Adam Smith als Moralphilosoph
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Adam Smith als Moralphilosoph Herausgegeben von
Christel Fricke und Hans-Peter Schü...
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Adam Smith als Moralphilosoph
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Adam Smith als Moralphilosoph Herausgegeben von
Christel Fricke und Hans-Peter Schütt
≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York
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앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 3-11-018037-5 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. 쑔 Copyright 2005 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Selignow, Berlin Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Vorwort Fast alle der Autorinnen und Autoren, deren Beiträge in diesem Band versammelt sind, haben an einem internationalen Kolloquium über „Adam Smith als Moralphilosoph“ teilgenommen, das im Juni 2003 in Heidelberg stattfand. Dieses Kolloquium wurde durch Zuschüsse von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Stiftung Universität Heidelberg ermöglicht. Das Institut für Philosophie der Universität Karlsruhe (TH) als Veranstalter des Kolloquiums und auch wir persönlich danken beiden Institutionen sehr für ihre Unterstützung. Die Autorinnen und Autoren haben ihre Beiträge für die Publikation in diesem Band überarbeitet. Dafür schulden wir ihnen Dank; und wir haben ihnen auch dafür zu danken, daß sie ihre Beiträge überhaupt für diesen Band zur Verfügung gestellt haben – was in Zeiten, in denen die Veröffentlichung in bestimmten englischsprachigen Organen mehr zählt als andere Formen der Publikation eben keine Selbstverständlichkeit ist. Auch die redaktionelle Bearbeitung der Beiträge erfolgte in internationaler Zusammenarbeit. Lars Erik Kolden (Oslo) und Jutta Gemeinhardt (Karlsruhe) haben die Herausgeber tatkräftig unterstützt; wir danken ihnen dafür. Nachdem wir uns lange vergeblich in Deutschland bei verschiedenen wissenschaftlichen Institutionen und privaten Sponsoren um Zuschüsse zu den Druckkosten bemüht hatten, ohne die diese deutschsprachige Publikation nicht möglich gewesen wäre, kam – zu unserer nicht geringen Überraschung – Hilfe aus Norwegen und zwar von Seiten des Ethik-Programms der Universität Oslo. Dieses Programm, ein Teilprojekt des vom norwegischen Staat geförderten Nationalen EthikNetzwerkes, dient der Erforschung normativen Denkens im allgemeinen und moralischer Fragestellungen in den verschiedenen wissenschaftlichen Einzeldiziplinen. Wir danken den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an diesem Programm, aus dessen Etat uns die Mittel für die Druckkosten bewilligt wurden. Christel Fricke und Hans-Peter Schütt Oslo und Karlsruhe, im März 2005
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Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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James R. Otteson / University of Alabama Adam Smith und die Objektivität moralischer Urteile: Ein Mittelweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christel Fricke / Universitetet i Oslo Genesis und Geltung moralischer Normen – Ein Gedankenexperiment von Adam Smith . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Carola von Villiez / Universität Bremen Sympathische Unparteilichkeit: Adam Smiths moralischer Kontextualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Georg Lohmann / Universität Magdeburg Sympathie ohne Unparteilichkeit ist willkürlich, Unparteilichkeit ohne Sympathie ist blind. Sympathie und Unparteilichkeit bei Adam Smith . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Samuel Fleischacker / University of Illinois, Chicago Smith und der Kulturrelativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Charles L. Griswold, Jr. / Boston University Fair play, Übelnehmen und der Sinn für Gerechtigkeit: Kritische Überlegungen zu Adam Smith . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Aaron Garrett / Boston University Adam Smith über den Zufall als moralisches Problem . . . . . . . . . . . . 160 Stephen Darwall / University of Michigan Smith über die Gleichheit der Würde und den Standpunkt der 2. Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
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Inhalt
Vivienne Brown / Open University, Milton Keynes Moralische Dilemmata und der Dialogismus von Adam Smiths Theorie der moralischen Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Kate Abramson / Indiana University, Bloomington Tugendideale in Smiths Theorie der moralischen Gefühle . . . . . . . . . 214 Robert C. Solomon / University of Texas, Austin Sympathie für Adam Smith: Einige aktuelle philosophische und psychologische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Allan Gibbard / University of Michigan, Ann Arbor Angemessenheit und Mittelmaß – Wie Gefühle und Handlungen aufeinander abgestimmt werden . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Georg Mohr / Universität Bremen „Moral Sense“ – Zur Geschichte einer Hypothese und ihrer Kritik bei Adam Smith . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Karl Graf Ballestrem / Katholische Universität Eichstätt David Hume und Adam Smith. Zur philosophischen Dimension einer Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . 331 Georg Johannes Andree / Graz Zur Natürlichkeit der Moralphilosophie Adam Smiths . . . . . . . . . . . 347 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
Einleitung Adam Smith – ein Klassiker Hält man sich daran, unter welchen Überschriften ein großer Münchener Verlag die Klassiker der verschiedenen Abteilungen der Ideengeschichte würdigt, dann ist Adam Smith zwar ein „Klassiker des ökonomischen Denkens“ (vgl. Starbatty 1989), aber er gehört nicht zu den „Klassikern der Philosophie“ (vgl. Höffe 1981). Diese Einschätzung entspricht nicht nur einer weitverbreiteten Meinung, sie spiegelt auch die Wirkungsgeschichte wider, die das Werk von Smith erfahren hat. Sein umfangreichstes und bekanntestes Buch ist die 1776 erstmals erschienene Untersuchung über die Natur und den Ursprung des Wohlstands der Nationen, die ihm bei vielen den Titel eines „Vaters der Nationalökonomie“ eingetragen hat. Nur war dies nicht der erste publizistische Erfolg, der Smith gelang. Eine breitere Öffentlichkeit kannte ihn bereits seit beinahe zwanzig Jahren als Verfasser einer Theorie der moralischen Gefühle, die er 1759 publiziert hatte. Diese Theorie entsprach seiner ursprünglichen Profession: 1752 war er seinem Lehrer Francis Hutcheson auf dem Lehrstuhl für Moralphilosophie an der Universität von Glasgow gefolgt. Die Wirkung des Wohlstands der Nationen hat Smiths frühere Karriere als Moralphilosoph in den Schatten gestellt. Das hat auch etwas mit dem politischen Interesse zu tun, das dieses wissenschaftliche Werk gefunden hat. Es schien die gesellschafts- und ordnungspolitischen Vorstellungen des Liberalismus zu bestätigen. Aber keineswegs alle Ökonomen, die Smith als Gründungsfigur ihrer Disziplin zu würdigen wußten, haben ihn als Propagandisten einer kapitalistischen Marktwirtschaft des bloßen „laissez faire“ verstanden. Alle diejenigen, die auch seine moralphilosophischen Anfänge zur Kenntnis genommen haben und das nationalökonomische Hauptwerk vor diesem Hintergrund zu lesen verstehen, versäumen es nie, auf die Aspekte aufmerksam zu machen, die einer solchen Propaganda des freien Marktes nicht nur nicht entsprechen, sondern ihr sogar widersprechen.1
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Einleitung
Ein Konzept wie das des egoistischen Nutzenmaximierers, des sogenannten homo oeconomnicus, hätte Smiths entschiedenen Widerspruch herausgefordert. Der Autor des Wohlstands der Nationen hatte das Menschenbild des Moralphilosophen Smith weder vergessen noch aufgegeben. Danach sind Menschen von Natur aus nicht nur egoistische Nutzenmaximierer, was sie zweifellos auch sind, sondern ebenso sehr darauf aus, mit anderen Menschen einvernehmlich zu kooperieren und deren Interessen um ihrer selbst willen zu respektieren. Dieses Bild steht nicht nur im Hintergrund des Wohlstands der Nationen, sondern es wird dort verschiedentlich bekräftigt. Wer diesen Zusammenhang zwischen den beiden Hauptwerken übersieht, läuft Gefahr, Smith mißzuverstehen und zu unterstellen, er habe eine Persönlichkeitsspaltung erlitten: die Spaltung in einen kaltherzig-liberalistischen Dr. Jeckyll und einen warmherzig-philanthropischen Mr. Hyde. Es wird auch nicht besser, wenn man den vermeintlichen Konflikt zum sogenannten „Adam-Smith-Problem“ stilisiert, das dann durch die entwicklungsgeschichtliche Hypothese einer tiefgreifenden Meinungsänderung „gelöst“ wird. 1 Der Aufmerksamkeit, die Smiths Moralphilosophie bei Ökonomen gefunden hat, entsprach bis in die jüngere Vergangenheit merkwürdigerweise kein gleichgewichtiges Interesse von seiten der Philosophen. Das ändert sich langsam. Im angelsächsischen Sprachraum sind seit den 60er Jahren eine ganze Reihe von Monographien erschienen, in denen nicht mehr die Nationalökonomie, sondern der moralphilosophische Ansatz von Smith im Vordergrund steht. Auch Karl Graf Ballestrem widmet der Moralphilosophie Smiths in seiner 2001 im Beck-Verlag erschienenen Gesamtwürdigung dieses schottischen Aufklärers die ihr gebührende Aufmerksamkeit. Heute wird der Moralphilosoph Smith nicht mehr vorwiegend als Vertreter einer Variante der Moral-SenseSchule gesehen. Vielmehr gilt er zunehmend als Repräsentant einer Position, die die moralpsychologische Plausibilität Humes mit den normativ-universalistischen Begründungsansprüchen Kants verknüpft. In der jüngeren deutschsprachigen Philosophie war es vor allem Ernst Tugendhat, der die Smithsche Moralphilosophie, über ein bloß historisches Interesse hinausgehend, ernst genommen hat; seine eigene moralphilosophische Position hat er explizit in Auseinandersetzung mit Smith entwickelt und modifiziert. 2 1 Vgl. Recktenwald 1989, i. b. S. 141 f. 2 Vgl. Tugendhat 1993 (Vorlesung 15: „Die Erweiterung des Kantischen Konzepts im
Einleitung
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Der vorliegende Band dokumentiert die Vielfalt des Interesses, das Smith und dessen Theorie der moralischen Gefühle international bereits gefunden haben, und er soll dazu beitragen, daß von den erzielten Resultaten auch die Diskussion in Deutschland profitiert.
Übersicht über die Beiträge Die ersten vier Beiträge beschäftigen sich aus verschiedenen Perspektiven mit der Theorie der moralischen Gefühle als einem normativen Begründungsprojekt. Die folgenden acht Beiträge untersuchen die Moralphilosophie von Smith im Blickwinkel von Fragestellungen, die in der aktuellen moralphilosophischen Diskussion eine wichtige Rolle spielen: Kulturrelativismus, Verteilungsgerechtigkeit, moralischer Zufall, die Würde und gegenseitige Achtung moralischer Subjekte, moralische Dilemmata, die Idealität moralischer Standards, die Psychologie moralischer Empfindungen und das Herstellen einer emotionalen, moralischen Übereinstimmung zwischen Menschen aus evolutionstheoretischer Sicht. Den Abschluß bilden drei Beiträge, die Smiths Moralphilosophie in ihrem historischen Kontext betrachten und dabei auf charakteristische Merkmale dieser Theorie hinweisen, die bei dem Versuch einer Aktualisierung dieser Theorie nicht übersehen werden dürfen. James Otteson präsentiert den von Smith gewählten Weg zu einer Begründung der objektiven Gültigkeit moralischer Normen als eine via media: Smith versage sich jeden Rekurs auf eine transzendente Autorität als Quelle moralischer Normen, beschränke sich aber auch nicht darauf, die Herausbildung dieser Normen im bloßen Rekurs auf historisch kontingente Faktoren wie die Sitten und Gebräuche einer bestimmten Gesellschaft einer bestimmten Zeit zu erklären. Im Rahmen seiner Rekonstruktion dieses „Mittelwegs“ macht Otteson auf die Parallelität aufmerksam, die zwischen Smiths Analysen der Konstitution von moralischen und ökonomischen Normen besteht. Christel Fricke liest die Theorie der moralischen Gefühle als ein Gedankenexperiment, in dem Smith einen dreiphasigen intersubjektiven Prozeß entwirft, der zur Konstitution objektiver moralischer NorAnschluß an Adam Smith: universalistisch gebilligte intersubjektive Handlungen“) und 2001 (Text 9: „Wie sollen wir Moral verstehen?“).
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Einleitung
men als Prinzipien der einvernehmlichen Konfliktlösung führen soll. In der ersten Phase kommt es bei der Interaktion von Personen, denen es um die Befriedigung ihrer natürlichen, egoistischen und sozialen Bedürfnissen geht, zu Konflikten. In der zweiten Phase tritt ein unbeteiligter Zuschauer ihres Konflikts auf, den beide Konfliktparteien als Vermittler anerkennen und der imaginativ die Standpunkte der einen und der anderen Konfliktpartei einnimmt, um sich von diesen Standpunkten aus ein Bild davon zu machen, wie die Konfliktparteien ihren Konflikt wahrnehmen und emotional erleben. Vor dem Hintergrund dieses Bildes versucht er, zu einem Urteil darüber zu kommen, ob ihr Wahrnehmen und Erleben der Konfliktsituation angemessen ist. Schließlich versucht der Zuschauer in der dritten Phase, seine in der zweiten Phase gewonnenen Informationen zusammenzuführen und einen Standpunkt der Unparteilichkeit zu bestimmen, von dem aus er zwischen den Konfliktparteien vermitteln und ihren Streit schlichten kann. Carola von Villiez betrachtet deskriptive und normative Aspekte von Smiths Theorie der moralischen Gefühle und zeigt methodische Affinitäten zwischen dieser Theorie und der Rawlsschen Theorie der Gerechtigkeit auf: Beide Autoren verträten eine kontextualistische Moralauffassung, die moralische Urteile, die bestimmten normativen Ansprüchen genügen, an tatsächliche Moralverständnisse von Menschen rückbindet. Smith und Rawls nähmen diese Rückbindung auf je unterschiedliche Weise vor. Während Smith die Unparteilichkeit des moralischen Urteils dadurch zu gewährleisten suche, daß er es von Informationen abhängig macht, die nur aus einer Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven auf den zu beurteilenden Sachverhalt gewonnen werden können, baue Rawls darauf, perspektivische Abhängigkeiten, die die Unparteilichkeit des moralischen Urteils beeinträchtigen würden, unter einem „Schleier des Nichtwissens“ zu verbergen. Trotz dieser Differenzen setzten Smith und Rawls einvernehmlich darauf, daß die Mitglieder einer Gesellschaft in einen Prozeß der gegenseitigen Anpassung ihrer moralischen Empfindungen und Urteile involviert sind, der idealiter zur Herstellung eines von Rawls so genannten „Überlegungsgleichgewichts“ führt. Georg Lohmann geht in seinem Beitrag der Frage nach, wie die in dem Smithschen Sympathievermögen angelegte Bereitschaft von Menschen, auf das Wohlergehen anderer Rücksicht zu nehmen, mit dem Respekt vor der Freiheit dieser anderen zu verbinden sei. Gegen Smith macht er geltend, daß die Unparteilichkeit eines moralischen Urteils
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nicht auf einem gemeinsam geteilten Gefühl, sondern nur auf einem durch Überzeugung gewonnen gegenseitigen Einverständnis von Menschen beruhen kann. Nicht, wer die Gefühle einer anderen Person teilt, sondern nur, wer diese Person zu überzeugen sucht, respektiert deren Freiheit, denn die Freiheit einer Person besteht in deren Fähigkeit, zu überlegen und Gründe gegeneinander abzuwägen. Samuel Fleischacker erwägt das Pro und Kontra einer relativistischen Deutung von Smiths Moralphilosophie. Smiths Verständnis von Moralität verbinde deskriptive mit normativen Gesichtspunkten und lege daher zunächst ein relativistisches Verständnis moralischer Normativität nahe: Für ihn bestehe Moralität in den in einer Gesellschaft praktizierten Verhaltensweisen, auf deren Grundlage die Mitglieder abweichendes Verhalten korrigieren. In der Figur des unparteiischen Zuschauers komme jedoch auch ein universalistisches Verständnis moralischer Normativität zum Ausdruck: Dieser Zuschauer hat die perspektivischen Beschränkungen der Selbstliebe überwunden und damit Einsicht in die Gleichheit aller Menschen gewonnen. Ob Smith eine Lösung für den meta-ethischen Konflikt zwischen einem relativistischen und einem universalistischen Verständnis moralischer Normativität zu bieten hat, bleibe eine offene Frage. In jedem Fall sei seine Theorie nicht nur für Moralphilosophen, sondern auch für Anthropologen von Interesse. Charles Griswold geht der Frage nach dem Begründungsverhältnis zwischen der Theorie der moralischen Gefühle und dem Wohlstand der Nationen nach. Dabei geht er von der Beobachtung aus, daß der freie Markt, wie Smith ihn propagiert, nicht offensichtlich gerecht ist, da er nicht nur frei ist und Bedingungen des fair-play genügt, sondern auch große Wohlstandsdisparitäten hervorbringt. Griswold argumentiert dafür, die Gerechtigkeit des freien Marktes, wie sie Smith propagiert, nicht nur als Anwendungsfall der allgemeinen Theorie der Gerechtigkeit zu verstehen, die Smith in seiner Moralphilosophie entwickelt habe. Vielmehr müsse auch umgekehrt Smiths allgemeine Theorie der Gerechtigkeit im Licht seiner Theorie der politischen Ökonomie gelesen werden: Der unparteiische Zuschauer der Theorie der moralischen Gefühle müsse seine Urteile über die Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit von Personen und ihren Handlungen auf der Grundlage von Kenntnissen der politischen Ökonomie fällen, wie sie im Wohlstand der Nationen entwickelt werde. Diese Lesart erlaube es, Smiths moralphilosophische Theorie der kommutativen Gerechtigkeit als eine Theorie zu lesen, die durch eine Theorie der Verteilungsgerechtigkeit
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nicht nur ergänzt werden könne, sondern einer solchen Ergänzung auch bedürfe. Aaron Garrett zeigt in seinem Beitrag, daß schon Smith sich mit dem Problem des moralischen Zufalls beschäftigt hat, wie er mehr als 200 Jahre später Gegenstand einer berühmten Kontroverse zwischen Bernard Williams und Thomas Nagel war. Wir haben es mit derartigen Fällen des moralischen Zufalls zu tun, wenn wir eine Handlung auch im Licht von Konsequenzen moralisch beurteilen, die außerhalb der Kontrolle des Handelnden liegen. Zunächst mag die Bereitschaft, unkontrollierbare Konsequenzen von Handlungen bei deren moralischer Beurteilung zu berücksichtigen, unvereinbar erscheinen mit dem Prinzip, sich bei dieser Beurteilung nur an Absichten des Handelnden und von diesem beabsichtigten Konsequenzen zu orientieren. Smith könne eine solche Beurteilung von Handlungen nach dem Prinzip der Billigkeit jedoch mit dem Hinweis darauf verteidigen, daß sie dem Gemeinwohl förderlich ist. Stephen Darwall stellt die Frage nach dem Fundament, auf dem Smiths Vorstellungen von der gegenseitigen Achtung und gleichen Würde aller Menschen beruhen. Er zeigt, daß die Beurteilung der Schicklichkeit und Billigkeit von Handlungen, wie Smith sie in seiner Theorie der moralischen Gefühle analysiert, nicht nur Ausdruck gegenseitiger Achtung ist, sondern gegenseitige Achtung und Zuerkennung von Menschenwürde voraussetzt. Dies erklärt er aus der Rolle, die Gefühle und das Einnehmen des Standpunktes der 2. Person in moralischen Urteilen spielen. Auch auf dem freien Markt begegnen Menschen einander unter Bedingungen des gegenseitigen Respekts als Gleicher. Damit antizipiere Smith Theorien der Anerkennung, wie sie Fichte und Hegel zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt hätten. Vivienne Brown lenkt in ihrem Beitrag die Aufmerksamkeit auf den doppelten imaginären Positionswechsel, der Smith zufolge jedem moralischen Urteil über die Schicklichkeit einer Handlung zugrunde liegt. Der Urteilende ist in einen inneren Dialog mit sich selbst verwikkelt. Die für diesen Dialog erforderlichen Positionswechsel können aber immer nur partiell gelingen; unterschiedliche Stimmen bleiben präsent und können im moralischen Urteil nicht vollständig überwunden werden. Darin liege jedoch keine Schwäche, sondern eine Stärke der Smithschen Theorie. Sie erlaube es, dem Phänomen moralischer Dilemmata Rechnung zu tragen und zu erklären, welche emotionalen Nachwirkungen moralische Entscheidungen in dilemmatischen Situationen auf Personen haben. Auf welche Weise Personen in moralische
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Dilemmata geraten können, die sie dazu nötigen, jenseits aller moralischen Regeln Entscheidungen zu treffen, bei denen sie sich nur von ihrem persönlichen Gewissen leiten lassen, illustriert Vivienne Brown am Beispiel der von Smith selbst erwähnten Tragödie „Der Waise in China“ von Voltaire. Kate Abramson analysiert Smiths Verständnis vollkommener Tugend. Sie stellt fest, daß Smith in der Theorie der moralischen Gefühle zwei verschiedene Modelle vollkommener Tugend entwickelt: zum einen verstehe er Tugend als vollkommene Selbstbeherrschung, zum anderen als vollkommene Unparteilichkeit der moralischen Gefühle und Urteile. Das erste Modell impliziert die Auffassung, daß eine moralische, sich durch vollkommene Tugend auszeichnende Person niemals zum unparteiischen Zuschauer im strikten Sinn werden kann, da die Empfindungen eines unparteiischen Zuschauers diesem keinen Anlaß zur Selbstbeherrschung geben. Das zweite Modell dagegen versteht die vollkommen tugendhafte Person als diejenige, der es gelungen ist, zu einem unparteiischen Zuschauer zu werden. Fordert Smith von moralischen Personen nun vollkommene Selbstbeherrschung oder vollkommene Unparteilichkeit? Von der Antwort auf diese Frage hängt es u. a. ab, ob die moralischen Gefühle einer Person für sie als begrenzende Handlungsmotive fungieren oder nicht. Smith gebe auf diese Frage keine eindeutige Antwort. Seine Theorie weise im ersten Modell Verwandtschaften mit der Kantischen, im zweiten Modell Verwandtschaften mit der Aristotelischen Moralphilosophie auf, ohne die Spannung zwischen diesen so unterschiedlichen Arten der Moralphilosophie aufzulösen. Aus der Perspektive der aktuellen Gefühls- und Motivationspsychologie geht Robert Solomon den Fragen nach, was genau für ein Gefühl die Smithsche „Sympathie“ ist und welche Rolle dieses Gefühl für die Grundlegung der Moralität spielt. In der Smithschen Sympathie sieht er ein Amalgam durchaus verschiedener emotionaler Zustände und Dispositionen. Zum einen stehe Sympathie für Empfindungen, zu denen u. a. die Empathie, das Mitgefühl und auch das gehöre, was wir „Fürsorge“ nennen. Smith verwende „Sympathie“ zur Beschreibung unserer Disposition, in unseren eigenen Gefühlen mit den Gefühlen anderer übereinzustimmen – welche Gefühle auch immer dies sein mögen. Schließlich stehe „Sympathie“ auch für das Vermögen, die Gefühle anderer dadurch einzuschätzen, daß wir uns in deren Lage versetzen. Solomon sieht erhebliche Übereinstimmungen zwischen Humes und Smiths Verständnis von „Sympathie“. In seinem Vergleich der Sympathie mit der Empathie betont er die kognitiven Elemente,
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die zu den Voraussetzungen von Empathie gehören, nämlich insbesondere das Vermögen, sich imaginativ an die Stelle eines anderen zu versetzen. Für die Grundlegung der Moral sei neben der intersubjektiven Gerichtetheit die motivierende Kraft von Sympathieemfindungen wichtig. Allan Gibbard kommt zu dem Schluß, daß vieles, was Smith in der Theorie der moralischen Gefühle über Emotionen und ihre Rolle im moralischen und gesellschaftlichen Leben sagt, durch Forschungsergebnisse der neueren evolutionären Psychologie bestätigt wird. Insbesondere mit Ergebnissen der evolutionären Spieltheorie, die untersucht, wie die natürliche Selektion zweckgerichtetes Handeln imitiert, stimme Smiths Analyse der sozialen Rolle des Sympathieempfindungen überein: Wer seine Emotionen auf ein Mittelmaß dämpft oder steigert, dessen Standard ein unbeteiligter Zuschauer bestimmt, trägt dazu bei, Emotionen und damit auch Handlungen zu koordinieren. Wo Smith nach den Zweckursachen dafür frage, warum Menschen von Natur aus mit dem Vermögen der Sympathie ausgestattet sind, sprächen wir heute von natürlicher Selektion und dem Überleben, der Anpassung und Reproduktion der menschlichen Spezies. Anpassungsprozesse, die das Überleben der Menschen ermöglicht haben, beträfen nicht nur ihre physischen, sondern auch ihre psychischen Eigenschaften und Dispositionen. Alle drei Merkmale der Sympathie, daß wir überhaupt sympathisieren, daß wir es gerne tun und uns die Sympathie der anderen wünschen und daher unsere Emotionen zu beherrschen bemüht sind, trügen dazu bei, daß die Gefühle der Mitglieder einer Gesellschaft einander gleichen. Die Gleichheit der Gefühle wiederum erleichtert die Koordination von Handlungen. Smiths Analyse der Art, wie wir unsere Gefühle mit denen anderer koordinieren, und der Rolle, die dabei der Gesichtspunkt spielt, ob eine Gefühl einer Handlungssituation angemessen ist oder nicht, bedürfe allerdings aus moderner Sicht einiger Ergänzungen, insbesondere was die Koordination verschiedenartiger Gefühle betrifft. Georg Mohr legt dar, wie zunächst Burnet, Shaftesbury und Hutcheson mit ihren Theorien eines menschlichen moral sense (Shaftesbury und Hutcheson) bzw. eines natürlichen moralischen Bewußtseins (Burnet) theologischen und rationalistischen Theorien der Moral widersprachen: Sie lehnten Gottes Gebote ebenso wie naturrechtliche Normen als Maßstäbe des moralisch Richtigen ab und versuchten statt dessen, den Menschen als Quelle moralischer Normativität zu verstehen. Obwohl auch Hume und Smith von einem moral sense sprächen,
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schrieben sie dem Menschen keinen eigenen moralischen Sinn zu, wie es vor ihnen Shaftesbury und Hutcheson getan hätten. Während Hume sich noch ambivalent ausdrücke, weise Smith die Annahme eines solchen Sinns ausdrücklich zurück. Mohr scheint diese Zurückweisung aber nicht überzeugend begründet zu sein. Er vertritt die These, daß auch Smith dem Menschen einen moralischen Sinn zuschreiben muß und daß ein präzisierter Begriff eines eigenen Moralsinns, einer moralischen Sensibilität, auch in der heutigen Moralphilosophie einen wichtigen Beitrag leisten kann. Während alle anderen Beiträge in diesem Band hier zum ersten Mal veröffentlicht werden, ist der Beitrag von Karl Graf Ballestrem bereits an anderer Stelle erschienen. Daß wir diesen Beitrag hier noch einmal abdrucken, erklärt sich daraus, daß er Smiths Moralphilosophie in einer Weise präsentiert, die das Bild dieser Theorie, wie es sich aus allen anderen in diesem Band versammelten Beiträgen ergibt, durch sehr wesentliche Aspekte ergänzt. Ballestrem geht in seinem Beitrag der viel gerühmten Freundschaft nach, die David Hume und den um 12 Jahre jüngeren Adam Smith verband. Dabei interessiert er sich aber weniger für die unbestrittenen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden großen Verfechtern des klassischen Liberalismus unter den schottischen Aufklärern. Er konzentriert sich auf die zum Teil erheblichen Differenzen ihres Denkens, als deren Kern er konträre Auffassungen der natürlichen Religion und der Bedeutung einer teleologischen Naturauffassung ausmacht. Smith war Deist und darüber hinaus ein von Anfang an sehr erfolgreicher Autor philosophischer Bücher und Universitätsprofessor, während Hume sich Zeit seines Lebens mit dem berechtigten Verdacht des Agnostizismus konfrontiert sah, was seinem Erfolg als Autor und Professor nicht eben förderlich war. Smiths Kritik an Hume in der Theorie der moralischen Gefühle ist ebenso höflich wie deutlich. Ballestrem sieht in dieser Schrift einen stoisch-deistischen Traktat. Als Grund dafür, daß Smith sich beharrlich weigerte, nach Humes Tod dessen Dialoge über natürliche Religion herauszugeben, vermutet Ballestrem, daß Smith die dort vertretene agnostische Lehre nicht nur ablehnte, sondern für gefährlich hielt. Beide, Hume und Smith, verteidigten die objektive Gültigkeit moralischer Werturteile, aber ihre Strategien seien höchst unterschiedlich: Während Hume auf einen sozialen Lernprozeß vertraue und streng naturalistisch argumentiere, berufe sich Smith nicht nur auf die Kommunikation und Interaktion mit den Mitmenschen und das je eigene moralische Gewissen, sondern in letzter Instanz auch auf Gott als den höchsten moralischen Richter. Vor diesem
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Hintergrund der Differenzen zwischen Hume und Smith deutet Ballestrem den 12. der Humeschen Dialoge über natürliche Religion als Humes (Philos) nun nicht mehr ironische Zurückweisung von Smiths (Cleanthes’) Auffassung von der praktischen Bedeutung der natürlichen Religion für Moral und Politik. Georg Johannes Andree präsentiert den Moralphilosophen Smith als Vertreter eines positiven, nicht mehr an der biblischen, anthropozentrischen Auffassung orientierten Naturbegriffs und als Anhänger Newtons. Insbesondere in seinem wissenschaftlichen Methodenverständnis folge Smith Newton: Aus wenigen, allgemeinen Prinzipien sind die jeweiligen Phänomene und ihre Verhältnisse zueinander zu erklären. Seine Theorie der moralischen Gefühle habe Smith als Beitrag zur naturwissenschaftlichen Erforschung des Menschen verstanden. Die Rolle des allgemeinen Prinzips spiele darin die Lehre von der Sympathie als einer menschlichen Grundkraft. Smiths Wissenschaftsverständnis sei mit seinem Deismus zu vereinbaren. Sein Menschenbild entwickele er in kritischer Auseinandersetzung mit Hobbes, Shaftesbury und Hume.
Warum auf Deutsch? Auch auf der Tagung, auf der die meisten Beiträge in diesem Band zunächst vorgetragen und diskutiert worden sind, war die Konferenzsprache, wie es heute vielfach üblich ist, Englisch. Wir haben uns die Mühe gemacht, die für die Publikation teilweise erheblich überarbeiteten und erweiterten Beiträge ins Deutsche zu übersetzen, soweit die deutschen Muttersprachler das nicht selbst besorgt haben. Hätten wir alles im Englischen belassen, wäre der Aufwand zweifellos geringer gewesen; und man kann sehr wohl fragen, was den zusätzlich Aufwand eigentlich rechtfertigt – zumal die Herausgeberin mittlerweile gar nicht mehr in Deutschland lehrt, sondern einem Ruf an die Universität Oslo gefolgt ist, wo sie selbst auf Englisch unterrichtet. Warum also der Aufwand, wo doch auch in Deutschland die Forderung nach dem Englischen als Unterrichtssprache an den Universitäten immer lauter wird, ganz zu schweigen von dem wachsenden Druck auf jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, als Arbeitsemigranten ins englischsprachige Ausland zu gehen? In vielen Disziplinen ist es zweifellos so, daß die fachsprachliche englische Kompetenz und das sogenannte conference English vollkommen genügen, um sich wissenschaftlich artikulieren zu können. Über-
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setzungsprobleme zwischen dem Englischen und dem Deutschen gibt es in Mathematik, Physik oder Ökonomie kaum. Für die Philosophie ist das grundsätzlich anders. Philosophische Fragestellungen entstehen typischerweise in Kontexten, die (i) gerade noch nicht terminologisch reglementiert sind und in denen (ii) die angemessene sprachliche Darstellung oft sogar Gegenstand der problematisierenden Reflexion ist. Deshalb werden in der Philosophie an das sprachliche Artikulationsvermögen Ansprüche gestellt, die mit der bloßen fachsprachlichen Kompetenz und dem conference English nicht gut erfüllt werden – abgesehen davon, daß nur Leute, die kein Englisch beherrschen, glauben können, dies sei eine einfache Sprache. Nichtsdestoweniger kann man sich vorstellen, daß in nicht allzu ferner Zukunft – ein entsprechendes Training vorausgesetzt – auch Philosophinnen und Philosophen sich nicht nur international, sondern schon im eigenen Land ausschließlich des Englischen bedienen. Ähnlich haben sich ja schon unsere Vorfahren, wenn sie Wissenschaft oder Philosophie betrieben, stets des Lateinischen bedient. Es ist gewiß naiv zu glauben, man könne sich dem Trend zu einem internationalen Medium der Verständigung unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern widersetzen, und dieses Medium wird nach Lage der Dinge das Englische sein. Es ist aber mindestens so naiv zu glauben, dies hätte für den Status der jeweiligen Muttersprache, sofern diese nicht Englisch ist, keine Konsequenzen. Wie im Mittelalter und der frühen Neuzeit bis ins 18. Jahrhundert hinein, müßte der gesamte Schulunterricht, der auf ein wissenschaftliches Studium abzielt, von Anfang an in der verbindlichen Wissenschaftssprache stattfinden, wahrscheinlich also in Englisch. Nur dann nämlich werden die NichtAngelsachsen später nicht als Radebrecher in ihrer Wissenschaft auffallen. Mit anderen Worten: Wenn es eine verbindliche Wissenschaftssprache gibt, hören die anderen Sprachen auf, Wissenschaftssprachen zu sein. Das ist (noch) Zukunftsmusik. Noch ist auch das Deutsche eine Wissenschaftssprache und innerhalb der Philosophie, historisch gesehen, vielleicht nicht die unwichtigste. Da wir, Herausgeberin und Herausgeber, uns, was das Englische angeht, durchaus als Stotterer und Radebrecher fühlen, ziehen wir es in dieser historischen Situation vor, uns die von uns für wichtig und bedeutend erkannten Sachprobleme vorzüglich in der einzigen Sprache vor Augen zu führen, die wir wirklich einigermaßen zu beherrschen glauben, nämlich in unserer Muttersprache. Wir glauben, daß es der philosophischen Diskussion in Deutschland gut täte, von dem, was in diesem Band verhandelt wird, Kenntnis
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zu nehmen, und daß es vielen, die daran teilnehmen möchten, mit dem Englischen ähnlich geht wie uns.
