LYRAS OXFORD
Außerdem von Philip Pullman im Carlsen Verlag lieferbar: Lila lässt die Funken fliegen Ich war eine Ratt...
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LYRAS OXFORD
Außerdem von Philip Pullman im Carlsen Verlag lieferbar: Lila lässt die Funken fliegen Ich war eine Ratte His DARK MATERIALS: Der Goldene Kompass Das Magische Messer Das Bernstein-Teleskop
LYRAS OXFORD Philip Pullman Mit Bildern von John Lawrence Aus dem Englischen von Wolfram Ströle
1 2 3 06 05 04 Alle deutschen Rechte bei Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2004 Originalcopyright © 2003 Philip Pullman Copyright Illustrationen © 2003 John Lawrence Copyright Design © 2003 Trickett & Webb Limited Originalverlag: David Fickling Books Originaltitel: LYRA'S OXFORD Aus dem Englischen von Wolfram Ströle Lektorat: Katja Maatsch Salz und Herstellung: Rafaela Nimmesgern ISBN 3-551-58133-9 Printed in Singapore Der kluge Klick: www.carlsen.de
»… Oxford, wo Wirklichkeit und Illusion zugleich die Straßen bevölkern, wo die North Parade im Süden und die South Parade im Norden liegt, wo das Paradies unter einem Pumpwerk verloren gegangen ist,1 wo Flussnebel den Stein der alten Gebäude auflösen und zum Leben erwecken, so dass die Wasserspeier von Magdalen College nachts herunterklettern und mit denen von Wykeham kämpfen oder unter den Brücken fischen oder einfach nur über Nacht eine andere Miene aufsetzen, Oxford, wo sich Fenster in andere Welten öffnen ...« Oscar Baedecker, Die böhmischen Küsten
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In Wirklichkeit mussten die alten Häuser am Paradise Square einem Bürogebäude weichen, nicht einem Pumpwerk. Doch Baedecker ist bei allem spröden Charme ein notorisch unzuverlässiger Führer. 5
BUCH enthält eine Geschichte und verschiedene andere Dinge. Die anderen Dinge haben vielleicht mit der Geschichte zu tun, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht haben sie auch mit Geschichten zu tun, die noch gar nicht geschehen sind. Es ist schwer zu sagen. Dagegen kann man sich ganz leicht vorstellen, woher sie kommen. Die Welt steckt voller solcher Dinge: alter Postkarten, Theaterprogramme, Anleitungen, wie man seinen Keller zu einem Luftschutzkeller ausbauen kann, Glückwunschkarten, Fotoalben, Urlaubsprospekte, Gebrauchsanweisungen für Werkzeugmaschinen, Landkarten, Kataloge, Zugfahrpläne und Speisekarten längst außer Dienst gestellter Kreuzfahrtschiffe ̶ Dinge, die einst einem konkreten und nützlichen Zweck dienten, inzwischen aber durch nichts mehr mit ihrer ursprünglichen Bestimmung verbunden sind. Sie können von überall her kommen, vielleicht sogar aus anderen Welten. Der Stadtplan mit den handschriftlichen Notizen oder der Verlagskatalog ̶ vielleicht wurde er in einem anderen Universum gedankenverloren aus der Hand gelegt und von einem zufälligen Windstoß durch ein offenes Fenster ge-
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weht, bis er nach vielen Abenteuern auf einem Flohmarkt unserer Welt landete. All diese abgenutzten Dinge haben eine Geschichte und eine Bedeutung. Man könnte an die Spuren denken, die ein ionisierendes Teilchen in einer Blasenkammer hinterlässt: sie säumen den Weg, den etwas genommen hat, das so geheimnisvoll ist, dass man es selbst nicht sehen kann. Ein solcher Weg ist eine Geschichte. Wenn Wissenschaftler eine solche Linie von Blasen betrachten, versuchen sie die Geschichte des Teilchens zu rekonstruieren, das die Blasen hinterlassen hat: um was für eine Art von Teilchen es sich gehandelt haben muss und warum es sich auf dieser Bahn bewegt hat und wie lange. Dr. Mary Mahne wäre als Erforscherin der dunklen Materie mit solchen Geschichten vertraut gewesen. Dagegen hat sie, als sie kurz nach ihrer Ankunft in Oxford einer alten Freundin eine Postkarte schrieb, Wahrscheinlich nicht daran gedacht, dass diese Karte. selbst zur Spur einer Geschichte gehören würde, die sich beim Schreiben noch gar nicht ereignet hatte. Viel-leicht bewegen sich einige Teilchen in der Zeit rückwärts. Vielleicht beeinflusst die Zukunft die Vergangenheit auf eine Art und Weise 7
die wir nicht verstehen. Oder vielleicht ist das Bewusstsein des Universums einfach umfassender als unseres. Es gibt viele Dinge, die wir noch nicht verstehen. Genau davon handelt unter anderem die folgende Geschichte.
Lyra und die Vögel
Lyra stieg nur noch selten durch das Fenster ihres Zimmers auf das Dach von Jordan College. Inzwischen hatte sie es leichter: Vom Pförtner hatte sie einen Schlüssel zum Dach des Torturms bekommen, denn der Pförtner selbst war zu alt, um die Treppe hinaufzusteigen und den Zustand der Steine und Bleiplatten zu überprüfen, wie es viermal im Jahr seine Pflicht war. Lyra erstattete ihm also ausführlichen Bericht, und er gab diesen Bericht an die Verwaltung des College weiter. Im Austausch dafür durfte Lyra auf das Dach, wann immer sie wollte. Wenn sie sich flach auf die Bleiplatten legte, war sie nur vom Himmel aus zu sehen. Um das viereckige Dach lief eine kleine Brüstung mit verspielten 11
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Zinnen. Der mardergestaltige Pantalaimon lag oft dösend auf einer der Zinnen, während Lyra mit dem Rücken an den sonnengewärmten Stein gelehnt saß und in mitgebrachten Büchern las. Manchmal beobachteten sie auch die Störche, die auf dem Turm von St. Michael's College auf der anderen Seite der Turl Street nisteten. Lyra hatte die Störche eigentlich nach Jordan locken wollen und zu diesem Zweck auch schon einige Bretter aufs Dach geschleppt und mühsam zu einer Plattform zusammengenagelt, wie man es in St. Michael getan hatte, doch vergeblich. Die Störche blieben St. Michael treu und daran ließ sich nichts ändern. »Sie wären sowieso nicht geblieben, wenn wir ständig heraufkommen«, meinte Pantalaimon. »Aber wir könnten sie bestimmt zähmen. Was fressen sie denn?« »Fische«, riet Pantalaimon. »Frösche.« 12
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Er lag auf der steinernen Brüstung und leckte sich träge das rotgoldene Fell. Lyra stand von der Sonne benommen auf, stützte sich auf die Brüstung und starrte nach Südosten, wo hinter Turmspitzen und Dächern eine Zeile staubig dunkelgrüner Bäume aufragte. Es war früher Abend und sie wartete auf die Stare. Die Vögel hatten in diesem Jahr in ungewöhnlich großer Zahl im Botanischen Garten Station gemacht. Allabendlich stiegen sie wie eine Rauchwolke aus den Bäumen auf und schossen über den Himmel. »Millionen sind das«, sagte Pan. »Gut möglich. Zählen kann man sie ja nicht ... Da kommen sie!« Es schien sich nicht um einzelne Vögel zu handeln, nicht einmal um einzelne schwarze Punkte am blauen Himmel ̶ der Schwarm als Ganzes schien das eigentliche Lebewesen. Er erinnerte an ein raffiniert zugeschnittenes Stück Stoff, das sich blähte, faltete und streckte, ohne sich dabei je zu verknoten, das sich von innen nach außen wendete, sich anmutig wellte und überschlug und nach unten sank, stieg und wieder sank. »Wie um uns etwas zu sagen...«, meinte Lyra. 13
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»Wie eine Folge von Signalen.« »Die natürlich niemand je verstehen wird.« »Vielleicht bedeutet sie auch gar nichts, sondern ist einfach nur.« »Alles hat eine Bedeutung«, entgegnete Lyra. »Man muss sie nur lesen können.« Pantalaimon sprang über die Lücke zwischen zwei Zinnen auf den Eckstein, stellte sich auf die Hinterbeine, hielt mit Hilfe seines Schwanzes das Gleichgewicht und blickte der wirbelnden Masse am anderen Ende der Stadt aufmerksam entgegen. »Was hat dann das zu bedeuten?«, fragte er. Lyra wusste sofort, was er meinte. Sie hatte es selbst schon bemerkt. Irgendetwas störte die fließende Bewegung der Stare, gleichsam als hätte das wundersame vielgestaltige Tuch sich nun doch verknotet und als gehe der Knoten nicht mehr auf.»Sie greifen etwas an«, sagte Lyra und kniff angestrengt die Augen zusammen. Inzwischen konnte sie auch das Geschrei der näher kommenden Vögel hören, ein schrilles, besinnungsloses Kreischen. Ein in der Mitte des aufgeregten Schwarms gefangener Vogel schoss abwechselnd nach rechts und links und dann wieder nach oben und nach unten bis fast zu den Dä14
