ABER DAS HERZ IRRTE NICHT Roman von Leni Behrendt
Dr. Ralf Skörsen, ein begabter und tüchtiger junger Arzt, hat oft Sorgen, weil der die Schulden abzahlt, die sein verstorbener Vater hinterlassen hat. Mutter und Schwester haben kein Verständnis für ihn; sie denken nur an ihr Vergnügen, stellen hohe Ansprüche und halten die Rückzahlung der Schulden für überflüssig. Eines Tages eröffnet Ralf seinen Angehörigen, daß er geheiratet hat, und zwar die Tochter jenes Mannes, der Skörens Vater das Geld geliehen hat; nach dessen Tod ist nun Frau Lenore die
Gläubigerin. Als sich herausstellt, daß Ralf dies nicht getan hat, um die restlichen Schulden loszuwerden, sondern die Raten peinlich genau an seine Frau weiterzahlt, sind Mutter und Schwester enttäuscht und machen der jungen Frau das Leben zur Hölle. Der vielbeschäftigte Arzt scheint blind und taub gegenüber dem Treiben der beiden bösen Frauen. Die Ehe zerbricht, Lenore verläßt ihren Gatten. Als Ralf endlich den wahren Sachverhalt erkennt und Lenore bittet, es noch einmal mit ihm zu versuchen, sagt sie ihm, dazu sei es zu spät. Ob dies wirklich das letzte Wort in der Angelegenheit ist?
Diese Ausgabe erscheint alle 4 Wochen im Martin Kelter Verlag (GmbH & Co.), Mühlenstieg 16-22, 22.041 Hamburg, Postfach 70 10 09, 22.010 Hamburg, Telefon: Sa.-Nr. (040) 68 28 95-0, Telefax: 040/68 28 95 50, Internet: http://www.kelterde e-mail:
[email protected] Verantwortlich: Verleger Gerhard Melchert. Im Verkaufspreis ist die gesetzliche Mehrwertsteuer enthalten. Gesamtherstellung: Eisnerdruck, Berlin. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Gewähr. Abgebildete Personen auf dem Umschlag stehen in keinem Zusammenhang mit dem Roman. Diese Ausgabe darf weder in Leihbüchereien noch in Lesezirkeln geführt oder zum gewerbsmäßigen Umtausch bzw. Wiederverkauf verwendet werden. Printed in Germany.
Es war im November und das passende Wetter dazu – nämlich eines, wo der Bauer nicht einmal seinen Hund hinausjagt, wie es im Volksmund heißt. Zwar regnete es nicht Bindfäden vom grauverhangenen Himmel, es nieselte nur; aber es dringt auf die Dauer durch den dichtesten Wettermantel. Also drang es auch durch den des Mannes, der die Endstation der Straßenbahn verließ und raschen Schrittes eine nur mäßig beleuchtete Straße entlangging. Der Weg, den er einschlug, war dunkel und schlecht gehalten, obwohl zu beiden Seiten Häuser standen. Am letzten Haus verhielt er den raschen Schritt, öffnete eine Pforte, überquerte den kurzen Fliesengang und stand nun vor dem Haus, in dem er wohnte. Durch die Fenster im Parterre schimmerte Licht mit traulichem Schein. Dahinter klang gedämpft Musik, flatterte Lachen zu dem Mann hin, der mit den fröhlichen Menschen nichts gemein hatte; denn seine Wohnung befand sich in der ersten Etage, und hinter seinen Fenstern war es dunkel. Ein Zeichen, daß er nicht erwartet wurde. Mit einem Gefühl der Enttäuschung schloß er die Haustür auf, knipste Licht an, durchquerte den kleinen Flur und stieg die Treppe hinauf. Rosalia Skörsen – konnte man auf dem Emailleschild lesen, das an der Etagentür angebracht war. Darunter hielten zwei Reißstifte eine Visitenkarte mit dem Namen: Dr. Ralf Skörsen. Der Mann schloß nun auch diese Tür auf und stand jetzt in einem Korridor, in dem gerade nur eine Flurgarderobe Platz fand, an die er sorglich den nassen Mantel und den Hut hängte, bevor er nachsah, ob Mutter und Schwester zu dieser frühen Abendstunde etwa schon zu Bett gegangen wären. Doch das Schlafzimmer war leer. Ein resignierter Zug grub sich um den hartgeschnittenen Mund des jungen Arztes, als er in die Küche ging, die kalt und unaufgeräumt war. Wahrscheinlich waren die beiden
gleich nach dem Mittagessen fortgegangen, da Geschirr und Kochtöpfe ungesäubert herumstanden. Aber dafür hatte der nachsichtige Sohn und Bruder eine Entschuldigung. Nun ja, wenn man ohne Hilfe den Haushalt versehen mußte, konnte so etwas schon mal vorkommen. Also setzte er den Wasserkessel auf den elektrischen Herd und suchte sich etwas zu essen. Was er fand, war Brot, Butter, Wurst, aß einige belegte Schnitten and verließ die Küche erst, als sie sauber war. Im Wohnzimmer war es auch nicht gerade mollig, aber immerhin wärmer als in der Küche. Ohne Licht zu machen, ließ er sich in einen Sessel sinken, steckte seine zweitletzte Zigarette in Brand und dachte an die Vergangenheit. Die war sorglos gewesen, bis der Vater, der die Stellung eines Regierungsrates einnahm, eine Frau kennenlernte, die den alternden Mann von seinem bisher korrekten Lebensweg abirren ließ. Und da solche Frauen ja immer viel Geld kosten, ließ der blindverliebte Narr sich zu etwas hinreißen, was er im normalen Zustand nie getan hatte: Er begann zu spielen. Und wie das bei einem so gefährlichen Wagnis wohl öfter vorkommt, war ihm zuerst Fortuna hold, bis – ja, bis sie sich hohnlachend von ihm abwandte. Er verlor an einem Abend eine Summe, die ihm nicht zur Verfügung stand. Nun wandte sich noch jemand von ihm ab: die Frau, die ihn ruinierte. Als nichts mehr von dem närrischen Liebhaber zu holen war, ließ sie ihn kaltlächelnd im Stich und ging mit einem anderen auf und davon. Und der verlassene Mann? Er konnte mit Schiller sagen: Ich habe ein gewagtes Spiel gespielt. Aber da die meisten Menschen die Schuld nie bei sich, sondern bei anderen zu suchen pflegen, geschah es auch hier. Schuld hatte seine Frau, jawohl! Wäre sie mit ihm in
Urlaub gefahren, so hätte er zu einer Liebelei gar keine Gelegenheit gehabt! Aber nein, sie wollte, wie gewöhnlich in den Ferien, an die See, die er so gar nicht vertrug. Jedesmal holte er sich in der rauhen Luft eine Erkältung, die er dann nur schwer wieder loswurde. Außerdem wollte er auch einmal in ein mondänes Bad. Als seine Frau ihm klarmachte, daß ihr zurückgelegtes Urlaubsgeld für Extravaganzen nicht ausreichte, erklärte er kurz: »Anka geben wir zu Bekannten aufs Land, wo sie den Ferienaufenthalt umsonst hat, und Ralf braucht uns nicht ewig am Rock zu hängen. Der soll zusehen, daß er uns nach dem teuren Studium endlich von der Tasche kommt, indem er sich um einen Posten als Assistenzarzt bemüht.« »Du bist ja der reinste Rabenvater!« geriet die Gattin nun auch in Rage. Es fielen harte, böse Worte, da sie beide hitzige, rechthaberische Naturen waren. Also gab keiner nach, und man fuhr getrennt in Urlaub: die Mutter mit ihren Kindern an die See, der Vater in ein mondänes Bad. Und damit begann ein Elend, das der Mann zwar allein verursachte, dessen Ursache er jedoch seiner Frau zuschob. Rücksichtslos eröffnete er ihr, als man wieder zu Hause war, was sich ereignet hatte. Der Krach war da, eine bis dahin ganz gute Ehe bekam einen gehörigen Knacks, aber die Spielschulden blieben. In seiner Bedrängnis ging der Mann in Gedanken sämtliche Freunde und Bekannten durch – bis ihm ein Studienfreund einfiel, der ihm als Studenten in seiner Gutmütigkeit so manches liebe Mal aus der Patsche geholfen hatte, vielleicht würde er es jetzt wieder tun. Und er tat es. Allerdings nicht um Skörsens willen – mit dem hatte dieser Mann von hohen Ehrbegriffen kein Erbarmen, sondern weil ihn die Familie dauerte, die dieser skrupellose Spieler und Ehebrecher mit sich in Schande und Not ziehen würde, falls er die Spielschulden nicht zahlte.
Also bekam er das Geld, aber erst, nachdem es notariell gesichert war; denn sein Gläubiger, Privatdozent Dr. Ingwart, war ein vorsichtiger Mensch. Skörsen mußte sich verpflichten, monatlich die Schuld, einschließlich Zinsen, mit einer Summe abzudecken, die die Hälfte seines Gehalts ausmachte. Nach seinem Ableben hatte die Witwe die Zahlungen fortzusetzen, nach deren Ableben wiederum ihre Kinder; und so fort, bis die Schuld abgedeckt war, was immerhin zehn Jahre dauern würde. Sollte jedoch Ingwart inzwischen sterben, so erhielten seine Erben die Raten. Nun, auf das alles ging der bedrängte Mann ohne weiteres ein. Was er damit seiner Familie antat, war ihm gleichgültig. Hauptsache, er konnte die Spielschulden bezahlen und somit in den Augen seiner Mitmenschen der »ehrenwerte« Bürger bleiben – was ihm tatsächlich auch gelang, selbst über seinen Tod hinaus, der schon einige Monate danach eintrat. Herzschlag, hieß es allgemein. Doch sein Sohn, der ja Arzt war, wußte es besser. Er wußte, der Vater hatte eine zu starke Dosis Schlaftabletten genommen. Diesem jedoch lag gar nichts daran, das Geschehnis an die große Glocke zu hängen. Als die Skörsens dann in die Stadt zogen, wo der junge Arzt seinen Posten hatte, verlor man die angesehene Familie aus den Augen. So weit war der Grübler in seinen unerquicklichen Gedanken gekommen, als die Tür geöffnet wurde. Das Licht wurde angeknipst, und die Mutter riß überrascht die Augen auf. »Junge, du bist schon hier? Ich habe dich frühestens morgen erwartet. Aber warum sitzt du im Dunkeln?« »Weil das die Augen schont«, gab er scherzend zurück, während er die Mutter mit einem Handkuß begrüßte und die Wange seiner Schwester tätschelte. »Einen Bummel gemacht, Ankalein?« »Er war zauberhaft«, schwärmte das Mädchen. »Zuerst
waren wir im Cafe, dann im Kino. Da spielte ein Mann, einfach gottvoll! Nicht wahr, Mama?« »Naja«, dämpfte diese den Enthusiasmus der Siebzehnjährigen, weil sie augenblicklich dafür kein Interesse hatte. »Du bliebst lange fort, mein Sohn. Gab es etwas Besonderes zu regeln?« »Zuerst eine Hochzeit – und dann ein Begräbnis.« »Junge, redest du etwa irre?« »Keineswegs, mein Verstand ist klar wie eh und je.« »Dann drück dich deutlicher aus.« »Ich bin ja gerade dabei. Du weißt doch, daß Frau Ingwart gleich nach dem Tod des Gatten vom Schlag gerührt wurde?« »Allerdings. Aber was hat das mit dir zu tun? Warum rief sie dich überhaupt außer der Zeit zu sich?« »Sie rief mich zu sich, weil sie ihr Ende nahen fühlte. Da sie ihre Tochter nicht mutterseelenallein zurücklassen wollte, bat sie mich, sich ihrer anzunehmen.« »Mein Gott, Ralf, du kannst dich als junger Mann doch unmöglich mit einem Mädchen belasten!« fiel die Mutter ihm erregt ins Wort. »Siehst du, Mama, der Ansicht war ich auch. Also habe ich der Einfachheit halber dieses Mädchen geheiratet.« Entsetzt starrte die Mutter ihren Sohn an, als zweifelte sie an seinem Verstand. »Ralf, warst du überhaupt zurechnungsfähig? Oder hat dich die Frau dazu gezwungen – angesichts unserer Schulden?« »Die wir bisher vertragsmäßig abzahlten«, unterbrach er die Erregte gelassen. »Also kann von Zwang nicht die Rede sein – in keiner Beziehung. Was ich tat, geschah aus freiem Willen.« »Damit willst du doch nicht sagen, daß du deine Frau aus Liebe geheiratet hast?« »Genau das.« »Warum hast du nie darüber gesprochen? Ich meine, so eine Liebe kommt doch nicht von heute auf morgen.«
»Das wohl kaum. Aber ich wurde mir dieses Gefühls erst recht bewußt, als ich mir vorstellte, daß dieses junge und dazu noch schöne Menschenkind nach der Mutter Tod schutzlos allen Fährnissen des Lebens ausgesetzt sein würde. Es davor zu behüten und zu bewahren, dieser Wunsch stieg fordernd in mir auf. Und wie könnte ich das wohl besser und einfacher tun als bei meiner Frau?« »Das schon«, räumte die Mutter widerwillig ein. »Aber mußte diese Heirat denn so überstürzt werden?« »Ja. Denn die Tage Frau Ingwarts waren gezählt. Sie sollte mit dem Bewußtsein dahingehen, ihr Kind wohlbehütet zurückzulassen.« »Wann habt ihr geheiratet?« »Vor einer Woche.« »Aber das ist doch gar nicht möglich. Du warst doch nur zwölf Tage von zu Hause fort, und schon die Frist des Aufgebots allein…« »Man hat eine Ausnahme gemacht«, warf er kurz ein. »Jedenfalls sind Lenore und ich vorschriftsmäßig getraut, standesamtlich wie auch kirchlich.« »Nur deine Mutter wußte nichts davon«, bemerkte sie spitz. Er zog ihre Hand an die Lippen und sah sie bittend an. »Mama, du bist doch eine vernünftige Frau, nicht wahr? Also wirst du auch das verstehen, was gewiß nicht aus böser Absicht geschah, sondern vielmehr der Not gehorchend.« »Mein Gott, wie gräßlich!« schauerte Anka zusammen, die dem allen mit atemloser Spannung gelauscht hatte. »So heiraten – nein – das könnte ich nicht.« »Davor möge dich auch Gott bewahren, mein Kleines«, sprach Ralf mit einem warmen Blick auf die um zwölf Jahre jüngere Schwester. »Auch für Leonore hoffte ich inbrünstig, daß ihre Mutter, an der sie mit ganzer Kindesliebe hing, wenigstens noch einige Wochen nach der so traurigen Hochzeit gelebt hätte.« »Wie verhielt sie sich nach dem Tod der Mutter?« »Bewundernswert tapfer, Anka. Ein Trost für sie war, daß
ihre Mutschi, wie sie die Mutter manchmal zärtlich nannte, mit dem Bewußtsein dahingegangen war, ihr so sehr geliebtes Kind in guter Hut zurückzulassen. – Leonore ist überhaupt ein tapferes Menschenkind, welches das, was ihm das Schicksal in so jungen Jahren an Schwerem auferlegte, ohne Klage trug wie eine Selbstverständlichkeit. Denn schon mit siebzehn Jahren verlor sie den Vater und mußte danach die Mutter pflegen, die durch einen Schlaganfall an den Lehnstuhl gefesselt wurde. Das bedeutete für das blutjunge Mädchen nicht nur ein Entsagen aller Vergnügungen, sondern auch ein gutgerüttelt Maß an Arbeit. Denn Leonore mußte ja nicht nur die Mutter pflegen, sondern auch den Haushalt versehen, weil sie mit den Hausmädchen so böse Erfahrungen machte, daß sie lieber auf eine solche Hilfe verzichtete. Und die Stundenfrauen waren unzuverlässig. Sie kamen, wann sie wollten, oder blieben ganz aus. Also rechnete ihre Arbeit kaum, alles blieb an der jungen Leonore hängen. – Wieviel besser geht es dir dagegen, Schwesterchen! Unbekümmert lebst du dahin.« » Na aber, halte dem Kind das nur ja vor!« warf die Mutter pikiert ein. »Ich meine, daß gerade Anka auf vieles verzichten muß bei dem armseligen Leben, das zu führen wir gezwungen sind.« »Aber gewiß nicht durch meine Schuld, Mama. Außerdem ist die Bezeichnung armselig hier fehl am Platze. Denn wir haben ein behagliches Zuhause, sind immer noch satt geworden, gehen, wenn auch nicht gerade elegant, so doch nett gekleidet, können uns sogar noch manch ein Vergnügen leisten; somit gehören wir noch lange nicht zu den Armseligen, meine liebe Mama.« »Junge, sei doch nicht immer gleich so schroff!« lenkte die Frau ein, als sie merkte, daß sie zu weit gegangen war. »Bisher kamen wir gan? gut aus – aber wenn du nun deinen eigenen Hausstand gründen willst…« »Daran ist vorläufig nicht zu denken. Leonore wird zunächst einmal bei uns wohnen. Oder bist du damit nicht
einverstanden, Mama?« Nein, das war sie ganz und gar nicht. Doch was blieb ihr anderes übrig, als so zu tun, als ob das der Fall wäre? Denn erstens gehörte die Wohnung dem Sohn, weil er die Miete zahlte, zweitens trug er noch einen Teil zum gemeinsamen Lebensunterhalt bei, was beides aufhören würde, wenn er seinen eigenen Hausstand gründete. Doch halt, seine Frau bekam ja jetzt laut Vertrag die monatlichen Raten. Wenn sie ihnen die erlassen würde? Man mußte mal vorsichtig sondieren, wie Ralf darüber dachte. Doch bevor sie es tun konnte, kam Anka ihr bereits zuvor, die aller dings die Worte nicht wog, sondern ungeniert herausplatzte: »Jetzt sind wir wenigstens unsere Schulden los! Somit hat deine Heirat schon etwas für sich.« »Halt mal!« unterbrach der Bruder sie scharf. »Deine Annahme ist falsch. Wie kommst du überhaupt darauf?« »Och, nur so.« Sie schob maulend die Unterlippe vor. »Weil es doch unter Eheleuten heißt: Was mein ist, ist auch dein.« »Das stimmt, soweit es sich auf die Eheleute selbst bezieht, aber nicht mehr für deren Anhang.« »Aber Ralf, wie kannst du unser Dummchen nur so ernstnehmen!« fiel die Mutter hastig ein, um dieses verfängliche Gespräch im Keim zu ersticken. »So eine Siebzehnjährige spricht doch nur gedankenlos nach, was sie hört oder liest. Laß uns lieber beraten, wie wir uns am besten einrichten. Wir haben doch nur die drei Zimmer.« »Und eins davon gehört mir. Darin wird Leonore mit mir wohnen.« »Wenn ihr euch damit begnügen wollt, mir soll es recht sein. Doch wie wird es mit der Beköstigung?« »Da bleibt alles beim alten«, entgegnete er immer noch sehr reserviert, was die Mutter zur weiteren Vorsicht mahnte. Und als der Sohn damit beschäftigt war, seine letzte
Zigarette in Brand zu stecken, warf sie der Tochter einen verstohlenen Blick zu, der zu warnen schien: Hüte ja deine Zunge! »Na, schön«, meinte sie, als Ralf das Feuerzeug in die Tasche schob und sich im Sessel zurücklehnte. »Ich fürchte nur, daß unsere einfache Kost deiner – Frau nicht zusagen wird. Denn die Ingwarts hatten doch Geld und werden daher gut gelebt haben.« »Du scheinst die Vermögenslage zu überschätzen, meine liebe Mama«, enttäuschte er sie immer mehr. »Außer der Summe, die wir an Leonore zu zahlen verpflichtet sind, besitzt sie nicht viel an barem Geld. Ist ja auch egal. Schließlich bin ich dazu da, um für meine Frau zu sorgen. Da ich als Ehemann in eine höhere Gehaltsstufe komme, bin ich in der Lage, für Leonore einen angemessenen Pensionspreis zu zahlen, damit du und Anka in keiner Weise übervorteilt werden. Noch etwas?« O ja, sehr viel! – hätte sie ihm entgegenschreien mögen. Aber was würde sie damit erreichen, wenn sie jetzt die Beherrschung verlor? Doch nur, daß er für sich und diese Lenore eine andere Wohnung suchte. Und was wurde dann aus ihr und Anka – ohne den Zuschuß des Sohnes? Was ihnen dann blieb, damit konnten sie wohl leben, aber wirklich nur mehr schlecht als recht. So sah nun die Hoffnung aus, welche diese egoistische Mutter gerade auf den Sohn gesetzt hatte. Bis vor wenigen Stunden noch hatte sie sich in dem schönen Wahn gewiegt, daß er Nita Krofft heiraten würde, die sich so eifrig um ihn bemühte. Zwar war sie nicht mehr ganz jung und auch nicht hübsch zu nennen, hatte außerdem bereits zwei Ehen hinter sich – aber sie hatte Geld, von dem sie Ralf eine gute Praxis einrichten wollte, wie sie neulich durchblicken ließ. Und nun verpfuschte der dumme Junge sich seine Zukunft, indem er Hals über Kopf ein Mädchen heiratete, das ihm zugelistet wurde! Ja, wenn er die Konsequenzen seines törichten Handelns
allein tragen müßte – aber leider waren sie und Anka auch davon betroffen. Statt in die schmucke Villa Nitas einzuziehen, mußten sie nun weiter in der primitiven Wohnung leben – dazu noch mit dieser – dieser… Oh, hätte Frau Rosalia nur so gekonnt, wie sie wollte! Verstohlen sah sie zu Ralf hin, der gedankenvoll dasaß. Was er dachte, konnte die Mutter nicht ergründen, weil er ihr wesensfremd war. »Wenn du mit der jungen Frau zusammen in deinem Zimmer wohnen willst, wirst du wohl noch verschiedene Sachen anschaffen müssen.« »Wie bitte, Mama?« fuhr er aus seinen Gedanken auf, so daß sie das Gesagte wiederholen mußte. Dann erst kam die Antwort. »Nicht erforderlich. Lenore besitzt von ihren Eltern Wohnund Schlafzimmer mit allem Drum und Dran.« »Gott, wie altmodisch!« rümpfte Anka das Naschen. »Ich würde mich als junge Frau bestimmt nicht mit dem alten Kram begnügen.« »Mein liebes Kind, dieser Kram, wie du sehr geschmacklos zu sagen beliebst, sind Stilmöbel von hohem Wert«, versetzte der Bruder gelassen. »Du müßtest schon einen wohlhabenden Mann heiraten, damit er dir so wertvolle Stücke kaufen könnte. Ich bin ordentlich stolz auf die Zimmer, die Lenore auf meinen Wunsch behielt, während sie die übrige Einrichtung verkaufte. Bis wir uns eine eigene Wohnung leisten können, haben wir das, was in mein Zimmer nicht hineingeht, einem Spediteur zur Aufbewahrung übergeben.« »Wann wirst du dir die Wohnung denn leisten können?« warf die Mutter lauernd ein. »Wahrscheinlich erst, wenn ich Oberarzt geworden bin. Und nun wollen wir schlafen gehen.« Das Schlafzimmer, das Mutter und Tochter teilten, war bedeutend behaglicher ausgestattet. Denn die Möbel stammten noch aus der »Glanzzeit« der Familie Skörsen, ebenso die Sachen im Wohnzimmer. Die Einrichtung des
Herrenzimmers, des Salons und des reizenden Jungmädchenstübchens hatte man vor dem Umzug verkauft, weil man, seitdem man die Schulden abzahlen mußte, sich keine Sechszimmerwohnung mehr leisten konnte. Nicht einmal für eine Dreizimmerwohnung inmitten der Stadt reichte es; denn bekanntlich sind in der Großstadt die Mieten hoch. Also zog man dahin, wo sich die Füchse gute Nacht sagten, wie es Anka maulend bezeichnete. Das Haus befand sich nämlich so weit außerhalb der Stadt, daß man eine Viertelstunde benötigte, um die Endstation der Straßenbahn zu erreichen. Übrigens war das, was ihr zur Verfügung stand, gar nicht so armselig, wie die gute Frau Rosalia es mit Vorliebe betonte, weil der Sohn sein Gehalt bis auf ein Taschengeld hergab. Wie die Mutter nun damit wirtschaftete, darum kümmerte er sich nicht. Also war ihm auch nicht bekannt, daß sie durchaus nicht sparte, soweit es sie und Anka betraf. Nur wenn der Sohn ein Kleidungsstück brauchte, machte sie daraus fast eine Staatsaktion. Wie die meisten Mütter, so hatte auch diese Mutter mit ihren Kindern große Pläne. Ach, wie hatte Frau Rosalia in Zukunftsplänen geschwelgt, die der rücksichtslose Sohn nun heute so brutal durchkreuzte! Und als Anka gar noch darüber zu räsonieren begann, hielt die ohnehin schon gereizte Frau sich verzweifelt die Ohren zu. »Hör bloß auf, sonst werde ich noch verrückt! Ohrfeigen könnte ich den Narren für seine Eselei, eine so gute Partie auszuschlagen und sich mit einer Frau zu belasten, die er ernähren muß! Das hätte er bei Nita wahrlich nicht nötig gehabt. Mit einem Schlage wären wir aus der Misere herausgekommen. Statt dessen wird uns jetzt noch eine Person mehr aufgehalst. Ja, wenn wir dadurch wenigstens unsere Schulden loswürden – aber du hörtest ja, daß wir nach wie vor die monatlichen Zahlungen leisten müssen. Eine direkt hirnverbrannte Idee, die nur so ein
lebensuntüchtiger Mensch wie Ralf haben kann.« »Warum hast du ihm das alles nicht gesagt?« fragte Anka. Einige Male holte die Mutter tief Luft. »Weil ich mir das nicht leisten kann. Du kennst Ralf doch und mußt daher wissen, daß er aus allem die Konsequenzen zieht. Also würde er es in diesem Fall tun, indem er sich und seine Frau woanders einmietete. Damit fiele seine Unterstützung fort, die immerhin so viel ausmacht, daß wir hier frei wohnen und von seinem Pensionsgeld noch ganz nett etwas für uns erübrigen können. Wären wir jedoch auf das angewiesen, was uns nach Abzahlung der Raten bliebe, würdest du wohl auf manches verzichten müssen, meine liebe Anka.« »Das wäre ja gräßlich!« »Finde ich auch. Daher wählen wir das kleinere Übel und nehmen Ralfs Frau auf, zumal er einen angemessenen Pensionspreis für sie zahlen wird.« »Mama, warum müssen wir bloß so armselig sein!« »Weil dein gewissenloser Vater uns dahin gebracht hat«, kam es verbissen zurück. »Das weißt du doch genausogut wie ich.« »Nur, daß ich mehr darunter leiden muß als du«, maulte die verzogene Tochter. »Denn du bist alt…« »Wer ist hier alt, wie?« warf die Mutter scharf ein, die es nun einmal nicht vertragen konnte, an ihr Alter gemahnt zu werden. »Ich befinde mich immer noch in den besten Jahren – bin gerade knapp fünfzig.« Was Anka gern mit Hinzufügen von sechs Jahren richtiggestellt hätte. Eben war diese bemüht, ihr Korsett abzulegen, das die Kleine bei sich mit »Panzer« zu bezeichnen pflegte und das alles einzwängen mußte, was gar zu üppig geworden war. Daß die Mama in einem solchen Ding überhaupt atmen konnte, war der Tochter ein Rätsel, die bei ihrer Magerkeit einen Panzer wahrlich nicht benötigte – Gott sei Dank! wie sie dachte. Mit dieser Frohlockung schlüpfte sie unter die
Daunendecke. Am nächsten Tag trafen die von Ralf erwarteten Möbel ein und konnten aufgestellt werden, nachdem die Möbelräumer die Sachen, die bisher in Ralfs Zimmer gestanden hatten, auf den Boden gebracht hatten. Mit einem guten Trinkgeld zogen sie ab, was Frau Rosalia mit einem süßsauren Lächeln zur Kenntnis nahm, während Anka ungeniert herausplatzte: »Ralf, kannst du aber nobel sein! Wenn doch auch ich einmal etwas davon zu spüren bekäme! Doch da hältst du dein Portemonnaie verschlossen, wie die Muschel ihre Perle. Aber weißt du, die Möbel sind doch ganz nett.« »Beruhigt mich ungemein«, kam es trocken zurück. »Nämlich, daß der Kram Gnade vor deinen Augen findet.« Von der Frau Mama wurden die Sachen von vornherein verächtlich abgetan, was bei ihrer Voreingenommenheit gar kein Wunder war. Was konnte schließlich von »diesen Leuten« Gutes kommen? Sie hütete sich jedoch, dem Sohn gegenüber derartiges lautwerden zu lassen, enthielt sich überhaupt jeder Kritik, während Anka diese ohne jede Hemmung kundtat. Jedes Stück, das der Bruder den Koffern und Kisten entnahm, wurde von ihr bewundert oder kritisiert. Doch als das Zimmer komplett eingerichtet war, mußte sie zugeben, daß ihr eigenes dagegen geradezu schäbig wirkte. Und was die Tochter aussprach, dachte die Mutter. Und nun kam zu der Abneigung, die sie ohnehin für die Schwiegertochter hegte, auch noch der Neid – eine Wurzel vielen Übels. Hätte Ralf seine Mutter besser gekannt, so hätte er seine junge, unerfahrene Frau gewiß nicht hierher gebracht. Aber leider kannte er sie nur so, wie sie sich gab, nicht so, – wie sie wirklich war. Anka hingegen kannte die Mutter, da diese es nicht für nötig hielt, sich in Gegenwart der Tochter Zwang aufzuerlegen – weil sie ja von dieser nicht abhing. Und wäre Anka nicht so oberflächlich und dickfellig gewesen,
dann hätte sie die unangenehme Art der Mutter wohl kaum auf die Dauer ertragen. So jedoch nahm sie diese gleichmütig hin, zumal sie von Frau Rosalia verhätschelt und dem Bruder gegenüber stets in Schutz genommen wurde, wenn er an der Schwester etwas auszusetzen fand. So auch jetzt, als Anka voller Neugierde die Kleider aus dem großen Koffer zerrte, den Ralf geöffnet hatte. »Laß die Hände weg, Anka!« gebot er unwillig – und schon schnappte die Frau Mama ein. »Komm, mein Kind, wir sind hier unerwünscht.« Damit zog sie die Tochter energisch mit sich und schloß die Tür mit Nachdruck, was Ralf nur recht war. Nun konnte er wenigstens in Ruhe die Sachen in Schrank und Schubladen tun, ohne daß die neugierige Kleine alles durcheinanderbrachte. Nachdem alles fein säuberlich verstaut war, nahm der junge Arzt in einem Sessel Platz und steckte eine Zigarette in Brand. Dabei ließ er die Blicke durch das Zimmer schweifen. Der große dicke Teppich, der so lange im Wohnzimmer der Ingwarts gelegen, hatte jetzt seinen Platz in dem kombinierten Wohn- und Schlafgemach, ihm Wärme und Traulichkeit verleihend. Auf den Bett glänzten die Daunendecken in ihrem stickereibesetzten Überschlag. Dieselbe Stickerei wiesen auch die Kissen auf, denen man die Daunenfüllung geradezu ansah. Die eine Querwand nahm der wuchtige Garderobenschrank ein. Die dazu passende Kommode, die Frisiertoilette, der Hocker davor und zwei Stühle machten die Schlafzimmereinrichtung komplett. Die anderen Möbelstücke waren dem Wohnzimmer entnommen: zwei weiche, bequeme Sessel, die in einer Ecke standen, dazwischen der reichgeschnitzte Klubtisch. Zwischen den beiden Fenstern stand schräggestellt der Schreibtisch. Dann gab es noch einen Schrank, oben mit Glas, unten mit Schüben. Das alles zusammen bot einen höchst erfreulichen Anblick.
Nur die billigen Gardinen wollten zu dieser Möblierung durchaus nicht passen, ebenso die Lampe nicht. Aber dieses beides stammte eben aus der bescheidenen Einrichtung des ebenso bescheidenen Mannes, der es noch gar nicht fassen konnte, daß er dieses wunderbare Zimmer nur bewohnen sollte, zusammen mit der Frau, die ihm so herrliche Dinge in die Ehe brachte. Und wenn er noch alles das dazurechnete, was bei einem Spediteur untergestellt war, so hatte er eigentlich eine ganz gute Partie gemacht. Das sagte er auch der Mutter, als er später deren Wohnzimmer betrat, wohin sie sich mit Anka zurückgezogen hatte. Und obwohl sie anderer Ansicht war, enthielt sie sich jeder Äußerung, während Anka ihr vorlautes Zünglein wieder einmal nicht zügeln konnte. »Bist du bescheiden!« rümpfte sie das Stupsnäschen. »Du hättest eine ganz andere Partie machen können.« »Anka!« griff die Mutter mahnend ein. »Was redest du nur wieder für einen Unsinn! Übrigens hast du uns noch gar nicht verraten, wo deine Frau sich zur Zeit befindet, mein lieber Junge. Etwa noch in der alten Wohnung?« »Nein, Mama, die ist seit vier Tagen geräumt. Bevor ich herkam, brachte ich Lenore in einem Fremdenheim unter. Ich wollte sie erst abholen, wenn das Zimmer hergerichtet ist. Das sind wir ihr ja wohl schuldig, deren* Vater so viel für uns tat.« »Wann kommt sie her?« fragte sie jetzt lauernd. »Morgen. Entschuldige bitte, daß ich aufbreche, aber ich muß mich beeilen, damit ich den Zug erreiche.« »Du holst sie ab?« »Natürlich.« Nachdem er gegangen war, konnte die erboste Mutter nun endlich der Tochter gegenüber ihrem Ärger Luft machen. »So viel Aufhebens ist dieses dumme Ding doch nun wirklich nicht wert. Als ob sie nicht ohne ihn herfinden könnte. Diese unnötige Reise ist doch nichts weiter als Geldvergeudung.« Nach zwei Stunden Fahrt hatte Dr. Skörsen sein Ziel
erreicht und wurde auf dem Bahnsteig von seiner jungen Frau empfangen, die sich an seinen Arm hängte und die Wange an seinem Ärmel rieb gleich einem zärtlichen Kätzchen. »Wie bin ich froh, daß du da bist«, bekannte sie leise, und neckend kam die Frage: »Hast du etwa angenommen, daß ich dich sitzenlassen könnte – nach einwöchiger Ehe?« »Ist alles schon dagewesen.« »Aber nicht bei mir, du Dummes«, lachte er, ihren Arm an sich drückend und mit ihr dem Ausgang des Bahnhofs zustrebend. Ein schönes Paar, wie es unser Herrgott nicht oft zusammenbringt. Er hochgewachsen, blondhaarig, blauäugig, mit rassigem Kopf und scharfgeschnittenem Gesicht; sie mittelgroß, grazil, mit goldbraunem Gelock und feinem Gesicht. Jetzt allerdings lag darüber ein trüber Schein, wie es bei Augen der Fall ist, die viele Tränen vergossen haben – was Lenore nach der Mutter Tod reichlich tat. Drei Jahre hindurch hatte nun das blutjunge Menschenkind die Kranke mit rührender Sorgfalt gepflegt. Hatte mit Selbstverständlichkeit auf die Vergnügungen verzichtet, die ihm die Krankenpflege unmöglich machte. Hatte allabendlich den Höchsten angefleht, ihm das Liebste, was es hatte, noch viele Jahre zu erhalten. Allein gegen den Tod ist nun einmal kein Kraut gewachsen. Diese Erkenntnis traf die mittlerweile zwanzig Jahre alt gewordene Lenore so schwer, daß sie wohl am Leben verzweifelt wäre, wenn nicht in ihrer seelischen Not ein Retter erschienen wäre – und dieser Retter hieß Ralf Skörsen, für den sie schon vom ersten Sehen an eine Schwärmerei hegte. Dieses erste Sehen geschah am Grab ihres Vaters und wurde dann zum Wiedersehen, viermal im Jahr. Denn pünktlich alle drei Monate stellte Dr. Skörsen sich ein, um nach der Gelähmten zu sehen. Die wenigen Stunden, die er dann verweilte, wurden für Mutter und
Tochter zu Feierstunden. Als der Arzt sich wieder einmal verabschiedet hatte und Lenore ihm nachschaute, fragte die Mutter behutsam: »Nicht wahr, mein Kind, du hast Ralf lieb?« »Aber, Mutti, wie kommst du denn darauf?« fragte das Mädchen zurück, während ihm heiße Röte ins Gesicht stieg, ganz langsam, hinauf bis zum goldenen Gelock. »Ich mag ihn natürlich schrecklich gern, freue mich, wenn er kommt, und bin…« »Traurig, wenn er geht«, vollendete die Ältere lächelnd den stockenden Satz. »Daraus brauchst du doch deiner Mutter gegenüber kein Geheimnis zu machen.« »Wäre mir auch gar nicht eingefallen, wenn ich das Geheimnis nur selbst gewußt hätte«, kam es kläglich zurück. »Da mußtest du mich erst mit der Nase daraufstoßen. Ach, Mutschi, nun liegt mein Herz vor dir ganz nackt und bloß.« Dieses Gespräch brachte Frau Ingwart eine Gewißheit, die ihr sorgendes Mutterherz ruhiger werden ließ. Und als sie einige Zeit darauf ihr Ende nahen fühlte, rief sie Dr. Skörsen zu sich und konnte mit dem beruhigenden Gefühl die Augen schließen, ihr junges, unerfahrenes Kind nicht nur in guter Hut zurückzulassen, sondern auch am Herzen des Mannes, den es liebte. Am nächsten Vormittag fuhr das junge Paar der Stadt zu, die Lenore fortan Heimat sein sollte. Das Gehetze der Menschen, überhaupt das ganze nervöse Treiben, das nun einmal auf den Bahnhöfen herrscht, wirkte beängstigend auf sie. Kein Wunder, da sie drei Jahre lang kaum aus den vier Wänden des Krankenzimmers herausgekommen war. Endlich war es soweit, daß sie sich in die Ecke des Abteils setzen konnte, wo sie sich richtig geborgen fühlte. Mit einem Neidgefühl sah sie auf den Gatten, dem der Trubel so gar nichts ausmachte – genausowenig wie früher ihr, als sie noch mit den Eltern weit gereist war. Wie unbekümmert war sie damals gewesen, eben wie ein behütetes Kind, das
die Eltern für sich sorgen ließ, ihnen folgte in unbegrenztem Vertrauen. Und weshalb hatte sie dieses Vertrauen nicht auch zu dem Gatten? Er war doch lieb zu ihr – und dennoch hatte sie ihm gegenüber Hemmungen. Das kam wohl daher, daß sie ihn zu wenig kannte. Dennoch liebte sie ihn – oder nicht? Wenn sie doch die Mutter fragen könnte, ob das, was sie für Ralf empfand, wirklich die echte Liebe war, die, wie es in der Bibel heißt, nimmer aufhört! Aber ihre geliebte Mutschi lag ja auf dem Friedhof – nie mehr würde sie ihre gütige Stimme hören, nie mehr ihr liebes Lächeln sehen – nie mehr. Nicht weinen, nur nicht weinen! sprach das junge Menschenkind mit dem wunden Herzen sich selbst gut zu. Sie schrak aus ihren schmerzlichen Gedanken auf, als jetzt die Abteiltür zugeworfen wurde. Gleich darauf setzte sich der Zug in Bewegung. Und nun kamen Lenore die Tränen. Ein wehes Schluchzen klang auf, und erschrocken sah Lenore zu dem Mann hin, der ihr gegenübersaß, wahrscheinlich hatte er nichts gehört, sonst hätte er doch wenigstens von der Zeitung aufgeschaut, in die er so vertieft war, daß er nichts anderes sah. Ein bitteres Gefühl stieg in Lenore auf, als sie sich fester in die Ecke drückte. Dabei stieß sie mit der Fußspitze an das Bein des Gatten, so daß er erschrocken hochfuhr. »Verzeihung, Ralf, das war ungeschickt von mir«, sagte sie leise unter seinem forschenden Blick. »Du weinst, Lenore?« »Nur so ein bißchen. Entschuldige, bitte.« »Vor allen Dingen entschuldige du, daß ich mich so gar nicht um dich kümmerte. Aber der Artikel im Fachblatt – es ist so interessant…« »Dann lies nur ruhig weiter«, unterbrach sie ihn freundlich. Gleich darauf betrat ein Herr das Abteil, welches das junge Paar bisher allein gehabt hatte. Der Hinzugekommene machte den Eindruck, als ob er sich selbst nicht leiden
könnte. »Machen Sie das Fenster auf!« gebot er barsch, während er sich bemühte, den Koffer ins Netz zu heben, wobei er mit besonderem Ungeschick vorging. »Es ist ja hier eine Luft zum Ersticken.« »Bedauere sehr«, entgegnete Ralf kühl. »Sie sehen doch, wie die Tropfen gegen die Scheiben schlagen.« »Was ist schon dabei?« »Daß es bei geöffnetem Fenster hereinregnen würde… Ja, sind Sie denn ganz von Gott verlassen?« Mit diesem empörten Ruf sprang Ralf auf und griff nach dem schweren Koffer, der unweigerlich auf Lenore gefallen wäre, hätte der Gatte nicht so schnell gehandelt. Anstatt sich nun zu entschuldigen, knurrte der Ungeschickte wie ein böser Kettenhund. Bedankte sich auch nicht, als der Arzt den Koffer ins Netz hob, sondern drückte sich in die dritte Ecke des Abteils und spielte mit sich selbst böse. Doch nur Sekunden war ihm das Spezialvergnügen gegönnt. Es kam nämlich eine junge Frau dazu. Man sah ihr auf den ersten Blick an, daß sie sich nicht so ohne weiteres die Butter vom Brot nehmen ließ. Auf dem einen Arm trug sie ein Baby, das aus Leibeskräften schrie, der andere Arm schleppte eine vollgestopfte Tasche, aus der es überquoll. »Was wollen Sie denn mit dem Schreihals hier?« fuhr der Choleriker sie an, worauf sie ihn zuerst verdutzt ansah und dann schnippisch bemerkte: »Fahren natürlich, wie Sie ja auch.« »Aber nicht in diesem Abteil.« »Warum denn nicht?« »Weil ich Kindergebrüll nicht vertragen kann.« »Dann müssen Sie zu Hause bleiben. Denn auch Schreihälse haben das Recht, mit der Bahn zu fahren. – Danke, mein Herr!« Das galt dem Arzt, der ihr die schwere Tasche abnahm. »Bitte, nicht ins Netz tun, da ist nämlich so allerlei darin, was der Junge braucht. Stellen Sie also das
Ding auf den Sitz!« »Das ist verboten!« belferte der Mann in der Ecke dazwischen. »Der Sitz muß für die Reisenden freibleiben.« »Wenn noch welche hinzukommen sollten, werde ich mich schon danach richten.« »Moment mal«, fiel Ralf hastig ein, indem er aufsprang und zu dem Herrn trat, der mit schmerzverzogenem Gesicht dasaß und die Hand rechtsseitig auf die Magengegend drückte. Der Mund war verkrampft, und auf der Stirn perlten Schweißtropfen. »Ich bin Arzt, mein Herr, und möchte Ihnen helfen. Ist es die Galle?« »Ja. Bitte, eine Spritze.« »Die habe ich leider nicht bei mir. Ist es denn so arg?« »Es fängt erst an, aber bald wird’s unerträglich werden, das kenne ich aus Erfahrung. Wenn ich wenigstens Wasser hätte, um eine Tablette nehmen zu können.« »Das hole ich Ihnen rasch aus dem Speisewagen.« »Damit kann auch ich aushelfen«, meldete sich die junge Frau, die angesichts des leidenden Mannes ihre Rachegelüste vergessen hatte. »Ich habe nämlich immer auf Reisen eine Flasche Wasser bei mir, für alle Fälle!« Schon hatte Lenore das Baby wieder auf dem Schoß, das jetzt jedoch friedlich war, weil es satt war und schlief. Flinke Hände kramten in der Tasche und förderten nicht nur eine Flasche Wasser, sondern auch einen Becher zutage. Indes hatte der Arzt sich von dem Herrn die Tabletten zeigen lassen, die dieser der Rocktasche entnahm. »Das Mittel ist gut, wenn auch stark. Vom Arzt verordnet?« »Na, was denn sonst? Ohne Rezept kriegt man die Dinger ja nicht.« »Ein Glück. Und nun geben Sie mal her, meine kleine Gnädige. Sie sammeln ja direkt feurige Kohlen auf das Haupt Ihres Widersachers.« »Wenn er Schmerzen hat, muß man doch schon«, lachte sie Ralf an, daß die Zähne nur so blitzten. Sie war überhaupt eine hübsche Frau – rosig, mollig,
blitzsauber. Ein rasches Mundwerk, aber ein gutes Herz. Nachdem der Leidende die Tablette geschluckt hatte, knurrte er den jungen Mann an: »Danke, Sie sollten sich um einen so unleidlichen Kerl gar nicht bemühen.« »Dafür bin ich Arzt«, kam es ruhig zurück. »Haben Sie noch weit zu fahren?« »Auf der nächsten Station steige ich aus. Ich will dort ins Krankenhaus zur Beobachtung. Da sollen die Ärzte eine Menge verstehen. Hauptsächlich der eine Arzt. Skörsen heißt er wohl.« In Ralfs Augen blitzte es auf, allein er gab sich nicht zu erkennen. Auch nicht, als die junge Frau eifrig sagte: »Da kann sich der Herr mir anschließen. Ich will nämlich auch ins Krankenhaus, wo dieser Dr. Skörsen arbeitet.« »Nanu, was wollen Sie denn da?« fragte Ralf verwundert. »Sie schauen doch aus wie das blühende Leben.« »Ich will ja auch nicht als Patientin ins Krankenhaus, sondern anders. Mein Mann ist nämlich dort Portier. Er heißt Ewald Druschke. Gott, was bin ich froh, daß der alte Portier gestorben ist und Ewald nicht nur seinen Posten, sondern auch seine Wohnung bekommen hat! Ach herrje, da fahren wir ja schon in den Bahnhof ein, und hier liegt alles herum wie in Sodom und Gomorrha.« Schon stopfte sie alles kunterbunt in die Tasche, bis diese seitwärts wie ein Ballon anschwoll und oben heraushängen ließ, was beim besten Willen nicht mehr Platz hatte. Ihr Kind schien die Aufgeregte vergessen zu haben, und hätte Lenore sie nicht daran erinnert, wäre die Mutter wohl ohne es ausgestiegen. »Richtig, der Junge!« klatschte sie mit der flachen Hand vor die Stirn. »Na, so was! Komm her, mein Süßer, was hast du bloß für eine Rabenmutter! – Da hält der Zug ja schon. Kommen Sie mit, Sie kranker Herr?« »Gott soll mich bewahren!« hob dieser entsetzt die Hände. Da wandte sie sich achselzuckend ab, während er sich bemühte, seinen Koffer aus dem Netz zu ziehen.
