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Eine Sammlung bemerkenswert skurriler, fantastischer und – für das Genre selten – komischer Geschichten eines Autors, der den Ruf eines ausgezeichneten Science Fiction-Erzählers wie den eines außerordentlichen Lebenskünstlers genießt. Was seine Stories neben allen literarischen Qualitäten zudem zu reinem Lesevergnügen macht, ist die Eigenart seiner Helden, den Freuden dieser und jener utopischen Welten ebenso zugetan zu sein wie ihr geistiger Vater.
R. A. Lafferty
900 Großmütter Science Fiction Stories Band 1
Fischer Taschenbuch Verlag
Deutsche Erstausgabe Fischer Taschenbuch Verlag Juni 1974 Umschlagillustration: Eddie Jones Umschlagtypographie: Jan Buchholz/Reni Hinsch Titel der amerikanischen Ausgabe: ›Nine Hundred Grandmothers‹ Erschienen bei Ace Books, New York Ins Deutsche übertragen von Karl H. Kosmehl Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main © Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 1974 © R. A. Lafferty Einzelrechte: ›NINE HUNDRED GRANDMOTHERS‹ Copyright © 1966 by Galaxy Publishing Corp. Aus If, Februar 1966 ›LAND OF THE GREAT HORSES‹ Copyright © 1967 by Harlan Ellison. Aus Dangerous Visions ›GINNY WRAPPED IN THE SUN‹ Copyright © 1967 by Galaxy Publishing Corp. Aus Galaxy, August 1967 ›THE SIX FINGERS OF TIME‹ Copyright © i960 by Galaxy Publishing Corp. Aus If, September 1960 ›FROG ON THE MOUNTAINS Copyright © 1970 by R. A. Lafferty ›ALL THE PEOPLE‹ Copyright © 1961 by Galaxy Publishing Corp. Aus Galaxy, April 1961 ›PRLMARY EDUCATION OF THE CAMIROI‹ Copyright © 1966 by Galaxy Publishing Corp. Aus Galaxy, Dezember 1966 ›SLOW TUESDAY NIGHT‹ Copyright © 1965 by Galaxy Publishing Corp. Aus Galaxy, April 1965 ›SNUFFLES‹ Copyright © 1960 by Galaxy Publishing Corp. Aus Galaxy, Dezember 1960 Gesamtherstellung: Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg Printed in Germany Scan by Brrazo 07/2010 ISBN 3 436 01920 8
Inhalt Neunhundert Großmütter (Nine Hundred Grandmothers) Land der großen Pferde (Land of the Great Horses) Ginny (Ginny Wrapped in the Sun) Die sechs Finger der Zeit (The Six Fingers of Time) Frosch auf dem Berg (Frog on the Mountain) Alle Menschen (All the People) Die Elementarerziehung der Camiroi (Primary Education of the Camiroi) Langsame Dienstag-Nacht (Slow Tuesday Night) Schnoffel (Snuffles)
Neunhundert Großmütter Ceran Swicegood war ein vielversprechender junger Mann in der Abteilung für Spezielle Aspekte. Aber wie alle Spezialaspekter hatte er eine irritierende Angewohnheit – immer mußte er fragen: Wie hat das alles angefangen? Alle bis auf Ceran tragen Namen von ausgesprochen brutalem Klang: Manbreaker Crag, Heave Huckle, Blast Berg, George Blood, Hauab Manion (wenn Hauab sagt: »Hau ab!«, dann haust du am besten ab), Trouble Trent. Sie mußten harte Männer sein, deshalb hatten sie sich bei der Namensgebung so harte Namen ausgesucht. Nur Ceran hatte seinen eigenen Namen behalten – was Manbreaker, den Kommandanten, heftig geärgert hatte. »Mit einem Namen wie Ceran Swicegood kann kein Mensch ein Held sein«, donnerte er jedesmal los, wenn er Ceran sah. »Warum haben Sie nicht Storm Shannon genommen? Das ist doch ein guter Name. Oder Gutboy Barrelhouse, oder Shash Slagle oder Mackie Messer? Sie haben ja kaum einen Blick in die Vorschlagsliste geworfen.« »Ich behalte meinen eigenen«, sagte Ceran dann immer; aber da hatte er einen Fehler gemacht. Manchmal bringt ein neuer Name auch eine neue Persönlichkeit zum Durchbruch. Bei George Blood war es so gewesen: zwar waren die Haare auf Georges Brust falsch, aber im Verein mit seinem neuen Namen hatten sie aus dem Knaben einen Mann gemacht. Hätte sich Ceran etwa den heroischen Namen Gutboy Barrelhouse zugelegt, dann wäre er möglicherweise ruhmvoller Taten und einer ausgewachsenen Manneswut fähig gewesen, anstatt 9
sich so kicherig-unentschieden und altjüngferlichhysterisch zu benehmen. Sie hatten sich den großen Asteroiden Proavitus geschnappt, einen Stern, wo man den potentiellen Profit, der sich aus ihm herausschinden Heß, förmlich klingeln hörte. Und die Mitglieder der Expedition waren gerissene, mit allen Hunden gehetzte Geschäftsleute. Auf den samtweichen Rindenrollen der Eingeborenen ebenso wie auf ihren eigenen Parallel-Ton-und-Schriftbändern schlossen sie saftige Kontrakte ab. Sie imponierten den schwächlichen Proavitanern, verlockten sie, schüchterten sie ein bißchen ein. Hier bot sich ein solider Zwei-WegeMarkt dar, bei dem einem das Wasser im Mund zusammenlief. Da gab es eine ganze Welt der merkwürdigsten Artikel, die alle für das LuxusGeschäft bestens geeignet waren. »Alle haben was Vernünftiges rausgeholt, bloß Sie nicht, Ceran«, knatterte ihn Manbreaker freundlich an, als sie drei Tage dort gewesen waren. »Aber auch die Abteilung Spezial-Aspekte muß wenigstens ihr Fahrgeld verdienen. Nach unseren Lizenzverträgen müssen wir einen von euch mitnehmen, damit das Geschäft einen kulturellen Anstrich bekommt, aber Sie brauchen sich doch nicht nur darauf zu beschränken. Was wir wollen, ist doch immer dasselbe : uns ein großes fettes Schwein schlachten – da machen wir gar kein Hehl draus. Aber wenn Sie dem Schwanz von dem Schwein einen Kultur-Dreh verpassen, dann lösen Sie damit eine Bedarfsfrage. Und wenn uns dieser Dreh im Schwanz einen guten Profit bringt, dann freuen wir uns mächtig über die ganze Geschichte. Haben Sie zum Beispiel irgendwas über diese lebenden Puppen rausgekriegt? Die könnten sowohl 10
einen kulturellen Aspekt als auch einen beachtlichen Marktwert haben.« »Diese lebenden Puppen scheinen mir einer wesentlich tieferen Schicht anzugehören«, sagte Ceran. »Da ist noch ein ganzer Komplex von Problemen zu entwirren. Der Schlüssel dazu mag in der Behauptung der Proavitoi liegen, daß sie nicht sterben.« »Ich glaube eher, sie sterben ziemlich jung, Ceran. Alle, die man draußen rumlaufen sieht, sind jung, und die, welche das Haus nicht mehr verlassen, sind auch nur allenfalls in mittlerem Alter, wenigstens soweit ich gesehen habe.« »So – und wo sind dann die Friedhöfe?« »Wahrscheinlich verbrennen sie ihre Alten, wenn sie sterben.« »Und wo sind dann die Krematorien und die Urnen?« »Vielleicht schmeißen sie die Asche einfach weg, oder sie verdampfen ihre Leichen im ganzen. Wahrscheinlich kennen sie keine Ahnenverehrung.« »Es gibt aber eine Menge Beweise dafür, daß im Gegenteil ihre ganze Kultur auf einer gradezu übertriebenen Ahnenverehrung beruht.« »Finden Sie das raus, Ceran. Dafür sind Sie Spezialaspekter.« Ceran sprach mit Nokoma, seinem Verhandlungspartner und Dolmetscher. Jeder der beiden verstand die Sprache des anderen ganz gut, und wenn sie sich unterhielten, wie eben jetzt, so kamen sie sich sprachlich auf halbem Wege entgegen. Nokoma war vermutlich eine Frau. Bei den Proavitoi waren beide Geschlechter von einer gewissen Sanftheit der Züge; aber die Männer der Expedition meinten, sie könnten sie jetzt allmählich auseinanderhalten. 11
»Hast du was dagegen, wenn ich dir ein paar direkte Fragen stelle?« begrüßte er sie an diesem Tage. »Sicher, daß nicht. Wie sonst kann ich gut lernen die Sprache, wenn nicht durch Sprechen?« »Manche Proavitoi sagen, daß sie nicht sterben, Nokoma. Ist das wahr?« »Wie kann nicht wahr sein? Wenn sterben, sie können nicht hier sein und sagen, daß nicht sterben. Oh, ich mache Spaß, ich mache Spaß. Nein, wir nicht sterben. Sterben ist dumme fremde Sitte, kein Grund, daß nachahmen. Auf dem Proavitus sterben nur die niederen Geschöpfe.« »Keiner von euch?« »Aber nein. Warum sollte da einer eine Ausnahme sein wollen?« »Aber was tut ihr, wenn ihr ganz alt werdet?« »Wir tun immer weniger. Unsere Energie nimmt ab. Ist das nicht bei euch ebenso?« »Natürlich. Aber wo geht ihr hin, wenn ihr ganz furchtbar alt seid?« »Nirgends. Wir bleib en dann zu Hause. Reisen, Umhergehen, das ist für die Jungen, für die in den aktiven Jahren.« »Probieren wir’s mal andersherum«, sagte Ceran. »Wo sind dein Vater und deine Mutter, Nokoma?« »Die gehen noch herum, auch draußen. Die sind noch nicht richtig alt.« »Und deine Großväter und Großmütter und Urgroßeltern?« »Ein paar gehen noch aus. Die Älteren bleiben zu Hause.« »Probieren wir’s mal so: wie viele Großmütter, Urgroßmütter und so weiter hast du überhaupt, Nokoma?« 12
»Ich glaube, ich habe neunhundert Großmütter in meinem Hause. Oh, ich weiß, das ist nicht viel, aber wir sind eine junge Familie. Manche von unserem Clan haben wirklich sehr, sehr viele Ahnen in ihren Häusern.« »Und die sind alle noch am Leben?« »Was sonst? Warum soll man sie nicht am Leben erhalten? Wie können sie Ahnen sein, wenn sie nicht lebendig sind?« Jetzt hüpfte Ceran vor Aufregung buchstäblich herum. »Kann ich sie sehen?« piepste er. »Es ist vielleicht nicht klug, die ganz alten zu besuchen«, bremste Nokoma, »das könnte einen Fremden aus dem Gleichgewicht bringen, und das wellen wir nicht. Aber zwanzig oder dreißig könntest du schon seilen, ohne weiteres.« Da sprang Ceran der Gedanke an, daß er vielleicht dicht vor dem stände, was er sein ganzes Leben lang gesucht hatte. Die Erwartung erregte ihn so, daß er fast in Panik geriet. »Nokoma«, flötete er, »das hieße ja, daß ich den Schlüssel gefunden habe. Wenn keiner von euch jemals gestorben ist, dann muß ja eure ganze Rasse noch am Leben sein.« »Sicher. Das ist, als wenn du Früchte zählst. Nimmst du keine weg – hast du noch alle. Klar?« »Aber wenn die Allerersten noch am Leben sind, dann müßten sie doch wissen, wie sie entstanden sind. Wissen sie es? Weißt du es?« »Oh, ich nicht. Ich bin noch zu jung für das Ritual.« »Aber wer weiß es denn? Weiß es überhaupt jemand?« »O ja. Alle die Alten wissen, wie es angefangen hat.« 13
»Wie alt? Wie viele Generationen, von dir aus gerechnet, muß man zurückgehen bis zu denen, die es wissen?« »Zehn, mehr nicht. Wenn ich zehn Generationen Nachkommen habe, werde ich auch zum Ritual gehen.« »Zum Ritual? Was ist das?« »Einmal in jedem Jahr gehen die Alten zu den ganz Alten, wecken sie auf und fragen sie, wie alles angefangen hat. Die ganz Alten erzählen ihnen vom Anfang. Das ist ein Fest! Oh, wie sie glucksen und lachen! Dann gehen die ganz Alten wieder ein Jahr lang schlafen. Auf diese Weise wird es den nachfolgenden Generationen überliefert. Das ist das Ritual.« Die Proavitoi waren keine Humaniden. Aber noch weniger waren sie ›Affengesichter‹, wenn sich auch dieser Ausdruck im Slang der Entdecker eingebürgert hatte. Sie hielten sich aufrecht, trugen lange robenartige Walle-Walle-Gewänder und waren vermutlich unter diesen zweibeinig. Jedoch, wie Manbreaker sagte: »Vielleicht laufen sie auf Rädern – was wissen wir schon?« Sie hatten höchst bemerkenswerte Hände von veränderlicher, fließender Form, die man ›überallfingerig‹ nennen könnte. Sie konnten sowohl mit Werkzeugen umgehen, als auch die bloßen Hände so verwenden, als seien es höchst komplizierte Instrumente. George Blood war der Meinung, die Proavitoi trügen ständig Masken, und kein Expeditionsmitglied hätte jemals ihre eigentlichen Gesichter erblickt. Er sagte, die Gesichter, die man sehen könne, seien Kult-Masken, und man hätte noch keinen anderen Körperteil zu sehen bekommen, als diese 14
seltsamen Hände, die vielleicht ihre wirklichen Gesichter seien. Als Ceran den Männern zu erklären versuchte, vor was für einer großartigen Entdeckung er stünde, reagierten sie mit barbarischer Heiterkeit. »Unser kleiner Ceran ist immer noch hinter diesem Wie-hat-alles-angefangen-Quatsch her«, grinste Manbreaker. »Ceran, wann werden Sie aufhören, sich zu fragen, was zuerst da war, die Henne oder das Ei?« Cerans Antwort tönte wie Gesang: »Ich werde die Lösung sehr bald wissen. Hier ist eine einzigartige Gelegenheit. Wenn ich herausfinde, wie die Proavitoi entstanden sind, dann weiß ich vielleicht, wie überhaupt alles entstanden ist. Alle Proavitoi leben noch, auch die allererste Generation.« »Einfach unglaublich, daß Sie so naiv sein können«, stöhnte Manbreaker. »Es heißt ja, daß einer endgültig gereift ist, wenn er einen Narren mit Anstand ertragen kann. Bei Gott, ich hoffe, mit mir wird es nie soweit kommen!« Aber schon zwei Tage später versuchte Manbreaker, Ceran Swicegood über ungefähr das gleiche Thema auszuholen. Manbreaker hatte auf eigene Rechnung ein bißchen Denk- und Forschungsarbeit an die Sache gewandt. »Sie sind Spezial-Aspekter, Ceran«, sagte er, »und Sie rennen hinter dem falschen Aspekt her.« »Was soll das heißen?« »Es ist ganz scheißegal, wie es angefangen hat. Wichtig ist, daß es vielleicht nie aufhört.« »Ich will aber grade den Anfang wissen«, sagte Ceran. »Sie Dussel, verstehen Sie denn nicht? Was besitzen die Proavitoi so ausschließlich, daß wir nicht 15
einmal wissen, ob sie es durch Forschung, oder durch ihre eigene Natur, oder durch simples Narrenglück besitzen?« »Ach – Sie meinen ihre Chemie?« »Na klar. Sie haben die organische Chemie zur letzten Vollendung gebracht. Sie kennen jeden nur möglichen Nexus und beherrschen den gesamten Apparat der Hemmungen und Stimulantien. Sie können die Materie nach ihrem Belieben schrumpfen, dehnen oder strecken. Und dabei kommen mir diese Geschöpfe so mordsdämlich vor; es ist, als ob sie das alles rein instinktmäßig beherrschen. Aber sie können es eben, und das ist die Hauptsache. Mit diesen Dingen könnten wir die pharmazeutische Industrie des gesamten Universums beherrschen, denn die Proavitoi machen keine Raumfahrten und haben außerhalb ihrer Sphäre wenig Kontakte. Mit diesen Faktoren läßt sich alles Erdenkliche aufbauen oder abbauen. Ich habe die Proavitoi im Verdacht, daß sie Zellen schrumpfen können – und vielleicht noch ganz was anderes!« »Ausgeschlossen! Die können bestimmt keine Zellen schrumpfen. Jetzt sind Sie es, der Unsinn redet, Manbreaker!« »Wenn schon. Die hauen ja jetzt schon die ganze konventionelle Chemie in die Pfanne. Mit dem bißchen Pharmakopie, das wir hier ganz nebenbei aufpicken können, brauchte ein Mensch überhaupt nie zu sterben. Das ist Ihr Steckenpferd, nicht wahr? Aber Sie reiten es verkehrt rum, mit dem Gesicht zum Schwanz. Die Proavitoi sagen doch, daß sie nie sterben.« »Darüber scheinen sie sich jedenfalls ziemlich sicher zu sein. Wenn sie sterben würden, müßten sie ja die ersten sein, die es wissen, sagt Nokoma.« 16
»Was denn? Haben diese Geschöpfe etwa Humor?« »Manche schon.« »Aber Ceran, Sie verstehen gar nicht, was das für eine große Sache ist.« »Ich bin der einzige, der es wenigstens insoweit versteht. Es bedeutet folgendes: wenn die Proavitoi schon immer unsterblich gewesen sind, wie sie behaupten, so sind die ältesten von ihnen noch am Leben. Von denen kann ich vielleicht erfahren, wie ihre Art – und möglicherweise überhaupt jede Art Leben – entstanden ist.« Da führte Manbreaker seine berühmte Imitation eines sterbenden Büffels auf. Er raufte sich das Haar und riß sich beinahe die Ohren an den Wurzeln ab. Er trampelte und röhrte und scharrte wie ein Bulle: »Es ist scheißegal, wie es angefangen hat, Sie Dussel! Mich interessiert, daß es vielleicht überhaupt nicht aufhört!« Und stampfte hinaus. Von den Bergen hallte sein lautes Gebrüll wider: »Scheißegal, Sie Dussel!« Ceran Swicegood begab sich zu Nokomas Haus, aber allein, und nicht auf ihre Einladung hin. Er ging hin, weil er wußte, daß sie nicht zu Hause war. Das war eine glatte Einschleicherei, aber die Männer der Expedition waren auf Einschleichereien geschult. Er würde sicher ohne Mentor eher herausfinden, was es mit den neunhundert Großmüttern und den vielberedeten lebenden Puppen auf sich hatte. Er würde herausfinden, was die Alten machten, wenn sie nicht starben, und würde herausfinden, wie die ersten geboren worden waren. Was seine Zudringlichkeit anlangte, so zählte er auf die angeborene Höflichkeit der Proavitoi. 17
Nokomas Haus stand wie die anderen auf der Kuppe eines großen, flachen Hügels, der Akropolis von Proavitus. Es waren lauter Lehmhäuser, aber kunstvoll gebaut, und sie sahen aus, als ob sie direkt aus dem Hügel herauswüchsen und ein Teil davon seien. Ceran ging die gewundenen ansteigenden Pfade aus flachen Steinplatten hinan und betrat das Haus, das Nokoma ihm früher einmal gezeigt hatte. Er trat verstohlen und leise ein, aber er stieß auf eine der neunhundert Großmütter – doch das war eine, vor der man keine Heimlichkeiten zu haben brauchte. Die Großmutter war klein; sie saß in einem Sessel und blickte ihn lächelnd an. Sie unterhielten sich ohne große Schwierigkeiten, wenn es auch nicht so mühelos ging wie bei Nokoma, die Ceran in seiner eigenen Sprache auf halbem Wege entgegenkommen konnte. Auf ihren Ruf hin trat noch ein Großvater herzu, der Ceran ebenfalls anlächelte. Diese beiden Alten waren ein bißchen kleiner als die Proavitoi in aktiven Jahren. Sie waren freundlich und heiter-gelassen. Über der ganzen Szene hing eine Atmosphäre, die schon beinahe ein Duft war – ganz angenehm, schläfrig, erinnerungsträchtig, fast wehmütig. »Gibt es noch Altere als euch?« fragte Ceran ernst und eindringlich. »So viele, so viele, wer kann wissen, wie viele!« sagte die Großmutter. Sie rief noch andere Großmütter herbei; die waren noch älter und kleiner als sie selbst, nur halb so groß wie die aktiven Proavitoi – winzig, verschlafen, lächelnd. Ceran wußte jetzt, daß die Proavitoi keine Masken trugen. Je älter sie waren, umso mehr waren ihre Züge von Charakter und Interesse geprägt. Nur 18
bei den noch unausgereiften aktiven Proavitoi konnte man derartige Zweifel hegen. Keine Maske konnte soviel ruhige, lächelnde Altersweisheit ausstrahlen. Diese seltsame gewebeartige Struktur war ihr wirkliches Antlitz. So alt und freundlich, so schwach und schläfrig sie waren, es mußte noch ein Dutzend älterer Generationen geben, bis hinab zu den urältesten und winzigsten. »Wie alt sind die Ältesten?« fragte Ceran die erste Großmutter. »Wir sagen, daß alle gleich alt sind, weil wir alle unvergänglich sind«, sagte die Großmutter. »Es stimmt zwar nicht, daß wir alle gleich alt sind, aber es wäre taktlos zu fragen, wie alt einer ist.« »Du weißt nicht, was ein Hummer ist«, sprach Ceran, vor Aufregung zitternd, »aber das ist ein Geschöpf, dem es nichts ausmacht, wenn es gekocht wird, solange das Kochwasser ganz langsam erhitzt wird. Der Hummer bleibt dabei ganz ruhig, denn er weiß nicht, von welchem Punkt an die Hitze gefährlich wird. Mit mir ist es jetzt ebenso – das gradweise Kochen meine ich. Ich gleite bei euren Erzählungen ganz allmählich von einem Grad zum anderen hinüber, ohne daß meine Glaubensfähigkeit allzusehr strapaziert wird und Alarm schlägt. Ich bin in Gefahr, einfach alles über euch zu glauben, solange es mir in kleinen Dosen vorgesetzt wird – und so wird es ja auch kommen. Daß ihr hier seid, und daß ihr so seid wie ihr seid, glaube ich, weil ich euch sehen und berühren kann – aus keinem anderen Grunde. Also, ich laß mich lieber kochen wie einen Hummer, als daß ich jetzt noch einen Rückzieher mache. Gibt es noch Altere als euch, die ihr hier seid?« 19
Die erste Großmutter winkte Ceran, er solle ihr folgen. Sie gingen eine Rampe hinunter und den Flur entlang zum älteren Teil des Hauses, der schon unterm Erdboden hegen mußte. Lebende Puppen! Da waren sie, reihenweise auf Regalen, und saßen auf kleinen Stühlchen in ihren Nischen. Tatsächlich so groß wie Puppen, mehrere hundert. Viele waren beim Eintreten der beiden aufgewacht. Andere wurden wach, wenn man sie ansprach oder anrührte. Sie waren so unglaublich alt, aber sie blickten bewußt und orientiert um sich. Sie lächelten und streckten sich schläfrig, aber nicht wie Menschen, sondern wie sehr alte Hundewelpen. Ceran sprach mit ihnen, und man verstand sich überraschend gut. Hummer, du Hummer, sagte Ceran zu sich selbst, die Wassertemperatur hat den Gefahrenpunkt überschritten, und du merkst den Unterschied kaum. Wenn du jetzt und hier deinen Sinnen traust, dann wirst du in deiner eigenen Glaubensfähigkeit lebendig gekocht. Nun wußte er: die lebenden Puppen waren Wirklichkeit – sie waren die lebenden Vorfahren der Proavitoi. Viele der kleinen Kreaturen sanken wieder in ihren Schlummer zurück. Ihre wachen Momente waren kurz, aber ihr Schlaf anscheinend auch. Einige dieser lebenden Mumien erwachten ein zweites Mal, während Ceran noch im Raum war, erfrischt von ihrem Kurzschlaf und begierig, weiterzusprechen. »Ihr seid unglaublich!« rief Ceran aus, und alle die kleinen und kleineren und noch kleineren Geschöpfe lächelten und lachten Zustimmung. Natürlich! alle guten Wesen, überall, sind unglaublich ; 20
und wo sonst gab es so viele gute Wesen an einem Ort beisammen? Aber Ceran war unersättlich. Ein ganzer Saal voller Mirakel reichte ihm noch nicht. »Ich muß das soweit zurückverfolgen, wie es nur irgend geht«, rief er gierig. »Wo sind die noch älteren?« »Es gibt ältere und noch ältere und immer noch ältere«, sagte die erste Großmutter, »und noch dreimal so alte; aber vielleicht wäre es klüger, – wenn du nicht so klug sein wolltest. Du hast genug gesehen, und die Alten sind müde. Laß uns wieder nach oben gehen.« Wieder nach oben, weg von hier? Nein, das wollte Ceran nicht. Er sah Gänge und Rampen, die weiter in die Tiefe führten, ganz tief in das Herz des grünen Hügels hinein. Ganze Welten von Zimmern mußte es noch hier und zu seinen Füßen geben. Ceran schritt weiter in die Tiefe; wer hätte ihn aufhalten sollen? Doch nicht diese Puppen und diese Geschöpfe, noch viel kleiner als Puppen. Manbreaker hatte einmal von sich gesagt, er sei ein alter Pirat, der freudenvoll in Strömen erbeuteten Goldes plätschere. Aber Ceran war der junge Alchimist, der dicht davor stand, nicht Gold, sondern den echten Stein der Weisen zu entdecken. Er schritt die Rampen hinab, in die Tiefen der Jahrhunderte und Jahrtausende. Was er auf der oberen Ebene als Atmosphäre empfunden hatte, war jetzt unverkennbar Geruch: es roch nach Schlaf, halben Erinnerungen, Lächeln, Wehmut – ein ziemlich starker Duft. So riecht die Zeit. »Sind hier welche, die sogar noch älter sind als du?« fragte Ceran eine kleine Großmutter, die auf seiner Handfläche hockte. »So alt und so klein, daß sogar ich sie in meiner 21
Hand halten könnte«, sagte die Großmutter in reinem, unverbildetem Alt-Proavitoi – er erkannte es nach Nokomas Belehrungen wieder. Immer kleiner und älter wurden die Lebewesen, je mehr Räume Ceran durchschritt. Jetzt war er bestimmt schon gekochter Hummer. Er mußte einfach alles glauben: er sah und fühlte es ja. Die sperlingsgroße Ahnfrau verriet ihm lachend und nickend, es gäbe noch viel Ältere als sie, und dabei nickte sie sich wieder in Schlaf. Ceran setzte sie wieder in eine Nische in der bienenwabenartigen Mauer zurück, wo noch weitere Tausende miniaturisierter Generationen hockten. Selbstverständlich befand er sich nicht mehr in Nokomas Haus, sondern im Herzen des Hügels, auf dem alle Häuser von Proavitus standen; und die er hier sah, waren die Ahnen aller Bewohner des Asteroiden. »Gibt es hier noch Ältere als dich?« fragte Ceran eine winzige Ahnin, die er auf seiner Fingerspitze balanzierte. »Noch Ältere und noch Kleinere«, sagte sie, »aber jetzt bist du bald am Ende.« Sie schlief schon wieder, und er setzte sie an ihren Platz zurück. Je älter sie waren, um so mehr schliefen sie. Jetzt hatte er den festen Felsboden unter den Wurzeln des Hügels erreicht und stieß in die Gänge vor, die in den massiven Stein getrieben waren; aber sie konnten weder zahlreich sein noch sehr viel tiefer hinunterführen. Plötzlich befiel ihn die Angst, jene Kreaturen könnten so winzig werden, daß er sie nicht mehr sehen und nicht mehr mit ihnen reden könnte, so daß ihm das Geheimnis des Ursprungs verborgen bleiben würde. 22
Aber hatte ihm Nokoma nicht gesagt, daß alle Alten das Geheimnis kannten? Natürlich. Doch er wollte es von den Allerältesten hören. Er wollte es jetzt – so oder so. »Wer ist der Älteste? Ist hier das Ende? Ist das der Anfang? Wacht auf!« rief er, als er sicher war, daß er sich im tiefsten und ältesten Raum befand. Einige wachten auch auf und fragten: »Ist heute Ritual?« Kleiner als Mäuse waren sie, nicht größer als Bienen, und vielleicht älter als Maus und Biene. »Dies ist ein Sonder-Ritual!« verkündete Ceran. »Berichtet mir, wie es begann!« Was war das für ein Geräusch – zu leise, zu verstreut, um ein richtiges Geräusch zu sein? Es klang wie das Lachen von hundert Milliarden Mikroben. Es war die Heiterkeit jener winzigen Dinger, die zu ihrem Fest erwachten. »Wer ist der Allerälteste?« fragte Ceran, denn ihr Gelächter störte ihn. »Wer ist der Älteste und der Erste?« »Ich bin die älteste, die allerletzte Großmutter«, sagte eine der Kreaturen fröhlich, »alle die anderen sind meine Kinder. Bist du auch eins von meinen Kindern?« »Natürlich«, sagte Ceran, und ein ungläubiges Gelächter schwirrte aus der unzählbaren Menge hoch. »Dann mußt du das allerletzte Kind sein, denn du bist anders als alle anderen. Wenn das so ist, dann ist das Ende genauso komisch, wie der Anfang war.« »Wie war es am Anfang?« Vor lauter Wißbegier blökte Ceran wie ein Schaf. »Du bist die Erste. Weißt du noch, wie du ins Sein getreten bist?« »O ja, o ja«, lachte die letzte Großmutter, und die 23
Fröhlichkeit der kleinen Dinger schwoll jetzt zu einem richtigen Geräusch an. »Wie fing es an?« drängte Ceran. Er hüpfte und tänzelte vor Aufregung. »Oh, es war so ulkig, wie es anfing, so ein Spaß, so komisch, daß du es nicht glauben würdest!« kicherte die Großmutter. »So ein Witz! Ach, was war das für ein Witz!« »Dann erzähl mir den Witz! Wenn eure Art durch einen Witz entstanden ist, dann erzähl mir doch endlich diesen kosmischen Ulk!« »Erzähl dich selbst!« Die Stimme der Großmutter kungelte wie silberne Glöckchen. »Wenn du zu meinen Kindern gehörst, bist du ja ein Teil von diesem Witz. Ach, es ist unglaublich komisch! Wie schön, wenn man aufwacht und lacht und dann wieder einschläft!« Verdammte giftgrüne Frustration! So nahe dran zu sein und dann von einer kichernden Biene weggestoßen zu werden! »Schlaf nicht wieder ein! Sag mir sofort, wie es angefangen hat!« schrillte Ceran und hielt die letzte Großmutter zwischen Daumen und Zeigefinger fest. »Das ist nicht das Ritual!« protestierte die Großmutter. »Beim Ritual mußt du drei Tage lang raten, wie es war, und jedesmal sagen wir: Nein, nein! Es war noch neunmal verrückter, rate noch ein bißchen weiter!« »Ich will aber nicht drei Tage lang raten! Sag es mir sofort, oder ich zerquetsche dich!« drohte Ceran, und seine Stimme schwankte dabei. »Ich sehe dich an, du siehst mich an – ich glaube nicht, daß du es tun wirst«, sprach die allerletzte Großmutter gelassen. 24
Jeder der harten Männer von der Expedition hätte es getan – hätte sie zerquetscht, und dann noch eine und noch eine dieser Kreaturen, bis ihm eine das Geheimnis verraten hätte. Wenn Ceran eine Brutal-Persönlichkeit angenommen hätte, und einen Brutal-Namen, dann hätte er es sofort getan. Wäre er Gutboy Barrelhouse gewesen – dann sofort. Aber als Ceran Swicegood konnte er das nicht. »Sag es mir doch!« bettelte er verzweifelt. »Mein ganzes Leben lang habe ich herauszufinden versucht, wie es angefangen hat, wie alles angefangen hat. Und du weißt es!« »Wir wissen es. Ach, war das komisch! So ein Witz! So blöd, so närrisch, so grotesk! Keiner könnte es erraten, keiner glauben!« »Sag es mir! Sag es mir doch!« Ceran war aschgrau vor Hysterie. »Nein, nein, du bist keins von meinen Kindern!« gluckste die letzte Großmutter. »Es ist ein zu komischer Witz, als daß man ihn einem Fremden erzählen könnte. Es wäre eine Beleidigung für einen Fremden, ihm etwas so unglaublich Blödes zu erzählen. Das geht nicht. Fremde können sterben. Soll ich auf mein Gewissen nehmen, daß ein Fremder vor Lachen gestorben ist?« »Sag es mir! Beleidige mich doch! Laß mich doch vor Lachen sterben!« Aber Ceran starb beinahe vor Weinen über den verzehrenden Schmerz, der ihn auffraß, als Millionen bienenwinziger Dinger lachten und glucksten und kicherten: »Ach, war das komisch, wie es anfing!« Und sie lachten und lachten. Und lachten weiter … bis Ceran Swicegood unter seinen Tränen auch 25
lachen mußte und mit schleppenden Schritten zum Raumschiff zurückkehrte und immer noch lachte. Vor der nächsten Reise änderte er seinen Namen in Blaze Bolt und herrschte siebenundzwanzig Tage lang über eine liebliche Meeresinsel auf M 81; aber das ist eine andere und wesentlich unerfreulichere Geschichte.
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Land der großen Pferde »Sie kamen und nahmen uns unser Land weg«, hatten die Leute immer gesagt. Aber niemand hatte sie verstanden. Zwei Engländer, Richard Rockwell und Seruno Smith, rollten in einem geländegängigen Jeep durch die Wüste Thar. Es war ein fahles, rötliches Land, mehr Stein- als Sandboden. Es sah aus, als hätte jemand die Oberschicht abgestreift und das nackte Land unbedeckt liegengelassen. Sie hörten Donner, und das konnten sie nicht begreifen. Sie sahen sich an, der blonde Rockwell und der dunkle Smith. In dieser ganzen Gegend zwischen Neu-Delhi und Bahawalpur donnerte es niemals. Wo sollten auch in dieser regenlosen nordindischen Wüste die Gewitter herkommen? »Wollen mal diesen Saumpfad hochfahren«, sagte Rockwell zu Smith und ließ den Wagen klettern. »Hier regnet es niemals, aber einmal hat es mich in einer Gegend, wo es nie regnet, in einem Flußbett erwischt, und da bin ich beinah ersoffen.« Es donnerte wieder, schwer und rollend, als ob es sagen wollte: Ihr habt schon richtig gehört. »Diese Senke heißt Khuti Tavdavi – Kleiner Fluß«, sagte Smith nachdenklich. »Möcht’ mal wissen, warum.« Dann warf er sich im Wagensitz zurück, als sei er über sich selbst erschrocken. »Rockwell, warum habe ich das gesagt? Ich habe doch dieses Flußbett noch nie gesehen. Wieso fällt mir plötzlich solch ein Name ein? Aber so eine Senke in dieser flachen Gegend könnte ein kleiner 27
Fluß sein, wenn es hier jemals regnen würde. Dieses Land kann keinen irgendwie signifikanten Niederschlag haben. Es gibt nirgends Erhöhungen, die vorüberziehende Regenwolken anzapfen könnten.« »Ich denke jedesmal darüber nach, wenn ich hierher komme«, sagte Rockwell und hob die Hand zu den schimmernden Höhen – Das Land der Großen Pferde, die berühmte Luftspiegelung. »Wenn das da drüben Wirklichkeit wäre, dann hätten wir hier eine üppige Savanne.« Die beiden waren Mineralogen, die Bodenuntersuchungen vornahmen, wenn ein Gelände aus der Luft ertragversprechend aussah. Aber mit der Wüste Thar war es ärgerlich: sie hatte zwar alles – Blei, Zink, Antimon, Kupfer, Zinn, Bauxit – aber in Mengen, die knapp unter dem Abbau-Ertragsminimum lagen. Keine Schürfung in der Thar würde einen Gewinn abwerfen, aber überall knapp die Kosten einbringen. Jetzt blitzte es über den Gipfeln der Fata Morgana, und das hatten sie noch nie gesehen. Der Himmel hatte sich bezogen und schien tiefer zu hängen. Es donnerte in rollenden Wellen; und eine akustische Fata Morgana gibt es nicht. »Entweder ist da ein sehr großer und sehr lebhafter Vogel zugange, oder es regnet tatsächlich«, sagte Rockwell. Und es hatte tatsächlich zu regnen angefangen, sanft, aber stetig. Es war angenehm, so im offenen Wagen durch den Regen und den Nachmittag zu tuckern. Regen in der Wüste ist immer so etwas wie eine Extra-Prämie. Smith sang ein munteres Lied in einer der Sprachen Nord-Indiens; eine Melodie, die einen frechen Schwung in sich hatte, doch verstand Rockwell den Text nicht. Es waren eine Menge Doppelreime dar28
in, und die Wörter waren mit Vokalen vollgestopft, als hätte ein Kind sie sich ausgedacht. »Woher zum Teufel kannst du diese Sprachen so gut?« fragte Rockwell. »Mir sind sie zu schwierig, und ich habe doch auch ganz gute linguistische Grundlagen.« »Ich brauchte sie nicht erst zu lernen«, sagte Smith, »ich brauchte mich bloß zu erinnern. Sie gruppieren sich alle um boro jib selbst.« »Um was? Wie viele von diesen Sprachen sprichst du eigentlich?« »Alle. Die Sieben Schwestern, wie sie genannt werden: Punjabi, Kashmiri, Gujarati, Marathi, Sindhi, Hindi.« »Deine Sieben Schwestern sind aber nur sechs«, spottete Rockwell. »Es heißt, daß die Siebente Schwester mit einem Pferdehändler durchgegangen ist«, sagte Smith; »aber man stößt immer noch in aller Welt hier und da auf dieses siebente Mädchen.« Des öfteren hielten sie an, um den Boden im Gehen zu prüfen. Schon die Farbe der neuentstandenen Bäche hatte für die beiden Mineralogen ihre Bedeutung; und dies war das erstemal, daß sie in dieser Gegend überhaupt Wasser fließen sahen. Sie kamen nur ungleichmäßig und langsam voran und legten auf diese Weise ein paar schlammige Meilen zurück. Auf einmal stieß Rockwell einen Ruf aus und fiel beinahe aus dem Fahrzeug. Er sah einen völlig fremden Mann neben sich sitzen; und das brachte ihn ganz durcheinander. Dann sah er, daß es Smith war, und diese Täuschung, der er unterlegen war, verblüffte ihn noch mehr. Und bald kam noch etwas anderes dazu. 29
»Irgendwas ist hier ganz und gar verkehrt«, sagte Rockwell. »Im Gegenteil – irgendwas ist hier sehr richtig«, antwortete Smith, und dann stimmte er noch ein Lied in einer dieser indischen Sprachen an. »Wir haben uns verirrt«, ließ Rockwell seine Besorgnis laut werden. »Es regnet so stark, daß wir kaum noch sehen können, was vor uns liegt; aber hier sollte es eigentlich nicht bergaufgehen. Diese Steigung ist nicht auf der Landkarte.« »Natürlich ist sie auf der Karte«, rief Smith, »es ist der Jalo Char.« »Der was?? Wie kommst du denn zu so einem Namen? Die Karte zeigt hier eine Ebene, und da sollte das Land auch eben sein.« »Dann stimmt die Karte nicht. Mann, das ist das lieblichste Tal der Welt! Es führt uns nach oben. Wie kann die Landkarte das vergessen haben? Wie konnten wir alle es solange vergessen?« »Smith! Was ist los? Bist du besoffen?« »Alles in Ordnung, sage ich dir. Ich bin nur eben wiedergeboren worden. Das ist wie Nachhausekommen.« »Smith! Wir fahren durch grünes Gras!« »Wunderbar! Ich könnte hier weiden wie ein Pferd!« »Diese Klippe, Smith! Sie dürfte nicht so nahe sein. Das ist ein Stück von der Fata Morgana.« »Herr, das ist ja Lolo Trusul!« »Aber das ist doch nicht Wirklichkeit! Das ist doch auf keiner topografischen Karte.« »Karte, Herr? Ich bin nur ein armer Kalo, der von solchen Dingen nichts weiß.« »Smith! Du bist doch geprüfter Kartograph!« »Kann sein, daß ich früher mal so ein Geschäft 30
betrieben habe. Aber die Klippe ist wirklich genug. Als Junge bin ich da hinaufgeklettert – in meiner anderen Jugend, meine ich. Und da drüben, Herr, ist Drapengoro Rez – der Grasige Berg. Und die Hochebene vor uns, wo wir jetzt hinauffahren, ist Diz Boro Grai – Das Land der Großen Pferde.« Rockwell stoppte den Jeep und sprang hinaus. Smith folgte ihm in glücklicher Benommenheit. »Smith, du bist knallverrückt«, keuchte Rockwell. »Und was ist mit mir los? Smith, wir haben uns irgendwie fürchterlich verirrt. Smith, schau auf den Streckenanzeiger und den Höhenmesser!« »Streckenanzeiger, Herr? Ich bin ein armer Kalo, der nichts weiß von solchen –« »Smith, verdammt nochmal, du hast doch diese Instrumente selbst montiert. Wenn sie stimmen, sind wir zweihundertfünfzig Meter zu hoch und sind sechzehn Kilometer in ein Hochland hineingeklettert, das eigentlich zu einer Fata Morgana gehört. Diese Klippen können einfach nicht hier sein. Und wir können auch nicht hier sein, Smith!« Aber Seruno Smith ging weiter, schaukelnden Schrittes wie ein Benommener. »Smith, wo rennst du hin? Hörst du denn nicht? Hast du …« »Habt Ihr mich gerufen, Herr? Und mit solch einem Namen?« »Sind wir denn alle beide so verrückt wie diese Gegend?« stöhnte Rockwell. »Ich habe doch drei Jahre lang mit dir zusammengearbeitet. Heißt du denn nicht Smith?« »Aber gewiß, Herr. Ich glaube, so nennen die Engländer einen Hufschmied oder Grobschmied. Aber mein Name ist Pettalangro, und ich gehe jetzt heim.« 31
Und der Mann, der Smith gewesen war, machte sich zu Fuß auf den Weg in das Land der Großen Pferde. »Smith, ich steige wieder in den Wagen und fahre zurück«, schrie Rockwell, »ich habe eine Scheißangst vor diesem Lande, das plötzlich ganz anders wird. Wenn eine Fata Morgana Wirklichkeit wird, dann ist es Zeit, daß man abhaut. Komm jetzt! Morgen früh sind wir in Bikaneer. Da ist ein Doktor und eine Whiskykneipe. Eins davon brauchen wir bestimmt.« »Danke, Herr, aber ich muß hinauf in meine Heimat«, rief Smith. »Es war sehr freundlich, daß Ihr mich ein Stück mitgenommen habt.« »Smith, ich laß dich wahrhaftig allein. Ein Verrückter ist immer noch besser als zwei.« »Ashava, Sarishan«, ertönte Smiths Abschiedsgruß. »Smith, eins mußt du mir zum Schluß noch erklären«, rief Rockwell in dem verzweifelten Versuch, ein Stück Vernunft zu finden, an dem er sich festklammern konnte, »wie lautet der Name der Siebenten Schwester?« »Alt-Romani«, rief Smith zum Abschied. Dann war er auf dem hohen Plateau, das sonst eine Fata Morgana gewesen war, verschwunden. In einer Dachstube in der Olive Street in St. Louis unterhielten sich ein Halbblut-Mann und eine Halbblut-Frau im Halbblut-Dialekt. »Das rez hat sich gerisert«, sagte der Mann. »Ich kann es sung wie brishindo. Gehen wir jal.« »Gut«, sagte die Frau, »wenn du awa bist.« »Zum Teufel, ich wette, ich kann für das heda, was wir hier haben, eine Menge bano riker. Ich hole kakko, daß er es kinna saro.« 32
»Wenn wir ein bißchen bachi haben, können wir bis zum areatjal sein«, sagte die Frau. »Nashiva, Weib, nashiva!« »Ja doch!« sagte die Frau und fing an, die Bündel zu packen. In Camargo im Staate Chihuahua in Mexiko verkaufte ein Autoschlosser sein Geschäft (eine wacklige Werkbank unter einem schattenspendenden Baum) für hundert Dollar und befahl seiner Frau zu packen – sie gingen weg, sagte er. »Weg von hier, wo das Geschäft so gut geht?« fragte sie. »Ich habe nur einen Wagen zu reparieren, und den krieg ich nicht hin«, sagte der Mann. »Aber wenn du den Wagen lange genug behältst, dann wird der Mann bezahlen, bloß damit du ihn wieder zusammenbaust, auch wenn du ihn nicht repariert hast. So hast du’s doch auch letztesmal gemacht. Und dann hast du doch noch ein Pferd zu beschlagen.« »Ich habe Angst vor diesem Pferd. Auf jeden Fall ist es wieder da. Los, wir hauen ab!« »Weißt du sicher, daß wir es finden können?« »Sicher weiß ich natürlich gar nichts. Wir werden in unserem Planwagen fahren, und unser krankes Pferd wird uns ziehen.« »Warum sollen wir mit dem Planwagen fahren? Wir haben doch sowas wie ein Auto?« »Ich weiß nicht warum. Aber wir fahren im Planwagen, und ich werde das große alte Hufeisen ans Spritzbrett nageln.« Auf einem Rummelplatz in Nebraska steckte ein Lazadives den Kopf aus dem Zelt und schnüffelte in der Luft. 33