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chern hinunter. Der Schwarm war jetzt bei der Turmspitze der Universitätskirche angelangt. Noch ehe Lyra und Pan erkennen konnten um was für einen Vogel es sich handelte, entdeckten sie zu ihrer großen Überraschung etwas anderes: dass es sich trotz der Vogelgestalt gar nicht um einen Vogel handelte, sondern um einen Dæmon, den Dæmon einer Hexe. »Ob ihn außer uns noch jemand gesehen hat?« fragte Lyra. Pan ließ seine schwarzen Augen über sämtliche Dächer und Fenster in Sichtweite wandern und sie selbst beugte sich über die Brüstung und blickte die Straße unter ihnen auf und ab. Dann rannte sie zu den anderen drei Seiten des Dachs und sah in den vorderen Hof von Jordan und auf die Dächer des College hinunter. Doch die Bürger von Oxford gingen ihren gewohnten Beschäftigungen nach und inte15
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ressierten sich nicht für den Vogellärm am Himmel. Das war auch gut so. Denn jeder hätte den Dæmon sofort als solchen erkannt, und ein Dæmon ohne dazugehörigen Menschen hätte großes Aufsehen und womöglich eine Panik verursacht. »Hierher!«, rief Lyra leise, »hierher!« Sie wollte nicht schreien. Stattdessen hüpfte sie auf und ab und winkte mit beiden Armen. Auch Pan versuchte den Dæmon auf sich aufmerksam zu machen, indem er in einem fort auf den Zinnen hin und her sprang. Die Vögel waren näher gekommen und Lyra konnte den Dæmon besser erkennen. Es handelte sich um einen schwarzen Vogel von der Größe einer Drossel, doch mit langen, gebogenen Flügeln und einem gegabelten Schwanz. Irgendwie musste er die Stare verärgert haben. Jedenfalls waren sie außer sich vor Angst und Wut und stießen auf ihn hinab, stachen auf ihn ein, rissen an seinen Federn und versuchten ihn mit allen Mitteln zu verscheuchen. »Hierher!«, rief Pan. »Flieg zu uns!« Lyra zog die Bodenklappe auf, um dem Dæmon einen Fluchtweg zu öffnen. Die Stare flogen über sie hinweg. Ihr Lärm war ohrenbetäubend. Lyra hatte das Gefühl, als müssten 16
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sämtliche Passanten auf der Straße aufblicken und den Krieg am Himmel verfolgen. Schützend hob sie die Arme über den Kopf. Den Dæmon hatte sie in dem an einen schwarzen Schneesturm erinnernden Gewimmel der Vögel aus den Augen verloren. Doch Pan sah ihn. Als der Dæmon im Tiefflug auf den Turm zuschoss, richtete er sich auf, sprang hoch, riss ihn mit den Pfoten zu sich herunter und rollte mit ihm auf die Bodenklappe zu. Sie plumpsten durch die Öffnung. Lyra schlug blind mit den Fäusten um sich und sprang dann den beiden Dæmonen hinterher und knallte die Klapptür hinter sich zu. Geduckt verharrte sie auf der Treppe dicht unterhalb der Klappe und lauschte auf das rasch leiser werdende Geschrei draußen. Sobald die Stare den Anlass ihres Ärgers nicht mehr sahen, vergaßen sie offenbar, dass sie sich überhaupt geärgert hatten. »Und jetzt?«, flüsterte Pan auf der Stufe unter ihr. Die hölzerne Stiege führte zu einer Tür hinunter, hinter der sich ein schmaler Treppenabsatz befand. Eine weitere Tür auf demselben Absatz führte zur Wohnung des jungen Dr. Polstead, eines der wenigen Wissenschaftler, die noch im Stande waren, mehrmals täglich zum obersten Stock des Turms hinauf17
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zusteigen. Bestimmt hatte er gehört, wie sie durch die Klapptür gesprungen war und diese dann hinter sich zuknallt hatte, dachte Lyra. Sie legte den Finger an die Lippen. Pan, der in der fast vollkommenen Dunkelheit zu ihr hinauf blickte, sah es und neigte lauschend den Kopf. Auf der Stufe unter ihm war ein heller Fleck auszumachen. Als Lyras Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie den Dæmon und die V-förmig angeordneten hellen Federn auf seinem Rumpf. Stille trat ein. Wir müssen Sie leider verstecken«, flüsterte Lyra an ihn gewandt. »Ich habe eine Tasche dabei. Wenn Sie einverstanden sind, bringe ich Sie darin in unser Zimmer ...« »Ja«, kam leise die Antwort. Lyra drückte das Ohr an die Bodenklappe. Sie hörte nichts mehr. Vorsichtig stemmte sie die Klappe wieder auf und stieg hinaus, um die um die Tasche und die beiden Bücher zu holen, in denen sie gelesen hatte. Die Stare hatten die Einbände der Bücher mit ihrem Kot besudelt. Lyra verzog das Gesicht. Wie sollte sie das dem Bibliothekar von St. Sophia erklären? Vorsichtig hob sie die Bücher auf und kehrte 18
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mit ihnen und der Tasche durch die Klapptür zurück. »Pst!«, flüsterte Pan. Hinter der Tür am Fuß der Treppe erklangen Stimmen. Zwei Männer verabschiedeten sich von Dr. Polstead. Es musste sich um privaten Besuch handeln, denn das Semester hatte noch nicht wieder angefangen. Lyra hielt ihre Tasche auf. Der fremde Dæmon zögerte. Als Dæmon einer Hexe war er an die Weite der Arktis gewöhnt. Die enge Tasche machte ihm Angst. »Nur fünf Minuten«, flüsterte Lyra. »Sie dürfen nicht gesehen werden.« »Du bist Lyra Listenreich?« »Ja.« »Also gut.« Er hüpfte hinein. Lyra hob die Tasche auf und wartete, bis die Stimmen der Besucher sich die Treppe hinunter entfernt hatten. Als alles still war, stieg sie über Pan hinüber und öffnete vorsichtig die Tür am Fuß der Treppe. Pan glitt geschmeidig durch den Spalt und Lyra schulterte behutsam die Tasche und folgte ihm. Leise schloss sie die Tür hinter sich. »Lyra? Was war da los?«, fragte eine Stimme in 19
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ihrem Rücken. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, Pan fauchte leise. »Dr. Polstead«, sagte sie und drehte sich um. Haben Sie die Vögel auch gehört?« »Waren es Vögel?«, fragte er. »Ich hörte etwas rumsen.« Er war untersetzt, hatte rötlich braune Haare und eine liebenswürdige Art. Er schien Lyra aufrichtig zu mögen, während sie keine besondere Zuneigung für ihn empfand. Trotzdem begegnete sie ihm immer höflich. »Ich weiß gar nicht, was sie hatten. Lauter Stare, aus Richtung Magdalen College. Sie waren völlig durchgedreht. Sehen Sie hier!« Sie hielt ihm die besudelten Bücher hin. Er zog eine Grimasse. »Mach sie am besten gleich sauber«, riet er. Lyra nickte. »Das wollte ich ja gerade.« Dr. Polstead hatte als Dæmon eine Katze mit genauso rötlich braunem Fell wie seine Haare. Sie stand schnurrend in der Tür. Pan erwiderte ihren Gruß artig und ging dann weiter. Lyra wohnte während der Schulzeit in St. Sophia, durfte ihr altes Zimmer im hinteren Innenhof von 20
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Jordan aber jederzeit benutzen. Die Glocke schlug gerade halb sieben, als sie mit ihrer lebenden Fracht dorthin eilte. Der fremde Dæmon war viel leichter als ihr eigener. Sie würde Pantalaimon später davon erzählen. Sie schloss die Zimmertür hinter sich, stellte die Tasche auf den Schreibtisch und ließ den Dæmon heraus. Er hatte Angst, und nicht nur die Dunkelheit schien daran schuld. »Ich musste Sie verstecken ...«, begann Lyra. »Schon verstanden. Aber jetzt musst du mich unbedingt zu einem Haus in dieser Stadt bringen, Lyra ̶ ich allein kann es nicht finden, ich finde mich in Städten nicht zurecht ...« »Moment«, fiel Lyra ihm ins Wort. »Nicht so schnell. Wie heißen Sie überhaupt und wie heißt Ihre Hexe?« »Ich heiße Ragi und meine Hexe Jelena Paschez. Sie schickt mich ... ich soll einen Mann suchen, der...« »Bitte sprechen Sie leiser«, sagte Lyra. »Hier in meinem Zimmer kann uns zwar nichts passieren, aber die Leute sind neugierig ... wenn sie die Stimme eines anderen Dæmons hören, hätte ich Schwierig21