»Lassen Sie mich das machen«, schob Ralf ihn zur Seite. »Der Koffer ist für Sie doch viel zu schwer. Konnten Sie ihn denn nicht aufgeben?« »Nein«, kam es verdrießlich zurück. »Es wird so viel gestohlen.« »Gehen Sie schon voran, ich folge Ihnen mit dem Gepäck.« »Danke, das trage ich selber.« Damit riß er dem Arzt förmlich den Koffer aus der Hand und hastete so schnell davon, als wäre ihm das Angebot des jungen Mannes nicht geheuer. Ralf wandte sich nun Lenore zu, die dem allem mit gemischten Gefühlen gefolgt war. »Ich muß hinter dem Mann her, damit er nicht zusammenklappt«, erklärte er hastig. »Muß ihn ins Krankenhaus bringen.« »Aber du hast doch heute und morgen noch Urlaub«, wagte die Gattin einzuwenden. »Wenn ein hilfloser Kranker den Arzt braucht, gibt es für diesen keinen Urlaub. Geh in den Wartesaal und warte da auf mich.« Fort war er, und Lenore kam sich vor wie ein Kind, das die Mutter im Dunkeln allein gelassen hatte. Obwohl das große Gepäck mit den Möbeln zusammen vorausgeschickt worden war, hatte Lenore doch manches an Handgepäck bei sich. Die Decke über die Schulter geworfen, die Handtasche unter einen, den Schirm unter den anderen Arm geklemmt, in jeder Hand einen Koffer, so wankte Lenore den DZuggang entlang. Sie hatte alle Mühe, nicht die Balance zu verlieren, als sie über das Trittbrett auf den Bahnsteig kletterte. Doch kaum stand sie unten, als sie hinter sich eine bekannte Stimme hörte: »Herrje, Fräulein, Sie sind ja der reinste Packesel! Los, Ewald, nimm der Ärmsten was ab, sie hat im Zug so lieb unseren Jungen gehalten.« »Na, dann geben Sie mal her, Fräuleinchen!« Ein Mann
stand jetzt vor Lenore – groß und breit wie ein Haus. »Was Sie Küken da mühsam schleppen, nimmt unsereins auf den kleinen Finger.« »Aber Sie haben doch das Kind auf dem Arm und in der anderen Hand die Tasche.« »Die kann meine Frau tragen, außerdem noch Ihre Decke. Den größeren Koffer geben Sie mir, ich gehe bestimmt nicht mit ihm durch.« »Nehme ich auch gar nicht an.« »Dann sind wir uns ja einig.« Kurz und bündig nahm er ihr den Koffer aus der Hand und reichte die Decke seiner Frau, die lachend sagte: »Ja, ja, mein Ewald fackelt nicht lange.« Danach setzte man sich einträchtig in Bewegung und strebte dem Bahnhofsgebäude zu. Auf einmal sagte der Mann überrascht: »Nanu, da geht doch unser Doktor durch die Sperre mit einem Herrn am Arm, der ganz wacklige Beine hat!« »Was, das ist euer Doktor?« unterbrach seine Frau ihn perplex. »Du, da kann ich dir erklären, was es mit dem Herrn für eine Bewandtnis hat.« Sie erzählte nun von dem Intermezzo im Zug, und Ewald nickte stolz. »Ganz unser Dr. Skörsen. Wo es etwas zu helfen gibt, da packt er zu. Und gar noch bei einem Kranken. Den liefert er bestimmt im Krankenhaus ab, obwohl er das gar nicht nötig hat, weil er in Urlaub ist. Heiratsurlaub hat er.« »Uije, Ewald, ich glaube, daß ich mich im Abteil nicht gerade fein benommen habe«, bekannte seine Ehehälfte kläglich. »Aber wie konnte ich auch wissen, daß es euer Doktor war? Der wird einen guten Begriff von mir gekriegt haben.« »Glaub ich auch«, schmunzelte der Hüne. »Na, laß man, Fridchen. Der Mann ist als Arzt an weibliche Beredtsamkeit gewöhnt.« Indes hatten auch sie die Sperre passiert, und nun meldete sich Lenore, die bisher schweigend mit dem Ehepaar
gegangen war. »Darf ich meinen Koffer haben, Herr Druschke? Ich muß nämlich in den Wartesaal, wo ich abgeholt werde.« »Das beruhigt mich«, tat Fridchen großartig. »Sie sehen mir so aus, als ob Sie sehr schüchtern wären. Denk dir bloß, Ewald, kein Wort hat sie im Zug gesprochen!« Lenore sah ihnen amüsiert nach, bis sie ihrem Blick entschwanden. Dann ging sie in den Wartesaal, der so überfüllt war, daß sie in einer Ecke gerade noch einen Tisch erwischte, der nur zwei Personen Platz bot. Hoffentlich blieb der andere Stuhl unbesetzt; denn ihr lag gar nicht daran, Gesellschaft zu bekommen. Ihr genügte die vollkommen, die sie im Abteil gehabt hatte. Still weinte sie in sich hinein und schrak zusammen, als eine angenehme Stimme neben ihr sprach: »Ist dieser Stuhl noch frei?« »Ja, bitte.« »Danke sehr«, ließ die Dame mittleren Alters sich nieder. »Habe ich denn doch noch den letzten Platz erwischt!« Sie zog ein Päckchen mit belegten Broten aus der großen Tasche und biß gleich darauf so herzhaft in eine Schnitte, daß Lenore tatsächlich das Wasser im Mund zusammenlief. Sie hatte nämlich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, und jetzt war es bereits über die Kaffeezeit hinaus. Verlegen senkte sie die Augen, als die Dame sie so forschend ansah, als wollte sie ihre Seele ergründen; doch der Blick hatte etwas Gütiges, Mütterliches. Lenore hatte keine Ahnung, wie sehnsüchtig der Blick war, mit dem sie die Dame musterte. Sie ahnte auch nicht, daß diese sofort ihre verweinten Augen bemerkt hatte. Sollte dieses junge, schöne Geschöpf etwa…? »Gertraude, kombiniere nicht!« hörte sie so deutlich des Gatten Stimme, als ob er neben ihr wäre. Da lachte sie ein gutes, herzliches Lachen, das Lenore entzückte, denn so hatte ihre Mutter einst gelacht. Und schon kamen wieder die Tränen, deren die junge Frau sich schämte. Um so mehr noch, als die Dame nun
behutsam fragte: »Mein liebes Fräulein, fühlen Sie sich nicht wohl?« »Doch, gewiß«, kam die Antwort verwirrt. »Ich habe wohl nur Hunger.« »Muß der aber groß sein«, bemerkte ihr Gegenüber trocken. »Nun, dem ist rasch abzuhelfen. Darf ich Ihnen eine Schnitte anbieten?« »O ja, danke, sehr gern nehme ich sie. Ich habe nämlich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.« »Dann allerdings. Bitte, sich zu bedienen!« Damit schob sie Lenore die Brote zu, und als diese danach griff, bemerkte sie an der Rechten den schmalen Reif, dessen Gold so neu und unbenutzt funkelte. Das gab der guten Gertraude noch mehr zu kombinieren. Doch sie ließ sich nichts anmerken, sondern sagte lachend: »Wie ich sehe, sind Sie verheiratet. Entschuldigen Sie die falsche Bezeichnung, aber Sie sehen wirklich noch so ganz und gar fräuleinhaft aus.« »Ich bin ja auch erst eine Woche verheiratet.« »Und dann weinen Sie schon? Kindchen, wo gibt es denn so was! Scheint ein böser Barbar zu sein, der Herr Gemahl!« Da mußte Lenore denn doch lachen, wenngleich ihr wahrlich nicht danach zumute war. In dem Moment trat der junge Arzt an den Tisch und sagte zufrieden: »Du bist ja so vergnügt, Nore, das beruhigt mich ungemein. Ich hatte nämlich schon Gewissensbisse, daß ich dich so lange allein ließ, aber es ging wirklich nicht anders. Es freut mich, daß du Gesellschaft hast.« »Die sich gleich auf die Strümpfe machen wird, weil der Zug nicht wartet«, warf die Fremde ein, indem sie die Brote in die Tasche tat und aufstand. »Leben Sie wohl, kleine Frau. Lachen Sie viel, dann sehen Sie nämlich bezaubernd aus.« Lenore verschmitzt zuwinkend, nahm sie die Tasche auf und setzte sich in Bewegung.
Ralf fragte unangenehm berührt: »Kennst du die Dame, weil sie so vertraut tat?« »Nein, ich kenne sie nicht. Sie setzte sich zu mir an den Tisch und gab mir eine Schnitte ab, weil ich sehr hungrig war. Schließlich habe ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.« »Aber es gibt doch hier zu essen.« »Wenn man Glück hat. Und das hatte ich nicht, weil die Bedienung nicht zu erwischen war.« »Es ist heute auch ganz besonders voll hier. Es tut mir leid, Nore.« »Ach, laß doch, jetzt bist du ja da. Es wird wohl nicht das letzte Mal sein, daß ich auf dich warten muß, dafür bist du Arzt. Wie wurde es übrigens mit dem kranken Herrn?« »Wir erreichten gerade so knapp das Krankenhaus, als die Schmerzen richtig losbrachen. Allerdings mußte ich eine Taxe nehmen und sie auch bezahlen, da Herr Gompa sich weigerte, es zu tun. Wenn ich so großspurig wäre, eine Taxe zu nehmen, dann müßte ich sie auch bezahlen, meinte er.« »Wenn er noch so couragiert sein konnte, werden die Schmerzen nicht arg gewesen sein«, meinte Lenore. Als sie am Portal des Bahnhofsgebäudes anlangten, regnete es so arg, daß Ralf sagte: »Da hilft nun nichts, ich muß eine Taxe nehmen, obgleich ich heute bereits eine bezahlte. Aber bis wir zur Straßenbahn kommen und dann wieder von der Endstation bis nach Hause, wären wir naß wie gebadete Katzen.« Also winkte er eine Taxe herbei und stieg zuerst ein, was ihm erst bewußt wurde, als Lenore hinterherkam. Dunkel schoß ihm das Blut ins Gesicht, doch er entschuldigte sich erst, nachdem der Wagen sich in Bewegung gesetzt hatte. Da legte er den Arm um die grazile Gestalt und zog sie dicht zu sich heran. »Verzeih, Norelein«, murmelte er beschämt. »Ich benehme mich heute einfach unglaublich. Wird dir nicht angst, einen solchen Banausen geheiratet zu haben?«
»Ich glaube schon«, lachte sie ihn so lieblich an, daß er sich beherrschen mußte, sie nicht ganz toll und heiß zu küssen, wozu er durchaus berechtigt war. Aber der Chauffeur störte ihn. Schön ist das jetzt, dachte Lenore beglückt, sich fester in den Arm des Gatten schmiegend. Aber bald werde ich in meinem neuen Zuhause sein. Was wird mich dort erwarten? Ich habe Angst. Daß diese Angst nicht unbegründet war, merkte die junge Frau sofort, als sie den Anverwandten gegenüberstand. Nein, sie gefielen ihr nicht. Nicht die üppige Frau mit der eingepferchten Figur, der zu jugendlichen Kleidung, dem geschminkten Gesicht, den kühlen Augen. Auch nicht das junge Mädchen, das zwar hübsch aussah, aber in seiner ganzen Art etwas Dreistes hatte. Wenn es nach Lenore gegangen, wäre sie dieser Stätte sofort wieder entflohen. Aber wo sollte sie hin? Sie hatte ja kein anderes Zuhause mehr und war außerdem an den Mann, der neben ihr stand, durch das Ehegesetz gebunden. Hätte er nur geahnt, was in ihr vorging! Doch er ahnte es nicht. Er war außerordentlich aufgeräumt, als er Mutter und Schwester seine junge Frau zuführte. »Da habt ihr sie, meine Lenore. Gefällt sie euch?« »Gewiß«, entgegnete die Frau Mama mit scheinheiliger Freundlichkeit, die Lenore herausfühlte. »Sie ist reizend, aber noch sehr jung.« »Immerhin zwanzig«, gab Ralf launig zurück. »Also schon fast hinter den Öhrchen trocken. Und nun tischt auf, wir haben nämlich seit dem Frühstück fasten müssen. Das kam so…« Kurz schilderte er, was sich begeben hatte, und die Frau Mama nickte stolzgeschwellt dazu. »Das warst wieder einmal du, mein Sohn. Man nennt dich ja nicht umsonst einen vorzüglichen, hilfsbereiten Arzt. Nur noch ein wenig Geduld, ich richte sofort das Essen.« »Während du auftischst, führe ich meine Lenore in ihr neues Heim.«
Was denn auch geschah. Nur daß nicht die junge Frau zuerst über die Schwelle schritt, sondern Anka, die sich mit der Frechheit ihres Naturells einfach vordrängte, was Lenore befremdete, den Gatten jedoch nur amüsierte. »Natürlich muß unser Fräulein Naseweis immer voran sein. Zur Begrüßung Blumen hier hineinzustellen, das fiel dir wohl nicht ein, du Irrwisch, wie?« »Hätte ich schon getan, aber leider – die Moneten«, versetzte sie keck. »Du hältst mich verflixt kurz.« »Ein Schelm gibt mehr, als er hat«, kam es launig zurück. »Nun troll dich, mein Mädchen, und hilf der Mama.« »Ooch, die wird auch ohne mich fertig. Ihr Jungvermählten seid mir doch zu interessant.« »Anka!« Dieser Warnungsruf mußte der kecken Kleinen wohl geläufig sein, denn sie zog sich zwar maulend, aber immerhin zurück. »Sie ist doch noch ein ganzes Kind«, sprach der nachsichtige Bruder ihr schmunzelnd nach. »Aber wohl gerade deshalb so harmlos von Sinn und Gemüt. Und nun komm, mein Liebes, laß dich in deinem Heim herzlich willkommen heißen.« Er zog sie in die Arme, küßte sie zärtlich und sagte dann stolz: »Ist es nicht schön bei uns? Bis auf die Lampe und die Gardinen, die passen zu der feudalen Einrichtung allerdings nicht.« »Da hast du recht«, bestätigte Lenore, nachdem sie sich mit prüfendem Blick umgeschaut hatte. »Aber soviel ich weiß, ist beides mit den anderen Sachen mitgeschickt worden.« »Ist es auch«, unterbrach er sie verlegen. »Aber weißt du, da wagte ich mich nicht heran. In solchen Dingen bin ich reichlich ungeschickt.« »Dafür bist du ja Arzt und kein Handwerker. Laß nur, ich bringe das schon in Ordnung.« »Kannst du denn das?« »Ich glaube schon. Die Ständerlampe, die zwischen den
Sesseln fehlt, kaufen wir uns.« »Kind, bedenke…« »Sie kostet Geld«, vollendete sie lachend den stockenden Satz. »Aber so viel haben wir schon noch.« »Wir – Nore?« »Natürlich, was denn sonst? Oder gedenkst du etwa streng getrennte Kasse zwischen uns einzuführen? Das wäre ja…« In dem Moment steckte Anka den Wuschelkopf durch den Türspalt und sagte mit einem Lächeln, das Lenore irgendwie abstieß: »Störe ich das zärtliche Tete-á-tet sehr empfindlich? Aber es geht nicht anders. Das Essen steht auf dem Tisch, und Mama kann fuchsteufelswild werden…« »Anka!« »Herrje, ja. Zank nicht, sondern komm!« Wenig später betraten sie den Raum, der als Wohn- und Eßzimmer zugleich diente. Die Einrichtung war gut, aber trotzdem vermißte Lenore darin das, was man Traulichkeit nennt. Und dann das Essen. Gewiß, es war als Mittagsmahl bestimmt gewesen und mußte gewännt werden, nichtsdestoweniger hätte es nicht lauwarm und vertrocknet zu sein brauchen; das konnte Lenore gar wohl beurteilen, die vom Kochen etwas verstand. Natürlich enthielt sie sich jeder Äußerung. Sie machte schweigend ihre Beobachtungen. Zum Beispiel fand sie es empörend, daß die Mutter der Tochter die besten Bissen vorlegte. Wohl war Anka schmal und blaß – bleichsüchtig, wie die Ärzte es früher zu bezeichnen pflegten. Da war es schon verständlich, daß die Mutter die heranwachsende Tochter mit Sorgfalt pflegte. Aber darüber durfte sie nicht den Sohn vergessen, und das war hier der Fall. Kurz und gut: Lenore war im Bilde. Und daß dieses Bild nicht falsch war, sollte die Zukunft lehren. Eine Zukunft, in der das Herz der blutjungen Frau durch
alle Höhen und Tiefen des Lebens geschleift werden sollte. War der Gatte mit ihr allein in seiner Liebe und Zärtlichkeit, glaubte sie wenigstens am Rande des siebenten Himmels zu weilen; doch war er fort, sorgten seine Angehörigen schon dafür, daß Lenore mit beiden Beinen in der realen Welt stand, wo Gehässigkeit und Heuchelei sie umgaben. Das heißt, in der ersten Zeit umgaben sie Lenore mit einer süßlichen Liebenswürdigkeit, und zwar aus Berechnung. Nahmen sie doch an, daß diese »einfältige Person« eben einfältig genug sein würde, ihnen Geld und andere Dinge zu geben, auf die sie ein Auge geworfen hatten: Frau Rosalia auf Wäsche, die ja reichlich vorhanden war, Anka auf Kleider und Schmuck. Nun, Lenore war alles andere als einfältig. Sie war im Gegenteil so klug, daß sie sofort begriff, was man da von ihr mit honigsüßer Miene erpressen wollte. Diese Anstrengung hätten die beiden nicht nötig gehabt, wenn sie der jungen Frau zumindest sympathisch gewesen wären. Dann hätte Lenore das getan, was sie ursprünglich vorgehabt, nämlich mit vollen Händen gegeben von dem, was sie selbst besaß. Lenore war ein warmherziger, hilfsbereiter Mensch, aber deshalb noch lange nicht so sanftmütig, daß sie nach einem Backenstreich auch noch geduldig die andere Wange hinhielt. Da hielt sie sich eher an eine andere Stelle der Bibel: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Zumal sich bei der ständigen Abwehrstellung, zu der sie ja geradezu herausgefordert wurde, der Trotz zu regen begann, von dem sie nicht wenig besaß. Und wenn der Mensch trotzig ist, dann ist er eben unzugänglich – in jeder Beziehung. Also knöpfte Lenore nicht nur ihr Portemonnaie fest zu, sondern verschloß auch Schübe und Schränke, nachdem sich Anka dieses und jenes einfach anzueignen versucht hatte. Im anderen Fall hätte Lenore gern mit der Schwägerin geteilt, was sie im Überfluß besaß – freiwillig,
aber nicht gezwungen. Was sie dann allerdings büßen mußte. Denn als Frau Rosalia zu ihrer grenzenlosen Enttäuschung merkte, wie »geizig« die Schwiegertochter war, ließ sie die honigsüße Maske fallen und zeigte das, was sich darunter verbarg. Zuerst ging sie dabei vorsichtig vor, weil sie nicht ganz sicher war, ob Lenore bei Ralf nicht petzte. Das tat lieber sie, und zwar nach Art des Maulwurfs, der zwar wühlt, aber dabei unsichtbar bleibt. Leider war Ralf gegen die Einflüsterungen seiner Mutter nicht gefeit, die allerdings auch sehr geschickt angebracht wurden. Er war eben von der Ehrbarkeit der Seinen so überzeugt, daß er ihnen Intrigen einfach nicht zutraute. Dann schon eher seiner Frau, obwohl sie über seine Angehörigen nie Klage führte. Aber sie benahm sich auch ihm gegenüber so, daß sich nach und nach eine Entfremdung einstellte, die den Mann verstimmte. Und als er gar an einem Tag, da er unerwartet nach Hause kam, die Tür verschlossen fand, stellte er, nachdem Lenore ihn auf sein energisches Klopfen eingelassen harte, sie unwillig zur Rede. »Lenore, was soll das? Hast du denn gar keine Ahnung, wie sehr du die Mama damit kränkst, wenn du dich nicht nur von ihr absonderst, sondern gar die Tür verschließt? Das hat meine Mutter doch wahrlich nicht um dich verdient.« Darauf erwiderte sie nichts, sah ihn nur mit Augen an, in denen der Trotz funkelte. Ihre Haltung drückte so viel Aufsässigkeit aus, daß der sonst so ruhige Mann die Beherrschung verlor, sie bei den Schultern packte und schüttelte. »Du – laß mich los!« sprach sie so dumpf und schwer, daß er von ihr abließ. Hastig fuhr er sich über Kopf und Stirn, in seinen Augen brannte der Schmerz. Das hätte Lenore wohl stutzig gemacht, wenn sie nicht so verbittert gewesen wäre. Und Verbitterung nimmt dem Menschen genauso die Logik und den klaren Verstand wie
Verblendung. Wenn Lenore jetzt gesprochen, sich alles vom Herzen geredet hätte, was ihr junges Leben kaum erträglich machte, vielleicht hätte sie dann dem Gatten die Binde von den Augen gerissen, und er hätte Mutter und Schwester so erkannt, wie sie waren – und nicht so, wie sie sich ihm gegenüber gaben. Aber sie preßte den Mund zusammen und schwieg verbissen. Da wandte er sich brüsk ab und ging hinaus. Ein tiefer Riß war da – nach sechswöchiger Ehe. Da Lenore gewohnt war, sich im Haushalt zu betätigen, so erschien es ihr selbstverständlich, es gleich von Anfang an auch hier zu tun, was wiederum die Schwiegermutter für selbstverständlich hielt. Aber nur bei der Schwiegertochter, versteht sich. Die Tochter durfte sich schon erlauben, faul zu sein, sie wurde von der Mutter sogar noch bedient. Nun ja, das arme Kind war ja so schmächtig, während Lenore robust war – bei der Größe von 1,68 und dem Gewicht von nicht viel mehr als einem Zentner! – Die sollte nur ruhig arbeiten und sich das Essen verdienen. Denn bei den paar Mark, die Ralf für seine Frau an Pension zahlte, konnte man bei diesen Zeiten unmöglich einen Menschen mit solchem Riesenappetit durchfüttern. So wurden Lenore nicht nur die Bissen in den Mund gezählt, ihr wurden so nach und nach auch sämtliche Hausarbeiten zugeschoben, was ihr nur recht war. Sie nahm es gelassen hin, als die Frau ausblieb, die zu Anfang jede Woche einmal zu dem üblichen Hausputz erschienen war. Sie kochte auch und kaufte ein, als Frau Rosalia sich plötzlich so leidend fühlte, so schwindlig und schwach, daß sie sich kaum noch auf die Straße wagte. Nur wenn es ins Kino ging, ins Cafe oder zu sonstigen Vergnügungen, dann hatte die »Leidende« ihren »guten Tag«, wo sie schon wagen durfte, auszugehen, zumal in Begleitung des Töchterchens. Von dem allen hatte Ralf keine Ahnung. Ihm genügte es, daß alles so reibungslos verlief.
