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Matthias Sachs Sozialdemokratie im Wandel
Globale Gesellschaft und internationale Beziehungen Herausgegeben von Thomas Jäger
Matthias Sachs
Sozialdemokratie im Wandel Programmatische Neustrukturierungen im europäischen Vergleich
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugl. Dissertation Universität zu Köln, 2010
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch | Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17890-5
Danksagung
Das vorliegende Buch ist nicht zuletzt durch die Unterstützung einiger Personen und Institutionen ermöglicht wurden, denen ich an dieser Stelle danken möchte. Zuvorderst gilt mein Dank meiner Frau Maria, deren Rat und vorbehaltlose Unterstützung mir sehr viel bedeutet. Meinen Eltern Hildegard und Ulrich Sachs sowie meinem Onkel Dr. Johannes Pieck möchte ich ebenfalls an dieser Stelle Dank sagen. Mein ausdrücklicher Dank geht auch an meinen Doktorvater Herrn Prof. Dr. Thomas Jäger für die vielen hilfreichen Hinweise und die stets pragmatische und zielführende Unterstützung. Seine Rückmeldungen zu meiner Arbeit habe ich stets als wertvolle Anregungen empfunden. Danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Michael Schneider für die guten und produktiven Gespräche. Darüber hinaus gilt mein Dank der Friedrich-Ebert-Stiftung, die mich bei der Arbeit an diesem Buch mit einem Promotionsstipendium gefördert hat. In diesem Zusammenhang möchte ich gesondert den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Fernleihe und der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn, und hierbei vor allem Frau Irmgard Bartel, für ihre Bemühungen danken.
5
Inhalt
A.
Einleitung ……………………………………………………………11
B.
Die Grundlagen der sozialdemokratischen Programmatik: Die „Theorie der sozialenDemokratie“ …..………………………. 17 1.
2. C.
Das „sozialdemokratische Modell“ als Teil einer politischen Typologie …………….............................................. 17 1.1. Die theoretischen Grundlagen ….……………...………….. 17 1.2. Stand der Debatte …………….………………...………….. 38 Parteiprogramme: Funktion und Stellenwert ……..……….…… 43
Die programmatischen Neuorientierungen der deutschen SPD, der britischen Labour Party und der niederländischen PvdA von den 80er Jahren bis in die jüngste Vergangenheit ……........................................………… 53 1.
Die Ausgangslage für die Gestaltung sozialdemokratischer sozialdemokratischer Programmatik ……. 53 1.1. Die gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen für die Sozialdemokratie von den 80er Jahren bis in die jüngste Vergangenheit …… 53 1.1.1. Globalisierung der Wirtschaft – nationalstaatlicher Keynesianismus in der Krise … 55 1.1.2. ‚Informatisierung’ - der Wandel des Verhältnisses von Technik, Natur und Gesellschaft …………….…………………… 58 1.1.3. Individualisierung – der Wandel der Sozialstruktur und des Wahlverhaltens ……… 62 1.1.4. Neue Formen der Politik – der Wandel des politischen Diskurses …………… 66
7
2.
3.
8
1.2. „Ende der Sozialdemokratie“ oder der Wandel der Grundlagen sozialdemokratischer Politik: von Niedergangstheorien und neuen Chancen ..…………… 68 1.2.1. Niedergangstheorien – Die Sozialdemokratie am Ende ihrer Geschichte? ..................................... 69 1.2.2. Neue Chancen – Hoffnung für die Sozialdemokratie? ...................... 81 Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) …………. 87 2.1. Die institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für politisches Handeln – nationalstaatliche Besonderheiten ………………………… 87 2.1.1. Wahlsystem ………………...……………………. 87 2.1.2. Parteiensystem …………………………………… 90 2.2. Programmdebatte in der SPD – Form und Chronologie von 1984 bis 2007 ………………... 93 2.3. Problem- und Spannungsfelder – Herausforderungen für die deutsche Sozialdemokratie seit dem Ende der Ära Schmidt 1982 …………………………………..... 102 2.3.1. Globalisierung der Wirtschaft – nationalstaatlicher Keynesianismus in der Krise . 103 2.3.2. ‚Informatisierung’ – der Wandel des Verhältnisses von Technik, Natur und Gesellschaft ………………………………... 140 2.3.3. Individualisierung – der Wandel der Sozialstruktur und des Wahlverhaltens .……. 162 2.3.4. Neue Formen der Politik – der Wandel des politischen Diskurses ………….. 179 Die britische Labour Party (LP) ……………………………… 195 3.1. Die institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für politisches Handeln – nationalstaatliche Besonderheiten ……………………….. 195 3.1.1. Wahlsystem …………………………………...... 196 3.1.2. Parteiensystem ……….…………………………. 198 3.2. Programmdebatte in der Labour Party – Form und Chronologie von 1987 bis 2005 ………………. 200 3.3. Probleme und Spannungsfelder – Herausforderungen für die britische Sozialdemokratie seit der Wahlniederlage von 1987 ………………………. 210
3.3.1.
4.
Globalisierung der Wirtschaft – nationalstaatlicher Keynesianismus in der Krise . 211 3.3.2. ‚Informatisierung’ – der Wandel des Verhältnisses von Technik, Natur und Gesellschaft ….…………………………….. 234 3.3.3. Individualisierung – der Wandel der Sozialstruktur und des Wahlverhaltens …….. 251 3.3.4. Neue Formen der Politik – der Wandel des politischen Diskurses ………….. 260 Die niederländische Partij van de Arbeid (PvdA) ..................... 272 4.1. Die institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für politisches Handeln – nationalstaatliche Besonderheiten ………………….......... 272 4.1.1. Wahlsystem ………………………….................. 272 4.1.2. Parteiensystem ………………………………….. 273 4.2. Programmdebatte in der PvdA – Form und Chronologie von 1986 bis 2005 ………............. 277 4.3. Probleme und Spannungsfelder – Herausforderungen für die niederländische Sozialdemokratie seit der Übernahme des Parteivorsitzes durch Wim Kok1986 …… 284 4.3.1. Globalisierung der Wirtschaft – nationalstaatlicher Keynesianismus in der Krise .. 285 4.3.2. ‚Informatisierung’ – der Wandel des Verhältnisses von Technik, Natur und Gesellschaft ………………………………... 301 4.3.3. Individualisierung – der Wandel der Sozialstruktur und des Wahlverhaltens …….. 315 4.3.4. Neue Formen der Politik – der Wandel des politischen Diskurses ………….. 329
9
D.
Der Wandel der sozialdemokratischen Modelle in der vergleichenden Perspektive – gleiche Probleme, ähnliche Analysen, dieselben Lösungsansätze? ............................ 345 1. 2. 3. 4.
E.
10
Die unterschiedlichen systemischen Voraussetzungen ……….. 345 Die wahrgenommenen Herausforderungen – Gemeinsamkeiten und Unterschiede …………………………. 347 Die drei sozialdemokratischen Parteien als gestaltende Kräfte neuer sozialdemokratischer Modelle? ......... 356 Ausblick …………………......................................................... 360
Literaturverzeichnis ……………………………………………... 363
A.
Einleitung
Die europäische Sozialdemokratie im Jahr 2010 ist schon wieder beziehungsweise immer noch auf der Suche nach einem kohärenten Modell, nach einem erfolgsversprechenden programmatischen Kern, mit dessen Hilfe sie den politischen Diskurs erkennbar mitgestalten kann, so dass sie in den Augen der Wähler als echte Alternative im Vergleich zu den neo-liberalen, konservativen und auch links-sozialistischen politischen Wettbewerbern erscheint. Die deutsche Sozialdemokratie ist nach für sie schmerzhaften Jahren in einer großen Koalition wieder in der Opposition angelangt, wobei die Einflüsse aus der noch nicht allzu weit zurückliegenden Regierungszeit Gerhard Schröders schon wieder in weiten Teilen aus der Programmatik der SPD entfernt wurden. Die niederländische Partij van de Arbeid steht sowohl von links durch die Socialistische Partij als auch von rechts durch die Partij voor de Vrijheid des Rechtspopulisten Gert Wilders politisch immens unter Druck und hat auch aus der jüngsten Regierungsbeteiligung keine wirklichen Vorteile ziehen können. Im Falle der britischen Labour Party kann festgehalten werden, dass die seit 1997 andauernde Regierungszeit der Partei mit der Wahl im Jahr 2010 ein unrühmliches Ende gefunden hat, da die Sozialdemokraten unter der Führung von Gordon Brown eine deutliche Wahlniederlage und somit den Verlust der Regierungsmacht verkraften mussten. Der Elan der frühen Regierungsjahre unter Tony Blair scheint gänzlich verflogen zu sein, mit der Folge, dass die programmatischen Konzepte New Labours einer nachhaltigen Überarbeitung bedürfen. Mittlerweile ist es gut fünfundzwanzig Jahre her, dass die ersten Autoren vermeintlich irreversible wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen konstatierten, die ihrer Ansicht nach zum Niedergang der Sozialdemokratie führen würden.1 Ob man inzwischen tatsächlich am ‚Ende des sozialdemokrati-
1
Vgl. beispielhaft Przeworski, Adam: Capitalism and Social Democracy. Cambridge 1985; Dahrendorf, Ralf: Die Chancen der Krise. Stuttgart 1983; Panitch, Leo: The Impass of Scial Democratic Politics. In: Miliband, Ralph/Saville, John/Liebman, Marcel/Panitch, Leo: Socialist Register 1985/6. London 1986. S. 50-97; sowie Przeworski, Adam/Sprague, John: Paper Stones – A History of Electoral Socialism. Chicago 1986.
11 M. Sachs, Sozialdemokratie im Wandel, DOI 10.1007/978-3-531-92785-5_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
schen Jahrhunderts‘ angelangt ist, wie es von Ralf Dahrendorf bereits 1983 postuliert worden war, darüber kann auch im Jahr 2010 noch gestritten werden.2 Betrachtet man die programmatische Entwicklung einiger europäischer sozialdemokratischer Parteien seit den 1980er Jahren, so fällt auf, dass die Sozialdemokraten die vielseitigen Herausforderungen auf Grund von globalisierten Märkten, gewandelten Gesellschaftsstrukturen und dem Aufkommen neuer politischer Themen durchaus wahrgenommen haben. In der Tat gab es ein paar maßgebliche Faktoren, welche die praktischen Grundlagen für sozialdemokratische Politik dergestalt veränderten, dass die ideologischen Grundannahmen des sozialdemokratisch-politischen Modells in Frage gestellt werden mussten. Hervorzuheben sind hierbei die ökonomischen Krisen in den 1970er Jahren mit dem damit einhergehenden Funktionsverlust keynesianischer Wirtschafts- und Finanzpolitik, der sozio-strukturelle Wandel in den westlichen Gesellschaften und die hiermit zusammenhängende Verschiebung von Werten sowie das Aufkommen neuer politischer Herausforderungen in den Bereichen der Technologie und der Umwelt. Diese Herausforderungen werden im Anschluss in der Arbeit in vier Indikatoren zusammengefasst, anhand derer die programmatische Entwicklung der Parteien thematisch dargestellt wird. Möchte man nun die Entwicklung der Sozialdemokratie angesichts sich derartig wandelnder Realitäten beurteilen und die Veränderung am sozialdemokratischen Politikmodus nachzeichnen, so erscheint es sinnvoll, sich mit der Entwicklung der Programmatik der Sozialdemokratie zu befassen. Zu diesem Zweck wird die Neustrukturierung der Programmatik dreier europäischer sozialdemokratischer Parteien, namentlich der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), der britischen Labour Party und der niederländischen Partij van de Arbeid (PvdA), analysiert werden. Aus der Betrachtung der programmatischen Auseinandersetzung der drei Parteien mit den noch näher zu bestimmenden Herausforderungen seit den 1980er Jahren soll in dieser Arbeit abgeleitet werden, auf welche Art und Weise die jeweiligen Sozialdemokraten auf ihre Situation reagiert und welche Weiterentwicklung sie an ihrem jeweiligen sozialdemokratischen Modell vorgenommen haben. In dieser Arbeit wird es auch darum gehen zu zeigen, welche Herausforderungen von den Parteien jeweils im Detail perzipiert wurden, und wie die konkreten programmatischen Antworten hierauf ausgefallen sind. Um verwertbare Antworten auf die aufgeworfenen Fragen zu erhalten, wird in dieser Arbeit eine vergleichende Fallstudie erstellt. Im Vorfeld der empirischen Untersuchungen werden zu diesem Zweck bestimmte Herausforde2
12
Vgl. Dahrendorf, Ralf: Die Chancen der Krise. Stuttgart 1983. S. 16-17.
rungen als allgemein gültige Indikatoren definiert, um diese anschließend im Rahmen der Betrachtungen zu den einzelnen Parteien als Maßstab mit dem Ziel zu nehmen, die Vergleichbarkeit der Ergebnisse sicher zu stellen. An dieser Stelle müssen auch ein paar Worte zur Fallauswahl gesagt werden. Der Vergleich findet zwischen der SPD, der britischen Labour Party und der niederländischen PvdA statt, da diese drei Parteien vor einem jeweils recht unterschiedlichen gesellschaftlichen und systemischen Hintergrund agieren und somit zwei sehr unterschiedliche Modelle sozialer Demokratie beziehungsweise eine in etwa dazwischen angesiedelte Variante repräsentieren. Während in Deutschland eine bis zum heutigen Tag in großen Teilen traditionelle und konservativ-korporatistische Sozialdemokratie existiert, hat sich in Großbritannien im Zuge der Neuausrichtung der Labour Party in den 1990er Jahren von ‚Old‘ zu ‚New Labour‘ eine sich neo-liberalen Ideen nicht verschließende Sozialdemokratie entwickelt. In den Niederlanden ist die Ausrichtung der dortigen Partij van de Arbeid zwar ebenfalls seit den späten achtziger Jahren liberaler geworden, doch versuchte hier die Regierung im Kontext des ‚Polder-Modells‘ im Konsensverfahren die freien Kräfte des Marktes eindeutiger zu kanalisieren und einzuhegen.3 Diese Kontraste bewirken, dass die Ergebnisse im Vergleich ein relativ breites Spektrum sozialdemokratischer Programmausrichtungen abdecken und somit grundsätzlichere und allgemeingültigere Aussagen möglich machen. Darüber hinaus spricht für den Vergleich gerade dieser drei sozialdemokratischen Parteien, dass sie den Umbau ihrer Programmatik relativ zeitgleich in Angriff nahmen. Im Abstand von wenigen Jahren erfolgten deutliche Umbrüche in der programmatischen Ausrichtung der drei Parteien, wobei auf Unterschiede in Bezug auf die Geschwindigkeit und die Nachhaltigkeit des programmatischen Wandels zu achten sein wird. Nun folgen einige Anmerkungen zur Vorgehensweise und dem strukturellen Aufbau der Untersuchung. In Kapitel II. der Arbeit werden an erster Stelle die allgemeinen Grundlagen der sozialdemokratischen Programmatik theoretisch erläutert, um in Zusammenhang damit einen kurzen Blick auf die verschiedenen politischen Programmformate zu werfen. An dieser Stelle wird deutlich gemacht, welches die theoretischen Prämissen der sozialdemokratischen Pro-
3
Vgl. Wielenga, Friso: Konsens im Polder? Politik und politische Kultur in den Niederlanden nach 1945. In: Wielenga, Friso/Taute, Ilona (Hrsg.): Länderbericht Niederlande. Geschichte – Wirtschaft – Gesellschaft. Bonn 2004. S. 119-120.
13
grammarbeit sind, und in welchen Formaten diese Arbeit in der Regel von den Parteien vorgenommen wird. Im hieran anschließenden Kapitel III. 1.) 1.1. werden vier Indikatoren in Gestalt von vier maßgeblichen Themenkomplexen aufgestellt, mit deren Hilfe die der Untersuchung zugrunde gelegten Herausforderungen für die Sozialdemokratie in einer ersten allgemeinen Form strukturiert werden. In Kapitel III. 1.) 1.2. werden dann sowohl die verschiedenen auf die Sozialdemokratie bezogenen Niedergangstheorien als auch die hierauf erfolgten Antworten dargestellt. Hier geht es darum aufzuzeigen, in welcher Art und Weise und mit welchen Argumenten eine theoretische Auseinandersetzung über die Zukunftsfähigkeit der Sozialdemokratie stattgefunden hat. Mit Kapitel III. 2.) beginnt mit der Untersuchung der SPD der empirische Teil der Arbeit. Die Vorgehensweise bei der Analyse der programmatischen Entwicklung der drei Parteien ist aus Gründen der besseren Vergleichbarkeit genau gleich gehalten, so dass die nun erfolgende Beschreibung für alle drei Partei-Kapitel Gültigkeit besitzt. In einem ersten Unterkapitel werden die institutionellen und politischen Rahmenbedingungen für das politische Handeln der Parteien näher betrachtet. Gemeint ist hiermit das jeweilige Wahl- und Parteiensystem, da diese beiden Aspekte, wie noch zu zeigen sein wird, einen großen Einfluss auf die Generierung und Formulierung von Parteiprogrammatik haben. Anschließend wird die jeweilige Programmdebatte im Untersuchungszeitraum chronologisch aufgearbeitet, um eine Verortung der später analysierten konkreten Inhalte zu erleichtern. Im darauf folgenden Kapitel werden die vier in Kapitel III. 1.) 1.1. eingeführten Themenkomplexe in die empirische Untersuchung übertragen, und ebenfalls in vier Kapiteln behandelt. Dort wird anschließend die programmatische Auseinandersetzung der jeweiligen Partei mit den genannten Herausforderungen chronologisch untersucht. Nachdem die Programmdebatte von SPD, Labour Party und PvdA derart analysiert worden ist, werden die Ergebnisse in Kapitel IV. verglichen. An erster Stelle findet unter Kapitel IV. 1.) ein Vergleich der jeweiligen systemischen Voraussetzungen statt, um in Kapitel IV. 2.) die jeweils wahrgenommenen Herausforderungen und die programmatischen Antworten hierauf nebeneinander zu stellen. Schließlich beschäftigt sich Kapitel IV. 3.) mit der Frage, inwiefern die drei Parteien als gestaltende Kräfte neuer sozialdemokratischer Modelle in Erscheinung getreten sind, beziehungsweise ob in den untersuchten Programmdebatten eine zukunftsfähige Weiterentwicklung sozialdemokratischer Programmatik erkennbar geworden ist.
14
In Bezug auf die Quellenlage gilt es an erster Stelle festzuhalten, dass der Fokus der vorliegenden Arbeit nur auf der programmatischen Entwicklung der drei Parteien liegt, so dass Regierungshandeln keine Berücksichtigung findet. Die Analyse stützt sich dementsprechend vor allem auf die Primärdokumente von SPD, Labour Party und PvdA in Form von Grundsatz- und Wahlprogrammen, Berichten von Parteitagen und Arbeitsgruppen- beziehungsweise Kommissionssitzungen, sowie Arbeitspapieren von unterschiedlichen Foren, Konferenzen und Gruppierungen. Hinzu kommt eine Vielzahl von Publikationen von Organisationen und Institutionen, die der Sozialdemokratie nahestehen, wie beispielsweise der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung, der niederländischen Wiardi Beckman Stichting oder dem britischen Policy Network. Darüber hinaus wurden regelmäßig Debattenbeiträge aus sozialdemokratischen Monatspublikationen wie den deutschen ‚Frankfurter Heften‘ oder der niederländischen Reihe ‚Socialisme & Democratie‘ herangezogen. Zusätzlich wurde eine Vielzahl von Monographien und Aufsätzen in Sammelbänden ausgewertet, die in allen drei Ländern in großer Anzahl zum Thema erschienen sind.
15
B.
Die Grundlagen der sozialdemokratischen Programmatik: Die „Theorie der sozialen Demokratie“
1.)
Das „sozialdemokratische Modell“ als Teil einer politischen Typologie
1.1.
Die theoretischen Grundlagen
Wenn man sich mit den Herausforderungen, also den Chancen und Risiken für eine sozialdemokratische Politik beschäftigen will, ist es unerlässlich, sich mit den ideologischen Wurzeln und ihrer Genese auseinanderzusetzen. Welches sind die Grundlagen der sozialdemokratischen Programmatik, und wie setzt sich ein sozialdemokratisches Modell zusammen? Gibt es ein Grundmodell, das als Maßstab dienen kann und nur bei Bedarf wieder variiert wird, oder muss ein solches Modell als Antwort auf die jeweilige Zeit immer wieder komplett neu erfunden werden? Als Ausgangspunkt können die klassischen sozialdemokratischen Grundwerte genommen werden: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Dies sind die Grundwerte des Demokratischen Sozialismus, so das Berliner Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) von 1989: „Sie sind unser Kriterium für die Beurteilung der politischen Wirklichkeit, Maßstab für eine neue und bessere Ordnung der Gesellschaft und zugleich Orientierung für das Handeln der einzelnen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten.“4 Und auch im aktuellen Hamburger Programm der SPD von 2007 werden diese Grundwerte in abgewandelter Form als inhaltliche Leitlinien genannt. Die SPD stellt sich „in der stolzen Tradition des Demokratischen Sozialismus (…) ihren Aufgaben“, und tut dies „für eine freie, gerechte und solidarische Gesellschaft.“5 Auch die niederländische Sozialdemokratie in Form der Partij van de Arbeid (PvdA) nennt diese Grundwerte an erster Stelle in ihrem aktuellen Grundsatz4 5
SPD-Parteivorstand (Hrsg.): Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Berlin 1989. S. 12. SPD-Parteivorstand (Hrsg.): Hamburger Programm. Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Berlin 2007. S. 5.
17 M. Sachs, Sozialdemokratie im Wandel, DOI 10.1007/978-3-531-92785-5_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
programm von 2005: „Vrijheid, democratie, rechtvaardigheid, duurzaamheid en solidariteit. Dat zijn de idealen van de sociaal-democratie.“6 Die britische Labour Party formuliert zu ihren Grundwerten in Clause IV der aktuellen Verfassung der Partei aus dem Jahr 2007 allgemeiner und umfassender, aber auch hier finden sich im Kern dieselben grundsätzlichen Werte: „The Labour Party is a democratic socialist party. It believes that by the strength of our common endeavour we achieve more than we achieve alone, so as to create for each of us the means to realise our true potential and for all of us a community in which power, wealth and opportunity are in the hands of the many, not the few, where the rights we enjoy reflect the duties we owe, and where we live together, freely, in a spirit of solidarity, tolerance and respect.”7 Betrachtet man die Sozialistische Internationale, der sowohl die SPD als auch die britische Labour Party und die niederländische PvdA als Vollmitglieder angehören, findet man in der Stockholmer ‚Declaration of Principles’ von 1989 dieselben Grundwerte formuliert: „Democratic socialism is an international movement for freedom, social justice and solidarity. Its goal is to achieve a peaceful world where these basic values can be enhanced (…).”8 In diesen Grundwerten bündeln sich Ideale und Ansprüche, die schon von verschiedenen politischen Denkschulen postuliert worden sind, deren besondere Verknüpfung aber zuvorderst die Grundlage der Identität der sozialen Demokratie ausmacht. Die Wurzeln dieser Grundwerte finden sich zu einem nicht geringen Teil in der Theorie der liberalen Demokratie. In ihr wurden gleiche und universal geltende Menschen- und Bürgerrechte, ein funktionierender Rechtsstaat sowie die Konstituierung einer Verfassung gefordert. Des Weiteren war vorgesehen, dass das Volk souverän nach dem Mehrheitsprinzip politische Macht verteilt, die wiederum klar und eindeutig an die Verfassung gebunden sein muss und in dieser definiert wird. Die Gleichheit der Freiheit aller Bürger stand besonders im Vordergrund. Nach den beiden prominentesten Vätern des klassischen Liberalismus, John Locke und Adam Smith, waren die Gleichheit der Menschenwürde aller Personen, sowie die Gleichheit ihrer Rechte bei allen Entscheidungen von höchster Bedeutung. Es handelt sich hierbei um die Gleichheit der privaten und der politischen Autonomie. Um diese Grundrechte zu garantieren, bedürfe es
6 7 8
18
Partij van de Arbeid: Beginselmanifest Partij van de Arbeid. Vastgesteld door het congres van de Partij van de Arbeid, 29 januari 2005. Delft 2005. S. 3. Labour Party: Labour Party Rule Book 2007. London 2007. Section A Chapter 1 S. 2. Socialist International: Declaration of Principles, Stockholm 1989.
eines starken Verfassungsstaates, der die individuellen Freiheiten, zum Beispiel das Recht an privatem Eigentum, in Verbindung mit einer grundsätzlichen Vertragsfreiheit und dem Zugang zu einem freien Markt gewährleiste.9 Auf dieser aufgeklärten Idee der Freiheit aller Menschen und der Garantierung ihrer gleichen Rechte baut die Theorie der sozialen Demokratie zwar auf, doch geht sie entschieden weiter. Wurzelnd in der Freiheitsidee der Theorie der liberalen Demokratie legt sie den Fokus auf die ihr innewohnenden Widersprüche und Unzulänglichkeiten: „Sie (die soziale Demokratie) versteht sich als das soziale Projekt ihrer praktischen Überwindung“10, so Thomas Meyer. Eine weitere bedeutsame theoretische Grundlage der Sozialdemokratie, der Sozialismus, zählt ebenfalls die Freiheit zu den höchsten Gütern. Dies spiegelt sich beispielsweise in Aussagen der britischen Labour Party zu ihren Grundwerten erkennbar wieder. Innerhalb der Labour Party spielte der Sozialismus bis Anfang der 1990er Jahre in verschiedener Form eine wichtige Rolle und fand sich auch danach noch in den theoretischen Grundsätzen wieder. So formulierte man 1994 in einem Parteipapier mit dem Titel „Labour’s objects: Socialist Values in the modern world“ zum Begriff der Freiheit folgendermaßen: „At the heart of democratic socialism is a commitment to freedom – real freedom for people and societies to achieve their potential for growht, development and achievment. Freedom’ opposites – restriction, oppression, explotation – constitute the denial of humanity and the suppression of hope, and socialists have spent more than 100 years fighting them.”11 Innerhalb der niederländischen PvdA wurde im Rahmen der programmatischen Neuausrichtung nach dem Zweiten Weltkrieg von Freiheit als dem Kern sozialdemokratischer Programmatik gesprochen: einflussreiche Theoretiker der niederländischen Sozialdemokratie wie Joop den Uyl und Jaques de Kadt postulierten zu Beginn der 50er Jahre sogar das „Primat der Freiheit“ für die PvdA.12 Für viele Jahrzehnte galt dies als Richtschnur innerhalb der PvdA, wobei wichtig war, dass hierbei nicht der liberale Freiheitsbegriff gemeint war, sondern eine darüber
9 10 11 12
Vgl. Locke, John: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Hrsg. von Walter Euchner. Frankfurt 1967; sowie Smith, Adam: Der Wohlstand der Nationen: Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. München 1974. Meyer, Thomas: Die Zukunft der sozialen Demokratie. Bonn 2005. S. 15. Labour Party: Labour’s objects: Socialist values in the modern world. London 1994. S. 11. Vgl. Kalma, Paul: Links, rechts en de vooruitgang. Amsterdam 2004. S. 49.
19
hinaus gehende Kombination von gesellschaftlicher Gleichheit und Freiheit.13 Paul Kalma formulierte 2004 in diesem Sinn die Abgrenzung zum Liberalismus als Aufzählung der Inhalte des sozialdemokratischen Freiheitsbegriffes: „Darbij ging het niet alleen om spreiding van levenskansen en ontplooiingsmogelijkheden over de bevolking als geheel, maar ook om de maatschappelijke voorwaarden waaronder individuele vrijheid het best gestalte kann krijgen en om de wisselwerking tussen persoonlijke ontwikkeling en maatschappelijke vooruitgang, tussen individu en gemeenschap.“14 Besonders für die niederländische Sozialdemokratie seien Freiheit und Gleichheit zwei nicht voneinander trennbare Kernwerte, so auch der Soziologe C.J.M. Schyut.15 In der Labour Party wurde die Gleichheit ebenfalls als elementarer Bestandteil des eigenen politischen Wertekanons gesehen, in welchem Gleichheit und Freiheit korrespondieren. Eines der wirkungsmächtigsten Bücher für die Labour Party war und ist das 1956 von Anthony Crosland geschriebene „The Future of Socialism“. In diesem wegweisenden Werk befasst sich Crosland mit den Grundwerten des britischen Sozialismus, also mit den ideologischen Grundlagen der Labour Party, wobei er feststellt, dass Gleichheit das herausragende Merkmal des Sozialismus sei.16 Die grundlegende Idee einer sozialistischen Gesellschaftsordnung müsse jedoch das Prinzip von Freiheit und parlamentarischer Demokratie beinhalten.17 „But it is equality that is the distinguishing characteristic of socialism. For Crosland, the inequalities in society are an offence against social justice“18, so der Labour-Politiker Edmund Dell. Im Jahr 1987 befasste sich der damalige stellvertretende Vorsitzende der Labour Party, Roy Hattersley, in seinem Buch mit dem Titel „Choose Freedom – Future of Democratic Socialism“ ebenfalls mit der Frage des Zusammenspiels von Freiheit und Gleichheit. Er stellt den Wert von Freiheit über den der Gleichheit, beziehungsweise erklärt das Streben nach mehr Gleichheit für den Weg zu mehr Freiheit, indem er festhält: „the immediate intention of socialists policies is the creation of a more equal society within which power and wealth
13 14 15 16 17 18
20
Vgl. ebenda. S. 50-51. ebenda. S. 50. Vgl. Schuyt, C.J.M.: Sociaal-democratische waarden in de naoorlogse verzorgingsstaat. In: Schuyt, C.J.M./Stuurman, S./Pels, D./Scheffer, P./Kalma, P.: Sociaal-democratie tussen zakelijdheid en moral. Amsterdam 1991. S. 7. Vgl. Dell, Edmund: A Strange and Eventfull History – Democratic Socialism in Britain. London 2000. S. 262. Vgl. Crosland, Anthony: The Future of Socialism. London 2006. S. 41. Dell, Edmund. London 2000. S. 262.
are more evenly distributed. But socialism’s fundamental purpose – indeed the purpose of the equality which we seek – is the extension of liberty.”19 Der Sozialismus war demnach ebenso wie die politische Idee der liberalen Demokratie Grundlage für die generative Idee der sozialen Demokratie: die Schaffung einer Gesellschaft der Freien und Gleichen, in der alle gesellschaftlichen Aspekte von der Ökonomie über den Sozialstaat bis hin zur Zivilgesellschaft miteinander verbunden seien.20 In Bezugnahme auf die Abgrenzung der sozialdemokratischen von der liberalen Demokratie spricht der Direktor der sozialdemokratischen WiardiBeckman-Stichting Paul Kalma vom Liberalismus als einer individualistischen Ideologie, die eine Gegenüberstellung von staatlicher Vormundschaft auf sozialem und ökonomischen Gebiet auf der einen Seite und individueller Freiheit auf der anderen Seite konstruiert.21 Die liberale Demokratie sieht ihr vorrangiges Ziel nämlich vor allem darin, gleiche Freiheiten für alle Bürger im Sinne eines am Individuum orientierten Laissez-faire bereitzustellen, wobei die kapitalistische Marktwirtschaft als Regulator wirken soll. Der demokratische Rechtsstaat und die ihm innewohnenden Grundrechte werden dabei lediglich formal garantiert, die tatsächliche aktive Teilhabe eines jeden Einzelnen am demokratischen Gemeinwesen und die Geltung der Grundrechte in der Praxis sind nicht gewährleistet. Eventuelle soziale Risiken struktureller Art, die eine Wahrnehmung der Grundrechte in Frage stellen könnten, werden ausgeklammert. Gemeint ist hiermit vor allem das sehr unterschiedlich bedingte Nichtvermögen Einzelner, am Marktgeschehen zu partizipieren und sich somit die persönlichen Freiheiten selbstständig zu garantieren. Der klassischen sozialen Demokratie ging es daher um „die Überwindung des Widerspruchs zwischen der formalen Geltung der universellen Grundrechte für alle Bürger auf der einen Seite und der Nicht-Gewährleistung der sozialen Mittel ihrer Realisierung für die Gruppen von Bürgern, die jeweils von den sozialen Risiken betroffen sind. “22. 19 20 21 22
Hattersley, Roy: Choose Freedom: The Future of Democratic Socialism. London 1987. S. 2122. Vgl. Meyer, Thomas: Die Transformation der Sozialdemokratie – Eine Partei auf dem Weg ins 21. Jahrhundert. Bonn 1998. S. 17; sowie Meyer, Thomas: Eine Theorie der sozialen Demokratie. In: perspektiven ds. Heft 1 2004. S. 6. Vgl. Kalma, Paul. Amsterdam 2004. S. 59. Meyer, Thomas. Bonn 2005. S. 30.
21
Ein entscheidender Vordenker der sozialen Demokratie, der Politikwissenschaftler Hermann Heller, bezeichnete demnach auch die Ausblendung der empirischen Wirklichkeit als das maßgebliche Defizit des politischen Liberalismus in seiner Theorie und Praxis. Lediglich auf die formale Geltung von Freiheiten und Bürgerrechten bedacht, übersehe beziehungsweise umgehe der Liberalismus die Frage nach den empirischen Geltungsbedingungen dieser gleichen Rechte und Freiheiten. Der politische Liberalismus biete somit kein Handwerkszeug zur nachhaltigen theoretischen Begründung und vor allem praktischen Erfüllung der von ihm postulierten Freiheiten und Rechte.23 Tatsache sei, so Heller, dass sich in einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft der Anspruch der materiellen und für alle erreichbaren Rechtsstaatlichkeit nicht von selbst verwirklichen würde. Die liberale müsse zur sozialen Demokratie weiterentwickelt werden, die für eine Realisierung der Freiheit und Gleichheit auch in der Arbeits- und Güterordnung eintrete, da nur auf diesem Weg die Teilhabe aller am demokratischen Rechtsstaat gewährleistet werden könne.24 Angesichts der im gesellschaftlichen Zusammenleben auftretenden Widersprüche zwischen kapitalistischer Marktwirtschaft und der realen Geltendmachung der Freiheitsrechte aller Bürger verteidige der politische Liberalismus hingegen lediglich den formalisierten Rechtsstaat. Den ihm eigentlich innewohnenden universellen Anspruch, dass die von ihm formulierten Freiheiten und Rechte unumstößlich seien, kann er somit nicht aufrechterhalten.25 Der vom liberalen Kapitalismus gewollte „freie Zugang zum Markt durch freie Menschen“26 führe in der realpolitischen Konsequenz dazu, dass der Staat sich aus seiner Verantwortung zurückziehe, die Geltung der Rechte und Freiheiten seiner Bürger faktisch und nicht lediglich formal zu garantieren. Hierdurch komme es zur Funktionsbeschränkung des Staates auf den ‚Nachtwächterstaat’, so der Begriff im 19. Jahrhundert, oder auf den ‚schlanken Minimalstaat’, wie er dann im 20. Jahrhundert genannt wurde.27 Die politischen Ideale der Theorie der liberalen Theorie würden jedenfalls ohne sozialpolitische Ergänzungen nicht gesellschaftliche Realität.
23 24 25 26 27
22
Vgl. Heller, Hermann: Recht, Staat, Macht. Leiden 1971. S. 427. Vgl. ebenda. Vgl. ebenda. Grebing, Helga: Die sozialen Ideen des demokratischen Sozialismus – ihre Bedeutung für das 21. Jahrhundert. In: Perspektivends 2004/Heft 1. S. 14. Vgl. ebenda.
Damit eine Demokratie die Unterstützung aller Teile der Gesellschaft finde, müsse die liberale zur sozialen Demokratie weiterentwickelt werden, so Heller.28 Erst wenn die einzelnen Bürger tatsächlich handlungsfähig und somit faktisch gleichberechtigt seien, neben ihrer rechtsförmlichen Zugehörigkeit zum politischen Gemeinwesen, dann sei eine demokratische Staatsbürgerschaft voll erfüllt.29 Die Idee der sozialen Demokratie steht nach dieser Lesart für das Konzept eines demokratischen Rechtsstaats, der nach liberalen Prinzipien Freiheit und Gleichheit für seine Staatsbürger zur Verfügung stellt, indem er gesellschaftliche Teilhabe mit Hilfe von sozio-strukturellen Maßnahmen sichert und garantiert. Oder mit den Worten des britischen Soziologen Frank Parkin gesprochen: „social democrats could be regarded as liberals who really mean it.“30 Thomas Meyer spricht aus der Sicht einer Theorie der sozialen Demokratie sogar von der Pflicht des Staates, die Lücke zwischen der formalen Geltung der gleichen Grundrechte und Freiheiten und der Umsetzung dieser in der Realität zu schließen. Zuerst stellt er fest, dass es in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung Risiken gibt, welche die einzelnen Personen von den Mitteln trennen, die sie zur selbständigen Realisierung ihres Grundrechtsanspruches brauchen. Diese Risiken entzögen sich aber den Einwirkungsmöglichkeiten der einzelnen Bürger. Solche Risiken seien politischer Natur und entsprängen Grundentscheidungen über gesellschaftliche Strukturen und Institutionen, die nur von der politischen Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit getroffen und gegebenenfalls auch wieder revidiert werden können. Hieraus folgt laut Meyer, dass der einzelne Bürger auf Grund der politischen Natur dieser Risiken einen politischen Anspruch gegen den Staat hat, die Folgen dieser Risiken für seine Grundrechte zu kompensieren:31 „Folglich ist die Gewährleistung der materiellen Mittel zur Ausübung der Grundrechte ein Recht des Bürgers und eine Pflicht des Staates.“32 In diesem Zusammenhang ist die Theorie der sozialen Staatsbürgerrechte des britischen Soziologe Thomas H. Marshall bedeutsam. Denn mit ihr hat Marshall eine für die soziale Demokratie und auch darüber hinaus wichtige Definition der Rechte und Pflichten von Staatsbürgern in kapitalistischen Demokratien geliefert.33 28 29 30 31 32 33
Vgl. Heller, Hermann: Staatslehre als politische Wissenschaft. Leiden 1971. S. 371. Vgl. Meyer, Thomas. Bonn 2005. S. 17. Parkin, Frank: Marxism and Class Theory: A bourgeois critique. London 1979. S. 189. Vgl. Meyer, Thomas. In: Perspektivends 2004/Heft1. S. 7-8. ebenda. S. 8. Vgl. ebenda. S. 6-7.
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Zuerst erläutert Marshall den Staatsbürgerstatus anhand seiner Bestandteile. Er teilt ihn auf in ein bürgerliches, ein soziales und ein politisches Element. Unter dem bürgerlichen Element versteht Marshall die notwendigen Bestandteile beziehungsweise Rechte, die die Freiheit des Individuums sichern. Hierbei sieht er die Gerichte in der Pflicht, diese Rechte zu garantieren. Der soziale Aspekt des Staatsbürgerdaseins bezieht sich nach Marshall auf das Recht, ein Mindestmaß an sozialstaatlicher und wirtschaftlicher Sicherheit garantiert zu bekommen, so dass ein Leben entsprechend der gesellschaftlich vorherrschenden Standards möglich ist. Dies müsse durch das Erziehungs- und Bildungswesen sowie soziale Dienste gewährleistet werden. Als politisches Element bezeichnet er das Recht auf die Partizipation bei der Ausübung politischer Macht. In diesem Zusammenhang ist das Parlament der Ort, wo dieses Recht in die Praxis umgesetzt wird.34 „Staatsbürgerrechte verleihen einen Status, mit dem all jene ausgestattet sind, die volle Mitglieder einer Gemeinschaft sind. Alle, die diesen Status innehaben, sind hinsichtlich der Rechte und Pflichten, mit denen der Status verknüpft ist, gleich.“35 Marshall zeichnet die Entwicklung der politischen zu sozialen Bürgerrechten historisch nach und erklärt, dass besonders die Ungleichheiten zwischen den sozialen Klassen ein Hindernis für die volle Entfaltung universeller Bürgerrechte seien. Erst in der Auseinandersetzung mit den Barrieren sozialer Unterschiede und ihrer schrittweisen Beseitigung könnten sich politische zu sozialen Bürgerrechten weiterentwickeln. Ziel Marshalls, wie auch der Theoretiker der sozialen Demokratie ist es, von der Formalgeltung der Grundrechte zu ihrer Umsetzung in der Realität zu gelangen. Thomas Meyer merkt in Bezug auf die praktische Umsetzung der Marshallschen Ideen an: „Marshalls Theorie der Dimensionen eines vollen universalistischen Bürgerstatus bildet die Brücke zwischen dem ursprünglich liberalen Verständnis universeller Grundrechte und dem gegenwärtig gültigen Völkerrecht, das in den UN-Menschenrechtspakten von 1966 diese Grundrechte in Kraft gesetzt hat.“36 Marshall geht es um eine funktionierende Demokratie mit aktiver Teilhabe gleichberechtigter Bürger. Und hierzu bedürfe es in einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung wohlfahrtstaatlicher Institutionen, die allen Staatsbürgern gemäß ihrer Rechte und sozialen Vorraussetzungen einen Einfluss auf die Gestal-
34 35 36
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Vgl. Marshall, Thomas H.: Bürgerrechte und soziale Klassen – Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates. Frankfurt 1992. S. 40. ebenda. S. 53. Meyer, Thomas. Bonn 2005. S. 20.
tung der Gesellschaft und ihrer Institutionen ermöglichen. Der Soziologe Marshall kann somit als einer der Vordenker des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates gesehen werden. Marshall selbst definiert den Wohlfahrtsstaat als ein Produkt der Gemeinschaft, das nach gemeinsam verabredeten Regeln von allen getragen werden müsse: „Es ist eine besondere Ordnung gegenseitiger Leistungen, die bis zu einem bestimmten Grad die Schwächeren auf Kosten der Stärkeren begünstigt. Die Rechte, die sie verleiht, sind keine Rechte, die ihren Ursprung in der Natur des menschlichen Wesens haben, sondern Rechte, die von der Gemeinschaft selbst geschaffen und mit dem Staatsbürgerstatus verknüpft sind.“37 Es stellt sich jedoch die Frage, nach welchen Gerechtigkeitsmaßstäben diese Rechte zur Anwendung kommen, dass heißt nach welchen Maßstäben wohlfahrtsstaatlich gehandelt werden soll. Eine soziale Demokratie, die den Ansprüchen der Theorie der sozialen Staatsbürgerechte gerecht werden will, bedarf demnach weiterer Parameter. In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, sich noch einmal Hermann Heller und seinen Eckpunkten für eine Theorie der sozialen Demokratie zuzuwenden. Heller definiert sein Konzept von sozialer Demokratie anhand von vier Komponenten. An erster Stelle muss es einen demokratischen Entscheidungsprozess geben. Im Folgenden müssen an zweiter Stelle in den Resultaten dieses Prozesses die demokratischen Dimensionen erweitert und erhalten werden. Hiernach nennt Heller die Gestaltung der gesellschaftlichen Gesamtverfassung, die sich an allgemein anerkannten Gerechtigkeitsnormen zu orientieren habe. An letzter und vierter Stelle wird eine politische Kultur als notwendig genannt, die sich aus einem gerechtigkeitsorientierten sozialen Interessenkompromiss ableitet.38 Entscheidender Aspekt einer Theorie der sozialen Demokratie ist demnach auch der Begriff der Gerechtigkeit, der in liberalen Konzepten zumeist ausgeklammert wird. Für Heller ist soziale Demokratie „(…) zu verstehen als eine Gesellschaft, die nicht nur in der politischen Sphäre, sondern in allen übrigen gesellschaftlichen Sphären durch ein vernünftig begründetes Gerechtigkeitsprinzip bestimmt ist.“39
37 38 39
Marshall, Thomas H.. Frankfurt 1992. S. 102. Vgl. Meyer, Thomas. Bonn 2005. S. 17. ebenda. S. 18.
25
Einer der einflussreichsten Gerechtigkeitstheoretiker des 20. Jahrhunderts ist der Amerikaner John Rawls. Seine Thesen und Überlegungen sind für die Entwicklungen von Theorien der sozialen Demokratie maßgeblich gewesen, und aus seinen Analysen lassen sich auch noch im 21. Jahrhundert wertvolle Anregungen gewinnen. Mit seiner viel beachteten ‚Theorie der Gerechtigkeit‘ aus dem Jahr 1971 plädierte er aus politischer Sicht für den liberaldemokratischen Wohlfahrtsstaat.40 Rawls beschäftigt sich in seiner Gerechtigkeitstheorie mit der Grundstruktur der Gesellschaft, dass heißt mit der Art, „wie die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen Grundrechte und –pflichten und die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilen.“41 Er hält eine Entwicklung von Grundsätzen sozialer Gerechtigkeit für nötig, mit Hilfe derer sich die Zuweisung von Rechten und Pflichten definieren lässt, so dass die richtige Verteilung der erwähnten Früchte und Lasten der Zusammenarbeit festgelegt werden kann. Es geht nach Rawls vor allem darum, dass in einer demokratischen Gesellschaft ein gemeinsamer Gerechtigkeitssinn ausgebildet wird.42 Entscheidend ist es demnach, die Verteilungsgrundsätze innerhalb einer Gesellschaft gerecht zu gestalten. Diese seien dann gerecht, so Rawls, wenn sie mit Prinzipien in Einklang stünden, die von freien und vernünftigen Personen in einer fairen Entscheidungssituation, gemessen an deren eigenen Interessen anerkannt würden.43 Zu diesem Zweck wird eine theoretische Entscheidungssituation konstruiert, die gleiche und faire Bedingungen für die Bestimmung der Gerechtigkeitsprinzipien bietet. Es wird angenommen, dass sich gleichberechtigte Bürger gemeinsam hinter einem „Schleier der Unwissenheit“ befinden, was ihre persönliche Stellung und Situation in der Gesellschaft betrifft. Dieser von Rawls so genannte „Urzustand“ soll garantieren, dass die an der Entscheidungsfindung beteiligten Bürger nicht von partikulären Interessenslagen oder von ihrem sozialen Status in der Gesellschaft beeinflusst sind. Sie sollen fair und unter genau gleichen Bedingungen die Prinzipien entwerfen und beurteilen, nach denen ihr Zusammenleben organisiert sein soll: „Der hypothetische Urzustand ist ein Zustand der Freiheit und Gleichheit. Eingebettet in dieses faire Arrangement
40 41 42 43
26
Vgl. Rieger, Günter: John Rawls. In: Stammen, Riescher, Hofmann (Hg.): Hauptwerke der politischen Theorie. Stuttgart 1997. S. 407. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt 1975. S. 23. Vgl. ebenda. S. 22-23. Vgl. Rieger, Günter. Stuttgart 1997. S. 408.
folgen die Vertragspartner bei der vergleichenden Prüfung unterschiedlicher Verteilungsgrundsätze ausschließlich zweckrationalen Erwägungen.“44 Rawls geht hierbei von der Theorie des Gesellschaftsvertrages im Sinne von Locke, Rousseau und Kant aus, wobei er seine spezielle Vertragssituation mit dem Bild des Urzustandes stark abstrahiert. Die ursprüngliche Situation der Gleichheit der Beteiligten spielt dabei dieselbe Rolle, wie es der Naturzustand in der klassischen Theorie des Gesellschaftsvertrages tut. Genauso wie beim Gesellschaftsvertrag geht es Rawls um eine theoretische Konstruktion von ursprünglicher Gleichheit, in der sich die Vertragspartner bei ihrer Einigung auf bestimmte Gerechtigkeitsgrundsätze befinden. Rawls spricht bei dieser Betrachtung der Gerechtigkeitsgrundsätze von einer Theorie der Gerechtigkeit als Fairness.45 Da die Beteiligten in dieser Ausgangssituation des Nichtwissens nicht beurteilen können, über welche Position und Mittel sie in der späteren Gesellschaft verfügen werden, haben alle gemäß der Theorie größtes Interesse daran, sich selbst bei der Wahl der Verteilungsprinzipien einen möglichst großen Anteil an Grundgütern zu sichern.46 Als Grundgüter bezeichnet Rawls „bestimmte Freiheiten, Vorrechte und allgemein dienliche Mittel, auf die alle Bürger gleichermaßen angewiesen sind, um die für gerechte und soziale Kooperation grundlegenden moralischen Vermögen angemessen zu entwickeln und auszuüben.“47 Grundgüter sind demnach die politischen Grundrechte und bürgerlichen Freiheiten moderner Demokratien, wie beispielsweise das Wahlrecht, die Religions- und Gewissensfreiheit oder die Redefreiheit. Außerdem werden Freizügigkeit, freie Berufswahl, Einkommen und Vermögen, die sozialen Grundlagen der Selbstachtung sowie die sich aus öffentlichen Ämtern ergebenden Vorrechte und Privilegien als Grundrechte beziehungsweise Grundgüter bezeichnet. Gemeinsam haben diese Grundgüter, dass sie allesamt gesellschaftliche Güter sind, was bedeutet, dass ihre Bereitstellung und Verteilung von der institutionellen Grundstruktur der Gesellschaft und den in ihr vereinbarten Prinzipien abhängt.48 Kern der Theorie der Gerechtigkeit sind Grundsätze, die die Verteilung der eben genannten Grundgüter regeln. Nach Rawls gibt es zwei elementare Gerechtigkeitsgrundsätze, auf die sich die Vertragspartner im Urzustand einigen würden.
44 45 46 47 48
ebenda. S. 409. Vgl. Rawls, John. Frankfurt 1975. S. 28. Vgl. Rieger, Günter. Stuttgart 1997. S. 409. Hinsch, Wilfried: Gerechtfertigte Ungleichheiten – Grundsätze sozialer Gerechtigkeit. Berlin 2002. S. 1-2. Vgl. ebenda. S. 2.
27
1. 2.
„Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.“ „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein: a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offen stehen.“49
Mit dem ersten Grundsatz geht es Rawls um die Schaffung eines demokratischen und liberalen Verfassungsstaates, in dem das Volk der Souverän ist und in welchem jeder Bürger seine unverletzlichen und individuellen Freiheitsrechte garantiert bekommt. Entscheidend ist, dass Rawls davon ausgeht, dass in einer solchen gerechten Gesellschaft soziale und ökonomische Ungleichheiten existieren werden. Dies führt ihn zur Entwicklung des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes, da die Frage nach dem zulässigen Ausmaß dieser Ungleichheiten zu einem Problem der sozialen Gerechtigkeit werde. Im zweiten Grundsatz wird daher zum einen die faire Chancengleichheit für alle gefordert, zum anderen wird mit Hilfe des Differenzprinzips die Verteilung geregelt. Soziale und ökonomische Ungleichheiten sind demnach nur dann zulässig, wenn sie vorteilhaft für die schlechter gestellten Gesellschaftsmitgliedern sind. Wolfgang Merkel fasst zusammen: „Rawls` Ziel ist die Befreiung der individuellen Lebenschancen von den Zufälligkeiten der sozialen Herkunft, des Geschlechts und der natürlichen Begabung.“50 Den beiden Grundsätzen liegt eine allgemeine Gerechtigkeitsvorstellung zugrunde, die Rawls folgendermaßen formuliert: „Alle sozialen Werte – Freiheiten, Chancen, Einkommen, Vermögen und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung – sind gleichmäßig zu verteilen, soweit nicht eine ungleiche Verteilung jedermann zum Vorteil gereicht.“51 Umstritten ist jedoch die Einbeziehung von Einkommen und Vermögen in den Kanon der Grundgüter. John Rawls wurden verkürzte Wertmaßstäbe vorgewor-
49 50 51
28
Rawls, John. Frankfurt 1975. S. 336. Merkel, Wolfgang und Krück, Mirco: Soziale Gerechtigkeit und Demokratie: Auf der Suche nach dem Zusammenhang. Bonn 2003. S. 4. Rawls, John. Frankfurt 1975. S. 83.
fen, womit gemeint war, dass er sich allzu sehr an der kapitalistischen Lebensweise und den Verhältnissen in kapitalistisch strukturierten Gesellschaften orientieren beziehungsweise sich zu sehr darauf konzentrieren würde.52 Wilfried Hinsch hält diesen Kritikern jedoch in überzeugender Weise entgegen, dass Einkommen und Vermögen im gesellschaftlichen Miteinander eine äußerst vielfache Wertigkeit besitzen: „Wenn wir mit Rawls die politischen und bürgerlichen Grundfreiheiten als von allen Bürgern benötigte Grundgüter betrachten, können wir deshalb nicht umhin, auch den zu ihrer Ausübung und Nutzung erforderlichen materiellen Gütern und Ressourcen diesen Status zuzuerkennen.“53 Hinsch spricht von einem instrumentellen, einem freiheitsbezogenen, und einem formativen Wert, den Einkommen und Vermögen für die Bürger einer Demokratie haben.54 Einen instrumentellen Wert erkennt Hisch darin, dass für die meisten Menschen ein ausreichend hohes Einkommen das entscheidende Instrument ist, ihr Leben nach ihren Wünschen und Vorstellungen gestalten zu können. Dabei sei ein möglichst hohes Einkommen besser als ein geringeres, da überflüssige materielle Mittel in der Regel kein Hindernis bei der Verwirklichung von Lebensplänen darstellen würden, nicht ausreichend vorhandene jedoch schon. Der freiheitsbezogene Wert von Einkommen und Vermögen ergibt sich nach Hinsch daraus, dass die Menschen erst durch ausreichend vorhandene Mittel in der Lage seien, ihre politischen Freiheiten und anderen Rechte wahrzunehmen. Erst wenn die Bürger es sich leisten könnten, sich beispielsweise per Zeitung oder Fernsehen zu informieren oder mit Hilfe von kostenpflichtigen Verkehrsmitteln zu reisen, ständen ihnen die politischen und bürgerlichen Grundfreiheiten tatsächlich zur Verfügung. Der formative Wert der genannten Grundgüter ist besonders aus sozialdemokratischer Sicht bedeutsam, denn er bezieht sich auf die institutionelle Grundstruktur einer Gesellschaft. Durch die in dieser Grundstruktur festgelegte Verteilung von Einkommen und Vermögen werde ein sozialer Rahmen geschaffen, der neben anderen Faktoren die Art und Weise der Entfaltung und Entwicklung der Gesellschaftsmitglieder maßgeblich bestimme. Hinsch nimmt an, dass derjenige, der von vorneherein über mehr materielle Mittel verfügen kann als 52
53 54
Vgl. hierzu Sen, Amartya: Equality of What?. In: McMurrin, S. M. (Hrsg.): Tanner Lectures on Human Values I. Cambridge 1980. S. 213-216; sowie Nussbaum, Martha: Nature, Function, and Capability: Aristotle on Political Distribution. In: Oxford Studies in Ancient Philosophy. Suppl. Vol.. S. 150-153. Hinsch, Wilfried. Berlin 2002. S. 9. Vgl. ebenda. S. 8-9.
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andere, sich aufwendigere Lebenspläne und höher gesteckte Ziele leisten kann und wird als jemand, der grundsätzlich materiell schlechter gestellt ist. Auch hätte der Begünstigte in der Regel bessere Chancen, seine Anlagen und Fähigkeiten voll zu entfalten. „Für eine Theorie der Gerechtigkeit bedeutet dies, dass sie sich nicht darauf beschränken darf, gerechte oder faire Bedingungen für die Befriedigung gegebener Präferenzen und Interessen zu spezifizieren. Wir erwarten von ihr eine begründete Antwort auf die Frage, wie die institutionelle Grundstruktur einer Gesellschaft eingerichtet sein muss, wenn sie allen Beteiligten gerechte Bedingungen für die Ausbildung und Entwicklung von Bedürfnissen, Präferenzen und Fähigkeiten bieten will.“55 Folgt man der Argumentation Hinschs, so gibt es noch einen weiteren guten Grund, vor allem aus Sicht der sozialen Demokratie, Einkommen und Vermögen Beachtung zu schenken. Zu diesem Zweck muss erneut ein vergleichender Blick auf die Theorien der liberalen und der sozialen Demokratie geworfen werden. Die Theorie der liberalen Demokratie geht in erster Linie von einem ‚negativen‘ Freiheitsbegriff aus, womit die Befreiung des Einzelnen von Zwang und Einmischung durch den Staat gemeint ist. Die Gesellschaftsmitglieder sollen in erster Linie freie, mit unveräußerlichen politischen Rechten ausgestattete Bürger sein. Der sozialdemokratische Freiheitsbegriff kann im Gegenzug als ein Begriff der ‚positiven‘ Freiheit bezeichnet werden, da hier, neben der Befreiung der Bürger von etwas, ihre Befähigung zu etwas im Vordergrund steht.56 Damit ist gemeint, dass der Einzelne in die Lage versetzt werden soll, im Rahmen der gemeinschaftlich verabredeten Gesellschaftsordnung gemäß seinen Interessen, Präferenzen und nicht zuletzt seinen Rechten tätig zu werden. Das Individuum soll befähigt werden, am sozialen und politischen Leben aktiv teilzuhaben. Und dazu bedarf es, wie mit Hinsch schon beschrieben, ausreichender materieller Sicherheit in Form von Einkommen oder Vermögen. In der britischen Sozialdemokratie ist das notwendige Zusammenwirken von negativer und positiver Freiheit ebenfalls erkannt worden und hat seinen Niederschlag in Grundsatzpapieren der Partei gefunden. So heißt es beipielsweise in einem Papier zu den Werten der Labour Party von 1994: „For socialists, personal dignity is not simply a matter of freedom from oppression, important though that is. People need to be able to enjoy liberty in reality and 55 56
30
ebenda. S. 10-11. Vgl. Berlin, Isaiah: Freiheit – Vier Versuche. Frankfurt 1995. S. 201-202, 211.
not just in theory. This is the route to promote self-realisation and overcome social division. So we believe in the positive freedom to do things as well as the negative freedom from things.”57 Der damalige Vorsitzende der Wiardi-Beckman-Stichting und spätere sozialdemokratische Ministerpräsident Joop Den Uyl beschrieb schon im Jahr 1951 in diesem Sinne den Freiheitsbegriff der niederländischen Sozialdemokratie: „Een vrij mens is enerzijds de mens wiens ontwikkeling als persoonlijkheid niet wordt belemmerd. (…) Het moet hem mogelijk zijn de gaven van verstand en hart te ontplooien. De omstandigheden waaronder hij als kind opgroeit en als volwassene leeft moeten daartoe dienstig zijn. Het positieve element van de vrijheid bestaat in het zich richten van de mens op deze zelfontplooiing en in evenwichtige mate op dienst aan de gemeenschap in opoffering en verantwoordlijkheid. De vrijheid in haar tweevoudige aspect kann slechts worden verzekerd in de gemeenschap. De georganiseerde samenleving is daarvoor een onafwijsbare voorwaarde.“58 Mit dem Hinweis auf das organisierte Zusammenleben spricht Den Uyl den maßgeblich von Sozialdemokraten forcierten Wohlfahrtsstaat an, der ein wichtiges Instrument bei der praktischen Umsetzung des komplexen sozialdemokratischen Freiheitsverständnisses ist. Die sich hieraus ergebende notwendige Thematisierung von Solidarität wird an späterer Stelle erfolgen. Es wurde an anderer Stelle schon erwähnt, dass klar definierte Gerechtigkeitsnormen für die Theorie der sozialen Demokratie von sehr großer Bedeutung sind. Denn sie bestimmen im demokratischen Miteinander die Spielregeln und sollen für einen im Rawlschen Sinne fairen Ausgleich der Interessen sorgen. Der Gerechtigkeit könnten daher im Rahmen der sozialen Demokratie mehrere Schlüsselfunktionen zugeordnet werden, so Meyer.59 Als erstes spricht der Autor von der regulativen Funktion von Gerechtigkeit, womit gemeint ist, dass Gerechtigkeit als Bezugsnorm für legitime politische Prozesse und Vorhaben dient. Dabei gelte diese Norm nicht als absolute Wahrheit. Sie werde vielmehr als eine prinzipiell konsensfähige Idee verstanden, auf die sich gesellschaftliche Gruppen und Parteien beziehen würden, wenn sie miteinander nach Lösungen und Antworten suchten.
57 58 59
Labour Party: Labour’s objects: Socialist values in the modern world. London 1994. S. 11. Den Uyl, Joop M.: De weg naar vrijheid - Een socialistisch perspectief. Partij van de Arbeid, Amsterdam, 1951. S. 9. Vgl. Meyer, Thomas. Bonn 2005. S. 35.
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Ebenfalls bedeutsam sei die integrierende Funktion von Gerechtigkeit: sie sei häufig der entscheidende soziale und politische Integrationsfaktor einer Gesellschaft. Die schwächeren und weniger begünstigten Gesellschaftsmitglieder würden erwarten, dass sie mit Hilfe von angewandten Gerechtigkeitsnormen eine Gesamtverbesserung ihrer Position in der Güter- und Arbeitsordnung erzielen könnten. Und die Bessergestellten der Gesellschaft benötigten genau diese Praktizierung von gemeinsam definierter Gerechtigkeit, da sie den Zusammenhalt der Gesellschaft in sozialer und politischer Hinsicht brauchen würden. Für die soziale Demokratie sei des Weiteren die orientierende Funktion von Gerechtigkeit sehr wichtig, denn sie liefere bedeutsame Maßstäbe, Kriterien und Orientierungshilfen für das soziale und politische Handeln. Hervorzuheben sei, dass in der sozialen Demokratie vorausgesetzt werde, „(…) dass eine Idee sozialer Gerechtigkeit als politische Gemeinschaftsorientierung anerkannt wird.“60 Meyer betont, dass die Gesellschaft zu einem Konsens fähig sein müsse, der besagt, dass sich alle Beteiligten der sozialen Gerechtigkeit verpflichten. Nur so könne sie als Leitfaden für politische Entscheidungen dienen. Eine vierte Funktion von Gerechtigkeit sieht Meyer in der Legitimation des politischen Systems in der Wahrnehmung der Bürger. Erst wenn alle Bürger die Möglichkeit hätten, die politischen Prozesse und ihre Ergebnisse als gerecht zu empfinden, könnten diese Prozesse und ihre Inhalte als legitim bezeichnet werden. So würden politische Ergebnisse nur dann Legitimation erlangen, wenn sie im Kontext des gesellschaftlichen Gerechtigkeitsdiskurses debattiert worden sind, und sich eine Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder für sie ausgesprochen hat.61 Zusammenfassend stellt der Autor fest: „Für soziale Demokratie sind konsensfähige Gerechtigkeitsnormen (…) unerlässlich. (…) Soziale Demokratie bedarf der öffentlichen Verständigung über Kriterien und Maßnahmen sozialer Gerechtigkeit.“62 An dieser Stelle kann wieder auf John Rawls zurückgegriffen werden, der in seinem Spätwerk ‚Politischer Liberalismus‘ seine in ‚Theorie der Gerechtigkeit‘ entwickelte Konzeption einer fairen und gerechten Bürgergesellschaft konkretisiert. Zwei grundlegende Vorstellungen stellt Rawls seiner Konzeption der Gerechtigkeit als Fairness hier an die Seite: zum einen die Idee des Bürgers als freier und gleicher Person, zum anderen die Idee der wohlgeordneten Gesellschaft, die, wie Meyer es für die soziale Demokratie ebenfalls als unerlässlich 60 61 62
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ebenda. S. 35-36. Vgl. ebenda. ebenda. S. 38.
erklärt, von einem öffentlich diskutierten politischen Gerechtigkeitsmodell wirksam strukturiert wird.63 Vor allem der Rawlschen Idee der wohlgeordneten Gesellschaft kommt aus sozialdemokratischer Sicht eine wichtige Bedeutung zu, da sie einige für sozialdemokratische Politik elementare Grundprinzipien benennt. Rawls definiert eine Gesellschaft als wohlgeordnet, wenn alle in ihr lebenden Bürger dieselben Gerechtigkeitsgrundsätze anerkennen, und alle voneinander wissen, dass sie dies tun. Des Weiteren sollte allgemein bekannt und anerkannt sein, dass die Grundstruktur der Gesellschaft tatsächlich diesen Gerechtigkeitsgrundsätzen entspricht. Hiermit ist gemeint, dass die entscheidenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Institutionen in ihrer Art, in der sie sich zu einem System der Kooperation zusammenschließen, diesen Grundsätzen gemäß angelegt sind und funktionieren. Hieraus folgt die Annahme, dass die Bürger einen an Hand der allgemein anerkannten Gerechtigkeitsnormen entwickelten Sinn für Gerechtigkeit haben und sich an die vereinbarten Grundsätze halten. Laut Rawls bildet in einer solchen Gesellschaft „(…) die öffentlich anerkannte Gerechtigkeitskonzeption eine gemeinsame Basis, von der aus die Ansprüche der Bürger an ihre Gesellschaft beurteilt werden können.“64 Eine Konzeption von Gerechtigkeit kann demnach Struktur stiften, sie kann Orientierung bieten und Handlungsmaßstäbe für alle Gesellschaftsmitglieder setzen. Doch zu allererst muss sie, und, dies betont der sozialdemokratische Theoretiker Thomas Meyer ausdrücklich, von allen Beteiligten als legitime Beurteilungsgrundlage für alle gesellschaftlichen Fragen angesehen werden.65 Zur Begründung der Bedeutung des Gerechtigkeitskonzeptes besonders für die soziale Demokratie schreibt er: „Seine politisch integrative und legitimierende Rolle kann das Gerechtigkeitskonzept unter bestimmten Bedingungen schon durch den plausiblen Anspruch seiner universalistischen Begründbarkeit gewinnen. Das gilt jedenfalls unter zwei Bedingungen: erstens, wenn die Beteiligten – in der politischen Realität eine ausreichend große Zahl von ihnen – tatsächlich von einer solchen konsensuellen Begründbarkeit ausgehen und sich im öffentlichen Diskurs mit ihren Argumenten und Handlungsvorschlägen an ihr orientieren; und zweitens, wenn über einen normativen Kern des Gerechtigkeitsbegriffs das Maß an Einvernehmen hergestellt werden kann, das bei allen in der Praxis strittigen Fragen den Rekurs aller auf ihn erlaubt.“66
63 64 65 66
Vgl. Rawls, John. Politischer Liberalismus. Frankfurt 1998. S. 105. ebenda. Vgl. Meyer, Thomas. Theorie der Sozialen Demokratie. Wiesbaden 2005. S. 146. ebenda. S. 145.
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In diesem Zusammenhang bemerkt Wolfgang Merkel jedoch, dass die Sozialdemokratie trotz der für sie großen Bedeutung einer Gerechtigkeitsphilosophie kein eigenes herausragendes Gerechtigkeitskonzept anzubieten habe, dass einem Vergleich mit den liberalen Konzepten von John Rawls, Ronald Dworkin oder Friedrich von Hayek standhalten könnte. Auch wenn eine Umverteilung des Besitzes sowie der Ausgleich von besonders ungleichen Marktergebnissen immer programmatisches Ziel der sozialdemokratischen Parteien gewesen sei, so habe sich dennoch keine übergeordnete und eigenständige sozialdemokratische Philosophie von Gerechtigkeit entwickelt.67 Wurden zu Beginn des Kapitels die von SPD und PvdA ausdrücklich und von der Labour Party implizit genannten sozialdemokratischen Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität als erste Ansatzpunkte genannt, so lässt sich auch jetzt daran anknüpfen. Im Verlauf der Ausführungen wurde viel über Freiheiten gesprochen, und auch der Begriff der Gerechtigkeit wurde ausgiebig und gemäß seiner großen Bedeutung für die soziale Demokratie diskutiert. In allen Theorien der Gerechtigkeit68 wird über Freiheiten, Rechte und gerechte Verteilung gesprochen, doch darüber hinaus muss bei der Beschäftigung mit der Theorie der sozialen Demokratie auch über Pflichten gesprochen werden. Eine stärkere Betonung von Pflichten findet sich beispielsweise im Konzept des Dritten Wegs der Sozialdemokratie gemäß der Auslegung Anthony Giddens.69 Dabei verstehen die Verfechter des Dritten Wegs dieses Konzept als neuen Impulsgeber für die Theorie der sozialen Demokratie, da mit ihm sowohl eine Abgrenzung vom Etatismus der klassischen Sozialdemokratie als auch eine Distanzierung vom neoliberalen Ökonomismus betrieben wird.70 Festzuhalten sei aber trotz alledem, dass in den unterschiedlichen Ansätzen zur sozialen De67
68
69 70
34
Vgl. Merkel, Wolfgang: Die Sozialdemokratie vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts: Politische Handlungsräume und soziale Gerechtigkeit. In: Schroeder, Wolfgang (Hrsg.): Neue Balance zwischen Mark und Staat? Sozialdemokratische Reformstrategien in Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Schwalbach/Ts. 2001. S. 77. Thomas Meyer gibt einen kurzen Überblick über vier unterschiedliche Grundtypen von Gerechtigkeitstheorie in seiner „Theorie der Sozialen Demokratie“, unter denen sich die aktuelle Debatte subsumieren lasse. Als namhafteste Vertreter nennt er John Rawls, Michael Walzer, Ronald Dworkin und Jürgen Habermas. Sie alle würden die Prämissen des egalitären Gerechtigkeitsverständnisses der liberalen Tradition miteinander teilen. Gleichzeitig würden alle Autoren der Dimension des positiven Freiheitsbegriffes eine gleichrangige Bedeutung beimessen. Vgl. Ebenda. S. 153 – 156. Vgl. Giddens, Anthony: Der dritte Weg – Die Erneuerung der sozialen Demokratie. Frankfurt 1999. S. 81. Vgl. Vorländer, Hans: Dritter Weg und Kommunitarismus. In: Hirscher, Gerhard/Sturm, Roland (Hrsg.): Die Strategie des „Dritten Weges“ – Legitimation und Praxis sozialdemokratischer Regierungspolitik. München 2001. S. 16.
mokratie allzu häufig auf Rechte und Gerechtigkeit allein Bezug genommen worden sei, so dass deren Verhältnis zu den politischen und sozialen Grundpflichten vernachlässigt worden sei.71 An dieser Stelle wird eine Verbindung zum Ruf nach Solidarität erkennbar, ohne den ein sozialdemokratisches Gerechtigkeitskonzept unvollständig wäre. Der Begriff der Solidarität hat als Teil des sozialdemokratischen Dreiklangs immer noch, oder vielleicht sogar mehr denn je, eine herausgehobene Bedeutung sowohl für die Theorie als auch für die Praxis sozialdemokratischer Politik. Denn im Solidaritätsbegriff findet sich ein implizierter Aufruf zur Wahrnehmung von Pflichten, der in der politischen Realität eines entwickelten Wohlfahrtsstaates aus sozialdemokratischer Sicht von großer Bedeutung ist. Schon im Vorfeld der Entstehung des modernen Wohlfahrtsstaates war das Wechselspiel von Rechten und Pflichten Thema in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Bei der Betrachtung der Entwicklung sozialdemokratischer Bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert fällt, im Besonderen das Binnenverhältnis dieser Organisationen betreffend, auf, dass den Grundrechten immer auch deutlich postulierte Grundpflichten gegenüberstanden. Gelebte Solidarität war in der Sozialdemokratie von Beginn an wichtiger Bestandteil des organisationsinternen Miteinanders: „Solidarität (war) nie bloß ein hehres moralisches Prinzip, sondern immer auch eine konkret an das Eigeninteresse gebundene Handlungsmaxime, so wenn die Starken auch für die Schwachen kämpften, indem sie ihre eigenen Interessen zum Beispiel bei Lohnkämpfen durchsetzten. Solidarität konnte deshalb als eine Form der Verbundenheit gelten, die auf die Verminderung von Ungleichheit gerichtet war“72, so die Historikerin Helga Grebing. Innerhalb der Sozialdemokratie wurde und wird Solidarität als eine doppelseitige Verpflichtung verstanden: die Gemeinschaft hat eine Pflicht gegenüber dem Einzelnen, aber der Einzelne hat auch eine Pflicht gegenüber der Gemeinschaft. Dieser Gedanke ist konstitutiv für das sozialdemokratische Gesellschaftsbild und ebenfalls für den entwickelten Wohlfahrtsstaat. Die sozialen Sicherungssysteme brauchen eine gesunde Ausbalancierung von Rechten und Pflichten, damit sie ihren Aufgaben gerecht werden können. Der Philosoph Ronald Dworkin erläutert dies in seinem Werk ‚Souvereign Virtue‘. Ausgangspunkt ist hierbei ein akteurstheoretischer Ansatz, der die Chancen und Möglichkeiten aus der Sicht der einzelnen Bürger beleuch71 72
Vgl. Meyer, Thomas. In: perspektiven ds Heft1 2004. S. 9. Grebing, Helga. 2004. S. 16.
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tet.73 Laut Dworkin ist es Pflicht des Einzelnen, sich nach besten Möglichkeiten eigenverantwortlich selbst zu helfen, vorrangig vor den ebenfalls vorhandenen Rechten jedes einzelnen Bürgers. Dworkin argumentiert, dass diejenigen, die ungewollt und ohne Selbstverschulden unter bestimmten Einschränkungen zu leiden hätten, ein Recht auf Abhilfe durch die Gemeinschaft hätten. Im Gegenzug müssten sich aber diejenigen, die unzufrieden mit ihrer Situation oder bestimmten Umständen seien, diese aber selbst herbeigeführt und somit zu verantworten hätten, sich selbst helfen und dürften nicht an die Solidarität der Gemeinschaft appellieren.74 Ohne gelebte Solidarität lassen sich Freiheit und Gleichheit nach sozialdemokratischer Lesart demnach nicht umsetzen. Paul Kalma, einer der Vordenker der PvdA, spricht der Solidarität eine wichtige Funktion zu, da sie als Teil der sozialdemokratischen Grundwertetrias stimulierend und regulierend in der Gesellschaft wirken kann. „Ze (die Solidarität) is in instrumenteel opzicht van belang: als mobilisatienmiddel in de strijd voor een samenleving waarin gelijkheid en vrijheid beter tot hun recht zullen komen en ook als beginsel zonder welke de belangrijkste politieke vraagstukken van de komende tijd niet tot het begin van een oplossing zullen kommen (…).“75 Nachdem nun das Grundwertespektrum der sozialen Demokratie anhand der klassischen Grundwertetrias Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität analysiert worden ist gilt es, zu den am Anfang des Kapitels gestellten Fragen zurückzukehren. Nach intensiver Betrachtung der wertetheoretischen Grundlagen der sozialdemokratischen Programmatik kann man durchaus von einer gemeinsamen Historie der Grundwerte der drei untersuchten sozialdemokratischen Parteien sprechen. Die Theorie der liberalen Demokratie hat mit ihren Vorstellungen einer freien und gerechten Gesellschaft die ideologische Vorlage geliefert, auf deren Hintergrund die weitergehenden Ideale der sozialen Demokratie entwickelt werden konnten. Sozialistische Ideen haben die konkrete Ausprägung der sozialdemokratischen Grundwerte mitbestimmt, wie besonders am Beispiel der Labour Party deutlich geworden ist. Die praktische Realisierung von gleicher Gerechtigkeit und Freiheit für jedes Gesellschaftsmitglied, die besonderen Rechte und Pflichten der sozialen Staatsbürgerschaft, die fortwährenden Diskussionen um die Funktionen und
73 74 75
36
Vgl. Dworkin, Ronald. Sovereign Virtue: The Theory and Practice of Equality. Cambridge, Mass. 2000. Vgl. ebenda. S. 287-291. Kalma, Paul. Amsterdam 2004. S. 114.
Maßstäbe von Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität sind, so wie in diesem Kapitel erläutert, grundsätzliche Thematiken aller drei sozialdemokratischen Parteien. Die drei betrachteten Parteien teilen, wie nicht zuletzt anhand der ‚Declaration of Principles’ der Sozialistischen Internationalen deutlich wird, grundsätzlich dieselben Werte, und haben diese auch in sehr ähnlicher Form in ihre Programme und Verfassungen aufgenomen. Jedoch lässt sich hieraus nicht ableiten, dass den Konzepten von SPD, PvdA und Labour Party ein allgemeines, sozialdemokratisches Modell zugrunde liegen würde. Es wird im Verlauf der Arbeit noch zu untersuchen sein, auf welche Art und Weise die betrachteten Parteien ihre jeweiligen programmatischen Leitbilder an ihren grundsätzlichen Wertvorstellungen ausgerichtet haben beziehungsweise ausrichten. Die theoretisch-programmatischen Grundlagen mögen annähernd dieselben sein, doch das hieraus jeweils abgeleitete sozialdemokratische Modell kann unterschiedlich aussehen. Es scheint fraglich, ob es ein Grundmodell der sozialen Demokratie gibt, da, wie noch zu zeigen sein wird, die sozialdemokratischen Parteien in ihren jeweiligen Kontexten und unter sich ändernden Umständen eventuell zu durchaus konträren Politikmodellen greifen. Der Politikwissenschaftler Walter Dean Burnham spricht davon, dass es kein sozialdemokratisches Modell für alle Zeiten und Umstände gebe. Nach Burnham sind die unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Umstände entscheidend für die Entstehung und Veränderung der Modelle.76 So kann festgehalten werden, dass es eine Theorie der sozialen Demokratie gibt, die ideologische Eckpfeiler für SPD, PvdA und Labour Party bereit hält und die Eingang gefunden hat in die Grundwerteaussagen der jeweiligen Parteiprogramme. Die Grundsätze dieser Theorie sind analysiert worden, und in der Tat stellen diese eindeutige Gemeinsamkeiten der drei Parteien dar. Die Frage nach den darüber hinaus gehenden programmatischen Ausprägungen potentieller sozialdemokratischer Modelle lässt sich jedoch an dieser Stelle nicht beantworten und bedarf weiterer Untersuchungen in den folgenden Kapiteln.
76
Vgl. Burnham, Walter Dean: Woher kommt und wohin treibt die Sozialdemokratie?. In: Borchert, Jens/Golsch, Lutz/Jun, Uwe/Lösche, Peter (Hrsg.): Das sozialdemokratische Modell – Organisationsstrukturen und Politikinhalte im Wandel. Opladen 1996. S. 36-37.
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1.2.
Stand der Debatte
Zum Schluss noch ein paar Worte zur aktuellen Diskussion über sozialdemokratische Modelle zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Bevor in Kapitel III. 1.2. die viel diskutierten Niedergangstheorien zur Sozialdemokratie und ihre Gegenentwürfe dargestellt werden, soll an dieser Stelle schon ein kurzer Überblick über die unterschiedlichen Beurteilungen sozialdemokratischer Programmatik in der jüngsten Vergangenheit gegeben werden. Die Meinungen sind zwar, wie nicht anders zu erwarten ist, geteilt, was die Einteilung sozialdemokratischer Politik in Erfolge und Misserfolge betrifft. Doch es überwiegt die Einschätzung, dass sozialdemokratische Parteien wie SPD, PvdA und Labour Party ein Defizit bei der kreativen Gestaltung politischer Visionen haben, was schließlich grundlegend für die Notwendigkeit einer aktiven Weiterentwicklung eines sozialdemokratischen Modells wäre. Die sozialdemokratische Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan, die aktiv bei der Gestaltung des Hamburger Programms der SPD aus dem Jahr 2007 mitarbeitete, bemerkte in diesem Zusammenhang, dass das Festhalten an alten Rollenbildern und traditionellen Mustern der Sozialdemokratie keine ausreichende Basis für die Gestaltung sozialdemokratischer Politik im 21. Jahrhundert bilde. Schwan plädierte im Vorfeld des Hamburger SPD-Parteitages 2007 für eine Orientierung an den Konzepten der „Good Governance“ im Sinne einer transparenten und bürgernahen Politik. „Wenn die Sozialdemokratie also in ihren Überlegungen zu einem neuen Grundsatzprogramm nach Wegen sucht, die soziale Demokratie angesichts der globalen Wirtschaft und der Entmachtung nationalstaatlicher Politik weiterzuentwickeln und neue Governance-Konzepte sowohl auf europäischer als auch auf globaler Ebene zu entwerfen und auszuhandeln, dann befindet sie sich nicht nur in der Tradition ihrer Geschichte und des Godesberger Programms, sondern auch auf der Höhe der internationalen Diskussion über die Gestaltung der kapitalistischen Marktwirtschaft zugunsten der unabdingbaren öffentlichen Güter.“77 Damit stellt sie sich optimistisch in die Reihe derer, die es als reale Chance betrachten, mit neuen Programmatiken wie dem Hamburger Programm auch neue sozialdemokratische Modelle zu kreieren. In dieselbe Richtung zielen Aussagen des Historikers Jürgen Kocka, der in Bezug auf das neue Grundsatzprogramm der SPD von einem positiven 77
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Schwan, Gesine: Good Governance als programmatischer Baustein. In: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte: NG/FH 54 2007. Heft 4. S. 11.
Paradigmenwechsel spricht.78 Er benennt in seinem Artikel die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, und politischen Herausforderungen der Zukunft und betont, dass diese Aufgaben ohne eine starke Sozialdemokratie nicht bewältigt werden können. Die Sozialdemokratie sei auf Grund ihrer Geschichte und mit einem neuen Programm ausgestattet geradezu prädestiniert dafür, diese Herausforderungen produktiv anzugehen.79 In Großbritannien plädierte der ehemalige stellvertretende Vorsitzende der Labour Party, Roy Hattersley, im Jahr 2006 dafür, dass in einer Phase der aufkommenden Orientierungslosigkeit am Ende der Ära Blair das 1956 von Anthony Crosland geschriebene Buch „The Future of Socialism“ erneut gelesen werden sollte. Die Labour Party sei dabei, sich nach den Erfahrungen mit der pragmatischen und liberalen Politik von New Labour unter Blair wieder verstärkt um ihre politischen Prinzipien und Grundwerte zu sorgen, und hierbei könnte das 50 Jahre alte Werk von Crosland immer noch Hilfestellung bieten.80 Ganz anders der Soziologe Anthony Giddens, seines Zeichens Vordenker des Dritten Weges von New Labour in den 1990er Jahren. Giddens sieht das Konzept des Dritten Weges auch im 21. Jahrhundert als entscheidende Stütze sozialdemokratischer Modelle. Er spricht zwar von der Notwendigkeit einer Neuformulierung des Solidaritätsgedankens in Zeiten der globalisierten Gesellschaften, betrachtet jedoch die britische Sozialdemokratie mit der Theorie des Dritte Weges als nach wie vor gut gerüstet für zukünftige Herausforderungen.81 Ein düsteres Bild von den Folgen der sozialdemokratischen Bewegungen hin zur ‚Neuen Mitte’ unter zu Hilfenahme der Theorie des Dritten Wegs zeichnet der Journalist Stefan Reinecke.82 Er spricht von den ‚Neosozialdemokraten’ um Blair und Schröder und davon, dass die Kernideen dieser Neosozialdemokraten – mehr Bildung, weniger Umverteilung, mehr Markt, weniger Staat – mit der Theorie des Dritten Weges lediglich rhetorisch ‚aufgehübscht’ worden seien. 78 79 80 81 82
Vgl. Kocka, Jürgen: Der Zukunft zugewandt: Um Deutschland für die Zukunft fit zu machen, braucht es einen Paradigmenwechsel. Die SPD hat sich mit ihrem neuen Grundsatzprogramm dieser Herausforderung gestellt. In: Die Tageszeitung 09.11.2007. S. 11. Vgl. ebenda. Vgl. Hattersley, Roy: To imagine Labour’s future, rewind 50 years. In: The Times (London) 15.09.2006. S. 21. Vgl. Giddens, Anthony: Wir brauchen neue Formen der Solidarität. In: Tages-Anzeiger vom 31.12.2004. S. 5. Vgl. Reinecke, Stefan: Der Dritte Weg in die Sackgasse: Wer die SPD verstehen will, muss nach Schweden und Großbritannien schauen. Die Neosozialdemokraten sind in der Krise. Auch deshalb war Becks Kurskorrektur überfällig. In: Die Tageszeitung 30.10.2007. S. 12.
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Doch nach den Erfolgen in den 1990er Jahren und direkt zu Beginn des neuen Jahrhunderts seien viele einstmals erfolgreiche sozialdemokratische Projekte gescheitert oder zumindest in den Regierungen nicht mehr so stark vertreten. „Diese Krise der europäischen Sozialdemokraten ist kein Zufall. Ihre Versprechungen sind vor der Wirklichkeit blamiert. Sie haben ihre Rolle als Hüter sozialer Gerechtigkeit aufgegeben, ohne diese Leerstelle anders zu füllen. (…) Der Neosozialdemokratismus scheint in Westeuropa, nach gut zehn Jahren, ein Auslaufmodell zu sein.“83 Gleichzeitig stellt Reinecke fest, dass es noch kein tragfähiges sozialdemokratisches Modell für die heutige Zeit nach dem Ende der Blair- beziehungsweise Schröder-Ära gibt. „Das Motto der Postneosozialdemokraten scheint nun zu sein: Es gibt Alternativen, auch wenn wir noch nicht genau wissen, welche.“84 Ein anderer prominenter Kenner und Kritiker der europäischen Sozialdemokratie, der Politologe Franz Walter, spricht in verschiedenen Beiträgen im Fall der SPD recht drastisch von Sinnverlust und Identitätsunsicherheiten zu Beginn des 21. Jahrhunderts.85 Laut Walter sind die deutschen Sozialdemokraten in zwei Lager eingeteilt: auf der einen Seite stehen die Anhänger und Befürworter des deutschen Dritten Wegs in Form der Agenda 2010, die sich größtenteils vom sozialdemokratischen ideologischen Traditionsgut verabschiedet haben und sich liberaleren und aus dem bürgerlichen Lager entlehnten politischen Interpretationen und Handlungsmustern angenähert haben. Auf der anderen Seite finden sich diejenigen Sozialdemokraten, die an eben diesem Traditionsgut festhalten wollen, und für die traditionelle Deutungen und Versprechungen des klassischen Sozialismus noch relevant und attraktiv sind.86 In einem anderen Artikel spricht Walter davon, dass es nach der Regierungszeit Gerhard Schröders und während der Beteiligung der SPD an der aktuellen großen Koalition erst recht kein stimmiges Bild eines sozialdemokratischen Modells geben könnte, das Widerklang in der politischen Realität finden würde. „Wir begegnen wieder einmal dem klassischen Zwiespalt der Sozialdemokratie, die nicht recht weiß, ob sie die obwaltenden Verhältnisse mögen darf, weil sie sie selbst mitgeformt hat, oder die herrschenden Zustände bekämpfen
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ebenda. ebenda. Vgl. Walter, Franz: Jenseits der SPD – Die Sozialdemokratie nach Schröder. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 49 (2004). Heft 5. S. 556. Vgl. ebenda. S. 555 – 556.
sollte, weil das Ergebnis ihres politischen Handelns um Längen hinter dem Ideal zurückgeblieben ist.“87 Die SPD scheint nicht in der Lage zu sein, in programmatischer Theorie und regierungsverantwortlicher Praxis mit einem kohärenten Modell aufzuwarten. Vielmehr erweckt die SPD, wie in ähnlichem Maße auch die britische Labour Party, den Anschein, dass die Partei und ihre Mitglieder nach Jahren dominanter Regierungsbeteiligung ideologisch orientierungsloser sind als zuvor in Oppositionszeiten. Franz Walter geht sogar noch einen Schritt weiter: er bezeichnet die SPD als eine Partei, die grundsätzlich ohne Bilder und Träume in programmatischen Fragen sei. Die deutschen Sozialdemokraten seien unfähig zur Utopie: „Ihnen fehlte es gänzlich an Imagination, an kreativen Sinn und Vorstellungskraft für das utopische Bild. Die Bilderarmut, ja das Farblose ist das typische für die lange sozialdemokratische Geschichte soliden, grundständigen Facharbeitertums.“88 Aus dem Erbe des mit strenger Wissenschaftlichkeit betriebenen Marxismus leite sich diese Fokussierung auf die praktische und pragmatische Gestaltung von Politik ab, so Walter. Freiheit sei die Einsicht in die Notwendigkeit, so formulierte es Friedrich Engels und so konnte man es auch bei Franz Müntefering des Öfteren hören. Walter bemängelt, dass sich die Sozialdemokraten in Deutschland meist von vermeintlichen Sachzwängen und realpolitischen Alternativlosigkeiten hätten treiben lassen. „Es ist der jeweils pure Empirismus, der die Sozialdemokraten treibt und sie oft genug zum Gefangenen einer – dann meist von anderen – dominant gedeuteten „Realität“ macht. Illusionen, Träume, Passionen, die utopische Skizze – nichts davon gehört zur mehrheitlichen Ausstattung der deutschen Sozialdemokratie.“89 Einen Mangel an Visionen und Träumen, diesmal in Bezug auf die niederländische PvdA, kritisiert auch der Sozialdemokrat Adri Duivesteijn, der als prominenter Fachdezernent der Stadt Almere selbst aktiv Politik macht. In seinem Beitrag für das sozialdemokratische Monatsheft ‚Socialisme & Democratie’ aus dem Jahr 2007 geht er hart mit der PvdA ins Gericht. Er bemängelt, dass die 87 88 89
Walter, Franz: Zwiespalt im Seelenhaushalt. In. Frankfurter Allgemeine Zeitung 07.04.2008. Nr. 81. S. 8. Walter, Franz: Partei ohne Bilder und Träume. In: Spiegel Online 23.07.2007. www.einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/81/partei_ohne_bilder_und_traeume. html ebenda.
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Pvda im Moment über keine stimmige Ideologie verfüge, dass es nach vielen progressiven und pragmatischen inhaltlichen Politikwechseln kein klar erkennbares Profil mehr gäbe.90 „Daarmee is de PvdA in een ideologisch vacuüm terechtgekommen. Ze is geen echte sociaal-democratische partij meer, noch is ze een progressief liberale partij. Maar wat is ze dan wel? Hoe trots kun je nog zijn op de PvdA als die geen eenduidigheid in haar identiteit kann bieden?“91 Laut Duivesteijn ist kein klares sozialdemokratisches Modell in Form von grundsätzlichen programmatischen Aussagen bei der PvdA erkennbar. Die Partei sei orientierungs- und ideenlos, und benötige eine erneute Diskussion über ihre politischen Grundwerte und Ziele. „Anno 2007 staat de PvdA opnieuw voor de opgave om te komen tot een inhoudelijke vernieuwing van haar beginselen en vooral tot een vertaling daarvan naar actuele en toekomstige maatschappelijke vraagstukken.“92 Diese sehr pessimistisch gehaltenen Einschätzungen bieten viel Angriffsfläche für kritischen Widerspruch, doch benennen sie ein Kernproblem vieler westeuropäischer Sozialdemokratien zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die sozialdemokratischen Modelle sind vielerorts ausgehöhlt vor dem Hintergrund konkreter Regierungspolitik, die alten Inhalte bieten nicht mehr das notwendige Rüstzeug, um politische Visionen zu beflügeln oder zumindest erneut Identität zu stiften. Parteien wie die SPD in Deutschland, die Labour Party in Großbritannien und die PvdA in den Niederlanden tun sich spürbar schwer, sich programmatisch so neu aufzustellen, dass sie politisch überzeugend und wählbar erscheinen. Die eigenen Anhänger wenden sich in großer Anzahl ab, da sie häufig keine gemeinsamen Werte und Halt gebenden ideologischen Antworten mehr finden. Vielmehr suchen sie diese, wie im Fall der SPD und der PvdA, bei anderen Parteien links der Sozialdemokratie, oder wenden sich, wie im Fall der Labour Party, enttäuscht dem in die politische Mitte gerückten bürgerlichen Lager zu. Grundsätzlich stellt sich somit die Frage nach der Rolle von sozialdemokratischen Parteien gegen Ende des abgelaufenen 20. beziehungsweise zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Eine ausführlichere Darstellung der Debatten zu diesem Thema wird in Kapitel III. 1. erfolgen. Dort wird der Wandel der Grundlagen für sozialdemokratische Politik ebenso zur Sprache kommen wie die un-
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Vgl. Duivesteijn, Adri: Zonder dromen geen kiezers. In: Socialisme & Democratie. Heft 7/8 2007. S. 27–28. ebenda. S. 28. ebenda. S. 29.
terschiedlichen Apologeten des Niedergangs beziehungsweise des zukünftigen Aufstiegs der Sozialdemokratie.
2.)
Parteiprogramme: Funktion und Stellenwert
An dieser Stelle werden einige Betrachtungen zu Parteiprogrammen im Allgemeinen angestellt werden, sowie im Besonderen in Bezug auf ihre Bedeutung für die Sozialdemokratie. Parteiprogramme spielen im weiteren Verlauf der Untersuchungen eine zentrale Rolle, da die Analyse der Neustrukturierung ideologischer Leitlinien sozialdemokratischer Parteien im Mittelpunkt steht, welche sich zu großen Teilen in den Parteiprogrammen manifestiert. Bevor jedoch auf Parteiprogramme im Besonderen eingegangen wird, erscheint es sinnvoll, sich zuerst mit der Idee von Parteien an sich zu beschäftigen. Welche Rolle spielen diese in der modernen Demokratie, und was benötigen sie, um dieser Rolle gerecht zu werden? Zu Beginn muss geklärt werden, von welchen Vorstellungen von Parteien man bei der Analyse ihrer Programmatiken ausgeht. Dass der politische Gestaltungswille, welcher in Prinzipien und Programmen zum Ausdruck kommt, zu den Wesensmerkmalen von allen Parteien gehört, ist unbestritten.93 Wenn es jedoch um die Gewichtung der Programmatik geht, so existieren unterschiedliche Sichtweisen beziehungsweise Kategorisierungen von politischen Parteien. Allgemein wird von zwei unterschiedlichen Grundtypen von politischen Parteien ausgegangen. Max Weber spricht dabei von einer idealtypischen Unterscheidung zwischen Weltanschauungs- und Approbationsparteien.94 Selbiges meint Klaus-Jürgen Scherer, wenn er von Angebots- und Nachfragemodell spricht. Eine Weltanschauungspartei bietet dem Wähler eine eigenständige programmatische Gemeinwohlalternative an und wirbt hierfür um mehrheitliche Zustimmung. Bei einer Appropationspartei geht es gemäß dem Begriff des Nachfragemodells lediglich um eine Optimierung des Wählerstimmenanteils,
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Vgl. Klingeman, Hans-Dieter/Volkens, Andrea: Struktur und Entwicklung von Wahlprogrammen in der Bundesrepublik Deutschland 1949 – 1998. In: Gabriel, Oscar W./Niedermayer, Oskar/Stöss, Richard (Hrsg.): Parteiendemokratie in Deutschland. Bonn 2001. S. 508. Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen 1976. S. 167 – 168.
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wobei die Programmatik nahezu beliebig ist und nur dem Ziel der Maximierung von Stimmen dient.95 Klingemann/Volkens sprechen in diesem Zusammenhang von Programm- und Mitgliederparteien in Abgrenzung zu reinen Wettbewerbsparteien. Bei Programmparteien gehen sie von einer ‚policy-seeking’-Perspektive aus, womit gemeint ist, dass die Programmarbeit von politischen Prinzipien und Interessen geprägt ist. Diese entwickeln sich in den sozialen Gruppen, die Identitätsgeber für die Partei und ihre Mitglieder sind. Somit steht die vereinte Programmarbeit der politischen Gemeinschaft im Vordergrund, die nach demokratischen Regeln abläuft und im Endeffekt wichtiger ist als das Gewinnen von Wahlen. Im Gegensatz dazu ist es bei einer Wettbewerbspartei erklärtermaßen primäres Ziel, Wahlen zu gewinnen und dadurch Machtpositionen in Staat und Gesellschaft zu erringen. Programmatik wird, wie schon bei Weber beschrieben, lediglich als Instrument zur Maximierung des Stimmenanteils eingesetzt. Die jeweilige Führungsriege der Partei nimmt diejenigen Aspekte der Wünsche und Forderungen der Bürger in ihr Programm auf, die zur Steigerung ihrer Wahlchancen am ehesten beitragen. Politische Überzeugungen der Parteimitglieder oder inhaltliche Kontroversen zwischen Mitgliedern sind zu vernachlässigen wenn nicht sogar zu ignorieren.96 Grundsätzlich muss jedoch festgehalten werden, dass diese Einteilung in zwei derartige Idealtypen in der Realität so gut wie kaum zu finden ist. Letztendlich streben alle Parteien danach, möglichst viele Wählerstimmen auf sich zu vereinen und dabei nicht an deutlich erkennbarem programmatischem Profil zu verlieren. Gänzlich auf programmatische Inhalte zu verzichten kann sich keine Partei leisten, da sich langfristig sonst keine nennenswerten Erfolge erzielen lassen. Die idealtypische Einteilung der Parteien gemäß der eben genannten Prinzipien lässt aber den Schluss zu, dass die Gewichtung zwischen dem Ziel der reinen Stimmenmehrung auf der einen Seite und dem Streben nach einem demokratisch erarbeiteten nachhaltigen Programm auf der anderen Seite durchaus unterschiedlich ausfallen kann. Die Politik der Programmparteien richtet sich demnach an ihren politischen Werten und Prinzipien aus, die, idealerweise von den Mitgliedern erarbeitet, in Parteiprogrammen nachzulesen sind. Eine Wettbewerbspartei besitzt zwar in der Regel ebenfalls Programme, doch orien-
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Vgl. Scherer, Klaus-Jürgen: Grundwerte, Ideen und Politik in der Programmatik der Modernen Sozialdemokratie. In: perspektiven ds. Heft 1 2006. S. 147. Vgl. Klingeman, Hans-Dieter /Volkens, Andrea. Bonn 2001. S. 509.
tieren sich diese inhaltlich vor allem an wahltaktischen Erwägungen, was die Relevanz der Programme in der politischen Praxis schmälert.97 In der demokratischen Realität des Parteienwettbewerbs ist jedoch die Fluktuation der einzelnen Parteien zwischen den beiden beschriebenen Typen die Regel, so stellt Anthony Downs schon 1957 fest. Downs nahm an, dass alle Parteien das Ziel der Stimmenmaximierung verfolgen, und es demnach an sinnvollsten sei, sich in einer mittleren Position innerhalb der Gesellschaft zu befinden und somit Elemente von beiden der soeben beschriebenen Idealtypen zu vereinen. Programme seien notwendig, doch müsste der ideologische Inhalt flexibel genug sein, um ihn einer breitmöglichsten Masse von Wählern anzubieten. Folgerichtig bezeichnet Downs derart aufgestellte Parteien als ‚catch-all’parties.98 Nach dieser ersten Unterscheidung nach Parteitypen schließt sich die Frage nach der generellen Bedeutung von Parteien an. Welche Aufgaben und Funktionen haben Parteien im demokratischen Staat, welche Rolle können sie darin spielen? Betrachtet man die Parteienforschung und die sich mit Parteien beschäftigende Literatur, so werden in den meisten Fällen vier Funktionen von Parteien im demokratischen System genannt. Erstens wird von einer Zielfindungsfunktion gesprochen. Damit ist die Entwicklung und Implementierung von Ideologien und Programmatiken gemeint. Zweitens wird den Parteien die Funktion der Artikulation und Aggregation von gesellschaftlichen Interessen zugewiesen. An dritter Stelle wird die Funktion als Mobilisator genannt: hierbei geht es um die generelle Mobilisierung und Sozialisierung der Bürger im politischen und gesellschaftlichen System, nicht zuletzt in Wahlkampfzeiten. Bei der vierten Funktion geht es um Elitenrekrutierungs- und um die Regierungsbildungsfunktion.99 Für die vorliegende Arbeit ist besonders die an erster Stelle genannte Zielfindungsfunktion relevant, da hier die grundlegenden Ideologien und Programmatiken angesprochen werden, deren Entwicklung bei den drei sozialdemokratischen Parteien verglichen werden soll. Darüber hinaus kann man sagen, dass eine fundierte Programmatik idealtypischerweise die Ausübung der weiteren Funktionen von Parteien überhaupt erst ermöglicht, womit wir bei einer
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Vgl. ebenda. Vgl. Downs, Anthony: An Economic Theory of Democracy. New York 1957. Vgl. Beyme, Klaus von: Funktionenwandel der Parteien in der Entwicklung von der Massenmitgliederpartei zur Partei der Berufspolitiker. In: Gabriel, Oscar W./Niedermayer, Oskar/Stöss, Richard (Hrsg.): Parteiendemokratie in Deutschland. Bonn 2001. S.317.
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ersten bedeutsamen Funktion von Parteiprogrammen angelangt wären: der Identitätsschaffung. Bevor jedoch über diese wichtige Funktion von in erster Linie Grundsatzprogrammen gesprochen wird, ist es notwendig, auch andere Programmformen zu betrachten. Systematisch kann unterschieden werden zwischen Wahl-, Aktions-, und Grundsatzprogrammen.100 In Wahlprogrammen geht es in erster Linie darum, den Bürgern in einem Wahlkampf konkrete politische Angebote zu unterbreiten, sie also von einer bestimmten Art der politischen Problemlösung zu überzeugen. Sie haben insofern eine nach außen gerichtete Funktion. Darüber hinaus werden hier die für die nächste Legislaturperiode relevanten Themen sowohl der Innen- als auch der Außenpolitik behandelt, und es werden Handlungsperspektiven aufgezeigt. Die Antworten und Lösungsansätze, die solche Wahlprogramme liefern, ermöglichen es dem Wähler anschließend nach der Wahl, die Parteien an ihren eigenen Maßstäben zu messen. In diesem Zusammenhang spricht man von der Funktion der Praxisanleitung oder der funktionalen Bereitstellung einer Operationsbasis. Aktionsprogramme befassen sich hingegen lediglich mit einem eingegrenzten politischen Bereich oder Thema, zu welchem dann Zielvorstellungen und Handlungsoptionen beziehungsweise Lösungsvorschläge präsentiert werden. Sie können zu jeder Zeit geschrieben werden und sind demnach nicht zwangsläufig an Wahlterminen ausgerichtet. Ihre vorrangige Funktion besteht darin, eine Praxisanleitung zu liefern. Grundsatzprogramme greifen im Vergleich zu Wahl- und Aktionsprogrammen wesentlich weiter, sie besitzen häufig Gültigkeit über viele Jahre und Jahrzehnte hinweg. Hier werden politische Prinzipien und grundsätzliche Werte manifestiert und langfristige politische Orientierungen angelegt. Grundsatzprogramme sind dementsprechend stark nach innen gerichtet, da ihre primäre Aufgabe die Identitätsstiftung für die Partei ist.101 Die schon erwähnte Zielfindungsfunktion kommt demnach vor allem durch die Grundsatzprogramme von Parteien zum Ausdruck, wobei ein erstes Ziel immer die Schaffung einer gemeinsamen Identität ist. Der niederländische Politikwissenschaftler Bart Tromp spricht genau hiervon in seinem Werk „Het sociaal-democratisch programma“ und formuliert seine Annahme „dat de 100 Vgl. Klingeman, Hans-Dieter /Volkens, Andrea. Bonn 2001. S. 513. 101 Vgl. ebenda.
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ideologische identiteit van een politieke partij het scherpst tot uiting komt in de beginselprogramma’s die deze partij vaststelt“, wobei er daraus den Schluss zieht „(…) dat dientengevolge een studie van opeenvolgende beginselprogramma’s de beste manier is om veranderingen in die identiteit in kaart te brengen.“102 Der Politikwissenschaftler und ehemalige Vorsitzende der PvdA, Ruud Koole, betont ebenfalls diese wichtige Funktion von Grundsatzprogrammen, wobei er in Bezug auf sie von einem ‚stroomlijnings-instrument’ spricht.103 „De opstelling van beginselprogramma’s kan er toe bijdragen de ’interne vitaliteit’ van de partij te versterken, door de cohesie in de gedachtenvorming te vergroten en de leden bij de partij te betrekken.“104 Hieraus leitet Koole eine weitere Verwendungsmöglichkeit von Grundsatzprogrammen ab, denn wenn einmal die gemeinsame Identität gefunden und in Programmform festgehalten worden sei, könne diese Identität jetzt unter Zuhilfenahme des Programms plakativ nach außen transportiert werden. Besonders im direkten Anschluss an seine Aufstellung könne ein Grundsatzprogramm viel zur äußeren Profil- und Identitätsbildung beitragen: es fungiere als ’Visitenkarte’ der Partei.105 Die diesen Argumentationen zu Grunde liegende Manifestierung einer grundlegenden kollektiven Identität erfolgt, indem gemeinsame Erfahrungen und Überzeugungen gebündelt und anschließend in Form von Idealen und Werten ausformuliert werden. Diese geben Halt und Orientierung, aber stellen darüber hinaus auch Handlungsmaximen dar, die für die weitere konkrete Umsetzung von Politik als Vorlage dienen können. Für die SPD beschreibt der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Klaus-Jürgen Scherer die Bedeutung von Parteiprogrammen in genau diesem Sinne, wobei er besonders die grundsätzliche Identitätsstiftung von Programmen betont: „Die SPD hat sich stets als Programmpartei verstanden. Von Beginn an wollten ihre Programme mehr sein als nur kurz- oder mittelfristig angelegte Zielbestimmung politischen Handelns. Immer sollte auch ein Bild der Erfahrungen, Sorgen, Nöte, Wünsche und Erwartungen der in der Sozialdemokratie zusammengeschlossenen Gemeinschaft von Menschen dargestellt werden.“106 102 Tromp, Bart: Het sociaal-democratisch programma – De beginselprogramma’s van SDB, SDAP, en PVDA 1878 – 1977. Amsterdam 2002. S. 13. 103 Vgl. Koole, Ruud: De opkomst van de moderne kaderpartij – Veranderende partijorganisatie in Nederland 1960-1990. Utrecht 1992. S. 316. 104 ebenda. 105 Vgl. ebenda. 106 Scherer, Klaus-Jürgen. 2006. S. 144.
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Für die niederländische Sozialdemokratie war dieser ganzheitliche Ansatz, wie er von Scherer skizziert wird, noch viel notwendiger, als er es für das Selbstverständnis und die Identität der deutschen SPD oder der britischen Labour Party war. Effektive Identitätsbildung und eine gezielte Positionierung in der Gesamtgesellschaft erscheinen in einem politisch so heterogenen Land wie den Niederlanden besonders notwendig, um wahrgenommen und gewählt zu werden, so konstatiert es der niederländische Politikwissenschaftler und Sozialdemokrat Paul Kalma: „In einem Land waar de sociaal-democratie geen dominante positie inneemt (gelet op haar electorale anhang, de organisatie graad van de vakbeweging en de machtpositie van andere ‚verwante’ maatschappelijke organisaties), is zij in belangrijke mate angewezen op de effectiviteit van haar programma (…).“107 Betrachtet man diese Aussage Kalmas zur Situation der niederländische PvdA, so wird deutlich, dass bei der Betrachtung und Analyse von sozialdemokratischen Parteiprogrammen ein entscheidender Aspekt nicht außer Acht gelassen werden darf: die Kontextgebundenheit der Programme. Denn die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen bestimmen in einem hohen Maße die Entstehung, Entwicklung und Bedeutung eines Parteiprogramms. Der Politikwissenschaftler Martin Frenzel konstatiert dementsprechend, dass der programmatische Wandel sozialdemokratischer Parteien in enger Wechselwirkung mit der Organisationswirklichkeit, den Umweltbedingungen und abrupten externen Veränderungen, wie zum Beispiel Wahlniederlagen, analysiert und definiert werden muss.108 Der Einfluss dieser externen Faktoren auf die Gestaltung und Implementierung von Programmen wird noch in verschiedener Form Gegenstand dieser Arbeit sein, da es „offensichtlich ist, dass die Wirkung von Programmen von den Zeitklimata und den politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen abhängig ist (…)“109, so der sozialdemokratische Historiker Bernd Faulenbach im Rahmen der Programmdiskussion der SPD im Jahr 2004. Neben der starken Kontextgebundenheit der politischen Programme ist es eine weitere Besonderheit hervorzuheben, die in erster Linie sozialistische und sozialdemokratische Parteien betrifft: das große Gewicht beziehungsweise die herausgehobene Bedeutung von Parteiprogrammen für diese Parteien. Denn sozialistische und sozialdemokratische Parteien hätten immer schon viel Wert gelegt 107 Kalma, Paul: Het socialisme op sterk water: veertien stellingen. Den Haag 1988. S. 13. 108 Vgl. Frenzel, Martin: Neue Wege der Sozialdemokratie: Dänemark und Deutschland im Vergleich (1982 – 2002). Wiesbaden 2002. S. 12. 109 Faulenbach, Bernd: Anschlussfähig und integrativ – Ein Rückblick auf Programmdiskussionen. In: Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte. Band 7/8 2004. S. 78.
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auf ihre programmatischen Dokumente, so der Politologe Bart Tromp, denn „het zijn partijen van het word.“110 Aber was sind die Gründe für diese große Bedeutung von Programmen für die genannten Parteien? Laut Tromp lassen sich hierbei zwei ursächliche Faktoren ausmachen. An erster und herausgehobener Stelle sieht Tromp politische Programme als konstituierend für die Parteien an. Sie sind nicht nur Mittel zum Zwecke der Erfüllung politischer Ziele oder Mobilisationsmittel für die Anhänger der Partei oder Bewegung, sondern vielmehr grundlegender Kern einer gemeinsamen Identität. Mit Hilfe von Programmen wird die Identität und somit das tatsächliche Sein einer sozialistischen oder sozialdemokratischen Bewegung oder Partei in Wahrheit erst begründet. Sie sind der Grundstein und die Klammer solcher Organisationen. Tromp argumentiert, dass in Abwesenheit von anderen ideologischen Bindegliedern wie etwa Religion, Ethnie, gemeinschaftlicher Kultur oder sozialer Position in Form von ‚Klasse’ die Programme die entscheidenden Träger von Gruppenkonstituierung und –entwicklung seien.111 Er geht ebenfalls auf nachvollziehbare Weise auf die These ein, dass eine sozialistische und, darauf folgend, auch eine sozialdemokratische Partei doch Ausdruck einer schon vorher geformten sozialen Klasse sei und somit Identität besitze. Das Gegenteil sei wahr, so Tromp, denn „deze these is juist zelf onderdeel van het socialistisch programma. Pas op grond van dat programma, zo zou men het enigszins gechargeerd kunnen stellen, komt de sociale klasse waarop et zich beroept tot stand.“112 Es existiere ein deutlicher Unterschied zwischen politischen Parteien und Bewegungen, die sich auf schon vorhandene gemeinschaftliche Identitäten stützten, bestehend beispielsweise aus etablierten politischen Fraktionen oder kulturell gewachsenen Gemeinschaften, und solchen, die sich aus ihren ideologischen Vorgaben heraus selbst erfinden müssten, so der britische Historiker Donald Sassoon. „By thinking of the working class as a political class, ascribing to it a specific politics and rejecting the vaguer categories (‘the poor’) of earlier reformers, the pioneers of socialism thus virtually ‘invented’ the working class”113, so die Einschätzung Sassoons. Im modernen Zeitalter der Massenparteien sei es das wichtigste Ziel der demokratischen Auseinandersetzung festzulegen, über welche konkreten Inhalte politisch gestritten würde. Obwohl der 110 111 112 113
Tromp, Bart. Amsterdam 2002. S. 407. Vgl. ebenda. S. 407 - 408. ebenda. S. 408. Sassoon, Donald: One Hundred Years of Socialism – The West European Left in the Twentieth Century. London 1997. S. 7.
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Marxismus eine theoretische Definition der Arbeiterklasse geliefert habe, habe diese in der Praxis so gut wie keine Relevanz für die Bestimmung des Proletariats unter politischen Gesichtspunkten entfaltet. Für die meisten politischen Bewegungen des Proletariats beziehungsweise der Arbeiterklasse sei in Bezug auf ihre Organisation als politische Institution die eigene, vor allem mit Hilfe von Programmatik hergestellte Definition wichtiger gewesen, so der Historiker.114 Eine ähnlich große Bedeutung von Programmatik und Ideologie für sozialistische und sozialdemokratische Bewegungen und Parteien konstatiert auch der niederländische Historiker Ernst Kossmann. In den Programmen fänden sich tatsächlich die primären Mechanismen, die die zu untersuchenden Parteien konstituieren würden. Demzufolge würde in erster Linie durch die Formulierung von Programmen aus diesen Parteien soziale Wirklichkeit, so Kossmanns Ableitung.115 Dieser Argumentation folgend erscheint es nachvollziehbar, dass Programme für sozialistische und sozialdemokratische Parteien existentiell und besonders bedeutsam sind und demnach im Fokus der Untersuchungen stehen sollten, will man sich eingehender mit dem Wandel der Identitäten solcher Parteien beschäftigen. Als zweiten wichtigen Faktor für die herausgehobene Bedeutung von Programmen für sozialistische und sozialdemokratische Parteien nennt Tromp die spezielle Sicht dieser Parteien auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. In den Augen von Sozialisten und Sozialdemokraten ist das bestehende Zusammenleben kein unabänderlich gegebener Zustand. Es besteht die Möglichkeit und darüber hinaus auch die Notwendigkeit, dass das gesellschaftliche Miteinander verändert werden kann beziehungsweise werden muss. „Een dergelijke opvatting vereist per definitie een betoog over de wijze waarop de bestaande samenleving functioneert en over de mechanismen waarop deze, al dan niet door politiek ingrijpen, kan worden veranderd.“116 Dementsprechend bedarf es einer programmatischen Antwort, wie diese Veränderungen ausgestaltet sein sollten und wie sie in der Realität zu bewerkstelligen sind. Die von Tromp ins Spiel gebrachte Marx’sche Unterscheidung zwischen den ‚Parteien der Ordnung’ und den ‚Parteien der Veränderung’
114 Vgl. ebenda. 115 Vgl. Kossmann, E.H.: Op zoek naar continuiteit: de Jaarboeken voor het democratisch socialisme. In: Socialisme & Democratie. Bd. 46 Nr. 11 1989. S. 351. 116 Tromp, Bart. Amsterdam 2002. S. 410.
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erscheint in diesem Zusammenhang nachvollziehbar und relevant.117 Im Gegensatz zu den Parteien der Ordnung geht es den Parteien der Veränderung nicht um den Erhalt und die Absicherung der bestehenden Ordnung, im Gegenteil, sie wollen diese ja gerade zum Nutzen der breiten Masse der Bevölkerung verändern und dadurch optimieren. Wenn sich jedoch solch eine Partei nicht in die bestehenden gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen einfügen kann und will, sondern diese in Frage stellt, bedarf sie eines ausdrucksstarken Programms, das Auskunft über die Art und Weise der angestrebten Veränderungen gibt. Daraus ergibt sich, so Tromp weiter, dass die Programme dieser Parteien einen ausgeprägten soziologischen Charakter haben im Gegensatz zu einem eher staatstragenden Charakter der Programme der so genannten OrdnungsParteien. Bart Tromp schlussfolgert hieraus, dass zu Recht hohe Ansprüche an die Programme sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien sowohl von den Parteimitgliedern als auch von den Bürgern gestellt werden. „Zo’n programma kann niet een toevallig optelsom van politieke eisen zijn binnen de bestaande orde, maar moet logischerwijs zijn gebaaserd op een diagnose van ontwikkelingen in de maatschappij die geen willekeurig, vrijblijvend, of vrij gekozen karakter draagt.“118 Ohne Tromp hierbei zu widersprechen und auch ohne diese herausragende Bedeutung von sozialistischen beziehungsweise sozialdemokratischen Parteiprogrammen gänzlich zu negieren, formuliert Ruud Koole jedoch eine Einschränkung. Er spricht vor allem in Bezug auf Grundsatzprogramme davon, dass diese selten der Quell für neue innovative Maßstäbe und Ideen seien. Vielmehr würde in Grundsatzprogrammen lediglich der bisherige ideologische Status Quo einer Partei festgehalten. „Beginselprogramma’s codificeren veeleer de gewijzigde opvattingen van (de meerderheid van) de partij dan dat zij nieuwe perspectieven schetsen. Zij stan (behalve bij een nieuwe partij) derhalve eerder an het eind dan aan het begin van een periode: het zijn inventarisaties van de politiekinhoudelijke stand van zaken“119, so die Einschätzung des niederländischen Sozialdemokraten. Doch auch Koole kommt nicht umhin, die herausgehobene Bedeutung von Programmen, und besonders von Grundsatzprogrammen für sozialdemokratische Parteien zu konstatieren. In einem anderen Beitrag bemerkt er, dass andere politische Parteien auch über außerhalb der Politik gelegene
117 Vgl. Marx, Karl: ‚De achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte’. In : MEW. Bd. 8. Berlin 1973. S. 123. 118 Tromp, Bart. Amsterdam 2002. S. 411. 119 Koole, Ruud. Utrecht 1992. S. 316.
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Legitimationsquellen verfügen würden, wohingegen sich die sozialdemokratischen Parteien stets ausschließlich über ihr in der Grundsatzprogrammatik manifestiertes politisches Projekt konstituieren würden.120 Die vielfach betonte herausgehobene Bedeutung von Programmatik für die Sozialdemokratie lässt demnach eine auf programmatische Texte fokussierende Vorgehensweise als sinnvoll erscheinen, da hierdurch der eigentliche Identitätskern der sozialdemokratischen Parteien zum Untersuchungsgegenstand wird, und somit der Wandel der Parteien in der Substanz am ehesten nachgezeichnet werden kann.
120 Vgl. Koole, Ruud: Het belang van beginselpartijen. De plaats van beginselprogramma’s in Nederlandse partijen. In: Becker, Frans/Hennekeler, Wim van/Tromp, Bart/Zuylen, Marjet van (Red.): Inzake beginselen. Het zeventiende jaarboek voor het democratisch socialisme. Amsterdam 1996. S. 168.
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C.
Die programmatischen Neuorientierungen der deutschen SPD, der britischen Labour Party und der niederländischen PvdA von den 80er Jahren bis in die jüngste Vergangenheit
1.)
Die Ausgangslage für die Gestaltung sozialdemokratischer Programmatik
1.1.
Die gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen für die Sozialdemokratie von den 80er Jahren bis in die jüngste Vergangenheit
Nachdem im vorangegangenen Kapitel die Theorie der sozialen Demokratie beleuchtet worden ist und die politischen Grundsätze des sozialdemokratischen Modells diskutiert worden sind, wird im folgenden Textabschnitt ein erster Blick auf die konkreten Herausforderungen für die Sozialdemokratie geworfen. Bevor im weiteren Verlauf der Arbeit die zu untersuchenden drei sozialdemokratischen Parteien einzeln im Fokus stehen werden, soll an dieser Stelle schon einmal eine erste allgemeine Zusammenfassung derjenigen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen erfolgen, die alle drei Parteien in ähnlichem Maße betraf beziehungsweise betrifft. Gemäß dem zeitlichen Rahmen der Untersuchung werden die für die Entwicklung von sozialdemokratischer Programmatik relevanten Veränderungen der Umwelt seit den 80er Jahren bis hin zu den Jahren 2005 beziehungsweise 2007 nachgezeichnet. Ausführungen zur spezifischen Situation der einzelnen nationalen Sozialdemokratien sowie eine Analyse der programmatisch-politischen Antworten auf diese Herausforderungen finden sich in den späteren Kapiteln. Bei der Betrachtung von Herausforderungen für sozialdemokratische Politik muss kurz ein Blick auf die inhaltliche Ausgangslage geworfen werden. Wenn man Herausforderungen beschreiben möchte muss erkennbar werden, was der sozialdemokratische Status Quo ist, das heißt in diesem Fall, was die Sozialdemokratie für bedeutsam und elementar für ihr Menschen- und Gesellschaftsbild beziehungsweise für ihre Politik ansieht. Da zum sozialdemokratischen Modell
53 M. Sachs, Sozialdemokratie im Wandel, DOI 10.1007/978-3-531-92785-5_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
und zur Theorie der sozialen Demokratie in den vorangegangenen Kapiteln schon viel gesagt wurde, soll an dieser Stelle nur noch einmal der sozialdemokratische Dreiklang von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität erwähnt werden. Das funktionierende Zusammenspiel dieser drei Anliegen, welches das Herzstück jeder sozialdemokratischen Politik ausmacht, scheint immer schwieriger zu gewährleisten zu sein. Die gleichzeitige Verwirklichung aller drei politischen Ziele wird in zunehmenden Maße unmöglich, wie im weiteren Verlauf zu zeigen sein wird. Beispielhaft vergleichen Thomas Koch und Wolfgang Schroeder in ihrer mit ‚Neue Balance zwischen Markt und Staat’ betitelten Publikation aus dem Jahr 2001 die aktuellen Herausforderungen für die Sozialdemokratie mit denen zur Zeit der Verabschiedung des Godesberger Programms der SPD im Jahr 1959.121 Ihrer Ansicht nach sind die Herausforderungen komplex und betreffen mehr als nur eine Partei alleine, es gehe „diesmal um eine Neubestimmung des Verhältnisses von Sozialstaat, Gesellschaft, Individualität und Solidarität im Zeichen von Globalisierung und Europäisierung.“122 Gefragt sei „eine Politik, die unter veränderten sozialen (Individualisierung etc.) und wirtschaftlichen (Globalisierung) Bedingungen sozialen Zusammenhalt ermöglichen kann.“123 Die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen von den 1980er Jahren bis zur Gegenwart haben die Sozialdemokratie vor eine Vielzahl derartiger Herausforderungen gestellt, und stellen sie immer noch. Ihre jeweilige Bedeutung wird zwar unterschiedlich beurteilt, aber im Grundsatz können sich fast alle Analysten und Kommentatoren auf ein Set von Herausforderungen einigen, das maßgeblichen Einfluss hatte beziehungsweise hat. Dies wird im Folgenden in einzelnen Abschnitten erläutert werden.
121 Vgl. Koch, Thomas/Schroeder, Wolfgang: Einführung: Zweie kopernikanische Wende oder Kontinuität? Neue sozialdemokratische Wege und ihre Gefahren. In: Schroeder, Wolfgang (Hrsg.): Neue Balance zwischen Markt und Staat? Sozialdemokratische Reformstrategien in Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Schwalbach/Ts. 2001. S. 9-10. 122 ebenda. S. 10. 123 ebenda. S. 15.
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1.1.1.
Globalisierung der Wirtschaft - nationalstaatlicher Keynesianismus in der Krise
In seinem Buch mit dem Titel ‚Ende der Sozialdemokratie?’ aus dem Jahr 1993 beschäftigt sich Wolfgang Merkel zu Beginn seiner Ausführungen mit dem Wandel der Umweltbedingungen für sozialdemokratische Politik. Seine Aufmerksamkeit gilt hier zuerst einer der größten Herausforderungen, der sich die Sozialdemokratie seit den späten 1970er Jahren gegenübersah und, wie noch zu zeigen sein wird, auch heute noch gegenüber sieht: es ist die Krise des Keynesianismus im Zuge der Globalisierung der Märkte.124 Bevor im darauf folgenden Kapitel im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Niedergangstheorien die Funktionsweise des Keynesianismus und seine besondere Bedeutung für die Sozialdemokratie detaillierter dargestellt werden, wird hier die Krise des Keynesianismus zuerst einmal aus der Perspektive der Herausforderung für die Sozialdemokratie beleuchtet, und es wird ein erster Überblick gegeben. Jahrzehntelang hatte das Konzept keynesianischer Wirtschaftspolitik funktioniert. Georg Vobruba spricht davon, dass dieses Konzept es der Sozialdemokratie ermöglicht hatte, von den ersten Nachkriegsjahren bis in die siebziger Jahre hinein ihre gesellschaftsverändernde Programmatik mit einer systemstabilisierenden Pragmatik in Einklang zu bringen.125 In den 70er Jahren geriet dieses Zusammenspiel jedoch ins Wanken, die Steuerung der Märkte wurde für die Politik immer schwieriger, und der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatsgedanke stand immer mehr im Widerspruch zur freien Marktwirtschaft. Wolfgang Merkel macht dies an mehreren Punkten fest. Zum einen gab es zum Ende der 70er und zu Beginn der 80er Jahre in den meisten westlichen Industriestaaten eine steigende Arbeitslosigkeit, gepaart mit einer zunehmenden Inflation, was zu einem stagnierenden Wachstum führte. Diese stagflationäre Kombination stellte die keynesianische Wirtschaftspolitik, die auf stete Stimulation durch Nachfrage-Management setzte, vor große Probleme. Zum anderen wurden spätestens in den 80er Jahren die Kapital- und Gütermärkte immer internationaler, womit gemeint ist, dass sich die Mechanismen der Märkte immer deutlicher der Kontrolle einzelner Nationalstaaten oder Staatenverbünden wie der Europäischen Union entzogen. Der klassische ‚Keynesianismus in einem Lande’ wurde durch diese Internationalisierung praktisch unmöglich gemacht, 124 Vgl. Merkel, Wolfgang: Ende der Sozialdemokratie? Machtressourcen und Regierungspolitik im westeuropäischen Vergleich. Frankfurt 1993. S. 21. 125 Vgl. Vobruba, Georg: Politik mit dem Wohlfahrtsstaat. Frankfurt 1983. S. 136.
