Федеральное агентство по образованию Российской Федерации Государственное образовательное учреждение высшего профессиона...
25 downloads
152 Views
249KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Федеральное агентство по образованию Российской Федерации Государственное образовательное учреждение высшего профессионального образования «РОСТОВСКИЙ ГОСУДАРСТВЕННЫЙ УНИВЕРСИТЕТ» Факультет филологии и журналистики Кафедра романо-германской филологии
Методические указания для чтения и анализа художественных произведений современных немецкоязычных авторов по теме «Женщины в современном обществе» для студентов 4 курса отделения немецкого языка факультета филологии и журналистики (специальность – романо-германская филология) (часть 1)
Ростов-на-Дону 2006 г.
Методические указания обсуждены и утверждены на заседании кафедры романогерманской филологии факультета филологии и журналистики Ростовского государственного университета
Протокол № 7 от 27 апреля 2006 г. Составители: доц. Шапошникова Н.М., магистрант Глушко О.Б. Компьютерный набор и вёрстка авторов Ответственный редактор: проф. Норанович А.И.
Настоящие методические указания предназначены для студентов 4 курса романо-германского отделения, отвечают основным целям обучения немецкому языку, составлены в соответствии с программой по практике устной и письменной речи для высшей школы. Данные
методические
указания
направлены
на
развитие
и
совершенствование профессиональных навыков – анализа и пересказа текста с элементами стилистического анализа. В данных методических указаниях помещены отрывки из романа К. Вольф «Medea» и Г.Г. Конзалика «Die schöne Ärztin». В первой части дается биография писательницы, кратко пересказывается содержание античного мифа, указывается на отличие в фабуле мифа и в романе у К. Вольф. Кроме этого, предлагается краткая информация о структуре, форме и стилистических средствах, используемых автором романа. Несколько небольших заметок раскрывает отношение К. Вольф к проблеме женщин в современном обществе и процессу объединения двух Германий, а также дается информация об отклике на роман «Medea». Во второй части кратко освещается биография Г.Г. Конзалика.
Сопроводительный
материал
позволит
студентам
лучше
сориентироваться в содержании предлагаемых отрывков из романов писателей. Каждая часть прорабатываемого отрывка завершается заданиями к тексту. Работа над данными фрагментами позволит развить навыки устной речи на базе различных форм и видов работы: чтения, перевода, составления диалогов, подготовки инсценирования нескольких мест из романов и углубить практические навыки владения современным немецким языком. Методические указания могут быть использованы как для аудиторной, так и самостоятельной работы студентов.
Wolf, Christa Geb. 18.03.1929 in Landsberg/Warthe, heute Gorzόw/Wielpolski 3
Sie kommt aus dem Kleinbürgertum. Der Vater besaß in Landsberg ein kleines Geschäft, ihre Kindheit blieb von den Schrecken des Nationalsozialismus und des Kriegs weitgehend verschont, ein Alltag in der „Volksgemeinschaft“. Im Januar 1945 muss die Familie mit den großen Flüchtlingstrecks Richtung Westen ziehen. Das Verlassen der Heimat, die Konfrontation mit Elend, Gewalt und Tod bedeutet für die 16jährige das Ende der Kindheit. In Mecklenburg wird sie nach Kriegsende als Schreibkraft eines Bürgermeisters eingestellt, besucht die Oberschule, macht 1949 - im Gründungsjahr der DDR - das Abitur und tritt in die SED ein, identifiziert sich mit den Idealen des neuen Staats und seiner Partei. Während ihrer Studienzeit heiratet sie den Essayisten Gerhard Wolf (1951), mit dem sie teilweise zusammenarbeitet (Anthologien, Filmdrehbücher). Zwei Töchter (1952 und 1956 geboren) gehen aus der Ehe hervor. Schon während des Germanistikstudiums in Jena und Leipzig, das sie 1953 bei Hans Mayer mit einer Arbeit über Probleme des Realismus bei Hans Fallada abschließt, setzt W. als Literaturkritikerin ihre frisch erworbenen Seminarkenntnisse um. Maßstab ihres Urteils ist die damals noch herrschende Ästhetik von Georg Lukács, sind die kunstfremden Normen des Sozialistischen Realismus. Sie schätzt an Anna Seghers, mit der sie seit den 50er Jahren befreundet ist, die politisch standfeste, psychologisch motivierte Erzählweise, und orientiert sich an Seghers' Theorie der literarischen Produktion, in der die aktive Rolle des Autors betont wird. „Literatur und Wirklichkeit stehen sich nicht gegenüber wie Spiegel und das, was gespiegelt wird. Sie sind ineinander verschmolzen im Bewusstsein des Autors. Der Autor nämlich ist ein wichtiger Mensch“, steht in W.s Essay Lesen und Schreiben von 1972. In den 50-er Jahren ist W. als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Schriftstellerverband (bis 1977 Mitglied des Vorstands) tätig, Redakteurin der Verbandszeitschrift Neue Deutsche Literatur und Cheflektorin des Jugendbuchverlags „Neues Leben“. Ihre erste eigene literarische Arbeit, die Moskauer Novelle (1961), bat sie später selbst kritisch kommentiert und sich vorgeworfen, darin die wesentlichen Konflikte jener Jahre (so auch Stalinismus und „Entstatinisierung“) ausgeblendet zu haben zugunsten literarischer Klischees im Dienste der Ideologie (Über Sinn und Unsinn von Naivität, 1974). 1959, im Rahmen des „Bitterfelder Weges“, als die Partei die Künstler auffordert, sich in Fabriken und landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften Kenntnisse von der Wirklichkeit der Arbeitswelt zu verschaffen, hospitiert W. als Lektorin des Mitteldeutschen Verlags Halle in einer Waggonfabrik, und nimmt an „Zirkeln Schreibender Arbeiter“ beratend teil. Die Erfahrungen, die sie im Betriebsalltag gewinnt, gehen in eine Geschichte ein, in der das Scheitern einer Liebe mit dem Mauerbau 1961 verknüpft wird: Der geteilte Himmel (1963) ist der erste Roman, der als spezifische DDR-Prosa weltweit Anerkennung findet. Wenngleich stilistisch dem bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts verpflichtet, ist der Text dennoch ein Novum, weil er die moralische Bewertung gesellschaftlicher Verhaltensweisen (z.B. der Republikflucht) mit einer psychologischen Differenzierung verbindet, die das bis dahin in der DDR-Literatur geläufige Schema von Gut und Böse durchbricht. 4
Es scheint eine Bilderbuchkarriere zu werden: die Autorin, - sie lebt jetzt mit ihrer Familie in Berlin, - ist als freie Schriftstellerin anerkannt, wird zwischen 1963 und 1967 (dem VI. und VII. Parteitag) Kandidatin des ZK der SED, ist Mitglied des PENZentrums der DDR, erhält Auszeichnungen und Reiseerlaubnis in die Bundesrepublik (u. a. 1964 zum Besuch des Auschwitz-Prozesses in Frankfurt a. M.). Aber schon im Dezember 1965 auf dem II. Plenum des ZK der SED stößt sie mit ihrem Diskussionsbeitrag, der mehr Erfahrung und Wirklichkeit, weniger „Typik“ in der Literatur fordert, auf Kritik. Weniger spektakuläre Zurückweisung als kleinliche Bevormundung verringern zunehmend ihren Enthusiasmus. So kann man ihrem 1966 entstandenen (erst 1972 im Westen veröffentlichten) Porträt Ingeborg Bachmanns an vielen Stellen die Formulierung der eigenen Situation ablesen: „Kühnheit? Wo hätten wir sie zu suchen, bei eingestandenem Rückzug vor Übermächten, bei eingestandener Ohnmacht gegenüber dem Fremderwerden ihrer Welt? In den Eingeständnissen selbst? Gewiss, da sie nicht aus Routine, nicht freiwillig gegeben werden. Mehr aber noch im Widerstand. Nicht kampflos weicht sie zurück, nicht widerspruchslos verstummt sie, nicht resignierend räumt sie das Feld. Wahrhaben, was ist – wahrmachen, was sein soll. Mehr hat Dichtung sich nie zum Ziel setzen können“ (Die zumutbare Wahrheit. Prosa der Ingeborg Bachmann). Als 1968 ihr zweiter Roman Nachdenken über Christa T. erscheint, stößt er in der DDR weitgehend auf Ablehnung und Befremden. Dem Text, der das Leben einer verstorbenen Freundin zu rekonstruieren und im Erinnern aufzubewahren sucht, ist als Motto ein Satz Johannes R. Bechers vorangestellt: „Was ist das: Dieses Zu-sich-selberKommen des Menschen?“. Die Frage wird im Roman höchst ambivalent „beantwortet“: der frühe Tod der Hauptfigur wird angesichts der Unmöglichkeit, die eigenen Empfindungen mit den gesellschaftlichen Ansprüchen zu vereinbaren, zur Herausforderung von Fortschrittsoptimismus und normiertem Menschenbild. Christa T. - in vielem der Autorin verwandt - zeichnet sich durch eine leise, aber bestimmte Verweigerung aus gegenüber dem „Mitmachen“ - sei es im nationalsozialistischen Alltag, sei es beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung. Die Ideale werden zunehmend von der Wirklichkeit im „real existierenden Sozialismus“ in Frage gestellt, wenn nicht zersetzt. Auch mit dem nächsten Roman Kindheitsmuster, der nach einigen Erzählungen 1976 erscheint, bewegt sich die Autorin außerhalb der gängigen Bahnen. Auf mehreren stilistisch unterschiedenen Erzählebenen rekonstruiert sie wie für eine kollektive Psychoanalyse ihre Kindheit im Nationalsozialismus und zeigt, wie die damals eingeübten und verinnerlichten Erziehungsmuster im Verhalten der jetzt Erwachsenen (der „Aufbaugeneration“) unwillkürlich weiterwirken. Die historisch-politische Zäsur zwischen Faschismus und Sozialismus ist von psychischen Kontinuitäten überlagert, die das Handeln und die Gefühle der Menschen oft stärker beeinflussen als der verordnete Neubeginn. „Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen“ (W. Faulkner) beginnt der Roman, den die Autorin ihren beiden Töchtern gewidmet hat; Prosa als „authentische Sprache der Erinnerung“, übersetzte Erfahrung. 5
Durch die Ausbürgerung Wolf Biermanns wird das Jahr 1976 in der DDR zum kulturellen und kulturpolitischen Einschnitt. W. gehört zu den ersten Unterzeichnern einer Protestpetition (dem „Offenen Brief“ vom 17.11.1976), welche die Partei bald zum Anlass nimmt, missliebige Künstler und Schriftsteller zu reglementieren, kaltzustellen oder ebenfalls auszuweisen. W. geht auf „innere Distanz“. Sie befasst sich (angeregt durch die gerade in Gang gekommene feministische Diskussion und durch das neu erwachte Interesse an der Romantik) mit dem Werk und Leben der Karoline von Günderrode, an der sie die gesellschaftliche Widerstandskraft und die persönliche Tragik herausstellt, die in dem Unvermögen und der Weigerung liegt, sich mit der Realität zu arrangieren. Unter dem Titel Der Schatten eines Traumes gibt sie 1979 Günderrodes Schriften heraus, begleitet von einem einfühlsamidentifikatorischen Essay. Die politische Brisanz ihrer Beschäftigung gerade mit dem Romantikerkreis ist unverkennbar; W. sieht in ihm den „Versuch eines gesellschaftlichen Experiments einer kleinen progressiven Gruppe, die dann, nachdem die Gesellschaft sich ihr gegenüber totalitär und ablehnend verhaken hat, restriktiv in jeder Hinsicht, unter diesem Druck auseinander bricht und in verschiedene Richtungen hin sich zurückzieht.“ Im Rahmen dieser Studien entsteht der Prosatext Kein Ort. Nirgends (1979). In einem statuarischen, den Fortschritt der Handlung mehr aufhaltenden als vorantreibenden Stil wird eine fiktive Begegnung zwischen der Günderode und Heinrich von Kleist geschildert, die tiefe Vereinsamung der beiden Einzelgänger - jeder von ihnen wird Jahre später den Freitod wählen - , deren Gefühle wie abgeschnitten von der Außenwelt scheinen. Kraft einer geheimen Seelenverwandtschaft können sie einen Augenblick lang ein imaginatives Verständnis, eine freilich brüchige Solidarität füreinander formulieren. Neben diesem Ausbruch nach Innen, den die beiden Schriftsteller gegen die Gesellschaft betreiben, geht es der Autorin um die besonderen Bedingungen einer weiblichen Existenz als Künstlerin und Intellektuelle, die sie an der Günderrode, aber auch an Bettine von Arnim reflektiert (Nun ja! Das nächste Leben geht aber heute an. Ein Brief über die Bettine, 1980). Auch in ihrer Frankfurter Poetikvorlesung 1982 behandelt sie die Frage nach einem spezifisch weiblichen Weltbild und einer weiblichen Ästhetik, inspiriere von feministischen Theorien, die seit Mitte der 70er Jahre im Gespräch sind. Angeregt durch die Lektüre der Orestie von Aischylos, der Inszenierung von Peter Stein an der Westberliner Schaubühne und einer Griechenlandreise beginnt sie 1980, sich mit der Kassandrafigur auseinanderzusetzen. Die Antike dient in der Erzählung Kassandra als Folie: an der Seherin, deren Untergangsprophezeiung dazu verdammt ist, nicht gehört zu werden, entwickelt die Autorin die Rolle der Frau als Kontrastbild zur männlichen Rationalität, die auf kriegerische Vernichtung hinausläuft. Kassandra verkörpert aber auch die (vergebliche) Seherkraft der Kunst angesichts der totalen Bedrohung, in der der Leser die weltpolitischen und atomaren Gefahren von heute erkennt. Mit diesem Text hat sich W. in die aktuelle Diskussion um Frieden und Abrüstung eingemischt und diese Thematik mit der Situation einer von der patriarchalischen Gesellschaft unterdrückten Frau verknüpft. In den Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra, die sie 1982 an der Frankfurter Universität als Gastdozentin vorträgt, ist das 6