Er war ja auch so wenig zu Hause. Ging morgens fort und erschien zum Mittagessen, sofern im Dienst nichts Besonderes vorlag. Kurz vor Weihnachten bekam man ihn zu Hause kaum noch zu sehen, weil eine heftige Grippeepidemie ausbrach und so die Ärzte alle Hände voll zu tun hatten. Außerdem mußte Ralf noch den Chefarzt vertreten, da dieser sich auf einem Ärztekongreß befand. Und gerade in der Zeit wurde auch noch Anka krank. In heller Aufregung rief Frau Rosalia den Sohn mitten aus der Arbeit herbei, der die Schwester gründlich untersuchte, jedoch nichts Besonderes feststellen konnte. Vorsichtshalber verordnete er Bettruhe, die ja nie schaden konnte. Und nun hatte die bedauernswerte Lenore auch noch die Schwägerin zu pflegen, die bei dem Schnupfenfieber und anderen leichten Beschwerden ein Lamento machte, in das die vernarrte Mutter natürlich einstimmte. Ihr armes Kind, was mußte es doch leiden. Und dabei konnte man es noch nicht einmal so richtig pflegen, weil das Geld dazu fehlte. Ja, wenn man nicht diese unseligen Schulden abzahlen müßte. Das bekam Lenore jeden Tag zu hören, sie stellte sich jedoch taub. Bis dann die Schwiegermutter recht nachdrücklich wurde. »Auf die nächsten Monatsraten mußt du verzichten«, erklärte sie kurz und bündig. »Ich muß sie dazu verwenden, um mein krankes Kind zu pflegen und dafür zu sorgen, daß es während der rauhen Jahreszeit in den Süden kommt. Hast du etwas dagegen?« »Durchaus nicht«, entgegnete Lenore gelassen. »Dann verzichtest du?« »Darüber kann ich nicht entscheiden, weil ich ja noch nicht mündig bin und Ralf als Ehemann mein Vormund ist. Sprich mit ihm.« Der raffinierten Frau zunickend, die jetzt den Eindruck machte, als ob sie in nächster Minute vor Wut platzen
müßte, verließ sie das Zimmer und lachte sich ins Fäustchen. Denn wie schon gesagt, war sie durchaus kein Engel, sondern ein Mensch, unter denen kaum einer von Schadenfreude frei ist. Und die empfand Lenore, weil sie genau wußte, daß ihre Peinigerin nicht wagen würde, dem Sohn das zu unterbreiten, was sie mit der Schwiegertochter allein abmachen wollte. Denn so schwach Ralf der Mutter gegenüber sonst auch war – wenn es um das Geld seiner Frau ging, wurde er auch ihr gegenüber unzugänglich. Aber versuchen wollte Rosalia es trotzdem noch einmal. Und als der Sohn gegen Abend erschien, um nach der Schwester zu sehen, fand er die Mutter in Tränen vor. »Ja, was hast du denn, Mama?« fragte er erschrocken. »Geht es Anka nicht gut?« »O Gott, mein Sohn, ich habe so große Angst um unseren Liebling!« klagte sie mit dem Blick einer Mater dolorosa, was bei der üppigen, alternden Frau nicht erschütternd, sondern lächerlich wirkte und daher den Sohn peinlich berührte. Schweigend wandte er sich ab und ging ins Schlafzimmer, wo Anka geruhsam im Bett lag, Konfekt naschte und las. Hätte sie allerdings gewußt, daß der Bruder in der Nähe war, so hätte sie wohl beides unterlassen und sich wehleidig gestellt. Aber er trat überraschend ein, bevor die Mutter ihr noch einen Wink geben konnte. »Ja, sag mal, Mama, warum jagst du mir so einen Schreck ein?« wandte er sich ungehalten der Frau zu, der gar nicht wohl in ihrer Haut war. »Anka geht es doch recht gut, will ich meinen. Sie ist sogar fieberfrei«, stellte er fest, nachdem er den Puls gefühlt hatte. »Der Schnupfen ist auch fort.« »Ja – aber die Lunge.« »Was ist denn damit?« »Sie ist bestimmt nicht in Ordnung. Ankalein klagte heute wiederholt über Stiche…« Schon zog der Arzt das Stethoskop aus der Tasche, horchte und klopfte den Oberkörper der Schwester gründlich ab
und sagte kurz: »Die Organe sind in Ordnung. Ich finde, Anka hat sich im Bett großartig erholt. Kein Wunder bei der guten Pflege.« »Wie willst du das wissen?« fragte die Frau Mama spitz, worauf er zuerst auf die Pfundpackung Pralinen zeigte, die fast leer war, dann auf die Leckerbissen und den stärkenden Wein, die auf dem Nachttisch standen. Ja, da konnte Frau Rosalia die gute Pflege wohl nicht mehr ableugnen, die sie der Tochter zuteil werden ließ. Und als Ralf gar noch sagte: »Anka kann morgen für eine Stunde aufstehen«, da schwammen der guten Frau sozusagen alle Felle weg, die sie so schön gerben wollte. »Jetzt werde ich Lenore noch rasch guten Tag sagen.« »Sie ist nicht da«, hielt die Mutter ihn zurück. »Ist unterwegs, um Einkäufe zu machen.« »Hoffentlich hat sie sich warm angezogen. Es weht draußen ein eisiger Schneesturm.« Kaum daß er außer Hörweite war, fragte Anka gespannt: »Was hast du erreicht, Mama? Wird etwas aus unserer geplanten Reise?« »Er gab mir gar keine Gelegenheit, mit ihm darüber zu sprechen«, kam es verbissen zurück. »Bevor ich davon anfangen konnte, ging er zu dir – und wie er dich dann fand – ich meine, da ist wohl jeder Kommentar überflüssig.« »Wie konnte ich auch ahnen, daß er so außer der Zeit kommen würde!« maulte Anka. »Du hättest mich wirklich verständigen können.« »Das war unmöglich. Aber laß nur, ich spreche schon noch mit ihm.« Indes kämpfte Ralf sich durch den Schneesturm zur Haltestelle der Straßenbahn, wo ihm auf halbem Weg Lenore entgegenkam. Sie schleppte in einer Hand eine Tasche, die so schwer war, daß sie die Schulter des zarten Geschöpfs hinunterzog, in der anderen eine große Milchkanne. »Mein Gott, Nore!« sagte er betroffen. »Du schleppst dich
ja schief. Dazu noch in dem eisigen Wetter. Konntest du den Einkauf nicht auf morgen verschieben?« »Nein«, entgegnete sie kurz. »Wir haben eine Kranke im Haus, die ihre Pflege haben muß. Geh nur, Ralf, damit du nicht die Bahn versäumst und dann zwanzig Minuten auf die nächste warten mußt. Ich kämpfe mich schon allein durch.« »Wie meinst du das, Lenore?« »Genauso, wie es gesagt ist.« Ihm mit einem Lächeln zunickend, das ihn ungemein reizte, ging sie weiter und ließ ihn wie einen dummen Jungen stehen. Da hatte er nun geglaubt, in Lenore eine Frau zu bekommen mit einem offenen, unkomplizierten Wesen – und nun mußte er daran herumrätseln wie bei einer Sphinx! Also hatte seine Mutter schon recht, wenn sie sich über die Unzugänglichkeit und Launenhaftigkeit ihrer Schwiegertochter beklagte. Es war eine Zumutung von ihm gewesen, ihr so ein launenhaftes Geschöpf ins Haus zu bringen. Er mußte Lenore mal gehörig ins Gewissen reden, und wenn das nicht half, war er gezwungen, einen eigenen Hausstand zu gründen, was seinen Etat über Gebühr belasten würde. Als Lenore müde und durchgefroren von dem Einkauf zurückkehrte, wurde sie von der Schwiegermutter höchst ungnädig empfangen. »Warum kommst du so spät?« »Weil ich nicht früher fertig wurde.« »Also, Lenore, ich verbitte mir den patzigen Ton! Steh hier nicht so faul herum, sieh zu, daß Anka ihr Abendessen bekommt. Hast du alles bekommen, was sie dir auftrug?« »Nein. Gänseleberpastete sowie Räucheraal waren ausverkauft.« »Ich sage ja, daß du immer viel zu spät zum Einkaufen gehst«, lamentierte die liebe Schwiegermutter. »Aber das ist
so deine Art, herumzulungern und alles auf die lange Bank zu schieben. Gerade auf die Sachen hat das arme Kind sich so gefreut und muß nun durch deine Nachlässigkeit darauf verzichten. Das rührt dich wohl gar nicht, du undankbares Ding? Der ewige Ärger mit dir wird mich noch ins frühe Grab bringen.« Damit entschwand sie, und auch Lenore ging in ihr Zimmer, um den Pelz abzulegen, der naß geworden war, ebenso Schuhe und Strümpfe. Sie zu wechseln, dazu kam sie aber nicht, weil Frau Rosalia ungeduldig nach ihr rief. Und da Lenore ohnehin schon erkältet war, gaben die nassen Sachen ihr den Rest. Als sie nach getaner Arbeit endlich zu Bett gehen konnte, fieberte sie stark. Und da das bedauernswerte junge Menschenkind seit seiner Heirat wie an einer Pechsträhne zu kleben schien, war es gar nicht verwunderlich, daß Dr. Skörsen heute Nachtdienst hatte. Und morgen war Weihnachten, das für Frau Rosalia schon morgens eine gute Bescherung brachte. Als sie wie eine Fregatte ins Zimmer segelte, um das »faule Ding« aus den Federn zu jagen, fand sie dieses mit fieberheißem Gesicht vor. Da blieb ihr denn doch das Wort im Hals stecken. Aber nicht etwa vor Besorgnis, sondern vor Ärger. Das ausgerechnet heute, wo es alle Hände voll zu tun gab! Am liebsten hätte sie die Kranke aus dem Bett gezerrt und sie an die Arbeit getrieben, aber die Angst vor dem Sohn war doch zu groß. »Du machst ja nette Geschichten«, bemühte sie sich einen besorgten Ton anzuschlagen, in dem jedoch der Ärger vibrierte. »Ausgerechnet zu Weihnachten wirst du krank. Ist es arg, soll ich Ralf verständigen?« »Danke, er kommt gegen Abend ja nach Hause.« »Wie du willst. Wenn du etwas brauchst, wirst du dich schon melden müssen. Ich habe heute gerade genug zu tun und kann dich nicht noch großartig bedienen.« Das verlangte Lenore auch gar nicht. Sie war ganz
zufrieden, hier unbehelligt liegen und schlafen zu dürfen, was sie denn nach einer Schlaftablette auch so lange tat, bis die Schwiegermutter geräuschvoll das Zimmer betrat und Licht machte. Da schreckte sie auf. »Na, endlich bist du wach. Zweimal habe ich hier hereingeschaut, aber du schliefst ja wie ein Murmeltier. Also kann die Krankheit nicht so arg sein. Ralf hat beim Hauswirt angerufen und durch ihn bestellen lassen, daß es wahrscheinlich spät werden wird, bis er nach Hause kommt. Es ist ein Verunglückter eingeliefert worden, der sofort operiert werden muß. Wie ist es, willst du rüberkommen?« »Das wird bei dem Fieber kaum möglich sein.« »Na, na, hab dich bloß nicht so! Aber wie du willst.« Als könnte Lenore sich doch noch eines anderen besinnen, so rasch schloß Frau Rosalia die Tür von draußen. Die junge Frau jedoch, noch halb umnebelt von der ersten Tablette, schluckte, sich selbst wohl kaum bewußt, noch eine zweite und versank im Land der Träume, wo es keine böse Schwiegermutter gab, keinen verblendeten Gatten – und keinen trostlosen Weihnachtsabend. Wo alles so schön war, so paradiesisch schön. Bis Ralf sie aus diesen Paradies riß. Er sprach erregt. Kein Wunder, da er auf dem Nachttisch die Tabletten entdeckte, die durchaus nicht harmlos waren. »Lenore, wach auf! Mein Gott, Kind, so wach doch endlich auf!« drang es in ihr noch schlafumnebeltes Hirn. Es waren jedoch nicht die beschwörenden Worte, was sie wach werden ließ, sondern vielmehr das derbe Schütteln. »Ralf, laß mich doch los, du tust mir weh!« »Na endlich! Du bereitest mir ja eine schöne Bescherung zu Weihnachten. Wie viele Tabletten hast du geschluckt?« »Zwei.« »Du bist wohl nicht recht gescheit! Woher hast du die Dinger überhaupt?« »Der Arzt verschrieb sie Mutti, die danach immer so wunderbar schlief. Und das wollte ich auch, ich will es
auch noch weiter.« »Zuerst wirst du dich noch untersuchen lassen.« »Warum? Mir fehlt doch nichts.« »Woher denn auch?« versetzte er trocken. »Du fieberst nur und krächzt wie eine Krähe.« Nachdem er sie untersucht hatte, hellte sich seine besorgte Miene auf. »Es ist wahrscheinlich nichts weiter als eine Erkältung«, sagte er auf ihren fragenden Blick, worauf sie sich dann mit tiefem Seufzer auf die Seite legte und erneut dem Schlaf in die Arme sank. Am liebsten hätte der Gatte es ihr gleichgetan, denn er war zum Umfallen müde. Kein Wunder nach einer aufreibenden Arbeitszeit von sechzehn Stunden. Aber Mutter und Schwester warteten auf ihn. Außerdem verspürte er Hunger, da er heute kaum etwas gegessen hatte, weil ihm die Zeit dazu fehlte. Also ging er ins Wohnzimmer, wo die Mutter ihr^aufgeregt empfing: »Wo bleibst du nur so lange? Das Essen ist inzwischen wieder kalt geworden.« »Dann hättest du es erst nach meinem Erscheinen auftragen sollen«, entgegnete er gereizt. Denn er war ja auch nur ein Mensch, dessen Nerven keine Drahtseile waren. Und diese Nerven waren bis zum Reißen gespannt. »Ich mußte doch erst einmal feststellen, was meiner Frau fehlt. Das ging doch wohl vor, nicht wahr?« »Gewiß, gewiß. Was fehlt ihr denn?« »Sie ist erkältet.« »Habe ich mir doch gleich gedacht.« »Trotzdem hättest du mich fernmündlich davon verständigen müssen, daß Lenore erkrankt ist.« »Sie wollte es nicht haben.« »Ach was, ein Kranker hat gar nichts zu wollen, das müssen Gesunde für ihn tun.« »Nun mach mir auch noch Vorwürfe!« weinte die Frau auf. »Wo ich mich heute so abgeschuftet habe.« »Na ja, ist doch schon gut«, winkte er verlegen ab und
würgte dann das Essen hinunter, das nicht nur kalt, sondern auch angebrannt war. Aber wenn der Mensch so richtigen Hunger hat, kommt es ihm mehr auf die Quantität als auf die Qualität an. Ein Arzt hat es bestimmt nicht leicht, hauptsächlich dann nicht, wenn er so gewissenhaft ist, wie Dr. Skörsen es war. Daher hatte er die beiden Ruhetage, die der Chefarzt ihm Weihnachten zubilligte, auch redlich verdient und wollte sie als wirkliche Ruhetage verbringen. Doch mit des Geschickes Mächten ist kein ew’ger Bund zu flechten – sagt Schiller, und er hat recht. Denn es war acht Uhr morgens, als die Flurglocke aufreizend schrillte und den Arzt, dem so ein Alarmzeichen geläufig war, aus dem festen, wohlverdienten Schlaf riß. Mit einem Satz war er aus dem Bett, warf rasch den Morgenmantel über, schlüpfte in die Pantoffeln, eilte zur Tür und stand gleich darauf dem Hauswirt gegenüber, der erregt sprach: »Herr Doktor, Verzeihung! Ich weiß, Sie üben keine Praxis aus, aber meine Schwiegertochter – helfen Sie ihr!« »Was hat sie denn?« »Sie kriegt ein Kind.« »Olala, ausgerechnet zu Weihnachten?« »Es kommt nach unserer Berechnung um eine Woche zu früh, sonst hätten wir uns besser eingerichtet«, wischte der alte Herr sich den Schweiß von der Stirn. »Sie hat wohl gestern zuviel Bowle getrunken…« »Ist die Hebamme schon da?« »Keine zu bekommen. Drei rief ich an – alle unterwegs.« »Da scheint ja das Geschäft zu blühen«, schmunzelte der Arzt. »Ich ziehe mich rasch an, so schnell wie möglich bin ich unten.« »Besten Dank, Herr Doktor, besten Dank.« Der Mann polterte die Treppe hinunter, und Ralf schloß die Korridortür, während sich die Tür zum Schlafzimmer der Mutter auftat. Ein lockenwickelbedecktes Haupt steckte sich durch den Spalt, und eine unwillige Stimme fragte:
»Eine Unverschämtheit, in dieser Herrgottsfrühe fast die Klingel von der Tür zu reißen! Wer war das?« »Der Hauswirt.« »Was wollte er denn?« »Seine Schwiegertochter bekommt ein Kind. Halt mich jetzt nicht auf, Mama, ich glaube, die Sache eilt.« Fünf Minuten später eilte Ralf aus der Wohnung, wo die schrille Klingel die Bewohner so unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte. Auch Lenore, die den Gatten erst gar nicht zu fragen brauchte, weil sie durch die halbgeöffnete Tür das Gespräch zwischen Mutter und Sohn mit angehört hatte. Um Ralf nicht aufzuhalten, stellte sie sich schlafend, obwohl ihr sterbenselend zumute war. Das kam wohl daher, daß sie seit vorgestern abend nichts gegessen und auf den leeren Magen die starken Tabletten genommen hatte. Als Ralf fort war, stand sie auf und schlich in die Küche, um sich etwas zu essen zu holen. Denn soweit sie die Schwiegermutter kannte, war diese ins Bett zurückgegangen und würde sich auch später nicht bequemen, der verhaßten Schwiegertochter gar noch das Frühstück ans Bett zu bringen. Also mußte die kranke Lenore sich selbst damit versorgen. In der Küche, die sie immer so blitzblank gehalten hatte, sah es jetzt lustig aus. Gebrauchtes Geschirr, angebrannte Töpfe und Lebensmittel aller Art bildeten ein kunterbuntes Durcheinander. Lenore kribbelte es förmlich in den Fingern, hier Ordnung zu schaffen, aber erstens fühlte sie sich zu matt, und dann würde man ihr die Arbeit gewiß nicht danken, sondern für eine Selbstverständlichkeit halten. Außerdem bereitete es der jungen Frau eine Genugtuung, daß die bequeme Dame nun einmal gezwungen war, den Haushalt selbst zu versorgen, noch dazu ausgerechnet am Feiertag. Lenore konnte sich denken, wie sehr Frau Rosalia das erboste. So beeilte sie sich denn, aus der Küche zu kommen,
nachdem sie eine Schnitte Brot und einen Wurstzipfel gewissermaßen stibitzt hatte. Im Bett angelangt, wollte sie es heißhungrig verzehren, doch schon nach dem ersten Bissen wurde ihr übel. Trotzdem würgte sie Brot und Wurst hinunter, in der Hoffnung, daß ihr dann besser werden würde, was jedoch nicht zutraf. Was hatte sie nur? Sollte etwa… Es war nicht das erstemal, daß ihr übel wurde, hauptsächlich morgens nach dem Aufstehen. Ob sie sich Ralf anvertraute? Nein, zuerst noch abwarten. Und wenn es stimmte, was sie befürchtete, wollte sie es verheimlichen, so lange es gingBefürchten, dachte sie bitter. Eine häßliche Bezeichnung für das, worüber man sich freuen müßte. Aber konnte sie das – hier, unter der Fuchtel einer rücksichtslosen, hochfahrenden Frau? Da würde nicht nur sie selbst zu leiden haben, sondern auch… Weiter kam sie mit ihren trostlosen Gedanken nicht, weil der Gatte ins Zimmer kam und an ihr Bett trat. »Ach, da sind wir ja schon wieder!« sprach er in dem Ton, den er bei seinen Patienten anzuwenden pflegte. »Wie geht es dir?« »Danke, ich habe wunderbar geschlafen.« »Du scheinst zu den Patienten zu gehören, die sich gesundschlafen«, stellte er lächelnd fest, nachdem er den Puls gefühlt hatte. »Das Fieber hat erheblich nachgelassen, was mich beruhigt. Denn ich kann mich jetzt nicht um dich kümmern, weil ich die junge Frau Warteck ins Krankenhaus bringen muß. Ich möchte den schwierigen Fall nicht allein übernehmen.« »Kommst du wieder zurück, wenn du die junge Frau im Krankenhaus eingeliefert hast?« »Ich glaube nicht. Die Ärmste bat mich so flehentlich, sie nicht zu verlassen, und sie leidet schwer.« »Du hast doch heute deinen freien Tag.« »Na, wenn schon«, sagte er ungeduldig. »Das verstehst du eben nicht, Lenore. Da höre ich unten die Hupe des
Krankenwagens. Bleib ja im Bett, Lenore, hörst du?« Fort war er. Und Lenore drückte das Gesicht in die Kissen und weinte bitterlich. Drei Stunden später kam dann die Schwiegermutter herein – im Morgenrock, die Wickel im Haar, ungetuscht und ungelackt. »Du mußt aufstehen, und zwar sofort. Anka hat Hunger – und ich bin einfach nicht dazu fähig, das Frühstück zu bereiten, weil sich mir alles vor den Augen dreht.« »Bedaure sehr«, entgegnete Lenore kühl. »Ralf hat mir verboten, aufzustehen.« »Da soll ich dich etwa noch bedienen, wie?« »Das verlange ich gewiß nicht. Ich halte schon durch, bis Ralf zurückkommt und mir etwas zu essen bringt.« »Frech wie gewöhnlich!« empörte sich Frau Rosalia – aber sie ging. Und zwar aus feiger Angst vor dem Sohn. Wenn der seiner Frau Bettruhe verordnet hatte, mußte das respektiert werden – wenn auch verbissen und erbost. Nachdem die Tür zugeknallt war, schlief Lenore wieder. Sie schlief über alle Not und Kümmernisse hinweg, bis der heimkehrende Gatte an ihr Bett trat – müde und erschöpft von den heißen Stunden, da er der Gebärenden, die wirklich schwer leiden mußte, alle nur erdenkliche Hilfe geleistet hatte. Darüber war es Kaffeezeit geworden. »Nun, Kind, wie geht es dir?« fragte er, dabei gewohnheitsgemäß den Puls fühlend. »Nun, schon ganz ordentlich. Irgendwo Schmerzen?« »Nein.« »Guten Appetit gehabt?« »Bisher nicht.« »Und jetzt?« »Allerdings«, mußte sie zugeben, da sie ja außer Brot und Wurst am Morgen seit zwei Tagen nichts genossen hatte. Nun jedoch verlangte der Magen energisch sein Recht. »Dann werde ich dir wohl was servieren müssen«, scherzte er. »Mama und Anka sind nämlich ins Kino gegangen, wie der hinterlassene Zettel besagt. Trotzdem sollst du deine
Atzung haben. Nur noch ein wenig Geduld.« Bevor Lenore ihn zurückhalten konnte, hatte er bereits das Zimmer verlassen- und sah dann in der Küche betroffen auf die Unordnung. So viel gebrauchtes Geschirr stand herum, daß nicht nur Tisch und Abwaschtisch damit vollgestellt waren, sondern auch ein Teil des Fußbodens. Aus dem Geschirrschrank dagegen, dessen Türen weit offenstanden, gähnte Leere. Ungesäuberte Töpfe standen auf dem Herd, das Gerippe der Feiertagsgans lag auf einem Brett, von dem das Fett auf den Tisch gelaufen und da erstarrt war. Im Ausguß lagen Kartoffelschalen – kurz und gut, es herrschte ein herrliches Tohuwabohu. Und doch fand der Sohn dafür eine Entschuldigung. Nun ja, die Mutter hatte alles allein machen, außerdem noch eine Kranke und eine Rekonvaleszentin versorgen müssen. Schließlich war sie nicht mehr die Jüngste. Allerdings, Anka war von der Mutter gepäppelt worden – als verhätscheltes, als vielgeliebtes Töchterchen. Doch daß dieselbe Frau der Schwiegertochter weder Speise noch Trank gereicht hatte, darauf kam der arglose Mann nicht. Er nahm mit Selbstverständlichkeit an, daß Lenore zu Mittag gegessen hatte und brachte ihr daher Kaffee nebst Kuchen ans Bett. Wohl hatte die Kranke Appetit auf ein warmes Mahl, doch sie sagte nichts, aß ein Stück Kuchen und trank zwei Tassen des belebenden Tranks. »Ist der Kaffee gut?« fragte er, und sie nickte. »Sehr gut, er hat mich richtig erquickt. Aber warum hältst du nicht mit?« »Weil ich mehr als satt bin. Die Wartecks unten haben mich nämlich genudelt wie eine Weihnachtsgans.« »O weh, da habe ich ja ganz vergessen zu fragen, wie es der jungen Frau geht. Ist das Kind schon da?« »Natürlich, sonst wäre ich bestimmt nicht hier. Es ging heiß her, aber wenigstens nicht umsonst, wie es zuerst den Anschein hatte. Das kleine Mädchen ist gesund, die junge Mutter verhältnismäßig munter, der junge Vater und die
Großeltern sind halb närrisch vor Freude. Sie ließen nicht nach, bis ich mit ihnen im Mietauto hierher fuhr und in ihre Wohnung kam, wo sie auftischten wie zur Hochzeit. Ich habe bisher nicht gewußt, was für nette Menschen die Wartecks sind, weil Mama doch stets Klage über sie führt und so schlecht mit ihnen auskommt.« Daß dieses an ihr liegen könnte, darauf kommst du in deiner Arglosigkeit natürlich nicht, dachte Lenore bitter. Er sah müde und abgespannt aus, so daß sie nicht das Herz hatte, ihm auch noch mit einer erregenden Debatte zu kommen. »Hast du noch einen Wunsch?« »Nein, du hast mich ja versorgt. Warum fragst du?« »Weil ich sonst zu Bett gehen möchte. Ich bin rechtschaffen müde.« »Tu’s doch. Aber nein, zuerst komm einmal her, damit ich dir dein verspätetes Weihnachtsgeschenk überreichen kann.« »Was ich natürlich prompt versäumte«, unterbrach er sie beschämt. »Es ist ohnehin nicht viel – und kommt nun noch zu spät.« »Beruhige dich, meines auch.« »Du bist aber auch krank.« »Und du bist überarbeitet.« Indes hatte sie der Nachttischschublade einen Umschlag entnommen, den sie ihm, der sich auf den Bettrand setzte, in die Hand drückte. Verständnislos drehte er ihn zuerst herum, öffnete ihn dann zögernd, und was er herauszog, waren rund tausend Mark. »Nore, das kann ich doch nicht annehmen«, sagte er betroffen, doch sie winkte kurz ab. »Ralf, sprich bitte nicht weiter!« warnte sie. »Ich weiß schon, was du sagen willst, doch das würde mich zutiefst verletzen.« »Ja, aber was soll ich denn mit dem vielen Geld?« »Erstens ist es gar nicht so viel, du bescheidener Mensch, und zweitens ist es der Grundstein zu einer Praxis.«
»Nein, Nore.« »Ja, Ralf! Reg mich hier gefälligst nicht auf, sonst steigt das Fieber so hoch, daß das Thermometer platzt.« Da mußte er denn doch lachen. »Darauf will ich es natürlich nicht ankommen lassen, nicht als Arzt und schon gar nicht als Gatte.« »Also, Kommentar überflüssig. Doch wo bleibt mein Geschenk?« Er gab es ihr mit verlegenem Lächeln. »Nore, es ist so wenig, aber man weiß ja gar nicht, was man dir schenken soll, weil du alles hast. Als ich jedoch das Tuch sah, stellte ich mir vor, wie gut es dich kleiden müßte zu deinem schönen Gesicht und dem goldigschimmernden Haar.« »Herr Doktor, Sie machen ja Komplimente!« sagte sie neckend. »Das ist ja ganz was Neues!« »Jetzt lachst du Schelm mich auch noch aus.« »Keineswegs, ich freue mich. Das Tuch gefällt mir gut.« »Wirklich?« »Ganz wirklich. Nun mach, daß du ins Bett kommst, dir fallen ja vor Müdigkeit die Augen zu.« »Zuerst noch einen Kuß. Ich finde, du bist in letzter Zeit sehr sparsam damit geworden.« »Du dito, mein Lieber.« Es war schon nach neun Uhr, als Lenore am nächsten Morgen erwachte. In der Wohnung war noch alles still. Kein Wunder, da Frau Rosalia gewohnt war, bis mindestens elf Uhr zu schlafen, und diesen Schlaf heute wohl noch länger ausdehnte, weil sie wahrscheinlich erst nach Mitternacht von der Bummeltour zurückgekehrt war. Lenore schaute zu Ralf hinüber, der ihr den Rücken zukehrte und immer noch fest schlief. Vorsichtig griff sie zum Thermometer, steckte es ein und war dann fünf Minuten später recht zufrieden, daß der rote Strich fast bis zur Zahl achtunddreißig geklettert war. Als er erwachte, sah er auf die Uhr und wollte seinen Augen
nicht trauen. »Schon zehn vorbei? Das ist kaum zu glauben! Da habe ich dich gestern ein Murmeltier genannt und bin selbst eins. Bist du schon lange wach?« »Seit ungefähr einer Stunde.« »Warum hast du mich nicht geweckt?« »Sollte mir einfallen. Du hast den Schlaf doch wahrlich nötig.« »Der mich auch wunderbar erquickt hat. Ich bin durchaus wieder zu neuen Taten gerüstet. Und wie geht es dir?« Schon griff er nach ihrem Puls und war gar nicht zufrieden. »Kind, du hast ja Fieber! Da wollen wir mal messen.« »Ist bereits geschehen.« »Wie hoch?« »Nicht ganz achtunddreißig.« »Das gefällt mir aber gar nicht, Nore.« »Mir doch«, lachte sie. »Da darf ich wenigstens im Bett bleiben, was bei dem scheußlichen Wetter geradezu ein Vergnügen ist. Schau nur, wie es draußen schlackert, und hör nur, wie es stürmt! Da muß ja Himmel und Erde zusammen sein, und hier im Bett ist es so heimelig. Wenn du schlau bist, verläßt du es auch nicht.« »Vorausgesetzt, daß man mich nicht mit Gewalt hinausjagt. Trotzdem muß ich jemand verarzten, und zwar dich, meine holde Patientin.« »Und das wäre?« »Erst einmal Tabletten schlucken. Helfen die nicht, kommt unweigerlich die Spritze. – Es ist hier übrigens eine Grabesstille. Ob Mama und Anka noch schlafen?« »Wahrscheinlich.« »Hast du gehört, wann sie nach Hause kamen?« »Nein.« »Da will ich doch mal nachsehen.« Er stand auf, schlüpfte in die Pantoffeln, warf den Morgenmantel über, ging in den Korridor und klopfte dort an die Schlafzimmertür. Mußte es mehrmals wiederholen, wobei es jedesmal lauter
wurde. Und endlich kam dann die Mutter an die Tür. »Mein Gott, Ralf, du trommelst ja wie ein Wilder«, gähnte sie verschlafen. »Was ist denn los, mußt du wieder fort?« »Nein. Ich finde nur, daß es Zeit ist, aufzustehen, wir haben bald elf Uhr. Wann seid ihr übrigens nach Hause gekommen?« »Um zwei Uhr«, drang Ankas helle Stimme vom Bett aus zu ihm hin. Sehr zum Ärger der Mutter, der die wahrheitsgemäße Zeitangabe gar nicht gefiel. »Es war einfach prima, Bruderherz!« »Also prima«, wiederholte er, indem er an das Bett trat und die Schwester forschend betrachtete. »Wird es auch prima sein, wenn du einen Rückfall bekommst und somit kränker wirst, als du es warst?« »Wer denkt denn daran?« »Ich als Arzt. Aber du kannst ja weniger für deinen Leichtsinn als Mama«, wandte er sich ihr zu, die ein Gesicht machte wie ein beleidigter Mops. »Wie konntest du nur so lange mit Anka wegbleiben?« »Ach, Junge, sie bettelte doch so sehr.« »Na eben, dann laß sie mich auch um meine Behandlung anbetteln, die ich trotzdem ablehnen werde.« »Wenn du dazu kommst«, warf Anka schnippisch ein, während die Frau Mama sich mühte, ein paar »Krokodilstränen« zu erpressen. Und da war der Sohn wieder einmal beschämt. Er entschuldigte sich sogar für seine Heftigkeit, bevor er das Zimmer verließ. Er ist und bleibt ein blinder Narr, dachte Lenore, die durch die geöffnete Tür alles mit angehört hatte. Aber nur, wenn es um Mutter und Schwester geht, sonst verfügt er sogar über Scharfsinn. »Na ja«, meinte er entschuldigend, nachdem er wieder bei Lenore war. »Die Mama kann Anka eben nichts abschlagen, wie es die Mütter bei den Nesthäkchen wohl alle nicht können. Und Anka hat ja auch wirklich wenig Abwechslung.«
Habe ich etwa mehr? wäre es Lenore beinahe entfahren, und sie war froh, daß sie ihre Zunge noch gerade so meistern konnte. Denn es lag ihr gar nichts daran, einen Streit zu entfachen und den Gatten damit zu verärgern, der endlich einmal zu Hause war. »Es ist kalt hier, ergo werde ich heizen«, erklärte Ralf, was dann auch geschah. Er heizte auch die Öfen in den beiden anderen Zimmern, schleppte unermüdlich Holz und Kohlen aus dem Keller, was sonst Lenores Arbeit war, und half der Mutter sogar beim Abwasch. Dann erschien er wieder bei Lenore, ein Tablett tragend, auf dem beider Frühstück stand. »So, mein Liebes, jetzt werde ich mir mal den Luxus erlauben, mit meiner holden Gemahlin im Bett zu frühstücken«, lachte er so jungenhaft froh, wie Lenore ihn überhaupt noch nicht kannte. »Setz dich auf, mein herziges Kind, der gute Onkel Doktor wird dich mit Kissen liebevoll stützen.« »Ja, sag mal, Ralf, was hat dich in diese so ungewohnt heitere Stimmung versetzt?« fragte sie verwundert, und er lachte. »Daß ich meine erste Privatpatientin habe, die mich so fürstlich bezahlt. Mit tausend Mark Honorar komme ich mir wie eine Kapazität vor. So, halte bitte das Tablett, damit ich mich an deine grüne Seite setzen kann. Denn grün ist das verführerische Nachtgewand, grün sind die Decken, und grün ist die Hoffnung.« Mit einem Satz war er im Bett, stellte das Tablett in die Mitte und schmauste mit Lenore um die Wette. »Wie ist es mit einer Zigarette – genehmigt?« »Etwa für dich?« »Natürlich.« »Mein liebes Kind, ich bin Arzt.« »Aber jetzt im Schlafanzug und somit aller Würde bar.« Da lachte der Mann voll überschäumender Herzlichkeit. »Na, warte nur, du keckes Persönchen, für die allerliebste Bosheit räche ich mich schon noch!« »Daß ich nicht lache.«
»Wird dir vergehen, wenn ich in deinen klassischschönen Arm pieke, wovor du doch so schreckliche Angst hast.« »Und du willst ein barmherziger Samariter sein?« »Warum denn nicht?« »Recht barmherzig sein will heißen: wenden eines andern Pein – verlangt der Dichter Logau. Und was willst du tun? Dich an meiner Pein weiden. Schäm dich!« Und dieser Sonntag sollte auch der letzte sein, den das junge Paar in Harmonie verbrachte. Zuerst einmal mußte sich der Arzt sechs Wochen von der Gattin trennen. Denn als er am nächsten Tag im Krankenhaus erschien, erklärte ihm der Chefarzt kurz und bündig, daß Dr. Skörsen als Leiter eines Ärztekursus angefordert worden wäre. »Ja, mein lieber Ralf, das kommt davon, wenn man so tüchtig ist, daß man auffällt«, lachte der joviale Herr schadenfroh. »Ob Sie da nun wollen oder nicht, Sie müssen. Befehl ist Befehl. Mir ist es wahrlich auch nicht recht, daß die Wahl ausgerechnet auf Sie gefallen ist, ich werde Ihre Arbeitskraft hier sehr vermissen. So reisen Sie denn mit Gott, und zwar schon morgen früh, denn die Sache eilt.« Mit warmem Händedruck war er entlassen. Aber es dauerte dann doch noch Stunden, bis er aufbrechen konnte. Immer wieder kam etwas dazwischen, und so wurde es gegen Abend, bis Ralf zu Hause anlangte, wo er aber nur Lenore im Bett vorfand. Mutter und Schwester waren wieder mal unterwegs. So bekam die junge Frau als erste die Neuigkeit zu hören, die sie so hart traf, daß sie zuerst davon wie betäubt war. Doch dann kam eine solche Verzweiflung über sie, daß sie sich an ihren Mann klammerte und ihn anflehte: »Geh nicht, Ralf, hörst du – geh nicht! Laß mich hier nicht so allein! Bitte, bitte, geh nicht!« »Aber Kind, was hast du denn?« fragte er erschrocken. »Du bist ja ganz außer dir, zitterst am ganzen Körper. Wie
kannst du dich nur so erregen? Du wirst wieder Fieber bekommen, was nicht sein darf. Ich würde dann beunruhigt abfahren.« »Nur deshalb, Ralf?« »Ja, warum denn sonst?« fragte er verwundert zurück. »Ich lasse dich doch hier in guter Hut zurück.« »Das nennst du gute Hut?« schrie sie so jäh auf, daß er zusammenzuckte. »Wenn du fort bist und sie dich nicht mehr zu fürchten brauchen, werden sie mich so richtig in die Hand bekommen. Werden mich immer mehr peinigen und quälen mit ihren Schikanen. Oh, sie sind ja so gehässig und faul, deine von dir so sehr geliebte Mutter und Schwester.« »Genug, Lenore, kein Wort weiter!« gebot er scharf und schneidend. »Du bist ja ein ganz boshaftes Geschöpf, hinterhältig und verlogen! Wäre dein wahrer Charakter schon damals zutage getreten, dann hätte ich mich nimmermehr von deiner Mutter zur Heirat überreden lassen, selbst nicht um aller Dankbarkeit willen, die ich ihr zu schulden glaubte.« »Hör auf! Hör doch auf!« unterbrach sie ihn mit ganz fremder Stimme, die wie zerbrochen klang, wie sprödes Glas, und das brachte den erregten Mann endlich zur Besinnung. Zögernd streckte er seine zitternde Hand nach ihr aus, doch nachdrücklich wurde sie zurückgestoßen. »Rühre mich nicht an«, sagte sie dumpf und schwer. »Ich verachte dich!« Da fuhr der Mann auf, als habe ihn ein Stich getroffen durch und durch. Doch ehe er etwas erwidern konnte, hörte er die Korridortür schließen, riß sich mit aller Energie zusammen und trat in den Korridor, um zu verhüten, daß die Mutter ins Zimmer kam, um nach Lenore zu sehen, was er als selbstverständlich annahm. Denn wie er seine Frau jetzt kennengelernt hatte, hielt er sie zu allem fähig, auch daß sie ihm im Beisein der Mama weitere Szenen machte.
Also ging er dieser entgegen, die hastig fragte: »Junge, du bist schon hier?« »Und zwar aus einem besonderen Grund. Ich muß morgen früh nach Berlin, als Leiter eines Ärztekursus.« »Ralf, welch eine Auszeichnung!« rief die Mutter entzückt. »Dann wird es bestimmt nicht lange dauern, bis du Oberarzt wirst.« »Das weiß ich nicht, Mama«, dämpfte er ihre Hoffnungsfreudigkeit. »Zuerst möchte ich mit dir über Lenore sprechen.« »Warum, ist sie kränker geworden?« »Nein, sie ist fieberfrei. Aber da du dich so oft über ihre trotzige, launenhafte Art beklagtest, wirst du kaum mit ihr fertig werden, wenn ich fort bin.« »Aber Junge, darüber brauchst du dir doch keine Sorge zu machen«, schauspielerte sie so überzeugend, daß manch ein Star vor Neid erblaßt wäre. »Ich bin bisher ganz gut mit ihr ausgekommen und werde es auch weiter tun. Gott ja, man muß wohl so allerlei einstecken, aber was tut man nicht alles seinem Sohn zuliebe. Lenore ist eben von ihren Eltern zu sehr verzogen worden, die in dem einzigen Kind einen Abgott sahen, mit dem andere Menschen sich dann abplagen müssen. Aber ich beschwichtige sie schon, wenn sie zu bocken anfängt«, schloß die vortreffliche Dame lachend. Und da beugte der Sohn sich voll Verehrung über ihre Hand. »Ich danke dir, Mama.« »Nichts zu danken, mein Junge, ich bin doch deine Mutter. Doch nun erzähle mal ausführlich über deine plötzliche Abberufung!« Nachdem er es getan hatte, geriet die Mutter in helle Aufregung. »Schon morgen früh mußt du fort, und gleich auf sechs Wochen? Da mußt du ja einen Riesenkoffer voll Sachen mitnehmen. Und ausgerechnet jetzt müssen deine Oberhemden in der Wäscherei sein!« Das war zwar gelogen, aber man mußte doch so tun als ob.
Mußte überhaupt sehr besorgt tun, um möglichst viele Vorteile herauszuschlagen. »Mit der Wäsche, das ist wirklich fatal«, tat sie bekümmert. »Aber wer konnte wissen…« »Laß doch, Mama, das ist doch so unwichtig. Wäsche fehlt mir sowieso; ich werde mir von den Tagegeldern, die ja reichlich bemessen sind, etwas anschaffen.« Das gefiel der Frau Mama zwar nicht, weil sie sich bereits Hoffnungen auf den Überschuß machte. Aber nur immer hübsch die Maske der Besorgnis beibehalten, es lohnte sich. »Das tu nur!« riet sie eifrig. »Nun geh und pack deine Sachen, damit du nicht zu spät ins Bett kommst; denn du mußt ja morgen früh raus. Indes bereite ich das Abendessen.« »Wo ist übrigens Anka?« begann er, doch schon schnitt sie ihm das Wort ab. »Sie kommt gleich, macht nur noch einige Besorgungen.« Auch gelogen – das liebe Töchterchen befand sich auf Tour. Man hatte unterwegs eine Bekannte in Begleitung ihres Bruders getroffen, der die beiden Mädchen ins Cafe einlud. Frau Rosalia ließ ihr Herzenskind gehen, denn der junge Mann war gutsituiert – und man konnte nie wissen. Jetzt allerdings sehnte sie Anka herbei. Hoffentlich blieb sie nicht so lange aus, daß Ralf mißtrauisch wurde und weiter forschte! Doch er dachte gar nicht daran, er hatte augenblicklich mit sich selbst genug zu tun. Und dann mußte er packen, was denn auch in seinem Zimmer geschah. Für Lenore hatte er keinen Blick, kein Wort. Er tat so, als ob sie gar nicht anwesend wäre. Regungslos lag sie da, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, den schmerzverdunkelten Blick auf die Decke gerichtet. Ihr war sterbenselend zumute. Sie zuckte zusammen, als die Schlösser des Koffers einschnappten. Ungemein aufreizend klang es, so, als wollte der Mann damit ausdrücken, daß er nun sein
Bündel geschnürt hätte, um damit einen Weg zu wandern, der weit ab von dem ihren führte. Dann ging er hinaus. Als er nach Stunden zurückkehrte und zu Bett ging, stellte Lenore sich schlafend. Ach, wenn sie es doch wirklich könnte! Aber sie lag schlaflos da, starrte in die Dunkelheit und zergrübelte sich das Hirn, was nun werden sollte. Sie hatte Angst, eine bebende Angst vor der Zukunft. Für die wenigen Minuten, da sie die Beherrschung verlor und ihm entgegenschrie, was sie so lange schweigend erduldet hatte, würde sie schwer büßen müssen. Erst beim Morgengrauen schlief sie ein, und zwar so fest, daß sie nicht merkte, wie der Gatte aufstand. Erst als sie die Stimme der Schwiegermutter hörte, die im Korridor laut und wortreich den Sohn verabschiedete, da schreckte sie auf. Er war gegangen, wirklich gegangen, ohne ihr Lebewohl zu sagen. Doch nein, nicht ganz so. Lenore entdeckte auf ihrem Nachttisch einen Umschlag, den sie mit zitternden Fingern aufriß und dann die wenigen Zeilen las. Du wirst bei meiner Mutter bleiben, bis ich zurückkomme, das befehle ich Dir! Alles Weitere wird sich dann finden. Ralf. Und dem Brief lag das Geld bei – ihre Weihnachtsgabe an ihn. So schieden zwei Menschen, die sich doch eigentlich aus Liebe geheiratet hatten. Nun begann für die junge Frau eine Leidenszeit, die kaum zu ertragen war. Immer wieder spielte sie mit dem Gedanken, ihrem armseligen Leben einfach ein Ende zu machen, schreckte aber immer wieder davor zurück. Denn was sie vermutet hatte, war nun zur Gewißheit geworden. Ihr Leben zu vernichten, wäre ihre eigene Angelegenheit gewesen, aber bei dem keimenden Leben, das sie in sich trug, hielt sie es für Mord. Von Ralf wußte sie nichts – und wollte auch nichts von ihm wissen; machte sich gar nichts daraus, daß er nicht an
sie schrieb. Wenn er wieder zu Hause war, mochte er über sie bestimmen, wie er wollte, ihr war alles recht. Sie empfand über nichts mehr Schmerz und Trauer, konnte kaum noch logisch denken, Herz und Hirn schienen wie ausgebrannt. Was sie tat, geschah alles automatenhaft. Sie aß und trank so nebenbei, arbeitete ihr Pensum ab, sank am Abend todmüde ins Bett, schlief den Schlaf tiefster Erschöpfung – bis der Wecker am Morgen sie wieder aufrief zur gewohnten Fron. Und die beiden Damen? Nun, die freuten sich ihres Lebens, das aus Müßiggang und Vergnügen bestand. Nun, sie konnten es sich ja leisten! Den Haushalt versorgte ihre Sklavin, und Geld für ihre Zerstreuungen besaßen sie jetzt mehr denn je, da der Sohn und Bruder jedem der Briefe, die mindestens zweimal in der Woche eintrafen, einen Geldschein beizulegen pflegte, den er von seinen Tagegeldern absparte. Um den Anschein zu wahren, erkundigte er sich in den Briefen stets nach Lenore – und diese Fragen beantwortete die Frau Mama auf ihre Art, nämlich mit faustdicken Lügen. Es änderte sich – allerdings nicht nach Wunsch der raffinierten Frau Das Schicksal griff endlich ein – aber auch nicht gerade zugunsten des bedauernswerten jungen Menschenkindes. Oder doch? Eine Frage, die sich schwer beantworten ließ. Es war an einem bitterkalten Tag Anfang Februar, als Lenore zur großen Wäsche befohlen wurde. Sie war gerade dabei, einen Korb voll davon in die Waschküche zu tragen, als ihr so schwindlich wurde, daß sie den Korb fallen ließ, der mit großem Gepolter die Treppe hinabsauste. Das hörte man in der Parterrewohnung, wo man gerade beim Frühstück saß. »Was war denn das?« fuhr Herr Warteck samt Gattin und Schwiegertochter erschrocken hoch. »Es hörte sich fast so
an, als wäre jemand die Treppe heruntergefallen.« Schon sprangen sie auf, eilten in den Flur und bemerkten zuerst einmal den Korb, der seines Inhalts entledigt dalag. Und als die Blicke weiterschweiften, erfaßten sie auch Lenore, die sich krampfhaft am Geländer festhielt. Das Gesicht erschreckend blaß, die Augen wie erloschen. Gleich darauf wurde die regungslose Gestalt von hilfreichen Armen umfaßt und vorsichtig in das Wohnzimmer geführt, wo Frau Warteck das elende Geschöpf behutsam in den Sessel drückte. »Frau Skörsen, was haben Sie denn?« fragte sie leise. »Sie sind ja weiß wie die Wand.« »Mir wurde schwindlig«, tropften die Worte langsam von den Lippen. »Aber das – vergeht – wieder.« »Dann haben Sie das schon öfter gehabt?« »Ja, das gehört wohl zu meinem Zustand.« Die drei Menschen warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu. Mütterlich streichelte Frau Warteck über das goldschimmemde Köpfchen und sagte mit leisem Vorwurf: »Aber Kindchen, dann dürfen Sie doch nicht so schwere Körbe schleppen! Das sollte der Herr Gemahl nun wirklich nicht dulden, schon gar nicht als Arzt.« »Er ist ja nicht da und weiß außerdem von meinem Zustand noch nichts.« »Und die Schwiegermutter?« »Auch nicht. Und wenn, würde sie bestimmt keine Rücksicht darauf nehmen.« »Sieht der Menschenschinderin ähnlich«, brummte der alte Herr. »Was sie nämlich mit Ihnen treibt, kann man nur mit Schinderei bezeichnen. Die ganze Nachbarschaft hält sich schon darüber auf. Wenn der Herr Doktor zurückkommt, wird sich schon jemand finden, der den Mut hat, ihm über seine von ihm so verehrte Mutter die verblendeten Augen zu öffnen. Ich aber werde sofort zu der Megäre gehen und ihr gehörig den Marsch blasen.« »Bitte, nicht!« hielt Lenore ihn angstvoll am Ärmel zurück. »Ich müßte ja doch nur dafür büßen.«
»Sie hat recht«, bestätigte Frau Warteck, ein liebes, betuliches Muttchen, das man sich beim besten Willen nicht als böse Schwiegermutter vorstellen konnte, und die es gewiß auch nicht war. Sie liebte ihre Schwiegertochter wie ein eigenes Kind und begriff es einfach nicht, daß es auch anders sein könnte. »Lenore!« drang jetzt eine laute, scharfe Stimme bis zu ihnen hin. Erschrocken sprang Lenore auf und hastete davon. »Na, wenn einem da nicht der Kragen platzen soll, dann gibt es so was überhaupt nicht«, knurrte Herr Warteck wie ein gereizter Kettenhund. »Und es findet sich keiner, der dieses bedauernswerte Geschöpfchen aus den Krallen dieser Bestien befreit. Alle sind zu feige dazu – auch wir.« »Mann, es tut nicht gut, sich in die Angelegenheiten seiner Mitmenschen zu mischen.« »Ach was!« sagte er unwirsch. »Es gibt ja sogar Tierschutzvereine. Halt mal, zetert die alte Scharteke da oben nicht wieder? Das höre ich mir jetzt nicht mehr länger mit an. Ich werde ihr so fünf Minuten lang das Leben bestimmt nicht lieb machen.« Zornig stampfte er ab, doch schon hängten Gattin und Schwiegertochter sich in seine Arme. »Alter, mach ja keine Dummheiten!« bat Frau Warteck beschwörend. »Wenn du denen da oben Grobheiten sagst, schadest du dem armen Ding mehr, als du ihm nützt. Wir wollen erst mal sehen, was da überhaupt los ist.« Spaltbreit öffnete sie die Korridortür, und nun konnte man jedes Wort hören, das gesprochen wurde. »Beeil dich gefälligst, damit ich sehen kann, daß du auch wirklich in die Waschküche gehst!« schrillte die Stimme Frau Rosalias, die gleich der Tochter zum Ausgehen gekleidet auf der halben Treppe stand, die Lenore nun hinabhastete. Wobei sie das Pech hatte, im Vorbeigehen der Schwägerin auf den Fuß zu treten, was diese so erboste, daß sie der jungen Frau einen harten Stoß versetzte. »Kannst du nicht aufpassen, du Tolpatsch!«
Aber da wurde der alte Herr mobil. Die Tür flog auf, mit einigen Sätzen war er auf der Treppe und sprang mit erhobenen Fäusten auf Anka zu, die sich mit lautem Aufschrei hinter den Rücken der Mutter flüchtete. »Kanaille!« knirschte der Mann, außer sich vor Empörung. »Raus aus meinem ehrbaren Haus, das keinen Platz für Mörder hat! Zur Polizei werde ich gehen und Anzeige erstatten.« Weiter kam er nicht, weil die beiden Feiglinge Reißaus nahmen. Wie gejagt hetzten sie die Treppe hinauf, die Etagentür knallte zu. Und dann atembeklemmende Stille, in die nur das Weinen der jungen Frau Warteck tönte. Auf dem Boden kniend, hielt sie im Schoß Lenores Kopf, der aus einer Wunde blutete, die sie sich am Flußabkratzer geschlagen hatte. »Mein Gott, sie ist doch nicht etwa tot?« fragte schluchzend die junge Frau, doch der Schwiegervater, gleich der Gattin zutiefst erschüttert, sagte leise: »Gottlob nicht, mein Kind. Sieh nur, ihre Augenlider zucken. Faß an, wir bringen sie zu uns. Dann rufe ich sofort das Krankenhaus an und bestelle den Wagen, denn bei dem harten Aufprall wird die Wunde wohl nicht die einzige Verletzung sein.« Damit sollte er recht behalten. Als Lenore nämlich nach vielen Bemühungen endlich zu sich kam, krümmte sie sich vor Leibschmerzen. Zum Glück kam der Krankenwagen überraschend schnell, die Bahre wurde hineingeschoben, die Türen schlossen sich. Das war Lenores Auszug aus dem Haus, das sie vor einem Vierteljahr so bangen Herzens betreten hatte. Der Chefarzt des Krankenhauses »Zur Barmherzigkeit« saß in seinem Zimmer und prüfte die Röntgenaufnahmen, die heute gemacht worden waren. Er hatte einen verantwortungsvollen Posten. Klein, rundlich, mit einem rosigen Gesicht und respektabler Glatze sah er eher wie ein gemütlicher Onkel als wie eine Respektsperson aus. Aber er war eine, das
wußten alle, die mit ihm zu tun hatten. »Herein!« forderte eine markige Stimme, die an dem Mann geradezu frappierte, zum Eintritt auf, und schon schob sich ein haubengeschmückter Kopf vorsichtig durch den Türspalt. »Ist es erlaubt, Herr Professor?« »Eigentlich nicht, verehrte Oberin, aber kommen Sie schon.« Gleich darauf stand ein weibliches Wesen vor dem mächtigen Schreibtisch, das man als Pendant des Arztes bezeichnen konnte. Aber auch hier trog der Schein, das war längst bewiesen; denn die Oberschwester war alles andere als ein rundliches Tantchen. Professor Hollgart lehnte sich im Schreibtischsessel zurück, schob die große Brille auf die Stirn und sah die Oberschwester vergnügt an, die seine beste Mitarbeiterin und Vertraute war seit vielen Jahren. Daher bestand auch zwischen ihnen ein Ton, den sich ein gewöhnlicher Sterblicher beileibe nicht diesen beiden Gefürchteten gegenüber erlauben durfte. »Na, nun schießen Sie mal los, Agathchen, was gibt’s? Sie machen nämlich den Eindruck, als hätten Sie so allerlei auf dem Herzen. In der Klemme?« »Man hat eine Patientin eingeliefert, Herr Professor.« »Das dürfte bei uns wohl nichts Neues sein.« »Aber die Patientin heißt Lenore Skörsen.« »Wie – was? Etwa die Frau unseres Ralf?« horchte er auf, und sie nickte. »Stimmt genau.« »Was hat sie?« »Eine nicht ungefährliche Kopfwunde und einen Abortus.« »Nanu, wie ist das beides zugleich möglich? Ist das Unglückswürmchen etwa vor Schmerzen gegen die Wände gerannt?« »Nein. Die liebe Schwägerin hat sie wutentbrannt die Treppe hinuntergestoßen.« »Jetzt schlägt es aber dreizehn«, sagte der Arzt verblüfft.