Technisches Während vom Wohlstand der Nationen eine neuere, vollständige deutsche Übersetzung vorliegt, stammt die einzige derzeit im Handel erhältliche vollständige deutsche Version der Theorie der moralischen Gefühle von Walter Eckstein aus dem Jahre 1926. Diese Übersetzung ist nicht unbrauchbar. Deshalb haben wir uns soweit wie möglich an ihr orientiert. Das heißt: Passagen aus diesem Werk werden in der Regel nach der Eckstein-Übersetzung zitiert; und deren Seitenzahlen werden neben denen des englischen Originals auch dann genannt, wenn wir von der Übersetzung selbst, ohne dies eigens kenntlich zu machen, abgewichen sind. Was die Übersetzung des Titels der Theory of Moral Sentiments betrifft, so waren zwei Entscheidungen zu treffen: Ist ‚sentiments‘ mit ‚Gefühle‘ oder mit ‚Empfindungen‘ zu übersetzen? Und sollten wir ‚moral‘ mit ‚ethisch‘ oder mit ‚moralisch‘ wiedergeben? In diesem Fall sind wir Eckstein nicht gefolgt, obwohl sich seine Übersetzung des Titels mit ‚Theorie der ethischen Gefühle‘ durchaus rechtfertigen läßt. Wer für das englische ‚moral‘ nicht ‚moralisch‘, sondern ‚ethisch‘ als Übersetzung wählt, betont damit, daß Smith in seinem ersten großen Werk neben den moralischen Gefühlen im engeren Sinn auch noch viele andere Arten von Gefühlen analysiert, die in dem komplexen psychischen Prozeß, der in die Motivation einer Person zu bestimmten Handlungen mündet, eine wichtige Rolle spielen. Wer dagegen, wie wir es in diesem Band durchgängig tun, schon im Titel von „moralischen Gefühlen“ spricht, lenkt die Aufmerksamkeit gleich auf Smiths im engeren Sinn moralphilosophisches und damit auch normatives Anliegen. Was das englische Wort ‚sentiment‘ betrifft, so ist es nicht durchgängig mit ‚Gefühl‘ wiederzugeben. Denn Smith verwendet es nicht nur für das emotionale Empfinden, sondern auch für emotional allenfalls schwach getönte perzeptive Empfindungen – was übrigens dem Gebrauch des lateinischen ‚sentire‘ entspricht. Wenn wir in diesem Fall dennoch (wie Eckstein) von den im Titel genannten sentiments als von „Gefühlen“ sprechen, tragen wir dem Umstand Rechnung, daß Smith im Zusammenhang mit moralischen Begehrungen und Urteilen in der Tat die Rolle der emotionalen Empfindungen, eben der Gefühle, hervorhebt.
Einleitung
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Nicht von ungefähr geht er in seiner Moralphilosophie von ihrer Analyse aus. Zur selben Wortfamilie wie ‚sentiment‘ gehört ‚resentment‘. Eckstein übersetzt nicht unpassend mit ‚Vergeltungsgefühl‘, und Tugendhat wählt ‚Groll‘. Um unfreiwillig komische Effekte zu vermeiden, haben wir uns weder für das eine noch für das andere entschieden. Wir sprechen durchgängig vom „Übelnehmen“, was in Einzelfällen freilich auch zu einer gewissen sprachlichen Härte führt. Auf die Werke von Smith sowie einiger anderer klassischer Autoren wird bei Stellennachweisen mit Siglen bzw. Kurztiteln Bezug genommen, die im Literaturverzeichnis aufgeschlüsselt sind. Die übrige Literatur wird nach dem Schema „Name + Erscheinungsjahr“ nachgewiesen. Dementsprechend ist der diesbezügliche Teil des Literaurverzeichnisses eingerichtet. Um eine allzu große Häufung von Vorkommnissen der Sigle ‚TMS‘ (für Theory of Moral Sentiment) zu vermeiden, ist diese überall dort zu ergänzen, wo ein Zahlencode wie ‚VI.ii.3.1: 235; dt. 397‘ angegeben ist – das soll nämlich heißen: Theory of Moral Sentiments, Part VI, section ii, chap. 3, § 1, S. 235 im betreffenden Band der Glasgow Edition, S. 397 in der Übersetzung von Eckstein. Christel Fricke und Hans-Peter Schütt
Adam Smith und die Objektivität moralischer Urteile: Ein Mittelweg James R. Otteson / University of Alabama Es gibt nicht nur einen Weg, um in moralischen Angelegenheiten Objektivität zu erreichen. Doch wir sind geneigt eine simple Alternative zu unterstellen: Entweder es gibt diese Objektivität – dank transzendenter Bezüge –, oder es gibt sie nicht – weil alles relativ ist. Jedenfalls sind manche der Auffassung, für moralische Regeln bestünden nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie sind transzendent sanktioniert, z. B. durch den Willen Gottes, durch überzeitliche Ideen, ausgezeichnete moralische Intuitionen oder durch irgendeine andere Quelle, die auf ähnliche Weise ihre Richtigkeit garantiert, oder aber sie sind kontingent und weitgehend willkürlich, weil sie von lokalen Sitten, Überzeugungen und Gewohnheiten abhängen. Im Gegensatz dazu hat Adam Smith gezeigt, auf welche Weise Regeln für menschliches Verhalten eine mittlere Position zwischen diesen Extremen einnehmen können: Weder hängen sie unmittelbar von Gottes Willen ab noch sind sie einfach willkürlich. Smith zufolge können moralische Regeln objektiv, dabei aber transzendent sein, und sie können historisch kontingent, dabei aber nicht willkürlich sein. Mit diesem Beitrag verfolge ich drei Ziele. Zunächst lege ich dar, daß Smith einen „Mittelweg“ zur Objektivität bahnt, und zwar nicht nur für moralische Regeln in der Theorie der moralischen Gefühle, sondern auch in seiner Wert- und Preistheorie im Wohlstand der Nationen. Dies bildet den Hauptteil meines Beitrags. Zweitens werde ich diese Theorien kurz diskutieren, und abschließend werde ich eine Antwort auf die Frage zur Diskussion stellen, in welche Tradition sich Smith mit diesen Theorien stellt.
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I. Adam Smith ist der Überzeugung, daß allgemeine moralische Standards, also Standards, welche die Mitglieder einer Gesellschaft teilen und die nicht einfach idiosynkratisch sind, sich in einem marktähnlichen Prozeß herausbilden, der sich im Kontext spezifischer historischer Gegebenheiten vollzieht. Da menschliche Wesen nun einmal zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten leben, variieren die Systeme der von ihnen geteilten moralischen Standards im Detail. Da aber menschlichen Wesen auch in einem spezifischen, hier relevanten Sinn die menschliche Natur gemeinsam ist, überschneiden sich diese Systeme in signifikanter Weise, und in einigen Hinsichten sind sie sogar fast deckungsgleich. Der für Smiths Theorie wichtigste Zug der menschlichen Natur ist das Verlangen nach wechselseitigem sympathetischen Empfinden. Von diesem Verlangen sagt Smith, es sei vielleicht das stärkste soziale Bedürfnis, das wir haben. 1 In jedem Fall ist es eine conditio sine qua non seiner Theorie. Es ist dieses Verlangen, das uns dazu treibt, in Gesellschaft zu leben, das uns anleitet, uns in unserem Betragen zu mäßigen, und letztlich die Ausbildung der Gewohnheiten und Regeln des moralischen Urteilens veranlaßt, die zusammen das ausmachen, was ich das ‚System‘ der allgemein geteilten Moralität nenne. Obwohl Smith auch von anderen Begehrungen sagt, daß sie allen Menschen gemeinsam seien, 2 hat dieses eine Prinzip doch den Hauptteil der Erklärungslast zu tragen, die sich Smith mit seiner Theorie moralischer Systeme aufgebürdet hat. 3 Aber kann das Prinzip dies leisten? Ich will zunächst skizzieren, wie meiner Meinung nach der Smithsche Marktmechanismus funktionieren soll. Smith geht davon aus, daß wir zum Zeitpunkt unserer Geburt noch über keinerlei Moralität verfügen. Ein Säugling kennt allenfalls seine eigenen Bedürfnisse.4 Er hat 1 Vgl. IV.i.3: 213; dt. 361. 2 Z. B. den Nahrungstrieb und den Sexualtrieb. Vgl. II.i.5.10: 77; dt. –; II.ii.3.5: 87; dt. 129 f.; VI.i.1.: 212; dt. 360 f. 3 Smith stützt sich auch auf das, was ich das „Prinzip der Vertrautheit“ (familiarity principle) nenne. Ich werde unten darauf eingehen. Zu einer ausführlicheren Diskussion dieses Prinzips vgl. Otteson 2002a, Kapitel 5. 4 Es ist vielleicht der Sache angemessener zu sagen, der Säugling hat nur seine eigenen Bedürfnisse; selbst der Smithschen Theorie zufolge ist es nicht klar, ob der Säugling irgend etwas kennt. Es könnte durchaus sein, daß das Bedürfnis nach gegenseitiger Sympathie nicht nur einen Anreiz dazu bedeutet, sich der allgemeinen Moral anzuschließen, sondern auch dazu, sich seiner selbst bewußt zu werden und sich zu erkennen.
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keinen Begriff davon, was zu verlangen angemessen (oder unangemessen) wäre, ebenso wenig wie von angemessenen (oder unangemessenen) Ausdrucksformen des Verlangens. Deshalb kennt er auch weder Scham noch Bedauern, wenn er etwas verlangt, was er nicht hätte verlangen sollen. Der Säugling sucht einfach die Befriedigung seiner Bedürfnisse, indem er seinen „Versorger“ durch lautes Schreien alarmiert. Dem Säugling jedoch kann man diese uneingeschränkte Selbstbezogenheit nicht zum Vorwurf machen: Er ist nicht nur noch nicht fähig, so etwas wie die Interessen anderer und die Angemessenheit des eigenen Verhaltens gegenüber diesen in Betracht zu ziehen, höchstwahrscheinlich wird er in seiner Selbstbezogenheit, wie Smith sagt, durch die grenzenlose Nachsicht der Eltern oder der Amme auch noch bestärkt.5 Smith zufolge muß der Säugling erst zu einem Kind heranwachsen, das mit Gleichaltrigen zu spielen begonnen hat, bevor er die schockierende Erfahrung machen kann, daß er nicht im Zentrum des Lebens eines jeden steht, sondern nur in dem seines eigenen. Dies beschreibt Smith als den Eintritt des Kindes in die „hohe Schule der Selbstbeherrschung“ (III.iii.22: 145; dt. 215): Das ganz besondere Mißvergnügen, das sich einstellt, sobald das Verlangen nach einem wechselseitigen sympathetischen Empfinden frustriert wird, kann nur erlebt werden, wenn man mit anderen zusammen ist und dabei erfährt, wie es ist, von ihnen beurteilt zu werden – auch wenn das nur implizit geschieht, etwa dadurch, daß die anderen nicht mit einem spielen oder einfach ignorieren, was man an Wünschen geäußert hat. Nach dem anfänglichen Schock beginnt das Kind nach einer Strategie zu suchen, um dieses Mißvergnügen abzubauen und verfällt mehr oder weniger zufällig darauf, sein eigenes Verhalten oder aber die Urteile, die darin zum Ausdruck kommen, so zu modifizieren, daß das Einvernehmen mit den Spielkameraden wiederhergestellt wird. Und, siehe da, es erlebt eine bis dahin ungekannte Freude, das Vergnügen an der Wechselseitigkeit sympathetischen Empfindens. Damit ist ihm ein neues und dauerhaftes Verlangen nach diesem Vergnügen eingepflanzt. Von diesem Zeitpunkt an erkundet das Kind, so Smith, regelmäßig und nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum, welche Verhaltensweisen ihm ein sympathetisches Empfinden verschaffen, mit dem es das neue Verlangen befriedigen kann. Diese Erkundungen führen dazu, daß das Individuum Gewohnheiten, Verhaltensregeln und diesen entsprechende Urteile übernimmt, die 5 Vgl. I.ii.4.3: 40; dt. 54 f.; III.iii.22: 145; dt. 214 f.
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es immer öfter in den Genuß des wechselseitigen sympathetischen Empfindens kommen lassen. Ist das Kind erst einmal erwachsen, hat es ein ganzes Paket von Prinzipien des Verhaltens und Urteilens angenommen, die es in den unterschiedlichsten Situationen anzuwenden versteht. Darüber hinaus ist auf der Ebene der Gesellschaft jedes andere Individuum mit genau derselben Erkundung beschäftigt; und das bringt jenen Mechanismus der „unsichtbaren Hand“ hervor, von dem Smith glaubt, durch ihn würden allgemein akzeptierte Standards des Verhaltens und Urteilens etabliert, kurzum: ein von allen geteiltes System der Moralität. Dieser Mechanismus ähnelt dem Marktgeschehen in anderen Bereichen des Lebens in menschlichen Gesellschaften. Schauen wir uns Märkte im ökonomischen Sinne an! Einen solchen Markt gibt es nach Smith überall dort, wo Menschen Güter und Dienstleistungen mit der Absicht austauschen, ihre Lebenssituation zu verbessern.6 Wer auf einem Markt neu ist, mag zunächst keine Vorstellung davon haben, wie viel er von wem und zu welchen Konditionen für seine Güter oder Dienstleistungen verlangen kann, und so probiert er mehr oder weniger willkürlich gewählte Tauschformen, Preise und Geschäftspartner aus, bis er auf eine Kombination stößt, die erfolgreich ist. Und dann erlebt auch er etwas Erfreuliches, nämlich das Vergnügen darüber, daß sich seine Lebenssituation verbessert hat – und das zu erreichen ist, wie Smith im Wohlstand der Nationen behauptet, unsere andauernde Motivation von der Wiege bis zur Bahre. 7 Hier sind mehrere Analogien zwischen Smiths Moralsystem und seinem ökonomischen System zu erkennen. Erstens haben die hauptsächlich betroffenen Personen in beiden Fällen eine außerordentlich schmale Ausgangsbasis: Sie müssen einfach irgend etwas ausprobieren. 8 Zweitens droht ihnen in beiden 6 Vgl. z. B. WN, I.iii.1–8: 31–36; dt. 19–22. 7 Vgl. WN, II.iii.27–28: 341; dt. 282; vgl. auch 90; 285; 343; 345; 374, 405, 454, 455, 540, 674; dt. 63, 234, 283, 285, 307 f., 330, 369, 370, 452, 570. Vgl. außerdem LJ (A), VI.144: 384. 8 Dies ist natürlich nicht im buchstäblichen Sinn zu verstehen. Anders als Smith es mit seiner Beschreibung unterstellt, wird ein Kind, wenn es eingeschult wird, ohne Zweifel schon das eine oder andere Mal Kummer erfahren haben, weil es ihm nicht gelang, gegenseitige Sympathie herzustellen, und es wird daher mit der Ausbildung viel versprechender Verhaltensgewohnheiten und Beurteilungen schon ein Stück weit fortgeschritten sein. Dennoch ist Smith darin zuzustimmen, daß ein Schulkind vor seiner Einschulung zu Hause viel mehr Freiheiten hatte, als ihm in der Schule gewährt werden. In ähnlicher Weise wird eine Person, die neu auf einem Markt ist, aller Wahrscheinlichkeit nach über gewisse Informationen verfügen, an denen sie ihre
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Fällen die deprimierende Erfahrung, erst einmal abgewiesen zu werden (was wahrscheinlich jedem passiert, der erstmals auf einem Markt auftritt). Drittens, genauso wie ein Marktteilnehmer im nachhinein bedauern kann, ein Geschäft abgeschlossen zu haben, kann es einem im nachhinein leid tun oder sogar peinlich sein, ein wechselseitiges sympathetisches Empfinden mit einer anderen Person hergestellt zu haben – sei es wegen dieser Person selbst, sei es wegen der Intensität des Empfindens oder auch wegen seines Gegenstandes. Schließlich – und dieser Punkt ist für das, was ich zeigen möchte, besonders wichtig – wird die Erkundung nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum in beiden Fällen auf entscheidende Weise ergänzt durch ein Element der Verhandlung: Die hauptsächlich betroffene Person versucht, mögliche Partner für ein wechselseitiges sympathetisches Empfinden davon zu überzeugen, daß gewisse Verhaltensweisen oder Urteile den Gleichklang des Empfindens verdienen; und genauso versucht sie, potentielle Geschäftspartner davon zu überzeugen, daß gewisse Güter oder Dienstleistungen es verdienen, gegeneinander getauscht zu werden. Wer das versucht, argumentiert, nennt Gründe, mahnt, fordert, wirbt, bittet, schwadroniert, predigt. Hinz und Kunz reden aufeinander ein, um die Empfindungen des anderen in Gleichklang mit den eigenen zu bringen, 9 geradeso als würden sie auf dem Basar um den Preis einer Ware feilschen. Solche Verhandlungen nehmen vielerlei Gestalt an, sie können sich auf unbestimmt viele Gegenstände erstrecken, und oft genug scheitern sie. Aber selbst in diesem Fall sind sie lehrreich. Wenn sie jedoch erfolgreich zum Abschluß kommen, setzen sie wie ein Präzedenzfall Maßstäbe, an denen wir und andere sich später orientieren. Die Orientierung an Präzedenzfällen verfestigt sich erst zu Gewohnheiten, dann zu Regeln und Prinzipien, bis sie ein System von Regeln oder Prinzipien bilden. Das ist im großen und ganzen Smiths Theorie der Genese von einerseits gemeinsamen moralischen Standards (einschließlich allgemein verbindlicher Auffassungen der Angemessenheit und des Verdienstes), und andererseits von gemeinsamen ökonomischen Standards (einschließlich allgemein verbindlicher Preise, Geschäftsbedingungen, Handlungen orientieren kann – sie kann, z. B., die Zeitung lesen, oder herumfragen, um herauszufinden, welche Waren und Dienstleistungen auf dem Markt angeboten werden, wer sie zu welchen Bedingungen kauft usw. 9 Vgl. I.i.1.13: 13; dt. 8 f.; I.i.3.2: 17; dt. 15 f.; I.i.4.1–10: 19–23; dt. 19–26; VII.iv.6.: 329; dt. 548 f.
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Verträge und dergleichen). Beide Systeme sind auf der Mikroebene durchaus chaotisch und über längere Zeit dem Wandel unterworfen. Nichtsdestoweniger bewegen sich beide auf der Makroebene in Richtung auf ein modifiziertes Gleichgewicht zu. Das heißt: Die Einzelentscheidungen, aus denen das System besteht, sind auf der Ebene der Individuen oftmals zu vielgestaltig, um vorhersagbar zu sein; dennoch entsteht aus ihnen (ohne daß irgendeine Absicht dahinter stünde), ein umfassenderes System, das vergleichsweise kohärent ist und eine allgemeine Beschreibung zuläßt. 10
II. Moralische und ökonomische Standards, die so entstehen, wie Smith es beschreibt, sind damit „institutionelle Tatsachen“ im Sinne von John Searle, d. h. „Teile der wirklichen Welt, objektive Tatsachen in der Welt, die Tatsachen nur kraft menschlicher Übereinkunft sind.“11 Anders als etwa Steine und Bäume haben diese Standards keine physische Existenz; sie sind, wieder mit Searle zu reden, ontologisch subjektiv, und das bedeutet, daß ihre Existenz von den Überzeugungen und Einstellungen einzelner Akteure abhängt. Jedoch sind sie epistemisch objektiv, und das bedeutet, daß es nicht einfach dem Gutdünken irgendeiner einzelnen Person überlassen ist, ob sie existieren oder nicht und was ihre Haupteigenschaften sind: Ihre Existenz ist wie auch ihr Wesen eine objektiv festzustellende Tatsache. So kann es z. B. der Fall bzw. nicht der Fall sein, daß in jemandes Gesellschaft die Polygamie moralisch anstößig ist. In Saudi-Arabien ist das nicht der Fall, in Selma, Alabama jedoch sehr wohl. 12 Was ich selber von der Polygamie halte, ist für diese Tatsache genauso unerheblich wie meine Meinung darüber, was ein von Babe Ruth handsignierter Baseball wert sein mag, für die Tatsache, daß für diesen zur Zeit im Internet 5000 $ geboten werden. Das ist die Objektivität des „Mittelwegs“, die moralische Standards à la Smith auszeichnet. Diese hängen nicht direkt von transzendenten Sanktionen ab, die (wie Gott oder das Naturrecht) nicht von dieser
10 Zur Diskussion der Terminologie von Mikro- und Makroebene und ihren charakteristischen Eigenschaften und Erklärungsfunktionen vgl. Schelling 1978. 11 Vgl. Searle 1997, S. 1 u. a. 12 Ich übernehme dieses Beispiel von Max Hocutt. Vgl. Hocutt 2000, S. 10 f.
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Welt sind. 13 Dennoch sind sie nicht bloß willkürlich oder abhängig von der Privatmeinung irgendeiner Person. Sie sind objektiv, sofern sie Tatsachen unserer sozialen Realität sind. Ihre Objektivität verdankt sich dem Umstand, daß sie das Resultat eines von „der unsichtbaren Hand“ gesteuerten Prozesses sind, in dem lokale (Mikro-)Intentionen eine globale (Makro-)Ordnung hervorbringen. Sie verdankt sich ebenso der allgemeinen menschlichen Natur, die, wie ich oben ausgeführt habe, zugleich Quelle und Grund der von allen geteilten Standards ist. Moralische Standards von Gesellschaften können, so sagt Smith, sich in Nebensächlichkeiten unterscheiden, z. B. in Kleiderordnungen, Grußoder Anredeformeln und dergleichen. 14 Da der Entwicklungszustand einer Gesellschaft jederzeit etwas historisch Einmaliges ist, wird die vollständige Beschreibung eines Systems der Moralität, das in einer gegebenen Gesellschaft zu einer gegebenen Zeit wirksam ist, mithin selbst in dem Sinne eindeutig ein, daß es nur dieses System und kein anderes erfaßt. Das schließt nicht aus, daß bestimmte Regeln aufgrund der uns gemeinsamen Menschlichkeit in fast allen, vielleicht sogar in allen derartigen Systemen unverändert vorkommen: z. B. Verbote der vorsätzlichen Tötung Unschuldiger, Inzestverbote und ähnliches (jeweils ergänzt um die erforderlichen Begriffsbestimmungen). Wenn man Smith fragte: „Warum sollte ich die moralischen Regeln der Gesellschaft, in der ich lebe, befolgen?“, so würde er wohl verschiedene Gründe nennen. Erstens: „So zu handeln ist die beste Strategie, um etwas zu erreichen, an dem dir besonders viel liegt, nämlich wechselseitiges sympathetisches Empfinden.“ Zweitens: „Weil die Anderen genau das von dir erwarten und du in dem Maße, in dem dir an deren Chancen liegt, dieses Empfinden mit dir und Dritten, die dein Verhalten ebenfalls beobachten, zu teilen, dazu beitragen solltest, diese Chancen dadurch zu erhöhen, daß du tust, was von dir erwartet wird.“15 Drittens: „Weil so zu handeln letztlich der einzige Weg zu deinem Glück ist.“ Der 13 Ich sage hier ‚direkt‘, weil Smith offenbar der Auffassung ist, daß diese Standards auf indirekte Weise von Gott beabsichtigt wurden. Auf diesen Punkt komme ich weiter unten zurück. 14 Vgl. V.ii.1: 200; dt. 341 f. und V.ii.7–9: 204 f.; dt. 348–353. 15 Smith ist ja der Überzeugung, daß uns daran tatsächlich gelegen ist, wie der erste Satz der Theorie der moralischen Gefühle belegt: „Mag man den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein.“ (I.i.1: 9; dt. 1)
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zuletzt genannte Grund ist ein hypothetischer Imperativ: Wenn du glücklich sein willst, dann solltest du meistens den moralischen Standards deiner Gesellschaft genügen. Nun bedeutet dieses ‚meistens‘ eine wichtige Einschränkung: Da die moralischen Standards sich aufgrund eines marktähnlichen Prozesses herausbilden, der ohne Innovation – oder unternehmerische Initiative – nicht funktionierte, sind neue, abnorme und unerwartete Verhaltensweisen ein wesentliches Element seiner Dynamik. Es kommt darauf an zu erkennen, wann Innovation zum Erfolg führt und wann nicht, wann eine Neuerung Billigung findet und wann nicht und in welchen Sparten etwas Neues einzuführen angemessen ist und in welchen nicht. Moralische Neuerer, die Erfolg haben – und Maßstab des „Erfolgs“ ist in diesem Fall die Herstellung eines wechselseitigen sympathetischen Empfindens –, wissen so etwas oder können es antizipieren, wie ja auch in der Wirtschaft erfolgreiche Unternehmer für Marktentwicklungen den richtigen Riecher haben. Diese Konstruktion provoziert jedoch einen Einwand: Zwar gilt, um auf das oben genannte Beispiel zurückzukommen, die Polygamie am einen Ort als anstößig, und am anderen gilt sie als unanstößig, aber ob sie tatsächlich anstößig oder unanstößig ist, folgt daraus nicht. Die Polygamie könnte sehr wohl entweder anstößig oder unanstößig sein, doch ganz unabhängig davon, was man dazu in irgendeiner Gesellschaft meint. So zumindest ließe sich argumentieren. Auf der Grundlage von Smiths Theorie ist indes vollkommen ungeklärt, ob eine solche Feststellung überhaupt möglich ist, weil wir als Standards akzeptierte Kriterien, die dafür erforderlich wären, einfach nicht haben. 16 Man mag finden, daß Polygamie geschmacklos ist, man mag glauben, daß sie üble Folgen hat, und man mag sich wünschen, daß mehr Leute in der eigenen Gesellschaft sie ebenso ablehnen wie man selbst. Doch diese und ähnliche Ansprüche werden nichts daran ändern, daß die Polygamie tatsächlich einfach so beurteilt wird, wie es nach den moralischen Standards in der eigenen Gesellschaft geschieht. Der Smithschen Theorie zufolge ist es der oben beschriebene marktähnliche Mechanismus, der moralische Standards hervorbringt. Deshalb können sie nicht an sich oder intrinsisch richtig oder falsch sein. Wie sehr wir uns auch wünschen mögen, daß unsere eigenen moralischen Standards einen irgendwie privilegierten Sonderstatus genießen, so sind sie doch nur als unsere Intuitionen und Traditionen Produkte eines derartigen Mechanismus– nicht anders als die abweichenden Intuitionen und Traditionen anderer Leute. 16 Ich danke Allan Gibbard für hilfreiche Diskussionen über diesen Punkt.
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Nun ist allerdings nicht zu bestreiten, daß nach Smiths Überzeugung moralischen Urteilen sehr wohl ein Geltungsstatus zukommen kann, der über das hinausgeht, was der Marktmechanismus hervorbringt. Das ergibt sich aus seinen Ansichten über die unveränderlichen Komponenten der menschlichen Natur und deren Auswirkungen auf Marktmechanismen. In der Theorie der moralischen Gefühle werden Gott, die (emphatisch verstandene) Natur, der Schöpfer dieser Natur und dergleichen immer wieder beschworen; und Smith behauptet, dieses intelligente Wesen habe die menschliche Natur so gestaltet, daß das „natürliche“ Verhalten der Menschen (ohne jede ausdrückliche Absicht) Ordnungssysteme hervorbringt, die vorteilhaft sind. Damit legt er nahe, daß moralische Urteile, die der Marktmechanismus erzeugt, letztlich und auf indirektem Weg von Gott intendiert sein könnten: Wie sonst sollte man erklären, daß die menschliche Natur unveränderliche Komponenten aufweisen muß, insbesondere das Verlangen nach einem wechselseitigen sympathetischen Empfinden?17 Eines sollte man dabei jedoch nicht übersehen: Eine solche göttliche Sanktionierung mündet keineswegs mit Notwendigkeit in die Rechtfertigung irgendeines einzelnen Urteils oder einer individuellen Handlung. Sanktioniert würde vielmehr nur das System als Ganzes, wie es nach Smith auch nur als Ganzes den Menschen nützlich ist. Obwohl Smith also sagen könnte, ein ordentlich ausgebildetes Moralsystem befördere das Wohl der Menschen und müsse, da Gott als Schöpfer der Menschen und der Natur das Wohl der Menschen beabsichtigt habe, selbst von Ihm beabsichtigt sein, gibt es keine Möglichkeit, im Vorhinein durch bloße Intuition oder apriorische Analyse zu erkennen, ob irgendein bestimmtes Urteil auf diese Weise gerechtfertigt ist. Man kann lediglich sagen, das System entspringe den Absichten Gottes, falls es den Menschen in diesem System gut gehe. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß dies, wenn man es nicht sogar als bloße ad hoc Konstruktion verwirft, eine ziemlich schwache transzendente Sanktionierung ist, nicht zuletzt deshalb, weil sie keinerlei Vorhersagekraft hat. Außerdem mag sie eher den religiösen Vorurtei17 Smith hat auch die These vertreten, daß die langfristigen moralischen Regeln einer Gemeinschaft schließlich von ihren Mitgliedern als dasjenige angesehen werden, was ihre moralische Pflicht ist, und vielleicht auch als das, was dem Willen Gottes entspricht (vgl. III.v.1–13: 161–170; dt. 243–259). Aber dies ist eine deskriptive Behauptung und kein Teil des Arguments, mit dem die Moralität begründet werden soll. Zu dieser Diskussion vgl. Otteson 2002a, Kapitel 6 und Kleer 1995. Für hilfreiche Diskussionen dieses Themas danke ich Fonna Forman-Barzilai.
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len von Smith geschuldet sein als dem von ihm beschriebenen Marktmechanismus. 18 Trotzdem verweist diese transzendente Sanktionierung auf ein allgemeineres Kriterium, nach dem ein Smithianer sein eigenes Moralsystem oder das anderer Gesellschaften beurteilen kann: Nützlichkeit. Zwar läßt Smiths Theorie nicht zu, daß Urteile, die durch das eigene Moralsystem sanktioniert sind, auch unabhängig davon an sich richtig oder falsch sind. Nichtsdestoweniger kann man Erfahrungen mit den relativ vorteilhaften oder schädlichen Auswirkungen des Systems auf das Wohlergehen der Leute sammeln und, orientiert an der Bilanz dieser Erfahrungen, das System positiv oder negativ beurteilen.19 Aufgrund seines Verständnisses von Marktmechanismen erwartet Smith wiederum, daß das durch einen solchen Mechanismus jeweils hervorgebrachte Ordnungssystem aufs Ganze gesehen und langfristig eher zuträglich als schädlich sein wird. Da jede Person in all ihrem Handeln darauf aus ist, ihre eigene Lebenslage zu verbessern, werden die Verhaltensregeln und die Maßstäbe zu urteilen, die eine Gesellschaft entwikkelt, der Tendenz nach das Wohlergehen eines jeden befördern. 20 Selbstverständlich kann dieser Prozeß auf vielfache Weise gestört werden, und Smith ist sich dessen wohl bewußt. Aber im Hinblick auf die langfristigen Tendenzen ist er optimistisch. Obwohl Smith das Gegen18 Es ist nicht klar, ob bestimmte Aspekte – wie das Bedürfnis nach gegenseitiger gefühlsmäßiger Sympathie – für Ordnungssysteme, deren Entwicklung Smith beschreibt, tatsächlich notwendig sind. Obwohl Smith selbst möglicherweise der Auffassung war, es gäbe für das Vorhandensein dieses Bedürfnisses beim Menschen und für die vorteilhaften Ordnungssysteme, zu denen dieses Bedürfnis ganz natürlich führt, nur die Erklärung, Gott habe uns dieses Bedürfnis absichtlich eingepflanzt, ist die Frage offen, ob derartige Systeme auch dann entstehen würden, wenn dies kein unweigerlich gegebenes Merkmal des Menschen sei, oder wenn es ein zwar weit verbreitetes, aber nicht universales Merkmal des Menschen wäre usw. Vgl. dazu Axelrod 1984. 19 Wir sind nicht gezwungen, Smith die Auffassung zuzuschreiben, daß es hier um eine exakte mathematische Berechnung oder um die Summierung individueller Nützlichkeitsfunktionen geht, das zu liefern wäre wohl ohnehin unmöglich. Smith scheint jedoch zu glauben, wir könnten empirisch darüber urteilen, ob ein gegebenes Regelwerk dem menschlichen Wohlergehen förderlich ist oder nicht. Für hilfreiche Diskussionen dieses Aspekts danke ich Richard Richards und Samuel Fleischacker. 20 Maria Pia Paganelli hat überzeugend dafür argumentiert, daß der dezentrale Charakter von Entscheidungen, die das ganze System letztlich hervorbringen, in Smiths Argument eine Schlüsselrolle spielt. Diese Rolle hatte ich unterschätzt. Ein zentralisiertes Entscheidungssystem liefe ein viel größeres Risiko, langfristig und total zu scheitern, als ein dezentrales System. Vgl. Paganelli 2004.