»Es ist wieder da«, sagte er, »ich habe immer gesagt, daß wir es merken würden. Sind noch mehr Romani hier?« »Ich habe selbst ein bißchen rart in mir«, sagte ein Kumpel. »Dieser narvelengero dives ist ja sowieso nur ein Zweigroschengeschäft. Wir sagen dem Boß, er soll es sich in den eher stecken, und dann hauen wir ab.« In Tulsa im Staate Oklahoma kündigte ein Gebrauchtwagenhändler namens Gipsy Red den allertollsten Ausverkauf an: »Alles umsonst! Ich geh weg von hier! Holt euch die Papiere und fahrt los! Neun fast neue Schlitten und dreißig noch ganz gute! Alle umsonst!« »Denken Sie, wir sind verrückt?« fragten die Leute. »Da ist doch bestimmt ein Haken dabei.« Red legte die Papiere vor jeden Wagen und tat einen Ziegelstein obendrauf. Er stieg in das schlechteste Auto des ganzen Lagers und fuhr weg – für immer. »Alle umsonst!« schrie er nochmal, als er losfuhr. »Nehmt die Papiere und fahrt die Schlitten weg!« Sie stehen immer noch da. Denken Sie, die Leute sind so dumm, daß sie auf was reinfallen, bei dem möglicherweise ein Haken ist? In Galvestone fragte eine Kellnerin namens Margaret bei den Seeleuten herum, wie sie am besten eine Passage nach Karachi bekommen könnte. »Warum ausgerechnet Karachi?« fragte ein Matrose. »Ich dachte, das wäre der nächste große Hafen«, sagte sie. »Es ist wieder da, weißt du.« 34
»Irgendwie habe ich heute morgen auch gespürt, daß es wieder da ist«, sagte er. »Ich bin selber chal. Sicher, wir finden schon einen Pott, der dahin geht.« Lazadives, Dukkerin-Frauen, Kakki-boskros, Hegedusies, Clowns, Agenten, Grafen von Condom, Herzöge von Klein-Ägypten in tausend Städten und Dörfern parvellten ihren Brassel zusammen und machten sich reisefertig. In allen Ländern faßten einzelne Männer und ganze Familien plötzliche Entschlüsse. Athinganoi sammelten sich in den Hügeln oberhalb Salonikis in Griechenland; ihre Brüder aus Serbien, Albanien und vom Rhodope-Gebirge in Bulgarien stießen zu ihnen. Norditalienische Zingaris sammelten sich bei Pavia und zogen nach Genua, um zu Schiff zu gehen. Portugiesische Boemios zogen nach Porto und Lissabon. Die Gitanos aus Andalusien und ganz Süd-Spanien kamen nach Sanlucar und Malaga. Zigeuner aus Thüringen und Jenisch aus Hannover strömten nach Hamburg, um Schiffspassage zu finden. Gioboga und ihre mischblütigen Vettern, die Sheltas aus jedem cnoc und coill Irlands fanden Schiffe in Dublin, Limerick und Bantry. Die Tsigani aus dem Südosten Europas begannen, auf dem Landwege nach Osten zu ziehen. Die Menschen fuhren von zweihundert Häfen aller Erdteile und über tausend zum Teil längst vergessene Landstraßen. Balauros, Kalo, Nanusch, Melelo, Tsiganis, Moros, Romani, Flamencos, Cicaras – das vielnamige Volk fuhr zu Tausenden. Die Romani rai war unterwegs. Die zwei Millionen Zigeuner der Welt gingen nach Hause. 35
Im Institut konferierte der Professor Gregor Smirnow mit seinen Kollegen und Freunden. »Sie erinnern sich an die Arbeit, die ich vor einigen Jahren veröffentlicht habe«, sagte er, »in der ich die Hypothese aufstellte, daß vor mehr als tausend Jahren Raumwesen auf unserem Planeten landeten und eine Schicht unserer Erde mit sich fortnahmen. Sie alle haben damals diese Behauptung komisch gefunden, aber ich bin auf Grund minutiös durchgeführter isostatischer und eustatischer Analysen zu meiner Schlußfolgerung gelangt. Es kann keinen Zweifel darüber geben, daß es so war.« »Uns fehlt eine Erdschicht«, sagte Aloysius Shiplap. »Sie schätzten die weggenommene Schicht auf etwa zweitausendsechshundert Quadratkilometer Fläche, die an der stärksten Stelle etwas mehr als anderthalb Kilometer dick ist. Sie sagten, Ihres Erachtens wollten die Raumwesen diese Schicht in ihren Laboratorien analysieren, als Muster sozusagen. Wissen Sie etwas Neues über diese verlorengegangene Erdschicht, Gregor Fedorowitsch?« »Ich schließe die Untersuchung ab«, sagte Gregor. »Sie haben sie zurückgebracht.« Es war wirklich ganz einfach, jekvastetskero, zigeunerisch-einfach. Es sind immer nur die Gajos, die Nicht-Zigeuner dieser Welt, die auf einfache Fragen komplizierte Antworten geben. »Sie kamen und nahmen uns unser Land weg«, hatten die Zigeuner immer gesagt. Und eben das war auch geschehen. Die Raumwesen hatten eine Schleife unter dem Landstreifen hindurchgezogen, hatten ihn sanft geschüttelt, um die nervös gewordene Fauna loszuwerden, und dann hatten sie den ganzen Streifen zu Studienzwecken mitgenommen. Als Merkzeichen hinterließen sie ein körperloses 36
Scheinbild dieses Landes, so wie wir manchmal ein Namensschild oder ein Bild hinsetzen, um zu zeigen, wo das betreffende Objekt später einmal stehen soll. Dieses Abbild erblicken die Menschen oftmals als Fata Morgana. Die Raumwesen pflanzten solche Abbilder auch in den Geist der höheren Tierwelt ein, die von dem sich bewegenden Landstrich entflohen war. Das war der Heimkehr-Instinkt, der eine permanente Ansiedlung anderswo verhinderte, bis die Zeit für die Rückkehr gekommen sein würde; mit diesem Instinkt waren gewisse Gaben des Vorausschauens, Wahrsagern und Verständnisses für verborgene Dinge verbunden. Nunmehr hatten die Raumwesen diesen Landstreifen zurückgebracht, und seine alte Tierwelt kehrte wieder heim. »Was werden die – äh – – wohlwollendes Lächeln meinerseits – Raumwesen jetzt tun, Gregor Fedorowitsch?« fragte Aloysius Shiplap im Institut etwas anzüglich. »Nu – sie werden sich eine andere Scheibe von unserer Erde als Studienobjekt abschneiden«, antwortete Professor Smirnow. Erdbeben von niedriger Intensität durchschüttelten drei Tage lang die Gegend von Los Angeles. Das ganze Gebiet wurde evakuiert. Dann hörte man ein mächtiges Pfeifen vom Himmel her, wie das Signal eines abfahrenden Schiffes: »Alle Besucher von Bord!« Dann wurde die Erdoberfläche bis zu einer gewissen geringen Tiefe mit ihrer gesamten Außenstruktur abgelöst und fortgenommen. Dann war sie weg. Und dann wurde alles schnellstens vergessen. 37
Aus der Umfassenden Enzyklopädie des Zweiundzwanzigsten Jahrhunderts, Band I, Seite 389: ANGELENOS, (s. auch AUTOMOBILZIGEUNER und PFLAUMENPFLÜCKER). Eine gemischte ethnische Gruppe unbekannter Herkunft, die stark zum Nomadisieren mittels Kraftfahrzeugen neigt. Ethnologen sagen voraus, daß sie die letzten Benutzer dieser Vehikel sein werden; mehrere archaische, chromüberladene Modelle werden heute noch speziell für diesen Markt produziert. Diese Menschen sind keineswegs Bettler; viele sind von bedeutender Intelligenz. Sie betätigen sich häufig als Geschäftsleute, gewöhnlich als Immobilienhändler, Spieler, Hochstapler, Inhaber von Versandgeschäften für Universitätsdiplome, Agenten dieser oder jener Art. Sie bleiben jedoch selten längere Zeit am gleichen Ort. Ihre Freizeitbeschäftigungen sind merkwürdig. Sie fahren stunden- und tagelang auf alten, selten benutzten Autobahnzubringern und Landstraßen spazieren. Es hieß, daß die Mehrzahl der Angelenos rauschgiftsüchtig sei, aber Harold Freelove (der einige Monate lang als Angeleno lebte) hat nachgewiesen, daß das nicht zutrifft. Was sie bei ihren Lustbarkeiten (den sog. ›smog-crocks‹) inhalieren, ist ein schwarzer Rauch aus Kohlenstoff und Benzinrückständen, mit Monoxyd angereichert. Der Zweck ist nicht klar. Die Religion der Angelenos ist eine Mischung aus alten Kulten mit einem sehr starken eschatologischen Element. Das Paradies-Motiv wird durch einen mystischen ›Sunset-Boulevard‹ repräsentiert. Die Sprache der Angelenos ist ein farbiges, urtümliches und leicht obszönes Argot. Ihre eigenen Angaben über ihre Herkunft sind vage. »Sie kamen und nahmen uns unser Dizz weg«, sagen sie. 38
Übersetzung der Romani-Ausdrücke areat awa bano bedo brishindo jal
Abend? ja, gewiß, bereit Münze, Geld Sache, Ding Regen eigentlich: grün, frisch, roh; hier dem Sinne nach:) weg kakko Onkel, Vetter kalo Zigeuner kinna (kilna) Markt, kaufen narvelengero dives Rummelplatz lazadives Schausteller, Akrobat nashiva rennen, Eile rez Berg, Weinberg riker behalten, erhalten riser drehen, wenden (zurückkommen?) sung Geruch, riechen
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Ginny »Heute abend halte ich meinen Vortrag, Dismas«, sagte Dr. Minden, »und sie werden mich aus dem Saal buhen. Bei dem bloßen Gedanken daran fühle ich direkt, wie mir die Haare vom Schädel marschieren.« »Ach was, das geschieht Ihnen ganz recht, Minden. Nach den Andeutungen, die Sie mir gemacht haben, können Sie gar nicht verlangen, daß Ihr Vortrag ohne weiteres ankommt. Übrigens – so schlimm sind die Herren Kollegen doch auch wieder nicht.« »Nicht so schlimm? Hauser tutet wie ein wilder Gänserich! Und das klackernde Gelächter von diesem Goldbeater! Snodden kichert so laut durch die Nase, daß es von den Wänden widerhallt! Coopers Gebrüll klingt, als wenn leere Bierfässer die Treppe hinunterrollen, und Sie selbst – ich werde dabei einschrumpfen, Dismas. Stellen Sie sich die schlimmste Kakophonie vor, die jemals – ach nein! An so etwas Gespenstisches habe ich nicht gedacht!« Melodisches Geheul! Wundersames Geschnatter, felsenspaltende Hornrufe, deren Resonanz ganz offensichtlich zu mächtig war für ein so kleines Instrument! Jaulen, Woodoo-Gelächter, abgebrochenes Gröhlen, Nashorngegrunz! Und das Kind schoß in Purzelbäumen aus den hohen Felsen der Doolan’s Mountains hervor und hüpfte wie ein Wasserfall die Flanke des Hügels hinunter. Und die beiden Männer lachten. »Ihre Ginny ist tatsächlich die unheimlichste Kakophonie, die ich mir vorstellen kann, Dismas«, sagte Dr. Minden. »Ich habe Angst vor ihrem Geschrei, und ich liebe es. Ihre Tochter ist das bemer40
kenswerteste Geschöpf auf der ganzen Welt. Sag uns was, Ginny! Ich wünschte, ich könnte ein Mittel finden, daß du immer grade vier Jahre alt bleibst.« »Oh, das habe ich schon selbst gefunden, Doktor Minden!« flötete Ginny im Näherkommen; ihre Bewegungen hatten etwas von der atemlosen Grazie einer jungen Gazelle, vereint mit dem plumpen Hoppeln eines Wildschwein-Frischlings. »Ich habe einen Trick, genau wie die Woodoo-Frau; die aß Wasserkäfer-Eier und wurde auch nicht älter, wissen Sie.« »Was wurde denn schließlich aus ihr, Ginny?« fragte Dr. Minden das Kind. »Oh – nach einer Weile kriegte sie graue Haare und Runzeln. Und nach noch einer Weile fielen ihr die Haare und die Zähne aus, und dann starb sie. Aber sie wurde niemals älter. Sie hat nur so getan und alle Leute angeschmiert. Das tu ich auch.« »Ja, ich weiß, das tust du, Ginny, und auf die verschiedensten Arten. Na, hast du denn auch Wasserkäfer-Eier gegessen, damit du nicht älter wirst?« »Nein, ich kann die Stellen nicht finden, wo sie sie legen, Doktor Minden. Ich habe meinen eigenen Trick, der ist sogar noch besser.« »Weißt du, Ginny, wenn du so richtig loslegst, bist du das lauteste kleine Mädchen auf der ganzen Welt.« »Ja, ich weiß. Gestern habe ich gewonnen. Susanna Shonk meinte, sie wäre die lauteste. Wir haben eine Stunde lang gebrüllt. Heute ist Susanna zu Hause geblieben, weil ihr der Hals innen noch ganz wund ist, aber mir hat es gar nichts ausgemacht. He – war das Haus da schon immer da?« »Das Haus? Aber das ist doch dein eigenes Haus, 41
Ginny«, sagte ihr Vater, Dr. Dismas, sanft. »Du hast doch dein ganzes Leben lang darin gewohnt. Jeden Tag gehst du tausendmal ein und aus.« »Komisch, daß ich es noch nie gesehen habe«, sagte Ginny. »Ich will lieber mal reingehen und sehen, wie es innen aussieht.« Und Ginny huschte in das Haus, in das sie jeden Tag tausendmal hinein- und hinausging. »Ich werde Ihnen ein Geheimnis verraten, Dismas«, sagte Dr. Minden. »Ihre kleine Tochter Ginny ist nicht eigentlich schön.« »Aber alle finden sie schön, Minden.« »Ich weiß. Alle halten sie für das schönste Kind der Welt. Das tat ich auch, bis grade eben jetzt. Ich werde es auch gleich wieder tun, wenn sie aus dem Haus kommt. Aber mein kleiner Sohn Krios, der ebenso alt ist wie sie, hat mir verraten, wie man sie ansehen muß; und das habe ich eben getan: Für einen Augenblick, der außerhalb ihrer unaufhörlichen Bewegung lag, habe ich mich gezwungen, sie als etwas Statisches, etwas Ruhendes zu betrachten. Sie ist grotesk, Dismas. Immer, wenn sie sich nicht bewegt, ist sie grotesk.« »Nein, sie ist wie die Ur-Materie. Sein und Bewegung sind für sie dasselbe, und das eine kann nicht ohne das andere existieren. Ich habe sie auch noch nie still gesehen, nicht mal, wenn sie schläft. Sie ist die unruhigste Schläferin, deren Schlaf jemals ein Mensch beobachtet hat. Sie lacht und singt im Schlaf. Ihre Mutter sagt immer, sie ist unser schöner Kobold.« »Genau. Sie ist ein Kobold, ein Äffchen, ein Troll. Sie ist sogar ein bißchen untersetzt gebaut wie ein Troll. Dismas, sie hat ein Affengesicht und O-Beine und ein richtiges Kobold-Bäuchlein.« 42
»Aber nein, das ist nicht wahr. Da geht sie ja. Aus dem Hause und wieder in die Felsen hinauf, und sie ist so schön, daß ich jedesmal zittere, wenn ich sie ansehe. Vier Jahre alt, und sie kann immer noch auf die Welt schauen und sagen: ›Komisch, daß ich das noch nie gesehen habe!‹. Ja, wir haben eine vielschichtige Tochter, Minden; und außerdem einen Nachbarn, der entweder ein sehr tiefer oder aber nur ein sehr dunkler Denker ist. Sie füttern mich dauernd mit kleinen Brocken aus Ihrem Vortrag – ich nehme an, daß Sie mich neugierig machen wollen. Und der Titel – Kontingente Mutation‹ – also zufallsbedingte Mutation? Was ist zufallsbedingt, wer ist zufallsbedingt?« »Wir, Dismas. Wir sind eine kontingente, eine zufällig entstandene, befristete, provisorische und ganz und gar unwahrscheinliche Spezies. Mein Vortrag ist schlecht konzipiert und schlecht aufgebaut, und mir schaudert vor der Aufnahme, die er finden wird. Aber er handelt vom Menschen, und der ist ebenso schlecht konzipiert und ebenso schlecht aufgebaut wie mein Vortrag. Der geht nämlich davon aus, daß sich der heutige Mensch, und zwar zufolge einer erst kürzlich erfolgten und ganz und gar unglaublichen Mutation aus dem unmöglichsten aller Vorfahren entwickelt hat, nämlich aus dem Xauenanthropus, dem Xauen-Menschen. Die Schlußfolgerungen, die sich aus dieser Abstammung ergeben, machen mir Angst.« »Minden, haben Sie den Verstand verloren? Wo ist dann da eine Mutation? Die Xauen waren doch schon moderne Menschen. Da ist doch gar keine Abstammung und gar keine Mutation nötig gewesen. Alle Xauen-Funde sind vor fünfzehn Jahren gemacht worden. Ein Blick auf den Xauen, und je43
dermann konnte sofort sehen, daß die Neandertalund Grimaldi- und Cro-Magnon-Menschen enge Verwandte innerhalb ein und derselben Spezies waren – unserer eigenen Spezies. Jene waren die Schablone, der Hauptschlüssel. Sie enträtselten jedes Rätsel. An ihnen konnten wir erkennen, warum das Kinn oder das Fehlen des Kinns nur ein Rassenmerkmal war. Nichts unterscheidet den XauenMenschen von uns selber, ausgenommen, daß die erwachsenen Exemplare schlechtgebaute Schlakse waren, und vermutlich nicht ganz gesund. Die Xauen sind tatsächlich moderne Menschen. Wenn Sie an fünfzehn Jahre alten, gesicherten Fakten herumstottern, dann ist das doch nichts Revolutionäres. Minden, ich dachte, Ihr Vortrag sei ein großer Schritt nach vorn. Aber er ist ja nur, als ob Sie von einer zwei Zoll hohen Kante hinuntertreten.« »Ja, ein Schritt von einer zwei Zoll hohen Kante, der in den Abgrund fuhrt, Dismas, nach rückwärts und von hinten um die Welt herum, so daß Sie dabei auf den Kopf zu stehen kommen und zum Brüllaffen werden. Es ist kein einfacher, kein normaler Schritt. Wenn ich recht habe, Dismas, dann vollzog sich unsere Deszendenz vom XauenMenschen durch eine unglaubliche, plötzliche und einmalige Mutation, die hinsichtlich der Wirkung sowohl als auch der Richtung, bisher völlig mißverstanden worden ist.« »Ich bin selbst nie so recht befriedigt gewesen, was den Xauen-Menschen anlangt. An der ganzen Geschichte ist irgend etwas Mißgestaltetes. Natürlich kennen wir die Xauen nur durch die Skelette von sechsundneunzig Kindern, drei Halbwüchsigen und zwei Erwachsenen. Wir werden bestimmt noch mehr finden.« 44
»Wenn das der Fall ist, dann in der gleichen Proportion. Oh, wir werden überhaupt nicht merken, um was es geht. Aber kommt Ihnen dieses Zahlenverhältnis nicht auch seltsam vor? Wie kommt es, daß so viele Kinder darunter sind? Und wie kommt es – denken Sie lange darüber nach, ja? – daß sechsundachtzig dieser Kinder von gleicher Größe und allem Anschein nach auch von gleichem Alter waren? Die Xauen-Skelette stammen aus neun Grabungen, die geographisch und chronologisch dicht beieinanderliegen. Und von dem Gesamtbestand, einhundertein Skelette, stammen sechsundachtzig von vier Jahre alten Kindern. Sicher sind die Xauen moderne Menschen! Sicher sind sie wie wir selbst, bis zur Kinnspitze! Aber sechsundachtzig Vierjährige auf einhundertein Menschen – das ist kein modernes Verhältnis!« »Dann erklären Sie es doch, Minden! Ich nehme an, Sie versuchen es in Ihrem Vortrag. Oh, bei den verstreuten Knochen unserer Ahnen! Da kommen die frommen Irren.« Die Doktoren Dismas und Minden hatten auf Feldstühlen in dem offenen Parkland gesessen, das zu ihrem schönen Besitz in dem Gebiet zwischen den Doolan’s Mountains und dem Niederwald gehörte. Dr. Dismas zog eine kurzschnauzige Pistole aus dem Achselhalfter, als er die Gruppe der religiösen Psychopathen auf diesem Wege sah, den sie schon öfter entlanggeschlurrt waren. »Schert euch weg!« blaffte Dismas, als die Irren in gedrängter Gruppe aus dem Unterholz hervorkamen und sich näher heranschoben. »Ihr habt hier nichts zu suchen! Ihr seid mit eurem blöden Gefrage schon ein dutzendmal hiergewesen!« »Nein, nur dreimal«, sagte der Irrenführer. Er 45
war glattrasiert und kurzhaarig nach der alten Mode, die von Fanatikern noch immer bewahrt wurde, und die Narrheit stand ihm in jeder Falte seines Gesichts geschrieben. »Wir suchen etwas ganz Einfaches«, schnüffelte er. »Wir wollen nur das Weib finden und es töten. Ich glaube, daß ihr uns helfen könnt, das Weib zu finden.« »Hier ist kein Weib außer meiner Frau«, sagte Dr. Dismas ärgerlich. »Ihr habt ja selbst gesagt, daß sie nicht dieses Weib ist. Geht jetzt, und kommt nicht wieder hierher!« »Aber nach allem, was wir wissen, muß das Weib hier irgendwo in der Nähe sein«, beharrte der Irrenführer. »Es ist das Weib, das den Samen des Unheils austragen wird.« »Ach was, manche Leute sagen, daß meine Tochter Ginny ein Samenkorn des Unheils ist. Schert euch weg jetzt!« »Wir kennen Ginny. Sie kommt manchmal herunter, uns zu verspotten. Ginny ist nicht das Samenkorn, aber sie hat etwas davon an sich. Ginny ist schon geboren und schon vier Jahre alt. Das Korn, das wir suchen und das wir vernichten wollen, ist noch im Mutterleib. Bist du sicher, daß deine Frau …« »Verdammt nochmal, wollt ihr etwa einen öffentlichen Schwangerschaftstest? Nein, meine Frau ist nicht schwanger.« Dismas schoß ein paarmal vor die Füße des Irrenführers, und die ganze Psychopathenbande schlurrte davon. »Wir wollen ja nur eine Kleinigkeit, wir wollen ja nur das Weib finden und töten«, schnüffelten sie dabei. »Die könnten recht haben, Dismas«, sagte Dr. Minden. »Ich warte selbst auf das Samenkorn des 46
Unheils. Ich glaube, daß es schon mehrmals aufgegangen ist, und solche Psychopathen haben es schon mehrmals vernichtet. Die Xauenanthropus Mutation kann jederzeit wieder aushaken. Die Möglichkeit dazu bestand schon immer. Und wenn – dann kann es durchaus geschehen, daß die ganze menschliche Welt verschwindet. Aber diesmal werden sie das Weib nicht finden und töten können.« »Das stinkt schlimmer nach faulem Fisch als Edwards Lehrbuch der Ichthyologie, wie wir auf der Schule zu sagen pflegten. Ich fange an zu begreifen, warum Sie Angst davor haben, wie man Ihren Vortrag aufnehmen wird. Scheinbar ist bei Ihnen in den letzten Jahren, ebenso wie bei mir, ein kleines Samenkorn des Unheils aufgegangen.« »Ja, mein jüngerer wie auch mein älterer Sohn benehmen sich neuerdings höchst merkwürdig, besonders in ihren Beziehungen zur Familie Dismas. Ihre Tochter Agar verschmäht meinen Sohn Dali – oder ist es umgekehrt? Oder werden sie beide von Ihrer kleinen Tochter Ginny verschmäht? Soweit ich es übersehen kann, hat Ginny ihnen gesagt, diese Geschichten seien out, nicht mehr nötig, nicht einmal mehr gefragt. Und meinen vierjährigen Sohn Krios hat Ihre Ginny fast verrückt gemacht. Er ist in mancher Hinsicht so weit voraus, und in anderer so zurückgeblieben. Es sieht so aus, als ob er unregelmäßig gewachsen ist und dann plötzlich zu wachsen aufgehört hat. Ich mache mir Sorgen um ihn.« »Ja, Ginny hat sich jetzt mehrere kleine Freunde zugelegt. Sie sagt, man bricht eine Festung mit einem großen Rammbock auf, und dabei geht der Rammbock kaputt, und man wirft ihn weg. Und dann sucht man sich bessere Werkzeuge und macht weiter. 47
Ich weiß nicht, wovon sie redet. Aber Krios ist so eifersüchtig, wie es nur ein leidenschaftlicher Vierjähriger sein kann.« »Krios sagt, Ginny sei schlecht, und sie mache ihn auch schlecht. Er sagt, er weiß die Worte nicht für die Schlechtigkeiten, die sie begangen haben, aber er würde dafür in die Hölle kommen.« »Ich wußte gar nicht, daß man Kindern heute noch etwas über die Hölle beibringt.« »Das ist auch nicht der Fall, aber sie haben entweder einige intuitive Kenntnisse, oder eine kindliche Volkssage darüber besteht noch immer fort. Oh, hier kommen die böse Ginny und ihre Mutter, und beide sehen so unerbittlich aus. Sie haben zwei charakterstarke Frauen im Hause, Dismas. Ich wünschte, Agar wäre auch von der Art, denn Dali hat keinen starken Charakter, und eins von den beiden Kindern sollte wenigstens einen haben.« Ginny und ihre Mutter Sally hielten sich bei den Händen und trugen eine Miene zur Schau, als ob irgend etwas unbedingt und sofort erledigt werden müßte. »Vater, ich will in dieser Sache fair sein«, sagte Ginny mit fester Stimme. »Was mir an mir gefällt, ist, daß ich immer so fair bin.« »Das gefällt mir auch an dir, Ginny«, sagte Dr. Dismas. »Und worum geht es denn jetzt?« »Ich habe Mutter nur gebeten, daß sie mir dreitausendsiebenhundertachtzig Erdnußbutterschnitten zurecht macht. Ist das nicht eine faire Bitte?« »Das weiß ich nicht so genau«, sagte Dr. Dismas. »Du würdest ziemlich lange brauchen, um die alle aufzuessen.« »Natürlich – zwölfhundertsechzig Tage. Aber 48
das sind nur drei Stück für jeden Tag, den ich mich in meinem Nest oben in den Bergen versteckt halten muß. Ich habe das ganz allein im Kopf ausgerechnet, ohne Papier. Eine Menge Kinder, die schon zur Schule gehen, können lange nicht so gut kopfrechnen wie ich.« »Ich weiß. Eine frühreife Tochter ist ein gemischter Segen«, sagte ihr Vater. »O Ginny, du kriegst den Po voll«, sagte ihre Mutter. »Ich habe dir drei Sandwiches gemacht, und du hast sie noch nicht mal essen wollen.« »Vater, wer ist diese Frau, die so grob mit mir redet?« fragte Ginny. »Das ist deine Mutter, Ginny. Du warst jeden Tag deines Lebens mit ihr zusammen, und vorher auch schon. Ihr seid miteinander aus dem Haus gekommen, und du stehst noch Hand in Hand mit ihr da.« »Komisch, daß ich sie noch nie gesehen habe«, sagte Ginny. »Ich glaube nicht, daß diese Frau überhaupt meine Mutter ist. Na schön, ich werde mir die Brote von meinen Dienern machen lassen. Daß dich die Schlangen totbeißen, Weib! – Oh, nein, nein! Keiner darf mich so anfassen!« Melodisches Gekreisch! Jammertöne, deren Resonanz viel zu voll war für ein so kleines Instrument, als die Mutter Ginny ins Haus zerrte, um ihr den Po vollzuhauen. Himmelansteigendes Geheul, klagendes Gequiek von hundert Wildsäuen und zur Hölle verdammten Kobolden! »Sie ist gut bei Stimme«, sagte Dr. Minden. »Wenn sie von ihren Dienern spricht, dann meint sie Ihre Tochter Agar und meinen Sohn Dali. Das macht mir Angst, denn ich weiß beinahe, was dahintersteckt. Es ist unheimlich, wenn zwei so kon49
taktfähige junge Leute sagen, daß sie nie heiraten würden, weil ein Kind von vier Jahren es ihnen verbietet. Es ängstigt mich um so mehr, als ich anfange, den Mechanismus zu begreifen, der da am Werke ist.« »Was ist das für ein Mechanismus, Minden?« »Die mutationalen Hemmungen. Es ist eine ziemlich verwickelte Angelegenheit. Erinnern Sie sich an die Kreisch-Affen in den Sümpfen von Rhodesien – zwanzig Jahre ist das etwa her?« »Undeutlich. Lästige, kleine, zerstörungswütige Affen, die man jagen und ausrotten mußte – das war beinahe so etwas wie ein religiöser Kreuzzug, wenn ich mich recht erinnere. Eine plötzliche Wildheit, die innerhalb einer Spezies ausbrach. Aber was hat das mit Ihrer Hypothese zu tun?« »Dismas, diese Tiere stellen den ersten, den ursprünglichen Versuch dar; und der mißglückte. Andere werden folgen, und schließlich wird einer nicht mißglücken. Es wird erzählt, daß die frommen Kreuzfahrer sagten, kein Kind könne geboren werden, solange diese Brüllaffen bestünden, denn die Affen selbst seien Menschen-Kinder. Also, es waren keine Kinder, und menschlich waren sie auch nicht. Aber in gewisser Hinsicht sind sie beides dennoch gewesen. Oder zum wenigsten –« »Minden, wissen Sie überhaupt, was Sie damit sagen wollen?« »Kaum, Dismas. Aber hier sind die ›Diener‹«. Dali Minden und Agar Dismas kamen in einem kleinen zusammengestoppelten Auto angefahren und hielten. »Was hör ich da für einen Quatsch? Ihr beiden wollt nicht heiraten?« fragte Dr. Dismas. »Nur, wenn Ginny es sich nicht anders überlegt, 50
Vater«, sagte Agar. »Ach, sag bloß nicht, wir sollen dir das erklären. Wir verstehen es selbst nicht.« »Ihr seid ein Paar verdammte nutzlose Drohnen«, brummte Dismas. »Sagen Sie das nicht, Dismas!« stieß Minden hervor. »Ich fange jetzt an, vor allem und jedem Angst zu kriegen. ›Drohnen‹ hat in diesem Fall eine ganz bestimmte technische Bedeutung.« »Ginny hat soeben eine untragbare Schande erlitten«, grinste Agar. Sie war ein nettes, freundliches Mädchen. »Jetzt sitzt sie in ihrer Höhle in den Doolan’s Mountains und nimmt übel. Sie hat uns grade eben wissen lassen, daß wir sofort zu ihr kommen sollen.« »Wie hat sie euch das wissen lassen?« fragte Dr. Dismas. »Ihr seid doch grade eben erst hergekommen?« »Ach, frag nicht, Vater, wir können es dir doch nicht erklären. Sie sendet uns eben eine Botschaft, wenn wir kommen sollen. Wir verstehen es auch nicht. Wir gehen zu Fuß hinauf.« »Wo soll das nur enden?« fragte Dr. Dismas, als die beiden grinsenden jungen Drohnen wiegenden Ganges den Berg hinanschaukelten. »Ich weiß es nicht, Dismas«, sagte Dr. Minden, »aber ich glaube, es könnte durchaus mit einem Vers beginnen: ›Salamander tun es, Kaulquappen und Molche warum nicht auch solche, wie du und ich?‹ Es ist ein Vers, den die Vierjährigen singen – Sie sind vielleicht nicht so richtig im Bilde über diesen 51
Trend. Und das Sonderbare ist, daß die Kaulquappen und Salamander und Molche es grade jetzt tun, und zwar stärker als je zuvor. Lesen Sie’s in Higgletons neuestem Bericht nach, wenn Sie mir nicht glauben.« »Ach, diese blödelnden Biologen! Was ist es denn, was diese glibberigen Viecher jetzt eifriger betreiben als je zuvor?« »Neotische Vermehrung natürlich. In manchen abgeschlossenen Biotopen vermehren sich die Kaulquappen schon seit Jahren als Kaulquappen, und die Form des ausgewachsenen Frosches verschwindet. Es hat natürlich immer derartige Einzelfälle gegeben, aber jetzt wird das zur Regel. Das gleiche gilt von den Molchen und Salamandern. Und vergessen Sie nicht, daß alle diese drei Tierarten kontingente Mutationen sind, wie der Mensch. Aber wieso wissen die vierjährigen Kinder davon, wenn es noch immer eins der bestgehüteten Geheimnisse der Biologen ist? … Da kommt meine Frau. Noch mehr Ärger in der Familie, Clarinda?« »Oh, Krios hat sich im Badezimmer eingeschlossen; er will nicht rauskommen und gibt auch keine Antwort. Er hat sich den ganzen Vormittag einfach scheußlich benommen. Hast du den Hauptschlüssel bei dir, den du neulich gemacht hast?« »Hier. Nun hol den Bengel raus, verhau ihn sanft, aber so daß es wehtut, und erklär ihm, daß wir ihn sehr heb haben, und daß seine Sorgen unsere Sorgen sind. Und dann mach Essen. Diese Familie hier ißt überhaupt nicht, allenfalls ErdnußbutterSandwiches, und hat noch nie daran gedacht, mich zum Mittagessen einzuladen. Geh wieder rüber, Clarinda, und hör auf zu flennen.« »Irgendwas ist wirklich nicht in Ordnung mit 52
Krios«, schluchzte Clarinda, ging jedoch wieder nach nebenan. »Wo wollen wir wieder anfangen, Dismas?« fragte Dr. Minden. »Bei den heulenden Affen in den rhodesischen Sümpfen, die einstmals menschliche Kinder gewesen sein mögen? Aber das glaubt kein Mensch. Oder bei den neotischen Salamandern und Molchen und Lurchen? Oder bei den Xauen, die entweder unsere Großeltern oder unsere Enkel waren? Oder bei uns selbst?« »Bleiben wir mal eine Weile bei den Xauen. Sie haben vorhin den Faden noch nicht ganz abgewickelt.« »Der Homo sapiens stammt von den Xauen ab. Der Australopithecus nicht. Der Sinanthropus nicht. Das waren Geschöpfe aus einer Seitenlinie. Aber der Neandertaler, der Cro-Magnon und wir selber gehören alle zu ein und derselben Spezies, und wir stammen vom Xauen ab. Es stimmt jedoch nicht, daß wir hundertundein Skelette der Xauen besitzen. Wir haben über zwanzigtausend, aber die meisten bezeichnen wir als Ouezzan-Affen.« »Minden, Sie sind verrückt.« »Ich rede von den neunzig Zentimeter hohen, großköpfigen, aufrechtgehenden Affen, die mit vier Jahren geschlechtsreif und ausgewachsen und mit vierzehn sehr alt waren. Hier und da gab es in einem Wurf auch mal eine Sonderform, Hermaphroditen oder Geschlechtslose; und die kamen sine effectu durch das pubertäre Alter und wuchsen weiter. Das waren schlaksige Drohnen, Diener der aktiven Art, und natürlich unfruchtbar. Sie machten höchstens ein Prozent der Population aus und waren bedeutungslos. Aber eines Tages fingen sie an zu züchten und entwickelten eine mutationale Hem53
mung gegen die normale Entwicklung, und der Mensch – die privilegierte Mutation – war geboren. Die Ouezzan-Affen, deren Durchgangsstadium die Xauen bildeten, waren die gleiche Art wie die Brüllaffen aus den rhodesischen Sumpfgebieten – aber sie entwickelten sich in entgegengesetzter Richtung. Sie hatten keine Sprache, kein Feuer, sie machten sich auch keine Werkzeuge. Aber eines schönen Tages waren sie Xauen, und am nächsten Tage Menschen. Sie waren die privilegierte Mutation, die aber, davon bin ich überzeugt, keineswegs permanent ist. Dismas, die einhundertein anerkannten XauenSkelette stammen eben nicht von sechsundneunzig Kindern (von denen sechsundachtzig anscheinend vier Jahre alt waren), drei Halbwüchsigen und zwei Erwachsenen. Sie stammen vielmehr von zehn größeren und kleineren Kindern, sechsundachtzig Erwachsenen, zwei Mutanten und drei Zwittern. Greifen wir mal das Problem von der Flanke an. Vor ein paar Jahren amüsierte sich ein Biologe damit, die Beziehung zwischen Herzschlag und Lebensdauer tabellarisch aufzuzeigen. Bei allen Säugetieren außer einem, so fand er heraus, beträgt die Lebensdauer ungefähr die gleiche Anzahl Herzschläge, wobei die längerlebenden entsprechend niedrigere Herzfrequenzen haben. Aber eine Spezies, der Mensch, lebt vier- bis fünfmal so lange, als er nach diesem Kriterium leben dürfte. Ich weiß nicht mehr, ob dieser Biologe daraus folgerte, der Mensch sei eine zufällige, eine kontingente Spezies und lebe von geborgter Zeit. Ich jedenfalls ziehe diese Folgerung. Sei dem wie ihm wolle: da der betreffende Biologe sich auch mit Science Fiction 54
befaßte, wurden seine Schlußfolgerungen nicht ernst genommen. Jetzt gehen wir’s mal von der anderen Flanke an. Schon vor Freud gab es Studien über die Pseudopubertät, dieses plötzliche, heiße, aktive Interesse am anderen Geschlecht, das um das vierte Lebensjahr herum einsetzt und dann wieder für die nächsten zehn Jahre verschwindet. Man hat oft vermutet, daß irgendwo tief unten in der Reihe unserer Vorfahren die eigentliche Pubertät schon in so früher Jugend eingesetzt hat.« »Minden, keine Spezies kann sich in weniger als fünfzigtausend Jahren merkbar verändern.« »Dismas, ein Wechsel kann sich in drei bis neun Monaten vollziehen, je nachdem, welche Richtung er einschlägt. – Ach, da kommen sie ja zurück! Na, ihr Drohnen, habt ihr Ginny zur Vernunft gebracht? Wo wollt ihr jetzt hin?« Agar Dismas und Dali Minden schlenderten die Hänge der Doolan’s Mountains herab. »Wir gehen vierhundertdreiundsiebzig Brote und vierhundertdreiundsiebzig Gläser Erdnußbutter besorgen«, sagte Agar ziemlich bedrückt. »Ja, und Ginny sagt, wir sollen Crispy-CrustyBrot nehmen«, ging Dali weiter ins Detail; »sie sagt, bei dieser Marke gehen sechzehn Scheiben auf ein Brot, und so können wir aus einem Brot und einem Glas acht Sandwiches machen. Dabei bleiben vier übrig, und Ginny sagt, die können wir behalten, für unsere Arbeit. Sie will zwölfhundertsechzig Tage läng in ihrer Höhle bleiben. Diese Zeit braucht sie, um das, was sie vorhat, so in Gang zu bringen, daß es niemand mehr kaputtmachen kann. Ich glaube, sie ist ein Zahlenmensch von Natur. Das kostet über vierhundert Dollar, mehr als Agar und ich zusam55
mengespart haben. Aber Ginny sagt, wir müssen es machen, und wenn wir das Geld stehlen. Und wir sollen uns beeilen, sagt sie.« »Da sind die frommen Irren schon wieder«, sagte Dr. Dismas. »Ich werde noch einen von diesen Idioten totschießen müssen, wenn sie immer wieder hierherkommen.« »Diesmal kommen sie nicht hierher«, sagte Agar, »sie streifen von jetzt an in den Doolan’s Mountains herum. Aber ich glaube nicht, daß sie Ginny totmachen werden. Sie verstehen nicht, was sie ist. Sie haben es beim erstenmal auch nicht verstanden; sie kamen nicht auf die Idee, daß es jemand von den Großen sein könnte. Wir hoffen alle, daß sie mich umbringen und dann zufrieden sein werden, weil sie denken, daß sie es geschafft haben. Sie werden mich dort finden, wo sie denken, daß das Weib ist, und das wird sie vielleicht täuschen. Also dann – tschüs! Wir müssen uns beeilen, sonst wird Ginny böse.« »Keine Spezies kann sich als gesichert betrachten, die nicht zehn Millionen Jahre überdauert hat«, sagte Dr. Minden. »Man hört immer noch das Diktum, daß die Evolution irreversibel ist. Augenauswischerei! Ich selbst habe sieben Spezies studiert, die ausgewischt worden sind, ehe eine überdauert hat. Die menschliche Rasse ist so neu, daß sie noch keine Stabilität hat. Die meisten Arten überdauern eben nicht, und wir haben erst ein Zehntel der Zeitspanne hinter uns gebracht, nach welcher sich die Chancen für unser Überleben zu unseren Gunsten wenden würden. Selbst die Art, die einmal endgültig überlebt, wird noch mehrere Reversionen durchmachen müssen, ehe sie stabil wird. Auch wir können jederzeit umschlagen.« 56
»Inwiefern umschlagen?« »Zu dem, was wir waren; zu dem, was wir im Grunde immer noch sind: kleine, neunzig Zentimeter hohe, großköpfige Brüllaffen ohne Werkzeuge und mit einem Fünftel unserer gegenwärtigen Lebensdauer.« »Reversionen sind wie kosmische Katastrophen, Minden. Sie brauchen ein paar tausend Jahre, und das werden Sie und ich nicht mehr erleben.« »Nein, Minden, das kann in einem Augenblick geschehen, durch eine einzige neotische Empfängnis. Und die wird dann auf Grund der mutationalen Hemmung zur Norm. Die Reversion wird das Alte, das Normale hemmen. Wir haben schon gesehen, wie eine solche Hemmung arbeitet.« Da fingen Steine an zu kreischen wie irre Krähen, Büsche wie Coyoten an zu bellen! Grünglitzerndes Geheul, und ein Gelächter, das wie eine Kreissäge sang! Und da war Ginny wieder bei ihnen. Sie war das lauteste Kind, das jemals gezeugt wurde! »Ich glaube, von heute ab werde ich überhaupt nicht mehr sprechen, Vater«, sagte sie ernsthaft, nachdem sie die anderen Geräusche abgestellt hatte. »Ich glaube, ich werde einfach vergessen, wie man das macht. Bloß noch heulen und kreischen und immer so weiter. Das macht sowieso mehr Spaß. Warum sind denn meine Diener noch nicht mit den Vorräten da? Sie müßten doch beinahe schon zurück sein, wenn sie sich ganz doll beeilen und ein bißchen Glück haben. Aber vielleicht haben sie all das Brot und all die Erdnußbutter nicht an einer Stelle gekriegt und müssen noch woanders hin. Ich weiß gar nicht mal, ob ich das Zeug überhaupt es57
sen werde. Ich wollte es nur haben, für den Fall, daß ich es brauche; und sie sollen gehorchen lernen. Ich werde wahrscheinlich morgen anfangen, Feldmäuse und Erdhörnchen zu essen. – Ach, da kommt ja Mrs. Minden und heult um diesen Krios. Wozu soll denn das gut sein?« Klagerufe. Clarinda kam laut weinend herbeigerannt, und Sally Dismas lief ihr aus dem Hause entgegen. »Clarinda, was in aller Welt ist denn los?« rief Dr. Minden und stürzte auf seine tränenüberströmte Frau zu. »Unser kleiner Krios hat sich umgebracht.« »Ich habe es ihm befohlen«, sagte Ginny; »ich hatte alles von ihm gehabt, was ich wollte. Für die nächsten Male werde ich jemand besseres finden.« »Ginny!« Ihre Mutter war starr vor Schrecken. »Ich schlage …« »Strafe das Kind nicht, Sally«, schluchzte Clarinda Minden. »Sie steht jenseits von Gut und Böse. Was es auch immer zwischen ihr und meinem kleinen Krios gegeben hat – es ist besser, wenn ich es niemals erfahre.« »Habe ich was Falsches gesagt?« fragte Ginny. »Das Letzte, was ich jemals gesagt habe, soll etwas Falsches gewesen sein? Doktor Minden, Sie wissen doch über solche Sachen Bescheid. Was seid ihr überhaupt für Geschöpfe?« »Menschen, Ginny«, sagte Dr. Minden traurig. »Komisch, daß ich euch noch nie gesehen habe. Ich habe auch bestimmt keine Lust, mich mit Menschen abzugeben.« Rauhtöniges Geheul! Läutendes Gebell einer Meute Jagdhunde! Dachsgezisch und knatterndes Gänsekichern! 58
Kreischendes Krähengekrächz und das Brüllen junger Bullenkälber! Und ein schreiendes Affchen hüpfte und hopste in die Berge hinein wie verrückt gewordenes Wasser!