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da Instrumente wie die staatliche Nachfragesteuerung keinen eindeutigen Ansatzpunkt mehr fanden.126 „Die Sozialdemokratie (wurde) von der Wirkungsbeschränkung des keynesianischen Instrumentariums getroffen, die sich aus der neuen Qualität der Globalisierung der Geld-, Waren- und Dienstleistungsmärkte ergab, die sich seit den siebziger Jahren vollzog. Mehr noch als in der wirklichen makroökonomischen Praxis wurde dieses Instrumentarium jedoch durch seine öffentliche Entlegitimierung entwertet, die sich aus der vorherrschenden neoliberalen Ideologie der segensreichen Allmacht des Weltmarktes und seiner volkswirtschaftlichen Folgen ergab“127, so formulierte es Thomas Meyer im Jahr 1998. Anthony Giddens spricht in diesem Zusammenhang im selben Jahr davon, dass die Globalisierung den Nationalstaat ‚von oben’ tangiere, womit er meint, dass bestimmte Handlungsspielräume der Nationalstaaten eingeschränkt worden sind. Hierunter würden an herausgehobener Stelle die Möglichkeiten der keynesianischen Wirtschaftsteuerung fallen.128 Wie in dem Zitat von Thomas Meyer schon deutlich wurde, fand und findet dieses an den Kräften der Märkte orientiertes Denken viel Anklang in den westlichen Gesellschaften. Für die Niederlande sprechen die Politologen Andries Hoogerwerf und Jan Berkouwer im Jahr 1996 davon, dass die großen Parteien sich in den 80er und 90er Jahren in den Bann des politischen Marktdenkens begeben haben.129 „De korte duidelijke leus van dit marktdenken is: ‚Meer markt en minder overheid’.“130 Die Globalisierung hat in jedem Fall die Spielregeln für internationales Wirtschaften so nachhaltig verändert, dass auch im Jahr 2008 „die ständig schneller zunehmende internationale Wirtschaftsverflechtung“131 als eine für die Zukunft entscheidende Variable gesehen wird.132 Der sozialdemokratische Politiker Sigmar Gabriel sieht in der globalisierten Welt des Jahres 2008 ebenfalls den ‚neuen Finanzkapitalismus’ als eine entscheidende Herausforderung für die Sozialdemokratie an.133 Er geht bei seiner Einschätzung davon aus, dass der 126 127 128 129 130 131 132 133
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Vgl. Merkel, Wolfgang. Frankfurt 1993. S. 21-23. Meyer, Thomas. Bonn 1998. S. 104. Vgl. Giddens, Anthony. Frankfurt 1999. S. 44. Vgl. Hoogerwerf, Andries/Berkouwer, Jan: Markt, ongelijkheid en sociaal-democratie. In: Berkouwer, Jan/Hoogerwerf, Andries (Ed.): Markt, ongelijkheid, solidariteit op zoek naar een herkenbare PvdA. Barjesteh 1996. S. 1. ebenda. Jens, Uwe: In der Krise nicht die Marktwirtschaft vergessen. In: Süddeutsche Zeitung. 20.09.2008. S. 24. Vgl. ebenda. Vgl. Gabriel, Sigmar: „Die Balance zwischen Markt und Demokratie ging verloren“. In: Süddeutsche Zeitung. 27.09.2008. S. 26.
sozialdemokratische Keynesianismus schon länger keine Gestaltungskraft mehr hat, sondern die Kräfte des Marktes das Geschehen bestimmen: „Nicht nur am Weltmarkt, sondern zunehmend auch in unserem eigenen Land gewinnen die Finanzmärkte einen oft zerstörerischen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung. (…) Die Politik droht zum bloßen Reparaturbetrieb zu werden, statt die Kraft zu sein, die der Entwicklung Ziele setzt.“134 In dieser Feststellung ist ein weiterer relevanter Aspekt der Globalisierung schon angelegt: die Position des Staates hat sich nachhaltig verändert. Der Staat ist im Zuge der Globalisierung geschwächt worden, da er vielerorts lediglich auf Prozesse in der globalisierten Welt reagieren kann. Der Nationalstaat hat seine Souveränität verloren, weil er in vielen Bereichen die Kontrolle abgeben musste. „Belangrijke processen op het gebied van economie, communicatie, technologie en cultuur trekken zich niet alleen weinig of niets aan van staatsgrenzen, maar ze laten zich ook niet vanuit staten aansturen of controleren“135, so der niederländische Politologe Enno W. Hommes. Diese Schwächung des Staates ist für die Sozialdemokratie ein besonderes Problem, da marktwirtschaftliche Dynamiken und die Macht, die sich aus Privateigentum ableitet, für sie nur insofern akzeptabel waren, als sie sich in einem nach demokratischen Regeln gesetzten Rahmen bewegten. Da nun dieser Rahmen nicht mehr existiert, sieht sich die Sozialdemokratie mit einer neuen, größeren Herausforderung konfrontiert: „Dieses Problem ist für sie viel grundsätzlicher als für ihre politischen Konkurrenten, da sie von ihren Traditionen, ihren Grundwerten und ihrem politischen Profil her auf eine solche politisch wirksame Rahmensetzung nicht verzichten kann, ohne ihre eigene Identität preiszugeben.“136 Oder, um es mit anderen Worten zu sagen: „Voor een sociaaldemocratische strategie is de verzwakking van de stat een probleem. Immers, in het verleden is steeds de nationale staat het strijdtoneel geweest waarop men de tegenkrachten tegen ongeremd kapitalisme probeerde te mobilisieren. (…) In deze opvatting betekent de verzwakking van de staat een verzwakking van het speelveld van de sociaal-democratie.“137 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Globalisierung der Wirtschaft mit der ihr innewohnenden Schwächung der Position von Nationalstaaten
134 ebenda. 135 Hommes, Enno W.: Globalisering en sociaal-democratie. In: Berkouwer, Jan/Hoogerwerf, Andries (Ed.): Markt, ongelijkheid, solidariteit op zoek naar een herkenbare PvdA. Rotterdam 1996. S. 153. 136 Meyer, Thomas. Bonn 1998. S. 109. 137 Hommes, Enno W.. Rotterdam 1996. S. 154.
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eine große Herausforderung besonders für sozialdemokratische Politik darstellte, und nach wie vor darstellt.
1.1.2.
‚Informatisierung’ - der Wandel des Verhältnisses von Technik, Natur und Gesellschaft
Eine weitere Herausforderung für die Sozialdemokratie ergab sich aus dem sich ebenfalls in den 70er und 80er Jahren abzeichnenden Wandel des Verhältnisses von Technik, Natur und Gesellschaft sowie der daraus resultierenden stetigen Veränderung der Arbeitswirklichkeiten. Schon in den 1980er Jahren sprach man von ‚Technisierung’ oder ‚Informatisierung’, wobei mit diesen Begriffen auf der einen Seite der technische Fortschritt, auf der anderen Seite die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Lebenswirklichkeiten der Menschen verbunden werden.138 Technik sei kein neutrales Mittel, und die neuen Grenzverschiebungen im Zuge des technischen Fortschritts müssten genau beobachtet werden, so der niederländische Philosoph Hans Achterhuis im Rahmen der Programmdebatte der PvdA im Jahr 1992.139 Tatsächlich führten neue Erkenntnisse in so verschiedenen Bereichen wie der Informations- oder Kommunikationstechnologie, der Medizin, der Biologie oder in den Ingenieurswissenschaften dazu, dass neue Berufsfelder entstanden und alte, zum Beispiel in der Schwerindustrie und im Bergbau, wegfielen. Und dies hatte direkte und für die Sozialdemokratie relevante Konsequenzen: „Neue Technologien wie die in den Bereichen der Kommunikation und der Kernenergie maßgeblichen prägen in jedem Fall Sozialstrukturen, Verhaltensmöglichkeiten und gesellschaftliche Lebenssituationen und sind (…) unmittelbar politisch bedeutsam“140, so Thomas Meyer. Damit in Zusammenhang steht auch die Frage nach der politischen Verantwortung für den technischen Fortschritt, da nicht jede technologische Neuerung im Interesse der Gesamtgesellschaft ist. Frank Wippermann betont dementsprechend, dass sozialdemokratische Programmatik neben der arbeitspolitischen Komponente des Fortschritts auch immer die Verantwortung der Politik bei zukünftiger Forschung und Technikentwicklung im Auge behalten müsse.141 138 Vgl. Meyer, Thomas. Bonn 1998. S. 116-118. 139 Vgl. Achterhuis, Hans: De technik van het meer. In: Nekkers, Jan (Red.): Contouren van vernieuwing - Hetoriëntatie in de Partij van de Arbeid. Amsterdam 1992. S. 50-51. 140 Meyer, Thomas. Bonn 1998. S. 117. 141 Vgl. Wippermann, Frank: Was ist Technik? Was ist Verantwortung? Das Technikverständnis im Berliner Programm der SPD und die Konsequenzen für die Verantwortung für Technik. In: perspektiven ds. Heft 2 1993. S. 142.
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Von solchen Entwicklungen und den daraus abgeleiteten Herausforderungen kann eine sozialdemokratische Programmatik und Politik, die jahrelang für Vollbeschäftigung und das Recht eines jeden Menschen auf Arbeit eintrat, nicht unberührt bleiben. Denn noch deutlich existentieller als die abstrakte Frage der Technikverantwortung sind für sozialdemokratische Parteien die soziostrukturellen Konsequenzen des technischen Wandels. Ausgehend von ihrer traditionellen Arbeiterklientel und ihren sozialistischen Wurzeln galt für die Sozialdemokratie der Faktor Arbeit immer als ein besonders wichtiger Baustein des gesellschaftlichen Miteinanders. Wenn nun im Zuge von Informatisierung und Technisierung Arbeitsprozesse und –bedingungen derartigen Veränderungen unterworfen sind, dass sich die Industriegesellschaften zu Dienstleistungsbeziehungsweise Wissensgesellschaften wandeln, dann müssen sich auch die politischen Prämissen der sozialdemokratischen ‚Arbeiterparteien’ wandeln. Im Jahr 1988 befasste sich zum Beispiel die niederländische Delegation der Sozialistischen Fraktion im Europäischen Parlament mit diesen aufkommenden Problemen: „De informatisiering beïnvloedt immers niet alleen de organisatie en kwaliteit van arbeid en produktie (‚procesvernieuwing’) alsmede de arbeidsverhoudingen en de vraag naar arbeid. Tegeglijkertijd brengt zij aanzienlijke wijzigingen aan in de organisatie van de samenleving en in de alledaagse communicatie- en cultuurpatronen. Waar arbeid en voortbrenging, sociaale machtsverhoudingen en organisatieprincipes aan verandering onderhevig zijn, evenals het algemene informatieniveau van een samenleving, daar ontwikkelt zich voor een politieke beweging als de sociaal-democratie een uitdaging van bijzondere betekenis, omdat en voorzover zij de arbeid centraal heeft gesteld als samenbindende fator in de maatschappij.“142 Und dieser Wandel des Verhältnisses zwischen Technik und Gesellschaft mit seinen bereits 1988 von niederländischen Sozialdemokraten attestierten Herausforderungen für sozialdemokratische Politik hält an. Die in den 70er und 80er Jahren ihren Anfang nehmende Entwicklung der Industrie- zur Dienstleistungs- und Bildungsgesellschaft setzt sich immer noch fort und produziert nach wie vor ähnliche Herausforderungen für die Sozialdemokratie, so der deutsche Sozialdemokrat Klaus-Jürgen Scherer im Jahr 2006.143 Zu den aktuellen Problemen der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien bemerkt er: „Der „digitale Kapitalismus“ (Peter Glotz) hat Organisationsprinzipien von 142 Socialistische Fractie Europees Parlement: De toekomst van het democratisch-socialisme in Europe. Amsterdam 1988. S. 24. 143 Vgl. Scherer, Klaus-Jürgen. In: perspektivends. Heft 1 2006. S. 153-154.
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Wirtschaftsverfassung, Arbeitswelt, Bildungswesen, sozialer Sicherungssysteme und Freizeitverhalten revolutioniert. (…) Das allgemeine Wohlstandsniveau wird durch die Konkurrenz der (industriebasierten) Wissensgesellschaft bestimmt.“144 Eine mit diesen gesellschaftlichen Entwicklungen in einem engen Zusammenhang stehende weitere bedeutsame Herausforderung ist das Thema Ökologie. Zeitgleich mit den so eben erwähnten Fortschritten in den unterschiedlichen Wissenschaften, die das schleichende Ende der klassischen Industriegesellschaften mit herbeiführten, rückten ökologische Fragen immer mehr in den Mittelpunkt des Interesses. Nachdem im Jahr 1972 im Bericht des ‚Club of Rome’ mit dem Titel ‚Die Grenzen des Wachstums’ zum ersten Mal in drastischer Weise der ruinöse Umgang der westlichen Industriegesellschaften mit ihrer natürlichen Umwelt aufgezeigt worden war, rückte die Ökologie spätestens in den 80er Jahren deutlich ins gesellschaftliche und politische Bewusstsein. Die Kernaussage des Club of Rome, dass eine Fortsetzung des bisherigen Umgangs mit der Natur und ihren Ressourcen unumkehrbare Schäden an verschiedenen ökologischen Kreislaufsystemen anrichte, und dass darüber hinaus in näherer Zukunft mit der Erschöpfung vieler natürlicher Rohstoffe zu rechnen sei, setzte eine intensive Debatte über ökologische Fragen in Gang.145 Eine Konsequenz aus dieser von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommenen Warnschrift war, dass das bisher als selbstverständlich angenommene Zusammenfallen von ökonomischen Wachstum und stetig steigendem Wohlstandsniveau in die Kritik geriet. Nachdem den Menschen allmählich deutlich wurde, welchen ökologischen Preis sie für ihren Wohlstand und ihre soziale Sicherheit zahlen mussten, wurden die ökologischen Grenzen des Wachstums ein wichtiges Thema auf der politischen Agenda. Im Rahmen der einsetzenden Auseinandersetzung mit dem Thema Ökologie kristallisierten sich aus den vielen Beiträgen unterschiedlicher Experten und Wissenschaftler drei Problemfelder heraus, die im Mittelpunkt der Diskussionen standen.146 An erster Stelle wurde festgestellt, dass das Ökosystem unweigerlich kollabieren müsse, wenn Umweltverschmutzungen und –zerstörungen im bisherigen Maße fortgesetzt werden würden. Von Wirtschafts- und besonders von
144 ebenda. 145 Vgl. Meadows, Dennis L. (u.a.): Die Grenzen des Wachstums - Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Stuttgart 1972. 146 Vgl. Meyer, Thomas. Bonn 1998. S. 111-112.
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Industrieseite müsse ein Umdenken stattfinden. Darüber hinaus stelle die ökologische Krise auch eine konkrete Gefahr für die unmittelbare Lebenswirklichkeit vieler Bürger dar. Die Gefährdungen durch beispielsweise chemische Zusätze in Lebensmitteln und Luftverschmutzung stelle ein erhebliches Risiko für die Gesundheit der Menschen dar und müsse thematisiert werden. Ein drittes Problemfeld ergibt sich aus einer konsum- beziehungsweise kulturkritischen Perspektive einer wachsenden Anzahl von Bürgern in den westlichen Gesellschaften. Vielerorts stellen sich Menschen die Frage, ob das häufig auf den Konsum und die Teilhabe am vermeintlich stetigen wirtschaftlichen Aufschwung konzentrierte Leben in den westlichen Gesellschaften tatsächlich so erstrebenswert sei, oder ob es nicht vielmehr einer Besinnung auf die grundsätzlichen menschlichen Bedürfnisse im Einklang mit einer intakten Natur bedürfe. In der Folge gründeten sich verschiedene Umweltbewegungen und ökologisch motivierte Bürgerinitiativen und ‚grüne’, dem Umweltschutz sehr verbundene Parteien. Für die dort engagierten Menschen war eine Politik, die weiterhin einer prosperierenden Ökonomie den Vorzug vor Fragen der Ökologie gab, nicht länger attraktiv. Bereits 1988 erkannten niederländische Sozialdemokraten in diesem Punkt ein nachhaltiges Problem für ihre Politik, denn „het ‚sociaal-democratisch compromis’ is er een tussen kapitaal en arbeid, gebaseerd op duurzame economische groei. Beide dragen op dit moment aanzienlijk bij aan de vernietiging van de produktiefactor natuur en aan de daaruit voortgekomen ecologische crisis.“147 In der Tat spaltete sich die Anhängerschaft der sozialdemokratischen Parteien anhand der ‘ökologischen Frage’. Zumeist gewerkschaftlich organisierte Arbeiter standen vor allem in den 80er Jahren denjenigen Sympathisanten der Sozialdemokratie gegenüber, die eine stärkere Berücksichtigung ökologischer Problemstellungen in Programm und Politik der sozialdemokratischen Parteien verwirklicht sehen wollten.148 Die klassische, sich hauptsächlich aus Arbeitern und kleinen Angestellten zusammensetzende sozialdemokratische Klientel forderte jedoch ein Festhalten am „traditionellen ökonomistischen Wachstumskurs“149, so dass die Sozialdemokratie vor einer weiteren große Herausforderung stand: wie sollte hierauf politisch-programmatisch reagiert werden? Die Ökonomie sehe sich mit ökologischen Begrenzungen konfrontiert, so der Soziologe Ralf Janssen 1992.150 „Een effectief milieubeleid vraagt om een 147 148 149 150
Socialistische Fractie Europees Parlement. Amsterdam 1988. S. 23. Vgl. Meyer, Thomas. Bonn 1998. S. 114-115. ebenda. S. 115. Vgl. Janssen, Ralf: Armoede en milieu. In: Nekkers, Jan (Red.): Contouren van vernieuwing Hetoriëntatie in de Partij van de Arbeid. Amsterdam 1992. S. 99.
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koppeling met het inkomensbeleid en een rechtvaardig inkomensbeleid heeft meer dan ooit de corrigerende werking nodig van een alomvattend milieubeleid“151, so seine Beschreibung der wechselseitigen Abhängigkeit von Umwelt- und Wirtschafts- beziehungsweise Arbeitsmarktpolitik. Thomas Meyer schrieb hierzu im Jahr 1998: „Die Synthese von ökonomischen und ökologischen Interessen bleibt für die Sozialdemokratie daher dauernd ein Problem der politischen Quadratur des Kreises, das sie gleichwohl nicht umgehen kann.“152 Ein Blick auf die Aussagen des sozialdemokratischen Bundesumweltministers Sigmar Gabriel aus dem Jahr 2008 zeigt, wie sehr das Thema Ökologie nach wie vor die sozialdemokratische Agenda mitbestimmt, und wie ungelöst das oben skizzierte Problem nach wie vor ist. Gabriel spricht über die großen zukünftigen Herausforderungen für die Sozialdemokratie und benennt, neben anderem, „die fortgesetzte Bedrohung von natürlichen Lebensgrundlagen und Weltklima. Trotz drei Jahrzehnten Debatte und mancher gelungener Umstellung der Weichen sind wir immer noch dabei, die natürlichen Grundlagen der menschlichen Zivilisation zu ruinieren. Wir müssen schneller und wirksamer umsteuern, aber nicht auf Kosten unseres Wohlstands.“153
1.1.3.
Individualisierung – der Wandel der Sozialstruktur und des Wahlverhaltens
An die soeben beschriebenen Herausforderungen kann inhaltlich angeknüpft werden, denn aus den gegensätzlichen Interessen der traditionellen, eher materialistisch orientierten Stammklientel der Sozialdemokratie und der eher linkslibertären, ökologisch-postmaterialistisch denkenden sozialdemokratischen Anhängerschaft lässt sich eine weitere Herausforderung für die Sozialdemokratie ableiten. Sie betrifft die Sozialstruktur der westlichen Gesellschaften und im Besonderen die zunehmende gesellschaftliche Individualisierung. Durch die schon angesprochene voranschreitende Technologisierung entstanden nicht nur neue Arbeitsplätze und fielen alte weg, wie beispielhaft im Dienstleistungs- und Industriesektor zu beobachten, es fächerten sich auch die bisher recht homogenen sozialen Schichten immer mehr auf. Die ehedem politisch eindeutig auf sozialdemokratischer Seite zu verortende Schicht der Arbeiter spaltete sich in verschiedene Untergruppen. Es gab Arbeitsplatzbesitzer und 151 ebenda. S. 97. 152 Meyer, Thomas. Bonn 1998. S. 116. 153 Gabriel, Sigmar. Süddeutsche Zeitung. 27.09.2008. S. 26.
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Arbeitslose, Voll- oder Teilzeitbeschäftigte, und viele, die sich grundsätzlich um neue Qualifikationen bemühen mussten, da ihre alten Berufe nicht mehr gefragt waren.154 Diese Entwicklung beschleunigte zum einen den Wegfall der traditionellen Klassenmuster, mit starken Ausdifferenzierungen vor allem in der so genannten ‚Arbeiterklasse’. Der Soziologe Ulrich Beck spricht in diesem Zusammenhang von der „wohlfahrtsstaatlichen Enttraditionalisierung sozialer Klassen“155, womit der Grundstein für die sich hieran anschließende, noch zu erläuternde gesellschaftliche Individualisierung gelegt war. Zum anderen verursachte diese Entwicklung die Einteilung in neue gesellschaftliche Schichten, in Arme oder Reiche, in Beschäftigte oder Arbeitslose. Durch den Wegfall einiger gesellschaftlicher Beschränkungen veränderten sich, gemessen am historischen Kampf für die Arbeiterklasse, die sozial- und gesellschaftspolitischen Herausforderungen für die Sozialdemokratie aber nicht vollständig: noch im Jahr 2008 spricht Sigmar Gabriel von sozialer Klassenspaltung, beziehungsweise von ihrer Rückkehr: „Kaum hat der Sozialstaat der alten Klassenteilung der Gesellschaft die Zähne gezogen, treten neue soziale Spaltungen, der Ausschluss großer Teile der Gesellschaft und neue Formen der Armut zutage. Neue Klassenspaltungen bedrohen den gesellschaftlichen Zusammenhalt.“156 Mindestens so relevant wie die gesellschaftlichen Veränderungen auf der Makroebene sind diejenigen, die sich auf der Mikroebene abspielen. Immer wieder nennen Autoren, die sich mit gesellschaftlichen Herausforderungen für die Sozialdemokratie seit den 80er Jahren befassen, an zentraler Stelle das Thema der Individualisierung. Diese kann beschrieben werden als die Abnahme von bindenden und regulierenden sozialen Kräften, in Form eines Rückgangs von sozialer Kohäsion und eines Abbaus sozialer Normen.157 Gemäß der Definition des britischen Soziologen Anthony Giddens bedeutet Individualisierung ein stetig zunehmendes Maß an Kenntnis der Individuen bei gleichzeitig abnehmender Bindung an Traditionen. Die ‚Detraditionalisierung’ läute das Ende ein für die normierten Handlungsrahmen, innerhalb derer sich die Menschen bisher bewegten, so der Soziologe. Dies mache es für den Einzelnen zunehmend notwendig, 154 Vgl. Merkel, Wolfgang. Frankfurt 1993. S. 24-25. 155 Beck, Ulrich: Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt 1986. S. 154. 156 Gabriel, Sigmar. Süddeutsche Zeitung. 27.09.2008. S. 26. 157 Vgl. van der Veen, Romke: Nieuwe vormen van solidariteit – Sociaal-democratische beginselen en de verzorgingsstaat. Amsterdam 2005. S. 29.
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Entscheidungen lediglich auf Grund des eigenen Kenntnisstandes zu treffen. Oder wie Giddens es formuliert: wir sind in der individualisierten Gesellschaft dazu verurteilt, Entscheidungen zu treffen.158 Doch was bedeutet solch eine Feststellung für die Gesellschaften im Allgemeinen und die Sozialdemokratie im Besonderen? Im Zuge der Differenzierungen der Gesellschaften hat der Bedeutungsverlust traditioneller Wertmuster und Lebensformen den Menschen neue Möglichkeiten für ein frei gewähltes Leben beschert. Das Herkunftsmilieu bestimmte nicht länger den Lebensweg und die Berufschancen, das allgemeine Bildungsniveau hob sich, und für viele Menschen führten gestiegene Einkommen zu neuen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und Selbstentfaltung. Im Umkehrschluss verschwanden jedoch die großen sozialen Kollektive, die vor allem in der Arbeiterschicht vorgeherrscht hatten, und die lange Zeit für eine klare Verortung in alltäglichen und übergeordneten Fragen gesorgt hatten.159 Ulrich Beck spricht in Bezug auf eine derart neue, ausdifferenzierte Gesellschaft von „einer enttraditionalisierten und individualisierten „Nachklassengesellschaft““160. Die Homogenisierung der Gesellschaft setzte sich in den siebziger und achtziger Jahren nicht mehr fort wie zuvor, und es kam zu einer Aufsplittung der unterschiedlichen Lebensstile und Orientierungsmuster.161 Tobias Dürr und Franz Walter sprechen davon, dass die althergebrachte Einheitlichkeit der Milieus in Auflösung begriffen war, und dass daher beispielsweise die SPD „(…) nicht mehr in erster Linie Erfahrungsgemeinschaft und Emanzipationsbewegung einer weltanschaulich verbundenen sowie organisatorisch verzahnten Produktionsklasse (war).“162 Hinzu komme, so der niederländische Politikwissenschaftler Paul Kalma, dass die den westeuropäischen politischen Diskurs seit den 1980er Jahren dominierende liberale Ideologie im Geiste einer Margaret Thatcher einen Individualismus unterstütze, der die individuelle Freiheit in den Mittelpunkt stelle, und im sozialdemokratischen Gleichheitsgrundsatz sowie im Sozialstaat primär ein Hindernis sehe.163 „Individualisering vraagt om decollectivisering“164, so der Kern des von Kalma skizzierten liberalen Ansatzes, mit dem traditionelle, 158 159 160 161
Vgl. Giddens, Anthony: The consequences of modernity. Cambridge 1990. S. 148-149. Vgl. Meyer, Thomas. Bonn 1998. S. 91-93. Beck, Ulrich. Frankfurt 1986. S. 158. Vgl. Dürr, Tobias/Walter, Franz: Ohne Tradition keine Modernisierung – die schwierige Erneuerung der SPD. In: Schroeder, Wolfgang (Hrsg.): Neue Balance zwischen Markt und Staat? Sozialdemokratische Reformstrategien in Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Schwalbach/Ts. 2001. S. 173. 162 ebenda. 163 Vgl. Kalma, Paul. Amsterdam 2004. S. 55-56. 164 ebenda. S. 56.
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auf die Bildung von Gemeinschaften ausgerichtete gesellschaftliche Strukturen in Frage gestellt werden. Die Schwierigkeit für die Sozialdemokratie bestand und besteht nun darin, den Menschen ein ihrer individualisierten Lebensweise gerecht werdendes Politikangebot zu machen, da alte klassenspezifische Angebote, wie sie die sozialdemokratischen Parteien ihrer traditionellen Klientel jahrzehntelang unterbreitet hatten, nicht mehr mehrheitsfähig waren beziehungsweise sind. Thomas Meyer fasst es mit folgenden Worten zusammen: „Die verglichen mit der historisch gewohnten Situation sehr viel weitergehende gesellschaftliche Differenzierung von Lebensstilen, Orientierungen, Verhaltensgewohnheiten und politisch sozialen Einstellungsmustern, die gerade auch die Unter- und Mittelschichten in den modernen Gesellschaften prägen, stellt die Sozialdemokratie vor eine besonders schwierige neue Herausforderung.“165 Wolfgang Schroeder spricht sogar davon, dass sich in Anbetracht der veränderten sozialen und demographischen Kontextbedingungen eine Legitimationskrise des sozialdemokratischen Politikmodells abzeichnen würde. Die zu konstatierende Enttraditionalisierung der sozialdemokratischen Wählerbasis, deren Wurzel in der voranschreitenden Ausdifferenzierung der Lebensstile und Wertpräferenzen läge, verschärfe diese Krise nachhaltig, so sein Fazit.166 Um Wähler für die sozialdemokratische Sache zu gewinnen sind heutzutage ausdifferenzierte Strategien nötig, die den erwähnten Veränderungen gerecht werden. Ein bloßer Appell an bestimmte homogene Klasseninteressen verschafft keine ausreichende Unterstützung mehr. Die sozialdemokratischen Parteien können sich im Angesicht der dargestellten Entwicklungen nicht mehr auf Stammwähler verlassen, sondern müssen es in Zeiten von enttraditionalisierten und individualisierten Gesellschaften als Herausforderung begreifen, ihren Grundbestand an politischen Ideen und Kommunikationsformen zu überarbeiten.
165 Meyer, Thomas. Bonn 1998. S. 96. 166 Vgl. Schroeder, Wolfgang: Ursprünge und Unterschiede sozialdemokratischer Reformstrategien. Großbritannien, Frankreich und Deutschland im Vergleich. In: Schroeder, Wolfgang (Hrsg.): Neue Balance zwischen Markt und Staat? Sozialdemokratische Reformstrategien in Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Schwalbach/Ts. 2001. S. 266.
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1.1.4.
Neue Formen der Politik – der Wandel des politischen Diskurses
Mit den sich im Wandel befindenden Gesellschaften veränderte sich auch die Art des Umgangs mit Politik. Es fand ein Wandel des politischen Diskurses statt, der seine Ursachen unter anderem in der schon angesprochenen Krise des Keynesianismus hatte, und somit die sozialdemokratischen Parteien in besonderem Maße traf. Die Sozialdemokratie hatte sich nach dem Ende des zweiten Weltkriegs von der philosophisch-weltanschaulichen Begründung von Politik verabschiedet und war zu einer keynesianischen Variante eines technokratisch-etatistischen Politikverständnisses gelangt.167 Vielerorts hatten sich sozialdemokratische Parteien mit dem Kapitalismus arrangiert und pflegten einen pragmatischen Umgang mit ihm, da sie in der keynesianischen Wirtschaftstheorie den Schlüssel zur praktischen Verwirklichung vieler ihrer politischen Ziele sahen. Dort, wo Sozialdemokraten regierten, wurde „die Verwirklichung der Grundwerte Freiheit und Gerechtigkeit (…) an ökonomisches Wachstum und die sozialstaatlich forcierte Modernisierung der Sozialbeziehungen delegiert – scheinbar garantiert durch die immerwährende Prosperität des keynesianischen Wohlfahrtsstaates.“168 Die häufig fehlende philosophisch-weltanschauliche Begründung ihrer Politik wurde für die sozialdemokratischen Parteien in dem Augenblick zum Problem, als die Mechanismen des keynesianischen Wohlfahrtsstaates in den siebziger, und dann überdeutlich in den achtziger Jahren nicht mehr ohne weiteres funktionierten. Wolfgang Merkel spricht davon, dass hierdurch die ‚Sinnentleerung’ und damit die Verwundbarkeit sozialdemokratischer Politik immer deutlicher wurde.169 Die sozialdemokratischen Parteien waren immer weniger in der Lage, die politischen Diskurse in den Gesellschaften mitzugestalten, da andere Ideologien und Politiken erfolgreichere Lösungen versprachen. Rechts der Sozialdemokratie standen neoliberale Anhänger eines ungebremsten Kapitalismus, die für wohlfahrtsstaatliche Eingriffe nichts übrig hatten und dem freien Markt das Wort redeten. Auf der anderen Seite erstarkten links der Sozialdemokratie ökologisch gesinnte Kräfte, die die ideologische Orientierung der Sozialdemokraten an Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und wohlfahrtsstaatlicher Verteilungsbürokratie ablehnten.170 Diesen, dem Zeitgeist in vielen westli-
167 168 169 170
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Vgl. Merkel, Wolfgang. Frankfurt 1993. S. 33-34. ebenda. S. 34. Vgl. ebenda. Vgl. ebenda. S. 29
chen Gesellschaften in den 70er und 80er Jahren entsprechenden Politikkonzepten hatten sozialdemokratische Parteien häufig nur den unpopulären Erhalt des Status quo entgegenzusetzen. Die Herausforderung bestand und besteht nun darin, wieder nachhaltig und gestaltend Einfluss auf die politischen Diskurse zu nehmen. Darüber hinaus müssen neue ideologische Konzepte erarbeitet werden, mit denen sich erfolgreich eine Politik machen lässt, die den veränderten Wahrnehmungen in der Gesellschaft und den gewandelten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gerecht wird. In diesem Zusammenhang muss jedoch noch eine weitere Entwicklung ins Auge gefasst werden, die die Sozialdemokratie vor neue Herausforderungen stellt. Gemeint ist hiermit das verstärkte Abwandern politischer Entscheidungen in die Gesellschaft. Thomas Meyer bemerkt hierzu, dass der für die Sozialdemokratie bisher so wichtige Nationalstaat auch nach innen hin an Souveränität verliert. Er vergleicht diesen inneren mit dem äußeren Souveränitätsverlust durch die Globalisierung, und hält fest: „Diese (die innerstaatliche Souveränität) wandert in weniger spektakulären, aber nicht weniger wirksamen Prozessen aus den eingegrenzten Bereichen der staatlichen Willensbildung in die informellen und unübersichtlichen Bereiche gesellschaftlicher Entscheidungsmacht aus.“171 In den westlichen Gesellschaften würden vermehrt Entscheidungen, die einen politischen Charakter hätten und die Gesellschaft in Gänze beträfen, von einzelnen Gruppierungen innerhalb der Gesellschaften getroffen, ohne dass diese hierzu nach demokratischen Maßstäben legitimiert oder beauftragt worden wären. Beispielhaft können hier die Vorstände großer Unternehmen, Bürgerinitiativen oder exklusive Kreise in Wissenschaft und Forschung genannt werden. Die dort getroffenen Entscheidungen sind der breiten Öffentlichkeit zumeist entzogen und unterliegen keiner demokratischen Kontrolle. Die klassischen Institutionen des politischen Systems sind häufig nicht beteiligt, womit die innerhalb des demokratischen Systems angelegte Transparenz bei solch gewichtigen Entscheidungsprozessen nicht immer gewährleistet ist.172 Mit Paul Kalma konstatiert auch ein anderer Autor, dass sich politische Diskussionen und Beschlussfassungen in verstärktem Maße außerhalb der traditionellen politischen Arenen abspielen würden. „De rol van de politiek is daarmee allerminst uitgespeld“173, so sein Fazit. Abgesehen davon stelle sich 171 Meyer, Thomas. Bonn 1998. S. 125. 172 Vgl. ebenda. 173 Kalma, Paul. Amsterdam 2004. S. 261.
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bei diesen abseits der vorgesehenen institutionellen Bahnen getroffenen Entscheidungen in der Tat die Frage nach der politischen Legitimität, auch wenn die so erzielten Ergebnisse häufig die Effektivität der Regierungsarbeit erhöhen würden.174 Der Sozialdemokrat Sigmar Gabriel spricht in diesem Kontext von einer „Entgrenzung der Politik. Viele politische Weichenstellungen vollziehen sich heute außerhalb der für sie vorgesehenen Institutionen und Verfahren. Sie werden in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und transnationalen Netzwerken getroffen, oft ohne demokratische Beratung und Mitgestaltung.“175 Dies lässt den politischen Parteien wenig Handlungsspielraum, den es zurückzugewinnen gilt. Sie müssen auf die neuen starken ‚Mitspieler’ in den Gesellschaften zugehen und neue Wege der politischen Kommunikation finden. Demnach lässt sich abschließend schlussfolgern, dass eine der Herausforderungen für die Sozialdemokratie darin besteht, neben den schon erwähnten neuen Inhalten auch neue Formen der Politik zu entwickeln. Sozialdemokratische Parteien sind herausgefordert, wieder gestaltender und hörbarer in den politischen Diskurs einzugreifen und alte, traditionelle Denk- und Verhaltensmuster zu hinterfragen und zu ändern.
1. 2.
„Ende der Sozialdemokratie“ oder der Wandel der Grundlagen sozialdemokratischer Politik: von Niedergangstheorien und neuen Chancen
Nachdem im vorangegangenen Kapitel die gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen für sozialdemokratische Politik in den letzten 25 Jahren in einem ersten Überblick dargestellt wurden, sollen im folgenden Textabschnitt die Diskussionen und Analysen erörtert werden, die sich zeitlich parallel dazu entwickelten. Der Wandel der Grundlagen sozialdemokratischer Politik, sei er wirtschaftlicher, kultureller oder gesellschaftlicher Natur, hat eine seit dem Beginn der achtziger Jahre nicht mehr verstummende Debatte darüber angestoßen, ob die Sozialdemokratie noch zukunftsfähig sei. Im Verlauf dieses Kapitels sollen zuerst die Umstände beziehungsweise die Voraussetzungen der von einigen Autoren prognostizierten Krise der Sozialdemokratie beschrieben werden, um daran anschließend verschiedene Niedergangstheorien und die jeweiligen Antworten darauf zu skizzieren. 174 Vgl. ebenda. 175 Gabriel, Sigmar. Süddeutsche Zeitung. 27.09.2008. S. 26.
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1. 2. 1. Niedergangstheorien - Die Sozialdemokratie am Ende ihrer Geschichte? Beginnend mit den späten siebziger Jahren prognostizierten einige Autoren den unaufhaltsamen Niedergang der Sozialdemokratie auf Grund von ihrer Ansicht nach irreversiblen Veränderungen der Umweltbedingungen. Bevor jedoch Einzelne der vielen Aspekte, die die Analysten als ursächlich für den Niedergang benennen, erläutert werden, gilt es eine bedeutsame Ursache herauszuheben, die für alle große Relevanz besitzt: es ist die Krise oder das Ende des Keynesianismus. Wie noch zu zeigen sein wird, stellt der Niedergang des Keynesianismus den maßgeblichen Rahmen dar, innerhalb dessen sich die meisten Niedergangstheoretiker bewegen. Wenn man jedoch die Krise beziehungsweise das Ende des Keynesanismus mit dem Niedergang der Sozialdemokratie in einen engen Wirkungszusammenhang stellt, ist es notwendig, kurz die Vorteile dieser Theorie für sozialdemokratische Politik zu erläutern. Die Wirtschaftstheorie des Keynesianismus hatte für die Sozialdemokratie eine immens große Bedeutung; der Politologe Adam Przeworski spricht in seinem Buch mit dem Titel ‚Capitalism and Social Democracy’ in Bezug auf den Keynesianismus gar von einem ‚Geschenk des Himmels’ an die Sozialdemokratie.176 Denn diese Wirtschaftheorie lieferte der Sozialdemokratie entscheidende Argumente dafür, dass sich die Verwirklichung des Sozialismus auch oder vor allem durch Partizipation im bürgerlich demokratischen Staat erreichen lasse.177 Der Keynesianismus ‚versöhnte’ gewissermaßen die Sozialdemokratie mit dem Kapitalismus, da er Handlungsmöglichkeiten aufzeigte und Spielräume eröffnete, die für Verwirklichung sozialdemokratischer Ziele genutzt werden konnten. Der Politikwissenschaftler Mark Kesselman nennt konkret drei durch den Keynesianismus hergestellte Wirkungszusammenhänge, mit deren Hilfe die Sozialdemokratie ihre aktive Teilnahme am wirtschaftlichen und politischen Geschehen in kapitalistischen Demokratien rechtfertigen und erklären könnte.178 An erster Stelle spricht Kesselman davon, dass der Keynesianismus eine theoretische Erklärung für ein funktionierendes Miteinander von zwei so wichtigen und in der heutigen Zeit häufig gegensätzlichen gesellschaftlichen Zielen wie sozialer Gerechtigkeit und ökonomischer Effizienz bereitstellte. Die Wirtschaftstheorie von John Maynard Keynes lieferte eine Blaupause für eine 176 Vgl. Przeworski, Adam: Capitalism and Social Democracy. Cambridge 1985. 177 Vgl. Kesselman, Mark: Sozialdemokratische Wirtschaftstheorie nach dem Ende des Keynesianismus. In: Borchert, Jens u.a. (Hrsg.): Das sozialdemokratische Modell: Organisationsstrukturen und Politikinhalte im Wandel. Opladen 1996. S. 136. 178 Vgl. ebenda. S. 137.
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positive wechselseitige Beziehung der beiden Bereiche, so Kesselman. Als Beispiel hierfür nennt er sozialdemokratische Regierungserfolge in den 50er bis 70er Jahren. Viele politische Entscheidungen der damaligen Zeit, die soziale Gleichheit und Gerechtigkeit zum Ziel hatten, hätten gleichzeitig eine Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität zur Folge gehabt. Und durch ein stetes Wachstum der Wirtschaft und eine steigende ökonomische Effizienz wurden Überschüsse zur Verfügung gestellt, die die Grundlage für eine prosperierende wohlfahrtsstaatliche Verteilungspolitik waren. Ausgehend vom Konzept von Angebot und Nachfrage sah der Keynesianismus im gut entlohnten Arbeiter die beste Garantie für eine hohe Nachfrage, welche die Wirtschaft stimulieren würde. Das Angebot bestand dann darin, dass die Arbeiter und Angestellten wohlfahrtstaatlich abgesichert waren, sofern sie mit ihrer Arbeits- und Kaufkraft einen Beitrag zur Steigerung der Produktivität leisteten. 179 „Für den Fall, dass sich die Arbeiterbewegung mit dem Kapitalismus arrangierte, versprach der Keynesianismus mithin die besten Aussichten auf Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und steigenden Lebensstandard.“180 Aus der durch den Keynesianismus hergestellten Vereinbarkeit von sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Effizienz, also der weitestgehenden Harmonisierung der Interessen von Arbeitern und Kapitalisten, ergibt sich laut Kesselman ein zweiter Wirkungszusammenhang. Dieser Einklang zwischen Arbeiter- und Kapitaleignerinteressen, der den Erkenntnissen der klassischen Wirtschaftstheorien sowie denen des Marxismus konträr gegenübersteht, führte gemäß der Keynes’schen Wirtschaftstheorie zu einer positiven Bilanz für beide Seiten. Die Erlangung sozialer Gerechtigkeit erschien wirtschaftlich profitabel, solange es einen bestimmten Anteil übereinstimmender Interessen zwischen Arbeitern und Kapital gab und die beiden Seiten an einem Strang zogen. Mit Hilfe von Tarifverhandlungen wurde in dieser Situation ein institutioneller Rahmen bereitgestellt, in dem sich die beiden Gruppen annähern und ihre gemeinsamen Interessen festlegen konnten. Auf diese Weise konnte zumeist sichergestellt werden, dass gegenläufige Tendenzen und Interessen das für alle Beteiligten positive Gesamtgefüge nicht in Gefahr brachten.181 An dritter Stelle kommt ein Zusammenhang zum Tragen, der für die Sozialdemokratie von besonderer Bedeutung war, da er einen Ausblick auf die Zukunft ermöglichte. Das von Sozialdemokraten seit jeher angestrebte Ziel, die allmähliche Transformation der bürgerlichen kapitalistischen in eine sozialisti179 Vgl. ebenda. 180 ebenda. S. 138. 181 Vgl. ebenda. S. 139.
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sche Gesellschaft, erschien mit Hilfe des Keynesianismus langfristig möglich. „Der Keynesianismus lieferte das bis dahin fehlende Bindeglied zwischen der Partizipation im bestehenden politischen und gesellschaftlichen System und der strukturellen Transformation dieses Systems.“182 Denn durch die anvisierten Maßnahmen zur Regulierung und Stabilisierung des Systems wurde neben der partiellen Umverteilung materieller Ressourcen zugunsten der Arbeiter und Angestellten ein nachhaltiger und stetiger Entwicklungsprozess in Gang gesetzt. Mit der Zeit würden sich die Machtverhältnissen zugunsten der Arbeiterklasse verschieben, wenn die nach John Maynard Keynes Theorie durchgeführten staatlichen Reformen langfristig angelegt und umgesetzt würden, was zur Folge haben könnte, dass die politischen Kräfte der Arbeiterbewegung in Gestalt der Sozialdemokratie den Übergang zum Sozialismus würden einleiten können. Voraussetzung hierfür wäre aber, dass es ein konstantes wirtschaftliches Wachstum gäbe, das den positiven Kompromiss zwischen Arbeitern und Kapital ja erst ermöglicht.183 Zusammenfassend kann man sagen, dass es eine erfolgreiche sozialdemokratische Nachfragepolitik ohne die Theorie von John Maynard Keynes nicht gegeben hätte. Diese die Konjunktur und somit den Aufschwung stabilisierende antizyklische Wirtschaftspolitik, die vielerorts über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten dazu führte, dass politische Steuerungsansprüche im Gegensatz zur Ökonomie des reinen Marktgeschehens dominierten, war das Resultat eines funktionierenden Keynesianismus. Um eine sozialdemokratisch-keynesianische Wirtschaftspolitik aber in der Realität erfolgreich umzusetzen, bedurfte es verschiedener Faktoren, von denen laut Kesselman zwei besonders relevant waren. Als erstes bedurfte es eines kooperativen Austauschverhältnisses zwischen den organisierten Wirtschaftsinteressen, den organisierten Arbeitnehmerinteressen und dem sozialdemokratischen Staat. Zudem war eine internationale wirtschaftliche Expansion erforderlich, und zwar auf der Grundlage weitestgehend geschlossener und autonomer Nationalökonomien.184 Nur wenn diese beiden wichtigen Elemente gegeben waren, bestand überhaupt die Möglichkeit für sozialdemokratische Regierungen, regulierend und steuernd in den Markt einzugreifen und somit das Wirtschaftswachstum zu sichern und wohlfahrtsstaatlich handlungsfähig zu bleiben.
182 ebenda. 183 Vgl. ebenda. S. 139. 184 Vgl. ebenda. S. 141.
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Und hier liegt das entscheidende Problem des sozialdemokratischen Keynesianismus: seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben sich verschiedene Faktoren in Wirtschaft und Gesellschaft grundlegend verändert, ohne dass die Sozialdemokratie hierauf entscheidend hätte Einfluss nehmen können. Die sich in vielen westlichen Industriestaaten manifestierenden Wirtschaftskrisen, maßgeblich ausgelöst durch die Ölpreis-Schocks der Jahre 1974/75 und 1978/79, wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen und die aufkommende Globalisierung der Märkte, brachten eine wachsende Massenarbeitslosigkeit mit sich. Diese setzte den auf Wirtschaftswachstum angewiesenen sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat vielerorts unter Druck, da er bei steigenden Sozialausgaben und einem anwachsenden Staatsdefizit seine regulierende und steuernde Rolle nicht mehr wahrnehmen konnte. Hinzu kam, dass sich die nationalstaatliche Konjunkturpolitik im Angesicht globalisierter Märkte vermehrt als wirkungslos erwies.185 Besonders die Veränderungen der internationalen Kapitalmärkte mit ihrer Verringerung der Einflussnahmemöglichkeiten für viele westliche Industriestaaten haben die Voraussetzungen für eine erfolgreiche sozialdemokratisch-keynesianische Wirtschaftspolitik nachhaltig gestört, so der Politikwissenschaftler Fritz W. Scharpf. „Sie haben, so meine ich, die „terms of trade“ zwischen Kapital und Arbeit und zwischen Kapital und staatlicher Politik so grundlegend verändert, dass die früher erfolgeichen Instrumente der keynesianischen Wirtschaftspolitik im nationalen Rahmen ihre Wirksamkeit verloren haben.“186 Viele Maßnahme sozialdemokratischer Regierungen, wie die starke Regulierung wirtschaftlicher Entwicklung, die mit hohen Steuern einhergehende Umverteilungspolitik des Sozialstaats und der unter Einfluss der Gewerkschaften forcierte Schutz von Arbeitnehmerinteressen, wurden von einer Mehrheit der Bürger und Entscheidungsträger in den westeuropäischen Staaten als hinderlich angesehen bei der Reaktion ihrer Volkswirtschaften auf den neuen globalen Wettbewerb. Die nationalen Ökonomien müssten auf die Sachzwänge der globalisierten Wirtschaft mit entsprechender Anpassung antworten, so der damalige Tenor in großen Teilen der Bevölkerung dieser Staaten.187 „(…) In weiten Teilen der politischen Öffentlichkeit Europas (galt) das sozialdemokratische Reformprogramm nun auf einmal als ein moralisch gut gemeintes soziales Ver-
185 Vgl. Meyer, Thomas. Bonn 1998. S. 63. 186 Scharpf, Fritz W.: Vom Keynesianismus in einem Lande zum Sozialismus in einer Klasse? Optionen sozialdemokratischer Politik. In: Peter Glotz u. a. (Hrsg.), Vernunft riskieren. Klaus von Dohnanyi zum 60. Geburtstag. Hamburg 1988. 127–128. 187 Vgl. Meyer, Thomas. Bonn 1998. S. 64.
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sorgungsprogramm mit desaströsen wirtschaftlichen Folgen.“188 Die Orientierung an den Möglichkeiten und perzipierten Notwendigkeiten der aufkommenden wirtschaftlichen Globalisierung mündete laut Thomas Meyer in einem sich im Verlauf der achtziger und neunziger Jahre radikalisierenden neoliberalen Diskurs, der sozialdemokratischer Nachfragepolitik à la Keynes ablehnend gegenüberstand. Meyer spricht sogar davon, dass der „Zeitgeist“ in diesen beiden Jahrzehnten ein massiv ‚ökonomistisches’ Gepräge angenommen habe.189 Die Internationalisierung der Wirtschaft mit der damit verbundenen Deregulierung der Kapital- und Finanzmärkte hat somit der auf den Nationalstaat zugeschnittenen sozialdemokratisch-keynesianischen Wirtschaftspolitik die Grundlage entzogen, der Keynesianismus sozialdemokratischer Prägung funktionierte schlichtweg nicht mehr, da sind sich die Autoren einig. Der amerikanische Politologe Jonathon Moses fasst diese Entwicklung folgendermaßen zusammen: „Social democracy could be understood as a complex system of policy instruments created to function in a specific environment: one where control of capital was both possible and desirable. (…) The environment has changed in such a way that traditional social democratic instruments are no longer effective.”190 Der Niedergang des Keynesianismus ist das Hauptargument all jener Theoretiker, die von ‚ökonomischen End-Prognosen’ für die Sozialdemokratie sprechen.191 Die Anhänger dieser Niedergangsthesen gehen davon aus, dass die Sozialdemokratie durch die ökonomische Entwicklung der siebziger und achtziger Jahre mit ihrer Liberalisierung der Märkte im Rahmen der Globalisierung keinen Handlungsspielraum mehr habe. Den sozialdemokratischen Regierungen bleibe keine andere Wahl, als im internationalen Wettbewerb durch Steuersenkungen, Reduzierung der Kosten von Arbeit und mit Hilfe von Optimierungen der Renditebedingungen für Kapitalanleger zu versuchen, Investitionen ins Land zu holen und wirtschaftliches Wachstum zu generieren. Dies habe jedoch zur Folge, dass für so ureigene sozialdemokratische Politikfelder wie die Sozialstaats- oder Wohlfahrtsstaatpolitik nicht mehr im ausreichenden Maße Mittel zur Verfügung ständen.192 Andries Hoogerwerf und Jan Berkouwer sprechen in diesem Zusammenhang von der ‚Herrschaft des Marktes‘, die den ‚kalkulieren188 ebenda. 189 Vgl. ebenda. S. 65. 190 Moses, Jonathon W.: Abdiction from National Policy Autonomy: What’s left to leave? In: Politics & Society 22 (1994). S. 133. 191 Vgl. Meyer, Thomas. Bonn 1998. S. 72. 192 Vgl. ebenda. S. 72-73.
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den‘ Bürger in den Mittelpunkt einer freien Marktgesellschaft stelle und so gut wie keinen Spielraum mehr für staatliche, am Gemeinwohl orientierte Maßnahmen übrig lasse.193 „Wenn nun unter dem Zwang der Globalisierung die Nationalstaaten die Zinshoheit verlieren, eine nachfrageorientierte Politik der Steigerung der Massenkaufkraft durch staatliche kreditfinanzierte Programme nicht mehr realisierbar ist und die wichtigsten nationalen Steuerungsinstrumente durch die globale Flexibilität des Kapitals wirkungslos werden, so wird diesem Argument zufolge der Sozialdemokratie nunmehr das letzte Instrument zur Zähmung kapitalistischer Wirtschaftsentwicklung aus der Hand geschlagen,“194 so Thomas Meyer zusammenfassend über die Sicht der Niedergangstheoretiker. Schlussendlich sei einer sozialdemokratischen Wirtschafts- und Sozialstaatspolitik durch die Veränderungen der globalisierten Märkte die Handlungsgrundlage entzogen, wodurch wiederum der sozialdemokratischen Politik in Gänze ihre Legitimation und Grundlage entzogen worden sei.195 Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass der Soziologe Ralf Dahrendorf vom ‚Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts’ spricht.196 Dahrendorf, einer der herausragenden Vertreter des Neoliberalismus, resümierte, dass der wohlwollende sozialdemokratische Sozialstaat in Zeiten der Krise des Keynesianismus und der sich entwickelnden Globalisierung von den meisten Bürgern eher als einengend und übermäßig teuer empfunden werde.197 Obwohl auch für ihn das Ende des Keynesianismus die entscheidende Zäsur ist betrachtet er den Niedergang der Sozialdemokratie in einem über das rein ökonomische hinausgehenden Sinn aus einer mehr politischen Perspektive. Denn wenn Dahrendorf vom Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts spricht, meint er damit vor allem, dass die Sozialdemokratie ihre politische und gesellschaftliche Aufgabe erfüllt habe. Das Engerwerden der Handlungsspielräume für sozialdemokratische Politik durch die oben beschriebenen Umstände zeigt für Dahrendorf, dass die wesentlichen gesellschaftspolitischen Ziele der Sozialdemokratie in den letzten Jahrzehnten umgesetzt worden seien und jetzt konsequenterweise die programmatische Grundlage fehle. Sozialdemokratische Politik sei somit
193 Vgl. Hoogerwerf, Andries/Berkouwer, Jan. In: Berkouwer, Jan/Hoogerwerf, Andries (Red.). Rotterdam 1996. S. 2. 194 Meyer, Thomas. Bonn 1998. S. 74. 195 Vgl. ebenda. S. 75. 196 Vgl. Dahrendorf, Ralf. Stuttgart 1983. S. 16-17; und Dahrendorf, Ralf: Fragmente eines neuen Liberalismus. Stuttgart 1987. S. 91. 197 Vgl. Dahrendorf, Ralf. Stuttgart 1987. S. 22.
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gegenstandslos geworden, das sozialdemokratische Programm sei ein Thema von gestern, so der Soziologe. 198 Allen neoliberalen und neokonservativen Kritikern der Sozialdemokratie ist dabei ein Argument gemeinsam, nämlich dass die Sozialdemokratie mit dem Auf- und Ausbau des Sozialstaates ihre historische Aufgabe erfüllt habe.199 Darüber hinaus herrscht unter Neoliberalen, Neokonservativen und den Vertretern unterschiedlicher ökonomischer Schulen die Ansicht vor, „(…) dass es zum Wohle aller sei, wenn der Staat sich aus der Wirtschaft jenseits ordnungspolitischer Vorgaben weitestgehend heraushalte und Investoren nicht länger in ihren Entscheidungen von verteilungspolitisch motivierten Interventionen und Auflagen des Staates eingeschränkt würden.“200 Ein Niedergangstheoretiker, dessen Ansichten in diesem Zusammenhang Erwähnung finden sollte, ist der Politologe Jens Borchert. Er bezieht sich auf Dahrendorfs These vom Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts und spricht davon, dass man Anfang und Ende dieses Zeitraums exakt bestimmen könne, und zwar in erster Linie anhand des Aufbaus beziehungsweise anhand der Transformation des Wohlfahrtsstaates sozialdemokratisch-keynesianischer Prägung.201 „Zusammenfassend können wir Dahrendorfs sozialdemokratisches Jahrhundert als eine historische Ära definieren, die durch einen alles durchdringenden Politikmodus gekennzeichnet war, der vorübergehend eine stabile, wenn auch stets prekäre Balance zwischen den widersprüchlichen Strukturprinzipien Kapitalismus und Demokratie geschaffen hatte – eine Balance, deren wichtigste Säulen die Parteiendemokratie und der Wohlfahrtsstaat waren.“202 Diese Balance sei nicht mehr gegeben, so Borchert weiter, und er begründet dies mit einem erfolgreichen Angriff der konservativen politischen Kräfte auf den keynesianischen Wohlfahrtsstaat. Konservative Regierungen hätten den Wohlfahrtsstaat in den achtziger Jahren vielerorts in Europa nachhaltig transformiert, wobei die Sozialdemokratie zu diesen für sie so existentiellen Veränderungen sogar noch beigetragen habe und dadurch ihr eigenes Ende mit
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Vgl. ebenda. Vgl. Merkel, Wolfgang. Frankfurt 1993. S. 38-39. ebenda. S. 39. Borchert, Jens: Alte Träume und neue Realitäten: Das Ende der Sozialdemokratie. In: Borchert, Jens u. a. (Hrsg.): Das sozialdemokratische Modell: Organisationsstrukturen und Politikinhalte im Wandel, Opladen 1996. S. 40 und 45. 202 ebenda. S. 47.
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zu verantworten habe.203 Wie dies geschehen konnte und welche Rolle die Sozialdemokratie hierbei gespielt hat, soll im Folgenden erläutert werden. Die konservativen Regierungen im Europa der 1980er Jahre leiteten aus den oben schon dargestellten Herausforderungen durch neue globalisierte Märkte und die sich wandelnde Gesellschaften den Schluss ab, dass das Zusammenspiel der Kräfte im keynesianischen Wohlfahrtsstaat nicht mehr funktioniere und dieser daher umgebaut werden müsse. Sie stellten Forderungen, die schnell als Notwendigkeiten wahrgenommen wurden mit deren Hilfe sie auf die sich wandelnden Umweltbedingungen reagieren wollten. Zuvorderst wurde es als notwendig angesehen, dass jedes Land im internationalen Wettbewerb um Investitionen möglichst konkurrenzfähige Rahmenbedingungen biete. Deshalb schien es dringend geboten, die Sozialausgaben und vor allem die Steuern zu senken, um so Anreize für die Wirtschaft und andere Kapitaleigner zu schaffen. Darüber hinaus sollten durch Einsparungen Haushaltsdefizite und Staatsverschuldung reduziert werden. Zusammenfassend kann man sagen, dass es als notwendig erschien, den regulierenden und intervenierenden Staat abzubauen und seine Ausgaben generell zu senken.204 Diese von den Konservativen eingeforderten ‚notwendigen’ Anpassungen der Politik an die veränderten Umweltbedingungen entsprachen in vielen Fällen dem schon erwähnten ‚Zeitgeist’ der achtziger und neunziger Jahre in vielen westlichen Demokratien, was dazu führte, dass die Sozialdemokratie diese vermeintlichen ‚Sachzwänge’ ebenfalls nach und nach in ihr politisches Denken aufnahm. Borchert spricht davon, dass es nach einer Periode des zögerlichen Abwartens eine zweite Periode der schleichenden Anpassung gegeben habe.205 Zu Beginn der aufkommenden Wirtschaftskrise Anfang der siebziger Jahre wurde in vielen Ländern von sozialdemokratischer Seite her abgewartet, da man meinte, dass sich die unvermeidlichen Auswirkungen weltwirtschaftlicher Tendenzen wieder von selbst regulieren würden. Man praktizierte eine Art „Keynesianismus im Wartestand“206, so nennt es Jens Borchert. In den achtziger beziehungsweise neunziger Jahren fanden sich viele sozialdemokratische Parteien in einer zweiten Phase der schleichenden Anpassung wieder. Die konservativen Prämissen wurden übernommen, wofür exemplarisch die Aussage Gerhard Schröders steht, dass es keine linke oder rechte,
203 204 205 206
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Vgl. ebenda. S. 47 und 66-69. Vgl. ebenda. S. 56. Vgl. ebenda. S. 60. ebenda.
sondern nur eine ‚moderne und unmoderne’ Wirtschaftspolitik gebe.207 Man war sich weitestgehend einig über die Richtung, in die sich zukünftige Wirtschaftsund Sozialstaatspolitik bewegen sollte, womit unter den perzipierten Umständen unweigerlich der Abbau des Wohlfahrtstaates verbunden war. Dies hatte einen Konsens unter den politischen Eliten zur Folge, der notwendig war, um eine so tief greifende Wandlung des Wohlfahrtsstaates durchzuführen. Nur wenn sich die maßgeblichen politischen Akteure einig waren in Bezug auf die anstehenden Änderungen am wohlfahrtsstaatlichen System, konnten diese vor den Bürgerinnen und Bürgern legitimiert werden. Und in eben dieser Zustimmung zum Elitenkonsens sieht Borchert den entscheidenden selbstzerstörerischen Beitrag der Sozialdemokratie, der die irreversible Transformation des Wohlfahrtsstaates erst ermöglichte.208 Aus dem reinen Wandel wurde in dem Augenblick eine nicht mehr rückgängig machbare Transformation, in welchem „die Sozialdemokraten das Paradigma der internationalen Wettbewerbsfähigkeit akzeptierten und zur Grundlage ihres eigenen Handelns machten, um ihre Wahlchancen zu verbessern“209, so Borchert weiter. Äußerst problematisch hierbei ist jedoch, dass der Wohlfahrtsstaat in engem Zusammenwirken mit makroökonomischen Steuerungsmaßnahmen à la Keynes Kernbestand des sozialdemokratischen Politikmodus ist beziehungsweise war. Wenn der Wohlfahrtsstaat aber nach seiner Transformation mit einer wachsenden Anzahl sozialer Probleme belastet wird, für die er Lösungen bieten soll, und wenn gleichzeitig der internationale Wettbewerb um den besten Wirtschaftsstandort das beherrschende Paradigma nationalstaatlicher Politik geworden ist, dann funktioniert dieser klassische Politikmodus nicht mehr. „Jenes Muster von Politikinhalten, Prozessen, Organisations- und Integrationsformen, mit dem sie (die Sozialdemokratie) den Großteil dieses Jahrhunderts hindurch untrennbar verbunden schien“210, dieses Muster sei nach der Zustimmung der Sozialdemokratie zur Transformation des Wohlfahrtsstaates nicht mehr praktizierbar und wirksam, so Borchert.211Der sozialdemokratische Politikmodus sei Geschichte, die sozialdemokratischen Parteien hätten ihr Anliegen überlebt, denn „(…) der Wohlfahrtsstaat (ist) zu einer leeren Hülle verkommen, und die 207 Vgl. ebenda. S. 61. 208 Vgl. ebenda. S. 64; sowie Jürgen Habermas, der davon ausgeht, dass die Kräfte im politischen System sich weitestgehend selbst programmieren und sich somit gegenseitig die Legitimation für politisches Handeln ausstellen. Habermas spricht hierbei von einem selbst gesteuerten Legitimationsprozess. In: Habermas, Jürgen: Die nachholende Revolution. Frankfurt 1990. S. 192. 209 Borchert, Jens. Opladen 1996. S. 65. 210 ebenda. S. 67. 211 Vgl. ebenda. S. 66-67.
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Sozialdemokratie, die doch einstmals als stolzer Tiger der Arbeiterbewegung absprang, ist als blasser Bettvorleger gelandet.“212 Von der entgegengesetzten Warte her betrachten so genannte ‚Paläo-Marxisten’, also Anhänger eines orthodoxen Marxismus, die Transformation des Wohlfahrtsstaates. Sie bemängeln, dass die Sozialdemokraten es zugelassen hätten, dass die Kräfte des Marktes und somit die Kapitalbesitzer zuviel Einfluss in den westlichen Demokratien bekommen hätten. Dabei nehmen sie die sozialistische Gesellschaft mit dem dazugehörenden übermächtigen Staat als Maßstab.213 Der Niedergang der Sozialdemokratie leite sich aus deren reformistischen und auf die Anpassung an die kapitalistischen Spielregeln abzielendem Vorgehen ab. Das Kernargument der orthodoxen Marxisten lautete folgerichtig, dass die Sozialdemokratie durch das Verlassen des ‚richtigen Weges’ zum Sozialismus Opfer ihres eigenen Versuches geworden sei, dem Kapitalismus mit seinen eigenen Mitteln eines sozialeres Gesicht zu geben.214 Die Sozialdemokratie habe sich nicht mehr um die Transformation der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft bemüht, sondern diese durch ihre Politik der Anpassung be- wenn nicht sogar verhindert.215 Auch unter den Anhängern dieser Denkrichtung herrscht die Meinung vor, dass die Weltwirtschaftskrise in den siebziger Jahren mit dem darauf folgenden Kollaps des Keynesianismus die Handlungsspielräume für sozialdemokratische Politik nachhaltig eingeschränkt habe, was jedoch die Selbstentwaffnung der Sozialdemokratie nicht aufgehalten habe.216 Diese Tendenzen waren laut James Petras in einigen Ländern Südeuropas sogar so stark, dass die dortigen Sozialisten bei Regierungsbeteiligungen in den siebziger und achtziger Jahren Politiken verfolgten, die den neoliberalen und neokonservativen Politikinhalten einer Margret Thatcher und eines Ronald Reagan in nichts nachstanden.217 Folgerichtig sehen die orthodoxen Marxisten keine Zukunftschancen für die Sozialdemokratie und teilen in einem Punkt sogar die Ansicht von Ralf Dahrendorf, nämlich dass die Sozialdemokratie ihr Anliegen überlebt habe.
212 213 214 215
ebenda. S. 42. Vgl. Merkel, Wolfgang. Frankfurt 1993. S. 39. Vgl. ebenda. S. 40. Vgl. Miliband, Ralph/Saville, John/Liebman, Marcel/Panitch, Leo: Socialist Register 1985/6. London 1986. S. 483. 216 Vgl. Panitch, Leo: The Impass of Scial Democratic Politics. In: Miliband, Ralph/Saville, John/Liebman, Marcel/Panitch, Leo. London 1986. S. 52. 217 Vgl. Petras, James: The Rise and Decline of Southern European Socialism. In: New Left Review (146) 1984. S. 42 und 52.
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Eine weitere prominente Niedergangstheorie mit politischer Ausrichtung entstammt den Untersuchungen des Politikwissenschaftlers Adam Przeworski. In seinem Buch ‚Paper Stones’ aus dem Jahr 1986 skizziert Przeworski ein unauflösbares elektorales Dilemma für die Sozialdemokratie.218Auf der einen Seite müssten sich die sozialdemokratischen Parteien an den Arbeiterinteressen orientieren und eine sozialistische Politik verfolgen, die dazu beitrage, dass die Sozialdemokratie ein klar erkennbares und abgrenzbares Profil gegenüber anderen politischen Kräfte habe. Denn nur so könnten sie die notwendigen Stimmen ihrer historischen Stammklientel, der Arbeiterschaft, erhalten und würde als die relevante Kraft der Arbeiterbewegung betrachtet. Auf der anderen Seite müssten die Sozialdemokraten aber zur Kenntnis nehmen, dass die Arbeiter in keiner westlich-demokratischen Gesellschaft mehr die numerische Mehrheit bilden. Wenn nun aber über eine Mehrheit an Stimmen eine Regierungsbeteiligung und somit die Möglichkeit zur konkreten Politikgestaltung erlangt werden soll, reiche es nicht aus, sich inhaltlich nur an den Interessen einer Bevölkerungsschicht, nämlich der Arbeiter, zu orientieren. Es müssten auch andere Gesellschaftsteile für die politischen Ziele und Inhalte der Sozialdemokratie gewonnen werden, um möglichst große Wählerstimmenanteile zu bekommen.219 Przeworski geht bei seinem Ansatz von geschlossenen gesellschaftlichen Klassen aus und stellt fest, dass ein lediglich auf die Arbeiterklasse bezogener inhaltlicher Ansatz nicht mehr ausreiche für einen Wahlerfolg.220 Es müssten ‚supraclass-Ansätze’ verfolgt werden, die breitere gesellschaftliche Unterstützung sicherten, mit Hilfe derer man bei Wahlen wieder erfolgreich sein könnte. Diese Vorgehensweise erklärt Przeworski mit den Annahmen der RationalChoice-Theorie, da es rational-strategische Entscheidungen der sozialdemokratischen Führungspersönlichkeiten seien, diesen Weg zu gehen, um auf die sich ändernden gesellschaftlichen Strukturen zu reagieren.221 Doch diese rationalen und bei einer ersten Betrachtung nachvollziehbaren Entscheidungen seien nur Ausdruck des unausweichlichen Dilemmas der Sozialdemokratie, das ihren Niedergang einläuten würde. Denn laut Przeworski 218 Vgl. Przeworski, Adam/Sprague, John. Chicago 1986. 219 Vgl. Meyer, Thomas. Bonn 1998. S. 82. 220 Siehe hierzu Merkel, Wolfgang. Frankfurt 1993. S. 48-50. Merkel kritisiert die strikte Einteilung der Wähler in homogene Klassen als nicht mehr zeitgemäß und generell zu eng. Des Weiteren kritisiert er an Przeworskis Ansatz, dass dieser Klasseninteressen zu deutlich getrennt voneinander begreift, was dazu führt, dass Eingeständnisse für eine bestimmte Klasse zwingenderweise das Negieren von Interessen anderer Klassen bedeuten. Merkel merkt hierzu an, dass sich solch eindeutige und lediglich einer Klasse zuzusprechenden Interessen in der gesellschaftlichen Realität nicht wiederfinden würden. 221 Vgl. ebenda. S. 47.
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würden die sozialdemokratischen Parteien, indem sie eine über den unterschiedlichen Klasseninteressen befindliche Position einnähmen, unter ihrer ursprünglichen Stammklientel in der Arbeiterklasse an Glaubwürdigkeit und Zuspruch verlieren. Wenn sie sich jedoch nach wie vor mit radikaleren Positionen ausschließlich an die Arbeiter wenden würden, dann würden sie keine für einen Regierungsauftrag notwendige Mehrheit der Stimmen erlangen können. „When socialists seek to be effective in electoral competition they erode exactly that ideology which is the source of their strength among workers. To be effective they must organize the masses, and yet as they assume a supraclass posture they dilute their capacity to organize workers as a class. They cannot remain a party of workers alone, and yet they cannot broaden their appeal without undermining their own support among workers. They seem unable to win either way (…)”222, so das Fazit von Adam Przeworski. Der Niedergang der Sozialdemokratie ist also auch nach dieser Prognose unvermeidlich. Denn die Sozialdemokratie wird laut Przeworskis Anaylse von zwei Seiten unter Druck gesetzt. Zum einen ist der Niedergang sozialdemokratischer Parteien als Akteure im Wettbewerb um Wählerstimmen nach der geschilderten Logik unausweichlich, zum anderen zwingen die sozialstrukturellen Veränderungen der Gesellschaften die rational handelnden sozialdemokratischen Eliten zur Neuformulierung ihrer politischen Ziele, da sie nicht durch das Festhalten an traditionellen Politikinhalten für die abnehmende Klasse der Arbeiter ihren eigenen Niedergang einleiten wollen.223 Przeworski schlussfolgert demnach: „the era of electoral socialism may be over.“224 Hieran knüpfen soziologische End-Prognosen an, indem sie den Aspekt der abnehmenden Anzahl an Arbeitern an der Bevölkerung der westlichen Demokratien mit einer weiteren Beobachtung kombinieren. Gemeint ist die zunehmende Individualisierung in den westlichen Wohlstandsgesellschaften, die dazu führt, dass die Gesellschaft insgesamt immer heterogener strukturiert ist. Die traditionellen Milieu-Strukturen brechen vermehrt auf, der soziale Herkunftskontext bestimmt im abnehmenden Maße die persönliche und berufliche Zukunft, kurzum, das Individuum kann in den postmaterialistischen Gesellschaften des Westens immer selbstständiger und differenzierter über seinen Lebensstil und seine Berufswahl entscheidenden.225
222 223 224 225
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Przeworski, Adam/Sprague, John. Chicago 1986. S. 55-56. Vgl. Merkel, Wolfgang. Frankfurt 1993. S. 52-53. ebenda. S. 85. Vgl. Meyer, Thomas. Bonn 1998. S. 76-77.
Somit gibt es zum einen weniger Arbeiter, die einst die Stammklientel der Sozialdemokratie darstellten, zum anderen lösen sich im Zuge der verstärkten Individualisierung in den Gesellschaften die sozio-kulturellen Milieus, aus denen die Sozialdemokratie vormals breite Unterstützung erhielt, immer weiter auf, beziehungsweise es entstehen neue Milieus, die der Sozialdemokratie weit weniger verbunden sind. Von diesem Prozess der Auflösung und Neubildung sind in besonderem Maße die Unterschichten betroffen. Das Kernelement dieser Thesen ist folglich, ähnlich wie bei Adam Przeworski, dass die Sozialdemokratie ihrer elektoralen Basis verlustig gehe. Thomas Meyer fasst zusammen: „Da die sozialdemokratischen Parteien (…) als Arbeiterparteien entstanden sind und in ihrer gesamten Geschichte politisch immer von der Mehrheit der Arbeiterstimmen gelebt haben, aufgrund ihrer politischen Identität aber in anderen sozioökonomischen Schichten nicht im selben Maße Unterstützung gewinnen können wie sie durch den sozialen Wandel im Bereich der klassischen Arbeiterschaft verloren geht, schwindet allmählich aber unumkehrbar ihr soziales Fundament dahin.“226
1. 2. 2. Neue Chancen – Hoffnung für die Sozialdemokratie? Es gibt jedoch auch Stimmen, die den Niedergangsapologeten widersprechen und ihre Theorien widerlegen, beziehungsweise andere Schlüsse aus den wahrgenommenen Veränderungen für die Sozialdemokratie ziehen. In diesem Zusammenhang sollen hier die Ideen von Gøsta Esping-Andersen, Herbert Kitschelt und Fritz W. Scharpf einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Alle drei Autoren teilen die Ansicht, dass die Sozialdemokratie nicht notwendigerweise dem Untergang geweiht und auch nicht am Ende ihrer Geschichte angelangt sei, sondern dass es durchaus noch Handlungsmöglichkeiten und Chancen für sie gibt. Eine weitere Gemeinsamkeit der drei Wissenschaftler besteht in einer grundsätzlichen Annahme ihrer Studien: sie gehen alle davon aus, dass die sozialdemokratischen Parteien dem Wandel der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und der gesellschaftlichen Strukturen nicht tatenlos zusehen und sich ihm ‚ergeben’ müssen. Der Einfluss von bewusstem politischem Handeln wird als wichtig erachtet, biete sich hierdurch doch nach wie vor die Möglichkeit, zu lenken und zu gestalten.227 Die Autoren widersprechen demnach der unter den Niedergangstheoretikern vielfach verbreiteten Meinung, die Sozial226 ebenda. S. 76. 227 Vgl. Merkel, Wolfgang. Frankfurt 1993. S. 54.
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demokratie sei unter den gegebenen Umständen zur politischen Reaktion gar nicht mehr in der Lage. Mit welchen Argumenten die Autoren dabei im Detail arbeiten wird im Folgenden dargestellt werden. Der schwedische Politikwissenschaftler Gøsta Esping-Andersen nähert sich den Gestaltungs- und Einflussnahmemöglichkeiten für sozialdemokratische Parteien über eine vergleichende Studie der Entwicklung der sozialdemokratischen Parteien Norwegens, Dänemarks und Schwedens. Er betrachtet hierbei ebenso die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die skandinavischen Sozialdemokratien, wie auch die realisierten oder anvisierten ‚Policies’ der drei Parteien.228 Besondere Bedeutung misst Esping-Andersen dem Begriff der Klasse bei. Die verschiedenen Klassen sind für ihn die entscheidenden Träger eines Staates, denn die politischen Kräfte bauen auf Allianzen zwischen den Klassen maßgeblich ihre Handlungsfähigkeit. Im Falle der Sozialdemokratie bedürfe es einer Klassenallianz zwischen Arbeiterschaft und Mittelschicht, um eine ausreichende Unterstützung für sozialdemokratische Politik zu erhalten. Die Entwicklung der Zusammensetzung der Klassen bestimme auf sehr nachhaltige Art und Weise die Parameter für eine erfolgreiche Mobilisierung von Kräften für die Sozialdemokratie.229 Esping-Andersen führt hierzu weiter aus: „Clearly the relative numbers and character of the class will determine what is politically possible. Even more important perhaps is the classes’ organizational characteristics and capacity for self-expressions through trade unions, interest associations, and similar instruments. The evolution of social democracy will undoubtedly be affected by the degree of trade union centralization and penetration, the degree of capital concentration, the extent of class polarization, and the relative size of the working class.”230 Wenn es sozialdemokratischer Politik gelingen sollte, mit Hilfe von Reformen und institutionellen Einrichtungen, beispielsweise den Gewerkschaften, Solidarität zwischen Arbeitern und Angestellten zu erzeugen, dann könnten Klassenallianzen geschlossen werden. Diese würden anschließend als wichtige Quelle der Reproduktion sozialdemokratischer Macht dienen. Um jedoch eine solidarische Bindung zwischen Arbeiterklasse und Mittelschicht zu erreichen, bedarf es gezielter politischer Inhalte. Die sozialdemokratischen Policies sind
228 Vgl. Esping-Andersen, Gøsta: Politics Against Markets – The Social Democratic Road to Power. Princeton 1985. 229 Vgl. ebenda. S. 41. 230 ebenda.
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somit laut Esping-Andersen von großer Bedeutung, da sie entscheidend sind für den zukünftigen Erfolg der Sozialdemokratie. Die Kernthese des schwedischen Politologen fasst Wolfgang Merkel dementsprechend folgendermaßen zusammen: „Schwäche, Stärke, Perspektive und Zukunft sozialdemokratischer Parteien hängen vor allem von ihrer Politik und deren Wirkung ab, soziale Bündnisse zu formen. Das „Schicksal“ der Sozialdemokratie wird damit (…) wesentlich mit ihrem Handeln und den Ergebnissen ihres Handelns verknüpft.“231 Mit dieser Deutung widerspricht Esping-Andersen nachdrücklich einer Vielzahl von Niedergangstheoretikern, die behaupteten, die Sozialdemokratie werde an den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umständen des ausgehenden 21. Jahrhunderts zerbrechen, da sie diese kaum mehr beeinflussen geschweige denn sich ihnen anpassen könne. Esping-Andersen betont, mit Hilfe der richtigen politischen Inhalte könnte es sozialdemokratischen Parteien durchaus gelingen, eine erfolgreiche supra-class-Strategie zu verfolgen und mittel- bis langfristig den sozialdemokratischen Sozialstaat als erfolgreiches Politikmodell zu verteidigen. Grundlage dieser Beurteilung ist seine vergleichende Studie der skandinavischen Sozialdemokratien, wobei festgehalten werden muss, dass er in dieser Studie Parteien miteinander vergleicht, die relativ homogene Umweltbedingungen für ihr politisches Handeln hatten.232 Trotzdem bleibt die Kernaussage Esping-Andersens bestehen und ist auf andere sozialdemokratische Parteien übertragbar, nämlich dass gezieltes Regierungshandeln gemäß den Interessen der von der Sozialdemokratie mitinitiierten sozialen Bündnisse, unter Rücksichtnahme auf die sie tragenden Gesellschaftsschichten, der Sozialdemokratie nach wie vor neue Chancen und Handlungsmöglichkeiten eröffnen kann. Aus einer ähnlichen Perspektive heraus argumentierte 1994, also ein Jahr nach erscheinen des Textes von Gøsta Esping-Andersen, der amerikanische Politikwissenschaftler Herbert Kitschelt in seinem Buch ‚The Transformation of European Social Democracy’.233 Auch Kitschelt behauptet, dass die Zukunft der Sozialdemokratie in erster Linie in den Händen der Parteiführung und der Parteimitglieder liege, und nicht nur von äußeren und nicht beeinflussbaren Faktoren abhängen würde.234 „Damit lehnt Kitschelt diejenigen Auffassungen ab, die den sozialdemokratischen Niedergang etwa als Folge von Veränderungen in der Klassenstruktur oder im internationalen Umfeld interpretieren (…). Diese Fak-
231 232 233 234
Merkel, Wolfgang. Frankfurt 1993. S. 54. Vgl. ebenda. S. 55. Vgl. Kitschelt, Herbert: The Transformation of European Social Democracy. Cambridge 1994. Vgl. ebenda. S. 4.
83
toren mögen nach Kitschelt zwar zu einem Anpassungsdruck führen, nicht aber zu einem Niedergang.“235 Auf der anderen Seite teilt er viele der Ansichten der Niedergangstheoretiker, was den Zustand der Gesellschaften betrifft. Kitschelt stellt genau wie sie fest, dass sich im entwickelten Kapitalismus die sozioökonomischen Klassenstrukturen nachhaltig geändert haben und dass es Prozesse der Individualisierung gibt, die die Ansprüche der Menschen an die Politik verändert haben. Demnach hätten die Menschen andere, neue Präferenzen, auf welche die Politik reagieren müsse.236 Der traditionelle keynesianische Wohlfahrtsstaat würde diesen Veränderungen nicht mehr gerecht, so dass es für die konservativen politischen Kräfte ein leichtes wäre, ihn zu attackieren. Der Wohlfahrtsstaat habe die Bedingungen für diesen Präferenzenwandel mit geschaffen und würde nun ein Opfer seines eigenen Erfolges.237 „Most citizens take for granted the key accomplishments of social democratic policy, such as the rather substantial minimum standard of economic equality and security, but turn against what they perceive to be the excesses and unintended negative consequences of comprehensive welfare states, such as the bureaucratic control of social life and the lack of individualized attention to the clients of educational, health care, and other social services. The centralized management of social democratic policy institutions becomes the target of libertarian, decentralizing political demands.”238 Die Individualisierung und die Neuorientierung unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten ist aus der Sicht Kitschelts jedoch nicht nur problematisch, sie birgt auch Potential, welches es für sozialdemokratische Parteien konstruktiv zu nutzen gilt. Kitschelt distanziert sich ausdrücklich von Adam Przeworskis Ansatz in ‚Paper Stones’, in dem dieser von festen Klassenzugehörigkeiten ausgeht und die Klassen als Identifikationsmerkmal annimmt. Kitschelt geht vielmehr davon aus, dass sich die spezifischen Präferenzen jedes Einzelnen aus einer Mischung von persönlicher privater und beruflicher Situation sowie spezifischen Generations- und geschlechtlichen Rollenerfahrungen ergeben und eben nicht aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten, zumeist wirtschaftlich ermittelten Klasse. Die Gruppen oder Klassen hätten einen deutlich geringeren Einfluss, als Przeworski unterstellt.239 „Moreover, (social democratic) parties’ fortunes are not bound to particular socioeconomic groups, but 235 236 237 238 239
84
Kesselman, Mark. Opladen 1996. S. 154. Vgl. Kitschelt, Herbert. Cambridge 1994. S. 280. Vgl. ebenda. ebenda. Vgl. ebenda. S. 40.
depend on parties’ strategic choices in the arenas of interparty competition and intraparty decision making.”240 Daher könnten die sozialdemokratischen Parteien auf dem Weg der gezielten Ansprache von unterschiedlichen Wählergruppierungen auch in Zukunft Unterstützung und Legitimation für ihre Politik bekommen. Politische Parteien seien somit keine Gefangenen ihrer äußeren sozialen Umwelt, sie seien durchaus in der Lage, aus dem Wettbewerb der politischen Kräfte und den parteiinternen Diskursen die Mittel zu generieren, um erfolgreich gestalten beziehungsweise regieren zu können. Kitschelt fasst am Ende seines Buches in Bezug auf die zukünftigen Chancen für die Sozialdemokratie noch einmal zusammen, „(…) that the causes of social democratic success and failure are situated in the institutions and processes internal to the field of political competition and debate rather than in external social and political-economic institutions.“241 Einen anders gelagerten Ansatz verfolgt der deutsche Politikwissenschaftler Fritz W. Scharpf, wobei auch bei ihm Hoffnungen auf neue Chancen für die Sozialdemokratie geweckt werden. Scharpf geht es ebenfalls wie EspingAndersen und Kitschelt um das Aufzeigen neuer oder alternativer Handlungsmöglichkeiten für sozialdemokratische Politik. Wie schon an anderer Stelle in diesem Kapitel festgestellt, teilt auch Scharpf die Ansicht, dass das Ende des Keynesianismus die traditionellen Policies des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates ihrer Wirksamkeit und Praktikabilität beraubt hat.242 Der Klassenkompromiss der ‚Sozialpartnerschaft’ zwischen Arbeitern und Kapital funktioniere nicht mehr, und der internationale Wettbewerb mache die von der Sozialdemokratie politisch immer angestrebte Umverteilung von materiellen Ressourcen und Macht bis auf weiteres unmöglich. Scharpf zieht daraus den Schluss, dass die Sozialdemokratie akzeptieren muss, dass die Erlangung weiterer Vorteile für einen Teil ihrer Stammklientel, namentlich für die Arbeiter, nur auf Kosten eines anderen Teils eben dieser Arbeiterschaft gehen kann.243 Aus dieser Feststellung entwickelt er seine Kernthese für die Zukunft der Sozialdemokratie: das Ziel zukünftiger sozialdemokratischer Politik müsse die Herstellung des ‚Sozialismus in einer Klasse’ sein. Dieser biete die einzige noch gangbare Möglichkeit unter den gegebenen sozio-ökonomischen Bedingungen, und stelle die
240 241 242 243
ebenda. ebenda. S. 281 Vgl. Scharpf, Fritz W.. Hamburg 1988. 127–128. Vgl. Kesselman, Mark. Opladen 1996. S. 152.
85
einzige wirkliche Option dar, die der Sozialdemokratie zukünftig noch politischen Spielraum biete. 244 Der Weg dorthin müsse laut Scharpf über die Solidarität der besser gestellten Arbeiter mit den schwächeren Teilen der Arbeiterschaft gehen. Würde man die privilegierteren Arbeiter zu Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohnausgleich bewegen, so wären die Arbeitgeber bereit, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Dies würde zu einer Umverteilung der Ressourcen innerhalb der Arbeiterklasse führen, womit ein Ziel sozialdemokratischer Reformen auf solidarischem Weg erreicht werden könne.245 Nur auf diesem Weg könnte sich die Sozialdemokratie politischen Handlungsspielraum erhalten, so die Schlussfolgerung. „Für die absehbare Zukunft jedenfalls hat die Linke nur dann eine Chance der wirtschaftspolitischen Gestaltung, wenn sie die ganze Härte der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und damit auch die Grenzen ihrer binnenwirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten ausdrücklich akzeptiert – aber sie verdient diese Chance auch nur, wenn sie an den Zielen des demokratischen Sozialismus auch dann festhält, wenn diese nur als „Sozialismus in einer Klasse“ verwirklicht werden können.“246 Festgehalten werden muss dennoch, dass Scharpf bei aller Zuversicht über zukünftige Handlungsmöglichkeiten linker Parteien diesen mit solch einer Analyse eine relativ ausweglose Situation bescheinigt. Sein Vorschlag bedeutet eine deutliche Relativierung ursprünglicher sozialdemokratischer Ziele, eine partielle Anpassung an die weiter oben schon beschriebenen veränderten Umweltbedingungen, die recht tief ins ideologische Fleisch der Sozialdemokratie schneidet. Mark Kesselman bringt es auf den Punkt: „Während die Sozialdemokratie in ihrer Blütezeit zwei Ziele zugleich anstreben konnte, die Solidarisierung der Arbeiterschaft durch positive Lohnanpassungen als auch die Umverteilung zwischen den Klassen, müssen in der neuen Situation Unterschiede zwischen den Klassen sowie negative Lohnangleichungen innerhalb der Arbeiterschaft hingenommen werden.“247
244 245 246 247
86
Vgl. Scharpf, Fritz W.. Hamburg 1988. 138-140. Vgl. Kesselman, Mark. Opladen 1996. S. 153. Scharpf, Fritz W.. Hamburg 1988. S. 143. Kesselman, Mark. Opladen 1996. S. 153.
2.)
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)
2.1.
Die institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für politisches Handeln – nationalstaatliche Besonderheiten
Wenn man die programmatische Entwicklung einer Partei und den Umgang mit den für sie relevanten politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen analysieren will, ist es unerlässlich, zuerst einen Blick auf die institutionellen Rahmenbedingungen des politischen Geschäfts zu werfen. In diesem Kapitel und den entsprechenden bei der Untersuchung der beiden anderen Parteien wird nach den Faktoren des politischen Systems gefragt werden, die die Inhalte und die Form der programmatischen Arbeit sozialdemokratischer Parteien im jeweiligen Untersuchungszeitraum beeinflussen. Hierbei werde ich mich auf zwei Aspekte konzentrieren, die besonders relevant und einflussreich sind, nämlich das jeweilige Wahlsystem und das damit in Verbindung stehende Parteiensystem. Denn so unterschiedlich die Wahl- und Parteiensysteme in den drei hier betrachteten Nationalstaaten angelegt beziehungsweise ausgeprägt sind, so unterschiedliche Konsequenzen ergeben sich hieraus für die Gestaltung politischer Inhalte.
2.1.1.
Wahlsystem
Definitionsgemäß stellen Wahlsysteme Verfahren dar, mit Hilfe derer die Bürgerinnen und Bürger in einer Demokratie ihre Präferenzen für eine Partei oder einen Kandidaten in Wählerstimmen ausdrücken.248 Hierbei kann zwischen zwei Grundtypen von Wahlsystemen unterschieden werden: der Mehrheits- und der Verhältniswahl, die sich „antithetisch gegenüberstehen“249. Wolfgang Ismayr spricht davon, dass „in den landesspezifischen Entscheidungen für ein Wahlsystem (…) ein unterschiedliches Verständnis demokratischer Repräsentation zum Ausdruck (kommt)“250. Bei einer Mehrheitswahl steht die Bildung einer stabilen Mehrheit im Vordergrund, wobei Disproportionalitäten von abgegebenen Stimmen und Mandaten in Kauf genommen werden. Die Verhältniswahl hat es hingegen zum Ziel, die politischen Parteien möglichst entsprechend ihrer Anteile 248 Vgl. Nohlen, Dieter: Wahlrecht/Wahlsysteme/Wahlprüfung. In: Andersen, Uwe/Woyke, Wichard (Hrsg.): Handwörterbuch des politischen Systems. Bonn 2003. S. 693. 249 ebenda. 250 Ismayr, Wolfgang: Die politischen Systeme Westeuropas im Vergleich. In: Ismayr, Wolfgang (Hrsg.): Die politischen Systeme Westeuropas. Opladen 2003. S. 37.
87
an den Wählerstimmen parlamentarisch partizipieren zu lassen. Im Vordergrund steht somit eine größtmögliche Kongruenz von Stimmen- und Mandatsanteilen.251 In der Bundesrepublik Deutschland existiert auf Bundesebene gemäß Art. 38 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 des Grundgesetzes, ergänzt durch das Wahlgesetz vom 7. Mai 1956, ein personalisiertes Verhältniswahlrecht.252 Hierbei gibt es Erst- und Zweitstimmen. Mit der Erststimme, der so genannten Personenstimme, entscheidet der Wähler über die Direktkandidaten, die die Hälfte der für den Bundestag zu wählenden Abgeordneten ausmachen. Mit seiner Zweitstimme, der Parteienstimme, entscheidet er über die zweite Hälfte der Abgeordneten, die anhand starrer Parteienlisten gewählt werden. Die übrigen Mandate werden den Parteien, gemessen an ihrem Zweitstimmenanteil, unter Zuhilfenahme des HareNiemeyer-Berechnungsverfahrens253, proportional zugeteilt. Das Verhältnisprinzip des deutschen Wahlrechts wird ergänzt durch eine 5%-Sperrklausel, die festlegt, dass nur Landeslisten derjenigen Parteien bei der Mandatszuteilung berücksichtigt werden, die mindestens 5 % der gültigen Zweitstimmen im gesamten Bundesgebiet erhalten haben. Alternativ hierzu können die Parteien die Sperrklausel bei nicht ausreichender Zweitstimmenzahl auch dadurch umgehen, dass sie mindestens drei Wahlkreismandate per Erststimme gewinnen.254 Wie wirkt sich das deutsche Verhältniswahlrecht mit eingebauter Sperrklausel nun in der politischen Praxis aus? Welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für die SPD? Fest steht, dass die Einführung der 5%-Klausel den Stimmenanteil der beiden großen Parteien, der Christlich Demokratischen Union (CDU) und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), an der Gesamtzahl der Stimmen zumindest in den 1950er bis 1970er Jahren, deutlich erhöht hat. Im Jahr 1976 lag dieser einmalig bei später nicht mehr erreichten 91,2 Prozent. Solche Rekordwerte wurden zwar in der jüngeren Vergangenheit nicht mehr erzielt,
251 Vgl. ebenda, sowie Nohlen, Dieter. Bonn 2003. S. 693. 252 Vgl. Rudzio, Wolfgang: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Opladen 2003. S. 197. 253 „Nach dem Hare-Niemeyer-Verfahren wird die Mandatszahl einer Partei wie folgt berechnet: Zweitstimmenzahl der Partei dividiert durch die Gesamtzahl der berücksichtigungsfähigen Zweitstimmen multipliziert mit der Gesamtzahl der zu verteilenden Mandate. Bleiben Mandate noch unverteilt, werden sie nach den größten Resten den Parteien zugeordnet.“ Rudzio, Wolfgang. Opladen 2003. S. 198. 254 Vgl. ebenda. S. 197-198.
88
aber nach wie vor teilen diese beiden Parteien den größten Stimmenanteil unter sich auf.255 Doch auch wenn CDU und SPD bisher bei jeder Wahl im Vergleich mit anderen Parteien immer die größten Stimmenanteile auf sich vereinen konnten, zwang das deutsche Verhältniswahlrecht die im Bundestag vertretenen Parteien jedes Mal in Koalitionen. Dabei gab es bis zum jetzigen Zeitpunkt fünf mögliche Konstellationen, wobei hier die drei häufigsten Konstellationen interessant sind: seit 1961 gab es entweder Koalitionen von einer der beiden großen Parteien mit einer dritten, kleineren Partei, oder es kam zum Zusammenschluss von CDU und SPD in einer großen Koalition.256 Das Repräsentationsverständnis, dass dem bundesdeutschen Wahlsystem innewohnt, kommt hier zum Tragen. Bei einer gewünschten größtmöglichen Kongruenz von Wählerstimmen und gewonnenen Mandaten ist es sehr unwahrscheinlich, und in den letzten vierzig Jahren auch nicht mehr vorgekommen, dass eine Partei alleine regieren kann. Die Zweitstimmenregelung der personalisierten Verhältniswahl, in Verbindung mit der 5%-Klausel, hatte in der Vergangenheit meist ein wahltaktisches Stimmensplitting der Wähler zur Folge, da diese fürchteten, bei einer Abgabe ihrer Stimme für eine kleine Partei diese Stimme zu vergeuden, falls es der Partei nicht gelingen sollte, die 5 %-Hürde zu überspringen. Demnach wurde in Hinblick auf zu erwartende Koalitionen häufig die Erst- und die Zweitstimme aufgeteilt zwischen einer der beiden großen Parteien und dem gewünschten zukünftigen Koalitionspartner.257 Hieraus ergeben sich für die Formulierung politischer Inhalte und Ziele einer Partei wie der SPD deutliche Konsequenzen. Da die SPD, um nach einer Wahl regierungsfähig zu sein, mit hoher Wahrscheinlichkeit auf einen Koalitionspartner angewiesen sein wird, müssen programmatische Aussagen dergestalt formuliert sein, dass sie grundsätzlich für andere Parteien tolerierbar und für eventuelle Änderungen im Rahmen von Koalitionsverhandlungen offen sind. Dies verdeutlicht einen der entscheidenden Unterschiede zwischen einem Verhältnis- und einem Mehrheitswahlsystem: die SPD sieht sich durch die deutsche Verhältniswahl mit einer größeren Zahl von anderen ‚Vetospielern’ konfrontiert, die einem Politikwechsel in Wege stehen könnten. Der politische Handlungsspielraum für eine Partei wie die SPD ist daher immer auch stark durch potenti255 Vgl. Ismayr, Wolfgang: Das politische System Deutschlands. In: Ismayr, Wolfgang (Hrsg.): Die politischen Systeme Westeuropas. Opladen 2003. S. 463. 256 Vgl. Hartenstein, Wolfgang: Fünf Jahrzehnte Wahlen in der Bundesrepublik: Stabilität und Wandel. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. B 21/2002. S. 39-46. 257 Vgl. Nohlen, Dieter. Bonn 2003. S. 696-697, sowie Rudzio, Wolfgang. Opladen 2003. S. 200201.
89
elle Koalitionspartner beschränkt, Berücksichtung finden müssen.258
2.1.2.
deren
politische
Inhalte
eventuell
Parteiensystem
Im Zusammenhang mit den beschriebenen Auswirkungen des Wahlrechts auf die Politikgestaltung der Parteien ist es notwendig, sich auch mit dem Mit- und Nebeneinander der Parteien, also mit dem jeweiligen Parteiensystem zu beschäftigen. Mit Parteiensystem ist die Gesamtheit der einzelnen Parteien und der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen gemeint.259 Generell lässt sich sagen, dass das Parteiensystem eines Landes „(…) nicht nur durch die Anzahl der Parteien, sondern noch mehr durch das zwischen ihnen bestehende Verhältnis, vor allem den Grad des Wettbewerbs und der Konfrontation zwischen den Parteien und den Parteilagern charakterisiert (wird).“260 Besonders interessant sind im Kontext der vorliegenden Arbeit die Aspekte des Wettbewerbs und der Konfrontation zwischen den Parteien, da sich hieraus in den jeweiligen Ländern ganz unterschiedliche Konsequenzen für die Entwicklung der politischen Programmatik ergeben. In Wechselwirkung mit den verschiedenen Implikationen durch das Wahlrecht ist das jeweilige Parteiensystem, wie in den Einzelfällen noch zu zeigen sein wird, ebenfalls relevant für die Formulierung der Programmatik der drei sozialdemokratischen Parteien. Das bundesdeutsche Parteiensystem kann, in Anlehnung an Giovanni Sartori, als ein System des leicht polarisierenden gemäßigten Pluralismus bezeichnet werden.261 Dies bedeutet im Fall der Bundesrepublik, dass von 1961 bis 1983 drei, danach vier, und ab 1990 fünf Parteien im politischen Wettbewerb miteinander standen beziehungsweise stehen. Diese Parteien bewegen sich ideologisch gesehen alle im Rahmen der parlamentarischen Demokratie, und begegnen sich in der Regel im maßvollen Wettbewerb. Wie schon im vorangegangen Abschnitt erwähnt, wird das deutsche Parteiensystem darüber hinaus seit 1961
258 Vgl. Schmidt, Manfred G.: Das politische System Deutschlands. Bonn 2008. S. 52. 259 Vgl. Sontheimer, Kurt/Bleek, Wilhelm: Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. München 1997. S. 205. 260 ebenda. 261 Vgl. Kimmel, Adolf: The German Party System. In: Haseler, Stephen/Meyer, Henning (Ed.): Reshaping Social Democracy – Labour and the SPD in the New Century. London 2004. S. 57.
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durch bipolare Koalitions-Konfigurationen beherrscht.262 Man kann davon sprechen, dass das Parteiensystem bis in die 90er Jahre hinein trotz des Dualismus‘ der beiden großen Parteien CDU und SPD einen deutlichen zentripetalen Charakter aufwies, da beide Parteien auf die Freie Demokratische Partei (FDP) als Koalitionspartner angewiesen waren. Von den 1960er bis in die 1990er Jahre erfüllte die FDP somit die Funktion einer ‚Scharnierpartei’, die beim einen Mal mit der CDU, beim anderen Mal mit der SPD koalierte.263 Für den hier relevanten Untersuchungszeitraum können drei entscheidende Veränderungen oder zeitliche Phasen ausgemacht werden, die das bundesdeutsche Parteiensystem beeinflussten. Eine erste nachhaltige Veränderung brachte im Jahr 1983 der Einzug der Grünen in den Bundestag. Hierdurch waren nun vier Parteien im Bundestag vertreten, und es ergaben sich neue Koalitionsmöglichkeiten. Von nun an standen sich zwei mögliche Regierungskonstellationen gegenüber: zum einen das bürgerlich-liberale Lager aus CDU und FDP, zum anderen das im linken politischen Spektrum angesiedelte Lager aus SPD und Grünen.264 Mit der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 erfuhr das Parteiensystem erneut einen Wandel. Nachdem verschiedene ostdeutsche Parteien mit den vier großen westdeutschen Parteien, namentlich der CDU, SPD, der FDP und den Grünen, fusioniert waren, erschien mit der Partei des demokratischen Sozialismus (PDS) eine fünfte Partei auf der bundespolitischen Bühne. Obwohl die PDS in erster Linie eine Regionalpartei war, die sich im Osten Deutschlands als dritte starke Kraft etablieren konnte, gelang ihr seit dem Jahr 1990 immer der Einzug in den deutschen Bundestag.265 Dies brachte für die Parteien des linken Spektrums, allen voran für die SPD, theoretisch neue Koalitionsmöglichkeiten mit sich. Wolfgang Rudzio bezeichnet die PDS als „umstrittenes koaliti262 Vgl. Schmid, Josef: Parteiensystem. In: Andersen, Uwe/Woyke, Wichard (Hrsg.): Handwörterbuch des politischen Systems. Bonn 2003. S. 473. 263 Vgl. Egle, Christoph: Deutschland: Der blockierte Musterknabe. In: Meyer, Thomas: Praxis der Sozialen Demokratie. Wiesbaden 2006. S. 279. 264 Vgl. ebenda, sowie Rudzio, Wolfgang. Opladen 2003. S. 153. 265 Hierbei ist festzuhalten, dass die PDS im Jahr 1990 zwar nur 2,4 Prozent der Stimmen erhielt, aber trotzdem in den Bundestag einziehen durfte. Gemäß einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes wurde bei der ersten gesamtdeutschen Wahl das Bundesgebiet in zwei Wahlgebiete aufgeteilt (Ost- und Westdeutschland), was der PDS durch gutes Abschneiden im Osten den Einzug sicherte. In den Jahren 1994 und 2002 erreichte die PDS den Einzug in den Bundestag nur durch den Gewinn von mehr als drei Direktmandaten, da sie bei beiden Wahlen weniger als 5 Prozent der Zweitstimmen erhielt. Vgl. Niedermayer, Oskar: Nach der Vereinigung: Der Trend zum fluiden Fünfparteiensystem. In: Gabriel, Oscar W./Niedermayer, Oskar/Stöss, Richard (Hrsg.): Parteiendemokratie in Deutschland. Bonn 2001. S. 114 und 116, sowie Ismayr, Wolfgang: Das politische System Deutschlands. Opladen 2003. S. 451-452.
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onspolitisches Reserverad für Rot-Grün“266, und spricht von einer Öffnung des Parteiensystems nach Linksaußen.267 Auch wenn es bisher noch keine Koalition einer oder mehrerer Parteien mit der PDS auf Bundesebene gab, so beeinflusste der Zuwachs an politischen Alternativen die programmatische Politikgestaltung der konkurrierenden Parteien. Eine weitere Entwicklung erlebte das deutsche Parteiensystem im Jahr 1998. In diesem Jahr wurde zum ersten Mal eine rot-grüne Koalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen ins Amt gewählt, und somit die offene Wettbewerbssituation zwischen den beiden Lagern CDU/FDP und SPD/Bündnis 90/Die Grünen manifestiert.268 Auch wenn, wie an dieser Wahl deutlich wurde, das Parteiensystem nach wie vor durch die Pole der beiden größten Parteien, der CDU und der SPD, nachhaltig bestimmt wird, dominieren diese nicht mehr in so deutlichem Maße wie noch in den 70er und 80er Jahren. Die drei kleineren im Bundestag vertretenen Parteien sind seit den späten 90er Jahren immer weniger klar im Parteiensystem zu verorten, sie befinden sich im offenen Wettbewerb miteinander um eine möglichst günstige Position für künftige Regierungskoalitionen. Oskar Niedermayer spricht in diesem Zusammenhang von einem moderaten Wandel in den 90er Jahren hin zu einem ‚fluiden tem’.269Dem entspricht auch die vielfach festzustellende abnehmende Bindung der Wähler an eine bestimmte Partei, was das Bild des fluiden Fünfparteiensystems plausibel erscheinen lässt.270 In der Tat ist es für eine Partei wie die SPD spätestens seit der Etablierung des Fünfparteiensystems immer wichtiger geworden, bei der Formulierung ihrer politischen Programmatik die politischen Inhalte der konkurrierenden 266 267 268 269 270
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Rudzio, Wolfgang. Opladen 2003. S. 154. Vgl. ebenda. S. 156. Vgl. Schmid, Josef. Bonn 2003. S. 473. Vgl. Niedermayer, Oskar. Bonn 2001. S. 126. Eine Erklärung für diese generellere Lockerung der Parteibindung bietet die DealignmentThese. Sie befasst sich mit der geringer werdenden Konstanz im Verhalten der Wähler. Von einer Phase des Dealignment wird dann gesprochen, wenn in der gesamten Wählerschaft über einen langen Zeitraum hinweg die Bereitschaft nachhaltig abnimmt, sich an eine bestimmte Partei zu binden. Die Kernaussage der These ist, dass sich die Wähler auf Grund von gestiegener Fähigkeit zur selbstständigen individuellen Entscheidungsfindung in politischen Fragen immer weniger der Interpretationshilfen politischer Gruppen in Gestalt von Parteien bedienen, die sie in früherer Zeit noch als wichtigen Bezugspunkt angesehen haben. Vgl. Dalton, Russell J./Flanagan, Scott C./Beck, Paul Allen (Ed.): Electoral Change in Advanced Industrial Democracies: Realignment or Dealignment. Princeton 1984, sowie Gluchowski, Peter/Graf, Jutta/Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich von: Sozialstruktur und Wahlverhalten in der Bundesrepublik Deutschland. In: Gabriel, Oscar W./Niedermayer, Oskar/Stöss, Richard (Hrsg.): Parteiendemokratie in Deutschland. Bonn 2001. S. 184.
Parteien insofern zu berücksichtigen, als dass mittlerweile so gut wie jeder dieser Wettbewerber ein zukünftiger Koalitionspartner sein könnte, sollte der Wähler dementsprechend entscheiden.
2.2.
Programmdebatte in der SPD – Form und Chronologie von 1984 bis 2007
Da es in dieser Arbeit um die Neustrukturierung sozialdemokratischer Programmatiken geht, ist es notwendig, sich im Vorfeld der genaueren Betrachtung der programmatischen Entwicklung einer Partei mit der formellen Entstehung von Parteiprogrammen zu befassen. Hierbei wird Bezug genommen auf die in Kapitel II.2.2.2. gemachten Anmerkungen zu Parteiprogrammen im Allgemeinen, und gemäß der Argumentation dort fokussiert sich die Untersuchung in diesem und den entsprechenden Kapiteln im Rahmen der Analyse der Labour Party, beziehungsweise der PvdA, auf die Entstehung der Grundsatzprogramme der drei Parteien. Zu fragen ist demnach, wie sich die Genese eines Grundsatzprogramms gestaltet, wer also über die Erarbeitung neuer Programmatiken entscheidet, wie es zu dieser Entscheidung kommt, und auf welche Art und Weise die neuen Inhalte anschließend erarbeitet werden. In Kapitel IV. dieser Arbeit werden nicht nur die jeweiligen Neugestaltungen der Programmatiken verglichen werden, auch die verschiedenen Wege der drei Parteien dorthin werden einem Vergleich unterzogen. Denn der formelle Verlauf einer Programmdebatte und die darin auftretende jeweilige Diskussionskultur stehen häufig in Wechselwirkung zu den erarbeiteten Inhalten. Erhard Eppler, einer der Vordenker der deutschen Sozialdemokratie, bemerkte in diesem Zusammenhang zu Beginn der Programmdebatte in der SPD im Jahr 1984: „Der Prozeß, in dem das neue Programm entsteht, wird ebenso wichtig sein wie der Programmtext, der am Ende verabschiedet wird.“271 Im Fall der SPD finden sich erste grundlegende Bestimmungen zu Parteien und Programmatiken im Grundgesetz beziehungsweise im Parteiengesetz aus dem Jahr 1967. In Anlehnung an Artikel 21 des Grundgesetzes, in dem die programmatischen Aufgaben der Parteien in der Bundesrepublik Deutschland definiert werden, formuliert das Parteiengesetz in § 1, Satz 3, dass Parteien ihre 271 Eppler, Erhard zitiert in: Meyer, Thomas: Das Berliner Grundsatzprogramm der SPD. In: Historische Kommission beim Parteivorstand der SPD (Hrsg.): Die programmatische Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie. Bonn 1994. S. 33.
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Ziele in Programmen niederlegen müssen. Des Weiteren bestimmt § 6, Satz 1 des Parteiengesetzes, dass diese Programme in schriftlicher Form vorgelegt werden müssen. Die Programme müssen laut § 9, Satz 3 des Parteiengesetz ordentlich auf Parteitagen verabschiedet werden, was dem Prinzip der demokratischen innerparteilichen Willensbildung entspricht. Klingemann/Volkens schlussfolgern hieraus, dass der deutsche Gesetzgeber durch diese Rechtsnormen den Typ der auf innerparteiliche Demokratie verpflichteten Programmpartei als erstrebenswert für die Bundesrepublik erachtete, wobei dieser Parteityp zusätzlich vom schon erwähnten Verhältniswahlrecht begünstigt wird.272 Einen dementsprechenden Aspekt des Entstehungsprozesses der Parteiprogrammatik der SPD findet man im Organisationsstatut der Partei. Hier wird in § 17 festgehalten, dass alle zwei Jahre ein ordentlicher Parteitag stattfinden soll, der vom Parteivorstand einzuberufen ist. Zu den Aufgaben eines solchen Parteitags gehört gemäß § 20 Satz 4 des Organisationsstatutes die Beschlussfassung über die eingegangenen Anträge. Das Recht, Anträge auf einem Parteitag einzubringen haben sämtliche Gliederungen der Partei, vom Ortsverein bis zum Landesverband, von den Projektgruppen und Arbeitsgemeinschaften bis hin zum Parteivorstand.273 Häufig ist es so, dass der Parteivorstand auf Empfehlung von Arbeitsgruppen oder Kommissionen hin Anträge auf Parteitagen einbringt, so auch geschehen auf dem Essener Parteitag im Jahr 1984, wo auf Empfehlung der Grundwerte-Kommission hin der Parteivorstand einen Antrag auf Einrichtung einer Programmkommission zur Erarbeitung eines neuen Grundsatzprogramms stellte.274 In dem Antrag heißt es: „1. Der Parteivorstand wird beauftragt, eine Kommission einzusetzen, die auf der Grundlage der im Godesberger Programm getroffenen Grundsatzentscheidungen ein neues Grundsatzprogramm erarbeitet.“275 Zum Vorsitzenden der Kommission wurde Willy Brandt ernannt, der
272 Vgl. Klingeman, Hans-Dieter/Volkens, Andrea. Bonn 2001. S. 510. 273 Siehe hierzu §§ 8 Satz 5 und 6, sowie 10 Satz 1-3 des Organisationsstatuts der SPD. 274 Vgl. Vorstand der SPD, Abt. Presse und Information (Hrsg.): Godesberg heute – Bericht der Grundwertekommission zum Godesberger Grundsatzprogramm. Bonn 1984. S. 15; sowie Dowe, Dieter: Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen vom Programmparteitag in Berlin 1989 mit einer (fett gedruckten) Ergänzung, beschlossen vom außerordentlichen Parteitag in Leipzig 1998 – Vorbemerkung des Herausgebers. In: Dowe, Dieter/Klotzbach, Kurt (Hrsg.): Programmatische Dokumente der Deutschen Sozialdemokratie. Bonn 2004. S. 346; sowie Vorstand der SPD: Antrag 584 - Programmkommission. In: Vorstand der SPD, Abt. Presse und Information (Hrsg.): SPD Parteitag Essen Grugahalle 17.– 21. Mai 1984 – Materialien für ein neues Grundsatzprogramm. Bonn 1984. S. 3. 275 Vorstand der SPD: Antrag 584: Programmkommission. Bonn 1984. S.3.
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zugleich Parteivorsitzender der SPD war.276 Zur weiteren Vorgehensweise bei der Programmentwicklung wird im Antrag außerdem festgehalten: „4. Nach einem Zwischenbericht auf dem Parteitag 1986 wird die ProgrammKommission erweitert. Ihr gehören dann je ein Vertreter aller Bezirke und acht Mitglieder an, die vom Parteivorstand bestellt werden. 5. Über die Vorlage dieser Kommission wird – nach Diskussion in der Partei und durch Einladung an den auch über den Bereich der SPD hinausreichenden Sachverstand – auf einem außerordentlichen Parteitag nicht vor dem Jahre 1988 entschieden.“277 Die so ins Leben gerufene Kommission nahm ihre Arbeit am 29.08.1984 auf und tagte von da an jeden Monat mit allen Mitgliedern im Plenum.278 Es wurden Arbeitsgruppen gebildet, die mit Kommissionsmitgliedern und Beratern besetzt waren und sich mit Schwerpunktthemen beschäftigen sollten. Des Weiteren fanden in Irsee im Allgäu zwei Klausurtagungen statt, eine im Juli 1985 und eine im Mai 1986. Darüber hinaus wurde von der Programmkommission im Januar 1986 ein thematischer Fragenkatalog im Sozialdemokrat-Magazin veröffentlicht, der zu vielen inhaltlichen Beiträgen von einzelnen Parteimitgliedern, Arbeitsgruppen der Partei sowie nicht der SPD angehörenden Bürgerinnen und Bürgern führte.279 Gemäß dem Beschluss des Essener Parteitags von 1984 legte die Programmkommission auf dem Parteitag in Nürnberg im August 1986 einen Zwischenbericht ihrer bisherigen Arbeit vor, den so genannten ‚Irseer Entwurf’. Dieser wurde vom Parteitag als Arbeitsgrundlage für die weitere Programmdiskussion innerhalb und außerhalb der Partei akzeptiert.280 Nachdem Willy Brandt als SPD-Parteivorsitzender zurückgetreten war, wurde im Juni 1987 eine zweite Programmkommission unter dem Vorsitz von HansJochen Vogel, der Brandt als Parteivorsitzendem nachfolgte, ins Leben gerufen. In dieser zweiten Programmkommission sollten neben den vom Parteivorstand benannten Vollmitgliedern und den beratenden Mitgliedern ohne Stimmrecht auch Mitglieder aus den Bezirken der SPD sitzen. Jeder Bezirk entsandte dem276 Vgl. ebenda; sowie Dowe, Dieter. Bonn 2004. S. 346. 277 ebenda. 278 Eine vollständige Aufzählung aller Mitglieder der 1984 installierten Programmkommission findet sich im Anhang des Irseer Programmentwurfs von 1986. Vgl. Vorstand der SPD (Hrsg.): Irseer Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Juni 1986). Bonn 1986. S.108. 279 Vgl. ebenda. S. 108-109; sowie SPD-Programmarbeit – Einladung zur Diskussion: Erster Fragenkatalog der Programmkommission. In: Sozialdemokrat-Magazin, Heft 1 / Januar 1985, S. 8-10. 280 Vgl. Dowe, Dieter. Bonn 2004. S. 347.
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nach einen Vertreter mit Stimmrecht in die Kommission.281 Wie schon zuvor die erste, so traf sich auch die zweite Programmkommission zu monatlichen Sitzungen. Parallel hierzu startete die SPD am 18. September 1987 einen öffentlichen Dialog über das neue Grundsatzprogramm mit einer Auftaktveranstaltung in München. Dort diskutierten 200 Wissenschaftler, Künstler und Politiker mit führenden Vertretern der Programmkommission, unter anderem dem geschäftsführenden Vorsitzenden Oskar Lafontaine und dem stellvertretenden Vorsitzenden Erhard Eppler.282 Unter dem Titel ‚Programm in der Diskussion’ fanden dann von September 1987 bis zum November 1988 mehrere so genannte ‚Werkstattgespräche’ zu unterschiedlichen Themen statt. Behandelt wurden die Bereiche „Demokratie in Staat und Gesellschaft, Wachsen und Schrumpfen, Demokratisierung der Wirtschaft, Zukunft der Arbeit, Gleichstellung von Mann und Frau, Frieden, Sozialpolitik, Weltwirtschaft, Zukunft des Fortschritts, Solidarität der Generationen.“283 Vom Oktober 1988 bis zum Januar 1989 fanden schließlich erneut drei Klausurtagungen der Programmkommission statt, auf denen der zweite Programmentwurf diskutiert und erarbeitet wurde. Im März 1989 wurde dieser Entwurf von der Kommission endgültig verabschiedet, um im Anschluss den Gliederungen der Partei zur Erörterung und zur Formulierung eventueller Änderungsanträge auf dem kommenden Programmparteitag vorgelegt zu werden.284 Im Dezember 1989 fand in Berlin ein außerordentlicher Programmparteitag statt, auf dem das, im Anschluss als ‚Berliner Programm’ bezeichnete, neue Grundsatzprogramm der SPD verabschiedet wurde. Zeitgleich mit der Verabschiedung des Berliner Grundsatzprogramms hatte sich jedoch mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes die weltpolitische Lage im Allgemeinen und die deutsche im Besonderen nachhaltig verändert. Für die bundesdeutschen Parteien, besonders für die SPD, bedeutete das Ende des OstWest-Konflikts, dass sie sich nicht mehr von einem sozialistischen deutschen 281 Zur vollständigen Auflistung aller Programmkommissionsmitglieder ab 1987 sowie zur Aufschlüsselung nach Bezirken siehe Vorstand der SPD: Der Dialog ist eröffnet: Programmdiskussion im Ortsverein – Vorgelegt von der Programm-Kommission beim SPD-Parteivorstand. Bonn 1987. S. 18. 282 Vgl. Vorstand der SPD, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.): Wir denken weiter – Eröffnung des Dialogs zum neuen Grundsatzprogramm der SPD im Münchener Künstlerhaus. Bonn 1987. S. 3. 283 Vorstand der SPD, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.): Arbeitsheft zum neuen Grundsatzprogramm der SPD, Entwurf März 1989. Bonn 1989. S. 18. 284 Vgl. ebenda. S. 19.
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Staat abgrenzen mussten, und dass die jeweiligen Programmatiken jetzt den Anliegen des wiedervereinigten Deutschlands gerecht werden mussten. Nachdem sich die West-SPD mit der Ost-SPD, die sich im Februar 1990 in Leipzig ein eigenes Programm gegeben hatte, am 27. September 1990 vereinigt hatte, und nachdem die deutsche Wiedervereinigung im selben Jahr erfolgt war, „machte das Fehlen des Erfahrungshintergrunds der ostdeutschen Sozialdemokraten im weiterhin gültigen Berliner Programm das Wiederaufleben einer Programmdebatte vollends notwendig.“285 Der Parteirat beauftragte die Grundsatzkommission beim Parteivorstand mit der Erarbeitung von Vorschlägen zur Programmergänzung, die das Berliner Programm auf den Stand der Zeit bringen sollten. Nach langwierigen Diskussionen unterbreitete die Grundsatzkommission dem Parteivorstand dementsprechende Vorschläge, die der Parteivorstand per Antrag auf dem Leipziger Parteitag im Jahr 1998 zur Abstimmung stellte. Mit der Aufnahme der in Leipzig vorgelegten Ergänzungen wurde das Berliner Grundsatzprogramm, nun in der so genannten ‚Leipziger Fassung’, vom Parteitag in seiner Gültigkeit bestätigt.286 Im Dezember 1999 wurde die Programmdebatte auf dem Parteitag in Berlin erneut eröffnet. Der Parteitag verabschiedete einen Antrag des Parteivorstandes, in dem es heißt: „Angesichts der Veränderungen der letzten zehn Jahre soll das Grundsatzprogramm der SPD überarbeitet und neu formuliert werden. (…) Unsere langfristigen Antworten werden wir in der Debatte um ein neues Grundsatzprogramm der SPD erarbeiten. (…) Der Parteivorstand setzt eine Kommission ein, die ein neues Grundsatzprogramm erarbeitet.“287 Zum Vorsitzenden dieser Kommission wurde der damalige Parteivorsitzende Gerhard Schröder ernannt, der zugleich Bundeskanzler war.288 In der folgenden graphischen Übersicht werden die weiteren Mitglieder der Kommission genannt, und es werden die Arbeitsstrukturen anschaulich gemacht.
285 Dowe, Dieter. Bonn 2004. S. 347-348. 286 Vgl. ebenda. S. 348. 287 Vorstand der SPD: Antrag P1 – Leitantrag zum Grundsatzprogramm. In: Vorstand der SPD, Abt. Organisation (Hrsg.): Anträge zum Parteitag der SPD – Berlin 7. – 12. Dezember 1999. Berlin 1999. S. 338. 288 Vgl. ebenda.
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Quelle: Grundsatzprogrammkommission der SPD (Hrsg.): Wegmarken für ein neues Grundsatzprogramm – sozialdemokratische Vorstellungen zur nachhaltigen Gestaltung der globalen Epoche. Berlin 2001. S. 91.
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Die Programmkommission unter Gerhard Schröder legte auf dem Nürnberger Parteitag einen ersten Zwischenbericht mit dem Titel ‚Wegmarken für ein neues Grundsatzprogramm’ vor. In diesem Zwischenbericht wurden die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen seit der Verabschiedung des Berliner Programms 1989 aufgezeigt und kritisch diskutiert, und es wurden die unterschiedlichen Ansätze und Diskussionsbeiträge der verschiedenen Arbeitsgruppen ausgewertet und verglichen.289 „Die „Wegmarken“ präsentieren sich so mehr als Problemaufriss denn als ausgeformte Programmelemente“290, so der Historiker Dieter Dowe. Im weiteren Verlauf kam die Arbeit der Programmkommission auf Grund der Bundestagswahlen im Jahr 2002 zum Erliegen und wurde erst 2003 auf dem Parteitag in Bochum wieder eingefordert, indem der Landesverband Schleswig-Holstein einen Antrag zum Verfahren bei der Arbeit am neuen Grundsatzprogramm stellte. Darin heißt es: „Der Parteivorstand wird aufgefordert, den Gliederungen der Partei noch im ersten Vierteljahr 2004 den geplanten ersten Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm mit einem entsprechenden Beratungszeitplan zu geben. (…) Der Parteivorstand wird weiter aufgefordert, ein Konzept für eine möglichst intensive Beteiligung der Parteibasis an der Programmdebatte zu erarbeiten und umzusetzen.“291 Nahezu zeitgleich fand im Oktober 2003 eine intensive Programmdebatte unter jüngeren Mandats- und Funktionsträgern der SPD, sowie Wissenschaftlern und Publizisten statt, ganz im Sinne des eben zitierten Antrags. Diese Diskussionen, außerhalb des Rahmens der Programmkommission auf einer Fachtagung der Friedrich-Ebert-Stiftung geführt, mündeten in einen Grundsatzpapier mit dem Titel ‚Impulse. Für ein neues Grundsatzprogramm der SPD. Die neue SPD: Menschen stärken – Wege öffnen’.292 Diese Veröffentlichung, ergänzt durch mehrere separate Artikel der beteiligten Personen, sollte Anregungen für die weitere Programmdebatte liefern und die Arbeit der Programm289 Vgl. Grundsatzprogrammkommission der SPD (Hrsg.): Wegmarken für ein neues Grundsatzprogramm. Berlin 2001. 290 Dowe, Dieter: Anhang zur aktuellen Programmdiskussion – Vorbemerkung des Herausgebers. In: Dowe, Dieter/Klotzbach, Kurt (Hrsg.): Programmatische Dokumente der Deutschen Sozialdemokratie. Bonn 2004. S. 466. 291 Landesverband Schleswig-Holstein: Antrag 412 – Verfahren neues Grundsatzprogramm. In: SPD-Parteivorstand, Abt. Parteileben/Parteiorganisation (Hrsg.): Anträge zum ordentlichen Bundesparteitag der SPD – Ruhr Congress Bochum 17. bis 19. November 2003. Berlin 2003. S. 454. 292 Vgl. Impulse. Für ein neues Grundsatzprogramm der SPD. In: Friedrich-Ebert-Stiftung, Politische Akademie (Hrsg.): Die neue SPD. Menschen stärken – Wege öffnen. Bonn 2004. S. 297341.
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kommission ergänzen. Wenige Tage später, im November 2003, veröffentlichten 6 Mitglieder der Redaktionsgruppe der Programmkommission ebenfalls einen separaten Diskussionsbeitrag mit dem Titel ‚Akzente eines neuen Grundsatzprogramms’, wodurch die weitere offizielle Programmarbeit ebenfalls unterstützt wurde.293 Im April 2004 wurde vom Parteivorstand ein Beschluss verabschiedet, der den weiteren Verlauf der Programmdebatte und die Zusammensetzung der Programmkommission zum Inhalt hatte. Den Vorsitz der Programmkommission sollte der im März 2004 zum Nachfolger Gerhard Schröders im SPDParteivorsitz gewählte Franz Müntefering übernehmen. Ansonsten wurden alle ordentlichen Mitglieder des SPD-Präsidiums sowie eine Reihe von für den Parteivorstand nachnominierten Personen Mitglieder der Programmkommission. Den Bezirken und Landesverbänden wurde es freigestellt, ihre Vertreter beizubehalten oder neue zu wählen.294 Die Beteiligung der Partei betreffend wurde festgehalten, dass im Präsidium, dem Parteivorstand und dem Parteirat regelmäßig über den Fortgang der Arbeiten der Kommission Bericht erstattet werden sollte. Des Weiteren verpflichtete sich der Parteivorstand, eine Reihe so genannter ‚Programmhefte’ herauszugeben, in denen die Diskussionsbeiträge zu den einzelnen Kapiteln des Grundsatzprogramms aufbereitet werden, um sie den Parteigliederungen zur Verfügung zu stellen.295 Die außerplanmäßig stattfindende Bundestagswahl im Jahr 2005 unterbrach den 2004 neu aufgenommenen Prozess der Erarbeitung des neuen Grundsatzprogramms, so dass auf dem Parteitag in Karlsruhe im November 2005 der Landesverband Schleswig-Holstein erneut per Antrag auf die Arbeit am Grundsatzprogramm verwies: „Der vereinbarte Zeitplan konnte nicht eingehalten werden. Die innerparteilichen Diskussionen der letzten Monate haben jedoch gezeigt, dass eine grundsätzliche Verständigung in der SPD über gemeinsame Werte und Zielvorstellungen dringend erforderlich ist. Deshalb muss die Programmarbeit zügig fortgesetzt werden. Die Kommission soll an die vorliegenden Arbeitsergebnisse (…) anknüpfen und im ersten Halbjahr 2006 – nach Abstim293 Vgl. Albers, Detlev/Erler, Gernot/Müller, Michael/Strasser, Johano/Thierse, Wolfgang/Wieczorek-Zeul, Heidemarie: Akzente eines neuen Grundsatzprogramms. Berlin 2003. 294 Zur vollständigen Auflistung aller Programmkommissionsmitglieder ab 2004, sowie zur Aufschlüsselung nach Bezirken siehe SPD-Parteivorstand (Hrsg.): Tradition und Fortschritt – Start der Programmdebatte. Berlin 2005. S. 52-53. 295 Vgl. SPD-Parteivorstand: Beschluss zum weiteren Ablauf der Programmkommission. 19.04.2004. www.archiv.spd.de/servlet/PB/show/1034881/2004-04-19-Beschluss-PVProgrammkomission.pdf. S. 1-2.