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teil beteuert, 21 ist seine Moraltheorie ebenso wie seine ökonomische Theorie durch das Konzept der Nützlichkeit geprägt. Es kann freilich nicht oft genug betont werden, daß es ihm um eine empirische und pragmatische Rechtfertigung geht und nicht um eine direkte transzendente Rechtfertigung, wie man sie sich üblicherweise vorstellt.
III. Meiner Überzeugung nach hat Smith es von Anfang an auf die Analogie zwischen dem moralischen und dem ökonomischen Markt abgesehen. An anderer Stelle habe ich ausgeführt, daß genau diese Analoge seine beiden Bücher untergründig miteinander verbindet.22 Um die Einheit, die sie bilden, weiter zu veranschaulichen, will ich auf eine weitere eingehen, an der sich Smith ähnlicher Erklärungsstrategien bedient: auf seine Analyse der Entstehung von Preisen und deren Beziehung zu Werten. 23 Da jedermanns Motivation, wie Smith im Wohlstand der Nationen voraussetzt, letztlich darauf gerichtet ist, die eigene Lebenslage zu verbessern, wird der „Realpreis“ eines jeden Gutes für einen Menschen nach „der Anstrengung und Mühe“ bemessen, „die er zu ihrem Erwerb aufwenden muß“ (WN, I.v.2: 47; dt. 28). Jeder von uns stützt seine Entscheidung, ob er sich um etwas bemühen soll, auf eine – sei es bewußte oder unbewußte, sei es einfache oder komplizierte – Analyse, in der er die „Anstrengung und Mühe“, die er wird investieren müssen, abwägt gegen den Vorteil, den er sich davon verspricht: „Was Dinge wirklich für jemanden wert sind, der sie erworben hat und der über sie verfügen oder sie gegen etwas anderes tauschen möchte, sind die Anstrengung und Mühe, die er sich damit ersparen und die er anderen aufbürden kann.“ (WN, I.v.2: 47; dt. 28) Obwohl jedes Individuum dieses „wahre Maß“ für den Tauschwert von Gütern hat, kann der Marktpreis der fraglichen Güter davon erheblichen abweichen, wofür zahlreiche Faktoren verantwortlich sind (darunter insbesondere das Güterangebot auf dem Markt). So unterscheidet Smith den „natürlichen Preis“ eines 21 Vgl. IV.i-ii: 179–193; dt. 307–330. 22 Vgl. Otteson 2002a, i.b. Kap. 7. 23 Smith zufolge läßt sich dieses Modell auch auf Sprachen anwenden. Vgl. seinen Essay „Considerations Concerning the first Formation of Languages“ in LRBL, S. 205–226; zur weiteren Diskussion vgl. auch Otteson 2002b.
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Guts, der „Grundrente, Arbeitslohn und Kapitelgewinn“, die zur Herstellung des Gutes aufgewendet werden müssen, aufwiegt (WN, I.vii.4: 72; dt. 48 f.) – und den man daher auch als einen langfristigen Gleichgewichtspreis nennen kann –, von dessen „Marktpreis“, und dies ist der Preis, den ein Gut auf dem Markt tatsächlich erzielt. Das „Aushandeln und Feilschen auf dem Markt“ (WN, I.v.4: 49; dt. 29), von Smith spricht, ist nichts anderes als die oben beschriebene Verhandlung. Auf dem Marktplatz der Moral schwingt diese zwischen dem Urteil der hauptsächlich betroffenen Person und dem Urteil eines Beobachters hin und her, wobei sie sich allmählich um das Urteil des unparteiischen Zuschauers als Schwerpunkt einpendelt, bevor sie in dessen Nähe zum Stillstand kommt. Auf einem ökonomischen Markt schwingt die Verhandlung zwischen den Preisvorstellungen von Käufer und Verkäufer hin und her, wobei sie sich allmählich um den natürlichen Preis als Schwerpunkt einpendelt, bevor sie in dessen Nähe mit dem Marktpreis zum Stillstand kommt. 24 Der Vergleich zwischen den beiden Märkten, dem moralischen und dem ökonomischen, offenbart somit bemerkenswerte Ähnlichkeiten: Wiederum haben wir mit dem „Aushandeln“ auf dem Markt eine Instabilität auf der Mikroebene und darüber, auf der Makroebene, eine Stabilität in Gestalt relativ stabiler Güterpreise. So entsteht ein Preissystem, das relativ stabil ist, obwohl es auf Entscheidungen von Individuen beruht, die sich dabei von der ganz besonderen Einschätzung der eigenen Lebensumstände leiten lassen. Darüber hinaus sind Marktpreise so etwas wie objektiv feststellbare Tatsachen in der Welt, die keineswegs von irgend jemandes bloßer Meinung abhängen, obwohl sie aufgrund ihrer Genese in hohem Maße historisch kontingent und wandelbar sind. Was der von Babe Ruth handsignierte Baseball kostet, steht ungeachtet dessen fest, was irgend jemand darüber denkt. (Sollten jedoch alle oder wenigstens die meisten ihre Meinung über dessen Wert ändern, so wird sich das selbstverständlich auf den Marktpreis auswirken.) Wir haben es also wiederum mit einem System zu tun, das eine Objektivität des „Mittelwegs“ hervorbringt: Es gibt keinen „intrinsischen“ Preis (wie bei Cantillon [1755] 2001) und auch keinen „gerechten“ Preis (wie bei Thomas von Aquin); vielmehr stützt sich der natürliche oder Gleichgewichtspreis auf lokal wirkende Faktoren, deren Faktizität und Objektivität sie weder universell gültig noch transzendent sein lassen. Zugleich sind sie jedoch nicht willkürlich, und sie dür24 WN, I.vii.10–11: 75; dt. 50 und WN, I.vii.20: 77; dt. 52 f.
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fen auch nicht einfach ignoriert werden, denn das hätte erhebliche Kosten für einen selbst zur Folge und eine Verzerrung des Marktes. Genauso wenig darf man die schon seit langem bestehenden moralischen Regeln der eigenen Gesellschaft einfach ignorieren, weil das erhebliche Kosten für einen selbst zur Folge hätte und die Kohärenz des Moralsystems zerstören könnte.
IV. Ich möchte nun einen Einwand gegen Smiths Objektivität des „Mittelwegs“ geltend machen, der dem Einwand ähnelt, den Joseph Schumpeter seinerzeit gegen Smiths so genannte Arbeitswerttheorie vorgebracht hat. Nach Smith soll der Wert eines Dinges letztlich zurückführbar sein auf die Arbeit, die erforderlich ist, um es herzustellen oder auf den Markt zu bringen, 25 eine ‚Arbeit‘, die sich außerdem als Maßeinheit quantifizieren und überall anwenden lassen soll: „Arbeit allein ist somit der letzte und wirkliche Maßstab, nach dem der Wert aller Waren zu allen Zeiten und an allen Orten gemessen und verglichen werden kann“ (WN, I.v.7: 51; dt. 30 f.; vgl. auch I.v.17: 54; dt. 33 f.). Dieser Ansatz mag plausibel erscheinen, aber nur auf den ersten Blick. Schumpeter argumentiert dafür, daß Smiths Behauptungen, Arbeit variiere niemals in ihrem eigenen Wert und nur sie mache den realen Wert für Gebrauchsgüter aus, beide schlichtweg falsch sind;26 und damit hat er Recht: Es gibt eine Vielzahl von Indizes, im Hinblick auf die Arbeit variiert (wie Cantillon 27 im Unterschied zu Smith bemerkt hat). Deshalb ist Smiths Analyse zwar einfach, aber sie verschleiert die wirklichen Schwierigkeiten; und dieser Fehler hatte beträchtliche Folgen: Sowohl Ricardo als auch Marx haben von Smith die Idee übernommen, daß Arbeit mehr als nur ein geeigneter Standard oder Maßstab für den Wert von etwas ist, und außerdem die gehaltvollere und problematischere Idee, daß Arbeit diesen Wert bestimmt oder sogar damit identisch ist. 28 Die Wirtschaftswissenschaft 25 26 27 28
WN, I.v.2: 47; dt. 28. Vgl. Schumpeter 1954, S. 310. Vgl. Cantillon [1775] 2001, Essay 16. Schumpeter vertritt die These, allein Smiths Beispiel vom Biber und dem Hirsch hätte sie dazu inspiriert. Vgl. WN, I.vi.1: 65; dt. 42 und Schumpeter 1954, S. 310. Ich danke Vivienne Brown für hilfreiche Hinweise zu diesem Punkt.
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hat etwa ein Jahrhundert gebraucht, bis sie diesen Fehler schließlich erkannt und korrigiert hat. Ein vergleichbarer Einwand läßt sich gegen Smiths Sympathietheorie des moralischer Werts erheben: Die Voraussetzung, daß die Menschen in erster Linie durch das Verlangen motiviert werden, ein wechselseitiges sympathetisches Empfinden zu erreichen, und daß dieses Verlangen unsere moralischen Urteile und sozialen Bindungen zu erklären erlaubt, ist plausibel, aber nur als ein erster Schritt. Zunächst ist festzuhalten, daß wir ein sympathetisches Einvernehmen nicht mit jedermann anstreben, zumindest nicht in gleichem Maße. Also ist dabei irgendeine Diskriminierung im Spiel; und das wirft zwei zentrale Fragen auf: „Nach welchem Prinzip wird hier diskriminiert?“ und „Woher stammt dieses Prinzip?“ Meine Antwort beruft sich auf das „Prinzip der Vertrautheit“ (familiarity principle), welches besagt, daß wir nach Smiths Ansicht von Natur aus desto mehr imstande und auch geneigt sind, uns um das sympathetische Einvernehmen mit anderen zu bemühen, je vertrauter uns diese anderen sind. 29 Die Antwort mag hilfreich sein, aber sie ist unzureichend, weil wir offenbar sogar zwischen Personen diskriminieren, die uns gleichermaßen vertraut sind. Obgleich ich z. B. meine Mutter und meine Ehefrau etwa gleich gut kenne, wird sich das sympathetische Einvernehmen, das ich mit der einen suche, doch erheblich von dem unterscheiden, das ich mit der anderen suche. Damit komme ich zu einer weiteren wichtigen Überlegung: Die Art des sympathetischen Einvernehmens mit anderen, das man anstrebt, ist beeinflußt und auch abhängig von der Art der Beziehung, die man mit diesen anderen unterhält. Handelt es sich um einen Geschäftspartner, einen Freund oder einen Liebhaber? Eine Kollegin, eine Glaubensschwester, eine Parteifreundin – oder gar eine Konkurrentin oder Rivalin? Bin ich auf diese Person eifersüchtig oder beneide ich sie? 30 Faktische Umstände dieser Art sind nicht trivial: Auf signifikante Weise verändern sie nicht nur meine Motivation, mich auf ein sympathetisches Einvernehmen mit den betreffenden Personen einzulassen; sie färben auch ab auf die Art des Einvernehmens, das ich suche – wie intim oder wie weit gehend soll es sein? –, und darauf, mit Blick auf welche Gegenstände ich an solchem Einvernehmen interessiert bin. So 29 Vgl. Otteson 2002a, Kapitel 5. 30 Smith erwähnt an verschiedenen Stellen die verzerrenden Wirkungen des Neids, obwohl er leider nicht erklärt, wie es zu diesen Verzerrungen kommt. Vgl. in der Theorie der moralischen Gefühle z.B. I.iii.1.4–9: 44–46; dt.61–65; I.iii.2.1: 51; dt.71 f.; III.iii.9: 140; dt. 207; VI.ii.1.21: 226; dt. 384 f.; VI.iii.21: 246; dt. 415 f.; VI.iii.28: 250; dt. 423.
Adam Smith und die Objektivität moralischer Urteile: Ein Mittelweg
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kann ich z. B. sehr wohl auf ein sympathetisches Einvernehmen verzichten, wenn es um meinen Onkel und dessen politische Ideen geht, um meinen Schwager und dessen ästhetischen Geschmack oder um viele meiner Studenten und deren religiöse Ansichten, wiewohl ich an einem sympathetischen Einvernehmen mit ihnen allen durchaus interessiert sein kann, wenn es um andere Dinge geht. Es könnte mir an einem sympathetischen Einvernehmen mit einer meiner Studentinnen gelegen sein, wenn dieses die Trauer um den Verlust eines geliebten Menschen betrifft, aber dieses Einvernehmen sollte nicht so weit gehen oder so innig sein wie dasjenige, das ich mit meiner Ehefrau unter vergleichbaren Umständen suchen würde. Ein ebenso weit gehendes Einvernehmen mit der Studentin zu suchen hieße, in deren Privatsphäre einzudringen, und wäre daher unschicklich. Neben dem einfachen Streben nach einem wechselseitigen sympathetischen Einvernehmen und dem Prinzip der Vertrautheit sind hier also noch andere Prinzipien im Spiel. Deshalb ist Smiths Analyse unvollständig. Schumpeter würde sagen, sie sei auf eine charakteristische Weise oberflächlich. Was jedoch an Smiths Erklärung für Systeme allgemein geteilter moralischer Standards faktisch zutreffend ist, wird durch diesen Einwand nicht diskreditiert. (Das heißt, es kann immer noch wahr sein, daß diese Standards durch einen Smithschen Marktmechanismus entstehen – eine plausible These, wie ich finde.) Aber der Einwand läuft doch darauf hinaus, daß der tatsächliche Mechanismus komplizierter ist, als Smith uns glauben machen möchte. Deshalb ist bezeichnenderweise auch der von Smith behauptete Zusammenhang zwischen dem Befolgen der schon seit langem bestehenden moralischen Regeln unserer Gesellschaft und unserem Glück undurchsichtiger, als er zugibt. Mithin ist sein optimistisches Vertrauen in jene ohne jede Absicht durch das Wirken der „unsichtbaren Hand“ entstehenden Ordnungssysteme nicht besonders überzeugend. Gesetzt, Smith ist außerstande, die Prinzipien genauer anzugeben, welche diejenigen unserer Entscheidungen und Handlungen bestimmen, die im Laufe der Zeit und zusammen mit anderen Entscheidungen und Handlungen jene Ordnungssysteme entstehen lassen. Wie können wir dann sicher sein, daß diese Systeme gut sind, daß sie uns wirklich zum Vorteil gereichen? Woher wissen wir z. B., daß wir uns nicht systematisch darüber täuschen, was in Wahrheit gut für uns ist, weil neben dem Verlangen nach einem wechselseitigen sympathetischen Einvernehmen, das durch das Prinzip der Vertrautheit gleichsam moduliert wird, noch ganz andere Prinzipien in uns wirksam sind? Auch wenn wir die Bedeutung dieses Verlangens
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zugestehen, sind weitere Prinzipien im Spiel, die Smith weder aufgedeckt noch angesprochen hat. Mithin läßt er die Frage offen, ob die gegebenenfalls sich einstellenden Resultate der Verhandlungsprozesse auf dem Markt zu unserem Vorteil sind und darum für uns orientierende Standards sein können.
V. Abschließend möchte ich eine kurze, eher spekulative Betrachtung darüber anstellen, welchen historischen Stammbaum man für Smiths Ansichten über die Ursprünge dieser Großphänomene menschlichen Soziallebens konstruieren könnte. Ich denke, in Smiths Theorie können wir eine Position wiedererkennen, die in der Neuzeit erstmals Erasmus und Montaigne bezogen haben. 31 In der auf diese beiden zurückgehenden Tradition sah man in der Vielfalt menschlicher Lebensformen eine Stärke, weil man daran glaubte, daß ein friedliches Zusammenleben auch unter Menschen möglich sei, die in den wichtigsten Angelegenheiten, einschließlich der Religion und der Politik, entgegengesetzter Meinung sind. Diese optimistische Vision einer möglichen Harmonie wurde jedoch allem Anschein nach zu Beginn des 17. Jahrhunderts widerlegt: 1610 wurde der konziliante und in religiösen Fragen tolerante (und fast montaignesk zu nennende) König Henri IV. ermordet. Kurz darauf starb Henry Prince of Wales, der älteste Sohn von James I. und ein enger Freund von Henri IV., dessen aufgeklärte Ansichten über Toleranz und Frieden er teilte. Erbe des englischen Thrones wurde dadurch sein weit weniger toleranter Bruder Charles. Bald darauf brach der Dreißigjährige Krieg aus, in dessen Verlauf große Teile Europas durch blutige Auseinandersetzungen zwischen den Religionen verwüstet wurden, und der Englische Bürgerkrieg, der damit endete, daß das Volk seinen Monarchen enthauptete. Zu dieser ohnehin schon brisanten Gemengelage kamen dann noch jene bahnbrechenden astronomischen Entdeckungen hinzu, nach denen die Erde nicht länger als Zentrum des Universums gelten konnte. Angesichts alles dessen kann man verstehen, daß der Eindruck entstand, John Donne habe der vorherrschenden Stimmung Ausdruck verliehen, als er schrieb: 31 Ich beziehe mich hier zustimmend auf die Ausführungen in Toulmin 1990. Vgl. auch Schneewind 1990, Bd. I, i. b. S. 16–21.
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„’Tis all in peeces, all cohaerence gone; …“ 32
Alles schien auseinanderzufallen oder auf den Kopf gestellt zu werden. Der Optimismus eines Erasmus oder eines Montaigne schien vielen angesichts dieser disparaten Zustände nicht länger überzeugend, und so begannen philosophische Köpfe mit der Suche nach Gewißheit durch Universalität: Was sie haben wollten, waren ewige universelle Gesetze des Verhaltens für Himmelskörper ebenso wie für menschliche Wesen, und zwar Gesetze, die ein körperloser vernünftiger Verstand zu entdecken und zu verifizieren imstande wäre und die deshalb für alle Zeiten und für alle Orte gleichermaßen gelten würden. Das, so glaubten viele, würde die Ordnung einer in Unordnung geratenen Welt wiederherstellen. Aber Köpfe wie Smith (und David Hume, gar nicht zu reden von einer Reihe anderer Vertreter der Schottischen Aufklärung), waren offen für Anregungen der älteren Tradition. Mit Erasmus und Montaigne waren sie davon überzeugt, daß Analysen der sozialen Realität von Anthropologie und Geschichte nur profitieren könnten, daß sie eher partikularistisch als universalistisch anzulegen seien und Moralphilosophie und politische Theorie Differenzen zwischen Individuen und Gruppen ebenso berücksichtigen sollte wie Ähnlichkeiten zwischen ihnen. Smith war historisch belesen und daher wohl informiert über die Probleme, denen Europa in den beiden Jahrhunderten zuvor gegenübergestanden hatte. 33 Meines Erachtens verstand er seine Erklärung von Marktprozessen in der menschlichen Gesellschaft nicht nur als eine zutreffende Beschreibung der Tatsachen, sondern auch als einen Anstoß, zu der von Erasmus und Montaigne ausgegangenen Tradition zurückzukehren. Die Rückkehr sollte allerdings auch das Versprechen von Frieden und Stabilität einlösen, was ihm möglich schien, wenn diese Tradition ergänzt würde durch eine empirisch begründete Theorie der Hauptzüge der menschlichen Psychologie. Auch Smith ging es also um die Gewißheit, die das Desiderat anderer neuzeitlicher Denker war. Doch wollte er diese Gewißheit durch eine nüchterne Erklärung der wirklichen Institutionen erreichen, die menschliche Wesen aufgrund ihrer Natur unter den jeweils bestehenden Umständen und Beschrän32 Dieses Zitat stammt aus dem Gedicht An Anatomy of the World von 1611, V. 213: Donne, Poems ed. G., Bd. I, S. 237. In deutscher Übersetzung heißt das in etwa: „Es liegt alles in Stücken, kein Zusammenhalt mehr.“ 33 Man erinnere sich daran, daß die Schlacht von Culloden zu Smiths Lebzeiten geschlagen worden war, nur 13 Jahre vor der ersten Publikation der Theorie der moralischen Gefühle.
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kungen zu schaffen fähig waren. Mit den von ihm entwickelten MarktModellen beabsichtigte er, die von Menschen geteilten moralischen Urteile und die auf diesen beruhenden politischen Institutionen zu erklären. Damit wollte er aufzeigen, wie moralische Institutionen zugeschnitten sein müßten, um die Verbindung zwischen unserem System der Moralität und unserem Glück so eng wie möglich zu halten. In derselben Weise sollte dadurch deutlich werden, wie politische Institutionen gestaltet sein müßten, um die Verbindung zwischen unserem System der politischen Ökonomie und den Grundbedürfnissen der Menschen nach einer Verbesserung ihrer Lebensbedingungen so eng wie möglich zu halten. Für Smith ist Moralität daher eine irdische, durchaus menschliche Angelegenheit, was nicht bedeutet, daß sie in irgendeinem unziemlichen Sinne „relativ“ oder „subjektiv“ wäre. Aus diesem Grund ist auch die politische Ökonomie eine eher lokale Angelegenheit, was nicht bedeutet, daß sie deshalb machiavellistisch oder amoralisch würde. Es bedeutet vielmehr, daß Moralphilosophie und politische Theorie – wie einst schon Protagoras zu Platos Mißvergnügen geltend gemacht hat – aus der Kenntnis der menschlichen Geschichte zu entwickeln sind und in der Bindung an ein empirisch fundiertes Verständnis der menschlichen Natur ihre Grenzen erkennt. 34 So hat Smith sich selbst verstanden; und seine Hoffnung, damit richtig zu liegen und so die Mechanismen entdeckt zu haben, die das Glück der Menschen wirklich befördern, begründete seinen qualifizierten Optimismus mit Blick auf die Zukunft der Menschheit. 35 (Übersetzt von Christel Fricke und Hans-Peter Schütt)
34 Vgl. Taylor 1999, i. b. Kapitel 3. 35 Ich danke Vivienne Brown, Max Hocutt, Richard Richards und den Teilnehmern an dem Heidelberger Kolloquium Adam Smith als Moralphilosoph im Juni 2003 für hilfreiche Anmerkungen zu einer früheren Fassung dieses Aufsatzes.
Genesis und Geltung moralischer Normen – Ein Gedankenexperiment von Adam Smith Christel Fricke / Universitetet i Oslo Normen sind Prinzipien menschlichen Handelns und menschlicher Kooperation. Wer sich anheischig macht, moralische Normen zu begründen, muß drei Aufgaben lösen: Er (oder sie) muß erstens erklären, welche Normen moralisch sind (schließlich sind nicht alle Normen menschlichen Handelns moralisch), zweitens, warum sie für alle zurechnungsfähigen und selbstverantwortlichen Menschen verbindlich sind, und drittens, wie sie motivational wirksam sein können. Während die erste Aufgabe die inhaltliche Bestimmung moralischer Normen betrifft, geht es in der zweiten und dritten Aufgabe um deren Autorität und psychische Wirksamkeit. Ihrem Inhalt nach schreiben moralische Normen uns Handlungen vor, die unserem friedlichen und angstfreien Zusammenzuleben mit den anderen Mitgliedern der Gesellschaft förderlich sind. Insofern gesellschaftlicher Friede und gegenseitiges Vertrauen Voraussetzungen für gesellschaftlichen Wohlstand und das Wohlergehen der Gemeinschaft sind, haben wir allen Grund, uns in unserem Handeln nach moralischen Normen zu richten. Unser alltägliches Handeln als Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft, in der viele in relativem Wohlstand leben, unsere alltägliche Kooperation mit denen, mit denen wir privat und beruflich zu tun haben, entspricht denn auch oft genug moralischen Normen – wenn auch mehr oder weniger gut begründete Ängste vor Wohlstandsverlust und der mit diesen Ängsten oft einhergehende Verlust gegenseitigen Vertrauens unsere Bereitschaft zu moralisch korrektem Handeln zu schmälern drohen. Daß wir uns unter entsprechend günstigen äußeren Bedingungen durchaus moralisch korrekt verhalten, wird in einer von der christlichen Kultur und ihrem Bild des Menschen als Sünder geprägten Gesellschaft manchmal übersehen. Darin, daß moralische Normen eine Verpflichtung bedeuten, die zu erfüllen uns auch unter günstigen äußeren Bedingungen nicht immer
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leicht fällt, manifestiert sich jedoch nicht nur ein christliches Vorurteil. Denn wenn wir handeln, dann geht es uns nicht immer und nicht in erster Linie darum, das Gemeinwohl zu befördern. Ohnehin dürfte die Vorstellung des Gemeinwohls zu unbestimmt sein, um als Anleitung zu konkretem Handeln zu dienen. Es geht uns in unserem konkreten Handeln viel mehr um unser eigenes Wohl und das Wohl derjenigen, mit denen wir in verwandtschaftlicher oder wahlverwandtschaftlicher Liebe und Freundschaft verbunden sind, sowie derjenigen, mit denen wir es uns aus pragmatischen Gründen nicht verderben wollen. Es ist dabei nicht ausgeschlossen, daß das Interesse einer Person oder einer begrenzten Gruppe von Personen an ihrem eigenen Wohl und das Interesse einer anderen Person oder einer anderen Gruppe von Personen an ihrem eigenen Wohl konfligieren. Es sind vornehmlich Interessenkonflikte zwischen einzelnen Personen oder Gruppen in einer Gesellschaft, die uns dazu motivieren können, gegen moralische Prinzipien zu verstoßen. Und es sind derartige Konfliktsituationen, in denen sich die Autorität und besondere motivationale Wirksamkeit moralischer Normen bewähren müssen: Diese Normen müssen den Weg zu einer einvernehmlichen und von den Konfliktparteien gleichermaßen als fair verstandenen Lösung weisen, und sie müssen die Autorität haben, die Konfliktparteien dazu zu bewegen, diesen Weg auch tatsächlich zu beschreiten. Wir sind auch dann verpflichtet, moralische Normen zu befolgen, wenn wir dabei auf die Verwirklichung bestimmter Privatinteressen ganz oder teilweise verzichten müssen. Letztlich hängt das Gemeinwohl davon ab, ob sich die Konflikte zwischen Einzelnen oder begrenzten Gruppen einvernehmlich bereinigen lassen. 1 Kurz gesagt: Moralische Normen können einer Person in einer bestimmten Handlungssituation etwas zu tun vorschreiben, das sie aus bloßem Eigen- oder Gruppeninteresse nicht machen würde. Daher müssen diese Normen mit einer Autorität und psychischen, motivationalen Wirksamkeit ausgestattet werden, die es ihnen erlauben, sich im Konfliktfall gegen die im Privat- oder Gruppeninteresse manifesten motivationalen Kräfte durchzusetzen. Diese inhaltlichen und motivationalen Konflikte müssen berücksichtigt werden, wenn die drei genannten Aufgaben gelöst werden sollen, die mit der Begründung moralischer Normativität verbunden sind. Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als sei Adam Smith in seiner Theorie der moralischen Gefühle allenfalls mit der dritten dieser 1 Auf die moralisch relevanten Probleme, die sich aus Konflikten zwischen verschiedenen Interessen einer einzelnen Person ergeben können, gehe ich hier nicht ein.
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Aufgaben beschäftigt. Auf vielen Seiten erörtert er, aus welchen Motiven sich Menschen so verhalten, wie sie sich verhalten. Daß es ihm in diesem Buch jedoch nicht nur um deskriptive Psychologie, sondern tatsächlich um normative Moralphilosophie geht, um die Begründung moralischer Normen, will ich in diesem Beitrag zu zeigen versuchen. Unter moralischen Normen versteht Smith vor allem Prinzipien einvernehmlicher Konfliktlösung. Wer sich in seinem Handeln von vornherein an diesen Prinzipien orientiert, trägt das Seine dazu bei, vermeidbare moralische Konflikte gar nicht erst entstehen zu lassen. Konflikte zwischen Menschen ergeben sich unter historisch und sozial kontingenten Bedingungen. Wer, wie Smith, moralische Prinzipien als Prinzipien der Konfliktlösung versteht, muß mit dem Verdacht rechnen, diese Prinzipien selbst als kontingent zu begreifen, als Produkte eines historisch, geographisch und sozial beschränkten Konsenses, die nicht zu allgemein gültigen Urteilen darüber berechtigen, was für alle Menschen moralisch geboten, erlaubt oder verboten ist. Smith redet in seiner Theorie der moralischen Gefühle aber keinem moralischen Relativismus das Wort. Vielmehr ähnelt sein Anliegen demjenigen, das Kant mit seiner Kritik der praktischen Vernunft verfolgt hat: Es geht ihm um die Begründung allgemein verbindlicher moralischer Normen. Smith stimmt mit Kant jedoch nicht nur in der Auffassung überein, moralische Normen seien für alle Menschen verbindlich (zumindest für alle diejenigen, die zurechnungsfähig und zu selbstverantwortlichem Handeln in der Lage sind). Beide lehnen es außerdem ab, die Quelle von Inhalt und Autorität moralischer Normen in eine dem Menschen externe, transzendente Autorität, einen Gott oder Leviathan zu verlegen. Für beide kommt nur der Mensch als eine solche Quelle in Frage. Auf die Fragen, „Was ist der Mensch?“ und „Was befähigt den Menschen dazu, als Quelle moralischer Normativität zu fungieren?“, geben Smith und Kant allerdings ganz verschiedene Antworten. Für Smith ist der Mensch mit all seinen Fähigkeiten und Talenten ein Teil der belebten Natur, ein Lebewesen, das nicht nur bestimmte Wahrnehmungsund Empfindungsvermögen hat (wie andere höher entwickelte Tiere), sondern auch rational ist. Die Rationalität des Menschen versteht Smith im Sinne der theoretischen und instrumentellen Rationalität, d. h. als ein Denkvermögen, das dazu befähigt, Sachverhalte begrifflich zu erfassen, kausale Zusammenhänge zu erkennen und induktive Schlüsse zu ziehen. Kant dagegen versteht den Menschen als ein zwiespältiges Wesen: zu seiner Natur gehören sowohl tierische als auch vernünftige Elemente. Nur als tierisches Wesen ist der Mensch Teil der belebten
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Natur; Kraft seiner Vernunft ist der Mensch befähigt, sich über diese Natur und den in ihr herrschenden Mechanismus zu erheben und sich selbst zu freiem Handeln zu bestimmen. Diese Vernunft ist nicht die instrumentelle Rationalität, sondern ein Vermögen der Autonomie. Der Verzicht auf eine transzendente Quelle moralischer Normativität, auf eine mit Allwissenheit und Allmacht ausgestattete Instanz, macht bei der Begründung dieser Normen Abstriche erforderlich. Smith nimmt diese Abstriche an einer ganz anderen Stelle vor als Kant– weshalb Kant Smiths Begründung moralischer Normativität für unzureichend hielt. 2 Kant war der Auffassung, moralische Normen bedürften einer apriorischen Deduktion, einer Ableitung aus reiner Vernunft. Nur durch eine solche Deduktion glaubte er, den Status dieser Normen als Gesetze sicherstellen zu können, die ebenso unumstößlich gelten wie die Naturgesetze und daher über jeden Verdacht erhaben sind, lediglich Produkte eines kontingenten gesellschaftlichen Konsenses zu sein. Dafür nahm er zum einen in Kauf, diese Normen nur ihrer Form nach a priori bestimmen zu können, und zum anderen, ihre motivationale Kraft als eine Kraft zu analysieren, die der Kraft des Privatinteresses entgegensteht und mit ihr (bzw. gegen sie) bei der Bestimmung des menschlichen Willens konkurrieren muß. 3 Smith war im Vergleich mit Kant wesentlich pragmatischer. Moralische Normen müssen inhaltlich bestimmt und motivational wirksam sein, weil sie nur so zur Lösung von Interessenkonflikten anleiten können. Sie entstehen in intersubjektiven Prozessen der Kooperation und Konsensfindung. Eine Analyse ihrer Genesis führt zu einer Rechtfertigung ihrer Geltung ebenso wie zu einer Erklärung ihrer motivationalen Wirksamkeit. Zwar stimmt Smith mit Kant darin überein, daß moralische Normen für alle Menschen ohne jeden Unterschied verbindlich sind. Aber was die Menschen mögliche Begründung dieses Anspruchs betrifft, war Smith bescheidener als Kant. Eine Letztbegründung der unumstößlichen Geltung inhaltlich bestimmter moralischer Normen hielt er nicht für möglich. Er nimmt in Kauf, daß die Normen, die in einer Gesellschaft als moralisch angesehen werden, nie über den Verdacht erhaben sein können, nicht mehr zu sein als Produkte eines kontingenten Konsenses. Charles Griswold hat ihn daher einen moralphilosophischen Skeptiker genannt. 4 Aber seine skeptische Einschätzung der menschlichen Fähig2 Vgl. seine Einleitung in die Metaphysik der Sitten, AA VI, 216. 3 Vgl. Fricke 2001b und Fricke 2005. 4 Vgl. Griswold 1999. Kap. 4.