ganze Spektrum ihrer Arbeit unter den Anspruch gestellt, „gegen das unheimliche Wirken von Entfremdungserscheinungen auch in der Ästhetik, auch in der Kunst“ anzuschreiben. Bewusst knüpft sie damit an die früheren Ideale an. Ihr Schreiben hat sich indessen von einer eingeschränkten DDR-Problematik gelöst, ohne die eigene Geschichte zu verleugnen. Deutlich ist der persönliche Blick profiliert: fast immer hat sie die Perspektive einer Frau am Rand des Todes beschrieben, aus der heraus die Gesellschaft betrachtet wird: im Geteilten Himmel ebenso wie in Nachdenken über Christa T., in Kein Ort. Nirgends oder der Erzählung Kassandra, die vor dem Haus Agamemnons ihren Erinnerungsmonolog beginnt: „Mit dieser Erzählung gehe ich in den Tod.“ Mit der „Wende“ in der DDR, dem Fall der Grenze zwischen Ost und West am 9. November 1989, und der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 bricht neben der Hoffnung „auf bessere Zeiten“ gerade auch bei der Aufbaugeneration die Trauer über das große Misslingen des Experiments „Sozialismus“ durch. „Immer scheinen die unzumutbaren Forderungen sich auf Versäumnisse in ungelebten Lebenszonen zu beziehen, die nicht ohne weiteres durch nachgelebtes Leben auffüllbar sind« (Störfall). Moralität und Integrität, womit sich eine zurückhaltend und gleichzeitig präsente gesellschaftliche Rolle einnehmen ließ, werden nun hinterfragt. Was bleibt ein 1979 geschriebener und 1990 veröffentlichter Text - entfacht unter den Literaturkritikern im Westen erneut eine Auseinandersetzung über die „Gesinnungsästhetik“ der Autorin, ihre politische Glaubwürdigkeit und ästhetische Qualität. Schon der Text von 1986, Störfall - Nachrichten eines Tages, der persönliche Gedanken und Gefühle anlässlich einer technologischen Katastrophe notiert: dem Unfall des Atomkraftwerks Tschernobyl in der damaligen Sowjetunion, begleitet von den telefonischen Nachrichten über das Gelingen einer Gehirnoperation des Bruders, wurde in Ost und West viel gelesen, dabei aber auch einer grundsätzlichen literarischen Kritik unterzogen. Eine produktive Auseinandersetzung mit den Stärken und Schwächen des Gesamtwerks - das durchgehaltene Motiv der gemäßigten Klage und angepassten Melancholie als Erzählhaltung - zeigt eine weiterwirkende Herausforderung, die das zumindest historische Interesse an der international bekanntesten zeitgenössischen deutschsprachigen Autorin wach hält. Die antike Sage Die Quellen zu Medea, die uns überliefert sind unterscheiden sich teilweise erheblich voneinander. Die bekannteste Interpretation des Medea-Mythos ist die des Euripides, eine Tragödie, in der Medea aus Eifersucht und Schmerz die Stadt in Brand setzt, ihre Rivalin zu Tode bringt und ihre eigenen Kinder tötet. Es folgt eine kurze Zusammenfassung des Medea-Mythos: Jason wird im Zuge von Erbstreitigkeiten von seinem Onkel Pelias, der in Jolchos herrscht, nach Kolchis geschickt, um von dort das Goldene Vlies des Phrixos zu holen. Er fährt mit dem Schiff Argo und seinen Gefährten, den Argonauten, nach Kolchis, das damals als der äußerste Rand 7
der Welt galt. Es gelingt ihm tatsächlich, das Goldene Vlies zu erlangen, allerdings nur durch die Hilfe der Zauberkräfte von Medea, der Prinzessin von Kolchis. Da sie mit dieser Hilfe ihren Vater hintergangen hat, flieht sie mit Jason und einigen weiteren Kolchern auf der Argo. Nach längeren Irrfahrten lassen sich die Flüchtlinge in Korinth nieder. Einige Quellen berichten an dieser Stelle, dass Medea als Königin nach Korinth gerufen wird, da ihr nach einer Erbfolge der dortige Thron zusteht. In Korinth verliebt sich Jason in die Tochter des dortigen Königs, Glauke, und ist im Begriff sie zu heira-ten. Medea, von Eifersucht getrieben, bringt daraufhin Glauke um, setzt die Stadt in Brand und tötet ihre und Jasons beiden Söhne. Sie flieht auf einem Schlangen-wagen, Jason verwahrlost und wird später vom Wrack der Argo erschlagen. Unterschiede zur Sage bei Christa Wolf „Sie [Medea] aber, so erzählt Euripides, rasend vor Eifersucht und gekränktem Stolz, bringt die Königstochter um, dann ihre eigenen Kinder. Das konnte ich nicht glauben. Eine Heilerin, Zauberkundige, die aus sehr alten Schichten des Mythos hervorgegangen sein musste, aus Zeiten, da Kinder das höchste Gut eines Stammes waren und Mütter, eben wegen ihrer Fähigkeit, den Stamm fortzupflanzen, hoch geachtet - die sollte ihre Kinder umbringen?“. Ein wesentlicher Unterschied bei Christa Wolfs Medea ist, dass diese ihre Kinder nicht umbringt und auch in keiner Weise Züge einer bösen Zauberin trägt. Medea ist eine sehr (selbst) bewusste und stolze Frau, womit sie allerdings im patriarchalisierten Korinth auf wenig Gegenliebe stößt, einer Stadt, in der ihr die Frauen „wie sorgfältig gezähmte Haustiere“ vorkommen. Christa Wolf folgt den Quellen, die älter sind als der Euripides, wenn sie Medea als eine Heilerin darstellt. Zudem hebt sie die noch bestehenden matriarchlischen Wurzeln der Kolcher hervor. Ein wesentliches Element der Erzählung ist Medeas Wissen darum, dass sowohl Kolchis als auch - wie sie entdecken muss - Korinth ihre Macht auf einen Kindermord gründe. Wolf begründet Medeas Weggang aus Kolchis nicht mit deren leidenschaftlichen Liebe zu Jason - wie Euripides dies tut - sondern mit der Tatsache, dass sie in Kolchis nicht bleiben kann, da ihr Vater, um seine Macht trotz der Verfallserscheinungen aufrecht zu erhalten, seinen Sohn Absyrtos umbringen lässt. Es geht hierbei auch um die Reste matriarchaler Tradition, deren der König meint, sich erwehren zu müssen. Medea wird Opfer von Intrigen im Palast, da die Machthaber nicht dulden können, dass jemand um ihr Geheimnis weiß und es möglicherweise weiterverbreitet. „... und als ich hier ankam, als Flüchtling in König Kreons schillernder Stadt Korinth, dachte ich neidvoll: Diese hier haben keine Geheimnisse. Und das glauben sie auch selbst von sich, das macht sie so überzeugend, mit jedem Blick, mit jeder ihrer maßvollen Bewegungen schärfen sie dir ein: Es gibt einen Ort auf der Welt, da kann der Mensch glücklich sein, und spät erst ging mir auf, dass sie es dir sehr übel nehmen wenn du ihnen ihr Glück bezweifelst.“ Davon abgesehen ist Medea vielen Korinthern wegen 8
ihrer stolzen, „kolchischen“ Art und ihren Heilkünsten, die sie durchaus gerne in Anspruch nehmen, suspekt und unheimlich. In Korinth folgt Medea der stummen und gebrochenen Königin Merope in ein Grabgewölbe, wo sie die Gebeine von Iphinoe, der Tochter des Kreon und der Merope, findet, die ebenfalls von ihrem Vater geopfert wurde, um dessen Macht zu stabilisieren. Außerdem erfindet Wolf Oistros, den Liebhaber der Medea, nachdem Jason sich ihr entfremdet hatte. Aufbau, Form und Stilmittel Die Erzählung ist in 11 Kapitel unterteilt, in denen jeweils die „Stimmen“ der oben aufgeführten Personen zu Wort kommen. Jedem Kapitel ist ein Zitat aus - im weitesten Sinne - Medea-Interpretationen und -Rezeptionen der Vergangenheit vorangestellt. Vier Kapitel werden aus der Sicht der Medea erzählt, 2 aus der des Jason, 2 aus der des Leukon. Alle anderen unter "Stimmen" aufgeführten Personen sprechen in jeweils einem Kapitel. Die Gegenwart der Handlung spielt sich in Korinth ab, schon nachdem Medea vom König Kreon des Palastes verwiesen wurde. Was davor geschah wird in Reflexionen des jeweils Sprechenden vermittelt. Dazu benutzt Wolf - wie schon in Kassandra - häufig das Mittel des inneren Monologs und des erinnernden Berichts. Bisweilen fällt der Text in einen Rhythmus, der ihn wie ein Gedicht anmuten lässt: „Wunschlos horch ich auf die Leere, die mich ganz erfüllt.“ Besonders in den Teilen, in denen Medea spricht, verwendet Wolf viele Ellipsen, was Teil des inneren Monologs ist: abgehackte Sätze, Gedankenfetzen. Schon in „Kassandra“ wurde von diesem Stilmittel reicher Gebrauch gemacht. Christa Wolf und das Matriarchat Wolf geht es allerdings nicht um die Propagierung einer Rückkehr zum Matriarchat. Auf die Frage ob eine Rückkehr ins Matriarchat ihrer Meinung nach sinnvoll wäre, antwortet sie: „Um Gottes Willen - nein. Wahrscheinlich hat es ein vollkommen ausgebildetes Matriarchat als „Frauenherrschaft“ nie gegeben, und ein Zurück in so frühe undifferenzierte Verhältnisse gibt es sowieso nicht. Wir können nur versuchen, die Erfahrung der Jahrtausende beachtend, weiterzugehen. Es muss also immer selbstverständlicher werden, dass der männliche und der weibliche Blick gemeinsam erst ein vollständiges Bild von der Welt vermitteln, und dass Männer und Frauen sie auf ihre je eigene Weise gleichgestellt gestalten. Das würde zu ganz anderen Prioritäten führen als denen, die uns jetzt regieren. Zu anderen Wertehierarchien. - Aber darüber will ich jetzt nicht spekulieren. Wir sind himmelweit davon entfernt.“ Vielmehr weist sie hin auf die Möglichkeit der Emanzipation von Frauen und Männern in dem Sinne, dass nicht das eine Geschlecht das andere dominieren, sondern dass beide zusammen die Welt gestalten sollen. Diese Idee ist auch motiviert durch einen möglichen Atomkrieg, der die Vernichtung Europas zur Folge hätte. Christa Wolf forscht in "Medea" auch nach den Prinzipien, die die Menschheit in dieses maßlose und irrationale Aufrüsten getrieben haben. 9