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mung mit dem Parteivorstand – einen ersten Entwurf zur Diskussion in der Mitgliedschaft vorlegen. Die endgültige Beschlussfassung über das neue Grundsatzprogramm soll auf einem außerordentlichen Bundesparteitag spätestens Ende 2006 / Anfang 2007 erfolgen.“296 Der Antrag wurde angenommen, und unter dem Vorsitz des in Karlsruhe neu gewählten SPD-Parteivorsitzenden Matthias Platzeck wurde die Arbeit am neuen Grundsatzprogramm zur dringlichen ‚Chefsache’ erklärt. So heißt es im Januar 2006 in einer Presseerklärung der SPD: „Auf seiner Klausurtagung in Mainz hat der SPD-Vorstand den konkreten Fahrplan für die Debatte festgelegt. (…) Die Leitung der Programmdebatte hat der SPD-Vorsitzende zur Chefsache erklärt. Er werde, so die Ankündigung, den Vorsitz der Programmkommission übernehmen.“297 Gemäß den Vorgaben des SPD-Parteivorstandes sollten im Frühjahr 2006 erste Thesen für das neue Grundsatzprogramm vorgelegt werden, die anschließend inner- und außerhalb der SPD intensiv diskutiert werden sollen. Im April 2006 wurden schließlich vom Parteivorstand ‚Leitsätze auf dem Weg zu einem neuen Grundsatzprogramm’ vorgelegt, in denen die bisherigen Diskussionsergebnisse gebündelt waren. Diese ‚Leitsätze’ sollten als Grundlage für den weiteren Dialog dienen.298 Nachdem es am 14. Mai 2006 erneut einen Wechsel im SPDParteivorsitz gab, diesmal von Matthias Platzeck zu Kurt Beck, bat der neue Parteivorsitzende, der auch den Vorsitz der Programm-Kommission übernahm, im Sommer 2006 führende Vertreter aus Wissenschaft und Verbänden um Kommentierung und Ergänzung der im April 2006 vorgelegten Leitsätze für das neue Grundsatzprogramm. Diese Stellungnahmen, unter dem Titel ‚100 kluge Köpfe - Beiträge zur Programmdebatte der SPD’ zusammengefasst, wurden anschließend am 24. April 2007 vom Parteivorstand veröffentlicht.299
296 Landesverband Schleswig-Holstein: Antrag O 43 – Fortsetzung der Arbeit am neuen Grundsatzprogramm. In: SPD-Parteivorstand, Abt. Parteileben/Parteiorganisation (Hrsg.): Anträge zum ordentlichen Bundesparteitag der SPD – Karlsruhe Messe Kongress 14. 16. November 2005. Berlin 2005. S. 184. 297 SPD-Parteivorstand: Programmdebatte: Neue Kraft für sozialdemokratische Grundwerte. 17.01.2006. www.archiv.spd.de/servlet/PB/menu/1011220/1685100.html. 298 Vgl. SPD-Parteivorstand: Beschluss des Bundesparteitages vom 14. Mai 2006 in Berlin. 14.05.2006. www.spd.de/show/1758235/140506_Beschluss-BPT.pdf. S. 8. 299 Vgl. SPD-Parteivorstand (Hrsg.): 100 kluge Köpfe. Beiträge zur Programmdebatte der SPD. Stand: 13. Dezember 2006. Berlin 2006. S. 2.
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Zeitgleich nahm unter dem neuen Vorsitzenden Kurt Beck die Grundsatzprogramm-Kommission300 im September 2006 wieder ihre Arbeit auf, und legte dem SPD-Parteivorstand zu Beginn des Jahres 2007 einen ersten Programmentwurf vor. Dieser, nach dem Klausurtagungsort des Parteivorstands so genannte ‚Bremer Entwurf’ wurde im Januar 2007 vom Parteivorstand verabschiedet.301 Der Bremer Entwurf sollte die Diskussionsgrundlage für die Anfang 2007 gestartete ‚Dialogkampagne 2007’ sein, in der die SPD in einen intensiven Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern, gesellschaftlichen Gruppen, sowie den eigenen Parteimitgliedern treten wollte.302 Im Februar 2007 erhielten alle Parteimitglieder mit der Parteizeitung ‚Vorwärts‘ den Bremer Entwurf des Parteivorstandes. Zusätzlich fanden von Februar bis März vier regionale Programmkonferenzen statt, auf denen der Entwurf und die Kampagne vorgestellt werden sollten. Anschließend verschickte die Parteiführung mit der März-Ausgabe des ‚Vorwärts‘ einen Fragebogen für eine Mitgliederbefragung, der bis Anfang April 2007 zurückgeschickt werden sollte. Der Fragebogen sollte ebenfalls als Diskussionsgrundlage in den Ortsvereinen dienen, wo die Mitglieder in der ‚Woche der Ortsvereine’ vom 19. bis 25. März 2007 hierüber debattieren sollten. Darüber hinaus sollte jeder Unterbezirk der Partei einen Mitgliederkonvent zum Thema ‚Neues Grundsatzprogramm’ veranstalten. Den Abschluss der Diskussionsphasen sollte der Hamburger Bundesparteitag im Oktober 2007 setzen.303 Diesem Fahrplan entsprechend wurde das neue Grundsatzprogramm der SPD schließlich am 28. Oktober 2007 auf dem Hamburger Parteitag beschlossen.304
2. 3.
Problem- und Spannungsfelder – Herausforderungen für die deutsche Sozialdemokratie seit dem Ende der Ära Schmidt 1982
Im vorangegangen Abschnitt wurde verdeutlicht, wie der formelle Ablauf der Programmdebatte innerhalb der SPD im Untersuchungszeitraum aussah. Im jetzt 300 Zur vollständigen Auflistung aller Programmkommissionsmitglieder ab 2006, sowie zur Aufschlüsselung nach Bezirken siehe die Auflistung auf der SPD-Homepage zur Programmdebatte: www.programmdebatte.spd.de/servlet/PB/menu/1690929/index.html. 301 Vgl. SPD-Parteivorstand (Hrsg.): Soziale Demokratie im 21. Jahrhundert. „Bremer Entwurf“ für ein neues Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Berlin 2007. 302 Vgl. SPD-Parteivorstand: Die Dialogkampagne 2007. www.programmdebatte.spd.de/servlet/PB/show/1704070/3a-Kapitel%203_Fahrplan_A4.pdf. S. 1. 303 Vgl. ebenda. S. 1-3. 304 Vgl. SPD-Parteivorstand (Hrsg.): Hamburger Programm. Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Berlin 2007.
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folgenden Kapitel werden die Inhalte dieser über Jahre hinweg geführten Programmdebatten genauer untersucht. Eingeteilt in die vier in Kapitel III.1.1. schon herausgearbeiteten Themengebiete sollen die programmatischen Antworten der deutschen Sozialdemokratie auf die gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen der Zeit analysiert werden, angefangen mit der Entscheidung auf dem Essener Parteitag 1984, ein neues Grundsatzprogramm zu erarbeiten, bis hin zur Verabschiedung des aktuellen Hamburger Grundsatzprogramms im Jahr 2007. Vorweg ein paar Worte zu den hierfür benutzten Dokumenten und Quellen. Der Fokus der Untersuchungen liegt auf der Genese der beiden im Untersuchungszeitraum verabschiedeten Grundsatzprogramme der SPD. Zu diesem Zweck fließen unterschiedliche inhaltliche Beiträge in die Analyse mit ein, die im Rahmen der Programmdebatte der SPD entstanden sind, seien es Pressemitteilungen, Aufsätze in Zeitschriften und Sammelbänden, Zeitungsartikel, Publikationen der Partei oder Monographien. Darüber hinaus erscheint es sinnvoll, sich auch mit inhaltlichen Beschlüssen von Parteitagen zu befassen, insofern diese zur Weiterentwicklung der politischen Programmatik der SPD im Rahmen der definierten Herausforderungen beigetragen haben.
2.3.1.
Globalisierung der Wirtschaft – nationalstaatlicher Keynesianismus in der Krise
Unter derselben Überschrift wurden in Kapitel III. 1.1.1. schon grundsätzliche Veränderungen und Herausforderungen genannt, die sich für die Sozialdemokratie im Allgemeinen aus der Globalisierung der Marktwirtschaft und dem Brüchigwerden ihrer alten wirtschaftspolitischen Konzepte ergaben. An dieser Stelle gilt es jetzt zu fragen, wo nun die deutschen Sozialdemokraten in diesem Zusammenhang ihre größten Herausforderungen und Aufgaben sahen und sehen. Nach dem Scheitern der Regierung Schmidt im Jahr 1982 wurde offen sichtbar, dass die SPD mit ihrer bisherigen politischen Programmatik, die sich maßgeblich auf das Godesberger Programm aus dem Jahr 1959 stützte, den Anforderungen der Zeit nicht mehr gewachsen war. Schon mehrere Monate vor dem endgültigen Aus für die von Helmut Schmidt geführten Koalition aus SPD und FDP im Herbst 1982 hatte der Münchener SPD-Parteitag im April des Jahres den Parteivorstand und die Grundwertekommission damit beauftragt, einen Bericht über die Veränderungen zu erstellen, die sich seit der Verabschiedung
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des Godesberger Programms vor fast 25 Jahren ergeben hatten.305 Doch es blieb kaum Zeit für eine intensivere Beschäftigung mit grundsätzlichen programmatischen Fragen, da am 6. März 1983, somit lediglich ein halbes Jahr nach der Ablösung der Regierung Schmidt, Neuwahlen zum Bundestag anstanden. Zwar wurde im Rahmen des Wahlkampfes ein breit angelegtes Wahlprogramm verabschiedet, doch im Zusammenhang des hier relevanten Themas lässt sich sagen: „Ein einleuchtendes, attraktives Konzept zur Wiedergewinnung wirtschaftlicher Prosperität und Überwindung der Arbeitslosigkeit vermochte die Partei kaum zu bieten.“306 Die SPD verlor bei dieser Wahl dann auch deutlich und musste sich in der Opposition einrichten.307 Im Jahr 1984 wurde schließlich der eingeforderte Bericht der Grundwertekommission mit dem Titel ‚Godesberg heute’ im Vorfeld des ersten ordentlichen Parteitags nach der Wahl, der vom 17. bis zum 21. Mai in Essen stattfand, veröffentlicht. In diesem Bericht wird dem Parteivorstand an erster Stelle vorgeschlagen, ein neues Grundsatzprogramm vorzubereiten, zu diskutieren, und schlussendlich zu verabschieden.308 Es wird jedoch direkt deutlich gemacht, dass die Mitglieder der Grundwertekommission nicht an den Grundentscheidungen des Godesberger Programms rütteln wollen, sondern verschiedene Punkte ausdrücklich in einem künftigen Programm fortgeschrieben werden sollen. Hierzu zählt, unter anderem, das Bekenntnis zur Marktwirtschaft als einem bedeutsamen Aspekt jeder Industriegesellschaft. Der Bericht konkretisiert dies folgendermaßen: „Godesberg hat Planung und Markt, Vergesellschaftung und freie Unternehmerentscheidung in den Rang von Mitteln zurückverwiesen, deren sich demokratischer Sozialismus zur Erreichung seiner Ziele pragmatisch bedienen kann und muß. Dabei soll es bleiben.“309 Diese Aussagen müssten jedoch auf Grund der veränderten Rahmenbedingungen ergänzt werden, so der Bericht weiter. Die Arbeitslosigkeit sei deutlich gestiegen, und es sei nicht zu erwarten, dass sich diese allein durch Wirtschaftswachstum beseitigen lasse, welches in den Augen der Verfasser des Godesberger Programms noch als dauerhaft und garantiert angenommen wurde. In 305 Vgl. Hofschen, Gerd: Ein neues Programm als Konsequenz der Wahlniederlage? Zur beginnenden Diskussion um ein neues Grundsatzprogramm der SPD. In: SPW – Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft. 20. Jg. 6. 1983. S. 346. 306 Potthoff, Heinrich: Partei im Wandel. Stagnation – Kurssuche – Regierungsverantwortung. In: Potthoff, Heinrich/Miller, Susanne (Hrsg.): Kleine Geschichte der SPD 1848-2002. Bonn 2002. S. 291. 307 Vgl. ebenda. S. 292. 308 Vgl. Vorstand der SPD, Abt. Presse und Information (Hrsg.): Godesberg heute: Bericht der Grundwertekommission zum Godesberger Grundsatzprogramm. Bonn 1984. 309 ebenda. S. 4.
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direktem Zusammenhang hiermit sieht der Bericht die Fortentwicklung der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung, die viele Industriezweige, allen voran die der Grundstoffindustrien, in eine tiefe Krise gestürzt hätten.310 Im Godesberger Programm sei noch auf sehr hohe Wachstumsraten gesetzt worden, und gleichzeitig seien Strukturfragen und Fragen der qualifizierten Steuerung der Wirtschaft unterschätzt worden, so der sozialdemokratische Theoretiker Johano Strasser.311 Im Kommissions-Bericht werden dementsprechend konkrete Defizite des Programms von 1959 genannt, die es aufzuarbeiten gelte. In Bezug auf die Wirtschaft und die Steuerungsmöglichkeiten des Staates wird festgestellt, dass im Godesberger Programm die primäre Aufgabe von Wirtschaftspolitik darin gesehen wird, das Wirtschaftswachstum und den Aufschwung zu sichern und zu verstetigen. Und dieser Aufschwung könne konstant gehalten werden, so die Sozialdemokraten im Jahr 1959. Man ging aus von einem „“stetigen Wirtschaftsaufschwung“, der den Wohlstand mehrt, Verteilungskämpfe mildert, die Finanzierung sozialer Sicherheit gewährleistet, (und) Not und Elend “beseitigt“.“312 Diese Ansichten seien überholt, so der Tenor des Berichts der Grundwertekommission im Jahr 1984, und müssten dementsprechend überarbeitet werden. Es wird schließlich für eine völlige Neuformulierung des Kapitels zur Wirtschafts- und Sozialordnung plädiert, da zahlreiche neue Aspekte und Fragestellungen im Kontext der veränderten Rahmenbedingungen Eingang in das zu schreibende Kapitel finden müssten.313 Bei der Formulierung des neuen Programmkapitels müsse an erster Stelle gefragt werden, was bisher erreicht worden, was gefährdet, und was daher notwendig sei. Im Bericht wird in Bezug auf wirtschaftliche Themen festgehalten, dass man sich nach wie vor „auf dem Weg vom kapitalistischen Wildwuchs zum demokratischen und sozialen Konsens“314 befände. Notwendig sei es außerdem, sich mit den Grenzen und dem Preis des erfolgten wirtschaftlichen Wachstums auseinanderzusetzen. Ein wichtiges Ziel müsse es sein, dass die „Wirtschaft nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel für ein menschenwürdiges Leben verstanden“315 werde. Das sozialdemokratische Konzept einer Wirtschaftsordnung sei die demokratisch gesteuerte Marktwirt310 Vgl. ebenda. 311 Vgl. Japs, Gode: „Godesberg kritisch abklopfen“ – SPD beginnt Diskussion über Fortschreibung ihres Grundsatzprogramms von 1959. In: Vorwärts. Nr. 22. 26.05.1984. S. 7. 312 Vorstand der SPD, Abt. Presse und Information (Hrsg.): Godesberg heute : Bericht der Grundwertekommission zum Godesberger Grundsatzprogramm. Bonn 1984. S. 5. 313 Vgl. ebenda. S. 9. 314 ebenda. 315 ebenda.
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schaft, in der Leistungen und Grenzen des Marktes ebenso bestimmt werden müssten wie Aufgaben und Grenzen des Staates. Es müsse über neue Wege der wirtschaftspolitischen Steuerung nachgedacht werden, auf nationaler wie auf internationaler Ebene. So müssten Steuern auch als ordnungspolitische Instrumente definiert und eingesetzt werden. Hierbei ging es vor allem um die Sicherstellung einer gerechteren Verteilung in Bezug auf die öffentlichen Finanzen, aber auch in Bezug auf die Bildung von Produktivvermögen.316 Auf dem Essener Parteitag wurde anschließend, wie schon geschildert, eine Grundsatzprogrammkommission ins Leben gerufen, an die der Bericht der Grundwertekommission übergeben wurde, gemeinsam mit einer Vielzahl verschiedener vom Parteitag verabschiedeter Anträge, die als Grundlage der weiteren Arbeit dienen sollten. Diejenigen Anträge, die Ausgangspositionen für die Arbeit an den wirtschaftspolitischen Vorstellungen der SPD enthielten, wurden vom Parteivorstand gesondert zusammengefasst und veröffentlicht.317 Die Analyse der wirtschaftspolitischen Situation war in allen Anträgen die gleiche: die Wirtschaft sei in einer Krise, welche international, strukturell und lang andauernd sei. Diese Wirtschafts- und Beschäftigungskrise dauere jetzt schon ein Jahrzehnt, und während dieser Zeit habe der Glaube an ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum, durch das, langfristig betrachtet, wieder eine beständige Vollbeschäftigung erreicht werden könne, abgenommen. Gleichzeitig seien Zweifel am Wachstum als alleinigem Ziel des Wirtschaftens aufgekommen. Dennoch seien kaum ernsthafte Alternativen zu einer vorrangig am Wachstum orientierten Wirtschaftspolitik entwickelt worden. Die gegenwärtige Krise sei außerdem keine gewöhnliche konjunkturelle Krise, daher würden auch die traditionellen Krisenüberwindungsstrategien versagen.318 In dieser Situation müsse das zentrale Ziel der SPD die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sein. „Die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit ist (…) unsere wichtigste wirtschafts- und gesellschaftspolitische Aufgabe für die 80er
316 Vgl. ebenda. S. 10. 317 Vgl. Vorstand der SPD, Abt. Presse und Information (Hrsg.): SPD Parteitag Essen Grugahalle 17. – 21. Mai 1984. Materialien für ein neues Grundsatzprogramm. Bonn 1984. 318 Vgl. Unterbezirk Kassel-Stadt (Bezirk Hessen-Nord): Antrag 35: Menschenwürdige Arbeit in einer menschenwürdigen Gesellschaft. In: Vorstand der SPD, Abt. Presse und Information (Hrsg.): SPD Parteitag Essen Grugahalle 17. – 21. Mai 1984. Materialien für ein neues Grundsatzprogramm. Bonn 1984. S. 70; sowie Unterbezirk Hannover-Land (Bezirk Hannover): Antrag 10: Zukunft für alle, die Arbeit gestalten. In: Vorstand der SPD, Abt. Presse und Information (Hrsg.): SPD Parteitag Essen Grugahalle 17. – 21. Mai 1984. Materialien für ein neues Grundsatzprogramm. Bonn 1984. S. 53-54.
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Jahre“319, so wird in einem Antrag konstatiert. „Das wichtigste Ziel der Wirtschaftspolitik ist die Vollbeschäftigung. Diesem Ziel sind alle anderen Ziele untergeordnet“320, so die Forderung in einem weiteren Antrag. Die Gesamtpolitik der SPD müsse sich demnach an „binnenwirtschaftlichen, beschäftigungswirksamen und nachfragestärkenden Investitionen in einer demokratischen Wirtschaft“321 orientieren. Dies dürfe jedoch nicht auf Kosten des Sozialstaats in die Tat umgesetzt werden. Der Parteivorstand, der sich mit einem eigenen Antrag an der Debatte beteiligte, bemerkte dort, dass die Sozialdemokraten in einem zu gleichen Teilen marktwirtschaftlich und sozial verpflichtetem Wirtschaftssystem leben wollten. Die bisher erreichte Sozialbindung der Marktwirtschaft dürfe keinesfalls beseitigt oder eingegrenzt werden.322 Am 12. November 1984 hielt der SPD-Parteivorsitzende Willy Brandt im ErichOllenhauer-Haus eine Rede anlässlich des 25jährigen Bestehens des Godesberger Programms, in der er sich ebenfalls für die Erarbeitung eines neuen Grundsatzprogramms aussprach.323 Anknüpfend an die Feststellungen der Grundwertekommission und des Essener Parteitags benennt er die Wirtschaftskrise und die bisher mangelnden sozialdemokratischen Antworten darauf als wichtigen Beweggrund für eine Überarbeitung der Programmatik. Der Keynesianismus sozialdemokratischer Lesart, in Godesberg noch programmatischer Konsens, funktioniere nicht mehr: „Unterdessen hat uns die Entwicklung aufs neue nachdrücklich klar gemacht, dass die Hoffnung auf eine im wesentlichen krisenfrei funktionierende Wirtschaft eine Illusion war. (…) Angesichts der aktuellen Wucherungen der Finanzmärkte bei gleichzeitigem Niedergang der realen Investitionen und dem Anwachsen sozialer Notstände weltweit hat man bei uns und anderswo weitere Hoffnungen begraben müssen. (…) Das Problem „Kontrolle
319 Bezirk Westliches Westfalen: Antrag 13: Unsere Aufgabe für die achtziger Jahre: Arbeit für alle. In: Vorstand der SPD, Abt. Presse und Information (Hrsg.): SPD Parteitag Essen Grugahalle 17. – 21. Mai 1984. Materialien für ein neues Grundsatzprogramm. Bonn 1984. S. 55. 320 Bezirk Niederbayern-Oberpfalz: Antrag 21: Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. In: Vorstand der SPD, Abt. Presse und Information (Hrsg.): SPD Parteitag Essen Grugahalle 17. – 21. Mai 1984. Materialien für ein neues Grundsatzprogramm. Bonn 1984. S. 62. 321 Unterbezirk Kassel-Stadt (Bezirk Hessen-Nord). Bonn 1984. S. 70. 322 Vgl. SPD-Parteivorstand: Antrag 1: Arbeit für alle – Gemeinsam die Zukunft gestalten. In: Vorstand der SPD, Abt. Presse und Information (Hrsg.): SPD Parteitag Essen Grugahalle 17. – 21. Mai 1984. Materialien für ein neues Grundsatzprogramm. Bonn 1984. S. 37. 323 Vgl. Brandt, Willy: „25 Jahre nach Godesberg“. Rede im Erich-Ollenhauer-Haus am 12. November 1984. In: Vorstand der SPD, Abt. Presse und Information (Hrsg.): Willi Brandt: Zwischen Essener Parteitag und Irseer Entwurf. Reden, Artikel und Interviews zu Fragen des neuen Grundsatzprogramms (1984-86). Bonn 1986. S. 3.
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wirtschaftlicher Macht“, von dem wir ein Jahrzehnt nur leise gesprochen haben, ist ungelöst wie eh und je.“324 Im Jahr 1985 erschienen mehrere Beiträge von Wissenschaftlern und sozialdemokratischen Theoretikern in Sammelbandform. Besonders über wirtschaftspolitische Fragen fand eine rege Auseinandersetzung statt.325 Hierbei wurden die einzelnen Autoren teilweise recht deutlich, wenn es um die Beurteilung der wirtschaftspolitischen Ausgangslage der SPD ging. So wird in einem Beitrag konstatiert, dass es zwingend einer Analyse bedürfe, die die Funktionsweise einer kapitalistischen Krise als Ausgangspunkt nähme, da sonst die Illusion entstünde, es gäbe die Möglichkeit der konfliktfreien Durchsetzung einer Anti-Krisenpolitik.326 Auch hier wird die Arbeitslosigkeit als die größte Herausforderung in der Krise gesehen. Als Strategiebausteine gegen die Krise werden von den Autoren anschließend die Sicherung des Masseneinkommens, die Verkürzung der Arbeitszeit, die Mobilisierung und Stärkung der öffentlichen Nachfrage sowie die Umverteilung von Einkommen genannt.327 Zu den in der Krise offen zutage tretenden Grenzen des sozialdemokratischen Keynesianismus, und damit zur Konzeptlosigkeit der wirtschaftlichen Programmatik der SPD im Jahr 1985, meint ein anderer Autor: „Das Problem ist nicht, daß der Motor „streikt“, sondern, daß der Karren im Dreck sitzt und die Räder durchdrehen. Sozialdemokratisch-keynesianische Beschäftigungsprogramme, in welcher Höhe auch immer, führen nur zu einem immer schnelleren Durchdrehen. Dieser in der volkswirtschaftlichen Theorie als Stagflation bezeichnete Zustand führt darüber hinaus zu gewaltigen Lärm- und Abgasemissionen, was bei den Umstehenden das Vertrauen in den sozialdemokratischen Fahrer zusätzlich untergräbt.“328
324 ebenda. 325 Vgl. beispielhaft Himmelmann, Gerhard/von Loesch, Achim (Hrsg.): Sozialdemokratische Wirtschaftspolitik im Umbruch – Beiträge zur Programmdiskussion der SPD. Berlin 1985; sowie SPD – Jenseits von Godesberg. Beiträge zur Diskussion um ein neues Grundsatzprogramm. Distel-Hefte 7. Heilbronn 1985. 326 Vgl. Hajen, Leonhard/Mattfeldt, Harald: Aspekte sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik seit 1945 – Zur Notwendigkeit des wirtschaftspolitischen Reformismus heute. In: SPD – Jenseits von Godesberg. Heilbronn 1985. S. 72. 327 Vgl. ebenda. S. 73-79; sowie die Forderungen nach Demokratisierung der Wirtschaft durch Vermögensbeteiligung der Arbeiter am Produktivkapital, und nach Mitbestimmung der Arbeiter bei Entscheidungen in der Wirtschaft bei Rosenthal, Philip: Die Vermögensbeteiligung als Teil der Demokratisierung der Wirtschaft. In: Himmelmann, Gerhard/von Loesch, Achim (Hrsg.). Berlin 1985. S. 137. 328 Helfer, Andreas: Sozialdemokratische Außenwirtschaftspolitik: Offene Wirtschaft für eine offene Gesellschaft. In: Himmelmann, Gerhard/von Loesch, Achim (Hrsg.). Berlin 1985. S. 33.
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Der auf dem Nürnberger Parteitag im Juni 1986 vorgelegte Zwischenbericht der Grundsatzprogrammkommission nahm diese Kritiken und Anregungen auf, und gab einen ersten Ausblick auf die zukünftige wirtschaftspolitische Programmatik der SPD. Der so genannte ‚Irseer Entwurf’ beschäftigte sich ausführlich, teilweise auch in zu langer Form, so die vorweg genommene Kritik der stellvertretenden Vorsitzenden der Programmkommission Inge Wettig-Danielmeier, mit den grundsätzlichen und aktuellen Fragen der sozialdemokratischen Programmatik.329 Tatsächlich ist der Entwurf länger als alle früheren Parteiprogramme, und enthält, der intensiven Identitätssuche der SPD entsprechend, eine Vielzahl von Problemfeldern.330 Wirtschaftliche Fragen nehmen darin einen großen Platz ein, und doch bleibt der Entwurf dabei in vielen Punkten allgemein. So werden zu Beginn des Wirtschaftskapitels Ziele sozialdemokratischer Wirtschaftsprogrammatik genannt, die im linken politischen Spektrum Konsens waren. Der gesellschaftliche Reichtum müsse gerecht verteilt werden, so dass die Menschen ausreichend mit Gütern und Dienstleistungen versorgt seien. Technik und Wissenschaft sollten nicht nur eine Effizienzsteigerung der Produktion befördern, sondern auch eine Ausweitung der Entfaltungschancen der Menschen vorantreiben. Das Menschenrecht auf Arbeit müsse gewährleistet werden, und die Wirtschaftsordnung müsse Demokratie, Mitbestimmung und Selbstbestimmung ermöglichen. Dazu sollten die natürlichen Lebensgrundlagen geschont und verbessert werden.331 Aus dem Juso-Bundesvorstand kam daraufhin die Kritik, dass die wirtschaftspolitischen Zielsetzungen des Irseer Entwurfes nicht konkret genug seien, im Nebulösen blieben, und somit immer noch kein durchdachtes wirtschaftspolitisches Rahmenkonzept der SPD zu erkennen sei.332 Die Zustimmung zu den oben genannten Zielen sei mit Sicherheit innerhalb des linken Flügels der SPD unstrittig, so die Meinung in einer kritischen Publikation linker Sozialdemokraten zum Irseer Entwurf. Darüber hinaus bleibe der Entwurf jedoch bei Fragen zu strategischen Ansätzen und wirtschaftspolitischen Instrumentarien Antworten 329 Vgl. Wettig-Danielmeier, Inge: Grundsatzprogramm der SPD – Entwurf der Programmkommission. In: Vorstand der SPD (Hrsg.): Parteitag der SPD in Nürnberg, 25-29.8.1986. Bonn 1986. S. 12. 330 Vgl. Papcke, Sven: Erneuerung der SPD? Zur Diskussion des Irseer Programmentwurfs. In: Gewerkschaftliche Monatshefte. Jg. 38 Bd. 6. 1987. S. 372 und 379. 331 Vgl. Vorstand der SPD (Hrsg.): Irseer Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Bonn 1986. S. 49. 332 Vgl. Kremer, Uwe: Auf dem Weg zu einer demokratischen Wirtschaftsordnung. In: Bundesverband der Jusos in der SPD (Hrsg.): Mit Irsee nach vorn? Kritik des SPDGrundsatzprogrammentwurfs. Bonn 1987. S. 15-16.
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schuldig, da eine präzise Analyse der polit-ökonomischen Rahmenbedingungen fehlen würde, so der Autor des Aufsatzes, Arno Brandt.333 In dieselbe Richtung zielt der Soziologe Sven Papcke, wenn er in seiner Untersuchung des Entwurfs feststellt, dass das Papier generell „eine merkwürdige Unentschiedenheit der Argumentation“334 aufweise, was seiner Meinung nach die Konfliktlinien der Gesamtpartei widerspiegele.335 Auch wenn der Entwurf nach Meinung einiger Sozialdemokraten keine grundsätzliche Analyse bietet, so finden sich doch deutliche Benennungen der Probleme und Herausforderungen für eine zukünftige Wirtschaftspolitik. Die weltweite krasse Ungleichverteilung des Wohlstandes und die mangelnde demokratische Kontrolle wirtschaftlicher Entscheidungen bei fehlender gleichzeitiger Mitbestimmung durch gleichberechtigte Arbeitnehmer werden ebenso genannt wie der parallel dazu fortschreitende Einflussverlust der Nationalstaaten bei wirtschaftlichen Entwicklungen.336 Die Globalisierung der Wirtschaft und mit ihr der Verlust der keynesianischen Steuerungsfähigkeit werden als große Herausforderung bezeichnet. „Der internationale Wettbewerb setzt die einzelnen Volkswirtschaften ständigem Anpassungsdruck aus. Auch dadurch verengt sich der Spielraum einer nationalen Politik, die auf Vollbeschäftigung, soziale Gerechtigkeit und ökologischen Umbau der Wirtschaft gerichtet ist.“337 Die Schlussfolgerung hieraus ist, dass Deutschland zwar unter starkem Anpassungsdruck der Kräfte des weltweit vernetzten Marktes stehe, es aber bei der Umstrukturierung der Wirtschaft nach wie vor staatlicher Kontrolle bedürfe, da es sonst zur dauernden Vorherrschaft der wirtschaftlichen Starken käme.338 „Wir Sozialdemokraten nehmen diese Tatsache nicht resignierend hin. Wir ordnen unsere Politik nicht einer Form des internationalen Wettbewerbs unter, die allein auf Wachstum des Bruttosozialprodukts zielt. (…) Eine grundlegende Reform der internationalen Wirtschafts- und Finanzbeziehungen ist überfällig.“339 In einem gesonderten Kapitel befasst sich der Text mit dem Weg hin zu einer demokratischen Wirtschaftsordnung. Der Markt wird dort als unentbehrli333 Vgl. Brandt, Arno: Demokratische Wirtschaft – Zielvorstellung ohne Strategie. In: Albers, Detlev/Neumann, Kurt (Hrsg.): Über Irsee hinaus! Kritik am Programmentwurf der SPD. Berlin 1987. S. 66. 334 Papcke, Sven. In: Gewerkschaftliche Monatshefte. Jg. 38 Bd. 6 1987. S. 377. 335 Vgl. ebenda. 336 Vgl. Irseer Entwurf. S. 50. 337 ebenda. S. 51. 338 Vgl. ebenda. 339 Ebenda.
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ches Steuerungsprinzip und wichtige Antriebskraft bezeichnet.340 Die Sozialdemokratie wolle diese Dynamik des Marktes erhalten, aber „aus der Dynamik und den Defiziten des Marktes ergeben sich Aufgaben, die nur ein starker, handlungsfähiger Staat bewältigen kann, der sich seiner Gesamtverantwortung auch für die Wirtschaft stellt.“341 So soll die Marktgesellschaft als solche nicht ersetzt werden, und doch ist gleichzeitig die Rede von staatlicher Rahmenplanung und der wichtigen und nachhaltigen Kontrolle der so genannten Marktmacht.342 In diesem Zusammenhang übernimmt der Entwurf einen zentralen Satz aus dem Godesberger Programm von 1959: „Soviel Wettbewerb wie möglich, soviel Planung wie nötig.“343 Dies bleibt auch im Irseer Entwurf der Grundsatz der wirtschaftspolitischen Marschroute der SPD, womit, ungeachtet der breiten Ausführungen zu wirtschaftlichen Fragen, eher eine allgemeine Bestandsaufnahme und vage Zukunftsperspektive geboten wird als eine durchgreifende und konkret handlungsanleitende Programmatik.344 Auf der Auftaktveranstaltung zu den so genannten ‚Werkstattgesprächen’, die von September 1987 bis November 1988 geführt wurden und in deren Rahmen der Irseer Programmentwurf diskutiert wurde, kritisierten zwei Gesprächsteilnehmer dann auch die mangelnde Schärfe bei der Zeichnung der weltwirtschaftlichen Herausforderungen. Der Wissenschaftler Carl Friedrich von Weizsäcker bemängelte, dass der Weltmarkt nicht als die dominante Realität wahrgenommen würde, die er darstelle, und dass demnach die bedrohliche Dramatik dieser Realität nicht erkannt und benannt werde. Gerhard Grohs, Mitglied der Kommission für kirchlichen Entwicklungsdienst der evangelischen Kirche, pflichtete von Weizsäcker bei und mahnte ebenfalls an, dass das Kapitel zur Weltwirtschaftsordnung zu undramatisch ausgefallen sei. Darüber hinaus konstatierte von Weizsäcker, dass der Programmentwurf zwar Prognosen weltweit wachsender politisch-sozialer und wirtschaftlicher Instabilität liefern, aber keine aussichtsreichen Lösungsvorschläge enthalten würde.345
340 341 342 343 344 345
Vgl. ebenda. S. 74. ebenda. S. 75. Vgl. ebenda. S. 77. ebenda. S. 76-77. Vgl. Papcke, Sven. In: Gewerkschaftliche Monatshefte. Jg. 38 Bd. 6 1987. S. 381. Vgl. Weizsäcker, Carl Friedrich von. In: Vorstand der SPD, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.): Wir denken weiter. Programm in der Diskussion. Eröffnung des Dialogs zum neuen Grundsatzprogramm der SPD im Münchener Künstlerhaus. Bonn 1987. S. 12; sowie Grohs, Gerhard. In: Vorstand der SPD, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.): Wir denken weiter. Pro-
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In den zwei Jahren nach der Veröffentlichung des Irseer Entwurfes sollte der Programmentwurf breit diskutiert werden, nicht zuletzt auch von der Parteibasis in den Ortsvereinen. Beispielhaft hierfür ist ein von der Programmkommission vorgelegtes Heft mit dem Titel ‚Der Dialog ist eröffnet: Programmdiskussion im Ortsverein’.346 In diesem Papier werden, nach kurzer Erörterung der Programmgeschichte der SPD und einer knappen Beantwortung der Frage nach dem Sinn einer Programmerneuerung zum jetzigen Zeitpunkt, die politischen Leitideen des Irseer Entwurfes erneut dargestellt. Anschließend werden kontroverse, in der bisherigen Diskussion offen gebliebene Fragen genannt. Dies ist insofern interessant, als hierdurch der Stand der Debatte innerhalb der SPD festgehalten wird, wenn auch aus der Sicht der Programmkommissionsmitglieder zusammengefasst. Zwei Kapitel beschäftigen sich hierbei explizit mit wirtschaftspolitischen Fragen. Zum einen geht es um den weltwirtschaftlich bedingten veränderten Handlungsspielraum, zum anderen um die gesellschaftliche Kontrolle bei wirtschaftlichen Entscheidungen. Das erstgenannte Themenfeld betreffend werden drei unterschiedliche Positionen als Diskussionsgegenstand geschildert. An erster Stelle wird argumentiert, dass eine bundesrepublikanisch-nationale Wirtschaftspolitik der immer stärker und größer werdenden internationalen Wirtschaftsverflechtung kaum mehr etwas entgegenzusetzen habe. Die sich stetig erhöhende Flexibilität der Geld-, Kapital- und Warenströme würde auf Länder wie die Bundesrepublik einen sehr hohen Anpassungsdruck ausüben, da diese durch ihren extrem hohen Außenwirtschaftsanteil von den Bedingungen des Weltmarktes abhängig seien. Demnach sei der nationale Handlungsspielraum äußerst klein, und eine national orientierte Wirtschaftspolitik biete keine Erfolg versprechende politische Perspektive. Vertreter eines anderen Standpunktes knüpften an diese Argumentation an, zogen jedoch gänzlich andere Schlüsse daraus. Ihrer Meinung nach sollte die SPD die unbestreitbare Weltmarktabhängigkeit der bundesrepublikanischen Wirtschaft schrittweise zu verringern suchen, um wieder Spielräume für national angelegte Wirtschaftpolitik zurückzugewinnen. Ziel müsse es sein, sich um eine grundwerteorientierte Wirtschaftspolitik zu bemühen und sich nicht ganz „den vermeintlichen oder tatsächlichen Zwängen des Weltmarktes“347 zu fügen. gramm in der Diskussion. Eröffnung des Dialogs zum neuen Grundsatzprogramm der SPD im Münchener Künstlerhaus. Bonn 1987. S. 13. 346 Vgl. Vorstand der SPD, Sekretariat Programmkommission (Hrsg.): Der Dialog ist eröffnet: Programmdiskussion im Ortsverein. Vorgelegt von der Programmkommission beim SPDParteivorstand. Bonn 1987. 347 ebenda. S. 10.
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Zwischen diesen beiden konträren Positionen bemühte sich eine dritte zu vermitteln, indem sie die gewachsenen wirtschaftpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der Europäischen Union betonte. Zugleich wurde von diesem Standpunkt aus die Ansicht vertreten, dass auch die Wirtschaftsmacht der Europäischen Union zur Veränderung der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen genutzt werden sollte, um somit die Weltwirtschaftsordnung auch nach sozialdemokratischen Vorstellungen zu gestalten. Diese Position näherte sich am ehesten den Vorstellungen des Irseer Programmentwurfs an.348 Die gesellschaftliche Kontrolle wirtschaftlicher Entscheidungen betreffend, haben zwei maßgebliche Kritikpunkte Eingang in die Publikation der Programmkommission gefunden haben. Zum einen wurde in Hinblick auf die Formulierungen des Irseer Entwurfes kritisiert, dass die angedachten Demokratisierungsmaßnahmen grundsätzlich schärfer und präziser formuliert sein müssten. Der Zusammenhang der Maßnahmen mit den einzelnen Stufen der wirtschaftlichen Entscheidungsprozesse, angefangen beim einzelnen Arbeitsplatz bis hin zur Gesamtwirtschaft, müsse klarer dargestellt werden. Des Weiteren wurde angemahnt, dass eine präzisere Erläuterung der Instrumente staatlicher wirtschaftlicher Lenkung erfolgen müsse. Der Entwurf sei an dieser Stelle nicht ausführlich genug.349 Die kritischen Debattenbeiträge der Jahre 1987 und 1988 zum neuen Grundsatzprogramm, seien sie im Rahmen der ‚Werkstattgespräche’, in den Gliederungen der Partei oder in wissenschaftlichen Kreisen erfolgt, waren Grundlage der zeitgleich stattfindenden Klausurtagungen der Programmkommission, die schließlich im März 1989 einen sprachlich überarbeiteten, endgültigen Programmentwurf präsentierte. Dieser sollte, nach einem halben Jahr Diskussionszeit, von einem SPD-Parteitag verabschiedet und zum neuen Grundsatzprogramm erklärt werden. Zu diesem Anlass veröffentlichte der Vorstand der SPD im März 1989 ein ‚Arbeitsheft zum Grundsatzprogramm der SPD’, in dem in Frageform erneut die wichtigsten Themenfelder behandelt werden.350 Im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Herausforderungen werden hierbei zwei Fragen gestellt und kurz vom stellvertretenden Kommissionsvorsitzenden Erhard Eppler beantwortet. Zum einen wird gefragt, welche Chancen eine nationale Wirtschaftspolitik in einer Epoche zunehmender wirtschaftlicher Verflech-
348 Vgl. ebenda. 349 Vgl. ebenda. 350 Vgl. Vorstand der SPD, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.): Arbeitsheft zum neuen Grundsatzprogramm der SPD, Entwurf März 1989. Bonn 1989.
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tung noch habe. Zum anderen geht es um das Verhältnis der Sozialdemokratie zum Wirtschaftswachstum.351 Zum ersten Punkt bemerkt Eppler, dass die SPD sich der internationalen Wirtschaftsverflechtung bewusst sei und daher die Notwendigkeit zur Zielsetzung für eine gerechte und leistungsfähige Wirtschaftsordnung sehe. Bevor der Programmentwurf der Kommission jedoch zur nationalen Verantwortung kommt, sei es wichtig und richtig, zuerst die europäische Ebene in Form der Europäischen Gemeinschaft als bedeutsam zu betonen, da sich manche wirtschaftspolitischen Vorstellungen nur noch europa- oder weltweit verwirklichen ließen. „Wir nutzen die Chancen nationaler Wirtschaftspolitik nicht nur, weil ein Spielraum bleibt, über dessen Größe man streiten kann, sondern vor allem, um glaubwürdig auf die europäische und die weltweite Wirtschaftspolitik einwirken zu können“352, so Eppler weiter. In Bezug auf den Begriff des Wirtschaftswachstums konstatiert Eppler, dass nach Meinung der Programmkommission statistisch nachgewiesenes wirtschaftliches Wachstum an sich keinen Wert darstelle. Es gehe, entgegen der intensiv geführten Diskussionen, weder um möglichst viel Wachstum noch um ein Nullwachstum. Ziel einer sozialdemokratischen Rahmensetzung für die Wirtschaft müsse sein, dasjenige Wachstum zu fördern, welches den im Entwurf zahlreich aufgeführten Kriterien353 entspreche, und im Gegenzug solches Wachstum zu verhindern, das diesen Kriterien zuwider liefe.354 Schließlich wurde im Dezember 1989 auf dem Berliner SPD-Parteitag der endgültige Programmentwurf wie vorgesehen verabschiedet, und somit der SPD ein neues Grundsatzprogramm, im Folgenden ‚Berliner Programm‘ genannt, gegeben. Gemäß den intensiven Debatten im Vorfeld und der von allen am Diskussionsprozess Beteiligten wahrgenommenen weltwirtschaftlichen Veränderungen, nimmt das Thema Wirtschaft und Wandel der Grundlagen von Wirtschaftspolitik einen großen Platz im neuen Grundsatzprogramm ein. Schon zu Beginn, bei der Aufzählung der Grundlagen sozialdemokratischer Politik, genauer gesagt in Kapitel II. 2. mit der Überschrift ‚Die Welt, in der wir leben’, findet sich eine direkte und deutliche Bestandsaufnahme der weltwirtschaftlichen Umstände aus sozialdemokratischer Sicht.355 Dort heißt es, 351 Vgl. Eppler, Erhard: Neue Fragen – neue Antworten. Was der Entwurf zum neuen Grundsatzprogramm zu leisten hat. In: Vorstand der SPD, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.): Arbeitsheft zum neuen Grundsatzprogramm der SPD, Entwurf März 1989. Bonn 1989. S. 11-13. 352 Ebenda. S. 11. 353 Siehe hierzu die ausführliche Auflistung der Kriterien im Irseer Programmentwurf. S. 60. 354 Vgl. Eppler, Erhard. Bonn 1989. S. 13. 355 Vgl. Berliner Programm. S. 13-14.
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dass die Konzentration wirtschaftlicher Macht in immer weniger Händen unaufhaltsam zu sein scheine. Gleichzeitig würden sich große Konzerne weltumspannend aufstellen und zu der fortwährenden globalen Kapitalbewegung beitragen, die sich immer mehr demokratischer Kontrolle entziehen würde. Der nationale Handlungsspielraum werde durch diese Entwicklungen immer begrenzter, und globalen Konjunktur- und Strukturkrisen stehe man zunehmend hilflos gegenüber.356 Ein erster handlungsanleitender Ausblick folgt jedoch noch im selben Absatz, denn „Gegenmacht entsteht, wo sich Staaten erfolgreich zu regionalen Gemeinschaften zusammenschließen und Gewerkschaften nationale Grenzen überwinden.“357 In Kapitel IV. 4. mit dem Titel ‚Ökologisch und sozial verantwortliches Wirtschaften’ widmet sich das Berliner Programm dann ausführlich der wirtschaftspolitischen Bestandsaufnahme und anschließenden Formulierung politischer Ziele.358 Zu Beginn der Ausführungen steht die Feststellung, dass alles Wirtschaften dem Gemeinwohl zu dienen habe, es aber „ein historisches Grundproblem des Wettbewerbssystems mit der privaten Verfügung über die Produktionsmittel“359 gebe. Demnach sei eine demokratische Kontrolle der wirtschaftlichen Macht des Kapitals durch einen handlungsfähigen Staat unabdingbar, der mit Hilfe von Rahmensetzung den Wettbewerb gemäß den Interessen des Gemeinwohls, gegen reine Kapitalinteressen gewandt, beeinflusse.360 Der internationalen Verflechtung der Wirtschaft wird im Folgenden ein längerer Abschnitt gewidmet, wobei im Zentrum die Verengung der Spielräume für nationale Zins-, Geld- und Konjunkturpolitik steht, die sich aus der Internationalisierung der Märkte ergäbe. Unter den so gewandelten Voraussetzungen sei es notwendig, den Verlust nationaler Kompetenzen durch internationale Regeln auszugleichen, da sonst nur das Recht des Stärkeren gelten würde. „Daher wollen wir Möglichkeiten zur Steuerung der Wirtschaften durch internationale Kooperation und Rahmensetzung zurückgewinnen und erweitern, ohne nationale Wirtschaftspolitik aus ihrer Verantwortung zu entlassen“361, so das Berliner Programm. Wie schon im Irseer Entwurf und auch bei Erhard Epplers Kommentar, erscheint die Europäische Gemeinschaft im neuen Grundsatzprogramm als zukunftsfähiges
356 357 358 359 360 361
Vgl. ebenda. ebenda. S. 14. Vgl. ebenda. S. 36-48. ebenda. S. 36-37. Vgl. ebenda. S. 37. ebenda. S. 38.
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Vehikel zur Umsetzung wirtschaftspolitischer Ziele.362 Im Programm wird davon gesprochen, dass die Europäische Gemeinschaft Handlungsspielräume eröffne, und ihren Mitgliedern die Chance zur Selbstbehauptung und Beeinflussung des Weltmarktes biete. Darüber hinaus würde die Bundesrepublik außerdem, vor allem durch ihre Wirtschaftskraft, über nationale Handlungsspielräume sowie deutlichen Einfluss auf internationale wirtschaftspolitische Entscheidungen verfügen. Diese Vorteile gelte es nutzbar zu machen, da so stärker und nachhaltiger auf internationale Entscheidungen eingewirkt werden könne. „Obwohl manche unserer Vorstellungen nur noch europäisch oder gar weltweit voll zu verwirklichen sind, muß unser Handeln da beginnen, wo wir unmittelbar Verantwortung tragen“363, so die Schlussfolgerung. In Bezug auf das Thema Wirtschaftswachstum distanziert sich das Berliner Programm von den Aussagen des Godesberger Programms. Nicht jedes Wachstum sei fortschrittlich und könne begrüßt werden. Wachstumsfelder müssten heute und in Zukunft sorgfältig von der Politik ausgesucht werden, um besonders dem Strukturwandel in wirtschaftlich schwächeren Regionen gerecht zu werden und die Zukunftschancen und das Arbeitsplatzangebot zu verbessern.364 Ein weiteres wichtiges Thema im neuen Grundsatzprogramm kann unter dem Begriff Wirtschaftsdemokratie subsumiert werden. Direkt im ersten Satz des Absatzes zu diesem Thema spricht das Programm davon, dass die Würde des Menschen und die soziale Gerechtigkeit die Demokratisierung der Wirtschaft verlangen. Anknüpfend an die allgemeine Auflistung der Herausforderungen zu Beginn des Wirtschaftskapitels wird konstatiert, dass in einer Wirtschaftdemokratie „gesellschaftliche Ziele Vorrang vor den Zielen privatwirtschaftlicher Kapitalverwertung“365 haben sollen. Der politische Handlungsrahmen sei dementsprechend nicht durch wirtschaftliche Macht oder marktbeherrschende Unternehmen zu bestimmen, sondern durch demokratisch legitimierte Entscheidungsträger, die sich am Gemeinwohl orientieren. Es solle zu einer demokratischen gesamtgesellschaftlichen Steuerung kommen, so dass die Rahmenbedingungen der wirtschaftlichen Entwicklung staatlich gesetzt würden. Das Programm leitet hieraus anschließend ab, dass „diese gesetzlichen Rahmenbedingungen und Planungen (…) Vorgaben für die autonomen Entscheidungen der Unternehmen“366 sein müssten. 362 363 364 365 366
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Vgl. ebenda. S. 39. ebenda. Vgl. ebenda. S. 41-42. ebenda. S. 43. ebenda. S. 44.
Im Anschluss hieran macht das Berliner Programm deutlich, dass Markt und Wettbewerb innerhalb eines demokratisch gesetzten Rahmens unentbehrlich seien, es aber dennoch des Festhaltens an einem schon aus dem Godesberger Programm bekannten Leitsatzes bedürfe: „Wettbewerb soweit wie möglich – Planung soweit wie nötig!“367 Grundsätzlich solle ein durch verschärfte Gesetze begrenzter Wettbewerb die Marktmacht kontrollieren, doch müssten der „Herrschaftsmacht des Kapitals“368 durch starke Gewerkschaften Grenzen gesetzt werden. Auch zum Thema Vergesellschaftung, dass heißt der Begründung von Gemeineigentum an wirtschaftlichen Mitteln, finden sich an dieser Stelle Ausführungen.369 Vergesellschaftung müsse gleichzeitig demokratisches Element als auch wirtschaftspolitisches Instrument sein, so das Berliner Programm. Dort, wo sich nicht mit Hilfe anderer Mittel eine sozial vertretbare Ordnung wirtschaftlicher Machtverhältnisse, sowie eine an qualitativen Kriterien gemessene wirtschaftliche Entwicklung verwirklichen lasse, sei Gemeineigentum „zweckmäßig und notwendig“370. Das Berliner Programm beschäftigt sich generell ausführlich mit den Herausforderungen der globalisierten Wirtschaft sowie den in Reaktion darauf zu ergreifenden Maßnahmen, aber auch für die mit wirtschaftspolitischen Fragen befassten Kapitel gilt, was der Historiker Heinrich Potthof über das Berliner Programm insgesamt sagt, nämlich das es „viel zu lang, zu reflektierend und zu weit entfernt von den konkreten Erfordernissen der praktischen Politik (sei).“ 371 Dem entspricht auch die Einschätzung des Sozialwissenschaftlers Stephen Padgett, der grundsätzlich davon spricht, dass „the conclusion of the new Basic Programme was robbed of all impact.“372 Uwe Jun stellt konkreter auf wirtschaftliche Fragen bezogen fest, dass im Berliner Programm der traditionelle Wachstumsbegriff der Sozialdemokratie ebenso wie der Keynesianismus gestrichen wurde, ohne dass ein neues konsistentes Wirtschafts- und Sozialpolitikkonzept der Sozialdemokraten skizziert worden sei.373 Mit Micha Hörnle bemängelt ein weiterer Autor die grundsätzliche Inkonsistenz des Berliner Programms und im 367 368 369 370 371 372
ebenda. S. 45. ebenda. Vgl. ebenda. S. 46. ebenda. Potthof, Heinrich. Bonn 2002. S. 324. Padgett, Stephen: The German Social Democratic Party: Between Old and New Left. In: Bell, Daniel S./Shaw, Eric (Ed.): Conflict and Cohesion in Western European Social Democratic Parties. London 1994. S. 26. 373 Vgl. Jun, Uwe: Der Wandel von Parteien in der Mediendemokratie – SPD und Labour Party im Vergleich. Frankfurt 2004. S. 261.
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Besonderen die Tatsache, dass die wirtschaftspolitischen Probleme der Gegenwart ausgespart worden seien.374 Die Verabschiedung des Berliner Programms fiel zeitlich mit dem Wegfall des Ost-West-Konflikts und, ein knappes Jahr später, mit dem Ende der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zusammen. Die deutsche Wiedervereinigung im Jahr 1990, die sich schon 1989 abgezeichnet hatte, war naturgemäß nicht im neuen SPD-Grundsatzprogramm berücksichtigt worden, und die Implikationen, die sich aus der Auflösung der sozialistischen DDR ergaben, bedurften einer Antwort der SPD auf programmatischer Ebene. Im Mai 1991 veröffentlichte die Grundwertekommission der SPD eine Schrift mit dem Titel ‚Deutschland als Aufgabe’.375 Hierin wurden grundsätzliche deutsche Streitfragen angesprochen, insbesondere Fragen der zukünftigen staatlichen Gemeinsamkeit des vierzig Jahre geteilten Deutschlands. Es wurde ein erster kurzer Ausblick auf die Gestaltung des zukünftigen Zusammenlebens gegeben, um zum Schluss das Berliner Programm in Hinblick auf seine wirtschaftspolitischen Aussagen im Kontext der aktuellen Entwicklungen zu erläutern. In Kapitel III. mit dem vielsagenden Titel „Der Zusammenbruch des Kommunismus, die voreilige Rechtfertigung des Kapitalismus und das Berliner Programm der SPD“376 geht es den Autoren darum, die Vorzüge und die Gültigkeit des Berliner Programms für das wiedervereinigte Deutschland in postrealsozialistischen Zeiten zu demonstrieren. Sie sprechen davon, dass das Berliner Programm zwar die Ablösung des marxistisch-leninistischen Systems nicht vorhersehen konnte, es aber in seiner Abgrenzung davon, bei gleichzeitiger Kritik an der Ideologie des Wirtschaftsliberalismus, nach wie vor politischfreiheitliche Alternativen biete. Der Zusammenbruch des Kommunismus habe bei vielen hiervon betroffenen Menschen zu einer vorschnellen Neuausrichtung an der, aus Sicht der Sozialdemokratie irreführenden, wirtschaftsliberalen Idee eines gänzlich freien Marktes geführt. Diese, in der Publikation als ‚Nachholideologie’ bezeichnete, neue politische Orientierung an den freien Kräften des Marktes sei von Teilen der Gesellschaft im Westen Deutschlands schon als unzureichend erkannt worden.377 Es habe „fatale Fehler des Westens“378 gegeben, 374 Vgl. Hörnle, Micha: Whats’s Left? Die SPD und die Labour Party in der Opposition. Frankfurt 2000. S. 409. 375 Vgl. Vorstand der SPD, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.): Deutschland als Aufgabe. Grundwertekommission der SPD, Mai 1991. Bonn 1991. 376 Ebenda. S. 14. 377 Vgl. ebenda. 378 ebenda. S. 15
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die im Osten Deutschlands nun vermieden werden sollten. Nach Ansicht der Grundwertekommission würde das Berliner Programm mit dem darin enthaltenen Fortschrittsbegriff auch im wiedervereinten Deutschland „(…) Hoffnung für alle (bieten), denen die neue Nachholideologie nicht als Antwort auf das Scheitern des Kommunismus einleuchtet.“379 Die Autoren gehen sogar noch weiter, sie sprechen vom Berliner Grundsatzprogramm als absolut hinreichender programmatischer Grundlage für die aktuellen und zukünftigen politischen Herausforderungen in Ostdeutschland und im ehemals sozialistischen Osten Europas. „Wer das Programm heute mit Blick auf den Osten liest, wird finden, daß es keine politische Aufgabe in Ostdeutschland oder Osteuropa gibt, die andere, neue Grundsatzüberlegungen verlangen würde“380, so der Text wörtlich. Bemerkenswert ist in diese Zusammenhang, dass drei Jahre später, also 1994, der ehemalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel in einem Artikel bemängelt, dass das Berliner Programm fünf Jahre nach seiner Verabschiedung immer noch wie ein ‚Geheimpapier’ behandelt werde: kaum jemand, innerhalb sowie außerhalb der SPD, habe es jemals gelesen oder würde sich inhaltlich darauf berufen beziehungsweise es als Grundlage für politische Entscheidungen heranziehen.381 „Und der Gedanke, Regierungsprogramme oder andere zentrale Aussagen sollten sich – zumindest gelegentlich – auch auf das Grundsatzprogramm berufen oder doch mit ihm auseinandersetzen, wird von nicht wenigen als ziemlich abwegig empfunden“382, so Vogel wörtlich. In dieselbe Richtung zielt die Feststellung Thomas Meyers aus dem Jahr 1998, dass in den neunziger Jahren kein Parteiführer oder Kanzlerkandidat der SPD seine eigenen politischen Visionen auf dem Berliner Programm aufgebaut und somit das Programm offensiv und glaubwürdig vertreten beziehungsweise öffentlich präsentiert habe.383 Generell attestieren eine Vielzahl von Autoren der SPD in den 1990er Jahren eine relative programmatische Leere, häufig wird davon gesprochen, dass nach dem Berliner Programm von 1989 für ungefähr zehn Jahre kaum Grundsätzliches und Inhaltliches erarbeitet worden sei.384 Martin Frenzel wird in 379 ebenda. S. 14. 380 ebenda. 381 Vgl. Vogel, Hans-Jochen: Ein Programm als Geheimpapier? Zum 5. Jahrestags der Verabschiedung des Berliner Grundsatzprogramms. In: Sozialdemokratischer Pressedienst. 49. Jg. (240) 1994. S. 1. 382 ebenda. 383 Vgl. Meyer, Thomas. Bonn 1998. S. 189. 384 Vgl. u.a. Jun, Uwe. Frankfurt 2004. S. 262; Heimann, Siegfried: Die SPD in den neunziger Jahren. In: Süß, Werner (Hrsg.): Deutschland in den neunziger Jahren – Politik und Gesellschaft zwischen Wiedervereinigung und Globalisierung. Opladen 2002. S. 96; Frenzel, Martin.
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seiner Beurteilung entsprechend deutlich: „Läßt man dieses Jahrzehnt programmatisch Revue passieren, dann ist das Resümee verheerend: (…) die 90er Jahre (sind) die Dekade der Programmphobie der SPD, einer programmfeindlichen Inhaltsleere, des Mangels an programmatischer Strategiebildung und des prinzipienlosen Pseudo-Pragmatismus.“385 Tatsächlich gab es in den 90er Jahren kaum Äußerungen zu programmatischen Fragen, abgesehen von der Arbeit der Grundsatzprogrammkommission an der Ergänzung des Berliner Programms, die in der Verabschiedung der ‚Leipziger Fassung’ des Grundsatzprogramms auf dem Parteitag im April 1998 ihren Schlusspunkt fand.386 Ein Jahr zuvor, 1997, hatte es jedoch in Bezug auf wirtschaftliche Fragen eine Wortmeldung der Grundwertekommission gegeben, und zwar in Form eines Memorandums zum Thema Globalisierung.387 Dort werden die wahrgenommenen Realitäten der Globalisierung geschildert, wobei eine Vielzahl von Problemen und Gefahren genannt werden. Diese Realitäten werden im Memorandum jedoch als Chancen und politische Herausforderungen begriffen, zu deren Umsetzung beziehungsweise Bewältigung Ideen und Antworten gegeben werden sollen. Es sei notwendig, den Prozess der Globalisierung aktiv zu gestalten.388 Die Bestandsaufnahme der Grundwertekommission ist nachhaltig: die Globalisierung wird als ‚historischer Prozess’ bezeichnet, dem sich keine Volkswirtschaft entziehen könne und der immer mehr demokratisch legitimierte Entscheidungen überlagern und bedrohen würde. Der freie Markt, essentieller Bestandteil der Globalisierung der Wirtschaft, bewirke, „(…) daß sich die Starken gegen die Schwächeren, die Schnellen gegen die Langsamen durchsetzen.“389 Die globalisierten Märkte könnten zerstörerische Wirkungen entfalten, die die „vorteilhaften Auswirkungen in Bezug auf Effektivität, Wandlungsfähigkeit, Innovation und Produktvielfalt überlagern und sogar überwiegen (könnten).“390 Die zunehmende Kapitalkonzentration wird genannt, und es wird von
385 386 387 388 389 390
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Wiesbaden 2002. S. 157; sowie Walter, Franz: Abschied von der Toskana – Die SPD in der Ära Schröder. Wiesbaden 2004. S. 94. Frenzel, Martin. Wiesbaden 2002. S. 157. Vgl. Dowe, Dieter. Bonn 2004. S. 347-348. Vgl. SPD-Parteivorstand, Grundwertekommission (Hrsg.): „Globalisierung“ – Herausforderung und Chance. Memorandum der Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD. Bonn 1997. Vgl. ebenda. S. 4-5. ebenda. S. 6. ebenda. S. 7.
der chronischen Schwächung der Politik angesichts dieser gebündelten und global agierenden Wirtschaftsinteressen gesprochen. Besonders problematisch für die SPD scheint der sich abzeichnende Verlust der Machtbalance zwischen Ökonomie und Politik zu sein.391 Das Memorandum spricht von dem ‚Verlust der Ausgewogenheit’, und konstatiert: „Seit das Kapital von den nationalen Bindungen praktisch vollständig befreit ist, scheint es auf den sozialen Konsens im nationalen Rahmen nicht mehr wirklich angewiesen.“392 Wie schon in anderen wirtschaftspolitisch-programmatischen Äußerungen der SPD gefordert, so spricht sich auch die Grundwertekommission für eine neue globale Politikgestaltung aus, die über die Grenzen der immer handlungsunfähiger werdenden Nationalstaaten hinaus gehen müsse. Die besten Chancen für zukünftige politische Handlungsfähigkeit sieht auch das Memorandum in der voranschreitenden europäischen Integration. In Zeiten der Globalisierung müsse Europa mit einer Stimme sprechen, um unter anderem eine effektive Regulierung der internationalen Finanzmärkte zu erreichen.393 Auffällig ist, dass sich das Papier der Grundwertekommission lediglich zum Schluss mit wenigen Worten auf das Berliner Programm der Partei bezieht, obwohl inhaltlich im Vergleich zum Grundsatzprogramm nichts Neues geäußert wurde. Es handelt sich bei der Publikation der Kommission demnach nicht um ein programmatisches Weiterdenken, sondern um ein Wiederholen bekannter Analysen, ohne dass man nachhaltig Bezug auf existierende programmatische Inhalte genommen hätte. Einen deutlich neuen inhaltlichen Impuls setzten im Jahr 1999 die sozialdemokratischen Regierungschefs Gerhard Schröder und Tony Blair mit ihrer Publikation mit dem Titel ‚Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten’.394 Das so genannte ‚Schröder-Blair-Papier’ polarisierte innerhalb der SPD, denn es „(…) enthielt eine Menge Reizvokabeln, die eine programmatische Wende der SPD anzudeuten schien.“395 Tatsächlich waren die Thesen von Schröder und Blair ein Aufschlag zu einer neuen Programmdebatte innerhalb der Sozialdemokratie.396 391 392 393 394
Vgl. ebenda. S. 10. ebenda. Vgl. ebenda. S. 12. Vgl. Schröder, Gerhard/Blair, Tony: Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten: ein Vorschlag. Bonn 1999. 395 Heimann, Siegfried. Opladen 2002. S. 96. 396 Der damalige Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Peter Struck sprach sogar davon, dass das Schröder-Blair-Papier lediglich eine Diskussion beschleunige, die innerhalb der deutschen Sozialdemokratie schon angestoßen sei; vgl. Struck, Peter: Schon auf diesem Weg. Frankfurter
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In ihrem Papier brechen die Autoren mit einigen traditionellen Grundsätzen sozialdemokratischer Politik, zuvorderst in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. So wird konstatiert, dass die sich im Zuge der Globalisierung verändernden Rahmenbedingungen eine neue Definition der wirtschaftspolitischen Aufgaben des Staates nötig machen würden. Der Staat solle die Wirtschaft nach Kräften fördern, dürfe sich jedoch nie als Ersatz für eine freie Wirtschaft betrachten, ganz gemäß dem Leitsatz: „Die Steuerungsfunktion von Märkten muß durch die Politik ergänzt und verbessert, nicht aber behindert werden.“397 Denn, so die weitergehende Kritik an bisherigen sozialdemokratischen Vorstellungen, „die Ansicht, daß der Staat schädliches Marktversagen korrigieren müsse, führte allzu oft zur überproportionalen Ausweitung von Verwaltung und Bürokratie, im Rahmen sozialdemokratischer Politik.“398 Die Fähigkeit nationaler Politik, für Wachstum und Arbeitsplätze zu sorgen, sei in der Vergangenheit über-, die Bedeutung Einzelner und der Wirtschaft bei der Generierung von Wohlstand unterschätzt worden. „Die Schwächen der Märkte wurden über-, ihre Stärken unterschätzt“, so das Papier wörtlich. Die Autoren machen sich insgesamt für eine Deregulierung und Flexibilisierung der Produkt-, Kapital- und Arbeitsmärkte stark, denn „flexible Märkte sind ein modernes sozialdemokratisches Ziel.“399 Zutreffend erscheint in diesem Zusammenhang die Beurteilung von Christoph Egle und Christian Henkes, dass es sich beim Schröder-Blair-Papier in erster Linie um eine versuchte Anpassung sozialdemokratischer Programmatik an die Funktionslogik integrierter Märkte handelt.400 Der Grundtenor der Publikation ist, gemessen an bisheriger sozialdemokratischer Programmatik, in der Tat wirtschaftsfreundlich und angesichts der Herausforderungen der Globalisierung lange nicht so skeptisch und pessimistisch, wie der von anderen sozialdemokratischen Stimmen.
397 398 399 400
Allgemeine Sonntagszeitung 20.06.1999. S. 4. Auch Ottmar Schreiner, damaliger SPDBundesgeschäftsführer, sieht die SPD zum Erscheinungszeitpunkt des Papiers am Vortag einer neuen programmpolitischen Debatte; vgl. Bannas, Günter: Ökonomische Stärke scheint vielen Sozialdemokraten als suspekt – Schröder scheint zum Kampf entschlossen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.06.1999. S. 3. Schröder, Gerhard/Blair, Tony. Bonn 1999. S. 1. ebenda. S. 3. ebenda. S. 9. Vgl. Egle, Christoph/Henkes, Christian: Später Sieg der Modernisierer über die Traditionalisten? Die Programmdebatte in der SPD. In: Egle, Christoph/Ostheim, Tobias/Zohlnhöfer, Reimut (Hrsg.): Das rot-grüne Projekt. Eine Bilanz der Regierung Schröder 1998-2002. Wiesbaden 2003. S. 77.
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Dementsprechend gab es auch deutlichen Widerspruch gegen die von Schröder und Blair postulierten Vorstellungen. Hans-Jochen Vogel bemängelte, dass das Papier keine Aussagen über die durchaus vorhandenen Gefahren des Marktes beinhalte, sondern nur seine Vorzüge preisen würde.401 Von Hans-Joachim Schabedoth wird das Papier sogar als ‚Rohrkrepierer’ innerhalb der deutschen Debatte bezeichnet, da es in „die Diktion der hinreichend verdächtigen neoliberalen Polemik“402 gekleidet sei, und das jahrelange Bemühen der Grundwertekommission um die Erarbeitung eines modernen sozialdemokratischen Selbstverständnis unter Beteiligung aller Parteigremien konterkariere.403 Schließlich veröffentlichten im direkten Vorfeld des Berliner Parteitags im Dezember 1999 drei linke Arbeitsgemeinschaften der SPD404 ihre so genannte ‚Berliner Erklärung’ als kritische Antwort auf das Schröder-Blair-Papier.405 Schon bei der Nennung der aktuellen Herausforderungen, die sich aus den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen ergeben, unterscheidet sich das Papier der SPDLinken deutlich von dem der eher neoliberal gesinnten Regierungschefs: an erster Stelle werden „die Internationalisierung der wirtschaftlichen Prozesse, die Dominanz der Finanzmärkte und die konzentrierte Macht transnationaler Konzerne“406 als Themen benannt, derer sich angenommen werden müsse. Der zentrale Satz, der als direkte Antwort auf die von Schröder und Blair postulierten Vorstellungen von flexibilisierten und deregulierten Märkten verstanden werden kann, erteilt diesen eine deutliche Absage: „Eine Sozialdemokratie, die Weltmarktorientierung, Marktliberalisierung und Sozialstaatsprivatisierung zum Maßstab nimmt, muß an ihren selbst gesetzten Ansprüchen scheitern.“407 Im September 1999, also wenige Monate nach Erscheinen des Schröder-BlairPapiers, meldete sich auch die Grundwertekommission der SPD wieder zu Wort, diesmal mit einem ausführlichen Text zum Thema sozialdemokratischer
401 Vgl. Heimann, Siegfried. Opladen 2002. S. 97. 402 Schabedoth, Hans-Joachim: Die deutsche Sozialdemokratie auf schwierigem Reformweg. In: Schroeder, Wolfgang (Hrsg.). Schwalbach/Ts. 2001. S. 198. 403 Vgl. ebenda. 404 Es handelte sich um die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA), die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (AsF), sowie die Jungsozialisten (Jusos). 405 Vgl. Dreßler, Rudolf/Junker, Karin/Mikfeld, Benjamin: Berliner Erklärung – Für eine Modernisierung der Sozialdemokratie. In: Bundesverband der Jusos in der SPD (Hrsg.): Argumente: Beiträge zur Zukunftsdiskussion von Links. Berlin 1999. 406 ebenda. S. 77. 407 ebenda. S. 78.
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Reformpolitik in Zeiten der Globalisierung.408 Das Strategiepapier mit dem Titel ‚Dritte Wege – Neue Mitte’ knüpft direkt zu Beginn an den von Schröder und Blair formulierten Text an, wobei die Kommission die Debatte zwischen den so genannten ‚Modernisierern’ und ‚Traditionalisten’ qualifiziert versachlichen will.409 Das Berliner Programm müsse weiterentwickelt werden, denn die ökonomischen Herausforderungen hätten sich deutlich verändert, bei gleichzeitig schwindendem Einfluss der Politik auf die Rahmenbedingungen.410 Dies wurde schon in früheren Publikationen und von anderen Autoren in ähnlicher Form festgestellt, doch der Kommissionstext setzt einen neuen Schwerpunkt: er nimmt sich mit einem Vergleich verschiedener europäischer Sozialdemokratien und ihrer unterschiedlich ausgelegten ‚Dritten Wege’ der grundsätzlichen Frage an, wie eine idealtypische, eventuell europäische, sozialdemokratische Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung aussehen könnte. Besonders die Verknüpfung von Wirtschafts- und Sozialpolitik, konkret die Finanzierungskrise der Sozialstaats in Zeiten von globalisierten Märkten, steht im Fokus der Publikation. Es geht der Kommission darüber hinaus um die Überwindung der bisherigen Dichotomie ‚Modernisierer versus Traditionalisten’, sowie um eine Annäherung an ein moderneres sozialdemokratisches Verständnis von sozialer Gerechtigkeit.411 Unter Konzentration auf die Felder der Fiskal-, Geld-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik werden die unterschiedlichen ‚Dritten Wege’ der Sozialdemokraten in Großbritannien, den Niederlanden, in Frankreich und in Schweden nebeneinander gestellt und verglichen, um anschließend „Grundlinien einer sozialdemokratischen Reformkonzeption für das 21. Jahrhundert“412 zu ziehen.413 Wirklich neu aber, und inhaltlich nah an den Forderungen und Ideen des Schröder-Blair-Papiers, war der Ruf nach einer Neujustierung, einer Präzisierung des sozialdemokratischen Gerechtigkeitsbegriffes. Der Text stellt fest, dass mit sozialer Gerechtigkeit nicht lediglich die einfache Herstellung von Vermögens- und Einkommensgleichheit gemeint sein könne. Des Weiteren sei es nicht gerecht und angemessen, den Sozialstaat des 20. Jahrhunderts in der postindustriellen Ära des 21. Jahrhunderts strukturell unverändert fortzuschrei408 Vgl. Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD (Hrsg.): Dritte Wege – Neue Mitte. Sozialdemokratische Markierungen für Reformpolitik im Zeitalter der Globalisierung. Berlin 1999. 409 Vgl. ebenda. S. 1. 410 Vgl. ebenda. S. 6. 411 Vgl. Egle, Christoph/Henkes, Christian. Wiesbaden 2003. S. 85. 412 Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD (Hrsg.). Berlin 1999. S. 32. 413 Vgl. ebenda. S. 11 und 32.
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ben. Auch würde nach einem modernen Verständnis von sozialer Gerechtigkeit eine Vertiefung von Vermögens- und Einkommensungleichheiten nicht mehr grundsätzlich ablehnt werden, gesetzt den Fall, diese ermögliche ein wirtschaftliches Wachstum, von dem auch die am wenigsten Begünstigten einer Gesellschaft profitieren würden. Die Kommission beruft sich hierbei ausdrücklich auf das von John Rawls in seiner ‚Theorie der Gerechtigkeit’ entworfene Differenzprinzip.414 Moderne soziale Gerechtigkeit könne auch eine Deregulierung der Arbeitsmärkte beinhalten, solange diese zu einer verstärkten gesellschaftlichen Inklusion und zu gesamtwirtschaftlichen ‚Effizienzgewinnen’ führen würde, sowie soziale Exklusion verhindere: „(…) wenn also bestimmte Ungleichheiten jedem nutzen, indem sie sozial und wirtschaftlich nützliche Fähigkeiten und Energien mobilisieren, können sie dann als sozial gerecht angesehen werden, wenn die unteren sozialen Schichten aus dieser wirtschaftlichen Dynamik so profitieren, dass sie danach besser gestellt sind als zuvor.“415 Grundsätzlich kann man sagen, dass der schon im Schröder-BlairPapier mehrfach laut gewordene Ruf nach Deregulierung und Flexibilisierung ebenfalls Bestandteil des Strategiepapiers ist, wenn auch anhand der vergleichenden Analysen in abgewogener Form. Mit der Publikation der Grundwertekommission leistete die SPD-Führung ihrem Parteivorsitzendem und amtierenden Bundeskanzler Gerhard Schröder darüber hinaus weitestgehend inhaltliche Schützenhilfe und unterstützte die Forderung nach einer grundsätzlichen Programmrevision. Im Dezember 1999 beschloss der SPD-Parteitag schließlich, die schon begonnene Programmdebatte mit der Einsetzung einer neuen Grundsatzprogrammkommission offiziell fortzusetzen, und somit den Weg hin zu einem neuen Grundsatzprogramm zu beschreiten.416 Dieser Beschluss wurde jedoch von einer Vielzahl von Anträgen der Parteigliederungen begleitet, die sich kritisch mit dem Schröder-Blair-Papier auseinandersetzten, und vor einer zu radikalen Revision sozialdemokratischer Programmatik warnten.417 Rückblickend lässt sich demnach sagen, dass die utilitaristisch-marktorientierten, für viele Sozialdemokraten provokanten, Vorstellungen von Schröder und Blair die in den Jahren zuvor eingeschlafene grundsätzliche Programmdebatte innerhalb der SPD wieder mit in Gang gebracht haben.418 414 415 416 417 418
Vgl. ebenda. S. 28-29. ebenda. S. 30. Vgl. Vorstand der SPD: Antrag P1 – Leitantrag zum Grundsatzprogramm. Berlin 1999. S. 338. Vgl. Egle, Christoph/Henkes, Christian. Wiesbaden 2003. S. 78. Vgl. Frenzel, Martin. Wiesbaden 2002. S. 160.
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Den Auftakt der Programmarbeit bildeten im Jahr 2000 drei Foren zu den drei Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, wobei hier besonders die Aussagen des späteren Bundeswirtschafts- und Arbeitsministers Wolfgang Clement auf dem Grundwerteforum Gerechtigkeit ins Auge stechen. Ganz im Sinne der Modernisierer in der SPD spricht er davon, dass die früheren Garantien in Bezug auf die Verteilung von Wohlstand und Gerechtigkeit, die unter dem Dach des Nationalstaats gegeben werden konnten, heute „auf der Waage der Weltwirtschaft“419 weniger Gewicht hätten. Die Sozialdemokraten müssten daher rechtzeitig ihre Gerechtigkeitsideale an die Realitäten der neuen Weltwirtschaft anpassen.420 Clement folgt in seinen weiteren Ausführungen der Argumentation, die schon im Schröder-Blair-Papier und in ‚Dritte Wege – Neue Mitte’ zu finden war, wenn er sagt, dass moderne soziale Marktwirtschaften die Chancen auf Gleichheit erhöhen könnten, ohne dass sich notwendigerweise auch eine Gleichheit im Ergebnis ergeben müsse. „Diese Form von begrenzter Ungleichheit im Ergebnis kann sehr wohl auch ein Katalysator sein für individuelle als auch für gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten. Sie kann damit auch dem Anspruch dienen, ein realistisches Mehr an Gerechtigkeit zu schaffen“421, so Clement wörtlich. Auch der damalige NRW-Ministerpräsident zitiert John Rawls und spricht davon, dass die Gerechtigkeitsfrage der ‚archimedische Punkt’ der neuen sozialdemokratischen Programmdebatten in Europa sei.422 Zentrale Bedeutung kam der Gerechtigkeitsfrage auch aus Sicht der Kritiker des ‚Dritten Weges’ zu, da in der von Schröder und Blair angestrebten Modernisierung des Gerechtigkeitsbegriffes eine ‚mentale Kolonialisierung’ der Sozialdemokratie durch marktliberales Gedankengut gesehen wurde.423 Im Mittelpunkt der Diskussion stünde die Frage, ob es in Zukunft „(…) noch zum Kernbestand der Sozialdemokratie gehören soll, Marktergebnisse durch Umverteilung zu korrigieren.“424 Diese Frage steht beispielhaft für den programmatischen Umbruch, den die Apologeten des ‚Dritten Wegs’ der Sozialdemokratie einleiten wollten, wobei auch Vorstellungen aus der Regierungspraxis von SPD und Labour Party Einzug in die Programmdebatten hielten. Aus dem ‚konsumistischen’ wollte man den ‚vorsorgenden’ Sozialstaat machen, der frei419 Clement, Wolfgang: Durch innovative Politik zu gerechter Teilhabe. In: SPD-Parteivorstand (Hrsg.): Grundwerte Heute: Gerechtigkeit. Berlin 2000. S. 11. 420 Vgl. ebenda. S. 11. 421 ebenda. 422 Vgl. ebenda. S. 11 und 13. 423 Vgl. Mahnkopf, Birgit: Formel 1 der neuen Sozialdemokratie: Gerechtigkeit durch Ungleichheit. Zur Neuinterpretation der sozialen Frage im globalen Kapitalismus. In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft Heft 121 Nr. 4 2000. S. 489-490. 424 Egle, Christoph/Henkes, Christian. Wiesbaden 2003. S. 86.
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em Markt und Wirtschaftswachstum und im Vorfeld zuarbeiten würde, anstatt wie bisher auftretende Defekte nachsorgend zu reparieren.425 Im November 2000 beteiligte sich erneut die Grundwertekommission mit einer Veröffentlichung zum Thema Globalisierung an der Debatte, wenn auch in grundsätzlicherer und sehr breit angelegter Form. Detlev Albers und Hermann Schwengel zeichnen dort einen großen Bogen von der Beschreibung und Beurteilung der Globalisierung im Allgemeinen hin zur Frage nach einer ‚europäischen Globalisierung’ und der Ergänzungsbedürftigkeit des Berliner Programms bei diesem Thema.426 Zentraler Punkt ist für die Autoren dabei die Idee der Wirtschaftsdemokratie, die es gelte, in eine zukunftstaugliche, den Herausforderungen einer globalisierten Welt gerecht werdende Form zu bringen. Wichtig sei eine neue Vision sozialer Gerechtigkeit, welche mit Hilfe von demokratisch verantwortetem Wirtschaften in die Tat umzusetzen sei, da es ohne solch eine Vorstellung unter den Bedingungen von Globalität und Welt-Staatlichkeit kein sozialdemokratisches Programm auf der Höhe der Zeit geben könne.427 Im Berliner Programm werde zwar auch schon die Demokratisierung der Wirtschaft gefordert, doch seien die unterschiedlichen Dimensionen, im Lichte der Dynamik der Globalisierung betrachtet, nicht ausreichend beleuchtet worden. Es bedürfe einer Neudefinition, es gelte, „(…) die Grundidee demokratisch legitimierten Wirtschaftens auf allen Ebenen zum Tragen zu bringen: auf der Ebene der Weltwirtschaft und globaler Institutionen, auf der kontinentalen und regionalen wie auf der lokalen und städtischen.“428 Zu diesem Zweck greift die Grundwertekommission einen der entscheidenden Sätze des Berliner Programms auf, der genau so auch schon im Godesberger Programm gestanden hatte, und formuliert ihn entsprechend der von ihr geforderten neuen Prämissen um. Aus ‚Wettbewerb soweit wie möglich, Planung soweit wie nötig’ sollte das Wort ‚Planung’ gestrichen, und durch ‚Regulierung’ ersetzt werden.429 Die Vorstellung, dass unter den heutigen globalisierten Verhältnissen von staatlicher Seite Kontrolle durch Planung ausgeübt werden könne, sei nicht mehr zeitgemäß. Es würde vielmehr darum gehen, den 425 Vgl. Walter, Franz: Sozialdemokratische Programmfindung. Ruck nach links? In: Perspektivends Heft 2 2007. S. 69. 426 Vgl. Albers, Detlev/Schwengel, Hermann: Europäische Globalisierung und Sozialdemokratie. In: Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD (Hrsg.): Der Globalisierung ein europäisches Gesicht geben. Berlin 2000. S. 11-26. 427 Vgl. ebenda. S. 14 und 20. 428 ebenda. S. 21. 429 Vgl. ebenda. S. 22.
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Märkten durch Regulierung auf globaler, europäischer, und nationaler Ebene verbindliche Vorgaben zu machen, die dazu geeignet seien, „(…) die (bislang mehr denn je vermachtete) Wettbewerbsökonomie in einen Motor sozialer Gerechtigkeit umzusteuern.“430 Auf dem Parteitag im November 2001 wurde ein erster Zwischenbericht der Grundsatzprogrammkommission vorgelegt, in dem die bisherige Arbeit der Kommission, inhaltlich aufgeteilt nach den Berichten der jeweiligen Arbeitsgruppen, dargestellt wurde. Zusätzlich findet sich dort ein Bericht der Grundwerte- an die Grundsatzprogrammkommission, in welchem die bisherigen Arbeitsergebnisse zusammengefasst sind.431 Gleich zu Beginn wird in Bezug auf das Verhältnis zum Berliner Programm deutlich gemacht, wie wichtig bei der Erarbeitung des neuen Grundsatzprogramms der intensive Dialog mit den europäischen sozialdemokratischen Schwesterparteien sei, die ebenfalls an ihren neuen Programmentwürfen arbeiten würden.432 Dies entspricht der immer wiederkehrenden Forderung nach einer, vor alle in Wirtschaftsfragen, stärkeren Bündelung der Kräfte auf europäischer Ebene. Die Autoren konstatieren bei der Beschreibung der neuen Herausforderungen, dass nicht mehr die Tatsache starker wirtschaftlicher Verflechtung an sich das Problem sei, sondern die historisch beispiellose Geschwindigkeit, Tiefe und Reichweite, die durch neue technische Entwicklungen ermöglicht würde.433 Dies verschiebe die Koordinaten für eine Politik, die einem auf solche Art und Weise global vernetzten Wirtschaften Rahmenbedingungen setzen will. Die Entwicklung weltstaatlicher Strukturen sei demnach unablässig, es bedürfe einer neuen ‚Weltordnungspolitik’.434 In dem Bericht wird ausdrücklich formuliert, dass der Prozess der Globalisierung gestaltet werden müsse, wobei hier auch verschiedene Formen der Kapitalmarktregulierung diskutiert werden.435 Besonders im ein-
430 ebenda. 431 Vgl. Grundsatzprogrammkommission der SPD (Hrsg.): Wegmarken für ein neues Grundsatzprogramm – Sozialdemokratische Vorstellungen zur nachhaltigen Gestaltung der globalen Epoche. Berlin 2001. 432 Vgl. ebenda. S. 7. 433 Vgl. ebenda. S. 10. 434 Vgl. ebenda. S. 11; und Bericht der Arbeitsgruppe: Globalisierung und ihre Folgen. In: Grundsatzprogrammkommission der SPD (Hrsg.): Wegmarken für ein neues Grundsatzprogramm – Sozialdemokratische Vorstellungen zur nachhaltigen Gestaltung der globalen Epoche. Berlin 2001. S. 40. 435 Vgl. Grundsatzprogrammkommission der SPD (Hrsg.). Berlin 2001. S. 10, 12; und Bericht der Arbeitsgruppe: Globalisierung und ihre Folgen. In: Grundsatzprogrammkommission der SPD (Hrsg.) Berlin 2001. S. 42.
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gegliederten Bericht der Grundwertekommission werden ‚globale Realitäten’ benannt, die Fragestellungen für die künftige Programmarbeit bereithalten. So wird an erster Stelle erneut festgestellt, dass expansives Wachstum nicht mehr als Antwort auf die Verteilungsfrage des 21. Jahrhunderts angesehen werden könne. Des Weiteren wird, ganz auf einer Linie mit den Ergebnissen der Grundsatzprogrammkommission, die mangelnde politische Kontrolle und der Verlust der demokratischen Souveränität in Zeiten der Globalisierung bemängelt.436 Aus eigener Kraft könne zukünftig kein Land mehr die Freiheit der politischen Gestaltung und die demokratische Kontrolle in neuralgischen Politikbereichen bewahren. „Für uns kommt es deshalb entscheidend darauf an, den Primat der Politik mit Hilfe der Europäischen Union und durch den Ausbau der weltwirtschaftlichen Institutionen durchzusetzen und die globalen Geld- und Kapitalmärkte einer demokratischen Kontrolle zu unterwerfen“437, so der Bericht wörtlich. Relevant an dieser Stelle ist auch die Stellungnahme im Zwischenbericht zur Frage des künftigen Gerechtigkeitsbegriffes. Die von Wolfgang Clement im April 2000 getätigten Aussagen werden konkret aufgegriffen, wobei die Grundwertekommission feststellt, dass die Anerkennung begrenzter Ungleichheiten schon länger Teil sozialdemokratischer Programmatik sei. Es könne demnach gerechte Ungleichheiten geben, wobei der Bericht den Rechtfertigungen und Begründungen Clements für diese weitestgehend folgt. Gerechte Ungleichheiten könnten grundsätzlich „zur Anhebung des gesellschaftlichen Niveaus der gesicherten Freiheitschancen für alle (…) beitragen.“438 Wichtig sei jedoch, dass dabei drei klare Grenzziehungen Bestand hätten: zum einen dürfe nicht der Markt der letzt gültige Verteilungsmaßstab sein, zum anderen müssten die Grundgleichheiten der sozialen Lebenschancen garantiert sein. Darüber hinaus müssten die Kriterien für gesellschaftlich produktive Leistungen öffentlich diskutiert und politisch bestimmt werden.439 Auf dieser Basis könnte eine neue differenzierte Gerechtigkeitskonzeption erarbeitet werden, wobei die Programmkommission sich im Zwischenbericht bewusst nicht festlegt. Es wird jedoch deutlich, dass im Zeitalter der Globalisierung des 21. Jahrhunderts die
436 Vgl. Bericht der Kommission Grundwerte beim Parteivorstand der SPD an die Grundsatzprogrammkommission. In: Grundsatzprogrammkommission der SPD (Hrsg.): Wegmarken für ein neues Grundsatzprogramm – Sozialdemokratische Vorstellungen zur nachhaltigen Gestaltung der globalen Epoche. Berlin 2001. S. 34-35. 437 ebenda. S. 35. 438 ebenda. S. 33. 439 Vgl. ebenda.
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Gerechtigkeitsfrage innerhalb der sozialdemokratischen Programmdebatte eine große Bedeutung besitzt.440 Im weiteren Verlauf der Arbeit am neuen Grundsatzprogramm erschienen im Jahr 2003 zwei Publikationen von Parteiseite, die jeweils unterschiedlichen Strömungen innerhalb der SPD zuzuschreiben waren. Auf der einen Seite veröffentlichten Parteilinke wie Detlev Albers, Michael Müller, Johano Strasser und Heidemarie Wieczorek-Zeul im November 2003 ihren Beitrag zur Debatte als Mitglieder der ‚Redaktionsgruppe Programmkommission’, mit dem sie ‚Akzente eines neuen Grundsatzprogramms’ setzen wollten, so der Titel der Veröffentlichung.441 Auf der anderen Seite erschien im Nachgang an eine Klausurtagung im Oktober 2003 ein Papier der SPD-Netzwerker mit dem Titel ‚Impulse. Für ein neues Grundsatzprogramm der SPD’, das eine Definition von Grundvorstellungen sowie einen Katalog von politischen Forderungen unter der Rubrik ‚Was wir wollen’ enthielt.442 Die Verfasser des letztgenannten Papiers, die sich selbst, in bewusster Abgrenzung zu vielen maßgeblichen SPD-Programmatikern, als Sozialdemokraten der „Nach-68er-Generation“443 bezeichnen, konstatieren im Wesentlichen dieselben Herausforderungen, wie sie schon in anderen programmatischen Texten zu finden waren. Die Globalisierung mache nationalstaatliche Grenzen bedeutungsloser, die Weltgesellschaft wüchse zusammen, „(…) aber unsere Fähigkeit zur weltweiten politischen Kooperation ist Besorgnis erregend unterentwickelt.“444 Dazu komme, dass die Gestaltungsmacht der demokratisch legitimierten nationalstaatlichen Entscheidungen im Angesicht der Wettbewerbsbedingungen der globalisierten Wirtschaft und des technologischen Wandels abgenommen habe.445 Die Autoren formulieren daher ihren Willen, sich für das Primat demokratischer Entscheidungen in einer globalisierten Welt einzusetzen, um die Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Handeln weiterhin politisch zu be440 Siehe hierzu auch Wolfgang Thierse, der die Bedeutung der Gerechtigkeitsfrage in Zeiten einer immer dynamischer werdenden Globalisierung als sehr hoch erachtet, und davon spricht, dass Gerechtigkeit der relevanteste Grundwert der Sozialdemokratie sei. Thierse, Wolfgang: Justice remains the Basic Core Value of Social-Democratic Politics. In: Cuperus, Rene/Duffek, Karl/Kandel, Johannes (Ed.): European Social Democracy facing the Twin Revolution of Globalisation and the Knowledge Society. Amsterdam/Berlin/Wien 2001. S. 140-141. 441 Vgl. Albers, Detlev/Erler, Gernot/Müller, Michael/Strasser, Johano/Wieczorek-Zeul, Heidemarie. Berlin 2003. 442 Vgl. Impulse. Für ein neues Grundsatzprogramm der SPD. Bonn 2004. S. 297-341. 443 ebenda. S. 299. 444 ebenda. S. 301. 445 Vgl. ebenda. S. 302.
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stimmen. Bisher gebe es noch keine starke, ordnende ‚Weltinnenpolitik’, die der unkontrollierten Machtkonzentration globaler Wirtschaftsunternehmen und dem Ruf nach immer extensiverer Deregulierung und Entstaatlichung entgegen trete.446 Die allumfassende Zielvorstellung der Verfasser ist folgerichtig „die Einbettung der globalisierten Märkte in demokratisch legitimierte finanz-, handels-, und umweltpolitische, vor allem aber auch soziale Rahmenbedingungen (…).“447 Zusammen mit der Veröffentlichung der ‚Impulse’ der SPDNetzwerker erschienen mehrere Aufsätze in einem Sammelband zum Thema Programmdebatte. In einem dieser Aufsätze konstatiert Wolfgang Schroeder, Politologe und Berater der SPD in Programmfragen, in Bezug auf die notwendige Weiterentwicklung des Berliner Programms, dass sich ein neues wirtschaftspolitisches Leitbild „(…) an einer sozial und ökologisch regulierten Wirtschaft im Kontext einer hoch entwickelten Weltwirtschaftsordnung orientieren (solle) (…).“448 Ganz im Sinne des soeben dargestellten Impuls-Papiers schreibt Schroeder, dass es darum gehe, die transnationale Koordinierung von Geld-, Finanz- und Lohnpolitik zu einem neuen Handlungstypus sozialdemokratischer Politik zu machen. Entscheidende Bedeutung habe hierbei der europäische Rahmen. Eine demokratisch legitimierte und koordinierte europäische Makropolitik in Form einer transnationalen Koordinierung könne negative SpilloverEffekte verhindern, zum Austausch erfolgreicher wirtschaftspolitischer Ansätze beitragen, und somit positive Wohlfahrtseffekte für alle beteiligten Gesellschaften generieren.449 Die Veröffentlichung der Redaktionsgruppenmitglieder sieht ähnliche Herausforderungen für ein neues Programm, doch werden teilweise andere Schwerpunkte gesetzt. Es bedürfe in Zukunft verstärkter internationaler Kooperation, für Deutschland vor allem im Rahmen der Europäischen Union, um die Versorgung mit grundlegenden Gütern wie Sicherheit, Nachhaltigkeit und finanzieller Stabilität zu gewährleisten. Die marktwirtschaftlich verfasste Ökonomie müsse gerade in Zeiten der Globalisierung einer demokratischen Kontrolle unterworfen sein.450 Darüber hinaus müsse soziale Gerechtigkeit als ein öffentliches Gut 446 Vgl. ebenda. S. 312-313. 447 ebenda. S. 313. 448 Schroeder, Wolfgang: Mehr Arbeit und bessere Arbeit. Arbeit – Wirtschaft – Soziale Sicherheit in sozialdemokratischer Programmperspektive. In: Friedrich-Ebert-Stiftung, Politische Akademie (Hrsg.): Die neue SPD. Menschen stärken – Wege öffnen. Bonn 2004. S. 239. 449 Vgl. ebenda. S. 240. 450 Vgl. Albers, Detlev/Erler, Gernot/Müller, Michael/Strasser, Johano/Wieczorek-Zeul, Heidemarie. Berlin 2003. S. 1 und 8.
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gewährleistet und gerecht verteilt sein. Dies müsse verknüpft werden mit grundsatzprogrammatischen Aussagen darüber, wie der angestrebte Wohlstand ökonomisch realisiert werden kann, um damit die postulierten öffentlichen Güter zu finanzieren.451 Im nächsten Kapitel wird davon gesprochen, dass es im Anschluss an die Sicherstellung der öffentlichen Güter und die Schaffung einer relativen finanziellen Stabilität vor allem um die gerechte Verteilung und die gerechte Teilhabe aller am gesellschaftlichen Reichtum gehe. Gemeint ist eine Beteiligungsgerechtigkeit gemäß dem Prinzip allgemeiner und gleichberechtigter Beteiligung, welches unter Sozialdemokraten verschiedene Auslegungen erfahre, aber elementarer Bestandteil einer sozialdemokratischen Grundsatzprogrammatik sein müsse.452 Hier wird ein Unterschied zur Veröffentlichung der Netzwerker deutlich: den Autoren um Albers und Strasser geht es auch unter den Bedingungen der Globalisierung vermehrt um die Frage der sozialen Gerechtigkeit, sie füllen die Forderungen nach mehr staatlicher Kontrolle, sei es national, europäisch oder global gesehen, mit dem konkreten Inhalt der Frage nach Beteiligungsgerechtigkeit. Die Idee der Wirtschaftsdemokratie erhält hier eine andere Konnotation, es wird eher von der breiteren Verteilung des Wohlstandes, von der stärkeren Teilhabe aller am Erwirtschafteten gesprochen, als es im Impuls-Papier der Fall war.453 Anders als es beispielsweise der Historiker Jürgen Kocka in seinem Aufsatz im eben erwähnten Sammelband postuliert, sehen Albers und seine Koautoren nach wie vor die gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums als wichtigen Bestandteil sozialdemokratischer Programmatik an, und widersprechen der Forderung nach der Ablösung der Verteilungsgerechtigkeit durch reine Teilhabegerechtigkeit.454 Im Text der Netzwerker war noch die Notwendigkeit eines moderneren Verständnisses von sozialer Gerechtigkeit postuliert worden, es wurde ein weniger an Verteilungs- und ein mehr an so genannter Chancengerechtigkeit gefordert.455 Zum Schluss formuliert das Papier der Parteilinken drei Anforderungen an zukünftige wirtschaftspolitische Strategien der SPD. Erstens müsse es eine verlässliche soziale Absicherung geben für den Fall, dass gesamtwirtschaftliche 451 452 453 454
Vgl. ebenda. S. 3. Vgl. ebenda. S. 4-5. Vgl. ebenda. S. 10-11. Vgl. ebenda. S. 11; sowie Kocka, Jürgen: Sozialdemokratische Grundwerte heute. In: Friedrich-Ebert-Stiftung, Politische Akademie (Hrsg.): Die neue SPD. Menschen stärken – Wege öffnen. Bonn 2004. S. 62. 455 Vgl. Wegner, Reinhard: Die neue SPD. Impulse für ein neues Grundsatzprogramm. In: spw: Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft Bd. 4 2004. S. 45.
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Risiken den Einzelnen träfen. Zweitens müssten, um die Entstehung derartiger Risiken zu vermindern, solche Standortbedingungen geschaffen werden, die Unternehmen ein Überleben im internationalen Wettbewerb ermöglichen würden. An dritter Stelle wird eine konjunkturelle Stabilisierungspolitik auf europäischer Ebene eingefordert, um stabiles wirtschaftliches Handeln grundsätzlich zu ermöglichen.456 In engem Zusammenhang mit den Aussagen der Redaktionsgruppenmitglieder können Anregungen der Grundwertekommission aus dem Dezember 2003 gesehen werden, die diese in einem Papier mit dem Titel ‚Öffentliche Güter und Soziale Demokratie’ veröffentlichte.457 Auch hier wird festgestellt, dass im Zuge der Globalisierung der Staat in der sozialen Marktwirtschaft unter Druck gerate, wobei die Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit als Hauptaufgabe des Sozialstaates immer schwieriger zu erreichen sei. Die Autoren sehen besonders die Bereitstellung von öffentlichen Gütern, definiert als Güter, von deren Gebrauch niemand ausgeschlossen werden kann, in einem sehr umfassenden Sinne als wichtig an, da mit ihrer Hilfe eine Freiheit und Gerechtigkeit stiftende Ordnung auch in Zeiten immer mächtiger werdender und international agierender Wirtschaftsinteressen aufrecht erhalten werden könne.458 Darüber hinaus seien garantierte und funktionierende öffentliche Güter auch im Zeitalter der Globalisierung unablässiger Bestandteil intakter Gesellschaften, sie seien „(…) für eine an Gerechtigkeit orientierte Politik nicht der staatliche Restbestand in einer Marktgesellschaft, sondern die Voraussetzung für eine leistungsfähige Wirtschaft (…), und zwar in einem die historisch gewachsenen Institutionen des Sozialstaats bewahrenden und zugleich darüber hinausgehenden Sinn.“459 Die maßgebliche politische Arena zur Umsetzung solcher sozial- und wirtschaftspolitischen Vorstellungen sei aus deutscher Sicht die Europäische Union, wobei auch internationale Reglementierungen, beispielsweise über die World Trade Organisation (WTO) angemahnt werden.460 Obwohl diese unterschiedlichen Dokumente zur Programmdebatte der SPD existieren, kann man davon sprechen, dass nach dem Zwischenbericht der Grundsatzprogrammkommission im Jahr 2001 die inhaltliche Neuorientierung 456 Vgl. Albers, Detlev/Erler, Gernot/Müller, Michael/Strasser, Johano/Wieczorek-Zeul, Heidemarie. Berlin 2003. S. 17. 457 Vgl. Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD (Hrsg.): Öffentliche Güter und Soziale Demokratie. Berlin 2003. 458 Vgl. ebenda. S. 5 und 7. 459 ebenda. S. 13. 460 Vgl. ebenda. S. 5 und 17.
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der SPD ins Stocken geraten ist. Hubert Kleinert spricht sogar davon, dass eigentlich seit der kontroversen Diskussion über das Schröder-Blair-Papier kaum noch Wesentliches erarbeitet worden sei, vielmehr habe eine inhaltlich entleerten SPD ein „muddling through“461 praktiziert.462 Im Jahr 2002 war die Programmdebatte sogar von offizieller Seite her ausgesetzt worden, um sich auf das Wahlprogramm und die Arbeit am Regierungsprogramm für eine weitere Legislaturperiode zu konzentrieren.463 Schließlich attestierte auch der SPD-Politiker Sigmar Gabriel seiner Partei im Jahr 2004 einen akuten inhaltlichen Erschöpfungszustand: die SPD habe im Augenblick keine rechte Idee von sich selbst, was auf einen Mangel an bindenden grundsätzlichen Überzeugungen hinweise.464 Dabei fehlte es nicht an kritischen Stimmen, die meist deutlicher als die offiziellen Partei-Publikationen die Herausforderungen benannten und programmatische Antworten einforderten. So schrieb der Politologe Fritz W. Scharpf im Jahr 2004 in einem Aufsatz zum Thema der Modernisierung des Berliner Programms, dass es auf dem Feld der Wirtschafts- und Sozialpolitik fünf neue Herausforderung gebe, die in der strategischen Diskussion eines neuen Programms zwingend berücksichtigt werden müssten.465 Scharpf plädiert dafür, die internationale Mobilität des Kapitals, die internationale Steuerkonkurrenz, die Verschärfung des Kostenwettbewerbs im Exportsektor sowie die Europäische Währungsunion „als vorerst unveränderliche Randbedingungen hinzunehmen“466, und das Steuer- und Abgabensystem in den Mittelpunkt der Diskussionen über sozialdemokratische Antworten zu stellen. Ziel müsse es sein, durch eine Reform die internationale Wettbewerbsfähigkeit, die Beschäfti-
461 Kleinert, Hubert: Die Diskussionspartei diskutiert nicht. Wie eine gesellschaftspolitische Reformdebatte an der SPD vorbeiging. In: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Bd. 6 2003. S. 29. 462 Vgl. ebenda. 463 Vgl. Unterbezirk Düsseldorf (Bezirk Niederrhein): Antrag P 1: Grundwerte und SPDGrundsatzprogramm. In: Vorstand der SPD, Referat Parteiorganisation (Hrsg.): Parteitag der SPD in Nürnberg 19. bis 22. November 2001 - Beschlüsse. Berlin 2001. S. 361; sowie Dürr, Tobias: Die Linke nach dem Sog der Mitte. Zu den Programmdebatten von SPD, Grünen und PDS in der Ära Schröder. In: Aus Politik und Zeitgeschichte Bd. 21 2002. S. 9. 464 Vgl. Gabriel, Sigmar: Laboratorium oder Sanatorium? Die SPD zwischen Reformfähigkeit und Strukturkonservatismus - Gespräch mit Sigmar Gabriel. In: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Bd. 7/8 2004. S. 84 und 87. 465 Vgl. Scharpf, Fritz W.: Keine falsche Pietät! Zur Modernisierung des Berliner Programms. In: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Bd. 12 2004. S. 54. 466 ebenda.
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gungswirkung, die Ertragskraft und auch die Verteilungsgerechtigkeit dieses Systems gleichzeitig zu optimieren.467 Wenig später, im Jahr 2006, forderte der damalige JusoBundesvorsitzende Björn Böhning noch grundsätzlicher, dass die SPD im Rahmen ihrer Programmdebatte eine moderne Kapitalismuskritik als Antwort auf den ‚fundamentalen sozioökonomischen Wandel’ entwickeln müsse.468 Die bisherigen Antworten innerhalb der Programmdebatte seien nicht ausreichend, und demzufolge formuliert Böhning unmissverständlich: „Eine neue sozialdemokratische Idee braucht einen konsistenten Ordnungsrahmen für eine neue Globale Ökonomie. Sozialdemokratische Grundsatzprogrammatik muss sich dieser Aufgaben stellen, oder sie wird von der Wucht des globalen Finanzkapitalismus weggespült.“469 Eine konkrete Weiterführung der Programmdiskussion der SPD gab es schließlich wieder unter Franz Müntefering als Vorsitzendem der Partei und der Grundsatzprogrammkommission ab Mitte 2004. In der zweiten Jahreshälfte 2004 bis in das Jahr 2005 hinein wurden mehrere thematische geordnete Impulspapiere der Grundsatzprogrammkommission veröffentlicht, die Berichte der jeweiligen Arbeitsgruppen darstellten. Diese dienten wiederum als Grundlagen für fünf Programmhefte, die von Februar bis Mai 2005 erschienen und die Schwerpunkte der Diskussion inhaltlich bündelten. Im Anschluss daran sollte im Herbst 2005 das neue Grundsatzprogramm beschlossen werden. Relevant in diesem Zusammenhang sind das Impulspapier mit dem Titel ‚Globalisierung gerecht gestalten’ sowie das Programmheft ‚Wohlstand heute und morgen’. In dem von der Arbeitsgruppe Globalisierung verfassten Impulspapier formulieren die Autoren sehr kritisch die Herausforderungen im Zeitalter der Globalisierung, und benennen deutliche und handlungsanleitende Antworten. Die Globalisierung in ihrer marktdominaten Form stehe für die Aushöhlung der Funktionen des Nationalstaats, die Dominanz des Ökonomischen schwäche die Demokratie, und grundsätzlich seien die weltweiten Fähigkeiten, die Globalisierung politisch zu gestalten, unterentwickelt.470 Nach dem Ende des Ost-West467 Vgl. ebenda. 468 Vgl. Böhning, Björn: Die SPD braucht eine moderne Kapitalismuskritik – Impulse für ein neues Grundsatzprogramm. In: spw: Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft Bd. 5 2006. S. 22. 469 ebenda. S. 23. 470 Vgl. Grundsatzprogrammkommission der SPD (Hrsg.): Globalisierung gerecht gestalten. Impulse für das neue Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Berlin 2004. S. 2, 3 und 8.
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Konfliktes sei die westliche Welt maßgeblich von zwei Gesellschaftsmodellen geprägt, denen unterschiedliche Wirtschaftsverfassungen zugrunde lägen: das angloamerikanische, liberale Modell stünde dem, vor allem europäischen, Modell der sozialen Demokratie gegenüber, welches immer mehr unter Druck gerate. Es gelte nun, das soziale Gesellschaftsmodell in Zeiten kaum regulierter globaler Wirtschaftprozesse zu verteidigen und weiterzuentwickeln.471 Dieses europäische Modell müsse „(…) gegen das in weiten Bereichen der internationalen Politik vorherrschende Paradigma einer allein marktdominierten Wirtschaftsverfassung durchgesetzt werden.“472 In einem neuen Grundsatzprogramm müsse darüber hinaus der Erhalt, beziehungsweise die Wiedereinführung des Primats demokratischer Entscheidungen gefordert werden. Die Weltgesellschaft brauche einen sich an demokratischen Prinzipien orientierenden institutionalisierten politischen Rahmen im Sinne einer ‚Good Global Governance’, um den internationalen Finanzmärkten klare Regeln innerhalb eines definierten Ordnungsrahmens zu geben, sowie eine koordinierte Makropolitik, um mehr Wachstum anzuregen.473 Zum Schluss postuliert das Impulspapier, dass Sozialdemokraten nicht nur national, sondern auch international nach einer gerechten Wirtschaftsordnung streben sollen. „Die Sozialdemokratie steht für die Zähmung des Kapitalismus, auch und gerade unter den Bedingungen der Globalisierung.“474 Franz Müntefering greift im Programmheft zum Thema ‚Wohlstand heute und morgen’ den Satz von der Zähmung des Kapitalismus auf und fordert ebenfalls die Schaffung und Realisierung einer global gültigen gerechten Wirtschaftsordnung, wobei auch er das Gestaltungsprimat der Politik im Rahmen der Wirtschaftsdemokratie einfordert, am ehesten verwirklicht durch Kooperation auf europäischer, beziehungsweise globaler Ebene.475 Einen anderen Ton, der sich von einigen der bisherigen, eher linken programmatischen Äußerungen eher abgrenzt, schlägt der Beitrag Wolfgang Clements im Programmheft an. Der Bundeswirtschaftsminister, der mit seinen Thesen auch die von ihm mit verantwortete Regierungspolitik rechtfertigt, stellt an erster Stelle fest, dass in Zeiten der Globalisierung die internationale Wettbewerbsfähigkeit ein zentraler Topos moderner sozialdemokratischer Wirt471 472 473 474 475
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Vgl. ebenda. S. 3 und 4. ebenda. S. 8. Vgl. ebenda. S. 9, 10 und 13. ebenda. S. 15. Vgl. Müntefering, Franz: Wohlstand heute und morgen. Leitsätze zur Zukunft der sozialen Marktwirtschaft. In: SPD-Parteivorstand (Hrsg.): Wohlstand heute und morgen. Die Programmdebatte der SPD. Berlin 2005. S. 9-10.
schaftspolitik sei, der unbedingt Eingang in ein neues Grundsatzprogramm finden müsse. Früher sei es um die Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der sozialen Marktwirtschaft gegangen, heute gehe es längst um die Wettbewerbsfähigkeit der Marktwirtschaft selbst.476 Clement möchte darüber hinaus verstärkt die Initiative des Einzelnen sehen, sich durch staatliche, aber auch private Unterstützung zu qualifizieren, um die Chancen der Globalisierung wahrzunehmen. Die Agenda 2010 der Regierung Schröder wird hierbei ausdrücklich erwähnt, wobei Clement in Bezug auf gegenwärtige und zukünftige wirtschafts- und sozialpolitischen Herausforderungen subsummiert: „Es lohnt, vieles nicht nur von der Warte des Staates aus zu betrachten.“477 Der Politiker, der im Jahr 2005 Mitglied im Präsidium der Programmkommission ist, greift damit auf das Gedankengut der ‚Dritten Wege‘ der Sozialdemokratie zurück, womit an dieser Stelle der programmatische Wandel weg von einer staatlich organisierten Verteilungsgerechtigkeit hin zu einer neuen Chancen- und Teilhabegerechtigkeit gemeint ist. „(…) Eine ‚Chancengerechtigkeit’, die auf die Allgegenwart von Konkurrenzverhältnissen vorbereitet, und eine ‚Teilhabegerechtigkeit’, die die Inklusion ins Marktgeschehen zur ersten Bürgerpflicht macht“478, so lautete die Kritik an einer derartigen Neubesetzung des Gerechtigkeitsbegriffes in der SPD-Programmdebatte. Nachdem die Regierung Schröder im Mai 2005 beschlossen hatte, im September des selben Jahres Neuwahlen zum Bundestag abzuhalten, wurde der Fahrplan der Programmdebatte kurzfristig geändert, das heißt, es kam zu einer faktischen Unterbrechung der Grundsatzprogrammerarbeitung auf Grund von Wahlkampf und anschließender Koalitionsbildung. Im April 2006 wurden schließlich die bisherigen Diskussionsergebnisse in den ‚Leitsätzen auf dem Weg zu einem neuen Grundsatzprogramm’ erneut gebündelt. Sie waren Grundlage der weiteren Debatte, und nachdem die Grundsatzprogrammkommission im September 2006 erneut ihre Arbeit aufgenommen hatte, wurde im Januar 2007 mit dem ‚Bremer Entwurf’ der Kommission ein erster Programmentwurf vorgelegt. In den Leitsätzen werden im Grunde dieselben durch die Globalisierung bedingten Herausforderungen benannt wie in früheren Texten auch, wobei 476 Vgl. Clement, Wolfgang: Wohlstand und Märkte. Fünf Thesen zu einer modernen sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik. In: SPD-Parteivorstand (Hrsg.): Wohlstand heute und morgen. Die Programmdebatte der SPD. Berlin 2005. S. 15. 477 ebenda. S. 17. 478 Draheim, Susanne/Reitz, Tilmann: Work Hard and Play by the Rules. Zur Neubesetzung des Gerechtigkeitsbegriffes in der SPD-Programmdiskussion. In: Das Argument: Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften Bd. 3/4 2004. S. 468.
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es gelte, die Globalisierung politisch, vor allem mit Hilfe eines starken Europas, zu gestalten, und die soziale Marktwirtschaft zu erneuern. Neu hingegen ist die Forderung nach dem Ausbau des ‚vorsorgenden Sozialstaats’.479 In dem Papier findet sich wieder der Gestus der Modernisierer innerhalb der SPD, wenn beispielsweise in Bezug auf die Gerechtigkeitsfrage gesagt wird, dass gerechte Teilhabe zuallererst Chancengleichheit bedeute. Von Verteilungsgerechtigkeit ist nur noch insofern die Rede, als „(…) die gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands (…) auf die Verbesserung der Teilhabemöglichkeiten und Lebenschancen aller Menschen in unserer Gesellschaft (zielt).“480 In die gleiche Richtung zielt die Feststellung, dass das neue sozialpolitische Leitbild der vorsorgende Sozialstaat sei, „(…) der stärker als bislang in die Menschen und ihre Potentiale investiert. (…) Der Sozialstaat soll die Menschen aktivieren, ihr Leben in eigener Verantwortung zu gestalten.“481 Spätestens hier wird der Bruch mit der traditionellen SPD-Programmatik deutlich. Hatte im Berliner Programm noch der demokratische Sozialismus in ausdrücklicher Form als das Ziel einer anzustrebenden Gesellschaft gegolten, so forciert die Partei in der Programmdebatte für ein neues Grundsatzprogramm nun mehrheitlich die ‚soziale Marktwirtschaft’ und den ‚vorsorgenden Sozialstaat’.482 Beide Begriffe stehen für eine Hinwendung zu den Prinzipien des Marktes und lassen Züge eines sozialen Liberalismus erkennbar werden. Waren die Leitsätze noch unter dem Einfluss des damaligen SPDParteivorsitzenden Matthias Platzeck formuliert worden und standen symbolisch für eine sich von althergebrachten Programmatiken verabschiedende SPD, so ist im Bremer Entwurf, und deutlicher noch im neuen Hamburger Grundsatzprogramm schon wieder Traditionelleres zu lesen. Zu Beginn beider Programmtexte erfolgt zuerst die wenig neu klingende Bestandsaufnahme der wirtschafts- und sozialpolitischen Herausforderungen. Im Bremer Entwurf sowie im Hamburger Programm wird davon gesprochen, dass die globalisierte Welt immer weiter zusammenwachsen würde, dass zur politischen Steuerung der Globalisierung, also zur Aufrechterhaltung des Pri479 Vorstand der SPD (Hrsg.): Kraft der Erneuerung. Soziale Gerechtigkeit für das 21. Jahrhundert. Leitsätze auf dem Weg zum neuen Grundsatzprogramm der SPD vorgelegt am 24.04.2006. Berlin 2006. S. 7. 480 ebenda. S.2. 481 ebenda. S. 8. 482 Vgl. Nachtwey, Oliver: Gerechtigkeitsprobleme der Marktsozialdemokratie. Zur Debatte um ein neues Grundsatzprogramm der SPD. In: Berliner Debatte Initial: Sozial- und Geisteswissenschaftliches Journal Bd. 18 Heft 3 2007. S. 102.
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mats der Politik, ein ordnungspolitischer Rahmen auf internationaler Ebene ausgebaut werden müsse, und dass es generell neuer Regeln für den wirtschaftlichen Wettbewerb bedürfe. Hierzu bräuchte man unter anderem ein starkes Europas.483 In beiden Texten findet sich der von der Grundwertekommission schon im Jahr 2000 in Anlehnung an das Berliner Programm neu formulierte Grundsatz ‚So viel Wettbewerb wie möglich, so viel regulierender Staat wie nötig’.484 Darüber hinaus formulieren beide Dokumente, dass „stabile und nationale und internationale Finanzmärkte (…) ein wichtiges öffentliches Gut (sind).“485 Bei der Gerechtigkeitsfrage werden dann tatsächlich traditionellere Töne angeschlagen, da die Verteilungsgerechtigkeit erneut konkrete Erwähnung findet. Ungleichheiten in der Verteilung von Vermögen könnten die Gesellschaft in über Vermögen Verfügende und Nichtverfügende teilen. „Deshalb erfordert Gerechtigkeit mehr Gleichheit in der Verteilung von Einkommen, Vermögen und Macht.“486 Dieser Satz findet sich sowohl im Bremer Entwurf als auch im Hamburger Programm, und steht beispielhaft für eine partielle rhetorische Re-Traditionalisierung der SPD.487 Etwas anders verhält es sich mit dem Begriff des vorsorgenden Sozialstaats. In beiden Texten wird von ihm gesprochen, doch geschieht dies im Hamburger Programm schon in abgewandelter Form. Im Bremer Entwurf wird der vorsorgende Sozialstaat noch als Leitbild für das 21. Jahrhundert postuliert, er solle die Menschen zum selbst bestimmten Leben befähigen, „(…) indem er aktivierende, präventive und investive Ziele in den Mittelpunkt stellt.“488 Das Hamburger Programm spricht nicht mehr vom ‚Leitbild’ und vermeidet auch den aktivistischen Impetus des Entwurfes, wenn vermehrt von der Integration der Menschen in die Gesellschaft und die Absicherung vor existentiellen Risiken die Rede ist.489 Somit entspricht das neue Grundsatzprogramm in diesen Punkten noch deutlicher den Vorstellungen einer programmatischen Rückbesinnung, wobei auch diese ihre Grenzen hat, denn in Bezug auf die im Berliner 483 Vgl. SPD-Parteivorstand (Hrsg.): Soziale Demokratie im 21. Jahrhundert. „Bremer Entwurf“ für ein neues Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Berlin 2007. S. 4, 21-23; sowie Hamburger Programm. S. 7, 17, 22, 26. 484 Vgl Bremer Entwurf. S. 38; Hamburger Programm. S. 43. 485 Bremer Entwurf. S. 45; Hamburger Programm. S. 43. 486 Bremer Entwurf. S. 12; Hamburger Programm. S. 15. 487 Vgl. Nachtwey, Oliver. In: Berliner Debatte Initial: Sozial- und Geisteswissenschaftliches Journal Bd. 18 Heft 3 2007. S. 104. 488 Bremer Entwurf. S. 47. 489 Vgl. Hamburger Programm. S. 55-57; sowie Walter, Franz. In: Perspektiven ds Heft 2 2007. S. 72.
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Programm noch ausführliche Forderung nach einer Demokratisierung der Wirtschaft findet man dazu im neuen Hamburger Programm sehr wenig. Das Berliner Grundsatzprogramm hatte dem Thema Wirtschaftsdemokratie noch ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem die Instrumente und Ziele demokratisch gesellschaftlicher Steuerung ausführlich beschrieben wurden.490 Im neuen Grundsatzprogramm hingegen findet sich eine Erwähnung wirtschaftlicher Demokratie nur noch in Verbindung mit dem Hinweis auf die allgemeine Forderung des Grundgesetzes, dass der Besitz von Eigentum verpflichte, dieses auch zum Wohle der Allgemeinheit zu gebrauchen. Der Philosoph Julian Nida-Rümelin sieht gerade hierin eine der Stärken des Hamburger Programms, da es gelungen sei, die häufig unverbindliche ‚Lyrik’ des Berliner Programms zu bündeln und in ‚härtere Prosa’ zu überführen, ohne dass dabei zentrale Positionen aufgegeben worden wären.491 Eine andere Interpretation liefert Franz Walter, der das Hamburger Programm auf Grund der inhaltlich changierenden politischen Linie als ‚Kompromissmanifest’ bezeichnet.492 Festzuhalten bleibt, dass das Hamburger Programm in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen weder eindeutig den Idealen eines ‚sozialen Liberalismus’ oder einer Weiterentwicklung des Dritten Wegs, noch den Vorstellungen der klassischen, traditionellen Sozialdemokratie entspricht.
2.3.2.
‚Informatisierung’ – der Wandel des Verhältnisses von Technik, Natur und Gesellschaft
In diesem Kapitel soll dargestellt werden, welche Herausforderungen die SPD im Zusammenhang mit den in der Überschrift genannten Themenfeldern ausgemacht hat und wie programmatisch hierauf geantwortet wurde. Dies geschieht in Anlehnung an die in Kapitel III. 1.1.2. schon allgemein beschriebenen Herausforderungen. Ausgangspunkt ist erneut der SPD-Parteitag 1984 in Essen, auf dem der Startschuss für die Arbeit am Berliner Grundsatzprogramm fiel. Schon im Vorfeld des Parteitags hatte die Grundwertekommission in ihrem ‚Godesberg heute’ betitelten Papier den beschleunigten technischen Wandel und die zunehmenden ökologischen Gefährdungen als Herausforderungen für künftige SPD-
490 Vgl. Berliner Programm. S. 43-46. 491 Vgl. Nida-Rümelin, Julian: Zwischenruf: Die Lyrik ist zu Prosa geronnen. In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Bd. 11 2007. S. 39. 492 Vgl. Walter, Franz. In: Perspektiven ds Heft 2 2007. S. 72.
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Politik beschrieben.493 Im noch gültigen Godesberger Programm werde noch die Annahme vertreten, dass die technologische Entwicklung grundsätzlich neutral sei und daher immer positiv bewertet werden könne. Darüber hinaus fehle dem Godesberger Programm die ökologische Dimension, da die Beziehung zwischen Mensch und Natur sich nicht als Problem dargestellt hätte.494 Auf dem Essener Parteitag wurde demzufolge der technologische Wandel mit seinen Auswirkungen auf die Arbeitswirklichkeiten und die Umwelt in verschiedenen Anträgen angesprochen. Obwohl der Technisierung auch Chancenpotential zugesprochen wird, so überwiegt doch die Sorge um die Risiken des Wandels. Hierbei steht das Thema Arbeit klar im Vordergrund. Durch Modernisierung sollten Arbeitsplätze gesichert und nicht gefährdet werden.495 Der technologische Wandel müsse darüber hinaus die Qualität der Arbeit und des Lebens verbessern. „Die Entwicklung und Einführung der neuen Technologien ist daher unter Berücksichtigung der humanen und sozialen Folgen zu gestalten“496, so der Wortlaut des Antrags des Parteivorstands. In dieselbe Richtung zielt ein anderer Antrag, wenn dort gefordert wird, dass es einer sozial verträglichen Steuerung der technologischen Revolution bedürfe.497 Gemeinsam ist mehreren Anträgen, dass die Themen Arbeit und Umweltschutz im Kontext des technologischen Wandels als Einheit gesehen werden sollten, beziehungsweise dass eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen nicht auf Kosten der Umwelt gehen dürfe und umgekehrt.498 An einer Stelle werden sogar konkret staatliche Investitionsprogramme gefordert, die das Ziel, im Rahmen der Technisierung Arbeitsplätze zu schaffen, mit der Verbesserung der Umwelt verbinden sollen.499 Im direkten Anschluss an den Parteitag forderte der SPDBundestagsabgeordnete Gerhard Schröder im Juni 1984 ebenfalls eine verstärkte Beschäftigung mit Fragen des Umweltschutzes und der Versöhnung von
493 Vgl. Vorstand der SPD, Abt. Presse und Information (Hrsg.). Bonn 1984. S. 4. 494 Vgl. ebenda. S. 5. 495 Vgl. SPD-Parteivorstand: Antrag 1: Arbeit für alle – Gemeinsam die Zukunft gestalten. Bonn 1984. S. 40. 496 ebenda. 497 Vgl. Bezirk Westliches Westfalen: Antrag 13: Unsere Aufgabe für die achtziger Jahre: Arbeit für alle. Bonn 1984. S. 60. 498 Vgl. SPD-Parteivorstand: Antrag 1: Arbeit für alle – Gemeinsam die Zukunft gestalten. Bonn 1984. S. 41; Bezirk Westliches Westfalen: Antrag 13: Unsere Aufgabe für die achtziger Jahre: Arbeit für alle. Bonn 1984. S. 61; sowie Unterbezirk Hannover-Land (Bezirk Hannover): Antrag 10: Zukunft für alle, die Arbeit gestalten. Bonn 1984. S. 50-51. 499 Vgl. Unterbezirk Hannover-Land (Bezirk Hannover): Antrag 10: Zukunft für alle, die Arbeit gestalten. Bonn 1984. S. 50.
