Familie Derendinger erlebt ein Oktoberfest-Debakel, der schon länger arbeitslose Tommi Derendinger vermag auch als Stun...
36 downloads
350 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Familie Derendinger erlebt ein Oktoberfest-Debakel, der schon länger arbeitslose Tommi Derendinger vermag auch als Stuntman nicht vollständig zu überzeugen. Friseur Hapermann wird angeblich entführt, kommt aber mit einem blauen Auge davon, der Autor Peter Kühne dagegen muß schon nachhaltiger dafür büßen, daß er einen Bestseller über das Landleben geschrieben hat, ohne auch nur einen Hauch davon zu verstehen. Herbert Rosendorfers »zwölf Geschichten aus der Mitte der Welt« sind mit hintersinnigem Humor und grimmiger Hellsichtigkeit geschriebene Burlesken aus der Welt des Kleinbürgertums, das in seiner dämonischen Normalität wirklich alles zu überleben in der Lage ist. Gemeinsam ist allen Geschichten, daß sie in München spielen, in der Stadt, in der der Autor fünfzig Jahre gelebt hat. Diese Geschichten sind eine Art Netz, Schnüre, die der Autor kreuz und quer über diese Stadt gelegt hat, um etwas festzuhalten, was München ist oder war und was seine Münchner ausmacht. Ein groteskes Pandämonium des Kleinbürgertums.
Herbert Rosendorfer, 1934 in Bozen geboren, 1939 mit den Eltern nach München umgezogen, studierte an der Akademie der Bildenden Künste, wechselte danach zum Jurastudium. Seit 1969 zahlreiche Romane und Erzählungen. Lebt und arbeitet als Richter am Oberlandesgericht in Naumburg. Weitere Titel bei K&W: »Die Nacht der Amazonen«, Roman, 1989. »Rom«. Eine Einladung, KiWi 224, 1990. »Mitteilungen aus dem poetischen Chaos«, Römische Geschichten, 1991. »Die Goldenen Heiligen oder Columbus entdeckt Europa«, Roman, 1992. »Venedig«, KiWi 303, 1993. »Ein Liebhaber ungerader Zahlen«, Roman, 1994
V.300605
Herbert Rosendorfer
Absterbende Gemütlichkeit Zwölf Geschichten aus der Mitte der Welt
»Lord, what fools those mortals be!« William Shakespeare
Kiepenheuer & Witsch
Für STELLA zum Andenken an einen kleinen Stern
1. Auflage 1996 © 1996 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofi lm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Umschlaggestaltung Rudolf Linn, Köln Umschlagmotiv Bonnie Timmons © The Image Bank Satz Jung Satzcentrum GmbH, Lahnau Druck- und Bindearbeiten Bercker Graphische Betriebe, Kevelaer ISBN 3-462-02518-X
Inhalt Oktoberfestbesuch (Eine Momentaufnahme aus dem Jahr 1952) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Tommi im Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Verlustreiche Ferienreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Hausmeister Hübl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Ewige Wache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Der dicke Hund. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Wie heißt Espresso auf italienisch? . . . . . . . . . . . . . . . 159 Und keine Kopeke weniger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Ruhe in Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Landleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Scala-Karten für Herzog Albrecht . . . . . . . . . . . . . 265 Trowitzers Fluch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
OKTOBERFESTBESUCH (Eine Momentaufnahme aus dem Jahr 1952)
Es regnete. »Einmal möcht’ ich erleben, daß schönes Wetter ist, wenn ich auf die Wiesen geh’«, sagte die alte Frau Derendinger vom vierten Stock. »Voriges Jahr hat’s nicht geregnet«, sagte der alte Herr Derendinger und zog ächzend seine Zugstiefeletten an. »Ja, nein«, sagte die alte Derendinger, »wie wir hingegangen sind, hat’s allerdings nicht geregnet, aber wie wir dort waren, hat’s angefangen. Kaum daß wir einen Platz an einem Tisch vor dem Augustiner-Zelt gefunden gehabt haben. Du ziehst dir aber gefälligst nicht die alten Hosen an?!« »Warum nicht?« »Unmöglich! die alten Hosen! diese Hosen, die haben ja schon einen Hintern wie ein Spiegel. Was täten da die Leut’ denken.« »Übern Hintern von den Hosen geht der Mantel drüber, den sieht man dann nicht.« »Und wenn du den Mantel vielleicht ausziehst? ha? Was dann?« »Den Mantel zieh’ ich nicht aus bei dem Sauwetter.« »Du ziehst anständige Hosen an, wenn wir schon einmal im Jahr miteinander aufs Oktoberfest gehen.« »Mehrmals im Jahr können wir gar nicht aufs Oktoberfest gehen, weil es nur einmal im Jahr stattfindet.« »Aber wir könnten in den vierzehn Tagen, wo Wiesen ist, mehrmals gehen.« »Ich dank’ schön. Reicht mir einmal.« »Jedenfalls ziehst du andere Hosen an.« »Ich denk’ nicht dran. Jetzt, wo ich mir mit Müh’ und Not endlich 7
die Schuh anderzogen hab’ – da müßt’ ich ja die Schuh’ ausziehen und dann wieder anziehen.« »Dann zieh die Hosen über die Schuh’ aus.« »Das geht nicht.« »Wenn man will, geht alles.« »Nachdem das Oktoberfest ohnedies nicht im Oktober stattfindet, sondern im September, könnten sie’s gleich im August abhalten oder im Juli. Da regnet’s nicht so oft«, sagte Eduard Derendinger jun. im zweiten Stock. Er schaute zum Fenster hinaus. Im Hof stand – neben der Teppichstange – ein einzelner Baum, von dem das Wasser tropfte. Seine Frau Hertha rannte im Unterrock hin und her. »Mir pressiert’s«, schrie sie, »was hast g’sagt? Ich hab’ dich nicht verstanden.« »Nix«, brummte Derendinger jun. »Was?« schrie Frau Hertha und rannte in die Küche. Sie rannte aus der Küche wieder heraus und ins Schlafzimmer. »Die Schlegelberger vom Hinterhaus gehen auch auf die Wiesen«, sagte Derendinger jun., »er, der Schlegelberger, hat schon seinen Trachtenanzug an.« »Du sollst nicht immer bei fremde Leut’ in die Fenster hineinschauen, das tut man nicht.« »Der Schlegelberger schaut auch bei uns in die Fenster hinein, sogar mit dem Fernglas«, sagte Derendinger jun. Frau Hertha schoß aus dem Schlafzimmer: »Was?« »Habe ich öfters schon beobachtet«, sagte Derendinger jun., »da steht er am Fenster, hat das Licht ausgemacht, daß man ihn nicht sehen soll, und späht herüber. Aber man sieht ihn doch.« »So ein Schwein«, fauchte Frau Hertha und zog den Vorhang im Schlafzimmer vor. »Mamma, der Horsti hat mich am Ohr ’zogen«, schrie Tommi, der jüngere Sohn. »Ja, weil 8
er meinen Socken versteckt hat«, schrie Horsti, der ältere. Horst stammte aus der ersten Ehe von Frau Hertha und hieß nicht Derendinger. Tommi rannte zum Vater, der ihm eine Mark gab.
* »Wo ist denn der Heinz?« rief Frau Derendinger sen. im vierten Stock. Heinz war der jüngere Sohn und wohnte noch bei den Eltern. Er war unverheiratet, aber verlobt. Die Verlobte hieß Sieglinde. Es war schon die dritte Verlobte Heinz Derendingers in diesem Jahr. »Wo wird er schon sein, der Herr Heinz«, brummte Vater Derendinger, »bei der Gabi halt.« »Sieglinde, meinst wahrscheinlich«, sagte die alte Derendinger. »Oder Sieglinde, ich komm’ da nimmer mit, wenn er jeden Hundschiß eine neue hat.« »Hoffentlich kommen’s rechtzeitig. Um viere müssen wir weg, spätestens, sonst kriegen wir überhaupt keinen Platz mehr im Bierzelt.« »Herrschaftszeiten«, fluchte Derendinger sen., »hab’ ich jetzt tatsächlich zwei verschiedene Socken an’zogen. Das kommt von dei’m Geschrei wegen der Hosen.« »Erstens habe ich nicht geschrien, weil ich nie ein Geschrei mach’ im Gegensatz zu dir, und zweitens hab’ ich erst angefangen, wie du die Socken schon angezogen gehabt hast. Du hast doch die Socken nicht nach die Schuh’ an’zogen, oder?« »Höllischer Himmelhund, jetzt kann ich glatt die Schuh’ noch einmal ausziehen.« »Dann kannst gleich auch andere Hosen anziehen.« Es läutete. Heinz und Sieglinde kamen. »Gut, daß d’ 9
kommst, geh’ gleich hinter, die Oma wecken.« »Geht die Oma auch mit?« fragte Heinz. »Selbstverständlich. Wir können doch die Oma nicht allein lassen.« Bei der Oma handelte es sich um Frau Philomena Teckler, Mutter der Frau Derendinger sen. Sie war eigentlich ja schon Ur-Oma: des Tommi, und Stief-Ur-Oma Horstis. Oma schlief am Nachmittag. Es war immer schwer, die Oma zu wecken. Heinz nahm zwei Pfannendeckel aus der Küchenschublade und ging nach hinten. »Ich glaub’, das sieht man eigentlich gar nicht, daß das zwei verschiedene Socken sind«, sagte der alte Derendinger, nachdem er lang seine Beine betrachtet hatte. »Zeig her«, sagte Frau Derendinger sen., »aber das ist ja komplett unmöglich. Ein grüner und ein brauner. Und dazu die Hosen – also so geh’ ich nicht mit dir auf die Wiesen. Man könnt’ ja jemand begegnen, der ei’m kennt.« Man hörte, wie hinten der Heinz die Pfannendeckel aneinanderschlug. Ein Schrei. Heinz kam wieder nach vorn. »Ich glaub’, die Oma ist vor Schreck gestorben«, sagte er. »Und das ausgerechnet, wo wir auf die Wiesen gehen wollen«, sagte Frau Derendinger und lief nachschauen. Sieglinde setzte sich auf einen Stuhl in der Wohnküche und begann in einem Lesezirkelheft zu blättern.
* »Mamma, der Pappa hat dem Tommi eine Mark gegeben!« schrie Horsti. Obwohl Derendinger jun. nicht Horstis Vater war, sagte er Pappa zu ihm. Es hatte viele Prügel gekostet, bis Horsti soweit war. »So!« sagte Frau 10
Derendinger jun., die immer noch im Unterrock herumlief, »und warum hast du ihm eine Mark gegeben? Weil der saubere Knabe den Horsti am Ohr gezogen hat?« »Der Horsti hat den Tommi am Ohr gezogen, nicht umgekehrt.« Frau Derendinger brach in Tränen aus. »Ich weiß, daß du ihn nicht magst. Dabei hast du immer versprochen, ihn wie dein eigenes Kind zu behandeln.« »Darf ich mir die Frage erlauben, ob du vielleicht im Unterrock auf die Wiesen gehen willst? oder wie?« Frau Derendinger lief hinaus und schlug die Tür zu. »Wenn du der Mamma noch einmal was sagst, wenn ich dir eine Mark geb’, dann kriegst d’ statt dessen eine Watschen«, sagte Derendinger zu Tommi. »Was machst d’ denn da mit dem Radi, du Depp, das ist doch keine Kegelkugel.« Er hob den Radi auf und steckte ihn wieder in den großen Henkelkorb mit der Brotzeit. Es läutete. »Wer ist denn das schon wieder –« ächzte Derendinger. Er machte auf. Heinz stand draußen. »Du sollst sofort heraufkommen«, sagte er zu seinem Bruder, »der Pappa hat probiert, die Hosen über die Schuh’ auszuziehen, und ich derheb’ ihn nicht mehr allein vom Boden auf.« »Blutiger Hennendreck«, sagte Derendinger und ging mit hinauf. »Ich kann nicht helfen«, schrie die alte Derendinger von hinten, »ich muß die Oma frisieren.« »Au!« brüllte die Oma spitz, »du ziehst mich an die Haar!« Der alte Derendinger lag wie der gefesselte Sklave von Michelangelo am Boden. »Ich krieg’ keine Luft mehr«, stöhnte er. »So ein Blödsinn«, sagte Heinz. »Sollen wir dir jetzt die 11
Hosen anziehen oder ausziehen?« »Ich weiß nicht«, röchelte Derendinger, »mir ist schon alles gleich.« Sieglinde blätterte im Lesezirkelheft. »Ich fürcht’«, sagte Heinz, »wir müssen die Hosenträger durchschneiden.« »Nein!« heulte Derendinger sen., »das sind meine besten.« »Ich seh’ schon, wir kriegen wieder keinen Platz im Bierzelt«, fluchte Derendinger jun. und versuchte seinen Vater umzudrehen, um die Hose von hinten zu fassen.
* Die Straßenbahn kam nicht. Es regnete. Sieglinde bekam nasse Füße, weil sie leichtsinnigerweise offene Schuhe angezogen hatte, bei denen vorn die Zehen herausschauten. »Schamlose Person«, brummte der alte Derendinger. Heinz trug den Korb. »Nicht hinstellen!« sagte Frau Hertha, »sonst wird die Brotzeit naß von unten.« »Mir fällt schon der Arm ab«, jammerte Heinz. »Halt den Schirm nicht über die Oma, sondern über die Brotzeit!« sagte Derendinger sen. »Wir können den Korb eh’ daheim lassen. Die Tische im Bierzelt, wo man selber die Brotzeit mitbringen darf, sind längst besetzt. Die sind immer zuallererst besetzt«, sagte Derendinger jun. »Sonst noch was!« schrie Frau Hertha, »die Brotzeit wird mitgenommen. Wir zahlen doch nicht denen ihre Phantasiepreise. Ist schon das Bier teuer genug.« »Eigentlich mag ich das Wiesenbier gar nicht«, sagte der alte Derendinger. »Aber ich«, krähte die Oma. »Mach’ deine Virginier aus«, sagte Frau Derendinger sen. zu ihrem Mann, »ich steig’ nicht 12
in den Raucher.« »Die Straßenbahn ist ja noch gar nicht da, reg’ dich nicht auf.« »Wir kriegen garantiert keinen Platz mehr im Bierzelt. Wo bei dem Regen alles hineindrängt«, sagte Heinz, »jetzt ist’s halbe sechse. Um viere hätten wir dort sein sollen.« »Eigentlich ging ich lieber ins Kino«, sagte Sieglinde. »Die Straßenbahn kommt!« »Mach’ deine Virginier aus!« »Ja, ja.« Die Straßenbahn der Linie 25 Richtung Sendlinger TorPlatz war brechend voll. »Mein Herr!« schrie ein Norddeutscher den alten Derendinger an, »wenn Sie noch einmal auf meinen Dackel treten, vergesse ich mich!« »Ich kann leider auch nicht auf einem Fuß stehen«, sagte Derendinger, »wo die Straßenbahn so wackelt, Sie Preiß!« »Aber dann tun Sie gefälligst Ihren Fuß unter meinen Dackel.« Die Passagiere schwitzten und froren. Nasse Regenmäntel strömten Dunst aus. An den beschlagenen Scheiben rannen Tränen herunter. »Jetzt sind wir doch im Raucher«, murrte der alte Derendinger, »jetzt hätt’ ich genausogut die Virginier brennen lassen können.« »Wo ist denn die Oma? Um Gottes willen … die Oma! Schaffner – halten, halt! Zieht’s die Notbremse!« »Unterstehen Sie sich!« schrie der Norddeutsche. »Halt’s Maul, Preiß, g’scheckerter!« »Was haben Sie gesagt?! Wiederholen Sie das!« Zum Glück kam die Haltestelle Frauenhofer-/Müllerstraße. Derendingers drängten hinaus. »Wird’s bald?« kreischte der Schaffner und riß an seiner Leine. Die Abfertigungsglocke klingelte heiser. »Halt!« schrie Derendinger sen., aber die Straßenbahn fuhr schon los und um die Kurve in die Müllerstraße hinein. Die Räder pfiffen. 13
»So ein Depp!« sagte Frau Derendinger sen., »hoffentlich ist er so vernünftig, daß er an der nächsten Haltestelle aussteigt und wartet.« »Nein!« sagte Frau Hertha, »es ist besser, er fährt gleich bis zum Sendlinger-Tor-Platz und wartet, wo wir umsteigen müssen.« Heinz gab den Korb seinem Bruder und spurtete zusammen mit Horsti die zwei Haltestellen zurück, um die Oma zu suchen. Tommi wollte auch mit. »Du hast noch zu kurze Füß’.« Tommi heulte. »Aber daß du ihm nicht gleich wieder eine Mark gibst.« »Hat der Papa eigentlich eine Fahrkarten?« fragte Frau Hertha. »Nein«, sagte die alte Derendinger, »die Fahrkarten hab’ alle ich.« »Sauber – wenn ihn ein Kontrolleur erwischt.« »G’schieht ihm recht, warum ist er so langsam.« Das Wasser tropfte von den Vorsprüngen der Hausfassaden. Derendingers drängten sich unter das Vordach einer Würstelbude, die auf einem schlammigen Trümmergrundstück stand. »Da können S’ fei’ nicht stehenbleiben, wenn Sie nichts konsumieren«, sagte der Würstelmann. »Dann kauf halt eine Brühpolnische«, zischte Frau Hertha. »Ich hätte lieber ein Eis!« sagte Tommi. »Eine Brühpolnische«, sagte Herr Derendinger jun. »Eine Brühpolnische für fünf Personen«, sagte der Würstelmann spitz und legte die blasse, auf einer Seite verbrannte Wurst auf ein durchsichtiges Papier. »Brot auch?« »Iß langsam«, flüsterte Frau Derendinger sen., »daß wir länger da stehenbleiben können.«
* 14
Als die nächste Trambahn kam und schon wieder im Wegfahren war, sah man, daß die Oma drin saß. Diese Trambahn war fast leer. »Oma!« schrien alle, aber die Oma hörte es nicht. Nach knapp einer halben Stunde kamen Heinz und Horsti wieder angekeucht. »Die Oma ist uns grad’ vor der Nasen davongefahren.« Die nächste Straßenbahn war wieder brechend voll. Aber am Sendlinger-Tor-Platz traf man die Oma wieder, auch Derendinger sen. war da. Er war kontrolliert worden und hatte zehn Mark zahlen müssen. »Fünf Maß Bier!« fauchte Derendinger sen., »das zieh’ ich dir vom Haushaltsgeld ab.« »Naja«, sagte Frau Derendinger, »dann kriegst halt die letzten drei Tag im Monat nur Karotten.«
* »Da können S’ Ihr Brotzeit nicht auspacken. Dort drüben ist es gestattet, die Brotzeit mitzubringen. Hier nicht!« schrie die Bedienung. Die Musik spielte einen Rheinländer. »Aber da drüben ist ja alles voll!« sagte Derendinger sen. »Ja, da kann ich auch nichts machen«, sagte die Bedienung, »da müssen S’ eben früher kommen.« »Sie reden sich leicht«, sagte die alte Derendinger. »Stell’ den Korb unter die Bank«, sagte Frau Hertha, als die Bedienung weg war, »heimlich essen wir’s doch.« Die Musik spielte eine Polka. Es dröhnte in den Ohren. Die Bedienung stellte Maßkrüge hin. »Und darf ich gleich kassieren? Und daß mir ja von Ihrem Korb nix ’gessen wird. Sonst müßt’ ich den Geschäftsführer holen.« Die Musik spielte 15
So lang der alte Peter … »Ich muß aufs Klo«, wimmerte Tommi. »Das auch noch«, sagte Frau Hertha. Vor dem Seitenausgang standen zwei große, stinkende Verschläge: Frauen und Männer im Regen. Die Musik war nur noch gedämpft zu hören. Sie spielte – und dennoch hat mein kühnes Herz die Liebe auch verspürt. Vor Frauen stand eine Schlange wartender Frauen. Hertha ordnete sich hinten ein. »Mir pressiert’s aber«, winselte Tommi. »Mit dem da!« schrie die Klofrau, die über ihre Kittelschürze eine durchsichtige Plastikpelerine gezogen hatte, »mit dem da dürfen S’ bei Frauen nicht herein; das sag’ ich Ihnen. Weil der Knabe ja quasi männlichen Geschlechts ist.« Hertha wandte sich zu Männer. Die Klofrau schrie ihr nach: »Da dürfen Sie nicht hinein. Nur der Knabe.« »Ich geh’ aber nicht allein!« heulte Tommi. Hertha kommandierte Tommi hinten an die Bierfässer. Zwei Burschen gingen vorbei. »Pfui Teufel«, sagte der eine. »Zu knickert für’s Klozehnerl«, sagte der andere.
* Die Brotzeit war gestohlen worden, samt Korb. Es mußte gewesen sein, als die Musik: Bergkameraden sind wir! gespielt hatte und alle (bis auf die Oma) auf die Tische gestiegen waren. Ein Mensch mit einer karierten Mütze vom Nebentisch hatte Sieglinde geküßt. Sieglinde hatte sich küssen lassen. »Bist du noch Jungfrau?« hatte der mit der karierten Mütze geschrien. »Da käm’ ich mir schön blöd vor«, hatte Sieglinde zurückgeschrien, »wenn ich 16
mit dreiundzwanzig noch Jungfrau wär’.« Heinz schrie: »Unterlassen Sie solche Anspielungen bei meiner Braut!« »Leck mich am Arsch«, hatte der mit der karierten Mütze gesagt. Den nachfolgenden Tumult mußte der Dieb ausgenützt haben, um den Korb unter der Bank hervorzuziehen und damit zu verschwinden. Die Musik spielte Zu Mantua in Baden, eher beruhigend. Heinz putzte sich das Blut von der Nase. Der andere suchte seine karierte Mütze unter dem Tisch. Die Ordnungsmänner entfernten sich wieder und wischten ihre kohlenschaufelgroßen Hände an den Lederhosen ab. »Warum hast du denn nicht aufgepaßt, Oma!« schimpfte Derendinger sen. »Ich hab’ ja aufgepaßt«, sagte die Oma, »ich hab’ ja nicht gewußt, daß der Korb uns gehört.« »Langsam wird s’ verkalkt«, brummte Frau Derendinger sen. »Wie hat er denn ausgeschaut?« fragte Derendinger jun., »der den Korb mitgenommen hat?« »Weiß nicht«, jammerte die Oma, »ja doch: das linke Ohrwaschel hat ihm gefehlt.« »Immerhin ein Anhaltspunkt«, sagte Derendinger jun. »Aber wir dürfen’s ja gar nicht der Polizei melden, weil es nicht gestattet ist, daß man hier Brotzeitkörbe mitnimmt, hier in dem Teil.« »Damit hat der Gauner wahrscheinlich gerechnet.« »Den, wenn ich erwisch’.« »Alles wegen dir, du Schlampen«, fauchte Heinz. »Das sagst noch einmal!« kreischte Sieglinde. »Schlampen!« sagte Heinz. Sieglinde riß ihr Handtäschchen an sich und stackelte hinaus. »Die kommt schon wieder«, sagte Heinz weltmännisch. Die Musik spielte den Tölzer Schützenmarsch. Wieder stieg alles auf die Tische. Die Musik spielte: Oans – bumm 17
– zwoa – bumm – g’suffaaa – Das Zelt erzitterte. Heinz schaute sich um: der Mann mit der karierten Mütze war auch gegangen. Hertha und Tommi kamen zurück. Tommi hatte im Schlamm einen Schuh verloren. »Sieben Hendl!« bestellte Derendinger jun. »Bist du wahnsinnig?« fauchte Frau Hertha. »Ich hab’ einen Hunger«, sagte Derendinger jun. »Prost!« brüllte er, »und noch eine Maß für jeden. Man ist nur einmal jung!« »Und vom Zwanzigsten an dürfen wir uns wieder statt dem Essen das Maul ans Tischeck hinhauen«, Frau Hertha weinte. Die Bedienung brachte die sieben Hendl und das Bier. »Darf ich gleich kassieren?« »Gib deine Geldtaschen her«, schrie Derendinger jun. »Nein, das ist das Haushaltsgeld.« »Gib das Geld her!« schrie Derendinger jun., »schließlich verdien’ ich’s.« »Wenig genug«, sagte Frau Hertha und gab ihrem Mann die Geldtasche. Sie sah einen Hundertmarkschein verschwinden. »Der Metzger schreibt nichts mehr an!« jammerte sie, »und heut’ ist erst der achtzehnte.« »Man ist nur einmal jung«, sagte Derendinger jun. Die Musik spielte: Die Mühle im Schwarzwald. »So kommen wir in unserem Leben nicht zu der Ledersitzgruppe.«
* Die Oma wollte Karussell fahren. Draußen war es schon finster: Es regnete immer noch. Tommi hinkte. Horsti erbrach die Zuckerwatte. Derendinger sen. wollte auf allen vieren gehen. Frau Derendinger sen. zog ihn am Kragen hoch: »Warum trinkst denn so viel, wenn ’s d’ es 18
nicht verträgst.« »So ein Tag, so wunderschön wie heute –«, sang Derendinger sen. Oma wollte mit der Achterbahn fahren. »Da drüben geht die Sieglinde!« fauchte Heinz, »mit dem mit der karierten Mützen!« »Der hat gesagt, er hat eine Lambretta«, sagte Frau Hertha. »Das Mistvieh«, sagte Heinz. Oma wollte mit der Geisterbahn fahren. »Da geht der Schlegelberger«, rülpste Derendinger jun., »der wo vom Hinterhaus immer mit dem Feldstecher in unsere Fenster hereinschaut.« »Mischen wir’n auf«, sagte Heinz. »Dageblieben!« sagte Frau Derendinger sen. Horsti kotzte immer noch. »Ich will auch eine Zuckerwatte«, raunzte Tommi. Oma fuhr endlich mit der Fahrt um den Tegernsee. Danach kotzte auch die Oma. Am Wiesenausgang kam Derendingers einer entgegen, dem fehlte das rechte Ohrwaschel. Derendinger jun. stürzte auf ihn zu und packte ihn am Kragen. Leider hatte Derendinger jun. nicht bemerkt, daß der ganz Große dahinter zu dem Mann ohne rechtes Ohrwaschel dazugehörte. Der ganz Große ließ eine Faust wie einen Dampfhammer fallen. Zwei Polizisten kamen. Sie halfen Derendinger jun. aus dem Schlamm. »Mein Gott, mein Gott«, jammerte Frau Hertha. Die Polizisten schwangen ihre Knüppel drohend: »Schaut’s, daß weiter kommts.« Heinz und Hertha führten Derendinger jun. »Ich hab’ aber doch gesagt, daß dem, der den Korb genommen hat, das linke Ohrwaschel gefehlt hat«, sagte die Oma. »Ohrwaschel ist Ohrwaschel«, gurgelte Derendinger jun. In der Straßenbahn kotzte Oma wieder. Damit man nicht Reinigungsgebühr zah19
len mußte, hielt ihr Frau Derendinger sen. geistesgegenwärtig die geöffnete Handtasche hin. »Sind Sie von einem Baugerüst gefallen?« erkundigte sich ein älterer Herr mit Gamsbart bei Derendinger sen.
* Der Hausmeister schaute zum Fenster heraus. »Sechzge hat verloren«, sagte der Hausmeister. »Null zu vier.« »Das auch noch«, sagte der alte Derendinger. Von der Maximilianskirche schlug es halb zwölf. Es regnete immer noch.
TOMMI IM GLÜCK »Naja«, sagte Onkel Heinz, der Oberamtmann, »der Rock des Beamten ist eng, aber warm.« »Sogar das hat sich heutzutage geändert, das mit dem eng«, sagte Hertha Derendinger, Tommis Mutter, »ich wollte, der Schorsch hätte monatlich das, was du hast.« »Man lebt nicht schlecht«, sagte Onkel Heinz, »vorausgesetzt: man hat etwas gelernt.« »Und?« fragte Tommi, »was muß man denn nachher lernen, damit man Amtmann wird?« »Oberamtmann!« sagte Frau Derendinger. »Als erstes«, sagte Onkel Heinz und war so frei, noch ein Stückchen von Frau Derendingers Kirschschnitten zu nehmen, »kämst du mit so einer Frisur bei mir nicht in die Abteilung.« »Die Haar laß ich mir nicht abschneiden«, sagte Tommi. »Aber sauberer ausschauen tätst schon«, sagte Frau Derendinger, »wirklich.« »Als ob’s auf die Haar ankam, ob einer was kann oder nicht. So ein Blödsinn«, sagte Tommi. »Es schaut einfach sauberer aus«, sagte Frau Derendinger, »nicht so … nicht so ungepflegt eben.« »Ungepflegt? Hast du ungepflegt gesagt?!« schrie Tommi. »Schrei nicht so mit deiner Mutter!« schrie Frau Derendinger. »Naja«, sagte Onkel Heinz, »wie der Mensch äußerlich ist, so ist er eben auch innerlich.« »Ungepflegt?« schrie Tommi, »ich wasch meine Haar so gut wie jeden Tag!« »Das Schampoh kost auch ein Vermögen«, seufzte die Mutter, »weil’s ja nicht das aus dem Angebot sein 21
darf –« »Also ich«, sagte Onkel Heinz, »– bitte, gern noch eine Tasse – also ich würd mich mit so lange Haar einfach nicht wohlfühlen. Ich vertrag’s schon nicht, wenn s’ auch nur einen Millimeter auf den Kragen herunterwachsen. Wenn man einmal wieder nicht und nicht Zeit gehabt hat, zum Friseur zu gehen. Ich geh zum Friseur in der Maxburg. Kostet zwar 27 Mark der Haarschnitt, ist aber picobello.« Onkel Heinz war Oberamtmann beim Amtsgericht. »Ich tät dir liebend gern die 27 Mark geben, Tommi«, sagte Frau Derendinger, »jed’s Monat, wenn du dir nur die Haar schneiden lassen tätst.« »Wenn’st noch lang redst, dann laß ich mir einen Bart auch noch wachsen.« »Jesus, Maria und Joseph«, fistelte Mutti Derendinger. »Eben!« sagte Tommi fest. »Was eben?« »Wie dein Jesus«, sagte Tommi, »der hat auch einen Bart gehabt. Und lange Haar. Noch längere wie ich.« »Du kannst mit die jungen Leut von heute einfach nicht mehr reden«, sagte Onkel Heinz, als Tommi weg war, »sie sprechen eine andere Sprache.« Frau Derendinger seufzte. Nach der Diskussion vorhin war Tommi gegangen. »Wahrscheinlich Minnedienst«, sagte Onkel Heinz. »Du warst in dem Alter auch nicht von schlechten Eltern«, kicherte Mutti Derendinger. »Naja«, sagte Onkel Heinz, aber aus den beiden Wörtern war eine gewisse gehobene Erinnerung herauszuhören gewesen. »Nein, danke, keinen Kaffee mehr, kann sonst nicht schlafen. Aber ein Schnapserl gern.« »Dann setzen wir uns auf den Balkon«, sagte Mutti Derendinger. Der Balkon – eigentlich eine verglaste Veranda – ging 22
von der Wohnküche in den Hinterhof hinaus. Die vier Fenster der Veranda waren weit offen, weil es warm und sonnig war. Der Kanarienvogel zwitscherte. Sonntagnachmittag. Vater Derendinger war beim Jogging in den Isaranlagen. »Das wär nichts für mich«, sagte Heinz, »dieses Herumhupfen.« »Aber es macht Durst«, sagte Frau Derendinger. »Ich hab Durst auch ohne Tschokking«, sagte Heinz. Frau Derendinger schenkte ihm ein Stamperl ölig-gelben Schnaps ein. »Aus dem Angebot«, sagte sie, »nur elf-fünfzig, aber von einem Markenschnaps nicht zu unterscheiden.« »In gewisser Weise«, sagte Onkel Heinz Derendinger, der Justiz-Oberamtmann, »kann man sagen: ja, ja. Da haben die jungen Leute, auch meine Mitschüler, zum Beispiel, immer auf die Beamten heruntergeschaut. Der Schäufelein Karl, zum Beispiel – kannst du dich noch an den Schäufelein Karl erinnern? In der Asamstraße hat er gewohnt. Er hat nicht einmal die Mittlere Reife gemacht. ›Büffeln werd’ ich‹, hat der damals gesagt, ›büffeln?! Für was?! Ich geh’ sofort auf den Bau. Ich will Penunze sehen.‹ Naja. Wie ich dann die Mittlere Reife gemacht habe, ist der Herr Bauhilfsarbeiter Schäufelein dann schon mit dem Motorroller herumkutschiert. Und wie ich auf der Beamtenakademie war, da war er schon viermal in Mallorca auf Urlaub, Überstunden, Auslöse, der Bauboom – er war nicht einmal gelernter Bauhandwerker, nur Bauhilfsarbeiter, und hat sich krumm und bucklig verdient. Wie ich ihn beim Klassentreffen gesehen hab und mein Anfangsgehalt als Inspektor damals erwähnt, da hat er 23
einen Lachkrampf gekriegt. Das heißt: er hat so getan, als ob er einen Lachkrampf kriegen tät. Aus Angabe. Und heute? Vorige Woche habe ich ihn zufällig gesehen. Bei uns, beim Amtsgericht. Arbeitslos. Nichts gelernt. Nicht mehr vermittelbar mit 45. Die Wohnung gekündigt, weil er mit über sechs Monaten Miete im Rückstand ist. Ich hab’ mir interessenshalber von der anderen Geschäftsstelle die Akten geben lassen. War ziemlich kleinlaut, der Schäufelein Karl, wie er so vor dem Sitzungssaal gewartet hat. ›So, so‹, hab ich gesagt, ›der Schäufelein Karl, darf denn das wahr sein? Immer noch die Penunzen? Wieder auf Urlaub in Mallorca?‹ Jetzt war er froh, wenn er Beamter wäre.« Schorsch kam herein, Vater Derendinger. Er zog sich sein Jogginganzug-Oberteil aus (hellgrün mit gelben Streifen) und setzte sich im Unterhemd zu seinem Bruder auf die Veranda. »Bis zur Eisenbahnbrücke und zurück!« sagte er, »hab ich einen Durst. Hertha, gib gleich ein Weißbier her, und das zweite kannst schon vorsorglich einschenken anfangen.« Ein Weißbier einschenken dauert seine Zeit. Im Stehausschank dröhnte auch am Nachmittag schon Discomusik. Zwei große Boxen standen dicht nebeneinander seitlich der Theke und entließen einen Lärm, der den Fußboden erzittern machte. Die Gruppe University of Grönland röhrte den Hit »Jäi, jäi – eh – eh«. »Einmalig«, schrie Tommi. An der Theke stand Charlie, der eigentlich Gerhard hieß. Jedem, der Gerhard zu ihm gesagt hätte, hätte er unverzüglich seine mit verschie24
denen Symbolen tätowierte Faust ins Gesicht gestoßen. Außer Charlie stand niemand an der Theke. Hinter der Theke war Biwi mit dem lustlosen Abspülen der Gläser beschäftigt. Dem Biwi gehörte der Stehausschank. Natürlich gehörte er ihm nicht so ganz richtig. Biwi hatte ihn in Unterpacht. Der eigentliche Pächter war ein gewisser Hermannseder, der aber meistens beim Helikopter-Skifahren in Kanada war, kann auch sein in Chile, oder wo. Woher der Hermannseder das viele Geld hatte, daß er ununterbrochen Helikopter-Skifahren konnte? Das wußte Biwi nicht. Vielleicht hatte er außer diesem Stehausschank noch andere, die er auch unterverpachtete. Wer weiß. Biwis Kunden interessierte das nicht. Die Gruppe Dead Lions brüllte den Hit »Tä-bäbieies-mii«. »Einmalig«, schrie Tommi. Biwi hatte keine Kunden, die Helikopter-Ski fuhren. Biwi hatte nicht einmal Kunden, die vielleicht jemand kannten, der Helikopter-Ski fuhr. Jemand der Helikopter-Ski fuhr, hatte keine Bekannten, die Bekannte hatten, die in Biwis Stehausschank verkehrten. »Da sind Welten dazwischen«, schrie Biwi, wenn er davon erzählte, was hie und da vorkam, obwohl es keinen Menschen in dem Stehausschank interessierte. »Da sind Welten dazwischen«, schrie Biwi, »und trotzdem gibt es sozusagen eine Verbindung – weil ich ja von so einem das Lokal gepachtet habe.« »Leck mich am Arsch«, schrie Charlie. Die Gruppe Look Thru gröhlte den Hit »Sälli-assa-rock«. »Einmalig«, schrie Tommi. »Die Boxen sind maximal«, schrie Biwi stolz, »nur blöd, daß sie nicht optimal stehen. Ich kann sie nicht 25
optimal aufstellen, weil das Lokal zu klein ist. Optimal täten sie stehen, wenn sie maximal beziehungsweise minimal sechs Meter auseinander sind. Aber das ganze Lokal hat ja nur vier Meter. Wenn man die Boxen optimal sechs Meter auseinanderstellen könnte, wäre der Saund maximal.« »Leck mich am Arsch«, schrie Charlie. »Aber es muß halt so auch gehen«, schrie Biwi, »obwohl’s nicht optimal ist.« Die Gruppe Multiplication-Machine & Zero gröhlte den Hit »Rekie-neit-neit-neit«. »Einmalig«, schrie Tommi. »Ja, einmalig«, schrie Biwi. »Nein, nicht einmalig –«, schrie Tommi. »Nich einmalig?« schrie Biwi, »ich finde die Multiplication-Machine & Zero optimal.« »Schon«, schrie Tommi, »aber ich habe nicht gesagt: einmalig. Ich habe gesagt: ein Cola.« »Was?« schrie Biwi. »Ein Cola!« schrie Tommi. Biwi dachte einen Moment nach, dann zog er eine Schublade aus dem vor Sound bebenden Tresen, nahm einen abgegriffenen blauen Block heraus, schlug ihn dort auf, wo ein Pauspapier eingelegt war, und hielt ihn Tommi hin. »Wieso? Was?« schrie Tommi. Biwi deutete auf das Blatt. »Und?« schrie Tommi. »Erst zarrlen!« schrie Biwi. Er sagte immer zarrlen statt zahlen, wenn er keinen Widerspruch wollte. Tommi schaute zu Boden, dann legte er den Kopf schief und schaute wieder in die Zahlenreihe. Die Schublade ratterte Zentimeter für Zentimeter von allein aus dem fiebernden Tresen. Im letzten Moment bemerkte es Biwi und, grad noch bevor alles zu Boden gekracht wäre, schob er sie zurück und bog den krumm geschlagenen Nagel herunter, der die Lade hielt. »Das kann unmöglich 26
stimmen«, schrie Tommi. Die Gruppe Vize-Mother orgelte den Hit »Wamos alla bleia«. »Leck mich am Arsch«, sagte Charlie. »Das wären ja fast zweihundert Mark!« schrie Tommi. »Eben«, schrie Biwi. »Was sagst?« schrie Tommi. »EBEN!« schrie Biwi. »Aber das – das ist ja unmöglich!« schrie Tommi. »Das ist schon möglich«, schrie Biwi drohend, »oder möchst Schwierigkeiten machen?« »Nein, nein«, schrie Tommi. »Eben«, schrie Biwi. »Und das eine Cola kannst nicht noch grad drauf schreiben? Bis … bis morgen? Morgen zahl’ ich alles. Übermorgen«, fügte Tommi aber schnell noch dazu. »Mit Anschreiben ist der Ofen total aus«, schrie Biwi. Die Gruppe Shelterlive donnerte den Hit »Lat-lu-lu-laat«. »Leck mich am Arsch«, sagte Charlie und trank das siebte Weißbier seit zwei Uhr. Es war jetzt vier. Charlie hatte immer Geld; nicht viel – aber immer. Woher, wußte niemand. »Außer du machst einen Stantmän«, schrie Biwi. »Einen was?« schrie Tommi. »Du bist doch arbeitslos, oder nicht?« schrie Biwi. »Bloß weil ich angeschrieben hab bei dir, laß ich mich noch nicht beleidigen!« schrie Tommi. »Arsch mit Ohren«, schrie Biwi, »ich mein dir’s doch gut. Du kannst sofort anfangen. Als Stantmän.« »Als Stantmän?« schrie Tommi, »so einer, der wo statt die Schauspieler vom Dach fällt?« »Genau«, schrie Biwi, »bei der Bavaria.« »Ist das gut bezahlt?« schrie Tommi. »Jedenfalls kannst nachher deine Schulden bei mir zarrlen«, schrie Biwi. Die Gruppe Virgin in Sunmoon hämmerte 27
den Hit »Killi-mo-mu-män«. »Einmalig«, schrie Tommi. »Maximal«, schrie Biwi. »Und wieso kommst du zu dem Job? Das heißt: wieso kannst du – weißt du da – was?« schrie Tommi. »Weil der vorige Stantmän bei mir Kunde ist«, schrie Biwi. »So«, schrie Tommi, »und warum macht der nicht weiter?« »Kunde war«, schrie Biwi, »aber vielleicht kriegen s’ ihn wieder hin im Krankenhaus. Sonst, fürcht ich, wird mich das einen Kranz kosten bei der Beerdigung.« »So«, sagte Tommi. »Was sagst?« schrie Biwi. »Ich mach’s«, schrie Tommi, »krieg ich dann noch eine Cola?« Biwi schob Tommi wortlos eine Dose hin, drehte sich um und griff nach dem Telephon. Mit der einen Hand hielt er das freie Ohr zu. »Ich hab einen«, schrie er ins Telephon, »ja – er ist frei – sofort. Tommi heißt er. Ausgezeichneter Mann. Ich verbürg mich für ihn. – Genau der Typ. – Wie? Wie er heißt?« Biwi drehte sich herum zu Tommi: »Wie heißt du?« »Derendinger«, brüllte Tommi. »Derendinger!« brüllte Biwi ins Telephon. Die Gruppe Diarrhea-Fascination heulte den Hit »Kannu-krakammin-in«. Tommi trank das Cola aus. Biwi machte noch einen Strich in der Liste. Tommi ging. »Tschüß, Tscharlie«, schrie er. »Leck mich am Arsch«, schrie Charlie.
* Tommi fuhr schwarz mit der Straßenbahn nach Geiselgasteig, Bavaria-Filmplatz. In einem Glashäuschen neben der großen Schranke saß ein Portier. Dahinter war ein 28
Parkplatz, weiter hinten standen viele Bäume, zwischen denen helle Häuser sichtbar waren. »Ich bin der neue Stantmän«, sagte Tommi zum Portier. »Damit hab ich nichts zu tun«, sagte der Portier, »zu wem wollen Sie?« Biwi hatte Tommi den Namen auf einen Bierdeckel geschrieben: Krepatz. »Krepatz«, sagte Tommi. »Haus 8«, sagte der Portier, »dritter Stock.« Tommi kannte aus dem Fernsehen eine amerikanische Serie: Ein Colt für alle Fälle. Das war eher eine Kindersendung und lief nachmittags, aber Tommi als Arbeitsloser – noch Arbeitsloser, bis heute – hatte ja Gelegenheit, auch nachmittags fernzusehen. Die Serie war eigentlich doch keine Kinderserie, jedenfalls von den Amerikanern nicht als solche gedacht. Aber nachdem sie das deutsche Fernsehen gekauft hatte und der Programmdirektor sie ansah, fanden er und sein Stab die Serie unzumutbar für Erwachsene, selbst für solche, die Dallas anschauen oder Denver-Clan, und man steckte die Serie ins Kinderprogramm, da wenigstens keine nackten Mädchen drin vorkamen. Aber Tommi gefiel die Serie. Besonders Colt gefiel ihm, der Held. Der Held der Serie hieß Colt und war Stuntman in Hollywood. Er pflegte sich an Swimming-Pools aufzuhalten und Martinis zu trinken, wenn er nicht gerade fremde Autos oder fremde Hubschrauber zu Schrott fuhr und dabei unschuldig in Verdacht geratene Mädchen rettete. Tommi gefiel die Sendung, vor allem aber nahm er sie ernst. Und jetzt war er selber Stuntman. Fast. Er machte sich auf den Weg zu Haus 8, dritter Stock, zu Herrn Krepatz. 29
Herr Krepatz war sehr groß, trug Bundlederhosen, aber nur ein Unterhemd, mit breiten Lederhosenträgern drüber, auf dem Querriegel des Hosenträgers ein Bild König Ludwigs im Hirschhornkranz. Dazu Sandalen und eine blaue Tuchmütze mit übergroßem Schild. Als Tommi geklopft hatte, rief Herr Krepatz mit tiefer, weittragender Stimme nicht: »Herein!« oder »Ja!« oder »Bitte!«, sondern: »Avanti!« Als Tommi eintrat, musterte ihn Krepatz durch einen Zwicker am schwarzen Band. Er sprach unverkennbar norddeutsches Bayrisch – wie in der Filmbranche üblich – und roch nach Zwiebeln. »Wer sind wir denn?« dröhnte Herr Krepatz. »Ich wär der neue Stantmän«, sagte Tommi. »Aha. Jawollja«, sagte Krepatz und wühlte aus der Unordnung auf seinem Schreibtisch einen Zettel hervor: »Aha. Jawollja. Der Herr Derendinger.« »Ja«; sagte Tommi. »Dann geben Se mir gleich mal Ihre Lohnsteuerkarte.« »Lohnsteuerkarte?« fragte Tommi, »braucht ein Stantmän sowas?« Tommi konnte sich nicht vorstellen, daß Colt in der Lounge des Plaza-Hotels in Miami, eben eine chice Blondine aus den Zähnen eines Haifisches gerettet habend, eine Lohnsteuerkarte brauchte. »Freilich, jawollja«, sagte Herr Krepatz, »was denn sonst.« »Ich hab mir gedacht«, sagte Tommi, »das ist eher – der Job da ist quasi – der ist so mehr nebenher – sozusagen.« »Also schwarz, nich wa, geht bei uns gar nischt, jawollja«, sagte Herr Krepatz, »aber vorerst können Sie anfangen, bringen Sie mir halt die Lohnsteuerkarte morgen.« »Jawollja«, sagte Tommi und erschrak, aber Herr 30
Krepatz schien Tommis ›jawollja‹ nicht bemerkt zu haben. »Dann gehn Se hinter auf Halle zwo und melden sich beim Aufnahmeleiter. Durchwald.« »Durch was?« fragte Tommi. »Durchwald«, sagte Herr Krepatz, »so heißt der Aufnahmeleiter. Jawollja.« Tommi stand auf. »Is noch was?« fragte Herr Krepatz. »Ja –«, sagte Tommi, »ich habe – weil ich gemeint habe – ob nicht vielleicht – ein Vorschuß?« Herr Krepatz brummte etwas, machte aber dann seine Schublade auf, in der eine kleine, grüne Kassette war, sperrte sie mit einem Schlüssel auf, der an einer langen Kette an seiner Hose hing, und gab Tommi einen Fünfziger. Tommi quittierte und begab sich dann hinter in Halle zwo, wo er eine alte Frau in Heilsarmeekostüm, die an der Tür stand und ein Wurstbrot aß, nach Herrn Durchwald fragte. Die alte Frau war gar keine alte Frau, wie Tommi dann bemerkte, sondern eine junge Frau auf alt geschminkt. Sie deutete mit dem Wurstbrot auf einen Kleinen, der in dem Chaos herumwieselte. Mindestens zweihundert Leute waren in der Halle, schätzte Tommi. Hundert davon schrien. Mitten in der Halle stand die Hälfte eines schönen, alten Hauses. Tommi ging zu Herrn Durchwald hin und stolperte über Kabel. »Paß auf, du Depp«, schrie ein Kabelträger. Herr Durchwald lief aber gleich weg. Tommi lief ihm nach. Herr Durchwald schrie unverständliche Befehle, die niemand befolgte. In einem Teil der Halle regnete es. »Endlich!« schrie Herr Durchwald. Tommi war knapp hinter ihm, streckte schon die Hand aus, aber im gleichen Moment war Durchwald schon wieder verschwunden. 31
Herr Durchwald trug einen knielangen Anorak, die Haare wie Titus in die Stirn gekämmt und eine Seemannsmütze. Um den Hals hatte er einen Apparat oder ein Gerät hängen, das Tommi zunächst rätselhaft war: eine Art kleine Keule in rosarotem Plastik, an einer Kette. Es war ein Kugelschreiber. »Wer hat meine Thermosflasche?« schrie Durchwald. Später erkannte Tommi, daß alle, die bei den Dreharbeiten von Bedeutung waren – außer den Schauspielern –, so einen Keulenkugelschreiber jeweils in einer anderen Plastikfarbe an einer Kette um den Hals hängen hatten. Oder aber sie hatten eine Sonnenbrille oben auf dem Kopf ins Haar gesteckt. Das ging nur, wenn einer keine Glatze hatte. Hatte einer eine Glatze, dann steckte er die Sonnenbrille zusammengelegt in den Pulloverausschnitt, so daß nur ein Bügel herausschaute. Herr Durchwald brüllte: »Plötzlich tritt eine unheimliche Stille ein!«, und langsam ebbte der Lärm ab. Die zweihundert Leute liefen etwas verhaltener herum. Wieder ertönten unverständliche Kommandos. »Ton ab!« schrie einer. »Film ab!« schrie ein anderer. Einer kniete sich vor die Kamera und hob eine Klappe hoch, klatschte damit und schrie: »24 – die vierte.« Es wurde still. Herr Durchwald zündete sich einen Zigarillo mit Mundstück an. Tommi wollte die Gelegenheit ergreifen und endlich zu ihm vordringen, stieg über ein Kabel und ging auf Zehenspitzen zu ihm hin – »Nein! nein! nein!« brüllte einer in die Stille, die dann sofort in sich zusammenfiel. Der gebrüllt hatte, tat so, als habe er Schaum vor dem Mund. Er patschte mit den 32
flachen Händen auf den Boden. Tommi nahm an, daß gerade eine Szene gedreht würde, in der einer wahnsinnig wird, dann aber bemerkte er, daß alle auf ihn, Tommi, schauten. »Endlich regnet es, und dann läuft der Plattkopf ins Bild – nein! nein! haltet mich, ich schnappe über.« »Wer ist der Trottel?« schrie einer in einem schwarzen Lederanzug. Der sah ungefähr aus, wie sich Tommi Dschingis-Khan vorstellte, nur dicker. »Ich bin der neue Stantmän«, sagte Tommi. »Entschuldigung.« Alle lachten. Tommi wurde rot. »Durchfall!« schrie der fette Dschingis-Khan, »wenn du mir nicht das Gesindel vom Leib hältst, mach ich dich zu Hackfleisch. Wofür wirst du denn bezahlt?« Durchwald riß Tommi mit sich. »Gehen Sie in die Maske und lassen Sie sich das Motorradzeug geben.« Weiter hinten saß einer auf einem Stuhl und schaute unglücklich. Später erfuhr Tommi, daß das der berühmte Star Toni Tritzky war, der männliche Hauptdarsteller des Films. Toni Tritzky schaute aus, als knirsche er ständig mit den Zähnen, hatte kleine Mausaugen und ging stets so, als müsse er grad durch eine sehr niedrige Tür. Der Dschingis-Khan, auch das erfuhr Tommi später, war der Regisseur. »Das ist der neue Stuntman?« sagte der Regisseur und schnaufte. »Ich seh ihn auch zum ersten Mal«, sagte Durchwald. »Sagen Sie ihm, daß er sich umdrehen soll, Durchfall.« Durchwald sagte zu Tommi: »Dreh dich um.« Tommi drehte sich um. »Er soll gebückt gehen«, sagte der Regisseur. »Bück dich«, sagte Durchwald, »nicht so – nicht bis auf den Boden, gebückt 33
gehen – so …« Durchwald machte es vor. Tommi machte es nach und schlurfte ein paar Schritte gebückt auf und ab. Er genierte sich, weil alle zweihundert zu ihm herschauten. »Ähnlich sieht er dem Toni ja nicht«, sagte der Regisseur und atmete schwer. »Toni«, schrie er zum Hauptdarsteller hinüber, »sieht der dir ähnlich?« Toni Tritzky schaute bös, als ob er im Augenblick den kleinen Finger seines Erzfeindes zwischen den Zähnen habe, sagte aber nichts. – »Er hat mehr Haare wie Tritzky«, sagte Durchwald, »aber das kriegt man ja hin.« »Gut«, sagte der Regisseur, »das Wichtigste ist, er hat die gleiche Größe.« Er drehte sich weg und schnaufte schwer. »Wie heißen Sie?« fragte Durchwald. »Derendinger, Thomas«, sagte Tommi. »Haben Sie schon gearbeitet?« »Ja, doch«, sagte Tommi. Durchwald hatte gemeint: als Stuntman oder sonst beim Film gearbeitet. Tommi hatte gemeint überhaupt. Deswegen hatte er ja gesagt. Er hatte ja gearbeitet, ab und zu. Einmal sogar in einem weißen Kittel aushilfsweise in einer Apotheke, obwohl das eigentlich gar nicht zulässig war. »Und wie heißen Sie?« »Derendinger, Thomas«, wiederholte Tommi. »Ja, richtig. Haben Sie ja schon gesagt. Derendinger? Derendinger ist kein Name. Wenn Sie dabei bleiben wollen, sollten Sie sich einen anderen Namen suchen. Ein guter Rat von mir.« Durchwald zog seinen Keulenkugelschreiber aus der Halterung und hielt eine Art tragbares Schreibpult mit einer großen Quetschklammer vor sich: »Und?« fragte Durchwald. »Was und?« fragte Tommi. »Ihren Namen?« »Colt«, sagte Tommi. »Ausgezeichnet«, sag34
te Durchwald, »Thomas Colt.« Er schrieb es auf. »Die Maske ist da draußen, am Gang links.« Durchwald lief zurück in die Halle. »Wer hat meine Thermosflasche?« schrie er.
* Die Maske war keine Maske, sondern der Raum, in dem die Schauspieler geschminkt werden. Dort saß ein skelettdürrer Mensch mit einem gelben Schnurrbart und las die Abendzeitung. In dem Raum sah es aus wie bei einem Friseur. Das Skelett schaute auf. »Und?« fragte es. »Ich bin der neue Stantmän«, sagte Tommi, »mein Name ist Thomas Colt. Der Herr Durchfall sagt, ich soll so ausschauen wie Herr … der Herr …« »Tritzky?« fragte das Skelett. »Ja, Tritzky«, sagte Tommi. Das Skelett faltete seine Abendzeitung zusammen und stand auf. »Setzen Sie sich da hin«, sagte es dann. Tommi setzte sich. »Neu?« fragte das Skelett, während es Tommi eine künstliche Kopfhaut mit Geheimratsecken überzog und dann das Erscheinungsbild Tommis von Grund auf umkrempelte. »Ja«, sagte Tommi. »Ganz neu?« »Ja«, sagte Tommi etwas verhaltener. »Ojeoje«, sagte das Skelett. »Wieso? Ist es schlimm?« fragte Tommi. »Wie man’s nimmt«, sagte das Skelett, »es gibt manche, die machen es jahrelang.« »Aber ich denk mir«, sagte Tommi, »das ist ein aufregendes Leben? als Stantmän – und man kommt viel herum?« »Wie man’s nimmt«, sagte das Skelett. »Was muß denn so ein Stantmän machen?« fragte 35
Tommi leise. »Ja, mei«, sagte das Skelett, »hauptsächlich kriegt er halt für die anderen die Watschen.« »Und noch was«, sagte das Skelett, »Durchwald!« »Weiß ich«, sagte Tommi, »aber der Herr Tritzky hat –« »Sie schauen jetzt aus wie der Herr Tritzky«, sagte das Skelett, »fast, aber Sie sind nicht der Herr Tritzky. Wenn Sie einmal so prominent sind wie der Herr Tritzky, können Sie zum Durchwald Durchfall sagen. Und keine Sekunde früher. Ein guter Rat von mir.« Als Tommi hinausging, schaute er in den Spiegel. Seine eigene Mutter hätte ihn so nicht wiedererkannt. Ein junges, dickes Mädchen, das eine weiße Bluse über einer Samtjacke trug, kam dahergelaufen und schrie: »Ist das Double fürs Motorrad schon fertig?« Das Skelett deutete mit dem Kinn auf Tommi. Das Mädchen raste voraus. »Was ist«, schrie sie, »willst du nicht mitkommen?« In einem anderen Raum bekam Tommi eine Motorradfahrerkluft aus Kunstleder. Hektisch sprang das Mädchen um ihn herum. Tommi ekelte es: er bildete sich ein, innen am Kunstleder hafte noch der Schweiß eines anderen. »Wird’s bald?« schrie das Mädchen. Tommi nahm den Helm unter den Arm. Das Mädchen rannte wieder voraus. Tommi schaute in den Wandspiegel. Wenn er sich leicht nach vorn beugte und sein Gesicht so verzog, als halte er mit dem Mund eine nicht vorhandene Pfeife fest, glich er wirklich ungefähr dem Toni Tritzky.
* 36
Vor allem, erkannte Tommi bald, bestand die Arbeit eines Stuntman aus Warten. Sofern man, dachte Tommi, so etwas überhaupt Arbeit nennen kann. Wirkliche Arbeit ist eigentlich immer etwas, was man nicht gern tut. Mörtelrühren zum Beispiel, oder Teerkochen auf einer öden Baustelle, wenn die Sonne herunterbrennt; und die anderen, die Blödiane, sitzen in ihren Büros und gaffen vollklimatisiert herunter. Oder Ziegel schleppen. Das Gerüst ist zehn Meter hoch und schwankt leicht. Das ist Arbeit. Der Ziegelhaufen unten wird und wird nicht kleiner. Es wird wieder mehr mit Ziegeln gebaut; die älteren Arbeiter nehmen noch die Mütze oder den Plastikhelm ab, wenn der Herr Architekt kommt. Die Jüngeren nehmen die Mütze schon wieder ab. Tommi gehörte zu der Generation dazwischen, die die Mütze nicht abnimmt. Oder das Jahr in der Südbremse. Der ungeheure Lärm in der Halle. Die schweren Motorteile in Kisten verladen, oder besser gesagt: um die Motorteile exakt passende Kisten herumnageln. Es war so laut in der Halle, daß man das stärkste Hämmern nicht hörte. Mitten in der Halle stand ein erhöhter Verschlag, eine oben offene Bude. Dort hatte der Meister seinen Schreibtisch. Er war aber nicht oft dort, der Meister, nur hie und da studierte er dort einen Plan. Strohdecker hatte der Meister geheißen. Meistens war der Meister irgendwo in der Halle und schrie. Zum Glück konnte man das Schreien in dem Lärm nicht hören. In der oben offenen Bude war auch die Werkstattschreiberin, das einzige weibliche Wesen in der Halle. Sie war kugelförmig, gut fünfzig Jahre alt, 37
hatte immer Hosen und eine Kittelschürze an und – nach Feierabend – lange, ungeheuer wellige orangene Haare. Unter anderem zahlte sie den Lohn am Freitagnachmittag aus. Damit sie in dem Lärm das Telefon hörte, war es, obwohl es auf Armlänge vor ihr stand, an eine Art Sirene angeschlossen; anders wäre das Läuten in dem Lärm untergegangen. Die orangenen Haare waren eine Perücke. In der Früh setzte die Werkstattschreiberin die Perücke ab und verwahrte sie in einer Plastiktüte neben dem Klopapier in ihrem Schreibtisch. Auch sie hatte dort in dem Verschlag einen Schreibtisch neben dem des Meisters. Beide Schreibtische und alle Gegenstände, die darauf standen oder lagen, waren fettig-rußig. Abends setzte die Werkstattschreiberin die Perücke wieder auf. Unter der Perücke hatte sie dünne, schwarz-graue Strähnen, die zu einem Knoten gebunden waren. Zwischen den Strähnen schaute die Kopfhaut durch. Die Nachbarhalle – einmal hatte Tommi für einen halben Tag dort aushelfen müssen – hatte eine junge Werkstattschreiberin, die zwar ganz häßliche rote Hände hatte, der aber der Busen gelegentlich aus dem Arbeitskittel witschte; und wenn sie sich bückte, sah man mehr als im Freibad. Die Aushilfszeit dort, wo die junge Werkstattschreiberin war, empfand Tommi fast nicht als Arbeit. Wirkliche Arbeit ist nur, wenn sie ganz unangenehm ist. Das hier – das Warten in der Motorradkluft, geschminkt wie Toni Tritzky, war keine Arbeit. Der Regisseur und dieser Durchwald und alle hier redeten aber immer von Arbeit. Die haben keine Ahnung. 38
Wenn du Schrauben feilst und Schrauben feilst und immer wieder Schrauben feilst, und abends, wenn die Schicht vorbei ist, hast du nichts anderes getan als Schrauben gefeilt, aus kleinen Metallstiften, die links von der Maschine liegen, Schrauben gefeilt, die rechts neben die Maschine gelegt werden, und der Haufen Metallstifte links ist nicht wesentlich kleiner, und der Haufen rechts in der Kiste ist nicht wesentlich größer, und du weißt, daß sie, wenn du morgen zur Schicht kommst, den Haufen Metallstifte links wieder aufgeschüttet haben, und du feilst wieder, und am nächsten Tag wieder, und das geht einen Tunnel von einer Woche durch, und einen Monat und ein Jahr, und ein ganzes Leben, ein ganzes Leben voll Ruß, Eisenfeilspäne, Lärm, müde Füße und die alte Werkstattschreiberin mit ihren Haarsträhnen … das ist Arbeit.