Dabei sieht sie zwar die Frauen in der Rolle der Unterdrückten, die geschichtlich besiegt und zu Objekten gemacht wurden; sie will aber die Männer nicht als die Agressoren und Täter dargestellt wissen, sondern ebenfalls als Opfer der patriarchalen Ordnung, die sich über die Jahrhunderte verbiegen mussten, um den Ansprüchen der „männlichen Gesellschaft“ zu genügen, und sich dabei selbst Gewalt angetan haben. "Wolf sucht angesichts des atomaren Vernichtungspotenzials nach Möglichkeiten, das „hierarchisch-männliche Realitätsprinzip“, dessen Realitätsverständnis sie nicht mehr miträgt, außer Kraft zu setzen.“ Das „hierarchisch-männliche Realitätsprinzip“ wird näher erläutert in: Demnach ist es gekennzeichnet durch Besitz, Hierarchie, Konkurrenz, Leistung, Effizienz, Gigantismus, Herrschaftsdenken. Christa Wolf ist hier beeinflusst durch Bachofen, Engels und Mumford. Dieses Thema spielt auch wie oben bereits angedeutet eine Rolle in Christa Wolfs restlichem Werk, sehr deutlich z.B. in „Selbstversuch“. Aktuelle Bezüge der Medea Christa Wolf schrieb diese Erzählung unter dem Eindruck der Ereignisse nach 1990. Obwohl es zu flach wäre, „Medea“ als einen „Wenderoman“ zu interpretieren, Kolchis die DDR und Korinth die BRD zuzuordnen und Christa Wolf selbst die Rolle der Medea, ist zu bemerken, dass Wolf in ihren Werken meist starken Bezug nimmt auf das Tagesgeschehen sowie auf ihre eigene Biographie. Sie propagiert die "Erfahrung" als wichtigstes Kriterium beim Schreiben, und so gründet denn auch "Medea" sicherlich auf Christa Wolfs ganz eigener Erfahrung. Zudem drängt sich stellenweise eine Assoziation der Staaten Kolchis und Korinth mit den beiden deutschen Staaten auf. Wichtig ist dabei, dass weder Kolchis noch Korinth idealisiert dargestellt werden. Beide gründen auf einem Verbrechen, das in patriarchaler Tradition und gegen die Menschlichkeit von den Machthabenden verübt wurde. Rezeption, Kritik, Echo Wie schon im Fall der Erzählung "Was bleibt" wurde Wolf auch für „Medea“ unterstellt, dass sie sich damit selbst als Opfer darstellen wollte. Nicht wenige Kritiker blieben an der oberflächlichen Interpretation haften, die, wie oben bereits gesagt, Kolchis und Korinth mit DDR und BRD identifiziert und reduzierten die Erzählung so auf weniger als sie ist. „Medea“ hat viele Bedeutungsebenen, deren obige eine ist; die entscheidende Thematik ist viel weiter gefasst: Das zentrale Thema des Romans konzentriert sich auf die Frage nach den Ursprüngen der Gewalt, wie sie sich auf Medeas Weg aus einer einfachen Welt in eine weiter entwickelte Gesellschaft manifestiert.“ In Briefen und Interviews sagt Christa Wolf dazu: „Ich denke es sind immer die gleichen Gründe, die Gruppen von Menschen dazu bringen, andere zu entwerten und zu dämonisieren: Unkenntnis, Angst, Abwehr, Schuldgefühle, Entlastungsbedürfnis. Das ist ja nun auch unsere jüngste Erfahrung.“ Welche grundlegend verschiedenen Wertesysteme stoßen aufeinander, und inwiefern legt die Medea-Geschichte Zeugnis davon ab, dass die Vertreter der „höheren“, will heißen: siegreichen Werte niemals bereit und in der Lage sind, die Lebensweise, die Ziele und Ideale, die Glaubensvorstellungen der unterlegenen Gruppen, sozialen 10
Schicht, der besiegten Bevölkerung zu begreifen, ja: auch nur zu sehen, geschweige sie als Werte anzuerkennen? Sie sehen, alles höchst aktuelle Fragen...“ „Medea. Stimmen“ (Roman). Christa Wolf (Deutscher Taschenbuch Verlag München, 1999) Die Stimmen Medea Kolcherin. Tochter des Königs Aietes und der Idya. Schwester der Chalkiope und des Absyrtos Jason Argonaut, Schiffsführer der »Argo« Agameda Kolcherin. Vormals Medeas Schülerin Akamas Korinther. Erster Astronom des Königs Kreon Leukon Korinther. Zweiter Astronom des Königs Kreon Glauke Korintherin. Tochter des Königs Kreon und der Merope Andere Personen Kreon König von Korinth Merope Königin von Korinth Iphinoe ihre ermordete Tochter Turon Korinther. Gehilfe des Akamas Lyssa Kolcherin. Ziehschwester und Gefährtin der Medea Arinna Lyssas Tochter Kirke Zauberin. Schwester von Medeas Mutter Presbon Kolcher. Veranstalter der Spiele in Korinth Telamon Gefährte des Jason. Argonaut Phrixos aus Jolkos, brachte das Vlies nach Kolchis Pelias Onkel des Jason in Jolkos Cheiron Erzieher des Jason in den thessalischen Bergen Meidos, Pheres Söhne der Medea und des Jason Oistros Bildhauer, Medeas Geliebter Arethusa aus Kreta, Medeas Freundin Der Alte aus Kreta, Arethusas Geliebter und Freund
Medea Teil I Auch tote Götter regieren. Auch Unglückselige bangen um ihr Glück. Traumsprache. Vergangenheitssprache. Hilft mir heraus, herauf aus dem Schacht, weg von dem Geklirr in meinem Kopf, warum höre ich das Klirren von Waffen, kämpfen sie denn, wer kämpft, Mutter, meine Kolcher, höre ich ihre Kampfspiele in unserem Innenhof, oder wo bin ich, wird denn das Geklirr immer lauter. Durst. Ich muss aufwachen. Ich muss die Augen öffnen. Der Becher neben dem Lager. Kühles Wasser 11
löscht nicht nur den Durst, es stillt auch den Lärm in meinem Kopf, das kenn ich doch. Da hast du neben mir gesessen, Mutter, und wenn ich den Kopf drehte, so wie jetzt, sah ich die Fensteröffnung, wie hier, wo bin ich, da war doch kein Feigenbaum, da stand doch mein geliebter Nussbaum. Hast du gewusst, dass man sich nach einem Baum sehnen kann, Mutter, ich war ein Kind, fast ein Kind, ich hatte zum erstenmal geblutet, aber ich war doch nicht deswegen krank, du hast doch nicht deswegen bei mir gesessen und mir die Zeit vertrieben, den Kräuterumschlag auf Brust und Stirn gewechselt, mir meine Hände dicht vor die Augen gehalten und mir die Linien in den Handflächen gezeigt, zuerst die linke, dann die rechte, wie verschieden, du hast mich gelehrt, sie zu lesen, oft habe ich mich ihrer Botschaft entzogen, habe die Hände zu Fäusten geballt, habe sie ineinander verschlungen, habe sie auf Wunden gelegt, habe sie zu der Göttin aufgehoben, habe das Wasser vom Brunnen getragen, das Leinen mit unseren Mustern gewebt, habe sie in den warmen Haaren der Kinder vergraben. Einmal, Mutter, in einer anderen Zeit, habe ich mit meinen beiden Händen zum Abschied deinen Kopf umspannt, seine Form ist als Abdruck in meinen Handflächen geblieben, auch Hände haben ein Gedächtnis. Jeden Flecken von Jasons Körper haben diese Hände abgetastet, erst heute nacht, aber ist denn jetzt Morgen, und welcher Tag. Ruhig. Ganz ruhig, eins nach dem anderen. Besinn dich. Wo bist du. Ich bin in Korinth. Der Feigenbaum vor der Fensteröffnung der Lehmhütte war mir ein Trost, als sie mich aus dem Palast des Königs Kreon wiesen. Warum? Das kommt später. Ist das Fest vorüber, oder muss ich noch hingehen, wie ich es Jason schließlich zugesagt habe. Du kannst mich jetzt nicht im Stich lassen, Medea, von diesem Fest hängt viel ab. Nicht für mich, habe ich ihm gesagt, und das weißt du auch, aber meinetwegen, ich komme, habe ich zu ihm gesagt, aber das ist das letzte Mal. Du hast mir damals jene winzige Linie in der linken Hand mit dem Fingernagel nachgezogen, du hast mir gesagt, was es bedeuten würde, wenn sie irgendwann einmal die Lebenslinie kreuzte, du hast mich gut gekannt, Mutter, lebst du noch. Sieh her. Da kreuzt diese winzige Linie, die sich vertieft hat, die andere. Pass auf, hast du gesagt, Hochmut lässt dein Inneres erkalten, mag ja sein, aber Schmerz, Mutter, Schmerz hinterlässt auch eine wüste Spur. Wem sage ich das. Wie dunkel es auch gewesen ist, als wir an Bord der »Argo« gingen, deine Augen habe ich gesehen und nicht vergessen können, ihr Blick brannte mir ein Wort ein, das ich vorher nicht kannte: Schuld. Jetzt klirrt es wieder, es ist das Fieber, aber mir ist doch, als hätte ich an dieser Tafel gesessen, nicht gerade neben Jason, war das gestern, bleib hier, Mutter, woher kommt diese Müdigkeit, ich will nur noch ein wenig schlafen, gleich steh ich auf, ich ziehe das weiße Kleid an, das ich selbst gewebt und genäht habe, wie du es mir beigebracht hast, dann gehen wir wieder gemeinsam durch die Gänge unseres Palastes, und ich werde froh sein, wie ich es als Kind gewesen bin, wenn du mich an die Hand genommen und auf den Innenhof geführt hast, zu dem Brunnen in der Mitte, weißt du, dass ich nirgendwo einen schöneren angetroffen habe, und eine der Frauen zieht uns den Holzeimer hoch, und ich schöpfe das Quellwasser und trinke, trinke und werde gesund. 12
Es ist nämlich so: Entweder ich bin von Sinnen, oder ihre Stadt ist auf ein Verbrechen gegründet. Nein, glaub mir, ich bin ganz klar, mir ist ganz klar, was ich da sage oder denke, ich habe ja den Beweis gefunden, mit diesen Händen habe ich ihn betastet, ach, Hochmut ist es nicht, was mich jetzt bedroht. Ich bin ihr doch nachgegangen, der Frau, vielleicht wollte ich auch Jason eine Lehre erteilen, der geduldet hatte, dass man mich an das Ende der Tafel zwischen die Dienstleute setzte, richtig, das habe ich nicht geträumt, das war gestern. Jedenfalls sind es die höheren Dienstleute, hat er kläglich gesagt, mach keinen Skandal, Medea, nur heute nicht, ich bitte dich, du weißt, was auf dem Spiel steht, das Ansehen des Königs vor all den ausländischen Gästen. Ach Jason, streng dich nicht an. Er hat noch nicht begriffen, dass König Kreon mich nicht mehr kränken kann, aber darum geht es jetzt nicht, ich muss meinen Kopf frei haben. Ich muss mir versprechen, dass ich mit keiner Menschenseele jemals über meine Entdeckung reden werde, am liebsten würde ich es so machen, wie wir es als Kinder gemacht haben, Chalkiope und ich, weißt du das, Mutter, wir wickelten unser Geheimnis fest in ein Blatt ein und aßen es auf, indem wir ins unverwandt in die Augen blickten, unsere Kindheit, nein, das ganze Kolchis war voller dunkler Geheimnisse, und als ich hier ankam, als Flüchtling in König Kreons schimmernder Stadt Korinth, da dachte ich neidvoll: Diese hier haben keine Geheimnisse. Und das glauben sie auch selbst von sich, das macht sie so überzeugend, mit jedem Blick, mit jeder ihrer maßvollen Bewegungen schärfen sie dir ein: Es gibt einen Ort auf der Welt, da kann der Mensch glücklich sein, und spät erst ging mir auf, dass sie es dir sehr übel nehmen, wenn du ihnen ihr Glück bezweifelst. Aber darum geht es doch gar nicht, was ist nur mit meinem Kopf, dass er die Gedanken in ganzen Schwärmen los lässt, warum fällt es mir so schwer, den einen Gedanken aus dem Schwärm herauszufischen, den ich brauche. Ich hatte das Glück, dass ich an der Tafel des Königs zwischen meinen Freund Leukon, den zweiten Astronomen des Königs, und Telamon zu sitzen kam, den kennst du auch, Mutter, es war derjenige der Argonauten, der zusammen mit Jason in unseren Palast kam, nachdem sie an der Küste von Kolchis gelandet waren, ich musste mich also nicht langweilen beim Festmahl, denn Leukon ist ein kluger Mann, mit dem ich gerne rede, es ist eine Sympathie zwischen uns, und Telamon, ein wenig ungefüge, aber mir treu ergeben seit jenem ersten Nachmittag in Kolchis vor so vielen Jahren, die ich kaum zählen kann, er versucht, in meiner Gegenwart besonders witzig, auch besonders obszön zu sein, wir hatten zu lachen, und ich, entschlossen, den König von meinem minderen Platz aus zu strafen, legte das Benehmen einer Königstochter an den Tag, die ich allerdings auch bin, nicht wahr Mutter, die Tochter einer großen Königin. Es fiel mir nicht schwer, Aufmerksamkeit zu erregen und Respekt einzufordern, selbst von den fremden Gesandten aus Libyen und von den Inseln im Mittelmeer, Telamon spielte mit, wir brachten den armen Jason in die Klemme, hin- und hergerissen zwischen der Botmäßigkeit gegenüber einem König, von dem wir allerdings abhängen, und seiner Eifersucht, trank er mir verstohlen zu und beschwor mich mit Blicken, meinen Übermut nicht zu weit zu treiben, aber wenn der König zu einer seiner Tiraden ansetzte, musste er an seinen Lippen hängen. An unserem Tischende war es lustig, jetzt fällt mir alles 13
