, und damit eine militärische Niederlage in einen politischen Sieg zu verwandeln.483 1.2.6 Fazit Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Merkmal des „Abwarten“ zwar als Einziges definitorisch einer jeden Verteidigung zukommt, dass aus diesem Merkmal jedoch keine im Wesen der Verteidigung liegende grundsätzliche Stärke derselben abgeleitet werden kann. Das Merkmal des Abwartens kann sich, abhängig von der jeweiligen Situation, als Vor- aber auch als Nachteil für den Verteidiger erweisen oder auch überhaupt keine diesbezügliche Wirkung zeigen. Es ist daher nicht haltbar, wenn Clausewitz behauptet, dass der aus Begriff und Zweck sich ergebende Vorteil der Verteidigung in der Natur aller Verteidigung liegen würde. Damit ist seiner Behauptung, wonach Erhalten leichter sei als Gewinnen (Erobern) und schon allein daraus folge, dass die Verteidigung leichter sei als der Angriff, die Begründung entzogen. Im Folgenden ist daher zu untersuchen, ob die weiteren Begründungsansätze des Kriegsphilosophen hinsichtlich seiner These von der größeren Stärke der Verteidigung einer kritischen Prüfung standhalten. 1.3 Zusammenfassung / Ergebnis Natur der Sache / negativer Zweck / Erhalten: Die Überzeugung, dass die Überlegenheit der Verteidigung über den Angriff bereits in der Natur der Dinge zu sehen sei, stellt für Clausewitz in dialektischer Weise gleichzeitig Ausgangs483
Vgl. dazu: Phillip B. Davidson: Vietnam at War. The History: 1946-1975, Novato 1988, S. 19ff, 795ff
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punkt und Ergebnis seiner Überlegungen zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung dar. Er führt diese - seiner Ansicht nach - natürliche Überlegenheit aller Verteidigung ursächlich auf Begriff und Zweck derselben zurück. Hierbei geht er von der Überlegung aus, dass ein großer Zweck mehr Kraftaufwand erfordere als ein kleiner, wobei der kleinste Zweck, den man sich vorsetzen könne, der reine Widerstand, d.h. der Kampf ohne eine positive Absicht sei. Aus dieser negativen Absicht, die sich mit der Erhaltung des Besitzes begnügt, leitet Clausewitz alle Vorteile der stärkeren Form ab. Erhalten sei leichter als Gewinnen, so die Kurzformel seiner Erkenntnis, woraus folge, dass die Verteidigung leichter sei als der Angriff. Diese Schlussfolgerung wird von Clausewitz nicht weiter begründet und beruht letztendlich auf seiner Definition von Angriff und Verteidigung im Rahmen derer er das Erhalten ausschließlich der Verteidigung als Zweck zuordnet. Erhalten leichter als Gewinnen? Clausewitz` Behauptung, wonach „Erhalten“ leichter sei als „Gewinnens“, ist, obwohl auf den ersten Blick plausibel erscheinend, schon allein auf Grund der Vielzahl empirischer Gegenbeispiele nicht haltbar. Da Clausewitz selbst keine nähere Begründung für seine These anführt, und es bei der bloßen Behauptung belässt, gibt es keine Veranlassung diese als bestätigt anzusehen. Sie kann daher nicht als argumentative Grundlage für seine Theorie von der „stärkeren Form des Kriegführens“ dienen. Negative Zwecksetzung nur in der Verteidigung? Da der Kampf ohne eine positive Absicht, beziehungsweise der Kampf zum reinen Selbsterhalt, im Unterschied zu Clausewitz` Überzeugung, auch angriffsweise geführt werden kann, und mitunter nur in dieser Form möglich ist, so kann diese kleinstmögliche Zwecksetzung im Kriege nicht, wie von Clausewitz unterstellt, als Argument dafür dienen, hieraus einen grundsätzlichen Vorteil oder eine grundsätzliche Stärke der Verteidigung abzuleiten. Vielmehr ist die Clausewitzsche Definition des Krieges dahingehend zu erweitern, dass das Erhalten, selbst in seiner bescheidensten Form des Selbsterhalts und des dem gegnerischen Vernichtungswillen Widerstehens, nicht nur eine Zwecksetzung der Verteidigung ist, sondern auch eine Zwecksetzung des Angriffs sein kann. Daraus folgt wiederum, dass die Größe der in und mit einem Krieg verfolgten Zwecksetzung ihrem Wesen nach nicht von der Form des Kriegführens abhängig ist und der Angriff genauso wie auch die Verteidigung fallweise „große“ oder „kleine“ Zwecksetzungen verfolgen kann. Verteidigung, die sich nicht mit der Zwecksetzung des Erhaltens begnügt: Da Clausewitz die sich aus der Natur der Dinge ergebende Überlegenheit der Verteidigung ursächlich auf den im „Erhalten“ liegenden negativen Zweck derselben zurückführt, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass eine Verteidigung, welche sich nicht mit diesem „bescheidenen Ziel“ (des Erhaltens) begnügt, auch
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nicht zu den Vorteilen der stärkeren Kriegsform gelangen kann. Da aber gemäß der Clausewitzschen Definition von Angriff und Verteidigung das „Erhalten“ keineswegs der ausschließliche Zweck einer jeden Verteidigung ist – neben diese Zwecksetzung treten wahlweise die Vernichtung des Gegners oder das Erringen einer siegreichen Entscheidung - folgt aus der seiner Argumentation innewohnenden Logik, dass seine These von der größeren Stärke der verteidigenden Form des Kriegführens für eine Verteidigung deren Zwecksetzung über die „bescheidene“ Ambition des „Erhaltens“ hinaus geht, nicht gelten kann. Aus dem Spezialfall einer Verteidigung, welche sich das „Erhalten“ zum Zweck gesetzt hat und sich mit dieser Zwecksetzung auch begnügt, grundsätzliche Schlussfolgerungen über das Wesen der Verteidigung ableiten zu wollen ist aber offenkundig unzulässig. Der Versuch des preußischen Kriegsphilosophen aus der, seiner Definition gemäß nur einer ganz bestimmten Art der Verteidigung ausschließlich zukommenden Zwecksetzung des „Erhaltens“, eine grundsätzliche, in der Natur der Sache liegende Überlegenheit dieser Form des Kriegführens ableiten zu wollen, ist daher bereits aus der seiner eigenen Argumentation und Definition von Angriff und Verteidigung innewohnenden Logik nicht haltbar. Vorteil des Abwartens: Um von einer „natürlichen Überlegenheit“ der Verteidigung sprechen zu können, muss sich diese auf eine Eigenschaft stützen, welche grundsätzlich einer jeden Verteidigung zukommt. Dafür kommt, gemäß der Clausewitzschen Definition von Angriff und Verteidigung, nur das „Abwarten“ als das „Merkmal“ der Verteidigung in Frage, weil er dieses als einziges Unterscheidungskriterium der beiden Formen des Kriegführens definitorisch einer jeden Verteidigung zuordnet. Dieses „Abwarten“ betrachtet er als das „Hauptmerkmal“ und gleichzeitig als den „Hauptvorteil“ der Verteidigung, lässt jedoch eine Antwort auf die Frage, worin dieser Vorteil konkret zu sehen sei, vermissen. Aus seinen Bemerkungen, wonach alle Zeit, welche ungenutzt verstreiche, in die Waagschale des Verteidigers falle und jedes Unterlassen des Angriffs dem Verteidiger zugute komme, ergeben sich zwei grundsätzliche Interpretationsmöglichkeiten: Unterlassen des Angriffs: Den ersten Vorteil könnte Clausewitz darin gesehen haben, dass der potentielle Angreifer, wenn ihm die „notwendige Entschlossenheit“ fehlt, seinen Angriff gänzlich unterlässt, und der Verteidiger damit gemäß dem Sprichwort „beati sunt possidentes“ seinen Zweck des Erhaltens erreicht hätte. Obwohl auf den ersten Blick plausibel klingend, kann diese Überlegung bei genauerer Betrachtung unmöglich als ein Vorteil der Verteidigung angesehen werden. Die gesamte Logik dieser Argumentation bricht zusammen, sobald man sich die Frage stellt, was mit diesem Vorteil eigentlich geschehen würde, wenn es tatsächlich zu einem Angriff kommt. Da dieser angebliche Vorteil des Abwartens gerade darin bestünde, dass ein Angriff nicht erfolgte, müsste
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er, wenn dieser Fall dennoch eintritt, zwangsläufig entfallen. Das würde bedeuten, dass dieser „Vorteil“ nur dann vorhanden wäre, wenn es nicht zu einem Angriff kommt. Das heißt, er bestünde definitorisch genau immer dann nicht, wenn er gebraucht würde und sich unter Beweis stellen könnte. Eine derartige Chimäre kann natürlich unmöglich als ein im Wesen der Verteidigung liegender Vorteil betrachtet werden. Zudem kann ohne vorhergehenden Angriff auch nicht von einer Verteidigung gesprochen werden, weil sich diese gemäß Clausewitz als „das Abwehren eines Stoßes“ definiert und damit letzteren notwendigerweise voraussetzt. Man würde also von einem Vorteil der Verteidigung sprechen, während gleichzeitig das Vorhandensein dieses „Vorteils“ eine Verteidigung definitorisch ausschließt. Verzögerung des Angriffs: Die zweite Möglichkeit, worin Clausewitz den „Vorteil“ des Abwartens gesehen haben könnte, besteht darin, dass der Angreifer - aufgrund mangelnder Entschlusskraft - seinen Angriff zwar nicht gänzlich unterlässt, aber hinauszögert, womit, in dem dadurch erzielten Zeitgewinn, ein Vorteil des Verteidigers vermutet werden könnte. Diese Interpretationsmöglichkeit wird jedoch durch Clausewitz selbst in starkem Maße relativiert, indem er in zutreffender Weise vier prinzipielle Verteidigungssituationen aufzeigt, in denen der sich aus dem Abwarten ergebende mögliche Vorteil der Verteidigung nicht vorhanden, in starkem Maße eingeschränkt oder gar negativ ist. Er nennt hierbei: a. Eine Verteidigung, die in eine Offensivbewegung verflochten ist oder nach einem erschöpften Angriff eintritt. b. Die Verteidigung eines Kriegstheaters, wenn keine Entscheidung gesucht wird. c. Die Verteidigung wenn der Angreifer von der Zukunft günstigere Bedingungen zu erwarten hat. d. Eine Verteidigung nach einem überraschenden Angriff / Überfall. Allein diese von Clausewitz selbst vorgebrachten Einwände machen es unmöglich, das „Abwarten“ als einen in der „Natur aller Verteidigung“ liegenden Vorteil oder gar als den „Hauptvorteil“ derselben zu betrachten. Vielmehr wird deutlich, dass die von Clausewitz aufgezeigten Stärkeelemente der Verteidigung einer ganz bestimmten Art derselben geschuldet sind und sich in stärkerem Maße aus der Besonderheit der von Clausewitz konstruierten Situation eines Idealbildes der Verteidigung, als aus dem Wesen der Kriegsform ergeben. Mangelnde Entschlossenheit: Da der „Vorteil“ des Abwartens notwendig den „Fehler“ mangelnder Entschlossenheit Seitens des Angreifers voraussetzt, kann schon allein auf Grund dieser Überlegung das Abwarten unmöglich als ein grundsätzlicher oder gar in der Natur der Dinge liegender Vorteil der Verteidi-
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gung betrachtet werden. Genauso unzulässig wäre es aus möglichen Versäumnissen des Verteidigers eine im Wesen des Angriffs liegende grundsätzliche Stärke desselben abzuleiten. Initiativfunktion des Angriffs: Die Tatsache, dass Clausewitz die sich aus dem die Verteidigung definierenden Merkmal des Abwartens ergebenden Vorteile in seine Überlegungen zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung einbezieht, während er andererseits die sich aus dem den Angriff definierenden Merkmal der Initiative resultierenden Stärken unberücksichtigt lässt, macht seine Analyse in einem ganz entscheidenden Punkt unvollständig und lässt seine These von der (vermeintlich) größeren Stärke der Verteidigung schon allein aus diesem Grund fragwürdig erscheinen. Fazit: Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Merkmal des „Abwarten“ zwar als Einziges definitorisch einer jeden Verteidigung zukommt, dass aus diesem Merkmal jedoch keine im Wesen der Verteidigung liegende grundsätzliche Stärke derselben abgeleitet werden kann. Das Merkmal des Abwartens kann sich, abhängig von der jeweiligen Situation, als Vor- aber auch als Nachteil für den Verteidiger erweisen oder auch überhaupt keine diesbezügliche Wirkung zeigen. Es ist daher nicht haltbar, wenn Clausewitz behauptet, dass der aus Begriff und Zweck sich ergebende Vorteil der Verteidigung in der Natur aller Verteidigung liegen würde. Damit ist seiner Behauptung, wonach Erhalten leichter sei als Gewinnen (Erobern) und schon allein daraus folge, dass die Verteidigung leichter sei als der Angriff, die Begründung entzogen. 2
Logik
Neben seiner Bezugnahme auf die „Natur der Dinge“ unternimmt Clausewitz den Versuch, seine These von der größeren Stärke der Verteidigung allein mit den Gesetzmäßigkeiten der Logik zu begründen. Dieser Argumentationsansatz, der insbesondere aufgrund brillantester Formulierung und wegen seiner scheinbar so bestechenden Logik von vielen Clausewitzrezensenten als „unwiderleglich“484 betrachtet wurde, soll im Folgenden näher untersucht werden. Um seine diesbezügliche These, zu untermauern stellt Clausewitz die rhetorische Frage, „in welchen Widersprüchen mit sich selbst und mit der Erfahrung“ die umgekehrte Behauptung stünde: „Wäre die angreifende Form die stärkere, so gäbe es keinen Grund mehr, die verteidigende je zu gebrauchen, da diese ohnehin den bloß negativen Zweck hat; jedermann müßte also angreifen wollen, und die Verteidigung wäre ein Unding. Umge484
Vgl. dazu beispielsweise Marcks a.a.O., S. 273
2 Logik
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kehrt aber ist es sehr natürlich, daß man den höheren Zweck mit größeren Opfern erkauft.“485
Trotz der Brillanz seiner Formulierung beinhaltet dieses auf den ersten Blick so überzeugend klingende Argument einige fundamentale Fehler. 2.1 Mangelnde Folgerichtigkeit des Schlusses Der erste Fehler ist rein logischer Art und liegt in der nicht gegebenen Folgerichtigkeit seines Schlusses. Clausewitz glaubt zu erkennen, dass die „umgekehrte Behauptung“, nämlich dass der Angriff die stärkere Form des Kriegführens sei, in Widersprüchen mit sich selbst und mit der Erfahrung stehen würde. Aus der Widersprüchlichkeit dieser „umgekehrten Behauptung“, die Clausewitz darin sieht, dass in der Empirie keineswegs „jedermann“ immer nur angreifen nicht aber verteidigen wolle, folgert er, dass die von ihm vertretene These, nämlich dass die Verteidigung die stärkere Form sei, zutreffend sein müsse. Dabei übersieht Clausewitz völlig die Voraussetzungen, welche die Gültigkeit seines Schlusses notwendigerweise erfordern würde. Die Annahme, aus der Widersprüchlichkeit der umgekehrten Behauptung die Richtigkeit seiner These folgern zu können, wäre nur dann schlüssig, wenn als zwingend vorausgesetzt werden könnte, dass nur diese beiden Fälle als Möglichkeiten existierten und genau eine der beiden vorliegen muss. Beide Voraussetzungen sind jedoch nicht gegeben. So ist beispielsweise keineswegs einsichtig, warum überhaupt eine der beiden Formen des Kriegführens ihrem Wesen nach die stärkere sein sollte. Völlig außer Acht lässt Clausewitz beispielsweise die Möglichkeit, dass sich Angriff und Verteidigung hinsichtlich ihres Stärkeverhältnisses die Waage halten und keine der beiden Formen ihrem Wesen nach die Stärkere ist. Auch berücksichtigt der Kriegsphilosoph in keiner Weise die Möglichkeit, dass es vom jeweiligen Einzelfall abhängen könnte, welche der beiden Formen gerade eine größere Stärke vermittelt, womit eine pauschale Antwort in dieser Frage nicht möglich wäre. Somit existieren mindestens vier theoretisch denkbare Fälle, die in Betracht gezogen werden müssten. Wird von diesen vier Möglichkeiten eine ausgeschlossen (so wie Clausewitz dies aufgrund von „Widersprüchen mit der Erfahrung“ getan hat), so bleiben immer noch drei weitere Alternativen übrig und nicht nur eine einzige, wie seine Argumentation dies erfordern würde. Daher muss sein
485
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Argument schon allein aufgrund mangelnder logischer Folgerichtigkeit des Schlusses als nicht zutreffend betrachtet werden.486 2.2 Fehlerhaftigkeit einer Prämisse Neben der Fehlerhaftigkeit des Schlusses ist jedoch bereits die erste Prämisse seiner Argumentation als äußerst fragwürdig anzusehen. So trifft es keineswegs zu, dass es, für den Fall, die angreifende Form wäre die stärkere, keinen Grund mehr gäbe, die verteidigende je zu gebrauchen, und die Verteidigung somit ein Unding wäre, weil jedermann immer nur angreifen wollte. Wie Clausewitz selbst deutlich macht, können Angriff und Verteidigung sehr unterschiedliche Zwecksetzungen verfolgen. Neben dem Zweck der Vernichtung der feindlichen Streitmacht, welche (nach seinen Worten) sowohl Zweck des Angriffs als auch Zweck der Verteidigung ist, nennt Clausewitz spezifische Zwecksetzungen, die entweder nur durch Angriff oder nur durch Verteidigung erreicht werden könnten. Für den Angriff ist das die Eroberung eines Ortes oder eines Gegenstandes, für die Verteidigung das Erhalten eines Ortes oder eines Gegenstandes.487 Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass eine kriegführende Partei, die den Zweck des Erhaltens verfolgt, i.d.R. die Verteidigung wählen wird, unabhängig davon, ob diese die stärkere oder schwächere Form des Kriegführens ist. Warum sollte sie angreifen wollen, wenn der Zweck, den sie anstrebt, nur oder viel besser durch die Verteidigung zu erreichen ist? 2.3 Angriff als die zu bevorzugende Form des Kriegführens? Hinsichtlich dieser Argumentation würde Clausewitz jedoch einwenden, und darin liegt die eigentliche Ursache für die Fehlentwicklung seiner Argumentation, dass die Verteidigung, weil sie den „bloß negativen Zweck“ habe, ihrem Wesen nach nicht erstrebenswert sei. „Ist die Verteidigung eine stärkere Form des Kriegführens, die aber einen negativen Zweck hat, so folgt von selbst, daß man sich ihrer nur solange bedienen muß, als man sie der Schwäche wegen bedarf, und sie verlassen muß, sobald man stark genug ist, sich den positiven Zweck vorzusetzen.“488
486
Mit diesem logischen Fehler verstößt Clausewitz zudem gegen seine eigene Forderung nach logischer Konsistenz. Vgl. dazu II. Kapitel, Punkt 2 487 Vgl. dazu II. Kapitel, Punkt 1.3. 488 Vom Kriege. VI, 1, S. 615
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Die Verteidigung stellt für den Kriegsphilosophen ein notwendiges Übel dar, welches man nur solange und nur aus dem Grund in Kauf nehmen dürfe, als man ihrer der eigenen Schwäche wegen noch bedarf. Für ihn ist der Angriff die zu bevorzugende Form des Kriegführens, weil nur dieser den (vermeintlich) „positiven/höheren Zweck“ habe. Aus dieser Grundüberzeugung, die bereits in seinen frühen Schriften zu erkennen ist,489 ergibt sich sein gedankliches Problem. Er stellt sich die Frage, aus welchem Grunde in der Empirie so häufig die Verteidigung gewählt würde, wo doch der Angriff den positiven/höheren Zweck habe. Die Antwort auf diese Frage glaubt er darin gefunden zu haben, dass die Verteidigung ihrem Wesen nach stärker sei.490 Hier ist jedoch einzuwenden, dass bereits die Ausgangsthese des Kriegsphilosophen, wonach die Verteidigung, weil sie den „bloß negativen Zweck“491 habe, an sich nicht erstrebenswert sei, nicht haltbar ist. Diese These beinhaltet, wie bereits unter II.1.3 dargestellt wurde, mehrere Unstimmigkeiten. So muss die Unterscheidung in positiven und negativen Zweck als sehr fragwürdig bezeichnet werden, wenn Clausewitz gleichzeitig hervorhebt, dass sowohl der Angriff als auch die Verteidigung letztendlich nach dem Sieg beziehungsweise der Entscheidung streben würden und der beiden gemeinsame Zweck die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte sei. Warum, so muss man fragen, sollte ein und dasselbe Streben beziehungsweise ein und derselbe Zweck im einen Falle „positiv“ und im anderen „bloß negativ“ sein? Warum sollte es weniger erstrebenswert sein, den Sieg verteidigender Weise zu erringen als im Angriff? Da sich, wie ebenfalls bereits dargelegt wurde (vgl. II.1.3), die Bezeichnung „negativer Zweck“ nur auf den Zweck des Erhaltens (im Gegensatz zum Erobern) beziehen kann, dieses aber keineswegs der ausschließliche Zweck einer jeden Verteidigung ist, so muss es - selbst wenn der Zweck des Erhaltens weniger erstrebenswert sein sollte als der des Eroberns - als fragwürdig und inkonsequent betrachtet werden, wenn Clausewitz der Verteidigung gleichzeitig grundsätzlich einen „negativen Zweck“ konstatiert. Ein solcher könnte nach seinen eigenen Überlegungen nur bei einer ganz bestimmten Art der Verteidigung vorliegen, nämlich bei einer solchen, welche sich das „Erhalten“ zum Zweck gesetzt hat und sich mit dieser Zwecksetzung auch begnügt. Im Hinblick auf einen Verteidiger, der beispielsweise den Zweck des „Erhaltens“ verfolgt und gleichzeitig 489
Diese Überzeugung findet sich bereits in der „Strategie von 1804“. Vgl. dazu Gat a.a.O., S.1 Gat weist in diesem Zusammenhang auf die „nicht zufällige Reihenfolge“ hin, mit der diese beiden Thesen aufgestellt wurden, nämlich zunächst die These wonach der Angriff den positiven/höheren Zweck habe und danach die These von der größeren Stärke der Verteidigung. Vgl. Gat a.a.O., S. 5 491 Gat verweist auf die „eindeutig normative Dimension“ der von Clausewitz verwendeten Begriffe „negativ“ und „positiv“. Vgl. Gat a.a.O., S. 2 490
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danach strebt, verteidigender Weise den Sieg zu erringen, muss es, allein im Kontext von Clausewitz` eigener Logik, unangemessen erscheinen, von einem negativen Zweck (der Verteidigung) zu sprechen. Zuletzt muss noch die Unterstellung des Kriegsphilosophen, wonach das „Erhalten“, im Gegensatz zum „positiven/höheren“ Zweck des Eroberns, ein „negativer“ und „weniger erstrebenswerter“ Zweck sei, als solche zurückgewiesen werden (vgl. dazu ebenfalls II.1.3). Warum sollte Erhalten weniger erstrebenswert sein als Erobern? Was nützt überhaupt eine Eroberung, wenn sie nicht erhalten werden kann? Warum sollte jemand der schon besitzt, was er erstrebt, nach Eroberungen trachten? Für diesen muss das Erhalten doch viel positiver und erstrebenswerter erscheinen. „Warum“, so fragt Aron, „ist es politisch nicht ausreichend, den Besitznahme- oder Zerstörungswillen des Feindes zu vernichten? Wer den Feind abwehrt und behält, was dieser einnehmen wollte, zwingt ihm seinen Willen auf.“492 Aufgrund dieser Überlegungen kann nur unterstrichen werden, dass im Gegensatz zur Ansicht von Clausewitz die Verteidigung ihrem Wesen nach sehr wohl erstrebenswert sein kann. Daher muss die von ihm vorgenommene Unterscheidung der mit Angriff und Verteidigung verfolgten Zwecksetzungen in „positiv“ und „negativ“ als wenig sinnvoll und gleichzeitig irreführend bezeichnet werden. Es ist daher noch einmal die bereits zum Ausdruck gebrachte Forderung zu betonen, den jeweiligen Zweck (Erobern / Erhalten) direkt beim Namen zu nennen und auf eine Umschreibung und Wertung in erstrebenswert und weniger erstrebenswert zu verzichten. Unter diesen Umständen würde das angeblich so überzeugende „logische Wunderwerk“ des Kriegsphilosophen sofort in einem ganz anderen Licht erscheinen. Seine Formulierung müsste dann folgendermaßen lauten: „Wäre die angreifende Form die stärkere, so gäbe es keinen Grund mehr, die verteidigende je zu gebrauchen, da diese (manchmal) den Zweck des Erhaltens hat; jedermann müßte also angreifen wollen, und die Verteidigung wäre ein Unding.“
Hieraus eine grundsätzlich größere Stärke der verteidigenden Form des Kriegführens ableiten zu wollen, ist schlechterdings unmöglich. 2.4 Zusammenfassung / Ergebnis Clausewitz´ Versuch, seine These von der größeren Stärke der Verteidigung allein aus logischen Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, hält einer kritischen Prüfung nicht stand. Die Folgerichtigkeit seines Schlusses ist nicht gegeben und die zu Grunde gelegte Ausgangsprämisse unzutreffend. 492
Aron a.a.O., S. 244
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Folgerichtigkeit des Schlusses: Aus der Annahme, dass die Umkehrung seiner These, nämlich, dass der Angriff die stärkere Form des Kriegführens sei, in Widersprüchen mit sich selbst und mit der Erfahrung stünde, lässt sich keineswegs die Richtigkeit seiner Behauptung ableiten. Die Voraussetzungen für die Gültigkeit eines solchen Schlusses, nämlich dass nur diese beiden Fälle als Möglichkeiten existieren und genau einer der beiden vorliegen muss, sind nicht gegeben. Denkbare Alternativen, wonach keine der beiden Formen eine grundsätzlich größere Stärke aufweist oder eine solche nur im Einzelfall bestimmt werden kann, lässt Clausewitz in seinem Gedankenspiel völlig außer Acht. Stimmigkeit der Prämisse: Auch die Ausgangsüberlegung der Clausewitzschen Argumentation, wonach es für den Fall, dass die angreifende Form die stärkere wäre, keinen Grund mehr gäbe, die verteidigende je zu gebrauchen, weil jedermann immer nur angreifen wolle, ist keineswegs haltbar. Wie Clausewitz selbst deutlich macht, können Angriff und Verteidigung sehr unterschiedliche Zwecksetzungen verfolgen, die zum Teil beiden Formen gemein sind (wie das Streben nach einer siegreichen Entscheidung oder die Vernichtung der gegnerischen Streitmacht), oder spezifisch auf eine jeweilige Form bezogen sind wie auf das „Erobern“ im Falle des Angriffs oder das „Erhalten“ im Falle der Verteidigung. Verfolgt daher ein Akteur eine Zwecksetzung, die besser oder ausschließlich mit der einen oder anderen Form zu erreichen ist, so wird er diese Form völlig unabhängig von deren Stärke wählen (müssen). Verfolgt ein Akteur beispielsweise die Zwecksetzung des „Erhaltens“, so wird er i.d.R. um eine Verteidigung nicht umhin kommen, unabhängig von deren Stärke und den offensiven Elementen mit denen diese durchdrungen sein mag. „Positiver / Negativer Zweck“: Eine Ursache für die Fehlentwicklung der Clausewitzschen Argumentation kann in seiner Vorstellung gesehen werden, wonach die Verteidigung, da sie (seiner Ansicht nach) den „bloß negativen Zweck“ habe, ihrem Wesen nach nicht erstrebenswert sei, und lediglich für den Fall und die Dauer eigener Schwäche in Kauf genommen werden dürfe, wohingegen der Angriff mit dem „positiven/höheren Zweck“ die zu bevorzugende Form des Kriegführens sei. Eine solch wertende Differenzierung von Angriff und Verteidigung in „positiven“ und „negativen Zweck“ ist schon im Kontext von Clausewitz` eigener Argumentation nicht haltbar, da er gleichzeitig hervorhebt, dass sowohl der Angriff als auch die Verteidigung letztendlich nach dem Sieg beziehungsweise der Entscheidung streben würden und der beiden gemeinsame Zweck die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte sei. Ein und dieselbe Zwecksetzung kann nicht im einen Falle „positiv und erstrebenswert“ und im anderen „bloß negativ“ sein? Darüber hinaus gibt es keinen vernünftiger Grund, warum es weniger erstrebenswert sein sollte, den Sieg verteidigender Weise zu erringen als im Angriff,