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Die sechs Finger der Zeit An diesem Morgen fing es damit an, daß ihm allerlei kaputtging; zuerst das Wasserglas auf seinem Nachttisch: als er danach griff, schubste er es ungeschickterweise an die gegenüberliegende Wand, wo es zerbrach und ganz langsam in Scherben fiel. Darüber hätte er sich bestimmt gewundert, wenn er schon richtig wach gewesen wäre; denn er hatte die Hand nur ganz lässig nach dem Glase ausgestreckt. Er war auch nicht wie sonst vom Wecker aufgewacht, sondern von einem seltsamen, trägen, tiefen Dröhnen; und doch zeigte die Uhr sechs und hätte klingeln müssen. Und dann ertönte das tiefe Dröhnen zum zweitenmal, anscheinend direkt aus der Uhr. Er streckte die Hand nach dem Wecker aus. Nur eine ganz sanfte Berührung, aber er glitt – es war mehr ein Schwimmen als ein Gleiten – die Tischplatte entlang, schwebte dann hinunter auf den Fußboden und hüpfte dort, abprallend, ein paarmal lässig herum. Und als er ihn aufhob, ging er nicht mehr, und es half auch kein Schütteln. Er blickte auf die elektrische Küchenuhr. Die zeigte auch sechs Uhr, aber der Sekundenzeiger bewegte sich nicht. Die Radiouhr im Wohnzimmer war ebenfalls sechs, und auch ihr Sekundenzeiger schien stillzustehen. »Aber das Licht funktioniert doch in beiden Räumen«, sagte Vincent. »Wieso stehen beide Uhren still? Sind die Anschlüsse vielleicht an verschiedenen Stromkreisen?« Er ging wieder ins Schlafzimmer und nahm seine Armbanduhr auf; sie zeigte ebenfalls sechs, aber der Sekundenzeiger lief nicht um. 60
»Also das kann ja blöd werden! Woran liegt es bloß, daß alle Uhren, die elektrischen und auch die mechanischen, stehengeblieben sind?« Er ging ans Fenster und blickte auf die Reklameuhr am Gebäude der Versicherungsanstalt. Auf der war es ebenfalls sechs Uhr, und der Sekundenzeiger bewegte sich nicht. »Na, vielleicht ist diese Konfusion nicht nur auf mich allein beschränkt. Ich habe mal die phantastische Theorie gehört, daß eine kalte Dusche den Geist klärt. Bei mir ist das zwar nie der Fall gewesen, aber ich werde es trotzdem mal versuchen. Ich kann ja immer noch sagen, es ist wegen der Sauberkeit.« Die Dusche funktionierte nicht. Doch, sie funktionierte: das Wasser lief, aber nicht wie Wasser, sondern wie sehr träger Sirup, der in der Luft hängenblieb. Er griff danach, wie es so da baumelte und immer länger wurde, und wollte es anfassen. Doch es zerbarst bei seiner Berührung wie Glas und schwebte in phantastischen trägen Kügelchen im Raum. Und dabei fühlte es sich wie Wasser an: es war naß und angenehm kühl. Und nach einer Viertelminute oder so traf es seine Schultern und seinen Rücken, und er drehte sich wohlig unter der Nässe. Er ließ seine Schädeldecke ordentlich durchfeuchten, und seine Gedanken wurden sofort klarer. »Mit mir ist alles in Ordnung. Ich fühle mich sauwohl. Ich kann gar nichts dafür, daß sich das Wasser heute früh so träge benimmt, und daß noch alles mögliche andere so sonderbar ist.« Er griff nach seinem Handtuch, aber es zerriß ihm unter der Hand wie nasses Löschpapier. Von jetzt an ging er sehr vorsichtig mit seinen Sachen um. Langsam, sacht und geschickt faßte er 61
alles an, damit es nicht kaputtging. Er rasierte sich ohne Zwischenfall, obwohl das Wasser im Badezimmer so träge lief. Dann zog er sich mit größter Vorsicht und Verschmitztheit an, so daß ihm nichts kaputtging. Nur ein Schnürsenkel riß; und das kann ja schließlich immer mal passieren. »Wenn mit mir selbst alles in Ordnung ist, dann werde ich mal rausgehen und nachsehen, ob mit der Welt im allgemeinen irgend etwas ernsthaft nicht stimmt. Es war schon ziemlich hell, als ich aus dem Fenster sah, und das ist ja auch soweit ganz richtig. Ungefähr zwanzig Minuten sind vergangen; es ist ein klarer Morgen. Die Sonne muß jetzt die ersten drei, vier Stockwerke des Versicherungsgebäudes erreicht haben.« Aber das war nicht der Fall. Der Himmel war immer noch wolkenlos; trotzdem war es in diesen zwanzig Minuten nicht heller geworden, und auf der großen Uhr da drüben war es immer noch sechs. Da hatte sich nichts geändert. Und doch hatte sich etwas geändert, das wurde ihm jetzt bewußt, und er hatte ein sonderbares Gefühl dabei. Er hielt sich vor Augen, wie es gewesen war, als er zum erstenmal hinausgeschaut hatte: der Sekundenzeiger hatte sich inzwischen etwas bewegt. Er war über ein Drittel des Zifferblattes hinweggewandert. So zog er einen Stuhl vor das Fenster und beobachtete den Zeiger genau. Er stellte fest, daß er sich tatsächlich weiterbewegte, obgleich er keine Bewegung wahrnehmen konnte. Er beobachtete ihn etwa fünf Minuten lang: währenddessen kroch er über einen Sektor von etwa fünf Sekunden. »Na, das ist nicht mein Problem. Das betrifft den Uhrmacher, entweder einen irdischen oder einen himmlischen.« 62
Aber er verließ die Wohnung ohne ein vernünftiges Frühstück, und ziemlich zeitig. Wie konnte er wissen, daß es noch früh genug war, da doch offensichtlich irgendwas mit der Zeit nicht stimmte? Nun, wenigstens nach der Sonne und den Uhren, die allerdings beide nicht richtig zu funktionieren schienen, mußte es noch früh genug sein. Er ging deshalb ohne ein richtiges Frühstück los, weil das Kaffeewasser nicht kochen und der Speck nicht braten wollte. Es war einfach so, daß das Feuer keine Hitze gab. Die Gasflamme entsprang dem Brenner wie ein sich langsam ausbreitender Strom oder wie eine Blume, die sich öffnet. Dann brannte sie viel zu stetig. Der Topf blieb kalt, als er ihn auf die Flamme setzte, und das Wasser wollte nicht einmal warm werden. Überhaupt hatte es mindestens fünf Minuten gedauert, bis das Wasser überhaupt aus dem Hahn gelaufen war. Er aß ein paar Stückchen übriggebliebenes Brot und Fleisch. Auf der Straße war keine Bewegung, wenigstens keine richtige Bewegung. Ein Lastwagen, der zuerst stillzustehen schien, bewegte sich ganz langsam. Einen Gang, in dem er so langsam fahren konnte, gab es überhaupt nicht, Und dann kam ein Taxi angekrochen, doch Charles Vincent mußte eine Zeitlang genau hinsehen, bis er sicher war, daß es tatsächlich fuhr. Dann bekam er einen Schock: im frühen Morgenlicht sah er, daß der Fahrer tot war. Tot mit weit offenen Augen! So langsam das Taxi fuhr, und wodurch auch immer es sich fortbewegte – man sollte es doch lieber anhalten! Vincent schritt langsam herzu, öffnete die Tür, zog die Bremse an. Dann sah er dem Toten in die Augen. War der Mann wirklich tot? Schwer festzustellen. Er war noch warm. Aber noch während Vincent hinblickte, 63
begannen die Augen des Toten sich zu schließen. Und sie schlossen sich ganz und öffneten sich wieder, und das dauerte etwa zwanzig Sekunden. Das war gespenstisch. Beim Anblick der sich langsam schließenden und wieder öffnenden Augen durchfuhr Vincent ein Schauer. Und der Tote hatte begonnen, sich in seinem Sitz vorzuneigen. Vincent legte dem Manne die Hand mitten vor die Brust, um ihn aufrecht zu halten, aber der Vorwärtsdruck erwies sich bei aller Langsamkeit als unwiderstehlich. Vincent schaffte es einfach nicht, daß der Tote in aufrechter Haltung blieb. Also ließ er ihn sich weiter vorneigen und sah neugierig zu; und nach ein paar Sekunden lag das Gesicht des Fahrers flach auf dem Steuerrad. Aber es war beinahe, als wollte es immer weiter vorwärts. Es preßte sich mit sturer Kraft in den Volant hinein. Der Mann würde sich bestimmt das Gesicht aufschlagen! Vincent griff ein paarmal zu und schwächte den Druck etwas ab. Doch wies das Gesicht des Toten bereits Verletzungen auf, und normalerweise hätte Blut fließen müssen. Aber der Mann war wohl schon solange tot, daß die Blutgerinnung bereits eingesetzt haben mußte, denn es dauerte volle zwei Minuten, bis Blut zu sickern begann. »Was immer ich auch getan habe, ich habe genug Schaden angerichtet«, sagte sich Vincent; »und was für einen Alptraum ich auch träumen mag, ich richte vermutlich noch mehr Schaden an, wenn ich mich weiter einmische. Ich werde lieber die Finger davon lassen.« Er ging die Straße hinunter. Jedoch alle Fahrzeuge, die er erblickte, bewegten sich unglaublich langsam, als ob ihre Differentialgetriebe auf phan64
tastische Weise reduziert worden seien. Und die Leute, die hier und da unterwegs waren, schienen eingefroren zu sein. Es war ein kühler Morgen, aber so kalt war es nun doch nicht. Sie schienen unbeweglich in einem bestimmten Punkt ihrer Bewegung zu verharren, als vergnügten sie sich mit dem alten Kinderspiel »Denkmäler«. »Wie kommt es«, fragte sich Charles Vincent, »daß dieses junge Mädchen, das, glaube ich, im Büro gegenüber von uns arbeitet, aufrechtstehend und noch dazu im Gehen gestorben ist? Aber nein, sie ist nicht tot. Oder wenn doch, dann ist sie mit einem sehr lebensvollen Gesichtsausdruck gestorben. Und, o mein Gott! sie auch!« Denn er bemerkte plötzlich, daß die Augen des Mädchens sich schlossen und im Verlauf einiger Sekunden ihren Zyklus beendet hatten und wieder offen waren. Außerdem, und das war sogar noch seltsamer, hatte sie ihren Ort verändert: sie war in ihrem unmerklichen Schreiten ein Stück vorangekommen. Er hätte es mit der Uhr kontrollieren mögen – aber wie konnte er das, wenn alle Uhren der Welt verrückt geworden waren? Immerhin mußte sie in einer Minute etwa zwei Schritte getan haben. Vincent betrat die Cafeteria. Die üblichen Morgengäste, die er oft durch die Scheiben beobachtet hatte, waren da. Das Mädchen, das die Puffer buk, hatte grade einen mit der Pfanne hochgeschleudert, und er hing in der Luft; – dann drehte er sich langsam, wie von einer sanften Brise erfaßt, und schwebte trag hernieder, als ob er im Wasser zum Grunde sänke. Die morgendlichen Frühstücksgäste waren alle, wie die Straßenpassanten, auf diese neuartige Weise tot und bewegten sich so langsam, daß er es kaum 65
bemerkte. Und alle waren anscheinend beim Kaffeetrinken, Eieressen, Toastkauen gestorben. Und, genügend Zeit vorausgesetzt, war es durchaus möglich, daß sie mit ihrem Trinken, Kauen und Essen zurandekommen würden, denn bei allen war der Schatten einer Bewegung festzustellen. Die Kassiererin hatte die Schublade geöffnet und hielt Geld in der Hand, und die Hand des Kunden war danach ausgestreckt. Mit der Zeit, irgendwann in dieser neuen, gemächlichen Zeit, würden die Hände zusammenkommen und das Wechselgeld würde übergeben werden. Und so geschah es auch. In anderthalb Minuten oder zwei Minuten oder zweieinhalb Minuten. Es ist immer schwierig, die Zeit zu schätzen, und jetzt war es gradezu unmöglich geworden. »Ich habe noch Hunger«, sagte sich Charles Vincent, »aber es wäre verwegen, hier auf die Bedienung zu warten. Soll ich mir selbst was nehmen? Wenn sie tot sind, werden sie nichts dagegen haben. Und wenn sie nicht tot sind – auf jeden Fall scheine ich für sie unsichtbar zu sein.« Er schlang ein paar Semmeln hinunter. Er öffnete eine Hasche Milch und hielt sie, die Öffnung nach unten, senkrecht über sein Glas, während er noch eine Semmel aß. Alle Flüssigkeiten waren so widersinnig träge. Immerhin fühlte er sich nach diesem improvisierten, irren Frühstück etwas besser. Er hätte es gern bezahlt, aber wie? Er trat hinaus und ging zu Fuß durch die Stadt, denn es schien ihm noch ziemlich früh zu sein, wenn man sich auch weder auf die Sonne noch auf die Uhren verlassen konnte. Die Verkehrsampeln wechselten nicht. Er saß eine ganze Zeit lang in dem kleinen Park und beobachtete die Stadt und die Uhr auf dem Gebäude der Handelskammer ; aber 66
die stand wie alle Uhren ebenfalls still, oder die Zeiger krochen so langsam, daß er keine Bewegung erkennen konnte. Es mußte etwa eine Stunde vergangen sein, als die Verkehrsampeln endlich wechselten, aber jedenfalls wechselten sie schließlich. Er suchte sich einen festen Punkt an einem Gebäude auf der anderen Straßenseite, beobachtete, was sich daran vorbeibewegte, und stellte fest, daß der Verkehr tatsächlich vorankam. In einer Minute oder so war ein Wagen in seiner gesamten Länge an diesem Fixpunkt vorbeigekrochen. Er war, wie ihm jetzt wieder einfiel, mit seiner Arbeit im Büro sehr im Rückstand; das hatte ihm schon seit längerer Zeit Sorgen gemacht. Er würde jetzt ins Büro gehen, egal wie früh es war oder zu sein schien. Er mußte sich die Türen selbst aufschließen, denn es war noch niemand da. Er nahm sich vor, nicht auf die Uhr zu sehen und mit den diversen Utensilien sehr vorsichtig umzugehen, wegen seiner neuerdings aufgetretenen Neigung, alles kaputtzumachen. Davon abgesehen, schien hier alles normal zu sein. Gestern hatte er sich noch überlegt, daß er die aufgelaufenen Rückstände kaum schaffen würde, wenn er nicht zwei Tage durcharbeitete. Nun beschloß er, mindestens solange hintereinanderweg zu arbeiten, bis irgend etwas geschehen würde, egal was. Stunde um Stunde werkte er an seinen Aufstellungen und Berichten. Niemand außer ihm war zur Arbeit gekommen. Stimmte da irgend etwas nicht? Ganz gewiß stimmte da irgend etwas nicht. Aber heute war doch kein Feiertag. Daran lag es nicht. Wie lange kann ein halsstarriger und mystifizier67
tet Mann hintereinander arbeiten? Eine Stunde nach der anderen verging, aber er bekam keinen Hunger und spürte auch keinen besonderen Durst. Und er schaffte eine Menge Arbeit. »Ich muß schon mindestens die Hälfte fertig haben. Was immer auch passiert ist, ich habe wenigstens ein Tagespensum aufgeholt. Ich werde weitermachen.« Nach weiteren acht bis zehn Stunden, die er in der Stille durchgearbeitet haben mußte, war er mit seinen Rückständen fertig. »Also, bis zu einem gewissen Grade kann ich noch vorarbeiten, so daß ich einen Überhang habe und nicht so schnell wieder versacke. Ich kann alles eintragen bis auf die Zahlen des Außendienstes.« Und das tat er auch. »Jetzt kann mir die Arbeit schwerlich wieder so über den Kopf wachsen. Ich könnte beinahe einen Tag blau machen. Ich weiß nicht mal, was jetzt für ein Tag ist, aber ich muß mindestens zwanzig Stunden glatt durchgearbeitet haben, und kein Mensch ist erschienen. Wenn sie sich ebenso langsam bewegen, wie die Menschen in dem Alptraum da draußen, ist es kein Wunder, daß noch niemand da ist.« Er kreuzte die Arme auf der Tischplatte und legte den Kopf darauf. Das Letzte, was er sah, war sein von Geburt an mißgestalteter linker Daumen, den er immer durch gewisse Handbewegungen ein bißchen zu verstecken wußte. »Wenigstens weiß ich, daß ich ich selbst bin. An diesem Daumen würde ich mich überall wiedererkennen.« Mit diesem Gedanken schlief er am Tisch ein. Jenny erschien mit dem raschen Klick-Klack ih68
rer hohen Absätze, und er wachte von dem Geräusch auf. »Was machen Sie denn hier? Sind Sie an Ihrem Schreibtisch eingeduselt, Mr. Vincent? Waren Sie die ganze Nacht hier?« »Ich weiß es nicht. Ehrlich, Jenny, ich weiß es nicht.« »Ich habe ja nur Spaß gemacht. Manchmal, wenn ich zu früh komme, mache ich selbst so ein kleines Büroschläfchen.« Nach der Uhr war es sechs Minuten vor acht, und der Sekundenzeiger bewegte sich mit normaler Geschwindigkeit. Die Zeit war in die Welt zurückgekehrt. Oder zu ihm. Aber war dieser ganze frühe Morgen, den er erlebt hatte, nur ein Traum gewesen? Dann war es ein sehr tüchtiger Traum gewesen, denn er hatte eine Arbeit geleistet, für die er normalerweise zwei Tage gebraucht hätte. Und es war immer noch der richtige Tag. Er ging zur Wasserleitung. Das Wasser benahm sich jetzt wieder normal. Er ging zum Fenster – der Verkehr benahm sich so wie er sollte, zwar manchmal langsamer und manchmal schneller dahinfließend, aber im ganzen bot der Verkehrsablauf das gewohnte Bild. Nach und nach erschienen die anderen Mitarbeiter. Sie schossen zwar nicht dahin wie die Kugelblitze, aber man mußte sie auch nicht minutenlang beobachten, um sich zu vergewissern, daß sie nicht tot seien. »Es hat schon seine Vorteile«, sagte sich Vincent, »ich hätte zwar Angst, ständig in diesem Zustand zu leben, aber es müßte ganz praktisch sein, sich jeden Tag für ein paar Minuten hineinzuversetzen und dabei die Arbeit von Stunden zu schaffen. Vielleicht 69
bin ich ein Fall für den Arzt. Aber wie soll ich dem Doktor klarmachen, was mit mir los war?« Von seinem Aufstehen am Morgen bis zu seinem zweiten Erwachen, als er Jenny hereinkommen hörte, waren knapp zwei Stunden vergangen. Und wie lange dieser zweite Schlaf gedauert hatte, und in welcher Zeit-Enklave er vor sich gegangen war – davon hatte er keine Idee. Aber wie war das alles zu erklären? Er war wegen dieser Konfusion lange in seiner Wohnung geblieben, länger als gewöhnlich. In seiner Verwirrung war er meilenweit durch die Stadt gelaufen. Und er hatte stundenlang in dem kleinen Park gesessen und die merkwürdige Situation bedacht. Und er hatte ganz ungemein lange an seinem Schreibtisch gehockt und gearbeitet. Na schön, er würde also zum Arzt gehen. Ein Mann muß vermeiden, sich vor der ganzen Welt lächerlich zu machen; aber vor seinem Anwalt, seinem Priester und seinem Arzt kann er schon mal als Narr erscheinen. Denen ist es von Berufs wegen verboten, einen Menschen offen zu verspotten. Er ging am Nachmittag zum Arzt. Dr. Mason war nicht eigen dich sein Freund. Vincent stellte bei dieser Gelegenheit mit einigem Unbehagen fest, daß er überhaupt keine wirklichen Freunde hatte, nur Bekannte und Geschäftskollegen. Es war, als sei er von einer etwas anderen Art als alle seine Mitmenschen. Heute wünschte er sich ein bißchen, einen wirklichen Freund zu haben. Immerhin kannte er Dr. Mason seit einigen Jahren; er besaß einen guten Ruf als Arzt, und außerdem war Vincent inzwischen in der Praxis angelangt und wurde auch gleich vorgelassen. Entweder mußte er – nun, das war ein ebensoguter Anfang wie irgendein anderer. 70
»Doktor, ich bin in einer Bredouille. Entweder muß ich mir ein paar Symptome ausdenken, um zu begründen, warum ich eigentlich bei Ihnen bin; oder ich muß mich entschuldigen und ausrücken; oder ich muß Ihnen tatsächlich erzählen, was mit mir nicht in Ordnung ist – und dann denken Sie möglicherweise, ich sei eine neue Art Irrer.« »Vincent, zu mir kommen jeden Tag Leute, die Symptome erfinden, um mir nicht sagen zu müssen, warum sie eigentlich hier sind; und ich weiß genau, daß sie sich nicht trauen, mir die tatsächlichen Gründe ihres Kommens zu erzählen. Und jeden Tag erfindet einer eine Entschuldigung und reißt aus. Aber meine Erfahrung sagt mir, daß ich ein größeres Honorar kriegen werde, wenn Sie die dritte Alternative probieren. Und eine neue Art Irre gibt es nicht.« »Vielleicht klingt es gar nicht so verrückt, wenn ich es rasch hintereinanderweg erzähle«, sagte Vincent. »Als ich heute morgen aufwachte, hatte ich ein paar sehr rätselhafte Erlebnisse. Anscheinend stand die Zeit selbst still, oder die ganze Welt war in eine Art Super-Zeitlupe geraten. Das Wasser wollte weder fließen noch kochen, und das Feuer wollte das Essen nicht heißmachen. Die Uhren – ich dachte zuerst, die Zeit sei ganz stehengeblieben – krochen im Tempo von ungefähr einer Minute pro Stunde. Die Leute, die ich auf der Straße sah, kamen mir wie Tote vor, die in lebenswahrer Haltung eingefroren waren. Nur wenn ich sie sehr lange betrachtete, merkte ich, daß sie sich tatsächlich bewegten. Ich sah ein Taxi, das langsamer dahinkroch als die lahmste Schnecke, und am Steuer saß ein Toter. Ich ging hin, öffnete die Tür und zog die Bremse. Nach einiger Zeit wurde mir klar, daß der 71
Mann gar nicht tot war. Aber er sank nach vorn und verletzte sich dabei das Gesicht am Volant. Es muß eine volle Minute gedauert haben, bis sich sein Kopf um dreißig Zentimeter nach vorn bewegt hatte, und doch konnte ich nicht verhindern, daß er hart am Steuerrad aufschlug. Ich tat noch eine Reihe anderer bizarrer Dinge in einer Welt, die mir im Stehen gestorben zu sein schien. Ich ging meilenweit durch die Stadt und saß dann stundenlang im Park. Ich ging ins Büro und schloß mir selbst die Türen auf, weil noch keiner da war. Ich erledigte ein Arbeitspensum, zu dem ich zwanzig Stunden gebraucht haben muß. Dann nickte ich an meinem Schreibtisch ein. Ich wachte auf, als ich die anderen kommen hörte, und es war sechs Minuten vor acht Uhr morgens, am selben Tage, heute. Nicht zwei Stunden waren vergangen, seit ich aufgestanden war, und die Zeit lief wieder normal. Aber inzwischen waren Dinge geschehen, die sich niemals in zwei Stunden hineinquetschen lassen.« »Eine Frage zuvor, Vincent: Haben Sie tatsächlich diese Arbeit erledigt, die Arbeit von vielen Stunden?« »Ja. Sie war getan, und zwar in dieser Zeit getan. Sie hat sich nicht etwa verflüchtigt, als die Zeit wieder normal wurde.« »Zweite Frage: Hatten Sie sich Sorgen gemacht, weil Sie mit Ihrer Arbeit in Rückstand geraten waren?« »Ja. Sehr sogar.« »Dann gibt es eine Erklärung: Sie gingen gestern abend zu Bett. Aber sehr bald standen Sie in einem somnambulen Zustand wieder auf. Es gibt beim Somnambulismus Aspekte, die wir keineswegs verstehen. Diese Zwischenspiele mit der aus dem 72
Brennpunkt geratenen Zeit waren Teile Ihres schlafwandlerischen Traumes. Sie zogen sich an, gingen ins Büro und arbeiteten die ganze Nacht durch. Es ist möglich, im Somnambulzustand Routinearbeiten zu erledigen, sogar mit fieberhafter Schnelligkeit, sogar ans Wunderbare grenzende Leistungen zu vollbringen. Dann, als Sie fertig waren, mögen Sie an Ihrem Tisch in normalen Schlaf gefallen sein und sind dann bei der Ankunft Ihrer Kollegen direkt aus Ihrem somnambulen Traum erwacht. So. Das ist eine plausible und brauchbare Erklärung. Bei bizarren Vorkommnissen ist es immer gut, wenn man auf eine rationale Erklärung zurückgreifen kann. Diese wird gewöhnlich den Patienten befriedigen und beruhigen. Aber oftmals befriedigt eine solche Erklärung mich selbst keineswegs.« »Ihre Erklärung befriedigt mich beinahe, Doktor Mason; jedenfalls mindert sie meine Bedenken erheblich. Ich bin sicher, daß ich in kurzem imstande sein werde, sie völlig zu akzeptieren. Aber warum sind Sie denn nicht damit zufrieden?« »Der eine Grund ist ein Mann, ein Taxifahrer, den ich heute früh am Morgen behandelt habe. Er hatte schwere Verletzungen im Gesicht und hatte – oder hatte beinahe – einen Geist gesehen; einen Geist von unglaublicher Geschwindigkeit, den er mehr spürte als sah. Dieser Geist öffnete in voller Fahrt die Tür seines Taxis, riß die Bremse an und verursachte dadurch die Kopfverletzungen des Mannes. Er war noch halb betäubt und hatte eine leichte Gehirnerschütterung. Ich habe ihn überzeugt, daß er gar keinen Geist gesehen hat, sondern am Steuer eingeschlafen und irgendwo gegengefahren sein muß. Wie ich sagte, bin ich schwerer zu 73
überzeugen als meine Patienten. Aber es kann ja auch ein Zufall gewesen sein.« »Das will ich hoffen. Aber Sie haben anscheinend noch einen anderen Einwand?« »Ich praktiziere schon eine ganze Anzahl von Jahren; daher höre oder sehe ich jetzt selten mehr etwas Neues. Schon zweimal hat man mir von einem Vorfall oder einem Traum erzählt, der ungefähr auf der Linie dessen lag, was Sie erlebt haben.« »Haben Sie diese Patienten auch davon überzeugt, daß sie nur geträumt haben?« »Ja. Beide. Das heißt, ich habe sie die ersten paar Male, die es ihnen passiert ist, überzeugen können.« »Waren sie befriedigt?« »Zuerst ja. Später nicht so ganz. Aber sie sind beide gestorben, etwa ein Jahr nach ihrem Besuch bei mir.« »Kein gewaltsamer Tod, hoffe ich?« »Beide hatten einen so sanften Tod wie nur möglich: sie starben an extremer Altersschwäche.« »Oh. Na, dafür bin ich ja noch zu jung.« »Vincent, ich möchte, daß Sie in einem Monat oder so wiederkommen.« »Das werde ich tun, wenn die Halluzination oder der Traum wiederkommt. Oder wenn ich mich sonst nicht wohlfühle.« Dann fing Charles Vincent an, den Vorfall zu vergessen. Nur gelegentlich, wenn er wieder einmal mit der Arbeit im Rückstand war, erinnerte er sich belustigt daran. »Na, wenn es ganz schlimm wird, dann mache ich wieder so eine somnambule Sause und hole alles auf. Aber wenn es tatsächlich einen anderen Zeit-Aspekt gäbe und man sich nach Bedarf in ihn hineinversetzen könnte – das wäre manchmal ganz praktisch.« 74
Charles Vincent hat das Gesicht dieses Mannes überhaupt nie gesehen. In manchen dieser Clubs ist es sehr dunkel, und der Coq Bleu ist wie das Innere eines Grabes. Vincent ging höchstens einmal im Monat in so einen Club, etwa nach einer Theatervorstellung, wenn er noch nicht nach Hause und ins Bett gehen wollte, oder auch, wenn er sich nur einfach ruhelos fühlte. Bürger glücklicherer Staaten wissen vielleicht nichts von den Mysterien dieser Clubs. In dem Staat, wo Vincent lebte, sind die einzigen öffentlichen Lokale Bierkneipen; Schnaps gibt es nur in diesen Clubs, und dort haben nur Mitglieder Zutritt. Es ist wahr, daß selbst ein so kleiner Club wie der Coq Bleu dreißigtausend Mitglieder hat; und bei einem Dollar Jahresbeitrag ist das ein ganz hübscher Nebenverdienst. Die kleinen numerierten Mitgliedskarten kosten einen Cent pro Stück im Druck, und das Mitglied setzt seinen Namen selbst ein. Aber man muß eine Karte oder einen Dollar für die Karte haben, sonst kommt man nicht in den Club. Dort gab es jedoch weder Musik noch sonstige Darbietungen, nur einen kleinen, beinahe völlig dunklen Barraum. Diese Finsternis in den Clubs war eigentlich nichts weiter als ein alter Brauch, galt aber als ungeschriebenes Gesetz. Der Mann war da, und dann war er wieder weg, und dann war er wieder da. Und immer war es dort, wo er saß, zu finster, als daß Vincent sein Gesicht hätte sehen können. »Es würde mich interessieren«, sagte der Fremde zu Vincent (oder zu der Bar im allgemeinen, obwohl keine anderen Gäste da waren und der Barkeeper schlief), »es würde mich interessieren, ob 75
Sie ›Extradigitalismus und Genie ‹ von Zubarin gelesen haben.« »Ich habe weder von dem Buch noch von dem Manne selbst jemals gehört«, sagte Vincent. »Weiß der Teufel, ob alle beide überhaupt existieren.« »Ich bin Zubarin«, sagte der Mann. Vincent verbarg instinktiv seinen mißgestalteten Daumen; doch hätte man diesen in dem herrschenden Halbdunkel kaum wahrnehmen können; die Annahme, daß zwischen seinem Daumen und der Bemerkung des Fremden irgendwelche Zusammenhänge bestünden, wäre völlig verrückt gewesen. Es war auch gar kein richtiger doppelter Daumen. Vincent hatte keinen überzähligen Finger, mithin war er weder sechsfingrig (oder extradigital), noch war er ein Genie. »Ich lehne es ab, mich für Sie zu interessieren«, sagte Vincent. »Ich bin eben im Begriff zu gehen, aber ich hätte gern noch einen Schnaps.« »Leichter getan als gesagt.« »Was?« »Ihr Glas ist voll.« »Voll? Tatsächlich. Ist das ein Trick?« »Trick ist ein Name für alles, was entweder zu frivol oder zu mysteriös ist, als daß wir es verstünden. Aber vor etwa einem Monat hätten Sie einen ganzen Morgen lang diesen Trick ebenfalls ausführen können, und beinahe ebenso gut.« »Hätte ich das? Woher wissen Sie von meinem langen Morgen – angenommen, es hätte wirklich sowas gegeben?« »Ich habe Sie eine Weile beobachtet. Nur wenige verfugen über die Möglichkeit, jemanden zu beobachten, der sich in diesem Aspekt befindet.« Danach schwiegen sie eine Weile. Vincent sah auf die Wanduhr und wollte gehen. 76
»Ich wüßte gern«, sagte der Mann im Dunkeln, »ob Sie das Buch von Schimmelpenninck über das Sechser- und Zwölfersystem in den chaldäischen Mysterien gelesen haben.« »Das habe ich nicht, und ich bezweifle, daß es irgendjemand anders gelesen hat. Ich vermute, Sie sind außer Zubarin auch noch Schimmelpenninck und haben sich den Namen soeben spontan ausgedacht.« »Ich bin Schim, das ist wahr, aber ich habe mir den Namen schon vor mehreren Jahren spontan ausgedacht.« »Sie langweilen mich etwas«, sagte Vincent, »aber ich würde es zu schätzen wissen, wenn Sie Ihren Glasfüll-Trick nochmal vorführen würden.« »Bitte – schon passiert. Und Sie haben keine Langeweile, Sie haben Angst.« »Wovor?« fragte Vincent, dessen Glas sich in der Tat wieder gefüllt hatte. »Daß Sie wieder in so einen Traum hineingeraten, von dem Sie wissen, daß es kein Traum ist. Aber es hat oft seine Vorteile, wenn man sowohl unsichtbar als auch unhörbar ist.« »Können Sie sich unsichtbar machen?« »War ich das nicht, als ich jetzt eben hinter die Bar ging und Ihnen einen Schnaps holte?« »Wie das?« »Ein Mensch legt in flottem Schritt etwa acht Kilometer pro Stunde zurück. Multiplizieren Sie das mit Sechzig, der Zeit-Konstante. Wenn ich vom Stuhl aufstehe und hinter die Bar gehe, dann gehe ich mit einer Geschwindigkeit von vierhundertachtzig Kilometer in der Stunde. Also bin ich für Sie unsichtbar, besonders wenn ich grade losgehe, während Sie mit den Augen blinzeln.« 77
»Etwas stimmt dabei nicht. Sie können in der Zeit dort rübergehen und wieder zurückkommen. Aber Sie könnten den Schnaps nicht eingegossen haben.« »Soll ich Ihnen verraten, daß die Beherrschung von Flüssigkeiten und anderen Objekten dem Anfänger noch nicht zuteil wird? Aber für uns gibt es Mittel und Wege, die Trägheit der Materie zu überlisten.« »Ich glaube, Sie sind ein Scherzbold. Kennen Sie Dr. Mason?« »Ich weiß einiges über ihn, auch daß Sie bei ihm waren. Ich weiß von seinen vergeblichen Versuchen, ein gewisses Geheimnis zu ergründen. Aber ich habe nicht mit ihm über Sie gesprochen.« »Ich glaube immer noch, Sie sind ein Schwindler. Können Sie mich wieder in diesen Traumzustand vom vorigen Monat versetzen?« »Das war kein Traum. Aber ich könnte Sie wieder in diesen Zustand versetzen, ja.« »Beweisen Sie es!« »Passen Sie auf die Uhr auf. Glauben Sie, daß sie für Sie stehenbleibt, wenn ich mit dem Finger hindeute? Für mich steht sie bereits.« »Nein, das glaube ich nicht. Ja, wahrscheinlich muß ich es doch glauben, denn Sie haben es ja eben getan. Aber das kann ja auch wieder so ein Trick sein. Ich weiß nicht, wo die Steckdose für die Uhr ist.« »Ich auch nicht. Kommen Sie zur Tür. Schauen Sie auf alle Uhren, die Sie sehen können. Stehen sie nicht alle still?« »Ja. Vielleicht ist der Strom in der ganzen Stadt ausgefallen.« »Sie wissen ganz gut, daß das nicht der Fall ist. 78
In diesen Häusern dort drüben sind noch ein paar erleuchtete Fenster, obwohl es schon ziemlich spät ist.« »Warum spielen Sie mit mir? Ich bin bei dieser Geschichte nicht drinnen und nicht draußen. Entweder verraten Sie mir das Geheimnis, oder sagen Sie, daß Sie es nicht tun wollen.« »Das Geheimnis ist keineswegs so einfach. Man kann nur dahinterkommen, wenn man alle Philosophie, alles Wissen der Welt in sich aufgenommen hat.« »Ein einzelner Mansch kann das in einem Leben ja gar nicht erreichen.« »Nicht in der gewöhnlichen Lebenszeit. Aber das Geheimnis des Geheimnisses, wenn ich es so ausdrücken darf, besteht darin, daß man einen Teil eben dieses Geheimnisses als Werkzeug zum Lernen benutzen muß. Sie können nicht alles in der Spanne eines Lebens lernen; aber wenn Sie den ersten Schritt haben tun dürfen, können Sie, sagen wir mal, sechzig Bücher in derselben Zeit lesen, die Sie sonst für eins gebraucht haben; Sie können eine Minute zum Nachdenken pausieren und brauchen dazu nur eine Sekunde; Sie können ein Tagespensum Arbeit in acht Minuten verrichten und so Zeit haben für andere Dinge – auf solche Weise kann man anfangen. Aber ich warne Sie. Selbst für den Intelligentesten ist es ein Wettrennen.« »Ein Wettrennen? Wieso?« »Es ist ein Rennen zwischen dem Erfolg, der das Leben bedeutet, und dem Mißerfolg, welcher der Tod ist.« »Werden Sie doch bloß nicht so melodramatisch! Aber wie komme ich in diesen Zustand, und wie komme ich da wieder raus?« 79
»Oh, das ist einfach. So leicht, beinahe als ob Sie bloß auf einen Knopf drücken. Hier zeichne ich Ihnen zwei Diagramme auf. Sehen Sie sich beide genau an. Das erste: lassen Sie es vor Ihrem geistigen Auge erstehen, und Sie sind in diesem Zustand. Dasselbe mit dem zweiten – und Sie sind wieder draußen.« »So einfach?« »So täuschend einfach. Der Haken ist, daß Sie lernen müssen, warum es funktioniert – wenn Sie Erfolg haben wollen, das heißt, wenn Sie leben bleiben wollen.« Danach verließ Vincent den Fremden und ging nach Hause, wobei er für den Kilometer etwa neuneinhalb Sekunden brauchte. Aber er hatte das Gesicht des Mannes nicht gesehen. Die Fähigkeit, nach Beheben in den Zustand der Beschleunigung einzutreten, gewährt intellektuelle, geldliche und amouröse Vorteile. Es ist ein füchsisches Spiel. Man muß vorsichtig sein, damit man nicht erwischt wird und nichts zerbricht oder beschädigt, was sich im Normalzustand befindet. Vincent konnte immer mal acht oder zehn unbeobachtete Minuten abzweigen, in denen er seine Tagesarbeit erledigte. Und fünfzehn Minuten Kaffeepause konnte er in einen fünfzehnstündigen Streifzug durch die Stadt umfunktionieren. Das lausejungenhafte Vergnügen, Gespenst zu spielen: zu erscheinen und reglos vor einem heranbrausenden Zug zu stehen, so daß die Pfeife der Lokomotive aufkreischte – und dennoch nicht in Gefahr zu sein, weil er sich fünf- oder zehnmal schneller als der Zug bewegen konnte; irgendwo einzutreten und plötzlich mitten in einer exklusiven Gruppe zu sitzen und zu sehen, wie sie ihn alle an80
starrten, und dann wieder aus ihrer Mitte zu entschwinden; sich in allerlei Sport und Spiel zu mengen: dem Boxer, den er nicht leiden mochte, ein Bein zu stellen, ihn festzuhalten oder ihm einen Schlag zu versetzen; wie ein Blitz ins Eishockeyfeld zu schießen, mit zweitausendvierhundert Kilometer Stundengeschwindigkeit auf Schlittschuhen dahinzugleiten und für jede Partei Dutzende von Toren zu schießen, während das Publikum nur begriff, daß irgend etwas Sonderbares geschah. Das Vergnügen, eine Fensterscheibe zerspringen zu lassen, indem er ein kleines Lied sang, denn in diesem Zustand klingt die Stimme (obwohl man selbst sie als normal empfindet) sechzigmal höher. Aus dem gleichen Grunde ist sie für die anderen unhörbar. Der Spaß an den kleinen Diebereien und Streichen: er konnte einem Manne die Brieftasche aus der Jacke ziehen und schon zwei Häuserblocks weiter sein, wenn der Bestohlene die Berührung gespürt hatte und sich umdrehte; er konnte zurückkommen und die Brieftasche in den offenen Mund des Mannes stopfen, wenn der nach einem Polizisten schrie. Er konnte in das Zimmer einer Dame treten, die grade einen Brief schrieb, ihr das Papier wegnehmen, drei Zeilen darauf schreiben und verschwunden sein, ehe der Schrei ihrem Munde entflohen war. Er konnte einem in normalem Schritt gehenden Manne Schuh und Socke von einem Fuß abziehen. Kein Menschenantlitz seit Beginn der Zeit hat jemals so einen Ausdruck des Erstaunens getragen, wie das des Mannes, dem dergleichen zum erstenmal passierte. Die Feststellung, daß man mitten auf 81
einer belebten Straße plötzlich halb barfuß ist, hat in aller menschlichen Erfahrung keine Parallele. Vincent konnte einem Manne die Brillengläser grün anmalen, was die gesamte Persönlichkeit dieses Menschen irgendwie veränderte: er bekam den Schluckauf, wedelte mit Armen und Beinen und entwickelte allerlei Manierismen. Oder wenn ein Unglücklicher eben den ersten Zug einer Zigarette genoß, nahm Vincent sie ihm aus dem Munde, rauchte sie bis auf den heißen Stummel auf und steckte sie ihm wieder zwischen die Lippen. Er nahm den Bissen von der Gabel, die jemand grade zum Munde führte; praktizierte einem, der grade seine Suppe aß, zwischen zwei Löffelvoll ein paar junge Schildkröten, dem anderen lebendige Fische in den Teller. Und wenn eine Köchin ein Ei über der Pfanne zerschlug, schnappte er den weichen Dotter mitten aus der Luft und setzte eine ausgewachsene quakende Ente in die Pfanne – sehr zum Mißbehagen der Köchin sowohl als auch des Vogels. Wenn sich zwei die Hand schüttelten, band er ihnen die Gelenke mit einer kräftigen Schnur zusammen. Er verknüpfte die Schnürsenkel eines tanzenden Paares. Oder er nahm die Saiten von der Gitarre, auf der grade jemand spielte, oder er stahl das Mundstück von der Trompete, wenn der Bläser eben mal Atem holte. Er zog Leuten beiderlei Geschlechts bei feierlichen Gelegenheiten die Reißverschlüsse auf; und es war (vermutlich) sein Verdienst, daß Feldmann nicht zum Bürgermeister gewählt wurde – irgend etwas passierte in voller Öffentlichkeit auf der Tribüne, und mit Feldmann war es aus und vorbei. So etwas kann eine Zeitlang neu und amüsant sein. Beim Bewegen großer Objekte gab es natür82
lich Schwierigkeiten. Vincent wollte so gern mal ein Pferd in eine Gesellschaft hineinschmuggeln. Aber ein Pferd kann man nicht in die akzelerierte Zeit mit hineinnehmen; es ist zu groß. Vincent zeichnete das Diagramm auf, das der Gesichtslose ihm gegeben hatte, und präsentierte es dem einzigen Pferd, das er kannte. Aber das Pferd begriff nicht, worum es ging. Es wollte nicht in den beschleunigten Zustand übertreten. »Entweder muß ich ein intelligenteres Pferd auftreiben, oder eine Methode erfinden, um schwere Gegenstände zu transformieren«, überlegte Charles Vincent. Manchmal fesselte Vincent zwei Fremde, die nebeneinanderstanden und auf den Wechsel der Verkehrsampel warteten, mit Handschellen aneinander. Wenn jemand an einem Laternenpfahl lehnte, band er ihn daran fest; auch stahl er unglücklichen Gebißträgem die Zähne aus dem Munde. Er schrieb geheimnisvolle und erschreckende Botschaften mit Fettstift auf den Teller, den ein Tischgast sich aufzufüllen grade im Begriff war. Er vertauschte Kartenspielern die Karten und stellte allerlei greulichen Unsinn mit Billardbällen an. Er nahm den Golfball vom Abschlag weg und steckte ein großes Schild mit den Worten SIE HABEN VORBEIGEHAUEN statt dessen in den Sand. Beim Baseball stahl er den Ball aus dem Handschuh des Fängers und legte statt dessen einen jungen nackten Spatz hinein. In keinem Regelbuch fand man, trotz allen Suchens, eine Vorschrift für derartige Fälle. Oder er rasierte Schnurrbarte und Köpfe. Eine Frau, die er nicht leiden konnte, suchte er mehrere Male heim, schor sie kahl und vergoldete ihren blanken Schädel. 83
Mit geldzählenden Bankkassierern stellte er die tollsten Sachen an und bereicherte sich dabei. Er schnitt Zigaretten mit der Schere entzwei und blies Streichhölzer oder Feuerzeuge aus, bis ein Frustrierter tatsächlich einen Nervenzusammenbruch erlitt und in Tränen ausbrach, weil er sich seine Zigarette nicht anzünden konnte. Er nahm Polizisten die Waffe aus dem Halfter und steckte ihnen Zündplättchen- oder Wasserpistolen hinein. Besonders gern riß er einem spazierengehenden besseren Herrn einen Ärmel ab. Wenn nur ein Ärmel fehlt, so wirkt das komischer, als wenn beide fehlen. Er hakte Hunde von der Leine und hing an ihrer Stelle auf Rollen laufende Spielzeughunde daran. Er praktizierte Frösche in Trinkgläser und glimmende Feuerwerkskörper auf Bridgetische, verstellte Armbanduhren am Handgelenk des Besitzers und spielte grausame Streiche auf Herrentoiletten, so daß ehrsame Gentlemen sich naßmachten. »Im Grunde war ich immer ein kleiner Junge«, sprach Charles Vincent bei sich. In diesen ersten Tagen des neuen und kontrollierten Zustandes sicherte er sich außerdem materiell ab, indem er auf allerlei krummen Wegen Reichtümer erwarb und in mehreren Städten Bankkonten unter verschiedenen Namen errichtete, für einen eventuellen Notfall. Er schämte sich keineswegs der Streiche, die er der unakzelerierten Menschheit spielte. Denn wenn er sich in diesem Zustand befand, waren die Menschen für ihn kaum mehr als Statuen, fast unbeweglich, blind und taub. Und es ist durchaus nicht beschämend, vor solchen komischen Wachsfiguren keinen sonderlichen Respekt zu empfinden. 84
Außerdem – und wiederum, weil er im Herzen ein kleiner Junge war, – trieb er seinen Spaß mit den Mädchen. »Ich bestehe nur noch aus braunen und blauen Flecken«, sagte Jenny eines Tages. »Meine Lippen sind ganz wund, und meine Vorderzähne sind locker. Ich weiß nicht, was in aller Welt mit mir los ist.« Aber er hatte ihr keineswegs wehtun wollen. Er hatte sie recht gern und beschloß, in Zukunft vorsichtiger zu sein. Immerhin machte es ihm großen Spaß, sie hier und da an außergewöhnlichen Stellen zu küssen oder ihr sonstige kleine Beweise seiner Zuneigung zu geben, wenn er in diesem Zustand war und sie ihn wegen seiner Übergeschwindigkeit nicht sehen konnte. Sie gab eine gute Wachsfigur ab, und es war eine interessante Beschäftigung. Außerdem gab es auch noch andere. »Sie sehen auf einmal so alt aus«, sagte ein Kollege eines Tages. »Passen Sie auch gut auf sich auf? Haben Sie Sorgen?« »Aber nein«, sagte Vincent, »nie in meinem Leben war ich besser zuwege.« Dagegen hatte er jetzt für so viele Dinge Zeit, tatsächlich für alles. Es war kein Grund vorhanden, daß er sich nicht alles erdenkliche Wissen aneignen könnte, wenn er fünfzehn Minuten umschalten und damit fünfzehn Stunden gewinnen konnte. Vincent war von Natur ein schneller, aber sorgfältiger Leser. Jetzt konnte er zwischen Morgen und Abend hundertzwanzig bis hundertfünfzig Bücher lesen; und er schlief im akzelerierten Zustand, so daß er in acht Minuten einen vollen Nachtschlaf hatte. Zunächst erwarb er sich Sprachkenntnisse. Eine ziemlich umfangreiche Beherrschung des Lesens einer fremden Sprache kann man sich in circa drei85
hundert Stunden Weltzeit aneignen; das entspricht dreihundert Minuten (oder fünf Stunden) Akzelerationszeit. Und wenn man sich die Sprachen der Reihe nach vornimmt, vom Bekannten zum Entferntesten schreitet, so bestehen keine wirklichen Schwierigkeiten. Er lernte für den Anfang erst einmal fünfzig Sprachen und konnte an einem beliebigen Abend immer noch die eine oder andere hinzunehmen, wenn ein Bedarfsfall eintrat. Und zugleich begann er, Wissen zu sammeln und zu festigen. In der Literatur gibt es genaugenommen höchstens zehntausend Bücher, die wirklich lesens- und liebenswert sind. Diese las er mit hohem Vergnügen; zwei- oder dreitausend davon waren wichtig genug, um sie für späteres nochmaliges Lesen vorzumerken. Geschichte dagegen ist ein sehr unausgeglichenes Gebiet. Man muß Texte und Quellen lesen, die der Form nach keineswegs lesenswert sind. Das gleiche gilt für die Philosophie. Mathematik (reine, wie angewandte) war natürlich nicht in diesem Tempo zu bewältigen. Doch bei der Fülle der Zeit war schließlich alles möglich. Es gibt keine von einem menschlichen Verstand formulierte Konzeption, die nicht von jedem anderen normalen menschlichen Verstand begriffen werden könnte, wenn genügend Zeit vorhanden ist und die Sache in der richtigen Ordnung, im richtigen Zusammenhang und nach richtiger Vorbereitung in Angriff genommen wird. Und immer häufiger fühlte Vincent, wie sein Finger an das Geheimnis rührte. Und jedesmal, wenn er dem nahekam, spürte er ein ganz klein wenig von dem Geruch des Pfuhls. Denn er hatte alle Kardinalpunkte der Menschheitsgeschichte abge86
steckt, oder besser: die meisten der vertretbaren oder wenigstens möglichen Theorien der Menschheitsgeschichte. Es war schwierig, die große Linie festzuhalten – diesen zweifachen Weg der Vernunft und der Offenbarung, der stets zu einer Entwicklung führen sollte, zur Entfaltung, zu immer reicherer Fülle, zu Wachstum und Vollkommenheit. Manchmal hatte er das Gefühl, die Grenze der Geschichte einer anderen Spezies als der des Menschen zu überschreiten. Denn die große Linie der Darstellungen war oft genug obskur, manchmal fast ausgelöscht; ihre Spur führte durch Nebel und Miasmen. Vincent hatte Fall und Erlösung des Menschen als die absoluten Endpunkte angenommen. Aber nun begann er zu ahnen, daß das eine wie das andere keine einmaligen, sondern ständig wiederkehrende Ereignisse waren; daß sich aus jenem uralten Pfuhl eine Hand hochreckte und ihren Schatten auf den Menschen warf. Er war dahin gelangt, daß er in seinen Träumen – und er träumte in diesem Zustand ungemein lebhaft – diese Hand als ein sechsfingerig zupackendes Ungeheuer bildhaft vor Augen hatte. Ihm wurde jetzt klar, daß er in einer gefährlichen, tödlichen Sache steckte. Sehr gefährlich. Sehr tödlich. Eines dieser dunklen Bücher, die er immer wieder las und das ihn beständig aufs neue verwirrte, war ›Extradigitalismus und Genie ‹, das Buch, das der Mann, dessen Gesicht er nie erblickt hatte, geschrieben haben wollte. Es versprach mehr, als es gab, und deutete mehr an, als es sagte. Seine Theorie war langweilig und dürftig, mit unverdauten Anhäufungen zweifelhaf87
ter Daten aufgepolstert. Es konnte Vincent nicht davon überzeugen, daß geniale Menschen – vorausgesetzt, daß man sich darüber einigen konnte, wer ein Genie ist oder was Genie überhaupt ist – häufig überzählige Finger oder Zehen besitzen, oder wenigstens Rudimente davon. Und er konnte nicht begreifen, was diese Mißbildung für einen Unterschied bewirken sollte. Doch da gab es Andeutungen über einen gewissen Corsen, der immer eine Hand verbarg; über einen noch früheren und bizarreren Heerführer, der ständig einen gepanzerten Handschuh trug; über einen anderen Mann mit einem Handschuh, der zeitlich zwischen diesen beiden stand; Andeutungen, daß jener vielseitige Adept, Leonardo, der manchmal die Hände von Menschen und öfter noch die von Ungeheuern mit sechs Fingern zeichnete, selbst damit behaftet war. Es gab da auch einen – nicht schlüssigen – Hinweis gleicher Art auf Caesar. Es ist bekannt, daß Alexander der Große eine geringfügige Mißbildung hatte; es ist aber nicht bekannt, welcher Art diese war. Der Autor stellte es so hin, als sei es das gewesen. Gleiches wurde von Papst Gregor VII., von Augustus, von Benedikt und Thomas von Aquin behauptet. Doch hätte ein Mann mit einer Mißbildung nicht Priester werden können; es hätte sich bei diesen letzteren allenfalls um eine rudimentäre Bildung handeln können. Weiter wurde Karl der Große und Mohammed angeführt, Saladin der Reiter-Sultan, der Pharao Echnaton und auch Homer – eine griechische Statue der seleuzidischen Periode zeigt ihn, wie er mit sechs Fingern auf einem unidentifizierten Saiteninstrument den Vortrag seiner Dichtungen begleitet –, 88