»Wo gibt es denn so was?« »Kommt in den besten Familien vor – sagt ein Ausspruch.« »Oberin, Ihre Pomadigkeit möchte ich auch mal haben. Gottsdonner, da wird der Ralf aber staunen, wenn er zurückkommt! Wo haben Sie die Ärmste untergebracht?« »In meinem Zimmer.« »Wozu das? Ist sonst nichts mehr frei?« »Sogar noch ein Bett in Zweiter.« »Und warum bringen Sie die Kranke da nicht unter?« »Sie spricht im Fieber, Herr Professor, und zwar mancherlei, was dem Ralf nebst Angehörigen nicht gerade zur Ehre gereicht.« Sie sahen sich an und verstanden sich wie immer auch ohne viele Worte. »Wer hat sie eingeliefert?« fragte der Arzt nach sekundenlangem Schweigen. »Etwa die lieben Anverwandten?« »Die werden sich hüten. Die Wirtsleute, die auch mit ansahen, wie der Unfall geschah, begleiteten die Kranke.« »Sind sie noch im Haus?« »Ja.« »Ich möchte sie sprechen.« Minuten später standen Wartecks vor dem Professor und der Oberschwester. Sie weinte in sich hinein, er machte ein Gesicht, als würde er am liebsten alles um sich her verschlingen. Bevor der Arzt ihn noch dazu auffordern konnte, legte er auch schon los, mit Grimm und Groll geladen bis zur Halskrause. Und so bekamen denn die beiden atemlos Lauschenden das ganze Martyrium Lenores zu hören – kraß, schonungslos, aber auch wahrheitsgemäß. Denn Herr Warteck war kein Freund von Klatsch, der in der engeren Umgebung natürlich herrlich blühte, er verließ sich lieber auf seine eigenen Augen und Ohren. »So ein schönes, liebes Kind«, sagte er mit vibrierender Stimme, nachdem er alles andere vom Herzen gepoltert hatte. »Die hätte lieber eine alte Jungfer werden sollen, als
so einen verblendeten Duckmäuser heiraten.« »Warum verblendet?« warf der Arzt ein. »Weil er Mutter und Schwester für noble Naturen hält, während sie in Wirklichkeit ausgewachsene Kanaillen sind…« »Nun, nun – wer sagt denn so was?« »Ich, Herr Professor – und ich bin kein Schwätzer.« »Nein, das ist er nicht«, bestätigte die Gattin mit tränendunkler Stimme. »Er sagt eher zuwenig als zuviel. Und was er jetzt sagte, stimmt Wort für Wort. Oder glaubt der Herr Professor etwa nicht, daß es so schlechte Menschen gibt?« »O ja, das glaube ich schon, sonst wären Gefängnisse und Zuchthäuser wohl nicht so überfüllt. Frau und Fräulein Skörsen kenne ich nur ganz flüchtig, kann mir daher kein Urteil über sie erlauben. Aber Dr. Skörsen kenne ich gut und möchte beinahe behaupten, daß er kein schlechter Mensch ist – eher verblendet, wie Sie es bezeichneten. Jedenfalls haben Sie herzlichen Dank, daß Sie sich der bedauernswerten jungen Frau so liebreich annahmen. Daß Sie über alles schweigen, darum brauche ich Sie wohl nicht extra zu bitten?« »Nein, ich halte den Mund. Ob ich es jedoch diesem vernagelten Doktor gegenüber tun werde, dafür verbürge ich mich allerdings nicht. Wird für Lenore auch wirklich alles getan werden?« »Was in Menschenkräften steht. Das sind wir schon allein unserem Mitarbeiter Dr. Skörsen schuldig.« »Ach der«, brummelte der alte Herr. »Der hat ja keine Rücksicht verdient. Wann kommt er zurück?« »Übermorgen. Und nun muß ich Sie leider verabschieden, weil ich zu der Patientin gehen möchte. Haben Sie nochmals herzlichen Dank.« »Was wir taten, war Selbstverständlichkeit, Herr Professor. Dürfen wir mal anrufen und fragen, wie es der Lenore geht?« »So oft Sie wollen.«
»Dann danke schön.« Damit zogen sie ab, und der Arzt sah die Oberschwester so durchbohrend an, als wollte er ihr die Gedanken aus dem Hirn ziehen. »Wieviel glauben Sie von dem Gehörten, Agathe?« »Jedes Wort, Herr Professor. Das ist kein Mann, der aufschneidet oder gar lügt.« »Ei, der Donner!« Er kratzte steh den Kopf. »Na, prost Mahlzeit! Denn Ihre Menschenkenntnis ist mir zu gut bekannt, als daß ich sie anzuzweifeln wage. Kommen Sie, sehen wir uns das Unglückswürmchen an.« Als sie das Zimmer der Oberschwester betraten, fanden sie außer der Patientin auch den jüngsten der Ärzte vor. »Nun, mein Lieber, solo?« fragte der Chef. »Ohne Assistenz?« »Zu gefährlich, Herr Professor«, entgegnete der lange Mensch mit dem sommersprossigen Gesicht und den weißblonden Haaren in aller Trockenheit, die ihm eigen war. »Lenorchen schwatzt nämlich, und das ist nicht von Pappe. Wirft kein gutes Licht auf unsern lieben Ralf.« »Wie steht es mit, den Wehwehchen?« »Das im Bäuchlein ist futsch.« »Von wie lange ungefähr?« »Zwei Monate.« »Hat sie sehr zu leiden gehabt?« »Nein, ich gab ihr eine Spritze. Nun duselt sie dahin und redet.« Prüfend sah der Professor auf die Patientin nieder, die ein fieberheißes Gesicht hatte. Um die Stirn trug sie einen Verband. »Das ist ja noch ein halbes Kind. Scheint hübsch zu sein.« »Und ob!« bekräftigte der Lange mit einer Pomadigkeit, die andere manchmal in Rage bringen konnte. Sein trockener Humor ließ da, wo er auftauchte, keine Traurigkeit aufkommen, was den Kranken oft bessere Medizin war als sämtliche Mixturen. »Ausgerechnet mich scheint sie für ihren Mann zu halten –
Kunststück, so schön wie ich bin!« Die beiden anderen konnten nur mit Mühe ein amüsiertes Lachen unterdrücken; denn der lange Arzt war alles andere als schön. »Woraus schließen Sie das?« fragte der Chef. »Einesteils fleht sie mich an, sie nicht zu verlassen, andererseits hält sie mich für so eine Art von Schuft – und ich habe doch so gar keine Schuld.« Während die Oberschwester rasch das Taschentuch gegen die Nase drückte, beugte sich der Professor zu der Patientin nieder, um so seinen lachenden Mund zu verbergen. Es sah aber auch zu komisch aus, wie der junge Mann dastand mit Sorgenfalten auf der Stirn, den langen Rücken gebeugt, als läge auf ihm alle Last der Welt. »Kleine Frau, wie geht es Ihnen?« sprach Hollgart sie behutsam an, und da huschte ein Ausdruck von Qual über ihr Gesicht. »Lassen Sie mich, ich bin tot!« kam es dann murmelnd über die zersprungenen Lippen. »Das wird Ralf freuen.« Betroffen richtete der Arzt sich auf und flüsterte den beiden anderen zu: »Was mag der Skörsen da bloß angerichtet haben? Hat Ihnen das die kleine Frau vielleicht in ihrem Halbdusel verraten, Wilmar?« »Bruchstücke«, kam es gleichfalls flüsternd zurück. »Aber wenn man sie zu leimen versteht, formen sie sich hübsch zu einem Ganzen.« »Und das wäre?« »Die Schwiegermutter hat den Skörsen wahrscheinlich zur Hochzeit mit der Tochter bewogen. Geld muß da auch eine Rolle spielen, da das süße Dinglein von Raten spricht, welche zwei Weiblichkeiten ihr erpressen wollen, die wohl überhaupt ihre Peiniger sind. Müssen ja liebe Herzchen sein – Pack möchte ich am liebsten sagen, nach alledem, was das arme Hascherchen da mir über sie verriet. Naja, und dann der gute Ralf. Muß ganz nett was auf dem Kerbholz haben. Zuerst heißes Flehen, sie nicht zu verlassen, und zuletzt der gequälte Schrei: Rühr mich nicht
an, ich verachte dich!« »Ei, verflixt!« Der Chef kratzte sich den Kopf. »Das scheint ja böse auszusehen. Hört mal zu: Nur wir drei allein dürfen die Kranke betreuen, dürfen keinen anderen Arzt, keine andere Schwester zu ihr lassen. Sonst gibt es hier einen Klatsch, der nicht so ohne ist.« »Weil auch ich der Ansicht bin, habe ich die Patientin in mein Bett gelegt«, gestand die Oberschwester, und der junge Arzt setzte hinzu: »Weil mir das höchst sonderbar erschien, habe ich mir gedacht: Achtung, Feind darf nicht mithören! und habe daher die liebliche Charitas, die so dienstbeflissen assistieren wollte, erst gar nicht in das Allerheiligste gelassen.« Wie Verschwörer sahen sich die drei Menschen an, die gewohnt waren, miteinander durch dick und dünn zu gehen. Und sie taten es auch, der Chef konnte den beiden Getreuen trauen wie sich selbst. Als vierter hatte bisher Dr. Skörsen gezählt, aber nachdem man solche Unerfreulichkeiten von ihm hören mußte… »Behalten Sie die Kleine diese Nacht hier, Oberin, und achten Sie gut auf das, was sie spricht! Morgen früh frage ich meine Schwägerin, ob wir ihr unser Sorgenkind ins Zimmer bringen können.« Tierarzt Dr. Hermann Hollgart war ein Bruder des Chefarztes der »Barmherzigkeit« und Gatte der Dame, von der der Professor in so wannen Worten sprach. Sie war auch wirklich eine prächtige Frau. Immer vergnügt und guter Dinge, voll Mutterwitz, zufrieden, verständnisvoll und stets hilfsbereit. Da eine Operation bei ihr notwendig wurde, hatte sie sich dem Schwager anvertraut, der sie dann zurechtschnippelte, wie er es schmunzelnd bezeichnete. Nun war sie über das Ärgste hinweg, lag zufrieden in ihrem Bett und machte Ärzten sowie Schwestern das Leben gewiß nicht schwer. »Oha, der hohe Herr!« begrüßte sie den Professor, der soeben eintrat. »Warum denn heute so früh?«
»Weil ich es vor Sehnsucht nach dir nicht länger aushalten konnte«, ließ er sich schmunzelnd auf den Bettrand nieder. »Wie geht es, geliebte Gertraude?« »Unverschämt gut, geliebtes Dickerchen. Steck die gestrenge Miene weg, meine Respektlosigkeit hört ja keiner. Rück lieber mit deinem Anliegen heraus.« »Wer sagt dir denn, daß ich eins habe?« »Mein sechster Sinn, Schwagerherz. Schieß los!« So sprach er denn über das, was er von anderen gehört und selbst beobachtet hatte. Sprach rückhaltlos, weil er wußte, daß er dieser Frau voll und ganz vertrauen konnte. Aufmerksam hörte sie zu und wischte sich, als er schwieg, über die nassen Augen. »Gott, so ein armes Wurm! Also los, ein Bett her, an die gegenüberliegende Wand gestellt, und dann hinein mit der kleinen Frau! Ist sie immer noch ohne Besinnung?« »Seit heute früh nicht mehr. Aber eine Gesellschafterin wirst du kaum an ihr haben, sie liegt apathisch da und spricht kein Wort.« »Na, laß man, das kommt noch«, tröstete Gertraude. »Sie wird sich schon alles vom Herzen reden, das heißt, falls sie Vertrauen zu mir fassen sollte.« »Wer sollte das bei dir wohl nicht?« entgegnete er warm. »Aber nicht aufstehen, Traude, hörst du?« »Warum sollte ich denn?« »Nun, ich kenne dich doch. Dich und deine Hilfsbereitschaft.« »Die aber nicht so weit geht, daß ich mir dabei Schaden zufüge«, unterbrach sie ihn lachend. »Ich werde schon die Klingel in Bewegung setzen, wenn die Kleine was braucht.« »Und bestimmt nicht selbst zu ihr gehen?« »Bestimmt nicht – auf Ehre!« »Dann bin ich beruhigt.« »Das beruhigt wiederum mich. Nun ab mit dir, schaff dein Sorgenkind her!« Eine halbe Stunde später wurde dann Lenore umgebettet, höchstpersönlich von der Oberschwester und dem
Professor. Wenig später erschien dann auch sein Assistent Dr. Wilmar Hörse und fragte verschmitzt: »Gnädige Frau, ist das nun ein fürstliches Aufgebot oder nicht?« »Wenn Sie dabei sind, immer«, gab sie schlagfertig zurück. Doch dann nahm sie mal erst ihren »Zuwachs« in Augenschein und war nicht wenig überrascht. Sie griff nach Block nebst Drehstift, die auf dem Nachttisch lagen, und schrieb im Telegrammstil, während die anderen um die Kranke bemüht waren: Der kleinen Frau schon einmal begegnet. Anfang November. Saß auf dem Bahnhof im Wartesaal verschüchtert und weinend. Eine Woche verheiratet, wartete auf den Gatten. Hatte Hunger, gab ihr eine Schnitte ab. Wurde dann zutraulich, die übrigens bildhübsche Kleine, lachte sogar. Gerade da erschien der Herr Gemahl. Sprach von Gewissensbissen, weil er sie so lange warten ließ. Leider mußte ich fort zum Zug – aus’. Diesen Zettel steckte Gertraude verstohlen dem Schwager zu, der ihn in die Kitteltasche gleiten ließ. Später las er ihn dann gemeinsam mit der Oberschwester und dem Assistenten, und dann sahen sie sich erst einmal betroffen an. »Au Backe!« sprach Wilmar als erster. »Ein Geheimnis umhüllt uns mit dunstigem Nebel.« »Durch den meine Schwägerin schon ihr Geisteslicht dringen lassen wird«, spann der Chef trockenen Tones den Faden weiter. »Außerdem werde ich dem guten Ralf, sofern ich seiner ansichtig werde, mal so ein bißchen die Daumenschrauben ansetzen.« Es war am nächsten Tag gegen Abend, als es wieder an der Tür zum Allerheiligsten klopfte, wie die Zimmer des Professors nebst dem der Oberschwester von der ganzen Belegschaft betitelt wurden. In der Annahme, daß es »Agathchen« wäre – denn kein anderer Sterblicher hätte es sich erlauben dürfen, unangemeldet ins Allerheiligste zu dringen – rief er sein kräftiges: »Herein!« Doch nicht die rundliche Gestalt mit dem Häubchen auf
dem glattgescheitelten Haar trat durch die aufgehende Tür, sondern ein hochgewachsener Mann. »Ach, Sie sind es, Herr Dr. Skörsen«, sagte der Chef gedehnt, und der junge Arzt zuckte bei der formellen Anrede zusammen. »Ist gut, daß Sie da sind, ich habe mit Ihnen zu sprechen.« »Nicht mehr erforderlich, Herr Professor«, winkte der andere müde ab. »Ich bin von dem, was Sie mir sagen wollen, bereits unterrichtet.« »Wer tat es?« »Mein Hauswirt.« »Aha! Und was haben Sie zu Ihrer Entschuldigung vorzubringen?« »Nichts, Herr Professor.« »Nehmen Sie Platz!« Ralf tat es. Lehnte sich in dem tiefen Sessel zurück und schloß die Augen. Sein hartgeschnittener Mund zuckte. Und da war es dem ihm gegenübersitzenden Mann, als ob er die warnende Stimme der Oberschwester hörte: Ei, Herr Professor, erst hören, und dann, wenn mit Recht, verurteilen. »Kognak?« fragte er kurz. »Bitte.« »So, mehr gibt es nicht«, erklärte Hollgart energisch, nachdem Ralf drei Glas des scharfen Getränks hinuntergestürzt hatte. Er brachte die Flasche in Sicherheit und betrachtete den anderen kopfschüttelnd. »Sie scheinen mir nicht zu knapp durcheinander zu sein, mein lieber Freund. Ich kann mir nicht helfen, ich finde mich in Ihnen einfach nicht zurecht. Sie sind doch sonst ein scharfsinniger Mensch, wie konnten Sie sich da bloß von zwei – äh, hm – so unverantwortlich blenden lassen? Hat die Gattin denn nie Klage über ihre Peiniger…« Bei dem Wort zuckte der junge Arzt zusammen, als hätte man ihm eine Ohrfeige versetzt. Hollgart, der es bemerkte, murmelte verlegen: »Entschuldigen Sie, bitte!«
»Nichts zu entschuldigen, Sie haben ja recht«, kam es endlich bitter von den schmalen Männerlippen. »Daß ich meine Verblendung büßen muß, ist nur gerecht. Aber daß meine Frau so unsagbar darunter leiden mußte, das ist es, was mich fast wahnsinnig werden läßt.« Aufstöhnend beugte er sich vor, dabei die Fäuste in die Augen pressend. Und da hatte der Professor das Gefühl, als stülpe sich ihm der Magen um. »Aber, aber«, würgte er hervor. »Wie kann man nur? Sie sind doch ein Mann.« »Aber was für einer!« lachte Ralf hart auf. »Nämlich einer, der sich von zwei raffinierten Weiblichkeiten blauen Dunst vormachen läßt, wie Herr Warteck mir voller Empörung entgegenschrie. Ich kann dem Mann noch nicht einmal gram sein, er sprach die Wahrheit – eine grausame Wahrheit.« »Ralf, nun reißen Sie sich mal gefälligst zusammen! Ich kann Ihre Selbstvorwürfe ja verstehen, aber sie dürfen nicht in Verzweiflung ausarten. Ihre Frau lebt ja und wird gewiß nicht unversöhnlich sein.« »Doch, sie verachtet mich.« »Hat sie Ihnen das gesagt?« »Ja.« »Bei welcher Gelegenheit?« »Bitte, Herr Professor.« »Nichts da, mein Lieber!« wurde der andere unwirsch. »Sie sind doch Arzt und müssen daher wissen, daß es Wunden gibt, bei denen man beherzt die Sonde ansetzen muß, wenn man sie zum Heilen bringen will. Also?« Da sprach der Mann mit müder, schleppender Stimme. Sagte alles, verschwieg auch das kleinste nicht. Als alles gesagt war, meinte Hollgart achselzuckend: »Da wundern Sie sich etwa noch darüber, daß Ihre Gattin Sie verachtet?« »Nein, jetzt nicht mehr, nachdem mir die Binde von den Augen gerissen wurde, die ich Trottel mir so arglos vertrauend umbinden ließ. Wie soll ich wohl Achtung von
meiner Frau verlangen, der ich mich selbst verachten muß?« »Na ja, gewiß.« Der Professor räusperte sich, dem es aber auch gar nicht wohl in seiner Haut war. »Fehler macht ja schließlich jeder, sonst wären wir ja keine fehlerhaften Menschen. Wie heißt es im Horaz: Niemand wird ohne Fehler geboren, der Beste ist der, den die kleinsten drücken.« »Nun, klein sind die meinen doch wahrlich nicht.« »Aber auch nicht unverzeihlich.« »Gebe Gott, daß meine Frau genauso denkt oder wenigstens mit der Zeit denken lernt.« »Wird sie schon, sie ist ja noch so jung. Und nun mal eine Frage: Wußten Sie wirklich nicht, daß Ihre Gattin sich – äh, hm – in gesegneten Umständen befand?« »Nein. Ich konnte mich ja gerade in letzter Zeit so wenig um sie kümmern, weil ich beruflich so völlig in Anspruch genommen war. Und dennoch… Ach, was soll man noch viel darüber reden, verpfuscht bleibt verpfuscht.« »Hören Sie mal, Ralf, ich hätte nie gedacht, daß Sie die Flinte so leicht ins Korn werfen könnten. Sie tun es doch bei den Kranken nicht, geben die Hoffnung bis zuletzt nicht auf. – Na ja, ich will da nicht so klug reden«, lenkte er rasch ab, als er das qualdurchwühlte Gesicht sah. »Lassen wir genug sein des grausamen Spiels, damit Sie endlich zur Ruhe kommen.« »Ruhe – ich? Das ist ja wie ein Witz, Herr Professor. Darf ich jetzt zu meiner Frau?« »Auch das noch! Mein lieber Freund, Sie gehen doch sonst so behutsam mit Ihren Kranken um, bewahren sie vor Aufregung wie ein Zerberus. Wissen Sie was? Gehen Sie nach Hause, nehmen Sie eine Tablette, meinetwegen auch zwei…« »Nein, nach Hause gehe ich nicht«, wurde er hart unterbrochen. »Es würde dann sicherlich ein Unglück geben.« »Mein Gott, Mann, Sie können einem ja die kalte Angst in
die Glieder jagen«, brummte der Dicke unbehaglich. »Ich glaube jetzt auch, daß Sie in dieser Verfassung zu allem fähig wären. Vergessen Sie um Himmels willen nicht das vierte Gebot!« »Ich, Herr Professor?« »Auch Sie – trotz allem. Du sollst Vater und Mutter ehren.« »Ach nee?« »Bengel, Sie sind mir heute zu rebellisch. So gehen Sie denn in das Zimmer, das Ihnen hier zur Verfügung steht. Legen Sie sich ins Bett, aber nicht ohne Schlaftabletten.« Damit schob er ihn kurzerhand hinaus, und als Ralf verschwunden war, knurrte er erbost: »Verflixte Weiber! So was müßte auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden.« Frau Skörsen senior und die ihrer würdige Tochter Anka hatten die vergangenen drei Tage nicht gerade in geruhsamer Beschaulichkeit verbracht. Aber nicht etwa, weil ihnen das Gewissen schlug, das sie übrigens gar nicht besaßen, sondern aus feiger Angst vor dem Sohn und Bruder. Und daß diese Angst nicht unbegründet war, sollten sie erfahren, als der Mann vor ihnen stand, um Abrechnung zu halten. Hoch aufgerichtet stand er da, mit steinernem Gesicht und einer Ruhe, die manchmal ärger wirken konnte als ein Wutausbruch. Jedes Wort, das er sprach, kam dem Sturz eiskalten Wassers gleich. »Also, das bist du, Mama, wirklich du«, besah er sich ganz eingehend die Frau, die aus feiger Angst an allen Gliedern zitterte, weil hinter dieser eiskalten Ruhe eine helle Flamme zu lodern schien. »Und dich habe ich bis gestern mittag noch über alle Frauen der Welt gestellt. Nun, für meine blöde Verblendung werde ich die Konsequenzen tragen, aber auch ihr werdet es für eure erbärmliche Niedertracht.« »Ralf, du sprichst mit deiner Mutter!« »Leider.« »Ralf, denk an das vierte Gebot!« »Habe ich bisher stets getan. Doch nun ist Schluß damit –
böse Beispiele verderben gute Sitten.« »Ralf, so hab doch mit mir Erbarmen!« »Hast du das etwa mit dem jungen Geschöpf gehabt, das ich dir so arglos anvertraute? Sprich jetzt nicht, es wäre ja doch nur Lüge und Scheinheiligkeit. Um die Sache kurz zu machen: Fortan trennen sich unsere Wege. Du wirst dich nach einer anderen Wohnung umsehen müssen, da Herr Warteck mir diese gekündigt hat.« »Dir?« »Natürlich, wem denn sonst? Denn ich bin der Eigentümer dieser Wohnung, weil ich die Miete zahlte. Jedenfalls muß die Wohnung bis zum ersten März geräumt sein. Das wäre das. Und nun weiter: Selbstverständlich zahlst du die Monatraten an meine Frau nach wie vor.« »Und wenn ich es nicht tue?« »Dann gibt es ein Gesetz, das dich dazu zwingen wird.« »Da soll ich von den paar Groschen, die mir bleiben, gar noch die Miete für die neue Wohnung zahlen?« »Ganz recht. Die paar Groschen betragen immerhin monatlich dreihundert Mark, davon kann eine Person ganz gut leben.« »Und Anka?« »Die soll arbeiten und sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen, wie es Millionen Mädchen auch müssen. Und nun genug davon, damit wir endlich zum Ende kommen. Das alles widert mich nämlich an. Der Koffer, den ich in Berlin mithatte, befindet sich im Krankenhaus, wo ich fürs erste auch wohnen werde. Die Sachen, die noch hier sind, hole ich später ab, auch die von meiner Frau.« »Und die Möbel?« »Komische Frage. Du scheinst immer noch nicht begriffen zu haben, daß die Wohnung bis zum ersten März geräumt sein muß. Bis dahin werde ich wohl noch einige Male herkommen müssen und ersuche euch, mir dann nicht in den Weg zu treten. So, das wäre alles.« Brüsk wandte er sich ab, die Tür fiel hinter ihm zu, und die beiden Zurückbleibenden saßen erst einmal da, als hätte
man ihnen einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf gegossen. Drei Tage lang lag Lenore noch so apathisch da. Dann begann langsam das Interesse für ihre Umgebung, die sie bisher kaum wahrgenommen. Die Augen hatten den stumpfen Ausdruck verloren, blickten, wenn auch nicht gerade munter, so doch schon klar, und was sie erspähten, regte die Denkfähigkeit an. Daß sie im Krankenhaus lag, war ihr natürlich bekannt. Sie war ja noch bei Bewußtsein gewesen, als man sie dort einlieferte. Doch nachdem ihr der Arzt die Spritze gegeben hatte, hatte die Denkfähigkeit ausgesetzt. Im Dämmerschlaf duselte sie dahin, gleichgültig gegen alles, was mit ihr geschah. Zwar war Lenore sensibler Natur, aber so sensibel nun wiederum auch nicht, um völlig in Apathie zu versinken. Schließlich zählte sie erst zwanzig Jahre, war körperlich wie geistig kerngesund. Da rang sich die Natur schon durch, hinauf zum Licht, versank nicht in die Düsternis völliger Lethargie. Zuerst fiel Lenore auf, daß sie sich jetzt nicht mehr in dem Zimmer befand, in das man sie nach der Einlieferung bettete. Als sie dann den Blick weiterschweifen ließ, bemerkte sie in dem gegenüberliegenden Bett eine Dame, die sie freundlich anlachte. Sie kam ihr irgendwie bekannt vor, doch bevor sie noch darüber grübeln konnte, wo sie dieses Gesicht schon einmal gesehen hätte, sprach eine Stimme lieb und herzlich: »Guten Morgen, kleines Murmeltierchen! Endlich ausgeschlafen?« »Ja.« »Oho, das klingt noch reichlich verträumt. War es denn so schön im Land der Träume?« »Ja.« »Na, lassen Sie nur, auf unserer alten Mutter Erde ist es auch ganz schön. Doch nun schauen Sie mich mal genauer an – fällt Ihnen an mir nichts auf?«
»Doch, Sie kommen mir irgendwie bekannt vor, ich kann mich nur nicht erinnern.« »Obwohl wir bereits von dem berühmten Scheffel Salz die ersten Körnchen miteinander verzehrten?« »Wie soll ich das verstehen?« »Nun, das Salz befand sich in der Schnitte Brot, die ich Ihnen spendierte.« »Dann sind Sie die Dame vom Bahnhof?« »So ist es.« »Was tun Sie denn hier?« Es klang so erstaunt, daß die andere lachte. Und dieses warme, herzliche Lachen legte sich wie Balsam auf Lenores wundes Gemüt. »Was tut man wohl im Krankenhaus, wenn man nicht gerade zur Zunft gehört, Sie Dummchen?« »Man ist krank.« »Also. Das bin ich auch, vielmehr ich war es. Denn jetzt fühle ich mich wieder mopsfidel und möchte aufstehen, wenn mein gestrenger Herr Schwager nicht so hartherzig wäre.« »Hat denn der Herr über Sie zu bestimmen?« »Will ich meinen. Er ist hier nämlich Chefarzt.« »Professor Hollgart?« »Ganz recht. Ich habe die Ehre, die Frau seines Bruders zu sein, führe den schönen Namen Gertraude Hollgart.« »Danke. Daß ich Lenore Skörsen heiße, ist Ihnen wohl schon bekannt?« »Allerdings. Ihr Name steht ja auf der Tafel über Ihrem Kopf.« Wird sie nun nach ihrem Mann fragen? dachte Gertraude erwartungsvoll. Doch nein, Lenore schwieg und war Minuten später eingeschlafen. Nun, Traude war auch so zufrieden. Es schien mit dem armen Wurm, wie sie Lenore bei sich nannte, endlich bergauf zu gehen. Da der Herr Professor seine Schwägerin nicht im
Krankenzimmer sprechen konnte, weil man ja nicht sicher war, ob Lenore da nicht mithörte, hatte er Gertraude gebeten, alles Bemerkenswerte über diese aufzuschreiben, was sie auch gewissenhaft tat. Doch so viel wie heute hatte noch nie auf dem Zettel gestanden, den Gertraude dem Schwager zusteckte, als er später erschien. Er ging ans Fenster, las, nickte zufrieden, trat dann an das Bett und sah prüfend auf die Fieberkurve. »Also fieberfrei«, sprach er absichtlich laut, worauf die junge Frau auch prompt erwachte. »Da ist unser Sorgenkind ja endlich«, lachte er sie freundlich an. »Dazu noch mit so klaren Guckerchen, das freut mich aber. Aha, da steckt unsere Schwester Agathe ihren haubengeschmückten Kopf durch den Türspalt. Und das Gesicht, das darüberschwebt, gehört dem Nesthäkchen unserer ärztlichen Zunft, Dr. Hörse benamst. Tretet näher, damit unsere kleine Majestät ihren Vasallen Audienz erteilen kann.« Sie traten näher und standen dann vor dem Bett Lenores, die so rührend jung und so rührend süß dalag in ihrem spitzenbesetzten Nachtkleidchen. Langsam stieg die Röte der Verlegenheit in das feine Gesicht. »Guten Tag«, sagte sie schüchtern. »Ich – ich möchte aber nun wirklich nicht… Bitte, nicht so viel Aufhebens mit mir machen.« »Das tun wir hier mit schönen Frauen immer«, blähte sich Wilmar förmlich auf. »Bitte sehr: Cherchez la femme!« In dem Moment lugte ein allerliebstes Gesichtchen durch den Türspalt, und eine Stimme fragte zaghaft: »Darf ich nun endlich zu meiner Mutti?« »Du darfst«, ermunterte der Chef des Hauses, worauf ihm ein reizendes Mägdlein um den Hals flog, das aber auch kein bißchen Respekt vor dem Gefürchteten zu haben schien. Ein rosiger Mund drückte sich auf seine Wange, was er sich schmunzelnd gefallen ließ. Doch dann setzte er eine Amtsmiene auf. »Das Plappermäulchen im Zaum halten, verstanden?«
»Bei dem Ton allemal, Onkelchen«, lachte die Kleine ihn lieblich an. Dann huschte sie zum Bett Gertraudes, küßte sie stürmisch und setzte sich dann mit einer Miene auf den Bettrand, die zu sagen schien: Geschafft ist geschafft. Nachdem sich die beiden Ärzte nebst der Oberschwester lachend entfernt hatten, sprach Gertraude zu Lenore hinüber, die dem allen mit sehnsüchtigen Blicken gefolgt war: »Das ist meine Tochter llga – und das ist meine liebe Zimmergenossin Frau Skörsen.« »Guten Tag, Frau Skörsen«, grüßte das Mädchen artig. »Wie geht es Ihnen?« »Danke, ich kann nicht klagen.« »Das hört man gern. Und wie ist es mit dir, geliebtes Muttileinchen, wann kommst du nach Hause?« »Das sind zwei Fragen, du Irrwisch. Also: es geht mir gut, und nach Hause komme ich vorerst noch nicht.« »Oh, Mutti!« »Oh, llga! Zieh kein Mäulchen, es geht nicht anders. Wie steht es zu Hause?« »Alles noch auf demselben Fleck. Die Madam hat nun endlich ihr Kind gekriegt, entzückend, sage ich dir. Mit einer so süßen Schnauze und so wunderbar gefleckt. Auch Eulalia hat sich vermehrt, aber diesmal nur zwei Junge geworfen.« »Halt ein!« unterbrach die Mutter lachend ihre Tochter, die vor Eifer ganz rote Bäckchen bekommen hatte. »Sieh dir mal die entsetzten Augen von Frau Skörsen an. Sie wird einen schönen Begriff von deiner Ausdrucksweise bekommen.« »Ja, warum denn?« »Weil du erzählst, das Kind der Madam hätte eine süße Schnauze, und Eulalia hätte Junge geworfen.« »Richtig!« lachte Ilga hell auf. »Nichtsdestotrotz stimmt’s. Denn das Kind ist ein Kälbchen, und die Jungen sind Kätzchen.« »Ach so«, versuchte Lenore mit den anderen zu lachen,
doch es klang wie ein schluchzender Laut. Erschrocken sah Ilga ihre Mutter an, die ihr einen Wink gab, in der Erzählung fortzufahren. Doch so munter wie vorher ging es nicht mehr, das wehe Lachen klang noch in Ilga nach, die so ganz das Kind ihrer Mutter war und daher auch das weiche Herz besaß. Das heißt, auch ihr Vater war ein warmherziger Mensch, besaß dazu Humor und ein frohes Gemüt. Also konnte das Kind dieser Eltern ja gar nicht anders sein, zumal Ilga von beiden etwas mitbekommen hatte. Groß, schlank, dunkles Haar, blaue Augen und ein rundliches Gesicht mit frischen Farben und Grübchen in den Wangen. Alles zusammen gab ein reizendes Mägdlein ab. Ilga, die durch die Briefe der Mutter über Lenore bereits unterrichtet war, tat diese ohnehin schon leid. Und nun sie dieses elende Geschöpf mit den übergroßen Augen sah, tat ihr das Herzchen sogar weh. »Wir haben nämlich eine kleine Landwirtschaft«, erzählte sie weiter, zuerst zögernd, dann immer eifriger. »An Tieren besitzen wir ein Pferd, eine Kuh, drei Schweine, zwei Hunde, zwei Katzen, Hühner, Enten, Gänse, Puten nun, eben das, was zu einer Landwirtschaft gehört.« »Wie schön«, sagte Lenore leise. Es klang so voller Sehnsucht, daß Ilga nun wirklich die Tränen kamen. Gut, daß die Oberschwester eintrat und das Essen für Lenore brachte. Da sprang Ilga lachend auf. »Aha, das bedeutet soviel wie einen Hinauswurf. Also, verehrte Frau Oberin, ich gehe schon freiwillig.« Sie verabschiedete sich von der Mutter mit herzlichem Kuß, winkte den anderen zu. Die Tür schloß sich, wurde dann jedoch noch einmal spaltbreit geöffnet. »Muttilein, das übliche Mitbringsel befindet sich wie üblich in der üblichen Tasche.« Dann erst entschwand Ilga endgültig, und die Oberschwester sagte lachend: »So ein richtiger Wirbelwind. Sie hat Sie doch nicht etwa aufgeregt, Frau Skörsen?«
»O nein, im Gegenteil, sie kann so lieb erzählen.« Jetzt kam noch eine Schwester hinzu, die das Essen für Gertraude brachte. In den letzten drei Tagen hatte die Oberin sie allein versorgt, doch nun Lenore wieder bei vollem Bewußtsein und somit ihrer Sinne mächtig war, konnte man getrost das Pflegepersonal zu den Patientinnen lassen. Die junge Schwester konnte es sich natürlich nicht verkneifen, die Frau des »schönen Mannes« der Anstalt neugierig zu betrachten. Also bemerkte sie auch den Kopfverband und hätte so liebend gern gewußt, warum, weshalb, wieso. Sie wagte natürlich nicht zu fragen, weil ihr das in Gegenwart der Oberin schlecht bekommen wäre. »Na, Schwester, was bringen Sie denn heute Gutes?« fragte Gertraude munter, sich dabei ohne Hilfe aufsetzend. »Ah, Hühnerfrikassee, Salat, Kompott und Speise, direkt fürstlich. Und was kriegt mein kleiner Kumpel?« »Der muß noch ein wenig diät leben«, antwortete die Oberin, die Lenore soeben aufgerichtet hatte und nun die Kopfstütze des Bettes hochzog. »Sitzen Sie so gut, Lenore?« Schau mal an, beim Vornamen wird sie von dem Rollmops – das war der Spitzname der Oberschwester – genannt! dachte die junge Schwester respektlos. Gehört somit zur Kategorie der Bevorzugten wie die dicke Traude. Absichtlich machte sie sich in dem Zimmer zu schaffen, in der Hoffnung, etwas Interessantes zu erlauschen. Doch leider schickte die Oberin sie hinaus, und enttäuscht zog sie ab. »Guten Appetit!« sprach Agathe zu Gertraude hin, die, das Tablett vor sich, vergnügt zu schmausen begann, während Lenore keine Anstalten machte, ihre Brühe zu löffeln. Bittend sah sie die Oberin an, die jedoch kein Erbarmen hatte. »Nichts da, kleine Frau, es wird gegessen! Vier Tage haben Sie so gut wie nichts in den Magen gekriegt. Wenn Sie so weitermachen, werden Sie ewig hier liegen müssen.« »Warum denn nicht? Es ist doch hier so schön.«
»Kind, Sie sind wohl nicht recht gescheit!« sagte Traude in so komischem Entsetzen, daß nicht nur die Oberschwester lachte, sondern auch Lenore. »Du lieber Himmel, welcher Mensch bleibt denn gern im Krankenhaus! Nun essen Sie gefälligst, sonst steh ich auf und füttere Sie.« »Sie kriegt es fertig«, bestätigte Agathe immer noch lachend. »So werde ich das wohl verhindern müssen, indem ich Sie füttere.« Was dann auch geschah. Lenore mußte schlucken, bis der Teller leer war. Sie nahm das Tablett, ging hinaus, und als Gertraude bemerkte, daß Lenore bereits schlief, kuschelte sie sich voll Behagen in das Kissen und wechselte hinüber ins Traumland. Indes erstattete der Chefarzt dem Kollegen Bericht über das Befinden seiner Frau. »Ich glaube, wir haben sie jetzt über den Berg«, sprach er dann weiter. »Wenn kein Rückschlag kommt, dann kann sie in ungefähr zehn Tagen die Anstalt verlassen. Und was wird dann aus ihr?« »Wenn ich das wüßte, Herr Professor. Ginge es nach mir, würde ich sie solange in einer Pension unterbringen, bis ich eine Wohnung für uns gefunden habe. Aber ich fürchte, sie wird darauf nicht eingehen.« »Das fürchte ich auch. Na, warten wir ab, mit der Zeit kommt dann auch der Rat. Hauptsache, daß die kleine Frau wieder ganz gesund wird, körperlich wie seelisch. Ich bin nur gespannt, wann sie nach Ihnen fragen wird. Schließlich können Sie ja nicht ihrem Gedächtnis entschwunden sein, denn das Hirn ist vollkommen intakt.« So war es auch. Lenore beschäftigte sich in Gedanken schon mit dem Gatten, doch keine Frage kam über ihre Lippen, obwohl sie wußte, daß er wieder im Krankenhaus arbeitete. Vernünftig von ihm, sich bei ihr nicht sehen zu lassen. Unweigerlich hätte sie ihm die Tür gewiesen, so verbittert war sie.