* Es gab eine Zeit, da verkehrte Tommi noch beim Hofglaser, oder besser gesagt, damals gestattete der Wirt noch, daß Tommi dort verkehrte, bevor sich diese dumme Sache mit der vom Grundler Dieter an der WittelsbacherBrücke unten im Flußbett angeblich gefundenen Pistole ereignete; selbstverständlich war es ein Blödsinn, mit dieser Pistole auf die Flaschen hinter der Theke zu schießen, noch dazu mit dem Fetzen Rausch … aber ohne den Rausch wäre man auch wieder gar nicht auf die Idee gekommen. Die Polizei hatte nur den Grundler Dieter 39
mitgenommen und natürlich die Pistole, logisch; aber der Wirt hatte der ganzen Clique Lokalverbot erteilt. Zugegebenermaßen waren zu dem Zeitpunkt gewisse Außenstände Tommis beim Hofglaser aufgelaufen, und so gesehen war Tommi gar nicht ganz unglücklich über das Lokalverbot. Nur schickte der Wirt vom Hofglaser einen Mahnbescheid vom Gericht – die Mutter hatte sich so aufgeregt, daß sie ganz bleich im Gesicht geworden war, die Großmutter im vierten Stock hatte es auch erfahren und war fast gestorben. »Die Schande!« Sie traute sich wochenlang nicht vor die Tür, auch als sie von ihren Ersparnissen den Mahnbescheid und Zinsen und Kosten und alles bezahlt hatte. »Das kann doch jedem passieren«, hatte Tommi gesagt, »deswegen ist man doch noch lang kein Verbrecher.« Aber das sieht, logisch, so eine alte Frau nicht ein. Beim Hofglaser also, noch bevor das alles war, und als Tommi noch dort verkehrte, war einmal einer da, der sonst nicht zu den Stammgästen gehörte. Der Schäufelein Karl hatte ihn mitgebracht. Er schwäbelte. (Nicht der Schäufelein Karl, der andere.) »Ich bin der Günter«, sagte er auf schwäbisch. Später erfuhr Tommi, daß der Günter so ähnlich wie Hotdog hieß. »Ich bin der Günter«, sagte der schwäbische Hotdog, »und ich bin ein Proletarier wie ihr.« »So«, sagte der Grundler Dieter kurz. Der schwäbische Hotdog redete dann viel von Ecklohn und Bruttosozialprodukt, von Umverteilung und Basisdemokratie, von Mehrwert und Produktionsmitteln. Er redete schneller, als Tommi zuhören konnte. Er redete wie einer, der immer recht hat. »Ich bin kein 40
Schriftsteller«, sagte der Günter, »auch wenn ich Bücher schreibe. Ich bin ein Arbeiter. Ich arbeite mit der Schreibmaschine.« »So«, sagte der Grundler Dieter. Manchmal versuchte der Grundler Dieter, der ja schließlich fast die Mittlere Reife hatte, irgendwas einzuflechten in das, was der schwäbische Hotdog da so alles sagte, aber wenn der Grundler Dieter endlich seinen Gedanken zusammengestellt hatte und so weit war, daß er ihn aussprechen hätte können, war der Schwabe mit seinem Reden schon wieder ganz woanders. Er redete von gerechtem Lohn für angemessene Arbeit, er sagte »Akkord ist Mord« und daß der Arbeiter sich selber verwirklichen müsse. Da war Tommi was eingefallen: »Was der Arbeiter will«, sagte Tommi, »ist: in erster Linie nicht mehr Arbeiter sein.« »Wie?« sagte der Günter. »Also«, sagte Tommi, »ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, ich kann das nicht so gut wie du, aber: wenn du Arbeiter bist, bist du beschissen. Das beste wäre: nicht arbeiten und doch Geld kriegen. So wie du mit deiner Schreibmaschine.« Der schwäbische Hotdog zahlte und ging. Nicht Hotdog, Blödsinn, Hamburger hieß er. Oder so ähnlich. Wahrscheinlich hat der keine Ahnung, was für ein Lärm in einer Fabrikhalle ist, wenn seine Schreibmaschine so verhalten aufs Papier tippt. Arbeiter sein heißt: das tun, was die anderen nicht tun mögen. Nein. Falsch. Man selber will es ja auch nicht tun – Bananenkisten ausladen, zum Beispiel. Arbeiter sein, heißt: das tun, was die Schlaueren nicht tun müssen, weil sie eben schlauer sind. Manchmal dachte Tommi über solche Sachen nach. 41
Es machte ihm direkt Freude, die Gedanken so hin- und herzuwenden. Da meinte er, daß er – wo er doch so gut denken könne – womöglich auch zu den Schlaueren gehöre; aber offenbar gehört zum Schlausein auch noch ein gewisses weiteres Schlausein, daß man aus dem Loch herauskommt, zu den Schlauen oben. Im Loch bist du der Depp. Im Loch bist du der Arbeiter. Arbeiten heißt: in einem Loch leben. Solche Blödel wie dieser schwäbische Hamburger wollen die Welt dadurch verbessern, daß sie denen im Loch zurufen, wie schön es da unten ist. Heraus aus dem Loch will der Arbeiter; nicht mehr Arbeiter sein, will der Arbeiter. Sonst nichts. Aber dazu ist er nicht schlau genug, dachte Tommi, logisch, sonst wäre er ja nicht bloß Arbeiter. Und warum bin ich nicht schlau genug? dachte Tommi, weil meine Eltern zu blöd waren, mich auf schlau zu erziehen. Wenn sie mich ein bißchen hinaufgeschoben hätten, hätte ich die Mittlere Reife geschafft und wäre vielleicht auch Oberinspektor bei der Flurbereinigung wie der Schliehof Franzi – ist der so viel begabter als ich? Und der sitzt jetzt in einem Büro und unterschreibt und ist pensionsberechtigt. Ja, ja, gut – ich habe nicht wollen, damals in der Realschule, und der Fußball und die Mädchen haben mich mehr interessiert als das blöde Mathe und Englisch … aber da hätten eben meine Eltern eingreifen müssen und hätten mir klarmachen müssen … Tommi machte im Geist eine wegwerfende Handbewegung. Meine Herren Eltern, ich bitte schön. Die und mir was klarmachen. Die Mama hat gerotzt, und der Papa hat mich verdroschen, wenn wieder ein Verweis 42
gekommen ist. Sie waren nicht schlau genug, mich schlau zu machen. Und warum waren sie nicht schlau genug? Weil ihre Eltern zu blöd waren, um sie zum Erziehen zu erziehen. Und warum waren die zu blöd? Weil wieder ihre Eltern – und so weiter und so fort. Irgendwo muß da ganz hinten der Wurm drin gewesen sein in der Familie Derendinger. Einer genügt, und es stammen lauter Blödiane von ihm ab. Oder Arbeiter. Was aufs Gleiche herauskommt, dachte Tommi. Wenn ich das alles, dachte Tommi, dem schwäbischen Hotdog, oder wie er heißt, genau erzählen würde, dann könnte er es vielleicht aufschreiben, und er würde mir vielleicht Prozente geben, wenn das Buch erscheint. Auf solche Gedanken ist nämlich dieser Hotdog überhaupt noch nie gekommen. Aber erstens: wie soll man einem etwas und noch dazu etwas so Kompliziertes erklären, wenn er selber immerzu nur redet? Und zweitens: habe ich vergessen, obwohl er es zweimal gesagt hat, wie seine Stammkneipe in Schwabing heißt. Ich glaube, in der Elisabethstraße wohnt er, der Günter Hotdog, aber da gibt es viele Kneipen. Tommi wurde abgeschminkt. Für das Warten heute hatte er fast so viel Geld bekommen wie auf seiner letzten Baustelle fürs Ziegeltragen. Er zog seine eigenen Kleider wieder an. Morgen solle er um halb zehn kommen, sagte Durchfall. »Und die Lohnsteuerkarte!« schrie ihm Krepatz nach.
* 43
Genau elf Tage war Tommi Derendinger Stuntman. Elfmal schrie ihm Herr Krepatz abends nach: »– und die Lohnsteuerkarte!« Elfmal hatte Herr Krepatz etwas anderes an. Einmal einen Overall aus blau-weißgestreiftem Stoff, aber keinen schmutzigen, öligen oder rußigen, sondern frisch gewaschen, tipptopp bügelfaltig; einmal eine ärmellose Fliegerweste mit Falttaschen so groß wie kleine Aktenmappen, sogar auf dem Rücken; einmal einen gestrickten Anzug aus brauner Wolle mit Lederverstärkungen an Knien, Ärmeln und allen Kanten; einmal eine signalrote Hose und einen hellgrünen Pullover, die Komplementärfarben prallten in seiner Körpermitte so stark zusammen, daß Herr Krepatz um den Bauch herum flimmerte; einmal einen schwarzen Trachtenanzug mit Stikkereien, dazu aber Turnschuhe; einmal einen weitschlotternden Overall aus weißer Seide, der kreuz und quer von großen, schwarzen Reißverschlüssen durchschnitten war, wo keine Reißverschlüsse Platz hatten, waren Karabinerhaken oder Achselklappen angenäht (letztere nicht nur auf den Achseln); Herr Krepatz trug diese Kleidungsstükke mit unbewegtem Gesichtsausdruck, als gehöre es so. Vielleicht gehört es auch so, beim Film, dachte Tommi. Von den elf Tagen stand Tommi sieben Tage in seinem Motorradanzug auf Toni Tritzky geschminkt nur so herum. In der Kantine kam er ins Gespräch mit Kabelträgern und Statisten. Die wichtigeren Leute gingen nicht in die Kantine, und wenn doch, dann setzten sie sich an einen anderen Tisch. Der Film, der gedreht wurde, erfuhr Tommi im Lauf der elf Tage, behandelte das Problem 44
der Isolation der Gastarbeiter. Die Hauptperson war ein Türke – also kein echter Türke, natürlich, sondern Toni Tritzky als Türke. »Und die Handlung?« fragte Tommi einen Techniker. Das war ein grauer, müder Mann, ein ganz alter Hase. »Ja, mei –«, sagte der alte Hase, »das ist schwer zu sagen. Weil doch die Szenen nicht hintereinander in der richtigen Reihenfolge gedreht werden, sondern immer die zusammen, die am gleichen Ort spielen, oder wie es praktischer ist für die jeweiligen Darsteller. Da kann man auf unserer Ebene«, sagte der alte Hase, »nur so ungefähr ahnen, um was es geht. Ich vermute, daß das da, also was wir jetzt machen, ein eher trauriger Film ist. Zum Schluß bringt er sich um, der Türke.« »Warum?« fragte Tommi. »Ja, warum – aus Heimweh wahrscheinlich. Ich schau diesen Film nicht an«, sagte der Mann, »immer dieser soziologische Käs’. An und für sich arbeite ich auch gar nicht hier, sonst. Ich bin nur eingesprungen. An und für sich arbeite ich in Unterföhrung beim FSM – Carolin Reiber und die lustigen Musikanten«, sagte der alte Hase traurig, »ist aber auch ein Käs’« Durchfall hatte heute Geburtstag. Er gab einen aus. Der Regisseur und sogar Toni Tritzky und ein paar andere Schauspieler waren da. Das war nach Schluß der Dreharbeiten für heute, so um Viertel nach sechs. Durchfall wollte sich offenbar nicht lumpen lassen. Für Toni Tritzky, den Regisseur, die Schauspieler und so weiter war auf der einen Seite ein Tisch gedeckt; mit Blumen. Dort saß selbstverständlich auch das Geburtstagskind selber. Es gab Bier und warmen Leberkäs. Wer wollte, konnte statt 45
Leberkäs Schweinswürstel mit Kraut haben. Toni Tritzky schaute, als sitze er auf einem Nagel. Er trank kein Bier, er trank nur Sekt. Nein, er trank auch keinen Sekt, er trank nur Champagner. Durchfall lächelte gequält, als Tritzky müde »Champagner!« orderte. Die Flasche, die Tritzky trank, kostete soviel wie ein Faß Bier. Die nicht so wichtig waren wie der Regisseur und Toni Tritzky und Durchfall, saßen an ungedeckten Tischen ohne Blumen im übrigen Raum. Die paar türkischen Kulissenschieber saßen im Vorraum zur Küche. »Die sind lieber unter sich«, sagte der Regisseur, der auch die Feier für Durchfall inszeniert hatte. »Und Toni verträgt es nicht, wenn es nach Knoblauch riecht, wegen seiner Gastritis, leider«, sagte Krepatz. Tommi setzte sich gezielt neben eine hübsche Statistin, die eine so enge Hose anhatte, daß man sah: sie hatte kein Unterhöschen drunter. Die Hose war so eng, daß sich der Hintern und das Geschlechtsteil abzeichneten. Sie hieß Cordula und stammte aus Siebenbürgen. Sie war erst vor wenigen Jahren – noch ein Kind, mit ihren Eltern – aus Rumänien ausgewandert und sprach das schöne, samtige Balkan-Deutsch. Aber im übrigen wurde sie von ihrem Verlobten nach den Dreharbeiten abgeholt, und auch heute, sagte Cordula, müsse sie früher gehen, weil der Verlobte schon draußen am Tor warte. Tommi ließ nicht locker: Ob nicht vielleicht einmal der Verlobte nicht kommt? Da kennst du ihn schlecht. Oder am Samstag sei doch frei – ob sie da mit zum Baden fahre? Am Samstag sei sie immer mit ihrem Verlobten bei dessen Eltern. Am 46
Sonntag auch. – Es war nichts zu machen. Cordula trank ihr Bier aus, stieg über die Bank und ging. Tommi warf einen letzten Blick auf ihr Geschlechtsteil. »Sie tät schon wollen«, sagte ein anderer Statist, der gegenüber saß und die ganze Sache beobachtet hatte, »aber er, der Verlobte, paßt halt auf wie ein Luchs. Wird schon wissen, warum.« So kam Tommi mit Klaus ins Gespräch. War auch recht interessant. Klaus war schon viele Jahre Statist. Ursprünglich wollte er Regisseur werden. Zur Überbrückung hatte er angefangen, Statist zu machen. »Vielleicht war das ein Fehler«, sagte Klaus, »ich überbrücke immer noch. Jetzt sind schon die anerkannten Regisseure jünger als ich.« »Wie lang machst du das schon?« fragte Tommi. Klaus winkte ab. Er war ein dunkler Typ, sonnenverbrannt, hatte eine Knollennase. Wenn Exoten in der Statisterie gefragt waren, griff man gern auf Klaus zurück. Hie und da bekam er sogar einen Satz zu sagen oder zwei: Edelkomparse, Kleindarsteller. Einmal hatte er in einem Tatort einen Taxifahrer spielen dürfen, da war noch Gustl Bayrhammer der Tatort-Kommissar. »Ich heiß’ Siegfried«, sagte Klaus. »Wie bitte?« »Das war mein Satz, damals, als Taxifahrer, neben Gustl Bayrhammer: ›Ich heiß’ Siegfriede« »Ach so.« Was in der Branche vorging, jedenfalls soweit es sich in der Bavaria, in der FSM oder in Freimann zutrug, wußte Klaus. »Du bist relativ neu?« fragte Klaus. »Ja«, sagte Tommi, »seit voriger Woche.« »Ein blöder Film das«, sagte Klaus leise, »und der Regisseur – der hin47
terletzte Hammer. Und das Drehbuch –«, Klaus senkte nochmals die Stimme: »– gestohlen.« »Ach?« sagte Tommi. »Ja«, sagte Klaus, »buchstäblich gestohlen. Nicht nur abgekupfert oder gewisse Ideen geklaut – nein: das ganze Drehbuch … aus der Schublade heraus gestohlen.« »Wie gibt’s denn das?« fragte Tommi. Klaus rückte näher. Die Stimmung war inzwischen groß, Toni Tritzky war gegangen, Durchfall ließ ein zweites Faß Bier anzapfen. Es war rundumher so laut geworden, daß man ungeniert reden konnte. »Da gibt es einen Autor, ich will keinen Namen nennen, der ist bei allen Sendern in Verschiß geraten. Von dem will kein Hund mehr einen Knochen, viel weniger ein Produzent ein Drehbuch.« »Warum?« »Das ist eine lange Geschichte. Da war erstens etwas mit der Frau vom … naja, von irgend jemand, ich will keinen Namen nennen, und dann hat der betreffende Autor ein Buch geschrieben, nicht ein Drehbuch, sondern ein anderes Buch, also ein richtiges Buch, zwischen Buchdekkeln, und in dem Buch ist alles beschrieben, wie es so zugeht bei den Sendern und bei den Produktionen und überhaupt, auch politisch – du verstehst –, alles kaum verschlüsselt, und die GEMA und die Gewerkschaft und die Redakteure, das ist da alles geschildert, und wer von wem Schmiergelder kriegt, und wer mit wem schläft – und alles wahr. Ich sag dir – ich hab es auch gelesen. Jeder hat es gelesen, bis zu dem Intendanten hinauf. Der sogar zuallererst. Und keiner hat darüber geredet. Aber der betreffende Autor ist natürlich jetzt weg vom Fenster. Für Jahre.« »Und dem hat der Regisseur da das Dreh48
buch gestohlen?« »Exakt«, sagte Klaus. »Aber wie stiehlt man ein Drehbuch?« »Ganz einfach. Der Regisseur, der Verbrecher, war bei dem Autor eingeladen, auf einer Party – der Autor gibt ab und zu Parties in der Hoffnung, daß sich alles einrenkt; gehen auch alle hin, klar, und sind scheinheilig zu ihm; aber einrenken tut sich natürlich nichts. Ja, und da ist er da, wie er da sitzt mit seine Mitesser im Gesicht, um Mitternacht, oder war es schon gegen in der Früh zu, ins Arbeitszimmer gegangen, hat die Schublade aufgemacht und das Drehbuch mitgenommen. Vorher nämlich hat der gewisse Autor den Fehler begangen und die Geschichte ausführlich erzählt. ›Sehr gut‹, hat der Mitesser gesagt, ›könnte fast von mir sein.‹ Verstehst du die Ironie? ›… könnte fast von mir sein.‹ Und geht hinüber und krampfeit das Skript.« »Ja, aber –«, sagte Tommi, »hat der Autor das denn nicht gemerkt? Und dann überhaupt, ich versteh’ das nicht –« »Ja, nein«, sagte Klaus, »erstens hat der Autor das schon gemerkt, aber es hat ihm nichts geholfen, denn zweitens hat er dort, der Mitesser, das Manus natürlich abschreiben lassen von einer vertrauenswürdigen Person oder hat es sogar selber abgeschrieben, und hat so ein bißchen was geändert, die Namen vor allem, den Türken hat er statt Achmed Murad genannt, die deutsche Freundin statt Heike Sabine und so fort, und die Produktionsfirma hat ihm einen zurückdatierten Vertrag gegeben, auf ein Datum, das vor dem Diebstahl liegt, und so fort, wie man halt so etwas macht«, sagte Klaus, der Kenner der Branche. 49
»Und hat dieser Autor nichts unternommen? Gerichtlich oder so?« fragte Tommi. »Probiert hat er es schon; hat aber verloren. Das reicht doch beim Gericht schon, daß die Namen geändert sind, dann ist es kein Plagiat mehr. Wenn es dem Gericht paßt. Und dem Gericht hat es gepaßt, weil der Mitesser ein sehr berühmter Regisseur ist, der in der Kulturszene viel gilt.« »Und du weißt das alles?« fragte Tommi. »Allerdings«, sagte Klaus. »Und woher?« »Man hat so seine Informationen.« »Der Autor«, sagte Tommi nach einer Weile, »wird nicht sehr gut auf ihn da –«, er deutete auf den Regisseur, der grad am anderen Tisch drüben eine große Rede hielt, »– auf ihn da zu sprechen sein?« »Das kannst du laut sagen. Nachdem er den Prozeß verloren hat, hat er dem Mitesser angedroht, daß er ihn noch verprügeln läßt. Warum, meinst du, hat der sonst seine zwei Gorillas dabei?«
* Elf Tage war Tommi Derendinger Stuntman, dann fünf Wochen im Krankenhaus. Dort besuchte ihn Mitesser, der Regisseur. Das war sogar gleich, nachdem Tommi aus der Narkose erwachte, noch bevor irgend jemand von Derendingers überhaupt erfahren hatte, daß Tommi im Krankenhaus war. Tommi glaubte, er sei noch nicht ganz aus der Narkose erwacht, und es sei ein Albtraum, als er das wurmstichige Gesicht des Regisseurs vor sich sah, mit der Sonnenbrille und dem Lederkäppchen, die er beide auch hier nicht abnahm. Aber es war kein Albtraum. Tommi 50
sah auch nicht nur das Gesicht, sondern den ganzen Regisseur vor sich, der »Tut mir wahnsinnig leid« murmelte und einen Strauß Rosen der Krankenschwester gab, damit die sie in eine Vase tun und auf Tommis Nachtkästchen stellen konnte. – Von den elf Tagen hatte Tommi an sieben Tagen nichts anderes getan, als herumstehen und warten. An zwei Tagen mußte er mit dem Motorrad fahren. Er mußte weder durch brennende Heuhaufen fahren noch auf schmalen Balken über Schluchten, er mußte nicht über ein Auto wie über eine Sprungschanze hinwegfliegen – das alles hätte er auch gar nicht gekonnt –, er mußte nicht einmal mit einem anderen Motorradfahrer zusammenstoßen oder in voller Fahrt in die Auslagscheibe eines Gemüseladens rasen – was Tommi zur Not fertiggebracht hätte –, er mußte nur schlicht fahren. Toni Tritzky konnte nämlich nicht Motorrad fahren. An zwei anderen Tagen bekam Tommi Schläge. Man drehte eine Rauferei, in der vier deutsche Zuhältertypen dem Türken – also Toni Tritzky – auflauerten. Der Türke wehrte sich, unterlag aber gegen die feige Übermacht und flog zum Schluß zwischen zwei Mülltonnen. Wenn Toni Tritzky zuschlug, wurde Toni Tritzky gefilmt: von vorn. Wenn Toni Tritzky Schläge einsteckte, wurde Tommi Colt gefilmt: von hinten. Aber das war nicht der Grund, warum Tommi im Krankenhaus lag. Die vier, die die Zuhälter spielten, waren gewandt und schlugen so zu, daß es zwar fürchterlich aussah, aber relativ wenig weh tat. Angenehm ist anders, aber direkt Prügel waren es nicht. Das Hineinkrachen 51
zwischen die Mülltonnen – das machte natürlich auch der Stuntman Colt – war eigentlich gar nichts, obwohl es Tommi wohl an die zehn-, zwölfmal wiederholen mußte, bis der Regisseur zufrieden war. Das war alles nicht der Grund für Tommis Krankenhausaufenthalt. Nein, es war ganz anders. Am Abend des elften Tages wurde Tommi nicht auf Toni Tritzky, sondern auf Regisseur geschminkt. Mitesser im Gesicht, Dschingis-Khan-Schnauzbart, Sonnenbrille, Lederkäppchen. »Außenaufnahmen«, sagte Durchfall. Tommi kam es schon komisch vor, aber was wußte er schon als Anfänger, sagte er sich. Er solle hinaus auf die Grünwalder Straße gehen – ganz normal, nur so, so als ob er dort hinüber in die Wirtschaft gehe, in den Ritterhof. Tommi schüttelte den Kopf und marschierte los. Es war spätabends und schon finster. Tommi schlenderte zum Tor hinaus, die breite Straße hinunter, über die Straßenbahnschienen – da sprangen drei aus dem Gebüsch und fielen über Tommi her. Und möbelten ihn auf, aber schon wie. Wo ist denn die Kamera? dachte sich Tommi. Es war keine Kamera da. Tommi begann zurückzuschlagen, aber da war er schon in die Enge gezwängt, und außerdem waren es ja drei. Tommi wollte um Hilfe schreien, bekam aber keine Luft. Er schlug nach hinten gegen etwas Hartes, und von da ab wußte er nichts, wachte oder besser gesagt schreckte nur in ihm selber nicht mehr meßbaren Abständen für Sekunden auf: das Blaulicht sah er, Helligkeit, noch hellere Helligkeit, eine Spritze im Arm spürte er, und immer wieder glaubte er, ein Sack Kleinholz zu 52
sein. Er hatte aber nur vier Rippen gebrochen, die Milz ein wenig eingeklemmt, eine Gehirnerschütterung, einen Nasenbeinbruch und unzählige Prellungen. »Es weiß noch niemand«, sagte der Regisseur, »daß nicht ich, sondern Sie verprügelt wurden.« »Er soll noch nicht sprechen«, sagte die Schwester. »Aber nicken darf er, gegebenenfalls?« fragte der Regisseur. »Nicken schon«, sagte die Schwester. »Würden Sie uns dann einen Augenblick allein lassen?« Die Schwester ging nach einigem Zögern hinaus. »Und wenn es unter uns bleibt, daß nicht ich, sondern Sie verprügelt wurden, soll es Ihr Schaden nicht sein«, sagte der Regisseur, »dann meint nämlich der Verbrecher – es handelt sich um einen Drehbuchautor, mit dem ich ein Hühnchen zu rupfen habe –, er hätte sich gerächt, ist zufrieden und läßt mich in Zukunft in Ruhe. Wenn Sie einverstanden sind, werde ich die Presse dementsprechend informieren.« Tommi nickte. »Und Sie kriegen – sagen wir – 5000 Mark …« Soviel hätte Tommi nicht erwartet; er war starr und vergaß zu nicken. »Also gut«, sagte der Regisseur, »10 000.« Tommi nickte schnell. Offenbar hatte er zu schnell genickt, das Bild des Mitessergesichts verschwamm vor seinen Augen. Als er später wieder aufdämmerte, sah er, daß ein Scheck neben der Vase mit den Rosen auf dem Nachtkästchen lag. Mit viel Mühe streckte Tommi die Hand aus und nahm den Scheck. Tatsächlich: 10 000 Mark. In Worten: zehntausend. Er steckte den Scheck unters Kopfkissen und sackte wieder weg, wohlig diesmal. 53
* Als Tommi nach den fünf Wochen aus dem Krankenhaus entlassen wurde, riet ihm der Arzt, daß er daheim noch eine Woche liegen soll. Aber es hielt Tommi nicht. Schon am zweiten Tag humpelte er hinunter und über die Straße hinüber in den Stehausschank. Die Zehntausend, vielmehr den Scheck, hatte er schon vorher, schon gleich, wie ihn seine Mutter das erste Mal besuchte, auf die Bank bringen lassen. »Aber nicht auf das Konto bei der Sparkasse«, sagte Tommi, »sondern mach ein neues Konto auf, irgendwo anders.« »Warum nicht bei der Sparkasse?« fragte die Mama. Die Sparkasse wäre ihr lieber gewesen als eine Bank, wie allen kleinen Leuten, bei denen sich mit Bank etwas Großes, Unheimliches verbindet, mit dem Institut Sparkasse aber das anheimelnde Wort sparen. Spare in der Zeit, hast du in der Not, und so weiter. »Spare in der Zeit, hast du in der Not auch nichts«, hatte die Oma immer gesagt, die eine Inflation und zwei Währungsreformen miterlebt hatte. »Weil halt!« sagte Tommi. Wenn Tommi das Geld auf sein Sparkassenkonto gelegt hätte, wäre fast die Hälfte sofort weg gewesen. Überziehungskredit plus aufgelaufener Zinsen. Tommi machte die Briefe schon gar nicht mehr auf, die von der Sparkasse kamen. Die Briefe vom Gericht auch nicht. Dem Gerichtsvollzieher zeigte er nur seine Arbeitslosengeldfestsetzung, da zog der wieder ab. »Aber dann wärst die Schulden wenigstens einmal 54
los?!« sagte die Mama. »Blöd werd’ ich sein, von meinem sauer verdienten Geld«, sagte Tommi. Tommi humpelte in den Stehausschank. Dort dröhnte die Gruppe Sisters of brothers den Hit »Magie-magie-mägie«. Charlie war auch wieder da. Er hatte einen Wagen an der Hand. Spitze ist nicht zuviel gesagt. 36 000 Emm; praktisch geschenkt. Turbo-Spider XAL. Holzlenkrad, Alu-Felgen, Federfußantenne. Radarabweisender Metallic-Anstrich. »Fährt seine 250, und die kannst auch fahren, leck mich am Arsch, weil sie dich nie erwischen mit dem Tarn-Metallic«, schrie Charlie. »Radarabweisender Tarnanstrich? Gibt’s das?« schrie Tommi. »Logo«, schrie Charlie. Die Gruppe Skysquake quakte den Hit »Nawimbi-händindi«. »Das hab’ ich noch nie gehört«, schrie Tommi. »Das wird ja auch nicht grad an die Große Glocke gehängt«, schrie Charlie, »kannst dir doch denken, daß die Polente das nicht gern sieht.« Wer 10 000 Emm auf der Bank hat, bekommt vom WKV zur Finanzierung eines Autos ohne weiteres 26 000 Emm dazu. Als Tommi durch die erste Radarkontrolle fuhr, erhielt er ein Fahrverbot für drei Monate und eine Geldstrafe von 150 Mark. »Weil Sie arbeitslos sind«, hatte der Polizist gesagt, »der reinste Sozialtarif.« Als Tommi nach dem Unfall drei Wochen später das Wrack verkaufte, stellte sich heraus, daß der Motor nicht 72 000 km, sondern 172 000 km gelaufen war. »Was haben Sie dafür bezahlt?« fragte der Schrotthändler. »25 000«, log Tommi kleinlaut. »Da hat Sie einer aber sauber hereingelegt. Dann mach’ wenigstens ich Ihnen einen guten Preis. 800
Mark.« »Wieviel?« »Also gut – 850 … aber das ist mein letztes Wort.« Tommi nahm die 850 Mark und fuhr mit der Straßenbahn heim. Von der Haltestelle aus machte er einen Umweg zum Postamt, wo er die Strafe wegen der blöden 136 km/h einbezahlte; mit Kosten fast 200 Mark. Aber solche Sachen muß man bezahlen, dachte Tommi, weil da nämlich nicht der Gerichtsvollzieher kommt, wenn du nicht bezahlst, sondern der Zeiselwagen, die grüne Minna, und du zwitscherst ab zur Ersatzfreiheitsstrafe. Dann machte Tommi noch einen Umweg in den Stehausschank. Er hatte ja noch 600 Mark in der Tasche. Der Stehausschank war voll. Diverse Gruppen brüllten diverse Hits, die alle wie »Yäi – yäi – eh – eh« klangen. »Ist der Charlie nicht da?« schrie Tommi. »Wer?« schrie Biwi. »Der Charlie?! Der mir das Auto verkauft hat?!« schrie Tommi. »Nein«, schrie Biwi und trocknete Gläser ab, hielt sie gegen das trübe Licht, das durch die falschen Butzenscheiben hereinkam, polierte nochmals nach, »nein, der Charlie ist nicht da. Ist schon länger nicht da gewesen. Ist angeblich verreist.« »Wohin?« brüllte Tommi. »Bahamas«, brüllte Biwi. Tommi dachte eine kleine Weile nach. Er spürte die sechs Hundertmarkscheine in seiner Hosentasche. »Eine Lokalrunde!« schrie er dann. Die anderen ließen ihn hochleben.
VERLUSTREICHE FERIENREISE Als erstes nach der Währung kam die Freßwelle. Die Währung war ein Zauberwort, ein Reizwort, ein Kultwort würde man heute sagen, vor allem ein Einschnitt. Juli 1948. Natürlich hatte es auch vorher eine Währung gegeben, die Reichsmark oder verächtlich Er-Mark genannt (ganz offiziell hieß sie Renten-Mark, so stand es auf den zerfledderten, lappigen Scheinen), aber diese Währung war nichts wert gewesen. Die Deh-Mark danach war wieder etwas wert. Die Währung war die Abkürzung für die Währungsreform: pro Kopf 40 neue Mark, vom Säugling bis zum Greis. »Am günstigsten für eine Familie wäre es«, hatte die damals noch junge Frau Schlegelberger gesagt, »wenn grad am Tag vor der Währung ein Kind geboren wird, und wenn die Oma, zum Beispiel, genau einen Tag danach stirbt. Also theoretisch, der Herr gebe ihr ein langes Leben. Nur theoretisch. Weil dann, dann würde das Neugeborene schon und die Oma noch die 40 Deh-Mark kriegen, und die Familie hätte quasi einen Überschuß von 80 Mark.« »Ja«, sagte Herr Speditionskaufmann Schlegelberger. »Was hast gesagt?« krähte die Oma. Sie war damals knapp über fünfzig, aber schon schwerhörig. »Nix«, schrie Schlegelberger. Aber der günstigste Fall trat bei Schlegelbergers nicht 57
ein. Antschi war schon ein Jahr alt, und Carmen kam erst 1950. Und die Oma lebte auch noch. Aber immerhin bekam man für Antschi die 40 D-Mark wie für jeden Erwachsenen. »Wie ist jetzt das«, fragte Frau Schlegelberger, »wenn jetzt zum Beispiel ein Baby heute exakt am Tag der Währung geboren wird? Oder die Oma tat exakt heute sterben? Kriegen auch die 40 Mark?« »Ich weiß gar nicht, warum du unbedingt die Oma unter die Erde bringen willst –?« »Überhaupt nicht, ich meine nur rein überlegungsmäßig, ob die Betreffenden die 40 Mark kriegen wür … kriegen tat – kriegen täten würden?« »Weiß ich nicht«, sagte Schlegelberger und blätterte im Münchner Merkur. »Aber du bist doch Speditionskaufmann!« »Aber nicht Bankkaufmann. Das interessiert mich auch nicht, und wir haben summa summarum 160 neue Mark gekriegt, und dann schauen wir, wie’s weitergeht. Ich seh schwarz. Der Chef auch.« Der Chef war der Inhaber der Spedition Haifinger in Laim, bei der Herr Schlegelberger arbeitete. Schlegelberger faltete den Münchner Merkur zusammen und trug ihn zum Nachbarn, dem Herrn Studiendirektor Brükl hinüber. Es gab in München zwei große Zeitungen: den Merkur und die Süddeutsche, aber sie erschienen nicht jeden Tag, sondern nur abwechselnd jeden zweiten. Schlegelberger hielt die Süddeutsche, der Studiendirektor den Merkur. Damit man jeden Tag eine
Zeitung hatte, tauschte man aus. Herr Studiendirektor Brükl war übrigens auch Hausherr, oder genauer gesagt Frau Studiendirektor Brükl, der Studiendirektor hatte nur hineingeheiratet. Trotzdem führte er die Verwaltung, wie er es nannte, und zwar mit starker Hand. Am Ersten kam er die Miete kassieren, dabei äugte er mit scharfem Blick nach Schäden im Plafond, er verbot den Kindern, die Fahrräder durch den Hausgang zu schieben (mußten getragen werden), und er schrieb kleine Zettel: »Mußte bedauernd feststellen, daß Sie Ihrer Stiegenwoche nicht oblegen sind. Hochachtend, Brükl Max. Stud. Dir.« In gestochener Schrift. Den Zettel fand die säumige Partei im Briefkasten. Bei Schlegelbergers allerdings hatte Herr Stud. Dir. Brükl Max nie irgendwelche Beanstandungen anzubringen, nein, bei denen nicht. Anders hätte er sich auch gar nicht auf den Zeitungsaustausch eingelassen, der ja notgedrungen förmlich einen engen Kontakt mit sich brachte. Das Verhältnis der Frau Studiendirektor Brükl mit Oma Schlegelberger war fast freundschaftlich. Der Herr Chef Haifinger hatte nicht recht, jedenfalls vorerst noch nicht. Es ging aufwärts nach der Währung. »Allerdings, sagt der Chef«, berichtete Herr Schlegelberger daheim, »alles nur Scheinblüte. Irgendwie ungesund. Es ist nicht zu leugnen, daß es aufwärtsgeht, aber: wo soll das enden? Allalong sehe ich schwarz.« »Alla – was?« fragte Frau Schlegelberger. »Allalong. Das ist lateinisch. Auf die Dauer gesehen bedeutet das.« »Also mir«, sagte Frau Schlegelberger, »ist es jetzt aber 59
schon entschieden lieber als vor der Währung.« Nun, das war es Herrn Chef Haifinger auch. Noch Ende 1948 bestellte er zwei neue Lastwägen, und er trug sich mit dem Gedanken, die Rollfuhr-Pferdefahrzeuge überhaupt »abzubauen«. Dennoch sah er schwarz, »allalong«. Übrigens auch Herr Studiendirektor Brükl, der höchste Bedenken hinsichtlich der Jugend trug. »Alles amerikanisiert. Sie werden’s auch erleben, wenn Ihre Kleine heranwächst. Alles amerikanisiert. Grauenvoll. Wohin soll das führen? Armes Deutschland.« Herr Studiendirektor Brükl Max sprach gepreßt und etwas nasal und mit einseitig heruntergezogenem Mundwinkel. Das kam daher, daß er seine Zahnlücken nicht zeigen wollte. So kam nach der Währung zunächst die Freßwelle. Die Leute holten nach, was sie seit 1939 gefastet hatten. Binnen zweier Jahre nahm die Bevölkerung der Bi-, später der Tri-Zone, seit September 1949 Bundesrepublik, um 200 % zu, nicht durch Geburtenstärke, sondern durch Fett. Herr Schlegelberger, der im Juni 1948 vierzig Kilo gewogen hatte, wog zu Weihnachten 1949 knapp neunzig, Herr Studiendirektor Brükl hatte an der Jahreswende 1949/50 wieder einen Bauch wie 1938, und Oma Schlegelberger litt schon wieder unter Fettasthma. Auch Frau Schlegelberger hatte einen Bauch, aber aus anderen Gründen: im März 1950 kam Carmen. »Carmen?« raunzte Herr Studiendirektor Brükl aus einem Mundwinkel, »kein eigentlich bayrischer Name.« »Meine Frau«, sagte Schlegelberger entschuldigend, »sie findet den Namen ansprechend. Auch die Oma. Der 60
Herr Apotheker Federl hat unlängst seine Tochter auch Carmen getauft.« »Fast amerikanisch«, sagte der Studiendirektor kalt, legte die Süddeutsche hin und nahm den Merkur von gestern mit. Nach der Freßwelle paßte der deutschen Bevölkerung die Kleidung nicht mehr. So ergab sich zwanglos genau zu der Zeit, als man schon wieder auf Übergewicht achten mußte, auf Kalorien und so, und in manchen Zeitschriften neuerdings Vorschläge für Karottentage auftauchten, die Bekleidungswelle. Das war ungefähr, als Antschi Schlegelberger in die Schule kam. Der letzte Schrei waren Kreppsohlen. Besserverdienende Leute wie Herr Chef Haifinger zum Beispiel – der zu der Zeit die letzten Pferde ausmusterte und die ersten Kastenanhänger anschaffte – trugen Original-Krepp, das heißt, die Schuhe waren von vornherein, als neue, gekaufte, mit Kreppsohlen versehen. Das war ein Gummimaterial eigenartiger Konsistenz: wie leicht durchscheinender, gelblicher Schafskäse, nur fester. Eine mittlere Materie zwischen Knöcherlsülze und Radiergummi. Unten gerippt, seitlich gekörnt, zwei bis vier Zentimeter dick. Nicht alle aber konnten sich Original-Krepp leisten. Es blühte ein Gewerbezweig auf, der dadurch am beginnenden Wirtschaftswunder teilhatte, daß er den weniger begüterten Kreisen die in den schlechten Zeiten durchgelaufenen Ledersohlen von den Schuhen riß und Krepp draufklebte. Hatte die deutsche Bevölkerung vorher an Gewicht zugenommen, so wurde sie durch die Einführung der Kreppsohle schlagartig um zwei bis vier Zentimeter grö61
ßer. Auch für Frauen gab es Kreppsohlen, sogar unter Stöckelschuhen, was besonders abwegig ausschaute. Ein weiterer Industriezweig erwuchs – vielleicht bescheidener, aber immerhin – durch die Entwicklung eines Kreppsohlen-Reinigungsmittels, denn die zunächst durchschimmernd-käsigen Kreppsohlen nahmen schon bald, wie nicht anders zu erwarten bei Schuhsohlen, eine unschöne Färbung an. Vor allem mußte man aufpassen, daß man sie beim Schuhputzen nicht mit Schuhcreme bestrich. Wenig gefällig war auch eine weitere Entwicklung: die Kreppsohlen neigten zur Materialermüdung. Sie wurden dünner, dabei aber gleichzeitig breiter, begannen seitlich über den – wenn man so sagen kann – Grundriß des Schuhes auszubuchten, auszulappen, omelettartig. Nach einiger Zeit mußte man drangehen, mit einem scharfen Messer den Überrand der Sohle entlang wegzuschneiden. Gefährlich waren der Kreppsohle auch die damals noch weitverbreiteten Kanonenöfen. Die Bevölkerung neigte in jener Zeit zum Überheizen, verständlich, man wollte durchfrorene Winter ausgleichen. Die Kanonenöfen glühten. Kam eine unbedachte Kreppsohle in die Nähe, löste sie sich in lange, klebrige Fäden auf. Als Exemplar hatte die Kreppsohle eine Lebensdauer von etwa sechs Monaten, als Phänomen hielt sie sich ungefähr zwei Jahre. Als sich auch Herr Schlegelberger die ersten Kreppsohlen auf ein paar Schuhe kleben ließ und sich leise quietschend Herrn Studiendirektor Brükl näherte, um die Zeitungen auszutauschen, bemerkte das der Hausherr 62
mit Mißbilligung. »Wahrscheinlich ungesund«, knirschte er durch den seitlich heruntergezogenen Mundwinkel, »das amerikanische Zeug. Jeder Depp trägt Krepp.« Wenig später trug auch Herr Studiendirektor Brükl Krepp. Sogar Original-Krepp. Frau Derendinger vom Nebenhaus, deren Tommi in Schlegelberger Antschis Parallelklasse in die Weiler-Schule ging, erklärte das. »Weil doch der Seilinger Guido sonst durchgefallen wäre. Und die Eltern vom Seilinger Guido sind doch das Schuhgeschäft Seilinger am Maria-Hilf-Platz. Haben S’ mich?« Aus der Bekleidungswelle wuchs wie von selbst die Einrichtungswelle: die Sperrholzschränke wurden für die neue Garderobe zu klein. Die asymmetrischen Schlafzimmer kamen auf, dann die Nierentische mit seitwärts ausgestellten Beinen. Das Resopal begann die Küchen zu überziehen. Die kombinierte Musiktruhe ersetzte den Volksempfänger. Biegsame Tulpenstehlampen mit Plastikschirmen. Die Leute strichen jede Wand ihrer Zimmer andersfarbig. Die letzten Kreppsohlen blieben auf den ersten langflorigen Teppichböden kleben. Dann – das war schon zu der Zeit, als sowohl der Merkur als auch die Süddeutsche täglich erschienen und der Austausch zwischen Brükl und Schlegelberger einschlief – kam die Motorisierung. Herr Studiendirektor Brükl kaufte einen neuen Volkswagen, schwarz, mit Brezenrückfenster und Schlummerrollen auf dem Rücksitz, und überfuhr damit bereits in der zweiten Woche den Verkehrspolizisten am Isartorplatz. Etwa ein Jahr später kaufte Herr Schlegelberger eine gebrauchte Borgward 63
Isabella. Am Kauf beteiligte sich Oma Schlegelberger, die dafür einen Teil ihrer Ersparnisse locker machte, und der Bruder der Frau Schlegelberger, Herr Gottfried Pointvogel, von dem nachzutragen wäre, daß er, seit 1944 seine elterliche Wohnung in Ramersdorf ausgebombt worden war, in der Wohnung Schlegelberger als Untermieter wohnte, selbstverständlich nachdem ordnungsgemäß die Genehmigung vom Hausherrn eingeholt worden war. Auch 1956, um die Zeit kauften Schlegelbergers das Auto, war es für einen Junggesellen wie Gottfried Pointvogel – genannt Birschi – noch nicht ganz einfach, eine eigene Wohnung zugewiesen zu bekommen. Schlegelbergers Wohnung war groß genug, jedenfalls nach den Maßstäben, die man damals anlegte. Bei Manderls, in der Wohnung über Schlegelbergers, welche Wohnung sogar um ein Zimmer kleiner war, wohnten noch bis 1960 fünfzehn Leute, und die hatten außerdem noch einen Bernhardiner. So gesehen wohnten Schlegelbergers mit nur zwei Kindern, der Oma und Schwager Birschi (und keinem Bernhardiner, nur Antschis Goldfisch) förmlich komfortabel. Außerdem war Birschis Beitrag zur Wohnungsmiete spürbar, und nochmals außerdem war Birschi Pointvogel bei der Marktaufsicht in der Großmarkthalle beschäftigt und brachte fast jeden Tag eine Steige nicht mehr ganz taufrischer, aber durchaus noch eßbarer Tomaten mit oder etwas angeschlagene Gurken oder Äpfel oder etwas bräunlichen Salat, wo man nur die äußeren Blätter wegtun mußte, je nach Jahreszeit. Das ersparte schon etwas vom Haushaltsgeld. »Das Wohn64
zimmerbüffet« – (Eiche mit Butzenscheiben) – »haben wir uns im Grunde genommen davon angeschafft«, sagte Frau Schlegelberger. Birschi nickte. Schlegelberger erkannte das durchaus an. Und dann beteiligte sich Birschi auch noch an der Isabella, obwohl er sie nie würde selber fahren können. Birschi hatte nur einen Arm, den rechten. Den linken hatte 1945 im März dem knapp siebzehnjährigen Flakhelfer Pointvogel Gottfried ein Rohrkrepierer weggerissen. Deswegen hatte er dann auch die günstige Stelle bei der Marktaufsicht bekommen. Trotz dieser schrecklichen Verwundung (oder deswegen?) war Birschi Sportschütze, Trachtenvereinsmitglied und Sängerbruder. Als Schütze hatte er die Vergünstigung, sein Gewehr auf ein Spezialgestell auflegen zu dürfen. 1957 wurde er Schützenkönig der Sonderklasse. Die Kette lag in dem erwähnten Eichenbüffet hinter den Butzenscheiben. Die Anschaffung des Fernglases, mit dem Herr Schlegelberger dann nachts in fremde Fenster zu schauen pflegte, fällt wohl eher in die Kategorie: Einrichtungswelle.