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keiten, ihnen das zu erklären, und dann wären Sie in Gefahr.« Der Dæmon flatterte ängstlich zum Fenstersims und von dort auf die Stuhllehne und in zurück zum Tisch. »Gut«, sagte er leiser. »Ich suche also nach einem Mann, der in dieser Stadt wohnt... Uns wurde gesagt, du könntest uns helfen ... dein Name ist auch bei uns bekannt.« »Ich helfe gern, wenn ich kann. Wer ist dieser Mann? Wissen Sie, wo er wohnt?« »Er heißt Sebastian Makepeace und wohin in Jericho.« »Nur Jericho? Mehr als den Stadtteil wissen Sie nicht?« 22
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Der Dæmon schien verwirrt. Lyra drängte ihn nicht. Für jemanden aus dem hohen Norden war eine Ansammlung von mehr als vier oder fünf Familien fast schon unvorstellbar groß und unübersichtlich. »Also gut«, lenkte sie ein. »Versuchen wir, ihn zu finden. Allerdings ...« »Aber jetzt gleich! Die Zeit drängt!« »Nein, nicht jetzt. Heute Abend, nach Einbruch der Dunkelheit. Möchten Sie solange hier bleiben oder kommen Sie mit? Ich sollte nämlich jetzt eigentlich zum Abendessen im Speisesaal sein.« Der Dæmon flog vom Tisch zum offenen Fenster, blieb einen Augenblick auf dem Fenstersims sitzen und flog dann nach draußen und kreiste eine Weile über dem Hof. Pantalaimon sprang auf den Sims und hielt nach ihm Ausschau, während Lyra in ihrem überfüllten Bücherregal nach einem Stadtplan suchte. »Ist er weggeflogen?«, fragte sie über die Schulter. »Er kommt gerade wieder.« Der Dæmon flog herein, bremste mit nach innen schlagenden Flügeln und hockte sich auf die Lehne. »Draußen ist es gefährlich und hier drinnen ersticke ich«, sagte er unglücklich. 23
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Lyra hatte den Stadtplan gefunden und drehte sich um. »Von wem haben Sie eigentlich meinen Namen?«, fragte sie. »Von einer Hexe vom Enara-See. Sie sagte, eine gute Freundin von Serafina Pekkalas Clan würde in Oxford leben. Unser Clan ist mit Serafina Pekkalas Clan durch den Birkeneid verbunden.« »Und wo ist Ihre Hexe Jelena Paschez?« »Sie wurde krank und musste in unserer Heimat jenseits des Ural zurückbleiben.« Lyra spürte, dass Pan sich vor lauter Fragen kaum zurückhalten konnte. Deshalb zuckte sie einmal kurz mit den Lidern so, dass er es bemerken würde: Halt, noch nicht! »Es wäre eine Qual für Sie, sich bis zum Einbruch der Nacht in meiner Tasche zu verstecken«, überlegte sie laut. »Also machen wir es so: Ich lasse das Fenster auf, dann können Sie nach Herzenslust hinausfliegen oder sich hier drinnen verstecken. Ich bin weg bis ... Können Sie die Zeit von einer Uhr ablesen, wie wir es tun?« »Ja. Das haben wir in Trollesund gelernt.« »Sie sehen von hier die Uhr über dem Speisesaal. 24
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Um halb neun warte ich auf der Straße vor dem Turm, auf dem wir uns begegnet sind. Fliegen Sie zu uns hinunter, dann bringen wir Sie zu Mr Makepeace.« »Gut. Besten Dank.« Sie schloss die Tür und machte sich mit Pantalaimon hastig auf den Weg. Es war jetzt immerhin schon zwanzig Minuten vor sieben und sie hätte eigentlich längst in St. Sophia sein sollen, denn das Abendessen um sieben war für alle Schüler Pflicht. Doch auf dem Weg durch die Pforte hatte Lyra einen Einfall. »Haben Sie ein Telefonbuch von Oxford, Mr Shuter?«, fragte sie den Pförtner. »Das normale oder das Branchenverzeichnis?« »Keine Ahnung, am besten beide. Eins, in dem auch Jericho enthalten ist.« »Wen suchst du denn?«, fragte der Alte und reichte ihr zwei zerfledderte Bücher. Er war ihr Freund und fragte, weil er ihr hellen wollte, nicht aus bloßer Neugier. »Jemanden namens Makepeace«, erwiderte Lyra und blätterte zum Abschnitt Jericho. 25
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»Gibt es in Oxford eine Firma oder einen Laden, die so heißen?« »Nicht, dass ich wüsste.« Der Pförtner unterhielt sich mit ihr, wie mit Um Besuchern und Studenten, die ins College wollten, durch ein Fenster, das in den Torbogen wies. In seinem kleinen Zimmer waren, in einer hinteren Ecke und somit von außen unsichtbar, auch die Postfächer für Wissenschaftler und Studenten untergebracht. Lyra fuhr mit dem Finger gerade die Liste von Einträgen für Jericho entlang, da hörte sie eine muntere Stimme. »Suchst du den Alchemisten, Lyra?« Dr. Polsteads rötliches Gesicht beugte sich aus dem Fenster des Pförtners und lächelte sie neugierig an. »Welchen Alchemisten denn?« »Den einzigen Makepeace, den ich kenne. Und der heißt mit Vornamen Sebastian«, erwiderte er und blätterte durch einige Papiere aus seinem Fach. »Er war früher Wissenschaftler in Merton und wurde dann verrückt. Dass die das dort überhaupt bemerkt haben! Er beschäftigt sich mit Alchemie ̶ und das heutzutage! Verwandelt Blei in Gold oder versucht 26
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es wenigstens. Man begegnet ihm manchmal in der Universitätsbibliothek. Spricht mit sich selbst ̶ dann wird er da natürlich rausgeworfen, aber er hat sich noch nie dagegen gewehrt. Hat als Dæmon eine schwarze Katze. Weswegen willst du ihn sprechen?« Lyra hatte den Eintrag gefunden. Makepeace wohnte in der Juxon Street. »Miss Parker hat uns neulich von ihrer Kindheit erzählt«, sagte sie unschuldig lächelnd. »Ein gewisser William Makepeace hätte immer die besten Sirupbonbons gemacht und da wollte ich einfach wissen, ob es den noch irgendwo gibt, denn dann hätte ich ihr welche besorgt. Ich finde, Miss Parker ist die beste Lehrerin, die Ich je hatte, überhaupt nicht so langweilig wie die meisten anderen Lehrer. Vielleicht mache ich ihr selber Bonbons ...« Eine Lehrerin namens Parker gab es nicht an der Schule, aber Dr. Polstead konnte sich nur noch allzu gut daran erinnern, wie er selbst vor einigen Jahren gegen seinen Willen anstrengende sechs Wochen lang Lyras Lehrer gewesen war. »Prima Idee«, sagte er. »Sirupbonbons. Mmm.« »Danke jedenfalls, Mr Shuter«, sagte Lyra und legte die Telefonbücher zurück. Gefolgt von Pan eil27
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te sie auf die Turl Street hinaus und schlug den Weg zum Park und nach St. Sophia ein. Eine Viertelstunde später sank sie atemlos auf ihren Platz im Speisesaal und versuchte ihre schmutzigen Hände zu verbergen. Die Wissenschaftler von St. Sophia aßen nur zu besonderen Anlässen an einem eigenen Tisch. Normalerweise saßen sie unter den Studenten, und die Lehrer und älteren Schüler wie Lyra folgten ihrem Beispiel. Außerdem gehörte es zum guten Ton, häufig den Tischnachbarn zu wechseln. Dementsprechend drehte sich das Gespräch während des Essens nicht um internen Klatsch, sondern um allgemeine Themen. Lyra saß an diesem Abend zwischen einer älteren Historikerin namens Miss Greenwood und einem vier Jahre älteren Mädchen aus der obersten Klasse. Es gab Lammhackfleisch mit Salzkartoffeln. »Seit wann betreibt man eigentlich keine Alchemie mehr, Miss Greenwood?« »Wen meinst du mit ›man‹, Lyra?« »Die Leute, die ... na eben die Leute, die über grundsätzliche Dinge nachdenken. Die Chemie gehörte früher zur Experimentaltheologie, nicht wahr?« 28