Schade, daß die Heilung der Wunde so gut voranging. Hätte sie es nur gekonnt, so hätte sie das gewiß aufgehalten, um noch recht lange hierzubleiben, wo es ihr so gut ging. Wo alle so lieb zu ihr waren, hauptsächlich Frau Hollgart. Wenn Lenore morgens erwachte, freute sie sich schon auf den Tag, den sie mit dieser prächtigen Frau verbringen durfte, die sie so sehr an ihre Mutter erinnerte. Sie schwatzten geruhsam über dies und jenes und kamen so eines Tages auch auf Lenores Eltern zu sprechen. So erfuhr Gertraude, daß die Mutter der jungen Frau einem Patriziergeschlecht entstammte, da oben von der Waterkant. »Daher stamme ich auch«, sagte Traude vergnügt. »Nur daß mein Vater kein Patrizier war, sondern ein gottgelehrter Mann, nämlich Pfarrer. Übrigens war ich das schwarze Schaf der Familie, weil ich so gar keine sittsame Pfarrerstochter abgab. War eher wie ein ungebärdiges Füllen, das über die Stränge schlug vor lauter Übermut. Übrigens hatte ich ein zweites Ich, das mir auch sogar äußerlich ähnlich sah. Allerdings waren wir auch so um sieben Ecken miteinander verwandt. Wir hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Jedenfalls war der Herr Senator über seine Tochter genauso entsetzt wie der Herr Pfarrer über sein mißratenes Kind. Schade, daß wir später so nach und nach auseinanderkamen. Das lag wohl daran, daß sie erstens einige Jahre früher heiratete als ich und dann mit ihrem Gatten lange auf Reisen ging. Zuerst kamen Kartengrüße aus aller Herren Länder, dann blieben auch die allmählich aus, und zuletzt hörten wir überhaupt nichts mehr voneinander. Ich denke noch so oft an meine liebe Melanie…« »Wie heißt sie?« fragte Lenore hastig dazwischen. »Melanie«, entgegnete die andere verwundert. »Melanie Höverking.« »Das war meine Mutter.« Zuerst sah Gertraude die junge Frau nicht gerade geistreich an, doch dann ging das Fragen los, hin und her, kreuz und
quer. Kein Irrtum war möglich, die Tochter Melanie Höverkings lag dort im Bett. »Na, so was.« Gertraude schüttelte immer wieder den Kopf. »Gibt es nun eine Schicksalsbestimmung oder nicht? Ausgerechnet mit der Tochter meiner Lanie liege ich hier Bett an Bett. Daher kamen Sie mir gleich so lieb und vertraut vor. Obwohl Sie Ihrer Mutter nicht direkt ähnlich sehen, haben Sie doch so manches von ihr, was mir jetzt so richtig auffällt, nun ich im Bilde bin. Das Kind meiner Lanie – ich kann es immer noch flicht fassen. Na, da werden wir mal gleich die fremde Anrede lassen. Du bist für mich die Lenore, und ich bin für dich die Tante Traude, einverstanden?« . »Und wie! Lieber Gott, ich danke dir, daß du mir einen Menschen in den Weg führst, der meine Mutter gekannt und geliebt hat.« Es klang so erschüttert, daß der weichherzigen Gertraude die Tränen in die Augen schossen. »Lenore, willst du mir nicht von deinen Eltern erzählen?« fragte sie leise. »Gern. Ich bin ja so froh, daß ich mich einmal aussprechen kann.« Und dann erzählte sie von ihrer Mutter, dieser lieben, gütigen Frau, von ihrem Vater, der erheblich älter war und wohl gerade deshalb seine Frau auf Händen trug und sein einziges Kind förmlich vergötterte. Sprach von ihrer Kindheit, die so unbekümmert und glückselig verlief, bis sich das Glück jäh von ihr abwandte. Zuerst der Tod des Vaters. Dann kam der Schlaganfall, der die Mutter lähmte, dann die ständige Angst um das geliebte Leben, dann die überstürzte Heirat, gewissermaßen am Sterbebett der Mutter. Und dann brach sie brüsk ab. Die Lippen preßten sich zusammen, die Augen verfinsterten sich. Gertraude sah es mit Schrecken, hütete sich jedoch, eine Frage zu stellen. Leise sagte sie: »Dann hast du armes Kind in deinen jungen Jahren ja
schon viel Schweres mitgemacht. Ich weiß auch gar nicht, was ich dir zum Trost sagen soll, es würde alles so banal klingen. Jedenfalls freue ich mich riesig, die Tochter meiner Lanie gefunden zu haben«, schlug sie absichtlich einen munteren Ton an. »Da werden wir beide jetzt Gesprächsstoff haben, noch und noch.« Weiter konnte sie nicht sprechen, da Dr. Hörse sich durch die Tür schob, wie gewöhnlich die Hände in den Kitteltaschen, den langen Rücken leicht gebeugt. Vergnügt pfiff er die Melodie des Liedes: Von allen den Mädchen so blink und so blank gefällt mir am besten die Lore… »Sagen Sie(vergnügtes Huhn, wann haben Sie mal schlechte Laune?« fragte Gertraude lachend, und seelenruhig kam es zurück: »Dann müßte ich ja einen Flunsch ziehen, der auf die Dauer ein verknittertes Gesicht macht – und meins ist doch so glatt und schön. – Und was macht unsere Süße?« »Die wird Sie bald bei den Ohren nehmen, wenn Sie weiter so respektlos sind«, drohte Traude, worauf er sie vorwurfsvoll ansah. »Aber gnädige Frau, warum so streng mit dem Wilmarchen? Er ist doch sooo ein liebes Bübchen.« Da mußte selbst Lenore lachen – und der junge Arzt hatte erreicht, was er wollte. Er setzte sich zu ihr, und während er mit behutsamen Händen den Kopfverband abnahm, fuhr er mit seinen Schnurren und Spaßen fort. Damit pflegte er die Kranken abzulenken – dann tat es nur noch halb so weh. Was bei Lenore übrigens gar nicht nötig war; denn sie fühlte keinen Schmerz, weil die Wunde fast schon heil war. Befriedigt nahm der Arzt das zur Kenntnis. »Na also, das haben wir beide wunderbar hingekriegt. Da ein Verband nicht mehr nötig ist, kleben wir ein Pflaster auf die Tonsur.« Nachdem dies geschehen war, besah er wohlgefällig sein Werk.
»Einfach schick, modern, überhaupt wie der letzte Schrei! Wie ein rosenrotes Band inmitten der Lockenpracht. Herz, bleib hart!« Da lachte Lenore hier zum erstenmal so goldig, daß den beiden anderen ganz warm ums Herz wurde. Sie dachten beide dasselbe, nämlich daß Dr. Skörsen ein kompletter Narr wäre, weil er dieses entzückende Menschenkind, das ihm das Schicksal in die Hand gegeben, so schlecht gehütet hatte. »Wer wagt denn da, unsere heilige Ruhe zu stören?« sprach Wilmar pathetisch, als es klopfte. »Herein!« Gleich darauf stand in der Tür eine Schwester, die ganz überflüssig fragte: »Ist Herr Dr. Hörse hier?« Nun, der war doch in seiner Länge bestimmt nicht zu übersehen. Gerade wollte er fragen, ob die Schwester eine Lupe brauchte, als ein weibliches Wesen sichtbar wurde, das Lenore wie ein Wunder anstarrte. »Ja – Fräulein – was machen Sie denn hier?« »Krank sein«, versetzte Wilmar pomadig. »Aber woher kennen Sie denn das Fräulein Fridchen?« »Die hat doch meinen Jungen so lieb gehalten.« »Was – etwa über die Taufe?« »Also, Herr Doktor, daß Sie doch nie Ihre Spaßvogelei lassen können!« »Apartes Wort!« Da lachte Fridchen Druschke und mit ihr die anderen. Sprudelnd vor Eifer erzählte sie das kleine Intermezzo im Eisenbahnabteil, in dem auch dieser fabelhafte Dr. Skörsen mitfuhr. Wilmar, der sie zuerst Lenores wegen unterbrechen wollte, besann sich eines anderen und ließ dem Plappermäulchen freien Lauf. Und dann wagte er etwas, das Gertraude fast den Atem verschlug. »Was meinen Sie wohl, Fridchen, als was Ihr Fräulein sich entpuppen wird?«
»Da bin ich aber neugierig.« »Als Gattin unseres Dr. Ralf Skörsen.« »Nein!« »Ja. Machen Sie den Mund zu, Fridchen, sonst wird’s Herzchen kalt. Und nun lassen Sie mal dieses gewiß interessante Thema fallen, und sagen Sie mir, was Sie sonst noch auf dem Herzen haben.« »Ach so, ja – mein Junge zahnt.« »Weshalb gehen Sie da nicht zum Zahnarzt?« »Da gibt es doch gar nichts zu ziehen.« »Doch – so ein bißchen die Beißerchen raus, damit es schneller geht.« Und nun mal gemeinsam ab! Was meinen Sie wohl, wie uns Dr. Skörsen auf die Zehen tritt, wenn er erfährt, daß wir sein heißgeliebtes Weib womöglich aufregen – es ist nämlich krank.« Damit nahm er Fridchen Druschke ungeniert am Ärmel und zog sie mit sich fort. Die Tür klappte zu – und unter den beiden Zurückbleibenden war es erst einmal still. Am nächsten Tag eröffnete der Professor seiner Schwägerin, daß sie für eine Stunde aufstehen könnte, was dieser einen Freudenjauchzer entlockte. »Endlich. Nach vier Wochen wieder einmal spüren dürfen, daß man auch Beine hat.« »Die dir ganz nett zittern werden«, schmunzelte der Schwager. »Wetten, daß du schon früher, als du es sollst, wieder ins Bettchen zurücksinkst?« »Na, du, unterschätz mich nicht. Nach der guten Pflege hier fühle ich Kräfte, daß ich Bäume aus der Erde reißen könnte.« »Abwarten.« »Aber nicht lange, ich will nach Hause. Wann?« »Wenn dir das Aufstehen bekommt, in den nächsten Tagen.« »Wunderbar! Und wie ist es mit meinem reizenden Kumpelchen?« »Kann auch mal versuchen, sich auf die Beinchen zu stellen. Also, dann viel Vergnügen!«
Er ging, und Gertraude wollte gerade zur Klingel greifen und eine Schwester herbeibeordern, als ein schluchzender Laut ihre Hand sinken Heß. Erschrocken sah sie zu Lenore hinüber, die von Weinen nur so geschüttelt wurde. »Nore, um Himmels willen, was hast du denn?« Als keine Antwort erfolgte, sondern das stoßweise Schluchzen sich noch verstärkte, hielt es Traude nicht länger im Bett. Sie sprang auf – zwei lange Schritte, und sie umfaßte erbarmend die bebende Gestalt. »Kind, du darfst doch nicht so weinen!« sagte sie beschwörend. Doch schon umklammerten zwei Arme sie so fest, daß sie Mühe hatte zu atmen. Ein heißes Gesicht drückte sich gegen ihren Hals, der naß wurde von Tränen. Und unter Herzstößen brach es heraus: »Tante Traude, wenn du gehst, dann bin ich allein, so furchtbar allein.« »Aber Lenore, du hast doch deinen Mann.« »Nein!« schrie sie so gequält auf, daß die andere zusammenzuckte. »Ich will ihn nicht mehr sehen – nein, ich will ihn nicht mehr sehen!« Wieder dieses erschütternde Weinen, das Gertraude ins Herz schnitt. Ratlos sah sie auf das zuckende Köpfchen nieder. Ob sie nicht doch lieber den Schwager zur Hilfe rief? Nein, erst wollte sie versuchen, mit dem verzweifelten jungen Menschenkind allein fertig zu werden. »Hör mal zu, mein Kind«, begann sie behutsam. »Dein Mann ist doch nicht schlecht, er war nur in bezug auf seine Angehörigen verblendet. Nun ihm die Augen geöffnet worden sind, wird er sich hüten, dich noch einmal zu ihnen zu bringen. Was meinst du wohl, wie erschüttert er war, als er von Berlin zurückkehrte und hören mußte, was sich während seiner Abwesenheit zu Hause zugetragen hatte. Er ist darüber unglücklich genug.« »Mir egal, ich gehe nicht mehr zu ihm zurück. Und wenn er mich zwingen will, bringe ich mich um.« Es klang so entschlossen, daß Gertraude erschrak.
»Ja, was willst du denn sonst beginnen?« fragte sie zögernd. »Du bist doch so unerfahren, so weltfremd, daß du allein gar nicht bleiben kannst.« »Ob ich kann oder nicht, ich muß ja wohl.« So unendlich traurig klang es, daß Traude die Tränen in die Augen traten. Ein kurzes Überlegen, und dann die Frage, die das gute Herz ihr eingab: »Hör mal, Lenore, möchtest du erst einmal mit mir nach Hause kommen?« Da ging ein Ruck durch den grazilen Körper. Die Arme sanken, und zwei verweinte Augen sahen die gütige Frau ungläubig an. »Tante Traude, scherzt du etwa?« »Mein liebes Kind, danach ist mir jetzt wahrlich nicht zumute. Im Gegenteil, ich habe Angst um dich, weil du in deiner jetzigen Verfassung tatsächlich imstande wärest, eine nie wieder gutzumachende Dummheit zu begehen. Zu deinem Mann willst du nicht zurück, für dich allein bleiben darfst du auf keinen Fall. Also wärst du in meinem Haus am besten aufgehoben – das heißt, wenn du willst.« »Da fragst du noch? Oh, Tante Traude.« »Sieh mal an, wie du jetzt lachen kannst!« brummte sie. Doch schon wurde Lenore ernst. »Ich habe auch allen Grund dazu, Tante Traude. Weiß ich doch nun endlich, was aus mir wird. Glaub mir, ich habe Angst genug davor gehabt, so mutterseelenallein in der Welt dastehen zu müssen.« »Als Ehefrau«, warf Gertraude trocken ein. »Das zählt nicht – und wird auch nicht mehr zählen.« »Na, na, ist ja schon gut, reg dich bloß nicht wieder auf! Schlaf lieber.« »Habe gar kein Verlangen danach. Ich möchte dich fragen…« »Aber bitte nichts Unerfreuliches!« »Kommt ganz darauf an. Also: werden deine Angehörigen auch damit einverstanden sein, daß du mich so mir nichts dir nichts ins Haus bringst?«
»Sie werden sich freuen. Genügt dir das?« »Es ist mehr, als ich zu hoffen wagte. Wie lange darf ich bei euch bleiben?« »So lange du willst.« »Ach, Tante Traude, das würde wohl sein, solange ich lebe.« »Na schön«, meinte die andere nun schon ganz gottergeben. »Dann hat Ilga später wenigstens eine zuverlässige Muhme für ihre sechs Kinder, wie sie immer großtut. Die nimmt nämlich den Mund genauso voll wie du, mein Herzchen. Und nun hopp, heraus aus dem weichen Pfühl! Nutzen wir die Stunde, die der gestrenge Chef des Hauses uns bewilligt hat.« »Ich habe keine Lust aufzustehen.« »Wirst dich schon besinnen, wenn du mich so stramm auf beiden Beinen siehst.« Damit drückte sie auf den Knopf, und überraschend schnell erschien eine Schwester, über dem Arm die Kleider der beiden Patientinnen. »Nanu, Schwester, können Sie hellsehen?« »O nein, gnädige Frau, ich bin von der Frau Oberin bestens informiert. Wer von den Damen steht zuerst auf?« »Ich. Der kleine Faulpelz da findet es zu schön im Bett, als daß sie es verlassen möchte. Na, immer, wie jedem schön ist. Und nun wollen wir mal.« Schwungvoll verließ sie das Bett, stellte sich couragiert auf die Beine, die dann jedoch langsam zu zittern begannen. Doch tapfer hielt sie durch, bis sie angekleidet war, dann ließ sie sich aufatmend in den Korbsessel fallen und trank mit Behagen den stärkenden Wein, den die Schwester ihr brachte. Danach wurde sie so unternehmungslustig, daß sie erklärte: »Nun kommt ein Spaziergang durch den langen Korridor.« »Gnädige Frau, der ist nicht vorgesehen.« »Machen Sie nicht solche Angstaugen, Schwester Erika! Ich nehme diese Eigenmächtigkeit auf meine Kappe, also haben Sie nichts zu befürchten.« Lenore vergnügt zuwinkend, verließ sie das Zimmer. Doch
kaum, daß sie einige Meter gegangen war, lief sie der Oberschwester in die Arme. »Ja, gnädige Frau, sehe ich recht? Sind Sie es wirklich?« »Natürlich«, kam es lachend zurück. »Um hier als Geist einherzuwandeln, dafür bin ich denn doch zu rundlich.« »Na, so ein Leichtsinn! Schwester Erika!« »Lassen Sie die Schwester in Frieden«, unterbrach Gertraude sie gemütlich. »Die hat keine Schuld.« »Sie können gehen«, wandte die Vorgesetzte sich an das Mädchen, das nur zu gern entschwand. Als es außer Hörweite war, fragte Agathe gedehnt: »Na, gnädige Frau, wenn dieser Spaziergang nur nicht etwas zu bedeuten hat.« »Kluges Kind! Reichen Sie mir galant Ihren Arm und führen Sie mich zu meinem Schwager!« Der sah dann seiner Schwägerin unwillig entgegen: »Also, Gertraude…« »Stopp ab, Schwagerherz!« ließ sie sich in den nächsten Sessel sinken. »Gib mir lieber ein Glas Wein und laß mich dann reden. Es ist nämlich wichtig, was ich dir zu sagen habe.« »Brieflich hätte es auch genügt.« »Nein, dieses nicht.« Nachdem sie den Wein getrunken hatte legte sie sich im Sessel zurück und erwischte gerade noch den Ärmel der Oberin, die das Zimmer verlassen wollte. »Bleiben Sie bitte hier! Sie haben sich wahrlich um Lenore verdient gemacht, und von ihr werde ich jetzt sprechen.« Sie tat es, gab alles ziemlich wörtlich wieder. Danach war es erst einmal bedrückend still, bis der Arzt kopfschüttelnd sagte: »So ist dein gutes Herz wieder einmal mit dir durchgegangen, meine liebe Traude. Aber ich weiß nicht, ob Dr. Skörsen das anerkennen wird. Denn schließlich hast du über seinen Kopf hinweg eine Bestimmung getroffen…« »Ach was!« unterbrach sie ihn hitzig. »Der soll doch man ganz ruhig sein. Hat gerade genug auf dem Kerbholz.«
»Gertraude!« »Na ja, ich halte schon den Mund«, brummte sie halb ärgerlich, halb beschämt. »Ist es nicht besser für ihn, daß ich mich seiner Frau annehme, selbst über seinen Kopf hinweg, als daß sie sich ein Leid antut?« »Kindisches Geschwätz!« »Wenn du dich da nur nicht irrst. Wie ist Ihre Ansicht darüber, Frau Oberin?« »Daß man Lenores Reden nicht auf die leichte Schulter nehmen darf. Denn in solch einer seelischen Verfassung, in der sie sich jetzt befindet, hat schon mancher seinem Leben ein Ende gemacht.« »Will ich meinen«, nickte Gertraude. »Also wird man Dr. Skörsen mitteilen müssen…« »Was natürlich mir zugeschoben wird«, knurrte Rudolf Hollgart dazwischen. »Als ob es so einfach wäre, dem armen Kerl gewissermaßen den Dolch ins Herz zu stoßen. Außerdem wird er dann hier nicht länger bleiben wollen, und wir sind unsere beste Kraft los.« So kam es dann auch. Denn nachdem der Professor mit Skörsen gesprochen hatte, lachte dieser hart auf. »Das habe ich kommen sehen. Na, schön, mag meine Frau ihren Willen haben – sagen wir, vorerst mal auf ein halbes Jahr. Sie wird in der Zeit mich weder sehen noch von mir hören, da ich ins Ausland zu gehen gedenke. Ich habe während des Kursus, an dem auch Ausländer teilnahmen, mancherlei Verbindungen angeknüpft, die ich jetzt auszuwerten gedenke. Ich bitte daher, Herr Professor, mich meiner Verpflichtung hier zu entbinden, wenn möglich sofort.« »Also doch! So gehen Sie mit Gott. Sollten Sie jedoch ein Fiasko erleiden, dann steht Ihnen hier die Tür immer offen.« Es war drei Tage später. Gertraude und Lenore, die jetzt schon ziemlich sicher auf den Beinen waren, saßen in bequemen Sesseln und blätterten in Illustrierten. Im Zimmer war es mollig warm,
doch draußen fror es, daß es knackte. Kein Wunder, da man sich in der zweiten Hälfte des Februar befand. »Morgen gibt es einen klaren Wintertag«, sprach Gertraude in die Stille hinein, und Lenore sah sie erstaunt an. »Wie kannst du das heute schon wissen?« »Schau durch das Fenster und sieh dir die Sonne an, die blutrot hinter dem Horizont versinkt. Oder bist du so sehr Großstadtkind, daß du solche Anzeichen in der Natur nicht kennst?« »Na, Tante Traude, in der Großstadt gibt es schließlich auch einen Himmel und Sonnenuntergang.« »Aber alles verräuchert, mein Herzchen.« Lenore kam zu keiner Antwort, weil Schwester Erika eintrat, einen Koffer tragend, den sie zuerst abstellte und dann der jüngeren der Damen einen Brief überreichte. »Beides ist für Sie abgegeben worden, gnädige Frau.« Sie zog sich zurück. Lenore starrte erst einmal den weißen Umschlag an wie etwas, das nicht ganz geheuer war. Doch nachdem sie die Schrift erkannte, öffnete sie das Kuvert mit bebenden Händen. Während sie las, kam und ging die Farbe auf ihrem Gesicht in jähem Wechsel. Dann ließ sie das Schreiben sinken und sah wie hilflos zu Gertraude hinüber, die wohl ahnte, von wem es kam, sich jedoch abwartend verhielt. »Tante Traude?« »Ja?« »Ein Brief von meinem Mann. Willst du ihn lesen?« »Gern, wenn du mich dieses Vertrauens für würdig hältst.« »Bitte.« »Na schön, gib her!« Dann las sie aufmerksam, was da in prägnanter Schrift stand: Lenore! Da Du mich nicht mehr sehen willst, bin ich gezwungen, schriftlich von Dir Abschied zu nehmen. Ich habe mich für ein halbes Jahr als Arzt nach Australien verpflichtet.
Doch dann kehre ich wieder nach Deutschland zurück und hoffe Dich dann seelisch wie körperlich wieder ganz auf der Höhe zu finden. Es ist mir eine Beruhigung, Dich bei so prächtigen Menschen wie Familie Hollgart zu wissen. Deine Möbel habe ich einem Spediteur übergeben. Kleider, Wäsche und sonstiges schicke ich an Deine neue Adresse. Einen Koffer erhältst Du gleichzeitig mit diesem Brief, er enthält das, was Du jetzt wohl nötig haben wirst. Der Kofferschlüssel steckt im Umschlag. Und nun leb wohl, Lenore! Zürne mir nicht zu sehr, obwohl ich es verdient habe. Ralf. »Ja, Kind, du hast es nicht anders gewollt«, sagte Gertraude, als sie den Brief zurückgab. »Nun beklage dich nicht!« »Tue ich auch gar nicht, Tante Traude.« Damit nahm sie den Schlüssel und öffnete den Koffer, in dem unter anderen Sachen auch ihr Pelz lag, den sie bei der Kälte wirklich nötig hatte. Ebenso den wannen Pullover nebst Rock, denn sie war ja in Hauskleid und Küchenschürze im Krankenhaus eingeliefert worden. Auch feste Schuhe fand sie vor, Mütze, Schal, Handschuhe. Ralf schien tatsächlich an alles gedacht zu haben. Selbst die Kassette mit dem Schmuck fehlte nicht. Als Lenore diese öffnete, lag obenauf ein Umschlag, in dem einige Hundertmarkscheine und ein Zettel steckten, auf dem stand: Dieses zuerst für Deinen Unterhalt. Weitere Summen gehen über Dein Bankkonto. Die Raten werden selbstverständlich weiter gezahlt. Ralf. »Sieh mal, Tante Traude, wenn das da kein Unsinn ist!« hielt Lenore ihr unmutig die Scheine unter die Nase. »Ich habe doch Geld, von dem ich leben kann, schon allein von den Raten…«
»Das ist aber dein Geld, mein Kind«, unterbrach Gertraude sie gelassen. »Der Ehemann ist jedoch verpflichtet, für den Unterhalt seiner Frau zu sorgen.« »Gewiß. Na egal. Er muß ja wissen, was er tut.« Am nächsten Vormittag standen die beiden im Zimmer des Professors, um Abschied von ihm, der Oberschwester und dem jungen Arzt zu nehmen. Gertraude rundlicher denn je, so daß die Kleider ihr knapp paßten, Lenore schlank und biegsam wie eine Gerte. Der Pullover war so blau wie das leuchtende Augenpaar, das natürliche Gelock glänzte und gleißte im Schein der Wintersonne, die ins Zimmer strahlte. Jetzt sah man erst, wie schön dieses junge Menschenkind war, von einer natürlichen, bezaubernden Schönheit. »Die Narren werden eben nicht alle«, brummte Wilmar, und man wußte sehr wohl, wen er mit diesem Namen meinte: nämlich Skörsen, der es nicht verstanden hatte, so viel Köstlichkeit zu hüten. Lenore jedoch sah ihn kopfschüttelnd an. »Wer ist denn hier ein Narr, Herr Doktor?« »Ich. Ich werde weinen, wenn wir voneinandergehen.« »Wir sehen uns ja bald wieder«, tröstete Gertraude. »Ich will doch hoffen, daß Sie uns bald besuchen werden.« »Wenn ich darf, gnädige Frau, so will ich mich gewiß nicht lumpen lassen.« »Sähe Ihnen auch gar nicht ähnlich. Daß du kommst, geliebter Schwager, ist ja Selbstverständlichkeit, aber auch die Frau Oberin möchte ich gern mal zu unseren Gästen zählen. Wie wäre es, wenn Sie Ihren Urlaub bei uns verlebten?« »Ich nehme dankend an, gnädige Frau, ich komme mit tausend Freuden.« »Dann wäre ja alles aufs beste geregelt. Und nun weinen Sie, Herr Doktor, Ihre Süße wird Sie verlassen.« »Kann ich nicht, gnädige Frau. Meinen müdgeweinten Augen entquillt keine Träne mehr.« »Ist der Ausspruch etwa von Ihnen?« fragte Gertraude
lachend. »Und ob!« schlug er sich an die Brust. »Ich bin ein Denker und Dichter – sieht man mir das denn gar nicht an?« So nahm man denn lachend Abschied, und die beiden Expatientinnen fuhren im Auto des Chefarztes davon. In ihren Pelzen und dem geheizten Wagen spürten sie nichts von der Kälte da draußen, behaglich schmiegten sie sich in das weiche Polster. Der Hollgarthof war ein kleines, aber schmuckes Anwesen, blitzsauber und solide gebaut. Zwölf Morgen Land gehörten dazu, die ein Mann namens Matthes Ergurat bewirtschaftete. Er war schon auf dem Hollgarthof vor einem halben Jahrhundert geboren und hatte ihn nie länger als nur auf Stunden verlassen, mit so zäher Liebe hing er an ihm. Genauso wie sein Riekchen, das so wunderbar zu ihm paßte. Er schwang sein Zepter draußen, sie ihres in Küche und Keller. Und somit befand sich der Hollgarthof in den treuesten Händen. Diese beiden Getreuen standen nun am Fenster der geräumigen Küche und warteten voll Sehnsucht auf ihre Herrin. Und was da zwischen ihnen vor Aufregung zappelte, war der Abgott Ilga. Als das Auto dann endlich da war, stürmte Ilga davon und kam gerade zurecht, der aussteigenden Mutter um den Hals zu fallen. Vom Hof her rasten die beiden Hunde herbei, die an dem lieben Frauchen vor Freude jaulend hochsprangen, und um Frauchens Füße schnurrte die Katze Eulalia. »Herrschaften, laßt mich leben!« flehte Gertraude. »Laßt ab von mir und stürzt euch hier auf unseren Gast.« Allein bei dem benahmen sie sich denn doch gesitteter. Ilga hieß den Gast artig willkommen, Jagdhund und Dackel beschnupperten ihn vorsichtig, und Eulalia beäugte ihn aus der Ferne. »Nun kommt schon!« lachte Gertraude. »Sonst frieren wir hier noch an.«
Also zog man vereint in die Diele, wo Matthes und Riekchen standen, Hand in Hand. Er lang und hager, mit einem Gesicht, als wäre braunes Leder über die Knochen gespannt, sie klein und rundlich, wie es sich für eine gute Wirtschafterin gehört. »Na, ihr beiden Getreuen, ihr seht mich ja so angstvoll an? Nichts da, ich bin wieder gesund und fidel wie eh und je. Schaut mal, was ich mitgebracht habe, einen lieben Gast.« »Das ist schön – ja, ja, das ist schön!« lachte und weinte Riekchen durcheinander. »Aber am schönsten ist, daß wir unsere liebe Frau wiederhaben. Kein Leben war das ohne Sie.« »Nein, kein Leben.« Matthes nickte bekräftigend. »Aber jetzt ist wieder Leben, und wir können gehen.« Sprach’s, hängte die Pfeife in den Mundwinkel und stapfte befriedigt ab. »Bring aus dem Auto den größeren Koffer ins Fremdenzimmer!« rief Gertraude ihm nach. »Der kleine gehört mir. Und du, Riekchen, gib dem Chauffeur von dem Festessen, das du doch sicher zum Empfang bereitet hast. Aber keinen Alkohol, er muß heute noch zurückfahren.« »Nein, nein, wo werde ich denn so was! Der kriegt einen steifen Kaffee.« Weg war sie, und Ilga lachte hellauf. »Die beiden sind vor Freude ganz durcheinander. Riekchen hat jeden Winkel im Haus unter die Bürste genommen, dazu gebacken und gebrutzelt, als stände ein Hochzeitsfest bevor. Matthes hat Pferd und Kuh gestriegelt und die Hufe so blank geputzt, als müßten sie auf Lackschuhen zum Tanz. Die Schweine wurden gewaschen, am liebsten hätte er auch die Hühner in die Wanne gesteckt. Und das alles zu deinem Empfang, Mutzileinchen.« »Ja, sie sind rührend«, entgegnete Traude warm. »Nur mein Herr Gemahl…« »Erscheint wie auf ein Stichwort«, kam eine Baßstimme von der Tür her, durch die ein Mann trat – groß, breit, mit einem frischen Gesicht, von denen er jetzt das eine
verschmitzt zukniff. »Sei mir gegrüßt, mein holdes Weib, fleuche an mein Herz!« Damit breitete er die Arme aus, in die Gertraude lachend sank. Nach herzlicher Begrüßung machte sie sich frei und zeigte auf Lenore, die dem allen mit großen Augen gefolgt war. »Das da ist unser lieber Gast, Frau Skörsen.« »So was ist nun schon Frau.« Er betrachtete das grazile Persönchen kopfschüttelnd. »Das ist ja kaum aus den Windeln, zum Umpusten zart. Na, unser Riekchen wird schon Fleisch auf die Knöchelchen bringen. Doch zuerst mal herzlich willkommen.« Behutsam nahm er das Händchen, das sich ihm zaghaft entgegenstreckte, in seine braune Faust – und eine spontane Freundschaft war geschlossen. »Jetzt aber ab mit euch!« sagte Gertraude, sehr befriedigt von der beiderseitigen Sympathie. »Bring Lenore in ihr Zimmer, Ilga. Aber schwatzt euch dort nicht fest. Denn soweit ich Riekchen kenne, wird das Festmahl bald zum Vertilgen bereitstehen.« Die Treppe, die sie emporstiegen, war so breit, daß drei schlanke Menschen bequem nebeneinander gehen konnten. Überhaupt war alles in dem Haus weit und geräumig, wie man eben vor einem Jahrhundert gebaut hatte. Und so alt war das Gebäude bereits, aber tadellos gehalten und auch modernisiert, doch nur so viel, wie erforderlich war. Elektrisches Licht gab es natürlich, Anlage für kaltes und warmes Wasser, gekacheltes Badezimmer, aber keine Zentralheizung. Man zog die behäbigen Kachelöfen hier immer noch vor. Die Einrichtung der Räume war nicht gerade altmodisch, aber auch nicht vom sogenannten letzten Schrei, sondern vornehm, gediegen und behaglich. Ilga nannte ein allerliebstes Jungmädchenzimmer ihr eigen, zartgrüner Schleiflack mit bunten Seidenpolstern.