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oder warum das Erhalten als Zwecksetzung für den Besitzenden, nicht viel erstrebenswerter sein kann als das Erobern. Was nützt überhaupt eine Eroberung, so könnte man fragen, wenn sie nicht erhalten werden kann? Die von Clausewitz vorgenommene Unterscheidung der mit Angriff und Verteidigung verfolgten Zwecksetzungen in „positiv“ und „negativ“ ist daher als wenig sinnvoll und gleichzeitig irreführend zurückzuweisen. Stattdessen ist die Forderung zu betonen, den jeweiligen Zweck (Erobern / Erhalten) direkt beim Namen zu nennen und auf eine wertende Umschreibung in „positiv“ oder „negativ“ und „erstrebenswert“ oder „weniger erstrebenswert“ zu verzichten. Die „Prinzipe des Sieges“493
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3.1 Die „Prinzipe des Sieges“ als Begründung der „größeren Stärke der Verteidigung“ 3.1
Begründung der „größeren Stärke der Verteidigung“
Der Kern der Clausewitzschen Argumentation zur Begründung seiner These von der vermeintlich größeren Stärke der Verteidigung ist im zweiten und dritten Kapitel des sechsten Buches zu sehen. Der Kriegsphilosoph untersucht hierbei die Frage, wie sich Angriff und Verteidigung zum einen in der Taktik und zum anderen in der Strategie zueinander verhalten. Sein Ausgangspunkt ist hierbei die Frage nach den Umständen, welche im Gefecht den Sieg geben würden. Daran anschließend stellt er folgende Überlegung an: „Von der Überlegenheit und Tapferkeit, Übung oder anderen Eigenschaften des Heeres ist hier nicht zu reden, weil sie in der Regel von Dingen abhängen, die außer dem Gebiet derjenigen Kriegskunst liegen, von der hier die Rede ist, übrigens bei Angriff und Verteidigung dieselbe Wirksamkeit äußern würden; ja, auch die Überlegenheit in der Zahl im allgemeinen kann hier nicht in Betrachtung kommen, da die Anzahl der Truppen gleichfalls ein Gegebenes ist und nicht in der Willkür des Feldherrn steht. Auch haben diese Dinge zum Angriff und zur Verteidigung keine besondere Beziehung. Außerdem aber scheinen uns noch drei Sachen von entscheidendem Vorteil zu sein, nämlich: die Überraschung, der Vorteil der Gegend und der Anfall von mehreren Seiten.“494
Die größere Stärke der Verteidigung in der Taktik glaubt der Kriegsphilosoph darin zu erkennen, dass von den drei von ihm entwickelten Prinzipen des Sieges der Angreifer nur einen geringen Teil des ersten (Überraschung) und letzten
493 494
Vgl. Vom Kriege. VI, 2, S. 619 Vom Kriege. VI, 2, S. 618
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Prinzips (Anfall von mehreren Seiten) für sich habe, während der größere Teil und das zweite Prinzip ausschließend dem Verteidiger zu Gebote stünde.495 Im Hinblick auf die Frage, welches die Umstände seien, die in der Strategie den „glücklichen Erfolg“ geben würden, nennt Clausewitz sechs „Hauptprinzipe der strategischen Wirksamkeit“.496 Die drei ersten entsprechen dabei denjenigen aus der Taktik, und er fügt (viertens) den Beistand des Kriegstheaters, (fünftens) den Beistand des Volkes und (sechstens) die Benutzung großer moralischer Kräfte als Vorteile der Verteidigung hinzu. Bevor auf eine genauere Untersuchung jedes einzelnen dieser sechs Prinzipien eingegangen wird, soll zunächst ein Blick auf die Gesamtstruktur seiner Argumentation geworfen werden. Hierbei zeigt sich, dass Clausewitz im siebenten Buch noch eine zweite Liste von Prinzipen anführt, welchen er die Überlegenheit der verteidigenden Kriegsform zuschreibt. Diese überschneiden sich zum Teil mit den bereits genannten drei bzw. sechs Prinzipien, ohne allerdings zwischen taktischer und strategischer Ebene zu unterscheiden. Er nennt hier erstens die „Benutzung der Gegend“, zweitens den „Besitz eines eingerichteten Kriegstheaters“, sowie drittens den „Beistand des Volkes“ und fügt als weiteren Aspekt den „Vorteil des Abwartens“ hinzu.497 Es kann vermutet werden, dass es sich bei dieser Aufstellung um eine Vorform seiner Gedankenentwicklung handelt, weil eine Differenzierung zwischen Taktik und Strategie noch nicht erkennbar ist. Zudem fällt auf, dass Clausewitz ausgerechnet die beiden Prinzipien, nämlich die Überraschung und den Anfall von mehreren Seiten, unerwähnt lässt, welche er im sechsten Buch zwar überwiegend aber nicht ausschließlich der Verteidigung als Vorteil zugeordnet hat. 3.2 Gesamtstruktur der Argumentation / Dogmatismus Was den Gesamtaufbau seiner Argumentation zur Begründung der größeren Stärke der Verteidigung anbelangt, so fällt auf, dass diese ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Methode sehr dogmatisch erscheint. Es stellt sich die Frage, warum es ausgerechnet drei (in der Taktik) bzw. sechs (in der Strategie) Prinzipe des Sieges sein sollen, und warum Clausewitz andere Faktoren und Prinzipe von vornherein ausklammert. Hinsichtlich der Starrheit seiner Methode fühlt man sich unweigerlich an die sechs „Fundamentalgrundsätze des Krieges“ von Jomini498 erinnert, und der gegen jenen so oft erhobene Vorwurf des Dogmatis495
Vgl. Vom Kriege. VI, 2, S. 619 Vgl. Vom Kriege. VI, 3, S. 622 f 497 Vgl. Vom Kriege. VII, Über den Kulminationspunkt des Sieges, S. 936 498 Jomini, A. H.: Abriß der Kriegskunst. Übersetzt und erläutert durch v. Boguslawski, Berlin 1881 496
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mus kann jedenfalls in dieser Hinsicht auch dem preußischen Kriegsphilosophen nicht erspart werden. Eine Beschränkung auf diese drei bzw. sechs „Prinzipe“ kann der komplexen und stark vernetzten Natur des betrachteten Gegenstandes mit seinen vielfältigen Wechselwirkungen kaum angemessen sein und birgt zudem die Gefahr, das Denken des Betrachters in unzulässiger Weise einzuengen. 3.2.1 Erstes Auswahlkriterium: „Willkür des Feldherrn“ Auch die Kriterien, welche Clausewitz bei der Auswahl dieser Prinzipe zugrunde legt, erscheinen höchst fragwürdig. So gibt der Kriegsphilosoph vor, sich auf die „Prinzipe des Sieges“ zu beschränken, welche in der „Willkür des Feldherrn“ liegen würden und klammert dabei alle anderen Prinzipe, beispielsweise die „Überlegenheit in der Zahl“, die „Tapferkeit“ oder die „Übung“, weil diese nicht in der Willkür des Feldherrn stünden, explizit aus. Ein solches Vorgehen muss jedoch höchst bedenklich erscheinen, weil der Kriegsphilosoph gleichzeitig den Anspruch erhebt, die im Wesen der Verteidigung liegende (seiner Meinung nach) größere Stärke dieser Form des Kriegführens begründen zu wollen. Im Hinblick auf eine im Wesen einer Sache verankerte Eigenschaft kann es natürlich nicht genügen, sich lediglich auf ein Teilelement dieses Wesens, wie hier auf die in der Willkür des Feldherrn liegenden Dinge zu beschränken oder sich davon auch nur in irgend einer Weise abhängig zu machen. Die in der Willkür des Feldherrn liegenden Dinge können schließlich nicht als die einzigen Einflussfaktoren im Kriege angesehen werden. Mit einer solchen Betrachtungsweise würden die in der Willkür der politischen Führung, der einfachen Soldaten oder der Bevölkerung liegenden Dinge, die ebenfalls in entscheidendem Maße Einfluss auf den Kriegs und das Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung haben können, völlig vernachlässigt. Clausewitz macht mit seiner Argumentation das Wesen der Verteidigung („die Verteidigung an sich“) abhängig von der Willkür des Feldherrn, was offenkundig unzulässig ist, solange man unter dem Wesen einer Sache diejenigen Eigenschaften versteht, welche dieser Sache notwendigerweise zukommen und dieselbe definitorisch ausmachen. Entweder die Verteidigung ist daher ihrem Wesen nach stärker als der Angriff, oder sie ist es nicht. Die „Willkür“ des Feldherrn kann hierbei schlechterdings keine Rolle spielen. Es würde geradezu grotesk anmuten, wäre allerdings die Konsequenz der Clausewitzschen Vorgehensweise, wenn man behaupten würde, die Verteidigung sei ihrem Wesen nach stärker als der Angriff, jedoch nur im Hinblick auf die in der Willkür des Feldherrn liegenden Prinzipien. Es zeigt sich in diesem Zusammenhang jedoch noch eine weitere Unstimmigkeit in der Clausewitzschen Argumentation. So gibt der Kriegsphilosoph
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zwar vor, nur die in der Willkür des Feldherrn liegenden Prinzipe in Betrachtung zu ziehen, scheint diese Vorgabe aber bereits wenige Zeilen später schon wieder vergessen zu haben. Zumindest zwei der sechs von ihm betrachteten Prinzipe, nämlich der „Beistand des Volkes“ sowie der „Beistand des Kriegstheaters“, stehen allenfalls in sehr geringem Maße in der Willkür des Feldherrn, und bei den anderen, insbesondere beim „Vorteil der Gegend“, wird der Einfluss des Feldherrn mitunter nicht sehr groß sein, jedenfalls nicht unbedingt größer als sein Einfluss auf die „Anzahl der Truppen“, welche Clausewitz, weil seiner Meinung nach nicht in der Willkür des Feldherrn stehend, glaubt nicht berücksichtigen zu müssen. Dabei kann, ganz im Gegensatz zur Vorstellung von Clausewitz, der Feldherr mitunter einen entscheidenden Einfluss auf die Anzahl der Truppen haben. Man denke nur daran, wie es Napoleon nach seiner Rückkehr von Elba gelang, innerhalb kürzester Zeit wieder eine gewaltige Armee aufzustellen und Europa erneut für 100 Tage in Angst und Schrecken zu versetzen. Dies war in allererster Linie auf seine charismatische Feldherrnpersönlichkeit zurückzuführen. 3.2.2 Zweites Auswahlkriterium: Besondere Beziehung zu Angriff und Verteidigung Das zweite Auswahlkriterium des Kriegsphilosophen besteht darin, nur diejenigen Dinge in Betrachtung zu ziehen, welche auch eine besondere Beziehung zu Angriff und Verteidigung hätten und hinsichtlich der beiden Formen des Kriegführens nicht dieselbe Wirksamkeit äußern würden. In diesem Zusammenhang lassen sich in der Clausewitzschen Argumentation insbesondere zwei Unstimmigkeiten feststellen: Zum einen haben einige der Prinzipien, welche seiner Meinung nach keine besondere Beziehung zu Angriff und Verteidigung hätten, und die er damit auch nicht glaubt in seine Überlegungen einbeziehen zu müssen, diese sehr wohl. Zum anderen gibt es über die von ihm in Betracht gezogenen hinaus noch weit mehr Prinzipe des Sieges, die eine besondere Beziehung zu Angriff und Verteidigung haben, und daher bei einer Analyse sehr wohl berücksichtigt werden müssten. Das bedeutet, Clausewitz betrachtet hier nur einen Teilbereich der kriegerischen Wirklichkeit. Damit klammert er eine Reihe von Faktoren, die möglicherweise einen sehr nachhaltigen Einfluss auf das Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung haben können, explizit aus, gibt aber dennoch vor, Aussagen über das Wesen von Angriff und Verteidigung zu treffen. Zu beachten ist weiterhin, dass Clausewitz zwar behauptet, dass bestimmte Dinge, wie die Überlegenheit in der Zahl, die Tapferkeit oder die Übung keine besondere Beziehung zu Angriff und Verteidigung hätten, dass er jedoch eine
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IV. Kapitel: Kritische Analyse und Bewertung
Begründung, warum dies so sei und worin seiner Meinung nach die Kriterien dafür liegen, ob etwas eine bestimmte Beziehung zu Angriff und Verteidigung hat oder nicht, schuldig bleibt. 3.2.2.a „Überlegenheit der Zahl“ und „Übung“ Was den ersten der beiden Vorwürfe betrifft, so muss betont werden, dass beispielsweise das Prinzip der „Überlegenheit in der Zahl“ im Gegensatz zur Vorstellung von Clausewitz sehr wohl eine besondere Beziehung zu Angriff und Verteidigung hat und hinsichtlich der beiden Formen des Kriegführens keineswegs dieselbe Wirksamkeit äußert. So hat schon allein das Raum-KräfteVerhältnis nachhaltigen Einfluss auf das Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung. Das gilt selbst für den Fall, dass beide Gegner hinsichtlich dieser Faktoren gleich stark sind und man von daher einen Einfluss derselben auf die Stärke der beiden Formen des Kriegführens nicht vermuten würde. Hierbei ist die Tendenz zu erkennen, dass der Angriff an Stärke gewinnt, je größer der Raum im Verhältnis zur Zahl der Streitkräfte ist, während die Verteidigung durch eine Konzentration von Kräften auf einem möglichst kleinen Raum Vorteile erlangt. Die Ursache für diese Tendenz ist darin zu sehen, dass der Verteidiger in der Regel bestrebt ist ein bestimmtes Gebiet, oftmals sogar sein gesamtes Territorium, vor dem Zugriff des Gegners zu schützen. Verfügt er über genügend Kräfte, um seine gesamte „Front“ mehr oder weniger lückenlos abdecken zu können, womit ein Umgehen der eigenen Abwehr durch den Angreifer ausgeschlossen würde, ohne dabei jedoch seine Kräfte so auszudünnen, dass es dem Gegner ein leichtes wäre dieselben zu durchstoßen, so wird seine Verteidigung durch eine derartige Raum-Kräfte-Konstellation begünstigt werden.499 Die Raum-Kräftekonstellation an der Westfront des Ersten Weltkriegs stellt in Verbindung mit dem damaligen Stand der Waffentechnik ein anschauliches Beispiel hierfür dar. Das Erstarren der Fronten von der Schweizer Grenze bis zum Englischen Kanal ist dabei insbesondere als Resultat der in dieser ganz konkreten Situation größeren Stärke der Verteidigung zu sehen. Ändert sich jedoch einer oder ändern sich sogar beide Parameter, so kann dadurch das Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung nachhaltig beeinflusst werden. Dieser Zusammenhang wurde beispielsweise von den operativen Köpfen der Bundeswehr klar erkannt, als sich Deutschland nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation durch eine Reduzierung der Bundeswehr und den weitgehendem Abzug der Verbündeten vor die Situation gestellt sah, seine Landesverteidigung mit weniger Kräften in einem größeren Raum leisten zu müssen. 499 Dies bedeutet natürlich nicht, dass die Verteidigung damit insgesamt zur stärkeren Form würde, weil hinsichtlich dieser Frage viele andere Faktoren mit eine Rolle spielen können.
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Das einstige durch den „General Defence Plan“ (GDP) der Vorneverteidigung der NATO geprägte Denken, bei dem die Verteidigung die weitaus dominierende Gefechtsart war und der Angriff beinahe nur in Form von örtlich begrenzten Gegenangriffen seine Existenzberechtigung fand, wurde als nicht mehr opportun erkannt, weil die Kräfte für ein lückenloses Abdecken der „Front“ nicht mehr ausreichten. Man musste sich insbesondere auf operativer Ebene auf eine weitaus beweglichere Gefechtsführung einstellen, um möglichen Angriffsschwerpunkten eines Gegners eine entsprechende Konzentration eigener Kräfte entgegenstellen zu können. Die Verteidigung musste unter diesen Umständen zwangsläufig einen großen Teil ihrer Stärken, welche sie unter GDP-Verhältnissen besessen hatte, verlieren. Als wichtigster Aspekt wäre hier der Vorteil der Gegend zu nennen, der (insbesondere aufgrund der beweglicheren Kampfweise) für den Verteidiger in vieler Hinsicht nun ganz entfiel oder doch stark abgeschwächt wurde. So hatte dieser unter den veränderten Gegebenheiten, weil er möglicherweise sehr kurzfristig in einer bestimmten Gegend zur Verteidigung eingesetzt würde, erheblich weniger Zeit für Auswahl und Ausnutzung des Geländes sowie für seine sonstigen Verteidigungsvorbereitungen.500 Damit verliert die Verteidigung eine ihrer wichtigsten, wenn nicht sogar die wichtigste Voraussetzung, um die ihr potentiell zukommenden Stärken auch entfalten zu können. Somit war es nur konsequent im Rahmen der neuen Konzeption, welche mit den Begriffen „LenkenStellen-Schlagen“501 umschrieben wurde, die Verteidigung als bisherige Hauptgefechtsart durch den Angriff zu ersetzen. Ursache dafür war die verminderte „Anzahl von Kräften“ in einem größeren Raum. Hiermit wird deutlich, dass im Gegensatz zur Vorstellung von Clausewitz die zahlenmäßige Stärke der Streitkräfte (selbst dann, wenn eine Überlegenheit einer Seite nicht vorliegt) sehr wohl eine besondere Beziehung zum Wechselverhältnis von Angriff und Verteidigung hat und das Stärkeverhältnis der beiden Gefechtsarten sehr nachhaltig beeinflussen kann. Es muss daher als unangemessen bezeichnet werden, wenn Clausewitz glaubt, diesen Faktor im Hinblick auf die Beurteilung des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung nicht berücksichtigen zu müssen. Dies gilt auch für die „Übung“ oder, um es in heutigen Begriffen auszudrücken, für den Ausbildungsstand der Streitkräfte, welcher entgegen der Behauptung des Kriegsphilosophen durchaus eine besondere Beziehung zu Angriff und Verteidigung hat (und zudem, wie kaum ein anderer, in der Willkür des Feld500
Zu denken wäre hier beispielsweise an die Anlage von Sperren, den Ausbau von Stellungen, das Einschießen schwerer Waffen oder ganz allgemein auch an das Vertrautwerden mit dem jeweiligen Gelände. 501 Vgl. dazu Rainer Glorius: Lenken, Stellen, Schlagen - Taktik und Gefecht der verbundenen Waffen unter geänderten Rahmenbedingungen. in: Truppenpraxis, Nr. 2/1991, S. 166-168. Oberstleutnant i. G. Rainer Glorius war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Aufsatzes der für die Grundzüge der Truppenführung zuständige Referent im Führungsstab des Heeres, Bonn.
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herrn liegt) und damit Einfluss auf die jeweilige Stärke dieser beiden Formen des Kriegführens nehmen kann. Ein besonders hoher Ausbildungsstand in der Gefechtsart Verteidigung führt beispielsweise, insbesondere wenn damit ein niedriger Ausbildungsstand des Gegners in der Gefechtsart Angriff einhergeht, dazu, dass die (eigene) Verteidigung gegenüber dem Angriff an Stärke gewinnt.502 Umgekehrt wird der Angriff an Stärke gewinnen, wenn die eigenen Streitkräfte in dieser Gefechtsart besonders geübt sind und der Gegner ein schlechter Verteidiger ist. Dass diese Überlegungen in der kriegerischen Praxis sehr wohl Berücksichtigung finden, zeigt u.a. die Schlacht von Gettysburg (1. - 3. Juli 1863). General Meade, der Kommandeur der nordstaatlichen Potomac-Armee, entschied sich unter anderem deshalb dafür, die Schlacht verteidigender Weise zu schlagen, weil ihm der schlechte Ausbildungsstand seiner Truppen im Angriff sehr wohl bewusst war. Hinsichtlich des Ausbildungsstandes war daher für ihn (in dieser Situation) die Verteidigung die stärkere Form. 503 Um diesen Zusammenhang noch etwas deutlicher zu machen, muss darauf hingewiesen werden, dass es nicht notwendig auf eine Überlegenheit des eigenen Ausbildungsstandes über den des Gegners ankommt. Bereits die Art desselben kann selbst bei völliger Identität mit dem Ausbildungsstand des Gegners nachhaltigen Einfluss auf das Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung ausüben. Sind beide Gegner beispielsweise im Angriff besonders geübt, während sie in der Verteidigung nur schlecht ausgebildet sind, so wird im Hinblick auf den Ausbildungsstand der Angriff (für beide Gegner) die stärkere Form des Kriegführens darstellen. 3.2.2.b Initiative Hinsichtlich des zweiten Vorwurfes soll im Folgenden deutlich gemacht werden, dass es außer den von Clausewitz in Betracht gezogenen noch weit mehr „Prinzipe“ des Sieges gibt, die eine besondere Beziehung zu Angriff und Verteidigung haben und aufgrund dessen hinsichtlich einer Aussage über das Wesen der beiden Formen des Kriegführens hätten berücksichtigt werden müssen. Dies soll exemplarisch anhand eines Elements gezeigt werden, dessen Bedeutung schon von Sun Tsu, Friedrich II. und Napoleon erkannt wurde und welches heute in den meisten Armeen der Welt als eines der wichtigsten Prinzipien des Krieges und des Sieges betrachtet wird.504 Gemeint ist der Faktor Initiative oder anders 502
Was natürlich nicht bedeutet, dass sie damit insgesamt die stärkere Form des Kriegführens ist. Vgl. dazu Goßler a.a.O., S. 197 ff sowie Symonds a. a. O. S. 14 ff 504 Vgl. dazu Dinter a.a.O., S. 46-49 sowie Zivi Lanir: The „Principles of War“ and Military Thinking. in: The Journal of Strategic Studies, Vol.16, No.1 (March 1993), London 1993, S. 3 503
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ausgedrückt die Freiheit des Handelns. Welch hohen Stellenwert dieses Prinzip beispielsweise bei den U.S.-Streitkräften besitzt, geht aus deren zentraler Führungsvorschrift, dem Field Manual 100-5, hervor, in welchem die Initiative als erstes von fünf „basic tenets of army operations“ genannt wird: „The army’s success on and off the battlefield depends on its ability to operate in accordance with five basic tenets: initiative, agility, depth, synchronisation, and versatility. A tenet is a basic truth held by an organisation. The fundamental tenets of Army operations doctrine describe the characteristics of successful operations. ... The US Army believes that its five basic tenets are essential to victory. In and off themselves they do not guarantee victory, but their absence makes it difficult and costly to achieve.“505
Auch die Vorschriften der Bundeswehr heben die Wichtigkeit dieses Prinzips eindeutig hervor. So heißt es beispielsweise in der HDv 100/100 unter dem Punkt „Führungsgrundsätze“: „Stets müssen alle Führer bestrebt sein, die Freiheit des Handelns zu bewahren oder sie zu gewinnen. Jeder Vorsprung vor dem Feind vergrößert die eigene Handlungsfreiheit und engt die des Gegners ein.“506
Es wäre falsch zu behaupten, Clausewitz habe dieses Element völlig verkannt und wäre sich der Bedeutung der Initiative in Krieg und Gefecht nicht bewusst gewesen. Umso erstaunlicher ist es jedoch, dass er dieses Prinzip hinsichtlich seiner Überlegungen zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung gänzlich außer Acht lässt und es nicht als ein „Prinzip des Sieges“ anerkennt. Dies ist umso erstaunlicher, als dieses Prinzip genau die von ihm für erforderlich gehaltenen Kriterien erfüllt. Zum einen liegt es in der Willkür des Feldherrn, und zum anderen hat es eine ganz ausgeprägte Beziehung zu Angriff und Verteidigung. Vielleicht war aber auch gerade letzteres der Grund dafür, dass Clausewitz stillschweigend darüber hinwegging, da die Initiative ein Merkmal darstellt, welches fast ausschließlich dem Angreifer zukommt.507 So wie Clausewitz das Merkmal 505
U.S. Army Field Manual 100-5. Fighting Future Wars, Washington 1994, S. 2-6 Heeresdienstvorschrift Truppenführung. (2., verbesserte Auflage TF/G 73), HDv 100/100 VSNfD, September 1987, S. 715 507 Dies darf nicht mit dem Streben des Verteidigers verwechselt werden, die Initiative erringen zu wollen. Zunächst besitzt sie jedenfalls der Angreifer, was auch von Clausewitz durchaus anerkannt wird. Vgl. dazu Vom Kriege. VI, 1, S. 614: „In der Taktik ist also jedes Gefecht, groß oder klein, ein verteidigendes, wenn wir dem Feinde die Initiative überlassen und sein Erscheinen vor unserer Fronte abwarten.“ Vgl. auch Vom Kriege. VI, 3, S. 624. Als einzige Ausnahme hiervon könnte die Überlegung angestellt werden, inwieweit von der Initiative des Angreifers noch gesprochen werden kann, wenn sich der Verteidiger einer indirekten Strategie bedient und beispielsweise einen Angriff seines Gegners provoziert hatte, um dadurch eine günstige Möglichkeit für einen Gegenstoß zu erhalten. 506
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des „Abwartens“ definitorisch der Verteidigung zuordnet und die aus diesem Merkmal entspringenden Vorteile als deren natürliche Stärken betrachtet, so ist das Merkmal der Initiative definitorisch dem Angriff zuzuordnen und müsste dann konsequenterweise die daraus resultierenden Vorteile als seine (natürlichen) Stärken betrachten. Damit würde sich das Stärkeverhältnis zwischen Angriff und Verteidigung jedoch in starkem Maße zugunsten des Angreifers verschieben, was natürlich nicht im Sinne der Bemühungen des preußischen Kriegsphilosophen liegen konnte, die größere Stärke der Verteidigung unter Beweis zu stellen. Clausewitz soll damit nicht unterstellt werden, dass er absichtlich bestimmte Faktoren, welche nicht in sein Gedankenmuster passten, einfach beiseite geschoben hätte. Es kann jedoch vermutet werden, dass der Blickwinkel, aus dem und die Einstellung mit welcher er das Phänomen Krieg betrachtete, einen entscheidenden Einfluss darauf hatte, welche Faktoren er in seine Überlegungen vornehmlich einbezog und welche er, vielleicht unbewusst, vernachlässigte. Die Initiative ist hierbei als ein Prinzip anzusehen, welches beinahe definitorisch aus dem Angriff resultiert und sich darin äußert, dass derjenige, der sie besitzt, agiert, während derjenige, der ihrer entbehrt, gezwungen ist, auf die Aktionen seines Gegners zu reagieren. Aus dem Besitz der Initiative wird nicht zwangsläufig und in jedem Falle ein nachweisbarer Vorteil resultieren, es liegt jedoch auf der Hand, dass es auf keinen Fall ein Nachteil ist, selbst das Gesetz des Handelns zu bestimmen und dass dies in aller Regel auch als ein Vorteil bzw. als eine zusätzliche Stärke betrachtet werden muss. Dieser Vorteil kommt in erster Linie dem Angreifer zugute und kann als seine natürlichste und auch wichtigste Stärke betrachtet werden. Die große Bedeutung der Initiative liegt darin, dass sie nicht nur für sich ein „Prinzip des Sieges“ darstellt, sondern darüber hinaus auch das Wirksamwerden anderer Prinzipien des Sieges begünstigt und zum Teil auch erst ermöglicht. So leistet der Faktor Initiative einen ganz wesentlichen Beitrag in dem Bestreben, den Gegner zu überraschen, weil derjenige, der agiert, in der Regel einen sehr viel größeren Einfluss auf Ort und Zeit des Kampfgeschehens und den Ansatz von Kräften besitzt als der Reagierende und somit in der Lage ist, letzteren hinsichtlich dieser Faktoren in weit stärkerem Maße zu überraschen, als dies umgekehrt der Fall ist. Auch das Prinzip der Schwerpunktbildung wird durch den Faktor Initiative ganz wesentlich begünstigt, weil der Agierende einen Schwerpunkt vorgeben kann, auf den sein Gegner dann erst noch reagieren muss. Damit hat derjenige, der im Besitz der Initiative ist, seinem Gegner einen, möglicherweise entscheidenden, Schritt voraus.
