Freder van Holk Die Tarnkappe
SUN KOH-Taschenbuch erscheint monatlich im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rasta...
22 downloads
515 Views
771KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Freder van Holk Die Tarnkappe
SUN KOH-Taschenbuch erscheint monatlich im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt Neu bearbeitet von Heinz Reck Copyright © 1980 beim Autor und Erich Pabel Verlag, Rastatt Agentur Transgalaxis Titelbild: Nikolai Lutohin Alle Rechte vorbehalten Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt. Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden; der Wiederverkauf ist verboten. Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich: Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 300 A-5081 Anif Abonnements und Einzelbestellungen an PABEL VERLAG KG, Postfach 1780, 7550 RASTATT, Telefon (0 72 22) 13-2 41 NACHDRUCKDIENST: Edith Wöhlbier, Burchardstraße 11, 2000 Hamburg 1, Telefon (0 40) 3 01 96 29, Telex 02 161 024 Printed in Germany November 1980 Scan by Tigerliebe 03/2006 Bearbeitet von Brrazo
1. Eines Tages erhielten zwanzig Leute aus Manchester und Umgebung folgendes Schreiben: Sehr geehrter Herr! Besondere Umstände zwingen mich, Sie um sofortige Übersendung von 5000 Pfund auf das Konto Nr. 845 für Maurice Poissier bei der Bank Daudier, Paris, zu bitten. Sollten Sie dieser Bitte nicht entsprechen, werden Sie in den nächsten Tagen sterben. Ich wäre Ihnen in meinem wie Ihrem Interesse dankbar, wenn Sie diese Warnung ernst nähmen. Um Ihnen das zu erleichtern, werde ich Ihnen einen Beweis meiner Macht und Rücksichtslosigkeit geben. Morgen abend werden – um Ihnen den richtigen Entschluß zu ermöglichen – in einem großen Hotel Manchesters verschiedene Leute eines plötzlichen Todes sterben. Den Namen kann ich Ihnen nicht angeben, um zu verhüten, daß etwa das betreffende Hotel von der Polizei geräumt wird. Ich empfehle Ihnen auf alle Fälle, morgen kein Hotel in der Stadt aufzusuchen. Im übrigen stelle ich Ihnen frei, die Polizei zu verständigen, nur müßte ich Sie dann bitten, zur Sühne den doppelten Betrag umgehend nach Paris zu überweisen. Genehmigen Sie den Ausdruck meiner vorzüglichsten Hochachtung und erlauben Sie mir, auf eine Unterschrift zu verzichten.
Die Empfänger reagierten sehr verschieden auf dieses Gemisch von Höflichkeit, Drohung, Selbstbewußtsein und Hohn. Der eine warf das Schreiben in den Papierkorb, der andere verständigte die Polizei, die meisten aber beschlossen abzuwarten, ob der Mann seine Gefährlichkeit unter Beweis stellen würde. Fünftausend Pfund waren kein Pappenstiel, und in exponierter Stellung hatte man öfter mit Drohungen zu tun. So leicht bekam der Kerl kein Geld zu sehen. Sollte sich jedoch eine ernsthafte Gefahr erweisen, so galten die fünftausend immer noch weniger als das Leben. Die Polizei nahm von den ihr übergebenen Schreiben Kenntnis, versicherte, daß sie alles tun würde und daß man sich keine Sorgen zu machen brauche. Sie schickte Sonderposten in die Hotels, zog die Geschäftsführer vertraulich zu Rate und wartete im übrigen ab, was der angesagte Abend bringen würde. Gar so weit konnte man sich nicht vorwagen, denn wenn irgendein Narr bluffte, konnte man sich nur lächerlich machen. Das Mißtrauen der Polizei schien gerechtfertigt. An dem fraglichen Abend gab es aus keinem der Hotels Alarm. Erst gegen Mitternacht meldete der Geschäftsführer des »Lancaster«, eines der größten Hotels, daß sich verschiedene Gäste wegen Übelkeit zurückgezogen hätten. 6
Die Polizei hielt das nicht weiter für wichtig, gab aber Anweisung, auf alle Fälle die betreffenden Personen im Auge zu behalten. Am nächsten Morgen war der Skandal da. Im »Lancaster« wurden fünfzehn Gäste – zwölf Herren und drei Damen – tot in ihren Betten gefunden. Obwohl die Polizei sofort das Hotel abriegelte und die Reporter nach Kräften belog, drang die Nachricht an die Öffentlichkeit. Die Folge war, daß noch am gleichen Tag beträchtliche Summen nach Paris überwiesen wurden. Die Polizei machte sich sofort an die Arbeit. Sämtliche Tote des »Lancaster« wurden von den Gerichtsärzten sorgfältig untersucht. Der Befund war bei allen der gleiche und lautete auf Lähmungserscheinungen der inneren Organe, die auf eine Vergiftung durch unbekanntes Gift zurückzuführen seien. Die Ärzte ließen jedoch offen, daß für die vorgefundenen Erscheinungen auch andere Ursachen als Gift vorliegen könnten. Das war ein Ergebnis, mit dem man nicht viel anfangen konnte. Kriminalkommissar Warton war mit dem Fall betraut worden. In ihm steckte noch allerhand Ehrgeiz, und so ging er mit Feuereifer an die Arbeit. Wenn fünfzehn Menschen an der gleichen geheimnisvollen Ursache starben, dann mußten sich leicht 7
andere Gemeinsamkeiten finden, die auf den Täter hinwiesen. Warton hatte zwei der Erpresserbriefempfänger zu betreuen, aber er zweifelte nicht daran, daß sich nur ein Teil der Betroffenen gemeldet hatte. Maghull und Cronton waren sehr entgegengesetzte Naturen. Maghull zahlte nicht an den Erpresser, weil er sich stark genug fühlte, um es mit dem Kerl aufzunehmen. Cronton galt als sehr geizig und verweigerte wohl deshalb die Zahlung. Nach dem Vorfall im »Lancaster« wurde er allerdings sehr ängstlich und verbarrikadierte sich auf seinem Besitz. Warton untersuchte vor allem die Lebensumstände der Ermordeten, obwohl er sich von Anfang an nicht viel davon versprach. Es zeigte sich auch, daß die Toten aus den verschiedensten Verhältnissen stammten und kaum eine andere Gemeinsamkeit als die hatten, daß sie eben an dem fraglichen Abend Gäste des Hotels »Lancaster« gewesen waren. Dieser Tod bedeutete für sie ein rein zufälliges Ereignis. Darauf machte er sich an die vielversprechendste Beschäftigung. Er ließ genau feststellen, welche Nahrungsmittel und Getränke jene Gäste im Laufe des Tages und des Abends zu sich genommen hatten. Es war gar nicht so schwer, da das Personal darüber ganz genau Bescheid wußte. Kriminalkommissar Warton setzte voraus, daß der Tod durch Vergiftung erfolgt sei, und zwar auf dem 8
Weg über die Verdauungsorgane. Danach mußten die Betroffenen eine Speise oder ein Getränk zu sich genommen haben, die ihnen nicht bekommen war. Wenn man nun ermitteln konnte, was jene fünfzehn übereinstimmend genossen hatten, dann war erstens einmal der Giftträger ermittelt, und zweitens konnte man dann von ihm aus unter Umständen Fäden finden, die aus dem Hotel hinausführten. Eine durchaus einwandfrei Überlegung. Leider hatten von den fünfzehn Personen fünfzehn die gleiche Suppe gegessen, fünfzehn die gleiche Nachspeise zu sich genommen, fünfzehn den gleichen Kaffee genossen und fünfzehn den gleichen Whisky mit Soda getrunken. Das war einigermaßen niederschmetternd, zumal ein paar Dutzend andere Gäste, die verschont geblieben waren, sich die gleichen Speisen und Getränke einverleibt hatten. Immerhin, Warton gab nicht gleich auf, sondern ließ alles, was er an Speisen und Getränken in dem Hotel bekommen konnte, durch den Gerichtschemiker untersuchen. Er machte sich den damit zum erbitterten Feind und erhielt außerdem den wenig aufschlußreichen Bescheid, daß in keiner der übersandten Proben Gift oder ein fremder Bestandteil gefunden worden sei. Das Verhör des Personals und der übrigen Gäste, das mit größter Schärfe durchgeführt wurde, ergab 9
keine brauchbaren Hinweise. Niemand hatte etwas Auffälliges bemerkt, niemand einen Verdächtigen gesehen. Es blieb allein die bereits bekannte Feststellung des Geschäftsführers, daß sich einige der ermordeten Personen gegen Mitternacht nicht wohlgefühlt hatten und sich deswegen in ihre Zimmer begaben. Kurz und gut, der anfänglich so hoffnungsvolle Warton wurde immer nervöser und unruhiger. Nachdem er vierundzwanzig Stunden und länger nicht aus dem Hotel herausgekommen war, saß er im Büro des Geschäftsführers wie ein Stier, den man bis zur Erschöpfung gereizt hat, ohne ihm ein Ziel zu bieten. »Es ist, um aus der Haut zu fahren«, vertraute er seinem Kollegen Screeps an. »Nichts, nicht das Geringste, auch nicht die Andeutung einer Spur. Der größte und bedeutendste Fall, den wir je hier gehabt haben, zugleich aber auch der rätselhafteste. Die Leute können doch nicht an der Luft gestorben sein!« »Vielleicht doch«, warf Screeps ein. »Warum sollte die Vergiftung nicht auch eine Art Gasvergiftung sein?« »Weil man dann vor allem an der Lunge etwas merken müßte«, knurrte Warton. »Und außerdem, wie stellst du dir das vor? Wir wissen genau, was der einzelne im Laufe des Abends gemacht hat. Ich versichere dir, daß jeder von den Toten bis zum letzten Augenblick so dicht mit anderen zusammen gewesen 10
ist, daß eine Gasvergiftung noch unmöglicher erscheint als das andere.« »Na, dann viel Vergnügen«, wünschte Screeps und verabschiedete sich. »Du gehst doch noch nicht schlafen?« Warton schüttelte energisch den Kopf. »Nein, ich gehe hier nicht eher weg, als bis ich das Hotel bis aufs letzte Tüpfelchen ausgepreßt habe und die Spur finde.« »Oder bis du zusammenbrichst«, warnte sein Kollege. »Auch das ist möglich«, brummte Warton. »Aber vorläufig ist es noch nicht soweit. Du könntest mal einem von den Kellnern Bescheid sagen, daß sie mir einen Whisky mit Soda herbringen sollen.« Screeps, der schon an der Tür stand, wandte sich erstaunt um. »Nanu, das ist doch sonst nicht dein Fall.« »Fünfzehn Tote ohne Spur sind sonst auch nicht mein Fall. Aber wenn es dir zuviel Mühe macht, dann …« »Keineswegs«, gab Screeps zurück und ging hinaus. Eine gute Stunde später spürte der Kriminalkommissar eine eigenartige dumpfe Übelkeit. »Der verdammte Alkohol«, brummte er vor sich hin und fuhr sich ärgerlich über die Stirn. Verdutzt starrte er auf seine Handfläche. Sie war 11
ganz naß von dem kalten Schweiß, den er sich von der Stirn gewischt hatte. Im gleichen Augenblick blitzte eine Erkenntnis durch Wartons Gehirn. Die Übelkeit. War es vorgestern abend nicht auch verschiedenen Leuten übel geworden, die man am nächsten Morgen tot in ihren Betten gefunden hatte? Sollte es das gleiche Gift… Warton sah plötzlich nichts mehr, es wurde ihm dunkel vor den Augen. Da begriff er, daß er das sechzehnte Opfer werden sollte, und erfaßte auch gleichzeitig, daß ihm nur noch Sekunden blieben. Sekunden – und draußen stand eine Masse Leute, die sich den Kopf über die Ursache dieser rätselhaften Todesfälle zerbrach. Es blieb nicht mehr genügend Zeit, um ihnen das Geheimnis zu enthüllen. Da stand die Lösung vor ihm. Whisky mit Soda. Er hatte natürlich auch gegessen und eine Menge schwarzen Kaffee getrunken, aber das war schon viele Stunden her. Das Gift mußte entweder im Whisky oder im Sodawasser stecken. Kriminalkommissar Warton sah nichts mehr, aber ein Schreibstift befand sich in seiner Hand, und vor ihm lag ein großer Bogen mit seinen Notizen. Auf der Grenze zwischen Leben und Tod malte er schon halb im Umsinken groß über den Bogen: »Whisky un …« 12
Weiter kam er nicht. Sein Körper glitt zur Seite und schlug schwer auf die Erde. Dort fand man ihn eine Weile später. Der Gerichtsarzt stellte die gleiche Todesursache wie bei allen anderen Ermordeten fest. Kriminalkommissar Screeps übernahm die Untersuchung. Er verstand sehr wohl, daß Warton in der letzten Sekunde seines Lebens noch etwas Entscheidendes über den geheimnisvollen Fall hatte aussagen wollen. Er verstand, daß Warton eine wichtige Spur entdeckt hatte, die mit Whisky und Soda zusammenhing. Er ließ die beiden Getränke untersuchen. Der Gerichtschemiker stellte fest, daß sie nicht mehr und nicht weniger enthielten als das, was man von ihnen erwarten durfte. Weder der Whisky noch das Sodawasser enthielten fremde oder gar giftige Bestandteile. Das enttäuschte Screeps außerordentlich. Als Warton zu Grabe getragen wurde, starb Maghull, der eine der beiden Männer, die die Polizei von dem Erpressungsversuch benachrichtigt hatten. Man fand ihn tot in seinem Arbeitszimmer, vergiftet wie alle übrigen. Screeps verlegte den Schauplatz seiner Tätigkeit dorthin, aber auch das half ihm nicht viel. Maghull war sehr unvorsichtig gewesen und hatte auf die Gefahr wenig Rücksicht genommen. Infolgedessen hat13
ten hundert Möglichkeiten bestanden, um ihm das Gift zu verabreichen. Einen Tag darauf starb Calbell, der zweite Diener Crontons, unter den gleichen Erscheinungen wie die fünfzehn aus dem »Lancaster«. Screeps war eine halbe Stunde nach seinem Tod zur Stelle. Er erwischte Cronton gerade noch in der Haustür. »Wo wollen Sie denn hin?« erkundigte er sich. Cronton fuchtelte unruhig mit den Händen in der Luft herum. »Fort. Ich habe mir ein Flugzeug bestellt. Keine Minute bleibe ich länger. Man ist seines Lebens nicht sicher, und die Polizei ist einfach nicht imstande, steuerzahlende Bürger zu schützen.« »Aber diesmal sind Sie doch nicht betroffen worden?« wandte Screeps ein, nur um etwas zu sagen. »Wollen Sie mich verhöhnen?« kreischte ihn Cronton an. »Sie wissen genau so gut wie ich, daß der Anschlag mir gegolten hat. Irgendwie ist es auf Calbell gefallen, aber das nächstemal bin ich um so sicherer dran. Nein, ich verreise.« »Ich würde Ihnen davon abraten«, warnte der Kommissar. »Sie sind unterwegs genauso wenig sicher wie in Ihrem Haus.« »Das wollen wir sehen. Ich habe das schnellste Flugzeug genommen und werde mich so verstecken, daß mich niemand findet.« »Ich kann Sie aber nicht fortlassen, da ich Sie zur 14
Untersuchung benötige.« Cronton lachte nur wild auf und gab seinem Fahrer einen Schlag auf die Schulter. »Fahr los!« Der Wagen raste davon. Screeps fand nicht die Energie, Alarm zu schlagen und Cronton zurückholen zu lassen. Er erfuhr später, daß Cronton tatsächlich bereits eine halbe Stunde später das Land im Flugzeug verlassen hatte, und noch viel später, daß diesem alten Geizkragen der richtige Einfall gekommen war. Cronton blieb am Leben. Der Diener Calbell konnte nicht mehr aussagen, es ließ sich jedoch leicht feststellen, was er im Laufe des Tages zu sich genommen hatte. Darunter befand sich ebenfalls ein heimischer Whisky mit Soda, aber das machte den Kommissar nicht mehr stutzig. Whisky mit Soda war Nationalgetränk, jeder anständige Mensch nahm es im Laufe des Tages in einer oder mehreren Auflagen zu sich. Und außerdem blieben ja die schon bedachten Gründe bestehen. Nach einigen Stunden sorgfältiger Arbeit wußte Screeps, daß auch Calbells Tod keine greifbaren Anhaltspunkte zur Lösung aller Rätsel bot. Er versuchte nunmehr auf einem gänzlich anderen Weg zum Ziel zu kommen. Der Erpresser hatte sich die Zahlungen an die Bank Daudier in Paris anweisen lassen. Über diese Bank mußte man ihn fangen können. Zweifellos 15
mußte sich der genannte Maurice Poissier – der wahrscheinlich der Verbrecher selbst war – melden, wenn er sein Geld haben wollte. Die Kriminalpolizei in Paris war bereits von Warton verständigt worden. Screeps schickte nun seinen besten Mann in die französische Hauptstadt, um die Franzosen in Bewegung zu bringen. Mulford fand folgenden Tatbestand vor: Die Bank Daudier war eine kleine, aber sehr angesehene Privatbank, die hauptsächlich französische Großgrundbesitzer und Adlige zu ihren Kunden zählt. Der Ruf der Bank war über jeden Zweifel erhaben, ebenso der Ruf ihres Inhabers. Dieser weigerte sich entschieden, über das Konto Maurice Poissier nähere Auskünfte zu geben. Mulford mußte unverrichteter Dinge wieder abziehen. Natürlich ließ er nicht locker. Die gesetzliche Lage war nicht ganz einfach, und es kostete ihn viel Mühe, seine französischen Kollegen zu veranlassen, alle Druckmittel gegen den Bankier anzuwenden. Man konnte eben eine französische Bank nicht ohne weiteres zwingen, zugunsten der Polizei eines anderen Staates ihre sorgsam gewahrten Geheimnisse preiszugeben. Immerhin – nach allen möglichen Anstrengungen gab es einen beachtlichen Erfolg. Der Bankdirektor verriet, wer Maurice Poissier war. Doch Maurice Poissier erwies sich als einer der 16
angesehensten Anwälte der Stadt, den man nicht gut mit einem Verbrechen in Zusammenhang bringen konnte. Mulford suchte ihn auf, schilderte ihm nüchtern die Lage der Dinge und bat um Auskunft. Poissier befleißigte sich größter Zurückhaltung. »Sie sagen mir nichts Neues, mein Herr«, erwiderte er. »Ich habe an Hand der Zeitungen die Ereignisse in Manchester verfolgt, kann Ihnen aber kaum mit Auskünften dienen. Es ist richtig, daß jenes Konto bei Daudier auf meinen Namen läuft, es ist aber nicht mein eigenes Konto, ich verwalte es nur für einen anderen. Wie Sie wissen, geschieht es nicht selten, daß jemand einem Anwalt Generalvollmacht über gewisse geschäftliche Angelegenheiten gibt.« »Hm, und wie heißt Ihr Auftraggeber?« »Das darf ich Ihnen selbstverständlich nicht sagen. Man vertraut mir und bezahlt mich dafür.« Es entwickelte sich eine Debatte, die von seiten Mulfords teilweise hitzig geführt wurde. Ihr Ergebnis war gleich Null. Der Anwalt erwies sich als noch schwieriger als der Bankdirektor. Mulford fuhr wütend nach England zurück. Später tröstete er sich, als er erfuhr, wieviel Arbeit ihm in Frankreich erspart geblieben war. Es zeigte sich, daß der Erpresser ein Kettensystem angewandt hatte. Der Bankdirektor kannte nur Poissier, der vor Mo17
naten das Konto bei ihm eröffnet hatte. Poissier hatte das auf Grund eines schriftlichen Auftrags getan und kannte infolgedessen seinen Auftraggeber auch nicht. Er sandte gewisse Gelder auf Grund von Anweisungen, an denen ihn letzten Endes nur die Echtheit der Unterschrift interessierte, an den angesehensten Anwalt einer Provinzstadt, der bei einer ebenso angesehenen Bank ein Konto für einen Mann führte, der jetzt schon kaum mehr mit dem englischen Verbrecher in Zusammenhang gebracht werden konnte. Dieser Anwalt sandte die Gelder weiter an den nächsten Anwalt in einer ganz anderen Stadt, und so ging die Kette weiter, ohne daß sich genau verfolgen ließ, wer am Ende saß und das Geld in Empfang nahm. Aber auf solche Erkenntnisse kamen Mulford und Screeps erst nach geraumer Zeit. Eine Reihe von Leuten war ermordet worden, der Erpresser hatte seine Schäfchen geschoren und wurde von niemandem behelligt. Was Presse und Öffentlichkeit dazu zu sagen hatten, ging auf keine Kuhhaut. Screeps knallte wütend seine Unterschrift unter sein Entlassungsgesuch, das ihm jedoch am nächsten Tag abschlägig beschieden wurde. Der Leiter des Kriminalamtes war vernünftig genug, nicht einen seiner besten Beamten gehen zu lassen, nur weil die Zeitungen es forderten. Es gab eben Verbrecher, die keine Fehler begingen. 18
Die Zeitungen tobten noch eine Weile, dann beruhigten sie sich ebenso wie die Öffentlichkeit. Nach einigen Wochen begann über dem Fall das erste Gras zu sprießen. 2. New York. Ein nüchterner Zweckbau. In dem saalartigen nüchternen Raum war die eine Schmalwand weiße Projektionsfläche. Seitlich stand ein Sessel, davor ein Tischchen mit Telefon und Wasserglas. Im Sessel saß Sun Koh und arbeitete. Er sprach ein paar Worte in den Telefonhörer, dann erschien auf der weißen Wand die Gestalt eines Mannes. Der Mann bewegte sich, gestikulierte und sprach. Sun Koh unterhielt sich mit ihm, ohne sich aus dem Sessel zu bewegen oder das Telefon an den Mund zu nehmen. Bericht und Anweisungen gingen hin und her, dann wurde die Leinwand dunkel und das Licht wieder heller. Sun Koh griff von neuem zum Apparat, ein anderer Mann erschien. Diese Männer waren fast ausnahmslos junge Leute mit markanten Gesichtern, aber ihre Kleider und ihre Berichte zeugten davon, daß sie in den verschiedensten Teilen der Welt wohnten. Sie sprachen aus Alaska und Malakka, vom Süd19
pol und vom Äquator, aus Kapstadt und aus Kalkutta. Seit vierzehn Stunden saß Sun Koh ohne Unterbrechung in diesem Raum und hörte die Berichte aus aller Welt. Der Schirm wurde leer. Der Ingenieur an der Vermittlung meldete sich. »London bittet dringend um Vorrang, Sir.« »Gut, geben Sie Graham.« Ein neues Gesicht erschien auf dem Bildschirm, das noch junge, aber sehr beherrschte Gesicht eines Mannes, der ein Londoner Anwalt mit viel Familientradition sein konnte. »Jim Wisborne wurde ermordet, Sir«, teilte er sachlich mit. »Er wurde schon seit Tagen in Liverpool von Unbekannten beschattet. Er sollte gestern nach London kommen, um den von der Zentrale angeforderten Teilbericht persönlich zu übergeben. Es handelt sich um eine Expertise über die wahrscheinlichen Auswirkungen der zu erwartenden Veränderungen im Atlantik sowie über die erforderlichen Bereitstellungen an der Westküste. Für diesen Bericht schien uns die Post nicht zuverlässig genug zu sein. Wisborne fuhr über Stockport, eine kleine Stadt südlich von Manchester. Er wurde in Stockport tot am Steuer seines Wagens gefunden. Der Bericht, den er in fünffacher Ausfertigung bei sich tragen mußte, war verschwunden.« 20
Sun Koh ließ sich nicht anmerken, wie stark ihn die Mitteilung traf. Wenn ein derartiger Bericht in die Hände von Gegnern kam, konnte das nicht nur unangenehmes Aufsehen erregen, sondern auch gewisse Pläne ernstlich gefährden. In diesen Berichten stand manches, was zu Gegenmaßnahmen herausforderte und sie ermöglichte. Vielleicht konnte sogar die ganze Tarnung, die er über das Projekt gelegt hatte, von einem derartigen Teilbericht aus aufgerissen werden. »Ich war selbst in Stockport«, fuhr Graham fort. »Wisborne starb ohne erkennbare Ursache. Auf die gleiche Weise starben vor einigen Wochen in Manchester fünfzehn Personen, die zufällig im gleichen Hotel wohnten. Nach Meinung der Polizei war ein Erpresser am Werk, der mit diesen Morden seine Möglichkeiten ausweisen wollte. Eine Beziehung zu Wisborne war bisher nicht festzustellen. Ich mußte Nachforschungen noch unterlassen, um die Aufmerksamkeit nicht auf mich und das hiesige Büro zu ziehen, erbitte jedoch Anweisungen.« Sun Koh blickte nachdenklich auf den Bildschirm. Nach einer Pause sagte er: »Sie sichern Ihr Büro und kümmern sich nicht um die Angelegenheit Wisborne. Ich schicke jemand nach Stockport. Danke, Mr. Graham.« »Danke auch…«, setzte Graham an, aber da verschwand sein Bild schon. Sun Koh drückte auf einen Knopf. 21
»Ich möchte Hal sprechen.« Zwei Minuten später trat Hal Mervin über die Schwelle. »Setz dich und hör zu«, sagte Sun Koh. Hal setzte sich, und Sun Koh wiederholte ihm, was von Graham gehört hatte. »Der verschwundene Bericht ist außerordentlich wichtig«, sagte er dann. »Wir müssen versuchen, ihn schnellstens wieder in unsere Hand zu bekommen. Ich kann heute und morgen noch nicht weg. Du fliegst mit Nimba zusammen nach England. Versuche, in Stockport alle nur erreichbaren Einzelheiten zu erfahren, damit ich mich damit nicht erst aufzuhalten brauche. Notfalls mußt du auch in Manchester und Liverpool nachforschen. Ich möchte alles über Wisbornes Ermordung erfahren, möglichst auch den Namen seines Mörders, ferner, wer ihn beschattet hat und wohin die Papiere gegangen sind. Sieh zu, was sich erreichen läßt.« Hal reckte sich. »Gemacht, Sir. Ich bringe Ihnen die ganze Geschichte auf dem Servierbrett. Die Londoner Polizei wird Scotland Yard in ein Waisenhaus verwandeln, wenn sie erfährt, was ich …« »Verschwinde! Und keinen Unfug, Hal.« »Für wen halten Sie mich, Sir?« fragte Hal würdig und ging. Eine halbe Stunde später waren Nimba und Hal 22
bereits unterwegs. Sie flogen jedoch gegen die Sonne und die Zeitdifferenz, so daß es in Stockport bereits früher Nachmittag war, als Hal das Büro des zuständigen Kommissars betrat. Kommissar Brooks war ein beleibter älterer Mann mit einem derben Gesicht. Man sah ihm an, daß er zur Polizei einer kleinen Stadt gehörte. Er besaß einen gutmütigen Charakter, der sich hinter einem barschen Wesen versteckte. Seine Augen blinzelten gelegentlich recht schlau, doch erhob er selbst keinen Anspruch darauf, ein Sherlock Holmes zu sein. »Ich komme in der Angelegenheit Wisborne«, erklärte Hal ihm höflich, während er einige Papiere auf den Schreibtisch legte. »Hier sind meine Ausweise. Die International Manufacturing Company, für die Wisborne tätig war, hat mich beauftragt, die Umstände seines Todes aufzuklären.« »Dich?« platzte Brooks staunend heraus. »Hm, Sie – meinetwegen. Teufel noch mal, ich muß etwas im Auge haben. Mir kommt es gerade so vor, als steht da so ein halbflügges Bürschchen vor mir und …« »Ihre Schuld«, unterbrach Hal kühl. »Wenn Sie mir einen Stuhl angeboten hätten, würde ich nicht stehen, sondern sitzen. Im übrigen regen Sie sich nicht auf. Wir brauchen unsere erwachsenen Leute für andere Aufgaben. Für einen Mord in Stockport genügt ein Lehrling.« »Verdammt!« fluchte der Kommissar. »Wollen 23
Sie etwa im Ernst sagen, daß Sie hergekommen sind, um – da lachen ja die Spatzen!« »Na, und wenn?« fragte Hal. »Lassen Sie die Spatzen doch lachen. Haben Sie inzwischen feststellen können, woran Wisborne gestorben ist?« »Da soll doch …«, brauste der Kommissar auf, fing sich aber, kniff die Augen zusammen und brummte: »Also gut, er ist an überhaupt nichts gestorben. Kein Schuß, kein Stich, kein Hieb und kein Gift. Alles in bester Ordnung, nur eben tot.« »Wie bei den fünfzehn Leuten in Manchester?« »Genau so. Tot ohne Todesursache. Die Herren Sachverständigen vermuten ein unbekanntes Gift, aber sie hätten es nur mit dem Sodawasser zu sich nehmen können, und das war ungiftig, scheidet also aus.« »Na, na?« »Wieso na, na?« »Ich meine, daß Sie das Sodawasser nicht ausscheiden können, wenn es schon verdächtig ist. Es könnte sich doch um ein flüchtiges Gift handeln, das zwar im frischen Wasser enthalten war, nicht mehr aber im abgestandenen.« Brooks schielte in Hals Gesicht. »Hm? Gar nicht so dumm. Das wäre natürlich eine Möglichkeit.« »Und außerdem sind doch Art und Natur des Giftes noch gar nicht festgestellt worden.« 24
»Na und?« »Oh, nicht viel. Ich frage mich nur, wieso man ein Wasser für ungiftig erklären kann, wenn es sich um ein unbekanntes Gift handelt, das sich den üblichen Methoden entzieht?« Der Kommissar reckte jetzt den Kopf weiter hoch und stierte Hal an. Erst nach einer ganzen Weile sagte er: »Verdammt will ich sein, wenn das nicht eine vernünftige Überlegung ist. Setzen Sie sich. Was wollen Sie eigentlich?« »Vor allem den Obduktionsbefund, möglichst auch die Befunde aus Manchester. Ich denke, daß wir am schnellsten vorankommen, wenn wir die Todesursache feststellen. In einigen Stunden können wir Bescheid wissen. Ich habe da einen Bekannten in London, der sich auf solche Sachen versteht. Haben Sie den Befund hier?« Brooks zögerte, nahm dann aber ein Blatt aus der Akte, die vor ihm lag, und schob es Hal hin. »Da. Für die Toten in Manchester gilt das gleiche. Wahrscheinlich sollte ich Sie einfach hinauswerfen, aber…« »Ich möchte telefonieren. Würden Sie Ihre Zentrale anweisen, eine Verbindung mit London, Mayfair 14 67 25, herzustellen?« Brooks sah aus, als wollte er in die Luft gehen, aber er schaffte es, den Wunsch seines Besuchers zu erfüllen. Er war sichtlich entschlossen, glühende 25
Kohlen auf dessen Haupt zu sammeln, bevor er den jugendlichen Besucher in Kleinholz verwandelte. Hal kümmerte sich nicht darum. Er telefonierte mit London und wußte, daß Graham sofort mit der Zentrale in der Sonnenstadt in Verbindung treten würde. »So, das wär’s«, sagte er, während er den Hörer ablegte. »Jetzt kann es eine Stunde oder einen ganzen Tag dauern, aber Bescheid bekommen wir bestimmt hierher. Vielleicht könnte ich inzwischen die Akten einsehen?« Der Kommissar schob ihm die Mappe zu und knurrte grimmig: »Auch das, mein Freund. Wir haben hier schon immer einen Kundendienst gehabt, der sich sehen lassen konnte. Wenn Sie sich aber einbilden, daß Sie hier verschwinden können, und ich sitze da und warte die nächsten vier Wochen darauf, daß einer anruft und mir erzählt, wie diese Leute umgebracht wurden, dann …« »Regen Sie sich nicht auf«, empfahl Hal gleichgültig und vertiefte sich in die Akten. Brooks quittierte mit einer Verwünschung und schwieg. Hal ersah aus den Akten, daß Wisborne in der Cheadle-Street gefunden wurde, am Steuer seines Wagens. Wenig später fiel ihm der Straßenname noch einmal auf. In der Cheadle-Street wohnte ein Chemiker Dr. Staple, der leitende Chemiker der So26