»So ein ähnliches Zimmer habe ich auch einmal besessen«, sagte Lenore leise. »Oh, wie lange ist das her, wie lange.« »Na, soo lange nun auch wieder nicht«, warf Ilga ein, um keine wehmütige Stimmung aufkommen zu lassen. »Ihr kleines Reich ist nebenan, hoffentlich gefällt es Ihnen.« »Und wie es mir gefällt«, sagte Lenore erfreut, nachdem sie das sehr hübsch eingerichtete Zimmer betreten hatte. »So behaglich und traut.« »Muß es ja auch«, nickte Ilga befriedigt. »Sie sollen sich darin wohl fühlen, Frau Skörsen. – Ooch, die Anrede finde ich albern«, gestand sie unumwunden. »Wollen wir so einen formellen Ton erst gar nicht zwischen uns aufkommen lassen und gleich Du zueinander sagen?« »Von Herzen gern, Ilga.« »Freut mich, Lenore. Weißt du, dann ist man gleich vertrauter und kann sich viel besser die Meinung sagen.« »Glaubst du, daß es nötig sein wird?« fragte Lenore lachend. »Ich glaube schon. Wenigstens von dir aus, denn ich bin alles andere als ein sanftmütiges Säuselinchen.« »Was isch von mir auch nicht gerade behaupten kann. Ach, Ilga, ich bin ja so froh, bei euch sein zu dürfen! Du weißt doch sicher von deiner Mutter…« »Ja, ich weiß«, winkte das Mädchen entschieden ab. »Wirst das alles bald vergessen haben in unserem vergnügten Kreis. Nun zieh dich aus, aber nicht ganz.« Da lachte Lenore, wie sie schon lange nicht mehr gelacht hatte. Gerade in dem Moment trat Gertraude ein und sagte befriedigt: »Na also: du siehst mich lachend an, Eleonore.« »Na, Mutti, wenn du schon zitierst, dann aber richtig. Es heißt lächelnd und nicht lachend.« »Diese Bezeichnung finde ich aber schön, weil sie lustig ist. Wo man lustig ist, da laß dich ruhig nieder.« »Wieder falsch. Wo man singt, heißt es.« »Habe ich aber eine kluge Tochter. Na, macht nichts, ich bescheide mich. Wie gefällt dir denn dein kleines Reich,
Nore?« »Oh, Tante Traude, ich bin ja so froh – nein, ich bin glücklich.« »Bescheidenes Gemüt! Ich gehe jetzt. Aber erscheint pünktlich zum Essen, sonst wird unser Riekchen böse.« Sie ging, und zehn Minuten später betraten Lenore und Ilga Seite an Seite das Speisezimmer, das den Wohlstand des Hauses verriet, denn nichts darin war billiger Tand. Jetzt lernte Lenore auch den Sohn des Hauses kennen, einen stämmigen Krauskopf, der nach drei Jahrzehnten wahrscheinlich so aussehen würde wie sein Vater heute. Gut von Herz und Gemüt, wie es bei den prächtigen Eltern ja gar nicht anders sein konnte, aber auch mit den »hervorstechenden Eigenschaften« eines Fünfzehnjährigen behaftet. Zuerst benahm er sich Lenore gegenüber linkisch, was sich aber bald gab, und dann blieb sie von seinen gelegentlichen Frechdachsereien nicht verschont. Den Abschluß dieses für Lenore so wunderschönen Tages bildete der gemütliche Plausch, der sich bis Mitternacht ausdehnte. Denn Ilga hatte der neuen Freundin so viel zu erzählen, diese mußte ja schließlich in die Verhältnisse hier eingeweiht werden. Damit sie vom Nebenzimmer aus nicht zu schreien brauchte, legte sie sich zu Lenore ins Bett und ließ ihrem Plappermäulchen freien Lauf. Erzählte von diesem und jenem und kam so auch auf die nähere Verwandtschaft zu sprechen. »Den Bruder von Paps kennst du ja bereits«, leitete sie die Erklärung ein. »Aber er hat noch einen…« »Sieht er ihm auch so wenig ähnlich wie der Professor?« fragte Lenore dazwischen. »Nein, gar nicht. Die drei Brüder sehen alle verschieden aus. Vielleicht wäre Onkel Reinhard meinem Vater in der Gestalt ähnlich geworden, wenn er nicht verwachsen wäre.« »Oh, wie traurig!« »Nicht wahr? Ausgerechnet einen so feinen, wertvollen Menschen mußte dieses Unglück treffen.«
»Ist er so geboren?« »Nein. Das Kindermädchen ließ ihn als Säugling fallen, was sie aus Angst verschwieg. Als es dann später herauskam, war es zur Heilung zu spät. Aber weißt du, Onkel Reinhard macht sich gar nicht so viel daraus, ihm ist es egal, wie er aussieht. Er lebt nur für seine Patienten und seine wissenschaftliche Arbeit.« »Ist er denn auch Arzt?« »Ja. Und zwar ein bedeutender, wie Onkel Rudolf. Nur auf anderem Gebiet, mehr Psychiater. Ihm gehört das Sanatorium Friedberg auf der Anhöhe, das ständig belegt ist. Also muß er schon etwas von seinem Beruf verstehen.« »Verheiratet?« »Nein, Junggeselle.« »Und der Professor?« »Witwer seit fünf Jahren.« »Kinder?« »Leider nicht. Dafür war seine Frau viel zu zart. Er hat sie sehr geliebt, und ich glaube nicht, daß er ihr eine Nachfolgerin geben wird. Denn erstens ist er über fünfzig, zweitens beruflich so in Anspruch genommen, daß er sich um seine Frau wenig kümmern könnte, drittens versorgt ihn die langjährige Wirtschafterin so vortrefflich, daß er in seinem Hause an Sorgfalt und Behaglichkeit nichts vermißt. Schade, daß Günther und ich die einzigen Sprößlinge in der Familie Hollgart sind – ich hätte so gern eine Base oder einen Vetter.« »Hast du auch keine von Mutterseite?« »Nein, sie war das einzige Kind.« »So wie meine Eltern auch einzige Kinder waren. Daher stehe ich jetzt so allein da.« Allein? wäre es Ilga fast entschlüpft, was sie gerade noch hinunterschlucken konnte. Denn sie hatte von der Mutter strikte Anweisung – wie auch die andern im Haus –, in Gegenwart Lenores deren Gatten nicht zu erwähnen. So meinte sie denn herzlich:
»Du hast ja jetzt uns, Nore – und wir haben dich alle sehr gern.« »Das werde ich euch ewig danken. Doch nun erzähle weiter. Wird es dir nicht langweilig in dieser Abgeschiedenheit?« »Na, du, dazu fehlt es mir wirklich an Zeit. Ich erledige den schriftlichen Kram für Paps, führe die Bücher und springe, wenn nötig, in der Hauswirtschaft ein. Da wird der Tag manchmal viel zu kurz.« »Sag mal, Ilga, wie alt bist du eigentlich?« »Siebzehn. Bis sechzehn Schule, ein Jahr Handelsschule – und jetzt die tüchtige Sekretärin des Tierarztes Dr. Hermann Hollgart auf Hollgartshof. Klingt das nicht nobel?« »Außerordentlich.« »Also! Übrigens ist Abgeschiedenheit für unser Rittergut keine richtige Bezeichnung. Fünf Kilometer entfernt ist die Kreisstadt, die du per Auto und wenn das unterwegs ist, per Equipage – bitte sehr! – jederzeit erreichen kannst. Und in dieser Stadt, die immerhin über hunderttausend Einwohner zählt, gibt es Vergnügungen noch und noch. Bist du Großstadtkind jetzt zufrieden? Oder glaubst du dich hier immer noch wie von aller Welt abgeschnitten? – Was heißt überhaupt Welt? Ich kenne sie nicht – und möchte sie auch gar nicht kennenlernen. Es mag darin schön, herrlich, wunderbar, einzigartig sein, aber: Tohuus ist tohuus – und ich habe ein trautes Zuhause, nie möchte ich von ihm fort.« »Und wenn du heiratest, Ilga?« »Dann nur einen Mann, der gewillt ist, hier zu wohnen.« »Aber du hast doch einen Bruder. Wenn er später das Vätererbe übernimmt?« »Das tut er gewiß, will sogar aus alter Tradition Tierarzt werden. Er wird wahrscheinlich auch heiraten und Kinder haben. Aber das Haus ist ja groß, es bietet zwei Familien genügend Platz. Mit Günther verstehe ich mich glänzend, und sollte ich es mit seiner Frau nicht tun, so kann jeder
für sich allein leben. – Aber soweit ist es ja noch länge nicht. Günther ist fünfzehn, ich bin siebzehn. Bis wir eine Familie gründen, hat es noch gute Weile. Apropos heiraten – meine Mutter sagt, man soll es nie zu früh tun, weil einem dann die Reife zur Ehe fehlt. So Mitte zwanzig, das wäre das richtige Heiratsalter.« Weiter sprach sie nicht, weil sie sich dessen bewußt wurde, daß Lenore erst zwanzig zählte und doch schon verheiratet war. »Na ja, dem Heiratsalter sind schließlich keine Grenzen gesetzt«, versuchte sie ihren Lapsus zu bemänteln. »Außerdem bin ich müde – du auch?« »Sehr.« »Dann gute Nacht. Schlaf wohl und träume süß, Norelein! Merk dir gut, was du träumst. Denn die ersten Träume unter fremdem Dach sollen in Erfüllung gehen.« Und Lenore träumte einen Traum von Liebe und Glück, in dem Ralf Skörsen eine große Rolle spielte. Von seinem Arm umschlungen schritt sie dahin durch einen blühenden Garten im Sonnenschein, pflückte lachenden Mundes rote Rosen, die Blumen der Liebe. In dem Paradies gab es keine Schwiegermutter, keine Schwägerin, ein liebend Paar war allein im Garten der Glückseligkeit. Träume sind Schäume, darum erwache und lache. Nun, Lenore lachte beim Erwachen nicht, dafür war sie zu benommen von diesem merkwürdigen Traum. Es dauerte sekundenlang, bis sie sich aus ihm zurückfand in die Wirklichkeit, die sie dann allmählich erfaßte. Richtig, sie befand sich ja auf dem Hollgarthof. Angestrengt lauschte sie durch die offene Tür zum Nebenzimmer hin, doch nichts rührte sich. Demnach schien Ilga noch zu schlafen. Erst als sie einen Blick auf die Uhr warf, welche die zehnte Stunde anzeigte, wunderte sie sich nicht mehr, daß nebenan alles still war. Wohlig streckte Lenore sich im Bett und ließ dabei den Blick durch das Zimmer schweifen. Wie gemütlich es hier war, wie warm und traut. Durch das Fenster lachte die
Wintersonne so hell und klar, daß es die Langschläferin nicht mehr im Bett hielt. Sie erhob sich aus dem weichen Pfühl, griff nach dem Bademantel und ging ins Bad, das ihrem Zimmer gegenüber lag. Als sie dann wieder, erfrischt von der Dusche, dahin zurückkehrte, streifte ihr Blick die großen Koffer, die in der Ecke standen – und schon war ihre frohe Stimmung wie weggeweht. Welche Hoffnung hatte sie auf die Zukunft gesetzt, als sie kurz nach der Hochzeit die Koffer packte. Das zweite Mal hatte es ein anderer getan, und dieser andere… Nein, nicht mehr daran denken, vorwärts schauen und nicht zurück! Was ihr die Zukunft auch bringen mochte, es würde alles nicht so schwer zu ertragen sein wie das, was sie so qualvoll erleiden mußte. Als Lenore das Wohnzimmer betrat, begrüßte Gertraude sie lachend: »Guten Morgen, kleine Siebenschläferin, hast du jetzt wenigstens ausgeschlafen?« »Danke, ich fühle mich herrlich frisch. Aber bitte, laß mich in Zukunft nicht mehr so lange schlafen.« »Kindchen, du versäumst doch nichts.« »Ich möchte aber nicht müßig sein, wo alle so fleißig sind. Eine Arbeit mußt du mir schon zuteilen, Tante Traude.« »Dafür bist du noch zu sehr Rekonvaleszentin. Werde erst ganz gesund, dann wird sich schon alles finden.« »Dann meine ich… Hör mal zu, Tante Traude, ich kann doch nicht – du kannst doch nicht…« »Er kann doch nicht«, lachte Gertraude in das Gestammel hinein. »Kind, was stotterst du da bloß zusammen. Was soll ich – du – nicht können?« »Mich in Pension nehmen. Ach, Tante Traude, merkst du denn gar nicht, wie peinlich mir das ist?« »Warum sprichst du dann darüber, du Dummchen?« »Ich muß doch.« »Kein Mensch muß müssen, behauptet Lessing in seinem weisen Nathan. Und nun komm, iß erst einen Scheffel Salz
bei uns. Was drumrum ist, werde ich dir in Rechnung stellen. Doch vorher möchte ich nichts davon hören. Übrigens ist hier ein versiegelter Umschlag, der mit den Koffern zusammen abgegeben worden ist. Wahrscheinlich sind die Schlüssel darin. Pack also die Sachen aus und richte dich häuslich ein.« Das tat Lenore denn auch, nachdem sie ihr Frühstück eingenommen hatte. Als sie dann in einem Chaos von Kleidungsstücken stand, kam Ilga hereingewirbelt. »Himmel, Nore, das ist ja wie in einem Warenhaus! Wie kann ein Mensch sich nur so viele Sachen anschaffen!« »Die meisten stammen noch aus meiner Jugendblütezeit, wo Mutti mich wie ein Äffchen putzte. Ich wäre froh, wenn ich alles Unbrauchbare loswerden könnte.« »Du, da weiß ich gute Abnehmer«, wurde Ilga eifrig. »Erst einmal unser Hausmädchen, und dann ihre Schwestern, vier an der Zahl. Mutti gibt unsere ausrangierten Sachen auch dorthin, denn die Leute sind arm. Ich hole rasch einen Korb – und dann alles hinein, was dir nur Ballast bedeutet!« Und tatsächlich wurde der große Korb voll, mit dem das Mädchen Grete glückstrahlend abzog. Denn wie sagt Reuter: Was dem einen sin Uhl, is dem andern sin Nachtigall. Eine Woche hielt Lenore es ohne Arbeit aus, doch dann machte sie kurzen Prozeß und suchte sich ihre Beschäftigung. Als sie in der Küche erschien, war Riekchen skeptisch, doch als die junge Frau unter Beweis stellte, daß sie von der Hauswirtschaft etwas verstand, durfte sie hier und da mal einspringen. Auch Ilga traute dem Frieden nicht, als die Freundin bei ihr im Büro auftauchte. »Ja, sag mal, was willst du denn eigentlich helfen?« fragte sie lachend. »Unsinn machen, den ich dann in Ordnung bringen muß?« »Wollen wir es erst einmal darauf ankommen lassen«, blieb Lenore hartnäckig. »Gib mir irgend etwas, woran ich nichts
verderben kann. Wenn ich mich dann gar zu dumm anstelle, kannst du meine Hilfe mit Fug und Recht ablehnen, früher nicht.« »Na schön«, gab Ilga gutmütig nach. »Du wirst schon bald kneifen.« »Abwarten!« Und tatsächlich zeigte Lenore sich so anstellig, daß Ilga ihr nach und nach leichte Arbeiten anvertrauen konnte. So sprang Lenore denn da ein, wo gerade eine Hilfe gebraucht wurde, und nannte sich stolz: Mädchen für alles. Wobei ihr jedoch immer noch Zeit genug blieb, mit Ilga, die sich bei der Arbeit auch »kein Beinchen ausriß«, wie der Vater es schmunzelnd nannte, dem Wintersport zu huldigen. Dabei erholte sie sich zusehends, wurde so strahlend frisch und froh, daß der Professor, der an einem Sonntag die Verwandten besuchte, seine ehemals so elende Patientin kaum wiedererkannte. »Na, Sie haben sich aber mal herausgemacht, kleine Frau«, sagte er bewundernd. »Prächtig, ganz prächtig sehen Sie aus.« »Das hat sie mir zu verdanken, die ich ihr mit so gutem Beispiel vorangehe«, prahlte Ilga, und man glaubte es ihr sogar. Denn ihre Munterkeit ließ keine seelischen Komplexe aufkommen, und die gerade waren es, an denen Lenore am meisten gekrankt hatte. An diesem Tag sollte die junge Frau auch den dritten der Brüder kennenlernen, die doch alle so ganz verschieden aussahen. Rudolf, der älteste, mittelgroß, rundlich, rosig, der jüngste durch die Verwachsung klein geblieben, mit einem klugen, durchgeistigten Gesicht, der mittlere ein kraftstrotzender Hüne. Charakterlich jedoch waren sie sich ähnlich, waren grundanständige Männer mit hohen Ehrbegriffen. Als Lenore den kleinen Herrn begrüßte, hatte sie das Gefühl, als ob diese klaren, forschenden Augen ihre Seele ergründen wollten. Doch als es in ihnen humorvoll
aufzuckte, faßte sie ein spontanes Vertrauen und lachte den Mann so strahlend an, daß es ihm warm ums Herz wurde. »Ein reizendes Geschöpfchen!« sprach er ihr nach, als sie nach dem Nachmittagskaffee mit Ilga und Günther hinausging, um sich mit ihnen bis zur Dunkelheit noch im Freien zu tummeln. »Ihr Mann muß tatsächlich ein Narr sein – oder blind.« »Im allgemeinen ist er es nicht«, bemerkte der Professor. »Wenn es um seine Kranken geht, verfügt er sogar über einen bewundernswerten Scharfsinn. Die kranken Frauen versteht er wunderbar zu nehmen, sonst würden sie gewiß nicht so für ihn schwärmen, nur den gesunden gegenüber scheint er zu sein wie Parzival, der tumbe Tor. Sonst hätte er sich von zwei Intrigantinnen, wie seine Mutter und Schwester es sind, unmöglich so einwickeln lassen können. Übrigens war erstere kürzlich bei mir und flehte mich mit magdalenenhafter Demut an, ihr doch die Adresse ihres Sohnes zu verraten.« »Hast du es womöglich getan?« warf Gertraude ein. »Nein, ich weiß sie ja selbst nicht. Und wenn, hätte ich sie hübsch für mich behalten, weil ich ein Menschenfreund bin. Wie der in jeder Beziehung vornehme Ralf zu der Mutter kommt, das mögen die Götter wissen.« »Vielleicht ähnelt er seinem Vater«, meinte der Tierarzt. Doch der Bruder winkte ab. »Ich glaube nicht, daß Ralf dazu fähig wäre, so ehrenrührige Dinge aufs Kerbholz zu kriegen wie der alte Geck.« »Was hat der denn verbrochen?« fragte Reinhard interessiert. »Darüber wird Traude besseren Bericht geben können, weil Lenore mit ihr über alles gesprochen hat. Also sprich, geliebte Schwägerin.« Sie tat’s, und am aufmerksamsten hörte der verwachsene Mann zu. Als sie schwieg, wandte er sich an seinen Bruder Rudolf. »Du kennst diesen Dr. Skörsen ja am besten. Ob da
wirklich keine Liebe mitsprach, als er sich zu der überstürzten Heirat entschloß?« »Vielleicht – vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall halte ich ihn für fähig, einer sterbenden Frau, der er durch den Vater zu Dank verpflichtet war, eine inbrünstige Bitte zu erfüllen und ihr so das Sterben leichter zu machen.« »Das soll es geben«, meinte Reinhard nachdenklich. »Wahrscheinlich wäre diese Ehe nicht schlechter verlaufen als viele andere, wenn der Mann nicht die Torheit begangen hätte, seine junge Frau zu seiner Mutter zu bringen, der er so blind vertraute. Nun, was er verbrach, muß er jetzt auch büßen. Ich jedenfalls möchte in seiner Haut nicht stecken. Ob er nun wenigstens mit seiner Mutter Abrechnung gehalten hat?« »Soviel ich deren Tiraden entnehmen konnte, hat er sich vollständig von ihr losgesagt«, berichtete der Professor. »Daß sie somit den Sohn verlor, scheint ihr nicht viel auszumachen; doch daß seine nicht unerhebliche Unterstützung jetzt fortfällt, das bereitet ihr argen Kummer. Wohl bezieht sie als Regierungsratswitwe eine gute Pension, muß jedoch die Hälfte davon an ihre Schwiegertochter abgeben – die Erbin des Mannes, der ihrem Gatten damals ein Kapital lieh, damit er seine Spielschulden bezahlen konnte. Nun ist sie gezwungen, mit ihrer Tochter in einer primitiven Wohnung von zwei Zimmern und Küche zu hausen, hat kaum satt zu essen, und so weiter und so weiter. Es wäre einfach unverantwortlich von dem Sohn, sie in dieser Misere zu lassen. In ihrer Not hätte sie es einmal versucht, die monatliche Rate nicht zu entrichten. Doch schon schaltete sich das Vormundschaftsgericht ein, weil Lenore ja noch nicht mündig ist – und vor dieser Behörde schien die sonst gewiß nicht furchtsame Dame einen Heidenrespekt zu haben.« »Da muß Dr. Skörsen ja ganz nett aufgeräumt haben«, meinte der Tierarzt ungerührt. »Der Ruck wird aber auch brutal genug gewesen sein, mit dem man ihm die Binde
der Verblendung von den Augen riß. Jetzt kann er sprechen mit den Worten Wilhelm Teils: Was ich mir gelobt in jenes Augenblickes Höllenqualen, ist eine heil’ge Schuld – ich will sie zahlen.« Nun weilte Lenore bereits vier Wochen auf dem Hollgarthof und sah aus wie das blühende Leben, so wunderbar hatte sie sich körperlich wie seelisch erholt. An die Vergangenheit dachte sie kaum noch, außer an die toten Eltern. Doch während das Bild des Vaters strahlend hell vor ihren Augen stand, war das der Mutter getrübt. Auch an das keimende Leben dachte sie, das brutal zerstört worden war. Aber Schmerz konnte sie darüber nicht empfinden, eher eine Beruhigung, daß dieses Kind nie geboren wurde. Denn Kinder sind ja immer die Leidtragenden, wenn Eltern sich trennen. Und Ralf? Nun, der war in ihrem jungen Leben nichts weiter als eine Episode gewesen- und zwar eine trostlose. Was sie für ihn empfunden, war längst verweht wie Spreu im Wind. Sie hatte geirrt und diesen Irrtum schwer büßen müssen. Somit schien sie mit dem Schicksal quitt zu sein, denn jetzt ging es ihr wieder gut, sehr gut sogar. Man betrachtete sie hier ganz als Tochter des Hauses, was sie immer wieder beglückte. Lenore war ganz aufgeregt, als sie an einem Sonntagmorgen an den Tisch trat, wo Familie Hollgart beim Frühstück saß. In der Hand trug sie Schneeglöckchen, die sie der Hausherrin überreichte. »Die ersten, die ich gefunden habe«, erklärte sie eifrig. »Die sind natürlich für dich, Tante Traude.« »Möchte bloß gern wissen, was dich dabei so aufregt«, meinte Günther pomadig. »Schneeglöckchen sind doch nun wirklich nichts Besonderes.« »Für dich natürlich nicht, du unpoetisches Gemüt.« »Fangt um Himmels willen nicht an, euch zu zanken!« hob Gertraude beschwörend die Hände, während der Herr Gemahl schmunzelte. »Stopf dir deinen großen Mund mit
dem Schinken, den du gerade auf dem Teller hast, mein Sohn.« »Und das verhätschelte Töchterchen hat wohl einen kleinen Mund, wie?« Da mußten sie alle lachen, und der Friede trat ein. Als Lenore gerade das obligate Morgenei aufklopfte, sprach Ilga sie an: »Kommst du mit?« »Wohin?« »Zu Onkel Reinhard.« »Dort oben auf der Höh?« »Jawohl. Er hat nämlich heute Geburtstag. Ich bin beordert worden, ihm mit Blumenstrauß und Knicks zu gratulieren.« »Und was soll ich dabei?« »Dasselbe tun.« »Er kennt mich doch kaum.« »Er ist trotzdem vernarrt in dich. Kommst du nun, oder kommst du nicht?« »Ich komme.« »Erledigt.« »Das nennt man kurz angebunden«, schmunzelte der Hausherr, der immer Spaß an dem Geplänkel seiner Kinder hatte, zu denen er auch Lenore zählte. »Recht so, ihr Marjellchen! Warum da viele Worte machen? Was sein muß, muß eben sein.« »Muß ist eine harte Nuß, die ein jeder knacken muß«, setzte der Sohn des Hauses sein Siegel darauf, dabei mit vollen Backen kauend. »Also knackt sie, ihr Holden. Ich werde per Fernglas geruhsam zusehen, wie ihr mühsam den Berg erklimmt.« Nun, so arg war es nun auch wieder nicht. Was der Pennäler großartig mit Berg bezeichnete, war eine Anhöhe, welche die beiden Freundinnen später emporstiegen, dem lockenden Ziel zu. Denn lockend war es, was sich vor ihren Blicken ausbreitete. Schneeweiße Gebäude mit prangend roten Dächern, umstanden von Bäumen, die jetzt allerdings
unbelaubt waren und daher freie Sicht boten. »Und das alles gehört deinem Onkel?« fragte Lenore bewundernd. »Ja. Er ist stolz darauf, dieses prachtvolle Werk sein eigen nennen zu dürfen.« »Dann müssen deine Großeltern doch sehr reich gewesen sein, wenn sie ihren Söhnen so viel hinterlassen konnten. Ich meine…« »Was du meinst, weiß ich schon«, unterbrach Ilga sie trocken. »Nimm zur Kenntnis, daß meine Großeltern wohl ganz gut situiert waren, aber um ihrem Sohn das da zu schaffen, so viel hatten sie denn doch nicht, zumal die beiden anderen Söhne ja auch nicht leer ausgehen durften. Onkel Reinhard beerbte eine reiche Großtante, die kinderlos starb. Er nur allein, weil er von der Natur so benachteiligt wurde. Aha, da naht bereits der Hund, also kann sein Herr nicht weit sein.« Und tatsächlich tauchte dieser auf, lachend über das ganze Gesicht. »Ei, ei, so viel Holdseligkeit darf der Wanderer schauen. Wohin des Wegs, ihr süßen Grazien?« »Zu dir, vieledler Herr«, gab Ilga schlagfertig zurück. »Das heißt, wenn dein Zerberus gewillt ist, uns den Weg freizugeben.« »Hierher, Zotter!« rief er den prächtigen Neufundländer an seine Seite. »Mit dem einen Frauchen bist du doch längst gut Freund, nun geh mal zu dem anderen.« »Bitte nicht!« wehrte Lenore ängstlich. »Er ist so groß…« »Und so gutmütig«, fiel der Arzt lächelnd ein. »Aber nicht, wenn man dir etwas tut, Onkelchen.« »Nanu, seid ihr denn hierhergekommen, um mir etwas zu tun?« fragte er lachend, und fröhlich fielen die beiden ein. Dann fragte Ilga: »Weißt du überhaupt, warum wir gekommen sind?« »Wahrscheinlich, um mir zum Geburtstag zu gratulieren.« »Ein Wunder, daß du überhaupt an den denkst. Meinen allerherzlichsten Glückwunsch, und noch viele, viele
Lebensjahre zum Heil deiner Patienten, du lieber Onkel!« Damit drückte sie ihm den Strauß in den Arm, küßte ihn auf die Wange und sagte dann lachend zu der steif dastehenden Lenore: »Tu desgleichen, Norchen, der Onkel nimmt’s nicht übel.« »Wo werde ich denn!« bestätigte dieser schmunzelnd. »Ein Kuß von süßen Lippen ist jede Sünde wert.« Da mußte Lenore denn doch lachen. Wenn auch nicht gerade mit einem Kuß, so doch voller Herzlichkeit brachte sie ihren Glückwunsch an. Einträchtig stieg man die letzte Strecke der Anhöhe hinauf, bis ihr Begleiter vor einem villenartigen Gebäude haltmachte und sich mit Grandezza verneigte. »Darf ich die holden Grazien bitten, in meinem bescheidenen Heim zu verweilen?« »Bescheiden ist gut«, lachte Ilga. »Tritt näher, Lenore, du wirst staunen!« Und Lenore staunte über alles, was sich ihren Augen darbot. Wie reich muß der Mann sein, um sich so ein feudales Heim leisten zu können. Aber ob er auch glücklich ist? Die Finken schlagen, der Lenz ist da, und keiner kann sagen, wie es geschah. Dieses Lied sollte die junge Lenore begreifen lernen bis in des Wortes tiefster Bedeutung. Denn gestern noch hatte der launische April sich verzweifelt gegen den Einzug des Götterknaben Mai gewehrt und hatte doch weichen müssen dem drängenden, sprühenden Leben der Natur. Gestern noch hatte es geregnet und gestürmt, doch als Lenore am nächsten Morgen erwachte, war ihr Zimmer wie in Sonne getaucht. Mit einen Satz war sie aus dem Bett, trat an das geöffnete Fenster und breitete die Arme aus, als wollte sie das lachende Land da draußen umfassen. »Er ist gekommen so über Nacht, der Frühling ist gekommen in all seiner Pracht«, sang sie jubelnd in die prangende Natur hinaus.
»Als erster Gratulant zu deinem Geburtstag!« kam es von unten herauf, wo Ilga stand. »Nun mach schon, daß du bald erscheinst!« Eiligst verschwand sie, und Lenores eben noch lachendes Gesicht wurde ernst. Richtig, sie hatte ja heute Geburtstag. Im vorigen Jahr war noch die Mutter bei ihr gewesen, hatte ihr voll Liebe gratuliert, ihr alles Glück der Erde gewünscht. Und hatte sie dann… Hastig griff sie nach dem Foto, das neben dem des Vaters auf dem Nachttisch stand. Es war ein gütiges Antlitz, in das sie schaute, mit Augen so rein und klar, wie sie nur Menschen haben können, die ohne Fehl sind. Und diese Frau sollte einen Mann überredet haben, ihr einziges, so sehr geliebtes Kind zu heiraten? Überredet – so hatte Ralf sich ausgedrückt. Ein Wunder, daß er nicht das Wort aufgedrängt gebraucht hatte. Weiter kam sie nicht in ihren verbitterten Gedanken, weil es klopfte und sich gleich darauf das Hausmädchen durch die Tür schob. In der einen Hand hielt sie einen flachen Karton, in der anderen einen Brief. »Das ist eben per Eilboten gekommen«, erklärte sie wichtig. »Per Eilboten und per Einschreiben. Bitte, hier sind die Zettel zur Unterschrift.« Nachdem Lenore diese erledigt hatte, gratulierte ihr das Mädchen und zog dann ab. Die junge Frau überlegte, was sie zuerst öffnen sollte, den Karton oder den Brief. Ersterer trug als Absender den Namen eines Blumengeschäfts, letzterer den eines Notars. Doch schon nestelten die Finger an dem Bindfaden, der Deckel hob sich – und was er verdeckt hatte, waren rote Rosen, sorgfältig in feuchtes Moos gebettet. Obenauf lag ein Umschlag, den Lenore mit bebenden Fingern öffnete. Sie zog ein Kärtchen heraus, auf dem stand: Im Auftrag von Herrn Dr. Skörsen.