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Der aus dem Besitz der Initiative als solcher sich ergebende Vorteil ist darin zu sehen, dass dieser es ermöglicht, eine Entscheidung zu erzwingen, das heißt zu bestimmen, dass jetzt und nicht später gekämpft wird, womit augenblickliche Chancen reaktionsschnell zum eigenen Vorteil ausgenutzt werden können. So kann dadurch aus gegenwärtigen Schwächen des Gegners Nutzen gezogen oder eine für die Zukunft zu erwartende größere Stärke des Gegners vermieden werden. Abschließend ist festzuhalten, dass die Initiative ein sehr wichtiges „Prinzip des Sieges“ darstellt, welches vor allem wegen seiner besonders charakteristischen Beziehung zu Angriff und Verteidigung im Hinblick auf die von Clausewitz aufgestellte These über das Wesen des Stärkeverhältnisses der beiden Formen des Kriegführens unbedingt hätte berücksichtigt werden müssen. 3.2.3 Zusammenfassung / Ergebnis Kernargument: Kern der Clausewitzschen Argumentation zur Begründung seiner These von der größeren Stärke der Verteidigung ist sein Versuch diese aus den „Prinzipen des Sieges“ abzuleiten. Er konzentriert und beschränkt sich hierbei auf diejenigen Prinzipe, die seiner Ansicht nach eine besondere Beziehung zu Angriff und Verteidigung haben. Überraschung, Vorteil der Gegend und Anfall von mehreren Seiten sind die Prinzipe, die ihm, gemäß dieser Kriterien, sowohl für die Ebene der Taktik als auch die der Strategie beachtenswert erscheinen und er fügt für die strategische Ebene noch den Beistand des Kriegstheaters, des Volkes und die Benutzung großer moralischer Kräfte hinzu. Gesamtstruktur: Hinsichtlich der Gesamtstruktur seiner Argumentation stellt sich die Frage, ob die von Clausewitz vorgenommene Beschränkung seiner Analyse auf diese genannten sechs Prinzipe, der komplexen und facettenreichen Natur des betrachteten Gegenstandes mit seinen vielfältigen Wechselwirkungen gerecht werden kann. Die Stimmigkeit seiner beiden Auswahlkriterien ist diesbezüglich von entscheidender Bedeutung. Erstes Auswahlkriterium: Was sein Auswahlkriterium „Willkür des Feldherrn“ betrifft, ist festzuhalten, dass dieses Kriterium und der Anspruch des Kriegsphilosophen mit seiner Theorie Aussagen auf der Wesensebene treffen zu wollen, nicht zu vereinbaren sind. Zur Beurteilung der im Wesen einer Sache verankerten Eigenschaft ist eine ganzheitliche Betrachtungsweise erforderlich und es kann nicht genügen, sich lediglich auf ein Teilelement dieses Wesens, wie auf die in der Willkür des Feldherrn liegenden Dinge zu beschränken. Solange man unter dem Wesen einer Sache diejenigen Eigenschaften versteht, welche dieser Sache notwendigerweise zukommen und dieselbe definitorisch ausmachen, ist es unzulässig Aussagen über das Wesen der Verteidigung von einem
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Kriterium wie der „Willkür des Feldherrn“ abhängig zu machen. Entweder die Verteidigung ist ihrem Wesen nach die stärkere Form, oder sie ist es nicht. Die „Willkür“ des Feldherrn kann dabei schlechterdings keine Rolle spielen. Zweites Auswahlkriterium: Das zweite Auswahlkriterium des Kriegsphilosophen, die Notwendigkeit einer „besonderen Beziehung zu Angriff und Verteidigung“, ist für sich betrachtet nachvollziehbar. Die Interpretation dieses Kriteriums durch Clausewitz weist jedoch erhebliche Unstimmigkeiten auf. Wie am Beispiel der Faktoren „Überlegenheit der Zahl“ und „Übung“ gezeigt werden konnte, haben eine Reihe der Prinzipe, welche Clausewitz in seiner Betrachtung explizit ausklammert, weil sie seiner Ansicht nach keine besondere Beziehung zu den beiden Formen des Kriegführens haben, sehr wohl eine besondere Beziehung zu Angriff und Verteidigung und können daher im Rahmen einer ganzheitlichen Betrachtung nicht unberücksichtigt bleiben. Zum anderen gibt es über die von Clausewitz in Betracht gezogenen Prinzipe hinaus noch weit mehr Faktoren, die seine Auswahlkriterien erfüllen und daher berücksichtigt werden müssten. Indem Clausewitz beispielsweise den Faktor Initiative hinsichtlich seiner Überlegungen zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung vollständig unberücksichtigt lässt, klammert er ein Element aus, welches definitorisch mit dem Angriff in Verbindung zu sehen ist und daher eine ganz dezidierte Beziehung zu den beiden Formen des Kriegführens aufweist und hierbei, seiner Forderung gemäß, gerade nicht dieselbe Wirksamkeit entwickelt. Da die aus der Initiative resultierenden Vorteile als die wohl natürlichste und wichtigste Stärke des Angriffs zu bewerten sind, kann eine Nichtbeachtung dieses grundlegenden Faktors nicht zu einer ganzheitlich ausgewogenen Bewertung führen. Ganzheitliche Betrachtung: Insgesamt ist festzuhalten, dass Clausewitz durch Wahl und Interpretation seiner Auswahlkriterien für die von ihm berücksichtigten Prinzipe des Sieges begrenzt, nur einen Teilbereich der kriegerischen Wirklichkeit erfasst und damit dem Anspruch einer ganzheitlichen Betrachtung nicht gerecht wird. Entscheidende Faktoren, insbesondere hinsichtlich potenzieller Stärken des Angriffs bleiben unberücksichtigt. Daher sind auf dieser Basis Aussagen über das Wesen von Angriff und Verteidigung, wie von Clausewitz angestrebt, nicht möglich. 3.3 Überraschung 3.3.1 Überraschung als das erste „Prinzip des Sieges” Obwohl auf der Basis der Gesamtstruktur der Clausewitzschen Argumentation im Kontext der von ihm betrachteten Prinzipe des Sieges eine stimmige und ganzheitliche Begründung seiner These von der größeren Stärke der Verteidi-
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gung nicht möglich ist, sollen im Folgenden dennoch die einzelnen von Clausewitz genannten „Prinzipe des Sieges“ einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Dies geschieht nicht nur der Vollständigkeit halber, sondern auch aus der Überzeugung heraus, dass die Grundidee des Kriegsphilosophen, über eine Betrachtung der Prinzipe des Sieges zu Aussagen über das Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung zu gelangen, durchaus seine Berechtigung hat. Bei einer entsprechend vollständigen und ganzheitlichen Betrachtung sind daher durchaus weiterführende Erkenntnisse aus diesem methodischen Vorgehen zu erwarten, weswegen eine genaue Analyse der diesbezüglichen Argumentation von Clausewitz nicht nur sinnvoll sondern notwendig erscheint. Zunächst ist hierbei auf den Faktor Überraschung einzugehen. Faktor: Der Faktor Überraschung stellt das erste „Prinzip des Sieges“ dar, welches Clausewitz zur Begründung seiner These von der größeren Stärke der Verteidigung hervorhebt. In einem ersten Schritt soll daher deutlich gemacht werden, was Clausewitz unter diesem Faktor versteht, um anschließend die Auswirkungen dieses Prinzips hinsichtlich des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung untersuchen zu können. Wirkung: Das neunte Kapitel des dritten Buches widmet der Kriegsphilosoph ausschließlich dem Prinzip der Überraschung und macht darin deutlich, worin er die Wirksamkeit dieses Prinzips erkennt. Überraschung wird seiner Ansicht nach auf zwei verschiedene Arten wirksam, nämlich zum einen als ein „selbständiges Prinzip“ durch ihre „geistige Wirkung“, welche „Verwirrung“ und „gebrochenen Mut“ beim Gegner zu Folge hat, und zum anderen als ein „Mittel“, um damit die zahlenmäßige „Überlegenheit“ auf dem entscheidenden Punkt zu erreichen.508 Letzteren Aspekt verdeutlicht Clausewitz im zweiten Kapitel des sechsten Buches folgendermaßen: „Die Überraschung zeigt sich wirksam dadurch, daß man dem Feinde auf einem Punkt viel mehr Truppen entgegenstellt, als er es erwartete.“509
Die Wichtigkeit, welche der Kriegsphilosoph insbesondere dieser Wirksamkeit der Überraschung beimisst, zeigt sich darin, dass er die zahlenmäßige Überlegenheit auf dem entscheidenden Punkt als das „wichtigste Agens der Kriegskunst“510 bezeichnet und betont, dass ohne die Überraschung eine Überlegenheit auf dem entscheidenden Punkt eigentlich nicht denkbar sei.511 Methode: Hinsichtlich der Art und Weise, wie Überraschung zu erreichen ist, unterscheidet Clausewitz zwischen dem „eigentlichen Überfall des Ganzen 508
Vgl. Vom Kriege. III, 9, S. 379 Vom Kriege. VI, 2, S. 618 510 Vom Kriege. VI, 2, S. 618 511 Vgl. Vom Kriege. III, 9, S. 379 509
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mit dem Ganzen“512 und dem „Bestreben, mit seinen Maßregeln überhaupt, besonders aber mit der Verteilung der Kräfte den Gegner zu überraschen“.513 Die erstgenannte Art der Überraschung bezieht sich dabei vornehmlich auf die Eröffnung eines Gefechts oder Feldzuges, während die zweite Art sich (auch) auf die Überraschung im Laufe des Gefechts bezieht, wobei Clausewitz hinsichtlich des letzteren Aspekts die „unvermutete Aufstellung größerer Kräfte auf gewissen Punkten“514, sowie das unaufhörliche Überraschen durch Stärke und Form der eigenen Anfälle515 als Methoden nennt. Zusätzlich spricht er von „Geheimnis und Schnelligkeit“516 als den beiden Faktoren des Produkts der Überraschung. Ebenen: Was die Unterscheidung zwischen taktischer und strategischer Ebene anbelangt, so betont Clausewitz, dass in der Taktik (weil dort alle Zeiten und Räume kleiner seien) die Überraschung vielmehr zu Hause sei, während in der Strategie ihre Erfolge zwar größer und gewaltiger wären, aber dafür empirisch nur sehr selten erreicht werden könnten.517 Verhältnis zu Angriff und Verteidigung: Abschließend kommt der Kriegsphilosoph im Kapitel „Die Überraschung“ zu einer sehr konkreten Feststellung darüber, wie sich dieses Prinzip auf das Verhältnis von Angriff und Verteidigung auswirkt. Clausewitz betont, dass nur derjenige überraschen könne, welcher dem anderen „das Gesetz gebe“. Da der Angriff viel mehr positive Handlungen in sich schließe als die Verteidigung, so sei auch das Überraschen allerdings mehr in der Stelle des Angreifenden, aber keineswegs ausschließlich.518 Diese Einstellung wird auch im neunten Kapitel des achten Buches angedeutet, indem der Kriegsphilosoph darauf verweist, dass der Angriff überhaupt fast seinen einzigen Vorzug in der Überraschung besitze und „das Plötzliche und Unaufhaltsame“ seine „stärksten Schwingen“ seien.519 Es kann daher festgehalten werden, dass gemäß der hier von Clausewitz vertretenen Ansicht zwar auch der Verteidiger im Einzelfall das Überraschungsmoment auf seiner Seite haben kann, dass dieses jedoch in erster Linie dem Angreifenden zukommt. 3.3.2 Kritik der Clausewitzschen Argumentation Vergleicht man diese Feststellung des Kriegsphilosophen mit dem, was er im zweiten und dritten Kapitel des sechsten Buches schreibt, so wird ein eklatanter 512
Vgl. Vom Kriege. VI, 2, S. 619 Vgl. Vom Kriege. III, 9, S. 379 Vgl. Vom Kriege. VI, 3, S. 622 515 Vgl. Vom Kriege. VI, 2, S. 618 516 Vgl. Vom Kriege. III, 9, S. 379 517 Vgl. Vom Kriege. III, 9, S. 380, 383 518 Vgl. Vom Kriege. III, 9, S. 383 519 Vgl. Vom Kriege. VIII, 9, S. 1020 513 514
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Widerspruch deutlich. In seinem Bemühen, die größere Stärke der Verteidigung begründen zu wollen, scheint Clausewitz seine vormalige Feststellung völlig zu vergessen und behauptet nun genau das Gegenteil, nämlich dass der Angreifer nur einen geringen Teil des Prinzips der Überraschung für sich habe, während der größere Teil dem Verteidiger zu Gebote stünde.520 Dieser Widerspruch lässt natürlich die Überraschung als das erste „Prinzip des Sieges“, welches der Kriegsphilosoph anführt, um damit die größere Stärke der Verteidigung zu untermauern, sehr fragwürdig erscheinen. Hinzu kommt, dass sein Begründungsversuch, wonach das Prinzip der Überraschung dem Verteidiger in stärkerem Maße zu Gebote stünde als dem Angreifer, wenig überzeugend ist. Clausewitz gesteht dem Angriff - in der Taktik wie auch in der Strategie - zwar den Vorteil des Überfalls „des Ganzen mit dem Ganzen)“ zu, weist aber darauf hin, dass der Verteidiger im Laufe des Gefechts durch Stärke und Form seiner Anfälle unaufhörlich zu überraschen imstande sei, und geht offenbar stillschweigend davon aus, dass letzter Faktor gegenüber dem ersten überwiegt und nur auf den Verteidiger zutrifft. Hier stellt sich die Frage, warum nicht auch der Angreifer dazu in der Lage sein sollte, seinen Gegner auch im Laufe des Gefechts zu überraschen.521 Clausewitz lässt diese Frage völlig unberücksichtigt und begnügt sich mit der bloßen Behauptung. Es könnte daher in Konsequenz der Argumentation des Kriegsphilosophen vermutet werden, dass eigentlich doch der Angreifer das Prinzip der Überraschung in stärkerem Maße für sich haben müsse, weil dieser (nach den Worten von Clausewitz) den Vorteil des Überfalls ausschließlich besitze und es keinen vernünftigen Grund dafür gibt, warum der Angreifer nicht auch dazu in der Lage sein sollte, im Laufe des Gefechts zu überraschen, was bedeuten würde, dass seine Möglichkeiten Überraschung zu erzielen weitaus vielfältiger wären als die des Verteidigers. Darüber hinaus ist die Annahme des Kriegsphilosophen in Frage zu stellen, wonach die Überraschung im Laufe eines Gefechts stärker ins Gewicht falle als die Überraschung durch den eigentlichen Überfall. Ist nicht gerade letztere Art der Überraschung viel wirksamer und durchschlagender, weil sie für den Verteidiger die Gefahr mit sich bringt, bereits dem ersten Überfall des Angreifenden zu unterliegen? Und zeigt nicht auch die Kriegsgeschichte, dass dies in vielen Fäl520
Vgl. Vom Kriege. VI, 2, S. 619 Die betrachteten Beispiele der Zwölften Isonzoschlacht und des Sechstagekrieges zeigen jedenfalls, dass neben der Überraschung durch den eigentlichen Überfall der Angreifer auch im Laufe des Gefechtes oder des Feldzuges permanent zu überraschen imstande war. Auch die „Blitzkriege“ des II. Weltkrieges machen deutlich, dass sich das Überraschungsmoment des Angreifers nicht nur auf den eigentlichen Überfall beschränkt, sondern dass dieses im Verlauf eines Angriffs insbesondere aufgrund der geistig/moralischen Wirkung der Überraschung sogar noch gesteigert werden kann. Zu denken wäre hier besonders an tiefe Panzervorstöße in den Rücken des Gegners.
521
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len selbst auf strategischer Ebene so ist? Clausewitz gibt diesem Einwand (auf strategischer Ebene) teilweise recht, indem er selbst hervorhebt, dass der Überfall in der Strategie ein unendlich viel wirksameres und wichtigeres Mittel sei als in der Taktik und nicht selten den ganzen Krieg mit einem Streich geendigt habe.522 Er wendet jedoch ein, dass der Gebrauch dieses Mittels große, entscheidende und seltene Fehler beim Gegner voraussetze, und es daher in die Waagschale des Angriffs kein sehr großes Gewicht legen könne.523 Im neunten Kapitel des dritten Buches weist Clausewitz auf einige große strategische Überraschungserfolge hin, betont aber auch hier, dass es nur sehr wenige solcher Erscheinungen in der Kriegsgeschichte gebe und es äußerst selten sei, dass ein Staat den anderen mit einem Krieg oder mit der Richtung seiner Kräfte im großen überrasche.524 Hier stellt sich natürlich die Frage, wie vieler empirischer Einzelfälle es jeweils bedarf, um von wenigen oder häufigen Erscheinungen in der Kriegsgeschichte sprechen zu können. Ohne auf diese Frage näher eingehen zu wollen, soll lediglich darauf verwiesen werden, dass in den beiden eingangs betrachteten kriegsgeschichtlichen Beispielen (Zwölfte Isonzoschlacht, Sechstagekrieg) dem Angreifer jeweils die vollständige Überraschung seines Gegners gelang - die Überraschung lag in beiden Fällen ausschließlich auf Seiten des Angreifenden und dass dieses Überraschungsmoment einen ganz entscheidenden Beitrag zum Siege geleistet hat. Es lassen sich in der Kriegsgeschichte (neben den von Clausewitz selbst genannten) eine Vielzahl weiterer Fälle aufzeigen, in denen die durch den Überfall erzielte Überraschung zu großen militärischen Erfolgen führte525 oder in denen es einer Seite gelang, ihren Gegner gar mit einem Krieg zu überraschen.526 Mit diesen Überlegungen soll nicht behauptet werden, dass die strategische Überraschung im Gegensatz zur Clausewitzschen Behauptung ein 522
Vgl. Vom Kriege. VI, 3, S. 623 Ebenda 524 Vgl. Vom Kriege. III, 9, S. 380, 383 525 Vergleiche dazu beispielsweise die Schlachten am Trasimenischen See 217 v.Chr. , im Teutoburger Wald 9 n.Chr. und bei Leuthen 1757. Zu denken wäre auch an den größten Teil der Napoleonischen Feldzüge, welche fast sämtlich auf strategische und operative Überraschung ausgerichtet waren und diese sehr häufig auch erreichten. 526 Vergleiche dazu beispielsweise die Eroberungskriege der Araber (7./8.Jh.n.Chr.) und Mongolen (13./14.Jh.n.Chr.), deren Erfolg in erster Linie auf strategischer Überraschung beruhte. Durch die enorme Schnelligkeit ihrer Reiterheere sowie durch das rücksichtslose Brechen von Verträgen gelang es den Mongolen häufig, ihre Gegner mit dem Krieg insgesamt, d.h. politisch/strategisch zu überraschen. Hinsichtlich dieser Methoden wird eine Parallele mit den sogenannten „Blitzkriegen“ Hitlers deutlich, der sich einer ähnlichen Vorgehensweise bediente und damit bis einschließlich der ersten Phase seines Angriffs auf die Sowjetunion die strategische und operative Überraschung (welche einen entscheidenden Beitrag zu seinen anfänglichen Eroberungserfolgen leistete) auf seiner Seite hatte. 523
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häufiger Fall in der Kriegsgeschichte sei. Es soll damit lediglich deutlich gemacht werden, dass es nicht so einfach ist, von seltenen oder häufigen Fällen in der Kriegsgeschichte zu sprechen, weil dies zunächst eine Definition dessen erfordern würde, was man unter „häufig“ oder „selten“ eigentlich versteht, und anschließend eine Untersuchung der gesamten Kriegsgeschichte nach sich ziehen müsste. Die einfache Behauptung, dass etwas ein „häufiger“ oder ein „seltener“ Fall sei, kann jedenfalls nicht als ein Argument betrachtet werden. Zu bedenken ist außerdem, dass man an einen strategischen Überfall nicht unbedingt den Anspruch zu erheben braucht, dass dieser bereits den endgültigen Sieg nach sich ziehen müsse, bevor man bereit ist, ihn als wirksames Prinzip (des Angriffs) anzuerkennen. Diese Forderung stellt der Kriegsphilosoph auch nicht an die Überraschungsaktionen, welche der Verteidiger im Laufe des Gefechts durchführt und welche nach seinen Mutmaßungen in ihrer Bedeutung die Überraschungsfähigkeit des Angreifers übertreffen würden. Auch die Behauptung, dass ein Überfall in der Strategie beim Gegner große Fehler voraussetze, müsste analog für das Gelingen einer strategischen Überraschung des Verteidigers (durch das Aufstellen überlegener Kräfte an gewissen Punkten) gelten. Man könnte mit der gleichen Berechtigung behaupten, dass ein solcher Erfolg große Fehler des Angreifenden voraussetzen würde. Zudem kann man sich die Frage stellen, ob die Stärke des Angriffs nicht gerade darin liegt, diese Fehler des Gegners durch einen eigenen Überfall aktiv zum eigenen Vorteil ausnutzen zu können. 3.3.3 Zusammenfassung / Ergebnis Faktor Überraschung: Clausewitz liefert eine sehr anschauliche Beschreibung des Faktors Überraschung als einem Prinzip des Sieges, indem er in zutreffender Weise insbesondere dessen Wirksamkeit, Methoden und ebenenspezifische Besonderheiten hervorhebt. Hinsichtlich der Auswirkungen dieses Prinzips auf das Verhältnis von Angriff und Verteidigung betont er, dass nur derjenige überraschen könne, der dem anderen das Gesetz gebe. Damit sieht er die Fähigkeit zu überraschen zwar nicht ausschließlich, so doch in deutlich stärkerem Maße, auf Seiten des Angriffs, da jener sich insbesondere durch den Besitz der Initiative und damit die Fähigkeit das Gesetz des Handelns zu bestimmen auszeichnet. Widerspruch / Überraschung als Stärke der Verteidigung: Dieser Analyse wäre an sich wenig hinzuzufügen, wenn sie nicht durch Clausewitz selbst, in seinem Bestreben, die größere Stärke der Verteidigung begründen zu wollen, wieder in Frage gestellt würde. Im Widerspruch zu seiner eigenen Analyse behauptet er an anderer Stelle genau das Gegenteil, nämlich dass der Angreifer nur einen geringen Teil des Prinzips der Überraschung für sich habe, während der
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größere Teil dem Verteidiger zu Gebote stünde. Er führt dies insbesondere darauf zurück, dass der Angriff zwar den Vorteil des Überfalls „des Ganzen mit dem Ganzen“ auf seiner Seite habe, weist aber darauf hin, dass der Verteidiger im Laufe des Gefechts unaufhörlich zu überraschen imstande sei, und geht offenbar stillschweigend davon aus, dass letzter Faktor gegenüber dem ersten überwiegt und nur auf den Verteidiger zutrifft. Die Frage warum nicht auch der Angreifer dazu in der Lage sein sollte, seinen Gegner im Laufe des Gefechts zu überraschen, stellt sich Clausewitz nicht und Überraschungserfolge des Angreifers durch Überfall werden als „seltene Fälle“ in der Kriegsgeschichte abgetan, welche große und entscheidende Fehler der Gegners voraussetzen würden. Diese Argumentation des Kriegsphilosophen zur Begründung seiner geänderten Auffassung kann nicht überzeugen. Sie ist in sich nicht konsequent, beschränkt sich zum Teil auf bloße Behauptungen ohne Begründung und steht vor allem im Widerspruch zu anderen, sehr überzeugenden Teilen seines eigenen Werkes. Überraschung als Stärke des Angriffs: Zusammenfassend kann daher festgehalten werden, dass die Clausewitzsche Überlegung, wonach die Überraschung ein Prinzip des Sieges sei, von welchem der größere Teil der Verteidigung zu Gebote stünde, und welches er aufgrund dessen glaubt zur Begründung seiner These von der größeren Stärke der Verteidigung verwenden zu können, nicht überzeugend ist. Im Gegensatz zu Clausewitz, oder genauer gesagt in Übereinstimmung mit seinen Überlegungen aus dem neunten Kapitel des dritten Buches, ist die Überraschung zwar keineswegs ausschließlich, aber doch in deutlich stärkerem Maße, als eine Stärke des Angriffs zu betrachten. Die Begründung hierfür ist darin zu sehen, dass der Angreifer, der sich (auch in der Vorstellung von Clausewitz) durch den Besitz der Initiative definiert, einen weit stärkeren Einfluss auf Zeit und Ort einer Auseinandersetzung sowie den Ansatz von Kräften und die Methode des Vorgehens besitzt als der Verteidiger und somit seinen Gegner hinsichtlich dieser Faktoren in erheblich stärkerem Maße überraschen kann, als dies umgekehrt der Fall ist. Dass Clausewitz zu einer umgekehrten Bewertung des Prinzips Überraschung gelangt, muss auch im Kontext seiner allgemeinen Nichtbeachtung des Faktors Initiative für das Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung gesehen werden. 3.4 Vorteil der Gegend 3.4.1 Vorteil der Gegend als das wichtigste Prinzip des Sieges Das wichtigste Prinzip des Sieges, aufgrund dessen Clausewitz zu der Überzeugung gelangt, dass die Verteidigung die stärkere Form des Kriegführens sei, ist
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der Beistand der örtlichen Lage.527 Der Kriegsphilosoph ordnet dieses Prinzip in der Taktik wie auch in der Strategie - nicht nur überwiegend (wie die anderen Prinzipe) sondern ausschließlich der Verteidigung zu.528 Das heißt, nur der Verteidiger nicht aber der Angreifer kann seiner Meinung nach aus diesem Prinzip Nutzen ziehen. Hinzu kommt, dass Clausewitz in diesem Prinzip einen Vorteil zu erkennen glaubt, den die Verteidigung immer (in jeder Lage) besitzt und welcher ihr „im allgemeinen“ die „natürliche Überlegenheit“ (über den Angriff) sichern würde: „Immer aber wird ihr (der Verteidigung) der Beistand der Gegend gewiß sein, und weil Gegend und Boden jetzt mehr als je den kriegerischen Akt mit ihren Eigentümlichkeiten durchdringen, ihr im allgemeinen ihre natürliche Überlegenheit sichern.“529
An verschiedenen Stellen seines Werkes kommt Clausewitz auf den Faktor „Gegend“ zu sprechen und beleuchtet diesen aus unterschiedlichen Perspektiven. Dabei unterstreicht er die Wichtigkeit dieses Faktors, indem er den „entscheidenden Einfluss der Örtlichkeit“ als „einen der größten Vorzüge des Verteidigungskrieges“ bezeichnet. Hinsichtlich der verschiedenen Formulierungen, die Clausewitz in diesem Zusammenhang gebraucht, bedürfen einige der Interpretation. So zum Beispiel die oben zitierte Äußerung, wonach der Beistand der Gegend, der Verteidigung „im allgemeinen“ ihre natürliche Überlegenheit sichern würde, oder die Äußerung, dass der Verteidiger den Beistand der Gegend / örtlichen Lage „vorzugsweise“ genieße.530 Um zu verstehen, was Clausewitz mit diesen tendenziell relativierenden Formulierungen gemeint haben könnte, ist es hilfreich, einen Blick in das VII. Buch zu werfen. Im Kapitel „Über den Kulminationspunkt des Sieges“ kommt der Kriegsphilosoph auf die Prinzipe zu sprechen, welche die Überlegenheit der verteidigenden Kriegsform gewährleisten würden. Über die Wirkung dieser Prinzipe im Hinblick auf die Verteidigung betont er dabei Folgendes: „Es ist klar, daß diese Prinzipe nicht immer im gleichen Maße vorhanden und wirksam sein werden, und daß folglich eine Verteidigung der anderen nicht immer gleich
527
Vgl. dazu auch Gat a.a.O., S. 6 Vgl. dazu Vom Kriege. VI, 2, S. 619: „Wenn man die oben entwickelten Prinzipe des Sieges im Auge hat, so ergibt sich für diese Frage, daß der Angreifende nur einen geringen Teil des ersten (Überraschung) und letzten Prinzips (Anfall von mehreren Seiten) für sich hat, während der größere Teil und das zweite Prinzip (Vorteil der Gegend) ausschließend dem Verteidiger zu Gebote steht.“ Vgl. auch Vom Kriege. VI, 3, S. 623: „Der Verteidiger hat den Vorteil der Gegend, der Angreifende den des Überfalls; dies ist in der Strategie wie in der Taktik.“ 529 Vom Kriege. VI, 2, S. 621 530 Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 614, sowie VI, 2, S. 619 528
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IV. Kapitel: Kritische Analyse und Bewertung ist, daß folglich auch die Verteidigung nicht immer dieselbe Überlegenheit über den Angriff haben wird.“531
Angesichts dieser Äußerung kann unterstellt werden, dass Clausewitz mit seinen relativierenden Bemerkungen „im allgemeinen“, „vorzugsweise“ deutlich machen wollte, dass der „Vorteil der Gegend“ dem Verteidiger zwar immer und ausschließlich zukommt, dass das Ausmaß dieses Vorteils allerdings unterschiedlich groß sein kann, womit auch die (natürliche) Überlegenheit der Verteidigung über den Angriff im einen Fall etwas größer und im anderen Fall etwas kleiner sein wird. Clausewitz betont jedoch, und damit unterstreicht er die Bedeutung, welche er dem Prinzip „Beistand der örtlichen Lage“ zuordnet, dass die Verteidigung diesen Vorteil auch unter sehr ungünstigen Umständen (z.B. bei einer Verteidigung, die nach einem erschöpften Angriff eintritt) unverändert behält, während die anderen Vorteile ganz entfielen, stark geschwächt oder gar negativ würden.532 Den Einfluss, welchen Gegend und Boden auf die kriegerische Tätigkeit haben, führt Clausewitz auf drei Eigenschaften zurück. Er nennt hierbei den Einfluss als Hindernis des Bodens, als Hindernis der Übersicht und als Deckungsmittel gegen die Wirkung des Feuers. Auf diese drei Eigenschaften ließen sich alle (übrigen) zurückführen, betont er.533 Clausewitz macht jedoch an einzelnen Stellen noch auf einen weiteren Faktor aufmerksam, indem er darauf verweist, dass selbst im Falle einer ganz gleichgültigen Gegend, derjenige ihren Beistand genieße, der sie kennen würde.534 An anderer Stelle ergänzt er, dass gewöhnlich einer der beiden Kämpfenden (der Verteidiger) viel mehr von der Örtlichkeit wüsste als der andere. Diese von Clausewitz genannten Eigenschaften legen den Schluss nahe, dass das Wirksamwerden des Beistandes der örtlichen Lage - unabhängig davon, ob man denselben dem Angriff oder wie Clausewitz der Verteidigung als Vorteil zuordnet - an das Vorhandensein bestimmter Voraussetzungen gebunden ist. 3.4.2 Erste Voraussetzung Die erste dieser Voraussetzungen ist darin zu sehen, dass das Gelände nicht völlig „neutral“ sein darf. Es liegt auf der Hand, dass beispielsweise in einem völlig ebenen Steppengelände ohne Bewuchs und Bebauung oder sonstige Charakteristika von einem Einfluss des Geländes als „Hindernis des Bodens“, als „Hindernis der Übersicht“ oder als „Deckungsmittel gegen die Wirkung des Feuers“ kaum 531
Vom Kriege. VII, Über den Kulminationspunkt des Sieges, S. 943 Vgl. Vom Kriege. Über den Kulminationspunkt des Sieges, S. 942 f 533 Vgl. Vom Kriege. V, 17, S. 602 534 Vgl. Vom Kriege. VI, 2, S.619 532
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gesprochen werden kann. Auch aus der Kenntnis des Geländes können sich in einer solchen Situation kaum irgendwelche Vorteile ergeben. Man müsste sich vielmehr fragen, worauf sich in einem solchen Fall die Kenntnis des Geländes überhaupt beziehen sollte. Clausewitz selbst erkennt diesen Sachverhalt und weist darauf hin, dass die Örtlichkeit (Gegend und Boden) streng genommen ohne Einfluss sein könne, wenn das Gefecht in einer vollkommenen und ganz unbebauten Ebene geliefert würde. In Steppengegenden komme dieser Fall wirklich vor, fährt er fort, fügt aber einschränkend hinzu, dass in den Gegenden des gebildeten Europas dieser Fall fast nur eine eingebildete Vorstellung sei. Es sei also zwischen den gebildeten Völkern kaum ein Gefecht ohne Einfluss von Gegend und Boden denkbar.535 Unabhängig davon, inwiefern man dieser einschränkenden Anmerkung des Kriegsphilosophen zustimmen will oder nicht, ist bereits die Tatsache entscheidend, dass Clausewitz selbst eindeutig anerkennt, dass in bestimmten Fällen, die „Örtlichkeit“ ganz ohne Einfluss auf das Gefecht sein kann. Das heißt, dass von einem Beistand des Bodens für den Verteidiger in einem solchen Fall auch nicht gesprochen werden kann. Mit dieser Überlegung stellt der Kriegsphilosoph seine eigene These (welche er im zweiten Kapitel des VI. Buches zum Ausdruck bringt) in Frage, wonach sich die Verteidigung des Beistandes der Gegend immer gewiss sein könne. Angesichts dieser Einschränkungen kann es folglich nicht mehr als angemessen bezeichnet werden, wenn Clausewitz von einer „natürlichen Überlegenheit“ der Verteidigung spricht, denn das „Natürliche“ dieser Überlegenheit würde gerade darin liegen, dass letztere der Verteidigung „an sich“, das heißt ihrem Wesen nach, zukommt und nicht von jeweils spezifischen äußeren Umständen abhängig ist. Dass die Fälle, in denen die Örtlichkeit ohne Einfluss auf das Gefecht sein kann, keineswegs so selten sind wie Clausewitz glauben machen will, zeigt beispielsweise die von ihm kaum betrachtete Kriegführung zur See oder in unserer Zeit der Krieg in der Luft. Azar Gat stellt in diesem Zusammenhang fest, dass der Einfluss des Geländes im Krieg, so überraschend dies auch klingen möge, eher zufällig als immanent sei, was sich am deutlichsten bei der Seekriegsführung aufzeigen ließe. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass der Faktor Gelände von Clausewitz anhand bestimmter Merkmale der Landkriegführung abgeleitet 535 Vgl. Vom Kriege. VII, 2, S. 293. An anderer Stelle jedoch weist Clausewitz darauf hin, dass bei den „alten Völkern“ (auch bezogen auf das „gebildete Europa“) alles darauf eingerichtet gewesen sei, sich im offenen Felde ohne alle hindernden Gegenstände im Kampf miteinander zu messen, und dass alle Kriegskunst in der Einrichtung und Zusammensetzung des Heeres, also in der Schlachtordnung bestanden hätte. Der Kriegsphilosoph macht damit auf Zeiten in der Kriegsgeschichte aufmerksam, in denen das Gelände weitestgehend ohne Einfluss auf den Verlauf eines Gefechtes blieb. Vgl. vom Kriege. IV, 8, S. 449 f
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und konzipiert worden sei. Wie aber beispielsweise die Seekriegsführung zeige, sei dieser Faktor keinesfalls ein „notwendiger Bestandteil“ des Kriegsbegriffes „an sich“ oder auch des Verteidigungsbegriffes.536 3.4.3 Zweite Voraussetzung Die zweite Voraussetzung, die das Wirksamwerden des Beistandes der örtlichen Lage erfordert, ist, dass die von Clausewitz genannten drei Wirksamkeiten („Eigenschaften“), mit denen er den Faktor Gelände oparationalisiert, auch irgendwelche Vorteile versprechen müssen. Dies ist keineswegs so selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick erscheint. Der Einfluss, den die Gegend beispielsweise als „Deckungsmittel gegen die Wirksamkeit des Feuers“ besitzen kann, bringt nur dann auch einen Vorteil mit sich, wenn überhaupt die Notwendigkeit besteht, sich vor feindlichem Feuer zu schützen. Dies aber ist erst seit etwa drei Jahrhunderten in größerem Umfang der Fall, seit im Laufe des 18. Jahrhunderts mit der langsamen Entwicklung der Jäger- und Tirailleurtaktik das Gelände erstmals als Deckungsmittel gegen Feuer benutzt wurde. Da dieser Faktor viele Jahrhunderte lang in der Kriegsgeschichte praktisch kaum eine Rolle gespielt hatte, kann er nicht als ein „natürlicher“ im Wesen der Verteidigung liegender Vorteil betrachtet werden, zumal er in der Seekriegführung und beim Krieg in der Luft auch heute kaum eine Rolle spielt. Des Weiteren ist zu untersuchen, welchen Einfluss die drei von Clausewitz aufgezeigten „Eigenschaften“ dort wo sie in Erscheinung treten, tatsächlich auf das Verhältnis von Angriff und Verteidigung haben. Hierbei scheint zunächst offensichtlich, dass der „Beistand der örtlichen Lage“ für den Angreifer grundsätzlich genauso wichtig und erstrebenswert ist, wie für den Verteidiger. Was den Einfluss des Geländes als „Deckungsmittel gegen die Wirkung des Feuers“ und als „Hindernis der Übersicht“ anbelangt, so liegt auf der Hand, dass der Angreifer an diesen Faktoren mindestens ebenso stark interessiert sein muss wie der Verteidiger. Man könnte sogar unterstellen, dass es für den Angreifer noch viel wichtiger ist, sich gegen Sicht und Feuer durch eine entsprechende Nutzung des Geländes zu decken, als für den Verteidiger, da er sich als der Ausführende eines Stoßes (per definitionem) bewegen muss und dazu ein Minimum an Schutz gegen Sicht (frühzeitige Aufklärung) und Feuer des Verteidigers erforderlich sind.