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Ökologie und Ökonomie. Diese Themen seien in der aufkommenden Programmdebatte deshalb so bedeutsam, da sie Bewegung in die fest gefügten Vorstellungen der Gesellschaft bringen würden. 500 „Umweltpolitische Lösungsvorschläge verlaufen nämlich nicht mehr entlang der alten Klassenlinie, entlang des alten Schemas von rechts und links“501, so ist sich Schröder sicher, denn die ökologische Bedrohung habe gezeigt, dass alle Bürger Betroffene seien. Noch in den 1970er Jahren waren Forderungen von Umweltbewegungen von sozialdemokratischen Ministern mit dem Hinweis zurückgewiesen worden, durch Umweltschutzmaßnahmen würden Arbeitsplätze gefährdet. Zu Beginn der 1980er Jahre wandelte sich dieses Denken, und im Jahr 1985 forderte die SPD explizit die ‚ökologische Modernisierung der Industriegesellschaft’.502 Fritz Vahrenholt bringt die dieser Forderung zugrunde liegende Erkenntnis in einem Kommentar zur Programmdebatte auf den Punkt: „So wie Beschäftigungspolitik, die Umweltbelange nicht präventiv berücksichtigt, zunehmend an ihre Grenzen stößt und scheitert, so ist eine Umweltpolitik, die die Beschäftigungsbelange nicht vorausschauend berücksichtigt, nicht durchsetzbar und ebenso zum Scheitern verurteilt.“503 Die Verbindung von Maßnahmen zum Umweltschutz und der durch den technologischen Wandel notwendig gewordenen Modernisierung der Industriegesellschaft war jedoch zum damaligen Zeitpunkt bloßes Postulat, und es bedurfte erst noch der konkreten Aufnahme in die SPD-Grundsatzprogrammatik, wie in der Diskussion vor dem Irseer Entwurf von 1986 deutlich wurde.504 Mitte der achtziger Jahre stand jedoch im Lichte des sich wandelnden Bewusstseins für ökologische Fragen das Thema Umwelt für die SPD leicht vor arbeitspolitischen Fragen, obgleich beide Themen im Irseer Programmentwurf ausführlich behandelt werden. In Bezug auf das klassische sozialdemokratische Thema Arbeit hatte Willy Brandt kurz vor Erscheinen des Irseer Entwurfs in einer Rede noch einmal deutlich gemacht, dass es program500 Vgl. Schröder, Gerhard: Zur Diskussion über ein neues Grundsatzprogramm – Den Meinungsbildungsprozeß innerhalb und außerhalb der SPD aufnehmen. In: Sozialdemokratischer Pressedienst. 39. Jg (122) 1984. S. 2. 501 ebenda. 502 Vgl. Brosch, Oliver/Saß, Fiete: Erneuerung der SPD? Chancen und Probleme der Programmdiskussion. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. Bd. 6 1985. S. 718. 503 Vahrenholt, Fritz: Die ökologische Krise als Herausforderung. In: SPD – Jenseits von Godesberg. Beiträge zur Diskussion um ein neues Grundsatzprogramm. Heilbronn 1985. S. 137. 504 Vgl. Ott, Erich: Arbeit, Technik und Gesellschaft für die Menschen! Ein Beitrag zur sozialdemokratischen Programmdiskussion. In: SPD – Jenseits von Godesberg. Beiträge zur Diskussion um ein neues Grundsatzprogramm. Heilbronn 1985. S. 88; Vahrenholt, Fritz. Heilbronn 1985. S. 136-137; sowie Glüder, Dieter: Vorsorgende Umweltpolitik – eine Politik für zukünftige Generationen. In: Himmelmann, Gerhard/von Loesch, Achim (Hrsg.). Berlin 1985. S. 52, 66-67.
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matischer Antworten bedürfe, wie die Zukunft der Arbeit in Zeiten von immer schneller voranschreitendem technischen Fortschritt aussehen solle. Ziel müsse eine menschen- und naturgerechte Modernisierung der Industriegesellschaft sein.505 Der Irseer Programmentwurf beschäftigt sich dementsprechend ausführlich mit ökologischen Fragestellungen, indem zuerst einmal eine Bestandsaufnahme der aktuellen Situation erfolgt. Die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen sei als grundsätzliches Problem im Bewusstsein der Menschen angekommen. Diesem Wandel des Bewusstseins müsse nun ein Wandel des Verhaltens folgen, aus der bisherigen umweltpolitischen Nachsorge müsse eine aktive Vorsorge werden. Ein umweltbewusstes Wirtschaften müsse in Gang gebracht werden, um der Volkswirtschaft hohe Kosten für nachsorgenden Umweltschutz zu ersparen.506 Es wird daher eine Politik der ‚gewollten Entwicklung’ propagiert, die nicht mehr dem Godesberger Mantra vom ‚positivem und stetigen Wirtschaftswachstum’ folgt, sondern gezielt Wachstum fördert oder begrenzt.507 „Unsere Politik will Entwicklung steuern und Wachstumsfelder auswählen (…)“, denn „eine Wachstumspolitik (…), die ohne Rücksicht auf strukturelle Entwicklungen und die Qualität des Wachstums betrieben wird, schafft in Ökonomie, Ökologie und den öffentlichen Finanzen mehr Probleme als sie lösen kann.“508 Direkt im Anschluss hieran spricht der Entwurf von der Gestaltung der Technik als politischer Aufgabe, denn Technik sei in ihrer Wirkung auf die Gesellschaft, dies eine Abweichung von Godesberger Programmatik, eben nicht neutral, sondern immer auch mit Konsequenzen für Umwelt und Arbeitswelt behaftet.509 „Technik, die das ganze menschliche Leben bestimmt, ist politisch“510, so eine erläuternde Publikation der Programmkommission zum Irseer Entwurf. Technische Innovationen müssten daher bewusst gesteuert werden, um Chancen zu nutzen und Risiken zu erkennen und abzuwehren. „Technische Innovation muß da ihre Grenzen finden, wo sie sich demokratisch nicht mehr beherrschen lässt, wo die Tiefe des Eingriffs in einem erkennbaren Missverhält505 Vgl. Brandt, Willy: „Maßstab Selbstbestimmung. Modernisierung der Industriegesellschaft und Zukunft der Arbeit.“ Rede auf der AfA-Bundeskonferenz am 7. März 1986 in Hannover. In: Vorstand der SPD, Abt. Presse und Information (Hrsg.): Willi Brandt: Zwischen Essener Parteitag und Irseer Entwurf. Reden, Artikel und Interviews zu Fragen des neuen Grundsatzprogramms (1984-86). Bonn 1986. S. 26. 506 Vgl. Irseer Entwurf. S. 56-57. 507 Vgl. ebenda. S. 59. 508 ebenda. S. 60. 509 Vgl. ebenda. S. 61. 510 Vorstand der SPD, Sekretariat Programmkommission (Hrsg). Bonn 1987. S. 8.
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nis steht zu unserem Wissen über die – oft nicht mehr rückholbaren – Folgen“511, so die Schlussfolgerung. An späterer Stelle findet sich das Kapitel ‚Zukunft der Arbeit’ im Programmentwurf, in dem neben Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung, einer humanen Gestaltung der Arbeitswelt, einem Recht auf Fort- und Weiterbildung und der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit auch auf die Entwicklung neuer Technologien und auf Umweltfragen eingegangen wird.512 Auf den technologischen Wandel bezogen wird festgehalten, dass es einer Mitbestimmung bei der Gestaltung von Arbeit und beim Einsatz von Technik geben müsse, damit Chancen der neuen Techniken genutzt und Risiken gemindert werden könnten. Im weiteren Verlauf wird zum Thema Umwelt angemerkt, dass eine ökologische Erneuerung der Wirtschaft in Zukunft eher mehr als weniger Arbeit erfordern und sich somit positiv auf den Arbeitsmarkt auswirken würde.513 Festzuhalten bleibt, dass in den programmatischen Ausführungen zur Zukunft der Arbeit noch keine grundsätzliche Veränderung der Arbeitswirklichkeiten durch die einsetzende Technisierung erwähnt wird. Der Wandel der Industrie- zur Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft befindet sich noch in seinen Anfängen und kommt im Irseer Entwurf noch nicht explizit zur Sprache. Ebenfalls 1986 erschien ein erster Entwurf der Kommission Sozialpolitik mit dem Titel ‚Die Zukunft sozial gestalten’, mit dem die sozialpolitische Programmatik, die Arbeit der Grundsatzprogrammkommission ergänzend, weiterentwickelt werden sollte.514 In dem Papier wird der technologische Wandel mit seinen Folgen für Arbeit und Gesellschaft ebenfalls behandelt, wobei als zentrales Problem die Massenarbeitslosigkeit ausgemacht wird, zu der auch der Wandel der herkömmlichen Industriegesellschaft beitrage. „(…) Neue Arbeitsformen könnten an Bedeutung gewinnen“515, so die vorsichtige Beschreibung der sich wandelnden Arbeitsbedingungen. Die neuen Techniken, welche diesen Wandel maßgeblich bewirkten, müssten jedoch, um Risiken zu minimieren und sie für den gesellschaftlichen Fortschritt nutzbar zu machen, sozialer Kontrolle unterworfen werden.516 Des Weiteren sei nach wie vor die Humanisierung der Arbeit, 511 512 513 514
ebenda. S. 63. Vgl. ebenda. S. 67-70. Vgl. ebenda: S. 69 und 71. Vgl. Vorstand der SPD, Abt. Presse und Information (Hrsg.): Die Zukunft sozial gestalten Entwurf. Arbeitsgruppe Sozialpolitisches Programm und Kommission Sozialpolitik beim SPD-Parteivorstand. Bonn 1986. 515 Ebenda. S. 6. 516 Vgl. ebenda. S. 19 und 23.
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dass heißt eine humane Arbeitsplatzgestaltung und eine vorbeugende Arbeitsschutzpolitik, wichtiges Ziel sozialdemokratischer Programmatik: „Die Humanisierung der Arbeit muß gestaltender und tragender Bestandteil neuer technischer Entwicklungen werden“517, so der Entwurf wörtlich. Das auf dem Münsteraner Parteitag im Sommer 1988 endgültig verabschiedete sozialpolitischen Programms der SPD wird bei den Themen Technisierung und Wandel der Arbeitswirklichkeiten schon deutlicher. Es habe eine neue industrielle Revolution begonnen, es würden tiefgreifende Veränderungen der Arbeitswelt und der sie bestimmenden Rahmenbedingungen stattfinden.518 „Der technische und ökonomische Strukturwandel von der Industriegesellschaft alten Typs zur hochtechnisierten Dienstleistungsgesellschaft wird die Arbeitsorganisation verändern. Es werden neue Arbeitsformen entstehen.“519 Bei den Passagen zur Humanisierung der Arbeit und zur sozialen Kontrolle und Gestaltung ist der Text dann in weitestgehender Übereinstimmung mit dem Entwurf formuliert. Eindeutiger im Programm ist hingegen die Benennung der umweltpolitischen Problemlagen, die bei der Mitgestaltung der neuen Arbeitswirklichkeiten durch die Politik nicht außer Acht gelassen werden dürften, denn „gegenüber dem technisch-ökonomischen Fortschritt, vor allem gegenüber umweltverändernden Großtechnologien hat die Skepsis zugenommen.“520 Zusätzlich würden durch die zunehmende Belastung der Umwelt die Grenzen industriellen Wachstums sichtbar, es bedürfe also auch aus diesem Grund der schon postulierten bewussten Wachstumsteuerung.521 Im neuen Grundsatzprogramm müsse dementsprechend deutlich gemacht werden, wie der Zusammenhang zwischen ausgewähltem Wachstum und ausgewählten Technologien auf der einen Seite, und ihrer demokratischen Kontrolle auf der anderen Seite aussehen soll, so Erhard Eppler 1987 im Rahmen einer Podiumsdiskussion zur zukünftigen Industriepolitik.522 Der Vorsitzende der Grundsatzprogrammkommission, Oskar Lafontaine, sprach im Dezember 1988 in Bezug auf die zukünftigen Programmperspektiven davon, dass eine grundsätzliche ökologische Erneuerung der Wirtschaft, eine 517 ebenda. S. 24. 518 Vgl. Vorstand der SPD, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.): Die Zukunft sozial gestalten – Sozialpolitisches Programm der SPD. Beschlossen vom Parteitag in Münster 30.08. – 02.09.1988. Bonn 1988. S. 5 und 11. 519 ebenda. S. 12. 520 ebenda. S. 7. 521 Vgl. ebenda. S. 5. 522 Vgl. Eppler, Erhard: Schlußwort. In: Vorstand der SPD, Programmsekretariat (Hrsg.): Wachsen und Schrumpfen – Programm in der Diskussion. Programmwerkstatt im Erich-OllenhauerHaus. Bonn 1988. S. 20.
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Hinwendung zu ökologischer Vorsorge notwendig wäre, die „(…) einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität leisten und zugleich die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft sichern (würde)“523. Im März 1989 wurde ein zweiter Programmentwurf von der Grundsatzprogrammkommission verabschiedet, der die Diskussionsergebnisse der Jahre nach dem Irseer Entwurf bündeln sollte. Hier wird von einer notwendigen Verbindung zwischen Ökologie und Ökonomie gesprochen, da nichts ökonomisch vernünftig sein könne, was ökologisch unvernünftig sei.524 „Ökologie ist kein Zusatz zur Ökonomie, sondern eine Dimension verantwortlichen Wirtschaftens“525, so der Tenor. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Robert Antretter unterstrich dementsprechend in seiner Beurteilung des Entwurfs die herausgehobene Bedeutung der ökologischen Erneuerung der Wirtschaft und bezeichnete sie als die entscheidende Voraussetzung, um der Umweltkrise zu begegnen. Die Industriegesellschaft sei nur noch überlebensfähig, wenn die Themen Arbeit und Umwelt zusammengedacht würden.526 In Bezug auf die voranschreitende Technisierung grenzt sich der Programmentwurf ebenso wie frühere Texte von der Vorstellung ab, Technik sei neutral, und unterstreicht die Forderungen nach bewusster politischer Gestaltung des technischen Fortschritts.527 Das im Dezember 1989 verabschiedete Berliner Grundsatzprogramm beschäftigt sich schließlich ausführlich mit den Herausforderungen der ökologischen Erneuerung, dem Gestalten der technischen Entwicklung und dem Strukturwandel der Erwerbsarbeit, wobei Fragen von Umwelt und Technikgestaltung miteinander verknüpft werden. Das Programm konstatiert zuerst im Kapitel ‚Zukunft der Arbeit’, dass Arbeit einem radikalen Strukturwandel unterworfen sei, der in Bezug auf die Erwerbsarbeit in erster Linie auf den technischen Fortschritt und den Wandel der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft zurückzuführen sei.528 Problematisch werde dieser Strukturwandel dann, wenn durch den Wegfall von Arbeitsplätzen beispielsweise in klassischen Industriezweigen die zu bekämpfende Massenarbeitslosigkeit verstärkt würde. Hier argumentiert das Programm, dass 523 Lafontaine, Oskar: Perspektiven der Programmarbeit – Grundlagen für das Handeln in Regierungsverantwortung werden erarbeitet. In: Sozialdemokratischer Pressedienst. 43. Jg. (246) 1988. S. 2. 524 Vgl. Vorstand der SPD, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.). Bonn 1989. S. 12. 525 ebenda. 526 Vgl. Antretter, Robert: Das Einzigartige der SPD – Zum programmatischen Standort der Sozialdemokratie. In: Sozialdemokratischer Pressedienst. 44. Jg. (79) 1989. S. 2-3. 527 Vgl. Vorstand der SPD, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.). Bonn 1989. S. 13. 528 Vgl. Berliner Programm. S. 26.
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durch ökologische Erneuerung jedoch neue Arbeitsplätze geschaffen werden könnten.529 Im Abschnitt zur ökologischen Erneuerung erfolgt dann eine ausführliche Aufzählung einer Vielzahl von konkreten Einzelmaßnahmen, die ergriffen werden müssten, um der Umweltzerstörung Einhalt zu gebieten und effizientes ökologisches Wirtschaften zu ermöglichen.530 Denn, so die Formulierung in Anlehnung an den Entwurf, „gesamtwirtschaftlich ist nichts vernünftig, was ökologisch unvernünftig ist.“531 Gleich zu Beginn des Abschnitts wird sehr deutlich formuliert, wie groß die Bedeutung der postulierten ökologischen Erneuerung aus Sicht der SPD ist. Die Umweltkrise sei eine weltweite, es gebe dramatische und umfassende Zerstörungen der natürlichen Lebensgrundlagen.532 „Der ökologische Umbau unserer Industriegesellschaft ist zur Frage des Überlebens geworden“533, so die Schlussfolgerung. Im Anschluss an die Ausführungen zu Umweltfragen befasst sich das Programm mit dem technologischen Fortschritt und seiner Gestaltung. Die Skepsis der vorangegangenen programmatischen Texte findet sich auch im neuen Grundsatzprogramm wieder, wenn gesagt wird, dass technische Innovationen nicht in jedem Fall Fortschritt bedeuten würden und in ihrer gesellschaftlichen Wirkung nicht neutral seien. Es sei daher eine zentrale politische Aufgabe, die Entwicklung politisch zu steuern und die Technik somit nutzbar für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt zu machen. Technische Neuerungen, deren Risiken nicht kalkulierbar seien oder die demokratisch nicht beherrschbar seien, müssten verhindert werden, wozu es auch internationaler Konventionen zur gegenseitigen Information und Kontrolle bedürfe.534 Auf Grund der hohen Bedeutung, die einer demokratischen Beherrschbarkeit des technologischen Fortschritts beigemessen wird, fordert das Programm die Etablierung von Einrichtungen der Technikfolgenabschätzung beim Parlament, um „(…) den Überblick über (die) Thematik (zu) erleichtern, Informationen zu bündeln und allgemein zugänglich zu machen, auf Chancen, Risiken und Alternativen hin(zu)weisen und ihre Bewertung zur Diskussion zu stellen.“535 Darüber hinaus sollten die Einrichtungen zur Technikbewertung gut untereinander ver-
529 530 531 532 533 534 535
Vgl. ebenda. S. 27. Vgl. ebenda. S. 40-41. ebenda. S. 40. Vgl. ebenda. S. 39. ebenda. Vgl. ebenda. S. 42. ebenda. S. 43.
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netzt werden, und sich zum Dialog mit den Bürgern öffnen.536 Denn, so formulierte es die Soziologin Wilgart Schuchardt schon 1988 bei ihrer Bewertung der Technikperspektiven sozialdemokratischer Programmatik, „Technikbewertung und Technikgestaltung bedürfen der Beteiligung der Betroffenen des technischen Wandels.“537 Hierzu gehöre auch die umfassende Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche, vor allem der Wirtschaft und der für den technischen Fortschritt relevanten Planungs- und Entscheidungsprozesse.538 Im Jahr 1990 griff Oskar Lafontaine die Aussagen des Berliner Programms zu Fragen der Ökologie und der Technikgestaltung auf, und konkretisierte ihre Bedeutung als Vorsitzender der Arbeitsgruppe ‚Fortschritt `90’. Diese Arbeitsgruppe des Parteivorstandes sei bemüht, „(…) dem neuen Grundsatzprogramm eine praktische Anleitung für zukünftige sozialdemokratische Regierungen abzudestillieren“539, so Lafontaine. Er konstatiert, dass sich im Berliner Programm richtigerweise auch eine ökologische Ausrichtung der Idee der demokratisierten Marktwirtschaft findet. Dies verknüpft er mit der Forderung nach einer grundsätzlichen Korrektur der Wirtschaftsdemokratie auf Grund der stattfindenden ‚technologischen Revolution’, da der technisch Fortschritt zum Nutzen aller Bürger aus der Verfügungsmacht der Experten in die demokratische Verantwortung der gesamten Gesellschaft zurückgegeben werden müsse.540 Lafontaine spricht von neuen Konfliktlinien, die sich abzeichnen würden: für die Sozialdemokraten sei lange der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit der maßgebliche Konflikt des Industriezeitalters gewesen, jetzt sei es jedoch vermehrt der Widerspruch zwischen Produktion und Natur. „Das neue Ziel, die Umwelt um der Gerechtigkeit für die zukünftigen Generationen willen zu erhalten, verlangt, dass wir die Marktwirtschaft, die wir in der Vergangenheit bereits durch die Idee des Sozialstaats und durch die Idee der Wirtschaftsdemokratie ergänzt haben, jetzt auf ähnliche Weise auch noch durch die Idee des ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft ergänzen.“541 Dementsprechend müsse die Entwicklung einer ‚ökologischen Marktwirtschaft’ mit demokratische kontrollierter Technikgestaltung forciert werden. 536 Vgl. ebenda. 537 Schuchardt, Wilgart: Auf der Suche nach neuen Sicherheiten. Die Veränderung der Technikperspektive in sozialdemokratischen Parteiprogrammen. In: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Bd. 7 1988. S. 644. 538 Vgl. ebenda. 539 Lafontaine, Oskar: Weichenstellung für die Zukunft – Berliner Grundsatzprogramm und „Fortschritt 90“. In: Perspektiven ds. Heft 1 1990. S. 15. 540 Vgl. ebenda. S. 11-12. 541 ebenda. S. 14.
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Obwohl der Bericht der Arbeitsgruppe ‚Fortschritt `90’ nicht Bestandteil der grundsätzlichen Programmarbeit der SPD war, sondern handlungsanleitend für die sozialdemokratische Regierungsarbeit nach der Bundestagswahl 1990 sein sollte, kommt ihm im Zusammenhang mit den Indikatoren Ökologie und Technik Bedeutung zu, da er für die Jahre bis zum Schröder-Blair-Papier 1999 die letzte ausführliche programmatische Stellungnahme zu diesen Themen darstellte. In dem Bericht wird die Verzahnung von verschiedenen Politikfeldern wie Ökologie, Ökonomie, Sozialem und Finanzen angemahnt. In Bezug auf die deutsche Wiedervereinigung spricht sich der Bericht dafür aus, dass die soziale zur ökologisch-sozialen Marktwirtschaft ausgebaut werden müsse, um auch den notwendigen Strukturwandel in der DDR sozial und ökologisch verträglich zu gestalten.542 Generell steht der ökologische Umbau der Industriegesellschaft im Mittelpunkt, wobei eine Vielzahl von zu ergreifenden Maßnahmen genannt werden: die Verringerung des Energieverbrauchs, eine größere Ausnutzung der vorhandenen Energiekapazitäten und Energiesteuern, welche anschließend in Form von ökologisch und sozial orientierten Rückgaben verschiedenen Gesellschaftsteilen zugute kommen sollen.543 Für die DDR wird ein ökologischer Umbau und ein ebensolches vernünftiges Wachstum propagiert, um Altlasten aufzuarbeiten und Zukunftsfähigkeit herzustellen. Die Verfasser des Berichts gehen davon aus, dass durch einen solchen ökologischen Umbau der BRD und der DDR in Deutschland auf Dauer mehrere hunderttausend Arbeitsplätze geschaffen würden.544 Beinahe zehn Jahre später hat sich der Schwerpunkt leicht verschoben: zwar geht es auch Gerhard Schröder und Tony Blair in dem nach ihnen benannten Papier um einen verantwortungsvollen Umgang mit der Natur, doch die Chancen und Potentiale neuer Technologien und der damit einhergehende Strukturwandel stehen deutlich im Mittelpunkt des Interesses. Generell ist seit dem Ende der neunziger Jahre in programmatischen Äußerungen der Sozialdemokratie eine verstärkte Beschäftigung mit dem Wandel der Industrie- zur Informations- und Dienstleistungsgesellschaft zu finden, wobei immer häufiger Fragen von Bildung und notwendiger Qualifizierung in Zeiten der Wissensgesellschaft im Vordergrund stehen, im Gegensatz zu Fragen der Ökologie und des Umweltschutzes. 542 Vgl. Vorstand der SPD, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.): Offensive für ein modernes Deutschland. Arbeitsbericht der Arbeitsgruppe Fortschritt `90: Die ökologisch-soziale Marktwirtschaft. Bonn 1990. S. 3. 543 Vgl. ebenda. S. 7-9. 544 Vgl. ebenda. S. 11.
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Im Schröder-Blair-Papier wird die Umwelt betreffend zu Beginn festgestellt, dass die Verantwortung hierfür mit einem modernen marktwirtschaftlichen Ansatz verbunden werden müsste.545 Die Einstellung zum Umweltschutz entspricht dieser Vorstellung, denn „(…) die neuesten Technologien (verbrauchen) weniger Ressourcen, eröffnen neue Märkte und schaffen Arbeitsplätze“546, so die kompakte Abhandlung der Thematik. Größeren Platz nimmt die Beschreibung und Bewertung der neuen Technologien im Informationszeitalter ein, wobei die Autoren die wichtigste Aufgabe einer modernisierenden Politik darin sehen, „(…) in Humankapital zu investieren, um sowohl den Einzelnen als auch die Unternehmen auf die wissensgestützte Wirtschaft der Zukunft vorzubereiten.“547 Es wird im Folgenden vom wirtschaftlichen Umbruch der Industriegesellschaft zur „wissensorientierten Dienstleistungsgesellschaft der Zukunft“548 gesprochen, wobei insbesondere Rigidität und Überregulierung Bremsklötze für eben diese Zukunftsgesellschaft seien. Wie auch schon bei Fragen der globalisierten Wirtschaft wird mehr Flexibilität gefordert, damit technische Innovationen ihr volles Potential entfalten könnten.549 Die Autoren sind überzeugt davon, dass sich der Wandel zur Informations- und Dienstleistungsgesellschaft langfristig für die gesamte Volkswirtschaft lohnen wird, und dass ausreichend neue Arbeitsplätze als Ersatz für weggefallene alte Arbeitsplätze entstehen werden. Absehbar und unvermeidlich sei es, dass es zu Übergangsproblemen komme, da es noch eine Diskrepanz zwischen offenen Stellen, zum Beispiel im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien, und einer ausreichenden Zahl an qualifizierten Bewerbern gebe.550 Die Schlussfolgerung des Papiers ist ebenso pragmatisch wie kompromisslos: die Bemühungen der Politik müssten darauf gerichtet sein, diese Probleme des Übergangs abzufedern, denn „die unerwünschten Auswirkungen des Wandels werden um so stärker ausfallen, je länger man sich diesem Wandel widersetzt, aber es wäre Wunschdenken, sie leugnen zu wollen.“551 Auffallend ist, dass der Text von Schröder und Blair keine Aussagen zu den Risiken und Gefahren neuer technologischer Entwicklungen enthält, und dass, anders als bei früheren programmatischen Äußerungen zum Thema, auch keine demokratische Kontrolle der Entwicklung und anschließenden Nutzung 545 546 547 548 549 550 551
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Vgl. Schröder, Gerhard/Blair, Tony. Bonn 1999. S. 4. ebenda. ebenda. ebenda. S. 10. Vgl. ebenda. Vgl. ebenda. S. 11, 16. ebenda. S. 16.
der Technik gefordert wird. Es wird lediglich von den Chancen und Potentialen gesprochen, die sich mit dem gesellschaftlichen Wandel ergeben würden, und davon, dass die Wirtschaft und der Einzelne dazu befähigt werden müssten, diese Chancen auch wahrnehmen zu können. In der im selben Jahr veröffentlichten Denkschrift der Grundwertekommission mit dem Titel ‚Dritte Wege – Neue Mitte’ kommen Umwelt und technologischer Fortschritt ebenfalls zur Sprache, der Grundtenor ist dem Schröder-Blair-Papier nicht unähnlich, aber der Bezug zu früheren programmatischen Aussagen ist deutlicher erkennbar. Auch hier wird davon gesprochen, dass die Schaffung eines kreativen und innovativen Wirtschaftsklimas wichtig sei, und dass es daher einer verstärkten Flexibilisierung bedürfe, wobei diese auf den Arbeitsmärkten nicht genauso deutlich ausfallen dürfe wie bei den Warenund Kapitalmärkten. Der ökologische Umbau der Wirtschaft wird, wie schon im Bericht der Arbeitsgruppe ‚Fortschritt ´90’, ebenfalls als potentieller Impulsgeber für neues Wachstum und neue Innovationen gesehen.552 Doch anders als es Gerhard Schröder und Tony Blair getan hatten, knüpft das Papier der Grundwertekommission hier an frühere Aussagen an, wenn Technologien, die mit untragbaren Risiken für Mensch und Gesellschaft einhergehen, abgelehnt werden, „(…) auch wenn damit kurzfristig Wohlstandsgewinne zu erzielen wären.“553 Hier findet sich jetzt auch die schon erwähnte verstärkte Betonung von Bildung im Rahmen des gesellschaftlichen Wandels, wenn davon die Rede ist, dass Bildung und Wissen in allen Arbeits- und Lebensbereichen zukünftig eine noch größere Rolle spielen werden als bisher. Der Text skizziert die Herausbildung einer ‚Wissensökonomie’ mit grundlegend gewandelten Arbeitswirklichkeiten, innerhalb derer ein größeres Maß an Bildung und die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen notwendige Qualifikationen seien. 554 In einem solchen Sinn begreift auch die damalige Bundesbildungsministerin Edelgard Buhlman die Fragen von Bildung und Wissensnutzung. Sie spricht davon, dass das immer schnellere Wachstum von Wissen und seine zunehmende weltweite Verfügbarkeit infolge neuer Technologien „(…) kaum abschätzbare Chancen für persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt“555 mit sich brächte.
552 553 554 555
Vgl. Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD (Hrsg.). Berlin 1999. S. 34. ebenda. Vgl. ebenda. S. 38. Buhlman, Edelgard: Bildungspolitik ist Strukturpolitik. In: Müntefering, Franz/Machnig, Matthias (Hrsg.): Sicherheit im Wandel. Neue Solidarität im 21. Jahrhundert. Berlin 2001. S. 229.
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Die Fähigkeit, sich Wissen gezielt anzueignen und nutzbar zu machen, sei in der zukünftigen Informationsgesellschaft entscheidend für den beruflichen Erfolg. 556 Der Zwischenbericht auf dem Weg zu einem neuen Grundsatzprogramm aus dem Jahr 2001 greift das bisher Gesagte auf und skizziert sowohl im allgemeinen Teil als auch in den Berichten der Arbeitsgruppen deutlich die sozialdemokratischen Vorstellungen zu den Themen Ökologie, technischer Fortschritt, und Wandel zur Informations- und Wissensgesellschaft. In Bezug auf Umweltfragen wird der im Vergleich mit dem Berliner Programm neue Begriff der Nachhaltigkeit eingeführt. Innerhalb des Konzeptes von Nachhaltigkeit sollen soziale Gerechtigkeit und ökologische Verträglichkeit eine enge Bindung eingehen. Nachhaltige Entwicklung soll die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigen, ohne jedoch die Fähigkeit künftiger Generationen zu beeinträchtigen, ihre eigenen Bedürfnisse dereinst zu befriedigen.557 Der Bericht verdichtet anschließend die schon an anderer Stelle formulierte sinnvolle Verbindung von Ökologie und Ökonomie auf neue Weise: „Ökologie ist LangfristÖkonomie“558, so die Quintessenz. Eine so verstandene Nachhaltigkeit müsse als Erweiterung des klassischen Konzeptes des Sozialstaates gesehen werden, eine Erweiterung um die Dimension der Umwelt- und Naturverträglichkeit jeder wirtschaftlichen Entwicklung.559 Darüber hinaus beschäftigt sich der Bericht noch mit Effizienzstrategien und den Möglichkeiten einer Steigerung der Ressourcenproduktivität. Hierbei wird die Hoffnung formuliert, „(…) dass die „Wissensgesellschaft“ und die damit verbundene rasante Zunahme verfügbaren Wissens auch das Potential für die Steigerung der Ressourceneffizienz vergrößern wird.“560 Mit den Herausforderungen der Wissens- und Informationsgesellschaft beschäftigt sich der Zwischenbericht ausführlicher als mit Umweltfragen, und auch hier steht das Thema Bildung im Mittelpunkt. Im Bericht der Arbeitsgruppe zum Thema wird zuvorderst festgestellt, dass der Wandel zur Wissens- und Informationsgesellschaft im Berliner Programm namentlich keine Erwähnung findet, und dass die Dimensionen und heutigen Merkmale dieses Wandels auch kaum absehbar waren. Die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse seien vor allem gekennzeichnet durch „(…) die voranschreitende Beschleunigung der Verbreitung und Verarbeitung von Informationen durch die Digitalisierung der 556 557 558 559 560
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Vgl. ebenda. S. 230-231. Vgl. Grundsatzprogrammkommission der SPD (Hrsg.). Berlin 2001. S. 15. ebenda. Vgl. ebenda. S. 66. ebenda. S. 68.
Technik und die Einsicht, dass Wissen der zentrale Rohstoff für eine wirtschaftliche und kulturell prosperierende Gesellschaft ist.“561 In der gewandelten Gesellschaft mit Bildung als dem entscheidenden Schlüssel zu mehr Chancen und Teilhabe, sei vor allem technisches Wissen immer bedeutsamer geworden. „Seit der Verabschiedung des Berliner Programms haben die Informations- und Kommunikationstechnologien sich zu einer Schlüsseltechnologie der Zukunft entwickelt“562, so die Feststellung der Grundsatzprogrammkommission. Daher müsse ihnen gesteigerte Aufmerksamkeit gewidmet werden, da insbesondere der Zugang zu diesen neuen Technologien den Charakter einer neuen Verteilungsfrage hätte. Sei der Zugang einmal hergestellt, würden sich für den Einzelnen zwar viele Möglichkeiten aus dem neuen digitalen Informationsangebot ergeben, es würde aber auch die Notwendigkeit bestehen, diese Informationen zu strukturieren, zu filtern und zu interpretieren, um sie sich nutzbar zu machen.563 Die Verschmelzung von Old und New Economy in der Wissens- und Informationsgesellschaft werde demnach einige Herausforderungen bereithalten, denen sich die Politik stellen müsse, wobei der Bericht hierbei konkret mehrere Punkte aufzählt. Es müsse ein Bildungssystem geben, dass ausreichend auf die Erschließung und Nutzung der neuen Möglichkeiten vorbereite, beziehungsweise die Menschen dazu befähige. Des Weiteren solle die Politik die Menschen während des rasanten gesellschaftlichen Wandels begleiten und ihnen Orientierung und Sicherheit vermitteln. Diesen Anspruch unterstreicht Franz Müntefering in seinem Vorwort zu einem Sammelband aus dem Jahr 2001 mit dem bezeichnenden Titel ‚Sicherheit im Wandel’ ausdrücklich. Die maßgeblich durch neue Technologien verursachten Umbrüche würden Arbeitswelt und Gesellschaft so schnell und nachhaltig verändern, dass sich viele Menschen verunsichert und überfordert fühlen würden, so der damalige SPD-Generalsekretär. Demnach müsse eine sozialdemokratische Modernisierungspolitik dafür Sorge tragen, dass Orientierung und Verlässlichkeit auch in Zeiten gesellschaftlichen Wandels durch technischen Fortschritt gewährleistet seien.564 Im Rahmen der Digitalisierung müsse dann der größtmögliche Zugang zu den neuen Informationsangeboten politisch gewährleistet werden, so der Zwischenbericht weiter. Darüber hinaus müsse Missbräuchen der neuen Technologien, allen voran des Internets, entgegen getreten werden, wozu auch der 561 562 563 564
ebenda. S. 72. ebenda. S. 43. Vgl. ebenda. S. 43-44, sowie 72. Vgl. Müntefering, Franz: Den Wandel mit Sicherheit verbinden – Prinzipien und Ziele moderner Politik. In: Müntefering, Franz/Machnig, Matthias (Hrsg.). Berlin 2001. S. 6.
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Ausbau eines Rahmens für sichere Online-Kommunikation zählt. Schlussendlich müssten von der Politik die für das Prosperieren der neuen Technologien notwendigen ökonomischen Rahmenbedingungen geschaffen werden, wobei beispielhaft das US-amerikanische ‚Silicon Valley’ genannt wird.565 Am Ende werden im Bericht der Arbeitsgruppe noch weiterführende Fragen aufgeworfen, die als Anregungen für zukünftiges programmatisches Arbeiten gedacht sind. Zusammenfassend stellen die Autoren fest, dass Begriffe wie Wissens- und Informationsgesellschaft, digitales Zeitalter oder Kommunikationsgesellschaft zu unreflektiert gleichgesetzt werden mit gesellschaftlichen Entwicklungen, „(…) die aus dem Vordringen der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien in alle Lebensbereiche, der weltweiten Vernetzung und der neuen Qualität des Produktionsfaktors „Wissen“ resultieren.“566 Die begrifflichen Abgrenzungen seien jedoch noch zu unscharf, und viele der gesellschaftlichen Folgen der neuen Technologien seien nur in Konturen erkennbar.567 Der Kommunikationswissenschaftler und Sozialdemokrat Peter Glotz geht im selben Jahr noch einen Schritt weiter: für ihn ist die Implementierung neuer Technologien und der Ausbau der Informationsgesellschaft schon soweit fortgeschritten, dass er eine den gewandelten Verhältnissen gerecht werdende Bildungsreform anmahnt. Das Bildungssystem der Industriegesellschaft sei überholt, die reine Vermehrung von Wissen sei nicht mehr zeitgemäß in der modernen Wissensgesellschaft. Vielmehr hänge die erfolgreiche Durchsetzung neuer Technologien nicht nur von angehäuftem Wissen ab, sondern vor allen Dingen vom Meta-Wissen, also von der Fähigkeit, die erlernten Fertigkeiten und Kenntnisse strategisch sinnvoll anzuwenden und sie damit nutzbar zu machen.568 In der heutigen Gesellschaft stehe die sinnvolle Vernetzung von Wissen an erster Stelle. „Der entscheidende Produktivitätsfaktor der Informationsgesellschaft ist die Zusammenarbeit“569, so Glotz wörtlich. Im weiteren Verlauf der SPD-Programmdebatte rückten Fragen von Bildung und der Förderung von neuen Innovationen innerhalb der Wissensgesellschaft immer deutlicher in den Mittelpunkt der Debatten und ließen die Diskussionen um die Gefahren neuer Technologien und die demokratische Kontrol565 566 567 568
Vgl. Grundsatzprogrammkommission der SPD (Hrsg.). Berlin 2001. S. 75-78. ebenda. S. 80. Vgl. ebenda. Vgl. Glotz, Peter: Kernkompetenzen im digitalen Kapitalismus. In: Müntefering, Franz/Machnig, Matthias (Hrsg.). Berlin 2001. S. 238. 569 ebenda. S. 240.
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lierbarkeit des technischen Fortschritts in den Hintergrund treten. Es wurden jedoch mit der zunehmenden Beschleunigung von Innovationsprozessen sowie der Ausweitung des Dienstleistungssektors neue Probleme ausgemacht, die Erwähnung in sozialdemokratischer Programmatik finden sollten. Im schon erwähnten Sammelband mit dem Titel ‚Die neue SPD’ fordern dementsprechend verschiedene Autoren, dass in der neuen Informations- und Wissensgesellschaft die Generierung von Bildung und ihre Vernetzung sowie die nachhaltige und umweltbewusste Förderung von Innovationen nötig seien. Der Sozialdemokrat Christoph Matschie formuliert das Kondensat dieser neuen programmatischen Herausforderungen in wenigen Sätzen: „In der Welt, in der wir leben, ist Wissen der zentrale Rohstoff und zugleich das wichtigste Produktionsmittel geworden. Daher muß ein klarer Kurs pro Bildung und Forschung ein integrales Kernelement sozialdemokratischer Politik sein. Denn Bildung und Forschung sind Voraussetzungen für Innovationen. (…) Zu einer Wirtschaft, die auf Wissen und Innovationen setzt, gibt es in Deutschland keine Alternative.“570 In einem anderen Beitrag zum Thema bringt der Wirtschaftswissenschaftler Birger P. Priddat die Situation noch exakter auf den Punkt wenn er sagt, dass Wissen nicht nur die wichtigste Ressource in Wirtschaft und Gesellschaft geworden sei, sondern darüber hinaus im Wertschöpfungsprozess die Form und Bedeutung von ‚human capital’ angenommen hätte.571 Es sei, ganz im Sinne von Peter Glotz, nicht wichtig, ein Mehr von Wissen anzuhäufen, es komme vielmehr darauf an, Wissen passend und zielgerichtet einsetzen zu können. Entscheidendes Merkmal der Wissensökonomie sei es daher, dass sich die Bürger selbstständig und gezielt Kompetenzen aneignen, die sie befähigen, auf dem Arbeitsmarkt immer wieder mitzuspielen, sich also eigenverantwortlich als ‚human capitalists’ zu gerieren.572 Hiermit ist gemeint, dass sie „(…) zu Eigentümern von Fähigkeiten und Kompetenzen (werden), über die in ihrer Spezifität niemand anders verfügt.“573 Um diese Entwicklung zu unterstützen und die Menschen in der Wissensgesellschaft zu solch einer aktive Teilhabe zu befähigen, bedürfe es verstärkter Investitionen in ein reformiertes Bildungssystem, das
570 Matschie, Christoph: Bildung, Forschung und Innovationen in der Wissensgesellschaft. In: Friedrich-Ebert-Stiftung, Politische Akademie (Hrsg.). Bonn 2004. S. 173. 571 Vgl. Priddat, Birger P.: Bildung als Investition. In: Friedrich-Ebert-Stiftung, Politische Akademie (Hrsg.). Bonn 2004. S. 178. 572 Vgl. ebenda. S. 180. 573 ebenda.
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neben der konventionellen Wissensvermittlung das „Lernen lernen“ fördere, und den Menschen somit eine Art „Kompetezkompetenz“ vermittle.574 Im Impulspapier ‚Für ein neues Grundsatzprogramm der SPD’ wurden diese und andere Anregungen verarbeitet, so dass auch hier ein deutlicher Schwerpunkt bei den Bildungsfragen liegt. Als Antwort auf die Herausforderungen des technischen Fortschritts und des gesellschaftlichen Wandels wird in erster Linie der Ausbau der Bildung und Befähigung der Menschen zur selbstständigen Wissensaneignung genannt. Bildung werde zukünftig maßgeblich über die Chancen eines jeden Einzelnen entscheiden, sich selbstständig und erfolgreich innerhalb der Gesellschaft zu bewegen.575 Von Bildungsfragen würde ebenfalls abhängen, ob Deutschland auch in Zukunft erfolgreich sein könne in seiner Kernkompetenz, neue Produkte und Verfahren zu erfinden, um sie anschließend in die vorhandene Produktions- und Dienstleistungsstruktur zu integrieren und damit wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu erzeugen. Eine Gefahr sieht das Papier in der „(…) Ungleichzeitigkeit von technologischen Fortschritt und der dazugehörenden Wissensvermittlung.“576 Die Schließung dieser Lücke durch die ‚Zukunftsinvestition Bildung’ müsse elementarer Bestandteil sozialdemokratischer Programmatik sein, so die Autoren des Impulspapiers. Ein hiermit in direktem Zusammenhang stehendes Ziel sei die Schaffung einer neuen Innovationskultur. „Wir sehen in Innovationen und technischem Fortschritt vor allem Chancen“577, was auch zu der Forderung nach einer erhöhten Risikobereitschaft führt. Es müssten günstige Rahmenbedingungen für innovatives Forschen geschaffen werden, es bedürfe ‚innovationsfördernder Reformen’ in einer ‚innovationsfreundlichen Gesellschaft’, so lautet das optimistische Postulat des Impulspapiers.578 In diesem Beitrag zur Programmdebatte finden sich demnach ebenfalls kaum kritische Töne über den Wandel hin zur Wissens- und Informationsgesellschaft oder Forderungen nach verstärkter demokratischer Kontrolle des technischen Fortschritts. In Bezug auf Umweltfragen schreibt der Politologe Frank Decker im selben Sammelband, dass zwar die normativen Prinzipien und langfristigen Ziele der sozialdemokratischen Umweltpolitik, wie sie im Berliner Programm formuliert worden sind, nicht weniger gültig wären, es aber durch die veränderten wirt574 575 576 577 578
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Vgl. ebenda. S. 183. Vgl. Impulse. Für ein neues Grundsatzprogramm der SPD. Bonn 2004. S. 329. ebenda. ebenda. S. 336. Vgl. ebenda. S. 337.
schaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen neuen Handlungsbedarf gebe.579 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts werde sich jedoch ein immer brisanter werdender Interessenskonflikt zwischen Ökonomie und Ökologie abzeichnen. Hauptverantwortlich hierfür seien die wirtschaftliche Globalisierung und der damit einhergehende Verlust nationalstaatlicher Steuerungsfähigkeit.580 Verschiedene Restriktionen würden in diesem Zusammenhang die Umsetzung umweltpolitischer Ziele behindern, so Decker. „Die internationale Standortkonkurrenz zwingt die Staaten heute in einen unseligen Unterbietungswettbewerb, dessen Parameter stets in dieselbe Richtung streben: Lohnzurückhaltung, Steuer- und Abgabensenkung sowie Deregulierung. Maßnahmen, die auf eine Erhöhung der Umweltstandards hinauslaufen würden, können unter diesen Bedingungen immer schwerer durchgesetzt werden.“581 Die in früheren Texten häufig beschworene sinnvolle und Erfolg versprechende Verbindung von Ökonomie und Ökologie müsste neue bestimmt werden, davon ist auch der Sozialdemokrat Ulrich Kelber überzeugt. Er knüpft in seinem Beitrag an die Vorstellungen Deckers an und fordert, dass Deutschland international eine wichtige ökologische Vorreiterrolle einnehmen müsse. Diese könne als ‚Innovationsmotor’ funktionieren und somit nicht nur dem Umweltschutz dienen, sondern auch neue Technologien, Dienstleistungen und Produkte hervorbringen und damit die Sinnhaftigkeit einer Verbindung von Ökonomie und Ökologie erneut manifestieren.582 Im entsprechenden Umweltkapitel des Impulspapiers geht es dann in erster Linie um eine nachhaltige Umweltpolitik, die aber auch vorsorgend sein soll, indem sie im Vorfeld alle betroffenen Politikfelder miteinander vernetzt und den gesamtgesellschaftlichen Dialog über Umweltfragen fördert.583 Relativ vage wird von der Vision der ‚ökologischen Verantwortungsgesellschaft’ geschrieben, in der alle Beteiligten das Notwendige, am besten ohne staatliche Intervention, freiwillig leisten würden. Der Staat solle in erster Linie im Rahmen der internationalen Standortkonkurrenz und der Unterbietung der Staaten bei den Umweltstandards als Garant für elementare Rahmenbedingungen zukünftigen Umweltschutzes fungieren.584 579 Vgl. Decker, Frank: Mensch und Umwelt – nachhaltige Politik. Überlegungen zu möglichen Handlungsstrategien der Sozialdemokratie. In: Friedrich-Ebert-Stiftung, Politische Akademie (Hrsg.). Bonn 2004. S. 287. 580 Vgl. ebenda. S. 288. 581 ebenda. 582 Vgl. Kelber, Ulrich: Der Umweltschutz braucht neue Themen und Ziele. In: Friedrich-EbertStiftung, Politische Akademie (Hrsg.). Bonn 2004. S. 293. 583 Vgl. Impulse. Für ein neues Grundsatzprogramm der SPD. Bonn 2004. S. 338-339. 584 Vgl. ebenda. S. 340.
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In einem im Oktober 2004 veröffentlichten Papier zur Thema Globalisierung, das als Beitrag zur Programmdebatte gedacht war, erklärte die damalige Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul, die oft geforderte Nachhaltigkeit in Umweltfragen zu einem grundsätzlichen Leitprinzip politischen Handelns. „Nachhaltigkeit ist kein Konzept, das auf Umweltverträglichkeit und Umweltschutz im engeren Sinne begrenzt wird – eine Nachhaltigkeitsstrategie gehört ins Zentrum der Gesellschaftspolitik.“585, so die Ministerin wörtlich. Ein weiteres Impulspapier, diesmal im Januar 2005 von einer Arbeitsgruppe der Programmkommission zum Thema ‚Zukunft der Arbeit’ veröffentlicht, beschäftigte sich ebenfalls mit den Themenkomplexen des nachhaltigen Umweltschutzes und des Strukturwandels der Gesellschaft. Es sei ein verstärkter Ressourcenverbrauch auf Grund der globalen Industrialisierung zu beobachten, was erhebliche ökologische Schäden mit sich brächte, so die Autoren zu Beginn. In Zukunft müssten als Reaktion hierauf regionale Wirtschaftskreisläufe, umweltschonende Produktionsverfahren, sowie eine nachhaltige Ressourcennutzung stärker gefördert werden.586 Der Schwerpunkt des Papiers liegt jedoch bei der Beschreibung des Wandels hin zur Informations- und Wissensgesellschaft, und der Beurteilung der Konsequenzen hieraus für sozialdemokratische Programmatik. Grundsätzlich habe die Geschwindigkeit von Innovationsprozessen derart zugenommen, dass Wissen und die Fähigkeit zu innovativem Arbeiten zu entscheidenden Wettbewerbsfaktoren würden. Zum ersten Mal wird hierbei in einem parteioffiziellen Text der SPD-Programmdebatte das Wort ‚Informatisierung’ benutzt, um die Zustände zu beschreiben, in denen sich der Einzelne im Erwerbsleben behaupten muss.587 Die Autoren konstatieren, dass „(…) „Wissen“ zur zentralen Voraussetzung für gesellschaftliche Entwicklung und Zuwächse in Wertschöpfung und Beschäftigung (werden wird). Neues Wissen wird durch Innovationen in neue Produkte, Verfahren, Dienstleistungen, Organisations- und Arbeitsformen transferiert.“588 Hieraus folge, dass lebenslanges Lernen jetzt und zukünftig immer wichtiger für die Entwicklung der Wirtschaft, aber auch für den Einzelnen sei.
585 Wieczorek-Zeul, Heidemarie: Globalisierung gerecht gestalten. Impulse für das neue Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Berlin 2004. S. 9. 586 Vgl. SPD-Programmkommission – AG 5 (Hrsg.): Impulspapier „Zukunft der Arbeit“ – Eine neue Politik der Arbeit. Berlin 2005. S. 4-5. 587 Vgl. ebenda. S. 4. 588 ebenda. S. 31.
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Explizit benennt der Text den Erneuerungsbedarf gegenüber dem Berliner Programm im Angesicht der Analyse des Strukturwandels. Der technologische, gesellschaftliche und ökonomische Fortschritt sei seit 1989 so weit vorangeschritten, dass die noch sehr stark von der national geprägten Industriegesellschaft bestimmten Vorstellungen des Berliner Programms nicht mehr zeitgemäß seien.589 Denn obwohl das Grundsatzprogramm eine ausgeprägte Technik- und Wachstumsskepsis aufweise, basiere es „(…) in hohen Maße auf einer industriegesellschaftlichen Norm von Arbeit.“590 Dieses Leitbild sei nicht mehr zweckdienlich, und müsse „(…) durch ein differentierteres Bild von Arbeit in der Industrie- und Wissensgesellschaft“591 abgelöst werden, so die Forderung. Eine ausführliche Benennung der unterschiedlichen Herausforderungen und der politischen Antworten hierauf, also eine Bündelung der verschiedenen in die Debatte eingebrachten Aspekte zum Thema findet sich dann im Bremer Entwurf beziehungsweise im Hamburger Grundsatzprogramm. Die Bestandsaufnahme zu Beginn ist im Entwurf und im späteren Grundsatzprogramm identisch. Die Arbeitsgesellschaft befinde sich in einem tiefgreifenden Wandel. Das Tempo, mit welchem Innovationen getätigt würden, steige, und Qualifikation und Wissen würden gleichzeitig immer wichtiger werden.592 Es finden sich auch sonst sehr viele inhaltliche Parallelen zwischen Entwurf und endgültigem Programm, namentlich in Bezug auf die neue Wissensgesellschaft, die voranschreitende Informatisierung und Umweltfragen. Das Hamburger Programm benennt jedoch die einzelnen Punkte in etwas anderer Reihenfolge, und, obwohl es in seinen Formulierungen genauso ausführlich wie der Entwurf erscheint, ist es inhaltlich in einigen Nuancen ausgewogener. Der Bremer Entwurf spricht beispielsweise noch von der ‚Bejahung des technologischen Fortschritts’: „Neue Technologien schaffen neue Märkte, entfachen Wirtschaftswachstum und können die Kräfte unserer Gesellschaft mobilisieren“593, so die optimistische Feststellung im Text. Im Folgenden behandelt der Entwurf zwar ebenfalls das Thema Nachhaltigkeit, doch wird diese im Hamburger Programm direkt in einem Atemzug mit der Befürwortung des technischen Fortschritts genannt. Wörtlich heißt es: „Wir setzen auf wissenschaftlichen und technischen Fortschritt, Bildung und Qualifizierung, um nachhaltige Entwick589 590 591 592 593
Vgl. ebenda. S. 14. ebenda. S. 15. ebenda. Vgl. Bremer Entwurf. S. 6; Hamburger Programm. S. 9. Bremer Entwurf. S. 37.
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lung zu ermöglichen.“594 Beide Texte bekennen sich demnach zum Prinzip der Nachhaltigkeit, wobei hier in erster Linie eine allumfassende Verantwortung verstanden wird, deren Ziel „(…) auf qualitatives Wachstum und Verbesserung der Lebensqualität, Erweiterung von Lebensmöglichkeiten und individueller Freiheit durch Gestaltung der Technik, wissenschaftlichen Fortschritt und verantwortlichen Umgang mit den begrenzten natürlichen Ressourcen und den unbegrenzten Möglichkeiten menschlicher Kreativität“595 gerichtet sei, so die kompakte Formulierung im Hamburger Programm. Das Konzept des nachhaltigen Fortschritts beinhaltet in beiden Papieren einen Abschnitt mit der Überschrift ‚strategische und ökologische Industriepolitik’. Dort wird konstatiert, dass zwar die Industrie nach wie vor von entscheidender Bedeutung für die deutsche Volkswirtschaft sei, aber dass deren Produkte immer mehr auf Wissen und Dienstleistungen basieren würden. Daher müsse eine zukünftige strategische Industriepolitik auf den Ausbau der qualitativen Vorsprünge des deutschen Wirtschaftsstandortes setzen. Hierin läge die Chance, Problemlösungen zu entwickeln, die sich weltweit gewinnbringend exportieren lassen würden.596 „Strategische Industriepolitik muss ökologische Industriepolitik sein“597, so lautet die damit zusammenhängende Forderung im Hamburger Programm, denn ökologische Marktanreize seien ein entscheidender Antrieb von qualitativem Wachstum. Der Wandel von der Industriegesellschaft hin zur industriellen Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft, im Entwurf noch wörtlich erwähnt, kommt im Hamburger Programm nur verklausuliert zur Sprache, jedoch gehen beide Papiere von Wissen und Qualifikation als den entscheidenden Produktivkräften der gegenwärtigen Gesellschaft aus, was einem klaren Bekenntnis zu den neuen Verhältnissen gleichkommt.598 Das Grundsatzprogramm formuliert in diesem Sinne: „Erfindungsreichtum, gute Ideen und die Innovationen, die daraus entstehen, sind die wichtigsten Produktivkräfte unseres Landes.“599 Sowohl im Entwurf als auch im Programm werden auch wieder, anders als in manchen vorangegangenen Beiträgen zur Programmdebatte, potentielle Risiken des technischen Fortschritts angesprochen, und es wird deutlich gemacht, dass technische Neuerungen gesellschaftlicher Akzeptanz bedürften.600 594 595 596 597 598 599 600
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Hamburger Programm. S. 42. ebenda. S. 18. Vgl. Bremer Entwurf. S. 40; Hamburger Programm. S. 44-45. Hamburger Programm. S. 45. Vgl. Bremer Entwurf. S. 42; Hamburger Programm. S. 47. Hamburger Programm. S. 47. Bremer Entwurf, S. 61; Hamburger Programm, S. 48.
Das Hamburger Programm fasst die Balance zwischen fortschreitender Technisierung und gesellschaftlicher Zustimmung folgendermaßen zusammen: „Wir sehen das Erfolgsrezept für mehr Innovation, Kreativität und Wertschöpfung in der richtigen Kombination aus Technologie, Talent und Toleranz.“601 In direktem Anschluss an diese Ausführungen behandelt das Hamburger Programm die Fragen der Energiewende und des Umweltschutzes. Anders als im Bremer Entwurf, wo diese Themen ganz am Ende zu finden sind, befinden sie sich im neuen Grundsatzprogramm in etwa in der Mitte des Textes, was als Aufwertung des Themas im Kontext des Nachhaltigkeitspostulats gesehen werden kann. Die eingeleitete Energiewende, weg von der Atomkraft hin zur Solarenergie, müsse fortgesetzt werden, da man somit der aktuellen Ressourcenverschwendung am wirkungsvollsten entgegengetreten könne. In Zukunft müsse grundsätzlich vermehrt auf erneuerbare Energien gesetzt werden, um effizienter und umweltfreundlicher zu wirtschaften.602 Eine wichtige, erst im Hamburger Programm zu findende, Ergänzung am Ende der Ausführungen zu den ökologischen Fragen ist die Feststellung, dass auch die Verbraucher Verantwortung für einen umweltschonenden, nachhaltigen Fortschritt trage. Jede Konsumentin und jeder Konsument könne und solle durch bewusste Entscheidungen Einfluss nehmen. Daher bedürfe es einer aktiven Verbraucherpolitik, die für eine ausreichende Information der Verbraucher Sorge trage.603 Zum Schluss ergibt sich aus den Herausforderungen der Wissensgesellschaft und den Vorstellungen von verantwortungsbewussten, innovationsfreudigen Verbrauchern eine neue Gewichtung von Bildung sowohl im Entwurf als auch im neuen Grundsatzprogramm. Hatte Bildung im Berliner Programm noch in erster Linie bei der Befähigung des Einzelnen zur Qualifikation im Beruf und bei der persönlichen Entfaltung eine Rolle gespielt, so kommt ihr in der sozialdemokratischen Programmatik im 21. Jahrhundert eine deutlich umfassendere Bedeutung zu. „Bildung entscheidet unsere Zukunft, sie ist die große soziale Frage unserer Zeit. (…) Sie erschließt ihm (dem Menschen) den Zugang zu einer Welt im Wandel“604, so die pathetische Formulierung im Hamburger Programm. Bildung sei eine entscheidende wirtschaftliche Produktivkraft, deren
601 602 603 604
Hamburger Programm, S. 48. Vgl. ebenda. S. 48-49. Vgl. ebenda. S. 51. ebenda. S. 60.
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Bedeutung stetig wachse. „Nur Gesellschaften, die ein offenes, sozial durchlässiges und hoch entwickeltes Bildungssystem haben, gedeihen in der globalen Wissensgesellschaft“605, so wird im Programmtext folgerichtig konstatiert. Der ‚Wettbewerb der Wissensgesellschaften’ in der globalisierten Welt war wohl einer der entscheidenden Impulsgeber für die Autoren des Hamburger Programms. Jedoch muss im Angesicht der Informations- und Dienstleistungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts der Ruf nach der Synthese von ökonomischen und ökologischen Fragen in der sozialdemokratischen Programmatik erst noch aufgegriffen werden, auch wenn nun mit verstärkter Bildung und Qualifizierung andere Lösungsansätze propagiert werden als es zu Zeiten des Berliner Programms der Fall war.
2.3.3.
Individualisierung – der Wandel der Sozialstruktur und des Wahlverhaltens
Stellten die Globalisierung der Wirtschaft, der Wandel des ökologischen Bewusstseins sowie die Entstehung der Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft schon bedeutende Herausforderungen für die Sozialdemokratie dar, so entwickelte sich in direktem Zusammenhang mit diesen Themen eine weitere Herausforderung. Gemeint ist die sich zeitgleich mit der voranschreitenden Technisierung immer stärker entfaltende Individualisierung, mit anderen Worten die Veränderung der bisherigen sozialen Strukturen der deutschen Gesellschaft. Zu Beginn des Untersuchungszeitraums dieser Arbeit, Anfang beziehungsweise Mitte der 1980er Jahre, stand in erster Linie die wachsende Massenarbeitslosigkeit im Fokus der SPD-Politik. Die Zukunft der Arbeit, das heißt die Reform der bisherigen Arbeitswelt müsse in der Programmdebatte einen wichtigen Platz einnehmen, da man sich zu Beginn der 80er Jahre mit einem grundsätzlichen Wandel der Arbeitsgesellschaft konfrontiert sehe, so Willy Brandt 1986.606 Im Godesberger Programm fehle einiges oder sei ergänzungsbedürftig, unter anderem Aussagen zur Zukunft der Arbeit und zu den Herausforderungen durch ‚hypermoderne Technik’, so Brandt im selben Jahr an anderer Stelle.607 Wie schon in Kapitel 2.3.1. beschrieben, standen der wirtschaftli605 ebenda. 606 Vgl. Brandt, Willy: „Maßstab Selbstbestimmung. Modernisierung der Industriegesellschaft und Zukunft der Arbeit.“. In: Vorstand der SPD, Abt. Presse und Information (Hrsg.). Bonn 1986. S. 24. 607 Vgl. Brandt, Willy: „Der Sozialstaat ist kein Klotz am Bein des Fortschritts, sondern das Rad, auf dem er rollt.“ Rede auf dem fränkischen Parteitag am 13. April 1986 in Nürnberg. In: Vor-
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che Wandel auf der Makro-Ebene, ausgelöst durch eine lang anhaltende Wirtschafts- und Beschäftigungskrise, und der damit einhergehende Sinneswandel in Bezug auf wirtschaftliche Steuerung und Wirtschaftswachstum zunächst im Zentrum des Interesses. Die sich schließlich hieraus ergebenden Konsequenzen für die gesellschaftliche Sozialstruktur, namentlich die zunehmende Enttraditionalisierung und Individualisierung in breiten Bevölkerungsteilen, hatte Mitte der 80er Jahre noch kaum Eingang in die Programmdebatte der SPD gefunden. Sehr wohl eine Bedeutung für die Programmdebatte hatte jedoch das Erstarken der Grünen als politischer Konkurrenz im linken Lager, sowie das zeitgleiche Aufkommen linkslibertärer, postmaterialistischer Positionen. Mitte der achtziger Jahre vertrat eine große Anzahl von Sozialdemokraten die Auffassung, dass es, entsprechend der Erläuterungen im vorangegangenen Kapitel, einer Ökologisierung der Güterproduktion und des Konsumverhaltens bedürfe. Von einem Teil der SPD-Anhängerschaft wurden im Zusammenhang damit auch Forderungen nach materieller Umverteilung und einer verstärkten Berücksichtigung postmaterieller Werte formuliert.608 Programmatisch-inhaltlich betrachtet spaltete die SPD sich in den 80er Jahren in zwei Lager auf, was sich durchaus grundsätzlich auswirken sollte. Auf der einen Seite befanden sich die ökologisch-zivilisationskritischen, linksliberaldemokratischen Linken, auf der anderen Seite die gewerkschaftsfreundlichen Traditionalisten, das heißt sozial-konservative Parteirechte.609 Es kam in dieser Zeit zu einer Heterogenisierung der Wählerpotentiale der SPD, was nach Thomas Leif und Joachim Raschke eine Einteilung in vier Wählersegmente zulässt. Auf der Seite der ‚neuen Linken’ befinde sich zum einen die ‚sozialdemokratische Intelligenz’, also die gebildeten und gut situierten Aufsteiger, denen es in erster Line um die ökonomische Modernisierung ginge. Zum anderen verorten Leif und Raschke auf dieser Seite die Anhänger des ‚sozialdemokratischen Postmaterialismus’, die Umwelt- und Bürgerrechtsfragen präferieren würden. Dem gegenüber befänden sich zum einen Vertreter des ‚sozialdemokratischen Mainstreams’, die zuvorderst materialistische Ziele verfolgen würden, und zum anderen Anhänger des ‚sozialdemokratischen Rechtspopulismus’, denen es als
stand der SPD, Abt. Presse und Information (Hrsg.): Willi Brandt: Zwischen Essener Parteitag und Irseer Entwurf. Reden, Artikel und Interviews zu Fragen des neuen Grundsatzprogramms (1984-86). Bonn 1986. S. 33. 608 Vgl. Jun, Uwe. Frankfurt 2004. S. 258-259. 609 Vgl. Leif, Thomas/Raschke, Joachim: Rudolf Scharping, die SPD und die Macht. Reinbek 1994. S. 120-122.
163
Verlierern der Modernisierung besonders um Fragen der sozialen Sicherheit und der Einwanderung gehe.610 Der Irseer Entwurf von 1986 befasste sich noch nicht expressis verbis mit der Individualisierung, der beginnenden Auflockerung der bisherigen gesellschaftlichen Strukturen und der Aufspaltung der SPD-Anhängerschaft. Er stellt vielmehr einen Versuch dar, die bisherige klassisch-sozialdemokratische, materialistisch orientierte Programmatik mit den neuen politischen Ideen der libertären Linken zu vereinen, indem indirekt Vorstellungen beider Lager aufgegriffen wurden.611 Die ‚Versöhnung’ zwischen Umwelt und Arbeit ist so ein Fall, wo der Versuch einer Neudefinition sozialdemokratischer Reformpolitik unternommen wurde, mit der die unterschiedlichen politischen Gruppierungen der SPD zusammengebracht werden sollten. Ansonsten beinhaltet der Entwurf die althergebrachte Forderung der Sozialdemokratie nach Solidarität, die als wichtiger Grundwert auch zwischen den Generationen und innerhalb der Arbeitsgesellschaft von praktischer Bedeutung sei.612 „Durch soziale Gerechtigkeit zur sozialen Gesellschaft“613, so lautet die Überschrift eines Kapitels des Entwurfs, in dem eine demokratische, vorbeugende Sozialpolitik in einem starken Sozialstaat gefordert wird. Von drohender sozialer Spaltung oder einem spürbare Rückgang sozialer Kohäsion wird nicht gesprochen, lediglich in Bezug auf das Problem der Massenarbeitslosigkeit wird festgestellt, dass diese die Solidarität der Arbeitenden untergrabe.614 Der konservative Angriff auf den Wohlfahrtsstaat und der unter anderem daraus resultierende Trend zur Individualisierung werden nicht behandelt. Für den Irseer Entwurf gilt das, was Jens Borchert in Bezug auf die Herausforderungen der ökonomischen Krise und ihre Folgen grundsätzlich konstatierte, uneingeschränkt auch beim Thema Individualisierung: die Sozialdemokraten blieben ihren alten programmatischen Konzepten treu und zeigten sich unfähig, innovativ auf die neuen Herausforderungen zu reagieren.615 Und doch gab es kritische Stimmen wie die des damaligen SPDBundesgeschäftsführers Peter Glotz, der im Jahr 1985 ein Projekt einforderte, „(…) which will counter the right’s current programme of undermining the 610 611 612 613 614 615
164
Vgl. ebenda. S. 94-95. Vgl. Hörnle, Micha. Frankfurt 2000. S. 404. Vgl. Irseer Entwurf. S. 45-47 und 67. ebenda. S. 85. Vgl. ebenda. S. 70. Vgl. Borchert, Jens: Das Ende der Sozialdemokratie. In: Borchert, Jens u.a. (Hrsg.). Opladen 1996. S. 69.
bonds of solidarity within West German society.“616 Wichtig sei hierbei, dass eine Konfrontation zwischen den neuen sozialen Bewegungen und den an Produktion orientierten Teilen der Gesellschaft, also auch zwischen ‚neuen Linken’ und traditionellen Sozialdemokraten, vermieden werde.617 Eine Erwähnung des gesellschaftlichen Wertewandels mit seinen Konsequenzen für den Sozialstaat und somit auch eine erste Beschäftigung der SPD mit der aufkommenden Individualisierung fand sich in der offiziellen Programmdebatte mit dem Entwurf der Kommission Sozialpolitik von 1986. Es gebe seit einigen Jahren Hinweise darauf, dass sich die Lebenseinstellungen in der deutschen Gesellschaft verändern würden, so der Text der Kommission. Arbeit werde für viele Menschen als Daseinszweck immer unbedeutender, materielle Bedürfnisse würden verstärkt von immateriellen Werten überlagert, die Bereitschaft zur Anpassung an arbeitsweltliche Zwänge nehme ab wie auch das Interesse, sich auf traditionelle Weise in Gewerkschaften und Parteien politisch zu organisieren und zu engagieren.618 „Die Bereitschaft zur Solidarität richtet sich nicht mehr nur auf „großgesellschaftliche“ Institutionen, sondern immer stärker auf kleine Gruppen oder spontan sich bildende Organisationsformen“619, so die Feststellung im Entwurf. Es sei jedoch fraglich, ob es sich bei diesen Erscheinungen um vorübergehende Moden handele, oder ob man es mit umwälzenden kulturellen Veränderungen zu tun habe. Fakt sei, dass sich derartige neue Mentalitäten beträchtlich ausweiten würden. Dieser Mentalitätswandel könnte aber der Vorbote eines tief greifenden Wandels in der Gesellschaft sein, was eine verstärkte Auseinandersetzung mit ihm notwendig mache.620 „Dabei geht es nicht allein um die Zukunft des Sozialstaats, sondern um die der Gesellschaft insgesamt“621, so die vorausschauende Schlussfolgerung zum Wertewandel. Das zwei Jahre später vom Münsteraner Parteitag beschlossene sozialpolitische Programm übernahm diese Feststellungen wortwörtlich und unterstrich somit die Annäherung der SPD an das Thema.622
616 Glotz, Peter: Let’s stop waiting for the right to fail. In: Socialist Affairs. 1985. Nr. 1. S. 28. 617 Vgl. ebenda. S. 32. 618 Vorstand der SPD, Abt. Presse und Information (Hrsg.): Die Zukunft sozial gestalten - Entwurf. Bonn 1986. S. 10. 619 ebenda. 620 ebenda. 621 ebenda. 622 Vgl. Vorstand der SPD, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.): Die Zukunft sozial gestalten – Sozialpolitisches Programm der SPD. Bonn 1988. S. 7-8.
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Im Rahmen einer ‚Programmwerkstatt’ der SPD im Jahr 1988, wo der Irseer Entwurf als Diskussionsgrundlage weiterführender Überlegungen diente, wurden die andiskutierten Probleme noch einmal konkretisiert. Der Gewerkschafter Günter Volkmar machte deutlich, dass der Programmentwurf zwar die Massenarbeitslosigkeit und die Illusion eines krisenfreien wirtschaftlichen Wachstums als Herausforderungen benenne, aber nicht in ausreichendem Maße die damit einhergehenden strukturellen Veränderungen bei der Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft berücksichtige. Es hätten gesellschaftliche Differenzierungsprozesse stattgefunden, die die materiellen Voraussetzungen und somit auch das Bewusstsein der Arbeitnehmerschaft dergestalt beeinflusst hätten, dass sich Bedingungen für die solidarische Interessensvertretung durch Gewerkschaften und Parteien nachhaltig verschlechtert hätten. Mit anderen Worten, es gebe eine Verschärfung der Spaltung zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen, die mit der nachlassenden Bereitschaft zur aktiven, organisierten Solidarisierung Hand in Hand gehe.623 Die Forderung des Gewerkschafters an die Adresse der SPD ist demnach klar: „Wir müssen uns (…) gemeinsam der Gefahr einer breiten Entsolidarisierung der Gesellschaft entgegenstellen.“624 Der Rechtswissenschaftler Ulrich K. Preuß greift in seinem Beitrag in derselben Publikation diese Gedanken auf und formuliert seinerseits die Herausforderungen, die sich für die Sozialdemokratie aus der Veränderung der sozialen Strukturen ergeben.625 Preuß konstatiert ebenfalls eine Fragmentierung des Arbeitsmarktes, und „(…) dass diese Fragmentierung auch an die Grundbasis dessen geht, was im Sinne der sozialistischen Theorie Solidarität heißt, nämlich eine sozioökonomisch fundierte Einheit der Arbeiterschaft.“626 Es sei ein Zerbrechen dieser Solidaritätsgrundlage zu beobachten, die bisherige relative Homogenität der sozialen Situation der Arbeitnehmerschaft sei in Auflösung begriffen, und neue, der Arbeitswelt ferne Kategorien, wie etwa Alter, Geschlecht oder ethnischer Status hielten Einzug in die politische Arena. Kommende SPDProgrammatik müsse nun eine Antwort auf die Frage geben, wie in einer derart ausdifferenzierten Gesellschaft in Zukunft Solidarität organisiert werden solle,
623 Vgl. Volkmar, Günter: Staat und Gewerkschaften. In: Vorstand der SPD (Hrsg.): Demokratie in Staat und Gesellschaft: Programm in der Diskussion. Programmwerkstatt im ErichOllenhauer-Haus. Bonn 1988. S. 8. 624 ebenda. 625 Vgl. Preuß, Ulrich K.: Partizipation, neue Bündnispartner. In: Vorstand der SPD (Hrsg.): Demokratie in Staat und Gesellschaft: Programm in der Diskussion. Programmwerkstatt im Erich-Ollenhauer-Haus. Bonn 1988. S. 13. 626 ebenda.
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wenn zeitgleich die klassische Basis von Solidarität in Form von gleichen Lebensverhältnissen und –Perspektiven im Verfall begriffen sei. 627 Das Berliner Programm befasst sich schließlich an mehreren Stellen mit dem sozioökonomischen Wandel und findet klare Worte zu den Veränderungen in Gesellschaft und Arbeitswelt. Die Implikationen, die sich aus dem Strukturwandel der Arbeitswelt ergeben, namentlich die wachsende Intensität und Produktivität der menschlichen Arbeit, hätten zwar auch positive Effekte hinsichtlich einer Steigerung der Lebensqualität und einem Zuwachs an Wohlstand und Freizeit, doch wären mit ihnen große Risiken verbunden. Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung aus dem Erwerbsleben könnten schwerwiegende Folgen sein, durch deren vermehrtes Auftreten die Konkurrenz unter den Arbeitenden verschärft würde. Konsequenz sei, dass Solidarität erschwert würde.628 Im Kapitel zu den Grundlagen der sozialdemokratischen Politik zu Beginn des Programms wird dann der Solidaritätsgedanke mit den Entfaltungschancen des Individuums verknüpft.629 „Nur gemeinsames Handeln, nicht egoistischer Individualismus schafft und sichert die Voraussetzungen individueller Selbstbestimmung“630, so postuliert der Programmtext. In der darauf folgenden Beschreibung der ‚Welt in der wir leben’ wird die Individualisierung dann ausdrücklich thematisiert. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sei in Änderung begriffen, der Einzelne sei häufig nicht mehr fest in die Gesellschaft eingebunden und stehe ihr distanziert gegenüber. Die Wahlmöglichkeiten in dieser anonymisierten Gesellschaft hätten zugenommen, was Chancen, aber eben auch Risiken beinhalte.631 Die Alternative, die das Programm im Anschluss aufzeigt, ist deutlich an der Vorstellung einer solidarischen Gesellschaft mit aktiver Teilhabe ausgerichtet. Wörtlich heißt es: „(…) Die Möglichkeit, frei zu wählen, wird nur dann zu mehr Freiheit und individueller Entfaltung führen, wenn sie in einem persönlichen Lebensentwurf eingeordnet und in Solidarität mit anderen wahrgenommen wird.“632 An späterer Stelle im Programm, wenn es um das zukünftige Zusammenleben in der Gesellschaft geht, werden die konservativen Kräfte kritisiert, die „(…) versuchen (würden), soziale Spaltung bereits in der Jugend zu verankern und individuelle Lebensansprüche in individualisti-
627 628 629 630 631 632
ebenda. Vgl. Berliner Programm. S. 26. Vgl. ebenda. S. 13. ebenda. Vgl. ebenda. S. 14. ebenda.
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sche Durchsetzungsstrategien umzusetzen.“633 Eine individuelle Entfaltung sei jedoch nur möglich, wenn für alle die Sicherheit sozialer Chancen bestünde.634 Die Forderungen nach beständiger Solidarität gehen Hand in Hand mit denen nach ökologischer und wirtschaftlicher Modernisierung in Zeiten der Globalisierung, was einen Spagat im Grundsatzprogramm deutlich werden lässt. Die Erkenntnis der Sozialdemokraten, dass der Wandel der Sozialstruktur deutliche Spuren beim ihrem Wählerpotential hinterlassen hat, ist dem Berliner Programm anzumerken. Ein eindeutiges, klar umrissenes Profil der SPD, das gezielt die veränderten Bedingungen aufgreifen würde, ist jedoch trotz ausführlicher Behandlung einer Vielzahl von Herausforderungen kaum zu erkennen. „(…) Das Wählerpotential, das die Sozialdemokraten im Visier haben müssen, (ist) zu breit gefächert, zu sehr in oft gegensätzliche Lebensstilmilieus mit konträren politischen Weltbildern aufgesplittert“635, so beschreibt Franz Walter Mitte der neunziger Jahre das große Problem der sozialdemokratischen Parteien Mitteleuropas. Das Berliner Programm biete jedenfalls keine inspirierenden inhaltlich-programmatischen Reaktionen hierauf, und auch keine kohärente Vision, hinter der sich eine Mehrheit der heterogener werdenden Wählerschaft versammeln könnte, so auch andere Autoren.636 Im Jahr 1991 kritisierte der damalige Geschäftsführer des SPD-Landesverbands Schleswig-Holstein, Werner Kindsmüller, die sozialdemokratischen Reaktionen auf die gesellschaftlichen Veränderungen, indem er der SPD vorwarf, dass sie aus dem soziologischen Wandel des letzten Jahrzehnts keine hinreichenden Konsequenzen gezogen habe. Die Individualisierung habe die Handlungsbedingungen für die SPD tief greifend verändert, ohne dass diese klare Antworten darauf gegeben hätte, wie gesamtgesellschaftliche Solidarität in Zukunft zu generieren sei.637 „Mit der Ausdifferenzierung der sozialen Schichten und der Auflösung von Kommunikationsstrukturen wird die Herstellung solidarischer Handlungsmuster immer schwieriger. (…) Die Bedeutung organisierter Solida633 ebenda. S. 23. 634 Vgl. ebenda. 635 Walter, Franz: Partei der ewigen 70er: Zur Krise der SPD in der Ära Scharping. In: Politische Vierteljahresschrift. 36. Jg. (1995). Heft 4. S. 711. 636 Vgl. Silvia, Stephen J.: „Loosely Coupled Anarchy“: The Fragmentation of the Left. In: Padgett, Stephen (Ed.): Parties and party systems in the new Germany. Aldershot 1993. S. 175; sowie Lösche, Peter: Die SPD nach Mannheim: Strukturprobleme und aktuelle Entwicklungen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. 6/1996. S. 22. 637 Vgl. Kindsmüller, Werner: Die Herstellung von Solidarität im Individualisierungsprozeß. Zur Neuorientierung der Organisationspolitik der SPD. In: Sozialdemokratischer Pressedienst. . 45. Jg (78) 1991. S. 3.
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rität wird in Zukunft schwinden“638, so das Fazit Kindsmüllers. Die Sozialdemokraten müssten daher die so genannten Modernisierer und Traditionalisten, das heißt die parteiinternen Lager, zusammenführen, um ein breiteres Wählerspektrum ansprechen zu können. Anschließend müsse die Überwindung der sich vertiefenden gesellschaftlichen Spaltung thematisiert werden. Es müsse deutlich gemacht werden, „(…) dass Individualisierung und Solidarität keine Gegensätze sind. Solidarität setz(e) immer schon individuelle Interessen voraus, die kollektiv transformiert werden müssen“639, so das Postulat des Autors. Das Schröder-Blair-Papier reagiert zwar auf die Veränderungen im sozialdemokratischen Wählerspektrum, es greift die veränderten soziologischen Bedingungen auf, doch geschieht dies nicht in einem die inhaltlichen Lager vereinenden Sinne, wie es beispielsweise Werner Kindsmüller vor Augen hatte. Das Papier wendet sich in erster Linie an die Modernisierer, und versucht in Anlehnung an die Philosophie des ‚Dritten Wegs’ eine ‚neue Mitte’ der Gesellschaft anzusprechen. Die Vorstellungen von Anthony Giddens, einem der maßgeblichen Vordenker des ‚Dritten Wegs’, finden sich in abgewandelter Form bei der Konzipierung zukünftiger Arbeits- und Sozialpolitik wieder, wenn mehr Flexibilität, Eigeninitiative und ein neues Verständnis des Sozialstaats eingefordert werden.640 Giddens bedient sich in seiner Publikation mit dem Titel ‚Der Dritte Weg’ aus dem Jahr 1998 einer Definition Ulrich Becks und spricht in Bezug auf die neue Individualisierung von einem ‚institutionalisierten Individualismus’.641 Es sei gemäß dieser Vorstellung von Individualismus keine komplette Abkehr von staatlicher Solidaritätsfürsorge zu erwarten, vielmehr gehe es um eine Neujustierung des Verhältnisses zwischen individueller und staatlicher Verantwortung für das soziale Miteinander. Fest steht für Giddens jedoch, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht durch staatliches Eingreifen oder eine Rückbesinnung auf traditionelle Politiken gewährleistet werden könne, Stattdessen 638 639 640 641
ebenda. S. 3 und 4. ebenda. S. 5. Vgl. Schröder, Gerhard/Blair, Tony. Bonn 1999. S. 10,12 und 14. Beck grenzt seinen Begriff des ‚institutionalisierten Individualismus’ von reinem Marktindividualismus und bloßer gesellschaftlicher Zersplitterung ab, und beschreibt in als Folgeerscheinung bisheriger Sozialstaats- und Arbeitsmarktpolitik. „Viele der Rechte und Vergünstigungen, die der Wohlfahrtsstaat gewährt, sind eher auf einzelne zugeschnitten als auf Familien. In vielen Fällen setzen sie einen Arbeitsplatz voraus. Arbeit wiederum impliziert Ausbildung, und beide zusammen haben Mobilität zur Voraussetzung. Durch all diese Anforderungen werden die Menschen gehalten, sich als Individuen zu konstituieren: sich als Individuen zu konstruieren, zu verstehen, zu entwerfen.“ Beck, Ulrich: „The cosmopolitan manifesto“. In: New Statesman. Bd. 20. 1998. S. 28-30.
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müsse in Folge der individueller gewählten Lebensformen eine größere Eigenverantwortung Einzug halten.642 Der Text von Schröder und Blair befasst sich nicht ausdrücklich mit dem Wandel der Sozialstruktur, sondern betont die Chancen, welche sich bei einer Modernisierung der Wirtschaft, des Arbeitsmarkts und des Sozialstaats für den Einzelnen ergeben würden. Dabei bleiben die Formulierungen jedoch häufig sehr allgemein und vage, wenn von einer ‚neuen angebotsorientierten Agenda’ und einer ‚aktiven Arbeitsmarktpolitik’ für die Linke gesprochen wird. Das viel kritisierte Positionspapier der beiden prominenten Sozialdemokraten offeriert daher keine Analyse des sozio-strukturellen Wandels, sondern einen Versuch, die traditionelle sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatsprogrammatik durch eine mehr am individuellen Wettbewerb orientierten Politik zu ersetzen und somit dem gesellschaftlichen Wandel zu begegnen und die eigenen Parteien neu auszurichten.643 In der Antwort der SPD-Linken auf das Schröder-Blair-Papier, der so genannten Berliner Erklärung, wird der gesellschaftliche Wandel klar angesprochen, und es wird die Schaffung eines neuen gesellschaftlichen Bündnisses eingefordert. Die Autoren kritisieren den von Schröder und Blair eingeschlagenen Weg hin zur ‚neuen Mitte’, da somit zu stark auf die Modernisierer setze, und zu wenig Rücksicht auf traditionelle sozialdemokratische Interessen nehme.644 Die Verfasser der Berliner Erklärung verlangen ebenfalls nach Antworten auf die Frage nach der notwendigen Verquickung von Individualität und Solidarität, doch wird im selben Abschnitt angemahnt, dass es dabei keine zu große Aufgabe staatlichen Einflusses geben dürfe. Bei einer strikten Orientierung an den Grundwerten der SPD, so die Argumentation, bedürfe es eines bestimmten, nicht zu unterschreitenden Maßes an staatlicher Verantwortung, um beispielsweise Solidarität dauerhaft zu garantieren. Das Modell des ‚Dritten Wegs’ mit seiner Fokussierung auf die ‚neue Mitte’ tauge bei einer solchen Grundwerteorientierung nicht für die Gestaltung einer modernen Gesellschaft, so das Fazit in der Berliner Erklärung.645 642 Vgl. Giddens, Anthony: Der Dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie. Frankfurt 1999. S. 49-50. 643 Vgl. Martin Frenzel spricht davon, dass das Papier einen programmatischen Putsch von der Parteispitze darstellen würde, mit dem das neoliberale Paradigma von der politischen Favorisierung der Märkte implementiert werden sollte. Vgl. Frenzel, Martin. Wiesbaden 2002. S. 175; siehe auch Jun, Uwe. Frankfurt 2004. S. 267. 644 Vgl. Dreßler, Rudolf/Junker, Karin/Mikfeld, Benjamin. Berlin 1999. S. 77-78. 645 Vgl. ebenda. S. 79-80.
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In der ebenfalls 1999 erschienen Publikation der Grundwertekommission, in welcher die unterschiedlichen Interpretationen des Dritten WegeKonzeptes diskutiert werden, befassen sich die Autoren bei der Nennung neuer Herausforderungen auch mit dem sozio-strukturellen Wandel, wobei der Fokus auf dem Wandel bei den Zielgruppen sozialdemokratischer Politik liegt. Es werden vier unterschiedliche Gruppen ausgemacht, in denen die SPD Zustimmung für ihre Politik generieren müsse, um mehrheitsfähig zu sein.646 Genannt werden die traditionell orientierte Gruppe der Arbeiter und Angestellten, die Angehörigen der Aufsteigermilieus, die eher post-materialistisch gesinnten Angehörigen der gehoben sozialen und kulturellen Berufe, sowie Frauen, für die Gleichberechtigung nach wie vor wichtig auf der politischen Agenda ist. Diese Gruppen seien nicht mehr durch große ideologische Orientierungen politisch festgelegt und müssten daher bei jedem Thema erneut durch glaubwürdige und wirkungsvolle Kommunikation in einem Bündnis vereint werden.647 Darüber hinaus wird der Rückgang der sozialen Kohäsion und der Wandel hin zur Beck’schen Nachklassengesellschaft nicht direkt thematisiert, es wird eher ein pragmatischer Ausblick auf zukünftige sozialdemokratische Politik geworfen. Das Papier ist in inhaltlicher Nähe zum Text von Schröder und Blair gehalten, und begründet zum Beispiel den dort schon angesprochenen geplanten Umbau des Sozialstaats noch einmal nachhaltiger, wenn auch etwas nuancierter.648 Im Rahmen der 1999 offiziell wieder aufgenommenen Programmarbeit wurde das Thema Individualisierung auf dem Grundwerteforum zur Solidarität erneut explizit angesprochen. Der damalige Programmkommissionsvorsitzende Rudolf Scharping definiert dort Solidarität „(…) als gemeinsam wahrgenommene gegenseitige Verantwortung“649, die augenblicklich unter dem Druck von zwei Seiten zu zerbrechen drohe. Von der einen Seite erzeuge die zunehmende welt646 Vgl. Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD (Hrsg.). Berlin 1999. S. 8-9. 647 Vgl. ebenda. S. 9. 648 Vergleiche die Ausführungen zum ‚modernen Verständnis von sozialer Gerechtigkeit’ und zur ‚Sozialpolitik und der Aktivierung der Bürgergesellschaft’, wo der Abschied vom Wohlfahrtsstaat klassischer Prägung propagiert wird, und von einer neuen „aktivierenden Sozialpolitik“ die Rede ist, die Vorbeugung und Hilfe zur Selbsthilfe in den Mittelpunkt stellt. Hierdurch solle die Legitimationsgrundlage des Sozialstaats in Zeiten gewandelter wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen aufs Neue gefestigt werden. Vgl. Ebenda. S. 29-30, sowie 36-37. 649 Scharping, Rudolf: „Solidarität als sozialdemokratischer Grundwert“. In: SPD-Parteivorstand (Hrsg.): Grundwerte Heute: Solidarität. Dokumentation der Podiumsdiskussion am 8. November 2000 in Berlin. S. 6.
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weite ökonomische Verflechtung Reibung, von der anderen Seite aus sei es die innerstaatliche gesellschaftliche Individualisierung, die die Solidarität in der Gesellschaft gefährde. Die Quelle zukünftiger Solidarität sei dadurch in Frage gestellt, so prognostiziert, wie schon andere vor ihm, auch Scharping.650 Eine ausführliche Beschäftigung mit der Individualisierung sowie der schwieriger werdenden Herstellung von gesellschaftlichem Zusammenhalt und sozialer Sicherheit bot der Bericht der hiermit befassten Arbeitsgruppe, welcher im Zwischenbericht der Grundsatzprogrammkommission aus dem Jahr 2001 enthalten ist. Im den Arbeitsgruppenberichten vorgestellten Einleitungskapitel der ‚Wegmarken für ein neues Grundsatzprogramm’ erwähnt bereits der Zwischenbericht den Wandel der sozialen Strukturen als eine der zentralen Herausforderungen für die Sozialdemokratie.651 Wie schon bei Scharping wird auch hier die Verbindung von zwei Faktoren als problematisch angesehen. Wörtlich heißt es: „Ökonomische Globalisierung und sozialkulturelle Individualisierung bedingen heute, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen und auf unterschiedliche Weise, dass Traditionen, Routinen, Rollenvorstellungen und feste Verlaufsmuster von Erwerbsbiografien, die bislang die Regel waren, zur Ausnahme werden.“652 Hieran knüpft der Arbeitsgruppenbericht direkt im ersten Satz nahtlos an. „Die Konsequenzen aus dem Zusammenspiel von ökonomischem, sozialstrukturellem und demographischem Wandel in Deutschland (wie auch in anderen Industrieländern) verändern unsere Gesellschaft nachhaltig und tief greifend.“653 Wenn nun die Sozialdemokratie in ihrer Programmdebatte neue Leitbilder für die sich wandelnde Gesellschaft entwickle, müsse es das Ziel sein, die deutsche Wettbewerbsfähigkeit in einer globalisierten Wirtschaft, bei gleichzeitiger Wahrung des sozialen Zusammenhalts und des inneren Friedens, zu erhalten.654 Das Phänomen Individualisierung wird im Anschluss ausführlich beleuchtet, wobei zwei Seiten dieses gesellschaftlichen Trends ausgemacht werden. Auf der einen Seite gebe es eine Zunahme von Handlungsoptionen und Freiheiten, auf der anderen Seite sei jedoch der Verlust von familiären, sozialen 650 651 652 653
Vgl. ebenda. Vgl. Grundsatzprogrammkommission der SPD (Hrsg.). Berlin 2001. S. 16. ebenda. S. 17. Bericht der Arbeitsgruppe: Individualisierung, gesellschaftlicher Zusammenhalt und soziale Sicherung. In: Grundsatzprogrammkommission der SPD (Hrsg.): Wegmarken für ein neues Grundsatzprogramm – Sozialdemokratische Vorstellungen zur nachhaltigen Gestaltung der globalen Epoche. Berlin 2001. S. 58. 654 Vgl. ebenda.
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und kulturellen Bindungen zu beobachten. Der Bericht geht dabei davon aus, dass eine Individualisierung in vielen Fällen nicht einem selbst gewählten Lebensplan entspreche, sondern ein Ergebnis der veränderten Anforderungen von Wirtschaft und Arbeitswelt sei.655 Ein mit der zunehmenden Individualisierung verknüpftes Problem sieht der Bericht schließlich im demographischen Wandel. Der Bevölkerungsrückgang in absoluten Zahlen bei gleichzeitig immer älter werdender Bevölkerung stelle den Sozialstaat vor große Herausforderungen, da hierdurch die zukünftige Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme gefährdet sei, was die Realisierung von gesellschaftlicher Solidarität zusätzlich erschwere. Der deutsche Sozialstaat gerate demnach auf Grund von ökonomischer Globalisierung, dem Wandel im Altersaufbau der Gesellschaft, struktureller Arbeitslosigkeit und der mit all diesen Faktoren korrespondierenden Individualisierung unter Druck, so das Fazit der Arbeitsgruppe.656 Die handlungsanleitende Schlussfolgerung des Berichtes zielt daher unter anderem auf eine modernisierte Sozialpolitik, die stärker als bisher am Ziel der Beschäftigungsförderung ausgerichtet sein müsse. Darüber hinaus bedürfe es einer neuen Familienpolitik, die unter Berücksichtigung der neuen Herausforderungen aus individuellerer Lebensweise auf Grund von Globalisierungsund Technisierungsprozessen und dem gestiegenen wirtschaftlichen Druck, den Menschen Angebote zur gesellschaftlichen Teilhabe unterbreite.657 Die Rede ist vom ‚modernem aktivierenden Sozialstaat’, „(…) der auf eine neue Balance aus Rechten und Pflichten, aus Fördern und Fordern setzt.“658 Im vom damaligen SPD-Generalsekretär Franz Müntefering und dem damaligen SPD-Bundesgeschäftsführer Matthias Machnig herausgegebenen Sammelband mit dem Titel ‚Sicherheit im Wandel’ aus demselben Jahr beschäftigen sich unterschiedliche Autoren mit Fragen nach neuer Solidarität sowie gesellschaftlichem Wandel und zukünftigem Zusammenhalt. Der Politologe Herfried Münkler befasst sich in einem grundsätzlichen Aufsatz mit der Solidarität in modernen Gesellschaften, wobei er die politiktheoretisch-sozialwissenschaftliche Debatte über die Vor- und Nachteile gesellschaftlicher Solidarität auf den Punkt bringt und somit auch das Dilemma der Sozialdemokraten im Kontext sich verändernder Rahmenbedingungen für Sozialstaatspolitik aufzeigt. Es gebe
655 656 657 658
Vgl. ebenda. Vgl. ebenda. S. 59-60 und 61. Vgl. ebenda. S. 62-64. ebenda. S. 65.
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in der Wissenschaft zwei konträre Positionen in Bezug auf gesellschaftliche Solidarität, so Münkler.659 Auf der einen Seite werde ein erhöhtes Maß an Solidarität als Vorbedingung für die Wahrnehmung individueller Freiheiten begriffen, auf der anderen Seite werde gerade die individuelle Freiheit durch zuviel gesellschaftliche Solidarität gefährdet, da „(…) bei den Solidaritätsgebern durch die qua Abgabenbelastung eingeschränkte Einkommensverfügung und bei den Solidaritätsempfängern durch die Gewöhnung an einen Zustand der Unselbstständigkeit und Abhängigkeit“660 zu wenig Spielraum bleibe. Hiermit spricht Münkler ein Kernproblem der sozialdemokratischen Programmdebatte an, nämlich die vieldiskutierte Frage, wie Solidarität in einer immer stärker individualisierten, sich im Wandel befindenden Gesellschaft zukünftig organisiert und begründet werden soll, bei gleichzeitiger Wahrnehmung der teils gegenläufigen Interessen einer heterogener werdenden Wählerschaft. In einem Kapitel zum gesellschaftlichen Wandel analysieren mit Ulrich Becker, Richard Hilmer und Manfred Güllner, drei Wahl- und Meinungsforscher, die sich verschiebenden Wählerpräferenzen und die sozialdemokratischen Chancen in den jeweiligen Wählermilieus in drei Beiträgen. Auch hier werden unter dem Begriff Individualisierung verschiedene gesellschaftliche Prozesse subsumiert, denen die SPD politisch gerecht zu werden versuche. Hilmer konstatiert eine Spaltung zwischen traditionell eingestellter SPDStammwählerschaft und den Wählern der insbesondere von der Parteiführung anvisierten ‚Neuen Mitte’. Die Partei befinde sich in einem Spannungsfeld zwischen der von den Modernisieren der ‚neuen Mitte’ favorisierten Reformpolitik und den Wählerinteressen der klassischen Stammwählerschaft, was einen inhaltlichen Interessensausgleich nötig mache, wolle die SPD mehrheitsfähig bleiben, so Hilmer weiter.661 Manfred Güllner erkennt zwar ebenfalls einen sozio-strukturellen Wandel in der deutschen Gesellschaft, doch sei dieser nicht ursächlich für die abnehmende Zustimmung der Wählerschaft, mit der sich die SPD in den 80er und 90er Jahren konfrontiert sah. Soziale Wandlungsprozesse hätten die deutsche politische Landschaft in Gänze betroffen, die in Zahlen nachweisbaren Zustimmungseinbußen der Sozialdemokratie könnten daher
659 Vgl. Münkler, Herfried: Solidarität in modernen Gesellschaften. In: Müntefering, Franz/Machnig, Matthias (Hrsg.). Berlin 2001. S. 33. 660 ebenda. 661 Vgl. Hilmer, Richard: Die SPD im Spannungsfeld von Reformpolitik und Wählerinteressen. In: Müntefering, Franz/Machnig, Matthias (Hrsg.). Berlin 2001. S. 101-102 und 111.
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nicht, wie von Parteiseite häufig geschehen, maßgeblich mit den sozialen Wandlungsprozessen erklärt werden.662 Ulrich Becker stellt in seiner Analyse des gesellschaftlichen Wandels den Aspekt der Sicherheit in den Vordergrund und liegt damit auf einer Linie mit dem damaligen nordrheinwestfälischen SPD-Arbeitsminister Harald Schartau, der im selben Sammelband über die Erneuerung des Sozialstaats schreibt. Becker fordert die SPD auf, in Zeiten von nachhaltigen gesellschaftlichen Veränderungen dem Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit entgegenzukommen und eine ‚Wandelkompetenz’ zu entwickeln, mit deren Hilfe als wichtigstes Ziel der Zusammenhalt der Gesellschaft zu verfolgen sei.663 Der Politiker Schartau spricht schließlich von einer Individualisierung, die den sozialen Zusammenhalt bräuchte. Ohne soziale Sicherung sei die Individualisierung mit einem Tanz auf dem Drahtseil ohne Netz vergleichbar. Die Politik müsse auf daher auf die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mit der Erneuerung des Sozialstaats reagieren.664 Einen weiteren Schritt im Rahmen der Programmdebatte stellte der Sammelband ‚Die neue SPD’ aus dem Jahr 2003 dar, der neben einer größeren Anzahl von Beiträgen aus Wissenschaft und Politik auch das schon angesprochene Impulspapier der SPD-Netzwerker enthielt. In einem einführenden Kapitel zu den Herausforderungen der Sozialdemokratie machten die SPD-Politiker Hans Martin Bury und Ute Vogt deutlich, dass dem raschen gesellschaftlichen Wandel und seinen Folgen besondere Aufmerksamkeit bei der Entwicklung sozialdemokratischer Zukunftskonzepte gewidmet werden müsse. Es bedürfe eines Konsenses über die grundlegenden Werte des Zusammenlebens in der Gesellschaft, da dieser für den Zusammenhalt unablässig sei.665 „Er ist die Voraussetzung für eine solidarische Gesellschaft“666, so konstatieren Bury und Vogt. Der Historiker Paul Nolte ist bei seiner Beurteilung der programmatischen Ausgangslage der SPD in Bezug auf die Veränderungen in der Gesellschaft deutlich: die SPD bräuchte mehr als ein neues Programm, sie brauche eine neues Menschenbild, ein neues „Koordinatensystem im Gesellschafts662 Vgl. Güllner, Manfred: Zwischen Stabilität und Wandel: die SPD im Auf und Ab der Wählergunst. In: Müntefering, Franz/Machnig, Matthias (Hrsg.). Berlin 2001. S. 115-117 und 126. 663 Vgl. Becker, Ulrich: Wind of Change: Die Bedeutung von Windmühlen im 21. Jahrhundert. In: Müntefering, Franz/Machnig, Matthias (Hrsg.). Berlin 2001. S. 92-93 und 99-100. 664 Vgl. Schartau, Harald: Den Sozialstaat erneuern – Kontinuität unter veränderten Bedingungen sichern. In: Müntefering, Franz/Machnig, Matthias (Hrsg.). Berlin 2001. S. 168 und 172. 665 Vgl. Bury, Hans Martin/Vogt, Ute: Die Herausforderungen und Aufgaben der Sozialdemokratie. In: Friedrich-Ebert-Stiftung, Politische Akademie (Hrsg.). Bonn 2004. S. 13. 666 ebenda.
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bild“667, wenn sie ihre alten Grundwerte neu und zeitgemäß definieren und somit Kontinuität und Glaubwürdigkeit erzeugen wolle.668 Bei der Skizzierung der neuen Spannungsfelder für die SPD nennt er anschließend als bedeutsame Herausforderung die Spannung zwischen den Lebensformen, genauer gesagt zwischen Pluralisierung in Form von Individualisierung und Familie. Programmatische Antworten der Sozialdemokratie auf die Veränderungen in den ‚weichen’ Zonen der Gesellschaft würden noch ausstehen, so Nolte.669 Im Programmvorschlag der Netzwerker, den ‚Impulsen für ein neues Grundsatzprogramm’, wird nicht explizit über Individualisierung gesprochen. Der Text beinhaltet eine recht allgemein formulierte Aufzählung der Aspekte, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt relevant seien. „Wir wollen die Lebensformen, Haltungen und Erfahrungsorte fördern und schützen, wo nötig wiederherstellen, die den Zusammenhalt unserer Gesellschaft ermöglichen“670, so heißt es am Ende der Ausführungen zum Thema. Vorher war lediglich konstatiert worden, dass Individualität und die Chance zur Vielfalt der Lebensentwürfe in der modernen Gesellschaft hohe Werte seien, die jedoch auch ursächlich für Bindungsverluste und neue Konflikte sein könnten.671 Im Jahr 2005 erfolgte mit dem Impulspapier ‚Zukunft der Arbeit’ der Programmkommission eine intensivere Beschäftigung mit dem sozio-strukturellen und arbeitsweltlichen Wandel, indem eine detaillierte Beschreibung und Analyse der Situation geliefert wurde.672 Der Text aus dem Januar 2005 wurde anschließend im April im offiziellen Programmheft ‚Wohlstand heute und morgen’ ausgiebig zitiert.673 Die Familien- und Lebensformen seien im Wandel, und es sei eine gegenseitige Verstärkung der Flexibilisierung von Arbeit und Leben zu beobachten. Darüber hinaus führe der Zuwachs bei den Qualifikationen und die zunehmende Individualisierung in der Gesellschaft zu neuen Ansprüchen der Erwerbstätigen in Bezug auf die Autonomie und die Gestaltungsmöglichkeit in der
667 Nolte, Paul: Sozialdemokratisches Programm: Politik in neuen gesellschaftlichen Spannungsfeldern. In: Friedrich-Ebert-Stiftung, Politische Akademie (Hrsg.). Bonn 2004. S. 27. 668 Vgl. ebenda. 669 Vgl. ebenda. S. 28-29. 670 Impulse. Für ein neues Grundsatzprogramm der SPD. Bonn 2004. S. 309. 671 Vgl. ebenda. S. 308-309. 672 Vgl. SPD-Programmkommission AG 5 (Hrsg.): Impulspapier „Zukunft der Arbeit“. Berlin 2005. 673 Vgl. SPD-Parteivorstand (Hrsg.): Wohlstand heute und morgen – Die Programmdebatte der SPD. Berlin 2005. S. 40-49.
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Arbeitswelt.674 Die verstärkte Flexibilisierung, besonders die auf dem Arbeitsmarkt, habe jedoch unter anderem zur Folge, dass der Einzelne zu verstärkter Selbststeuerung und Selbstorganisation genötigt sei. Es komme auf Grund von Flexibilisierungen „(…) zu einer Verflüssigung (nicht Auflösung!) der Grenzen von Arbeitswelt und Lebenswelt.“675 Zwei neue alltagskulturelle Konfliktlinien seien unter diesen Umständen erkennbar. Auf der einen Seite gebe es den Anspruch auf eine erfüllte Erwerbsbiographie bei gleichzeitigem Anspruch auf ein stabiles soziales Umfeld und Familie. Zum anderen seien die Menschen sehr unterschiedlich auf diese neuen Anforderungen der Lebensführung vorbereitet. Daraus folge, dass die Gestaltung der Zukunft der Arbeitswelt auf das engste mit der Gestaltung der Zukunft der Lebensführung zusammenhänge.676 Der Text fasst diese Konflikte mit folgenden Worten zusammen: „Die neuen flexiblen Anforderungen der Arbeitswelt treffen auf eine Gesellschaft, in der gleichzeitig Geschlechterrollen langsam erodieren, sich alte Milieus auflösen und die Individualisierung neue Chancen, aber auch Zwänge der Lebensgestaltung hervorbringt. (…) Jedes Leben und jede Erwerbsbiographie wird zur individuellen Maßanfertigung.“677 Mit diesen Ausführungen wurde die Individualisierung und der mit ihr in Zusammenhang stehende Wandel in Arbeitswelt und Gesellschaft ausdrücklich in der Programmdebatte der SPD verankert, wobei in den soeben erwähnten Papieren auf die hiermit verknüpften Veränderungen bei der sozialdemokratischen Wählerschaft kein Bezug genommen wurde. Der Anfang des Jahres 2007 veröffentlichte Bremer Entwurf für das neue Grundsatzprogramm befasst sich, anders als das spätere Hamburger Programm, nirgendwo ausdrücklich mit den Fragen des gesellschaftlichen Wandels und der Individualisierung. Lediglich im Kapitel zum vorsorgenden Sozialstaat finden sich einige wenige Sätze. So wird dort von neuen vielfältigen Lebensweisen und flexiblen Erwerbsformen gesprochen, in Anbetracht derer die zentrale Sozialstaatsfunktion, nämlich Sicherheit in Zeiten des Wandels zu gewährleisten, besonders wichtig sei.678 „Angesichts der veränderten Erwerbs- und Arbeitsbiographien wollen wir unsere sozialen Sicherungssysteme so weiterentwickeln,
674 675 676 677 678
Vgl. SPD-Programmkommission AG 5 (Hrsg.). Berlin 2005. S. 6. ebenda. S. 11. Vgl. ebenda. ebenda. S. 12-13. Vgl. Bremer Entwurf. S. 46.
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dass sie für die unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsphasen Sicherheit gewährleisten“679, so der Entwurfstext ein paar Zeilen später wörtlich. Im Hamburger Programm, das im Oktober desselben Jahres verabschiedet wurde, findet im Vergleich zum Entwurf eine intensivere und detailliertere Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex statt. Im einführenden Kapitel mit der Überschrift ‚Die Zeit, in der wir leben’ wird unter dem Stichwort des Umbruchs in Arbeitswelt und Gesellschaft ein tief greifender Wandel konstatiert.680 Traditionelle Arbeits- und Lebensverhältnisse würden an Bedeutung verlieren, und viele Menschen würden in einem steten „(…) Wechsel zwischen abhängiger Beschäftigung, Nichterwerbstätigkeit, Phasen der Familienarbeit und Selbstständigkeit (…)“681 leben. Der Programmtext spricht davon, dass derartige Veränderungen häufig erzwungen seien und dass sie Überforderung und Angst bei den Menschen auslösen könnten. In diesem Kontext findet sich ein Satz im Programm, der genau so schon im Impulspapier der SPDNetzwerker aus dem Jahr 2004 zu finden war: „Individualität und die Chance zur Vielfalt der Lebensentwürfe sind hohe Werte, aber sie können auch Bindungsverluste und neue Konflikte bewirken.“682 Die Kehrseite des gesellschaftlichen Wandels sei eine neue Unübersichtlichkeit, innerhalb derer die Menschen ein verstärktes Bedürfnis nach Halt und Orientierung hätten, so der Text weiter.683 Das Programm greift das schon an verschiedenen früheren Stellen propagierte Konzept mit dem Titel ‚Sicherheit im Wandel’ erneut auf und versucht, eine ausgewogene Perspektive auf den sozio-strukturellen und arbeitsweltlichen Wandel zu bieten. Auf der einen Seite böten sich neue Chancen für die individuelle Lebensgestaltung, auf der anderen Seite würden jedoch ein schneller werdender Fortschritt und die damit einhergehenden notwendigen Flexibilisierungen die Sicherheit der Menschen im Wandel gefährden.684 Die programmatische Antwort der SPD auf diese Widersprüche ist der vorsorgende Sozialstaat.685 Besonders in Bezug auf den Wandel der Arbeitswelten, „wo die Er-
679 680 681 682
ebenda. S. 47. Vgl. Hamburger Programm. S. 9. ebenda. ebenda. S. 19; sowie Impulse. Für ein neues Grundsatzprogramm der SPD. Bonn 2004. S. 308-309. 683 Vgl. Hamburger Programm. S. 19. 684 Vgl. ebenda. S. 54. 685 Vgl. auch den Beitrag des damaligen SPD-Vorsitzenden Matthias Platzeck, der den vorsorgenden Sozialstaat als Investition in die Potentiale der Menschen begreift, und somit als der heterogener gewordenen Gesellschaft angemessenes Modell propagiert. Platzeck, Matthias:
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werbsformen flexibler und häufiger auch prekärer werden, wird die zentrale Funktion des Sozialstaats noch wichtiger: Sicherheit im Wandel zu gewährleisten.“686 Das Programm hat verschiedene Aspekte der Individualisierung und des Wandels traditioneller gesellschaftlicher Vorstellungen verinnerlicht und trägt diesen Vorstellungen bei der Beschreibung der Bedingungen für zukünftige Arbeits- und Sozialpolitik Rechnung. So heißt es, dass es gesellschaftlich gewünschte und individuell gewählte Phasen gebe, in denen Menschen sich um ihre Kinder kümmern, sich weiterbilden, Angehörige pflegen oder sich eine Auszeit nehmen würden. Diese individuellen Aspekte der Lebensgestaltung müssten nicht nur bei der politischen Konzipierung der Arbeitswelt berücksichtigt, sondern auch solidarisch gefördert werden.687 Tatsächlich werden die Herausforderungen der Individualisierung und der gewandelten Sozialstruktur im Hamburger Programm beim Namen genannt, und es wird der Versuch unternommen, den neuen Umständen gerecht zu werden. Die Kritik Franz Walters erscheint jedoch plausibel, wenn der Parteienforscher feststellt, dass das Hamburger Programm sich nicht zwischen traditioneller sozialdemokratischer Semantik und der Postulierung einer ‚moderneren’ Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, beispielsweise im Sinne der sozialdemokratischen Spitzen in der Bundesregierung, entscheiden kann.688 Die modernisierten und flexibilisierten Arbeitswirklichkeiten mit dem dazu gehörenden gesellschaftlichen Wandel werden im Grundsatzprogramm zwar beschrieben, und es werden Antworten hierauf gesucht. Gleichzeitig werden aber in Anlehnung an die sozialdemokratischen Grundwerte klassische Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und Solidarität propagiert. Die hieraus entstehenden Widersprüche vermag das Hamburger Programm nicht immer stringent aufzulösen.
2.3.4.
Neue Formen der Politik – der Wandel des politischen Diskurses
In Kapitel III.1.1.4. wurden schon im Allgemeinen die Herausforderungen beschrieben, die sich aus den sich wandelnden politischen Diskursen und der zunehmenden Abwanderung politischer Entscheidungen in die Gesellschaft ergaSoziale Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert – Leitsätze für ein neues SPD-Grundsatzprogramm. In: Perspektive 21: Brandenburgische Hefte für Wissenschaft und Politik. 2006. S. 8-9. 686 ebenda. S. 56. 687 Vgl. ebenda. S. 52 und 54-55. 688 Vgl. Walter, Franz. In: Perspektivends Heft 2 2007. S. 74.
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ben. Seit dem Eintritt der SPD in die Opposition im Jahr 1982 wurden auch dort der Wandel von Form und Inhalt der politischen Diskurse in Öffentlichkeit und Partei verstärkt beachtet. Das Problem für die Partei, nämlich relative Orientierungslosigkeit im Diskurswandel, entstand maßgeblich durch das Brüchigwerden der Versprechungen des Keynesianismus von Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung durch staatlich induzierte Nachfragestabilisierung. Zu lange hatten die Sozialdemokraten auf den Staat als den entscheidenden Regulator für wirtschaftliche und soziale Fragen vertraut, und hatten mit dieser „etatistisch-technokratischen Fixierung“689 ihre Fähigkeit untergraben, den politischen Diskurs in Bezug auf Reform, Fortschritt oder Moderne mitzuprägen.690 Die SPD habe sich schon lange von ihrer marxistisch geprägten Geschichtsphilosophie abgewandt, so der Politologe Otto Kallscheuer 1983, und sich einer vagen Fortschrittsorientierung mit wohlfahrtstaatlicher Ausrichtung verschrieben.691 Es sei bei den Sozialdemokraten zur Übernahme einer Modernisierungstheorie gekommen, „(…) die eine Harmonie zwischen den Prozessen des industriellen Wachstums, des Strebens nach sozialer Gleichheit und der (sozial-ethischen wie ökonomischen) ‚Vernunft’ des interventionistischen Staates anstrebt.“692 Kallscheuer sieht hierin die Gefahr einer Verstaatlichung von Politik, einer Loslösung sozialdemokratischer Politik von ihrer ideologischen Begründung.693 Zumindest in den 1980er Jahren erscheint es nachvollziehbar den mangelnden Einfluss der SPD auf den politischen Diskurs auch dieser ‚Versachlichung’ von politischer Philosophie zuzuschreiben. Abgesehen von diesen Deutungen gab es im genannten Zeitraum innerhalb der Partei den grundsätzlichen und weit verbreiteten Wunsch nach ideologischer Neuausrichtung, verursacht durch das längere inhaltliche ‚Stillhalten’ während der Jahre der Regierung Schmidt.694 So schlussfolgerte der sozialdemokratische Historiker Gerd Hofschen in den ‚Beiträgen zur Diskussion um eines neues Grundsatzprogramm’ aus dem Jahr 1985, dass es objektiven Problemdruck für die soeben begonnene Programmdebatte gebe. Die bisherigen Programmaussagen seien in ihren Grundannahmen und Prognosen fehlerhaft und würden keinen Raum für die notwendige 689 Paterson, William E./Thomas, Alistair H.: The Future of Social Democracy. Oxford 1986. S. 13. 690 Vgl. ebenda; sowie Merkel, Wolfgang. Frankfurt 1993. S. 34. 691 Vgl. Kallscheuer, Otto: Philosophie und Politik in der deutschen Sozialdemokratie heute. In: Leviathan. Jg. 11 1983 Heft 1. S. 10. 692 ebenda. 693 Vgl. ebenda. S. 12-13. 694 Vgl. Walter, Franz: Die SPD. Vom Proletariat zur Neuen Mitte. Berlin 2002. S. 215-216.
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Analyse der seit den 1970er Jahren stärker werdenden neuen sozialen Bewegungen sowie der sich verändernden wirtschaftspolitischen Realitäten bieten.695 Der sozialdemokratische Vordenker Peter von Oertzen forderte sogar eine grundsätzliche und tief greifende Änderung des politisch-sozialen Gesamtcharakters der SPD bei der Ersetzung des Grundsatzprogramms.696 Es müsse eine echte ‚Wende’ in der Parteigeschichte geben, „(…) oder aber das neue Programm ist nicht viel mehr als ein neuer Text anstelle eines alten“697, so von Oertzen in Konsequenz. Im Bericht der Grundwertekommission von 1984 geben sich die Autoren bei der Untersuchung des Godesberger Programms hinsichtlich seiner Zukunftsfähigkeit zuversichtlich, dass neue politische Diskurse von der SPD aktiv mitgestaltet werden könnten. Der Bericht listet die Defizite des bisherigen Grundsatzprogramms auf, formuliert konkreten Änderungsbedarf. Hierbei wird in Bezug auf die neuen sozialen Bewegungen gesagt, dass deren Bedeutung gewachsen, und ihre Verbindung zur SPD stärker geworden sei.698 Eine Einschränkung dieser Aussage folgt jedoch am Ende des Papiers, wenn die vermeintlichen Grenzen der neuen Bewegungen benannt werden. Wörtlich heißt es: „Neue soziale Bewegungen greifen viele der neu gestellten Fragen sensibel auf, erweisen sich aber als unfähig, umfassende und mehrheitsfähige Erneuerungen zu entwickeln und die dafür notwendigen politischen Kompromisse zu schließen.“699 Die Formulierung und Implementierung einer Reformpolitik, mit deren Hilfe demokratische, humane und ökologische Korrekturen an der Industriegesellschaft vorgenommen werden könnten, sei daher mehr denn je Aufgabe der Sozialdemokratie, so die selbstbewusste Schlussfolgerung der Kommission.700 Willy Brandt, damaliger Vorsitzender der Grundsatzprogrammkommission, schrieb im Jahr 1985 in diesem Sinne, dass die SPD ihre Position als Volkspartei mit einer nachhaltigen Programmarbeit unterstreichen müsse. Die Sozialdemokraten könnten Entscheidendes zum aktuellen politischen Diskurs beitragen,
695 Vgl. Hofschen, Gerd: Ein neues Programm – warum und wozu? Zu Vorgeschichte, Inhalt und Funktion der Debatte um ein neues Grundsatzprogramm. In: SPD – Jenseits von Godesberg. Beiträge zur Diskussion um ein neues Grundsatzprogramm. Distel-Hefte 7. Heilbronn 1985. S. 22-23. 696 Vgl. Oertzen, Peter von. In: Vorstand der SPD (Hrsg.): 25 Jahre nach Godesberg. Veranstaltung im Erich-Ollenhauer-Haus in Bonn am 12.11.1984. Reden von Willy Brandt und Peter von Oertzen. Bonn 1984. S. 6. 697 ebenda. 698 Vgl. Vorstand der SPD, Abt. Presse und Information (Hrsg.). Bonn 1984. S. 5. 699 ebenda. S. 15. 700 Vgl. ebenda.
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indem sie Antworten gäben, „(…) die über den Tag hinaus tragen und geeignet sind, die geistig-politische Eigenständigkeit der SPD zu festigen(…).“701 Der Glaube an die Relevanz sozialdemokratischer Diskursbeiträge spricht deutlich aus diesen Beiträgen, und fand auch im Irseer Entwurf seinen Niederschlag. Der Postmaterialismus wurde zum Programm erhoben, das bisher unterstütze Wachstumsdenken wurde abgelehnt, man setzte auf eine Ökologisierung von Produktion und Konsum und forderte eine demokratisch legitimierte und ethisch begründete Kontrolle technischer Entwicklungen und künftigen Fortschritts.702 Die SPD bewegte sich damit deutlich auf die Interessen der neuen sozialen Bewegungen zu, und dementsprechend offen sind die Formulierungen im Entwurf gehalten. Man zeigte sich gesprächsbereit: „Wir panzern uns nicht mit eingefahrenen Gewohnheiten gegen die so zum Ausdruck kommenden Bedürfnisse, Ängste und Hoffnungen. In neuen sozialen Bewegungen sehen wir die Chance einer lebendigeren und demokratischen Willensbildung, eine wichtige Ergänzung unserer Parteiendemokratie und eine Bereicherung der politischen Kultur.“703 Der Entwurf spricht den neuen Bewegungen somit zwar Akteursstatus zu, jedoch seien die politischen Parteien qua Grundgesetz die entscheidenden Akteure bei der Bündelung gesellschaftlicher Interessen und deren anschließender Umsetzung in staatliche Politik.704 Ein Leitfaden der Programmkommission zur Diskussion des Entwurftextes in den Ortsvereinen dokumentierte 1987 die unterschiedlichen innerparteilichen Sichtweisen in Bezug auf die Befassung des Programms mit den neuen sozialen Bewegungen. Im Diskussionsprozess sei noch offen gebliebenen, auf welche Art und Weise die verschiedenen sozialen Gruppen im Programm Erwähnung finden sollten, so die Feststellung im Text. Von der einen Seite her wurde argumentiert, dass eine Nennung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen im Zuge der Formulierung von Handlungszielen ausreichend sei. Es bedürfe daher keiner expliziten Erwähnung von sozialen Gruppen als den Trägern sozialdemokratischer Politik. Von anderer Seite aus wurde angemahnt, dass es sehr wohl hilfreich sei, wenn es eine konkrete Benennung der
701 Brandt, Willy: „Antworten über den Tag hinaus“. Auszug aus der Kolumne im Sozialdemokrat Magazin I/1985. In: Vorstand der SPD, Abt. Presse und Information (Hrsg.): Willi Brandt: Zwischen Essener Parteitag und Irseer Entwurf. Reden, Artikel und Interviews zu Fragen des neuen Grundsatzprogramms (1984-86). Bonn 1986. S. 6. 702 Vgl. Walter, Franz. Berlin 2002. S. 216-217. 703 Irseer Entwurf. S. 34. 704 Vgl. ebenda. S. 35.
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sozialen Gruppen, die zu einem Bündnis für sozialdemokratische Politik zusammengeführt werden könnten, im Programmtext gebe.705 In einem Arbeitsheft zum neuen Grundsatzprogramm, veröffentlicht im März 1989, wird dieser Konflikt nicht aufgelöst. In Bezug auf das Verhältnis der SPD zu den neuen sozialen Bewegungen wird an dem schon drei Jahre zuvor im Irseer Entwurf Gesagten festgehalten und unterstrichen, dass die neuen Bewegungen nur im Zusammenspiel mit einer großen Volkspartei wie der SPD die politische Wirkung entfalten könnten, die der Gesellschaft neue Züge verleihen würde.706 An anderer Stelle wird jedoch deutlich, dass es der Partei in ihrem neuen Grundsatzprogramm nicht nur um neue politische Inhalte, sondern auch um neue Formen und eine neue Qualität von Politik gehe. Das Mittel hierzu sei, in Anlehnung an die neuen Organisationsformen im demokratischen Diskurs, der Bürgerdialog.707 Der Bundestagsabgeordnete Horst Peter begrüßte im Juni 1989 den Vorstoß innerhalb der Programmdebatte, den Bürgerdialog und damit die Verbindung zu den alten und neuen sozialen Bewegungen zu stärken. Die SPD formuliere hiermit ein neues Politikverständnis, der angestrebte Bürgerdialog sei Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen politischen Prozesses.708 Tatsächlich hat es im Verlauf der Programmdebatte vor dem Berliner Programm eine intensive Auseinandersetzung mit Themen wie der Partizipation neuer Bündnispartner und des Bürgerdialogs gegeben. In der im Rahmen der Werkstattgespräche im Erich-Ollenhauer-Haus 1988 erschienenen Publikation mit dem Titel ‚Demokratie in Staat und Gesellschaft’ befassten sich Politiker und Wissenschaftler sowie Vertreter sozialer Bewegungen mit diesen Fragestellungen und formulierten Herausforderungen für die sozialdemokratische Programmatik. Wolfgang Sternstein, Vorstandsmitglied des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz, kritisierte, dass die Forderungen nach Gewährleistung und Verbesserung demokratischer Entscheidungsrechte im Irseer Entwurf nicht deutlich genug wären. Die SPD müsse bereit sein, „(…) ihr politisches Entscheidungsmonopol gleichsam durch einen Akt der Selbstbeschränkung selbst zu brechen (…)“709, denn nur auf diese Art und Weise ließe sich die auf-
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Vgl. Vorstand der SPD, Sekretariat Programmkommission (Hrsg.). Bonn 1987. S. 11. Vgl. Vorstand der SPD, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.). Bonn 1989. S. 10. Vgl. ebenda. S. 7. Vgl. Peter, Horst: Unser Verständnis von Politik – Zum Herzstück der Programmdiskussion der SPD. In: Sozialdemokratischer Pressedienst. 44. Jg. (109) 1989. S. 4. 709 Sternstein, Wolfgang: Mitwirkungsrechte, plebiszitäre Elemente, ziviler Ungehorsam. In: Vorstand der SPD (Hrsg.): Demokratie in Staat und Gesellschaft: Programm in der Diskussion. Programmwerkstatt im Erich-Ollenhauer-Haus. Bonn 1988. S. 11.
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gebrochene Unruhe bei den neuen sozialen Bewegungen in konstruktive Bahnen lenken.710 Der Rechtswissenschaftler Ulrich K. Preuß spricht in seinem Beitrag einen Kern des Problems an, „dass nämlich Interessen sich heute als organisationsfähig im politischen Diskurs erweisen, von denen die klassische Lehre sagt, sie seien nicht organisationsfähig (…).“711 Die SPD müsse diese neuen Formen der Interessenartikulation und der Interessenaggregation verstärkt zur Kenntnis nehmen, und sie, obwohl sie mit den traditionellen Formen der Politikformulierung nicht konform gingen, als produktive Ergänzung im politischen Prozess begreifen. Preuß beklagt darüber hinaus die zunehmenden Partizipationsdefizite bei den bisherigen Formen der Politikformulierung durch politische Parteien. Ursächlich hierfür sei der undifferenzierte und oft zu wenig auf die gesellschaftlichen Bedürfnisse reagierende Habitus des klassischen Politikbetriebes.712 Der Philosoph Klaus-Michael Meyer-Abich knüpft in seinen Beitrag an die Feststellungen von Preuß an, wenn er für eine partizipativere Form der Demokratie und somit für den Bürgerdialog plädiert. Der gewachsenen Bedeutung der neuen sozialen Bewegungen müsse durch eine Stärkung des öffentlichen Diskurses in Form des Bürgerdialogs Rechnung getragen werden, und die SPD sollte dieser Forderung im Anbetracht der Feststellung im Irseer Entwurf, dass die neuen sozialen Bewegungen eine wichtige Ergänzung der Parteiendemokratie darstellen würden, mit Nachdruck verleihen.713 Das Berliner Programm kommt dem Postulat nach mehr Beteiligung der neuen sozialen Bewegungen, nach einem verstärkten Bürgerdialog dann auch entgegen. Es stellt den Versuch der Bündelung der vielfältigen Interessen und Forderungen dar, die in den ökologisch und postmaterialistisch bewegten 1980er Jahren außerhalb des Parteienspektrums in der Gesellschaft und auch innerhalb der SPD formuliert wurden, und repräsentiert somit den sozialdemokratischen Grundkonsens zu diesen Fragen.714 Im Kapitel zu den Grundlagen sozialdemokratischer Politik heißt es unter der Rubrik ‚Unser Verständnis von Politik’, dass Politik, die mehr sein wolle 710 711 712 713
Vgl. ebenda. Preuß, Ulrich K.. In: Vorstand der SPD (Hrsg.). Bonn 1988. S. 12. Vgl. ebenda. S. 13. Vgl. Meyer-Abich, Klaus-Michael: Bürgerdialog. In: Vorstand der SPD (Hrsg.): Demokratie in Staat und Gesellschaft: Programm in der Diskussion. Programmwerkstatt im ErichOllenhauer-Haus. Bonn 1988. S. 15. 714 Vgl. Bartels, Hans-Peter: Die Regierungs-SPD ist der Programm-SPD weit voraus. In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Bd. 47 2000. S. 714.