wieder ein. Wie die beiden Männer an meiner Seite sich um mich zu streiten begannen, wie Leukon, der große, schlanke, etwas ungelenke Mensch mit dem ovalen Schädel, der wohl Spaß versteht, selbst aber keinen Spaß machen kann, dem hühnenhaften, blondlockigen Telamon ernstlich meine Fähigkeiten als Heilerin anzupreisen begann, wie Telamon darauf lauthals von meinen körperlichen Vorzügen schwärmte, die braune Haut, sagte er, das Wollhaar, das wir Kolcher alle haben und das Jason gleich für mich eingenommen habe, ihn übrigens auch, aber was sei er schon gegen Jason, er wurde sentimental, wie die starken Männer es leicht werden, meine Glutaugen, sagte er, du kennst ihn ja, Mutter, immer, wenn ich ihn sehe, fällt mir ein, wie du, als er bei uns in der Tür stand, die Hand vor den Mund geschlagen und wie im Schreck Oi! gerufen hast, anerkennend, wenn ich nicht irre, und wie deine Augen dabei funkelten, und wie ich merkte, dass du noch keine alte Frau warst, und ich unwillkürlich an den sauertöpfischen, misstrauischen Vater denken musste. Ach, Mutter. Ich bin keine junge Frau mehr, aber wild noch immer, das sagen die Korinther, für die ist eine Frau wild, wenn sie auf ihrem Kopf besteht. Die Frauen der Korinther kommen mir vor wie sorgfältig gezähmte Haustiere, sie starren mich an wie eine fremde Erscheinung, wir drei Vergnügten an unserem Tafelende zogen alle Blicke auf uns, all die neidvollen und empörten Blicke der Hofgesellschaft und die flehenden des armen Jason, nun ja. Warum bin ich der Frau nachgegangen, der Königin, die ich, solange ich in dieser Stadt Korinth bin, kaum je zu Gesicht bekommen habe. Eingesponnen in ein dichtes Netz schauerlicher Gerüchte, zuverlässig verborgen hinter ihrer Unnahbarkeit, verbringt sie ihre Tage und Nächte im entlegensten, ältesten Teil des Palastes, in dickwandigen Kammern, die lichtarmen Höhlen gleichen sollen, eher eine Gefangene als eine Herrscherin, bedient und bewacht von zwei seltsam urtümlichen Weibern, die ihr aber auf ihre Weise treu ergeben sein sollen, ich glaube, sie kennt meinen Namen nicht, und ich hatte keinen Gedanken verschwendet an die unglückliche Königin eines Landes, das mir fremd geblieben ist und immer fremd bleiben wird. Wie mein Kopf mich schmerzt, Mutter, etwas in mir wehrt sich dagegen, noch einmal in diese Höhlen hinunterzusteigen, in die Unterwelt, in den Hades, wo gestorben und wiedergeboren wird seit alters her, wo aus dem Humus der Toten Lebendiges gebacken wird, zu den Müttern also, zur Todesgöttin, zurück. Aber was heißt da vorwärts, was zurück. Das Fieber steigt, ich musste es tun. Ich habe diese Frau an Kreons Seite zum erstenmal gesehen, Mutter, mit jenem Zweiten Blick, den du an mir bemerkt hast. Ich wehrte mich bis zum äußersten, bei diesem jungen Priester in die Lehre zu gehen, lieber wurde ich krank, jetzt erinnere ich mich, das war die Krankheit, während der du mir meine Handlinien zeigtest, der Priester hat später scheußliche Verbrechen begangen, er war nicht normal, da sagtest du, das Kind hat den Zweiten Blick. Er ist mir hier fast abhanden gekommen, manchmal denke ich, die krankhafte Furcht der Korinther vor dem, was sie meine Zauberkräfte nennen, hat mir diese Fähigkeit ausgetrieben. So erschrak ich, als ich die Königin Merope sah. Dass sie wortlos neben König Kreon saß, dass sie ihn zu hassen, er sie zu fürchten schien, das konnte jeder sehen, der Augen im Kopf hatte. Ich meine etwas anderes. Ich meine, dass es auf einmal ganz still wurde. Dass jenes Flimmern vor meinen Augen erschien, das dem Zweiten Gesicht vorausgeht. Dass ich in dem riesigen 14
Saal mit dieser Frau allein war. Da sah ich sie, ihre Aura fast vollständig verdunkelt von unstillbarem Leid, so dass mich ein Entsetzen erfasste und ich ihr nachgehen musste, als sie, kaum war das Mahl beendet, aufstand und ohne ein erklärendes Wort, ohne einen Gruß wenigstens für die fremden Kaufleute und Gesandten, steif in ihrem golddurchwirkten Festkleid hinausging und den König zwang, ihre Ungehörigkeit zu überspielen durch schnelleres Reden, lauteres Lachen. Von Herzen gönnte ich ihm seine Niederlage. Er muss diese Frau gezwungen haben, all diesen neugierigen eitlen Leuten ihr zerstörtes Gesicht hinzuhalten, wie mich Jason dazu gebracht hat, ihnen eine Komödie vorzuspielen. Jetzt war es genug. Wir gingen, beide aus dem gleichen Grund: Stolz. Das habe ich nie vergessen, dass du mir einmal gesagt hast, wenn sie mich umbringen würden, meinen Stolz müssten sie noch extra erschlagen. So ist es geblieben, und so soll es bleiben, und es wäre gut für meinen armen Jason, wenn er das rechtzeitig erkennen würde. «…»
Fragen und Aufgaben zum Teil I 1. Machen Sie eine schriftliche Übersetzung des Auszuges. 2. Sagen Sie es anders (grammatisch oder lexikalisch): a)„...als ich hier ankam, als Flüchtling in König Kreons schimmernder Stadt Korinth, da dachte ich neidvoll: Diese hier haben keine Geheimnisse....“, b)„...ich, entschlossen, den König von meinem minderen Platz aus zu strafen, legte das Benehmen einer Königstochter an den Tag, die ich allerdings auch bin...“, c)„...wir brachten den armen Jason in die Klemme, hin- und hergerissen zwischen der Botmäßigkeit gegenüber einem König, von dem wir allerdings abhängen, und seiner Eifersucht, trank er mir verstohlen zu und beschwor mich mit Blicken, meinen Übermut nicht zu weit zu treiben, aber wenn der König zu einer seiner Tiraden ansetzte, musste er an seinen Lippen hängen...“ d)„... Eingesponnen in ein dichtes Netz schauerlicher Gerüchte, zuverlässig verborgen hinter ihrer Unnahbarkeit, verbringt sie ihre Tage und Nächte im entlegensten, ältesten Teil des Palastes, in dickwandigen Kammern, die lichtarmen Höhlen gleichen sollen, eher eine Gefangene als eine Herrscherin, bedient und bewacht von zwei seltsam urtümlichen Weibern, die ihr aber auf ihre Weise treu ergeben sein sollen...“ 3. Erzählen Sie den Text in der Ich-Form nach. 4. Charakterisieren Sie die Figuren des Auszuges, die Beziehungen zwischen den Haupthelden. 5. Warum spricht Medea mit ihrer Mutter? Was passiert mit Medea, ist sie 15
krank, oder nicht? 6. Diskutieren Sie über die Probleme, die in diesem Auszug angesprochen werden. 7. Verfassen Sie die Dialoge zwischen den Haupthelden, z.B. zwischen Medea und ihrer Mutter, Medea und Jason. (Partnerarbeit) 8. Kommentieren Sie den Auszug, indem Sie die Wirkung der Erzählung, das Ziel der Autorin und die Mittel betrachten. 9. Machen Sie eine stilistische Analyse. Teil II «…» Ich ging zu Lyssa, sie schlief nicht. Nebenan, durch den Türvorhang, hörte ich den Atem der Kinder. Ich wünschte mir, Lyssa würde mich fragen, wo ich gewesen sei, aber sie fragt niemals. Unter allen Lebewesen ist sie diejenige, von der ich nicht einen Tag lang getrennt gewesen bin, sie, die am gleichen Tag Geborene, deren Mutter meine Amme war, sie, die die Amme meiner Kinder war. Sie, die alles mit angesehen, wahrscheinlich alles verstanden hat, oder war auch das eine Täuschung, wenn ich es für naturgegeben hielt, dass sie sich in jede meiner Regungen einfühlte, dass sie sie wahrnahm, oft vor mir selbst und auch dann, wenn ich sie vor mir verleugnen wollte. Lyssa, die ich manchmal neben mich auf mein Lager ziehe, um vertraut mit ihr zu sprechen, und die ich manchmal wegwünsche bis an den Rand der Welt. Aber der Rand der Welt ist Kolchis. Unser Kolchis an den Südhängen des wilden Kaukasus, dessen schroffe Berglinie in jede von uns eingeschrieben ist, wir wissen es voneinander, reden niemals darüber, Reden steigert das Heimweh ins nicht zu Ertragende. Aber das wusste ich doch, dass ich niemals aufhören würde, mich nach Kolchis zu sehnen, aber was heißt wissen, dieses nie nachlassende, immer nagende Weh lässt sich nicht vorauswissen, wir Kolcher lesen es uns gegenseitig von den Augen ab, wenn wir uns treffen, um unsere Lieder zu singen und den nachwachsenden jungen unsere Götter- und Stammesgeschichten zu erzählen, die manche von ihnen nicht mehr hören wollen, weil ihnen daran liegt, für echte Korinther zu gelten. Auch ich vermeide es manchmal, zu diesen Treffen zu gehen, und immer öfter, scheint mir, laden sie mich nicht mehr dazu ein. Ach meine lieben Kolcher, auch sie verstehen es, mir weh zu tun. Und neuerdings versteht es auch Lyssa. Zwar war sie wach geblieben, wie immer, wenn ich sie noch brauchen konnte, doch anders als sonst verweigerte sie mir das komplizenhafte Lächeln. Darum betteln würde ich nicht, ich tat, als merkte ich nichts, und begann mitten in der Nacht, sie und mich zu fragen, ob denn die Männer in Kolchis anders gewesen seien als die in Korinth, spröde ließ sie sich auf das Spiel ein, nach ihrer Erinnerung hätten die Männer in Kolchis ihren Gefühlen freien Lauf gelassen, sagte sie, ihr Vater zum Beispiel habe öffentlich und bitterlich geweint, als ihr Bruder verunglückt war, geheult und geschrien habe er, während man doch in Korinth bei einer Beerdigung keinen Mann weinen sehe. Das müssten die Frauen für die Männer mit erledigen. Dann schwieg sie. Ich wusste, 16
woran sie dachte. Nie habe ich einen Mann wieder so weinen sehen wie jenen jungen Kolcher, der Lyssa liebte und dem sie zugetan war, den sie aber zurückließ, um mir auf die »Argo« und auf eine ungewisse Reise zu folgen. Arinna, ihre Tochter, hat sie unterwegs zur Welt gebracht, es gab danach keinen Mann in Lyssas Leben, und ich konnte nun nicht mehr umhin, mich nach dem Preis zu fragen, den Lyssa, den die anderen Kolcher, den wir alle dafür gezahlt haben, dass ich in Kolchis nicht mehr leben wollte und dass sie, geblendet durch den Ruf, den ich unter ihnen genoss, mir gefolgt sind. So muss ich es heute sehen. Jason? Ach Jason. Ich ließ sie bei ihrer Meinung, er sei der Mann, dem ich bis ans Ende der Welt folgen würde, und kann ihnen nicht verübeln, dass sie unsere Trennung als schwere persönliche Kränkung nehmen. Schlimmer: als Beweis der Vergeblichkeit unserer Flucht. Während ich, so dachte ich auf Lyssas Lager, diesen Beweis heute mit meinen Händen abgetastet hatte, ein kindliches Skelett, vor aller Welt verborgen in einer Höhle. Da legte Lyssa ihre Hand in meinen Nacken. Die Gesten gibt es noch, sie bedeuten nicht mehr dasselbe. Wir können uns begütigen. Gut machen können wir nichts. Darauf ist es nicht angelegt, Mutter, ich beginne zu verstehen. Was wollte ich gut machen, oder wiedergutmachen, als ich mir keinen anderen Rat mehr wusste, als mit Jason zu gehen. Als ich zuerst dir, Mutter, dann Lyssa anvertraute, was ich vorhatte, ihr beide mich stumm anhörtet, nach meinen Gründen nicht fragtet, Lyssa schließlich erklärte, sie käme mit mir. Jahre später erst habe ich von ihr wissen wollen, was in jenen Tagen und Nächten in Kolchis passierte, denn Lyssa ist es gewesen, die im geheimen jenen kleinen Trupp von Kolchern sammelte, der sich uns anschließen wollte. Sie durfte sich in keinem irren, auf jeden musste Verlaß sein, ein unbedachtes oder verräterisches Wort über unseren Plan hätte zur Katastrophe geführt. Sie kannte unsere Landsleute genau, hatte sie lange beobachtet und wusste, wer die Verhältnisse ebenso unerträglich fand wie ich. Sie gingen nicht meinetwegen, nicht nur meinetwegen, das hat Lyssa mir oft versichert, als meine Kolcher, enttäuscht von den Ländern, in die ich sie, selbst getrieben, geführt hatte, anfingen, mir die Schuld am Verlust der Heimat zu geben, die ihnen nachträglich in ungetrübtem Glanz erstrahlt. Wie ich sie verstehe. Wie wütend ich oft auf sie bin. Schon über die Umstände unserer Abfahrt aus Kolchis kamen bald unterschiedliche, sogar gegensätzliche Geschichten in Umlauf. Sicher ist, dass ich an Lyssas Lager trat, sie wachrüttelte: Komm, Lyssa, kommst du?, dass Lyssa aufstand, nach dem Bündel griff, das fertig geschnürt war, und mit mir aus dem Palast und hinunter zum Ufer schlich, wo bei ruhiger See, in fast vollständiger Finsternis, die »Argo« und die beiden anderen Schiffe lagen, die zur kolchischen Flotte gehörten, die Fluchtschiffe, zu denen die Frauen und Kinder, die mit uns kamen, durch das flache Wasser von den Männern getragen wurden. Schon auf der Überfahrt fingen einige der Männer an, die Höhe des Wassers zu übertreiben, überhaupt von einer höchst gefährlichen Abfahrt zu reden, von Dünung und unruhiger See, von ihrer Besonnenheit und ihrer Kühnheit, denen es zu verdanken war, dass alle Frauen und Kinder heil an Bord gekommen seien. Ihre Legenden 17