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keit, für die Geltung bestimmter moralischer Normen eine Letztbegründung zu geben, läßt ihn nicht an der allgemeinen Verbindlichkeit dieser Normen zweifeln. Vielmehr sieht er in der menschlichen Unfähigkeit zu moralischer Letztbegründung einen Grund für moralische Toleranz und für den Verzicht auf jeden moralischen Rigorismus. Ähnlich wie Kant die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten beginnt Smith die Theorie der moralischen Gefühle mit einer These, die für die in der jeweiligen Folge entwickelte Begründung moralischer Normen von zentraler Bedeutung ist. Aber während Kant mit dem „guten Willen“ ein moralisches Ideal einführt, von dem zunächst gar nicht klar ist, ob der Standard, der damit gesetzt wird, für menschliches Handeln maßgeblich sein kann, beginnt Smith mit einer anthropologischen These: Mag man den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein. (I.i.1.1: 9; dt. 3)
Dieser These zufolge hat ein Mensch von Natur aus zwei Arten von Bedürfnissen oder Interessen: Zum einen ist der Mensch von Natur aus „egoistisch“, er hat Bedürfnisse und Interessen, deren Befriedigung auf sein eigenes Wohlergehen zielt, zum anderen hat er Bedürfnisse und Interessen, deren Befriedigung von dem Wohlergehen seiner Mitmenschen abhängt. Neben seinem natürlichen Egoismus hat der Mensch also Smith zufolge eine zweite natürliche Disposition, die sein Empfinden und Verhalten bestimmt; diese Disposition beschreibt er zunächst als pity („Erbarmen“) und compassion („Mitleid“), später nennt er sie meistens sympathy („Sympathie“). In der Folge seiner Ausführungen beschäftigt Smith sich vornehmlich mit der „Sympathie“ genannten Disposition, während er den menschlichen Egoismus eher vernachlässigt. Das ist nicht verwunderlich. Wendet er sich doch mit der Ausgangsthese seiner Theorie der moralischen Gefühle unter anderen an die Anhänger eines Hobbesschen Menschenbildes. Daß Menschen von Natur aus einander weitgehend gleich und insbesondere gleich egoistisch sind, ist die zentrale These der Hobbesschen Anthropologie. Dieser Anthropologie wollte sich kaum jemand anschließen, zeichnete sie doch ein wenig attraktives Bild des Menschen. Dennoch konnte nach Hobbes niemand mehr die Tatsache ignorieren, daß unter den Kräften, die den menschlichen Willen bestimmen, der Egoismus eine zentrale Rolle spielt. Gegen die Hobbesianer wendet Smith ein, daß
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sich die natürlichen Empfindungs- und Verhaltensdispositionen eines Menschen nicht alle auf den einen Nenner des Egoismus bringen lassen. Davon, daß Menschen von Natur aus auch mit Sympathie begabt sind, wollte er seine Leserinnen und Leser überzeugen. Zu diesem Zweck führt er Beispiele an und appelliert an seine Leserschaft, sich an eigene, emotionale Erfahrungen zu erinnern, die seine These, die Sympathie gehöre zu den menschlichen Grunddispositionen, bestätigen. Er erweckt somit zunächst den Anschein, als ginge es ihm nur um ein Anliegen der Anthropologie und empirischen Psychologie. Smith interessiert sich aber nicht nur deshalb so nachdrücklich für die menschliche Sympathie, weil er die Natur des Menschen richtig und vollständig beschreiben will. Er verfolgt damit eine normative Absicht. In der natürlichen Sympathie des Menschen nämlich liegt, so Smith, der Keim seiner Moralität. Menschen sind von Natur aus gleich; darin stimmt Smith mit Hobbes überein. Sie sind jedoch, so Smith gegen Hobbes, nicht nur gleich egoistisch, sondern auch gleich sympathiebegabt. Und nur weil sie alle gleichermaßen sympathiebegabt sind, können sie sich zu moralischen Personen entwickeln. Zum Zweck der Begründung dieser These stellt Smith in der Theorie der moralischen Gefühle ein Gedankenexperiment über Genesis und Geltung moralischer Normen an, dessen leitende Ideen ich im folgenden skizzieren will. Smiths Konzept der Sympathie hat wenig mit unserem heutigen, umgangssprachlichen Verständnis von Sympathie zu tun. Sympathie für eine Person zu empfinden heißt für Smith nicht, diese Person sympathisch, d. h. nett zu finden. Um mit einer Person sympathisieren zu können, müssen wir sie nicht einmal persönlich kennen. Sympathie ist für Smith auch nicht einfach eine Disposition zu altruistischen Empfindungen und Handlungsmotiven, obwohl er dies mit der Anfangsthese der Theorie der moralischen Gefühle nahezulegen scheint. Auch die Umschreibung der Sympathie mit „Erbarmen“, „Mitleid“, „Mitgefühl“ oder „Empathie“ kann in die Irre führen. 5 Sympathie für andere Betroffene zu empfinden heißt für Smith nämlich nicht einfach, sich in ihre Lage zu versetzen, um vorbehaltlos und nach besten Kräften wie sie zu empfinden. Smith macht unsere Fähigkeit und Bereitschaft zum Mitfühlen, zum Sympathisieren mit anderen abhängig von der „Angemessenheit“ (propriety) ihrer Empfindungen, ihrer affektiven Reaktion 5 Zur Kritik an einem Verständnis der Smithschen Sympathie als Empathie vgl. auch Lindgren 1973, Kap. 2.
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auf die Situation, von der sie betroffen sind. 6 Als Sympathisantinnen und Sympathisanten identifizieren wir uns nicht vorbehaltlos mit anderen Betroffenen, wir nehmen nicht ihren subjektiven und perspektivisch beschränkten Standpunkt der Betroffenheit ein, sondern bemühen uns, sie in ihrer besonderen Lage von einem objektiven Standpunkt aus zu betrachten, der nur unter Berücksichtigung vieler verschiedener Standpunkte bestimmt werden kann. Diesen Standpunkt analysiert Smith als Standpunkt eines „unparteiischen Zuschauers“ (impartial spectator). 7 Wir sympathisieren mit Betroffenen in ihren affektiven Reaktionen nur dann, wenn uns von diesem unparteiischen Standpunkt aus ihre Empfindungen der Freude oder des Kummers, der Dankbarkeit oder des Übelnehmens angemessen erscheinen. Und nur im Fall unparteiischer Sympathie billigen wir ihr weiteres Verhalten, ihr in diesen Empfindungen gründendes Wollen und Handeln. Als Keim zur Ausbildung einer moralischen Persönlichkeit und moralischer Normen kann die Sympathiedisposition nur fungieren, weil sie an die Angemessenheit von Empfindungen und die Unparteilichkeit der Beurteilung dieser Angemessenheit gebunden ist. Im Sympathisieren mit den Empfindungen einer anderen Person kommt eine normative Beurteilung der Empfindungen dieser Person zum Ausdruck, eine Billigung ihres Empfindens als der Situation, in der sie diese Empfindungen hat, angemessen. Wenn diese Billigung von einem Standpunkt der Unparteilichkeit aus erfolgt, ist sie nicht bloß Ausdruck einer subjektiven Wertschätzung, sondern beruht auf einer allgemein gültigen, normativen Beurteilung. Eine solche Beurteilung ist eine Beurteilung nach moralischen Normen. Diese Skizze von Smiths Projekt einer Fundierung moralischer Urteile in den Sympathieempfindungen eines unparteiischen Zuschauers läßt zunächst drei Fragen dringlich erscheinen: Der unparteiische Zuschauer urteilt über die Angemessenheit von Empfindungen betroffener Personen nach Maßstäben, die moralische Normen sein sollen; woher nimmt er diese Maßstäbe? Wer ist überhaupt der unparteiische Zuschauer? Und was macht die Maßstäbe der Angemessenheit von Empfindungen allgemein gültig, was macht sie zu moralischen Normen? Die naheliegende Antwort auf die erste dieser Fragen scheint geradewegs in einen Zirkel zu führen. Dem unparteiischen Zuschauer steht nämlich als Maßstab für die Angemessenheit der affektiven Reaktion 6 Vgl. I.i.3 u. ö. 7 Vgl. I.i.5.4: 24; dt. 28 u. ö.
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eines Betroffenen nichts anderes zur Verfügung als seine eigene Fähigkeit oder Bereitschaft, mit diesem zu sympathisieren. Der unparteiische Zuschauer sympathisiert nur mit angemessenen Empfindungen Betroffener, angemessen aber sind diejenigen Empfindungen Betroffener, mit denen ein unparteiischer Zuschauer sympathisiert oder sympathisieren kann. 8 Gibt es einen Ausweg aus diesem Zirkel? Wie kann eine Person, die anderen Personen, die als Betroffene in eine bestimmte Situation involviert sind, zuschaut und deren Empfindungen nach Maßgabe ihrer eigenen Erfahrungen in vergleichbaren Situationen als angemessen oder unangemessen beurteilt, überhaupt zu einem unparteilichen Urteil kommen? Ist der unbeteiligte Zuschauer nicht in hohem Maß parteilich, wenn er sich selbst, seine eigenen Erfahrungen, seine eigenen Empfindungen als Betroffener, zum Maßstab dessen macht, was einer Situation angemessene Empfindungen sind? Bei Smith tritt der unparteiische Zuschauer nicht, wie etwa der Gesetzgeber in Rousseaus Staatstheorie, als ein allwissender deus ex machina auf. Niemand kann allein für sich beanspruchen, den unparteiischen Zuschauer zu verkörpern. Es wird auch niemand zum unparteiischen Zuschauer berufen oder allein mit der Ausarbeitung von Normen unparteiischer Beurteilung der Angemessenheit von Empfindungen und Handlungen beauftragt. Wer aber ist der unparteiische Zuschauer? Die paradox anmutende Antwort auf diese Frage lautet: entweder niemand, oder alle (oder doch die meisten) zusammen. Unparteiliche Sympathieempfindungen und sich auf sie gründende intersubjektiv und allgemein gültige moralische Urteile sind Smith zufolge nicht jederzeit oder ad hoc möglich, sondern nur als Resultat eines interaktiven Prozesses, an dem im Idealfall alle Menschen beteiligt sind und in dessen Verlauf allgemein gültige moralische Normen konstituiert werden. Oder anders gesagt: Der Standpunkt des unparteiischen Zuschauers ist uns nicht einfach vorgegeben wie der meeting-point in einem Flughafengebäude; wir können ihn nur gemeinsam bestimmen. Diese Bestimmung erfolgt nicht in Form eines Vertragsschlusses, sondern durch einen interaktiven Prozeß des Interessenausgleichs und der Konsensfindung, in dem alle Beteiligten zunächst nach dem Prinzip trial and error verfahren, an dem im Idealfall alle beteiligt sind und von dem im konkreten Einzelfall niemand ausgeschlossen werden darf. Allerdings sollte dieser Prozeß nicht als ein Prozeß der historischen Ge8 Vgl. zu dem Verdacht eines Zirkels in Smiths Erklärungen von Angemessenheit und Unparteilichkeit auch Otteson 2002a, S. 106.
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nese moralischer Normen mißverstanden werden. Er ist vielmehr Gegenstand eines Gedankenexperiments, das sich aus Smiths Theorie der moralischen Empfindungen rekonstruieren läßt. In diesem Prozeß treten Personen in drei verschiedenen Funktionen oder Rollen auf: als Akteure, als von den Konsequenzen von Handlungen der Akteure Betroffene und als unbeteiligte Zuschauer der Interaktion zwischen Akteuren und Betroffenen. Der Betroffene empfindet Dankbarkeit oder Übelnehmen in bezug auf den Akteur; dabei hängt die Intensität seiner Empfindungen von dem Grad des durch den Akteur erlittenen Vorteils oder Schadens ab, wie er ihn aus seiner subjektiven Perspektive erlebt. Diese Perspektive wird wesentlich von der Situation und seinen jeweils bestehenden persönlichen Interessen und Bedürfnissen geprägt. Wenn ich z. B. mit jemandem ein Treffen verabredet habe und dieser die Verabredung kurzfristig absagt oder gar ohne Absage nicht einhält, dann ärgert mich das mehr oder weniger, je nachdem, wie sehr mir an dem Zustandekommen des Treffens gelegen war und wieviel Mühe es mich gekostet hat, dieses Treffen selbst zu ermöglichen. Wenn mich eine Freundin versetzt, die ich auf dem Rückweg von der Arbeit in einem Café zu einem vergnüglichen Gespräch treffen wollte, dann nehme ich ihr das nicht weiter übel. Wenn ich mir aber extra ein paar Tage frei nehme und eine Reise unternehme, um an einem entfernten Ort jemanden zu einem Gespräch zu treffen, das aus irgendeinem Grund für mich besonders wichtig ist und das diese Person mir zugesagt hat, dann werde ich mich sehr ärgern, sollte diese Person die Verabredung nicht einhalten. Art und Intensität der Empfindungen der von den Konsequenzen einer Handlung betroffenen Person bestimmen deren reaktives und vergeltungsorientiertes Verhalten. Ihre Dankbarkeit und ihr Übelnehmen sind, weil sie von ihren persönlichen Interessen und Bedürfnissen geprägt sind, zunächst in hohem Maße parteilich. Ebenso wie die Betroffene ist auch der Akteur zunächst nichts anderes als ein parteilicher Vertreter seiner Interessen. Smith betrachtet zwei Arten von Interaktion zwischen Akteur und betroffener Person: konfliktfreie (die Betroffene empfindet Dankbarkeit), und konfliktträchtige (die Betroffene nimmt dem Akteur sein Handeln übel, weil sie sich von dessen Konsequenzen geschädigt fühlt). Für die Konstitution von moralischen Normen sind vor allem die konfliktträchtigen Interaktionen von Interesse, denn wo keine Konflikte zwischen Personen auftreten, werden moralische Normen als Prinzipen einvernehmlicher Konfliktlösung und konfliktvermeidenden Handelns nicht benötigt. Im Paradies braucht
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niemand moralische Prinzipien. 9 Konfliktfälle zwischen einem Akteur und einem Leidtragenden bilden den Ausgangspunkt des Smithschen Gedankenexperiments. Wie aber kann es in einem Fall, in dem eine betroffene Person einem Akteur die Konsequenzen seines Handelns übel nimmt und dadurch selbst zu einem vergeltenden Handeln motiviert wird (das ihr der andere dann wieder übel nimmt – hier tauschen Akteur und Betroffene sozusagen ihre Rollen), zu einer Vermeidung der Konfliktiteration und zu einer Bereinigung des ursprünglichen Konflikts kommen, den beide Konfliktparteien akzeptieren können? Hier kommt nun der Zuschauer ins Spiel. Mit seinem Auftritt beginnt die zweite Phase des Smithschen Gedankenexperiments. Der Zuschauer verfügt über ein kognitives Potential, das bei den Konfliktparteien auf fruchtbaren Boden trifft: Denn da sie mit dem natürlichen Vermögen der Sympathie begabt sind, leiden sie unter dem Konflikt und sind daher bereit, sich auf Vermittlungsvesuche des Zuschauers einzulassen. Smith versteht einen moralisch relevanten Konflikt zwischen Personen, der sich darin manifestiert, daß die eine Person der anderen etwas übel nimmt, als eine Meinungsverschiedenheit besonderer Art: Die Konfliktparteien vertreten unterschiedliche Auffassungen dessen, was für ein Empfinden und Verhalten für jede von ihnen in der Konfliktsituation angemessen ist. Jeder Konfliktpartei erscheint das eigene Verhalten angemessen, das der anderen Partei unangemessen. Was diese Meinungsverschiedenheit von anderen Arten von Meinungsverschiedenheit unterscheidet, ist, daß sie auf der Unterschiedlichkeit der persönlichen Bedürfnisse und Interessen beider Konfliktparteien beruht. Beide Parteien sehen in der Konfliktsituation das eigene Wohlergehen in Gefahr und versuchen, es zu verteidigen. Ihre persönlichen Interessen verstellen ihnen sozusagen den Blick darauf, was für ein Verhalten in der Situation tatsächlich angemessen wäre. Daher benötigen sie die Vermittlung durch einen Zuschauer. Denn dieser ist, allein weil er unbeteiligt ist, weil in der Konfliktsituation, deren Zeuge er ist, seine eigenen Bedürfnisse und Interessen, sein eigenes Wohlergehen nicht auf dem Spiel stehen, zu einem objektiven, allgemein gültigen Urteil darüber, was für ein Verhalten dieser Situation angemessen wäre, in der Lage. Allerdings garantiert seine Unbeteiligtheit noch nicht seine Unparteilichkeit in dem von Smith angenommenen, normativen Sinn: Seine Nicht-Parteilichkeit legt ihn zwar nicht auf einen bestimmten Standpunkt fest, befähigt ihn aber auch nicht ohne weiteres zu einem 9 Vgl. Hume, EPM 3.1, S. 13–15 (Enq., S. 183–187).
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objektiven, hinreichend viele Standpunkte tatsächlich berücksichtigen Urteil. Schließlich kann sich auch der unbeteiligte Zuschauer in seinem Urteil darüber, was für ein Verhalten in einer Situation angemessen ist, irren – und dies nicht zuletzt deshalb, weil er sich in seinem Urteil an Erfahrungen orientiert, die er selbst zuvor in ähnlichen Situationen aus der Perspektive eines Konfliktbeteiligten, als Betroffener oder als Akteur, gemacht hat. Aber er kann sich als Unbeteiligter, der nicht durch seine persönlichen Bedürfnisse und Interessen auf einen bestimmten Standpunkt festgelegt ist und daher die Situation von verschiedenen Standpunkten aus betrachten kann, mit mehr Aussicht auf Erfolg darum bemühen, unparteilich zu urteilen, als es den am Konflikt direkt Beteiligten möglich ist. Wie genau interagieren nun ein Betroffener und ein Akteur, zwischen denen ein Interessenkonflikt besteht, und ein unbeteiligter Zuschauer in der zweiten Phase des Smithschen Gedankenexperiments? Und wie kommt es im Prozeß ihrer Interaktion schließlich zu der dritten, der entscheidenden Phase, zur Bestimmung eines Standpunkts der Unparteilichkeit, zur Konstitution von objektiven moralischen Normen, von allgemein gültigen Prinzipien, die bestimmen, welche Art von Verhalten in welcher Art von Situation dieser Art Situation tatsächlich angemessen ist? Die Antwort auf diese Fragen läßt sich aus einem Abschnitt der Theorie der moralischen Gefühle rekonstruieren, in dem Smith das Urteil eines unparteiischen Zuschauers mit Urteilen vergleicht, wie sie in den Bereichen der Wissenschaft und des ästhetischen Geschmacks von Expertinnen und Experten in den jeweiligen Disziplinen gefällt werden. Zunächst stellt Smith einen zentralen Unterschied zwischen Gegenständen wissenschaftlicher Beurteilung und ästhetischer Geschmacksbeurteilung auf der einen Seite und Gegenständen auf der anderen Seite fest, wie sie ein unparteiischer Zuschauer beurteilt. Während letztere Handlungen von Personen in bestimmten Situationen sind, von deren Konsequenzen andere Personen in ihren persönlichen Bedürfnissen und Interessen betroffen sind, beziehen sich wissenschaftliche und ästhetische Urteile auf Gegenstände, die niemandes persönliche Bedürfnisse und Interessen direkt betreffen.10 Wir alle betrachten die Gegenstände wissenschaftlicher und ästhetischer Urteile „vom 10 Dies ist eine Voraussetzung, die Smith in diesem Abschnitt macht. Die Frage, wie berechtigt sie ist, d. h. die Frage nach der Interesselosigkeit wissenschaftlicher und ästhetischer Urteile, lasse ich hier unberücksichtigt.
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gleichen Gesichtspunkt“ („from the same point of view“, I.i.iv.2: 19; dt. 20), die „Empfindungen“ (sentiments), auf die wir diese Urteile gründen, sind perzeptive Empfindungen, Empfindungen der sinnlichen Wahrnehmung. Perzeptive Empfindungen, wie sie verschiedene Personen angesichts desselben Gegenstandes ihrer Wahrnehmung haben, sind nicht wesentlich voneinander verschieden. Dagegen betrachten wir Handlungen (unsere eigenen und die anderer Personen) und deren Konsequenzen von jeweils verschiedenen Standpunkten aus, die von unserer je verschiedenen, persönlichen Bedürfnis- und Interessenlage bestimmt sind. Die „Empfindungen“ (sentiments), auf die wir unsere Urteile über diese Handlungen gründen, sind nicht nur Empfindungen der sinnlichen Wahrnehmung, sondern auch Emotionen oder Gefühle. 11 Wenn verschiedene Personen von verschiedenen Standpunkten aus eine und dieselbe Handlung betrachten, sind ihre emotionalen Empfindungen von dieser Handlung wesentlich voneinander verschieden. Denn eine Person, die als Handelnde oder Betroffene mit einer Handlung zu tun hat, betrachtet diese nicht nur als ein wahrnehmbares Ereignis in der Welt; für sie sind die Konsequenzen dieser Handlung Quellen von Gefühlen der Lust oder Unlust, je nach der Beschaffenheit ihrer jeweiligen, ganz persönlichen Bedürfnis- und Interessenlage. Ob und in welchem Maß sich eine Person durch eine Handlung geschädigt fühlt oder aber eine Handlung zu verantworten hat, durch die eine andere Person geschädigt wurde, prägt die positiven oder negativen Empfindungen, mit denen diese Person auf diese Handlung emotional reagiert. Und diese Prägung ist unvermeidlich. Die Nicht-Übereinstimmung verschiedener Personen, die über die Angemessenheit einer und derselben Handlung als Konfliktbeteiligte, also von einander entgegengesetzten Interessenstandpunkten aus urteilen, ist so unvermeidlich, wie die Verschiedenheit ihrer (emotionalen) Empfindungen unvermeidlich ist. Sie sind daher, wenn sie zu einem einvernehmlichen Urteil über die Angemessenheit einer Handlung in einer bestimmten Handlungssituation kommen wollen, auf die vermittelnde Hilfe eines Zuschauers angewiesen. Dagegen sind, wenn verschiedene Personen vom gleichen Standpunkt aus wissenschaftlich oder ästhetisch über Gegen11 Smith macht sich bei seinem Vergleich wissenschaftlicher und ästhetischer mit moralischen Urteilen zunutze, daß „sentiment“ sowohl für Empfindungen sinnlicher Wahrnehmung als auch für Gefühlsempfindungen verwendet werden kann. Hier muß „sentiment“ mit „Empfindung“, nicht aber mit „Gefühl“ übersetzt werden, denn im Unterschied zu „Gefühl“ ist „Empfindung“ gegenüber der Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Gefühlseindrücken neutral.
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stände oder Sachverhalte urteilen, die sie sinnlich wahrnehmen, zumindest die notwendigen Bedingungen für eine Übereinstimmung ihrer (perzeptiven) Empfindungen erfüllt, weshalb sie ohne die Hilfe eines unparteiischen Zuschauers zu einer einvernehmlichen Beurteilung dieser Gegenstände oder Sachverhalte kommen können. Es stimmen nicht nur ein Akteur und der von ihm Geschädigte, der ihm sein Handeln übel nimmt, in ihrer Beurteilung dessen, ob dieses Handeln der gegebenen Situation angemessen ist oder nicht, nicht überein, weil ihre Interessen einander entgegengesetzt und ihre Standpunkte und die von diesen geprägten emotionalen Empfindungen daher so verschieden sind. Auch ein Betroffener und sein unbeteiligter Zuschauer stimmen in der Beurteilung einer Handlung nicht überein, weil sie diese Handlung von verschiedenen Standpunkten aus betrachten (der Standpunkt der persönlichen Betroffenheit und der eines unbeteiligten Zuschauers sind nicht identisch), und daher entsprechend verschiedene emotionale Empfindungen von dieser Handlung bekommen. Die Überwindung einer Meinungsverschiedenheit zwischen Personen, die darauf zurückzuführen ist, daß diese Personen auf Grund von emotionalen Empfindungen urteilen, die von jeweils verschiedenen Standpunkten geprägt sind, kann nur gelingen, wenn diese Personen versuchen, die Differenz zwischen ihren Standpunkten zu reduzieren. Nur so können sie zu einer „Harmonie der [emotionalen] Empfindungen“ kommen, ohne die eine Übereinstimmung ihrer Meinungen über die Angemessenheit einer Handlung nicht möglich ist. Smith traut den an einem Konflikt beteiligten Kontrahenten, Personen mit einander diametral entgegengesetzten Interessen, nicht zu, ohne Hilfe von außen zu einer Überwindung ihrer Meinungsverschiedenheit und zu einem Ausgleich ihrer Interessen zu kommen. Zu sehr sind ihre jeweiligen Standpunkte und emotionalen Empfindungen verschieden. Die Überwindung der Meinungsverschiedenheit zwischen einem Betroffenen und einem unbeteiligten Zuschauer hält Smith dagegen für möglich, weshalb der Zuschauer bei der Überwindung von Interessenkonflikten zwischen Akteuren und Betroffenen eine zentrale Rolle spielt. Zunächst einmal muß sich der unbeteiligte Zuschauer eines Betroffenen, der die Handlung, durch die dieser sich geschädigt fühlt, anders als dieser selbst beurteilt, in einem Akt des Sympathisierens imaginativ in die Lage des Betroffenen hineinversetzen und prüfen, ob der Betroffene auf die Situation, von der er sich geschädigt fühlt, mit dieser Situation angemessenen emotionalen Empfindungen reagiert. Nur wenn er sich imaginativ auf den Standpunkt des Betroffenen stellt, kann auch
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der unbeteiligte Zuschauer zu emotionalen Empfindungen kommen, die den emotionalen Empfindungen des Betroffenen zumindest ähnlich sind. Wenn nun ein Betroffener von seinem persönlichen Interessenstandpunkt und ein unbeteiligter Zuschauer, der sich imaginativ auf dessen Standpunkt versetzt, über die Handlung urteilen, von deren Konsequenzen sich der Betroffene geschädigt fühlt, dann können sie in ihren Urteilen entweder weitgehend übereinstimmen oder nicht übereinstimmen. 12 Den Fall ihrer Nicht-Übereinstimmung vergleicht Smith nun mit dem durchaus möglichen Fall, daß zwei Personen in ihren wissenschaftlichen Urteilen über denselben natürlichen oder mathematischen Sachverhalt oder in ihren ästhetischen Geschmacksurteilen über die Schönheit desselben Gegenstandes nicht übereinstimmen. Was die moralische Meinungsverschiedenheit zwischen einem Betroffenen und einem Zuschauer, der sich imaginativ auf dessen Standpunkt stellt, mit wissenschaftlichen oder ästhetischen Meinungsverschiedenheiten verbindet, wie sie zwischen Personen bestehen können, die über ein und denselben Gegenstand oder Sachverhalt wissenschaftlich oder ästhetisch urteilen, ist, daß alle diese Meinungsverschiedenheiten nicht darauf zurückgeführt werden können, daß die urteilenden Personen den jeweiligen Gegenstand ihrer Urteile von verschiedenen Standpunkten aus betrachten; ihre (perzeptiven oder emotionalen) Empfindungen sind nicht unweigerlich verschieden. Meinungsverschiedenheiten in Sachen der Wissenschaft oder Ästhetik pflegen wir nicht auf sich beruhen zu lassen – obwohl sie sich auf unser Zusammenleben weit weniger desaströs auswirken als Meinungsverschiedenheiten in moralischen Angelegenheiten.13 Aber wir können wissenschaftliche oder ästhetische Meinungsverschiedenheiten nicht dadurch überwinden, daß eine der jeweils beteiligten Personen ihren Standpunkt wechselt; denn in Sachen der Wissenschaft und Ästhetik beurteilen wir die Dinge ohnehin von demselben Standpunkt. Wir können diese Meinungsverschiedenheiten nur überwinden, wenn wir davon ausgehen, daß mindestens eine der beteiligten Personen sich irrt, weil die perzeptiven Empfindungen, auf die sie ihr Urteil gründet, nicht 12 Vollständige Übereinstimmung ist ausgeschlossen oder nur in Grenzfällen möglich, weil die Standpunkte eines Betroffenen und eines unbeteiligten Zuschauers auch dann noch verschieden sind, wenn sich der Zuschauer imaginativ auf den Standpunkt des Betroffenen stellt. 13 Vgl. I.i.iv.5: 21; dt. 23.
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hinreichend präzise sind. Die Gleichheit der Betrachtungsstandpunkte, von denen aus Personen Gegenstände oder Sachverhalte betrachten, um wissenschaftlich oder ästhetisch über sie zu urteilen, ist zwar eine notwendige Bedingung dafür, daß diese Personen die gleichen perzeptiven Empfindungen haben. Die perzeptiven Empfindungen von Personen, die etwas vom gleichen Standpunkt aus betrachten, können dennoch verschieden sein, weil sie in ihrer Betrachtung mehr oder weniger aufmerksam und in der Wahrnehmung komplexer Zusammenhänge und feiner Unterschiede mehr oder weniger geübt sein können: Wenn nichtsdestoweniger der Eindruck, den diese Gegenstände [der Wissenschaft und des Geschmacks] auf uns machen, oft ein verschiedener ist, so kommt dies daher, daß die Aufmerksamkeit nicht gleich groß ist, die uns beiden unsere verschiedenen Lebensgewohnheiten den einzelnen Seiten jener komplizierten Objekte zu widmen gestatten, oder daher, daß bei uns die Seelenvermögen, an welche sich eben jene Gegenstände wenden, verschieden scharf und empfindlich sind. (I.i.4.2: 19; dt. 20).
Wo Personen in ihren wissenschaftlichen oder ästhetischen Urteilen über dieselben Gegenstände nicht übereinstimmen, ist die Auffassung des Experten maßgeblich, denn es ist der Experte, der sich durch hochgradige Aufmerksamkeit und hinreichende Übung in der Wahrnehmung komplexer und hochgradig differenzierter Zusammenhänge auszeichnet. 14 Wir bewundern den Experten für seine Fähigkeit zur differenzierten Wahrnehmung komplexer Strukturen und orientieren uns daher in unseren wissenschaftlichen und ästhetischen Urteilen an seiner Auffassung (vgl. I.i.4.3: 19 f.; dt. 20f.). Moralische Meinungsverschiedenheiten, wie sie zwischen einem Betroffenen und einem Zuschauer auftreten können, der sich in einem Akt des Sympathisierens in dessen Lage versetzt, um von dessen Standpunkt aus über die Angemessenheit von dessen emotionalem Empfinden in einer bestimmten Handlungssituation zu urteilen, vergleicht Smith nun mit Meinungsverschiedenheiten zwischen Personen, die über einen Gegenstand oder Sachverhalt wissenschaftlich oder ästhetisch urteilen. Auch wenn es darum geht, die Angemessenheit der emotionalen Empfindungen eines Betroffenen in einer bestimmten Situati14 Die Kompetenzen eines ästhetischen Experten, des „man of delicate taste“, hat David Hume in seinem Essay „Of The Standard of Taste“ analysiert: Dieser Experte verfügt über einen klaren Verstand (und urteilt entsprechend besonnen), sowie über ein durch Übung an passenden Beispielen geschultes feines Empfindungsvermögen, und schließlich urteilt er frei von Vorurteilen. Vgl. Hume, Ess., S. 241 ff. und Fricke 2001a, S. 21.