536
Vgl. Gat a.a.O., S. 7
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3.4.4 Hindernis des Zugangs Hinsichtlich des Einflusses des Geländes als „Hindernis des Zuganges“ könnte jedoch vermutet werden, dass dieser Faktor vorwiegend dem Verteidiger zugute kommt, weil man unterstellen könnte, dass der Angreifer sich in weitaus stärkerem Maße bewegen muss als der Verteidiger und jener daher besonderen Nutzen aus dem Hinderniswert des Geländes im Bezug auf die Angriffsbewegung des Gegners ziehen könnte. Diese Möglichkeit und dieses Bestreben des Verteidigers wie auch das Interesse an ungehinderter Bewegungsfreiheit Seitens des Angreifers sind offensichtlich. Die Bedeutung ungehinderter Bewegungsfreiheit für den Verteidiger wird jedoch leicht übersehen insbesondere dann, wenn man seiner Vorstellung eine passive und statisch geführte Art der Verteidigung zu Grunde legt. Dass Bewegungsfreiheit jedoch auch für den Verteidiger von grundlegender Bedeutung ist, zeigt gerade der Clausewitzsche Begriff einer aktiven und beweglichen Verteidigung. Lediglich im Hinblick auf eine rein passive und statisch geführte Art der Verteidigung würde es zutreffen, dass der Angreifer sich in weitaus stärkerem Maße bewegt als der Verteidiger, weil letzterer (in der Regel zu seinem eigenen Nachteil537) seine Bewegungsfreiheit mehr oder weniger freiwillig aufgibt. Hinsichtlich der von Clausewitz vertretenen Art der Verteidigung muss jedenfalls der Faktor Bewegung für den Verteidiger als mindestens genauso wichtig eingestuft werden wie für den Angreifer, womit beiden ein starkes Interesse an ungehinderten eigenen Bewegungsmöglichkeiten unterstellt werden kann. Zur Verdeutlichung der Notwendigkeit von Bewegungsfreiheit für den Verteidiger wäre hier beispielsweise an die Bewegung zu denken, welche eine verteidigende Armee auszuführen hat, um sich dem Angreifer auch dort vorlegen zu können, wo dieser seinen Angriff führt. Zu nennen wäre außerdem das Verschieben von Reserven von einem Abschnitt des Kriegsgeschehens zu einem anderen oder an Ausweichbewegungen, um damit den feindlichen Angriff ins Leere gehen zu lassen. In all diesen Fällen wird ein Verteidiger durch Hindernisse des Geländes (Gewässer, Gebirge oder künstlich errichtete Sperren) in ähnlichem Maße beeinträchtigt wie natürlich auch der Angreifer.538 Zudem muss betont werden, dass auch der Angreifer ein Interesse daran hat, die Bewegungsmöglichkeiten des Verteidigers einzuschränken. So wird der Angreifer i.d.R. ein starkes 537
Als klassisches Beispiel hierfür kann das Maginot-(linien)denken der Franzosen gelten, dessen Unzulänglichkeit durch den deutschen „Blitzsieg“ 1940 nur allzu offensichtlich wurde. 538 Die stark eingeschränkte Möglichkeit Querbewegungen durchzuführen, ist beispielsweise auch der Grund dafür, warum Clausewitz der Ansicht ist, dass der „Gebirgsboden“ im Hinblick auf eine entscheidende Schlacht den Verteidiger erheblich benachteiligen würde, während er den Angreifer begünstige. Vgl. dazu Vom Kriege. VI, 15, S. 711 f, sowie VI, 16, S. 716 f, und VII, 11, S. 893 f
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Interesse daran haben, die Flanken seines Vorstoßes zu schützen und sich dazu natürlicher Geländehindernisse (beispielsweise indem er seinen Angriff in Anlehnung an einen Fluss führt) oder künstlich errichteter Sperren (beispielsweise Minensperren) bedienen. Auch wird ein Angreifer in der Regel bestrebt sein, das Heranführen gegnerischer Reserven zu unterbinden und dazu seine Angriffsrichtung möglichst so wählen, dass der Verteidiger durch natürliche Geländehindernisse beeinträchtigt wird. Angesichts moderner Waffentechnik wäre in diesem Zusammenhang auch an fernverlegbare Minensperren (verlegt durch Artillerie oder Luftstreitkräfte) in den Rücken des Gegners oder an das Zerstören von Brücken im gegnerischen Hinterland durch die eigenen Luftstreitkräfte zu denken. Auch muss der Verteidiger an Bewegungsfreiheit für den Fall einer Ausweichbewegung oder eines Rückzuges interessiert sei. So kann sich beispielsweise ein Fluss oder ein Gebirge im eigenen Rücken als fatal erweisen, weil der Angreifer dann lediglich einige Übergänge oder Pässe in überholender Verfolgung besetzen oder sperren muss, um einen großen Teil der gegnerischen Kräfte außer Gefecht setzen zu können.539 Diese Beispiele sollen genügen, um deutlich zu machen, dass der Beistand der örtlichen Lage für den Angreifer in jeder Hinsicht, selbst im Hinblick auf den Einfluss des Geländes „als Hindernis des Zuganges“, in gleichem Maße bedeutsam und erstrebenswert ist wie für den Verteidiger. Es ist entscheidend, dies festzuhalten, weil aus der Clausewitzschen Argumentation nicht hervorgeht, ob er das „Prinzip“ vom „Vorteil der Gegend“ deshalb immer und ausschließlich der Verteidigung zuordnet, weil er der Meinung ist, dass der Faktor Gelände nur dem Verteidiger (oder diesem in erster Linie), nicht aber dem Angreifer Vorteile versprechen würde, womit der „Beistand der örtlichen Lage“ nur für ersteren erstrebenswert wäre. Oder, ob der Kriegsphilosoph dieses Prinzip der Verteidigung deshalb zuordnet, weil er möglicherweise der Meinung ist, dass der „Beistand der örtlichen Lage“ zwar auch für den Angreifer vorteilhaft sein kann, dass aber nur der Verteidiger (oder dieser in erster Linie) die Fähigkeit besitzt, diesen Faktor auch für sich nutzbar zu machen. Da der erste der beiden Fälle aufgrund der oben dargestellten Gründe als nicht zutreffend ausgeschlossen werden kann, muss im Folgenden untersucht werden, ob es plausible Gründe dafür gibt, anzunehmen, dass nur der Verteidiger (oder dieser in weit stärkerem Maße) dazu in der Lage sein könnte, die „Vorteile der örtlichen Lage“ für sich nutzbar zu machen. Clausewitz lässt diese, für die Schlüssigkeit seiner Argumentation letztendlich entscheidende Frage völlig un-
539
Aus diesem Grunde war auch die Niederlage der Italiener am Isonzo eine so vernichtende, weil es den deutschen und österreichischen Kräften in überholender Verfolgung gelang, die entlang der wenigen Täler verlaufenden Rückzugslinien der Italiener weitgehend zu unterbrechen.
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berücksichtigt und begnügt sich mit der (bloßen) Behauptung, dass es an sich klar sei, dass der Verteidiger den Beistand der Gegend vorzugsweise genieße.540 3.4.5 Nutzung des Beistands der örtlichen Lage Daher muss im Folgenden die grundsätzliche Frage untersucht werden, wie man sich den Beistand der örtlichen Lage in der durch Clausewitz operationalisierten Form „als Hindernis des Zuganges, als Hindernis der Übersicht und als Deckungsmittel gegen die Wirkung des Feuers“ überhaupt nutzbar machen kann, und ob es diesbezüglich irgendeinen Unterschied zwischen Angriff und Verteidigung gibt, mit dem die Behauptung des Kriegsphilosophen möglicherweise begründet werden könnte. Insbesondere zwei Faktoren sind in dieser Hinsicht von entscheidender Bedeutung. Der erste besteht in einer im Hinblick auf die eigene Zwecksetzung möglichst vorteilhaften Auswahl des Geländes, während der zweite in einer diesbezüglichen Vorbereitung desselben zu sehen ist. 3.4.5.a Auswahl des Geländes Was die Auswahl des Geländes anbelangt, so liegt auf der Hand, dass sowohl der Verteidiger als auch der Angreifer danach trachten, das für ihre jeweilige Zwecksetzung vorteilhafteste Gelände für eine Auseinandersetzung auszuwählen. Wer dabei die Oberhand gewinnt und seinem Gegner den Ort des Geschehens in stärkerem Maße diktieren kann, hängt von den verschiedensten Faktoren541 ab und wird von Fall zu Fall unterschiedlich sein. Grundsätzlich steht hierbei der Initiativfunktion des Angreifers der Vorteil der Erstauswahl des Geländes durch den Abwartenden entgegen, der jedoch in seiner Wahl in starkem Maße durch die Geographie dessen bestimmt wird, was er zu verteidigen beabsichtigt. Eine Tendenz, wonach entweder der Verteidiger oder aber der Angreifer einen stärkeren Einfluss auf die Auswahl des Geländes zum eigenen Vorteil hat, ist grundsätzlich nicht zu erkennen, und es lässt sich auch kein vernünftiger Grund dafür angeben (auch Clausewitz nennt keinen), warum eine solche Tendenz vorliegen sollte. Wollte man unterstellen, dass der Verteidiger sich weitgehend aussuchen könne, wo er den Kampf aufnehmen wolle, weil ihm als dem Abwartenden die Erstauswahl des Geländes zukommt, so würde man dabei drei entscheidende Dinge übersehen: 540
Vgl. Vom Kriege. VI, 2, S. 619 Zu denken wäre hier beispielsweise an den angestrebten Zweck, der mit der Kampfhandlung erreicht werden soll, an die jeweilige Beschaffenheit des Geländes, an die zur Verfügung stehende Zeit oder auch an Faktoren, wie die Ausrüstung oder den Ausbildungsstand der Streitkräfte.
541
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Erstens besitzt der Verteidiger keineswegs grundsätzlich die Erstauswahl über das Gelände. Man denke beispielsweise nur an den Fall, dass der Verteidiger durch den Angreifer überrascht wird und sich dort schlagen muss, wo er gerade steht, oder an den Fall, dass der Angriff aus unerwarteter Richtung oder gegen ein unerwartetes Ziel geführt wird, womit der Verteidiger erst zu umfangreichen Gegenbewegungen gezwungen wird und sich den Ort des Kampfes vom jeweiligen Vordringen des Angreifers mehr oder weniger diktieren lassen muss. Zweitens ist zu berücksichtigen, dass selbst in den Fällen, in denen der Verteidiger die Erstauswahl des Geländes besitzt, dieser „Vorteil“ in starkem Maße dadurch relativiert wird, dass er bei der Wahl seiner Stellung keineswegs völlig frei ist, sondern sich daran zu orientieren hat, was er schützen beziehungsweise verteidigen will. Dadurch treten die militärischen Vorzüge, welche das Gelände bietet, in den Hintergrund und können erst in zweiter Linie Berücksichtigung finden. Relativiert würde der „Vorteil“ der Erstauswahl drittens durch die Tatsache, dass der Verteidiger lediglich eine Vorauswahl des Geländes trifft, während der genaue Ort des Angriffs und der Auseinadersetzung letztendlich vom Angreifer bestimmt wird. Diese Argumente sollen genügen um zu verdeutlichen, dass von einem grundsätzlich größeren Einfluss des Verteidigers auf die Auswahl des Geländes zum eigenen Vorteil nicht gesprochen werden kann, was natürlich nicht ausschließt, dass dies im Einzelfall durchaus so sein kann. Daher kann die Clausewitzsche Behauptung, wonach der Verteidiger den Beistand der örtlichen Lage immer und ausschließlich besitzen würde, mit den Möglichkeiten der Auswahl des Geländes zum eigenen Vorteil nicht erklärt werden. 3.4.5.b Vorbereitung des Geländes Es stellt sich daher die Frage, ob die Clausewitzsche These - zumindest in Teilsegmenten - eventuell mit den Möglichkeiten hinsichtlich der Vorbereitung des Geländes erklärt werden kann. Hierbei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sowohl der Verteidiger542 als auch der Angreifer dazu in der Lage ist, das Gelände zum eigenen Vorteil vorzubereiten.543 Es könnte allerdings vermutet werden, 542
Zu denken wäre hier beispielsweise an den Ausbau von Stellungen oder die Anlage von Sperren. Was den Angreifer betrifft, so sind diese Möglichkeiten nicht ganz so offensichtlich, bestehen jedoch durchaus. Zu denken wäre beispielsweise an das Gangbarmachen bestimmter Geländeabschnitte für Gegenangriffe, an das Zerstören von Brücken im feindlichen Hinterland durch Spezialkräfte oder die eigenen Luftstreitkräfte, um damit das Heranführen von Reserven des Verteidigers oder sein Ausweichen zu verhindern, an das Schießen von Trichtern durch die Artillerie, um damit eine gedeckte Annäherung der eigenen Infanterie an die feindlichen Stellungen zu ermöglichen oder 543
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dass der Verteidiger, als der Abwartende, dazu in der Regel in stärkerem Maße befähigt sein könnte als der Angreifer. Wollte man diese Vermutung als zutreffend annehmen, um damit der Suche nach einer möglichen Begründung der Clausewitzschen Behauptung, wonach der „Beistand der örtlichen Lage“ immer und ausschließlich dem Verteidiger zu Gebote stünde, zumindest ausschnittsweise noch eine Teilplausibilität einzuräumen, so zeigt sich, dass selbst wenn dies der Fall sein sollte, erst eine ganze Reihe von Voraussetzungen erfüllt sein müssen, bevor ein Verteidiger überhaupt in der Lage ist, das Gelände im eigenen Sinne vorbereiten und daraus Nutzen ziehen zu können. Die beiden Grundvoraussetzungen für jedes Wirksamwerden der Örtlichkeit im Sinne der von Clausewitz genannten drei Eigenschaften - erstens, dass das Gelände nicht völlig „neutral“ sein darf, und zweitens, dass das Wirksamwerden der drei (von Clausewitz genannten) Geländeeigenschaften auch irgendwelche Vorteile versprechen muss - wurden bereits eingehend dargestellt, und es genügt an dieser Stelle festzuhalten, dass diese Voraussetzungen auf jeden Fall vorliegen müssen, bevor von einem „Beistand der Gegend“ überhaupt gesprochen werden kann. Es kommen jedoch noch drei weitere, wichtige Voraussetzungen hinzu, die keineswegs als grundsätzlich gegeben vorausgesetzt werden dürfen. Die zweite notwendige Voraussetzung ist der Faktor Zeit, da jede Vorbereitung des Geländes ein gewisses Minimum an Zeit erfordert. Diese ganz entscheidende Voraussetzung ist jedoch, weil sie in starkem Maße vom Handeln des Gegners abhängt, sehr häufig nicht oder nicht in ausreichendem Maße gegeben, weshalb eine Vorbereitung des Geländes oftmals unmöglich wird. Grundsätzlich lässt sich hierbei die Tendenz aufzeigen, dass, je beweglicher sich die Kriegführung gestaltet und je aktiver/offensiver sich der Gegner verhält, damit umso weniger Zeit für die Vorbereitung des Geländes zur Verfügung steht. So wird einer Verteidigung, die unmittelbar nach einem eigenen Angriff beispielsweise zur Abwehr eines feindlichen Gegenstoßes geführt werden muss, oder einer Verteidigung, die im Rahmen einer Ausweich- oder Rückzugsoperation zu führen ist, selten auch nur ein Minimum an Zeit zur Verfügung stehen, um damit auch nur die notwendigsten Vorbereitungen des Geländes vornehmen zu können. Das gleiche gilt für den Fall, dass man vom Angriff des Gegners überrascht wurde und noch keine Gelegenheit hatte oder es nicht für nötig befand, entsprechende Vorbereitungen zu treffen, mit welchen man sich des Beistandes der Örtlichkeit (möglicherweise) hätte versichern können. Somit tritt sehr häufig genau der Fall ein, welchen Clausewitz im neunten Kapitel des siebenten Buches andeutet, auch an die Verwendung fernverlegbarer Minensperren (verlegt durch Artillerie oder die Luftstreitkräfte) in Rücken oder Flanke des Verteidigers.
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IV. Kapitel: Kritische Analyse und Bewertung
nämlich dass die meisten Schlachten wahre „rencontres“ seien, in welchen zwar der eine stehe, aber in einer unzubereiteten Stellung.544 Damit macht Clausewitz selbst deutlich, dass der Beistand der Gegend durch eine vorbereitete Stellung keineswegs den Normalfall einer Verteidigung darstellt. Die bisher genannten Voraussetzungen wären jedoch bedeutungslos, wenn der Verteidiger nicht auch dort angegriffen würde, wo er sich vorbereitet hat. Bernhardi betont in diesem Zusammenhang völlig zu Recht, dass der Verteidiger den Vorteil des Geländes in vollem Maße nur dann ausnutzen könne, wenn er in der von ihm ausgesuchten (man müsste ergänzen: und vorbereiteten) Stellung und Front angegriffen würde. Das zu tun, betont er weiter, könne der Angreifer in vielen Fällen vermeiden, wenn er nur die nötige Kühnheit besitze, sich gegen Flanke und Rücken des Verteidigers zu wenden, und es bleibe dann diesem letzteren nichts übrig, als das ausgesuchte (und vorbereitete) Kampffeld aufzugeben und sich in dem meistens weniger günstigen Gelände zu schlagen, in dem der Angriff erfolgt.545 Damit würde wiederum der Fall vorliegen, dass der Verteidiger in einer „unzubereiteten Stellung“ steht und die Schlacht nach den Worten von Clausewitz den typischen Fall eines „wahren rencontres“ darstellte. Als dritte Voraussetzung ist das Vorhandensein entsprechender Mittel, mit Hilfe derer das Gelände zum eigenen Nutzen vorbereitet werden kann, zu nennen. Stehen beispielsweise nicht ausreichend Pioniermittel (z.B. Sperrmaterial, Minen, Sprengstoff, Arbeitsmaschinen, ...) zur Verfügung, so wird es nicht möglich sein, die eigenen Stellungen, als Deckung gegen die Wirkung feindlichen Feuers, zu befestigen und mit entsprechenden Sperren, als Hindernis des Zugangs, zu versehen. Da im Krieg die zur Verfügung stehenden Ressourcen immer knapp sind, kann es keineswegs als Selbstverständlichkeit betrachtet werden, in jeder Hinsicht über ausreichend Mittel und Material zu verfügen, womit die Vorbereitung des Geländes zum eigenen Vorteil bereits an unzureichenden eigenen Mitteln scheitern kann 3.4.6 Zusammenfassung / Ergebnis Wichtigstes Prinzip: Das wichtigste Prinzip des Sieges, aufgrund dessen Clausewitz zu der Überzeugung gelangt, dass die Verteidigung die stärkere Form des 544 Vgl. Vom Kriege. VII, 9, S. 890. Verdeutlicht wird dieser Zusammenhang auch sehr gut in einer Aussage, welche Erwin Rommel in seinem Werk „Krieg ohne Haß“ bezüglich der Aufstellung bei El Alamein trifft: „Der Verteidiger war taktisch in einem gewissen Vorteil, weil er sich eingraben und durch Minen schützen konnte, der Angreifer aber im Angriff dem Feuer der eingebauten Verteidiger ausgesetzt. In anderen Positionen, so in Sollum 1941/42 und in Gazala 1942, wurde der Kampf in rein beweglicher Form geführt, ohne dass dem Angreifer oder dem Verteidiger von vornherein irgendwelche Vorteile geboten waren.“ Erwin Rommel: Krieg ohne Haß. Heidenheim 1950, S. 240 545 Vgl. Bernhardi a.a.O., S. 404
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Kriegführens sei, ist der Vorteil der Gegend. Clausewitz betrachtet dieses Prinzip ausschließlich und in jedem Falle als Vorteil der Verteidigung, wobei er lediglich dessen Ausprägung als von Fall zu Fall unterschiedlich stark bewertet. Die Wirkung dieses Prinzips sieht Clausewitz in dessen Einfluss als Hindernis des Bodens und der Übersicht sowie als Deckungsmittel gegen die Wirkung des Feuers. Außerdem spricht er demjenigen den Vorteil der Gegend zu, der diese kennt. Erste Voraussetzung des Wirksamwerdens: Clausewitz macht mit seiner Argumentation deutlich, dass das Wirksamwerden des Prinzips des Beistandes der örtlichen Lage an bestimmte Voraussetzungen gebunden ist, deren erste und grundlegendste darin besteht, dass das Gelände nicht völlig neutral sein darf. Mit Verweis auf das Beispiel ebener Steppengegenden macht Clausewitz selbst deutlich, dass das Gelände in bestimmten Fällen auch ganz ohne Einfluss auf die Gefechtsführung sein kann. Damit stellt er selbst seine Ausgangsthese in Frage und unterstreicht, dass der Beistand der Gegend doch nicht in jedem Falle als Vorteil der Verteidigung betrachtet werden kann. Folglich kann es auch nicht mehr als angemessen bezeichnet werden, wenn Clausewitz versucht hieraus eine „natürliche Überlegenheit“ der Verteidigung abzuleiten, da das „Natürliche“ dieser Überlegenheit gerade darin liegen müsste, dass letztere der Verteidigung ihrem Wesen nach zukommt und nicht von je spezifischen äußeren Umständen abhängig ist. Es zeigt sich, dass Clausewitz den Faktor Gelände insbesondere anhand bestimmter Merkmale der Landkriegführung konzipiert. Wie er jedoch selbst am Beispiel einer Kriegführung in ebenen Steppengegenden zeigt, oder anhand der von ihm kaum betrachteten Kriegführung zur See oder (in heutiger Zeit) in der Luft besonders deutlich wird, ist dieser Faktor keinesfalls ein notwendiger Bestandteil oder gar eine immanente Stärke der Verteidigung. Der Einfluss des Geländes im Krieg kann von daher als eher zufällig denn immanent bezeichnet werden. Zweite Voraussetzung des Wirksamwerdens: Die zweite Voraussetzung, die das Wirksamwerden des Beistandes der örtlichen Lage gemäß der Clausewitzschen Argumentation erfordert, ist, dass die von ihm genannten drei Wirksamkeiten („Eigenschaften“), mit denen er den Faktor Gelände oparationalisiert, auch entsprechende Vorteile mit sich bringen und einen bestimmten Einfluss auf das Verhältnis von Angriff und Verteidigung aufweisen müssen. Dass dies keineswegs als selbstverständlich vorausgesetzt werden darf, konnte am Faktor „Deckungsmittel gegen die Wirkung des Feuers“ aufgezeigt werden. Nur wenn auch die Notwendigkeit dazu besteht sich gegen die Wirkung des gegnerischen Feuers zu schützen, kann hieraus überhaupt ein Vorteil abgeleitet werden.