und weiterhin Pythagoras, Michelangelo Buonarotti, Raffael Santi, El Greco, Rembrandt van Rijn, Robusti. Und je weiter man zurückging und je schwächer die Beweismöglichkeiten wurden, um so zahlreicher wurden die angeführten Fälle. Zubarin führte achttausend Personen an. Und er behauptete, sie seien Genies gewesen. Und sie seien sechsfingrig, Extradigitale, gewesen. Charles Vincent blickte auf seinen mißgestalteten oder doppelten Daumen herab und grinste dabei. »Wenigstens befinde ich mich in guter, wenn auch etwas monotoner Gesellschaft. Aber worauf im Namen der dreifachen Zeit will dieser Kerl eigentlich hinaus?« Nicht lange danach studierte Vincent KeilschriftTafeln im Staats-Museum. Es handelte sich um lückenhafte und nicht fortlaufende Reihen über Zahlentheorie. Charles Vincent konnte sie auf Grund seines zunehmenden enzyklopädischen Wissens ohne große Schwierigkeiten lesen. Und in einer dieser Reihen hieß es unter anderem: ›Über die Divergenz der Basis selber und die durch … verursachten Verwirrung, denn sie ist Fünf, oder sie ist Sechs, oder Zehn, oder Zwölf, oder Sechzig oder Einhundert, oder das Doppel-Hundert, das Tausend. Der wahre Grund, den das Volk nicht begreift, ist, daß die Sechs und das Dutzend das Erste sind, und Sechzig ist ein Zugeständnis, das man herablassenderweise dem niederen Volke gemacht hat. Denn Fünf und Zehn sind spät; sie sind nicht älter als das Volk selbst. Es wird glaubwürdig überliefert, daß das Volk mit der Fünf und der Zehn zu rechnen begann, entsprechend der Anzahl ihrer Finger. Aber vor dem Volke zählten die … nach Sechs und 89
Zwölf, weil sie … hatten. Aber Sechzig ist die Zahl der Zeit, denn sie ist durch beide teilbar, und beide müssen miteinander in der Zeit leben, wenn auch nicht auf dem gleichen Plan der Zeit …‹ Vom Rest der Serie war vieles zerstört. Im Verlaufseiner Versuche, die mehreren Hundert durcheinanderliegender Tontafeln zu ordnen, schuf Vincent ganz nebenbei die Legende vom MuseumsGespenst. Denn dort verbrachte er seine vielhundertstündigen Nächte mit Studieren und Klassifizieren. Natürlich konnte er nicht ohne Licht arbeiten, und natürlich konnte man ihn sehen, wenn er beim Lesen der Tafeln ruhig an seinem Platze saß. Doch wenn die unakzelerierten Nachtwächter versuchten, ihm nahezukommen, ging er einfach weg, und seine Schnelligkeit machte ihn für die Beamten unsichtbar. Sie störten ihn sehr, und er mußte ihnen daher die Sache verleiden. Er verdrosch sie ordentlich, und daraufhin ließ ihr Jagdeifer merklich nach. Seine einzige Angst war, daß sie eines Tages versuchen würden, ihn anzuschießen, um zu sehen, ob er Geist oder Mensch sei. Er konnte einer Kugel ausweichen, die er kommen sah und deren Geschwindigkeit nicht größer war als das Zweieinhalbfache seiner eigenen Höchstgeschwindigkeit. Aber ein Schuß konnte gefährlich, sogar tödlich werden, wenn er ihn traf, ehe er sich wegdrehen konnte. Vincent schuf noch andere Gespenster: den Geist der Zentral-Bibliothek, der Universitäts-Bibliothek, der John-Charles-Underwood-Bibliothek für Technik. Diese Vielzahl von Geistern schwächten sich in der Wirkung gegenseitig ab und machten Gläubige lächerlich. Selbst solche, die ihn als Geist gesehen hatten, stritten ab, daß sie an Geister glaubten. 90
Wieder einmal nahm Dr. Mason bei Charles Vincent die regelmäßige Monatsuntersuchung vor. »Sie sehen ja furchtbar aus«, sagte der Arzt. »Was auch immer mit Ihnen los ist – Sie haben sich verändert. Wenn Sie die Mittel dazu haben, sollten Sie einen langen Urlaub einlegen.« »Die Mittel habe ich«, sagte Vincent, »und eben das habe ich auch vor. Ich werde ein oder zwei Jahre Urlaub machen.« Er fing neuerdings an, sich über die Zeit zu ärgern, die er im Normalzustand verbringen mußte. Von diesem Zeitpunkt an galt er als Einsiedler. Er war schweigsam geworden und mied Gesellschaft, denn er fand es lästig, in den Normalzustand zurückzutreten und sich an Gesprächen zu beteiligen. In seinem Spezialzustand hatten die normalen Stimmen für ihn eine so niedrige Frequenz, daß sie unter der Grenze seiner Wahrnehmung lagen. Außer der Stimme jenes Mannes, dessen Gesicht er nie gesehen hatte. »Sie machen nur sehr langsam Fortschritte«, sagte der Mann. Sie saßen wieder in dem dunklen Club. »Leute, die keine besseren Fortschritte aufzuweisen haben, können wir nicht brauchen. Nun ja, schließlich sind Sie ja auch nur ein Rudimentärer. Wahrscheinlich haben Sie nur sehr wenig von der alten Rasse in sich. Aber wer nicht vorwärtskommt, macht sich selbst kaputt, glücklicherweise. Sie haben sich doch wohl nicht eingebildet, daß es nur zwei Zeitphasen gibt, wie?« »Seit einiger Zeit kommt es mir so vor, als ob es erheblich mehr gibt«, sagte Vincent. »Und Sie sehen ein, daß ein einziger Schritt nicht zum Erfolg führen kann?« »Ich sehe ein, daß das Leben, das ich seither ge91
führt habe, nicht nur allen unseren Kenntnissen über die Gesetze der Masse, des Antriebes, der Beschleunigung und der Erhaltung der Energie ins Gesicht schlägt, sondern es überschreitet auch das dem Menschen gesetzte Kraftpotential, die moralische Kompensation und der Kapazität seiner Organe. Es verläßt den goldenen Mittelweg. Ich weiß, daß ich Energie und Erfahrung nicht um das Sechzigfache steigern kann, ohne die Nahrungsaufnahme ebenfalls zu steigern – und ich tue es trotzdem. Ich weiß, daß man nicht mit acht Minuten Schlaf in vierundzwanzig Stunden auskommen kann, und trotzdem tue ich auch das. Ich weiß, daß ich vernünftigerweise nicht viertausend Jahre Erfahrung in die Spanne einer Lebenszeit pressen kann; indessen kann ich unvernünftigerweise nicht einsehen, was mich davon abhalten soll, es doch zu versuchen. Aber Sie meinen, daß ich mich kaputtmachen werde?« »Wer nur den ersten Schritt tut, zerstört sich.« »Und wie tut man den zweiten Schritt?« »Wenn die Zeit heran ist, wird man Sie zur Wahl stellen.« »Ich habe das unheimliche Gefühl, daß ich die Wahl verweigern werde.« »Ja, es sieht so aus, als ob Sie die Wahl nicht annehmen werden. Sie sind zu heikel.« »Sie haben einen gewissen Geruch an sich, Alter Mann Ohne Gesicht. Ich weiß jetzt, was das ist. Es ist der Geruch des Pfuhls.« »Hat es so lange gedauert, bis Sie es gemerkt haben? Aber der Name stimmt.« »Es ist der Schlamm des Pfuhls, derselbe, aus dem die Tafeln gebrannt sind, die aus dem alten Land zwischen den beiden Flüssen kommen. Ich 92
habe von einer sechsfingerigen Hand geträumt, die sich aus dem Pfuhl hochreckt und uns alle überschattet. Aus dem Pfuhl!« »Vergessen Sie nicht, daß nach einer anderen Interpretation ein anderer aus diesem gleichen Schlamm das Volk geschaffen hat.« »Und, Alter Mann, ich habe gelesen: ›Das Volk begann zuerst mit Fünf und Zehn zu rechnen, entsprechend der Zahl seiner Finger. Aber vorher rechneten die … (da fehlt ein Stück) mit Sechs und Zwölf, denn sie hatten … und da fehlt wieder ein Stück. Die Zeit hat leere Stellen auf den Tafeln hinterlassen.« »Jawohl. In einer ihrer Manifestationen hat die Zeit diese leeren Stellen absichtlich und sehr geschickt hinterlassen.« »Ich kann den Namen, der in diese leere Stelle gehört, nicht – entdecken. Können Sie es?« »Ich selbst bin ein Teil des Namens, der in eine dieser leeren Stellen gehört.« »Und Sie sind der Mann Ohne Gesicht. Aber warum werfen grade Sie Ihren Schatten über die Menschen und beherrschen sie? Zu welchem Zweck?« »Es wird lange dauern, bis Sie die Antwort darauf wissen.« »Wenn die Zeit kommt, daß ich mich entscheiden muß, werde ich sehr sorgfältig abwägen. Aber sagen Sie mir, Mann Ohne Gesicht Der Aus Dem Pfuhl Kommt, sind nicht der Pfuhl und die Männer ohne Gesicht reinste Gothik des neunzehnten Jahrhunderts?« »Es gibt eine Strömung in diesem Jahrhundert, die sehr nahe daran war, uns zu entdecken.« Danach senkte sich Kälte über das Leben Charles Vincents, obwohl er immer noch seine ungewöhnli93
chen Fähigkeiten besaß. Aber jetzt leistete er sich nur noch selten lose Streiche. Außer mit Jennifer Parkey. Es war merkwürdig, daß er sich zu ihr hingezogen fühlte. Er kannte sie in der Normalwelt nur flüchtig, und sie war mindestens fünfzehn Jahre älter als er. Aber jetzt fand er sie grade wegen ihrer Jugendlichkeit anziehend, und alle Scherze, die er mit ihr trieb, waren von sanfter Art. Vor allem hatte das alte Mädchen keine Angst und fing auch nicht an, ihre Tür abzuschließen, weil ihr solche Dinge früher nie passiert waren. Er trat hinter sie und strich ihr übers Haar, und dann sagte sie ganz ruhig, aber mit diesem gewissen Drängen in der Stimme: »Wer bist du? Warum läßt du dich nicht sehen? Du bist doch ein Freund, nicht wahr? Bist du ein Mann, oder bist du etwas anderes? Wenn du mich streicheln kannst – warum kannst du dann nicht mit mir sprechen? Laß dich doch mal sehen! Ich werde dir bestimmt nicht wehetun, ich verspreche es dir.« Es war, als könnte sie sich überhaupt nicht vorstellen, daß irgend etwas Unbekanntes, Seltsames ihr wehetun könnte. Oder einmal, wenn er sie umarmte und sie auf den Nacken küßte, rief sie: »Wer du auch sein magst, du mußt ein kleiner Junge sein, oder doch ganz ähnlich wie ein kleiner Junge. Es ist lieb von dir, daß du meine Sachen nicht entzweimachst, wenn du hier herumschwebst. Komm doch zu mir, ich will dich in den Arm nehmen.« Nur sehr gute Menschen haben keine Angst vor dem Unbekannten. Wenn Vincent mit Jennifer in der Normalwelt zusammentraf, wozu er jetzt öfter die Gelegenheit 94
suchte, dann sah sie ihn jedesmal prüfend an, als ob sie irgendeine Verbindung ahnte. Eines Tages sagte sie: »Ich weiß, es ist unhöflich, aber Sie sehen gar nicht gut aus. Waren Sie mal beim Arzt?« »Mehrere Male. Aber ich glaube, mein Arzt müßte selbst mal zum Arzt. Er hat schon immer gerne so komische Bemerkungen gemacht, aber neuerdings ist er wirklich ein bißchen durcheinander.« »Wenn ich Ihr Arzt wäre, würde ich auch ein bißchen durcheinander sein. Aber Sie sollten herausfinden, was mit Ihnen los ist. Sie sehen furchtbar aus.« Er sah keineswegs furchtbar aus. Er hatte sein Haar verloren, soviel war richtig; aber auch anderen Männern gehen mit Dreißig oder so die Haare aus, allerdings vielleicht nicht so plötzlich wie ihm. Schließlich hatte er fast fünfhundert Stundenkilometer drauf, wenn er in diesem Zustand in flottem Schritt ging. Und so ein Tempo kann einem schon die Haare vom Kopf blasen. Und könnte das nicht auch der Grund für seinen immer schlechter werdenden Teint und den immer müderen Blick seiner Augen sein? Aber er wußte, daß dem nicht so war. Er fühlte in der Beschleunigungsphase keinen größeren Luftwiderstand als in der normalen. Er hatte seine Aufforderung erhalten. Er beschloß, nicht darauf zu antworten. Er wollte nicht vor die Entscheidung gestellt werden; er hatte nicht den Wunsch, sich mit Denen vom Pfuhl zu verbinden. Aber er hatte auch nicht die Absicht, die Überlegenheit über die Natur aufzugeben, die er jetzt besaß. »Ich will beides haben«, sagte er sich. »Ich bin 95
jetzt schon ein Widerspruch und eine Unmöglichkeit. ›Man kann seinen Kuchen nicht gleichzeitig aufbewahren und essen‹? – Dieses Sprichwort ist nur eine frühe Formulierung des Gesetzes von der moralischen Kompensation. ›Man kann nicht mehr aus einem Korb herausnehmen, als drin ist‹? – Aber ich bin das lebende Beispiel einer ständigen Verletzung des Gesetzes vom Gleichgewicht der Kräfte. ›Kein Weg ohne Rück weg ‹? – ›Was hochsteigt, kommt auch wieder herunter‹? – ›Wer tanzen will, muß den Fiedler bezahlen ‹? – Aber sind Sprichwörter wirklich Naturgesetze? Sicherlich. Ein vernünftiges Sprichwort hat die Kraft eines Naturgesetzes; es ist nur eine andere Formulierung eines Naturgesetzes. Aber ich habe gegen die Naturgesetze gelebt. Es ist abzuwarten, ob das straflos bleibt. ›Jede Aktion hat ihre Reaktion‹. Ich lehne es ab, mit Denen zu tun zu haben. Ich werde eine starke Reaktion provozieren. Der Mann ohne Gesicht sagt, es sei immer ein Rennen zwischen Wissen und Zerstörung. Schön – ich werde ihnen um diesen Preis ein gutes Rennen liefern.« Von dieser Zeit an begannen sie ihn zu verfolgen. Er wußte, daß sie in einem Zustand der Beschleunigung waren, der sich zu dem seinen verhielt wie dieser zum Normalzustand. Für sie war er fast bewegungslos, kaum von einem Toten zu unterscheiden. Für ihn waren sie durch ihre Geschwindigkeit unsichtbar und unhörbar. Sie schlugen und jagten ihn. Aber er wollte immer noch nicht ihrer Aufforderung folgen. Als er mit ihnen zusammentraf, waren sie es, die zu ihm kamen, und sie materialisierten sich in seinem Zimmer – lauter Männer ohne Gesicht. 96
»Die Entscheidung!« sagte einer. »Du zwingst uns, so plump vorzugehen, denn du mußt sie aussprechen.« »Ich will kein Teil an euch haben«, sagte Vincent. »Ihr riecht alle nach dem Pfuhl, nach dem uralten Schlamm der Keilschrifttafeln aus dem Lande zwischen den zwei Flüssen, den Tafeln der Menschen, die vor dem gewöhnlichen Volk da waren.« »Es hat lange bestanden«, sagte einer, »und wir betrachten es als ewig. Aber der Garten, der dicht daneben lag – weißt du, wie lange dieser Garten bestand?« »Ich weiß es nicht.« »Noch nicht einmal einen Tag. Das alles geschah an einem einzigen Tage, und noch vor Einbruch der Nacht waren sie draußen. Du willst dich doch mit etwas Beständigerem verbinden, nicht wahr?« »Nein, ich glaube nicht.« »Was hast du zu verlieren?« »Nur meine Hoffnung auf die Ewigkeit.« »Aber daran glaubst du ja gar nicht. Kein Mensch hat jemals wirklich an die Ewigkeit geglaubt.« »Kein Mensch hat jemals die Ewigkeit vollständig geglaubt oder vollständig geleugnet«, sagte Vincent. »Zum mindesten kann sie niemals bewiesen werden«, sagte einer der Gesichtslosen. »Nichts ist zu beweisen, ehe es abgeschlossen ist. Und in diesem Falle ist sie, wenn sie jemals vorbei ist, schon als nichtexistent bewiesen. Und wäre man in dieser ganzen Zeit nicht immer wieder versucht, zweifelnd zu fragen: Was ist, wenn in der nächsten Minute alles vorbei ist?« 97
»Ich stelle mir vor, daß wir wenigstens eine gewisse Sicherheit empfangen, wenn wir das Fleisch überleben.« »Aber du kannst weder des Überlebens, noch des Empfangens gewiß sein, noch kannst du Sicherheit als sicher akzeptieren. Wir hingegen besitzen eine sehr enge Annäherung an die Ewigkeit. Wenn sich die Zeit mit sich selbst multipliziert und das immer wieder und wieder tut – kommt das nicht der Ewigkeit sehr nahe?« »Ich glaube nicht. Und ich will nicht zu euch gehören. Einer von euch hat gesagt, ich sei zu wählerisch. So werdet ihr mir nun sagen, daß ihr mich vernichten werdet?« »Nein. Wir werden nur zulassen, daß du vernichtet wirst. Für dich allein kannst du das Rennen gegen die Vernichtung nicht gewinnen.« Nach diesem Erlebnis fühlte sich Charles Vincent irgendwie reifer. Er wußte, daß er in Wahrheit nicht dazu bestimmt war, ein Poltergeist oder ein sechsfingeriges Ding aus dem Pfuhl zu werden. Er wußte, daß er für jede gewonnene Stunde und Minute so oder so würde bezahlen müssen. Aber was er gewonnen hatte, das wollte er voll ausnutzen. Und was sich durch reinen Erwerb menschlichen Wissens erreichen ließ, das wollte er versuchen zu erreichen. Und jetzt verblüffte er Dr. Mason durch die medizinischen Kenntnisse, die er sich angeeignet hatte, und es amüsierte ihn, daß sich der Doktor soviel Mühe mit ihm gab, denn er fühlte sich ausgezeichnet. Vielleicht war er nicht mehr so aktiv wie früher – aber nur, weil er den Wert zielloser Aktivität zu bezweifeln begonnen hatte. Er war immer noch das Gespenst der Bibliotheken und Museen; aber er 98
wunderte sich, daß es neuerdings in den Zeitungsberichten hieß, jetzt gehe ein wesentlich älteres Gespenst um. Nun wurden auch seine mystischen Besuche bei Jennifer Parkey seltener, denn es deprimierte ihn jedesmal, wenn er sie in seinem geisterhaften Zustande klagen hörte: »Deine Berührung ist so anders geworden, du armes Wesen! Kann ich dir denn gar nicht helfen?« Er mochte sie zwar immer noch gern, kam aber zu dem Schluß, daß sie irgendwie zu unreif sei, um ihn zu verstehen. Er übertrug seine Zuneigung auf Mrs. Milly Maltby, eine Witwe, die mindestens dreißig Jahre älter war als er und trotzdem etwas Mädchenhaftes an sich hatte, das ihn fesselte. Sie war eine Frau von scharfem Verstand, und dabei gefühlvoll, und sie nahm seine geisterhaften Heimsuchungen nach einer anfänglichen kleinen Panik ohne Furcht auf. Sie spielten zusammen, und zwar Schreibspiele, denn ihre Kommunikationen geschahen auf schriftlichem Wege. Milly schrieb eine Zeile hin und hielt das Papier hoch in die Luft, von wo er es in seine Sphäre verschwinden ließ. Nach einer halben Minute seiner (also einer halben Sekunde ihrer) Zeit gab er es ihr mit seiner Antwort zurück. Er hatte ihr gegenüber den Vorteil, daß er in der für sie langsameren Zeit mehr Gelegenheit hatte, sich eine Antwort auszudenken, aber sie besaß mehr natürlichen Scharfsinn als er und war schwer zu übertreffen. Sie spielten auch Dame, und er mußte sich oft zurückziehen, um zwischen zwei Zügen ein Kapitel aus dem Lehrbuch zu studieren; trotzdem schlug sie ihn häufig. Denn ein natürliches Talent wird einem zusammengesuchten Wissen und einem festgelegten Verfahren meistens überlegen sein. Auch Milly brach er auf seine Weise die Treue, 99
denn neuerdings interessierte er sich – Verliebtheit oder Bezauberung empfand er nicht mehr – für eine gewisse Mrs. Roberts, Urgroßmutter und wenigstens fünfzig Jahre älter als er. Er hatte die sexualmedizinische Literatur über Gerontophilie (die Anziehungskraft des Alters auf junge Menschen) durchstudiert, aber er konnte sich trotzdem die Abfolge seiner Gefühlsbindungen nicht erklären. Er kam zu dem Schluß, daß diese drei Beispiele genügten, um ein Naturgesetz aufzustellen: daß Frauen einfach keine Angst vor Geistern haben, auch wenn der Geist sie berührt und ihnen händelos Briefe schreibt. Es ist möglich, daß verliebte Geister das schon längst erkannt haben, Charles Vincent jedoch machte diese Entdeckung unabhängig und von sich aus. Wenn man über ein bestimmtes Gebiet genügend Wissen angesammelt hat, so tritt manchmal das Grundmuster plötzlich und von selbst hervor, wie ein Bild, das an einer Stelle erscheint, wo es vorher nicht zu sehen war. Und wenn jemand über alle möglichen Gebiete genügend Wissen angesammelt hat – besteht da nicht die Möglichkeit, daß sich ihm urplötzlich der Plan enthüllt, der alle Dinge beherrscht? Es erwischte Charles Vincent in einem Zustand letzter Begeisterung. Gegen Ende einer langen durchwachten Nacht, in der er einen Quellentext nach dem anderen zu Rate gezogen und die Ergebnisse im Geiste geordnet hatte, schien das Grundmuster hervorzutreten, in simpler, überwältigender Klarheit, trotz aller Komplexität im Detail. »Ich weiß jetzt, daß ich alles weiß, was Jene vom Pfuhl wissen«, rief er aus, »und ich besitze ein Geheimnis, das sie nicht haben. Ich habe das Rennen 100
nicht verloren – ich habe es gewonnen. Ich kann sie an dem Punkt schlagen, wo sie sich für unverwundbar halten. Wenn wir nach dem Tode überhaupt beherrscht werden müssen, so brauchen wir uns wenigstens nicht von Denen beherrschen zu lassen. Jetzt fugt sich alles ineinander. Ich habe die letzte Wahrheit gefunden, und sie haben das Rennen verloren, nicht ich. Jetzt kann ich die Vorteile genießen, ohne den letzten Preis der Vernichtung zahlen zu müssen oder mich mit Jenen zu verbinden. Nun brauche ich nur noch mein Wissen wirksam werden zu lassen und die Fakten zu veröffentlichen, und wenigstens ein großer Schatten wird von der Menschheit genommen sein. Ich werde es sofort tun. Nein, beinah sofort. In der Normalwelt ist die Morgendämmerung nahe. Ich will nur noch eine ganz kleine Weile hier sitzenbleiben und mich ausruhen. Dann will ich ausgehen und Kontakt mit den richtigen Leuten aufnehmen, um diese Sache in Gang zu bringen. Aber erst will ich eine kleine Weile hier sitzenbleiben und mich erholen.« Und er starb ganz still in seinem Stuhl, so wie er da saß. Dr. Mason machte folgende Eintragung in sein privates Tagebuch: Charles Vincent, ein vollständig belegter Fall von vorzeitiger Senilität, einer der klarsten Fälle in der gesamten bisherigen Gerontologie. Ich kannte diesen Mann viele Jahre lang und stelle hier fest, daß er sich noch vor einem Jahr äußerlich und gesundheitlich in durchaus normalem Zustand befand, und daß seine Chronologie ebenfalls korrekt ist (ich habe noch seinen Vater gekannt). Ich untersuchte den Patienten laufend während seiner Krankheit, und es bestehen keine Zweifel an seiner Identität, 101
die für diesen Bericht übrigens auch durch Fingerabdrücke und andere Mittel etabliert wurde. Ich stelle fest, daß Charles Vincent im Alter von einunddreißig Jahren an Altersschwäche gestorben ist und zuletzt das Aussehen und die Physis eines Neunzigjährigen hatte. Der Doktor notierte dann weiter: Wie in zwei ähnlichen Fällen, die ich selbst unter den Händen hatte, war die Krankheit von Halluzinationen und einer Reihe von Träumen begleitet, die bei allen drei Männern fast identisch und beinahe unglaublich waren; und für diesen Bericht, zweifellos zum Schaden meines wissenschaftlichen Rufes, will ich einen Teil davon hier niederlegen. Als Dr. Mason das hingeschrieben hatte, dachte er eine Weile nach. »Nein, ich werde nichts dergleichen tun«, sagte er und strich die Zeilen aus, die er geschrieben hatte. »Man soll schlafende Drachen nicht aufwecken.« Und irgendwo saßen gesichtslose, nach dem Pfuhl stinkende Männer und lächelten einander ruhevoll und ironisch zu.
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Frosch auf dem Berg Es war, wie der Dichter sagt: Vor dem Antlitz der Berge erwachte er. Wahrlich, nichts kommt ihnen gleich. Meere und Ebenen waren, so vermeldet die Legende, schon seit Urzeiten da. Aber die Berge erstehen jeden Morgen neu. Es war ziemlich kompliziert gewesen. Sein Name war Garamask, und er hatte es durchgesetzt. »Ich hasse den Weltraum«, hatte Garamask gesagt, als er sich dazu entschloß, und die Raumschiffs-Mannschaft war überrascht. »Warum denn, Mr. Garamask?« hatte der Kapitän gefragt. »Sie haben doch mehr Raumfahrtszeit als ich und kennen sich im Raum viel besser aus. Und Sie haben mehr Geld im Weltraumgeschäft verdient als irgend jemand, den ich kenne. Ich habe niemals einen Mann gesehen, der so wild auf neue Welten ist wie Sie. Sie sind eine so expansive Persönlichkeit, daß ich dachte, Sie wären in die Weite des Raumes verliebt.« »Ich liebe Reisen und Bewegung«, sagte Garamask. »Ich liebe Welten! Aber im Raum verliert man sehr rasch das Gefühl für Bewegung und Orts Veränderung. Und der Weltraum ist eben nicht expansiv. Er schrumpft. Ich habe, wenn wir es mal so ausdrücken wollen, eine Passion für gewisse ungekämmte und bergige Welten; aber der Raum zerstört beinahe diese Passion in mir, denn ich sehe diese Welten wie Mikroben auf meinem Bildschirm auftauchen und sehe sie auch wie Mikroben wieder verschwinden. So muß ich Dinge von epischer Gewalt unter dem Mikroskop studieren. Und wenn ich das Mikroskop weg103
nehme, weiß ich, daß diese gewaltigen Dinge in Wirklichkeit so klein sind, daß man sie mit bloßem Auge nicht mehr sieht. Vom Raum aus gesehen sind alle diese gewaltigen, ragenden Welten zu klein, als daß man sie sehen oder an sie glauben könnte. Ich liebe große Welten, und ich hasse den Raum, weil er diese Welten vernichtet.« »Die Paravata ist keine so besonders große Welt, Mr. Garamask«, sagte der Kapitän. »Doch! Die Paravata ist groß! Sie ist gewaltig!« beteuerte Garamask. »Und ich lasse sie mir nicht kaputtmachen. Nach menschlichem Maßstab ist sie die größte aller möglichen Welten, und ich will nicht, daß dieser Maßstab durch irgendwelche Vergleiche an Bedeutung verliert. Sie ist eine Welt, die grade groß genug ist, daß ein Mensch auf ihr nach Lust und Laune herumgehen kann, ohne dadurch weniger als ein Mensch zu werden. Sie hat die anderthalbfache Schwerkraft der Erde, also fordert sie unsere Kräfte heraus. Sie hat eine Atmosphäre wie ein permanentes Sauerstoff-Saufgelage, also gibt sie unseren Kräften etwas, wovon sie zehren können. Sie hat Berge, die sich zehntausend Meter hoch auftürmen, die höchsten Berge allüberall, die ein Mensch mit seinen eigenen Körperkräften, ohne Apparate, bewältigen kann. Und ich will nicht, daß mir das alles verdorben wird! Ich bin so reich, daß Sie mich nicht als bloße Belästigung betrachten können. Ich habe meine Anweisungen gegeben. Also führen Sie sie aus, soweit sie meine Person betreffen!« »Mr. Garamask, waren Sie jemals jung?« fragte der Kapitän. »Ich bin immer noch jung, Captain! Physisch bin ich so fit wie keiner auf diesem Schiff. Und es ist 104
eine sehr junge, sehr ehrgeizige Idee, die ich jetzt ins Werk setze.« »Ah – waren Sie niemals anders, Mr. Garamask, nicht ganz so jung, und lange nicht so selbstsicher?« »Ich weiß nicht, was Sie meinen, Captain, aber ich denke, so bin ich niemals gewesen. Führen Sie meine Instruktionen aus!« Garamasks Anweisungen besagten, daß er in einen Erhaltungsschlaf versetzt werden und daß er noch im Schlaf auf der Paravata, dem gebirgigen Stern, abgesetzt und in ein Haus gebracht werden sollte. Er wollte nicht wissen, wann die Paravata mikrobengleich im Bildschirm auftauchte, noch wann sie zu hundertmillionenfacher Erbsengröße anschwoll. Er sah auch den Stern nicht zur doppelten Erdgröße anwachsen. Er erlebte die Landung nicht. Er wurde im Raumhafen der Paravata von Bord gebracht und hundert Kilometer weit zu einer Berghütte transportiert. Dort wurde er untergebracht, wie es einem reichen Manne gebührt. Er schlief eine vorausberechnete Anzahl von Stunden, wie er es geplant hatte, und erwachte in der Morgenfrühe. Er erwachte vor dem Antlitz der Berge. Er trat hinaus in die scharfe Luft der Paravata (oder auch Paravath genannt) und befand sich mitten in der kleinen Stadt Bergesfuß. Er hatte einen Arrest- und Hinrichtungsbefehl in seiner Brieftasche, und er empfand eine versengende Neugier nach dieser. Welt, deren lebendige Kultur plötzlich mitten in der Entwicklung eingefroren war, und deren Bevölkerung, die Rogha (d. h. die Elite, die Ausgezeichneten), verschwunden oder fast verschwunden und von den grobschlächtigen Oganta abgelöst worden war. Und das alles hatte sich in 105
verhältnismäßig kurzer Zeit zugetragen, so daß es fast noch in der Erinnerungsspanne der Lebenden lag. Er befand sich auf einem Jagdausflug voller abgründiger Fährnisse: er wollte auf das DreierMassiv, um dort Sinek, den Katzen-Löwen, Riksino den Bären, Shasos den Adler-Kondor und BaterJeno, den Frosch-Menschen (oder auch Kliff-Affen; es kam auf die Übersetzung an) aufzuspüren und zu töten. Das war, wie es hieß, die gefährlichste und zugleich verlockendste Jagd der ganzen Galaxis. Und höchstwahrscheinlich würde er auf dem Dreier-Massiv den Tod finden, denn noch kein menschlicher Jäger hatte alle vier Kreaturen zur Strecke gebracht und es überlebt; ein paar Oganta-Jägern sollte es jedoch geglückt sein. Aber auf anderer Ebene suchte Garamask die Antwort auf die rätselvolle Frage: Was war mit der Rogha-Elite geschehen? Konnte man die wenigen Überlebenden nicht wieder stark machen? Konnte ihre eingefrorene Kultur nicht wieder aufgetaut werden? War es nicht möglich herauszufinden, was für eine Macht diese Oganta-Lümmel über die wenigen noch lebenden Rogha ausübten? Wie war es gekommen, daß sich diese Edlen – freiwillig, wie es hieß – denen unterworfen hatten, die doch weit unter ihnen standen? Auf der dritten Ebene jagte Garamask nach einem Mörder: nach dem Oganta, dem Rogha, dem Tier oder dem Menschen, der Allyn getötet hatte. Allyn war ihm ein enger Freund gewesen, aber Garamask hatte erst nach dem Ereignis empfunden, wie nahe ihm Allyn wirklich gestanden hatte. Es wurde erzählt, daß Allyn bei der gleichen Jagd von Bater-Jeno, dem Kliff-Affen oder Froschmann, getötet worden sei. Allyn war jedoch 106
Garamask kürzlich in einem rhapsodischen Traum erschienen und hatte ihm verraten, daß dem nicht so war. Er sei, so sagte Allyn, von seinem Führer und Jagdgenossen, einem Oganta namens Ocras, getötet worden, der zwar noch lebte, aber möglicherweise nicht mehr als Oganta, sondern in einer anderen Erscheinungsform. »Ich glaube, daß wir uns sehr nahestanden, obgleich wir nie darüber gesprochen haben. Räche mich, Garamask, und entschleiere das Geheimnis der Paravath. Ich war selbst sehr dicht daran, den Schleier zu lüften.« »Was hast du herausgefunden, Allyn?« hatte Garamask gefragt; aber Traumgestalten scheinen manchmal schwerhörig zu sein – sie reden, aber sie hören nicht zu. »Entdecke du es, Garamask«, hatte Allyn wiederholt, »und räche mich! Ich war so dicht daran. Er fraß sich durch meine Schädelbasis in mein Hirn und tötete mich so. Er fraß mein Hirn auf, als ich tot war.« – »Aber was hattest du herausgefunden, als du so dicht daran warst?« hatte Garamask nochmals gefragt. »Sag mir, wie weit du gekommen bist, damit ich weiß, wonach ich zu suchen habe!« – »Ich war so dicht daran, als ich starb«, sagte Allyn. Geistererscheinungen sind wie stocktaub. Sie sprechen ihre Botschaft aus, aber sie hören nicht zu. Vielleicht haben Sie es selbst schon bemerkt. Garamask gab nicht besonders viel auf Träume; aber er hatte sich lange nach dieser Jagd gesehnt. Er hatte eigentlich die Absicht gehabt, mit Allyn zusammen zu jagen, doch Geschäfte hatten das verhindert. Und zu der Zeit, als der Traum kam, aber erst, als er den Bericht sorgfältig studiert hatte, wußte er, wie Allyn den Tod gefunden hatte: irgend 107
etwas hatte sich tatsächlich in seinen Schädel hineingefressen. Jetzt fragte Garamask ein bißchen herum. »Wird Ocras mein Führer sein?« fragte er den schlaksigen Oganta, der die Jagdhütte bewirtschaftete. »Ocras? Nein, er ist nicht mehr Führer. Er ist aus diesem Leben hinaus übersetzt worden.« »Aber es gab doch mal einen Führer namens Ocras?« »Es hat einmal einen Führer namens Ocras gegeben, aber er ist nicht mehr da. Dein Führer wird Chavo sein.« Also hatte es tatsächlich einen Führer namens Ocras gegeben, und Garamask hatte den Namen vor jenem rhapsodischen Traum nicht gewußt. Dann erblickte Garamask einen der überlebenden Rogha, der in stolzer Haltung in der scharfen Morgenluft wandelte. Er ging ihm unverzüglich nach und holte ihn an einem steinigen Abhang ein. »Ich habe sehr starkes Interesse an euch und eurer ganzen Rasse«, begann Garamask. »Du selbst bist wie das Antlitz des Geheimnisses. Du bist imponierend auf eine Weise, wie ich es nie sein könnte. Ich verstehe jetzt, warum man euch die Elite nannte, die Ausgezeichneten. Ihr seid ein so überraschender Kontrast zu diesen Oganta hier; in allen benachbarten Welten wundert man sich darüber. Ihr seid Könige. Jene sind doch nur Lümmel. Warum beherrschen sie euch?« »Ich denke, es ist die Zeit der Lümmel, PilgerMann«, sagte der Rogha leichthin. »Ich bin Treorai, und du bist der Mann Garamask, der soviel Mühe darauf verwandte, im Antlitz der Berge zu erwachen. Du hast die Herausforderung des Dreier108
Massivs angenommen. Es ist ein hohes Streben, die vier Kreaturen dort töten zu wollen. Wer es vollbracht hat, wird eine tiefe Veränderung erleben.« »Wie Allyn?« »Ich kannte ihn, als er hier war. Er hat die vier Kreaturen nicht getötet. Das vierte Tier hat ihn getötet.« »Er sagte mir – von jenseits der Grenze allerdings –, daß er von etwas anderem getötet wurde.« »Allyn würde nicht lügen, auch nicht von jenseits der Grenze. Du hast ihn mißverstanden. Sagte er, daß er die Jagd vollendet und das vierte Tier getötet hat?« »Er sagte, daß er Sinek den Löwen, Riksino den Bären, Shasos den Adler … halt, nein, er hat nicht gesagt, daß er auch den Bater-Jeno getötet hat. Er sagte aber jedenfalls, daß er von etwas anderem ermordet worden sei.« »Nein, Garamask, er wurde von seinem vierten Wild getötet. Ein Wesen ist oftmals verwirrten Sinnes, was die Art seines Sterbens anlangt. Er war jedoch ein großartiger Kerl – für einen Menschen.« »Treorai, warum ist eure Kultur zu diesem grotesken Stillstand gekommen? Warum seid ihr Rogha, trotz eurer offensichtlichen Überlegenheit, fast ausgestorben? Warum haben die plumpen, halbwilden Oganta die Herrschaft übernommen? Ein Dutzend von denen könnte doch nicht einen von euch überwältigen. Ihr besitzt eine natürliche Autorität, von der jeder Angriff abprallen muß. Ich fühle sie wie einen Magnetismus. Ist da eine genetische Veränderung eingetreten?« »Etwas Genetisches, etwas Geisterhaftes, etwas Trennendes hat sich tatsächlich ereignet, Garamask. Aber es ist noch nicht zu Ende, und hier herrscht 109
keineswegs Apathie. Was wir Roghas verloren haben, werden wir wiedergewinnen, auf die eine oder andere Weise. Diese Finsternis wird sich von uns heben.« »Warum vernichtet ihr nicht einfach die Oganta, Treorai?« »Du bist ein gebildeter Mann, Garamask, aber deine Beherrschung der Paravath-Sprache ist noch unvollständig. Ich verstehe einfach deine Frage nicht. Ich spreche ein bißchen Erden-Englisch, vielleicht hilft das?« »Treorai, warum löscht ihr die Oganta nicht einfach aus?« fragte Garamask den edlen Rogha auf Erden-Englisch. »Nein, Garamask, ich verstehe dieses Idiom doch nicht so gut, wie ich dachte«, sagte Treorai. »Deine Frage ist mir schlechthin unverständlich, in welcher Sprache du sie auch stellst. Ah, dein Führer schaut schon nach dir aus, ob du fertig bist. Greif ihn dir schnell, sonst geht er wieder schlafen. Die Oganta sind keine Morgen-Typen. Und die Sonne sollte dich nicht mehr in der Stadt Bergesfuß sehen. Sie sollte dich mindestens zweihundert Meter höher treffen. Sieh die Kante dort! Ein herrlicher Ort, um die erste Sonne zu empfangen!« »Ja, das sehe ich«, sagte Garamask, »und es wird einige hochinspirierte Kletterkunst brauchen, um zur rechten Zeit dorthin zu gelangen. Wenn ich am Leben bleibe, werde ich dich wiedersehen, Ausgezeichneter!« »Hohe Jagd, Garamask! Ein sehr starker Jäger mit einem sehr guten Führer kann vielleicht die ersten drei der Kreaturen töten. Um die vierte zu töten, muß der Jäger sich selbst übertreffen.« Garamask und Chavo, der Oganta-Führer mit der 110
dröhnenden Stimme, brachen zum Gipfel des Domba auf, dem ersten Berge des Dreier-Massivs. Die Oganta sind polternde, starkgebaute Kerle, mit Kraft und Ausdauer von Geburt an begabt. Man sage was man wolle über diese lauten Rüpel, aber sie sind jedenfalls ausgezeichnete Kletterer! Und Garamask war ein sehr kräftiger Mann, der schon früher auf Planeten von Über-Erdenschwere geklettert war. Ah ja! manchmal ist es von Vorteil, wenn man die Paravath-Sprache nur unvollkommen beherrscht! So konnte Garamask Chavos lautes Geschwätz überhören. Wenn er einem Gespräch folgen wollte, so mußte er sich voll darauf konzentrieren können; und beim Aufstieg brauchte er seine Konzentration Gott sei Dank für viele andere Dinge. Aber Chavo lachte und dröhnte unablässig ; es klang, als ob Felsblöcke aneinanderprasselten. Dieser Chavo war, wie alle Oganta, ein seltsam unfertig wirkendes Geschöpf. (Klettern, immer klettern, hoch hinauf auf engen Pfaden, dann würden sie die erste Sonne auf jener herrlichen Kante dort oben empfangen!) »Das Männchen des Europäischen Sumpffrosches (Rana arvalis) schimmert leicht bläulich, wie eine Pflaume« – so hatte vor zweihundert Jahren der Anthropologe und Zoologe Wendt geschrieben; aber Wendt hatte niemals etwas vom Stern Paravata gehört, auch nicht von einem bläulich schimmernden Frosch, der zwei Meter groß ist. (Klettern, hoch hinauf auf hartem Pfad; im Morgenlicht war noch ein anderer bläulicher Schimmer, und die scharfe Luft war wie WeltenSchnaps!) »Diese nackten Gnomen mit den Menschen-Händen und dem kindlichen Körper« hatte Wendt noch geschrieben; aber der alte Wendt hatte 111
sich nie einen »kindlichen Körper« vorgestellt, der hier zweihundert Kilo wog und auf der Erde noch um zwei Drittel mehr wiegen würde. Chavo, der Oganta, war schon ein Trumm von einem Lümmel! Überall moosbedecktes Gestein mit Tigergras dazwischen. Es war nirgends besonders schwierig, für Hände und Füße Halt zu finden; aber es war steil, und man kam schwer voran. Sie gelangten zu der schönen Felskante und erreichten sie grade beim ersten Sonnenstrahl. Sie rasteten. »Du magst mich nicht, Papa Garamask«, dröhnte Chavo, »aber ich werde schon dafür sorgen, daß du mich magst. Wir Oganta haben es gern, wenn man uns gern hat. Wir tun alles dafür.« »Ihr tut zu viel, glaube ich«, sagte Garamask. »Wann werden wir auf den Sinek stoßen?« »Von hier an weiter bergauf werden wir viele Sineks treffen, aber sie werden vor uns weglaufen und nicht standhalten. Dann aber werden wir den Sinek selbst treffen – und der wird standhalten.« »Du sprichst, als gäbe es nur einen von dieser Art, der gefährlich ist. Und doch sind sicher schon ein Dutzend dieser sehr gefährlichen Sineks getötet worden.« »Es gibt immer nur einen auf einmal, Papa Garamask. Ob es immer derselbe ist, der zurückübersetzt wird und wieder in den Bergen lebt, oder ob einer vom andern erbt, das wissen wir nicht. Aber immer gibt es viele Sineks – und den Sinek selbst. Es ist Zeit, daß wir die Waffen anlegen, bevor wir höher steigen.« Chavo riß die Sachen aus seinem Packen. Keine Schußwaffe darf bei der Bergjagd benutzt werden; sogar Bogen, Wurfspeer und Schleuder sind verboten. Die Tiere haben dergleichen nicht, also dürfen 112
die Jäger es auch nicht haben. Das machte die Jagd noch härter. Jagen und Töten mußte in direkter Konfrontation, im Treffen Körper an Körper vollbracht werden. Garamask zog die klauenbewehrten Halbhandschuhe über seine Handrücken und schnallte sie mit Riemen an Gelenk und Handfläche fest. Er war stolz auf seinen zermalmenden Griff, auf seine kraftvollen Hände und Unterarme; aber konnte er damit einem Löwen schmetternde Löwenhiebe versetzen? Er schnallte sich Dolche an Ellbogen und Knie, Zehen und Fersen, nadelspitze, doppelschneidige, seltsam gebogene. Er legte den Kehl- und den Leistenpanzer an. Er stülpte die künstlichen nadelspitzen Fangzähne über seine eigenen Eckzähne. Er setzte die Kappe mit dem Schädelschwert auf und band sie fest. Chavo wappnete sich auf die gleiche Weise. Nun, die Tiere des Paravath hatten solche Klauen und Fänge (nicht alle hatten die gleichen), also durften die Jäger auch so etwas haben. »Es wird noch viel anstrengender sein, in dieser Ausrüstung zu klettern«, knurrte Garamask. »Ja, das stimmt, Papa Garamask«, sagte Chavo, »und auch sonst wird das Steigen immer schwerer. Manche Jäger nehmen die Stacheln und Klauen ab und hängen sie sich griffbereit an den Gürtel, und dann werden sie von Sinek oder Riksino oder Shasos überrascht, und dann sind sie tot. Manche behalten die Klauen und Dolche beim Klettern an und rutschen ab und stürzen in den Tod.« »Was ist besser, Führer?« »Such dir aus, Papa Garamask, wie du Heber sterben willst. Das wird für dich das Beste sein.« »Ich habe nicht die Absicht, im Berg zu sterben!« 113
»Sollen wir hier umkehren, Papa Garamask? Du bist der zwölfte Welt-Mann, der bisher hier gejagt hat. Bis jetzt starben alle im Berg. Keiner schaffte die ganze Jagd.« »Ein Mann, Allyn, ging den ganzen Weg, Chavo. Und dann wurde er ermordet. Ich bin mit ihm geklettert und habe mit ihm gejagt, und ich bin ein so guter Mann wie er. Ich habe die Absicht, den ganzen Weg zu gehen, aber ich habe nicht die Absicht, mich ermorden zu lassen.« Sie kletterten rüstig weiter, Garamask schweigend, Chavo unter unaufhörlichem, dröhnendem, krächzendem Gerede. Garamask überhörte es. Der Oganta kletterte mit seinen Klauen, Reißzähnen und Panzern; Garamask desgleichen. Er beneidete den Oganta nicht um seine Jugend und ragende Stärke. Garamask hatte seine eigene Kraft, und es freute ihn, sie auf die Probe zu stellen. Aber er beneidete den Oganta, ein bißchen wenigstens, um seine Eckzähne. Garamask besaß nicht solche riesigen Eckzähne, an denen die künstlichen Säbelzähne besser hielten. Er hatte auch keinen so bulligen Nacken, keine so massive Schädeldecke, keinen so knochengepanzerten und eckigen Oberkiefer, an denen solche mächtigen Säbelklingen fester saßen. Aber der Satz Fangzähne, den er angelegt hatte, war auch ganz brauchbar, und er würde sie zu benutzen wissen. Von einer schroffen Kehre aus konnte Garamask einen verwischten Blick auf die ferne Stadt Daingean werfen. Die edlen Rogha waren Baumeister gewesen, deren Können dem der Menschen wenigstens gleichkam. Jetzt gab es kaum noch Rogha in diesen Städten, und die grobschlächtigen Oganta lebten darin wie die Tiere in ihren Höhlen. Dann 114
wurde die schroffe Kehre noch schroffer, und Garamask konnte die Stadt nicht mehr sehen. Sie aßen Aran-Moos und Kopfstein-Moos, und die Samenkörner des Tigergrases. Sie kauten grüne, wasserhaltige Coill-Nüsse. Es war ein schweres Klettern. Weiter oben roch Garamask die Witterung der gespenstischen Tiere und ahnte ihre Spuren, und das Wissen darum stieg aus dem Keller seines Geistes hoch. »Ah, dort ist die Welt, in der du lebst«, flüsterte er, »und du bist keineswegs ein bloßes Phantasiegebilde. Du Tier, das kein Tier ist – ich weiß, was du bist.« Der Speichel lief Garamask beim Sprechen aus dem Munde, wegen der großen künstlichen Reißzähne, die er über den eigenen Eckzähnen trug. »Die alten Griechen nannten dich das All-Tier und bildeten dich ab aus den Teilen vieler Tiere. Und die Menschen sagten, du seist der asiatische Löwe, oder der Leopard, oder der Tiger, oder der Berg-Löwe, der amerikanische Puma. Und immer warst du nur du selbst – das Tier der Sage.« »Mit wem redest du, Papa Garamask?« fragte Chavo etwas ängstlich. »Sprichst du zu Sineks Großvater?« »Zu Sineks Ur-Ur-Großvater, Dummkopf. In den Regenwäldern sagten sie den armen Leuten, dein Name sei Jaguar, aber die wußten es besser. Im alten Süden der Konglomerat-Staaten der Erde nannte man dich Puma oder Cuguar, aber die armen Waldläufer wußten immer, wer du wirklich warst. Geister-Tier, ich jage dich!« »Papa Garamask, wirf nur einen Stein in das Dickicht, und es wird sich wegschleichen. Es ist nur einer von den Sineks, nicht der richtige Sinek selbst. Der jagt selten so früh und so weit unten. 115
Und sprich nicht mit Sineks Großvater, sonst kommt er in deinen Traum und frißt sich durch deine lebendige Kehle und tötet dich!« »Doch, du verdammter Dummkopf, es ist Sinek selbst! Heute jagt er früher und auf halber Höhe! Großvater aller Tiere, ich kämpfe mit dir! Panther!« Und Garamask rannte bergan über eine Halde moosbedeckter Felsbrocken, hinein in ein Dickicht von hohem Tigergras und Coill-Büschen, um mit Panther zu kämpfen, dem Tier, das in der Sage lebt und einen falschen Namen hat. Hier auf dem Paravath trug es den Namen Sinek. Es war ein mächtiges schwarzes Männchen. Das war bestimmt kein Sinek, der wegspringen, nicht standhalten würde. Es war Sinek selbst, und jetzt begriff Garamask, warum es immer nur einen Sinek zur Zeit geben konnte. Gespenstisches füllte dieses Tier so vollkommen aus, daß da für kein anderes Tier noch etwas übrigblieb. Garamasks Hieb brachte das erste Blut; der Riß der Klaue blendete den Schwarzen Panther auf einem Auge, und sein Ellbogendolch drang in das Maul des Tieres. Er suchte sich immer zwischen den Vordertatzen der Bestie zu halten. Panther bekam eine Seite von Garamasks Kopf ins Maul, über dem Kehlpanzer, konnte aber nicht festhalten, seine Zähne glitten blutig daran entlang, dann spuckte er und riß Garamask ein Ohr glatt ab. Hier mochte das Tier hundertfunfzig Kilo wiegen – ungefähr Garamasks eigenes Gewicht. Panther, oder Sinek, schüttelte Garamask ab, und der rutschte über die lockeren moosigen Felsbrocken und beinahe in seinen Tod, über den Klippenrand. Dann standen sie sich gegenüber. Sinek stand etwas höher als Garamask auf der 116