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on zu beurteilen, ist Expertentum gefragt, nicht wissenschaftliches oder ästhetisches, sondern moralisches Expertentum. Der moralische Experte (oder die moralische Expertin) zeichnet sich ähnlich wie Experten in wissenschaftlichen oder ästhetischen Dingen durch einen hohen Grad an Aufmerksamkeit und eine durch Erfahrung erworbene Fähigkeit aus, komplexe und hochgradig differenzierte Zusammenhänge als solche wahrzunehmen: Damit eine gewisse Übereinstimmung der Empfindungen zwischen dem Zuschauer und dem zunächst Betroffenen zustande komme, muß der Zuschauer in allen derartigen Fällen vor allem sich bemühen, so sehr er kann, sich in die Lage des anderen zu versetzen und jeden noch so geringfügigen Umstand des Unglücks nachzufühlen, der möglicherweise jenem begegnen kann. Er muß die ganze Angelegenheit seines Gefährten mit allen ihren noch so unbedeutenden Zwischenfällen gleichsam zu seiner eigenen machen und trachten, jenen in der Phantasie vollzogenen Wechsel der Situation, auf welchen sich seine Sympathie gründet, so vollständig als möglich zu gestalten. (I.i.4.6: 21; dt. 23)
Im Fall einer moralischen Meinungsverschiedenheit zwischen einem Betroffenen und seinem Zuschauer ist der Zuschauer, so Smith, zum Experten prädestiniert. Als solchen akzeptiert (und bewundert) ihn der Betroffene. Und da sich der Betroffene eine Übereinstimmung seiner (Gefühls)-Empfindungen mit denen seines Zuschauers wünscht, nicht aus Zuneigung zu ihm, sondern weil dieser ihm andernfalls unerträglich würde, wird er sich darum bemühen, seine Lage wie sein Zuschauer zu empfinden und wie dieser darüber zu urteilen. Der Betroffene wird sich daher bemühen, den Einfluß seiner persönlichen Bedürfnisse und Interessen auf die emotionalen Empfindungen, mit denen er auf die Schädigung durch einen Akteur reagiert, zu reduzieren, seine Empfindungen des Übelnehmens zu dämpfen. Und in dem Maß, in dem ihm das gelingt, werden sich seine emotionalen Empfindungen und wird sich daher auch sein Urteil als Betroffener dem seines mit ihm sympathisierenden Zuschauers annähern. Eine Annäherung ihrer Standpunkte ist möglich, wenn diese auch niemals vollkommen zur Deckung gebracht werden können. Der Standpunkt, an dem sie sich beide treffen würden, bleibt imaginär. Daran, ihn tatsächlich zu erreichen, hindern den Betroffenen und seinen Zuschauer ihre jeweils unterschiedlichen Interessenlagen, die als solche auch im Prozeß der Annäherung ihrer Standpunkte erhalten bleiben. Der Betroffene erlebt aber auch schon die Annäherung seines Standpunktes an den des Zuschauers als Quelle des Trostes, er wird für die Anstrengung, die es ihn
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kostet, seine emotionalen Empfindungen zu dämpfen, emotional belohnt. Daß wir Meinungsverschiedenheiten in wissenschaftlichen und ästhetischen Dingen eher akzeptieren können als Meinungsverschiedenheiten in moralischen Dingen, mag auf den ersten Blick nicht einleuchten. Warum sollten nur Differenzen mit anderen in Fragen der moralischen Bewertung unser Zusammenleben mit ihnen unmöglich machen? Finden wir andere nicht auch dann unerträglich, wenn wir uns mit ihnen immer wieder über Fragen der Erkenntnis und der ästhetischen Beurteilung streiten? Smith ist offenbar der Auffassung, daß wir einander nur dann ertragen können, wenn wir gleiche oder zumindest ähnliche Standpunkte – sei es in wissenschaftlichen, ästhetischen oder moralischen Dingen – einnehmen. Denn nur unter dieser Voraussetzung ist die Hoffnung berechtigt, auftretende Meinungsverschiedenheiten eines Tages auszuräumen. Unüberwindliche Differenzen in moralischen Dingen sind auf unterschiedliche Standpunkte der Beteiligten zurückzuführen. Unerträglich und bedrohlich ist ein solcher Zustand für die Beteiligten, weil er bedeutet, daß sie einander nicht als Gleiche anerkennen, die – unter Voraussetzung einer entsprechenden Anstrengung– auch in Fragen der moralischen Angemessenheit menschlichen Empfindens und Handelns zu einer Übereinstimmung kommen können. Wer in Gesellschaft von Menschen lebt oder leben muß, von denen er sich nicht als Gleicher (oder Gleiche) anerkannt weiß und die er (oder sie) nicht als Gleiche anerkennt, wird nicht nur darauf verzichten, in Konfliktfällen einen einvernehmlichen Konsens mit ihnen zu suchen (weil er (oder sie) keine Hoffnung hat, einen solchen zu finden), sondern von Mißtrauen und Angst beherrscht sein. Denn er (oder sie) muß damit rechnen, daß die anderen seine (oder ihre) Bedürfnisse und Interessen nicht zu berücksichtigen bereit sind und ihn (oder sie) daher bei jeder sich bietenden Gelegenheit übervorteilen werden. Natürlich werden alle unter diesen Umständen ihrerseits versuchen, die jeweils anderen zu übervorteilen, aber sie werden damit rechnen, dabei nicht immer erfolgreich zu sein, weil sie wissen, daß sie nicht allen anderen überlegen sind – es droht ein Krieg eines jeden gegen jeden, wie Hobbes ihn prognostiziert hat. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Sehnsucht nach der Übereinstimmung der eigenen emotionalen Empfindungen mit denen der anderen als Sehnsucht nach der Vergewisserung einer Gleichheit, die in dem Respekt vor den anderen, der dieser Sehnsucht zu Grunde liegt, immer schon angelegt ist. Es ist diese Sehnsucht nach der Übereinstim-
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mung der eigenen Empfindungen mit denen der anderen, die sowohl den Zuschauer als auch den Betroffenen und den Akteur motiviert, sich um die Annäherung ihrer Standpunkte zu bemühen. In dieser Sehnsucht erleben sie nichts anderes als ihre natürliche Disposition zur Sympathie. Für den Zuschauer bedeutet das, daß er Konfliktsituationen, deren Zeuge er wird, nicht gleichgültig betrachtet, sondern sich den beteiligten Konfliktparteien in teilnehmender Neugier zuwendet. Und für den Betroffenen und den Akteur bedeutet es, daß sie in ihrem Zuschauer den Experten sehen, den sie bewundern und an dessen emotionalen Empfindungen und Angemessenheitsurteilen sie sich zu orientieren suchen. Eine Person, die zur Zeugin einer Konfliktsituation wird, sich also in der Rolle einer Zuschauerin befindet, muß sich nacheinander allen an dem Konflikt Beteiligten mit teilnehmender Neugier zuwenden. Smith konzentriert sich in seiner Darstellung auf die Sympathie, mit der die Zuschauerin der Person begegnet, die in einem Konflikt die Leidtragende ist. Aber das bedeutet keine einseitige Anteilnahme der Zuschauerin nur an dem Standpunkt der betroffenen Person. Ihr Interesse gilt ebenso dem Akteur, dem die betroffene Person sein Handeln übel nimmt. Wenn sie sich ein möglichst vollständiges Bild der gesamten Konfliktsituation machen will, wenn sie zu einem Expertenurteil darüber kommen will, welches Verhalten der beteiligten Parteien in dieser Situation angemessen wäre, dann kann die Zuschauerin gar nicht umhin, sich mit allen an dem Konflikt Beteiligten in sympathetischer Anteilnahme zu beschäftigen und nacheinander die Standpunkte aller Beteiligten einzunehmen, um zu versuchen, die Situation von ihrem jeweiligen Standpunkt aus zu betrachten. Wenn das Interesse der Zuschauerin zunächst der betroffenen, leidtragenden Person gilt, die einer anderen Person etwas übel nimmt, dann deshalb, weil nicht allein ein Akteur, sondern erst eine leidtragende Person, die einem Akteur etwas übelnimmt, von einem Zuschauer als untrügliches Zeichen dafür angesehen werden kann, daß er zum Zeugen einer moralisch relevanten Konfliktsituation geworden ist. Es ist nun zu fragen, wie die anteilnehmende Neugier des Zuschauers, sein Versuch, sich imaginativ auf die Standpunkte der beteiligten Konfliktparteien zu stellen, um sich ein Bild von der Konfliktsituation von allen diesen Standpunkten aus zu machen, zur Beilegung dieses Konflikts beitragen kann. Diese Frage betrifft den Übergang von der zweiten zur dritten Phase des Smithschen Gedankenexperiments, in der es dem Zuschauer einer Konfliktsituation darum geht, seine Kennt-
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nisse der Konfliktsituation, die er im Sympathisieren mit den beiden Konfliktparteien während der zweiten Phase gesammelt hat, zusammenzuführen und so zu einem Urteil darüber zu kommen, was für ein Verhalten in der Konfliktsituation angemessen gewesen wäre und wie die Konfliktparteien zu einem einvernehmlichen Interessenausgleich, zu einer Beilegung des Konflikts kommen können. Ist der imaginäre Standpunkt, auf dem sich der Zuschauer einerseits mit der leidtragenden Person und andererseits mit dem Akteur treffen würde, wenn er sich ihnen nicht nur annäherte, sondern sich sogar mit ihnen träfe, derselbe? Würden sich ein Akteur und der von ihm Geschädigte, wenn sie sich je für sich mit ihrem Zuschauer auf diesem imaginären Standpunkt träfen, ihrerseits treffen? Smith scheint diese Frage zu bejahen. Das geht aus seinem Verständnis des Zuschauers als Experten hervor, den er mit Experten in wissenschaftlichen und ästhetischen Angelegenheiten vergleicht. Denn ein Experte ist kein Trendsetter, sondern einer, der zu objektiven Urteilen über Tatsachen befähigt ist. Er orientiert sich, wenn er urteilt, an den Tatsachen. Was ihn von anderen unterscheidet und zum Experten macht, ist nichts anderes als seine Kompetenz, die Tatsachen vorurteilsfrei und differenziert wahrzunehmen und zu analysieren. Was ihn zu dieser Wahrnehmung und Analyse befähigt, ist kein besonderes Sinnesorgan, kein wissenschaftlicher, ästhetischer oder moralischer Sinn, sondern das durch Erfahrung und Übung erworbene Vermögen, seine Empfindungen (die perzeptiven ebenso wie die emotionalen) ausschließlich von den Tatsachen bestimmen zu lassen. Dabei sind die persönliche Bedürfnis- und Interessenlage sowohl der betroffenen Person als auch des Akteurs Teil der objektiven Konstellation der Tatsachen, die eine Handlungs- bzw. Konfliktsituation ausmachen. Ein Zuschauer wird, wenn er sich imaginativ auf den Standpunkt einer Konfliktpartei stellt, um festzustellen, ob und in welchem Maß er mit ihr sympathisieren kann und ob sie mit angemessenen Empfindungen und Handlungen auf eine gegebene Situation reagiert hat, nicht zum Parteigänger dieser Partei. Vielmehr ist sein Sympathisieren mit der einen und der anderen Partei unabdingbar, wenn er sich ein möglichst vollständiges Bild der Konfliktsituation machen will. Da nicht nur die äußeren Gegebenheiten, sondern auch die persönliche Bedürfnis- und Interessenlage der Konfliktparteien zu den Tatsachen gehören, die die Konfliktsituation ausmachen, muß ein Zuschauer, wenn er als Experte urteilen will, sich auch über die persönlichen Bedürfnisse und Interessen der Konfliktparteien informieren. Das kann er nur, wenn er mit der einen und der anderen Konfliktpartei sympathisiert. Sein Sympathisie-
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ren mit den Konfliktparteien hat daher nicht nur eine evaluative Funktion, sondern auch die Funktion des Sammelns von Daten. Der objektive Maßstab für die Angemessenheit von Empfindungen und Handlungen der Beteiligten in dieser Konfliktsituation ist in den objektiven Tatsachen, die diese Situation ausmachen, angelegt. Daher muß der imaginäre Standpunkt, auf dem sich der Zuschauer mit der einen und der anderen Konfliktpartei trifft, ein- und derselbe sein. Das jedenfalls ist die Grundidee von Smith. Wo Akteure, Betroffene und Zuschauer miteinander in der geschilderten Weise interagieren, kommt es unter den Bedingungen des Smithschen Gedankenexperiments früher oder später zu einem Konsens zwischen ihnen – davon scheint Smith überzeugt zu sein. Was aber garantiert, daß dieser Konsens einem moralischen Maßstab entspricht? Ist der Konsens, den ein Akteur, ein Betroffener und der Zuschauer beider finden, nicht sehr stark davon abhängig, was dem Zuschauer angemessen erscheint? Der Zuschauer ist auch nur ein Mensch mit bestimmten Erfahrungen als Akteur oder Betroffener. Er urteilt über die Angemessenheit von Empfindungen und Handlungen im Licht dieser Erfahrungen. Sind diese Erfahrungen nicht ebenfalls unweigerlich parteilich? Diese Erfahrungen mögen unabdingbar sein, wenn es darum geht, den Grad der Schädigung zu ermessen, den ein Betroffener erlitten hat, oder aber den Grad des Übelnehmens, aus dem heraus ein Akteur eine andere Person schädigt. Aber verstellen diese Erfahrungen nicht auch dem Zuschauer den Blick auf die objektiven Tatsachen, den Maßstab moralischer Angemessenheit? Dieser Verdacht ist berechtigt, läßt sich im Rahmen des Smithschen Gedankenexperiments jedoch entkräften. Dabei ist der prozessuale Charakter der Bestimmung des Standpunktes der Unparteilichkeit zu berücksichtigen bzw. der Umstand, daß der Übergang von der zweiten zur dritten Phase des Smithschen Gedankenexperiments nicht gleichbedeutend ist mit der Erreichung des Ziels, um das es dabei geht, der Konstitution objektiver moralischer Normen. In der dritten Phase geht es zwar um die Konstitution dieser Normen, aber sie erlaubt noch eine Vielzahl von verschiedenen Graden der Annäherung an dieses letztlich ideale Ziel. Kein Mensch, der zufällig zum Zuschauer eines Konflikts zwischen einem Akteur und einem Leidtragenden geworden ist, kann in seiner sympathetischen Anteilnahme an den Empfindungen beider und in seinem Bemühen um Vermittlung zwischen ihnen ohne weiteres den Standpunkt der Unparteilichkeit bestimmen. Vielmehr ist die Bestim-
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mung dieses Standpunktes nur als Resultat eines interaktiven Lernprozesses möglich. Ziel dieses Prozesses ist die Bestimmung des Standpunktes der Unparteilichkeit, und d. h. die Konstitution objektiver, moralischer Normen. Sollen verschiedene Personen in einem interaktiven Prozeß zusammen ein Ziel erreichen, von dem sie zunächst keine Vorstellung haben und das sie daher gar nicht gezielt ansteuern können, ist der Erfolg ihrer Interaktion (ihre Annäherung an das Ziel und schließlich ihr Erreichen desselben), davon abhängig, daß jeder Mißerfolg (ihr Verfehlen des Ziels), für sie mit Sanktionen verbunden ist. Wenn die Interaktion eines Akteurs, eines Betroffenen und eines Zuschauers zur Konstitution eines unparteilichen Maßstabs für die Angemessenheit von Empfindungen und Handlungen, also zur Konstitution moralischer Normen führen soll, dann müssen alle Beteiligten für ihr Verfehlen des Ziels Sanktionen erleiden. Das Ziel dieses Prozesses ist, so müssen wir annehmen, nicht immer dann schon erreicht, wenn die Beteiligten an einem bestimmten Konflikt unter Mithilfe eines bestimmten Zuschauers einen einvernehmlichen Konsens erreicht haben, denn nicht jeder faktische Konsens ist als solcher auch schon moralisch angemessen. Welche Sanktionen sieht dieser Prozeß aber für den Fall vor, daß in einem Konfliktfall zwar ein Konsens erreicht wird, dieser aber nicht moralisch angemessen ist? Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst zu klären, was einen Konsens in einem Konfliktfall, der im strikten Sinn unparteilichen, moralischen Maßstäben entspricht, auszeichnet. Ein derartiger Konsens wird nicht nur von den tatsächlich direkt an dem Konflikt und seiner Lösung Beteiligten, von dem bestimmten Akteur, dem bestimmten Leidtragenden und dem bestimmten Zuschauer (mit seinen ganz bestimmten, persönlichen Erfahrungen) als angemessen betrachtet, sondern von allen möglichen Personen. Während ein Konsens, an dessen Zustandekommen nur eine beschränkte Anzahl von Personen beteiligt war, aus der Perspektive einer weiteren Person wieder als unangemessen erscheinen kann, ist dies für einen Konsens, an dem alle möglichen Personen beteiligt waren und den sie daher alle gemeinsam tragen, nicht mehr möglich. Moralisch ist derjenige Konsens, den alle möglichen Personen mittragen können. An dieser Stelle wird eine weitere Hinsicht deutlich, in der Smiths Verständnis von Moralität demjenigen von Kant ähnelt: Moralisch sind diejenigen Handlungen und Handlungsmotive, gegen die in striktem Sinn niemand aus guten Gründen etwas einzuwenden haben kann – wobei die „guten Gründe“ sich aus mehr als der jeweils eigenen, persönlichen Bedürfnis- und Interessen-
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lage speisen, nämlich aus dem zusätzlichen Wunsch nach Einvernehmlichkeit mit allen anderen. Wenn nun in einem bestimmten Konfliktfall ein Konsens zwischen Akteur, Betroffenem und Zuschauer erreicht wird, der zwar aus der Perspektive aller tatsächlich Beteiligten, nicht aber aus der Perspektive anderer Personen, und d. h. anderer Betroffener oder anderer Zuschauer akzeptabel erscheint, dann erfahren die tatsächlich Beteiligten Sanktionen durch diejenigen anderen, die nicht beteiligt waren und den Konsens nicht als angemessen beurteilen. Für Smith sind diese Sanktionen in mangelnder gegenseitiger Sympathie, in einer Disharmonie der emotionalen Empfindungen präsent, in der eine Meinungsverschiedenheit über die Angemessenheit von bestimmten Empfindungen und Handlungen in einer Handlungssituation zum Ausdruck kommt – eine Verschiedenheit der Standpunkte der Beteiligten. An einem Konfliktfall können viele Akteure und viele Leidtragende beteiligt sein. Jeder tatsächliche Konsens, der nicht die Bedürfnisse und Interessen aller Beteiligten berücksichtigt, kann aus der Perspektive derer, die nicht berücksichtigt wurden, unangemessen erscheinen. Aber er kann auch aus der Perspektive anderer als der tatsächlich beteiligten Zuschauer unangemessen erscheinen, weil sie aufgrund anderer eigener Erfahrungen über die Angemessenheit von Empfindungen und Handlungen der Konfliktparteien urteilen. Das natürliche Sympathievermögen aller Menschen, wie Smith es voraussetzt, befähigt alle Menschen dazu, als Zuschauer von Betroffenen und Akteuren zu fungieren und in Konfliktfällen zwischen ihnen zu vermitteln. In diesem Vermögen gründet aber auch ein Bedürfnis nach der Sympathie anderer mit dem eigenen Empfinden und Handeln, ein Bedürfnis nach einer allgemeinen gegenseitigen Sympathie und Harmonie von Empfindungen, das auch ein Interesse an der Überwindung von Meinungsverschiedenheiten ist, wie sie bei der Beurteilung der Angemessenheit von Empfindungen und Handlungen in bestimmten Handlungssituationen auftreten können. Mit diesem Sympathievermögen ist allen Menschen der Weg zum Ziel ihrer Interaktion vorgezeichnet, das erst mit der Konstitution unparteilicher moralischer Normen erreicht ist. Und es ist auch dieses Vermögen, das sie jedes Verfehlen dieses Ziels als unbefriedigenden Zustand erleben läßt, als einen Zustand, in dem ihre Sehnsucht nach Gleichheit aller noch nicht gestillt ist. Mit der These, Menschen seien von Natur aus auch mit einer Disposition zur Sympathie ausgestattet, behauptet Smith nicht, sie wüßten
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von Natur aus, wie sie die in diesen Dispositionen gründenden Bedürfnisse und Interessen am erfolgreichsten befriedigen können. Sie wissen zunächst nicht einmal, was Gegenstand dieser Bedürfnisse und Interessen ist, und sie können dies nur durch Probieren und Nachahmung des Verhaltens anderer herausfinden. Sie müssen nicht nur lernen, wie sie ihre egoistischen Interessen am besten befriedigen, also was trinkbar und essbar ist und welche Getränke und Nahrungsmittel ihnen am besten schmecken und am bekömmlichsten sind. Sie müssen ebenso herausfinden, wie sie ihre in ihrem Sympathievermögen gründenden Bedürfnisse und Interessen am besten befriedigen, d. h., wie sie ihre egoistischen Bedürfnisse und Interessen befriedigen können, ohne dabei auf die Sympathie ihrer Mitmenschen verzichten zu müssen. Auch dabei verfahren sie nach dem Prinzip trial and error. Nicht nur werden sie eine Abneigung gegen alle Getränke und Lebensmittel entwickeln, von deren Genuss ihnen einmal schlecht geworden ist. Sie werden auch vor Verhaltensweisen in bestimmten Situationen zurückschrecken, die ihnen einmal den deutlichen Entzug der Sympathie ihrer Mitmenschen eingebracht haben. Dabei lernen sie allmählich, was ihnen gut tut – in egoistischer und sympathetischer, sozialer Hinsicht. Ebenso wie sie Begriffe von Getränken und Lebensmitteln ausbilden, die sie bevorzugen, bilden sie Begriffe von Handlungen in bestimmten Handlungssituationen aus, deren Ausführung nicht nur zu der Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse führt, sondern auch von Seiten der Mitmenschen mit Sympathie bedacht wird. Mit diesen Begriffen lassen sich dann Regeln oder Prinzipien für ein Handeln formulieren, das zu einer erfolgreichen Befriedigung der in den natürlichen Dispositionen angelegten, egoistischen und sympathetischen Bedürfnisse und Interessen führt. Es wird in diesem interaktiven Prozeß des Interessenausgleichs und der Konsensfindung nicht nur jeder zum Zuschauer jedes anderen, sondern es wird auch jeder zum Zuschauer seiner selbst – d. h. jeder bildet ein Gewissen aus und entwickelt sich damit zu einer moralisch bewußten und verantwortlichen Person. Im Bewußtsein dessen, daß wir als Betroffene nur dann einen berechtigten Anspruch auf die Sympathie unparteiischer Zuschauer erheben können, wenn wir unsere Empfindungen auf einen angemessenen Grad herabdämpfen und uns entsprechend moderat verhalten, machen wir uns, wenn wir unser Gewissen befragen, zu unparteiischen Zuschauern unserer selbst, um aus der Warte eines unparteiischen Zuschauers über den angemessenen Grad unserer Empfindungen und im Lichte derselben darüber zu entscheiden, wie wir auf das, von dem wir emotional betroffen sind, angemes-
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sen reagieren, d. h. so, daß wir als unparteiische Zuschauer unserer selbst mit uns selbst sympathisieren können. 15 Weist das Gedankenexperiment, das diesen interaktiven Prozeß des Interessenausgleichs und der Konstitution unparteiischer Regeln des angemessenen Empfindens und Handelns durch Betroffene, Handelnde und Zuschauer zum Gegenstand hat, einen Ausweg aus dem oben genannten Zirkel? Wenn wir uns den dynamischen Prozeß der Neutralisierung des eigenen Standpunkts, auf den sich ein Betroffener und sein Kontrahent im Angesicht eines unbeteiligten Zuschauers einlassen, als einen Lernprozeß vorstellen, in dem sie nach der Methode des trial and error verfahren, dann sehen wir, daß sie einen ausdrücklichen Maßstab, bestimmte Regeln für die Angemessenheit der Empfindungen und Handlungen in bestimmten Handlungssituationen, zunächst gar nicht benötigen. Die Konfliktparteien werden durch ihre natürlichen Bedürfnisse und Interessen und die daraus resultierenden Empfindungen zu einem Handeln motiviert, das auf die Befriedigung dieser Bedürfnisse und Interessen zielt und mehr oder weniger erfolgreich ist. Ist ein Handeln in einer bestimmten Handlungssituation erfolgreich, wird es in einer ähnlichen Situation wiederholt, ist es nicht erfolgreich, wird in einer ähnlichen Situation ein anderes Handeln probiert. Maßstab des Erfolgs ist der Grad der erzielten Befriedigung der egoistischen und sozialen Bedürfnisse und Interessen. Erst in fortgeschrittenen Phasen dieses Prozesses kommt es zu Formulierungen von Regeln, die angeben, welche Empfindungen und Handlungen in welchen Arten von Handlungssituationen angemessen sind – wobei der Maßstab für Angemessenheit im maximalen egoistischen und sozialen Erfolg liegt. Auch der Zuschauer benötigt, wenn er sich imaginativ auf den Standpunkt eines Betroffenen oder Handelnden stellt, um dessen Empfindungen nachzuvollziehen bzw. nach dem Maßstab seiner eigenen bisherigen Erfahrungen zu beurteilen, zunächst keine Regel der Angemessenheit von Empfindungen. Er orientiert sich an seiner Fähigkeit, die Empfindungen eines anderen nachzuempfinden und mit diesem zu sympathisieren und beurteilt auf dieser emotionalen Grundlage, ob sich der Handelnde oder der Betroffene emotional angemessen verhalten. Er korrigiert seine Urteile im Licht von Meinungsverschiedenheiten, die er nicht nur 15 Hier ist der unparteiische Zuschauer nicht mehr der zunächst Unbetroffene, der sich in die Lage eines Betroffenen mit möglichst großer Sensibilität einfühlt; denn wo Betroffener und Zuschauer ein und dieselbe Person sind, gibt es keine Distanz der Betroffenheit zu überbrücken. Im Gegenteil, hier gilt es, Distanz allererst herzustellen zu den herandrängenden Empfindungen.
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mit Betroffenen und Handelnden, sondern auch mit anderen Zuschauern desselben Konflikts haben kann. Und auch er bemüht sich erst in späteren Phasen dieses Prozesses, auf der Grundlage einer größeren Anzahl von Vergleichsfällen, in denen ein Konsens zwischen Konfliktparteien in Übereinstimmung mit weiteren Zuschauern erzielt wurde, Regeln für die Angemessenheit von Empfindungen und Handlungen in bestimmten Arten von Handlungssituationen zu formulieren. Auf diese Weise läßt sich der oben erwähnte Zirkelverdacht entkräften.16 In seinem Gedankenexperiment schließt Smith nicht aus, daß einvernehmliche Lösungen zwischen Konfliktparteien unter historisch, geographisch und kulturell kontingenten Bedingungen zustande kommen und damit selbst kontingent sind. Zwar geht er davon aus, daß Menschen von Natur aus mit egoistischen und sympathetischen Bedürfnissen ausgestattet sind; ihre Motivation, sich um ihr eigenes Wohlbefinden und ein sympathetisches Einvernehmen mit ihren Mitmenschen zu kümmern, ist daher nicht kontingent. Da die Menschen aber erst lernen müssen, wie sie ihre Bedürfnisse erfolgreich befriedigen können, und da dieser Lernprozeß unter kontingenten äußeren Bedingungen stattfindet, wird die Konkretisierung dieser Bedürfnisse als Bedürfnisse nach bestimmten Gegenständen oder Weltverhältnissen immer kontingent sein. Diese Kontingenz steht der allgemeinen Gültigkeit der moralischen Normen, die sie durch ihre Interaktion konstituieren sollen, jedoch nicht entgegen. Die allgemeine Gültigkeit wird dadurch garantiert, daß alle Menschen mit ihren jeweils kontingenten Bedürfnissen und Interessen an diesem Prozeß beteiligt sind. Die Beteiligung aller Menschen an dem Prozeß der Konsensfindung in Konfliktsituationen stellt ein Ideal dar, das faktisch nie erreicht wird und auch nicht erreicht werden kann. Denn ein tatsächlicher Konsens kann immer nur ein Konsens zwischen denjenigen sein, die ihre Interessen gerade vertreten können, und dazu müssen sie nicht nur leben, hinreichend erwachsen und geistig gesund sein, sondern auch in Reichweite des Konflikts – sie müssen von dem Konflikt Kenntnis er16 Smith leugnet keineswegs die Möglichkeit, objektive moralische Normen in Form von allgemeinen Regeln zu formulieren, die angeben, welche affektiven Reaktionen von Betroffenen angemessen, und damit welches Wollen und Handeln in welchen bestimmten Arten von Situationen der Betroffenheit moralisch erlaubt ist und welches verboten, Maßstäbe für moralisch Gutes und Schlechtes. Er ist jedoch der Auffassung, daß derartige Maßstäbe moralische Urteile nicht erst ermöglichen, sondern daß sie umgekehrt erst dann als allgemeine Regeln formuliert werden können, wenn affektiv fundierte moralische Urteile über Einzelfälle in hinreichender Anzahl vorliegen.
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halten. 17 Mitglieder zukünftiger Generationen gehören nie dazu. Dennoch muß sich ein jeweils tatsächlich erreichter Konsens auch aus der Perspektive von Mitgliedern künftiger Generationen als angemessen erweisen. Das bedeutet, daß kein tatsächlich unter kontingenten Bedingungen erreichter Konsens jemals nachweislich objektiv sein kann. Jede Formulierung von Regeln der Angemessenheit von Empfindungen und Handlungen in bestimmten Handlungssituationen kann immer nur vorläufig sein, weil es immer weitere Personen geben wird, aus deren Perspektive sich diese Regeln wiederum als angemessen erweisen müssen. Regeln der Angemessenheit sind also mehr oder weniger unparteilich, je nachdem, wie viele Standpunkte verschiedener Personen bei ihrer Formulierung berücksichtigt wurden. Sie entsprechen moralischen Normen nur in dem Maß, in dem sie unparteilich sind. Niemand also kann sich jemals dessen gewiss sein, daß die Regeln der Angemessenheit, an denen er seine Empfindungen und Handlungen nach bestem Wissen und Gewissen zu orientieren sucht, tatsächlich moralische Normen sind. Aber damit zieht Smith sich nicht auf eine Position des moralischen Relativismus zurück. In der unvermeidlichen Unsicherheit der moralischen Erkenntnis liegt vielmehr ein Motiv für den Verzicht auf jeden moralischen Rigorismus und dafür, jedem anderen Menschen mit Toleranz zu begegnen, auch wenn er Bedürfnisse und Interessen geltend macht, die im Rahmen des jeweils erzielten gesellschaftlichen Konsenses über die Angemessenheit von Empfindungen und Handlungen nicht befriedigt werden können. Diese moralische Toleranz bedeutet aber nicht, andere so weit als möglich oder erträglich gewähren zu lassen. Sie ist immer mit der Forderung an jede und jeden verbunden, sich an dem Prozeß der allgemeinen Konsensfindung und Herstellung eines sympathetischen Einvernehmens zu beteiligen. Nur wer sich an diesem Prozeß beteiligt, bringt damit zum Ausdruck, sich dem Desiderat der Gleichheit der Standpunkte aller auch in mora17 Smith erwähnt neben den an dem interaktiven Prozeß des Interessenausgleichs Beteiligten auch noch eine „unsichtbare Hand“ als eine transzendente Macht, die dafür sorgt, daß dieser Prozeß auf das Ziel der Konstitution objektiver moralischer Normen ausgerichtet ist (vgl. IV.1.10: 184, dt. 316). Welche Funktion dieser Macht bei der Steuerung dieses Prozesses zugeschrieben wird, hängt davon ab, ob sich aus den Präferenzen, die in den Bedürfnissen und Interessen der verschiedenen Menschen angelegt sind, konsensfähige, objektive Normen für angemessenes Empfinden und Handeln ableiten lassen. Wer, wie ich dies hier vorschlage, Adam Smith als einen moralischen Realisten liest, kann dieser Macht keine unentbehrliche Funktion für die Ausrichtung dieses Prozesses auf die Konstitution objektiver, moralischer Normen zuerkennen.