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»Richtig. Den Alchemisten verdanken wir übrigens viele wichtige Entdeckungen, zum Beispiel über die Wirkung von Säuren. Doch ihre Vorstellung vom Aufbau des Universums erwies sich als unhaltbar und brach zusammen, als ein schlüssigeres Konzept gefunden wurde. Die Menschen, die über grundsätzliche Dinge nachdenken, wie du sagst, fanden heraus, dass die Chemie eine sehr viel überzeugendere Ordnung aufstellt. Die Chemie kann vieles vollständiger und genauer erklären.« »Und seit wann gibt es keine Alchemisten mehr?« »Seit zweihundertfünfzig Jahren, schätze ich. Abgesehen von unserem berühmten Oxforder Alchemisten natürlich.« »Wer war das?« »Ich kann mir seinen Namen einfach nicht merken. Die Ironie war ... wie komme ich jetzt darauf? ... Er lebt übrigens noch, hat hier mal als Wissenschaftler gearbeitet und war schon damals sehr exzentrisch. Man findet Leute wie ihn zuweilen in den Randbereichen der Wissenschaft ̶ genial, aber zugleich wahnsinnig, von einer verrückten Idee besessen, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat, ihnen aber als Schlüssel zum 29
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Verständnis des ganzen Kosmos erscheint. Ich habe das mehr als einmal erlebt ̶ es ist wirklich tragisch.« »Makepeace«, sagte Miss Greenwoods Dæmon, ein Krallenaffe, der auf der Lehne ihres Stuhls hockte. »Er heißt Makepeace.« »Richtig! Makepeace, ›Friedensstiftern‹ Das war die Ironie.« »Wieso?«, fragte Lyra. »Weil er sehr gewalttätig sein soll. Er kam sogar vor Gericht ̶ soviel ich weiß wegen Totschlags ̶ , wurde aber freigesprochen, wenn ich mich recht entsinne. Doch das ist Jahre her und ich will nicht klatschen.« »Kommst du heute Abend mit ins Konzert der musikalischen Gesellschaft, Lyra?«, fragte das Mädchen auf ihrer linken Seite. »Der Flötist Michael Coke spielt, du kennst ihn bestimmt ...« Lyra kannte ihn nicht. »Ich hätte große Lust, Ruth«, antwortete sie. »Aber ich bin mit meinem Latein so in Verzug, ich muss wirklich lernen.« Das ältere Mädchen nickte traurig. Wahrscheinlich fürchtet sie, dass keiner kommt, dachte Lyra mitfühlend, aber sie konnte es nicht ändern. 30
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Um halb neun traten sie und Pan aus dem Schatten der großen Kuppel der Universitätsbibliothek und schlüpften in die enge, von Kastanien überhangene Gasse, die Jordan College von Brasenose trennte. St. Sophia zu verlassen war nicht schwer, aber man wurde streng bestraft, wenn man erwischt wurde, und darauf hatte Lyra keine Lust. Deshalb trug sie dunkle Kleider, außerdem konnte sie schnell rennen und sie und Pan konnten sich wie Hexen und deren Dæmonen trennen und hatten damit schon so manchen Verfolger abgeschüttelt. An der Einmündung der Gasse in die Turl Street blickten sie in beide Richtungen, doch waren nur drei 31
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oder vier Passanten zu sehen. Noch bevor sie in das Licht der Gaslaterne treten konnten, rauschten über ihnen Flügel. Der Vogeldæmon landete auf dem hölzernen Poller, der die Gasse für den Verkehr sperrte. »Ich bringe Sie jetzt zu dem Haus«, sagte Lyra, »aber dann muss ich gleich wieder zurück. Wir brauchen etwa eine Viertelstunde, bis wir dort sind. Ich gehe voraus, Sie fliegen hinter mir her.« Sie wollte losgehen, doch der Vogel blieb flügelschlagend sitzen. »Das reicht nicht. Bevor du wieder gehst, musst du dich vergewissern, dass er es auch wirklich ist«, sagte er erregt. »Bitte bleib, bis du ihn gesehen hast!« »Gut, wir können natürlich bei ihm anklopfen«, meinte Lyra. »Nein, ihr müsst mit mir ins Haus kommen, um ganz sicherzugehen. Es ist wichtig!« Lyra spürte, wie Pan kaum merklich erbebte, und streichelte ihn. Ruhig! Sie bogen in die Broad Street ein und gelangten an der kleinen Magdalenenkapelle vorbei zu der Stelle, wo die Cornmarket Street in die breite, von Bäumen gesäumte St. Giles Street überging. Die Straßen waren belebt und hell erleuchtet. Lyra wäre zwar am liebsten 32
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nach links in das Gewirr der Gassen eingebogen, die sich bis zum Haus des Alchemisten hinzogen, doch kam sie mit Pan stumm überein, dass es besser war, auf der St. Giles Street zu bleiben, wo der Vogeldæmon ein wenig Abstand zu ihnen halten musste und sie sich leise unterhalten konnten, ohne dass er sie hörte. »Wie sollen wir uns vergewissern, dass dieser Makepeace der Richtige ist, wenn wir ihn gar nicht kennen?«, fragte Pan. »Vielleicht waren er und die Hexe ja früher einmal ein Liebespaar. Andererseits kann ich mir nicht vorstellen, was eine Hexe an einem verstaubten alten Alchemisten finden sollte ... Oder vielleicht hat er ja auch jemanden umgebracht.« »Von diesem Birkeneid habe ich auch noch nie gehört.« »Deshalb kann es ihn trotzdem geben. Bei den Hexen gibt es viel, von dem wir keine Ahnung haben.« Sie gingen an der Franziskanerkapelle vorbei. Durch das Fenster hörten sie den Chor im abendlichen Gottesdienst singen. »Wo ist der Dæmon jetzt?«, fragte Lyra leise. 33
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»In einem der Bäume hinter uns. Ein bisschen entfernt.« »Pan, ich weiß wirklich nicht, ob wir...« Sie hörten hastiges Flügelschlagen und schon strich der Vogeldæmon über ihre Köpfe und landete auf dem niedrigen Ast einer Platane direkt vor ihnen. Ein Passant, der im selben Augenblick aus der kleinen Gasse links von Ihnen trat, schrie erschrocken auf und eilte hastig weiter. Lyra verlangsamte ihre Schritte und sah in das Schaufenster des Buchladens an der Ecke. Pan sprang auf ihre Schulter. »Warum sind wir so misstrauisch?«, flüsterte er. »Keine Ahnung. Aber wir sind es.« »Vermutlich wegen der Alchemie.« »Wären wir bei einem gewöhnlichen Wissenschaftler weniger misstrauisch?« »Ja. Alchemie ist Quatsch.« »Aber das ist das Problem der Hexe, nicht unseres...« Der Dæmon auf dem Baum hinter ihnen ließ ein leises Schackern ertönen, gefolgt von einem flötenden »Uiii-tscha!«, dem Ruf des Vogels, dessen Gestalt er angenommen hatte. Es klang wie eine War34
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nung. Lyra und Pan verstanden, was er meinte: Sie sollten sich beeilen und durften nicht trödeln. Doch schreckte der Dæmon damit auch einige Tauben auf, die sich zum Schlafen in den Wipfeln der Bäume niedergelassen hatten. Sie erwachten alle zugleich, stürzten sich mit wütend knatternden Flügeln auf ihn und verjagten ihn. Der Dæmon floh auf die breite St. Giles Street hinaus und stieg hoch zum nächtlichen Himmel empor. Die Tauben gaben die Jagd schon bald auf. Sie waren entweder nicht so angriffslustig wie die Stare oder auch nur müde. Aufgeregt gurrend kehrten sie zu ihren Schlafplätzen zurück. »Wo ist er?«, fragte Lyra leise und suchte den 35
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Himmel über St. John's College mit den Augen ab. »Da!« Ein dunkler Schatten, der sich kaum vom Himmel abhob, flog unsicher hin und her. Dann hatte der Dæmon sie gefunden. Er kam zu ihnen herunter und landete auf dem Sims eines vergitterten Fensters. Lyra schlenderte unauffällig dorthin, Pan dicht hinter ihr. Als er nahe genug war, sprang er zu dem Dæmon hinauf. Pans Sprünge begeisterten Lyra stets aufs Neue. Er sprang lautlos in einer einzigen, fließenden Bewegung und landete mit schlafwandlerischer Sicherheit. »Ist es noch weit?«, fragte der Dæmon zitternd. »Nein«, erwiderte Pantalaimon. »Aber Sie haben uns nicht die ganze Wahrheit gesagt. Wovor haben Sie Angst?« Der Vogeldæmon wollte wegfliegen, musste aber im selben Moment feststellen, dass Pan seinen Schwanz fest mit seiner Pfote gepackt hatte. Verzweifelt schlug er mit den Flügeln, stieß ungeschickt gegen das Gitter und ließ aufs Neue das seltsame Schackern und Flöten ertönen, das die Tauben so aus der Fassung gebracht hatte. Doch sofort verstummte er wieder – sonst hörten sie ihn 36