* Nach der Motorisierung kam die Reisewelle, die sich ja zwangsläufig aus ihr entwickelte: erst fuhr man nur am Sonntag nach Tegernsee oder nach Neuschwanstein, bald drängte es die Autofahrer aber dazu, auszuprobieren, ob das Auto auch weiterlief. 1961 gab es zeitweilig schon beachtliche Staus auf der alten Brennerstraße. (Die Autobahn war noch nicht gebaut.) Herr und Frau Schle65
gelberger nebst Birschi fuhren für eine Woche nach Südtirol. Familienpension Natterer in Terlan. Oma paßte auf Antschi und Carmen auf. Auf der Rückfahrt hatte man fünf Korbflaschen Rotwein geladen, ganz edlen Terlaner, direkt in der Kellerei gekauft. Durch Unachtsamkeit stieß eine Flasche während der Fahrt an, und der Hals brach ab. Damit nichts verschüttet werde, nahm Birschi auf dem Rücksitz die offene Flasche auf den Schoß. Es war heiß, der Alkoholdunst stieg Birschi direkt in die Nase. In Innsbruck bereits war er, ohne daß er auch nur einen Tropfen getrunken hatte, vollkommen besoffen. Er kotzte während der Fahrt zum Fenster hinaus direkt in den Beiwagen eines Motorrades, das grad überholte. Im Beiwagen saß eine Frau, die zwei ziemlich große Hasen festhielt (Belgische Riesen). Sie schrie. Der Motorradfahrer, der eine offenbar eng sitzende Motorradmütze aus Leder trug, hörte erstens nichts Genaues, zweitens mußte er raschestens den Überholvorgang abschließen, weil Gegenverkehr kam. Die Frau mit den Hasen schrie immer noch und versuchte, sich mit einem der Hasen abzuwischen. Jetzt schrie auch der Mann. Er fuhr rechts heran und fuchtelte mit den Armen. Schlegelberger gab geistesgegenwärtig Gas und raste vorbei. Im Rückspiegel beobachtete Frau Schlegelberger, daß nun der Motorradfahrer wieder aufsprang und Gas geben wollte, um Schlegelbergers Auto zu verfolgen, aber da entkam (zum Glück für Schlegelberger) einer der Belgischen Riesen, und beim Versuch, ihn zu fangen, ließ die Frau den anderen los, der natürlich auch sofort die Flucht ergriff, und 66
zwar in die entgegengesetzte Richtung. Vor der nächsten Kurve sah Frau Schlegelberger noch, wie der Motorradfahrer die Fäuste hinter ihnen her schüttelte und dann dem einen, die Frau dem anderen Hasen nachlief. »Bis die die Hasen eing’fangen haben, sind wir über der Grenze«, sagte Schlegelberger. Leise Befürchtungen hatten sie aber doch: ob der Motorradfahrer nicht vielleicht die Polizei verständigte, und die die Grenzwache … aber es war nichts an der Grenze. Nur den Wein mußten sie verzollen, da war nichts zu machen. Der Grenzer roch ihn. Noch wochenlang danach roch das Auto innen nach Wein. Aber sonst war der Urlaub wunderbar gewesen. »Im nächsten Jahr«, sagte Schlegelberger, »fahren wir nach Rimini.«
* Nach Rimini fuhren auch die Kinder mit. »Für die Oma ist das nichts, Rimini, wo sie eh mit der Gastritis zu tun hat, und die ewigen Spaghetti dort!« sagte Frau Gusti. Sie hatte eine Gurkenkompresse aufgelegt und lag auf dem Rücken flach im Bett. Schlegelberger lag neben ihr und las den Sportkurier. »Mhm«, sagte er. »Am gescheitesten wär’ es«, sagte Frau Schlegelberger, »die Oma bleibt da. Dann brauchen wir bloß zwei Zimmer. Du und ich eins, und die Kinder beim Birschi.« »Ich weiß nicht«, sagte Schlegelberger, »wo doch die Antschi … immerhin ist sie fünfzehn und eh so g’schamig.« »Das wird sie sich eben abschminken«, sagte Frau Gusti hochdeutsch, »schließ67
lich haben wir keinen Goldesel. Ist eh teuer genug die weite Fahrt.« »Und wie willst du der Oma beibringen, daß sie nicht mitfahren darf? Sie hat sich vorige Woche einen Badeanzug gekauft.« »Was?« schrie Frau Gusti und wäre fast im Bett aufgefahren; im letzten Moment besann sie sich aber auf ihre Gurkenkompresse. »Na ja«, sagte Schlegelberger, »im Ausverkauf beim C & A. Gelb.« »In ihrem Alter? Einen Badeanzug?« »So alt ist sie auch wieder nicht. Siebenundsechzig.« »Da tat ich mich ja schämen. In dem Alter. Einen Badeanzug. Bei der Figur.« »Also ich«, sagte Schlegelberger kühl, »sage es ihr nicht. Wegen mir muß sie nicht mitfahren, aber sagen tu ich es ihr nicht.« Er faltete den Sportkurier zusammen, legte ihn aufs Nachtkästchen und löschte das Licht. »Wer denn sonst?« fragte Frau Gusti, »schließlich ist sie deine Mutter und nicht meine.« »Ich nicht«, murmelte Schlegelberger und schlief ein. Die Kinder wollten, daß die Oma mitfahre. Trotz ihrer Schwerhörigkeit schien die Oma von den Diskussionen was mitbekommen zu haben und redete nun immerfort davon, daß sie sich so auf Italien freue, und daß sie auch noch einmal auf ihre alten Tage das Meer sehen dürfe. Außerdem ließ sie unmißverständlich durchblikken, daß das Auto zu einem gewissen Teil ja auch von ihr mitfinanziert worden sei. Um diese Zeit kaufte sie sich noch dazu eine Badehaube und einen (angeblich absolut unsichtbar zu tragenden) Korksicherheitsgürtel Marke Schwimmkerl und ließ sich die Haare ondulieren. Frau Gusti hatte sogar den Verdacht, daß sie sie leicht tönen hatte lassen. Kastanie. Herr Schlegelberger mußte fest68
stellen, daß ihm erstens der Herr Chef Haifinger nicht ein ganzes, sondern nur ein halbes Monatsgehalt Urlaubsgratifikation gewährte, und zweitens, daß er sich bei der Kalkulation der Urlaubskasse höllisch verrechnet hatte: nicht 4000 Lire waren eine Mark, sondern vier Mark waren 1000 Lire. Nun war auch Herr Schlegelberger dafür, daß die Oma dablieb. Aber es war nichts zu machen. Herr Schlegelberger schob die peinliche Unterredung jeden Tag um einen Tag hinaus. Die Oma packte bereits ihren Koffer. »Wir sind fünf Leut’«, sagte Herr Schlegelberger am Tag vor der Abfahrt, »mit der Oma sechs. Wenn wir es geschickt anstellen, merken die im Hotel gar nicht, daß es einer mehr ist.«
* Antschi, die Oma und Frau Gusti saßen hinten. Es war eng, aber es ging. Birschi saß auf dem Beifahrersitz und hatte die zwölfjährige Carmen auf dem Schoß. Bequem saß nur Herr Schlegelberger auf dem Fahrersitz. Man war um drei Uhr früh aufgestanden. Herr Schlegelberger hatte, bevor er ihn verpackte, noch einen Rundblick durch seinen Feldstecher getan, aber alle Fenster der Nachbarschaft waren noch dunkel. Um vier Uhr war man weggefahren. Um sechs Uhr war man in Kufstein, um halb zehn am Brenner. Abends um neun Uhr fuhr die staubverkrustete Isabella in den kiesbedeckten Hof der Hotel-Pension Bellavista in Rimini ein. »Duck dich, 69
Oma«, zischte Herr Schlegelberger. »Warum?« krähte die Oma. »DUCK DICH!«
* Ein Speditionskaufmann – wie Schlegelberger – ist von Berufs wegen auf Komplikationen gefaßt, und er hat in der Ausbildung und durch jahrelange Erfahrung gelernt, mit ihnen fertig zu werden. Aber auch ein Speditionskaufmann ist nicht dagegen gefeit, daß völlig unerwartete Probleme auftauchen, während die erwarteten sich in Luft auflösen. Erwartet hatte Herr Kurt Schlegelberger: das Problem um die Ernährung der Oma. Man hatte fünfmal Halbpension gebucht (für Carmen, erst zwölf, bekam man eine Ermäßigung): Frühstück und Abendessen. Mittags Konserven. Schwager Pointvogel hatte zwanzig Dosen Corned beef, vierzig Dosen halbfette Schlackwurst, hundert Päckchen Westfälischen Pumpernickel, acht Gläser Essiggurken und siebzig Dosen eingelegte Heringe (Hausfrauenart) günstig besorgt. Zum Transport mußte ein Dachträger angeschafft werden, der sich in der Gegend von Mantua löste, aber es gingen nur zwei Gurkengläser zu Bruch. Frau Schlegelberger hob die Gurken auf und rollte sie in ein Handtuch. »So? Konserven?« maulte die Oma, »und da soll ich vielleicht vierzehn Tag nichts Warmes zum Essen kriegen?« Aber sie bekam Warmes. Es war gar nicht schwer. Beim Abendessen paßte kein Kellner auf, ganz mühelos konnte Herr Schlegelberger einen Tel70
ler mit Beilagen – die beliebig nachgefaßt werden durften – durch die Büsche des Gartens schieben. Antschi ging hinaus, holte den Teller und brachte ihn der Oma nach oben. Wenn jeder von den Fünfen einen Streifen Fleisch abschnitt, bekam die Oma sogar einen Braten. Niemand merkte etwas. Als es einmal ein Gericht gab, das aussah wie gekochte, gerippte Regenwürmer, die leicht nach Essig rochen, bekam die Oma sogar mehr hinaufgebracht, als sie essen konnte. Es waren »saure Kutteln« gewesen, sagte die Oma begeistert, eine Jugenderinnerung. Beim Frühstück waren die Kellner so verschlafen, daß ohne weiteres mehrere Semmeln, Butterstückchen, Marmelade, sogar ganze Kannen Kaffee verschwinden konnten. Der Kaffee schmeckte Oma nicht. »Der reinste Aufguß von gebrannte Maikäfer«, sagte sie, »bestellt mir in Zukunft einen Tee.« »Sonst noch was«, murmelte Frau Schlegelberger. Problemlos waren auch das Verstecken der Oma vor dem Zimmermädchen sowie Omas Stuhlgang. Das Klo war am Flur gleich neben dem Zimmer 24, das Schlegelbergers bewohnten. »Das Glück meint es gut mit uns«, sagte Frau Schlegelberger. Niemand bemerkte etwas, wenn Oma nachts rasch hinaus- und hinüberschlüpfte. Unter Tag mußte sie eben ihren „eventuellen Drang verhalten. »Aber sie rennt ja daheim auch immer nur in der Nacht aufs Klo«, sagte Frau Gusti. Zimmer 25 bewohnten die Töchter und Schwager Pointvogel. Über den ganzen Stock hin zog sich ein Balkon, man konnte unschwer über die niedrige Unterteilung klettern. Das Zimmer71
mädchen machte immer großen Lärm mit ihren Schlüsseln und Kübeln und Besen. Wenn Oma das hörte, mußte sie, bevor das Zimmermädchen Zimmer 24 aufsperrte, über die Unterteilung klettern und in Zimmer 25 warten, dann – kam das Mädchen auf 25 – nach 24 zurück. Oma bekam mit der Zeit Übung. Trotzdem war die Oma nicht zufrieden. »Für was, frage ich mich«, so jammerte sie, »habe ich mir den Badeanzug gekauft, wenn ich die ganze Zeit nur im Zimmer sitz? Soll das vielleicht eine Erholung sein?« Also gut: am vierten Tag wurde Oma an den Strand geschmuggelt. Das mußte im Morgengrauen vor sich gehen, wenn der Nachtportier noch in seinem Verschlag vor sich hin döste. Das war nicht schwierig. Schwierig war die Oma selber. Sie zog ihren gelben Badeanzug an, darüber den Strandmantel. Auch Schlegelberger zog sich fluchend an. Dann schlichen sich die beiden hinunter, gingen über die Straße und zum Strand, der noch menschenleer war. »So, Oma«, sagte Schlegelberger und gähnte, »jetzt setz dich da in einen Liegestuhl und tu so, als wie wennst da her gehören tatst. Dann merkt niemand was.« »Aber du bleibst schon da bei mir?« »Aber Oma! Was soll ich denn am Strand um fünfe in der Früh?!« So saß die Oma am grauen Strand und beobachtete das graue Meer. Gegen neun Uhr kamen die ersten anderen Gäste. Um zehn Uhr wurde es heiß. Da kamen Schlegelbergers. Und da wollte die Oma wieder hinauf. »Das geht jetzt nicht, Oma«, sagte Frau Gusti, »da mußt schon 72
bis abends warten, bis wieder bloß der Nachtportier da ist.« So saß die Oma, wenn alle Gäste zum Abendessen gegangen waren, am einsamen Strand und wartete. Ein älterer Strandwärter kam und räumte die Sonnenschirme weg. Er sprach mit der Oma, aber die Oma verstand ihn nicht. Später entdeckte Antschi, daß man mit dem Lift in den Keller fahren und von dort aus durch den Raum, in dem die Mülltonnen standen, direkt auf eine kleine Seitenstraße hinaus gelangen konnte. Von dem Tag an durfte die Oma zu normalen Zeiten ans Meer. Das war also so ein Problem, mit dem sich der sonst problemversierte Speditionskaufmann Schlegelberger unerwartet konfrontiert gesehen hatte. Es war gelöst. Ein anderes Problem war das Geschlechtsleben. Die Oma schlief ja im gleichen Zimmer auf einer zum Glück vorhandenen Couch. Das notwendigste Bettzeug hatte man (auch auf dem Dachgepäckträger) vorsorglich mitgebracht. Ein Speditionskaufmann weiß Transporte zu planen. Die Oma schnarchte, ganz regelmäßig orgelte sie vor sich hin: »Chrrr – pftüt – chrrr – pftüt …« »Gusti?« flüsterte Schlegelberger und streckte seine Hand aus. »Nicht!« fauchte Frau Gusti, »die Oma!« »Die Oma schläft doch, hörst es nicht?« »Hör auf!« zischte Frau Gusti und schob Herrn Schlegelbergers Hand weg, »wenn die Oma im Zimmer ist.« »Die wacht doch nicht auf!« »Tu die Hand da weg!« sagte Frau Gusti. »Chrrr – pf … hast was g’sagt?« fragte die Oma schlaftrunken. »Siehst es«, flüstere Frau Gusti. An dem Tag, als die Oma um fünf Uhr an den Strand 73
gebracht worden war, lief Schlegelberger erwartungsfroh ins Zimmer zurück – aber Frau Gusti war nicht bereit. »Doch nicht in der Früh –«, sagte sie, »du Schweinigel.« Außerdem sei es schon zu hell. So mußte das Geschlechtsleben des Ehepaars Schlegelberger für die Zeit des Urlaubs ruhen, bis auf eine Ausnahme: etwa in der Hälfte der vierzehn Tage erklärte sich Schwager Pointvogel bereit, mit der Oma durch den Keller einen Mondscheinspaziergang zu machen. Da war es dann dunkel genug. Ein anderes Problem war Antschi. Während Carmen noch kindliche Ungeniertheit zeigte, machte Antschi fürchterliche Zicken. Sie zog sich in Gegenwart von Onkel Birschi nur aus, indem sie sich in den Vorhang wickelte. Dabei riß sie zwei Mal den Vorhang herunter. Als das das dritte Mal passierte, schritt die Mutter ein. »Spinnst du vielleicht? Sollen wir vielleicht denen ihren Vorhang zahlen?« »Ich zieh mich nicht vor dem Onkel Birschi aus.« »Herrschaftszeiten, ich möcht wissen, was an dir schon zum Sehen ist.« »Aber ich zieh mich nicht aus. Wo er eh immer so komisch herschaut.« »Schmarrn«, sagte Onkel Birschi. »Jedenfalls«, sagte Frau Gusti, »wenn du noch einmal den Vorhang herrunterreißt, dann hast du von mir eine Watschen.« »Dann geh ich zum Portier und sag, daß die Oma bei euch wohnt.« Frau Schlegelberger bekam einen Weinkrampf und verzichtete auf das Abendessen. Das war das einzige Mal, daß die Oma ein ganzes Stück Fleisch und auch einen Nachtisch bekam. 74
* Antschi und Carmen lagen den ganzen Tag über am Strand. Das Wetter war schön. Carmen spielte gelegentlich noch mit Sand. Antschi nahm schon ein Armband von einem Italiener an, der schwarz gelockt, aber nicht mehr so jung war, wie er auf den ersten Blick aussah. Im übrigen hatte Mama Schlegelberger ein Auge drauf. »Gegen ein bißchen Unterhaltung ist ja nichts zu sagen, aber für irgendwelche Erweiterungen hätte ich absolut kein Verständnis«, sagte sie, »der Papa auch nicht. Man kennt ja diese Itaker.« Antschi durfte nicht mit ins AdriaDancing gehen, wozu sie der Italiener eingeladen hatte. Antschi flennte. Der Italiener hieß Mario. Das Armband war, wie sich später herausstellte, eine Enttäuschung. Frau Gusti brachte es in München – ohne Antschis Wissen – zu einem Juwelier, um es schätzen zu lassen. Der Juwelier nahm es gar nicht erst in die Hand, spitzte nur den Mund und flötete: »Wenn sie so was schätzen lassen wollen, gnädige Frau, müssen Sie sich schon in einen Spielwarenladen verfügen, nicht zu einem Juwelier.« Frau Gusti wurde rot und verließ fluchtartig das Geschäft. Frau Gusti – am Strand – strickte. Schwager Birschi machte Strandspaziergänge. Er stocherte im Sand herum, suchte Muscheln, die er herzeigte, die aber niemanden interessierten; ab und zu ging er bis zum Zeitungskiosk ganz unten, wo die große Straße an die Strandpromenade stieß, und brachte die BILD-Zeitung von gestern mit. Die interessierte schon eher. 75
Papa Schlegelberger hielt sich meist im Zimmer auf. »Damit die Oma eine Gesellschaft hat.« In Wirklichkeit spähte er mit seinem Fernglas in die Fenster der Nachbarschaft. Sowohl Zimmer 24 als auch Zimmer 25 gingen in den Garten hinaus. (Anders wäre das mit der Kletterei von der Oma ja auch gar nicht gegangen, wenn das von der Straße aus zu sehen gewesen wäre.) Der Blickwinkel war unergiebig. Das nächste größere Haus war ein Altersheim. »Pfui Teufel«, sagte Herr Schlegelberger. Die Fenster eines nahegelegenen Hotels verdeckten hohe Büsche. Weiter hinten zog sich eine Lagerhalle hin. Die Häuser dahinter waren so weit weg, daß Schlegelberger selbst mit dem Fernglas nicht ausmachen konnte, ob der Mensch, der sich da auszog, eine Frau oder nicht doch nur ein Mann war. Spätabends ging Schlegelberger an den Strand und schaute, getarnt hinter Badehäuschen oder Stapeln von Liegestühlen, in die Fenster des eigenen Hotels. Am meisten hätte ihn eine Blondine aus Bottrop interessiert, Frau Wetzlar, deren pneumatischer Leib – allerdings in einen, wenngleich knappen, Bikini gezwängt – am Strand zu bewundern war. Sie logierte auf Zimmer 37. Sie zog auch nie die Vorhänge zu, aber: Zimmer 37 lag im dritten Stock, der Winkel war zu ungünstig. Herr Schlegelberger sah nur das Blondhaar, wenn sie das Kleid über den Kopf zog. Um den Winkel flacher zu bekommen, ging Schlegelberger ganz hinaus – es half nichts. Er ging sogar ins Wasser bis an die Hüften. Der Winkel war immer noch zu steil. Nur ein einziges Mal ging Herr Wetzlar völlig nackt kurz auf den Balkon, um die Badesachen aufzuhängen. 76
* Der Vorschlag, einen Ausflug ins Landesinnere zu machen, kam von Birschi. Antschi raunzte: sie wolle lieber am Strand liegen. Carmen meinte: da werde ihr bestimmt schlecht bei den engen, kurvigen Straßen. Die Oma jaulte: »Aber möcht ich fei schon mitfahren, wenn ich mich sonst schon immer verstecken muß.« Herr Schlegelberger sagte: »Daß mir ja keine Kirche angeschaut wird. Das hab ich gestrichen, noch von die Schulausflüge her.« »Das geht ja gut an«, sagte Frau Gusti. Das war an einem Samstag. Die Oma wurde durch den Keller ins Freie geschmuggelt und angewiesen, an der Ecke vorn zu warten, aber so, daß man sie vom Hotel aus nicht sieht. Beim Hinausfahren aus der engen Ausfahrt schrammte Schlegelberger an einen Mauervorsprung. Er bekam einen Tobsuchtsanfall. Er schimpfte auf die Italiener. »Das ist doch das Letzte. So ein Mauervorsprung. Völlig ohne Sinn. Das Letzte. Das Hinterletzte.« Er überfuhr, weil er vor Schimpfen nicht achtgab, eine rote Ampel. Fast wäre ein Unfall passiert. Ein Italiener – der mit seinem Auto Grün gehabt hatte – hupte wie verrückt, bremste, wich aus. »Blöder Makkaroni!« schrie Schlegelberger. Auch der Italiener schrie. Etwa nach hundert Metern kamen die Carabinieri mit Blaulicht und hielten Schlegelberger auf. Er japste. Der Carabiniere stellte ein Strafmandat aus. Schlegelberger schnaufte: »Wenn die meinen, daß ich mir als Deutscher etwas gefallen lasse, dann … dann …« Der Carabiniere hielt Schlegelberger 77
den Zettel unter die Nase. Schlegelberger sprang aus seinem Auto, zeigte dem Carabiniere die frische Schramme und schrie: »Und wer zahlt das? He?! Wer zahlt das?« »Um Gottes willen«, sagte die Oma, »der Polizist schaut schon so merkwürdig. Die sperren ihn noch ein. Wie kommen wir dann heim, wo keiner von uns Auto fahren kann.« Frau Schlegelberger zischte ihrem Mann zu: »Halt doch deinen Mund, wo dich der eh nicht versteht.« Sie kramte einen größeren Schein aus der Handtasche und gab ihn dem Carabiniere. Der salutierte und ging. »Das war das Mittagessen gewesen«, sagte Frau Schlegelberger später dann im Auto und blies verächtlich die schon recht heiße Luft von sich. Sie fuhren eine Stunde. Sie fuhren auf die Hügel hinauf. Ein Aussichtspunkt. Oma setzte sich auf ein Mäuerchen. Schwager Birschi betrachtete das Meer. »Wenn es nicht so dunstig wäre«, sagte er, »könnte man bis Venedig sehen.« »Ja und?« brummte Antschi. »Da ist ein Segelschiff!« rief Carmen. Frau Schlegelberger mußte hinter einen Busch: »Aber paßts auf, daß niemand kommt.« Herr Schlegelberger hatte nur Augen für die Schramme an seinem Auto. »Kann ich einmal das Fernglas haben?« fragte die Oma. Man gab es ihr. »Ich seh nix.« »Du mußt es andersrum halten.« Sie fuhren noch eine Stunde. Ein Olivenhain. »Ein Biergarten wär’ mir jetzt lieber«, sagte Birschi. Herr Schlegelberger saß auf einem Stein und fixierte die Schramme. Jetzt mußte Oma hinter einen Busch. Nach einiger Zeit gellte ein Schrei. Oma hatte sich in ihren Kleider verheddert und war mitten in der Verrichtung einen kleinen 78
Abhang hinuntergerollt. Frau Schlegelberger und Antschi liefen hinunter. »Halt dich wenigstens ruhig!« schrie Antschi. »Wennst so zappelst, geht’s überhaupt nicht!« schrie Frau Gusti. Oma weinte: »Ich glaub’, ich hab’ mir das Knie verrenkt.« »Schmarrn«, sagte Schwager Birschi. Herr Schlegelberger wandte keinen Blick von der Schramme. »Hoffentlich gibt’s den Lack noch original«, brummte er, »aber natürlich sticht das dann doch vom übrigen ab. Womöglich muß man den ganzen Kotflügel spritzen.« Sie fuhren noch eine Stunde. Schwager Birsehi studierte die Landkarte. »Wir kehren im Bogen von Norden zurück«, sagte er. »Norden ist da«, sagte Herr Schlegelberger. »Nein, Norden ist da«, sagte Birschi. »Wer ist Speditionskaufmann, du oder ich?« sagte Herr Schlegelberger. »Bitte«, sagte Birschi, »wenn du es besser weißt«, und gab seinem Schwager die Karte. Herr Schlegelberger drehte die Karte hin und her, befahl: »Einsteigen!«, klemmte sich hinters Steuer, machte ein wissendes Gesicht und fuhr los. »Daß wir aber rechtzeitig zurück sind!« sagte Birschi. »Blödsinn«, sagte Frau Gusti, »ich möcht wissen, was man an sowas finden kann. Und die Weiber, die sich für so was hergeben! Ich tat so ordinäre Personen nicht eines Blickes würdigen.« »Aber wir«, feixte Birschi. Frau Gusti schüttelte den Kopf und schaute seitwärts zum Fenster hinaus. »Wegen mir braucht so was Dummes gar nicht veranstaltet werden«, brummte sie nach einiger Zeit. »Aber wegen uns«, sagte Herr Schlegelberger und zeigte 79
für einen Moment – das erstemal seit der Abfahrt – einen Anflug von guter Laune. Es handelte sich um die Wahl der Miss Rimini, die an dem betreffenden Abend stattfinden sollte. Seit einigen Tagen hingen überall Plakate: 9 Uhr abends im Grand Hotel; melden konnte sich jede Touristin, sofern sie in einem Hotel, einer Hotel-Pension, einer Pension oder Privatunterkunft in Rimini, San Giuliano al Mare, Bellariva Rivabella, Covignano, Viserba oder Torre Pedrera wohnte und offiziell als Kurgast gemeldet war. Mario hatte Antschi bereden wollen, daß sie sich melde, und Antschi war nah daran, sich nicht abgeneigt zu zeigen, da entdeckte Onkel Birschi auf dem Plakat, das an der Rezeption im Bellavista hing, den Vermerk: ab 18 Jahren. Antschi war erst 15. Mario erklärte sich zwar bereit, das durch seine Beziehungen zu regeln, aber nun sagte Mutti Schlegelberger kategorisch: »Nein«, und dabei blieb es. Im Grunde genommen war es Antschi ohnedies lieber. Man war rechtzeitig zurück. Nach dem Abendessen zogen sich Schlegelberger und Schwager Pointvogel um. Schlegelberger zog seine leichte, reverslose Jacke an (auf nur einen Knopf gearbeitet), dazu das Hawaii-Hemd, und steckte ein Taschentuch in die kleine obere Tasche seiner Jacke. Pointvogel trug einen Sommeranzug in Khaki und ein gleichfarbenes Hemd, ein sogenanntes praktisches Hemd, weil die Krawatte gleich an den Kragen genäht war: für den einarmigen Pointvogel ohne Zweifel eine Erleichterung. Beide Herren wählten Sandalen zum Anzug. 80
Aber auch Frau Gusti zog sich um: das großgeblümte Schneiderkostüm und die Bluse mit der großen Schleife seitlich rechts vom Hals. »Wieso ziehst du dich um?« fragte Herr Schlegelberger, »ich dachte, du interessierst dich für so was nicht?« »Jaja!« sagte Frau Gusti, »das tät euch passen, da allein hingehen.« Sie drehte sich dann noch die Haare ein wenig ein, schickte die Töchter ins Fernsehzimmer hinunter, nahm ihnen das Versprechen ab: »Spätestens um halb zehn gehts ihr ins Bett!«, und dann marschierte man los. Die Töchter gingen wirklich schon um halb zehn ins Bett, denn das Fernsehen war ja auf italienisch und auf die Dauer daher zu langweilig. Die Mißwahl fand im Garten des Grand Hotel statt. Eine Bühne war aufgebaut, bunte Lampions umrahmten den Aufbau, auch über den Tischen hingen Lampions. Eine Kapelle spielte Andare – volare und Arrividerci Roma, der Eintritt kostete mehr als erwartet, auch war Konsumationszwang. »Aha«, zischte Frau Gusti, »da ist dir nichts zuviel, aber wenn die Kinder ein Cola wollen –« »Halt’s Maul«, zischte Herr Schlegelberger. Er bestellte einen Asti Spumante. »Haben wir denn überhaupt noch genug Geld fürs Benzin zum Zurückfahren?« fragte Frau Gusti spitz. »Ein Speditionskaufmann«, sagte Schlegelberger, »weiß zu kalkulieren.« »Das Gefühl hab’ ich nicht immer, wenn ich an den Zahlungsbefehl wegen die Teppichraten denke.« »Prost«, sagte Schlegelberger. »Prost«, sagte Birschi und nippte: »Hm«, sagte er dann, »sehr lieblich.« Aber Herrn Schlegelberger schmeckte der 81
Asti Spumante. »Trinkts nicht zu schnell«, sagte Frau Gusti, »sonst bringt der sofort eine zweite Flasche.« Die Touristinnen zogen auf. Ein Gaudibursche im weißen Smoking begrüßte in öligem Italienisch-Deutsch die Gäste, stellte die Jury vor (der Bürgermeister, die Frau des Fremdenverkehrsdirektors, der Direktor vom Grand Hotel usw.) und erklärte dann, daß die anwesenden zweiundzwanzig Grazien bereits eine Vorauswahl passiert hätten, denn insgesamt hätten sich über zweihundert gemeldet, was für die Veranstaltung zu viel gewesen sei. »Wie haben dann die anderen ausg’schaut!« maulte Frau Gusti. »Du wärst nicht durch die Vorauswahl gekommen«, sagte Herr Schlegelberger. Die so vorsortierten Grazien stakten dann mehrmals über die Bühne, einmal im Abendkleid, einmal im Straßenkleid, zum Schluß im Badeanzug. In der Hand trugen sie große Nummern. Frau Wetzlar hatte die Nummer 17. »Klatschts!« schrie Schlegelberger, »klatschts! Die ist von unserem Hotel!« Es gab nämlich – und das hatte der Ölige auseinandergesetzt – zwei Wertungskriterien: einerseits das Votum der Jury, anderseits die Stärke des Beifalls. (Wie allerdings gemessen würde, sagte er nicht.) Zwischen den einzelnen Durchgängen und vor der Bekanntgabe des Ergebnisses wurde Unterhaltungsprogramm geboten: einer, der auf einem einrädrigen Fahrrad Kunststücke zeigte, eine Jongleursfamilie, ein Feuerschlucker und eine Schleiertänzerin. »Auweh«, sagte Onkel Birschi beim Anblick der Tänzerin, »die hat schon jahrzehntelange Erfahrung im Schleiertanz.« Miss Rimi82
ni wurde eine gewisse Uschi Boskowetz aus Darmstadt, Gast des Grand Hotels. »Offensichtlich Schiebung«, empörte sich Herr Schlegelberger, »logisch: Gast des Grand Hotels! Schiebung!« schrie er. Auch andere waren dieser Meinung. Herr Schlegelberger beugte sich zurück und redete zu einem Herrn am anderen Tisch hinüber: »Der Beifall bei dieser Habergeiß war deutlich schwächer.« »Sehr richtig«, sagte der Herr. »Schiebung!« brüllte auch Birschi. »Die Nummer 17!« sagte Herr Schlegelberger, »die hat deutlich den meisten Beifall gehabt.« »Wenn die Damen ganz zum Schluß noch nackt gekommen wären«, sagte der Herr vom Nebentisch, »dann hätte Nummer 4 gewonnen. Ich kenne meine Pappenheimer. Ich arbeite in Mieder en gros.« »Schiebung!« schrie Birschi, sprang auf und fuchtelte mit seinem einen Arm. Den Öligen focht der Tumult nicht an, der sich dann auch allmählich legte. Fräulein Boskowetz wurde mit einer Schärpe geziert, bekam einen Blumenstrauß und durfte sich auf einen aus Draht gebogenen Thron setzen. »Einen Moment«, sagte Frau Schlegelberger ernst. »Ja?« »Wo ist denn die Oma?« fragte Frau Schlegelberger. Kurt Schlegelberger, liebender Sohn und Speditionskaufmann, saß zunächst da wie vom Schlag gerührt. Er hatte den Mund leicht geöffnet und starrte seitlich an Frau Gusti vorbei ins Nichts. Auch Frau Gusti packte, allerdings nicht so schlagartig, sondern mehr schleichend, das Entsetzen. »Von den Zehen aufwärts, wie wenn kaltes Wasser aufsteigen würde«, sagte sie später. 83
Nur Schwager Birschi behielt die volle Fassung. Er war ja auch nicht so nah verwandt mit der Oma. »Es ist mir doch bei der Rückfahrt so vorgekommen«, sagte er, »so irgendwie vorgekommen – jetzt dämmert’s mir: es war ja mehr Platz im Auto als vorher.« Als sich das lähmende Entsetzen löste, zahlte Herr Schlegelberger, die drei eilten ins Hotel. Eine vage, natürlich unsinnige Hoffnung: die Oma könne auf dem Zimmer sein. War nicht. »Wir müssen sie suchen«, entschied Schlegelberger, »da hilft alles nichts.« Die Töchter wurden geweckt. Man überlegte gemeinsam, wo die Oma zurückgeblieben war. Es mußte dort gewesen sein, wo man die Landkarte studiert hatte, wo die Meinungsverschiedenheit aufgetaucht war darüber, wo Norden ist. Carmen wußte es: da war die Oma ein wenig in einen Feldweg hineingegangen, weil sie glaubte, dort einen lieben, kleinen Hund bellen gehört zu haben. »Findest du das noch?« fragte Birschi. Schlegelberger schaute hilflos. »Es bleibt uns nichts anderes übrig«, sagte Frau Gusti. »Und noch dazu mitten in der Nacht!«
* Es war unmöglich, die Stelle zu finden; man war sich ja sogar uneinig darüber, ob das nördlich oder südlich der Stadt war. Sie kurvten durch die Gegend. Die Scheinwerfer holten Ölbäume, steinerne Zäune, einsame Gehöfte, schläfrige Kühe aus der Finsternis heraus für einen kurzen Moment. Mehrmals schrie Frau Gusti auf, denn 84
sie meinte eine Stelle erkannt zu haben, an die sie sich erinnerte. Es war lang nach Mitternacht. »Jetzt rechts!« schrie Birschi, »ich bin ganz sicher!« Schlegelberger riß das Steuer herum, fuhr nach rechts. Die Straße wurde enger, der Asphalt hörte auf, der Weg wurde steinig, steile Ränder. »Das ist es auf keinen Fall, so wo waren wir nicht«, fauchte Herr Schlegelberger. Umkehren ging nicht, Schlegelberger mußte zurückstoßen – mehrere hundert Meter. Rückwärtsfahren war nicht seine Stärke; mehrmals geriet er an den Abhang hin. Einmal mußten Frau Gusti und Birschi schieben, weil die Räder durchdrehten. Endlich kam eine breitere Stelle, und Schlegelberger konnte wenden. Über dem Meer dämmerte es bereits. »Es hat keinen Zweck«, sagte Schlegelberger. Sie fuhren abwärts. Wenigstens stand hier ein Wegweiser: Rimini 15 km. In der nächsten Kurve ging das Benzin aus. Schlegelberger hatte in der Aufregung nicht auf die Benzinuhr geachtet, und man war ja gestern den ganzen Tag gefahren und in der Nacht wie die Narren durch die Gegend gerast. Schlegelberger ließ das Auto rollen, solang die Straße abwärts ging, lenkte dann unten an den Straßenrand. Dort stand ein Schild: Rimini 14 km. »Das macht das Kraut auch nicht mehr fett«, sagte Schlegelberger. Frau Gusti schluchzte ganz leise vor sich hin. Schlegelberger drehte sich um zu seinem Schwager und wollte etwas sagen – da sah er im ersten kühlen Morgenlicht, das ins Auto drang, daß Birschi dasaß, den Mund aufgesperrt hatte und schlief. »Das ist die Höhe«, sagte Schlegelberger, war aber zu müde, um sich noch aufzuregen. 85
* Es war kurz nach drei Uhr. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. »Haben wir wenigstens einen Kanister dabei?« fragte der wiedererwachte Birschi, »falls vielleicht doch eine Tankstelle offen hat?« Nein, hatten sie nicht. Der Kanister war zugunsten anderen Gepäcks in München zurückgeblieben. Die ersten Schwalben flogen hoch über den Bäumen. Schlegelberger sperrte das Auto ab, die drei bewegten sich schlapp in Richtung Rimini. »Da ist sicher eine Tankstelle irgendwo«, sagte Frau Gusti. »Irgendwo schon, aber wo? Und eine, die um drei in der Nacht offen hat und einen Kanister verleiht«, sagte Schlegelberger. »Rennts nicht so, ich komm’ nicht nach«, jammerte Frau Gusti. Birschi entwarf Horrorvisionen: wenn die Oma die ganzen restlichen Tage – also noch fünf – nicht mehr auftauchen würde? Suchanzeige? Polizei? Und alles auf italienisch? Den deutschen Konsul verständigen? Wo ist der? Daß dabei zwangsläufig aufkommen würde, daß die Oma nicht ordnungsgemäß als Gast gemeldet war, wäre das wenigste. Wenn sich die Oma in ihrer Verzweiflung selber auf den Heimweg gemacht hätte? Ins Hotel? Noch schlimmer: nach München? Ohne Paß, ohne Geld? Und wenn ihr – man hört so viel von der Kriminalität in Italien … und man findet später die Leiche … »Mir wird ganz schlecht«, sagte Herr Schlegelberger. »Und dann probier, das Ganze der Polizei zu erklären. Ob die das glaubt?« »Also ich werde doch meine eigene Mutter nicht 86
umbringen!« »Ist alles schon vorgekommen.« »Aber ihr seids doch Zeugen«, jammerte Schlegelberger. »So eine saudumme Geschichte«, flüsterte Frau Gusti, »und keine Tankstelle zu sehen.« Die Sonne ging auf. Das Sonnenschwert im irisierenden Meer züngelte bis zum Strand. Die Hähne krähten. »Ich kann nicht mehr so schnell«, ächzte Frau Gusti. »Wer weiß«, sagte Birschi, »womöglich ist auch schon allein die Aussetzung hilfloser Personen strafbar.« »Aber wir haben s’ doch nicht absichtlich ausgesetzt.« »Fahrlässige Aussetzung hilfloser Personen!« sagte Birschi streng. »Ich war von Anfang an dagegen, daß die Oma mitfährt«, jammerte Frau Gusti. Birschi reckte den Finger in die Höhe: »Halt!« »Was ist?« »Ein Geräusch –!« Tatsächlich: ein Tuckern näherte sich, wurde lauter. Die Rettung? Von hinten kam ein wackeliges, dreirädriges Gefährt, mit Salatköpfen beladen, im einsitzigen Führerhaus, wenn man so sagen kann, saß ein älterer Mann, wahrscheinlich ein Bauer, der zum Markt fuhr. Der merkte natürlich beim Anblick dieser Jammergestalten, daß da etwas nicht in Ordnung war. Er fragte. Man verstand ihn nicht. Durch Deuten bat Schlegelberger: ob der Bauer nicht die Frau mitnehmen könne. Der stieg aus, drückte die Salatköpfe etwas zur Seite, und Frau Schlegelberger – immer noch im Schneiderkostüm und am Hals seitlich gebundener Bluse, jetzt zerknittert – setzte sich auf die Ladefläche. Der Motor ratterte auf, der Dreirädler schaukelte davon. Frau Schlegelberger hielt sich krampfhaft am Führerhäuschen fest. »Hof87
fentlich fährt der auch nach Rimini«, sagte Schlegelberger, als das Gefährt um die nächste Kurve verschwand. »Wo soll er sonst hinfahren?« sagte Birschi, »aber eins: hast du dir eingeprägt, wo das Auto steht?« »Wo 14 km steht.« »Das steht wahrscheinlich öfters wo. Wir müssen uns jede Abzweigung genau einprägen. Und die Ortsnamen. Besser aufschreiben. Hast du was zum Schreiben dabei?« »Nein.« »Ich auch nicht«, sagte Schwager Birschi kleinlaut.
* Gegen halb fünf kamen sie in ein Dorf, eher – in den Augen Schlegelbergers – ein elendes Nest, das Toberina oder so ähnlich hieß. »Da ist am Tag schon nichts los«, maulte er. Er setzte sich auf eine Bank, die vor einem Haus stand, in dem offensichtlich eine Schreinerei war, denn es standen Bretterstapel herum, halbfertige Türstöcke, und es roch nach Holz. Auch Birschi setzte sich. »Irgendwann«, sagte Schlegelberger, »fangen die ja vielleicht zu arbeiten an. Dann können wir fragen. Taxi werden sie ja verstehen …« »Nein«, sagte Birschi. »Was: nein?« »Heute arbeiten sie nicht. Gestern war doch Samstag. Dann ist heut Sonntag.« Herr Schlegelberger wollte, um es sich bequemer zu machen, die Beine übereinanderschlagen. Da bemerkte er, daß sein linker Fuß nicht vom Fleck ging. Er war in eine Leimlache getreten. »Die muß im Moment, wo du hineingetreten bist, quasi abgebunden haben«, sagte Birschi, der den Sachverhalt vorsichtig untersuchte, »hart 88
wie Zement.« Schlegelberger packte die Wut. Er riß den Fuß hoch – und die Sandale war geteilt: die Sohle klebte am Boden, das Oberteil umfing noch den Fuß. »Jetzt haben wir’s endgültig«, sagte Schlegelberger. Jede Bedrängnis hat einen Tiefpunkt, von da an kann es dann nur noch aufwärtsgehen. Der Moment mit dem Leim war hier dieser Tiefpunkt. »Die Sandalen kannst vergessen«, sagte Birschi, »am besten gehst gleich barfuß, damit die Socken nicht auch noch kaputtgehen.« Wortlos warf Schlegelberger die verbliebenen anderthalb Sandalen auf einen Abfallhaufen, steckte die Socken in die Tasche. Aber dann kamen Lichtblicke: der Pfarrmesner, der sogar ein wenig Deutsch radebrechte, hatte gleichzeitig eine Tankstelle. Er war auch schon auf. Nur mußten Schlegelberger und Birschi der Frühmesse beiwohnen, weil der Mesner ministrierte und erst nachher Zeit hatte. Schlegelberger geriet in eine weinerliche Stimmung, als er in der kleinen Kirche kniete. (Außer den zweien waren nur drei, vier alte Frauen in der Kirche, die alle immer wieder ihre Andacht unterbrachen und auf Schlegelbergers bloße Füße herschauten.) »Wenn wir die Oma wiederfinden«, wimmerte er, »dann geh’ ich wieder in die Kirche. Öfters.« Nach der Messe holte der Mesner einen Kanister, füllte ihn, und dann fuhr er die beiden Gestrandeten mit seinem Auto zu Schlegelbergers Auto hin, füllte sogar das Benzin ein. Als sie dann beim Mesner volltankten, berechnete der zwar den Kanister voll Benzin, nicht aber seine Fahrt. »Höchst anständig«, sagte Birschi. Der Mesner zeichnete 89
dann sogar noch den Weg nach Rimini auf. Kurz nach sechs waren Schlegelberger und Birschi am Hotel. Frau Gusti lag im Bett, schlief aber nicht. »Ist die Oma da?« »Nein.« »Was machen wir jetzt?« »Ich weiß auch nicht. Wo hast du denn deine Sandalen?« »Die hat er«, sagte Birschi, »als Votivgabe dem heiligen Antonius geopfert.« Aber Schlegelbergers waren nicht zu Scherzen aufgelegt.
* Das Frühstück wurde in gedrückter Atmosphäre eingenommen. »Wir können nichts anderes tun als warten«, sagte Birschi. »Aber man kann doch die Oma nicht irgendwo sitzenlassen, irgendwo«, sagte Antschi. »Wenn wir wüßten wo«, sagte Frau Gusti. »Vielleicht tät ich’s wiederfinden, wenn ich mitfahr’?« sagte Carmen. »Vielleicht! Vielleicht!« schnaubte Herr Schlegelberger, »ich kann nicht noch einmal ins Blaue hinein so viel Benzin verfahren, respektive Geld. Wir müssen ja heim auch noch.« »Willst du deine Mutter einsam in Italien zurücklassen?« fragte Birschi. »Einen Moment!« rief Frau Gusti und legte die Semmel, in die sie eben beißen wollte, wieder auf den Teller, »die Oma ist womöglich längst zurückgekommen! Und traut sich nicht ins Hotel. Die sitzt unten am Strand!« Alle stürzten hinaus, über die Straße, an den noch leeren Strand: aber nichts. Die Oma war nicht da. Betreten kehrte man zum Frühstückstisch zurück. Der Anruf vom deutschen Konsulat in Mailand kam am Spätnachmittag: Frau Olga Schlegelberger sei in Ve90
nedig gefunden worden. Gegen Mitternacht mit dem letzten Zug kam die Oma in Rimini an. Herr Schlegelberger holte sie am Bahnhof ab und brachte sie zurück ins Hotel. (Um die Zeit döste in der Loge schon der Nachtportier.) Wo die Oma überall gewesen war, bekam man nie richtig heraus. Offenbar wollte sie es zwar erzählen, konnte es aber nicht. Sie weinte viel und schlief nicht mehr gut. Sicher war soviel, daß sie im Lauf der sechsunddreißig Stunden irgendwie nach Venedig gekommen sein mußte. Sie erzählte etwas von einer Omnibusfahrt und von einem netten Polizisten. Anderseits kam später heraus, daß die Oma, scheint’s, für kurze Zeit auch eingesperrt gewesen war. Auch von einer Ziege (später: von mehreren Ziegen) redete sie, die sie hüten hätte müssen, und davon, daß sie mit einer Nonne auf dem Fahrrad gefahren sei. Es wurde nie klar, wie weit sich Omas Schreckphantasien mit der Wirklichkeit ihrer Erlebnisse mischten. Das alles wäre auch mit detektivischen Nachforschungen wohl nicht mehr herauszubekommen gewesen. Wenn Schlegelbergers nachgefragt hätten – sie fragten aber nicht nach –, hätten sie erfahren, daß ein junges italienisches Ehepaar, dessen Namen mit Cavallini notiert wurde, die Oma in Venedig am Städtischen Fremdenverkehrsamt abgeliefert hatte. Ein Beamter mit Namen Noverani verständigte, da er diagnostizierte: die sichtlich entlaufene Dame spricht deutsch, das schweizerische Konsulat. (Ein deutsches oder österreichisches Konsulat gab es damals in Venedig nicht.) Der eidgenössische Konsulatsangestellte Fringeli war der erste, der mit der Oma wieder in ihrer 91
Muttersprache redete. Da versuchte aber die Oma schon das zu reden, was sie für Italienisch hielt. Immerfort brach sie in Tränen aus. Dennoch erkannte Herr Fringeli nach kurzer Unterhaltung haarscharf, daß es sich bei der hilflosen Person um eine Bundesdeutsche handelte, und telephonierte mit dem deutschen Konsulat in Mailand. Frau Olga Schlegelberger wußte inzwischen wieder ihren Namen, was dem deutschen Beamten, der am Telephon blieb, während Herr Fringeli weiter verhörte, stark erleichterte, auch wußte Oma: Hotel Bellavista. Wo? Das wußte Oma nicht. Nach Einschaltung der Camera di Comericio war festzustellen, daß es im Bereich der Küstenorte zwischen Triest und Ancona (von weiter südlich wird die Dame, schloß der Angestellte der Handelskammer richtig, wohl nicht gekommen sein) achtundsechzig Hotels, Hotel-Pensionen und Pensionen mit Namen Bellavista gab. Herr Fringeli begann auf inständiges Flehen des Deutschen in Mailand – »Sie sind näher dran, Herr Kollege, ich bitte Sie!« – zu telephonieren. Schon beim achtundzwanzigsten Anruf wurde er fündig. »Rimini! Richtig, Rimini!« sagte die Oma. Gegen Quittung bekam sie von Herrn Fringeli eine Fahrkarte nach Rimini und etwas Geld. (Nach kurzer und unbürokratischer Abmachung mit dem deutschen Konsulat: wird von dort ersetzt.) Der Hausknecht des Schweizer Konsulats brachte die Oma zum Bahnhof.
* 92
Für den Rest der Zeit in Rimini blieb die Oma im Zimmer und hielt sich, selbst während sie aß, am Bett fest. Immer wieder weinte sie. Da sie sich fortan weigerte, über die Zwischenbalustrade zu steigen, entdeckte sie das Zimmermädchen. Der Pensionspreis mußte nachbezahlt werden. »Nichts wie Scherereien mit den Itakern«, schimpfte Herr Schlegelberger. Das Geld reichte nicht mehr. Zum Glück hatte Birschi Pointvogel eine eiserne Reserve dabei. »Typisch«, flüsterte Schlegelberger später, »hätte natürlich kein Wort davon gesagt. Der Knicker.« Mit dem letzten Tropfen Benzin kam man nach München. Die Oma hielt sich auch in München immer am Bett fest. Nach zwei Monaten mußte sie in eine Heilanstalt gebracht werden. Auch dort hielt sie sich am Bett fest. Mit den Pflegern redete sie italienisch. Übers Jahr starb sie. »Im Grunde genommen ist es eine Erlösung für sie«, sagte Frau Gusti bei der Beerdigung.
HAUSMEISTER HÜBL 1. Betrifft: Hausmeister Hübl Günther Werte Hausverwaltung! Als drei Mieter des geschätzten Anwesens Steinbergerstraße 4 bzw. 4a erlauben wir uns höflichst darauf hinzuweisen, daß schon wieder, wie schon vielfach in den letzten Monaten, die Mülltonnen nicht geleert sind, was, wie Sie wissen dürften, die Aufgabe des Herrn Hausmeisters Hübl Günther ist bzw. sein sollte. Aber er leert sie nicht bzw. läßt es seine Frau tun, welche dazu aber nicht in der Lage ist, da hochschwanger. Das ist, wenn wir uns den Ausdruck erlauben dürfen, ein Saustall. Die Mülltonnen quellen über. Der Herr Hausmeister Hübl Günther brauchte nur die Mülltonnen aus dem Tonnenraum der Anwesen 4 und 4a, was eigentlich seine Dienstpflicht ist und wofür er, wie Sie, geschätzte Hausverwaltung, am besten wissen dürften, bezahlt wird, vorn an die Straße zu stellen, wo die wöchentliche Müllabfuhr sie entleert, welche sehr pünktlich ist, nicht aber der Hausmeister. Nunmehr sind die Mülltonnen schon drei Wochen nicht mehr geleert worden resp. von Herrn Hausmeister Hübl Günther nicht mehr aus dem Tonnenraum nach vorn an die Straße gebracht worden und quellen daher naturgemäß über. Die 95
hygienischen Zustände sind in diesem Sinn kein Zustand mehr. Die Frau Hübl tut uns leid, da hochschwanger. Wir bitten um baldige Abhilfe bzw. Abstellung dieser Zustände. Der Herr Hübl wird ja nicht meinen, daß die Mieter selber die Mülltonnen nach vorn tragen sollen, wo er dafür bezahlt wird und die Mieter pünktlich ihre Miete entrichten. Den Wasserhahn von Frau Hirnkofer im vierten Stock hat er auch noch immer nicht gerichtet. Wir bitten höfl. um Abhilfe. Hochachtungsvoll: Braun Gottlieb, Buchhalter a. D. und ehemaliger Schöffe Bruno Kontoraski, nebst Familie Frau Hirnkofer, Witwe
2. »– und 12 Eier und einen Liter H-Milch …«, die Kassiererin tippte auf die Kasse. Früher klingelten Kassen, heute pfeifen sie. Die Kassiererin trug Handschuhe, an denen die Finger abgeschnitten waren. Wegen der zum Teil verderblichen Waren, die in einem Supermarkt frei herumliegen, darf die Temperatur nicht zu hoch sein. Aber man gewöhnt sich an alles. »Und dann nehm’ ich noch die vier Tafeln Schokolad’ mit«, sagte Frau Hirnkofer. »– und vier Tafeln Schoko …«, tippte die Kassiererin, 96
»… Sonderangebot der Woche … Ist das dann alles, Frau Hirnkofer?« Die Tafeln Schokolade, immer vier verschiedene mit Tesaf ilm zu einem Block zusammengeklebt, lagen in einem großen runden Korb neben der Kasse. »Markenschokolade«, sagte die Kassiererin, »trotzdem besonders preisgünstig.« »Das ist dann alles«, sagte Frau Hirnkofer. Die Kassiererin tippte auf Summe, die Kasse gab einen langen Pfeifton von sich. Aus einem Schlitz rollte die Quittung, in eine Plastikschale klirrte das Wechselgeld. »Früher«, sagte die Kassiererin, »haben S’ immer zum Schluß noch die Stumpen für’n Herrn Gemahl mitgenommen –« »Ja, ja«, sagte Frau Hirnkofer und packte ihren Einkauf in eine rot-gelb-weißgestreifte Tasche mit der rätselhaften Aufschrift »Schrei, wenn du nicht kannst!« Diese Taschen, die aus einem Material waren, daß man sie ganz klein zusammenlegen kann, waren auch einmal im Sonderangebot gewesen. Das war mehrere Monate her. »Wie lang ist der Herr Gemahl …«, sagte die Kassiererin, »ich meine, wie lang ist das jetzt her, daß …« »Drei Jahr’«, sagte Frau Hirnkofer. »Ja mei«, sagte die Kassiererin, »die Zeit vergeht. Das Leben muß weitergehen.« Frau Hirnkofer nahm immer die rot-gelb-weißgestreifte Tasche mit, dann brauchte sie keine Plastiktüte vom Supermarkt, für die zehn Pfennig extra berechnet werden. »Leider – zehn Pfennig – als Schutzgebühr quasi. Den Chef 97
kosten sie ohnedies 12,5 Pfennige das Stück.« »Das Leben geht weiter«, sagte Frau Hirnkofer, »drei Jahre. Naja, wissen Sie: zum Schluß war’s nur noch Quälerei. Acht Monate im Krankenhaus. Ich geh’ oft aufs Grab. Er hat ein sehr schönes Grab. Leider ist es nicht genehmigt worden, daß der Kanari dann später auch dort beerdigt worden war’. Obwohl: so ein winziges Vieh – ein Kanari. Als wie wenn das der Friedhofsverwaltung was ausmachen würde. Hansi hat er geheißen, der Kanari. Alle Kanari, die mein Mann, der Herr Hirnkofer selig, gehabt hat, haben Hansi geheißen. Ich hab’ dann keinen mehr angeschafft, wie der letzte gestorben ist, der letzte Hansi. Ich selber mach’ mir nichts aus Kanari, aber mein Mann, dem seine ganze Freud’ waren s’ halt, speziell nach der Pensionierung.« Im Supermarkt war nicht viel los am Dienstag um halb elf Uhr vormittags. Die Kassiererin zog die Handschuhe mit den abgeschnittenen Fingern aus und rieb sich die Hände. »Trotzdem ist es nicht gestattet worden, daß der letzte Hansi im Grab von meinem Mann beerdigt wird. Die Vorschriften sind so, hat die Friedhofsverwaltung gesagt. Da kann man eben nichts machen. So hab’ ich halt den Hansi im Topf von der großen Clivia beerdigt. Ich bin mehr Blumenfreundin, nicht so sehr für Kanari. Eher für Blumen. Aber sonst ist es ein schönes Gab. Ich komm’ auch hinein. Es ist zugelassen für zwei Erwachsene. Das hat mein Mann selig noch vor seinem Tod gesagt, daß ich ja ein Doppelgrab nehmen soll. Das ist viel günstiger. Aber den Kanari dann – das ist nicht gestattet worden. Da hab’ ich ihn halt im Topf von der Clivia beerdigt.« 98
»Ja, selbstverständlich«, sagte die Kassiererin, »man kann doch so ein Viecherl, wenn’s einem ans Herz gewachsen war, quasi, oder förmlich eine Art Andenken, nicht einfach in die Mülltonne werfen.« »Mülltonne?« sagte Frau Hirnkofer, »daß ich nicht lach’! In die Mülltonne kann man bei uns überhaupt nichts mehr werfen. Schon seit Wochen nicht –« »Wieso? Kommt die Müllabfuhr nicht mehr?« »Die Müllabfuhr kommt schon – aber der Hausmeister … wir haben schon an die Hausverwaltung geschrieben. Also das heißt: der Herr Braun von Nummer 4a im dritten Stock hat den Brief geschrieben, der ist sehr gewandt. Der war früher Buchhalter. Die anderen haben nur unterschrieben. Daraufhin ist es eine Woche lang besser geworden, das heißt: dann hat er, der Hausmeister, in der folgenden Woche die Mülltonnen nach vorn an die Straße getragen, wie die Müllabfuhr gekommen ist, damit sie’s ausleert. Eine Woche. Dann war wieder der alte Saustall. Kann man leider nicht anders sagen. Im Tonnenraum schaut’s aus, kann ich Ihnen sagen, mich würd’ nicht wundern, wenn’s da nicht schon Ratzen gäbe.« Die Kassiererin zog ihre Handschuhe wieder an. »Ist das der Hübl?« fragt sie. »Ja, natürlich.« »Früher hat er auch bei uns gekauft. Das heißt: seine Frau, die Frau Hübl.« Die Kassiererin senkte die Stimme. »Alles anschreiben lassen. Mich geht’s ja nichts an. Sie ist immer zum Chef hinein. Wahrscheinlich hat sie dem vorgejammert. Mich geht’s ja nichts an. Ich hätte ihr nur gegen Barzahlung Waren abgegeben. Unsereiner muß ja 99
auch zahlen, wenn er Ware kauft. Aber sie hat das Jammern wahrscheinlich verstanden. Bis dann so viel beinand war, eine solche Summe – also mich geht’s ja nichts an, ich kümmere mich auch nicht um die Buchhaltung und so fort. Aber ich habe aufgeschnappt: viertausend Mark.« »Sauber«, sagte Frau Hirnkofer. »Und seitdem kommt sie nicht mehr. Macht wahrscheinlich in einem anderen Laden Schulden. Leute gibt es –! Also ich könnte da keine Stunde schlafen! – Mit so einem Berg Schulden. Verdient er denn nichts? Ist er so schlecht bezahlt als Hausmeister?« »Ich weiß auch nicht.« »Goldene Berge verdient ein Hausmeister natürlich nicht, beziehungsweise goldene Nasen oder wie man da sagt. Aber er hat schließlich freie Wohnung – wo heutzutage grad die Wohnungen so teuer sind. Wir«, sagte die Kassiererin, »mein Mann und ich – bei uns geht über ein Drittel unseres Einkommens für die Wohnung drauf – das kann auf die Dauer wirtschaftlich nicht gesund sein, sagt mein Mann immer.« »Ich zahl’ die Hälfte meiner Rente für die Wohnung«, sagte Frau Hirnkofer. »Sehen Sie«, sagte die Kassiererin, »sehen Sie.« Jetzt kamen andere Kunden. Frau Hirnkofer nahm ihre rotgelb-weißgestreifte Tasche und ging.
100
3. »Betrifft: Hausmeister Hübl Günther. Geehrte Hausverwaltung! Unterfertige Mieter des Anwesens Steinberger Str. 4 und 4a müssen leider wiederholt um Abhilfe bitten bzw. solche beantragen, nachdem unsere diesseits vorgetragenen höfl. Beschwerden schon mehrfach ohne Erfolg blieben bzw. geblieben sind. Das nicht anders als frech zu bezeichnende Verhalten bzw. Benehmen des oben genannten Hausmeisters Herrn Hübl –« »Was heißt: Herr Hübl –«, sagte Kerr Kontoraski. Der Buchhalter a. D. und gewesene Schöffe Braun Gottlieb unterbrach sein Stenogramm – er stenographierte noch nach ›Gabelsberger‹ – und schaute auf. »Wir sollten«, sagte Braun, »doch immerhin den höflichen Ton wahren.« »Ich bin dagegen, daß dieser Schweinskopf Herr Hübl tituliert wird, bin ich dagegen«, sagte Herr Kontoraski. »Alles was recht ist. Wo er mir Schläge angedroht hat. Ich bitte Sie!« »So ein roher Mensch –«, sagte Fräulein Faber, die auch im Zimmer einen Hut trug und seit etwa vier Jahrzehnten in der zuständigen Pfarrkirche wegen ihrer durchdringenden Stimme teils gefürchtet, teils geachtet war. Geachtet beim Pfarrer, weil sie selbst die Strophen der neuen, meist unbeliebten Kirchenlieder aus dem Gotteslob kräftig sang, gefürchtet beim Organisten, 101
weil er – sagte er –, wenn das Fräulein Faber einsetzt, ganz unmöglich die Tonart halten könne. »So ein roher Mensch«, sagte Fräulein Faber, »mich hat der Hübl eine alte Amsel geheißen.« Herr Buchbinder vom Parterre im Haus 4a lachte, unterdrückte das Lachen nach einem Rippenstoß von seiner Gemahlin sofort. Es wurde abgestimmt. Eine Mehrheit von 15 gegen 7 Stimmen war dafür, daß die Bezeichnung »Herr Hübl« unterblieb. Es wurde nicht nach Köpfen, sondern nach Wohnungen abgestimmt. Das hatte der Buchhalter a. D. und gewesene Schöffe Braun ganz am Anfang auseinandergesetzt: pro Wohnung eine Stimme – sonst gäbe es keine korrekte Abstimmung. Herr und Frau Buchbinder hatten also miteinander nur eine Stimme. Auch Herr Hierl und seine Tante, die verwitwete Frau Amtsrat Gutang, hatten, da sie in derselben Wohnung wohnten, nur eine Stimme. »Also«, sagte Herr Braun, nachdem er die aufgehobenen Hände gezählt, das Ergebnis im Protokoll vermerkt und sich wieder dem Entwurf des Briefes zugewendet hatte, »also: das nicht anders als frech etc. etc. … des Hausmeisters Hübl Günther kann seitens der Mieter –« »– seitens der ruhigen und ihren Pflichten stets nachkommenden Mieter –«, warf Herr Buchbinder ein. »Gut«, sagte Herr Braun, »– seitens der ruhigen … und ihren Pflichten stets nachkommenden Mieter nicht länger hingenommen werden. Die Stiegenhäuser werden so gut wie überhaupt nicht mehr geputzt. Wenn der Hausmeister Hübl Günther sich 102
nach mehrfacher Aufforderung, welchselbe immer nötig ist, damit etwas geschieht, sich endlich herbeiläßt, etwas zu tun, so ist es in den seltensten Fällen er, sondern meistens seine Frau, welche hochschwanger ist und dem Vernehmen nach im November niederkommt. Die Mieter fragen sich –« »– die Mieter«, sagte Herr Buchbinder erregt, »– die ihrerseits ihren Pflichten stets –« »Nicht schon wieder«, sagte Herr Kontoraski, »sonst nützt sich’s nur ab. Einmal genügt.« Herr Buchbinder murmelte etwas, lehnte sich zurück und führte unwillig sein Bier zum Mund. »– fragen sich«, stenographierte Herr Braun weiter, »wie das werden soll, wenn es soweit ist, daß die Niederkunft der Frau Hausmeisterin Hübl …« Herr Braun stockte. Er war Junggeselle. Mit einer Niederkunft hatte er nie irgend etwas zu tun gehabt, »… durchgeführt ist …?« fragte er zaghaft. »… erledigt ist …«, sagte Herr Kontoraski, »… erfolgt ist …«, sagte Herr Buchbinder, »… niedergekommen ist …«, sagte Fräulein Faber. »Die Niederkunft kann nicht niederkommen«, sagte Herr Kontoraski. »… entbunden hat …«, sagte Herr Buchbinder. »Dann müssen wir es allerdings umstellen«, sagte Herr Braun, strich den letzten Satz und stenographierte neu: »… wenn Frau Hausmeisterin Hübl entbunden hat und entbindungsbedingt die Arbeit nicht durchführen kann, so daß diese womöglich ganz liegenbleibt.« 103
»Die Arbeit oder die Frau Hübl?« fragte Fräulein Faber. »Was?« fragte Herr Braun. »Wer bleibt liegen – die Frau Hübl?« »Ach was«, sagte Herr Braun und blies über das Papier, als sei die Schrift nicht mit Bleistift, sondern mit Tinte geschrieben. »So ist es ein klarer Brief. Und der scharfe Ton kommt ganz gut heraus.« »Es steht noch nicht drin«, sagte Fräulein Faber, »daß er mich eine alte Amsel geheißen hat – dieser rohe Mensch.« »Wen interessiert denn das«, sagte Herr Buchbinder. »Hier geht es um größere Zusammenhänge.« Fräulein Faber lehnte sich beleidigt zurück und spitzte den Mund. Einen Augenblick schien es, als wolle sie zu pfeifen anfangen, sie pfiff aber dann doch nicht.
4. Herr Lukas von der Hausverwaltung, ein großer, einarmiger Mann, der schielte, saß hinter seinem Schreibtisch und ließ die Blätter einer dicken Akte über den Daumen schnalzen wie ein Kartenspiel. Die Akte, die ungeöffnet vor ihm lag, trug die Aufschrift: »Personal. Hübl Günther. Hausm. Steinbergerstr. 4, 4a.« Der leere rechte Ärmel von Herrn Lukas’ Jacke war in die rechte Tasche geschoben und mit einer Sicherheitsnadel festgesteckt. Herr Lukas richtete seinen Blick auf eine entfernt stehende Grünpflanze, schaute aber Frau Hübl an. »Eigentlich«, sagte Herr Lukas, »habe ich erwartet, 104
daß Ihr Mann selber kommt, wenn ich ihn schon hereinbestelle.« »Bin eben ich gekommen«, sagte Frau Hübl (– nur nichts gefallenlassen, hatte ihr ihr Mann vorher gesagt, ja eingeschärft: die Arbeitsgerichte sind immer auf unserer Seite). »Naja«, sagte Herr Lukas und zog die Akte zu sich heran. »An und für sich wäre es mir lieber, ich könnte mit Ihrem Mann selber sprechen. Wo es sich doch um eine eher unangenehme Angelegenheit handelt. Aber Ihr Mann wird schon wissen, warum er nicht selber kommt, sondern Sie schickt.« »Was soll das heißen?!« fragte Frau Hübl scharf (eingedenk des Befehles, sich nichts gefallen zu lassen), dann war ihr im Moment, wie sie es sagte, der Ton doch zu scharf, und sie fügte rasch ein eher kleinlautes: »– vielleicht?« hinzu. »Es liegen zahlreiche Beschwerden von Mietern vor.« »Ich werde Ihnen einmal was sagen–« »Sie sollen nicht mir was sagen, Frau Hübl, ich wollte Ihnen was sagen, beziehungsweise Ihrem Mann, eigentlich. Besser gesagt: ich wollte ihn was fragen, daß wir uns da im klaren sind. Oder?« »Ja«, sagte Frau Hübl. Herr Lukas fi xierte den zweiten leeren Stuhl neben Frau Hübl, betrachtete aber Frau Hübls Bauch. »Sie sind in anderen Umständen?« fragte Herr Lukas in menschlichem Ton. »Ja, schon«, sagte Frau Hübl. »Wann ist es denn soweit?« 105
»Im November«, sagte Frau Hübl. »Hm, hm«, sagte Herr Lukas, zog einen Kalender unter der rostbraunen Schreibunterlage aus Kunstleder hervor. Der Kalender stammte von der Dachdeckerfirma Kölb & Kniewein. Die eine Seite: Januar bis Juni, die andere Seite Juli bis Dezember. Herr Lukas war sehr geschickt darin, ein Blatt mit einer Hand umzudrehen wie ein Taschenspieler. Man lernt so etwas zwangsläufig, wenn man damit leben muß, nur einen Arm zu haben. Frau Hübl beobachtete das. – Wie wäscht der sich die Hände? dachte sie – vielmehr: die Hand? Wie kann man sich, wenn man nur eine Hand hat, diese Hand waschen? (Frau Hübl wird es nie erfahren: mit einer kleinen Handbürste mit Saugnäpfen hinten.) »Im November«, sagte Herr Lukas, richtete seine Augen auf das Schreibzeug, schaute aber auf den Kalender, »dann wird es ein Skorpion.« »Oder Schütze«, sagte Frau Hübl. »Richtig«, sagte Herr Lukas, hob – alles taschenspielerisch mit einer Hand – die Schreibunterlage hoch und schob den Kalender wieder drunter. »Persönlich wünsche ich Ihnen natürlich alles Gute. Das Wievielte ist es?« »Das vierte«, sagte Frau Hübl. Die Erinnerung an die Anordnung, sich nichts gefallen zu lassen, war verweht. »Sehr viele Beschwerden!« sagte Herr Lukas. »Noch bei keinem Hausmeister hatten wir so viele Beschwerden. Ich weiß auch, da brauchen Sie mir gar nichts zu sagen, daß die Mieter ein … unter uns gesagt, das ist ein Kapitel für sich. Aber irgendwas stimmt da doch nicht – wenn 106
ununterbrochen Beschwerden kommen. Grad heute wieder – eine Frau – nein: Fräulein schreibt sie ausdrücklich –«, Herr Lukas hatte das oberste Blatt aus der Akte genommen, »ein Fräulein Faber schrieb, Ihr Mann hätte sie eine alte Amsel genannt?« Frau Hübl schaute zu Boden. »Na ja«, sagte Herr Lukas, »das nehme ich nicht so tragisch. Aber das andere alles – sagen Sie –«, ein inquisitorisches Klirren kam in Herrn Lukas’ Stimme: »– ich habe fast den Verdacht, Ihr Mann … arbeitet der noch etwas anderes nebenher?« Frau Hübl schaute nicht auf, sagte: »Nein –« und fügte, nachdem das inquisitorische Klirren nachhallte, »– nicht direkt –« hinzu. »Habe ich mir gedacht«, sagte Herr Lukas. »Das alte Lied. Nimmt eine Hausmeisterstelle an – mit freier Wohnung, ohne feste Dienstzeit, niemand überprüft ihn – so haben wir’s gern: läßt die Hausmeisterarbeit seine Frau machen und geht nebenher einer anderen Tätigkeit nach.« »Herr Lukas …«, sagte Frau Hübl. »Ist es so oder ist es nicht so?« »– aber … schon, aber die drei Kinder, sozusagen fast vier …« Herr Lukas nahm rasch ein festes, gelbes Blatt mit Rubriken aus der Akte. »2322,– netto bei freier Wohnung – ich bitte Sie! Das ist doch ein schönes Einkommen … allerdings …« Herr Lukas senkte seine Stimme, nahm ein weiteres Blatt hervor: »… es liegen Lohnpfändungen vor. Das schon.« »Ich habe auch gesagt, das neue Auto muß nicht sein 107
–« Frau Hübl suchte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. Sie fand keines. Herr Lukas reichte ihr mit großer Geste ein Päckchen Tempotaschentücher über den Schreibtisch. »Danke«, sagte Frau Hübl. »Und eine Regreßforderung der Allianz-Versicherung …« »Das war ein unverschuldeter Unfall. Mein Mann ist ganz langsam gefahren … der andere hätte ja nicht so stur auf seiner Vorfahrt bestehen müssen –« »Und der Unfall war«, las Herr Lukas, »bevor die Versicherungsprämie bezahlt war. Deshalb der Regreß von der Versicherung.« »Wir konnten doch die Versicherung nicht zahlen – das Auto war noch nicht abbezahlt!« »Und so arbeitet Ihr Mann also nebenher. Schwarz. Natürlich. Das Gehalt, das er von uns bezieht, betrachtet er … als Taschengeld, oder als was? Oder als Rente?« »Nein, bitte …« »Was arbeitet er denn?« »Eigentlich – weiß ich nicht, eigentlich, ob es meinem Mann recht ist, wenn ich das sag’ … er ist doch gelernter Installateur …« »Ich weiß«, sagte Herr Lukas. »Bei seinem früheren Chef … gelegentlich … nur aushilfsweise, wenn halt dort viel zu tun ist.« »So. Gelegentlich. Und wie oft sind diese Gelegenheiten?« Frau Hübl schwieg. »Jeden Tag?« 108
»Jeden Tag nicht«, sagte Frau Hübl. Herr Lukas schlug die Akte zu. »Also ich sage Ihnen – es gibt noch andere, die Hausmeister werden wollen. Mehr als genug! Ich kriege jeden Tag Bewerbungen. Bei über 2000 Mark und freier Wohnung – was bildet sich Ihr Mann eigentlich ein, wer er ist? Und eins sage ich Ihnen: das nächste Mal kommt Ihr Mann persönlich – um nicht zu sagen höchstpersönlich. Das bitte ich mir aus. Das dürfte doch das wenigste sein. Und ich – beziehungsweise die Hausverwaltung rechnen damit, daß Ihr Mann unverzüglich … in Worten: unverzüglich seine Nebentätigkeiten einstellt und sich ausschließlich – Sie wissen, was das heißt: ausschließlich seinen Pflichten als Hausmeister – oblie – ob … – wirkt. Widmet. Daß wir uns verstanden haben?!«
5. »… nunmehr persönlich mich an eine gefl. Hausverwaltung wende. Nicht genug damit, daß sich Herr Hübl dazu erkühnt, ich, die ich immerhin im nächsten Frühjahr (= 23. 3.) 72 Jahre und langjähriges Mitglied des Kirchenchores etc. – Näheres kann bei Hochw. H. Stadtpfarrer erfragt werden – eine ›alte Amsel‹ genannt hat, leider ohne Zeugen, und sich auch nicht entschuldigt hat, obwohl ich weiblichen Geschlechts angehöre, also mithin als Dame zu betrachten bin, leider ohne Zeugen, weil sonst besag109
te Amsel-Angelegenheit schon längst einem gerichtlichen Nachspiel zugeführt worden wäre, was aber leider laut Ausk. von Herrn Rechtsanwalt Dr. Plettenschreck mangels Zeugen aussichtslos. Mit einer 72jährigen Rentnerin kann man ja alles machen. Schildere ich dieses nur zur Illustration, denn die Hinausverbringung der Mülltonnen funktioniert zwecks Entleerung usw. nunmehr leidlich, auch werden Reparaturen gemacht, obgleich zögernd. Das berechtigt Herrn Hübl aber noch lang nicht, mich eine ›alte Amsel‹ zu heißen, wenngleich ohne Zeugen. Wollte nur gefl. erwähnen, bitte dies aber unter uns resp. vertraulich, daß mir Spielschulden des Herrn Hübl zu Ohren gekommen sind. Es sollen nicht unerheblich solche sein, obwohl mir Frau und Kinder leid tun selbstverständlich, besonders mir als Dame, wenngleich unverheiratet und nie Kinder gehabt, kann es mir dennoch sehr gut vorstellen. Soll alles verwetten, weshalb auch ständiger Geldmangel dort bzw. bei Hübl herrscht, auch mehrfach in umliegenden Geschäften nicht mehr angeschrieben wird. Das dürfte eine gefl. Hausverwaltung doch interessieren bzw. Arbeitgeber. Es soll sich um Spielschulden handeln. Hochachtungsvoll Fräulein Faber Katharina. PS: bitte Vorstehendes höfl. vertraulich zu behandeln.