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lischen Dingen verpflichtet zu fühlen, d. h. alle anderen als Gleiche zu respektieren. Der Gedanke unparteilicher moralischer Normen, die im Verlauf eines interaktiven Prozesses der Konsensfindung allmählich entstehen und die desto unparteilicher sind, je mehr Menschen an dem Prozeß der Konsensfindung beteiligt waren, könnte dazu führen, das Prinzip dieses Prozesses als Mehrheitsprinzip mißzuverstehen. Daß sich in einem Konfliktfall bei der Suche nach einer Lösung der Vorschlag einer Mehrheit gegen den Vorschlag einer Minderheit durchsetzt, ist für sich genommen kein Garant dafür, daß der Vorschlag der Mehrheit einen höheren Grad an Unparteilichkeit aufweist (und damit moralisch besser ist), als der Vorschlag der Minderheit. Dafür, daß die Lösung eines Konflikts zumindest so unparteilich wie unter den gegebenen Bedingungen möglich ist, gehört mehr, als daß ihn die Mehrheit der Beteiligten zu tragen bereit ist. Es gehört auch dazu, daß vom Prozeß der Konsensfindung niemand, keine einzelne Person und keine Gruppe von Personen, vorab ausgeschlossen worden ist. Jeder, der sich in Reichweite eines Konflikts befindet, davon Kenntnis erhält und bereit ist, sich an dem Prozeß der Konsensfindung zu beteiligen, muß gehört werden – und umgekehrt muß sich jeder konstruktiv an diesem Prozeß beteiligen, d. h. in der Absicht, den Standpunkt der Unparteilichkeit zu bestimmen, nicht aber in der Absicht, andere dazu zu zwingen, ihm Privilegien zuzugestehen, die vom Standpunkt der Unparteilichkeit aus nicht gerechtfertigt sind. Daß menschliche Interaktion, wie Smith sie in seinem Gedankenexperiment schildert, tatsächlich in Form eines Prozesses stattfindet, der zu dem idealen Ziel der Konstitution moralischer Normen führt, setzt nicht nur voraus, daß alle Menschen von Natur aus mit Egoismus und Sympathie ausgestattet sind, sondern auch, daß sie in diesem Prozeß von Anfang an als Personen interagieren, die bereit sind, einander als Gleiche zu respektieren. Jede und jeder muß sich um die Sympathie jeder und jedes anderen bemühen, wer auch immer diese oder dieser sein mag und wie verschieden auch immer diese oder dieser von ihr oder ihm selbst sein mag. Andernfalls mündet die Interaktion der Menschen in einen Machtkampf, in dem die Stärkeren den Schwächeren die Bedingungen diktieren, unter denen sie agieren dürfen. Diese Gleichheitsvoraussetzung mag im Rahmen eines Gedankenexperiments legitim sein, in dem es um Genesis und Geltung moralischer Normen geht. Unter realistischen Bedingungen dagegen stellt diese Gleichheitsvoraussetzung ein wesentlich größeres Problem dar als
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Smiths Voraussetzung, Menschen seien von Natur aus nicht nur egoistisch, sondern auch sympathiebegabt. Machen wir uns nichts vor: Die Art und Weise, wie wir unseren Mitmenschen begegnen (und dies gilt insbesondere für unsere Begegnungen mit Fremden), hängt in vielen Fällen davon ab, wie wir sie auf der Grundlage der wenigen Informationen, die wir über sie haben, einschätzen. Nicht zuletzt ist es die physische Erscheinung, die dabei eine Rolle spielt. In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns weniger von den nicht menschlichen Tieren, als uns lieb sein mag. Muß Smith sich nicht aber auch den Vorwurf gefallen lassen, mit der Voraussetzung der Gleichheit aller Beteiligten am Anfang des interaktiven Prozesses, um den es ihm in seinem Gedankenexperiment geht, gerade das vorauszusetzen, um dessen Konstitution es in diesem Prozeß allererst gehen soll, nämlich die Moralität aller Beteiligten? Ist nicht die Bereitschaft, andere als Gleiche zu respektieren, auf ihre Bedürfnisse und Interessen Rücksicht zu nehmen unabhängig davon, wie gesund oder krank, wie jung oder alt, wie klug oder dumm, wie schön oder häßlich sie sind und davon, wie gut man sie kennt und wie gern oder lieb man sie hat, Ausdruck einer moralischen Persönlichkeit? Diesem Vorwurf kann Smith mit dem Hinweis darauf begegnen, daß die grundsätzliche Bereitschaft, andere als Gleiche zu respektieren, zwar schon in dem natürlichen Vermögen der Sympathie angelegt ist, aber nicht mehr ist als eine Disposition, sich zu einer moralischen Persönlichkeit zu entwickeln. Angesichts dessen, daß die Moralität einer Person sich darin manifestiert, daß sie die Angemessenheit von Empfindungen und Handlungen von einem Standpunkt der Unparteilichkeit aus beurteilen kann, kann die bloße Bereitschaft, andere als Gleiche zu respektieren, noch nicht als Ausdruck einer moralischen Persönlichkeit angesehen werden. Derjenige, der bereit ist, andere als Gleiche zu respektieren, wird es in Konfliktfällen zwar nicht auf eine Machtprobe ankommen lassen, sondern nach einem einvernehmlichen Konsens mit allen Beteiligten und allen Zeugen suchen; aber diese Bereitschaft wird ihn nicht daran hindern, den Standpunkt der Unparteilichkeit trotz allen guten Willens zu verfehlen. Mit anderen Worten: In der natürlichen Disposition zur Sympathie ist eine Sehnsucht nach Gleichheit angelegt, die Personen dazu motiviert, einander als Gleiche zu respektieren, aber erst die moralische Erziehung einer Person, ihre Entwicklung zu einer moralischen Persönlichkeit, ermöglicht es ihr, diese Gleichheit in ihrer Interaktion mit anderen angemessen zu realisieren. 18
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Die Art und Weise, in der Smith das moralische Urteil mit Urteilen der Wissenschaft und des ästhetischen Geschmacks für das Schöne vergleicht, scheint mir ein Indiz dafür zu sein, daß er nicht nur in Sachen der Wissenschaft und der Ästhetik, sondern auch in Sachen der Angemessenheit von Empfindungen und Handlungen in einer bestimmten Handlungssituation, also auch in Sachen der Moral Realist ist. Die moralische Normativität, der für die angemessene, gerechte Lösung eines Konflikts zu verwendende Maßstab, entspringt in den Bedürfnissen und Interessen der Konfliktparteien – um es im Rückgriff auf die Metapher von der „Quelle moralischer Normativität“ zu formulieren. Nur insofern Personen egoistische und sympathetische Bedürfnisse und Neigungen haben, gibt es in der Welt so etwas wie normative Tatsachen. Erst im Licht dieser Bedürfnisse und Interessen sind bestimmte Handlungen und reaktive Empfindungen in bestimmten Handlungssituationen angemessen oder unangemessen. Der unparteiische Zuschauer, der moralische Experte, kann daher gar nicht umhin, Handlungen nicht nur als Ereignisse in der Welt, die als solche weder angemessen noch unangemessen sind, sondern einfach stattfinden, zu betrachten; er muß sie im Licht der Bedürfnis und Interessenlagen der beteiligten Personen als diesen Bedürfnissen und Interessen mehr oder weniger angemessen betrachten. Es sind diese Bedürfnisse und Interessen von Personen, die im Kontext äußerer Gegebenheiten die Standards der Angemessenheit und Unangemessenheit von Handlungen und Empfindungen konstituieren. D. h. aber nicht, daß sich die moralischen Normen von diesen für sie konstitutiven Tatsachen unmittelbar ablesen lassen, schließlich verkörpern diese Tatsachen moralische Normen nicht ohne weiteres. Vielmehr geht die prozessuale Erkenntnis der moralischen Normen, die in den natürlichen Bedürfnissen und Interessen der Menschen angelegt sind, einher mit der allmählichen Anpassung menschlicher Handlungen an diese Normen, also mit dem Schaffen von Tatsachen, die diese Normen erfüllen. Die Art und Weise, wie die Beteiligten an einem Konflikt die Tatsachen wahrnehmen, die diesen Konflikt heraufbeschwören, ist durch ihre persönliche Bedürfnis- und Interessenlage sozusagen verzerrt. Diese Verzerrung gilt es aufzuheben. Zu diesem Zweck müssen die 18
18 Vor dem Hintergrund dieser Überlegung liegt es nahe, die moralische Erziehung, wie Smith sie versteht, als einen Prozeß der Anerkennung im Sinne von Fichte und Hegel zu verstehen.
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Konfliktparteien ihre Standpunkte dem des unparteiischen Zuschauers annähern, wobei sie sich unweigerlich auch einander annähern. Diese Annäherung verlangt jedoch nicht von ihnen, von ihren persönlichen Bedürfnissen und Interessen abzusehen, denn diese sind nicht nur dafür, daß es überhaupt zu einem Konflikt gekommen ist, sondern auch dafür, daß es eine moralisch angemessene Lösung des Konflikts gibt, konstitutiv. Was von ihnen im Hinblick auf eine moralische Konfliktlösung verlangt wird ist, daß sie ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen nicht zum alleinigen Maßstab der Angemessenheit von Empfindungen und Handlungen in dieser Konfliktsituation machen. Der objektive Maßstab der Angemessenheit ergibt sich aus der Bedürfnisund Interessenlage aller an dem Konflikt beteiligten Parteien. Smith bietet eine bessere Erklärung dessen an, was Menschen mit egoistischen Bedürfnissen und Interessen dazu motiviert, sich moralisch zu verhalten. Denn im Unterschied zu Kant verzichtet er darauf, die moralische Motivation als eine von der egoistischen Motivation unabhängige und dieser entgegengesetzte Willenskraft zu analysieren. Wie aber fällt der Vergleich von Smiths Theorie der moralischen Erkenntnis mit der Kantischen aus? Nicht nur verzichtet Smith auf eine apriorische Deduktion und nimmt damit eine unüberwindliche Ungewißheit der moralischen Erkenntnis in Kauf. Angesichts der Schwierigkeiten, die bei dem Übergang von seinem Gedankenexperiment zu tatsächlicher menschlicher Interaktion bestehen, ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, daß seine Theorie der Moral trotz ihres interaktiven Charakters letztendlich nicht weniger formal ist als die Kantische. Haben Smiths sympathische Egoisten, wenn sie unter realistischen Bedingungen interagieren, mehr Anhaltspunkte, an denen sie sich bei ihrem Bemühen zu erkennen, welche Art von Verhalten unter welcher Art von Bedingungen moralisch korrekt ist, orientieren können, als Kants menschliche Vernunftwesen? Wo Menschen unter Bedingungen der tatsächlichen Ungleichheit interagieren, unter dem Diktat relativer Macht und Ohnmacht, ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie im Prozeß ihrer Interaktion allmählich zu immer moralischerem Handeln und zu einer Erkenntnis moralischer Prinzipien zu kommen, eher gering. Unter diesen Bedingungen sind die sympathischen Egoisten, die sich um moralische Erkenntnis bemühen, auf das Smithsche Gedankenexperiment verwiesen. D. h., sie müssen überlegen, welche Handlungen in welchen Handlungssituationen Normen entsprechen, gegen deren allgemeine Verbindlichkeit niemand mit guten Gründen irgendwelche Einwände erheben kann. Damit haben sie aber für ihre moralischen
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Urteile über die Angemessenheit menschlichen Empfindens und Handelns nicht wesentlich mehr an Kriterien zu ihrer Verfügung als Kants menschliche Vernunftwesen, die ihre Maximen darauf prüfen müssen, ob sie als allgemeine Gesetze fungieren können. Was Smith bleibt ist der Verweis auf die Bedeutung der moralischen Erziehung zu gegenseitigem Respekt, zu Kooperation, dazu, niemanden von der Kooperation auszuschließen und von allen die Bereitschaft zur Kooperation zu erwarten, zu moralischem Empfinden und Handeln und immer wieder dazu, dem Einfluß von Macht und Ohnmacht so wenig Einfluß auf das Handeln wie möglich einzuräumen. 19
19 Frühere Fassungen dieses Textes habe ich mit den Mitgliedern des Heidelberger Montagskolloquiums, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Internationalen Heidelberger Kolloquiums, insbesondere mit Hans-Peter Schütt, mit Osloer Kollegen und mit Ursula Baumann diskutiert. Ihnen allen sei an dieser Stelle nachdrücklich gedankt.
Sympathische Unparteilichkeit: Adam Smiths moralischer Kontextualismus Carola von Villiez / Universität Bremen I. Einleitung Vor allem im deutschsprachigen Raum herrscht die Auffassung vor, daß die von Smith 1759 vorgelegte Theorie der moralischen Gefühle eine wichtige Station auf dem Weg zur Ethik Immanuel Kants markiert, durch diese aber überwunden wird. 1 Smith lediglich als einen „kleinen Kant“ zu rezipieren hieße aber, den aktuellen Stellenwert seiner Theorie verkennen. Indem er die Vorstellung vom moralischen Standpunkt als einem Standpunkt der losgelösten Unparteilichkeit prozedural auf die Überzeugungen faktischer Moralgemeinschaften bezieht, entwirft er eine Konzeption, die den Einbezug solcher konkreten Überzeugungen erlaubt, ohne diese unkritisch zu akzeptieren. Wenngleich er selbst dies nicht bewußt reflektiert, schlägt er damit einen Mittelweg zwischen Universalismus und Partikularismus im Sinne einer kontextualistischen Auffassung von Moral ein. Und damit gibt er eine wichtige ideengeschichtliche Ressource für aktuelle Theorieentwürfe an die Hand. Denn eine solche kontextualistische Herangehensweise ist, wie John Rawls in A Theory of Justice, Political Liberalism und The Law of Peoples überzeugend dargelegt hat, unerläßliche Voraussetzung für die Fähigkeit einer Moral- oder Gerechtigkeitskonzeption, sich unter den Vorzeichen des Pluralismus zu bewähren. 2 Die von Rawls für die Prak1 In jüngster Zeit läßt sich allerdings eine Revision dieser Sicht verzeichnen. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Aufsatz „Unparteilichkeit in der Moral“, in dem Georg Lohmann unter anderem „an Strawson und Smith anknüpfend Differenzierungen in unseren moralischen Urteilsperspektiven vorschlagen will“. Dabei spielen moralische Gefühle und Unparteilichkeit eine entscheidende Rolle (vgl. Lohmann 2001). 2 Vgl. Rawls 1975, 1993 und 1999. Eine weitere wichtige Ressource zum Entwurf einer kontextualistischen Moraltheorie findet sich in der im Neukantianismus entwickelten Kulturtheorie des Rechts. Zur Formulierung und konstruktiven Weiterent-
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tische Philosophie fruchtbar gemachte Vorstellung eines Überlegungsgleichgewichts zwischen den moralischen Intuitionen und den Prinzipien von Moralgemeinschaften spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Im Nachfolgenden soll mit Blick hierauf eine grundlegende Methodenaffinität zwischen Rawls und Smith aufgezeigt werden, bei der Smiths Vorstellung von Sympathie als einer anthropologischen Grundkonstante und sein Denkmodell des unparteiischen Zuschauers eine tragende Rolle spielen. Auf eine Erörterung seines Sympathiebegriffs (II.) aufbauend sollen Smiths Ausführungen zunächst im Sinne eines Konzepts von drei Dimensionen moralischen Urteilens interpretiert werden (III.). Hieran schließt sich eine nähere Betrachtung seines Modells des unparteiischen Zuschauers (IV.) an. Vor dem Hintergrund von I. bis IV. soll begründet werden, inwieweit Smith eine kontextualistische Moralauffassung unterstellt werden kann (V.). Danach soll eine kurze Darstellung der von Rawls für seine Konzeption der Gerechtigkeit als Fairneß entworfenen Methode des Überlegungsgleichgewichts (VI.) dazu beitragen, die Nähe zwischen beiden Autoren aufzuzeigen (VII.). 3 Ein kurzes Fazit (VIII.) beschließt den vorliegenden Beitrag.
II. Adam Smith: Sympathie als anthropologische Grundkonstante Adam Smith entwirft eine Theorie der moralischen Gefühle. Er reiht sich damit in die Tradition britischer Denker ein, die dem Gefühl eine entscheidende Funktion im moralischen Urteilsprozeß zuerkennen.4 wicklung eines Konzepts von Rechtskulturen vgl. exemplarisch Mohr 1997, 1998 und 2001, Mohr/von Villiez 2002 und von Villiez [i. E.]. 3 Im nachfolgenden wird ausschließlich auf Rawls’ erste Monographie zurückgegriffen. Die insbesondere in Political Liberalism an seiner Konzeption der Gerechtigkeit als Fairneß vorgenommen Änderungen und Ergänzungen sind zwar für seine Theorie insgesamt von überragender Bedeutung, betreffen aber nicht die Fragestellung des vorliegenden Textes. 4 In diesem Zusammenhang sind insbesondere Shaftesbury, Francis Hutcheson und David Hume zu nennen. Wichtige und detaillierte Ausführungen zum Wandel der moral-sense Theorie von Shaftesbury bis Hume finden sich in Schrader 1984. Darwall untersucht in The British Moralists and the Internal Ought die Vorstellungen einiger wichtiger Autoren der britischen Aufklärung zur Verbindlichkeit von moralischen Urteilen. Er unterscheidet dabei Vertreter einer empirisch-naturalistischen Tradition, wie etwa Hume, von solchen, die mit Shaftesbury als Vordenker auf die in der praktischen Philosophie Kants voll ausgereifte Vorstellung moralischer Autono-
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Das bei Smith für moralische Urteile maßgebliche Gefühl ist das der Sympathie. 5 Unter „Sympathie“ versteht er zum einen eine grundsätzliche affektive Rezeptivität gegenüber anderen Menschen, ein Vermögen, das Ernst Tugendhat in seinen Vorlesungen über Ethik treffend als eine Fähigkeit des „affektiven Einstimmens“ oder „wechselseitigen Mitschwingens“ bezeichnet hat. 6 Zum andern bezeichnet er damit konkrete sympathetische Gefühle. Daß er diese nicht auf Gefühle des Mitleids beschränkt wissen möchte, bringt die folgende Textstelle unmißverständlich zum Ausdruck: „Erbarmen“ und „Mitleid“ sind Wörter, die dazu bestimmt sind, unser Mitgefühl mit dem Kummer anderer zu bezeichnen. Das Wort „Sympathie“ kann dagegen, obgleich seine Bedeutung vielleicht ursprünglich die gleiche war, jetzt doch ohne Verstoß gegen den Sprachgebrauch dazu verwendet werden, um unser Mitgefühl mit jeder Art von Affekten zu bezeichnen. (I.i.1.5: 10; dt. 4; H. v. m.).
Für die Verwendung des Sympathiebegriffs im Sinne eines Vermögens läßt sich keine pointierte Textstelle anführen. Sie läßt sich jedoch aus dem Zusammenhang von Textstellen rekonstruieren, in denen Smith, wie etwa in den nachfolgenden, den reziproken Wunsch nach Sympathie als eine naturgegebene Kraft darstellt: Als die Natur den Menschen für die Gesellschaft bildete, da gab sie ihm zur Aussteuer ein ursprüngliches Verlangen mit, seinen Brüdern zu gefallen, und eine ebenso ursprüngliche Abneigung, ihnen wehe zu tun. Sie lehrte ihn Freude über deren freundliche Gesinnung, und Schmerz über ihre unfreundliche Gesinnung zu empfinden. … [S]icher ist, daß nichts unser Wohlgefallen mehr erweckt, als einen Menschen zu sehen, der für alle Gemütsbewegungen unserer Brust Mitgefühl empfindet, und daß uns nichts so sehr verdrießt, als wenn wir an einem Menschen kalte Gefühllosigkeit beobachten. (III.2.6: 116; dt. 176; I.i.2.1: 13; dt. 9).
Die Motivation, dieses Vermögen auszubilden und zum Einsatz zu bringen, folgt aus der grundsätzlichen Soziabilität des Menschen. Es ist diese natürliche Soziabilität, die in ihm ein Bedürfnis hervorruft, mit anderen Menschen nicht bloß intellektuell, sondern auch affektiv zu inmie verstanden werden müssen (vgl. Darwall 1995). Es gibt gute Gründe, Adam Smith, den Darwall in diesem Zusammenhang nicht nennt, als das Bindeglied zwischen diesen letzteren und Kant aufzufassen. 5 Andree arbeitet drei Verwendungsarten des Sympathiebegriffs in der Theorie der moralischen Gefühle heraus: Sympathie als „Grundkraft der menschlichen Natur“, Sympathie als „spezielles Gefühl“ und Sympathie als „Prozeß des Anteilnehmens“. Vgl. Andree 2003, Kap. II. 6 Hierzu Tugendhat 1997, 15. Vorlesung, insb. S. 286 ff.
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teragieren, man könnte fast sagen: „affektiv zu kommunizieren“.7 Aus diesem Grunde haben soziale oder altruistische Affekte nach Smith einen ganz erheblichen Anteil an der Handlungsorientierung der Menschen. 8 Die grundlegende Relevanz dieser Annahme für seine Moralkonzeption manifestiert sich bereits darin, daß er seine Ausführungen in der Theorie der moralischen Gefühle mit den folgenden Worten beginnt: Mag man den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein. (I.i.1.1: 9; dt. 1)
Seiner Überzeugung entsprechend, daß die Natur den Menschen zum Leben in Gemeinschaft mit anderen mittels solcher altruistischer Neigungen überhaupt erst befähigt, setzt Smith das Sympathievermögen als eine anthropologische Grundkonstante voraus. Es hat nach seiner Ansicht zudem als Disposition universale Reichweite. Smith spricht in diesem Zusammenhang von einem sympathieinduzierten universalen Wohlwollen. So etwa im folgenden Abschnitt: Unsere guten Dienste können sich zwar in wirksamer Weise nur sehr selten auf einen größeren Kreis von Menschen erstrecken als auf denjenigen unseres eigenen Landes, unser guter Wille jedoch ist durch keine Grenzen eingeschränkt, sondern kann die Unendlichkeit des Universums umfassen. (VI.ii.3.1: 235; dt. 397)
Dies deutet bereits darauf hin, daß die unmittelbare Wahrnehmung von Affektäußerungen nicht der einzige Auslöser für sympathetische Gefühle sein kann, sondern zu diesem Zwecke auch eine Kenntnis von Situationsparametern ausreichen kann. Mithilfe der Einbildungskraft wird so eine sympathetische Anteilnahme selbst am Schicksal von räumlich weit entfernten Menschen und von historischen Persönlichkeiten, die Ungerechtigkeiten ausgesetzt waren, möglich. Die Vorstellung der Sympathie bildet das konzeptuelle Rückgrat von Smiths Theorie. 9 Mit ihrer Hilfe beschreibt er zum einen das All7 Tugendhat 1997, S. 295. 8 Der Altruismusbegriff wird hier im Sinne von Thomas Nagel verwendet und bezeichnet insofern nicht etwa eine Vorstellung von Selbstaufopferung, sondern eine grundlegende Bereitschaft, die Interessen anderer im eigenen Handeln mit zu berücksichtigen (vgl. Nagel 1970). 9 In diesem Sinne auch Tugendhat 1997, S. 284: Der „Kern von Smiths Ethik … bezieht sich ganz auf eine universalistisch gebotene Bezogenheit der eigenen Affekti-
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tagsverhalten der Menschen beim Fällen von Moralurteilen.10 Zum andern begründet er damit seine Forderung, die eigenen Interessen und die Interessen anderer als gleichermaßen urteils- und handlungsrelevant zu berücksichtigen und sich in Urteil und Handlung an einem dies verbürgenden Verfahren zu orientieren. Er verwendet den Sympathiebegriff also nicht nur mit Blick auf eine bloße Beschreibung von Moralpraktiken, sondern auch zum Entwurf eines normativen Verfahrens, das Kriterien rationalen Urteilens Rechnung trägt, und so als Prüfinstanz für moralische Alltagsurteile dienen kann. Sympathie spielt bei Smith eine entscheidende Rolle in der Rechtfertigung von Moralurteilen. Zu Rechtfertigungszwecken reichen durch bloße Affektäußerungen induzierte sympathetische Gefühle nicht hin. Hierzu bedarf es mindestens einer umfassenden Kenntnis der Situationsparameter und des moralischen Urteilskontextes. Als abschließend gerechtfertigt können Moralurteile aber erst dann gelten, wenn sie sich darüber hinaus aus einer diesem Urteilskontext übergeordneten Perspektive der Unparteilichkeit bewähren. Seine diesbezüglichen Ausführungen lassen sich auf ein Konzept von drei Dimensionen moralischen Urteilens bringen, die sich an drei Graden von sympathetischen Gefühlen festmachen.
III. Adam Smith: Drei Dimensionen moralischen Urteilens Für die erste Dimension moralischen Urteilens ist eine Form von unmittelbarer sympathetischer Kommunikation charakteristisch. Sie besteht in der Wechselwirkung zwischen Affektbekundungen – wie Freude oder Schmerz – und hierdurch im Betrachter ausgelösten wohlwollenden Reaktionen. Die folgende Textstelle ist dahingehend besonders aussagekräftig: In manchen Fällen mag es den Anschein haben, daß Sympathie aus dem bloßen Anblick einer bestimmten Gemütsbewegung an einer anderen Pervität auf die der anderen, auf die affektive Offenheit zu den anderen und d.h. zu deren Affekten bzw. Affektfähigkeit.“ 10 In seinen Erörterungen zum Gerechtigkeitssinn beschreibt Rawls in umfänglicher Anlehnung an moralpsychologische Theorien einen Prozeß moralischen Lernens (vgl. Rawls 1975, Kap. 8). Mithilfe seiner Ausführungen lassen sich die Annahmen von Smith moralpsychologisch stützen.
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son entstehe. In manchen Fällen mag es geradezu scheinen, daß die Affekte sich von einem Menschen auf einen anderen übertragen, und zwar bevor dieser noch irgendwelche Kenntnis davon hat, was es war, das in der zunächst betroffenen Person jene Affekte auslöste. (I.i.1.6: 11; dt. 5; H. v. m.)
Urteile, die sich dieser Form von sympathetischer Kommunikation verdanken, gründen nicht auf einer umfassenden Kenntnis der Sachlage, sondern auf der bloßen Beobachtung von Affektäußerungen. Man könnte sagen, sie beinhalten einen Vorschuß an wohlwollenden Gefühlen, der sich bei genauerer Betrachtung als unberechtigt erweisen kann. Für solche sympathetischen Gefühle ersten Grades ist alleine die grundsätzliche Soziabilität der Menschen ausschlaggebend, das natürliche Bedürfnis nach wechselseitiger Zuneigung. Sie sind also nicht etwa auf besondere Beziehungen zwischen sich den Menschen angewiesen. Die zweite Dimension ist nicht mehr von diesem primären Naturbedürfnis nach wechselseitiger Zuneigung geprägt, sondern von einem Wunsch nach wechselseitiger Billigung. Denn Menschen finden, so Smith, auch ein intrinsisches Wohlgefallen an der Billigung ihrer Mitmenschen, während deren Mißbilligung sie mit Schrecken und Schmach erfüllt. 11 Sympathetische Gefühle zweiten Grades sind insofern als Billigungsgefühle zu verstehen. Daß das Interesse an dahingehenden wechselseitigen moralischen Stellungnahmen weitaus mehr zur Folge hat, als die schlichte Übersetzung der Überzeugungen oder Affekte anderer in Eigenurteile erster Instanz, macht das folgende Zitat deutlich: Aber dieses Verlangen nach der Billigung seiner Brüder und diese Abneigung gegen deren Mißbilligung würden nicht allein hingereicht haben, um den Menschen für jene Gesellschaft geeignet zu machen, für die er geschaffen war. Darum hat die Natur ihn nicht nur mit dem Verlangen begabt, gelobt und gebilligt zu werden, sondern auch mit dem Verlangen, so zu sein, daß er gelobt werden sollte, oder so zu sein, wie er selbst es an anderen Menschen billigt. (III.2.7: 117; dt. 176; H. v. m.)
Im Hinblick auf Billigungsurteile verfügen Individuen nach Smith zunächst einmal einzig über ihren jeweils eigenen Maßstab: „Jedes Vermögen, das ein Mensch in sich findet, ist der Maßstab, nach welchem er das gleiche Vermögen bei einem anderen beurteilt“ (I.i.3.10: 19; dt. 19). Dieser Feststellung widmet er einen ganzen Abschnitt unter der Überschrift: „Von der Art und Weise, wie wir über die Schicklichkeit oder 11 Vgl. III.2.6: 116; dt. 176.
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Unschicklichkeit der Gemütsbewegungen anderer Menschen je nach ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit unseren eigenen urteilen“ (I.i.3: 16 ff.; dt. 14 ff.). Urteile, die ausschließlich in Orientierung am subjekteigenen Maßstab gefällt werden, haben indessen keine Aussicht auf intersubjektive Geltungsfähigkeit, denn Smith sieht in diesem Zusammenhang kein dem Menschen intuitiv zugängliches, inhaltliches Kriterium für die Richtigkeit von Moralurteilen vor. Er fordert zwar, Affekte mit Blick auf ihren Anlaß zu beurteilen. Da die individuelle Urteilskompetenz der Menschen nach seiner Ansicht aber variiert 12, ist davon auszugehen, daß sie selbst auf der Grundlage einer umfassenden Situationskenntnis zu voneinander abweichenden Ergebnissen gelangen werden. Seine Erörterung der angemessenen Grade von unterschiedlichen Affekten 13 scheint hier wenig beitragen zu können. Das Fehlen eines präzisen inhaltlichen Kriteriums für die Angemessenheit von Art und Intensität der Affekte in Relation zu ihren Ursachen legt die Vermutung nahe, daß Moralurteile zweiter Instanz bei Smith neben einer umfassenden Situationskenntnis auf einen interpersonellen Austausch angewiesen sind. Zugunsten einer solchen Interpretation spricht auch der von Smith vorgesehene reziproke Rollentausch (s. u.), mittels dessen sich moralische Akteure zu Urteilszwecken ein möglichst umfassendes Bild von den (rationalen und affektiven) Interessen aller von einer Handlung oder Haltung Betroffenen verschaffen. In Kenntnis aller involvierten Interessen wird dann die Angemessenheit der fraglichen Handlung oder Haltung zunächst aus der Sicht eines binnengesellschaftlichen Zuschauers beurteilt. Hierbei spielen reale Zuschauer, die ihr Verhalten wechselseitig bewerten und kommentieren, eine entscheidende Rolle. Aufgrund dessen ist davon auszugehen, daß ihre Urteile die Normen und Intuitionen ihrer Moralgemeinschaft reflektieren. Man könnte sie insofern als im Kontext einer bestehenden Moralgemeinschaft begründete Moralurteile auffassen. Die zweite Dimension moralischen Urteilens würde dann nicht mehr in erster Linie darauf beruhen, daß Menschen einander als fühlende Wesen wahrnehmen, sondern darauf, daß sie sich als Akteure einer Moralgemeinschaft wechselseitig anerkennen und sich an dem orientieren, was Smith unter dem Begriff des Annäherungsstandards faßt (s. u.).
12 Vgl. VI.iii.23–25: 247 f.; dt. 417 f. 13 Vgl. I.ii: 27–43; dt. 32–60.
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Wenngleich solche Urteile, wie weiter unten gezeigt werden soll, eine wichtige Rolle als Komponente eines Überlegungsgleichgewichts spielen, können sie aber nicht alleine schon aufgrund ihrer Orientierung an den in einer Moralgemeinschaft vorherrschenden Überzeugungen als abschließend gerechtfertigt gelten, denn die letzteren können auch bloße Vorurteile widerspiegeln oder auf faktischen Mißverständnissen beruhen. Und dementsprechend unterscheidet auch Smith zwischen im Kontext einer Moralgemeinschaft wohlbegründeten Angemessenheitsurteilen (Annäherungsurteilen) und diese kritisch reflektierenden Unparteilichkeitsurteilen. Für die sich hiermit erschließende dritte Dimension moralischen Urteilens ist nicht mehr der „moralische Beifall der Gesellschaft“ – ihre Billigung oder Mißbilligung – maßgeblich, sondern vielmehr der Billigungswert von Handlungen. Smith trifft diese Unterscheidung mit den folgenden Worten: Lob und Tadel bringen zum Ausdruck, wie die Gefühle anderer Menschen in bezug auf unseren Charakter und unser Verhalten tatsächlich sind, Lobenswürdigkeit und Tadelnswürdigkeit, wie sie eigentlich sein sollten. (III.2.25: 126; dt. 191) 14
Für das kritische Hinterfragen von im Kontext einer Moralgemeinschaft begründeten moralischen Urteilen sind dementsprechend auch nicht mehr die Meinungen von realen Zuschauern ausschlaggebend. An deren Stelle tritt ein idealisierter Zuschauer: der „unparteiische Zuschauer“. Diese Vorstellung kommt in der folgenden Textpassage besonders eindrucksvoll zur Geltung: Obgleich aber der Mensch auf diese Weise zum unmittelbaren Richter der Menschen gemacht worden ist, so erhielt er dieses Richteramt doch nur in der ersten Instanz; und es gibt eine Berufung von seinem Richterspruch an ein weit höheres Tribunal, an das Tribunal ihres eigenen Gewissens, an jenes Tribunal des vorgestellten unparteiischen und wohlunterrichteten Zuschauers, an das des „inneren Menschen“, des großen Richters und Schiedsherren über ihr Verhalten. Die Rechtsprechung jedes dieser beiden Tribunale gründet sich auf Prinzipien, die in mancher Hinsicht zwar ähn14 Man ist bei Smith oftmals mit der Schwierigkeit konfrontiert, daß er Ausführungen zur Bewertung des eigenen Verhaltens von solchen zur Bewertung des Verhaltens anderer nicht klar trennt. Da er aber für beide Fälle den gleichen Mechanismus unterstellt, erscheint eine nähere Differenzierung für den vorliegenden Zweck nicht zwingend notwendig. Hierzu exemplarisch: „Das Prinzip, nach welchem wir unser eigenes Verhalten natürlicherweise billigen oder mißbilligen, scheint ganz dasselbe zu sein, wie dasjenige, nach dem wir die gleichen Urteile über das Betragen anderer Leute fällen.“ (III.1.2: 109; dt. 166) Ähnlich auch Raphael/Macfie 1982, S. 17.
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lich und verwandt, in Wirklichkeit aber doch voneinander verschieden und abweichend sind. Die Gerichtsbarkeit des „äußeren“ Menschen gründet sich durchaus auf den Wunsch nach wirklichem Lob und auf die Abneigung gegen wirklichen Tadel. Die Gerichtsbarkeit des „inneren“ Menschen gründet sich ganz und gar auf den Wunsch, lobenswürdig zu sein und auf die Abneigung dagegen, tadelnswert zu sein; (III.2.32: 130 f.; dt. 194).
Für Moralurteile dieser Dimension sind sympathetische Gefühle dritten Grades maßgeblich, die sympathetischen Gefühle eines wohlinformierten und unparteiischen Zuschauers. Einzig Handlungen und Haltungen, mit denen diese fiktive Person affektiv und intellektuell mitgehen kann, können als abschließend gerechtfertigt gelten. An diesem Punkt geht es Smith also offensichtlich nicht mehr um eine bloße Deskription von Moralpraktiken. Es geht ihm vielmehr um die Konstruktion von normativen Verfahrensmaßstäben, an denen diese Praktiken sich messen lassen müssen.