Kante des festen Felsens; und Garamask befand sich in der Randzone der lockeren Felsbrocken, die abglitten und jetzt wie ein Wasserfall über die Felskante rollten. Chaco, der Oganta-Rüpel, kauerte auf einem Buschen Tigergras und lachte. Mit Verwunderung gewahrte Garamask Intelligenz, fast totale Intelligenz in den Augen Sineks des Panthers. Hier war eine Person und eine Persönlichkeit, was für eine Art Tier es auch immer sein mochte. Der kluge Blick schien Garamask beinahe freundlich, und die beiden verstanden sich. Sie würden auf Leben und Tod miteinander kämpfen, aber sie erkannten einander als das, was sie waren: Ausgezeichnete, Hochstehende, Panther, Mensch, Rogha, zu den Ersten ihrer Art Gehörende; nicht zu vergleichen mit Ogantas oder Schweinen oder Faultieren. Garamask versuchte, aus seiner schlüpfrigen Zone auszubrechen. Er tauschte furchtbare Klauenhiebe mit Sinek, aber er mußte einstecken und geriet, rückwärts taumelnd, in Gefahr abzustürzen. »Fürchte nichts, Papa Garamask«, rief der Oganta hinunter, der ein Stück höher geklettert war. »Ich werde Felsbrocken auf Sinek hinabrollen und ihn töten.« Und Chavo ließ die Felsbrocken rollen, aber schlecht, ungenau, gefährlich. Dann merkte Garamask an dem rüden Gelächter des Lümmels, daß dieser ihn und nicht Sinek töten wollte; er versuchte, den Menschen mit den rollenden Steinen hinabzustürzen oder eine Steinlawine loszulassen, die ihn unwiderruflich in die Tiefe schleudern würde. Mit einer Mischung von nacktem Schrecken und quellendem Mut, die in Krisenmomenten für ihn charakteristisch war, kämpfte sich Garamask die 117
gleitenden Felsbrocken hinan und gelangte Sinek dem Panther wieder an den Leib. »Ich bin so groß wie du, so stark, so gewappnet wie du, verdammt! und ebenso Tier wie du! Wir gehören zusammen, Kamerad!« murmelte Garamask. »Wenn ich abstürze, dann stürzest du mit!« Aber Garamask irrte sich. Der Panther war mehr Tier als er. Sinek tötete ihn fast im Nahkampf, wenn ihn auch der Kehl- und Bauchpanzer irritierte. »Wer wartet dort unten, um meinen Schädel leerzufressen, Chavo?« brüllte Garamask wütend. »Wer wartet dort unten und will meinen Schädel knacken und mein Hirn fressen? Sinek hier ist es nicht. Dort unten sind Schinder, und dort oben ist ein Schinder – du!« Chavo dort oben kicherte laut und glucksend. »Papa Garamask, fürchte nichts, ich rolle Steine auf Sinek und töte ihn.« Und Chavo ließ Steine auf die beiden ineinander verbissenen Kämpfer hinabrollen, um sie beide zu töten. Garamask glitt ab. Er war im Nachteil. Seine beiden künstlichen Fangzähne waren abgebrochen, und er versuchte, mit seinen eigenen Zähnen die Sehnen des Panthers zu zerreißen, und er verschluckte sich an seinem eigenen, plötzlich ausschießenden Blut. Er zerschlitzte das Tier mit den Ellbogen-, Knie- und Fersendolchen, und die Hintertatze Sineks, die allen seinen Dolchen ebenbürtig war, riß ihm fast die Eingeweide heraus. Ein letztes Mal riß er sich von dem schlagenden, schmetternden Panther los, warf sich in das Geröll und versuchte verzweifelt, sich am Berg festzuhalten. Chavo ließ ein großes Felsstück auf ihn los, das ihn mit über die Bergkante reißen sollte. Sinek der Panther kam geschmeidig herangeschnellt, um ihm 118
den Rest zu geben, da traf ihn das Felsstück voll in die Flanke, grade als er leichtfüßig die Kante des festen Felsens entlangschoß. Und Sinek konnte sich nicht halten, als er in den gleitenden Steinstrom hineingeschmettert wurde. Sinek der Panther wurde über die Bergkante hinausgetragen und stürzte in die gähnende Tiefe. »Papa Garamask, ich habe dir das Leben gerettet«, keuchte Chavo von oben. »Jetzt muß ich nur noch sicher sein, daß Sinek wirklich tot ist, ganz tief da unten, wo er hingestürzt ist. Ich werde noch mehr Felsbrocken auf ihn hinabrollen, und noch mehr, und noch mehr, bis ich genau weiß, daß er tot ist.« Und Chavo rollte Steine auf Garamask hinunter, um ihn vom Berg zu stürzen, und der Mann warf sich hin und her, um ihnen zu entgehen. Drei, sechs, neun Blöcke rollten auf Garamask zu, aber dann hatte Chavo Mühe, einen besonders schönen Block aus seinem Eisbett herauszubrechen. Garamask fand eine verborgene Bahn festen Felsens und kletterte schnell nach oben. Chavo drehte sich um, und da standen sie sich auf gleicher Höhe von Angesicht zu Angesicht gegenüber: Garamask blutig, zerschlagen, mit dem fehlenden Ohr, nach Raubtier stinkend, und wie ein Gespenst, denn ein Teil der Spukhaftigkeit, die Sinek erfüllt hatte, war bei dessen Tode auf Garamask übergegangen. Und Chavo, was soll man über den Lümmel Chavo sagen, den Oganta? Konnte er Garamask in die Augen sehen? Nein, aber das hätte er nie können, denn alle Oganta sind glotz- und schieläugig. Wurde er blaß? Wie kann man das bei einem Oganta wissen? Doch der leichte blaue Schimmer seiner Haut hatte etwas von seinem Schein verloren. 119
»Warum machst du nicht weiter, Führer Chavo?« fragte Garamask, wie ein lauernder Vulkan fragen würde. »Wir steigen weiter, wir steigen höher! Wir haben noch nicht einmal den Gipfel des ersten Berges im Dreier-Massiv erreicht. Wir haben erst eins von den vier Tieren getötet! Auf! Höher!« Sie kletterten, bis der Tag sich neigte. Sie sahen Sineks und noch mehr Sineks, doch alle flüchteten und hielten nicht stand. Sinek selbst trafen sie an diesem Tage nicht mehr. Sinek war für die nächste Zeit tot. Garamask legte seine Waffen und Rüststücke ab und hängte sie an seinen Gürtel; so fiel ihm das Klettern leichter. Und eben mit dem letzten Sonnenstrahl erreichten sie den Gipfel des Domba, des ersten Berges im Dreier-Massiv. Es war eine Hochfläche, es war eigentlich der Fuß eines neuen Berges; denn von dort erhob sich Giri, der zweite Gipfel des Dreier-Massivs. Sie aßen bittere Bergkost und kauten grüne CoillNüsse, anstatt Wasser zu trinken. Sie legten sich nieder zum Schlafen – oder so dachte Garamask wenigstens. Aber Chavo holte ein Saiteninstrument aus seinem Packen und entlockte diesem eine Folge von Geräuschen, so schnarrend und übelkeiterregend, wie man sie kaum jemals gehört hat. Seine dröhnende, polternde Stimme mischte sich darein mit Schreien, die das Blut gerinnen ließen, und Garamask wurde klar, daß er dabei nicht schlafen konnte. »Du hast mich überzeugt, du junger Bär«, grollte er, »daß du eins der letzten Dinge des Universums zustande gebracht hast – den scheußlichsten Lärm, den es nur geben kann. Aber ist es unbedingt nötig, daß du stundenlang damit weitermachst?« »Das gefällt dir nicht?« Chavo war ehrlich über120
rascht. »Ich bin so stolz auf meine Musik und meinen Gesang. Für uns besitzt diese Musik dynamische Vollendung und kosmische Freiheit des Klanges.« »Ich halte es für ganz was anderes. Die Rogha sollen, wie es heißt, die musikalischsten Geschöpfe des Universums sein. Wie können Bewohner des gleichen Sterns die unmusikalischsten sein?« »Ich hatte gehofft, du würdest meine Musik gut finden«, sagte Chavo traurig. »Ich hoffe immer noch, du wirst mich mögen. Wirklich, wir sind liebenswerte Geschöpfe. Sogar manche Rogha haben das gefunden, allerdings nicht ohne eine gewisse Gereiztheit.« »Ihr seid rohe, unbeleckte Kälber, Chavo, und ich verstehe eure Welt immer weniger. Warum und wie bringt ihr die Rogha um? Denn ich glaube, das tut ihr wirklich.« »Aber es sind doch nur noch so wenige übrig, Papa Garamask! Und sie werden immer weniger. Es ist doch gar nicht unbedingt nötig, daß wir sie umbringen, wenn wir sie doch so sehr achten und lieben, nicht wahr?« »Wenn es noch Millionen Rogha gäbe, würdet ihr sie dann auch umbringen?« »Aber nein, bestimmt nicht! Das wäre ja eine Abscheulichkeit! Sie stehen so hoch über uns, daß wir alles für sie tun würden.« »Ihr würdet sie wohl sogar töten, nur um zu zeigen, wie lieb ihr sie habt? Und warum hast du versucht, mich zu töten, als ich mit Sinek kämpfte?« »Aus verschiedenen Gründen. Erstens hast du eine gewisse Würde; du kamst mir beinahe wie ein Rogha vor, als du so gut kämpftest. Ich achte und liebe dich fast wie einen Rogha. Und dann hat sich herausgestellt, daß ihr Welt-Menschen für uns ge121
nau so nützlich seid wie die Rogha, und meine Genossen warteten schon unten, um dich in Stücke zu reißen, wenn du fallen solltest. Außerdem besitzen wir Oganta den Impuls, diejenigen vollends zu töten, die schon dem Tode nahe sind. Sehr oft töten wir andere Oganta, nur weil wir sie in einer Situation antreffen, in der sie schwer gefährdet sind. Und das, glaube ich, ist ein irrationaler Zug an uns.« »Das glaube ich auch, Chavo. Mehrere kleine Felsbrocken tanzen hier auf dem Abhang herum. Täuschen mich meine Augen? Sind es vielleicht kleine springende Tiere, die wie Felsbrocken aussehen?« »Nein, das sind wirklich tanzende Steine, Papa Garamask. Deine Augen täuschen dich nicht. Da – ich werde wieder auf meiner Hittur spielen, und dann tanzen sie wieder danach. Da! siehst du? Ist das nicht eine lustige, behende Musik, Papa Garamask?« »Ich würde was anderes dazu sagen. Verdammt nochmal, Chavo, muß ich die Frage erst aussprechen, die so nahe liegt? Was ist die Ursache, daß die Steine tanzen?« »Das bin ich. Ich lasse die Steine tanzen, Papa Garamask, ich oder mein dunkler Genosse. Warum bist du so überrascht? Auf der Erde gibt es das doch auch?« »Wenn das der Fall ist, so habe ich nie etwas davon gehört.« »Aber es ist doch so. Auf der Erde, so habe ich gehört, hat von zehn jungen Menschen einer einen dunklen Genossen, und dafür gibt es einen Namen auf Erd-Deutsch. Aber hier wie dort ist der dunkle Genosse ein Satellit des Ich. Auf der Erde wird, wie ich höre, diese Tatsache oft verborgen oder abge122
leugnet. Aber hier, wo die meisten imstande sind, den dunklen Genossen zu projizieren, kann man das nicht verbergen. Außerdem, es macht doch Spaß. Paß doch mal auf, wie ich diesen Busch sich wiegen und schwingen lasse, als wäre ich der Wind. Schau!« »Du komischer Lümmel, du hast einen Poltergeist?« »Ja, das ist euer Erden-Wort dafür. Nein, ich bin ein Poltergeist. Und gleichzeitig bin ich ein sichtbares Wesen. Früher war es so, daß wir, wenn wir älter wurden, die eine oder die andere Form aufgaben; entweder wir trennten uns von dem dunklen Körper und waren nur noch sichtbare Wesen; oder wir ließen den Körper verwesen und waren nur Spuk. Aber jetzt, in der Wartezeit der Oganta, haben wir beide Formen, und wir können nicht aus dieser Doppelexistenz hinaustreten.« »Jetzt ist also Wartezeit für euch? Und worauf wartet ihr?« »Auf das, was mit uns geschehen wird. Es ist eine sehr unruhige Wartezeit. Die Leiter ist so schmal, und immer nur so wenige auf einmal können sie hochsteigen. Und an der Spitze, da ist es nicht, wie es einmal war, und auch nicht, wie es sein soll.« »Ich schlafe jetzt, Chavo, und ich will heute nacht weder dein verdammtes Instrument noch deine Stimme mehr hören«, sagte Garamask gelassen. »Aber woher soll ich wissen, daß du mich nicht umbringst, während ich schlafe?« »Aber Papa Garamask, würde ein Oganta die Nacht schänden?« »Zum Teufel, was weiß ich, was ihr tut oder nicht tut? Ich schlafe jetzt!« 123
Und er schlief tatsächlich, wütend, rasch und tief. Und als sein Schlaf am allertiefsten war, erschien ihm Allyn; er stand in geringer Entfernung, etwas höher zum Berge Giri hin. »Paß auf diesen dummen jungen Bären Chavo auf«, rief die Erscheinung zu Garamask herunter, »er ist nicht so schlau wie Ocras, aber du bist auch nicht so klug wie ich.« »Ich bin ganz genau so klug wie du, Allyn«, antwortete Garamask der Erscheinung. »Jetzt sag mir aber, was es war, das du beinahe entdeckt hast, als du starbst. Gib mir etwas, das mich weiterfuhrt!« Jedoch Allyn hörte Garamask nicht. Er war gekommen, um zu sprechen, nicht um zu hören. »Ich war so dicht daran!« rief Allyn wieder. »Räche mich an Ocras, was oder wer auch immer er jetzt ist! Ich würde dasselbe für dich tun.« »Ich will jetzt weiterschlafen, Allyn!« wies ihn Garamask zurecht, »und heute nacht keine Totenreden mehr von dir hören, wenn du mir nicht etwas Neues zu sagen hast.« Und Garamask schlief weiter. Er wachte beim ersten grauen Licht auf, leicht und tatenfroh. »Die erste Sonne darf mich nicht mehr am Fuße dieses Berges finden«, sprach er bei sich. »Ich sehe die Kante, wo mich der erste Sonnenstrahl treffen soll. Es gibt immer noch einen höheren Felsensaum – das Bergsteigen wäre kein Bergsteigen, wenn dem nicht so wäre. Treorai der Rogha meinte, die Oganta seien keine MorgenTypen. Wollen mal sehen!« Garamask schrie und brüllte Chavo an, aber er mußte ihn mit Fußtritten wecken. Belustigt sah er zu, wie der tapsige Bold aufs neue in Schlaf sank; dann puffte er ihn wiederum wach, »Das muß mein 124
dunkler Genosse sein, das kann nicht ich selbst sein, der das tut.« Garamask lachte. »Aber es macht tatsächlich Spaß.« Endlich bekam er den verschlafenen Chavo wach. Sie aßen bittere Bergkost. Mit Klauen, Fußdolchen, Stacheln und Panzern versehen, klommen sie den Giri hinan. Dort oben auf jener Klippe traf sie die erste Sonne. Sie rasteten. Dann kletterten sie weiter. Es war nicht ausgesprochen unangenehm, nicht für einen Mann mit einer kräftigen, reiseerfahrenen Nase; nicht völlig abstoßend – aber roh, heftig, penetrant, speicheltreibend, zügellos, mörderisch, herausfordernd, gräberhaft wie Verwesung, erstickend und lebensversehrend: so war der Geruch, der Gestank, der den Aufstieg auf den Giri einzuhüllen begann. Hier kündigte sich jemand an. Das war Riksino, der Höhlenbär, der Moschusbär, der Herr dieses mittleren Berges. Er war zu Hause und hatte seine Flagge gehißt. »Überflüssig zu fragen, was das ist«, sagte Garamask. »Er hat sich vorgestellt. Wenn ich seinen Namen nicht schon wüßte, könnte ich ihn aus seinem Gestank herausbuchstabieren wie eine Telegrammadresse. Er wird leicht zu finden sein, und ich bin nicht auf diesen Jagdzug gegangen, um ein solches Wild zu meiden. Wie ist es am besten? Sollen wir direkt auf ihn zugehen, wie er uns erwartet, und ihn angreifen?« »Papa Garamask, es gibt keine beste Art, Riksino den Höhlenbären zu bekämpfen.« Chavos Stimme zitterte. »Ich habe Angst vor dieser Person, schon immer. Er ist viel wilder und stärker als Sinek oder Shasos, sogar als Bater-Jeno. Man kann ihn töten, er ist auch schon getötet worden; ich habe selbst ein Stück von seinem Fleisch gegessen. Aber jedesmal 125
ist es ein großes Wunder, daß man ihn überhaupt töten konnte, und jedesmal zittere ich vor Angst.« »Das ist ansteckend, du Rüpel«, sagte Garamask. »Ich verspüre selbst etwas wie Furcht und ein leises Zittern. Wir werden ihn umgehen und dann von oben angreifen.« Aber Garamask war selbst sehr nervös, und seine Begeisterung für diese Art Jagd war im Schwinden. Er fühlte sich heute krank und fiebrig. Sein Gesicht war von den Augen bis zum Hals verschwollen, weil ihm gestern beim Kampf gegen Sinek zusammen mit den übergestülpten künstlichen Fangzähnen auch die eigenen Eckzähne abgebrochen waren. Das Gesicht und der ganze Kopf taten ihm weh, und der Speichel rann ihm aus den ungewohnten Zahnlücken. Außerdem störte ihn das abgerissene Ohr. Auch ein sehr kräftiger Mann leidet unter der Überschwere, wenn er krank ist. Und Riksino zu umgehen und von oben her anzugreifen, würde seine Schwierigkeiten haben. Riksino schob sich bergaufwärts und hielt mit ihnen Schritt. Der Stank seiner Eigenwitterung hob sich höher und höher. Dadurch konnten sie recht gut ausmachen, wo er sich grade befand, auch wenn sie ihn nicht sahen. So brachten sie ein paar ermattende Stunden hinter sich und stiegen weiter den Berg hinan bis fast zum Gipfel. »Das muß der Große Riksino sein, der KönigsRiksino«, sagte Chavo. »Kein anderer hat seine Höhle so hoch oben, und kein Riksino kämpft anderswo als vor dem Mund seiner Höhle. Dies ist das erstemal, daß der Große Riksino wiedergekehrt ist, seit er vor zwei Jahres-Äquivalenten zuletzt getötet wurde.« »Ihr glaubt tatsächlich, daß dieselben Tiere wieder ins Leben zurückkehren?« fragte Garamask. 126
»Die Rogha glauben das nicht, Papa Garamask, aber wir Oganta glauben es. Jedoch, wenn ein Riksino heranwächst, der größer und stärker ist als die anderen, so kann es sein, daß er bergauf zieht und in der alten Höhle des Großen Riksino wohnt, zum Zeichen, daß er jetzt der König ist. Ich habe schon mit Riksinos gekämpft, aber noch nie mit einem Großen Riksino, und ich habe Angst. Du kannst sicher sein, daß er sehr groß und sehr wild ist.« »Ich sehe ihn«, sagte Garamask, nachdem sie etwas höher geklettert waren, »und er ist wirklich sehr groß. Ich werde ihn verfolgen, da er sich anscheinend nicht entschließen kann.« »Was du siehst, ist nicht der Große Riksino«, sagte Chavo, »und kein anderer wird kämpfen, solange der Große am Berg ist. Außerdem hat er, wie du bemerkst, nicht die volle Witterung.« »Voll genug für mich«, krächzte Garamask aus seiner wunden Kehle, »und ich hole ihn mir.« Garamask scheuchte das Tier auf. Es erhob sich brüllend zu anderthalber Mannsgröße. Es schlug riesige Tatzen durch die Luft und riß sein mächtiges Maul auf. Garamask griff geduckt an, dolchte die Hinterbeine des Tieres mit seinen Knie- und Zehenmessern, schlitzte mit dem Helmsäbel seinen Bauch und versetzte ihm mächtige Schläge mit den Handklauen. Das Tier fiel hintenüber, rappelte sich auf und floh heulend. Und Garamask hinkte hinterher, aber wenn es nicht langsamer werden würde, konnte er es nie erwischen. »Es hat keinen Zweck, daß du ihn verfolgst, Papa Garamask«, rief Chavo. »Das ist nicht der Große Riksino. Das ist nur ein Bärenkind, und es flieht auch wie ein Bärenkind. Vergeude nicht deinen Tag mit der Jagd auf einen halb ausgewachsenen Jungbären!« 127
»Anscheinend klettere ich schon tagelang mit so einem in den Bergen herum«, ächzte Garamask. Er war müde, und er war ein Narr gewesen. Die echte Witterung, die Königs-Witterung, – die hing noch immer über ihm, und er hatte nur einen jaulenden Jungbären zur Ader gelassen. Das Wesen Riksino lauerte noch, ganz nahe. »Wir sind fast auf dem Gipfel des Giri«, sagte Garamask. »Wir wollen diese Kante erreichen und sie nach links entlanggehen, bis wir über ihm sind. Oben ist alles schierer Felsen. Seine Höhle muß irgendwo in dem Steinhaufen da sein, grade unterhalb der Kante.« Sie krochen eine furchtbare, abbröckelnde Leiste entlang, Garamask voran. Es ist ein schwieriges Kriechen, wenn man die Knie- und Zehendolche angelegt hat. Garamask begann jetzt die Nähe des sehr großen Tieres zu spüren. Er konnte es nur keuchen und die Zähne fletschen hören, und die Witterung überwältigte ihn fast. Er konnte hören, wie der Bär seine starken Klauen am Felsen wetzte; er konnte sogar das stoßende Blut in seinem Körper hören, den starken Pulsschlag. Aber als er ihn zuerst erblickte, lähmend nahe, da war es das Innere des Tieres, das er sah. Er blickte in das offene Maul, einen Meter seitwärts, zwei Meter unter ihm. Und dann, als er hinabspähte, fasziniert, zu nahe, kam ein blitzschneller Hieb, und Garamasks halbe Nase war weg. Das Tier hatte sich aufgereckt und die Vordertatzen soweit hochgereckt, wie es konnte, und eine der weitreichenden Klauen hatte den vorgebeugten Garamask ins Gesicht getroffen. Aber Garamask hatte auch Klauen. Wütend fuhr er mit seinen Handklingen über Riksinos Tatzen, als der große Bär sich am Felsen emporreckte, so 128
hoch er nur konnte. Garamask reizte ihn mit seinem blutigen Gesicht und konterte mit seinen Messerklauen jedesmal, wenn der Bär nach ihm schlug. Das Tier war, so fand er, langsam und dumm. Einmal schloß es das große Maul, zog seine mächtigen Vorderpfoten weg und leckte sich die blutigen Tatzen. Garamask ließ sich halb über die Kante hinab und zerschliß die Nase des Tieres fürchterlich mit seinen Handdolchen. Er blendete es halb mit seinen fetzenden Hieben; entweder hatte er ihm ein Auge herausgeschnitten, oder es war so voll Blut, daß der Bär nicht mehr damit sehen konnte. Und Garamask war schon wieder auf der Kante, ehe Riksino aufs neue nach ihm schlug. Der Riksino-Bär duckte sich tief auf allen vier Beinen, sammelte Kraft und versuchte, auf die Kante zu springen. Er kam nur mit den Vorderpfoten über den Rand und hing sich dort fest. Garamask zermesserte mit seinen Fußdolchen die riesigen Tatzen zu einem blutigen Brei und hieb dann dem hängenden Tier wieder und wieder ins Gesicht, und das Tier rutschte auf die untere Kante hinab. Und doch war es von solcher Größe, hatte so viel Blut und Fleisch in sich, daß die paar Kratzer, die Garamask ihm beigebracht hatte, keine große Wirkung gehabt haben konnten. »Bär, du bist ein Stolperhans, bist nur ein großer Stolperhans«, murmelte Garamask. »Wie? Was? Versuchst du was Neues? Hast du noch andere Absonderungen als deinen Gestank? Was machst du da, Bär?« Der Riksino-Bär hatte sich steil hochgerichtet und sein großes Maul aufgerissen. Und jetzt war ein Dunst zu spüren, der noch von anderer Art war als der Gestank der Witterung. 129
»Papa Garamask, fall nicht!« rief Chavo. »Fall nicht in das offene Maul des Riksino!« »Du Narr! Warum sollte ich ihm ins Maul fallen?« fragte Garamask erstaunt. »Bär, Bär, was hast du da vor? Bist du vielleicht ein AmateurHypnotiseur? Damit kriegst du vielleicht Vögel und Kleinwild, aber keinen Menschen. Versuch’s, Bär, mach es so stark du kannst! Garamask läßt sich nicht so verzaubern, daß er in einen Bärenrachen fällt!« Und Garamask fiel, den Kopf voran, in den Rachen des Riksino-Bären. Von oben kam noch ein Donner, schreckensvoll und hysterisch, und ein drittes Gewicht fiel schwer herab. Aus den Eingeweiden des Riksino kam ein Todesröcheln, und Garamask wurde zu Tode gequetscht, jedoch nicht sofort. Sein Helmstachel half ihm. Seine Ellbogenklingen zerschlitzten den Magen des Tieres. Aber dann wurde er trotzdem zerquetscht, und sein Schädel spaltete auseinander. Und dann war der Druck vorbei, und die Welt um ihn wurde schlaff. Und nach einer Weile kletterte er weiter zum Gipfel des Giri. Er war mehr oder weniger am Leben, aber es war ihm wirr im Schädel, und die Kehle war ihm wie verstopft. War dieser ganze Kampf mit Riksino nur ein blutiger Traum gewesen? Chavos Stimme dröhnte so widerlich wie eh und je; aber die Sache war kein Traum gewesen. »Ich habe dir das Leben gerettet, Papa Garamask«, dröhnte Chavo. »Bin ich nicht wunderbar? Ich schneide dem Großen Riksino die Kehle durch, als er sich reckt, um dich in seinem Schlund zu zerquetschen. Der Große Riksino kann immer nur an eine Sache auf einmal denken, und der Große Cha130
vo kann die dicksten angespannten Sehnen durchschneiden, wenn er an sie herankommt. Anders ist Riksino nicht zu töten, als von zwei Jägern gleichzeitig; aber der, der als Köder in sein Maul geht, stirbt fast immer.« »Du hast doch versucht, mich umzubringen, als Sinek sich vom Berg herab zu Tode gestürzt hatte, Chavo«, keuchte Garamask. »Warum hast du denn nicht zugelassen, daß Riksino mich tötete? Du wünschest doch meinen Tod?« »Auf die Art, wie Riksino tötet, würdest du für uns nicht mehr taugen«, sagte Chavo. »Er verschlingt zu schnell.« »Aber auf andere Art wäre ich für euch von einigem Nutzen, wenn ich tot wäre, Chavo?« »Tot, ganz frisch tot, oder noch sterbend wärest du für uns von größtem Nutzen«, sagte Chavo höflich. »Sterbend, oder eben gestorben, bist du unsere letzte Hoffnung.« Grade mit der letzten Sonne erreichten sie den Gipfel des Giri, des zweiten Berges im DreierMassiv. Sie aßen bittere Bergkost, und Chavo tupfte Medizin auf Garamasks Wunden. »Würdest du die Bergjagd überleben (aber das wirst du nicht), dann könntest du dir eine neue Nase machen lassen und wieder schön sein«, sagte Chavo. »Aber so mußt du, nehme ich an, nasenlos weiterleben bis zu deinem Tode, morgen bei Sonnenuntergang. Oder soll ich versuchen, dir aus dem Holz dieses Dornbusches da eine Ersatz-Nase zu machen?« »Keine Umstände, Chavo. Ich will jetzt schlafen.« Garamask schlief nicht. Chavo nahm seine saitenbespannte Hittur aus seinem Packen, spielte seine verdammungswürdige Musik und sang dazu. 131
»Chavo!« Garamask sprach es in scharfem Ton. »Weißt du, warum Spanien – ein Land auf der Erde – innerhalb einer Generation von der höchsten Nation Europas zur niedersten abfiel?« »Vielleicht haben sie den Frosch-Gott beleidigt?« »Nein. Nein, wir haben keine Frosch-Götter auf der Erde.« »Wie? Was? Bist du sicher? Keine Frosch-Götter auf der Erde? Na, das haut mich aber um!« »Ein teuflischer Araber, der wütend darüber war, daß die Araber aus Spanien vertrieben worden waren, brachte eine Gitarre in dieses unglückliche Land. Sie bürgerte sich ein. Und so ging dieses unglückliche Land zugrunde, und seine ursprünglich edle Seele verschrumpfte zu einem elenden Gewinsel.« »Ich verstehe, Papa Garamask«, sagte Chavo und zupfte weiter, »es ging unter, so wie die edlen Rogha untergingen, damit wir Oganta werden konnten.« »Eine gute Parallele, Chavo. Und einst gab es auf der Erde, mitten im Stillen Ozean, ein edles Königreich, das hieß Hawaii. Ein seefahrender Mann führte dort die Gitarre ein, und das edle Königreich mußte bald darauf einen Viel-Länder-Staat bitten, es unter seine Sklaven aufzunehmen.« »Ja, natürlich, das mußte ja dabei herauskommen, Papa Garamask. Wir Oganta würden solche Dienste mit Freuden auf uns nehmen, aber es ist niemand da, der uns als Sklaven haben wollte.« »Mein eigenes Land, die Conglomerat-Staaten, fiel auf ähnliche Weise«, sagte Garamask düster. »Und früher war es einmal ein edles Land.« »Die edlen Rogha verabscheuen natürlich dieses Instrument«, sagte Chavo voller Trauer. »Aber für 132
uns ist es die Shetra, das heilige Instrument. Es ist unsere Religion. Es ist unsere Liebe.« »Es ist das Geräusch, das zum Ausdruck bringt, wie zufrieden ihr seid, wenn alle Dinge niedrig und schlecht sind.« »Selbstverständlich, Papa Garamask. Und wer ist niedriger als wir, die Oganta? Aber wir werden es aufgeben, wenn wir einmal nicht mehr Oganta sein müssen, das versprechen wir.« »Ach, geh schlafen, Chavo!« »Aber du sagtest doch, ihr habt keine FroschGötter in eurer Welt – und dennoch habt ihr Frösche? Und wir haben unsere Frosch-Götter, doch wir haben keine Frösche, außer denen, die aus eurer Welt zu uns gebracht wurden. Und das sind ganz kleine Frösche, die ihr da mitgebracht habt. Die größten kann man in beiden Händen halten. Ich träume von den Fröschen der Erde. Wie groß sind sie, Papa Garamask? So groß wie der KönigsRiksino?« »Ach wo. Du hast ja eine völlig verdrehte Idee davon, Chavo. Die Frösche auf der Erde sind die gleichen, die von der Erde hier eingeführt wurden. Die meisten könntest du in einer Hand halten.« »Bist du ganz sicher? Sie sind nicht so groß wie ich? Nicht einmal so groß wie du?« »Nein, nein, Chavo. Sie sind ziemlich klein. Ich habe oft über den Froschkult auf der Paravath nachgedacht. Was steckt eigentlich dahinter?« »Das haut mich aber wieder um, Papa Garamask. Es müßte doch ganz große Frösche geben. Der Frosch ist doch das wunderbarste unter allen Geschöpfen! Er ist das einzige Wesen, das den Froschsprung ganz leicht ausführen kann. Oh, möge dieses Wesen doch zu uns zurückkehren!« 133
»Geh schlafen, du verdammter Trampel!« Chavo seufzte tief auf. »Ich träume von Fröschen!« murmelte er. Dann schien er einzuschlafen. Später kam Allyn wieder, aber es war ein dünnerer und dunstigerer Allyn als in seinen früheren Erscheinungsformen. »Der Shasos, der Adler-Kondor, ist nicht sehr schwer zu töten«, sagte Allyn. »Er wird dich natürlich angreifen, wenn du an der Klippe abgeseilt bist; nur dann kämpft er. Wenn du fest am Seil bist und die Furcht dich nicht überwältigt, hast du eine gute Chance. Dreh ihm den Hals um wie einem Küken, denn er ist bloß ein Küken. Aber er wird versuchen, dich zu zerreißen, weil er deine Gedärme und deine Milz haben will, wenn er sie kriegen kann. Laß das nicht zu! Er wird dir auch die Augen aus dem Kopf hacken wollen. Laß auch das nicht zu! Laß wenigstens nicht zu, daß er beides tut, sonst bist du zu sehr im Nachteil!« »Allyn, ich werde soweit gehen, wie du gewesen bist«, sagte Garamask. »Ich bin ein so guter Kämpfer, wie du jemals warst. Sag mir jetzt: was ist das Geheimnis, das am Ende steht, das du bis zum Tode nicht herausfinden konntest? Was ist das Besondere an diesem letzten Wild, am Bater-Jeno? Worauf warst du aus, Allyn?« Aber Gespenster sind notorisch harthörig. »Du wirst gut daran tun, die Brücke zu schwächen, nachdem du hinübergegangen bist. Und richte deinen Blick immer fest auf die Hinterseite deines Kopfes!« sagte Allyn, der tote Mann. Dann wurde er noch dünner, und schließlich war er weg. Leicht und tatendurstig erwachte Garamask wieder beim ersten grauen Frühlicht. Gesicht und Kehle waren nicht mehr so wund. Zwar fehlten ihm ein 134
Ohr und die halbe Nase, aber er war glücklich. Er hob sein Herz dem Morgen entgegen. Fröhlich weckte er den Oganta Chavo mit Fußtritten auf, denn die Oganta sind keine Morgen-Typen. Sie aßen bittere Bergkost, wappneten sich mit Klingen, Stacheln und Panzern und machten sich daran, den Bior zu ersteigen, den dritten und höchsten Berg des Dreier-Massivs. Hier war es schroff und steil, denn der Bior ist ein Berg, der wie ein Säbel aus seiner Scheide, dem Giri, hervorkommt. Jetzt war die Jagd von anderer Art, und sie kletterten in einem anderen Element. Da waren die glatten, geneigten Felsplatten, die schlüpfrigen, abfallenden Flächen von Gras und Steinmoos. Da waren die Nager und die Feuerhaken-Schlangen, die Gras und Moos fraßen und über die Felsen glitten. Da waren die großen Vögel, die vom hohen Himmel herabschossen und die Nager und die Feuerhaken-Schlangen fraßen. Der größte dieser Vögel war der Shasos, der AdlerKondor. »Ist es mit den Shasos so wie mit den ersten beiden – daß es viele Shasos gibt, aber nur einen richtigen Shasos?« fragte Garamask seinen Begleiter. »Ja. Nicht die anderen werden dich angreifen, sondern Shasos selbst. Den Großen Shasos haben wir zu furchten, der auf dem dritten Mond nistet.« »Was redest du da für hirnrissiges Zeug vom Mond? Wo nisten denn die anderen Shasos?« »Auf dem zweiten Mond. Die nicht so edlen unter den Großvögeln nisten auf dem ersten Mond, und kleinere Vögel auf der Paravath selbst. Wie ich höre, habt ihr auf der Erde keine so großen Vögel wie die Shasos.« »Bei uns gibt es keine Vögel, die so groß sind 135
wie jene, die da oben schweben, Chavo. Sind das Shasos?« »Nein, Papa Garamask, die da oben gehören zu den nicht so edlen unter den Großvögeln, es sind Geier. Wenn wir ein bißchen höher und näher am Himmel sind, kommen wir zu den Kuppen, wo Shasos jagt. Ich werde jetzt hier hochsteigen – eine sehr gefährliche Stelle – und dir ein Seil hinablassen. Wir werden viele solcher Seile brauchen.« Chavo, der Bold, konnte wirklich klettern! Er sog sich am Felsen hoch wie klebriges Öl in einem Lampendocht. Er kletterte mit der vollen Ausrüstung und schien sich in diesem schlüpfrigen Steinmoos seiner Tritte und Griffe völlig sicher zu sein. Aus einer Höhe von vierzig Metern ließ er ein Seil herab, und Garamask kletterte daran hoch – es war schon sehr anstrengend. »Was hielt dich davon ab, mich mitsamt dem Seil fallen zu lassen?« fragte Garamask, als sie die nächste Andeutung einer Felskante erreicht hatten. »Würde ein Oganta die Heiligkeit des Seils verletzen?« gab Chavo zurück. Es wurde ein sehr langer und harter Tag. Garamask kletterte ein dutzendmal lange Seile hoch und bezwang furchterregende Überhänge – unter sich das Nichts. Schiefergraue Wolken hingen unter ihnen, und in der Tiefe war vom Stern Paravath nichts mehr zu sehen. Immer stärker wurde der Bewuchs von Gras und Kopfsteinmoos, so daß der Fels immer schlüpfriger und gefährlicher wurde. Die Nager-Ratten und Feuerhaken-Schlangen wurden größer; immer größere Vögel schwebten am Himmel und stießen auf ihre Beute herab. Eine furchterregende Hohe war das hier, betäubend, keinen Halt gewährend. Der Erste Mond, zerklüftet und mißge136
staltet am Tageshimmel, schien näher zu sein als unten die Paravath, von der sie nur hier und da etwas sahen. Tatsächlich war die Umlaufbahn des kleinen Ersten Mondes nur achtmal weiter entfernt, als die Distanz zur Stadt Bergesfuß betrug. »Da ist ein Shasos, und da, und da«, sagte Chavo, als sie auf einer kaum vorhandenen Kante rasteten – eigentlich war sie nur ein etwas anders gefärbtes Band im Felsen. »Aber es ist noch nicht der Shasos selbst. Doch der wird bald kommen.« Garamask kletterte hinter Chavo über manche ziemlich schwierige Stellen; er wollte kein Seil. Doch dann drohte ein sehr langer und schwieriger Überhang – Garamask wußte sofort, daß er den nicht würde klettern können. »Hier müssen wir wieder das Seil nehmen, Chavo«, sagte er, »und es ist mir sehr unangenehm, von dir abhängig zu sein. Kommst du da überhaupt hinauf?« »Ich kann das klettern. Es ist die schwerste Stelle des ganzen Aufstiegs. Aber vorher werde ich dir was erzählen. Hier, an diesem Seil, das ich herunterlassen werde, wirst du deinen Kampf mit Shasos ausfechten müssen. Da oben ist er jetzt: der schwarze Punkt am Himmel dort – er schläft auf seinen ausgebreiteten Schwingen, bewegungslos. Aber er schläft mit einem offenen Auge und paßt auf. Er wird dir den Bauch aufreißen, um deine Därme und deine Milz zu fressen. Er wird dir die Augen aus dem Kopf fressen.« »Das hat mir schon jemand anders erzählt, Chavo. Ja, ich erinnere mich an eine Sage, in der die Vögel einem gewissen Menschen immer wieder die Leber und die Milz ausfraßen.« »Ich denke, daß die Welt-Vögel und Welt-Götter 137
die Milz fressen, um die Zeit ihrer Wandlung zu überstehen, Papa Garamask. Aber wir hier brauchen andere Nahrung. Ich steige jetzt.« Chavo, der unglaubliche Meisterkletterer der Oganta, nahm den längsten und gefährlichsten Aufstieg in Angriff; er folgte den Konturen der Klippe, wobei Garamask ihn an vier Stellen aus dem Auge verlor und dann wiederfand. Endlich schien er einen festen Halt erreicht zu haben. Bald kam das dünne, hundert Meter lange Seil herab, und Garamask begann den äußerst anstrengenden Aufstieg. Auf halbem Wege waren seine Arme und seine Beine sehr müde und schmerzten; da hörte er ein Pfeifen vom Himmel. Es waren die Flügel des Großen Shasos, der sich mit mächtigem Schwünge auf ihn hinabstürzte. Garamask hatte grade eine Stelle erreicht, wo er eine kleine Stütze im Felsen fand; er faßte festen Kletterschluß mit den Beinen und erwartete den Angriff. Seine Messer an Ellbogen und Helm blitzten. »Wie Prometheus, der gefesselt am Felsen hängt, den großen Vögeln zur Beute«, sprach er bei sich. »Und warum ist mir niemals klar geworden, daß es ein sehr hoch in den Himmel ragender Felsen sein mußte, an den er gefesselt war?« Shasos’ Schwingen klafterten vielleicht zwanzig Meter; er hatte einen großen Kopf mit einem Schnabel wie eine Sichel. Der eigentliche Vogelkörper war nur etwa so groß wie Garamask selbst. Shasos war blitzschnell heran, hieb Garamask den Schnabel in die Leistengegend; aber Garamask versetzte der Bestie einen noch tieferen Stich in den Hinterkopf. Das Seil drehte sich mit Garamask. Beim zweiten Angriff erwischte Shasos Garamask 138
im Kreuz, und Garamask führte einen erfolgreichen Gegenschlag, wieder in den Kopf des Vogels. Noch einmal – und Shasos riß Garamasks untere Flanke auf, krallte sich dort fest und brachte ihm Risse vom und hinten am Leib bei, fraß vielleicht sogar ein Stück von der Milz. Aber Garamask führte einen Hieb, der den Kopf der Kreatur zur Hälfte spaltete, und Shasos taumelte in der Luft. »Jetzt hab ich dich!« jubelte Garamask, »du stirbst auf deinen Schwingen. Aber jetzt kommst du zum letztenmal, und du willst meine Augen. Du willst sie mir aus dem Kopf hacken, was? ›Laß ihn nicht beides tun, sonst bist du im Nachteils hat der tote Allyn gesagt. Komm ’ran zu mir, du Küken! Jetzt ist Schluß mit dir!« Shasos hackte Garamask auch wirklich über den Kopf, und irgend etwas hing über seine Wange herab. Ob es nun ein Fetzen Haut oder ein Auge war – Garamask wußte es nicht. Seine Faustklingen staken in der Kehle des Vogels, in dem langen strickartigen Hals, dessen Sehnen wie bei einem Kabel ineinander verflochten waren. Er drehte die Klinge wie einen Knebel, und die Sehnen gaben etwas nach. Dann gaben sie es ganz auf. Er drehte Shasos den Hals um wie einem Küken, denn Shasos war ein Küken. Und der große Vogel fiel wie ein Blatt in die schiefergrauen Wolken dort unten. »Ich bin ganz schön aufgeschlitzt«, sagte Garamask, »aber es hängt nichts aus mir heraus. Ich habe immer gesunde Eingeweide gehabt. Jetzt kann der schlimme Aufstieg weitergehen, daß wir das vierte Tier jagen, das für mich ein Geheimnis ist und Allyns Tod war.« Und Garamask kletterte weiter am Seil hoch. Es 139
war sehr anstrengend, und oben begrüßte ihn das dümmlich grinsende Gesicht Chavos. »Ich habe eine nette Überraschung für dich«, dröhnte er. »Ich werde sie fertigmachen, während du dich ausruhst.« »Ich habe zwei Überraschungen für dich«, sagte Garamask, »und ich werde sie zur rechten Zeit fertig haben.« ›Du wirst guttun, die Brücke zu schwächen, über die du gegangen bist, und deinen Blick immer fest auf die Hinterseite deines Kopfes zu richten, hatte der tote Allyn gesagt. Chavo war mit seiner Überraschung beschäftigt; Garamask schwächte die Brücke, über die er gegangen war, nämlich das Seil, das ihn getragen hatte. Er schnitt es mit seiner Helmklinge an, aber er schnitt es nicht ganz durch. Es würde, so nahm er an, immer noch sein eigenes Gewicht beim Abstieg aushalten, wenn er sich nicht verrechnet hatte, und wenn er sich nicht einen anderen Abstieg suchen mußte. Aber ein Gewicht, das mehrfach größer als das seine war, würde es nicht aushalten. »Ich löte ein Gerät in einen großen Felsblock«, sagte Chavo. »Ihr von der Erde versteht das Löten im Stein nicht, aber du wirst das Ding nicht losmachen und den Berg hinabwerfen können, und du wirst es auch nicht abstellen können, so daß es still ist.« »Und ich mache mir auch etwas«, sagte Garamask. Er hatte mit seinem Fersendolch einen kleinen Teleorbaum abgeschnitten und schnitzte ihn jetzt mit der Faustklinge zurecht. »Wir sind auf dem Gipfel des Bior, Chavo, und es ist eine kleine Platte, und niemand ist hier außer uns beiden. Wo ist das vierte Wild, der Bater-Jeno, den man auch KliffAffe oder Froschmensch heißt?« 140
»Bater-Jeno ist hier«, sagte Chavo, »er setzt sein Zeichen, so wie weiter unten Riksino sein Zeichen deutlich gesetzt hat.« Garamask hatte eilig ein Stück Leine von Chavos Packen abgeschnitten, als der Klang ertönte; das war etwas Stärkeres als selbst Riksinos Gestank. Mit der Leine befestigte er eine seiner EllbogenKlingen, die er abgenommen hatte, an dem Teleorstab. Dann war es über ihm wie Wogen von Verwesungsgeruch, die kehlezuschnürende Kakophonie von Hittur-Musik und Oganta-Gesang. Chavo hatte ein Tonbandgerät am Felsen festgelötet – aber Garamask besaß jetzt einen guten, langen Speer. »Du kannst das Musikding nicht abstellen, Papa Garamask«, gluckste Chavo. »Es wird dich in deinen letzten Augenblicken zum Wahnsinn treiben. Und Bater-Jeno ist hier. Ich selbst bin Bater-Jeno. Oder er ist du. Komm her und stell dich zum Kampf, dann wollen wir es herausfinden.« Garamask schlug Chavo mit dem Speerschaft aus Teleorholz zu Boden, den Chavo überhaupt nicht gesehen hatte. Dann setzte Garamask die Klinge auf die Brust des Oganta, dicht unter den Halspanzer der Rüstung. »Du hast das Waffengesetz gebrochen«, beklagte sich Chavo. »Nein, nicht wirklich gebrochen, Chavo. Ich werde meine Lanze wegwerfen und mit dem vierten Wild von gleich zu gleich kämpfen, nachdem wir miteinander geredet haben. Wenn ich jetzt in den Tod gehe, dann will ich nicht im Unklaren sein, wie Allyn. Rasch jetzt, Chavo, sprich! Es ist dieser Kerl Ocras, der Allyn getötet hat? Ist er wirklich tot?« »Tot? Nein, Papa Garamask, er ist übersetzt. Ocras (der Hunger) ist Treorai geworden, ein edler 141
Rogha. Du selbst hast mit diesem Treorai gesprochen. Er hat das Kleinhirn deines Freundes Allyn gegessen und dadurch wurde er transformiert.« »Chavo, diese höllische Musik, dieses Gewimmer zerreißt mir den Schädel! Was für ein Zeug redest du da? Die Oganta werden Rogha? Bist du von derselben Art?« »Dein Kopf soll zerplatzen wie ein Holzapfel, wahnsinnig sollst du werden, Papa Garamask! Wir sind von derselben Art, die edlen Rogha, und wir, die unedlen Oganta. Wir verwandeln uns in Rogha, aber nun können wir das nicht mehr. Wir haben die Fähigkeit des Froschsprunges verloren; wir brauchen jetzt dazu ein besonderes Mittel.« »Bei der siebenten Hölle! Derselbe Lärm wie dort unten! Möge ich nie so tief fallen! Was ist dieses Frosch-Mysterium, du Rüpel? Rede!« »Der Frosch-Sprung, durch ihn transformieren wir uns vom Oganta zum Rogha. Welches andere Geschöpf als der Heilige Frosch kann so plötzlich aus einer so unglaubhaften Form in eine andere übergehen? Fremde glauben, daß wir zwei verschiedene Arten oder Rassen sind, so als ob sie glauben würden, daß Kaulquappe und Frosch zwei verschiedene Tierarten sind. Wir verehren den Frosch als das Symbol unseres höheren Selbst.« »Was ging da verkehrt, Lümmel? Was wurde aus der Transformation? Wieso ist das jetzt so schwierig? Gib Antwort auf alles! Hübscher Speer, wie?« »Hübscher Speer, Papa Garamask, aber du kämpfst unfair. Eine Panne – vielleicht war es eine kosmische Panne. Seit hundert Jahresäquivalenten ist kein Oganta mehr zum Rogha geworden ohne das Mittel. Wir vermehren uns als Oganta, und wir leben unser Leben als Oganta aus, und wir können 142
die hohe Kultur der Rogha nicht durchhalten. Wir haben unsere vollgültige Form, unsere Endform verloren, und wir suchen sie wiederzugewinnen.« »Aber wie, Chavo? Was hat der Mord an Allyn damit zu tun? Wie wurde der Oganta Ocras zum Rogha Treorai? Worin besteht dieses Mittel?« »Ein Oganta, der das Kleinhirn eines Rogha ißt, verwandelt sich in einen Rogha, wenn beide stark und kundig sind. Es reicht für die Transformation von vier Oganta. Wir haben auch entdeckt – Ocras fand das heraus, als er Treorai wurde –, daß diese Transformation auch ausgelöst wird, wenn wir das Kleinhirn eines Erd-Menschen essen, aber es muß einer sein, der fähig ist, die Bergjagd bis zur vierten Beute durchzuhalten.« »Lieg still, du Trampel! Sonst durchbohrt dich der Speer! Was wird nun mit Treorai geschehen, der Ocras, Allyns Mörder war?« »Was wird aus Chavo werden, der bei Sonnenuntergang Papa Garamask ermorden wird? Treorais Zeit ist um, und ich werde ebensoviel Zeit haben wie er. Treorai hat zwei Jahresäquivalente gehabt, um alle Weisheit der Rogha zu erlangen. Eben in dieser Woche – und er wird den Augenblick nicht wissen – wird man ihn anfallen und töten und sein Kleinhirn essen.« »›Und hefte deinen Blick stets fest auf die Hinterseite deines Kopfes‹, sagte der tote Allyn zu mir«, grübelte Garamask. »Aber dieser OcrasTreorai wird nicht so sterben. Ich werde diese Sache hier erledigen, und dann werde ich hinuntergehen und diesen Kerl wegen Mordes verhaften, wie es sich gehört.« »Und statt des einen Rogha wird es vier neue geben«, fuhr Chavo fort, als ob er Garamasks Rede 143
nicht gehört hätte. »Auf diese Weise werden wir die Rogha wieder zur Blüte bringen und unsere eigene Wartezeit verkürzen. Wenn es wieder genügend Rogha gibt, dann werden sie in ihrer Weisheit herausfinden, was mit der Transformation falsch gelaufen ist und werden ein weniger groteskes Mittel finden, um das wieder in Ordnung zu bringen. Und du selbst, Papa Garamask, vollbringst mit deinem Sterben beim heutigen Sonnenuntergang eine gute Tat. Aus deinem Tod werden vier neue Rogha erstehen.« »Du verletzest selbst eine Regel, Chavo. Tot, oder gleich nach dem Tode, wäre ich für euch von Nutzen. Und für vier von euch! Ich höre, wie deine drei Genossen am Seil heraufklettern – also glaubst du, du wirst mich frisch bekommen? Wird das Seil halten? Was denkst du, Chavo?« »Es wird halten, Papa Garamask – oder hast du etwa auch noch das Gesetz des Seiles gebrochen?« »Lieg still, Trampel! Nenn es wie du willst. Oh, es wird eine knappe Sache werden, aber ich werde es nicht noch mehr einschneiden. Ich will zu meiner Wette stehen. Es reibt sich durch, Chavo, es gibt schon etwas nach, und der Vorderste ist schon so nahe am Gipfel! Es gibt noch mehr nach! Es reißt! Sie sind abgestürzt, Chavo!« Der Oganta am Boden schluchzte und heulte lauthals über den Tod seiner Freunde, und die tödliche Albernheit der Musikmaschine schien einen passenden Leichengesang abzugeben. Garamask lachte mit schwarzer, grimmiger Lustigkeit, zog den Speer zurück, band den Dolch ab und schnallte ihn sich wieder an den Ellbogen. Er blickte auf den Oganta. »Steh auf, Chavo! Nochmals, wie heißt das vierte Wild?« 144
»Du selbst bist es, der Kliff-Affe, Papa Garamask, denn wir finden euch Männer von der Erde so komisch, daher nennen wir euch so. Oder ich bin es, der Frosch-Mensch, wenn ich dich jetzt und hier töte und den Frosch-Sprung vollbringen kann. Kämpfen wir, Papa Garamask! Und ich werde dein Kleinhirn essen. Hier ist mein Schlachtruf auf der Musikmaschine, die du nicht abstellen kannst! Klingt es nicht schön, wie es so näselt und schwirrt?« »Verdammte ewige Teenager!« brüllte Garamask, als sie in blutigem Kampf aufeinanderprallten. »Feindschaft ist zwischen euch und uns seit dem Beginn der Welten! Ich zerbreche dich! Ich würge dich zu Tode mit den Saiten deiner eigenen Hittur!« »Papa Garamask, du hast gelogen, die Frösche sind nicht so klein. Ich bin bald ein sehr großer Frosch!« Sie kämpften im sinkenden Tag auf der himmlischen Nadelspitze, knirschten vor Wut und zermesserten sich in ihrem apokalyptischen Zorn. Und einer von ihnen würde bei Sonnenaufgang tot sein.