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noch und griffen erneut an. Flatternd richtete er sich auf. Lyra trat dicht vor ihn. »Wenn Sie uns nicht die Wahrheit sagen, bringen wir Sie womöglich in Gefahr«, sagte sie. »Es sieht zumindest ganz danach aus. Ihre Hexe weiß es bestimmt auch, und wenn sie hier wäre, würde sie Ihnen befehlen, uns die Wahrheit zu sagen, oder sie würde es selbst tun. Was wollen Sie von diesem Mann?« »Wir brauchen etwas von ihm«, sagte der Dæmon unglücklich, und seine Stimme zitterte heftig. »Was? Sie müssen es uns sagen.« »Ein Medikament für meine Hexe. Der Mann kann ein Elixier herstellen …« »Woher weiß Ihre Hexe das?« »Dr. Lanselius war bei ihm und er weiß es. Er hat sich dafür verbürgt.« Dr. Lanselius aus Trollesund im hohen Norden war der Konsul aller Hexenclans. Lyra erinnerte sich noch gut an den Besuch in seinem Haus und das Geheimnis, das sie dort zufällig mit angehört hatte – ein Geheimnis mit schwerwiegenden Folgen. Sie hatte 37
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Vertrauen zu Dr. Lanselius, doch sollte sie deshalb glauben, was der Dæmon einer ihr unbekannten Hexe im Namen des Konsuls behauptete? Und was das Elixier anging … »Warum braucht Ihre Hexe ein Medikament von Menschenhand? Haben die Hexen nicht eigene Mittel?« »Nicht für diese Krankheit. Nur das Goldelixier kann sie heilen.« »Aber wie können Sie gesund sein, wenn Ihre Hexe krank ist?«, fragte Pan. Ein Paar mittleren Alters schlenderte Arm in Arm an ihnen vorbei und der Vogeldæmon drückte sich tief in die Fensternische. Die Dæmonen des Paars, eine Maus und ein Eichhörnchen, blickten neugierig zurück. »Das liegt an der Art der Krankheit«, kam die Antwort zittrig aus dem Dunkel. »Sie ist noch völlig unerforscht, wir wissen nur, dass sie aus dem Süden kommt. Die Hexen siechen dahin und sterben, doch wir Dæmonen sterben nicht mit ihnen. Ich weiß von drei Clan-Schwestern, die daran gestorben sind. Ihre Dæmonen leben heute noch – einsam und verlassen …« 38
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Pantalaimon miaute bekümmert und sprang mit einem schwerelosen Satz auf Lyras Schulter. Sie hob die Hand und drückte ihn fest an sich. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« »Ich schämte mich. Ich dachte, ihr würdet mich dann meiden. Die Vögel spüren es – sie spüren, dass meine Hexe krank ist. Deshalb fallen sie mich an. Ich musste auf dem Weg hierher ständig Vogelschwärmen ausweichen und lange Umwege fliegen.« Der arme Vogel wirkte schrecklich unglücklich, wie er da ganz allein im Dunkeln hockte. Und der Gedanke an seine Hexe, die mit der vagen Hoffnung im Norden zurückgeblieben war, dass er ihr ein Heilmittel gegen ihre Krankheit mitbringen würde, trieb Lyra die Tränen in die Augen. Pan sagte immer, sie sei zu weich und mitfühlend, doch konnte sie es nicht ändern. Seit sie und Will sich vor zwei Jahren getrennt hatten, war sie schon beim geringsten Anlass zu Tränen gerührt, geradeso als hätte sie im Herzen eine unheilbare Wunde davongetragen. »Kommen Sie«, sagte sie. »Gehen wir zur Juxon Street. Es ist nicht mehr weit.« Sie marschierte entschlossen los, Pan sprang voraus. Ein Dutzend beunruhigender Gedanken jagten 39
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ihr durch den Kopf wie Wolkenschatten, die an einem windigen Tag über ein Kornfeld treiben, aber ihr blieb keine Zeit, sie festzuhalten und eingehender zu prüfen, denn jetzt bogen sie schon in die Little Clarendon Street ein, jene Zeile modischer Boutiquen und schicker Cafés, in der die reiche Jugend aus Lyras Oxford ihre Zeit verbrachte. Von dort gingen sie nach rechts in die Walton Street. Links von ihnen tauchte das mächtige klassizistische Verlagshaus der Fell Press auf. Sie waren in Jericho. Die Juxon Street gehörte zu den kleinen, von Reihenhäusern gesäumten Straßen, die zum Kanal führten. Hier wohnten Verlagsangestellte und Arbeiter der nahen Eisenhütte, außerdem Flussschiffer mit ihren Familien. Auf der anderen Seite des Kanals erstreckte sich bis fast zu den Bergen und zum Wald von White Ham das offene Gelände von Port Meadow. Von fern hörte Lyra den Ruf eines nachtaktiven Vogels. An der Straßenecke wartete Pantalaimon auf sie und sprang ihr auf die Schulter. »Wo ist der Dæmon?«, flüsterte Lyra. »In der Ulme gleich hinter dir. Er beobachtet uns. Wo wohnt der Alchemist?« 40
Juxon Street
LYRAS OXFORD JERICHO
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den Worten des geografisch weniger bewanderten Dichters Oscar Baedecker zufolge »die gemeinsame Küste Oxfords und Böhmens« bildet. Die Juxon Street verläuft vom nördlichen Ende der Walton Street nach Westen in Richtung Kanal. Sie besteht in der Hauptsache aus kleinen, gepflegten und aus Ziegeln erbauten Reihenhäusern. Die Gegend ist seit mindestens tausend Jahren bewohnt. In einem Haus dieser Straße richtete 1668 der aus Böhmen gebürtige Randolph Lucy sein alchemistisches Laboratorium ein. Lucy und sein Adlerdæmon waren in den engen, zum Fluss führenden Gassen dieses Viertels im späten siebzehnten Jahrhundert ein vertrauter Anblick. Es kursierten zahlreiche Geschichten über seltsame Geräusche und Gerüche aus dem Keller, in dem er vergeblich versuchte, Blei in Gold zu verwandeln. Angeblich hielt er über ein Dutzend Geister in Glasflaschen gefangen, deren gedämpfte Schreie die Nachbarn in ruhigen Nächten hörten. Lucy starb 1702. Er fiel angeblich dem Zauber einer Hexe zum Opfer, deren Liebe er zurückgewiesen hatte. Man fand seine Leiche vor seinem Schmelzofen auf dem Boden liegend und inmitten zerbrochener Glasgefäße vor. In der Nacht seines Todes schrien sämtliche Vögel von Oxford mehrere Stunden lang ohne Pause, »ein schreckliches Konzert. wie es seit Menschengedenken nicht vorgekommen«. Wo genau Lucys Haus und Labor standen, ist nicht bekannt. Die Eisenhütte Eagle, heute hinter der Juxon Street gelegen und an den Kanal grenzend, steht nach Kenntnis des Verfassers vorliegender Ausführungen in keinerlei Zusammenhang mit den metallurgischen Experimenten des zwielichtigen Böhmen. Sie wurde 1812 von dem, gefeierten Eisenfabrikanten Walter Thrupp gegründet, unter anderem um die neue »Donner«-Kanone zu gießen, die für den Einsatz in den Kriegen Ihrer Majestät im Baltikum bestimmt war. Port Meadow (siehe S. 17 ff.) auf der anderen Seite des Kanals wurde zum Testgelände für die fürchterliche Waffe ausersehen, was für beträchtliche Unruhe und großen Kummer unter den Handelsgärtnern von Oseney sorgte. Inzwischen dient die Eisenhütte allerdings seit vielen Jahren friedlichen Zwecken. Schachtdeckel, eiserne Geländer, Laternenpfosten und Ähnliches werden dort in hunderttausendfacher Auflage gegossen und auf farbenfroh bemalten Kanalbooten in alle Teile des Königreichs verschifft. All den belebten Kais hinter der Gießerei löschen die Boote Erz und Kohle und nehmen dafür fertige Produkte an Bord. Ein historischer Rundgang durch die Eisenhütte ist nach vorheriger Anmeldung möglich. Besucher haben auch Zugang zu dem kleinen Museum, in dem eine der originalen »Donner«-Kanonen steht, die den Reichtum des Unternehmens begründete. Der Kanal von Oxford verbindet die Innenstadt mit einem weiträumigen Kanalnetz, das von den Gypter Sümpfen in East Anglia bis zu den Kohlegruben der West Midlands reicht. Jahrhundertelang standen die gutbürgerlichen Kreise Oxfords dem Kanal und der dort wohnenden und arbeitenden Bevölkerung mit großem Misstrauen gegenüber. Zugleich waren sie vom Schiffsverkehr auf dem Kanal abhängig, da die Schiffe die Geschäfte, Märkte und Fabriken der Stadt mit Waren und Rohstoffen versorgten. Die Anlage des Kanals geht bis in die Zeit, der Römer zurück. Im Schlamm der IsisSchleuse entdeckten Archäologen ein römisches Kanalboot, das den Wissen-schaftlern zufolge als Opfer für den Flussgott Fluvius absichtlich versenkt wurde. Im Bauch des 4 fünf Kindern. Schiff und Inhalt können geborgenen Schiffes fand man die Skelette von im Stadtmuseum in der St. Aldate's Street besichtigt werden (S. 28).