IV. Adam Smith: Der unparteiische Zuschauer Die Figur des unparteiischen Zuschauers ist als ein heuristisches Hilfsmittel zu verstehen. Sie dient als gedankliches Konstrukt, um den Billigungswert von Handlungen oder Haltungen zu bestimmen, und funktioniert (in der einfachsten Konstellation) nach dem folgenden Schema: Ich vollziehe eine Handlung H. Mein Vollzug dieser Handlung oder die darin zum Ausdruck kommende Haltung ruft bei einer von ihr physisch oder affektiv betroffenen Person B Reaktionen der Billigung oder Mißbilligung hervor. Anstatt aber deren Billigungsoder Mißbilligungsurteil über mein Verhalten schlicht zu akzeptieren, prüfe ich es selbst auf seinen Billigungswert. Dazu versetze ich mich zunächst in die Lage von Person B, und zwar nicht bloß mit dem Ziel einer intellektuellen Bestimmung von deren rationalen Interessen, sondern auch zum Zweck einer affektiven Bestimmung der mit ihrer Situation verbundenen Gefühle. Das heißt, nicht nur denke ich mich in B hinein, ich fühle mich gewissermaßen auch in B hinein und beziehe die daraus gewonnenen intellektuellen und affektiven Informationen in mein Urteil mit ein. Mit Blick auf die eigene Person nehmen wir diese umfassende Interessenbestimmung so selbstverständlich vor, daß es in der Regel schwierig ist, objektive Gründe von rein subjektiven Gründen oder Gefühlen zu trennen und ohne die Beimischung letzterer – also unpartei-
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lich – zu urteilen. Um dieser naturgegebenen, affektiven Parteilichkeit („[that] … natural inequality of our sentiments“; III.3.3: 136; dt. 201) etwas entgegensetzen zu können, ist zunächst ein umfassender, reziproker Rollentausch erforderlich. Bei diesem Rollentausch erster Instanz begeben wir uns vollständig in die Situation der anderen Person hinein und ermitteln alle ihre Ausgangswerte inklusive ihrer Gefühle zugunsten der eigenen Person. Der hierdurch angestrebte Zustand umfassender Informiertheit setzt also gleichermaßen ein intellektuelles Erfassen der rationalen Interessen der von einer Handlung oder Haltung betroffenen Parteien durch die Vernunft und ein sinnliches Erfassen ihrer affektiven Interessen durch das Gefühl voraus. Damit liefert der reziproke Rollentausch eine reichere Vorstellung davon, was für die Kontrahenten auf dem Spiel steht, als dies der Fall wäre, wenn sich die anderen unterstellte Interessenlage ausschließlich auf unsere eigenen Situationswahrnehmungen und Persönlichkeitsmerkmale stützen würde. Auf dieser Basis können wir Urteile fällen, die der zweiten Dimension moralischen Urteilens gerecht werden, d. i. Urteile, die auf einer umfassenden Kenntnis der involvierten Interessen gründen, und die durch ihre Übereinstimmung mit den bestehenden moralischen Intuitionen und Normen als im Rahmen einer Moralgemeinschaft wohlbegründet gelten können. Solche Urteile können aber aus den weiter oben genannten Gründen keinen abschließenden Geltungsanspruch erheben, sondern haben bloß provisorischen Charakter, solange sie nicht aus der Perspektive eines im obigen Sinne voll informierten und unparteiischen Zuschauers geprüft wurden. Hierzu bedarf es eines Rollentauschs zweiter Instanz, den wir „durch Gewohnheit und Erfahrung lernen“15 und den Smith wie folgt beschreibt: Ehe wir einen gerechten Vergleich zwischen jenen entgegengesetzten Interessen anstellen können, müssen wir unseren Standort verändern. Wir dürfen sie weder von unserem, noch auch von seinem Platze aus betrachten, weder mit unseren eigenen Augen, noch mit den seinigen, sondern wir müssen sie von dem Platze und mit den Augen einer dritten Person ansehen, die in keiner näheren Beziehung zu einem von uns beiden steht, und die mit Unparteilichkeit zwischen uns richtet. (III.3.3: 135; dt. 201)
Diese wohlinformierte Unparteilichkeit gilt Smith als Voraussetzung für Moralurteile, die in einem der bloßen Übereinstimmung mit vorherrschenden Überzeugungen übergeordneten Sinne als gerechtfertigt gelten können. Eine Handlung oder Haltung ist erst dann in letzter In15 Vgl. III.3.3: 135; dt. 200.
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stanz gerechtfertigt, wenn sie sich als Ergebnis der Durchführung eines Unparteilichkeitsverfahrens darstellen läßt. Wie sich dieses Verfahren operationalisieren läßt, soll weiter unten erläutert werden. In den bisherigen Ausführungen scheint sich ein entscheidender Unterschied zwischen Smiths Theorie der moralischen Gefühle und anderen Ethikkonzeptionen, die den moralischen Standpunkt in einem Konzept von Unparteilichkeit verkörpert sehen, abzuzeichnen.16 Andere Theoretiker versuchen, Unparteilichkeit mittels einer vollständigen Abstraktion von der konkreten Person und Situation der Akteure und vor allem auch von deren Affekten herzustellen. Man könnte dies als eine „dünne“ Vorstellung von Unparteilichkeit bezeichnen. Rawls entspricht ihr mit seiner Vorstellung eines „dichten Schleiers des Nichtwissens“, der zunächst sämtliche Informationen aus der Urteilssituation ausschließt, um dann genau die für eine Entscheidung als notwendig erachteten Informationen wieder zuzulassen. Im Unterschied zu einer solchen dünnen Vorstellung von Unparteilichkeit vertritt Smith eine dichte Vorstellung von Unparteilichkeit, die nicht einmal die natürliche affektive Parteilichkeit der Menschen gegenüber der eigenen Person aus der Urteilssituation ausschließt. Letztere wird vielmehr in das Unparteilichkeitsverfahren mit eingebracht, um sich so gewissermaßen selbst auszugleichen. Mit anderen Worten: wenn nicht zu erwarten steht, daß man von der natürlichen Parteilichkeit zugunsten der eigenen Person absehen kann, so muß man eben auch die analoge Parteilichkeit des Gegenübers mit in Anschlag bringen. Smith steht damit scheinbar in Opposition zu traditionellen Unparteilichkeitsmodellen und wird in diesem Zusammenhang insbesondere auch von Rawls kritisiert. 17 Es lassen sich jedoch ungeachtet der Unterschiede zwischen den Unparteilichkeitskonzepten von Rawls und Smith Methodenaffinitäten begründen, die Smith mit Rawls in die Nähe einer kontextualistischen Auffassung von Moral rücken.
16 Hierzu exemplarisch Barry 1989 und 1995, Habermas 1992, Nagel 1970, Rawls 1975 und 1993. 17 Zur Erörterung der Unparteilichkeitsmodelle von Smith, Rawls und Barry im Hinblick auf eine Verteidigung des Prinzips der Unparteilichkeit als Grundprinzip einer Gerechtigkeitstheorie vgl. Mohr 2003.
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V. Adam Smith als Vertreter einer kontextualistischen Moralauffassung Eine kontextualistische Moralkonzeption zeichnet sich dadurch aus, daß sie Moralurteile in die Obhut von Verfahrensoperationen gibt, mit Hilfe derer sich Handlungen hinsichtlich des Vorliegens von bestimmten Handlungseigenschaften prüfen lassen, und dadurch, daß sie die Ergebnisse dieser Operationen an die eingelebten Moralverständnisse von Menschen in sozialen Handlungskontexten rückbindet. Indem sie deren moralische Intuitionen auf der methodischen Ebene kritisch mit einbezieht, erkennt eine solche Konzeption Moral als ein historisch und kulturell geprägtes Phänomen an, ohne dabei den aktuellen moralischen Befindlichkeiten einer Moralgemeinschaft das Wort zu reden. Sie erhebt damit Anspruch auf eine überkulturelle und überhistorische Rechtfertigung von Moralurteilen und Normen, die sich gleichwohl keiner ahistorischen oder akulturellen Perspektive verdankt, und nimmt eine vermittelnde Stellung zwischen einer universalistischen und einer partikularistischen Auffassung von Moral ein. Inwieweit Smith eine solche kontextualistische Auffassung von Moral zugeschrieben werden kann, soll anhand seiner Ausführungen zu den zwei Maßstäben moralischen Urteilens veranschaulicht werden, die er für die Urteile von realen Zuschauern und das Urteil des idealisierten, unparteiischen Zuschauers namhaft macht. Wenngleich Smith selbst dies nicht explizit macht, gibt es Grund zur Annahme, daß sich der für die Urteile realer Zuschauer maßgebliche Standard im Zuge der Interaktionen von Moralakteuren herausbildet, die kontinuierlich ihre moralischen Affekte miteinander abgleichen, sich wechselseitig „den Spiegel vorhalten“.18 Menschen sind nach seiner Ansicht bei der Ausbildung und Anwendung ihrer moralischen Maßstäbe grundsätzlich aufeinander verwiesen, 19 so daß sich Moralbildung bei Smith als ein interpersoneller Prozeß präsentiert, eine Art von „moralischem Kreislauf“, in dem sich die Moralvorstellungen von Individuum und Gesellschaft wechselseitig bedingen und fortentwickeln. In diese Richtung weisen auch seine vielfachen Hinweise auf die Notwendigkeit einer wechselseitigen Angleichung der Emotionen von pri18 Vgl. III.1.3: 110 ff.; dt. 167 ff. 19 Vgl. III.1.3: 110; dt. 167 f.
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mär Betroffenen und Zuschauern. 20 Gemeint sind reale Zuschauer, die im Kontext einer Moralgemeinschaft ihr Moralverhalten wechselseitig bewerten und kommentieren (s. o.). Smith spricht in diesem Zusammenhang von einer imperfekten Formulierung des Unparteilichkeitsideals, einem Annäherungsstandard, an dem sich das Moralverhalten einer Gesellschaft mehrheitlich orientiert. 21 Dem Annäherungsstandard stellt Smith eine Vorstellung perfekter Unparteilichkeit, einen „Archetypus der Perfektion“ gegenüber. 22 Mit dessen Kennzeichnung als Idealstandard bringt er zum Ausdruck, daß das perfekte Urteil eines wohlinformierten unparteiischen Zuschauers für Menschen zwar unerreichbar bleibt, gleichwohl mittels des zweiten Rollentauschs stets anzustreben ist. 23 Unsere moralischen Wertungen bewegen sich daher stets im Spannungsfeld dieser beiden Standards: Wenn wir unsere eigenen Verdienste abschätzen, wenn wir über unseren Charakter und unser Verhalten urteilen wollen, haben wir zweierlei Maßstäbe, mit welchen wir sie natürlicherweise vergleichen. Der eine ist die Vorstellung genauer sittlicher Richtigkeit und Vollkommenheit, soweit jeder einzelne von uns eben fähig ist, diese Vorstellung überhaupt zu fassen. Der andere Maßstab ist jener Grad der Annäherung an diese Vorstellung, der gewöhnlich in der Welt erreicht wird, und welchen die Mehrzahl unserer Freunde und Gefährten, unserer Rivalen und Mitbewerber tatsächlich erreicht haben mögen. Wir werden selten – oder, wie ich glauben möchte, nie – den Versuch machen, über uns selbst zu urteilen, ohne daß wir dabei unsere Aufmerksamkeit mehr oder weniger auf diese beiden Maßstäbe lenken würden. Die Aufmerksamkeit verschiedener Menschen oder sogar desselben Menschen zu verschiedenen Zeiten ist [aber] oft sehr ungleich zwischen diesen Maßstäben geteilt und ist manchmal vorzugsweise auf den einen, manchmal auf den andern gerichtet. (VI.iii.23: 247; dt. 417)
Die folgende Textpassage, in der Smith die Entstehung des Idealstandards beschreibt, indiziert, daß er mit seiner Rede vom Archetypus der Perfektion nicht etwa auf eine Form von moralischem Realismus abhebt: In dem Geiste eines jeden Menschen gibt es eine derartige Vorstellung, die sich nach und nach aus seinen Beobachtungen über seinen eigenen Charak20 21 22 23
Vgl. I.i.4: 21 ff.; dt. 23 ff. Vgl. I.i.5: 26; dt. 31 und VI.iii: 247; dt. 417. A. a. O. Smith bemerkt, daß Urteile exakter Angemessenheit letztlich wohl nur von einem göttlichen Wesen erreicht werden. Dessen ungeachtet wird sich aber der „weise und tugendhafte Mensch“ stets am Idealstandard orientieren und versuchen, sich ihm so weit wie möglich anzunähern (III.iii.25: 247; dt. 417).
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ter und sein Verhalten sowie über diejenigen anderer Personen gebildet hat. Sie ist das langsam und schrittweise fortschreitende Werk des großen Halbgottes in seiner Brust, des großen Richters und Schiedsherrn über sein Verhalten. Diese Vorstellung ist in jedem Menschen mehr oder weniger genau gezeichnet, ihre Farben sind mehr oder weniger richtig, ihre Umrisse mehr oder weniger exakt gezogen, je nach der Zartheit und Schärfe jener Empfindsamkeit, mit welcher er diese Beobachtungen gemacht, und je nach der Sorgfalt und Aufmerksamkeit, die er dabei aufgewendet hat. … jeden Tag [wird] irgendein Zug verbessert, jeden Tag ein Fehler richtiggestellt. (VI.iii.25: 247; dt. 417 f.) 24
Sie legt es vielmehr nahe, den Idealstandard, das perfekte Urteil des unparteiischen Zuschauers, als das Idealergebnis einer beobachtenden Analyse des Charakters und des Verhaltens unserer Selbst und anderer und der kontinuierlichen Anwendung des Unparteilichkeitsverfahrens auf diese Beobachtungen im Sinne eines sozialkontextlichen Rekonstruktionsprozesses zu verstehen. Dabei spielen Prinzipien eine wichtige Rolle. Prinzipien, die Smith für signifikante Bestandteile einer Moral hält, 25 werden im Zuge der beobachtenden Analyse unserer gesellschaftlichen Moralpraxis gebildet: Die fortgesetzten Beobachtungen, die wir über das Verhalten anderer Menschen machen, bringen uns unmerklich dazu, daß wir uns gewisse allgemeine Regeln darüber bilden, was zu tun oder zu meiden schicklich und angemessen ist. (III.4.7: 159; dt. 238)
Aufgrund des natürlichen Wunsches nach Zuneigung und Billigung spielen dabei die Wertungen unseres moralischen Umfelds eine bedeutende Rolle. So spricht Smith im Anschluß an die zuvor zitierte Textstelle davon, daß bestimmte Handlungen unseren „natürlichen Sinn für Angemessenheit“ schockieren oder befriedigen. Sofern diese Gefühle durch die Gefühlsäußerungen anderer bestärkt werden, empfinden wir eine unseren affektiven Bedürfnissen entsprechende Befriedigung. Und so motiviert uns die Beobachtung, daß bestimmte Handlungen diejenigen Gefühlsreaktionen der Menschen hervorrufen, nach denen wir einen natürlichen Wunsch verspüren – „[s]ie erregen alle jene Gefühle, nach denen wir natürlicherweise das stärkste Verlangen tragen, die Liebe, die Dankbarkeit, die Bewunderung der Menschen“ (III.4.7: 159; 24 Hierzu auch III.2.31; 129 Fn. 25 Smith widmet sich dem Status von Prinzipien in einem Kapitel zum Ursprung und Zweck allgemeiner Regeln. Kritische Erörterungen hierzu finden sich in Griswold 1999, insb. Kap. 2 und Fleischacker 1999, insb. Kap. 3.
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dt. 238 f) – dazu, es uns selbst zur Regel zu machen, immer dementsprechend zu handeln: Auf diese Art werden die allgemeinen Regeln der Sittlichkeit gebildet. Sie gründen sich letzten Endes auf die Erfahrung darüber, was [unser moralisches Vermögen; our moral faculties,] unser natürliches Gefühl für Verdienst und sittliche Richtigkeit in bestimmten Einzelfällen billigt oder mißbilligt. (III.4.8: 159; dt. 239, H. v. m.)
Man könnte also sagen, daß wir über die Angemessenheit von Handlungen zunächst auf der Grundlage einer Rezeption der moralischen Überzeugungen unseres Umfelds befinden. Für unsere dahingehenden Intuitionen und Regeln und hierauf gründende Urteile sind dann sympathetische Gefühle ersten und zweiten Grades (Wohlwollen und Billigung) maßgeblich, und nicht die Gefühle des unparteiischen Zuschauers, die sich erst einer Reflexion auf diese Gefühle und Urteile ersten und zweiten Grades verdanken. Die Rede vom „natürlichen Sinn für Verdienst und Angemessenheit“ würde nach dieser Lesart auf die sympathetische Grunddisposition der Menschen referieren und eine Form von natürlichem Moralverhalten in sozialen Kontexten konstatieren. In diesem Zusammenhang wird auch Smiths Annahme, daß moralische Wertungen nicht ursprünglich auf allgemeine Prinzipien zurückgehen, verständlich: Wir billigen oder verurteilen ursprünglich gewisse Handlungen nicht deshalb, weil sie sich bei näherer Prüfung als mit einer bestimmten allgemeinen Regel verträglich oder unvereinbar erweisen. Vielmehr wird umgekehrt die allgemeine Regel danach gebildet, daß wir aus der Erfahrung gelernt haben, wie alle Handlungen einer gewissen Art, oder unter gewissen Umständen verübt, gebilligt oder mißbilligt werden. (III.4.8: 159; dt. 239)
Wenn sich diese allgemeinen Prinzipien aber letztlich den Aktivitäten unseres natürlichen moralischen Vermögens verdanken und dieses durch den natürlichen Wunsch nach Wohlwollen und Billigung gesteuert wird, können sie nicht als Maßstab für die abschließende Rechtfertigung von Moralurteilen gelten, denn hierfür ist bei Smith alleine der Billigungswert von Handlungen oder Haltungen ausschlaggebend, und der wird nicht durch den Umstand bestimmt, daß Handlungen oder Haltungen sympathetische Gefühle ersten oder zweiten Grades hervorrufen. Der Billigungswert einer Handlung oder Haltung ergibt sich vielmehr erst daraus, daß sie die sympathetischen Gefühle des wohlinformierten unparteiischen Zuschauers auf sich ziehen kann. Dennoch kommt allgemeinen Prinzipien eine korrektive Funktion im Hinblick auf unsere moralischen Gefühle zu:
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Wenn es uns einmal zur Gewohnheit geworden ist, an jene allgemeinen Regeln des Verhaltens zu denken, und wenn sie sich dadurch unserem Geiste fest eingeprägt haben, dann sind sie sehr nützlich dazu, um die falschen Angaben unserer Selbstliebe in betreff der Frage, wie gerade in unserer Lage vom sittlichen Standpunkte aus gehandelt werden sollte, richtigzustellen. (III.4.12: 160; dt. 241)
Das heißt: Allgemeine Prinzipien verdanken sich sympathetischen Gefühlen und dienen in konkreten Situationen gleichzeitig als deren Korrektiv. Man könnte insofern von einer Wechselwirkung zwischen Prinzipien und moralischen Intuitionen (sympathetischen Gefühlen ersten und zweiten Grades) sprechen, bei der keine der beiden Seiten einen absoluten Rechtfertigungsanspruch für sich geltend machen kann. Die abschließende Rechtfertigung eines aus ihrer Interaktion erzielten Ergebnisses erfolgt durch die Zustimmung des unparteiischen Zuschauers. Und in diesem Sinne läßt sich das von Smith entworfene Verfahren als ein sozialkontextlicher Rekonstruktionsprozeß auffassen, dessen Ziel darin besteht, unsere moralischen Intuitionen und Prinzipien unter Bedingungen der Unparteilichkeit miteinander in Einklang zu bringen. Eine Annäherung an das perfekte Urteil des unparteiischen Zuschauers macht dabei ein beständiges Hin- und Hergehen zwischen Intuitionen und Prinzipien unter Bedingungen der Unparteilichkeit erforderlich. Hiermit ließe sich auch Smiths Äußerung, daß unsere Moralurteile stets eine verborgene Referenz enthalten auf die tatsächlichen Urteile anderer oder auf die Urteile, die wir von ihnen glauben erwarten zu können, oder auf die Urteile, die unter bestimmten Bedingungen zu erwarten wären, 26 verständlich machen: Die tatsächlichen Urteile anderer entsprechen den von ihnen zum Ausdruck gebrachten moralischen Intuitionen, die Urteilserwartungen werden durch die diesen zugrundeliegenden Prinzipien geweckt und die letzten sind die perfekten Urteile, denen wir uns durch eine Durchführung des Unparteilichkeitsverfahrens annähern. Gerechtfertigte Moralurteile stehen bei Smith also im Zeichen des kritischen Selbstverständnisses einer Moralgemeinschaft, das sich mit der Durchführung des oben beschriebenen Verfahrens, bei dem der Unparteilichkeitsgedanke einer Prinzipienmoral prozedural auf die Praxis einer Moralgemeinschaft bezogen wird, einstellt. In diesem Sinne kann man ihm eine kontextualistische Auffassung von Moral zuschreiben, die sich durch eine grundsätzliche Nähe zu dem Konzept eines Über26 Vgl. III.1: 110; dt. 167.
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legungsgleichgewichts ausweist, das Rawls seiner Konzeption der Gerechtigkeit als Fairneß als methodisches Grundgerüst zugrunde legt.
VI. John Rawls: Die Idee des Überlegungsgleichgewichts John Rawls ist für seine moderne Reformulierung der Gesellschaftsvertragstheorie bekannt. Das diesbezüglich signifikante Element seiner Theorie ist der sogenannte „Urzustand“ („original position“). Es ist dies ein imaginärer Zustand, in den man sich zur Beurteilung der Gerechtigkeitsqualität von gesellschaftlichen Grundstrukturen hineinversetzen soll und der insofern als Gedankenexperiment zu verstehen ist. Mithilfe dieses Urzustands simuliert Rawls eine Situation rationaler Entscheidung unter Unsicherheit, in der fiktive Vertragspartner sich verbindlich auf Gerechtigkeitsgrundsätze für ihre Gesellschaft einigen müssen. Bestimmte Vernunftbedingungen (die selbst nicht zur Wahl stehen), sollen dabei den Rahmen für eine unparteiliche Entscheidung vorgeben. Die für den vorliegenden Zusammenhang relevante Bedingung ist der sogenannte „Schleier des Nichtwissens“ („veil of ignorance“). Anders als Smith vertritt Rawls die Auffassung, daß Unparteilichkeitsurteile unter Ausschluß von konkreten Informationen gefällt werden müssen. Daher verdeckt dieser metaphorische Schleier in der imaginären Vertragssituation des Urzustands solche Informationen, die nach seiner Ansicht den Akteuren Anhaltspunkte für ein eigenparteiliches Urteil liefern könnten, also in erster Linie Informationen über ihre persönlichen Lebensumstände und Lebensaussichten. Der Umstand, daß Rawls seinen Urzustand – in erklärter Abgrenzung gegen das Modell eines mitfühlenden, unparteiischen Zuschauers – durch den Ausschluß von bestimmten Informationen als eine Entscheidungssituation unter Unsicherheit entwirft, 27 weckt die Erwartung gravierender Unterschiede zwischen den beiden Autoren. Dazu ist zunächst einmal zu bemerken, daß Rawls’ Ablehnung des unparteiischen Zuschauers auf ein inkorrektes Verständnis des von Smith zugrunde gelegten Sympathiebegriffs und dessen Funktion in seiner Theorie der moralischen Gefühle zurückgeht. Er scheint die populäre Auffassung zu teilen, daß Smith moralisches Handeln von philanthro27 Vgl. Rawls 1975, S. 211 ff.
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pischen Neigungen abhängig macht. 28 Dem ist entgegenzuhalten, daß Smith, wie eingangs erläutert wurde, selbst den Sympathiebegriff explizit von den Begriffen des Mitleids und des Wohlwollens unterscheidet. 29 Und wenngleich er von einer grundsätzlichen Soziabilität der Menschen ausgeht, verdankt sich nach seiner Ansicht moralisches Handeln gerade nicht simplen Gefühlen des Wohlwollens, sondern moralischen Gefühlen, die erst aus dem komplexen Rollentausch hervorgehen. Darüber hinaus ist für den gegenwärtigen Zusammenhang entscheidend, daß der Urzustand nur ein Teilelement von Rawls’ Begründungskonzept darstellt. Neben diesem vertragstheoretischen Hilfsmittel greift er auf eine kohärenztheoretische Strategie der Normenbegründung zurück, die er mit Hilfe seiner Vorstellung des Überlegungsgleichgewichts (reflective equilibrium) operationalisiert. 30 Seiner Verbindung dieser beiden Begründungsstrategien liegt die Auffassung zu28 Dieser inkorrekten Rezeption des Sympathiebegriffs verdankt sich auch das vermeintliche „Adam-Smith-Problem“. Es geht im wesentlichen auf das Mißverständnis zurück, Smith gründe seine Moralphilosophie in der Theorie der moralischen Gefühle auf ein Konzept von Altruismus oder Wohlwollen, seine ökonomische Theorie dagegen auf ein Konzept von Egoismus. Der tatsächliche Begriffsinhalt und Status von „Sympathie“ in Smiths Konzeption ist indessen im Vorangegangenen bereits erläutert worden, und der in seiner ökonomischen Theorie vermeintlich zum Tragen kommende „Egoismus“ ist mit dem Begriff des rationalen Eigeninteresses besser bezeichnet (vgl. insb. WN, I.ii.2: 25 ff.; dt. 16 ff.). Smith geht – ähnlich wie Shaftesbury – gleichermaßen von einer sympathetischen Grunddisposition des Menschen und einem natürlichen Streben nach Selbsterhalt aus. Hierzu auch Raphael/Macfie 1982, Intro.2.b). 29 Rawls nimmt zu Smiths Konzept des unparteiischen Zuschauers im Zuge einer Kritik von Humes „judicious spectator“ Stellung. Nach seiner Ansicht mündet das Modell eines „mitfühlenden Beobachters“ letztlich in eine utilitaristische Kosten-NutzenBerechnung, und ist aufgrund dessen mit den gleichen Schwierigkeiten behaftet wie der Utilitarismus (vgl. Rawls 1975, S. 211 ff.). Das Urteil des unparteiischen Beobachters sei demnach gleichzusetzen mit dem Nutzenprinzip. Allgemein akzeptabel wäre ein utilitaristisches Prinzip und dementsprechend auch das Modell des unparteiischen Zuschauers nach Rawls jedoch einzig unter der Voraussetzung eines vollkommenen Altruismus der Menschen (vgl. Rawls 1975, S. 216). Das dieser Annahme implizite Mißverständnis von Smiths Sympathiebegriff teilt Rawls mit vielen anderen. Denn wenngleich er an einer Stelle richtig von einem „mitfühlenden Sich-Hineinversetzen“ spricht (vgl. Rawls 1975, S. 214), verwendet er den Sympathiebegriff mehrheitlich im Sinne von „Altruismus“, „Wohlwollen“ oder „Menschenliebe“. Der von Smith verwendete Sympathiebegriff läßt sich indessen nicht ohne weiteres mit dem von Hume gleichsetzen (so auch Tugendhat 1997, S. 285). 30 Zur Stellung der Kohärenztheorie in der Rawlsschen Konzeption vgl. Ballestrem 1977; Daniels 1979 u. 1980; Hoerster 1977; Lyons 1975; Brandt 1979 sowie Raz 1982 u. 1992.
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grunde, daß sich eine Gerechtigkeitskonzeption auf der Grundlage von rationalen Voraussetzungen oder Bedingungen alleine nicht abschließend rechtfertigen läßt. 31 Sie muß sich darüber hinaus mit den grundlegenden moralischen Intuitionen der Gesellschaft in Einklang bringen lassen, für die sie entworfen wird. Und so bezeichnet der Begriff des Überlegungsgleichgewichts einen Prozeß der wechselseitigen Anpassung von Urzustandsprämissen, daraus abgeleiteten Gerechtigkeitsgrundsätzen und moralischen Intuitionen. Dieser findet indessen nicht hinter dem Schleier des Nichtwissens statt, sondern im vollen Wissen um die zuvor ausgeschlossenen Informationen. Mithilfe dieser Vorstellung des Überlegungsgleichgewichts verbindet Rawls seine Auffassung vom moralischen Standpunkt als einem der Unparteilichkeit mit der Überzeugung, daß Moral ein kulturell und historisch geprägtes Phänomen darstellt, und gesellschaftliche Normen insofern als Ausflüsse der dichten Moral einer Partikulargemeinschaft zu verstehen sind. Es ist diese vermittelnde Herangehensweise, die ihn als einen Vertreter einer kontextualistischen Auffassung von Moral ausweist.
VII. Smith und Rawls: Ein Methodenvergleich Im Vorangegangenen wurde Smiths Vorgehensweise in der Theorie der moralischen Gefühle mit Blick auf ein Konzept des Überlegungsgleichgewichts interpretiert. Von entscheidender Bedeutung waren hierbei die beiden Hauptkomponenten seiner Theorie: moralische Gefühle und ein doppelter Rollentausch. Diese finden sich in ähnlicher Form auch bei Rawls, der sich bezeichnenderweise selbst nicht ausschließlich als Vertreter der formalistischen Ethiktradition versteht, sondern der seine Konzeption der Gerechtigkeit als Fairneß explizit in die Tradition einer Theorie der moralischen Gefühle stellt: „Die Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß ist eine Theorie unserer moralischen Gefühle, wie sie sich in unseren wohlbedachten Urteilen im Überlegungs-Gleichgewicht darstellen.“ 32 Moralische Gefühle gehen bei Rawls nicht etwa in 31 Vgl. Rawls 1975, S. 39. 32 Rawls 1975, S. 104. Moralische Gefühle spielen bei Rawls aber nicht nur in Form der wohlüberlegten Moralurteile eine signifikante Rolle. Konzeptuell grundlegend ist auch seine Vorstellung eines Gerechtigkeitssinns, den er als eines von zwei moralischen Vermögen der Menschen postuliert (vgl. Rawls 1975, Kap. 8).
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Form von unreflektierten moralischen Stellungnahmen in das Überlegungsgleichgewicht mit ein, sondern als „wohlüberlegte“ moralische Urteile, d. h. als Urteile, die von offensichtlichen epistemischen Verzerrungen gereinigt und hinreichend verallgemeinert wurden.33 Ähnlich gehen aber auch bei Smith moralrelevante Gefühle nicht in ihrer „Rohform“ von unreflektierten sympathetischen Gefühlen ersten Grades in den Urteilsprozeß mit ein (s.o.). Sie müssen vielmehr erst herauf- oder heruntergestimmt werden. 34 Hierzu ist neben Sympathie, dem Vermögen affektiver Anteilnahme an den Gefühlen anderer, die Tugend der Selbstbeherrschung erforderlich. Das Sympathievermögen erlaubt es uns, den rationalen und affektiven Interessen anderer mit der ihnen als Mitmenschen gebührenden Sorge zu begegnen und damit unserer natürlichen Parteilichkeit geschuldete Gefühlsdefizite auszugleichen. Mit Hilfe von Selbstbeherrschung stimmen wir dagegen übermäßige Gefühle zugunsten der eigenen Person (oder auch anderer) herunter. Indem wir unsere Gefühle einer solchen Feinstimmung unterziehen, schaffen wir die Basis für harmonische Beziehungen auf interpersoneller und gesellschaftlicher Ebene. Dementsprechend ist auch die Motivation für die wechselseitige Angleichung der Gefühle im natürlichen Bedürfnis der Menschen nach Zuneigung und Billigung zu suchen (s. o.). Wir transponieren unsere Gefühle in diejenige „Tonlage“, in der reale Zuschauer aus unserer Moralgemeinschaft mit ihnen mitgehen können, weil sie in Art und Intensität in etwa ihren eigenen Gefühlen entsprechen 35. Und wenngleich Smith diesen Zusammenhang so nicht explizit herstellt, könnte man sagen, daß wir mit diesem wechselseitigen affektiven Einschwingen aufeinander unsere Emotionen auf das für interpersonell geltungsfähige Urteile erforderliche Niveau bringen. Sie werden zu– aus der Binnenperspektive unserer Moralgemeinschaft– ihrem Anlaß angemessenen Gefühlen. Moralurteile können bei Smith allerdings nicht alleine aufgrund ihrer sozialen Geltungsfähigkeit als abschließend gerechtfertigt gelten. Hierzu bedarf es eines doppelten Rollentauschs: Während der erste, reziproke Rollentausch die Voraussetzung für wohlinformierte Moralurteile gemäß den gemeinsamen Überzeugungen einer Moralgemeinschaft schafft, muß der Rollentausch zweiter Instanz für das kritische Hinterfragen dieser Moralurteile aus einer Perspektive der Unpartei33 Vgl. Rawls 1975, Kap. 1.9. 34 Vgl. I.i.3: 18 ff.; dt. 18ff. und I.i.4: 22 ff.; dt. 23 ff. 35 Vgl. I.i.4.8: 22; dt. 23 f.