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Alle Menschen Anthony Trotz ging zuerst zu Mike Delado, dem Politiker. »Wie viele Leute kennen Sie, Mr. Delado?« »Warum fragen Sie?« »Ich dachte grade darüber nach, wieviel Details das Gedächtnis aufnehmen und bewahren kann.« »Bis zu einem gewissen Grade kenne ich sehr viele. Zehntausend gut, dreißigtausend bei Namen, und vielleicht hunderttausend dem Aussehen nach und vom Händeschütteln.« »Und was ist die Grenze?« »Möglicherweise ich selbst.« Der Politiker lächelte frostig. »Die einzigen Grenzen sind die Zeit, die Geschwindigkeit des Wiedererkennens und die Dauer der Bewahrung. Wie ich höre, soll die letztere mit den Jahren abnehmen. Ich bin siebzig; ich merke noch nichts davon. Wen ich einmal kenne, den vergesse ich nie wieder.« »Und könnte Sie jemand mit einem Spezialtraining übertreffen?« »Kaum – oder doch nur unwesentlich, denn mein eigenes Training war schon sehr speziell. Keiner hat sich jemals so ausschließlich mit Menschen befaßt wie ich. Ich habe fünf Kurse in Mnemotechnik absolviert; aber auf alle Tricks, die ich dort gelernt habe, war ich schon vorher von selbst gekommen. Ich glaube sehr stark an etwas Gemeinsames in allen Menschen und an die annähernde Gleichheit ihrer Fähigkeiten. Und doch gibt es Menschen, sagen wir mal, einen unter fünfzig, die wenn auch nicht der Art, so doch dem Grad nach ihre Mitmenschen an Aufmerksamkeit, Vitalität und der Weite 146
des Horizonts übertreffen. Ich bin dieser eine unter fünfzig, und Menschen zu kennen ist meine Spezialität.« »Könnte jemand, der sich noch mehr darauf spezialisiert und sich ausschließlich damit befaßt, hunderttausend Menschen gut kennen?« »Diese Möglichkeit besteht. Eine sehr entfernte Möglichkeit allerdings.« »Eine Viertelmillion?« »Das glaube ich nicht. Er könnte allenfalls so viele Gesichter und Namen sozusagen auswendiglernen, aber er würde die Menschen nicht eigentlich kennen.« Als nächstes ging Anthony zu Gabriel Mindel, dem Philosophen. »Mr. Mindel, wie viele Menschen kennen Sie?« »Was meinen Sie mit kennen? Per se? A se? Per suam essentiam vielleicht? Oder meinen Sie ab alio? Oder kennen als hoc aliquid’? Da besteht ein feiner Unterschied. Oder wahrscheinlich meinen Sie das Kennen per substantia prima, oder im Sinne der komprehensiven nournena?« »Irgend etwas zwischen den letzten beiden. Wie viele Menschen kennen Sie dem Namen und dem Gesicht nach, und bis zu einem gewissen Grade der Intimität?« »Ich habe im Laufe der Jahre die Namen meiner Kollegen gelernt – vielleicht ein Dutzend. Heute weiß ich den Namen meiner Frau sicher; und ich stolpere nur selten bei den Namen meiner Nachkommenschaft – höchstens mal kurz und momentweise. Aber wahrscheinlich sind Sie an den Falschen gekommen, wenn Sie … ganz gleich, was Sie wissen wollen. Ich bin notorisch unzuverlässig, was Namen, Gesichter und Personen anlangt. Ich bin 147
sogar (vox faucibus haesit) als geistesabwesend bezeichnet worden.« »Ja, Sie haben tatsächlich diesen Ruf. Aber vielleicht bin ich doch nicht an den Falschen geraten, wenn ich die Theorie der Sache ergründen will. Was begrenzt das Begriffsvermögen des menschlichen Geistes? Was kann er behalten? Was schränkt ihn ein?« »Der Körper.« »Wie das?« »Das Gehirn, möchte ich sagen, die Gebundenheit an die Materie. Der Geist ist vom Gehirn begrenzt. Er ist vom Schädel umschlossen. Ich kann nicht mehr akkumulieren, als meine Schädelkapazität erlaubt, wenn auch der Mensch gewöhnlich noch nicht einmal ein Zehntel davon ausnutzt. Ein Geist ohne Körper würde (nach der esoterischen Theorie) unbegrenzt sein.« »Und wie weit der praktischen Theorie nach?« »Wenn etwas praktisch ist, ein pragma, dann ist es ein Ding und keine Theorie.« »Dann können wir also über den körperlosen Geist nichts erfahren, oder auch nur über die Möglichkeit seiner Existenz?« »Wir haben noch kein Kontaktgebiet entdeckt, aber man kann die Möglichkeit immerhin im Auge behalten. Man kann durchaus das Irrationale rational betrachten.« Sodann suchte Anthony den Priester auf. »Wie viele Menschen kennen Sie?« fragte er ihn. »Ich kenne sie alle.« »Das möchte ich bezweifeln«, sagte Anthony nach einer kleinen Pause. »Ich habe zwanzig verschiedene Gemeinden gehabt. Und wenn Sie vierzig Jahre lang fünftausend 148
Beichten pro Jahr hören, dann wissen Sie zwar keineswegs alles über die Menschen, aber Sie kennen alle Menschen.« »Ich meine nicht Typen. Ich meine Personen, einzelne Menschen.« »Oh – da kenne ich ein Dutzend oder so ganz gut, und ein paar Tausend weniger gut.« »Halten Sie es für möglich, daß jemand hunderttausend oder eine halbe Million Menschen kennt?« »Ein Gedächtniskünstler mag vielleicht so viele Menschen kennen; ich weiß nicht, wo da die Grenze liegt. Aber der Mensch lebt in Dunkelheiten, und ihm ist in allen Dingen eine Grenze gesetzt.« »Könnte ein irgendwie freierer Mensch noch mehr kennen?« »Der einzige wirklich freie Mensch ist der körperlich tote Mensch. Und der Tote, der die Seligkeit erlangt hat, kennt alle Menschen, die seit Anbeginn der Zeit jemals gewesen sind.« »Alle die Milliarden?« »Alle.« »Mit ein und demselben Gehirn?« »Nein. Mit ein und demselben Geist.« »Müßte dann nicht sogar ein gläubiger Christ zugeben, daß der Geist, den wir hier auf Erden haben, nur das Schattenbild eines Geistes ist? Wäre nicht jede Verbindung, die er mit einem wirklich umfassenden Geiste haben könnte, nur sehr dürftig? Wären wir noch dieselbe Persönlichkeit, wenn wir derart verändert wären? Es ist, als wenn man sagte, ein Eimer würde den ganzen Ozean fassen, wenn er ganz erfüllt wäre – was doch nur heißen kann: wenn er ganz voll wäre? Wie könnte es dann noch derselbe Geist sein?« »Ich weiß es nicht.« 149
Anthony suchte den Psychologen auf. »Wie viele Menschen kennen Sie, Doktor Shirm?« »Ich könnte boshaft sein und sagen: ich kenne so viele wie ich kennen will; aber das wäre nicht die Wahrheit. Ich habe Menschen ganz gern, was in meinem Beruf etwas Ungewöhnliches ist. Was wollen Sie eigentlich wirklich wissen?« »Wie viele Menschen man kennen kann.« »Das ist doch nicht so wichtig. Die Leute überschätzen meist die Zahl ihrer Bekanntschaften. Was genau wollen Sie mich also fragen?« »Kann ein Mensch alle anderen kennen?« »Natürlich nicht. Aber auf unnatürliche Weise anscheinend eventuell doch. Es gibt eine illusionäre Wahnvorstellung dieser Art, die gewöhnlich von Euphorie begleitet ist, und sie heißt –« »Ich will nicht wissen, wie sie heißt. Warum benutzen die Spezialisten immer Latein und Griechisch?« »Das ist zu einem Teil Blabla, zum anderen eine Notwendigkeit; es gibt ohne diese Sprachen einfach nicht genug Buchstaben im Alphabet der Definitionen. Es ist ebenso schwierig, eine Konzeption zu taufen wie ein Kind, und wir zermartern uns dabei genauso das Gehirn wie irgendeine junge Mutter. Es hat keinen Sinn, zwei Kinder oder zwei Konzeptionen beim gleichen Namen zu nennen.« »Danke sehr. Ich bezweifle, daß es eine Illusion ist, und ganz gewiß ist sie nicht von euphorischen Gefühlen begleitet.« Anthony hatte seine Gründe, diese vier Experten zu befragen, denn (und das war etwas ganz Neues für ihn) er kannte alle Menschen. Er kannte jeden in Salt Lake City, wo er nie gewesen war. Er kannte jeden Menschen in Dschebel Shah, wo die Stadt 150
wie ein kleines Amphitheater um den Hafen emporsteigt, und in Batanga und in Weihei. Er kannte die Herumlungerer an der Galata-Brücke in Istanbul, und die Lastträger in Kuala Lumpur. Er kannte die Tabakhändler von Plovdiv und die portugiesischen Korkschneider. Er kannte die Dockarbeiter von Djibuti und die Handschuhmacher von Prag. Er kannte die Gemüsebauern in der Gegend von El Centro und die Moschusrattenfänger an der Bucht von Barataria. Er kannte die drei Milliarden auf der Erde bei Namen und Angesicht, und alle waren ihm bis zu einem gewissen Grade vertraut. »Ich bin bei alledem kein intelligenter Mensch. Man hat mich einen Patzer genannt. Und in meiner Dienststelle, im Zentral-Filter, hat man mich schon dreimal versetzt. Ich habe nur ein paar Tausend von diesen drei Milliarden gesehen, und es kommt mir höchst ungewöhnlich vor, daß ich sie plötzlich alle kenne. Es mag ja eine Illusion sein, wie Dr. Shirm sagt, aber dann ist es eine äußerst detaillierte Illusion, und von Euphorie ist keineswegs die Rede. Ich komme mir wie in der Grünen Hölle vor, wenn ich bloß daran denke.« Er kannte die Viehhändler von Letterkenny Donegal, die Zuckerrohrschneider von Oriente und die Baumkletterer von Milne Bay. Er kannte die Menschen, die in jeder Minute sterben, und auch die, die geboren werden. »Da ist einfach nichts zu machen. Ich kenne jeden Menschen auf der Welt. Es ist unmöglich, aber es ist so. Und wozu das? Keine Handvoll ist darunter, von denen ich mir auch nur einen Dollar pumpen könnte, und ich habe nicht einen einzigen wirklichen Freund in dem ganzen Haufen. Ich weiß nicht mal, ob es mich ganz plötzlich überkommen 151
hat, aber ich habe es jedenfalls ganz unvermittelt gemerkt. Mein Vater war Schrotthändler in Wichita, und meine Erziehung ist ziemlich sporadisch gewesen. Ich bin unausgeglichen, introvertiert, untüchtig und unglücklich, und obendrein sind auch noch meine Gedärme nicht in Ordnung. Warum wird ausgerechnet mir eine solche Macht zuteil?« Die Kinder auf der Straße machten Buh, wenn er vorbeiging. Anthony hatte stets einen gesunden Haß auf Kinder und Hunde, diese zwiefache Plage der Unglücklichen und Unangepaßten, empfunden. Beide kommen in Rudeln vor, und beide sind feige im Angriff. Wenn einer von ihnen eine schwache Stelle entdeckt hat, läßt er sie nie mehr fahren. Weil Anthonys Vater Schrotthändler gewesen war, brauchten sie doch schließlich nicht Buh auf ihn zu machen. Und wieso wußten das die Kinder überhaupt? Besaßen sie einen Bruchteil jener Kraft, die ihm jüngst zuteil geworden war? Aber er war schon zu lange in der Stadt herumgeschlendert. Er müßte schon längst wieder bei seiner Arbeit im Zentral-Filter sein. Dort waren sie oft ungeduldig mit ihm, wenn er von der Arbeit wegblieb; und Oberst Peter Cooper wartete schon auf ihn, als er zurückkam. »Wo waren Sie, Anthony?« »Spazieren. Ich habe mit vier Leuten gesprochen. Ich habe aber nichts erwähnt, was mit dem ZentralFilter zusammenhängt.« »Alles hängt mit dem Zentral-Filter zusammen. Und Sie wissen ganz genau, daß unsere Arbeit hier geheim ist.« »Ja, Sir, aber ich verstehe die Bedeutung meiner Arbeit nicht. Ich kann doch keine Informationen weitergeben, die ich selbst nicht besitze.« 152
»Das ist ein weitverbreitetes Mißverständnis. Es gibt andere, die die Bedeutung Ihrer Arbeit verstehen und imstande sein mögen, aus dem, was Sie erzählen, etwas zu rekonstruieren. Wie fühlen Sie sich?« »Nervös, krank – meine Zunge ist belegt, und mein Darm …« »Ah ja, am Nachmittag kommt jemand und bringt Ihre Gedärme in Ordnung. Ich habe das nicht vergessen. Haben Sie mir was zu sagen?« »Nein, Sir.« Oberst Cooper hatte die Manier, seinen Mitarbeitern diese Frage so zu stellen, als sei er eine Mutter, die ihr Kind fragt, ob es auf die Toilette muß. Sein Ton hatte etwas Peinliches. Ja – er hätte schon etwas zu sagen, aber er wußte nicht, wie er es formulieren sollte. Er wollte dem Oberst sagen, daß ihm neuerdings die Macht zuteil geworden sei, alle Menschen auf der Welt zu kennen, und daß er sich Sorgen mache, wie so viel in seinem Kopf Platz finden könne, der keineswegs seiner Fähigkeiten halber bemerkenswert sei. Aber er fürchtete Lächerlichkeit mehr als irgend etwas anderes, und er war ohnehin ein einziger Knäuel von Ängsten. Doch da kam ihm der Gedanke, es wenigstens mal ein bißchen bei seinen Kollegen zu versuchen. »Ich kenne einen Mann namens Walter Wallory in Galvestone«, sagte er zu Adrian. »Er trinkt sein Bier in der Gizmo-Bar und ist Rentner.« »Was ist der Superlativ von ›na und‹?« »Aber ich bin nie dort gewesen«, sagte Anthony. »Und ich bin nie in Kalamazoo gewesen.« »In Kalamazoo kenne ich ein Mädchen. Ihr Name ist Greta Harandash. Sie ist heute zu Hause geblieben, weil sie erkältet ist. Sie ist häufig erkältet.« 153
Jedoch Adrian war ein ebenso uninteressierter wie uninteressanter Mensch. »Na schön, ich werde eine Weile damit leben«, sagte sich Anthony. »Oder ich muß vielleicht zum Doktor gehen und sehen, ob er mir irgend etwas geben kann, damit alle diese Menschen aus meinem Kopf weggehen. Aber wenn er denkt, daß meine Geschichte sehr sonderbar ist, dann meldet er mich vielleicht beim Zentral-Filter, und ich werde wieder degradiert. Degradiert werden macht mich nervös.« Also lebte er noch ein bißchen damit, den Rest des Tages, und die Nacht durch. Eigentlich hätte er sich besser fühlen müssen. Am Nachmittag war ein Mann gekommen und hatte seinen Darm in Ordnung gebracht, aber seine nervöse Spannung konnte keiner in Ordnung bringen. Und seine Verwirrtheit steigerte sich noch, als morgens auf dem Wege zur Arbeit die Kinder hinter ihm her buhten. Dieser ekelhafte Spitzname! Aber wie konnten sie wissen, daß sein Vater Altmetallhändler in einer weitentfernten Stadt gewesen war? Er mußte sich irgendwem anvertrauen. Er sprach mit Wellington, der im gleichen Raum arbeitete. »Ich kenne ein Mädchen in Beirut; sie geht grade zu Bett. Dort ist jetzt Abend, weißt du?« »So? Warum bringen denn die Leute da ihre Zeit nicht in Ordnung? Gestern abend habe ich übrigens ein Mädel kennengelernt, die ist so scharf wie ein Korrelationschlüssel und auch so ähnlich gebaut. Sie weiß noch nicht, daß ich im Zentral-Filter arbeite und gesperrt bin. Soll sie’s doch selber rausfinden!« Es hatte keinen Zweck, Wellington etwas zu erzählen. Er hörte nie zu. Und dann wurde Anthony 154
zu Oberst Cooper befohlen, was jedesmal seine nervöse Spannung noch verstärkte. »Anthony«, sagte der Oberst, »ich möchte wissen, ob Sie irgend etwas Ungewöhnliches bemerkt haben. Das ist nämlich Ihre eigentliche Aufgabe: Ungewöhnliches zu melden. Das andere, der Papierkram, ist nur, damit Ihre faulen Hände was zu tun haben. Also sagen Sie mir klar und deutlich, ob Ihnen irgend etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist.« »Jawohl, Sir!« Und dann sprudelte er heraus: »Ich kenne jeden. Ich kenne alle Menschen auf der Welt. Ich kenne alle die Milliarden, jeden einzelnen persönlich. Das hat mich ganz krank gemacht.« »Ja, ja, Anthony. Aber sagen Sie, haben Sie irgend etwas Außergewöhnliches bemerkt? Es ist Ihre Pflicht, mir zu sagen, wenn das der Fall ist.« »Aber ich habe es Ihnen doch eben gesagt! In gewisser Weise kenne ich jeden Menschen auf der Welt. Ich kenne die Leute in Transvaal, ich kenne die Leute in Guatemala. Ich kenne einfach alle.« »Ja, ja, Anthony. Wir nehmen das zur Kenntnis. Und es ist sicher nicht so leicht, sich daran zu gewöhnen. Aber das meine ich nicht. Haben Sie, außer dieser Geschichte, die Sie persönlich für abwegig zu halten scheinen, nicht irgend etwas Ungewöhnliches bemerkt, irgend etwas, das nicht in Ordnung ist, was irgendwie nicht ganz stimmt?« »Ach – außer dem, was ich Ihnen eben sagte, und Ihrer Reaktion darauf – nein, Sir.« »Gut, Anthony. Aber denken Sie daran: wenn Sie irgendwie auf etwas Merkwürdiges stoßen, dann kommen Sie sofort zu mir und melden das. Haben Sie verstanden?« »Jawohl, Sir.« 155
Aber er konnte nicht umhin, darüber nachzugrübeln, was der Oberst wohl als ›ein bißchen merkwürdig‹ bezeichnen würde. Anthony verließ das Zentrum und ging spazieren. Das hätte er nicht tun sollen. Er wußte, daß sie es im Zentrum nicht gern sahen, wenn er von der Arbeit weglief. »Aber ich muß nachdenken. Ich habe alle Menschen dieser Erde in meinem Hirn, und dabei kann ich nicht denken. Diese Kraft müßte jemand anders haben, jemand, der Nutzen daraus zu ziehen versteht …« Er ging in die Kneipe Zum Falschen Fünfziger, aber der Mann, der dort Dienst hatte, wußte, daß er im Zentral-Filter arbeitete und daher gesperrt war; deshalb wollte er ihn nicht bedienen. Er bummelte mißmutig durch die Stadt. »Ich kenne die Leute in Omaha und die in Omsk. Was haben die Städte dieser Erde doch für komische Namen! Ich kenne jeden Menschen in der Welt und weiß, wann er geboren wird und wann er stirbt. Und Oberst Cooper findet daran nichts Ungewöhnliches. Und doch soll ich auf was Ungewöhnliches aufpassen. Es erhebt sich nun die Frage: Würde ich etwas Ungewöhnliches überhaupt erkennen, wenn ich es sehe?« Und eben in diesem Moment fiel ihm etwas auf, was ein kleines bißchen ungewöhnlich war, nicht ganz richtig – nur eine Kleinigkeit. Aber der Oberst hatte ihm ja befohlen, alles, egal wie unbedeutend, zu melden, was ihm ein bißchen seltsam vorkam. Es handelte sich nur darum, daß unter den Leuten in seinem Kopfe, die da auf der Welt ankamen und wieder weggingen, eine kleine Gruppe war, die nicht in das Muster paßte. In jeder Minute gingen 156
Hunderte ab, die starben, und Hunderte kamen hinzu, die geboren wurden. Und jetzt war da eine kleine Gruppe, sieben Personen, die waren auf die Welt gekommen, aber nicht geboren worden. Anthony ging also zu Oberst Cooper und wollte ihm melden, daß ihm da etwas aufgestoßen war, das er ein bißchen merkwürdig fand. Aber, bei allen verdammten zwei- und vierbeinigen wutschnaubenden Teufeln, da waren schon wieder die Gören auf der Straße, die schrillten und sangen und buhten hinter ihm her: »Tony BlechMann, Tony Blech-Mann!« Er sehnte den Tag herbei, da sie wie Blätter aus seinem Hirn fallen und der Tod sie hinwegnehmen würde. »Tony Blech-Mann, Tony Blech-Mann!« Woher wußten sie bloß, daß sein Vater Schrotthändler gewesen war? Oberst Cooper wartete schon auf ihn. »Sie haben ja wirklich ziemlich lange gebraucht, Anthony. Erzählen Sie mir sofort, was es ist und wo es ist! Die Reaktion ist bereits registriert, aber es würde ohne Ihre Hilfe eine stundenlange Fummelei kosten, bis wir die Ursache exakt geortet haben. Also dann – erzählen Sie so ruhig wie Sie können, was sie gefühlt oder bemerkt haben. Oder, um genauer zu fragen: Wo sind Sie?« »Nein, Sie müssen mir erst gewisse Fragen beantworten.« »Ich habe keine Zeit dazu, Anthony. Sagen Sie mir sofort, was es ist und wo es ist!« »Nein. Es geht nicht anders. Sie müssen mit mir handeln – das eine gegen das andere.« »Mit gesperrten Personen handelt man nicht.« »Also, ich handele so lange, bis ich weiß, was es 157
überhaupt bedeutet, daß ich eine gesperrte Person bin.« »Das wissen Sie wirklich nicht? Nun, wir haben jetzt keine Zeit, diese widerspenstige Stelle in Ihrem Hirn zu reparieren. Also zackzack! Was müssen Sie wissen?« »Ich muß wissen, was eine gesperrte Person ist. Ich muß wissen, warum die Kinder ›Tony BlechMann‹ hinter mir herbrüllen. Wie können sie wissen, daß mein Vater Schrotthändler war?« »Sie haben keinen Vater. Wir geben jedem von euch eine Basisausrüstung von Konzeptionen mit dem zur Benutzung notwendigen Vokabular, sowie eine genügende Menge Gedächtnisstoff und einen background in einer entfernten Stadt. Zu Ihrem background gehört zufällig, daß Ihr Vater Schrotthändler war; aber in dieser Hinsicht besteht keine Verbindung. Die Kinder nennen Sie Tony BlechMann, weil sie, wie alle zutiefst grausamen Geschöpfe, einen Instinkt für die manchmal sehr schmerzhafte Wahrheit haben, und die vergessen sie niemals.« »Dann bin ich also wirklich ein Blech-Mann?« »Genaugenommen – nein. Tatsächlich enthalten Sie nur siebzehn Prozent Metall. Und weniger als ein Drittelprozent Blech. Sie bestehen aus tierischem, pflanzlichem und mineralischem Gewebe, und auf Ihre Herstellung und Programmierung ist beträchtliche Mühe verwandt worden. Aber trotzdem beruht der Spott der Kinder grundsätzlich auf Wahrheit.« »Wenn ich ein Tony Blech-Mann bin, wie können mir dann alle Menschen der Erde im Geiste gegenwärtig sein?« »Sie haben keinen Geist.« 158
»Also dann in meinem Gehirn. Wie können die alle in so einem kleinen Hirn stecken?« »Weil Ihr Gehirn sich nicht in Ihrem Kopfe befindet, und es ist auch nicht klein. Der längste Weg kann manchmal zeitlich der kürzeste sein. Kommen Sie mit, ich kann es Ihnen ebensogut zeigen. Ich habe Ihnen schon so viel erzählt, daß es nicht darauf ankommt, wenn Sie noch ein kleines bißchen mehr wissen. Es gibt nur wenige, denen eine Besichtigung ihres eigenen Hirns unter spezieller Führung gestattet wird. Sie sollten dankbar sein.« »Dankbarkeit käme mir in diesem Falle ein bißchen verspätet vor.« Sie begaben sich in das Sperrgebiet, tief hinunter in die Eingeweide des Hauptgebäudes der Zentrale. Und sie besahen sich das Gehirn des Anthony Trotz, einer gesperrten Person in des Wortes besonderer Bedeutung. »Es ist das größte der Welt.« »Wie groß?« »Etwas über zwölfhundert Kubikmeter.« »Was für ein Gehirn! Und das ist meins?« »Sie teilen es mit anderen. Doch, ja, es ist Ihres. Sie haben Zugang zu seinen Daten. Sie sind sein Gehilfe, sein Laufjunge, sein Anhängsel – insofern Sie überhaupt etwas sind.« »Oberst Cooper, seit wann bin ich am Leben?« »Überhaupt nicht.« »Seit wann bin ich so, wie ich jetzt bin?« »Es ist drei Tage her, daß Sie zuletzt versetzt worden sind, das heißt, daß Sie diesem hier zugeteilt wurden. Zu diesem Zeitpunkt wurde Ihnen eine nervöse Spannung einprogrammiert. Eine mit Spannung erfüllte Arbeitseinheit wird eher dazu 159
inklinieren, Details zu registrieren, die etwas außerhalb des Gewöhnlichen hegen.« »Und was ist mein Zweck?« Sie waren wieder auf dem Rückweg in die BüroRegion, und Anthony hatte das triste Gefühl, daß sein Gehirn hinter ihm hegen blieb. »Wir sind hier in einer Filter-Zentrale«, sagte der Oberst Cooper, »und Ihr Zweck ist, sozusagen als Filter zu dienen. Jeder Mensch ist von einer leichten persönlichen Aura umgeben. Sie ist ein Charakteristikum des betreffenden Menschen und ein Teil seiner Persönlichkeit. Und sie kann wahrgenommen werden – elektrisch, magnetisch und unter bestimmten Umständen sogar visuell. Der Sammler, den wir uns angesehen haben (Ihr Gehirn), ist so konstruiert, daß er Kontakt mit allen Auren der Welt hat, alle ihre Daten auf dem Laufenden hält und sie ständig komplettiert. Er enthält eine Vielzahl von Anschlüssen für jeden der über drei Milliarden Erdbewohner. Wie dem auch sei, es war nötig, ihm als Arbeitshilfen einige künstliche Bewußtseinseinheiten anzugliedern, und Sie sind eine von diesen.« Anthony schaute aus dem Fenster, während der Oberst seine Erläuterungen fortsetzte. Die Hunde und die Kinder unten auf der Straße hatten ein neues Opfer gefunden, und Anthonys Herz flog diesem zu. »Der Zweck«, sagte Oberst Cooper, »war, in den Auren und den Personen, die sie repräsentieren, das etwas Außergewöhnliche festzustellen, alles was an ihrem Kommen und Gehen irgendwie sonderbar ist. So etwas zum Beispiel, wie Sie mir jetzt melden wollen.« »So wie die sieben Personen, die vor kurzem 160
diese Welt betreten haben, und zwar nicht durch Geburt?« »Ja. Wir erwarten die ersten dieser Außenseiter schon seit Monaten. Wir müssen ihren Aufenthalt wissen, und zwar sofort. Also reden Sie!« »Wenn sie aber keine Fremdlinge sind? Wenn sie gesperrte Personen sind, so wie ich?« »Gesperrte Personen haben keine Aura. Und Sie würden diese auch nicht wahrnehmen.« »Wie kommt es dann, daß ich die anderen gesperrten Personen kenne, Adrian, Wellington und so weiter?« »Die kennen Sie direkt, nicht durch die Maschine. Jetzt sagen Sie mir schnell, wo sie sind. Die Zentrale könnte ein wesentliches Angriffsziel bilden. Die Maschine würde Stunden brauchen, um das Einsatzgebiet herauszurechnen. Ihr einziger Daseinszweck, Anthony, besteht darin, als intuitiver Kurzschluß zu dienen.« Aber Blech-Mann Tony sagte nichts. Er bewegte die Worte des Obersten in seinem Geiste, genauer gesagt in seinem Hirn, hundert Meter weit weg. Er sagte sich in seinem präfabrizierten Bewußtsein: Das Einsatzgebiet ist ganz nahe. Wenn der Oberst nicht mit seinem Geist belastet wäre, könnte er klarer denken. Er wüßte, daß grausame Kinder und Hunde gern das ärgern, was nicht menschlich ist, und daß alle gesperrten Personen im hiesigen Areal genau registriert sind. Er wüßte, daß sie unten auf der Straße eben grade einen jener Fremdlinge vorhaben, und das ist für mein Empfinden grade die richtige Region. Ob die da wohl bessere Vorgesetzte sind? Der da unten hat eine imposante Figur und könnte ohne weiteres als Mensch durchgehen. Und der Oberst hat recht, die Zentrale ist 161
ein Hauptangriffsziel. Was? Ich habe nie gewußt, daß man ein Kind töten kann, indem man bloß einfach mit dem Finger darauf zeigt. Was habe ich für Gelegenheiten versäumt! Feind meines Feindes, du bist mein Freund! Und laut sagte er zum Oberst: »Ich werde es Ihnen nicht sagen!« »Dann werden wir Sie auseinandernehmen und es sehr schnell aus Ihnen herausbekommen.« »Wie schnell?« »Zehn Minuten.« »Zeit genug«, sagte Tony. Denn jetzt erkannte er sie. Sie kamen wie die Schneeflocken. Sie kamen zu Hunderten auf die Erde, und nicht durch Geburt.
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Die Elementarerziehung der Camiroi Auszug aus einem Sammelbericht an General Dubuque, betr.: DIE ELEMENTAR-ERZIEHUNG DER CAMIROI. Untertitel: Kritische Bemerkungen zu EINE PARALLELKULTUR AUF EINER BENACHBARTEN WELT, und zu DER ZWEITE BILDUNGSWEG (Auswertung). Auszug aus dem Journal: Auf dem Hauptbahnhof von Camiroi City angekommen, fragten wir den dortigen Informationsfaktor: »Wo ist die Dienststelle des hiesigen ELA?« »Gibts nicht«, sagte er fröhlich. »Sie wollen sagen, daß es in Camiroi City, der Metropole des Planeten, keinen ELA gibt?« fragte unser Vorsitzender Paul Piper ungläubig. »Der hat kein Büro. Aber Sie sind arme Ausländer, folglich haben Sie Anspruch auf Antwort, auch wenn Sie Ihre Fragen nicht vernünftig formulieren können. Sehen Sie den älteren Herrn, der dort auf der Bank sitzt und sich von der Sonne bescheinen läßt? Gehen Sie zu ihm und sagen Sie ihm, Sie brauchen einen ELA, dann macht er Ihnen einen.« »Vielleicht hat bei den Camiroi diese Abkürzung eine andere Bedeutung?« sagte Miss Much, die Erste Vize-Vorsitzende. »Wir meinen damit …« »Eltern-Lehrer-Apparat, natürlich. Wissen Sie, Colloquiales Englisch ist eine der sechs ErdSprachen, die hier obligatorisch sind. Sie brauchen sich nicht zu genieren. Er ist ein sehr patenter Kerl, und er tut gern was für Fremde. Er wird sich freuen, wenn er Ihnen einen ELA machen kann.« 163
Wir waren baß erstaunt, gingen aber trotzdem zu dem betreffenden Herrn hinüber. »Wir suchen den hiesigen ELA, Sir«, sagte Miss Smice, unsere Zweite Vize-Vorsitzende. »Wie wir hören, können Sie uns vielleicht helfen.« »Oh, sicher«, sagte der ältere Camiroi. »Einer von Ihnen soll den Mann arretieren, der da drüben geht, und dann können wir anfangen.« »Was sollen wir?« fragte unser Mr. Piper. »Ihn festnehmen. Ich habe bemerkt, daß Ihnen Ihre eigenen Worte manchmal überhaupt nichts sagen. Ich frage mich oft, wie Sie eigentlich miteinander in Kommunikation treten können. Sie sollen ihn arretieren, ihn in Gewahrsam nehmen, ihn mittels physischer oder moralischer Gewalt ergreifen, und ihn herbringen.« »Jawohl, Sir«, rief Miss Hanks, unsere Dritte Vize-Vorsitzende. Ihr macht so etwas Spaß. Sie arretierte den vorübergehenden Camiroi, teils durch physische, teils durch moralische Gewalt, und brachte ihn zu unserer Gruppe herüber. »Die Fremden wollen einen ELA, Meander«, sagte der ältere Camiroi zu dem Festgenommenen. »Schnapp dir noch drei. Laß dir von der Dame helfen. Sie macht das ganz gut.« Unsere Miss Hanks und der Camiroi namens Meander arretierten drei weitere männliche Camiroi und brachten sie ebenfalls zu unserer Gruppe. »Fünf. Das reicht«, sagte der ältere Camiroi. »Wir konstituieren uns hiermit zum ELA und treten provisorisch in Aktion. Nun, ihr guten Erden-Leute, womit können wir euch gefällig sein?« »Aber sind Sie zuständig? Sind Sie fünf Personen ein legaler ELA?« fragte unser Mr. Piper. »Jeder Camiroi-Bürger ist kompetent, jede belie164
bige Tätigkeit auf dem Camiroi zu übernehmen«, sagte einer der Camiroi (wir erfuhren später, daß sein Name Talarium war), »andernfalls wäre es sehr traurig um unseren Camiroi bestellt.« »Kann sein«, sagte unsere Miss Smice säuerlich. »Mir kommt das ja alles ziemlich informell vor. Was passiert denn, wenn einer von Ihnen WeltPräsident werden müßte?« »So etwas trifft aller Wahrscheinlichkeit nach höchstens einen Mann unter zehn«, sagte der ältere Camiroi (sein Name war Philoxenus). »Ich bin der einzige aus dieser Gruppe, der jemals als Präsident dieses Planeten Dienst getan hat; und die Woche, die meine Amtszeit dauerte, hat mir sehr viel Spaß gemacht. Aber jetzt zur Sache. Womit können wir Ihnen dienen?« »Wir würden gern an einer Ihrer Schulen dem Unterricht beiwohnen«, sagte unser Mr. Piper. »Wir würden auch gerne mit den Lehrern und Schülern sprechen. Wir sind hier, um unser Erziehungssystem mit dem Ihren zu vergleichen.« »Das kann man nicht miteinander vergleichen«, sagte Philoxenus, »das soll aber keine Beleidigung sein. Oder höchstens ein kleines bißchen. Auf dem Camiroi praktizieren wir Erziehung. Sie auf der Erde spielen eine Art Spiel, aber Sie nennen es bei demselben Namen. Das gibt nur Konfusion. Kommen Sie. Wir wollen in eine Schule gehen und uns den Unterricht ansehen.« »Aber in eine öffentliche Schule«, sagte Miss Smice mißtrauisch. »Schieben Sie uns nicht eine hochgestochene Privatschule als typisch unter.« »Das wäre sehr schwierig«, sagte Philoxenus. »Es gibt gar keine öffentlichen Schulen in Camiroi City, und auf dem ganzen Planeten nur zwei. Nur 165
ein kleiner Bruchteil eines Prozents der camiroitischen Schüler besucht eine öffentliche Schule. Wir sind der Meinung, daß die meisten Kinder ebensowenig in einer öffentlichen Schule erzogen wie in ein staatliches Waisenhaus gesteckt werden müssen. Wir sind uns natürlich darüber klar, daß Sie auf der Erde aus der öffentlichen Schule einen heiligen Büffel gemacht haben.« »Heilige Kuh«, sagte unser Mr. Piper. »Kinder und Erdlinge muß man korrigieren, wenn sie Wörter falsch gebrauchen«, sagte Philoxenus. »Wie sollen sie sonst lernen, sich auszudrücken? Das Tier, das die Orientalen Ihres Planeten heilig hielten, gehörte eher zur Spezies bos bubalus als zu bos bos und war somit eher ein Büffel als eine Kuh. Wollen wir also in eine Schule gehen?« »Wenn schon keine öffentliche Schule, dann wenigstens eine typische Schule«, sagte Miss Smice. »Auch das ist unmöglich«, sagte Philoxenus. »Jede Schule auf dem Camiroi ist in gewissem Sinne atypisch.« Wir besuchten also eine atypische Schule. ZWISCHENFALL: Unser erster Kontakt mit den Schülern des Planeten Camiroi war sehr heftig. Einer der Schüler, ein lebhafter kleiner Knabe von acht bis zehn Jahren, rannte Miss Much um und zerbrach ihre Brille. Dann plapperte er etwas in einer unbekannten Sprache. »Ist das Camiroitisch?« fragte Mr. Piper interessiert. »Nach allem, was ich höre, glaubte ich, daß diese Sprache härter und voller klingt.« »Sie wollen sagen, Sie erkennen die Sprache nicht?« fragte Philoxenus amüsiert. »Das ist aber ein drolliges Eingeständnis für einen Pädagogen! 166
Der Junge ist noch klein und sehr unwissend. Als er sah, daß Sie Erdlinge sind, sprach er Hindi, eine Sprache, die von mehr Erdlingen gesprochen wird als irgendeine andere. Nein, nein, Xypete, sie gehören zur englischsprechenden Minderheit. Du kannst das an ihrer farblosen Haut und an den schmalen Köpfen erkennen.« »Hör mal, du hast aber sehr langsame Reaktionen, Lady«, erklärte der kleine Xypete; »sogar Untermenschen müßten eigentlich schneller reagieren. Du stehst einfach da und glotzest und läßt dich umrennen. Soll ich dich mal analysieren und sehen, warum du so langsame Reaktionen hast?« »Nein! Nein!« »Anscheinend hat dir das Hinfallen strukturell nicht geschadet«, fuhr der Kleine fort, »aber wenn was kaputt ist, muß ich es in Ordnung bringen. Zieh dein Kleid aus, ich werde dich untersuchen, ob du noch ganz bist.« »Nein! Nein! Nein!« »Das geht schon in Ordnung«, sagte Philoxenus, »alle Camiroi-Kinder lernen in der Anfangs-Klasse medizinische Erste Hilfe – Knochenbrüche einrichten, Gehirnerschütterungen behandeln, und dergleichen.« »Nein! Nein! Es ist schon gut! Er hat nur meine Brille kaputtgemacht.« »Komm mit, Erden-Lady! Ich mach dir eine neue«, sagte der kleine Junge. »Verzögerte Reaktionen – und noch dazu schlecht sehen – das ist bestimmt nicht gut. Soll ich dir lieber Kontaktlinsen einsetzen?« »Nein. Ich will ebensolche Gläser wie die zerbrochenen. Himmel, was soll ich bloß machen?« »Du kommst mit, ich mache«, sagte der Junge. Es war recht aufschlußreich für uns, daß der Kleine 167
imstande war, Miss Muchs Augen zu prüfen, die Gläser zu schleifen, das Gestell zu bauen und so Miss Much innerhalb von drei Minuten mit einer neuen Brille zu versehen. »Ich mache sie etwas besser als deine alten«, sagte der Junge, »so kompensieren wir deine lange Reaktionszeit.« »Sind hier alle Schüler so begabt?« fragte Mr. Piper. Er war beeindruckt. »Nein. Xypete ist über dem Durchschnitt«, sagte Philoxenus. »Die meisten Schüler können frühestens im Alter von neun Jahren eine so gute Brille herstellen.« BEFRAGUNGEN DIVERSER SCHÜLER: »Wie schnell kannst du lesen?« fragte Miss Hanks ein kleines Mädchen. »Einhundertzwanzig Wörter pro Minute«, sagte das Mädchen. »Auf der Erde haben manche Schülerinnen deines Alters schon gelernt, fünfhundert Wörter pro Minute zu lesen«, sagte Miss Hanks stolz. »Als ich den Kursus für Diszipliniertes Lesen begann, betrug meine Lesegeschwindigkeit viertausend Wörter pro Minute«, sagte das Mädchen. »Es kostete eine Menge Arbeit, mir das abzugewöhnen. Ich mußte in einen Heil-Lesekurs, und meine Eltern genierten sich meinetwegen sehr. Jetzt kann ich schon beinahe langsam genug lesen.« »Ich verstehe das nicht«, sagte Miss Hanks. »Weißt du etwas über Erd-Geschichte oder ErdGeographie?« fragte Miss Smice einen mittelgroßen Jungen. »Ach, da gehen wir ziemlich schnell drüber hinweg, Lady. Da drüben bei euch ist ja auch nicht viel los, nicht wahr?« 168
»Dann hast du wohl noch nie von Dubuque gehört?« »Der Graf Dubuque interessiert mich. Von der Stadt, die nach ihm heißt, kann ich nicht viel sagen. Ich war immer der Ansicht, daß der Graf den Interessenkonflikt zwischen den spanischen und französischen Landnahmen und den ursprünglichen Besitzrechten der Sauk- und Fuchs-Indianer sehr geschickt behandelt hat. Wenn dagegen heutzutage die Stadt erwähnt wird, so hat das einen leicht komischen Beiklang, und der ›Schulmeister aus Dubuque‹ ist zu einem volkstümlichen Archetypus geworden.« »Danke«, sagte Miss Smice, »oder … vielleicht lieber nicht.« »Was lernt ihr über den Stand der humanitären Entwicklung auf der Erde im Vergleich zu dem auf dem Camiroi; und was über die Herkunft der Bewohner dieser beiden Welten?« fragte Miss Much ein Camiroi-Mädchen. »Die anderen vier Welten, Erde (Gaea), Kentauron, Mikron, Dahae und Astrobe, sind alle vom Camiroi aus besiedelt worden. So wird es uns jedenfalls gelehrt; aber mit der ironischen Anmerkung, daß wir diese Angabe, falls sie nicht wahr sein sollte, jedenfalls so lange als wahr betrachten sollen, bis sich etwas Besseres ergibt. Wir waren es, die in historischen Zeiten die vier Welten wiederentdeckt haben, nicht umgekehrt. Selbst wenn wir unterstellen, daß die ursprünglichen Siedlungen faktisch nicht von uns gegründet wurden, so haben wir doch zum mindesten als erste Anspruch darauf erhoben, daß wir sie gegründet haben. Wir haben auch in historischen Zeiten eine weitere Kolonisation der Erde unternommen. Bei euch wird sie als der Einfall der Dorer in Griechenland bezeichnet.« 169
Miss Hanks fragte Talarium: »Wo sind die Spielplätze für die Kinder?« »Oh, die ganze Welt. Kinder dürfen überall hin. Besondere Spielplätze einzurichten, das wäre, als wolle man in den Tiefen des Ozeans ein tischgroßes Aquarium aufstellen. Das hätte wirklich keinen Sinn.« KONFERENZ: Wir vier von der Erde, genauer aus Dubuque, Iowa, diskutierten mit den fünf Mitgliedern des Camiroiter ELA. »Wie halten Sie die Disziplin aufrecht?« fragte Mr. Piper. »Mal so, mal so«, sagte Philoxenus. »Ach, Sie meinen im einzelnen? Das variiert. Manchmal lassen wir es laufen, wie es will, und manchmal ziehen wir die Zügel ziemlich scharf an. Wenn sie erst einmal gelernt haben, daß sie sich bis zu einem gewissen Grade fügen müssen, dann gibt es wenig Schwierigkeiten. Kleine Kinder werden manchmal in eine Grube gesteckt. Sie kriegen nichts zu essen und bleiben so lange drin, bis sie begriffen haben, was sie tun sollen.« »Aber das ist doch unmenschlich«, sagte Miss Hanks. »Natürlich. Aber kleine Kinder sind ja auch noch nicht ganz Menschen. Wenn ein Kind nicht bis zur vierten oder fünften Klasse gelernt hat, Disziplin zu akzeptieren, wird es gehängt.« »Buchstäblich?« »Wie wollen Sie denn ein Kind im übertragenen Sinne hängen? Und was für eine Wirkung würde das auf die älteren Kinder haben?« »Am Halse?« fragte Miss Much. Sie war immer noch nicht befriedigt. 170
»Am Halse, bis es tot ist. Die anderen Kinder nehmen dieses Beispiel stets dankbar zur Kenntnis und betragen sich besser. Kaum ein Kind unter hundert wird gehängt.« »Was ist das für eine Geschichte mit dem Langsamlesen?« fragte Miss Hanks. »Das verstehe ich überhaupt nicht.« »Erst neulich war da ein Junge in einer dritten Klasse, der gar nicht aufhören wollte, schnell zu lesen«, sagte Philoxenus. »Er bekam eine ObjektLektion. Man gab ihm ein Buch von mittlerem Schwierigkeitsgrad, und er las es schnell. Dann mußte er das Buch weglegen und wiederholen, was er gelesen hatte. Können Sie sich vorstellen, daß er in den ersten dreißig Seiten vier Wörter ausließ? Eine ganze Sachdarstellung in der Mitte des Buches hatte er falsch verstanden, und mehrere hundert Seiten konnte er nur unter den größten Schwierigkeiten wörtlich wiedergeben. Wenn er bei einem Stoff, den er eben erst gelesen hatte, schon so unsicher war – stellen Sie sich bitte vor, wie unvollkommen er sich vierzig Jahre später daran erinnern würde!« »Sie wollen sagen, daß die Camiroi-Kinder lernen, sich an alles, was sie lesen, zu erinnern?« »Kinder und Erwachsene auf dem Camiroi erinnern sich lebenslang an alles, was sie je gesehen, gehört oder gelesen haben. Wir auf dem Camiroi sind einfach nur ein bißchen intelligenter als ihr auf der Erde. Wir können es uns nicht leisten, Dinge zu vergessen, die wir später mühsam nachschlagen müssen; oder irgend etwas mit der Oberflächlichkeit zu tun, die eine Folge des nur überfliegenden Lesens wäre.« »Aha. Und würden Sie Ihre Schulen liberal nennen?« »Ich ja. Sie nicht«, sagte Philoxenus. »Wir auf 171
dem Camiroi verwenden die Wörter nicht so, daß sie das Gegenteil bedeuten. Weder in unserer Erziehung noch in unserer Welt überhaupt ist etwas vorhanden, was dieser wunderlichen Servilität entspricht, die Sie auf Erden liberal nennen.« »Nun – würden Sie Ihre Erziehung progressiv nennen?« »Nein. In eurem argot bedeutet progressiv natürlich infantil.« »Wie werden die Schulen finanziert?« fragte Mr. Piper. »Oh, der freiwillige Zehnte auf dem Camiroi deckt alle Kosten: Regierung, Religion, Erziehung, öffentliche Arbeiten. Wir halten selbstverständlich nichts von Steuern, und wir halten die fixen Kosten auf allen Gebieten möglichst niedrig.« »Wie freiwillig ist denn dieser Zehnte?« fragte Miss Hanks. »Werden Leute, die den Zehnten nicht freiwillig entrichten, vielleicht manchmal gehängt?« »Ich glaube, es hat ein paar Fälle dieser Art gegeben«, sagte Philoxenus. »Und ist Ihre Regierung tatsächlich auch so schludrig wie Ihre Erziehung?« fragte Mr. Piper. »Werden Ihre hohen Beamten tatsächlich durch das Los und nur für kurze Zeit gewählt?« »Aber ja. Können Sie sich einen Menschen vorstellen, der so krankhaft veranlagt ist, daß er sich tatsächlich wünschen könnte, ein hohes Amt längere Zeit innezuhaben? Sind noch Fragen?« »Bestimmt noch hunderte«, sagte Mr. Piper, »aber wir finden es sehr schwierig, sie in Worte zu fassen.« »Wenn Sie für Ihre Fragen keine Worte finden, dann können wir auch keine Antworten finden. ELA aufgelöst.« 172
SCHLUSSFOLGERUNG A : In bezug auf Organisation, Gebäude, hygienische Einrichtungen, Spiel- und Sportplätze, Lehrerkonferenzen, Finanzierung, Elternmitarbeit, Schulaufsicht und Ausrüstung für inner- und außerschulische Gruppenarbeit steht das Erziehungssystem der Camiroi dem unserigen nach. Manche Schulgebäude sind einfach grotesk. Wir baten um Auskunft über ein bestimmtes Gebäude, das uns besonders pompös und geschmacklos vorkam. »Was können Sie von Kindern der zweiten Klasse erwarten?« sagten sie. »Es ist immerhin solide gebaut, wenn es auch etwas sonderbar aussieht. Zweitklässler sind eben noch keine perfekten Designer.« »Sie wollen sagen, daß die Kinder das Haus selbst entworfen haben?« fragten wir. »Natürlich«, sagten sie, »entworfen und gebaut. Dafür, daß es Kinder sind, ist es gar nicht so übel geworden.« Dergleichen wäre auf der Erde nicht erlaubt. SCHLUSSFOLGERUNG B: Irgendwie produziert das Erziehungssystem auf dem Camiroi weit bessere Resultate als das Erziehungssystem auf der Erde. Das müssen wir auf Grund unserer Beobachtungen einräumen. SCHLUSSFOLGERUNG C: Zwischen den Schlußfolgerungen A und B besteht eine noch ungelöste logische Diskrepanz. ANLAGE ZUM SAMMELBERICHT : Wir geben im folgenden ein Curriculum der Grundschulerziehung auf dem Camiroi wieder, da es vielleicht von einigem Interesse sein könnte. 173
1. SCHULJAHR Spielen eines Blasinstruments. Einfache zeichnerische Wiedergabe von Objekten und Zahlen. Singen. (Das ist wichtig. Viele Erd-Menschen können nicht singen, singen aber trotzdem. Der auf dem Camiroi übliche frühzeitige Gesangunterricht verhindert dergleichen). Elementare Arithmetik (handschriftlich und maschinell). Akrobatik I. Rätsel und Logik I. Mnemonische Religion. Tanz I. Gehen auf dem niedrigen Seil. Einfache elektrische Leitungen. Züchten von Ameisen (Eoemsen, nicht irdische Ameisen). 2. SCHULJAHR Spielen eines Tasten-Instruments. Zeichnen von Gesichtern, Buchstaben, Bewegungen. Operetten-Gesang. Komplexes Rechnen, handschriftlich und maschinell. Akrobatik II. Scherze und Logik I. Quadratische Religion. Tanz II. Einfache Verleumdung (geistreiche Angriffe auf die persönliche Ehre eines Mitschülers, in Verbindung mit elementarer Fälschungskunde und der Programmierung einfacher Mordanschläge). Übungen auf dem mittelhohen Seil. Planen elektrischer Leitungen. Bienenzucht (Galelea, nicht irdische Bienen). 174
3. SCHULJAHR Spielen eines Saiten-Instruments. Lesen und Stimmbildung. (Hier wird ein Schüler, der in die üble Angewohnheit des Schnell-Lesens verfallen ist, gezwungen, im Sprech-Tempo zu lesen.) Skulpturen in weichem Stein. Situationskomödie. Einfache Algebra, handschriftlich und maschinell. Gymnastik I. Scherze und Logik II. Transzendente Religion. Komplexer akrobatischer Tanz. Komplexe Verleumdung. Übungen auf dem Hochseil und dem hohen Mast. Einfache Radio-Konstruktionen. Züchtung, Aufzucht und Sektion von Fröschen (Karakoli, nicht irdische Frösche.) 4. SCHULJAHR: Lesen von historischen Texten über Grundlagenforschung und Geologie des Camiroi und der Galaxis. Dekadente Komödie. Einfache Geometrie und Trigonometrie, handschriftlich und maschinell. Spurensuche und Geländedienst I. Surrealistischer Witz und hirsutive Logik. Einfache Obszönitäten. Einfache Mystik. Fälschungsmuster. Übungen am Trapez. Intermediat-Elektronik. Sezierübungen am menschlichen Körper. 5. SCHULJAHR: 175
Lesen von historischen Texten zur Technologie des Camiroi und der Galaxis. Introvertiertes Drama. Komplexe Geometrie und analytische Geometrie (handschriftlich und maschinell). Spurensuche und Geländedienst II (zur Vorbereitung auf den Abschlußbericht der 5. Klasse). Esprit und Logik I. Alkoholische Kenntnisse I. Komplexe Mystik. Schaffung intellektueller Klimata; Verleumdung in drei Dimensionen. Einfache Rhetorik. Schwierige Übungen am Trapez. Anorganische Chemie. Elektronik für Fortgeschrittene. Sezierübungen am menschlichen Körper für Fortgeschrittene. Dissertation für die 5. Klasse. Das Kind ist nunmehr zehn Jahre alt und hat die Hälfte seiner Elementar-Schulzeit hinter sich gebracht. Es ist ein noch unfertiges Lebewesen, aber es hat gelernt zu lernen. 6. SCHULJAHR: Vertiefung des Langsamlesens. Einführung in die Mnemotechnik. Lesen wirtschaftsgeschichtlicher Texte (Camiroi und Galaxis). Reiten (des Petruschkoje, nicht des irdischen Pferdes). Drechslerarbeiten höheren Grades, kunstgewerblich und technisch. Passive Literatur. Differentialrechnung (handschriftliche und maschinelle Verfahren kombiniert). Esprit und Logik II. 176
Alkoholische Kenntnisse II. Differentiale Religion. Erste geschäftliche Versuche. Komplexe Rhetorik. Fassadenklettern (die Gebäude sind höher, und die Schwerkraft ist stärker als auf der Erde; dieses Erklettern von Häusern, menschlichen Fliegen gleich, entwickelt Geistesgegenwart und Mut bei den Camiroi-Kindern). Nukleare Physik und postorganische Chemie. Aufbau einfacher pseudo-humaner Komplexe. 7. SCHULJAHR: Kulturhistorische Texte (Camiroi und Galaxis). Super-Mnemotechnik für Fortgeschrittene. Fahrzeuggebrauch und Herstellung einfacher Fahrzeuge. Aktive Literatur. Astrologie (Prognose und Programmierung). Catch-as-Catch-Can für Fortgeschrittene. Sphärische Logik (handschriftlich und maschinell). Alkoholische Kenntnisse III. Integrale Religion. Bankrott mit anschließendem Neuaufbau eines Geschäftes. Hochstapelei und Trendbildung. Postnukleare Physik und Universalismus. Transzendentale Athletik. Komplexer Robotismus und Programmierung. 8. SCHULJAHR: Historische Texte zur Entwicklungstheorie (Camiroi und Galaxis). Perfekte Super-Mnemotechnik. Herstellung komplizierter Land- und Wasserfahrzeuge. 177
Kompendiöse und terminative Literatur (anschließend kreative Bücherverbrennung entsprechend der camiroitischen These, daß nichts Gewöhnliches Existenzberechtigung hat). Kosmische Theorie (Entwicklung). Konstruktion einer Philosophie. Komplexer Hedonismus. Laser-Religion. Hochstapelei II (Entwicklung). Konsolidierung eines einfachen Genie-Status. Post-robotische Integration. 9. SCHULJAHR: Historische Texte zur Futurologie und Kontingenz (Camiroi und Galaxis). Aufstellung von Kategorien. Herstellung komplexer Fahrzeuge mit Lichtgeschwindigkeit. Konstruktion einfacher Asteroiden und Planeten. Matrix-Religion und -Logik. Einfache Disziplinen der menschlichen Unsterblichkeit. Konsolidierung eines komplexen Genie-Status. Probleme der nachbewußten Humanität I. Heirat und Zeugung, erste Versuche. 10. SCHULJAHR: Historische Konstruktionen (aktiv). Herstellung von Fahrzeugen mit ÜberLichtgeschwindigkeit. Panphilosophische Klärungen. Aufbau viabler Planeten. Konsolidierung eines Zustandes der einfachen Heiligkeit. Charismatischer Humor und pentakosmische Logik. Hypogyroskopische Oekonomie. 178
Penentaglossie (= die vollendete Beherrschung von fünfzig Sprachen, die für jeden gebildeten Camiroi obligatorisch ist. Natürlich wird das Kind die meisten dieser Sprachen bereits auf Gesprächsebene beherrschen, zur letzten philologischen Vertiefung jedoch noch nicht vorgedrungen sein). Aufbau komplexer Gesellschaften. Weltregierung. (Ein Kursus gleichen Namens wird auf irdischen Hochschulen manchmal angeboten, beinhaltet jedoch nicht dasselbe. Im Laufe dieses Kursus wird der Schüler drei bis vier Monate lang eine Welt – allerdings nicht eine solche von erster Qualität – regieren.) Dissertation der Zehnten Klasse. KOMMENTAR ZUM CURRICULUM: Das Kind ist nunmehr 15 Jahre alt und hat seine Elementarerziehung beendet. In vielem wird es seinen irdischen Altersgenossen überlegen sein. Es ist z. B. physisch wesentlich besser durchgebildet und könnte einen irdischen Tiger oder Kaffernbüffel mit bloßen Händen töten. Ein irdisches Kind würde vermutlich zögern, derlei auch nur zu versuchen. Ein CamiroiKnabe oder -Mädchen könnte jeden irdischen Berufs-Sportler in jedem beliebigen Wettkampf ersetzen und könnte alle bestehenden irdischen Rekorde brechen. Es ist einfach eine Frage der besseren Körperbeherrschung, der größeren Stärke und Schnelligkeit, die das Ergebnis einer adäquaten Schulung sind. Was die Schönen Künste anlangt (aufweiche wir Erden-Menschen manchmal so großes Gewicht legen), so könnte ein Camiroi-Kind in jedem Medium ohne Schwierigkeiten unvergleichliche Meisterwer179
ke schaffen. Was jedoch wichtiger ist: es hat gelernt, daß derartige Beschäftigungen relativ unwichtig sind. Das Camiroi-Kind wird im Alter von zehn Jahren einmal einen geschäftlichen Zusammenbruch erlitten und aus seinem Versagen vollkommene Sachlichkeit und Geduld gelernt haben. Es hat die Techniken der Fälschung und der Hochstapelei erlernt; mithin wird es sich von Bürgern jeder anderen Welt nur schwerlich übervorteilen lassen. Das Camiroi-Kind hat sich zu einem vielseitigen Genie und einem einfachen Heiligen entwickelt; diese letzte Qualität reduziert den camiroitischen Kriminalitätsindex auf nahezu null. Es wird in diesen frühen Jahren, den Jahren seiner größten Freudefähigkeit, geheiratet und sich eine Wohnung eingerichtet haben. Es hat aus den Materialien, die es in jedem Haus auf dem Camiroi findet, ein Fahrzeug mit Überlichtgeschwindigkeit gebaut und dieses auf einer bedeutenden, von ihm selbst geplanten und programmierten Reise geführt. Es hat sehr komplizierte, quasi-humane Roboter konstruiert. Im Besitz eines perfekten Gedächtnisses und Urteilsvermögens ist es aufs beste darauf vorbereitet, sich nunmehr ein wirklich solides höheres Wissen anzueignen. Das Kind hat gelernt, seinen Geist ganzheitlich zu gebrauchen; denn das große Reservoir, welches das Unterbewußtsein für den Menschen darstellt, ist dem jungen Camiroi bewußt geworden. Alle seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten sind vollkommen geordnet und einsatzbereit. Und anscheinend gibt es um den Erwerb dieser Fähigkeiten gar kein großes Geheimnis, sondern es handelt sich nur darum, daß alles genügend langsam und in der rich180
tigen Reihenfolge getan wird: so werden Wiederholungen und Drill vermieden, eben diejenigen Methoden, durch welche auch die rascheste Auffassungsgabe abstumpft und einschrumpft. Der camiroitische Ausbildungsplan fordert viel von den Kindern, aber in keinem Punkte fordert er Unmögliches oder entmutigt sie. Alles Neue baut sich auf dem auf, was vorausgegangen ist. Zum Beispiel ist das Kind elf Jahre alt geworden, ehe ihm postnukleare Physik und Universalistik angeboten werden. Derartige Themen wären in jüngeren Jahren vermutlich noch zu schwierig. Der Schüler ist dreizehn Jahre alt, wenn er sich mit der Erfindung von Kategorien befaßt – ein sehr schwieriger Kursus mit einem einfachen Namen. Er ist vierzehn, wenn er das gefährliche Gebiet der panphilosophischen Klärung in Angriff nimmt. Aber dann hat er schon zwei Jahre lang komprehensive philosophische Systeme aufgestellt und verfugt über alle notwendigen Grundlagen für die endgültige Abklärung. Wir sollten diesen alternativen Erziehungs- und Bildungsweg genauer betrachten. In mancher Hinsicht ist er besser als unser eigener. Wenige Erdkinder würden imstande sein, einen organischen und empfindungsbegabten Roboter innerhalb von fünfzehn Minuten zu konstruieren, wenn ihnen diese Aufgabe unvermutet gestellt wird; aber die meisten wären nicht imstande, in dieser Zeit einen lebendigen Hund aufzubauen. Kein Erdkind unter fünfzehn Jahren wäre fähig, zwischen jetzt und Mitternacht ein Fahrzeug mit Über-Lichtgeschwindigkeit zu bauen und dieses über unsere Galaxis hinauszuführen. Nicht ein Erdkind unter hundert wäre imstande, innerhalb einer Woche einen betriebsfähigen und 181
funktionstüchtigen Planeten aufzubauen. Nicht eins unter tausend wäre imstande, die pentakosmische Logik zu verstehen. EMPFEHLUNGEN: a) Entführung von fünf beliebigen Camiroi zwecks Konstituierung eines Modell-ELA für die Erde. b) Ein bißchen konstruktive Bücherverbrennung, besonders auf dem Gebiet der Pädagogik, c) Wohlüberlegtes Hängen einiger böswilliger Schüler.