dawasserfabrik, von der das verdächtige Sodawasser geliefert worden war. Bestand hier ein Zusammenhang? »Liegt die Cheadle-Street am Weg nach London?« »Wieso? Nein.« »Was wissen Sie über diesen Dr. Staple?« »Nichts«, erwiderte Brooks mit einiger Schärfe. »Bilden Sie sich nichts ein. Die gleiche Straße – na ja. Was ist das schon? Staple ist ein angesehener Mann mit gutem Einkommen und eigenem Vermögen, dazu ein stiller Junggeselle. Er hat mit der Angelegenheit nichts zu tun.« »Vorausgesetzt, daß nicht das Sodawasser vergiftet war, nicht?« »Hm, das allerdings«, gab Brooks zu. Eine Viertelstunde später kam der erwartete Anruf aus London. Die Leute in der Zentrale mußten aus dem Handgelenk heraus Bescheid gesagt haben. Hal strahlte, als er den Hörer ablegte. »Wir haben sie!« »Die Todesursache?« »Ja.« »Na und?« »Wasser.« Brooks schlug mit der Faust auf den Tisch. »Verflucht und zugenäht, wenn Sie nicht sofort…« »Schon gut, schon gut«, unterbrach Hal sachlich. 27
»Die Vergiftung wurde tatsächlich mit Wasser bewirkt. Unser gewöhnliches Leitungswasser ist Ihnen bekannt, ebenso dessen chemische Zusammensetzung aus Wasserstoff und Sauerstoff. Physikalisch gesehen besteht das Wasser aus Atomen. Diese Atome haben ein bestimmtes, schon lange bekanntes Gewicht. Vor kurzem hat man nun entdeckt, daß es auch Wasser gibt, das ein höheres Atomgewicht hat als das gewöhnliche Wasser. Es unterscheidet sich in nichts von diesem als eben durch sein Atomgewicht. Das schweratomige Wasser kommt als üblicher Bestandteil in jedem gewöhnlichen Wasser vor, allerdings zu geringen Prozentsätzen. Man kann es ohne große Schwierigkeiten abtrennen, also reines schweratomiges Wasser gewinnen, wobei Sie aber den Begriff Schwierigkeiten vom Standpunkt des Forschers beurteilen wollen. Solches reines schweratomiges Wasser hat die Eigenschaft, pflanzliche wie tierische Lebewesen durch Vergiftung und Lähmung der inneren Organe in der an den Ermordeten bekannten Art zu töten.« Brooks umkrampfte die hölzernen Lehnen seines Sessels so scharf, daß seine Handgelenke weiß wurden. Dann stieß er heraus: »Donnerwetter – Donnerwetter – das ist eine Lösung!« Dann sprang er auf und schüttelte Hal an den Schultern. »Mensch, Sie sind ja das reinste Wunderkind!« 28
»Wundermann, bitte«, verbesserte Hal lachend. »Dann wäre das Sodawasser …« »Schweratomiges Wasser. Der Unterschied gegenüber gewöhnlichem Wasser dürfte nicht zu bemerken gewesen sein.« »Dann muß der Verbrecher in der Sodafabrik stekken!« »Sehr wahrscheinlich!« Brooks stutzte. »Aber – der Mann müßte dann selbst einiges auf dem Kasten haben, wenn er eine solche Entdekkung …« »Warum nicht? Das wäre nicht der erste, der seine Begabung und sein Wissen mißbraucht. Ein kluger Kopf muß der Erpresser schon sein, aber ein kluger Kopf ist keine Entschuldigung. Im Gegenteil, der Mann müßte wissen, was er tut. Es ist traurig, wenn einer von der Natur so ausgezeichnete Geschenke bekommt und sie infolge eines minderwertigen Charakters aus Gewinnsucht und Eigennutz so in den Dreck zieht.« Brooks drohte mit der Faust. »Na, der kann sich auf etwas gefaßt machen. Es wird nicht weiter schwer sein, ihn festzustellen, und dann – gnade ihm Gott. Ich werde selbst zur Fabrik hinausfahren.« »Sie sind wohl verrückt?« entfuhr es Hal. »Sie würden doch alles verderben. Was denken Sie denn, 29
was passiert, wenn dort auf einmal ein Kriminalbeamter auftaucht? Der Mann ist doch sofort gewarnt und haut ab, bevor Sie zugreifen können.« »Ich würde ihn schon festhalten.« »Wie denn? Wenn Sie nun hinkommen und finden in der Fabrik, wie anzunehmen ist, mehrere Herren, die als Täter in Frage kommen könnten? Sie können doch nicht drei oder vier ohne Grund einsperren. Sie müssen warten und horchen und Beweise sammeln, und inzwischen gewinnt der Mann Zeit. Nee, lassen Sie mich nur lieber hinfahren, und tun Sie vorläufig so, als ob Sie von nichts wüßten. Mich hält keiner für einen Beamten, so daß ich in aller Gemütsruhe herumschnüffeln kann. Wenn alles geklärt ist, können Sie immer noch eingreifen.« Brooks dachte nach und fügte sich. »Gut, Sie haben recht. Ich glaube, Sie schaffend besser als ich, obwohl ich offengestanden anfangs wenig von Ihnen gehalten habe.« »Mancher gewinnt bei näherer Bekanntschaft«, feixte Hal. Dr. Staple bewohnte ein zweistöckiges Villenhaus, das gut und gern für zwei sechsköpfige Familien Platz geboten hätte. Viel konnte man von ihm nicht sehen, da es dicht mit alten Bäumen umstanden war. Die Nachbarhäuser lagen in größerem Abstand, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite gab es überhaupt keine Bauten. 30
Hal und Nimba warteten. Sie beobachteten das Haus aus einiger Entfernung. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erschien Dr. Staple, öffnete sein Gartentor, fuhr den Wagen heraus, schloß es wieder und fuhr weg. »Eigentlich müßten wir hinterher«, meinte Hal, »aber bevor wir unseren Wagen erreichen, haben wir ihn verloren. Wir wollen uns lieber im Haus umsehen. Da er fort ist, brauchen wir nicht zu warten, bis er schläft.« »Die Haushälterin?« »Sie wird uns kaum hindern.« Im Haus war es wider Erwarten völlig dunkel. Die Haushälterin schien überhaupt nicht anwesend zu sein. Allerdings war es auch nicht ausgeschlossen, daß sie hinter einem Fenster saß, das kein Licht durchließ. Es zeigte sich nämlich, daß alle Fenster im Untergeschoß durch eiserne Rolläden gesichert waren – bis auf eins. Das war bedenklich, da aber die Kellerfenster stark vergittert waren und das Obergeschoß schwer zu erreichen war, wagten es die beiden und schlugen das eine Fenster ein. Sie gerieten in eine Küche, die sich in nichts von anderen Küchen unterschied. Von ihr aus gelangten sie auf einen Flur, der nach wenigen Metern durch eine zweiflügelige Tür, eine Art Pendeltür, abgeschlossen wurde. 31
Hal und Nimba durchschritten sie und gerieten gleich darauf an eine ganz ähnliche Tür. Bevor sie die aber ganz erreicht hatten, gab es einen harten Schlag hinter ihnen, der sie herumfahren ließ. Sie fanden keine Erklärung, erst als sie weiter wollten, merkten sie, was passiert war. Eine Falle hatte sich geschlossen. Sie konnten weder vor noch zurück, denn die beiden Türen gaben nicht mehr nach. Nimba warf sich dagegen, aber das nützte nichts. In einem Moment der Stille hörten sie ein leichtes Zischen, kurz danach rochen sie die Bescherung. »Gas«, stellte Hal fest. »Wir sind reingefallen. Ich möchte wissen, wodurch der Kerl gewarnt worden ist.« »Vielleicht arbeitet die Falle automatisch.« »Leicht möglich und stark zu wünschen, denn dann verwendet er bestimmt kein Giftgas. Schlaf gut, ich denke, wir sehen uns bald wieder. Halt! Schnell die Messer, vielleicht bleibt uns noch Zeit!« Nimba, der nach seinem vergeblichen Ansprung sofort das Koppel heruntergerissen hatte, schnitt bereits mit seinem kurzen Blitzmesser durch den Stahl wie durch Butter. Eins, zwei, drei… Das Gas wirkte schon. Der vierte Schnitt. Nimba spürte, wie seine Sinne schwanden und warf sich noch schnell gegen das angeschnittene Stück. Es krachte durch, aber die ein32
dringende Luft rettete die beiden nicht mehr. Als sie erwachten, saßen sie gefesselt auf Stühlen in einem fremden Zimmer. Vor ihnen stand Dr. Staple und begrüßte sie mit einem boshaften Grinsen. »Wieder munter, meine Herren?« erkundigte er sich. »Ich muß schon sagen, daß es ein Glück war, daß ich mich auf den Anruf meiner Haushälterin hin so beeilt habe. Es überrascht Sie wohl nicht zu erfahren, daß Ihre Ankunft bemerkt und mir telefonisch mitgeteilt wurde, nicht wahr? Es überrascht Sie sicher ebensowenig, daß ich ein bißchen neugierig bin, zu erfahren, was Sie zu mir getrieben hat?« Hal warf Nimba einen warnenden Blick zu und erwiderte dann: »Nehmen Sie getrost an, daß wir uns das Haus ansehen wollten. Wir hörten nämlich, daß es zu vermieten sei, und da …« »Ach nee«, höhnte Staple. »Sie sind ja sehr witzig veranlagt.« »Das bin ich immer, wenn man mich fesselt. Was ist Ihnen überhaupt eingefallen, uns so zusammenzuschnüren? Und das mit dem Gas war auch so eine Gemeinheit. Das wird Ihnen teuer zu stehen kommen. Sie haben nicht das Recht, einen harmlosen Einbrecher so zu behandeln!« Staple hob scheinbar gleichmütig die Schultern. »Ich kann ja mal die Polizei fragen. Die wird Sie ja ohnehin abholen müssen.« Hal fiel auf den Trick nicht rein. 33
»Hm«, knurrte er, »für so viel Angst können Sie uns auch ruhig laufen lassen. Schließlich haben wir Ihnen ja nichts weggenommen.« Staple zog die Brauen zusammen. »Die Polizei scheint Ihnen unangenehm zu sein?« »Dumme Frage!« Staple schien diese Einstellung nicht erwartet zu haben, denn er sagte nach einem Augenblick des Nachdenkens ernsthaft: »So, so, Sie scheuen also die Polizei oder wollen den Eindruck erwecken, daß Sie harmlose Einbrecher sind. Was sind Sie wirklich?« »Vermutlich der Prinz von Persien«, höhnte Hal. »Sie sollten Ihre Lage nicht so leicht nehmen«, tadelte Staple sanft. »Selbstverständlich sind Sie keine gewöhnlichen Einbrecher, wie Sie mir weismachen wollen. Erstens bestand dann für Sie kein Grund, in der Fabrik nach mir zu fragen – der Pförtner hat mir nämlich telefonisch Bescheid gegeben – zweitens besäßen Sie Werkzeuge und drittens dürfte kein gewöhnlicher Einbrecher solche erstaunlichen Messer bei sich tragen, wie Sie es tun. Ich bin wirklich gespannt zu hören, wer Sie sind.« Hal verzichtete auf Antwort. »Hm, Sie schweigen? Nun, ich halte das für unklug von Ihnen. Wenn Sie mir befriedigende Auskunft geben, besteht für Sie die Aussicht, daß ich Sie laufen lasse. Wenn nicht, dann werden Sie die heutige Nacht wohl kaum überleben.« 34
Hal verstand wohl, aber er stellte sich harmlos. »Ach, nehmen Sie den Mund nicht gar zu voll. So wild ist die Polizei nicht auf uns, und so schnell geht es auch nicht. Die Sache kann uns höchstens ein paar Monate einbringen.« »Nur scheinbar. Ich pflege Leute Ihres Schlages nicht der Polizei zu überliefern, sondern selbst zu bestrafen. Da ich Laie bin, könnte das sehr leicht zu einer fahrlässigen Tötung führen. Sehen Sie, ich habe da nebenan ein Laboratorium, in dem eine ganze Reihe Säuren und ähnlicher nützlicher Dinge stehen. Die Polizei wird zweifellos sehr bedauern, daß Sie in Unkenntnis der Verhältnisse bei dem Einbruchsversuch infolge eines Unglücksfalles ums Leben kamen – aber ich beseitige die Gefahr, daß Sie hinter ihrem Schweigen für mich lebenswichtige Dinge verbergen. Ich würde Ihnen unbedingt raten, sich mir gegenüber offen auszusprechen.« »Ha, damit Sie uns nachher erst recht kaltmachen, nicht wahr?« Staple schüttelte den Kopf. »Sie drücken sich recht eigenartig aus. Vergessen Sie übrigens nicht, daß Ihre Lage augenblicklich zu keinen Hoffnungen berechtigt und daß Sie sie keinesfalls verschlechtern, sondern nur verbessern können, wenn Sie reden.« Hal zögerte und nickte dann: »Na gut, schließlich sind wir ja nicht verpflichtet, unser Leben zu opfern. 35
Wir sind beauftragt, bei Ihnen einzubrechen, aber nicht, um das Tafelsilber zu mausen, sondern um uns Ihre Papiere zu holen.« »Wer hat Sie beauftragt?« Hal kniff die Augen zusammen. »Tja, das ist nicht leicht zu sagen. Wenn Sie in unseren Kreisen Bescheid wüßten, würden Sie gar nicht danach fragen. Aber da wir nun einmal offen spielen, will ich Ihnen verraten, was ich weiß. Ich pflege mich nämlich meist zu erkundigen, wenn ich einen Auftrag übernehme.« »Sie oder Ihr Begleiter, der so hartnäckig schweigt?« »Der? Den können Sie lange fragen. Er ist meine Leibgarde, weiter nichts. Wenn Sie was wissen wollen, müssen Sie sich schon an den Tresorschlitzer wenden.« »Das sind Sie? In Ihrem Alter?« »Mancher lernt sein Handwerk früh und mancher nie«, konterte Hal. »Also ich kenne zwar nur meinen Verbindungsmann, aber ich weiß trotzdem, daß ein ausländisches Konsortium dahintersteckt.« Staple blickte verständnislos drein. »Was heißt das?« »Ein Gangsterclub.« »Ein Verbrecherverein?« »So etwas Ähnliches. Muß schon stimmen, denn ich weiß auch, was an Ihren Papieren so interessant ist.« 36
»Nämlich?« »Nun, Sie werden meine Auftragsgeber hoffentlich nicht enttäuschen. Die rechnen nämlich damit, daß ich bei Ihnen Aufzeichnungen über ein unbekanntes Gift finde, dessen Spuren nicht nachweisbar sind.« Staple war plötzlich fahl geworden. Seine Stimme klang heiser. »Soll das ein Witz sein?« »Wieso? Glauben Sie, daß die Leute heutzutage Geld für einen Witz ausgeben? Die sind davon überzeugt, daß Sie das Gift haben, und ich bin es auch.« Staple wahrte mühsam seine Haltung und schnauzte barsch: »Das ist doch alles Unsinn! Wie kommen Sie darauf?« Hal fühlte sich jetzt trotz der Fesseln überlegen und zeigte es. »Na, na, der Polizei können Sie etwas vormachen, aber uns doch nicht. Wir sehen schon ein bißchen schärfer, verstehen Sie. Die Toten in Manchester haben uns alle aufmerksam gemacht. Die Polizei konnte keine Vergiftung feststellen, obgleich die Leute zweifellos vergiftet worden waren. Sie können sich wohl ausdenken, daß sich gewisse Leute daraufhin ausrechneten, was ein Erpresser verdienen konnte, wenn er auf diese Weise vorging. Das machte natürlich Appetit. Und dann können Sie sich wohl vorstellen, daß die Berichte sehr genau studiert wurden. Die Polizei fand nichts, aber wir stolperten darüber, daß 37
die Toten alle Whisky mit Soda zu sich genommen hatten. Der Whisky schied aus verschiedenen Gründen aus, also blieb nur das Sodawasser. Das mußte vergiftet gewesen sein, selbst wenn die Polizei das Gegenteil meinte. Und damit führte der Weg zu Ihnen.« »Ein Irrweg!« behauptete Staple finster. »Ich habe mit der Angelegenheit nicht das Geringste zu tun.« »Hm, tatsächlich nicht?« fragte Hal. »Es würde mich wundern, aber natürlich ist ein Irrtum nie auszuschließen. Jedenfalls hat man mich hergeschickt, um Ihren Safe aufzuschneiden und alle Papiere herauszuholen. Es kostet mich fünfhundert Pfund, daß Sie mich erwischten. Aber vielleicht läßt sich das Geld noch retten. Machen Sie dem Konsortium einen vernünftigen Vorschlag. Man wird Ihnen das Rezept sicher abkaufen, wenn es auf andere Weise nicht zu erhalten ist.« Staple musterte ihn mißtrauisch und wehrte schließlich mit einer energischen Handbewegung ab. »Ich habe nichts zu verkaufen. Im übrigen ist das alles ein dreister Schwindel, den Sie mir da vorsetzen. Sie bluffen. Ihre Drohungen verfangen bei mir nicht. Sollten Sie wirklich einen Auftraggeber haben, wird er die Erfahrung machen, daß seine Handlanger spurlos verschwinden können.« Hal lachte ihm ins Gesicht. »Werden Sie doch nicht albern, Doktor Staple. 38
Meine Freunde wissen natürlich ganz genau, wohin wir gegangen sind. Glauben Sie im Ernst, daß sie sich damit zufrieden geben, einen Grabstein für uns zu kaufen? Sie können uns der Polizei übergeben – das ist Ihr gutes Recht in einem solchen Fall – aber mehr auch nicht. In unseren Kreisen nimmt man es verdammt übel, wenn einer Richter und Henker auf eigene Faust spielen will.« »Ihre Drohungen sind albern«, erwiderte Staple hochmütig. »Ich fürchte mich nicht vor Ihnen und Ihresgleichen, und ich werde das tun, was mir paßt. Einstweilen werde ich Sie sicher verwahren.« Er lockerte mit größter Vorsicht die Fuß fesseln der beiden, bis sie sich mit kleinen Schritten bewegen konnten. Dann zwang er sie mit seinem Revolver, vor ihm her durch das Haus in einen lichtlosen Kellerraum zu gehen. Dort schloß er sie ein. »Immer noch besser als begraben«, murmelte Hal, als sie allein waren. »Mein Bluff hat gewirkt. Er ist unsicher geworden. Vermutlich wird er sich jetzt erst einmal alles gründlich überlegen.« »Gib deine Handgelenke her«, brummte Nimba. »Ich will versuchen, die Knoten mit den Zähnen zu lösen.« Inzwischen untersuchte Dr. Staple die Gegenstände, die er seinen Gefangenen abgenommen hatte. Die Sprechdosen, die er schnell als winzige KurzwellenAggregate erkannte, interessierten ihn am stärksten. 39
Er probierte an ihnen herum und war sehr überrascht, als sich plötzlich eine Männerstimme meldete. »Sun Koh. Wer spricht?« »Dr. Staple, Stockport«, entfuhr es Staple unwillkürlich. Nach einem winzigen Zögern kam gelassen die Frage: »Was wünschen Sie?« Staple entschloß sich so schnell, daß er es selbst kaum begriff. »Spreche ich mit dem Mann, der zwei Leute in mein Haus schickte, um gewisse Papiere zu stehlen?« »Vielleicht? Sie haben die beiden überlistet?« »Möglich. Interessieren Sie sich tatsächlich für ein bestimmtes Gift?« »Das könnte sein.« »Wie hoch ist Ihr Angebot?« »Darüber müßten wir uns persönlich aussprechen.« »Hm, na gut. Wann können Sie hier sein?« »Frühestens in acht Stunden.« »Dann kommen Sie. Wenn Sie nicht allein kommen oder einen Trick versuchen, sterben die beiden Leute.« »Ich komme allein«, schloß Sun Koh kühl ab. So hob Staple den Deckel von der Grube, in die er hineinfallen sollte. Sun Koh flog an der Grenze der Schallmauer nach 40
Stockport. Schon vor der englischen Küste funkte ihm Staple Straße, Hausnummer und sonstige Anweisungen über die Sprechdosen zu. In der Nähe von Stockport stand die weiße Säule eines Polizeischeinwerfers gegen den Himmel und markierte den Landeplatz für die fremde Maschine. In der Nähe trat Kommissar Brooks unruhig hin und her. Er hatte bis vor kurzem telefonische Verbindung mit einem Unbekannten in London unterhalten und fühlte sich noch nicht ganz sicher, ob er nicht jemand aufgesessen war. Er atmete tief auf, als die Maschine aufsetzte und er hinüberlaufen konnte, um den Mann aus Amerika zu begrüßen. Sun Koh ließ sich von ihm bis in die Stadt hineinfahren. Am Anfang der Cheadle-Street stieg er aus. Dr. Staple stand neben dem Tor im Schlagschatten eines Baumes. Er trat vor, als Sun Koh die Hand auf den Klingelknopf legte. »Sind Sie der Mann, den ich erwarte?« »Ich bin mit Dr. Staple verabredet.« »Ich bin Dr. Staple. Gut, daß Sie allein kommen. Darf ich bitten?« Dann saßen sie sich gegenüber. Staples kalte Gesicht war verkniffen und verriet zugleich eine gewisse Nervosität. »Sie unterlassen besser jede mißdeutige Bewegung«, sagte er mit gezwungener Höflichkeit. »Sie verstehen, daß ich …« 41
»Ich verstehe vollkommen«, beruhigte Sun Koh. »Ich sehe, daß Ihre rechte Hand an einer entsicherten Waffe liegt.« »Um so besser«, sagte Staple aufatmend. »Sprechen wir also gleich vom Geschäft. Sie legen Wert darauf, ein gewisses Gift zu erwerben, dessen Rezept Sie bei mir vermuten. Was würden Sie dafür zahlen?« »Was verlange Sie?« »Fünfzigtausend Pfund – und Ihre beiden Leute sind frei.« »Fünfzigtausend Pfund sind viel Geld für eine Sache, die kein Geheimnis mehr ist.« »Wie meinen Sie das?« »Sehen Sie dorthin.« Dr. Staple drehte den Kopf. Er war ein gewissenloser Schurke, aber er besaß keine Erfahrung als Verbrecher und fiel auf den ältesten Trick herein. Sun Koh brauchte sich nicht einmal zu beeilen. Er konnte ihm die Waffe geradezu gemächlich abnehmen. Ein Schuß löste sich zwar, aber er beschädigte nur die Jackentasche Staples. Staple wollte sich freimachen. Sun Koh griff etwas härter zu. Daraufhin wurde Staple zahm und still, wenn auch sein Gesicht verzerrt blieb. »So, jetzt werden Sie mich erst einmal zu Ihren Gefangenen führen«, sagte Sun Koh gelassen wie bisher. »Ihre Erfindung interessiert mich weniger. 42
Das Geheimnis des schweratomigen Wassers ist nicht mehr ganz unbekannt, Dr. Staple.« Daraufhin verlor Staple den letzten Rest seines Widerstands. Er führte Sun Koh in den Keller und schloß die Tür auf, hinter der sich Hal und Nimba bereits sprungbereit befanden. Sie waren schnell unterrichtet. »Der ist ja noch dümmer, als er aussieht«, meinte Hal und ging dann los, um die Polizei zu benachrichtigen. Staple wurde wieder lebendig, als er von Polizei hörte. »Polizei?« ächzte er. »Was wollen Sie eigentlich von mir? Was hat die Polizei mit unserem Geschäft zu tun.« »Vermutlich schätzen Sie mich falsch ein«, antwortete Sun Koh. »Ich bin nicht zuletzt hergekommen, um Sie der Polizei zu übergeben. Sie haben eine Reihe von Menschen durch schweratomiges Wasser getötet und andere erpreßt. Das geht die Polizei an. Schade um Sie, Dr. Staple. Ihr Wissen um das schweratomige Wasser stammt zwar von größeren Geistern, aber Sie haben offenbar ein Verfahren gefunden, es leicht zu gewinnen. Warum begnügten Sie sich nicht mit der wissenschaftlichen Leistung?« Staple schielte ihn haßerfüllt an. »Ich will nicht für andere schuften, sondern selbst reich werden. Die Natur hat mir bestimmte Gaben 43
geschenkt, und…« »Sie können das dem Richter erzählen«, unterbrach Sun Koh kalt. »Mir kommen Ihre Gaben reichlich vielseitig vor. Warum haben Sie Wisborne ermordet?« Staple zog den Kopf ein und blickte tückisch. »Sie haben kein Recht, mich zu verhören. Bevor ich nicht mit meinem Anwalt gesprochen habe …« »Wie Sie wollen«, fiel Sun Koh abermals ein. »Tritt ihm auf die Füße, Nimba.« Staple brüllte vor Schmerzen, als ihn Sun Koh an den Haaren hochzog. Anschließend redete er, so schnell er konnte. Er war seit Jahren Vertrauensmann einer Agentur, die sich für chemische Fortschritte in allen Teilen der Welt interessierte. Sie zahlte gut und führte einen Titel, der nicht unbedingt an Wirtschaftsspionage denken ließ. Seit einiger Zeit vermutete sie offenbar Neuigkeiten bei einem gewissen Wisborne in Liverpool, denn sie hatten Auftrag gegeben, sich um ihn zu kümmern. Sie hatten sogar einige Gehilfen zur Verfügung gestellt. Einen von ihnen hatte sich Wisborne vorgenommen und den Namen seines Verbindungsmannes, nämlich den von Staple, aus ihm herausgeholt. Daraufhin war Wisborne auf der Fahrt nach London bei Staple vorbeigekommen und hatte ihn zur Rede gestellt. Staple sah sich vor aller Öffentlichkeit bloßgestellt und gab ihm ein Glas Was44
ser zu trinken, an dem Wisborne sterben mußte. Die Papiere? Ja. ja, er hatte Wisborne einen Umschlag mit einem Bericht in fünffacher Ausfertigung abgenommen. Die fünf Ausfertigungen hatte er in der vorgeschriebenen Weise dann verschickt – jedes Exemplar an einen anderen Empfänger. Sun Koh konnte ihm eben noch die Liste mit den Adressen abnehmen, dann trat der Kommissar ein und beschlagnahmte den Chemiker für sich. Sun Koh und seine Begleiter verschwanden unauffällig. »Wir werden uns rühren müssen«, sagte er später zu Hal und Nimba. »Irgend jemand ist stark an unseren Unternehmungen interessiert. Die Briefe sind bereits unterwegs, und letztlich werden sie wohl alle bei dem gleichen Empfänger landen. Wir müssen versuchen, sie vorher abzufangen.« Der erste Brief war hauptpostlagernd an einen gewissen Pedro Randana in Lissabon gerichtet. 3. Lissabon. Zwei Herren gingen schnellen Schrittes in das Hauptpostamt hinein und auf den Schalter zu, an dem die postlagernden Sendungen ausgegeben wurden. Der Beamte, ein grauhaariger, etwas müde wirkender Mann mit stark abgenutzter Brille, tastete durch 45
das offene Viereck mit den zahlreichen Fächern, wobei er murmelte: »Bitte?« Der eine der beiden Herren beugte sich vor. »Ich erwarte einen Wertbrief über hundert englische Pfund an Pedro Randana, Lissabon. Ist er schon eingetroffen?« Der Beamte rückte seine Brille zurecht. »Nichts da, das wäre mir aufgefallen. Aber ich will gern einmal nachsehen.« Er schlurfte an den Tisch im Hinterzimmer zurück und sah dort einen Stoß Briefe durch. Eine Minute später brachte er einen dicken gelben Umschlag. »Der Brief ist da«, verkündete er mürrisch. »Haben Sie einen Ausweis?« »Bitte sehr.« Randana legte einen Paß hin. Der Beamte prüfte gewissenhaft, ließ abschließend den Empfang bestätigen und händigte den Brief aus. Als sie einige Meter vom Schalter entfernt waren, gab Randana das Schreiben an seinen Begleiter weiter. »Gott sei Dank«, sagte dieser, »das hat geklappt. Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet.« »Nicht der Rede wert«, meinte Randana. »Ich komme mir nun zwar ziemlich kriminell vor, aber ich vertraue Ihnen vollkommen, daß es sich um die gestohlenen Papiere handelt.« Der andere nickte. 46
»Kommen Sie mit zu mir, ich werde Sie davon überzeugen, bevor ich sie vernichte. Das war ein glücklicher Zufall, daß ich mit einem Pedro Randana in Lissabon bekannt war.« »Hoffentlich hatten Sie mich nicht in Verdacht, der richtige Empfänger zu sein?« »Nein, das schien mir von vornherein ausgeschlossen, sonst hätte ich kaum so offen mit Ihnen gesprochen. Doch kommen Sie.« Inzwischen kam kurz nach dem Weggang der beiden Herren vom Schalter ein neuer Kunde, ein vierschrötiger Mann in einfacher Kleidung, auf dessen Gesicht aus lieber Gewohnheit ein Schmunzeln lag. »Für Pedro Randana«, brummte er über den Schalter hinweg. »Ein Wertbrief.« Der Beamte setzte seine Brille zurecht. »Eben war einer da, aber der ist schon abgeholt worden.« Der Vierschrötige legte sich vor. »Was? Ein Brief an mich?« »Für Pedro Randana, Lissabon. Wert hundert Pfund«, sagte der Beamte gleichgültig. »Dort geht der Herr, der ihn abgeholt hat.« Der Vierschrötige riß seinen Ausweis an sich, drängte sich zwischen ein paar Leuten durch und rannte hinaus. Auf der Straße holte er die beiden Herren ein, die er vom Schalter aus gerade noch flüchtig bemerkt 47
hatte. Ziemlich unhöflich packte er Randanas Begleiter beim Arm. »He, hören Sie, was fällt Ihnen ein, meinen Brief abzuholen?« schnauzte er. Die beiden Herren blieben stehen. Sun Koh machte seinen Arm frei. »Bitte? Wovon reden Sie?« »Sie haben eben einen Brief abgeholt, der für mich bestimmt war. Ich bin Pedro Randana. Wie kommen Sie dazu, meine Briefe …« Sun Kohs Begleiter mischte sich ein. »Sie wenden sich an die falsche Adresse, mein Lieber. Ich habe den Brief abgeholt. Ich heiße nämlich auch Pedro Randana!« »Was?« fragte der andere. »Sie heißen auch …« »Welches Zusammentreffen! Natürlich, wenn man bedenkt, daß es über zwanzig Leute unseres Namens in der Stadt gibt, erklärt es sich schon. Aber Sie erwarten wohl kaum ausgerechnet aus Stockport ein Schreiben?« Der Vierschrötige drückt drohend seinen Brustkasten heraus. »So, und warum nicht?« Randana lächelte. »Nun, ich muß sagen, ich hatte mir Leute mit überseeischen Beziehungen immer etwas anders vorgestellt. Aber vielleicht tragen wir unseren Streitfall lieber vor der nächsten Polizeiwache aus? Mir ist es 48
nämlich schon wiederholt geschehen, daß meine Briefe durch andere Leute abgeholt wurden. Ich hatte schon die Polizei beauftragt, nachzuforschen. Sie werden zwar sicher in der Lage sein, Ihre Beziehungen zu England nachzuweisen und den Inhalt des Schreibens anzugeben, aber damit scheidet ein Verdächtiger aus, so daß die Polizei nicht mehr allzu viele Namensvettern zu überwachen braucht.« Der Vierschrötige machte auf einmal einen recht bedrückten Eindruck. »Hm«, knarrte er. »Sie wollen mich doch nicht etwa in Verdacht bringen, Ihre Briefe gestohlen zu haben? Wenn Sie Ihren Brief geholt haben, dann wird meiner noch kommen. Entschuldigen Sie.« Er machte eine linkische Verbeugung und ging hastig ab. So bekam Sun Koh die erste Kopie der Papiere zurück, weil es mehr als einen Pedro Randana in Lissabon gab und weil er mit einem dieser Pedro Randana bekannt war. Tatsächlich war es für ihn nur darauf angekommen, rechtzeitig am Schalter zu erscheinen. Den anderen Randana ließ er noch unter Beobachtung stellen, aber es erwies sich, daß er nur ein ganz kleiner Beauftragter war und daß es kaum gelingen konnte, durch ihn den großen Unbekannten aufzuspüren.