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als der Vollzug wirklicher oder angeblicher Sachzwänge, getragen und durchgesetzt werden müsse von bürgerlichem Bewusstsein und Engagement. Der hiermit gemeinte freie, im Ergebnis offene Bürgerdialog sei ein Ausdruck demokratischer Kultur, so das Berliner Programm weiter.715 An späterer Stelle, bei der Beschreibung von Demokratie in Staat und Gesellschaft, wird der Programmtext konkreter, die neuen Formen der gesellschaftlichen Interessenaggregation werden beim Namen genannt. „Der demokratische Willensbildungsprozess wird durch Bürgerinitiativen und soziale Bewegungen belebt, in denen ein verändertes Bewusstsein seinen Niederschlag findet.“716 Diese Gruppierungen würden wichtige Themen auf die Agenda bringen, sie würden die Demokratie durch Formen neuer politischer Willensbildung beleben und grundsätzlich die politische Kultur bereichern. Die etablierten Parteien könnten und sollten durch sie immer wieder gefordert werden, aber, und diese Einschränkung hat Bestand, die Parteien könnten durch derartige Bewegungen nicht ersetzt werden. Die Parteien würden die demokratische Willensbildung kontinuierlich ermöglichen, sie sollten nach wie vor als maßgebliche Mittler zwischen Gesellschaft und Staat fungieren. 717 Das Berliner Programm versuchte auf diese Weise, die zivilgesellschaftlich stark ausgebildeten und in den neuen Bewegungen und Gruppierungen institutionalisierten Interessen in großer Breite zu berücksichtigen, doch viel mehr als eine kurzfristige parteiinterne Befriedigung unterschiedlicher Gruppen und ein reflexives Aufarbeiten der ökologischen und sozialen Entwicklungen war im Ergebnis nicht zu erkennen.718 Franz Walter spricht zugespitzt davon, dass die SPD mit dem Berliner Programm wieder einmal zu spät gekommen sei. „Die Gesellschaft stellt schon neue Fragen, während die SPD immer noch die alten beantwortete“719, so Walters Fazit der sozialdemokratischen Programmarbeit. Nicht nur in Hinblick auf den politischen Wandel in Ostdeutschland war das Berliner Programm schon wenige Monate nach seiner Verabschiedung nicht mehr zeitgemäß, auch in anderen Politikfeldern wie der Wirtschafts-, Sozialund Außenpolitik fehlten zukunftsweisende Konzepte, die nicht gedanklich an den Vorstellungen der 1980er Jahre hingen.720
715 716 717 718 719 720
Vgl. Berliner Programm. S. 12. ebenda. S. 50. Vgl. ebenda; sowie S. 11. Vgl. Frenzel, Martin. Wiesbaden 2002. S. 132-133; sowie Jun, Uwe. Frankfurt 2004. S. 251. Walter, Franz. In: Politische Vierteljahresschrift. 36. Jg. (1995). Heft 4. S. 712. Vgl. ebenda; sowie Egle, Christoph/Henkes, Christian. Wiesbaden 2003. S. 68-69 und Heimann, Siegfried. In: Süß, Werner (Hrsg.). Opladen 2002. S. 94-95.
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Der nächste Versuch, den politischen Diskurs nachhaltig sozialdemokratischprogrammatisch zu prägen, kann im Schröder-Blair-Papier von 1999 gesehen werden. Nachdem die 1990er Jahre für die SPD, wie an anderer Stelle schon beschrieben, aus programmatischer Sicht relativ ereignislos verlaufen waren, stellte der Text von Schröder und Blair eine Neuauflage der sozialdemokratischen Grundsatzprogrammdebatte dar. Bevor im selben Jahr auf dem Berliner Parteitag der Weg zum neuen Grundsatzprogramm offiziell eingeschlagen wurde, positionierten sich die beiden Regierungschefs eindeutig. Nach Meinung der Autoren machten die drastisch veränderten Realitäten eine grundsätzliche Neukonzipierung sozialdemokratischer Programmatik und Politik notwendig. Das neoliberale Laisser-faire der letzten zwanzig Jahre habe sich zwar überlebt, doch dürfe an seine Stelle nun keine Renaissance staatlicher Interventionspolitik mit ausgeprägten ‚deficit spending’ im Stile der siebziger Jahre treten.721 Die Autoren propagieren im Gegenzug ihre „neue angebotsorientierte Agenda für die Linke“722 als Antwort auf die aktuellen Herausforderungen. Mit der, an anderer Stelle schon intensiver behandelten, Anpassung sozialdemokratischer Programmatik an die von Schröder und Blair perzipierten neuen Herausforderungen der globalisierten Finanz- und Arbeitsmärkte sowie dem hieraus abgeleiteten notwendig gewordenen Wandel des Sozialstaats sollte der politische Diskurs aufs Neue nachhaltig von sozialdemokratischer Seite geprägt und mitbestimmt werden.723 Die Idee des ‚Dritten Wegs’ beziehungsweise die deutsche Variante der ‚Neuen Mitte’ sollte eine neue Synthese zwischen traditionellen sozialdemokratischen Interessen und den entwickelten Positionen des Neoliberalismus bieten und somit die Diskurshoheit zurückerobern.724 Obwohl der Weg zu ‚Neuen Mitte’, wie er im Schröder-Blair-Papier dargestellt und beworben wird, viele Skeptiker innerhalb der SPD auf den Plan rief725, wurden die maßgeblichen Vorstellungen Schröders und Blairs in der
721 722 723 724
Vgl. Schröder, Gerhard/Blair, Tony. Bonn 1999. S. 7. ebenda. Vgl. Egle, Christoph/Henkes, Christian. Wiesbaden 2003. S. 77. Vgl. Schroeder, Wolfgang: Sozialdemokratische Suchbewegungen: „Dritte Wege“, Zivilgesellschaften. In: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Bd. 47 2000. S. 425. 725 In der Berliner Erklärung der SPD-Linken heißt es, dass die alten sozialdemokratischen Vorstellungen im Sinne des Godesberger Programms zwar an die Zeit angepasst werden müssten, um somit den ebenfalls konstatierten neuen Realitäten gerecht zu werden. Jedoch dürfe es dabei nicht zu einem Identitätsverlust der SPD gemäß der an anderer Stelle schon zitierten Ausrichtung an Weltmarktorientierung, Marktliberalisierung und Sozialstaatsprivatisierung kommen. Ziel müsse eine an den sozialdemokratischen Grundwerten orientierte Weiterentwicklung von programmatischen Inhalten auf der Grundlage des Berliner Programms sein, und nicht die im Schröder-Blair-Papier propagierte modernistische Hinwendung zur vermeintli-
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Publikation der Grundwertekommission zum Thema ‚Dritte Wege – Neue Mitte’ übernommen. Die Feststellungen zu den gewandelten Herausforderungen sind jedoch differenzierter und ausführlicher als im Schröder-Blair-Papier, so auch in Bezug auf die sozialen Bewegungen und die sich verändernde Rolle von Politik. In den immer komplexeren Gegenwartsgesellschaften gebe es neue Formen des politischen Handelns, die eine Neudefinition des Verhältnisses zwischen Parteien, zivilgesellschaftlichen Gruppierungen und dem Staat nötig machen würden.726 „Neue Politik ist darum sowohl eine durch gesellschaftliche Entwicklung erforderte Notwendigkeit, wie auch eine durch veränderte Beteiligungsmentalitäten gerade von jüngeren Menschen zu ergreifende Chance. Die politische Arbeitsteilung von Staat und Gesellschaft muß neu bestimmt werden, ohne der liberalen Formel der Privatisierung ehedem staatlicher Pflichten als Allheilmittel zu verfallen“727, so die Begründung im Kommissionstext. Die Rolle der Politik habe sich gewandelt, wodurch die Rolle von großen Parteien, aber auch anderen institutionalisierten zivilgesellschaftlichen Gruppen, „problematisch“ geworden sei. Es gäbe kaum mehr stabile Milieus, die Unterstützung für linke Reformpolitik gewährleisten könnten. Hinzu käme die eine neuartige Prägung der Politik durch die Mediengesellschaft. Welche Rolle die einzelnen Gruppen, von den Medien über die Parteien hin zu den zivilgesellschaftlichen Bewegungen, zukünftig spielen werden, und inwiefern rational begründete politische Reformprojekte und Parteiprogramme Relevanz erlangen können, lässt der Text offen.728 Im Jahr 2000, kurz nachdem die hitzig geführte Debatte über das Schröder-Blair-Papier abgeflaut war und die neue Grundsatzprogrammdebatte allmählich an Kontur gewann, veröffentlichte Gerhard Schröder einen Artikel zum Konzept der Zivilgesellschaft. Hiermit knüpfte er indirekt die Vorstellungen seiner Veröffentlichung mit Tony Blair an, und zwar in erster Linie an die Idee des aktivierenden Staates. Schröder plädierte für eine moderne zivile Bürgergesellschaft, in der ein mehr an Eigenverantwortung zu einem mehr an Gemeinwohl führe solle.729 Solch eine Zivilgesellschaft brauche einen „(…) besseren, einen aktiven und aktivierenden Staat“730, so Schröder. In Anlehnung an
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chen neuen gesellschaftlichen Mitte. Vgl. Dreßler, Rudolf/Junker, Karin/Mikfeld, Benjamin. Berlin 1999. S. 78 und 80. Vgl. Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD (Hrsg.). Berlin 1999. S. 7. ebenda. S. 7-8. Vgl. ebenda. S. 9-10. Vgl. Schröder, Gerhard: Die zivile Bürgergesellschaft. Anregungen zu einer Neubestimmung der Aufgaben von Staat und Gesellschaft. In: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Bd. 47 2000. S. 201. ebenda. S. 202.
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seine im Kapitel zur Globalisierung der Wirtschaft in dieser Arbeit schon dargestellten, Vorstellungen von Anpassung des Sozialstaats an die neuen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen, schlussfolgert er dann wie folgt: „“Fördern und fordern“ scheint mir auch im Hinblick auf die Zivilgesellschaft eine richtige Maxime politischen Handelns.“731 Angesichts des Wandels in der Arbeitswelt und dem damit in Zusammenhang stehenden Bedeutungsverlust der Arbeit im Rahmen der individuellen Lebensgestaltung werde die Zivilgesellschaft als Ort der sozialen Teilhabe immer wichtiger. Dort müsse zukünftig die Identifikation geleistet werden, die dem Einzelnen die Werte und Ziele der Gesellschaft vermittle.732 In einer Replik auf Schröders Artikel kritisierte Ulrich Beck diese Verschiebung der Identifikation der Menschen von der Arbeits- in die Zivilgesellschaft als eine mehr oder weniger stillschweigende Verabschiedung von der klassisch-sozialdemokratischen Fokussierung auf die Arbeitswelt.733 Schröder laufe Gefahr, den gerade in Mode seienden Begriff der Zivilgesellschaft neoliberal zu missbrauchen und damit den Glaubwürdigkeitsverlust der Politik, besonders den sozialdemokratischer Politik, zu riskieren. Diese neoliberale Aufladung des Zivilgesellschaftsbegriffes fördere soziale Ungerechtigkeit, und führe zu einer „Selbstabwicklung der Politik“, so die Schlussfolgerung Becks.734 Ein Jahr später, im Oktober 2001, beteiligte sich die Grundwertekommission an der Debatte und referierte in ihrem mit ‚Aktivierung der Bürgergesellschaft’ betitelten Papier ausführlich über Entstehungsbedingungen und Notwendigkeit einer sozialdemokratisch definierten Zivil- beziehungsweise Bürgergesellschaft. Die Aktivierung der Bürgergesellschaft sei eine Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie, so Wolfgang Thierse im Vorwort. Der Wandel der wirtschaftlichen und sozialen Basis mache eine neue Aufgabenverteilung innerhalb der Gesellschaft notwendig, es müsse ein Lernprozess hin zu einem veränderten Staatsverständnis angestoßen werden.735 „Die Modernisierung des Staates bezieht sich vor allem darauf, zu lernen, wie er als aktivierender und ermöglichender Staat wirken kann, wie er intermediäre Strukturen, die öffentliche 731 ebenda. S. 203. 732 Vgl. ebenda. 204. 733 Vgl. Beck, Ulrich: Mehr Zivilcourage bitte. In: DIE ZEIT. 22.05.2000. www.zeit.de/2000/22/200022.der_gebaendigte_.xml. 734 Vgl. ebenda; sowie Schroeder, Wolfgang. In: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Bd. 47 2000. S. 427. 735 Vgl. Thierse, Wolfgang: Vorwort. In: Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD (Hrsg.): Aktivierung der Bürgergesellschaft. Berlin 2001. S. 2-3.
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Sphäre und neue Organisationsformen jenseits von Markt und Staat öffentlich stützen und fördern kann.“736 Zu diesem Zweck befasst sich der Text der Grundwertekommission mit der Sozialisation der Bürger als Grundlage jedweden gesellschaftlichen Engagements, der Art und Weise der anschließenden Partizipation in der modernen Gesellschaft und schließlich mit der gezielten Stärkung gesellschaftlicher Selbsthilfekompetenzen und den veränderten staatlichen Rahmenbedingungen für eine am Gemeinwohl orientierte Politik.737 Ähnlich wie Gerhard Schröder in seinem Beitrag betrachten die Autoren die Zivil- oder Bürgergesellschaft als immer wichtiger werdende Quelle verschiedener Sozialisationsleistungen, die in einer differenzierter und heterogener gewordenen Gesellschaft immer weniger über arbeitsweltliche Zusammenhänge vermittelt würden. Eine Verengung auf die Begrenzung und Reduzierung von öffentlichen Ausgaben durch Steigerung der bürgergesellschaftlichen Selbsthilfe und somit eine liberal angehauchte ‚Verschlankung des Staates’, von Ulrich Beck noch scharf kritisiert, aber hier als durchaus legitim betrachtet, wird nicht in Gänze abgelehnt. Diese dürfe jedoch nicht das einzige Ziel bei der Aktivierung der Bürgergesellschaft sein, so die Einschränkung.738 In den ‚Wegmarken für ein neues Grundsatzprogramm’ von 2001, dem ausführlichen Zwischenbericht der Grundsatzprogrammkommission, werden die Feststellungen des Berliner Programms zur Rolle der Parteien und der zivilgesellschaftlichen Bewegungen und Organisationen nochmals unterstrichen, wobei die Worte Zivil- beziehungsweise Bürgergesellschaft im Programm von 1989 noch nicht auftauchten. Der Zwischenbericht spricht im allgemeinen Teil davon, dass ein moderner demokratischer Staat, „(…) getragen vom politischen Engagement seiner Bürgerinnen und Bürger in der Zivilgesellschaft“739 das Ziel sei. Dabei würde den Parteien die Rolle des Anregers, Vermittlers und Umsetzers gesellschaftlich artikulierter Interessen zukommen. Es bliebe jedoch festzuhalten, dass sich Politik nicht allein durch staatliches Handeln vollziehen würde, sondern dass auch die Foren, Initiativen, Organisationen und Netzwerke der Zivilgesellschaft einen wichtigen Beitrag leisten würden, indem sie als Teil der demokratischen Steuerung gesellschaftlicher Entwicklungen fungierten.740 Wie schon bei anderen Herausforderungen ist auch hier der Bericht der relevanten Arbeitsgruppe, in diesem Fall der Arbeitsgruppe ‚Demokratie und 736 737 738 739 740
ebenda. S. 2. Vgl. Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD (Hrsg.). Berlin 2001. S. 5. Vgl. ebenda. S. 4. Grundsatzprogrammkommission der SPD (Hrsg.). Berlin 2001. S. 21. Vgl. ebenda. S. 22.
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Partizipation’, im hinteren Teil des Zwischenberichts ausführlicher und deutlicher auf die Probleme bezogen. Nachdem zu Beginn die nach wie vor als aktuell beurteilten entsprechenden Passagen des Berliner Programms zum Thema großzügig zitiert worden sind, befasst sich der Arbeitsgruppenbericht mit dem konkreten Aktualisierungsbedarf. Hierbei wird festgestellt, dass sich seit dem InKraft-Treten des Berliner Programms die Zahl der neuen Organisationsformen im Vergleich zu den klassischen wie Verbänden und Vereinen deutlich erhöht habe. Einen dementsprechend wichtigen Platz nehme daher in der Programmdiskussion die Frage ein, wie und wo heute und zukünftig mehr Mitbestimmung der Bürger organisiert und zugelassen beziehungsweise eingefordert werden solle. Wie ein derartiges Mehr an Demokratie zu generieren und zu steuern sei, müsse aber noch diskutiert werden.741 Notwendig sei die Entwicklung eines Leitbildes der Zivilgesellschaft nach sozialdemokratischen Maßstäben. Der Bericht nennt in diesem Zusammenhang eine Vielzahl unterschiedlicher Fragen, die es bei der Erstellung dieses Leitbildes zu beachten gelte. Der Begriff des bürgerschaftlichen Engagements müsse klarer definiert werden, auch müsse es eine Beschäftigung mit den Gesellschaftsteilen geben, in denen solch ein Engagement gar nicht stattfindet. Darüber hinaus sei die Rolle von Wirtschaft und Unternehmen in der anvisierten Zivilgesellschaft noch nicht hinreichend geklärt.742 Grundsätzlich ist der Bericht der Arbeitsgruppe eher eine Zusammenfassung von noch offenen Fragen zum Thema, als dass er konkrete Bausteine eines neuen Programms liefern würde. Im dem im Jahr 2003 verabschiedeten Impulspapier der SPD-Netzwerker für ein neues Grundsatzprogramm wurde erneut die Aktivierung der Bürgergesellschaft gefordert und somit für neue Formen der politischen Gestaltung geworben. Die Formulierungen sind eindeutig: „Die Übernahme von Verantwortung und nicht das bloß punktuelle und folgenlose Engagement ist für uns das Ziel bürgerschaftlicher Teilhabe. Die Bürgerinnen und Bürger müssen vielmehr aktiv in die Erarbeitung und Umsetzung von Entscheidungen eingebunden werden.“743 Eine Bürgergesellschaft mit solch einer aktiven Beteiligung der Bürger würde die staatlichen demokratischen Institutionen stärken und bestehende politische Entscheidungsprozesse unterstützen und ergänzen, so das Fazit des Textes.744 741 Vgl. Bericht der Arbeitsgruppe: Demokratie und Partizipation. In: Grundsatzprogrammkommission der SPD (Hrsg.): Wegmarken für ein neues Grundsatzprogramm – Sozialdemokratische Vorstellungen zur nachhaltigen Gestaltung der globalen Epoche. Berlin 2001. S. 89. 742 Vgl. ebenda. S. 90. 743 Impulse. Für ein neues Grundsatzprogramm der SPD. Bonn 2004. S. 318. 744 Vgl. ebenda.
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Diese Einschätzung war mittlerweile ein fester Bestandteil in der sozialdemokratischen Programmdiskussion geworden, wie anhand späterer Debattenbeiträge noch zu zeigen sein wird. Im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Netzwerker erscheint beispielsweise die Forderung des Politologen Roland Roth nach Einbeziehung der Idee der Bürgergesellschaft in die sozialdemokratische Programmdiskussion erwähnenswert. Dadurch könne die SPD „(…) ein Zeichen setzen gegen ihre Engführung als Partei der Arbeitsgesellschaft beziehungsweise des wohlmeinenden Etatismus.“745 Diese Sichtweise entspricht den schon früher publizierten Vorstellungen Gerhard Schröders insofern, als auch hier der Versuch unternommen wird, die Veränderungen bei der gesellschaftlichen Interessensorganisation und –artikulation aufzugreifen und sie für eine Modernisierung sozialdemokratischer Programmatik nutzbar zu machen. Deutlicher wird das Impulspapier für das neue Grundsatzprogramm mit dem, in der Programmdebatte 1988 schon einmal gebrauchten Titel ‚Demokratie in Staat und Gesellschaft’. Dort werden aktuelle Herausforderungen, der Erneuerungs- und Ergänzungsbedarf am Berliner Programm sowie erste Lösungsansätze formuliert. Es wird eine Vielzahl von neuen gesellschaftlichen Interessen ausgemacht, die auch Anliegen der Parteien seien, und von diesen im politischen Prozess mitgetragen werden müssten.746 Die Zivilgesellschaft, die diese Interessen hervorbrächte, habe sich jedoch besonders auf Grund von Individualisierungsprozessen nachhaltig verändert. Neue Organisationsformen würden zunehmend traditionelle Formen wie Parteien, Vereine und Kirchen ersetzen. Der Mitgliederbestand dieser neuen Organisationen sei stetig wachsend, vor allem Bürgerinnen und Bürger der so genannten ‚Neuen Mitte’ würden sich dort engagieren, wohingegen sich sozial Schwächere bevorzugt traditionellen Organisationen zuwenden würden, wenn auch in abnehmender Zahl.747 Die sich aus dieser gesellschaftlichen Konstellation ergebende Bürgergesellschaft definiert das Papier im Folgenden „(…) als ein gemeinwohlorientiertes Sich- Einbringen in die Gesellschaft in vielfältiger, nicht nur in klassischer Weise.“748 Der aktive Bürger als gleichberechtigtes Mitglied des Gemeinwesens ist hierbei die Leitfigur. 745 Roth, Roland: Zivilgesellschaft – Ihre Rolle für die politische Steuerung du Gemeinschaftsbildung. In: Friedrich-Ebert-Stiftung, Politische Akademie (Hrsg.): Die neue SPD. Menschen stärken – Wege öffnen. Bonn 2004. S. 87. 746 Vgl. SPD-Parteivorstand: „Demokratie in Staat und Gesellschaft“: Impulse für das neue Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Berlin 2005. S. 6. 747 Vgl. ebenda. S. 8-9. 748 ebenda. S. 9.
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In Bezug auf den Erneuerungsbedarf am Berliner Programm konstatiert das Impulspapier zuvorderst, dass es eine grundsätzliche Diskussion über das Leitbild der Zivilgesellschaft geben müsse. Ähnlich wie der Arbeitsgruppenbericht zum selben Thema aus dem Jahr 2001 wirft das Papier eine Vielzahl von Fragen auf. Dabei gleichen sich die Fragestellungen, vom Verhältnis der Zivilgesellschaft zum Staat über Fragen nach Form und Inhalt bürgerlichen Engagements, bis hin zu Fragen nach einer möglichst großen Teilhabe aller Gesellschaftsteile an der angestrebten Bürgergesellschaft.749 Konsens ist schließlich, dass es besonders eine gut austarierte Balance zwischen Zivilgesellschaft und Staat nötig sei, um eine starke Bürgergesellschaft mit Hilfe von staatlicher Rahmensetzung in Zukunft zu ermöglichen. Diese könne zwar staatlich nicht verordnet werden, aber die bürgergesellschaftliche Idee müsse Leitbild staatlichen Handelns sein, so der Tenor.750 Wolfgang Merkel zeigte schließlich in seinem Programmheftbeitrag aus demselben Jahr einen wichtigen Wirkungszusammenhang zwischen Zivilgesellschaft, Staat und sozialer Gerechtigkeit auf. Nach Merkel würde „die bürgerschaftliche Fundierung des Sozialstaats (…) häufig über-, (und) die der sozialstaatlichen Ermöglichung der Zivilgesellschaft unterschätzt.“751 Er macht dies anschließend deutlich an drei Zusammenhängen. Zum einen brauche eine funktionierende Zivilgesellschaft ‚starke’ Bürger, das heißt Bürger, die frei von Armut seien und Möglichkeiten zur Verwirklichung ihrer Lebenschancen hätten. Mit anderen Worten, zur Stärkung der Zivilgesellschaft müsse die soziale Gerechtigkeit gefördert werden. Zum anderen habe auch die Zivilgesellschaft selbst Bedeutung für die Generierung von sozialer Gerechtigkeit. Es sei die Aufgabe einer funktionierenden Zivilgesellschaft, die von den staatlichen Institutionen vernachlässigten Interessen im Habermas’schen Sinne aufzunehmen, zu kondensieren und zu verstärken. Wenn nun die politischen Institutionen im Umkehrschluss offen genug seien, die so artikulierten und gebündelten Interessen zu berücksichtigen, könne ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit das Ergebnis sein. Darüber hinaus bedürfe es drittens eines aktivierenden Staates, der die Menschen dazu befähige und motiviere, sich einzubringen, zu engagieren. Erst wenn der Staat ausreichend soziale Gerechtigkeit gewährleisten würde, könnte 749 Vgl. ebenda. S. 13. 750 Vgl. ebenda. S. 17; sowie Vogt, Ute: Mehr Demokratie: In Staat und Gesellschaft. Sechs Thesen zum Verhältnis von Zivilgesellschaft, Staat und Parteien. In: SPD-Parteivorstand (Hrsg.): Demokratie. Teilhabe, Zukunftschancen, Gerechtigkeit. Die Programmdebatte der SPD. Berlin 2005. S. 62. 751 Merkel, Wolfgang. In: SPD-Parteivorstand (Hrsg.): Demokratie. Teilhabe, Zukunftschancen, Gerechtigkeit. Die Programmdebatte der SPD. Berlin 2005. S. 36.
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sich eine breitere, alle Schichten mit ein beziehende Zivilgesellschaft entwickeln.752 „Zwischen Zivilgesellschaft, sozialer Gerechtigkeit und ermöglichendem Staat bestehen keine Trade-off-Relationen, sondern sie entfalten eine sich wechselseitig verstärkende Akkumulationsdynamik. Die „Magie“ dieses Dreiecks besteht darin, dass nur durch eine wechselseitige Stärkung aller die jeweilige Entfaltung des Einzelnen erreicht werden kann“, so die Schlussfolgerung bei Merkel. Mit dieser Vorstellung beschreibt der Wissenschaftler den Idealzustand einer sozialdemokratisch geprägten Zivilgesellschaft und liefert somit eine Blaupause für zu formulierende Programmatik. Noch konkreter auf die Grundsatzprogrammdebatte bezogen ist der Kommentar des Historikers Jürgen Kocka in derselben Publikation, in dem dieser feststellt, dass die Zivilgesellschaft in der heutigen Zeit den Raum darstelle, in welchem sozialdemokratische Vorstellungen mit am besten umgesetzt werden könnten.753 Die im Rahmen der Programmdebatte vorgetragene Konzeption von Zivilgesellschaft stehe für eine spezifische Form gemeinsamen Handelns mit der dazugehörigen Mentalität: „selbständig und selbst organisiert, zum Konflikt fähig und an Verständigung orientiert, öffentlich und mit ausgeprägter Vielfalt, gewaltfrei, mit Verantwortung für allgemeine Dinge und mit Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit zusammen mit anderen, Rechte mit Pflichten verbindend“754, so Kockas ausführliche Auflistung. Eine derart verstandene Zivilgesellschaft sei sichtbarer Ausdruck der sozialdemokratischen Grundidee von Demokratie nicht nur als politischer Organisations-, sondern als Lebensform. Die Vorstellungen sozialer Demokratie seien somit zivilgesellschaftlich einlösbar, so das leicht pathetische Fazit von Kocka.755 Der Bremer Entwurf für das neue Grundsatzprogramm ist in erkennbarer Anlehnung an diese Vorstellungen formuliert, wobei die Verbindung des demokratischen Staates und der solidarischen Bürgergesellschaft besonders betont wird. Im Kapitel zur Sozialen Demokratie im 21. Jahrhundert wird gleich zu Beginn festgehalten, dass „(…) die riesigen Potentiale und Kräfte der Selbstorganisation einer Aktiven Bürgersgesellschaft“756 gestärkt werden müssten. Unter der Rubrik der politischen Ziele wird an späterer Stelle direkt zu Beginn des Ab752 Vgl. ebenda. S. 36-37. 753 Vgl. Kocka, Jürgen. In: SPD-Parteivorstand (Hrsg.): Demokratie. Teilhabe, Zukunftschancen, Gerechtigkeit. Die Programmdebatte der SPD. Berlin 2005. S. 65. 754 ebenda. 755 Vgl. ebenda. 756 Bremer Entwurf. S. 15.
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schnitts der Konnex zwischen Demokratie und Bürgergesellschaft hergestellt, indem gesagt wird, dass jede Demokratie durch das Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger leben würde. Dementsprechend solle den verschiedenen gesellschaftlichen Interessen durch mehr direkte Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger sowie durch bürgerschaftliche Selbstorganisation verstärkt Ausdruck verliehen werden. Hierbei wird jedoch deutlich gemacht, dass verfassungsrechtliche Beschränkungen der Mehrheitsmacht auch für die direkte Bürgerbeteiligung gelten. Darüber hinaus werden die sozialen Bewegungen als ‚Partner’ der Parteien bezeichnet, da sie beide, gemeinsam mit anderen Organisationsformen wie Gewerkschaften, Kirchen und Verbänden, Träger der solidarischen Bürgergesellschaft seien. Das Primat der Politik bei der Bestimmung von öffentlichen Interessen solle aber weiterhin Bestand haben.757 Ein Satz, der sowohl im Entwurf als auch im späteren Hamburger Programm zu finden ist, versinnbildlicht einen weiteren wichtigen Aspekt der Grundsatzprogrammatik: „Eine starke Bürgergesellschaft bietet uns Heimat in Zeiten stürmischen Wandels“758. Die frühere, bei Gerhard Schröders Text aus dem Jahr 2000 noch zu findende Betonung der positiven Wertevermittlung durch die Zivilgesellschaft und die damit einhergehenden Befähigung zum selbständigen und eigenverantwortlichen Handeln als lebenspraktische Antwort auf Veränderungen in Wirtschaft und Arbeitswelt, ist einer vorsichtigen Skepsis gewichen. Nach wie vor wird die Bürgergesellschaft als Ort der verantwortungsvollen Selbstorganisation dargestellt, doch der neue Schwerpunkt liegt auf dem ergänzenden und kontrollierenden Wechselspiel mit dem Staat sowie bei der sozialen Kohäsion, die mit Hilfe der aktiven Bürgergesellschaft hergestellt werden könne. Das Hamburger Programm fasst dies mit folgenden Worten zusammen: „Wo Menschen sich für Menschen einsetzen, sind Verantwortungsbereitschaft, Gerechtigkeitssinn, gegenseitige Anerkennung, Solidarität und Mäßigung beim Gebrauch individueller Freiheit erfahrbar.“759 Den Parteien komme schließlich in einer aktiven Bürgergesellschaft die Rolle des unentbehrlichen Vermittlers zwischen Staat und Gesellschaft zu, so auch der Hamburger Text. Insoweit befinden sich die grundsatzprogrammatischen Aussagen auf einer Linie mit früher Gesagtem. Neu im Vergleich zum Berliner Programm ist lediglich der Begriff der Partnerschaft in Bezug auf die unterschiedlichen Träger der Zivilgesellschaft.760
757 758 759 760
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Vgl. ebenda. S. 28 und 30. Bremer Entwurf. S. 29 und Hamburger Programm. S. 30. Hamburger Programm. S. 30-31. Vgl. ebenda. S. 31 und 33.
Festzuhalten bleibt, dass es im Lauf der Jahre den erkennbaren Versuch der SPD gegeben hat, sich mit den neuen Formen der Politik zu arrangieren und die neuen sozialen Bewegungen erfolgreich in das gesellschaftspolitische Konzept zu integrieren. In der Diskussion seit der Jahrtausendwende ist die sozialdemokratische Vorstellung von der Bürgergesellschaft als maßgebliche Antwort auf die neuen Formen von Politik immer wieder konkretisiert worden, um nicht zuletzt eine Alternative zur zunehmenden Machtlosigkeit des Staates in Zeiten der Globalisierung und Individualisierung zu bieten. Die kritische Beurteilung des Politologen Stephan Leibfried, dass die Sozialdemokratie damit lediglich versuchen würde, auf einem ‚Seitenweg’, das heißt, ohne die klassische Beteiligung des Staates, denselben Zustand wie noch zu Zeiten eines funktionierenden Keynesianismus mit starkem Sozialstaat herzustellen, erscheint nachvollziehbar.761 Die Zivilgesellschaft solle heute, wenn auch mit staatlicher Hilfestellung, die soziale Wärme und Sicherheit generieren, die vor den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen der 1970er und 1980er der Staat weitestgehend alleine garantiert hatte, so die Ableitung. Es ist fraglich, ob die SPD mit dieser Konzeption von Zivil- beziehungsweise Bürgergesellschaft den Herausforderungen gerecht werden kann.
3.) Die britische Labour Party (LP) 3.1.
Die institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für politisches Handeln – nationalstaatliche Besonderheiten
Bevor im Folgenden auf das britische Wahl- und Parteiensystem im Besonderen eingegangen wird, erscheint es notwendig, einige grundsätzliche Anmerkungen zum politischen System Großbritanniens zu machen. Hervorzuheben sind hierbei zwei Grundprinzipien, die landesspezifische Eigenarten darstellen. Zum einen gibt es in Großbritannien keine kodifizierte Verfassung, wie sie beispielsweise in Form des Grundgesetzes in Deutschland existiert. Gesetze, Gesetzesinterpretationen, Gerichtsentscheidungen und Konventionen bilden einen Kanon an Regelhaftigkeit, innerhalb dessen allen Gesetzen die gleiche Wichtigkeit zukommt. An diesen gesetzlichen Grundstock, der durch Gerichtsentscheidungen stetig interpretiert und weiterentwickelt wird, sind sowohl die Bürger als
761 Vgl. Leibfried, Stephan: Abschied von der Staatsillusion. In: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Bd. 11 2007. S. 41.
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auch die Regierung gemäß des Grundsatzes der ‚rule of law’ gleichermaßen gebunden.762 Auf der anderen Seite gibt es das Grundprinzip der Parlamentssouveränität. Anders als es zum Beispiel in Deutschland mit dem Bundesverfassungsgericht der Fall ist, gibt es im britischen politischen System keine Institution oder Person, die das Recht hat, Entscheidungen des Parlaments zu ändern oder zu missachten. Darüber hinaus entspricht es der klassischen Vorstellung von Parlamentssouveränität, dass dem Parlament das Recht zukommt, jedes beliebige Gesetz zu beschließen oder auch abzuschaffen. Demnach ist das Parlament ebenfalls souverän in Bezug auf seine eigenen Entscheidungen, an die es nicht zwangsläufig gebunden ist.763 Aus der Kombination dieser beiden Verfassungsprinzipien ergibt sich, dass eine Partei, wenn sie einmal die Regierung stellt und eine Mehrheit im Parlament hinter sich weiß, über eine immense Machtfülle verfügt. Was sich in Bezug auf die Machtposition der Parteien für zusätzliche Implikationen aus dem britischen Wahl- und Parteinsystems ergeben, wird nun im Anschluss erläutert.
3.1.1.
Wahlsystem
Gemäß dem Westminster-Modell ist die relative Mehrheitswahl integrierender Bestandteil und funktionale Bedingung des britischen Regierungssystems, wobei die Gestaltung der Wahlkreise und die Stimmenverteilung die entscheidenden Parameter darstellen.764 Gewählt werden die Abgeordneten des Unterhauses, und dies in Einerwahlkreisen, aus denen jeweils ein Abgeordneter in das Parlament entsandt wird. Hierbei gilt das ‚Winner takes all’-Prinzip, nachdem derjenige Kandidat gewählt ist, der die relative Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen kann. Die für andere Kandidaten abgegebenen Stimmen finden keine Beachtung mehr, da es keine Verrechung aller abgegebenen Stimmen über die nationale Ebene wie beim Verhältniswahlrecht gibt. 765 Klares Repräsentationsziel der Mehrheitswahl ist demnach die eindeutige Mehrheitsbildung, indem 762 Vgl. Döring, Herbert: Großbritannien: Regierung, Gesellschaft und politische Kultur. Opladen 1993. S. 16-17; sowie Sturm, Roland: Staatsordnung und politisches System. In: Kastendiek, Hans/Rohe, Karl/Volle, Angelika (Hrsg.): Großbritannien. Geschichte – Politik – Wirtschaft – Gesellschaft. Frankfurt 1995. S. 185. 763 Vgl. Döring, Herbert. Opladen 1993. S. 26-28; sowie Sturm, Roland. Frankfurt 1995. S. 185. 764 Vgl. Nohlen, Dieter: Wahlrecht und Parteiensystem. Opladen 2000. S. 263-264. 765 Vgl. Saalfeld, Thomas: Großbritannien. Eine politische Landeskunde. Opladen 1998. S. 46; Döring, Herbert. Opladen 1993. S. 111; sowie Krumm, Thomas/Noetzel, Thomas: Das Regierungssystem Großbritanniens. Eine Einführung. München 2006. S. 107.
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nicht einer Koalition, sondern einer einzelnen Partei die Übernahme der Regierungsverantwortung ermöglicht wird.766 Die Auswirkungen des relativen Mehrheitswahlrechts auf die Struktur des britischen Parteienwettbewerbs sind enorm. Zwei Konsequenzen sind hierbei besonders hervorzuheben: zum einen die Schaffung und Stabilisierung der Dominanz von zwei großen Parteien, zum anderen die daraus abzuleitende Diskriminierung dritter Parteien mit dem Ziel der stabilen Regierungsbildung und Verhinderung eventueller Koalitionen.767 Seit 1945 alternierte folglich die Regierungsbildung in unregelmäßigen Abständen zwischen der Conservative Party und der Labour Party, weit abgeschlagene dritte Kraft im Parlament war in diesem Zeitraum immer die Liberal Party, beziehungsweise ab dem Jahr 1992 die neu gegründeten Liberal Democrats.768 Auf Grund der Tatsache, dass die relative Mehrheit der Stimmen in einem Wahlkreis ausreicht, um den Parlamentssitz des Wahlkreises besetzen zu können, sind die Parteien strukturell im Vorteil, denen es gelingt, in einer möglichst großen Zahl von Wahlkreisen diese Mehrheiten zu erlangen. Hierbei erweist es sich als hilfreich, wenn eine Partei über regionale Hochburgen verfügt, in denen sie eine möglichst große Anzahl von Stimmen bündeln kann. Breit aufgestellt zu sein und somit gesamtprozentual betrachtet einen größeren Stimmenanteil zu erzielen, ist demnach nicht unbedingt von Vorteil. Eine sich daraus ergebende weitere Konsequenz dieses Wahlsystems ist, dass neben den beiden großen besonders regionale Parteien gestärkt werden, da sich deren Zuspruch in einer Region konzentriert, und somit den Gewinn einzelner Wahlkreise möglich macht.769 Das britische Parteiensystem ist folglich durch ein „(…) außergewöhnlich hohes Maß an Konzentration durch das stark verzerrende relative Mehrheitswahlrecht in Einerwahlkreisen (…)“770 gekennzeichnet, so Ludger Helms. Die verzerrende Wirkung des Wahlsystems, die von einer Mehrzahl der Autoren konstatiert wird, hat, in Zusammenhang mit dem noch zu erläuternden Parteiensystem, nachhaltigen Einfluss auf die programmatische Positionierung der briti-
766 Vg. Sturm, Roland: Das politische System Großbritanniens. In: Ismayr, Wolfgang (Hrsg.): Die politischen Systeme Westeuropas. Opladen 2003. S. 244. 767 Vgl. Krumm, Thomas/Noetzel, Thomas. München 2006. S. 113. 768 Vgl. Butler, David/Kavanagh, Dennis: The British General Election of 2001. London 2002. S. 260-261. 769 Vgl. Krumm, Thomas/Noetzel, Thomas. München 2006. S. 116; sowie Saalfeld, Thomas. Opladen 1998. S. 47. 770 Helms, Ludger: Das Parteiensystem Großbritanniens. In: Niedermayer, Oscar/Stöss, Richard/Haas, Melanie (Hrsg.): Die Parteiensysteme Westeuropas. Wiesbaden 2006. S. 218.
197
schen Parteien, da diese sich nicht mit eventuellen Koalitionspartnern in einer Regierung über politische Inhalte verständigen müssen.
3.1.2.
Parteiensystem
Bei der Untersuchung des Parteiensystems ist an erster Stelle festzuhalten, dass das britische Regierungssystem im Unterschied zu anderen europäischen Staaten kein Parteiengesetz oder anders geartete Verfassungsbestimmungen zum öffentlich-rechtlichen Status von Parteien vorsieht. Es gibt demnach keine gesetzliche Definition von Parteien und ihren Aufgaben im politischen System.771 Die wichtigste, aus konstitutionellen Konventionen abgeleitete Aufgabe der Parteien ist jedoch auch in Großbritannien die Bildung einer stabilen Regierung. Auf Grund der vom Wahlrecht gewollten und üblichen Regierungsbildung durch eine der beiden großen Parteien, ohne realistische Beteiligung einer dritten Kraft, wird häufig von einem britischen Zwei-Parteiensystem gesprochen. Diese Einschätzung ist jedoch umstritten; und auch die dies konstatierenden Autoren sehen einen Prozess des Wandels, da im nationalen Parlament seit der letzten Unterhauswahl 2005 insgesamt neun Parteien vertreten sind, wobei die Liberal Democrats als drittstärkste Partei besonders zu beachten seien.772 Es handele sich demnach nicht um ein Zwei-Parteien-System, aber von einem Multi-Parteien-System könne man ebenfalls nicht sprechen, so Gillian Peele.773 Eine andere Einschätzung liefert Richard Heffernan, der das britische Parteiensystem als ein ‚two-party-plus system’ bezeichnet, das zwar von der Vorrangstellung zweier großer Parteien geprägt sei, aber auch weitere Parteien im Parlament vorsehe.774 Karl Rohe stellt sogar zur Debatte, ob das britische ZweiParteiensystem nicht ein Mythos sei, wobei er selbst die Fokussierung auf zwei Parteien immer noch als Kern des Parteiensystems in Großbritannien begreift.775 Die Tatsache, dass in Großbritannien jeweils nur eine Partei mit dann immenser Machtfülle regiert, wird schließlich bei Bernd Becker zum Argument dafür, dass 771 Vgl. Krumm, Thomas/Noetzel, Thomas. München 2006. S. 142. 772 Vgl. Sturm, Roland. Opladen 2003. S. 241; Döring, Herbert. Opladen 1993. S. 117; sowie Nohlen, Dieter. Opladen 2000. S. 275. 773 Vgl. Peele, Gillian: Governing the UK. British Politics in the 21st Century. Oxford 2004. S. 271. 774 Vgl. Heffernan, Richard: Political Parties and the Party System. In: Dunleavy, Patrick u.a. (Hrsg.): Developments in British Politics 7. London 2003. S. 121. 775 Vgl. Rohe, Karl: Parteien und Parteiensystem. In: Kastendiek, Hans/Rohe, Karl/Volle, Angelika (Hrsg.): Großbritannien. Geschichte – Politik – Wirtschaft – Gesellschaft. Frankfurt 1995. S. 223.
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es sich beim britischen System um ein Konkurrenzparteiensystem, mit anderen Worten um ein ‚dominantes Parteiensystem’, handele, da es im Endeffekt immer zur Dominanz einer Partei komme.776 Einig sind sich die Autoren, dass seit Mitte der 1970er Jahre eine Phase des relativen Wandels zu beobachten ist, die in erster Linie durch das Kleinerwerden des Parteienduopols aus Conservative Party und Labour Party gekennzeichnet sei. Der Stimmenanteil, den die beiden großen Parteien zusammen auf sich vereinen konnten, ist seit dem Jahr 1974 kontinuierlich gesunken. Bis dahin hatten die beiden dominierenden Parteien in dem meisten Fällen um die 90 Prozent der Wählerstimmen bündeln können. Während der acht Unterhauswahlen von 1974 bis 2001 gelang es jedoch den dritten, beziehungsweise anderen Parteien, ihren durchschnittlichen Stimmenanteil auf 25,4 Prozent zu erhöhen. Zuvor, das heißt im Zeitraum seit 1945, hatte er im Durchschnitt noch bei 8,2 Prozent gelegen.777 Mit ursächlich hierfür ist auch hier die schon bei der Beschreibung des deutschen Parteiensystems festgestellte Lockerung der Parteibindungen bei vielen Wählern. Zusätzlich sind seit Mitte der 1970er Jahre Veränderungen auf der Ebene gesellschaftlicher Konfliktstrukturen zu beobachten, die zu einer verstärkten Fragmentierung des Parteiensystems beigetragen haben, beziehungsweise immer noch beitragen würden.778 Obwohl derartige Entwicklungen nicht zu übersehen sind, kann immer noch von der grundsätzlichen Persistenz des parlamentarischen Parteienduopols gesprochen werden, und somit ist die Einschätzung Ludger Helms zutreffend, dass in Großbritannien „(…) regierende Parteien in vergleichsweise hohem Maße die Chance besitzen, ihr jeweiliges Regierungsprogramm in gesellschaftlich verbindliche Entscheidungen umzusetzen.“779 Die Kombination aus Wahlund Parteiensystem ermöglicht es der Labour Party demnach theoretisch, eine politische Programmatik zu entwickeln, die nicht in einer eventuellen späteren Koalition relativiert werden muss und somit eindeutige und polarisierende Aussagen enthalten könnte.
776 Vgl. Becker, Bernd: Politik in Großbritannien: Einführung in das politische System und Bilanz der ersten Regierungsjahre Tony Blairs. Paderborn 2002. S. 156. 777 Vgl. Helms, Ludger. Wiesbaden 2006. S. 220; sowie Krumm, Thomas/Noetzel, Thomas. München 2006. S. 141. 778 Vgl. Sturm, Roland. Opladen 2003. S. 242; sowie Helms, Ludger. Wiesbaden 2006. S. 220. 779 Helms, Ludger. Wiesbaden 2006. S. 218.
199
3.2.
Programmdebatte in der Labour Party – Form und Chronologie von 1987 bis 2005
Will man die Form und den Ablauf der Programmdebatte der Labour Party untersuchen, erscheint es sinnvoll, zuerst einen Blick auf die grundsätzliche Struktur der Partei zu werfen, da es im britischen politischen System kein Grundgesetz beziehungsweise Parteiengesetz gibt, in dem die Aufgaben der Parteien eindeutig festgelegt sind. Eine Darstellung der Programmdebatte Labours muss demnach in erster Linie in Anlehnung an die parteiinterne Organisationsstruktur erfolgen, neben der, auch bei SPD und PvdA üblichen, Ableitung aus der parteieigenen Verfassung in Form der Parteisatzung. Die Labour Party besteht in ihrer Grundstruktur aus mehreren Institutionen, die in verschiedenen Zusammenhängen miteinander stehen und jeweils Einfluss auf Inhalte und Organisationsfragen ausüben. Die bedeutsamsten sind die Figur des Parteiführers, im Fall der Regierungsbeteiligung der Partei in Personalunion mit dem Premierminister, die Parliamentary Labour Party (PLP), mit anderen Worten die Parlamentsfraktion Labours, die so genannten Constituency Labour Parties (CLP), womit die Parteiorganisationen in den Wahlkreisen gemeint sind, die Gewerkschaften, und schließlich das National Executive Committee (NEC) als Vorstand der Labour Party.780 Die Relevanz der einzelnen Institutionen bei der Formulierung der Parteiprogrammatik ist in Theorie und Praxis nicht gleich zu bewerten, so dass es sinnvoll erscheint, zuerst die theoretische Kompetenzverteilung zu betrachten, um anschließend die Verteilung von Zuständigkeiten und Gestaltungsmacht in der Praxis zu untersuchen. Die 1918 verabschiedete, und bis Mitte der 1990er Jahre unter Tony Blair nahezu unverändert gebliebene Verfassung der Labour Party sah eine jährlich stattfindende Conference als eine Art Parteitag vor, auf dem in letzter Instanz über die offiziellen politischen Positionen der Labour Party abgestimmt werden musste. Wörtlich heißt es in der Party Constitution in der Fassung von 1972 unter Clause V zu den Aufgaben der Conference: „The Party Conference shall decide from time to time what specific proposals of legislative, financial or administrative reform shall be included in the Party Programme. No proposal shall be included in the Party Programme unless it has been adopted by the Party Conference by a majority of not less than two-thirds of the votes recorded
780 Vgl. Peele, Gillian. Oxford 2004. S. 290.
200
on a card vote.”781 Diese Festlegung wurde später lediglich um einen Satz ergänzt, der besagt, dass die Programmänderungsvorschläge der Conference auf Grundlage eines vom National Policy Forum (NPF) vorgelegten ‚Rolling Programme’ erfolgen sollen, welches zuvor wiederum von der Conference angenommen worden sein muss.782 Formal lag und liegt die Entscheidungsgewalt über die Programmatik der Partei demnach bei der Party Conference, wo auch das NEC gewählt und mit der Führung der Partei abseits der Conferences beauftragt wurde beziehungsweise wird. Das National Executive Committee wird dabei nach einem festgelegten Proporz mit Frauen, jungen Parteimitgliedern sowie Mitgliedern der lokalen Parteieinheiten, der Gewerkschaften, und anderer der Labour Party nahe stehender sozialistischer Organisationen besetzt.783 Die so erarbeitete Programmatik soll anschließend als Grundlage für die Erarbeitung der Wahlprogramme, der Election Manifestos, benutzt werden. Hierzu benennt die Party Constitution eine festgelegte Anzahl von Vertretern der verschiedenen Parteigliederungen, die unter Beteiligung des NEC als Gruppe die jeweiligen Wahlprogramme entwickeln und verabschieden sollen. In Regierungszeiten Labours sieht die Constitution hierbei eine andere Zusammensetzung dieser Kommission vor als in Oppositionszeiten, wobei in beiden Fällen dem NEC eine herausragende Rolle zukommt.784 Die bisher beschriebene theoretische Aufgabenverteilung bei der Erarbeitung der Programmatik Labours spiegelte sich jedoch nur zum Teil in der praktischen Programmarbeit wieder. Für den hier relevanten Untersuchungszeitraum ab 1987 kann sogar eine deutliche Diskrepanz zwischen der vor allem von der jeweiligen Parteiführung gewollten konkreten Entwicklung und Umsetzung neuer programmatischer Inhalte und der hierzu in der Constitution festgelegten Vorgehensweise konstatiert werden. So findet sich zwar auch noch im Labour Party Rule Book aus dem Jahr 2007 die eben vorgestellte Aufgabenverteilung, doch schon in Bezug auf die konstituierende Basis der Partei, die Conference, müssen Abstriche gemacht werden. „Conference had the final say on what was official party policy“785, so stellt Peele rückblickend fest, doch dies versehen mit 781 Labour Party: Party Constitution and Standing Orders – As Amended by the Annual Conference in Blackpool 1972. London 1972. S. 6. 782 Vgl. Labour Party: Labour Party Rule Book 2007. Clause V, 1. London 2006. S. 3. 783 Vgl. Webb, Paul: The British Labour Party. In: Ladrech, Robert/Marlière, Philippe (Ed.): Social Democratic Parties in the European Union. London 1999. S. 101; sowie zur exakten Aufschlüsselung der Sitzverteilung Labour Party: Labour Party Rule Book 2007. Clause VIII, 1. London 2006. S. 4. 784 Vgl. Labour Party: Labour Party Rule Book 2007. Clause V, 2-3. London 2006. S. 3. 785 Peele, Gillian. Oxford 2004. S. 291.
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der Einschränkung, dass sowohl die Conference als auch das NEC in Regierungszeiten Labours dem Premierminister und seinem Kabinett in politischinhaltlichen Fragen üblicherweise untergeordnet waren beziehungsweise sind.786 Obwohl der Party Conference, und somit auch dem NEC, die Kompetenz zur Formulierung von politischen Inhalten von der Constitution eindeutig zugesprochen wurde, kann in der Praxis seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre eine schleichende Erosion der tatsächlichen Machtposition der Parteibasis konstatiert werden. Die bedeutsamste Veränderung, mit nachhaltigen Auswirkungen für die praktische Programmarbeit, stellte die 1990 unter Neil Kinnock als Parteivorsitzendem erfolgte Einführung des National Policy Forums dar, das schließlich auch, wie oben schon gezeigt, als maßgebliches Organ im Programmerarbeitungs- und Implementierungsprozess Eingang in die Constitution fand. Hierdurch wurde die Rolle der Party Conference bei der Programmgenese entscheidend abgewertet, „(…) which leaders have been inclined to ignore anyway when drafting election manifestos“787, so die ergänzende Feststellung Paul Webbs. Im Jahr 2000 erschien mit ‚New Labour into Power’ eine Denkschrift, in der unter anderem das von Tony Blair in veränderter Form wieder aufgelegte Konzept des National Policy Forums von verschiedenen Autoren analysiert wurde.788 Die Idee des zweijährigen ‚Rolling Programme’ wurde hier weiterentwickelt und eine Ausdehnung des Prozesses der Policy Formulierung gefordert. Die Schaffung nationaler, regionaler und kommunaler Foren wurde angedacht, die in Zusammenarbeit mit einem Joint Policy Committee, verschiedenen Policy Commissions der Partei und der Party Conference die neuen Inhalte erarbeiten sollten, wodurch mehr innerparteiliche Demokratie bei der Programmarbeit erreicht werden sollte. Die Entwicklung dieser Ideen kann unter anderem als Reaktion auf Kritik der Parteilinken verstanden werden, die den schwindenden Einfluss der Gewerkschaften und der Party Conference sowie die zunehmende Mitsprache von Mitgliedern der Parteiführung und der Labour-Regierung bei der Formulierung der politischen Inhalte kritisiert hatten.789 Im Endeffekt dienten diese Maßnahmen aber dazu, den Prozess des Policy-Making ohne größere Beteiligung des NEC und der Conference durch die Führung in der Regierung unter Leitung Tony Blairs zu steuern. „Not at least, the NPF allowed the par786 787 788 789
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Vgl. ebenda. Webb, Paul. London 1999. S. 102. Vgl. Coates, David/Lawler, Peter Augustine (Ed.): New Labour into Power. Manchester 2000. Vgl. Assinder, Nick: UK Politics: Talking Politics. Labour’s National Policy Forum. In: BBC News Online. 05.06.1998. www.news.bbc.co.uk/2/hi/world_cup_98/results_and_reports/107292.stm.
liamentary party and the leadership to set the agenda rather than forcing them to respond to conference and NEC motions”790, so das nachvollziehbare Urteil Gillian Peeles. Grundsätzlich kann sowohl von Neil Kinnock als auch von John Smith und im Anschluss von Tony Blair gesagt werden, dass alle drei Parteiführer versucht haben, den Einfluss der Conference und des NEC im Programmerarbeitungsprozess zu schmälern, um die politisch-inhaltlichen Gestaltungsmöglichkeiten für sich zu vergrößern. Schon direkt nach Tony Blairs Übernahme des Parteivorsitzes 1994 wurden Änderungen am politischen Programm nur noch oberflächlich oder gar nicht mehr auf den Parteitagen diskutiert, bevor sie von Blair und seinem Umfeld öffentlich verkündet wurden.791 „(…) Policy change was driven forward by Blair and his closest colleagues with only regular and ineffectual spasms of Old Labour discontent”792, so Colin Leys 1997 über den Policy-Making-Process der Labour Party. Besonders während Blairs anschließender Regierungszeit wurde so die Weiterentwicklung der Programmatik Labours maßgeblich vom Premierminister und seinem Führungszirkel in Kabinett und Parlament bestimmt.793 Nachdem die Form der Programmdebatte innerhalb der Labour Party in einem knappen Überblick dargestellt worden ist, sollen ein paar Worte zu den für die Analyse herangezogenen Programmformaten gesagt werden. Wie schon bei der Betrachtung der SPD wird die inhaltliche Entwicklung der Grundsatzprogrammatik nachgezeichnet. Im Fall der Labour Party ist jedoch festzuhalten, dass zwar in Form der Clause IV der Party Constitution ein Text zu den ‚Aims and Values’, also den Grundwerten der Partei existiert, es aber darüber hinaus keine Programmatik gibt, die grundsätzliche politische Inhalte und Vorstellungen für die ganze Partei losgelöst von Wahlen und Regierungshandeln definiert, wie es beispielsweise bei der SPD mit ihrem Grundsatzprogramm der Fall ist. Die Programmatik der Labour Party stützt sich vielmehr auf die immer wieder erfolgenden Veröffentlichungen der unterschiedlichen Policy Commissions und Foren, auf Beiträge der Parteiführung, das ‚Rolling Programm’, welches unter Federführung des NEC erarbeitet wird, und nicht zuletzt auf die jeweils neu aufgelegten Election Manifestos. Demnach gilt es, diesen Mix an programmati-
790 Peele, Gillian. Oxford 2004. S. 297. 791 Leys, Colin: The British Labour Party since 1989. In: Sassoon, Donald (Ed.): Looking Left: European socialism after the Cold War. London 1997. S. 20. 792 ebenda. S. 21. 793 Vgl. Peele, Gillian. S. 294 und 297; sowie Jun, Uwe. Frankfurt 2004. S. 233-236.
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schen Aussagen zu bündeln und zu gewichten, um grundsätzliche Programmaussagen Labours herauszufiltern. Die Tatsache, dass die Labour Party eine Politik verfolgt, die, sieht man von der Clause IV der Constitution ab, ohne die Möglichkeit des Rückgriffs auf festgeschriebene Grundsatzprogrammatik entwickelt wird, ist ein klares Alleinstellungsmerkmal. Im Vergleich mit anderen sozialdemokratischen Parteien in Europa ist dieser ‚doctrineless approach’ einmalig.794 Diesbezüglich sprach der Politologe Henry Drucker beim Thema der Clause IV schon 1979 davon, dass die darin formulierten Grundwerte eher die Bedeutung einer Glaubensüberzeugung für die Labour Party hätten, als dass sie eine effektive Anleitung für die konkrete Gestaltung von Politik darstellen würden.795 „The Labour Party is a party of values, but often not of ideas“796, so drücken es Hickson, Beech und Plantin ihrem Sammelband zur ‚Seele’ der Labour Party aus. Ein nicht eindeutig zu bestimmendes Ethos sowie der Wille zur Macht wären für die Labour Party häufig entscheidender gewesen als eine festgeschriebene Doktrin.797 „The dominant ideological strand in Labour’s history has been one of pragmatism. This does not mean that the Labour Party is unprincipled, (…) but it does mean that these principles are themselves derived from practical experience rather than theory. In fact Labour’s ideological identity is fundamentally based on its practical politics, its actions“798, so beurteilt Gerald Taylor die ideologische Entwicklung Labours. Vor diesem Hintergrund müssen die in den oben aufgezählten Dokumenten veröffentlichten Policies als Basis für einen Vergleich mit den Grundsatzprogrammen der beiden anderen sozialdemokratischen Parteien herangezogen werden, da die Labour Party ihre politischen Inhalte eben nicht aus grundsätzlichen Theorien, sondern vielmehr aus ihrem politischen Handeln ableitet. Die Betrachtung der Programmdebatte beginnt direkt im Anschluss an die Wahlniederlage Labours im Jahr 1987. Sowohl der Generalsekretär der Gewerkschaft der Angestellten im öffentlichen Dienst, Tom Sawyer, prominentes 794 Vgl. Padgett, Stephen/Paterson, William E. (Ed.): A History of Social Democracy in Postwar Europe. London 1991. S. 15. 795 Vgl. Drucker, Henry M.: Doctrine and Ethos in the Labour Party. London 1979. S. 38. 796 Hickson, Kevin/Beech, Matt/Plant, Raymond: Introduction. In: Plant, Raymond/Beech, Matt/Hickson, Kevin (Ed.): The Struggle for Labour’s Soul. Understanding Labour’s political thought since 1945. London 2004. S. 1. 797 Vgl. ebenda. 798 Taylor, Gerald R.: Labour’s Renewal? The Policy Review and Beyond. London 1997. S. 7-8.
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Mitglied im NEC, als auch der damalige Labour-Vorsitzende Neil Kinnock forderten als Konsequenz aus der verlorenen Wahl im Sommer 1987 eine grundsätzliche Überarbeitung der ‚themes and issues’, dass heißt der wesentlichen Policies Labours.799 Im selben Jahr veröffentlichte der damalige stellvertretende Vorsitzende der Labour Party, Roy Hattersley, sein Buch mit dem Titel ‚Choose Freedom’, in dem er nachdrücklich die Bedeutung der ideologischen Fundierung zukünftiger Labour Politik betont. „For too long the mainstream of the Labour Party believed that it was possible to combat bad ideas by opposing ideas in general“, so stellt Hattersley fest, „(…) but pragmatism is no longer enough. The old coalition of objectives, which shared aims without worrying about motives, has disappeared.”800 Hattersley sprach sich demnach ebenfalls für die Erarbeitung beziehungsweise Neuauflage eines ideologischprogrammatischen Kanons aus. Schließlich wurde im Herbst 1987 auf der jährlichen Conference die Aufnahme einer Party’s Policy Review offiziell beschlossen, die genau diese inhaltliche Neuorientierung leisten sollte.801 Es wurden sieben Policy Review Groups802 (PRGs) gebildet, die zusammengenommen alle politischen Themenbereiche abdecken sollten. Die Gruppen hatte zwischen sieben und neun Mitglieder und wurden jeweils von zwei Vorsitzenden geleitet, von denen einer Mitglied des NEC und der andere Mitglied des in Oppositionszeiten immer existenten ‚Schatten-Kabinetts’ war.803 Die genaue Aufgabenstellung für die PRGs fasste der damalige Labour-Generalsekretär Larry Whitty folgendermaßen zusammen: „The Review groups would asses the policy issues and opportunities in the 1990s; make an assesment of the relevance and credibility of existing party policy matched against the need and concerns of groups and voters; and recommend broad themes of political strategy as well as policy areas in which
799 Vgl. Smith, Martin J.: The Labour Party in Opposition. In: Smith, Martin/Spears, Joanna (Ed.): The Changing Labour Party. London 1992. S. 11. 800 Hattersley, Roy: Choose Freedom. The Future of Democratic Socialism. London 1987. S. 19 und 14. 801 Vgl. Labour Party: Report of the eighty-sixth annual conference of the Labour Party 1987. London 1987. Composite 53. S. 151. 802 Die Gruppen im Einzelnen: A Productive and Competitive Economy, People at Work, Economic Equality, Consumers and the Community, Democracy for the Individual and the Community, Physical and Social Environment, Britain in the World. Vgl. Labour Party: Social Justice and Economic Efficiency. First Report of Labour’s Policy Review for the 1990’s. London 1988. 803 Vgl. Shaw, Eric: Towards Renewal? The British Labour Party Party’s Policy Review. In: Gillespie, Richard/Paterson, William E. (Ed.): Rethinking Social Democracy in Western Europe. London 1993. S. 112-113.
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more detailed examination is required.“804 Diese sehr weit greifende Beschreibung der Aufgaben und Ziele der Policy Review verdeutlicht den umfassenden Anspruch, der hinter der Programmarbeit stand. Die Arbeitsergebnisse der 7 Review Groups wurden zwischen 1988 und 1991 in vier Berichten gebündelt und Partei und Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der Erste Bericht mit dem Titel ‚Social Justice and Economic Efficiency’ wurde auf der Conference von 1988 veröffentlicht. Er benannte erste Grundwerte und Ziele sowie die relevantesten Politikfelder. Auf der Conference im Jahr darauf wurde der zweite Bericht unter dem Titel ‚Meet the Challenge, Make the Change’ publiziert. Mit Hilfe dieses Textes sollten Details der zukünftigen Programmatiken genannt werden und somit substantielle Inhalte vorgelegt werden. Der auf der 1990er Conference mit ‚Looking to the Future’ betitelte Bericht sollte zusammen mit dem im darauf folgenden Jahr publizierten Bericht ‚Opportunity Britain’ die noch ausstehenden Policy Issues einbinden, um anschließend die Formulierung eines neuen Programms einzuleiten.805 Alle Berichte wurden von der Conference mit überwältigender Mehrheit unterstützt und somit als inhaltliche Grundlage akzeptiert.806 Die Ergebnisse der Policy Review waren dementsprechend auch Grundlage für das Wahlprogamm mit dem Titel ‚It’s time to get Britain working again’, mit dem Labour bei der Wahl 1992 antrat.807 Doch als auch diese Wahl verloren ging, und Neil Kinnock vom Vorsitz der Labour Party zurücktrat, verstärkten sich unter der Führung seines Nachfolgers John Smith erneut die inhaltlichen und an der Reform der Partei orientierten Debatten.808 Smith selbst wollte gemäß seiner persönlichen Überzeugungen die Labour Party von einer Partei des traditionellen Staatssozialismus zu einer Partei sozialdemokratischen Zuschnitts, wie sie in anderen europäischen Ländern zu finden waren, umgestalten, womit er auf einer Linie mit den Vorstellungen der Policy Review lag.809 Besonders relevant für die weitere Programmarbeit war das 1993 gegründete National Policy Forum, dessen Schaffung von der 1992er Conference 804 Zitiert in Hughes, Colin/Wintour, Patrick: Labour Rebuilt. The New Model Party. London 1990. S. 46. 805 Vgl. Shaw, Eric: The Labour Party since 1979. Crisis and Transformation. London 1994. S. 85. 806 Vgl. Shaw, Eric. London 1993. S. 115. 807 Vgl. Labour Party: It’s time to get Britain working again. Labour Party Election Manifesto 1992. London 1992. 808 Vgl. Shaw, Eric: The Labour Party since 1945. Old Labour – New Labour. London 1996. S. 196-197. 809 Vgl. Jones, Tudor: Remaking the Labour Party. From Gaitskell to Blair. London 1998. S. 132.
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beschlossen worden war. Mit Hilfe des Forums sollte die Programmdebatte aufs Neue kanalisiert und eine breite Beteiligung am Erarbeitungsprozess der neuen Policies organisiert beziehungsweise sichergestellt werden.810 Für das Forum wurde ein so genanntes Joint Policy Committee als Steuerungsgruppe eingerichtet, das zu gleichen Teilen aus dem NEC, dem Schattenkabinett, Vertretern der lokalen Parteieinheiten und der Europa-Fraktion Labours besetzt wurde.811 Die nächste große inhaltliche Änderung in der Programmatik Labours stellte die maßgeblich von Tony Blair forcierte Änderung der Clause IV der Party Constitution dar. Schon unter John Smith als Parteivorsitzendem war 1993 eine Debatte über die umstrittene Clause IV der Constitution in der Fassung von 1918 entstanden.812 Prominenter Kritiker der alten Fassung und Verfechter einer Neuformulierung der ‚Aims und Objects’ der Partei war neben anderen der damalige Schatten-Umweltminister Jack Straw. In einem Papier mit dem Titel ‚Policy and Ideology’ plädierte er für eine komplette Revision der Clause IV. Es sei ein Missverhältnis zwischen der geschriebenen Ideologie und der tatsächlichen Politik Labours zu erkennen, so Straw, daher seine Forderung, „(that) there should be a recasting of the Party’s objects in order to ensure that they relate directly to the circumstances, the challenges and the realities of the life in the 20th and early 21st century.“813 Die bisherige Clause IV würde den Herausforderungen, denen sich eine zeitgemäße Labour-Politik stellen müsste, nicht mehr gerecht, so Straws Fazit.814 Ebenfalls 1993 meldete sich mit dem Archer Committee Report der Fabian Society ein sozialdemokratischer Think Tank zu Wort. Der Report lieferte einen konzeptionellen Text für eine neue Constitution, in dem unter anderem vorgeschlagen wurde, die alte Clause IV durch ein neues Statement zu den Aims und Objects der Labour Party in Form einer neuen Clause II zu ersetzen.815 Zu Beginn des Jahres 1994 steuerte auch der ehemalige Labour-Vorsitzende Neil Kinnock in einem Fernsehinterview einen Kommentar zur Debatte bei, indem er erklärte, dass er nicht länger glaube, „(…) that Clause IV is an adequate definition of modern democratic socialism.“816
810 Vgl. Taylor, Gerald R.. London 1997. S. 64-65. 811 Vgl. Labour Party: Report of the National Policy Forum. London, 8-9the May 1993. London 1993. S. 8. 812 Zum genauen Wortlaut der Clause IV der Party Constitution in der Fassung von 1918 siehe Labour Party: Labour’s objects: Socialist values in a modern world. London 1994. S. 4. 813 Straw, Jack: Policy and Ideology. Blackburn Labour Party. Blackburn 1993. S. 2. 814 Vgl. ebenda. S. 4. 815 Vgl. Archer Committee, The: A New Constitution for the Labour Party. London 1993. S. 5. 816 Kinnock, Neil: Tomorrow’s Socialism. BBC 2 Television. 5 February 1994.
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Nach dem überraschenden Tod John Smiths im Mai 1994 nahm die Geschwindigkeit der Modernisierung der Programmatik Labours unter dem im Juli 1994 zu seinem Nachfolger gewählten Tony Blair deutlich zu. Blair hatte schon unter Kinnock zum Lager der parteininternen Modernisierer gehört und den Prozess der Revision der politischen Inhalte als teilweise zu langsam kritisiert.817 Jetzt konnte er als Parteiführer selber das Tempo bestimmen. So hielt er schon in seiner ersten Rede auf der Party Conference 1994 als Labour-Vorsitzender ein Plädoyer für eine Revision der Clause IV, wobei er sie nicht direkt erwähnte, sondern von der Notwendigkeit einer moderneren Verfassung für die Labour Party sprach.818 Sein Ziel sei es, „(to create) a clear up-to-date statement of the objects and objectives of our Party.”819 Obwohl es auf dem Parteitag teils heftigen Widerstand gegen Blairs Projekt der Revision der Clause IV gab, wurde festgelegt, dass im März 1995 eine erste ausformulierte Fassung der neuen Clause vom NEC verabschiedet werden sollte, so dass es direkt im Anschluss daran im April auf einer Special Conference zur endgültigen Abstimmung über die neue Version kommen könnte.820 Noch 1994 wurde von der Labour Party ein Dokument veröffentlicht, welches die Gründe für die Revision der alten Clause IV erläuterte und als Anregung zur Diskussion in den Parteizirkeln dienen sollte. In dem ‚Labour’s objects: Socialist values in the modern world’ genannten Dokument war darüber hinaus ein Fragebogen enthalten, mit dessen Hilfe sich die Parteibasis in den Diskussionsprozess mit einbringen sollte. Zusätzlich erschien eine Sonderausgabe des Parteimagazins Labour Party News, in der ebenfalls die Hauptargumente von ‚Labour’s objects’, sowie der Fragebogen enthalten waren. Außerdem beinhaltete das Magazin eine bestimmte Anzahl von Kommentaren führender LabourProtagonisten, die weiter gehende Anregungen für die Debatte bieten sollten.821 Die auf diese Art und Weise gesammelten Diskussionsbeiträge und – resultate wurden am 13. März 1995 vom NEC auf seiner monatlichen Sitzung ausgewertet und analysiert, um sie anschließend in einem ‚Labour’s Aims and Values: The Consultation Report’ betitelten Papier zusammen mit der Analyse des NEC, zu veröffentlichen.822 Im Rahmen derselben Sitzung wurde die neue, 817 Vgl. Rentoul, John: Tony Blair. Socialism and the Rise of New Labour. London 1995. S. 346347. 818 Vgl. Jones, Tudor. London 1996. S. 139. 819 Labour Party: Report of Conference. London 1994. S. 105. 820 Vgl. Taylor, Gerald R.. London 1997. S. 179. 821 Vgl. ebenda. 822 Vgl. ebenda. S. 181.
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in erster Linie von Tony Blair formulierte Clause IV vom NEC nach Vorlage durch den Parteivorsitzenden mit geringfügigen Änderungen akzeptiert.823 Auf der einen Monat später im April stattfindenden Special Conference wurde die neue Clause IV schließlich mit großer Mehrheit angenommen, womit ein entscheidender Grundstein für das von Blair angestrebte Projekt einer grundsätzlichen Erneuerung der Partei hin zu ‚New Labour’ gelegt war.824 Gleichzeitig fand im Rahmen des National Policy Forums die weitere Programmdebatte statt, wobei so genannte Consultation Documents als Berichte der verschiedenen Policy Commissions herausgegeben wurden. Zusätzlich erschienen in der Vorbereitung des Wahlprogramms für die Wahl 1997 unter der Rubrik ‚Road to the Manifesto’ mehrere Texte zu unterschiedlichen Themen, deren Aussagen schließlich im ‚New Labour – Because Britain deserves better’ betitelten Wahlprogramm gebündelt wurden.825 Dieses Wahlprogramm kann als Manifestation des Wandels von ‚Old’ zu ‚New Labour’ gesehen werden. Hier präsentierte sich New Labour als moderne und grundsätzlich reformierte Partei, die ihre politischen Inhalte und Ziele überarbeitet hat.826 „In each area of policy a new and distinctive approach has been mapped out, one that differs from the old left and the Conservative right. This is why new Labour is new”827, so die Feststellung von Tony Blair im Vorwort des Wahlprogramms. Im Nachgang der gewonnen Wahl von 1997 wurde anschließend auf der jährlichen Conference unter dem Stichwort ‚Partnership in Power’ eine Neuauflage des National Policy Forums (NPF) beschlossen, wobei erneut ein Joint Policy Committee (JPC) als Steuerungsgruppe geschaffen wurde und mehrere Policy Commissions zur konkreten inhaltlichen Arbeit eingesetzt wurden. Das auf diese Weise erarbeitete ‚Rolling Programme’ sollte in zwei sich überschneidenden Tranchen von jeweils zwei Jahren im Jahr 2000 eine einheitliche programmatische Grundlage für die Labour Party bieten.828 Den nächsten Schritt in der Entwicklung der Labour-Programmtik stellte das mit ‚Ambitions for Britain’ betitelte Wahlprogramm aus dem Jahr 2001 dar.829 Hier wurden sowohl die Ideen und Policy-Konzepte aus den ver823 Vgl. Shaw, Eric. London 1996. S. 199; sowie Jones, Tudor. London 1996. S. 143. 824 Vgl. Taylor, Gerald R.. London 1997. S. 185; sowie Shaw, Eric. London 1996. S. 200. 825 Vgl. Labour Party: New Labour – Because Britain deserves better. Labour Party Election Manifesto 1997. London 1997. 826 Vgl. Beech, Matt: The Political Philosophy of New Labour. London 2006. S. 116. 827 Labour Party: New Labour – Because Britain deserves better. London 1997. S. 1. 828 Vgl. Labour Party: National Policy Forum 1998. Report to Conference. London 1998. S. 5-6. 829 Vgl. Labour Party: Ambitions for Britain. Labour Party Election Manifesto 2001. London 2001.
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schiedenen Arbeitsgruppen des NPF, als auch die Erfahrungen aus der ersten Regierungslegislatur Tony Blairs eingearbeitet.830 Im Frühjahr 2002, nach erfolgter Wiederwahl der Labour Regierung, wurde die Programmdebatte im Rahmen des NPF erneut fortgesetzt. Der Zyklus der ‚Partnership in Power’ produzierte eine Vielzahl von Papieren und Berichten, über die jeweils, gebündelt durch das JPC, auf den jährlichen Conferences diskutiert und abgestimmt wurde.831 Schließlich wurden die auf diese Art und Weise erarbeiteten und gesammelten Inhalte erneut Grundlage für ein Wahlprogramm, namentlich für das 2005er Programm mit dem Titel ‚Britain forward, not back’.832
3.3.
Probleme und Spannungsfelder – Herausforderungen für die britische Sozialdemokratie seit der Wahlniederlage von 1987
In den folgenden Kapiteln werden nun die konkreten Herausforderungen für die Labour Party näher beleuchtet. Darüber hinaus wird eine Analyse der programmatischen Antworten der britischen Sozialdemokraten hierauf geliefert. Wie zuvor schon erläutert, ist dabei die Wahlniederlage aus dem Jahr 1987 der Ausgangspunkt der Untersuchungen, wohingegen als Schlusspunkt die erfolgreiche Wiederwahl der Labour Party im Jahr 2005 dient, welche darüber hinaus mit dem Wechsel im Parteivorsitz von Tony Blair zu Gordon Brown einherging. Die wichtigsten zeitlichen Eckpunkte für die folgende Analyse der Programmatik sind hierbei gemäß der jeweils eingehaltenen chronologischen Reihenfolge die Periode der Policy Review von 1987 bis 1991, das Wahlprogramm Labours aus dem Jahr 1992, die in den Jahren 1993 bis 1995 stattfindende Debatte über die Revision der Clause IV der Party Constitution, sowie hiernach die Programmdebatten im Vorfeld des 1997er, des 2001er und des 2005er Wahlprogramms. Die textliche Grundlage der Untersuchungen bilden eine Vielzahl von programmatischen Publikationen der Labour Party, seien es Arbeitsgruppenberichte, Parteitagsdokumente, Veröffentlichungen einzelner Labour-Politiker, oder, und dies eine im vorangegangenen Kapitel schon erwähnte Besonderheit bei der grundsätzlichen Programmanalyse der britischen Sozialdemokratie, Wahlprogramme. 830 Vgl. Beech, Matt. London 2006. S. 122-123. 831 Vgl. Labour Party: National Policy Forum Report 2005. Working for Britain. London 2005. S. 1. 832 Vgl. Labour Party: Britain forward, not back. Labour Party Election Manifesto 2005. London 2005.
210
3.3.1.
Globalisierung der Wirtschaft – nationalstaatlicher Keynesianismus in der Krise
Die wirtschaftliche Globalisierung seit den 1970er Jahren hatte, wie am Beispiel der SPD schon gezeigt, nachhaltige Auswirkungen auf die Entwicklung sozialdemokratischer Politiken. Besonders die bis dahin erfolgreiche Wirtschaftssteuerung à la Keynes zeigte immer deutlichere Schwächen, was vielerorts dazu führte, dass die wirtschaftspolitische Kompetenz der Sozialdemokratie in Frage gestellt wurde. Auch in Großbritannien hatte sich bei einer Mehrzahl der Labour Party-Mitglieder in den 1980er und noch stärker in den 1990er Jahren die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Globalisierung signifikanten Einfluss auf die Formulierung und Implementierung von Wirtschafts- und Finanzpolitik ausübt.833 Die Konsequenz für das sozialdemokratische Kernanliegen erschien offensichtlich: „Globalization may not have obliterated the space for social reform, (but) (…) it has definitely squeezed it.“834 Darüber hinaus hatte die erneute Wahlniederlage im Jahr 1987 der Labour Party vor Augen geführt, dass, neben anderem, auch der vom Keynesianismus geprägte wirtschaftspolitische Ansatz der Revision bedürfe. „Keynesian social democracy, and social democracy more generally, seemed to have lost its ‘modus vivendi’”835, so das zutreffende Urteil des Wirtschaftshistorikers Noel Thompson über die Ausgangslage in den 1980er Jahren. Thompson bündelt die Einschätzungen mehrerer Kommentatoren, wenn er feststellt, dass politische Konzepte, welche die in erster Linie sozialdemokratischen Grundsätze Gleichheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit zur ideologischen Basis erklärten, in Zeiten der Globalisierung als Gefährdung für Wachstum, Effizienz, Profitabilität und somit für die gesamte nationale Ökonomie angesehen würden.836 Die Einschätzung der Folgen gehe klar in eine Richtung, so die Zusammenfassung Thompsons: „Such ideals were, therefore, simply not affordable in the context of intensifying global competition. They added to costs, they limited entrepreneurial freedom for manoeuvre, they jeopardized labour flexibilty and they engendered economic uncertainty.“837 John Gray bringt den auch für die Labour Party kritischen Zusammenhang zwischen Globalisierung und sozialdemokratischer 833 Vgl. Coates, David: Capitalist Models and social democracy: the case of New Labour. In: British Journal of Politics and International Relations. Vol. 3 2001. S. 303. 834 ebenda. 835 Thompson, Noel: Political Economy and the Labour Party. The economics of democratic socialism, 1884-2005. London 2006. S. 252. 836 Vgl. ebenda. 837 ebenda.
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Politik auf den Punkt: „Economic globalization removes or weakens the policy levers whereby social democratic governments sought to bring about social solidarity and egalitarian distribution.“838 Die Führung der Labour Party um Neil Kinnock sah sich dementsprechend 1987 veranlasst, eine grundsätzliche Revision der politischen Inhalte durchzuführen, bei der an prominenter Stelle auch Fragen der zukünftigen Wirtschaftspolitik diskutiert werden sollten. Schon in der ersten der vier offiziellen, die Ergebnisse zusammenfassenden Publikationen der Policy Review mit dem Titel ‚Social Justice and Economic Efficiency’ werden die Herausforderungen im Wirtschafts- und Finanzpolitischen Bereich im Bericht der zuständigen Arbeitsgruppe klar benannt. „The freedom of action of national governments is seriously constrained by international trading arrangements, competitive pressures, the huge flows of capital across frontiers, and the decisions of multi-national firms”839, so die Aufzählung der Probleme durch die Arbeitsgruppe, die sich mit den in Kapitel III. 1.1.1. konstatierten grundsätzlichen Herausforderungen decken. In Zukunft werde der innereuropäische sowie der internationale Wettbewerb immer schärfer werden, was Großbritannien vor große Probleme stellen würde, da es in den 1980er Jahren kein ausbalanciertes ökonomisches Wachstum gegeben habe, das die menschlichen Potentiale des Landes mobilisiert und neue technologische Entwicklungen forciert habe. Es sei in der Wirtschafts- und Industriepolitik lediglich kurzfristig geplant worden, wodurch die britische Wirtschaft den Herausforderungen des technischen Fortschritts und der globalen Vernetzung der Märkte kaum noch gewachsen sei. Der Bericht propagiert als Antwort auf diese Probleme die Entwicklung eines mittel- und langfristigen politischen Konzeptes für Industrie- und Wirtschaft. Makro- und mikro-ökonomische Ansätze müssten auf neue Art und Weise miteinander verknüpft werden.840 „As other countries do, Britain must consciously adopt a medium- and long-term framework for economic development, one that recognises that the market moves between trends and therefore is incapable of formulating the strategic approach vital to overall success.”841 Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist, dass der Bericht die Idee der Clause IV der Party Constitution aufgreift und davon spricht, dass unter bestimmten 838 Gray, John: After social democracy: politics, capitalism and the common life. London 2006. S. 32. 839 Labour Party: Social Justice and Economic Efficiency. First Report of Labour’s Policy Review for the 1990’s. London 1988. S. 6. 840 Vgl. ebenda. S. 3. 841 ebenda. S. 4.
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Umständen auch die verstärkte Schaffung von öffentlichen Eigentum zur Wahrung der Interessen der Konsumenten und der Wirtschaft als Ganzes notwendig sein könne.842 Auch wenn diese Idee vorsichtig formuliert ist, so findet sich noch keine explizite Abkehr von den sozialistischen Vorstellungen der Clause IV in der Fassung von 1918. In Bezug auf den innereuropäischen Wettbewerb gibt sich der Bericht kritisch, da eine zu freizügige Öffnung der Märkte nach Meinung der Autoren der britischen Wirtschaft mehr schaden als nutzen würde. Auch wenn die Hälfte des britischen Außenhandels mit anderen europäischen Mitgliedstaaten getätigt werde, so ist aus Sicht der Arbeitsgruppe ein Europa ohne interne Handelsgrenzen (noch) nicht wünschenswert. Europaskepsis ist evident, wenn es heißt: „We must be clear, that the Community cannot be allowed to deter Britain from doing what is required to regenerate our economy.“843 Das grundlegende Motiv der Policy Review, wie es an Hand der weiteren Berichte noch näher dargestellt werden wird, fasst Thompson zusammen als „(…) the need for a social-democratic, supply-side political economy that offered the prospect of a transformation of economic performance; (and) that recognized the imperatives that emanated from international and domestic capital (…).”844 Diese Politik müsse darüber hinaus die Flexibilität und Qualität der dann sicherer und effizienter eingesetzten Instrumente in einem zunehmend competitiven, internationalisierten Markt garantieren.845 Die zweite, ausführlichere Publikation der Review, in welcher erneut die verschiedenen Berichte der Arbeitsgruppen vorgelegt wurden, greift die grundsätzlichen Aussagen der ersten Veröffentlichung auf, und geht noch einmal verstärkt ins Detail. Die größten Herausforderungen für die britische Wirtschaft werden nach wie vor im starken Wandel der ökonomischen Geographie, konkret durch die Entstehung neuer Märkte im Osten, die Schaffung eines einheitlichen europäischen Binnenmarkts sowie in der technologischen Revolution gesehen.846 Dies führe zu schwerwiegenden wirtschaftlichen Veränderungen, für die Großbritannien nach langen Jahren sich selbst überlassener Marktwirtschaft als Folge der Politik der Thatcher-Regierung nicht hinreichend gewappnet sei. In seinem Vorwort zu ‚Meet the challenge, Make the change’ spricht sich der Parteivorsit842 843 844 845 846
Vgl. ebenda. S. 5. ebenda. S. 6. Thompson, Noel. London 2006. S. 256. Vgl. ebenda. Vgl. Labour Party: Meet the challenge, Make the change. A new Agenda for Britain. Final report of Labour’s Policy Review for the 1990’s. London 1989. S. 5 und 9.
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zende Neil Kinnock dementsprechend für einen angebotsorientierten Sozialismus aus, womit gemeint ist, dass britische Unternehmen in einer offenen und interdependenten Weltwirtschaft bei Bedarf mit staatlicher Unterstützung wettbewerbsfähig gemacht werden sollen. „(…) The economic role of modern government is to help make the market system work properly where it can, will and should – and to replace or strengthen it where it can’t, won’t or shouldn’t”847, so die Vorstellung Kinnocks , wie solch ein ‚supply-side socialism’ aussehen sollte. Der Bericht der Arbeitsgruppe zur ‚Productive and Competitive Economy’ nennt daran anschließend direkt zu Beginn als vorrangiges Ziel einer neuen Wirtschaftspolitik, dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit Großbritanniens gesteigert werden müsse.848 Jedoch könne der freie Markt dies aus eigener Kraft nicht gewährleisten: „The case for a socialist economic policy has always been that the free market, although possessing great strenghts which must be utilised, is ultimately incapable of building unaided a strong and modern economy”849, so die grundsätzliche Feststellung der Arbeitsgruppe. Demnach müssten in Zukunft verstärkt wirtschaftspolitische Maßnahmen von der Regierung ergriffen werden, um die Wettbewerbsfähigkeit der britischen Ökonomie zu verbessern. Die bisherige Politik der Konservativen sei stets zu kurzfristig geplant und zu sehr auf die Finanzwirtschaft fokussiert gewesen, als dass ein nachhaltig stimulierender Impuls für die britische Wirtschaft zu verzeichnen gewesen wäre.850 Es sei notwendig, dass die Politik eine ‘medium term industrial strategy’ implementiere, die den Fokus auf die Unterstützung der britischen Industrie und nicht, wie in den Jahren zuvor unter Thatcher, auf die Förderung der Finanzwirtschaft gerichtet habe. Bestandteil dieser Strategie müsse sein, dass die Langzeitfinanzierungen für die Industrie gewährleistet würden, und dass sich die so genannten ‚major utilities’ in Gestalt der Gas-, Wasser-, und Elektrizitätsversorger sowie des öffentlichen Nahverkehres in öffentlicher Hand befänden.851 Trotz dieser protektionistisch und staatsinterventionistisch anmutenden Programmatik war der Mehrheit der eher rechten Führung der Labour Party um Neil Kinnock und John Smith klar, dass in einer zunehmend vernetzten Weltwirtschaft mit ihren freien Kapitalflüssen, deregulierten Währungen und libera847 848 849 850
ebenda. S. 6. Vgl. ebenda. S. 9. ebenda. S. 10. Vgl. Gamble, Andrew: The Labour Party and economic management. In: Smith, Martin/Spears, Joanna (Ed.): The Changing Labour Party. London 1992. S. 68-69. 851 Vgl. Labour Party: Meet the challenge, Make the change. London 1989. S. 13 und 15.
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lisierten Handelsabkommen keine am Nationalstaat orientierte keynesianische Wirtschaftspolitik mehr betrieben werden konnte. Der in ‚Meet the challenge, Make the change’ präsentierte wirtschafts- und finanzpolitische Ansatz stellte dann auch, trotz der Weiterentwicklung der Idee des ‚supply-side socialisms’, eine erste Abkehr vom bisherigen sozialdemokratischen Keynesianismus dar.852 Andrew Gamble konstatiert in Bezug auf diesen Wandel durch die Policy Review nachvollziehbar: „The nature of the economic problem as Labour perceives it has been substantially transformed.“853 Exemplarisch für die Ende der 80er Jahre in weiten Teilen der Labour Party vorherrschende Beurteilung der Ausgangslage für sozialdemokratische Wirtschafts- und Finanzpolitik sind die Aussagen von Bryan Gould und Roy Hattersley, beide zur Zeit der Policy Review Mitglieder des Schatten-Kabinetts von Neil Kinnock. In ihren 1987 beziehungsweise 1989 erschienenen Publikationen erarbeiteten beide Autoren ihre jeweilige Vorstellung eines zeitgemäßen Sozialismus, wobei der Markt pragmatisch betrachtet wurde. Hattersleys Ideen von 1987 entsprachen deutlich vielen der später formulierten Vorstellungen der Policy Review. So bezeichnete er den freien Markt zwar als wichtigen und notwendigen Bestandteil eines zukünftigen wirtschaftspolitischen Konzeptes Labours, zeigte aber auch deutlich dessen Defizite auf, woraus er einen nachhaltigen staatlichen Handlungsbedarf ableitete.854 Bryan Gould beschäftigte sich in seinem mit ‚A Future for Socialism’ betitelten Buch ebenfalls mit dem Wandel der Grundlagen sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik, und versuchte, eine politische Neuorientierung für die Labour Party aufzuzeigen, in dem er unter anderem eine Neubewertung des Verhältnisses von Markt und Staat vornahm. Auch Gould sprach von der Notwendigkeit, staatliches Handeln in post-keynesianischen Zeiten neu zu definieren, wobei er für eine Nutzung der Vorteile des freien Marktes bei gleichzeitiger staatlicher Abfederung der dem Markt innewohnenden Defizite eintrat.855 Er plädierte demnach für eine erweiterte Nutzung der Marktkräfte durch eine sozialistische Wirtschafts- und Finanzpolitik als wichtigen Bestandteil zukünftiger Labour Programmatik.856 Die von der Parteiführung initiierte Policy Review kann in diesem Zusammenhang als optimaler Rahmen betrachtet werden, um derartige Vorstellungen in offizielle Labour Politik einfließen zu lassen. 852 853 854 855 856
Vgl. Shaw, Eric. London 1996. S. 185; sowie Gamble, Andrew. London 1992. S. 73. Gamble, Andrew. London 1992. S. 74. Vgl. Hattersley, Roy. London 1987. S. 170-171. Vgl.Gould, Bryan: A Future for Socialism. London 1989. S. 111-112. Vgl. ebenda. S. 185.
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Das 1990 erschienene dritte der vier Policy Review Dokumente mit dem Titel ‚Looking to the Future’ sollte anschließend den weiteren Wandel aufarbeiten und eine verstärkte Fokussierung auf die Kernprobleme liefern. Zu diesem Zweck wurden die Arbeitsergebnisse der sieben Review Groups in fünf thematisch strukturierten Kapiteln gebündelt.857 Die dort konstatierten Herausforderungen für den ökonomischen Bereich sind nahezu identisch mit den bereits Genannten in den vorangegangen Texten der Policy Review. Im ersten Kapitel wurden dementsprechend unter der Überschrift ‚Creating a dynamic economy’ im Wesentlichen die Gedanken der zweiten Arbeitsphase der Review fortgeschrieben, wobei einige der konkreten Vorschläge aus ‚Meet the challenge, Make the change’ abgemildert beziehungsweise umformuliert wurden. So wurde beispielsweise die medium term industrial strategy nicht mehr erwähnt, und auch andere zuvor genannte Reformen und Institutionen erfuhren Umbenennungen.858 Grundsätzlich ist dem Urteil Gerald Taylors zuzustimmen, dass es sich bei der dritten Phase der Policy Review vor allen Dingen um eine Verfeinerung und Konkretisierung der potentiellen PolicyOptionen in Hinblick auf die kommenden Wahlen handelte, wohingegen die vorherige Phase als nochmalige Überprüfung der bereits existierenden Labour Policies gedacht war.859 Die wichtigsten Prinzipien der ökonomischen Philosophie der Labour Party finden sich in ‚Looking to the Future’ direkt zu Beginn der Ausführungen zu den wirtschaft- und finanzpolitischen Fragen in sechs Punkten zusammengefasst. Dort heißt es an erster Stelle, dass eine Regierung die Verantwortung dafür trage, dass es einen tragfähigen Rahmen für die nationale Ökonomie als elementare Bedingung für ökonomischen Erfolg gäbe. An zweiter Stelle wird konstatiert, dass eine moderne Ökonomie eine partnerschaftliche Ökonomie sein müsse. Privates und Öffentliches Interesse müssten Hand in Hand arbeiten, was in der Quintessenz bedeute: „Bussines where appropriate: government where necessary.860“ Drittens sei davon auszugehen, dass der Markt defizitär sei und nicht aus eigner Kraft alle für eine moderne Wirtschaft notwendigen Güter und Dienstleistungen bereitstellen und grundsätzliche Rechte wie etwa gleiche Chancen garantieren könne. Daher sei eine Regierung in der Pflicht, die Sicherstellung dieser Güter, Dienstleistungen und Rechte zu gewährleisten. An vierter Stelle wird betont, dass eine dynamische Wirtschaft Planungssicherheiten brau857 Vgl. Labour Party: Looking to the Future. A Dynamic Economy – A Decent Society – Strong in Europe. London 1990. 858 Vgl. Taylor, Gerald R.. London 1997. S. 90-91. 859 Vgl. ebenda. S.93-94. 860 Labour Party: Looking to the Future. London 1990. S. 6.
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che, die nur durch langfristig angelegte Politiken garantiert werden könnten. Fünftens stellt der Text fest, dass die britische Ökonomie Teil der größeren europäischen sei. Demnach bedürfe es einer Regierung, die sich als konstruktiver Partner in der europäischen Gemeinschaft begreife und dafür Sorge trage, dass die besten europäischen Standards in Großbritannien Anwendung fänden. Zum Schluss wird als sechster Punkt festgehalten, dass moderne Ökonomien interdependent seien, somit auch die britische Ökonomie Teil der weltweiten Wirtschaft sei. Demzufolge müsse Großbritannien in den jeweiligen internationalen Institutionen und Gremien als aktiv gestaltender Partner beim Prozess des policy-making auftreten, um die weltweit wachsende Kluft zwischen Arm und Reich wirkungsvoll zu bekämpfen.861 Der im Jahr 1991 erschienene vierte Bericht der Review bot erneut eine in thematische Kapitel aufgeteilte Darstellung der zusammengefassten Ergebnisse der Arbeitsgruppen, wobei die pragmatische Skizzierung eventueller zukünftiger Labour-Regierungspolitik noch deutlicher zu erkennen war als beim vorangegangenen Text. In Bezug auf grundsätzliche wirtschaftspolitische Ansichten hatte das Dokument mit dem Titel ‚Opportunity Britain’ hingegen kaum Neues zu sagen. So wurden die sechs in ‚Looking to the Future’ genannten ökonomischen Prinzipien Labours wörtlich wiederholt, die wahrgenommen Herausforderungen waren im Kern die schon früher genannten, und auch die konkreten Gestaltungsvorschläge aus Phase zwei und drei der Policy Review wurden nahezu unverändert wiederaufgelegt.862 An dieser Stelle ist jedoch festzuhalten, dass die Policy Review 1991 seit mehr als zwei Jahren im Bewusstsein der Öffentlichkeit war und die nächsten Wahlen sich noch nicht in greifbarer Nähe befanden. Diese Umstände schmälerten die Bedeutung von ‚Opportunity Britain’ nachhaltig, da der Text eine bloße Fortschreibung beziehungsweise Neuauflage bereits bekannter Analysen und Ideen darstellte. „As a consequence, ‘Opportunity Britain’ suffered because it lacked direction, had no essential function, and had nothing new to say“863, so dass nachvollziehbare Urteil Gerald Taylors. Das im April 1992 veröffentlichte Programm für die Wahl im selben Jahr sollte auf den Ergebnissen der Policy Review aufbauen und den Wählern somit eine klare politische Alternative zur bisherigen Regierungspolitik der
861 Vgl. ebenda. 862 Vgl. Labour Party: Opportunity Britain. Labour’s better way for the 1990’s. London 1991. S. 4, sowie beispielhaft S. 5, 11-14. 863 Taylor, Gerald R.. London 1997. S. 94.
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Konservativen bieten. Die kurz gehaltenen Grundaussagen zu den ökonomischen Herausforderungen waren, dass sich Großbritannien in einer schweren Rezession befinde und dass der internationale Wettbewerb stark zugenommen habe.864 Die politisch-programmatischen Antworten hierauf bleiben jedoch in vieler Hinsicht hinter den Aussagen der Texte der Policy Review zurück. Die Vorschläge der mit wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen befassten Arbeitsgruppen waren zwar im Verlauf der Review ebenfalls immer pragmatischer geworden, doch diese Entwicklung erreichte mit dem Wahlprogramm von 1992 einen neuen Höhepunkt. Alles Ambitiöse, Originelle oder sogar Abenteuerliche, was im Verlauf der Policy Review aus ökonomischer Sicht debattiert und veröffentlicht worden war, hatte die Partei aus dem Dokument entfernt. Das Programm mit dem Titel ‚It’s time to get Britain working again’ stellte vielmehr eine Aufzählung elektoraler Prioritäten mit Blick auf eine potentielle Regierungsbildung dar, und es kann daher als ein an kurzfristigen Zielen orientiertes Dokument bezeichnet werden, das eben nicht die in früheren Review-Texten geforderte ökonomische Langzeit-Strategien lieferte.865 Obwohl die Wahl von 1992 erneut nicht die erhoffte Regierungsübernahme für die Labour Party brachte, zeichnete sich in der Partei in den Jahren 93 bis 94 keine grundsätzliche Neuausrichtung der politischen Inhalte ab. Erst nach der Übernahme des Parteivorsitzes durch Tony Blair in Folge des Todes des Vorsitzenden John Smith im Jahr 1994 gab es erste Anzeichnen des Wandels im Zuge der Entwicklung von ‚Old’ hin zu ‚New Labour’, auf die später noch eingegangen wird. Gemäß der schon in der Policy Review geäußerten Vorstellungen, dass es lang- und nicht kurzfristigerer wirtschaftspolitischer Strategien bedürfe, um die britische Wirtschaft wieder international wettbewerbsfähig zu machen, und dass dabei staatliche Hilfestellung in Form von Sicherstellung optimaler Rahmenbedingungen nötig sei, entwickelte die Partei in einem Papier von 1993 eine Strategie zur Wiederbelebung der britischen Industrie. Dort heißt es, dass das bisherige Ungleichgewicht zwischen Finanzwirtschaft und Industrie, auf Grund dessen die letztgenannte benachteiligt und unterentwickelt sei, beseitigt werden müsse, da nur so die Wettbewerbsfähigkeit der gesamten britischen Volkswirtschaft langfristig gesichert werden könne.866 Der Fokus der Sozialdemokraten lag dabei, ganz klassisch, auf einem Widererstarken der britischen Industrie, um 864 Vgl. Labour Party: It’s time to get Britain working again. London 1992. S. 9 und 11. 865 Vgl. Taylor, Gerald R.. London 1997. S. 96 und 101. 866 Vgl. Labour Party: Making Britain’s Future. London 1993. S. 5.
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den Niedergang eben dieses Wirtschaftszweiges im Kontext des globalen Wettbewerbs aufzuhalten und damit auch andere politische Ziele für Wirtschaft und Arbeitsmarkt zu erreichen.867 „The best way to cut unemployment and create jobs that last is to modernise our economy and build competitive industries that can succeed all round the world“868, so ein Zitat aus einem anderen LabourPapier, das die vorherrschende Meinung innerhalb der Partei zu Beginn der 90er Jahre treffend widerspiegelt. Das im selben Jahr veröffentliche Papier mit dem Titel ‚Labour’s economic approach’ benennt die britischen Probleme sowie die Antworten Labours darauf etwas detaillierter. Hier werden ebenfalls längerfristige Lösungsansätze aufgezeigt, wobei immer der praktische Bezug zu eventueller zukünftiger Regierungspolitik hergestellt wird. An erster Stelle wird festgehalten, dass eine starke Wirtschaft einer starken Gesellschaft bedürfe, und dass die britischen Probleme nicht durch so genannte ‚free market economics’ gelöst werden könnten.869 Es folgt eine Aufzählung der nach Ansicht der Sozialdemokraten von den Konservativen zu verantwortenden Defizite und Probleme der britischen Volkswirtschaft, wobei mangelndes Langzeit-Investment, ungenügende wirtschaftspolitische Zusammenarbeit auf europäischer Ebene im Angesicht der globalisierten Weltwirtschaft und unbefriedigende Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt im Vordergrund stehen. Die Globalisierung der Wirtschafts- und Finanzmärkte, hier als ‚global revolution’ bezeichnet, sei eine der größten Herausforderungen, die ein erneutes Nachdenken über die zukünftige Rolle nationaler Regierung notwendig mache.870 Es sei zwingend erforderlich, auf der Grundlage eines anderen, sozialdemokratischen makro-ökonomischen Ansatzes eine neue Balance zu schaffen, um die Chance auf eine prosperierende Wirtschaft mit sinkender Arbeitslosigkeit zu erhalten.871 Auffällig ist, das auf den nächsten Seiten das Thema Arbeitslosigkeit, wenn auch nicht zum ersten Mal, so aber doch in vorher nicht formulierter Breite und Intensität behandelt wird. Zwar hatten sich auch die Dokumente der Policy Review mit dem Themenkomplex beschäftigt, doch geschah dies zumeist in kurzer, in den Zusammenhang mit anderen Fragen gestellter Form. In ‚Labour’s economic approach’ wird dem Thema ein eigenes Kapitel mit der Überschrift ‚The immediate programme against unemployment’ gewidmet, in dem das Problem der steigenden Arbeits867 Vgl. ebenda. S. 3, 4 und 9. 868 Labour Party. Zitiert in: Thompson, Noel. London 2006. S. 259. 869 Vgl. Labour Party: Labour’s economic approach. In: Labour Party: Statements to Conference. London 1993. S. 7. 870 Vgl. ebenda. S. 8. 871 Vgl. ebenda. S. 9.
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losigkeit ausführlich beschrieben wird. Mehrere Maßnahmen zur ihrer Bekämpfung derselben werden genannt, wie beispielsweise die Verknüpfung von umweltpolitischen Zielen mit der Schaffung von Arbeitsplätzen durch einzurichtende Umweltinitiativen.872 In ‚Meet the challenge, Make the change’, dem zweiten Dokument der Review, hatte es schon einmal den Vorschlag zur Zusammenführung von Umwelt- und Beschäftigungspolitik gegeben, doch war dieser damals noch im Rahmen des Berichts der umweltpolitischen Arbeitsgruppe erschienen, wohingegen das Thema nun als wichtiger Bestandteil wirtschaftspolitischer Programmatik betrachtet wurde.873 Im weiteren Verlauf des Textes wird anschließend die Langfristigkeit der Wirtschaftspolitik als elementarer Bestandteil des neuen Labour Ansatzes erneut hervorgehoben, und es wird der akute Bedarf für ein derartiges Umdenken in der britischen Ökonomie geschildert. Den Schluss bildet die Aufzählung konkreter, von einer zukünftigen Labour-Regierung zu ergreifender Maßnahmen, die zur Umsetzung der skizzierten wirtschaftspolitischen Vorstellungen notwendig seien.874 Auf der einen Seite spiegelten die beiden soeben beschriebenen Papiere die offizielle Linie der Partei im Jahr 1993 wieder, auf der anderen Seite gab es aber Stimmen innerhalb der Labour Party, die eine radikalere Abkehr von den bisherigen Policies als Konsequenz aus der Wahlniederlage von 1992 forderten. Direkt im Anschluss an die verlorene Wahl hatte unter den Modernisieren Labours um Tony Blair eine Diskussion darüber eingesetzt, wie die zukünftige Programmatik der Partei aussehen sollte, wobei klare Abgrenzungen von Althergebrachtem angemahnt wurden. Im Zentrum der Kritik der Modernisierer stand die Feststellung, dass sich die Labour Party entgegen anders lautender Aussagen in den Programmtexten nicht hinreichend mit den veränderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realitäten auseinandergesetzt habee. Die Partei sei in ihrer Programmatik und Mentalität immer noch zu sehr im Zeitalter der industriellen Massenproduktion und des funktionierenden Keynesianismus verhaftet.875 An dieser Stelle wurde erstmals von ‚Old Labour’ und ‚New Labour’ gesprochen, wobei die Kreierung und programmatische Ausgestaltung des Letztgenannten erklärtes Ziel Blairs und seiner Anhänger war. John Callaghan stellt jedoch zu Recht fest, dass die maßgebliche Revisionsarbeit an der Programmatik ‚Old Labours’ schon zu Zeiten der Policy Review geleistet worden sei. Bevor die
872 873 874 875
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Vgl. ebenda. S. 10-11. Vgl. Labour Party. London 1989. S. 75. Vgl. Labour Party: Labour’s economic approach. London 1993. S. 13 und 15-20. Vgl. Shaw, Eric. London 1996. S. 196.
Globalisierung unter der Führung Blairs in den 1990er Jahren zum Mantra und neuen Fixpunkt von ‚New Labour’ geworden sei, habe die Partei sich schon wesentlicher programmatischer Altlasten entledigt.876 Der entscheidende Schritt zur Wandlung der Partei hin zur ‚New Labour Party’ kann in der von Tony Blair direkt nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden im Jahr 1994 initiierten Revision der Clause IV der Party Constitution gesehen werden. Entscheidend aus wirtschaftsprogrammatischer Sicht war hierbei die Abschaffung der bisher zentralen Forderung nach der Verstaatlichung von Eigentum. Wie in Kapitel III.3.3.2. schon beschrieben, versuchte Blair der Partei sein neues programmatisches Konzept dadurch zu vermitteln, dass er einen Gegenvorschlag zur alten Version der Clause IV veröffentlichte, diesen innerhalb der Partei zur Diskussion stellte und anschließend einen Parteitag über die beiden Versionen abstimmen ließ. Die Idee des öffentlichen Eigentums wurde dabei von Blair sehr deutlich kontrastiert, indem er feststellte, dass die Markwirtschaft in bemerkenswerter Art und Weise zur Schaffung wirtschaftlicher Prosperität beigetragen hätte, womit symbolische Unterstützung für den Gegenentwurf zur Staatswirtschaft formuliert wurde.877 In ‚Labour’s objects: Socialist values in a modern world’, der maßgeblichen Publikation der Partei zur Vorbereitung der Änderung der Parteiverfassung, wird dementsprechend die Sinnhaftigkeit der Verknüpfung von teilweisem öffentlichen Eigentum mit den Interessen einer erfolgreichen Marktwirtschaft dargestellt. „We believe in an economy that works in the public interest. A competitive market economy, with a strong industrial and wealth generating base is in the public interest. So are well run, universal public services”878, so die Erklärung im Text, wobei in diesem Zusammenhang die Idee einer ‘mixed economy’ favorisiert wird. Hiermit ist eine Wirtschaft gemeint, die sich auf der einen Seite durch einen starken öffentlichen Sektor auszeichnet, der neben anderem auch durch die Sicherstellung von öffentlichem Eigentum gewährleistet wird, auf der anderen Seite jedoch grundsätzlich nach den Regeln der Marktwirtschaft funktioniert.879 Mit der Publikation wurde ein Fragebogen an die unterschiedlichen Parteigliederungen und an die mit der Labour Party verbundene Organisationen geschickt, mit dessen Hilfe die skizzierten Neuerungen diskutiert und ergänzt werden sollten. In Bezug auf den wirtschaftspolitischen Teil der neuen Clause
876 877 878 879
Vgl. Callaghan, John: The Retreat of Social Democracy. Manchester 2000. S. 161. Vgl. Radice, Giles: Southern Discomfort. London 1992. S. 18-19. Labour Party: Labour’s objects: Socialist values in a modern world. London 1994. S. 8. Vgl. ebenda. S. 9.
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IV waren die Meinungen im Anschluss eindeutig: Es solle zukünftig klare Regulierungen im öffentlichen Interesse sowie öffentliches Eigentum bei essentiellen, lebensnotwendigen Servicen geben, dies aber eingebettet in eine mixed economy im soeben beschriebenen Sinn.880 In der neuen, im April 1995 vom Parteitag verabschiedeten Clause IV der Party Constitution ist das programmatische Ziel dann formuliert als „a dynamic economy, serving the public interest, in which the enterprise of the market and the rigour of competition are joined with the forces of partnership and co-operation to produce the wealth the nation needs and the opportunity for all to work and prosper with a thriving private sector and high-quality public services where those undertakings essential to the common good are either owned by the public or accountable to them.”881 In der Neuformulierung der wirtschaftspolitischen Grundsatzprogrammatik der Labour Party kann schließlich der entscheidende Bruch mit der alten sozialdemokratisch-keynesianischen Wirtschaftspolitik gesehen werden. Obwohl der Abschied vom Keynesianismus zuvor schon von verschiedenen Stimmen innerhalb Labours postuliert worden war, so brachte doch der von Tony Blair angestoßene Wandel im Zuge der Schaffung ‚New Labours’ die tatsächliche Abkehr von der Vorstellung, dass der Staat als Wächter des öffentlichen Interesses und Stabilisator des Wirtschaftskreislaufes auftreten könnte. „Macro-economic policy can do little to change the underlying growth rate of the economy“882, so eine Feststellung Blairs aus dem Jahr 1995. Der verstärkte Glaube in die Selbstkorrektur des Marktes und die damit verbundene Vorstellung, dass unternehmerisches Profit-Denken und die Sicherstellung von öffentlichem Gemeinwohl sich nicht widersprechen müssten, waren Kennzeichen des wirtschaftspolitischen Konzeptes von New Labour Mitte der 1990er Jahre.883 „Modernisation therefore required a significant erosion – some might say abandonment – of the market logic of the social democratic state replaced by the market enhancing role of the state“884, so beschreibt Anthony McGrew die Herausforderung, der sich die
880 Vgl. Labour Party: Labour’s aims and values. The consultation report. London 1994. S. 18. 881 Labour Party: Clause IV – Aims and Values. 2 (a). In: Labour Party Rule Book 2007. London 2007. Chapter 1 S. 2. 882 Tony Blair. Zitiert in: Sopel, Jon: Tony Blair – The Moderniser. London 1995. S. 210. 883 Vgl. Thompson, Noel. London 2006. S. 263; sowie Shaw, Eric. London 1996. S. 201-202. 884 McGrew, Anthony: Globalisation. In: Plant, Raymond/Beech, Matt/Hickson, Kevin (Ed.): The Struggle for Labour’s Soul. Understanding Labour’s political thought since 1945. London 2004. S. 141.
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Modernisierer New Labours gegenüber sahen, wobei sie die Globalisierung als unaufhaltbar treibende Kraft im Hintergrund begriffen. Im Juni 1995 erschien ein Papier der Economic Policy Commission, das nach Verabschiedung durch das Joint Policy Committee und das National Policy Forum als den entscheidenden Parteigremien bei der Policy-Formulierung dem Parteitag zur Abstimmung vorgelegt wurde. Der Text mit dem Titel ‚A New Economic Future for Britain’ ist eine Bündelung der Ergebnisse aus verschiedenen Diskussionsrunden und –Foren, die seit 1993 zur Erstellung einer neuen wirtschaftspolitischen Programmatik für die Labour Party stattgefunden hatten. Klare pragmatische Zielrichtung war dabei, wie in der britischen Sozialdemokratie üblich, die Erarbeitung der inhaltlichen Grundlage des nächsten landesweiten Wahlprogramms.885 In der Einleitung erwähnen die Autoren an erster Stelle den zunehmenden Wettbewerb in der globalen Wirtschaft als größte Herausforderung für die britische Wirtschaft, jedoch nicht ohne auch die Chancen dieser Globalisierung der Märkte zu betonen: „We embrace the opportunities, and challenges, that world markets and international trade bring.“886 Doch bei der Wahrnehmung dieser Chancen bedürfe es einer Partnerschaft zwischen Staat und Wirtschaft, da nur auf diese Weise Erfolg für private als auch öffentliche Interessen und somit für die gesamte Volkswirtschaft generiert werden könne. An dieser Stelle zitiert der Text die neu formulierte Clause IV der Constitution und fügt einen viel sagenden Satz über die Verbindung von Staat und Privatwirtschaft hinzu: „That partnership means putting behind us the old battles: public versus private, state versus market.“887 Das neue wirtschaftspolitische Konzept ist ganz im Sinne New Labours gehalten, da als Antwort auf eine stärker werdende Globalisierung eine andere, reduziertere Rolle des Staates im Bereich der Wirtschaft postuliert wird. „This is the key to a truly dynamic economy”, so der Text weiter “:public working alongside private, the highest standards set to deliver free and fair competition and the levels of long-term investment we need to produce the economic growth and jobs we need.”888 Das Dokument schildert bei der genaueren Betrachtung der Situation breit die akuten Schwächen der britischen Wirtschaft und betont, dass vor allen Dingen die hohe Arbeitslosigkeit eine Folge dieser ökonomischen Defizite sei. 885 Vgl. Labour Party: A New Economic Future for Britain. Economic and Employment Opportunities for All. London 1995. Part A S. 3. 886 ebenda. S. 4. 887 ebenda. 888 ebenda.
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Besonders in Hinblick auf die Globalisierung, die nationale Grenzen und geographisch klar umrissene Märkte bedeutungslos werden lasse sei die Förderung des individuellen ökonomischen Potentials des Einzelnen sehr wichtig. Im weiteren Verlauf werden neue makroökonomische Prinzipien diskutiert und die Notwendigkeit zur europäischen und internationalen wirtschaftlichen Kooperation angemahnt.889 Im zweiten Teil der Publikation wird dann das Problem der Arbeitslosigkeit in einem eigenen Kapitel ausführlich beleuchtet und es werden verschiedene Maßnahmen zur Bekämpfung derselben postuliert.890 Die deutlichsten Signale des Papiers sind jedoch die Neudefinition der Rolle des Staates in einer globalisierten Weltwirtschaft und in der damit einhergehenden verstärkten Fokussierung auf die Befähigung des Einzelnen zu sehen, am zukünftigen wirtschaftlichen Erfolg möglichst eigenverantwortlich mitzuarbeiten. In die gleiche Richtung zielen die Vorstellungen von Peter Mandelson und Roger Liddle, beides langjährige Labour-Politiker und maßgebliche ‚Architekten’ New Labours, die diese im Jahr 1996 unter dem Titel ‚The Blair Revolution’ veröffentlichten. Die globalisierten Märkte hätten die einzelnen Nationalstaaten der Möglichkeiten der traditionellen Muster von Wirtschaftspolitik beraubt, so Mandelson und Liddle. Kapital sei maximal mobil geworden, Investments würden weltweit betrachtet nur dort getätigt, wo sich günstige Bedingungen bieten würden.891 Die hieraus zu ziehende Moral ist für die Autoren klar: „Governments can best promote economic success by ensuring that their people are equipped with skills necessary for the modern world“892, was einer Anpassung an die zuvor perzipierten Konditionen der globalisierten Weltwirtschaft gleich kommt. Auch der 1997 ins Amt gewählte Premierminister Tony Blair vertrat in einer Rede 1998 die Auffassung, dass in Zeiten der Globalisierung, wo Produkte an jedem Ort der Welt hergestellt und anschließend nach überall hin verschickt werden könnten, das Wachstum der Zukunft nicht auf Grundlage alter, industriebasierter Wirtschaftspolitik sichergestellt werden könne. Vielmehr müsse Wettbewerbsfähigkeit mit Hilfe von unverwechselbaren Merkmalen wie Kreativität und Talent hergestellt werden, die von anderen Wettbewerbern nicht einfach imitiert werden könnten.893
889 Vgl. ebenda. S. 8-9, sowie S. 22-24. 890 Vgl. ebenda. S. 45 und 49, sowie S. 53-55. 891 Vgl. Mandelson, Peter/Liddle, Roger: The Blair Revolution. Can New Labour Deliver?. London 1996. S. 98, sowie S. 6. 892 ebenda. S. 89. 893 Blair, Tony. Rede in der Guildhall. London 16. November 1998.
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Deutlich wird hierbei, dass, zumindest für den Zeitpunkt der Analyse Mitte bis Ende der 1990er Jahre, von einer positiven Bewertung der Globalisierung und der sich daraus ergebenden wirtschaftspolitischen Konsequenzen durch New Labour gesprochen werden kann. Die Veränderung der globalen Rahmenbedingungen für zukünftige Wirtschaftspolitik wird eher als Chance denn als Bedrohung begriffen. Das Urteil des Politologen Rorden Wilkinson erscheint hier nachvollziehbar, wenn er konstatiert, „that (…) New Labour’s re-orientation to meet the perceived needs of the prevailing global economic climate is more than just a pragmatic shift. It is also based on the assumption that an increasingly liberalised global economy is broadly beneficial.”894 Die Protagonisten New Labours um Tony Blair hatten es spätestens 1997, also im Jahr der schließlich für die Partei geglückten Regierungsübernahme, geschafft, die zuvorderst von der wirtschaftlichen Globalisierung verursachte Schwächung des Nationalstaats in Wirtschaftsfragen mit Hilfe der skizzierten Ansätze in neue Chancen umzudeuten. In seinem Vorwort zu einem Strategiepapier der Partei zu wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen, das parallel zum Election Manifesto von 1997 veröffentlicht wurde, sprach der damalige Schattenfinanzminister und prominente New Labour Akteur Gordon Brown davon, dass gerade die Herausforderungen der neuen globalen Ökonomie die Partei dazu bewogen hätten, ihre Constitution umzuschreiben, und dass damit die Bedeutung einer dynamischen, wettbewerbsorientierten Marktwirtschaft für eine zukünftige starke Gesellschaft unterstrichen werde.895 Die Beziehungen zwischen der Labour Party und der Wirtschaftswelt hätten sich gewandelt: „So, far from being in conflict, the interests of the Labour Party and the business community are in harmony. To bring about the fair and prosperous society that labour seeks, we need successful and enterprising businesses making strong profits.”896 Die Einleitung des anschließenden Textes bringt die neuen programmatischen Verhältnisse unter New Labour noch deutlicher auf den Punkt, wenn auch hier gefordert wird, dass eine New Labour-Regierung in erster Linie günstige Rahmenbedingungen für eine dynamische Wirtschaft schaffen müsse, damit diese zum Nutzen der gesamten Volkswirtschaft wachsen und gedeihen könne. Partnerschaft ist auch hier das Stichwort, denn eine partnerschaftlich aufgestellte Regierung solle die Wirtschaft nicht mehr in althergebrachter Weise kontrol894 Wilkinson, Rorden: New Labour and the global economy. In: Coates, David/Lawler, Peter (Ed.): New Labour in power. Manchester 2000. S. 138. 895 Vgl. Brown, Gordon: Foreword. In: Labour’s Business Manifesto. Equipping Britain for the Future. London 1997. S. 1. 896 ebenda.
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lieren und regulieren, sondern konstruktiv dabei mithelfen, dass sich der kreative Wettbewerb der Marktwirtschaft zum Nutzen ganz Großbritanniens entfalten könne.897 „The old battles – public versus private, employee versus employer and state versus market – have prevented the development of a shared sense of national economic purpose about the need to create wealth”898, so die Feststellung der Autoren. In mehreren Punkten wird im weiteren Verlauf abgehandelt, was angesichts der wirtschaftspolitischen Herausforderungen notwendig wäre. An erster Stelle spricht sich das Papier für das Streben nach mehr makroökonomischer Stabilität aus, gefolgt von der Forderung nach einer dynamischen Wirtschaft mit kompetitiven Märkten, wobei der partnerschaftliche Aspekt der zukünftigen Wirtschaftspolitik besonders betont wird.899 Hierauf folgt die Forderung, dass es stabile und kooperative Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern geben müsse, wobei besonders die Betonung eines flexibilisierten Arbeitsmarktes ins Auge fällt.900 Abschließend wird angemerkt, dass Großbritannien sich auf Grund der globalen und im Besonderen transeuropäischen Vernetzung als wirtschaftliche Führungsmacht innerhalb der EU etablieren sollte.901 Das Wahlprogramm aus demselben Jahr liest sich wie eine Fortschreibung dieser Ideen, wobei die verschiedenen Inhalte pointierter und, dem Charakter eines Wahlprogramms entsprechend, plakativer dargestellt werden. Der Parteivorsitzende Tony Blair erwähnt direkt in der Einleitung des Programms die erfolgten Änderungen an der Party Constitution und skizziert die Schaffung New Labours als Antwort der britischen Sozialdemokratie auf die aktuellen Herausforderungen.902 Bei der konkreten Benennung der einzelnen Programmpunkte beschreibt er im Anschluss als erstes New Labours Position in Wirtschaftsfragen als eine in der Mitte zwischen der alten Linken und der konservativen Rechten liegende. Ziel dürfe weder eine staatliche Kontrolle der Industrie noch die alleinige Entscheidungshoheit des freien Marktes sein, vielmehr müssten Regierung und Wirtschaft gemeinsam zur Entwicklung dynamischer, profitabler Märkte beitragen.903 Die Globalisierung ist hierbei das entscheidende Movens: „In economic management we accept the global economy as a reality 897 898 899 900 901 902
Vgl. Labour’s Business Manifesto. Equipping Britain for the Future. London 1997. S. 3. Ebenda. Vgl. ebenda. S. 5 und 9. Vgl. ebenda. S. 3 und 7. Vgl. ebenda. S. 13. Vgl. Blair, Tony: Britain will be better with New Labour. In: Labour Party: New Labour – Because Britain deserves better. London 1997. S. 2. 903 Vgl. ebenda. S. 3.
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and reject the isolationism and ‘go-it-alone’ policies of the extremes of right or left”904, so die klare Aussage im Programm. Das Ziel sei die oben schon erläuterte Partnerschaft von Regierung und Wirtschaft, die dem Staat eine neu definierte Rolle zuschreibt: „We will build a new partnership with business to improve the competitiveness of British industry for the 21st century, leading to faster growth.”905 Neben der Forderung nach neuen ‚Public Private Partnerships’ befasst sich der Text intensiv mit der, nach Meinung New Labours, für eine prosperierende Wirtschaft ebenfalls bedeutsamen Frage nach der Flexibilisierung des Arbeitsmarkts. „New Labour believes in a flexible labour market that serves employers and employees alike”906, so die Formulierung in einem Kapitel, dass sich mit der Ermöglichung von kreativem und profitablem Wirtschaften befasst. In der Tat sind neben der Schaffung eines neuen staatlichen Rahmens für eine erfolgreiche Marktwirtschaft die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, der damit einhergehende Umbau des Sozialstaates hin zu einem neuen Fordern und Fördern, sowie die aus wirtschaftlicher Sicht hilfreiche Flexibilisierung des Arbeitsmarktes die Schwerpunkte im Wahlprogramm. Das Thema Umwelt findet zwar Erwähnung, jedoch eher als Randnotiz im Zuge der generellen Neuaufstellung der Wirtschaft in Zeiten der Globalisierung. Die ideologische Grundlage des Labour Wahlprogramms von 1997 stellte das maßgeblich von Anthony Giddens in den neunziger Jahren entwickelte Konzept des ‚Dritten Wegs’ der Sozialdemokratie dar. Die im Text erwähnte Mittelposition der neuen Politik New Labours entspricht der Einschätzung Giddens, dass es eines progressiven politischen Programms bedürfe, um eine realistische Alternative sowohl zur diskreditierten Politik der traditionellen Sozialdemokratie, als auch zur Vision der Neo-Liberalen vom regelfreien Markt zu bieten.907 Spätestens mit dem 97er Wahlprogramm fanden die Vorstellungen Tony Blairs und anderer Dritte-Wegs-Apologeten ihren Weg von der Programmatik in die praktische Politikgestaltung Labours, und die schon beschriebene mehrheitlich positive Bewertung der Globalisierung wurde zur ideologischen Untermauerung eines neuen ‚Dritten Wegs’ sozialdemokratischer Politik. Blair resümierte dementsprechend anlässlich seiner Regierungsübernahme 1997, „(that) our task is not to fight old battles but to show that there is a Third Way, a way of marrying together an open, competitive and successful economy with a
904 905 906 907
ebenda. ebenda. S. 15. ebenda. Vgl. McGrew, Anthony: Globalisation. London 2004. S. 139-140.