110
6. »Da müßte eigentlich Ihr Herr Gemahl selber kommen«, sagte Frau Scheuberger. Frau Scheuberger, etwas breiter als groß und in ein Kleid aus imitiertem Pantherfell gehüllt, saß hinter einem Schreibtisch mit Bildschirm-Terminal, der schwärzlich-grünlich irisierte. Frau Scheuberger trug Sandalen mit Noppen aus hartem, rotem Gummi zur Massierung der Fußsohlen, aber wahrscheinlich, ja: mit Sicherheit nur im Büro. Draußen war Matsch. Der graue Novembertag dämmerte bis ins Fahlgelbe hinüber. Neben der Garderobe, an der Frau Scheubergers hellrosa Kunstledermantel mit Hasenfellfutter hing, standen ein Paar wollgefütterte Lederstiefel. Bei Dienstschluß wechselte Frau Scheuberger wohl die Fußbekleidung. Frau Hübl drehte den Zettel in ihrer Hand. Der Zettel war ein aus der Zeitung herausgerissenes Inserat, auf dem die Firma, bei der Frau Scheuberger arbeitete, ihre Dienste bei Umschuldung auch in schwierigen Fällen anbot. »Ja, schon«, sagte Frau Hübl. Sie ächzte im Sessel und war schon sehr umfangreich. »Ist Ihnen nicht gut?« fragte Frau Scheuberger leise. »Ich bin in anderen Umständen«, sagte Frau Hübl. »Das seh’ ich«, sagte Frau Scheuberger. »Wann ist es denn soweit?« »Ich fürcht’: bald«, sagte Frau Hübl. »Können S’ mir was zu trinken geben?« 111
Frau Scheuberger nahm rasch eine Thermosflasche aus dem linken unteren Fach ihres Schreibtisches. »Es dürft’ noch eine Tasse drin sein. Warm ist er auch noch. Es ist Malventee. Das tut Ihnen vielleicht gut. Warten S’ – ich geh’ schnell die Tasse auswaschen.« »Nein, nein«, sagte Frau Hübl. »Nicht nötig.« Gierig griff sie nach der Tasse und trank den Tee. »Neulich«, sagte sie dann, »war ich beim Arzt. So ein Schreck. Wir haben ja schon drei Kinder, und das wäre jetzt das vierte, haben wir gemeint. Aber es werden Zwillinge! Stellen Sie sich vor. Dann sind es fünf Kinder! Fünf Kinder! Ich weiß auch nicht, wofür ich im Leben gestraft werd’. Bei anderen Leuten ist es doch auch nicht so. Jedenfalls nicht bei allen. Ich wollte ja auch die Pille nehmen, aber weil die die Kasse nicht bezahlt, hat es mein Mann abgelehnt. Ich soll halt aufpassen, hat er gesagt. Ich soll aufpassen … wie soll man da aufpassen, wenn …« Frau Hübl wurde ein wenig rot, »und gar, seit er den Fernseher versetzt hat. Da hat er ja sonst überhaupt keine Unterhaltung mehr. Gepfändet darf ja der Fernseher nicht werden, das wissen wir vom Gerichtsvollzieher, aber versetzen kann man ihn. Das geht. Leider. Für sechzehnhundert haben wir ihn dazumal gekauft. Es mußt’ natürlich das neueste Modell sein. Und kein halbes Jahr darauf hat er vom Leihhaus zweihundertfünfzig Mark bekommen. Das ist natürlich längst verfallen … wir haben nicht einmal einen Fernseher. Den Kindern, also den beiden größeren, hab’ ich streng verboten, daß sie das in der Schule erzählen. Daß wir keinen Fernseher mehr 112
haben. Da giltst ja sofort als asozial.« Frau Scheuberger nahm die verschiedenen Papiere in die Hand, die Frau Hübl auf den Tisch gelegt hatte. »Schaut schlecht aus«, sagte sie dann. Frau Hübl senkte den Kopf. »Schon«, sagte sie, »aber Sie schreiben doch in Ihrer Annonce: ›auch in schwierigen Fällen …?« »Das ist kein schwieriger Fall mehr, das ist schon ein aussichtsloser Fall«, sagte Frau Scheuberger. »Wenn ich so überschlägig zusammenrechne, dann sind das über dreißigtausend Mark Schulden. Halt – da kommt ja auch noch ein Vollstreckungsbescheid – Fa. Kathra – viertausendzweihundertelf und achtzehn Pfennig nebst 14 % Zinsen und Kosten … oje, oje …« »Kann man da gar nichts machen?« fragte Frau Hübl gepreßt. Frau Scheuberger schenkte den Rest Malventee ein. Es ergab knapp eine halbe Tasse. Frau Hübl trank. »Immerhin ist Ihr Mann in ungekündigter Stellung – hm – über zweitausend bei freier Wohnung. Das ist ja an und für sich nicht schlecht. Woher kommen denn die Schulden?« »Pech – ausgesprochenes Pech –, der Autounfall zum Beispiel. Dabei ist mein Mann ganz langsam gefahren, und der andere hätte ja auch nicht so stur auf seiner Vorfahrt bestehen müssen.« »Hm, hm …«, sagte Frau Scheuberger. »Und die achtzehnhundert Geldstrafe haben wir zahlen müssen, weil er sonst ja eingesperrt worden wäre, mein Mann.« 113
»Geldstrafe? Wegen dem Verkehrsunfall?« »Ja. Genauer gesagt: wegen der Watschen, die wo mein Mann dem anderen gegeben hat. Weil der auch so stur auf seiner Vorfahrt bestanden hat.« »Ja, ja. Hm. Aber das sind doch alles keine dreißigtausend Mark – respektive vierunddreißig …« »Ja, mei –«, flüsterte Frau Hübl. »Also, wenn wir Ihnen helfen wollen, wenn wir einer Umschuldung nähertreten sollen, dann müssen Sie mir schon alles klar auf den Tisch legen.« »Das verfluchte Wetten«, sagte Frau Hübl leise. »Wie bitte? Das verfluchte Wetter? Wieso?« »Nicht Wetter … Wette«. Auf Pferde. Beim Traben. Er meint halt immer, er gewinnt einmal.« »Oje, oje …«, sagte Frau Scheuberger. »Im Vertrauen gesagt: an und für sich darf ich so was gar nicht äußern, weil unsere Firma von so Fällen lebt … aber … manchmal meine ich, daß das reinweg verboten gehört. Dieses Wetten. Die reine Pest. Wenn ich Ihnen sagen dürfte, was ich da herin alles erlebe … Romane könnte ich schreiben. Elendsromane. Na ja. Aber machen kann man auch nichts mehr, wenn das Geld einmal weg ist. Hm, hm. Vierunddreißigtausend und ein paar zerquetschte … hm, hm … und die diversen Gerichts- und Vollstreckungskosten … überschlägig nochmals drei-, dreieinhalbtausend … die Zinsen gar nicht gerechnet. Der Gerichtsvollzieher geht bei Ihnen wohl ein und aus?« »Der kommt gar nicht mehr«, sagte Frau Hübl. »Oje, oje«, sagte Frau Scheuberger. 114
Frau Hübl griff sich an den Bauch und riß die Augen auf. »Was ist –«, sagte Frau Scheuberger. Sie verstand aber dann sofort, denn sie hatte selber zwei Kinder zur Welt gebracht. Sie sprang auf und führte Frau Hübl zu dem alten, abgewetzten Sofa, das links neben der Garderobe stand. Das Sofa gehörte ursprünglich zur Einrichtung des Chefzimmers, als der Chef aber ein neues Sofa bekam, wurde das alte in das Zimmer von Frau Scheuberger gestellt, weil es zum Wegwerfen doch zu schade war. Frau Hübl schrie. Frau Scheuberger rannte zum Telefon und rief den Notarzt an. Die Zwillinge Ramona und Camilla Hübl wurden kurz darauf hier im Dienstzimmer geboren. Als der Chef danach das Sofa betrachtete, sagte er zu Frau Scheuberger: »Jetzt kann man’s endgültig zum Sperrmüll geben.«
7. »… und haben Verständnis dafür, daß die Hausverwaltung ungehalten ist über unsere ständigen Beschwerden. Aber was sollen wir machen? Erlauben wir uns hflst. zu fragen. Die Kündigung gegen den nunmehr ehem. Hausmeister Hübl Günther hilft uns auch nicht viel, sofern dieser nicht die Wohnung räumt, was er, wie uns zu Ohren gekommen ist, bzw. gehört haben, verweigert unter Hinweis auf inzwischen erreichte Kinderzahl von zwei 115
Knaben nebst drei Mädchen, davon zwei gleichaltrige Säuglinge (da Zwillinge). Wie soll das, erlauben wir uns zu fragen, weitergehen? Dem einen resp. anderen Mieter reißt schon, in aller Form gesagt, die Hutschnur, wenn der Ausdruck erlaubt ist, aber wollen dennoch nicht Maßnahmen außerhalb gesetzlicher Möglichkeiten ergreifen. Nur, fragt sich, welche? Seit der Kündigung läßt sich der nunmehr ehem. Hausmeister Hübl Günther überhaupt nicht mehr außerhalb seiner Wohnung sehen. Wir meinen, daß er, solang resp. sofern er die Dienstwohnung bewohnt, wenigstens die Mülltonnen, welche schon wieder überquellen, nach vorn schaffen könnte, zumal Weihnachten vorbei ist, wo erfahrungsgemäß sehr viel Müll anfällt, da Geschenkverpackungen, leere Flaschen und dgl. Wir fragen uns, was ist erst, wenn an Dreikönig erfahrungsgemäß die Christbäume aus den Wohnungen entfernt werden? Wir, die Mieter der Anwesen Steinbergerstraße 4 und 4a, können doch nicht die Christbäume bis zum Muttertag in der Wohnung halten, was außerdem für manche Mieter eine Platzfrage ist, da beengt. Abgesehen von dem Nadeln der Bäume, welches erfahrungsgemäß schon zu Sylvester anfängt. Wie schaut denn das aus, wenn z. B. am Muttertag, welcher erfahrungsgemäß im Mai stattfi ndet, noch Christbäume evtl. ohne Nadeln in den Wohnungen resp. Balkonen herumstehen. Da lachen doch die Hühner, welches einer gesch. Hausverwaltung doch auch nicht recht sein kann. Die Mieterin Fräulein Faber hat versucht, in höfl. und 116
geeigneter Form den nunmehr ehem. Hausmeister Hübl Günther durch Läuten an dessen Dienstwohnung auf die Mißstände aufmerksam zu machen, hat aber den ehem. Hausmeister überhaupt nicht zu Gesicht bekommen und nur durch die geschlossenen Türen in großer Lautstärke durch besagten ehem. Hausmeister beschimpft worden. Eine von Frl. Faber unter Zeugen angefertige handschriftliche Liste der Schimpfwörter, die der ehem. Hausmeister der Mieterin durch die geschlossene Tür entgegengeschleudert hat, kann vorgelegt werden, falls gewünscht, ist jedoch nicht vollständig, da Frl. Faber infolge vorgerückten Alters nicht so schnell mitschreiben konnte. Wir sehen natürlich ein, daß ein neuer Hausmeister seinen Dienst nicht antritt, solange der alte resp. ehem. nicht die Wohnung räumt. Aber was können die Mieter dafür? Wozu, fragen wir uns, gibt es Gerichte? Der unterfertigte Erstunterzeichner dieses, selbst ehem. langjähriger (6 Jahre) Schöffe am hiesigen Amtsgericht, hat sich bei zust. Stelle erkundigt. Die Mieter können nichts machen. Da muß schon die Hausverwaltung klagen. Haben auch vollstes Verständnis resp. Mitleid mit der armen Frau Hübl nebst fünf Kindern und das vermutlich traurige Weihnachten. Haben auch gesammelt und einen nicht unansehnlichen Betrag für die Kinder übergeben, welche ja erfahrungsgemäß nichts dafür können. Frau Hübl hat auch gedankt und Tränen in den Augen, nur, hat sie gesagt, darf sie ihrem Mann davon nichts erzählen, andernfalls ihr Mißhandlungen drohen von Seiten ihres Mannes, weil er ihr verboten hat, mit den Mietern 117
zu reden. Das spricht doch Bände. Wir bitten um dringende Abhilfe. Namentlich, weil wir doch nicht gut die Christbäume bis zum Muttertag stehenlassen können. In der Hoffnung, keine Fehlbitte getan zu haben, sowie mit den besten Wünschen für ein Neues Jahr zeichnen wir mit vorzüglicher Hochachtung Braun Gottlieb, Buchhalter a. D. und ehem. Schöffe (24 weitere Unterschriften).
8. Herr Lukas saß im Trainingsanzug vor dem Fernseher und fi xierte ein mattbeleuchtetes Gondelmodell seitlich auf einem Beistelltisch, schaute aber auf den Bildschirm, obwohl der abgeschaltet war. Frau Lukas in geblümter Kittelschürze räumte den Tisch ab. »Du hast überhaupt nichts gegessen, Max?« »Ich kann heute nichts essen.« Auch der leere Ärmel des Trainingsanzuges war mit einer Sicherheitsnadel befestigt. »Jetzt ist es dreiviertel sieben. Die Sendung kommt erst um neun Uhr. Da brauchst doch nicht schon jetzt nervös zu sein.« »Laß mich doch in Ruhe. Wenn man eh schon Ärger genug hat.« Frau Lukas stellte ihrem Mann eine geschwungene 118
Messingschale, auf drei Beinen stehend, innen emailliert, mit gemischtem Fernsehgebäck hin. Herr Lukas knabberte bis neun Uhr. Es war sein erster Auftritt im Fernsehen. Herr Dr. Curt-Wolf Schmeltz – Diplom-Soziologe – schaute mit düsterer Miene aus dem Bildschirm. Er hatte die Haare in die Stirn gekämmt, trug einen blaßgrünen Rollkragenpullover und eine eigenwillig geknöpfte Jakke. »Guten Abend, liebe Fernsehzuschauer«, sagte Dr. Curt-Wolf Schmeltz, »es gibt auch in unserer Wohlstandsgesellschaft Notfälle, deren Behandlung zwar dem Buchstaben nach rechtens und entsprechend den gesetzlichen Vorschriften erfolgt sein mag, die uns aber dennoch nicht ganz verständlich sind.« Herr Dr. Schmeltz verschwand vom Bildschirm, dafür erschien der Häuserblock der Steinbergerstr. 4 und 4a. Die Kamera fuhr an der lieblosen Fassade auf und ab, blieb an einigen Fenstern des Parterres hängen. Dr. Schmeltz’ Stimme war weiterhin zu hören: »Hier wohnt, oder genauer gesagt, wohnte bis gestern der gelernte Installateur und Hausmeister Günther Hübl mit seiner Familie. Er hat uns ausdrücklich ermächtigt, ja sogar gebeten, seinen vollen Namen zu nennen. Er hat fünf Kinder, zwei davon, Zwillinge, sind noch keine zwei Monate alt. Dennoch erfolgte – es ist kaum zu glauben – die Zwangsräumung. Wir haben uns verpflichtet gefühlt, der Sache nachzugehen.« Nun erschien Günther Hübl auf dem Bildschirm: die 119
Aufnahme wurde in seiner nun schon ehemaligen Wohnung gemacht. Hübl trug ein graues Hemd, darüber Hosenträger und einen braunen Hut. Ihm gegenüber saß am Küchentisch, ein Mikrophon in der Hand, Herr Dr. Curt-Wolf Schmeltz, der jetzt ein blaßrosa Hemd, eine Art wattierte Fliegerweste ohne Ärmel und eine schnürsenkeldünne Lederkrawatte trug. »Warum wurde Ihnen gekündigt?« fragte Dr. Schmeltz. »Weil ein neuer Hausmeister kommt«, sagte Hübl. »Und damit verlieren Sie natürlich Ihre Wohnung, weil die ja an den Dienstvertrag geknüpft ist, wie wir gesehen haben?« »Jawohl«, sagte Hübl. »Und wann kommt der neue Hausmeister?« Hübl zuckte die Schultern. »Wir haben vorhin mit einigen Mietern gesprochen. Wir wollen ja objektiv sein. Es heißt, es hätten Beschwerden über Sie vorgelegen?« »Das Haus, also die Häuser – haben 45 Mieterparteien. Da ist immer einer dabei, dem dies oder jenes nicht paßt. Ich könnte Namen nennen, aber –« »Nein, nein«, sagte Dr. Schmeltz schnell, »keine Namen – wir wollen keine weiteren Komplikationen. Sie meinen also, Sie hätten Ihren Dienst immer tadellos versehen?« »Jawohl«, sagte Hübl. »Sie sollen, verzeihen Sie, aber wir müssen auch das fragen, Sie sollen in gewissen wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken?« 120
»Das können Sie ruhig fragen. Jawohl. Aber nicht mehr als andere. Was ist denn heutzutage? Arbeitslosigkeit, wo man hinschaut. Mein ganzer Bekanntenkreis steckt in Schwierigkeiten. So gesehen. Alle haben Verpflichtungen. Mehr oder weniger. Das ist doch kein Grund, daß einem gekündigt wird? Oder?« »Auf wieviel belaufen sich Ihre Verbindlichkeiten?« »Na ja … so normal halt. Nicht mehr als die meisten. So durchschnittlich eben. Aber was für große Sprünge soll man denn schon machen als Hausmeister?« »Und woher rühren diese Verbindlichkeiten?« »Ein unverschuldeter Unfall. Trotzdem hat die Versicherung nicht bezahlt.« »Ein Autounfall?« »Jawohl.« »Und warum zahlt die Versicherung nicht?« »Die haben sich auf irgendwelche Paragraphen berufen …« Hübl schluckte, es schien, als kämpfe er mit den Tränen. »Was versteht denn der einfache Mann auf der Straße von Paragraphen? Gar nichts.« »Und wo gehen Sie hin, wenn Sie hier heraus müssen?« Hübl zuckte mit den Schultern. »Sie haben fünf Kinder?« Hübl nickte. Das Bild wechselte. Man sah jetzt wieder Dr. Schmeltz im Studio im blaß grünen Rollkragenpullover. »Wir haben auch«, sagte Dr. Schmeltz, »mit der Hausverwaltung gesprochen.« 121
»Anna!« schrie Herr Lukas. »Jetzt komme ich. Anna!« »Jaa – jaa«, schrie Frau Lukas, band sich rasch die Kittelschürze ab und setzte sich neben ihren Mann. Lukas erschien auf dem Bildschirm. Die Aufnahme war in Lukas’ Büro gemacht worden. Die Chefs hatten es genehmigt. Die Chefs selber hatten allerdings nicht in Erscheinung treten wollen. Lukas gegenüber saß wieder Dr. Schmeltz, das Mikrophon in der Hand. Dr. Schmeltz trug ein grünblaues Jerseyhemd mit beigem Kragen und eine doppelreihig geknöpfte Schafwolljacke, außerdem ein seitlich geknüpftes, gelbgemustertes Schnupftuch um den Hals. »Sie haben darum gebeten«, sagte Dr. Schmeltz, »daß Ihr Name nicht genannt wird.« »Jawohl«, sagte Herr Lukas. »Sie sind zuständig für die Hausverwaltung und sozusagen der Vorgesetzte des Hausmeisters Hübl?« »Sozusagen«, sagte Herr Lukas. »Nun werden Sie Ihre Gründe haben, daß Sie dem Hausmeister Hübl gekündigt haben – gut –, die juristische Position der Hausverwaltung ist klar und tadellos. Das muß man einräumen. Aber nun: halten Sie es persönlich für vertretbar, eine Familie mit fünf Kindern – unter welchem juristischen Vorzeichen auch immer – auf die Straße zu setzen?« Herr Lukas – der im Fernsehen, nicht der vor dem Fernseher – schluckte, dann sagte er: »Ausschlaggebend zum Schluß war, daß dem ehemaligen Hausmeister der Strom gesperrt! wurde und –« 122
»Ist das ein Grund, den Mann vor die Tür zu setzen?« »Nein –«, sagte Herr Lukas. Das Bild wechselte. Herr Lukas – der vor dem Fernseher, den im Fernseher sah man nicht mehr – sprang auf. »Reg dich nicht auf«, sagte Frau Lukas. »So eine Bande«, schrie Lukas. »– weil der Verbrecher, nachdem sie ihm den Strom gesperrt haben, die Hausleitung illegal angezapft hat. Das Haus hätte abbrennen können. Es ist quasi Diebstahl. Aber die Chefs zeigen ihn nicht einmal an. Sie wollen nicht noch mehr Staub aufwirbeln.« Herr Lukas war ein paarmal auf- und abgegangen, setzte sich wieder. Im Fernsehen war jetzt die Zwangsräumung zu sehen. Man hörte Dr. Schmeltz’ Stimme: »Und das, was Sie ganz dahinten sehen, ist das Kamerateam des DDR-Fernsehens, das sich natürlich so etwas nicht entgehen läßt. Ich darf die Frage stellen: Muß das in unserem Sozialstaat so sein? Und ich darf die Frage anfügen: Wie steht es denn eigentlich um unser soziales Netz? Die juristischen Dinge mögen in Ordnung sein, das unterstellen wir. Aber Fragen zu stellen, muß in einer funktionierenden Demokratie erlaubt sein. Und nun –« Dr. Curt-Wolf Schmeltz nahm einen anderen Zettel von seinem Pult, »wenden wir uns unserem nächsten Beitrag zu. Eines unserer Kamerateams war in Nicaragua …« Herr Lukas nahm eine Handvoll Erdnüsse und schaltete um aufs andere Programm, wo eine 123
smarte Dame Beruhigendes über Prostataleiden von sich gab. Herr Lukas lehnte sich in seinem Sessel zurück und schielte auf den Foxl aus Ton. Struppi hieß er. Früher hatten Lukas einen lebendigen Foxl gehabt. Der hatte auch Struppi geheißen. Aber der aus Ton, sagte Frau Lukas immer, ist in einer Etagenwohnung doch besser und bellt nicht.
EWIGE WACHE Für Dr. Otto Gritschneder
»Haben die keinen deutschen Pächter für das Gasthaus gefunden?« »Leider nein, Herr Oberscharführer.« »Ausgerechnet Deutsche Eiche. Und der Wirt ein Jugo. Erbärmlich.« Der alte Seilinger zuckte mit den Schultern, stieß die Tür auf und ließ dem hinkenden Oberscharführer (a. D.) den Vortritt. Der Wirt stand hinter der Theke, putzte die Kupferplatte unter dem Zapfhahn, lächelte freundlich, sagte: »Gutig Abigt, die Härrn, bitte, die andere Härrn sind schon drien.« »Abend!« sagte Seilinger. Der Oberscharführer nickte nur von oben herab, was ihm schwerfiel, denn der jugoslawische Wirt war fast zwei Meter groß und der Oberscharführer nur einsachtundsechzig. »Balkanesen«, zischte er, »und das nennt sich Deutsche Eiche.« »Immerhin«, sagte Seilinger ganz leise, »immerhin …« »Was immerhin?« »Immerhin Arier«, flüsterte Seilinger. Im Nebenzimmer saßen vierzehn Gäste, keiner unter sechzig. Man stand auf. 125
»Ist das alles?« fragte der Oberscharführer. »Jawohl, Herr Oberscharführer!« sagte einer der Greise, der ausschaute wie Karl Valentin. (Nur daß das Karl Valentin nicht gern gehört hätte.) »Müder Haufen«, brummte der Oberscharführer, dann: »Setzen. Guten Abend. Der Jugo soll das Bier servieren, dann wird die Tür zugesperrt. Oder ißt jemand noch?« »Wenn Herr Oberscharführer erlauben«, schrie ein dicker, Glatzköpfiger in einer Lodenjoppe und sprang auf, »ich würde gern einen Wurstsalat sauer …« »Gut, also: alle Bestellungen auf einmal aufgeben. Dann die Tür zu. Ist das dem Jugo gesagt worden?« »Jawohl, Herr Oberscharführer«, auch der Alte, der sozusagen unberechtigt wie Karl Valentin aussah, sprang auf. »Habe mir erlaubt zu sagen: eine wichtige geschäftliche Besprechung.« »Gut«, brummte der Oberscharführer, »eine Schande. Förmlich wie in den Katakomben.« Normalerweise, also draußen, im bürgerlichen Leben, wäre nicht der Pseudo-Karl-Valentin vor dem Oberscharführer aufgesprungen, sondern eher umgekehrt, denn bei dem »Karl Valentin« handelte es sich um den – allerdings jetzt pensionierten – Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts namens Hinkerl, bei dem Oberscharführer nur um den inzwischen in Rente getretenen Angestellten einer Reinigungsfirma Grobleitner Alois. Aber Grobleitner war eben damals Oberscharführer gewesen, Hinkerl (seinerzeit noch Jurastudent) nur Rottenführer. 126
Die Bestellungen wurden aufgegeben. Die Kellnerin (auch eine Jugoslawin, nämlich die Frau des Wirts) brachte das Bier und den Wurstsalat sauer für den ehemaligen Sturmmann Manderl; dann wurde die Tür von innen verschlossen, und der kurzatmige Sturmmann Gotthardinger (der Fahnenwart) entrollte die Tischstandarte. Es handelte sich um die Nachbildung der Fahne des SS-Totenkopfverbandes Stuba I Oberbayern. Der ehemalige Sturmmann Manderl trank Weißbier und schwitzte stark. Er trug – trotz der relativ kühlen Witterung – eine kniefreie Lederhose und eine karierte Lodenjoppe. Bürstenbärtchen unter der Nase. Was die Lederhose einerseits (sie schlotterte stark) und die gerollten, grobwollenen Kniestrümpfe andererseits frei ließen, war im Lauf der Jahrzehnte unansehnlich geworden. »Ob du dich nicht womöglich verkühlst, Kamerad Manderl?« fragte Hinkerl. »Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder, schnell wie … schnell wie …« Es fiel Manderl nicht ein. Auch den anderen nicht mehr. Manderl erzählte: »Ich grüße immer noch. Ihr wißt schon.« »Wen grüßt du?« »Die toten Kameraden. In der Residenzstraße. Bin oft genug Wache gestanden, am Mahnmal an der Feldherrnhalle. Ewige Wache.« »Ja, ja«, sagte Seilinger, »wo unser Wachlokal war, ist jetzt eine Buchhandlung.« 127
»Ich tu’ so, als ob ich bei dem Löwen gegenüber die Bronzenase reiben würde, in Wirklichkeit: grüße ich.« »Sehr brav«, sagte Grobleitner. »Wie die Windhunde«, sagte Seilinger. »Was?« fragte Hinkerl. »Ich meine: schnell wie die Windhunde. Weil uns das vorhin nicht eingefallen ist.« »Die kurze Wichs«, sagte Manderl und deutete auf seine mageren Knie, »war dem Führer das Liebste. Es hat ihm immer leid getan, daß er sie nicht mehr tragen konnte als Führer und Reichskanzler. Die kurze Wichs. Er wollte eigentlich eine SS-Standarte Oberland errichten; als Uniform: die kurze Wichs. Hätte mich sofort gemeldet.« »Du schaust nicht gut aus, Kamerad Manderl«, sagte Grobleitner, »fehlt dir was? Du bist auf einmal so gelb im Gesicht?« »Mehr grün«, sagte Seilinger. »Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl«, stieß Manderl hervor. Es gab zwei Ewige Wachen, damals. Jeweils zwei SSLeute in schwarzem Stahlhelm und mit präsentiertem Gewehr. Eigentlich, genaugenommen, drei: ein Doppelposten vor der Ehrentafel seitlich an der Feldherrnhalle und je ein Doppelposten vor jedem der beiden Ehrentempel am Königsplatz, der damals Königlicher Platz hieß. Im Volksmund: Plattensee, weil der Größte Feldherr Aller Zeiten den ehedem zivil grünen Platz mit Steinplatten belegen hat lassen, damit man besser aufmarschieren kann. 128
Auf der Ehrentafel standen die Namen der 16 Toten vom 9. November 1923, in den Ehrentempeln lagen ihre 16 ehernen Särge. Je acht. 14 der Toten waren am Odeonsplatz »gefallen«, zwei im Wehrkreiskommando, das der SA-Führer Röhm besetzt hatte. »Die ersten Toten der Bewegung.« Daß ein ganz unbeteiligter Kellner aus dem Annast namens Kuhn dabei war, der unvorsichtig aus der Tür geschaut hatte und den eine verirrte Kugel traf, wußten nur wenige. Er war sozusagen wie der Pontius ins Credo in die Liste dieser unheiligen Horde gekommen. Wahrscheinlich behielt man ihn bei, weil es sonst eine ungerade Zahl Särge gewesen wäre. In einem der Ehrentempel nur sieben: unschön. Der Führer liebte Symmetrie. In den Ehrentempeln brannte auch je eine Ewige Flamme. Die Ewige Flamme wurde schon 1940 gelöscht; wegen der Verdunklung. Die Ewigen Wachen standen bis 1945 da. Der Dienst war langweilig, aber ungefährlich. Es wäre entschieden gefährlicher gewesen, zu Anfang März 1945 in, sagen wir, Striegau in Schlesien Wache zu stehen. Bei Bombenangriffen war der Wache – hier in München, nicht in Striegau in Schlesien – gestattet, den Luftschutzbunker seitlich des Führerbaues in der Arcisstraße aufzusuchen. Die vorgesetzte Stelle war der Meinung, der man Vernunft nicht absprechen kann, daß vier auch noch so kühn blickende SS-Männer die amerikanischen Bomber nicht davon abhalten können, den Königsplatz zu überfliegen. Und mit ihren blankgeputzten Paradegewehren hätten sie auch keinen Bomber abgeschossen. 129
»Aber«, sagte Grobleitner, »die haben weder, jawohl, weder die Führerbauten noch das Haus der Deutschen Kunst, noch, jawohl, weder die Ehrentempel noch die Privatwohnung des Führers am Prinzregentenplatz bombardiert, und den Obersalzberg auch nicht. Wo sie sonst auf den Zentimeter genau zerdeppert haben, was sie wollten. Warum? Beziehungsweise? Warum nicht? Jawohl! Das war natürlich kalkuliert. Auch der Feind! hat menschlichen Respekt vor dem Führer gehabt. Prost!« »Prost!« sagten alle anderen. »Räumts die Fahne weg, Kameraden«, sagte Grobleitner, »damit wir eine neue Runde bestellen können. Also: und außerdem – wenn es nach den Plänen vom Churchill gegangen wäre, dann wären wir sofort mit dem Engländer gegen den Russen marschiert. Hätten die durch Sonne und Mond gejagt. Jawohl. Da würde die Welt heute anders ausschauen.« Ex-Sturmmann Gotthardinger rollte die Fahne ein und stellte sie unter den Tisch. »Da brauchten wir die Fahne nicht zu verstecken.« »Wiebittschen?« fragte die Wirtin. »Nichts, nichts, noch einmal das gleiche für alle.« »Auch dene Wurtsalate?« »Nein, nein, dank’ schön. Den nicht noch einmal. Nur ein Bier.« »Aber!« fuhr Grobleitner fort, »der Jude. Da war selbstverständlich der Jude dagegen. Daß wir mit dem Engländer und dem Amerikaner – naja – und dem Franzosen, obwohl man den militärisch vergessen kann, gegen den Russen marschieren. War natürlich wieder ein130
mal der Jude dagegen. Darf man heute nur nicht laut sagen. Der Roosevelt, natürlich.« »Der war doch gar kein Jud«, sagte Manderl, er keuchte und pfiff leicht durch die Nase. »Der Roosevelt und kein Jud? Daß ich nicht lach’. Roosevelt – der hat logischerweise eigentlich Rosenfeld geheißen. Selbstverständlich war das ein Jud. Sonst wäre er doch nicht dagegen gewesen, daß wir mit dem Engländer und dem Amerikaner gegen den Russen marschieren …« »Mir ist so komisch«, wimmerte der ehemalige Sturmmann Manderl. »Du bist auch ganz grün im Gesicht«, sagte der ExRottenführer Hinkerl. Die Jugoslawin brachte das Bier. – »Ich mag kein Bier mehr«, sagte Manderl, »ich möcht’ heim.« Er rülpste. »Wenn d’st ein paar Kopper machst, dann wird dir schon besser«, sagte Gotthardinger, »du hast wahrscheinlich nur eine schlechte Luft im Magen.« Die Tür wurde wieder zugesperrt. »Wo ist die Fahne?!« befahl Grobleitner. »Jessas, jetzt ist sie mir runtergefallen«, sagte Gotthardinger und verschwand unter dem Tisch. »Feiner Fahnenwart!« pfiff Grobleitner. »Ja Pfui Deifi!« schrie Gotthardinger unter dem Tisch heraus, »Pfui-Teifi-Pfui-Teifi – also so was –.« Der ehemalige Sturmmann Triblitz schreckte auf und bekam einen roten Kopf. Er schlief oft ein. »Was ist –?« fragte Triblitz. »Du bist nicht im Biergarten!« schrie Gotthardinger 131
und kroch – auch mit rotem Kopf – unter dem Tisch hervor, »da kannst so was machen. Aber hier gehst gefälligst aufs Klo.« »Ich? Wieso ich?« kreischte Triblitz. »Ja, wer denn sonst. Als ob das das erste Mal war. Schau die Lacken an, und wo sie ist.« »Jetzt riech’ ich’s auch«, sagte Seilinger, »Pfui Teufel.« »Er hat«, sagte Gotthardinger und entrollte die Fahne wieder, das heißt: er hängte die schwarz-weiß-rote Kordel über den Haken des kleinen Holzständers, »er hat, wie er’s halt vom Biergarten her gewohnt ist, also, nicht wahr, den Stecken entlang nunterlassen.« »Ist gar nicht wahr!« schrie Triblitz. »Ich riech’ es auch«, sagte Grobleitner. »Und deine Hosen ist ja noch naß«, sagte Gotthardinger. »Wo?« »Da!« »Du Schwein«, sagte Hinkerl. Triblitz sank in sich zusammen und wurde noch röter. »Tatsächlich. Ich kann mir das nicht erklären. Kann sein – ja, wahrscheinlich: kann sein, ich bin einen Moment eingenickt und mir hat ’träumt, ich bin am Abort.« »Ist die Fahne womöglich –?« fragte Grobleitner. Gotthardinger führte das Tuch zur Nase. »Nein, Herr Oberscharführer.« »Naja. Schließlich wird ein deutscher Mann noch im Haus eines slawischen Untermenschen auf den Boden pinkeln dürfen.« Als am 2. April in Ungarn Nagy Kamisza an die Rus132
sen verlorenging und damit die letzten Ölquellen, und am Tag danach die 17. US-Luftlande-Division und die 6. britische Garde-Panzer-Brigade Münster in Westfalen einnahmen, standen die Ehrenwachen immer noch vor den Ehrentempeln und der Tafel an der Feldherrnhalle. Auch als am 13. April die 4. sowjetische Garde-Armee Wien eroberte und am 17. April der Ruhrkessel platzte und die Reste von 21 deutschen Divisionen (das waren 325 000 Mann) in die segensreiche amerikanische Gefangenschaft gerieten, stand die Ehrenwache mit blankgeputztem Gewehr auch noch stramm und kühn und ohne mit einer Wimper zu zucken und achtete darauf, daß ja keiner, der vorbeiging, vergaß, die Pfote zum Deutschen Gruß zu heben. Als am 19. April die 2. britische Armee unter Generalleutnant Dempsey bei Lauenburg die Elbe erreichte, funktionierte die Wachablösung mit schneidigheiserem Geschrei und genageltem Stiefelknallen auf das Pflaster noch so zackig, wie es Vorschrift war. Am 29. April, das war ein Sonntag, war unter anderem SS-Sturmmann Seilinger für die Ewige Wache an der Feldherrnhalle eingeteilt. (Alle zwei Stunden war Ablösung. Länger als zwei Stunden hält es auch der stumpfsinnigste SS-Mann nicht aus, wie ein Ölgötze dazustehen.) Seilinger und Kamerad Recknagel hatten um Mitternacht die Wache zu übernehmen. Im Wachlokal in der Residenz, gleich gegenüber dem Mahnmal, nur grad über der Straße, brannte eine Funzel von 25 Watt. Auch die ging bald danach aus. Fern im Westen war Kanonendonner zu hören. Seilinger und Recknagel waren von 133
einem Fahrer mit einem Kübelwagen aus der SS-Kaserne in Ismaning hierhergefahren worden. Für so was war noch ein Auto da – und Benzin. Wohlgemerkt: Benzin, nicht Holzgas. Der Fahrer hatte Mühe gehabt, den vielen Trümmern auszuweichen, die auf den Straßen lagen. Aber anderer Straßenverkehr war nicht zu beachten gewesen. Kein Mensch war unterwegs. Die Nacht war kühl, und die SS-Leute im Kübelwagen fröstelten. Der Fahrer wich einem Straßenbahnwagen aus, der – obwohl sichtlich noch intakt – auf den Geleisen mitten auf der Straße stand. Die SS-Leute mußten sich festhalten. In dem Auto, das (mit Fahrer) für vier berechnet war, saßen sieben: zwei mal zwei für die Ehrentempel am Königsplatz und Seilinger und Recknagel für das Mahnmal an der Feldherrnhalle. Der Kanonendonner grollte immer noch. Die Residenz war ein Trümmerhaufen, nur wenige Teile waren unbeschädigt, darunter die Wachstube. Auch die Feldherrnhalle war ziemlich angeschlagen. Die Löwen davor sahen aus, als stapften sie durch Schutt. An einem hing, vom Vorderfuß weg, ein dickes Seil. War da ein Wehrkraftzersetzer aufgehängt worden? Wohl eher nicht. Das hätte anders ausgesehen. (Seilinger kannte das.) Es war wohl eher so, daß einer versucht hatte, sogar diesen Löwen zu organisieren. Herunterziehen, wegschleppen, zerschweißen, verscherbeln. Dann hatte der Plünderer erst gemerkt, daß der Löwe gar nicht aus Buntmetall, sondern aus Blei ist. Außerdem zu schwer. Der Fahrer hielt, Seilinger und Recknagel sprangen ab, 134
die vier anderen atmeten durch und setzten sich bequemer hin. Der Motor heulte wieder auf, der Wagen bog in die Briennerstraße ein. »Komme dann gleich wieder«, hatte der Fahrer geschrien, »und nehme die Abgelösten mit.« Seilinger und Recknagel stapften durch den Schutt zur Wachstube. Die zwei, die von zehn Uhr bis Mitternacht Wache gehabt hatten, standen tatsächlich da. Zäh wie Leder. »Stellen wir uns wirklich hin?« fragte Recknagel. »Was?« fragte Seilinger. »Eigentlich ein Blödsinn. Ist eh keiner da. Die Offiziere sind doch längst getürmt.« »Weißt du, was auf Wachvergehen steht?!« »Sieht doch keiner, und wenn …« »Und deinen Eid auf den Führer, hast du den vergessen?« »Was ist jetzt?« brüllte einer von den Wachen herüber, »löst ihr uns jetzt ab oder wie? Es ist schon zwei nach.« Seilinger machte eine herrische Gebärde mit dem Kopf gegen Recknagel, zerrte den Riemen seines Stahlhelms fest und marschierte hinüber. Habtacht! Begrüßung. Wachübergabe, Stiefelknallen; wie üblich. Dann standen Seilinger und Recknagel da. Seilinger links, Recknagel rechts, von der Residenz aus gesehen. Die Abgelösten lockerten die Helmriemen, schüttelten die Glieder. Die Stadt war grau, nicht nur, weil es Nacht war. Auf den Trümmern lag Staub, viel Staub. Es war, als hätte die Zerstörung vor allem die Farben getilgt. Alles grau. Nicht melancholisch, sondern schäbig. Hauptstadt der 135
Bewegung. Eine Ratte lief über den Odeonsplatz. Die einzige Bewegung. Die Ratte, ein Riesenvieh, fast so groß wie ein Dackel, kam aus dem Hofgarten, verhoffte auf der Residenzstraße, schaute zu den SS-Leuten herüber. Recknagel riß das Gewehr von der Schulter – »Spinnst du!« schrie Seilinger – ein Schuß krachte – flaches Geräusch, hallte durch die Straßen, die Druckwelle löste kleinere Trümmer – eine Schar Tauben flog hoch – die Ratte verschwand – der Querschläger surrte einen Moment – Recknagel hatte die Ratte verfehlt. »Du bist wahnsinnig«, fauchte Seilinger, »wie willst du nachher den Schuß begründen?« Recknagel lud wieder durch. Die Hülse flog klirrend aufs Pflaster. »Gar nicht«, sagte Recknagel, »vorgestern war der Ami schon in Augsburg.« »Was willst du damit sagen?« Die Tür des Wachlokals drüben ging vorsichtig auf. Die zwei Abgelösten kamen mit erhobenen Händen heraus. Als sie sahen, daß die Amerikaner noch nicht gekommen waren, nahmen sie verlegen die Hände wieder herunter. »Es hat nur er da geschossen«, sagte Seilinger, »auf einen Ratz. Nicht getroffen.« Der Kübelwagen kam zurück, raste aus der Briennerstraße heraus, drehte eine Kurve, daß der Staub aufwirbelte, und hielt. »So eine Schweinerei!« schrie der Fahrer, »das melde ich.« Der Kübelwagen war, bis auf den Fahrer, leer. Nur hinten lagen vier Gewehre auf dem Sitz. »Das ist alles, was ich vor der Ewigen Wache gefunden habe; das melde ich! Die sind desertiert. Von der Wache 136
desertiert! Von der Ewigen Wache! Möchte nicht wissen, was das Kriegsgericht dazu sagt.« Die zwei Abgelösten holten schnell und schuldbewußt ihre Gewehre, sprangen auf den Kübelwagen, der Fahrer fuhr die Ludwigstraße hinunter davon. »Und was machen wir?« fragte Recknagel leise, als sich der Staub verzogen hatte und das Rattern des Motors verklungen war. »Wieso? Was sollen wir machen?« »Verdünnen wir uns auch?« »Einen Schritt, wenn du machst, schieß’ ich«, sagte Seilinger, »ich mag keine Feiglinge.« »Du schießt nicht«, sagte Recknagel. »Ich schieße«, sagte Seilinger. »Du wirst doch nicht auf einen Kameraden schießen?« »Auf einen Kameraden nicht, aber auf einen Fahnenflüchtigen.« »Dann schieß’ ich zurück.« Seilinger lachte: »Du hast ja nicht einmal den Ratz getroffen.« Bald nach Mitternacht verstummte der Kanonendonner. Es war totenstill. Um zwei Uhr schaute Seilinger auf seine Armbanduhr. »Sie müßten schon da sein.« »Wer?« fragte Recknagel, »die Amis?« »Die Wachablösung!« fauchte Seilinger. »Ist es schon zwei Uhr?« fragte Recknagel. »Schon vorbei. Und meine Uhr geht eher nach.« »Und wenn keiner mehr kommt?« 137
»Wie? Keiner mehr kommt?« »Wenn keine Wachablösung mehr kommt?« »Aber das hier ist eine Ewige Wache«, sagte Seilinger, »es muß eine Wachablösung kommen.« »Wenn aber in der Kaserne alle davongelaufen sind?« »SS-Leute laufen nicht davon«, sagte Seilinger. »Die vor den Ehrentempeln sind schon vor zwei Stunden davongelaufen.« Seilinger tat, als habe er das nicht gehört, und schaute starr geradeaus. Nach einiger Zeit sagte er: »Es könnte natürlich sein, daß um die Kaserne gekämpft wird.« »Dann«, sagte Recknagel hoffnungsvoll, »müssen wir hin. Eingreifen. Sofort.« »Untersteh dich; einen Schritt, und ich schieße. Wir haben den Befehl, hier Wache zu halten, also: halten wir hier Wache.« »Aber nur zwei Stunden. Die sind vorbei.« »Ja, nein. Nicht zwei Stunden, sondern bis Ablösung kommt.« »Und wenn keine mehr kommt?« »Es kommt eine Ablösung.« »Mir tun die Füße weh«, sagte Recknagel. »Denk an deinen Eid!« »Ich habe keinen Eid geleistet, daß mir nie die Füße weh tun werden.« »Waschlappen!« »Also: eine halbe Stunde bleibe ich noch, dann …« »Dann?« »Nichts«, sagte Recknagel. 138
Im Osten dämmerte der Morgen herauf. Immerhin hatte in der Stunde zwischen zwei und drei Uhr Recknagel den Seilinger soweit gebracht, daß sie nicht mehr standen. Wahrscheinlich hatten jetzt auch Seilinger die Füße angefangen weh zu tun. »Also gut«, hatte Seilinger gesagt, »aber nicht in die Wachstube. Sondern hierher.« Recknagel hatte geseufzt, seinen Mantel aufgeknöpft, seine Glieder gerüttelt, sein Gewehr hingelehnt und sich auf einen Mauerbrocken gesetzt, der da seitlich lag. Ein paar Minuten lang war Seilinger noch in Wachstellung dagestanden, hatte aber immer öfters zu Recknagel hinübergeschaut. »Läßt scheint’s wirklich auf sich warten, die Ablösung«, hatte er dann gesagt und sich auch hingesetzt. Um viertel nach vier, es war schon ziemlich hell, ging Seilinger zum Austreten. Er ging ein paar Schritte gegen das Preysingpalais hin, stieg über einige Trümmer, stellte sein Gewehr neben sich, knöpfte den Mantel auf, senkte den Kopf; es plätscherte. Leise erhob sich Recknagel. Leise nahm er das Gewehr, hob es – »Hände hoch!« schrie er. »Ich pinkle doch –« schrie Seilinger. »Hände hoch!!« schrie Recknagel. Seilinger wandte den Kopf – es plätscherte weiter. Recknagel schoß. Eine Schar Tauben flog auf. »Feiges Schwein!« schrie Seilinger. »Keine Bewegung! Halt die Hände oben –« »Feiges Schwein!« schrie Seilinger. Recknagel ging gebückt, rückwärts, Schritt für Schritt dem Hofgarten zu, das Gewehr im Anschlag. 139
Mit erhobenen Händen pinkeln ist schwierig. Seilinger fluchte. Nach ein paar Minuten schrie er: »Bist du noch da?« Nichts. Seilinger wandte vorsichtig den Kopf. Recknagel war verschwunden. Seilinger fluchte wieder, knöpfte seine Hose zu. Die ganze Hose vorn naß; der Mantel teilweise auch. Seilinger nahm sein Gewehr und ging zur Feldherrnhalle zurück, setzte sich auf den Mauerbrocken, lockerte den Gurt seines Stahlhelms. Er wachte auf, als ihn ein Neger mit der Mündung einer Maschinenpistole anstieß. Hinter dem Neger stand ein Jeep, aus dem ein grinsender Offizier austieg und in tadellosem Deutsch sagte: »Der Kraut ist auf seiner Wache eingeschlafen. Eigentlich gehört er erschossen.« Seilinger rumpelte auf, knöpfte automatisch seinen Mantel zu und schaute dumm. Am Odeonsplatz standen zwei amerikanische Panzer und ein Lastwagen, auf dem ein Dutzend elendig aussehender deutscher Gefangener saß. »Einen Moment«, sagte der Offizier auf deutsch, dann auf englisch ein paar kurze Befehle zu dem Neger. Der Neger nahm zu Seilingers Erleichterung die Maschinenpistole weg und trat ein paar Schritte zurück. »Kraut!« sagte der amerikanische Offizier, »stellen Sie sich zu der Tafel und präsentieren Sie das Gewehr!« Seilinger schüttelte fragend den Kopf. »Ja – los! Und wo ist der andere? Ihr sollt doch zu zweit sein?« Seilinger schlug die Hacken zusammen: »Zu Befehl Herr … Herr Offizier –«, er konnte den Dienstrang des Amerikaners nicht ausmachen, »– der andere ist … ist desertiert.« 140
»Was?« schrie der Offizier und lachte, »von der Ewigen Wache desertiert?« »Habe ich ihm auch gesagt«, sagte Seilinger. »Also dann stellen wenigstens Sie sich hin.« »Ich?« »Ja, wer denn sonst!« Seilinger schüttelte den Kopf. Er stellte sich ungern an die Wand. Der Neger schaute immer noch her zu ihm. Mit der Maschinenpistole. Recknagel hatte vielleicht doch das Richtige getan. »So – brav!« sagte der Offizier. Die Elendsgestalten vom Lastwagen schauten zu. Ein paar lachten. Auch aus einem der Panzer schaute jetzt aus der Luke ein Amerikaner heraus. Seilinger spürte, daß seine Augen feucht wurden. Beten, dachte er. Beten? Er war vor seinem Eintritt in die SS aus der Kirche ausgetreten. »Ich habe«, sagte er leise mit belegter Stimme zum Offizier, »eine Mutter …« Das Gewehr, das ihm der Offizier jetzt in die Hand drückte, wog schwer, sehr schwer, so schwer wie die ganzen Jahre nicht. Der Neger mit der Maschinenpistole riß die Augen auf und fletschte die Zähne. Seilinger sah, wie eine Gruppe von Schülern, unter denen der junge Seilinger war, die Residenzstraße heraufkam. Es war Sommer. Der Lehrer trug eine Lederhose und einen Hut mit einem Gamsbart. Der Lehrer grüßte. Heil Hitler. Die Schüler grüßten auch. Der Lehrer erklärte den Schülern die Bedeutung des Mahnmals. Zwei Schüler machten hinter dem Rücken des Lehrers Faxen. Seilinger nicht. Der hörte dem Lehrer zu. Mit ergriffener Stimme las der Lehrer 141
die Namen der Gefallenen von der Tafel (einschließlich den des unschuldigen Kellners Kuhn). Blutzeugen, sagte er. Sein Gamsbart bebte vor Begeisterung. Die Mutter gab Seilinger einen Rosenkranz. Es war Herbst. Der Regen klatschte gegen das Fenster. »Nimm ihn mit«, sagte die Mutter. Seilinger war schon in Uniform. Die Mutter hatte gemeint (Seilinger auch), er müsse nach Polen an die Front. »Nimm ihn mit«, flehte die Mutter. »Aber Mama«, sagte Sturmmann Seilinger, »das ist mein Rosenkranz.« Er zeigte auf sein Koppelschloß: Unsere Ehre heißt Treue, »Meine Treue heißt Erika«, hatte SS-Sturmmann Frankl einmal gesagt, leider in Gegenwart eines Sturmbannführers; hatte zwei Tage Bau bekommen. Die Mutter steckte den Rosenkranz wieder ein. Seilinger kam auch dann gar nicht nach Polen an die Front, sondern zur Lagerbewachung nach Dachau. Der Neger riß die Augen noch weiter auf. Riesige schwarze Augen mit viel Weiß drum herum. Seilinger wurde es schlecht. Er spürte, wie es vom Magen heraufkam … »Präsentiert das Gewehr!« schrie der amerikanische Offizier. Seilinger stellte sich an die Wand neben das Mahnmal und präsentierte das Gewehr. Da stand Seilinger stundenlang, wochenlang, monatelang, die Sonne ging auf und unter, der Mond ging auf und unter. Die Ruinen und die Brocken und der Staub waren nicht mehr grau, sondern leicht rötlich. Der amerikanische Offizier ging zurück zum Jeep, holte einen Photoapparat, photographierte Seilinger, stieg dann, ohne Seilinger noch einmal anzusehen, in sein 142
Auto und gab dem Fahrer einen Befehl. Der Jeep fuhr an, zum Max-Josephs-Platz hinein. Der Neger winkte mit der Maschinenpistole und deutete auf den Lastwagen. Seilinger stolperte dorthin, stieg hinauf. Der Neger schob ihn hinein. Seilinger lachte, er wußte auch nicht warum. Auf der Fahrt durch die Landsberger Straße hinaus nach Westen bemerkte Seilinger in Höhe der Friedenheimer Brücke, daß er sein Gewehr immer noch bei sich hatte. Er warf es in hohem Bogen aus dem fahrenden Auto. »Eine erdrückende Übermacht«, sagte Seilinger, »was willst da machen.« »Ja, ja, klar«, sagte Grobleitner. »Ich habe mich in den Trümmern verschanzt, so gut es halt gegangen ist, an der Feldherrnhalle …« »Du hast es schon mehrmals erzählt«, sagte Triblitz. »Vier Neger haben ins Gras beißen müssen«, sagte Seilinger, »paff – paff – paff – paff – Schütze war ich immer ein guter.« »Letztes Mal waren es noch drei«, sagte Hinkerl. »Vier!« sagte Seilinger, »dann haben sie das Feuer auf mich eröffnet. Zwei Panzer und ein Maschinengewehr. Die Einschüsse kann man noch heute sehen, an der Feldherrnhalle. Und dann – naja. Wie ich keine Munition mehr gehabt habe, mußte ich mich ergeben.« »An und für sich«, sagte Grobleitner, »müßtest du dafür das E-K-eins bekommen.« »Ja«, sagte Seilinger, »aber wer hätte mir das da noch geben sollen?« »Eben«, sagte Grobleitner. 143
Manderls Kopf fiel auf den Tisch. »Ist er schon wieder besoffen?« sagte Gotthardinger. »Und was ist mit dem Recknagel passiert?« fragte Hinkerl. »Das feige Schwein«, sagte Seilinger, »hat der doch die Stirn gehabt, beim ersten Kameradschaftstreffen 1951 aufzutauchen. Aber ich habe ihn sofort erkannt. Habe ihm überdeutlich meine Meinung gesagt.« »Ich hätte so einem ein paar hinter die Löffel gegeben«, sagte Hinkerl. »Hinter die Löffel geben! Wie soll ich ihm ein paar hinter die Löffel geben, wenn ich dasteh’ und et cetera, und er hat das Gewehr im Anschlag hinter mir –« »Nein«, sagte Hinkerl, »nachher, meine ich. Beim Kameradschaftstreffen.« »Ging nicht«, sagte Seilinger, »er war inzwischen Oberinspektor geworden.«
DER DICKE HUND Für Hannelore Strasser
»Als ob sie’s geahnt hätte«, schrie Frau Derendinger zu Frau Schlegelberger hinüber. Beide saßen unter Trokkenhauben beim Friseur Hapermann. Frau Schlegelberger rückte ihren Kopf ein wenig unter der dröhnenden Nickelkonstruktion hervor und schrie: »Was haben S’ g’sagt?« »Als ob sie’s geahnt hätte!« schrie Frau Derendinger. »Wer?« schrie Frau Schlegelberger. »Die Oma!« »Welche Oma?« »Unsere Oma!« »Ah so«, sagte Frau Schlegelberger und tauchte wieder unter ihre Haube. Feuchte Hitze, der Geruch von Shampoo und verbrannten Haaren waberte durch den Salon Hapermann, in dem violettgekleidete Friseusen hin- und herglitten. Durch die Schaufenster drohte ein nasser und windiger Oktoberspätnachmittag herein. »Kann man sagen: fast schon Winter«, sagte Frau Friseurmeisterin Hapermann, die Chefin. Eigentlich aber nur die Frau vom Chef, was er, wenn sie nicht dabei war, betonte. »Was?« schrie Frau Derendinger. »Schon fast Winter!« schrie Frau Hapermann, »würd’ mich nicht wundern, wenn’s bald zum Schneien anfangen tät’.« »Na ja«, sagte Frau Derendinger, »nächste Woche ist Allerheiligen.« Am Schaufenster stand in Spiegelschrift: Bei Felix Mode- und Filmfriseur, in Spiegelschrift von herinnen 145
aus gesehen, aber wenn man in den Spiegel schaute, und solche waren ja genug da, konnte man die Schrift wieder richtig lesen. Früher hatte der Laden schlicht: Felix Hapermann, Damen & Herren geheißen. Noch früher hatte er überhaupt nicht geheißen, da war der Vater Hapermann noch der Bader gewesen, der außer Haareschneiden auch Zahnbrechen und Schröpfköpfe ansetzen konnte. So ändern sich die Zeiten. Frau Derendinger konnte sich erinnern, daß der alte, jetzt längst verstorbene und oben am Ostfriedhof unter einem schwarzpolierten Grabstein beerdigte Bader Hapermann noch gelegentlich im Laden war, obwohl er den Betrieb schon übergeben hatte. Das war gewesen, als sie in die Straße gezogen waren, frisch verheiratet, aber der Eduard schon unterwegs. Frau Derendinger seufzte. Wie schnell die Zeit vergeht, wenn man älter wird; immer schneller. Der alte Bader Hapermann hatte einen Bart gehabt wie der Prinzregent. Hat er nicht auch Luitpold geheißen? »Wie hat jetzt Ihr Schwiegervater geheißen, Frau Hapermann?« »Mein Schwiegervater? Hapermann!« sagte Frau Hapermann. »Ja, nein«, schrie Frau Derendinger, »ich meine: mit Vornamen.« »Luitpold!« schrie Frau Hapermann. »Habe geglaubt, mich zu erinnern«, schrie Frau Derendinger, »habe es nur nicht mehr so genau gewußt.« »Und warum?« schrie Frau Hapermann. »Nur so«, schrie Frau Derendinger. 146
Der Georg, ihr Mann, hatte sich immer geweigert, zum Haarschneiden zu gehen, wenn der alte Hapermann im Laden war. »Womöglich zieht er mir einen Zahn, bevor’s d’ Papp machst, vor lauter Zerstreutheit«, hatte Herr Derendinger damals immer gesagt. Aber es war nicht oft, daß der alte Bader noch im Laden war, nur ab und zu, wenn der Junior grad nicht da war, in die Stadt gehen mußte oder zu den SA-Aufmärschen. War auch dann immer seltener im Laden, wurde krank, starb. Das war noch – wann war das? –, jedenfalls noch vor dem Krieg. Nach dem Krieg mußte der SA-Mann und Friseurmeister Hapermann eine Zeitlang seine Konzession entbehren. Da führte dem Namen nach seine Frau den Laden. Ein paar Monate war er auch überhaupt nicht da, der Herr Hapermann. Es wurde nicht darüber geredet, schließlich gehörte Hapermann zu den reichen Leuten in der Straße, war Eigentümer eines vierstöckigen Mietshauses, des Eckhauses, in dem unten der Laden war. Aber man flüsterte: Steinbruch. »Da werden seine Fingernägel leiden drunter, seine manikürten«, hatte Herr Derendinger gesagt. »Sei nicht so mißgünstig«, hatte Frau Derendinger geantwortet, »und dir täte besser, wenn du im Gegenteil deine Nägel sauberer halten tatst und öfters schneiden. Manchmal kann man schon gar nicht mehr hinschauen. Von die Zehennägel ganz zu schweigen.« Derendinger warf einen ganz kurzen Blick auf seine Hände und steckte sie rasch in die 147
Tasche. Aber anderseits: komisch schon, wenn man den Friseurmeister Hapermann in seinem Laden sitzen sah – bei ruhigem Geschäftsgang –, und eine von seinen Friseusen kniete vor ihm, und er weichte geziert seine Wurstelfinger in ein Schüsselchen mit Seifenlösung. Aber die Fingernägel hatten nicht darunter gelitten, was deutlich zu bemerken war, als Hapermann wieder auftauchte. Er habe auch nur, flüsterte man weiter, den anderen Ex-Nazis im Steinbruch die Haare geschnitten. »Es gibt halt welche«, hatte Herr Derendinger gegiftet, »die fallen immer auf die Butterseite.« Schon Felix Hapermann, Hapermann junior damals (heute längst Hapermann senior, Junior war der Helmut, der mit Heinz Derendinger in die Schule gegangen war; hatte aber kein Interesse am Friseurgeschäft, »– ach ja«, seufzte immer Frau Hapermann, »irgendwie verstehen kann man’s schon.« Hapermann Helmut wollte Pilot werden), schon Felix Hapermann war nicht mehr Bader gewesen, sondern schon Friseurmeister. Als er seine Konzession zurückbekam, und die alte Frau Pieger, die Milchfrau, starb, die ihren kleinen Laden von Frau Hapermann gemietet gehabt hatte, nahm Hapermann den ehemaligen Milchladen dazu, und wie der Drogist Kühnlein daneben starb, auch die Drogerie. Und dann baute er um: eine großartige Schaufensterfront. Blattpflanzen und abstrakte Tapete. Seitdem mußten die Angestellten violette Kittel tragen. Und: Bei Felix Mode- und Filmfriseur, obwohl nie jemand Maria Schell oder nicht einmal Heidi Brühl in dem Laden gesichtet hatte. 148
Frau Derendinger und Frau Schlegelberger standen vor dem Laden, frisch coiffiert. Der Asphalt glitzerte in der Nässe, die Autos spritzten, die Lichter spiegelten sich, blaue Funken stoben von der feuchten Oberleitung, wenn eine Staßenbahn vorbeifuhr. »Als ob s’es geahnt hätte, die Oma«, sagte Frau Derendinger. »Was?« fragte Frau Schlegelberger. Beide Damen hatten einen Schirm aufgespannt, mußten ihn seitwärts halten, damit sie nahe genug aneinander treten konnten, um zu reden. Es war laut auf der Straße, stark verregneter Feierabendverkehr. »Na ja, daß sie bald – daß sie uns eben bald verläßt.« »Ach so.« »Und da hat sie unbedingt darauf bestanden, daß sie photographiert wird. Mit uns alle miteinander.« Zwar gab es im Haus Derendinger wie überall mehrere Photoapparate. Der alte Derendinger – Georg, Frau Derendingers Gatte – hatte einen, Derendinger jun. – Eduard, der mit seiner Familie im zweiten Stock unten wohnte – hatte einen, und Heinz, des alten Derendingers jüngerer Sohn, der damals schon nicht mehr bei den Eltern wohnte, Amtmann bei der Justiz war und seine Beförderung zum Oberamtmann erwartete, hatte sich vor ein, zwei Jahren sogar eine Leica gekauft mit Teleobjektiv und allem; aber ein richtiger Photograph war keiner von ihnen. Sie knipsten halt im Urlaub oder bei Ausflügen. Oma Derendinger wollte aber ein richtiges Gruppenbild haben, möglichst mit Hintergrund. Zunächst dachte man deshalb daran, zu einem professionellen Photographen zu gehen: weiter gegen den Mariahilfplatz zu befand sich das Photoatelier Mandelein. 149
In Frau Mandeleins Auslage hingen schöne, gerahmte Hochzeits- und Erstkommunionsbilder entweder in Hochglanz oder matt-chamois, die Braut auf einem Sessel, der Bräutigam auf einen Säulenstumpf gestützt. Oder neuere Versionen: das Brautpaar im offenen Sportwagen, wehender Brautschleier. Lang hing eine Photographie im Schaufenster, die wohl Frau Mandelein für besonders gelungen hielt: das Brautpaar Angerlechner aus der Albani-Straße in Taucherkostüm mit Schnorchel und Flossen. Die frisch angetraute Frau Babette Angerlechner hatte als Brautstrauß einen Korallenstrunk in der Hand, Herr Hans Angerlechner eine Harpune. Und gerade diese Ehe war schon wieder geschieden, als das Bild immer noch in der Auslage hing. Aber Frau Photographenmeisterin Mandelein war teuer, das wußte man von Tommis Erstkommunionsphoto her, außerdem berechnete sie den Preis nach der Anzahl der abgelichteten Personen, weshalb man damals darauf verzichtet hatte, die Eltern neben dem Erstkommunikanten verewigen zu lassen. So stand Tommi mit seiner langen Kerze unglücklich und allein da. Das Bild hing gerahmt in Omas (eigentlich Uromas) Schlafzimmer. Tommi unter Tränen lächelnd. Er hatte nämlich außer seiner Kerze auch noch seinen neuen Westernhut mit aufs Bild nehmen wollen, hatte mit dem Fuß gestampft und gekreischt: »Wenn ich nicht den Westernhut auf hab’, ist die ganze Photographiererei für mich gestorben.« Da hatte Derendinger jun. seinem Sohn eine Ohrfeige gegeben. Tommi rotzte, die Mutter schneuzte ihn. »Lächeln!« 150
hatte Frau Mandelein gerufen. »Lächeln!« drohte Derendinger, »sonst fängst noch eine.« »Das sind alles in allem«, rechnete Derendinger sen. nach, »du und ich, und die Oma selber, und der Edi und die Hertha, macht fünf, und Heinz sechs, und Tommi und Horst sieben Personen, der helle Wahnsinn, was das kost’.« Im Haus, auch im zweiten Stock, gegenüber Derendinger jun., wohnte ein Ehepaar mittleren Alters namens Schurgel. Frau Schurgel war ziemlich klein und rundlich, Herr Schurgel lang und schlaksig. Herr Schurgel war Ofensetzer und Hobbyphotograph. Er hatte sich sogar eine Dunkelkammer eingerichtet. Am liebsten photographierte er seine Frau. »Ist doch ein schöner Zug von ihm«, sagte Frau Derendinger sen., als sie einmal im Stiegenhaus mit Frau Schurgel darüber redete, »ein schöner Zug von ihm – nach so langer Ehe; wie lang sind Sie verheiratet?« »Dreizehn Jahr’«, sagte Frau Schurgel, und: »wie man’s nimmt.« »Ist doch ein schöner Zug …« »Möglich«, sagte Frau Schurgel seufzend und leise: »nur: nackert.« »Wie – wer? Er photographiert nackert?« »Nicht er – ich«, flüsterte Frau Schurgel, »er heißt es künstlerische Aktphotos.« Frau Derendinger glaubte in Abgründe zu blicken. »Sie – nackert? Pudeinackert?« »Pudel«, bestätigte Frau Schurgel.