Von ihm selbst keine Zeile, kein Glückwunsch, nur einundzwanzig Rosen. Rote Rosen – Blumen der Liebe. Ausgerechnet von dem Menschen, von dem sie nichts mehr wissen wollte. Doch halt, da lag ja noch eine Karte, auf der etwas gedruckt stand: Nie soll weiter sich durchs Land Lieb von Liebe wagen, als sich blühend in der Hand läßt die Rose tragen. Liebe? dachte Lenore, während ein bitteres Lächeln ihren Mund umzuckte. Liebe? Es war gewiß keine, aus der du mich gefreit, und es war auch keine von mir, aus der ich dich zum Ehemann nahm. Ein Irrtum beiderseits, mein lieber Ralf. Wir sind beide quitt. Schroff schob sie die prangende Pracht zur Seite, griff nach dem Brief. Und was sie zuerst aus dem Umschlag zog, war ein zweiter, der die Schriftzüge ihrer Mutter trug, die Lenore fassungslos anstarrte. Aber die Mutter war doch tot! Bis ihr hilfloser Blick den Namen des Notars auf dem Umschlag erfaßte, da begann sie langsam zu begreifen. Behutsam, als ob sie etwas Heiliges berührte, öffnete sie den hinterlassenen Brief, den letzten, den ihre Mutter geschrieben hatte, wie das Datum bewies. Demnach war er an Lenores Hochzeitstag geschrieben worden. Mein geliebtes Kind! Wenn Du diese Zeilen liest, bin ich schon längst von Dir gegangen. Ich kann jetzt ruhiger sterben, da ich Dich in der Hut eines Mannes zurücklasse, dem ich voll und ganz vertraue. Darum bat ich ihn auch, sich Deiner anzunehmen, sich um Dich zu kümmern. Er warb um Dich, und wie er seine Werbung anbrachte, daraus
konnte ich ersehen, daß es aus Liebe geschah. Aus Liebe, Nore, hörst Du? Daran darfst Du nie zweifeln, auch wenn es Dir manchmal anders erscheinen will. Damit Du nicht womöglich denkst, daß Ralf Dich des Geldes wegen geheiratet hat, habe ich Dir und ihm verschwiegen, daß Du recht vermögend bist. Du sollst heute erst in den Besitz des Geldes gelangen, heute, am Tag Deiner Volljährigkeit. Da ich Dein gescheites Köpfchen kenne, brauche ich wohl nichts weiter zu erklären. Ich kann es auch nicht, da meine Kräfte erschöpft sind. Grüße Ralf sehr herzlich von mir, der mir lieb war wie ein eigener Sohn. Gottes Segen über Euch, meine lieben Kinder! Eure Mutter Das letzte war kaum noch leserlich und mußte mit großer Anstrengung geschrieben worden sein. »Mutti«, stöhnte Lenore gepeinigt auf. »Meine liebe, liebe Mutschi! Wie gut, daß du nicht wußtest, was deinem Kind bevorstand, als du es dem Mann so vertrauend übergabst. Auch du bist einem Irrtum unterlegen.« Es waren wohl die bittersten Tränen, die je ein Mensch geweint, die über das zuckende Gesicht liefen. So fand Gertraude das Geburtstagskind vor, die nachsehen wollte, warum es sich gerade heute so vertrödelte. »Nore, Kind, was hast du denn?« fragte sie zutiefst erschrocken. »Weinst du etwa über diesen flammenden Liebesgruß?« »Nein, deswegen«, kam die Antwort leise. »Bitte lies!« Gertraude, die es eilig hatte, wollte die Zeilen stehend überfliegen. Als sie jedoch feststellte, von wem sie waren, wurden ihr die Knie weich. Also setzte sie sich und las das Schreiben mit einem Gefühl der Andacht, einmal – zweimal. Dann gab sie es Lenore zurück und fragte behutsam: »Nun, mein Kind, bist du immer noch von dem Wahn befangen, daß deine Mutter den Mann zu der Heirat überredet hat, wie du es so geschmacklos nanntest?«
»Der Ausdruck stammt von Ralf, nicht von mir.« »Das kling verflixt trotzig, Nore.« »Tante Traude, hab’ doch Nachsicht mit mir – nach diesem erschütternden Brief!« »Das habe ich wahrlich, mein Herzchen«, strich sie zärtlich über den geneigten, goldflimmernden Kopf. »Wenn dir die Rosen da nichts zu sagen haben, dann nützen auch tausend eindringliche Worte nichts.« »Wie weißt du denn, daß die Rosen von Ralf sind?« »Na, hör mal, wer sonst würde es wohl wagen, einer jungen Ehefrau so einen Liebesgruß zu senden? Lag kein Glückwunsch dabei?« »Nein. Außer der Karte des beauftragten Blumengeschäftes fand ich nur diese gedruckten Zeilen.« Nachdem Gertraude sie gelesen hatte, nickte sie bestätigend. »Das sollte sich jedes junge Paar zur Warnung dienen lassen. Steckte übrigens der Brief deiner Mutter allein in dem Umschlag da?« »Ich weiß nicht.« »Dann sieh mal nach. Da ein Notar dir den Brief übersandte, wird er ein Begleitschreiben beigefügt haben.« Das zog Lenore denn auch aus dem Umschlag. Der Notar teilte mit, daß er auf Wunsch seiner Klientin, Frau Melanie Ingwart geb. Höveking, ihrer Tochter Frau Skörsen, geb. Ingwart, am Tage ihrer Volljährigkeit heiligenden Brief nebst beiliegenden Papieren überreiche. Die Empfängerin wolle recht bald Bescheid geben, wie sie über das deponierte Geld verfügen möchte. »Großer Gott, was soll ich bloß mit dem vielen Geld anfangen?« Lenore zeigte erschrocken auf die hohe sechsstellige Zahl, und da mußte Gertraude denn doch lachen. »Wird dir schon noch einfallen, du kleiner Krösus. Doch nun mal hopp, zieh dich an! Deine Gratulanten warten mit Schmerzen auf dich.« Eilig entfernte sie sich, um dem Gatten rasch mitteilen zu
können, was ihr fast den Atem verschlagen hatte. Und da sich auch die beiden Kinder des Hauses im Raum befanden, wurde Gertrude die Neigkeit in Bausch und Bogen los. »Und was sagst du nun?« fragte sie am Ende des Berichts herausfordernd. »Ich sage, daß jetzt für Skörsen die Chancen schlechter stehen denn je«, entgegnete der Gatte sehr ernst. »Nun Lenore so viel Geld hat, wird er sich ihr kaum zu nähern wagen.« »Da kannst du recht haben«, nickte Traude. Doch ihr Filius war anderer Ansicht, die er auch in seiner drastischen Art kundtat: »Ein übergeschnappter Kerl, der vor dem Geld seiner Frau davonläuft! Ich täte es jedenfalls nicht.« »Darüber sprechen wir mal zehn Jahre später«, tat der Vater schmunzelnd ab. »Und was sagt unser Marjellchen dazu?« »Vorläufig bin ich noch ganz benommen, Paps. So viel Geld – nein, das möchte ich nicht haben. Dann die Rosen, die roten – und deren Spender – Muttilein, gibt das nicht zu denken? Kombiniere mal…« »Um Himmels willen!« hob der Vater lachend die Hände. »Du willst wohl heute ohne Frühstück bleiben? Denn bis die Mutti auskombiniert hat, ist es bestimmt Mittagszeit.« »Ich brauche erst gar nicht zu kombinieren«, tat Traudchen großartig. »Ich bin schon längst im Bilde. Jetzt auch über das, woran ich bis vor einer Stunde noch herumrätselte.« »Und das wäre?« »Wo wohl das viele Geld geblieben sein mochte, das Melanies Eltern ihr als Mitgift aussetzten – außerdem soll auch ihr Mann noch vermögend gewesen sein. Wohl lebten die Ingwarts bis zum Tod des Dozenten auf recht großem Fuß, wie ich den Erzählungen Lenores entnehmen konnte. Aber selbst wenn man die Tausende hinzurechnet, die Ingwart diesem gewissenlosen Skörsen lieh, konnte dieses Geld das große Portemonnaie noch lange nicht geleert haben. Mir kam es gleich sonderbar vor, als Lenore mir den
Bankauszug zeigte, auf dem nicht viel mehr als zweitausend Mark standen, die hauptsächlich von den Raten, welche ihr die Schwiegermutter zahlen mußte, zusammengekommen waren.« Sie konnte nicht weitersprechen, weil Lenore eintrat, wieder einmal anzuschauen wie ein bezauberndes Bild. Nichts mehr war ihr anzumerken, daß sie vor einer halben Stunde noch so bitterlich geweint hatte, sie strahlte wie eh und je. Beglückt nahm sie die Gaben entgegen, die man ihr überreichte. Alles Kleinigkeiten, doch mit Liebe gewählt. Vor Freude fiel sie jedem einzelnen um den Hals, selbst Günther, der sich das zwar gefallen ließ, aber dann verlegen brummte: »Tu man nicht so, wo du jetzt so reich bist und dir alles leisten kannst! Aber ich weiß jetzt wenigstens, wen ich anpumpen kann, wenn ich mal in der Klemme bin.« »Wage es!« drohte die Mutter. »Und du wagst es, Nore, seinem Leichtsinn womöglich noch Vorschub zu leisten!« »Wir haben auch gerade Angst«, lachte diese sie aus. »Und jetzt habe ich Hunger.« Den hatten die anderen auch, weil es bereits eine Stunde über die gewohnte Frühstückszeit war. Daher ließ man sich das Mahl besonders gut munden, und als die Mutter den Sohn mahnte, den Schulweg anzutreten, lachte er sie schadenfroh aus: »Geliebte Mutz, wir haben heute den ersten Mai.« »Da hast du wieder einmal Glück gehabt, du Schlingel. Rücksichtsvoll von Lenore, gerade heute Geburtstag zu haben. Und was machen wir nun?« »Wir feiern«, schmunzelte der Hausherr. »Denn heute ist doppelter Feiertag.« Dabei sollte man sogar einen Gast haben. Denn wer sich um die Kaffeezeit einstellte, war kein anderer als Dr. Wilmar Hörse. »Da bin ich«, erklärte er einfach. »Ich gehöre zu den Menschen, die jede Einladung wahrnehmen. Und Sie
haben mich doch eingeladen, gnädige Frau?« »Selbstverständlich«, begrüßte diese ihn herzlich. »Sie kommen gerade zurecht, um mit uns Geburtstag zu feiern.« »Wer ist denn da so leichtsinnig, ein Jahr älter zu werden?« »Ihre Süße.« »Na, die kann’s noch vertragen«, entgegnete er schlagfertig. »Meinen herzlichsten Glückwunsch, gnädige Frau.« »Wie formell!« lachte Lenore ihn aus. »Das ist man gar nicht an Ihnen gewohnt.« »Na ja, so ab und zu muß man sich mal wieder auf seine gute Kinderstube besinnen.« Er begrüßte nun auch die anderen, die ihm ja allesamt bekannt waren durch die Besuche im Krankenhaus, die Gertraude oft von ihren Angehörigen bekam. Nur als Lenore in ihr Zimmer gelegt wurde, blieben Gatte und Sohn aus Taktgefühl fern. Also war der junge Arzt kein Fremdling in der Familie Hollgart und war bei ihr beliebt – außer bei Ilga. Die fand »diesen Menschen« nämlich bodenlos frech- und Frechheit siegt nicht immer. Hauptsächlich bei einer Siebzehnjährigen nicht, die sich als Dame fühlt und dementsprechend behandelt sein will – was dieser lange »Schlacks« leider außer acht ließ. Daher sah sie ihn als Luft an – er übrigens sie auch – was Ilga immer mehr gegen ihn aufbrachte. Die anderen hingegen amüsierten sich köstlich über den trockenen Humor des Gastes, der außerdem noch ein guter Gesellschafter war mit seinen Schnurren und Späßchen. Daß er jedoch auch ernst sein konnte, bewies er, als Lenore und Ilga sich entfernten, um Riekchen zur Hand zu gehen, die sich nicht wohl fühlte, während Günther seine Schulaufgaben zu erledigen hatte. Da sprach Gertraude zu dem jungen Arzt über das, was sich heute ereignet hatte. »Auch das noch!« sagte Wilmar darauf so ernst wie selten. »Das reiche Erbe seiner Frau wird bei Skörsen die Hemmungen noch verstärken, die er ohnehin schon ihr gegenüber hat.«
»Der Ansicht bin ich auch«, nickte der Tierarzt, gedankenvoll seine Pfeife rauchend. »Zwar kenne ich Dr. Skörsen nur vom Hörensagen. Doch was ich von ihm hörte, demnach scheint er ein Mann zu sein, der nicht um Geld freien würde.« »Das kann ich sogar bestätigen«, meinte Gertraude eifrig. »Denn wie Lenore mir erzählte, hat die Schwiegermutter ihr mehr als einmal erbost entgegengeschrien, daß Ralf eine reiche Partie ausschlug, weil er zu den Trotteln gehörte, die leider nie alle würden. Und diese Trottelei müßten leider ihre Tochter und sie nun büßen. Ja, wenn man wenigstens die monatlichen Raten nicht mehr zu zahlen brauchte.« »Aha, die Raten«, nickte der Hausherr verständnisinnig. »Die müssen die impertinente Dame wohl sehr wurmen. Da der Sohn darauf bestand, daß diese über das Bankkonto seiner Frau gingen, ist deutlich zu erkennen, daß er in der Ehe getrennte Kasse wünschte.« »Die er auch weiter wünschen wird – falls diese angeknackste Ehe überhaupt noch geleimt werden kann.« »Um Himmels willen, Wilmar, unken Sie da bloß nicht!« hob Gertraude beschwörend die Hände. »Die Ehe muß wieder in Ordnung kommen – was soll sonst wohl aus Lenore werden?« »Sie läßt sich scheiden und nimmt mich«, kam es pomadig zurück. »Ich laufe vor ihrem Geld bestimmt nicht davon.« »Genau das behauptet mein Sohn Günther«, schmunzelte der Tierarzt. »Aber ich glaube, er nimmt den Mund genauso voll wie Sie, mein lieber Hörse. Er aus kindlichem Unverstand. Sie aus jugendlicher Prahlerei.« »Wie wollen Sie das denn so genau wissen?« »Mein junger Freund, wer so viel mit Tieren zu tun hat wie ich, erwirbt sich eine untrügliche Menschenkenntnis.« »Da kann man nur mit Schiller sagen: Herr, dunkel ist der Rede Sinn«, schüttelte Wilmarchen sein strohblondes Haupt. »Na, mag der Ralf in seiner Ehe auch gefehlt haben, er tut mir dennoch mehr leid, als seine Frau, die darin
gewiß Schweres erdulden mußte. Doch während sie alles gut überstanden hat, plagt er sich mit Gewissensbissen herum, soweit ich ihn kenne. Nanu, wer klagt denn da die Männer so jammervoll an?« horchte er gleich den anderen auf den Gesang, der da so herzzerreißend zu ihnen drang. »Soll das etwa meine Süße sein?« »O nein, Ihre Süße stimmt ganz andere Töne an, wenn es um die Männer geht«, lachte Gertraude. »Etwa so: Die Männer sind alle Verbrecher! Wer da so rührend über die Treulosigkeit der Herren der Schöpfung klagt, ist unser Hausmädchen, das wohl schon eine trübe Erfahrung hinter sich hat…« »Ich such die Blum der Männertreu, kann sie aber nirgends finden«, klang es jetzt jammervoll zu den Lauschenden hin, und dann weiter: »Stelle nur dein Suchen ein, daraus kann nichts werden, denn die Blume Männertreu blühet nicht auf dieser Erden…« Und nun fielen zwei andere Stimmen ein, welche man als die Lenores und Ilgas erkannte: »Mädchen, traut den Männern nicht, wenn sie mit euch scherzen! Keiner hält, was er verspricht, spielen nur mit Mädchenherzen…« »Nein, vor so viel Männerfeindlichkeit reiße ich aus!« sprang Wilmar lachend auf. Und da er ja seine Schnurren nicht lassen konnte, formte er die Hände zum Sprachrohr um den Mund und sang mehr laut als schön: »Oh, wie so trügerisch sind Weiberherzen, mögen sie klagen, mögen sie scherzen! Oft spielt ein Lächeln um ihre Züge,
oft fließen Tränen – alles ist Lüge…« »Nun sehen Sie aber zu, daß Sie Land gewinnen und so den Prügeln entgehen!« lachte der Hausherr nebst der Gattin herzlich. »Am besten, Sie verkriechen sich hinter meinen breiten Rücken.« »Ich sage ja, daß er ein bodenlos frecher Mensch ist!« hörte man jetzt deutlich Ilgas empörte Stimme. »Der müßte eine Frau kriegen…« Was für eine, das erfuhren die Lauschenden nicht mehr, weil die Stimme sich mehr und mehr entfernte. »Ei weh, jetzt türme ich aber wirklich!« kratzte Wilmar sich den Kopf, während in seinen sehr hellen blauen Augen der Übermut nur so blitzte. »So bleiben Sie nicht zum Abendessen?« »Leider unmöglich, gnädige Frau, meine Freizeit ist abgelaufen. Halte ich sie nicht ein, singt mir der Herr Professor zwar nicht das Lied von der holden Blume Männertreu, auch nicht von trügerischen Weiberherzen, sondern das von dem unseligen Knaben, der immer zu spät kam.« So nahm er denn Abschied. Doch bevor Wilmar in seinem kleinen Wagen davonfuhr, sang er noch den Gastgebern, die ihm das Geleit gaben, verschmitzt zu: »Grüßt mir euer herziges Kind, sagt ihm, ich kehre wieder!« Der Frühling verging, der Sommer kam und brachte Mitte August als Gast Schwester Agathe, die sich in dem harmonischen Kreis äußerst wohl fühlte. »Das kann Ihnen hier so passen«, brummte ihr Vorgesetzter, als er wieder einmal die Verwandten besuchte. »Leben hier herrlich und in Freuden, während ich schwer schuften muß.« »Auch im Urlaub, Herr Professor?« »Natürlich nicht. Den pflegt ein Arbeitstier wie ich geruhsam zu verleben.« »Sehen Sie, das tue ich mit meinem hier auch.«
»Na, geruhsam?« lachte der Hausherr. »Dafür dürfte es bei uns wohl zu munter zugehen. Hauptsächlich unsere beiden Marjellchen haben Sie straff am Bändel, Frau Oberin. Die gönnen Ihnen kaum eine Stunde Ruhe, wenn sie nicht gerade in Wald und Flur umherschweifen, wie zum Beispiel jetzt.« »Mir sehr recht, daß sie nicht da sind«, sagte der Professor. »Da kann ich wenigstens ungeniert über das sprechen, weswegen ich eigentlich hier bin. Dr. Skörsen war heute bei mir.« »Was?« war Hermann Hollgart gleich den beiden Damen so überrascht, daß er die geliebte Pfeife anzuzünden vergaß, was er gerade vorhatte. »Seit wann ist er denn wieder im Lande?« »Seit ungefähr einer Woche.« »Will er denn wieder zu uns zurück?« fragte die Oberschwester interessiert. »Leider nicht. Er will die Praxis des kürzlich verstorbenen Arztes Blonky übernehmen.« »Wovon will er die denn bezahlen, etwa vom Geld seiner Frau?« »Er wußte bisher noch gar nichts von diesem reichen Segen, Traude. Wer hätte es ihm auch mitteilen sollen?« »Seine Mutter zum Beispiel.« »Weiß sie denn von Lenores Erbschaft?« »Und ob! So was spricht sich schnell herum. Jedenfalls erhielt Nore von ihrer Schwiegermutter kürzlich einen Brief, in dem diese sie ganz unverblümt anbettelte. Erst einmal um fünftausend Mark, die sie zur Aussteuer der Tochter benötigte, die in nächster Zeit zu heiraten gedächte.« »Alle Wetter!« sagte der Professor verblüfft. »Die Frau ist bestimmt nicht schüchtern. Und wie hat Lenore darauf reagiert?« »Sie riß den Wisch mittendurch, tat ihn in einen Umschlag und ließ ihn an den Absender zurückgehen.« »Bravo! Anders hätte sie mich auch enttäuscht. Jedenfalls
erwähnte Skörsen von der Erbschaft seiner Frau nichts, auf die er übrigens gar nicht angewiesen ist. Denn wie er mir kurz erklärte, kehrt er nicht mit leeren Händen zurück. Es ist ihm nämlich gelungen, das einzige Kind eines sehr reichen Australiers von einer Krankheit zu heilen, an der bisher Jahrelang vergebens herumgedoktert worden war. Da hat der überglückliche Vater den Retter seines Kindes natürlich fürstlich belohnt. Nun will er sich von dem Geld eine Praxis erwerben und seine Frau wiederhaben, das ist sein fester Entschluß, den er wahrscheinlich in die Tat umsetzen wird, auf Biegen oder Brechen. Der Mann hat sich in dem halben Jahr nämlich sehr verändert, äußerlich wie charakterlich. Er ist irgendwie hart geworden, hart und unnachgiebig.« »Mein Gott, da kann man ja Angst kriegen!« sagte Gertraude unbehaglich. »Will er etwa hierherkommen?« »Ja, morgen, vielleicht auch heute schon, um sich mit seiner Frau auszusprechen.« Wie auf ein Stichwort trat Lenore, gefolgt von Ilga, hinzu, sprühend vor Lebensfreude und Gesundheit. Sie trug einen bunten Waldblumenstrauß, den sie lustig schwenkte. »Hier, Tante Traudeleinchen, für dich, weil du diese Sträuße so liebst. – Nanu, wer kommt denn da?« Sie zeigte durch das Fenster auf den Wagen, der soeben durch das Tor fuhr. Nun wurden auch die anderen aufmerksam, und Günther, der sich wie alle Jungen seines Alters für Autos brennend interessierte, brummte anerkennend: »Schicke Karre. Wer sich so eine leisten kann, muß ganz nett in der Wolle sitzen. Will doch mal nachsehen.« An der Tür stieß er mit dem Hausmädchen zusammen, das wichtig meldete: »Herr Dr. Skörsen wünscht seine Aufwartung zu machen.« Und schon wurde dieser sichtbar, ging unbeirrt auf die Hausherrin zu und verharrte vor ihr in tadelloser Verbeugung. »Verzeihung, gnädige Frau, daß ich hier so unformell
eindringe…« »Von Eindringen kann gar keine Rede sein«, entgegnete sie rasch gefaßt. »Seien Sie uns willkommen, Herr Dr. Skörsen. Das ist mein Mann, das meine Tochter Ilga, das mein Sohn Günther. Alle anderen sind Ihnen ja bekannt.« Nachdem die Begrüßung erfolgt war, stand der Mann vor Lenore, die ihn anstarrte wie etwas Grausiges. Erst als er nach ihrer Hand faßte, kam Leben in sie. Ganz fremd klang ihre Stimme, die nun schroff fragte: »Was willst du hier?« »Lenore!« mahnte Gertraude. »Du bist ja ungezogen. So begegnet man doch nicht seinem Mann.« Da schluchzte sie hart auf, eine rasche Wendung, und ehe noch jemand sie zurückhalten konnte, war sie auch schon hinausgestürmt. »Na, so ein kleiner Feigling«, sagte der Tierarzt genauso perplex wie die anderen alle. »Geh ihr nach, Traudchen, und bring sie mal ein bißchen zur Raison!« »Wird nicht einfach sein«, setzte sie sich seufzend in Bewegung. Ilga folgte, und der Professor lachte. »Echt weiblich, sein Heil in der Flucht zu suchen.« »Es soll auch solche Männer geben«, bemerkte die Oberschwester trocken. »Die bleiben auch nicht stehen, wenn ihnen ein Schreck eingejagt wird.« »Soll das ein Vorwurf für mich sein, Schwester Agathe?« »Gewiß, Herr Dr. Skörsen. Ehe Sie Ihre Gattin so – na ja…« »Überfielen«, half er gelassen aus, als sie unter seinem ironischen Blick stockte. »Das wollten Sie doch wohl sagen, Frau Oberin, nicht wahr?« »Ja«, gab sie ehrlich zu. »Wir anderen wußten von dem Herrn Professor, daß Sie wieder im Lande sind, nur Lenore wußte es nicht. Wenn Sie uns Zeit gelassen hätten, Ihre Frau vorzubereiten…« »Dann wäre sie erst recht vor mir davongelaufen.« »Lassen Sie sich nur nicht beirren«, griff jetzt der Professor ein. »Sie handelten schon ganz richtig, mein lieber Ralf.« In dem Moment trat Gertraude hinzu, hochrot im Gesicht.
»Na, das ist vielleicht ein kleiner Trotzteufel«, blies sie die Backen auf. »Bei allem, was ich auch sagen mochte, erfolgte ein glattes Nein! – Nun gehen Sie ins Nebenzimmer, Herr Doktor, und plagen Sie sich weiter mit ihr ab! Bis zu Ihrem Erscheinen hält meine Tochter sie energisch fest.« Als Ralf das Zimmer betrat, sagte Ilga gerade aufgebracht: »Wie kann man bloß so feige sein. Schäm dich! Hör doch erst einmal an, was dein Mann dir zu sagen hat.« »Sehr richtig«, sprach eine sonore Stimme dazwischen, und nun war es die couragierte Ilga, die ihr Heil in der Flucht suchte. Doch als Lenore ihr nacheilen wollte, hielt Ralf sie zurück. »Du bleibst hier!« gebot er herrisch, während er sie kurzerhand in einen Sessel drückte und in dem gegenüberstehenden Platz nahm. »Sag mal, was erlaubst du dir eigentlich?« fragte sie empört. »Du maßt dir Rechte an…« »Die mir als Gatten zukommen.« »Ich lehne dich als solchen ab.« »Meinst du, daß das so einfach ist?« »Nichts einfacher als das«, flog ihr Kopf in den Nacken. »Ich lasse mich von dir scheiden.« »Aus welchem Grund?« »Ralf, so kommen wir doch nicht weiter«, preßte sie nervös die Finger gegen die Schläfen. »Laß uns doch in aller Sachlichkeit die Ehe lösen, in die man uns gezwungen hat.« »Gezwungen, Lenore?« »Na, was denn sonst? Du sagtest doch selbst, daß meine Mutter dich zur Heirat allerdings nicht gezwungen, aber überredet hat.« Da stieg dem Mann dunkle Röte ins Gesicht, ganz langsam, bis zum Blondhaar hinauf. Leise wie ein Hauch wehte es zu ihr hin: »Verzeih, Lenore, so war das nicht gemeint.« »Na schön«, zog sie unbehaglich die Schultern hoch. »Unsere Ehe war eben ein Irrtum.« »Ein Irrtum, Lenore? Ich habe dich aus Liebe gefreit und
liebe dich heute noch.« »Liebe – du?« fuhr sie nun auf in leidenschaftlichem Zürnen. »Lüg doch nicht, Ralf!« »Lenore, ich warne dich!« »Ach was, laß mich doch in Ruhe! Es war so schön ohne dich.« Er zuckte zusammen wie unter einem Hieb, erblaßte bis in die Lippen. Doch sie sah es nicht, schrie ihm in höchster Erregung entgegen: »Ein Leben mit deiner Mutter zusammen halte ich ein zweites Mal nicht mehr aus. Und wenn du mich dazu zwingen willst, bringe ich mich um.« »Du wirst mich jetzt endlich reden lassen!« wurde seine Stimme so scharf und schneidend, daß sie zusammenfuhr. »Ich habe damals, als ich aus Berlin zurückkehrte, sozusagen das Tischtuch zwischen mir und meiner Mutter zerschnitten. Ich wäre noch nicht aus Australien zurückgekehrt, wenn ich nicht durch einen Glücksfall so viel Geld verdient hätte, um mir eine Praxis erwerben zu können. Auch zu einer Wohnung reicht es noch. Du wirst also deinen eigenen Hausstand haben. Und sollte meine Mutter es wagen, dich zu belästigen, so steht dir das Recht zu, ihr dein Haus zu verbieten. Aber zu mir zurückkehren mußt du, Lenore, das kämpfe ich durch auf Biegen oder Brechen.« So hart, so fest und unerschütterlich war es gesagt, daß sie nicht zu widersprechen wagte. Scheuen Blickes sah sie zu dem Mann hinüber, der ihr so fremd vorkam, als hätte sie ihn nie zuvor gesehen. Hart war das Gesicht, hart und blaß, die Augen blitzten darin wie blanke Kiesel. Seine Kleidung war von ausgesuchter Eleganz, an der Linken steckte ein schwergoldener Siegelring. Nein, das war ja gar nicht der Mann, den sie geheiratet hatte. Das war ja ein ganz anderer, ein viel bedeutenderer, im Aussehen wie in der ganzen Art. Auch die Stimme kam ihr ganz anders vor, sonor und herrisch.
»Hast du dich beruhigt, Lenore? Kann ich jetzt vernünftig mit dir reden?« »Laß mir doch wenigstens Bedenkzeit!« »Na schön. Ich gehe, aber ich komme wieder, Tag für Tag.« »Was haben Sie erreicht?« fragte der Professor, als der junge Arzt wieder erschien. »Immerhin so viel, daß Lenore mich zum Schluß wenigstens anhörte. Fürs erste bin ich zufrieden. Gnädige Frau, darf ich mich verabschieden und morgen wiederkommen?« »So oft Sie wollen, Herr Doktor.« »Verbindlichen Dank.« Tief neigte er sich über die Hand, die sich ihm entgegenstreckte, verabschiedete sich auch von den anderen und ging, vom Hausherrn begleitet. »Na, der gibt vielleicht an!« brummte Günther. »Soll der bloß die Nore in Ruhe lassen, sonst kriegt er es mit mir zu tun!« »Das ist ja eine ganz fürchterliche Drohung«, schmunzelte der Onkel. »Nun, Agathchen, habe ich übertrieben, als ich sagte, daß der Mann sich sehr verändert hat?« »Und wie er sich verändert hat. Früher war er, wenn auch nicht gerade liebenswürdig, so doch verbindlich, aber jetzt ist er geradezu herrisch.« »Wird ja auch genug durchgemacht haben«, gab der Hausherr zu bedenken, der zurückkam und die Bemerkung der Oberschwester gehört hatte. »Auf mich hat der Mann jedenfalls den allerbesten Eindruck gemacht. Der weiß, was er will, und das allein ist bei einem Menschen schon viel wert.« »Und wenn Lenore an seinem starren Willen zerbricht?« »Trudchen, fang um Himmels willen nicht an zu kombinieren!« hob er lachend die Hände. »Wir wollen lieber auf den Schreck einen Kognak trinken.« »Aber ohne mich.« Gertraude stand auf. »Ich gehe zu Lenore. Das Kind wird ja ganz durcheinander sein.« Damit hatte sie recht. Denn was da auf dem Bett lag, war
ein schluchzendes, erbarmungswürdiges Elendsbündel. »Tante Traude, ich gehe nicht zu ihm zurück!« rief sie der Eintretenden entgegen. »Ich gehe nicht, eher bringe ich mich um!« »Na, na, na«, beschwichtige Gertraude, sich auf den Bettrand setzend und das verzweifelte junge Menschenkind in die Arme ziehend. »Du bist viel zu verstört, um eine Entscheidung treffen zu können. Erhole dich erst mal von dem Schreck, den dir das plötzliche Erscheinen deines Mannes eingejagt hat, dann erst wirst du prüfen und erwägen können.« »Tante Traude, ich will doch nicht von hier fort«, schluchzte sie jammervoll. »Ich habe euch alle doch so lieb, fühle mich bei euch glücklich und zufrieden. Warum mußte Ralf wiederkommen?« Ja, was sollte Gertraude wohl darauf erwidern? Jetzt mit Ermahnungen zu kommen, wäre zwecklos. Zärtlich streichelte sie das zuckende Köpfchen und sagte gütig: »Komm, mein Herzchen, ich bringe dich zu Bett. Dann bekommst du eine Tablette und schläfst erst mal über deinen Kummer hinweg. Wenn du dann erwachst, wird er gar nicht mehr so groß sein, wie er dir jetzt erscheint.« Als Gertraude später zu den anderen zurückkehrte, sagte sie befriedigt: »Sie schläft jetzt. Wißt ihr, was ich nun mache? Ich gehe zu Reinhard hinauf und hole mir bei ihm Rat, wie wir uns Lenore gegenüber verhalten sollen.« »Seine Antwort darauf kann ich dir jetzt schon sagen.« »Und die wäre, Hermann?« »Es Skörsen allein zu überlassen, seine Frau zur Vernunft zu bringen.« »Ganz meine Meinung«, nickte der Professor. »Doch jetzt muß ich mich wieder so ein bißchen um meine Patienten kümmern.« »Und ich um die meinen«, erhob sich der Tierarzt gleich dem Bruder. »Ich habe nämlich auch welche.« »Die sich bedeutend leichter behandeln lassen.«
Dr. Skörsen saß im Hotelzimmer und sah die Bedingungen durch, zu denen die Witwe des Arztes Blonky die Praxis abgeben wollte. Was sie verlangte, konnte man schon mit unverschämt bezeichnen, so daß Skörsen die Lust verging, sich weiter mit der Sache zu befassen. Und da er ein Mensch von kurzen Entschlüssen war, tippte er auf der kleinen Schreibmaschine eine zwar höfliche, aber nicht mißzuverstehende Absage. Er war gerade damit fertig, als der Fernsprecher anschlug und der Portier durchsagte, daß ein Herr Hollgart den Herrn Dr. Skörsen zu sprechen wünsche. »Schicken Sie den Herrn sofort zu mir herauf«, gebot Ralf kurz, da er annahm, daß der Besucher ihn Lenores wegen sprechen wollte. Unruhig sah er ihm entgegen und war dann nicht wenig erstaunt, als statt des kraftstrotzenden Hünen ein kleiner verwachsener Mann eintrat. »Dr. Hollgart?« fragte er gedehnt. »Jawohl, Dr. Hollgart der Dritte«, kam es lächelnd zurück. »Der jüngste der Brüder. Hat mein Bruder Rudolf Ihnen nie von meiner Existenz erzählt?« »Nein. So vertraut war ich mit dem Herrn Professor nicht, daß er über seine Familienangehörigen mit mir sprach. Nehmen Sie bitte Platz, Herr Doktor! Darf ich Ihnen etwas anbieten?« »Danke, jetzt nicht, vielleicht später. Ich hege nämlich die Hoffnung, mit Ihnen dann in bestem Einvernehmen anstoßen zu dürfen.« »Da bin ich aber neugierig«, gab Ralf unumwunden zu, während er sich dem Gast gegenüber setzte, der ihn prüfend ansah und dann sagte: »So will ich versuchen, mich möglichst kurz zu fassen. Ich bin der Besitzer des Sanatoriums Friedberg, das in der Nähe des Hollgarthofes liegt. Schon davon gehört?« »O ja, es ist bekannt genug.« »Also, wie ich hörte, haben Sie die Absicht, die Praxis des verstorbenen Dr. Blonky zu erwerben?«
»Die Absicht habe ich jetzt nicht mehr, da die Bedingungen denn doch zu übersteigert sind. Ich werde die Absage heute noch abschicken.« »Und was gedenken Sie jetzt zu tun?« »Mich nach etwas anderem umzusehen.« »Ins Krankenhaus wollen Sie nicht mehr zurück?« »Nein.« »Auch nicht als Oberarzt?« »Nein. Ich möchte selbständig werden.« »Schade.« »Warum?« »Weil Sie dann auf meinen Vorschlag nicht eingehen werden.« »Aber anhören könnte ich ihn trotzdem.« »Ja? Na, denn man zu. Also, Herr Dr. Skörsen, ich habe in den letzten Jahren mit meinen Mitarbeitern Pech gehabt. Es war nicht einer unter denen, die da kamen und gingen, auf den ich mich ganz und voll verlassen konnte. Nun wollte ich Ihnen vorschlagen, zu mir zu kommen.« »Um Sie auch noch zu enttäuschen«, warf Ralf trocken ein, und der andere lachte. »Sie scheinen wirklich kurz angebunden zu sein, wie man Ihnen nachsagt. Ich glaube nicht, daß Sie mich enttäuschen werden – und wenn, dann sagen wir uns hübsch säuberlich Adieu.« »Ihr Angebot könnte mich schon reizen, wenn ich dort meinen eigenen Hausstand haben dürfte.« »Das kommt nicht in Frage, mich werden Sie schon als Anhängsel dulden müssen.« »Wie soll ich das verstehen?« »Ganz einfach, mein lieber Freund. Ich bewohne nämlich ein großes Haus, in dem ich mir so einsam vorkomme, so verlassen und verloren. Denn ich bin unverheiratet, was Sie ja nicht wundern wird. Ich habe es bisher noch nicht bedauert, aber wenn man älter wird, sehnt man sich nach Wärme und Herzlichkeit, munterem Geplauder, herzfrohem Lachen. Und das alles könnte ich bei Ihrer
Lenore finden.« »Lenore wohl, Herr Doktor, aber das ›Ihre‹ ist ein kühnes Wort.« »Dazu würde mein Bruder, der Viehdoktor, sagen: Man immer sachte mit den jungen Pferdchen! Die junge Frau wird sich schon wieder darauf besinnen, daß sie aus Liebe geheiratet hat.« »Ein Irrtum, wie sie mir gestern sagte.« »Den ihr das eigenwillige Köpfchen eingibt. Aber das Herz irrt sich nicht, das bleibt nach wie vor unbestechlich. Das sage ich Ihnen als Psychologe, der sich ein Vierteljahrhundert mit Seelenkunde befaßt hat.« »Dann brauche ich Ihnen ja nicht zu beteuern, daß ich Lenore aus Liebe freite, daß ich sie imitier liebte, auch als ich sie in meiner Verblendung für ein launenhaftes, unverträgliches, verlogenes Geschöpf hielt – und daß diese Liebe in meinem Herzen klebt so zäh wie…« Jäh hielt er inne, seine Zähne bissen sich zusammen wie in rasendem Schmerz. »Nein, das brauchen Sie mir nicht zu erklären«, sprach Hollgart in die bedrückende Stille hinein. »Sie haben wohl gefehlt, aber auch dafür gebüßt.« »Weiß Gott, das habe ich. Aber für Lenores Rachedurst wahrscheinlich immer noch nicht genug.« »Skörsen, ich will Ihnen mal was sagen, ganz offen und ehrlich: Lenore hat in den ersten Monaten ihrer Ehe so entsetzlich viel leiden müssen, daß sie bestimmt daran zerbrochen wäre, hätten sich nicht warmherzige Menschen gefunden, die sich ihrer annahmen. Von Herzlichkeit umgeben lernte sie wieder das Leben lieben, fand sie Frohsinn und Lachen wieder, was ihr alles so ganz abhanden gekommen war. Sie lernte aber auch, Sie zu vergessen, Ralf – was für ihre seelische sowie körperliche Genesung sogar gut war. Als Sie nun gestern so ganz unerwartet vor ihr standen, brach alles wieder auf, was noch nicht ganz vernarbt war. Die so plötzlich aufgerissene Wunde wird sich jedoch wieder langsam schließen, wenn
man die richtige Salbe anwendet. Und die heißt nicht unnachgiebige Härte, sondern Nachsicht und Geduld. Also reißen Sie dieses sensible Geschöpf nicht von heute auf morgen aus seiner Umgebung, an der es hängt. Reißen Sie es nicht von Menschen, die es von ganzem Herzen liebt. Zwar ist es Ihr Recht, die Gattin an Ihre Seite zu zwingen, aber lassen Sie nicht das Recht sprechen, sondern Ihr Herz, dann werden Sie schon das Richtige treffen. Erst einmal damit, daß Sie meinen Vorschlag annehmen. Der Hollgarthof und der Friedberg liegen so nahe zusammen, daß man, wenn man den Pfad durch die Wiesen wählt, in zehn Minuten hüben wie drüben sein kann. Wenn Sie ein Fernglas nehmen, können Sie von der Höhe beobachten, was unten vor sich geht. Und diese Nähe braucht Lenore zuerst einmal, damit sie in kurzer Zeit dahin eilen kann, wohin das Herzchen sie gerade treibt. Und das wird sie allmählich mehr und mehr zum Herzen des Gatten ziehen. Wetten, daß es geschieht?« »Herr Doktor, wissen Sie, was Sie sind? Ein ganz listiger Verführer.« »Meinetwegen auch das«, lachte er herzlich. »Wenn wir dabei nur zum Ziel kommen. Hier haben Sie meine Hand, schlagen Sie ein, es wird Sie bestimmt nicht gereuen.« Noch ein kurzes Zögern Ralfs, dann fanden sich zwei Männerhände zu festem Druck. Es war ein Eldorado, das Dr. Skörsen nach einer guten Stunde zu sehen bekam. Alte Bäume mit mächtigen Kronen, blühende Straucher, gepflegte Rasen, herrliche Blumenrabatten, Springbrunnen, ein großer See, auf dem Boote schaukelten; schmucke Badehäuschen reihten sich am Ufer. Ferner gab es Liegewiesen, Tennisplätze, eine kleine Reithalle, Wandelgänge, saubere Kieswege. Und inmitten von all dem herrlichen Grün und der Blumenpracht standen die schneeweißen Gebäude mit ihren großen Fenstern, Baikonen und Terrassen. Erklärend schritt der Besitzer all der Herrlichkeit neben dem jungen Arzt dahin, der schon ganz benommen war
vom Schauen. Jetzt hob Hollgart die Hand und zeigte auf ein abgelegenes Gebäude, das ganz aus Glas zu bestehen schien. »Sehen Sie mal dort hin, Ralf! In dem Haus befindet sich der Operationssaal, der eigentlich nur als Staffage dient. Denn die größeren Operationen, die ja auch mal bei den Patienten notwendig werden, wimmele ich mir ab, weil ich ja kein Chirurg bin. Nur kleinere führe ich in dringenden Fällen aus.« »Aber der Herr Professor ist doch ein vorzüglicher Chirurg. Da wundere ich mich, daß er sich mit Ihnen nicht zusammen tut, Herr Doktor.« »Den Vorschlag machte ich ihm selbstverständlich, er wies ihn jedoch entrüstet zurück. Ob er sich in diesem Klub wohl zuschanden faulenzen sollte? Jedes halbe Jahr vielleicht eine Operation, das hätte er gern. Und dann und überhaupt, was sollte er wohl bei solchen Menschen, die sich den Luxus leisten könnten, hier zu sein, wohl wegoperieren? Doch nur bei den unverstandenen Frauen ihre Extravaganzen und bei seitenspringenden Ehemännern ihre Amouren.« »Das sieht dem Professor ähnlich!« lachte Ralf so herzlich, daß sein Begleiter überrascht aufhorchte. Wohlgefällig hing sein Blick an der prachtvollen Erscheinung. So hätte ich auch aussehen mögen, dachte er wehmütig. Aber nur einige Herzschläge lang, dann war es vorbei. »Beherbergt das Sanatorium denn nur Menschen von der eben geschilderten Art?« fragte der junge Arzt jetzt interessiert. »Natürlich nicht. Es sind wirklich Leidende darunter, sogar in der Mehrzahl.« »Na, Gott sei Dank, sonst würde ich ausreißen.« »Etwa vor den unverstandenen Frauen?« »Allerdings.« »Na, hören Sie mal, ein Kerl wie Sie! Wetten, daß die Damen sich samt und sonders in Sie verlieben?« »Da sei Gott vor!« hob Ralf so entsetzt die Hände, daß der
andere amüsiert lachte. »Tja, mein Lieber, man muß seinem Beruf auch Opfer bringen.« Er hakte sich bei dem Jüngeren ein. »Meine Füße sind müde, und mein Magen hängt schief. Also habe ich Sehnsucht nach einem weichen Lehnstuhl und einem guten, reichlichen Mahl.« Beides sollte ihm in dem Haus werden, das sie bald darauf betraten und das auf Ralf einen fast beklemmenden Eindruck machte in seiner beinahe unnahbaren Vornehmheit. Das Mahl servierte ein Diener, der in diese Pracht wunderbar hineinpaßte. Er war seinem Herrn ebenso treu ergeben wie die Dame, die sich an der Tafel einfand und dem Gast als »betuliches Haushuhn« vorgestellt wurde. Sie lachte dazu, die Fünfzigerin mit leicht ergrautem Haar, dem frischen Gesicht und den guten Augen. Nach dem vorzüglichen Mahl zog die Dame sich zurück, und die Herren gingen in ein lauschiges Gemach, das ganz mit dicken Teppichen ausgelegt war. Die Wände bedeckten Gobelins, um einen Marmorkamin standen tiefe, weiche Sessel, inmitten ein niedriger Tisch mit herrlichen Intarsien, und an der einen Schmalwand prunkte eine Bar. Die Kaffeemaschine summte, Mokkatassen standen bereit, und aus dem Kühler ragte ein Flaschenhals. »So, mein Lieber, jetzt möchte ich das tun, was ich bereits andeutete«, schmunzelte der Hausherr. »Nämlich, mit Ihnen im besten Einvernehmen anstoßen.« Was denn auch geschah. Dabei bot der sonst so reservierte ältere Arzt dem jüngeren das trauliche Du an, was diesen geradezu verwirrte. »Herr Doktor, womit habe ich das verdient?« fragte er, und lachend kam es zurück: »Das weiß ich selbst nicht. Aber was macht man schon gegen die Liebe auf den ersten Blick? Man kapituliert. Zuerst tat ich es bei Lenore, dann bei ihrem Ehgespons.« Da mußte Ralf lachen, und sein Gastgeber nickte befriedigt.