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IV. Kapitel: Kritische Analyse und Bewertung
Beistand erstrebenswert: Es zeigt sich, dass der Beistand der örtlichen Lage für den Angreifer, wie auch für den Verteidiger gleichermaßen bedeutsam und erstrebenswert ist. Das gilt selbst für die Eigenschaft des Geländes „als Hindernis des Zuganges“, einen Faktor der vordergründig noch am ehesten ausschließlich mit der Verteidigung in Verbindung gesehen werden kann. Um die Clausewitzsche Argumentation näher zu ergründen stellt sich daher die Frage, ob es plausible Gründe dafür gibt, anzunehmen, dass der Verteidiger in stärkerem Maße dazu in der Lage sein könnte, die „Vorteile der örtlichen Lage“ für sich nutzbar zu machen, was durch eine entsprechende Auswahl und Vorbereitung des Geländes zum eigenen Vorteil geschehen könnte. Auswahl des Geländes: Was die Auswahl des Geländes betrifft, so liegt auf der Hand, dass sowohl der Verteidiger als auch der Angreifer danach trachten, das für ihre jeweilige Zwecksetzung vorteilhafteste Gelände für eine Auseinandersetzung auszuwählen. Grundsätzlich steht hierbei der Initiativfunktion des Angreifers der Vorteil der „Erstauswahl“ des Geländes durch den Abwartenden entgegen, der jedoch in seiner Wahl in starkem Maße durch die Geographie dessen bestimmt wird, was er zu verteidigen beabsichtigt. Ein grundsätzlich größerer Einfluss des Verteidigers auf die Auswahl des Geländes zum eigenen Vorteil ist hierbei nicht festzustellen. Daher kann die Clausewitzsche Behauptung, wonach der Verteidiger den Beistand der örtlichen Lage immer und ausschließlich besitzen würde, mit den Möglichkeiten einer Auswahl des Geländes zum eigenen Vorteil nicht erklärt werden. Vorbereitung des Geländes: Es stellt sich daher die Frage, ob die Clausewitzsche These - zumindest in Teilsegmenten – mit den Möglichkeiten hinsichtlich einer Vorbereitung des Geländes erklärt werden kann. Hierbei könnte dem Verteidiger, als dem Abwartenden, unterstellt werden dazu in stärkerem Maße befähigt zu sein als der Angreifer. Wollte man diese Vermutung als zutreffend annehmen, um damit der Clausewitzschen These möglicherweise noch eine Teilplausibilität einräumen zu können, so zeigt sich, dass selbst wenn dies der Fall sein sollte, erst das Zusammentreffen einer ganzen Reihe von Voraussetzungen gegeben sein muss, bevor ein Verteidiger überhaupt in der Lage ist, das Gelände im eigenen Sinne vorbereiten und daraus Nutzen ziehen zu können. Die beiden Grundvoraussetzungen, erstens, dass das Gelände nicht völlig „neutral“ sein darf und zweitens, dass das Wirksamwerden der drei (von Clausewitz genannten) Geländeeigenschaften auch irgendwelche Vorteile versprechen muss wurden bereits eingehend dargestellt. Es kommen jedoch noch drei weitere, wichtige Voraussetzungen hinzu, die ebenfalls keineswegs als grundsätzlich gegeben vorausgesetzt werden dürfen. Jede Vorbereitung setzt ein Mindestmaß an Zeit und Mitteln voraus und erfordert zudem, dass der Angriff auch dort erfolgt, wo das Gelände vom Verteidiger ausgewählt und vorbereitet wurde. Be-
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reits das Fehlen einer dieser Voraussetzungen genügt, um diesen potenziellen Vorteil zunichte zu machen. Das bedeutet, dass der „Beistand der örtlichen Lage“ an bestimmte Voraussetzungen gebunden ist, welche keineswegs grundsätzlich, sondern (nach einer Anmerkung des Kriegsphilosphen selbst) sogar in den meisten Fällen nicht, gegeben sind. Damit fehlt für die Behauptung von Clausewitz, wonach der Verteidiger immer und ausschließlich546 den Beistand der Gegend besitze, jegliche Voraussetzung, und sie gerät zudem in Widerspruch mit anderen Thesen seines Werkes. Es erscheint daher unangemessen, den „Beistand der örtlichen Lage“ als einen „natürlichen“ im Wesen der Verteidigung liegenden Vorteil zu betrachten, weil nichts garantiert, dass der Verteidigung immer der Beistand der Gegend gewiss sein werde. Idealbild: Ohne dass Clausewitz dies explizit verdeutlicht, scheint ihm bei der Formulierung seiner These, wonach der Verteidigung immer der Beistand der Gegend gewiss sei und ihr im allgemeinen ihre natürliche Überlegenheit sichern würde547, das Idealbild einer Verteidigung vorzuschweben, wie sie nach seinen Worten sein sollte548 und wie er sie im neunten Kapitel des sechsten Buches beschreibt.549 Es ist jedoch offensichtlich, dass es sich hierbei lediglich um den Spezialfall einer wohl vorbereitet und organisierten Verteidigung handeln kann, welcher nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen gegeben ist. Daher muss es als unzulässig bezeichnet werden, wenn Clausewitz aus diesem Spezialfall allgemeine Schlussfolgerungen im Hinblick auf das Wesen der Verteidigung abzuleiten versucht und diese dann auch noch zur Begründung seiner These von der größeren Stärke der Verteidigung heranzieht. Genauso unzulässig wäre es, ein Idealbild des Angriffs zu konstruieren und daraus eine im Wesen dieser Form liegende größere Stärke derselben begründen zu wollen. Widerspruch: Es bleibt daher festzuhalten, dass die Clausewitzsche Argumentation einen entscheidenden Widerspruch beinhaltet, welcher darin zu sehen 546
So kann es, wie Bernhardi betont, auch Fälle geben, bei denen das Gelände den Angreifer in ausgesprochener Weise begünstigt und dem Verteidiger nachteilig ist. Bernhardi nennt hier als Beispiel die Schlacht von Morgarten (1315), in welcher das Gelände die Verteidigung unmöglich gemacht habe. Er betont, dass ähnliche Fälle auch unter modernen Verhältnissen denkbar seien. Vgl. Bernhardi a.a.O., S. 404 547 Vgl. Vom Kriege. VI, 2, S. 621 548 Vgl. Vom Kriege. VI, 5, S. 634 549 Vgl. Vom Kriege. VI, 9, S. 666: „Um den Gegenstand schärfer ins Auge zu fassen, unsere Ansicht klar zu machen und damit jenen Schein zu entfernen, wollen wir das Bild einer Verteidigungsschlacht, wie wir sie uns denken, flüchtig hinwerfen. Der Verteidiger erwartet den Angreifer in einer Stellung, er hat sich eine passende Gegend dazu ausersehen und eingerichtet, d.h. er hat sie genau kennengelernt, hat auf einem paar der wichtigsten Punkte tüchtige Schanzen errichtet, Verbindungen geöffnet und geebnet, Batterien eingeschnitten, Dörfer befestigt und passende Orte zur verdeckten Aufstellung seiner Massen ausgesucht usw. ...“ Vgl. dazu auch Marcks a.a.O., S. 287
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IV. Kapitel: Kritische Analyse und Bewertung
ist, dass der Kriegsphilosoph zwar vorgibt, Aussagen über das Wesen der Verteidigung zu treffen, dass sich seine Argumentation zur Begründung dieser Thesen (auf der Wesensebene) jedoch auf ganz konkrete Erscheinungen bezieht und damit nicht verallgemeinert werden kann. 3.5 Anfall von mehreren Seiten 3.5.1 Der Anfall von mehreren Seiten als das dritte Prinzip des Sieges Das dritte „Prinzip des Sieges“, mit Hilfe dessen Clausewitz versucht, die größere Stärke der Verteidigung zu begründen, ist der „Anfall von mehreren Seiten“. Die Wirkung dieses Prinzips betrachtet er als eine „konzentrische“, das heißt auf einen gemeinschaftlichen Punkt gerichtete, welche sich nach seinen Überlegungen auf dreierlei Art äußert: Zum einen in einer „doppelten oder wenigstens verstärkten Wirkung des Feuers“, zweitens im „Anfall eines und desselben Teiles von mehreren Seiten“ und drittens im „Abschneiden des Rückzuges“.550 Dabei, so der Kriegsphilosoph weiter, würden auf taktischer Ebene alle drei Aspekte wirksam, während sich in der Strategie nur das Abschneiden des Rückzuges bzw. der Verbindungslinien auswirke. 3.5.2 Kritik der Clausewitzschen Argumentation Da den Vorteilen der konzentrischen Form, d.h. der Umfassung und der „äußeren Linie“ notwendigerweise die Vorteile der exzentrischen Form, d.h. der „inneren Linie“, entgegenstehen, ist die Frage zu stellen, inwiefern es überhaupt berechtigt ist hinsichtlich des „Anfalls von mehreren Seiten“ grundsätzlich von einem unmittelbaren „Prinzip des Sieges“ im Sinne von Clausewitz zu sprechen. Er selbst hebt hervor, dass der Vorteil der „inneren Linie“, welcher in einer größeren Vereinigung der Kräfte bestehe, ein sehr entscheidender sein könne und meistens wirksamer im Hinblick auf den Sieg sei als die konzentrische Form.551 An anderer Stelle macht der Kriegsphilosoph deutlich, dass keiner der beiden Faktoren „Umfassen“ oder „Wirken auf der inneren Linie“ vor dem anderen einen allgemeinen Vorzug verdiene.552 Da der Faktor des „Anfalls von mehreren Seiten“ gleichsam Stärken wie auch Schwächen besitzt, wobei letztere insbesondere in der Zersplitterung der eigenen Kräfte zu sehen sind, erscheint es fragwürdig, diesen grundsätzlich als ein unmittelbares „Prinzip des Sieges“ zu bezeichnen und auf eine Stufe mit den 550
Vgl. Vom Kriege. VI, 4, S. 629 f Vgl. Vom Kriege. VI, 4, S. 630 552 Vgl. Vom Kriege. VII, 13, S. 899 551
3 Die „Prinzipe des Sieges“
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Faktoren „Überraschung“, „Vorteil der Gegend“ oder „Beistand des Volkes“ zu stellen. All diese Faktoren wirken sich, wenn vorhanden, grundsätzlich als Vorteil aus, der natürlich mehr oder weniger groß sein kann, und stellen unter keinen Umständen einen Nachteil dar. So wird es niemals ein Nachteil sein, den Gegner zu überraschen oder den Beistand der Gegend zu besitzen. Daher muss es als durchaus gerechtfertigt angesehen werden, wenn Clausewitz im Hinblick auf diese Faktoren grundsätzlich von „Prinzipien des Sieges“ spricht. Das gilt jedoch nicht notwendigerweise für den Faktor „Anfall von mehreren Seiten“, da dieser zwar gewisse Stärken mit sich bringen kann, diesen jedoch die Stärken der inneren Linie entgegenstehen. Erst im Resultat des Ausgleichs der wechselseitigen Stärken und Schwächen der konzentrischen vs. der exzentrischen Form lassen sich Aussagen darüber treffen, welche der beiden Formen in einem jeweils betrachteten Einzelfall als stärker zu bezeichnen ist. Womit dann allerdings noch kein Bezug zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung hergestellt ist. Es ist erstaunlich, dass Clausewitz, obwohl er nicht nur die Vorteile sondern auch die Nachteile des Faktors „Anfall von mehreren Seiten“, sowie die Stärken der „inneren Linie“ klar erkannte, die Konsequenzen seiner Erkenntnis, in dem Bestreben die größere Stärke der Verteidigung begründen zu wollen, weitgehend ignoriert. Man könnte sich außerdem fragen, warum er den Faktor der „inneren Linie“ nicht in seine „Prinzipien des Sieges“ mit aufgenommen hat obwohl er dessen große Wirksamkeit zum Siege ausdrücklich hervorhebt und betont, dass „Umfassen“ und „innere Linie“ keinen allgemeinen Vorzug voreinander hätten. Was die Auswirkungen des Faktors „Anfall von mehreren Seiten“ auf das Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung anbelangt, so weist die diesbezügliche Argumentation des Kriegsphilosophen erhebliche Widersprüche auf. Im vierten Kapitel des sechsten Buches vertritt Clausewitz beispielsweise folgende Ansicht: „Der Verteidiger in der Taktik wie in der Strategie wird als abwartend, also als stehend, der Angreifende als in Bewegung gedacht, und zwar sich bewegend in Beziehung auf jenes Stehen. Es folgt hieraus notwendig, daß das Umfassen und Umschließen nur in der Willkür des Angreifenden liegt, nämlich solange seine Bewegung und das Stehen des Verteidigers dauert. Diese Freiheit des Angriffs, konzentrisch zu sein oder nicht zu sein, nachdem es vorteilhaft oder nachteilig ist, würde ihm als ein allgemeiner Vorzug angerechnet werden müssen.“553
Clausewitz schwächt diesen Vorzug zwar gleich wieder durch mehrere Einwände ab, dennoch bleibt die grundsätzliche Feststellung erhalten, dass das „Umfassen oder Umschließen“ (in der Taktik wie auch in der Strategie) nur in der Will553
Vom Kriege. VI, 4, S. 628 f
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IV. Kapitel: Kritische Analyse und Bewertung
kür des Angreifenden liege, und diese Freiheit somit einen allgemeinen Vorteil des Angriffs darstelle. Angesichts dieser Überlegungen würde der Faktor „Anfall von mehreren Seiten“ daher nicht ein Argument für, sondern ganz im Gegenteil ein Argument gegen seine These, von der größeren Stärke der Verteidigung, darstellen. Diese Haltung unterstreicht der Kriegsphilosoph bei seiner Untersuchung der Frage, wie sich Angriff und Verteidigung in der Strategie zueinander verhielten. Er betont dabei, es sei in der Natur der Sache, dass in der Strategie wegen der größeren Räume das Umfassen, der Anfall von mehreren Seiten, in der Regel nur demjenigen zustehe, welcher die Initiative habe, also dem Angreifenden.554 Da diese Feststellung jedoch seiner These von der größeren Stärke der Verteidigung entgegensteht, scheint er darum bemüht zu sein, diesen Faktor nicht als einen allgemeinen Vorteil des Angriffs anerkennen zu müssen. Um diesen Faktor zu relativieren, merkt Clausewitz daher an, dass man in der Strategie den umfassenden Angriff überhaupt nicht als ein Prinzip des Sieges aufstellen könne, wenn nicht die Wirkung auf die Verbindungslinien in Betracht käme. Diese Wirkung relativiert er jedoch gleich wieder, indem er darauf verweist, dass selbige nur sehr langfristig zur Geltung käme und beim ersten Zusammentreffen mit dem Gegner selten besonders groß sei. Alles in allem geht auch aus diesen Überlegungen hervor, dass er (auf strategischer Ebene) den Anfall von mehreren Seiten zwar nicht als einen besonders großen aber dennoch als einen Vorteil des Angriffs und nicht als einen der Verteidigung betrachtet. Anders sieht es jedoch bei seinen Überlegungen im Hinblick auf die taktische Ebene aus. Hier betont Clausewitz, dass das Prinzip des „Anfalls von mehreren Seiten“ zum größeren Teil dem Verteidiger zu Gebote stünde.555 Damit widerspricht er seiner Behauptung aus dem vierten Kapitel des sechsten Buches, wonach das Umfassen (in der Taktik wie auch in der Strategie) nur in der Willkür des Angriffs liege und einen „allgemeinen Vorzug“ desselben darstellen würde. Die Begründung, welche der Kriegsphilosoph für seine sich widersprechenden Ansichten anführt, ist dabei wenig überzeugend. Er gesteht dem Angreifer einerseits eine „größere Leichtigkeit“ zu, das Ganze einzuschließen und abzuschneiden, betont aber, dass der Anfall von mehreren Seiten im Laufe des Gefechts und im Hinblick auf einzelne Teile dem Verteidiger leichter sei. Ungeachtet der Frage, ob diese Behauptungen den Tatsachen entsprechen oder nicht, ist es nicht nachzuvollziehen, wie Clausewitz auf der Grundlage dieser gegensätzlichen Feststellungen überhaupt zu dem Ergebnis gelangen konnte, dass der „Anfall von mehreren Seiten“ (auf taktischer Ebene) in stärkerem Maße der Verteidigung zu Gebote stünde. Dieses Ergebnis muss als willkürlich und nicht 554 555
Vgl. Vom Kriege. VI, 3, S. 624 f Vgl. Vom Kriege. VI, 2, S. 619
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begründet556 bezeichnet werden und scheint dem Bestreben des Kriegsphilosophen entsprungen zu sein, den Faktor „Anfall von mehreren Seiten“ doch noch irgendwie als Argument zur Begründung der größeren Stärke der Verteidigung nutzbar machen zu können. 3.5.3 Zusammenfassung / Ergebnis Konzentrische vs. exzentrische Form: Da den Vorteilen der konzentrischen Form, d.h. der Umfassung und der „äußeren Linie“ notwendigerweise die Vorteile der exzentrischen Form, d.h. der „inneren Linie“, entgegenstehen, kann der „Anfall von mehreren Seiten“ nicht, wie von Clausewitz unterstellt, als ein grundsätzliches „Prinzip des Sieges“ betrachtet werden. Im Gegensatz zu den Prinzipen Überraschung, Beistand der Gegend, Beistand des Kriegstheaters oder des Volkes ist es nicht grundsätzlich von Vorteil, den Gegner zu umfassen, da dies notwendig den Nachteil einer Zersplitterung der eigenen Kräfte mit sich bringt. Vorteile der exzentrischen Form: Clausewitz selbst erkennt die Vorteile der exzentrischen Form und der inneren Linie, welche er in einer größeren Vereinigung der Kräfte sieht, klar und bezeichnet sie als meist wirksamer im Hinblick auf den Sieg. Umso erstaunlicher ist es, dass er die Konsequenzen dieser Erkenntnis hinsichtlich seiner Überlegungen zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung ignoriert und die „äußere Linie“ zu einem allgemeinen Prinzip des Sieges machen will. Initiative: Auch aus der Erkenntnis, dass der „Anfall von mehreren Seiten“ im Einzelfall durchaus Vorteile mit sich bringen kann, lässt sich keineswegs eine grundsätzliche Stärke der Verteidigung ableiten. Wie Clausewitz selbst feststellt liegt die Möglichkeit zur Umfassung mehr in der Willkür desjenigen der die Initiative besitzt, das heißt des Angreifers. Umkehrung: Zusammenfassend bleibt daher festzuhalten, dass das Bestreben des Kriegsphilosophen mit dem Faktor „Anfall von mehreren Seiten“ seine These von der größeren Stärke der Verteidigung stützen zu wollen, einer soliden Grundlage entbehrt und sich in zahlreiche Widersprüche und Unstimmigkeiten verstrickt. Aufgrund des Zusammenhangs zwischen der dem Angriff zukommenden Initiativfunktion und der Fähigkeit den Gegner zu umfassen liegt in Umkehrung der Clausewitzschen Argumentation vielmehr der Gedanke nahe, 556
So könnte man beispielsweise annehmen, dass die „größere Leichtigkeit (des Angreifers) das Ganze einzuschließen“, grundsätzlich stärker ins Gewicht fallen könnte, als die größere Leichtigkeit (des Verteidigers), im Laufe des Gefechts Teile des Gegners einzuschließen. Aber selbst wenn beide Faktoren sich nur die Waage hielten, bestünde noch keine Berechtigung dazu, den „Anfall von mehreren Seiten“ in stärkerem Maße der Verteidigung zuzuordnen.
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IV. Kapitel: Kritische Analyse und Bewertung
den „Anfall von mehreren Seiten“ tendenziell eher als eine potenzielle Stärke des Angriffs zu betrachten. 3.6 Beistand des Kriegstheaters, Beistand des Volkes und Benutzung großer moralischer Kräfte 3.6
Beistand des Kriegstheaters, Beistand des Volkes…
3.6.1 Die drei Hauptprinzipe der strategischen Wirksamkeit Neben den bisher betrachteten drei Prinzipien des Sieges (Überraschung, Vorteil der Gegend und Anfall von mehreren Seiten), welche sich sowohl auf die taktische als auch auf die strategische Ebene beziehen, sollen im Folgenden die verbleibenden drei „Hauptprinzipe der strategischen Wirksamkeit“557, welche Clausewitz ausschließlich der Strategie zuordnet, untersucht werden. Der Kriegsphilosoph nennt hierbei den „Beistand des Kriegstheaters“, den „Beistand des Volkes“ sowie die „Benutzung großer moralischer Kräfte“558 und betont, dass die Verteidigung auch im Gebrauch dieser „Dinge“ eine „natürliche Überlegenheit“ habe559, womit er glaubt, zur Genüge „durchgeführt“ zu haben, dass die Verteidigung eine stärkere Kriegsform sei als der Angriff.560 Kriegstheater: Was den „Beistand des Kriegstheaters“ betrifft, so beurteilt Clausewitz dessen Wirksamkeit folgendermaßen: „Das vierte Prinzip, der Beistand des Kriegs-theaters ist natürlich auf der Seite des Verteidigers. Wenn die angreifende Armee den Feldzug eröffnet, so reißt sie sich von ihrem Kriegstheater los und wird dadurch geschwächt, d.h. sie läßt Festungen und Depots aller Art zurück. Je größer der Operationsraum ist, den sie zu durchschreiten hat, um so mehr wird sie geschwächt (durch den Marsch und durch Besatzungen); die verteidigende Armee bleibt mit allem dem verbunden, d.h. sie genießt den Beistand ihrer Festungen, wird durch nichts geschwächt und ist ihren Hilfsquellen näher.“561
Clausewitz verdeutlicht dieses Prinzip noch an verschiedenen anderen Stellen seines Werkes und hebt dabei insbesondere die große Bedeutung hervor, welche Festungen für den Verteidiger hätten.562 Volk: Hinsichtlich des „Beistandes des Volkes“ betont Clausewitz, dass dieses Prinzip zwar nicht bei jeder Verteidigung stattfinde, weil es auch einen 557
Vgl. Vom Kriege. VI, 3, S. 622 Vgl. Vom Kriege. VI, 3, S. 623 Vgl. Vom Kriege. VI, 6, S. 636 560 Vgl. Vom Kriege. VI, 3, S. 626 561 Vom Kriege. VI, 3, S. 625 562 Vgl. dazu Vom Kriege. VI, 10, S. 673 ff: „... die Festungen sind die ersten und größten Stützen der Verteidigung, ...“ Vgl. auch Vom Kriege VI, 6, S. 637 sowie Vom Kriege. VII, Über den Kulminationspunkt des Sieges, s. 936 f 558 559
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Verteidigungsfeldzug in „Feindes Land“ geben könne, dass aber dieses Prinzip nur aus dem Begriff der Verteidigung hervorgehe und in den allermeisten Fällen seine Anwendung finde. Die Wirksamkeit dieses Prinzips sieht der Kriegsphilosoph in der Anwendung von „Landsturm“ und „Nationalbewaffnung“, sowie darin, dass alle „Friktionen“ geringer und alle „Hilfsquellen“ näher und reichhaltiger seien.563 Moral: Die „großen moralischen Kräfte“, deren sich ein Feldherr in gewissen Fällen bedienen kann, sind nach Clausewitz ebenso gut auf der Seite der Verteidigung als des Angriffs zu denken.564 Was die Wirksamkeiten der moralischen Kräfte anbelangt, so hebt Clausewitz insbesondere diejenigen hervor, welche auf Seiten des Angriffs zur Geltung kommen, und nennt als Beispiele „Verwirrung und Schrecken beim Gegner“. Des Weiteren spricht er vom „Mut“ und dem „Gefühl der Überlegenheit“ im Heere, welches dem Bewusstsein entspringen würde, zum Angreifenden zu gehören. Er will diesen Faktor jedoch nicht zu hoch bewerten und weist darauf hin, dass dieses Gefühl sehr bald in dem „allgemeineren“ und „stärkeren“ unterginge, welches einem Heere durch seine Siege und Niederlagen, sowie durch Talent oder die Unfähigkeit seines Führers gegeben werde.565 An anderer Stelle spricht er von dem „mäßigen Vorzug“, welchen das Gefühl, der Angreifende und Fortschreitende zu sein, dem Heer gebe.566 Im Kapitel „Über den Kulminationspunkt des Sieges“ geht Clausewitz noch einen Schritt weiter und weist darauf hin, dass die „moralischen“ Kräfte vorzugsweise im Angriff liegen würden.567 Diese Ansichten des Kriegsphilosophen, stehen jedoch im Widerspruch zu einer Feststellung, welche er im sechsten Kapitel des sechsten Buches äußert, wonach auch hinsichtlich der Benutzung großer moralischer Kräfte die Verteidigung eine „natürliche Überlegenheit“ besitzen würde.568 Im achten Kapitel des sechsten Buches glaubt er beispielsweise die Ursache für die häufigen Erfolge, welche der Verteidiger auf „unblutigem Wege“ habe, in der „Schwäche des Willens“ des Angreifenden zu erkennen.569 3.6.2 Kritik der Clausewitzschen Argumentation Kriegstheater / Volk: Im Hinblick auf die Faktoren „Beistand des Kriegstheaters“ sowie „Beistand des Volkes“ stellt sich die Frage, ob es berechtigt ist, wenn 563
Vgl. Vom Kriege. VI, 3, S. 625. Vgl. dazu auch Vom Kriege VI, 6, S. 636 ff Vgl. Vom Kriege. VI, 3, S. 625 565 Vgl. Vom Kriege. VI, 3, S. 627 566 Vgl. Vom Kriege. VII, 15, S. 903 567 Vgl. Vom Kriege. VII, Über den Kulminationspunkt des Sieges, S. 944 568 Vgl. Vom Kriege. VI, 6, S. 636 569 Vgl. Vom Kriege. VI, 8, S. 660 564
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IV. Kapitel: Kritische Analyse und Bewertung
Clausewitz in diesen beiden „Prinzipen des Sieges“ einen natürlichen Vorteil der Verteidigung zu erkennen glaubt. Anlass zur Skepsis gibt seine eigene Feststellung, wonach bei einer Verteidigung, die nach einem erschöpften Angriff eintrete der „Beistand des Kriegstheaters“ meist ganz wegfalle, während der „Beistand des Volkes“ gar negativ werde.570 Verteidigung auf eigenem Territorium: Es zeigt sich, dass Clausewitz diese beiden Faktoren nicht grundsätzlich einer jeden Verteidigung, sondern nur einer ganz bestimmten Art derselben als Vorteil zuordnet. Bei genauerer Untersuchung seiner Argumentation wird deutlich, dass er dabei eine Verteidigung im eigenen Land gegen einen tiefen Vorstoß des Angreifers vor Augen hat. So behauptet der Kriegsphilosoph beispielsweise, dass der „Beistand des Volkes“ nur aus dem Begriff der Verteidigung hervorgehe und in den allermeisten Fällen auch seine Anwendung finde, fügt aber einschränkend hinzu, dass dieses Prinzip nicht bei einer jeden Verteidigung stattfinde. Als Ausnahme nennt er die Möglichkeit eines Verteidigungsfeldzuges in Feindes Land.571 Hier wird deutlich, dass sich die Überlegungen von Clausewitz in erster Linie auf eine Verteidigung auf eigenem Territorium beziehen, weil der besagte Vorteil bei einer Verteidigung auf neutralem Gebiet oder in Feindes Land nicht gegeben ist. Auch seine Argumentation im Hinblick auf den „Beistand des Kriegstheaters“ unterstreicht diese Haltung. So macht er deutlich, dass dieses Prinzip „natürlich“ auf der Seite des Verteidigers sei, weil die angreifende Armee sich von ihrem „Kriegstheater“ losreißen, dabei Festungen und Depots zurücklassen müsse und dadurch geschwächt werde. Je größer der „Operationsraum“ sei, den sie zu durchschreiten habe, umso mehr werde sie durch den Marsch und durch Besatzungen geschwächt, während die verteidigende Armee mit ihrem Kriegstheater verbunden bleibe, den Beistand ihrer Festungen genieße, durch nichts geschwächt werde und ihren Hilfsquellen näher sei.572 Auch hier wird deutlich, dass Clausewitz eine auf eigenem Gebiet stattfindende Verteidigung, sowie einen Angriff in Form einer tiefen Invasion auf gegnerisches Gebiet vor Augen hat. Bei einem Angriff auf eigenem Gebiet würde man sich ja nicht von seinen Hilfsquellen entfernen und könnte durchaus den Beistand der eigenen Festungen genießen, während der Verteidiger (in Feindes Land) derjenige wäre, der auf diesen Beistand verzichten müsste. Russland 1812: An welchem historischen Beispiel er sich dabei in erster Linie orientiert, macht Clausewitz gleich im Anschluss deutlich, indem er auf den 570
Vgl. Vom Kriege. VII, Über den Kulminationspunkt des Sieges, S. 943 Vgl. Vom Kriege. VI, 3, S. 625 Vgl. Vom Kriege. VI, 3, S. 625. Clausewitz verdeutlicht seine diesbezügliche Haltung durch den Hinweis, dass man oft mitten in seinem Lande am stärksten sei, wenn die Offensivkraft des Gegners sich schon erschöpft habe. Vgl. Vom Kriege. III, 17, S. 412 571 572