49
4. Die zweite Kopie war an einen gewissen Charles Auvergnol, Paris, geschickt worden. Charles Auvergnol war ein netter kleiner Geschäftsmann, an dem man seine Freude haben konnte. Flink, gewandt und höflich bediente er seine Kunden, vergaß nie die Lieblingssorten der einzelnen und unterließ es auch nicht, stets eine neue Zigarrenspitze beizupacken. Wenn einer seiner Kunden einen überflüssigen Lautsprecher, einen Kinderwagen oder ähnliche Dinge zu verkaufen hatte oder zu kaufen wünschte, so zeigte er sich gern bereit, einen Zettel mit entsprechendem Hinweis in seinem Laden anzubringen. Und wenn gewisse Briefe zartesten Inhalts nicht erst den Umweg über die Post nehmen sollten, so steckte sie der hilfsbereite Auvergnol gern unter den Ladentisch, bis eine männliche oder weibliche Stimme sich schüchtern danach erkundigte. Unbefangen und heiter unterhielt er sich an einem Vormittag mit Monsieur Mervin, der seit kurzem regelmäßig die Kleinigkeiten des täglichen Rauchbedarfs einkaufte. Monsieur Mervin war Engländer, er besuchte nur vorübergehend die Universität, aber – à la bonne heure – er war ein kluger junger Mann, mit dem sich manches gescheite Wort wechseln ließ. Und die Hochachtung schien durchaus gegenseitig zu 50
sein, denn Monsieur Mervin blieb gern noch ein paar Minuten stehen und besprach die neuesten Tagesereignisse. Gewöhnlich beendete das Erscheinen des Postboten die Unterhaltung. Monsieur Mervin war übrigens leidenschaftlicher Briefmarkensammler, der sich aufrichtig freute, wenn man ihn mit einer postalischen Merkwürdigkeit versorgte. Wie gesagt, Auvergnol unterhielt sich wie allmorgendlich mit einem seiner angenehmsten Kunden, als der Briefträger eintrat. Auf dessen Gesicht lag ein Erstaunen, das nicht zu seinen Gewohnheiten gehörte. »Nanu«, brummte er, während er einige Briefe und Prospekte über den Tisch reichte, »ich denke, Sie wollten fort?« »Wieso?« fragte Auvergnol und drückte dem Postbeamten wie alle Tage eine Zigarre in die Hand. »Vielen Dank, Monsieur Auvergnol. Sie sagten doch noch, ich solle die Briefe Ihrer Frau übergeben, nicht wahr? Aber es ist natürlich nicht der Rede wert.« »Sieh einer an«, rief Auvergnol lachend, »der Herr Postmeister liebt die Scherze. Sie tun ja gerade, als ob ich Ihnen heute schon einmal begegnet wäre?« Der Postbote schüttelte leicht verdrossen den Kopf. »Natürlich haben wir vor zehn Minuten miteinander gesprochen.« 51
Jetzt stutzte Auvergnol. »Na«, meinte er zweifelnd, »da haben Sie sich aber schwer getäuscht. Ich bin heute noch nicht aus dem Laden gekommen. Hoffentlich habe ich da keinen Doppelgänger. Mit mir haben Sie bestimmt nicht gesprochen.« Der andere blickte auf einmal sehr bestürzt. »Donnerwetter, dann haben Sie doch nicht etwa die Absicht, zu bestreiten, daß ich Ihnen den Wertbrief ausgehändigt habe?« Auvergnol riß die Augen auf. »Einen Wertbrief?« »Gewiß, über hundert englische Pfund.« Auvergnol schlug die Hände zusammen. »Mein Gott, der Brief für Monsieur Chelange! Kam er nicht aus Stockport?« »Ganz recht, aber …« »Und den wollen Sie mir ausgehändigt haben? Aber ich versichere Ihnen, daß ich …« »Nun ist’s aber genug«, schnauzte der Briefträger. »Hier habe ich doch Ihre Unterschrift.« »Meine Unterschrift?« stöhnte der Zigarrenhändler. »Zeigen Sie her. Ah, sie ist gefälscht. Niemals ist das meine Unterschrift. Mon dieu, was wird Monsieur Chelange dazu sagen?« Der Briefträger gab sich Haltung. »Sie behaupten also allen Ernstes, daß ein Fremder den Brief angenommen hat?« 52
Auvergnol streckte beide Hände aus. »Aber sehen Sie denn das nicht? Ich kann Ihnen beweisen, daß ich nicht aus dem Laden kam und daß dies nicht meine Unterschrift ist!« »Dann muß ich Anzeige erstatten. Ein Betrüger ist am Werk.« »Das ist es«, pflichtete Auvergnol ihm eifrig bei, »ein Betrüger. Die Polizei muß ihn finden. Erstatten Sie sofort Anzeige.« Der Briefträger stapfte hinaus. »Mein Gott, mein Gott«, murmelte Auvergnol etwas fassungslos hinter ihm her. Der nette Monsieur Mervin hatte kein Wort von der aufsehenerregenden Unterhaltung verloren. Er war ziemlich bleich darüber geworden, denn ihr Inhalt bedeutete einen vernichtenden Schlag für alle seine Hoffnungen. Da hatte er geglaubt, diesen Wertbrief abfangen und unter dem Deckmantel der Briefmarkenliebhaberei unauffällig vertauschen zu können, aber nun erfuhr er, daß sein Widerpartner schlauer gewesen war. Der mußte gewußt haben, daß der Brief gefährdet war, deshalb hatte er es vorgezogen, sich das Schreiben schon vorher zu sichern. Dabei war es gleichgültig, ob er selbst oder ein Beauftragter die Maskerade, die sicher nicht schwer gefallen war, durchgeführt hatte. »Sehr bedauerlich«, murmelte Hal Mervin. »Sie erwarten einen Brief für Monsieur Chelange?« 53
»Freilich«, seufzte Auvergnol. »Man kann mich ja schließlich nicht dafür verantwortlich machen, wenn solche Ereignisse eintreten, aber bedenken Sie, wie peinlich es für mich ist, Monsieur Chelange mitteilen zu müssen, daß sein Wertbrief gestohlen wurde. Es ist schrecklich.« »Monsieur Chelange wußte wohl, daß man ihm einen solchen Brief schicken würde?« »Sicher, sonst könnte ich ja nicht davon wissen. Er bat mich, einen Brief entgegenzunehmen, den er über meinen Namen schicken lasse, eben dieser Wertbrief aus Stockport. Monsieur Chelange ist viel unterwegs und sieht sich daher nicht in der Lage, den Postboten abzuwarten und ihm seine Unterschrift zu geben. Deshalb bin ich ihm behilflich, wenn er wichtige Schreiben erwartet.« »Ist denn da nicht leicht eine Verwechslung möglich?« »Wohl kaum, Monsieur. Er pflegt mir immer ziemlich genau anzugeben, woher der erwartete Brief stammt und welche Kennzeichen er sonst besitzt. Bis zum heutigen Tag ist Monsieur Chelange auch stets sehr zufrieden gewesen, sehr zufrieden.« »Das kann ich mir denken. Er wohnt doch sicher gleich in der Nähe, nicht wahr? Ich dachte nur, daß man ihn doch verständigen müßte?« »Er wohnt nur einige Häuser weiter, Nummer 19 in dieser Straße. Aber er kommt erst gegen Abend. 54
Mein Gott, welche Lage für mich!« »Auf Sie fällt ja keine Schuld«, tröstete Hal Mervin. »Und die Polizei wird den Missetäter schon finden.« Mit dieser Versicherung, an die er selbst nicht glaubte, verabschiedete er sich. Ihm war sehr flau im Magen. Die zweite Kopie war verloren. 5. Die dritte Kopie ging nach Lagos, aber über London. Henry Palton, einer der Direktoren der Liberia Factury Company, galt in seinem Geschäft als außerordentlich tüchtig und wurde doch auch bei allen Geselligkeiten gern gesehen. Er machte gesellschaftliche Fortschritte mit Geschäften und geschäftliche Fortschritte mit Gesellschaften. Er war das Vorbild aller Leute, die ihr nächstes Ziel in einer reichen Heirat sahen. In geschäftlicher Zurückhaltung, durch die liebenswürdige Höflichkeit hindurchstrahlte, empfing er seinen unbekannten Besucher. »Mr. Sun Koh, nicht wahr? Bitte, nehmen Sie Platz. Meine Zeit ist zwar beschränkt, aber ich nehme an, daß Sie mich in einer wichtigen Angelegenheit sprechen wollten.« Sun Koh wußte so ungefähr alles, was in London 55
über Palton zu erfahren war. Er konnte sich daher beschränken. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir einige Fragen beantworten würden, Mr. Palton.« Palton sah seinen Besucher aufmerksam an. Dieser war wohl fast zehn Jahre jünger als er, trat aber ganz so auf, als ob er den Direktor einer Handelsgesellschaft nicht übermäßig beeindruckend fände. Er war sicher, ruhig und überlegen. »Bitte sehr?« sagte Palton höflich. »Sie kennen einen gewissen Montrell, nicht wahr?« fragte Sun Koh. »Er ist Kaufmann in Lagos.« Palton hob die Brauen. »Gewiß, er steht mit uns in Geschäftsbeziehungen.« »Er hat Schulden bei Ihnen?« Form und Inhalt des Gesprächs setzten so ungewohnt an, daß Palton schon in Verwirrung geriet. »Hm, ahem«, räusperte er sich, »gewisse Verbindlichkeiten, in der Tat. Aber Sie werden begreifen, daß ich darüber…« »Ich kam nicht«, unterbrach der Besucher, »um mich darüber zu unterhalten. Die Verbindlichkeiten Montrells erfuhr ich im Vorbeigehen an der Kasse. Sie bestehen übrigens jetzt nicht mehr, sondern wurden von mir beglichen.« »Erstaunlich!« fand Palton. »Darf ich fragen, ob Sie im Auftrag von Mr. Montrell kommen?« 56
»Durchaus nicht. Montrell wird erst durch Sie erfahren, daß seine Verpflichtungen abgedeckt sind. Aber nun zur Sache. Sie schrieben vor einiger Zeit einen Brief an Montrell, in dem Sie ihn baten, einem gewissen Beja weitgehend behilflich zu sein. Bin ich richtig unterrichtet?« Paltons Oberkörper streckte sich. »Ich bin nicht befugt, Fremden gegenüber innere Angelegenheiten der Gesellschaft darzulegen.« »Ich bezweifle, daß es sich um eine Angelegenheit der Gesellschaft handelt.« Palton dachte einige Augenblicke nach, dann zuckte er mit den Schultern. »Leicht möglich. Ich muß gestehen, daß ich die Angelegenheit, die Sie erwähnen, überhaupt nicht kenne.« »Der Brief mit Ihrer Unterschrift ist vorhanden.« »Vielleicht, aber ich kann mich nicht jedes einzelnen Schreibens entsinnen, das mir zur Unterschrift vorgelegt wird.« Sun Koh lächelte flüchtig. Er hatte keine schlechte Meinung von Palton, aber selbst der Wohlwollendste wäre jetzt auf den Verdacht gekommen, daß der andere log. »Eine überraschende Aussage für einen Direktor«, erwiderte er spöttisch. Dann fuhr er ruhig fort: »Wir verstehen uns noch nicht ganz, Mr. Palton. Ich bin davon überzeugt, daß Sie genau Bescheid wissen. Sie 57
schrieben den Brief an Montrell, aber vermutlich nicht aus eigenem Antrieb, sondern um einer dritten Person gefällig zu sein. Den Namen dieses Dritten möchte ich von Ihnen hören.« »Ich sehe keine Veranlassung, über diese Sache zu sprechen«, gab Palton steif zurück. »Ich weiß von nichts.« Sun Koh nickte. »Möglich, aber sehr bedauernswert für Ihre Zukunft, Mr. Palton. Wenn ich mich recht entsinne, beziehen Sie ein Jahresgehalt von rund viertausend Pfund. Das ist viel Geld, besonders dann, wenn man es verliert. Sehen Sie, ich habe vierzig Prozent der Papiere Ihrer Gesellschaft in der Hand. Dieser Bankausweis wird Sie davon überzeugen, Sie werden verstehen, daß ich an den Vorgängen innerhalb der Gesellschaft stark interessiert bin. Es kann mir durchaus nicht gleichgültig sein, daß einer der Direktoren Briefe unterschreibt, von deren Inhalt er überhaupt keine Kenntnis nimmt. Stellen Sie sich bitte vor, was geschehen würde, wenn ich als Hauptgesellschafter in der nächsten Sitzung eine derartige Beobachtung bekanntgeben müßte?« Palton verstand vollkommen. Die Erkenntnis, daß ihm sein Gegenüber jederzeit um die hochbezahlte Stellung bringen konnte, machte ihn bleich. Minutenlang war es still, dann fragte Sun Koh gelassen: »In wessen Auftrag also schrieben Sie den Brief?« 58
Palton schluckte. »Sir Harry Clipton bat mich darum. Er ist ebenfalls Aktionär. Ich konnte es ihm nicht gut abschlagen, zumal ich nichts dabei fand. Es ist doch nichts Ehrenrühriges, einen Geschäftsfreund um Unterstützung eines Bekannten zu bitten.« »Selbstverständlich nicht«, beruhigte Sun Koh. »Es wird Ihnen auch nicht der geringste Schaden daraus erwachsen. Es tut mir leid, daß ich Sie gewissermaßen erpressen mußte. Aber warum haben Sie nicht gleich gesprochen?« »Sir Harry bat mich darum«, antwortete Palton erleichtert. »Berücksichtigen Sie bitte auch, daß ich keine Berechtigung für Ihre Fragen sah.« »Richtig. Haben Sie auch das Flugzeug im Auftrag von Sir Harry nach Lagos geschickt?« »Das Flugzeug? Welches Flugzeug?« »Von London aus flog ein Flugzeug mit zwei Piloten im Auftrag der Liberia Factury Company nach Lagos und holte dort gewisse Papiere von Montrell.« Palton richtete sich auf. »Das ist ausgeschlossen, ganz ausgeschlossen. Im Auftrag der Gesellschaft ist kein Flugzeug abgegangen.« »Auch nicht in Ihrem Auftrag?« »Erst recht nicht in meinem Auftrag. Sie werden es mir nicht glauben, aber ich versichere Ihnen auf Ehrenwort, daß ich nichts von einem Flugzeug weiß.« 59
Sun Koh nickte. »Das genügt mir. Ich glaube Ihnen. Bitte setzen Sie sich wieder.« »Gott sei Dank«, stieß Palton hervor, während er sich niederließ. »Ich stehe hier vor Dingen, die ich nicht recht begreife.« Sun Koh ließ sich Zeit. »Tja«, sagte er endlich. »Tatsache ist, daß jenes Flugzeug nach Lagos flog. Die Maschine, wie auch die beiden Flieger sind ermittelt worden. Die beiden Männer behaupten allen Ernstes, im Auftrag Ihrer Gesellschaft geflogen zu sein. Sie behaupten sogar, ein gewisser Direktor Palton habe sie beauftragt.« »Unerhört!« »Sie belegen ihre Aussage allerdings nur damit, daß sich ihr Auftraggeber entsprechend vorstellte. Das geschah übrigens schon vor vielen Wochen. Die beiden wurden gebeten, sich bereitzuhalten, so daß sie schon einige Stunden nach der Beauftragung wegfliegen konnten.« Sun Koh lächelte. »In London wohnen einige Millionen Menschen, Mr. Palton. Die beiden Flieger haben Sie noch nie gesehen. Eine Gegenüberstellung würde sicher zu Ihren Gunsten ausfallen. Aber …« »Aber?« »Die mißbräuchliche Benutzung Ihres Namens kann wohl kein Zufall sein, nicht wahr? Der Auftraggeber muß Sie kennen und auch mit der Gesell60
schaft vertraut sein. Außerdem mußte er wissen, daß Montrell auf Ihren Brief hin dem empfohlenen Beja einen Gefallen tat, denn die Flieger holten ja Papiere, die Beja Montrell mit der Bitte um Weitergabe überreicht hatte. Sie verstehen, was ich sagen will?« »Vollkommen«, preßte Palton heraus. »Sie vermuten, daß Sir Harry der Auftraggeber ist?« »Diese Vermutung ergibt sich als logische Folgerung aus den Tatsachen. Ihr widerspricht allerdings, daß die Beschreibung nicht auf ihn paßt. Halten Sie Sir Harry für einen ehrenwerten Charakter?« »Unbedingt. Er ist allerdings etwas alt und sonderlich geworden. Er verläßt sich sehr auf seinen Sekretär.« »Mr. Heatfield?« »Ja.« »Und dieser?« »Er ist zweifellos sehr tüchtig«, sagte Palton ausweichend. »Sehr tüchtig«, wiederholte Sun Koh ironisch. »Aber die Personalbeschreibung paßt auch nicht auf ihn. Ich fürchte, daß die Spur zu Ende ist.« »Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann?« »Danke. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen.« »Die Freude ist auf meiner Seite.« Sun Koh ging hinaus. Die Hoffnung, die dritte Kopie wiederzuerlangen, 61
war ohnehin gering geworden. Man konnte sie höchstens noch dem Mann abnehmen, in dessen Hand alle Fäden zusammenliefen. 6. Die vierte Kopie ging an Sir Harry Clipton, London. Sir Harry Clipton stand hoch in den Fünfzigern, liebte es aber, sich jugendlich zu geben. Er war zwar mit irdischen Gütern gesegnet, litt aber nicht unter einem Überfluß an geistigen Gütern. Kein Wunder, daß er bei seinen Freunden als guter Kerl galt, den man nicht ganz für voll zu nehmen brauchte. Sun Koh besuchte ihn im Anschluß an die Unterredung mit Palton. Mr. Heatfield, der tüchtige Sekretär, empfing ihn. Dieser Heatfield ergänzte seinen Brotgeber vortrefflich, denn er besaß alle Eigenschaften und Fähigkeiten, die jenem fehlten. Er bemühte sich allerdings, das nicht zu zeigen. »Ich muß Sie bitten, mir Ihre Angelegenheit vorzutragen«, sagte er zu Sun Koh. »Sir Harry empfängt nur in besonderen Fällen, die eine persönliche Rücksprache unvermeidlich machen.« »Das dürfte wohl in diesem Fall zutreffen«, erwiderte Sun Koh harmlos. »Sehen Sie, ich komme eben von Mr. Palton, dem Direktor der Liberia Factury Company. Er hat einen Brief an einen gewissen Montrell geschrieben, mit dem er einen Mann emp62
fahl. Er behauptet, Sir Harry habe ihn zu diesem Schreiben veranlaßt. Es wäre mir nun wertvoll festzustellen, ob das den Tatsachen entspricht.« »Durchaus«, bestätigte Heatfield sofort mit größter Gleichgültigkeit. »Sie brauchen deshalb Sir Harry nicht zu bemühen. Ich weiß, daß er Mr. Palton um jenes Schreiben bat.« »Ah, das ist bemerkenswert«, meinte Sun Koh. »Sie kennen vielleicht auch die Beweggründe?« »Allerdings, es geschah auf meine Veranlassung hin. Der Mann, Beja hieß er wohl, war ein flüchtiger Bekannter von mir. Er wollte nach Liberia, wußte von Sir Harrys Beziehungen zu der Liberia Factury Company und bat mich um ein Empfehlungsschreiben. Ich versprach es ihm halb und halb, ohne mich zu verpflichten, vergaß dann die Angelegenheit wieder und wurde erst später durch einen Zufall daran erinnert. Darauf trug ich den Fall doch noch Sir Harry vor, und er erwirkte dann das Schreiben, von dem Sie sprechen. Ist etwas geschehen, was dieser selbstverständlichen Kleinigkeit besondere Bedeutung zukommen läßt?« »Man kann das wohl sagen«, meinte Sun Koh leichthin. »Dieser Beja hat wichtige Papiere geraubt.« »Oh, wie unangenehm!« rief der andere in angemessener Entrüstung. »Er übergab sie Montrell, und dieser schickte sie 63
in einem Wertbrief an die Anschrift Sir Harrys. Sie befinden sich augenblicklich noch unterwegs, werden aber zweifellos hier eintreffen. Da ich der Eigentümer der Papiere bin, möchte ich Sir Harry bitten, mir die Sendung auszuhändigen.« »Das wird selbstverständlich geschehen«, versprach Heatfield mit Nachdruck. »Es wäre Sir Harry peinlich, in eine Angelegenheit verwickelt zu werden, die nicht ganz einwandfrei ist. Ich glaube, Ihnen versprechen zu dürfen, daß der Brief nicht geöffnet wird, wenn Sie nicht anwesend sind. Wir würden Sie vom Eintreffen verständigen und ihn dann in Ihrer Gegenwart öffnen. Wenn Sie dann den Nachweis führen, daß Sie wirklich der Eigentümer sind, werden Ihnen die Papiere selbstverständlich ausgehändigt werden.« »Sehr liebenswürdig«, lobte Sun Koh. »Dann brauche ich also nur abzuwarten.« »Gewiß. Wenn Sie in dieser Angelegenheit noch mit Sir Harry zu sprechen wünschen, will ich Sie gern melden.« »Danke. Ich war davon überzeugt, daß eine Unterredung mit Ihnen genügen würde.« Heatfields Lider zuckten, doch das blieb die einzige Reaktion auf den spöttischen Tonfall. »Ganz wie Sie wünschen.« Zwei steife Verneigungen, die Unterredung war zu Ende. 64
Etwa eine Woche später händigte Heatfield die vierte Kopie aus, die er in Sun Kohs Gegenwart aus dem versiegelten Umschlag nahm. Es gab keinen besseren Beweis dafür, daß die anderen Kopien ihr Ziel erreicht hatten oder nach der Meinung Heatfields sicher erreichen mußten. Der tüchtige Sekretär war klug genug, sich nicht unnötig eine Blöße zu geben. Er händigte die Papiere bereitwillig aus. Nicht ein Schatten von Schuld konnte ihn treffen. Meinte er. Sun Koh wußte freilich bereits aus anderen Quellen, daß Heatfield ein wichtiger Agent der Agentur Mackery war und auch durch einen Mittelsmann die Flieger nach Lagos geschickt hatte. Er hütete sich jedoch, das zu verraten. Ein Gegner, der seine eigene Stellung noch für unbekannt und gedeckt hält, hat seine Annehmlichkeiten. Und diesen Mann zu stellen und zur Verantwortung zu ziehen, war völlig zwecklos, weil er eben nicht mehr als ein Agent war. Man tötet einen Tausendfüßler nicht damit, daß man ihm ein Bein abzwickt. 7. Die fünfte Kopie ging an einen Mr. John Delaby, New York. Paddy Smok war nicht gerade hübsch, konnte aber 65
als gescheiter junger Mann gelten. Doch selbst Gescheitheit verhütet nicht immer Lebenslagen, in denen einem ein trockenes Stück Brot in der Hand lieber ist als der Spickbraten in fremder Küche. In einer solchen Lage befand sich Paddy augenblicklich und trottete daher ziemlich trübsinnig über den Broadway, so trübsinnig, daß er um ein Haar seine große Gelegenheit verpaßt hätte, wenn sie nicht ziemlich unsanft gegen ihn angerannt wäre. Da Paddy Smok nicht an Ahnungsvermögen litt, stieß er eine heftige Grobheit aus. Er hängte sofort eine Entschuldigung an, denn inzwischen hatte er festgestellt, daß er mit einem Bekannten zusammengestoßen war, mit dessen Erscheinung sich durchaus angenehme Erinnerungen verbanden. Sun Koh war überrascht. »Sie sind es, Paddy? Wie kann man so schrecklich fluchen. Wie geht es Ihnen?« Paddy zuckte mit den Schultern. »Dank der gütigen Nachfrage, Mr. Sun Koh. Mit einem anständigen Frühstück im Magen würde es mir besser gehen.« »Nanu«, meinte Sun Koh verwundert, »so abgebrannt? Ich denke, Sie wollten sich selbständig machen.« »Habe ich auch gedacht«, murmelte Paddy wehmütig. »Aber meine kriminalistischen Fähigkeiten haben mich ruiniert.« 66
Sun Koh sah plötzlich nachdenklich aus. »Ihre kriminalistischen Fähigkeiten? Ja, richtig. Aber kommen Sie mal mit, wir müssen uns noch ein bißchen unterhalten.« Paddy ging um so lieber mit, als der Weg in ein Restaurant führte. Während er sich dort auf Kosten seines Gönners vollfutterte, berichtete er von seinen Schicksalen. »Tja, es ist alles schief gegangen, Sir. Und eigentlich hat es damals angefangen, als ich Ihr Zimmerkellner im Waldorf-Astoria war und den Mann faßte, der sich Ihre Koffer zu genau angesehen hatte. Sie gaben mir eine Belohnung, die mich ehrgeizig machte. Ich kaufte mir eine kleine Kneipe, aber nach einem halben Jahr war ich sie wieder los und mein Geld dazu. Ein guter Kriminalist ist noch lange kein guter Geschäftsmann, wenn ich so sagen darf.« »Warum haben Sie denn nicht wieder als Kellner gearbeitet?« »Habe ich, habe ich«, versicherte Paddy melancholisch, »aber ich bin auch wieder gekündigt worden. Sehen Sie, damals im Waldorf-Astoria war ich gerade drei Wochen. Eine Woche später wäre ich ohnehin hinausgeflogen. Das wäre dann das elftemal in meinem Leben gewesen, und ich war damals erst vierundzwanzig. Heute bin ich fast zwei Jahre älter, aber dafür auch siebzehnmal fristlos gekündigt worden. Und heute stehen ich gewissermaßen auf der 67
schwarzen Liste.« »Ja, aber warum denn? Sie waren doch ein ganz guter Kellner.« »Wird nicht bestritten«, seufzte Paddy, »aber diese Kriminalistik. Ich bin gewissermaßen der geborene Detektiv, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf. Ich lese einem Menschen das Verbrechen vom Gesicht ab und wittere hundert Meter gegen den Wind. Aber leider Gottes weiß das niemand zu würdigen. Bei Ihnen ging es gut, aber in den meisten Fällen ist es nicht so einfach, Beweise zu sammeln. Entweder war ich als Kellner nicht zu sprechen oder ich mußte mich mit unzulänglichen Beweisen begnügen, weil ich meine Pflichten nicht vernachlässigen konnte. So gab’s denn früher oder später immer einen Krach.« »Sie hätten eben Detektiv werden sollen. Haben Sie es schon bei der Polizei versucht?« »Die lacht einen glatt aus. Eigentlich wollte ich ja eine Privatdetektei eröffnen, nachdem meine Kneipe pleite gegangen war. Leider Gottes ließ ich mich bereden, mit den geretteten Pfund ein Heiratsbüro zu übernehmen. Es war schrecklich.« Sun Koh lachte. »Mein Beileid. Und wie weit ist die Detektei gediehen?« »Gediehen? Tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie sich noch einmal was stehlen, dann läßt sich eher 68
darüber reden. Haben Sie was dagegen, wenn ich jetzt mein gestriges Abendbrot nachhole?« »Essen Sie getrost, Paddy.« Eine ganze Weile herrschte Schweigen. Sun Koh musterte seinen genießenden Gast und überlegte sich dabei ernsthaft, ob der für seine Zwecke zu gebrauchen sei. Er kannte Paddy zu wenig, um sich ein abschließendes Urteil zu erlauben. Aber er hielt immerhin eine ganze Menge von ihm. Paddy wirkte ziemlich unscheinbar, doch in seinen Augen lagen Willensstärke und kühle Urteilskraft. Es sprach in diesem Fall für ihn, daß er nur selten Gelegenheit gab, das festzustellen, da er meist die Lider halb gesenkt hielt. Stark anpassungsfähig war er auch. Wie er jetzt dasaß, hielt man es kaum für möglich, daß er einen dieser aristokratischen Kellner des Waldorf abgeben konnte. Und Kriminalistik war seine Leidenschaft und wohl auch sein Talent. Eine Viertelstunde verstrich, dann wischte sich Paddy über den Mund. »So, jetzt können Sie loslegen, Sir.« »Womit?« »Was weiß ich?« sagte Paddy grinsend. »Sie haben einige Pläne mit mir, sind sich aber noch nicht ganz schlüssig. Sie können sich auf mich verlassen, das will ich Ihnen jetzt schon zusichern.« »Sie haben recht«, erwiderte Sun Koh nachdenklich. »Ich überlege, ob Sie der geeignete Mann sind. 69
Hören Sie zu, ich will Ihnen einen kleinen Fall erzählen. In England wurden wichtige Papiere gestohlen und an die Anschrift eines Mannes geschickt, der hier in New York wohnt. Dieser Mann ist Bischof einer Sekte. Er befindet sich seit vier Wochen auf Vortragsreisen und wird noch wenigstens zwei Monate unterwegs bleiben. Das Leben dieses Mannes ist bis in die Jugendjahre zurück bekannt und bietet keinen Anhaltspunkt dafür, warum er der Empfänger ist. Der Brief mit den außerordentlich wichtigen Papieren trifft voraussichtlich in diesen Tagen hier ein und wird wie jede Post durch den Türschlitz in die Wohnung geworfen werden. Wie kommt es, daß dieser Bischof solche Papiere empfängt, sie wochenlang liegen läßt, und wie kann ich den Brief an mich bringen?« Paddy dachte einen Augenblick nach. »Ganz einfach. Setzen wir voraus, daß der Bischof tatsächlich unverdächtig ist, dann ist er der Empfänger, weil er sich auf Reisen befindet. Der wahre Empfänger fürchtet, sich durch die Anschrift zu verraten. Er muß aber in der Nähe der bischöflichen Wohnung wohnen, sonst wüßte er nicht Bescheid. Vielleicht steckt er mit dem Hausmeister unter einer Decke. Diese Leute nehmen ja oft die Post für das ganze Haus entgegen.« »Das dürfte in diesem Fall zutreffen, da es sich um einen Wertbrief handelt, dessen Empfang bestätigt werden muß.« 70
»Dann ist der Hausmeister unverdächtig. Wenn man ein schlechtes Gewissen hat, läßt man nicht Briefe an eine Deckanschrift gehen, deren Empfang man bestätigen muß. Der Brief wird von einem Dritten aus der Wohnung geholt. Entweder wohnt er im Haus oder er hat sonst eine Möglichkeit, unauffällig einzusteigen. Das läßt sich nur an Ort und Stelle sehen.« »Und wie komme ich zu dem Brief?« Paddy grinste. »Man muß dem andern drei Minuten zuvorkommen. Solange ihn der Postbote in der Hand hat, ist er ziemlich sicher. Es ist möglich, daß man ihn dem Hausmeister abnimmt, es ist aber auch möglich, daß man in die Wohnung eindringt.« »Wollen Sie mir den Brief verschaffen?« »Kleinigkeit.« »Es ist keine Kleinigkeit«, gab Sun Koh ernst zurück. »Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß es sich sogar um ein recht gefährliches Unternehmen handeln könnte. Der Brief ist sehr wichtig, und die Leute, die sich ihn haben schicken lassen, dürften über weitreichende Machtmittel verfügen. Kennen Sie die Agentur Mackery?« Paddy sah überrascht auf. »Mackery? Und ob. Hat der mit der Sache zu tun?« »Vermutlich. Der Mann, der die Papiere stahl, war einer seiner Leute.« 71
Paddy stieß einen Pfiff aus. »So also? Na, das wäre nicht schlecht, Mackery ein Schnippchen zu schlagen.« »Warum haben Sie es eigentlich nicht bei ihm versucht? Er braucht doch immer Agenten?« »Ich bin kein Handelsspion oder Bravo«, entgegnete Paddy kurz. »Ich würde mich nicht darüber beunruhigen, einem Polizisten eins auszuwischen, aber grundsätzlich harmoniere ich mit dem Gesetz. Diese Mackerysche Agentur unterstützt nicht ehrliche Leute, sondern Verbrecher. Und Mackery selbst ist ein Halunke. Ja, ich war bei ihm, aber ich gab es am dritten Tag wieder auf.« »Er soll ein gefährlicher Mann sein.« »Das ist er, zweifellos. Er kennt keine Skrupel und seine Leute ebenfalls nicht. Sie haben doch hoffentlich nicht mit ihm zu tun?« »Einer seiner Leute beobachtet mich.« »Teufel, dann wird er bald Bescheid über mich wissen.« »Augenblicklich beobachtet uns niemand«, beruhigte Sun Koh. »Der Mann hatte einen kleinen Zwischenfall mit einem meiner Freunde, der ihn hinderte, mir zu folgen.« »Hm, wie oft haben Sie den Trick schon angewandt?« »Das erstemal.« »Dann ist es gut«, meinte Paddy aufatmend. »Das 72
zweitemal werden Sie nämlich zwei Leute auf Ihren Fersen haben. Trotzdem sehr leichtsinnig, wenn Mackerys Leute dahinterstecken. Sie haben sie aufmerksam gemacht. Man wird Vorkehrungen treffen.« Sun Koh nickte. »Das habe ich mir auch schon gesagt, und das ist ja gerade der Grund, warum ich mit Ihnen über diese Dinge spreche. Wir, das heißt ich und meine Freunde, sind zu bekannt, um wirksam handeln zu können. Sehen Sie, es stehen sich hier zwei Gruppen gegenüber. Zu der einen Gruppe gehöre ich. Sie ist dem Gegner im wesentlichen bekannt. Wir kennen aber den Gegner nicht, sondern nur einzelne, wahrscheinlich nebensächliche Leute. Wir vermuten auch, daß er sich der Agentur Mackery bedient. Unsere wichtigste Aufgabe ist, den unbekannten Gegner zu ermitteln. Dazu kommt als zweites, die erwähnten Papiere zurückzubekommen. Es sind fünf Kopien davon hergestellt worden, die an verschiedene Anschriften gingen, aber sicher alle in der Hand des unbekannten Gegners landen sollen.« »Dann wäre es töricht, den Brief bei dem Bischof zu stehlen. Man muß sich dem Abholer an die Fersen heften, um zum Auftraggeber zu kommen.« »Ganz recht, man könnte aber vielleicht einen Austausch mit harmloseren Papieren vornehmen.« »Stimmt auch wieder«, gab Paddy zu. »Wie gesagt, wir können wenig unternehmen. 73