werden ausufern, wenn unsere Lage sich weiter verschlechtert, und es wird nichts nützen, ihnen die Tatsachen entgegenzuhalten. Falls es noch etwas wie Tatsachen gibt, nach all den Jahren. Falls sie nicht, ausgehöhlt durch Heimweh und Demütigung und Enttäuschung und Armut, zu einer dünnen brüchigen Schale geworden sind, die von jedem, der es wirklich will, zerstört werden kann. Wer wird das wollen. Presbon? Presbon in seiner unbezähmbaren Ichsucht, das könnte sein. Er war der einzige der Auswanderer, den nicht Lyssa selbst verständigt hatte, sie wirft es sich heute noch vor, dass sie das geduldet hat. Er ergriff die Gelegenheit, Kolchis den Rücken zu kehren und sein überschießendes Talent, sich selbst darzustellen, anderswo anzubieten, zum Beispiel hier im glänzenden Korinth, wo er sich unentbehrlich gemacht hat bei den großen Tempelspielen, deren kompliziertes Triebwerk er in Gang zu setzen weiß wie kein anderer und denen er durch die inspirierte Darstellung der großen Rollen Glanzlichter aufsetzt, die König Kreon ihm dankt. Keiner von den Kolchern hat es zu so hohen Ehren gebracht wie er, Presbon, Sohn einer Magd und eines Offiziers der Palastwache in Kolchis, der sich zuerst nicht zu schade war, hier in Korinth nach den großen Festen den Abfall von der Festwiese zu räumen. Wie er sich anstrengen musste, dass man auf ihn aufmerksam wurde. Wie er unter der Erniedrigung litt. Wie er alle hasst, die ihn in seiner Schande gesehen haben und über die Verrenkungen spotteten, die er sich abverlangte, um aufzusteigen. Wie er mich hasst, weil ich seinen Wert nicht zu schätzen wusste. Nichts bleibt ohne Folgen, Mutter, darin hattest du recht. War es Lyssa, die dir den Zeitpunkt unserer Flucht nannte? Wahrscheinlicher ist, du hast ihn selbst erraten. Aufmerksamer als du hat niemand die Ereignisse beobachtet, die das Auftauchen jener Fremden in Kolchis nach sich zog. Dabei ließ sich alles ganz gut an. Unsympathisch waren sie unseren Kolchern nicht, Jason mit dem Pantherfell und seine etwas verwilderte Schar von Argonauten, die ja nicht roh waren, eher ein wenig täppisch, aber hilfsbereit, wenn es sich ergab, und neugierig. Und schmeichelhaft war es doch eigentlich, dass das Ziel ihrer gefahrvollen Meeresfahrt ausgerechnet unser Kolchis war, ein Land wie andere auch an dieser Schwarzmeerküste. Jedenfalls gab es keinen Grund, diese Seeleute, die in der Bucht unseres Flusses Phasis angelegt hatten, nicht gebührend als Gäste zu behandeln. Noch dazu, da Aietes, der König, der Vater, Jason und Telamon gleich nach ihrer Ankunft empfing und alle fünfzig Argonauten für den nächsten Abend in den Palast lud, zu einem Gastmahl, für das eine Menge Schafe ihr Leben lassen mussten und das in Ausgelassenheit und Verbrüderung endete. Natürlich wollten später viele schon damals Unheil gewittert haben, aber was hatte unheimlich sein sollen an einem Festgelage, dessen Lärm zusammen mit dem Klang der Widderhörner aus dem Palast drang, denn der Wein, den wir an den Südhängen der Berge ziehen, schmeckte den Gästen. Nein. Ich war als einzige voller böser Ahnungen, denn ich war in meines Vaters Argwohn gegenüber diesen Gästen eingeweiht. Die einzige außer dir, Mutter. Du brauchtest für deine bösen Ahnungen keinen neuen Grund. Du kanntest den König. Ich hatte es mit dem Vater in mir zu tun: Du verrätst mich nicht, meine Tochter. Ich wusste, Jason wollte das Vlies. Ich wusste, der König wollte es ihm nicht geben. Warum nicht, 18
das fragte ich nicht. Ich müsse ihm helfen, diesen Mann unschädlich zu machen, um jeden Preis. Ich sah, wie hoch er den Preis ansetzte, zu hoch für uns alle. Mir blieb nichts übrig als Verrat. Blieb mir nichts übrig? Wie doch die Jahre die Gründe auswaschen, derer ich mir so sicher war. Wie ich immer wieder die Abfolge der Ereignisse aufrief, die ich in meinem Gedächtnis befestigt habe als Schutzwall gegen die Zweifel, die jetzt, so spät, diesen Wall überschwemmen. Ein Wort hat ihnen die Bresche geschlagen: Vergeblichkeit. Seit ich die Knöchelchen dieses Kindes betastet habe, erinnern sich meine Hände an jene anderen Knöchelchen, die ich dem König, der uns verfolgte, von meinem Fluchtschiff aus zugeworfen habe, laut heulend, das weiß ich noch. Da ließ er von uns ab. Seitdem fürchteten mich die Argonauten. Auch Jason, den ich mit anderen Augen sah, seit ich ihn als Schiffsführer kennen lernte. Er war wie ein Blinder durch Kolchis gelaufen, hatte nichts verstanden, sich ganz in meine Hände gegeben, aber als er, das Vlies um die Schultern gelegt, sein Schiff betrat, wurde er ein anderer. Alles Täppische fiel von ihm ab, er straffte sich, seine Sorge um das Schicksal seiner Mannschaft hatte nichts Unmännliches, sein umsichtiges Verhalten bei der Einschiffung der Kolcher machte mir Eindruck. Da hörte ich zum erstenmal das Wort Flüchtlinge. Für die Argonauten waren wir Flüchtlinge, es gab mir einen Stich. Manche Empfindlichkeiten habe ich mir dann abgewöhnt. Aber darum geht es jetzt nicht. Ich glaube, es ist meine Schwäche, Mutter, es ist die Augenblicksschwäche, dass ich diesen Gedanken heute ausgeliefert bin. Als du am Ufer standest, um mich zu verabschieden, gabst du mir zu verstehen, du billigtest, was ich tat. Ich hatte keine Wahl. Zu reden war nicht viel. Werde nicht wie ich, sagtest du, dann zogst du mich an dich mit einer Kraft, die ich lange nicht mehr bei dir gespürt hatte, wendetest dich ab und gingst die Uferböschung hinauf in Richtung auf den Palast, in dem der König und seine Dienstmänner tief und fest schliefen, nach dem Abschiedstrunk, den ich ihnen gemischt hatte und mit dem sie dem scheidenden Jason Bescheid getrunken hatten. Der musste wach und nüchtern bleiben, um den Weg zum Hain des Ares wieder zu finden, den ich ihm bei Tage gezeigt hatte, um sich vorbeizuschleichen an den Wächtern, die, dafür hatte ich gesorgt, ebenfalls schliefen, und um endlich mit meiner Hilfe jene Tat zu vollbringen, deretwegen er nach Kolchis, an den östlichen Rand seiner Welt, gekommen war: von der Eiche des Kriegsgottes das Widderfell herunterzuholen, das sein Onkel Phrixos vor vielen Jahren auf der Flucht hierhergebracht hatte und das nun von den Seinen zurückgefordert wurde. Eine Art Mutprobe, so sah ich es damals, nicht eingeweiht in die verzwickte Familiengeschichte des armen Jason. Was war mir dieses Vlies, das erst später, als sie es genauer betrachtet hatten, von den Männern auf der »Argo« »Goldenes Vlies« genannt wurde: Dieses Fell war, wie die Felle vieler Widder in Kolchis, zur Goldgewinnung benutzt worden, indem man es im Frühjahr in eines der zu Tal stürzenden Gebirgswässer gelegt hatte, damit es den Goldstaub auffinge, der aus dem Berginnern herausgeschwemmt wurde. Genauestens haben die Argonauten mich nach dieser Methode befragt, die mir ganz gewöhnlich vorkam, sie aber in helle Aufregung versetzte: In Kolchis gab es Gold. 19
Wirkliches Gold. Warum ich ihnen nicht früher davon erzählt hätte. Um wie vieles ertragreicher hätte ihr Unternehmen werden können. Erst hier in Korinth habe ich sie verstanden. Korinth ist besessen von der Gier nach Gold. Kannst du dir vorstellen, Mutter, dass sie nicht nur Kultgerät und Schmuck, sondern gewöhnliche Gebrauchsgegenstände aus Gold herstellen, Teller, Schalen, Vasen, sogar Skulpturen, und dass man diese Gegenstände zu hohen Preisen rund um ihr Mittelmeer verkauft, selbst aber bereit ist, für unbearbeitetes Gold, für einfache Barren, Getreide, Rinder, Pferde, Waffen zu tauschen. Und was uns am meisten befremdete: Man misst den Wert eines Bürgers von Korinth nach der Menge des Goldes, die er besitzt, und berechnet nach ihr die Abgaben, die er dem Palast zu leisten hat. Ganze Heerscharen von Beamten beschäftigen sich mit diesen Berechnungen, Korinth ist stolz auf diese Fachleute, und Akamas, der oberste Astronom und erste Berater des Königs, dem ich einmal mein Erstaunen über die Vielzahl dieser unnützen, aber arroganten Schreiber und Rechner offenbarte, belehrte mich über ihren eminenten Nutzen für die Einteilung der Korinther in verschiedene Schichten, die ja ein Land erst regierbar mache. Aber warum gerade Gold, fragte ich. Du solltest doch wissen, sagte Akamas, dass es unsere Wünsche und Begierden sind, die einem Stoff Wert, dem anderen Unwert verleihen. Der Vater unseres Königs Kreon war ein kluger Mann. Mit einem einzigen Verbot hat er das Gold in Korinth zum begehrten Objekt gemacht: mit dem Gesetz, dass Korinther, deren Abgaben an den Palast nicht eine bestimmte Höhe erreichten, keinen Goldschmuck tragen durften. Du bist auch ein kluger Mann, Akamas, sagte ich ihm. Deine Art Klugheit kam in Kolchis nicht vor. Weil sie bei euch nicht benötigt wurde, sagte er, wieder mit jenem Lächeln, das mich am Anfang verletzte. Und er hatte wohl recht. Aber wohin verirre ich mich. Ich muss endlich aufstehen. Wenn ich richtig sehe, Mutter, fallen die Sonnenstrahlen schon senkrecht in den Feigenbaum, ist es möglich, sollte ich den Vormittag verlegen und verschlafen haben, das hat es noch nie gegeben. Es ist wegen der Höhle, ich komme nicht hoch, jemand müsste mir helfen, Lyssa müsste kommen, die Kinder. Da, jemand fühlt meine Stirn, eine Stimme sagt: Du bist krank, Medea. Bist du das, Lyssa. Fragen und Aufgaben zum Teil II 1. Machen Sie eine schriftliche Übersetzung des Auszuges. 2. Wie würden Sie den Auszug betiteln? 3. Geben Sie den Inhalt kurz (in 10-12 Sätzen) wieder. 4. Definieren Sie die folgenden Begriffe: die Amme, die Stammesgeschichten, das Tempelspiel, der Argwohn, das Täppische, die Einschiffung, die Goldgewinnung, die Gier. 5. Besprechen Sie mit Ihrem Partner (bzw. Ihrer Partnerin) die Beziehungen zwischen den handelnden Personen. 6. Erzählen Sie von den Umständen der Abfahrt aus Kolchis vom Lyssas 20
Standpunkt aus. 7. Inszenieren Sie ein Gespräch zwischen Medea und ihrem Vater (König Aietes), das sie hätten führen können. 8. Kommentieren Sie die letzten drei Absätze. 9. Erfinden Sie einige Diskussionsfragen zum Text. 10. Nennen Sie die stilistischen Mittel, die die Autorin gebraucht. 11. Kann man Christa Wolf mit Medea vergleichen? Ihre Weltanschauungen? Die Epochen, in denen sie gelebt haben? Die Leute, die sie umkreist haben? (Begründen Sie es mit Fakten der Biographie von Christa Wolf) 12. Vergleichen Sie Medeas Gestalt bei Ch.Wolf und Euripides.