»Hier im Haus?« – »In der Wohnung mit Blitzlicht, im Sommer auch auswärts – natürlich nur an einsamen Stellen. Wenn Sie wüßten, wie ich mich genier’. Aber was willst machen, wo es einmal sein Hobby ist, und sonst kommt er womöglich auf die Idee, andere Weiber zu photographieren. Wenigstens entwickelt und vergrößert er alles selber et cetera, in seiner Dunkelkammer. Wenn man das Zeug außer Haus geben müßte – ich würd’ mich ja nicht mehr auf die Straße trauen.« Frau Derendinger schaute seit dem Tag den Ofensetzer Schurgel mit anderen Augen an, der im übrigen immer freundlich grüßte und sogar, wenn er grad dazu kam, Frau Derendinger den Einkaufskorb abnahm, höflich und zuvorkommend, allerdings nur bis in den zweiten Stock, wo er wohnte, die restlichen Stiegen mußte Frau Derendinger den Korb dann wieder selber tragen. Als Frau Derendinger nach Überwindung einer gewissen Hemmschwelle an Herrn Schurgel wegen der Gruppenphotographie herantrat, war er sofort, ja mit Freuden, einverstanden. »Es wird ihm ja klar sein«, hatte Frau Derendinger zu ihrem Mann gesagt, »daß wir alle bekleidet photographiert werden wollen.« Herr Ofensetzer Schurgel begann mit den Vorbereitungen. In erster Linie redete er über das Projekt. Es war sein erster Auftrag. »Es soll eine große Sache werden«, sagte er. (Für Frau Schurgel waren diese Wochen eine glückliche Zeit.) Herr Schurgel wählte das Hintergrundmotiv aus und bestimmte die Kleidung. Hintergrund: Derendingers (der alten) Schrankwand im Wohnzimmer;
Kleidung: farblich abgestimmt. Ohne daß noch photographiert wurde, mußten sich Derendingers aufbauen, das alte, das junge Ehepaar, Heinz, Tommi und Horst und natürlich die Oma in der Mitte. Herr Schurgel war nicht leicht zufriedenzustellen. Er gruppierte und gruppierte um. Um die Orientierung im Gedächtnis zu behalten, fertigte er Handskizzen an. Fräulein Schöttl erfuhr von dem Vorhaben, obwohl sie schwerhörig war. Aber das ganze Haus redete von nichts anderem, Herr Schurgel sorgte dafür. Fräulein Schöttl war die Putzfrau. Sie war nicht nur schwerhörig, sondern auch eine Zwergin. Wenn sie nicht putzte, saß sie im Stehausschank auf dem alten Kanonenofen und trank Schnaps. Der Kanonenofen war auch im Winter kalt, denn er wurde nicht mehr benutzt. Der Stehausschankpächter hatte eine Elektro-Nachtspeicherheizung einbauen lassen. Den Kanonenofen entfernte er nicht, weil er Angst hatte, daß wieder schlechtere Zeiten kommen könnten, in denen mit Stromabschaltungen zu rechnen ist. Hatte man ja alles schon gehabt. Die Konzession verbot dem Pächter Stühle und Tische: Stehausschank, nur der Tresen, und eben der Kanonenofen. Dort saß Fräulein Schöttl. Sie hieß mit Vornamen Amalie. Wenn sie auf dem Kanonenofen saß, sah man, daß sie unerhört krumme Beine hatte. Die Beine baumelten in braunen Wollstrümpfen herunter und bildeten einen Kreis, nicht einen angenäherten Kreis, sondern einen wirklichen. An den Füßen hatte sie kleine Schnürstiefel. Sie mußte Kindergrößen tragen. Wenn sie gerade Beine gehabt hätte, wäre sie keine Zwergin mehr 153
gewesen, aber sehr klein immer noch. Wie alt Fräulein Schöttl war, konnte niemand sagen. Tatsache war, daß Fräulein Schöttl schon 1926, als Derendinger sen. einzog, die Stiegen im Haus putzte; auch damals hatte sie nicht anders ausgesehen. »Ich versteh’ gar nicht«, hatte Fräulein Schöttl 1945, kann auch sein 1946, gesagt, als die junge Kriegerwitwe Kölblinger, die damals im vierten Stock (Mitte) wohnte und später nach Amerika auswanderte, von einem Negeroffizier abgeholt wurde und in einem Jeep eine Spritztour zum Tegernsee machen durfte, »ich versteh’ diese Frauen nicht«, hatte Fräulein Schöttl gesagt, »einen Neger. Mir wennst nicht gangst. Ich tat’ mich nie mit einem Neger einlassen.« Fräulein Schöttl wollte mit aufs Bild, mit Kübel. So stand sie eines Tages vor der Tür. Nachzutragen wäre, daß sie auch fast blind war. Sie hatte ganz dicke Augengläser, die für den, den sie (von unten her) anschaute, wie Vergrößerungsgläser wirkten. So stand sie vor der Tür und brabbelte etwas Unverständliches. Sie brabbelte immer so, wenn sie etwas wollte, was ihr nicht zustand – das doppelte Treppenzehnerl zum Beispiel, wenn sie das von Herrn Derendinger kassierte, nachdem sie es schon einmal von Frau Derendinger kassiert hatte – aber die Hausbewohner waren daran gewöhnt und verstanden sie. Sie stand vor der Tür, als Herr Derendinger im braunen Anzug mit blauer Krawatte aufmachte, und schaute wie ein Lurch. Fräulein Schöttl wußte natürlich alles, was im Haus vor sich ging, weil sie sich immer im Stiegenhaus aufhielt. 154
»Die Schöttl möcht’ auch aufs Bild!« schrie Derendinger in die Wohnung hinein. Herr Schurgel war mit Umgruppierungen beschäftigt. Er drapierte um Oma einen Spitzenshawl. »Laßt’s es rein«, sagte die Oma mild, »den armen Teufel.« Herr Schurgel war etwas pikiert. Der blau-grün-violett geblümte Kittel der Schöttel paßte ihm nicht ins Konzept. Horsti Derendinger (der aber nicht Derendinger hieß, nur so genannt wurde; er stammte aus der ersten Ehe von Frau Derendinger jun.) sagte: »Der Kübel stinkt.« »Der Geruch kommt nicht aufs Bild«, sagte Derendinger jun. Die Schöttl strahlte. Es blieb aber nicht bei Fräulein Schöttl. Die Hausfrau – also die Eigentümerin des Hauses, sie wohnte im zweiten Stock – hieß Frau Täglichsbeck und war Witwe. Sie war groß und dick und kam, wenn sie im Stehausschank unten wieder einmal zu hoch in der Kreide stand, schon am Zwanzigsten, für den nächsten Monat die Miete kassieren. Obwohl sie sonst die Mieter nicht ungern schikanierte, war sie in solchen Fällen naturgemäß kleinlaut. »Ein unerwarteter Engpaß, Frau Derendinger, ach ja, ach ja«, sagte sie, »ist wirklich erst der Zwanzigste? Ein unerwarteter Engpaß, und Ihnen macht’s ja nichts aus. Leuten wie Ihnen macht so was nichts aus. Meine besten Mieter.« Trotz allem war für Frau Derendinger sen. die Hausfrau eine Respektsperson. Sie zahlte die Miete für den nächsten Monat vom Haushaltgeld. Derendinger – abends dann – tobte. »Und wir? Mir zahlt der Chef den Lohn auch nicht am Zwanzigsten. Und von was sollen wir jetzt dann leben? Die restlichen zehn Tage?« »Dann geh 155
runter und hol’s wieder«, sagte Frau Derendinger. Aber das tat Derendinger doch nicht. Gehungert haben Derendingers trotzdem nie. Kaisers Kaffeegeschäft schrieb an. Aber daß das unangehm war, weil es die anderen Leute doch erfuhren, ist klar. Frau Täglichsbeck trug Kittelschürzen und heruntergerollte Strümpfe. Ihre Haut war weiß wie beim Grottenolm. Sie hatte einen Schnurrbart. Es hieß, die Schöttl müsse sie gelegentlich rasieren. Der Stehausschank war unten im Haus, war von der Täglichsbeck an eine Brauerei vermietet, die wiederum den Ausschank an den Pächter verpachtet hatte. Simmandl hieß der Pächter. Die Tür des Stehausschanks und das kleine Schaufenster, das mit einer dunkelweißen Gardine bis zur Augenhöhe verhängt war, gingen natürlich auf die Straße hinaus. Aber durch die Küche, sofern man das so nennen kann, und einen Vorratsraum und an Gerumpel vorbei ging noch ein anderer Ausgang in den Hof. Da standen dann die Kasten mit den leeren Bierflaschen. Frau Täglichsbeck war nie im Stehausschank, die Schöttl holte ihr, was sie trank. Die Schöttl war angewiesen, durch die hintere Tür zu huschen; aber verborgen blieb es natürlich doch auf die Dauer nicht. Es hieß, die Täglichsbeck sei die beste Kundin Simmandls, und eines Tages gehöre ihm auf Grund der Schnapsrechnung plötzlich das Haus. Überhaupt erzählte man ungeheure Dinge davon, was in der Wohnung der Hausfrau vorgehe. »Wahrscheinlich böswillige Gerüchte«, sagte Herr Schurgel und rückte Derendinger sen. karierte Kappe zurecht. »Ausgerechnet er«, murmelte Frau Derendinger. 156
Die Hausfrau wollte auch mit aufs Bild. »Ich habe von Fräulein Schöttl gehört«, sagte sie, »und ich denke mir, ich will doch der alten Dame – guten Tag, allerseits – eine Freude machen, wenn sie schon zu ihrem fünfundachtzigsten –« »Neunzigsten!« krähte die Oma. »Ach Gott, ach Gott«, seufzte Frau Täglichsbeck, »wie die Zeit vergeht.« Auch der Hund sollte mir drauf. Der Hund gehörte Frau Täglichsbeck und hieß Irma. Irma hatte nur noch eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Hund, war grau, fahlgelb und walzenförmig. Wenn man Frau Täglichsbeck glauben durfte, dann handelte es sich bei Irma um einen deutschen Schäferhund. Herr Schurgel war begeistert. Je mehr Personen – und Irma war so dick, daß man sie als Person rechnen konnte – auf das Bild kamen, desto größer erfaßte er seine Aufgabe. Es endigte dennoch für ihn unbefriedigend. Wer das Negativ in seiner Dunkelkammer entwendete, ist nie herausgekommen. Man tippte allseits auf den tückischen Horsti, der es aber bestritt. Bei dem entwendeten Negativ handelte es sich nicht um das von der endlich gemachten Gruppenaufnahme. Davon gab es freilich auch mehrere; Herr Schurgel photographierte mehrfach – »zur Vorsicht«, sagte er. Beim Entwickeln und Vergrößern durften Derendinger sen., Derendinger jun., Tommi und Horsti gelegentlich in Herrn Schurgels Dunkelkammer behilflich sein. Bei so einer Gelegenheit verschwand dort – ohne daß Herr Schurgel das zunächst bemerkte – das andere Negativ. In einer Dunkelkammer ist es naturgemäß sehr leicht, rasch
etwas verschwinden zu lassen, zumal etwas so Kleines wie ein Negativ. Sowohl die Hausfrau als auch Fräulein Schöttl bekamen eine Vergrößerung des Gruppenbildes, kein so großes allerdings wie die Oma. Das wurde auch gerahmt. Bis zu Omas Tod wenige Wochen danach hing es neben Tommis Erstkommunionsbild. Viel hat die Oma aber nicht mehr davon gehabt, weil sie ja schon bald nach dem Geburtstag bettlägrig wurde und dann ins Krankenhaus kam. Das in Herrn Schurgels Dunkelkammer entwendete Negativ wurde – von wem? – zum Vergrößern gegeben; man vermutete zunächst: zu Frau Mandelein, aber die versicherte glaubhaft, so etwas würde sie nicht tun. »Klar«, sagte Herr Schurgel mit spitzem Mund, »wer so was tut, der geht damit in die Stadt. Möglichst anonym.« Das Photo zeigte Frau Schurgel rund und nackt, mit säuerlichem Gesichtsausdruck auf dem Küchentisch liegend. Im Hintergrund waren die Spüle und einiges Geschirr zu sehen. Mit vier Reißnägeln war das Photo im Stiegenhaus an die Wand geheftet. Es hing dort etwas mehr als einen halben Tag, ehe Herr Schurgel es bemerkte und entfernte. Man konnte davon ausgehen, daß alle Bewohner des Hauses es gesehen hatten. Am nächsten Ersten zogen Schurgels aus.
WIE HEISST ESPRESSO AUF ITALIENISCH? »Es ist auch ein Blödsinn gewesen, ein ganz ein saudummer, einer Frau zum 90. Geburtstag – sage und schreibe zum 90. Geburtstag, in Worten: zum neunzigsten …« »Jetzt hör auf«, sagte Frau Derendinger sen. und schneuzte sich. Sie hatte verweinte Augen. Aber Derendinger sen. hörte nicht auf: »… in Worten: zum neunzigsten Geburtstag eine Reise nach Rom zu schenken.« »Aber wenn doch das Heilige Jahr ist, 1975 –« »Heiliges Jahr hin oder Heiliges Jahr her – so was kann man vielleicht – vielleicht sag’ ich – einer Achtzigjährigen schenken, obwohl ich auch da schon Bedenken hätte; alleräußersten Falles, aber schon wirklich alleräußersten Falles einer Fünfundachtzigjährigen. Aber niemals –«, er klopfte mit dem Mittelfinger auf den Küchentisch, »– niemals einer Neunzigjährigen.« »Aber wenn das Heilige Jahr doch nur alle fünfundzwanzig Jahre stattfindet und das nächste Mal wahrscheinlich 2000, und der Papst öffnet die Heilige Pforte in der Dings-Kirche …« »Das ist alles schön und gut, aber nicht einer Neunzigjährigen!« »… in der Paulskirche oder wie’s heißt, im Papstdom eben zu Rom …« »Das sieht man im Fernsehen viel besser. Eine Neunzigjährige! Und die Hitz’ in Rom.« »Du warst ja noch gar nie in Rom. Woher willst du wissen, wie heiß es in Rom ist.« »Der Werner war in Rom –« »Dein Freund 159
Werner, daß ich nicht lach’–« »Selbstverständlich war der Werner in Rom. Beim Europapokalspiel – und da hat er g’schwitzt, hat er g’sagt –« »Jaha!« lachte Frau Derendinger sen., wenngleich unter Tränen, »das glaub’ ich, daß der Werner g’schwitzt hat. Es muß ja wieder raus, was der sauft. Abgesehen davon ist das überhaupt kein Vergleich. So ein Europapokalkrampf oder die Heilige Pforte …« »Wenn’s beim Europapokal heiß ist, dann ist es auch am Dings-Dom, am Sowieso-Dom, wo eben die Heilige Pforte ist, ist es da auch heiß. Ist doch logisch. Wenn’s, um nur ein Beispiel zu nennen, am Olympiastadion eine Hitze hat, dann hat’s doch die gleiche Hitze auch an der Frauenkirche, oder? Eben. Und genauso ist es in Rom.« »Du warst ja noch nie in Rom.« »Ich muß nicht überall gewesen sein, damit ich weiß, daß ’s mir dort nicht gefällt. Aber jedenfalls war es ein Blödsinn, der Oma zum neunzigsten Geburtstag diese Reise zu schenken. Achthundert Mark! Eine typische Idee von deiner Schwester.« »Aha! Jetzt geht’s schon wieder auf meine Familie los –« »Achthundert Mark! Und jetzt male dir einmal plastisch aus, was passiert wär’, wenn die Oma zufällig in Rom gestorben wäre.« Frau Derendinger schluchzte. »Male dir das einmal plastisch aus. So gesehen praktisch ein Glück, daß sie vorher gestorben ist. So gesehen. In Rom! Und deine Schwester allein mit ihr. Wo alles nur lauter Italiener sind. Und die Hitzen! Und deine Schwester ist ohnedies so nervös. Stell dir das einmal plastisch vor!« Frau Derendinger konnte nicht gut widersprechen. Sie schneuzte sich. »Die Rückfahrkarte 160
verfallen. Die Krankenkasse zahlt womöglich den Doktor nicht, wenn deine Schwester überhaupt einen Doktor hergebracht hätte, in Rom. Und was der womöglich für eine Rechnung schreibt; man kennt ja die Italiener. Und die Leichen müssen im Zinksarg transportiert werden. Weißt du, was ein Zinksarg kostet? Ein Vermögen. Oder man hätt’ s’ in Rom beerdigen lassen müssen. Um Gottes willen! Der Papierkrieg! Und alles auf italienisch. Und wir hätten alle hinfahren müssen. Das wäre noch teurer gekommen als wie ein Zinksarg. Und die Hitz’ dort. Und das Bier, sagt der Werner, kann keinem Vergleich mit dem hiesigen standhalten –« »Jetzt sag nur, du hättest während der Beerdigung von der Oma in Rom Bier ’trunken?« »Während der Beerdigung natürlich nicht. Aber nachher. Jetzt male dir das plastisch aus; zwei Stunden am Friedhof, und den Hut in der Hand, im schwarzen Anzug, und die Sonn’ brennt dir auf den Kopf – was ich da schwitz’ – und die Bierglasl sind so klein, sagt der Werner. Die sind so klein, sagt der Werner, daß d’ aufpassen mußt, daß d’ es nicht mitschluckst. – Und was ist jetzt mit der Reise? Fährt deine Schwester allein? Oder wie? Oder vielleicht kriegt man ’s Geld zurück?«
* Das Pilgerbüro sah sich außerstande, die fest gebuchte und schon bezahlte Reise zu stornieren. Der Todesfall sei natürlich bedauerlich – »mein herzliches Beileid«, sagte der Angestellte des Pilgerbüros und erhob sich ganz kurz 161
–, aber anderseits müsse man verstehen: die Kontingente in den Sonderzügen, die müssen vom Pilgerbüro ausgelastet werden, sonst erfolge eine Rückbelastung, was Umbuchungen bzw. Nachbuchungen und damit Kosten verursache – das gleiche gelte für das Quartier bei den Grauen Schwestern in der Via dell’Olmata, da sei das Kontingent bzw. die Belastung für dasselbe bereits auf das Pilgerbüro abgewälzt; wenn das alles, sagen wir, einen Monat vor Antritt der Pilgerreise erfolgt sei, dann hätte man ja eventuell sehen können, ob nicht etwas zu machen sei, aber so – eine Woche vorher, da müsse man schon verstehen … freilich, freilich, den Tod der Dame habe man nicht voraussehen können, »obwohl – wie alt war die Dame? – neunzig? oje, oje –, da muß ich leider sagen, wenn Sie dieses Risiko eingegangen sind, dann – und stellen Sie sich vor, wenn die Dame womöglich in Rom verschieden wäre … oje, oje … oder womöglich gar während der Fahrt im Zug … die Scherereien können Sie sich gar nicht vorstellen.« Frau Derendinger senkte den Kopf. »Und da ist also gar nichts zu machen? Auch im Todesfall nicht?« »Leider: nein. Ich empfehle Ihnen, daß eben jemand anderer mitfährt aus Ihrer Familie oder Ihrem Freundeskreis. Das geht natürlich ohne weiteres. Das Pilgerarrangement ist nicht an die Person gebunden.« Der Angestellte senkte die Stimme: »– es kann auch jemand Protestantisches sein. Das ist heute nicht mehr so.« »Nein, nein«, sagte Frau Derendinger, »unsere Familie ist schon katholisch.« »Um so besser«, sagte der Angestellte, »da wird sich ja jemand finden. Schließlich ist so 162
eine Reise ein unvergeßliches Erlebnis. Mit päpstlichem Segen. Und ist ja schon voll bezahlt.« Ganz vorsichtig schlug Frau Derendinger ihrem Mann vor: »Fahren wir beide?« »Mir wenn’st nicht gang’st«, sagte Derendinger später, »wo ich schon diese Katzelmacher nicht leiden kann, diese italienischen, und da dürfert ich ja praktisch vier Tag’ nix wie Spaghetti fressen. Nein, danke.« So fuhren Tommi Derendinger, Derendingers jüngerer Sohn und seine Anita. Tommi Derendinger hatte Zeit. Er war arbeitslos.
* »Die männlichen Pilger«, sagte die deutsche Nonne in der großen, kühlen Marmorvorhalle des Pilgerhospizes, »gehen dort hinüber, die weiblichen Pilger kommen bitte mit mir.« »Aber wir wollen ein Doppelzimmer!« sagte Anita. »Sie haben ein Doppelzimmer«, sagte die Nonne, »warten Sie –«, sie schaute auf die Liste, »– Sie haben ein Doppelzimmer mit Frau Gisela Schlicker – das ist die Dame dort im rotgeblümten Kleid mit dem Taschentuch auf dem Kopf. Aber jetzt kommen Sie bitte. Ich habe nicht viel Zeit. In zehn Minuten kommt eine neue Gruppe. Morgen ist das Frühstück um sechs Uhr dreißig. Pünktlich um sieben Uhr kommt der Bus. Sie müssen zwei Stunden vor dem Segen auf dem Petersplatz sein, sonst kriegen Sie keinen guten Platz. Wer vorher beichten will, hat Gelegenheit dazu in unserer Hauskapelle ab sechs Uhr. Die Hauskapelle ist dort links an den Säulen vorbei. Es ist be163
zeichnet. Sie können es nicht verfehlen. Der Beichtvater spricht deutsch.« »Was?« sagte Anita, »sechs Uhr?« Die Nonne nahm einen großen Bund Schlüssel und wehte voraus. »Haben Sie kein Gepäck?« fragte sie im Gehen Anita. »Wir haben uns das anders vorgestellt«, sagte Anita. »Den Koffer hat mein Verlobter.« »Ach so«, sagte die Nonne, »Sie sind verlobt und haben nur einen Koffer. An und für sich setzen wir voraus, daß Verlobte getrennte Koffer haben. Aber das macht nichts. Ihr Verlobter soll Ihre Sachen zusammenlegen und an der Pforte abgeben. Ich schicke sie dann mit einer Novizin zu Ihnen hinauf. Der Lift«, fuhr die Nonne fort, »geht leider nur bis in den zweiten Stock. Es ist eben ein altes Haus. Zum dritten Stock müssen Sie zu Fuß gehen.« »Und wo wohnt mein Verlobter?« fragte Anita. »Im anderen Trakt«, sagte die Nonne kurz, »einen direkten Durchgang gibt es nicht.«
* Die Junihitze ließ auch abends noch nicht nach. Der Verkehr am Santa Maria Maggiore dröhnte, daß man sein eigenes Wort nicht verstand. Tommi schwitzte. Er entfaltete den Stadtplan, den das Pilgerbüro den Reiseunterlagen beigelegt hatte. »Alles italienisch«, murrte Tommi, »die hätten wenigstens einzeichnen können, wo wir sind.« Tommi drehte den Stadtplan hin und her, schüttelte den Kopf und faltete ihn wieder zusammen. »Wenn ich jetzt nicht bald irgendwas zum Essen krieg’«, sagte Anita, »dann bricht mir der Magen durch.« »Am 164
besten gehen wir da hinunter«, sagte Tommi, »die breite Straße da, da wird ja irgendwo ein Restaurant sein.« Die Benzinluft kochte in der Via Cavour. Anita blieb vor allen Schuhgeschäften stehen. »Ich werd’ noch wahnsinnig«, sagte Tommi, »was gaffst denn die ganzen Schuh’ an.« »Laß mich doch in die Auslagen hineinschauen. Das wird dir ja hoffentlich nicht zu teuer sein?« »Das ist das gleiche Glump wie bei uns.« »Das ist überhaupt nicht wahr«, sagte Anita, »die Kiki hat gesagt, in Italien sind sie schuhmäßig immer ein Jahr voraus. Und billiger.« »Wir kaufen keine Schuh’«, sagte Tommi. »Das werden wir ja sehen«, sagte Anita. »Ich setz’ mich einmal daher«, sagte Tommi. Auf dem Trottoir standen ein paar winzige, runde, dreibeinige Tische aus Aluminium mit blauen Tischdecken aus geflochtenen Plastikschnüren. Als sich Tommi setzte, warf er fast den Tisch um. »So ein Glump«, sagte Tommi. Der Kellner sagte etwas, was Tommi nicht verstand, von dem er aber richtig vermutete, daß es eine Frage nach dem Wunsch des Gastes war. »Una birra«, sagte Tommi gewandt, sprach birra allerdings wie biera aus. Sein Vater, Georg Derendinger jun., der in den sechziger Jahren schon mehrfach den Urlaub in Riccione oder Jesolo verbracht hatte, hatte zu Tommi gesagt: »Du brauchst dir bloß merken: una biera, dann kommst in ganz Italien durch. In Spanien allerdings heißt es: una zerfesa.« (Seit einigen Jahren bevorzugte Derendinger jun. die Costa Brava als Urlaubsgebiet.) »Una birra«, sagte der Kellner, »locale o estera?« Tommi vermutete, daß der Kellner nach dem 165
Gemäß fragte. »Am liebsten wär’ mir eine Maß«, murmelte Tommi, laut sagte er: »una biera – groß – so groß!« Er zeigte es. Der Kellner schüttelte den Kopf, ging und kam nach einer Zeit mit einem schlanken, zylindrischen Glas wieder, in dem bis knapp unter den Rand – fast ohne Schaum – Bier eingegossen war. Tommi musterte das Glas. – Das ist höchstens ein Quartel, dachte er, dann trank er es in einem Zug aus. Der Kellner war noch gar nicht wieder im Lokal. Tommi zupfte ihn am Ärmel. »Una biera!« sagte Tommi. Der Kellner nahm das leere Glas wieder mit. Anita war inzwischen weitergeschlendert, kam jetzt zurück. »Wie lang gedenkst du da hier zu bleiben, oder wie seh’ ich das?« fragte Anita hochdeutsch. Der Kellner brachte das zweite Bier. »Bis ich keinen Durst mehr hab’«, sagte Tommi. Anita setzte sich auf den anderen Stuhl. Die Motoren der stehenden, nur langsam sich voranschiebenden Autos dröhnten, viele Lastwagen und Omnibusse verkeilten sich in die Masse. Motorroller jonglierten dazwischen herum. Ununterbrochen hupte es. »Krieg’ ich nix?« fragte Anita. »Bestell dir was«, sagte Tommi. »Was heißt Espresso auf italienisch?« fragte Anita. »Una biera!« schrie Tommi. Der Kellner brachte das dritte Bier. Jedesmal legte er einen kleinen Zettel mit rätselhaften Zahlen unter das kleine Nickeltablett, das er mit dem ersten Bier vor Tommi auf den Tisch gestellt hatte. »Also –«, sagte Anita und schaute den Kellner an –, »also – bitte – einen Espresso. »Un espresso«, sagte der Kellner, nickte und ging. »Der Verbrecher kann ja deutsch!« rief Tommi, »und laßt 166
uns da mit unserem mangelhaften Italienisch brutzeln.« »Dann kannst ihn gleich fragen, ob er eine Pizza hat, mir bricht schon der Magen durch. Das Lantsch-Paket vom Pilgerbüro im Zug war ja eine Zumutung.« Der Kellner brachte den Espresso in einer winzigen Tasse aus dickwandigem Steingut, außen braun, innen weiß. In der Untertasse lag ein Säckchen mit Zucker. »Und zwei Pizza«, sagte Tommi, »aber ohne Tomaten – das heißt: für die Dame mit Tomaten, für mich ohne.« Der Kellner stutzte. »Pizza?« sagte er. »Niente Pizza qui. Nix Pizza! eh?« »Die haben keine Pizza«, sagte Anita. »Saftladen«, sagte Tommi. »Sandwich?« fragte der Kellner. »Dann bringen S’ halt ein Sändwitsch«, sagte Tommi, »Sändwitsch haben s’ scheint’s«, kommentierte er. »Uno?« fragte der Kellner und hob den Daumen hoch. »Ja, ja – uno!« Tommi nickte, »und für mich una biera.« Tommi trank sein sechstes Bier, Anita aß das Sandwich: zwei dreieckige, leicht feuchte Brotstücke, die aufeinandergelegt waren und aus denen ein welkes Salatblatt herausschaute. »Was ist denn da noch drin? Außer dem Salat?« fragte Tommi. »Schinken«, sagte Anita. »Sändwitsch –«, sagte Tommi nachdenklich, »– also kann er nicht deutsch, sondern englisch, der Verbrecher. Dann ist Espresso wahrscheinlich ursprünglich ein englischer Ausdruck.« Tommi trank das siebte Bier, Anita trank noch einen Espresso, dann winkte Tommi mit seiner Geldtasche. Der Kellner rechnete die geheimnisvollen Zahlen auf den verschiedenen Zettelchen zusammen, drehte dann ein Zettelchen um und schrieb drauf: 37 000. »Was?!« 167
rief Anita, »das sind ja über 50 Mark?! Das gibt’s doch überhaupt nicht. Der hat falsch zusammengerechnet.« Tommi schaute blöd, der Kellner nahm ihm einen 50 000Lire-Schein aus der Hand, verschwand im Lokal, kam zurück und stellte ein Tellerchen vor Tommi hin, auf dem ein 10 000-Lire-Schein und drei abgegriffene Tausender lagen. »So ein Verbrecher, da gehen wir nicht mehr her«, sagte Tommi, »aber was willst machen, du bist ja hilflos ausgeliefert, wenn du die Sprache nicht kannst.« Sie gingen. »Wenn du so weitermachst«, maulte Anita, »dann haben wir von morgen mittag ab nichts mehr zum Essen. Wieviel Geld hast denn dabei?« »Was heißt: wenn du so weitermachst?! Wahrscheinlich war dein Sändwitsch das Teuerste.« »Na – na! Und sieben Bier?« »Waren ja nur Quartel!« »Wieviel Geld hast denn dabei?« »Zweihundert«, sagte Tommi kleinlaut. »Die fünfzig Mark schon abgerechnet, die du grad ’zahlt hast?« »Nein –«, sagte Tommi. »Also jetzt noch hundertfünfzig? Sauber!«
* Sie gingen ins Pilgerhospiz zurück. »Wir fragen die Schwester«, sagte Anita, »wo’s ein preiswertes Lokal gibt. Einen Wienerwald zum Beispiel.« »Wie stehen wir denn dann da!« sagte Tommi, »die Schwester meint dann glatt, ich bin ein Arbeitsloser.« »Du bist ja ein Arbeitsloser«, sagte Anita. »Hier«, sagte Tommi, »bin ich Tourist!« Aber Anita fragte die Nonne doch nach einem Wienerwald. Die Nonne wußte keinen, sie wußte nicht 168
einmal, was das ist, aber sie empfahl ein gutes und günstiges Lokal in der Via Farina, gleich jenseits des Platzes hinter der Kirche, nur eine Querstraße weiter: Via Farina, nicht zu verfehlen, da gingen oft Pilger hin. Einer der Kellner könne ein bißchen deutsch. Sie studierten zunächst die Speisenkarte, die heraußen angeschlagen war (die Karte war dreisprachig – italienisch/deutsch/englisch), rechneten nach und stellten fest, daß sie mit knapp 15 000 Lire auskommen werden, wenn Anita nur Spaghetti äße. Es kostete dann doch über 20 000 Lire, weil sie die je 1600 Lire für das Gedeck nicht einrechneten, und weil Tommi dann doch zwei Bier trank. Im übrigen war es eine Katastrophe. Tommi aß nämlich ein Paprikahuhn. Es rutschte auf dem Teller in der Soße aus und schnellte auf Tommis Schoß. Tommis weißer Leinenanzug war vorn über und über rot und fettig. »Herrschaftszeiten, warum paßt denn nicht auf –«, schrie Anita. »Seit wann ist denn bei Paprikahendl auch so eine blöde Soß’ dabei –«, fauchte Tommi. »Sauber schaust jetzt aus«, sagte Anita, »hast du noch einen anderen Anzug dabei?« »Nein«, sagte Tommi. Er wischte mit seiner Serviette, machte die Sache aber nur noch schlimmer. Tommi schaute aus, als habe er im Schlachthof ausgeholfen.
* Herr Wecklage war Drogist und stammte aus Amberg. Herr Wecklage hatte eine Glatze und trug eine Basken169
mütze, die ihm zu klein war. Schon in der Pilgergruppe im Zug war Herr Wecklage Tommi aufgefallen, weil er trotz der großen Hitze einen knöchellangen Kleppermantel trug. Als Herr Wecklage im Liegewagen dann doch den Kleppermantel auszog, war festzustellen, daß er darunter einen Trainingsanzug anhatte. »Das ist am bequemsten«, sagte Herr Wecklage, »ich kann es nur empfehlen. Er ist gleichzeitig mein Schlafanzug. Ich spare mir viel Gepäck. Zum Papstsegen habe ich aber selbstverständlich einen Anzug dabei. In gedeckter Farbe. In den Reiseunterlagen steht: Kleidung in gedeckter Farbe. Frauen haben darauf zu achten, daß die Schultern bedeckt sind.« Herr Wecklage schaute dabei zu Anita hin, deren halber Busen seitlich durch die sehr großen Ärmellöcher ihres knappen Hemdchens herausschaute. Anita zog an ihrer Zigarette und tat, als höre sie es nicht. Was die gedeckten Farben anbelangt, so hätte mit Sicherheit auch Herrn Wecklages Trainingsanzug dieser Forderung entsprochen. Man mag sich streiten, was eine gedeckte Farbe ist, Herrn Wecklages Trainingsanzug hatte sie ohne Zweifel: dunkelblausteingrau mit einem Stich ins Bräunlich-Grünliche. Aber vielleicht empfand Herr Wecklage die weißen Streifen seitlich an seiner Trainingshose nicht als gedeckt oder glaubte, der Papst (oder die Schweizergarde) würde die Streifen so empfinden. Herr Wecklage war der Zimmergenosse Tommis. Als Tommi nach der Katastrophe mit dem Paprikahuhn in sein Zimmer im Pilgerheim zurückkehrte, kniete Herr Wecklage vor seinem Bett. Tommi schloß die Tür 170
ganz leise. »Gut’n Ab’nd«, sagte Herr Wecklage, ohne umzuschauen oder aufzustehen. Er betete gar nicht, sondern war damit beschäftigt, die Hose seines gedeckten Anzuges unter die Matratze seines Bettes zu schieben. »Bügelt sich wie von alleine, wenn man eine Nacht darauf schläft. Kann es nur empfehlen.« Herr Wecklage stand auf. »Um Himmels willen! – Wie schauen Sie aus? Sind Sie in eine Schlägerei geraten?« »Nein«, sagte Tommi, »Paprikahuhn.« Herr Wecklage faßte an den Anzug. »Ich bin Drogist«, sagte er, »ich versteh’ da natürlich ein bißchen was von der Reinigung und so. Hm. Der Anzug schaut nicht gut aus.« »Aber ich hab’ keinen anderen dabei!« »Das ist dann allerdings eine dummen Geschichte«, sagte Herr Wecklage, »und das am Vorabend des Papstsegens.« »Haben Sie nicht vielleicht – als Drogist – irgendwas dabei?« Herr Wecklage kramte in seinem Koffer. Er brachte eine Tube zutage. »Das Beste, was heute auf dem Markt ist. Aber gehen Sie sparsam damit um.« Tommi zog seine Jacke aus und seine Hose und breitete alles auf das Bett. »Sie müssen die Paste gleichmäßig auftragen und dann warten, bis sie trocken ist. Dann bürsten sie sie weg. Das reißt jeden Fleck. Das Beste, was heute auf dem Markt ist. Aber bitte sparsam. Ich habe nur eine Tube dabei.« Tommi fing an aufzutragen, aber Herrn Wecklage war das zu üppig. »Sparsamer! Sparsamer!« sagte er, dann: »Geben Sie her.« Herr Wecklage trug auf. Fachmännisch, als Drogist. Er preßte kleine weißliche Würste auf die roten Stellen und verrieb sie dann. »Wie lang dauert das jetzt, bis das trocknet?« frag171
te Tommi. »Na ja, so eine Stunde.« Tommi nahm den Anzug vorsichtig und flach und legte ihn auf den Bettvorleger, dann warf er sich aufs Bett. »Eine Frage«, sagte Tommi, »haben Sie zufällig eine Zigarette?« »Ich bin Nichtraucher«, sagte Herr Wecklage. »Gibt es eventuell eine Möglichkeit«, sagte Tommi, »daß –« Tommi stockte. »– daß was?« fragte Herr Wecklage. »Ich meine eventuell«, sagte Tommi, »weil doch meine Verlobte … und die könnte dann gleich meinen Anzug ausbürsten. Ihren Koffer würde ich Ihnen selbstredend hinübertragen.« Herr Wecklage dachte eine Zeitlang nach, kam aber nicht dahinter, was Tommi meinte. »Wohin wollen Sie meinen Koffer tragen?« »Ich meine«, sagte Tommi, »weil meine Verlobte beziehungsweise Braut nicht hier schläft, sondern drüben im anderen Trakt, und es wäre doch auch überhaupt günstiger, weil sie mir auch dann gleich den Anzug ausbürsten könnte.« »Ach so?« sagte Herr Wecklage, »Sie möchten, daß ich mit Ihrer Verlobten das Zimmer tausche?« »Ja!« sagte Tommi freudig. »Hat Ihre Verlobte ein Einzelzimmer?« »Ich glaube … ich glaube schon. Soll ich gleich einmal Ihren Koffer packen?« »Einen Moment«, sagte Herr Wecklage, »wie wollen Sie denn meinen Koffer hinübertragen, wo Sie in Unterhosen sind? Außerdem glaube ich nicht, daß Ihr Fräulein Braut ein Einzelzimmer hat. Einzelzimmer gibt es in diesem Haus nur für Priester. Ich kenne mich aus. Ich bin nicht das erste Mal hier.« Tommi versuchte eine weltmännische Miene von Mann zu Mann zu machen: »– da hätten wir doch beide was. Sie! Wir beide. Jeder bei einem Weib.« »Mein Herr«, sag172
te Herr Wecklage, »Sie vergessen scheint’s, daß ich auf einer Pilgerreise begriffen bin.« Herr Wecklage schluckte. »Das ist ja ungeheuer, was Sie da sagen. Und das in einem von Nonnen geleiteten Hospiz! Und wer sagt Ihnen, ob mir die Dame überhaupt entspricht, die bei Ihrem Fräulein Braut wohnt –« »Entschuldigung«, sagte Tommi, »ich habe ja nur so gemeint.« »Könnten Sie dann wenigstens, bitte, bei meiner Verlobten die Zigaretten holen? Die hat sie in ihrer Handtasche. Ich kann ja so nicht aus dem Zimmer.« »Was tut man nicht alles«, brummte Herr Wecklage und ging. Er steckte noch einmal seinen Kopf durch die Tür: »Welche Zimmernummer?« »311«, sagte Tommi. Die Tür des Zimmers Nr. 311 öffnete eine Dame mit stark kegelförmiger Figur: Frau Gisela Schlicker, ein auf die Spitze gestellter Kegel. Sie trug immer noch das geknotete Taschentuch auf dem Kopf. »Huchl« sagte sie, als sie einen Mann vor sich sah. »Sind Sie das Fräulein Braut von dem Herrn mit dem Paprikahuhn?« fragte Herr Wecklage. Frau Schlikker war eine große Freundin kriminalistischer Unterhaltungsfilme. Sätze wie den eben von Herrn Wecklage geäußerten kannte sie als konspirative Erkennungsäußerung unter Spionen. Als Antwort fiel ihr nichts anderes ein als das – zufällig richtige – Wort: »Nein.« »Und kann ich mal Ihre Zimmergenossin sprechen?« »Ach so«, sagte Frau Schlicker, »Sie wollen zu Fräulein Anita. Fräulein Anita ist ausgegangen.« »Danke«, sagte Herr Wecklage, musterte Frau Schlicker von oben bis unten, schüttelte den Kopf und entfernte sich grußlos in Richtung Wäsche173
speicher. (Herr Wecklage kannte sich wirklich aus; durch den Wäschespeicher kam man doch direkt vom Männerin den Frauentrakt.) »Unerhört!« sagte Herr Wecklage, als er wieder ins Zimmer trat, »und so eine Spinatwachtel wollten Sie mir andrehen. Sie meinen wohl, weil ich Drogist bin.« Tommi war nicht in der Verfassung, über diese enigmatische Kausalität nachzudenken. »Wo sind die Zigaretten?« fragte er. »Ihre Braut ist ausgegangen.« »Was?! Ausgegangen? Wohin?« Herr Wecklage zuckte mit den Schultern. Tommi bekam ein flaues Gefühl im Magen. Er riß den Anzug hoch – »Vorsicht!« schrie Herr Wecklage, »die Paste ist noch nicht ganz getrocknet. Außerdem – junger Freund! Wie wollen Sie Ihre Braut in Rom finden? Rom hat drei Millionen Einwohner!« Gegen Mitternacht war die Paste getrocknet. Herr Wecklage hatte auch eine Bürste dabei und lieh sie Tommi. Tommi bürstete. Die roten Flecken waren nun dunkelviolett und liefen an den Rändern adrig aus. Trotzdem zog Tommi den Anzug an und ging hinunter zur Pforte. »Und?« fragte die Nonne und machte ein kleines Fensterchen auf. »Ist meine Verlobte schon wieder da?« »Zimmernummer?« »311.« »Nein«, sagte die Nonne, »und die kommt auch jetzt nicht mehr, weil das Tor seit elf Uhr geschlossen ist. Gesegnete Nachtruhe.«
* Herr Wecklage stand kurz vor sechs Uhr auf. Sein Reisewecker schrillte, als sei er eine Spezialanfertigung für 174
Schwerhörige. »Einen schönen, guten Morgen«, krähte der Drogist, »herrliches Wetter, Papstwetter. Sie gehen nicht zum Beichten?« »Nein«, sagte Tommi. »Dann können Sie sich ja noch eine Viertelstunde aufs Ohr legen. Soll ich den Wecker auf sechs Uhr stellen? Damit Sie nicht verschlafen?« »Nein, nein, danke«, sagte Tommi. Herr Wecklage nahm seinen Waschbeutel und schlurfte in den Waschraum. Als er wiederkam, schreckte Tommi aus einem Albtraum hoch: er hatte in einer riesigen Kathedrale, deren Säulen bis hoch hinauf mit Moos bewachsen waren, ein Klo gesucht. Er mußte dringend aufs Klo. Der Boden der Kathedrale war glitschig und schlammig, rot wie die Sauce von Paprikahühnern. Tommi kämpfte sich in dem Schlamm von Beichtstuhl zu Beichtstuhl und suchte ein Klo. Er mußte ganz dringend … Es gab zwar in Seitengängen riesige, ebenfalls bemooste Kloanlagen, aber überall standen Nonnen und spähten herum. Keines der Klos hatte eine Tür, Tommi stapfte weiter, hielt sich an einer Säule fest, die Säule war klebrig … da schlug Herr Wecklage die Tür zu, Tommi wachte auf. Er mußte wirklich dringend aufs Klo, sprang aus dem Bett und rannte hinaus. Als er wiederkam, hatte Herr Wecklage schon seinen gedeckten Anzug an, weißes Nylonhemd und Krawatte. »Frühstück ist um halb«, sagte Herr Wecklage vorwurfsvoll, als Tommi sich wieder ins Bett legte. »Ich kann ja nicht«, sagte Tommi, »durch Ihre Paste ist der Fleck womöglich noch auffallender geworden. Ich kann doch nicht in der Unterhose zum Papst.« »Hm«, sagte Herr Wecklage nachdenklich. Vielleicht 175
hatte er ein schlechtes Gewissen wegen der wirkungslosen oder sogar schädlichen Paste. »Es gäbe natürlich eine Möglichkeit«, sagte Herr Wecklage, »ich habe zwar auch keinen zweiten Anzug dabei, aber Sie könnten meinen Trainingsanzug haben.« Tommi schlüpfte in den Trainingsanzug. Tommi war ungefähr zwei Köpfe größer als der Drogist, dafür halb so dick. Die Hose reichte (von oben) bis ans Knie, die Ärmel bis an die Ellenbogen. Der Bauch blieb frei. Herr Wecklage schüttelte den Kopf. »So läßt Sie die Schweizergarde nicht hinein. Wenn Sie ein Neger wären, dann könnten Sie vielleicht sagen, das ist die Nationaltracht – aber Sie …« Er schüttelte wieder den Kopf; »tja, dann ist wohl leider nichts zu machen.« Tommi zog den Trainingsanzug wieder aus, Herr Wecklage nahm sein Gotteslob unter den Arm und ging.
* Als Tommi neuerlich aufwachte, war es zehn Uhr vorbei. Er streckte sich, gähnte, wälzte sich aus dem Bett und schaute aus dem Fenster. Die Sonne brannte in den Hof. Im Schatten rechte eine Nonne den Kies. Ein Springbrunnen plätscherte. Nur ganz von fern tönte der Verkehrslärm. An und für sich ein friedliches Bild, aber Tommi fiel sofort sein Anzug ein, das Paprikahuhn und Anita. Tommi nahm den Anzug. Die Flecken waren über Nacht fast schwarz geworden. Er zog Herrn Wecklages Trainingsanzug an und ging hinunter zur Pforte, den Anzug unterm Arm. »I-i-i …«, sagte die Nonne und bekreuzigte 176
sich, dann aber: »Ach, Sie sind’s. Sind Sie nicht beim Papstsegen?« »Mir ist was passiert –«, sagte Tommi. »Sagen Sie bloß, Sie sind Bettnässer?! – Es ist doch immer das gleiche. Heilige Madonna –« Die Nonne wollte zum Telephon greifen. »Nein, nein«, sagte Tommi schnell, »mein Anzug. Da. Schauen Sie.« »Wie ist denn das möglich?« Tommi erzählte. »Vielleicht mit Kernseife«, sagte die Nonne. »Und Sie haben keinen zweiten Anzug dabei?« »Nein«, sagte Tommi. Die Nonne ergriff mütterliches Mitleid. »Warten Sie.« Sie machte das Fensterchen zu und kam zur Tür heraus, »Das ist natürlich eine peinliche Sache. Kommen Sie mit. Mit Kernseife und einer Wurzelbürste müßte es herausgehen.« Die Nonne ging durch hohe Gänge mit eingelegten Marmorfußböden voraus, Tommi in Wecklages gedecktem Trainingsanzug, seinen Anzug über dem Arm, hinterher. »Wenn es nicht ausgerechnet so ein heller Anzug wäre«, sagte die Nonne. Sie öffnete eine Tür. Dampf schlug heraus. Drinnen arbeiteten einige Frauen (keine Nonnen). Die Nonne schrie etwas auf italienisch. Eine Frau antwortete. Es ging ein paarmal hin und her. Die Nonne nahm Tommi den Anzug aus der Hand, die Frauen schlugen die Hände überm Kopf zusammen, die Nonne sagte noch ein paar Sätze, dann schloß sie die Tür. »Man wird versuchen, was sich machen läßt.« »Danke«, sagte Tommi. Die Nonne ging wieder zur Pforte zurück. »Und dann müssen wir eben sehen, ob wir Sie vielleicht morgen irgendwie in eine andere Pilgergruppe schmuggeln zum Papstsegen.« »Danke«, sagte Tommi. »Irgendwie wird das schon gehen. 177
Jetzt hilft alles nichts«, sagte die Nonne, »Sie müssen auf Ihrem Zimmer bleiben und warten, bis der Anzug fertig ist. Hoffentlich geht der Fleck heraus. Haben Sie was zu lesen? Ich gebe Ihnen etwas.« Die Nonne gab Tommi ein Heft über die Missionsarbeit des Ordens, ein Büchlein mit der Lebensbeschreibung der Ordensgründerin und ein Heft: Andachten für Heranwachsende. »Danke«, sagte Tommi, »noch eine Frage – meine Verlobte – auf Zimmer 311 …« »Die weiß von Ihrem Unglück noch gar nichts?« »Doch, schon – nur –« »Ihre Verlobte wird am Petersplatz sein, beim Papstsegen.« »Glaube ich nicht – ich … ist es möglich, daß ich kurz hinaufgehe – ich meine: auf Zimmer 311 …« »So«, sagte die Nonne, und ihr Mund bekam Falten, »ist Ihre Verlobte die Dame, die heute nacht überhaupt nicht zurückgekommen ist?« »ich fürchte: ja«, sagte Tommi. Die Miene der Nonne pendelte zwischen Zorn und Mitleid hin und her. Ein dickes, engerlingbleiches Mädchen in einer dunkelblauen Kittelschürze wischte etwas weiter hinten den Boden auf. Die Nonne rief ihr etwas auf italienisch zu. Das Mädchen legte den Putzlappen weg und ging zum Lift. Die Nonne machte eine Tür neben der Pforte auf. »Warten Sie da«, sagte sie. Es war ein fast völlig kahler Raum, nur ein Kruzifi x hing an der einen Wand, an der anderen stand eine schwarze Bank. Tommi setzte sich und vertiefte sich gähnend in die Lebensbeschreibung der Ordensgründerin. Nach etwas mehr als einer halben Stunde kam Anita. Das Mädchen, das die Nonne hinaufgeschickt hatte, 178
hatte Anita erst wecken müssen. Anita musterte Tommi in Herrn Wecklages Trainingsanzug und brach in Lachen aus. »Mir ist gar nicht zum Lachen«, sagte Tommi. Anita leugnete. Sie behauptete, daß das alles ein Irrtum gewesen sei. Sie sei gestern um zehn Uhr schlafen gegangen und habe durchgeschlafen, bis das Mädchen sie jetzt geweckt habe. Im übrigen solle Tommi keinen solchen Skandal machen. (Die Nonne schaute durch das kleine Fenster herein.) »Außerdem habe ich Hunger«, sagte sie. »Ich auch«, sagte Tommi. »Ich geh’ etwas einkaufen. Weiter unten ist eine Art Supermarkt.« »Und bring mir drei Dosen Bier mit. Flaschen wird’s ja nicht geben. Oder besser: vier Dosen Bier.« Wieder wartete Tommi eine halbe Stunde, dann kam Anita zurück. Sie hatte eine kleine Salami gekauft, eine Packung Orangenkeks und die vier Dosen Bier. »Sie können sich in den Garten setzen«, sagte die Nonne, »dort ist es doch ein bißchen gemütlicher.« Der Garten war eigentlich ein Innenhof mit etwas Grün, auf der einen Seite mit dicken Säulen. In der Mitte war der Springbrunnen, den Tommi schon von oben gesehen hatte. Anita zog ihre Schuhe aus und ließ die Füße ins Wasser hängen. Sie bissen abwechselnd von der Salami ab und aßen dazu Orangenkeks. »Brot hat es offenbar in dem Laden nicht gegeben«, sagte Anita, »es ist überhaupt schwer einzukaufen, wenn man sich nicht verständlich machen kann.« Tommi trank das Dosenbier. »Ich habe mir das alles ganz anders vorgestellt«, sagte Tommi. »Ich auch«, sagte Anita. Tommi versuchte Anita 179
unter den Rock zu langen. »Nicht«, sagte Anita, »wer weiß, ob nicht eine Schwester aus einem Fenster herunterschaut.« »Schleichen wir uns in dein Zimmer?« sagte Tommi. »Ich weiß doch nicht, wann die Schlicker zurückkommt.« »Oder in meins«, sagte Tommi, »die kommen sicher nicht vor eins zurück.« Anita seufzte: »Also gut, wenn es sein muß.« »Sein müssen tut es nicht«, sagte Tommi, »sonst bist du ja auch nicht so.« »Ja – also dann geh du voraus, ich versuche hinüberzuschleichen, ohne daß die Schwester es sieht.« »Höllteufel«, sagte Tommi, »als ob wir Schulkinder wären. Wer sind wir denn, daß wir uns schurigeln lassen. Höllteufel.« »Tommi! Bitte denk daran, daß wir in einem Kloster sind.«
* Es ging nicht. »Würden Sie bitte die leeren Bierdosen in den Abfalleimer werfen und nicht am Brunnen liegenlassen?« sagte die Nonne, als Tommi nach oben ging. »Entschuldigung«, murrte Tommi und kehrte um. Er holte die Dosen, warf sie in einen Papierkorb neben der Pforte, ging nach oben und wartete in seinem Zimmer. Er zog den Trainingsanzug aus und legte sich aufs Bett. Es überkam ihn eine gewaltige, wohlige Erektion, die er gefällig betrachtete. Aber Anita kam nicht. Als sie schon geschickt an der Pforte vorbeigeschlichen war und oben aus dem Lift ausstieg, stand wie aus dem Boden gewachsen eine – andere – Nonne vor ihr. »Oh –«, sagte die Nonne, »in dem Labyrinth von Haus verirrt man sich nicht 180
ungern. Hier ist der Männertrakt. Sie können gleich mit mir wieder hinunterfahren.« Als es an Tommis Zimmertür endlich klopfte, war es eine der Haushaltshilfen, die den Anzug brachte. Nur mit Mühe konnte Tommi seine Erektion verbergen. Die Flecken am Anzug waren nun wieder paprikarot, der restliche Anzug schimmerte in Abstufungen matt grün. »Hm«, sagte Herr Wecklage, als er gegen Abend verschwitzt und aufgelöst, aber päpstlich gesegnet zurückkam. Er hob den Anzug hoch. »Am besten wäre es, man würde ihn ganz rot einfärben.« »Würden Sie mir bitte«, sagte Tommi, »vier Dosen Bier holen. Ganz in der Nähe muß ein Supermarkt sein.« »Ehrlich gesagt«, sagte Herr Wecklage, »ich bin völlig erschöpft, und der Gedanke an die Stiege …« »Bitte«, sagte Tommi, »bis zum zweiten Stock geht doch der Lift. Sonst verdurste ich.« Herr Wecklage preßte seufzend seine aufgequollenen Füße wieder in die Schuhe. »Könnten Sie es mir auslegen? Meine Verlobte gibt es Ihnen morgen wieder zurück.« Der Anzug war übrigens auch deutlich kleiner geworden. Als ihn Tommi probehalber anzog, reichten die Hosenbeine kaum weiter als bei Wecklages Trainingsanzug.
* Am nächsten Tag – dem vorletzten des Pilgeraufenthaltes – war eine Fahrt zu den Katakomben vorgesehen; mit Führung und anschließendem Umtrunk in origineller Weinschänke in der Campagna. »Schade, daß Sie nicht 181
dabei sein können«, sagte Herr Wecklage, »ich kenne das; sehr hübsch. Die Kellner tragen Tunika und schenken den Wein aus Tonkrügen aus. Man kann trinken, soviel man will. Das ist alles inklusive.« »Aha«, sagte Tommi, »täten Sie mir, bevor Sie fahren, vielleicht eine Salami holen – so groß ungefähr – im Supermarkt, Sie wissen schon, und vier Dosen Bier, nein: acht Dosen Bier, ich muß ja den ganzen Tag damit auskommen. Oder vielleicht zehn Dosen Bier.« »Darf ich Sie daran erinneren, daß mir Ihr Fräulein Braut noch das Bier von gestern zahlen wollte?« Herr Wecklage schwenkte den Kassenbon. »Sie soll Ihnen dann alles miteinander zahlen. Sagen Sie ihr einen schönen Gruß von mir. Sie treffen sie ja im Omnibus oder in den Katakomben.« Tommi war das Frühstück entgangen, weil Herr Wecklage seinen Trainingsanzug selber anzog, das heißt: nachdem er in ihm geschlafen hatte, gar nicht erst auszog. Wenn auch Tommi unmöglich in dem Trainingsanzug aus dem Haus gehen konnte, in den Frühstücksraum wäre er damit schon gegangen. Er hatte gehofft, Anita dort zu treffen. »Leider«, sagte Herr Wecklage, »aber Sie sehen: ich brauche den Trainingsanzug selber. Vielleicht können Sie sich das Leintuch drapieren? Wie eine Toga?« Das wollte Tommi doch nicht. »Sie haben übrigens nichts versäumt«, sagte Herr Wecklage, als er vom Frühstück wieder heraufkam, »der sogenannte Kaffee ist nichts als bräunlich gefärbte Milch, und die Brötchen schmecken wie ein Badeschwamm.« (Vertrieb Herr Wecklage als Drogist in Amberg auch Badeschwämme? Biß er gele182
gentlich in welche, weil er wußte, wie sie schmecken?) Herr Wecklage brachte die Salami und das Bier. »Ein Karton hat zwölf Dosen«, sagte er, »da habe ich gleich einen ganzen Karton genommen.« »Danke«, sagte Tommi. »Sie sind jetzt mit 23 000 bei mir in der Kreide«, sagte Herr Wecklage.
* Anita war nicht im Bus, nicht in den Katakomben, auch nicht in der originellen Weinschänke. Herrn Wecklages Sprechweise war, als er abends zurückkam, fast unverständlich. Er redete, als kaue er immer gleichzeitig an einem Badeschwamm. In der Nacht kotzte er, zeigte dabei allerdings Geistesgegenwart, denn er kotzte nicht ins, sondern unters Bett. Tommi wachte auf – nicht von dem Getöse, mit dem Herr Wecklage kotzte, sondern von dem Gestank. Als Herr Wecklage gekotzt hatte, sagte er: »Jetzt ist mir leichter, jetzt dreht sich nicht mehr alles«, legte sich in sein Bett und schlief wieder ein. Später allerdings machte er noch in die Hose. Auch da wachte Tommi von dem Gestank auf. Herr Wecklage weinte. »Daß mir das auch immer passieren muß. Das ist dieser verdammte Wein. Er wirkt auf mich abführend.« Er stand auf und machte Licht. Tommi schaute auf die Uhr: halb drei. Herr Wecklage stand im Zimmer und hielt mit beiden Händen den Rand der Trainingshose hinten weg. »Helfen Sie mir doch«, wimmerte er. Tommi ging mit ihm aufs Klo. Herr Wecklage stakste langsam und 183
breitbeinig. Tommi führte ihn und hielt seine Nase seitwärts weg. Im Klo reinigte sich Herr Wecklage, so gut es ging. Tommi bemerkte dabei zwangsläufig, daß Herr Wecklage am Hintern mehr Haare hatte als am Kopf. Im Waschraum wollte Herr Wecklage seine Unterhose und die Trainingshose unter der Dusche auswaschen, fiel aber hin und schlief sofort ein. Tommi wusch das Zeug aus und hob Herrn Wecklage auf. »Ich werde Ihnen das nie vergessen«, sagte Herr Wecklage. Als Tommi Herrn Wecklage auf den Gang zurückführte, begann Herr Wecklage zu singen. »Im Grunewald, im Grunewald is’ Holzauktion.« Eine Tür ging auf, und ein anderer Pilger in einem mit kleinen Mickymäusen bedruckten Schlafanzug streckte seinen Kopf heraus und schimpfte: »Was ist das für ein Lärm, mitten in der Nacht!« »Er hat in die Hose geschissen«, sagte Tommi erklärend. »Ja, dann«, sagte der andere Pilger und schloß die Tür. Auf die unbezahlten Supermarktrechnungen kam Herr Wecklage nicht mehr zu sprechen.
* »Ich frühstücke heute nicht«, ächzte Herr Wecklage am nächsten Morgen. »Sie können ruhig meine Trainingshose anziehen und hinuntergehen.« »Nein, danke«, sagte Tommi nach kurzem Nachdenken. »Bringen Sie mir bitte ein Glas Wasser aus dem Waschraum«, sagte Herr Wecklage, »und in meiner Tasche dort muß ein AlkaSeltzer sein.« 184
Später – Wecklage schlief wie ein Bär – wickelte sich Tommi doch das Leintuch wie einen Pareo um die Hüften und ging hinunter zur Pforte. Er bat erstens, daß man jemanden hinaufschicken solle, um den Fußboden unter Herrn Wecklages Bett sauberzuwischen – »Aha«, sagte die Nonne, »der dritte. Immer nach der Katakombenfahrt. Diese Deutschen. Nur die Belgier sind schlimmer.« – Und zweitens: ob man nicht seinen Anzug in eine Expreßreinigung schicken könne. Er gab den Anzug der Nonne. Die Nonne schaute ihn an. »Hm«, sagte sie, »wann fährt Ihre Reisegruppe ab?« »Heute abends«, sagte Tommi, »um zehn Uhr. Ich kann doch nicht in der Unterhose nach München fahren.« »Ich habe keine große Hoffnung«, sagte die Nonne, nahm aber den Anzug. Auf der Marmorbank unter dem Pfortenfenster lag eine italienische Zeitung. Sie war schon gelesen, denn sie war nachlässig zusammengefaltet und nicht so geknickt, wie sie aus der Presse gekommen war. Die Zeitung lag so, daß ein Bild obenauf war. Die Zeitung lag aber quer zur Wand. Tommi legte den Kopf schief. Es war nicht ein Bild, es waren zwei verschiedene Bilder dicht nebeneinander. Das eine Bild war ein Photo von Anita. Das andere Bild zeigte, grob gerastert, schwer zu erkennen, wie ein nacktes Mädchen in einen Brunnen sprang. Ob das auch Anita war, konnte Tommi nicht ausmachen. Viele Leute standen herum. Über dem Wasser des Brunnens erhob sich ein Obelisk. Tommi nahm die Zeitung. Er konnte natürlich nicht verstehen, was unter dem Bild stand, aber im Text fand er mehrfach ›Anita A.‹ 185
gedruckt. »Darf ich die Zeitung haben?« fragte Tommi die Nonne.»Ja, ja«, sagte sie. »Und geht das mit der Reinigung?« »Ja«, sagte die Nonne, »sie beeilen sich. Morgen mittag ist er fertig.« »Aber ich muß doch schon heute abends wieder fahren! Ich kann doch nicht in der Unterhose –« »Ach so«, sagte die Nonne, »daran habe ich jetzt gar nicht gedacht.« »Das ist doch alles eine – eine – Sauerei –«, rief Tommi. »Schreien Sie nicht so«, sagte die Nonne, »schließlich habe nicht ich den Anzug versaut, sondern Sie.« Das Telephon läutete, die Nonne hob ab: »Pronto?« Das Tor ging auf, es gab Lärm, eine andere Nonne führte eine neue Pilgergruppe herein. Koffer verkeilten sich, Kinder schrien. Tommi floh in den Lift.
* Eine Putzfrau und Tommi rüttelten Herrn Wecklage hoch. Das Zimmer mußte bis halb eins geräumt sein, denn heute war ja der Abreisetag, und die neuen Pilger warteten schon. Die Putzfrau jammerte wohl über die Schweinerei unter dem Bett. Herr Wecklage tappte ins Klo. Tommi packte seine Habseligkeiten in den Koffer. Als Herr Wecklage zurückkam, zeigte ihm Tommi die Zeitung: »Können Sie lesen, was da drunter steht?« »Nein«, ächzte Wecklage, »mit dem Schädel schon gar nicht.« Er hatte sich ein nasses Handtuch um den Kopf gewunden. Die Putzfrau gestattete nicht, daß Tommi das Leintuch mitnahm. Die Putzfrau konnte nur wenig deutsch, 186
offenbar nur ein Wort: »Nix.« Sie riß Tommi das Leintuch vom Leib: »Nix! Nix!« rief sie. »Aber ich kann doch nicht in der Unterwäsche herumlaufen! Jetzt, wo ich auch nicht mehr im Zimmer bleiben darf?!« »Nix! Nix!« schrie die Putzfrau, rollte Tommis und Herrn Wecklages gebrauchte Bettwäsche zu einem großen Ballen zusammen und verschwand. »Ich geh’ einen Kaffee trinken«, stöhnte Herr Wecklage. »Ich bring’ mich um«, sagte Tommi leise. »Wie bitte?« fragte Herr Wecklage. »Wie? – das weiß ich noch nicht«, sagte Tommi. »Mein Schädel dröhnt dermaßen«, sagte Herr Wecklage, »daß ich kein Wort verstanden habe.« »Nichts«, sagte Tommi. Herr Wecklage musterte Tommi, der in der Unterwäsche mit dem Koffer in der Hand am Flur stand. »Wissen Sie was«, sagte Herr Wecklage, er kam in dem Moment Tommi wie ein Engel des Himmels vor, »ich brauche ja meinen Kleppermantel im Moment nicht.« Der Kleppermantel war großzügig geschnitten; da er Herrn Wecklage bis an die Knöchel ging, reichte er Tommi bis ans Knie. Kleidsam war er nicht.