Deshalb erwog ich, ähnlich wie der Gegner eine Deckorganisation einzuschieben, einige fähige Leute zu beauftragen, die alle Ermittlungen für uns vornehmen, ohne daß der Gegner jene Leute kennenlernt. Ich dachte an eine kleine Agentur oder Detektei, und als ich Sie vorhin traf, war ich gerade im Begriff, mir solche Institute zu betrachten.« »Hm.« Sun Koh lächelte. »Bei zweien war ich bereits. Sie schienen mir geeignet zu sein, um kleine Ermittlungen durchzuführen, nicht aber, um meine Absichten zu verwirklichen.« »Wie steht’s mit Pinkerton?« »Zu bekannt und zu beschäftigt. Die Leute, an die ich denke, müßten ausschließlich für mich arbeiten. An Arbeit würde es nicht fehlen, gefährlicher schwerer Arbeit, die unbedingt im Dunkeln bleiben müßte. Sie müssen sich vorstellen, daß zwei große Organisationen einen Kampf gegeneinander führen, in den diese Nachrichtenagentur mit bestimmten Aufgaben eingespannt wird. Hätten Sie Lust mitzumachen, Paddy?« Paddy nickte. »Klar. Ich sage Ihnen aber gleich, daß alles davon abhängt, ob Sie den richtigen Mann für die Leitung finden. Als Detektiv kann man immer nur Teilaufgaben erledigen. Der Mann an der Spitze muß das Gan74
ze sehen und seine Leute entsprechend einzusetzen wissen.« »Der Mann an der Spitze sollen Sie sein.« Paddy blinzelte. »Ich? Was wollen Sie damit sagen?« »Ich scherze nicht«, sagte Sun Koh. »Eine bestehende Detektei kann ich nur schwer finden. Besser ist, man baut sich eine neue auf. Ich traue Ihnen allerlei zu und kann mir denken, daß Sie der geeignete Mann sind, um sich einen Trupp wirklich fähiger Männer zusammenzuholen und mit ihm mehr zu erreichen als Pinkerton oder Mackery. Was meinen Sie dazu?« Paddy machte eine große Handbewegung und sagte schlicht: »Sie haben ganz große Einfälle, Sir. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu versichern, daß so etwas geradezu mein Traum wäre. Wahrhaftig, mit etwas Geld und freier Hand würde ich mir einen Trupp zusammenstellen, der sich sehen lassen könnte. Lauter junge Leute unter dreißig, flink, zäh, verschwiegen, spürnasig und kalt bis in die Fingerspitzen, das wäre so etwas.« »Also Sie haben Lust?« »Und ob.« »Gut. Ich hoffe, daß wir zusammenarbeiten werden. Sehen Sie sich vor allem nach geeigneten Leuten um, das wird das Schwerste sein. Außerdem mache ich ein Probestück zur Voraussetzung. Sie müssen jene Papiere beschaffen, die dem Bischof zuge75
schickt werden. Er heißt John Delaby. Darüber hinaus müssen Sie feststellen, wer der wahre Empfänger ist. Vielleicht stoßen Sie auch auf eine Spur unseres unbekannten Gegners.« »Ich würde zu einem Austausch der Briefe raten.« »Sie erhalten rechtzeitig einen Umschlag, der dem anderen völlig gleicht, so daß Sie den Austausch bewerkstelligen können.« »Wie setze ich mich mit Ihnen in Verbindung?« Sun Koh überlegte, dann sagte er: »Einstweilen wird in den nächsten Tagen hier regelmäßig um fünf Uhr nachmittags ein Mann essen, der den kleinen Finger der linken Hand verbunden hat. Mit ihm können Sie sprechen.« »Nicht schlecht«, meinte Paddy grinsend. »Genügen Ihnen zunächst fünfzig Pfund?« »Vollkommen.« »Dann leben Sie einstweilen wohl, Paddy. Geben Sie Ihr Bestes.« Paddy drückte die Hand, nachdem er das Geld eingesteckt hatte. »Sie werden von mir hören, Sir. Und – Sie haben mich heute mächtig im Dreck gefunden und mir trotzdem eine große Aussicht geboten. Das vergißt man nicht. Sie können sich auf mich verlassen.« Paddy Smok liebte es nicht, auffällig zu arbeiten. Er war der Meinung, daß man seine Erfolge so vorberei76
ten müsse, daß sie einem wie zufällig in den Schoß fielen und selbst in der kritischsten Minute noch einen unauffälligen Rückzug erlaubten. An dem gleichen Tag, an dem er mit Sun Koh gesprochen hatte, setzte er eine kleine Anzeige in die Zeitung. Nachdem er sie gedruckt vor sich sah, schrieb er einen Brief und warf ihn in den nächsten Briefkasten. Zwei Tage später schritt er leicht steifbeinig und mit zurückhaltender Miene durch die Straße, in der Delaby wohnte. Man war geneigt, ihn für einen herrschaftlichen Diener zu halten. Der Hausmeister von Nr. 84 betätigte den elektrischen Öffner und ließ ihn ein, hielt ihn jedoch im Aufgang an. »Wo wollen Sie hin?« »Zu Mr. Delaby«, gab Paddy mit gemessener Höflichkeit Auskunft. »In welchem Stockwerk wohnt er?« »Im zweiten, aber Sie können ihn nicht sprechen. Er ist verreist.« »Ach.« Paddy zog die Brauen hoch. »Verreist? Dann werde ich morgen noch einmal vorsprechen.« »Das hat keinen Zweck. Er kommt erst in zwei Monaten wieder.« »Oh, das ist aber schade. Ich hoffe nämlich, eine Anstellung als Diener zu finden. Ich schrieb auf die Anzeige, aber ich dachte mir, es sei vielleicht richtig, 77
sich auch noch persönlich vorzustellen.« »Anzeige?« fragte der Hausmeister. »Mr. Delaby sucht keine Diener. Er ist bereits seit einigen Monaten abwesend.« »Das dürfte ein Irrtum sein«, widersprach Paddy höflich und zog eine Zeitung aus der Tasche. »Sehen Sie, hier ist die Anzeige.« Der Hausmeister prüfte sie und schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht. Da muß sich geradezu jemand einen Scherz erlaubt haben.« Es klingelte. Der Hausmeister öffnete. Ein Mann trat ein, der nach Gesicht, Haltung und Kleidung ebenfalls ein Diener sein konnte. »Zu Mr. Delaby«, wandte er sich an den Hausmeister. »Ist verreist«, kam die mürrische Antwort. Der Neuankömmling zog eine Zeitung heraus. »Hier ist eine Stelle ausgeschrieben.« Paddy trat vor. »Wollen Sie sich auch bewerben? Mir wurde eben erklärt, daß Mr. Delaby seit Wochen verreist sei und so schnell nicht zurückkomme. Es soll ein Scherz gewesen sein.« »Ein Scherz?« entrüstete sich der andere. »Das geht doch wohl zu weit. Ich habe meine Papiere eingeschickt.« »Ich auch.« 78
»Tut mir leid«, knurrte der Hausmeister. »Sie müssen eben warten, bis Mr. Delaby zurückkommt.« »Das ist ausgeschlossen, ich brauche die Papiere.« »Ich auch«, rief Paddy. »Haben Sie denn die Post für Mr. Delaby nicht da? Sie müssen uns eben die Briefe herausgeben.« »Die Post wird jeden Morgen abgeholt.« Es klingelte. Ein dritter besorgter Bewerber erschien. Nachdem er aufgeklärt worden war, erklärte der Hausmeister auf eine neue Anfrage: »Sie müssen sich an Mrs. Pembroke wenden. Das ist die Haushälterin von Mr. Delaby. Sie wohnt in Williamsburg, Parkstreet 14.« Paddy zeigte Enttäuschung. »Ach, nicht hier im Haus? Sonst pflegt eine Haushälterin doch nicht…« »Sie wohnt sonst schon hier, aber augenblicklich ist sie zu Besuch bei ihrer Schwester. Sie holt nur jeden Morgen die Post, dann fährt sie gleich wieder weg.« Die drei Diener berieten sich und kamen überein, nach Williamsburg hinauszufahren, um sich ihre Papiere sofort wiederzuholen. Mrs. Pembroke war eine nette ältere Frau, die völlig außer Fassung geriet, als die drei Herren ihr Anliegen vorbrachten. Es bedurfte einiger Überredungskunst und der gedruckten Anzeige, um sie zu überzeugen, daß man keinen Scherz beabsichtigte. Als sie 79
soweit war, gestand sie dann: »Ja, meine Herren, ich habe mich allerdings schon gewundert, warum es auf einmal soviel Post war. Mr. Delaby erhält sonst nur wenig Briefe, aber gestern und heute waren es einige Stöße.« »Ich fürchte sehr«, bedauerte Paddy, »daß ebensoviele Leute bei Ihnen erscheinen werden, um Sie um Rückgabe der Bewerbungsschreiben zu bitten.« »Das ist ja schrecklich«, entsetzte sich Mrs. Pembroke. »Es tut uns ungemein leid, aber Sie werden verstehen …« »Man hat mir einen schlimmen Streich gespielt«, seufzte sie im Selbstgespräch. »Aber ich weiß schon, es kann nur Percy gewesen sein. Sie müssen wissen, daß meine Schwester einen Jungen hat, der ist zwanzig und bereitet uns manche Sorge.« »Man darf solche Dinge nicht tragisch nehmen«, murmelte Paddy. »Ist das Ihr Neffe?« Die Frau blickte ebenfalls durch das Fenster in den Vorgarten, durch den eben ein junger Mensch mit hängenden Schultern auf das Haus zuschlenderte. »Das ist er. Den ganzen Tag treibt er sich in schlechter Gesellschaft herum. Ja, meine Herren, was soll ich bloß tun? Ich kann Ihnen doch nicht einfach irgendwelche Briefe aushändigen?« Die drei versicherten, daß sie ihre Briefe erkennen würden und machten drüber hinaus alle nötigen An80
gaben, so daß es wirklich nicht schwer war, die richtigen Schreiben herauszufinden. So nahm Paddy die Spur auf. Er zweifelte kaum daran, daß der hoffnungsvolle Neffe der Haushälterin einen guten Freund besaß, der ihn im gegebenen Augenblick veranlassen würde, aus der unbewachten Post den wichtigen Brief herauszunehmen. Das war ganz Mackerys Methode. Daß der Junge darüber zum Dieb wurde, kümmerte ihn wenig. Paddy holte sich zwei Leute, die er gut im Gedächtnis hatte. Der eine arbeitete noch als Zigarettenboy und war gerade mündig geworden, der andere war mit Paddy gleichaltrig und versuchte, ein berühmter Reporter zu werden. Der Jüngere freundete sich innerhalb von zwei Tagen mit dem Neffen von Mrs. Pembroke an und ermittelte den Mann, der zur Zeit im Leben dieses Neffen eine bedeutende Rolle spielte. Der Ältere setzte bei jenem Mann ein und schloß die Kette durch die Feststellung, daß es sich um einen Beauftragten Mackerys handelte. Also wußte Paddy, daß der Brief bei Mackery landen sollte. Wohin er von dort aus gehen sollte, ließ sich im Augenblick unmöglich sagen. Zunächst brachte sich Paddy in den Besitz des Briefes. Er hatte sich einen Plan ausgedacht, der gewissermaßen dreifache Sicherung bot. Zunächst wollte er selbst es versuchen. Wenn ihm das nicht gelang, soll81
te der ehemalige Zigarettenboy einspringen, und wenn das fehlschlug, mußte der letzte Mann mit einer kleinen Gewalttat nachhelfen. Auf der Post hatte man ihm bereitwillig erzählt, wann ein Brief, der mit einem bestimmten Dampfer eintraf, zur Austragung kommen würde. Zum erstmöglichen Termin schlenderte Paddy hinter dem Briefträger her, und als dieser das Haus Nummer 84 betrat, sorgte er dafür, daß die Tür nicht wieder einschnappte. Er atmete auf, als er drinnen den Briefträger sagen hörte: »Ein Wertbrief für Mr. Delaby. Sie müssen unterschreiben.« »Geben Sie her«, meinte der Hausmeister. Etwas später trat der Briefträger wieder heraus. Paddy stand etwas abseits. Das Hölzchen, das er eingeschoben hatte, verhütete auch ohne seine unmittelbare Nähe das Schließen der Tür. Er war gerade im Begriff, sie aufzudrücken, als er Schritte hörte, die von oben herunterkamen. Da wartete er. Ganz plötzlich stieg das unbehagliche Gefühl in ihm auf, daß er eine bedeutsame Möglichkeit doch zu wenig beachtet hatte. Eigentlich war doch jeder Bewohner des Hauses in der Lage, die genaue Ankunft des Briefes festzustellen. Er brauchte nur den Moment abzupassen, in dem der Briefträger das Haus betrat. Wenn er dann im Treppenhaus horchte, konnte er die Ankündigung des Wertbriefes genau so gut vernehmen, wie Paddy es durch den Türspalt gehört hatte. 82
Die Schritte hielten an. »Post für Mr. Benders?« »Jawohl, einen Augenblick – oh …« Es war ein komisches Stöhnen, dann knisterten Briefe. Paddy hielt es für angezeigt, einzutreten. Er sah einen unauffällig gekleideten Mann, der bemüht war, einen gelben versiegelten Umschlag in die Seitentasche seines Rockes zu stecken. Der Mann war im Begriff, auf die Tür zuzugehen. Paddy wußte genug. Der andere fuhr etwas zusammen, geriet aber nicht weiter in Verlegenheit, sondern erkundigte sich barsch. »Was wünschen Sie? War denn die Tür nicht verschlossen?« »Verzeihung, sie war offen«, murmelte Paddy und bemühte sich, sein Gesicht nicht zu sehr zu zeigen. »Ich wollte den Hausmeister sprechen und mich erkundigen, ob Mr. Delaby noch nicht zurück ist. Er suchte einmal einen Diener und da …« »Ach so«, meinte der andere erleichtert und kam Paddy einige Schritte entgegen, da dieser an das Glasfenster treten wollte. »Ich bin der Vertreter des Hausmeisters. Mr. Delaby ist noch nicht zurück.« »Das tut mir sehr leid. Wenn ich Sie bitten dürfte, diese Empfehlung zu hinterlegen für den Fall, daß er bei seiner Rückkehr Bedarf hat.« Der andere nickte und streckte die Hand aus. 83
»Geben Sie her, den Gefallen will ich Ihnen tun.« Paddy war bei Hin- und Widerrede genügend weit herangekommen. Jetzt warf er sich vor und schlug zu. Er hatte Glück, so gut zu treffen, daß der Mann gegen die Wand taumelte und zur Gegenwehr unfähig wurde. Paddy vergrößerte die Wirkung durch einen zweiten Schlag, riß dann schnell den wichtigen Brief aus der Tasche des anderen und eilte fort. Er hielt es für zwecklos, den Ersatzbrief unterzuschieben. Der Überfallene wußte genau, warum er niedergeschlagen worden war. Am Abend dieses Tages wurde Paddy durch den Mann mit dem verbundenen Finger auf mancherlei Umwegen zu Sun Koh geführt. Sun Koh prüfte aufmerksam die Papiere durch. »Es sind die richtigen«, stellte er fest. »Sie haben ausgezeichnet gearbeitet, Paddy. Erzählen Sie.« Paddy gab kurz und sachlich einen Bericht. »War das nicht etwas leichtsinnig?« fragte Sun Koh bedenklich, als Paddy zu Ende war. Paddy hob die Schultern. »Es blieb mir nichts anderes übrig. Dummerweise war ich fest davon überzeugt, daß der Brief den Weg über den Neffen der Haushälterin nehmen sollte. Aber so ist Mackery, er sichert sich gern doppelt und dreifach. Er schickte den Diener von Mr. Benders vor, erst wenn dem die Sicherstellung mißlungen war, sollte der Brief den anderen Weg gehen. Nun, es 84
ist mir trotzdem gelungen, ihn zu bekommen, denn so schnell wie Mackerys Leute handle ich auch.« »Gewiß, ich fürchte nur, daß jener Mann Sie leicht wiedererkennen könnte.« Paddy schüttelte den Kopf. »Das ist nicht zu befürchten. Der Flur war halbdunkel, und ich hielt den Kopf gesenkt, so daß der Hut das meiste verdeckte. Ich trug als besonderes Kennzeichen zwei nebeneinanderliegende Goldzähne, das wird das einzige sein, was sich der Mann einprägen konnte.« »Sie trugen zwei falsche Goldkappen?« »Ja. Einer der kleinen Tricks, auf die man heutzutage Verkleidungen beschränkt.« Eine Weile herrschte Schweigen, dann fragte Sun Koh: »Sie wollen versuchen, den Auftraggeber Makkerys zu finden?« »Ich will es versuchen«, erwiderte Paddy vorsichtig. Sun Koh reichte ihm die Hand. »Schön, dann will ich Sie entsprechend beauftragen. Sie erfahren die weiteren Einzelheiten durch den Mann, der Sie hergebracht hat.« Paddy verabschiedete sich. 8. Gegen elf Uhr vormittags wurde Sun Koh davon verständigt, daß Paddy Smok schwerverletzt im Kran85
kenhaus liege und ihn zu sprechen wünsche. Sun Koh fuhr zusammen mit Hal sofort in das angegebene Krankenhaus. »Es ist aus mit der Detektei«, erklärte er mühsam. »Sie müssen sich schon einen anderen Mann suchen. Mich haben sie erwischt, bevor ich noch anfangen konnte.« »Ich hörte, Sie seien von einem Auto überfahren worden«, sagte Sun Koh. »Natürlich, es war ein Auto. Aber ich wette, daß der Wagen nicht aus Versehen plötzlich anfuhr, als ich auf die Fahrbahn gestoßen wurde. Ich stand schon beizeiten heute morgen in der Nähe von Makkerys Büro und beobachtete. Dabei kümmerte ich mich nicht weiter um das, was in meiner unmittelbaren Nähe vorging, stand auch dummerweise nahe an der Bordkante. Jedenfalls erhielt ich plötzlich von hinten einen Stoß, taumelte nach vorn auf die Straße und kam dabei unter einen Wagen, der gerade scharf anfuhr. Den Fahrer trifft natürlich keine Schuld, die Polizei sucht den Mann, der mich gestoßen hat. Sie wird ihn kaum finden.« »Sie glauben, daß man Ihre Rolle durchschaut hat?« »Davon bin ich überzeugt. Vielleicht ist der Diener gestern doch schneller wieder auf den Beinen gewesen, als ich dachte, und hat mich gestern schon verfolgt. Ich werde Ihnen kaum mehr viel nützen 86
können, wenn auch meine Verletzungen nach wenigen Wochen ausgeheilt sind.« Das war eine unangenehme Mitteilung. Sun Koh konnte zwar Paddy über dessen Zukunft beruhigen, aber Sun Koh selbst stand nun wieder ohne die Hilfe des brauchbaren jungen Mannes da. »Wir müssen uns selbst helfen«, sagte er nachdenklich zu Hal Mervin, als sie das Krankenhaus verließen. »Ich sehe allerdings noch keine Möglichkeit, diese Agentur zu überwachen.« Als sie in ihre Wohnung zurückkehrten, fanden sie dort eine Nachricht, die das Schwergewicht völlig verlagerte. Monsieur Chelange, der Pariser Empfänger einer Kopie, war unter Beobachtung gestellt worden, nachdem er von seiner angeblichen Geschäftsreise zurückgekehrt war. Der Mann, der diese Beobachtung durchführte, teilte mit, daß Chelange im Briefwechsel mit einem gewissen Dutley stehe. Dieser Dutley wohne im Hotel »Biltmore« in New York, und es sei anzunehmen, daß er der wahre Empfänger der Kopien sei. »Das ist ein wichtiger Hinweis«, sagte Hal erleichtert. »Vielleicht auch nicht«, warnte Sun Koh. »Aber wir müssen diesen Dutley auf jeden Fall beobachten, nicht wahr?« »Es wird uns nichts anderes übrig bleiben. Wenn 87
Dutley allerdings mit Mackery in Verbindung steht, sind unsere Anstrengungen von vornherein überflüssig, denn dann weiß der Bescheid, wer wir sind. Einige Aussicht haben wir nur, wenn er nicht mit, sondern neben Mackery und unabhängig von diesem tätig ist. Dann könnte er uns vielleicht den Weg zu unserem Unbekannten zeigen.« »Wenn er es nicht selbst ist.« »Das werden wir sehen.« Sun Koh und Hal Mervin zogen in das Hotel »Biltmore« ein. Dutley wirkte inhaltslos und nichtssagend, dafür war er aber stets gut angezogen, hatte die Haare einwandfrei gescheitelt, die Fingernägel manikürt und was der Kleinigkeiten mehr sind. Es war nicht schwer, an ihn heranzukommen. Er führte ein denkbar harmloses Leben. Seine Tätigkeit erschöpfte sich darin, zu den verschiedenen Tageszeiten in den verschiedenen Hotelräumen herumzusitzen und mit allen ein bißchen herumzuschwatzen, die ihm über den Weg liefen. Geld besaß er zweifellos, sonst hätte er sich den längeren Aufenthalt im »Biltmore« kaum leisten können. Eine regelmäßige Beschäftigung, die ihm Geld einbrachte, ließ sich nicht nachweisen. Während sich Hal Mervin möglichst im Hintergrund hielt, sorgte Sun Koh recht bald für eine nähere Bekanntschaft. Er nahm eines Tages unmittelbar 88
neben Dutley Platz, gab ihm Gelegenheit, ein Gespräch anzuknüpfen, und sich die Möglichkeit, das Gesicht dieses Mannes genau zu beobachten. Nichts an Dutley verriet, daß Sun Koh eine besondere Bedeutung für ihn hatte. Auch seine Worte gaben keinen Hinweis darauf. Er redete über alle möglichen Dinge, horchte auch ein bißchen aus, blieb aber stets neutral. Ohne die Mitteilung aus Paris hätte Sun Koh diesen Mann für harmlos gehalten. Er war sogar geneigt, an eine irreführende Spur zu glauben. »Der Mann ist eine Null«, sagte er zu Hal Mervin. »Wenn er mit unserer Angelegenheit zu tun hat, so dürfte er nicht mehr als ein Statist sein.« Sie beobachteten ihn trotzdem weiter. Eine Verbindung mit Mackery schien nicht zu bestehen. Genaues ließ sich allerdings nicht sagen. Es war unmöglich, alle die Gespräche zu überwachen und die Leute zu kennen, mit denen sich Dutley unterhielt. Die Tage verliefen ereignislos. Sie hatten eigentlich nur den einen Erfolg, daß Sun Koh und Hal Mervin mehr und mehr Dutley’s Gewohnheiten und Stimmungen kennenlernten. Das war ein recht geringer Erfolg. Es dauerte eine ganze Woche, bevor das Einerlei unterbrochen wurde. »Dutley ist heute recht aufgeregt«, stellte Sun Koh fest, als er in einiger Entfernung von dem Beobachteten zusammen mit Hal das Frühstück einnahm. 89
»Ja, er ißt hastiger als sonst und hat auch schon zweimal auf die Uhr geblickt. Vielleicht erwartet er jemand?« »Oder er will fort. Laß lieber den Wagen herausfahren.« Hal ging weg. Als er zurückkam, erhob sich Dutley schon. »Er will fort«, sagte Sun Koh. »Warte einen Augenblick, dann folgst du ihm. Sei vorsichtig und gib bald Bescheid. Ich warte.« Dutley nahm sich draußen einen Wagen. Hal folgte in angemessenem Abstand. Er merkte bald, daß Dutley zum erstenmal in diesen Tagen Wert darauf legte, niemanden aus dem Hotel in seiner Nähe zu wissen. Hal konnte das Gesicht Dutleys wiederholt am Rückfenster wahrnehmen. Dutley beobachtete also, ob er verfolgt würde. Unter diesen Umständen mußte ihm Hals Wagen unbedingt auffallen. Daß das geschehen war, erkannte Hal auch bald. Der Wagen fuhr nämlich ziemlich planlos durch die Stadt, bald langsam, bald schnell. Dutley versuchte, seinen Verfolger abzuschütteln. Hal entschloß sich, den eigenen Wagen aufzugeben und ein Taxi zu nehmen. Dabei hätte er um ein Haar Dutley verloren. Der Taxifahrer war jedoch geschickt genug, um den allzu großen Vorsprung wieder aufzuholen und den Abschluß von neuem zu erreichen. 90
Der Trick genügte wohl. Dutleys Gesicht wurde noch ein paarmal sichtbar, verschwand dann aber ganz. Der vordere Wagen fuhr auf sein Ziel zu. Er hielt vor der Equitable. Dutley stieg aus und huschte hinein. Bevor Hal ebenfalls den Wagen verlassen und das Gebäude betreten konnte, war mindestens eine volle Minute vergangen. Natürlich war von Dutley drinnen nichts mehr zu sehen. Der Menschenstrom besaß nicht genügend Dichte, daß er sich darin verlieren konnte, aber da flitzten ununterbrochen die Aufzüge nach oben, und in einem von diesen würde er wohl stehen. Hal verwünschte voll Wut diese Wolkenkratzer, in denen ein Mensch spurlos verschwinden konnte. Es war aussichtslos, im Equitable einen Menschen suchen zu wollen, der eine volle Minute Vorsprung besaß. In seinen zweiundachtzig Stockwerken befinden sich nicht weniger als sechstausend Geschäftsräume. Achtunddreißig Aufzüge bewältigen den Verkehr innerhalb des Gebäudes. Dieses Equitable ist wie alle die bedeutenden Wolkenkratzer New Yorks und anderer amerikanischer Städte eine ganze Stadt mit Zehntausenden von Einwohnern. Sie ist nur nicht horizontal gelagert, sondern vertikal. Hal verzichtete auf eine Fortführung der Verfolgung, blieb aber noch weiter im Equitable. Er hoffte, Dutley wenigstens beim Verlassen des Gebäudes 91
wieder zu entdecken. Er hatte sich gerade entschlossen, eine Telefonzelle aufzusuchen, um Sun Koh Nachricht zu geben, als er angerufen wurde. »Hallo, Mr. Mervin, auch unterwegs?« Es war Mr. Brinken, einer der Gäste des »Biltmore«, mit dem Hal in den letzten Tagen bekannt geworden war. Der joviale Brinken erwartete keine Antwort auf seine Frage, sondern schlug Hal wohlwollend auf die Schulter und erklärte weiter: »Heute scheint sich das ganze Hotel hier ein Stelldichein zu geben. Eben traf ich schon Mr. Dutley, der ja auch im Biltmore wohnt.« »Sie haben Mr. Dutley getroffen?« »Na sicher«, erklärte der Holländer. »Suchen Sie ihn?« »So ähnlich«, gab Hal zu. »Wo haben Sie ihn gesehen?« »Er ging gerade auf die Hauptterrasse, als ich ihm begegnete.« »Danke.« Hal eilte fort, sprang in einen der aufgehenden Lifts und ließ sich mit nach oben nehmen. Die Hauptterrasse war der Dachstreifen des untersten Gebäudeblocks, der den schmaleren Mittelblock umgab. Sie besaß immerhin eine Breite von gut fünfzehn Metern. Einesteils wurde sie durch die aufstrebenden Wände des mittleren Blocks beherrscht, an92
dererseits durch fast fünfzig Meter hohe Turmbauten, die man in die Ecken gesetzt hatte, um die Härte der nackten Baulinien zu mildern. In ihnen befanden sich Wirtschaftsbetriebe, von denen aus die zahlreichen Gäste dieser Terrasse versorgt wurden. Man hatte die Terrasse selbst zu Gärten ausgestaltet, die den Bewohnern und Besuchern des Gebäudes Erholung boten. Es saß sich nicht schlecht hier oben, mehr als hundert Meter über dem Getriebe des Straßenlebens. Hal Mervin pirschte sich vorsichtig vorwärts. Er wollte vermeiden, von Dutley gesehen zu werden, da ihn dieser sicher als seinen Verfolger erkannt hatte. Er entdeckte den Gesuchten verhältnismäßig schnell. Dutley saß in einem der glasüberdeckten Räume und unterhielt sich mit einem anderen Mann, der Hal Mervin bekannt vorkam, ohne daß er sich erinnern konnte, wo er ihn schon einmal gesehen hatte. Die beiden machten nicht den Eindruck, als ob sie schnell wieder aufbrechen wollten. Hal zog sich deswegen zurück, suchte eine Telefonzelle auf und verständigte Sun Koh. Sun Koh versprach, sofort zu kommen. Hal Mervin suchte sich nun einen Platz, von dem aus er die beiden Männer beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Dann wartete er. Für seine Ungeduld dauerte es unendlich lange, bis Sun Koh eintraf. Er atmete auf, als er ihn endlich auftauchen sah. 93
Sun Koh sah sich den Fremden gründlich an, dann sagte er: »Ja, wir haben ihn schon gesehen. Wenn ich mich nicht irre, war es in Santa Fé.« Da zündete es auch bei Hal. »Ja«, stimmte er eifrig bei. »Es war in Santa Fé. Herrgott, ich habe mir schon den Kopf zerbrochen, und bin nicht daraufgekommen. Aber damals wirkte er ziemlich wildwestmäßig und war nicht rasiert, während er jetzt den eleganten Maxe spielt. Er gehörte zu der Bande Juan Garcias.« »Ja«, erwiderte Sun Koh nachdenklich, »er gehörte zu Juan Garcia. Es wäre wirklich wichtig zu wissen, ob er heute noch zu Juan Garcia gehört.« Hal zog die Brauen hoch. »Donnerwetter, dann hätten wir jetzt vielleicht doch den richtigen Anschluß? Juan Garcia könnte unser großer Unbekannter sein.« »Ja, er ist einer der wenigen, die Genaueres über uns wissen, eigentlich der einzige.« Hal dachte nach. »Hm, andererseits hat er es aber nicht nötig, uns Papiere zu stehlen, um etwas über uns zu erfahren. Er weiß doch genügend.« Sun Koh blickte unentwegt zu den beiden hinüber. »Gewiß, aber nimm an, daß er einem Dritten sein Wissen beweisen will? Juan Garcia allein ist nicht stark genug, um uns zu schaden. Vielleicht sucht er mächtige Verbündete? Dann wird er seinen zukünfti94
gen Verbündeten eindeutig beweisen müssen, daß seine Mitteilungen auf Wahrheit beruhen. Damit kann man wohl erklären, daß auch Juan Garcia hinter dem Diebstahl der Papiere stehen könnte.« »Hm, allerdings«, stimmte Hal zu. »Wir müßten den Fremden weiter verfolgen. Da – sehen Sie, Dutley zerreißt etwas.« »Ich sehe es. Es ist ein dicker Brief.« »Jetzt wirft er alles in den Papierkorb. Das werden wir nachher herausholen.« »Halte dich bereit, die beiden zahlen.« Dutley und der Fremde verließen die Terrasse. Sun Koh folgte ihnen in geringem Abstand. Hal eilte zu dem bewußten Papierkorb und holte sich die Schnitzel heraus. Dann rannte er hinter Sun Koh her. Die beiden Männer waren nach unten gefahren. Sun Koh und Hal folgten ihnen im nächsten Fahrstuhl. Sie fanden die anderen noch in der Halle und hatten später leicht Gelegenheit, dem Fremden im Auto zu folgen. Während der Fahrt packte Hal seine Beute aus. »Donnerwetter«, murmelte er. »Eine der Kopien«, sagte Sun Koh. »Die Teilstükke sind infolge der Chiffren unverkennbar.« Hal schüttelte den Kopf. »Jetzt verstehe ich aber nichts mehr. Dieser Dutley zerreißt eine der Kopien?« Sun Koh blickt düster drein. 95
»Nie ist die Lage klarer gewesen als jetzt. Unsere Bemühungen sind zwecklos gewesen. Dieser zerrissene Brief ist ein eindeutiger Beweis dafür, daß die letzte Kopie ihr Ziel bereits erreicht hat. Vier Abzüge gelangten nun in unsere Hände zurück, die fünfte aber besitzt der unbekannte Gegner und hat von ihr schon Gebrauch gemacht oder sie wiederum vervielfältigt. Dutley hat den Brief zerrissen, weil er nicht mehr gebraucht wurde.« »Das ist dumm. Er hat ihn jedenfalls dieser Tage ins Hotel geschickt bekommen und wollte ihn heute übergeben, nicht wahr?« »Höchstwahrscheinlich. Er hätte sich den Aufenthalt im »Biltmore« ebenso sparen können wie wir. Es scheint übrigens, daß wir zum Flugplatz hinausfahren.« So war es auch. Die Fahrt endete auf dem Flugplatz. Der Fremde stieg in eine bereitstehende Privatmaschine und flog in Richtung Westen fort. Sun Koh ließ das eigene Flugzeug aus einem Hangar ziehen. »Wir wollen ihm folgen«, entschied er. »Da er ein Flugzeug benutzt, läßt sich annehmen, daß er unmittelbar dorthin fliegt, wo wir unseren Unbekannten finden können.« Sie flogen hinter der anderen Maschine her. Das Wetter blieb klar, so daß sie das andere Flugzeug nicht aus den Augen verloren. 96
Die Fahrt ging über die Watchung Mountains nach Westen. Das Ziel war Pittsburg. Während Sun Koh landete, gab er Hal Anweisung. »Du steigst sofort aus und nimmst Fühlung auf. Ich folge dir, sobald die unvermeidlichen Förmlichkeiten erledigt sind. Sollte ich zu lange aufgehalten werden, warte ich hier auf deine telefonische Mitteilung.« »Wird gemacht«, versprach Hal, dem nichts lieber war als derartige Aufträge. Er rannte auch gleich los. Es wurde höchste Zeit, daß er Anschluß bekam. Der Fremde hatte bereits alles geordnet und war im Begriff, stadteinwärts zu fahren. Hal folgte ihm bis zu einem villenartigen Gebäude, das am anderen Ende von Pittsburg stand. Das Haus war genauso klein, wie er es sich vor einigen Stunden gewünscht hatte, als er im riesigen Equitable stand. Aber jetzt paßte ihm auch das wieder nicht. Wie sollte er hier hineinkommen? Der Eingang konnte vom Haus aus übersehen werden, und hell war es auch noch. Hal überlegte eine Weile, dann sagte er sich, daß es allein auf die Feststellung ankam, ob Juan Garcia in diesem Haus wohnte oder nicht. Das Namensschild an der Gartentür besagte darüber leider nichts. Die Feststellung konnte aber verhältnismäßig leicht gemacht werden. 97