Heinz G. Konsalik Konsalik schrieb bereits mit 10 Jahren seinen ersten Roman über Indianer. Mit 16 verfasste er Feuilletons für die Kölner Zeitungen. Nach dem Abitur studierte er Medizin, später Theaterwissenschaften und Germanistik. Ab 1939 war er bei Gestapo tätig. Im Zweiten Weltkrieg wurde er Kriegsberichterstatter in Frankreich und kam als Soldat später an die Ostfront, wo er in Russland schwer verwundert wurde. Nach 1945 arbeitete Konsalik zunächst als Lektor, dann als stellvertretender Chefredakteur „der Lustigen Illustrierten“. Seit 1951 war Konsalik freier Schriftsteller und gehörte bald, spätestens jedoch nach dem Erscheinen von „Der Arzt von Stalingrad“ zu den erfolgreichsten Autoren der Unterhaltungsliteratur. Bis zu seinem Tode 1999 veröffentlichte er Romane mit einer Gesamtauflage von rund 80 Millionen Exemplaren (186 Werke). In den meisten seiner Romane bringt er die Taten und Untaten deutscher Soldaten, sowie die der Alliierten im Zweiten Weltkrieg, vor allem in Russland. Hauptthema vieler seiner Bücher war die Sinnlosigkeit des Krieges. Seine Zugehörigkeit zur Gestapo während des Dritten Reiches und die immer wieder erwähnte Frage, ob Konsalik seine Romane wirklich selbst verfasste oder er einen oder mehrere Ghostwriter heimlich für sich arbeiten ließ, beschäftigte die Öffentlichkeit erst nach seinem Tode; seine Fans und Leser interessieren solche Fragen kaum. „Die schöne Ärztin“. H.G.Konsalik (Roman) *Der Roman einer furchtbaren Katastrophe, die vielen Menschen zum Schicksal wird – manchen davon zum tödlichen Schicksal. In den Händen von Dr. Ludwig Sassen, dem Direktor einer Kohlenzeche, liegen Sicherheit und das Leben von Tausenden von Menschen. Doch er schlägt alle Warnungen in den Wind – seine persönlichen Sorgen scheinen ihm größer. Er ahnt, dass ihn seine Frau betrügt. Außerdem wehrt er sich gegen unstandesgemäßen Beziehungen seiner Tochter Sabine zu einem einfachen Arbeiter. Und dann ist da noch Dr. Waltraud Born, die „schöne Ärztin“.
Teil I Als die drei großen, rotgestrichenen Sonder-Omnibusse um die Ecke bogen und durch die Hauptstraße von Buschhausen fuhren, winkte ihnen niemand zu. Sie rollten an den Schaufenstern der Geschäfte vorbei, ein paar einkaufende Frauen blieben stehen, einige Kinder unterbrachen ihr Ballspiel und blickten ihnen mit neugierigen Augen 21
nach, und hinter dem Fenster der Wirtschaft »Zum Theodor« hoben sich einige Köpfe, senkten sich aber dann wieder auf die Biergläser. »Da sind sie!« sagte jemand. »Jungs, ich bin ja ein guter und friedlicher Bürger ... aber ich ahne Böses ...« Aus den drei Sonderbussen klangen Musik und Singen. Einhundertzwanzig braungebrannte Köpfe mit schwarzen Haaren wiegten sich im Takt des Gesanges, Zähne blitzten, und schwarze Augen leuchteten. Auf den Dächern der Fahrzeuge schwankte das festgezurrte Gepäck ... Kästen aus Holz und Pappe, Säcke, Kartons, Koffer, mit Bindfäden umwickelt, geflochtene Körbe, Wäschebündel, in Decken eingerollt. Ein paar Mal winkten hundert Hände und Arme aus den Fenstern der Busse, wenn diese an einem Mädchen vorbeifuhren; Pfeifen und Rufen wurde laut und verstärkte sich, wenn die Mädchen die Köpfe abwandten oder verlegen wurden. Dann, ganz plötzlich, wurde es stiller... Vor ihnen tauchten die Gebäude und Fördertürme der Zeche Emma II auf, der Hauptschacht V mit den Verwaltungsbauten, der Direktion, der großen Waschkaue und dem Gewirr von Schienen und Laderampen, umgeben von den dunklen, täglich wachsenden Bergen der Kohlenhalden. Dr. Bernhard Pillnitz, der Werkarzt von Emma II, blickte aus dem Fenster, als die drei Busse auf den Hof der Verwaltung rollten und knirschend bremsten. Er wusch sich gerade die Hände und rieb sie sich mit dem Handtuch trocken. »Sie kommen, schöne Kollegin«, sagte er. »Die Sonne des Südens fällt auf Buschhausen. Wir werden uns bemühen müssen, Italienisch zu lernen. Unsere ItalienErinnerungen mit den Vokabeln dolce vita und amore werden nicht ausreichen.« Dr. Waltraud Born trat neben Dr. Pillnitz an das Fenster des Untersuchungsraumes. Seit einem halben Jahr war sie als Assistentin des Werkarztes hier tätig. Zuerst hatte es sie Überwindung gekostet, mit den oft derben Bergleuten umzugehen, aber dann hatte sie entdeckt, dass man sich Respekt nur durch die gleiche Derbheit verschaffen kann. Willi Korfeck, den man in Buschhausen nur »Willts-Bums« nannte, weil ein Schlag seiner rechten Faust wirksamer war als 10 ccm Äther, war der erste, der Dr. Waltraud Borns Umstellung zu spüren bekommen hatte. »Los! Hose runter!« hatte sie ihn angeschrien, als er verlegen und blinzelnd im Untersuchungszimmer gestanden war und über einen Furunkel am Gesäß geklagt hatte. »Sie sind ja sonst nicht so zimperlich.« Seit diesem Tage war Dr. Waltraud, wie man sie nur noch nannte, ein anerkanntes Belegschaftsmitglied der Zeche Emma II. Es war sogar bekannt, dass man bei Krankschreibungen besser zu ihr als zu Dr. Pillnitz gehen müsse, denn - so sagte man die kleine Dr. Waltraud hatte ein Herz für den Arbeiter. »Die sehen ja ganz passabel aus«, sagte Dr. Waltraud zu Dr. Pillnitz, als sich die Türen der Busse öffneten und die Italiener auf den betonierten Hof sprangen. »Wenn man bedenkt, dass sie sich nie satt essen konnten...« Dr. Pillnitz schielte zur Seite. »Sie sind blond, Kollegin. Und dass Sie hübsch sind, sagt Ihnen jeder Spiegel. Was dort ausgeladen wird, sind 120 heißblütige Casanovas, die in zwei Stunden hier an Ihnen entlangmarschieren werden zur Untersuchung. Wie Sie diese Glut aushalten wollen ...« Er lächelte sarkastisch. Dr. Waltraud trat vom Fenster zurück und warf den Kopf in den Nacken. 22
»Ich bin Ärztin, weiter nichts!« sagte sie knapp. »Das „weiter nichts“ möchte ich stark anzweifeln.« »Wenn ich Sie nicht kennen würde, Bernhard, müsste ich jetzt wütend werden. Aber Ironie ist Ihr Salz des Lebens ... Wann kommen die Söhne Siziliens?« »In zwei Stunden. Erst rollt der ganze Pipapo ab ... Begrüßung durch die Werkleitung, Ansprache des Chefs, Einweisung in die Quartiere, Begrüßungskaffee mit Kuchen, Händeschütteln, Versicherungen von Freundschaft und Kameradschaft... Es wird ein kräftiges Sandstreuen in die schwarzen Augen werden.« Dr. Waltraud setzte sich an ihren Schreibtisch und klopfte mit einem langen Bleistift auf die Platte. »Was haben Sie eigentlich gegen die Italiener?« »Nichts, schöne Kollegin.« »Wohin ich in den vergangenen Tagen hörte, überall das gleiche: Das kann ja heiter werden! Na, laß die mal kommen! Denen werden wir mal zeigen, was arbeiten heißt... Und so ging es weiter in den gehässigsten Tönen. Warum eigentlich? Diese Männer kommen 1500 km weit quer durch Europa zu uns gefahren, um unsere Kohlen aus der Erde zu brechen und selbst einmal das erträumte Glück zu genießen, satt zu sein und Geld in der Hand zu fühlen. Zu Hause, in ihren Steinhütten, haben sie Frauen und Kinder, Mütter und Väter, die vor Glück weinten, als ihre Männer und Söhne hinausziehen konnten in das Goldland Germania.« »Himmel! Die kleine Waltraud entwickelt dichterische Talente. Fängt der Zauber des Südens schon an? Kaum erblickt man eine schwarze Locke, schmilzt das nordische Eis ...« »Sie reden Quatsch!« sagte Dr. Waltraud Born böse. »Ich hasse diese deutsche Überheblichkeit! Sie hat uns schon zwei Kriege eingebracht.« Dr. Pillnitz schwieg. Er trat wieder an das Fenster. Im Hof standen die Italiener vor den roten Sonderbussen, die sie vom Bahnhof Gelsenkirchen nach Buschhausen gebracht hatten. Der Personalchef, der Obersteiger, ein Herr von der Verwaltung und der neu ernannte Lagerleiter des Italienerlagers kamen aus dem Direktionsgebäude. Am Eingang stand Dr. Fritz Sassen, der Sohn des Zechendirektors Dr. Ludwig Sassen, und unterhielt sich mit dem Transportleiter. »Jetzt geht's los, Waltraud!« sagte Dr. Pillnitz laut. »Zuerst spricht der Personalchef. Soll ich Ihnen sagen, wie er anfängt? „Liebe neue Mitarbeiter, im Namen der Zeche Emma II ...“ Psst... hören Sie!« Er öffnete das Fenster und legte den Finger auf den Mund. Vom Hof drang Stimmengewirr ins Zimmer, das langsam verebbte. Dann wurde eine helle Stimme laut. »Liebe, neue Mitarbeiter. Im Namen der Zeche Emma II heiße ich Sie auf das herzlichste willkommen ...« »Sehen Sie!« Dr. Pillnitz lächelte breit. »Man kommt als Personalchef mit vierzehn Floskeln und Stammredensarten blendend aus. Er wird jetzt gleich weiterreden von Arbeitsgemeinschaft, Völkerfreundschaft, gemeinsamem Ziel, Wohlstand und Familienglück ... aber er wird tunlichst verschweigen, dass ab morgen acht Stunden Knochenarbeit auf die Söhne des Südens warten, 400 Meter tief unter der Erde.« 23