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Feldzug von 1812 in Russland verweist. Damit werden die Grenzen seiner Theorie unmissverständlich klar, und es offenbart sich erneut die für den Kriegsphilosophen so typische Eigenart, bestimmte, zutreffende, aber einseitige, aus einem Spezialfall gewonnene Eindrücke zu verallgemeinern. Dies muss als ein erhebliches Manko seiner Theorie angesehen werden, denn die Verhältnisse, welche Clausewitz beim Krieg von 1812 in Russland erfahren hatte, können nicht ohne weiteres verallgemeinert und zum Regelfall einer Verteidigung gemacht werden. Verallgemeinerung persönlicher Erfahrungen: Damit soll jedoch nicht unterstellt werden, dass Clausewitz seine persönlichen Erfahrungen „blind“ verallgemeinert hätte. Wie erwähnt, weist er beispielsweise auf die Möglichkeit einer Verteidigung in Feindes Land hin und betont darüber hinaus, dass sich der Beistand des Volkes in bestimmten Fällen auch mit dem Angriff verbunden denken lasse.573 Die Methode des Kriegsphilosophen besteht vielmehr darin, seine persönlichen Eindrücke und Erfahrungen zum Regelfalle zu erheben, daraus Erkenntnisse über die vermeintliche „Natur der Sache“ abzuleiten und alle anderen möglichen Fälle zu seltenen und zufälligen Ausnahmen zu deklarieren.574 Diese Betrachtungsweise verleitet Clausewitz auch dazu, den „Beistand des Kriegstheaters“ sowie den „Beistand des Volkes“, Faktoren, die im Feldzug von 1812 zweifelsohne den Verteidiger begünstigten, als Vorteile anzusehen, welche grundsätzlich (d.h. zwar nicht immer, aber in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle) der Verteidigung zugute kommen würden, und diese dann zur Unterstützung seiner These von der größeren Stärke dieser Form des Kriegführens heranzuziehen. Dabei scheint Clausewitz zu übersehen, dass diese beiden „Prinzipe des Sieges“ überhaupt nicht dem Wesen der Verteidigung entspringen (wie er unterstellt), sondern ein Charakteristikum des Krieges im eigenen Lande darstellen, egal ob es sich dabei um einen Angriffs- oder Verteidigungskrieg handelt.575 Das heißt, Clausewitz unterstellt der Verteidigung ihrem Wesen nach Vorzüge, welche gar nicht im Wesen derselben liegen, sondern durch ganz andere Faktoren bedingt sind. Sein Versuch daraus Schlussfolgerungen über das Wesen der Verteidigung abzuleiten, nämlich dass die Verteidigung „an sich“, d.h. ihrem Wesen nach, die stärkere Form des Kriegführens sei, kann daher auf diesem Wege nicht zum Erfolg führen. Die Gültigkeit einer solchen Schlussfolgerung 573
Vgl. Vom Kriege. VII, 2, S. 873 Vgl. dazu Vom Kriege. VII, 2, S. 874: „Wenn wir also in der Verteidigung Festungen, Volksaufstand und Bundesgenossen in den Umfang der Widerstandsmittel aufgenommen haben, so können wir dies nicht auch beim Angriff tun; dort gehören sie zur Natur der Sache, hier finden sie sich selten und sind dann meistens zufällig.“ Auch Azar Gat erkennt und kritisiert diese Eigenart von Clausewitz und weist auf den Versuch des Philosophen hin, eine „universelle Form“ für bestimmte echte aber einseitige Eindrücke zu finden. Vgl. Gat a.a.O., S. 9 575 Anzumerken ist, dass selbst bei einem Krieg im eigenen Lande weder der „Beistand des Kriegstheaters“ noch der “Beistand des Volkes“ notwendig vorhanden sein müssen. 574
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IV. Kapitel: Kritische Analyse und Bewertung
würde voraussetzen, dass es zum Wesen der Verteidigung gehörte, im eigenen Land zu kämpfen.576 Clausewitz unterstellt bei seiner Argumentation selbst, dass die „angeblichen“ Vorteile der Verteidigung nämlich der „Beistand des Kriegstheaters und des Volkes“ bei einer Verteidigung in Feindes Land nicht vorhanden wären.577 Obwohl durchaus angenommen werden kann, dass die Verteidigung natürlich in vielen Fällen auf eigenem Boden geführt wird (insbesondere bei der Eröffnung eines Feldzuges wird es häufig so sein, dass der Verteidiger im eigenen und der Angreifer in Feindes Land kämpft), wäre es vermessen zu unterstellen, dass dies immer oder vorzugsweise so sein müsse oder dass der Kampf auf eigenem Boden gar im Wesen der Verteidigung liegen würde.578 Es ist auch keinerlei Grund zu ersehen, warum dies so sein sollte.579 Selbst Clausewitz führt hier keinerlei Begründung an, zumal er diese Fragestellung, die sich als logische Konsequenz aus seiner Argumentation (die Richtigkeit seiner These würde voraussetzen, dass es im Wesen der Verteidigung liegt, auf eigenem Boden zu kämpfen) ergibt, stillschweigend übergeht. Als Beispiel dafür, dass die strategische Defensive keineswegs das Kämpfen auf eigenem Boden voraussetzt, soll nur der Krieg Hitlerdeutschlands gegen die Sowjetunion genannt werden, in welchem sich die deutsche Wehrmacht ab Dezember 1941 teilweise, seit Stalingrad (Winter 1942/43) überwiegend und spätestens nach Kursk (Juli 1943) ausschließlich in der strategischen Defensive (auf gegnerischem Boden) befand. Innerstaatliche Kriege: Beachtet werden müssen zudem diejenigen Kriege, in denen beide Gegner oder keiner von beiden auf eigenem Boden kämpfen. Diese Fälle scheint Clausewitz völlig zu übersehen, da er bei seinen Überlegungen in erster Linie zwischenstaatliche Kriege vor Augen hat. Dabei kann es bei Revolutions- oder Bürgerkriegen durchaus vorkommen, dass beide Gegner im eigenen Land kämpfen oder dass bei Guerillakriegen ohne feste Fronten gar nicht zu unterscheiden ist, wo das eigene Gebiet beginnt und das des Gegners 576
Zudem würde die Schlussfolgerung des Kriegsphilosophen voraussetzen, dass der „Beistand des Kriegstheaters“ sowie der „Beistand des Volkes“ Wesensmerkmale eines Feldzuges auf eigenem Gebiet darstellten. Da jedoch bereits die erste der beiden Voraussetzungen nicht gegeben ist, wird eine genauere Untersuchung dieser zweiten Bedingung obsolet. 577 Vgl. Vom Kriege. VI, 3, S. 625 578 Letzteres würde zudem erfordern, das Kriterium „Kampf im eigenen Lande“ mit in die Definition der Verteidigung aufzunehmen, was Clausewitz jedoch sinnvollerweise unterlässt. 579 Auch Bernhardi weist auf diesen schwerwiegenden Mangel in der Clausewitzschen Argumentation hin: „Hier kann man meines Erachtens überhaupt Angriff und Verteidigung nicht in der Weise miteinander vergleichen, wie Clausewitz das tut, dem Angriff mit Invasion, Verteidigung mit der des eigenen Landes gleichbedeutend ist. Hier können die Bedingungen, unter denen die kriegerische Aktion vor sich geht, so verschieden sein, dass ein einheitlicher Vergleichspunkt fehlt. Die Verteidigung ist nämlich durchaus nicht immer an das eigene Land gebunden, der Angriff nicht mit Invasion identisch. Es kann auch die Verteidigung in Feindesland, der Angriff im eigenen Lande stattfinden, ...“ Bernhardi a.a.O., S. 405
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aufhört. Diese Fälle werden häufig durch die Tatsache charakterisiert, dass ein und dieselbe Bevölkerung und ein und dasselbe Land von beiden Gegnern als die / das jeweils eigene betrachtet werden. Beide Gegner auf fremdem Kriegstheater: Als Beispiele für die Möglichkeit dass keiner der Gegner auf eigenem Boden kämpft, und damit weder der Angreifer noch der Verteidiger den Beistand des Volkes oder des Kriegstheaters automatisch auf seiner Seite hat, können der Kampf in und um Kolonien oder weite Teile der Seekriegführung angeführt werden. Der Afrikakrieg während des Zweiten Weltkriegs kann als konventionelles Beispiel hierfür dienen. Der Volkskrieg als Offensivmittel: Eine Besonderheit hinsichtlich des Volkskrieges sollte zudem nicht unerwähnt bleiben. Obwohl Clausewitz diesem vornehmlich einen defensiven Charakter zuordnet und ihn als das „große strategische Verteidigungsmittel“580 bezeichnet, wird der „Volkskrieg“ sehr häufig auch als Offensivmittel zum Angriff auf bestehende Ordnungs- und Herrschaftsstrukturen eingesetzt. Als Beispiel dafür könnte die französische Revolution, mit dem Angriff des Dritten Standes auf die herrschende Klasse, genannt werden. Dass Clausewitz dieses Phänomen (das ihm zweifelsohne bekannt war) bei seiner Theorie des Krieges völlig ignoriert, unterstreicht zudem die These, dass er bei seinen Betrachtungen zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung in erster Linie auf die Kriegführung zwischen staatlichen Akteuren konzentriert war.581 In solchen Fällen kann der „Volkskrieg“ in der Tat ein sehr wirksames Verteidigungsmittel darstellen, wie beispielsweise der Volksverteidigungskrieg der Spanier (1808-1814) gegen die französischen Besatzungstruppen zeigte. Negative Wirkung: Zur Entkräftung der Clausewitzschen Argumentation ist jedoch noch ein ganz anderer Aspekt in Betracht zu ziehen, der bisher ausgeklammert blieb. Es wurde bisher gemäß den Überlegungen von Clausewitz angenommen, dass die von ihm genannten „Prinzipe des Sieges“, wie der „Beistand des Kriegstheaters“ oder der „Beistand des Volkes“, zwar von Fall zu Fall unterschiedlich stark ins Gewicht fallen können, dass sie aber für denjenigen, der ihren Beistand auf seiner Seite hat, in jedem Falle einen Vorteil (und keinen Nachteil) darstellen. Dass dies jedoch keineswegs so sein muss, zeigt die Situation, in der sich Frankreich nach der Niederlage Napoleons gegen die Koalitionstruppen in der Völkerschlacht bei Leipzig (16.-19. Oktober 1813) befand. Neidhardt von Gneisenau582 (1760-1830) weist diesbezüglich in seiner Denkschrift vom November 1813 an Alexander I. („über die Notwendigkeit, den Krieg auf 580
Vgl. Vom Kriege. VI, 26, S. 804 Was nicht bedeutet, dass seine Theorie nicht auch zur Erklärung und Analyse von Krieg und Konflikt mit oder zwischen nichtstaatlichen Akteuren geeignet ist. 582 Gneisenau, den eine tiefe Freundschaft mit Clausewitz verband, war damals Chef des Generalstabs im Heere Blüchers. 581
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IV. Kapitel: Kritische Analyse und Bewertung
französischem Boden bis zur endgültigen Niederlage Napoleons fortzusetzen“) auf folgenden Zusammenhang hin: „Frankreich ist von 130 bis 140 Festungen umgeben. In den bisherigen Kriegen, welche entfernt von seinen Grenzen geführt wurden, hatten diese Festungen keine oder sehr geringe Besatzungen. Das ist jetzt anders. Diese festen Plätze, einst die Bollwerke des Reichs, sind unter den jetzigen Umständen eine Last für Frankreich geworden; denn die Mittel des größten Reichs würden nicht ausreichen, um alle diese Plätze in Verteidigungszustand zu setzen; und noch weniger würden die Mittel des gedemütigten, an Menschen und Geld erschöpften Frankreichs dazu hinreichen. Alle diese Betrachtungen, reiflich erwogen, müssen uns gebieterisch dazu bestimmen, sobald als möglich über den Rhein zu gehen und statt die Festungen zu vermeiden, wie einige Militärs raten möchten, sich im Gegenteil mitten unter sie zu begeben, um mehrere derselben zugleich zu bedrohen. Dann bleibt dem Feinde nur die Wahl, entweder alles, was er an neuen Aushebungen versammeln kann, in die Festungen zu werfen und alle seine Mittel zu erschöpfen, um die Plätze zu verproviantieren, und in diesem Falle kann er nicht Heere bilden, welche fähig wären, uns zu widerstehen; oder um dieser letzten Unzuträglichkeit zu entgehen, uns einen Teil dieser Plätze zu überlassen, um die übrigen zu retten, was ihm einen Teil seiner Eroberungen entreißt und für uns eine tüchtige Operationsbasis bildet.“583
Gneisenau macht mit diesen Ausführungen deutlich, dass das Vorhandensein und der Besitz von Festungen, ein scheinbar zwingender Vorteil und für Clausewitz einer der entscheidenden Aspekte hinsichtlich des Beistandes des Kriegstheaters, keineswegs immer vorteilhaft sein muss. Ganz im Gegenteil kann der Besitz von Festungen auch zum eigenen Nachteil wirken, was wiederum bedeutet, dass der „Beistand des Kriegstheaters“ sich mitunter auch negativ auswirken kann. Dass es sich hierbei nicht um Sonderfälle der Kriegswirklichkeit sondern um zentrale Grundsatzüberlegungen handelt verdeutlicht u.a. Machiavelli, indem er sich die Frage stellt, ob es besser ist bei einem befürchteten Angriff des Feindes diesem außerhalb des eigenen Territoriums entgegen zu treten oder den Krieg im eigenen Land abzuwarten.584 Er kommt dabei zu der Schlussforderung, dass letzteres nur zu empfehlen ist, wenn das eigene Land gut gerüstet sei und man über ein gut bewaffnetes, kriegstüchtiges Volk verfüge. Hingegen rät er im Falle eines schlecht gerüsteten zum Krieg ungeeigneten Landes, mit einem unbewaffneten Volk dazu, den Krieg so weit wie möglich von den eigenen Grenzen 583
Gneisenau a.a.O. Berlin 1984, S. 305 f Vgl. Machiavelli, Niccolo: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung, Deutsche Gesamtausgabe übersetzt, eingeleitet und erläutert von Dr. Rudolf Zorn, Stuttgart 1977, S. 197 ff
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fernzuhalten. Seine Überlegungen verdeutlichen, dass der Beistand des Kriegstheaters und des Volkes durch eine Kriegführung auf eigenem Territorium, sich nur unter ganz bestimmten Bedingungen vorteilhaft auswirken kann und daher weder als grundsätzliche Stärke der Verteidigung noch als grundsätzlicher Vorteil des Krieges auf eigenem Boden betrachtet werden kann. Moralische Kräfte: Die Wirksamkeit des Prinzips der „Benutzung großer moralischer Kräfte“ konkretisiert Clausewitz insbesondere an Beispielen im Kontext des Angriffs. So spricht er von „Verwirrung und Schrecken“ beim Gegner und betont den Mut und das Gefühl der Überlegenheit, welches dem Bewusstsein der Angreifende zu sein entspringe. Er will diesen Faktor jedoch nicht überbewerten und rechnet ihm insgesamt einen nur mäßigen Vorzug an. Hinsichtlich der Auswirkungen großer moralischer Kräfte auf das Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung vertritt der Kriegsphilosoph an verschiedenen Stellen seines Werkes je unterschiedliche, sich gegenseitig widersprechende Auffassungen. Drei grundsätzliche Tendenzen sind hierbei erkennbar. So sieht Clausewitz diesen Faktor einmal ebenso gut auf der Seite der Verteidigung wie auf der des Angriffs, betont ein andermal, dass die moralischen Kräfte vorzugsweise im Angriff liegen würden und gesteht schließlich der Verteidigung eine natürliche Überlegenheit in der Benutzung großer moralischer Kräfte zu. An keiner Stelle lässt Clausewitz eine besondere Nachhaltigkeit oder Tiefe in der Begründung dieser einzelnen, gegensätzlichen Ansichten erkennen. Diese werden von ihm weder thematisiert noch bewertet. Dass sich ein derartiges Argumentationsspektrum nicht dazu eignet, als Argument zur Stützung seiner These von der größeren Stärke der Verteidigung betrachtet zu werden, ist offensichtlich. Betrachtet man die Argumentation des Kriegsphilosophen im Ganzen, so lässt sich ein leichtes Übergewicht derjenigen Argumente erkennen, welche die Benutzung großer moralischer Kräfte tendenziell eher im Kontext des Angriffs sehen. 3.6.3 Zusammenfassung / Ergebnis Bei den von Clausewitz genannten drei „Hauptprinzipen der strategischen Wirksamkeit“, in deren Gebrauch er der Verteidigung eine natürliche Überlegenheit zuordnet, sind die Argumentationslinien der Prinzipe „Beistand des Kriegstheaters“ und „Beistand des Volkes“ weitgehend deckungsgleich und können daher gemeinsam betrachtet werden, während das Prinzip „Benutzung großer moralischer Kräfte“ eine gesonderte Bewertung erfordert. Kriegstheater / Volk: Clausewitz verdeutlicht mit Verweis auf die Möglichkeit einer Verteidigung in Feindes Land und die Möglichkeit einer Verteidigung nach erschöpftem Angriff, dass die Faktoren „Beistand des Kriegstheaters und
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IV. Kapitel: Kritische Analyse und Bewertung
des Volkes“ nicht grundsätzlich einer jeden Verteidigung anzurechnen sind und sich gegebenenfalls sogar negativ für den Verteidiger auswirken können. In seinem Bestreben die natürliche Überlegenheit der Verteidigung im Gebrauch der Faktoren „Beistand des Kriegstheaters“ sowie „Beistand des Volkes“ nachzuweisen, lässt Clausewitz diese Erkenntnis jedoch weitgehend unberücksichtigt und orientiert sich in seinen Überlegungen an einer ganz bestimmte Art der Verteidigung. Er hat hierbei insbesondere das Idealbild einer Verteidigung im eigenen Land gegen einen tiefen Vorstoß des Angreifers vor Augen, wie er es 1812 in Russland selbst erlebt hatte. Hier werden die Grenzen der Clausewitzschen Theorie deutlich, und es offenbart sich die für den Kriegsphilosophen typische Eigenart, bestimmte, zutreffende, aber einseitige, aus einem Spezialfall gewonnene Eindrücke, zu verallgemeinern. Dies ist als ein erhebliches Manko seiner Theorie anzusehen, da die Verhältnisse einer ganz bestimmten Situation nicht ohne weiteres zu einem allgemeinen Grundsatz erhoben werden können. Obwohl Clausewitz seine persönlichen Erfahrungen nicht blind verallgemeinert, so besteht seine Methode doch darin, seine persönlichen Eindrücke und Erfahrungen zum Regelfalle zu erheben, daraus Erkenntnisse über die vermeintliche „Natur der Sache“ abzuleiten und alle anderen möglichen Fälle zu seltenen und zufälligen Ausnahmen zu deklarieren. Clausewitz ignoriert hierbei, dass der „Beistand des Kriegstheaters und des Volkes“ als „Prinzipe des Sieges“ nicht so sehr dem Wesen der Verteidigung entspringen, sondern vielmehr ein Charakteristikum des Krieges im eigenen Land darstellen, unabhängig davon, ob es sich hierbei um einen Angriffs- oder Verteidigungskrieg handelt. Das heißt, Clausewitz unterstellt der Verteidigung ihrem Wesen nach Vorzüge, welche gar nicht im Wesen derselben liegen, sondern durch Faktoren einer ganz spezifischen Situation bedingt sind. Erkenntnisse über das Wesen von Angriff und Verteidigung, wie von Clausewitz angestrebt, können auf solchem Wege nicht gewonnen werden. Moralische Kräfte: Hinsichtlich der Auswirkungen großer moralischer Kräfte auf das Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung vertritt Clausewitz an verschiedenen Stellen seines Werkes sehr unterschiedliche, sich gegenseitig widersprechende Auffassungen. Hierbei lässt sich insgesamt ein leichtes Übergewicht derjenigen Argumente erkennen, welche die Benutzung großer moralischer Kräfte tendenziell eher im Kontext des Angriffs sehen, wobei Clausewitz hierbei insbesondere auf den Mut und das Gefühl der Überlegenheit abstellt, welches dem Bewusstsein der Angreifende zu sein entspringt. An keiner Stelle lässt Clausewitz jedoch eine besondere Nachhaltigkeit oder Tiefe in der Begründung seiner unterschiedlichen Argumentationslinien erkennen. Auf Grund ihrer inneren Widersprüchlichkeit ist die Clausewitzsche Argumentation daher nicht
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geeignet, die von ihm behauptete „natürliche Überlegenheit“ der Verteidigung im Gebrauch des Prinzips „Benutzung großer moralischer Kräfte“ nachzuweisen. Fazit: Als Ergebnis dieser Untersuchung kann festgehalten werden, dass die Faktoren „Beistand des Kriegstheaters“, „Beistand des Volkes“ sowie „Benutzung großer moralischer Kräfte“ in vielen Fällen als spezifische Stärken einer Verteidigung auf eigenem Territorium angesehen werden können. Es besteht jedoch keine Veranlassung, diese als „natürliche“ im Wesen der Verteidigung liegende Vorteile dieser Form des Kriegführens und Kämpfens zu betrachten. Zur Unterstützung seiner These von der „vermeintlich“ größeren Stärke der Verteidigung sind sie daher nicht geeignet. 3.7 Die Prinzipe des Sieges: Zusammenfassung des Gesamtergebnisses Als Gesamtergebnis dieses Teils der Untersuchung kann festgehalten werden, dass der Versuch des preußischen Kriegsphilosophen, die größere Stärke der Verteidigung mit Verweis auf die von ihm dargestellten sechs „Prinzipe des Sieges“ begründen zu wollen, als nicht schlüssig abgelehnt werden muss. Insbesondere der nicht stimmige Gesamtaufbau seiner Argumentation, als auch die Tatsache, dass keine der von ihm im Kontext der sechs „Prinzipe“ aufgezeigten Argumentationsstrukturen einer kritischen Prüfung Stand hält, verbieten es, durch diese Argumentation seine These von der größeren Stärke der Verteidigung als begründet anzusehen. Gleichzeitig werden die Grenzen der Clausewitzschen Theorie deutlich, indem sich die für den Kriegsphilosophen charakteristische Eigenart offenbart, bestimmte, zutreffende, aber einseitige, aus einer ganz bestimmten Situation unter dem Eindruck persönlicher Erlebnisse und Erfahrungen gewonnene Erkenntnisse auf der Erscheinungsebene zu verallgemeinern und hieraus in unzulässiger Weise Aussagen über das Wesen von Angriff und Verteidigung abzuleiten. 4
Der Gegenangriff
4.1 Unvorteilhafte Verteidigung als Hauptnachteil des Angriffs Weitgehend unabhängig von den bereits dargestellten Überlegungen entwickelt Clausewitz ein weiteres Argument, mit dem er seine These von der größeren Stärke der Verteidigung zu begründen versucht. An verschiedenen Stellen bezeichnet er diesen Faktor auch als den „hauptsächlichsten Nachteil des An-
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IV. Kapitel: Kritische Analyse und Bewertung
griffs“.585 Er geht hierbei von der Überlegung aus, dass sowohl der Angriff mit Elementen der Verteidigung als auch die Verteidigung mit Elementen des Angriffs durchdrungen sei.586 Ausgehend davon stellt er die Behauptung auf, dass die Verteidigung, welche in eine Offensivunternehmung verflochten ist, in allen ihren Hauptprinzipien geschwächt sei und also nicht mehr die Überlegenheit über diese haben werde, welche ihr ursprünglich zugekommen sei.587 Der Kriegsphilosoph sieht den „hauptsächlichsten Nachteil des Angriffs“ in der Gefahr „dadurch später in eine ganz unvorteilhafte Verteidigung versetzt zu werden“.588 Im dritten Kapitel des sechsten Buches fasst Clausewitz seine diesbezüglichen Gedanken in kurzer Form zusammen: „Werden nun alle Verteidigungselemente, die im Angriff vorkommen, durch seine Natur, d.i. dadurch, daß sie ihm angehören, geschwächt, so muß dies wohl als ein allgemeiner Nachteil desselben betrachtet werden. Dies ist so wenig eine müßige Spitzfindigkeit, daß hierin vielmehr der Hauptnachteil alles Angriffs liegt, und daß man daher bei jedem Entwurf zu einem strategischen Angriff auf diesen Punkt, also auf die Verteidigung, welche ihm folgen wird, von Hause aus sein Hauptaugenmerk richten muß, ...“589
Positiv ausgedrückt bedeutet dies, dass Clausewitz eine ganz entscheidende Stärke der Verteidigung in der Möglichkeit (des Verteidigers) erkennt, unter günstigen Bedingungen zum Gegenangriff übergehen zu können. Er verdeutlicht diesen Sachverhalt folgendermaßen: „Ein schneller, kräftiger Übergang zum Angriff - das blitzende Vergeltungsschwert ist der glänzendste Punkt der Verteidigung; wer ihn sich nicht gleich hinzudenkt, oder vielmehr, wer ihn nicht gleich in den Begriff der Verteidigung aufnimmt, dem wird nimmermehr die Überlegenheit der Verteidigung einleuchten, ...“590
Obwohl der Kriegsphilosoph mit diesen Überlegungen einige sehr wesentliche Zusammenhänge zutreffend verdeutlicht, muss der Versuch, damit auch seine These von der größeren Stärke der Verteidigung begründen zu wollen, als sehr fragwürdig bezeichnet werden. Zwei Einwände sind gegen diesen Ansatz anzuführen:
585
Vgl. Vom Kriege. VII, Über den Kulminationspunkt des Sieges, S. 944, sowie Vom Kriege. VI, 3, S. 626 586 Vgl. dazu Vom Kriege. VII, 2, S. 871 587 Vgl. Vom Kriege. VII, Über den Kulminationspunkt des Sieges, S. 943 588 Vgl. Vom Kriege. VII, Über den Kulminationspunkt des Sieges, S. 944 589 Vom Kriege. VI, 3, S. 626 590 Vom Kriege. VI, 6, S. 634
4 Der Gegenangriff
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4.2 Erster Einwand: Gegenangriff als Stärke der Verteidigung? Der erste Einwand wird deutlich, wenn man sich die Definition der Verteidigung vor Augen führt, welche Clausewitz im fünften Kapitel des sechsten Buches vornimmt. Die Verteidigung, so formuliert er, sei nichts als eine stärkere Form des Krieges, vermittelst welcher man den Sieg erringen wolle, um nach dem gewonnenen Übergewicht zum Angriff, d.h. zu dem positiven Zweck des Krieges, überzugehen.591 Wenn man dieser Definition seinen Gedanken entgegenstellt, dass die Überlegenheit der Verteidigung ganz wesentlich auf die Möglichkeit zurückzuführen sei, nach erfolgreicher Abwehr des gegnerischen Angriffs unter dann günstigen Bedingungen zum Gegenangriff übergehen zu können, so wird deutlich, dass sich diese, der Verteidigung zugeordnete, „Stärke“ bei der eigentlichen Verteidigung, das heißt der Abwehr des gegnerischen Angriffs, gar nicht auswirken kann. Somit würde die Verteidigung diese Stärke beim Kampf um den Sieg über den angreifenden Gegner - wodurch ein Gegenangriff überhaupt erst ermöglicht würde592 - völlig entbehren. Dies bedeutet jedoch, dass Clausewitz der Verteidigung eine Stärke unterstellt, welche ihrem eigentlichen Wesen, nämlich der Abwehr eines Stoßes593, gar nicht zukommt. Es ist daher nicht nachvollziehbar, wenn Clausewitz versucht hieraus eine grundsätzliche Überlegenheit der Verteidigung abzuleiten. 4.3 Zweiter Einwand: „Unvorteilhafte Verteidigung“ als potenzielle Stärke des Angriffs! 4.3
Zweiter Einwand: „Unvorteilhafte Verteidigung“ als potenzielle Stärke
Clausewitz behauptet, dass eine Verteidigung, wenn sie in eine Offensivunternehmung verflochten sei, dadurch wesentlich geschwächt würde und der hauptsächlichste Nachteil des Angriffs darin bestünde, später in eine ganz unvorteilhafte Verteidigung versetzt zu werden. Hier stellt sich die Frage, ob in diesem Sachverhalt wirklich auch ein im Wesen des Angriffs liegender Nachteil gesehen werden darf. Es scheint vielmehr angebracht, dies als einen Vorteil des Angriffs, den dieser unter bestimmten Bedingungen haben kann, zu betrachten, weil die von Clausewitz genannte „unvorteilhafte Verteidigung“ gerade dem gegnerischen Angriff, welcher auch ein Gegenangriff sein kann, zugute kommt und nur von diesem zum eigenen Vorteil (d.h. zum Vorteil des Angriffs) ausgenutzt werden kann.
591
Vgl. Vom Kriege. VI, 5, S. 633 Hier besteht grundsätzlich die Gefahr, dass bereits der erste Angriff zu einem durchschlagenden Erfolg führt und sich damit eine Möglichkeit zum Gegenangriff gar nicht ergibt. 593 Vgl. Vom Kriege. VI, 1, S. 613 592
242
IV. Kapitel: Kritische Analyse und Bewertung
Es ist erstaunlich, dass Clausewitz in diesem Sachverhalt einen Vorteil der Verteidigung erkennen will, obwohl er eindringlich darauf verweist, dass es gerade die in einer Offensivbewegung enthaltenen schwachen Verteidigungselemente seien, Clausewitz spricht in diesem Zusammenhang von einer „Verteidigung viel schwächerer Art“, von den „schlimmsten Elementen“ derselben,594 welche sich zum Nachteil der ersteren auswirken würden. So betont er beispielsweise, dass die Verteidigung nicht als eine wirksame Vorbereitung zum Angriff, als eine Steigerung desselben anzusehen sei, sondern als ein „bloßes notwendiges Übel“, als das „retardierende Gewicht“. Sie sei seine „Erbsünde“, sein „Todesprinzip“. Die Verteidigung tue nichts für den Angriff und vermindere dessen Wirkung schon durch den bloßen Zeitverlust, welchen sie repräsentiere.595 An anderer Stelle spricht Clausewitz davon, dass es die Verteidigung selbst sei, welche zur Schwächung des Angriffs beitrage.596 In der Tatsache aber, dass die Verteidigung nicht dazu in der Lage sei, einen Angriff wirksam zu stärken, sondern diesen in entscheidendem Maße schwäche, während andererseits der Angriff sehr wohl zu einer Stärkung der Verteidigung beitragen könne, eine Überlegenheit der Verteidigung sehen zu wollen, muss doch als fragwürdig bezeichnet werden. Letztendlich würde man dadurch ein der Verteidigung konstatiertes Unvermögen als deren eigentliche Stärke betrachten. 4.4 Gegenangriff ist Angriff Dass Clausewitz hierin jedoch einen Vorteil der Verteidigung zu erkennen glaubt, ist darauf zurückzuführen, dass er in diesem Kontext den Gegenangriff mit dem Begriff der Verteidigung gleichschaltet und ihn nicht mehr als das betrachtet, was er seinem Wesen nach ist, nämlich ein Angriff.597 Somit ist der bereits unter II.1.4 aufgezeigte Widerspruch zwischen der Clausewitzschen Definition von Angriff und Verteidigung und seiner Aufnahme des Gegenangriffs bereits in den Begriff der Verteidigung als die eigentliche Ursache für seine Interpretation zu sehen, wonach die Überlegenheit der Verteidigung (in starkem Maße) im Gegenangriff liege.