Hal schickte den Taxifahrer mit dem Auftrag fort, Sun Koh zu benachrichtigen. Er selbst ging auf den Eingang des Hauses zu und klingelte. Ein Mann, der ihm unbekannt war, offenbar ein Diener, öffnete. »Sie wünschen?« »Ist Mr. Garcia zu sprechen«, erkundigte er sich forsch. Der Diener musterte ihn mit ungeheucheltem Erstaunen. »Mr. Garcia? Den kenne ich nicht. Hier wohnt nur Mr. Richardson.« »So?« fragte Hal. »Er hat zwar eben Besuch empfangen, aber melden Sie mich trotzdem. Ich muß ihn dringend sprechen. Ich heiße – hm, Heatfield heiße ich, ich komme aus London.« Der Diener hob die Schultern. »Ich will es versuchen. Wenn Sie inzwischen eintreten wollen?« Hal ließ sich in der dunklen kleinen Vorhalle auf einem Stuhl nieder. Ganz wohl war ihm nicht zumute. Wenn Juan Garcia wirklich in diesem Haus steckte, konnte es eine unangenehme Auseinandersetzung geben. Irgendwo klangen Stimmen, dann erschien der Diener wieder. »Mr. Richardson läßt bitten.« Hal folgte und überlegte dabei eifrig, was er wohl 98
sagen konnte, wenn dieser Richardson eine ganz unbekannte Persönlichkeit war. Er hätte sich die Sorgen darüber sparen können. In dem Zimmer, in das er geführt wurde, stand Juan Garcia. »Welche Freude, Mr. Heatfield aus London«, rief er höhnisch. »Nehmen Sie ihm die Waffen ab, wenn er welche bei sich hat, Jim. Besser ist besser.« Hal hielt es für zwecklos, sich zur Wehr zu setzen. Er ließ sich von dem Mann, dem er gefolgt war, abtasten und die Pistole aus der Tasche ziehen. Die Waffe konnte doch nicht viel nützen, hier war Frechheit mehr wert. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Mr. Richardson«, erwiderte er im gleichen spöttischen Tonfall. »Wenn Sie sich andere Namen zulegen, kann ich das schon lange. Ich hatte allerdings nicht gedacht, daß ich Sie hier treffen würde.« Juan Garcia kniff die Augen zusammen. »So, und warum bist du dann hierher gekommen?« Hal wies auf den andern. »Ich wollte jenen Herrn sprechen. Er hatte es in New York so eilig, daß ich ihn nicht mehr einholen konnte. Oder denken Sie etwa, ich wäre so einfach hier hereingestolpert, wenn ich Sie hier vermutet hätte? So gute Freunde sind wir auch wieder nicht.« »Stimmt auffallend«, pflichtete Garcia ihm spöttisch bei. »Aber das wird sich gleich ändern. Ich ha99
be noch immer Leute in guter Erinnerung behalten, die mir nicht mehr schaden können.« »Sparen Sie sich Ihre halbdunklen Andeutungen«, wies Hal zurück. »Die sind bei uns nicht beliebt. So dumm war ich natürlich auch wieder nicht, um hierher zu kommen, ohne mich zu decken. Es dürfte Ihnen ein bißchen schwerfallen, mich verschwinden zu lassen, verstanden?« »Damit hat mich schon mancher einschüchtern wollen«, gab Garcia bedeutungsvoll zur Antwort. Hal schüttelte den Kopf. »Wenn der Mensch wirklich durch Erfahrungen klug werden würde, müßten Sie vor Weisheit strotzen. Ich will Sie nicht einschüchtern, sondern Sie nur darauf aufmerksam machen, daß es leichtsinnig von Ihnen wäre, hier etwa ein Melodrama zu beginnen. Das Gescheiteste, was Sie tun können, ist, mich mit diesem Herrn fünf Minuten allein zu lassen und mir dann die Haustür aufzuschließen.« »Ach nee«, höhnte Garcia, aber es war ihm anzumerken, daß er sich nicht völlig sicher fühlte. Er trat sogar zum Fenster und blickte angestrengt hinaus. »Was wollen Sie denn von mir?« fragte der Mann. »Tja«, begann Hal. »Eigentlich nicht viel. Ich wollte nur gern von Ihnen hören, was Sie mit jenem Dutley in New York zu tun hatten.« »Was willst du wissen?« »Ich sagte es schon. Ich habe diesen Herrn mit ei100
nem gewissen Dutley in New York zusammen gesehen.« »Na und?« Hal hatte sich inzwischen auf eine Linie festgelegt. Er berichtete möglichst harmlos: »Die Angelegenheit ist etwas umständlich, Señor Garcia. Es sind da wichtige Papiere gestohlen worden. Wir erhielten Bescheid, daß sie sich bei diesem Dutley einfinden könnten. Bis jetzt haben wir nichts davon gemerkt, aber wir beobachteten heute Dutley, wie er mit diesem Herrn sprach. Deshalb sind wir ihm gefolgt.« »Wir – wer ist das?« »Sun Koh und ich.« »Sun Koh ist auch unterwegs?« »Was dachten Sie denn? Ich sagte Ihnen doch schon, daß ich nicht ohne Deckung hergekommen bin.« »Hm, und nun denkt ihr, ihr könnt die Papiere bei mir finden?« Hal tat erstaunt. »Bei Ihnen? Wieso bei Ihnen? Sie brauchen doch keine Papiere von uns zu stehlen, da Sie doch ohnehin genug Bescheid wissen?« Diese Überlegung kam Garcia sicher überraschend. Er stutzte und schwieg dann lange, wobei er Hal unentwegt anblickte. »So?« fragte er schließlich. »Immerhin schmeichelhaft, daß ihr mir nicht alles zutraut.« 101
»Das schon«, widersprach Hal, »aber es ist nicht zu sehen, wo für Sie der Nutzen liegen sollte. Wir haben bisher nicht gedacht, daß Sie im Spiel sein könnten, obwohl wir diesen Mann schon einmal mit Ihnen zusammengesehen haben. Wenn Sie natürlich wirklich der Mann sind, der hinter den Papieren steckt, dann …« »Unsinn«, krächzte Garcia sofort. »Was habe ich mit der Sache zu schaffen? Jim besucht mich zufällig. Wie steht das, Jim, kennen Sie diesen Dutley?« »Ein flüchtiger Bekannter von mir«, brummte der Gefragte. »Sie haben ihn in New York getroffen?« »Ganz zufällig. Ich traf ihn im Equitable und setzte mich ein paar Minuten mit ihm zusammen.« »Hm, und was ist mit den gestohlenen Papieren?« Der Mann hob die Schultern. »Keine Ahnung. Dutley hat mir nichts darüber erzählt.« Juan Garcia wandte sich an Hal. »Mir scheint, ihr seid einer falschen Spur nachgegangen.« »Mir auch«, gab Hal mürrisch zurück. Es fiel ihm nicht leicht, denn lieber hätte er Garcia ins Gesicht gelacht. »Sehr peinlich«, meinte Garcia grinsend. »Auch wieder richtig«, gab Hal zu. »Ist aber nicht zu ändern. Also will ich Sie nicht weiter stören. Ge102
ben Sie mir meine Pistole wieder.« Jetzt lachte Juan Garcia auf. »Nicht übel. Ich will doch lieber erst einmal abwarten, ob du nicht allein gekommen bist. Die Gelegenheit wäre zu günstig, dich – äh, verdammt…« Hal Mervin erblickte gleichzeitig mit Garcia Sun Koh, wie der draußen am Zaun entlang ging und das Gebäude musterte. Juan Garcia machte eine Handbewegung. »Na schön, du hast tatsächlich vorgesorgt. Aber ein Weilchen wirst du schon noch hierbleiben müssen. Jim, bewache ihn einstweilen, ich komme gleich wieder.« Er ging hinaus und kam nicht wieder. Hal Mervin wurde unruhig, Jim wurde unruhig. Eine Viertelstunde verging. Jetzt kam Sun Koh mit schnellen Schritten auf das Haus zu und klingelte. Der Diener schien nur darauf gewartet zu haben. Er öffnete jedoch nicht die Haustür, sondern erschien an der Tür des Zimmers und erklärte unsicher: »Ich bitte um Verzeihung, meine Herren, aber ich habe den Auftrag, ich soll…« »Wo ist Mr. Richardson?« fragte Jim barsch. »Er hat das Haus vor zehn Minuten durch den rückwärtigen Ausgang verlassen, nachdem er noch schnell einen kleinen Koffer gepackt hat.« »Teufel noch mal!« fluchte Jim auf. »Und mich hat er hier sitzen lassen?« 103
»Er beauftragte mich, Ihnen diesen Brief zu überreichen. Sie möchten ihn sofort verbrennen.« Jim riß den hingehaltenen Brief auf. Es standen nur wenige Worte darauf, Hal konnte sie aber nicht entziffern. Schlecht konnte die Mitteilung nicht sein, denn Jims Gesicht hellte sich auf. »Es ist gut«, sagte er. »Warten Sie noch einige Minuten, bevor Sie die Haustür öffnen.« Ein Streichholz flammte auf, der Brief verwandelte sich in Asche. »So«, schloß Jim ab und steckte endlich seine Waffe ein. »Das wäre erledigt. Versuchen Sie lieber nicht, mich noch einmal zu verfolgen, sonst könnte die Sache anders ausgehen.« Damit ging er hinter dem Diener hinaus und schloß die Tür hinter sich zu. Hal strengte sich nicht mehr an. Unten klingelte Sun Koh Sturm, etwas später wurde ihm geöffnet. Der Diener wies ihn nach oben und bat zugleich um Entschuldigung. Sun Koh atmete erleichtert auf, als er Hal wohlbehalten vorfand. »Ich fürchtete, du wärst in eine Falle geraten«, sagte er, während sie das Haus verließen. »Ich war schon in einer Falle«, erzählte Hal, »aber Garcia hatte zuviel Angst vor Ihnen. Als er Sie draußen sah, suchte er das Weite.« »Du hast mit Juan Garcia gesprochen?« 104
»Ja. Er ist der große Unbekannte, den wir suchen. Ich habe allerdings so getan, als ob wir ihn für unverdächtig hielten. Ob er das wirklich geglaubt hat, weiß ich nicht. Jedenfalls hat er es vorgezogen, zu verschwinden. Als er Sie draußen sah, ging er durch die Hintertür ab. Er hat genügend Vorsprung.« »Wir werden ihm auch nicht folgen. Früher oder später werden ihn unsere Leute aufstöbern können. Das Wichtigste ist, daß wir nun wissen, wer unser großer Unbekannter ist.« »Die richtige Vermutung haben wir ja gleich gehabt. Man kann so oft in die Hölle hineinstochern wie man will, es kommt immer derselbe Teufel heraus.« »Juan Garcia«, sagte Sun Koh nachdenklich. »Er ist ein gefährlicher Gegner, aber er ist uns bekannt. Seine Pläne und Berechnungen lassen sich leidlich voraussagen. Wenn wir auch noch keine unumstößliche Gewißheit haben, können wir uns doch vorsichtshalber auf seine Arbeitsweise einstellen. Aber zunächst wird er sich wohl wirksame Unterstützung sichern.« »Und dann wird’s irgendwo lebendig werden«, ergänzte Hal. 9. Am gleichen Tag brachten drei bedeutende Zeitungen, eine in New York, eine in Paris und eine in 105
London, fast wörtlich übereinstimmend eine aufsehenerregende Nachricht, die später von fast allen europäischen und amerikanischen Blättern übernommen wurde. Sie lautete: Unbekannte Kriegsschiffe bei den Azoren! Bedrohung des Atlantischen Ozeans! Aus sicherer Quelle wird uns gemeldet, daß in letzter Zeit in zunehmendem Maß Kriegsschiffe unbekannter Nationalität in der Nähe der Azoren auftauchen. Es handelt sich in erster Linie um riesige Unterseekreuzer und außerordentlich schnelle Zerstörer. Insgesamt wurden 43 (dreiundvierzig) solcher fremden Schiffe festgestellt. Sie sind ausnahmslos grau angestrichen und tragen keinerlei Kennzeichen. Diese Nachricht klingt zunächst phantastisch und unglaubwürdig, aber es besteht aller Anlaß, sie sehr ernst zu nehmen. Es liegen fotografische Aufnahmen vor, die sie voll bestätigen. Wir veröffentlichen einige davon und bemerken dazu, daß sie mit InfrarotPlatten aus großer Entfernung gemacht wurden. Wir bitten, die eigenartige Form dieser Schiffe zu beachten und dazu das beigefügte Sachverständigenurteil zu würdigen, nachdem diese Art von Schiffen zu keiner staatlichen Flotte gehört. An der Echtheit der Aufnahmen ist nicht zu zweifeln. Darüber hinaus erhalten wir folgende sensationelle Mitteilungen, die geeignet sind, das Geheimnis dieser unbekannten Kriegsschiffe zu lüften. Wir nehmen 106
an, daß die Regierung diese Angaben mit größter Aufmerksamkeit verfolgen wird. Der Eigentümer der unbekannte Schiffe ist ein gewisser Sun Koh, ein Abenteurer dunkler Herkunft, der augenblicklich wohl zu den reichsten Männern der Erde gehört. Seinen Reichtum verdankt er der ungesetzlichen Ausbeutung von Goldfeldern in verschiedenen Erdteilen, die er bis jetzt geschickt zu verschleiern wußte, außerdem der Ausplünderung historischer Schätze. Sein Reichtum hat ihn alle Grenzen menschlicher Vernunft vergessen lassen. Er plant nicht mehr und nicht weniger, als die Azoren in Besitz zu nehmen! Seine Machtgelüste zielen darauf hin, König der Azoren zu werden und damit die Schlüsselstellung im Atlantischen Ozean in die Hand zu bekommen. Gestützt auf die Azoren will er eine Sperre durch den Atlantik ziehen und zum Mittler zwischen der Alten und der Neuen Welt werden. Was das allein für den Schiffsverkehr zwischen Europa und Amerika bedeuten würde, braucht wohl kaum näher erläutert zu werden. Die Azoren gehören heute noch zu Portugal. Zweifellos ist der Plan dieses verwegenen Abenteurers aber eine Angelegenheit, die das gesamte Europa ebenso angeht wie Amerika. Wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, daß der Versuch, auf den Azoren ein selbständiges Königreich aufzurichten, auf den entschiedenen Widerstand der beteiligten Staaten stoßen würde. 107
Angesichts der Machtmittel dieser Staaten ist man geneigt, den Plan des politischen Dunkelmannes für unsinnig und aussichtslos zu halten. Wir haben uns zu unserm Leidwesen überzeugen lassen müssen, daß man kein Recht zu einer solchen Auffassung besitzt. Jener übermütig gewordener Abenteurer verfügt über ungeheure Machtmittel, die denen der Großstaaten nicht nachstehen, sondern sie sogar bei weitem übertreffen. Der Mann arbeitet seit Jahren auf sein Ziel hin. Er hat es verstanden, bedeutende Gelehrte in seine Dienste zu stellen, und ist auf diese Weise in den Besitz umwälzender Erfindungen gekommen. Es ist höchst wahrscheinlich, daß er über eine Reihe technischer Errungenschaften praktisch verfügen kann, die bei uns gerade noch in den Anfängen stecken. Elektrische Kraftübertragung, Beherrschung der Schwerkraftsstrahlung und zahllose andere Probleme sind von seinen Leuten bereits bis zur praktischen Verwertung gelöst worden. Das erhebt die Pläne dieses Mannes weit über eine irre Fantastik und machte sie zu einer ungeheuren Gefahr, gegen die sofortige Maßnahmen erforderlich sind. Darüber hinaus hat jener Mann eine gewaltige Organisation aufgebaut, die dem alleinigen Zweck dient, seine politischen Ziele zu verwirklichen. Die Organisation hat ihre Zweigstellen in allen größeren Städten der atlantischen Küstenländer. Sie sind als Handels- und Wirtschaftsgesellschaften getarnt. Wir 108
sehen uns in der Lage, folgende Gesellschaften und Vertretungen zu nennen, die allein in unserem Lande die Interessen dieses Abenteurers wahrnehmen. (An dieser Stelle brachten die Zeitungen einige Namen, die je nach dem Ausgabeort verschieden waren, dann setzten sie ihren Bericht fort). Wir stellen zusammenfassend fest, daß jenem Sun Koh finanzielle, militärische, technische, wirtschaftliche und organisatorische Hilfsmittel ausreichend zur Verfügung stehen, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Es ist sogar nicht ausgeschlossen, daß ein europäischer Staat hinter den Plänen dieses Abenteurers steht und von ihnen eine neue Stützung seiner Macht erhofft. Zumindest läßt die Tatsache, daß die Mitarbeiter jenes Mannes fast ausschließlich aus einem bestimmten Lande stammen, schwerwiegende Schlüsse zu. Es scheint uns allerhöchste Zeit zu sein, daß sich die Regierungen Amerikas, Englands und Frankreichs gründlich mit den angeführten Tatsachen beschäftigen und schnellstens die Folgerungen daraus ziehen, bevor es zu spät ist. Im Interesse des Weltfriedens und der Freiheit der Nationen ist es eine vordringliche Aufgabe, den fantasierenden Abenteurer festzusetzen und seine Organisation gründlich zu zerstören. Wir haben unserer Regierung das vorhandene Material bereits zugeleitet und erwarten im Namen der Öffentlichkeit die einzig richtige Stel109
lungnahme mit einer sofortigen entscheidenden Tat. Damit war der Bericht zu Ende. Die Menschen reagierten recht verschieden auf die Sensation, es waren aber nicht viele, die sie wirklich ernst nahmen. Selbst die Regierungen der einzelnen Staaten waren geneigt, überlegen zu lächeln. Da saßen in Washington zwei Herren, die am nächsten berufen gewesen wären, den Meldungen nachzugehen. »Was sagen Sie dazu?« fragte der eine und tippte dabei auf den Zeitungsartikel, den er vor sich liegen hatte. »Die fetteste Ente, die ich je gesehen habe«, brummte der andere. »Sollte man nicht wenigstens die Angaben dieser Organisation überprüfen?« »Geschieht schon«, erklärte der Ältere. »Ich habe eine Abteilung des Geheimdienstes beauftragt.« »Also doch nicht ganz so skeptisch?« Der andere winkte einfach ab. Einer der Männer, die den Bericht völlig ernst nahmen, war Sun Koh selbst. »Abenteurer dunkler Herkunft«, murmelte Hal entrüstet. »Das ist eine Frechheit.« »Eine Kinderei«, verbesserte Sun Koh gelassen. »Der Mann kennt mich persönlich und haßt mich, sonst wären ihm diese Kleinigkeiten in einem sonst 110
sehr geschickten Bericht nicht durchgegangen.« »Geschickt? Es ist eine ganze Masse Schwindel dabei.« »Eben. Wenn er von Atlantis geschrieben hätte, wäre er bestimmt nicht ernst genommen worden. Ein politischer Konflikt um die Azoren herum kann schon eine gewisse Wirkung ausüben.« »Glauben Sie, daß uns der Artikel ernsthaft schaden kann?« »Wenn es bei diesem Artikel bleibt, bestimmt nicht. Aber es ist anzunehmen, daß der Unbekannte nicht auf einmal sein ganzes Pulver verschossen hat.« »Die erste Gefahr besteht für die angeführten Gesellschaften, nicht wahr?« »Sie sind ausreichend gedeckt. Die einzelnen Staaten werden wohl heimlich Nachforschungen anstellen lassen, aber darauf sind wir ja seit jeher gerüstet.« Hal schüttelte den Kopf. »Ich möchte nur wissen, woher der Kerl seine Kenntnisse hat. Einen Verräter sollte es doch unter uns nicht geben.« »Wohl kaum. Es sind zwar in letzter Zeit einige von unseren Leuten verschwunden, aber ich glaube nicht, daß man sie mürbe bekommen hat. Es kommt eben immer nur ein Mann in Frage, der hinter allem stehen könnte.« 111
»Juan Garcia?« »Ja, an ihn dachte ich. Er ist der einzige, der genügend weiß, um das Ganze ungefähr übersehen zu können. Entweder steht er selbst hinter dem Angriff oder er hat sein Wissen hergegeben.« »Er müßte sich jedenfalls mächtige Unterstützung gesichert haben.« »Sehr wahrscheinlich.« »Was geschieht nun eigentlich von unserer Seite auf den Artikel hin? Werden wir abstreiten?« Sun Koh lächelte. »Wir? Wir sind überhaupt nicht vorhanden. Die Organisation, von der hier die Rede ist, gibt es gar nicht. Aber einige Zeitungen werden sich der Angelegenheit erbarmen.« »Und das Gegenteil behaupten?« »Durchaus nicht, sie werden noch aufsehenerregendere Ausführungen bringen.« »Warum das?« »Man muß seinen Gegner im gleichen Sinne überbieten, um ihn lächerlich zu machen. Die Übertreibung kann ein sehr wirksames Kampfmittel sein. In diesem Augenblick schon bringen Millionen von Zeitungen neue Nachrichten über mich und meine Pläne, die diese hier weit übertrumpfen werden.« »Da bin ich ja neugierig.«
112
10. Die ganze Welt war neugierig, als bedeutende Zeitungen in New York, London, Paris und in einigen anderen Großstädten auf der Titelseite mit großen Lettern hinausschrien: Sun Koh, der Kaiser von Atlantis! Sensationelle Enthüllungen! Ein Erdteil wird künstlich gehoben! Wir sind auf Grund zuverlässigen Materials in der Lage, die von einigen Blättern gebrachten Mitteilungen über die Pläne eines gewissen Sun Koh zu berichten und zu ergänzen. Sun Koh ist ein Abenteurer ganz großen Formats. Er wurde in Edinburgh als Sohn eines Wanderpredigers geboren, von dem er die Gabe des zweiten Gesichts erbte, die ihn befähigte, seine jetzige Stellung zu erringen. In seiner Jugend versuchte er, als blinder Passagier nach Amerika zu kommen, hatte dabei aber einige unangenehme Erlebnisse, die den Plan in ihm reifen ließen, England und Amerika unter ein Zepter zu bringen. Wir erwähnen das jetzt nur, weil von hier aus alle Pläne dieses Mannes psychologisch faßbar werden. Sun Koh verfügt über ungeheuren Reichtum. Es ist nicht übertrieben, wenn man behauptet, daß er reicher ist als die hundert reichsten Leute der Welt zusammen. Diesen Reichtum verdankt er allerdings nicht nur der Ausbeutung von Goldadern, sondern er hat auch Milliarden und aber Milliarden Gold aus 113
dem Meerwasser gezogen und durch Atomzertrümmerung hergestellt. Er dürfte jederzeit in der Lage sein, die Wirtschaft ganzer großer Staaten einfach aufzukaufen. Die politischen Pläne dieses Herrn bescheiden sich durchaus nicht damit, die Azoren zu besetzen und gewissermaßen eine Zollsperre zwischen Amerika und Europa aufzurichten. Sie gipfeln vielmehr in dem Wunsch, Kaiser und Diktator eines ganzen Erdteils zu werden. Es genügt ihm auch nicht, die Macht in einem vorhandenen Erdteil an sich zu reißen, sondern er beabsichtigt nicht mehr und nicht weniger, als einen neuen Erdteil zu schaffen! Die in unzähligen Büchern seit Jahrtausenden abgehandelte Sage von Atlantis, dem versunkenen Erdteil, hat es ihm angetan. Er will diesen Erdteil wieder aus dem Weltmeer aufsteigen lassen. Das klingt fantastisch, aber wir haben allen Grund, die Weltöffentlichkeit auf diese Pläne aufmerksam zu machen. Wie einige Zeitungen schon berichteten, besitzt dieser Mann ganz einzigartige technische Machtmittel, so daß sein Vorhaben durchaus nicht aussichtslos erscheint. Er wird kaum davor zurückschrecken, den unberührten Meeresboden, der in rund viertausend Meter Tiefe liegt, gegen alle Naturgesetze heraufzuholen, um sein Reich zu gründen. Dieses Reich zwischen Amerika und Europa würde naturgemäß den Atlantik beherrschen. Gestützt auf seine Machtmittel, 114
würde es dem Kaiser von Atlantis nicht schwerfallen, zwei alte und einen neuen Erdteil zu einem Riesenreich zu vereinigen. Wie er es fertigbringen will, den neuen Erdteil aus dem Ozean hervorzuzaubern, ist uns vorläufig noch unbekannt. Wir weisen aber in diesem Zusammenhang darauf hin, daß an den Vulkangruppen der Inseln über dem Winde, der Azoren sowie an einigen europäischen Vulkanen eigenartige und recht undurchsichtige Vorbereitungen getroffen werden, die mit den Plänen dieses Abenteurers in Zusammenhang stehen könnten. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er beabsichtigt, die natürlichen Ventile dieser Vulkane gewaltsam zu verstopfen und dadurch künstliche Eruptionen im Atlantik hervorzurufen, die zur Auftreibung eines neuen Festlandes führen sollen. Es braucht wohl nicht betont zu werden, daß ein derartiges Unterfangen eine ungeheure Gefahr für unsere Erdteile darstellt, von der Millionen Menschen in Mitleidenschaft gezogen werden können. Das allein schon genügt, ganz abgesehen von den politischen Folgen, um sofortige strengste und unnachsichtigste Untersuchung zu fordern. Bei der Größe dieses Unternehmens müßte die Untersuchung selbst vor den höchsten Stellen nicht zurückschrekken, da der Verdacht naheliegt, daß dieser Abenteurer weitgehende politische Vorsichtsmaßregeln getroffen hat, um nicht in letzter Minute durch politi115
sche Maßnahmen gestört zu werden. Wir halten es für ein Ablenkungsmanöver – obgleich wir den guten Willen durchaus voraussetzen –, wenn die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf einige unbedeutende Handelsgesellschaften gelenkt wird. Selbst wenn diese Gesellschaften im Dienst des Abenteurers stehen sollten, was ohne weiteres vermutet werden kann, so darf nicht vergessen werden, daß man ein solches Unternehmen nicht dadurch unmöglich machen kann, daß man einige kleine Gesellschaften schließt. Es ist vielmehr die Frage auf zuwerfen, welche bedeutende Organisation oder welcher führende Mann noch nicht im Dienst dieses Abenteurers steht. Deshalb rufen wir die Völker selbst auf, sich gegen die fantastischen Pläne von unübersehbarer Tragweite eines einzelnen Mannes zu wehren. Damit schloß der führende Artikel. Auf den nächsten Seiten brachten die Zeitungen noch kleinere Aufsätze, die zu Einzelfragen der aufsehenerregenden Enthüllung Stellung nahmen. Außerdem war eine Reihe von Bildern zu sehen, von denen eins die technische Einrichtung eines Atomzertrümmerungswerkes zeigte, ein anderes das Innere eines Riesenluftkreuzers, ein drittes die Anlagen zur Verstopfung des Mont Pelé und ähnliches mehr. Der Erfolg war ungeheuer. Die ganze Welt stand Kopf, die eine Hälfte vor Lachen, die andere vor gutgläubiger Erregung. 116
Nun wurden die Regierungen wild. Sie holten sich die verantwortlichen Redakteure heran und sprachen bitterernste Worte mit ihnen. Die Folge davon war, daß am nächsten und übernächsten Tag die unbeteiligten Zeitungen vor Hohn, Spott und Schadenfreude rasten, während die beteiligten Zeitungen sehr kleinlaut ihre Nachrichten widerriefen und eingestanden, einem geschickten Schwindler zum Opfer gefallen zu sein. Die Konkurrenz feierte Triumphe. Das Bild vom Atomzertrümmerungswerk wurde als Aufnahme von Ölschaltern eines Elektrizitätswerkes enthüllt, das Bild vom Innern des Riesenluftkreuzers stammte von einem englischen Passagierflugzeug, der verstopfte Mont Pelé wurde zum Staudamm im amerikanischen Felsengebirge. Regierungen und Wirtschaftsorganisationen äußerten gründlich ihre Meinung zu der Unterstellung, Gefolgsleute eines Abenteurers zu sein, gleichzeitig teilten die Regierungen mit, daß die im ersten Artikel genannten Gesellschaften einer Überprüfung unterzogen worden seien und sich als ebenso harmlos wie tausend andere erwiesen hätten. Führende Wissenschaftler sagten Eindeutiges zu der unsinnigen Vorstellung, einen Erdteil nach Lust und Laune aus dem Weltmeer hervorholen zu können. Die Welt lachte und schimpfte. Nur ein Irrsinniger hätte es wagen können, zum drittenmal von einem Sun Koh und seinen Plänen zu sprechen. 117
Der unbekannte Gegner Sun Kohs war beileibe nicht irrsinnig. Er wußte, daß er geschlagen worden war, und schwieg. Er hatte erkannt, daß es für die nächste Zeit unmöglich war, die Öffentlichkeit zu alarmieren und dadurch Sun Koh zu schaden. Sun Koh hatte den ersten Ansturm abgeschlagen und gesiegt. Alles war in schönster Ordnung. Da kam der verhängnisvolle Zwischenfall. 11. Der Dampfer »Bristol« befand sich mit über vierhundert Fahrgästen und rund zweihundertfünfzig Mann Besatzung auf der Fahrt von Southampton nach Baltimore. Er hatte bereits ein gutes Drittel der Strecke zurückgelegt. Die Fähnchen auf der Routenkarte standen an der Kreuzung von 45 Grad Nord und 30 Grad West, rund fünfhundert Kilometer nördlich der Azoren. Das Wetter ließ nichts zu wünschen übrig. Den ganzen Tag hatte sich kein Wölkchen gezeigt. Die Sonne stand schon rötlich über dem Horizont. Ein schöner Abend, dem eine schöne, stille Nacht folgen würde. John Enderby lehnte an der Reling des Promenadendecks und zog genießerisch an seiner Stummel118
pfeife. John Enderby war Berichterstatter. Er wußte, daß ihm jede Beobachtung einen beträchtlichen Lohn einbringen würde. In den letzten Jahren hatte er sich ausschließlich in Weltgegenden aufgehalten, in denen zu einer Reportage mehr als ein gut fließender Füllfederhalter gehört. Neben ihm stand Benson, der Herausgeber des »Baltimore Sun«, der auf der gemeinsamen Reise seine Bekanntschaft mit Enderby aufgefrischt hatte. Benson betrachtete belustigt den Berichterstatter, der ziemlich geistesabwesend über das Meer starrte. »Nun, Enderby?« fragte er nach einer Weile. »Das Bordfest wird bald beginnen. Die Damen brauchen Tänzer.« »Mich nicht«, entgegnete Enderby. »Wie ich Sie kenne, hoffen Sie insgeheim, ein paar von den geheimnisvollen Kriegsschiffen zu Gesicht zu bekommen, die sich hier herumtreiben sollen.« »Hören Sie, Enderby, Sie erwarten doch nicht etwa im Ernst, solche geheimnisvollen Schiffe auftauchen zu sehen? Sie wissen doch, und auch ich selbst, daß alle diese Nachrichten aufgelegter Schwindel waren. Oder wie denkt ein Mann Ihres Schlages darüber?« Enderby nahm die Pfeife aus dem Mund und klopfte sie am Eisengeländer aus. »Hm, das will ich Ihnen genau sagen, Benson. Sie müßten es als Verleger ja eigentlich noch besser wissen als ich. Wenn ein paar große Blätter gleichzeitig 119
eine Sensation dieser Art hinauswerfen, und zwei Tage später bringen einige andere große Blätter wieder gleichzeitig eine andere Sensation, die die erste tottritt, dann ist etwas los. Heutzutage nimmt kein Verleger oder Redakteur mehr eine Nachricht unbesehen hin. Wenn die Riesenente trotzdem hier wie dort durchgegangen ist, dann beweist das nur, daß die Redaktionen blind und taub sein mußten. Verstehen Sie?« »Sie denken, daß an den Berichten doch etwas Wahres sein könnte?« Enderby steckte seine Pfeife in die Rocktasche. »Was unsereins denkt, wird nicht bezahlt, mein Lieber. Ich habe bis jetzt andere Dinge zu tun gehabt, als mich um die Geschichte zu kümmern. Aber eins steht fest – es gibt einen Mann, der Sun Koh heißt. Und er hat verdammt viel Geld. Nun kommen Sie.« Er nahm den Verleger beim Arm und ging mit ihm los, als ein harter Stoß durch das Schiff ging, der die beiden ins Taumeln brachte. »Was…« Ein dumpfer, schwerer Schlag quoll aus dem Innern des Schiffes hoch, unmittelbar darauf folgte ein zweiter, viel gewaltigerer Stoß, der sie beide gegen die Holzwand warf, die sich scharf auf sie zuneigte. Mit ihm zugleich kam das dröhnende Rollen einer schweren Explosion. Während die beiden Männer über die Planken ge120