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just, decent and humane society.”908 In dieser Aussage ist eine der entscheidenden Prämissen New Labours in Bezug auf den Umgang mit der Globalisierung enthalten, denn Blair und seinen Mitstreitern ging es in erster Linie darum, die Globalisierung pragmatisch zu managen und sich nicht den von ihr ausgehenden Imperativen zu widersetzen.909 Denselben Ton schlägt das Schröder-Blair-Papier aus dem Jahr 1999 an, wenn dort von den beiden sozialdemokratischen Regierungschefs ‚Neue Konzepte für veränderte Realitäten’ gefordert werden, und ein pragmatischer und unideologischer Umgang mit den Herausforderungen der Globalisierung postuliert wird.910 An dieser Stelle ist festzuhalten, dass die Globalisierung nicht nur als größte Herausforderung perzipiert und dementsprechend immer ausführlich in den Policy-Dokumenten New Labours behandelt wurde, sondern dass sich die Parteiführung der Thematik auch in anderer Weise bediente. „The discourse of globalisation has been appropriated in order to render economically „necessary“ the politically contingent logic of neo-liberal convergence”911, so die kritische Beurteilung Colin Hays. Der Themenkomplex Globalisierung wurde dieser instrumentalistischen Sichtweise gemäß also benutzt, um die Legitimität und Rationalität der Politik New Labours zu unterstreichen und die politischen Ziele der gewandelten Partei zu forcieren.912 Einige Kommentatoren erkennen im politischen Konzept von New Labour, und hierbei besonders bei Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik, deutliche Anlehnungen an die Ideen von ‚New Right’, obwohl sich die erneuerte Labour Party offiziell von der Marktfixiertheit der Neuen Rechten distanzierte. So definiert Mark Bevir New Labour als sozialdemokratische Antwort auf Themen, die von der Neuen Rechten in den Fokus gerückt worden wären, wobei er konstatiert, dass der neue Institutionalismus sowie der Kommunitarismus den Umgang New Labours mit diesen Themen geprägt hätten.913 Für Bevir enthält die politische Philosophie New Labours darüber hinaus eine Mischung aus traditionell-sozialdemokratischen Elementen, wie sie beispielsweise bei Anthony Crosland zu finden seien, und den Ideen der Neuen Rechten, die ihre maßgebli908 Tony Blair. Zitiert in: Newman, Janet: Modernising Governance: New Labour, Policy and Society. London 2001. S. 42. 909 Vgl. McGrew, Anthony. London 2004. S. 143. 910 Vgl. Schröder, Gerhard/Blair, Tony. Bonn 1999. S. 3-4. 911 Hay, Colin. In: Hay, Colin/Watson, Matthew: Globalisation and the British Political Economy. Mimeo 2000. 912 Vgl. McGrew, Anthony. London 2004. S. 145. 913 Vgl. Bevir, Mark: New Labour – A critique. London 2005. S. 84.
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chen Wurzeln in der Politik Margret Thatchers hätten.914 Das Urteil Richard Heffernans fällt noch klarer aus, da für ihn die ideologischen Anleihen New Labours beim Thatcherismus und der Neuen Rechten so eindeutig sind, dass die Politik der Labour Party unter Tony Blair eher als neo-liberal denn als sozialdemokratisch bezeichnet werden könnte.915 Für Colin Hay trägt die ökonomische Ideologie New Labours erkennbar neo- oder zumindest post-Thatcheristische Züge. Sie sei „(an) implicit apology for Thatcherite economics“916, so sein Fazit. Mit Stuart Hall bezieht sich ein anderer Kritiker auf die Grundsätze der gewandelten Labour Party, wenn er die ideologische Blaupause des Projektes New Labour, den Dritten Weg, als einen politischen Kompromiss zwischen der linken, alten Sozialdemokratie und der rechten, neoliberalen Ideologie der Konservativen bezeichnet, wobei er betont, dass eine deutliche Tendenz hin zur letztgenannten Position zu erkennen sei.917 Festzuhalten bleibt, dass die wirtschaftsund finanzpolitische Programmatik New Labours, die eine herausgehobene Rolle im ideologischen Konzept der Bewegung spielte, von einer Vielzahl kritischer Stimmen begleitet wurde, da sie sich nachhaltig von altbekannten sozialdemokratischen Politikmustern unterschied und in ihrer Pragmatik erkennbar Ideen der marktfreundlichen Konservativen aufgriff. Nachdem die Labour Party 1997 schließlich an die Regierung gekommen war, setzte sich dieser neue, die Globalisierung grundsätzlich begrüßende Kurs New Labours in der konkreten Politik fort, bei inhaltlicher Begleitung durch die Arbeit der Economic Policy Commission. Diese rekapitulierte in den Jahren 1999 und 2000 in drei Consultation Documents die ersten Ergebnisse der Regierungsarbeit der Partei und versuchte, durch die diskursive Beteiligung einer breiten Anzahl von Parteimitgliedern die programmatische Entwicklung weiter voranzutreiben. Dabei lesen sich die von der Commission veröffentlichten Diskussionsergebnisse in Hinblick auf die oben beschriebenen Einschätzungen der Kommentatoren nicht übermäßig marktliberal oder des Thatcherismus verdächtig. So wird im zweiten Dokument aus dem Jahr 2000 direkt in der Einleitung als zentrales wirtschaftspolitisches Ziel die Erreichung eines hohen und stabilen Levels von Wachstum und Beschäftigung genannt. Die Schlüsselelemente der 914 Vgl. ebenda. S. 81. 915 Vgl. Heffernan, Richard: New Labour and Thatcherism – Political change in Britain. London 2000. S. viii, ix, sowie 103. 916 Hay, Colin: Labour’s Thatcherite revisionism: playing the „Politics of Catch-up“. In: Political Studies. Vol. 42 Bd. 4 1994. S. 703. 917 Vgl. Stuart Hall. Zitiert in: Finlayson, Alan: Making sense of New Labour. London 2000. S. 11.
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im Anschluss postulierten ökonomischen Strategie Labours können in Anlehnung daran gelesen werden: Sicherstellung der ökonomischen Stabilität, Streben nach Vollbeschäftigung, Bekämpfung der Kinderarmut, Schaffung einer fairen Gesellschaft sowie die Verbesserung des Lebensstandards durch eine Erhöhung der Produktivität.918 Des Weiteren wird, und dies vor allen Dingen bezüglich der europäischen Ebene, der Ausbau der internationalen Zusammenarbeit in Wirtschaftsfragen angemahnt. Auch die im 97er Wahlprogramm schon als Eckstein der Wirtschaftsprogrammatik New Labours beschriebenen Public Private Partnerships finden erneut Erwähnung.919 An dieser Stelle kann ein direkter Sprung zum nächsten Wahlprogramm New Labours aus dem Jahr 2001 erfolgen, da die dort vorgestellten wirtschafts- und finanzpolitischen Positionen fast nahtlos an die Aussagen des Wahlprogramms von 1997 anknüpfen, beziehungsweise inhaltlich sehr nahe bei den publizierten Aussagen der Economic Policy Commission liegen. In seinem Vorwort spricht Premierminister Tony Blair von ‚Ten goals for 2010’, wobei er neben anderem langfristige ökonomische Stabilität, steigende Lebensstandards, Vollbeschäftigung, und verstärkte europäische Zusammenarbeit einfordert.920 Im mit ‚Prosperity for all’ betitelten Kapitel finden sich dann Vorstellungen, wie sie von Blair und anderen New Labour-Protagonisten schon vielfach formuliert worden sind: es gebe keine Garantien in einer integrierten Weltökonomie, daher würde eine Labour-geführte Regierung auch zukünftig an der notwendigen internationalen Zusammenarbeit festhalten, um globale ökonomische Turbulenzen zu minimieren.921 Eine Seite weiter findet sich New Labours bereits dargestellte Neudefinition der Rolle des Staates in kaum geänderter Form wenn es heißt: „Government cannot make a business successful. But government must create the right framework to help business achieve healthy long-term growth.“922 In Bezug auf die Beschäftigungspolitik und den Wohlfahrtsstaat wird, wenn es um die Rolle des Staats geht, anschließend ähnlich argumentiert. Die Menschen würden in erster Linie über Teilhabe am Arbeitsleben soziale Inklusion erfahren, und somit sei die Vermeidung von Arbeitslosigkeit elementar für ein funktionierendes Gemeinwesen. Der Staat solle in diesem Zusam-
918 Vgl. Labour Party: Economic policy. Second-year consultation document. London 2000. S. 6. 919 Vgl. ebenda. S. 9 und 28. 920 Blair, Tony: Fulfilling Britain’s great potential. In: Labour Party: Ambitions for Britain. London 2001. S. 3. 921 Vgl. Labour Party: Ambitions for Britain. London 2001. S. 10. 922 ebenda. S. 11.
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menhang aber vor allem Hilfe zur Selbsthilfe leisten, so der Tenor.923 „Government cannot achieve social inclusion for people, but it can help them achieve it for themselves.”924 Anhand dieser Aussagen wird deutlich, dass das 2001er Wahlprogramm in wirtschaftspolitischen Fragen erkennbar der New LabourPhilosophie von der ‚Marktsozialdemokratie‘925 entsprach, in welcher dem Staat in erster Linie die Rolle des ‚Ermöglicher‘ zukommt. Die Wiederwahl der Labour Regierung im selben Jahr bestätigte die programmatischen Vordenker um Parteichef Tony Blair erneut in ihrem Kurs und ließ grundsätzliche Korrekturen daran als nicht zwingend notwendig erscheinen. Zwar wurde in den Jahren 2002 bis 2005 unter Federführung des National Policy Forums weiterhin inhaltlich gearbeitet, doch in Fragen der Wirtschaftspolitik blieben die grundlegenden Linien der Programmatik New Labours so gut wie unangetastet. Unter der Überschrift ‚Partnership in Power‘ veröffentlichte das NPF während der zweiten Amtszeit Labours wieder Consultation Documents, in denen die gesammelten Kommentare von Parteimitgliedern sowie die Arbeitsergebnisse der verschiedenen Kommissionen gebündelt und aufbereitet wurden. Die wirtschaftspolitisch relevanten Dokumente trugen Titel wie ‚Britain in the global economy‘ und ‚Prosperity for all‘, und arbeiteten sich zuvorderst an den Erfolgen Labours und den auf die Regierung zukommenden Herausforderungen ab. Grundsätzliches zur Programmatik der Partei findet sich dort ebenfalls, doch diese Ausführungen stehen jeweils in direkter Verbindung zur konkreten Regierungspolitik Labours. So werden in ‚Britain in the global economy‘ schon in der Einleitung hohe und stabile Raten bei Wachstum und Beschäftigung als die zentralen ökonomischen Ziele Labours geschildert. Unter dem Motto der ökonomischen Stabilität werden anschließend fünf Kernziele genannt, die es zu erreichen gelte, namentlich Vollbeschäftigung, steigende Produktivität, die Bekämpfung von Kinder- und Altersarmut, der Aufbau eines öffentlichen Services der Weltklasse, sowie die Bekämpfung der globalen Armut. 926 In Bezug auf die internationale Zusammenarbeit in Wirtschaftsfragen liest sich der Text als Fortsetzung des bisher Gesagten. „We believe there is much to be gained from close co-operation with our international partners, especially in the rest of Europe“927, so der optimistische Tonfall im Dokument. 923 Vgl. ebenda. S. 29. 924 ebenda. S. 24. 925 Jürgen Krönig spricht von der Marktsozialdemokratie als dem Kernbegriff der Philosophie New Labours. Vgl. Krönig, Jürgen: Das Ende der Armut?. In: Berliner Republik. Heft 2/2005. www.b-republik.de/archiv/das-ende-der-armut. 926 Vgl. Labour Party: Britain in the global economy. London 2003. S. 1-2. 927 ebenda. S. 5.
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Das ebenfalls im Jahr 2003 erschienene Dokument mit dem Titel ‘Prosperity for all’ ist in seinen Aussagen noch stärker an die praktische Regierungspolitik der Labour Party angelehnt und lässt nur indirekt Rückschlüsse auf die grundsätzliche Parteiprogrammatik zu. Das Papier postuliert zu Beginn, dass Wohlstand für Alle das übergeordnete Ziel der Labour Party sei, und dass zur Erreichung dieses Zieles die Förderung von ökonomischer Effizienz mit dem Streben nach sozialer Gerechtigkeit verknüpft werden müsse. Hiernach werden die Veränderungen in der Weltwirtschaft aufgelistet, um anschließend eine neue Agenda einzufordern, die unter Berücksichtigung der Gesichtspunkte von ökonomischer Effizienz und sozialer Gerechtigkeit eine Antwort auf diese Herausforderungen geben könne.928 Die kurze Definition dieser Agenda liest sich als Konzentrat der politischen Ideen New Labours in Zeiten der Globalisierung, wenn es heißt: „That agenda has to be about building a high skilled, innovative economy – in which we use all our talents to compete on quality as well as value for money – with better products and services, and faster, cleaner production processes.“929 Im Mittelpunkt derartiger Überlegungen steht auch in diesem Dokument die Vorstellung, dass für eine verstärkt prosperierende Gesellschaft die wirtschaftliche Produktivität erhöht werden müsste, und zwar bei gleichzeitiger besserer Ausnutzung der Talente eines jeden Einzelnen.930 Im Text findet sich mit der Forderung nach konkurrenzfähigen Märkten schließlich noch ein weiterer Baustein aus dem bekannten ideologischen Repertoire New Labours. Dort heißt es, dass die Schaffung solcher Märkte ein wichtiger Schritt hin zu größerem Wohlstand für alle sei. „Where markets work well, they provide strong incentives for good performance (…). Where they do not work well (…) there needs to be effective economic regulation to secure the public interest”931, so die Abwandlung der schon an anderer Stelle vorgebrachten politischen Handlungsmaxime New Labours vom zurückhaltend regulierenden Staat an der Seite einer weitgehend liberalisierten Wirtschaft. Die Diskussionen mündeten im Election Manifesto für die Wahl im Mai 2005, bei der sich Tony Blair das letzte Mal als Parteichef und Premierminister zur Wahl stellte. In seinem Vorwort betont der Labour-Chef, dass seine Partei in einer dritten Regierungszeit noch stärker als bisher die Verbindung zwischen den Zielen des wirtschaftlichen Fortschritts und der sozialen Gerechtigkeit herausstellen werde. Nach wie vor sei die Ermöglichung des persönli-
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Vgl. Labour Party: Prosperity for all. London 2003. S. 1. ebenda. Vgl. ebenda. S. 2. ebenda. S. 6.
chen Aufstiegs und der gesellschaftlichen Teilhabe bei einer zeitgleich prosperierenden Wirtschaft das maßgebliche Ziel Labours, wobei sich gemäß Blairs Argumentation die Erreichbarkeit eines dieser Ziele wechselseitig von der Erreichung des jeweils anderen abhänge.932 Im mit Wirtschaftsfragen befassten Kapitel 1 des Programms finden sich dann zum größten Teil altbekannte Ideen New Labours in leicht gewandelter Form. Unter der Zwischenüberschrift ‚The New Labour case‘ stellt der Text zu Beginn fest, dass die Philosophie New Labours vom notwendigen Hand-in-Hand-Gehen ökonomischer Dynamik und sozialer Gerechtigkeit mittlerweile weithin anerkannt sei.933 Danach folgt die Aufzählung wichtiger wirtschaftspolitischer Herausforderungen, angefangen bei der Erreichung von Vollbeschäftigung, der Unterstützung der Wirtschaft durch die Regierung und der Schaffung eines ausbalancierten Systems aus freiem Wettbewerb und Regulierung. Die jeweiligen Formulierungen sind zwar neu gestaltet, die Inhalte aber sind denen früherer programmatischer Aussagen New Labours sehr ähnlich. So wird beim Thema Vollbeschäftigung von „employment opportunity for all (as) the modern definition of full employment“934 gesprochen. In Bezug auf die Wirtschaftsförderung durch die Regierung wird festgestellt, dass eine Regierung selbst keinen Reichtum kreieren, aber sehr wohl die Begründer von Reichtum unterstützen könne. In einer sich schnell ändernden globalen Wirtschaft könne eine Regierung den Wandel nicht hinauszögern oder gar verhindern.935 „The modern role for government – the case for a modern employment and skills policy – is to equip people to succeed, to be on their side, helping them become more skilled, adaptable and flexible for the job ahead“936, so die Antwort im Wahlprogramm. Im weiteren Verlauf sprechen die Autoren dann vom richtigen Rahmen, den eine Labour geführte Regierung den Unternehmen gewährleisten müsse, und halten fest, dass Regulierungen nur dort getätigt werden sollen, wo es unbedingt erforderlich sei.937 In der Gesamtbetrachtung wird deutlich, dass sich seit der Regierungsübernahme durch die Labour Party 1997 unter der Führung Tony Blairs zumindest in Bezug auf Wirtschaftsfragen wenig am grundsätzlich-programmatischen, von den Protagonisten New Labours dominierten Diskurs geändert hat. Seit 1997 ist ein Grundschema in der Wirtschaftspolitik der Labour Party zu erkennen, dass als Kombination zweier Anliegen gedeutet werden kann. Auf der 932 933 934 935 936 937
Vgl. Blair, Tony: Preface. In: Labour Party: Britain forward, not back. London 2005. S. 8. Vgl. Labour Party: Britain forward, not back. London 2005. S. 15. ebenda. S. 17. Vgl. ebenda. S. 18. ebenda. Vgl. ebenda. S. 20 und 22.
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einen Seite bemüht sich die Wirtschaftspolitik New Labours um eine möglichst hohe makro-ökonomische Stabilität, auf der anderen Seite steht der Versuch, die Angebotsseite der Wirtschaft durch Regierungsmaßnahmen in Form von Training und Netzwerkbildungen zu revitalisieren.938 Das Zusammenspiel dieser beiden Ansätze bildete im Jahr 2005 den Kern der ökonomischen Programmatik der Labour Party. Das Verhältnis Labours zur kapitalistischen Marktwirtschaft könne als ein adaptives bezeichnet werden, so eine Beurteilung Noel Thompsons, die zur Quintessenz der eben gemachten Feststellung passt.939 Tatsächlich hat die britische Sozialdemokratie unter der Führung New Labours die wesentlichen Mechanismen der Marktwirtschaft akzeptiert und bemüht sich spätestens seit ihrer Regierungsübernahme um ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft, um unter Zuhilfenahme institutionalistischer und liberaler Ansätze wirtschaftliche Stabilität und Wohlstand zu erreichen.
3.3.2.
‚Informatisierung’ – der Wandel des Verhältnisses von Technik, Natur und Gesellschaft
Wie in Kapitel III. 1.1.2. schon dargestellt, ergaben sich zeitgleich zur wirtschaftlichen Globalisierung auch Veränderungen in den Arbeitswirklichkeiten der Menschen durch die zunehmende Technisierung und Informatisierung. Darüber hinaus drängten verstärkt ökologische Themen auf die politischen Agenden. Gemäß der vorangegangen Analysen mussten sich besonders sozialdemokratische Parteien mit diesen Herausforderungen befassen, und nachdem in Kapitel III. 2.3.2. die Vorgehensweise der SPD analysiert worden ist, soll im Folgenden die programmatische Reaktion der Labour Party untersucht werden. Im ersten Bericht der Policy Review von 1988 befasste sich die ‚People at work‘ genannte Arbeitsgruppe intensiv mit den Veränderungen in der Arbeitswelt. In Bezug auf die kommenden Herausforderungen in den 1990er Jahren stellt der Bericht fest, dass es zwei maßgebliche Probleme gebe, für die Lösungen gefunden werden müssten. Auf der einen Seite finde sich die britische Wirtschaft zukünftig in einer deutlich kompetitiveren wirtschaftlichen Umgebung wieder. Hierbei wird vor allem auf die in den 1980er Jahren wirtschaftliche Sicherheit bietenden britischen Ölvorkommen angespielt, die jedoch ihre Bedeutung als ökonomisches ‚Polster‘ zunehmend verlieren würden, und dies nicht nur auf 938 Vgl. Bevir, Mark. London 2005. S. 153. 939 Vgl. Thompson, Noel. London 2006. S. 286.
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Grund ihres Schwindens. Auf der anderen Seite käme es zu neuen Entwicklungen in den elektronischen und informationstechnologischen Bereichen, so dass klassische Industrien und Wirtschaftszweige ihre Relevanz stark einbüßen würden. Hinzu komme ein Wandel in der Struktur der Arbeitswelt. Der Trend weg von der herstellenden und verarbeitenden Industrie hin zur Dienstleistungs- und Servicewirtschaft würde sich verstärkt fortsetzen, und in Zuge dessen würden sich auch die Rahmenbedingungen der Beschäftigungsverhältnisse verändern.940 Die Antwort der Arbeitsgruppe auf diese Herausforderungen ist der Ruf nach mehr Bildung und Ausbildung. „Education and training are the keystones of a society of opportunity (…) and an economy that is competitive and efficient“941, so das Urteil der Autoren. Auf den technischen Fortschritt an sich sowie den hierdurch bedingten Wandel der Arbeitswelten wird nicht detaillierter eingegangen. Der Text befasst sich eher allgemein damit, dass die zukünftig verstärkt benötigte Qualifizierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über bessere Bildung und Ausbildung erreicht werden müsse. Im nächsten Policy Review-Dokument befassen sich mehrere Arbeitsgruppen jeweils deutlich ausführlicher mit den oben genannten Herausforderungen. Die Forderungen nach mehr Bildung und Qualifizierung werden hierbei aufgegriffen, die technologischen Veränderungen benannt, und es wird ein pragmatischer Umgang mit ihnen postuliert. Ein erstes Analyseergebnis lautet dementsprechend schon in der Einleitung: „Future success in capturing markets requires high-quality, high-tech, high value added goods and services, produced by people with a high level of education and skills.“942 Die Rede ist von einer neuen ‘skills culture’, die es nach einem Jahrzehnt der Öl-basierten Wirtschaft in den 90er Jahren zu implementieren gelte. Ziel sei die auf Talenten basierte Wirtschaft, da nur so zukünftiger Erfolg gesichert werden könne.943 Im Bericht der mit Wirtschaftsfragen befassten Arbeitsgruppe wird anschließend die Bedeutung einer solchen ‚talent based economy‘ noch einmal unterstrichen. Nur über einen Ausbau von Qualifizierung und Bildung könne in Zeiten voranschreitender Technologisierung der volkswirtschaftliche Erfolg gesichert werden. Die oben schon erwähnte Arbeitsgruppe mit dem Namen ‚People at work‘ betitelte ihren Bericht schließlich direkt mit der Überschrift ‚A talent-based economy‘, wobei die Autoren vom generellen Anliegen der Labour Party sprechen, über Investitionen in Fähigkeiten und Potentiale sowohl die
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Labour Party: Social Justice and Economic Efficiency. London 1988. S. 9. ebenda. S. 10. Labour Party: Meet the challenge, Make the change. London 1989. S. 6. Vgl. ebenda. S. 7.
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Lebensqualität des Einzelnen als auch die Produktivität und Effizienz der Wirtschaft als Ganzes zu steigern. Argumentativer Schwerpunkt ist auch hier, dass die Zeiten des Öl-basierten Wirtschaftens vorüber seien und sich die britische Volkswirtschaft den Herausforderungen des aufkommenden Informationszeitalters durch eine Fokussierung auf die Talente und Qualifikationen des Einzelnen stellen müsse.944 Hierauf folgen detaillierte politische Vorschläge, wie Talente gefördert und Qualifikationen verbessert werden könnten. Diese gründen unter anderem auf den von der Wirtschafts-Arbeitsgruppe gemachten Äußerungen zu Wissenschaft und Informationsgesellschaft. Dort wird verstärkte Forschungsanstrengung im technologischen Bereich eingefordert und die Bedeutung des Informationsaustausches herausgestellt. „In the modern economy, it is the transport of ideas and information (…) which is crucial to our future.”945 Die grundsätzliche Bewertung des technischen Fortschritts fällt in den ersten beiden Dokumenten der Review demnach positiv aus, da zuvorderst von der pragmatischen Bewältigung der neuen Herausforderungen durch bessere Qualifizierung und Bildung die Rede ist und kaum ein Wort über die eventuelle Nachteile zu finden ist. Im Jahr 1989 meldete sich mit Bryan Gould jedoch auch eine kritische Stimme der Labour Party zu Wort. Gould, der im Herbst des Jahres zum ‚chief environment spokesman‘ Labours ernannt worden war, merkte in Bezug auf die neuen Technologien an, dass es noch nicht ausgemacht sei, ob diese tatsächlich der breiten Bevölkerung und somit der gesamten Volkswirtschaft zum Nutzen gereichen würden, oder ob es mit ihrer Hilfe nicht zu einer Verschärfung alter Konflikte zwischen Kapitalbesitzern und Arbeiternehmern komme. Auf der einen Seite würden neue Informationstechnologien es beispielsweise allen Menschen erleichtern, sich über Märkte und Produkte zu informieren und somit in Relation zu den Produzenten einen Zuwachs an Macht zu erlangen. Auf der anderen Seite hingegen sei es Unternehmern und Produzenten nun möglich, durch die Nutzung günstiger neuer Technologien zum Beispiel Arbeitskräfte einzusparen und somit die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber der Konkurrenz zu erhöhen.946 „The question of whose interests will be served by the new technology is one of the most important challenges facing socialists in the 1990s“947, so die kritische Einschätzung Goulds.
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Vgl. ebenda. S. 9-10 und 17. ebenda. S. 12. Vgl. Gould, Bryan. London 1989. S. 41-42. Vgl. ebenda. S. 42.
In den beiden folgenden Dokumenten im Rahmen der Policy Review wird der zuvor eingeschlagene Kurs fortgesetzt, was bedeutet, dass es keine ähnlich skeptische Beurteilung des technischen und arbeitsweltlichen Wandels wie bei Gould gibt, sondern vielmehr eine erneute Konstatierung großen Nachholbedarfs bei Bildung, Qualifizierung und wissenschaftlicher Technikentwicklung. So sprechen die Autoren in ‚Looking to the Future‘ davon, dass Investments in Bildung und Qualifizierung, bezeichnet als “the “commanding heights” of a modern economy”948, essentiell für einen langfristigen Erfolg der britischen Wirtschaft wären. Im Folgenden findet sich wie schon in vorangegangenen Dokumenten eine detailgenaue Aufzählung unterschiedlicher Maßnahmen in diesem Bereich. Auch in Bezug auf Wissenschaft und technologische Entwicklung sieht das Papier Nachholbedarf, es wird von einer ‚science and technology gap‘ gesprochen, einer Lücke, die es im Zuge der global voranschreitenden Technisierung zu schließen gelte.949 Von eben diesen Lücken beziehungsweise Defiziten in der britischen Gesellschaft und Wirtschaft spricht auch das letzte Papier der Review aus dem Jahr 1991. Im industriellen Sektor müssten hochwertigere Produkte angeboten werden, und im Dienstleistungssektor sei eine Verbreiterung und Vertiefung der Fähigkeiten der Einzelnen im Angesicht immer spezifischer werdender Anforderungen notwendig. In beiden Feldern sei Technologie wichtig, aber der richtige Gebrauch dieser Technik durch qualifiziertes, gut ausgebildetes Personal sei von mindestens ebenso großer Bedeutung. In Bezug auf die Entwicklung neuer Technologien sprechen sich die Autoren für eine verstärkte Förderung durch eine zukünftige LabourRegierung aus. Auch hier sei Großbritannien im Hintertreffen, ein Aufschließen zu den internationalen Wettbewerbern, wenn nicht gar Überholen der Konkurrenz sei geboten.950 Hierbei wird erneut eine grundsätzlich positive Betrachtung des technologischen Fortschritts und des Wandels von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft erkennbar. In Zusammenhang mit diesen arbeitsweltlichen und gesellschaftlichen Veränderungen durch Technisierung und Informatisierung rückten darüber hinaus Ende der 1980er Jahre auch in Großbritannien verstärkt postmaterialistische und hierbei zuvorderst umweltpolitische Themen in den Fokus. Tatsächlich hatte Umweltpolitik in der Labour Party bis Mitte der 80er Jahre kaum eine Rolle gespielt, da auf Grund der im europäischen Vergleich schlechten Wirtschaftslage 948 Labour Party: Looking to the Future. London 1990. S. 11. 949 Vgl. ebenda. S. 14. 950 Vgl. Labour Party: Opportunity Britain. London 1991. S. 5 und 8.
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Großbritanniens materialistische Fragestellungen, die sogenannten ‚Brot-und Butter‘ Themen, im Vordergrund standen.951 Dies änderte sich jedoch im Jahr 1986 mit einem ersten größeren Bericht zu Fragen der Umweltpolitik, der erkennbar unter dem Eindruck der nuklearen Katastrophe in Tschernobyl im selben Jahr entstanden war.952 Nachdem das Thema Umwelt im Wahlprogramm von 1987 noch komplett ausgeblendet worden war und in der ursprünglichen Konzipierung der Policy Review nach der Wahlniederlage von 1987 keine Arbeitsgruppe zum Thema Umwelt vorgesehen war, widmeten sich ab 1988 die Dokumente der Policy Review schließlich doch ökologischen Fragestellungen.953 Die gestiegene Relevanz des Themenbereichs konnte langfristig nicht ignoriert werden, und so findet sich in ‚Social Justice and Economic Efficiency‘, dem ersten ReviewDokument, eine Arbeitsgruppe mit dem Namen ‚Physical and Social Environment‘. Hier wurde in einer ersten Analyse der schlechte Zustand des britischen Ökosystems beklagt und die Forderung erhoben, dass Großbritannien eine Vorreiterrolle in Umweltfragen einnehmen müsse.954 Ausführlicher wurden umweltpolitische Fragestellungen anschließend in ‚Meet the challenge, Make the change‘ behandelt. Der Bericht der Umwelt-Arbeitsgruppe knüpft explizit an das erste Partei-Statement zum Thema von 1986 an, und liefert eine gründliche Bestandsaufnahme, gefolgt von einer Vielzahl geplanter Maßnahmen. Unter der Überschrift ‚A better quality for life‘ wird direkt zu Beginn deutlich gemacht, dass Umweltfragen eine umfassende Bedeutung hätten und daher auch bei der Gestaltung in anderen Politikfeldern nicht ignoriert werden könnten; „Protecting and raising environmental standards must be part of any successful strategy for continuing prosperity and sustainable economic development.”955 Anschließend werden vier grundsätzliche Prinzipien genannt, die die Eckpfeiler der neuen Umweltpolitik Labours bilden sollen. Konkret sind dies die aktive Vorsorge gegen Umweltverschmutzung, das Prinzip der Verursacherhaftung bei Umweltvergehen, erhöhte wissenschaftliche Forschung und hieraus entwickelte Vorsichtsmaßnahmen als Basis für zukünftige politische Entscheidungen, sowie die verstärkte Informationsoffenlegung in Bezug auf Umweltfragen durch Wirtschaft und Regierung. Eine weitere neue Erkenntnis stellte die von der Arbeitsgruppe beschriebene sinnvolle Verbindung zwischen Umweltpolitik und der Sicherung beziehungsweise Generierung von Arbeitsplätzen dar. Es bestehe ein 951 952 953 954 955
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Vgl. Shaw, Eric. In: Gillespie, Richard/Paterson, William E. (Ed.). London 1993. S. 125. Vgl. Labour Party: Statement on the Environment. London 1986. Vgl. Hughes, Colin/Wintour, Patrick. London 1990. S. 42. Vgl. Labour Party: Social Justice and Economic Efficiency. London 1988. S. 39-40. Labour Party: Meet the challenge, Make the change. London 1989. S. 67.
direkter Zusammenhang zwischen Umweltpolitik und einer Belebung des Arbeitsmarktes, da durch derartige politische Maßnahmen neue Technologien und Dienstleistungen geschaffen werden würden, die mehr Arbeitsplätzen mit sich brächten.956 Grundsätzlich muss aber festgehalten werden, dass die umweltpolitischen Aussagen im zweiten Review-Dokument nicht über das hinausgingen, was schon im ‚Statement on the environment‘ aus dem Jahr 1986 veröffentlicht worden war.957 Das unerwartet starke Abschneiden der Grünen bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Sommer 1989 sensibilisierte die Labour Party erneut, und so wurde im darauf folgenden Jahr ein neues programmatisches Dokument zu ökologischen Fragen mit dem Titel ‚An Earthly Chance‘ veröffentlicht.958 Die Publikation der Policy Review von 1990 war im Wesentlichen eine Wiederholung des schon Bekannten, und so wurden die Ergebnisse aus ‚An Earthly Chance‘ erst mit dem Erscheinen in ‚Opportunity Britain‘, dem letzten Review-Dokument aus dem Jahr 1991, Teil der großen Programmrevision der Labour Party. Im ersten, mit Wirtschaftsfragen befassten Kapitel sprechen sich die Autoren von ‚Opportunity Britain‘ konkret für eine ‚greening industry‘ aus, womit gemeint ist, dass die Industrie als größter Schmutzproduzent und Konsument von Energie und natürlichen Ressourcen an erster Stelle in die Pflicht genommen werden solle. Zu diesem Zweck müssten umweltpolitische Rahmenbedingungen und Vorgaben erarbeitet werden, die es der Industrie ermöglichen würden, den Einsatz umweltfreundlicherer neuer Technologien und die Herstellung eben solcher Produkte zu forcieren.959 Unter der Überschrift ‚The quality revolution‘ behandelt das Dokument anschließend ausführlich umweltpolitische Fragen. Hierbei werden, konkret bezogen auf die vorangegangenen programmatischen Texte, erneut die oben schon beschriebenen vier Prinzipien genannt, welche die Grundlage Labours umweltpolitischer Programmatik darstellen sollten. Eingeleitet werden die Ausführungen unter anderem mit der Feststellung, dass „the natural environment and the economy cannot be separated.“960 Auf Grund der zwingenden Verbindung von wirtschaftlichen Fortschritt und ökologischer Verantwortung sei die Nachhaltigkeit zukünftiger Entwicklungen ein wichtiges Ziel der Labour Party. Ein weiterer Kernpunkt des umweltpolitischen 956 Vgl. ebenda. S. 68 sowie 75. 957 Vgl. Carter, Neil: The ‚greening‘ of Labour. In: Smith, Martin J./Spear, Joanna (Ed.): The Changing Labour Party. London 1992. S. 125. 958 Vgl. Labour Party. An Earthly Chance. London 1990. 959 Vgl. Labour Party: Opportunity Britain. London 1991. S. 10-11. 960 ebenda. S. 21.
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Programms ist die Einsetzung eines, als ’green watchdog‘ titulierten unabhängigen Umweltschutzbeauftragten. Darüber hinaus strebe Labour die Implementierung einer europäischen Umwelt Charta an, um umweltpolitische Standards europaweit zu garantieren.961 Das meiste hiervon war schon früher postuliert worden, und doch gibt es eine Weiterentwicklung der programmatischen Denkweise, die ins Auge fällt. Gemeint ist die Feststellung der Autoren, dass es bei umweltpolitischen Themen einer neuen Herangehensweise bedürfe, die die Grenzen zwischen den traditionellen Politikfeldern verwische. Ein politisches Programm, das den Anspruch auf umfassende Vollständigkeit stellen würde, müsste ökologische Fragestellungen in alle Politikbereiche integrieren, so die Quintessenz der Aussagen in ‚An earthly chance‘ und ‚Opportunity Britain‘.962 Im nächsten Programm für die Wahl 1992 wurden sowohl zum technologischen Wandel mit seinen Implikationen als auch zum Thema Ökologie Aussagen gemacht, jedoch waren diese relativ knapp gehalten und lieferten wenig Neues. So wird davon gesprochen, dass im Angesicht des Wandels der industriellen Arbeitswelten die Notwendigkeit bestehe, die britische Industrie zu modernisieren.963 In Zusammenhang damit sei eine stärkere Ausbildung qualifizierten Personals von Nöten: „Britain’s future must be high skill (…) and high tech“964, so die Bündelung der Forderungen. In Bezug auf die Umweltpolitik lieferte das Wahlprogramm neben einzelnen konkreten Maßnahmen für eine potentielle Labour-Regierung ein Konzentrat der in früheren Texten formulierten Ideen: „Economic progress goes hand in hand with environmental responsibility. Labour will embrace the goal of sustainable development, with environmental modernisation an integral part of our industrial strategy.”965 Nachdem auch die Wahl von 1992 für die Sozialdemokraten verloren gegangen war, wurden die inhaltlich-programmatischen Auseinandersetzungen auf den jährlich stattfindenden Parteitagen fortgesetzt. Im Jahr 1993 wurde erneut ein Zyklus von Beratungen und Diskussionen über zu verändernde politische Inhalte gestartet, was dazu führte, dass schon auf dem 93’er Parteitag mehrere Berichte zu verschiedenen Politikfeldern publiziert wurden. In Bezug auf die in diesem Kapitel relevanten Themen fanden sich Aussagen sowohl in dem
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Vgl. ebenda. S. 21-22. Vgl. Carter, Neil. In: Smith, Martin J./Spear, Joanna (Ed.). London 1992. S. 127-128. Vgl. Labour Party: It’s time to get Britain working again. London 1992. S. 12. ebenda. S. 13. ebenda. S. 21.
zuvor schon zitierten Bericht der Partei zu wirtschaftspolitischen Fragen als auch in einem mit europäischen Fragestellungen befassten Dokument. Gleich zu Beginn stellen die Autoren von ‚Labour’s economic approach‘ fest, dass sich die Labour Party der Herausforderung dreier ‚Revolutionen‘ stellen müsse, namentlich der globalen, der umweltpolitischen und der Wissensrevolution. Hier relevant sind die beiden letztgenannten, wobei der Text unter der Umwelt-Revolution die Herausforderung versteht, die Umwelt zu konservieren beziehungsweise ausreichend zu schützen. Mit Wissensrevolution ist die Herausforderung gemeint, sich in Zeiten verstärkter Technisierung und Informatisierung der notwendigen Verbesserung der Fähigkeiten und Qualifikationen der Arbeitnehmer anzunehmen, damit anschließend die Bedürfnisse der neuen wissensintensiven Industrien befriedigt werden können.966 Entsprechend dieser Bestandsaufnahme wird, erneut in Anlehnung an bereits publizierte Aussagen zum Thema, wenige Seiten später von der ‚skills gap‘ gesprochen, die es zu schließen gelte, wolle man angesichts der veränderten Ausgangslage langfristig wirtschaftlich erfolgreich sein.967 Beim Thema Umwelt weist der Bericht erneut auf die Verbindung zwischen umweltpolitischen Maßnahmen und Initiativen und der Schaffung beziehungsweise Erhaltung von Arbeitsplätzen hin. „Social justice, economic efficiency and evironmental improvement are not in conflict but go hand in hand“968, so die positive Einschätzung der Autoren. Der im selben Rahmen veröffentlichte Text der Europa-Arbeitsgruppe der Partei transportiert die umweltpolitischen Vorstellungen Labours im Anschluss auf die europäische Ebene, wenn gefordert wird, dass sich die Europäische Gemeinschaft auch verstärkt Fragen des Umweltschutzes annehmen solle. Konkret benannt werden die schon in der Policy Review postulierte Kreierung einer EGUmwelt Charta, sowie die Einrichtung einer übergeordneten europäischen Umweltagentur. Besonders hervorgehoben wird außerdem die Schlüsselposition der Europäischen Gemeinschaft beim Umweltschutz und bei der Implementierung umweltpolitischer Standards und Richtlinien.969 Eine ausführlichere Beschäftigung mit umweltpolitischen Fragestellungen fand im darauf folgenden Jahr in Form eines von der ‚Policy Commission on the environment‘ auf dem 94’er Parteitag vorgelegten Berichtes statt. Das mit ‚In trust for tomorrow‘ betitelte Dokument sollte die entscheidenden Argumente 966 967 968 969
Vgl. Labour Party: Labour’s economic approach. London 1993. S. 8. Vgl. Ebenda. S. 13. ebenda. S. 17. Vgl. Labour Party: Prosperity through co-operation – A new european future. In: Labour Party: Statements to Conference. London 1993. S. 58.
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und Impulse liefern, um die Bedeutung der Vernetzung aller Politikfelder mit Fragen der Umwelt zu unterstreichen. Der Schutz der natürlichen Ressourcen und die damit zusammenhängende Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen werden hierbei als übergeordnete Ziele ausgegeben. Zusätzlich wird angemerkt, dass effektiver Umweltschutz zuvorderst durch Regierungsmaßnahmen verwirklicht werde und daher nicht dem freien Markt überlassen werden könne. Zwei weitere entscheidende Aspekte, die sich durch das mehr als 50 Seiten starke Dokument ziehen Aspekte sind die Überzeugung, dass hohe ökologische Standards zu größerer ökonomischer Effizienz führen würden, sowie die Feststellung, dass umweltpolitischer Fortschritt und gesellschaftliche Gleichheit Hand in Hand gehen würden.970 Argumentative Grundlage des gesamten Dokumentes ist die ideologische Prämisse, dass jede Entwicklung nachhaltig sein müsse. Der Begriff der Nachhaltigkeit zieht sich durch den ganzen Text und ist elementarer Bestandteil der detailliert vorgetragenen, anschließend von Labour in der Regierungsverantwortung zu ergreifenden Maßnahmen. Zentral sind dabei die zu Beginn aufgestellten ‚Principles of sustainable development‘, die sich auf die schon 1990 veröffentlichten Nachhaltigkeits-Prinzipien in ‚An Earthly Chance‘ beziehen, wobei hier fünf neue Prinzipien hinzugefügt werden. An erster Stelle wird die fundamentale Verbindung zwischen gesellschaftlicher Gleichheit und nachhaltiger Entwicklung betont, da die Umwelt allen Menschen gleichermaßen gehören würde. Ein weiteres neues Prinzip ist die Feststellung, dass es bei der Nutzung der natürlichen Ressourcen umweltbedingte Limits geben müsse, die zu respektieren seien. Deshalb müsse es zukünftig ein umweltpolitisches Nachfragemanagement geben, um Umweltverschmutzung und Ressourcenverbrauch in Grenzen zu halten. Sämtliche Politiken sollten prinzipiell auf ihre Umweltverträglichkeit hin überprüft werden, und zwar in einem möglichst frühen Stadium ihrer Formulierung. An letzter Stelle wird dann ein so genanntes ‚replacement principle‘ eingefordert, dass im Angesicht des steten Verbrauchs natürlicher Ressourcen das zeitgleiche Entwickeln von Alternativen anmahnt.971 In der in den Jahren 1993 bis 1995 parallel stattfindende Debatte über die Clause IV der Parteiverfassung mit dem Ergebnis der Neuformulierung dieses Verfassungsteils spielten Fragen der Umweltpolitik und des technischen Fortschritts keine Rolle. Diese Themen tauchten lediglich in den mit Blick auf das 970 Vgl. Labour Party: In trust for tomorrow. Report of the Labour Party Policy Commission on the environment. London 1994. S. 5 und 7-8. 971 Vgl. ebenda. S. 9.
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Wahlprogramm für die nächste landesweiten Wahl im Jahr 1997 geschriebenen Consultation Documents wieder auf. Im Bericht der ‚Economic Policy Commission‘ aus dem Juni 1995 wird beispielsweise an verschiedenen Stellen erneut von der schon häufig erwähnten ‚skills gap‘ gesprochen, und es werden verstärkte Investitionen in Qualifikationen und Bildung eingefordert.972 Generell wird erkennbar, dass das Thema Bildung in den programmatischen Texten der Labour Party allmählich immer deutlicher in den Vordergrund rückt, und zwar bei gleichzeitiger Betonung der Qualifikationsdefizite der britischen Arbeitnehmerschaft im Angesicht des globalen wirtschaftlichen und technologischen Fortschritts. „Sustainable growth with low inflation and the full and fulfilling employment opportunities we need will only be within the British economy’s grasp when we have more people with skills, investment capacity and new technologies which are the key to successful competition in the modern global economy”973, konstatieren die Verfasser im Eingangsstatement. Auch der Umweltschutz findet im Kommissionsbericht Erwähnung, und zwar in Form einer Zitierung der Aussagen aus ‚In Trust for Tomorrow‘, die erneut unterstrichen werden. Darüber hinaus wird die Bewahrung der natürlichen Umwelt in einem Atemzug mit den Forderungen nach mehr Qualifizierung und einer verstärkten Nutzen der modernen Technologien als entscheidender Bestandteil einer Zukunftsstrategie genannt.974 Im zweiten Teil der Publikation, der sich mit Labours Ansatz für soziale Gerechtigkeit befasst, wird, was bisher kaum anklang, die steigende Unsicherheit in den Arbeitswelten thematisiert. Diese wird als Konsequenz aus Veränderungen durch Globalisierung, Technisierung und Informatisierung beschrieben, obwohl diese Herausforderungen von Labour grundsätzlich positiv angenommen werden. „The world of work is changing and has to change. Labour acknowledges the positive power of change at work to develop new technologies, find new markets, refine new skills”975, aber diese Entwicklungen würden ihrer positiven Wirkung beraubt, wenn nicht die richtigen Rahmenbedingungen existierten, die den Erhalt der Arbeitsplätze der Menschen auch in Zeiten eines derart tiefgreifenden Wandels ermöglichen würden. Es sei wichtige Aufgabe einer Regierung, sich in besonderer Weise um diesen Erhalt zu bemühen, so die Schlussfolgerung der Autoren.976 972 Vgl. Labour Party: A New Economic Future for Britain. London 1995. Part A S. 12, 14 sowie 26. 973 ebenda. S. 8. 974 Vgl. ebenda. S. 35 und 14. 975 Labour Party: A New Economic Future for Britain. London 1995. Part B S. 50. 976 Vgl. ebenda. S. 50-51.
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Im weiteren Verlauf der programmatischen Debatte sprachen sich mit Peter Mandelson und Roger Liddle zwei prominente Vertreter New Labours 1996 dafür aus, dass die Themen Bildung und Qualifizierung im Angesicht des vielfach beschriebenen Wandels in Arbeitswelt und Wirtschaft oberste Priorität haben müssten. Die Anforderungen an die Menschen würden sich mit derselben Geschwindigkeit ändern, mit der sich die globale Wirtschaft und die technischen Möglichkeiten weiterentwickeln würden. Daher sei ein intensiver und breit angelegter Ausbau der so genannten ‚skills‘ zwingend erforderlich.977 Im selben Jahr erschien ein Consultation Document als Teil einer mit ‚Road to the Manifesto‘ überschriebenen Reihe, die den inhaltlichprogrammatischen Weg für ein neues Wahlprogramm bereiten sollte. Das Papier mit dem Titel ‚Lifelong Learning‘ behandelte, ganz im Sinne der jüngsten Diskussionen innerhalb der Labour Party, ausschließlich Fragen von Bildung und Qualifizierung mit dem Ziel, das programmatische Profil der Partei auf diesem Politikfeld weiter zu schärfen und die Bewältigung der ‚skills gap‘ als elementare Herausforderung für zukünftige Regierungen darzustellen. Die wirtschaftliche Zukunft des Landes sei abhängig von den Qualifikationen und Kompetenzen der Menschen, so das deutliche Fazit der Verfasser.978 Und ganz im Licht des bisher von der Partei schon Verlautbartem steht die hieran anschließende Einschätzung: „(that) in a rapidly-changing, technologically advanced and increasingly competitive global economy, Britain needs a world-class system of education and training.“979 Der Begriff des lebenslangen Lernens wurde spätestens im Wahljahr 1997 zu einem prägenden Bestandteil der Programmatik New Labours. Die neue, besonders starke Betonung von Bildung und Qualifizierung als essentiellen Bestandteilen der Philosophie des Dritten Wegs wurde in erster Linie mit den gewachsenen Herausforderungen auf Grund von globalisierten Märkten und technischem Fortschritt begründet. Festzuhalten bleibt aber, dass das politische Klima Mitte der 1990er Jahre gemeinsam mit dem durch die Globalisierung bedingten zunehmenden Wettbewerb die Spielräume für staatliche Interventionen im Verhältnis zu privatem Kapitel und industriellen Investments nachhaltig eingeengt hatte. Dementsprechend entstand für die Labour Party die Notwendigkeit, sich in der Wirtschafts- und Industriepolitik verstärkt auf die Verbesserung der Rahmenbedingungen für den Arbeitsmarkt und den Ausbau von arbeitsweltlich relevanten Fähigkeiten und Kompetenzen zu konzentrieren, um 977 Vgl. Mandelson, Peter/Liddle, Roger. London 1996. S. 89-90. 978 Vgl. Labour Party: Lifelong Learning. London 1996. S. 2. 979 ebenda.
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einen Ausgleich für die alten, nun diskreditierten Konzepte der Industriepolitik und Kapitalkontrolle zu schaffen.980 Im Labour Party Election Manifesto von 1997 wurden die in den oben genannten Dokumenten entwickelten Vorstellungen übernommen, so dass auch hier Bildung und Qualifizierung an vorderster Stelle standen, was sich in der Überschrift des ersten Kapitels widerspiegelte: „We will make education the number one priority“981. Weiter im Text kommt das Programm auf das lebenslange Lernen zu sprechen und konstatiert, dass die Verbesserung der Fähigkeiten und Bildung eines jeden Einzelnen in Zeiten steten Wandels unabdingbar sei. Industrie, Wirtschaft und Wissenschaft müssten sich zusammenschließen, um neue Technologien zu entwickeln, sie zu nutzen, und neue Lernprozesse anzustoßen.982 In Anlehnung hieran werden die Herausforderungen der aufkommenden Wissens- und Informationsgesellschaft positiv gesehen, da Großbritannien bei einem stetigen Ausbau von Bildung und Qualifizierung der Menschen hierfür gewappnet sein würde. Im selben Atemzug wird anschließend ein Bogen zur Umweltpolitik dadurch geschlagen, dass die Bedeutung von neuen Umwelttechnologien in Korrelation mit aktivem Umweltschutz für die Schaffung von Arbeitsplätzen betont wird.983 Darüber hinaus ist der ganzheitliche Ansatz von Umweltpolitik, wie er schon 1993 eingefordert worden war, auch elementarer Bestandteil der Wahlprogrammatik Labours im Jahr 1997. „We will put concern for the environment at the heart of policy-making, so that it is not an add-on extra, but informs the whole of government, from housing and energy policy through to global warming and international agreements”984, so Tony Blair in seinem Vorwort. An späterer Stelle, bevor konkrete umweltpolitische Maßnahmen vorgestellt werden, wird die Umsetzung dieser engagierten Festlegung ganzheitlich operationalisiert: „The foundation of Labour’s environmental approach is that protection of the environment cannot be the sole responsibility of any one department of state. All departments must promote policies to sustain the environment.“985 Und auch die internationale beziehungsweise europäische Zusammenarbeit in Um980 Vgl. Stedward, Gail: New Labour’s education policy. In: Coates, David/Lawler, Peter (Ed.): New Labour in power. Manchester 2000. S. 171. 981 Labour Party: New Labour – Because Britain deserves better. London 1997. S. 6. 982 Vgl. ebenda. 9. 983 Vgl. ebenda. S. 16-17. 984 Blair, Tony. In: Labour Party: New Labour – Because Britain deserves better. London 1997. S. 4. 985 Labour Party: New Labour – Because Britain deserves better. London 1997. S. 28.
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weltschutzfragen müsse verstärkt Beachtung finden, so der Programmtext.986 Tatsächlich hatte die Führung der Labour Party den 1993 in ‚In trust for tomorrow‘ herausgearbeiteten Nachhaltigkeitsansatz programmatisch verinnerlicht und war zu der sich im Wahlprogramm widerspiegelnden Erkenntnis gekommen, dass das Konzept der nachhaltigen Entwicklung im Vergleich zu den Vorstellungen früherer konventionellerer Umweltpolitiken wesentlich breiter angelegt sein müsste.987 Nach der Regierungsübernahme Labours im Jahr 1997 wurde die Programmarbeit im Rahmen der neu ins Leben gerufenen ‚Partnership in Power‘ mit einer Vielzahl von Consultation Papers fortgesetzt. Der Schwerpunkt der Argumentation unterschied sich dabei kaum von bisher schon Gesagtem. An vorderster Stelle wird nach wie vor für höhere Standards bei Bildung und Ausbildung plädiert, wobei im mit ‚Education and Employment‘ überschriebenen Bericht vom Wandel der Arbeitswelt gesprochen wird, dem mit einem breit angelegtem Ausbau von Qualifikationen begegnet werden müsse.988 Stichwort ist auch hier die Vorstellung des lebenslangen Lernens, wenn es heißt „the changing world of work (is, Anm.d.A.) requiring organisations to adjust rapidly, and individuals to commit themselves to lifelong learning so their skills remain relevant.”989 Im nächsten Bericht der Bildungs-Arbeitsgruppe wird das Ziel der Bildungs- und Beschäftigungspolitik Labours im Kontext der Visionen für das 21. Jahrhundert schließlich klar formuliert. Es gehe darum, „(to) ensure individuals have access to learning and skills development, so that they can develop their talents and participate in a full employment economy.”990 Auch im Bericht der mit Wirtschaftsfragen befassten Arbeitsgruppe aus dem Jahr 2000 findet sich eine relativ optimistische Einschätzung der Herausforderungen, gepaart mit dem Ruf nach dem Ausbau der Qualifikationen der breiten Bevölkerung. Es gelte, die Chancen des technischen Aufbruchs im Informationszeitalter zu nutzen, wobei nach Überzeugung der Labour Party jeder Einzelne die Gesamtgesellschaft mit seinem gestiegenen Wissen voranbringen könne. Von vitalem gesamtgesellschaftlichen Interesse sei hierbei, dass es in der neuen Wissensökonomie keine ‚information havenots‘ gäbe, dass also jedes Mitglied der Gesell986 Vgl. ebenda. S. 39. 987 Vgl. Young, Stephen: New Labour and the environment. In: Coates, David/Lawler, Peter (Ed.): New Labour in power. Manchester 2000. S. 149. 988 Vgl. Labour Party: Education and Employment. First-year consultation document. London 1999. S. 19 und 24-25. 989 ebenda. S. 5. 990 Labour Party: Education and Employment. Second-year consultation document. London 2000. S. 6.
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schaft die neuen technischen Möglichkeiten verstehen und nutzen könne. In diesem Zusammenhang wird auch hier in der Ausweitung der ‚skills‘ der entscheidende Schlüssel zum Erfolg gesehen.991 Eine andere Arbeitsgruppe befasste sich unter anderem mit dem Wandel der Industriegesellschaft und den sich daraus ergebenden kulturellen Veränderungen, und konstatierte, dass beispielsweise durch den zunehmenden elektronischen Handel und den technischen Fortschritt im Bereich der Kommunikation eine neue Wissensökonomie entstanden sei, die neuartige Anforderungen an die Menschen stelle.992 Die Antwort entspricht schon Bekanntem, wenn die Verbesserung der Fähigkeiten und Kenntnisse der Einzelnen postuliert wird. „People are at the heart of the knowledge economy. (…) People are the source of innovation and ideas “993, so die leicht pathetische Begründung für den Bildungsappell. In der Publikation der Arbeitsgruppe aus dem Jahr 2000 finden sich auch Einschätzungen zu umweltpolitischen Fragestellungen, da ein direkter Zusammenhang zwischen arbeitsweltlichem Wandel, Beschäftigungspolitik und Umweltschutz gesehen wird. Dem Streben nach einer gesunden Umwelt ist ein eigenes Kapitel gewidmet, in welchem neben anderem die Strategie einer nachhaltigen Entwicklung skizziert wird, mit Hilfe derer sowohl der sparsame Umgang mit den natürlichen Ressourcen als auch der Schutz der Umwelt garantiert würden, und dies bei gleichzeitiger Ermöglichung hoher und stabiler Level von ökonomischem Wachstum und Beschäftigung.994 Eine ausführlichere Befassung mit Umweltfragen bietet jedoch ein anderes Consultation Paper aus demselben Jahr, in welchem sich die Labour Party intensiv mit der schon früher angedachten sinnvollen Verquickung von Politikfeldern unter der Berücksichtigung umweltpolitischer Gesichtspunkte beschäftigt. In ‚Environment, transport and the regions‘ wird direkt in der Einleitung der Begriff der nachhaltigen Entwicklung erläutert, und die große Bedeutung dieses Konzeptes für die politische Arbeit der Labour Party betont.995 Später im Text findet sich ein Kapitel, das sich, mit ‚Enhancing our Environment‘ überschrieben, detailliert umweltpolitischen Herausforderungen widmet. Erwähnt werden sowohl bereits bekannte Prinzipien wie der Grundsatz, dass der Verur991 Vgl. Labour Party: Economic policy. Second-year consultation document. London 2000. S. 26-27. 992 Vgl. Labour Party: Industry, culture and agriculture. Second-year consultation document. London 2000. S. 12. 993 ebenda. S. 27. 994 Vgl. ebenda. S. 34. 995 Vgl. Labour Party: Environment, transports and the regions. Second-year consultation document. London 2000. S. 6.
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sacher einer Umweltverschmutzung zahlen müsse, als auch die zunehmende globale Erwärmung oder die soziale Dimension von Umweltpolitik.996 Es folgt die Nennung einer Vielzahl von politischen Maßnahmen zur Schonung und Erhaltung der Umwelt, wobei das Ziel klar sei: „In the modern world Labour’s environmental policies will improve our quality of life, whilst achieving sustainable economic development.“997 Das nächste Wahlprogramm der Partei aus dem Jahr 2001, in dem sich die Ergebnisse der Programmarbeit in gebündelter Form wiederfinden sollten, bezieht sich schließlich auch auf die zuvor erarbeiteten Herausforderungen, doch geschieht dies nicht in der Deutlichkeit wie sie noch im 1997er Election Manifesto zu finden war. Der Premierminister und amtierende Labour-Chef Tony Blair spricht ebenfalls von der globalen Wissensökonomie, in der sich Großbritannien behaupten müsse, und fordert im Angesicht der technologischen Revolution einen Ausbau der Fähigkeiten und Fertigkeiten jedes Einzelnen; und doch findet sich im weiteren Verlauf keine derart eindeutige Fokussierung auf Qualifizierungs- und Bildungsfragen mehr wie noch vier Jahre zuvor.998 Darüber hinaus wird das Thema Umwelt lediglich unter internationalen Gesichtspunkten berücksichtigt, wobei vor allem der global spürbare Klimawandel im Zentrum steht.999 Auffallend ist, dass in der Programmarbeit der Jahre 2002 bis 2004 im Nachgang der Bestätigung Labours im Amt 2001 die Umweltpolitik wieder einen prominenteren Platz einnimmt. Dem technischen Fortschritt und der hiermit in Zusammenhang stehenden permanenten Offensive auf dem Feld der Bildungsund Qualifizierungspolitik wird wie bisher viel Platz eingeräumt, aber auch der Umwelt, und insbesondere dem globalen Klimawandel wird ausführlich Rechnung getragen. In ‚Prosperity for all‘ wird zu Beginn klar gemacht, wo die Labour Party die maßgeblichen Herausforderungen sieht. Die Arbeitswelt sei einem verstärkten Wandel ausgesetzt, es bedürfe angesichts neuer Arbeitsmuster einer größeren Flexibilität, was nicht zuletzt mit dem technologischen Fortschritt zu tun habe. „The pace of technological change is becoming rapid with shortening product cycles and a need for constant upgrading of skills and knowledge“1000, so stellen die Verfasser in der Einleitung fest. Hinzu komme ein gestiegenes 996 997 998 999 1000
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Vgl. ebenda. S. 25. ebenda. Vgl. Blair, Tony. In: Labour Party: Ambitions for Britain. London 2001. S. 3-4. Vgl. Labour Party: Ambitions for Britain. London 2001. S. 40-41. Labour Party: Prosperity for all. London 2003. S. 1.
öffentliches Interesse an der Verbesserung von Umweltstandards und der Bekämpfung der globalen Erwärmung. Diesen Anforderungen, die durch die neuen Technologien an die Menschen gestellt werden würden, könne man im Sinne einer produktiven Volkswirtschaft nur durch den vielbeschworenen Ausbau von Bildung und Qualifizierung begegnen.1001 Dem entsprechen die in einer anderen programmatischen Publikation geäußerten Vorstellungen vom lebenslangen Lernen, wobei auch dies nichts inhaltlich Neues darstellt, lediglich ergänzt um die Anmerkung, das vermehrt Kenntnisse in den Informations- und Kommunikationstechnologien vermittelt werden sollten.1002 In Verknüpfung mit diesen Aussagen stehen die explizit auf ökologische Fragen abzielenden Aussagen in den Programmpapieren. Der schon beschriebene Wandel ist dabei verinnerlicht worden, und es wird eine neue Nachhaltigkeit angemahnt, die eine Balance zwischen ökonomischem Wachstum, sozialer Gerechtigkeit und Umweltschutz schaffe.1003 „In a changing world sustainability must be our standard, and we must learn to generate more wealth in less damaging ways“1004, so das anschließende Postulat. Eine wichtiger Schritt in diese Richtung sei die Schaffung einer ‚green economy‘, welche den deklarierten Nachhaltigkeitsansprüchen Rechnung trage. „We can become more prosperous without harming the world in which we live, by decoupling environmental pollution from economic growth. But to do so, we need to develop clean, green technologies at an affordable price.”1005 Im weiteren Verlauf beziehen sich die Texte auf konkrete Zahlen und benennen einzelne Maßnahmen, welche die Labour Regierung ergriffen habe. Hierbei verweisen die Autoren der unterschiedlichen Papiere regelmäßig aufeinander, so dass der Eindruck einer relativ homogenen Debatte entsteht. Das Wahlprogramm aus dem Jahr 2005 bot ein Konzentrat dieser breit angelegten Ausführungen, wobei in Bezug auf eine Verbesserung der Fähigkeiten und des Wissensstands des Einzelnen nichts Neues gesagt wurde. Das eine höhere Flexibilität und Qualifizierung angesichts des global wirkenden technologischen Fortschritts notwendig sei und dass jedes politische Konzept auf seine Nachhaltigkeit hin überprüft werden müsse, erscheint im Text als programmatischer Common Sense Labours. Der eben noch konstatierten stärkeren Gewichtung umweltpolitischer Fragen in der Programmdebatte der Partei trägt das Wahlprogramm nur bedingt Rechnung. Im ersten mit Wirtschaftsfragen befass1001 1002 1003 1004 1005
Vgl. ebenda. S. 1-2 sowie 11. Vgl. Labour Party: The best education for all. London 2004. S. 10-11. Vgl. Labour Party: Enhancing the quality of life. London 2004. S. 1. ebenda. Labour Party: Prosperity for all. London 2003. S. 18.
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ten Kapitel findet sich zwar die Aussage, dass Labour auch in Zukunft neue grüne Technologien und Umweltschutzmaßnahmen unterstützen wolle, doch ein explizit Fragen der Umwelt und der technologischen Entwicklung gewidmetes Kapitel sucht man vergebens.1006 Erst im vorletzten Kapitel des Programms, das sich mit internationalen Themen befasst, beziehungsweise im darauf folgenden finden sich Aussagen zur Umwelt.1007 Dort wird der Klimawandel als eine der größten Herausforderungen für die Weltgemeinschaft bezeichnet, um anschließend die Antworten Labours hierauf zu benennen: „We will continue to promote and develop renewable energy sources, to seek high standards of energy efficiency in the public and private sector, and to support emissions trading in Europe and beyond.“1008 Die ausführlicheren umweltpolitischen Überlegungen aus früheren Programmpapieren Labours existieren somit zwar noch als grundsätzliches Gedankengut der Partei, sie finden jedoch in praxisorientierten Texten wie einem Wahlprogramm kaum mehr Widerhall. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Labour Party den technischen Fortschritt seit den 1980er Jahren weniger als Gefahr, sondern vielmehr als grundsätzlich positive Herausforderung betrachtet hat, und in ihren Programmtexten erfolgreich die Brücke zwischen begrüßenswertem technischen Fortschritt und dem als notwendig angesehenen Ausbau umweltfreundlicher Technologien geschlagen hat. Dabei zieht sich als roter Faden die immer wiederkehrende pragmatische Betonung der Bedeutung von verbesserter Bildung und Qualifizierung durch die Programmdokumente. Spätestens seit dem Aufstieg New Labours Mitte der 1990er Jahre wurde die Befähigung des Einzelnen, selbstständig und souverän den Herausforderungen der Wissensökonomie in der Informations- und Dienstleistungsgesellschaft zu begegnen, immer wieder in den Mittelpunkt gestellt. Hierbei ging es zwar vordergründig auch um die Befähigung des Einzelnen zur echten Selbstbestimmung angesichts der beschriebenen Wandlungsprozesse, doch scheint der zentrale Fokus Labours auf dem Vorteil der britischen Volkswirtschaft im globalen, vom technischen Fortschritt angetriebenen wirtschaftlichen Wettbewerb zu liegen.
1006 Vgl. Britain forward, not back. London 2005. S. 21. 1007 Vgl. ebenda. S. 89 und 100. 1008 ebenda. S. 89.
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3.3.3.
Individualisierung – der Wandel der Sozialstruktur und des Wahlverhaltens
Die in den vorangegangenen beiden Kapiteln beschriebenen Spannungsfelder stellten jedoch nicht die einzigen Herausforderungen für die britische Sozialdemokratie dar. Ein in Korrelation mit dem bisher Betrachteten stehendes Phänomen, welches in seiner Tragweite für die SPD schon beschrieben worden ist, wurde auch im Großbritannien der 1980er Jahre immer stärker sichtbar und damit für die Politik immer relevanter. Gemeint ist die zunehmende Individualisierung, beziehungsweise der in Kapitel III.1.1.3. grundsätzlich und ausführlich dargestellte Wandel der sozialen Struktur in den westeuropäischen Gesellschaften. Gerade in Großbritannien, wo es bis weit in das 20. Jahrhundert hinein ein traditionell ausgeprägtes Klassendenken und –empfinden gegeben hatte, sah sich die sowohl von ihren Anhängern als auch von der politischen Konkurrenz stets als Partei der Arbeiter und einfachen Leute verstandene Labour Party in den 1980er und 90er Jahren mit neuen gesellschaftlichen Denkmustern konfrontiert, die eine Neuverortung im politisch-gesellschaftlichen Kontext und eine Überarbeitung der Programmatik notwendig erschienen ließen. Der Fokus der Menschen hätte sich verschoben, weg von übergeordneten gesamtgesellschaftlichen Interessen hin zur ganz persönlichen individuellen Besserstellung, so die Einschätzung von Eric Shaw für den zeitlichen Ausgangspunkt der Policy Review im Jahr 1987. Der Bürger habe sich zum Konsumenten gewandelt, und dies in Folge von Partizipation in der Massenkonsumwirtschaft und der Erfahrung von gestiegener individueller Kaufkraft.1009 Shaw bringt diese neuen Umstände, diese gewandelten Prioritäten mit dem Zitat eines führenden Labour-Strategen auf den Punkt: „we want videos, not visions“1010, so der Nukleus dieser individualistischen, rein auf das Materielle ausgerichteten Einstellung. In der Wahrnehmung der Menschen hatte die Labour Party Mitte der 80er Jahre diesbezüglich nicht viel zu bieten, und die an der Gesamtgesellschaft ausgerichteten Politiken und Ideale der Sozialdemokratie galten vielen als ‚outof-date‘ und ‚loony left‘. In den konservativen Regierungsjahren hatte sich in weiten Teilen der Bevölkerung die Vorstellung durchgesetzt, dass ein Zuwachs sozialer und ökonomischer Freiheit gemäß der Idee des Liberalismus zu wach-
1009 Vgl. Shaw, Eric. London 1994. S. 83. 1010 ebenda.
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sendem individuellen Wohlstand führen würde, was die Positionen der Labour Party im Gegenzug als anachronistisch erschienen ließ.1011 Auch diesen Herausforderungen sollte die Policy Review Rechnung tragen, was in Form des Berichts der Arbeitsgruppe mit dem Titel ‚Consumers and the Community‘ schließlich geschah. In der Einleitung beziehen sich die Autoren direkt auf die ihrer Meinung nach verengt individualistische, marktorientierte Betrachtung von Gesellschaft, wie sie der Thatcherismus bieten würde, und bezeichnen ihren Programmtext als klaren Gegenentwurf.1012 Die auf die britische Gesellschaft und somit auch auf die Sozialdemokratie zukommenden Probleme werden hiernach klar benannt: „Britain is a society in the process of rapid change, the pace of which is accelerating. Living patterns and social assumptions that seemed established even a decade ago are being called into question. The speed with which people’s lives are being transformed presents a major challenge for Labour: social trends have done much to undermine traditional loyalties and weaken ties with the workplace and the community.”1013 Der Bericht zählt im Anschluss an diese allgemeinen Feststellungen detailliert die Veränderungen auf, die nach Ansicht der Verfasser sowohl für den Einzelnen als auch für die Gemeinschaft die größte Bedeutung hätten. Beispielhaft seien die immer weiter auseinander driftenden Einkommen zwischen den oberen und den unteren Schichten der Gesellschaft, die wachsende Zahl an verschuldeter Hauseigentümer, der demographische Wandel sowie die immer vielfältiger werdenden Muster von Beschäftigung genannt.1014 Es werde somit deutlich, dass im Angesicht derartiger neuer Einstellungen und Erwartungen und der damit verbundenen stärkeren Betonung individueller Rechte und Freiheiten zuvorderst eine Verbesserung der Servicequalität im öffentlichen wie auch im privaten Sektor nötig sei. Der Tenor des Textes ist erkennbar am neuen Gesellschaftsbild des Konsumenten ausgerichtet; die Programmatiker Labours sind ersichtlich bemüht, dem oben skizzierten und von ihnen perzipierten soziostrukturellen Wandel gerecht zu werden. Gefordert wird nicht nur ein schlichtes Mehr an Service, sondern ein besseres und transparenteres Servicesystem, das individuellen Bedürfnissen und Wünschen Rechnung trägt und dabei allen Mitgliedern der Gesellschaft zur Verfügung steht. Hierbei wird zwischen staatlicher
1011 1012 1013 1014
252
Vgl. Hughes, Colin/Wintour, Patrick. London 1990. S. 153. Vgl. Labour Party: Social Justice and Economic Efficiency. London 1988. S. 25. ebenda. Vgl. ebenda. S. 25-26.
und privater Verantwortung differenziert, wobei die Garantierung hoher Standards eindeutig Aufgabe der Regierung sein müsse.1015 Die nächste Publikation der Policy Review greift diese Anregungen auf und streut die Vorstellungen unter den Arbeitsgruppen etwas breiter, wobei auch hier die maßgebliche Arbeit zum Thema von der schon erwähnten Arbeitsgruppe geleistet wird. Einleitende Worte zu Beginn bezeichnen den demographischen Wandel, die gestiegene Frauen-Erwerbstätigkeit, neue Partnerschafts- und Familienmodelle, sowie ein verändertes Konsumverhalten als wichtige Aspekte bei der Entstehung neuer sozialer Strukturen. In Anknüpfung an die oben geschilderte Kritik, die Konzepte Labours seien zu gestrig in ihrer reinen Ausrichtung auf die Arbeitnehmerschaft, konstatieren die Autoren, dass dieses Urteil nicht korrekt sei, da auch die Konsumenten im politischen Blickfeld der Labour Party gestanden hätten.1016 Doch schon der Ausblick auf den Bericht der mit dem Thema befassten Arbeitsgruppe lässt erkennen, dass vor allem in diesem Bereich ein neuer programmatischer Schwerpunkt gesetzt werden sollte. Der mit ‚A commitment to excellence‘ überschriebene Text der Arbeitsgruppe versucht der gestiegenen Bedeutung der Interesen der einzelnen Konsumenten grundsätzlich gerecht zu werden, indem er die Idee vom besseren Service für Alle fortführt. Es wird ein Konzept entwickelt, das bemüht ist, den neuen ‚consumerism‘ in Einklang mit den Idealen des demokratischen Sozialismus zu bringen. „Democratic socialism is about people recognising that we depend on each other, and acting together to meet our mutual needs. That is why Labour is naturally the party of the consumer”1017, so der Versuch der Autoren, Elemente klassischer sozialdemokratischer Ideologie in Einklang mit den perzipierten neuen gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen zu bringen. Im weiteren Verlauf des Textes werden einzelne Felder benannt, in denen trotz ausdifferenzierterer Individualinteressen ein gemeinsames Vorgehen zielführend erscheint, da nur so Verbesserungen und tatsächliche Freiheiten für jeden Einzelnen zu erreichen seien. Die Themen reichen vom Schutz der Konsumenten und ihrer Befähigung, selbstständig und gut informiert entscheiden zu können, über die bereits bekannte Forderung nach bester Bildung und Ausbildung für Alle, bis zum Ruf nach besserer Gesundheitsvorsorge und einem Ausbau von Pflegedienstleistungen.1018
1015 1016 1017 1018
Vgl. ebenda. S. 27 und 29-30. Vgl. Labour Party: Meet the challenge, Make the change. London 1989. S. 5 und 7. ebenda. S. 41. Vgl. ebenda. S. 42, 46 und 50.
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Die Auffassung, dass derartige Ziele nur dann im positiven Sinne für den Einzelnen erreicht werden könnten, wenn auf gesellschaftlicher Ebene zusammengearbeitet würde, war ein erster Versuch der Labour Party, dem aufgekommenen Individualismus der Thatcher-Jahre ein eigenes attraktives Konzept entgegenzusetzen. Angesichts der Bemerkung Margaret Thatchers, „(that) there is no such thing as society“1019, müsse die Sozialdemokratie darum gehen deutlich zu machen, dass die tatsächliche Gewährleistung der Freiheiten des Einzelnen nur von einer aktiven demokratischen Gesellschaft geleistet werden könne, so Bryan Gould im selben Jahr. „The socialist (…) recognises that individual freedom – for every individual – depends upon founding the rights of that individual in his or her membership of society.“1020 Die Fokussierung auf die Rechte und Interessen der einzelnen Bürger als Konsumenten öffentlicher und privater Güter kann demnach als pragmatische Ableitung Labours von solch allgemeintheoretischen Vorstellungen gesehen werden. Die nachfolgenden Dokumente der Policy Review sowie das Wahlprogramm von 1992 lieferten thematisch wenig Neues, denn auch sie unterstrichen das Bild des Bürgers als Konsumenten und plädierten in erster Linie für einen stärkeren Schutz dieser Konsumenten.1021 Im Wahlprogram spricht sich die Partei zusätzlich noch für eine verstärkte Unterstützung von Familien aus und unterstreicht das Recht der Bürger auf einen öffentlichen Service der ersten Klasse.1022 Ansonsten steht jedoch die Befreiung und Befähigung des Konsumenten sowohl im Manifesto als auch in den späten Papieren der Policy Review klar im Vordergrund. Exemplarisch heißt es in ‚Opportunity Britain‘: „Helping the consumer to organise will be an important part of empowering the consumer and citizen.”1023 Auffallend ist, dass es in den programmatischen Texten der Labour Party Ende der 1980er Anfang der 1990er Jahre an keiner Stelle zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Wandel der sozialen Strukturen in theoretisch-grundsätzlicher Form kommt. Vielmehr erweckt die wiederholte Betonung des ‚empowering of the consumer‘ den Eindruck, dass mit Hilfe der Forderung nach einem Zuwachs an berechenbarer und verlässlicher Freiheit für die Kon-
1019 Thatcher, Margaret. Zitiert in: Gould, Bryan. London 1989. S. 67. 1020 Gould, Bryan. London 1989. S. 67. 1021 Vgl. Labour Party: Opportunity Britain. London 1991. S. 26; sowie Labour Party: It’s time to get Britain working again. London 1992. S. 21. 1022 Labour Party: It’s time to get Britain working again. London 1992. S. 19-20. 1023 Labour Party: Opportunity Britain. London 1991. S. 27.
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sumenten auf eine formale und allgemein-unverbindliche Art und Weise der sozio-strukturelle Wandel kompensiert werden soll. In dieses Bild passt die in den Jahren 1994 und 95 geführte Diskussion um die Erneuerung der Clause IV der Party Constitution, welche, wie an anderer Stelle schon dargestellt, den entscheidenden Schritt von Old Labour hin zu New Labour markiert. Eines der Kernanliegen der Modernisierer um Parteichef Tony Blair war die Abschaffung der deutlich sozialistisch konnotierten Forderung nach der Schaffung von kollektiven Eigentum, die im Zentrum der alten Clause IV stand. Um den gewandelten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gerecht zu werden, müsse eine Neuformulierung der Grundwerte der Partei für eine nachhaltige Betonung der Rechte und Möglichkeiten des Individuums bieten, und sich vom alten staatszentrierten, kollektivistischen Denken verabschieden, so die Ansicht der Protagonisten New Labours. Ziel war ein Weg von der Idee der ‚common ownership‘ hin zum selbstständigen Individuum in der post-keynesianischen Marktwirtschaft. Dabei gab es für die Ideologen um Blair keinen Zusammenhang zwischen einer dynamischen und prosperierenden Marktwirtschaft und der Schwächung der Gemeinschaft und der sozialen Solidarität.1024 Kollektive Institutionen hätten für New Labour keinen inhärenten Wert: „The only valid argument for community action is to enable individuals to achieve what they are unable to achieve themselves”1025, so Giles Radices in seiner Beurteilung der Ideologie der Modernisierer aus dem Jahr 1992. Bereits in den 1980er Jahren hatten mehrere Analysten festgestellt, dass es gewandelte Lebensformen und Geschlechterbeziehungen, neue Formen der Arbeit und des Konsums sowie einen neuen kulturellen Pluralismus gebe, was einen neuen Individualismus zur Folge habe. Um im Angesicht dieser Entwicklungen noch attraktiv und wählbar zu erscheinen müsse die Labour Party ihre klassische Industrie-, Sozial- und Kulturpolitik auf der Grundlage partieller staatlicher Reglementierung aufgeben oder diese zumindest stark abmildern.1026 Und New Labour stellte sich den skizzierten Herausforderungen insofern, als tatsächlich Abschied von alten Politiken genommen wurde, sei es im bereits analysierten wirtschaftlichen Sinn oder in der neuen Betrachtung des Bürgers als Konsumenten, der durch lebenslanges Lernen seinen produktiven Beitrag zur 1024 Vgl. Shaw, Eric. London 1996. S. 229. 1025 Radice, Giles. London 1992. S. 15. 1026 Vgl. Callaghan, John: After Social Democracy – Programmatic Change in the Labour Party since 1994. In: Haseler, Stephen/Meyer, Henning (Ed.): Reshaping Social Democracy – Labour and the SPD in the New Century. London 2004. S. 151.
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Volkswirtschaft leisten solle. Gordon Brown, maßgeblicher Mitinitiator New Labours und Regierungsmitglied unter Tony Blair, konstatierte 1997 in Bezug auf diese Wandlungserscheinungen folgerichtig, „(that) embracing change and equipping people for change is the only way we can provide opportunity for all.“1027 Das Wahlprogramm von 1997 steht ganz im Zeichen dieses neuen Ansatzes New Labours und bietet mit seinem in erster Linie auf den wirtschaftlichen Erfolg des Landes und des Einzelnen bezogenen Politikangebot nichts Neues in Hinsicht auf den Wandel der Sozialstruktur mit seinen Implikationen. Interessanter sind in dieser Hinsicht die Consultation Papers auf dem Weg zum 2001er Election Manifesto. Hier wird versucht, sich einzelner gesellschaftlicher Gruppen und ihrer perzipierten Probleme anzunehmen, um anschließend politische Lösungsansätze zu skizzieren, was als indirekte Befassung mit dem soziostrukturellen Wandel interpretiert werden kann. In einem Dokument heißt es im einführenden Kapitel zu den Visionen der Labour Party für das 21. Jahrhundert, dass man sich mit einem großen sozialen und kulturellen Wandel konfrontiert sähe.1028 „Policy development must take account of factors such as increased early retirement, high divorce rates and very high numbers of lone parents; the increasing numbers of mothers of young children in paid employment; (…) and an increasing expectation that people are treated as individuals, with products and services tailored to particular needs“1029, so der Text wörtlich. In einem anderen, mit ‚Improving the quality of life‘ überschriebenen Kapitel plädieren die Autoren für einen breiteren Zugang der Einzelnen zu kulturellen Angeboten, für die Schaffung von den veränderten Anforderungen gerecht werdenden Arbeitsbedingungen sowie erneut für den Schutz der Konsumenten.1030 „Ensuring that consumers are at the heart of policy making“1031, lautet der an frühere Programmpapiere erinnernde Appell in diesem Kontext. In einem weiteren Consultation Paper wird die ‚inclusive society‘ postuliert, woraufhin sich die Autoren mit einzelnen gesellschaftlichen Gruppen wie Frauen, älteren und jüngeren Mitbürgern sowie Behinderten befassen.1032 1027 Brown, Gordon. In: Labour Party: New Labour, New Life for Britain. London 1996. S. 1. 1028 Vgl. Labour Party: Education and employment. Second-year consultation document. London 2000. S. 7. 1029 ebenda. 1030 Vgl. Labour Party: Industry, culture and agriculture. Second-year consultation document. London 2000. S. 28-31. 1031 ebenda. S. 31. 1032 Vgl. Labour Party: Democracy and citizenship. Second-year consultation document. London 2000. S. 17-20.
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Festzuhalten bleibt jedoch, dass auch in diesen Texten kein expliziter Bezug hergestellt wird zu den auch in Großbritannien stattfindenden Klassenspaltungen, zu der von Ulrich Beck Mitte der 1980er Jahre für die westeuropäischen Gesellschaften grundsätzlich konstatierten wohlfahrtsstaatlichen Enttraditionalisierung der sozialen Klassen hergestellt wird.1033 Über Individualisierungsprozesse als solche wird zu keinem Zeitpunkt expressis verbis diskutiert, lediglich Symptome wie die gestiegene Frauenerwerbstätigkeit, neue Vorstellungen von Freizeitgestaltung oder veränderte Bedürfnisse am Arbeitsplatz kommen zur Sprache. Im nächsten Wahlprogramm aus dem Jahr 2001 finden sich neben den altbekannten Forderungen nach einer fortlaufenden Verbesserung des öffentlichen Services, sowie der Verlautbarung, dass Bildung nach wie vor die höchste Priorität habe, auch Aussagen zur notwendigen Inklusion verschiedener Gruppen in die Gesellschaft.1034 Vor 1997 wäre die soziale Exklusion unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen ignoriert worden, wobei diese Kritik indirekt auch Labour selbst trifft, doch nun würden neue Ziele angestrebt, namentlich „(…) improving the quality of mainstream services, preventing people falling between the cracks, and reintegrating them into society if things go wrong.“1035 Besondere Betonung finden hierbei Maßnahmen für Familien und Kinder, wie beispielsweise die Schaffung familienfreundlicherer Arbeitsbedingungen.1036 Aber auch hier wird der Ansatz New Labours an der möglichst vollständigen Befähigung des Einzelnen erkennbar, wenn es heißt: „Government cannot achieve social inclusion for people, but it can help them to achieve it for themselves (…).“1037 Diese Ausführrungen erscheinen wie eine vorsichtige Annäherung an die Probleme, die sich aus dem Wandel der gesellschaftlichen Leitbilder und Strukturen ergeben. Wie schon in den Wahlprogrammen zuvor wird auch in ‚Ambitions for Britain‘ kaum ausdrücklich auf die sozialen Veränderungen Bezug genommen, vielmehr gibt es, dem Format entsprechende, einzelne politische Handlungsvorschläge für die zukünftige Praxis. Folgerichtig findet die intensivere programmatische Auseinandersetzung mit der Thematik erneut auf der Ebene der Consultation Papers der Partei statt, wobei besonders zwei Publikationen aus den Debatten der Jahre 2003 bis 2004 ins Auge fallen.
1033 1034 1035 1036 1037
Vgl. Beck, Ulrich. Frankfurt 1986. S. 154. Vgl. Labour Party: Ambitions for Britain. London 2001. S. 17 und 29. ebenda. S. 29. Vgl. ebenda. S. 27-28. ebenda. S. 24.
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Die Annäherung an die Herausforderungen des sozialen Wandels geschieht in einem der Dokumente über eine Beschäftigung mit der Idee der ‚Community‘, der gesellschaftlichen Gemeinschaft. Es wird konstatiert, dass traditionelle Netzwerke und Referenzpunkte innerhalb der Gesellschaft fragmentiert, beziehungsweise geschwächt worden seien. Eine der Konsequenzen sei eine zunehmende Orientierungslosigkeit vor allem bei jungen Menschen, welche häufig zu einem Mangel an Bewusstsein und Respekt für die Gesamtgesellschaft führen würde. Diesen Entwicklungen zu begegnen und den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern wieder die positiven Seiten einer starken Gemeinschaft aufzuzeigen, sei eine der großen Herausforderungen für die Labour Party und die Politik insgesamt, so die Autoren von ‚Justice, Security and Community‘.1038 Hieran knüpfen Aussagen eines anderen Papers an, wenn davon die Rede ist, dass die Fragmentierung der britischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts deutlich zugenommen habe: „Social change has undermined much of the ‚glue‘ that has traditionally bound together society and many of the institutions upon which politics was founded (…).”1039 Die Labour Party sei jedoch der Ansicht, dass die Freiheit des Individuums in erster Linie durch die Schaffung von kollektiver Sicherheit und Freiheit gewährleistet werde. Demnach bedürfe es einer Erneuerung des gesellschaftlichen Miteinanders, einer Auffrischung der Idee vom anteilnehmenden Bürger. Wörtlich heißt es dazu: „Our vision is one where each individual in society is more than just a consumer of government services, but is an active participant in the decisions that affect them at the highest level. This is what we mean by citizenship.”1040 Hier klingt ein neuer Ton an, denn Postulat ist nun die Hinwendung zum Bürger als politisch denkendem und aktiv teilnehmendem Mitglied der Gesellschaft und somit die partielle Abkehr vom in früheren Texten beschriebenen Bild des Bürgers als Konsumenten. Auch wenn diese Ausführungen thematisch eher dem nächsten Kapitel zuzuordnen sind, gilt es festzuhalten, dass sich die Labour Party mit derartigen Aussagen dem Themenkomplex des sozio-strukturellen Wandels auf neue Art und Weise nähert, wenn auch wieder ohne eine theoretische Befassung mit den soziologischen Implikationen des Wandels. Das nächste Wahlprogramm aus dem Jahr 2005 knüpft hieran direkt an, denn auch hier können die Aussagen der Labour Party zu neuen und anderen Formen der Bürgerbeteiligung als mittelbare Antwort auf die sozialen Verände-
1038 Labour Party: Justice, Security and Community. London 2004. S. 8. 1039 Labour Party: Democracy, Political Engagement, Citizenship and Equalities. London 2003. S. 2. 1040 ebenda. S. 1.
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rungen gedeutet werden, oder zumindest als Versuch, eine politische Antwort auf die gestiegene Heterogenität der britischen Gesellschaft zu geben. Zwar finden sich im Manifesto auch Kapitel, die sich speziell mit einzelnen Gesellschaftsgruppen wie beispielsweise Pensionären oder jungen Familien beschäftigen, doch die eigentliche Reaktion auf die sozialen Wandlungsprozesse findet in Form einer Beschäftigung mit Fragen größerer Beteiligung der Bürger am demokratischen Miteinander statt1041 „Our political institutions – including our own party – must engage a population overloaded with information, diverse in its values and lifestyles, and sceptical of power“1042, so der Programmtext konkret. Die Antwort auf diese Herausforderung entspricht den Vorstellungen aus der vorangegangenen Programmdebatte, wenn es heißt: „The best way to tackle exclusion is to give choice and power to those left behind.“1043 Ein derartiger Umgang mit den Herausforderungen des sozio-strukturellen Wandels schlägt eine Brücke zum Thema des nun folgenden Kapitels, in dem neue Formen der Politik und ein Wandel der politischen Kommunikationsformen untersucht werden werden. Und doch ist der im 2005er Wahlprogramm festzustellende Umgang mit den Veränderungen der Sozialstruktur typisch, was die programmatische Beschäftigung der Labour Party mit dem Themenkomplex seit Ende der 1980er Jahre betrifft. Auf durchaus wahrgenommene Individualisierungsprozesse wird zumeist sehr pragmatisch mit einer breiten Palette spezifischer Maßnahmen geantwortet, die verschiedenen Programmdokumente befassen sich mit jeweils unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und Teilaspekten, doch all dies erfolgt in der Regel ohne eine vorangestellte grundsätzliche theoretische Reflektion der Veränderungen. Darüber hinaus wird der Bürger in weiten Teilen der Debatte als Konsument begriffen, und es wird nicht näher untersucht, was diesen anscheinenden Wandel verursacht hat. Dieser Ansatz wurde vor allem unter New Labour forciert, wobei erneut pragmatische Erwähnungen der Labour-Regierung im Vordergrund standen: „The tendency is to treat such people as consumers, first and foremost, and many of the Government’s reforms in the public services and local government focus on this relationship to the exclusion of wider concerns of citizenship. Individual liberty and individual success in the market economy are what count in this logic (…).”1044 Diese Beschreibung John Callaghans ist nachvollziehbar, besonders wenn man 1041 1042 1043 1044
Vgl. Labour Party: Britain forward, not back. London 2005. S. 68 und 74. ebenda. S. 103. ebenda. S. 109. Callaghan, John. In: Haseler, Stephen/Meyer, Henning (Ed.). London 2004. S. 161.
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die programmatische Auseinandersetzung der Labour Party mit dem Thema in den letzten 15 Jahren betrachtet.
3.3.4.
Neue Formen der Politik – der Wandel des politischen Diskurses
Der in Kapitel III. 1.1.4. grundsätzlich beschriebene Wandel des politischen Diskurses in den westeuropäischen Gesellschaften, welcher in besonderem Maße die sozialdemokratischen Parteien beschäftigte, stellte auch für die britische Labour Party, vor allem zu Beginn des Untersuchungszeitraums, eine große Herausforderung dar. Gepaart hiermit ist die Frage nach neuen Formen der Politik, wobei diese, wie noch gezeigt werden wird, im Fall Labours in einem sehr direkten Zusammenhang mit den ideologischen Verschiebungen des politischen Diskurses steht. Ende der 1980er Jahre, nach über einem Jahrzehnt konservativer Vorherrschaft, dominierten konservativ-liberale Vorstellungen den politischen Diskurs in der britischen Gesellschaft. Während der Regierungszeit Margaret Thatchers, die seit 1975 Premierministerin war und dies bis 1990 bleiben sollte, mussten die Sozialdemokraten mit ansehen, wie ihre klassischen ideologischen Grundlagen, allen voran das wirtschaftspolitische Konzept des Keynesianismus, von der Wirklichkeit überholt wurden. Wie an anderer Stelle schon beschrieben, schien die Sozialdemokratie spätestens in den 1980er Jahren europaweit ideologisch ausgebrannt zu sein, wobei in Großbritannien die marktliberalen Konservativen, nicht zuletzt auf Grund der hohen Einnahmen aus dem Nordseeölgeschäft, ein besonders erfolgreiches Gegenmodell zum von Labour bis dahin propagierten staatsinterventionistischen Sozialstaat keynesianischer Prägung entwickelt hatten. David Marquand konstatierte dementsprechend 1988 in Bezug auf die gescheiterten Ideologien der Labour Party „(that) policy-makers were trapped in an impasse, from which there was no escape (…). The old Keynesian assumptions had collapsed.“1045 Tatsächlich gab es eine Vielzahl von Kommentatoren, welche die in den vorangegangenen Kapiteln schon mehrfach analysierte Policy Review in erster Linie als Reaktion Labours auf den scheinbar übermächtigen ‚Thatche-
1045 Marquand, David: The Unprincipled Society. London 1988. S. 52.
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rismus‘ ansahen.1046 Die neo-konservative Ideologie sei dermaßen dominant geworden, dass sich Labour auf das inhaltliche Territorium von New Right begeben und eine partielle programmatische Anpassung an den vorherrschenden politischen Mainstream vorgenommen habe, so die Kritik aus dem linken politischen Spektrum.1047 Anders argumentiert Martin J. Smith, wenn er sagt, dass in erster Linie die verfehlte Politik der Labour Party, ihr zu spätes Reagieren auf die in den 70er und 80er Jahre aufkommenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen der Grund für die ideologische Neupositionierung in Form der Policy Review war. „With the failure of both left and right the leadership had to develop a new set of policies. In that sense the Policy Review was more a response to the ideological failings of the Labour Party than the ideological strength of the Conservatives.”1048 Abgesehen von der jeweils unterstellten Motivation Labours sind sich alle Autoren jedoch darin einig, dass die britischen Sozialdemokraten mit der Policy Review den Versuch unternahmen, den politischen Diskurs im Land wieder entscheidend mitzuprägen, beziehungsweise sich wieder ein eigenständiges und attraktives politisches Profil zu geben. An dieser Stelle kommen nun die oben schon erwähnten neuen Formen der Politik als zweiter herausfordernder Aspekt zum Tragen, denn neben den in vorangegangenen Kapitel bereits untersuchten Politikbereichen wie Wirtschaft, Arbeit oder Umwelt sollte noch ein weiteres Policy-Feld zur Widererlangung der Diskurshoheit beitragen. Gemeint ist die verstärkte Demokratisierung der Gesellschaft, die Förderung der Partizipation der einzelnen Bürger an der Gemeinschaft, oder, mit anderen Worten, die Ende der 1990er Jahre von Schröder und Blair propagierte Zivilgesellschaft. Auch in der Labour Party der Policy Review-Zeit hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die politischen Interessen und Anliegen der Bürger sich nicht immer im Rahmen der klassischen politischen Institutionen wie beispielsweise der Parteien artikulierten, sondern dass vermehrt neue Wege gesucht wurden. In seinem Wegweiser für die britische Sozialdemokratie benennt Bryan Gould im Jahr 1989 dieses Problem, und mahnt eine verstärkte basisdemokratische Hinwendung zu den Menschen sowie eine größere Transparenz bei politi1046 Vgl. Kavanagh, David: Thatcherism and British Politics. The End of Consensus?. Oxford 1990. S. 304; sowie Jenkins, Peter: The Thatcher Revolution: The Post-Socialist Era. London 1988. S. 374. 1047 Vgl. Jessop, Bob/Bonnet, Kevin/Bromley, Simon/Ling, Tom: Thatcherism: A Tale of Two Nations. London 1987. S. 112. 1048 Smith, Martin J.: A return to revisionism? The Labour Party’s Policy Review. In: Smith, Martin/Spears, Joanna (Ed.): The Changing Labour Party. London 1992. S. 17.
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schen Verfahren an. „We have to recognise that most people find their political involvement not in formal politics but instead in an informal structure of politics, which has little to do with the battleground so familiar to the political activist (…). What this means is that the formal political processes have to accommodate this informal sub-structure of politics, by making themselves more available and accessible to those who will not wish to participate on a continuing basis (…)”1049, so Gould wörtlich. Im ersten der vier Review-Dokumente erwähnen die Autoren der Arbeitsgruppe ‚Consumers and the Community‘ direkt in der Einleitung ihres Berichts den Thatcherismus mit seinen individualistischen Vorstellungen, von dem es sich abzugrenzen gelte. Es bedürfe vor allem einer starken Gemeinschaft, um individuelle Freiheitsrechte und Sicherheiten zu garantieren.1050 Etwas weiter im Text sprechen sich die Autoren im Angesicht steigender gesellschaftlicher Interdependenz für mehr gegenseitige Verantwortung aus, womit eine nachhaltigere Partizipation der Bürger an der Gesellschaft gemeint ist. Die Konsequenz hieraus müsse der Ausbau der demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten sein, um eine verstärkte Kontrolle institutioneller Prozesse durch die betroffenen Bürger zu gewährleisten: „Government, wether central or local, should aim to ensure a plurality of provision. It should seek to give people a positive opportunity to shape services by political participation – in other words give people a voice – rather than leaving them the choice of simply accepting or rejecting what is on offer (…).”1051 Im Bericht der Arbeitsgruppe ‚Democracy for the individual and the Community’ wird anschließend davon gesprochen, dass der Schlüssel zum Ausbau von Freiheit in der Möglichkeit läge, bewusst wählen zu können. Den Menschen müsse durch demokratische Beteiligung und institutionelle Transparenz die Chance gegeben werden, sich selbstständig in die Gesellschaft einzubringen und als einzelne Mitglieder auf die Gestaltung der gesamten Gemeinschaft Einfluss zu nehmen.1052 Die nächste Review-Veröffentlichung knüpft nahtlos an diese Ideen an, wobei erneut der programmatische Ansatz Labours in seiner Gegensätzlichkeit zur Ideologie der Thatcher-Jahre skizziert wird. Zusammengefasst wird in der Einleitung formuliert, „(that) throughout this Policy Review (…) we develop the case for a democratic, decentralised form of government, involving people as
1049 1050 1051 1052
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Gould, Bryan. London 1989. S. 182. Vgl. Labour Party: Social Justice and Economic Efficiency. London 1988. S. 25. ebenda. S. 27. Vgl. ebenda. S. 33-34.
directly as possible in the decisions which affect them, using the accountable power of the state to help create a society in which citizens have the means and the self-assurance to take responsibility for their own lives and to fulfil their obligations to others.”1053 Diesem Grundsatz entsprechend wird im weiteren Verlauf im Bericht der Arbeitsgruppe zu Konsumenten und Gemeinschaft die Stärkung der lokalen Selbstverwaltung gefordert. Im Text der mit Demokratie für Individuum und Gemeinschaft befassten Gruppe finden sich sowohl breit angelegte Plädoyers für die Stärkung von Bürgerrechten als auch detaillierte Ausführungen zu den Rechten und Bedürfnissen einzelner gesellschaftlicher Gruppen sowie Forderungen nach größerer Transparenz in Politik und Medien.1054 In ‚Looking to the Future‘ und ‚Opportunity Britain‘ wird das bisher zum Thema Gesagte im Wesentlichen wiederholt, versehen mit einigen Ergänzungen. So findet sich in beiden Papieren die Forderung nach einer ‚Charter of Rights‘, in der eine Vielzahl von individuellen Rechten verbindlich für alle Gesellschaftsmitglieder festgehalten werden soll. Hierdurch sollen vorhandene Freiheiten für die Bürger erhalten und neue ermöglicht werden. Hinzu kommt, ganz im Sinne gesteigerter Transparenz, der Ruf nach einem Recht der Bürger auf bessere Information. Diese Forderung findet expliziten Ausdruck in dem von Labour angestrebten ‚Freedom of Information Act‘, der als Gesetzesinitiative eingebracht werden soll. 1055 In der Zusammenfassung des relevanten Kapitels in ‚Looking to the Future‘ heißt es, dass diese Reformen und geforderten Rechte die fundamentalen Werte der Labour Party reflektieren würden: „(…) our belief in freedom and fairness, our trust in people’s ability to make decisions for themselves, our unshakeable commitment to democracy.“1056 Im Wahlprogramm von 1992 finden sich hingegen wenige Aussagen zum bisher Diskutierten. Lediglich ein schmales, mit ‚A modern democracy‘ überschriebenes Kapitel widmet sich den Vorstellungen Labours von der Modernisierung und dem Ausbau der britischen Demokratie.1057 Der auf stärkere Bürgerbeteiligung setzende Tenor der Debatte blieb bei der folgenden Weiterentwicklung der Programmatik Labours erhalten, und schon ein Jahr nach der 92’er Wahl wurde auf dem Parteitag ein Consultation Paper 1053 Labour Party: Meet the challenge, Make the change. London 1989. S. 6. 1054 Vgl. ebenda. S. 44, 59-60 sowie 62-64. 1055 Vgl. Labour Party: Looking to the Future. London 1990. S. 39, sowie Labour Party: Opportunity Britain. London 1991. S. 45. 1056 Labour Party: Looking to the Future. London 1990. S. 43. 1057 Vgl. Labour Party: It’s time to get Britain working again. London 1992. S. 23-25.
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vorgestellt, welches eine neue ‚Agenda für Demokratie‘ liefern sollte. „We want to ensure that decisions are made as close as possible to the people electing them and that these bodies are representative of the diversity within our nation”1058, so der Aufruf. Daher müsste es zukünftig auf lokaler und regionaler Ebene mehr Mitbestimmungsrechte und wünschenswerter Weise auch mehr Beteiligung der Bürger geben. Der Text plädiert für Informationsfreiheit und fordert, wie schon die Texte der Policy Review, einen nachhaltigen Zugang der Einzelnen zu den über sie gespeicherten Informationen. Die gesamte Gesellschaft müsse offener und demokratischer werden, um den Bürgern eine stärkere Beteiligung an den politischen Prozessen zu ermöglichen.1059 Anfang der 1990er Jahre entstand allmählich ‚New Labour‘, zuerst noch als politisches Projekt einer einflussreichen Gruppe von Parteimodernisieren, und später, nach der Übernahme des Parteivorsitzes durch Tony Blair 1994, als breit angelegte Reaktion der Labour Party auf zurückliegende Wahlniederlagen, den sozialen und ökonomischen Wandel in Großbritannien seit den 1970er Jahren, und nicht zuletzt als politische Antwort auf die herausfordernde intellektuelle Hegemonität von New Right in Form des Thatcherismus.1060 Die Wandlung von ‚Old‘ zu ‚New Labour‘ war der entscheidende Schritt, um wieder die politische Diskurshoheit zu erlangen. Das maßgebliche neue Konzept, der entscheidende politische Inhalt, um den politischen Diskurs erneut nachhaltig zu prägen und bestenfalls zu dominieren, entwickelte sich dann im Zuge der Debatte über die Neuformulierung der Clause IV der Party Constitution. Den vorläufigen Höhepunkt fand diese ideologische Offensive schließlich in der politischen Implementierung des Konzeptes des Dritten Wegs in Folge von Tony Blairs Wahlerfolg im Jahr 1997, aber hierzu später mehr. Die von Blair angestrebte Erneuerung der Clause IV sollte sowohl die endgültige Abnabelung von den Policies und Politics ‚Old Labours‘, als auch die Modernisierung der Labour Party ultimativ zum Ausdruck bringen.1061 Indem sich die britischen Sozialdemokraten von den sozialistischen, inhaltlich unscharfen und den Modernisierern unter ihnen nicht ausreichend detaillierten Vorstellungen der alten Clause IV verabschiedeten, wollten sie der Mehrheit der Gesellschaft ein neues, attraktiveres Politikangebot unterbreiten. Mit Hilfe einer über1058 Labour Party: A new agenda for democracy. Labour’s proposal for constitutional reform. In: Labour Party: Statements to conference. London 1993. S. 36. 1059 Vgl. ebenda. S. 42-44. 1060 Vgl. Beech, Matt: London 2006. S. 101. 1061 Vgl. MacIntyre, Donald: Mandelson and New Labour. London 1999. S. 315.
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arbeiteten Grundsatzprogrammatik bestehe die Chance, so die Hoffnung des Führungszirkels um Blair, die langjährige diskursive Dominanz konservativer Programmatik zu brechen. Und hierbei gelte es, so David Miliband, einer der damaligen Vordenker New Labours, sich auch mit den dynamischen Tendenzen in der britischen Gesellschaft zu beschäftigen, die unter anderem kommunitaristische und staatsreformistische Ansätze zum Inhalt hatten.1062 Die zu Beginn der Clause IV-Debatte von der Partei gemachten Aussagen zu den Werten Labours können dementsprechend als Versuch gesehen werden, derartigen Herausforderungen mit Rechnung zu tragen. In der maßgeblichen Parteipublikation zum Auftakt der Diskussion heißt es in Bezug auf die Gemeinschaftsbeteiligung der Einzelnen und die demokratische Beschaffenheit der Gesellschaft, dass die Grundsätze der politischen Philosophie der Labour Party darauf beruhen, in welchem Verhältnis Individuum und Gemeinschaft zueinander ständen.1063 Die Autoren sprechen anschließend im Rahmen der Aufzählung der Werte Labours konkret davon, dass politische Entscheidungen so nah wie möglich bei den Menschen getroffen werden sollten, bis hin zur lokalen Ebene, damit die Bürger mehr Kontrolle über ihr eigenes Leben hätten. „Our aim is not just to use and defend democracy, but to extend it throughout our society. Democracy depends on participation, and structures of government should be designed to assist that”1064, so die Schlussfolgerung. Auch Mandelson und Liddle befassen sich in ihrem zum Standardwerk der New LabourApologeten gehörenden Buch ‚The Blair Revolution‘ mit den Fragen nach mehr und bürgernäherer Demokratie. Im Rahmen des Kapitels zu den neuen politischprogrammatischen Leitlinien New Labours sprechen sie sich dafür aus, dass es eine größere Nähe zwischen der Politik und den Bürgern geben müsse, um eine gesteigerte Interaktion zu erreichen. „Bringing such closeness about has to be a top priority of a government that genuinely believes in a bottom-up, not topdown, approach; that sees the role of national government as that of facilitator and framework-setter, rather than of central planner and state provider (…)”1065, so der Appell. Im Wahlprogramm von 1997, dessen Titel ‘New Labour – Because Britain derserves better‘ schon die Etablierung eines grundsätzlich neuen politischen Denkens und somit eine diskursive Offensive erkennen ließ, spricht Herausfor1062 Miliband, David: New Labour in Power Again – What Next?. In: Internationale Politik und Gesellschaft Online: International Politics and Society. Bd. 3 2002. S. 16. 1063 Vgl. Labour Party: Labour’s objects: Socialist values in a modern world. London 1994. S. 9. 1064 ebenda. S. 12. 1065 Mandelson, Peter/Liddle, Roger. London 1996. S. 197.
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derer Tony Blair in seinem Vorwort von der Notwendigkeit eines Bruchs mit alten politischen Formen und Inhalten, er skizziert New Labour als Antwort auf die vielzähligen, von ihm perzipierten politischen Dilemmata und die Politikverdrossenheit vieler Menschen.1066 Das 97er Manifesto war tatsächlich der bis dahin sichtbarste Beweis für das Streben der Sozialdemokraten nach politischer Diskurshoheit, da sich hier ein Konzentrat der unter dem Rubrum New Labour entwickelten Programmatiken und Politiken fand, und dies im Lichte großen öffentlichen Interesses. Später im Programm kommen erneut die Stärkung der individuellen Rechte und der demokratischen Mitbestimmung zur Sprache. Der Text postuliert eine ‚stakeholder society‘ als Vision Labours und macht sich für die Schaffung und Unterstützung eines starken Freiwilligensektors in der Gesellschaft stark. Vor allen Dingen jungen Menschen solle die Gelegenheit gegeben werden, sich ehrenamtlich in der Gesellschaft zu engagieren, wobei auch dies als Ausdruck einer gewünschten vermehrten Beteiligung der Menschen am Gemeinwesen interpretiert werden kann.1067 Im darauf folgenden Abschnitt benennt der Programmtext unter der selbstbewussten Überschrift ‚We will clean up politics‘ mehrere Herausforderungen, die es zu bewältigen gelte. Genannt werden der unter anderem der Ausbau von möglichst unabhängigen lokalen Selbstverwaltungsstrukturen sowie die Stärkung von Bürger- und Menschenrechten. Darüber hinaus findet sich auch hier die Forderung nach Informationsfreiheit und größerer Transparenz im Politikbetrieb.1068 Wie schon an anderer Stelle erwähnt war der Dritte Weg, welcher in Großbritannien in erster Linie von Anthony Giddens entwickelt worden war, maßgebliche ideologische Treibkraft für den Politikansatz New Labours. Giddens widmete dem Thema Staat und Gesellschaft in seinem 1998 erschienenen Buch ‚The Third Way‘ ein eigenes Kapitel, da er der Erneuerung der Beziehungen zwischen Staat, Bürgergesellschaft und Individuum im Rahmen der von ihm postulierten Erneuerung der Sozialdemokratie eine große Bedeutung beimaß. In diesem innerhalb der europäischen Sozialdemokratie breit rezipierten Werk wird eine aktive Zivilgesellschaft als wesentliches Element der Strategie des Dritten Wegs dargestellt. Ausdrückliches Ziel des Dritten Wegs sei der neue demokratische Staat mit einer radikal-demokratischen Mitte, in dem eine wie-
1066 Vgl. Blair, Tony. In: Labour Party: New Labour – Because Britain deserves better. London 1997. S. 1-2. 1067 Vgl. Labour Party: New Labour – Because Britain deserves better. London 1997. S. 31. 1068 Vgl. ebenda. S. 33-35.
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derbelebte Öffentlichkeit in transparenteren Verhältnissen eine Mehr an politischer Gestaltungsmacht in den Händen halte. Um dies zu erreichen, bedürfe es einer Partnerschaft zwischen Staat und Zivilgesellschaft, wobei dem Staat zu Beginn die Aufgabe zukäme, die Gemeinschaft der Bürger zu fördern, sei es durch lokale Initiativen oder durch die Förderung des gemeinnützigen und ehrenamtlichen Sektors. 1069 „Der Staat kann und muß eine tragende Rolle bei der Erneuerung der staatsbürgerlichen Kultur spielen“1070, so das Fazit von Giddens. Diese Argumente des New Labour-Vordenkers finden sich schließlich kaum abgewandelt in zwei Consultation Documents der Labour Party aus den Jahren 1999 und 2000 wieder. Beide Publikationen beschäftigen sich gemäß Titel mit ‚Democracy and Citizenship‘, und beide beinhalten im Wesentlichen dieselben Forderungen, wobei der jüngere Text noch mehr ins Detail geht. Die programmatische Stoßrichtung wird jedoch direkt in der Einleitung der ersten Publikation klar: es gehe darum, die Werte von Demokratie und Staatsbürgerschaft zu erneuern und auszubauen. Aus Sicht der Labour Party ist es für das Prosperieren Großbritanniens elementar, dass die Gesellschaft von engagierten Staatsbürgern aktiv gestaltet würde. Es wird das Unterkapitel ‚Aims and Values‘ aus der neuen Clause IV der Party Constitution zitiert, in dem es sinngemäß heißt, dass die Labour Party eine offene Demokratie wolle, in der die politischen Entscheidungen so nah wie möglich bei den Menschen getroffen würden, bei gleichzeitiger ständiger Überprüfbarkeit des Regierungshandelns durch die Bürger und der Garantie fundamentaler Menschenrechte.1071 „Labour’s approach is (…) to renew democracy and rebuild communities“, oder mit anderen Worten „(…) to encourage citizenship and widen democracy.”1072 Hierbei wird der Partizipation der Bürger an der neu demokratisierten Gesellschaft große Bedeutung beigemessen, da eine aktive und verantwortungsvolle Beteiligung des Einzelnen die Grundlage seiner Bürgerrechte und –pflichten darstelle. Später im Text findet sich demensprechend ein Abschnitt zur Förderung eigenverantwortlichen staatsbürgerlichen Handelns, wobei besonderes Augenmerk auf den ehrenamtlich-freiwilligen Bereich gerichtet ist. „Labour will continue to create a climate in which voluntary activity can flourish“1073, so die konkrete Aufgabenstellung. Ziel müsse eine Partnerschaft zwischen der Regierung und den gesellschaftli-
1069 1070 1071 1072 1073
Vgl. Giddens, Anthony. Frankfurt 1999. S. 86 sowie 95-96. ebenda. S. 95. Vgl. Labour Party: Democracy and citizenship. Consultation paper. London 1999. S. 6. ebenda. S. 7. ebenda. S. 15.
267
chen Institutionen sein, die freiwillige und ehrenamtliche Arbeit leisten oder unterstützen.1074 In der zweiten Publikation zum Thema ein Jahr später beziehen sich die Überschriften der einzelnen Kapitel direkt auf die angestrebten Ziele. So heißt es im mit ‚The active citizen‘ überschriebenen Kapitel, „(that) Labour is committed to supporting and promoting practical, active citizenship of the sort that is vital to a healthy democracy.”1075 Besondere Beachtung müsse dabei das familiäre Leben und die staatsbürgerliche Bildung erfahren, da dort beziehungsweise dadurch das Bewusstsein für zivilgesellschaftliches Engagement sowie die politische Mündigkeit der Bürger generiert würde. Darüber hinaus müssten Beteiligungsformen für interessierte Bürger ausgebaut werden, wobei in diesem Zusammenhang erneut die große Bedeutung des angestrebten ‚Freedom of Information Act‘ betont wird.1076 Das nächste Kapitel bietet unter der Überschrift ‚An active community‘ eine detaillierte Auflistung von schon bekannten Anliegen, angefangen bei der Sensibilisierung der Menschen für ihre jeweiligen lokalen Gemeinschaften und die Gesamtgesellschaft, über das Aufzeigen von Wegen, wie den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen Selbstständigkeit und Einfluss gegeben werden könnte, bis hin zum Unterstützungsappell für die lokale Selbstverwaltung.1077 Auch die Rolle der Labour Party in der angestrebten Zivilgesellschaft kommt zur Sprache, und es wird eine nachhaltigere Öffnung der Partei zur Gesellschaft hin angemahnt. „The Labour Party in the community needs to be seen to be doing things with rather than for people“1078, so die Autoren wörtlich. Im abschließenden Kapitel, das die Überschrift ‚A responsive democracy‘ trägt, findet sich neben Forderungen nach grundsätzlichen Verfassungsreformen das Postulat, dass Labour einer der Idee einer offenen, reaktionsfähigen Demokratie verpflichtet sei, in welcher die Bürger gut informiert und mit wirksamen Eingriffsmöglichkeiten ausgestattet seien. Wichtige Bausteine sind an dieser Stelle erneut sowohl der ‚Human Rights Act‘ als auch die in Gesetzesform zu gießende Informationsfreiheit.1079 Das Programm zur nächsten Wahl im Jahr 2001 greift die hier behandelten Fragestellungen in der von diesem Format schon bekannten pragmatischen Art und Weise auf und beschränkt sich zunächst auf den grundsätzlichen 1074 Vgl. ebenda. 1075 Labour Party: Democracy and citizenship. Second-year consultation document. London 2000. S. 6. 1076 Vgl. ebenda. S. 6-9. 1077 Vgl. ebenda. S. 12-15. 1078 ebenda. S. 16. 1079 Vgl. ebenda. S. 24, 26 und 30.
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Ruf nach mehr und besserem öffentlichen Service. In diesem Zusammenhang wird schließlich von notwendiger politischer Erneuerung gesprochen, wobei besonders der freiwillige, ehrenamtliche und der lokale Sektor gestärkt werden sollten.1080 Eine enge Zusammenarbeit der Regierung mit anderen gesellschaftlichen Kräften sei das Ziel, oder, mit den Worten des Manifestos, „Partnership with the voluntary and the private sector is the key. (…) Labour’s ambition is a partnership of mutual respect and mutual responsibility.”1081 Auf diesem Wege ließen sich am ehesten die gewünschte Inklusion der Bürger in die aktive Gesamtgesellschaft und demokratische Offenheit erreichen, die aus Sicht der Partei die Basis des politischen Wandels sein müssten. Etwas programmatisch Neues zum Thema, oder zumindest eine deutlich intensivere Auseinandersetzung mit den bereits perzipierten Problemen lieferte die Fortsetzung der Programmdebatte nach der erfolgreichen Wiederwahl der Labour Party. Besonders erwähnenswert ist dabei ein Consultation Document aus dem Jahr 2003, welches sich gemäß seinem Titel mit Demokratie, politischem Engagement, Staatsbürgerschaft und Gleichheit befasste. Schon in der Einleitung werden die Autoren in einer in den bisherigen Programmtexten nicht vorgekommenen Weise deutlich, wenn sie davon sprechen, dass jedes Individuum gemäß des von Labour unterstützten demokratischen Prinzips auf die Entscheidungen, die sowohl die Gesamtgesellschaft als auch sein eigenes Leben beeinflussen, maximale Einflussmöglichkeit besitzen sollte. Daraus leite sich die Vision der Labour Party ab, dass die einzelnen Gesellschaftsmitglieder nicht nur Konsumenten der von der Regierung generierten Services sein, sondern durch aktives Partizipieren die sie betreffenden Entscheidungen auf dem höchsten Level mitgestalten sollten.1082 „This is what we mean by citizenship“1083, so konstatiert der Text im Anschluss. Ziel der Bemühungen müsse sein, dass alle Bürger ausreichend über die in ihrem Namen getroffenen Entscheidungen informiert seien und dass sie darüber hinaus befähigt seien, die Findung dieser Entscheidungen durch ihre Repräsentanten aktiv zu begleiten. „We believe government should support citizens, grassroots communities and their organisations in deciding their own futures, so that they have collective ownership and interest”1084, schlussfolgern die Autoren dementsprechend. 1080 Labour Party: Ambitions for Britain. London 2001. S. 34. 1081 ebenda. 1082 Vgl. Labour Party: Democracy, Political Engagement, Citizenship and Equalities. London 2003. S. 1. 1083 ebenda. 1084 ebenda.
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Die Ideen, welche sich durch die Publikation ziehen, sind zum größten Teil nicht neu, doch sie werden in einer bisher nicht da gewesenen Direktheit und Nachdrücklichkeit kommuniziert, die eine intensivere Auseinandersetzung Labours mit diesen Fragen spüren lässt. Die Zivilgesellschaft müsse erneuert werden, das Bild des tatsächlich stattfindenden Engagements der Menschen in der Gesellschaft sei sehr komplex und heterogen, so heißt es beispielsweis an späterer Stelle im Text.1085 Und dies bei einer gestiegenen Bedeutung eben dieser gesellschaftlichen Zusammenhänge und Beteiligungsformen. „We depend increasingly for our security, well being and fulfilment on the social networks and mutual support of civil society“1086, so die Erkenntnis. Dabei bleibt das schon bekannte Credo von der aktiven Gemeinschaft als Keimzelle gesellschaftlichen Zusammenhalts erhalten: „Strong communities are the foundation of a vibrant political culture.“1087 Die neue Herausforderung bestehe nun darin, den Bestand und das Neuentstehen derartiger aktiver Bürgerzusammenschlüsse zu schützen beziehungsweise zu forcieren. Die Labour-Programmatiker betonen, „(that) our key challenge is to understand how to renew this ‚fabric‘ of our local communities.”1088 Zu diesem Zweck bedürfe es eines neuen zivilbürgerlichen Engagements, das sich an den jungen Formen des politischen Aktivismus, sei es auf lokaler Ebene oder übergeordnet im Rahmen von thematisch aufgestellten Nichtregierungsorganisationen orientiere. Besondere Betonung findet an dieser Stelle wie auch in früheren Dokumenten die Arbeit von Freiwilligenorganisationen und Ehrenamtlichen. Die Unterstützung solcher Projekte und Maßnahmen sei notwendig, wolle man weiterhin das Bild des aktiven Staatsbürgers als tragender Säule des Gesellschaftsfundaments forcieren.1089 In diesem Kontext befasst sich das Papier ebenfalls mit der zunehmenden Politikferne der Bürger, welche intensiv analysiert wird, woraufhin erneut die Aktivierung der Zivilgesellschaft als mögliche Antwort skizziert wird, denn „Democracy depends on the trust and engagement of citizens“1090, so die Autoren. Im Wahlprogramm aus dem Jahr 2005 findet sich schließlich ein eigenes Kapitel zu den hier betrachteten Themen, wenn auch erst an neunter und damit letzter Stelle. Dort wird eine Stärkung des lokalen Sektors und die Ermöglichung weitgehender kommunaler Selbstverwaltung durch mündige Bürger
1085 1086 1087 1088 1089 1090
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Vgl. ebenda. S. 2-3. ebenda. S. 3. ebenda. ebenda. Vgl. ebenda. S. 5-6. ebenda. S. 7.
gefordert.1091 „A vibrant civil society“1092 sei das Ziel, in welcher nichtprofitorientierte Organisationen gemeinsam mit Freiwilligeninitiativen und kommunalen Trägern den Bürgern einen bestmöglichen Service bieten würden. Hierbei sei bedeutsam, dass den Institutionen bei ihrer Arbeit die größtmöglichen Freiheiten eingeräumt würden, und dass es eine hohe Bürgerbeteiligung gebe, um ein Höchstmaß an Demokratie zu erreichen.1093 Bündelt man die Untersuchungsergebnisse an dieser Stelle, wird eine aufsteigende Kurve erkennbar, die den Weg Labours von der politisch unterlegenen Kraft hin zur den politischen Diskurs nachhaltig prägenden Partei aufzeigt. Nachdem sich die Programmatiker und Vordenker der Labour Party Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre intensiv darum bemüht hatten, die Diskursdominanz der konservativ-wirtschaftsliberalen Vorstellungen des Thatcherismus zu brechen, und im Rahmen der Policy Review zumindest parteiintern und in den Augen mancher Kommentatoren ideologische Festigung und Erneuerung erfahren hatten, erfolgte unter der Führung Tony Blairs der entscheidende und letztendlich erfolgreiche Griff nach der Diskurshoheit. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass es auf Grund des britischen Parteien- und Wahlsystems in erster Linie die Konservativen waren, mit denen es sich ideologisch und politisch-praktisch auseinanderzusetzen galt. Andere politische Parteien konnten somit nur begrenzt Einfluss ausüben, und gesellschaftliche Kräfte wie die neuen sozialen Bewegungen wurden erst relativ spät und dann auch kaum als ernsthafte Konkurrenz wahrgenommen. Mit der Regierungsübernahme New Labours im Jahr 1997 war die politisch-ideologische Kehrtwende geschafft, von nun an dominierten die Sozialdemokraten den politischen Diskurs. In Bezug auf die neuen Formen der Politik setzte sich die schon in der Policy Review angeklungene Tendenz fort, das ‚Abwandern‘ demokratischer Entscheidungen in die Gesellschaft eher zu begrüßen und gestaltend zu begleiten, als hierin eine problematische Herausforderung zu sehen. Vielmehr machten sich die Strategen Labours die gesellschaftlichen Veränderungen zu Eigen und plädierten an verschiedenen Orten für einen Ausbau direkterer Bürgerbeteiligung, größere demokratische Transparenz und somit für ein Erstarken der vielzitierten Zivilgesellschaft. Der Wandel des politischen Diskurses wurde demnach in Großbritannien seit Mitte der 1990er Jahre entscheidend von den dortigen Sozialdemokraten 1091 Vgl. Labour Party: Britain forward, not back. London 2005. S. 103 und 105. 1092 ebenda. S. 105. 1093 Vgl. ebenda. S. 105-106.
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mitgestaltet, wobei die programmatischen Dokumente der Partei einen positivvereinnahmenden Umgang mit den Veränderungen der politischen Partizipationsformen offenbaren.
4.) Die niederländische Partij van de Arbeid (PvdA) 4.1.
Die institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für politisches Handeln – nationalstaatliche Besonderheiten
Nachdem schon für die SPD und die Labour Party die jeweiligen Rahmenbedingungen des politischen Handelns in Gestalt des Wahl- und Parteiensystems dargestellt worden sind, sollen diese die Parteiarbeit sehr direkt beeinflussenden Faktoren im Folgenden für die PvdA betrachtet werden. Denn auch im Fall der niederländischen Sozialdemokratie hatten und haben die vom Wahl- beziehungsweise Parteiensystem geprägten Konditionen des politischen Geschäfts deutliche Auswirkungen auf die parteiinternen Debatten und die programmatische Entwicklung.
4.1.1.
Wahlsystem
Das niederländische Wahlsystem wird durch ein extremes Verhältniswahlrecht bestimmt. Anders als beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland existiert keinerlei Sperrklausel in Bezug auf den Einzug in das nationale Parlament in Gestalt der Zweiten Kammer, was zur Folge hat, dass bei den vorhandenen 150 Sitzen bereits 0,67 % der abgegebenen Stimmen ausreichen, um einen Parlamentssitz zu erringen. Administrativ gesehen sind die Niederlande in 19 Kammerwahlkreise aufgeteilt, wobei jedoch im Ergebnis das ganze Land als ein Wahlkreis fungiert. Hierbei ist zu beachten, dass niederländische Wahlen ausschließlich Parteientscheidungen beziehungsweise Entscheidungen für die jeweiligen Spitzenkandidaten wiederspiegeln und somit einzelne Kandidaten nicht ins Gewicht fallen. Dementsprechend finden sich in der Regel auf allen Wahlkreislisten die Spitzenkandidaten der Parteien an erster Position.1094 1094 Vgl. Lepszy, Norbert: Das politische System der Niederlande. In: Ismayer, Wolfgang (Hrsg.): Die politischen Systeme Westeuropas. Opladen 2003. S. 360; sowie Kleinfeld, Ralf: Niederlande-Lexikon – Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. In: Müller, Bernd (Hrsg.): Vorbild Niederlande? Tips und Informationen zu Alltagsleben, Politik und Wirtschaft. Münster 1996. S. 160-161.
272
Welche Konsequenzen ergeben sich nun hieraus für die PvdA? Die erste und wirkungsmächtigste Folge des niederländischen Wahlsystems kann darin gesehen werden, dass es ein ausgeprägtes, stabiles Vielparteiensystem gibt. Seit 1977 waren immer mindestens 9 Parteien im Parlament mit zumindest einem Sitz vertreten, wobei seit der Wahl von 1977 drei Parteien als unterschiedlich starke Volksparteien die politische Landschaft dominierten. Namentlich waren dies die PvdA, der 1975 durch Zusammenschlusses dreier christlicher Parteien gegründete CDA (Christen-democratische Appel), sowie die VVD (Verenigung voor Vrijheid en Democratie).1095 Obwohl es mit diesen drei Parteien immer Fraktionen im Parlament gab, die auf Grund ihrer Sitzanzahl dominierenden Einfluss geltend machen konnten, bestand und besteht die immer wieder kehrende Notwendigkeit erneuter Koalitionsbildung und somit der Berücksichtigung anderer politischer Gruppierungen. Hierzu jedoch mehr im folgenden Abschnitt, der das Parteiengefüge der niederländischen Demokratie näher beleuchtet. Die PvdA und ihre Konkurrenten müssen also bei der Formulierung ihrer politischen Inhalte und Ziele immer darauf achten, die Interessen und Programmatiken potentieller Koalitionspartner im Blick zu haben. Diese klassische Implikation des Verhältniswahlrechts entfaltet auf Grund der im Anschluss noch näher zu betrachtenden relativen Heterogenität der niederländischen Parteienlandschaft eine bei der Analyse programmatischer Entwicklung nicht zu unterschätzende Dynamik.