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Wolvercote
Im Kalten Zeitalter verfiel der Kanal zusehends. Die gefrorene Wasseroberfläche diente plündernden Barbaren aus dem Norden als Einfallschneise. 1005 kam es zur großen Schlacht von Wolvercote (damals Ulfgarcote) im Norden von Port Meadow zwischen brandschatzenden Wikingern aus dem Königreich Jorvik und mutigen Oxforder Bürgern und den mit ihnen verbündeten tapferen Gyptern. Die Eindringlinge wurden in die Flucht geschlagen, ihre Macht endgültig gebrochen. Damals begann die Beziehung zwischen Oxford und den Gyptern. Inzwischen können bei-de auf fast tausend Jahre ununterbrochenen Handels und distanzierter Freundschaft zurückblicken. Höhepunkt des gyptischen Kalenders ist der jährliche Pferdemarkt in der zweiten vollständigen Juliwoche. Port Meadow verwandelt sich in dieser Zeit in ein Meer bunter Fahnen. Wimpel und Zelte. Die farbigen Seidenschleifen und Rosetten der ausgestellten und gehandelten Pferde sind weiterhin zu sehen und auf dem Kanal schwimmen von Folly Bridge bis Wolvercote Schiffe aus allen Teilen des Königreichs Seite an Seite. Es heißt, dass in der Woche des Pferdemarktes mehr kleine Gegenstände von unbewachten Fenstersimsen verschwinden als zu anderen Jahreszeiten. Bemerkenswert ist ferner, dass in Oxford im April mehr Kinder geboren werden als in jedem anderen Monat. Jericho ist außerdem Heimat der weltberühmten Fell Press, die in einem prunkvollen neoklassizistischen Gebäude in der Great Clarendon Street residiert. Sie markiert den Beginn des Buchdrucks in Oxford. Damals traf Joachim Fell, ein religiöser Flüchtling ans Mainz, mit einigen Lettern der berühmten Druckerei Gutenbergs in Oxford ein. Die Geschichte Oxfords als Zentrum des Buchdrucks und des Verlagswesens ist lesenswert festgehalten in R. Heapys Buch Fünf Jahrhunderte Buch-druck in Oxford (Fell Press, 20 Guineen). Das Gebäude der Druckerei soll auf Fundamenten eines römischen Mithrastenpels errichtet worden sein und die ersten Drucker wurden angeblich oft von Nachtmahren heimgesucht. Anfang des siebzehnten Jahrhunderts betrieb eine gewisse Lolly Parsons, eine für ihre Freizügigkeit bekannte Dame, ohne Wissen der gottesfürchtigen Eigentümer während der Nachtstunden eine Schenke im Verlagsgebäude. Die Schenke soll sich bei den Wissenschaftlern von Worcester College und den gyptischen Schiffern großer Beliebtheit erfreut haben. An der Südseite des Hauptgebäudes wurde im achtzehnten Jahrhundert im Verlauf von Renovierung- und Erweiterungsarbeiten versehentlich eine Pestgrube geöffnet. Die ungesunden Ausdünstungen machten das gesamte Viertel wochenlang unbewohnbar. Die Beziehungen zwischen Fell Press und Universität waren eng, aber bewegt. Einmal sollte der Verlag als eigenes College in die Universität eingegliedert werden, auf Grund alter Bestimmungen erwies sich dies jedoch als unmöglich. Einige ältere oder besonders empfindsame Lektoren sollen die Enttäuschung darüber nie verwunden haben. Heute ist aus der ehemaligen Druckerei ein reger Wissenschafts- und Publikumsverlag geworden, eine Bereicherung für Jericho und die ganze Stadt. Die St. Barnabas dem Chemiker geweihte Kirche, eine Arbeit Sir Arthur Blomfields, ragt hoch über den engen Gassen Jerichos auf und ist ein vertrautes Wahrzeichen der Stadt, das man sogar noch vom Waldgebiet White Ham aus sehen kann. Das bemerkenswerte Gebäude wurde im venezianischen Stil erbaut und ist St. Barnabas geweiht, einem ansonsten wenig verehrten Heiligen. St. Barnabas soll ein früher Experimentaltheologe gewesen sein und soll in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts5 in Palmyra gelebt haben. Er erfand eine Apparatur zur Destillation gewisser seltener Essenzen und Duftöle und brachte es zum Chefparfümeur Königin Zenobias. St. Barnabas wurde enthauptet
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Lyra suchte an den Türen der Häuser nach einer Nummer. »Offenbar am anderen Ende«, sagte sie schließlich. »Am Kanal.« Als sie dort ankamen, standen sie in fast völliger Dunkelheit. Die nächste Straßenlaterne lag in einiger Entfernung hinter ihnen und aus Fenstern mit zugezogenen Vorhängen drang nur ein schwacher Lichtschein. Der zunehmende Mond schien immerhin so hell, dass er Schatten auf den Gehweg warf. Bäume gab es in der Straße nicht. Lyra hoffte, dass der Vogeldæmon sich auf den Dächern verstecken konnte. »Er hüpft die Regenrinnen am Rand der Dächer entlang«, flüsterte Pan. »Dort«, sagte Lyra, »das ist das Haus des Alchemisten.« Sie waren fast an der Haustür angelangt, einer ganz gewöhnlichen Haustür, vor der sich ein handtuchbreiter Streifen staubigen Grases erstreckte, eingefasst von einem niedrigen Steinmäuerchen. Neben der Tür befand sich ein dunkles Fenster mit zugezogenen Vorhängen, zwei weitere Fenster waren im ersten Stock zu sehen. Im Unterschied zu den Nach43
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barhäusern schien dieses Haus allerdings einen Keller zu haben. Trübes Licht fiel von unten in den ungepflegten, zugewucherten kleinen Garten. Durch die dreckige Scheibe des Kellerfensters konnte man vom Gehweg aus nicht viel erkennen, nur den Schein eines offenen Feuers sahen Lyra und Pan. Also sprang Pan zu dem Fenster hinunter, drückte sich an die Wand, um nicht gesehen zu werden, und spähte vorsichtig durch die Scheibe. Der Vogeldæmon saß währenddessen direkt über ihnen auf dem Dach und konnte sie auf dem Gehweg nicht sehen. Er merkte deshalb auch nicht, dass Pan wieder kehrtmachte und zurück auf Lyras Schulter sprang. »Da drinnen ist eine Hexe!«, flüsterte Pan aufgeregt. »Im Ofen brennt Feuer und überall liegen Instrumente herum und wenn ich richtig gesehen habe, liegt ein Mann auf dem Boden – womöglich tot –, und wie gesagt, da ist eine Hexe …« Irgendetwas war hier faul. Lyras Misstrauen flammte auf wie eine Naphthalampe, in die man Alkohol schüttet. Was sollten sie tun? Weder besonders hastig noch besonders zögerlich überquerte Lyra die Straße und steuerte auf das letzte 44
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Haus auf der anderen Seite zu, als sei dies von Anfang an ihr Ziel gewesen. Der Vogeldæmon auf dem Dach hinter ihnen ließ wieder das erstickte Schackern hören, dies mal lauter als zuvor, dann stieß er sich von der Dachrinne ab und flog auf Lyra zu. Sie drehte sich zu ihm um. Er umschwirrte sie aufgeregt. »Wohin geht ihr denn?«, rief er. »Warum überquert ihr die Straße?« Lyra bückte sich. Der Vogel folgte ihrer Bewegung. Dann richtete sie sich blitzschnell wieder auf und Pantalaimon drückte sich mit kräftigem Schwung von ihrer Schulter ab. Er hinterließ dabei einen tiefen Kratzer in Lyras Schulter. Doch sie hatten gut gezielt. Pan bekam den Vogeldæmon in der Luft zu fassen und riss ihn mit sich zu Boden. Der Dæmon begann wütend zu kreischen und zu kratzen. Aus dem Haus auf der anderen Straßenseite drang ein gellender Schrei – der Schrei einer Hexe. Lyra schnellte herum. Zwar war Pan dem anderen Dæmon an Gewicht und Kraft überlegen, aber dafür war die Hexe im Unterschied zu Lyra eine Erwachsene und außerdem kampferprobt und offensichtlich 45