gen die Reling rutschten, schien das Schiff den Atem anzuhalten. Es war totenstill. Enderby stemmte sich gerade hoch, als plötzlich das Schiff nach der anderen Seite kippte, so daß er zusammen mit Benson von neuem gegen die Deckwand rutschte, die nun ziemlich schräg geneigt nach innen zu stand. Das Schiff hatte schwere Schlagseite. Und nun brach es los. Aus den Niedergängen quollen dutzendfach wilde, entsetzte Aufschreie, unbestimmter Lärm drängte hinterher, Flüche und Rufe erschollen, Geschrei aufgeregter Menschen füllte die Decks. Oben schrillten die Pfeifen der Bootsleute, irgendwelche Männer schrien Befehle. Die ersten Menschen kamen mit wilden Sprüngen hochgehetzt, hinter ihnen schob sich in ununterbrochener Folge ein gepreßter Strom von Menschen, die von unten her gewaltsam durch die schmalen Öffnungen der Aufgänge gedrückt wurden. Über ihre Köpfe hinweg schoß eine Strähne beißenden, brandigen Gestanks ins Freie. Enderby jagte nach oben auf das Bootsdeck hinaus. Dort wurde bereits mit wildem Eifer gearbeitet, um die Rettungsboote freizumachen. Er hatte Glück, daß er noch hoch kam. Unmittelbar hinter ihm warfen sich Leute der Besatzung gegen die Aufgänge und riegelten sich ab. »Frauen und Kinder hinauf, die Männer auf das Promenadendeck! Nur Frauen und Kinder hinauf!« 121
Unermüdlich und unaufhörlich bellte der Ruf in die vor Furcht und Schrecken halb verrückte Menge hinein, die sich mit der ganzen Kraft ihrer Masse gegen die Sperre schob. Die Matrosen machten rücksichtslos von ihren Fäusten Gebrauch, wenn sich ein Mann durchdrängen wollte. Im dünnen Rinnsal erst, dann dicht und gedrängt erschienen die verstörten Frauen und Kinder und wurden ohne viel Worte in die Boote gehoben. Unten brüllten ein paar Matrosen über den Lärm hinweg: »Schwimmwesten! Nur für Männer! Die Frauen und Kinder in die Boote hinauf!« Enderby trat an einen Offizier heran, der die Verladung leitete. »Was ist geschehen?« Der Offizier brüllte einen Befehl, dann knurrte er kurz und verächtlich: »Maschinenexplosion.« Er rannte ein Stück fort, um seine Leute zu überwachen. Enderby rannte mit. In einer Atempause erwischte er den nächsten Brocken. »Die Öltanks in die Luft geflogen. Unbegreiflicher Vorgang. Vielleicht Konstruktionsfehler. Die Tanks sind neulich eingebaut worden.« Eine Minute später erhielt er weitere Aufklärung. »Mächtiges Leck unter der Wasserlinie, schwere Schlagseite. Die Boote backbords können nicht abgelassen werden, deshalb nur Frauen und Kinder. Die Männer müssen schwimmen.« 122
»Wie lange noch?« fragte Enderby schnell, als sich wieder eine günstige Gelegenheit bot. »Viertelstunde, kaum länger. Dort drin liegen Schwimmwesten.« Der Lärm hatte sich von Minute zu Minute gesteigert. Es gab keinen Zweifel mehr, daß das Schiff brannte. Irgendwoher kamen dichte beißende Rauchwolken und hüllten es immer stärker ein. Irgendwer brüllte in ein Sprachrohr hinein. »Die Männer von Bord. Springen Sie! In einer Viertelstunde sinkt das Schiff. Schwimmen Sie soweit wie möglich fort! Herunter vom Schiff!« »Die Schotten?« rief Enderby dem Offizier zu. »Unten wahrscheinlich alles zerrissen«, kam flüchtig Antwort. Steuerbords strichen die gefüllten Rettungsboote weg. Nur eins hing noch oben und wartete auf Nachzügler. Vom Promenadendeck lösten sich zahlreiche Gestalten und klatschten in die See hinein. Viele Männer sprangen so ungeschickt, als seien sie hinuntergeworfen worden. Ein Teil hatte die Boote erreicht. An einem Motorboot hingen sie ringsum, an den anderen Booten verhinderten die Riemen weiteren Anhang, dafür ließ sich eine dicke Traube an dem nachschleppenden Seil mitziehen. Ein Ruck ging durch das Schiff. Es legte sich stärker zur Seite und sackte ein. 123
Das letzte Boot wurde hinuntergelassen. »Alles von Bord! Alles von Bord!« brüllte das Megaphon. Eine ganze Kette Verzweifelter ließ sich fallen. Auf dem Bootsdeck standen nur noch einige Matrosen und zwei Offiziere. Unten mußten sich aber noch andere befinden. »Das Promenadendeck ist klar!« brüllte jemand. »Alle Fahrgäste von Bord!« »Gut!« bestätigte eine andere Stimme. »Das Maschinenpersonal?« »Was hoch konnte, ist weg. Ein paar Verwundete sind in den Booten. Die anderen …« Enderby beeilte sich, um an den Kapitän heranzukommen. »Der Funker«, brüllte dieser gerade. »Wo steckt…« »Hier!« meldete sich ein Mann, der angelaufen kam. »Soll ich Schluß machen?« »Wie steht’s?« »Acht Stunden mindestens, bevor der nächste Dampfer hier sein kann.« »Pest und Hölle, dann sei Gott den armen Menschen dort unten gnädig! Was steht ihr noch herum? Alle Mann von Bord!« Ein paar drückten sich die Hände, ein paar schrien ein »Lebewohl« zum Kapitän hin, dann sprangen sie. Ein Offizier schnallte dem Kapitän die Schwimm124
weste fest. Der Kapitän hatte inzwischen Enderby entdeckt. »Was machen Sie hier noch, in Dreiteufelsnamen?« bellte er. »Einen Bericht über den Untergang des Dampfers ›Bristol‹«, antwortete Enderby knapp. »Der Teufel hole die Reporter! Ihr müßt selbst aus einer Tragödie noch Geld herausschinden. Hoffentlich ersaufen Sie!« »Keine Sorge«, rief der Berichterstatter lächelnd. »Das Wetter ist ausgezeichnet. Ein paar Stunden im Wasser können mir nichts schaden.« »Hinunter mit Ihnen! Der letzte, der von Bord geht, bin ich!« »Selbstverständlich«, sagte Enderby, trat vor und sprang hinunter. Wenige Meter vor dem Kapitän zog er mit den sicheren Schwimmstößen des geübten Schwimmers davon. Er war kaum einige hundert Meter fort, als sich hinter ihm der Dampfer aufbäumte und eine Feuergarbe in die Luft spie. In der gleichen Minute geschah vor ihm das Wunder. 12. Kaum zwei Kilometer von der Unfallstelle entfernt lag der »Greif 8« auf dem Wasser. An seiner Unterseite hingen zwei Tauchboote wie junge Wale am 125
Leib ihrer Mutter und nahmen frische Vorräte auf. Drei Männer standen in einer mäßig großen Halle zwischen zwei auf dem Boden laufenden breiten Bändern, die in spitzem Winkel auf eine kreisrunde Bodenöffnung zuliefen. Auf den Bändern glitten Kisten verschiedener Größen vorbei, die unter Nachhilfe einiger Männer in der Bodenöffnung verschwanden. »Schluß!« sagte der Befehlshaber des »Greif 8« zu den beiden Kommandanten der Tauchboote. »Dort kommt die letzte Kiste. Eine Minute vor der Zeit.« »Und drüben?« »Wird es genau das gleiche sein. Ihre Ladungen sind übernommen, meine Herren.« »Das nenne ich Geschwindigkeit«, lobte der eine der beiden Kommandanten. »Ich rechnete schon damit, daß wir wegen dieses Dampfers vorzeitig Schluß machen müßten.« »Wäre auch nicht schlimm gewesen. Er wird aber in zwei Kilometer Abstand vorbeigehen.« »Und kann trotzdem Ihr Riesenschiff nicht sehen? Wahrhaftig, unsere Technik ist weit gediehen.« Vornhoven, der Befehlshaber des »Greif 8« lächelte vergnügt. »Nicht die Spur. Was eine gewöhnliche Fata Morgana fertigbringt, können wir eben auch. Die Hauptsache ist nur, daß niemand auf den Gedanken kommt, in unser schönes Spiegelbild hineinzufahren. Doch nun …« 126
Er streckte seine Hände aus. »Kapitän Vornhoven?« rief jemand von irgendwoher. Vornhoven spannte sich. »Augenblick, Kameraden.« Er lief einige Schritte zurück zur Wand, drückte gegen einen Knopf und sprach dann in den Raum hinein. »Vornhoven. Wer ruft?« »Befehlsraum Liebing. Dampfer ›Bristol‹ hat anscheinend Explosion steuerbords. Das Schiff zeigt ein Leck an der Wasserlinie und hat schwere Schlagseite. Die Boote werden ausgesetzt.« »Ich komme!« Wieder ein Druck auf den Knopf, dann lief Vornhoven zu den beiden zurück. »Ich muß nach oben. Leben Sie wohl. Lassen Sie fertigmachen zum Lösen.« Sie schüttelten sich die Hände, dann rannte Vornhoven weg. Der eine der beiden Kommandanten stieg in die Öffnung, der andere entfernte sich ebenfalls. Vornhoven erreichte zehn Meter außerhalb der Halle einen Fahrstuhl, der ihn mit großer Geschwindigkeit nach oben trug. Zwei Minuten nach dem Anruf stand er im Befehlsraum. Dieser besaß eine etwas ungewöhnliche Form. Vorn setzte er mit einer abgerundeten Spitze an, 127
wölbte sich allseitig, auch nach oben und unten, gleichmäßig aus und lief dann wieder zu einer weniger abgerundeten Spitze zusammen. Er bot gewissermaßen den Hohlraum eines Zeppelinkörpers in einer Modellgröße von höchstens acht Metern Länge. Der Boden erwies sich entgegen dem ersten Eindruck doch als eben. Das kam daher, daß über die untere Auswölbung Glasplatten gelegt worden waren. Man konnte auf ihnen gehen, zugleich aber die Raumlinie hindurch sehen. Von der Deckenmitte herunter hing eine Säule von annähernd zwei Meter Durchmesser. Um sie herum lief in Meterhöhe eine tischartige Erweiterung. Darunter lief die Säule zu einem umgekehrten Kegel zusammen, dessen Spitze auf dem Boden des Raumes ruhte. Säule und Rundtisch waren dicht mit Apparaten, Meßgeräten, winzigen Lampen und zahlreichen Schaltknöpfen besetzt. Das Licht des untergehenden Tages lag im Raum, obgleich weder Fenster noch sonstige Öffnungen zu sehen waren. Dieses Licht kam aus einem Kranz von Linsen, der ziemlich weit oben an der hängenden Säule haftete. Der Eindruck war überraschend. Man glaubte, in einem Zeppelin aus Glas zu sitzen und ringsum das freie Meer zu sehen. Am Boden blickte man allerdings in grünlich dunkle Massen, in der zwei langgestreckte fischartige Körper ruhten. Vornhoven trat an den Rundtisch, an dem zwei 128
Männer saßen, die wie er um die Dreißig waren. Der eine wies wortlos zur Wand. Dort lag die »Bristol« schief im Wasser, stellenweise durch die ersten Rauchfahnen verschleiert. Auf dem Promenadendeck wimmelte es von Menschen. »Größer einstellen«, befahl Vornhoven. Das Bild verschwamm, dann wurde es wieder scharf. Jetzt füllte das Bild des sinkenden Dampfers die ganze Seite aus. Die Katastrophe mit der ganzen Panik wurde greifbar deutlich. »Sie können die Boote nur steuerbords ablassen«, sagte Liebing, der stellvertretende Befehlshaber. »Das Schiff ist verloren. Fragen Sie bitte nach dem Standort des nächsten Schiffes und nach den Wetteraussichten.« »Schon erfragt«, gab Buly Auskunft. »Das nächste Schiff, die ›Imperia‹, ist gut dreihundert Kilometer entfernt und kann nicht unter acht Stunden hier sein. Das Barometer fällt stark, ein Wetterumschlag ist für Mitternacht zu erwarten.« Vornhovens Gesicht wurde sehr ernst. »Das bedeutet, daß einige hundert Menschen verloren sind, wenn wir nicht helfen«, murmelte er tonlos. Die beiden anderen schwiegen. Vornhoven war der Befehlshaber, er gab die Entscheidung und trug die Verantwortung. Sie wußten alle drei, wie schwer diese war. Eben erst war die Sensation um die Welt 129
gerast, eben erst hatten sie strengste Anweisung bekommen, keine Anhaltspunkte zu geben. Aber andererseits … Wenn schlechtes Wetter aufkam, dann war von diesen Hunderten, die über die Reling sprangen, der größere Teil verloren. Liebing erhob sich und legte Vornhoven die Hand auf die Schulter. »Schwer, Vornhoven?« fragte er leise. Vornhoven atmete tief auf. »Ja, es ist schwer. Leid, das man nicht sieht, kann man nicht verhindern. Wenn wir tausend Kilometer entfernt wären, würde uns das nicht berühren. Aber Menschen in Not zu sehen, Hunderten von Menschen helfen zu können und doch nicht zu helfen – das kann ich nicht. Lassen Sie die Tauchboote lösen.« Liebing nickte und trat an den Rundtisch zurück. Er drückte zwei Knöpfe. »Tauchboote lösen.« »Bootsmannschaften eins bis vier klar zur Ausfahrt. Bis auf die Bootsöffnungen das Schiff verblenden. Nach Lösen der Tauchboote auf Bootslinie steigen. Sämtliche Freiwachen nach Saal zwei.« Liebing und Buly bedienten eifrig Knöpfe. Während Vornhoven noch Befehle ansagte, flammten schon Lämpchen auf, die den Vollzug ankündigten. »Die Offiziere der Freiwachen anschalten.« Vornhoven trat an eins der Mikrofone heran. 130
»Meine Herren«, sagte er ruhig zu seinen unbekannten Hörern, »wir übernehmen die Schiffbrüchigen der ›Bristol‹. Sie werden von Luk C durch den Gang sechs nach Saal zwei geleitet. Sie übernehmen die Überwachung von Luk C aus, leisten die nötige Hilfe und sorgen dafür, daß sich keiner der Schiffbrüchigen absondert und Streifzüge durch das Schiff unternimmt. Verwundete und Verletzte nach Raum C zwei. Die Mannschaften finden Sie in Saal zwei. Alle weiteren Anordnungen hat Kapitänleutnant Carrow.« Vornhoven wandte sich an Liebing. »Die Ärzte bitte.« »Geschaltet.« »Wir übernehmen die Schiffbrüchigen. Ihre Hilfe dürfte nötig sein. Raum C steht zur Verfügung.« »Tauchboote gelöst«, meldete Liebing. »Bootsmannschaften eins bis vier klar zur Ausfahrt.« »Schiff verblendet und auf Bootslinie gestiegen.« »Danke, die Tarnung wegnehmen und die Boote ausfahren lassen.« So kam es, daß die Schiffbrüchigen und mit ihnen Enderby, plötzlich ein Wunder erlebten, während hinter ihnen der Dampfer versank. Dort, wo eben noch glattes, von der Abendsonne beleuchtetes Meer gewesen war, lag auf einmal ein riesiger Schiffskörper. Niemand hatte ihn bisher gesehen oder gehört, niemand hatte ihn kommen sehen, und doch war er 131
da, greifbar nahe. Schiff oder Luftschiff? Das war die erste Frage, die durch das kühl denkende Hirn des Berichterstatters zuckte. Er sah einen mächtigen Körper von der Form einer gedrungenen Zigarre vor sich, der ihn an die Form der deutschen Zeppeline erinnerte. Aber hier zeigten sich keine Abweichungen von der ausgeschwungenen Rundung, kein vorspringender Unterbau des Führerstandes, keine Motorengondeln und keine Steuerflächen. Ohne jedes Kennzeichen lag der Riese in mattschimmerndem gedämpftem Grau vor den Augen. Es war ein Riese, aus der Entfernung schon stark beeindruckend, aber überwältigend, wenn man näher herankam. Und Enderby beeilte sich sehr, nahe heranzukommen. Er war mindestens vierhundert Meter lang und gut hundertzwanzig Meter hoch. Dort, wo sich Wasserlinie und Schiffskörper berührten, erschienen jetzt einige dunkle Öffnungen. Es war, als ob die Wände zurückrollten. In den Öffnungen wurden Boote sichtbar, die durch Schwenkvorrichtungen ausgeschwenkt und aufs Wasser gesetzt wurden. Schon ruderten sie auf den Knäuel der Schiffbrüchigen zu, der bereits Richtung genommen hatte. Aus einem unsichtbaren Lautsprecher dröhnte eine 132
Stimme über das Meer: »Achtung! Achtung! Alle Boote auf die Fahne zu!« Der Mann sprach englisch. Akzent war bei der Vergröberung nicht festzustellen. Ein Schiff? Aber ein Schiff von hundertzwanzig Meter Höhe konnte nicht nur zehn Meter Tiefgang haben und so oberflächlich auf dem Wasser ruhen. Enderby konnte sich nicht einig werden. Nur eins stand für ihn bombenfest – daß nämlich jene sensationellen Artikel doch eine ganze Menge zu bedeuten gehabt hatten und daß dieses geheimnisvolle Schiff oder Luftschiff zu den Wunderdingen dieses Sun Koh gehörte. Er zweifelte nicht im geringsten daran, daß ihn ein Glück hier fast gewaltsam in die größte Berichterstattung seines Lebens hineinzerrte. Und er war fest entschlossen, sich seines Glückes würdig zu erweisen und die Gelegenheit nach besten Kräften zu nützen. Jetzt packten ihn ein paar kräftige Hände beim Genick und schoben ihn in ein breitbordiges, wahrscheinlich unsinkbares Motorboot hinein, in dem schon einige Dutzend durchnäßter Gestalten überund nebeneinander lagen. Die Bootsbesatzung öffnete den Mund höchstens zu einem »Hohupp«, sonst sprach sie nicht. Das Boot trug natürlich keine Kennzeichen. Aber Enderby wußte, wo er zu suchen hatte. Während die Leute weiterfischten, stieg er über die jammernden Men133
schen zum Motorluk hin. Hatte das Boot keine Kennzeichen, so doch sicher die Maschinenteile. Er machte einen langen Hals, konnte aber nichts entdecken. Dann schob er sich ganz unauffällig an das erhöhte Steuerrad heran, das lässig, aber sehr genau von einem jungen Menschen bedient wurde. Der Mann hatte helle Augen und helles Haar, und den Overall, den er trug, konnte man in allen Ländern finden. Aber sonst? Enderby seufzte nach einer Weile. Nirgends gab es ein Kennzeichen. Das Boot schoß auf den Riesenkörper zu. Dann wölbte sich dieser hoch über dem Boot auf. Er deckte die Sonne ab, so daß es unter der Wölbung schon stark dämmrig war. Aber das Licht genügte noch, um alle Einzelheiten zu erkennen. Das Boot fuhr langsam unter eine Öffnung, die der Wölbung angepaßt etwas schräg vorhing. Oben standen einige Männer. Sie ließen zwei breite Stiegen herunter, die von der Bootsbesatzung ausgerichtet wurden, dann wurden die Schiffbrüchigen aufgefordert hochzusteigen. Enderby stieg nach oben. Selbstverständlich fühlte er schnell einmal die Stiege ab. Offenbar Leichtmetall, die Trittbretter waren sehr dünn. Er unterließ auch nicht, im geeigneten Moment die Außenhaut des Schiffskörpers zu berühren. Sie schien aus dem 134
gleichen, völlig glatten Metall zu bestehen, doch war sein Eindruck zu flüchtig, um Genaues behaupten zu können. Oben sah er einen langen Gang vor sich, der sich, wie ein an einer Kette leuchtender Streifen in den Auflagern der Decke eingehängt, in der Ferne verlor. Über diesem Gang standen wie Schildwachen in regelmäßigem Abstand Männer verteilt. Schon packte ihn jemand vorn und gab ihm zugleich einen sanften Schlag in die Kniekehle. »Setzen, nicht aufhalten!« Enderby saß schon und rutschte wie alle seine Vorgänger durch den Gang hindurch, an den Wachen vorbei. Er befand sich auf einem laufenden Band, das mit mäßiger Geschwindigkeit vorwärtsglitt. Enderby wälzte sich ganz wie aus Versehen herum und kam auf festen Boden, aber schon sprang einer der Männer zu und schob ihn kräftig zurück. Er sagte nichts dabei, aber der Berichterstatter verstand auch ohne Worte, warum diese Männer hier herumstanden. Dort ging es nicht weiter. Der Gang war zwar nicht zu Ende, aber eine Gruppe Männer stand im Gang, griff geschickt einen der Ankömmlinge nach dem anderen und trug ihn einen halben Meter seitlich. Eigentlich war es nur ein Ruck, dann fuhr Enderby winkelrecht zur bisherigen Richtung auf einem anderen laufenden Band weiter. Diese Fahrt war aber 135
kurz. Sie endete in einem geräumigen Saal. Dort wurde er aufgerichtet und beiseite geschoben. Als einer von Hunderten stand Enderby nun inmitten der Menge seiner Leidensgefährten. Diese standen ratlos herum, begrüßten ihre schon verloren geglaubten Angehörigen oder Bekannten oder flüsterten eifrig miteinander. Ein Teil hatte die vorhandenen Stühle und Tische belegt, andere sich auf den Boden gehockt, die meisten aber vertraten sich die Füße. Enderby entdeckte mehrere Ausgänge, aber das nützte ihm nichts. Sie waren entweder verschlossen oder gut bewacht. Als er sich durch den einen hindurchzwängen wollte, grinste ihn ein Mann im Overall freundlich an und machte eine unmißverständliche Handbewegung, mit der er den Berichterstatter zurückscheuchte. Der Lärm ebbte von der Endstelle des laufenden Bandes aus ab, die Hälse reckten sich, Enderby stellte sich auf die Zehenspitzen. Man trug auf Bahren Verletzte und Verwundete herein, die bisher irgendwo zurückgehalten worden waren. Sie wurden durch eine Tür in der Seitenwand in einen anderen Raum gebracht. Später wurde die Tür wieder geschlossen. Der Berichterstatter konnte nur einige Gestalten mit weißen Mänteln entdecken. Einige Rufe stiegen über den verworrenen Lärm auf, ein Mann in uniformartig geschnittener blauer 136
Tuchkleidung, aber ohne Rangabzeichen, stieg auf einen Tisch. Es wurde still im Saal. »Meine Damen und Herren«, verkündete der Mann laut und deutlich, »ich bitte Sie um einen Augenblick Gehör. Zunächst möchte ich gern wissen, ob sich der Kapitän des Dampfers ›Bristol‹ unter den Anwesenden befindet?« »Hier!« meldete sich der Aufgerufene. »Danke, Herr Kapitän. Wieviel Besatzung und wie viele Fahrgäste hatten Sie an Bord?« »Vierhundertzwölf Fahrgäste und zweihundertzweiundvierzig Mann Besatzung, zusammen sechshundertvierundfünfzig Personen.« »Danke.« Er legte eine Pause ein, und Enderby erwartete, daß die Zahl der Geretteten genannt werden würde, aber der Sprecher schwieg darüber und fuhr fort: »Sie befinden sich in Sicherheit, meine Damen und Herren. Es ist uns allerdings nicht möglich, Ihnen gewisse Unbequemlichkeiten Ihres augenblicklichen Aufenthaltes zu ersparen. Sie werden in einigen Stunden das Schiff wieder verlassen können. Wir beabsichtigen, Sie zu den Azoren zu bringen. Dort wird Ihnen alle weitere Hilfe zuteil werden. Bis dahin bitte ich Sie, sich mit der Lage nach besten Kräften abzufinden. Die Herren, denen die nasse Kleidung unbequem ist, können in diesem Nebenraum ihre Sachen ablegen und dafür vorläufig Ersatz übernehmen.« 137
Der Sprecher wies auf eine Tür, die soeben von einem Mann der Besatzung geöffnet wurde. »Die Sachen werden getrocknet und rechtzeitig wieder abgeliefert werden. Sie sind vor der Abgabe zu entleeren. Toiletten finden Sie dort hinter jenen beiden Türen, rechts für Damen, links für Herren. Wer der ärztlichen Hilfe bedarf, möchte sich im Sanitätsraum dort drüben melden. Falls jemand sonstige dringende Wünsche hat, sind wir gern bereit, sie zu erfüllen.« »Wo befinden wir uns eigentlich?« platzte ein Neugieriger heraus. »Darüber kann ich Ihnen leider keine Antwort geben«, wurde höflich bedauert. »Ich möchte bemerken, daß es zwecklos ist, die Mannschaft auszufragen. Wir haben Sie aufgenommen und wollen Ihnen weitgehend behilflich sein, aber bitte lassen Sie es damit genügen.« Damit stieg er herunter. Wenig später setzte das Stimmengebrodel wieder ein. Enderby war nicht gesonnen, eine Möglichkeit außer acht zu lassen. Er drückte sich mit in den Nebenraum. Das war ein kleinerer Saal, der aber noch gut hundert Menschen faßte. Die Einrichtung stimmte mit dem großen Saal ziemlich überein. Auf einer Seite waren blaue Overalls aufgestapelt, daneben standen Leute der Schiffsbesatzung. An einer offenen Tür, durch die man in einen Gang hinaussah, setzte 138
ein laufendes Band an. Enderby entledigte sich wie viele anderen seiner Sachen und tauschte sie gegen einen Overall aus. Die Sachen wurden an einer Art Kleiderbügel mit drei Haken aufgehängt und dann auf das laufende Band geworfen, das sie forttrug. Ein Mann schrieb den Namen auf und dazu eine Nummer, die wohl mit einer anderen Nummer an dem Haken übereinstimmte. Eine Gelegenheit hinauszukommen bot sich auch hier nicht. Enderby machte deshalb andern Platz und begab sich in den großen Saal zurück. Der Mann, der vorhin gesprochen hatte, stand mit einigen seiner Leute zusammen in einer Ecke und beobachtete den Trubel. Enderby trat an den Sprecher von vorhin heran. Dieser hatte ein kantiges, scharf ausgeprägtes Gesicht, aber er war noch jung. Und junge Leute verstand Enderby zu nehmen – wenigstens glaubte er das. »Verzeihen Sie, Herr Kapitän«, sagte er teils höflich, teils zutraulich. »Sie sind doch der Kapitän, nicht wahr?« Die Frage kam ganz beiläufig, aber sie verfehlte ihre Wirkung nicht. Der Mann sah ihn aufmerksam an und nickte dann. »Sie können mich so anreden, wenn es Ihnen gefällt. Haben Sie einen Wunsch?« Enderby hatte viele Wünsche, aber er gedachte sie tropfenweise vorzubringen. 139
»Eigentlich nicht«, erwiderte er deshalb leichthin. »Offengestanden, ich bin nur ein bißchen neugierig. Sie müssen wissen, daß ich Berichterstatter bin. Enderby ist mein Name.« »Freut mich sehr«, nahm der andere trocken zur Kenntnis und dachte nicht daran, seinen eigenen Namen zu nennen. Enderby nahm es hin, ohne mit den Wimpern zu zucken. »Ich möchte natürlich keine unerlaubten Fragen stellen«, meinte er sachlich, »aber Sie werden begreifen, daß diese etwas seltsame Rettung einiges Aufsehen erregen wird. Wenn dieser verwirrte Haufen von Menschen seine Erlebnisse zum Besten gibt, wird alles Tatsächliche ungeheuer übertrieben werden. Ich halte es daher für meine Pflicht, nüchtern und sachlich zu berichten und damit allen fantastischen Übertreibungen entgegenzutreten. Das ist der Grund, warum ich Sie bitte, mir einige Aufklärungen zu geben, wenn es irgend möglich ist.« Kapitänleutnant Carrow nickte, als handle es sich um die harmloseste Geschichte der Welt. »Gewiß. Sie brauchen nicht so ängstlich zu sein. Ich will Ihnen gern Ihre Fragen beantworten. Ich mußte nur vorhin so abweisend sprechen, damit sich nicht eine Redeschlacht auf meine Kosten entwickelte. Was möchten Sie denn gern wissen?« Enderby zwinkerte und schluckte einige Male, dann hatte er die unerwartete Bereitwilligkeit ver140
daut. Wenn der Mann etwa dachte, ihn auf den Leim führen zu können, dann hatte er sich geirrt. John Enderby verstand auch bei falschen Aussagen zwischen den Worten zu hören. Also erst einige Unverfänglichkeiten. »Sie wollen uns auf den Azoren absetzen?« »Ja, in unmittelbarer Nähe von Angra.« »Wann werden wir dort ankommen?« »Es sind fünfhundert Kilometer. Wir brauchen etwas über fünf Stunden.« »Wollen Sie uns in Booten aussetzen?« »Nein, direkt aufs feste Land. Sie befinden sich auf einem Luftschiff.« »In einem Luftschiff? Fliegen Sie da nicht recht langsam?« »Sicher. Das liegt zum Teil an der Überlastung und zum Teil an der Eigenart unseres Antriebsmittels.« »Ah, aber das Luftschiff besitzt doch überhaupt keine Motoren.« »Natürlich nicht. Es ist ja ein Magnetschiff.« Carrows Gesicht blieb steinern ernst. »Ein Magnetschiff?« »Gewiß, Sir. Sie haben sicher schon von dem Prinzip gehört. Das Schiff ist strenggenommen nur eine Hülle um einen mächtigen Stabmagneten herum, der es von der Spitze bis zum Ende durchzieht. Mit Hilfe von Maschinen werden vor dem Luftschiff 141
starke elektromagnetische Felder aufgebaut, in die der Stabmagnet und damit das Luftschiff hineingezogen wird.« »Hä?« fragte Enderby verblüfft, und das war ihm in seinem ganzen Leben noch nicht passiert. »Sie ziehen – Verzeihung, aber dieses Prinzip ist mir wirklich hoch unbekannt.« »Es ist ganz einfach«, erklärte Carrow nachsichtig. »Magnetische Felder sind ja schließlich nichts Besonderes. Nur müssen wir uns eben vorläufig noch mit einer geringen Geschwindigkeit zufrieden geben. Über hundert Kilometer schaffen wir noch nicht.« »Ja, aber – wenn Sie nun sinken oder steigen wollen?« »Hm, dann werden die Felder eben entsprechend schräg vorverlegt, und das Luftschiff richtet seinen Bug entsprechend. Wir können sogar rückwärts fliegen, wenn wir umpolen und das Feld hinten ansetzen.« »Allerhand!« staunte Enderby beklommen. »Aber wodurch wird die riesige Last des Schiffes getragen?« »Ebenfalls durch magnetische Felder.« »Wie groß ist das Luftschiff?« »Vierhundertdreißig Meter lang und hundertfünfunddreißig Meter hoch.« »Fantastisch!« ächzte Enderby. »Darf ich einen Rundgang machen?« 142
»Leider nicht«, bedauerte Carrow. »Verschiedene Einrichtungen stehen noch unter Geheimhaltung, und – was ist denn?« Jemand von der Besatzung erstattete eine kurze Meldung, die der Journalist nicht verstand, worauf Carrow verbindlich um Entschuldigung bat und sich entfernte. Er kam auch nicht wieder, so daß Enderby das aufschlußreiche Gespräch nicht fortsetzen konnte. Zwei Stunden später erhielt er seine Kleidungsstücke zurück. Sie waren offensichtlich künstlich getrocknet worden. Schön sahen sie nicht aus, aber dafür besaß Enderby im Augenblick ohnehin kein Organ. Etwas später traf er mit Benson zusammen, der ihm bedeutungsvoll zuzwinkerte. »Na, was sagen Sie jetzt? Diesmal haben Sie Pech, mein Junge. Ich werde meinen eigenen Bericht an meine Zeitung kabeln. Geradezu aufregend, ausgerechnet in einem der Schiffe dieses sagenhaften Sun Koh gefahren zu werden.« »Schiff?« Enderby hob die Brauen. »Wieso Schiff? Luftschiff natürlich.« »Wieso Luftschiff?« fragte Benson mitleidig zurück. »Wer hat Ihnen denn den Bären aufgebunden? Ein Luftschiff ohne Motoren und Steuerflächen? Nee, mein Lieber. Sprechen Sie mal mit unserem Kapitän. 143
Er war draußen und hat mit dem Kapitän dieses Schiffes zusammen die Eintragung in die Bücher fertiggemacht.« »Maclean?« »Wer sonst?« Enderby schüttelte den Kopf, machte sich aber auf die Suche nach dem Kapitän der »Bristol«. »Ein Schiff selbstverständlich, Mr. Enderby«, erklärte der bestimmt. »Ein Schiff bei der Schwergewichtslage?« ging Enderby ihn unfreundlich an. »Haben Sie schon einmal ein Schiff gesehen, das geradezu auf dem Wasser schwebte?« »Ach so?« Der Kapitän begriff. »Nun, kein Grund zur Aufregung. Es handelt sich um einen neuen Versuchstyp, einen Großfrachter, der als Gleitschiff gebaut ist.« »Hä?« »Gleitschiff«, wiederholte der Kapitän gutmütig. »Sehen Sie, bei unseren gewöhnlichen Schiffen bietet das Wasser einen sehr großen Widerstand. Die meiste Kraft an der Schraube muß aufgewandt werden, um diesen Widerstand zu überwinden. Er ist natürlich um so geringer, je geringer der Tiefgang des Schiffes ist. Wenn man ein Schiff unmittelbar über die Oberfläche des Wassers dahingleiten lassen könnte, ließen sich ganz andere Geschwindigkeiten erzielen als heutzutage. Bei den Motor-Rennbooten 144
hat man bereits die Nutzanwendung daraus gezogen. Wenn es wirklich gelingt, Großfrachter als Gleitschiffe zu bauen, kann sogar der moderne Luftverkehr einpacken.« Enderby drückte seine Fingernägel in den Handteller, um nicht aus der Rolle zu fallen. »Interessant, Kapitän. Immerhin wird man ja wohl einen Antrieb brauchen. Davon hört man nichts. Und bei der jetzigen Ladung würde es auf alle Fälle tief im Wasser liegen.« »Sie vergessen die Tragzellen, Mr. Enderby. Man hat sich die Erfahrungen des Luftschiffes zunutze gemacht. Oben sind mächtige Heliumzellen eingebaut, die einen Teil der Last tragen. Der Gedanke ist gar nicht schlecht.« »Hervorragend!« würgte Enderby und verzichtete darauf, den Kapitän von dem Gleitschiff abzubringen, das man ihm eingeredet hatte. Er wußte genau, was das für ihn bedeutete. Die Öffentlichkeit würde neben seinem Bericht den des Kapitäns lesen, und die Aussage Macleans besaß amtlichen Charakter. Die Gegensätzlichkeit der Berichte würde ihm zum Schaden gereichen und seine Glaubwürdigkeit für immer untergraben. Verflucht geschickt von diesen Leuten! Der Saal wurde ruhig. Ein Mann stand auf dem Tisch. Er hatte etwas zu sagen. »Meine Damen und Herren, wir sind inzwischen 145