»Das habe ich gern, Lachen und Frohsinn zu Hause, nach all dem Jammer und den Klagen im Beruf. So was wünsche ich mir schon lange. Und wenn unser Täubchen erst hier sein wird, dann zieht es andere nach. Denn wo Tauben sind, da fliegen Tauben zu. Ja, ja, ich weiß, dein Gesicht ist nämlich ein einziges Fragezeichen«, besah der Mann sich schmunzelnd seinen Gast. »Ist das vielleicht ein Wunder?« »Bei deinem sonstigen Scharfsinn schon. Somit gebe ich denn den Kommentar: wenn erst Lenore zwischen hier und dort pendelt, schließt sich Ilga ihr bestimmt an. Und unser Traudchen flattert hinterher, von wegen des Kombinierens. Und dann habe ich endlich das frohe Leben im Haus, nach dem ich mich immer sehnte. Kapiert?« »Das schon. Aber deine Verwandten sind doch schon immer hier aus und eingegangen?« »Eben nicht. Sie erschienen selten, weil es ihnen hier zu ungemütlich war.« »Ist Günther dein einziger Neffe?« »Ja, und Ilga meine einzige Nichte.« »Vielleicht bringt sie dir durch Heirat den erwünschten Nachfolger.« »Kann schon sein, daß sie sich langsam mit Dr. Hörse zusammenzankt«, war die lachende Erwiderung. »Aber darüber können noch Jahre vergehen. Also, mein lieber Ralf, du kannst dich drehen und winden, wie du willst, ich habe dich mir als Nachfolger in den Kopf gesetzt, und der kann manchmal hart sein wie Granit. Ich weiß, du hast Hemmungen, die jedoch Unsinn sind. Durch Lenores Erbschaft bist du sehr wohl in der Lage…« »Lenore? Erbschaft?« horchte Ralf auf. »Davon weiß ich ja gar nichts.« »Na, nun schlägt’s dreizehn! Hat sie dir denn nichts davon gesagt?« »Nein, das hat sie in ihrer Erregung wohl vergessen. Wen hat sie denn beerbt?« »Ihre Mutter.«
Kurz gab er wieder, was er über die Angelegenheit wußte. Und je länger er sprach, desto mehr verfinsterte sich Ralfs Gesicht. »Wieviel ist es denn?« fragte er, als der andere schwieg. »So um eine dreiviertel Million herum.« »Das hat mir gerade noch gefehlt!« lachte Ralf hart auf. »Da dachte ich, mit meinem bißchen Geld… Weißt du übrigens davon?« »Ja.« »Da dachte ich, mit meinem bißchen Geld mir meine Frau zurückzuerobern, indem ich ihr eine eigene Wohnung einrichte, und nun dies. Es ist, um auf die Akazien zu klettern.« »Tu’s nicht, mein Sohn«, entgegnete der andere ungerührt. »Die Dinger sollen nämlich erbärmlich stechen. Freu dich lieber über den reichen Segen, den du als mein Nachfolger mal nötig brauchen wirst. Oder glaubst du etwa, daß ich dir das alles hier ringsum mal schenken werde?« »Ich würde so ein Riesengeschenk gar nicht annehmen.« »Vorläufig ist es ja noch nicht soweit«, meinte Reinhard pomadig. »Ich gedenke noch so einige Jährchen zu leben mit meinen jetzt fünfundvierzig Jahren. Bis dahin zahle ich dir Gehalt, von dem ich dir allerdings die Verpflegung für dich und deine Familie, die sich hoffentlich bald und viel vergrößern wird, abziehen muß.« »Dann wird von dem Gehalt wohl nicht viel übrigbleiben«, warf Ralf trocken ein, und der andere lachte. »Na, du, ich zahle anständig, Junge, was habe ich bloß für eine Mordsfreude, daß ich nun auch eine Familie haben darf. Denn zusehen, und immer nur zusehen, das macht bitter.« Ganz leise war das letzte gesagt. Und was der junge Arzt darauf erwiderte, klang wie ein Schwur: »Du sollst nie mehr allein sein, Reinhard, das verspreche ich dir.« »Danke, das war ein gutes Wort. Sag mal, hat mein Bruder nichts von Lenores Erbschaft erzählt, als du ihn im
Krankenhaus aufsuchtest?« »Nein.« »Merkwürdig. Und auch deine Mutter schwieg sich darüber aus?« »Meine Mutter? Woher soll die denn das wissen? Reinhard, du wirst ja ganz verlegen. Verschweigst du mir etwas?« »Junge, sei doch nicht so gründlich!« »Doch, ich muß es sein. Also?« So blieb dem anderen nichts anderes übrig, als über Frau Rosahas Brief zu sprechen. »Und was hat Lenore getan?« »Den Brief mittendurch gerissen und zurückgesandt.« »Gott sei Dank!« atmete Ralf auf. »Sag mal, Reinhard, graut dir eigentlich nicht vor dem Sohn so einer Mutter?« »Keine Spur! So weiß deine Mutter noch gar nicht, daß du wieder im Lande bist?« »Doch, irgendwo muß sie es erfahren haben. Sie war nämlich im Hotel und wollte mich sprechen, was ich aber ablehnte.« »Ist das nicht zu hart, Ralf?« »Nein, nur gerecht. Es ging ihr ja nicht um meine Person, sondern um mein Geld. Nun, ich habe ihr schriftlich mitgeteilt, daß ihr die Raten für Lenore erlassen sind. Fortan werde ich dafür aufkommen.« »Es paßt gut, daß heute Sonntag ist«, sagte Reinhard, als er an Ralfs Seite den Wiesenpfad entlangschritt. »Da haben wir wenigstens Aussicht, die gesamte Familie anzutreffen, wenn wir so treulich vereint auf der Bildfläche erscheinen. Für meinen Bruder gibt es allerdings keinen Sonntag, wie für uns ja auch nicht. Wir Ärzte müssen ständig in Bereitschaft stehen. Da heißt es eben: werde nicht Arzt, wenn du nicht aus dem Beruf die Konsequenzen ziehen willst! – Doch, Hermann ist da. Ich erspähe ihn bereits auf der Terrasse im trauten Kreis seiner Lieben. Auch die Oberschwester ist dabei, hat also immer noch Urlaub.« Fünf Minuten später standen sie dann vor den sechs Menschen, die nicht gerade geistreiche Gesichter machten,
was dem kleinen Arzt ein amüsiertes Lächeln entlockte. »Kinderchen, klappert nicht mit den Augen, ihr seht richtig, Ralf und ich – ich und Ralf. Ist denn das so verwunderlich?« »Also, Onkel Reinhard, wenn du nicht deine Späße machen kannst, ist dir einfach nicht wohl«, sagte Ilga als erste mobil. »Steckst ganz so voller Ulk wie Wilmar.« Erschrocken hielt sie inne, rot lief ihr Gesichtchen an. Doch die anderen waren taktvoll genug, ganz harmlos zu tun. »Spaß muß sein, sagte die Katze und fraß den Spatz«, meinte Günther pomadig und half so der Schwester über ihre Verlegenheit hinweg. Inzwischen hatten die beiden Besucher Platz genommen, und nun bequemte Reinhard sich endlich zu einer Erklärung, die dann gewissermaßen wie eine Bombe einschlug. Alles rief und fragte durcheinander, nur Lenore saß mit erschrockenen Augen da. Niemand kümmerte sich um sie, alle sprachen auf die beiden Herren ein, bis sie restlos alles wußten. »Wo wird denn Dr. Skörsen wohnen?« fragte Ilga, zappelnd vor Aufregung. »Bei mir, natürlich. Der Kasten ist ja groß genug.« »Fein, da werde ich dich oft besuchen.« »So, so«, sagte der Onkel. »Aber warum auch nicht, wo ich jetzt einen so schmucken jungen Mann bei mir habe. Doch den wirst du wenig zu sehen kriegen, weil die weiblichen Patienten ihn mit Beschlag belegen werden. Sie reckten sich schon heute ihre reizenden und minder reizenden Hälschen nach ihm aus.« »Hört, hört!« schmunzelte der Hausherr. »Da wird es aber bald Palastrevolution um den schönen Ralf geben.« Dabei schielte er zu Lenore hin, die noch immer unbeweglich dasaß. Man zog sie absichtlich nicht ins Gespräch, nahm auch keine Notiz davon, als sie sich entfernte. Doch als sie außer Hörweite war, sagte Reinhard befriedigt:
»Den ersten Schock hat sie weg, weitere werden folgen.« »Und du willst ein Seelenarzt sein?« empörte Gertraude sich. »Ein ganz gefühlloser Mensch bist du. Los, Dr. Skörsen, gehen Sie ihr nach!« »Um mich beleidigen zu lassen? Nein, gnädige Frau, ich habe von der ersten Aussprache genug und werde mich Lenore fortan nicht mehr nähern. Wenn sie mir etwas zu sagen hat, wird sie wohl das erste Wort sprechen müssen, denn jetzt ist sie es, die sich an mir schuldig macht.« »Na, das kann ja gut werden!« seufzte Traude. »Hoffentlich sind Lenores Nerven stark genug, um dem allen, was auf sie einstürmen wird, ohne Schaden standzuhalten. Was meinst du dazu, Reinhard?« »Ihre Nerven sind durchaus intakt.« »Und wenn ihr das Herz bricht?« »Das soll es ja gerade«, blieb er ungerührt. »Ruhig brechen lassen. Dann wird sie schon den Weg zu dem finden, der es mit behutsamen Händen leimen kann.« »Onkel Reinhard, du bist abscheulich!« »Aber warum denn, Ilgalein?« tat er scheinheilig. »Ich bin doch an dem allen nicht schuld.« »Das nicht, aber du hetzt Dr. Skörsen auf.« »Ilga, werde nicht ungezogen!« tadelte der Vater sie scharf. Da weinte sie auf und lief davon. »Na, so ein dummes Ding!« brauste der Vater auf, kam jedoch nicht weiter, weil der Sohn mit Pathos die Hände hob und zitierte: »Ach, man fühlt mit siebzehn Jahren leicht der Liebe Lust und Schmerz.« Da mußten alle lachen, und die patzige Ilga kam um ein Strafgericht herum. »So, mein lieber Ralf, nun wir alles so hübsch durcheinander gebracht haben, können wir ja wieder gehen«, schmunzelte der kleine Arzt. »Aber wir kommen wieder.« »Soll das ein Trost sein?« »Na, was denn sonst, Traudchen? Hauptsächlich für die
Nore. Grüß mir ihr Herz!« »Warum das?« »Weil es den Gruß besser verstehen wird als das eigenwillige Köpfchen. Denn die beiden stehen jetzt in ach so hartem Streit.« »Nun geh doch bloß schon!« schob Gertraude ihn lachend ab. »Sonst verwirrst du uns noch immer mehr mit deinen rätselhaften Worten. Soll ich Lenore auch von Ihnen etwas bestellen, Herr Doktor?« »Nein, gnädige Frau.« »Aber von mir kannst du ihr noch was bestellen und zwar: aber das Herz irrte nicht!« »Wie soll ich das nun wieder verstehen?« »Du brauchst es nicht, Traudchen. Hauptsache, daß Lenore es versteht.« Damit ging er endgültig in Ralfs Begleitung davon, und der Bruder sprach ihm warm nach: »Ist doch ein prächtiger Kerl, unser Reinhard. Weißt du auch, daß wir uns ihm gegenüber schämen müssen, Fraule?« »Warum denn?« »Weil wir uns viel zu wenig um ihn gekümmert haben. Wie schmerzlich er das entbehrt hat, konnte man heraushören, als er sagte, wie glücklich er doch wäre, daß das Alleinsein für ihn nun endlich ein Ende hätte.« »Er hat doch nie gesagt, daß er sich einsam fühlt«, entgegnete Traude kläglich. »Er gehört eben nicht zu den Menschen, die um Liebe betteln. – Aber was ist mit Ihnen los, Schwester Agathe? Sie sind ja völlig verstummt.« »Das kann einem schon die Sprache verschlagen«, seufzte sie. »Ich bin nur neugierig, was der Herr Professor zu dem Entschluß Skörsens sagen wird. Wie gern hätte er den vorzüglichen Arzt wieder im Krankenhaus gehabt.« »Wenn er vernünftig ist, muß er einsehen, daß Skörsen im Krankenhaus nicht annähernd das geboten werden kann, was ihm mein Bruder bietet. Außerdem hat Rudolf Dr.
Hörse zur Seite, den er sich als tüchtige Kraft heranbilden kann, während Reinhard in den letzten Jahren mit seinen Ärzten nur Pech hatte.« »Sie haben schon recht, Herr Doktor, aber schade ist es doch.« »Auch für Sie?« Er kniff ein Auge zu, und da mußte sie lachen. »Auch für mich. Ich mag den Ralf nun mal gern. Außerdem möchte ich betonen, daß ich an der Grenze der Fünfzig stehe.« »Das sagt noch gar nichts.« »Schwester Agathe, nehmen Sie diesen gräßlichen Menschen doch mal bei den Ohren!« entrüstete sich Gertraude, doch der Sohn warnte: »Ei, Mutti, lieber nicht, der Paps befindet sich im gefährlichen Alter.« »Na, warte bloß, du Schlingel!« fiel Hermann in das hellklingende Lachen der Damen ein. »Ich weiß ja nun nicht, wer von uns beiden sich im gefährlicheren Alter befindet.« »Worüber lacht ihr denn so?« stürmte Ilga herbei, während Lenore langsamer folgte. »Wo sind denn die beiden Herren?« »Zutiefst gekränkt davongegangen.« »Etwa meinetwegen?« fragte Ilga erschrocken. »Na, weshalb denn sonst?« »Ach, Paps, du willst mich bloß ärgern. Du bist genauso wie…« »Ahmmmmm?« »Mit dir ist ja heute nicht zu reden. Komm, Nore, wir gehen baden.« »Aber kühlt euch nicht zu sehr die Herzchen ab. Apropos Herz – Onkel Reinhard läßt das deine grüßen, Lenore.« »Wie soll ich das verstehen, Onkel Hermann? Was sagte er denn?« »Aber das Herz irrte nicht.« Zuerst sah sie ihn verblüfft an, doch dann flog der Kopf in
ihren Nacken. »Wenn sich da der Herr Doktor nur nicht irrt. Komm, Ilga!« Als sie gegangen war, zwinkerte der Tierarzt der Gattin zu. »Siehst du, Traudchen, wie rasch die Kleine den Sinn erfaßte! Wetten, daß sie sich von dem guten Psychiater durchschaut fühlt?« »Auch noch wetten. Nein, lieber Mann, dafür ist die ganze Sache denn doch zu verworren. Ich muß mal so richtig kombinieren.« Für Lenore begann nun eine Zeit, wo sie sich selbst nicht begriff. Von Ralf wollte sie nichts wissen – und sehnte ihn dennoch herbei. War sie mit ihm zusammen, verhielt sie sich ablehnend, war er wieder fort, tat es ihr leid. Und sie traf fast täglich mit ihm zusammen, und zwar in Friedberg, wohin sie eigentlich gar nicht gehen wollte. Doch ging Ilga hinauf, folgte sie ihr wie einem Magneten. Nur gut, daß Lenore keine Ahnung davon hatte, daß man im Tal wie auf der Höh ein abgekartetes Spiel mit ihr trieb. Dann hätte sich ihr Trotz, von dem sie nicht wenig besaß, gehörig aufgelehnt und ihr die Zukunft verpfuscht. Nun ging sie schon seit zwei Wochen im Friedberger Herrenhaus aus und ein, aber stets war Ilga dabei. Langsam begannen die blendende Persönlichkeit Ralfs und die feudale Umgebung Friedbergs auf das empfängliche Herz zu wirken. Seine prachtvolle Geltung. Die ausgesucht elegante Kleidung, sein selbstsicheres Auftreten, seine tadellosen Manieren, überhaupt das ganze Drum und Dran. Wer ließ sich davon nicht bestechen? Und dann kam bei Lenore noch die Eifersucht hinzu. Wenn sie nämlich sah, wie die weiblichen Patienten sich um »ihren« Doktor scharten, ihn anhimmelten, stieg jedesmal Zorn in ihr auf, den sie jedoch unterdrückte – vorläufig noch. Doch eines Tages ging ihr sozusagen der Hut hoch, als sie beobachtete, wie Ralf von den »unverstandenen Frauen« umschwärmt wurde. Sie stand neben Dr. Hollgart, der sie mit den Augen des Psychiaters scharf beobachtete.
»Sag mal, Onkel Reinhard, muß das sein, daß Ralf sich von den Damen so anhimmeln läßt?« fragte sie unmutig. »Es muß sein«, kam die Antwort scheinheilig. »Und ich glaube, daß Ralf sich das gern gefallen läßt. Welch ein Mann ließe das schließlich nicht? Ich wünschte, man täte es auch bei mir.« »Um das zu wünschen, dafür bist du ja viel zu klug«, entgegnete Lenore warm, dabei die Schulter des verwachsenen Mannes liebevoll umfassend. »Schwärmerei verfliegt, nur die Liebe bleibt.« »Wirklich, Nore?« »Ganz wirklich, Onkel Reinhard. Wir haben dich lieb – nicht wahr, Ilga?« »Ehrensache!« warf diese sich in die Brust. »Laß doch die dummen Gän…« »Ei, Ilga!« »Na ja, Onkelchen, ich halte schon den Mund«, murmelte sie beschämt. »Aber sag doch selbst, wie sie um Ralf herumscharwenzeln, das ist denn doch zu arg. Es ist gar nicht gut, wenn ein Mann so blendend aussieht. Ich jedenfalls möchte einen solchen gar nicht haben. Aha, jetzt hat Ralf uns erspäht und schwenkt ab von den ihn verhimmelnden Damen.« »Apartes Wort«, schmunzelte der kleine Arzt und sah dann dem hochgewachsenen Mann entgegen, der rasch näher trat – frisch und froh, braungebrannt, ein Bild sieghafter Männlichkeit. »Ihr seid hier?« tat er scheinheilig. »Wenn ich das früher bemerkt hätte…« »Tu bloß nicht so«, zog Ilga ein Mäulchen. »Wirklich, Ralf, du wächst dich zu einem Schwerenöter schlimmster Sorte aus. Nie hätte ich das von dir jemals gedacht.« »Also enttäuscht von mir?« »Nicht mehr, wenn du uns in deinem aufregend feudalen Wagen zur Stadt fährst, Mutti hat mir nämlich einen ellenlangen Besorgungszettel in die Hand gedrückt. Paps ist mit dem Auto natürlich wieder unterwegs. Deshalb sollten
wir das Gespann nehmen.« »Und das ist dir Irrwisch natürlich zu langsam«, zwinkerte Ralf ihr zu, der bereits merkte, wo sie hinauswollte. »Bekomme ich Urlaub von meinem gestrengen Chef?« »Nun zieh schon ab, du Schlingel!« schmunzelte sein Chef. »Ich werde dich indes bei deinen Anbeterinnen würdig vertreten.« Bei dem lustigen Geplänkel hatte Lenore schweigend dagestanden und blieb auch schweigsam, als sie dann an Ralfs Seite dahinschritt, während Ilga sich zutraulich an seinen Arm hängte. Lächelnd hörte er auf ihr munteres Geplauder, hatte für die Gattin weder Worte noch Blick. Und dabei sah sie doch so reizend aus in dem duftigen Sommerkleid, mit dem leichten Seidenmantel darüber. Das Haar, unbedeckt, funkelte und gleißte im Sonnenlicht. Die blauen Augen leuchteten aus dem gebräunten Gesichtchen – alles in allem ein junges Menschenkind von bezaubernder Schönheit. Aber auch die dunkellockige Ilga konnte sich sehen lassen, und einem Mann, der zwischen beiden hätte wählen sollen, wäre die Wahl wohl schwergefallen. Geschickt steuerte Ralf seinen eleganten Wagen aus der Garage, und bevor Lenore noch so recht zur Besinnung kam, hatte Ilga sich auf dem hinteren Sitz placiert. »Ich spiele Herrschaft!« sagte sie großartig, sich so richtig ausbreitend. Also blieb Lenore nichts übrig, als sich neben den »Chauffeur« zu setzen, der so ganz respektwidrig vor sich hin pfiff. Ruhig hielten die Hände das Steuerrad, an deren linker der kostbare Stein funkelte und blitzte. Woher mag er den Ring haben? dachte Lenore versonnen. Gekauft hat er ihn bestimmt nicht. Also ein Geschenk. Aber von wem? Scheu tastete sich ihr Blick zu seinem Gesicht hinauf, das man in seiner gesunden Bräune mit kühn bezeichnen konnte, hauptsächlich dann, wenn durch den Mund die blendendweißen Zähne blitzten. Das blonde Haar, sonst sorgfältig geordnet, zauste der Wind, der in den offenen
Wagen ungehindert Zugang fand. Es ist nicht gut, wenn Männer so blendend aussehen, kamen ihr Ilgas Worte in den Sinn. Nein, es ist wirklich nicht gut, sann Lenore weiter. Sie können unmöglich treu sein, weil sie zu vielen Gefahren ausgesetzt sind durch die Frauen, die sie umschwärmen wie die Falter das Licht. Es war wohl ein Zufall, daß gerade jetzt Ralf das Lied aus dem »Paganini« pfiff und Ilga munter dazu sang: »Gern hab’ ich die Frau’n geküßt, hab’ nie gefragt, ob es gestattet ist. Dachte mir: Nimm sie dir, küß sie nur, dazu sind sie ja hier.« »Ich sage ja, daß aus dir ein ganz schlimmer Schwerenöter geworden ist«, lachte Ilga nach dem frischfröhlichen Duett. »Wenn ich deine Frau wäre, dann würde ich dich einsperren!« »Wie grausig!« »Könnte gar nicht grausig genug sein. Und nun denk mal nicht an andere schöne Frauen, sondern an die, welche du mit dir führst als kostbare Fracht. Steuere sie nicht in das Gewimmel, in das wir gleich geraten werden.« Und tatsächlich mußte er jetzt scharf aufpassen, weil sie in die Hauptstraße der Stadt fuhren, wo der Verkehr nur so brandete. »Wo mußt du überall hin, Ilga?« »Ein Dutzend Geschäfte langen kaum. Halte bitte auf dem Parkplatz am Markt, von dem aus ich meine Fühler ausstrecken werde. Wir treffen uns im Lindencafe wieder.« Kaum daß der Wagen hielt, hüpfte das Mädchen hinaus und war verschwunden, ehe Lenore so recht zur Besinnung kam. »Das nennt man sitzenlassen«, bemerkte Ralf trocken. »Na, laß ihn laufen, den kleinen Irrwisch. Wir tun uns indes im Cafe gütlich.« Obwohl es bald Mitte September war, herrschte immer noch eine sommerliche Wärme. Also nahm das junge Paar auf der Terrasse Platz, die zum See hinausführte, auf dem
Segelboote kreuzten und Ruderboote glitten. Abseits lag die Badeanstalt, in der reger Betrieb war. »Ich bin zum erstenmal hier«, begann der Mann die Unterhaltung. »Aber ich muß schon sagen, daß es ein idyllisches Plätzchen ist.« »Das finde ich auch«, kam die Antwort einsilbig. »Dann warst du schon oft hier?« »Oft gerade nicht, aber einige Male schon.« »Worauf hast du Appetit?« »Auf Eis, bitte.« Das war rasch zur Stelle. Während Lenore es langsam löffelte, dachte sie daran, daß sie nach der Aussprache mit Ralf zum erstenmal wieder mit ihm allein war, obwohl sie ihm fast täglich begenete. Aber nie allein, immer war Ilga dabei und meist auch Onkel Reinhard, wie sie ihn jetzt nennen durfte. Würde Ralf jetzt die Gelegenheit benutzen und erneut eine Aussprache herbeiführen? Nein, er tat es nicht. Er unterhielt sie zwar, aber so oberflächlich, wie er es mit einer Dame seiner Bekanntschaft getan haben würde. Jedenfalls war von Annäherung keine Spur. Sehr günstig für Lenore, die immer noch nicht soweit war, um sich zu ergeben. Sie hätte auch jetzt den Gatten schroff zurückgewiesen, und ihre Ehe endgültig zerbrochen. Denn ein Mann wie Ralf Skörsen ließ sich wohl einmal beleidigen, doch beim zweiten Mal hätte er daraus die Konsequenzen gezogen. Das Laub auf den Bäumen verfärbte sich, leuchtete so prächtig in allen Farben, wie sie nur die Natur zu mischen versteht. Die Herbstblumen blühten in buntem Durcheinander, überall, wohin das Auge auch schaute, prangende, glühende Pracht. Schade, daß nicht immer die Sonne schien, daß es zwischendurch auch Regen gab, aber schließlich war es ja Herbst. An solchen Tagen blieb Lenore auf dem Hollgarthof. Denn es machte wirklich keinen Spaß, bei
Regenwetter den Wiesenpfad entlangzugehen, und der Umweg nach Friedberg betrug vier Kilometer. Aber blieb Lenore nicht gern in ihrem trauten Zuhause? Ach, sie wußte jetzt überhaupt nicht mehr, wohin sie eigentlich gehörte. Hier war es schön, dort war es schön. Hier liebe Menschen, dort liebe Menschen. Auf dem Hollgarthof war es die Familie Hollgart, in Friedberg der gute Onkel Reinhard, an dem sie mit töchterlicher Liebe hing. Und wer noch? Nein, der natürlich nicht. Und dabei klopfte ihr Herz immer sehnsuchtsvoller, immer lauter und fordernder. Es war an einem sonnigen Tag im Oktober, als Lenore ohne ihre treue Begleiterin den Wiesenpfad hinauf zum Friedberg stieg. Denn llga fühlte sich nicht wohl, klagte über Kopf- und Halsschmerzen. »Ausgerechnet heute muß das sein«, sagte Lenore enttäuscht. »Wo Ralf doch Geburtstag hat und ich ihm anstandshalber gratulieren muß.« »Anstandshalber ist gut«, lachte Gertraude, dabei mit der Tochter einen verschmitzten Blick wechselnd. »Also, sei anständig und bemühe dich zum Friedberg hinauf.« »Muß das wirklich sein, Tante Gertraude?« »Und wie das sein muß, mein Herzchen. Geh schon vor, in einer Stunde komme ich nach.« »Warum kommst du nicht mit mir?« »Weil ich noch etwas Dringendes zu erledigen habe. Nun hopp, ab mit dir, sonst werde ich böse!« So blieb denn Lenore nichts anderes übrig, als sich allein auf den Weg zu machen. Im Friedberger Herrenhaus fand sie bereits eine fidele Gesellschaft vor, bestehend aus dem Hausherrn, der Hausdame und Ralf. Man schien schon ganz nett auf das Geburtstagskind angestoßen zu haben, wie die geleerten Champagnerflaschen bewiesen. »Spät kommt sie, doch sie kommt!« sang der Besitzer all der Herrlichkeit ringsum mehr laut als schön, den
Sektkelch der Eintretenden entgegenschwenkend. »Sei mir gegrüßt in diesen heiligen Hallen!« »Onkelchen, du hast ja einen Schwips«, lachte Lenore, doch dieser sang stimmkräftig weiter: »Schier dreißig Jahre bist du alt, hast manchen Sturm erlebt.« »Aber ich doch nicht!« lachte Lenore immer hellklingender. Es hörte sich an, als ob Frühlingsglöckchen den Lenz einläuten, und dabei war es doch Herbst. »Wer spricht denn von dir, du herziges Kind? So sonnig du auch sein magst, aber mein Gesang gilt einem dreißigjährigen sonnigen Sohn.« »Ein sonniger Mann? Gräßlich!« »Geschmackssache. Nun komm und sag dein Sprüchlein auf!« Lenore tat es. Wünschte dem Gatten viel Glück zu seinem dreißigsten Geburtstag und überreichte ihm einen Strauß leuchtender Georginen. Dann nahm sie in der Runde Platz und hatte gerade mit dem Gatten auf sein Wohl angestoßen, als der würdige Diener erschien und meldete: »Frau Rosalia Skörsen und Fräulein Tochter.« Danach war es erst einmal bedrückend still. Doch dann sprach eine sonore Stimme gelassen: »Ich lasse bitten.« Und schon sauste Rosalia herein, und hinter ihr stöckelte Anka. Beide sehr elegant, sehr selbstbewußt. Beide gerührt bis zu Tränen. »Ralf, mein lieber Junge!« breitete die Frau Mama die Arme aus. Allein der »liebe Junge« sank nicht hinein, sondern sagte gelassen: »Darf ich vorstellen?« Nachdem das geschehen war, ließ er die Glückwünsche geduldig über sich ergehen. Und nun war es der Hausherr, der die Gäste Platz zu nehmen bat. Sie taten es mit dem größten Vergnügen, ließen die Blicke neugierig umherschweifen. Und was sie
erfaßten, ließ ihre Augen kugelrund werden vor ehrfürchtigem Staunen. Das war mal eine Pracht. Dieser Hollgart mußte ja Geld haben wie Heu. Da mußten sie zusehen, daß sie so viel wie möglich aus dieser fetten Pfründe profitierten. Also flötete Rosalia süß: »Wie wunderbar schön Sie es hier haben, Herr Professor!« »Der Titel kommt mir nicht zu, gnädige Frau.« »Na, wem sonst? So ein berühmter Mann wie Sie? Na ja, der Titel kommt schon noch, muß ja kommen, bei so einer Kapazität. Meine Tochter und ich haben uns bereits ein wenig auf Ihrem Besitz umgesehen. Das reinste Paradies für leidende Menschen. Eine Kur hier würde bei mir und meiner Tochter direkt Wunder wirken, denn unsere Nerven befinden sich in einem schauderhaften Zustand.« »Eine Kur hier ist aber sehr teuer, gnädige Frau.« »Kann ich mir denken. Aber da mein Sohn hier Mitbesitzer ist…« »Du irrst, Mama«, fiel der Sohn mit einer Stimme ein, die so klang, als wenn Eisschollen aneinanderklirrten. »Ich bin hier weiter nichts als ein Angestellter und beziehe nur Gehalt.« Ach, wie wurde da Frau Rosalias Gesicht lang und immer länger. Konsterniert fragte sie: »Wirklich, nur ein Angestellter? Aber mein Sohn, du hast doch Geld, deine Frau hat Geld. Da verstehe ich nicht…« »Das können Sie auch gar nicht, gnädige Frau«, schaltete sich nun Reinhard ein. »Das Geld liegt hier als Kaution fest.« »Aber so etwas gibt es ja gar nicht!« »Und wie es das gibt! Schließlich sind es ja nur lumpige paar tausend Mark.« »Wie – was? Ich hörte doch aber…« »Man hört so viel, gnädige Frau.« »So ist es etwa auch nicht wahr, daß meine Schwiegertochter geerbt hat?« »Eine Lappalie, gnädige Frau. Aber wie ist es nun mit der
Kur? Allerdings müßte ich um eine größere Vorauszahlung bitten.« »Nein, danke. Wir müssen nun leider gehen. Komm, mein Kind.« Ein gnädiges Kopfnicken, begleitet von einem sauren Lächeln. Und Frau Rosalia rauschte hinaus, zutiefst enttäuscht. Hinterher trippelte Anka wie ein begossenes Pudelchen. Dunkel stieg Ralf das Blut ins Gesicht. Er schämte sich seiner Mutter. »Mach dir nichts draus, mein Junge!« legte Reinhard ihm die Hand auf die Schulter. »Sei froh, daß du diese Gäste auf so leichte Art losgeworden bist. Die werden nicht wiederkommen. Und nun kümmere dich um deine Frau!« flüsterte er ihm zu. »Der Schreck wird sie endlich in deine Arme treiben. Nutze ihre Verstörtheit aus!« Er ging in Begleitung der Hausdame hinaus, und Ralf sah erschrocken auf Lenore, die reglos im Sessel lehnte – todblaß, mit schreckgeweiteten Augen. Als Ralf sich zu ihr neigte, kam Bewegung in sie. Die zitternden Hände krallten sich in seinen Ärmel, die Lippen bebten so sehr, daß sie kaum die Worte formen konnten: »Bitte, Ralf, bring mich nach dem Hollgarthof.« »Aber warum denn, Lenore?« »Weil sie wiederkommen werden, immer wieder. Ich kenne sie doch. Und ich habe vor ihnen doch so große Angst.« »Aber Kind, so werde doch endlich ruhig! Du zitterst ja an allen Gliedern.« »Ist das vielleicht ein Wunder? Du kennst sie nicht.« »Doch, Nore, ich kenne sie und werde nicht dulden, daß sie noch einmal herkommen.« »Wie willst du das wohl anfangen? Die kleben zäh wie Pech, wenn sie etwas erreichen wollen. Du wirst dich schon wieder von ihnen einwickeln lassen.« »Niemals, Lenore, das schwöre ich dir!« »Ach, Ralf, du bist ihnen gegenüber ja viel zu schwach.« »Gewesen – das gebe ich offen zu, weil ich sie eben nicht
kannte. Aber jetzt kenne ich sie und will nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Außerdem werden sie sich nie mehr hierher wagen, weil sie Reinhard fürchten. Wenn du mir nicht vertrauen willst, so vertraue ihm. Er sorgt schon dafür, daß seinem Liebling kein Härchen gekrümmt wird. – Und nun komm mal her, du kleiner Feigling!« Er hob sie lachend hoch, setzte sich in den Sessel und zog sie auf seine Knie. »Halt, hiergeblieben!« Er hielt sie fest, als sie aufspringen wollte. »Du kommst nicht früher von diesem Platz, bis du mir den Kuß gegeben hast, den ich an meinem Geburtstag zu beanspruchen habe. Ach, du willst nicht?« Schon hatte er sie beim Nacken gepackt, zog ihren Kopf zu sich heran – und Mund brannte auf Mund. Das wurde solange wiederholt, bis das eine Lippenpaar nicht mehr widerstrebte. »So, mein Kind«, ließ der draufgängerische Mann endlich von seinem Opfer ab. »Hast du eine Ahnung, wie ich nach diesen Küssen geschmachtet habe?« »Nein.« »Sieht dir ähnlich, du grausame kleine Person. Ist schön wie eine junge Göttin, verführerisch wie eine Circe…« »Und dumm wie ein Gänschen.« »Warum das?« »Weil ich dir listigem Fuchs so brav in die Falle tappte. Und wie denkst du dir das weiter?« Nun trat wieder der ängstliche Ausdruck in ihre Augen. »Deine Mutter…« »Lenore, ich möchte davon nichts mehr hören.« »Doch, du mußt es«, beharrte sie hartnäckig. »Es gibt da noch manches zu klären. Zum Beispiel mit den Raten. Ob wir sie ihr nicht erlassen?« »Ach, was bist du doch für ein dummes kleines Ding!« Er nahm sie lachend beim Schopf und küßte sie herzhaft ab. »Hat sie das um dich verdient?« »Das wohl nicht. Aber schau mal, Ralf, ich bin doch jetzt so glücklich, und wenn man glücklich ist, soll man großmütig sein.«
»Und wenn ich es bereits gewesen bin, hm?« »Inwiefern?« »Sie zahlt diese Raten schon seit meiner Rückkehr nicht mehr, sondern ich.« »Ralf, das darfst du nicht.« »Ruhig, jetzt spreche ich! Also hat die Dame ein ganz nettes Einkommen, von dem sie und ihre Tochter schon leben können.« »Und wenn deine Mutter stirbt und somit die Pension wegfällt, was wird dann aus Anka?« »Ach, du gutmütiges, kleines Schaf!« Er mußte sie nun wieder küssen. »Müßte dir das nicht egal sein, was aus dieser Schmarotzerin wird, die gerade von dir wahrlich kein Mitleid verdient?« »Ja, aber dann käme sie vielleicht hierher.« »Aha, das ist es also. Beruhige dich, sie wird wahrscheinlich bald heiraten, denn sie und ihre Mutter angeln bereits jetzt fleißig nach einem Dummen, der auf den Nichtsnutz hereinfällt.« Womit er recht behalten sollte. Denn schon nach einem halben Jahr heiratete Anka einen reichen Ausländer – und war dann mit ihrer Mutter wie vom Erdboden verschwunden. Jetzt war es noch nicht soweit. Jetzt gab es zwischen den jungen Gatten, deren Herzen in Liebe zueinander brannten, noch verschiedenes zu klären. Zuerst einmal war es der kostbare Ring an der Männerhand, auf den Lenore zaghaft deutete. »Woher hast du den, Ralf?« »Von einer jungen Dame«, zuckte es ihm verdächtig um Augen und Lippen. »Sie kommt sogar nächstens zu einer Kur hierher, und dann werden wir herzliches Wiedersehen feiern.« »Ist sie schön?« »Sehr schön.« »Ralf, muß ich da Angst haben?« »Wenn du diese Schönheit nicht ausstechen kannst, wirst
du es wohl müssen. Also, sieh zu, daß du mich immer wieder bezauberst, mich so einwickelst mit deinem Charme, daß ich nur dich sehe, immer nur dich.« »Wie alt ist die Dame denn?« »Sieben Jahre.« »Pfui, Ralf!« sagte sie jetzt aufgebracht. »Ist es etwa nett von dir, dich über mich lustig zu machen?« »Es ist doch zu schön, wenn du eifersüchtig bist.« »Na, du, das kann man bei dir schon sein. Nun sei aber mal ernsthaft, ja? Von wem hast du den Ring?« »Von der kleinen Australierin, die ich von einer schweren Krankheit heilen durfte. Sie kommt mit ihren Eltern zu einer Kur hierher. So, und nun habe ich für meine Lammsgeduld wohl einen Kuß verdient, will ich meinen.« Nachdem er den vervielfältigt hatte, hob er die süße Last von seinem Knie, sprang auf und dehnte lachend die Arme. »So, jetzt fangen wir unsere Ehe einfach von vorn an, in der es keine böse Schwiegermutter gibt, keine impertinente Schwägerin, sondern nur gute, wertvolle Menschen wie die vom Hollgarthof, Onkel Reinhard, sein betuliches Haushuhn, den Professor, die Oberschwester und Dr. Hörse – von wegen Ilgalein. Die müssen sich aber erst noch zusammenzanken, wie Reinhard schmunzelnd behauptet. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie glücklich ich bin?« »Doch, ich bin es ja auch.« »Na, dann sind wir uns ja beide einig. Und nun komm, meine Süße. Oder steht diese Bezeichnung nur dem langen Wilmar zu?« »Auch eifersüchtig?« blitzte sie ihn an. »Mein liebes Kind, Vorsicht ist hier vonnöten.« Lachend faßte er ihre Hand und zog sie mit sich fort, durch die weite Halle, die teppichbelegte Treppe hinauf, öffnete oben eine Tür und schob Lenore über die Schwelle. »Oh!« war zuerst alles, was sie sagen konnte. Denn was sie da erblickte, war die Wohnzimmereinrichtung aus ihrem Elternhaus, durch manches ergänzt und verschönt. Genauso wie in dem Schlafzimmer, das in diesem Raum
natürlich ganz anders wirkte als in der primitiven Vorstadtwohnung. »Sogar Gardinen sind diesmal an den Fenstern«, erklärte der Gatte lachend. »Gefallen sie dir?« »Ach, Ralf, ich bin vor Überraschung wie benommen. Kneif mich mal, damit ich merke, daß ich nicht womöglich träume.« »Na, ein herzhafter Kuß wird wohl dieselbe Wirkung haben«, ließ er den Worten die Tat folgen. »Nun, bist du jetzt wach?« »So halbwegs. Eigentlich bist du doch sehr kühn, mein Herr Gemahl.« »Inwiefern?« »Daß du die Möbel so mir nichts dir nichts herkommen ließest. Wenn ich nun nicht mehr zu dir zurückgekehrt wäre?« »Nore, fang doch nicht wieder an!« »Aber Ralf, sei doch nicht so empfindlich! Na, laß gut sein, ich werde heikle Themen nicht mehr berühren. Aber was sagt Onkel Reinhard zu dem allen hier?« »Er hat mich sogar auf den guten Gedanken gebracht. Wie wir ihm überhaupt zu großem Dank verpflichtet sind, Herzliebste. Den können wir nun abtragen, indem wir sein Haus als unser Heim betrachten und ihn nie mehr verlassen.« »Was mir durchaus nicht schwerfallen wird. Und nun muß ich noch einen Punkt berühren, der dir nicht genehm sein wird, und zwar mein Geld. Oder weißt du nichts davon?« »Doch, Nore. Aber vorläufig ist das unwichtig. Ich beziehe ein so hohes Gehalt, daß wir gut davon leben können. Aber nach Jahrzehnten, wenn Reinhard… Ach, nicht daran denken! Immer den Herrgott bitten, daß dieser gütige Mann ein sehr hohes Alter erreichen möge. Gehen wir zu ihm.« Hand in Hand betraten sie das Wohngemach. Der kleine Arzt sah ihnen schmunzelnd entgegen. »Na also! Eigentlich müßten wir der Frau Rosalia dankbar
sein, daß sie dem schwierigen Persönchen da einen gehörigen Schock versetzte. Sonst hättest du auf diesen Tag noch lange warten können, mein Sohn! – Aha, da naht ja die gesamte Familie Hollgart.« Er zeigte lachend auf die Tür, durch die die erwähnte Familie trat. »Ihr kommt gerade recht, um einem glückseligen Paar zur Hochzeit zu gratulieren.« »Zur Hochzeit?« wiederholte Gertraude verständnislos. »Na, was denn sonst? Die erste Hochzeit, so mit Kranz und Schleier war nicht die richtige. Denn wie sagt Schiller: Mit dem Gürtel, mit dem Schleier, reißt der schöne Wahn entzwei.« Nun hatten sie alle begriffen, und jubelnde Freude brach durch. Man setzte sich zusammen, und als kurz darauf noch der Professor erschien, konnte man sagen: Der Familienkreis ist geschlossen. Oder doch nicht? Denn wer sich da so vergnügt durch die Tür schob, war kein anderer als Wilmarchen. »Nur auf einen Sprung«, sprach er mit Stentorstimme in das jubelnde Lachen hinein. »Nur mich so ein bißchen von den Brosamen nähren, die von des Reichen Tische fallen.« Man wußte sehr wohl, was er damit meinte. Außer Ilga, die kopfschüttelnd sagte: »Das verstehe ich nicht.« »Kindchen, dann wären Sie ja auch viel zu schlau.« »Also, Herr Dr. Hörse, ich verbitte mir diese Bezeichnung!« »Aber wenn sie doch stimmt?« tat er scheinheilig. »Werden Sie bloß ganz schnell älter, so wenigstens zwanzig, dann finde ich für Sie bestimmt eine andere Bezeichnung.« Jetzt platzten die anderen denn doch mit dem zurückgehaltenen Lachen heraus. Und was blieb Ilga da wohl anderes übrig, als mitzuhalten? Indes hatte die Hausdame für ein exquisites Gabelfrühstück gesorgt, bei dem der Sekt nicht fehlen durfte. Und als der Hausherr sein Glas an das Lenores klingen ließ, sagte er schmunzelnd: »Nun, mein Kleines, wie ist es nun mit dem Irrtum, hm?
Was hat sich denn da so fürchterlich geirrt?« »Der Kopf!« Sie blitzte ihn an. »Und weiter?« »Muß das sein, Onkelchen?« »Es muß sein, du kleiner Trotzteufel.« Da hob sie das Glas dem Gatten entgegen, lächelte ihn lieblich an und sagte: »Aber das Herz irrte sich nicht.«