4.1.2.
Parteiensystem
Bei der Betrachtung des niederländischen Parteiensystems gilt es an erster Stelle festzuhalten, dass die dortigen politischen Parteien keinen besonderen Verfassungsrang inne haben, und dass es, wie auch im Fall des britischen Parteiensystems, kein explizites Parteiengesetz gibt. Parteien haben in den Niederlanden gemäß dem Bürgerlichen Gesetzbuchs dieselbe rechtliche Stellung wie Vereine und Verbände, was zur Folge hat, dass keine näheren kodifizierten Regelungen zu ihrer inneren demokratischer Struktur, ihrer Finanzierung oder ihren politischen Aufgaben existieren.1096
1095 Vgl. Lucardie, Paul: Das Parteiensystem der Niederlande. In: Niedermayer, Oscar/Stöss, Richard/Haas, Melanie (Hrsg.): Die Parteiensysteme Westeuropas. Wiesbaden 2006. S. 335. 1096 Vgl. Lepszy, Norbert. In: Ismayer, Wolfgang (Hrsg.). Opladen 2003. S. 361.
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Bezogen auf das systemische Miteinander der Parteien lässt sich sagen, dass das entscheidende Merkmal der niederländischen Konkordanzdemokratie das oben schon erwähnte stark fragmentierte Vielparteiensystem ist.1097 In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die soziologische Struktur des politischen Systems der Niederlande kurz näher zu betrachten, da sie das Parteiensystem maßgeblich geprägt hat. Schon Mitte der 1960er Jahre beschrieben die niederländischen Soziologen Jacob P. Kruijt und Walter Goddijn diese spezifischen Zusammenhänge mit dem Begriff der ‚Versäulung‘, wobei die Auswirkungen dieser so charakterisierten soziologischen Struktur bis ins 21. Jahrhundert spürbar sind, trotz des noch darzustellenden Wandels im Laufe der Zeit.1098 Mit Versäulung war hierbei gemeint, dass in den Niederlanden religiös und ideologisch klar zu trennende Gruppen nebeneinander existierten, ohne dass es dabei zu einem signifikanten Maß an Kommunikation oder gesellschaftlicher Zusammenarbeit gekommen wäre. Kennzeichnend sei jedoch, dass diese separaten Säulen gemeinsam das bildliche ‚Dach‘ des niederländischen Staates tragen und somit in demokratischer Zusammenarbeit ein stabiles politisches System ermöglichen würden. Wirkliche Stabilität in einem politischen System sei unter derart fragmentierten und segmentierten gesellschaftlichen Bedingungen aber nur dann zu erreichen, so Arend Lijphart in seiner Analyse der niederländischen Konkordanzdemokratie, wenn sich die gesellschaftlichen Eliten bei ständiger Verständigungs- und Kompromissbereitschaft auf bewusste Reaktionsstrategien einigen würden, mit deren Hilfe die dem System innewohnenden zentrifugalen Kräfte neutralisiert werden könnten.1099 Das bis Mitte der 1960er Jahre sehr stabil versäulte Parteiensystem1100 kam jedoch mit der Neugründung und parlamentarischen Etablierung der linksliberalen Partei D `66 (Demokraten `66) im Jahr 1966 und der anschließenden neuen Blockbildung auf der linken Seite des politischen Spektrums ins Wanken.
1097 Vgl. Lucardie, Paul. In: Niedermayer, Oscar/Stöss, Richard/Haas, Melanie (Hrsg.). Wiesbaden 2006. S. 341. 1098 Vgl. Kruijt, Jacob P./Goddijn, Walter: Versäulung und Entsäulung als soziale Prozesse. In: Matthes, Joachim (Hrsg.): Soziologie und Gesellschaft in den Niederlanden. Neuwied 1965. S. 115. 1099 Vgl. Lijphart, Arend: The Politics of Accommodation. Pluralism and Democracy in the Netherlands. Berkley 1975. S. 103-105. 1100 Die maßgeblichen Säulen bildeten bis Mitte/Ende der 1960er fünf Parteien, namentlich die sozialistische bzw. sozialdemokratische PvdA (Partij van de Arbeid), die katholische KVP (Katholieke Volkspartij), die zwei protestantischen Parteien CHU (Christelijk-Historische Unie) und ARP (Anti-revolutionaire Partij), sowie die liberal-konservative VVD (Verenigung voor Vrijheid en Democratie). Vgl. Lepszy, Norbert: Regierung, Parteien und Gewerkschaften in den Niederlanden. Düsseldorf 1979. S. 239-241.
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Als Antwort darauf kam es 1975 zum schon erwähnten Zusammenschluss der Parteien der christlich-demokratischen Mitte, zur Parteienföderation des CDA. Die sich auf diese Weise herausbildenden neuen politischen Strömungen wurden im Anschluss bis in die 1990er Jahre von den drei großen Parteien in Gestalt der sozialdemokratischen PvdA, des konservativ-bürgerlichen CDA und der liberalen VVD dominiert. Die somit einsetzende ‚Entsäulung‘ des niederländischen Parteiensystems setzte sich fort und kann als bis in die Gegenwart andauernder Prozess bezeichnet werden, da nach wie vor die aus Zeiten der Versäulung bekannten sozio-ökonomischen und kulturellen Konfliktlinien das politische Geschehen und den Parteienwettbewerb bestimmen, wenn auch weniger trennscharf als noch zu Zeiten der alten parteipoltischen Statik.1101 Im Untersuchungszeitraum dieser Analyse der Programmarbeit der PvdA in den Jahren 1986 bis 2005 sind mit Bezug auf die Arbeit der PvdA vor allem zwei Veränderungen im Parteiengefüge der Niederlande betrachtenswert. Gemeint sind die Konsequenzen aus den Wahlen von 1994 sowie 2002. Nachdem die PvdA seit 1989 als Juniorpartner in einer Koalition mit dem CDA mitregiert hatte, wurde sie bei der Wahl 1994 trotz eigener nomineller Verluste stärkste Kraft im Parlament und konnte gemeinsam mit der VVD und der D`66 eine Regierung bilden und mit Wim Kok den Ministerpräsidenten stellen. Diese Wahl wurde von verschiedenen Kommentatoren als historisch bezeichnet, da sich mit ihr das Parteiengefüge nachhaltig veränderte. Erstmalig gab es eine Regierung ohne Beteiligung einer christlichen Partei, erstmalig gab es eine Koalition von liberalen Parteien mit der Sozialdemokratie, und erstmalig waren die Parteien der liberalen Strömung zusammengerechnet stärker als die Konservativen und auch als die Sozialdemokraten für sich genommen, was diese beiden großen klassischen Versäulungsparteien zu Kräften mittlerer Größe degradierte.1102 In der Wahlperiode von 1994 bis 1998 war schließlich mit 12 Parteien eine sogar für das niederländische, vom extremen Verhältniswahlrecht bestimmte politische System hohe Zahl von Parteien im Parlament vertreten.1103 Diese Koalition von PvdA, VVD und D`66 hielt zwei Legislaturperioden bis zur Wahl 2002, bei der alle drei Parteien empfindliche Verluste hinneh1101 Vgl. Lucardie, Paul. In: Niedermayer, Oscar/Stöss, Richard/Haas, Melanie (Hrsg.). Wiesbaden 2006. S. 347. 1102 Vgl. ebenda. S. 337; sowie Lepszy, Norbert. In: Ismayer, Wolfgang (Hrsg.). Opladen 2003. S. 365. 1103 Gemeint sind die Wahlperioden ab 1977, nachdem der KVP, der ARP und der CHU sich im Jahr 1975 zum CDA zusammengeschlossen hatten. Vgl. Gabriel, Oscar W./Brettschneider, Frank: Die EU-Staaten im Vergleich. Strukturen, Prozesse, Politikinhalte. Opladen 1994. S. 608.
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men mussten, und bei der die Sozialdemokraten sogar die Hälfte ihrer Parlamentssitze verloren. Einer der Hauptgründe für diese deutliche Abwahl der Koalition kann in der kurz zuvor erfolgten Gründung der LPF (Liste Pim Fortuyn) gesehen werden, die auf den direkt vor der Wahl ermordeten Rechtspopulisten Pim Fortuyn zurückgeht.1104 Diese Parteigründung mit anschließender Regierungsbeteiligung in den Jahren 2002 bis 2003 war Ausdruck eines in den 1990er Jahren aufgekommen Trends hin zu kleineren Stadt-, Kommunal-, und ‚Lebenswert-Parteien‘, die sich gemeinsam mit anderen Bürgerbewegungen in die Politik der etablierten niederländischen Parteien einmischten. Pim Fortuyn, ehemaliger Sozialdemokrat und zuerst Vorsitzender eines kommunalparteilichen Zusammenschlusses auf nationaler Ebene mit Namen ‚Leefbaar Nederland‘ (Lebenswerte Niederlande), machte sich schließlich politisch selbstständig, und gründete erfolgreich seine eigne Partei, mit der er bei den Wahlen im Jahr 2002 erstmalig antrat.1105 Keine der ehemals großen Parteien verfügte mehr über eine stabile Stammwählerschaft, und die Fragmentierung, die ehemals durch die wirksame Versäulung des Systems aufgefangen worden war, führte spätestens im 21. Jahrhundert zu verstärkter Heterogenität in Politik und Gesellschaft geführt. In Kombination mit den Möglichkeiten des niederländischen Wahlsystems können hierin wichtige Gründe für den Erfolg der Populisten um Fortuyn gesehen werden. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die Anerkennung pluralistischer gesellschaftlicher Strukturen in den Niederlanden auf Grund von großen politischen Traditionen immer noch wirkungsmächtig ist. Gleichzeitig gibt es eine ausgeprägte Berücksichtigung von Minderheiten bei gesellschaftlichen Entscheidungs- und Gestaltungsprozessen, die ebenso wie der Pluralismus der Konkordanzdemokratie in einem grundsätzlichen nationalen Konsens begründet ist. Für die PvdA gilt demnach bei ihrer politisch-programmatischen Arbeit, dass sie nicht nur auf Grund der Dynamiken des niederländischen Verhältniswahlrechts die Interessen einer Vielzahl von potentiellen Koalitionspartnern im Blick haben muss, sondern dass sie auch die gewachsene politische Kultur des konsensualen Miteinanders der niederländischen Konkordanzdemokratie gemäß der Annahmen Arend Lijpharts im Auge behalten muss.
1104 Vgl. Lepszy, Norbert. In: Ismayer, Wolfgang (Hrsg.). Opladen 2003. S. 369. 1105 Vgl. Lucardie, Paul. In: Niedermayer, Oscar/Stöss, Richard/Haas, Melanie (Hrsg.). Wiesbaden 2006. S. 337-338.
276
4.2.
Programmdebatte in der PvdA – Form und Chronologie von 1986 bis 2005
Wie schon bei den Betrachtungen zur SPD und zur Labour Party geschehen, so sollen auch im Vorfeld der Beschäftigung mit den konkreten Programminhalten der Partij van de Arbeid kurz die parteiinternen Konditionen für die Programformulierung beleuchtet werden, um im Anschluss daran einen Blick auf die Chronologie der Programmdebatte im Untersuchungszeitraum zu werfen. In Ermangelung eines Parteiengesetzes ist, wie auch im Fall der britischen Labour Party, die Satzung der PvdA der entscheidende Text, um Näheres über die formelle Entwicklung der Parteiprogrammatik zu erfahren. Grundlage der folgenden Darstellung ist die Satzung der PvdA in der Fassung von 1985, wobei festzuhalten ist, dass sich in Bezug auf die im Zusammenhang dieser Arbeit relevanten Passagen in den Neuauflagen aus den Jahren 1988, 1992, 2008, sowie 2009 kaum Wesentliches geändert hat.1106 Zu nennen wäre lediglich eine Konkretisierung in der Fassung von 1988, die an späterer Stelle noch zur Sprache kommen wird. Grundsätzlich erscheint jedoch die Satzung aus dem Jahr 1985 zur Beschreibung des Prozesses der Programmarbeit geeignet, da sie zeitnah zum Beginn des Untersuchungszeitraums im Jahr 1986 geschrieben wurde. Direkt am Anfang wird unter Artikel 2 der Parteisatzung erklärt, dass das Ziel der PvdA die Verwirklichung der im Beginselprogram festgeschriebenen Grundsätze sei, wobei dieses Beginselprogram zuvor von einem Parteitag verabschiedet worden sein muss.1107 Unter Artikel 21 beziehungsweise 22 definiert die Satzung schließlich, dass der Congres genannte Parteitag, welcher sich aus den Abgeordneten der einzelnen Abteilungen der Partei und dem Parteivorstand zusammensetzt, das höchste Organ der Partei sei. Jedes zweite Jahr solle auf Einladung des Parteivorstandes hin ein Congres stattfinden, wobei es dem Vorstand vorbehalten bleibt, auch zu abweichenden Zeiten und in engerer zeitlicher Abfolge Parteitage einzuberufen.1108 In der Fassung von 1988 findet sich darüber hinaus noch die explizite Feststellung, dass der Congres die Grundsatzund Wahlprogramme der Partei für die Zweite Kammer und das Europäische 1106 Für eine vollständige Auflistung aller Parteisatzungen der PvdA im Volltext siehe die Seiten des Documentatiecentrum Nederlandse Politieke Partijen der Rijksuniversiteit Groningen unter www.dnpp.eldoc.ub.rug.nl/root/statuten-reglementen. 1107 Vgl. PvdA: Statuten/Huishoudelijk Reglement & Reglement Kandidaatstelling August 1985. Amsterdam 1985. Art. 2. S. 1. 1108 Vgl. ebenda. Art. 21 Nr. 1.a. und Art. 22 Nr. 1. S. 7.
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Parlament beschließe, und dass er für die grundsätzliche inhaltliche Ausrichtung der Parteipolitik zuständig sei.1109 „Het congres stelt de lijn vast waarlangs de politiek van de partij zich binnen haar programma's heeft te ontwikkelen.”1110 Häufig würde im Rahmen der Parteitage dann auch gar nicht zwischen beispielsweise Wahlprogrammen und anderen politisch-inhaltlichen Beschlüssen unterschieden, so die Feststellung des Politologen Ruud Koole, der von 2001 bis 2005 selbst Vorsitzender der PvdA war.1111 In den Zeiten zwischen den Parteitagen ist anschließend der Vorstand das entscheidende Gremium der Partei. Dort werden die zentralen Leitungsfunktionen ausgeübt, wobei im hier gegebenen Kontext besonders zwei Aufgaben relevant sind. Gemeint ist zum einen der Auftrag, politische Grundsätze und Programme zu formulieren, sowie zum anderen die Befugnis, Kommissionen ins Leben zu rufen und deren Arbeitsfeld zu definieren.1112 Denn in der politischen Praxis waren es häufig Führungspersönlichkeiten der Partei in Zusammenarbeit mit dem Parteivorstand, die die programmatischen Überarbeitungen einleiteten und die dafür benötigten Kommissionen einsetzten, so geschehen auch zu Beginn der hier betrachteten Zeitspanne. In Anlehnung an das bereits im entsprechenden Kapitel zur SPD beziehungsweise zur Labour Party Konstatierte sollen an dieser Stelle ein paar Worte zu den im weiteren Verlauf benutzten Programmformaten und programmatischen Texten der PvdA gesagt werden. Die Partei hatte zwar im Jahr 1977 ein Grundsatzprogramm vorgelegt, doch war dieses relativ schnell vergessen und konnte keine größere, über Jahre andauernde Wirkungskraft entfalten.1113 Erst im Jahr 2005 gelang es der Partij van de Arbeid, sich ein neues, moderneres Grundsatzprogramm zu geben. Die programmatische Arbeit der PvdA erstreckte sich demnach zwischen 1986 und 2005 in erster Linie auf die periodisch immer neu aufzulegenden Wahlprogramme, was diese Texte auch für die Analyse der
1109 Vgl. PvdA: Statuten en Huishoudelijk reglement voor de Partij van de Arbeid, inclusief reglement kandidaatstelling. Amsterdam 1988. Hoofdstuk VIII Art. 39 Nr. 2.1.a.. S. 89. 1110 Ebenda. Hoofdstuk VIII Art. 39 Nr. 2.1.c.. S. 90. 1111 Vgl. Koole, Ruud. Utrecht 1992. S. 328. 1112 Vgl. PvdA: Statuten en Huishoudelijk reglement voor de Partij van de Arbeid, inclusief reglement kandidaatstelling. Amsterdam 1988. Hoofdstuk XI Art. 42 Nr. 2.a.1. und Art. 42 Nr. 3.a.. S. 101. 1113 „Het beginselprogramma van 1977 vormt (…) een anomalie, omdat zijn subjectieve gewicht binen de partij al zo snel na de totstandkoming verloor en in de top van de partij wellicht nooit gehad heeft – hetgeen onder meer tot uiting komt in het feit dat het van daaruit nimmer uitgedragen en verdedigd is, ook niet door degenen die bij de opstelling betrokken waren gewest”, so das Urteil Bart Tromps über das Schicksal des 1977er Grundsatzprogramms. Vgl. Tromp, Bart. Amsterdam 2002. S. 418-419.
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grundsätzlichen programmatischen Entwicklungen interessant macht. Neben den Wahlprogrammen gab und gibt es eine Vielzahl von Kommissionsberichten, Aufsätzen und Einzelpublikationen, die teils mit Blick auf das nächste Wahlprogramm, teils mit breiterem programmatischem Hintergrund verfasst worden sind. Folgerichtig werden zum Zweck der Formulierung eines Profils der grundsatzprogrammatischen Entwicklung der PvdA neben den auf die Erstellung eines Grundsatzprogramms abzielenden Texten auch Wahlprogramme und begleitende Publikationen herangezogen werden. Ausgangspunkt der Betrachtungen ist die schwere Wahlniederlage der PvdA im Jahr 1986. Obwohl die Partei 5 Sitze hinzugewinnen konnte, gelang es ihr nicht, die konservativ-liberale Koalition unter Führung des CDA-Ministerpräsidenten Ruud Lubbers abzulösen.1114 Dementsprechend sprachen die Kommentatoren und auch die PvdA selbst von einer ‚overwinningsnederlaag‘ oder einem ,victorious defeat‘, die beziehungsweise der umso enttäuschender ausgefallen war, als man sich innerhalb der Partei ursprünglich auf einen historischen Wahlsieg über den CDA eingestellt hatte.1115 Eine der ersten Reaktionen auf die Niederlage war die Demission des langjährigen Parteivorsitzenden und ehemaligen Ministerpräsidenten Joop den Uyl und die darauf folgende Wahl des Gewerkschaftsführers Wim Kok an die Parteispitze. Gleichzeitig kam es zu intensiven parteiinternen Diskussionen über die politische Strategie, die dahinter stehende Programmatik und Ideologie und auch über die grundsätzliche Organisationsstruktur der Partei.1116 Der Parteivorstand beauftragte in Folge drei Kommissionen damit, die Kritikpunkte aufzuarbeiten und neue Lösungsansätze zu liefern. Als erstes legte im Oktober 1987 die nach ihrem Vorsitzenden Bert Middel benannte Kommission, die sich mit Fragen der Parteiorganisation befasst hatte, ihren Bericht mit dem Namen ‚Politiek à la Carte in Plaats van Politiek as Dagschotel‘ vor.1117 Die 1114 Nähere Informationen zu diesem Wahlergebnis und der damit zusammenhängenden anschließenden Sitzverteilung und Koalitionsbildung im Parlament, sowie zu allen anderen, an späteren Stellen angesprochen Wahlen finden sich bei Lucardie, Paul. In: Niedermayer, Oscar/Stöss, Richard/Haas, Melanie (Hrsg.). Wiesbaden 2006. S. 335 und 345. 1115 Vgl. Praag, Philip van: Conflict and Cohesion in the Dutch Labour Party. In: Bell, David S./Shaw, Eric (Ed.): Conflict and Cohesion in Western European Social Democratic Parties. London 1994. S. 140; sowie Wielenga, Friso: Niederlande: PvdA zwischen Zuversicht und Ohnmacht. In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Bd. 5 1986. S. 282; sowie Tromp, Bart: Gestolde Vernieuwing. In: Socialisme & Democratie. Bd. 49 Nr. 12 1989. S. 370. 1116 Vgl. Praag, Philip van. In: Bell, David S./Shaw, Eric (Ed.). London 1994. S. 140. 1117 Vgl. Partij van de Arbeid: Politiek à la Carte in Plaats van Politiek as Dagschotel. Amsterdam 1987.
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dort formulierte Kritik an der inneren Kultur und dem Ethos der PvdA war deutlich. Neben anderem wurde bemängelt, dass die Partei sich zu sehr mit sich selbst beschäftigt habe, und es deshalb versäumt worden sei, die Kontakte außerhalb der eigenen ideologischen und parteipolitischen Kreise hinreichend zu pflegen.1118 Ebenfalls im Herbst 1987 erschien der Bericht der von Jan Pronk geleiteten Kommission, welcher der notwendig gewordenen programmatischen Erneuerung gewidmet war. Unter dem Titel ‚Schuivende Panelen‘ lieferte der Text, der als Grundlage der neuen Programmdebatte innerhalb der PvdA dienen sollte, eine umfassende Analyse der aufgekommenen Herausforderungen für die Sozialdemokratie. Als die größten Herausforderungen wurden in diesem Zusammenhang die Internationalisierung von Wirtschaft und Kultur, die Gefährdung der Umwelt, die fortschreitende Technisierung, der demographische Wandel sowie die zunehmende Individualisierung genannt.1119 Der dritte, im Jahr 1988 unter dem Vorsitz von Wim Kok publizierte Kommissionsbericht beschäftigte sich mit Fragen von Strategie und Taktik. Hierbei bezogen sich die Autoren auf die Aussagen der beiden vorangegangenen Berichte, sprachen sich für eine extrovertiertere und ideologisch nicht zu eng geführte politische Strategie aus und plädierten generell für eine offenere und transparentere Organisation der Partei.1120 In engem Zusammenhang mit der Arbeit der drei vom Parteivorstand eingesetzten Kommissionen steht eine ebenfalls 1988 erschienene Publikation des Soziologen Paul Kalma, der zu dieser Zeit stellvertretender Direktor der PvdA-nahen Wiardi Beckman Stichting war. In ‚Het socialisme op sterk water‘ erläutert Kalma in Form von vierzehn Thesen, woran sich die niederländische Sozialdemokratie programmatisch orientieren sollte, mit anderen Worten, was die Hauptaufgaben einer programmatisch neuaufgestellten PvdA vor dem Hintergrund ihrer ideologischen Geschichte seien.1121 Die Ergebnisse der so in den Jahren 1986 bis 1989 geführten Programmdiskussion wurden im Anschluss für die Erstellung des 1989er Wahlprogramms mit dem Titel ‚Kiezen voor kwaliteit‘ herangezogen.1122 Bei dieser Wahl erreichte die PvdA wieder eine Regierungsbeteiligung, wenn auch nur als Juni1118 Vgl. ebenda. S. 4-7; sowie Wolinetz, Steven B.: Reconstructing Dutch Social Democracy. In: Gillespie, Richard/Patterson William E. (Ed.): Rethinking Social Democracy in Western Europe. London 1993. S. 102. 1119 Vgl. Partij van de Arbeid: Schuivende Panelen – Continuït en vernieuwing in de sociaaldemocratie. Amsterdam 1987. S. 20-21. 1120 Vgl. Partij van de Arbeid: Bewogen Beweging – Sociaal-democratie als program en methode. Masterdam 1988. S. 65-68, sowie 87-90. 1121 Vgl. Kalma, Paul: Het socialisme op sterk water – veertien stellingen. Den Haag 1988. 1122 Vgl. Partij van de Arbeid: Kiezen voor kwaliteit: verkiezingsprogramma. Amsterdam 1989.
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orpartner in einer großen Koalition mit dem CDA. In den darauf folgenden Jahren erschienen einzelne Arbeitsberichte von Kommissionen der PvdA, wobei besonders der im Jahr 1991 veröffentlichte Bericht der nach dem Vorsitzenden Jos van Kemenade benannten Kommission herausragte. In ‚Een Partij om te kiezen‘ wurden erneut die inneren Strukturen der PvdA näher beleuchtet und ein Plädoyer für einen nachhaltigen Wandel dieser gehalten. Erwähnung fanden auch die grundsätzlichen Inhalte und Wurzeln der sozialdemokratischen Ideologie, wobei besonders der Wandel derselben thematisiert wurde.1123 „The van Kemenade report draws explicit connections between organisation and procedure and party programmes, proposes specific remedies, and indicates directions that the PvdA should follow in revising programmes and ultimately the party’s statement of principles“1124, so Steven Wolinetz zusammenfassend. Eine weitere Forderung des Berichts war die Feststellung, dass die PvdA eines neuen Grundsatzprogrammes bedürfe, da die Diskussion über solch ein neues Programm die zum Stocken gekommene Erneuerungsdebatte innerhalb der Partei wieder entfachen könne.1125 Im weiteren Verlauf waren es in erster Linie Publikationen der sozialdemokratischen Wiardi Beckman Stichting, in denen die Programmdebatte der niederländischen Sozialdemokraten fortgeführt wurde, um bei der nächsten landesweiten Wahl erneut Inhaltliches für das zu erstellende Wahlprogramm beizusteuern.1126 Eine nächste Manifestation der PvdA-Programmatik war schließlich das Wahlprogramm aus dem Jahr 1994, überschrieben mit ‚Wat mensen bindt‘.1127 In diesem Jahr gelang es der PvdA, trotz der im vorangegangenen Kapitel schon erwähnten nominellen Verluste, stärkste Partei zu werden, die Koalition mit dem CDA zu verlassen und in einer vorher noch nie da gewesenen Dreier-Koalition mit den Liberalen die Führung zu übernehmen. In den hierauf folgenden Regierungsjahren unter Wim Kok publizierte der wichtigste sozialdemokratische Think Tank in Gestalt der Wiardi Beckman Stichting nach wie vor Programmatisches, auch verschiedene Wissenschaftler beteiligten sich an der Debatte.1128 Der nächste eigenständige programmatische Schritt der PvdA 1123 1124 1125 1126
Vgl. Partij van de Arbeid: Een Partij om te kiezen. Amsterdam 1991. S. 12-16, sowie 26-30. Wolinetz, Steven B.. In: Gillespie, Richard/Patterson William E. (Ed.). London 1993. S. 108. Vgl. Partij van de Arbeid: Een Partij om te kiezen. Amsterdam 1991. S. 58. Vgl beispielhaft Schuyt, C.J.M./Stuurman, S./Pels, D./Kalma, P.: Sociaal-democratie tussen zakelijkheid en moral. Amsterdam 1991; und Nekkers, Jan (Red.): Contouren van vernieuwing - Hetoriëntatie in de Partij van de Arbeid. Amsterdam 1992. 1127 Vgl. Partij van de Arbeid: Wat mensen bindt: verkiezingsprogramma Tweede Kamer 1994 – 1998. Amsterdam 1994. 1128 Vgl. beispielhaft Becker, F./Kalma, P./Witteveen, W./Bovens, M.: De verplaatsing van de politiek – Een agenda voor democratische vernieuwing. Amsterdam 1995; Berkouwer,
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war das mit ‚Een wereld te winnen‘ betitelte Programm zur Wahl des Jahres 1998, bei der die Regierung Kok im Amt bestätigt wurde.1129 Die programmatische Grundsatzarbeit der niederländischen Sozialdemokraten fand im selben Jahr in Gestalt eines Berichts der Grundsatzprogrammkommission der PvdA ihre Fortsetzung, der sinnbildlich mit ‚De rode draden van de sociaal-democratie‘ überschrieben war.1130 Die Publikation spannt einen weiten Bogen von den gesellschaftlichen Veränderungen, mit denen sich sozialdemokratische Grundsatzprogrammatik konfrontiert sieht, zu der Frage nach der Art und Funktionsweise solch einer Programmatik, bis hin zu Themen, die in der Zukunft voraussichtlich Relevanz für die Sozialdemokratie erlangen werden. Zum Abschluss findet sich ein die Erkenntnisse der vorangegangen Abschnitte aufgreifendes Kapitel, das einen Ausblick über die für die Gegenwart konstatierten Herausforderungen hinaus liefert, und Anregungen für eine ideologische Weiterentwicklung bieten soll.1131 Nach intensiver Debatte über den Text der Grundsatzprogrammkommission erschien im Vorfeld des Parteitags im Mai 2000 erneut ein Text der Kommission, diesmal als Diskussionsgrundlage für den anstehenden Parteitag, in der die Erkenntnisse der bisherigen Grundsatzprogrammdebatte dargestellt und anhand von ‚De rode draden van de sociaal-democratie‘ gespiegelt wurden. Dieser Zwischenbericht sollte ein Baustein auf dem Weg zu einem neuen Grundsatzprogramm sein, welches in einem ersten Entwurf auf dem Parteitag im Jahr 2001 verabschiedet werden sollte.1132 Tatsächlich verlief die anschließende Debatte und Rezeption des im Jahr 2000 erschienen Programmentwurfs mit dem Titel ‚Tussen droom en daad‘ anders als vor allen Dingen vom Parteivorstand und den meisten Mitgliedern der Grundsatzprogrammkommission gedacht. Mit Maarten Hajer und Paul Kalma sprachen sich zwei Mitglieder der Kommission gegen den Entwurf aus und kritisierten diesen in einem Zeitungsartikel öffentlich.1133 Nachdem auch andere
1129 1130 1131 1132 1133
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Jan/Hoogerwerf, Andries (Red.): Markt, ongelijkheid, solidariteit: op zoek naar een herkenbare PvdA. Rotterdam 1996; sowie Booij, Lennart/van Bruggen, Eric (Red.): Niet Nix – Ideeën voor de Partij van de Arbeid. Amsterdam 1996. Vgl. Partij van de Arbeid: Een wereld te winnen: verkiezingsprogramma Tweede Kamer 1998 – 2002. Amsterdam 1998. Vgl. PvdA: De rode draden van de sociaal-democratie – Rapport van de PvdA-commissie beginselen. Den Haag 1998. Vgl. ebenda. S. 6-7. Vgl. Partij van de Arbeid: De beginselen van de PvdA. Discussiestukken voor het congres van 27 mei 2000. Amsterdam 2000. S. 5. Vgl. Hajer, Maarten/Kalma, Paul: PvdA moet nu aanval op liberalisme inzetten. NRC Handelsblaad 27.11.2000. S. 9.
Kommentatoren den Entwurf als unzureichend kritisiert hatten und der Parteivorstand sich ebenfalls nicht mehr geschlossen hinter den Text stellte, beschloss der Parteitag im März 2001, den Entwurf nicht als Grundsatzprogramm zu übernehmen, sondern ihn lediglich als weitere Diskussionsanregung zu benutzen.1134 Angesichts des politischen Aufstiegs von Pim Fortuyn und seiner rechtspopulistischen LPF, sowie der anstehenden Wahlen im Mai 2002 wurde die Grundsatzprogrammdebatte im weiteren Verlauf überlagert von der Notwendigkeit, ein neues Wahlprogramm zu formulieren und für den Erhalt der Regierungsmehrheit zu kämpfen. ‚Samen voor de toekomst: idealen en ambities 2010‘, so der Titel des Programms, das der vorherrschenden politischen Stimmung nichts entgegensetzen und die schwere Niederlage und damit die Abwahl der Regierung Kok nicht verhindern konnte.1135 Nur acht Monate später kam es erneut zu Parlamentswahlen, und die PvdA formulierte ein neues Wahlprogramm, welches sich an das schon 2002 Gesagte anlehnte.1136 Der damalige Parteivorsitzende Ruud Koole formulierte jedoch im Vorwort des Textes ausdrücklich, dass das Wahlmanifest von 2003 als Weiterentwicklung des Wahlprogramms von 2002 gedacht sei, und dass in den kommenden Jahren die inhaltliche Diskussion inner- und außerhalb der PvdA fortgesetzt werden solle.1137 Mit Blick auf die programmatische Erneuerung der Partij van de Arbeid ist aber eine andere Publikation aus dem September 2002 als wichtiger einzustufen als die Wahlprogramme von 2002 beziehungsweise 2003. Gemeint ist der Bericht der ‚Werkgroep Politiek Inhoudelijke Koers‘ mit dem Titel ‚De kaasstolp aan diggelen’.1138 Hier findet eine gründliche Analyse des für die Sozialdemokraten schockierenden Wahlausgangs vom Mai des Jahres statt, und es kommt zur tiefgreifenden kritischen Betrachtung sowohl von Struktur, Organisation als auch Programm der PvdA. Zum Schluss findet sich eine Aufzählung so genannter brennender Fragen für die Partei, von der Zukunft des Sozialstaats, über Fragen von Generationengerechtigkeit, Individualisierung, Einwanderung und Armut, bis hin zu den sich aus der wirtschaftlichen Globalisierung ergebenden Herausforderungen.1139 1134 Vgl. Tromp, Bart. Amsterdam 2002. S. 486-489. 1135 Vgl. Partij van de Arbeid: Samen voor de toekomst: idealen en ambities 2010: verkiezingsprogramma 2002-2006. Amsterdam 2002. 1136 Vgl. Partij van de Arbeid: Voor verantwoordelijkheid, respect en solidariteit: verkiezingsmanifest 2003-2007. Amsterdam 2002. 1137 Vgl. Koole, Ruud. In: Ebenda. S. 1. 1138 Vgl. PvdA, Werkgroep Politiek Inhoudelijke Koers: De kaasstolp aan diggelen. De PvdA na de dreun van 15 mei. Amsterdam 2002. 1139 Vgl. ebenda. S. 29-41.
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Nach solch einer ersten Phase der Aufarbeitung der Wahlniederlage fand die Arbeit am neuen Grundsatzprogramm in den Jahren 2003 bis 2004 ihre Fortsetzung. Neben verschiedenen Diskussionsbeiträgen veröffentlichte der Parteivorstand im Jahr 2004 insgesamt drei Entwürfe für das neue Grundsatzprogramm, die allesamt in den Gliederungen der Partei als Diskussionsgrundlage dienen sollten.1140 Schließlich wurde auf dem im Januar 2005 stattfindenden Parteitag das neue Grundsatzprogramm der Partij van de Arbeid in einer letzten Fassung diskutiert und verabschiedet.1141
4.3.
Probleme und Spannungsfelder – Herausforderungen für die niederländische Sozialdemokratie seit der Übernahme des Parteivorsitzes durch Wim Kok 1986
In den kommenden Unterkapiteln werden nun die von der PvdA perzipierten Herausforderungen betrachtet, und die programmatischen Antworten der Partei hierauf analysiert. Die Untersuchung beginnt mit der Aufarbeitung der deutlichen Wahlniederlage der Sozialdemokraten aus dem Jahr 1986. Da es in dieser Arbeit ausschließlich um die Analyse der Programmatik der Parteien geht, dient die Verabschiedung des neuen Grundsatzprogramms der PvdA im Jahr 2005 als Schlusspunkt der Betrachtungen. In Anlehnung an die Aussagen zur Chronologie der Programmdebatte lässt sich hierbei schwerlich ein bestimmter Zeitraum als besonders prägnant für die Programmarbeit hervorheben, einmal abgesehen von der Phase der Jahre 1987 bis 1989, in der ein grundsätzliches Umdenken innerhalb der niederländischen Sozialdemokratie eingeleitet oder zumindest von Seiten der Parteiführung der Versuch hierzu unternommen wurde. In den darauf folgenden Jahren erschienen in regelmäßiger Abfolge Publikationen des wissenschaftlichen Büros der PvdA in Gestalt der Wiardi Beckman Stichting, wobei die PvdA selbst erst zu Beginn des neuen Jahrtausends wieder ernsthaft in die Debatte über die Grundsätze ihrer Programmatik einstieg, was auch dem politischen Pragmatismus der 8 Jahre dauernden Regierungsbeteiligung als stärkste Kraft geschuldet war. Dies zeigte sich unter anderem daran, dass ein neues Grundsatzprogramm erst im Jahr 2005 verabschiedet
1140 Vgl. PvdA, Commissie Beginselen: Concept-Beginselmanifest Partij van de Arbeid. In: Socialisme & Democratie. Bd. 61 Nr. 10/11 2004. S. 53. 1141 Vgl. Partij van de Arbeid: Beginselmanifest Partij van de Arbeid. Vastgesteld door het congres van de Partij van de Arbeid, 29 januari 2005. Delft 2005.
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werden konnte, obwohl der Impuls zu dessen Formulierung schon 1991 im Bericht der van Kemenade-Kommission gegeben worden war.1142 Die textliche Grundlage bei der Untersuchung der programmatischen Entwicklung innerhalb der niederländischen Sozialdemokratie bilden zum einen die Berichte der programmatisch arbeitenden Kommissionen, zum anderen die vielzähligen Publikationen der Wiardi Beckman Stichting. Darüber hinaus werden Aufsätze und Artikel in Sammelbänden und Zeitschriften herangezogen. Schließlich gilt es, wie schon im Fall der Labour Party, auch die Wahlprogramme der PvdA zu betrachten, da sich aus ihnen die programmatischen Leitlinien der Partei gut ablesen lassen, nicht zuletzt auf Grund der Tatsache, dass das Grundsatzprogramm von 1977 kaum eine Rolle mehr spielte, und dass ein neuer derartiger Text erst 2005 endgültig formuliert werden konnte.
4.3.1.
Globalisierung der Wirtschaft – nationalstaatlicher Keynesianismus in der Krise
Nach der verlorenen Wahl 1986 setzte eine Debatte ein über die Struktur, die Organisation und vor allem die Programmatik der PvdA, in der Erwartung, dass sie eine grundsätzliche und nachhaltige Analyse bieten und Lösungsvorschläge bereit halten würde. Denn ähnlich wie in anderen westeuropäischen sozialdemokratischen Parteien hatte sich auch in der niederländischen Partij van de Arbeid die Erkenntnis durchgesetzt, dass es angesichts der vielfältigen Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft sowie der sich hieraus ergebenden Konsequenzen einer intensiven Revision des parteieigenen Gedankenguts und der praktizierten sozialdemokratischen Politik bedürfe.1143 „Programmatische Erneuerung ohne oppurtunistische Anpassung an den Zeitgeist ist (…) das Ziel der PvdA für die nächsten Jahre“1144, forderte im August 1986 der niederländische Historiker Friso Wielenga mit Blick auf die Wahlniederlage. Der im Jahr 1987 erschienene Bericht der mit programmatischen Fragen befassten Pronk-Kommission beschäftigte sich dementsprechend mit der ganzen Breite der sozialdemokratischen Programmatik, und doch setzten die Autoren Schwerpunkte. So findet sich im ersten einleitenden Kapitel des Textes, welches 1142 Vgl. Partij van de Arbeid: Een Partij om te kiezen. Amsterdam 1991. Teil I S. 17; sowie Tromp, Bart. Amsterdam 2002. S. 470-471. 1143 Vgl. Partij van de Arbeid: Schuivende Panelen. Amsterdam 1987. S. 9. 1144 Wielenga, Friso: Niederlande: PvdA in der Erneuerung. In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Bd. 33 1986. S. 767.
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mit ‚Democratisch-socialisme in een veranderende omgeving‘ schon aussagekräftig betitelt ist, eine Aufzählung der besonders hervorzuhebenden Themen. An erster Stelle wird die Internationalisierung von Wirtschaft und Kultur genannt, gefolgt von der steigenden Umweltbelastung, dem technischen Fortschritt, sowie den demographischen und sozialen Veränderungen.1145 In Bezug auf die in diesem Kapitel betrachtete Herausforderung finden sich im Unterkapitel zur Internationalisierung der Wirtschaft erste relevante Aussagen. Zu Beginn konstatieren die Autoren, dass sich die Koordinaten für eine erfolgreiche Steuerung der Wirtschaft derart verschoben hätten, dass diese kaum mehr möglich sei. Die Handlungsfreiheit der Nationalstaaten sei stark beeinträchtigt, die wirtschaftspolitischen Instrumente der Regierungen seien vielfach unbrauchbar geworden, und an Stelle der Nationalstaaten seien mittlerweile transnationale Unternehmen die bedeutsamsten Koordinatoren der Weltwirtschaft geworden:1146 „De transnationale onderneming en het speculatieve kapitaal werden tot de belangrijkste economische coördinatiemechanismen: van een Keynesiaanse politiek, gericht op conjunctuurbeheersing en op volledige werkgelegenheid kon op deze wijze weinig meer terechtkomen en al helemaal niet binnen het kader van nationale macro-economische politiek.”1147 Das explizit wirtschaftspolitischen Fragestellungen gewidmete Kapitel, welches mit 45 Seiten das mit Abstand längste ist, liefert auf den ersten 10 Seiten einen historischen Abriss der Wirtschafts- und Sozialpolitik der PvdA in den letzten 60 Jahren, wobei zu Beginn vier Hauptherausforderungen aufgezählt werden. Da diese sich wechselseitig beeinflussen, müssten sie daher im Vorfeld der Betrachtungen des wichtigen Gebiets der Wirtschafts- und Sozialpolitik Erwähnung finden. Genannt werden die sich selbst beschleunigende technologische Entwicklung, die Überdimensionierung und zunehmende Internationalisierung der Wirtschaft, die neuen Ressourcenprobleme in Folge der Störung des ökologischen Gleichgewichts und der zunehmenden Umweltbelastung, sowie die Individualisierung als sozial-kulturelles Symptom einer Gesellschaft, in der sowohl ehemals feste Bande als auch das Verhältnis der Bürger zum Staat zur Im Folgenden wird der Begriff des Wachstums näher Diskussion stehen.1148 beleuchtet, wobei Wachstum als etwas Wichtiges und Positives grundsätzlich begrüßt wird. Darüber hinaus wird festgehalten, dass wirtschaftliches Wachstum
1145 1146 1147 1148
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Vgl. Partij van de Arbeid: Schuivende Panelen. Amsterdam 1987. S. 7. Vgl. ebenda. S. 24 und 26-27. ebenda. S. 28. Vgl. ebenda. S. 60.
in enger Wechselwirkung mit Fragen des ökologischen Gleichgewichts, der Individualisierung, und der zunehmenden Internationalisierung und Erweiterung der Märkte gesehen wird.1149 Nachdem anschließend die ökonomische Struktur der Niederlande und die Partizipation der Einzelnen am Wachstum, beziehungsweise die Verteilung der Früchte desselben besprochen wurden, widmet sich das Kapitel zum Schluss der Frage nach der dem niederländischen Wirtschaftsystem zugrundeliegenden ökonomischen Ordnung. Bei der hier stattfindenden Diskussion über die Vorund Nachteile von freier Marktwirtschaft und staatlicher Planwirtschaft plädieren die Verfasser schlussendlich für eine gemischte Form aus beiden Konzepten. Auch wenn historisch betrachtet der Schwerpunkt der Sozialdemokratie auf staatlicher Planung gelegen habe, so müssten bestimmte veränderte Realitäten berücksichtigt werden. „De internationalisering en de schaalvergroting van de economie leiden er toe dat veel meer factoren een rol spelen in het economische proces, die niet door nationale planning-autoriteiten beïnvloed kunnen worden. Dat onkracht meer en meer de mogelijkheiden van planopstelling zowel als planuitvoering”1150, so die Einschätzung im Text. Das abschließende Urteil wird wenige Zeilen später folgendermaßen formuliert: “We kiezen voor een gemengde economie, waarin markt- en planelementen naast elkaar bestaan. (...) Het gaat dus niet om een keuze tussen beide, maar om een combinatie van beide: ‘meer plan en meer markt’.”1151 Das Fazit der Autoren lautet unter Berücksichtigung aller in Wechselwirkung stehenden Faktoren, dass eine niederländische Regierung nur dann eine selbstständige und erfolgreiche Wirtschaftspolitik umsetzen könne, wenn sie nicht nur die gestiegene Internationalisierung der Ökonomie berücksichtigen, sondern auch die im freien Markt agierenden, stärker gewordenen Spieler einbinden würde. „De optie ‚meer markt en meer plan‘ is te verwezenlijken in het model van zo’n consensus-economie“1152, so das Postulat des Berichts. Ohne solch einen neuen Konsens zwischen Markt und Staat sehen die Autoren demnach keinen Handlungsspielraum mehr für eine wirksame Wirtschaftspolitik, die immer schon besonders für die Sozialdemokratie als wichtiges Steuerungsinstrument gegolten hatte.
1149 1150 1151 1152
Vgl. ebenda. S. 71. ebenda. S. 96. ebenda. S. 97. ebenda. S. 103.
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In ‚Schuivende Panelen‘ wurde demnach versucht, eine ausführliche und gründliche Auseinandersetzung mit den programmatischen Wurzeln und den aktuellen Problemen zu liefern, und dabei gleichzeitig Impulse für neue programmatische Konzepte zu geben. Doch gerade diese Fülle von Anliegen, die auch darin zum Ausdruck kam, dass der Bericht 195 Seiten stark war, sowie die inhaltliche Verquickung bei der Behandlung der Themen, war anschließend das Ziel deutlicher Kritik. Bart Tromp, Politikwissenschaftler und PvdAMitglied, bemerkte in Bezug auf den Text, dass es ihm sowohl an Kohärenz als auch an inhaltlicher Konzentration mangele. Darüber hinaus hätten sich die Autoren nicht hinreichend bemüht, den Bericht im Rahmen der Programmdebatte eindeutig zu platzieren und somit seine Relevanz zu unterstreichen. Der Bericht der Pronk-Kommission könne daher keine politische Schlagkraft entfalten und bleibe eine Sammlung von Fragmenten, die keine klare, unmissverständliche politisch-programmatische Botschaft kommunizieren würde.1153 Betrachtet man jedoch die oben dargestellten Aussagen zu den wirtschaftspolitischen Herausforderungen in ‚Schuivende Panelen‘, so finden sich auch andere Stimmen innerhalb der PvdA, die denselben Ton anschlagen. In einem Bericht zur Zukunft des demokratischen Sozialismus in Europa konstatiert beispielsweise die Delegation der niederländischen Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, dass der Nationalstaat auf Grund gestiegener transnationaler Interaktionen von Unternehmen im Rahmen der wirtschaftlichen Globalisierung viele seiner Einflussmöglichkeiten eingebüßt habe, und dass die weltweite Deregulierung die Koordinaten ökonomischer Steuerung nachhaltig verschoben habe.1154 Auch der damalige stellvertretende Vorsitzende der Wiardi Beckman Stichting, Paul Kalma, erklärte in einer Publikation aus dem Jahr 1988, dass vor allen Dingen die Internationalisierung der Wirtschaft dazu beigetragen habe, die vormals ‚automatische Koppelung‘ zwischen ökonomischem Wachstum und Beschäftigung, oder allgemeiner gesprochen zwischen ökonomischer Effizienz und sozialer Gerechtigkeit, auseinanderzubrechen.1155 „Deze internationalisering heeft de mogelijkheid tot het voeren van een Keynesiaans beleid op nationaal niveau, warrbij en ‚anti-cylische‘ politiek verbonden werd met sociale doelstellingen op het gebied van inkomen en werkgelegenheid, aanzienlijk beperkt”1156, so Kalmas Einschätzung in seiner programmatischen Denkschrift.
1153 1154 1155 1156
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Vgl. Tromp, Bart. In: Socialisme & Democratie. Bd. 49 Nr. 12 1989. S. 372. Vgl. Socialistische Fractie Europees Parlement. Amsterdam 1988. S. 20. Vgl. Kalma, Paul. Den Haag 1988. S. 109. ebenda.
Das auf diesen ersten programmatischen Auftakt der Jahre 1987 bis 1989 folgende Wahlprogramm von 1989 befasste sich hingegen so gut wie gar nicht explizit mit den wirtschafts- und finanzpolitischen Herausforderungen, sondern bettete diese in breit angelegte Kommentare zur globalen Entwicklung ein. Hierbei wurden, wie auch schon im oben zitierten Kommissionsbericht, verschiedene Themen und Herausforderung gemeinsam behandelt. So gab es beispielsweise keine argumentative Trennung zwischen Fragen der Umweltpolitik und der Wirtschaftspolitik, die Betonung lag vielmehr auf den Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Politikfeldern. Auffallend ist auch, dass an verschiedenen Stellen die Europäische Union als neuer Ordnungsrahmen für zukünftige Wirtschafts- und Finanzpolitik positiv erwähnt wurde.1157 In den zu Beginn der 1990er Jahre veröffentlichten programmatischen Publikationen der Partei wurde die Globalisierung der Wirtschaft mit ihren Implikationen für die Formulierung entsprechender sozialdemokratischer Programmatik nur am Rande thematisiert, und dies obwohl die van KemenadeKommission in ihrem Bericht konstatierte, dass „de sociaal-democratie nog geen goed antwoord gevonden (heeft) op deze internationale (en regionale) ecnonomische machtsverschuivingen en de nieuwe maatschappelijke ongelijkheden die daarvan het gevolg zijn.“1158 Im Mittelpunkt standen vielmehr innenpolitische Fragestellungen, die mit erkennbarem Bezug auf konkretes politisches Handeln diskutiert wurden. Obwohl im Bericht der van KemenadeKommission aus dem Jahr 1991 die Wiederaufnahme grundsätzlicher Programmarbeit gefordert worden war, und der Parteivorstand dieses Anliegen unterstützte, verschoben sich die Arbeitsschwerpunkte der Partei und ihrer Gremien im Nachgang der 1989er Wahl, was zuvorderst der erneuten Regierungsbeteiligung geschuldet war.1159 Und doch gab es vereinzelte Texte, in denen wirtschaftspolitische Herausforderungen eine Rolle spielten. So wird zum Beispiel in einer Publikation der im Oktober 1991 ins Leben gerufenen Kommission Versorgungsstaat unter dem Punkt ‚Een gezonde economische structuur‘ von einer veränderten Marktdynamik gesprochen, wobei jedoch die verstärkt über Grenzen hinweg agierenden Unternehmen in der globalisierten Welt nur einen Aspekt des Geschehens ausmachen würden.1160 In einer anderen Parteipublikati1157 Vgl. Partij van de Arbeid: Kiezen voor kwaliteit. Amsterdam 1989. S. 3-4, sowie 21-23. 1158 Partij van de Arbeid: Een Partij om te kiezen. Amsterdam 1991. Teil II S. 9. 1159 Der damalige Finanzminister und PvdA-Vorsitzende Wim Kok sprach sogar konkret davon, dass der programmatische Erneuerungsprozess ‚eingefroren‘ werden sollte. Vgl. ebenda. Teil I S. 13 und 17. 1160 Vgl. PvdA, Commissie Verzorgingsstaat: Niemand aan de kant – Om de toekomst van de verzorgingsstaat. Amsterdam 1992. S. 41-42.
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on zu Fragen von Industrie, Technologie und Arbeit aus dem Jahr 1993 wird betont, dass das internationale Konkurrenzvermögen der Niederlande in zunehmendem Maße das Wirtschaftswachstum, den Arbeitsmarkt und das Wohlfahrtsniveau bestimme.1161 Die Antwort auf die zunehmend notwendige Ausrichtung der niederländischen Wirtschaft an der internationalen Konkurrenz folgt ein paar Seiten weiter: „De PvdA kiest ervoor de beoogde versterking van de economische structuur te realisieren in een open economic.“1162 Denn als kleines Land mit einem kleinen Binnenmarkt seien die Niederlande stark vom globalen Handel abhängig, was unter anderem die fortschreitende europäische Integration mit ihrer Wirtschaftsraumerweiterung und den freier werdenden Welthandel zu großen Herausforderungen machen würde.1163 Das Programm zur Wahl 1994 befasste sich hingegen wieder ausführlicher mit den sich aus der Globalisierung der Märkte ergebenden Herausforderungen und dem daraus folgenden Kompetenzverlust des Nationalstaats. Direkt im ersten inhaltlichen Kapitel finden sich unter der Zwischenunterschrift ‚Eeen grenzeloze wereld‘ erste Bemerkungen zum Thema. Bei der Beschreibung der Wirklichkeit, mit der sich die PvdA konfrontiert sehe, wird an erster Stelle die Internationalisierung der Ökonomie genannt. Die Konkurrenz für die niederländische Wirtschaft und ihre Unternehmen beschränke sich nicht mehr auf die Niederlande selbst und West-Europa, sondern sei nach dem Ende des Ost-WestKonflikts eine internationale geworden. Und hierbei gebe es eine Vielzahl von Risiken, die beachtet werden müssten. Genannt werden in diesem Zusammenhang die zunehmend unkontrollierten Kapitalmärkte, monetäre Krisen sowie die Auswirkungen auf die verschiedenen Arbeitsmärkte, da deren Rahmenbedingungen nun nicht mehr alleine von den jeweiligen Nationalstaaten bestimmt werden könnten.1164 Hieran schließen sich Aussagen zu den Risiken des wirtschaftlichen Wachstums an, wenn es heißt, dass in Folge des Abnehmens der makroökonomischen Steuerungsfähigkeit sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene Phänomene wie beispielsweise wirtschaftliche Depressionen kaum mehr beherrschbar sein würden. Folgerichtig dürfe es kein unbegrenztes unkontrolliertes wirtschaftliches Wachstum geben.1165 So schlussfolgern die 1161 Vgl. Partij van de Arbeid: PvdA Verkenningen 1993 – Naar een vernieuwing van de Nederlandse industrie. Amsterdam 1993. S. 14. 1162 ebenda. S. 23. 1163 Vgl. ebenda. 1164 Vgl. Partij van de Arbeid: Wat mensen bindt. Amsterdam 1994. S. 9-10. 1165 Vgl. ebenda. S. 13.
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Autoren, dass „het uitgangspunt voor dit program is dat het hoofdmotief van de economische politiek in de komende jaren bestaat in het dienstbaar maken van economische groei en technische vernieuwing aan duurzame humane ontwikkelin, de verbreiding van menselijke capaciteiten.”1166 Wenige Zeilen später finden sich dann die drei maßgeblichen Ziele der sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik der PvdA, nämlich die Erreichung von Nachhaltigkeit, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Generierung materiellen Wohlstands.1167 Im Jahr 1995 erschienen zwei Publikationen der Wiardi Beckman Stichting, in denen die sich verändernde Gesellschaft analysiert wurde, um daraus anschließend programmatische Anregungen für die PvdA abzuleiten. In ‚De verplaatsing van de politiek‘ wird unter anderem die Verschiebung von politischen Zuständigkeiten und die daraus entstehende Schwächung der demokratisch legitimierten Institutionen bemängelt, und dies insbesondere in Bezug auf die Verlagerung vieler ehemals nationalstaatlicher Entscheidungen auf die europäische Ebene.1168 „Waar vroeger, binnen de grenzen van internationale afspraken, ruimte bestond voor en eigen (Keynesiaanse) beïnvloeding van de nationale economie, is men nu in hoge mate afhankelijk van de internationale (financiële) markt en van het beleid in de ons omringende landen”1169, so das aus anderen Texten schon bekannte Fazit der Autoren. An einer anderen Stelle der Publikation wird kritisch angemerkt, dass der Liberalismus in den 1980er und frühen 1990er Jahren vielerorts zur dominierenden politischen Ideologie geworden sei, die sich grundsätzlich gegen Maßnahmen staatlicher Steuerung ausspreche. Dieser Philosophie gemäß dem Satz „De markt moet het maar doen“1170 gelte es angesichts der Herausforderungen durch die Internationalisierung und andere nachhaltig veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen etwas entgegenzusetzen, wobei Sozialdemokraten zuvorderst Konzepte dafür liefern sollten beziehungsweise müssten, wie die zukünftige Rolle der Politik und des Staates aussehen könnte.1171 In der von Paul Kalma verfassten Schrift aus demselben Jahr geht es dem Autor in erster Linie darum, den Konflikt zwischen einer den freien Markt predigenden und Mitte der 1990er Jahre vorherrschenden liberalen Ideologie auf zu zei1166 1167 1168 1169 1170 1171
ebenda. S. 14-15. Vgl. ebenda. S. 15. Vgl. Becker, F./Kalma, P./Witteveen, W./Derksen, W./Bovens, M.. Amsterdam 1995. S. 14. ebenda. ebenda. S. 44. Vgl. ebenda. S. 44 und 55-56.
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gen, und eine mögliche postmaterialistisch-sozialdemokratischen Antwort zu finden. Er hält schließlich ein Plädoyer für eine Neuentdeckung von Solidarität in globalen Maßstäben. Schon der Titel der Veröffentlichung, ‚De wonderbaarlijke terugkeer van de solidariteit‘, lässt keine Zweifel an Kalmas Anliegen aufkommen. Im ersten großen Kapitel findet sich zunächst eine Auseinandersetzung mit den Herausforderungen in Gestalt der globalisierten Märkte, wobei der Autor festhält, dass mittlerweile eine Mehrheit der westeuropäischen Sozialdemokraten die Realitäten der Marktökonomie anerkennen würden. Im selben Atemzug konstatiert Kalma aber auch, dass es verschiedene Formen von Marktökonomie gebe, und dass diese nicht notwendigerweise mit der Markt-Ideologie einer Margaret Thatcher und eines Ronald Reagan gleichzusetzen seien, von der es sich abzugrenzen gelte.1172 Wie schon andere sozialdemokratische Kommentatoren vor ihm benennt auch Kalma die gestiegene weltweite Interdependenz im Kontext der Globalisierung als Realität, die in der Konzipierung politischer Programmatik berücksichtigt werden müsse.1173 Ebenso wird die Schlüsselrolle der Europäischen Union in diesem Zusammenhang betont, mit der Erweiterung, dass „Europese samenwerking is dan ook veel meer (zo niet: heel wat anders) dan een financieel-economische saneringsoperatie ter versterking van de nationale economieën.”1174 Zu fragen sei vielmehr nach einem grundsätzlichen und politikfeldübergreifendem Ansatz europäischer Politik zur Verbesserung der weltweiten Lebensbedingungen.1175 Um eine Wiederentdeckung der sozialdemokratischen Idee von Solidarität in globalen Maßstäben geht es, neben anderen Themen, auch einer Reihe von jungen Autoren, die ebenfalls 1995 einen Sammelband veröffentlichten, in dem sich eine Vielzahl von neuen Ideen und Konzepten für sowohl die Programmatik als auch die praktische Politik der PvdA findet. Zugespitzt sprechen die Autoren bei der Betrachtung der wirtschaftlichen Globalisierung vom ökonomischen ‚rat race‘, das der Ergänzung durch ein neues Konzept sozialdemokratischer Solidarität bedürfe, damit der global produzierte ökonomische Mehrwert einer möglichst großen Zahl von Menschen verfügbar gemacht werde.1176 Des Weiteren plädieren die Verfasser dafür, dass besonders die Nachhaltigkeit jegli-
1172 Vgl. Kalma, Paul: De wonderbaarlijke terugkeer van de solidariteit. Amsterdam 1995. S. 1314. 1173 Vgl. ebenda. S. 52. 1174 ebenda. S. 68. 1175 Vgl. ebenda. S. 69. 1176 Vgl. Booij, Lennart/van Bruggen, Eric (Red.). Amsterdam 1996. S. 15.
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chen wirtschaftlichen Wachstums im Mittelpunkt zukünftiger Wirtschaftspolitik stehen müsse.1177 Ein anderer 1996 erschienener Sammelband bündelt die Ansichten einer größeren Zahl von Wissenschaftlern, die sich zum Teil sehr kritisch mit dem politischen Kurs in sowohl der Programmdebatte als auch der Regierungsarbeit der PvdA auseinandersetzen. Im ersten Aufsatz behandeln die beiden Herausgeber der Publikation die Themen Markt, Ungleichheit und Sozialdemokratie. Hier findet sich eine Analyse des Marktdenkens und der dahinter stehenden Ideologie, dabei sparen die Autoren nicht mit Kritik am beschriebenen Thatcherismus beziehungsweis den dargestellten Reaganomics und skizzieren das aus ihrer Sicht erforderliche sozialdemokratische Gegenkonzept. Sie verweisen auf die Ökonomisierung des Weltbilds als Folge von Veränderungen in der politischen Kultur und appellieren an die PvdA, sich auf grundsätzliche sozialdemokratische Werte zu besinnen und diesen in modernisierter Form erneut Geltung zu verschaffen.1178 „De sociaal-democratie (is) verloren (…), als zij niet de frontale aanval op het neo-liberalisme inzet“1179, so auch die Einschätzung des Politikers und ehemaligen Vorsitzenden der PvdA-Fraktion, Thijs Wöltgens, im selben Jahr. Ähnlich argumentiert Enno W. Hommes in seinem Beitrag, wenn er davon spricht, dass spätestens seit dem Fall der Berliner Mauer das auf den freien Markt ausgerichtete ökonomische Denken zur dominierenden globalen Ideologie geworden sei.1180 Eine für die Sozialdemokratie schwerwiegende Folge sei der Einfluss der Globalisierung auf die Rolle des Staats. Die Position des Staats sei deutlich geschwächt worden, da er seiner klassischen Steuerungsmechanismen weitestgehend beraubt worden sei, was den Spielraum für sozialdemokratische, vielfach auf staatliche Eingriffe basierende Politik stark eingegrenzt hätte.1181 „Regulering van kapitaalstromen en markten op zodanige wijze dat het neo-liberale model optimaal wordt benut en tegelijkertijd sociale en ecologische negative effecten worden ingedamd“1182, so die Skizzierung einer potentiellen Antwort auf diese Herausforderungen.
1177 Vgl. ebenda. S. 25. 1178 Vgl. Hoogerwerf, Andries/Berkouwer, Jan: Markt, ongelijkheid en sociaal-democratie. In: Berkouwer, Jan/Hoogerwerf, Andries (Red.). Rotterdam 1996. S. 2, 4, sowie 8-10. 1179 Wöltgens, Thijs: De nee-zeggers of De politieke gevolgen van het economisch liberalisme. Amsterdam 1996. S. 119. 1180 Hommes, Enno W.: Globalisering en sociaal-democratie. In: Berkouwer, Jan/Hoogerwerf, Andries (Ed.). Rotterdam 1996. S. 152. 1181 Vgl. ebenda. S. 153-154. 1182 ebenda. S. 159.
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Das nächste Wahlprogramm aus dem Jahr 1998 beschäftigt sich bereits in der Einleitung ausführlich mit Fragen von Markt und Staat und hält fest, dass weder der Markt noch der Staat allein die anstehenden Herausforderungen bewältigen könnten, sondern dass eine austarierten Mischform der beiden anzustreben sei, um Ziele wie eine hohe Beschäftigungszahl, Umweltschutz oder umfassende Gesundheitsvorsorge zu erreichen und zu gewährleisten.1183 Auch im darauf folgenden Kapitel erklären die Autoren, dass die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik zur Erreichung ihrer Ziele weder mehr Staat noch mehr Markt propagiere, sondern für eine effektive Zusammenarbeit beider Seiten im Interesse einer nachhaltigen Wirtschaft eintrete. Hiermit grenzt sich die PvdA deutlich von der schon mehrfach kritisierten liberalen Ideologie ab und liefert im Anschluss daran unter dem Stichwort ‚Internationale Samenwerking‘ auch die entsprechende Formulierung: „De sociaal-democratie biedt tegenwicht aan de ideologische interpretatie van de mondialisering, die de wereldwijde marktwerking tot vanzelfsprekendheid verklaart, waaraan eenieder zich voortdurend zou moeten aanpassen.”1184 Diese Anpassung würde sowohl die moralischen Maßstäbe der internationalen Politik als auch den nationalen Wohlfahrtsstaat unter permanenten Druck setzen. Hier gelte es Gegenkonzepte zu bieten, wobei die Niederlande mit ihrem international vielbeachteten ‚Poldermodell‘1185 selbst den Beweis antreten würden, dass zunehmende internationale Verflechtung und die Bewahrung und Verbesserung öffentlicher Einrichtungen Hand in Hand gehen könnten.1186 Nachdem die 1998er Wahl erfolgreich für die PvdA verlaufen war und Wim Kok sein zweites Kabinett bilden konnte, nahm die ins Stocken gekommene Grundsatzprogrammdebatte wieder an Fahrt auf. Im Oktober `98 veröffentlichte die Grundsatzprogrammkommission der Partei ihren mit ‚De rode draden van de sociaal-democratie‘ betitelten Bericht, in dem die veränderten Rahmenbedingungen und neuen Herausforderungen für die grundsätzliche sozialdemokratische Programmatik breit diskutiert wurden. Die Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von wirkungsmächtigen Verschiebungen in den internationalen sozial-ökonomischen Verhältnissen, die große Auswirkungen auf die sozialde1183 Partij van de Arbeid: Een wereld te winnen. Amsterdam 1998. S. 11. 1184 ebenda. S. 60. 1185 Siehe zur näheren Beschreibung und Analyse des niederländischen Poldermodells Hendriks, Frank/Toonen, Theo A.J. (Ed.): Polder Politics – The re-invention of consensus democracy in the Netherlands. Aldershot 2001; sowie Empel, Frank van: The Dutch Model – The power of consultation in the Netherlands. Den Haag 1997. 1186 Vgl. Partij van de Arbeid: Een wereld te winnen. Amsterdam 1998. S. 19.
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mokratische Programmatik der Zukunft hätten. In der folgenden Aufzählung aktueller Herausforderungen benennen die Verfasser an erster Stelle die verstärkte Internationalisierung von Produktion und Handel sowie die zunehmende globale Interdependenz. Die Globalisierung habe große Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit der Nationalstaaten, was besonders die Sozialdemokraten mit ihrer auf starke und zur Steuerung fähige Regierungen setzende Politik in die Enge treibe. In der Auflistung findet sich auch der erstarkte angelsächsische Finanz-Kapitalismus mit seiner Ideologie liberalisierter Märkte.1187 „Tegen de achtergrond van de mondialisering van economie en cultuur verliest de sociale markteconomie (...) langzamerhand terrein”1188, so die Schlussfolgerung im Text. Die gemischte Ökonomie, wie sie schon in anderen programmatischen Texten der PvdA postuliert worden war, sei unter Druck geraten, was den Spielraum für nationale Regierungen verkleinert habe. Nur durch neue supranationale Zusammenschlüsse wie beispielsweise die EU könne noch ein gewisses Maß an demokratischer Kontrolle ausgeübt werden, denn „transnationale ondernemingen nehmen een omvang aan die, willen ze aan democratische invloed onderworpen blijven, alleen al tot samenwerking van nationale overheden dwingt.“1189 Wichtig sei in diesem Kontext auch, dass sich die Sozialdemokratie auf ihr Solidaritätsprinzip besinne und sich bemühe, diesem international Geltung zu verschaffen. Denn die Globalisierung bringe mit sich, dass es bestimmten Staaten und gesellschaftlichen Gruppen nicht mehr aus eigener Kraft gelänge, ihre Interesen gegenüber den Interessen von transnational agierenden Unternehmen und Finanzspekulanten zu behaupten, „(…) kortom er bestaat en groeiende kloof tussen de internationale economie en de tekortschietende internationale politieke en sociale structuren.“1190 Die Autoren konstatieren schließlich in einem ersten Fazit, dass die Globalisierung der Ökonomie an sich für die PvdA nicht zur Diskussion stände, es aber wohl noch einige Fragen zu beantworten gelte. Wie könne beispielsweise eine effektive Regulierung der Globalisierung aussehen, so dass diese an demokratisch bestimmte Kriterien sozialer, politischer und kultureller Entwicklung gebunden würde? Und sei es zu erwarten, dass die liberale Ideologie mit ihrem Postulat des freien Marktes und ihrem Versuch der Modellierung der Weltmärkte nach angelsächsisch-kapitalistischem Vorbild weiter an Boden gewinne? Ziel sollte es in jedem Fall sein, einen würdigen ‚Nachfolger‘ für den
1187 1188 1189 1190
Vgl. PvdA: De rode draden van de sociaal-democratie. Den Haag 1998. S. 11-12. ebenda. S. 12. ebenda. S. 28. ebenda. S. 35-36.
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von der Sozialdemokratie in der Nachkriegszeit aufgebauten keynesianischen Wohlfahrtstaat zu finden, und dies wenn möglich in internationalem Format.1191 In der darauf folgenden Zeit kam es zwar zu Debatten über verschiedene Punkte des Kommissionsberichts, aber der hier behandelte Themenkomplex wurde nicht wesentlich in Frage gestellt, beziehungsweise es erschienen keine neuen, anderslautenden offiziellen Aussagen der Partei. Gemäß der Angaben im Kapitel zur Chronologie der Programmdebatte der PvdA kann der Entwurf aus dem Jahr 2001 vernachlässigt werden, da er auf breite parteiinterne Ablehnung stieß und zuletzt nicht als offizieller Grundsatzprogrammentwurf angenommen wurde. Eine erneute nennenswerte Beschäftigung mit den Herausforderungen der Globalisierung und der Diskussion um die Rolle des Staates aus ökonomischer Sicht fand sich schließlich im Jahr PvdA-Wahlprogramm für die Wahl 2002. Unter dem Stichwort ‚Mondialisering‘ wird zu Beginn festgehalten wird, dass nationalstaatliche Grenzen mittlerweile fast zur reinen Fiktion geworden seien. Die nationalen Ökonomien seien darüber hinaus immer deutlicher zu Untergruppen der Weltwirtschaft geworden, wobei jedoch nach wie vor ein weltweites Ungleichgewicht zwischen ökonomischen Belangen auf der einen und demokratischen, sozialen und umweltpolitischen Belangen auf der anderen Seite bestehe.1192 Ungeklärt scheint außerdem auch die Frage nach dem optimalen Gleichgewicht des bereits häufig angesprochenen Verhältnisses zwischen Markt und Staat zu sein. Nach zwei Jahrzehnten Liberalisierung und Privatisierung seien die Erfahrungen sehr unterschiedlich, aber nicht ungeteilt positiv. „Wij moeten daaruit lering trekken en ons bezinnen op een nieuw evenwicht tussen publiek en privat domein”1193, so die Schlussfolgerung der Autoren. Von diesen konkreten Verlautbarungen abgesehen wird die internationale, die Realitäten der Globalisierung berücksichtigende Perspektive jeweils in den Kapiteln zu den unterschiedlichen Themengebieten angesprochen. Dabei berücksichtigt das Wahlprogramm zwar die Implikationen der grenzenloser gewordenen Welt, aber eine über das so eben Gesagte hinausgehende Auseinandersetzung mit den Problemen der Marktwirtschaft, des unter Druck geratenen Staates oder der wirtschaftsprogrammatischen Sinnkrise der Sozialdemokratie im Allgemeinen findet nicht statt. 1191 Vgl. ebenda. S. 44. 1192 Vgl. Partij van de Arbeid: Samen voor de toekomst. Amsterdam 2002. S. 13. 1193 ebenda. S. 16.
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Im Zusammenhang mit den politischen und gesellschaftlichen Tumulten rund um den Rechtspopulisten Pim Fortuyn verlor die PvdA bei den Wahlen im Mai 2002 deutlich und fand sich in der Opposition wieder. Hatte schon das unentschlossen wirkende Verhalten des Parteivorstands im Umgang mit der Debatte über ‚De rode draden van der sociaal-democratie‘ und der darauf folgenden Ablehnung des Grundsatzprogrammentwurf aus dem Jahr 2001 für Unmut unter den Parteimitgliedern gesorgt, so ließ sich die Kritik nach der herben Wahlniederlage von 2002 nicht mehr ausblenden. In Reaktion darauf rief der Vorstand im Sommer 2002 eine Kommission unter dem Vorsitz von Margreeth de Boer ins Leben, die sich mit dem inhaltlichen Kurs der PvdA auseinandersetzen, und die Fehler der jüngsten Vergangenheit benennen sollte. ‚De kaasstolp aan diggelen‘, zu deutsch ‚Die Käseglocke in Scherben‘, so der Titel des im September 2002 vorgelegten Arbeitsberichts der de BoerKommission. Dort findet sich eine selbstkritische Analyse der poltischen Arbeit und Programmatik sowie der Strategie und Kommunikation der PvdA, die als vernichtend bezeichnet werden kann. In Bezug auf ‚De rode draden‘ wird festgestellt, dass der Text weder unter den Mitgliedern der ihn zu verantwortenden Kommission, noch unter den Delegierten des Parteitags eine Mehrheit gefunden hat. Trotzdem sei es nicht zur Formulierung eines neuen Textes und somit zu einer konstruktiven Fortsetzung der Programmarbeit gekommen. Die Krise habe hiernach sogar noch deutlichere Züge angenommen, so die Autoren, da innerhalb der PvdA anschließend offen diskutiert worden sei, ob es überhaupt eines neuen Grundsatzprogrammes bedürfe.1194 Gegen Ende des Kommissionsbericht werden als Konsequenzen aus dem bisher Festgestellten so genannte ‚brennende Fragen‘ für die Sozialdemokratie formuliert, wobei die Verfasser auch auf die Globalisierung zu sprechen kommen. Die Internationalisierung der Ökonomie sowohl auf europäischer als auch auf globaler Ebene habe auf die nationalen Ökonomien einen enormen Einfluss ausgeübt und die Möglichkeiten nationalstaatlicher Wirtschaftspolitik nachhaltig beeinflusst. Diese Aussage ist aus früheren Publikationen bekannt, aber neu ist, dass die Autoren im Folgenden die zwei Modelle, die innerhalb der PvdA aus dieser allgemein akzeptierten Feststellung abgeleitet wurden, gegenüberstellen. Auf der einen Seite gebe es Sozialdemokraten, welche die europäische Liberalisierungspolitik als wichtigen Schritt hin zu einer freieren und selbstbestimmteren Wirtschaft begrüßten und die darüber hinaus dafür plädier1194 Vgl. PvdA, Werkgroep Politiek Inhoudelijke Koers: De kaasstolp aan diggelen. Amsterdam 2002. S. 23.
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ten, dass den Niederlanden ein Mehr an freiem Wettbewerb gut tun würde. Auf der anderen Seite fänden sich jene PvdA-Mitglieder, die in der Internationalisierung und den Vorgaben aus Brüssel in erster Linie ein ungewünschtes Privatisierungsregime sähen, welches auf Kosten von Serviceleistungen und Solidarität gehe. Sie plädieren vielmehr für eine Ordnungspolitik europäischen Zuschnitts und begreifen die Verfolgung dieses Ziels sogar als sozialdemokratisches Vermächtnis für Europa. An dieser Stelle bemängeln die Verfasser, dass es zu keinem Zeitpunkt ein ergebnisoffenes gegenseitiges Abwägen beider Modelle innerhalb der in der PvdA geführten Programmdebatte gegeben habe, und dass eine grundsätzlich neue Formgebung für eine andere ökonomische Ordnung genau so wenig Gegenstand von Diskussionen gewesen sei.1195 Ein weiteres ‚brennendes‘, parallel zu der gerade dargestellten Debatte verlaufendes Thema sei die Frage nach der veränderten grundsätzlichen Form der Ökonomie, beziehungsweise der neuen Form des Kapitalismus. Hierbei gingen die Meinungen innerhalb der sozialdemokratischen Anhängerschaft sehr weit auseinander. Im eher rechten Spektrum befänden sich sehr liberal denkende Sozialdemokraten, die sich für ein günstiges Investitionsklima in einem dynamischen Markt stark machen würden. Sie befürworteten eine offensive Herangehensweise an ökonomische Fragen und setzten sich dementsprechend für Bündnisse mit Topunternehmern ein. In einer mittleren Position befänden sich diejenigen Parteigenossen, welche die Verwendung des Begriffs Kapitalismus an sich in Frage stellen würden. Sie würden zwar nicht das offensive Vorgehen der eben genannten Sozialdemokraten unterstützen, aber sich doch von der klassischen Gegenüberstellung von Arbeit und Kapitel distanzieren, da sie ihnen nicht mehr zeitgemäß erschiene. Auf der linken Seite gebe es des Weiteren noch Sozialdemokraten, die Wert auf die Feststellung legen würden, dass die PvdA eine zwar eine Marktökonomie, aber keine Marktgesellschaft befürworten würde. Dabei stellten sie sich gegen jede Form der Kommerzialisierung des gesellschaftlichen Miteinanders und würden in der Bekämpfung dieser Tendenzen eine der Hauptaufgaben der Sozialdemokratie sehen.1196 Die politische Durchschlagskraft dieses offensiven und sehr selbstkritischen Kommissionsberichts aus dem Spätsommer 2002 ist schwer einzuschätzen, aber nachdem auch die Wahl zu Beginn des Jahres 2003 trotz hinzugewonnener Parlamentssitze für die PvdA nur die erneute Oppositionsrolle zum Ergebnis 1195 Vgl. ebenda. S. 30. 1196 Vgl. ebenda. S. 34.
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hatte, kam es zumindest zur Fortsetzung der Debatte über das neue zu schreibende Grundsatzprogramm. Die Arbeit daran war in den Jahren zuvor im Zuge der halbherzigen Auseinandersetzung der PvdA mit der eigenen Politik ebenfalls fast zu Erliegen gekommen, oder, um es mit den Worten von Bart Tromp zu sagen: „De discussie over een nieuw beginselprogramma van de PvdA is al meer dan tien jaar gekenmerkt niet door de vraag wat de centrale boodschap van zo’n programma zou moeten zijn, maar door de vraag of zo’n programma einige zin heeft en of het juist niet gevaarlijk is een wispelturig electoraat met beginselen te confronteren.”1197 Im August 2004 wurde ein vorläufiger Entwurf für das neue Grundsatzprogramm veröffentlicht, in dem sich auch Aussagen zu Globalisierung und wirtschaftlicher Ordnung fanden. Der ‚Mondialisering‘ wird ein eigenes Unterkapitel gewidmet, in dem es heißt, dass die Welt in einem zunehmenden Maße ökonomisiert würde, was sowohl Chancen als auch Risiken mit sich brächte. In jedem Fall gelte es einer ungebremsten und gänzlich unkontrollierten Globalisierung entgegenzutreten, da diese das weltweite Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich verstärken würde.1198 Weiter hinten im Text finden sich daran anschließende Bemerkungen zur angestrebten ökonomischen Ordnung sowie zum Umgang mit den durch die Globalisierung verschobenen Machstrukturen. Die Autoren sprechen sich dort für die schon früher dargestellte gemischte ökonomische Ordnung aus. Ein gezähmter Kapitalismus bedürfe einer gemischten ökonomischen Ordnung, in welcher die Mechanismen des Marktes klaren Regeln unterliegen würden. Darüber hinaus bedürfe es angesichts immer autarker und internationaler agierender, primär an der Kapitalmehrung ausgerichteter Unternehmensinteressen einer Gegenmachtbildung, die für die notwendige Bindung der Unternehmen an ihre gesellschaftliche Verantwortung sorgen würde. Ein Weg dahin sei der Ausbau der gemeinsamen Arbeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, sowie der betroffenen gesellschaftlichen Gruppen.1199 „Deze bredere maatschappelijke vernatwoordelijkheid van bedrijven moet worden aangemoedigd en mag worden afgedwongen”1200, so der Entwurftext in Konsequenz. Im Zusammenhang mit dem Programmentwurf im selben Heft von Socialisme & Democratie publizierten Artikel bemängelt der Sozialwissen1197 Tromp, Bart. Amsterdam 2002. S. 490. 1198 Vgl. PvdA, Commissie Beginselen. In: Socialisme & Democratie. Bd. 61 Nr. 10/11 2004. S. 48. 1199 Vgl. ebenda. S. 50. 1200 ebenda.
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schaftler Paul de Beer jedoch, dass im Entwurf auffallend wenig auf Fragen nach einer anderen ökonomischen Ordnung eingegangen werde.1201 Die Sozialdemokratie müsse seiner Ansicht nach mehr Nachdruck auf das Konzept der Zusammenarbeit im Gegensatz zum Konkurrenzdenken im aktuellen Kapitalismus legen. „In plaats van eenzijdig het belang van meer marktconcurrentie te benadrukken, zoals de neoliberale agenda voorschrijft, zouden sociaaldemocraten vooral productieve vormen van samenwerking moeten ondersteunen”1202. Die PvdA solle dementsprechend ihre defensive, zurückhaltende Position verlassen und neu über Alternativen zur bestehenden Wirtschaftsordnung nachdenken.1203 Ebenfalls sehr kritisch in Bezug auf die bestehende Programmatik der PvdA zu wirtschaftspolitischen Fragen äußerte sich im selben Jahr der Vorsitzende der Wiardi Beckman Stichting, Paul Kalma. Er bezeichnet den auch von der PvdA in den 1990er Jahren beschrittenen sozialdemokratischen ‚Dritten Weg‘ als gescheitert, da sich dieser nicht um die Ordnung und demokratische Kontrolle der globalen Wirtschaft gekümmert habe, was die ungebremste Ausbreitung der neo-liberalen Form des Kapitalismus zur Folge gehabt hätte. Aufgabe der Sozialdemokratie und damit der PvdA sei es nun, vor diesem Hintergrund ein Konzept für eine neue, demokratisch kontrollierte Marktwirtschaft zu entwerfen, ohne dabei in alte sozialistische Vorstellungen zurückzufallen.1204 Das schließlich im Jahr 2005 endgültig verabschiedete neue PvdAGrundsatzprogramm entspricht in Bezug auf das im diesem Kontext Relevante exakt den Aussagen des oben untersuchten Programmentwurfs. Die Aussagen aus dem 2004er Text sind wortwörtlich in das neue Programm übernommen worden, so dass sich eine weitere Betrachtung erübrigt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die PvdA zwar mit dem Text von 2005 nach langen Jahren des Diskutierens und Lavierens ein neues Grundsatzprogramm gegeben hat, es aber immer noch oder schon wieder offene Fragen bezüglich ihrer wirtschaftspolitischen Ausrichtung gibt. Auch wenn die Anerkennung der Realitäten der globalisierten Ökonomie unter den sozialdemokratischen Autoren und den mit der PvdA befassten Kommentatoren unstrittig ist, so findet sich doch keine klare Linie in Bezug auf den Umgang der niederländischen Sozialdemokratie mit den hier behandelten Herausforderungen. Die im Jahr 2002 in ‚De kaasstolp aan diggelen‘ geäußerte harte Kritik erscheint 1201 Vgl. Beer, Paul de: Een linkse hervormingsagenda voor het kapitalisme. In: Socialisme & Democratie. Bd. 61 Nr. 10/11 2004. S. 10. 1202 ebenda. S. 24. 1203 Vgl. ebenda. S. 25. 1204 Vgl. Kalma, Paul. Amsterdam 2004. S. 123-125.
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ebenso nachvollziehbar wie die Einschätzungen von Autoren wie Tromp und Kalma, da die Erarbeitung einer aussagekräftigen Programmatik, zumindest in Bezug auf wirtschaftspolitische Fragestellungen, immer wieder ins Stocken geriet und sehr häufig an konsensualer Beliebigkeit scheiterte.
4.3.2.
‚Informatisierung’ – der Wandel des Verhältnisses von Technik, Natur und Gesellschaft
Wie schon in den vorangegangenen entsprechenden Kapiteln zur deutschen und britischen Sozialdemokratie sollen im Folgenden die in der Überschrift genannten Herausforderungen im Fall der niederländische Partij van de Arbeid untersucht werden. Dabei wird es nicht nur darum gehen, die programmatische Rezeption der Herausforderungen von fortschreitender Technisierung und gestiegener Umweltbelastung durch die niederländischen Sozialdemokraten zu erfassen, sondern auch den spezifischen Umgang der PvdA mit diesen Themen darzustellen. Denn die intensive Vernetzung beziehungsweise Verquickung von Fragen des technischen Fortschritts mit den Herausforderungen nachhaltiger Umweltpolitik im Angesicht gestiegener globaler Umweltbelastungen ist, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, ein besonderes Merkmal der Programmarbeit der Partei. Ausgangspunkt der Untersuchungen ist auch hier der Text der PronkKommission von 1987, in welchem im Rahmen der Auflistung der Herausforderungen für die Sozialdemokratie in einer veränderten Umgebung auch die Themen Technisierung und Umwelt behandelt werden, wobei die Umweltfragen in der Reihenfolge vor den Fragen des technischen Fortschritts zu finden sind. Eine wichtige, die Richtung der Vorgehensweise andeutende Bemerkung findet sich bereits in der Zwischenunterschrift des mit Umweltfragen befassten Kapitels. Hier wird davon gesprochen, dass es trotz des seit den 1970er Jahren vorherrschenden Wissens über die Wechselwirkung zwischen Ökonomie und Ökologie immer noch zwei strikt voneinander getrennte politische Zuständigkeitsbereiche für diese Themen gebe. Nach wie vor mangele es an einer ernsthaften Auseinandersetzung mit umweltpolitischen Problemstellungen, obwohl die Tragweite dieser Probleme deutlich zugenommen habe.1205 Hierauf folgt ein kurzer Überblick über die gestiegenen Umweltbelastungen seit dem Erscheinen des Berichts des Club of Rome im Jahr 1972, und eine knappe Skiz1205 Vgl. Partij van de Arbeid: Schuivende Panelen. Amsterdam 1987. S. 31.
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zierung der Geschichte der auf den Bericht erfolgten internationalen umweltpolitischen Bemühungen, beziehungsweise der nicht erfolgten, von den Autoren jedoch als notwendig erachteten, Verquickung von Wirtschafts- und Umweltpolitik.1206 Im weiteren Verlauf wird die Tragweite der wahrgenommen Umweltproblematik an Hand einer Vielzahl von konkreten Beispielen dargestellt, angefangen bei der globalen Überbevölkerung über den Mangel an Grundstoffen und Wasser bis hin zur Zerstörung der Ozonschicht.1207 Die meisten dieser Probleme hätten einen globalen Charakter, doch gebe es beispielsweise in Gestalt der Technisierung Entwicklungen, deren positive oder negative Folgen für die Umwelt auch von der Politik einzelner Nationalstaaten abhingen. An dieser Stelle findet sich eine der oben angesprochenen gedanklichen Verknüpfungen von unterschiedlichen Politikfeldern, denn mit Blick auf die Belastung der Umwelt dürften nicht alleine ökonomische Interessen die Steuerung des technischen Fortschritts überlassen werden: „(…) Aan zichzelf overgelaten, dat will zeggen gestuurd door het marktmechanisme alleen, is de kans groot dat technologische veranderingen terzake eerder een zwaardere belasting dan ‘vooruitgang’ zullen betekenen.”1208 Demzufolge bedürfe es einer Berücksichtigung umweltpolitischer Belange auch in Bezug auf die Implementierung einer bestimmten Wirtschaftsordnung und die Umsetzung wirtschaftspolitischer Strategien.1209 Im darauf folgenden Kapitel zum technischen Fortschritt sprechen die Autoren anschließend davon, dass es vor allem in den Bereichen der Informations- und der Biotechnologie große Sprünge nach vorn gegeben hätte. Der Fokus liegt jedoch klar auf der Informationstechnologie und der durch sie verursachten Informatisierung, welche Konsequenzen für das gesellschaftliche und private Zusammenleben und die Arbeitswelt gehabt und darüber hinaus der Internationalisierung der Ökonomie verstärkende Impulse gegeben habe.1210 Die Informatisierung sei dabei besonders für die Sozialdemokratie eine nachhaltige Herausforderung, denn wo Arbeit, soziale Kräfteverhältnisse und Organisationsprinzipien sowie die Informationsbasis der gesellschaftlichen Gemeinschaft aufs Spiel gesetzt würden, „(…) daar ontwikkelt zich voor een politieke beweging als die van het democratisch socialisme die de arbeid als samenbin-
1206 1207 1208 1209 1210
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Vgl. ebenda. S. 31-33. Vgl. ebenda. S. 34-35. ebenda. S. 36. Vgl. ebenda. S. 36-37. Vgl. ebenda. S. 39.
dende factor in de samenleving centraal stelt en maatschappelijke uitdaging van bijzondere betekenis.“1211 Auf den folgenden Seiten beschäftigt sich der Text mit den konkreten Folgeerscheinungen des technischen Fortschritts wie den neuen und innovativen Produktionsprozessen, den nun möglichen Qualitätssteigerungen, den neuen Arbeitsbedingungen, sowie der grundsätzlichen Erneuerung von ganzen Produkten. Im Anschluss daran findet sich eine ausführliche Beschäftigung mit biotechnologischen Fragen, die im Rahmen der bisherige Fortschritt kritisch gewürdigt wird. Darüber hinaus gibt es im oben bereits erwähnten WirtschaftsKapitel der Publikation ebenfalls Aussagen zur Technisierung, wenn von der selektiven Steuerung derselben die Rede ist. Denn um ökonomisches Wachstum gezielt steuern zu können, bedürfe es der gezielten Lenkung technischer Entwicklungen, so die Ansicht der Verfasser.1212 Die sich für die Sozialdemokratie aus Umweltfragen ergebenden Herausforderungen behandelte ein Jahr später auch Paul Kalma in seinem programmatischen Denkanstoß, wobei er aus einem für die PvdA selbstkritischen Blickwinkel heraus argumentierte. Auf Grund der traditionell großen Bedeutung arbeits- und industriepolitischer Themen für die Sozialdemokratie sei diese untrennbar mit dem modernen industriellen Zusammenleben verbunden. Daher sei sie mit dafür verantwortlich, dass Lösungen für die Umwelt- und Gesundheitsprobleme gefunden würden die durch industriebasiertes Wirtschaften entstanden seien. Gleichzeitig leitet Kalma aus dieser Verwurzelung der Sozialdemokratie in der Industriegesellschaft aber auch ab, dass sozialdemokratische Parteien diese Gesellschaft gegenüber solchen ‚grün-roten‘ Utopien verteidigen müssten, die „(…) van een samenleving (dromen) waarin versilling, vervuilin en technologische risico’s geheel zijn uitgebannen.“1213 Festzuhalten sei jedoch, so der Autor, dass besonders mit Blick auf die Betonung des Sozialen Umweltfragen eine hervorgehobene Berücksichtigung finden müssten. „Schade aan het milieu raakt bovendien de morele kern van het sociaal-democratisch project, waar het bescherming wil bieden aan wat door het kapitalisme als ‘irrelevant’ wordt beschouwd, en daarom kwetsbaar is”1214, so die Begründung im Text. Dementsprechend plädiert Kalma dafür, dass die Planung und Umsetzung umweltschützender Maßnahmen an erster Stelle durch die Regierung erfolgen müsse, wobei er eine Vielzahl möglicher staatlicher Instrumente benennt.1215 1211 1212 1213 1214 1215
ebenda. S. 39-40. Vgl. ebenda. S. 81-83. Kalma, Paul. Den Haag 1988. S. 145. ebenda. S. 146. Vgl. ebenda. S. 147 und 149.
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Im Wahlprogramm von 1989 finden sich ebenfalls Aussagen zu Umwelt und technischem Fortschritt, und zwar in direkter Verbindung mit Herausforderungen des nachhaltigen Wachstums der Wirtschaft und des Wohlfahrtsstaats. Fragen des Umweltschutzes hätten einen internationalen Charakter, da Menschen überall betroffen wären, daher bedürfe es beim Umweltschutz gemeinsamer internationaler Anstrengungen. „Uitstel van nationale milieumaatregeln op grond van internationale concurrentieoverwegingen is echter kortzichtig, want economische duur en ecologisch ongewenst”1216, so die weitergehende Argumentation der Verfasser. Im Kapitel mit der Überschrift ‘Milieubeleid en economische groei‘ wird anschließend festgehalten, dass Umweltpolitik zukünftig ein fester Bestandteil breiterer sozial-ökonomischer Überlegungen sein solle. Auch in Bezug auf die Technologiepolitik wird wenig später gefordert, dass diese sich zukünftig gezielt der Entwicklung umwelt- und naturfreundlicher Technologien annehmen und im Rahmen des Konzepts nachhaltiger Entwicklung besonders die Produktionsstruktur stärken solle.1217 Der Bericht der van Kemenade-Kommission aus dem Jahr 1991 nahm sich ebenfalls kurz der Umweltpolitik an, und bemerkte unter der Rubrik ‚Een veranderende samenleving‘, dass es nach wie vor einen Grundsatzkonflikt zwischen der auf Wachstum basierenden Wirtschaft und umweltpolitischen Anliegen gäbe. Diesem Konflikt liege ein tiefergehender Konflikt zwischen zwei wichtigen gesellschaftlichen Sektoren und den darin vertretenen Interessen zugrunde, angesichts dessen sich die Sozialdemokratie um die Findung eines Interessenausgleichs bemühen müsse.1218 Im Jahr 1992 erschien ein Sammelband der Wiardi Beckman Stichting, in dem sich mehrere Autoren zur inhaltlichen Neuorientierung der Partij van de Arbeid äußerten. Dabei standen die Technisierung und Umweltfragen als Kernstücke eines sozialdemokratischen Modernisierungsprojektes im Mittelpunkt. Der Autor Arie van der Zwan beschäftigte sich ein Autor mit dem technischen Fortschritt und der parallel verlaufenden gesellschaftlichen Entwicklung, wobei er zu der Erkenntnis kommt, dass diese beiden untrennbar miteinander verbunden seien.1219 Den Kern des Beitrags bilden die von ihm perzipierten negativen Seiten der Technisierung sowie Fragen der notwendigen Technikbeherrschung, 1216 1217 1218 1219
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Partij van de Arbeid: Kiezen voor kwaliteit. Amsterdam 1989. S. 3. Vgl. ebenda. S. 5 und 6. Vgl. Partij van de Arbeid: Een Partij om te kiezen. Amsterdam 1991. Teil II S. 10. Vgl. Zwan, Arie van der: Alles van waarde is weerloos. In: Nekkers, Jan (Red.). Amsterdam 1992. S. 61.
wobei der Verfasser gegenüber dem technischen Fortschritt grundsätzlich positiv eingestellt ist. „Socialisten zouden de nieuwe mogelijkheden van deze modernste technologische revolutie in hun beschouwingen moeten betrekken om aan de techniek werkelijk recht te doen”1220, so dass konstruktive Votum van der Zwans. Im hierauf folgenden Beitrag befasste sich Annemieke Roobeek mit dem Zusammenhang zwischen Technologie und gesellschaftlicher Ordnung, wobei sie der PvdA eine Technikpolitik in größeren Dimensionen empfiehlt. Die notwendig gewordene Verbreiterung des technologiepolitischen Feldes sollte auch die Bereiche der Wirtschaft, der Gesellschaftspolitik und der Umweltpolitik mit einbeziehen. Eine derartige gleichzeitige Erneuerung mehrerer Politikfelder im Zusammenhang würde sowohl aus sozialer als auch aus wettbewerbstechnischer Sicht einen Vorteil im internationalen Umstrukturierungsrennen bieten.1221 Pieter van Diel setzte sich danach mit dem Umgang der PvdA mit umweltpolitischen Themen auseinander und kam zu der Erkenntnis, dass es nach wie vor keine kohärente Strategie für eine sozialdemokratische Umweltpolitik gäbe, da das Thema zu lange nur als Randgruppenthema betrachtet wurde. Die Argumentation van Diels ähnelt der von Paul Kalma, wenn er schreibt, dass die Programmatik der Sozialdemokratie sehr an den wohlfahrtsstaatlichen Prinzipien der Industriegesellschaft ausgerichtet gewesen sei und zum Teil immer noch wäre, was zur Folge hätte, dass umweltpolitische Fragen im Vergleich zu arbeits- und sozialpolitischen Anliegen häufig zurückgestellt worden wären.1222 Dabei gäbe es auf Grund verschiedener gesellschaftlicher und technischer Entwicklungen einen großen Bedarf an kohärenter, ernstgenommener Umweltpolitik. „Wat weerhoudt ons als sociaal-democraten eigenlijk om nu eindelijk een fundamenteel milieubeleid te voeren – ons eigen succes soms?”1223, so die bewußt polemisierende Frage des Autors am Ende seiner Ausführungen. Auch Maarten Hajer spricht von einem großen Bedarf für eine konsequente Umweltpolitik der PvdA, um in diesem Zusammenhang gleich ein Dilemma der Partei aufzuzeigen. Die Partei wolle sich durch das Thema Umwelt profilieren, aber die bisherigen Erfahrungen hätten gezeigt, dass eine fundierte Umweltpolitik alles andere als ein Garant für günstige Wahlergebnisse sei. Darüber hinaus seien die Sozialdemokraten immer noch in der Debatte um die Vorherrschaft von Markt und Staat gefangen, mit der Konsequenz, dass über Umweltpolitik 1220 ebenda. S. 68. 1221 Vgl. Roobeek, Annemieke: Technologie enmaatschappelijke ordening. In: Nekkers, Jan (Red.). Amsterdam 1992. S. 78-79. 1222 Vgl. Driel, Pieter van: Klem tussen verleden en toekomst: de sociaal-democratie en het milieu. In: Nekkers, Jan (Red.). Amsterdam 1992. S. 81, 83, sowie 86-87. 1223 ebenda. S. 94.
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vor allem ein unter diesem Vorzeichen diskutiert würde.1224 Zum Schluss konstatiert Hajer, dass das primäre sozialdemokratische Anliegen nach wie vor die Verwirklichung des Individuums in Verbindung mit einer Steigerung des gesamtgesellschaftlichen Wohlstand sei, und dass in der heutigen Zeit die Erreichung dieser Ziele besonders durch eine glaubwürdige Umweltpolitik Unterstützung erfahren könnte: „Wanner de zorg om het milieu niet alleen wordt gepresenteerd als een soort brandweer-achtige activiteit, ligt juist hier een terrein braak waar kernwaarden van de sociaal-democratie een nieuwe vorm kunnen krijgen.”1225 Denn in der Bewusstmachung der gesellschaftlichen Veränderungen in Kombination mit der Verbesserung der Lebensqualität durch umweltpolitische Maßnahmen könne die Kraft eines ökologisch verantwortungsbewussten sozialdemokratischen Projektes liegen.1226 In einer Partei-Publikation von 1993 kam der Zusammenhang zwischen Umweltfragen und wirtschaftlichem Wachstum erneut zur Sprache. Im Zuge der Beschreibungen der neuen Rahmenbedingungen für wirtschaftliches und industrielles Handeln wird die Umweltbelastung offen als Schwachpunkt bezeichnet. Mit dem Ziel der Nachhaltigkeit der ökonomischen Entwicklung vor Augen plädieren die Verfasser für eine Intensivierung der Bemühungen bei der Ausweitung umweltfreundlicherer Produktion und der Förderung von die Umwelt schonenden Produkten. Hierbei wird eine Brücke zur voranschreitenden Technisierung und zur Technologiepolitik geschlagen und gesagt, denn Technologiepolitik als Teil wirtschaftspolitischer Erwägungen solle nicht nur nachhaltiges Wirtschaftswachstum befördern solle, sondern bei der Steuerung der technischen Entwicklung auch umweltpolitische Belange berücksichtigen.1227 Das nächste Wahlprogramm aus dem Jahr 1994 beinhaltet nur Weniges zum Thema technischer Fortschritt, dafür umso mehr in Bezug auf umweltpolitische Themen. Im ersten Hauptteil, der zuvorderst eine Bestandsaufnahme des bisher Erreichten und eine erste Nennung der aktuellen Herausforderungen bereit hält, konstatieren die Verfasser, dass es angesichts der wachsenden technischen Möglichkeiten eines moralischen Codes bedürfe, mi Hilfe dessen sich technische Entwicklungen auf ihre Gefährlichkeit, ihren Nutzen, und ihre Gesellschaftsverträglichkeit hin überprüfen lassen würden.1228 Weitergehende ex1224 Vgl. Hajer, Maarten: Milieu als moderniseringsvraagstuk. In: Nekkers, Jan (Red.). Amsterdam 1992. S. 105 und 109. 1225 ebenda. S. 115. 1226 Vgl. ebenda. 1227 Vgl. Partij van de Arbeid: PvdA Verkenningen 1993. Amsterdam 1993. S. 15-16, sowie 18. 1228 Vgl. Partij van de Arbeid: Wat mensen bindt. Amsterdam 1994. S. 15.
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plizite Formulierungen zur voranschreitenden Technisierung finden sich nicht, kurze Aussagen zum Thema gibt es lediglich eingebunden in andere thematische Kapitel. Der Umweltpolitik hingegen werden in einem späteren Abschnitt insgesamt 6 Seiten gewidmet mit dem Stichwort ‚ökologische Modernisierung‘ als Oberbegriff, der die Richtung vorgibt.1229 Auf diesen Seiten beschäftigt sich die Partei intensiv mit den unterschiedlichsten umweltpolitischen Maßnahmen, wobei jedoch dem Format entsprechend immer die praktische Anwendung und das von einer potentiellen PvdA-Regierung konkret Angestrebte im Mittelpunkt stehen. Etwas abstrakter und damit grundsatzprogrammatischer waren die Aussagen von Paul Kalma zum Themenkomplex ein Jahr später. Auch Kalma spricht von ökologischer Modernisierung, um sich im Folgenden der Umweltpolitik analytisch zu nähern. Der Autor hält fest, dass die Umweltprobleme mittlerweile so groß und die Folgekosten dermaßen hoch seien, dass sie die Struktur der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung als solche gefährden würden.1230 Seine Schlussfolgerung: „Een stringent, en ongetwijfeld kostbaar milieubeleid is dus niet alleen een biologisch en maatschappelijk, maar ook een economisch gebod.”1231 Aber fortschrittliche Technik könne bei der Verringerung von Umweltproblemen eine bedeutsame Rolle spielen. Der Begriff der ökologischen Modernisierung stehe als Synonym für eine sinnvolle Verbindung zwischen Technologie- und Umweltpolitik, mit deren Hilfe wiederum die ökonomischtechnische Entwicklung nachhaltiger gemacht werden könnte. In diesem Kontext sei jedoch eine mal restriktiv, mal stimulierend eingreifende verantwortungsbewusste Politik unabdingbar.1232 Anfang beziehungsweise Mitte der 1990er Jahre mangelte es nicht an Vorschlägen für die Gestaltung sozialdemokratischer Umweltpolitik, auch wenn das Thema sich laut eines mit der Politik der PvdA befassten Textes im Jahr der Veröffentlichung 1996 viel von seiner ehemaligen, in den 1980er Jahren fußenden Popularität eingebüßt habe.1233 In ‚Niet Nix‘ widmen ein Anzahl junger Kritiker, allesamt Mitglieder oder Sympathisanten der PvdA, der Umweltpolitik ein eigenes Kapitel. Gleich zu Beginn der Ausführungen, unter der Überschrift ‚Wat wij willen‘, stellen sie klare Forderungen an die PvdA. Diese müsse end1229 1230 1231 1232 1233
Vgl. ebenda. S. 28-34. Vgl. Kalma, Paul. Amsterdam 1995. S. 31. ebenda. Vgl. ebenda. S. 31-32. Vgl. Booij, Lennart/van Bruggen, Eric (Red.). Amsterdam 1996. S. 42.
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lich programmatisch Farbe bekennen und sich neben anderem für den Schutz der Umwelt einsetzen.1234 Im Rahmen der von ihnen angestrebten inhaltlichen Erneuerung der niederländischen Sozialdemokratie benennen die Autoren unter den Stichworten ‚Groene economie, slimme economie‘ verschiedene Probleme, die von einer sozialdemokratischen Umweltpolitik selbstbewusst angegangen werden sollten. Angefangen bei der gestiegenen Zahl der versiegelten Flächen über den exponentiell stark gestiegenen Kraftfahrzeugverkehr bis hin zu veralteten Produktionsprozessen in der Industrie werden Herausforderungen genannt, auf die politische Antworten gegeben werden müssten. Im Anschluss werden Alternativen formuliert, unter denen besonders das abschließende Plädoyer für eine verstärkte Investition in Qualifikation und Bildung der Menschen herausragt, da dies in den meisten Texten zur Programmatik der PvdA keine explizite Erwähnung in Zusammenhang mit Technisierung und Umweltproblematik findet.1235 Auch in einem anderen Sammelband aus dem Jahr 1996, aus welchem schon im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Globalisierung zitiert worden ist, findet sich ein Beitrag zur Umweltpolitik. Dort gibt Andries Nentjes zuerst einen knappen Überblick über die aktuellen Umweltprobleme der Niederlande, um hiernach die Regierungspolitik in Umweltfragen kurz darzustellen.1236 Der Autor formuliert im Anschluss daran eine mögliche Alternative in Form einer linken Umweltpolitik, die sich seiner Definition gemäß vor allen Dingen dadurch auszeichne, dass auch die Bezieher der niedrigsten Einkommen proportional an ihrem Netto gemessen davon profitieren würden.1237 Unter den vorgeschlagenen umweltpolitischen Maßnahmen finden sich dann beispielsweise der intelligente Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, die Förderung ökologischer Landwirtschaft oder die qualitative Aufwertung städtischer Lebensräume.1238 Auch wenn die Anregungen des Verfassers stark auf die praktische Wirklichkeit der niederländischen Gesellschaft und die konkrete Regierungspolitik ausgerichtet sind, so befindet sich der Beitrag mit seinem Plädoyer für eine neue linke Umweltpolitik doch in Gemeinschaft mit anderen Texten, die allesamt inhaltliche Vorschläge für zukünftige PvdA-Politik und somit auch für eine sozialdemokratische Programmatik unterbreiten. 1234 Vgl. ebenda. S. 9. 1235 Vgl. ebenda. S. 42-44, sowie 47-48. 1236 Vgl. Nentjes, Andries: Milieubeleid. In: Berkouwer, Jan/Hoogerwerf, Andries (Red.). Rotterdam 1996. S. 125-126. 1237 Vgl. ebenda. S. 127. 1238 Vgl. ebenda. S. 127-129.
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Das Programm der PvdA für die Wahl 1998 befasst sich schließlich ausführlich mit Umweltpolitik, der technischen Entwicklung und vor allem mit der sinnvollen Verknüpfung dieser Anliegen mit wirtschaftspolitischen Fragen. Im mit Wirtschaftsfragen befassten Kapitel des Wahlprogramms beginnen die Ausführungen direkt mit der Feststellung, dass der Gegensatz zwischen Ökonomie und Ökologie weiter verringert werden könne. Denn auf der einen Seite sei wirtschaftliches Wachstum notwendig, um verstärkt in den Umweltschutz investieren zu können und breite gesellschaftliche Unterstützung für Umweltbelange sicher zu stellen. Auf der anderen Seite habe sich aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass mehr Wachstum nicht unbedingt mehr Wohlstand bedeute, da ungebremstes Wachstum zumeist auf Kosten der Umwelt und somit auf Kosten der gesamten Volkswirtschaft gehen würde.1239 „Economische groei moet kortom steeds meer worden gezocht in een milieu- en natuursparende richting”1240, so die Schlussfolgerung. Bereits in der Einleitung heißt es unter dem Motto ‘Schoner en slimmer‘, was in etwa mit ‚geeigneter und klüger‘ übersetzt werden kann, dass der Gegensatz zwischen Ökonomie und Ökologie, zwischen Wohlstandswachstum und Umwelt aufgehoben werden müsse. Mit Hilfe eines geeigneteren und klügeren ökonomischen Wachstums müsse eine nachhaltige Wirtschaft angestrebt werden, „(…) die toekomstige generaties niet alleen een gezonde leefomgeving maar ook welvaart biedt.“1241 Das ökologische Bewusstsein der Bürger müsse geschärft werden, ein mögliches Instrument hierfür sei die Einführungen eines ‚Preises‘ für Umweltvergehen. Hiermit ist das schon aus der Programmatik der Labour Party bekannte ‚the polluter pays‘-Prinzip gemeint, dessen Umsetzung gemäß der Vorstellung der PvdA dazu beitragen könne, die Lasten zwischen Verursacher und Betroffenen gerechter zu verteilen.1242 Die Überleitung zum Thema technischer Fortschritt wird durch die Forderung nach verstärkten Investitionen in Forschung und staatlicher Unterstützung beim Ausbau der Informationstechnologie vollzogen. Auch umweltpolitische Belange werden in diesem Zusammenhang ins Auge gefasst. „Investeringen in milieutechnologie zijn een prima middel om Nederland als Milieu- en Kennisland een goede toekomst te garanderen”1243, so eine die Themen verknüpfende Formulierung. Im selben Kontext betont der Programmtext die großen Chancen für Wachstum und Beschäftigung, die sich auf Grund der Entwicklungen im Informations- und Telekommunikationstechnologie erge1239 1240 1241 1242 1243
Vgl. Partij van de Arbeid: Een wereld te winnen. Amsterdam 1998. S. 13. ebenda. ebenda. S. 9. Vgl. ebenda. S. 17. ebenda. S. 18.
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ben würden.1244 Grundlage derartiger positiver zukünftiger Entwicklungen und des im Zitat erwähnten ‚Kennisland‘ sei jedoch der Ausbau der Qualifikation und des Wissens innerhalb der niederländischen Bevölkerung. „Nederland moet zich niet alleen handhaven en verder ontwikkelen als 'mainport', maar ook als 'brainport'”1245, so die sinnbildliche Formulierung im Programmtext. Demzufolge bedürfe es auch verstärkter staatlicher Investitionen in Bildung und Ausbildung, um eine konkurrenzfähige Wissensökonomie zu begründen.1246 Die nächste relevante programmatische Äußerung der PvdA zum Themenkomplex fand im Rahmen der Fortsetzung der Grundsatzprogrammdebatte an Hand des 1998 veröffentlichten Berichts der Grundsatzprogrammkommission statt. In ‚De rode draden van de sociaal-democratie‘ wird davon gesprochen, dass sich die Wohlstandsgesellschaft mit bedeutsamen Veränderungen konfrontiert sähe, wobei in Bezug auf die hier behandelten Herausforderungen besonders die Erwähnung der negativen Konsequenzen des fortschreitenden ökonomischen Wachstums interessiert, die untrennbar mit dem schnellen technologische Fortschritt verbunden sei. Darüber hinaus komme es häufig zu ungebremstem Wachstum, welches die natürliche Umgebung, und damit das wahre ‚Kapital‘ der Menschen in hohen Maße schädige.1247 Diese Entwicklung, in deren Verlauf sich die erzielten Gewinne und die produzierten Belastungen der Industriegesellschaft gegenüberständen, „(…) vraagt om een kritischer (niet: afwijzende) opstelling tegenover economische groie en technische innovatie da de sociaaldemocratie van huis uit heeft meegekregen“1248, so das Fazit der Autoren. Weiter hinten im Text ist eines von acht Schwerpunktthemen der Nachhaltigkeit in Ökonomie und Ökologie gewidmet. Eine ausgeglichene Natur- und Umweltpolitik sei ein Teil der Wohlstandsentwicklung, und deshalb dürften ökonomische nicht gegen ökologische Interessen in Stellung gebracht werden. Umweltpolitik müsse dafür Sorge tragen, dass der Staat bei seinen Investitionen, seiner Unterstützung von Initiativen und seiner Wissenschaftsförderung stets die Steigerung der Lebensqualität und die Erreichung von echter Nachhaltigkeit als Ziel habe. Und auch der technologische Fortschritt müsse sich an Nachhaltigkeitsmaßstäben messen lassen, wobei zuvorderst das intelligente Ineinandergreifen der einzelnen Entwicklungen und Politiken erreicht werden solle.1249 „De regulering 1244 1245 1246 1247 1248 1249
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Vgl. ebenda. S. 20. ebenda. S. 10. Vgl. ebenda. Vgl. PvdA: De rode draden van de sociaal-democratie. Den Haag 1998. S. 9. ebenda. Vgl. ebenda. S. 33 und 35.
van milieuschade en hinder moet strikt zijn en beter afgestemd zijn op het forceren van technologische doorbraken die milieuvriendelijker productie en consumptie mogelijk maken”1250, so ein Appell im Text. Auffallend ist, dass sich im Rahmen der behandelten acht Kernthemen keine Aussagen zum gestiegenen Bedarf an Qualifikation und Bildung in der Wissens- und Informationsgesellschaft finden. Weder in Zusammenhang mit der Globalisierung der Wirtschaft noch im hier untersuchten Abschnitt zu den Herausforderungen auf Grund von Umweltproblemen und gestiegener Technisierung kommt es zur expliziten Beschäftigung mit Bildungs- und Ausbildungsfragen. Anders als im letzten Wahlprogramm von 1998, in dem in ersten Ansätzen ein gestiegener Bedarf an Bildungs- und Ausbildungsförderung aus den perzipierten Herausforderungen auf Grund der veränderten Rahmenbedingungen abgeleitet wurde, und auch anders als es die jungen Autoren von ‚Niet nix‘ postulierten, scheint der Kommissionsbericht keine Notwendigkeit für eine derartige Ableitung oder thematische Verknüpfung zu sehen. Eine erneute Hinwendung auch zu diesen Fragen bot das Programm für die Wahl im Jahr 2002, bei gleichzeitiger breiter Auseinandersetzung mit technischem Fortschritt und umweltpolitischen Fragen. Im einführenden Kapitel zu den gesellschaftlichen Entwicklungen und den sich daraus ergebenden sozialdemokratischen Ambitionen halten die Autoren fest, dass die Gesellschaft mit einer technologischen Revolution konfrontiert sei, welche den Umgang mit Information und die Kommunikation innerhalb sozialer Netzwerke nachhaltig verändert habe.1251 Dabei sei das Wissen um die aktive Teilhabe an dieser Entwicklung in den Vordergrund gerückt. „Kennis en de vaardigheid om met informatie en met communicatiemiddelen als computers om te gaan zijn een belangrijke productiefactor in onze economie geworden”1252, so lautet die frühe Herstellung eines Zusammenhangs zwischen technischen Fortschritt und Ökonomie. Unter dem Stichwort ‘Nieuwe milieuproblemen’ wird anschließend im einleitenden Kapitel in Bezug auf Umweltthemen lediglich der Klimawandel mit seinen Folgen genannt, so dass detailliertere Aussagen zur Thematik dem Fachkapitel weiter hinten im Programm vorbehalten bleiben.1253 Doch bevor die Autoren auf die neuen und von ihnen als revolutionär bezeichneten Technologien und die anstehenden Herausforderungen der Umweltpolitik zu sprechen kommen, konstatieren sie im mit Bildungsfragen befassten Kapitel, dass in der
1250 1251 1252 1253
ebenda. S. 35. Vgl. Partij van de Arbeid: Samen voor de toekomst. Amsterdam 2002. S. 11. ebenda. S. 12. Vgl. ebenda. S. 15.
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heutigen Informationsgesellschaft Fragen von Bildung und Ausbildung von gestiegener Bedeutung wären. „De moderne samenleving is steeds meer afhankelijk van kennis en vaardigheden”1254, so die Einschätzung der Verfasser. Es sei daher Aufgabe der Politik, verstärkt in die entstandene Wissensökonomie zu investieren.1255 Schließlich betrachten die Verfasser den technischen Fortschritt unter der Überschrift ‚Revolutionaire technologie‘ genauer, und stellen fest, dass sich durch die Entwicklungen in den Bereichen der Informations- und Kommunikationstechnologie neue gesellschaftliche Umwälzungen ergeben hätten. Diese Umwälzungen hätten Veränderungen in den bestehenden Machtverhältnissen zur Folge, wobei es die Aufgabe der Sozialdemokratie sei, diese Veränderungen in ‚gute Bahnen‘ zu lenken, so dass die Lebensqualität Aller verbessert werde.1256 Anschließend erwähnen die Autoren die Wissensökonomie und formulieren ihr Ziel, „(…) dat iedereen kann deelnemen aan de informatiesamenleving.“1257 In diesem Zusammenhang wird betont, dass lebenslanges Lernen den Schlüssel zum Erfolg in der Wissens- und Informationsgesellschaft darstelle.1258 Etwas weiter unten im Dokument findet sich das Kapitel zur Umweltpolitik, welches mit ‚Nederland duurzaam en groen‘ überschrieben ist. Immer noch bestehe eine erkennbare Spannung zwischen ökonomischen Wachstum und dem Schutz der Umwelt, so die Feststellung der Autoren. Dabei sei das Streben nach ökologischer Nachhaltigkeit essentiell für die Qualität des gesellschaftlichen Miteinanders, was dieses Streben zu einer Frage von Solidarität werden lasse, da die Probleme und Belastungen ungleich verteilt wären.1259 Im Folgenden wird eine Vielzahl von umweltpolitischen Maßnahmen aufgezählt, die eine sozialdemokratische Regierung im Fall eines Wahlsiegs einleiten würde. Darunter finden sich Maßnahmen für eine intelligentere Verkehrsgestaltung, für effizienteren Energieverbrauch, für nachhaltige Landwirtschaft oder für die Schaffung eines neuen Verantwortungsbewusstseins bei Produzenten und Verbrauchern.1260 Das kurze, auf dem 2003er Wahlprogramm aufbauende Manifest zur nächsten Wahl Anfang 2003 stellt das nur 8 Monate zuvor Erklärte nicht in 1254 1255 1256 1257 1258 1259 1260
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ebenda. S. 30. Vgl. ebenda. S. 32. Vgl. ebenda. S. 37. ebenda. S. 39. Vgl. ebenda. Vgl. ebenda. S. 47. Vgl. ebenda. S. 48-53.
Frage, sondern liefert lediglich beim Thema Umwelt eine Konkretisierung zu ergreifender Maßnahmen. Hierbei geht es unter anderem um ökologischen Wohnungs- und Landbau, Fragen des Wasserschutzes sowie die Einsparung von Energie. Mit der Gegenüberstellung von so genannten ‚roten‘ und ‚grünen‘ Anliegen, beispielsweise dem Bedarf an neuen Wohnungen gegenüber Naturschutzinteressen, benennt der Text jedoch einen ständigen Grundkonflikt innerhalb der PvdA, der nach wie vor ungelöst ist.1261 Auch wenn in allen programmatischen Texte, die sich mit der Thematik beschäftigen, die notwendige Verknüpfung von wirtschaftlichen und ökologischen Interessen angemahnt wird, so hat die niederländische Sozialdemokratie im bisherigen Untersuchungszeitraum kaum konkrete Vorschläge für die Auflösung dieses Interessengegensatzes zu bieten. Dies ist dann auch einer der Punkte, die im Nachgang des Wahldebakels vom Mai 2002 in ‚De kaasstolp aan diggelen‘ im Rahmen der tiefgreifenden Kritik am programmatischen Erscheinungsbild der PvdA genannt wurden. Das Dilemma zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltinteressen habe nach wie vor Bestand, beziehungsweise vergrößere sich angesichts des steigenden materiellen Wohlstands in Folge der erfolgreichen ökonomischen Entwicklung anderswo in der Welt sogar. Daneben seien die durch technischen Fortschritt beispielsweise im Bereich der Biotechnologie entstanden Risiken in der hochtechnisierten Gesellschaft immer schwieriger abzuschätzen, da der exponentiell gesteigerten technischen Machbarkeit zu wenige adäquate Bewertungskriterien gegenüber ständen.1262 Als Drittes benennen die Autoren die in der Gesellschaft immer noch vorherrschende Wachstumsfixiertheit, „(…) waar tegenover bevordering van de kwaliteit van producten, inkomensmatiging en consumptiebeperking kunnen worden ingezegt.“1263 Mit Blick auf diese Herausforderungen bleibe die Sozialdemokratie bisher die Antwort schuldig, wie diesen Problemen begegnet werden könne, so das Fazit der Autoren. Dabei sei die Bewältigung Umweltproblematik ungeachtet ihrer abwechselnd steigenden und sinkenden Popularität eine der dringendsten Aufgaben der Sozialdemokratie.1264 In diesem Zusammenhang existiere jedoch noch ein anderes, mit der begrifflichen Gegenüberstellung von ‚roten‘ und ‚grünen‘ Maßnahmen bereits angesprochenes Problem. „In de marge van de controverses tussen markt- en staats1261 Vgl. Partij van de Arbeid: Voor verantwoordelijkheid, respect en solidariteit. Amsterdam 2002. S. 7. 1262 Vgl. PvdA, Werkgroep Politiek Inhoudelijke Koers: De kaasstolp aan diggelen. Amsterdam 2002. S. 35. 1263 ebenda. 1264 Vgl. ebenda.
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georiënteerdde sociaal-democraten wordt de discussie over milieuproblematik en de kwaliteit van het bestaan in bredere zin gevoered”1265, so die Beobachtung im Text, doch damit sei die Problematik noch nicht hinreichend definiert. Umweltpolitische Fragestellungen könnten unter ökonomischen, technischen oder kulturellen Gesichtspunkten betrachtet werden, abhängig von den jeweils verfolgten Zielen und den beleuchteten Teilaspekten. Die Zuordnung zu einem bestimmten Politikfeld sei somit schwierig, und die PvdA habe sich damit nicht zuletzt angesichts des Vorhandenseins von sowohl ‚roten‘ als auch ‚grünen‘ Aspekten schwer getan. Im Jahr 2004 beschäftigte sich auch Paul Kalma in ‚Links, rechts en de vooruitgang‘ mit der ökologischen Frage. Im Kontext seiner fünfzehn Thesen zur Wiederentdeckung der Sozialdemokratie widmet er sich auch dem Dilemma zwischen Wachstum und den Interessen des Natur- und Umweltschutzes und konstatiert ebenfalls, dass dieses in Folge steigendem Wohlstand in den Industriegesellschaften vertieft werde. Es bedürfe klarer umweltpolitischer Maßnahmen, namentlich des Ausbaus umweltfreundlicher Produktion, einer staatlichen Umweltpolitik, die durch Vorgaben und Gesetze den Ausbau solch einer Produktion unterstütze sowie der Einstellung staatlich-ökonomischer Förderung für energieintensive Wirtschaftszweige.1266 „De sociaal-democratie zou er rond voor uit moeten komen dat bij dergelijk beleid een hoge economische groie voorlopig geen realistische optie is”1267, so die unmissverständliche Schlussfolgerung Kalmas. Die schließlich im neuen Grundsatzprogramm formulierten Vorstellungen zum Themenkomplex sind absolut identisch mit den Formulierungen im Programmentwurf aus dem Jahr zuvor, so dass an dieser Stelle direkt der endgültige Programmtext herangezogen wird. Dort findet sich im ersten Kapitel zu den ‚Idealen‘ der PvdA ein mit ‚Selective en duurzame groei‘ überschriebener Absatz, in dem festgehalten wird, dass ungebremste wirtschaftliche Aktivitäten die natürlichen Lebensgrundlagen gefährden würden. Jegliches Wachstum müsse demnach bewusst gewählt werden und nachhaltig sein. In Bezug auf den technischen Fortschritt kommt es nicht zu breiteren Erklärungen; die Kernaussage des Grundsatzprogramms ist, dass nicht alles, was technisch möglich sei, auch umgesetzt werden sollte beziehungsweise müsste.1268 Auch die nicht zuletzt
1265 1266 1267 1268
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ebenda. S. 34. Vgl. Kalma, Paul. Amsterdam 2004. S. 339-340. ebenda. S. 340. Vgl. Partij van de Arbeid: Beginselmanifest Partij van de Arbeid. Delft 2005. S. 4 und 9.
als Folge der Technisierung und Informatisierung entstandene Wissens- und Informationsgesellschaft wird lediglich kurz erwähnt. „Verwerving,bezit en verbetering van kennis is voor individuen en economieën een steeds belangrijkere manier om overeind te blijven in de wereld”1269, so das entscheidende Postulat im Text. Bei der Betrachtung umwelt- und technologiepolitischer Fragestellungen im Kontext der programmatischen Entwicklung der PvdA fällt auf, dass sich die ausführlichsten Angaben zu den beiden Themenfeldern in den Wahlprogrammen der Partei finden. Eine grundsatzprogrammatische oder zumindest etwas abstrakter theoretische Beschäftigung mit Fragen der Umweltzerstörung und des Umweltschutzes sowie der technologischen Revolution und ihrer Implikationen fand zwar auch im Rahmen der Grundsatzprogrammdebatte statt, jedoch in kürzerer Form. Dort standen andere Themen wie Fragen nach der Wirtschaftsordnung und dem veränderten gesellschaftlichen Miteinander mehr im Vordergrund, auch wenn es im schließlich verabschiedeten neuen Grundsatzprogramm Passagen zu nachhaltigem Wirtschaftswachstum und nachhaltiger globaler Entwicklung gibt, die umweltpolitische Aspekte mit einbinden. Den kritischen Aussagen der Verfasser von ‚De kaasstolp aan diggelen‘, die unter anderem diese mangelnde und ungenaue inhaltliche Verortung von umweltpolitischen Fragestellungen und den damit zusammenhängenden Aspekten der Technisierung betrafen, kann somit auch an dieser Stelle zugestimmt werden.
4.3.3.
Individualisierung – der Wandel der Sozialstruktur und des Wahlverhaltens
Auch für die niederländische Sozialdemokratie lässt sich festhalten, dass die seit den 1970er Jahren zunehmende Individualisierung als ernst zunehmende Herausforderung wahrgenommen wurde, und dies in teilweise stärkerem Maße, als es bei der britischen und der deutschen Sozialdemokratie der Fall gewesen ist. Wie schon im einführenden Kapitel zum Wahl- und Parteiensystem festgehalten, existierte in den Niederlanden über viele Jahrzehnte hinweg ein relativ stabiles System von politisch-ideologischen Säulen, innerhalb dessen sich politische und gesellschaftliche Interessen artikulierten, und durch das auch die soziale Struktur der Gesellschaft maßgeblich geprägt wurde. Die Auflösung dieser systemischen Strukturen, die so genannte ‚Entsäulung‘, war neben anderen 1269 ebenda. S. 7.