594
Vgl. Vom Kriege. VII, 2, S. 872 Vgl. Vom Kriege. VII, 2, S. 871 f. Vgl. Vom Kriege. VII, Über den Kulminationspunkt des Sieges, S. 943. 597 Das bedeutet natürlich nicht, dass ein Gegenangriff nicht im Dienste einer übergeordneten Verteidigung stehen könnte. Aber auch in diesem Falle ist er (als solcher) als ein Angriff zu betrachten. 595 596
4 Der Gegenangriff
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4.5 Zusammenfassung / Ergebnis Wechselwirkung: In Übereinstimmung mit Clausewitz Argumentation im Kontext des Gegenangriffs kann festgehalten werden, dass die beiden Formen des Kriegführens in enger Wechselwirkung zueinander stehen, wobei der Angriff mit Elementen der Verteidigung und die Verteidigung mit Elementen des Angriffs durchdrungen ist. Hierbei hebt Clausewitz in zutreffender Weise hervor, dass die in eine Offensivbewegung verflochtene Verteidigung in ihren Hauptprinzipien geschwächt ist und nicht mehr die ihr ursprünglich zukommende Überlegenheit erlange. Unvorteilhafte Verteidigung im Angriff / Gelegenheit zum Gegenangriff in der Verteidigung: In Anlehnung an die Clausewitzsche Argumentation ist festzuhalten, dass ein wesentlicher, aus dem Angriff resultierender Nachteil, Clausewitz spricht vom „hauptsächlichsten Nachteil des Angriffs“, in der Gefahr besteht, später in eine sehr unvorteilhafte Verteidigung versetzt zu werden. Gleichzeitig besteht eine ganz entscheidende aus der Verteidigung resultierende Stärke in der Möglichkeit, unter günstigen Bedingungen zum Gegenangriff übergehen zu können. Zu betonen ist, dass es sich um eine aus der Verteidigung resultierende Stärke nicht, wie von Clausewitz formuliert, um eine „Stärke der Verteidigung“ selbst handelt, da diese Stärke nur durch Angriff / Gegenangriff zur Geltung gebracht werden kann und daher vielmehr eine Stärke des Letzteren darstellt. Folgende Kritikpunkte sind im Kontext des Gegenangriffs an der Clausewitzschen Argumentation aufzuzeigen: Gegenangriff: Clausewitz veranschaulicht mit seinen Überlegungen zur Wechselwirkung der beiden Formen des Kriegführens im Kontext des Gegenangriffs einige zentrale Zusammenhänge des Krieges in zutreffender Weise. Sein Versuch mit diesen Überlegungen gleichzeitig die These von der größeren Stärke der Verteidigung begründen zu wollen, ist jedoch nicht nachvollziehbar und steht gleichzeitig im Widerspruch mit anderen Teilen seines Werkes. Wesen der Verteidigung: Indem Clausewitz die Überlegenheit der Verteidigung ganz wesentlich auf die Möglichkeit zurückführt, nach erfolgreicher Abwehr des gegnerischen Angriffs unter dann günstigen Bedingungen zum Gegenangriff übergehen zu können, unterstellt er der Verteidigung eine Stärke, welche deren eigentlichem Wesen, nämlich (seiner eigenen Definition gemäß) der Abwehr eines Stoßes, gar nicht zukommt. Es ist daher nicht nachvollziehbar und stellt einen inneren Widerspruch seiner Argumentation dar, wenn Clausewitz hieraus eine grundsätzliche Überlegenheit der Verteidigung abzuleiten versucht. Unvermögen als Stärke: Clausewitz versucht aus seiner Feststellung, wonach die Verteidigung nicht dazu in der Lage sei, einen Angriff wirksam zu stär-
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IV. Kapitel: Kritische Analyse und Bewertung
ken, sondern diesen in entscheidendem Maße schwäche, während andererseits der Angriff sehr wohl zu einer Stärkung der Verteidigung beitragen könne, eine grundsätzliche Überlegenheit der Verteidigung abzuleiten. Das bedeutet jedoch nichts anderes als ein der Verteidigung konstatiertes Unvermögen als deren eigentliche Stärke zu betrachten und ist daher nicht haltbar. Unvorteilhafte Verteidigung: Vielmehr erscheint es angebracht die Feststellung des Kriegsphilosophen, wonach die in eine Offensivunternehmung verflochtene Verteidigung dadurch wesentlich geschwächt sei und der hauptsächlichste Nachteil des Angriffs darin bestünde, später in eine ganz unvorteilhafte Verteidigung versetzt zu werden, als einen potenziellen Vorteil des Angriffs zu betrachten, weil die von Clausewitz genannte „unvorteilhafte Verteidigung“ gerade dem gegnerischen Angriff, welcher auch ein Gegenangriff sein kann, zugute kommt und nur von diesem zum eigenen Vorteil auch ausgenutzt werden kann. Begriffsverschmelzung: Dass Clausewitz hierin jedoch einen Vorteil der Verteidigung zu erkennen glaubt, ist darauf zurückzuführen, dass er den Gegenangriff derart mit dem Begriff der Verteidigung vermengt, dass er ihn nicht mehr als das betrachtet, was er seinem Wesen (und Namen) nach ist, nämlich ein Angriff. Eine Verschmelzung des Gegenangriffs mit dem Begriff der Verteidigung ist daher als unangemessen und zudem im Widerspruch mit Clausewitz eigener Definition von Angriff und Verteidigung abzulehnen.
1 Zusammenfassung
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Schlusswort: Zusammenfassung / Ergebnis / Thesen
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Zusammenfassung
Untersuchungsgegenstand / Zielsetzung: Die vorliegende Studie befasst sich mit dem Stärkeverhältnis der beiden Hauptformen des Kriegführens und Kämpfens, Angriff und Verteidigung. Zentraler Untersuchungsgegenstand war hierbei die These des preußischen Generals und Kriegsphilosophen Carl von Clausewitz, wonach die Verteidigung die „stärkere Form des Kriegführens“ sei. Ziel der Studie war es, diese Clausewitzsche These einer kritischen Überprüfung zu unterziehen um festzustellen, inwiefern diese theoretische Vorstellung in sich stimmig und mit der Wirklichkeit des Krieges zu vereinbaren ist. Dazu wurde der von Clausewitz entwickelte Theorieansatz sowohl im Lichte der Kriegswirklichkeit als auch hinsichtlich seiner argumentativen Logik untersucht und bewertet. Notwendigkeit: Die Notwendigkeit zur Untersuchung dieser Fragestellung ergab sich aus der Tatsache, dass diesbezüglich selbst in Fachkreisen die unterschiedlichsten Ansichten vorherrschen und bestimmte, in der Kriegswirklichkeit zu beobachtende Phänomene wie beispielsweise der Angriff aus Schwäche oder der Präventivangriff mit dem theoretischen Ansatz von Clausewitz nicht in Übereinklang zu bringen sind. Gleichzeitig wurden die Vorstellungen des preußischen Kriegsphilosophen in unterschiedlichster Form bis in die heutige Zeit tradiert und prägen bewusst oder unbewusst aktuelle Entscheidungsprozesse. Eine umfassende, systematische und theoretisch fundierte Bearbeitung dieser Frage fehlte bisher. Zweck: Die Bedeutung der untersuchten Fragestellung ist darin zu sehen, dass ein an unzutreffenden theoretischen Vorstellungen geschultes Urteil der politischen oder militärischen Entscheidungsträger zu Fehlentscheidungen im praktischen Handeln führen kann und damit großen Schaden anzurichten vermag. Das Verkennen von Chancen gehört hierbei genauso dazu wie eine fehlerhafte Bewertung der eigenen oder gegnerischen Stärken und Schwächen. Die Dialektik von Angriff und Verteidigung und in diesem Kontext die Wahl der jeweils geeigneten Form des Kriegführens und Kämpfens stellt eine der grundlegendsten Fragestellungen einer jeden kriegerischen Auseinandersetzung dar und erfordert eine permanente Beurteilung auf allen Entscheidungsebenen. Daher wird auch die Frage hinsichtlich des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung zum permanenten Bestandteil einer jeden politisch/militärischen LagebeJ. Schmid, Die Dialektik von Angriff und Verteidigung, DOI 10.1007/978-3-531-93037-4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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urteilung und daraus resultierender Entscheidungen für praktisches Handeln. Zutreffende theoretische Vorstellungen zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung können daher als grundlegend für systematisch lagegerechte politisch/militärische Entscheidungsprozesse in Krieg und Konflikt betrachtet werden. Kontroverse Diskussion: Eine zeitübergreifende Untersuchung der in dieser Fragestellung vorliegenden kontroversen Diskussion machte deutlich, dass namhafte Autoritäten diesbezüglich zum Teil Ansichten vertreten, die der Clausewitzschen These mitunter diametral entgegenstehen. Die Vorstellungen Sun Tsus, Friedrich II. und Napoleon Bonapartes wurden dabei genauer betrachtet, um einen Einblick in die kontroverse Debatte zu geben und Vergleichsmöglichkeiten zur Argumentation von Clausewitz zu schaffen. Vor dem Hintergrund eines identischen Erfahrungshintergrunds ist hierbei der Gegensatz zwischen den Vorstellungen des preußischen Kriegsphilosophen und seines Zeitgenossen Napoleon Bonapartes besonders augenfällig und beachtenswert. Methode / Verständnis: Um die Gedankengänge des preußischen Kriegsphilosophen zutreffend beurteilen zu können, war es zunächst erforderlich, unter Berücksichtigung seiner Methode, insbesondere der für ihn charakteristischen ganzheitlich-dialektischen Betrachtungsweise des Krieges und seines Anspruchs auf logische Konsistenz, die Frage zu klären, wie er seine These von der stärkeren Form des Kriegführens selbst überhaupt verstanden wissen wollte. Festzuhalten bleibt hierbei, dass er diese primär auf das unveränderliche Wesen des Krieges bezieht und sie als einen Grundsatz mit zeitübergreifender Gültigkeit betrachtet. Diesen Grundsatz hält er in der weit überwiegenden Mehrzahl seiner Erscheinungsformen, das heißt in der Wirklichkeit des Krieges, auch für zutreffend und unterscheidet ihn von einem Gesetz nur hinsichtlich dessen jeweiliger Ausprägung auf der Erscheinungsebene. Clausewitz bezieht seine These dabei sowohl auf die Ebene der Taktik als auch auf die Ebene der Strategie, dehnt diese jedoch nicht auf das Feld der Politik aus, da für ihn der Krieg als Mittel der Politik, nicht jedoch die Politik als solche, Gegenstand der Betrachtung ist. Mit seinem Grundsatz von der größeren Stärke der Verteidigung macht Clausewitz deutlich, dass der Verteidiger durch die Wahl der, seiner Ansicht nach, stärkeren Form des Kriegführens einen zusätzlichen Vorteil beziehungsweise eine zusätzliche Stärke erhält, welche einen Sieg einfacher und wahrscheinlicher macht und damit einen sehr wesentlichen Faktor im Resultat einer kriegerischen Auseinandersetzung darstellt. Seiner Ansicht nach ist der Angriff nur bei eigener physisch/moralischer Überlegenheit motiviert, während sich der Schwächere der Verteidigung als der stärkeren Form zu bedienen habe. Aussagen über die empirische Häufigkeit von Sieg und Niederlage zwischen Angreifer und Verteidiger strebt Clausewitz mit diesen Überlegungen jedoch nicht an.
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Bei der Entwicklung seiner These stellt Clausewitz das ursprüngliche Theorie-Praxis-Konzept auf den Kopf und versucht insbesondere aus der revolutionären Praxis des Krieges Anforderungen an die Theorie abzuleiten. Er kommt dabei sehr frühzeitig zum Abschluss seines zentralen inhaltlichen Grundgedankens von der größeren Kraft der Verteidigung, der sich bereits in seiner „Strategie von 1804“ andeutet und sich von da an immer weiter verfestigt. Auch im letzten Stadion seines Denkens hält der Kriegsphilosoph an dieser zentralen inhaltlichen Botschaft seines Werkes fest und stellt diese auch durch die von ihm geplante Umarbeitung desselben ausdrücklich nicht in Frage. Clausewitz´ These ist auch im Kontext einer einseitigen, doktrinären Angriffsbevorzugung seiner Zeit zu sehen und begreift sich, auf der Basis persönlicher Eindrücke und Erfahrungen, als bewusste Opposition gegen dieses herrschende Denken seiner Zeit. Insgesamt stellt die Antithese Angriff – Verteidigung eine der wesentlichsten dialektischen Beziehungen in Clausewitz‘ Theorie vom Kriege dar. Wirklichkeit des Krieges: Eine Untersuchung der Vereinbarkeit der Clausewitzschen Theorie von der größeren Stärke der Verteidigung mit der praktischen Wirklichkeit des Krieges ergab, dass zwei kriegstheoretische Phänomene, der Angriff aus Schwäche und der Präventivangriff, mit der Theorie des Kriegsphilosophen von der größeren Stärke der Verteidigung nicht erklärbar sind und in direktem Widerspruch zu dieser stehen. Sie liefern einen klaren Beleg für die Unvereinbarkeit der Clausewitzschen These mit der praktischen Wirklichkeit des Krieges. Beide Phänomene wurden jeweils anhand eines kriegshistorischen Beispiels, der Zwölften Isonzooffensive 1917 und des Sechstagekriegs von 1967, näher untersucht und veranschaulicht. Diese Beispiele unterstreichen, dass die Kriegsgeschichte bedeutsame Ereignisse kennt, bei denen sich, entgegen der Clausewitzschen Vorstellung von der größeren Stärke der Verteidigung, eindeutig der Angriff als die stärkere Form erwiesen hat. Gleichzeitig wurde deutlich, dass, entgegen der Clausewitzschen Überlegungen, Erfolg im Angriff nicht notwendig physisch/moralische Überlegenheit voraussetzt, sondern auch bei eigener Unterlegenheit möglich ist. Die Forderung des Kriegsphilosophen, wonach sich der Schwächere grundsätzlich der Verteidigung als der stärkeren Form zu bedienen habe, ist damit nicht haltbar. Es kann unterstellt werden, dass eine politisch-militärische Führung, die sich in dieser Frage zu sehr an den Vorstellungen von Clausewitz orientiert hätte, eingeengt von dessen Theorie, den Angriff nicht als die in den betrachteten Fällen stärkere und vorteilhaftere Form des Kriegführens erkannt haben würde. Zwei bedeutende militärische Erfolge, hätten demnach in dieser Form möglicherweise nicht realisiert werden können, wenn das Urteil der verantwortlichen
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Entscheidungsträger in zu starkem Maße in Clausewitz’ Vorstellung von der größeren Stärke der Verteidigung verhaftet gewesen wäre. Kritische Analyse / Argumentation: Der aufgezeigte Widerspruch, in dem sich die Clausewitzsche Theorie von der Verteidigung als der „stärkeren Form des Kriegführens“ mit der praktischen Wirklichkeit des Krieges befindet, machte es erforderlich, auf der Basis des erarbeiteten Verständnisses seiner Theorie, die Argumentation des Kriegsphilosophen einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Hierbei konnten vier grundlegende Argumentationslinien herausgearbeitet werden, die es im Folgenden zu analysieren und im Kontext der ganzheitlich dialektischen Methode von Clausewitz, wie auch seines Anspruchs auf logische Konsistenz und Vereinbarkeit mit der Praxis des Krieges kritisch zu hinterfragen galt: Erstens: In einem ersten Begründungsansatz versucht Clausewitz seine These von der größeren Stärke der Verteidigung durch die „Natur der Dinge“ zu begründen und bezieht sich dabei insbesondere auf Begriff und Zweck der beiden Formen des Kriegführens. Sein Versuch aus der seiner Ansicht nach negativen Absicht der Verteidigung und seiner These wonach Erhalten leichter sei als Erobern, eine vermeintlich größere Stärke der Verteidigung ableiten zu können, kann jedoch nicht überzeugen. Weder ist es schlüssig der Verteidigung eine bloß „negative Absicht“ zu unterstellen, noch kann Clausewitz einen Beleg dafür liefern, warum „Erhalten“ leichter sein solle als „Gewinnen“. Während Ersteres einen Widerspruch zu Clausewitz eigener Definition von Angriff und Verteidigung darstellt, steht Letzteres mit der empirischen Wirklichkeit des Krieges im Widerspruch. Dass die Zwecksetzung des „Erhaltens“ auch angriffsweise verfolgt werden kann und sich eine Verteidigung keineswegs mit der „bescheidenen“ Ambition des „Erhaltens“ begnügen muss, kommt als Unverträglichkeit mit der Clausewitzschen Theorie hinzu. Auch der weitere Versuch des Kriegsphilosophen, aus dem Merkmal des „Abwartens“, dem einzigem Unterscheidungskriterium der beiden Formen des Kriegführens, einen „Hauptvorteil“ der Verteidigung begründen zu wollen, kann nicht überzeugen, da Clausewitz eine Antwort auf die Frage, worin dieser Vorteil konkret zu sehen sei, vermissen lässt. Die Tatsache, dass Clausewitz den Faktor Initiative, als das den Angriff definierenden Merkmal, hinsichtlich seiner Überlegungen zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung weitgehend unberücksichtigt lässt, macht seine Analyse zudem in einem ganz entscheidenden Punkt unvollständig, und lässt seine These schon allein aus diesem Grunde fragwürdig erscheinen. Zweitens: Clausewitz Ableitung seiner Theorie aus rein logischen Gesetzmäßigkeiten hält, trotz der Brillanz ihrer Formulierung, einer kritischen Überprüfung nicht stand, da die Folgerichtigkeit seines Schlusses nicht gegeben und
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zudem die zu Grunde gelegte Ausgangsprämisse unzutreffend ist. In diesem Zusammenhang war die Clausewitzsche Differenzierung der mit Angriff und Verteidigung verfolgten Zwecksetzungen in „positiv“, für den Falle des Angriffs, und „negativ“, für den Fall der Verteidigung, wie auch seine Bewertung, wonach die Verteidigung ihrem Wesen nach nicht erstrebenswert sei, während der Angriff die zu bevorzugende Form des Kriegführens darstelle, als irreführend und gleichzeitig im Widerspruch mit zentralen Elementen seiner eigenen Argumentation zurückzuweisen. Stattdessen war die Forderung zu betonen, den jeweiligen Zweck (Erobern / Erhalten) direkt beim Namen zu nennen und auf eine wertende Umschreibung zu verzichten. Drittens: Kernelement der Argumentation des Kriegsphilosophen zur Begründung seiner These von der größeren Stärke der Verteidigung ist sein Versuch, diese aus den Prinzipen des Sieges abzuleiten. Anhand bestimmter Auswahlkriterien konzentriert und beschränkt Clausewitz seine Analyse dabei auf sechs Faktoren – „Überraschung“, „Vorteil der Gegend“ und „Anfall von mehreren Seiten“ für die taktische wie auch für die strategische Ebene und ergänzend für die strategische Ebene den „Beistand des Kriegstheaters und des Volkes“, sowie die „Benutzung großer moralischer Kräfte“ - die er entweder ausschließlich oder überwiegend der Verteidigung als Stärken anrechnet und damit seine These insgesamt als bestätigt betrachtet. Sowohl der Gesamtaufbau der Clausewitzschen Argumentation, wie auch die Art und Interpretation seiner Auswahlkriterien können dabei jedoch nicht überzeugen. Durch die Beschränkung seiner Analyse auf die genannten sechs „Prinzipe“, betrachtet Clausewitz nur einen Teilbereich der kriegerischen Wirklichkeit und lässt entscheidende Faktoren, insbesondere hinsichtlich potenzieller Stärken des Angriffs, unberücksichtigt. Dem Anspruch einer ganzheitlichen Betrachtung, als Voraussetzung für Aussagen über das Wesen von Angriff und Verteidigung, wird Clausewitz damit nicht gerecht. Darüber hinaus hält keine der von ihm im Kontext der sechs „Prinzipe“ aufgezeigten Argumentationsstrukturen einer kritischen Prüfung stand. Der größte Widerspruch zu allgemein angenommenen militärischen Grundwahrheiten, liegt hierbei in seiner Bewertung, wonach der Faktor Überraschung in erster Linie der Verteidigung, nicht dem Angriff, zu Gebote stünde. Eine Überlegung, die insbesondere auf Grund des engen Zusammenhangs zwischen dem Faktor Überraschung und dem den Angriff definierenden Merkmal der Initiative nur schwer nachvollziehbar ist. Es verbietet sich daher auf Grundlage dieser Argumentation Clausewitz These von der größeren Stärke der Verteidigung als begründet anzusehen. Viertens: Im Rahmen der Ableitung seiner These aus dem Phänomen des Gegenangriffs stellt Clausewitz auf die enge Wechselwirkung und gegenseitige Durchdringung der beiden Formen des Kriegführens ab. Sein Versuch, die Über-
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legenheit der Verteidigung ganz wesentlich auf die Möglichkeit zurückzuführen, nach erfolgreicher Abwehr des gegnerischen Angriffs unter dann günstigen Bedingungen zum Gegenangriff übergehen zu können, ist jedoch nicht aufrecht zu erhalten, da Clausewitz der Verteidigung hierbei eine Stärke unterstellt, welche deren eigentlichem Wesen, nämlich - seiner eigenen Definition gemäß - der Abwehr eines Stoßes, gar nicht zukommt. Gleichzeitig ist die von Clausewitz vorgenommene Verschmelzung des Gegenangriffs mit dem Begriff der Verteidigung als unangemessen und zudem im Widerspruch mit seiner eigenen Definition von Angriff und Verteidigung stehend zurückzuweisen, da er hierbei den Gegenangriff nicht mehr als das betrachtet, was er seinem Wesen und Namen nach ist, nämlich ein Angriff. 2
Ergebnis
Insgesamt sind hinsichtlich der Zielsetzung der hier betrachteten Studie folgendes Ergebnisse festzuhalten: Erstens: Eine Gegenüberstellung der Clausewitzschen These von der vermeintlich größeren Stärke der Verteidigung mit bedeutenden Ereignissen der Kriegsgeschichte zeigt, dass bestimmte, wiederkehrende kriegstheoretische Phänomene, wie der Angriff aus Schwäche oder der Präventivangriff, mit der Theorie des Kriegsphilosophen nicht nur nicht erklärbar sind, sondern sich in direktem Widerspruch zu dieser befinden. Hierin zeigt sich ein klarer Gegensatz zwischen der Clausewitzschen Theorie und der Wirklichkeit des Krieges. Zweitens: Keine der von Clausewitz zur Begründung seiner These verwendeten vier grundlegenden Argumentationslinien hält einer kritischen Überprüfung stand. Es kann daher auf der Basis seiner Argumentation eine ihrem Wesen nach größere Stärke der Verteidigung nicht nachgewiesen werden. Drittens: Den einzelnen Begründungsansätzen des Kriegsphilosophen ist in vielen Fällen mangelnde Folgerichtigkeit sowie eine unzulässige Verallgemeinerung bestimmter, durchaus zutreffender Einzelerfahrungen zu attestieren. An verschiedenen Stellen seines Werkes zeigt sich, dass Clausewitz ein Idealbild beziehungsweise einen Spezialfall der Verteidigung vor Augen hat, wie er im Einzelfall durchaus vorkommen kann. Daraus leitet er jedoch in unzulässiger Weise generische Aussagen über das unveränderliche Wesen von Angriff und Verteidigung ab. Es wird deutlich, dass Clausewitz hinsichtlich seiner These von der stärkeren Form des Kriegführens weniger durch die Umstände seiner Zeit als vielmehr durch bestimmte Einzelerfahrungen, - wie beispielsweise den Russlandfeldzug von 1812 – wie auch durch sein Idealbild einer Verteidigung, wie sie sein sollte, geprägt ist.
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Viertens: Die verschiedenen Argumente des Kriegsphilosophen sind auch untereinander in vielen Fällen nicht stringent oder stehen im Widerspruch zu anderen Inhalten seines Werkes. Es ist festzuhalten, dass sich Clausewitz durch die dogmatische Vehemenz, mit welcher er seine These von der größeren Stärke der Verteidigung vertritt, auch in Widerspruch zu seiner eigenen, charakteristisch antidogmatischen Methode begibt. Sein Werk würde insgesamt viele innere Widersprüche verlieren und gleichzeitig an Stimmigkeit und Überzeugungskraft gewinnen, wenn der Kriegsphilosoph auf seine These von der „größeren Stärke der Verteidigung“ verzichtet hätte. Noch am stimmigsten ist seine These zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung dann, wenn man sie als ein bewusst überzeichnetes Gegenstück zum herrschenden (napoleonischen) Angriffsdenken der damaligen Zeit versteht. Als Aussage über das zeitübergreifende Wesen des Krieges und seiner beiden Hauptformen, wie von Clausewitz angestrebt, ist sie jedoch nicht haltbar. Fünftens: Mit dieser Kritik stellt die Studie keinesfalls Clausewitz oder sein Werk „Vom Kriege“ als solches in Frage. Ganz im Gegenteil ist zu betonen, dass alleine die Tatsache, dass Clausewitz auf bestimmte Zusammenhänge aufmerksam gemacht und viele Fragen überhaupt erst aufgeworfen hat, sein Werk zu einer unverzichtbaren Lektüre für jeden politischen oder militärischen Entscheidungsträger, der sich mit Fragen von Krieg und Frieden und dem Einsatz von Streitkräften zu befassen hat, werden lässt. In der Frage des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung ist Clausewitz der erste, der bewusst eine systematische und theoretisch fundierte Begründung dieser Frage anstrebte. Auch wenn sein Ergebnis nicht aufrecht zu erhalten ist, so liefert sein Werk doch eine Fülle von Anregungen und Gedanken, auf welche hinsichtlich weiterführender Studien und einer letztendlichen Beantwortung, der von ihm aufgeworfenen Fragestellung aufgebaut werden kann. Sechstens: Basierend auf dem Ergebnis dieser Studie ist davor zu warnen, bestimmte Thesen des Kriegsphilosophen ungeprüft einfach hinzunehmen und zum Glaubenssatz oder gar zum unantastbaren Dogma zu erheben. Ein solches Vorgehen stellt die größte Gefahr für das Clausewitzsche Erbe und das größte Hemmnis hinsichtlich einer konstruktiven inhaltlichen Weiterentwicklung seiner Theorie dar. Es steht zudem der Methode und eigentlichen Intention des Kriegsphilosophen selbst diametral entgegen. Die im Rahmen dieser Studie aufgezeigte Kritik an der Clausewitzschen These von der größeren Stärke der Verteidigung begreift sich daher nicht als eine Ablehnung des Autors und seines Werkes, sondern im Gegenteil als eine konstruktive inhaltliche Auseinandersetzung mit diesem, ganz im Sinne der von Clausewitz selbst aufgezeigten Methode. Damit hofft die Studie im Sinne von Clausewitz einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Theorie des Krieges, in der für jede kriegerische Auseinandersetzung ent-
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scheidenden Dimension der Dialektik von Angriff und Verteidigung leisten zu können. 3
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Im Rahmen der Untersuchung und Bearbeitung der vorliegenden Fragestellung sind die im Folgenden thesenartig formulierten Teilergebnisse und Erkenntnisse erzielt worden: 1.