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Langsame Dienstag-Nacht Ein Bettler sprach das junge Paar an, das durch die nächtliche Straße schlenderte. »Gott bewahre uns in dieser Nacht«, sagte er und faßte grüßend an seinen Hut, »und könnt ihr guten Leute mir tausend Dollar vorschießen? Ich muß was unternehmen, um mein verlorenes Vermögen wieder reinzuholen.« »Ich habe Ihnen doch erst vorigen Freitag tausend Dollar gegeben«, sagte der junge Mann. »Tatsächlich, das haben Sie«, erwiderte der Bettler, »und ich habe es Ihnen noch vor Mitternacht zehnfältig durch Boten zurückgezahlt.« »Stimmt, George, das hat er getan«, sagte das junge Mädchen. »Gib’s ihm, George. Ich glaube, er ist in Ordnung.« Also gab der junge Mann dem Bettler tausend Dollar, und der Bettler griff dankend an die Hutkrempe und machte sich an die Rückgewinnung seines Vermögens. Auf dem Wege zum Geld-Markt kam er an Ildefonsa Impala vorbei, der schönsten Frau der Stadt. »Willst du mich heute abend heiraten, Ildy?« fragte er frohgemut. »Oh, ich glaube nicht, Basil«, antwortete sie. »Ich heirate dich ja ziemlich oft, aber heute abend habe ich anscheinend überhaupt noch nichts Bestimmtes vor. Du kannst mir aber von deinem ersten oder zweiten Vermögen etwas abgeben. Das finde ich immer so nett.« Doch als sie sich trennten, fragte sie sich: »Wen soll ich bloß heute abend heiraten?« Der Bettler war Basil Bagelbaker und würde in an183
derthalb Stunden der reichste Mann der Welt sein. Er würde binnen acht Stunden vier Vermögen gewinnen und wieder verlieren, und zwar nicht solche popligen kleinen Vermögen, wie sie gewöhnliche Leute zusammenkratzen, sondern titanische Vermögen. Nachdem die Abebaios-Blockierung aus dem menschlichen Gehirn entfernt worden war, trafen die Menschen ihre Entscheidungen schneller und oftmals besser. Dieser Block hatte gewissermaßen ein geistiges Stottern bewirkt. Als man erkannt hatte, worin er eigentlich bestand, und daß er keinerlei nützliche Funktionen besaß, ging man dazu über, ihn schon im Kindesalter durch einen metachirurgischen Eingriff zu beseitigen. Jetzt waren Transport und Produktion so beschleunigt, daß sie sich praktisch in Sekunden abspielten. Für Unternehmungen, die früher Monate und Jahre gedauert hatten, brauchte man nur noch Minuten und Stunden. Geschäftsleute konnten innerhalb von acht Stunden ein- oder mehrmals, und auch in den verzwicktesten Branchen, klein anfangen und große Vermögen machen. Freddy Fixico hatte soeben ein Manus-Modul erfunden. Freddy war ein Nyktalops, und für diese Menschenart waren die Module charakteristisch. Die Menschen hatten sich zu jener Zeit – entsprechend ihrer Natur und Neigung – in Auroreaner, Hemerobianer und Nyktalops aufgeteilt; oder (populär gesprochen) in Morgenrötler, deren aktivste Zeit zwischen vier Uhr morgens und Mittag lag; Tagfliegen, die ihrer Tätigkeit von Mittag bis acht Uhr abends nachgingen; und Nachtschwärmer, deren Kultur von acht Uhr abends bis vier Uhr morgens blühte. Kultur, Zivilisation, Erfindungen, Märkte und Aktivitäten dieser drei Gruppen diffe184
rierten etwas. Als Nyktalops hatte Freddy seinen Arbeitstag grade eben, um acht Uhr abends, begonnen, und zwar an einem langsamen Dienstagabend. Freddy mietete sich ein Büro und ließ es einrichten. Dazu brauchte er eine Minute, denn Auswahl, Kauf, Anlieferung und Aufstellung der Möbel geschahen fast im Handumdrehen. Dann erfand er das Manus-Modul; dazu brauchte er eine weitere Minute. Dann wurde es fabriziert und auf den Markt geworfen; in drei Minuten war es schon in den Händen der Großeinkäufer. Es kam gut an. Es war ein sehr attraktives Modul. Die Aufträge begannen in den ersten drei Minuten zu strömen. Gegen acht Uhr zehn besaßen alle wichtigen Leute ein Exemplar dieses Manus-Moduls, und das Geschäft war voll angelaufen. Es war einer der interessantesten Verkaufsschlager der ganzen Nacht, oder wenigstens der späten Abendstunden. Manus-Module hatten keinen praktischen Zweck, genausowenig wie die Sameki-Verse. Sie waren attraktiv, von psychologisch befriedigender Größe und Form; man konnte sie in der Hand halten, auf den Tisch stellen oder an jeder beliebigen Wand in einer Modul-Nische unterbringen. Selbstverständlich wurde Freddy sehr reich. Ildefonsa Impala, die schönste Frau der Stadt, interessierte sich immer für eben reich gewordene Männer. Sie suchte Freddy gegen halb neun auf. Die Leute pflegten sich schnell zu entschließen, und Ildefonsa hatte ihren Entschluß bereits gefaßt, als sie zu ihm kam. Freddy entschloß sich ebenfalls schnell und ließ sich von Judy Fixico vor dem Gerichtshof für Bagatellsachen scheiden. Freddy und Ildefonsa verbrachten ihre Flitterwochen in Paraiso Dorado, einem Seebad. 185
Es war wundervoll. Ildefonsas Hochzeiten waren immer wundervoll. Die Szenerie war aufs Großartigste von Flutlicht-Scheinwerfern beleuchtet. Das Wasser der berühmten Umlauf-Fälle war golden getönt; das Gebirge war von Rambles entworfen, und die Konturen der Hügel von Spall. Der Strand war eine perfekte Kopie des Strandes von Merevale, und der beliebteste Drink während dieses ersten Teils des Festes war blauer Absinth. Aber eine Landschaft – ob man sie nun zum erstenmal sieht oder nach einer gewissen Zeit wieder aufsucht – beeindruckt nur durch den plötzlichen, unvermittelten Anblick. Sie ist nicht dafür gedacht, daß man längere Zeit darin herumtrödelt. Speisen, die in Sekundenschnelle ausgewählt und zubereitet werden, sind ein Augenblicksgenuß; und blauer Absinth ist auch nur so lange interessant, als er etwas Neues ist. Für Ildefonsa und ihre rasch aufeinanderfolgenden Buhlen war Liebe etwas, das man schnell konsumiert; Wiederholung hätte für sie keinen Reiz gehabt. Außerdem hatten Ildefonsa und Freddy nur die einstündigen Luxus-Flitterwochen gebucht. Freddy wünschte die Beziehung fortzusetzen, aber Ildefonsa blickte auf einen Trend-Anzeiger: die Popularität des Manus-Moduls würde nur das erste Drittel der Nacht durchhalten. Schon jetzt wurde es von den wirklich in Frage kommenden Persönlichkeiten nicht mehr beachtet. Und Freddy gehörte nicht zu den permanenten Erfolgsmenschen. Nur etwa einmal in der Woche konnte er sich einer wirklich hundertprozentigen Karriere erfreuen. Gegen neun Uhr fünfunddreißig waren sie wieder in der Stadt und ließen sich vor dem Gerichts186
hof für Bagatellsachen scheiden. Die Produktion des Manus-Moduls wurde eingestellt, und der Rest des Lagers würde verramscht werden. Unter den Morgenrötlern gibt es Spezialisten für Gelegenheitskäufe – die nehmen jeden Dreck. »Wen werde ich als nächsten heiraten?« überlegte Ildetonsa. »Es sieht aus, als ob es eine langsame Nacht wird.« Am Geld-Markt ging ein Raunen um: »Bagelbaker kauft!« – aber ehe das Wort seine Runde vollendet hatte, verkaufte Bagelbaker schon wieder. Basil Bagelbaker hatte Spaß am Geldmachen. Es war eine Freude, ihm bei der Arbeit zuzusehen, wenn er den Markt beherrschte und seine Läufer und ein sachverständiges Angestelltenteam zusammentrommelte – er sprach dabei immer nur aus einem Mundwinkel. Diener rissen ihm die Bettlerlumpen herunter und legten ihm die Toga der Finanzmagnaten an. Er schickte einen Läufer los, der dem jungen Paar, das ihm tausend Dollar vorgeschossen hatte, den zwanzigfachen Betrag zurückzahlte. Er sandte einen anderen mit einem bedeutenderen Geschenk zu Ildefonsa Impala, denn Basil schätzte seine Beziehungen zu ihr sehr hoch ein. Er verschaffte sich Zugang zum TrendanzeigerKomplex und ließ ein paar gefälschte Daten einfüttern. Damit verursachte er den Zusammenbruch einiger industrieller Imperien, die in den letzten zwei Stunden hochgeschossen waren, und verdiente ganz ordentlich am Wiederaufbau der Ruinen. Jetzt war er schon ein paar Minuten lang der reichste Mann der Welt. Er wurde so geldschwer, daß er sich nicht mehr mit der Gewandtheit bewegen konnte, die ihn noch vor einer Stunde ausgezeichnet hatte. Er wurde ein großer fetter Hirsch, und das 187
Rudel der listigen Wölfe kreiste ihn ein, um ihn niederzureißen. Sehr bald würde er das erste Vermögen dieses Abends verloren haben. Das Geheimnis Basil Bagelbakers bestand darin, daß es ihm Spaß machte, sich erst bis zum Platzen mit Geld vollzustopfen und es dann auf möglichst spektakuläre Weise wieder zu verlieren. Ein gedankenreicher Mann namens Maxwell Mouser hatte soeben ein Werk über Aktinische Philosophie vollendet. Er hatte sieben Minuten gebraucht, um es zu schreiben. Zum Schreiben philosophischer Bücher benutzte man flexible Umrisse, sowie den Ideen-Index; man setzte bei jedem Unterabschnitt den Aktivator für den betreffenden Wortschatz an; sehr gewiegte Autoren bedienten sich auch noch des Feed-in-Gerätes für Paradoxa und des Einblenders für verblüffende Analogien; schließlich kalibrierte man noch die GedankenEbene und die Persönliche Note ein. Dabei konnte nur ein erstklassiges Werk herauskommen, und das war auch nötig, denn bei einer derartigen Produktion war Erstklassigkeit als Minimalmaßstab von vornherein obligatorisch. »Ich werde noch ein paar Nüsse für die Glasur spendieren«, sagte Maxwell Mouser und drückte auf den entsprechenden Knopf. Daraufhin wurde der Text mit einer Handvoll Wörter wie chtonisch und heuristisch und Prozymeiden durchschossen, so daß niemand darüber im Zweifel sein konnte, daß es sich um ein hochphilosophisches Buch handelte. Maxwell Mouser versandte das Manuskript an die Verleger und erhielt es von jedem innerhalb von drei Minuten zurück. Eine Analyse und die Gründe für die Ablehnung lagen jedesmal bei – meistens 188
hieß es, daß das Thema schon früher behandelt worden sei – und besser. Maxwell erhielt es innerhalb von dreißig Minuten dreißigmal zurück und war deprimiert. Dann kam der Umschwung. Das Buch von Landion war in den letzten zehn Minuten ein Bestseller geworden, und man erkannte jetzt, daß Mousers Abhandlung sowohl eine Ergänzung des Landion’schen Opus als auch eine Erwiderung darauf war. Das Buch wurde knapp eine Minute nach diesem Umschwung angenommen und sofort publiziert. In den ersten fünf Minuten waren die Rezensionen noch vorsichtig; dann aber machte sich wirkliche Begeisterung bemerkbar: hier lag wahrhaftig eins der größten philosophischen Werke unter den Erscheinungen der frühen und mittleren Nachtstunden vor. Manche Rezensenten gingen soweit, daß sie andeuteten, es könnte sein, daß sogar noch bei den Morgenrötlern des nächsten Tages ein Kaufinteresse vorhanden sei. Natürlich wurde Maxwell sehr reich, und natürlich suchte Ildefonsa ihn gegen Mitternacht auf. Als revolutionärer Denker meinte Maxwell, daß sie irgendein freies Arrangement treffen sollten, aber Ildefonsa bestand auf Heirat. Also ließ sich Maxwell vor dem Gerichtshof für Bagatellsachen von Judy Mouser scheiden und heiratete Ildefonsa. Diese Judy selbst war, wenn auch nicht so schön wie Ildefonsa, doch die am fixesten zugreifende Frau der Stadt. Immer wollte sie den Mann des Augenblicks für den Augenblick und war jedesmal sogar noch schneller als Ildefonsa zur Stelle. Ildefonsa glaubte, sie nähme Judy die Männer weg, aber Judy sagte, Ildy bekäme nur das, was sie, Judy, übrigließe, und weiter nichts. »Ich habe ihn zuerst gehabt«, höhnte Judy je189
desmal, wenn sie die Flure des Gerichtshofes für Bagatellsachen entlanggaloppierte. »Oh, diese verdammte Straßengöre!« stöhnte Ildefonsa dann. »Die trägt sogar mein Haar eher als ich!« Maxwell Mouser und Ildefonsa Impala verbrachten die Flitterwochen in Musicbox Mountain, einem Erholungsort. Die Berggipfel waren von Dunbar und Fittle mit grünem Schnee dekoriert. (Unten auf dem Geld-Markt baute sich Basil Bagelbaker grade sein drittes und größtes Vermögen dieser Nacht auf, das vielleicht noch immenser war als sein viertes vom vorigen Donnerstag.) Die Chalets waren schweizerischer als in der richtigen Schweiz und hatten lebendige Geißen in jedem Raum. (Und Stanley Skulldugger kam soeben als TopSchauspieler-Image der mittleren Nachtstunden heraus.) Die beliebtesten Drinks dieser Nacht waren Glotzenglubber, Eve Cheese und Rheinwein über rotem Eis. (Und unten in der Stadt verbrachten die Nyktalops eben ihre Mitternachtspause im Toppers’ Club.) Natürlich war es wundervoll, wie alle Hochzeiten Ildefonsas. Aber sie hatte niemals wirklich etwas von Philosophie verstanden; daher hatte sie nur die Fünfunddreißig-Minuten-Spezial-Flitterwochen gebucht. Sicherheitshalber blickte sie auf den Trendanzeiger und stellte fest, daß ihr gegenwärtiger Gatte bereits als obsolet galt, und daß sein Opus ironisch als ›Mousers Mäuschen ‹ bezeichnet wurde. Sie fuhren zur Stadt zurück und ließen sich vor dem Gerichtshof für Bagatellsachen scheiden. Der Mitgliederbestand des Toppers’ Club unterlag einer starken Fluktuation. Erfolg war die Vorbedingung für den Beitritt. Basil Bagelbaker zum 190
Beispiel könnte in einer Nacht drei- bis sechsmal als Mitglied aufgenommen, zum Präsidenten gewählt und als dreckiger Habenichts rausgeschmissen werden. Aber nur Männer von Bedeutung konnten dem Club angehören, oder allenfalls noch solche, die sich zum mindesten, wenn auch nur für einen kurzen Moment, des allgemeinen Ansehens erfreuten. »Ich glaube, ich werde heute die MorgenrötlerPeriode durchschlafen«, sagte Overcall. »Vielleicht fahre ich auch für eine Stunde in dieses neue Dingsda, Koinopolis. Die sollen ja so gut sein. Wo wollen Sie schlafen, Basil?« »Obdachlosenasyl.« »Ich werde, glaube ich, eine Stunde nach der Midian-Methode schlafen«, sagte Burnbaumer. »Die haben da eine feine neue Klinik. Und vielleicht werde ich anschließend eine Stunde nach dem Prasenka-Prozeß und eine nach dem DormidioVerfahren schlafen.« »Crackle hat in jeder Periode eine Stunde nach der natürlichen Methode geschlafen«, sagte Overcall. »Ich habe das erst neulich eine halbe Stunde lang probiert«, sagte Burnbaumer. »Ich glaube, eine ganze Stunde ist zuviel dafür. Haben Sie mal die natürliche Methode versucht, Basil?« »Immer. Natürliche Methode und ’ne Pulle Korn.« Stanley Skulldugger war für eine ganze Woche zum Meteorhaftesten Schauspieler-Image gewählt worden. Natürlich wurde er sehr reich, und Ildefonsa Impala suchte ihn gegen drei Uhr auf. »Ich habe ihn zuerst gehabt«, gickste Judy Skulldugger höhnisch, als ihre Scheidung vor dem Ge191
richtshof für Bagatellsachen abgehaspelt wurde. Und Ildefonsa fuhr mit Stanley-Boy in die Flitterwochen. Es macht immer Spaß, eine Tagesperiode mit einem Schauspieler-Image abzuschließen; so einer ist das heißeste Besitzstück in der ganzen Branche. Die haben so etwas Jünglingshaftes und Flegeliges an sich. Außerdem kam noch die Publicity hinzu; Ildefonsa liebte das ganz besonders. Da mahlen die Mühlen des Klatsches: Wird es zehn Minuten dauern? Dreißig? Eine Stunde? Wird es eine dieser seltenen Nyktalops-Ehen – die ganze Nacht hindurch bis in die frühen Morgenstunden? Vielleicht auch noch ein Stück von der nächsten Nacht? Dergleichen war, wie man wußte, schon vorgekommen. In der Tat dauerte es fast vierzig Minuten, beinahe bis ans Ende der Acht-Stunden-Periode. Es war eine langsame Dienstag-Nacht gewesen. Ein paar hundert neue Produkte hatten den Markt erobert. Es hatte etwa zwanzig dramatische Hits gegeben, Drei- und Fünfminuten-Kapseldramen, sogar einige Sechsminuten-Langspieldramen. ›Nachtstraße Nummer Neun‹, eine solid-trübsinnige Angelegenheit, schien zum Drama der Nacht prädestiniert zu sein, wenn nicht noch ein späterer Hit herauskommen würde. Gebäude von hundert Stockwerken wurden errichtet und bezogen, veralteten und wurden wieder abgerissen, um zeitgemäßeren Bauwerken Platz zu machen. Nur sehr mittelmäßige Leute würden ein Gebäude benutzen, das die Morgenrötler, die Tagfliegen oder gar die Nyktalops der vorigen Nacht stehengelassen hatten. In jeder Acht-StundenSchicht wurde die Stadt wenigstens dreimal ziemlich vollständig neugebaut. 192
Die Schicht neigte sich dem Ende zu. Basil Bagelbaker, der reichste Mann der Welt, Regierender Präsident des Toppers’ Club, saß mit seinen Freunden in gemütlicher Runde zusammen. Sein viertes Vermögen dieser Nacht war eine Papierpyramide, die sich zu unglaublicher Höhe erhoben hatte; aber Basil Bagelbaker mußte heimlich lachen, wenn er die Manipulationen nachschmeckte, die ihr Fundament bildeten. Drei Türhüter des Toppers’ Clubs nahten sich festen Schrittes. »Raus hier, du dreckiger Landstreicher!« sagten sie wütend zu Basil, rissen ihm die Finanzmagnaten-Toga vom Leib und warfen ihm mit höhnischem Dreimännergrinsen seine schmutzigen Bettlerlumpen an den Kopf. »Alles schon futsch?« fragte Basil. »Ich dachte, es würde noch fünf Minuten halten.« »Alles futsch«, sagte ein Bote vom Geld-Markt, »neun Milliarden in fünf Minuten, und es sind noch ein paar andere hinterhergepurzelt, kann ich Ihnen flüstern!« »Schmeißt den bankrotten Lauser raus!« brüllten Overcall und Burnbaumer und die anderen alten Freunde. »Augenblick, Basil«, sagte Overcall, »geben Sie den Präsidenten-Krummstab ab, eh wir Sie in den Hintern treten, daß Sie die Treppe runterfliegen. Sie werden ihn ja schließlich morgen nacht noch ein paarmal tragen.« Die Schicht war vorbei. Die Nyktalops schlenderten in die Schlafkliniken oder zu versteckten Ruheplätzen, um dort die Zeit ihrer Ebbe zu verbringen. Die Auroreaner oder Morgenrötler übernahmen den Lebensstoff“. 193
Jetzt konnte man erleben, was Aktivität heißt! Diese Morgenrötler waren wirklich Leute von schnellen Entschlüssen! Die würde man nicht dabei erwischen, daß sie eine volle Minute bei einer einzigen Geschäftsgründung vertrödelten. Ein müder Bettler sprach Ildefonsa Impala auf der Straße an. »Gott bewahre uns heute morgen«, sagte er, »und willst du mich nächste Nacht heiraten?« »Wahrscheinlich«, sagte sie, »hast du heute nacht Judy geheiratet?« »Ich weiß nicht genau. Kannst du mir zwei Dollar geben, Ildy?« »Kommt gar nicht in Frage. Ich glaube, eine Judy Bagelbaker wurde unter den zehn bestgekleideten Frauen genannt, während der Frou-FrouPeriode, gegen zwei Uhr. Wozu brauchst du denn zwei Dollar?« »Einen Dollar für Schnaps und einen fürs Bett. Schließlich habe ich dir ja von meinem zweiten Vermögen zwei Millionen geschenkt.« »Ich führe getrennte Konten. Da hast du einen Dollar. Jetzt hau ab! Ich kann mich nicht mit einem dreckigen Bettler sehen lassen.« »Danke schön, Ildy. Ich werde mir Schnaps kaufen und in einem Hausflur schlafen. Gott schütze uns heute morgen.« Bagelbaker schlurfte fort, ›Slow Tuesday Night‹ pfeifend. Und schon ließen die Morgenrötler den Mittwochmorgen durch ihre Reifen springen.
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Schnoffel I »Ich habe immer gesagt, einmal würden wir einen finden, der lustig ist«, meinte Brian. »Es gibt entschieden zuviel Ernsthaftigkeit im Universum. Haben Sie nicht schon mal einen panischen Schreck gekriegt, wenn Sie über die unendlich vielen Sternsysteme nachgedacht haben?« »Niemals«, sagte Georgina. »Auch dann nicht, wenn Sie eben eine prima Wahrscheinlichkeitsrechnung über die Endlichkeit der Zahl aller Welten aufgestellt haben und dann plötzlich merkten, Sie müßten das alles mit zwölf potenzieren?« »Wieso ist das ein Grund zur Panik?« »Auch dann nicht, wenn es Sie auf einmal überkommt: Das ist kein Spaß, das ist Ernst, jede einzelne Welt ist ernstgemeint?« »›Kosmische Einschüchterung‹ hat Belloc das genannt. Davon kriegt man leicht Minderwertigkeitskomplexe.« »Und haben Sie niemals gehofft, daß in dieser Unzahl von Welten eine sein möge, die bloß so aus Spaß geschaffen wurde? Eine einzige, die ein wildes Kind oder ein mischrassiger Kobold geschaffen hat, nur um die anderen in die richtige Perspektive zu rücken – um den ganzen aufgeblasenen Kosmos mal anzupieken?« »Und Sie glauben, Mr. Carroll, das hier ist so eine Welt?« »Ja. Die Bellota ist aus Spaß erschaffen worden. 195
Sie ist ein Witz, eine Karikatur, eine Burleske. Sie ist ein Clown-Planet mit ausgebeulten Hosen und Kittnase. Eine Zwergwelt mit ausgelatschten Stiefeln und einer Stimme wie ein brüllender Stier. Sie wurde entworfen, damit sich der Kosmos nicht zu ernst nimmt. Hier konspiriert das Gesetz des Leichtsinns gegen das Gesetz der Schwere.« »Ich habe nie etwas vom Gesetz des Leichtsinns gehört. Und Mr. Phelan glaubt, daß er sehr bald die Erklärung dieser eigentümlichen Schwerkraftverhältnisse in Händen haben wird.« »Das Gesetz des Leichtsinns gilt auch nicht für Sie, Georgina. Sie sind dagegen immun. Aber ich rede leichtsinnig.« Die Theorie, daß die Bellota zum Spaß erschaffen wurde, war ebensowenig bewiesen wie alle anderen Theorien über diesen Planeten. Doch er war ein Kinderspielplatz, ein ganzes Faß voller Rätsel, er bot bei seiner geringen Größe unverhältnismäßig viel Interessantes – höchst studierenswert. Mein gesellschaftliches Bewußtsein drängt mich dazu – und außerdem waren sie durchaus kein übler Haufen – lassen Sie sich also die Sechs jetzt vorstellen, oder die Gelegenheit ist für immer verpaßt! 1. John Hardy, der Kommandant, früher bei der Spezial-Nahkampftruppe. Ein so fähiger Mann, wie nur je einer lebte. Ein gutmütiges Konglomerat von schepperndem Eisen, aber er wußte stets, was er tat. Ein Hans Dampf in allen Gassen der Technik, ein dynamischer Optimist. Er verfügte über das einzige Lachen, das niemals irritierte, so oft er es auch hören ließ. Gefahren behandelte er mit Verachtung. Er war ein blauäugiger, rothaariger Riese, und sein Gesicht war noch röter als sein Schopf. 2. William Malaquais (Onkel Billy) Cross. Inge196
nieur, für den Umgang mit Maschinen außerordentlich begabt. Spezialist für allerlei Kniffe und Tricks, Wortstreithammel, Erster Offizier, Navigator und Balladensänger. Billy war ein bißchen älter als die anderen, aber reif war er nicht geworden. Er sagte selbst, er sei immer noch ein grüner, nicht ganz ausgewachsener Junge. 3. Daniel Phelan. Geologe, Kosmologe, Verfechter ketzerischer Ansichten über Feld-Kräfte. Vielleicht kennen Sie »Phelans Corrolarium« oder »Fakten und Schlüsse«; und wenn ja, so müssen Sie von den inneren Widersprüchen, die das Buch enthält und die es um seine verdiente Anerkennung gebracht haben, sowohl fasziniert als auch frustriert gewesen sein. Ein höchst sachverständiger Mann auf den Gebieten des Magnetismus und der Gravitation, dabei ein schmutziger Amateur-Lustmolch und Mädchenjäger. 4. Margaret Cot. Zeichnerin, Photographin, Botanikerin und Biologin. Schwatzt viel und verfügt über einen gewissen Charme. Sieht besser aus, als irgendwer auszusehen verdient. Pikant – tatsächlich der letzte Schrei der Pikanterie. Ein ganz klein bißchen geil. Und ein bißchen kindisch. 5. Brian Carroll, Naturwissenschaftler. Und Naturbursche. Sein ganzes Leben lang war er nach irgend etwas auf der Jagd gewesen, aber er wußte nicht wonach, und war auch nicht sicher, ob er es erkennen würde, wenn er es träfe; aber er hoffte, es würde ›anders‹ sein. »O Herr«, pflegte er zu beten, »wie es auch enden möge, laß es keine glatte Lösung haben. Das könnte ich nicht ertragen.« Er war davon überzeugt, daß alles, was sich wiederholt, banal wird. Und eben aus diesem Grunde erwarteten ihn auf der Bellota einige muntere Überraschungen. 197
6. Georgina Chantal. Biologin und Eisberg. Aber diese komprimierte Beschreibung ist möglicherweise ungerecht. Denn sie war mehr als eine Biologin, und viel mehr als ein Eisberg. Frostig war sie nur, wo Frostigkeit am Platze war; ansonsten waren ihre Umgangsformen durchaus wie es sich gehört, und manchmal sogar freundlich. Aber sie war keine Margie Cot, und im Vergleich zu der wirkte sie schon ein bißchen eisig. Nein, es war in der Tat kein fauler Apfel in dem ganzen Korb. Die sonderbarste und sofort auffallende Eigenschaft der Bellota war ihre Schwerkraft. Sie entsprach der halben Erdschwere, obgleich der Umfang des Sterns nicht mehr als hundertsechzig Kilometer betrug. Hauptsächlich dieses seltsamen Verhältnisses halber befand sich Daniel Phelan auf dem kleinen Planeten. Denn jene, die solche Dinge entscheiden, hielten es für nicht ganz ausgeschlossen, daß er den Grund dafür herausfinden würde; kein anderer hatte ihn bisher gefunden. Seiner eigenen Meinung nach hatte es keinen Sinn, daß er hier war. Er wußte bereits den Grund für das Schwerkraftverhalten der Bellota; er stand in Phelans Corrolarium: die Bellota war der einzige Weltkörper, der sich vorschriftsmäßig benahm. Nicht sie war abnormal, sondern alle anderen Weltkörper des Universums. Auch in anderer Hinsicht war die Bellota ein Scherzbold: Früchte machten Krach, Dornen waren saftig, Rinde und Schalen eßbar, aber das Fruchtfleisch nicht. Proto-Schmetterlinge stachen wie Hornissen, Eidechsen sonderten honigartiges Manna ab. Und das Wasser – das Wasser war Sodawasser, schieres kohlensäurehaltiges Sodawasser. 198
Wenn man anderes Wasser haben wollte, mußte man Regenwasser auffangen, und das hatte einen so hohen Salpetergehalt, daß es ein Erlebnis war, davon zu trinken; denn die Gewitter waren äußerst heftig. Nein, sie waren keineswegs äußerst heftig, behauptete Phelan, sie waren normal. Alle anderen Planeten mit Atmosphäre hatten bekanntlich ein merkwürdiges Defizit an Gewitterschauern. Hier bestand zum mindesten kein Defizit; es regnete in jeder Viertelstunde etwa fünf Minuten lang, und unaufhörlich zuckten Blitze in allen Farben über den Himmel. Während der ganzen Zeit, in der sich die Expedition auf der Bellota befand, war ständig nahes oder fernes Donnergrollen zu vernehmen, und pausenlos blitzte es. Aus diesem Grunde konnte es auch nie ganz dunkel werden, auch nicht zwischen den einzelnen Blitzen. Denn zwischen denen wetterleuchtete es auch noch. Hier war konzentrierte Meteorologie, unverwässert, ohne Füllsel. »Aber es ist immer anders«, sagte Georgina, »jeder Blitz leuchtet anders, so wie jede Schneeflocke anders als die anderen ist. Ob es hier auch schneit?« »Sicher«, sagte Phelan, »es hat zwar gestern nacht nicht geschneit, aber heute nacht müßte es eigentlich schneien. Schnee vor Mitternacht und Nebel gegen Morgen. Schließlich liegt zwischen Mitternacht und Morgen nur eine Stunde.« Zu diesem Zeitpunkt hatten sie erst ein paar Stunden auf der Bellota verbracht. »Und hier ist der Zyklus normal, aber überall anderswo ist er nicht normal«, sagte Phelan. »Für Menschen und andere Lebewesen ist es naturgemäß, zwei Stunden zu schlafen und zwei Stunden 199
wach zu sein; das ist der fundamentale Zyklus. Vieles von unserem Fehl verhalten und unserer allgemeinen Verkehrtheit ist auf diesen blöden TagNacht-Rhythmus zurückzuführen, der zufällig auf dieser irren Welt besteht, in die wir hineingeboren sind. Hier werden wir innerhalb einer Woche zu der Normalität zurückkehren, die wir nie gekannt haben.« »Innerhalb was für einer Woche?« fragte Hardy. »Einer Bellota-Achtundzwanzig-Stunden-Woche. Und sind Sie sich darüber klar, daß die projektierte Arbeitswoche hier nur sechszweidrittel Stunden betragen würde? Ich war immer der Ansicht, daß mir so eine Arbeitswoche durchaus reichen würde.« Es gab hier keine Meere, nur die SodawasserSeen, die insgesamt etwa ein Drittel der Oberfläche bedeckten. Tiere und Pflanzen waren hier völlig anders als auf der Erde oder einer ähnlichen Welt – eher ein Witz. Die Bäume waren weder Laub- noch Nadelbäume – wenn auch Carroll meinte, sie seien immergrün –, noch Palmen. Es waren Bäume, wie sie ein Karikaturist zeichnen würde. Und da waren Tiere, die die ganze Idee der Tierwelt ins Lächerliche zogen. Und dann Schnoffel. Schnoffel war möglicherweise eine Art Bär. Bären sind sowieso Karikaturen in der Tierwelt, irgendwas wie riesige Hunde, Zottelmänner, Oger – und dazu wie Spielzeug. Und Schnoffel war die Karikatur eines Bären. Billy Cross versuchte, den anderen etwas über Bären zu erzählen. Billy war ein alter Bären-Mann. »Der Bär ist das einzige Tier, von dem Kinder träumen, ohne es vom Sehen oder nach Beschreibungen zu kennen. Moncrief hat im Laufe seiner 200
Tiefengedächtnisforschungen Tausende frühkindlicher Träume analysiert. Überall auf der ganzen Welt träumen Kinder von Bären. Tahitaner-Kinder, die selbst oder von ihren Vorfahren her nicht das Geringste von Bären wissen; australische Kinder; Stadt-Kinder, ehe sie überhaupt einen SpielzeugBären gesehen haben – alle träumen sie von Bären. Der Bär ist der Buhmann. Bären wohnen auf den Dachböden der alten Häuser unserer Kindheit. Das war bei mir so, und bei Tausenden anderen auch. Daß sie dort existieren, beruht aber nicht auf Suggestion durch Erwachsene, sondern auf angeborenem Kindheitswissen. Doch dieser Buhmann hat einen doppelten Charakter. Er ist sowohl freundlich und faszinierend als auch furchterregend. Jedoch nicht alle Erwachsenen erzählen Kindern diese Buhmann-Geschichten. Es ist vielmehr die einzige Geschichte, welche Kinder denjenigen Erwachsenen erzählen, die sie vergessen haben.« »Aber woher wollen Sie das wissen?« fragte Margie Cot. »Ich hatte keine Idee, daß kleine Jungen von Bären träumen. Ich hatte gemeint, nur kleine Mädchen tun das. Und ich für meine Person war davon überzeugt, daß die Bärenträume die fundamentalen Aspekte symbolisieren, die der erwachsene Mann für ein kleines Mädchen hat: Faszination und Furcht.« »Für Sie, Margie, symbolisiert einfach alles den erwachsenen Mann in seinen fundamentalen Aspekten. Nun ist der Buhmann aber auch philologisch interessant, denn der Name geht tatsächlich auf eine von den knapp zweihundert indoeuropäischen Wortwurzeln zurück. ›Buh‹, auch ›Boh‹, ist eine Abschleifung von ›Bog‹, was zwar im Slawischen 201
›Gott‹ bedeutet; aber in archaischen Zeiten war der Bog oder Boger ein Demiurg aus Tier und Mensch; und das Sanskritwort bagha enthält unter anderem auch diese Bedeutungswurzel. Im Sinne eines Zerstörers oder Zerschmetterers ist es ins Alt-Irische als bong, ins Früh-Litauische als banga eingegangen. In der Bedeutung des Verschlingers überlebt es in der griechischen Wurzel phag; und als einer, vor dem man flieht, ist es im Lateinischen in der Stammsilbe fug stehengeblieben. Wir haben natürlich noch das wallisische bwg, Geist; und das englische bogey war zeitweilig, außer seiner landläufigen Bedeutung ›gespenstisch‹, auch noch eine Bezeichnung für den Teufel. Dann gibt es im Englischen noch das Wort bugbear, also Popanz, Schreckgestalt – und damit schließt sich der Kreis.« »So wollen Sie also Bär und Gott und Teufel zu einem Begriff verschmelzen«, sagte Georgina. »In manchen Mythologien erscheint der Bär als Weltenschöpfer«, sagte John Hardy, »und danach tat er nichts Besonderes mehr. Seine Anbeter meinten, er hätte auch genug getan.« Schnoffel war kein richtiger Bär. Er war ein Pseudo-Ursinide. Er war groß, plump, und schlurfte auf vier Beinen herum, manchmal auch aufgerichtet, auf zweien. Er war freundlich, aber schauererregend freundlich, denn er war so riesig. Und er schnaufte wie ein altertümlicher Eisenbahnzug. Er war ein Spaßvogel, aber er schien sich an die Grenzen zu halten, die ihm seine Besucher gezogen hatten. Er kam ihnen nie wirklich nahe, doch immerhin manchmal so nahe, daß die Gemütlichkeit aufhörte. Er gehorchte, oder wenn er keine Lust hatte zu gehorchen, tat er so, als habe er falsch ver202
standen. Er war das größte Tier auf Bellota, und es schien nur einen von seiner Art zu geben. »Warum sagen wir ›er‹?« fragte Brian Carroll, der Zoologe. »Nur die Chirurgie könnte uns darüber Klarheit verschaffen, aber es sieht mir eher so aus, als ob Schnoffel überhaupt geschlechtslos ist. Kein Wunder, daß es nur einen gibt – das Wunder ist, daß es überhaupt einen gibt. Wo mag er wohl herkommen?« »Das könnte man sich bei jedem Geschöpf fragen«, sagte Daniel Phelan. »Die Frage ist vielmehr: Wo geht er hin? Aber darin zeigt sich schon eine gewisse Verfeinerung. Nur bei den Primitiven sind Spielzeugtiere (und er ist eins!) männlich oder weiblich. Ein moderner Teddybär oder SpielzeugPanda hat kein Geschlecht. Geschlechtslos waren auch die Spielzeugtiere im Raum der europäischen Tradition, ausgenommen bei den Randvölkern (den Tartaren vor dem neunzehnten Jahrhundert, in Irland vor dem fünften), seit der vorklassischen Zeit. Aber davor sind die Spielzeugtiere dieser Region, und jenseits derselben sogar heute noch, Totemtiere und tragen Geschlechtsmerkmale, und sogar ziemlich übertriebene.« »Ja, darüber besteht kein Zweifel«, sagte Brian. »Er hat nicht einmal die sekundären Geschlechtsmerkmale eines Säugers oder Beuteltieres oder was Sie wollen. Aber er hat genügend eigene Charakteristika.« Schnoffel war, unter anderem, ein großer Nachahmer. Lag ein Buch herum (und sie waren ein Haufen Bücherwürmer), dann nahm er es in die Vorderpfoten und hielt es so, als ob er lesen wollte; er blätterte auch und schlug dabei die Seiten einzeln und sorgfältig um. Er konnte seine gepolsterten 203
Tatzen wie Hände benutzen. Seine Klauen waren einziehbar, und die Fingerglieder ragten heraus. Es waren Klauen, oder es waren Tatzen, oder es waren Hände, je nachdem; und er hatte deren vier. Er schraubte Verschlußkapseln von Flaschen ab, und er konnte einen Büchsenöffner gebrauchen. Er versorgte die Besucher mit Feuerholz, sobald er verstanden hatte, daß sie welches brauchten, und daß sie trockene Knüppel von bestimmter Größe haben wollten. Er biß die Stücke auf die richtige Länge zurecht, stapelte sie in kleinen Haufen, band sie mit Lianen zusammen und trug sie zum Feuer. Er holte Wasser und setzte es zum Kochen auf. Und er sammelte scheffelweise Bellotas. Bellota bedeutet Eichel, und der Planet hatte seinen Namen von dem Überfluß an diesen eßbaren Nußfrüchten, die ganz ähnlich wie Eicheln aussahen. Sie waren eine Delikatesse, von der man stets einen Vorrat hatte. Und Schnoffel konnte sprechen. Die Töne, die er von sich gab, waren unterschiedlich. Da war das ›schnuckel-schnuckel-schnuckel‹, womit er seine gute Laune kundgab – er war meistens gutgelaunt. Dann hatte er noch ein kurzes ›schnuckschnuck‹ und ein ›schnoff‹. Er verfügte noch über andere, ähnliche Vokabeln, die aber in Tonhöhe und Klangfarbe stark variierten. Billy Cross verstand ihn vielleicht am besten, aber ein bißchen verstanden sie ihn alle. Nur in einer Sache erwies sich Schnoffel als eigensinnig. Er markierte ein Areal, ein wildes, felsiges Stück Boden, und verbot ihnen, dieses zu betreten. Er hatte rundherum einen Graben gekratzt, und wenn jemand Miene machte, diesen zu überschreiten, dann brüllte er und entblößte fußlange Fangzähne. Billy Cross meine, Schnoffel tue das nur, um 204
sein Gesicht zu wahren; denn vorher hatte Hardy ihm ein bestimmtes Gebiet verboten, nämlich Vorratslager und Waffenzentrum. Hardy hatte mit der Hacke eine Linie herumgezogen und ihm klargemacht, daß er diese niemals überschreiten dürfe. Die merkwürdige Kreatur hatte das sofort verstanden und tat nun ihrerseits dasselbe. Das Expeditions-Team hatte sich an dieser Stelle für zwei Erd-Wochen (zwölf Bellota-Wochen) eingerichtet, um das Leben auf dem Planetoiden zu studieren, zu klassifizieren, Proben zu entnehmen, Tests anzustellen, Bilder und Aufzeichnungen zu machen, Hypothesen aufzustellen und so die Basis für eine Theorie zu schaffen; aber sie bewegten sich von ihrem eigentlichen Lagerplatz kaum weg. Es gab eine so verwirrende Fülle der verschiedensten Details dicht bei der Hand, daß schon eine erste grobe Klassifizierung viele Wochen in Anspruch nehmen würde. Ein besonderer Zug auf dem Planetoiden war die Geschwindigkeit der enzymatischen und bakteriellen Reaktionen: ein guter Wein konnte in vier Stunden hergestellt werden, und ein Pilzkäse aus den Ausschwitzungen von Maden sogar in noch kürzerer Zeit. Und in der neuen Atmosphäre schienen die Gedanken ebenfalls schneller zu fermentieren. »Jeder Mensch macht einmal in seinem Leben einen wesentlichen Fehler«, sagte John Hardy gelegentlich. »Wäre das nicht der Fall, so brauchte er nicht zu sterben.« »Was?« fragte Phelan spöttisch. Diese Behauptung erschien ihm rätselhaft. »Gewaltsamer Tod ist doch heutzutage selten. Alle die anderen können doch nicht bloß deshalb sterben, weil sie einen Fehler gemacht haben!« 205
»Und doch ist das eine Tatsache. Der Tod ist im Grunde noch nicht erklärt, trotz aller Erklärungen der Mediziner. Ein Tod ist immer die Folge einer einzigen, weit zurückliegenden Unbedachtsamkeit, einer Schwächung des Geistes oder Körpers, oder einer Verkrüppelung der Regenerationskraft. Ein Mensch ist lebendig und vital. Und eines Tages macht er einen Fehler. In diesem Augenblick beginnt der Mensch zu sterben. Aber hätte dieser Mensch diesen Fehler nicht begangen, so brauchte er nicht zu sterben.« »Poppycock«, sagte Phelan – das ist ein angloamerikanischer Ausdruck und bedeutet ›Quatsch‹, ›Unsinn‹. »Ich wüßte gern, ob Sie die eigentliche Bedeutung des Wortes Poppycock kennen?« fragte Billy Cross. »Es kommt von ›poppy‹, also Mohn – daher eigentlich: Opium-Gerede, das Gerede eines unter Drogeneinfluß Stehenden. Und das Element ›cock‹ in diesem Worte kommt nicht, wie Sie denken mögen, vom norwegischen kok, Misthaufen; auch nicht vom französischen ›coquard‹ in dem Sinne, wie Rabelais das Wort gebrauchte, sondern eher von …« »Poppycock«, wiederholte Phelan. Er konnte Billys Praktik, alle Wörter zu analysieren, nicht ausstehen und leugnete dessen These, daß ein Mensch, der ein Wort ohne das volle Gefühl für dessen Wert gebraucht, wie jemand ist, der mit falschen Münzen zahlt, also gewissermaßen ein Lügner. »Wenn ein Mensch nur durch einen Fehler stirbt – wie stirbt dann ein Tier?« fragte Margie Cot. »Es macht den Fehler, ein Tier zu sein und kein Mensch«, sagte Daniel Phelan. 206
»Vielleicht gibt es gar keine klare Grenze zwischen Tier und Mensch«, wandte Margie ein. »Doch«, sagte Phelan, und drei stimmten zu. »Es gibt keine«, sagte Billy Cross. »Ein Tier, also ein animalisches Geschöpf, ist paradoxerweise ein Geschöpf ohne anima, also ohne Seele«, sagte Phelan. »Das hört sich grade aus meinem Munde seltsam an, da ich auch dem Menschen eine Seele in der gebräuchlichen Bedeutung dieses Begriffes abspreche. Aber es ist ein fundamentaler Unterschied vorhanden, eine Linie, die das Tier nicht überschreiten kann und auch nie überschritten hat: wenn wir dort angekommen sind, wohin immer wir gehen, dann wird das Tier immer noch in seiner Höhle stecken.« »Hier jedenfalls ist es umgekehrt«, sagte Brian Carroll. »Schnoffel schläft im Freien, und wir kriechen in die Höhle.« Das war richtig. In den Felsen, die den Lagerplatz, das Verpflegungsdepot und das Waffenzentrum umschlossen, befanden sich drei blinde, höhlenartige Grotten. Billy Cross, Daniel Phelan und Margie Cot hatten je eine davon bezogen und dort die Geräte und Instrumente für ihre spezielle Arbeit untergebracht. Dort arbeiteten und schliefen sie. Und das waren richtige Tierhöhlen. John Hardy selbst schlief im Waffenzentrum, innerhalb des Kreises, der Schnoffel verboten war. Und in den Stunden, in denen er nicht schlief, hielt er Wache. Für Hardy war Sicherheit gradezu ein Fetisch. Wenn er schlief oder kurze Streifzüge in die Umgegend unternahm, mußte immer jemand anders bewaffnet Posten stehen. Da gab es kein Nachlassen, keine Ausnahme, keine Möglichkeit eines Fehlers. Und Schnoffel, das Tier, das direkt 207
draußen im Freien schlief (»Ist es denn möglich«, fragte sich Brian, »daß ich der einzige bin, der das merkt? Ist es möglich, daß es überhaupt so ist?«), wurde nicht naß. Es regnete überall auf dieser Welt. Aber es regnete nicht auf Schnoffel. »Das Erfreuliche an diesem Ort liegt darin, daß er nicht endgültig ist«, sagte Brian Carroll. Wie schon oben bemerkt, haßte er alles Endgültige, Fertige. »Wir könnten jahrelang hier sein und würden nie das Ende dieser Vielfalt erleben. Bei den Insekten kann es so viele Arten wie Individuen geben. Jedes einzelne könnte beinahe als Sonderform angesehen werden, so als ob es überhaupt keine Norm gäbe, nach der sie sich richten. Und die Gravitation hier schielt. Bitte analysieren Sie das Wort nicht, Billy. Die Chemie gibt einem noch Hoffnung. Sie benutzt die gleichen Aufbaueinheiten hier wie anderswo, aber jede dieser Einheiten scheint nicht genau an die andere zu passen. Mir selbst sind diese Blitze immer wieder neu. Und wenn das Ende dieser Welt kommt, dann wird es kein glattes, endgültiges Ende sein. Andere Sterne mögen zu Lava oder kalter Asche werden. Die Bellota wird aufgehen wie eine Seifenblase, oder einsacken wie ein Teller Spaghetti, oder in eine Sphäre von lauter Grashüpfern auseinanderplatzen. Aber sie wird nie konform werden. Ich Hebe die Bellota. Und ich hasse ein glattes Ende.« »Da gibt es eine alte Lehre, die heißt ›Erkenne dich selbst ‹«, sagte Georgina Chantal. Sie redeten jetzt viel, da sie oft überwach waren und sich noch nicht an die kurzen Tage und Nächte der Bellota gewöhnt hatten. »Eine Variante dazu lautete ›Schau in dich‹. – Schau nach innen – aber unsere Augen zeigen ja nach außen! Die einzige Möglichkeit, un208
ser eigenes Gesicht zu sehen, ist ein Spiegel oder ein Bild. Jeder hat seinen eigenen Spiegel, und mein Spiegel ist meistens das Mikroskop. Aber wir können uns nicht selbst so sehen, wie wir sind, und wenn wir es doch einmal können, dann sehen wir uns verzerrt. Deswegen ist Schnoffel auch der Spiegel für uns alle hier. Wir können nicht verstehen, warum wir so ernst sind, ehe wir nicht wissen, warum er so komisch ist.« »Wir sind vielleicht die verzerrten Bilder und er ist das wahre«, sagte Billy Cross. »Er ist weder eifersüchtig noch angeberisch, weder gierig noch hinterlistig – alle diese Verzerrungen gehen ihm ab.« »Vielleicht hat er das alles auch – was können wir schon wissen?« sagte Daniel Phelan. So verredeten sie die kurzen Tage und Nächte auf der Bellota und sammelten dabei allerlei Daten an.