»Machen Sie das Fenster zu, Bernhard.« Dr. Waltraud trat zurück. »Warum sind Sie eigentlich Zechenarzt geworden? Mit Ihrem Sarkasmus hätten Sie eine glänzende klinische Karriere machen können.« Dr. Pillnitz schloß das Fenster. Waltraud Born hörte gerade noch die Worte: »... die geschichtliche Freundschaft unserer Völker ...« dann knallte das Fenster zu. »Mein Vater war Bergmann«, sagte Dr. Pillnitz plötzlich ernst. »Er starb an einer Silikose. Damals starben mehr als 40% aller Bergleute daran. Ich habe mir unter Tage das Geld für das Studium verdient und mir geschworen, meinen Kumpels zu helfen, wenn ich es einmal schaffe und Arzt bin. Man soll solche Schwüre nie vergessen, Waltraud.« Dr. Born schwieg. Sie sah Dr. Pillnitz plötzlich mit anderen Augen an. Zum ersten Mal erfuhr sie etwas Privates von ihm. In dem halben Jahr, in dem sie nun schon zusammen das Krankenrevier der Zeche Emma II betreuten, hatte es bisher nur berufliche Diskussionen oder läppische Neckereien zwischen ihnen gegeben. Sie wusste eigentlich nicht mehr von Dr. Pillnitz, als dass er unverheiratet war, weil seine Verlobte bei einem Autounfall gestorben und er seitdem von einer merkwürdigen Scheu Frauen gegenüber war, wenn er spürte, dass sie sich für ihn zu interessieren begannen. Er bewohnte eine Neubauetage, verkehrte in keiner Wirtschaft Buschhausens, hatte keinen Stammtisch, trat nicht dem neu gegründeten Tennisclub bei und war lediglich zahlendes Mitglied des Brieftaubenvereins und ehrenhalber Sportarzt des Fußballvereins Buschhausen 09. Ein Sonderling, hieß es in Buschhausen, ein guter Arzt, aber ein scharfer Hund, wenn's um das Krankschreiben ging. Bei der Zechenleitung war er nicht gerade beliebt, weil er das sagte, was er dachte, unverblümt, ohne diplomatische Schnörkel, frei heraus wie ein Bergmann, der er trotz des weißen Kittels geblieben war. «…» Teil II «…» Am Montag stellte sich Schwester Carla Hatz bei Dr. Pillnitz und Dr. Waltraud Born vor. Die Vergrößerung der Belegschaft machte es notwendig, neben den ausgebildeten Sanitätern in der Grube auch noch im Krankenrevier eine ausgebildete Krankenschwester zu engagieren. Nach langem Suchen hatte die Personalabteilung endlich die junge Carla Hatz gefunden. Sie hatte gerade ihre Schwesternprüfung hinter sich und trat bei Zeche Emma II ihre erste Stelle an. Dr. Pillnitz betrachtete das schwarzhaarige, zierliche, hübsche Mädchen mit kritischen Blicken. Ein pausbäckiges Gesicht, flinke Äugelchen, ein appetitlicher Körper, schlanke Beinchen, ein von Jugend und Lebensfreude sprühendes Schwesterchen. Dr. Pillnitz fand die Sache bedenklich. »Willkommen, Schwester Carla«, sagte er mit seinem typischen sarkastischen Unterton. »Soweit man willkommen zu einem Kuckucksei sagen soll.« »Bernhard -« Dr. Waltraud lächelte der verblüfften Schwester aufmunternd zu. »Dr. Pillnitz hat eine besondere Art von Humor.« 24
»Sie sind zu hübsch!« Dr. Pillnitz zeichnete in der Luft mit seinem Bleistift die Figur der appetitlichen Carla nach. »Das ist es! Wir haben hier über 400 unverheiratete Männer, und neuerdings 120 Italiener, die den Vesuv in ihrem Blut mitgebracht haben.« Er wandte sich ab. Wieder stand das Bild vor seinen Augen: Veronika, wie sie sich in die Arme Luigi Cabanazzis warf. Eine Frau, die alle Hemmungen verlor und nur noch Lust erleben wollte, die ihr vermittelt wurde von diesem jungen, starken Cabanazzi. Ein Name, den er nie vergessen würde. »Ich weiß mich zu wehren, Herr Doktor!« sagte Carla Hatz fröhlich. »Ich habe ein Jahr lang auf einer Männerstation praktiziert. Da lernt man alle Kniffe.« »Bravo!« Dr. Waltraud lachte amüsiert. »Da haben Sie's, Bernhard!« Dr. Pillnitz ordnete auf seinem Schreibtisch einige Blätter und die Schreibutensilien. Veronika, dachte er, sie hat mich weggeworfen wie einen alten Gegenstand, den man nicht mehr braucht. »Ein Krankenhaus und ein Pütt sind zwei verschiedene Stiefel«, sagte er. »Lassen Sie erst einmal unsere Leute hier aufmarschieren, wenn sich herumspricht: Im Revier ist ein leckeres Mäuschen ...« Schwester Carla wurde rot, aber Dr. Pillnitz fuhr ungerührt fort: »Sie sollten einen Judolehrgang machen, Schwester, glauben Sie mir. Lachen Sie nicht, Sie werden noch an meine Worte denken.« Nach dieser ziemlich ungewöhnlichen Begrüßung begann die Arbeit: einige Verletzungen, die ambulant behandelt wurden, Röntgendurchleuchtungen, Kontrolluntersuchungen und die umstrittenste Tätigkeit: das Gesundschreiben. Unter denen, die sich krank gemeldet hatten, war auch Luigi Cabanazzi. Dr. Pillnitz presste die Lippen zusammen, als der Italiener plötzlich im Untersuchungszimmer stand, lächelnd, die schwarzen Locken kraus in der Stirn, mit bloßem Oberkörper, braungebrannt und dunkel behaart. Schwester Carla Hatz starrte ihn an und vergaß, was sie tun sollte. »Einen Spatel!« herrschte Dr. Pillnitz sie an. Sie zuckte zusammen und lief zum Instrumentenschrank. »Das ist ein Mann, Schwester! Von oben bis unten und auch in der Mitte! Ich denke, Sie kennen Männer?« Schwester Carla schwieg. Sie reichte den Holzspatel und machte sich daran, Tupfer zurechtzulegen. Dr. Waltraud Born war nicht im Zimmer. Sie stand nebenan im Durchleuchtungsraum und betrachtete auf dem Röntgenschirm eine mit feinen schwarzen Punkten durchsetzte Lunge: Kohlenstaub in den Luftbläschen. »Was wollen Sie?« Dr. Pillnitz stand vor Cabanazzi. Er hat Parmesan gegessen, dachte er. Wenn er atmet, riecht er nach Käse. Und von diesem Mund lässt sich Veronika küssen. Man sollte dem Kerl so in die Fresse schlagen, dass ihm die stinkenden Zähne aus dem Maul springen. »Na, was ist?« fragte er grob. »Husten, Dottore«, sagte Cabanazzi höflich. »Na und?« »Hier weh tun, wenn husten.« Cabanazzi zeigte auf seine Brust. »Und hier auch, Dottore.« Er fuhr sich mit den Fingern über den Hals. Lange, schmale Finger. Finger, die Veronika betastet, die ihr das Kleid geöffnet hatten, die ... Dr. Pillnitz schluckte und 25
zerbrach in der Hand den hölzernen Spatel. Er merkte es gar nicht, er sah auf den Hals Cabanazzis und wünschte sich, ihm die Kehle zudrücken zu können. »Mund auf!« sagte er rauh. Cabanazzi sperrte den Mund auf und streckte die Zunge heraus. Es kostete Dr. Pillnitz eine ungeheure Überwindung, ihm in den Hals zu sehen. Er sah einen weißgelben Belag und wünschte sich, dass es keine Mandelentzündung, sondern eine tödliche Diphtherie wäre. »Und müde, Dottore, immer müde«, sagte Cabanazzi, als er den Mund wieder schließen durfte. Das kommt vom Huren, wollte Dr. Pillnitz schreien, aber er wandte sich ab und schrieb ein Rezept aus. Hustensaft, Lutschpastillen mit Penicillin, Fiebertabletten. »Hier -« sagte er und reichte das Blatt Cabanazzi, der ihn erstaunt ansah und fragte: »Nix Bett?« »Nein.« »Weiter Arbeit?« »Natürlich! Wenn jeder mit einem Schnupfen krankfeiern wollte, könnten wir die Zeche zumachen!« Dr. Pillnitz ging zu seinem Tisch und setzte sich. »Schwester ... der nächste!« Carla Hatz ließ den nächsten Patienten ein. Einen alten Hauer mit einer bösen Furunkulose. Luigi Cabanazzi blieb unschlüssig stehen. Dann zuckte er mit den Schultern und ging aus dem Ordinationszimmer. Im gekachelten Vorzimmer zog er sich wieder an und verließ schnell das Krankenrevier. Am Nachmittag lag auf dem Schreibtisch von Dr. Pillnitz ein Attest. Dr. Bader in Gelsenkirchen bescheinigte, dass der italienische Gastarbeiter Luigi Cabanazzi aus Palermo eine akute Tonsillitis habe und acht Tage Schonung brauche. Er sei arbeitsunfähig. Dr. Pillnitz fegte das Attest mit einer wilden Handbewegung vom Tisch. Dr. Bader, Gelsenkirchen, dachte er. Der frühere Hausarzt Veronikas. Sie hat ihn zu Dr. Bader geschickt. Einer plötzlichen Eingebung folgend, rief er bei Dr. Sassen in der Villa an. Das Hausmädchen Erna gab bereitwillig Auskunft. »Nein«, sagte sie. »Die gnädige Frau ist nicht da. Sie ist verreist. Ein Onkel in Hagen ist plötzlich erkrankt. Die gnädige Frau wird etwa eine Woche wegbleiben ...« »Danke!« sagte Dr. Pillnitz heiser und legte auf. Nach Hagen. Ein Onkel. Acht Tage. Und genauso lang war Cabanazzi krank geschrieben. Gab es da noch Fragen? Ich werde ihn umbringen müssen, dachte Dr. Pillnitz und stützte den Kopf in beide Hände. Es gibt keinen anderen Weg mehr. Oder ich werde es Dr. Sassen selber sagen. Wenn die Welt der Veronika Sassen untergeht, dann soll sie richtig untergehen ... «…» Teil III « …» 26