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Kontroverse Diskussion: Die Frage des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung beschäftigt die militärische Fachwelt zu nahezu allen Zeiten, wobei selbst in Fachkreisen die unterschiedlichsten Ansichten vorherrschen. Namhafte Autoritäten vertreten hierbei Ansichten, die der von Clausewitz zum Teil diametral entgegenstehen. Eine umfassende, systematische und theoretisch fundierte Bearbeitung dieser Frage fehlte bisher. Widerspruch Theorie-Praxis: Eine Gegenüberstellung der Clausewitzschen These von der vermeintlich größeren Stärke der Verteidigung mit bedeutenden Ereignissen der Kriegsgeschichte zeigt, dass bestimmte, wiederkehrende kriegstheoretische Phänomene, wie der Angriff aus Schwäche oder der Präventivangriff, mit der Theorie des Kriegsphilosophen nicht nur nicht erklärbar sind, sondern sich im direktem Widerspruch zu dieser befinden. Hierin zeigt sich ein klarer Gegensatz zwischen der Clausewitzschen Theorie und der Wirklichkeit des Krieges. Antithese: Die Antithese Angriff – Verteidigung stellt eine der wesentlichsten dialektischen Beziehungen in Clausewitz´ Theorie vom Kriege dar. Wesen des Krieges: Clausewitz bezieht seine These von der größeren Stärke der Verteidigung primär auf das unveränderliche Wesen des Krieges und betrachtet sie als einen Grundsatz mit zeitübergreifender Gültigkeit. Taktik / Strategie: Clausewitz bezieht seine These sowohl auf die Ebene der Taktik als auch auf die Ebene der Strategie, dehnt diese jedoch nicht auf das Feld der Politik aus, da für ihn der Krieg als Mittel der Politik, nicht jedoch die Politik als solche, Gegenstand der Betrachtung ist. Zusätzliche Stärke: Mit seinem Grundsatz von der größeren Stärke der Verteidigung macht Clausewitz deutlich, dass der Verteidiger durch die Wahl der, seiner Ansicht nach, stärkeren Form des Kriegführens einen zusätzlichen Vorteil beziehungsweise eine zusätzliche Stärke erhält, welche einen Sieg einfacher und wahrscheinlicher macht und damit einen sehr wesentlichen Faktor im Resultat einer kriegerischen Auseinandersetzung darstellt. Aussagen über die empirische Häufigkeit von Sieg und Niederlage
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zwischen Angreifer und Verteidiger strebt Clausewitz mit diesen Überlegungen jedoch nicht an. 7. Letztes Denken: Auch im letzten Stadion seines Denkens hält Clausewitz an dieser zentralen inhaltlichen Botschaft seines Werkes fest und stellt diese auch durch die von ihm geplante Umarbeitung desselben ausdrücklich nicht in Frage. 8. Erfolg im Angriff: Entgegen der Clausewitzschen Ansicht setzt Erfolg im Angriff nicht notwendig physisch/moralische Überlegenheit voraussetzt, sondern ist auch bei eigener Unterlegenheit möglich. Die Ansicht des Kriegsphilosophen, wonach der Angriff nur bei eigener physisch/ moralischer Überlegenheit motiviert sei und der Schwächere sich grundsätzlich der Verteidigung als der stärkeren Form zu bedienen habe, kann vor dem Hintergrund empirischer Erfahrungen in der Wirklichkeit des Krieges nicht aufrecht erhalten werden. 9. Natur der Dinge: Clausewitz Versuch seine These von der größeren Stärke der Verteidigung durch Bezugnahme auf die Natur der Dinge zu begründen hält einer kritischen Überprüfung nicht stand. Sein Versuch aus der seiner Ansicht nach negativen Absicht der Verteidigung und seiner These wonach Erhalten leichter sei als Erobern, eine vermeintlich größere Stärke der Verteidigung ableiten zu können, konnte nicht überzeugen. Weder ist es schlüssig der Verteidigung eine bloß „negative Absicht“ zu unterstellen, noch konnte Clausewitz einen Beleg dafür liefern, warum „Erhalten“ leichter sein solle als „Gewinnen“. Zudem befindet sich Ersteres im Widerspruch mit Clausewitz eigener Definition von Angriff und Verteidigung, während Letzteres mit der empirischen Wirklichkeit des Krieges im Widerspruch steht. Dass die Zwecksetzung des „Erhaltens“ auch angriffsweise verfolgt werden kann und sich eine Verteidigung keineswegs mit der „bescheidenen“ Ambition des „Erhaltens“ begnügen muss, kommt als Unverträglichkeit mit der Clausewitzschen Theorie hinzu. Auch der Versuch des Kriegsphilosophen aus dem Merkmal des „Abwartens“, dem einzigem Unterscheidungskriterium der beiden Formen des Kriegführens, einen „Hauptvorteil“ der Verteidigung begründen zu wollen, kann nicht überzeugen, da Clausewitz eine Antwort auf die Frage, worin dieser Vorteil konkret zu sehen sei, vermissen lässt. Die Tatsache, dass Clausewitz den Faktor Initiative, als das den Angriff definierenden Merkmal, hinsichtlich seiner Überlegungen zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung unberücksichtigt lässt, macht seine Analyse zudem in einem ganz entscheidenden Punkt unvollständig, und lässt seine These schon allein aus diesem Grunde fragwürdig erscheinen. 10. Logik: Clausewitz Ableitung seiner Theorie aus rein logischen Gesetzmäßigkeiten hält, trotz der Brillanz ihrer Formulierung, einer kritischen Über-
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prüfung nicht stand, da die Folgerichtigkeit seines Schlusses nicht gegeben und zudem die zu Grunde gelegte Ausgangsprämisse unzutreffend ist. In diesem Zusammenhang ist die Clausewitzsche Differenzierung der mit Angriff und Verteidigung verfolgten Zwecksetzungen in „positiv“ (im Falle des Angriffs) und „negativ“ (im Falle der Verteidigung), wie auch seine Bewertung, wonach die Verteidigung ihrem Wesen nach nicht erstrebenswert sei, während der Angriff die zu bevorzugende Form des Kriegführens darstelle, als irreführend und gleichzeitig im Widerspruch mit zentralen Elementen seiner eigenen Argumentation zurückzuweisen. Stattdessen ist die Forderung zu betonen, den jeweiligen Zweck (Erobern / Erhalten) direkt beim Namen zu nennen und auf eine wertende Umschreibung zu verzichten. 11. Prinzipe des Sieges: Das Kernelement der Clausewitzschen Argumentation zur Begründung seiner These von der größeren Stärke der Verteidigung, sein Versuch diese aus den Prinzipen des Sieges abzuleiten, ist als nicht stimmig abzulehnen. Sowohl der Gesamtaufbau der Clausewitzschen Argumentation, wie auch die Art und Interpretation seiner Auswahlkriterien können dabei nicht überzeugen. Durch die Beschränkung seiner Analyse auf lediglich sechs Prinzipe des Sieges, betrachtet Clausewitz nur einen Teilbereich der kriegerischen Wirklichkeit und lässt entscheidende Faktoren, insbesondere hinsichtlich potenzieller Stärken des Angriffs, unberücksichtigt. Dem Anspruch einer ganzheitlichen Betrachtung, als Voraussetzung für Aussagen über das Wesen von Angriff und Verteidigung, wird Clausewitz damit nicht gerecht. Darüber hinaus hält keine der von ihm in diesem Kontext aufgezeigten Argumentationsstrukturen einer kritischen Prüfung stand. Der größte Widerspruch zu allgemein angenommenen militärischen Grundwahrheiten, liegt hierbei in seiner Bewertung, wonach der Faktor Überraschung in erster Linie der Verteidigung, nicht dem Angriff, zu Gebote stünde. 12. Gegenangriff: Clausewitz Versuch, die Überlegenheit der Verteidigung ganz wesentlich auf die Möglichkeit zurückzuführen, nach erfolgreicher Abwehr des gegnerischen Angriffs unter dann günstigen Bedingungen zum Gegenangriff übergehen zu können, ist nicht haltbar, da er hierbei der Verteidigung eine Stärke unterstellt, welche deren eigentlichem Wesen, nämlich - seiner eigenen Definition gemäß - der Abwehr eines Stoßes, gar nicht zukommt. Gleichzeitig ist die von Clausewitz vorgenommene Verschmelzung des Gegenangriffs mit dem Begriff der Verteidigung, als unangemessen und zudem im Widerspruch mit seiner eigenen Definition von Angriff und Verteidigung zurückzuweisen. 13. Argumentation: Keine der von Clausewitz zur Begründung seiner These verwendeten vier grundlegenden Argumentationslinien hält einer kritischen
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Überprüfung stand. Es kann daher auf der Basis seiner Argumentation eine größere Stärke der Verteidigung ihrem Wesen nach nicht erwiesen werden. Unzulässige Verallgemeinerung: Ein wesentliches Manko in Clausewitz Theorie zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung besteht in der mangelnden Folgerichtigkeit seiner Argumentation, sowie in einer unzulässigen Verallgemeinerung durchaus zutreffender, durch persönliche Eindrücke gewonnener, Einzelerfahrungen, bei gleichzeitiger Orientierung an einem konstruierten Idealbild der Verteidigung. Gesamturteil / Einzelfallbetrachtung: Als grundlegendes Ergebnis kann festgehalten werden, dass Clausewitz These von der größeren Stärke der Verteidigung sowohl aus empirischen als auch aus argumentativen Gründen nicht aufrechterhalten werden kann. Weder die Verteidigung noch der Angriff stellen ihrem Wesen nach eine stärkere oder schwächere Form des Kriegführens dar. Allgemeine Pauschalaussagen sind in dieser Frage nicht möglich. Eine Bestimmung, welche der beiden Formen des Kriegführens größere Vorteile/Stärken oder Nachteile/Schwächen mit sich bringt, ist nur im Rahmen einer Einzelfallbetrachtung möglich. Vorstellungen, wonach eine der beiden Formen des Kriegführens ihrem Wesen nach die stärkere sei, müssen als zu positivistisch und dogmatisch abgelehnt werden, weil sie der komplexen und lebendigen Natur des Krieges und der Vielzahl der ihn beeinflussenden Faktoren nicht gerecht werden können. Situationsabhängigkeit: Da die Wirkung der die Verteidigung und den Angriff definierenden Merkmale des Abwartens und der Initiative, in sehr starkem Maße situationsabhängig ist, kann daraus gefolgert werden, dass auch das Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung nur situationsbezogen und im konkreten Einzelfall näher bestimmt werden kann. Eine dem Wesen nach größere Stärke der einen oder anderen Form des Kriegführens, wie von Clausewitz hinsichtlich der Verteidigung behauptet, kann hieraus nicht abgeleitet werden. Widerspruch: Durch den dogmatischen Positivismus, mit welcher Clausewitz seine These von der größeren Stärke der Verteidigung formuliert und vertritt, begibt er sich selbst in Widerspruch zu seiner ansonsten bewusst antidogmatischen Methode. Sein Werk würde viele innere Widersprüche verlieren und an Stimmigkeit und Überzeugungskraft gewinnen, wenn der Kriegsphilosoph auf die Formulierung dieser These verzichtet hätte. Gegenstück zum Angriffsdenken: Noch am stimmigsten ist Clausewitz‘ These von der größeren Stärke der Verteidigung, wenn man sie als ein bewusst überzeichnetes Gegenstück zum herrschenden napoleonischen Angriffsdenken seiner Zeit versteht. In dieser Hinsicht liefern seine These und seine diesbezüglichen Argumentationsansätze eine Fülle von Anregungen,
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Schlusswort: Zusammenfassung / Ergebnis / Thesen Ideen und Gedanken, die gerade durch das provokative Element ihrer Dogmatik zur Diskussion einladen. Prinzipe des Sieges / Einzelfallbetrachtung: Die von Clausewitz aufgezeigten Prinzipe des Sieges sind geeignet, um im Rahmen spezifischer Einzelfallbetrachtungen Aussagen über das Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung abzuleiten. Hierbei kommt es auf ein unvoreingenommenes Erfassen der gesamten Bandbreite dieser Prinzipe an, um situationsbezogen die jeweils entscheidenden Faktoren zu erkennen und gegeneinander abwägen zu können. Theorie: Die Beseitigung unzutreffender theoretischer Vorstellungen zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung ist Voraussetzung für lagegerechte Entscheidungen in der Praxis des Krieges. Nur auf der Basis zutreffender theoretischer Grundüberlegungen können Fehlentscheidungen in der Praxis systematisch vermieden werden. Erhalten: Erhalten ist nicht, wie von Clausewitz aufgezeigt, eine ausschließliche Zwecksetzung der Verteidigung, sondern kann auch durch Angriff verfolgt werden. Positiver / Negativer Zweck: Die von Clausewitz vorgenommene wertende Differenzierung von Angriff und Verteidigung in positiven und negativen Zweck ist als irreführend abzulehnen. Gegenangriff ist Angriff: Der Gegenangriff ist, obwohl ein Element der Verteidigung, seinem Wesen, wie auch seinem Namen nach ein Angriff und darf daher nicht, wie von Clausewitz angenommen, bereits begrifflich mit der Verteidigung verschmolzen werden. Er ist als das zu betrachten, was er seinem Wesen (und Namen) nach ist, nämlich ein Angriff. Prinzipe / Wirksamkeiten im Krieg: Kampf stellt im Gegensatz zu Clausewitz Überzeugung nicht das einzige Prinzip im Kriege dar. Leidensfähigkeit, Opferbereitschaft, Durchhaltefähigkeit wie auch Siegverweigerung und Entschleunigung können sich als ebenso wirksame Prinzipe für den Ausgang einer kriegerischen Auseinandersetzung erweisen. Politische Ebene: Eine Erweiterung und Ausdehnungen der Clausewitzschen Überlegungen zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung auf die politische Ebene verspricht erhebliches Entwicklungspotenzial, da für Clausewitz der Krieg als Mittel der Politik, nicht jedoch die Politik als solche Gegenstand der Betrachtungen ist. Glaubenssatz: Basierend auf dem Ergebnis dieser Studie ist davor zu warnen, bestimmte Thesen des Kriegsphilosophen ungeprüft einfach hinzunehmen und zum Glaubenssatz oder gar zum unantastbaren Dogma zu erheben. Ein solches Vorgehen stellt die größte Gefahr für das Clausewitzsche Erbe und das größte Hemmnis hinsichtlich einer konstruktiven in-
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haltlichen Weiterentwicklung seiner Theorie dar und steht zudem der Methode und eigentlichen Intention des Kriegsphilosophen selbst völlig entgegen. 27. Grundlage: Hinsichtlich der Frage des Stärkeverhältnisses von Angriff und Verteidigung ist Clausewitz der erste, der bewusst eine systematische und theoretisch fundierte Begründung dieser Frage angestrebt hatte. Auch wenn sein Ergebnis letztendlich nicht aufrecht zu erhalten ist, so liefert sein Werk eine solide Grundlage und eine Fülle von Anregungen und Gedanken, auf welche hinsichtlich weiterführender Studien und einer letztendlichen Beantwortung, der von ihm aufgeworfenen Fragestellung, aufgebaut werden kann. 28. Inhaltliche Weiterentwicklung: Eine systematische Weiterentwicklung der zentralen inhaltlichen Aussagen von Clausewitz über die Natur und das Wesen des Krieges ist die größte Herausforderung, vor der die Clausewitzforschung heute steht. Eine Beschränkung der Auseinandersetzung auf die Person und Methode des Kriegsphilosophen kann seinem Erbe nicht gerecht werden, da sie seine grundlegende Absicht, inhaltliche Aussagen über das Wesen des Krieges zu treffen, verkennen würde. Die vorliegende Arbeit begreift sich daher auch als ein Beitrag zu einem besseren Verständnis der Clausewitzschen Theorie, wie auch zur inhaltlichen Weiterentwicklung der Clausewitzschen Gedanken, ganz in dessen eigenem Sinne.
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Literaturverzeichnis
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J. Schmid, Die Dialektik von Angriff und Verteidigung, DOI 10.1007/978-3-531-93037-4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Anlage 1: Auswahl der wichtigsten Thesen Clausewitz` zum Stärkeverhältnis von Angriff und Verteidigung in „Vom Kriege“ Vom Kriege. Nachricht, S. 182 „Wir würden in diese Meinung einstimmen und jeden Versuch einer Theorie aufgeben, wenn sich nicht eine ganze Anzahl von Sätzen ohne Schwierigkeit ganz evident machen ließe: daß die Verteidigung die stärkere Form mit dem negativen Zweck, der Angriff die schwächere mit dem positiven Zweck ist; ...“ Vom Kriege. I, 1, S. 204-205 „Angriff und Verteidigung sind Dinge von verschiedener Art und ungleicher Stärke, die Polarität kann also nicht auf sie angewendet werden.“ „Allein die kriegerische Tätigkeit zerfällt in zwei Formen, Angriff und Verteidigung, die, wie wir in der Folge sächlich dartun werden, sehr verschieden und von ungleicher Stärke sind.“ „Die Wirkung der Polarität wird oft durch die Überlegenheit der Verteidigung über den Angriff vernichtet, und so erklärt sich der Stillstand des kriegerischen Aktes.“ „Ist die Form der Verteidigung stärker als die des Angriffs, wie wir in der Folge zeigen werden, ...“ „Da nun nach unserer Überzeugung die Überlegenheit der Verteidigung (richtig verstanden) sehr groß und viel größer ist, als man sich beim ersten Anblick denkt, ...“ Vom Kriege. I, 2, S. 220-221 „..., daß aus dieser negativen Absicht selbst alle die Vorteile und so alle die stärkeren Formen des Kampfes abgeleitet werden können, ...“ „Gibt also die negative Absicht, d.h. die Vereinigung aller Mittel im bloßen Widerstand, eine Überlegenheit im Kampf, ...“ Vom Kriege. III, 16, S. 409 „Die dritte Ursache, welche wie ein Sperrad in das Uhrwerk eingreift und von Zeit zu Zeit einen gänzlichen Stillstand hervorbringt, ist die größere Stärke der Verteidigung; A kann sich zu schwach fühlen, B anzugreifen, woraus aber nicht folgt, daß B stark genug zum Angriff gegen A sei. Der Zusatz von Kraft, welJ. Schmid, Die Dialektik von Angriff und Verteidigung, DOI 10.1007/978-3-531-93037-4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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chen die Verteidigung gibt, geht durch den Angriff nicht bloß verloren, sondern wird dem Gegner gegeben, so wie, bildlich gesagt, die Differenz von a + b und a - b gleich 2b ist. Daher kann es kommen, daß beide Teile zugleich zum Angriff zu schwach nicht bloß sich fühlen, sondern wirklich sind.“ Vom Kriege. VI, 1, S. 614-616 „Erhalten ist leichter als gewinnen, schon daraus folgt, daß die Verteidigung bei vorausgesetzten gleichen Mitteln leichter sei als der Angriff.“ „Daß die Verteidigung leichter sei als der Angriff, ist schon im allgemeinen bemerkt, da aber die Verteidigung einen negativen Zweck hat, das Erhalten, und der Angriff einen positiven, das Erobern, und da dieser die eigenen Kriegsmittel vermehrt, das Erhalten aber nicht, so muß man, um sich bestimmt auszudrücken sagen: die verteidigende Form des Kriegführens ist an sich stärker als die angreifende.“ „Ist die Verteidigung eine stärkere Form des Kriegführens, die aber einen negativen Zweck hat, so folgt von selbst, daß man sich ihrer nur solange bedienen muß, als man sie der Schwäche wegen bedarf, und sie verlassen muß, sobald man stark genug ist, sich den positiven Zweck vorzusetzen.“ „..., kehren wir noch einmal zu der Behauptung zurück, die Verteidigung sei die stärkere Form des Kriegführens. Aus der näheren Betrachtung und Vergleichung des Angriffs und der Verteidigung wird dies völlig klar hervorgehen; jetzt aber wollen wir nur die Bemerkung machen, in welchen Widersprüchen mit sich selbst und mit der Erfahrung die umgekehrte Behauptung steht. Wäre die angreifende Form die stärkere, so gäbe es keinen Grund mehr, die verteidigende je zu gebrauchen, da diese ohnehin den bloß negativen Zweck hat; jedermann müßte also angreifen wollen, und die Verteidigung wäre ein Unding. Umgekehrt aber ist es sehr natürlich, daß man den höheren Zweck mit größeren Opfern erkauft. Wer stark genug zu sein glaubt, sich der schwächeren Form zu bedienen, der darf den größeren Zweck wollen; wer sich den geringeren Zweck setzt, kann es nur tun, um den Vorteil der stärkeren Form zu genießen.“ Vom Kriege. VI, 2, S. 621 „Dies schließt nicht die teilweise passive Verteidigung des Bodens ganz aus; der Vorteil davon ist zu entschieden, als daß die Benutzung desselben nicht hundertmal in einem Feldzuge vorkommen sollte.“ „Immer aber wird ihr (der Verteidigung) der Beistand der Gegend gewiß sein, und weil Gegend und Boden jetzt mehr als je den kriegerischen Akt mit ihren Eigentümlichkeiten durchdringen, ihr im allgemeinen ihre natürliche Überlegenheit sichern.“
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Vom Kriege. VI, 3, S. 626 „Hiermit glauben wir unseren Satz, daß die Verteidigung eine stärkere Kriegsform sei als der Angriff, zur Genüge durchgeführt zu haben;“ Vom Kriege. VI, 5, S. 633-634 „Schon früher ist gesagt worden, was die Verteidigung überhaupt ist: Nichts als eine stärkere Form des Krieges, vermittelst welcher man den Sieg erringen will, um nach dem gewonnenen Übergewicht zum Angriff, d.h. zu dem positiven Zweck des Krieges, überzugehen.“ „Ein schneller, kräftiger Übergang zum Angriff - das blitzende Vergeltungsschwert - ist der glänzendste Punkt der Verteidigung; wer ihn sich nicht gleich hinzudenkt, oder vielmehr, wer ihn nicht gleich in den Begriff der Verteidigung aufnimmt, dem wird nimmermehr die Überlegenheit der Verteidigung einleuchten, ...“ Vom Kriege. VI, 6, S. 636 „Wir haben in dem zweiten und dritten Kapitel dieses Buches gezeigt, wie die Verteidigung im Gebrauch derjenigen Dinge, welche außer der absoluten Stärke und dem Wert der Streitkräfte den taktischen wie den strategischen Erfolg bestimmen, nämlich Vorteil der Gegend, Überraschung, Anfall von mehreren Seiten, Beistand des Kriegstheaters, Beistand des Volkes, Benutzung großer moralischer Kräfte -, eine natürliche Überlegenheit hat.“ Vom Kriege. VI, 8, S. 649 „Diese Ansicht hat uns früher schon auf die Vorstellungsart geführt, daß die Verteidigung nichts sei als die stärkere Form des Krieges, um den Gegner um so sicherer zu besiegen;“ „Wir sagen also: die Verteidigung ist die stärkere Form des Krieges, um den Gegner leichter zu besiegen, ...“ Vom Kriege. VI, 27, S. 807-808 „Die Verteidigung ist nach unserer Vorstellungsweise nichts als die stärkere Form des Kampfes.“ Vom Kriege. VII, 2, S. 872 „..., daß jene Überlegenheit der strategischen Verteidigung eben zum Teil darin ihren Grund hat, daß der Angriff selbst nicht ohne Beimischung von Verteidigung sein kann, und zwar von einer Verteidigung viel schwächerer Art;“
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Vom Kriege. VII, 14, S. 903-904 „Alle Vorteile, welche der Verteidiger in der Natur seiner Lage findet, kann der Angreifende nur durch Überlegenheit gutmachen ...“ „Fehlt also dem Angriff die physische Überlegenheit, so muß eine moralische da sein, um die Nachteile der Form aufzuwiegen, und wo auch diese fehlt, ist der Angriff nicht motiviert und wird nicht glücklich sein.“ Vom Kriege. VII, 16, S. 911 „Wenn also zwischen dem Angreifenden und dem Verteidiger ein Kampf der Art entsteht, ein Überbieten, so muß der Angreifende seine natürlichen Nachteile durch seine Überlegenheit gutmachen.“ Vom Kriege. VII, Über den Kulminationspunkt des Sieges, S. 942-943 „Man sollte nämlich glauben, daß, solange das Vorschreiten im Angriff seinen Fortgang hat, auch noch Überlegenheit vorhanden sei, und da die Verteidigung, welche am Ende der Siegeslaufbahn eintritt, eine stärkere Form des Krieges ist als der Angriff, so sei um so weniger Gefahr, daß man unversehens der Schwächere werde.“ „Es ist klar, daß diese Prinzipe nicht immer im gleichen Maße vorhanden und wirksam sein werden, und daß folglich eine Verteidigung der anderen nicht immer gleich ist, daß folglich auch die Verteidigung nicht immer dieselbe Überlegenheit über den Angriff haben wird.“ Vom Kriege. VIII, 9, S. 1012-1013 „... die schwächere Form hat den größten Erfolg für sich. Es kommt also darauf an, ob sich der Angreifende stark genug fühlt, nach diesem großen Ziel zu streben.“
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Anlage 2: Biographie des Generals Carl von Clausewitz und Chronologie seiner bedeutendsten Schriften. 1780 1. Juli: Carl von Clausewitz wird in Burg bei Magdeburg geboren. Sein Vater, Friedrich Gabriel Clausewitz, war Offizier und später Steuereinnehmer. Schulbildung an der städtischen Schule in Burg. 1792 Eintritt in das Infanterie-Regiment No.34 Prinz August in Neuruppin. 1793 Teilnahme an der Belagerung von Mainz. Beförderung zum Fähnrich. 1795-1801 Garnisonsjahre in Neuruppin. Beförderung zum Leutnant (1795). Erste autodidaktische Studien. 1801-1804 Hörer an der von Scharnhorst reformierten Kriegsschule in Berlin. Die Begegnung mit Scharnhorst wird entscheidend für seinen weiteren Werdegang. 1803 Adjutant des Prinzen August von Preußen am Berliner Hof (zunächst auf Probe). Begegnung mit Marie Gräfin von Brühl. 1804 Abschluß des dritten Studienjahrs an der Berliner Kriegsschule. Danach Festanstellung als Adjutant. 1805 Beförderung zum Stabskapitän. „Bemerkungen über die reine und angewandte Strategie des Herrn von Bülow oder Kritik der darin enthaltenen Ansichten“ Truppenabmarsch von Berlin. 1806 14.Oktober: Schlacht bei Jena und Auerstedt. Rückzug. Gefangennahme.
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1807 Internierung in Frankreich. 1.August: Ende der Gefangenschaft. Berlin. „Historische Briefe über die großen Kriegsereignisse im October 1806“ 1808 In Königsberg als Adjutant von Prinz August. Wiederbegegnung mit Scharnhorst. Mitarbeit an der Heeresreform. „Kriegswissenschaften“ 1809 Teilnahme an Übungen der umgestalteten Streitkräfte unter Scharnhorst. Rückkehr mit dem preußischen Hof nach Berlin. 1810 Bürochef bei Scharnhorst. Verlobung mit Marie Gräfin von Brühl. Beförderung zum Major. Taktiklehrer an der Berliner Kriegsschule. Berater des Kronprinzen Friedrich Wilhelm. Eheschließung mit Marie von Brühl. 1812 Clausewitz erbittet Abschied aus preußischen Diensten. Eintritt in russische Dienste als Oberstleutnant. Dem strategischen Berater des des Zaren General Phull unterstellt. Teilnahme an den Schlachten von Moshaisk, Witebsk, Smolensk und Borodino. Mitwirkung an der Konvention von Tauroggen. 1813 Teilnahme am Frühjahrsfeldzug im Stabe Blüchers. Scharnhorst wird im Gefecht von Groß-Görschen verwundet und erliegt wenig später seiner Verletzung. Teilnahme am Herbstfeldzug. Gefecht in der Göhrde. Beförderung zum kaiserlichrussischen Oberst. „Der Feldzug von 1813 bis zum Waffenstillstand“ 1814 Wiedereintritt in preußische Dienste als Oberst. „Der Feldzug von 1812 in Russland“ (Teile) 1815 Versetzung in den Generalstab. Chef des Stabes des III. Korps der Armee Blücher. Ein Gesuch um Frontverwendung wird abgelehnt. Entwurf des Operationsplanes für die Kämpfe bei Ligny und Wavre. Chef des Stabes beim Generalkommando in Koblenz unter Gneisenau.
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1816-1817 Koblenzer Zeit. Freundschaft mit Gneisenau. „Der Feldzug von 1814 in Frankreich“ „Über das Leben und den Charakter von Scharnhorst“ 1818 Direktor der Berliner Allgemeinen Kriegsschule (ohne Lehrbefugnis). (Amtsdauer 12 J.) Beginn: Ausarbeitung des Werkes „Vom Kriege“. Ernennung zum Generalmajor. 1819-1823 Denkschrift über die Kriegsschule. Politische Aufsätze. 1821 Clausewitz wird Mitglied des Großen Generalstabes. Seine Bewerbung um diplomatische Verwendung wird abgelehnt. „Die Feldzüge Friedrichs des Großen“ 1823-1824 „Nachrichten über Preußen in seiner größten Katastrophe“ 1827 Clausewitz wird offiziell geadelt. Die ersten sechs Bücher von „Vom Kriege“ abgeschlossen. Entwürfe zum Siebenten und Achten Buch. 1827-1830 Überarbeitung von „Vom Kriege“. „Der Feldzug von 1796 in Italien“ „Die Feldzüge von 1799 in Italien und in der Schweiz“ „Der Feldzug von 1815 in Frankreich“ 1830 Clausewitz übernimmt die zweite Artillerieinspektion in Breslau. Unruhen in ganz Europa als Folge der Juli-Revolution in Paris.
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1831 Aufstellung einer Beobachtungsarmee unter Gneisenau in Schlesien. Clausewitz wird Chef des Stabes. Gneisenau stirbt an der Cholera. Clausewitz übernimmt die Führung der Observationsarmee. November: Rückkehr nach Breslau. 16. November: Clausewitz erliegt der Cholera.598
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Vgl. Schössler: Carl von Clausewitz. a.a.o., S. 142-144 sowie Paret a.a.O., S. 403.
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Anlage 3: Clausewitz´ ganzheitliche Bestimmung des Krieges
Erkenntnisebene „ „
„ „ „ ErkenntnismethoͲ de „ Zweck/Mittel DreiteiligeDefiniͲ tiondesKrieges/ Zweck,Ziel,MittelͲ Relation: Wunderliche Dreifaltigkeit= Resultatfürdie TheoriedesKrieͲ ges,(3gleichbeͲ rechtigteTendenͲ zen): DoppelteArtdes Kriegführens Zweck/Ziel Materie Formendes Kriegführens PrinzipedesSieͲ ges:
ClausewitzganzheitlicheBestimmungdesKrieges alsAkt/ProzessvonGegenͲSätzen Wesen Erscheinung Theorie Erkenntnis PhilosoͲ phie/Untersuchung AbsoluterͲ /AbstrakterͲ Krieg,Idealität Wissenschaft Inhalt Einfaches Teil Detail Logik Krieg(=Mittel) „FortsetzungderPolitk“ Mittel =Gewalt
UrsprünglicheGewaltͲ samkeit (Volk) blinderNaturtrieb,Hass, Feindschaft
Niederwerfung Politik Physis Angriff (PositiverZweck) Überraschung,Gegend, Anfallvonmehreren Seiten
Praxis Erfahrung Beobachtung WirklicherKrieg Wirklichkeit Kunst Methode Zusammengesetztes Totalität Totalerscheinung Dialektik Politik (=Zweck/Primat) Ziel =wehrlosmachen Zwingen/Kampf (Wechselseitigkeit) SpielderWahrͲ scheinlichkeitenund desZufalls (Heer,Feldherr) freieSeelentätigkeit
BegrenzteZielsetͲ zung Strategie MoralischeGrößen Verteidigung (NegativerZweck) BeistanddesKriegsͲ theaters,Volkes, Benutzunggroßer. moralischerKräfte
Metaebene, „Chamäleon“ „historischer ErfahrungsͲ raum“ Friktion Hermeneutik
Zweck =WillenaufͲ zwingen/PoliͲ tik Politisches Werkzeug (Regierung) bloßerVerstand
Taktik