an unserem Ziel angelangt. Wir befinden uns unmittelbar bei der Azoren-Insel Terceira, und zwar in der Nähe von Angra. Sie werden in Booten an Land gebracht. Ich bitte Sie, alle Aufregung zu vermeiden und strengste Ordnung einzuhalten. Zuerst werden die Kranken verladen, später die Gesunden. Achten Sie bitte auf die Anweisungen, die Sie von Fall zu Fall erhalten. Im übrigen hoffe ich zugleich im Namen der gesamten Besatzung, daß Sie durch das bedauerliche Unglück Ihres Dampfers nicht dauernden Schaden erleiden.« Irgendwo flackerte ein Ruf auf, der von andern aufgenommen wurde. »Three cheers für unsere Retter!« Die Stimmung war flau, aber die drei Hochrufe schrie jeder mit, um das Seine an Dankbarkeit beizutragen. »Danke«, fiel ruhig die Stimme des Mannes wieder ein. »Und noch eins. Es sind im Laufe dieser Stunden viele Fragen an die Mannschaft gerichtet worden. Wie Ihnen schon gesagt worden ist, sind wir leider nicht in der Lage, Ihnen alle gewünschten Aufklärungen zu geben. Dieses Schiff ist ein Versuchsschiff, dessen Einrichtungen zum großen Teil noch nicht patentiert wurden, so daß wir uns gegen Neugier einigermaßen schützen müssen. Sie werden in der nächsten Zeit ohnehin in den Zeitungen ausführliche Artikel über unsere Arbeiten finden, sobald 146
nämlich die Patentierungen erfolgt sind. Ich bitte Sie, bis dahin Ihre begreifliche Wißbegierde zurückzustellen. Für jetzt möchte ich nur soviel andeuten, daß es sich bei unserem Schiff um ein großes Unterwasser-Frachtschiff handelt, das für Großfrachten bestimmt ist. Deshalb gibt es auch an unserem Schiff keine sichtbaren Öffnungen oder Verdecks. Sie wissen, daß der heutige Schiffsverkehr in hohem Maße vom Wetter abhängig ist und durch dieses gefährdet wie gehindert wird. Bereits in verhältnismäßig geringer Tiefe bleibt das Meer jedoch auch beim stärksten Sturm unbeweglich, so daß die Fahrzeiten zum Beispiel auf die Minute genau eingehalten werden können. Außerdem kommen einem solchen Unterwasserschiff bekanntlich alle Vorteile der Wasserverdrängung zugute, die praktisch einen vollständigen Gewichtsverlust bedeutet.« Er machte eine kleine Pause, in die Enderby schwer hineinstöhnte, dann fuhr er fort: »Der Antrieb unseres Schiffes erfolgt nicht durch gewöhnliche Maschinen, sondern durch eine Art Raketen nach dem Rückstoßprinzip. Sie wissen wohl, daß man allein durch den Rückstoß schnell entwickelter Gase gegen die Luft schwere Körper vorwärtstreiben kann. Sie können sich denken, daß die Rückstoßwirkung erheblich größer ist, wenn die Explosionssätze nicht gegen Luft, sondern gegen das festere Wasser arbeiten.« 147
»Wahnsinn!« murmelte Enderby empört. Er verstand nicht viel von der Technik der Rakete, aber diese Darstellung kam ihm doch nicht ganz geheuer vor. »Die Stabilität unseres Schiffskörpers gegen den Wasserdruck wird durch Ausgleichs-Gaszellen bewirkt, die vollkommen automatisch arbeiten, ähnlich wie die Schwimmblase eines Fisches. Das erforderliche Gas ist Abgas der Raketensätze, das nach Bedarf in die Schwimmblase geleitet wird, die übrigens auch unseren Antrieb bewirkt und zugleich den Vorteil hat, daß unsere Schiffswände im Verhältnis genauso dünn bleiben konnten wie die Haut eines Fisches. Ich hoffe, daß diese Andeutungen einstweilen genügen. Und nun, meine Damen und Herren, bitte ich Sie, nacheinander auf das laufende Band zu treten. Die Verwundeten sind inzwischen schon verladen worden.« Während sich die Menge zu drängen begann, unterdrückte Enderby mühsam einen Wutanfall. Das war nun die dritte Lesart. Natürlich würden sich Hunderte von Menschen jetzt hinausstürzen, die Fragen würden auf sie herunterprasseln, und die Leute würden brav und treu genau das erzählen, was sie eben gehört hatten. Und zehn Minuten später waren daraus zwei Dutzend verschiedene Lesarten geworden, denn todsicher hatten die meisten nur die Hälfte, und die jeder anders aufgefaßt. Die weitere Folge 148
war, daß mit seinem Kabel noch etliche andere in die Welt hinausgingen und daß die Zeitungen morgen Dutzende verschiedener Lesarten bringen würden. Und sein Bericht war dann einer unter vielen und nicht viel glaubwürdiger als die anderen. Während sich Enderby mechanisch mit zum Laufband schob, war er nahe daran, auf seinen Bericht überhaupt zu verzichten. Das bedeutete eine erhebliche Einbuße an Geld, aber er hatte ja schließlich auch einen Ruf zu wahren. Schließlich stellte er die Entscheidung einstweilen zurück. Das laufende Band nahm ihn auf, es ging den gleichen Weg zurück, auf dem sie gekommen waren. Über die leicht schwankende Treppe gelangte er in das Boot, dann ging es zweihundert Meter vorwärts über Wasser, das von Scheinwerfern hell beleuchtet war. Das Boot legte an einem kaum meterbreiten Steg an, an dem sonst wohl kleine Ruderboote lagen, dann befand sich Enderby mitten in einem wilden Trubel von Menschen aller Art. Hinter diesen verlor sich eine Kette von Personen und Lastkraftwagen, in denen unaufhörlich die Schiffbrüchigen abtransportiert wurden. Enderby verdrückte sich einstweilen, da er noch keine Lust hatte, den Schauplatz zu verlassen und in die Stadt zu kommen, deren Lichter in einer Entfernung von wenigen Kilometern zu sehen waren. Die Stadt lag rechter Hand. Links und hinter ihm stiegen 149
bewaldete Abhänge in die Höhe. Vor ihm lag eine Bucht, deren Ufer die Bewohner von Angra säumten. Unmittelbar über der Bucht lag das Riesenschiff, das Luftschiff, Gleitschiff und auch Tauchboot sein sollte. Lag es wirklich dort? Zu sehen war nichts als mächtige Bündel weißen Lichts, die sich von verschiedenen Stellen hier überkreuzten und die Wasserfläche sowie die Ufer blendend bestrahlten. Was hinter den Lichtquellen steckte, ließ sich für die Leute aus Angra bestimmt nicht sagen, dazu war die Blendung zu groß. Man konnte noch nicht einmal feststellen, woher die Boote mit den Schiffbrüchigen eigentlich kamen. Sie schossen aus dem Dunkel heraus in das weiße Licht. Allenfalls ahnte man die Konturen des Riesenkörpers, aber auch nur der, der ihn schon bei Tageslicht gesehen hatte. Geschickt, sehr geschickt. Vielleicht gab das eine neue Lesart. Aber alles Geschick würde nichts nützen. Sobald die Leute ausgeladen waren, würde man sehen, was mit dem Monstrum geschah, ob es ins Wasser tauchte oder auf dem Wasser fortglitt oder sich in die Luft erhob. Jawohl, man würde sehen. Jetzt war es soweit! Das letzte Boot kehrte zurück. Donnerwetter, wenn man jetzt ein Motorboot zur 150
Hand hätte, um im Notfall zu folgen? Merkwürdig, daß keins von Angra auf dem Wasser war, obgleich es doch sicher dort genügend gab. Enderby erfuhr erst später, daß die Behörden von Angra nachdrücklich Anweisung erhalten hatten, kein Boot oder Schiff auf diese Stelle fahren zu lassen, da die Wellenbewegung des Versuchsschiffes sie alle gefährden müßte. Jetzt war das letzte Boot wohl eingehievt worden. Es war still hinter den Scheinwerfern, die unentwegt weiter brannten. Da – jetzt setzte sich das Schiff in Bewegung. Eine breite Kiellinie schickte Wellen nach rechts und links zur Seite. Man sah deutlich, wie sie sich aus dem Dunkel ins helle Licht wölbten. Und jetzt rückten die Scheinwerfer deutlich zurück, schwenkten etwas ein. Schlau, sehr schlau. Die blendenden Lichtkegel deckten jetzt gemeinsam das Schiff gegen die Sicht vom Ufer aus ab. Aber die Kiellinie war unverkennbar. Breit und muldenförmig setzte sie an. Die Endwellen klatschten hart und hoch gegen die Steilküste. Wenn sie doch ihre verdammten Scheinwerfer abschalten würden! Der Abstand vergrößerte sich immer mehr, ging schon in die Kilometer. Plötzlich erloschen die Scheinwerfer. 151
Und… Das Riesenschiff war verschwunden, spurlos verschwunden. Enderby sah in den ersten Sekunden nur schwarze Nacht, dann überwanden seine Augen die Blendung und nahmen das matte Licht der Wasserfläche wieder auf. Dort vorn mußte es sein, zwei oder drei Kilometer vom Land entfernt, noch weit vor der Horizontlinie. Dort vorn war aber nichts, noch nicht einmal die Bewegung des Wassers konnte man genau feststellen. Verschwunden, einfach verschwunden, so wie es gestern einfach dagewesen war. »Es ist getaucht«, sagte ein Mann in der Nähe. »Ich habe es ganz deutlich gesehen.« »Es ist aufgestiegen und davongeflogen«, behauptete ein anderer. »Ach«, höhnte ein dritter, »dann müßte man es doch jetzt sehen.« »Es fliegt eben sehr schnell.« »Unsinn, es ist einfach geradeaus gefahren und wird jetzt durch den Horizont gedeckt. Durch die Scheinwerfer wirkte es noch so nahe, aber in Wirklichkeit war es schon viel weiter.« Volkes Stimme, Gottes Stimme, dachte Enderby ingrimmig und schritt davon. In den nächsten Tagen brachten die Weltzeitungen 152
Berichte über Berichte. Enderbys schlimmste Befürchtungen trafen ein. Dutzende von Lesarten tauchten auf, die sich alle mehr oder weniger widersprachen. Jede auftauchende Lesart wurde dann von der lieben Konkurrenz unter die Lupe genommen und durch einen sachverständigen Stab von Gelehrten als Unmöglichkeit, Unfug, und Schwindel erklärt und das umfassend nachgewiesen. Enderby selbst schrieb nach langem Schwanken doch noch einen Bericht. Er bemühte sich, mit äußerster Nüchternheit und Sachlichkeit seine eigenen Eindrücke zu schildern und weiterhin zu zeigen, wie es zu den drei Lesarten über Zweck und Einrichtung des unbekannten Schiffes gekommen war. Er gab also das Gespräch mit Ketter ebenso wieder wie das mit Maclean und die Ansprache des letzten Mannes. Sein Bericht schlug alle anderen. Er war überzeugend geschrieben und enthielt sich aller Spekulationen. Als Enderby eines Tages in sein Hotel zurückkehrte – er war vorläufig in Angra geblieben – fand er dort einen Mann vor, der sich ihm als Kapitän Bilroy vorstellte. Dieser bat ihn um eine Unterredung unter vier Augen. Sie wurde selbstverständlich bewilligt. Als Bilroy keine Hörer in der Nähe wußte, sagte er: »Sie sind der Journalist Enderby, der den Bericht über das fremdartige Schiff geschrieben hat, nicht wahr?« 153
»Allerdings«, bestätigte Enderby verwundert. »Sie sind britischer Staatsangehöriger?« »Ja.« »Dann bitte ich Sie, von diesem Schreiben Kenntnis zu nehmen.« Enderby brach das gesiegelte Schriftstück auf, stutzte bei der Unterschrift, die von einem Unterstaatssekretär Veiten im Namen der Regierung der Vereinigten Königreiche geleistet worden war, und las: »Lieber Mr. Enderby, es wäre mir aus sehr wichtigen Gründen lieb, wenn Sie für kürzere Zeit nach London kommen könnten. Bitte vertrauen Sie sich dem Überbringer dieses Schreibens an. Ihr Stillschweigen wird vorausgesetzt. Ganz der Ihre …« Enderby ließ den Brief sinken und sah den Kapitän an. »Sie kennen den Inhalt des Briefes?“ »Ja. Ich habe dazu meine Ausweise vorzulegen.« »Danke«, wehrte der Berichterstatter ab. »Man wünscht also in London, mich persönlich noch einmal zu hören. Welche Anweisungen haben Sie?« »Sie innerhalb kürzester Zeit nach London zu bringen. Im Hafen liegt ein Flugzeug, mit dem ich gekommen bin. Sie sind startbereit?« »Ja.« »Dann erwarten Sie mich in einer Viertelstunde in der Halle.« »Ich beeile mich!« 154
Enderby beeilte sich wirklich. Die Regierung Ihrer Majestät war geneigt, handelnd einzugreifen. Am nächsten Tag stand er vor dem Unterstaatssekretär Veiten. Er lernte einen netten, harmlosen Mann in ihm kennen, der mehr Wert auf gemütliche Unterhaltung als auf eine amtliche Befragung zu legen schien. Er stellte seine Fragen ganz beiläufig, aber es wurden im Laufe der Stunden Hunderte von Fragen, die alle sorgfältig durchdacht waren. Enderby gab tatsächlich seinen gesamten Bericht noch einmal, wenn auch in zahllosen Fragen aufgelöst. Dem Unterstaatssekretär schien vor allem daran zu liegen, unauffällig festzustellen, ob Enderby hiebund stichfest war. Das war er. Aber er war auch ein Mann, der nicht die Gewohnheit hatte, bloß anderen Fragen zu beantworten, ohne selbst welche zu stellen. Und der Staatssekretär beantwortete sie ihm. »Sind in Kapstadt Nachforschungen angestellt worden?« fragte Enderby schließlich. Veiten nickte. »Gewiß. Das Schiff ist dort nicht hergestellt worden, es gibt auch nicht die entfernteste Möglichkeit dazu. Es kann nur in einem unbekannten und für die Öffentlichkeit nicht zugänglichen Hafen aufgelegt worden sein.« »Welche Vermutungen hegt die Regierung?« Veiten lächelte freundlich. 155
»Die Regierung? Sie beschäftigt sich mit dieser Angelegenheit überhaupt nicht. Ich habe mich aus rein persönlichen Interessen mit Ihnen unterhalten.« Enderby anerkannte die Deckung, ohne mit der Wimper zu zucken. »Gut und welche Vermutungen hegen Sie?« »Ich fürchte sehr, daß nur eine eifrige Suche zum Ziel führen wird. Ich beneide Sie in dieser Hinsicht um Ihre Stellung und Ihre Beziehungen sowie um Ihre Bewegungsfreiheit. Ein Mann Ihres Schlages müßte sehr viel leichter hinter gewisse Dinge kommen als selbst die Nachrichtenleute der Regierung.« Enderby sah dem andern fest in die Augen. »Sie wünschen, daß ich die Angelegenheit in Ihrem Auftrag bearbeite?« Der Unterstaatssekretär hob seine gepflegte Hand. »Aber nein, mein Lieber. Ich könnte Ihnen ja schließlich nur amtliche Aufträge erteilen. Aber wie gesagt, ich bin persönlich interessiert. Wenn Sie zufällig etwas erfahren sollten, so wäre ich Ihnen ungeheuer dankbar. Selbstverständlich würde die Honorierung Ihren gewohnten Sätzen nicht nachstehen. Ich könnte Ihnen sogar einen kleinen Ausweis für den Fall der Not zur Verfügung stellen, wie gesagt, aus persönlicher Liebhaberei!« Enderby unterdrückte das Grinsen, das ihm auf die Lippen wollte. Warum sollte er nicht auch einmal für die Regierung der Vereinigten Königreiche eine Re156
portage machen? »Ich bin natürlich gern bereit«, stimmte er zu, »zumal ich augenblicklich nicht durch andere Aufgaben gebunden bin. Vielleicht kann ich bald einen Anhaltspunkt finden, von dem aus ich diese Geheimnisse entschleiern kann. Ziellos auf dem Meer herumzufahren, hat ja schließlich keinen Zweck.« »Allerdings nicht«, pflichtete Veiten ihm bei, »zumal in jener Gegend ein Teil unserer Flotte einige Manöverübungen durchführen wird.« »Aha!« »Ganz zufällig natürlich«, beruhigte Veiten. »Aber was sagen Sie zu diesem Schreiben?« Er reichte einen Brief hin, einen Bogen ohne Kennzeichen, auf dem in Maschinenschrift stand: »Der Regierung wird hierdurch mitgeteilt, daß der unbekannte Luftkreuzer – um einen solchen handelt es sich – wahrscheinlich auf der Halbinsel Yukatan erbaut wurde. Dort befinden sich riesige Fabrikanlagen, die zur Herstellung von Kriegsmaterial aller Art zur Eroberung des Atlantik dienen. Der Besitzer heißt Sun Koh. Angaben folgen später.« »Hm«, murmelte Enderby. »Ich muß mir die Sache durch den Kopf gehen lassen.« Mit diesem Entschluß verabschiedete er sich. Er ging in der Überzeugung, daß England alles tun würde, um hinter die Geheimnisse des Atlantik zu kommen und sie unschädlich zu machen. 157
13. Auf dem Atlantischen Ozean befanden sich mehrere Vermessungsschiffe der »Gesellschaft für Meeresforschung«. Diese Gesellschaft hatte ihren Sitz in Hamburg und arbeitete scheinbar unabhängig, war jedoch in Wirklichkeit für Sun Koh tätig. Die Vermessungsschiffe hatten die zunehmenden Bewegungen des Meeresbodens zu überwachen. Ihre Feststellungen waren nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Eines dieser Vermessungsschiffe war der »Jupiter«. Seit vielen Wochen lag das Schiff auf hoher See. Gestern waren durch ein Flugzeug Post und Zeitungen gebracht worden, heute stand Rinkert, der jüngste Offizier des Vermessungsschiffes, in der Offiziersmesse und las mit leichtem Pathos und Viel überschüssigem Stimmaufwand eine bemerkenswerte Nachricht vor. Er stand dabei am Kopfende des Tisches. Vier Männer hörten ihm zu. Da war Kapitän Volleder, der Befehlshaber, der sich zurückgelehnt hatte und die rechte Hand in die Hosentasche gestemmt hielt. Neben ihm stützte sich Greller, der Zweite, auf beide Ellenbogen. Er hielt den Kopf leicht zu Rinkert hin gedreht und freute sich ganz verstohlen über dessen schöne Aussprache. Volleder gegenüber bewunderte 158
der Maschinenerste Becker seine Fingernägel. Neben ihm saß Dr. Schürbrand, der Vermessungsoffizier und Sachverständige. Etwas später trat auch noch sein Mitarbeiter, Dr. Mehnert, ein und lehnte sich einstweilen an die Wand. Rinkert hielt das Zeitungsblatt in Schulterhöhe. Atlantis – eine Fantasie! Alte Menschheitssage durch moderne Wissenschaft endgültig widerlegt! Seit Solon, der bekanntlich die ersten Nachrichten von den Ägyptern erhalten haben will, und seit Plato, der ausführliche Darstellungen hinterließ, ist das Raunen um den sagenhaften Erdteil Atlantis nicht wieder verstummt. Durch Jahrtausende hindurch hat sich die Behauptung gehalten, im Atlantischen Ozean habe sich einst ein großer Erdteil mit einer blühenden Kultur befunden, der dann in den Wellen versunken sei. Noch die Antike war fest davon überzeugt, daß sich jenseits der Säulen des Herkules, also jenseits von dem heutigen Gibraltar, ein unbefahrbares Schlammeer befinde. Manche Jahrhunderte hindurch war die Sage von jenem Erdteil Atlantis fast völlig verschollen, aber dann tauchte sie stets von neuem auf, oft in völlig veränderter Form, zum Beispiel als die Sage von der versunkenen Stadt Vineta. Selbst in unserer nüchternen Gegenwart ist sie wieder lebendig geworden. Zahlreiche Gelehrte haben sich mit ihr beschäftigt, 159
und es gab und gibt eine ganze Reihe, die ernsthaft die Meinung vertreten, daß ein solcher Erdteil einst bestanden habe, und zwar vor nicht allzuferner Zeit, etwa vor zehntausend Jahren noch. Zahllose Bücher sind über dieses Thema geschrieben worden, ebenso zahllose Beispiele für und gegen erbracht worden, ohne daß eine Klarheit und Einstimmigkeit zu erzielen gewesen wäre. Wir sind nun in der Lage, das Problem endgültig zu klären und nachzuweisen, daß Atlantis nichts anderes als eine Sage ist. Der Beweis ist eindeutig. Eine Vermessungsexpedition hat in den äquatorialen Zonen des Atlantischen Ozeans umfangreiche Untersuchungen angestellt und dabei ermittelt, daß die Sediment- und Blauschlickschichten seit vielen Zehntausenden von Jahren unverändert den Meeresboden bedecken, daß also in diesem Zeitraum keine Bewegungen des Meeresbodens stattgefunden haben können. Vor allem steht fest, daß sich diese Schichten nicht erst in den letzten zehntausend Jahren ansammeln konnten. Damit erledigt sich endgültig die Annahme, daß hier innerhalb dieses Zeitraums ein Erdteil eingesunken sein könne, und die Sage von Atlantis erweist sich eben als bloße Sage. Gleichzeitig erledigen sich auch alle Gerüchte, die anläßlich gewisser Sensationsberichte der letzten Zeit hartnäckig ausgestreut worden sind. 160
Rinkert ließ das Blatt sinken. »Was sagt ihr dazu?« »Nachtigall, ich hör dir trappsen – das ist meine Meinung«, erklärte Becker. Volleder nickte. »Natürlich, für uns ist der Artikel nicht gerade bestimmt, sondern für die andern. Die ganze Welt hat den atlantischen Koller bekommen, man ist sich nur noch nicht ganz sicher, ob man es bei den Azoren bewenden läßt oder den versunkenen Erdteil hochschwappen sieht. Es wird schon Zeit, daß man eine kleine Beruhigungspille gibt, sonst wird Atlantis gar zu sehr Mode.« Greller malte mit dem Finger gedankenvoll eine krumme Linie auf den Tisch. »Hm, ganz so unrecht haben die Leute aber nicht, und der Atlantische Höhenrücken zieht sich ja schließlich von Grönland bis zu den Bouvet-Inseln hinunter, nicht wahr?« Schürbrand trat an eine große Karte des Atlantischen Ozeans und der umgrenzenden Küstenländer, wies mit dem Finger und erklärte dabei: »Sehen Sie, hier im ungefähren Schnittpunkt von dreißig Grad Nord und vierzig Grad Ost haben Sie die Bruchspalte, an der bekanntlich eine unserer Abteilungen arbeitet. Sie gehört mit kaum zweihundert Kilometern Breite zu den schwächsten Stellen der atlantischen Schwelle. 161
Unmittelbar nördlich davon dehnt sie sich gewaltig aus und zieht sich in einer Durchschnittsbreite von zwölfhundert Kilometern ungefähr zweitausend Kilometer nach Norden, um sich unter dem fünfzigsten Grad in die Basis Grünland – Europa einzufügen. Dieses Landstück von rund zwei Millionen Quadratkilometern, das die Azoren mit einschließt, dürfte die berühmte Atlantis gewesen sein, sofern sie überhaupt schon einmal Menschen getragen hat. Dieses Landgebiet oder richtiger dieses Stück Meerboden dürfte eines Tages aus dem Meer heraustauchen. Der Meeresboden gibt kaum noch Ruhe, unterseeische Beben sind häufig, stellenweise hat bereits eine beträchtliche Hebung stattgefunden. Übrigens, Sie wissen ja, daß die Azoren seit Jahrtausenden vulkanisch tätig sind? Sie sind es seit Jahrtausenden gewesen. Schon immer sind dort die Thermen, die warmen Quellen, geflossen, während aus den Sofataren das Gas herauszischte. Seit einigen Tagen ist es damit zu Ende.« Die Körper ruckten. »Was?« »Tatsache, heute früh habe ich es erst erfahren. Die Thermen fließen nicht mehr, und die Sofataren sind verschwunden. Das kann ein sehr, sehr bedeutsames Zeichen sein.« Das Telefon schrillte. Mehnert, der am nächsten stand, hob ab. 162
»Messe, Mehnert – jawohl.« Er reichte den Hörer an Volleder. Dieser lauschte einige Sekunden, dann sagte er: »Gut, ich komme sofort. Inzwischen Sichtalarm.« Er hängte ein und wandte sich an die Anwesenden. »Meine Herren, ein Flugzeug hält auf uns zu. Wir müssen uns auf einen Besuch gefaßt machen. An Ihre Plätze.« Dann eilte er hinaus. Während das fremde Flugzeug in der Nähe des Schiffes niederging, nahm es über den Kurzwellensender Verbindung auf und bat, ein Boot zu schicken. Volleder entsprach selbstverständlich dem Wunsch. Das Boot kam mit dem einzigen Fahrgast des Flugzeugs zurück, der nach oben kam und mit betonter Freundlichkeit vor dem Kapitän den Hut schwenkte. »Bambridge«, stellte er sich vor. »Im Auftrag meiner Zeitung, der …« »Das habe ich mir fast gedacht«, unterbrach Vollleder nicht besonders freundlich. »Sie sind Berichterstatter?« »Gewiß, für die ›Evening Sun‹. Sie können mich natürlich umgehend wieder hinunterbefördern, aber es wäre doch ganz nett, wenn Sie mir vorher ein bißchen von Ihren Geheimnissen erzählten, damit ich nicht umsonst hierhergekommen bin.« »Wir haben keine Geheimnisse«, stellte der Kapitän fest. 163
»Um so besser«, meinte Bambridge harmlos. »Haben Sie Geheimnisse, werden Sie mich schleunigst hinauswerfen, haben Sie keine, werden Sie sich über eine kleine Abwechslung freuen.« Volleder freute sich über die Abwechslung, er tat wenigstens so. Wenn er den Berichterstatter gleich wieder fortschickte, so geheimniste dieser morgen in seiner Zeitung herum. Dabei gab es auf dem Vermessungsschiff, abgesehen von den Ergebnissen und einigen Apparaten, kaum etwas zu verbergen. Deswegen gewährte er Bambridge das Vergnügen, sich an Bord umzusehen. Das entsprach übrigens auch seinen Anweisungen. Man wußte auf dem Vermessungsschiff, worauf es ankam. Bambridge erfuhr sehr viel Harmlosigkeiten, aus denen sich nur schwer eine Sensation zusammenbauen ließ. Er wurde sogar durch das ganze Schiff geführt und durfte sich mit eigenen Augen überzeugen, daß die »Jupiter« nichts anderes als ein gewöhnliches Vermessungsschiff war. Nach einigen Stunden verabschiedete er sich. »Gelohnt hat sich’s nicht«, gestand er offen. »Eigentlich hatte ich Sie nämlich in Verdacht, mit diesem Sun Koh in Verbindung zu stehen, von dem jetzt soviel die Rede ist. Zumindestens dachte ich, daß sich der Meeresboden hier beträchtlich gehoben haben müßte. Aber wenn Sie hier immer noch zweitausend Meter Tiefe haben, so …« 164
»Viertausend Meter«, verbesserte Schürbrand lächelnd. »Also viertausend, dann ist meine Fahrt eben umsonst gewesen. Na, auch nicht weiter schlimm. Die Vermessungskommission, die in den nächsten Tagen hier eintreffen wird, hat sich dann auch vergeblich bemüht.« »Von welcher Vermessungskommission sprechen Sie?« fragte Volleder lauernd. Bambridge stellte sich verwundert. »Wissen Sie das nicht? Ich dachte, das wäre allgemein bekannt? Die Konkurrenz hat ein paar Herren vom Fach zusammengetrommelt, auf eine Jacht gesetzt und losgeschickt. Die Herren sollen in Ihrer Nähe die Meerestiefe vermessen, um zu klären, ob gewisse Gerüchte zutreffen. Auf die Weise kommen Sie zu angenehmer Gesellschaft. Aber nun will ich mich nicht länger aufhalten. Es war mir ein Vergnügen.« Er verabschiedete sich. Als er sich außer Sicht befand, zog man auf der »Jupiter« nachträglich betroffene Gesichter. »Das hat uns gerade noch gefehlt«, murmelte Brennhofer. »Den Kerl haben wir abgewimmelt in der Überzeugung, daß wir harmlos bis auf die Knochen sind, und nun schickt man uns eine Vermessungsabteilung auf den Hals. Das kann gut werden.« »Eine unheimliche Sensation wird es geben, wenn 165
sie in unserer Nähe loten«, meinte Mehnert. »Die Welt wird schwer aufhorchen, wenn ihr unsere wahre Tiefe von knapp zweitausend Metern gemeldet wird.« »Warten wir ab«, beruhigte Volleder. »Ich werde sofort mit der Leitung in Hamburg sprechen. Dort wird man schon Rat wissen.« Minuten später stand er im Funkraum. Der verantwortliche Leiter in Hamburg hörte sich den Bericht an, dann erwiderte er: »Sie brauchen sich darüber keine Sorgen zu machen. Die Absendung dieser Vermessungsgesellschaft an Bord einer Privatjacht war uns bereits bekannt. Wir wußten allerdings bisher nicht, wo die Vermessungen vorgenommen werden sollten. Wenn die Jacht eintrifft, wahren Sie die üblichen Formen, kümmern sich aber nicht weiter um sie. Setzen Sie soweit wie möglich die Arbeit fort.« »Die Tätigkeit der anderen ist nicht zu verhindern?« »Nein.« »Ja, aber dann …« »Sie können beruhigt sein, wir haben bereits Vorkehrungen getroffen, um etwaige Enthüllungen zu vermeiden. Man wird von der Jacht aus schwerlich die wahre Tiefe feststellen können. Sie wird schon jetzt von zwei Tauchbooten begleitet, die in unserem Auftrag tätig sind. Die Führer der Tauchboote werden sich dann mit Ihnen in Verbindung setzen.« »Danke.« 166
14. Die Vermessungskommission an Bord der englischen Jacht bestand, wenn man von den Hilfskräften absah, aus vier Herren, von denen Professor Chalmack die Führung besaß. Diese vier Herren standen auf dem Verdeck und beobachteten die letzten Vorbereitungen für ihre Tätigkeit. Kaum zwei Kilometer entfernt lag das Vermessungsschiff »Jupiter«. Dieses hatte die Fahne zum Gegengruß gedippt, nachdem die Jacht mit dieser Höflichkeit vorangegangen war, sich sonst aber nicht weiter gerührt. Chalmack unterbrach das allgemeine Schweigen. »Die erste Lotung kann bald beginnen.« »Wird was Gescheites werden«, meckerte Putney. »Ich halte es nach wie vor für verrückt, uns ohne die unerläßlichen Vorbereitungen hierherzujagen, um Messungen vorzunehmen. Meeresvermessung von einer Jacht aus, die nicht die selbstverständlichsten Einrichtungen besitzt. Lachhaft!« Chalmack blickte ihn unwillig an. »Besondere Umstände erfordern besondere Anstrengungen. Wir haben das Nötigste da. Unsere Aufgabe beschränkt sich ja darauf, an einer Reihe von Punkten festzustellen, ob die Meereskarten noch stimmen, also insbesondere, ob Hebungen des Bodens eingetreten sind.« 167
»Nach tektonischen Vorgängen befragt man besser die geographischen Warten«, murrte Putney. »Die können vulkanische Veränderungen besser ermitteln als wir.« Chalmack wurde schärfer. »Sie wissen so gut wie ich, daß seit einiger Zeit die Seismographen dauernd in Bewegung sind, ohne daß sich Genaues feststellen läßt. Wenn es nach den Warten geht, müßten sich ganze große Gebiete dauernd in Bewegung befinden, wenigstens seit einiger Zeit, ohne daß man von einem örtlich näher zu begrenzenden Beben sprechen kann. Es ist ja gerade unsere Aufgabe, zu jenen Feststellungen die Ergänzung und möglicherweise die Gewißheit zu liefern. Und dazu sind unsere Apparate ausreichend.« »Ganz meine Meinung«, pflichtete Malloy ihm bei. »Wir haben ein elektrisches Lot da, ein Echo-Lot und schließlich auch noch ein hinreichend langes Fadenlot. Ich dächte, das müßte genügen.« »Von der Bordwand aus«, konterte Putney lachend, »alles behelfsmäßig befestigt. Die Ergebnisse werden zuverlässig sein, ha.« »Annäherungswerte genügen uns bereits vollkommen«, widersprach Chalmack ruhiger. »Ich bin es nicht gewöhnt, meine wissenschaftlichen Ergebnisse mit Annäherungswerten zu stützen«, erklärte Putney unversöhnlich. »Man hätte uns wahrhaftig zu Hause lassen sollen.« 168