II Als es passierte, passierte es genau im schmälsten Tageslicht. Das war Brians Formulierung, der eindeutige Formulierungen haßte. Es passierte genau in der Mitte des schmalen zweistündigen Bellota-Tages. Alle waren wach und aufmerksam. John Hardy stand mitten im Waffenzentrum Posten, die Flinte ruhte in seiner Armbeuge. Billy und Daniel und Margaret waren in ihren jeweiligen Höhlen bei der Arbeit; Brian und Georgina, die nicht in Höhlen lebten, sammelten Insekten am unteren offenen Ende des Tales, aber sie hielten sich in Sichtweite des Zentrums. Da gab es einen sogar nach Bellota-Maßstäben 209
ungewöhnlich hellen Blitz; die Luft knackte und knatterte, und von Schnoffel kamen ungewöhnliche Laute, die seiner gewöhnlichen Schnuckelschnuckel-Sprache sehr wenig glichen. Und in einem einzigen Augenblick schien alles Wohlwollende, alles Freundliche dieses Planeten einzutrocknen und zu verschwinden. Schnoffel hatte vorher so getan, als wolle er die Linie überschreiten, war dann aber unter lustigem Grunzen hinweggetrabt – vielleicht hatte der vorsichtige John Hardy aus diesem Grunde nicht gemerkt, was los war. Auf einmal stieß Schnoffel ein erschreckendes Gebrüll aus und griff an. Aber Hardy war nicht völlig überrascht – unmöglich für Mensch oder Tier, ihn völlig zu überlisten. Er hatte einen Sekundenbruchteil zur Verfügung; und er war nicht der Mann, der seine Zeit mit Entscheidungen vertrödelt, und er war nicht fähig, in Panik zu geraten. Was er tat, tat er, weil er es tun wollte. Und wenn es falsch war – nun, selbst die raffinierteste Entscheidung geht in das Buch der Geschichte als Fehler ein, wenn sie erfolglos ist. Er hatte Schnoffel gern und meinte, er könne es riskieren, ihn nicht gleich zu töten. Es war eine schwere Büchse, und ein Schulterschuß hätte das Tier umwerfen müssen. Wenn nicht, blieb immer noch Zeit für einen zweiten Schuß. Das Tier fiel jedoch nicht, und es blieb keine Zeit. John Hardy hatte einen Fehler gemacht, und darum starb er. Er starb auf ungewöhnliche Weise, und er starb nicht von innen nach außen, wie kleinkarierte Leute sterben. Es war scheußlich, aber es war im Augenblick vorbei. Hardys Kopf war zerschmettert und sein Gesicht beinahe weggewischt. Sein Rückgrat war 210
zerbrochen und sein Leib fast entzweigeschnitten, wie mit der Schere. Das riesige Biest mit den fußlangen Fangzähnen und den Klauen wie zwanzig lange Messer zerfleischte und zerquetschte ihn und schüttelte ihn aus wie einen roten Mop und ließ ihn dann fallen. Es mag sein, daß Brian Carroll am schnellsten erkannte, was das bedeutete. Er schrie Georgina zu, sie solle aus dem Tal hinaus in die offene Ebene rennen, und das schnell. Es war ihm klar, daß die anderen drei im Tal Befindlichen nicht einmal mehr die Ebene erreichen würden. Unpassenderweise mußte Brian Carroll an die Schmährede denken, die ein alter General der Konföderierten im amerikanischen Sezessionskrieg gegen den alten General Grant losgelassen hatte, des Inhalts nämlich, daß dieser unfähige Narr unversehens in eine Position geraten sei, aus der er sowohl Fluß und Hügel beherrschte als auch drei Talausgänge blockierte, und daß man nur hoffen könne, er würde weitermarschieren und nicht merken, wie günstig seine Stellung war. Aber Brian machte sich keine derartigen Illusionen; Schnoffel erkannte seinen Vorteil recht gut: er hielt Vorratslager und Waffenzentrum besetzt und beherrschte die Eingänge zu den blinden Grotten, den Höhlen von Billy Cross, Daniel Phelan und Margie Cot. Mit seinem ersten Angriff hatte Schnoffel den Führer getötet, drei andere Gegner in die Ecke gedrängt und die restlichen beiden von den Waffen in der Basis abgeschnitten, so daß er sie später erjagen konnte – es war nichts Unbeabsichtigtes dabei. Hätte er einen anderen Zeitpunkt gewählt, wenn jemand anders als John Hardy auf Wache gewesen 211
wäre, dann wäre der lebende Hardy immer noch irgendwie bedrohlich für ihn gewesen, auch ohne Waffen. Aber jetzt war Hardy tot, und die Übriggebliebenen waren keine Gegner für das Tier. Brian und Georgina hielten sich am Rande der Ebene und beobachteten die drei anderen, obgleich sie wußten, daß ihr eigenes Leben davon abhing, wie rasch sie von hier wegkamen. »Zwei könnten entwischen«, sagte Georgina, »wenn der dritte einen Ausfall machen und Schnoffel zu einem weiteren Angriff verleiten würde.« »Das wird keiner tun«, sagte Brian. »Dieser dritte würde sterben.« Es war ein Spiel, aber es konnte nicht lange dauern. Phelan jammerte und versuchte, an der rückwärtigen Felswand seiner Höhle hochzuklettern. Margie wollte Schnoffel beschmeicheln und sagte, sie seien doch immer so gute Freunde gewesen, und ob er sie nicht gehen lassen wollte? Billy Cross stopfte seine Pfeife, zündete sie an und setzte sich hin, um das Ende zu erwarten. Phelan war der erste, und er starb wie eine Memme. Aber da niemand weiß, wie er sterben wird, soll ihm auch keiner einen Vorwurf daraus machen. Schnoffel kam hereingedonnert, hieb ihn mitten in einem Schrei entzwei und rannte wieder auf seinen Feldherrnhügel inmitten des Waffenzentrums zurück. Margie breitete die Hände aus, als er angriff, und fing an zu weinen, leise und eigentlich nicht sehr verschreckt. Der Pseudo-Bär brach ihr das Genick, aber der Schlag sah, im Vergleich zu den anderen, fast sanft aus. Dann trabte er wieder in das Zentrum zurück. Und Billy Cross rauchte seine Pfeife. »Ich gehe 212
gar nicht gern auf diese Art ab, Schnoff alter Junge. Ich gehe überhaupt nicht gern ab. Wenn ich einen Fehler gemacht habe, an dem ich nun sterbe, dann war es der, daß ich immer so ein vergnügter, vertrauensvoller Kerl war. Ob du wohl jemals bemerkt hast, Schnoff, was für ein prima Kerl ich eigentlich bin?« Und das war das Letzte, was Billy Cross jemals sagte, denn das große Tier schlug ihn mit einem einzigen reißenden Hieb zu Tode. Und der Rauch der Pfeife schwebte noch in der Luft. Dann kam es wie ein schwarzer Donner aus dem Tale heraus und hinter den beiden her, denn das plumpe Tier konnte rennen! Sie, Brian und Georgina, hatten einen Vorsprung von rund hundert Metern. Aber aus ihrer schieren Panik wurde bald ein simpler Schrecken, denn sie merkten, daß das Bärentier mit seiner Schulterwunde sie nicht kriegen würde, ehe sie völlig erschöpft wären. Zuerst rannten sie in einem so wilden Tempo, daß sie sogar ihren Vorsprung vergrößerten. Aber auf diese Weise würden sie bald nicht mehr weiter können, und sie wußten nicht, wann er müde sein würde. Er hatte sie vom Lagerplatz und von den Waffen verjagt. Und auf diesem kleinen Planeten hatte er sie in der Falle. Bis zum Ende des Tages, die Nacht und den ganzen nächsten Tag hindurch (alles in allem etwa fünf Stunden) jagte er sie, bis sie kaum mehr weiterkonnten. Dann verloren sie ihn aus den Augen, aber in der Dunkelheit konnten sie nicht ausmachen, ob er in der Nähe war oder nicht. Und beim Morgengrauen sahen sie ihn vier- bis fünfhundert Meter entfernt dasitzen und sie beobachten. Aber jetzt rasteten die Gegner und beobachteten einander. Das 213
Tier mochte von dem Schuß etwas steif sein. Die beiden Menschen waren so ermattet, daß sie erst im allerletzten Moment weiterlaufen wollten. »Glauben Sie, es war vielleicht nur ein plötzlicher Wutanfall, und er könnte wieder freundlich werden?« fragte Georgina. »Das war kein plötzlicher Wutanfall. Das war eine Reihe sehr wohlberechneter Schachzüge.« »Meinen Sie, wir könnten einen Bogen schlagen und vor ihm in das Waffenzentrum gelangen?« »Nein. Er hat sich einen Fleck ausgesucht, von wo aus er meilenweit sehen kann. Und er ist im Vorteil, weil er uns den Weg abgeschnitten hat – aus jedem Winkel, den wir einschlagen könnten, hätten wir einen weiteren Weg als er. Wir können nicht vor ihm da sein, und das weiß er auch.« »Glauben Sie, er weiß, daß Waffen Waffen sind?« »Ja.« »Und daß unsere ganze Signalausrüstung im Zentrum ist und wir keine Verbindung haben?« »Ja.« »Meinen Sie, er ist klüger als wir?« »Er war jedenfalls klüger, indem er sich seine Rolle aussuchte. Es ist immer besser, der Jäger zu sein, als der Gejagte. Aber es ist schon vorgekommen, daß der Gejagte den Jäger überlistet hat.« »Brian, glauben Sie, Sie wären so schlecht gestorben wie Daniel, oder so gut wie Billy?« »Nein. Beides nein.« »Ich war immer eifersüchtig auf Margie, aber als sie starb, habe ich sie geliebt. Es war auch nicht so, als ob sie Angst hatte. Brian, was wird jetzt mit uns?« »Vielleicht werden wir, wie in den alten Seege214
schichten, im letzten Augenblick von der MarineInfanterie gerettet.« »Ich wußte gar nicht, daß es die überhaupt noch gibt. Ach so, Sie meinen das Raumschiff. Aber das kommt ja erst in einer Woche. Erdzeit! Glauben Sie, Schnoffel weiß, daß es uns abholen kommt?« »Ja, das weiß er. Da bin ich ganz sicher.« »Glauben Sie, er weiß, wann es kommen soll?« »Ja, ich habe das Gefühl, das weiß er auch.« »Aber wird er uns vorher erwischen können?« »Ich glaube, daß alle Beteiligten bei diesem Rennen bis zum Schluß immer ein Auge auf der Uhr haben werden.« Schnoffel war jetzt auf einen neuen Trick verfallen. Bei Sonnenuntergang des kurzen Tages brüllte er und kam auf sie zugerannt. Und so mußten sie ihre Flucht grade dann beginnen, wenn es anfing, dunkel zu werden. Sie machten beim Laufen mehr Geräusch als er, und er würde ihnen stets folgen können, während sie in der Dunkelheit nie wußten, ob er hinter ihnen her und wie nahe er ihnen war. Sie mußten mindestens anderthalb Stunden mit höchster, keuchender, lungenzerreißender, herzversehrender Geschwindigkeit rennen; dann, in der letzten halben Stunde vor der Morgendämmerung konnten sie sich etwas verschnaufen. Und bei Tage mußte immer einer wachen, während der andere schlief. Aber Schnoffel konnte schlafen, wann er wollte; es gelang ihnen niemals, sich heimlich davonzumachen, weil er dann jedesmal sofort aufwachte. Außerdem schien er es darauf anzulegen, sie nachts durch den Gürtel des fruchtbaren Landes zu treiben und sie am Tage zum Ausruhen in die dürren Regionen zu drücken. Es war nicht so, daß ih215
nen die Nahrung wirklich knapp wurde, aber die Zeit zum Sammeln ging von ihrer Flucht, ihrem Schlaf und ihrer Wache ab. Sie stießen auch auf eine Menge roter Früchte, die sie schwach und dösig machten, und doch konnten sie sich kaum davon zurückhalten, immer wieder welche zu pflücken. Es gab auch eine Art Bohnensprossen, die den gleichen Effekt hatten; auch eine Nuß und ein getreideartiges Gras, dessen Körner sie im Vorbeigehen mit den Händen abstreiften. »Das ist hier ein narkotischer Landstrich«, sagte Brian. »Ich wünschte, wir hatten mehr Zeit, um ihn zu studieren: aber vielleicht kriegen wir noch zuviel davon. Wir haben ja keine Ahnung, wie weit er reicht, und diese Methode, die Produkte an uns selber auszuprobieren, ist vielleicht ganz effektiv, aber gefährlich.« Von da an standen sie unter dem Einfluß der Narkotika. Sie träumten lebhaft beim Schlafen und Wachen. Und sie begannen, unter Halluzinationen zu leiden, die sie nicht mehr von der Wirklichkeit unterscheiden konnten. Als sie anfingen zu träumen, dauerte es nur einen Bellota-Tag, bis Brian Carroll spürte, daß Schnoffels Geist zu ihnen sprach. Carroll war ein intelligenter Amateur auf diesem Gebiet und testete das Phänomen; es gibt zuverlässige Tests dafür. Und er kam zu dem Schluß, daß es sich um Halluzinationen, nicht um Telepathie handelte. Aber (und er sah das kommen) es würde bald soweit sein, daß er die Halluzinationen akzeptieren und glauben würde, das Bärentier spräche wirklich zu ihm. Und das wäre ein Zeichen dafür, daß er verrückt geworden und nicht mehr fähig wäre, dem Tod auf diesem Planeten zu entrinnen. Carroll wehrte sich (solange er 216
noch seinen Verstand hatte) gegen den Gedanken, daß er irgendwann einmal an diesen Unsinn glauben würde – so wie ein Mann, der gefoltert worden ist, alles abstreiten mag, was er unter Druck bekannt oder abgeschworen hat. Und trotz allem – wie man es auch immer erklären wollte – sprach Schnoffel aus der Ferne zu ihm. »Warum hältst du mich für einen Bären, nur weil ich in einem Bärenfell stecke? Ich halte dich nicht für einen Menschen, auch wenn du in einer Menschenhaut steckst. Du bist vielleicht ein bißchen weniger. Und warum glaubst du, daß du tapferer sterben wirst als Daniel? Je länger du rennst, um so schäbiger wird dein Tod sein. Und weißt du immer noch nicht, wer ich bin?« »Nein«, sagte Brian Carroll laut. »Nein – was?« fragte Georgina Chantal. »Anscheinend redet der Bär mit mir, er ist in meinen Geist eingedrungen.« »Mit mir auch. Kann das sein? Oder sind es die narkotischen Früchte?« »Es kann nicht sein. Es sind Halluzinationen, sie kommen von den Narkotika, von der Erschöpfung durch das Rennen, von der Schlaflosigkeit, und von dem Schock, als wir mit ansehen mußten, wie unsere Freunde getötet wurden – von einem netten Kerl, der sich in ein Ungeheuer verwandelte. Es gibt Tests, um telepathischen Empfang von bloßer Halluzination zu unterscheiden – als da sind: objektive Bestätigung – was zur Zeit nicht möglich ist (wegen der Verfassung, in der Schnoffel jetzt ist) und wahrscheinlich überhaupt nie möglich sein wird; dann Parallelismus des Empfindens – sehr ungewiß, denn ich habe mit Millionen Menschen mehr gemeinsam als mit einem einzigen Pseudo-Ursiniden; dann: durch die Umstände bedingte Gültigkeit und Klar217
heit in jedem einzelnen Punkt – das ist negativ, denn ich weiß, daß ich fiebrig und konfus bin und daß ich mich auch in anderen Dingen nicht auf meine fünf Sinne verlassen kann. Nein, jeder anwendbare Test deutet darauf hin, daß es sich nicht um Telepathie, sondern um Halluzinationen handelt.« »Aber ganz sicher kann man es eben doch nicht wissen, Brian?« »Nein, Georgina, genauso wenig, wie sich beweisen ließe, daß es nicht das Lagerfeuer eines Trupps Pfadfinder ist, dessen Rauch mir das Brennen und den Schmerz im Schlund verursacht, sondern daß mich in Wirklichkeit die Früchte und die Erschöpfung und der Streß so krank machen. Ich kann nicht beweisen, daß es kein PfadfinderLagerfeuer ist, und ich kann nicht beweisen, daß es keine Telepathie ist – aber beides würde ich für höchst unwahrscheinlich halten.« »Ich finde es überhaupt nicht unwahrscheinlich, Brian. Ich glaube, daß Schnoffel zu mir spricht. Wenn du erst ein bißchen müder und verrückter bist, wirst du es auch glauben.« »O ja, dann werde ich es schon glauben, aber deswegen wird es noch lange nicht wahr sein.« »Es wird ganz egal sein, ob es wahr ist oder nicht. Schnoffel wird sich durchsetzen. Weißt du, daß Schnoffel der Herr dieser Welt ist?« »Nein. Wovon redest du da?« »Er hat es mir eben erzählt. Er sagt, wenn ich ihm helfen würde, dich zu erwischen, dann würde er mich leben lassen. Aber ich tue es nicht. Ich mag dich jetzt, Brian. Hast du gewußt, daß ich mir bis jetzt nie was aus Männern gemacht habe?« »Ja. Sie nannten dich Eisberg.« 218
»Aber jetzt habe ich dich sehr gern.« »Ist ja auch sonst keiner mehr da, den du gern haben kannst.« »Das ist es nicht. Es ist die Stimmung, in der ich jetzt bin. Und ich werde Schnoffel nicht helfen, dich zu erwischen, wenn er mir nicht wesentlich bessere Gründe dafür zu bieten hat.« Verdammtes Mädel! Wenn sie glaubt, daß Schnoffel zu ihr spricht, dann ist das praktisch dasselbe, als wenn er es wirklich tut. Und ganz egal, auf welche Weise ihr die Idee eingepflanzt worden war, daß sie ihr Leben gegen meins eintauschen kann – diese Idee würde in ihr wachsen. Jetzt sprach Schnoffel wieder zu Brian Carroll, und es war irgendwie Zeitverschwendung, nur der Form wegen so zu tun, als ob das Halluzination sei. »Du weißt immer noch nicht, „was ich bin, aber du wirst es erfahren müssen, ehe du stirbst. Hardy wußte es im letzten Augenblick. Cross ahnte es von Anfang an. Phelan ist sich immer noch nicht klar. Er irrt umher und sieht seinen Leichnam an, der immer noch daliegt, und weiß noch nicht, was los ist. Manche Leute sind eben sehr schwer zu überzeugen. Aber das Mädchen wußte es und breitete ihre Arme aus.« So sprach in Brians Fiebertraum das Bärentier zu ihm. Sie aßen jetzt Blätter und Knospen. Die narkotischen Früchte wollten sie nicht mehr, selbst wenn sie hungern müßten. Aber die Rauschwirkung klang nur langsam ab, und die Verfolgung wurde immer drückender. Eines Tages, grade bei Sonnenaufgang, brach die Katastrophe über Brian herein. Die Reden, die der Bär in Brians Kopfe führte, hatten ihn fast soweit 219
hypnotisiert, daß er sich nicht mehr bewegen konnte. Georgina war etwas früher losgegangen und rief ihm immer wieder zu, er solle nachkommen, aber aus irgendeinem Grunde zögerte er. Als Schnoffel seinen plötzlichen Sonnenuntergangs-Angriff startete, sah es diesmal so aus, als könne Brian nicht entrinnen. Er saß auf einem Felsrand wie in einer Falle. Georgina hatte bereits den gewundenen Pfad, der in die Ebene hinunterführte, gewonnen. Brian überlegte einen Augenblick, dann hielt er an seinem Platze stand und ließ den Bären kommen. Er glaubte, daß er im letzten Moment nach rechts oder links ausbrechen könnte, und vielleicht würde das Biest dabei über die Klippe in die Tiefe stürzen. Aber der alte Schnoffel änderte zwar seine Angriffstaktik, doch er stoppte seinen Angriff nicht im letzten Moment. Er kam vielmehr mit dem Hinterteil zuerst, wie ein Elefant, der einen Hang abrutscht, und er fegte Brian mit einem Hieb von der Klippe. Es gibt wenige subjektive Berichte über das Sterben; denn die meisten, die sterben, können nachher nichts darüber berichten, weil sie nicht mehr leben. Aber es ist so: zuerst hängt der Sterbende im Raum; dann kommt der Erdboden mit rasender Schnelligkeit auf ihn zu und greift ihn an; Felsen und Bäume sind seine Waffen. Dann folgt ein schmerzensvoller Schlaf, und nach langer Zeit ein verwirrtes Erwachen.
III Er flog kopfunter, soviel war sicher, und es schüttelte ihn, obwohl er ziemlich langsam flog. Vielleicht ist das die normale Art zu fliegen, wenn der 220
Mensch tot ist. Er war in der Leibesmitte auf sonderbare Weise, wie ein halb zusammengeklapptes Taschenmesser, aufgehängt; irgend etwas hielt ihn und fuhr mit ihm in seltsamer, kahnartiger Bewegung dahin, doch hatte diese Fahrt eine gewisse Elastizität und Stärke, die sogar noch lebendiger war als ein Boot. Es war rauh und zugleich sanft, dieses Ding, das ihn hielt, und es roch angenehm. Aber obwohl es jetzt heller Morgen war, fiel es Brian schwer, einen guten Blick auf das Ding zu werfen, mit dem er da in Kontakt geraten war. Alles was er sehen konnte, war langsam vorüberziehendes Gras, und Schuhabsätze. Absätze? Was hatte das alles zu bedeuten? Absätze und Waden, mehr nicht. Er wurde getragen; Georgina hatte ihn wie einen Sack über die Schulter geworfen und trug ihn. Denn das, was so angenehm roch, war Georgina Chantal. Dann setzte sie ihn ab. Es war ein sehr rauhes Tal, und er sah, daß sie fünf Kilometer vom Fuße des Felsrandes entfernt waren, und Schnoffel saß im Morgenlicht etwa vierhundert Meter hinter ihnen. »Georgina, hast du mich die ganze Nacht getragen?« »Ja.« »Wie hast du das geschafft?« »Ich habe von Zeit zu Zeit die Schulter gewechselt. Und du bist ja nicht sehr schwer. Das ist doch nur ein Planet mit halber Erd-Gravitation. Außerdem bin ich ziemlich kräftig. Ich hätte dich sogar auf der Erde tragen können.« »Wie kommt es, daß ich mich nicht zu Tode gefallen habe?« 221
»Schnoffel sagt, er will dich jetzt noch nicht töten; er könnte dich jederzeit töten, durch Blitz, durch einen Felsbrocken oder durch Giftbeeren. Aber du bist fürchterlich schwer gefallen. Ich wunderte mich, daß ich dich überhaupt noch in einem Stück aufheben konnte. Und jetzt sagt Schnoffel, ich hätte meine letzte Chance verspielt.« »Wieso?« »Weil ich dich weggetragen habe, ehe er im Dunkeln von der Klippe runterkonnte. Jetzt, sagt er, würde er mich auch totmachen.« »Schnoff ist inkonsequent. Wenn er mich jederzeit per Blitz töten könnte, warum ist er dann wütend, daß du mich weggetragen hast?« »Daran habe ich auch gedacht. Aber er sagt, dafür hat er seine Gründe. Und die Blitze – weißt du, daß es auf der Bellota nicht überall ständig blitzt? Nur in einem großen Kreis um Schnoffel herum, als Tribut für ihn. Ich habe es selbst bemerkt: wenn wir einen besonders großen Vorsprung vor ihm haben, kommen wir fast ganz aus der Gewitterzone heraus.« »Georgina, dieses Vieh redet doch in Wirklichkeit überhaupt nicht zu uns. Das ist doch nur unsere Einbildung. Es ist nicht richtig, wenn du es so personifizierst.« »Es mag ja nicht richtig sein, aber wenn das keine Sprache ist, was er da von sich gibt, dann weiß ich überhaupt nicht, was Sprache ist. Und eine Menge von dem, was er sagt, wird hinterher wahr. Aber es ist mir ganz egal, ob er mich totmacht, weil ich dich gerettet habe. Ich bin jetzt richtig verrückt nach dir.« »Wir sind beide verrückt, Georgina, von der Aufregung, in der wir stecken. Aber er kann nicht 222
mit uns sprechen. Er ist nur ein amoklaufendes Tier. Wenn er etwas anderes wäre, so hieße das: vieles von dem, was wir wissen, ist nicht so.« Brian erlebte die Auswirkung der Kommunikation ein paar Bellota-Tage später, an einem sonnigen Nachmittag. Er döste, und Georgina hielt Wache, als Schnoffel in seinem Kopf zu sprechen begann. »Du beleidigst mich, indem du nicht erkennst, wer ich wirklich bin. Als Hardy damals sagte, in einigen Mythologien sei es der Bär, der die Welt geschaffen hat, fing er an zu ahnen, wer ich wirklich bin. Ich bin der Schöpfer und habe die Welt gemacht. Ich habe gehört, daß es noch andere Welten gibt; aber ob ich die geschaffen habe oder nicht, das weiß ich nicht genau. Wenn sie da sind, muß ich sie auch gemacht haben. Und diese hier habe ich gemacht. Es ist nicht leicht, sonst hättet ihr euch alle eine Welt gemacht, und das habt ihr nicht getan. Und es liegt ein Stolz in der Schöpfung, den du nicht begreifen kannst. Du hast gesagt, die Bellota wäre zum Spaß geschaffen worden. Sie wurde keineswegs zum Spaß geschaffen. Ich bin der einzige, der weiß, warum sie erschaffen wurde, denn ich habe sie erschaffen. Und sie ist auch kein kleiner Planet, – sie ist ein großartiger Planet. Ich habe darauf gewartet, daß du diesen Irrtum bekennst und dich darüber wunderst, daß du so etwas Verkehrtes überhaupt denken konntest. Und weil du das nicht getan hast, mußt du sterben. Ich habe dich gemacht, und ich kann dich auch töten, wenn ich will. Ich muß dich erschaffen haben, denn ich habe alles erschaffen. Und wenn nicht, dann habe ich andere Dinge erschaffen, rote Eichhörnchen und weiße Vögel. Du hast keine Ahnung von der Mühe, die es ge223
kostet hat, das alles fertigzumachen. Ich hatte sehr wenig zur Verfügung, keine Pläne, kein Modell, keine Erfahrung. Und ich machte Fehler. Ich bin der letzte, der das leugnet. Ich habe die Schwerkraft falsch berechnet – ein einfacher mathematischer Fehler, der jedem unterlaufen könnte. Der Planet ist zu klein für seine Schwerkraft; aber ich hatte die berechnete Schwerkraft schon in anderen Zusammenhängen verwendet und wollte nicht wieder auseinandernehmen, was schon fertig war. Was ich gemacht habe, das habe ich gemacht, und das bleibt so. Ein Irrtum, der einmal Gestalt gewonnen hat, wird zu einer neuen Wahrheit. Du wirst vielleicht wissen wollen, warum meine Vögel Haare haben. Ich will gestehen, ich wußte nicht, wie man Federn macht, und ohne Schablone oder Vorlage hätte ich auch keine machen können. Und du wunderst dich, daß meine Schmetterlinge stechen und meine Hornissen nicht? Aber woher sollte ich wissen, daß diese erschrecklich gefärbten Ungeheuer harmlos sein müssen? Mich um solche Kleinigkeiten zu kümmern, steht mir auch nicht an, der ich noch nie auch nur um den kleinsten – aber warum versuche ich überhaupt, dir das alles zu erklären? Du weißt nicht, ob ich wirklich zu dir rede, oder ob das nur eine Illusion in deinem Kopfe ist? Was ist der Unterschied? Wie kann irgend etwas in deinem Kopfe sein, das ich nicht hineingetan habe? Und habe keine Angst vor dem Sterben! Denke daran, daß nichts verlorengeht. Wenn ich die Stücke von dir habe, dann werde ich sie nehmen und andere Dinge daraus machen. Das ist das Gesetz von der Erhaltung der Materie, wie ich es verstehe. Aber weißt du auch, daß das eine, was sich alle wünschen, das Gelobtwerden ist? Es ist die treiben224
de Kraft, und grade ein Schöpfer braucht es mehr als jeder andere. Dinge und Wesen sind geschaffen, um ihn zu loben, und wenn sie das nicht tun, werden sie wieder vernichtet. Du hattest jede Gelegenheit, mich zu preisen, und statt dessen hast du mich verspottet. Hat einer von euch jemals eine Welt gemacht? Ich sage dir, da gibt es Millionen Dinge, und an alle auf einmal soll man denken. Und so etwas wie eine schlechte Welt kann es gar nicht geben, denn jede Welt ist ein Triumph. Daß ich es war, der auch die anderen Welten gemacht hat und es inzwischen vergessen habe, ist nur eine Annahme; desgleichen, daß ich irgend wann in der Zukunft noch andere Welten machen werde, und daß man jetzt nur zur falschen Zeit davon spricht. Aber in einigen Mythologien wird angedeutet, daß ich auch eure Welt gemacht habe. Ich könnte dir noch mehr erzählen, aber du würdest mich nicht verstehen. Doch wenn ich deine Materie bewahrt und umfunktioniert habe, wirst du um alle diese Dinge wissen.« »Schnoffel redet heute so wunderlich mit mir«, sagte Georgina Chantal; »mit dir auch?« »Ja«, sagte Brian Carroll. »Er sagt, daß er die Bellota geschaffen hat. Hat er dir das auch gesagt? Glaubst du das?« »Gesagt hat er es mir. Ich glaube es aber nicht. Wir haben Fieber – und phantasieren. Schnoffel hat keine Kommunikation mit uns.« »Das sagst du immer, aber du bist dir nicht sicher. Er sagt, wenn er uns kaputtgebissen hat, wird er ein Stück von mir und ein Stück von dir nehmen und sie zusammenkauen und ein neues Wesen aus uns machen, weil wir uns, wenn auch zu spät, in225
einander verliebt haben. Ist das nicht nett von ihm?« »Wie gemütvoll.« »Ich möchte mal wissen, warum er das Gras so scharf gemacht hat. Es gibt doch keinen Grund dafür.« »Wieso – und was?« »Schnoffel. Warum hat er das Gras so scharf gemacht? Meine Schuhe sind schon beinahe weg, und es macht mich ganz kaputt.« »Georgina, halt bloß fest, was von deinem Verstand noch übrig ist! Schnoffel hat weder das Gras noch sonst etwas geschaffen. Er ist nur ein Tier, und wir beide sind krank und wandeln in Delirien.« So marschierten sie eine Weile weiter, denn der Abend war gekommen. Dann ertönte in Brians Kopf wieder die Stimme Schnoffels. »Woher sollte ich wissen, daß das Gras nicht scharf sein darf? Sind nicht alle spitzen Dinge auch scharf? Wer soll denn auf die Idee kommen, daß es weich sein muß? Wenn ihr mir das auf anständige Weise gesagt hättet, und nicht so, daß ich mich schämen muß, dann hätte ich das sofort geändert. Jetzt nicht mehr. Soll es euch doch schneiden – wenn schon!« So wanderten sie noch eine Weile weiter, denn der Abend war angebrochen. Tage und Nächte folgten einander. »Brian, glaubst du, daß Schnoffel weiß, daß die Welt rund ist?« »Wenn er sie gemacht hat, muß er es ja wissen.« »O ja, das hatte ich vergessen.« »Verdammt, Mädel, ich meinte das ironisch. Und du bist jetzt völlig irre, ich übrigens kaum weniger. 226
Natürlich hat er sie nicht geschaffen, und natürlich weiß er nicht, daß sie rund ist. Er ist doch nur ein Tier.« »Dann sind wir jetzt wieder im Vorteil.« »Ja. Ich hätte es schon früher gemerkt, wenn ich nicht so konfus wäre. Wir sind jetzt mehr als halb um den kleinen Planeten herum. Schnoffel ist nicht mehr zwischen uns und dem Waffenzentrum, aber er benimmt sich, als ob er glaubt, er wäre es noch. Wir haben nicht mehr als sechzig oder fünfundsechzig Kilometer bis dahin. Wir werden unser Tempo beschleunigen, aber nur allmählich. Das Tal mit unserem Lager ist auffällig genug, so daß wir es von jeder Seite her aus mehreren Kilometern Entfernung erkennen können, und dann können wir uns schon dicht genug herannavigieren. Und wenn es dir so vorkommt, als ob Schnoffel dir in deinem Kopf sagt, daß er unseren Trick durchschaut hätte, dann glaub ihm nicht. Das Vieh spricht in Wirklichkeit überhaupt nicht in unserem Kopf.« Aber ihre Rauschbefangenheit verstärkte sich noch. »Es ist kein narkotischer Gürtel«, sagte Brian, »es ist eine narkotische Jahreszeit, auf der ganzen Bellota. Eingebaute Saturnalien, gewissermaßen. Aber wir sind leider nicht imstande, uns an diesem Karneval zu erfreuen.« »Schnoffel macht sich aber ganz hübsch als Prinz Karneval, nicht? Als ich noch ein kleines Mädel war, bin ich mal auf dem großen Karneval in Nola gewesen. Auf einem der Wagen war ein großer Bär, der hatte eine Krone auf, und ich glaubte, das sei der Prinz Karneval. Das war auch kein gewöhnlicher Bär. Bestimmt sollte das Schnoffel sein – heute weiß ich das ganz sicher, obwohl ich erst sechs Jahre alt war, als ich das sah. Meinst du, daß 227
die Erklärung, die uns Schnoffel über die Schwerkraft gegeben hat, besser ist als die von Phelan?« »Zum mindesten leichter verständlich als sein Corrollarium. Ich habe mir schon immer gedacht, daß in diesem Corrollarium ein simpler mathematischer Fehler steckt, den Phelan nur aus Dickköpfigkeit beibehalten hat.« »Auf einem Irrtum beharren ist eine Sache. Eine andere ist es, auf ihm eine neue Welt zu bauen, die ihn bestätigt. Brian, weißt du, wie spät es ist?« »Es ist die dreihundertzwölfte Stunde, seit wir abgesetzt wurden.« »Und in der dreihundertsechsunddreißigsten kommen sie uns holen. Bis dahin werden wir wieder beim Lagerplatz sein und die Situation in der Hand haben, nicht?« »Wenn wir es überhaupt jemals schaffen, zurück und wieder klarzukommen, dann müßten wir es bis dahin geschafft haben. Bist du müde, Georgina?« »Nein. Ich werde nie wieder müde sein. Dazu bin ich zu lange im Traum gewandelt. Aber ich habe mich nie vergnügter gefühlt als jetzt. Ich sehe auf meine Füße – ein einziger trauriger Jammer; aber das scheinen gar nicht meine Füße zu sein. Noch vor einer kleinen Weile hat mir ein Mädchen in meinem Zustand leid getan, und dann wurde mir halb und halb klar, daß ich das Mädchen war. Aber das war nicht sehr überzeugend. Es sieht mir nicht besonders ähnlich.« »Ich fühle mich auch außerhalb meines Körpers. Aber ich glaube nicht, daß mich dieser komische alte Körper, den ich da sehe, noch viel weiter tragen wird.« »Schnoffel versucht, zu uns zu reden.« »Ja, ich fühle ihn auch. Nein, verdammt noch228
mal, Georgina, wir wollen diesem Unsinn nicht nachgeben. Schnoffel ist nur ein angeschossener alter Bär, der uns jagt. Aber da sind unsere Halluzinationen schon wieder. Um eine DoppelHalluzination zu erklären, braucht man schon eine ganze Menge Theorie.« »Pst – ich will hören, was er sagt.« Dann begann Schnoffel in ihren beiden Köpfen zu sprechen. »Wenn ihr etwas wißt und es mir nicht sagt, so macht ihr euch einer außerordentlichen Unverschämtheit schuldig. Ein Schöpfer kann sich nicht an alles erinnern, und ich hatte ein paar Dinge vergessen, die ich früher mal geschaffen hatte. Aber jetzt kommen wir auf eine neue Welt, die ganz ähnlich ist wie die Bellota. Kann es sein, daß ich mich nur wiederholt habe, ohne es besser zu machen? Diese Hügel hier habe ich schon einmal gemacht. Wenn ihr Bescheid wißt, müßt ihr es mir jetzt sagen. Vielleicht kann ich nicht warten, bis ich eure Gehirne zerkaut habe, um herauszufinden, was los ist. Wie soll ich jemals eine bessere Welt erschaffen, wenn ich sie alle gleich mache?« »Er hat vergessen, daß er sie rund erschaffen hat, Brian.« »Georgina, er hat überhaupt nichts erschaffen. Unser eigenes Unterbewußtsein versucht, uns zu unserer Beruhigung einzureden, er wüßte nicht, daß wir einen Bogen geschlagen haben und jetzt wieder zu unseren Waffen kommen.« »Aber wieso hören wir beide dasselbe, wenn er gar nicht zu uns spricht?« »Ich weiß es nicht. Aber es ist mir auch Heber so. Antworten, die zu einfach sind, habe ich nie leiden mögen.« 229
Dann war der Abend da, an dem das Tal mit ihrem Lager wieder in Sicht kam, und wenn sie die Nacht durch rannten, so schnell sie konnten, mußten sie es kurz nach Morgengrauen erreichen. »Aber die Erschöpfung fangt an, durch den Rausch hindurch und nach oben zu kriechen«, sagte Brian. »Jetzt wünschte ich mir die Wirkung, die wir vorher vermeiden wollten.« »Aber was ist denn?« »Die Rauschgiftperiode hört auf. Der Karneval geht zu Ende.« »Weißt du was, Brian? Wir hätten überhaupt nicht um den Planeten herumzulaufen brauchen. Wir hätten uns jederzeit trennen und Schnoffel damit ausmanövrieren können. Er hätte nicht uns beiden zugleich den Weg zum Waffenlager abschneiden können, wenn wir verschiedene Wege gegangen wären. Aber wir konnten es nicht ertragen, uns zu trennen.« »Das ist eine richtige Frauen-Erklärung.« »Na, laß hören, ob du eine andere findest. Du wolltest dich doch nicht von mir trennen, nicht wahr, Brian?« »Nein, das wollte ich nicht.« Es war eine rauhe, kurze Nacht, aber es würde die letzte sein. Nach ihrem kosmischen Rausch empfanden sie nun die Agonie eines kosmischen Katers. »Ich bin süchtig geworden«, sagte Brian, »und die Frucht hat ihre abstumpfenden Eigenschaften verloren. Es ist mir unerfindlich, wie ein Mensch so müde sein kann.« »Ich würde dich wieder tragen, wenn ich nicht selbst am Zusammenbrechen wäre.« »Verdammt, das könntest du nicht. Du bist doch nur ein Mädchen.« 230
»Ich bin nicht nur ein Mädchen. Niemand ist nur ein Irgendwas. Die ganze Geschichte hier hat vielleicht damit angefangen, daß du dachtest, Schnoffel ist nur ein Tier – und dann hat er deine Gedanken gelesen und war beleidigt.« »Er hat nicht meine Gedanken gelesen. Es ist auch nur ein Tier. Und ich werde ihm sein strubbliges Fell voller Löcher schießen, sobald wir im Lager sind. Wollen sehen, daß wir weiterkommen. Wir dürfen nicht riskieren, daß er uns im Dunkeln erwischt oder überholt.« »Wie kann sich aber Phelans Corrolarium auf diesen und keinen anderen Planeten beziehen, wenn er nie liiergewesen ist?« »Weil er, wie ich oft geargwöhnt habe, etwas von einem Spaßvogel in sich hat und das Buch mit einem Schuß schwarzen Humors geschrieben hat.« »Dann hat er es also des Spaßes wegen geschrieben. Und du denkst immer noch, daß die Bellota aus Spaß erschaffen wurde?« »Der Spaß hat eine groteske Seite entwickelt. Aber ich furchte, ich muß mit dieser Art Spaß jetzt Schluß machen. Es wird dunkel, da ist unser Lagerplatz, dort sind wir außer Gefahr. Ich schaffe es, bevor ich umfalle, und wenn mir eine Lunge platzt. Dort ist eine Elefantenflinte mit GranatwerferAufsatz. Damit werde ich diesem zottigen Schwindler eins verpassen. Heute gibts Bärensteak zum Frühstück.« Er erreichte das Lager. Die Knie zitterten ihm, und er war am Zusammenbrechen, aber er rannte immer noch. Er befand sich schon innerhalb des Kreises, am Gewehrstand, da ließ ein Brüllen wie ein doppelter Donner ihm Ohren und Eingeweide gefrieren. 231
Er sprang zurück, fiel, kroch, rollte sich zur Seite, und der plötzliche Schock machte ihn ganz wirr. Und da saß Schnoffel mitten auf den gestapelten Vorräten und rauchte Billys Pfeife. Und wenn jetzt wieder in Brians Kopf die Worte klapperten und rasselten – wie konnte er sicher sein, daß es eine Halluzination war, und daß nicht der Bär zu ihm sprach? »Dachtest du, ich habe vergessen, daß die Bellota rund ist? Wenn du wüßtest, was es mich für Mühe gekostet hat, sie so rund zu machen, wie sie ist, dann würdest du auch wissen, daß ich das nie vergessen kann.« Georgina war jetzt auch heran, aber sie fiel vor Schreck auf die Knie, als sie sah, daß Schnoffel schon vor ihnen da war. »Ich kann nicht mehr rennen, Brian, und ich weiß, du kannst auch nicht mehr. Ich bin am Boden und komme auch nicht mehr hoch. Wann können sie hier sein?« »Die Marine-Infanterie?« »Ja – das Raumschiff.« »Zu spät, als daß sie uns noch helfen könnten. Ich habe mir immer gewünscht, die MarineInfanterie würde mal zu spät kommen. Jetzt wird mir dieser Wunsch erfüllt. Aber es ist nicht so amüsant, wie ich es mir dachte.« Dann klopfte Schnoffel seine Pfeife aus wie ein Mann und legte sie sorgfältig auf einen Stein. Dann kam er und tötete sie beide: Georgina, den netten Eisberg, und Brian, der glatte Lösungen nicht liebte. Und Schnoffel war immer noch der Herr der Bellota. 232
AUSZUG AUS DEM BERICHT DES RAUMSCHIFFES: »Unerklärt bleibt die Tatsache, daß anscheinend keinerlei Waffengebrauch stattgefunden hat, obgleich zwei der Expeditionsmitglieder fast eine Woche später getötet worden sind als die anderen. Alle sind von einem riesigen bärenartigen Tier zerfleischt worden, das anscheinend nach dem Genuß dortiger Früchte, die zu einer bestimmten Jahreszeit narkotisierend wirken, tollwütig geworden ist. Ohne eigenmächtige Verzögerung des Starts ist es nicht möglich, das Tier zu fangen. Die Unregelmäßigkeiten in der Gravitation des Planetoiden können erst nach genauer Durcharbeitung der vorhandenen Daten abgeklärt werden.« Die nächste Welt, die Schnoffel machte, enthielt gewisse Verbesserungen: er korrigierte die Fehler in der Gravitation. Sie hatte aber immer noch viele groteske Züge. Zur Vollkommenheit führt ein sehr langer, sehr schwieriger Weg.
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