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bereit zu töten. Was wurde hier gespielt? Lyras Gedanken rasten. Fast wäre sie blindlings in eine Falle gegangen und jetzt musste sie unbewaffnet um ihr Leben kämpfen. »Will«, dachte sie in einem fort. »Will, Will, ich muss es machen wie er …« Dann geschah alles blitzschnell. Die Hexe kam mit einem Messer in der Hand aus der Tür gerannt. Ihr Gesicht war wutverzerrt und ihre Augen starrten Lyra unverwandt an. Die beiden Dæmonen kämpften immer noch fauchend, beißend und kratzend miteinander und Lyra und die Hexe spürten jeden Schlag und jeden Kratzer am eigenen Leib. Lyra trat auf die Straße hinaus und ging dann langsam rückwärts in Richtung Kanal. Wenn sie die Hexe dazu bringen konnte, ihr dorthin zu folgen … Das Gesicht der Hexe zeigte kaum noch menschliche Züge. Es war eine Maske des Wahnsinns und des Hasses und traf Lyra mit einer solchen Wucht, dass sie fast in die Knie gegangen wäre. Doch hielt sie sich das Bild Wills fest vor Augen: Was hätte er an ihrer Stelle getan? Er hätte ganz ruhig auf seine Gelegenheit gewartet, nach einem festen Stand gesucht und sich konzentriert. Unter Aufbietung ihres 46
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gesamten Mutes blieb sie stehen. Sie war bereit. Doch dann geschah etwas unvorstellbar Merkwürdiges. Ein heftiger Schlag traf Lyra am Hinterkopf, so dass sie zur Seite taumelte. Eine große, weiße Gestalt flog an ihr vorbei und geradewegs auf die Hexe zu. Zu hören war einzig das ungeheuerliche Knarren mächtiger Schwingen – dann wurde die Hexe, noch bevor sie sich von ihrem Schrecken erholen konnte, rücklings aufs Pflaster geschleudert, umgeworfen vom Gewicht des ungebremst auf sie zufliegenden Schwans. Pan schrie auf, denn der Vogeldæmon in seinen Pfoten begann unkontrolliert zu zucken. Die Hexe hatte den Zusammenstoß offenbar nur knapp überlebt, denn sie kroch auf Lyra zu wie eine Eidechse mit zerbrochenen Gliedern. Ihr Messer kratzte über den Stein und ein Funkenregen hüllte sie ein. Hinter 47
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ihr lag der Schwan mit hilflos ausgebreiteten Flügeln auf der Straße. Lyra war von dem Schlag, der sie getroffen hatte, noch wie betäubt. Mühsam richtete sie sich auf und versuchte ihre Gedanken zu ordnen, als sie Pan sagen hörte: »Der Vogeldæmon ist tot. Sie sind beide tot, Lyra.« Die Augen der Hexe waren weiter mit stierem Blick auf Lyra gerichtet und die Muskeln ihrer Arme stützten ihren Oberkörper noch vom Boden ab, doch ihr Rückgrat war gebrochen und ihr Gesicht zu einer leblosen Maske erstarrt. Plötzlich gaben ihre Muskeln nach und die Hexe fiel zu einem unförmigen Haufen zusammen. Der Schwan regte sich und schleppte sich einige Schritte vorwärts, konnte sich aber nicht auf den Beinen halten. Wieder hörte Lyra ein mächtiges Knarren und spürte einen starken Luftzug. Drei weitere Schwäne flogen vom Kanal her die Straße entlang und tief über ihren gefallenen Bruder hinweg. Bestimmt hatten die Bewohner der benachbarten Häuser den Lärm gehört und standen schon an Fenstern und Türen, doch Lyra konnte sich darum jetzt beim besten Willen nicht kümmern. Sie zwang sich aufzustehen und ging langsam zu dem Schwan, der 48
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ungeschickt mit den Flügeln schlug und auf der glatten Straße nach einem Halt suchte. Sie schob ihre Angst vor dem harten Schnabel beiseite, kniete sich hin, schob die Arme unter den massigen Leib und versuchte den Schwan hochzuheben. Zuerst bekam sie ihn nicht richtig zu fassen und auch der Schwan schien Angst zu haben und wehrte sich flügelschlagend, doch dann hatte sie ihn in den Armen und hob ihn auf. Ganz langsam und vorsichtig, um nicht auf die über den Boden schleifenden Flügel zu treten, trug sie ihn zum Ende der Straße, wo jenseits des Pflasters das schwarze Wasser des Kanals schimmerte. Auch die anderen Schwäne kehrten zum Wasser zurück. Dabei flogen sie so tief über Lyra hinweg, dass sie mit den Federn über die Haare des Mädchens strichen und Lyra das Knarren der Flügel am ganzen Leib spürte. Endlich war sie am Ufer angelangt. Zitternd vor Anstrengung ging sie in die Knie. Schwerfällig glitt der Schwan aus ihren Armen und landete spritzend im Wasser. Sofort richtete er sich auf, breitete seine Flügel einmal ganz aus, schüttelte sie und schwamm davon. In einiger Entfernung landeten die anderen Schwäne nacheinander auf dem Wasser und 49
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schwammen ihm entgegen. Sie hoben sich nur schwach von der dunklen Wasseroberfläche ab. Eine Hand senkte sich auf Lyras Schulter, doch das konnte sie schon gar nicht mehr erschüttern. Sie drehte sich um. Ein sechzigjähriger Mann mit einem benommenen Ausdruck im tief zerfurchten Gesicht und vernarbten, rußverschmierten Händen stand vor ihr. Sein schwarzer Katzendæmon unterhielt sich zu ihren Füßen bereits angeregt mit Pan. »Folge mir«, sagte der Mann leise, »damit niemand dich hier sieht. Jetzt, wo die Hexe tot ist, wird die Straße schon bald wieder zum Leben erwachen.« Er ging ihr voraus rechts am Kanal entlang in Richtung der Eisenhütte und zwängte sich durch ein schmales Tor in einer Mauer. Im schwachen Mondlicht erkannte Lyra einen Weg, der zwischen der Mauer und der hohen Ziegelwand der Fabrik verlief. »Alles in Ordnung«, flüs50
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terte Pan auf ihrer Schulter. »Bei ihm sind wir sicher.« Also folgte sie dem Mann um eine Ecke in einen verwahrlosten kleinen Hinterhof Dort hob er eine in den Boden eingelassene Klapptür an. »Durch diese Tür gelangen wir in meinen Keller und nachher zeige ich dir den Hinterausgang, denn wenn die Leiche der Hexe gefunden wird, gibt es hier einen Mordswirbel. Da hältst du dich besser raus.« Lyra stieg eine hölzerne Treppe in ein heißes, stickiges, nach Schwefel stinkendes Zimmer hinunter, das nur vom Feuer eines großen eisernen Ofens in der Ecke erleuchtet wurde. Auf einer entlang der Wände verlaufenden Werkbank standen Bechergläser und Destillierkolben, Tiegel, Waagen und alle möglichen Apparaturen zum Destillieren, Kondensieren und Raffinieren bestimmter Substanzen. Überall lag Staub, und die Decke war mit einer dicken schwarzen Rußschicht bedeckt. »Sie sind Mr Makepeace«, sagte Lyra. »Und du bist Lyra Listenreich.« Er schloss die Tür. Pan rannte neugierig durch das Zimmer und stupste mit der Nase oder Pfote an verschiedene Gegenstände, während die schwarze Katze 51
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seelenruhig auf einen Stuhl sprang und sich die Pfoten leckte. »Die Hexe hat uns eine Falle gestellt«, sagte Lyra, »und ihr Dæmon hat uns angelogen. Warum nur?« »Weil sie dich töten wollte. Sie wollte dich hierher locken und töten und dann mir die Schuld daran geben.« »Und ich dachte, ich könnte Hexen vertrauen.« Lyra war gegen das Zittern in ihrer Stimme machtlos. »Ich dachte …« »Ich weiß. Aber Hexen verfolgen ihre eigenen Interessen und Ziele. Einigen kann man vertrauen, anderen nicht. Warum sollte das bei ihnen anders sein als bei uns?« »Stimmt, daran hätte ich denken sollen. Aber warum wollte sie mich töten?« »Das kann ich dir sagen. Zunächst einmal musst du wissen, dass wir, sie und ich, einander vor vielen Jahren liebten …« »Dachte ich mir doch«, fiel Lyra ihm ins Wort. »Wir hatten einen Sohn und du weißt ja, was bei den Hexen Brauch ist. Als er dem Säuglingsalter entwachsen war, musste er den Norden verlassen. Er kam zu mir, wuchs heran, wurde Soldat 52