Die erste Lotung wurde mit Hilfe des elektrischen Lots vorgenommen, das als neuestes und wohl auch zuverlässigstes Hilfsmittel galt und außerdem am schnellsten Ergebnisse brachte. Einer der Assistenten schickte die Wellen hinunter und las sofort die Messungswerte ab. Als er sein erstes Ergebnis meldete, glaubte jeder der vier Herren, ungenau gehört zu haben. Deshalb riefen sie gleichzeitig: »Bitte?« »Neunzig Meter«, wiederholte der Assistent. Vier Oberkörper ruckten vor. »Neunzig Meter?« schrie Chalmack. »Sie sind wohl verrückt?« »Tja, es sind nicht mehr als neunzig Meter, Herr Professor.« »Wiederholen Sie die Lotung.« »Abermals neunzig Meter.« Das Gesicht Chalmacks war mächtig lang, als er es den anderen Herren zuwandte. »Ja, meine Herren«, stöhnte Chalmack, »was sagen Sie dazu? Neunzig Meter? Es ist unmöglich!« »Unfug ist es«, wetterte Putney los. »Neunzig Meter, wo es fast viertausend sein sollen? Lachhaft! Habe ich nicht gleich gesagt, daß es ein Verbrechen ist, mit solchen provisorischen Mitteln zu arbeiten?« »Der Apparat ist in Ordnung.« »Einen Dreck ist er«, wütete Putney. »Glauben Sie denn im Ernst, daß hier nur neunzig Meter Tiefe 169
sind? Und wenn der Apparat zehnmal in Ordnung ist, dann ist seine Aufhängung nicht einwandfrei. Wollen Sie etwa nach London zurückfahren und dort erzählen, daß sich der Meeresboden plötzlich bis auf neunzig Meter gehoben hat?« »Es ist unmöglich«, seufzte der gutmütige Morfield. »Ein Irrtum muß vorliegen.« »Gar nicht anders denkbar«, knurrte Malloy. »Ich schlage vor, wir prüfen die elektrische Lotung sofort durch das Schall-Lot nach, dann werden wir ja sehen, was nicht in Ordnung ist.« Gegen diesen naheliegenden Vorschlag hatte niemand etwas einzuwenden. Die Vorbereitungen für die Vermessung mit Hilfe des Echo-Lots wurden unverzüglich getroffen. Wieder verdichtete sich die Spannung, als der Assistent mit einer gewissen Feierlichkeit die Schallwellen in die Tiefe schickte. Fast atemlos erwartete man die Meldung. »Nun?« drängte Chalmack schließlich ungeduldig. »Tja, Herr Professor«, kam es endlich zögernd herauf, »ich kann es auch nicht ändern. Diesmal sind es nur noch fünfzig Meter.« Chalmack taumelte förmlich zurück, kam aber sofort wieder vor und ächzte: »Fünfzig Meter?« »Fünfzig Meter«, bestätigte sein Gehilfe. »Fünfzig Meter?« brummte die Runde. Putney brach plötzlich in einen hysterischen Lach170
anfall aus. »Fünfzig Meter?« kreischte er. »Haha, fünfzig Meter! Wenn wir noch einmal loten, haben wir festgestellt, daß wir eigentlich tausend Meter über dem Meeresspiegel auf einem Berg stehen. Fünfzig Meter! Haha, annähernde Werte genügen! Das nennt man Wissenschaft!« »Bitte beruhigen Sie sich«, bat Morfield, dessen Gesicht nicht weniger verstört war als das der anderen. »Wiederholen Sie die Lotung!« ordnete Chalmack an. Wenig später kam die neue Meldung. »Immer noch fünfzig Meter, Herr Professor.« »Allmächtiger! Der Apparat?« »Der Apparat ist in Ordnung.« »Noch einmal loten.« »Ist geschehen. Wieder fünfzig Meter.« »Der Teufel hole diese Vermessung. Das ist ja zum Rasendwerden!« Putney wurde über dieser Aufregung ruhig. Er grinste spöttisch. »Na endlich. Sie werden mir hoffentlich glauben, daß man nicht ungestraft mit solchen behelfsmäßigen Mitteln arbeitet.« Chalmack zwang sich zur Beherrschung. »Es muß wohl so sein, meine Herren«, meinte er leise. »Die Apparate arbeiten unter den außerge171
wöhnlichen Bedingungen falsch. Wenn das nämlich nicht der Fall wäre, wenn sie richtig anzeigten, dann würden unsere Messungen eine Ungeheuerlichkeit bedeuten. Dann müßte der Meeresboden schon fast um viertausend Meter gestiegen sein und diese Steigung müßte innerhalb der Stunde, die zwischen den beiden Lotungen vergangen ist, um volle vierzig Meter weiter gediehen sein. Das würde aber bedeuten, daß dieses ganze Schiff innerhalb einer Stunde auf trockenem Land liegen würde.« »Unsinn«, knurrte Mallroy grob. »Weil die Apparate versagen, haben wir noch lange keinen Anlaß zu derartigen Fantasien. Glauben Sie etwa, daß ein derartiges Ereignis eintreten könnte, ohne daß der ganze Atlantik in Aufruhr gerät? Ich für meine Person empfehle nun, das einzige Mittel zu benutzen, das auch unter diesen Umständen nicht versagen kann. Nehmen wir die Lotleine.« »Den gleichen Vorschlag wollte ich soeben machen«, stimmte Morfield ein. »Sehr vernünftig«, lobte Putney. Die entsprechenden Anweisungen wurden gegeben. Die Leute arbeiteten fieberhaft. Dann spulte die Leine ab. Der Assistent meldete eintönig den Ablauf. »Fünfzig Meter.« In atemloser Spannung starrten die Augen auf das straffe Seil. Jetzt mußte sie stehenbleiben, wenn die 172
Echolotung stimmte. »Sechzig Meter. Siebzig Meter!« »Na also«, murmelte Putney voll Genugtuung. »Es lag bloß an den Apparaten.« Einförmig schnurrte das Seil, einförmig klangen die Zahlen auf. Die schärfste Spannung war nach Überwindung der kritischen Strecken abgeflaut, man ermüdete. Später jedoch stieg die Teilnahme wieder, je höher die Zahlen kamen. Es handelte sich nunmehr um die entscheidende Feststellung, ob die Tiefen der Seekarte noch stimmten. Dreitausendneunhundert Meter gab die Seekarte an, bei dreitausendachthundertvierzig Metern wurde die Leine schlaff. Die Arbeit des Aufholens begann. Professor Chalmack wandte sich wieder an seine Mitarbeiter. »Was ist Ihre Meinung, meine Herren? Zunächst möchte ich vorbehaltlos eingestehen, daß Mr. Putney mit seinen Voraussagen recht hatte. Man kann diese verhältnismäßig empfindlichen Apparate unter unzulänglichen Verhältnissen nicht benutzen.« Alles nickte. Putney war taktvoll genug, das Eingeständnis schweigend hinzunehmen. Chalmack fuhr fort: »Dreitausendachthundertvierzig Meter zeigte die Leine an. Die geringe Abweichung gegenüber der Karte dürfte sich zweifellos daraus erklären, daß es sich bei den Zahlen der Karte nur um ungefähre Werte handelt. Meine Meinung geht dahin, daß es als er173
wiesen anzusehen ist, daß an dieser Stelle des Meeresbodens keine Veränderung, insbesondere keine Hebung stattgefunden hat. Darf ich Sie um Ihre Meinung bitten?« Die Herren äußerten sich durchaus in Chalmacks Sinn, nur Malloy schränkte ein: »Es läßt sich natürlich auf die erste Lotung hin noch nicht viel sagen. Wir müssen erst eine Reihe von Lotungen vornehmen …« »Und die werden uns sehr viel Zeit kosten«, murrte Putney dazwischen. »Leider ja«, gestand Malloy, »weil eben die Apparate ausfallen. Ich würde übrigens raten, zwischen den Seillotungen immer wieder einmal Apparatlotungen vorzunehmen, vielleicht gelingt es uns doch, günstige Verhältnisse zu ermitteln, unter denen die Apparate zuverlässig arbeiten.« »Ganz meine Meinung«, sagte Chalmack. »Wir müssen auch noch den Befund der Lotleine prüfen.« Das geschah später. Der Befund wies keine Besonderheiten auf. Die erste Lotung war der Beginn einer Arbeit, die sich über Tage und Wochen hinstreckte. Ganz allmählich kreiste die Jacht um das Vermessungsschiff herum, das seinen Platz kaum veränderte, wobei eine Lotung nach der anderen vorgenommen wurde. Man bediente sich ausschließlich der Leine, nachdem ein abermaliger Versuch mit den Apparaten wieder Zahlen unter hundert Meter ergeben hatte. 174
15. In einer dieser Nächte lagen die beiden Tauchboote nicht weit voneinander entfernt im Wasser. Sie waren gerade so weit aufgetaucht, daß sich ihre Rücken wie die riesiger Wale aufwölbten, die träge im Wasser ruhten. Auf ihnen hockten und standen Dutzende von Männern herum, die still behaglich die friedliche Mondnacht genossen. Weit draußen, fast an der Kimme, blitzten die Lichter der »Jupiter«, jenseits davon, aber nicht mehr sichtbar, lag die englische Jacht. An dem einen Tauchboot hob und senkte sich spielerisch ein kleines Boot. Nicht weit von ihm standen die beiden Befehlshaber der Tauchboote zusammen. »Ich denke mir, er wird bald Schluß machen«, sagte Schröter unter anderem. »Die Runde ist fast vollendet.« »Hoffentlich«, meinte Barholm. »Auf die Dauer wird die Geschichte langweilig.« »Und anstrengend«, ergänzte Schröter. »Meine Taucher sind trotz der häufigen Ablösung ziemlich herunter.« »Neulich fehlte nicht viel, als die Rolle sperrte.« »Na, das ging noch. Sie haben sicher an einen großen Fisch geglaubt. Meine größte Sorge ist eigentlich immer, daß ihr mal aus Versehen zu weit mit dem 175
Seil wegfahrt oder nicht rechtzeitig löst. Du lieber Gott, wenn die Gelehrten dort oben eine Ahnung hätten, daß wir ihre Senkleine auffangen, sie über eine Rolle laufen und durch ein Boot straff ziehen lassen?« »Wirkt aber völlig naturgetreu. Schade, daß sie nicht mit den Apparaten weiter gearbeitet haben. Es war einfacher, sich darunterzulegen und den Meeresgrund zu spielen.« »Aber auch kitzlicher. Wie schnell hätten wir einmal das Tempo verpassen können.« »Was ist eigentlich mit dem Eisenrohr geworden?« Schröter lachte auf. »Was soll daraus geworden sein? Ich habe meinen Witzbold Jupp gehörig Bescheid geblasen, als er mir seinen Streich beichtete. Die Gesichter auf der Jacht hätte ich sehen mögen.« Der zweite beispielhafte Fall trug sich in Mexiko zu. Alvarez Pecos, der für die bedeutendste Zeitung von Mexiko verantwortlich zeichnete, schüttelte seinem Besucher mit betonter Herzlichkeit die Hand. »Ich bin beglückt, Señor Garcia«, versicherte er, »daß Sie bei mir vorsprechen. Ich überlegte schon ernsthaft, wie ich auf schnellstem Weg zu einer Rücksprache mit Ihnen kommen könnte.« Manuel Garcia lachte in seiner üblichen Art. 176
»Was haben Sie denn auf Ihrem Herzchen?« Pecos wies auf einen Sessel. »Es handelt sich natürlich um eine dienstliche Angelegenheit. Ich weiß nicht, ob Sie die Zeitungen der letzten Zeit verfolgt haben, Señor Garcia? Also da ist eines Tages auf dem Atlantischen Ozean ein unbekanntes Riesenluftschiff aufgetaucht. Der englische Dampfer ›Bristol‹ explodierte, die mehr als sechshundert Menschen, die schiffbrüchig auf dem Wasser trieben, wurden durch das unbekannte Luftschiff aufgenommen und zu den Azoren gebracht.« »Und zum Dank dafür möchte man das unbekannte Schiff hetzen, bis sie es zur Strecke gebracht haben«, feixte Garcia. »Sie wissen?« »Nein, ich kenne nur meine Pappenheimer.« »Ihre Vermutung trifft ungefähr zu. Die Öffentlichkeit legt größten Wert darauf, Näheres über das unbekannte Luftschiff zu erfahren. Es ist verschwunden, dafür ist aber eine Nachricht eingetroffen, daß es in einer großen Luftwerft gebaut worden sein soll, die sich auf der Halbinsel Yukatan befinden soll.« »Neckisch.« Pecos seufzte. »Wir haben natürlich gegen eine derartige Behauptung Einspruch eingelegt, da uns doch in erster Linie etwas bekannt sein müßte. Aber man gibt sich nicht damit zufrieden. Ich persönlich glaube nicht an diese geheimnisvolle Luftschiffswerft im Urwald 177
von Yukatan, aber ich muß schließlich doch meine Leute ausschicken oder doch wenigstens Nachforschungen anstellen. Offen gesagt: Es sind da einige Berichterstatter in der Stadt, die gemeinsam Nachforschungen anstellen wollen, nachdem die Umfragen bei den Behörden nichts ergeben haben. Man hat mir nahegelegt, einen oder zwei Leute mitzuschikken.« »Und was habe ich damit zu tun?« Pecos wiegte den Kopf hin und her. »Sehen Sie, Sie sind der einzige Mexikaner, der über ausgedehnten Grundbesitz in Yukatan verfügt. Man weiß, daß Sie dort der Eigentümer ganzer Landstriche sind, ja man deutet sogar an, daß Sie eigentlich genau über die Anlagen und über das Luftschiff Bescheid wissen müßten. Das ist natürlich Unsinn, aber wir müssen mit diesen Dingen rechnen. Ich dachte nun, wenn Sie als einziger Grundbesitzer vielleicht den Nachweis ermöglichen könnten, daß die Vermutungen nicht zutreffen? Die Berichterstatter haben irgendwie von unseren freundschaftlichen Beziehungen erfahren und drängen mich nun, ihnen einen Besuch bei Ihnen zu vermitteln. Es sind vor allem zwei Vertreter englischer und zwei Vertreter amerikanischer Zeitungen, zu denen dann natürlich noch ein oder zwei Leute von mir kommen würden. Diese Leute wissen ziemlich genau, wie schwierig es ist, in einem derart unwegsamen Gebiet Nachfor178
schungen anzustellen, deshalb versuchen sie, auf dem Umweg über mich zum Ziel zu gelangen.« »Hm, das heißt also, daß ich die Leute einladen soll, damit sie bei mir ein bißchen herumschnüffeln können?« »So ähnlich.« »Schicken Sie die Leute getrost zu mir, meinen Segen haben sie«, sagte Garcia grinsend. »Wenn die Brüder sich erst ein paar Wochen durch den Urwald durchgeschlagen haben, wird ihnen die Neugier von allein vergangen sein.« Pecos schüttelte den Kopf. »Das kommt natürlich nicht in Frage. Die Kommission wird sich hüten, eine Expedition durch den Urwald zu unternehmen. Sie wird ein Flugzeug benutzen. Ein Tag Vorsprung würde Ihnen auf alle Fälle bleiben.« Pecos lächelte. »Sie sind doch auch mit dem Flugzeug gekommen.« Garcia sah ihn entrüstet an. »Natürlich. Wollen Sie etwa von mir altem Mann verlangen, daß ich zu Fuß über halb Yukatan spazieren gehe?« »Natürlich nicht. Ich meinte nur, daß Sie ja schnell wieder zurückkommen können. Allerdings – hm, es würde einen sehr guten Eindruck machen, wenn Sie nicht vorausfliegen, sondern die Berichterstatter begleiten würden.« »Damit ich nicht erst in aller Eile die großen Indu179
strieanlagen abreißen kann, was?« »Das nicht, ich dachte an den psychologischen Eindruck, wenn Sie gänzlich unvorbereitet und – wie soll ich…« »Schon gut.« Garcia winkte ab. »Ich werde mich um des psychologischen Eindrucks willen, wie Sie so schön sagen, opfern. Sehen Sie zu, daß Sie die Fuhre bis morgen früh zusammenbringen.« »Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar.« 16. Manuel Garcia fuhr mit seinen »Gästen« nach Yukatan. Auf seine Einladung und Empfehlung hin hatten sie sich überreden lassen, alle in seinem eigenen Flugzeug Platz zu nehmen und sich die zweite Maschine zu sparen. Entscheidend war sein Hinweis gewesen, daß die Landemöglichkeit auf seiner Besitzung beschränkt sei und daß er bei der Landung einer zweiten Maschine nicht für sicheres Aufkommen haften könne. Außerdem sei der Landeplatz für Normalmaschinen überhaupt nicht geeignet. Also saßen sie alle zusammen in Garcias Flugzeug, die beiden Mexikaner, die beiden Engländer und die beiden Amerikaner. Man vergaß keinen Augenblick, daß man Augen und Ohren offen zu halten hatte. Nun schnurrte die Maschine schon lange über Yukatan. Rund tausend Kilometer hatte sie hinter sich. 180
Dazu hatte sie, weil die Geschwindigkeit mäßig blieb, annähernd fünf Stunden gebraucht. Da man nicht allzu früh aufgebrochen war, näherte man sich bereits bedenklich dem Abend und der Nacht. »Hat nichts zu besagen«, beruhigte Garcia auf eine entsprechende Anfrage hin, »wir kommen noch rechtzeitig ans Ziel. Wie Sie bemerken, lasse ich absichtlich große Schleifen fahren, damit Sie einen Überblick bekommen. Das ist nämlich das Gebiet, das zu meinem Eigentum gehört.« »Aber das ist doch alles nur Wald«, meinte Wesson, der Amerikaner. »Warum haben Sie denn das alles gekauft?« »Eine billige Gelegenheit«, sagte Garcia grinsend. »Da!« »Donnerwetter.« Die Augen starrten hinunter zu den riesigen Industrie-Anlagen, die in der großen Waldlichtung standen. Dann blickten sie auf Garcia. Der feixte nur und zeigte sich nicht im geringsten verwirrt. »Hübsch, was?« »Allerdings«, meinte Panhudle, der Engländer. »Sehr hübsch sogar.« »Freut mich«, versicherte Garcia. »Sehen Sie, das lange hohe Gebäude wäre zur Not geeignet, um ein Riesenluftschiff darin zu bauen. Die flachen Hallen könnten vielleicht Werkstätten sein. Links davon ist ein ganz nettes Verwaltungsgebäude, nicht wahr?« 181
Lydford, der andere Engländer, sah ihn scharf an. »Ganz recht, aber ich verstehe Sie nicht ganz. Sie wissen, was diese Feststellung bedeutet?« »Ganz genau«, beteuerte Garcia, »ganz genau. Es ist nämlich eine Luftspiegelung, eine Fata Morgana, die infolge der hohen Luftfeuchtigkeit gelegentlich über diesen Wäldern entsteht.« Die Herren verzogen die Lippen. So schwachsinnig waren sie nicht, um einer derartigen Erklärung Glauben zu schenken. Wesson gab der allgemeinen Stimmung Ausdruck. »Hm, Ihre Meinung in Ehren, aber für eine Luftspiegelung ist das wohl ein bißchen viel verlangt. Haben Sie etwas dagegen, wenn wir hier landen und uns etwas näher überzeugen?« Garcia wurde ernst. »Jawohl, ich habe sehr viel dagegen. Unter der Luftspiegelung befinden sich nämlich dreißig bis fünfzig Meter hohe Bäume, und ich habe keine Lust, auf diesen zu landen und dann zu Fuß nach Hause zu gehen.« Doulton, der zweite Amerikaner, lächelte niederträchtig. »Ich bin davon überzeugt, daß wir auf diesen ebenen Dächern gefahrlos und glatt landen können.« »Sie glauben mir nicht?« fragte Garcia scharf. »Nein«, kam kalt die Antwort. »Es ist eine Luftspiegelung«, beharrte Garcia. 182
»Wenn wir genügend tief heruntergingen, würden Sie sehen, wie sie verschwindet und die Bäume zum Vorschein kommen. Aber dann würde es zu spät sein, um das Flugzeug noch aufzufangen.« »Die Gefahr nehmen wir auf uns«, knurrte Panhudle. »Haben Sie was dagegen, wenn wir dem Piloten Anweisung geben?« Der Mexikaner lächelte plötzlich wieder. »Sehr viel, aber tun Sie, was Sie nicht lassen können. Ich lehne jede Verantwortung ab.« Panhudle sprach mit dem Piloten. Der erhob Einwendungen, fügte sich dann aber schulterzuckend. Die Maschine ging hinunter. Unverändert blieben die Anlagen bestehen. Die Herren blickten schadenfroh auf Garcia. Dann plötzlich – war alles weg. Unmittelbar unter dem Flugzeug erschienen die grünen Baumwipfel. Und bevor die hohe Kommission ihre Meinung dazu äußern konnte, setzte sich das Flugzeug krachend hinein, daß die Äste splitterten. »So«, sagte Garcia lakonisch, »da haben wir den Salat.« Tiefes Schweigen, dann knurrte Wesson: »Verdammt, wir sind in die Bäume geraten. Wo sind die Anlagen?« »Sie haben sich eben in Luft aufgelöst«, sagte der Mexikaner grinsend. »Jetzt werden Sie aber klettern lernen.« 183
»Teufel«, knurrte Panhudle, »warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« »Sie werden ungerecht, Verehrtester. Aber Sie werden noch viel mehr schimpfen, wenn Sie meine Rechnung auf Schadenersatz bekommen. Das Flugzeug ist zum Teufel. Ich würde empfehlen auszusteigen, damit wir wenigstens noch vor Einbruch der Dunkelheit auf festen Boden kommen. Vielleicht finden wir dann in den wunderbaren Fabrikanlagen Unterkunft.« »Machen Sie keine Witze«, warnte Wesson wütend. »Wir wissen auch so, daß wir uns wie Narren benommen haben. Wir hätten Ihnen mehr Glauben schenken sollen, denn Sie sind ja schließlich mit den Verhältnissen hier bewandert.« »Wundervolle Einsichten«, lobte Garcia. »Wenn Sie die immer gehabt hätten, wären Sie ganz zu Hause geblieben. Ich habe ja von Anfang an gesagt, daß es hier keine Industrie gibt.« »Lassen wir es gut sein«, bat Jeminez, der Mexikaner. »Wir werden den Rest des Wegs wohl zu Fuß fortsetzen müssen. Waren wir nicht bald am Ziel, Señor Garcia?« Der hob die Schultern. »Mit dem Flugzeug ja, zu Fuß wird es noch ein ganz hübscher Marsch.« »Können wir nicht funken und Hilfe holen?« forschte Panhudle. 184
»Der Apparat ist durch den Stoß beschädigt worden«, meldete der Pilot. Garcia schob die Tür gewaltsam zurück. »Also kommen Sie schon. Führen wir den Beweis, daß der Mensch vom Affen abstammt. Übrigens – wenn Sie fallen, kommen Sie mit gebrochenem Genick unten an.« Der herzlose Hinweis verbesserte die Stimmung keineswegs. Zerzaust, zerschunden, verdreckt, sehr kleinlaut und doch aufatmend kam die ganze Gesellschaft wohlbehalten unten an. Der Pilot erschien als letzter. Er brachte zwei Macheten, eine Flasche voll Wasser und einige Lebensmittel mit. Während sie sich die Füße vertraten, wurde es Nacht. »Tja«, erklärte Garcia. »Für heute ist Feierabend. Wir müssen uns ein Feuer machen und uns schlafen legen. Das Feuer wird der Pilot übernehmen. Die Herren Panhudle und Lydford nehmen die Haumesser und schlagen vor allem eine Lücke in das Unterholz, damit wir etwas Bewegungsfreiheit bekommen.« »Haben Sie etwas gegen uns Engländer«, knurrte Lydford mißmutig. »Nicht im geringsten«, grinste Garcia, »die beiden Herren aus Amerika werden Sie dann ablösen.« Garcia ließ Holz sammeln, dann zündete der Pilot ein Feuer an. Der nächtliche Wald wurde nicht heimlicher und beruhigender dadurch, daß die rotzüngelnden Flammen gespenstische unruhige Schatten 185
zwischen den Bäumen zeichneten. Nach Minuten bereits ließ Panhudle sein Messer fallen. »Ich kann nicht mehr, verdammt noch mal«, schimpfte er stöhnend. »Das Buschholz ist wie Eisen, und mein Rücken ist am Zerbrechen.« »Nach einigen Tagen werden Sie sich daran gewöhnt haben«, beruhigte Garcia sanft. »Der Körper gewöhnt sich an alles.« »Allmächtiger«, seufzte Lydford, »ich glaube gar, Sie rechnen mit einigen Tagen.« »Nicht so schlimm«, tröstete Garcia wieder. »Schlimm wird’s erst, wenn wir die Richtung verlieren. Sie wissen, daß man in der Wüste oder im Wald gewöhnlich im Kreis herumläuft. Dann allerdings …« Die Herren blickten sich entsetzt an. Sie begriffen vollkommen, was Garcia sagen wollte. Die Erscheinung war ihnen bekannt. »Himmeldonnerwetter!« fluchte Wesson nach allgemeinem Schweigen auf. »Ich muß doch nach Mexiko zurück, meine Geschäfte warten auf mich. Du lieber Gott, lasse ich Hornvieh mich verleiten, mich hier in den Urwald zu fliegen – im Straßenanzug auch noch. Das sieht jeder Idiot, daß es hier keine industriellen Anlagen gibt.« »Schönes Zeugnis für Ihren geistigen Befund«, feixte Garcia. »Bitte weiter holzen, sonst überfallen uns die Panther.« 186
Die beiden Amerikaner übernahmen die Haumesser und säbelten drauflos. Als sie streikten, erklärte Garcia die Lücke für groß genug. Irgendwer fragte nach Essen, und plötzlich spürten alle lebhaften Hunger und Durst. Garcia lehnte ab. »Heute müssen Sie hungern, meine Herren, dursten erst recht. Unsere paar Kleinigkeiten müssen wir für den äußersten Notfall aufbewahren. Wir müssen uns eben an das Hungern gewöhnen.« »Aber Sie können uns doch nicht verhungern und verdursten lassen«, empörte sich Doulton. Garcia trat einen Schritt auf ihn zu und tippte ihm auf die Brust. »Ich? Sie, mein Lieber! Ich habe Sie vor dieser Luftspiegelung gewarnt. Sie sind daran schuld, wenn wir uns in dieser Lage befinden. Ich habe schon in Mexiko gesagt, daß es hier nichts anderes als Urwald gibt. Bedanken Sie sich bei den Herren, die Sie zu dieser Untersuchung veranlaßt haben. Schicken Sie die her. Und Sie, Sie können auch untersuchen, aber feste, meine Herren.« Man hatte darauf nichts zu erwidern. Es wurde eine scheußliche Nacht. Erdboden und niedergebrochenes Gestrüpp boten ein denkbar schlechtes Lager. Die dünnen Anzüge hielten keine Nachtkühle ab, geschweige denn die Feuchtigkeit. Der Wald raunte von geheimnisvollem drohendem Leben. Immer wieder sprang einer auf, der die Zweige 187
unter der Pranke eines Panthers hatte knacken hören. Und das kleine Ungeziefer des Waldes tat sich gütlich. Verstört und erschöpft, hungrig und durstig blickten sich die Herren am nächsten Morgen an. Nur Garcia war nicht im mindesten erschüttert. Und sein Pilot behielt sein gleichmäßiges undurchsichtiges Gesicht. Der Marsch durch den Wald begann. Garcia und der Pilot, die Waffen besaßen, übernahmen die Sicherung, die andern führten abwechselnd die Haumesser und verlernten darüber, sich um die Zukunft zu kümmern. Übermäßig viel Schwierigkeiten fanden sie nicht, der Wald war verhältnismäßig licht, aber für sie genügte es bereits. Die Mittagsrast wurde an einer natürlichen Waldlichtung gehalten. Dort war eine Zenote, ein Wasserloch, eingebrochen, an dem man wenigstens den Durst stillen konnte. Hier lieferte Garcia auch das erste Essen aus, gerade genug, um jedem Appetit zu machen. Plötzlich horchten sie auf. Ein feines Surren lag in der Luft, das an Stärke zunahm. »Ein Flugzeug«, stellte Garcia fest, nachdem er eine Weile durch das Glas beobachtet hatte. »Es ist eine amerikanische Maschine, ein Wasserflugzeug.« Das Glas ging reihum, seine Beobachtung wurde von den anderen bestätigt. Man winkte eifrig, und einer schlug sogar vor, ein Feuer anzuzünden, um sich bemerkbar zu machen. »Dann brauchen Sie bloß noch einen See herzu188
schaffen«, meinte Garcia spöttisch, »damit das Flugzeug auch landen kann. Sie haben anscheinend ganz übersehen, daß es ein Wasserflugzeug ist.« Das Flugzeug bemerkte die Männer im Wald nicht. Es flog auch ein ganzes Stück seitlich vorbei. Doulton stieß plötzlich einen heiseren Laut aus und wies nach oben. Von der Maschine löste sich ein dunkler Punkt und schoß auf die Erde zu. »Herrgott, sie werden doch nicht Bomben werfen?« Die erwartete Explosion blieb aus. Manuel Garcia zuckte zu allen Vermutungen nur die Schultern, aber er wählte dann eine Richtung, die ungefähr zu jener Stelle führen mußte, an der die vermeintliche Bombe niedergefallen war. Das Glück begünstigte sie. Sie bemerkten niedergebrochene Äste und entdeckten daraufhin den eingebeulten, wassergefüllten Blechkanister, den das Flugzeug abgeworfen hatte. »Eine besondere Art von Sprengkörper?« mutmaßte Lydford besorgt. Garcia lachte spöttisch. »Sie haben eine ausschweifende Fantasie. In unserer harmlosen Zeit werfen die Flugzeuge höchstens Blumentöpfe ab, aber keine Sprengkörper oder Bomben. Die Flieger haben den Wald als Schuttabladeplatz angesehen.« »Wie leicht konnte es auf unseren Kopf fallen«, stellte einer vorwurfsvoll fest. 189
Die Stimmung schlug jedoch beträchtlich zugunsten der Flieger um, als der Pilot meldete: »Es ist Wasser drin.« »Großartig«, freute sich Doulton. »Sie haben uns also doch bemerkt und wollen uns zunächst mit Wasser aushelfen.« Auch die anderen freuten sich. Die Geister wurden aber schnell wieder trübe, als sich herausstellte, daß es sich um salziges Meerwasser handelte. Der Marsch ging weiter. Die Gesellschaft mußte noch eine Nacht im Wald verbringen und lernte, was Hunger und Durst ungefähr bedeuten können. Gegen Mittag des nächsten Tages aber erreichten sie ihr Ziel. In einer sauber abgeholzten idyllischen Lichtung, durch die ein Fluß eine kurze Strecke oberirdisch floß, stand breit hingelagert ein starkes Gebäude, das aus Baumstämmen gefügt war. »Mein Haus«, erklärte Garcia nicht ohne Stolz. Niemals hatten die Männer mit liebevolleren Augen ein Gebäude wie dieses betrachtet. Sie fanden alles, was sie brauchten. Essen, Trinken, Bad und Bett und sogar aufmerksame Helfer. Es lebte sich sehr behaglich in Garcias Haus, wie im Himmel sogar, wenn man mit den letzten Tagen verglich. Die Gäste lernten das ganze Haus und alle seine Einrichtungen kennen. Es war ein einziger Beweis für die völlige Harmlosigkeit seines Besitzers. Dieser 190
Garcia war zweifellos ein Sonderling, weil er sich hier im Urwald vergrub, aber niemals der Besitzer irgendwelcher technischer Werke oder geheimnisvoller Luftschiffe. Er liebte seine kleinen netten Sammlungen, seine Bücher und ähnliche Dinge, hatte aber sicher von Erfindungen und anderen Dingen so wenig Ahnung wie von Politik. Ein Mann, der Bücher über Mediumismus, Philosophie, Spiritismus und ähnlichen Unfug in seinem Bücherschrank stehen hatte, war bestimmt harmlos. Zwei Tage lang erholte man sich von den Strapazen des Urwaldes, dann brachte Garcias Reserveflugzeug die Herren nach Mexiko zurück, damit sie dort ihre Berichte abfassen konnten. Daß die eindeutig ausfielen, stand außer allem Zweifel. Urwaldnächte sind überzeugende Beweismittel. Als Manuel Garcia dann zurückkehrte, landete er nicht auf der stillen Lichtung, sondern einige Dutzend Kilometer entfernt davon an einer Stelle, die von oben her nichts anderes als Wald zeigte. Trotzdem landete er auf einem glatten Hof inmitten mächtiger Gebäude, in denen es von Menschen wimmelte. Er war eben ein Wundermann und stand mit der verhexten Wissenschaft auf gutem Fuß. ENDE
191
Als SUN KOH Taschenbuch Band 36 erscheint:
Die weiße Hölle von Freder van Holk Joan Martini hat eine Expedition auf eigene Faust unternommen, doch eine schwere Erkrankung zwingt sie zur Aufgabe. Als man sie nach Wochen durch Zufall findet, hat sie ihr Gedächtnis verloren. Darin sieht Lady Houston ihre große Chance. Jetzt endlich kann sie mit Juan Garcia Hand in Hand arbeiten – zwei von Haß erfüllte Gegner Sun Kohs. Lady Houston läßt Joan Martini weit weg bringen, in die Eiswüsten Alaskas. Tim Silver nimmt sich als angeblicher Vater des Mädchens an. Er wiegt alle in Sicherheit, ehe er seine wahren Absichten enthüllt. Von diesem Tag an ist Joan Martini ihres Lebens nicht mehr sicher. Sun Koh und seine Freunde folgen auch der kleinsten Spur, die ihnen den Weg zum Aufenthaltsort Joan Martinis weisen kann. Und sie finden Spuren. Doch alle Wege führen schnurgerade auf einem HorrorTrip ohnegleichen mitten hinein in die Hölle … Die SUN KOH Taschenbücher erscheinen monatlich und sind überall im Zeitschriftenund Bahnhofsbuchhandel erhältlich.