* Auf dem Dachgarten war außer einem Priester niemand. Ein paar Orangenbäumchen in Kübeln gaben Schatten. Der vom Mittagsdunst verhangene Blick über das sonnendurchglühte Rom, über die sieben Hügel, über die unsterbliche Hauptstadt der Erde, über das Panorama dieser Weltseele, aus dem die mittäglich blassen Silhouetten der Kuppel St. Peters, der Engelsburg, vieler ande187
rer Kuppeln und Türme herausragten, bemerkte Tommi nicht. Der Priester ging still auf und ab und las das Brevier. Tommi setzte sich auf den Rand eines Orangenbaumkübels und stellte seinen Koffer neben sich. Er hatte das Gefühl, in ein Loch gefallen zu sein. Der Straßenlärm tönte von fünf Stockwerken tief hier herauf. – Alle Leute da unten, dachte Tommi, haben Anzüge. Oder wenigstens Jeans. Der Priester schaute zu Tommi herüber. Er klappte sein Brevier zu und lächelte, nickte grüßend. Tommi nickte auch. Der Priester kam herüber. »Das kann man ja nicht mit anschauen«, sagte er, »wieso sitzen Sie in der größten Mittagshitze im Mantel da?« Tommi erzählte die ganze Geschichte. Der Priester hörte ruhig zu. »Hm«, sagte er dann, »und Ihr Fräulein Braut ist nicht mehr aufgetaucht?« Tommi gab sich einen Ruck und hielt dem Priester die Zeitung hin: »Können Sie Italienisch?« »Ja«, sagte der Priester und faltete die Zeitung auseinander. »Das ist sie«, sagte Tommi und deutete auf das Bild. Der Priester las. »Auf was die Leute nicht alles kommen«, sagte er dann. »Was ist mit ihr, was war? Ist sie die Nackte da?« »Sie haben ja von Rom sehr wenig gesehen, nach Ihrem Malheur am ersten Abend«, sagte der Priester. »Es gibt einen großen, schönen Platz, der heißt Piazza Navona, der war früher, also viel früher, in der Antike das Stadion des Domitian.« »Aha«, sagte Tommi dumpf. »Heute ist der Platz Fußgängerzone und ein Rummelplatz für Touristen, voll von Gelaterie und Cafes, und Buden mit Andenken sind dort und Maler, 188
die Schnellportraits anfertigen – und drei Brunnen. Einer von Bernini. Sagt Ihnen nichts? Nein. Der mittlere, der da auf dem Bild: mit dem Obelisk. Vier-Flüsse-Brunnen. Seit zwei Tagen beobachteten die Carabinieri, daß ein deutsches Mädchen zum Gaudium der Passanten in den Brunnen sprang. Danach sammelte sie Geld. Wenn einer 50 000 Lire gab – das sind ungefähr 100 Mark –, sprang sie nackt hinein. Es hatte sich herumgesprochen. Gestern abends waren dann schon die Reporter da. Die Carabinieri haben das Mädchen festgenommen – Anita A. …« »Anita Ankofer«, würgte Tommi hervor. »Aber wenn sonst nichts gegen sie vorliegt«, las der Priester weiter, »wird sie heute wieder entlassen.«
* Nachmittags kam Anita. Sie hatte neue, schreiend blaue Schuhe an, die nur aus ein paar Riemchen und hohen Absätzen bestanden. Tommi saß immer noch am Rand des Orangenbaumtopfes. Der Priester hatte unten zufällig gehört, wie Anita nach Tommi fragte, und hatte sie auf den Dachgarten geschickt. Anita hatte auch ein neues Kleid an: kanariengelb. Sie hatte eine große Tüte dabei. »Einen neuen Anzug für dich!« krähte sie, umarmte und küßte Tommi. Tommi sagte nichts. »Freust du dich nicht über den Anzug?« schrie sie. »Doch«, sagte Tommi, zog den Kleppermantel aus, nahm die Hose aus der Tüte und riß das Preisschild ab. Anita hob ihr Kleid bis über die Hüfte. »Das ist auch neu«, rief sie und deutete auf ein 189
Unterhöschen aus roten Spinnwebfäden. Tommi schlüpfte in die Hose. Sie paßte. Ein angenehmer Stoff, ganz leicht und helles Taubenblau. »Meinst du, man könnte hier schnell …«, sagte Anita und hatte ihr Kanarienkleid schon fast ausgezogen. »Nein«, sagte Tommi, seine Stimme bekam langsam wieder einen gewissen Glanz zurück, »es kann jeden Augenblick jemand kommen.« »Und daß dir der Anzug so tadellos paßt«, sagte Anita im Liegewagen. »Ich habe ihn gekauft, ohne daß er dabei war, mein Verlobter, bloß so nach Augenmaß. Und er paßt!« sagte sie zu den anderen vier Passagieren. »Erstaunlich«, sagte eine Dame, sie hieß Fräulein Faber, die sich in einen geblümten Schlafrock aus Teddystoff hüllte und zum Schlafen legte, »aber jetzt machen Sie bitte das Licht aus.« Sie steckte sich Ohropax in die Ohren. »Und wo hast du das ganze Geld her?« fragte Tommi leise. »Das ist eine lange Geschichte«, sagte Anita, »ich erzähle sie dir morgen.« »Du brauchst sie mir nicht zu erzählen«, sagte Tommi am nächsten Tag am Bahnhof in München und hielt Anita die italienische Zeitung unter die Nase. Anita fuhr zurück. »Ich weiß alles«, sagte Tommi, »betrachte unsere Verlobung als gelöst.« »So«, sagte Anita, »das hat man davon, wenn man sich mit einem Arbeitslosen einläßt«, und stakelte auf ihren blauen Riemchenschuhen hinaus in den Münchner Juniregen.
UND KEINE KOPEKE WENIGER »Der Montag ist quasi unser Sonntag«, sagte Frau Friseurmeisterin Hapermann, »und der Sonntag gewissermaßen unser Samstag, wenn Sie wissen, was ich meine.« »Ich verstehe«, sagte Frau Schlegelberger unter der Haube hervor. »Weil ja Friseure am Montag zuhaben, generell«, sagte Frau Hapermann und wiederholte: »Da ist Montag quasi unser Sonntag und der Sonntag gewissermaßen unser Samstag.« Kein Mensch hat je über den seltsamen Seelenmechanismus nachgedacht, der bewirkt, daß Kleinbürger alle Kernsätze und alles, was sie als Kernsätze empfinden, und manche auch schlichtweg alles übrige zweimal hintereinander erzählen. Speziell die Pointen von Witzen. Ist es eine in ihnen tief verborgene Einsicht über die Bedeutungslosigkeit ihres Daseins, der sie entgegenwirken wollen, indem sie ihre bedeutungslosen Aussagen wenigstens verdoppeln? Der Friseur Hapermann war auch so einer. Herr Friseur Hapermann war nicht im »Salon«. Er war schon früh zur Innung gegangen. Es war heiß. Die Kundinnen dampften unter den Hauben. Trotz des Straßenlärms draußen waren die Fenster und Türen weit aufgerissen. Frau Hapermann, die ihre alte Kundin selber bediente, fiel ein, daß Frau Schlegelberger in letzter Zeit so religiös geworden war. Sie fügte deshalb hinzu: »Aber in die 191
Kirchen gehen wir Friseure natürlich schon am Sonntag. Am richtigen Sonntag.« Wir Friseure war eine Relativierung. Das bedeutete nicht: Herr und Frau Hapermann und die Angestellten, sondern: die Friseure schlechthin. Der Friseur. Auch der Friseur geht am Sonntag in die Kirche, obwohl das quasi sein Samstag ist. Wenn er in die Kirche geht. Hapermanns waren das letzte Mal bei der Firmung ihres Enkels Daniel in der Kirche, und auch da war Hapermann eingeschlafen. »Die reinste Sauna«, sagte Frau Schlegelberger. Die Friseusen waren nackt unter ihren kurzen Kitteln. Eine bückte sich tief, ohne die Knie abzubiegen … »Patrizia!!« rief Frau Hapermann, wandte sich entschuldigend an Frau Schlegelberger, die das auch gesehen hatte: »Bei der Hitze ist natürlich … und naja, und wenn man denkt, in der Mittagspause legen sie sich dann gleich pudelnakkert an die Isar … Kannst nicht viel sagen als Chefin. Zum Glück kommen hier keine Herren herein. Die haben drüben einen eigenen Eingang.« »Nur Ihr Mann«, sagte Frau Schlegelberger. »Der schon«, sagte Frau Hapermann. »Aber der ist ja«, sagte Frau Schlegelberger, »sozusagen schon im gesetzteren Alter.« »Naja«, sagte Frau Hapermann und seufzte. Frau Schlegelberger streckte ihren Kopf unter der Haube hervor: »Oder vielleicht nicht?« Frau Hapermann senkte ihre Stimme soweit, daß man bei dem Lärm gerade noch hören konnte, was sie sagte, beugte sich zu Frau Schlegelberger hinunter: »Ihnen 192
kann ich’s ja sagen, als alte Kundin.« Pause. »Da machst was mit!« »Ach so?« sagte Frau Schlegelberger. »Neulich habe ich – das weiß er noch gar nicht – das da in der Tasche in einem von seine Friseurkittel gefunden.« Sie nahm rasch etwas Kleines, Seidiges, Violettes, klein wie ein Taschentuch, aus ihrer Kitteltasche, hielt es kurz Frau Schlegelberger hin und ließ es sofort wieder verschwinden. Sie seufzte. »Violett. So was habe ich mein Leben lang nie getragen. Aber ich habe schon einen Verdacht, im Vertrauen gesagt. Ich krieg’s noch heraus, und dann werde ich ihm das schon unter die Nase halten. – Aber natürlich …« Frau Hapermann wollte ihren Mann nicht ganz bloßstellen, »… die Versuchung ist groß hier. Sie sehen ja selber. Und manche machen’s den Männern leicht. Sehr leicht.« »Und an sich ein fescher Mensch ist er schon, der Herr Hapermann«, sagte Frau Schlegelberger. Frau Hapermann seufzte wieder. Ein Lehrmädchen kam: »Frau Chefin, Telephon.« »Verzeihung, Frau Schlegelberger«, sagte Frau Hapermann, »einen Moment.« Sie legte die Schere hin und ging.
* »Und wie sie vom Telephonieren zurückgekommen ist«, Frau Schlegelberger stellte ihre Einkaufstasche nieder – sie war nach dem Friseur noch beim Aldi gewesen und 193
beim Bäcker –, trat nahe an Frau Witwe Brükl, die Hauseigentümerin heran, schaute vorsichtig das Stiegenhaus hinauf und hinunter, senkte die Stimme: »– ich weiß gar nicht, ob ich das erzählen soll respektive darf. Aber Ihnen kann ich’s ja sagen. Weil Sie ja Hausbesitzerin und vertrauenswürdige Person sind. Es war förmlich so, sage ich Ihnen, Frau Oberstudiendirektor, wie die Hapermann vom Telephonieren zurückgekommen ist, habe ich im ersten Moment gemeint, da kommt jemand anderer. Katzgrau im Gesicht. – Ja, was ist denn, Frau Hapermann, hab’ ich g’sagt, Sie sind ja katzgrau im G’sicht? Sie hat nur gemurmelt: entsetzlich, entsetzlich. Ist Ihnen schlecht? hab’ ich g’fragt, oder ist womöglich ein plötzlicher Todesfall eingetreten beziehungsweise Ableben im näheren Familienkreis? Entsetzlich, entsetzlich, hat sie nur gemurmelt, ich weiß nicht, was ich tun soll. Mein Mann ist entführt worden! Stellen Sie sich vor: der Friseur Hapermann ist entführt worden.« »Das ist ja hochinteressant«, sagte Frau Franziska Brükl, Witwe nach dem vor einigen Jahren verstorbenen pensionierten Oberstudiendirektor Max Brükl, »man möchte meinen, so was passiert nur im Fernsehen oder bei hochgestellten Persönlichkeiten. Aber der Friseur Hapermann –« »Na ja«, flüsterte Frau Schlegelberger, »zu holen ist schon was bei die Hapermann.« »Da ist man ja nicht einmal hier mehr sicher. Wo das an und für sich eine ruhige Gegend ist. War! Seit die ganzen – man will ja nichts sagen, aber – naja. Im Vie194
rer-Haus wohnen fast nur noch Griechen und Türken. Ich wette mit Ihnen: Das war ein Grieche. Oder Türke. Ich, wenn ich Polizei wäre, täte sofort als erstes das Vierer-Haus durchsuchen lassen. Aber –«, sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ja schon richtig«, sagte Frau Schlegelberger, »nur ich weiß nicht. Zum Beispiel auf Nummer sechzehn wohnen auch praktisch nur Ausländer. Und hinten in der Asamstraße –« Frau Oberstudiendirektor Brükl seufzte: »Ich habe mir jedenfalls voriges Jahr ein zweites Sicherheitsschloß anbringen lassen. Aber: was ist jetzt weiter mit dem Hapermann?« »Nichts ist weiter«, flüsterte Frau Schlegelberger, »entführt ist er eben. Und wenn Sie die Polizei und so weiter, hat der Erpresser am Telephon gesagt, dann sehen Sie ihn nur noch als Leiche wieder.« »Ja, und wie – haben Sie ihn aus der Wohnung oder wie –?« »Nein, ja«, sagte Frau Schlegelberger, »wahrscheinlich herausgelockt. Verstehen Sie? In der Früh, noch bevor der Laden aufgemacht wurde, ist er zur Innung gegangen. Es ist ein Anruf gekommen, hat er zu seiner Frau gesagt, daß er sofort zur Innung muß. Er ist ja da irgendwas bei der Innung. Stellvertretender … oder so was und so weiter. Er ist ins Auto und zur Innung gefahren – angeblich. Das heißt: er, der Hapermann, hat schon gemeint, daß er zur Innung fährt, aber die Entführer haben ihm aufgelauert und haben ihn dann eben – eben entführt. Wahrscheinlich aus dem Auto gezerrt. Mit Maschinenpistolen. Entsetzlich.« »Da würde ich doch sofort bei der Innung anrufen!« 195
»Das hat ja dann die Frau Hapermann, sobald sie sich vom ersten Schreck erholt hat, sofort getan.« »Und?« »Dort war er naturgemäß nicht. Hat auch niemand von einem Anruf in der Früh gewußt, daß der Hapermann kommen soll. Das war ein Lockanruf!« »Verstehe. Hat der Erpresser mit ausländischem Akzent gesprochen?« »Nein. Bayrisch.« »Naja. Die können sich schon sehr gut verstellen. Oder sie haben sich eines deutschen Helfershelfers bedient. Vielleicht haben sie den mit Gewalt ans Telephon gezwungen –« »Entsetzlich!« »Und was wollte der Erpresser?« »Er hat am Telephon gesagt: ›Tun Sie das Geld in ein Kuvert, und legen Sie es unter die zweite Mülltonne im Hof Steinbergerstraße 4a.‹ ›Wieviel ?‹ hat die Frau Hapermann gefragt. ›Zweitausenddreihundertachtunddreißig Mark und keine Kopeke weniger. Um elf Uhr ist es dort!« »2338 Mark?« »– und keine Kopeke weniger.« »Viel ist das nicht.« »Habe ich mir auch gedacht.« »Naja. Da kann man natürlich im großen und ganzen auch nichts machen. Als Außenstehender.« »Nein.« »Noch ein Glück im Unglück, daß der Erpresseranruf nur grad gekommen ist, wie die Hapermann Sie bedient 196
hat. Da dringt wenigstens nichts nach außen. Stellen Sie sich vor: die bedient grad eine Türkin?!« Frau Oberstddiendirektor Brükl wandte sich zum Gehen, drehte sich aber rasch nochmals um: »Und fällt Ihnen da nichts auf?« »Nein –?« »Kopeke! Ich sage Ihnen: Griechen oder Türken oder eventuell Jugoslawen. Ach – noch was, sagen Sie, Frau Schlegelberger, Sie sind ja auch lange Jahre Kundin im Salon Hapermann – Sie verstehen –, schicken Sie einen Kranz? Oder vielleicht … so nahestehend war man ja nicht … ein Gebinde wird wohl reichen. Hoffentlich ist die Beerdigung nicht am Freitag, da wollte ich zu meiner Schwester fahren.«
* Der weitaus älteste Angestellte im Salon Hapermann (Mode- & Film-Friseur) war Herr Josef. Herr Josef war gut über sechzig, war im Krieg oder kurz danach aus Siebenbürgen geflohen, hatte bei Hapermann eine Stelle gefunden. Bereits 1971 hatte er die Plakette der Innung für 25jährige treue Dienste von der Handwerkskammer erhalten. Herr Josef war in der Zeit seit dem Krieg viermal verheiratet gewesen, hatte ein dutzendmal die Wohnung gewechselt. Bei Hapermann aber war er geblieben. Inzwischen war er fast etwas wie der zweite Chef im Herrensalon. Es gab Kunden, die ließen sich nur von Herrn Josef bedienen. 197
Frau Hapermann warf – auch in Schmerz und Sorge noch in erster Linie Geschäftsfrau – einen Blick über die Geschäftigkeit im Damensalon, ob alles in Ordnung sei, und ging dann hinten durchs Büro in den Herrensalon hinüber. »Herr Josef«, sagte sie, »haben Sie einen Moment Zeit?« Herr Josef beugte sich zu seinem Kunden hinunter: »Gestatten ergebenst – einen Moment, oder darf Sie eventuell Herr Gerd weiterbedienen?« Herr Gerd war eben frei, der Kunde nickte. Herr Josef winkte Herrn Gerd und ging dann mit Frau Hapermann nach hinten. »Sehr komisch«, sagte Herr Josef, als Frau Hapermann ihm (zum Teil zweimal) die Sache erzählt hatte. »Ich finde es nicht komisch.« »Doch«, sagte Herr Josef, »die Summe. Die Summe ist äußerst komisch. So wenig. Und so krumm.« Er riet dazu, die Polizei zu verständigen. »Meinen Sie? – aber …« »Das sagen die immer. Logisch. Die haben den größten Spundus vor der Polizei. Wenn Sie wollen, rufe ich an.« »Aber wenn die die Leitung überwachen? Mein Gott, mein Gott, warum muß ausgerechnet uns das passieren!« »Die Leitung überwachen? Das geht ja gar nicht.« »Und wenn es doch geht?« »Ich kann zum Revier hingehen, wenn Sie wollen.« »Durch den Hinterausgang. Falls der Laden beobachtet werden sollte.« Herr Josef zog seinen Friseurkittel aus. »Ich nehme an«, sagte er, »ich bekomme zu dem Zweck frei?« 198
»Selbstverständlich«, sagte Frau Hapermann, »ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin. Warum, warum muß ausgerechnet uns das passieren! Wenn das gutgeht, Herr Josef …« »Ja?« Frau Hapermann zog das violette Höschen aus der Tasche: »Ich verzeihe ihm alles.« »Wie bitte?« »Ach, nichts.« Aber Herr Josef hatte schon erkannt, um was es sich bei dem seidigen Violett gehandelt hatte. »Ich verstehe«, sagte er. »Ich schwöre: ich werfe das weg und sage nicht einmal etwas. Wenn es nur gutgeht.« Herr Josef schlüpfte in sein Sakko. »Wo soll das Geld hinterlegt werden?« »Steinbergerstraße 4a. Wo ist die Steinbergerstraße?« »Beim Regerplatz. Hinter der Regerschule.« »Um elf Uhr. Wie spät ist es jetzt?« »Kurz nach zehn.« »Da haben wir nur noch knapp eine Stunde Zeit.« Herr Josef ging rasch durch den Hinterausgang auf die Straße.
* Dienstag war der Tag, an dem zu Frau Oberstudiendirektorswitwe Brükl immer die Zugehfrau Anna Wohlfahrt kam. Früher, zu Lebzeiten des Herrn Oberstudiendirektors, 199
war Anna Wohlfahrt auch regelmäßig am Donnerstag und am Samstag gekommen, aber seit der Oberstudiendirektor a. D. tot und das Arbeitszimmer und das Zimmer, das der Herr Oberstudiendirektor »die Bibliothek« genannt hatte, praktisch unbewohnt waren und überhaupt nicht mehr so viel zu putzen war (vor allem die Schuhe des Herrn Oberstudiendirektor, darauf hatte er größten Wert gelegt; hatte noch meist knöchelhohe Stiefeletten getragen), kam Anna Wohlfahrt nur noch einmal in der Woche. »Der Hapermann?« sagte Frau Anna Wohlfahrt, »entführt?« »So ist es, Anna«, sagte Frau Witwe Brükl. »Normalerweise verlangen sie ja immer die Freilassung von irgendeinem Terroristen oder so etwas –« »Er hat nur Geld verlangt.« »Wieviel?« »2338 Mark und keine Kopeke weniger.« »Komisch«, sagte Anna Wohlfahrt, »ich, wenn Erpresser wäre, würde … würde, sagen wir: 10 000 Mark verlangen. Die reichen Hapermann! Oder 20 000.« Anna Wohlfahrt rechnete nach. Sie war ein Genie im Kopfrechnen. »Er hat vier Friseure, acht Stunden, das Haarschneiden dauert eine halbe Stunde – also 64 Kunden am Tag maximal, sagen wir durchschnittlich 50 –«, sie beginnt murmelnd zu kalkulieren. »Was kostet das Haarschneiden?« »Wie der Herr Oberstudiendirektor noch hingegangen ist, aber das ist ja einige Jahre her: Messerschnitt 23 Mark.« 200
»23 mal 50 – 1150, zwanzig Tag im Monat – sind 23 000, zwölf Monate 276 000 … er braucht nur in Zukunf eine Mark mehr verlangen, dann hat er es in einem halben Jahr herinnen … den Damensalon gar nicht gerechnet.« »Na ja«, sagte Frau Oberstudiendirektor, »wir brauchen uns den Kopf nicht über anderer Leute Sorgen zu zerbrechen. Sie gehen jetzt einkaufen? Ja. Hier ist die Liste.«
* »Wieviel hat er verlangt?« fragte Fräulein Faber. Fräulein Faber legte Wert auf die Anrede »Fräulein«, sang seit über 40 Jahren im Kirchenchor, war bis vor einigen Jahren Angestellte eines Bestattungsunternehmers gewesen und kleidete sich immer eine Spur zu jugendlich. »2338 Mark und keine Kopeke weniger«, sagte Frau Anna Wohlfahrt im Edeka an der Kasse. »Warum grad Kopeke?« sagte Frau Memmel, die Kassiererin, »das verstehe ich nicht.« »Das spielt auch jetzt keine Rolle«, sagte Fräulein Faber, »sind Sie sicher: 2338 Mark und keine Kopeke weniger?« »Unbedingt«, sagte Anna Wohlfahrt, »eben grad hat’s mir die Frau Oberstudiendirektor gesagt, und die hat’s direkt von der Frau Schlegelberger, die wo quasi dabei war – 2338 Mark und keine Kopeke weniger.« »Dann ist er entlarvt«, sagte Fräulein Faber. Wenige Tage zuvor war Fräulein Faber aus der Haustür 201
getreten, die nicht direkt auf die Straße führte, sondern – wie oft in alten Häusern – zunächst in eine Durchfahrt in den Hof und ins Hinterhaus, vorn und hinten mit einem großen hölzernen Tor geschlossen, in das eine kleine Tür geschnitten war. »Der Flegel Klaus«, wie Fräulein Faber den Sohn der Familie Ellenmoser vom zweiten Stock apostrophierte, fuhr, was streng verboten war, mit dem Moped durch die Durchfahrt und außerdem fast über die mit relativ neuen, viel zu hochhackigen Schuhen gezierten Füße von Fräulein Faber. Fräulein Faber rief »dem Flegel Klaus« einige Schimpfwörter nach, von denen jedes einzelne geeignet gewesen wäre – sofern dem Präses zu Ohren gekommen –, den Ausschluß Fräulein Fabers aus der Legio Mariae herbeizuführen. Nicht genug damit eilte Fräulein Faber »dem Flegel Klaus« nach in den Hof, wo, wie sie entsetzt feststellen mußte, sich noch weitere vier Mopedfahrer aufhielten sowie der etwa vierzehnjährige Knabe Freudensprung Alexander, dieser ohne Moped. Fräulein Faber setzte zu neuen Vorwürfen an, aber die – insgesamt also sechs – »Rotzlöffel«, wie sie Fräulein Faber im Lauf ihrer Erzählung titulierte, lachten nur »eher dreckig«, drehten die Mopeds auf und ließen sie knattern und stinken, und einer, der Fräulein Faber unbekannt war, »ließ sich dazu hinreißen«, sagte sie, »›was will denn die alte Schachtel zu sagen.« »Und was hat das mit den ›Kopeken‹ zu tun?« fragte Anna Wohlfahrt. »Warten Sie nur«, sagte Fräulein Faber, die vor Erregung hochdeutsch sprach, »wie ich vom Einkaufen zu202
rückkomme, denke ich mir: schaust jetzt noch einmal hinaus, ob die Rotzlöffel eventuell immer noch da sind und die Luft verstinken. Also schaue ich in den Hof hinaus und: tatsächlich stehen sie noch da, allerdings mit ohne Geräusch. Das heißt: ihre Mopeds abgedreht. Kennen Sie die Frau Freudensprung? Nein? Naja. Sie kann einem leid tun. Geschieden. Der Mann ist statt zu zahlen nach Neuseeland. Et cetera. Und diesen Knaben. Sie kann einem nur leid tun. Und da hat der Alexander natürlich kein Moped. Offenbar haben ihn die anderen gehänselt.« »Aber ich weiß immer noch nicht –«, sagte die Kassiererin. »Es kommt jetzt sofort – warten Sie nur: da sagt – höre ich zufällig – der Alexander: sobald ich tausend Mark zusammen hab’, kauf ich mir auch ein Moped. Da haben die anderen gelacht, und der Flegel Klaus hat gesagt: für tausend Mark kriegst höchstens einen alten Schubkarren, aber kein solches Moped nicht. Was kostet denn das nachher? hat der Alexander gefragt. Da hat der Flegel Klaus gesagt: – und jetzt passen Sie auf, jetzt wird es interessant – mit Mehrwertsteuer und Zulassung und allem drum und dran: 2338 Mark und keine Kopeke weniger!« »Das müssen Sie unbedingt sofort der Polizei melden«, sagte Anna Wohlfahrt. »Ich misch’ mich nicht ein«, sagte Fräulein Faber, »nein – ich habe schlechte –« »Unbedingt, unbedingt«, sagte die Kassiererin, »sonst
machen Sie sich ja der Beihilfe zum Mord schuldig. Gegebenenfalls.« »Meinen Sie?« fragte Fräulein Faber unsicher. »Logisch«, sagte Anna Wohlfahrt. »Also, ich mische mich nur ganz ungern in fremde Angelegenheiten ein –« »Sie sind verpflichtet«, sagte die Kassiererin. »Als Staatsbürger!« sagte Anna Wohlfahrt. »Respektive auch Mensch«, sagte die Kassiererin.
* Frau Freudensprung weinte. Freudensprung Alexander saß verstockt am Küchentisch und schaute auf die Resopalplatte, wo aber das Schachbrettmuster vor seinen Augen hin- und herzuspringen schien. »Wo hast du ihn versteckt?« sagte der eine Kriminaler, der ältere. Frau Freudensprung heulte auf. »Jetzt nehmen S’ Ihnen zusammen«, sagte der Kriminaler, »es passiert ihm ja eh nix, wo er noch gar nicht strafmündig ist.« »So eine Schande«, sagte Frau Freudensprung. »Aber er soll sagen, wo er den Herrn Hapermann versteckt hat!« »In der Wohnung hier sicher nicht«, heulte Frau Freudensprung. »Da hätten wir ihn schon gefunden«, sagte der Kriminaler, »also – wo ist er? Wird’s bald?«
»Ich hab’ ihn nicht versteckt«, murmelte Alexander. »Was sagst?« »Ich hab’ ihn nicht versteckt!« »So. Und wieso ist er dann seit heute früh verschwunden?« »Weil er bei der Tante Mali ist!« brüllte Alexander. »Wo?« schrie Frau Freudensprung auf. Der Kriminaler schaute schnell von einem zum anderen. »Bei der Tante Mali halt«, sagte Alexander. »Wer ist die Tante Mali?« fragte der Kriminaler. »Meine Schwester«, sagte Frau Freudensprung, »aber ich versteh’ nicht –« »Die Tante Mali ist doch Friseuse?« sagte Alexander trotzig, »oder? Also. Und die war doch beim Hapermann? Oder? Also. Und der Hapermann besucht sie ein-, zweimal in der Woch’, vormittags, wenn der Onkel Herbert nicht da ist. Also.« Der Kriminaler brach, nachdem er einen Moment nachgedacht hatte, in lautes Lachen aus. Der Frau Freudensprung rannen aber immer noch die Tränen herunter.
* Frau Manderl – die alte Frau Manderl – ging nie in die Kirche, »aus Prinzip nicht«, wie sie sagte. »Der Herrgott hat mich einmal schwer enttäuscht«, sagte sie, »und seitdem will ich mit ihm nichts mehr zum tun haben. Er soll seine Sachen regeln, ich regle meine Sachen. Zum tun
haben will ich nichts mehr mit ihm.« Die alte Frau Manderl wohnte über Schlegelbergers, und – seit sie selber »religiös geworden« war – versuchte Frau Schlegelberger Frau Manderl zuzureden, daß sie sich mit dem Herrgott versöhnen solle, aber Frau Manderl blieb unnachgiebig, ja stur. Vor allem gelang es Frau Schlegelberger nicht, den Kern der Sache herauszubekommen: wann und bei welcher Gelegenheit der Herrgott Frau Manderl so enttäuscht hatte. Es war nur soviel klar, daß es viele Jahre zurückliegen mußte, in Frau Manderls Jugend oder erster Ehezeit. Mehr war nicht zu erfahren. »Nein, nein, Frau Schlegelberger«, sagte sie immer, »fragen Sie mich bitte nicht weiter. Das ist meine Sache, und so ist es halt einmal.« »Aber … Frau Manderl«, sagte Frau Schlegelberger, »Sie gehen ja jetzt auch schon auf die Siebzig zu, und, Sie wissen ja, daß ich Ihnen wirklich nichts Böses wünsch’, und Sie sind ja auch – toi, toi, toi – gesund … aber, du kennst nicht den Tag noch die Stunde …« »Nein, nein«, sagte Frau Manderl, »ich lass’ mir nichts zuschulden kommen, habe mir nie. Ich bin ein anständiger Mensch, ich tu’ niemand etwas zuleide und wähl’ CSU – aber mit dem Herrgott will ich nichts mehr zum tun haben.« »Wollen Sie denn nicht …« fragte Frau Schlegelberger und schluckte, »… wollen Sie denn nicht in den Himmel kommen? Eines Tages stehen wir alle –«, sie ahmte hier unbewußt die Redeweise von Herrn Geistlichem Rat Donhauser nach, ihrem Lieblingsprediger in St. Maximilian, »– stehen wir alle vor dem Angesicht Gottes …«
»Wenn ich vor dem Angesicht Gottes steh’«, sagte Frau Manderl, »und er sieht mich und er erkennt mich, dann brauch’ ich gar nichts sagen. Er weiß’s schon. Und wenn er nur einigermaßen ein Gewissen hat und einen Charakter, dann muß er mich in den Himmel hineinlassen.« Dennoch ging Frau Manderl oft mit Frau Schlegelberger zur Kirche, nach St. Maximilian, aber wohlgemerkt: nur zur Kirche, nicht mit hinein. Sie wartete dann auf einer Anlagenbank an der Isar und fütterte die ohnedies fetten Tauben, bis Frau Schlegelberger wieder herauskam. Dann gingen die beiden alten Frauen zurück über die Brücke nach Hause. »Sie können es mir nicht verbieten«, sagte dann Frau Schlegelberger oft, »ich hab’ auch für Sie ein Vaterunser gebetet.« »Das will ich Ihnen auch gar nicht verbieten, und es ist schon ganz gut, wenn Er an mich erinnert wird.« Auf der anderen Seite der Brücke ging Herr Friseurmeister Hapermann. Er grüßte hinüber. Die Damen grüßten zurück. »Jetzt ist sein blaues Aug’ verheilt«, sagte Frau Schlegelberger, »aber vierzehn Tag’ hat er ausg’schaut, als wie wenn er mit einer Planierraupe zusammengestoßen wäre. An und für sich hat ja die Frau Hapermann ein Gelübde getan, von wegen dem violetten Höschen, und daß sie es ihm gar nicht zeigt und gar nichts davon sagt. Aber wie er nach der ganzen Geschichte, von der er natürlich nichts gewußt hat – was passiert ist, während er in der ›Innung‹ war –, wie er da statt als entführte Leiche nichtsahnend fröhlich pfeifend zurückgekommen
ist … ich war grad zufällig unterwegs, weil ich noch im Kathra braune Schuhcreme holen wollte, und hab’ halt interessehalber durchs Schaufenster vom Friseur hineingeschaut – o mei, o mei, hab’ ich mir gedacht. Natürlich hat sie, also die Hapermann, soviel Anstand g’habt, daß sie nicht vor die Angestellten und so weiter. Aber Sie wissen ja, daß das Bürofenster seitlich hinausgeht, und das war offen, wahrscheinlich, weil es so heiß war an dem Tag. Ich sage Ihnen! Ich glaub’, es war ein Kehrbesen. Sie hat halt ergriffen, was grad in der Nähe war.« »Hat er sich nicht gewehrt?« »Nein. Ich glaube: z’erst war er zu verblüfft, und nachher hat er nur noch gejammert. Und dann hat es einen ganz lauten Tusch gegeben – so wie … also bei uns ist einmal vor Jahren, Sie erinnern sich vielleicht daran, daß ich’s Ihnen erzählt habe, da ist, weil sich der Haken gelockert hat – mein Mann und mein Schwager, der Pointvogel, Sie wissen, die haben damals unbedingt den Haken selber eingipsen müssen, war natürlich Pfusch, und da ist der Kronleuchter im Wohnzimmer heruntergefallen. Genau so einen Tusch hat es gegeben. Sie muß ihm etwas nachgeworfen haben – aber was?! Das ist die Frage. Ich zerbrech’ mir schon die ganze Zeit den Kopf, was das gewesen sein könnte. Ein Kronleuchter? Kaum. Ich glaube nicht, daß die Hapermann einen Kronleuchter im Büro haben.« »Einen Stapel Teller?« fragte Frau Manderl. »Kann sein. Aber man kann ja nicht gut fragen ›Frau Hapermann, entschuldigen Sie, aber: was haben Sie Ih-
rem Mann nachgeworfen –?‹« Frau Schlegelberger kicherte, »das kann man ja nicht gut. Und vor allem: ob sie getroffen hat. Ich habe ja nur gehört, nicht gesehen. Das Fenster ist zu hoch. Ob sie getroffen hat.« Die beiden Frauen waren auf dem Stiegenabsatz vor der Wohnungstür von Schlegelbergers angekommen. »Ob sie getroffen hat …« Frau Schlegelberger kramte ihren Schlüssel aus der Handtasche. »Wahrscheinlich eher nicht. Weil sonst wär’ er tot gewesen.« Sie sperrte auf. »Also dann, Frau Manderl.« »Auf Wiedersehen.« »Wiedersehen.« »Wiedersehen.« Frau Schlegelberger sperrte auf, »Wiedersehen«, und ging in ihre Wohnung. Frau Manderl mußte noch einen Stock höher steigen.
RUHE IN FRIEDEN Bierbichler Katharina stand auf dem einzigen Zettel, den Huber bekam, und darunter: West 13.30. Kath. »Sonst nichts?« fragte Huber. »Nein«, sagte Fräulein Faber. »Dumme Kuh«, dachte Huber, »in ihrem Alter noch so enge Röcke. Und wenn die Haare echt sind, fress’ ich einen Besen.« »Sonst noch was?« fragte Fräulein Faber mit ihrem spitzen Mündchen, das viel zu grell bemalt war. »Nein«, sagte Huber. »Dann also«, sagte Fräulein Faber. Huber steckte den Zettel ein und ging hinaus. Er mußte sich sagen, daß Fräulein Faber nichts dafür konnte, wenn nicht mehr da war. »Trotzdem dumme Kuh«, dachte Huber. »Und bei so dürren Altweiberwadeln Netzstrümpfe! Pfui Teufel!« West, 13.30 Kath. bedeutete: halb zwei Uhr Westfriedhof, und daß – wie hieß sie? – Bierbichler Katharina nach katholischem Ritus begraben werden wird. Manche Trauerfamilien setzen sich selber mit einem Musiker in Verbindung, das ist aber selten. Manche bringen ein Streichquartett mit, schöngeistige Familien und dergleichen; noch seltener. Die meisten überlassen es dem Bestattungsunternehmen. Dann legt Fräulein Faber einen solchen Zettel ins Fach. Immer öfters kommt es vor, daß es Notniggel gibt, die überhaupt keine Musik wünschen. »Die Majestät des Todes – Sie verstehen«, hatte einmal einer gesagt, »– die stummen Schwingen der Ewigkeit …« 211
Und spart die 25 Mark, von denen Huber lebt. Also nicht von den 25 Mark – von allen miteinander, 25 Mark pro Beerdigung; außer, wenn auch nachher, nach den Trauerworten des Priesters oder wer immer da redet, noch gespielt werden soll, dann: 35. Hie und da gibt es auch Großzügigere, die lassen fünf Stücke spielen und einen Fünfziger springen. Ist aber sehr selten. Sehr. Auch die Konkurrenz ist groß. Die Faber wird bestürmt. Dumme Kuh. Wenn einer ihr Komplimente macht über ihren Ausschnitt, der faltig ist wie … na ja. Dann kriegt er die besseren Aufträge. Obwohl sie Mitglied der Legio Mariae ist und im Kirchenchor in Mariahilf singt. Und man muß der Faber natürlich ab und zu Blumen bringen. Huber hatte beobachtet, daß ein Konkurrent, ein gewisser Franzspeck, von frischen Gräbern Blumen sammelte, von den Kränzen abriß. Der Strauß stand dann auf dem Schreibtisch der Faber. Es war unverkennbar, denn es waren blitzblaue Nelken dabei, so gefärbte, mit Spray und ein wenig Silber darüber. »Die waren gestern noch an einem Kranz mit der Schleife – (das hatte Huber sich gemerkt) – FAHRE WOHL UND RUHE SANFT FAMILIE BROTMERGEL UND SCHWIEGERSOHN,« hatte Huber nicht unterdrücken können zu petzen. Es war in die Hosen gegangen. Der Franzspeck hatte geleugnet, die Faber hatte dem Franzspeck geglaubt, und Huber hatte sechs Wochen lang überhaupt keinen Auftrag mehr bekommen. Er hatte zu Kreuze kriechen müssen. »So. Der Herr Huber – So?!« 212
»Ich habe es ja nicht so gemeint. Nur –« »Einen Kollegen anschwärzen, daß Sie sich nicht schämen. So was mag ich gar nicht.« Aber wohlweislich hatte Franzspeck keine Blumen mehr gebracht, sondern von da an Konfekt. »Und glauben Sie vielleicht, der Herr Franzspeck hat diese Pralinen auch vom Friedhof zusammengeklaubt?« »Ich bedauere«, hatte Huber gemurmelt, und eine Flasche Eierlikör hingestellt. Da konnte die Kuh natürlich nicht widerstehen, nahm die Flasche, versteckte sie rasch. Die Aufträge begannen wieder zu tröpfeln. Nur zu tröpfeln, mehr nicht. »Warum glaubt selbst so eine Kuh wie diese altbakkene Jungfrau dem Franzspeck mehr als mir? Warum?« Das Glück ist stark ungleich verteilt. In guten Monaten, in denen viel gestorben wird, kam Huber auf zwanzig, dreißig Beerdigungen. Sechs-, siebenhundert Mark. Davon kann man nicht leben, zumal: in schlechten Monaten oft nur fünf. Huber spielte aushilfsweise auch Orgel in St. Emeran und manchmal in St. Agnes. Daß irgend etwas bei Hochzeiten geht – selten, höchst selten. Die Live-Musik ist nicht mehr gefragt, jedenfalls auf dieser Ebene nicht. Die Leute lassen ihre Stereoanlagen dröhnen. An einem Abend in der Woche spielte er in der Piano-Bar »Bei Volker« in Haidhausen. Huber schaute auf die Uhr: halb zwölf. Er stieg aufs Fahrrad, klemmte die Eisenspange um sein linkes Hosenbein, setzte die Baskenmütze auf und fuhr los. Am Rotkreuzplatz überfuhr ihn fast ein österreichischer 213
Lastzug, der verbotswidrig links abbog. Ein Polizist saß da in seinem Streifenwagen und drohte dem Lastzugfahrer mit dem Finger. Der Lastzugfahrer grinste. »Wollen Sie den vielleicht nicht wenigstens aufschreiben?« krähte Huber. »Halt’s Maul, sonst untersuch’ ich dein Fahrrad«, schrie der Polizist. Huber radelte weiter. In der Waisenhausstraße stellte er sein Fahrrad in den Fahrradständer vor einer Metzgerei. Die Metzgerei hatte drin seitlich eine Art Theke, da konnte im Stehen preiswerter Imbiß verzehrt werden. Warmer Leberkäs mit Essiggurke und Brot. Zweiachtzig. Ein kleines Bier: einszehn. Die Verkäuferin legte den Leberkäs auf einen weißen Pappendeckel mit geripptem Rand, fischte mit einer langen Holzzange eine Gurke aus dem Glas, legte eine Breze dazu, hielt das Ganze unter einen zylindrischen Automaten, haute mit der flachen Hand auf einen Knopf: ein Klacks Senf zischte auf den Leberkäs. »Nicht den süßen Senf –!« schrie Huber. »Das hätten S’ früher sagen sollen«, sagte die Verkäuferin kalt. Der süße Weißwurstsenf sah aus wie der Durchfall eines Kleinkindes; mit dunklen, gröberen Körnern durchsetzt, als ob das Kind Pilze gegessen gehabt hätte. Huber wischte den Senf vom Leberkäs, so gut es ging. Gernot hatte sein Kind geheißen, das hatte oft so einen Durchfall gehabt. Mit zwei Jahren war es gestorben. 1946. Da hatte man noch keine Antibiotika und so Zeug. Vielleicht hätte es sonst überlebt. Bei der Beerdigung hatte ein anderer gespielt, selbstverständlich. Hatte nichts verlangt. 214
Die Breze war von gestern. Was willst machen. Frau Huber hatte ihn 1949 verlassen. Scheidung. Eine Zeitlang mußte Huber noch zahlen, weil der Anwalt von Frau Huber schlauer war als dem Huber der seinige, und weil Huber den Fehler begangen hatte, kurz nachdem die Frau davon war, mit einer ihrer Freundinnen ein Verhältnis anzufangen. Wahrscheinlich, meinte Hubers Anwalt, war das eine Falle gewesen. Was willst machen. Aber zwei, drei Jahre später hatte Frau Huber dann gottlob wieder geheiratet. Einen gewissen Täglichsbeck. Ob sie noch lebt? Wer weiß.
* Manche haben genaue Vorstellungen, manche wissen überhaupt nicht, was sie wollen. Am einfachsten ist es natürlich immer, wenn der Verstorbene im Testament respektive eventuell am Sterbebett sich gewünscht hat, was gespielt wird. Es zittern die morschen Knochen oder Denn wir fahren, denn wir fahren gegen Engeland. Wird häufiger gewünscht, als man meint. Sogar Die Fahne hoch … und so weiter. Auf dem Sterbebett kommt so was heraus. Huber kennt die Lieder noch, sozusagen: noch aus der Zeit. »Es zittern am Orsch die Knochen«, haben sie bei der Hitlerjugend gesungen. Kleiner Scherz. 1935 ist Huber eingetreten, da war er sechzehn Jahre alt. Fanfarenzug Oberland. »Es zittern am Orsch die Knochen …« Auf dem Sterbebett kommt es heraus. Die tun sich dann natürlich leicht: wünschen sich das und krat215
zen ab. Ihnen kann nichts mehr passieren. Die Hinterbliebenen haben die Bredouille. Aber meistens trauen sie sich doch nicht, die Hinterbliebenen, abgesehen davon, daß das sogar verboten wäre; Nazilieder. Obwohl – ist eigentlich Es zittern am Orsch die Knochen ein Nazilied? Weiß nicht. Kann sein. Huber lehnte solche Ansinnen immer ab, selbstverständlich. Wenn schon einmal ein Hinterbliebener kommt: »Sie verstehen, wir sind auch nicht glücklich, aber Onkel Norbert, Sie verstehen … es war halt seine schönste Zeit im Leben. Waffen-SS. Männerbund. Und schließlich … alles war ja nicht schlecht. Zum Beispiel die Autobahn …« Der letzte, der unter den Klängen von Es zittern am Orsch die Knochen begraben werden wollte, das ist keine drei Wochen her, hieß Ruppitsch. Giselher Ruppitsch, ungeheuer germanischer Name. Huber ließ sich in solchen Fällen allerhöchstens bis Ich hatt’ einen Kameraden herunterhandeln. Es gibt natürlich auch ausgefallene Wünsche: die Tannhäuser-Ouvertüre. Alles was recht ist. Dauert eine halbe Stunde. Aber gut: wenn die Friedhofsverwaltung einverstanden ist und, natürlich, wenn die Kasse stimmt. Für 25 Emm nicht. Kriegt ja schon ein Installateur 70 pro Stunde. Und muß selbstredend vorher geübt werden. Ja. Kommt aber auch selten vor. Meistens sagen die Leute: halt irgendwas, was Würdiges, Ergreifendes. Also: Befiehl du meine Wege oder das Largo von Händel. Sie hören eh nicht hin; der Tote schon gar nicht. »Gestatten, Oskar Bierbichler mein Name«, flüsterte der Hinterbliebene. Huber drückte eine feuchte Hand. 216
»Haben Sie einen besonderen Wunsch?« fragte Huber. »Nein, irgendwas Würdiges, Ergreifendes«, flüsterte Bierbichler, und: »Kann ich das dann gleich erledigen?« Zwei Scheine, eine Münze. 25. Aha. Kein Trinkgeld, die Mindesttaxe. »Mein Beileid«, sagte Huber, stieg auf die Empore hinauf und wartete. Hie und da ein Blick über die Schulter: wenn sich die Klinke der Doppeltür bewegte – das Auge wird geschärft für so was im Lauf der Jahre –, dann wird gleich der Sarg hereingeschoben, und dann muß man in die Tasten greifen. Huber schaltete schon den Motor des Harmoniums ein. Das Kontrollämpchen leuchtete auf. Dennoch probierte Huber ein paar leise Töne; nicht, daß es ihm passierte wie dem Hundweger. Der hatte sich auf das Kontrollämpchen verlassen und dann, wie der Sarg hereingerollt wurde, kam kein Ton. In seiner Verzweiflung – hat der Hundweger später erzählt – hat er zu singen angefangen: Großer Gott wir loben Dich. Sonst hätten die Hinterbliebenen womöglich die 25 Mark zurückverlangt. Huber schaute um. Dauerte heute länger. Die Trauerfamilie hatte schon Platz genommen, in der Mitte Oskar Bierbichler. Keine sehr große Familie. Auch kaum in Schwarz. Wahrscheinlich ist die Tote nur eine unbedeutende Großtante gewesen. Warum dauert das heut so lang? Huber spielte stumm auf den Tasten herum. 1935 – Fanfarenzug Oberland. Dann hatte er studiert; am Konservatorium. Klavier. Franz Huber. »Mit dem Namen starten Sie keine Weltkarriere«, hatte der Lehrer 217
gesagt. Huber hatte eine Zeitlang schon überlegt, ob er sich Frank Huber-Bergham nennen solle. In Bergham war er geboren, in Niederbayern. Aber Frank klang artfremd, damals. Mehr nach Jazz, und der war bei der HJ verboten. Die Weltkarriere führte dann 1939 zunächst nach Polen, dann nach Belgien, dann nach Jugoslawien, zuletzt nach Rußland. Das Instrument war dabei nicht das Klavier. Huber erschrak: fast hätte er in Gedanken Es zittern am Orsch die Knochen auf dem Harmonium intoniert … Nur ein Akkordeon hatte er dabei. Das hatte ihm 1943 das Leben gerettet. Nein – nicht die Kugel ist daran abgeprallt, nein. Er war zu einem geselligen Abend im Divisionsstab abkommandiert: Unterhaltung für die Herren Offiziere: Heimat, deine Sterne und Lilli Marleen und so Sachen. Die Offi ziere hatten slawische Untermenschen auf den Knien, besser gesagt: Untermenschinnen. Krimsekt und Kaviar. Einer der Offiziere pinkelte in die Hose. Huber spielte: Es zittern am Orsch die Knochen … »Scheiß auf den Orsch mit Knochen!« schrie der Oberstleutnant Knüllewich, »spiel die Loreley.« Auch recht, dachte Huber. Er spielte die Melodie, Oberstleutnant Knüllewich sang den fremdrassigen Text. Danach weinte er. Ein fröhlicher Abend. Inzwischen radierte draußen die russische Artillerie Hubers Kompanie aus. Irgendwie mußten die slawischen Untermenschen mit ihren Kanonen klammheimlich seitlich vorgedrungen, und – »hast’ es nich’ jesehn«, wie der Preuße sagt – standen sie da und schossen. Ebneten die Gefechtsstände ein. Blieb kei218
ner übrig, kein einziger. Nur drei Beine fand man später. Wem die gehört hatten, war nicht auszumachen. Wäre Huber nicht zum fröhlichen Abend im Divisionsstab abkommandiert worden … Später erwischte es ihn doch, aber nur leicht: an der Westfront, zum Glück. Am 9. November 1944 bei Moerdijk. Amerikanische Gefangenschaft; gegen die Wehrmachtsverpflegung der reinste Kuraufenthalt. Im Herbst 1945 war Huber wieder daheim. Ob er ein großer Pianist geworden wäre, wenn es den Krieg nicht gegeben hätte? In der Zeit danach, in den Hungerjahren, hatte man andere Sorgen. Huber ging es deswegen ganz gut, weil er in Ami-Lokalen Akkordeon spielte. In der Gefangenschaft hatte er die amerikanischen Schlager gelernt: La Cucaracha oder Tea for Two, die jetzt so gefragt waren. Damals fing er auch an, auf Beerdigungen zu spielen: auf dem Akkordeon. Das Harmonium war zerbombt mitsamt der Aussegnungshalle. Ob er damals die Zähne zusammenbeißen hätte sollen, ein Klavier organisieren … üben – üben? Jetzt wäre Frank Huber-Bergham gegangen. Oder nur: Frank Bergham, womöglich englisch ausgesprochen: Berghämm. Aber da kam Marion dazwischen, das Kind, das dann starb. Huber gab Akkordeon-Unterricht, um die Familie über Wasser zu halten. Dann lief Marion davon. Huber war dreißig Jahre alt. Mit dreißig Jahren startet man keine Karriere als Pianist. Endlich – der Sarg. Huber griff in die Tasten: Wenn ich einmal soll scheiden. 219
* »Herr«, betete der Pfarrer, »nimm deine treue Dienerin Therese …« »Katharina!« zischte Bierbichler. »Ist doch Wurst«, zischte Frau Bierbichler schon fast ungehörig laut. Der Pfarrer schaute sich mißbilligend um. Auch der Harmoniumspieler, der grad seine Noten zusammenpackte, schaute von der Empore herunter. »Katharina!« sagte Bierbichler, »nicht Therese.« Der Pfarrer verzog das Gesicht, einer der Ministranten kicherte. »… deine treue Dienerin Katharina …«, betete der Pfarrer weiter. Katharina Bierbichler, 72 Jahre alt, ledige Rentnerin, vormals städtische Angestellte. 25 000 Mark auf der Bank. Hat sich zeitlebens nichts vergönnt, gespart und gespart. »Das Luder«, sagte Oskar Bierbichler zu seinem Bruder Manfred. »Hat auch noch immer das Sparbuch hergezeigt. Jeden Sonntag haben wir sie zum Essen eingeladen. Fast jeden Sonntag. Und wie sie zum Schluß im Krankenhaus gelegen ist, haben wir sie jeden Tag besucht. Fast jeden Tag. Zum Schluß habe ich ihr das Glas eingemachte Kirschen gekauft. Beim Dallmayr! Ich bitte. Vom Feinsten. Die hat sie wahrscheinlich gar nicht mehr gegessen. Einen Tag danach ist sie gestorben.« Manfred Bierbichler lachte. »Brauchst gar nicht so dreckig lachen«, sagte Oskar. Danach war Oskar zum Anwalt gegangen. Nichts zu 220
machen: es gibt keinen Pflichtteilsanspruch gegenüber einer Tante. Nur Kinder gegen Eltern und umgekehrt und Ehegatten untereinander, sonst nicht. Und die Tante Katharina hat die kompletten 25 000 Mark dem Verein der Katzenfreunde vermacht. Die Auskunft beim Anwalt hatte noch einmal Geld gekostet. Hinausgeworfenes Geld. Aber wie willst das vorher wissen. »An sich könnte ich die Gebühr aus dem Gegenstandswert von 25 000 Mark geltend machen«, hatte Rechtsanwalt Bröseker gesagt. »Wieviel ist das?« fragte Bierbichler. Bröseker schaute in einem Büchel nach: »880 Mark.« Aber er verlangte nur 100. Kulant, weil Bröseker Genosse war. Sollte er zum Anwalt du sagen, wie es unter Genossen üblich ist? hatte sich Bierbichler vorher überlegt. Er hatte sich dann doch nicht getraut. Er war ja auch nicht als Genosse dort, strenggenommen, sondern als Mandant. Trotzdem muß alles seine Ordnung haben: wenn die Amsel Katharina geheißen hatte, dann hat der Pfaffe da nicht Therese zu murmeln. Überhaupt – er hatte dem Pfarrer sofort gesagt: ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß ich als eingetragenes Mitglied der SPD aus der Kirche ausgetreten bin. Der Pfarrer hat nur genickt. Wahrscheinlich sind die hart im Nehmen. Aber es muß seine Ordnung haben. Die Beerdigungskosten waren durch eine Sterbeversicherung gedeckt. Wenigstens das. Der Kranz – 80 Mark. Na ja, man will sich nicht lumpen lassen. »Der Kranz vom Katzenverein hat«, flüsterte Manfred grinsend, »gut und gern seine 200 gekostet.« »Kunststück, wenn die jetzt 25 Mille er221
ben.« Der Kranz des Katzenvereins überwölbte die kümmerlichen Letzten Grüße der Familie beträchtlich. »Zur Beerdigung wird noch mitgegangen«, hatte Oskar Bierbichler verfügt, »und dann ist Sense. Allerheiligen soll die Tante schauen, wo sie Blumen herkriegt. Vielleicht bringen ihr die Katzen welche.« Die 25 000 Mark waren für die nächste Urlaubsreise eingeplant gewesen: Hawaii. »Warum soll ausgerechnet ein SPD-Mitglied nicht nach Hawaii fahren dürfen, einmal im Leben?« Aus der Traum. Bleibt wieder nur Mallorca. »Du«, sagte Manfred leise, »fällt dir an dem Sarg nichts auf?« »Nein, was?« fragte Oskar. »Der Sarg, den wir ausgesucht haben, hat silbrige Beschläge gehabt. Der hat welche aus Messing.« »Weiß nicht«, sagte Oskar. »Psst«, sagte der Pfarrer. »Doch«, sagte Manfred, »unserer – also: der für die Tante Kathi, hat silbrige Beschläge gehabt.« »Ist doch auch gleichgültig«, sagte Oskar. »Psst«, sagte der Pfarrer. Das Tor ging auf, die Friedhofswärter schoben den Sarg hinaus. Das Totenglöcklein bimmelte über den Friedhof hin. Wenigstens regnet es nicht, dachte Oskar. Manfred starrte auf den Sarg. Voraus rollte der Sarg auf einem Wägelchen; eine Schabracke verbarg das Fahrgestell. Dann trug ein Ministrant ein Kreuz; dann ein anderer Ministrant das Weihrauchgefäß; dann der Pfarrer. Er sollte einmal zum Friseur gehen, die Haare wachsen ihm hinten schon über den Kragen hinunter. Oder er soll sie
sich wenigstens grad abschneiden lassen, wenn er schon längere Haare tragen will. Unter dem Chorrock die Beine: zu kurze Hosen. Und sehr komische Schuhe; eher so eine Art Schnürstiefel; mindestens Größe 45; ganz dicke Sohlen. Solche Schuhe gibt es überhaupt nicht mehr zu kaufen. Vielleicht hat er sie mit der Pfarre von seinem Vorgänger übernommen. Um die Knöchel ganz eng, vorn klobig und kipfelartig emporgebogen. Wahrscheinlich sind das seine Beerdigungsschuhe. Mit seinen guten Schuhen will er nicht in den Lehm steigen, der sich immer um die Gräber herum ausbreitet. Hinter dem Pfarrer die zwei kleinen Kinder von Manfred: Gabriel und Claudia. Dahinter Oskar Bierbichlers schlaksiger Stephan. Dahinter die Frauen: Oskars Frau und Manfreds Frau und die Schwester Oskars und Manfreds, Christa, verheiratete Feucht. Herr Feucht hatte keine Zeit. Er hat ausgerechnet heute eine unaufschiebbare Konferenz. Wer’s glaubt. Dahinter Oskar und Manfred. Manfred musterte immer noch den Sarg. Und ein altes Weib, ganz hinten, klein wie eine Zwergin. Wer ist das? Hat die Tanti Kathi eine Freundin gehabt? Oder ist die Alte womöglich irgendeine Verwandte? Sie war schon in der Aussegnungshalle dabei, hat sich aber bescheiden ganz hinten gehalten. Sie ist die einzige, die wirklich ganz in Schwarz ist; sonst hat nur Manfreds Frau wenigstens einen schwarzen Mantel an und Oskars Frau einen schwarzen Hut auf. Wer ist die Alte? Daß Stephans Anorak eher schwarz ist, hat andere Gründe. Die Alte war auch die einzige, die in der Aussegnungshalle das 223
Vaterunser laut mitgebetet hat. Sie hat einen Hut auf, mehr eine Kappe aus flauschigem, schwarzem Material. Ist das gestrickt? Kann sein. Außerdem hat sie eine – schwarze – Einkaufstasche außer ihrer – auch natürlich schwarzen – Handtasche dabei. Aus der Einkaufstasche schaut ein Flaschenhals mit Schraubverschluß. Plötzlich wieselt die Alte seitwärts hinten weg. Oskar dreht sich um: dort drüben steht die Alte an einem Grab, Oskar sieht es durch die Lükken der Grabsteine hindurch. Sie schlägt rasch ein Kreuz, nimmt die Flasche aus der Tasche, alles ganz fix, schraubt sie auf, schüttelt ein paar Spritzer übers Grab – schon ist sie wieder dahergewieselt, schließt sich, ein Gräberfeldgeviert abschneidend, dem Zug wieder an. Offenbar kennt sie sich auf dem Friedhof gut aus. »Und heller«, sagte Manfred. »Was?« fragte Oskar. »Der Sarg, den wir ausgesucht haben, war heller. Der da ist dunkler.« »Ja, und?« Manfred gab sich, man sah es, einen inneren Ruck, ging ein paar feste Schritte vor, rasch, trat zum Pfarrer. Der Pfarrer blieb verdutzt und unwillig stehen. Die Friedhofswärter merkten zunächst nichts, rollten den Sarg ein paar Meter weiter, dann blieben auch sie stehen, unschlüssig. »Es ist der falsche Sarg, Hochwürden«, sagte Manfred, »tut mir leid.« »Ich verstehe nicht«, sagte der Pfarrer. »Es ist der falsche Sarg«, wiederholte Manfred, »und 224
folglich auch die falsche Leiche. Beziehungsweise: eine andere Leiche.« »Das gibt es nicht«, sagte der Pfarrer. »Hä? Was is?« sagte der eine Friedhofswärter. Die Wärter zogen den Sarg zurück. Merkwürdige Veränderung: wie sie den Sarg vorhin schoben, war es mit gespielter Ehrfurcht. Jetzt zogen sie nur noch einen Gegenstand. So hätten sie auch einen Karren mit zusammengefegtem, welkem Laub gezogen.