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Ursachen mit Auslöser für die in den Niederlanden stattfindenden Individualisierungsprozesse. Die schon skizzierte relative Heterogenität in der niederländischen Politik steht daher in einem Wirkungszusammenhang mit den im Folgenden zu beschreibenden, von der PvdA perzipierten Herausforderungen durch die Individualisierung, wobei einzelne Aspekte dieser Problematik erst im nächsten Kapitel bei der Befassung mit neuen politischen Artikulations- und Organisationsformen behandelt werden. Eine erste kompakte, zu Beginn des Untersuchungszeitraums erfolgte Formulierung der wahrgenommenen Herausforderungen unter dem Oberbegriff Individualisierung lieferte ein programmatischer Text der niederländischen Delegation der sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament aus dem Jahr 1988. Dort heißt es, dass die westlichen Gesellschaften mit sozio-kulturellen Veränderungen konfrontiert seien, die neue Fragen in Bezug auf die politische und gesellschaftliche Ordnung aufwerfen würden, welche sich wiederum unter dem Begriff ‚Individualisierung‘ subsummieren ließen. Dabei sei dieser Begriff seinem Wesen nach ein ‚Containerbegriff‘, in welchem Wandlungsprozesse bei der sozialen Gruppenbildung gemeinsam mit verschiedensten Änderungen des Sozialverhaltens gebündelt würden.1270 In ‚Schuivende Panelen‘, dem ausführlichsten Kommissions-Bericht im Kontext der grundsätzlichen Selbstanalyse der PvdA nach 1986, widmen sich die Verfasser im Zuge der Schilderungen der demographischen und sozialen Veränderungen explizit der Individualisierung, welche sie zu Beginn der Ausführung erst einmal als Phänomen skizzieren. Individualisierung sei die „‘dekolonisatie van het dagelijks leven‘: het zonder social controle inrichten van het eigen bestaan.“1271 Wie auch die europäischen PvdA-Parlamentarier bezeichnen die Autoren Individualisierung als ein Bündel von sozio-kulturellen Veränderungen, um anschließend davon zu sprechen, dass sich diese sowohl auf der Mikro-, der Meso-, als auch der Makro-Ebene manifestieren würden. Gemeinsam seien diesen Veränderungen dabei zum einen die Abnahme der selbstverständlichen Gebundenheit innerhalb der Gesellschaft, und zum anderen die geringer gewordene soziale Kontrolle.1272 Im Anschluss daran erfolgt eine konkrete Beschreibung der Art und Weise, wie die Menschen mit den veränderten Lebensumständen umgehen, wobei unter anderem die Abkehr von traditionellen Formen des familiären Zusammenlebens und die neuen Chancen zur weiblichen 1270 Vgl. Socialistische Fractie Europees Parlement. Amsterdam 1988. S. 26. 1271 Partij van de Arbeid: Schuivende Panelen. Amsterdam 1987. S. 51. 1272 Vgl. ebenda.
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Emanzipation hervorgehoben werden. In einer Rückschau sprechen die Autoren dann davon, dass das frühere Zusammenleben maßgeblich von Institutionen wie den Kirchen oder politischen Parteien wie der PvdA bestimmt gewesen sei, was diese zu wichtigen Kräften der sozialen Integration gemacht habe.1273 Die Bindung der Einzelnen an klar definierte Institutionen habe jedoch im Kontext der Individualisierung ihre Bedeutung verloren: „Klasse of religie zijn niet langer doorslaggevend voor de vraag of men zich aansluit bij een organisatie; de activiteit en het intrinsieke doel van de organisatie zelf zijn daarbij van minstens even groot, zo niet groter, gewicht geworden.“1274 Besonders in den vormals so eindeutig konfessionell und sozial segmentierten Niederlanden manifestiere sich an Hand einer derartigen Feststellung eine deutliche Herausforderung für eine politische Partei wie die PvdA. Man sehe sich einer neuartigen ‚Emanzipation von Teilbelangen‘ gegenüber, so die Autoren weiter, im Rahmen derer sich Organisationen nicht länger auf traditionelle Bindungen berufen, sondern sich vielmehr auf bestimmte Zielgruppen konzentrieren würden. In Zusammenhang damit entstehe die Notwendigkeit, eine Anpassung des Systems von Rechten und Pflichten vorzunehmen, da sich auch das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern verändert habe.1275 Im Lichte dieser Entwicklungen sei es nun Aufgabe der Sozialdemokratie, für die Existenz eines weiterhin tragfähigen gesellschaftlichen Zusammenhalts zu sorgen. „De grote opgave voor de sociaaldemocratie is hoe in een geïndividualiseerde en meer informeel georganiseerde samenleving noodzakelijke samenhang te bewaren en te ontwikkelen, die voorkomt dat delen daarvan economisch en cultureel naar de zelfkant van de samenleving verdwijnen“1276, so das Fazit im Text. Den von Paul Kalma in seiner 1988 erschienenen Publikation ‚Het socialisme op sterk water‘ angestellten Überlegungen liegen zwar im Wesentlichen dieselben Wahrnehmungen der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse zu Grunde, doch die von ihm hieraus gezogenen Schlüsse zeigen in eine andere Richtung. Kalma stellt die Individualisierung in den Kontext des liberalen Zusammenlebens und spricht davon, dass es der Sozialdemokratie weniger um den Individualisierungsprozess im Allgemeinen ginge als vielmehr um einzelne Teilaspekte davon, namentlich die perzipierte ‚Depolitisierung‘ und das abgenommene Solidaritätsbewusstsein.1277 Grundsätzlich diagnostiziert er in den Reihen der PvdA eine sehr negative, lediglich die frauenemanzipatorische As1273 1274 1275 1276 1277
Vgl. ebenda. S. 52-45. ebenda. S. 53. Vgl. ebenda. S. 54-56. ebenda. S. 57. Vgl. Kalma, Paul. Den Haag 1988. S. 70.
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pekte positiv bewertende Beurteilung der Individualisierung und ihrer Folgeerscheinungen. Einen Grund hierfür sieht er in der nach wie vor wirkungsmächtigen Fundierung der PvdA-Programmatik in sozialistischem Gedankengut. Die Partei sei gefangen in der Diskrepanz zwischen sozialistischer, antiindividualistischer Ideologie auf der einen, und sozialdemokratischpragmatischer Praxis der Ausbreitung individueller Freiheiten auf politischem und sozialem Gebiet auf der anderen Seite.1278 Tatsächlich sei die Individualisierung jedoch Teil der Sozialdemokratie und ihrer historisch entwickelten Anliegen, so Kalma, denn die aktuell von sozialdemokratischer Seite bemängelten Auswirkungen der Individualisierung seien lediglich Folgen der sozialdemokratischen Bemühungen um die Befreiung und Befähigung des Einzelnen. Die ‚Befreiung‘ des Einzelnen könne in Konsequenz auch zu Lasten der gesamtgesellschaftlichen Solidarität gehen sowie zur Enttraditionalisierung führen, und daher sollte die Sozialdemokratie derartige Individualisierungsprozesse als Teil ihrer Geschichte akzeptieren, so das Plädoyer des Autors.1279 „Het socialisme is collectivistisch, de sociaal-democratie is individualistisch – en zou de verdedeging van dat individualism niet aan het liberalism mogen overlaten”1280, so Kalmas’ mit einem politischen Appell verknüpfte abschließende Beurteilung der Zusammenhänge. Die Thesen Paul Kalmas erfuhren dabei im Kontext der sozialdemokratischen Debatte nicht nur Zuspruch, und mit Siep Stuurman und Dick Pels fanden sich ein Politikwissenschaftler und ein Soziologe, die Kalmas Anmerkungen zur Individualisierung kritisch kommentierten. Stuurman merkt beispielsweise an, das es nicht notwendig oder sinnvoll sei, eine derart deutliche Trennlinie zwischen vermeintlich anti-individualistischem Sozialismus und sozialdemokratisch verstandenem und in der Marktwirtschaft praktiziertem Individualismus zu ziehen. Denn zum einen sei das Verhältnis zwischen Sozialismus und Individualismus wesentlich positiver als von Kalma angenommen, und zum anderen sei ein schlichtes ‚Dafür‘ oder ‚Dagegen‘ im Fall des Individualismus nicht haltbar. Dieser sei von seiner Art her ambivalent, und daher seien die Folgen desselben nicht nur von sozialistischen, sondern auch von liberalen Theoretikern wie Alexis de Tocqueville und, in einem weiteren Sinne, Adam Smith kritisiert worden.1281 „Allen kozen uiteindelijk voor een maatschappij waarin
1278 1279 1280 1281
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Vgl. ebenda. S. 71-72. Vgl. ebenda. S. 75 und 78. ebenda. S. 78. Vgl. Stuurman, Siep: De verzorgingsstaat en de politieke theorie van het socialisme. In: Schuyt, C.J.M./Stuurman, S./Pels, D./Scheffer, P./Kalma, P.. Amsterdam 1991. S. 39.
ruimte voor individuele ontplooing groot was, maar zij stelden nadrukkelijk dat dit type maatschappij schaduwzijden had”1282, betont Stuurman. Für Pels hingegen ist die grundsätzliche Zielrichtung der Argumentation von Kalma kritikwürdig, da dieser einen ‚Zaken-Socialisme‘, beziehungsweise eine größtenteils von ihren ideologisch-sozialistischen Wurzeln losgelöste Sozialdemokratie propagiere. Der pragmatische Umgang der Sozialdemokratie mit dem Individualismus, den Kalma in seiner Publikation feststellt und für dessen Forcierung er sich ausspricht, führe in Konsequenz zur Anpassung an Tendenzen des immer noch dominierenden liberalen politischen Diskurses.1283 Kalmas Ziel scheine zu sein, „(…) de Nederlandse sociaal-democratie salonfähig te maken bij het materialistisch en individualistisch geörienteerde yuppiedom”1284, so das Urteil des Soziologen. Seine Schlussfolgerung lautet dementsprechend, dass solch ein ‚neuer Realismus‘ innerhalb der Sozialdemokratie einer sozialistisch-utopischen Gegenperspektive bedürfe.1285 Im Wahlprogramm von 1989 finden sich anschließend so gut wie keine Anmerkungen zur Individualisierung, lediglich zur Veränderung der sozialen Struktur werden unter den Stichworten ‚Kwaliteit en samenhang‘ ein paar Bemerkungen gemacht. Dort heißt es, dass sich besonders im kulturellen Bereich eine neue ‚Pluriformiteit‘ des Zusammenlebens entwickelt habe, die sich auch auf Grund einer zunehmenden Variation der Lebensstile vergrößert habe.1286 „De individualisering en toegenomen mondigheid van mensen, de vrijheid om buiten sociale, vaak levensbeschoulijke gefundeerde kaders te treden of juist daar zelf en niet op grond van traditie voor te kiezen, illustreren dat”1287, so die Schlussfolgerung im Text. Anders verhält es sich mit dem Bericht der van KemenadeKommission aus dem Jahr 1991. In diesem Dokument, dass sich intensiv mit der Organisation und der elektoralen Strategie der PvdA sowie den veränderten politischen Wettbewerbsbedingungen für die Sozialdemokratie befasst, finden sich an mehreren Stellen Äußerungen zu den strukturellen Veränderungen des gesellschaftlichen Miteinanders. Das Zusammenleben habe an Uniformität verloren, Individuen würden sich nicht mehr in erster Linie über die Mitgliedschaft 1282 ebenda. 1283 Vgl. Pels, Dick: Zaken-socialisme, of: het einde van de utopie. In: Schuyt, C.J.M./Stuurman, S./Pels, D./Scheffer, P./Kalma, P.. Amsterdam 1991. S. 72-73. 1284 ebenda. S. 73. 1285 Vgl. ebenda. 1286 Vgl. Partij van de Arbeid: Kiezen voor kwaliteit. Amsterdam 1989. S. 12. 1287 ebenda.
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bei einer bestimmten Organisation oder Gruppierung definieren, sondern vielmehr ihre eigenen Interessen selbst verfolgen und dementsprechend ihre Rolle eigenständig definieren.1288 Dies habe tiefgehende Konsequenzen für politische Parteien wie die PvdA insofern, als „(…) dat zij in hun traditionele organisatievormen geen aansluiting meer vinden bij een geïndividualiseerde levenswijze.”1289 Eine Schlussfolgerung hieraus sei, dass das Zeitalter der traditionellen Massenparteien sich seinem Ende zuneige, wobei nähere Betrachtungen zu solchen Aspekten erst im nächsten Kapitel folgen.1290 Tatsache sei in jedem Fall, so die Autoren weiter, dass die gegenwärtige Stimmung in scharfem Kontrast zur Periode der Versäulung der gesellschaftlichen und politischen Interessen stehe, da vorgefertigte Meinungen, Parteientscheidungen und Lebensweisen nicht länger gewünscht seien. Die politischen Parteien hätten ihre zentrale Position in Bezug auf die politische Meinungsbildung und die Formulierung kollektiver Belange eingebüßt, wobei die Individualisierung nach Ansicht der Verfasser entschieden dazu beigetragen hätte, dass sich die Menschen nicht mehr im selben Maße wie früher am politischem Parteileben beteiligen wollten. An dieser Stelle wird jedoch der von sozialdemokratischer Seite vielfach angenommenen Kritik widersprochen, dass in Folge dessen auch das allgemeine politische Interesse der Bürgerinnen und Bürger abgenommen habe, und man mit einer tiefgreifenden Depolitisierung konfrontiert sei. Der Fokus des politischen Interesses habe sich lediglich weg von den klassischen Parteien hin zu neuen Organisationsformen verschoben, doch auch zu diesem Punkt mehr im nächsten Kapitel.1291 Im Jahr 1992 wurde die Individualisierung zum einem im Bericht der Sozialstaats-Kommission, zum anderen im schon zitierten Sammelband ‚Contouren van vernieuwing‘ wiederum erwähnt. In der letztgenannten Publikation befasste sich der damalige Fraktionsvorsitzende der PvdA in der Zweiten Kammer, Thijs Wöltgens, mit der aktuellen Bedeutung des Primats der Politik. In diesem Zusammenhang konstatiert er, dass durch den gestiegenen Grad an Individualisierung in einer sich schnell wandelnden Gesellschaft die Bindungskraft gesellschaftlicher Gruppierungen und Parteien abnehme. Dabei habe dieser Prozess sowohl negative als auch positive Konsequenzen. Begrüßenswert sei die gestiegene Freiheit des Individuums im Zuge der Erweiterung vielfältiger Wahlmög-
1288 1289 1290 1291
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Partij van de Arbeid: Een Partij om te kiezen. Amsterdam 1991. Teil I S. 3. ebenda. S. Teil II S. 6. Vgl. ebenda. Teil I S. 4 Vgl. ebenda. Teil II S. 6-7.
lichkeiten. Eine negative Konnotation bekomme die Individualisierung jedoch dadurch, dass sie dem ‚kalkulierenden Bürger‘ Vorschub leisten würde. Dieser würde sich lediglich auf seine eigenen Interessen konzentrieren und dabei die Grenzen der eigenen Belange falsch einschätzen. Wöltgens plädiert an dieser Stelle für eine Erneuerung des Ideals der Bürgerschaft, wobei für die Sozialdemokratie Bürgerschaft in erster Linie bedeute, dass alle Menschen als gleichwertige Bürger angesehen werden würden. Damit müsse jedoch einhergehen, dass die Sozialdemokratie angesichts der sozio-strukturellen Veränderungen die Autonomie der Bürger anerkenne und fördere.1292 Aus sozialdemokratischer Sicht sei es nötig, „(…) dat we loskomen van iets waar sociaal-democraten misschien te lang aan gelaboreerd hebben, namelijk dat we in principe onze medemensen als slachtoffers beschouwen in plaats van als mensen die zelf beslisingen kunnen nemen”1293, so die Forderung des PvdA-Politikers. Auch die mit sozialstaatlichen Fragen befasste Kommission beschrieb in Zusammenhang mit der Neukonzipierung des Wohlfahrtsstaates die veränderten Grundlagen des gesellschaftlichen Miteinanders, um dabei an erster Stelle den Blick auf die Individualisierung zu richten. Man sei mit zwei Arten von Individualisierung konfrontiert, so die Autoren. Auf der einen Seite gebe es eine demographische Individualisierung, die sich durch Geburtenrückgänge, neue Formen des häuslichen Zusammenlebens und eine gestiegene Zahl von Alleinstehenden ausdrücken würde. Auf der anderen Seite sei eine sozial-kulturelle Individualisierung zu beobachten, die sich im gesteigerten Wunsch der Menschen nach rechtlicher und finanzieller Selbstständigkeit manifestieren würde. Folgen dieser Entwicklungen seien unter anderem, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit einen Bedarf an neuen rechtlichen Kategorien verursachen würde, dass die Intransparenz bei der Einkommensverteilung deutlich zunähme und dass es zu einer gestiegenen Belastung der sozialen Sicherungssysteme käme.1294 In den Jahren 1993 und 1994 veröffentlichte die PvdA schließlich eine Reihe von Publikationen, mit deren Hilfe programmatisches und organisatorisches Neuland ‚ausgekundschaftet‘ werden sollte, so die deutsche Ableitung von ‚PvdA Verkenningen‘, dem niederländischen Titel der Reihe. Der Text mit dem Titel ‚Moderne Gezinen – of het afscheid van de standaardlevensloop‘ beschäftigte sich vor allem mit den Veränderungen in den Familienstrukturen, wobei 1292 Vgl. Wöltgens, Thijs: De actualiteit van het primaat van de politiek. In: Nekkers, Jan (Red.). Amsterdam 1992. S. 149-150. 1293 ebenda. S. 149. 1294 Vgl. PvdA, Commissie Verzorgingsstaat: Niemand aan de kant – Om de toekomst van de verzorgingsstaat. Amsterdam 1992. S. 25-26.
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auch die Individualisierung zur Sprache kommt, da man nicht über Familien (gezinen) oder neue Lebensformen sprechen könne, ohne die damit in Zusammenhang stehende Individualisierungsdebatte zu beachten, so die Autoren in der Einleitung.1295 Im zweiten Hauptteil der Veröffentlichung werden anschließend die Veränderungen der unmittelbaren Lebenswirklichkeiten der Menschen näher betrachtet. Direkt zu Beginn konstatieren die Verfasser, dass es eine Vielzahl von Definitionen von Individualisierung gäbe, um im Anschluss daran ihre eigene zu liefern. In einem sehr allgemein gesprochenen Sinne gehe es bei der Individualisierung um einen Emanzipationsprozess, innerhalb dessen die Menschen nach grundsätzlicher Unabhängigkeit streben würden. Ein Kennzeichen dieses spezifischen Individualisierungsprozesses sei es darüber hinaus, dass die Menschen sich nicht länger nur im Zusammenhang mit ihrer jeweiligen Gruppen emanzipieren würden, wie es traditionell beispielsweise Arbeiter, Frauen oder unterdrückte Nationalitäten getan hätten, sondern dass auch innerhalb derartiger Gruppen Diversität und Wahlfreiheit ein Thema geworden wären.1296 Im weiteren Verlauf findet sich eine ausführliche Analyse der Gesellschaftsituation in Bezug auf das familiäre Miteinander, um anschließend erneut den Kern der sozialdemokratischen Gesellschaftspolitik zu benennen: „De PvdA gaat uit van de zelfstandigheid en keuzevrijheid van individuen en gelijkwaardigheid van leefeenheden.“1297 Eine zusammenfassende zentrale Erkenntnis der Publikation ist schließlich, dass sich Lebensformen und individuelle Lebensläufe nachhaltig und grundlegend verändert hätten, beziehungsweise die Vielzahl der Alternativen extrem zugenommen habe. Hierauf, und auf die anderen teils paradoxen Folgen der Individualisierung müsse die PvdA jetzt politische Antworten finden.1298 Das zur Wahl 1994 vorgelegte Programm enthielt anschließend keine konkrete Auseinandersetzung mit der Individualisierung, doch eingewoben in ein Konzept von Bürgerschaft und sozialer Beteiligung, welches sich als ‚roter Faden‘ durch die einzelnen Kapitel zieht, findet sich Relevantes zum Thema. Unter dem Stichwort ‘soziale Gerechtigkeit’ heißt es, dass das Hauptmotiv für die Sozialpolitik in den kommenden Jahren sein müsse, „(…) dat elke burger zelfstandig en materieel zo vrij mogelijk is om eigen keuzen te maken in de sfeer
1295 Vgl. PvdA, Cuyvers, Peter (Red.): PvdA Verkenningen 1994. Moderne Gezinnen – of het afscheid van de standaardlevensloop. Amsterdam 1994. S. 7. 1296 Vgl. ebenda. S. 13. 1297 ebenda. S. 23. 1298 Vgl. ebenda. S. 47-49.
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van arbeid, vrije tijd, besparing, investering, verzekering en consumptie.“1299 Dies entspricht im Wesentlichen den Aussagen im eben zitierten Arbeitsgruppenbericht, so dass man von einem Synonym für die prinzipielle Reaktion der PvdA auf die Herausforderungen der Individualisierung Mitte der 1990er Jahre sprechen kann. In einem Text der Wiardi Beckman Stichting aus dem Jahr 1995, in dem es um eine Bewegung der Politik hinsichtlich einer Erneuerung der Demokratie ging, konstatieren die Autoren, dass die Individualisierung in erster Linie zu einer politischen Emanzipation der Bürger geführt habe. „Onder invloed van een sterk toegenomen welvaart en de beschikbaarheid van omvangrijke collectieve voorzieningen, hebben individuele burgers zich in aanzienlijke mate losgemaakt van traditionele klasse- en religieuze bindingen en van de vaste, onveranderlijke geachte rolpatronen in het gezin”1300, so die Einschätzung der Verfasser, aus der sie eine Verlagerung politischer Entscheidungen in die Privatsphäre ableiten. In Verbindung hiermit wird die durch Individualisierungsprozesse größer gewordene Wahlfreiheit für die Bürger thematisiert, wobei auch die problematischen Aspekte dieser Entwicklung betrachtet werden. Denn Wahlfreiheit bedeute in vielen Fällen auch Wahlzwang und somit psychische Belastungen für Jene, die sich zur freien und selbstständigen Wahl nicht im Stande sehen. Demzufolge habe das Aufweichen sozialer Strukturen beispielsweise in Gestalt der traditionellen Klassenbindungen nicht notwendigerweise weniger soziale Ungleichheit zur Konsequenz, sondern könne diese sogar noch verstärken. Es entwickele sich im Zuge der gestiegenen Wahlfreiheit eine neue, meritokratische Rechtfertigung, die besage, dass derjenige, der innerhalb der Gesellschaft nicht reüssiere, vermutlich selbst die Schuld daran trage.1301 Eine sich derart manifestierende neue Ungleichheit kann dann in der Tat als neue Herausforderung für die Sozialdemokratie verstanden werden. Das 1998er Wahlprogramm bietet, ähnlich wie die beiden vorherigen Wahlprogramme, nur wenig Explizites zur Individualisierungsdebatte. Im Rahmen der Einleitung heißt es lediglich, dass es darum gehen müsse, die Chancen für alle Menschen zu vergrößern, und zwar durch die Zusammenarbeit der Politik beziehungsweise der Regierung mit den freien, selbstständigen Bürgern. Die Individualisierung wird nur insofern implizit thematisiert, als die Sozialdemokratie an dieser Stelle des Programms eine pragmatische Anpassung an die neuen 1299 Partij van de Arbeid: Wat mensen bindt. Amsterdam 1994. S. 11. 1300 Becker, F./Kalma, P./Witteveen, W./Derksen, W./Bovens, M.. Amsterdam 1995. S. 18. 1301 Vgl. ebenda. S. 18-19.
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gesellschaftlichen Gegebenheiten postuliert. Die Regierung müsse zwar eine spezifische Rolle spielen, dürfe aber nicht gemäß dem Prinzip vom ‚Primat der Politik‘ arrogant auftreten.1302 „De overheid bevordert niet alleen de participatie van allen, maar participeert ook zelf actief in het maatschappelijk proces dat vooruitgang heet.”1303 Hierbei sei soziale Kohäsion Mittel und Ziel zugleich. Argumentativ wird dann der Kreis geschlossen, wenn vom historischen Anliegen der Sozialdemokratie die Rede ist, die Lebenswirklichkeiten aller Menschen zu verbessern, und dass eben dies heutzutage Ziel einer neuen Partnerschaft zwischen Bürgern und Staat sein müsse.1304 Schließlich formulieren die Autoren wenige Seiten weiter, dass es auch darauf ankomme, die richtige Balance zwischen Individualität und Solidarität, zwischen persönlicher Freiheit und gesamtgesellschaftlicher Verantwortung zu finden.1305 Der Text der Grundsatzprogrammkommission, der kurz nach der erfolgreichen Wiederwahl der Regierung Kok im Herbst 1998 veröffentlicht wurde, befasst sich hingegen ausführlich mit den sozio-strukturellen Veränderungen und somit auch mit der Individualisierung. Unter der Überschrift ‚Een welvaartsmaatschappij in verandering‘ widmen die Autoren der individuellen und kollektiven Emanzipation einen längeren Absatz. Das traditionell von der Sozialdemokratie unterstützte Streben nach Emanzipation habe zugenommen und sich auf neue gesellschaftliche Gruppen und Gebiete ausgedehnt. Im Zuge dieses veränderten Emanzipationsstrebens seien zwar auf der einen Seiten neue Formen von Solidarität und sozialen Engagement entstanden, aber auf der anderen Seite sei im Zusammenhang mit einer Mehrung des Wohlstands ein gestiegenes Maß an sozialem Egoismus und eine verstärkte Abwendung der Menschen von der staatlichen Solidargemeinschaft zu beobachten.1306 Trotzdem gelte es festzuhalten, dass „een morele veroordeling van ‚het individualisme’ van de moderne burger, onder het aanroepen van traditionele normen en waarden, misplaatst (is). Niet alleen omdat ‘het’ individualisme heel verschillende varianten kent – en de gemeenschappen waarin traditionele normen en waarden ingebed waren, in Nederland niet meer bestaan.”1307 Weiter hinten in der Publikation, unter den acht hervorgehobenen Themen im dritten Kapitel, finden sich Aussagen zur Korrelation zwischen Individualisierung und der Bedeutung von Arbeit. Zu Beginn formulieren die 1302 1303 1304 1305 1306 1307
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Vgl. Partij van de Arbeid: Een wereld te winnen. Amsterdam 1998. S. 9. ebenda. Vgl. ebenda. Vgl. ebenda. S. 12. Vgl. PvdA: De rode draden van de sociaal-democratie. Den Haag 1998. S. 9-10. ebenda. S. 10.
Verfasser, dass die Sozialdemokratie zum einen nach Wahlfreiheit für jeden strebe, zum anderen nach gesamtgesellschaftlicher Solidarität, um in Kombination dieser beiden Ziele einen Zustand zu erreichen, im welchem der Einzelne sowohl eine Bindung zur Solidargemeinschaft als auch die Chance zur freien Selbstverwirklichung habe. Insofern stehe die Individualisierung nicht im Widerspruch zu sozialdemokratischen Idealen, sondern sei vielmehr eine logische Folge ihrer partiellen Verwirklichung. Denn die Individualisierung habe dazu beigetragen, dass es größere Gestaltungsmöglichkeiten für die jeweiligen Lebensentwürfe gebe, und es einen gestiegenen Bedarf an Regeln gebe, um Wahlfreiheit möglich zu machen und zu befördern.1308 „Sociaaldemocraten willen die keuzevrijheid van burgers bevorderen, maar benadrukken tegelijkertijd de collective verantwoordelijkheid die nodig is om keuzevrijheid mogelijk te maken en sociale risco’s te ondervangen”1309, so die Bündelung der sozialdemokratischen Vorstellung. Wahlfreiheit und Solidarität seien miteinander verbunden und dürften nicht getrennt behandelt werden.1310 Im Mai 2000 erschien ein weiterer Zwischenbericht der Grundsatzprogrammkommission, der als Diskussionsgrundlage für den in diesem Monat stattfindenden Parteitag gedacht war. Dort wurden die Erkenntnisse aus ‚De rode draden van de sociaal-democratie‘ aufgegriffen und erneut zusammengefasst, um anschließend mehreren Kommissionsmitgliedern Raum zu geben, ihre eigenen Vorstellungen in diesem Kontext zu konkretisieren. Darunter findet sich ein Text von Jet Bussemaker, in dem dieser sich mit Verhältnis zwischen Individualisierung und Arbeit beschäftigt. Nachdem Bussemaker in einem knappen Überblick die Bedeutung von Arbeit für die PvdA in den vorangegangenen Grundsatzprogrammen aus historischer Perspektive erläutert hat, kommt er auf den Umgang mit Prozessen der Individualisierung zu sprechen. Bis Ende der 1980er Jahre seien Individualisierung und die Schaffung gesellschaftlichen Zusammenhalts auch innerhalb der Sozialdemokratie als Gegensätze empfunden worden.1311 „Het benadrukken van individuele vrijheid en ontplooing zou het ideaal van gemeenschapsvorming bedreigen en daarmee het beginsel van solidariteit te grabbel gooien”1312, so der Autor wörtlich. Mittlerweile sei jedoch deutlich geworden, dass die zunehmende Individualisierung keinesfalls den 1308 1309 1310 1311
Vgl. ebenda. S. 30. ebenda. Vgl. ebenda. S. 31. Vgl. Bussemaker, Jet: Individualisering en de betekenis van arbeid – of de verzoening van arbeid, zorg en emacipatie. In: Partij van de Arbeid: De beginselen van de PvdA. Discussiestukken voor het congres van 27 mei 2000. Amsterdam 2000. S. 28-30. 1312 ebenda. S. 30.
325
Verlust gesellschaftlicher Bindungskräfte an sich bedeuten würde, sondern dass durch Individualisierungsprozesse andere und neue Formen des gesellschaftlichen Miteinanders entstehen würden.1313 Eine nächste offizielle Erwähnung des Themenkomplexes in der Parteiprogrammatik findet sich in der schon aus anderen Wahlprogrammen bekannten knappen Form im Programm für die Wahl 2002. Dort gibt es zwar kein eigenes thematisches Kapitel zur Individualisierung, aber im ersten Kapitel zu den gesellschaftlichen Entwicklungen und Veränderung im Allgemeinen taucht der Begriff in einem mit ‚Individualisering en flexibilisiering‘ betitelten Unterkapitel kurz auf. Hier wird festgestellt, dass im vergangenen Jahrzehnt auf die großen sozialen Veränderungen konsequent reagiert worden sei. Die Bürgerinnen und Bürger seien in der Regel besser ausgebildet und würden sich an die durch Individualisierung und Flexibilisierung geprägten Umstände anpassen.1314 Wie auch schon in Bezug auf andere Themen bietet ‚De kaasstolp aan diggelen‘ im Nachgang der Wahlniederlage von 2002 eine ausführlichere Beschäftigung mit den sozio-strukturellen Veränderungen. In der einführenden Beschreibung der krisenhaften Ausgangssituation für die PvdA sprechen die Autoren davon, dass unter anderem auch Individualisierungsprozesse mit dazu beigetragen hätten, die Fundamente des unter Beteiligung der Sozialdemokratie aufgebauten Versorgungsstaates der Nachkriegszeit zu beschädigen. Man müsse sich den Herausforderungen eines veränderten soziologischen Zusammenlebens stellen, in welchem die traditionelle Arbeiterklasse sich größtenteils zu einer breit angelegten Mittelklasse gewandelt habe, und in der es einen starken Zustrom an alten und neuen Migranten gebe mit den damit verbundenen Problemen auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Integration.1315 An diesem Punkt setzt die Kritik der Verfasser an, wenn sie das programmatische Defizit der Partij van de Arbeid anprangern: „In het algemeen is ze verregaand meegegaan met de tendens tot depolitisering (resp. Liberale re-ideologisering), in plaats van beginselpolitiek te combineren met nieuwe, op sterk veranderde maatschappelijke omstandigheden toegesneden instrumente.”1316 Die sich hieran entzündende Frage sei aber, wen die PvdA mit solch einer aufgeweichten, nicht mehr klar zu verortenden Programmatik eigentlich politisch erreichen beziehungsweise repräsentieren wolle. Die europaweite Modernisierung der Sozialdemokratie an Hand der Konzepte des Dritten Weges und der Neuen Mitte, die 1313 Vgl. ebenda. 1314 Vgl. Partij van de Arbeid: Samen voor de toekomst. Amsterdam 2002. S. 12. 1315 Vgl. PvdA, Werkgroep Politiek Inhoudelijke Koers: De kaasstolp aan diggelen. Amsterdam 2002. S. 7. 1316 ebenda. S. 24.
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auch die niederländische PvdA mit eingeschlossen hatte, sei eine bewusste Hinwendung zur soziologischen Mitte und zu den angestellten Arbeitnehmern in der freien Wirtschaft gewesen. Parallel hierzu habe die Partei jedoch auch versucht, die ‚Reste‘ der alten Arbeiterklasse oder, in einem allgemeineren Sinn und mit anderen Worten, die am unteren Rand des Arbeitsmarktes tätigen Menschen für ihre Sache zu gewinnen.1317 Doch dieses Projekt sei gescheitert. „Zij (die Partei) is er niet geslaagd deze uiteenlopende groepen tegelijkertijd op geloofwaardige wijze te representeren, maar heeft dit vraagstuk onvoldoende onderkend”1318, so das Fazit der Autoren. In diesem Kontext sprechen die Verfasser von einem neuen Repräsentations-Dilemma, welches sich für die Sozialdemokratie ergeben würde.1319 Ein hiermit in direktem Zusammenhang stehendes weiteres sozialdemokratisches Dilemma sei die Konfrontation zwischen individueller Freiheit und kollektiver Solidarität. In vielen Politikfeldern sei die PvdA gefangen zwischen dem zunehmenden Anspruch der Bürger auf individuelle Freiheit auf der einen und der Organisation von Solidarität im Interesse der kollektiven Institutionen auf der anderen Seite. Das Problem entstehe vor allem auf Grund der Tatsache, dass einer immer differenzierteren Gesellschaft von der Politik in der Regel wenig ausdifferenzierte öffentliche Güter und Dienste angeboten würden:1320 „Het politieke draagvlak voor een brede en toegankelijke publieke sector is bovendien lastiger te organiseren als het onderscheid tussen wie betaalt en wie profiteert van publieke voorzieningen scherper wordt.”1321 In Reaktion hierauf gebe es innerhalb der PvdA vereinfacht gesagt zwei unterschiedliche Meinungen, wie dieser Herausforderung begegnet werden solle. Zum einen fänden sich Stimmen, die für Konsumentenfreiheit als neuen sozialdemokratischen Ausgangspunkt plädiere, im Sinne einer Fokussierung auf den Einzelnen. Der Bürger solle großen Spielraum beim selbstständigen Ausbau seiner Bildung und der Organisation seiner Gesundheits- und Altersvorsorge erhalten. Zu anderen gebe es Sozialdemokraten, welche die Solidarität und die öffentliche Verantwortung ins Zentrum ihrer Argumentation stellen, damit es nicht auf Grund von mangelnder staatlicher Für- und Vorsorge zu einer Zweiklassengesellschaft in Bezug auf das Versorgungsniveau der Menschen komme.1322
1317 1318 1319 1320 1321 1322
Vgl. ebenda. S. 22. ebenda. Vgl. ebenda. Vgl. ebenda. S. 25. ebenda. S. 25-26. Vgl. ebenda. S. 26.
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An dieser Stelle kann ein direkter Sprung zum 2005 verabschiedeten Grundsatzprogramm erfolgen, da im für die Anfang 2003 stattgefundene Wahl erstellten Manifest nichts Neues zum Thema zu finden ist, und der schon erwähnte Entwurf für das Grundsatzprogramm aus dem Jahr 2004 mit dem endgültigen Programm an dieser Stelle inhaltlich deckungsgleich ist. Vorweg sei gesagt, dass sich die PvdA in ihrem neuen Grundsatzprogramm intensiv und an mehreren Stellen mit Fragen des sozio-strukturellen Wandels im Zuge der Individualisierung beschäftigt. Unter der Überschrift ‚Beginselen in een moderne tijd‘ beschreiben die Autoren zuerst die Veränderungen und ihre grundsätzlichen Konsequenzen, um im weiteren Verlauf des Textes einzelne Aspekte separat zu betonen. An dieser frühen Stelle gibt es den einzigen, und auch nur auf eine Zwischenunterschrift bezogenen Unterschied zwischen Entwurf und Programm zum Thema. Hatte die Autoren im Entwurf noch von der Schicksalsgemeinschaft inmitten gesellschaftlicher Diversität gesprochen, so ist im Grundsatzprogramm etwas allgemeiner und versöhnlicher von Solidarität und Zusammengehörigkeit die Rede.1323 Unter diesen Stichworten findet sich dann die Feststellung, dass große Teile der Arbeiterschaft und der Frauen sich mittlerweile von ihren traditionellen Positionen emanzipiert hätten, und dass sich in Folge dessen eine variationsreiche Mittelklasse gebildet habe. Darüber hinaus gebe es eine zunehmende Zahl von Migranten in der Gesellschaft, die teilweise Mühen bei der Integration hätten. Die Anliegen dieser verschiedenartigen Gruppen seien so heterogen, dass sich immer schwerer gesamtgesellschaftliche Solidarität entwickeln lasse.1324 „Solidariteit gedijt op een stevige ondergrond van saamhorigheid en lotsverbondenheid. De toenemende diversiteit zet dat fundament onder druk”1325, so die Quintessenz im Programm. In einem späteren Absatz ist die Rede davon, dass die Gemeinschaft als freie Wahl verstanden werden solle. „Wij verdedigen een vrijzinnige moraal, warin – tegen de achtergrond van voor iedereen geldende grondrechten – ruimte is voor verschillende levensbeschouwingen, levensstijlen en culturen”1326, so das Postulat. Hier wird erkennbar, dass die PvdA die Individualisierung mit ihren Implikationen akzeptiert und programmatisch verarbeitet hat, wenn sich die Autoren für die gesellschaftliche Vielfalt und die freie Wahl der Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft aussprechen. Gegen Ende des Grundsatzprogramms 1323 Vgl. PvdA, Commissie Beginselen: Concept-Beginselmanifest Partij van de Arbeid. In: Socialisme & Democratie. Bd. 61 Nr. 10/11 2004. S. 47; sowie Partij van de Arbeid: Beginselmanifest Partij van de Arbeid. Delft 2005. S. 4. 1324 Vgl. Partij van de Arbeid: Beginselmanifest Partij van de Arbeid. Delft 2005. S. 4. 1325 ebenda. 1326 ebenda. S. 5.
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kommen die Autoren noch einmal auf das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft zu sprechen: „Sociaal-democraten waarderen de sterk toegenomen mogelijkheid van individuele variatie in levensstijlen.”1327 Aber es gebe auch klare Anforderung an den Einzelnen im Kontext des notwendigen gesellschaftlichen Miteinanders, wobei die Verfasser dafür plädieren, dass es gerade im Angesicht immer emanzipierterer Bürgerinnen und Bürger eines modernen Begriffs von Bürgerschaft bedürfe. „(…) Het creëren van een besef van een gezamelijke toekomst is darrbij essentieel”1328, so der anschließende Appell im PvdA-Grundsatzprogramm. Zusammenfassend kann man sagen, dass sich die Partij van de Arbeid durchaus intensiv mit der Individualisierung und ihren Begleiterscheinungen auf programmatischer Ebene beschäftigt hat. Auffallend ist dabei jedoch, dass bei diesem Thema, anders als noch bei anderen Fragestellungen, die Wahlprogramme der Partei wenig beizusteuern hatten. Es waren vielmehr die begleitenden Publikationen der Wiardi Beckman Stichting und die Papiere der unterschiedlichen Kommissionen und Arbeitsgruppen der Partei, die tiefergehende Beiträge zur programmatischen Debatte in Bezug auf die Individualisierung lieferten. Eine Erkenntnis ist darüber hinaus, dass die PvdA, obwohl intensiv auf der Suche, nur in Ansätzen ein kohärentes Konzept zur Bewältigung der Folgen des sozio-strukturellen Wandels zu bieten hat. Somit ist der mehrfach vorgetragenen Kritik zuzustimmen, dass die niederländische Sozialdemokratie zwar mittlerweile die neuen gesellschaftlichen Tatsachen realisiert habe, aber trotz weitgehender ideologischer Abspaltung von ihrer sozialistischen Vergangenheit kaum zukunftsweisende programmatische Lösungen auf die neuen Herausforderungen zu bieten habe.
4.3.4.
Neue Formen der Politik – der Wandel des politischen Diskurses
Im folgenden Kapitel geht es um die programmatische Aufarbeitung des Wandels der politischen Beteiligungs- und Kommunikationsformen durch die PvdA, wobei in Verbindung damit die Versuche der Partei betrachtet werden, den politischen Diskurs wieder entscheidend mitzuprägen. Den Ausgangspunkt bildet hierbei die grundsätzliche Revision von Programmatik, Strategie und 1327 ebenda. S. 9. 1328 ebenda. S. 10.
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Organisation, wie sie im Nachgang der verlorenen Wahl von 1986 in Form der bereits vielzitierten Kommissionsberichte erfolgte. Wie schon für die westeuropäische Sozialdemokratie grundsätzlich festgestellt, so war auch die Partij van de Arbeid Mitte der 1980er Jahre mit der Dominanz der wirtschaftsliberalen Ideologien konfrontiert. Die PvdA schien nicht in der Lage, den politischen Diskurs entscheidend zu prägen und in Zusammenhang damit eine Mehrheit der Wähler von ihrer Politik zu überzeugen, was sich auch in der sehr deutlichen Wahlniederlage von 1986 ausdrückte. Im ersten, sehr umfangreichen Kommissionsbericht aus dem Jahr 1987 befassen sich die Autoren dementsprechend im Kontext der Beschreibung der sich verändernden Umgebung und der hieraus entstandenen neuen Herausforderungen für die PvdA auch mit Fragen der grundsätzlichen politischen Orientierung. Sie halten fest, dass sozialdemokratische Parteien europaweit auf der Suche nach Antworten auf vergleichbare Herausforderungen, beziehungsweise auf der Suche nach einem politischen Profil seien, das sie in die Lage versetzen würde, den politischen Diskurs wieder nachhaltig mitzugestalten.1329 Besonders unter einem solchen Mangel an klarem Profil leide die Sozialdemokratie Ende der 1980er Jahre, so die Verfasser, denn die vielfältigen Veränderungen „(…) stellen het democratisch socialisme voor fundamentale vragen, waarop gemakkelijke en traditionele standaard-reacties geen voldoende antwoord zijn.“1330 Es gehe nun darum, die ‚Luken zu öffnen‘, so der Text sinnbildhaft, und eine fundamentale Überarbeitung der politischen Inhalte einzuleiten.1331 Ein konkreter Vorschlag für die zukünftige zentrale Aufgabe der Sozialdemokratie, und somit für eine Offensive mit Blick auf die politische Diskurshoheit, findet sich in ‚Bewogen beweging‘, einem der nachfolgenden Kommissionsberichte. „Na ee te eenzijdige oriëntatie op de markt, na een periode waarin teveel gezamelijke waarden op de tocht zijn komen staan moet de PvdA trachten economische dynamiek en sociale stabiliteit weer met elkaar te verbinden”1332, so das auf die traditionellen sozialdemokratischen Kernaufgaben anspielende Postulat im Text. Mit Blick auf die neuen Formen der Politik sprechen die Autoren davon, dass die ‚rote Familie‘ Geschichte sei, womit sie das Ende der organisatori-
1329 1330 1331 1332
330
Vgl. Partij van de Arbeid: Schuivende Panelen. Amsterdam 1987. S. 58-59. ebenda. S. 59. Vgl. ebenda. S. 57. Partij van de Arbeid: Bewogen Beweging. Amsterdam 1988. S. 98.
schen und inhaltlichen festen Verknüpfung der PvdA mit anderen, sozialdemokratisch gesinnten Organisationen meinen. Die Partei müsse angesichts einer weiter zunehmenden Zahl neuer sozialer Bewegungen diese verstärkt berücksichtigen und dürfe die partielle Verlagerung von politischen Entscheidungen in die Gesellschaft nicht ignorieren. An dieser Stelle halten die Verfasser fest, dass die PvdA die Anliegen dieser Gruppierungen im Vergleich mit ihren westeuropäischen Schwesterparteien zu einem relativ frühen Zeitpunkt anerkannt und berücksichtigt habe.1333 Diese neuen Formen der politischen Artikulation und Beteiligung würden es nötig machen, dass sich auch Parteien wie die PvdA verändern würden. „De nieuwe rolverdeling tussen de overheden, de verder te democratiseren organisaties en de burger maakt het noodzakelijk, de taak en functies van politieke partijn opnieuw te doordenken”1334, so die Feststellung im Text. Im selben Jahr befasste sich Paul Kalma in seiner Publikation ‘Het socialisme op sterk water’ ebenfalls mit Fragen des politischen Profils der PvdA und plädierte direkt in seinem ersten Kapitel dafür, dass die Partij van de Arbeid sich von ihrer althergebrachten sozialistischen Ideologie verabschieden solle. Entsprechend ihrem alten sozialistischen Gesellschaftsbild würde die Partei unter einem strukturellen Minderwertigkeitskomplex leiden, da sie stets zu viel Utopisches von einer Regierungsbeteiligung erwarten würde.1335 Damit würde sie ihre eigene Identität als Partei verkennen, die „(…) haar programma voor een groot deel gerealiseerd heft zien worden, en die bij radicale maatschappijveranderingen langzamerhand meer te verliezen dat te winnen heeft.”1336 In diesem Zusammenhang bietet der Autor einen Lösungsvorschlag an, wie die niederländische Sozialdemokratie den politischen Diskurs wieder nachhaltig mitbestimmen könnte. Die PvdA müsse sich zu diesem Zweck ihrer historischen Rolle besinnen, gemäß derer sie mitgeholfen habe, das liberale Zusammenleben zu organisieren, womit nicht zuletzt das Organisieren von Solidarität verbunden gewesen sei.1337 Die wichtigste und am nächsten liegende Aufgabe für die Sozialdemokratie sei zum jetzigen Zeitpunkt daran mitzuwirken, dass sich die Organisationsformen des gesellschaftlichen Miteinanders erneuerten. Sie müsse ihre eigenen sozialdemokratischen Gesellschaftskonzepte unter Berücksichtigung der veränderten Bedingungen zu überarbeiten, so das 1333 1334 1335 1336 1337
Vgl. ebenda. S. 36 und 46-47. ebenda. S. 51. Vgl. Kalma, Paul. Den Haag 1988. S. 25-26. ebenda. S. 27. Vgl. ebenda. S. 42.
331
Postulat Kalmas1338 „Dat is heel wat anders dan een modieuze anpassing aan de ‘liberale’ tijdgeest, of een vlucht in (neo)socialistische sentimente (‘economische structuurpolitiek’, ‘nieuwe sociale verbanden’)”1339, so das auf den vorherrschenden politischen Diskurs anspielende Fazit des Autors. Im nächsten Wahlprogramm von 1989 behandelt die PvdA diese Fragestellungen an keiner Stelle ausdrücklich, lediglich im Kapitel zur zukünftigen Struktur und Funktionsweise der Regierungsarbeit wird die veränderte Position gesellschaftlicher Organisationen in einem Absatz kurz angesprochen. Dort heißt es, dass unterschiedliche gesellschaftliche Organisationen nicht zuletzt in Folge der Individualisierung größeren Einfluss bei der Umsetzung politischer Maßnahmen hätten, wobei jedoch eine Grundvoraussetzung jeder Beteiligung und damit zusammenhängende staatlichen finanziellen Unterstützung der Organisationen sei, dass diese nachweisbar demokratisch aufgebaut seien.1340 Wesentlich ausführlicher und grundsätzlicher sind dagegen die Analysen und daraus abgeleiteten Vorschläge der van Kemenade-Kommission aus dem Jahr 1991. Dies verwundert nicht, konzentrierte sich doch die Arbeit dieser Kommission in erster Linie auf die nachhaltige Analyse der veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die PvdA und die hieraus abgeleitete, als notwendig erachtete organisatorische Umstrukturierung und strategischpolitische Neupositionierung der Partei. Die starke Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Umgebung habe dazu geführt, dass Parteien wie die PvdA ihre intermediäre Position als Vermittler zwischen den Bürgern und der Regierung, und somit ihre zentrale Position bei der politische Meinungsbildung und der Formulierung kollektiver Belange verloren hätten.1341 Ursächlich hierfür sei zuvorderst die in den 1970er Jahren erfolgte Entsäulung des politischen und gesellschaftlichen Systems der Niederlande, mit welcher der Abschied von der klassischen Stände- und Klassengesellschaft einhergegangen sei. In Folge dessen sei es zum Funktionsverlust der traditionellen Massenpartei gekommen. „De oude politieke ideologieën hadden voor en aanzienlijk deel aan herkenbaarheid verloren”1342, so die Schlussfolgerung der Autoren. Zusätzlich habe sich die soziale Struktur in einer Art und Weise geändert, dass die traditionell auf die Arbeiterklasse ausgerichte1338 Vgl. ebenda. S. 88. 1339 ebenda. 1340 Vgl. Partij van de Arbeid: Kiezen voor kwaliteit. Amsterdam 1989. S. 21. 1341 Vgl. Partij van de Arbeid: Een Partij om te kiezen. Amsterdam 1991. Teil I S. 1 und Teil II S. 7. 1342 ebenda. Teil I S. 3.
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te Sozialdemokratie vor einem doppelten Problem stehe. Auf der einen Seite müsse sie versuchen, die immer heterogener werdende und stärker fragmentierte Gesellschaftschicht der Arbeiter zu erreichen, ohne auf der anderen Seite die in großem Umfang gewachsenen Mittelschichten außer Acht zu lassen.1343 Hinzu komme noch ein genereller Funktionsverlust politischer Parteien in Hinblick auf das Entstehen neuer Formen der politischen Beteiligungsformen. Einst seien die Parteien das entscheidende Bindeglied zwischen Bürger und Politik gewesen, doch nun „(…) krijgen zij op dat terrein nu steeds meer concurrentie – van bijvoorbeeld overheídsinstanties, belangen- en actiegroepen en andere maatschappelijke instituties, zoals advieslichnamen.”1344 Derartige Organisationen seien immer stärker zu den bevorzugten Arenen der politischen Beteiligung geworden, da viele Bürger vor einem bindenden längerfristigen Engagement, wie es die Parteiarbeit klassischerweise darstelle, Abstand nehmen würden.1345 Dies alles stelle die traditionelle Form der Parteiorganisation in Frage, und beraube Parteien wie die PvdA ihrer Machtbasis berauben: „De sociaal-democratie, die altijd juist haar kracht in massaorganisatie heeft gezocht en gevonden, wordt dat betreft hardhandig met de ‘wet van de remmende voorsprong’ geconfronteerd.”1346 Gegen Ende kommt der Text noch einmal auf die erfolgte Entsäulung zu sprechen, wenn konstatiert wird, das im Zuge dieses Prozesses auch die vormals homogene ‚rote Familie‘ auseinandergebrochen sei. Hierdurch habe die PvdA ihre gesellschaftliche Einbettung verloren und sei dazu gezwungen, sich aktiv um eine neue Position im gesellschaftlichen Kräftefeld zu bemühen. Nachdem die von den Autoren perzipierten Herausforderungen für die PvdA in einem Überblick dargestellt worden sind, sollen im Folgenden die Lösungsvorschläge und Antworten der Kommission auf diese Probleme betrachtet werden. Das übergeordnete Ziel wird bereits in den ersten Sätzen des Vorwortes formuliert, wenn davon die Rede ist, dass politische Parteien in einer lebendigen Demokratie die Brücke zwischen den einzelnen Bürgern und der Regierung formen sollten. Wesentlich sei hierbei, dass die Bürger den Parteien diese Rolle bewusst zuweisen würden.1347 Dabei sei es von zentraler Bedeutung, dass sich die PvdA angesichts des Bedeutungsverlust der traditionellen Massenpartei zu einer sowohl nach innen als auch nach außen ‚kommunikativen‘ Partei
1343 1344 1345 1346 1347
Vgl. ebenda. ebenda. Teil I S. 4. Vgl. ebenda. ebenda. Vgl. ebenda. Voorwoord.
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wandele.1348 An dieser Stelle beginnt ein längerer Abschnitt zur typologischen und organisatorischen Erneuerung der PvdA, der unter anderem mit einer auf den politischen Diskurs abzielenden Aussage endet. Die Partij van de Arbeid solle ihre unterbrochene Programmdebatte wieder aufnehmen, um zu einer breiteren und weniger technokratischen Interpretation des eigenen Programms zu kommen. Dabei müssten die starke Fixierung der sozialdemokratischen Programmatik auf die enge Regierungswelt aufgegeben und wieder vermehrt Fragen und Probleme aus der Mitte der Gesellschaft in den Fokus gerückt werden.1349 „De PvdA, zo menen we, zal pas weer aan politieke invloed winnen, als ze erin slaagt om haar programma uit de sfeer van een in zichzelf gekeerde, beleidswereld te halen”1350, so das Postulat im Text. Die Entsäulung wird anschließend sowohl mit positiven als auch mit negativen Aspekten in Verbindung gebracht. Positiv sei zu vermerken, dass sich Parteien wie die PvdA von ihrer jeweiligen ‚Säule‘ emanzipieren konnten und somit theoretisch offener und flexibler wurden. Eine negative Konsequenz sei jedoch der Verlust der klaren gesellschaftlichen Verortung und Anbindung der Parteien gewesen. Unter den neuen Umständen müssten sich die Parteien als gesellschaftliche Organisationen neu manifestieren, wobei die Autoren sich an dieser Stelle gegen eine erneute Säulenbildung aussprechen und für eine progressive gesellschaftliche Öffnung der PvdA plädieren.1351 „Een politieke partij zal, opererend in het grensgebied van staat en maatschappij, die spanning moeten leren hanteren, in plaats van zich eenzijdig aan het openbaar bestuur vast te klampen”1352, so der abschließende Appell. In dieselbe Richtung argumentiert der Historikers Coos Huijsen in seiner mit ‚De PvdA en het von Münchhausen-syndroom‘ überschriebenen Publikation aus dem Jahr 1990, wenn er davon spricht, dass sich die PvdA nur durch einen in aller Offenheit geführten Prozess mit Hilfe von Außenstehenden erneuern könne.1353 Nachdem das Individuum emanzipiert sei, emanzipiere sich nun die Gemeinschaft von der Politik. Dementsprechend müssten sich die politischen Parteien von ihren tradierten Strukturen und Ideologien emanzipieren, so dass eine Partei wie die PvdA von einer traditionellen Grundsatzpartei zu einer progressi1348 1349 1350 1351 1352 1353
334
Vgl. ebenda. Teil I S. 4. Vgl. ebenda. Teil I S. 13-14. ebenda. Teil I S. 14. Vgl. ebenda. Teil I S. 14-15. ebenda. Teil I S. 15. Vgl. Huijsen, Coos: De PvdA en het von Münchhausen-syndroom – Pleidooi voor een progressief perspectief. Bloemendaal 1990. S. 132.
ven ‚Mentalitätspartei‘ werde, die mit ihrer Funktionsweise und Programmatik den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Rechnung trage.1354 Mit Paul Frissen findet sich ein weiterer Autor, der für eine sehr grundsätzliche Öffnung der PvdA im Rahmen der Debatte über zukünftige Wege und Formen der Politik. Auch Frissen geht davon aus, dass die Bürger sich emanzipiert hätten und damit ‚intelligenter‘ geworden seien, so dass eine auf einseitig definierter Ideologie fußende Politik keinen Anklang mehr finde. Es müsse für die politischen Parteien viel mehr darum gehen, die öffentliche Debatte zu organisieren und daran ideologiefrei und pragmatisch zu partizipieren. Der Politikwissenschaftler widerspricht in diesem Zusammenhang ausdrücklich dem Bericht der van Kemenade-Kommission, indem er die dort entwickelte Vorstellung zurückweist, eine erfolgreiche Erneuerung der PvdA könne mit Hilfe einer Neugestaltung beziehungsweise Anpassung der Strukturen, der Prozesse sowie der Organisation geleistet werden. Frissen fordert vielmehr, dass es einen grundlegenden Mentalitätswandel geben müsse, so dass es zu einer fundamentalen Änderung der politischen Haltung der PvdA käme. 1355 In einem anderen Beitrag zur Debatte befasste sich der Soziologe Paul Scheffer mit der Erneuerung der PvdA nach der Entsäulung, wobei er bemerkt, dass die Partei nun ihren angestammten ideologischen Hintergrund verlassen müsse:1356 „Niet de terugkeer naar de klassieke sociaal-democratie maar juist het afscheid van deze traditie staat nu dus op het programma.”1357 Zentrale Herausforderung sei dabei, die Spannung zwischen Tradition und Modernisierung zu halten. Scheffer zitiert an dieser Stelle Jürgen Habermas und spricht von einer ‚neuen Unübersichtlichkeit‘ in der post-industriellen Gesellschaft. Die niederländische PvdA sei, wie viele andere Schwesterparteien in West-Europa, mit der ‚Umwertung aller Werte‘ konfrontiert, denn die Sozialdemokraten hätten auf Grund der vielschichtigen Veränderungen ihre traditionelle Ideologie verloren, mit deren Hilfe sie früher den politischen Diskurs maßgeblich mitprägen konnten.1358 In ‚Wat mensen bindt‘, dem Programm für die Wahl 1994, sprechen die Autoren dann von der notwendigen Stärkung der demokratischen Bürgerschaft, und fordern eine fundamentale Demokratisierung. Zwar waren Fragen 1354 Vgl. ebenda. S. 134-135. 1355 Vgl. Frissen, Paul: Nieuwe vormen van overheidssturing. In: Nekkers, Jan (Red.). Amsterdam 1992. S. 44-45. 1356 Vgl. Scheffer, Paul: Contouren van een ontzuilde hervormingspartij. In: Schuyt, C.J.M./Stuurman, S./Pels, D./Scheffer, P./Kalma, P.. Amsterdam 1991. S. 92. 1357 ebenda. 1358 Vgl. ebenda. S. 90 und 93.
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von Demokratisierung und direkterer politischer Partizipation der Bürger schon früher angesprochen worden, doch im 1994er Wahlprogramm widmet sich die PvdA das erste Mal im Untersuchungszeitraum diesem Themenkomplex in ihrer offiziellen Programmatik mit Blick auf die gesellschaftlichen Veränderungen ausführlicher. So finden sich dort beispielsweise die Forderung nach einer größeren Beteiligung der Bürger am Prozess der demokratischen Meinungsbildung und Beschlussfassung, oder der Ruf nach einem Ausbau der Rechtsposition der in gesellschaftlichen Organisationen tätigen Bürger.1359 Am Ende der Ausführungen zum Thema schlagen die Verfasser die Implementierung einer Bürgerinitiative vor, die als ‚maatschappelijke enquete‘ bezeichnet wird. Hier sollen Bürger von staatlicher Seite beauftragt und befähigt werden, geplante Maßnahmen der Regierung sowohl in der Phase ihrer Vorbereitung als auch in der Phase ihrer Ausführung unter Zuhilfenahme von unabhängigen Expertisen zur Diskussion zu stellen und verschiedene Szenarien kritisch zu betrachten.1360 In den im Jahr darauf erschienen zwei Publikationen der Wiardi Beckman Stichting setzte sich das ‚wissenschaftliche Büro‘ der PvdA detailliert mit den gesellschaftlichen Veränderungen, den neuen Formen politischer Organisation und Kommunikation und den hieraus abzuleitenden Herausforderungen für die niederländische Sozialdemokratie auseinander. Der WBS-Vorsitzende Paul Kalma griff dabei die Forderung aus dem 1994er Wahlprogramm auf, eine Bürgerinitiative mit der Prüfung und öffentlichen Diskussion der Regierungspolitik zu betrauen. Derartige Initiativen würden eine wichtige Rolle im Konzept einer ‚aktiven Bürgerschaft‘ spielen, für das er sich nachdrücklich ausspreche. Noch seien Vorstellungen von aktiv partizipierenden und selbstständig politischen Einfluss suchenden Bürgern schwach entwickelt, aber auf Grund der hohen Bedeutung einer aktiven Bürgerschaft als ‚Produktionsfaktor‘ des modernen Zusammenlebens würde sich dies allmählich ändern, so die Einschätzung des Autors.1361 Wichtig sei in diesem Zusammenhang auch, dass es eine responsive öffentliche Verwaltung gebe und dass den Bürgern die Möglichkeit gegeben würde, „(…) om de overheid ‚terug te kunnen fluiten‘ (het correctief referendum)“1362, womit eine demokratische Kontrolle der Politik gemeint ist. Politisches Ziel müsse es sei, so Kalma weiter, die soziale Erneuerung aktiv mitzugestalten, die ihrerseits „(…) is erop gericht maatschappelijke organisaties en buurten medeverantwoordelijk te maken voor het beheer van de
1359 1360 1361 1362
336
Vgl. Partij van de Arbeid: Wat mensen bindt. Amsterdam 1994. S. 47-48. Vgl. ebenda. S. 49. Vgl. Kalma, Paul. Amsterdam 1995. S. 42-43. ebenda. S. 43.
leefomgeving, en de zelforganisatie van burgers en de maatschappelijke participatie te bevorderen.”1363 Im Zuge dessen sei es wichtig, den freiwilligen und ehrenamtlichen Tätigkeiten größtmögliche staatliche Förderung und Unterstützung zukommen zu lassen.1364 Mit Blick auf den politischen Diskurs und den Zuspruch unter den Wählern bemerkt Kalma, dass die PvdA sich angesichts der gestiegenen Bedeutung post-materialistischer Themen und der Veränderung der sozialen Strukturen politisch öffnen müsse und neben ihrer bisherigen traditionellmaterialistischen Programmatik auch eine post-materialistische, an ‚weichen‘ Themen und den gewandelten gesellschaftlichen Kommunikationsformen ausgerichtete Politik entwickeln müsse, wolle sie zukünftig politisch einflussreich und erfolgreich sein.1365 „‘De zachte krachten zullen overwinnen‘“1366, so ein Ausspruch der niederländischen Sozialistin Henriette Roland Holst, den Kalma in diesem Zusammenhang zitiert und der seine zugrunde liegende Einschätzung treffend unterstreicht. In der Veröffentlichung mit dem Titel ‚De verplaatsing van de politiek‘ beschäftigten sich mehrere Autoren ebenfalls mit den neuen Formen der Politik und den neuen gesellschaftpolitischen Implikationen für die PvdA.1367 Sie sprechen von einem Funktionsverlust der traditionellen Institutionen, der jedoch nicht als Gefahr für die Demokratie angesehen werden müsse, da die Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen und Artikulationsformen mit sich gebracht hätten, dass emanzipierte Bürger das demokratische Zusammenleben aktiv und oft selbstständig gestalten: „Politiek bewuste, mondige burgers weten, al dan niet met behulp va intermediaire organisaties, tegenwordig een optimaal gebruik te maken van de mogelijkheden die enn goed ontwikkelde rechstsstaat biedt om deel te nemen aan de maatschappelijke discussie en besluitvorming.”1368 Die Niederlande würden bei dieser Entwicklung, die auch andere europäische Staaten erfasst habe, eine Vorreiterrolle einnehmen, stellen die Verfasser heraus. Hierbei sei jedoch aus sozialdemokratischer Sicht wichtig, dass für ausreichende öffentliche Verantwortung und Kontrolle gemäß demokratischer Grundsätze gesorgt werde, denn viele der so geschaffenen neuen politischen Arenen seien ‚geschlossene Klubs‘, die sich einer demokratischen Rückkoppe1363 1364 1365 1366 1367 1368
ebenda. S. 45. Vgl. ebenda. Vgl. ebenda. S. 46. ebenda. Vgl. Becker, F./Kalma, P./Witteveen, W./Derksen, W./Bovens, M.. Amsterdam 1995. ebenda. S. 21.
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lung an die breite Öffentlichkeit entziehen würden.1369 Die PvdA müsse dementsprechend Antworten auf die Fragen finden, wie auf eine derartige Verlagerung politischer Entscheidungen in die Gesellschaft reagiert, und wie im Angesicht solch veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen die Demokratie noch stärker gemacht werden könne.1370 Die Autoren veranschaulichen die gesellschaftliche Entwicklung der niederländischen Gesellschaft in ihrer Schlussbetrachtung anschließend anhand eines Drei-Phasen-Modells. Die erste Phase sei die der parlamentarischen Demokratie, hieran schließe sich eine Phase der gesteigerten Beteiligung gesellschaftlicher Organisationen bei der demokratischen Machtausübung an, wobei besonders Institutionen von Kapitalbesitzer- und Arbeitnehmerseite betroffenen seien. Die dritte Phase sei schließlich durch die Emanzipation der Bürger und das Aufkommen von neuen Formen von gesellschaftlicher Verantwortung und Kontrolle gekennzeichnet. Die niederländische Demokratie befinde sich augenblicklich auf halbem Weg zwischen der zweiten und der dritten Phase, so dass neue Formen der politischen Teilhabe und der öffentlichen Debatte von einer Partei wie der PvdA sehr wohl berücksichtigt werden müssten.1371 Auch der 1996 erschienene Sammelband junger PvdA-Mitglieder und sozialdemokratischer Sympathisanten lieferte einen Beitrag zur Diskussion. Die Verfasser appellieren ähnlich wie Huijsen und Frissen vor ihnen für eine grundsätzliche Mentalitätserneuerung innerhalb der PvdA.1372 Nur durch eine fundamentale Umorientierung könnten die anstehenden Herausforderungen bewältigt und der politische Diskurs wieder sozialdemokratisch geprägt werden. Auf dem Weg dorthin müsse die PvdA ihre Gestalt als klassische Partei wandeln und zu einer breiter aufgestellten ‚Bewegung‘ werden, so das Fazit im Text.1373 Untersucht man das nächste Wahlprogramm der Partei aus dem Jahr 1998, so gibt es zwar ein am Ende des Textes befindliches Kapitel zur öffentlichen Verwaltung und zum Demokratiekonzept, doch in Gänze betrachtet umgehen die Autoren den Themenkomplex zumeist. In Anlehnung an das im vorherigen Kapitel zur Individualisierung Gesagte lässt sich festhalten, dass der argumentative Schwerpunkt auf einer neuartigen und partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Staat, Unternehmen, sozialen Bewegungen und Bürgern liegt.1374 In 1369 1370 1371 1372 1373 1374
338
Vgl. ebenda. S. 21. Vgl. ebenda. S. 25. Vgl. ebenda. S. 31 und 33. Vgl. Booij, Lennart/van Bruggen, Eric (Red.). Amsterdam 1996. S. 70. Vgl. ebenda. S. 91. Vgl. Partij van de Arbeid: Een wereld te winnen. Amsterdam 1998. S. 9.
dem mit Fragen der Demokratie befassten Kapitel heißt es anschließend, dass Demokratie in den Niederlanden und speziell für die PvdA mehr als nur die parlamentarische Demokratie bedeute. „(…) Wij (streven) naar een verdere ‚vermaatschappelijking‘ van onze democratie“1375, so das Postulat im Programm. Gesellschaftliche Organisationen müssten ebenso wie einzelne Bürger intensiver als bisher an der demokratischen Entscheidungsfindung beteiligt werden. Die Komplexität des Zusammenlebens habe derart zugenommen, dass eine neue Form der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen gesellschaftlichen Interessensvertretern, Bürgern und der Regierung gefunden werden müsse. Hierbei gelte es ein Primat der Politik zu wahren, das kein Diktat der Politik sein dürfe, sondern offene demokratische Prozesse fördere.1376 Der im selben Jahr veröffentlichte Text der Grundsatzprogrammkommission war ein neuer Aufschlag für das zu schreibende Grundsatzprogramm, aber auch für die Prägung des politischen Diskurses. Auch wenn das öffentliche Bild der PvdA mehrheitlich durch die praktische Politik der Regierung Kok bestimmt wurde, bestand doch Bedarf für die niederländische Sozialdemokratie, angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen über den Tag hinaus gültige und wahrgenommene programmatische Lösungsvorschläge zu finden. Im Rahmen der sozialdemokratischen Grundwerte Freiheit, Gleichheit und Solidarität diskutierten die Verfasser auch die neuen Formen der politischen Artikulation und gesellschaftlichen Organisation. Hierbei sei eine der größten Herausforderungen, für die Garantierung zukünftiger gesamtgesellschaftlicher Solidarität zu sorgen. Die Autoren plädieren in diesem Zusammenhang dafür, das bürgerschaftliche Bewusstsein zu stärken, und somit den Ausbau der ‚civil society‘ zu unterstützen.1377 Es sei für die Position der PvdA im politischen Diskurs, für ihre politische Relevanz und Durchsetzungskraft wichtig, derartige programmatische Grundsätze für das gesellschaftliche Miteinander zu entwickeln und zu publizieren.“Die beginselen komen tot uitdrukking in (en worden op hun beurt gevoed door) bepaalde opvattingen over de organisatie van de samenleving. De sociaal-democratie verdedigt niet alleen een moreel, maar ook een institutionel project”1378, so der Text konkret. In diesem Sinne befürworten die Verfasser den Ausbau der Zivilgesellschaft, und konstatieren, dass Sozialdemokraten freiwillige Formen der gesellschaftlichen Zusammenarbeit als maßgebliche Träger solch
1375 1376 1377 1378
ebenda. S. 68. Vgl. ebenda. Vgl. PvdA: De rode draden van de sociaal-democratie. Den Haag 1998. S. 21. ebenda. S. 23.
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einer Zivilgesellschaft und Garanten für Solidarität und soziale Kohäsion sehr positiv bewerten.1379 In dem im Jahr 2000 publizierten neuen Zwischenbericht der Grundsatzkommission findet sich dann ein Beitrag, in dem mit Maarten Hajer, Paul Kalma und Willem Witteveen drei prominente sozialdemokratische Kommentatoren die Vorstellungen aus ‚De rode draden vaan de sociaal-democratie‘ aufgreifen, und eigene Ideen zum politischen Grundsatz der Demokratie formulieren. In Bezug auf neue Formen der Politik stellen sie eine Verlagerung von politischen Entscheidungen weg von den traditionellen politischen Institutionen hin zu anderen Arenen fest, mit der Folge, dass die dort getroffenen Entscheidungen mit zum Teil gesamtgesellschaftlicher Relevanz nicht mehr zwingend einem demokratischen Prozess unterliegen würden. Es müsse nun für die Sozialdemokratie darum gehen, diesen neuen Entscheidungsprozessen eine demokratische und überprüfbare Form zu geben, beziehungsweise gesamtgesellschaftlich Relevantes in die Sphäre der Demokratie zurückzuholen. Es gebe sich demokratischer Kontrolle entziehende Machtausuferungen, denen Einhalt zu gebieten die entscheidende Aufgabe der Sozialdemokratie sein müsse.1380 Diese Aussagen können auch mit Blick auf eine gewünschte nachhaltige Prägung des politischen Diskurses durch die Sozialdemokratie verstanden werden, und dies umso mehr, da dieser Appell im Zuge der Diskussion um das neue Grundsatzprogram der PvdA erklingt. Das 2002er Wahlprogramm fokussiert anschließend ganz auf die neue ‚Bürgergesellschaft‘, ohne dass jedoch das Wort Zivilgesellschaft genannt würde. Im Zentrum jedes Regierungshandelns müsse der Bürger stehen, wobei Transparenz oberstes Gebot sei. Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen Regierenden und Regierten solle grundsätzlich offener und demokratischer gestaltet werden.1381 Eine nähere Auseinandersetzung mit den gewandelten gesellschaftlichen Strukturen findet zuvorderst auf der Ebene des Individuums statt, so dass die neue Artikulations- und Organisationsformen der Politik nicht detaillierter betrachtet werden. Das wenige Monate später aufgestellte Manifest für die Wahl Anfang des Jahres 2003 beinhaltet ebenfalls nicht Wesentliches
1379 Vgl. ebenda. S. 32. 1380 Vgl. Hajer, Maarten/Kalma, Paul/Witteveen: De dynamik van macht en tegenmacht – Democratisering als beginsel. In: Partij van de Arbeid: De beginselen van de PvdA. Amsterdam 2000. S. 54-55. 1381 Vgl. Vgl. Partij van de Arbeid: Samen voor de toekomst. Amsterdam 2002. S. 15-16, sowie 71-72.
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zum Thema, dort werden im Rahmen der Konzipierung einer bürgernahen Regierung lediglich einige konkrete Maßnahmen und Instrumente hinzugefügt.1382 In ‚De kaasstolp aan diggelen‘ aus dem Jahr 2002 kritisieren die Mitglieder der mit der sozialdemokratischen Selbstanalyse befassten Arbeitsgruppe in der Zeit zwischen den beiden soeben erwähnten Wahltexten die große Selbstbezogenheit der PvdA, beziehungsweise die starke Fixierung auf parteiinterne Befindlichkeiten.1383 An dieser Stelle kann eine Verbindung hergestellt werden zu anderen Aussagen des Papiers, die sich auf die große politische Linie der PvdA in den vergangenen 10 Jahren beziehen. Dort sprechen die Verfasser davon, dass die niederländische Sozialdemokratie Mitte der 1990er Jahre und im besonderen während der ersten Regierungszeit der ‚lila Koalition‘ unter Wim Kok eine ideologische Vorreiterrolle bei der Umsetzung der Konzepte des Dritten Wegs inne gehabt hätte. Die Erfolge der Regierung Kok hätten jedoch in Kombination mit der nachhaltigen Fixierung auf parteiinterne und regierungstechnische Angelegenheiten dazu geführt, dass die echte, zukunftsweisende Programmarbeit stagniert habe mit der Folge, dass die PvdA nun in verschiedenen, in den vorangegangenen Kapiteln schon dargestellten, Dilemmata gefangen sei und somit angesichts der vielfältigen gesellschaftlichen Veränderungen nicht (mehr) die politische Diskurshoheit für sich beanspruchen könne.1384 Später im Dokument, wenn es zur Nennung der ‚brennenden Fragen‘ für die Sozialdemokratie kommt, findet sich eine Analyse der PvdA-Positionen in Bezug auf die gewandelten Organisations- und Artikulationsformen im politischen Betrieb. Obwohl die Partei schon seit geraumer Zeit die Erneuerung der Demokratie auf der programmatischen Agenda habe, gebe es nach wie zwei extrem gegensätzliche Positionen innerhalb der PvdA, die eine klare programmatische Aussage zum Thema den Weg verhindern würden. Auf der einen Seite befänden sich die Verteidiger des so genannten ‚Primats der Politik‘, die dafür plädierten, dass die Politik mit ihren traditionellen Institutionen der maßgebliche Ort für gesamtgesellschaftsrelevante Beschlussfassungen sei und auch bleiben müsse. Ihnen gegenüber befänden sich diejenigen Sozialdemokraten, welche davon ausgingen, dass die Politik diese zentrale Position nicht mehr alleine ausfüllen, beziehungsweise die anfallenden Aufgaben nicht länger allein erledi-
1382 Vgl. Partij van de Arbeid: Voor verantwoordelijkheid, respect en solidariteit. Amsterdam 2002. S. 10-11. 1383 Vgl. PvdA, Werkgroep Politiek Inhoudelijke Koers: De kaasstolp aan diggelen. Amsterdam 2002. S. 20. 1384 Vgl. ebenda. S. 24-25.
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gen könne und dürfe.1385 „Zij leggen meer nadruk op vormen van medezeggenschap, controle en verantwoording buiten de politieke besluitvormingskanalen: in ondernemingen, instellingen in de publieke sector, in buurten en wijken”1386, so die Einschätzung im Text. Ausgehend von der Unvereinbarkeit dieser beiden Entwürfe attestieren die Autoren der PvdA somit eine nicht hinreichend klar definierte Haltung in Bezug auf die neuen Formen politischer Beteiligung, was wiederum eine wirkungsvolle Einflussnahme auf den politischen Diskurs schwieriger gestaltet. Bei der Betrachtung der grundsatzprogrammatischen Aussagen zum Thema kann der an anderer Stelle bereits zitierte Programmentwurf übersprungen werden, da er mit dem endgültigen Grundsatzprogramm im Wortlaut identisch ist. Vorweg kann gesagt werden, dass sich das Grundsatzprogramm nur recht allgemein mit den Herausforderungen durch die neuen Formen der Politik beschäftigt. Ganz am Ende findet sich ein Kapitel, das mit ‚Democratie en rechtsstaat‘ überschrieben ist und das sowohl Anmerkungen zur Repräsentativität als auch zur ‚Vielseitigkeit‘ der Demokratie enthält. Die Autoren konstatieren dort, dass sich die Ausübung politischer Macht immer häufiger der Kontrolle durch die Organe der repräsentativen Demokratie entziehe. In vielen Fällen würden Entscheidungen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz in geschlossenen Kreisen von Interessensgruppen, Unternehmen und Nicht-Regierungsorganisationen getroffen, ohne dass diese Entscheidungen öffentlich verantwortet würden. Es sei jedoch Aufgabe der demokratisch gewählten Volksvertreter, für eine ausreichende Transparenz und demokratische Kontrolle bei derartigen Entscheidungsfindungen zu sorgen, und somit dem Prozess der Abwanderung politischer Entscheidungen in die Gesellschaft entgegenzuwirken.1387 Im nächsten Unterkapitel halten die Verfasser auf der anderen Seite aber fest, dass die Demokratie neue Formen angenommen habe, die auch als positiv zu bewerten seien. „Steeds vaker zijn burgers in staat om zich zelfstandig te organiseren, te manifesteren en langs nieuwe wegen te bouwen aan de maatschappij”1388, so eine derartige Veränderungen begrüßende Formulierung im Programm. Es sei Aufgabe der Politik, neue Formen der Bürgerbeteiligung selbst zu initiieren, diese demokratische Beteiligung zu fördern und den Bürgern
1385 1386 1387 1388
342
Vgl. ebenda. S. 37-38. ebenda. S. 38. Vgl. Partij van de Arbeid: Beginselmanifest Partij van de Arbeid. Delft 2005. S. 10. ebenda.
an den Stellen, wo sie selbst direkt betroffen seien, mehr Mitspracherecht zu geben.1389 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es im Untersuchungszeitraum innerhalb der niederländischen Sozialdemokratie zwar eine breite Debatte über die neuen Beteiligungs- und Artikulationsformen in der Politik gegeben hat, doch dass diese sich nur geringfügig in den offiziellen Programmtexten der PvdA niedergeschlagen hat. Die Wahlprogramme widmen sich in der Thematik nur am Rande, im Zentrum des Interesses stehen eher am Individuum ausgerichtete Fragen grundsätzlicher gesellschaftlicher Veränderungsprozesse, auf die gemäß dem Format eines Wahlprogramms punktuelle pragmatische Antworten gegeben werden. Eine abstraktere, grundsätzliche Diskussion der neuen Herausforderungen durch das Abwandern politischer Entscheidungen in die Gesellschaft sowie eine Auseinandersetzung mit der damit in Zusammenhang stehenden Frage nach der Prägung des politischen Diskurses durch die PvdA findet zumeist auf der Ebene der wissenschaftlich-kommentierenden Betrachtung der Sozialdemokratie statt. Eine Ausnahme bildet hierbei lediglich der explizit auf das zukünftige Grundsatzprogramm abzielende Bericht der Grundsatzprogrammkommission aus dem Jahr 1998. Auch das 2005 verabschiedete Grundsatzprogramm greift die vielschichtigen Ergebnisse der vorangegangenen Debatten nur ansatzweise auf und entspricht somit kaum den in der Diskussion immer wieder laut gewordenen Forderungen nach einer deutlicheren sozialdemokratischen Positionierung zum Thema.
1389 Vgl. ebenda.
343
D.
Der Wandel der sozialdemokratischen Modelle in der vergleichenden Perspektive – gleiche Probleme, ähnliche Analysen, dieselben Lösungsansätze?
1.) Die unterschiedlichen systemischen Voraussetzungen Die unterschiedlichen systemischen Rahmenbedingungen haben, wie in den entsprechenden Kapiteln zu den drei sozialdemokratischen Parteien bereits im Detail gezeigt wurde, nachhaltigen Einfluss auf die Formulierung der jeweiligen Parteiprogrammatik. Im Folgenden werden die in den genannten Kapiteln gemachten Feststellungen bezüglich der Wahl- beziehungsweise Parteiensysteme nebeneinander gelegen, und die jeweiligen Auswirkungen auf die Programmarbeit der Parteien miteinander verglichen. Angefangen beim Wahlsystem reicht die Spannweite bei den untersuchten Parteien von der relativen Mehrheitswahl im Fall der britischen Labour Party über die personalisierte Verhältniswahl im Fall der SPD bis hin zur extremen Verhältniswahl im Fall der PvdA. Hinzu kommt, dass in den Niederlanden trotz der Extremität des dortigen Verhältniswahlrechts keine Sperrklausel für den Einzug ins Parlament vorgesehen ist, wohingegen es im Rahmen des gemäßigten deutschen Verhältniswahlrechts eine 5 Prozent-Sperrklausel gibt. Diese wahlsystemischen Bedingungen haben nachhaltige Auswirkungen auf die jeweiligen Parteiensysteme, beziehungsweise bestimmen deren Charakter maßgeblich mit. In Großbritannien entwickelte sich ein Parteiensystem, das recht zutreffend als ‚two-party-plus system‘ bezeichnet wird, da zwar mehrere Parteien in das Parlament einziehen können, dort dann aber faktisch nur eine der beiden größten Parteien zur alleinigen Regierungsbildung in der Lage ist.1390 Das deutsche Parteiensystem hingegen ist durch einen gemäßigten Pluralismus gekennzeichnet, da seit 1990 fünf Parteien im Parlament vertreten sind, eine Regierungsbildung theoretisch in unterschiedlichen Kombinationen mög1390 Vgl. Heffernan, Richard. In: Dunleavy, Patrick u.a. (Hrsg.). London 2003. S. 121.
345 M. Sachs, Sozialdemokratie im Wandel, DOI 10.1007/978-3-531-92785-5_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
lich ist und es bisher so gut wie immer eine Bildung einer Regierungskoalition zwischen zwei dieser Parteien gegeben hat.1391 In den Niederlanden hat das dortige Wahlsystem zur Folge, dass es ein ausgeprägtes Vielparteiensystem mit zeitweilig bis zu neun im Parlament vertretenen Parteien gibt.1392 Dementsprechend gibt es spätestens seit der ‚Entsäulung‘ in den späten 1960er Jahren vielfältige Optionen für Regierungskoalitionen, die auch genutzt werden müssen, da eine stabile Regierungsbildung nur mit Hilfe von Koalitionsbildung möglich ist. Vergleicht man nun diese unterschiedlichen systemischen Rahmenbedingungen für die hier untersuchten drei Parteien, so kann festgehalten werden, dass PvdA, Labour Party und SPD sich in jeweils ganz unterschiedlichem Maße mit der parteipolitischen Konkurrenz befassen müssen. Ist die Partij van de Arbeid für eine Regierungsbildung noch sehr stark auf möglicherweise wechselnde Koalitionspartner angewiesen, so kann die SPD ihren Fokus bei der politischen Partnersuche schon wesentlicher enger fassen, obwohl auch sie zumindest eine andere Partei für die Bildung einer Regierung benötigt. Diametral verschieden stellt sich die Situation für die britische Sozialdemokratie dar, da die Labour Party bei einer eventuellen Regierungsbildung auf keinen Koalitionspartner angewiesen ist, sondern die nötige Stimmenmehrheit selbst zustande bringen kann. Eine im Kontext dieser Arbeit beachtenswerte und nachhaltige Folgeerscheinung hiervon ist, dass die drei sozialdemokratischen Parteien in unterschiedlichem Maße die Inhalte und Strategien der politischen Konkurrenz beobachten beziehungsweise bei der Formulierung ihrer eigenen Programmatik berücksichtigen müssen. So kann sich die Labour Party in ihrer Programmatik klar und in scharfer Form von ihrem politischen Hauptgegner, der konservativen Partei, abgrenzen, wohingegen die deutschen Sozialdemokraten in mittlerweile zunehmenden Maße darauf angewiesen sind, dass ihre Programmatik nicht allzu unvereinbar mit der ihrer politischen Mitbewerber erscheint, da sie auf die Bildung von Koalitionen angewiesen sind. Im Fall der PvdA bedingt die große Zahl von Koalitionsmöglichkeiten, dass der Programmatik und politischen Linie der Konkurrenz noch mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden muss, was jedoch keine zu große Aufweichung eigener Positionen bedeuten darf. Fakt ist, dass besonders im Zuge der an anderer Stelle ausführlicher behandelten Entsäulung der niederländischen Gesellschaft die Notwendigkeit für die dortige 1391 Kimmel, Adolf. In: Haseler, Stephen/Meyer, Henning (Ed.). London 2004. S. 57. 1392 Vgl. Lucardie, Paul. In: Niedermayer, Oscar/Stöss, Richard/Haas, Melanie (Hrsg.). Wiesbaden 2006. S. 341.
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Sozialdemokratie zugenommen hat, sich verstärkt anderen politischen Ideen und Programmatiken zu öffnen, um die eigene parteipolitische Relevanz nicht zu schmälern.
2.) Die wahrgenommen Herausforderungen – Gemeinsamkeiten und Unterschiede Im folgenden Kapitel wird nun der programmatische Umgang der drei sozialdemokratischen Parteien mit den festgestellten und analysierten Herausforderungen vergleichend betrachtet. In diesem Zusammenhang müssen zwei entscheidende Fragen geklärt werden. Welche konkreten Herausforderungen haben die Parteien jeweils im Einzelnen wahrgenommen, und wo wurden anschließend die inhaltlichen Schwerpunkte bei deren programmatischer Aufarbeitung gesetzt? Die in den jeweiligen thematischen Kapiteln bei der Untersuchung der einzelnen Parteien noch eingehaltene chronologische Vorgehensweise wird an dieser Stelle aufgegeben, um in der Zusammenfassung die programmatische Schwerpunktsetzung pointiert anschaulich zu machen. Die schon bekannte Einteilung nach thematischen Gebieten bleibt jedoch zum Zweck der übersichtlicheren Einordnung der Ergebnisse erhalten. Globalisierung der Wirtschaft In Bezug auf diesen Themenkomplex stellen alle drei Parteien grundsätzlich fest, dass man der für die Sozialdemokratie so wichtigen keynesianischen Steuerungsfähigkeit verlustig gegangen sei, dass die wirtschaftliche Globalisierung mit ihrer weltweiten Verflechtung der Märkte eine große Herausforderung darstelle, und dass im Zuge dessen der Nationalstaat deutlich an Handlungsspielraum eingebüßt habe. Diese Einschätzungen finden sich schon Ende der 1980er Jahre in den Programmdokumenten aller Parteien, doch die hieraus gezogenen Schlussfolgerungen beziehungsweise die jeweilige Beurteilungen der weiteren Entwicklung und des Handlungsbedarfs offenbaren deutliche Unterschiede. Die konstatierte Schwächung des Staates stand beispielsweise, obwohl auch von PvdA und Labour beklagt, für die deutschen Sozialdemokraten besonders im Vordergrund. Im Rahmen der SPD-Programmdebatte wurde intensiv über die Rolle des Staates angesichts der Herausforderungen durch international vernetzte Märkte gesprochen, und es wurde über verschiedene Möglichkeiten staatlicher Einflussnahme wie zum Beispiel in Form direkter Wirtschaftslenkung
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diskutiert. Über allem stand hierbei der bereits im Irseer Entwurf formulierte Satz ‚Soviel Wettbewerb wie möglich, soviel Planung wie nötig‘, wobei später ‚Planung‘ durch ‚Regulierung‘ ersetzt wurde. In Zusammenhang damit wurde auch der Verlust der Machtbalance zwischen Ökonomie und Politik beklagt, woraufhin verschiedene Stimmen die Europäische Gemeinschaft beziehungsweise die Europäische Union als mögliches neues Instrument ins Spiel brachten, mit dessen Hilfe wieder ein gewisses Maß an staatlicher demokratischer Kontrolle zurückgewonnen werden könne. Es bedürfe eines neuen ordnungspolitischen Rahmens auf internationaler Ebene, um die Einhaltung demokratischer Standards zu kontrollieren und allgemeingültige Regeln für den wirtschaftlichen Wettbewerb aufzustellen, so der Tenor. In den Programmtexten der deutschen Sozialdemokratie zur wirtschaftlichen Globalisierung standen somit vor allem die Sozialbindung der Marktwirtschaft, die demokratische Kontrolle des Wirtschaftens, und die grundsätzliche Beschäftigung mit den zukünftigen staatlichen Handlungsmöglichkeiten im Mittelpunkt der Debatte. Für die PvdA war der Ausgangspunkt im Grundsatz derselbe, auch hier konstatierte man eine Schwächung des Nationalstaates im Zuge des Wegfalls keynesianischer Steuerungsmöglichkeiten. Und doch wurden in der niederländisch-sozialdemokratischen Programmdebatte zum Thema andere Akzente gesetzt. Angesichts der Herausforderungen durch die Globalisierung betonten die Teilnehmer der Debatte mehrheitlich, dass sich die PvdA in Abgrenzung zum Wirtschaftsliberalismus wieder auf den traditionellen sozialdemokratischen Wert der Solidarität besinnen sollte. Es gelte ein Gegenkonzept zur Ideologie liberalisierter Märkte zu entwerfen und der Entmachtung des Staates entgegenzutreten. Es sei Aufgabe der PvdA , einen sich an sozialen Werten orientierenden ‚Nachfolger‘ für den obsolet gewordenen Keynesianischen Wohlfahrtstaat zu finden. Zu diesem Zweck wurde für die Schaffung einer Mischform aus Markt und Staat plädiert, wobei die Gewichtung zwischen liberalisierten Märkten auf der einen und klassischer staatlicher Ordnungspolitik auf der anderen Seite unklar blieb. In der untersuchten Programmatik der PvdA findet sich demnach keine klar definierte Linie in Bezug auf die perzipierten wirtschaftspolitischen Herausforderungen, es wird lediglich immer wieder die Forderung nach einem auf sozialdemokratischen Werten beruhenden Gegenentwurf zum Wirtschaftliberalismus verlautbart. Die wirtschaftspolitische Programmatik der niederländischen Sozialdemokratie bleibt schlussendlich vage gegen eine ungebremste und unkontrollierbare Globalisierung gerichtet, wobei es versäumt wird, über allgemeine Appelle für eine Wiederbelebung sozialdemokratischer
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Werte und die Forderung nach einer gemischten ökonomischen Ordnung hinaus kohärente Antworten zu geben. Wiederum anders stellen sich die programmatischen Aussagen der Labour Party dar. Hier wurde schon im Rahmen der Policy Review Ende der 1980er Jahre ein komplett neues wirtschaftspolitisches Konzept gefordert, welches sich erkennbar von der liberalen Politik Margaret Thatchers abgrenze. In Folge dessen wurde die Idee des ‚supply-side-socialism‘ entwickelt, gemäß derer der freie Markt dort, wo es möglich und sinnvoll sei, Vorrang haben und Unterstützung erfahren solle, um ansonsten von staatlicher Seite ergänzend einzugreifen. Dementsprechend wurde eine pragmatische Neubewertung des Verhältnisses zwischen Markt und Staat postuliert, was unter anderem in der Forderung nach Partnerschaften zwischen öffentlicher und privater Hand seinen Ausdruck fand. Das übergeordnete Ziel sei dabei die Entwicklung einer ökonomischen Langzeitstrategie, mit Hilfe derer die internationale britische Wettbewerbsfähigkeit wieder gestärkt werde könne. Spätestens nachdem unter Tony Blair die Clause IV der Party Constitution geändert und New Labour implementiert worden war, setzte sich in der Mehrzahl der Programmtexte der britischen Sozialdemokraten eine positive Bewertung der Herausforderungen im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung durch. Der zunehmende globale Wettbewerb böte mehr Chancen als Risiken, und durch eine zielgerichtete Befähigung des Einzelnen, eine hinreichende Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und die Schaffung einer partnerschaftlich organisierten ‚mixed economy‘ könne Großbritannien von der Globalisierung profitieren. Obwohl es durchaus kritische Gegenstimmen gab, wurde die wirtschaftspolitische Programmatik Labours seit Mitte der 1990er Jahre von einem grundsätzlich positiven Marktdenken geprägt, welches auch die teilweise Übernahme liberaler Position beinhaltete. Technischer Fortschritt und Fragen der Umweltpolitik An die oben gemachten Anmerkungen zur Labour Party kann an dieser Stelle direkt angeknüpft werden, da die Partei auch in Bezug auf das hier relevante Themengebiet eine praxis- und chancenorientierte Herangehensweise in ihrer Programmdebatte pflegte. Der technische Fortschritt wird in den meisten Programmtexten als begrüßenswert beschrieben, es findet sich so gut wie keine skeptische oder ablehnende Haltung gegenüber Technisierung und Informatisierung. In der Debatte wird lediglich konstatiert, dass man hierdurch mit einen Wandel in der Arbeitswelt konfrontiert sei, und dass es angesichts der fortschreitenden technischen Entwicklung eine ‚science and technolgy gap‘
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gebe, die geschlossen werden müsse. Die Programmtexte plädieren allesamt für eine Bildungsoffensive mit dem Ziel, eine neue ‚skills-culture‘ zu implementieren und massiv in Bildung und Ausbildung zu investieren. Es gehe darum in der ‚talent based economy‘ das Konzept vom lebenslangen Lernen umzusetzen, um somit den Anforderungen der Informations- und Dienstleistungsgesellschaft gerecht zu werden und im globalen Wettbewerb Vorteile zu sichern. In Bezug auf umweltpolitische Fragestellungen wird eine Verbindung derselben mit anderen Politikfeldern sowie eine umweltpolitische Nachhaltigkeit in der ‚green economy‘ angemahnt. Auch wenn einige Texte die Notwendigkeit der Verbindung von Ökonomie und Ökologie erwähnen, so bleiben umweltpolitische Belange angesichts der positiv bewerteten Herausforderungen auf Grund des technischen Fortschritts und des damit zusammenhängenden Ausbaus von Bildung und Qualifizierung ein relativ nebensächlicher Aspekt in der britischsozialdemokratischen Programmdebatte. Der inhaltliche Schwerpunkt innerhalb der Programmdebatte der SPD lag ebenfalls bei der Betrachtung des technischen Fortschritts und seinen Folgen, auch wenn hier zumindest in den 1980er Jahren Fragen der Umweltpolitik eine etwas größere Bedeutung beigemessen wurde. Die deutschen Sozialdemokraten fokussierten in ihren programmatischen Äußerungen vor allem auf die Folgen des technischen Fortschritts für die Arbeitswelten. Der Wandel der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft wurde dabei intensiv diskutiert, um im Zuge dessen auch die sinnvolle Verbindung von Ökonomie und Ökologie zu fordern. Seit dem Ende der 1990er Jahre betonten die Programmtexte verstärkt die Chancen, die sich auf Grund der Technisierung und Informatisierung ergäben, und postulierten ähnlich wie die britischen Sozialdemokraten den Auf- und Ausbau der Wissensgesellschaft. Nachhaltigkeit wurde zum bedeutsamen Stichwort, sowohl in ökologischer als auch in wissenstechnischer Hinsicht. Die Programmdebatte zum Thema wurde seit der Regierungsübernahme Gerhard Schröders 1998 jedoch maßgeblich von dem immer positiver bewerteten Wandel der Arbeitsgesellschaft und der Forderung nach einem Ausbau von Qualifikation und Bildung bestimmt. Betrachtet man die programmatischen Aussagen der PvdA zum Thema im Überblick, so fällt besonders die frühzeitig formulierte und dann immer wiederholte Forderung nach der Verbindung von ökologischen Themen mit anderen Politikfeldern auf. Umweltfragen nehmen in der PvdA-Programmdebatte über den gesamten Untersuchungszeitraum einen herausgehobenen Platz ein. Fragen des technischen Fortschritts werden meist zusammen mit umweltpolitischen
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Gesichtspunkten behandelt und somit eher als Unterthema der dominierenden Umweltpolitik wahrgenommen. Kern der Debatte bildet auch hier die Überlegung, dass die Widersprüche zwischen Ökologie und Ökonomie überwunden beziehungsweise als nicht existent postuliert werden müssten. Nachhaltigkeit wird dabei in einer Vielzahl von programmatischen Dokumenten als wichtiger Grundsatz hervorgehoben. Zum Schluss kann gesagt werden, dass die PvdA über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg an der Vereinbarkeit von ‚roten‘ und ‚grünen‘ Themen gearbeitet hat, wobei die Gewichtung umwelt- und technologiepolitischer Belange im Kontext der niederländisch-sozialdemokratischen Programmatik nicht deutlich zu erkennen ist. Individualisierung und gewandelte Sozialstrukturen Mit der Individualisierung und dem sozio-strukturellen Wandel hat sich im Vergleich der drei Parteien die niederländische PvdA am intensivsten befasst. Die Texte sprechen von einer Abnahme gesellschaftlicher Bindungen, von der Emanzipation von Teilbelangen und von vielfältigen Veränderungen im gesellschaftlichen Miteinander. Die verschiedenen Autoren sind sich einig: es sei Aufgabe der Sozialdemokratie in diesem Zusammenhang, für einen weiterhin tragfähigen gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sorgen. Da die meisten Bürger sich politisch emanzipiert und somit an persönlicher Wahlfreiheit hinzugewonnen hätten, sei die gesamte Wohlstandsgesellschaft in Veränderung begriffen. Offen bleiben hierbei aber die Fragen, wie die PvdA zukünftig die derart individualisierten Wähler erreichen will, und wen die Partei in der gewandelten Gesellschaft überhaupt noch repräsentiert. Die Verfasser des neuen Grundsatzprogramms konstatieren schließlich in einer Bestandsaufnahme, dass die Emanzipation der Bürger und die heterogener gewordenen Verhältnisse die Organisation von gesamtgesellschaftlicher Solidarität immens erschweren würden. Festzuhalten bleibt, dass die programmatischen Analysen zwar ausführlich und fundiert sind, aber trotzdem kaum zukunftsweisende Lösungsvorschläge angesichts der perzipierten Herausforderungen geboten werden. Innerhalb der SPD wurden die Prozesse des sozio-strukturellen Wandels mit einer leicht anderen Konnotation versehen, obwohl auch hier die Organisation des solidarischen Zusammenhalts als besondere Herausforderung interpretiert wird. Die deutschen Sozialdemokraten verknüpfen den Wandel der Sozialstruktur in erster Linie mit dem Strukturwandel in der Arbeitswelt und bemerken, dass steigende Arbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzung der Gesellschaft all-
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mählich ihre Solidaritätsgrundlage entziehen. Auch wenn im Zuge des Schröder-Blair-Papiers Ende der 1990er Jahre der individuelle Wettbewerb an Stelle klassischer sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaatsprogrammatik propagiert wird, so bleibt doch die Gefährdung des sozialen Zusammenhalts das drängendste Problem im Rahmen der programmatischen Beschäftigung mit dem Thema. Es müsse darum gehen, die Sozialpolitik zu modernisieren und an die neuen gesellschaftlichen Realitäten anzupassen. Das in der Debatte entwickelte Konzept des vorsorgenden Sozialstaats kann jedoch die Widersprüche zwischen klassischen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit auf der einen Seite und modernisierten und flexibilisierten Arbeitswirklichkeiten im Zuge des soziostrukturellen Wandels auf der anderen Seite nicht aufheben. Demnach hat die deutsche Sozialdemokratie trotz ernstzunehmender Beschäftigung mit den Herausforderungen programmatisch kaum Nachhaltiges zu bieten. Die Labour Party behandelt das Thema aus einer gänzlich anderen Perspektive, und bezieht in erster Linie gegen den Individualismus der zurückliegenden Thatcher-Jahre Position. Zwar wird auch innerhalb der britischen Sozialdemokratie festgehalten, dass sich die sozialen Muster des Zusammenlebens geändert haben, doch findet keine intensive Auseinandersetzung mit den daraus entstehenden Herausforderungen wie bei der PvdA und der SPD statt. Die Programmtexte Labours fokussieren sehr schnell auf die neuen Freiheiten des Bürgers als Verbraucher, und sind darum bemüht, den mündigen und emanzipierten Bürgern Offerten zu machen. Individualisierungsprozesse als solche werden nicht behandelt, man kann eher davon sprechen, dass die Labour Party und besonders New Labour versucht, sich an die veränderten Herausforderungen anzupassen anstatt sie politisch zu beeinflussen. Politischer Diskurs und die neuen Formen der Politik In Bezug auf die neuen politischen Beteiligungsformen und den politischen Diskurs sind diesmal, anders als bei der wirtschaftlichen Globalisierung, nicht die grundsätzlichen Einschätzungen der drei Parteien gleich oder zumindest sehr ähnlich, sondern die programmatischen Antworten auf die perzipierten Herausforderungen. Die PvdA konstatiert in den frühen Programmtexten im Untersuchungszeitraum das Ende der ‚roten Familie‘, womit das Auseinanderbrechen des übergeordneten sozialdemokratisch-weltanschaulichen Zusammenhalts gemeint ist. Auch das spezifisch-niederländische Phänomen der Entsäulung mit seinen Vor- und
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Nachteile wird diskutiert. Parallel hierzu sprechen die Texte vom Funktionsverlust der Parteien und der notwendigen Erneuerung der Organisationsformen des gesellschaftlichen Miteinanders. Es bedürfe einer neuen ‚kommunikativen‘ Partei, eines ‚Mentalitätswandels‘ innerhalb der Sozialdemokratie, um den gewandelten Umständen gerecht zu werden. Die Öffnung der Politik sei oberstes Gebot, so der mehrheitliche Konsens in der Programmdebatte. Die Bürger müssten verstärkt beteiligt werden, es müsse eine neuartige und partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen dem Staat, den neuen sozialen Bewegungen und den Bürgern geben. Diese solle dafür Sorge tragen, dass gesamtgesellschaftlich relevante Themen und Entscheidungen zurück in die Sphäre der Demokratie geholt würden. Ziel sei die Bürgergesellschaft, die das Abwandern politischer Entscheidungen in Randbereiche oder Einzelgruppen aktiv verhindern helfe. In der Programmdebatte der britischen Sozialdemokratie findet in Zusammenhang mit dem hier relevanten Thema an erster Stelle eine Auseinandersetzung mit der deutlichen Diskurs-Dominanz der Neo-Konservativen in den 1980er Jahren statt. Die Policy Review kann als ein offensiver Versuch gesehen werden, selbst wieder die politische Debatte nachhaltig zu prägen. Bis weit in die 1990er Jahre hinein bestimmte der Kampf um die Diskurshoheit mit den Konservativen weite Teile der Programmdebatte Labours, und erst mit der erfolgreichen Erneuerung der alten Clause IV der Party Constitution und der Einführung von New Labour gelang es den britischen Sozialdemokraten, den Diskurs mit ihrer Politik und Programmatik wieder entscheidend mitzugestalten. In Bezug auf die neuen Formen politischer Beteiligung plädieren anschließend auch die Sozialdemokraten New Labours für einen Ausbau der Bürgerbeteiligung und verknüpfen damit in ihrer Programmdebatte einen Ausbau der Demokratie und der staatsbürgerlichen Rechte. In den Programmtexten ist demzufolge eine lebendige Zivilgesellschaft das immer wieder postulierte Ziel. Betrachtet man die programmatischen Reaktionen der SPD auf die hier angesprochenen Herausforderungen, so fällt auf, dass sich die deutschen Sozialdemokraten dem Thema am offensivsten und auch am konstruktivsten näherten, und dass sie sich in ihrer Programmdebatte den neuen Herausforderungen tatsächlich stellten. Bereits in den 1980er Jahren wurde in den programmatischen Dokumenten der Partei festgehalten, dass es neue soziale Bewegungen gebe, auf welche die SPD offen zugehen solle. Ziel war auch hier ein direkter Dialog mit den verschiedenen Bürgerinitiativen. Man kann sagen, dass innerhalb der sozialdemokratischen Programmdebatte der Versuch unternommen wurde, die Entwicklung zu vereinnahmen, nicht zuletzt um die politische Diskurshoheit zu
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gewinnen. Im Zusammenhang damit kann auch die ‚neue angebotsorientierte Agenda für die Linke‘ gesehen werden, die im Schröder-Blair-Papier postuliert wurde.1393 Die Programmtexte seit dem Ende der 1990er Jahre plädieren darüber hinaus durchweg für den Ausbau der Zivilgesellschaft und die Aktivierung der Bürgergesellschaft als Vermittler zwischen Staat und Gesellschaft. Im Untersuchungszeitraum findet sich innerhalb der Debatte dann auch kaum ein skeptisches Wort in Bezug auf die neuen politischen Beteiligungsformen, lediglich der demokratische Vertretungsanspruch der Parteien wird gegenüber den neuen Initiativen und Organisationen hochgehalten. Zusammenfassung Resümierend kann gesagt werden, dass die drei sozialdemokratischen Parteien zwar in vielen Fällen ähnliche Herausforderungen wahrgenommen haben, aber das sich bei deren programmatischen Aufarbeitung und der darauf folgenden Suche nach politischen Antworten durchaus Unterschiede zeigen. So stellt die Globalisierung für alle drei Sozialdemokratien eine zentrale Herausforderung dar, da hierdurch dem sozialdemokratischen Konzept vom starken und aktiv eingreifenden Staat die Grundlagen entzogen werden. Dies ist jedoch trotz vieler anderer inhaltlicher Parallelen der einzige Punkt, wo eine tatsächliche Übereinstimmung in der Perzeption, der Analyse und der programmatisch geforderten Reaktion zwischen den drei untersuchten Parteien herrscht. In Bezug auf die anderen Themen fällt auf, dass die Parteien jeweils unterschiedliche Gewichtungen vornehmen, wobei sich diese, wie oben gezeigt wurde, im zeitlichen Verlauf der Programmdebatten noch verschieben und verändern. Im Fall der SPD kann gesagt werden, dass sich die Partei in ihrer Programmdebatte in der Regel sehr ausführlich und theoretisch mit den verschiedenen Herausforderungen befasst. Beispielhaft hierfür ist die im Rahmen der Beschäftigung mit der Globalisierung breit geführte Gerechtigkeitsdebatte, die es in dieser Form in der PvdA und der Labour Party nicht gegeben hat. Ebenfalls für eine intensivere programmatische Debatte in der deutschen Sozialdemokratie spricht, dass die Anzahl der offiziellen Parteipublikationen, die sich explizit und grundsätzlich mit programmatischen Fragen befassen, erkennbar größer ist als die Zahl der entsprechenden niederländischen und britischen Publikationen.
1393 Vgl. Schröder, Gerhard/Blair, Tony. Bonn 1999. S. 7.
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Bei der Untersuchung der PvdA-Programmatik fällt an erster Stelle auf, dass die niederländischen Sozialdemokraten im Vergleich zur SPD einen deutlicheren Praxisbezug in ihren programmatischen Texten pflegen. Darüber hinaus ist die Programmdebatte nachhaltig von der konsensualen politischen Kultur der Niederlande und dem extremen Verhältniswahlrecht geprägt. Dies wird unter anderem daran deutlich, dass die niederländischen Sozialdemokraten so genannte ‚weiche‘, gesellschaftlich relevante Themen wie den Umweltschutz und den sozio-strukturellen Wandel besonders ins Zentrum ihrer Debatte rücken. Bevor beispielsweise das Thema Umwelt innerhalb der Programmatik der SPD oder Labours größere Bedeutung erlangte, hatten die Sozialdemokraten der PvdA dieses Politikfeld in ihren Programmtexten bereits aufgegriffen. Die niederländische, auf Konsens ausgerichtete Konkordanzdemokratie im Sinne Arend Lijpharts1394 prägte die Programmdebatte der Sozialdemokraten auch insofern, als beispielsweise bei der Betrachtung der Herausforderungen der Globalisierung vor allem die Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und somit der gesamtgesellschaftlichen Solidarität betont wurde. Darüber hinaus war es angesichts der Vielzahl von politischen Mitbewerbern und den in den Niederlanden traditionell starken gesellschaftlich Gruppen ratsam, den Fokus der Programmdebatte eher auf konsensuale Lösungen auszurichten.1395 Ein weiteres Indiz für diese Interpretation kann darin gesehen werden, dass sich die niederländischen Sozialdemokraten in ihren programmatischen Dokumenten ausführlich mit der Ausgangssituation der PvdA nach der Entsäulung und dem Auseinanderfallen der ‚roten Familie‘ beschäftigen. Betrachtet man die Programmdebatte der Labour Party im Überblick, so kann in Abgrenzung zur SPD, aber auch zur PvdA konstatiert werden, dass die britischen Sozialdemokraten einen erkennbar pragmatischen Ansatz in ihrer Debatte verfolgt haben. Waren die niederländischen Sozialdemokraten schon weniger theoretisch als die Programmatiker der SPD vorgegangen, so übertraf der Praxisbezug der britischen Programmdebatte beide. Man kann sagen, dass sich die Labour Party am deutlichsten von allen drei untersuchten Parteien programmatisch von ihren sozialistischen Wurzeln absetzte. Darüber hinaus wurde die Programmdebatte spätestens seit dem Wahlsieg New Labours im Jahr 1997 nachhaltig von der sozialdemokratischen Regierungspolitik geprägt, was sich bis zum Ende des Untersuchungszeitraums fortsetzte. Hinzu kommt, dass die 1394 Vgl. Lijphart, Arend. Berkley 1975. S. 103-105. 1395 Vgl. Wielenga, Friso. In: Wielenga, Friso/Taute, Ilona (Hrsg.). Bonn 2004. S. 94-95 und 120121.
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spezifische politische, vor allem systemisch bedingte Wettbewerbssituation der Labour Party es mit sich bringt, dass sowohl eine Notwendigkeit zur klaren und unverkennbaren programmatischen Abgrenzung gegenüber dem maßgeblichen politischen Gegner in Gestalt der Conservative Party, als auch eine Chance zur Konzentration auf die eigenen politischen Idealvorstellungen besteht. Hierin liegt ein weiterer Grund für den häufig offensiven und praxisnahen programmatischen Kurs New Labours, der nicht selten gegenüber den programmatischen Vorstellungen von SPD und PvdA kontrastiert, die auf Grund der Notwendigkeit der Koalitionsbildung etwas ausgewogener sein müssen.
3.) Die drei sozialdemokratischen Parteien als gestaltende Kräfte neuer sozialdemokratischer Modelle? Ausgehend vom in Kapitel II. 1. idealtypisch beschriebenen sozialdemokratischen Modell soll im Folgenden dargestellt werden, inwiefern die drei Parteien im Rahmen ihrer Programmdebatten als gestaltende Kräfte neuer sozialdemokratischer Modelle aufgetreten sind. In diesem Zusammenhang wird auch nach der grundsätzlichen Modellhaftigkeit der programmatischen Entwicklung von SPD, Labour Party und PvdA vor dem Hintergrund der Theorie der sozialen Demokratie zu fragen sein. Fasst man die Prinzipien der sozialdemokratischen Theorie, mit anderen Worten die theoretischen Grundlagen für sozialdemokratische Modelle kurz zusammen, so stehen an erster Stelle die sozialdemokratischen Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Die eine der beiden maßgeblichen ideologischen Wurzeln der sozialen Demokratie, der politische Liberalismus, betont dabei besonders die Freiheit. Die andere Wurzel in Gestalt des Sozialismus legt den Schwerpunkt auf die Gleichheit, welche die entscheidende Voraussetzung für umfassende Gerechtigkeit sei. Beide Prinzipien finden sich anschließend in der sozialdemokratischen Theorie kombiniert, ergänzt um die Feststellung, dass es sowohl ‚negativer‘ als auch ‚positiver‘ Freiheiten bedürfe, damit die Menschen tatsächlich frei und gleich befähigt wären. Gemäß der Idealvorstellung des sozialdemokratischen Modells ist das primäre Ziel die aktive gesellschaftliche Teilhabe gleichberechtigter Bürger. Diese sollen sich wiederum auf demokratischem Wege über die gemeinsame Organisation der Gesellschaft verständigen und allgemeingültige Gerechtigkeitsnormen konsensual festlegen. Wichtig und notwendig sei in diesem Zusammenhang auch ein bestimmtes Maß an Solidarität innerhalb einer Gesellschaft, das sowohl Rechte als auch Pflichten beinhalte.
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Betrachtet man vor diesem Hintergrund die analysierten Programmdebatten, so fällt auf, dass alle drei Parteien Mitte beziehungsweise Ende der 1980er Jahre auf der Suche nach einem neuen, ihrer jeweiligen Situation gerecht werdenden Modell waren. Die meisten der traditionellen sozialdemokratischen Politikparameter waren in Auflösung begriffen, die Grundlagen der bisherigen sozialdemokratischen Modelle, und hierbei an vorderster Stelle der national steuerbare Wohlfahrtsstaat, waren brüchig geworden. Diese an anderer Stelle ausführlich dargestellten Entwicklungen haben in allen drei Parteien intensive und grundsätzliche Debatten ausgelöst, die zum Teil schonungslos die Inhalte der althergebrachten sozialdemokratischen Programmatik zur Disposition stellten. Gemeinsam war SPD, Labour Party und PvdA zu diesem Zeitpunkt weiterhin, das sich die Teilnehmer der jeweiligen Programmdebatten relativ uneins darüber waren, welche Gestalt die neu zu formulierenden sozialdemokratischen Modelle annehmen sollten. In Großbritannien wurde mit der Policy Review und der anschließenden Debatte in scharfer Abgrenzung zur Ideologie der Conservative Party unter Margaret Thatcher eine programmatische Wende eingeleitet, die schließlich ihren Höhepunkt in der Revision der Clause IV Mitte der 1990er Jahre fand. Die britischen Sozialdemokraten wandelten hiernach unter der Führung einiger Spitzenpolitiker und Spin-Doktoren ihre Partei von ‚Old‘ zu ‚New Labour‘, und läuteten damit einen Paradigmenwechsel ein. Ein entscheidendes Kennzeichnen der ‚New Labour‘-Sozialdemokraten war, dass sie ihr Konzept von sozialer Demokratie deutlicher stärker im Liberalismus verorteten, als es noch in der Programmatik ‚Old Labours‘ der Fall gewesen war.1396 Die Gewichtung der ideologischen Grundsätze verschob sich im Zuge der Postulierung des Dritten Wegs, der sich in den folgenden Jahren zum Modell-Maßstab innerhalb der Programmatik Labours entwickelte, wobei auch die Verbindung zu den theoretischen Grundsätzen des sozialdemokratischen Modells gesucht wurde. Als Beispiel für die inhaltliche Anlehnung der Konzepte des Dritten Wegs und der Neuen Mitte an die dargestellte Theorie der sozialen Demokratie kann die intensive Betonung der großen Bedeutung der Zivilgesellschaft dienen. Denn hiermit wird ein grundsätzlicher Aspekt der besagten Theorie aufgegriffen, nämlich die Forderung nach einer aktiven Teilhabe freier Bürger an der Gesellschaft. Obwohl der niederländische Sozialdemokrat und Ministerpräsident Wim Kok in seiner praktischen Regierungspolitik in den Jahren 1994 bis 2001 viele Elemen1396 Vgl. Bevir, Mark. London 2005. S. 153.
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te des Dritten Wegs umsetzte und diese Variante der sozialen Demokratie somit auch in der PvdA einführte, fand dieses sich pragmatisch auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Zeit einstellende Konzept kein wirkliches Echo in der Programmatik der Partei. Trotz einer nicht geringen Anzahl programmatischer Publikationen versuchten viele Sozialdemokraten in den Niederlanden eine Grundsatzprogrammdebatte und somit eine explizite und offensive Erneuerung des sozialdemokratischen Modells zu vermeiden. Die PvdA trage schwer an ihrer Grundsatzprogrammatik und scheue häufig die allzu gründliche theoretische Auseinandersetzung, so Rene Cuperus in diesem Kontext.1397 Auch Bart Tromp konstatiert eine große Skepsis in der niederländischen Sozialdemokratie gegenüber ideologisch aufgeladener Grundsatzprogrammatik, vor allem angesichts der Möglichkeiten aktiver sozialdemokratischer Politikgestaltung in Regierungszeiten.1398 Im Fall der deutschen Sozialdemokratie hat man nach längeren Jahren, in denen nur wenig programmatisch-grundsätzlich gearbeitet worden war, die ideologische Vorlage des Dritten Wegs zum Anlass genommen, mit dem Konzept der ‚Neuen Mitte‘ eine eigene, deutsche Version einer erneuerten Sozialdemokratie zu forcieren. Die SPD war ähnlich wie die Labour Party seit den späten 1980er Jahren auf der Suche nach einem neuen politischen Modus Vivendi, der konzeptionelle und ideologische Antworten auf die durchaus perzipierten Herausforderungen der Zeit geben könne. Dementsprechend erscheint die sowohl von Wolfgang Schroeder als auch von Bernhard Weßels geäußerte Einschätzung nachvollziehbar, dass es sich im Fall des Dritten Wegs generell um den Versuch einer nachholenden Programmierung handelt, da die schon Jahre zuvor wahrgenommenen krisenhaften Erscheinungen und Herausforderungen erst später programmatisch verarbeitet wurden, und es somit zum Versuch einer Neukonzipierung des sozialdemokratischen Modells kam.1399 Der Dritte Weg ist in den letzten Jahren vielfach diskutiert und in der Praxis kritisiert worden, und auch das neue Grundsatzprogramm der SPD aus dem Jahr 2007 distanziert sich von vielen Ideen der Ära Schröder und der ‚Neuen Mitte‘. Die grundsatzprogrammatischen Aussagen der PvdA aus dem Jahr 2005 orien1397 Vgl. Cuperus, Rene: Die anständige Gesellschaft. In: Berliner Republik 03/2005. www.b-republik.de/archiv/die-anstaendige-gesellschaft . 1398 Vgl. Tromp, Bart. Amsterdam 2002. S. 490. 1399 Vgl. Schroeder, Wolfgang. In: Schroeder, Wolfgang (Hrsg.). Schwalbach/Ts. 2001. S. 268; sowie Weßels, Bernhard: Die „Dritten Wege“: Eine Modernisierung sozialdemokratischer Politikkonzepte?. In: Schroeder, Wolfgang (Hrsg.). Schwalbach/Ts. 2001. S. 49.
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tieren sich hingegen teilweise immer noch an den Vorstellungen des Dritten Weges, wobei die Formulierungen häufig im Vagen bleiben, so dass das Grundsatzprogramm keine Blaupause für ein erneuertes sozialdemokratisches Modell bereit hält. Im Falle Labours sind die Sozialdemokraten Anfang des Jahres 2010 immer noch an der Regierung, so dass man lediglich von einer Nachjustierung des maßgeblich von Tony Blair eingeführten Konzeptes im Lauf der Zeit sprechen kann. Will man an dieser Stelle die Gestaltungskraft der drei Parteien in Bezug auf die Schaffung neuer sozialdemokratischer Modelle grundsätzlich beurteilen, so befindet man sich in einer ambivalenten Situation. Denn auf der einen Seite haben die Sozialdemokraten der drei Länder im Rahmen der Debatte um den Dritten Weg in ihrer Programmatik lediglich etwas nachgeholt, was auf Grund der virulenten Herausforderungen zu einem früheren Zeitpunkt hätte angegangen werden müssen. Jedoch kann man auf der anderen Seite sehr wohl davon sprechen, dass sich Labour Party, SPD und in geringerem Maße auch die PvdA um die kreative Neujustierung der sozialdemokratischen Modelle bemüht haben, wenn auch nicht unbedingt in Form neuer programmatischer Grundsätze. Es fällt auf, dass die in dieser Studie beschriebene programmatische Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Herausforderungen in vielen Fällen zuvorderst die Formulierung aktueller politischer Leitbilder ermöglichen sollte. Besonders für die niederländischen und britischen Sozialdemokraten waren diese im Anschluss vor allem zur Erstellung von Wahlprogrammen gedacht. Innerhalb der SPD wurde zwar intensiver und ausführlicher an programmatischen Grundsätzen gearbeitet, aber auch den deutschen Sozialdemokraten fiel es schwer, ein zeitgemäßes sozialdemokratisches Modell zu entwerfen und programmatisch zu verankern.
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4.) Ausblick „Das sozialdemokratische Modell ist tot, lang lebe das sozialdemokratische Modell!“1400, so Jan Turowski im Jahr 2004. Diese Aussage trifft auch sechs Jahre später noch den Kern des Problems: die deutsche, niederländische und britische Sozialdemokratie haben immer wieder den Versuch unternommen, sich von ihren alten Modellen zu lösen, haben im Rahmen ihrer Programmdebatten viel ideologischen Ballast abgeworfen und sich ernsthaft und häufig intensiv mit den aufgekommenen neuen Herausforderungen beschäftigt, um am Ende doch keine neuen und langfristig tragfähigen ideologischen Grundlagen zu finden. Zu verschiedenen Zeitpunkten glaubten die drei unterschiedlichen sozialdemokratischen Parteien einen neuen ideologisch-programmatischen Masterplan, ein neues kohärentes Modell gefunden zu haben, und doch dauerte es zumeist nicht lange, bis diese Gewissheit wieder in Frage gestellt wurde. So geschehen im Fall des Berliner Grundsatzprogramms der SPD, das zum einen von der deutschen Wiedervereinigung und zum anderen von den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realitäten überholt wurde. So geschehen auch im Fall des praxisorientierten konsensualen Kurses des niederländischen Ministerpräsidenten Wim Kok, mit dem dieser von außen und von oben seiner Partei eine neue programmatische Ausrichtung geben wollte, was jedoch nicht zuletzt am Widerstand der eigenen Parteimitglieder und Sympathisanten scheiterte. Und schließlich war es ebenfalls so in Bezug auf den von Tony Blair und seinen New Labour-Mitstreitern entwickelten Dritten Weg, auch wenn hier zuerst mehrere sehr erfolgreiche Jahre und der Export der ideologischen Vorlagen folgten. Festzuhalten ist, dass der Dritte Weg respektive die unter Gerhard Schröder in Anlehnung daran entwickelte ‚Neue Mitte‘ tatsächlich diejenigen sozialdemokratischen Konzepte waren, mit denen in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren die größten Erfolge erzielt wurden und welche die sozialdemokratische Programmatik am nachhaltigsten geprägt haben. Doch trotz der sichtbaren Erfolge ist es den Verfechtern des Dritten Wegs nicht gelungen, die in dieser Arbeit dargestellten und analysierten Probleme auf eine so grundsätzliche Art und Weise zu lösen, dass sich ein neues sozialdemokratisches Modell abzeichnen würde, mit dessen Hilfe beispielsweise die zahlreichen Niedergangstheoretiker endgültig wiederlegt werden könnten.
1400 Vgl. Turowski Jan: Das sozialdemokratische Modell ist tot, lang lebe das sozialdemokratische Modell. In: perspektiven ds. Heft 1 2004. S. 44.
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Auf der einen Seite kann somit zusammenfassend gesagt werden, dass auch die jahrelange, ernsthafte programmatische Beschäftigung mit den vielfältigsten Wandlungserscheinungen bisher kaum belastbare Konzepte für eine allgemeine, grundsätzliche ideologische Neuausrichtung hervorgebracht hat. Auf der anderen Seite hat die in dieser Arbeit dargestellte breite programmatische Auseinandersetzung der drei sozialdemokratischen Parteien mit den verschiedenen Herausforderungen aber gezeigt, dass viele Sozialdemokraten durchaus über ein selbstkritisches Problembewusstsein verfügen und bereit sind, sich intensiv mit ihren eigenen weltanschaulich-politischen Wurzeln zu beschäftigen. Auffallend hierbei ist, dass es in allen drei Parteien ein ausgeprägtes Interesse der sozialdemokratischen Basis gab und gibt, sich in den Prozess der programmatischen Erneuerung gestaltend einzubringen. Wie oben gezeigt gab es darüber hinaus im Untersuchungszeitraum bei unterschiedlichen Themen immer wieder die Debatte belebende Reibungspunkte zwischen der jeweiligen Parteiführung und den Mitgliedern und Sympathisanten der Partei. Diese Debattenkultur, die mal stärker und mal schwächer in den Vordergrund trat, wurde grundsätzlich betrachtet stets am Leben gehalten, sei es durch Bemühungen der Parteibasis, externer Kommentatoren oder sogar der Führung der Parteien selber, die sich des Rückhalts für ihre Positionen und Politiken versichern wollte. In dieser stetigen Auseinandersetzung mit den Herausforderungen für die eigene Identität und Politik kann einer der entscheidenden Aspekte für das politische Überleben der Sozialdemokratie gesehen werden. Immer schwieriger werdende Wettbewerbsbedingungen sowie der zunehmende Wegfall sicher geglaubter Handlungsgrundlagen und ideologischer Konzepte haben die Programmdebatten der drei untersuchten sozialdemokratischen Parteien in den meisten Fällen nicht gelähmt, sondern gerade erst befeuert. Sollte es der Sozialdemokratie weiterhin gelingen, neben der kurzfristigen und praxisorientierten Formulierung politischer Konzepte auch die grundsätzliche Auseinandersetzung mit ihren ideologischen Wurzeln sowie das Streben nach einer Erneuerung des sozialdemokratischen Modells am Leben zu erhalten, dann wäre damit eine erste Voraussetzung dafür erfüllt, die Existenz der Sozialdemokratie zu sichern. Eine offene, selbstkritische und grundsätzlich geführte permanente Debatte über die eigene Programmatik und Politik kann somit ein wichtiger erster Baustein für eine lebendige politische Zukunft der Sozialdemokratie sein.
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E.
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