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und fiel im vergangenen Krieg im Kampf für Lord Asriel.« Lyra sah Makepeace mit großen Augen an. »Seine Mutter machte mir deswegen Vorwürfe«, fuhr Makepeace fort. Er schien krank zu sein oder unter dem Einfluss von Medikamenten zu stehen, denn er musste sich an der Werkbank festhalten, um nicht umzukippen, und seine tiefe Stimme klang heiser und erschöpft. »Jelenas Clan gehörte zu den Gegnern Lord Asriels und Jelena glaubte, im Chaos der Schlacht ihren eigenen Sohn getötet zu haben, denn als sie seine Leiche fand, steckte in seiner Brust einer ihrer Pfeile. Sie warf mir vor, ihn auf Lord Asriels Seite gezogen zu haben, und auch dir machte sie Vorwürfe, weil es bei den Hexen heißt, der Krieg sei deinetwegen geführt worden.« Lyra schüttelte entsetzt den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Der Krieg hatte doch nichts mit mir zu tun …« »O doch, das hatte er sehr wohl, aber du warst nicht an ihm schuld. Das glauben außer Jelena allerdings noch viele andere. Jelena hätte dich selbst töten können, aber es sollte so aussehen, als hätte ich es getan, denn sie wollte zugleich mich bestrafen.« 53
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Mr Makepeace verstummte und setzte sich. Er war aschfahl im Gesicht und sein Atem ging mühsam. Lyra sah ein Glas und eine Wasserflasche auf dem Tisch stehen und schenkte ihm ein. Er nahm das Glas mit einem dankbaren Nicken und nippte daran. Dann fuhr er fort. »Sie wollte dich hierher locken und töten und ich sollte mit einem Schlafmittel betäubt neben deiner Leiche gefunden und des Mordes an dir angeklagt werden. Bestimmt hat sie es so eingefädelt, dass du jede Menge Spuren hinterlassen hast, die zu mir führen.« Lyra musste daran denken, wie sorglos sie vorgegangen war. Beschämt senkte sie den Kopf. Miss Greenwood und Dr. Polstead waren nicht dumm. Wenn sie vermisst wurde, hatten die beiden schnell die Verbindung zu dem berühmten Oxforder Alchemisten hergestellt und Mr Shuster würde sich an ihre Frage nach dem Telefonbuch und nach Jericho erinnern. Wie dumm sie gewesen war, wo sie es doch besonders schlau hatte anstellen wollen! Sie nickte unglücklich. »Mach dir deswegen keine Vorwürfe«, sagte Makepeace. »Jelena hatte dir sechshundert Jahre Erfah54
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rung voraus. Was mich betrifft, so hatte sie Pech. Das jahrelange Einatmen der Dämpfe in diesem Keller hat mich so gut wie immun gegen das Mittel gemacht, das sie mir in den Wein geschüttet hat, deshalb bin ich noch rechtzeitig aufgewacht.« »Aber fast wäre ihr Plan aufgegangen«, sagte Lyra. »Wenn der Schwan nicht gewesen wäre … woher kam er eigentlich?« »Der Schwan ist mir ein Rätsel.« »All diese Vögel«, sagte Pantalaimon und sprang Lyra auf die Schulter. »Von Anfang an! Erst die Stare, dann die Tauben … und zuletzt der Schwan … sie alle griffen den Dæmon an, Lyra …« »Und wir wollten ihn vor ihnen retten«, sagte Lyra. »Dabei wollten sie uns schützen!«, rief Pan. Lyra sah den Alchemisten an. Er nickte. »Und wir dachten, die Vögel seien … ich weiß nicht … einfach nur bösartig«, sagte Lyra. »Wir glaubten nicht, ihr Verhalten hätte eine tiefere Bedeutung.« »Alles hat eine Bedeutung, wir erkennen sie nur nicht immer«, sagte der Alchemist. Da Lyra wenige Stunden zuvor genau dasselbe zu 55
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Pan gesagt hatte, konnte sie jetzt schlecht widersprechen. »Und was bedeutet das Verhalten der Vögel Ihrer Meinung nach?«, fragte sie verwirrt. »Es hat auf jeden Fall mit dir und mit der Stadt zu tun. Denke darüber nach und du wirst es verstehen. Doch jetzt musst du gehen.« Er stand schwerfällig auf und spähte durch das kleine Fenster nach draußen. Von der Straße hörte Lyra aufgeregte Stimmen und Rufe. Man hatte die Leiche der Hexe gefunden. »Du kannst durch den Hinterhof verschwinden und wieder an der Eisenhütte entlanggehen«, sagte Sebastian Makepeace. »Dort sieht dich niemand.« »Danke«, sagte Lyra. »Können Sie eigentlich Blei in Gold verwandeln, Mr Makepeace?« »Nein, natürlich nicht. Das kann niemand. Aber wenn einen die Leute für so dumm halten, dass man das versucht, achten sie nicht auf das, womit man sich in Wirklichkeit beschäftigt, und lassen einen in Frieden.« »Und mit was beschäftigen Sie sich in Wirklichkeit?« »Nicht jetzt. Vielleicht ein andermal. Du musst gehen.« 56
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Er führte sie zum Hinterausgang und erklärte ihnen, wie sie das Tor zwischen der Eisenhütte und dem Weg am Kanal öffnen und dann von draußen wieder schließen konnten. Anschließend sollten sie am Kanal entlang zur Walton Well Road gehen. Von dort waren es zu Fuß nur zehn Minuten zur Schule, zum offenen Speisekammerfenster und zu Lyras Lateinbüchern. »Danke«, sagte Lyra noch einmal zu Mr Makepeace. »Hoffentlich geht es Ihnen bald wieder besser.« »Gute Nacht, Lyra«, antwortete Mr Makepeace. Kurz darauf betraten sie den Park der Universität. »Hörst du das?«, flüsterte Pan.
LYRAS OXFORD
Sie blieben stehen. Irgendwo im dunklen Geäst der Bäume sang ein Vogel. »Vielleicht eine Nachtigall«, überlegte Lyra, doch genau wussten sie es beide nicht. »Vielleicht liegt die Bedeutung der Vögel ja wirklich darin, dass …«, begann Pan. »Ja, dass sie … und die ganze Stadt …« »Uns schützen? Könnte das gemeint sein?« Sie schwiegen. In der Stadt war Ruhe eingekehrt. Sie hörten nur den Vogel, ohne zu verstehen, was er sang. »Die Dinge haben nicht immer nur eine einfache, wörtliche Bedeutung«, sagte Lyra nachdenklich. »Jedenfalls nicht so, wie mensa Tisch bedeutet. Ihre Bedeutung ist vielfältiger und weniger klar.« »Ich habe das Gefühl, als ob die ganze Stadt auf uns aufpasst«, sagte Pan. »Und was wir fühlen, gehört doch auch zur Bedeutung, nicht wahr?« »Auf jeden Fall! So muss es sein. Das ist zwar nicht alles und es gibt bestimmt noch vieles, von dem wir keine Ahnung haben, aber … Es ist wie mit den Bedeutungen des Alethiometers, die man in versteckten Tiefen suchen muss. Dabei tauchen Dinge auf, von denen man vorher nichts wusste. Aber Gefühle gehören auch dazu, keine Frage.« 58
LYRA UND DIE VÖGEL
Die Stadt, ihre Stadt – Heimat war sicher ein Teil der Bedeutung dieses Wortes, Heimat, Geborgenheit und Zuhause. Wenig später kletterten sie durch das angelehnte Fenster der Speisekammer. Auf der Marmorplatte des Arbeitstisches entdeckten sie ein einsames Stück Apfelkuchen. Lyra nahm es mit nach oben. »Offenbar haben wir Glück, Pan«, sagte sie. »Das ist zumindest die Bedeutung dieses Apfelkuchens.« Bevor sie zu Bett gingen, streuten sie die Krümel des Kuchens für die Vögel auf das Fensterbrett.
erlesener
Seidenstoffe,
Par-
schwankender
Palmen
und
füms, Teppiche und Süßigkei-
Kamelkarawanen und im ewi-
ten, blitzender
gen
Damaszener
Klingen und funkelnder Augen
Treibsand
versunkener
legendärer Städte ...
unter nächtlichem Sternenhimmel... geheimnisvoller
Souks
und
zerfallener,
sonnenbeglänzter
Basare, wo sich der jasminge-
Ruinen, die von den Geheim-
schwängerte Duft der Nacht mit
nissen vergangener Zeiten, von
den klagenden Melodien von
Helden taten und Liebesschick-
Flöte und Gitarre mischt...
salen künden!
GEH EN S IE MI T DER S S ZE N OBI A, EI NE M L UXUS LI NER DER EX TRA K LAS S E , AUF GR OS S E FA HRT . E RLEB E N S IE 3 6 TA GE LA N G DI E FAS ZI NA TI O N D ES MI TT EL ME ERS UN D TA UC HE N S I E EI N I N EI NE WE LT DER L EGE ND E N.
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