* Der städtische Friedhofsinspektor Säbel sortierte Dias. Er hob eins nach dem anderen gegen das Licht. St. Konstantin gegen den Schlern. Der Himmel war grünstichig. Im Vordergrund Frau Säbel in roten Kniestrümpfen. Säbel seufzte, steckte das Dia in den nächsten leeren Schlitz des Behälters und notierte auf einem Blatt: No. 14: St. Konstantin gegen den Schlern. Er hob das nächste Dia gegen das Licht: Santnerspitze, sehr klein, im Vordergrund sehr groß Frau Säbel in roten Kniestrümpfen; Frau Säbel lächelnd. Säbel seufzte wieder, steckte das Dia zurück ins Kuvert, notierte nichts. Das nächste Dia: Santnerspitze ohne Frau Säbel, aber der Himmel etwas grünstichig. Säbel brummte: So einen Film kaufe ich nie mehr, aber jetzt ist nichts mehr zu machen. Er steckte das Dia in den nächsten Schlitz. No. 15: Santnerspitze. Das nächste Dia. Säbel lächelte: der Tschötscher-Hof in St. Oswald. Sehr gelungen, Säbel hatte achtgegeben: keines von den parkenden Autos drauf, Frau Säbel nur 225
ganz klein neben der urtümlichen Holzstiege. In roten Kniestrümpfen. Stört nicht weiter. Säbel steckte das Dia in den Schlitz, notierte: No. 16: Tschötscher-Hof in St. Oswald. Nächstes Dia: die Tschötscher-Tochter in Gretelfrisur, lächelnd. Ein frisches, junges Bergkind. Blond und blauäugig (wenngleich leicht grünstichig). Sie hält ein Brettl mit Speck dem Beschauer entgegen. Säbel notierte: No. 17: die Marend am Tschötscher-Hof. Säbel hatte das blonde Bergkind gebeten, vors Haus herauszutreten, in die Sonne, das Speckbrettl mitzubringen. »I woaß schun«, hatte die Tschötscherin gesagt, »des photographierens gern, die Deitschn«, und hatte die Blonde hinausgeschickt. In der Saison trug sie immer das Dirndl, sonst eher Jeans. Sie war auch nicht die Tochter der alten Tschötscherin, nur eine Bedienung, und stammte eigentlich aus Rovereto, aber das weiß ja niemand von denen, die zuhören. Tschötscher-Tochter macht sich besser. Das nächste Dia: in der urigen Stube. Mit Blitz. Diesmal gelbstichig. Der Filter ist ein Mist, brummte Säbel, aber jetzt ist nichts mehr zu machen. Der Lichtbildervortrag im Südtiroler Wanderverein e. V. war für nächsten Samstagabend angekündigt: »Unser Kamerad Säbel (Kassenwart) wird einige stimmungsvolle Lichtbilder von seinem letzten Wanderaufenthalt in Seis am Schiern vorführen. Die musikalische Umrahmung besorgt unser Kamerad Schratzenegger auf der Zither. Unkostenbeitrag 2,50, für Mitglieder 1,50. Wir bitten um zahlreiches Erscheinen.« Das nächste Dia: Frau Säbel im karierten Nachthemd auf dem Balkon des einfachen, aber sauberen Zimmers in der 226
Pension »Marion« in Seis; im Hintergrund die Hammerwand. Der leicht durchschimmernde, die Hammerwand fast verdeckende Hintern der Frau Säbel leicht grünstichig. Säbel steckte das Dia schnell ins Kuvert zurück. Es klopfte. Säbel schob die Schublade zu, schlug eine Akte auf. »Ja?!« Der „Friedhofswärter Kostatz kam herein. »Ja? Kostatz?« »Etwas Blödes, Herr Inspektor, so was ist noch nie passiert.« »Ja? Was denn?« Säbel war ärgerlich über die Unterbrechung. »Bei der Beerdigung Bierbichler. Die behaupten: der falsche Sarg.« »Und?« »Weiß auch nicht. Die behaupten: der falsche Sarg. Wir waren schon fast am Grab draußen, da hat der eine von den Trauergästen angefangen zu motzen: der Sarg, den sie bestellt haben, hätte silbrige Beschläge und der da welche aus Messing oder umgekehrt. Und es wäre ja jetzt schon die nächste Beerdigung. 14 Uhr. Klein, Franz. Die Trauergäste warten schon.« »Und was haben Sie gemacht?« »Er hat nicht aufgehört: Es ist der falsche Sarg. Er hat den Verdacht, es ist auch die falsche Leiche. Er möchte die Tante noch mal überprüfen.« »Ja – und?« »Haben wir natürlich nicht gemacht. Ich wollte vorschriftsmäßig sofort weiter beerdigen. Aber … draußen 227
steht der Herr. Der Pfarrer ist auch schon ganz sauer.« »Rufen Sie ihn herein.« Kostatz machte die Tür auf und trat beiseite. Manfred Bierbichler kam herein. »Also das ist noch nie vorgekommen«, sagte Säbel. »Das heißt noch nicht, daß es nicht vorkommen kann«, sagte Bierbichler, »ich will ja niemandem einen Vorwurf machen. Irren ist menschlich. Aber ich will die Leiche sehen.« »Das geht nicht«, sagte Säbel, »das ist nicht vorgesehen. Kostatz, wo war die Dame, respektive Leiche?« »In Boxe IV«, sagte Kostatz stramm. »Einen Moment«, sagte Säbel, blätterte im Diarium, deutete mit einem leicht wurstförmigen Zeigefinger auf eine Stelle und konstatierte: »Sehen Sie selber: Boxe IV: Bierbichler Theresia …« »Eben!« sagte Bierbichler, »die Tante heißt Katharina. – Hieß.« Säbel verstummte für einen Moment. »Wie?« sagte er dann, »sind Sie sicher?« »Ich werde doch wissen, wie meine Tante geheißen hat!« Bierbichler bekam sichtlich Oberwasser, Säbel wandte sinn- und hilflos die Seite um und wieder zurück. »Wer hat denn das eingetragen? Kostatz?« Kostatz kam an den Schreibtisch, hielt den Kopf schief und sagte (etwas lächelnd): »Sie selber, Herr Inspektor; das ist Ihre Schrift.« Säbel sprang auf. »Wo ist der Sarg jetzt?« 228
»Im Kranzdepot. Wir haben ihn da hineingeschoben, weil –« Säbel hörte nicht weiter, rannte voraus, im Rennen drehte er den Kopf um: »Holen Sie einen Schraubenzieher!« Die Frauen und die Kinder blieben draußen, die wollten die tote Tante auch gar nicht mehr sehen. Die Frau im Strickhut hätte die Tante zwar gern sehen wollen, wurde aber nicht zugelassen. Nur Manfred und Oskar Bierbichler, zwei Friedhofswärter (einer von ihnen Kostatz) und der Inspektor waren im Kranzdepot. Kostatz und sein Kollege schraubten. Dann hoben sie den Deckel ab. Im Sarg die wächserne Maske eines bärtigen Mannes von etwa siebzig Jahren. »Das ist der Klein Franz«, murmelte Kostatz. Säbel holte Luft. Wie kommunizierende Gefäße: je dicker und dicker Säbel wurde, desto mehr, schrumpften Kostatz und sein Kollege, dabei war es den beiden Bierbichlers klar, daß das alles nur Theater bedeutete. Ihm war, nach jahrelanger Tätigkeit im gehobenen städtischen Friedhofsdienst, völlig gleichgültig, welche Leiche in welchem Grab zu liegen kommt. »Der Leiche ist es auch Wurst«, pflegte er gelegentlich zu sagen. Aber er hatte das dienstliche Gefühl, daß hier in diesem Pannenfall die Trauergäste einen gewissen Anspruch auf ein Donnerwetter hatten. – »So – ein – Saustall!« brüllte er, senkte seine Stimme abrupt, wandte sich an die Brüder Bierbichler, sich mit ihnen quasi gegen die eigenen Untergebenen solidarisierend: »Verzeihen Sie«, und wieder brüllend: »Ja – wo – glaubt – ihr – Schweinigel, wo wir 229
sind? Wer – hat – das – verbockt?! Wer? frage ich?« Kostatz und sein Kollege zogen den Kopf ein. »Weiß nicht«, brummte Kostatz, »ich nicht.« »So! Sie nicht! Wer dann? Die –«, er machte eine kleine Verbeugung gegen die Brüder Bierbichler hin, »– teure Verblichene? Vielleicht?« Er brüllte weiter: »– ist wohl allein mit ihrem Sarg in die falsche Box gerollt? Was?! Oder? Als Tote, oder wie? Jawoll. Aber das kann ich Ihnen sagen: Das hat noch ein dienstliches Nachspiel. So ein Sauhaufen. Und jetzt sehen Sie, daß Sie den Palawatsch gefälligst wieder in Ordnung bringen.« Er senkte neuerlich die Stimme und wandte sich an die Bierbichler: »Es ist mir sehr peinlich.« »Na ja«, sagte Oskar Bierbichler, milde gestimmt durch das wohltuende Gebrüll, »so was kann vorkommen.« »Ja, ja«, sagte Säbel, »sollte aber nicht.« Und noch einmal nachgrollend an Kostatz und seinen Kollegen: »Wir sind hier ein Friedhof und kein Saustall. Bitte ich mir aus.« Und ging. Es hatte gar kein dienstliches Nachspiel. Säbel vergaß die Sache bald, auch hatte er gar kein so brennendes Interesse an der Nachprüfung, wer an der Panne schuld war, denn … wer weiß … Er zog die Schublade wieder auf. Dia No. 18: Blick ins Eisacktal, im Vordergrund ein blühender Apfelbaum. Die Blüten leicht blaustichig. »Den Film soll doch der Teufel holen«, brummte Säbel.
* 230
Einen einzigen Klavierabend hatte Huber gegeben: 1939 in Dingolfing im Pfarrsaal, der damals allerdings K. d. FSaal hieß. K. d. F: Kraft durch Freude, eine Naziorganisation, durch die bewirkt werden sollte, daß auch die Freizeit der Leute wirklich völkisch-germanisch und reinrassig-arisch gestaltet würde. Huber hatte wochenlang auf dieses Konzert geübt, natürlich nur arische Stücke: eine Beethoven-Sonate (»Was kann Beethoven dafür, daß er arisch war«, sagte Huber später), Schubert op. 90 (war auch arisch), ein bißchen Richard-Strauß-Geklimper mit niedrigen Opus-Zahlen. Der war garantiert arisch. Woher wußte man eigentlich, ob Schubert oder Beethoven arisch waren? Hat man da Arische Nachweise angefertigt, so wie man sie für den Antrag zur Aufnahme als Parteianwärter brauchte? Was wäre gewesen, wenn man zum Beispiel herausgefunden hätte, daß bei Beethovens Vorfahren nicht alles ganz so hasen- sprich: rassenrein war? Ein Deutsches Reich ohne die Neunte? Ja, richtig: Es hat so einen Fall gegeben, Johann Strauß, den Walzerkönig. Da haben die amtlichen Rassenforscher herausgefunden, daß dessen Großvater ein getaufter Jude war – was Wunder? bei der Musikalität! Da standen die Nazis vor einem Problem: Konnte man die Strauß-Walzer verbieten? von heute auf morgen? Undenkbar. Eher hätte man die Neunte verbieten können oder den »Parsifal«. Also riß man die betreffende Seite aus dem Taufregister der Wienerstadt, und die »Schöne blaue Donau« war wieder arisch. »Wer Jude ist, bestimme ich«, soll Göring gesagt haben. Es zittern am Orsch die Knochen. 231
Huber saß vor der Einsegnungshalle und aß eine Essiggurke, die er sich vorhin in der Metzgerei dann noch auf Vorrat gekauft hatte, eine sehr große Essiggurke, so groß wie eine Banane. Er hatte außen auf das Glas gezeigt: die da unten, die größte. Die Verkäuferin hatte unwillig mit der Holzzange im Glas danach gefischt und sie dann in Pergament eingepackt. Huber hielt das Pergament in der linken Hand nah am Kinn, daß nichts tropfte, biß in die Gurke, wartete, ob nicht doch noch eine Trauerfamilie käme, die keine Musik bestellt hatte, das jetzt nachträglich bereut … so was kommt vor. Vom K. d. F. veranstaltet. Was sollte man machen, damals? Sollte Huber, der junge, ehrgeizige Pianist, den Widerständler markieren? »Nein, für K. d. F. spiele ich nicht –!«? Außerdem: K. d. F. war doch das Harmloseste. Ein Konzert wie jedes andere, nur halt, daß der Ortsgruppenleiter vorher gesprochen hat. Dann Beethoven, Schubert, Richard Strauß. Arisch. Es zittern am Orsch die Knochen. Der Saal war ausverkauft, ein großer Erfolg. Der K. d. F.-Chef von Dingolfing hat sich die Hände gerieben, war mit der Abendkasse sehr zufrieden. »So einen Abend wiederholen wir im Herbst«, sagte er, »natürlich mit anderem Programm, und vielleicht kann ich Sie ins Gau-K. d. F.-Programm empfehlen, und eines Tages, wer weiß, spielen Sie in München …« Im Herbst war Huber schon in Uniform und in Polen. In der Wohnung, in der er mit seiner Frau und dem kleinen Gernot damals lebte, konnte er keinen Klavierunterricht geben, nicht einmal – oder: schon gar nicht 232
– selber üben. »Wohnung« wäre geschmeichelt gewesen: in der Lindenschmitt-Straße ein Haus, das eine Bombe nur knapp verfehlt hatte. Das nächste Haus war weg. Durch eine der Türen im Stiegenhaus ging es direkt ins Freie: vier Stock nach unten. Ein amerikanischer Soldat fiel einmal hinunter, war sofort mausetot. Ein Neger. Er hatte wohl die richtige Tür verfehlt. Es gab eine fürchterliche Aufregung. Die Military Police kam; mit der war nicht zu spaßen. Aber auch die Military Police hatte ein Interesse daran, die Sache herunterzuspielen: Der Neger war, milde gesagt, nicht mehr nüchtern gewesen. Was hatte der (in Uniform!) in dem Haus zu suchen? (Die Leute im Haus wußten schon, was der zu suchen hatte: eine gewisse Evi Permaneder im vierten Stock.) Huber bewohnte, sofern man diesen Ausdruck unter den Umständen gebrauchen kann, ein Drittel der Wohnung im zweiten Stock links. Diese Wohnung war durch Pappendeckelwände in drei Teile geteilt. In Hubers Teil lag das gemeinsame Klo. Was das bedeutete … Huber rollte die halbe Gurke wieder ins Pergament und winkte mit der Hand ab, als ob er mit jemandem geredet hätte. Unter welchen Umständen man damals gelebt hat … und es ist doch gegangen. Heute, wenn man den Leuten diese Umstände zumutete, die würden sofort sterben. Würden das nicht überleben. Würden es doch überleben. Haben es damals auch überlebt. Man staunt oft, was der Mensch alles überlebt. Nur der Neger, der statt durch die Tür zu Evi Permaneder durch die andere Tür gegangen war – der hat das nicht überlebt. 233
An Klavierspielen wär’ nicht zu denken gewesen, selbst wenn ein Klavier dagewesen wäre. Huber gab Akkordeonstunden, schon das störte die Nachbarn, aber Klavier hätte mehr gestört. Später, als Huber wieder in einer ordentlichen Wohnung lebte (ohne Kind, ohne Frau), war er zu lange weggewesen vom Klavier; der Anschluß war hoffnungslos verpaßt. Weiter Akkordeonstunden. Heute ist das Akkordeon außer Mode. Huber hatte nur noch einen Schüler, genauer gesagt: Schülerin, Yvonne. Ein hübsches Kind, dachte Huber immer, wird einmal eine reizvolle Frau; sagte aber natürlich nichts. Sie kam ungern, schob ihr kleines zweirädriges Gestell, auf dem das schwere Akkordeon transportiert wurde, mißmutig zur Stunde und fröhlich wieder weg. Nur »La Paloma« spielte sie gern. »Da wär’ die mißglückte Beerdigung noch einmal«, sagte Kostatz. Huber schreckte auf: »Was?« »Na ja«, sagte Kostatz, »wo die Tante in die falsche Boxe geraten ist. Bierbichler, ursprünglich halb zwei.« Huber schaute auf die Uhr: Es war fast halb fünf. »Wieso mißglückt?« fragte Huber. »Eine Verwechslung. Zum Glück haben es die anderen, also wo die Leiche richtig gehört hat, respektive der bärtige Mensch, der statt der Tante in dem Sarg gelegen ist, haben es nicht gemerkt. Wir konnten blitzschnell umdisponieren. Verstehst? Und weil wir natürlich nicht die richtige Beerdigung sofort nachholen können, nicht wahr, wegen der anderen Termine, hat ihnen der Chef halb fünf Uhr angeboten. Jetzt dürfen wir Überstunden machen. Kommst? Du sollst spielen.« 234
Huber ging mit. »Zuerst haben sie, also diese hinterbliebenen Bierbichler, ziemlich gemotzt. Ist ja letzten Endes verständlich, wo wir beinahe die falsche Tante begraben hätten, beziehungsweise: überhaupt nicht die Tante, sondern den wildfremden bärtigen Menschen – also: für die Bierbichler wildfremd –« »Aber tot war er schon?« »Ja, ja. Doch. Tot schon, nur falsch. Beziehungsweise: der Falsche. Aber – letzten Endes – wenn alle letzten Endes begraben gewesen wären, hätte es kein Mensch gemerkt. Aber – na ja. Weil man es vorher doch gemerkt hat, respektive dieser hinterbliebene Bierbichler gemerkt hat – am falschen Sarg, notabene, beziehungsweise am Griff – verstehst?« »Nein …« »An die Griff vom Sarg – und auf Öffnung desselben bestanden hat … hat der Chef eben angeboten: Die Beerdigung wird um halbe fünfe nachgeholt. Früher aus terminlichen Gründen leider nicht möglich. Wir können ja nicht einfach so quasi eine Blitzleiche zwischen zwei andere dazwischenschieben. Müssen ja schließlich die Pietät wahren. Haben zuerst gemault, ist ihnen dann aber nichts anderes übriggeblieben. Nur –«, Kostatz blieb stehen und faßte Huber ans Revers, »–da ist ein Problem. Der Leichenschmaus. Der war für drei Uhr bestellt. Mußten natürlich – also, wie soll ich sagen –«, Kostatz kicherte, »kurz gefaßt: jetzt sind s’ alle sternhagelvoll. Ausgenommen die Kinder. Ob wir da, beziehungsweise unter 235
diesen Umständen, die Pietät wahren können?« Kostatz machte eine zweifelnde Handbewegung und ging weiter, Huber hinterher. »Der Pfarrer«, sagte er, »war nur nach langem Überreden bereit, die teure Verblichene sozusagen ein zweites Mal einzusegnen. Wo kommen wir denn da hin, hat er gesagt, wenn wir jede Leich’ zweimal beerdigen. Ich, hat er gesagt, habe die verewigte Bierbichler Theresia oder Katharina, oder wie sie geheißen hat, eingesegnet und damit basta, und wenn Sie eine andere Leiche im Sarg haben, so ist das gefälligst Ihre Sache und so weiter. Eine unschöne Diskussion, aber der Säbel hat vermittelt, und der Pfarrer hat sich bereit erklärt respektive eingelenkt.« »Ach«, sagte Huber, »und ich soll umsonst noch einmal spielen?« »Ja, nein«, sagte Kostatz, »du sollst halt ein bißchen herumquietschen, nur ganz kurz, und der Säbel zahlt dir aus der Extrakasse zehn Mark. Ihm zuliebe, läßt er dir ausrichten –? Ja?« Huber stieg hinauf, klemmte sich auf die Bank hinters Harmonium und schaltete den Motor ein. Der Pfarrer betete wortlos. Die Trauergemeinde kicherte, einer rülpste, Manfreds Frau schlief. Huber griff in die Tasten. Er spielte – bis zur Unkenntlichkeit verlangsamt, auseinandergezogen und kühn harmonisch umspielt – Es zittern am Orsch die Knochen. »Besser als gar nichts«, dachte Huber, als ihm danach Säbel einen Zehnmarkschein in die Hand drückte und sogar »Danke« sagte.
LANDLEBEN Für Hans W. Stoermer
»Wenn Sie meinen«, sagte der Lektor Rommerskirchen, »daß das für bundesrepublikanische Verhältnisse nicht paßt, daß eine bloße Übersetzung … wie soll ich sagen … daß es mit einer bloßen Übersetzung nicht getan ist, daß man ändern, retouchieren, für unsere Gegebenheiten zuschneiden muß, dann – ja, dann ist es fast einfacher, Sie schreiben das Buch gleich selber. Also neu, meine ich.« Das war vor einigen Jahren gewesen. Peter Kühne saß damals vor Rommerskirchen in dessen Büro vor dem Schreibtisch, der Lektor dahinter. Hinter Rommerskirchen an der Wand hing ein großes Ölgemälde, das einen anderen, früheren Lektor, einen bedeutenden Mann der Verlagsgeschichte, darstellte. Der auf dem Ölgemälde saß auch hinter einem Schreibtisch. Es war derselbe Schreibtisch, an dem, vor dem Gemälde, Rommerskirchen saß. Ein Verlag mit großer Tradition. »Aber Geschäfte müssen wir trotzdem machen«, sagte Rommerskirchen, »mit der Tradition allein machen wir keine schwarzen Zahlen. Also?« Rommerskirchen hob ein schmales amerikanisches Bändchen mit buntem Einband in die Höhe. »Wenn Sie meinen«, sagte Kühne. Ein verhängnisvolles Wort. Rommerskirchen ließ das Bändchen fast ein wenig 237
vorsichtig auf einen – mit Büchern bedeckten – Beistelltisch fallen, stand auf, ging um seinen Schreibtisch herum zur Sitzgruppe und sagte: »Bitte!« Übersetzer wurden von Rommerskirchen am Schreibtisch empfangen. Autoren durften in der Sitzgruppe Platz nehmen. Kühne war jetzt Autor. Er stand auf und ging auch zur Sitzgruppe. Bisher hatte er für den traditionsreichen Verlag nur übersetzt, meist Sachbücher, hie und da Belletristik. Das Buch, das er jetzt übersetzen hätte sollen, war ein amerikanischer Bestseller, ein Nachschlagewerk: »How to Manage a Farm«, ein Leitfaden in alphabetischer Anordnung für Stadtleute, die ein Bauernhaus kaufen und dort leben wollen, ohne eine Ahnung davon zu haben. In Amerika, wie gesagt, eine Saison lang ein Bestseller. Rommerskirchens Verlag hatte eine Option darauf. Kühne hatte das Buch gelesen und war angetan gewesen. Sergio Kreisler, der erfolglose Dramatiker, sah es bei ihm liegen und blätterte darin. »Es könnte«, sagte Kühne, »eine wirkliche Lebenshilfe sein. Gar nicht so schlecht.« »Das Buch ist ein Blödsinn«, sagte Kreisler. »Aber in Amerika ein Bestseller!« sagte Kühne. »Was ist nicht in Amerika alles ein Bestseller«, sagte Kreisler. »Deine Werke jedenfalls nicht«, sagte Kühne. Kreisler überging das, griff wieder nach dem Buch. »Wenn einer darauf angewiesen wäre, mit dem Buch auf dem Land zu überleben und gar einen Bauernhof zu bewirtschaften, dann ginge er baden.« Kreisler schlug das Stichwort »fence« auf: Wie man einen Zaun zieht, las es laut vor 238
und lachte. »Der das geschrieben hat, hat noch nie einen Zaun gezogen. Ich möchte mir nicht antun, das Stichwort Melken zu lesen.« »Und wie kommt es, daß es doch ein Bestseller ist?« »Das kommt daher, daß es Leute kaufen, die vorhaben, aufs Land zu ziehen, und es doch nicht tun. Die meisten Leute tun nie das, was sie vorhaben. Höchstens: sie kaufen ein Buch darüber. Wenn sie das Buch gelesen haben, haben sie das Gefühl, sie hätten getan, was sie vorgehabt haben.« Kühne erwähnte diese Gedanken Rommerskirchen gegenüber, ohne die Quelle anzugeben, aber, dachte Kühne, wahrscheinlich kennt der Lektor Sergio Kreisler ohnedies nicht. »Das macht gar nichts«, sagte Rommerskirchen, »die sollen auch gar nicht aufs Land ziehen. Wäre gar nicht wünschenswert. Wir rechnen mit einer Auflage von 100 000. Wenn die alle aufs Land zögen, gäbe es 100 000, die keine Bücher mehr kaufen.«
* Peter Kühne, ein Bestsellerautor. Er konnte es selber anfangs nicht fassen. Zur Buchmesse des betreffenden Jahres kam das Buch heraus. Sergio Kreisler, der alberne Kollege, der das Manuskript durchgesehen und die Kommata verbessert hatte, hatte als Titel vorgeschlagen: »Der Millionär als Bauer« oder »Der unfröhliche Landmann« oder »Le rustique malgré lui«, was natürlich alles nicht in Frage kam. Kühne selber war nichts anderes 239
eingefallen als: »Handbuch des Landlebens«, was Herrn Lektor Rommerskirchen als zu nüchtern erschien. Aber auch er wußte keinen besseren. Zum Glück hatte der Verlag einen Buchhalter, der immer gute Ideen für Titel hatte, obwohl er nie eins der Manuskripte las. Der Buchhalter schlug vor »Scholle alternativ«, und Kenner der Branche behaupteten damals, daß ein Teil des unerwarteten Erfolges auf diesen Titel zurückzuführen sei. Im Herbst also erschien »Scholle alternativ«, zu Weihnachten waren die ersten hunderttausend Exemplare verkauft. Schon in den ersten Novembertagen hatte sich Kühne daran gewöhnt, Bestsellerautor zu sein. Er kaufte sich einen Jaguar/Zwölfzylinder, mietete eine Luxuswohnung in Schwabing, bezahlte dem Kolumnisten Graeter monatlich tausend Mark, damit Peter Kühne, Bestsellerautor, regelmäßig, mindestens zweimal pro Woche in der Rubrik Leute in der Abendzeitung aufschien, und er grüßte – zum Beispiel – Sergio Kreisler nur noch von weitem mit Kopfnicken. Im Februar (3. Auflage) flog er mit Frau und Kindern in Urlaub auf die Bahamas, was natürlich in der Rubrik Leute gemeldet wurde.
* Die Luxuswohnung in Schwabing war zweistöckig, es gab eine Wendeltreppe innerhalb der Wohnung; dazu noch eine Dachterrasse. Das Arbeitszimmer unten war fast ein Saal. Frau Kühne, früher auch Journalistin, gewöhnte sich an die Rolle der Ehefrau eines Bestsellerau240
tors fast noch schneller als Kühne selber an die eigene. Ein Schrank voll Kleider und über hundert Paar Schuhe. Wenn Kühnes eine Party gaben – bei Graeters Leute wurde die Liste der Gäste veröffentlicht –, blieb danach das ganze Geschirr, blieben die halb ausgetrunkenen Gläser, die überquellenden Aschenbecher einfach unten stehen, Kühne und seine Frau gingen hinauf ins Schlafzimmer, und während sie am nächsten Tag schliefen – sie schliefen gern lang –, kam die Putzfrau und räumte alles weg. Die Kinder brachte ein Kindermädchen zur Schule. »Nurse«, sagte Frau Kühne, wenn sie von ihr redete. Als einmal im gleichen Haus ein Ein-Zimmer-Appartement frei wurde, spielte Kühne mit dem Gedanken, es zu kaufen und einen Butler einzustellen und dort unterzubringen. Aber dazu kam es nicht mehr. »Und wo haben Sie Ihren Hof« fragte Agathe von Imschlechter, eine bedeutende Dame der Gesellschaft, Tochter eines berühmten Schauspielers, bekannt und beliebt als Trägerin eines der sehenswertesten Décolletés der Stadt. Es war auf so einer Party. Kühne hatte Frau von Imschlechter eben Champagner nachgeschenkt. »In … in …«, stotterte Kühne, »… in …« »Ja, ja«, sagte Frau von Imschlechter, »man merkt sich diese vertrackten oberbayerischen Namen so schwer. Und wenn, dann betont man sie falsch. Wie Rupólding. Das betont man, habe ich mir unlängst sagen lassen: Rúhpolding.« »Im Chiemgau«, sagte Frau Kühne ruhig, die hinzugetreten war und die Frage gehört hatte. (In der Regel 241
traten die Ehefrauen hinzu, wenn ein Mann mit Frau von Imschlechter sprach.) Später. »Sie haben Ihren Hof im Chiemgau?« fragte der seigneurale Schriftsteller Hans Eugen Gringstetten, der Verfasser einer – leider längst nicht so erfolgreichen – Biographie über Georg Heym. »Ja, ja«, sagte Kühne. »Ich kenne den Chiemgau ganz gut«, sagte Gringstetten, »habe selber ein Häuschen dort. Wo ist Ihr Hof?« »Ach«, sagte Kühne, »so ein Dorf. Eher ein Weiler. In der Nähe von … von …« »Von Endorf? oder von Trostberg?« »Ja, ja«, sagte Kühne, »ungefähr dort. Eher weiter südlich. Beziehungsweise östlich.« »Aha«, sagte Gringstetten. Noch später. – »Und wie groß ist Ihr Anwesen dort bei Endorf? Ich kenne Endorf gut«, sagte Frau Melli Schneck, eine bekannte Galeristin, »es kann eigentlich nur in der Nähe von Söchtenau sein?« »Nein, nein«, sagte Frau Kühne rasch, »auf der anderen Seite.« »Ach so«, sagte Frau Schneck, »ich verstehe. Und wie groß?« »Na ja«, sagte Kühne, »nicht sehr. Aber doch schon. Es geht.« »Bewirtschaften Sie es selber?« »Ja«, sagte Frau Kühne, »nein«, sagte gleichzeitig Peter Kühne. »So halb und halb«, fügte er auf einen Blick seiner Frau schnell hinzu. »Und dort draußen?« fragte Frau Schneck – Frau Küh242
ne glaubte ein tückisches Aufblitzen in den Augen Frau Schnecks wahrzunehmen –, »dort draußen geben Sie nie eins Ihrer Feste?« Als dann unten die halb ausgetrunkenen Gläser, die überquellenden Aschenbecher und die zertretenen Hummer-Canapés der Firma Käfer darauf warteten, daß sie morgen früh die Putzfrau wegräumen werde, lag Frau Kühne noch wach im Bett, obwohl es schon sehr spät war. »Wir kommen nicht mehr drum herum«, sagte sie laut. Peter Kühne schreckte aus dem ersten Schlaf auf. »Was?« »Wir müssen eine Party auf dem Hof geben, sonst sind wir weg vom Fenster.« »Aber wir haben doch gar keinen Hof«, sagte Kühne. »Eben!« sagte Frau Kühne. Peter Kühne beschlich ein unangenehmes Gefühl. »Ach, so meinst du das«, sagte er dann und war auch wieder ganz wach. »Graeter hat auch schon unlängst so eine Bemerkung gemacht. Es reicht nicht mehr, daß wir uns jedes Wochenende irgendwo verstecken und sagen: wir waren draußen. Die Kinder verplappern sich in der Schule.« »Ich will keinen Bauernhof«, sagte Kühne. »Ich bin in der Stadt aufgewachsen. Ich bin immer ein Stadtmensch gewesen. Ich mag keine Kühe. Also: keine lebenden.« »Und ausgerechnet du schreibst dieses Buch.« »Eine Verkettung unglücklicher Umstände.« »Und jetzt machst du sogar eine Fernsehserie aus Scholle – alternativ.« 243
»Die drehen wir auf einem anderen Hof. Das versteht jeder, wenn ich sage: ich will den Trubel nicht bei mir selber haben.« »Wenn einer dahinterkommt«, sagte Frau Kühne, »dann sind wir geliefert. Und außerdem: wir kommen nicht mehr drum herum, dort eine Party zu geben.« Kühne seufzte. Der Hof hieß: Hinterzeilenberg. Früher hatte es auch einen Vorderzeilenberger Hof gegeben, aber der war vor zwanzig Jahren schon abgebrannt, und der Vorderzeilenberger hatte von der sehr beträchtlichen Versicherungssumme eine Truthahnschlächterei in Wasserburg gebaut. Auch der Hinterzeilenberger Hof rentierte sich nicht mehr. Da die Brandversicherung mißtrauisch geworden war, verkaufte der Hinterzeilenberger. Wurzer schrieb er sich, Alois hieß er. Er war aber nicht da, als Kühnes mit dem Makler Herrn von Wadenhofen hinauskamen. Der Hinterzeilenberger war auf seiner Baustelle beschäftigt, weiter unten an der Straße, wo ein Bungalow entstand sowie eine Frühstückspension. Herr von Wadenhofen hatte aber den Schlüssel. »Wo ist das Klo?« wimmerte Thomas Kühne, »ich muß einmal.« »Dort«, sagte Herr von Wadenhofen, »aber Vorsicht, es ist alles sehr – wie soll ich sagen – sehr einfach.« Frau Kühne ging mit Thomas hinter den Verschlag und kam unverzüglich wieder heraus. »Unmöglich«, sagte sie, »und der Gestank. Tommy muß auch nicht mehr.« »Rustikal«, sagte Herr von Wadenhofen, der einen 244
edelverknitterten Trachtenanzug aus Schilfleinen trug, »aber ich habe statisch durchrechnen lassen. Sie können eine Naßzelle einbauen lassen.« »Was das kostet!« ächzte Kühne. Auch Kühne trug einen Trachtenanzug aus Schilfleinen. Einschließlich Schuhen, groben Strümpfen, Leinenhemd mit kleinen Hirschhornknöpfen und roter Krawatte hatte er bei Lodenfrey knapp 2000 Mark gekostet, den runden Hut mit Feder noch gar nicht gerechnet, den aber Kühne nicht aufsetzte, nur in der Hand hielt, weil Nicole – die Kühnetochter – einen Lachanfall bekommen hatte, als der Vater ihn daheim probiert hatte. Das maßgeschneiderte Dirndl von Frau Kühne nebst Unterrock und Taftschürze war bei Dietl auf 4000 gekommen. Als sie wieder wegfuhren, blieb Kühnes Jaguar mit dem Außenspiegel am Zaun hängen und kam dann nicht wieder weg, weil die Räder im Morast durchdrehten. »Und was steht darüber in deinem Buch?« fragte Frau Kühne spitz, »unter welchem Stichwort muß man nachschauen? Jaguar? oder Morast?« Kühne fluchte und stieg aus. Nun blieb noch einer seiner Haferlschuhe im Morast stecken. Auch Frau Kühne und die Kinder mußten aussteigen. Herr von Wadenhofen brachte Fichtenäste und unterlegte damit die Räder. »Geben Sie jetzt Gas!« schrie er. Kühne gab Gas. Die Fichtenzweige flogen nach hinten. Leider war Herr von Wadenhofen hinter dem Auto stehengeblieben. Eine Morastfontaine. Herrn von Wadenhofens schilfgrüner Schilfleinenanzug war – vorne, hinten nicht – nunmehr moorgrau. »Setz du dich ans Steuer«, giftete Kühne. Frau 245
Kühne gab Gas, Kühne und Herr von Wadenhofen schoben. Der Jaguar machte einen Satz nach vorn, gegen einen steinernen Torpfosten. Kühne fiel hin. Nun war sein Trachtenanzug morastbeige. »Ich habe mir das alles ganz anders vorgestellt«, sagte Kühne dann, als sie endlich wieder Richtung München fuhren. »Die Sitze vom Auto kannst du vergessen«, sagte Frau Kühne. Von Kühne tropfte immer noch der Morast. »Du wolltest den Hof!« schrie Kühne. »Ich? ich?« schrie Frau Kühne, »wer hat das blöde Buch geschrieben? Du oder ich?« Auch daß nur ein paar ganz enge Quadratmeter Boden direkt am Haus zum Verkaufsobjekt gehörten, hatten sich Kühnes nicht so vorgestellt. Den Wald, die Wiesen drum herum, das behielt der Bauer. Außerdem war das Anwesen völlig leer: keine rustikalen Rundtische aus massiver Linde, keine Eckbänke, Herrgottswinkel und bemalte Schränke mit der Jahreszahl »1797« und dergleichen. Das alles hatte der Wurzer schon vorher einem Antiquitätenhändler verkauft. (Was weder Kühnes noch Herr von Wadenhofen wußten: der Wurzer hätte für den Preis, den der Antiquitätenhändler für die Möbel zahlte, den Hof als Rabatt dazugegeben. Der Antiquitätenhändler wollte ihn nur nicht.) Dennoch kauften Kühnes den Hof. »Daß der ganze Grund rundherum nicht uns gehört«, sagte er, »erkennt man ja nur im Grundbuch, und wer schaut da schon vorher nach, wenn er zur Party kommt.« 246
* So wurde der Erfolgsautor Peter Kühne der Hinterzeilerberger zu Anderbrunn, Landkreis Rosenheim. Das heißt: er bildete es sich ein. In den Augen der Bauern wurde er es nicht. Das geht auch gar nicht. Da gehört mehr dazu, als daß man einen Hof kauft, noch dazu nur einen mit bloß ein paar Quadratmeter Grund rundherum. Jedes Wochenende waren nun Kühnes draußen. Kühne graute es immer schon vor dem Freitag, aber mittlerweile wußte er, wo er den Jaguar vors Haus stellen mußte, daß die Räder nicht in den Morast versanken. Frau Kühne kaufte vier Hühner, die liefen aber davon, wahrscheinlich zu den anderen Hühnern am Burglehnerhof, dem nächsten bewirtschafteten Anwesen, zwei Kilometer weiter auf einem Hügel. Kühne fuhr hin, nicht nur, um die Hühner zurückzuholen (er hätte sie nicht identifizieren können), sondern um sich dem Nachbarn vorzustellen. Man sitzt, hatte er in seinem Buch geschrieben, einmal bei diesem, einmal bei jenem Nachbarn abends nach Feierabend auf der Bank vor dem Haus, hält einen Plausch oder schaut auch nur so vor sich hin, wenn die Sonne hinter dem Waldrand untergeht. Aber der Burglehner saß nicht auf der Bank vor seinem Haus, sondern in seiner Stube und schaute die Sportschau an. »Grüß Gott!« sagte Kühne (den Gruß hatte er gelernt), »ich bin der neue Hinterzeilerberger. Der Nachbar.« 247
»So«, sagte der Burglehner und schaute in den Fernseher. Kühne stand da, setzte sich dann unaufgefordert. »Ich wollte mich«, sagte Kühne, »nur vorstellen. Als Nachbar. Und vielleicht –«, er versuchte gelöst zu lachen, »– auf einen kleinen Plausch.« »So«, sagte der Burglehner. »Sie sind –« (zunächst hatte Kühne überlegt, ob er den Burglehner nicht gleich duzen solle, weil sich ja alle Bauern angeblich duzen, aber er blieb dann doch lieber – vorerst – beim Sie) »– Sie sind der Burglehner?« Kühne hatte aus einem Meßblatt der Gegend die Hofnamen auswendig gelernt. »I?« fragte der Burglehner und schaute einen Moment vom Fernseher weg. »Ja. Der Burglehner –?« »Freili«, sagte der Burglehner und wandte sich wieder der Sportschau zu. Die Unterhaltung blieb so karg, bis Kühne einfiel, den Bauern nach rustikalen Antiquitäten zu fragen. »Was?« fragte der Bauer und erschien etwas interessierter. »Ja, nun, eben – wir richten uns ein, und wir möchten natürlich im bäuerlichen Stil bleiben, paßt ja doch auch nichts anderes.« »So, so, aha«, sagte der Burglehner, »so a alts Zeig?« »Ja, genau«, sagte Kühne. »Márie!« schrie der Bauer. Eine alte zahnluckige Frau kam. Da sowohl der Bauer als auch die Márie gerufene Frau grau, faltig und alterslos waren, konnte Kühne nicht ausmachen, ob sie die Frau, die Mutter oder 248
die Tochter des Bauern war. Vielleicht war sie auch nur eine Magd. »Ja?« fragte Márie. »Der Stadtmensch da möcht des Glump kaufen. Hol’s.« »Ja – nein«, sagte Kühne, »ich hätte schon gern vorher gewußt, was es ist.« »Alt«, sagte der Bauer mit Blick auf die Sportschau, »sehr alt. Zum Teil noch von mei’m Vater. Vierhundert Mark, aber nur, wenn S’ es alles nehmen, auf einmal.« Márie stellte die Antiquitäten vors Haus. Die Sportschau war vorbei, der Bauer kam heraus. Bei den Antiquitäten handelte es sich um einen Nierentisch von 1950, einen Volksempfänger, eine längliche Bank, an der ein Bein fehlte, und drei Autoreifen. »Ganz alt«, sagte Marie, »der Radio geht garantiert nimmer, so alt is er.« Kühne zögerte. Der Bauer merkte es. »Sie fei’ ja!« sagte er mürrisch, »wo die Márie das Zeug da respektive Antiquitäten scho’ runtertragen hat, müssen Sie’s fei’ auch nehmen.« Kühne zog sein Scheckbuch. »Nur bar«, sagte der Bauer, »man kennt ja die Stadtleut’. Sperren dann womöglich den Scheck, und der Bauer is’ wieder der Depp.« »Aber ich bin doch quasi Ihr Nachbar. Ich bin der neue Hinterzeilerberger.« »Bar«, sagte der Bauer. Kühne griff in seine andere Tasche und gab dem Burglehner vier Hundertmarkscheine. Die Autoreifen und den Nierentisch warf er von der Brücke in den Bach, nachdem er sich vorher vergewissert hatte, daß niemand 249
zuschaut. Er war dann schon ein Stück weitergefahren, da drehte er nochmals um und warf auch den Volksempfänger hinterher. »Die hat ja nur drei Beine«, sagte Frau Kühne, als sie die längliche Bank sah. »Das vierte kann man leicht ergänzen«, sagte Kühne, »aber sonst es doch eine gute, rustikale Arbeit.« »Na ja«, sagte Frau Kühne, »was hast du dafür bezahlt?« Kühne schluckte. »Vierzig«, sagte er dann. »Bist du wahnsinnig?« schrie Frau Kühne, »soviel, daß wir es grad absichtlich zum Fenster hinauswerfen müssen, haben wir auch wieder nicht.« »Du wolltest den Bauernhof kaufen«, sagte Kühne. »Und wer hat Scholle alternativ geschrieben?« fragte Frau Kühne spitz.
* Eines der längsten Stichwörter in Kühnes Handbuch hieß Integration. Das Wichtigste ist, so hieß es da, daß man sich in das Landleben einpaßt. Es gibt keine Hausnummern, keine Straßennamen, und wenn es welche gibt, weil eine wichtigtuerische Administration sich Arbeit verschaffen mußte, macht kein Mensch Gebrauch davon. Man sagt nicht: Bergstraße 6, man sagt: das zweite Haus nach dem Schmied. Man sagt nicht: Hauptstraße 20, sondern: das grüne Haus kurz vor der Brücke. Man ist nicht Herr Meier oder Herr Huber oder Frau Tschernowski oder Frau Walewski, sondern der Hinterlehner 250
oder der Vorderhasenberger. Lernen Sie die Flurnamen. Und Sie müssen wissen, welches Patrozinium (das ist: der Patron der Pfarrkirche) das Dorf hat. Gehen Sie am Sonntag zur Messe. Erstens ist es nicht uninteressant, und zweitens: Wenn Sie sich nach der Messe zu den Männern vor der Kirche gesellen, werden Sie bald in die Dorfgemeinschaft integriert sein. Treten Sie der Feuerwehr und dem Veteranenverein bei. Aber die Feuerwehr in Anderbrunn war vollzählig. Kühnes Aufnahmegesuch wurde mit einer kühlen Aufforderung zu einer Spende beantwortet. »Wenn du denen Kropfträgern auch noch was zahlst«, schrie Frau Kühne, »krieg’ ich einen Schreikrampf.« Heimlich überwies Kühne aber doch hundert Mark. Er konnte es nicht einmal von der Steuer absetzen, weil er seiner Frau – die ihm die Buchhaltung machte – den Spendenbeleg nicht zu geben wagte. Der Beitritt zum Veteranenverein scheiterte daran, daß Kühne kein Veteran war. Der Obmann des G.T.E.V. (= Gebirgstrachten-Erhaltungs-Verein) Anderbrunn, Almrausch-Edelweiß, ein gewisser Anton Stoißner, genannt Kirchfurzer-Toni (weil ihm im Jahr 1948 während der Messe ein lauter Wind entfahren war; ein Skandal damals) raunzte: er könne den Dialekt Kühnes so schlecht verstehen. Er könne nicht verstehen, was er – Kühne – eigentlich wolle. Aber Kühne verstand. Dennoch gab er nicht auf. Er ging am nächsten Sonntag zur Messe und stellte sich danach zu den Bauern. Er merkte selber sofort, daß er in seinem Trachtenjanker und der Bundlederhose mit den Rustikal-Accessoires aus der ersten Etage der 251
Firma Lodenfrey deplaziert wirkte neben den Bauern in ihren schwarzen Anzügen aus dem Quelle-Katalog, die alle – seltsam – eine Nummer zu klein schienen. (Das ist der genetisch bedingte Geiz des bayerischen Ökonomen: Wenn er, zum Beispiel, Konfektionsgröße 56 hat, denkt er sich, 54 tut’s auch, und meint, das sei dann auch billiger.) Kühne wirkte wie ein rosa Ochse auf der Almweide. Nachmittags war die erste Party. Aus der Stadt kamen alle, die zählten. Frau von Imschlechter fragte: »Und Sie gehören schon voll dazu? Und die Bauern wissen gar nicht, wen Sie da zu den Ihren zählen dürfen?« Kühne nickte.
* Die wirkliche Integration kam im Herbst. Sie dauerte aber nur einen Tag oder besser gesagt: eine Nacht. Anderbrunn feierte das hundertjährige Bestehen der Freiwilligen Feuerwehr mit einem Heimatfest. Auf dem Zobelanger etwas außerhalb des Dorfes – es sollte von entscheidender Bedeutung werden, dieses: etwas außerhalb – wurden Schießbuden aufgebaut, ein Bierzelt, ein paar Karussells, nachmittags belustigte die Feuerwehr die Bevölkerung mit einer Löschübung. Es roch nach billigen Bratwürstchen und verbranntem Fisch. Gegen fünf Uhr waren die ersten betrunken. Im Bierzelt saßen an einem Tisch, der ganz vorn bei der Musik quer zu den anderen stand und durch eine weiße Tischdecke und eine Dekoration aus Fichtenzweigen herausgehoben war, die Hono252
ratioren: Pfarrer, Bürgermeister, Feuerwehrkommandant, Oberförster und so fort. Auch der Landrat war eingeladen. Er erkannte Kühne. Kühne, der Erfolgsautor, saß mit Frau und Kindern an einem gewöhnlichen Tisch. Die Kinder aßen Ketchup mit Wurst von einem Pappteller und tranken Spezi. Frau Kühne trank auch Spezi und aß nichts. Peter Kühne trank eine Maß und versuchte, einen Radi zu schneiden. Das Messer war eine Zugabe der Firma Lodenfrey zur Hose gewesen: mit Hirschhorngriff, stak seitlich in einem aufgenähten, dreieckigen Täschchen am Schenkel. »Gehört dazu«, hatte der Verkäufer gesagt, »wird nicht extra berechnet.« »Dafür«, sagte Frau Kühne und nippte von ihrem Spezi, »daß die Hose fast tausend Mark gekostet hat, dürfte das Messer wenigstens schneiden.« »Wissen Sie, wer dort drüben sitzt?!« fragte der Landrat den Bürgermeister. Das war der Beginn, fast aber auch schon das Ende von Peter Kühnes Integration ins Landleben. Kühne wurde an den Honoratiorentisch geholt. Man trank auf Kühne, klopfte ihm auf die Schulter, der Bürgermeister bat ihn nun um Entschuldigung, daß er ihn nicht schon früher – »haben ja keine Ahnung nicht gehabt, daß Sie so berühmt sind« … bald duzte ihn der Bürgermeister. Auch Frau Kühne und die Kinder wären natürlich an den Honoratiorentisch eingeladen worden, aber Frau Kühne wollte nicht. »Denen bist ohnehin nur du wichtig«, zischte sie, »ich bin ja nur deine Frau. Ich bin ja nicht berühmt. Aber geh nur hin. Und gib mir den Autoschlüssel, wir fahren.« »Du bist wirklich nicht böse? 253
Schau, das ist doch aber endlich die Chance …« »Ja, ja, schon gut. Gib mir den Autoschlüssel. Soll ich dich irgendwann holen? Um halb elf?« »Sagen wir … sagen wir um elf«, sagte Kühne. »Was ist jetzt?« schrie der Bürgermeister, »kommt er endlich herüber, unser berühmter Schriftsteller?« Auch der Eigentümer des Karussells, der Schausteller Konrad Mägdlein, ein bleicher, dicker Mensch mit bordeauxroten Socken in Schlapfen, mit wenigen über den großen Schädel geklebten Haaren, kam zum Honoratiorentisch. »Darf ich«, fragte Mägdlein gewandt, »mir erlauben, die Herrschaften zu einer Fahrt auf meinem bestrenommierten Fahrgeschäft einzuladen, seit drei Generationen in der Familie –? Selbstverständlich gratis.« »Vielleicht später«, sagte der Landrat. Um elf Uhr kam Frau Kühne. Die Buden und Fahrgeschäfte schlossen gerade. Das Bierzelt war schon leer bis auf den Honoratiorentisch, denn elf Uhr war eigentlich Sperrstunde, auch heute hielt sich alles daran, weil der Postenkommandant der Anderbrunner Polizeiaußenstelle dasaß, am Honoratiorentisch natürlich, zwar in Zivil, aber immerhin. Der Wirt des Festzeltes ließ alle Lichter löschen bis auf die Lampenreihe über diesem Tisch. »Wenn sonst nichts mehr ausgeschenkt wird«, sagte der Landrat, und der mußte es ja wissen, »dann ist das hier eine Privatangelegenheit, zumal es sich um Freibier handelt, und hat mit der Sperrstunde nichts zu tun.« »Kommst du jetzt mit oder nicht?« flüsterte Frau 254
Kühne und klapperte mit den Autoschlüsseln. »Ich kann nicht gut«, flüsterte Kühne, »es wäre ein Affront. Ich bin dabei, dazuzugehören. Es bringt mich schon einer heim.« »Wie du meinst«, sagte Frau Kühne und ging. Als sie der Wirt aus dem schon verschlossenen Zelt hinausließ, kam Mägdlein wieder herein. »Darf ich nunmehr, da Sperrstunde, bevor ich ausschalte, die Herrschaften zu einer Freifahrt …?« »Leck uns am Arsch mit deiner Freifahrt«, gröhlte der Oberförster. »Setz dich her«, schrie der Wirt, und zur Kellnerin: »Eine Maß für den Herrn Schausteller, und dann kannst gehn, Annie, was noch an Bier gebraucht wird, servier’ ich selber.« Es wurde noch viel gebraucht an Bier: um halb zwölf, um zwölf, um halb eins, um eins – der Festplatz versank in der Stille der Nacht. Im fernen Dorf erloschen die Lichter. Nur im Zelt glimmte, von außen kaum zu sehen, die Lampenreihe über dem Honoratiorentisch. Schon wurde gesungen. Der Landrat war berühmt für seine G’stanzln. Er improvisierte sogar eins auf den »neuen Bauern« Kühne. Und noch eine Maß, und noch eine Maß. Um Viertel nach eins wachte der Feuerwehrhauptmann aus seinem Dämmer auf, griff automatisch nach seinem Maßkrug, trank, sein Blick fiel auf den ebenfalls leicht dämmernden Mägdlein. »Sind wir jetzt«, sagte der Feuerwehrhauptmann mit schwerer Zunge, »Karussell gefahren? oder respektive nicht?« 255
»Ja!« schrie der Bürgermeister, »Mägdlein, schalt dein Geraffel ein, deinen verrosteten Kasten, oder gilt deine Einladung nicht mehr?« »Doch«, sagte Mägdlein und rumpelte auf. Alles strömte hinaus: sechzehn Honoratioren, zu denen jetzt auch schon Peter Kühne zählte, nahmen in den – für manchen der gewichtigen Herrn fast zu engen – an Ketten hängenden Sitzen Platz. Gelächter, »Sitzen S’ gut, Herr Landrat?« »Hahaha –« Mägdlein steckte den großen Stecker ein, drehte an Schaltern. »Wollts’ eine Musik auch?« fragte er. »Selbstverständlich«, schrie der Bürgermeister, »und daß du selber auch mitfahrst!« »Ja, ja«, sagte Mägdlein, legte einen Hebel um: eine scheppernde Walze gab die Melodie Oh du lieber Augustin von sich. Dann setzte sich auch Mägdlein auf einen freien Sitz, schaukelte sich zur Mitte, zum Bedienungsstand neben der Kasse, und legte den anderen Hebel herum. »Oh du lieber Augustin! Augustin! Augustin!« sangen alle und strampelten mit den Beinen in der angenehmen Nachtluft, die bald um die rundherumsausenden Honoratioren von Anderbrunn wehte. Nachdem viermal der Liebe Augustin zu Ende gesungen war, schrie in der Pause vor dem fünften Mal der Landrat: »Ich glaube, jetzt reicht’s.« »Ja!« schrie der Bürgermeister, »Mägdlein, schalt aus!« »Ach so –«, sagte Mägdlein nach kurzem Nachdenken über die Folgen der Zentrifugalkraft. 256
* Als erster kotzte der Landrat. Der Oberförster versuchte – völlig aussichtslos –, querschaukelnd nach unten zum Hebel zu kommen. Dann kotzte Kühne. Der Bürgermeister begann zu beten. Der Postenkommandant weinte. Flüche wurden laut, aber auch Gelöbnisse: Wallfahrten nach Weihenlinden, nach Altötting, sogar nach Lourdes. Mägdlein verlor seine Schlapfen und sauste, seine bordeauxrot besockten Füße betrachtend, weiter herum. Der Liebe Augustin schepperte zum hundertsten Mal. »Kannst nicht wenigstens den Krach ausmachen?« gurgelte der Feuerwehrhauptmann. Mägdlein antwortete gar nicht. Nur dem Pfarrer war es gelungen einzuschlafen. Er hing da, und seine Arme und Beine flogen und auch die Schöße seiner Soutane, und hinter dem Dorf dämmerte der frühe Morgen herauf. »Hilfe! Hilfe!« hatte der Gemeinderat Lurchinger schon um halb zwei Uhr geschrien. Das nächste Haus – das Anwesen der Witwe Gehrberger, die im Verdacht stand, mit der ökologischen Bewegung der Grünen zu sympathisieren, es konnte ihr aber nichts nachgewiesen werden –, das nächste Haus stand gute vierhundert Meter weg. »Du mußt lauter schreien, wenn dich die Gehrbergerin hören soll«, sagte der Polizist. »Alle sollen schreien – auf mein Kommando!« befahl der Bürgermeister: »– eins – zwei …« »Hilfe!!« brüllten alle; nochmals, nochmals – endlich öffnete sich bei der Gehrbergerin ein Fenster. 257
Die Witwe schaute heraus. »Ruhe!« brüllte sie und warf das Fenster wieder zu. Um fünf Uhr kam der Austräger des »Münchner Merkur« mit seinem dreirädrigen Moped auf der Straße herauf. »Hier –«, röchelte Mägdlein, »– hier abschalten, den Hebel rumlegen. Da unten–« »Jessasmarandjosef und vierzehn Nothelfer«, ächzte der Austräger, wendete sein Moped herum und raste die Straße wieder hinunter. Im Gasthaus in Gstadt erzählte er später, daß in Anderbrunn am Kettenkarussell achtzehn – er habe sie gezählt, sagte er: achtzehn johlende Skelette wie die wilde Jagd herumgeschwirrt seien, obwohl doch gar nicht Walpurgisnacht sei. Um sieben Uhr kam die beherzte Austragbäuerin Philomena Hasenberger, vormalige Klinglerbäuerin, des Weges, weil sie zur Frühmesse wollte. Die Klinglerin stieß zwar auch eine Anrufung verschiedener Heiliger aus, ließ sich aber dann doch herbei, den von Mägdlein bezeichneten Hebel herumzulegen, so daß die grausige Honoratiorenfahrt ihr Ende fand und auch der schreckliche Augustin endlich verstummte. Ohne Gruß torkelte die Gesellschaft auseinander. Den Pfarrer weckte die Klinglerin. Der geistliche Herr wußte im ersten Augenblick nicht, wo er war. Erst als die Klinglerin leise und kopfschüttelnd sagte: »Hochwürd’n – in Ihrem Alter!« erinnerte er sich und lachte. »Die Frühmesse«, sagte er, »fällt heut aus.« Peter Kühne machte sich auf den Weg. Er hatte immer noch das Gefühl, daß sich alles drehe. 258
* »Am besten«, sagte der Bürgermeister – der, jetzt am folgenden Nachmittag, immer noch etwas grün im Gesicht war, trotz einiger Stunden Schlafes, welcher allerdings von stark rotierenden Träumen durchwachsen gewesen war –, »am besten man läßt die Sache auf sich beruhen, und vor allem: Stillschweigen. Wissen ja nicht viele oder kaum welche davon, und ist höchstens geeignet, den Respekt vor der Obrigkeit zu zersetzen et cetera, welcher ansonsten hier noch … und so weiter. Ich hoffe, mich klar ausgedrückt zu haben. Die Klinglerin habe ich vergattert. Wird nichts weitersagen. Der Zeitungsträger glaubt an Gespenster, den belassen wir dabei. Die Witwe Gehrberger hat nur allgemeines nächtliches Gejohle wahrgenommen. Soll auch dabei belassen werden. Meiner Frau«, fuhr der Bürgermeister fort, »habe ich gesagt, ich hab’ halt einen Rausch gehabt. Kommt in den besten Familien vor nach einem Feuerwehrfest. Empfehle Entsprechendes auch Ihnen – bis auf den Herrn Pfarrer, der ja solche Entschuldigungen nicht nötig hat. Und die Stromkosten, die dem Herrn Schausteller entstanden sind, übernimmt die Gemeinde. Werden auf Repräsentationskosten verbucht. Ich glaube, der Herr Landrat hat nichts dagegen?« Der Landrat schüttelte den Kopf, verzog aber sofort das Gesicht, weil ihm die Bewegung aus der Kontrolle geriet und das Gefühl in ihn hineinschoß, daß er mit dem Stuhl ums Rathaus fliege. »Also dann«, sagte der Bürgermeister und stand auf, 259
»ich habe mir erlaubt, drüben einen kleinen Imbiß vorbereiten zu lassen. Lauter eher leichtere Sachen für den Magen.« Alle waren dabei, nur Peter Kühne konnte die Sekretärin des Bürgermeisters nicht erreichen: es hob niemand ab im Hinterzeilerberger-Hof. Da schickte der Bürgermeister sogar einen Boten hinauf, aber der kam zurück und meldete, alles sei zu und verlassen; auch der Jaguar des Herrn Kühne stehe nicht vor dem Haus und auch nicht in dem zur Garage umfunktionierten Stadel. »Kann man nichts machen«, sagte der Bürgermeister und setzte besorgt, mehr für sich, hinzu: »Hoffentlich schreibt er nix drüber, der Schreiber.« Aber diese Sorge war unbegründet. Peter Kühne schrieb noch über allerhand, aber darüber keine Zeile. Daß seine Frau bis acht Uhr früh aufrecht im Bett gesessen und gewartet hatte und dann, als ihr Mann heimgekommen war, gefragt hat: »Darf ich fragen, wo du warst?« und er geantwortet hatte: »Karussell fahren«, und daß dann Frau Kühne die Kinder und ihre Sachen gepackt habe und nach Dinslaken zu ihren Eltern zurückgekehrt sei, erfuhr nur der Familienrichter in München bei der Scheidungsverhandlung. Peter Kühne hatte damals, als seine Frau unter Tränen die Koffer packte, mehrfach Anläufe zu Erklärungen gemacht, hatte auch versucht, seine Frau versöhnlich zu umarmen, aber alles war ihm in drehende Bewegungen geraten, kaum daß er einen Finger gerührt. Er lief dann dem abfahrenden Jaguar nach, kam aber von der Straße 260
ab und umkreiste, durch den Wald stolpernd, mehrmals den Hügel, auf dem der Hinterzeilerberger-Hof lag. Um zehn Uhr vormittags stieg Kühne in den Postomnibus, von dem er geschworen hätte, daß vorn draufstand: Richtung Rosenheim. Der Postomnibus fuhr aber nach Kiefersfelden. Auch mußte Kühne schon nach kurzer Zeit den Fahrer rülpsend bitten, ihn auf freier Strecke sofort, sofort aussteigen zu lassen. »Brauchen Sie einen Arzt?« fragte der Fahrer. »Nein, nein«, ächzte Kühne, stolperte aus dem Omnibus und verschwand hinter einem Busch. Ein Anhalter nahm ihn dann nach Rosenheim mit, von wo Kühne mit dem Schnellzug am Abend nach München fuhr. Als er die Wohnung in Schwabing aufsperren wollte, merkte er, daß das Schloß ausgewechselt worden war. Kühne ging in ein Hotel – wo man ihn kannte – und schlief zwei Tage. Als er aufwachte, rief er als erstes Herrn von Wadenhofen an und sagte, der Hinterzeilerberger-Hof stehe wieder zum Verkauf. Herr von Wadenhofen freute sich.
* Außer der Ehescheidung vor dem Familiengericht in München fand dann noch ein Prozeß statt, dieser vor dem Amtsgericht Rosenheim, Abteilung Strafgericht. Gegen Kühne, Peter wegen Verstoßes gegen diverse Forst-, Wasserschutz- und Umweltbestimmungen. Der Forstgehilfe Dachser Thomas hatte es nämlich doch gesehen, vom 261
jenseitigen Hang aus durch den Feldstecher, und hatte die Autonummer notiert: nämlich daß ein verdächtiges Subjekt mehrere alte Autoreifen, einen Nierentisch und einen Volksempfänger von der Brücke aus in den Bach geworfen hatte. Dem Richter in Rosenheim, einem tückischen, grantigen Typ, wahrscheinlich mehrfach bei Beförderungen übergangen, war leider der Name Peter Kühne aufgefallen, und er hatte bei der Verhandlung außer den Akten im schmutzigrötlichen Aktendeckel, der Strafprozeßordnung, dem Strafgesetzbuch und – in diesem Fall eigens aus der Bibliothek geholt – dem einschlägigen Band der Loseblattsammlung Hans, Strafrechtliche Nebengesetze ein sonst im juristischen Bereich nicht geläufiges Buch vor sich stehen: Peter Kühne, Scholle – alternativ. Bei der Urteilsbegründung las der Richter das Stichwort Abfall vor: »Was organisch ist, kommt auf den Komposthaufen (siehe dort), alles andere, und das sollte in unserem eigenen ökologischen Interesse strengstens beachtet werden, in die Mülldeponie und sonst nirgendwohin.« Peter Kühne auf der ungewohnten Anklagebank senkte den Kopf. »Oder haben Sie das vielleicht nicht geschrieben?« fragte der Richter. »Doch«, murmelte Kühne. Der Richter wertete die Schuldeinsicht des Angeklagten vorschriftsmäßig als strafmildernd, das andere, daß Kühne das geschrieben und so kraß gegen den eigenen Rat gehandelt hatte, aber als enorm straf verschärfend. Die Geldstrafe und die Prozeßkosten beliefen sich auf 262
etwa die Summe, die Herr von Wadenhofen beim Weiterverkauf des Hinterzeilerberger-Hofes nach zwei Monaten erzielte.