Dr. Waltraud Born schloß die Tür zum Zimmer Cabanazzis und drehte alle Lichter des Untersuchungszimmers an, als es an die Tür klopfte. Sie war gespannt, wie sich Veronika Sassen geben würde, hochmütig, herablassend oder freundlich. Dr. Born kannte sie bisher nur vom Sehen und aus den Erzählungen von Dr. Pillnitz. Dessen Meinung nahm sie aber nicht so ernst, er betrachtete alles um sich herum mit unverbesserlichem Sarkasmus, der in dem Satz gipfelte: Alles, was menschlich ist, ist im Grunde lächerlich. Man behängt es nur mit Ernst und Würde. »Guten Abend«, sagte Veronika Sassen, als sie die Tür öffnete. Sie sah müde und irgendwie verstört aus. Sie ging schnell an Waltraud Born vorbei und setzte sich auf die lederne Chaise, das unerlässliche Requisit aller Untersuchungszimmer. Waltraud musterte sie mit fraulichem Interesse. Gefärbte, zu grelle Haare; ein stark geschminkter Mund, ein Kostüm aus bestem englischem Stoff und vom besten Schneider, Kroko-Tasche und -Schuhe, lange, schlanke Beine, nervöse Hände, gehetzte, unruhige graugrüne Augen, ein Gesicht mit fahler, überpuderter Haut. Sie sieht gut aus, dachte Dr. Born und steckte die Hände in die Taschen ihres weißen Kittels. Aber trotz bester Ausstattung hat sie einen ordinären Stich. Ich kann nicht sagen, warum - aber es ist so. Sie trägt den Titel einer Frau Direktor, aber man könnte ihr auch als einem gut verdienenden Flittchen in einem teuren Bordell begegnen. »Wo liegt er?« fragte Veronika Sassen und suchte in ihrer Handtasche nach Zigaretten. Sie fand die Schachtel und lächelte schwach. »Darf man hier?« »Wenn kein Betrieb ist - wie jetzt - schon.« »Sie auch?« »Nein, danke.« Veronika Sassen brannte sich die Zigarette an und schlug die Beine übereinander. Teerosenfarbige Spitzen glitten unter ihrem Rock hervor und blieben oberhalb des Knies auf dem Schenkel liegen. »Cabanazzi liegt nebenan. Ich habe den Auftrag, niemanden zu ihm zu lassen.« Dr. Born blieb an der Tür stehen. Sie ist wirklich ein Flittchen, dachte sie böse. Sie läuft diesem Sizilianer nach wie eine heiße Katze. »Die Anordnung stammt von Dr. Pillnitz ...« »Ja.« Waltraud spürte, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte. »Was ist mit ihm? Haben Sie schon neue Nachrichten?« »Nein. Er liegt in Gelsenkirchen.« »Tot?« »Ich weiß nicht. Als man ihn fand, gab es nur noch wenig Hoffnung.« »Schrecklich -« »Ja.« Veronika Sassen rauchte hastig und inhalierte tief. »Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig, Dr. Born.« »Nein, warum?« »Ich habe am Telefon gesagt, dass ich mit Ihnen sprechen will und Sie sich auf einiges gefasst machen müssen. Ich bin eine Frau, die immer auf ihr Ziel losgeht. Ich werde mich deshalb schamlos vor Ihnen demaskieren. Ich weiß aber auch, dass ich mir das leisten kann, denn ich habe Sie in der Hand ...« 27
»Mich in der Hand? Das glaube ich nicht!« »Warten Sie ab«, lächelte Veronika Sassen kalt. »Ich komme aus reinem Eigennutz zu Ihnen.« »So etwas habe ich mir bei Ihnen schon gedacht.« Veronika Sassen hob die rasierten und nachgezogenen Brauen. »Sie sind ehrlich, Doktor.« »Das gehört zu meinen Grundsätzen.« »Ein edles Prinzip. Sie werden aber damit früher oder später Schiffbruch erleiden. Nicht das Gute setzt sich durch, sondern das Gemeine. Sehen Sie sich das Leben an.« »Dieser Satz könnte von Dr. Pillnitz stammen.« »Vielleicht ist er sogar von ihm - ich weiß es nicht.« Veronika Sassen zerdrückte die halbgerauchte Zigarette und brannte sich eine neue an. »Sie kennen Luigi, Doktor?« »Ja. Schon bei der Einstellungsuntersuchung fasste er mich an die Brust.« »Und Sie haben ihm auf die Finger geschlagen, ich hörte davon. Welcher Unterschied zwischen Ihnen und mir, Sie verabscheuen solche Männer, mich begeistern sie. Ich brauche ihre Kraft, ihre Stärke, ihre Leidenschaft. Ich habe aber einen Greis zum Ehemann. Die Folgen muss ich Ihnen nicht erklären. Ich bin achtundzwanzig Jahre, in einem Alter, in dem manche Frauen beginnen, das Vulkanische in sich zu entwickeln. So eine bin ich. Gerade Sie als Ärztin müssen verstehen, dass dies dann ein unabwendbares biologisches Schicksal ist. Was gibt es da für Vergleiche? Eine Sturmflut... ist sie aufzuhalten durch 'nen Sandsack? Eine Feuersbrunst ... kann man sie mit einem Glas Wasser löschen? Verstehen Sie mich, Doktor Born?« »Als Ärztin, vielleicht. Als Frau nicht.« »Warum nicht?« »Sie haben ein Kind. Oliver -« »Oliver ist sieben Jahre alt. Ich bin ihm eine liebevolle Mutter. Was hat er mit dem ... dem anderen zu tun?« »Er könnte eine moralische Bremse sein.« »Moral! Doktor Born! Moral ist ein Wasser tropfen, der in das Feuer der Leidenschaft und der unerfüllten Sehnsucht fällt. Was bleibt von diesem Wassertröpfchen übrig? Nicht einmal ein winziger Hauch der Verdunstung!« Veronika Sassen zündete sich eine neue Zigarette an. »Ich bin die Geliebte Cabanazzis«, sagte sie dann ganz ruhig, als rede sie über irgendeine Nebensächlichkeit. «Ich, Veronika Sassen, liege in den Armen eines hungrigen, kaum des Lesens und Schreibens mächtigen Sizilianers, eines Fischerjungen, der sein Bett mit drei Brüdern teilen musste und der großgezogen wurde mit Trockenfisch und rotem Landwein. Sie können das verstehen?« »Nein«, antwortete Dr. Born steif. »Ich kann mir alles kaufen ... Pelze, Schmuck, Sportwagen, Häuser und - Männer! Ist es unmoralisch, von diesen Möglichkeiten Gebrauch zu machen?« »Ja.« Es war eine klare, eine trennende Antwort. Veronika Sassen schien aber keineswegs beeindruckt. Sie sagte: 28
»Ich verlange von Ihnen auch gar nicht, dass Sie es verstehen. Ich rede so offen mit Ihnen, weil ich will, dass Sie dieses Verhältnis billigen.« »Es ist Ihre Privatangelegenheit, Frau Sassen.« »Nicht mehr ganz. Sie müssen mitspielen.« »Mitspielen? Wieso?« »Dr. Pillnitz ist als Arzt hier ausgefallen. Sie sind nun dran. Wenn Luigi ins Lager kommt, ist es unmöglich, ihn zu besuchen. Ich möchte, dass Luigi noch hier im Revier bleibt, denn hier kann ich zu ihm kommen. Sie werden nichts dagegen haben ...« Dr. Waltraud Born lief rot an. »Das kommt nicht in Frage!« sagte sie empört. Veronika Sassen lächelte nur. Sie war sich ihrer Sache sicher. »Sie haben sich Ihre Antwort nicht überlegt, Doktor Born«, sagte sie mit gefährlicher Sanftheit. »Doch, doch. Ich habe hier eine Krankenstation zu verwalten, nicht ein ...« »Sagen Sie es ruhig, warum stocken Sie, ich komme aus einem Milieu, in dem solche Worte zur Umgangssprache gehören. Euch allen ist doch meine Herkunft bekannt. Aber ob Sie Achtung vor mir haben oder nicht, ist mir völlig gleichgültig. Sie sind eine kleine Zechenärztin, die ich fertigmachen kann. Ein Wort von mir zu meinem Mann genügt - und Sie sind entlassen. Ich muss nur ein bisschen zärtlich zu im sein, dann tut er alles. So betrachtet sind Sie mein Geschöpf, Doktor Born. Sie haben keine Ahnung, wie gefügig ein alter Mann ist, wenn eine junge Frau es versteht, ihn zu ihrem Hampelmann zu machen. Wenn ich sage: Mein Schätzchen, diese Dr. Born gefällt mir nicht... er wird Ihnen Ihr Jahresgehalt auszahlen und Sie können sich verabschieden.« »Dann tun Sie es bitte!« sagte Waltraud Born zornig. »O nein.« Veronika Sassen lächelte breit. »Ich weiß genau, dass ich mir damit keinen Dienst erweisen würde. Man sucht junge Ärzte. Sie bekämen sofort wieder eine Stellung. Nein, es gibt da etwas anderes, was uns beide zu Verbündeten macht: Ich will zu Luigi... und Ihnen lasse ich dafür Ihren Fritz -« Waltraud Born wurde blass. Ihr Erschrecken war so deutlich, dass Veronika Sassen, die sich ihrem Ziele nahe sah, laut auflachte. »Sie zeigen zu deutlich, was Sie empfinden und denken. Sie sind zu brav für diese Welt, Dr. Born. Ich weiß längst, dass Sie sich heimlich mit Fritz treffen, dass Sie beide sich lieben, dass Fritz und Sie sich mit dem Gedanken tragen zu heiraten. Dann würde ich Ihre Schwiegermutter werden ... ist das nicht lustig? Aber mein Mann hat andere Pläne mit seinem Sohn. Eine Industriellentochter. Können Sie sich deshalb vorstellen, welche Reaktion es auslöst, wenn ich meinem Mann sage: Dein Sohn Fritz hat ein Verhältnis mit eurer Zechenärztin?« »Das ... das dürfen Sie nicht«, sagte Waltraud tonlos. »Ich habe es auch nicht vor.« »Sie wollen mich also erpressen?« »Nennen Sie es besser ein Geschäft zwischen zwei Frauen, die beide ein Geheimnis haben. Ich gewähre Ihnen Ihren Fritz ... und Sie mir meinen Luigi Cabanazzi.« 29
Dr. Waltraud Born wandte sich ab und ging zum Fenster. Vor ihr lag der weite Zechenhof. Gegenüber die Waschkaue, mit hell erleuchteten, gläsernen Wänden aus undurchsichtigem Betonglas. Das große Rad im Förderturm I ratterte und schepperte. Diese Frau hat kein Gewissen und kennt keine Scham, dachte Waltraud. Sie wird ihre Macht ausspielen und nicht zögern, Fritz und mich zu trennen. Sie sitzt am längeren Hebel. »Wir verstehen uns?« fragte Veronika Sassen freundlich. Waltraud Born zeigte ihr stumm den Weg zu Luigi Cabanazzi. «…» Fragen und Aufgaben 1. Machen Sie eine schriftliche Übersetzung eines beliebigen Auszuges. 2. Charakterisieren Sie die Frauenfiguren der Auszüge und die Beziehungen zwischen den Haupthelden. 3. Geben Sie den Inhalt jedes Auszuges kurz (in 10-12 Sätzen) wieder. 4. Geben Sie die Dialoge zwischen Dr. Bernhard Pillnitz und Dr. Waltraud Born; Dr. Pillnitz und Schwester Carla Hatz; Dr. Waltraud Born und Veronika Sassen als indirekte Rede wieder (gebrauchen Sie dabei den Konjunktiv in der indirekten Rede). 5. Diskutieren Sie über die in diesen Teilen von Konsalik angesprochenen Probleme. Nehmen Sie die Stellung zu folgender Behauptung des Autors: „…Man kommt als Personalchef mit vierzehn Floskeln und Stammredensarten blendend aus. Er wird jetzt gleich weiterreden von Arbeitsgemeinschaft, Völkerfreundschaft, gemeinsamem Ziel, Wohlstand und Familienglück ... aber er wird tunlichst verschweigen, dass ab morgen acht Stunden Knochenarbeit auf die Söhne des Südens warten, 400 Meter tief unter der Erde…“. 6. Kommentieren Sie die Auszüge, indem Sie die Wirkung der Erzählung, das Ziel des Autors und die Mittel betrachten. 7. Machen Sie eine stilistische Analyse.
Literatur 1. Christa Wolf. Medea Stimmen Roman.- München 1999. – 269 S. 2. Heinz G. Konsalik. Die schöne Ärztin.- Berlin 1977. – 316 S. 3. Metzler – Autoren – Lexikon: deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zu Gegenwart/ hrsg. von Bernd Lutz.- Ungekürzte Sonderausgabe, 2., überarb. und erw. Aufl.- Stuttgart; Weimar 1997.- 905 S. 30
31