SCALA-KARTEN FÜR HERZOG ALBRECHT Obwohl es jeder in der Straße wußte, wurde nicht darüber geredet. Es wurde behandelt, als sei es eine Schande. Es war eine Schande, ein Schandfleck auf der Familie, weil es die Nachbarn, alle, die in der Straße wohnten, die Milchfrau, der Gemüsehändler und – nicht zuletzt – die Familie selber als Schande empfand. Schande ist, was als Schande empfunden wird, auch wenn der Tatbestand gar nicht danach ist. »Kommt in den besten Familien vor«, sagte Frau Hapermann, die Frau vom Friseur. Aber das sagt man nur so. Oder: in den besten Familien kommt so was schon vor, und die besten Familien verkraften es, stehen drüber. Und in der ganzen Ohlmüllerstraße wohnte niemand, der zu den besten Familien zählte. (Was ist das? eine beste Familie? vielleicht Krupp? oder die Wittelsbacher? Wer weiß das? Vielleicht Frau Grünäugl, die Holzhändlerwitwe aus Pfarrkirchen, die Schwester von Horstis Großmutter – eigentlich: Stiefgroßmutter –, war im Internat gewesen, gleichzeitig mit einer Prinzessin aus einer etwas abseitigen Nebenlinie. Frau Grünäugl erzählte oft davon und sprach dann nur von »Ihrer königlichen Hoheit« und vom »Allerhöchsten Herrscherhaus«, und das noch 1950.) Bei den Familien, die in der Ohlmüllerstraße wohnten, zählte die bürgerliche Ordnung in christkatholischem Sinn. Sozialdemo265
kraten lebten hier zwar, ziemlich viele sogar, die Au war ja eher ein proletarisches Viertel, aber Protestanten nicht. Eine geschiedene Frau galt als Schandfleck. War so eine unbeliebt, so deuteten die Leute mit Fingern auf sie, war sie beliebt, verschwieg und verdrängte man es. Ordnung muß sein. Hertha Derendinger war beliebt. So erzählte die Hapermann nur hinter vorgehaltener Hand, was sie wußte: »Prielhofer hat sie sich geschrieben, so muß also ihr erster Mann geheißen haben, aber das nur ganz im Vertrauen.« Der Horsti, den Hertha Derendinger mit in die Ehe brachte, hieß also auch Prielhofer. Trotzdem nannten ihn alle den Derendinger Horsti. Er selber staunte in der Schule immer wieder, wenn er: Prielhofer aufgerufen wurde. Horsti war zwei Jahre alt, als die geschiedene Hertha Prielhofer den Eduard Derendinger heiratete. Im Jahr danach kam Thomas zur Welt, Tommi, der hieß wirklich und richtig Derendinger. »Warum heißen sie den Horsti Prielhofer, Mama?« »Das verstehst du noch nicht, Tommi.« Die Zeiten haben sich inzwischen geändert, auch in der Ohlmüllerstraße. Erstens wohnen dort fast nur noch Türken, und zweitens kümmert sich kein Mensch mehr darum, ob jemand geschieden oder verheiratet ist oder was. In vierzig Jahren ändert sich viel, und Horst Prielhofer wohnt längst nicht mehr in der Ohlmüllerstraße, und mit seinem Stiefbruder, dem erfolglosen Stuntman Thomas Derendinger, hat er kaum noch Verbindung, und nur selten noch kommt er hierher, wo seine Mutter wohnt, die jetzt »die alte Frau Derendinger« heißt, und er erschrickt fast, wenn der Bäcker266
meister Ulrich, der ihn noch kennt, mit dem er in die Schule gegangen ist, aus dem Laden herausruft »– ah! der Derendinger Horsti!« Das erste Jahr ging es gut, aber nachdem der Thomas zur Welt gekommen war, das eigene, legitime Kind, stellte sich heraus, daß der Eduard Derendinger den Horsti eigentlich nicht mochte. Es gab oft unschöne Szenen. Wenn man den alten Derendinger gefragt hätte, warum er den Horsti nicht mochte, hätte er gar nichts Rechtes antworten können. Eifersucht auf den ersten Mann seiner Frau? Ja, auch, vielleicht; aber nur vordergründig. Alles andere: Horstis Faulheit, seine Frechheit, seine rotzige Widerborstigkeit, die Unordnung, die er hervorrief, wo immer er stand und ging, waren auch nur vordergründige Ursachen. Die eigentliche Ursache war: Horsti roch anders als das Nest. Ein fremdes Ei. Edi Derendinger war froh, als Horsti auszog, und Horsti zog bald aus, mit 18, das heißt: er ging zum »Bund« und kam danach nicht mehr heim. Beim »Bund« machte er den Führerschein Klasse II, und danach wurde er Fernfahrer. Es ist nicht ganz falsch, wenn man sagt: der Derendinger Horsti oder jetzt, in der Welt draußen: Horst Prielhof er führe ein Doppelleben. Nicht in krimineller Hinsicht, nein. Prielhofer war im staatsbürgerlichen Sinn brav und vielleicht der einzige Fernfahrer, der sich bemühte, die Vorschriften der Straßenverkehrsordnung einzuhalten. Sein Doppelleben bestand darin, daß der Fernfahrer Prielhofer mit dem Prielhofer außerhalb des Lastwagenführerhauses nichts zu tun hatte. Das fing schon damit an, 267
daß Prielhofer auf seinen Fahrten nicht in den ordinären Fernfahrerabsteigen übernachtete (Arbeitsstätten billiger, alter Nutten) oder in den öligen Fernfahrerimbißstuben aß, wo sich die anderen Fernfahrer das (wenige) Hirn mit Bier vollschütten, um gewappnet zu sein für die kommenden Lastzugwettrennen. Prielhofer führte immer ein Fahrrad in seinem Lastzug mit und fuhr lieber, selbst bei schlechtem Wetter, ein paar Kilometer von der Autobahn weg in ein anständiges Gasthaus. Mit der Zeit kannte er sich aus, wußte, wo noch gut gekocht und in angenehmdunklen Stuben serviert wurde. Im Urlaub endlich ließ der Feriengast Prielhofer den Fernfahrer Prielhofer weit hinter sich. Das kostete natürlich Geld, weshalb Prielhofer auch nur jedes zweite oder manchmal jedes dritte Jahr richtig Urlaub machte. Er sparte auf den Urlaub und fuhr dann nach Kenia auf Safari oder nach Ceylon in das beste Hotel, und keine schicke Bankiersgattin am Swimmingpool ahnte, daß der Mann neben ihr mit der Prairie-Oyster in der Hand und dem Blumenkranz über dem gebräunten Oberkörper ein Fernfahrer war. Prielhofer war wohl auch der einzige Fernfahrer, der etwas anderes als die »Bild-Zeitung« las. Er las sogar Bücher, am liebsten solche historischen Inhalts. Er versetzte sich gern in die Zeiten zurück, wo es noch keine Fernfahrer gegeben hatte, und er pflegte seine Lektüre immer dadurch zum Abenteuer zu machen, daß er sich in eine Person des Buches, die in den ersten Seiten auftauchte (nie die Hauptperson, deren Schicksal war ja meist klar und wäre keine Überraschung gewesen), hineinprojizierte und mit dieser 268
Person mitlebte. Wenn diese Person zufällig der Bösewicht war, war Prielhofer böse, starb sie unversehens, starb auch sozusagen Prielhofer. Pech war es, wenn sich herausstellte, daß die ausgesuchte Person nur eine ganz periphere Nebenfigur war, die auf Seite 4 auftauchte und auf Seite 5 für immer verschwand. In solchen Fällen nahm sich Prielhofer dann nach einiger Zeit eine neue. Prielhofer schätzte erotischen Beigeschmack: eine Orgie am Hof Neros, das ausführlich geschilderte Bad der Prinzessin Irene von Trapezunt, eine Liebesnacht Rasputins. Sein reales Liebesleben war dagegen eher dürftig. Die Fernfahrernutten interessierten ihn nicht, auch sparte er das Geld viel lieber für den Urlaub. Zwei Verlobungen in seinen jungen Jahren – eine mit einer gewissen Siegi aus Donauwörth, eine mit einer Friseuse namens Dorothea – zerbrachen an den zwangsläufigen Lebensunregelmäßigkeiten seines Fernfahrerberufes. So ging es auch mit ein paar Freundschaften in späteren Jahren. Dabei muß man auch sehen, daß Prielhofers Äußeres nicht grad dazu angetan war, ihn heftiger weiblicher Anfechtungen auszusetzen. Er war eher untersetzt und vierschrötig, hatte ein breites, fleischiges Gesicht und verlor schon um die Dreißig die meisten Haare. Eine gewisse erotische Konstante in seinem Leben bildete Melanie. Sie war nicht ganz zehn Jahre älter als Prielhofer, aber noch sehr resch. Sie hieß Köhlmayer und wohnte in Waldtrudering, war verheiratet, aber der Mann war oft verreist. Das Verhältnis Prielhofers mit Frau Melanie war klar auf gegenseitige sexuelle Befriedigung ausgerichtet, war durch keinerlei 269
Sentimentalitäten getrübt und störte den Lebensweg keiner der beiden Partner. Selbstverständlich nahm Melanie kein Geld. Prielhofer, der Kenner der feinen Sitten in der Geschichte, brachte nur jedesmal ein paar Blumen mit. Dafür bekam er danach auch immer noch etwas zu essen. Frau Melanie kochte gut und servierte einen selbstangesetzten, leider allerdings etwas übersüßen Eierlikör. Nur im Urlaub natürlich – da gehörte es für Horsti Prielhofer dazu. Überall sind welche da, wußte Prielhofer längst, die darauf warten. Und wenn sie von einem nicht wußten, daß er nur Fernfahrer ist, und wenn bei dem ein wirklich starker, zielgerichteter Wille vorhanden ist, dann springen sie darauf an, auch wenn der wenig Haare hat und untersetzt ist. Oft gelang es Prielhofer schon am ersten Abend, in das Zimmer von so einer zu gelangen, nicht selten war es die Hübscheste von denen, die gewartet hatten. Immer – auch das schätzten die Damen meistens – war die Sache zu Ende, wenn der Urlaub zu Ende war. Das ist ja heutzutage fast ein Ritus. Natürlich kam es manchmal vor, daß sich eine wirklich in Prielhofer verliebte (so unansehnlich war er auch wieder nicht), dann wurden Adressen ausgetauscht und so weiter. Aber das tiefere Gefühl bei so einer aus besseren Kreisen legte sich bald, wenn sie erfuhr, was Horsti von Beruf war. Prielhofer seinerseits verliebte sich fast nie, und wenn: nie ernsthaft über den Urlaub hinaus – bis auf eine Ausnahme: Ursula. Ursula war Oberstudienrätin (Latein und Griechisch), Doktor phil., war Mitglied des Stadtrates ihrer Kleinstadt am Rande Münchens, an allen schö270
nen Dingen des Lebens interessiert, spielte Cello und war außerdem, was ihr nur ein wirklicher Kenner angesehen hätte, eine heiße Geliebte von unbeschreiblicher Phantasie. Wenn eine Frau einen solchen Berg von Bildung und Erziehung im Bett hinter sich lassen kann oder besser gesagt: im Bett in erotische Energie umwandelt, dann ist sie eine begnadete Geliebte. Aber was heißt Bett: schon am zweiten Abend zog Ursula den Prielhofer hinter ein dichtes Oleandergebüsch und zeigte, daß sie unter ihrem rosaroten Pareo nackt war, und sie liebten sich, während wenige Meter weiter die anderen Gäste zum Klang der Combo in der Mondnacht Paso doble tanzten. So etwas hatte Prielhofer noch nie erlebt. Oder beim großen Galadiner am Freitag. Prielhofer saß neben Ursula. Sie hatte ein hochgeschlossenes, aber enges Kleid aus Pailletten an. Beim Dessert nahm Ursula Prielhofers Hand und führte sie – während sie über den Tisch weiterplauderte – durch einen großen seitlichen Schlitz zwischen ihre Beine. Prielhofers Finger begannen zu schmeicheln. Während Ursula unten einen Orgasmus erlebte, sprach sie oben über Ponelles »Titus«-Inszenierung in Salzburg letztes Jahr. So einer Frau gegenüber, das war Prielhofer klar, war es völlig aussichtslos zu flunkern. Nach drei Tagen gestand er ihr, daß er nur Fernfahrer sei, aber – fügte er hinzu –, er lese gern und sei an Geschichte interessiert. Ursula fragte Prielhofer sanft und vorsichtig aus. Prielhofers Kenntnisse waren eher, wenn man so sagen will, romantisch-belletristischer Natur. Ursula lächelte. Während sie auf den Felsen herumkletterten, die weiter drau271
ßen sehr einsam waren, und Ursula Horst ihren Photoapparat reichte, damit er sie in ausgesuchten Positionen ablichten konnte, stellte sie seine schrägen Kenntnisse von Nero, dem Kaiserreich Trapezunt oder dem Zarenhof richtig. Horst stellte fest, daß die wahre, ungeschminkte Geschichte aufregender war als die historischen Romane, so aufregend wie die nackte Doktorin der Philosophie, die ihre Brüste der Sonne entgegenstreckte oder ihre Schenkel an bemoosten Felsen rieb. Das erste Mal fürchtete Horsti das Ende des Urlaubs. Das war unnötig. Ursula behielt Prielhofer auch in München. Bisher hatte Prielhofer geglaubt, nur Männer behielten Frauen, Frauen behielten nicht, Frauen würden behalten. So hatte Prielhof er das bis jetzt für die gültige Weltordnung empfunden. Er hätte es nicht ausdrücken können, aber es beschlich ihn das Unbehagen des Gefühles, vom Subjekt zum Objekt geworden zu sein – außer in der, wenn man so sagen kann, direkten geschlechtlichen Konfrontation: da war Ursula Objekt, allerdings ein überschäumend lustvoll genießendes solches. Ursula ließ keinen Zweifel daran, daß sie auch andere Liebhaber hatte – vierzehn insgesamt, zählte sie einmal. »Es gibt ja auch«, sagte sie, »Männer, die mehr als ein Stammlokal haben.« Überraschende Besuche schätzte sie daher nicht, aber wenn Prielhofer zwischen seinen langen Fahrten in München war, rief er an und durfte dann in ihre Wohnung in Ismaning kommen. Manchmal verbrachten sie ein ganzes Wochenende im Bett oder nackt auf dem Teppich, von Rausch zu Rausch kugelnd. Es überstieg nicht 272
selten selbst Prielhofers Kräfte. Ursula lachte und wandte allerhand Tricks an. »In manchen Dingen«, sagte sie, »hat es eine Frau besser. Eine Frau kann immer. Höchstens, daß sie für ein paar Minuten nach Luft schnappt, wenn es besonders schön war, aber dann –« Ab und zu gingen sie ins Theater. Ursula, die in der Schule kühl und elegant angezogen war, liebte Kleider, die bis zur Grenze des Exhibitionismus gingen. »Am liebsten wäre es dir«, sagte Prielhofer, »wenn du das Gefühl hättest, das Kleid könnte dir im Theater jeden Augenblick vom Körper fallen, kommt mir vor.« »Du wirst jeden Tag klüger, Wursti«, sagte Ursula. Wursti nannte Ursula Prielhofer. Horst erschien ihr unschön. Gegen unschöne Dinge war sie allergisch. Horsti empfand sie als blöd. Wursti. Nur so, ohne Grund und Anlaß. Auch das war Prielhofer recht. Das Kleid fiel nie vor Publikum, aber oft schon im Auto auf der Fahrt nach Ismaning. Auch das liebte Ursula. Die anderen Autofahrer sahen ja nur die nackten Schultern. Nur einmal fuhr ein Omnibusfahrer, den Prielhofer überholte und der von seinem erhöhten Sitz aus einen besseren Überblick hatte, gegen einen Ampelmast. Bei der Vernehmung durch die Polizei sagte der Omnibusfahrer: »Da ist ein Auto vorbeigefahren, da ist ein nacktes Weib dringesessen. Ich kann nichts dafür.« »So«, sagte PHW Zoglauer, »ein nacktes Weib. Pudelnackt?« »Pudel«, sagte der Omnibusfahrer. »Aha«, sagte PHW Zoglauer, »dann blasen S’ gleich einmal da ins Röhrl.« Prielhofer hatte wenig Freunde. Früher hatte er eine 273
Schafkopfrunde gehabt, aber mit seinem unregelmäßigen Dienst war er oft an den betreffenden Abenden nicht da, und die Runde suchte sich einen anderen vierten Mann. In einem Kegelklub war es ähnlich. Jetzt, seit Ursula ihn in den freien Tagen in München beanspruchte, war von so etwas überhaupt nicht mehr die Rede. Nur den Schoner Alex sah er ab und zu, meistens vormittags, wenn Ursula in der Schule war. Vor dem Schoner Alex hatte Prielhofer keine Geheimnisse, schon weil der Schoner vor Prielhofer keine Geheimnisse hatte. Prielhofer war häufig Schoners Alibi. Schoner war verheiratet, »ganz schwer verheiratet«, wie er zu sagen pflegte, und im übrigen war er Buchdrucker. »Es ist schon merkwürdig«, sinnierte der Alex, »schau her, Horsti, da ist meine Frau, nicht wahr, die Gundula. Gut. Im Grunde genommen ist es ihr eher lästig, wenn ich sie … et cetera. Also die ehelichen Pflichten, du verstehst. Das heißt: für mich keine Pflichten, ehrlich nicht, auch wenn wir schon zwölf Jahre verheiratet sind, immer noch ein Vergnügen, ehrlich, weil sie ist ja, wie soll ich sagen, also der Busen noch erstklassig et cetera. Sowie der Hintern. Also ich, will sagen: was mich anbetrifft, ich fahr’ da noch voll auf sie ab. Voll. Ehrlich. Aber für sie sind es nur noch eheliche Pflichten. Je seltener, desto lieber ist es ihr. Und Migräne, du verstehst, und dann tut es ihr da unten weh, wenn ich zu weit, und im entscheidenden Moment, wenn du weißt, was ich meine, klemmts’ die Fuß’ z’samm und druckt mich hinaus – also man möchte meinen, daß sie … du verstehst, daß sie froh ist, wenn 274
ich nicht – das heißt, sie ist froh, um jedes Mal, wo nicht – aber – ahaber – wenn ich mit einer anderen … dann gibt es das große Geschrei. Verstehst du das? Ich nicht. Ich will mich ja gar nicht scheiden lassen. Überhaupt nicht. Erstens die Kinder, und dann das Finanzielle, und außerdem, wie gesagt, ich fahr’ noch voll auf sie ab – als ob ihr was weggenommen würde, wenn ich mit einer anderen – das, was sie eh nicht machen will. Verstehst du die Weiber? Ich nicht. Besser, sie erfährt gar nichts.« Damit Frau Gundula Schoner nichts erfahre, war Horsti häufig das Alibi. So ganz recht war es Horsti nicht – nicht wegen des Gewissens oder so Sachen, sondern wegen der Genauigkeit. Alex verlangte von Horsti, daß er immer genau aufschreibe, wann er, Alex, angeblich bei Horsti war oder vielmehr mit Horsti angeblich in Kratzers Lobby ging; Datum und Stunde. Das war auch notwendig, sah Horsti ein, denn oft rief Frau Schoner an, oft noch nach Tagen, erkundigte sich, ob ihr Alex wirklich am Soundsovielten zwischen sowiesoviel und sowiesoviel Uhr bei ihm war. War also notwendig, dennoch lästig. Horsti erzählte von Ursula. Er erzählte alles, ganz genau, in allen Einzelheiten mit einem gewissen Stolz. Alex war beeindruckt. »Ich gratuliere«, sagte er dann, »Hut ab. Das ist der seltene Fall einer Frau, die wirklich gern … und so fort. Ein Glücksfall, kommt nicht oft vor. In letzter Zeit häufiger, aber immer noch ein Glücksfall.« Alex hatte nur ein Bedenken, eins, das Horsti öfters auch schon selber gehabt hatte: »Irgendwann«, sagte der erfahrene Alex, »mußt du ihr auch etwas bieten. Also, wir 275
verstehen uns, du bietest ihr – logisch, klar, das bietest du ihr. Aber außerdem, du mußt ihr außerdem irgendwann einmal etwas bieten. Etwas Besonderes.« »Ich bring’ immer Blumen mit.« »Blumen ist gut, aber nicht außergewöhnlich. So ab und zu, das sage ich dir, mußt du ihr etwas bieten, was sie umhaut. So sind die Weiber. Ich habe Erfahrung. Die brauchen dazwischen irgendeinmal etwas, was sie umhaut. Das ist natürlich schwer bei deiner Ursula, die so eine Gebildete ist. Hm. Was mag sie denn?« »Oper«, sagte Horsti. »Oper. Hm. Opernkarten in München sind natürlich für so eine ein alter Hut, nehme ich an.« »Genau«, sagte Horsti. Alex entfaltete eine Zeitung. »Scala. Mailand. War sie da schon?« »Nein, ich glaube nicht«, sagte Horsti, »Scala in Mailand wäre schon ein Hammer.« »Du, lies«, sagte Alex. Er hielt Horsti die Abendzeitung hin und deutete auf einen Bericht mit Bildern: »der englische Kronprinz Charles beim Jahrhundertereignis – Giorgio Strehlers Inszenierung des Don Giovanni.« »Ja – ha«, sagte Horsti, »der Prinz Charles.« »Für diesmal ist das eh zu spät, klar, aber die spielen ja öfters.« »Jeden Tag, nehme ich an.« »Wahrscheinlich. Und es muß ja nicht unbedingt Don Giovanni sein. Oder?« »Und wie kriege ich Karten? Wahrscheinlich kosten die ein Vermögen.« »Ist gar nicht gesagt«, sagte Alex, »der Cousin von meiner Frau, der ist so ein Opernfan. Der fährt überall 276
hin, wo eine gewisse Sängerin singt, den Namen habe ich vergessen – hauptsächlich nach Italien. Die Karten, sagt der Cousin von meiner Frau, sind das billigste an dem Spaß.« »Und wie kriegt man die? Ich kann doch …« »Da!« sagte Alex, »der Prinz Charles.« »Ich bin doch nicht der Prinz Charles?!« »Wir haben doch auch einen Prinzen. Beziehungsweise: Herzog. Der Herzog von Bayern, der wo König wäre, wenn wir noch einen König hätten.« »Albrecht heißt er«, sagte Horsti. Die meist im Anhang ausfaltbaren genealogischen Tafeln seiner mehr oder minder historischen Werke hatten immer schon eine Faszination auf ihn ausgeübt. »Richtig«, sagte Alex, »und ich bin schließlich Buchdrucker, oder?« Es ging – buchstäblich – unheimlich leicht, wie geschmiert; Horsti beschlich, zu Recht, wie man sehen wird, ein mulmiges Gefühl. Alex Schoner druckte ein paar Briefbögen mit dem Wappen des Herzogs von Bayern und dem Briefkopf: Hofmarschall Sr. kgl. Hoheit, Herzog Albrecht von Bayern. Woher Alex Schoner ein Muster hatte? Sehr einfach: Er schrieb ganz naiv an den Herzog und bat so scheinheilig wie untertänig um ein Bild mit Unterschrift seines heimlichen Landesherrn. Den Briefkopf kupferte Alex dann ab, das Wappen sogar im Vier-Farbendruck, kostete Horsti keinen Pfennig. Für Alex war das keine Mühe, sondern sogar eine Art Herausforderung. Das schwere handgeschöpfte Papier zweig277
te Alex bei einem anderen Auftrag ab. »Sr. kgl. Hoheit«, schrieb der falsche Hofmarschall Alex Schoner, wünsche eine Aufführung in der Scala zu besuchen und zwei Karten. Für die Oper – Alex schrieb aus einem Prospekt ab, den er sich im italienischen Reisebüro geholt hatte – L’Olan-dese Volante. »Wird schon so eine italienische Oper sein«, sagte er, »Olandese heißt, weil die Italiener ja kein H kennen, Holländerin. Also vermutlich: die Holländerin Volante. Aber gesungen wird jedenfalls, das ist klar.« Er unterschrieb möglichst schwunghaft und unleserlich: Alex – stockte kurz, fügte dann an: von Schoner, wollte schon Hofmarschall schreiben, beschied sich aber mit stellv. Hofmarschall. Nahezu postwendend kam eine Antwort: die zwei Karten seien reserviert, man bitte um Überweisung des Betrages von 200 000 Lire. »Das sind 300 Mark!« pfiff Horsti. »Umsonst ist der Tod«, sagte Alex. Wenige Tage nach der Überweisung kamen die Karten. Ursula fiel aus allen Wolken. Horsti – oder vielmehr Alex, was aber Ursula natürlich nicht wußte – hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Er hatte das Gefühl, in der Beziehung zu Ursula das Übergewicht erlangt zu haben. Es ist nicht zuviel gesagt: Ursula behandelte Horsti einige Tage lang mit Respekt, sogar im Bett. Die Sache hatte nur einen Haken. Ursula war ja Oberstudienrätin. Man war mitten im Schuljahr, die nächsten Ferien kamen erst zu Ostern. »Kannst du nicht zwei Tage frei nehmen?« fragte Horsti resp. Wursti. Ursula lachte: »Das ist nicht wie bei dir und in anderen Berufen. Lehrer haben keinen Urlaub, Lehrer haben nur Ferien, und
die liegen fest.« Aber sehr lang schwankte Ursula nicht, dann entschloß sie sich dazu, krank zu werden. Alex hatte an alles gedacht. Über seinen Freund Grünauer Gerd, der bei einem seriösen Immobilienmakler arbeitete und Zugang zu einem Fernschreiber hatte, bestellte er ein Doppelzimmer für zwei Nächte im Hotel »Principe di Savoia«. »Bist du wahnsinnig«, sagte Horsti, als er die Reservierungsbestätigung las, »975 000 Lire, das sind 1500 Mark–« »Mehr ist es auch nicht wert«, grinste Alex. »Kommt nicht in Frage«, sagte Horsti, »1500 Mark, das gebe ich ja für 14 Tage im Urlaub nicht aus.« »Umsonst ist der Tod«, sagte Alex. Aber sie einigten sich dann doch auf das weit günstigere Hotel Sempione, kostete immer noch 150 Mark pro Nacht. Alex bestellte ab und um, alles per Telefax über den Grünauer Gerd. Horst Prielhofer, von seiner Freundin Wursti genannt, im dunkelblauen Samtanzug, der dunkelste Anzug, den er hatte. Er hatte ihn sich gekauft, als vor knapp fünf Jahren sein Stiefbruder Thomas, der Derendinger Tommi, geheiratet hatte. Dazu war er immerhin eingeladen worden. Heute, in Mailand, trug er Fliege. Die Fliege hatte Ursula gekauft: reine Seide, smaragdgrün. Dazu passend das Stecktüchlein. Ursula in einem neuen, eigens angeschafften Abendkleid: perlgrauglänzend, hochgeschlossen, aber eng wie eine Haut, eine Art Schlangenbalg. Man sah jede, aber auch schon jede Falte. Jedes Heftpflaster, das drunter auf der Haut gewesen wäre, hätte sich durchgedrückt, gar nicht zu reden von Unterwäsche; trug sie auch keine, selbstredend, nur Schuhe, 279
das schon, sehr schöne Schuhe, blau-glitzernd, sehr hoch, obwohl sie damit fast um einen Kopf größer war als ihr Wursti. Weil es schon auf eins herauskam und Wursti ohnedies seine Ersparnisse für den Urlaub nächstes Jahr dahinschmelzen sah, und weil Ursula mit den Schuhen kaum gehen konnte, rief Wursti ein Taxi. Und dann kam die Katastrophe. Der Direktor der Scala stand an der Tür. Offenbar hatte er sich sagen lassen, welche Karten der Herzog von Bayern bestellt hatte, und als Wursti die Karten herzeigte, ging das Geschrei los: zwei Trompeter und zwei Hornisten und ein Posaunist aus dem Orchester standen im Foyer und dröhnten los – »Gott mit dir, du Land der Bayern« (obwohl das die republikanische Bayern-Hymne ist, aber andere Noten hatte man nicht aufgetrieben), die Logenschließer schrien »Eviva! Eviva!« und so Zeug. Der Direktor küßte der Herzogin die Hand und bekam dabei Stielaugen, weil er so nahe an die herzoglichen Brustwarzen kam, die vor Aufregung vorknospten auf zwei Zentimeter. Vierzehn – »– in Worten vierzehn«, erzählte Wursti später, »ich habe sie gezählt, ich weiß selber nicht warum. Vor Angst hätte ich in den Boden versinken können, aber weil das nicht gegangen ist, habe ich sie gezählt: vierzehn –« – vierzehn Carabinieri in Galauniform salutierten, eine Herde Reporter photographierte, Blitzlichtgewitter, das übrige Publikum klatschte, dann ertönte die italienische Hymne, eine uralte Frau, die runzlig war wie ein abgedankter Indianerhäuptling, stach auf Wursti zu, machte einen Hofknicks und sagte auf deutsch: »Ich bin in München geboren, königliche 280
Hoheit, daß ich das noch erleben durfte.« Tränen liefen über ihre Wangen, sie ergriff den Konfektionsanzug unten links und küßte ihn. Wursti wurde es ganz schlecht. Aber es gab kein Entrinnen. Viele Hände streckten sich ihm entgegen. Von den Trinkgeldern, die er verteilte, hätte er gut und gern doch ein Zimmer im Principe di Savoia mieten können. Über dem Eingang zur Loge war eine weiß-blaue Fahne drapiert. Als Wursti und Ursula – immer noch in Begleitung des Direktors – die Loge betraten, brandete im Parkett Beifall auf. Wursti blieb nichts anderes übrig, als sich zu verbeugen. Endlich wurde es dunkel. Wursti war naßgeschwitzt. Er hatte das Gefühl, der blaue Samtanzug tropfe sogar außen. »Was bist du –?« fragte Ursula leise. »Der Wursti«, sagt Wursti. »Das ist nicht wahr. Wer bist du wirklich?« »Ich bin wirklich der Wursti. Ich erkläre dir alles später.« Musik klang auf. »Ist das noch eine Hymne?« »Nein«, sagte Ursula, »das ist die Ouvertüre.« Schlimm wurde es noch einmal in der Pause, wo der Direktor die königlichen Hoheiten auf ein Glas Sekt und einen Imbiß in die Galaräume einlud. Zum Glück war ein Dolmetscher da. Wursti hatte sich soweit gefaßt, daß er bat, nach der Vorstellung wünschten er und die Herzogin allein gelassen zu werden. Der Direktor versprach, die königlichen Hoheiten zu einem Seitenausgang zu führen und diskret ein Taxi zu bestellen. Wursti glaubte zu bemerken, daß der Direktor etwas erwartete. Ein Trink281
geld? Nein, der Direktor der Scala erwartet kein Trinkgeld, der erwartet etwas anderes. Ist eh schon alles gleich, dachte sich Wursti und sagte zum Dolmetscher: »Sagen Sie dem Direktor, ich werde ihm durch meinen Hofmarschall meinen Hausorden schicken lassen. Dummerweise habe ich grad keinen dabei.« Es ließ sich nie mehr ganz einrenken. Wursti hatte das Gefühl, für einen Augenblick habe Ursula geglaubt, er sei wirklich der Herzog. Die Enttäuschung danach war für sie dann einfach zu tief. Die Sache zwischen ihm und Ursula war zwar nicht sofort aus, versickerte aber ziemlich bald, und ehe der Sommer ganz gekommen war, war sie zu Ende. Alex, der Blödmann, lachte sich fast einen Ast, als ihm Horsti die Geschichte erzählte. »Mir war gar nicht zum Lachen«, sagte Horsti, »und den richtigen Urlaub kann ich mir für zwei Jahre abschminken.« Ja – und der Scala-Direktor wartet auf seinen Wittelsbachischen Hausorden noch heute.
TROWITZERS FLUCH
»Nein«, sagte der alte Mann, »ich begleite Sie gern, aber es gibt gewisse Örtlichkeiten in dieser Stadt, da setze ich meinen Fuß nicht hin. Dieses Kaufhaus gehört dazu.« Auch ich habe eine Abneigung gegen Kaufhäuser. Das hat nichts mit Weltanschauung oder Snobismus zu tun, es ist die Abneigung gegen Alltäglichkeiten, wenn sie zu groß werden. Also Kaufhäuser, Biergärten, Schwimmbäder. Sportstadien interessieren mich ohnedies nicht, weil mich Sport langweilt: schon der, den man selber ausübt, wieviel mehr erst das Zuschauen bei anderen. Aber manchmal: Wem ist es nicht schon passiert, daß er aus Bequemlichkeit (scheinbar) eherne Grundsätze vergessen hätte? Ich wollte in das betreffende Kaufhaus gehen, weil – ich muß weiter ausholen: ein anderer eherner Grundsatz ist, daß ich ausschließlich Kniestrümpfe trage. In den meisten Läden aber führen sie nur »die modische Herren-Kurz-Socke«. Ab und zu hängen verloren ein paar Paar (unschöne Wendung, besser wäre: einige Paare, aber die Kombination »ein paar Paar« ist doch auch wieder reizvoll, wie aus einer Beispielsammlung für Deutsch-Lernende) – ein paar Paar nicht-modische Herren-Kniestrümpfe herum, aber erstens nicht in der richtigen Größe und zweitens in unmöglichen Farben. Am ehesten findet man eine größere Auswahl in 283
Kaufhäusern – nicht in den billigen, schäbigen, wo pensionierte Kriminalbeamte Hausdetektiv spielen – sondern in feinen. Deswegen wollte ich da hinein. Das feine Kaufhaus verfügt außerdem über einen Dachgarten mit Café, aber der alte Trowitzer wollte nicht hinein. Wollte seinen Fuß nicht in diese Örtlichkeit setzen. So gingen wir in ein anderes Café, die Kniestrümpfe blieben ungekauft. Trowitzer war eher klein und eine Spur zu jugendlich gekleidet für sein Alter. Er liebte flotte Fliegen, breitkrempige Hüte und stark taillierte Sakkos aus kariertem Stoff mit breiten Revers. Er trug stets ein in der Farbe zur Fliege passendes Stecktuch. Er sah aus wie ein pensionierter Zirkusdirektor, der eben nach Scheidung eine junge Freundin erobert hatte. Aber Trowitzer war pensionierter Gerichtsreporter. Seine Reportagen waren beißend spöttisch und für die Justiz und die Polizei oft wenig schmeichelhaft. Er galt als einer der wenigen unbestechlichen Journalisten und war daher bei seinen Kollegen nicht beliebt. »Schauen Sie«, sagte er, »was weiß ich? Ist der Caftier hier ein Antisemit? ein alter Nazi? ein neuer Nazi? Ich weiß es nicht, ich rege mich nicht auf.« »Ich bin Antisemit«, sagte ich. Trowitzer schaute mich an, kniff die Augen zu und wußte offensichtlich nicht, ob er lachen sollte. »Doch«, sagte ich, »ich bin Antisemit. Ich bin aber auch Anti-Arier. Ich mag gar keinen.« »Sie sollten«, sagte Trowitzer und faßte mein Revers, 284
»zu einem anderen Schneider gehen. Oder kaufen Sie … von der Stange?« »Ich kaufe nicht von der Stange, und ich habe, bilde ich mir ein, einen vorzüglichen Schneider.« »In diesem Herbst trägt man die Revers breiter und spitz nach oben. Weiß das ihr Schneider?« »Ich zweifle. Aber ich baue darauf, daß sich die Mode so alle zwei, drei Jahre meiner Garderobe angleichen wird.« »Na ja«, sagte er, »Sie werden anders reden, wenn Sie, wie ich …«, er beugte sich zu mir, »… im Vertrauen gesagt: Ich bin seit einem halben Jahr geschieden, und seit zwei Monaten habe ich eine junge Freundin.« »Ich sage immer«, sagte Trowitzer, »daß alles zu unscharf ist. In der Weimarer Zeit – Sie haben da ja noch nicht gelebt, ich schon – war alles schlimm, besonders in den letzten Jahren, aber alles scharf. Manchmal wünsche ich fast diese Zustände zurück. Wer ein Nazi war, hat gesagt: ich bin ein Nazi; wer ein Monarchist war, hat gesagt: Hoch lebe der König, und wer Kommunist war, hat die Faust gehoben und geschrien: »Völker, hört die Signale.« Heute? Jeder behauptet, daß er Demokrat ist, die Werte der abendländischen Humanität verteidigt und die Juden liebt. Die wahre Gesinnung haben die Leute nur noch hinter ihrem eigenen Rücken. Eine Zeitlang waren mit diese APO-kalyptiker fast sympathisch. Sie haben zugegeben, daß sie Anarchisten sind.« »Ja«, sagte ich, »alle wollen unser Bestes. Ich habe auch schon mit dem Gedanken gespielt, eine Partei zu 285
gründen und auf deren Fahnen zu schreiben: Ich bitte, mich zu wählen, da ich von Natur aus G’schaftelhuber bin und auch bestochen werden will, weil ich Geld brauche. Im übrigen ist mir alles Wurst.« »Mehr als ein, zwei Prozent bekämen Sie nicht.« »Ehrlichkeit zählt nicht mehr.« »Eben: die Unschärfe.«
* Und dann erzählte Trowitzer seine Geschichte. Also: keine Geschichte, die Trowitzer erlebt hat, vielmehr eine Geschichte, die er kannte. Er kannte viele Geschichten, oft sehr gute. Die Geschichten, die ein Mensch kennt und erzählt, beleuchten seinen Charakter. Insofern hat er diese Geschichte doch erlebt, quasi: »Es war vor vielen Jahren, ich war noch Polizeireporter. Da kommt ein Mann – nein, ein Herr in einen sehr exquisiten Juwelierladen hier in der Stadt. Sehr soigniert, sehr elegant – ein Herr also. Auch nicht einer von denen, die in Juwelierläden ölscheichmäßig mit Geld um sich werfen. Er war eher scheu, wirkte fast verlegen. ›Bitte‹, sagte er, ›es ist da in der Auslag a Smaragdkette. A seir schene.‹ Na. Gut. Die Verkäuferin rennt nach hinten, holt sofort den Chef. Bei Stücken über zehntausend Mark behält sich der Chef die Bedienung selber vor. Auch der Chef ist ein soignierter und eleganter Herr. Die Verkäuferin steht nur noch so dabei, sofort bildet sich ein Ton der Überein286
stimmung auf Gentlemen-Ebene zwischen dem Kunden und dem Chef. ›Worauf warten Sie noch, Fräulein Dobramysl?‹ sagt der Chef. Also: Das ist nicht authentisch, der Name Dobramysl, versteht sich, alles andere schon. Holt also Fräulein Dobramysl – bleiben wir bei dem Namen – das Smaragdcollier aus der Auslage und gibt es dem Chef. ›Zweihundertfünfundzwanzig‹, flüstert der Chef. ›Ist mir nicht entgange‹, sagt der Kunde. ›– tausend, natürliche So wie der Kunde das Collier in die Hand nimmt, es gegen das Licht hält, prüft, ist klar, daß er wirklich von Schmuck etwas versteht. Das freut den Chef. Dabei ist der Kunde sichtlich bemüht, das Collier – wie soll man sagen – ja nicht zu weit vom Chef zu entfernen, läßt es lieber in dessen Händen, läßt es sich eher vorführen, als daß er es selber prüft. Die Mensch gewordene Seriosität. ›A seir a scheenes Stickl‹, sagt der Kunde. ›Das kann man sagen‹, sagt der Chef. Fräulein Dobramysl nickt auch. ›Zweihundertfünfundzwanzig‹, sagt der Kunde, ›a Packl Geld.‹ ›Na ja‹, sagt der Chef und läßt die Smaragde noch einmal blitzen. ›Es sein‹, sagt der Kunde und zwinkert, ›so Momenten, wo man sich varliebt. Oder? Ja, ja. Wie wir waren jung, möchte das gewesen sein eine Person weiblichen Geschlechts. Jetzt is es a Smaragdcollier.‹ Der Chef lächelt. 287
›Mein einziges Kind, a Tochter, sie wird heiraten. Sie mechte, Gott mecht abbitten, glicklich werden. Meine Frau habe ich –‹, der Kunde schluckte, ›– durch einen tragischen Unfall verloren. Meine Tochter – sie heißt Louise, wie meine Mutter, die auch … durch einen Unfall umgekommen ist. 1943. Durch einen Unfall, der so ums Jahr 1943 nicht ungern jemanden zugestoßen ist, wo Silberstein heißt. Mein Name ist Silberstein. Garry F. Silberstein, lebe in New York.‹ Der Chef verbeugt sich ganz leicht. Es gelingt dem Gentleman durch diese leichte Verbeugung mehreres auszudrücken: ziemlich nachträgliches Beileid, die Tatsache, daß für so was keine angemessenen Worte zu finden sind, und daß er, der Chef, damals die Frau Louise Silberstein nicht umgebracht hat. Hat er auch nicht, weiß ich zufällig. Er hat die Frau Louise Silberstein gar nicht gekannt. Selbst wenn er sie gekannt hätte … er hatte schließlich, bis so gegen 1938, viele jüdische Kunden. Danach allerdings nicht mehr. 1943, auch das weiß ich zufällig, hat er ein Perlendiadem gemacht, mit Hakenkreuzen. Für Himmlers Sekretärin. Er mußte halt auch leben, der Chef. ›Und das Collier da soll sein mein Hochzeitsgeschenk für meine Tochter.‹ ›Ein generöses Geschenks sagt der Chef, ›ich gratulieren Jetzt aber‹, sagt der Kunde, ›hab ich asoi viel Geld, zweihundertfünfundzwanzigtausend Mark, schon nicht mit mir.‹ Der Chef lächelt. ›Ich nehme nicht an, daß sie bar zahlen wollen‹, sagt der Chef. ›Wenn Sie eine Kreditkarte … oder einen 288
Scheck … Sie werden allerdings verstehen, daß ich mir erlauben werde, erlauben muß … eine Rückfrage, Mister Silberstein …‹ ›Ja, ja, varsteit sich, bei dem Betrag. Aber ich zahl schon nicht mit Scheck, ich zahl cash. Hier a Anzahlung. Was hab ich dabei? Dreitausend. Bitte hier: dreitausend. Bis Sie dorten telephonieren, wann Sie haben offen, ham die zu. Ich laß mir kommen das Geld. Telegraphisch. Morgen nachmittag ist es da. Ich wohn im Bayerischen Hof.‹ Der Chef verbeugt sich, schreibt eine Quittung. ›Aber!‹ sagt Mr. Silberstein, ›es gehört schon mir? legen Sie es mir zurück, bis morgen nachmittags.‹ Selbstverständliche ›Tun Sie’s, bitte, in ein Kuvert, schreiben Sie meinen Namen drauf, verwahren Sie’s in Ihrem Safe.‹ ›Ganz klar – Fräulein Dobramysl! Sie haben gehört …‹ ›Morgen nachmittags‹, sagt Mr. Silberstein, ›bringe ich das Geld und hole das Collier.‹ Fräulein Dobramysl nimmt ein großes Kuvert, schreibt Mr. Silberstein drauf, legt das Collier in eine feine Samtschachtel, steckt die Schachtel ins Kuvert, nimmt vom Chef den Safeschlüssel entgegen und geht nach hinten. ›Ich danke‹, sagt der Chef. ›Ich habe die Ehre‹, sagt Mr. Silberstein. Fräulein Dobramysl kommt wieder nach vorn, hat den Safeschlüssel noch in der Hand. Da dreht sich Silberstein noch einmal um.« »Waren Sie dabei?« fragte ich. »Nein. Wieso? Natürlich war ich nicht dabei, aber 289
es kann nur so gewesen sein. Außerdem habe ich nachher die Protokolle gelesen. Wollen Sie die Geschichte zu Ende hören oder nicht? Also. Da dreht sich Silberstein noch einmal um. ›Ach‹, sagt er, ›verzeihen Sie einem meschuggenen alten Mann, was sich hat verliebt. Ich möcht es doch grad noch einmal sehen – daß ich morgen noch gedenke – es ist zu schen.‹ Ein Kunde, der für zweihundertfünfundzwanzigtausend Mark kauft, der kann schon ein bißchen närrisch sein, für den macht man den Safe schon noch einmal auf. ›Fräulein Dobramysl!‹ sagt der Chef – na, gut, um die Sache abzukürzen: Das Fräulein holt das Kuvert wieder, macht es auf, gibt dem Silberstein das Collier–« »Und der rennt auf und davon damit –« »Aber was. Glauben Sie, ich würde Ihnen dann diese Geschichte erzählen? Dann wäre es die Geschichte von einem ganz gewöhnlichen Gauner – ein Gauner, wo zufällig ein Jude ist … oder umgekehrt – und wenn nichts weiter war dabei, würd es schon fast nach Antisemitismus riechen, wenn man sie sich merkt. Nein, nein – die Sache ist viel genialer. Wenn man da betont, daß der Gauner ein Jude war … vermutlich noch ist –, dann hat das mit Antisemitismus nichts mehr zu tun, dann hat das einen Stich in Bewunderung. Nein, der Herr Silberstein hat das Collier brav ins Schachterl zurückgelegt, und das Fräulein Dobramysl hat das Kuvert eingesperrt, und der Herr Silberstein hat sich verabschiedet und ist endlich gegangen, und der Chef wird sich die Hände gerieben haben. 290
Gut. Am nächsten Tag nachmittags ruft’s an: ›Hier Silberstein. Sie wissen, das Collier.. .‹ ›Ich weiß, Herr Silberstein, ich bitte Sie!‹ ›Es ist mir unendlich peinlich, aber –‹ ›Die Überweisung dauert länger?‹ ›Nein. Das Geld ist gekommen, liegt im Hotel, im Safe. Aber: ich hab a Grippe, a gewehnliche Grippe. Der Dokter hat mir gegeben a Spritze, a paar Tabletten miss ich nehmen. A Tag oder zwei miss ich noch hiten das Bett. Heben Sie mir auf das Collier!‹ ›Aber ich bitte Sie, Mister Silberstein, machen Sie sich keine Sorgen. Und gute Besserung.‹ So. Ja. Vergeht der nächste Tag, vergeht der übernächste Tag. Vergeht der dritte Tag. Kein Silberstein kommt. Am vierten Tag ruft der Juwelier beim Bayerischen Hof an, ob er Mr. Silberstein sprechen kann. Selbstverständlich, ja bitte.‹ Es meldet sich Mr. Silberstein, der aber eine ganz andere Stimme hat, fast nicht deutsch kann und von einem Smaragdcollier gar nichts weiß. Dem Juwelier wird’s mulmig. Er geht zum Safe, nimmt das Collier heraus … selbst er sieht es erst auf genaues Hinschauen: eine hervorragende Fälschung. Eine täuschende Kopie. Vergoldetes Silber und grünes Glas. Der Juwelier ruft die Polizei. Er hätte gleich mich fragen sollen. Ich hab ein Gedächtnis wie ein Elefant. Hat er wieder zugeschlagen! habe ich ausgerufen, wie ich als Polizeireporter – damals – davor gehört habe. Sind schon wieder zwei Jahre vergangen! Überall in der Welt: und nur alle zwei Jahre. Übertreibt es nicht, und niemand weiß, wo das nächste Mal. Einmal in Amsterdam, dann in Rom, dann in Buenos Aires, 291
dann in Genf … immer Einzelstücke im Wert von um die zweihundertfünfzigtausend, abzüglich Spesen … dafür steuerfrei! Ermöglicht ein anständiges, auskömmliches Leben.« »Ja – aber wie …« »Ich sage ja: genial. Er ist Goldschmied. Ein alter, galizischer Jude, Goldschmied aus Jaworów. Daß seine Mutter 1943 von den Nazis umgebracht worden ist, dürfte stimmen, tut aber hier nichts zur Sache. Er begibt sich nach dem Ablauf von zwei Jahren in die Stadt, die er sich ausgesucht hat. Diesmal München. Er fragt im Bayerischen Hof nach einem Herrn mit einem unmöglichen Namen. Der Portier schaut im Buch nach – ›Bedaure, der Herr ist nicht bei uns abgestiegen‹ –, aber der Goldschmied kann fließend verkehrt herum lesen und sieht, daß ein Herr Silberstein oder Goldmund oder Tennenbaum … oder wie abgestiegen ist; Silberstein in diesem Fall. Außerdem schlendert er durch die Stadt, wohnt in einer kleinen, bescheidenen Pension, wo er – unbemerkt von der Vermieterin – eine förmliche kleine Goldschmiedewerkstatt aufbaut. Hat alles dabei, was er braucht. Und schlendert durch die Stadt und schaut in die Auslagen von die Juweliere. Findet das Collier. Schaut es an. Schaut es genau an, schaut es sehr genau an. Schaut es mit den Augen eines geübten, ja begnadeten Goldschmiedes an. Und kopiert es daheim, das heißt: in der Pension. Und wenn’s fertig ist, geht er ins Geschäft …. den Rest kennen Sie. Kann man einen Juwelier besser in Sicherheit wiegen als mit einer Anzahlung? Und läßt den Schmuck 292
da? Die Anzahlung war übrigens echt. Keine Blüten! Nein, nein. Das gehört für den Goldschmied zu den Spesen. Und er langt ja das Schmuckstück praktisch nicht an, läßt es den Chef hin und her drehen. Und nur in dem Moment, wo er’s nochmals aus dem Safe holen läßt, wo der Juwelier nicht mehr meint, so aufpassen zu müssen, vertauscht er’s. Geschickt. Ein Taschenspielertrick. Kann man aber lernen, viel leichter als das Collier nachmachen. Dabei brauchte der Goldschmied das Collier gar nicht so täuschend echt nachzumachen – für die halbe Sekunde, wo’s zum Schluß aufblitzt. Daß er es trotzdem so exakt nachmacht, ist beruflicher Ehrgeiz. Und dann: der Anruf mit der Grippe kommt natürlich nicht aus dem Bayerischen Hof, sondern von wer weiß woher, denn selbstverständlich ist der Goldschmied sofort, wie er das Collier in der Tasche gehabt hat, abgereist, und wie der Juwelier das falsche Collier aus dem Safe genommen und die Polizei angefangen hat, die falsche Fährte Silberstein zu verfolgen und den armen echten Gast im Bayerischen Hof mit Fragen zu quälen, da ist der Goldschmied schon über alle Berge. Und jetzt der Clou: Sie werden es nicht glauben, aber es ist wahr, und wenn man es hinschreibt, hält es jeder für erfunden. Man weiß, wie er heißt, der Goldschmied, aber man hat ihn noch nie gefunden.« »Und wie heißt er?« »Ja«, lachte Trowitzer, »es ist, wie gesagt, kaum zu glauben: er heißt Chaim Ehrlich.« Chaim Ehrlich: eine Komödie. Ein Film? Ich stelle 293
mir einen Film vor so in der Art wie die italienischen Gaunerkomödien der fünfziger Jahre: die sympathischen Schlitzohren als Helden, die eigentlich niemandem etwas zuleide tun. Wem schadet Chaim Ehrlich? Dem Juwelier? Wer weiß, wann der Juwelier sonst das teure Stück verkauft hätte, vielleicht in Jahren erst. Jetzt zahlt es ihm die Versicherung gleich. Ist die Versicherung geschädigt? »Die Versicherung«, sagte Trowitzer »hat natürlich in gewisser Weise einen Schaden, nur merkt sie es nicht. Außerdem ist auch die Versicherung versichert, rückversichert, und die Rückversicherungen sind anderswo wieder rück-rückversichert, es ist ein Netz gewoben über die ganze Welt. Eins stützt sich aufs andere, der Druck wird nach unten weitergegeben, das Geld nach oben. Auf je mehr Punkte sich der Druck verteilt, desto geringer wird er im einzelnen. Bei 225 000,– Mark, die hier die Versicherung bezahlt hat, bleiben für jeden Erdbewohner, für Sie, für mich, wahrscheinlich sogar für den Chaim Ehrlich selber, irgendwelche Null – Komma – Null – Null – Null – etwas Pfennig zu zahlen.« »Und das auch nur alle zwei Jahre.« Eine sympathische Gaunerkomödie: der Chaim Ehrlich lebt in, sagen wir, Argentinien; in einer großen Stadt, brave jüdische Gemeinde. Chaim Ehrlich hat nicht nur eine Tochter – das hat er gelogen –, er hat eine dicke jiddische Momme und einen Moische und einen Schmuel und einen David und eine Sarah und eine Rahel und eine Thamar und ist ein strenger, aber liebevoller Vater. Besonders Thamar, die Jüngste, kann ihn um den Finger 294
wickeln. Sorgen bereitet nur Schmuel – ist schon ein paarmal mit dem Motorrad von einem Freund gefahren ohne Führerschein … der alte Chaim Ehrlich ist fast krank geworden über diese Schandtat, hat Schlafmittel nehmen müssen. Und das eine Mal sogar am Schabbes! Wo die Familie doch sonst so strenggläubig ist und Chaim Ehrlich, die schwarze Melone auf dem Kopf, keinen Freitag in der Synagoge fehlt. Wie er sechzig geworden ist, hat er einen Teppich gestiftet. ›Scheenes, teires Stickl‹, hat der Rebbe gesagt. Ein angesehenes Gemeindemitglied, ein loyaler Bürger, ein treusorgender Familienvater. Wovon er lebt? No ja: die Leute munkeln; zerreißen sich immer den Mund, ob sie Juden sind oder Christen. Wovon soll der Chaim Ehrlich leben? Geht niemand was an, und er selber lächelt. Fährt ab und zu fort. Wird Geschäfte haben. Aber die Geschichte ist ja wahr. Da gäbe es noch einen weiteren Film, schon eine Tragikomödie: Den Namen kann man nicht ändern, Chaim Ehrlich muß bleiben. Ohne Chaim Ehrlich ist die ganze Geschichte nur die Hälfte wert. Hauptrolle – ja, wer? Peter Ustinov? Marcello Mastroianni? Jedenfalls hoch besetzt. Wenn der Film ein Erfolg wird, dann kommt er auch nach Argentinien. Er kommt in die Stadt, in der Chaim Ehrlich lebt. Er sieht zwar ganz anders aus als Ustinov oder Mastroianni, aber Chaim Ehrlich heißt er auch im Film. Es wurde schon vorher gemunkelt. »Haben Sie gehert, Ehrlich – Leben, daß die Goi da haben gedreht einen Film, Gott soll schitzen, in dem was firkimmt a gewisser Chaim Ehrlich, wo in dem Film is a Gauner –?« Mit sehr gemischten Gefüh295
len, in einem möglichst entfernten Stadtteil, schaut sich Ehrlich den Film an. (Eine Frage dazwischen: weiß seine Momme? Wissen seine Kinder? Nein, wissen nicht. Der Patriarch redet nicht über seine Geschäfte.) Mit immer röter werdendem Kopf sieht Chaim Ehrlich im Dunkel des Parketts den viel hübscheren Chaim Ehrlich auf der Leinwand den Juwelier hereinlegen … Was tut Chaim Ehrlich? Was tut seine Frau? seine Kinder (die den Film alle natürlich auch gesehen haben)? der Rabbiner? die Nachbarn? Die Fassade bricht zusammen. Das ist schon keine Tragikomödie mehr, das ist eine Tragödie. Chaim Ehrlich packt sein Taschel, steht vor der Tür vom Zimmer seines Lieblings Thamar, überlegt – hat schon die Klinke in der Hand –, geht dann doch nicht hinein. Geht. Man sieht ihn von hinten. Die Straße hinunter. Ist das zu melodramatisch? Ist es anders? Wehrt sich der Chaim Ehrlich? Klagt gegen den Film – Verletzung der Persönlichkeitsrechte? Aber dann müßte er ja seine Gaunereien zugeben, verfangen im Netz der Juristen.
* »Jeder Jude«, sagte Trowitzer und zupfte seine etwas zu große Schleife zurecht – ich weiß nicht, ob es stimmt, was er mir da erzählte –, »hat drei Namen. Wie Elliotts Katzen. Er hat einen sozusagen bürgerlichen Vornamen – Max oder Gerhard oder Fritz – und einen biblischen: Ozias oder Zorobabel oder einen in dieser Richtung, und 296
schließlich einen dritten, den er von seinem Vater oder, falls er vaterlose Waise ist, vom ältesten Onkel oder sonst vom ältesten männlichen Verwandten beim Bar Mizwa bekommt. Diesen dritten Namen muß er streng für sich behalten, darf ihn niemandem sagen, denn nur unter diesem Namen kann ein Jude wirksam verflucht werden. Einem Weib sollte man diesen Namen nie verraten, und wenn man ihn einem Freund sagt, dann ist das wie bei den Indianern die Blutsbrüderschaft. Bei einem Goi ist das Verfluchen leichter.« »Weil die keine geheimen Vornamen haben?« »Eben.« »Haben Sie schon welche verflucht?« »Oft.« »Hat es geholfen?« »Selbstverständlich. Meinen Ex-Schwager. Der hat immer meine Geschiedene aufgehetzt, daß sie mehr Geld von mir verlangen soll. – Es sind ihm die Haare ausgefallen. Und den Dr. Sorf.« »Sorf?« »Den habe ich verflucht, ja, aber es ist ihm, soweit ich weiß, noch nichts passiert. Er scheint ein hartnäckiger Brocken zu sein.« »Sorf?« »Kennen Sie ihn?« »Ich weiß nicht, ob es der gleiche ist, den wir meinen. Ich habe einen Dr. Sorf gekannt, der war Regierungsrat bei der Regierung von Oberbayern. Es ist lang her, ich war Referendar bei ihm, ungefähr vier Wochen lang.« 297
»Wir reden vom gleichen. Da schau her, Sie kennen ihn. Und? Was halten Sie von ihm?« »Da Sie ihn verflucht haben, bin ich jetzt vorsichtig mit meiner Meinung. Es ist wahrscheinlich besser, ich sage: ich habe weder Anlaß noch Anhaltspunkte, Gutes oder Schlechtes von ihm zu halten. Immerhin aber verdanke ich ihm die präziseste Definition für Verwaltung. Das war gleich das erste Mal, wie ich bei ihm war, da hat er mich gefragt: ›Wissen Sie, was Verwaltung ist, Herr Kollege?‹ Und ohne meine sicher unzulängliche Antwort abzuwarten, hat er auf seinen Aktenhund gedeutet und gesagt: ›Dieses ist ein Aktenhund. Er hat zwei Fächer. Auf einem Fach steht Einlauf, auf dem anderen Auslauf. Die Akten müssen von da – Einlauf – dorthin in Auslauf. Das ist die Verwaltung.‹« »Es ist mir körperlich unangenehm, daß so einer etwas so Geistreiches gesagt hat. Und noch dazu ist es richtig. Vielleicht«, Trowitzers Stimme wurde vorübergehend leiser, »stammt es gar nicht von ihm selber.« »Und warum haben Sie ihn verflucht?« »Ist Ihnen seinerzeit nichts an ihm aufgefallen?« »Nein.« »Wie lang ist das her?« »Fünfundzwanzig Jahre.« »Auf wie alt schätzen Sie Sorf? – für damals?« »Hm – fünfzig –?« »Stimmt ungefähr. Und was war er damals?« »Meiner Erinnerung nach Regierungsrat.« »Stimmt auch. Und trotzdem ist Ihnen nichts aufgefallen?« 298
»Ach so. Ja. Aber ich habe damals nicht darüber nachgedacht. Sie meinen, daß einer mit fünfzig noch nicht mehr ist als Regierungsrat?« »Wenn einer«, sagte Trowitzer, »mit fünfzig Jahren noch nicht mehr ist als Regierungsrat, dann stimmt etwas nicht mit ihm. Es gibt mehrere Möglichkeiten: entweder er hat silberne Löffel gestohlen, ist aber Mitglied der CSU. Oder aber er ist bei der SPD, fachlich jedoch so hochqualifiziert, daß eine Entlassung nicht gerechtfertigt werden kann. Oder: er hat irgendwann einmal einen dienstlichen Bock von ungeheuerem Ausmaß geschossen, der die Behörde ein paar Millionen Schadenersatz gekostet hat – ist aber anderseits zufällig Mitwisser einer Bestechung der Bauaufsichtsabteilung. Oder: er ist fachlich mangelhaft qualifiziert, aber Schwager eines Landtagsabgeordneten der Regierungsfraktion. Oder: er ist überhaupt ein beruflicher Hochstapler, wurde aber von einem seinerzeitigen CSU-Generalsekretär im Suff mit dem Auto niedergefahren – im Suff des Generalsekretärs, nicht in seinem Suff – und ist dummerweise nicht gestorben. Sie sehen, es gibt viele Möglichkeiten. Keine traf bei Dr. Sorf zu. Außer, das habe ich unschwer erfahren, daß er CSU-Mitglied war. Vielleicht ist er es sogar jetzt noch. Silberne Löffel aber hat er nicht gestohlen. Nein, das nicht.«
* Daß die Schweinereien, die ein alter Nazi ausgefressen hat, durch Verkettung glücklicher Umstände ans Tages299
licht kommen, ereignet sich zuweilen. Die Notiz, die die Öffentlichkeit davon nimmt, hält sich meist in Grenzen. Die Meinung, daß endlich Schluß sein müsse und so weiter, überwiegt. Und außerdem: was haben unsere Flüchtlinge gelitten … (– die 1933 in der Mehrheit den Hitler gewählt haben –). So auch bei Dr. Sorf. Es erwies sich, daß er als sogenannter Schreibtischtäter am Mord von 70 000 holländischen Juden mitgewirkt hatte. Er bekam 15 Jahre. Der Befehlsnotstand wurde mildernd berücksichtigt, das heißt: die Behauptung wurde ihm geglaubt, daß er, Sorf, selber umgebracht worden wäre, wenn er nicht an seinem Schreibtisch in Amsterdam von 1940 bis 1945 die Deportationen geleitet hätte. Von einer Justiz, die einen ehemaligen Reiter-SS-Führer (dem der Vorwurf, an Judenmorden beteiligt gewesen zu sein, nur nicht nachgewiesen werden konnte) zum Vizepräsidenten eines Oberlandesgerichts gemacht hatte, ist nichts anderes zu erwarten. »Aber das«, sagte Trowitzer, »ist gar nicht einmal das eigentlich Interessante an der Sache. Gut. Dr. Sorf – dem die Universität den Doktortitel aberkannte – ging ins Gefängnis. Nach einem Jahr war er wieder frei. Er bekam nämlich das letzte Strafdrittel zur Bewährung ausgesetzt.« »15 Jahre? Ein Jahr ist ein Drittel von fünfzehn?« »Sie können offenbar nicht rechnen«, sagte Trowitzer, »schauen Sie: Sorf war schon in Holland 1945 verurteilt worden, von den Holländern. Zu acht Jahren Zuchthaus. Die allerdings hat Sorf abgesessen. Er ist von den 300
Holländern nur deshalb nicht zu mehr verurteilt worden, weil sie nicht alles von Sorf wußten. Sie verurteilten ihn zu schnell. Nach acht Jahren, 1953, kam Sorf zurück hierher. Er schloß sich gewissen Zirkeln an. Ich weiß, wo diese Zirkel tagen, und ich weiß, wer ihnen angehört, ich weiß auch, was dort geredet wird. But Brutus is an honourable man. Diese acht Jahre mußten nach deutschem Gesetz auf die Strafe von fünfzehn Jahren angerechnet werden, da sie ja dieselbe Straftat betrafen. Ein Jahr war Sorf – noch Dr. Sorf – in relativ komfortabler Untersuchungshaft. Gibt 9 Jahre. Ein Jahr Gefängnis: gibt 10 Jahre. 10 Jahre aber sind zwei Drittel von 15. Das letzte Drittel zur Bewährung ausgesetzt wegen guter Führung. An der guten Führung ist natürlich nicht zu zweifeln.« »Ich werde nie mehr diese Definition von Verwaltung …« »Pardon, wenn ich Sie unterbreche: Auch das alles ist noch immer nicht das eigentlich Interessante. Sehen Sie: ich war jahrelang Mitarbeiter einer großen Zeitung, einer berühmten Zeitung, die sich viel darauf zugute hält, unabhängig, kritisch und sogar leicht links zu sein. Der Justiz muß man zugute halten, daß die Justizpressestelle, als Sorf entlassen wurde, eine korrekte Pressemitteilung herausgab mit der ganzen – sachlich nicht anfechtbaren – Berechnung. Diese Mitteilung kam auch bei uns auf den Tisch. Ich griff zur Feder. Verstehen Sie das in übertragenem Sinn: Ich setzte mich an die Schreibmaschine und hämmerte eine Glosse. Die Überschrift lautete. Dreimal 301
eins ist fünfzehn, sofern man über die richtigen Verbindungen verfügt. Die Glosse war schon gesetzt.« »Und?« »Das Kaufhaus, das ich nicht betrete, gibt bei uns im Jahr für ein paar Millionen Annoncen auf. Große Formate – über zwei Seiten manchmal. Sie verstehen. Da kommt was zusammen. Der Chef des Kaufhauses ging zum Herausgeber und sagte: ›Wenn auch nur eine Zeile mehr als die bloße Meldung von der Entlassung Sorfs in der Zeitung erscheint, hat das Kaufhaus zum letzten Mal bei Ihnen inserierte Erzählen Sie das ruhig weiter, aber wenn Sie mich als Quelle nennen, leugne ich. Bitte denken Sie daran: ich muß eine geschiedene Frau und eine junge Freundin unterhalten.«
* »Daß auch ein Nazi-Ferkel alles dransetzt, um nicht ins Gefängnis zu kommen oder, wenn es schon einmal drin ist, ehestmöglich wieder herauszukommen, ist das natürliche Gefälle des Weltlaufes. Sie hätten doch, lieber Herr Trowitzer, viel eher den Herausgeber und den Kaufhauschef verfluchen sollen. Was hat übrigens der Kaufhauschef für ein Interesse gehabt, sich so stark für diesen Sorf einzusetzen?« »Es gibt die Zirkel. Sie weben im Untergrund. In einem, wenn der Ausdruck gestattet ist, sehr gehobenen solchen. Überall hier, überall gehen die unsichtbaren Fäden hin und her. Keiner würde es zugeben. Nur bei solchen Gelegenheiten kommt das Ganze, für 302
einen Moment, zutage. Meist leider zu kompliziert, als daß es taghell einleuchtend wäre.« »Ich verstehe.« »Ich habe übrigens«, sagte Trowitzer, »die beiden anderen auch verflucht. Hat auch nichts geholfen.«
***
Herbert Rosendorfers »Zwölf Geschichten aus der Mitte der Welt« sind mit hintersinnigem Humor und grimmiger Hellsichtigkeit geschriebene Burlesken aus dem Kleinbürgertum, angesiedelt in München, der Stadt, in der Rosendorfer fünfzig Jahre gelebt hat.
304