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lichkeit Sorge tragen. Auch Rawls’ Konzeption impliziert einen solchen Rollentausch im Sinne eines doppelten Perspektivenwechsels. Um angesichts des Informationsdefizits im Urzustand eine zweckrationale Wahl treffen zu können, müssen sich seine fiktiven Entscheidungsträger in die Situation unterschiedlicher Personengruppen hineinversetzen und sich fragen, wie sich die zur Wahl stehenden Gerechtigkeitsauffassungen auf diese auswirken würden. 36 Aufgrund der Tatsache, daß sie de facto selbst einer bestimmten Personengruppe angehören (wenngleich ihnen verborgen ist, welcher), kann man hier von einem durch die Unsicherheit im Urzustand motivierten, reziproken Rollentausch sprechen. Dem Rollentausch zweiter Instanz entspricht Rawls mit der Informationspolitik des Urzustands. Die äußerlich seinen Akteuren auferlegten Informationsbeschränkungen sollen für eine Entscheidung auf der Grundlage von „angemessenen Gründen“ Sorge tragen. Und das, was Rawls in diesem Zusammenhang unter angemessenen Gründen versteht, läßt sich ohne weiteres mit dem gleichsetzen, was sich bei Smith aus der Perspektive eines unparteiischen Betrachters als angemessen erweist. 37 Dennoch scheint auf den ersten Blick der Umstand, daß Rawls von einer „dünnen“ Auffassung von Unparteilichkeit ausgeht und Smith von einer „dichten“ (s. o.), einen entscheidenden Unterschied zwischen ihren Theorien zu markieren. Die scheinbare Gewichtigkeit dieses Unterschieds relativiert sich allerdings, sobald man bedenkt, daß beide Autoren ihr Unparteilichkeitsverfahren in ein Überlegungsgleichgewicht einbinden, das auf umfassende Informationen über die moralischen Gefühle und Lebensumstände von in bestehende Moralgemeinschaften eingebundenen Akteuren zurückgreift. Hier ließe sich zwar einwenden, daß bei Rawls, anders als bei Smith, solche umfassenden Informationen erst dann zur Verfügung stehen, wenn (in Form der Gerechtigkeitsgrundsätze) eine inhaltliche Entscheidung über die Krite36 Rawls führt in diesem Zusammenhang ein Konzept von „repräsentativen Personen“ ein, das in Verbindung mit der Annahme einer „Verkettung“ von deren unterschiedlichen Positionen dazu führen soll, daß alleine die Position der am wenigsten Begünstigten repräsentativen Person berücksichtigt werden muß und sich eine detaillierte Bewertung der restlichen Positionen erübrigt (Rawls 1975, S. 85 und 101 ff.). Seine dahingehende Annahme ist allerdings umstritten, denn sie arbeitet mit einigen nicht hinreichend gesicherten Zusatzprämissen. Sollte sich seine Annahme der Verkettung als gegenstandslos erweisen, macht dies einen umfänglichen Rollentausch unumgänglich. 37 Hierzu Rawls 1975 Kap. 24.
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rien angemessenen Verhaltens bereits gefallen ist. Dahingehende Einwände verkennen allerdings die eigentliche Pointe von Rawls’ Idee des Überlegungsgleichgewichts: Dieses richtet sich nicht etwa linear vom Standpunkt der Unparteilichkeit zum „moralischen Alltag“ hin aus, sondern nach beiden Seiten. Es bezeichnet ein dynamisches Gleichgewicht, einen Zustand wechselseitiger Anpassung. Das heißt, den Prinzipien, auf die man sich unter Informationsausschluß geeinigt hat, wird kein Exklusivanspruch auf die Korrektur von im voll informierten Zustand gefällten Moralurteilen zugesprochen. Vielmehr sollen diese wohlinformierten Urteile ihrerseits wiederum mit den im Urzustand erzielten Prinzipienergebnissen (sowie den Unparteilichkeitsbedingungen des Urzustands) interagieren. 38 Und insofern ist der Unterschied zwischen den beiden Konzeptionen in Wirklichkeit gar nicht so groß, wie selbst Rawls dies annimmt. Rawls’ vehemente Abgrenzung gegen die Vorstellung eines unparteiischen Zuschauers verdankt sich – sofern sie Smith treffen soll – zwar einer inkorrekten Rezeption von dessen Sympathiebegriff. In diesem Zusammenhang läßt sich jedoch die folgende Divergenz zwischen ihren Unparteilichkeitsmodellen anführen: Rawls und Smith geben unterschiedliche Erklärungen für die Motivation von Akteuren, sich in moralischen Entscheidungskontexten auf einen komplexen Rollentausch einzulassen. Bei Smith wird der Rollentausch erster und zweiter Instanz durch die grundsätzliche Soziabilität der Menschen motiviert. Bei Rawls steht hingegen das rationale Eigeninteresse von Akteuren in Situationen der Entscheidung unter Unsicherheit im Vordergrund. Er modelliert den Urzustand durch die Annahme eines wechselseitigen Desinteresses. Mithilfe dieser Annahme möchte er eine positive Anteilnahme am Schicksal anderer (wohlwollender Altruismus) und auch eine negative (Egoismus) als Motivationsgrundlage ausschließen. Man könnte hier alternativ von allgemeinverträglichem Eigeninteresse sprechen, das auch Smith mit seiner Vorstellung einer sympathetischen Grunddisposition der Menschen nicht ausschließt, da soziale und selbstbezogene Affekte nach seiner Ansicht gleichermaßen zur natürlichen Konstitution des Menschen gehören. Rawls ist allerdings bemüht, derartige anthropologische Prämissen insgesamt zu umgehen. Der Urzustand kann als ein heuristisches Hilfsmittel zur Bestimmung von Gerechtigkeitskriterien für gesellschaftliche Grundstrukturen auch 38 In diesem Zusammenhang äußerst aufschlußreich: Daniels 1979 u. 1980.
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durchaus ohne sie auskommen. 39 Um mit seiner Hilfe aber die Gerechtigkeitsqualität von bestehenden gesellschaftlichen Grundstrukturen bzw. der in ihnen sich offenbarenden moralischen Überzeugungen zu prüfen, müssen wir diese zunächst aus der Sicht der idealisierten Akteure des Urzustands betrachten und sodann zwischen beiden Standpunkten – dem faktischen und dem normativen – im Hinblick auf ein Überlegungsgleichgewicht vermitteln. Und an diesem Punkt ist Rawls unweigerlich mit der Frage danach konfrontiert, was Menschen überhaupt dazu veranlassen sollte, ihre moralischen Intuitionen und gesellschaftlichen Moralpraktiken zu hinterfragen, und weiter, was sie dazu motivieren sollte, sich zu diesem Zweck auf seine Unparteilichkeitsoperation einzulassen, wenn nicht ein grundsätzliches Interesse am Schicksal anderer, wie es von Smith vorausgesetzt wird. In diesem Zusammenhang ist der von kommunitaristischer Seite gegen „Gerechtigkeit als Fairneß“ erhobene Einwand, Rawls bleibe eine überzeugende Erklärung für die motivationale Wirksamkeit seiner Konzeption schuldig, nicht ganz von der Hand zu weisen. Eine „Smithianisierung“ von Rawls’ Gerechtigkeitstheorie könnte möglicherweise einiges dazu beitragen, diesbezügliche Schwächen zu beheben.
VIII. Eine kontextualistische Moraltheorie: double standard – naturally! Auf den ersten Blick scheint Smith mit seiner Theorie der moralischen Gefühle hoffnungslos zwischen einem normativen und einem moralsoziologischen Ansatz zu schwanken. Dieser Eindruck wird durch seine Referenz auf zwei Urteilsmaßstäbe – den Annäherungsstandard und den Idealstandard – noch verstärkt. Seine Vorgehensweise gewinnt aber einiges an Verständlichkeit, wenn man sie aus einer meta-theoretischen Perspektive betrachtet. Aus diesem Blickwinkel wird erkennbar, daß er weder auf die Konstruktion einer rein formalistischen Moralkonzepti39 Da er auf eine Gerechtigkeitskonzeption abzielt, referiert Rawls auf Gerechtigkeitsprinzipien, wie sie in den anerkannten Gerechtigkeitskonzeptionen einer Gesellschaft zum Ausdruck kommen. Während die Unparteilichkeitsbedingungen des Urzustands bei ihm die Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen modellieren, die das Verhalten von Institutionen – und damit nur indirekt auch das Verhalten von Menschen im Rahmen dieser Institutionen – definieren sollen, führt das Unparteilichkeitsverfahren bei Smith direkt zu individuellen Verhaltensrichtlinien.
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on noch auf die bloße Deskription gesellschaftlicher Moralpraktiken abzielt, sondern vielmehr auf eine Vermittlung beider. Eine solche Vermittlung ist das Charakteristikum einer kontextualistischen Moraltheorie, die sich durch die rekonstruktive Interpretation einer Moralkultur kritisch-normativ auf die Grundüberzeugungen einer Moralgemeinschaft bezieht. Zu diesem Zweck ist die Einnahme eines externen Standpunkts erforderlich, der aber kein im strengen Sinne kulturexterner Standpunkt sein darf, sondern aus ebenjenem moralischen Binnenkontext heraus entwickelt werden muß, zu dessen Bewertung er beitragen soll. Daß Smith eine solche binnenkontextliche Konstruktion seines kritischen Moralmaßstabs vorsieht, belegen seine Ausführungen zum Idealstandard, der sich als das perfekte Urteil des unparteiischen Zuschauers auffassen läßt. Dieses perfekte Urteil ist das Idealergebnis einer Verfahrensoperation, in der die moralischen Gefühle von Individuen, bzw. ihre kollektiven moralischen Intuitionen, und die diesen zugrundeliegenden Prinzipien unter Bedingungen der Unparteilichkeit mit dem Ziel eines Überlegungsgleichgewichts miteinander in Beziehung gesetzt werden. Operationalisiert wird dieses Verfahren mit Hilfe des durch die sympathetische Grundkonstitution des Menschen ermöglichten und motivierten doppelten Rollentauschs. Mit diesem Modell eines sympathieinduzierten doppelten Rollentauschs gibt Smith eine Anleitung für kontextempfindliche Unparteilichkeitsurteile. Er demonstriert dabei, daß die Vorstellung vom moralischen Standpunkt als einem der Unparteilichkeit keine Loslösung von moralgesellschaftlichen Urteilskontexten bedingen muß, und daß Gefühlen eine konstitutive Rolle im moralischen Rechtfertigungsprozeß zugestanden werden kann, ohne daß dabei rationale Begründungen zu ihren Gunsten abgewählt werden müßten.
Sympathie ohne Unparteilichkeit ist willkürlich, Unparteilichkeit ohne Sympathie ist blind. Sympathie und Unparteilichkeit bei Adam Smith Georg Lohmann / Universität Magdeburg Seit der anregenden Interpretation durch Ernst Tugendhat 1 ist in Deutschland eine Renaissance der moralphilosophischen Beschäftigung mit Adam Smith zu begrüßen. Smiths Moralphilosophie tritt aus dem Schatten seiner ökonomischen Schriften, und auch die Beziehung zwischen Ökonomie und Moral wird neu diskutiert. 2 Im angelsächsischen Raum wird schon seit geraumer Zeit Smiths Moralphilosophie diskutiert und sein Gewicht in der schottischen Moralphilosophie neu austariert. 3 Smith ist aber nicht nur als gewichtiger Abschluß, sondern auch als wegweisender Übergang zu neueren Moralpositionen zu deuten. Er wird nicht nur als wichtiger Vorläufer Kants wieder entdeckt, sondern es wird auch deutlich, daß er in raffinierter Weise eine Verbindung von unterschiedlichen Ansätzen der Moralphilosophie entwikkelt hat. An diesen Aspekt seines Werks will ich anknüpfen. Meine Frage wird sein, ob sich und wie sich, an Smiths Konzeption des Verhältnisses von Sympathie und Unparteilichkeit kritisch anknüpfend, Ansätze für eine systematisch interessante Position finden lassen, die die Berücksichtigung des Wohls anderer mit dem Respekt vor ihrer Freiheit zu verbinden gestattet. Ich werde dazu in einem ersten Schritt das Verhältnis von Sympathie und Unparteilichkeit bei Smith interpretieren (I) und dann in einem zweiten Schritt die Probleme von Smiths Analyse zumindest kenntlich machen und einen Vorschlag andeuten, wie diese Probleme gelöst werden könnten (II). 1 Siehe Tugendhat 1993, S. 282 ff. 2 Unter der Bezeichnung „Adam-Smith-Problem“ wurde das Verhältnis von Ethik und Ökonomie besonders in Deutschland diskutiert; siehe dazu und zu neueren Arbeiten zu diesem Verhältnis Meyer-Faje/Ulrich 1990, ferner Montes 2003b. 3 Siehe Griswold 1999.
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I. Sympathie und Unparteilichkeit bei Adam Smith 1. Adam Smiths Theorie der moralischen Gefühle ist der Versuch, eine empirische und deskriptive Moraltheorie zu entwickeln. Smith will, wie sein wissenschaftliches Vorbild Newton, 4 die „connecting principles“ des menschlichen Zusammenlebens erforschen und erklären. In der Moralphilosophie versteht Smith darunter besonders eine Bestimmung des Sittlichen und der Tugend oder der Fähigkeiten, Prinzipien und Motive, mit denen wir ein Verhalten billigen oder mißbilligen. In vielen Hinsichten ist das Werk eine Moralpsychologie. 5 Obwohl Smith seinem methodischen Ansatz nach unsere moralischen Urteile in ihrer faktischen Beschaffenheit nur beschreiben und erklären will, liefert er doch meines Erachtens einen Ansatzpunkt, von dem aus, aus einer Teilnehmerperspektive, die Frage nach der Rechtfertigung unserer moralischen Urteile gestellt werden kann. Von dieser, Smith gegenüber externen Frage aus, will ich einige Aspekte seiner empirischen Analyse beleuchten. Smith beginnt bekanntlich mit einer Analyse der Sympathie als der empirischen Grundlage sittlichen Verhaltens. Und die Interpreten sind sich einig, daß Smith nicht nur, mit David Hume, Sympathie als allgemeinmenschliche Disposition für moralisches Verhalten ansieht, sondern daß er, über Hume hinaus, Sympathie auch als Grundlage unserer moralischen Urteile bestimmt. Auf der einen Seite fungiert die Analyse der vielfältigen Aspekte von Sympathie bei Smith als anthropologische Bestimmung des besonderen Gegenstandsbereichs und der Eigenart des moralischen Verhaltens, 6 auf der anderen Seite fungiert Sympathie als spezifisch moralische Grundlage des Maßstabs unserer Urteile, sofern wir ein Verhalten moralisch billigen oder mißbilligen. In dieser Hinsicht freilich ergänzt Smith das zunächst nur sympathetische Urteil durch die Urteilsmodifikation der Unparteilichkeit, und erst sie wird eine befriedigende Erklärung des impliziten Rechtfertigungsanspruchs moralischer Urteile leisten können. 2. Smith betont zunächst, daß der Mensch seiner Natur nach nicht nur egoistisch ist, sondern auch durch „gewisse Prinzipien“ bestimmt wird, die ihn „an dem Schicksal anderer Anteil“ nehmen lassen (I.i.1.1: 9; dt. 1). Zunächst erläutert Smith die mitfühlende Anteilname an den Gefühlen des Erbarmens und des Mitleids, um dann die bloß negative 4 Vgl. Andree 2003, S. 19 ff. Ebenso Ballestrem 2001, S. 89 ff. 5 Siehe zum doppelten Ansatz der Theorie Griswold 1999, S. 49 ff. 6 Siehe Griswold 1999, S. 83 ff.
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Ausrichtung dieser Anteilnahme mit dem Begriff „Sympathie“ aufzuheben. Den Begriff „Sympathie“ verwendet er, „um unser Mitgefühl mit jeder Art von Affekt zu bezeichnen“ (I.i.1.5: 10; dt. 4). Sympathie bezieht sich auf sowohl negative wie auch positive Affekte. Die Affekte unterscheidet Smith nach solchen, die ihren „Ursprung vom Körper nehmen“ und solchen, die uns relativ zu „einer besonderen Richtung oder Beschaffenheit der Einbildungskraft“ ergreifen.7 Letztere werden nach „unsozialen“, „sozialen“ und „egoistischen“ Affekten (I.ii.3: 34 ff.; dt. 44 ff.) unterschieden. 8 Die gemeinsame Kennzeichnung dieser körperbasierten und imaginierten Affekte liegt, so scheint es mir, darin, daß sie, wie es schon Aristoteles gesehen hat, relativ zu einem spezifischen Sachverhalt, auf den sie bezogen sind, zum Ausdruck bringen, wie es um eine Person bestellt ist. Sie sind auf ihr jeweiliges „Wohl und Wehe“ („pleasure and pain“) bezogen, zusammenfassend können wir auch sagen: auf ihr Wohlbefinden und Glück – Smith sagt „happiness“ (I.i.1.1: 9; dt. 1). Und die Unterscheidung zwischen körperbasierten Affekten und solchen, die relativ zu unserer Einbildungskraft zu verstehen sind, macht deutlich, daß das Wohl jeweils als ein (selbst-)interpretiertes Wohl aufgefaßt werden kann. 9 Diese inhaltliche Ausrichtung der Sympathie auf das Wohl und das Glück anderer ist wichtig. Damit wird die Moral, sofern Sympathie ihre Grundlage ist, inhaltlich als Anteilnahme am (selbstbestimmten) Wohl und Glück anderer bestimmt. Vermittelt ist diese Anteilnahme „durch unser Mitgefühl“ („fellow-feeling“). In dieser Hinsicht erschließt Sympathie das Wohl anderer, und macht es, wie wir noch sehen werden, moralisch von Belang. Die Art und Weise nun, wie die Sympathie diese Erschließungsfunktion erfüllt, bildet den Schwerpunkt von Smiths Analyse. Er kann zunächst an Humes musikalische Analogie anknüpfen, nach der Sympathie wie eine mitschwingende Saite in uns den Affekt einer anderen Person in uns nachklingen läßt. 10 Aber dieses affektive Mitschwingenkönnen ist nicht ein schlichtes und gewissermaßen automatisches Sicheinfühlen in den Affekt eines andern, sondern Smith entwirft ein reichlich komplexes Procedere des (auch zeitlich sich erstreckenden11) Prozesses des Sympathisierens: Gegenstand des Sympathiegefühls ist nicht 7 8 9 10 11
Siehe I.ii.1: 27 f.; dt. 33 f. und I.ii.3: 34 ff.; dt. 44 ff. Siehe zu diesen Unterscheidungen Griswold 1999, S. 113 ff. Zu den Problemen eines intern bestimmten Wohls siehe Lohmann 2002a, S. 84 ff. Siehe die Hinweise bei Andree 2003, S. 34 f. Siehe Lohmann 2002b.
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unmittelbar das Gefühl eines anderen, sondern daß wir „vermittels der Einbildungskraft“ uns vorstellen, „was wir selbst wohl in der gleichen Lage fühlen würden“ (I.i.1.2: 9; dt. 2). Die Phantasie ermöglicht uns, gewissermaßen die Plätze zu tauschen, wir versetzen uns in die Lage eines anderen und nehmen dabei einen Perspektivenwechsel vor. Das geht nur, wenn wir zugleich in Distanz zu unseren aktuellen Gefühlen treten, so wie wir die Distanz zum anderen nicht gänzlich aufheben.12 Das Mitfühlenkönnen zeigt zunächst an, daß der andere von einer Beschaffenheit ist, die ich affektiv nachvollziehen kann. Ich kann mir vorstellen, daß das, was ihm passiert, auch für mein Wohl und Wehe relevant wäre. Aber nicht jeder Affekt bei anderen ruft unmittelbar eine affektive Reaktion meinerseits hervor. Die explorative Vorstellung der Lage desjenigen, mit dem wir sympathisieren, erstreckt sich auf die Ursachen und Motive, aber auch Wirkungen seines Affekts, und dafür brauchen wir nach Smith ein richtiges Verständnis seiner Situation, der Umstände, der besonderen Lage, in der jemand ist, usw. Das sympathetische Verständnis ist daher für Smith zugleich a) mitfühlend und explorativ und b) wohlinformiert, in dem es die Person in ihrer Situation erkundet, und es ist c) urteilend, indem es fragt, ob die entsprechenden Gefühlsempfindungen des anderen und seine Äußerungen „richtig und schicklich und als ihren Anlässen angemessen erscheinen“ (I.i.3.1: 16; dt. 14). Interessanterweise erläutert Smith den impliziten Urteilsgehalt des sympathetischen Billigens am Beispiel der Billigung der Ansichten von anderen: „Die Ansichten eines anderen billigen, heißt diesen Ansichten beipflichten. … Die Ansichten anderer billigen oder mißbilligen, bedeutet also, wie jedermann zugeben wird, nichts anderes, als deren Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit unsren eigenen bemerken. Ganz gleich aber verhält es sich in bezug auf unsere Billigung oder Mißbilligung der Empfindungen oder Affekte anderer.“ (I.i.3.2: 17; dt. 15f.) Der urteilende Aspekt des sympathetischen Verständnisses orientiert sich also am kognitiven Prozeß des Beipflichtens zu den Meinungen anderer, mithin ist die Beobachtung einer affektiven Übereinstimmung die Außenansicht der Tatsache, daß hier eine Übereinstimmung hinsichtlich der, zumindest möglichen, Gründe für eine geäußerte Meinung gegeben ist. Auf diesen impliziten Begründungsanspruch des urteilenden Aspekts von Sympathie geht Smith aber nur im Ansatz ein. Das Urteil, ob die affektive Reaktion von X in einer Situation S richtig oder unangemessen ist, bezieht sich nun zunächst auf einen sub12 Obwohl Smith es manchmal so mißverständlich formuliert; siehe I.i.1.2: 9; dt. 2.
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jektiven Maßstab, den der Sympathisierende anlegt: Es sind „seine eigenen Empfindungen, die Richtschnur und der Maßstab“ (I.i.3.1: 17; dt. 15) sind, nach denen die jeweiligen „ursprünglichen Affekte“ des anderen beurteilt werden. Ich vernachlässige hier, daß Smith in den Fällen, in denen wir einen Affekt (bzw. die aus ihm resultierende Handlung) nach den Ursachen hin als angemessen oder unangemessen beurteilen, von Schicklichkeit (propriety) und Unschicklichkeit (impropriety) spricht, und in den Fällen, in denen wir ihn in Hinsicht auf seine Wirkung und den beabsichtigten Zweck beurteilen, von Verdienst (merit) und Schuld (demerit). 13 Entscheidend für die hier verfolgte Fragestellung ist zunächst, daß dem sachlichen Gehalt nach der subjektive Beurteilungsmaßstab des sympathetischen Verständnisses nur den rudimentären Inhalt moralischer Aufforderungen enthält, nämlich die Sorge um das Wohlsein („Glückseligkeit“, VI.concl.1: 442; dt. 442) oder, negativ ausgedrückt, die Vermeidung von Schädigungen. Im Falle der Schädigung eines anderen z. B. reagiere ich, obwohl ich selber keinen eigenen subjektiven Grund zum Übelnehmen (resentment) habe, stellvertretend so, als ob ich einen hätte. 14 Daraus kann sich unmittelbar das Motiv ergeben, dem, der willentlicher Urheber des Leides eines anderen ist, dieses Übelnehmen und meine Ablehnung seines Verhaltens auch zu zeigen. Zu was aber meine affektive Reaktion mich motiviert, hängt in diesen Fällen von zweierlei ab: erstens davon, daß meine subjektiven Beurteilungsmaßstäbe seiner Lage mit seinen Beurteilungsmaßstäben korrelieren (daß ich die Beurteilung seiner Lage durch ihn „richtig“ finde, d. h. seine Gründe teilen kann), und zweitens davon, ob dieses (implizite) Urteil des sympathetischen Verständnisses für mich einen überwiegenden Grund darstellt, so daß meine stellvertretende, affektive Reaktion gemäß diesen Maßstäben mich stärker motiviert als meine ursprünglichen oder unmittelbaren Wünsche. Von einer moralischen Verpflichtung kann insoweit nicht die Rede sein, als es offenbar nur darauf ankommt, ob meine Disposition so ist, daß meine Wünsche oder die vorgestellten und affektiv mitvollzogenen des anderen stärker sind. Es bleibt gewissermaßen zufällig, wozu ich in einer solchen Lage motiviert bin. Überwiegt die Sympathie, so werde ich stellvertretend für den 13 Siehe Andree 2003, S. 48 ff., 77 ff. 14 Das war der Ansatz von Strawson, um den Begriff eines moralischen reaktiven Gefühls, ohne Smith zu nennen, einzuführen. Siehe Strawson 1978. Zum Verhältnis Strawson – Smith siehe Lohmann 2001b, S. 436 ff.
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anderen, seine Interessen vertreten so wie ich meine Interessen vertreten würde. 3. Es ist nun diese Subjektivität und Kontingenz im sympathetischen Urteil, die Smith mit der Analyse der seiner Meinung nach ebenfalls empirisch gegebenen Ausrichtung unserer billigenden Urteile auf Unparteilichkeit korrigieren will. So wie Sympathie eine natürlich gegeben Disposition des Menschen sei, streben nach Smith wir Menschen danach, daß andere mit unserem Verhalten sympathisieren können. 15 Wir möchten aber nicht nur, daß sie faktisch in ihrem sympathetischen Verständnis, das sie uns entgegen bringen, unser Verhalten billigen, wir möchten auch, daß unser Verhalten billigenswert ist. Billigenswert aber ist ein Verhalten, wenn es nicht nur zufällig und subjektiv gebilligt wird, sondern wenn es aus objektiven Gründen den Anspruch einlösen kann, gebilligt zu werden. Smith glaubt so, eine empirische Basis auch noch für den Anspruch moralischer Urteile, objektiv begründet zu sein, unterstellen zu können. Die Einlösung des objektiven Anspruchs, daß unser Verhalten billigenswert (oder tadelswert) ist, sieht Smith nun in dem Urteil eines unparteiischen Zuschauers (impartial spectator) gegeben. 16 Merkwürdigerweise erläutert Smith die Funktion des unparteiischen Zuschauers zunächst hauptsächlich in einer Analyse der Selbstbilligung. Das Urteil des Gewissens, die Stimme des „inneren Menschen“, ist wie das Urteil eines unparteiischen Zuschauers zu rekonstruieren.17 Es bezieht sich modifizierend auf unsere im sympathetischen Verständnis eingenommene affektive Haltung. Wir beurteilen sie darauf hin, wie ein unparteiischer Dritter, unabhängig von seinen aktuellen Affekten, urteilen würde. Smith führt die unparteiische Urteilsbildung eines beliebigen Beobachters in unterschiedlicher Weise ein. Man kann das zunächst so verstehen, daß er den Kreis und die Anzahl der Personen, aus denen der sympathetische „Zuschauer“ kommt, in 3 (bzw. 4) Schritten erweitert: 18 Die subjektive Bezogenheit meines Urteils wird überschritten und relationiert zunächst auf den Kreis Nahestehender, dann Fremder, dann auf alle Menschen (die Menschheit). Erhellend ist, daß Smith in der 1. Auflage der Theorie der moralischen Gefühle zunächst von ei15 Siehe Griswold 1999, S. 76 ff.; Andree 2003, S. 57 ff. 16 Für eine genauere Interpretation von Unparteilichkeit siehe Lohmann 2001b, S. 442 ff. 17 Siehe Andree 2003, S. 220 ff. 18 Siehe zum Folgenden I.i.4.8f.: 22f.; dt. 25ff.
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nem Urteil der „öffentlichen Meinung“ spricht, und dann ab der 2. Auflage statt dessen von einem unparteiischen Zuschauer. 19 Die Reaktionsweise, die sich aus dieser Zweitbeurteilung ergibt, „bewegt“ uns unabhängig von den „eigenen persönlichen Vorlieben“ 20 zu bestimmten Stellungnahmen und zu einer Modifizierung unserer in der sympathetischen Einstellung vollzogenen affektiven Reaktion. Seinem empiristischen Ansatz entsprechend deutet Smith die Funktion moralischer Unparteilichkeit aber nur als überwiegenden Beweggrund (Motiv). Da nach Smith Fremdbeurteilung und Selbstbeurteilung wesentlich strukturähnlich sind, ist auch der Effekt eines unparteiischen Urteils in beiden Fällen ähnlich: ein korrektes (unparteiisches) moralisches Urteil über ein affektives Verhalten ermöglicht allen, diesem mit Sympathie zu begegnen. Und das, so hatten wir gesehen, ist Smiths Kriterium für Zustimmung. Jemand, der seine eigenen Affekte aus einer Position der Unparteilichkeit mäßigt, erlangt so die Tugend der Selbstbeherrschung, durch die unparteiische Beurteilung anderer erwirbt er die Tugend der Sensibilität. 21 Beide zusammen ermöglichen einen „harmonischen gesellschaftlichen Zusammenhang“ und soziales fair play (II.ii.1: 83; 123f.). Dabei bilden sich erst nach und nach die „allgemeinen Regeln der Sittlichkeit“ (general rules of morality). „Sie gründen sich letzten Endes auf die Erfahrung darüber, was unser natürliches Gefühl für Verdienst und sittliche Richtigkeit in bestimmten Einzelfällen billigt oder mißbilligt.“ (III.4.8: 159; dt. 239) Und die Beachtung dieser allgemeinen moralischen Regeln geschieht nicht aus rationaler Einsicht, sondern ist ebenfalls durch ein natürlich entstehendes Gefühl, durch ein „Pflichtgefühl“ (a sense of duty) motiviert. 22 Smith deutet Unparteilichkeit daher nur als eine objektivere Art der Motivation zu sittlichem Handeln, er berücksichtigt nicht, daß ein unparteiisches Urteil einen objektiven Rechtfertigungsanspruch stellt, der erst den Begriff einer moralischen Verpflichtung zu bestimmen gestattet. 23
19 20 21 22 23
Siehe Andree 2003, S. 113, Fußnote 1. Siehe Tugendhat 1997, S. 64. Siehe I.i.5.5ff.: 25; dt. 29; siehe auch Tugendhat 1993, S. 288 ff. Vgl. III.5.1ff.: 161f.: dt. 243f. Vgl. Lohmann 2001b.
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II. Einige Probleme der Analyse von Sympathie und Unparteilichkeit Der letzte Punkt scheint mir auch der gewichtigste Einwand gegen Smith empiristisch und deskriptiv verfahrende Moralphilosophie zu sein. Es gelingt ihr nicht, den intern mit unseren moralischen Überzeugungen verknüpften Rechtfertigungsanspruch unverkürzt zur Geltung zu bringen. 24 Da Smith nun aber explizit beansprucht, gerade das auch nicht tun zu wollen (vgl. II.i.5.10: 77; dt. 113), und man von einer Tugendethik im Vergleich zu einer Pflichtenethik das vielleicht auch nicht erwarten sollte, könnte man meinen, dies sei ein ungerechtfertigter Vorwurf gegen Smith. Ich will deshalb diesen frontalen Einwand für einen Augenblick zurückstellen, und zunächst zeigen, daß auch seine Analyse der sympathetischen Anteilnahme durch dieses Manko geprägt ist. 1. Das sympathetische Verständnis bezieht sich auf mein, auch gefühlsmäßig gestütztes Urteil, daß ich mir vorstellen kann, daß mein Wohl und Glück in einer vergleichbaren Weise durch die in Frage stehende Handlung oder durch das in Frage stehende Ereignis, durch das B (eine andere Person) betroffen ist, ebenfalls betroffen sein kann. Die sympathisierende Person überträgt dabei ihre Konzeption von Wohl und Glück auf die andere Person, und sie überprüft, ob nach ihrem Ermessen die affektive Reaktion von B ihrer Situation angemessen ist oder nicht. Inhaltlicher Maßstab des sympathetischen Verständnisses ist daher eine subjektive Konzeption von Wohl und Glück. Die moralische Anteilnahme, die aus Sympathie entspringt, bezieht sich daher inhaltlich auf das Wohl von Personen. Aber anders als in klassischen Mitleidsethiken motivieren uns unsere sympathetischen Anteilnahmen nicht unmittelbar zu Handlungen der Hilfe oder fordern uns auf, Schädigungen zu unterlassen. Handlungen, die das Wohl fördern oder aber schädigen, werden nach Smith als verdienstvoll oder schuldhaft beurteilt. Alles was verdienstvoll ist, entspricht seiner Meinung nach einer schicklichen Dankbarkeit und verdient belohnt zu werden, alles was schuldhaft ist, läßt sich als Gegenstand eines Übelnehmens darstellen und verdient Bestrafung. (II.i.1.1ff.: 67f.; dt. 95ff.) Mit dieser merkwürdigen Weichenstellung entkoppelt Smith die das Wohl fördernden, positiven Handlungen von den das Wohl schädi24 Zum internen Rechtfertigungsanspruch moralischer Urteile siehe Habermas 1999.
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genden, negativen Handlungen und gibt ihnen eine unterschiedliche moralische Bewertung. Während das Problem einer moralischen Verpflichtung zu Hilfe in Not gar nicht explizit vorkommt (soweit ich sehe), ist Smith der Meinung, daß das Wohl fördernde Handlungen, die er als Wohltätigkeit (beneficence) bezeichnet, „immer frei“ (II.ii.1.3: 78; dt. 115) sind. Sie sind freiwillig, auch wenn sie aus angemessenen Motiven unternommen werden, d. h. wenn sie auch bei einer unparteilichen Beurteilung aus Dankbarkeit geschehen und/oder Dankbarkeit verdienen. Smith betont zunächst, daß sie deshalb niemandem mit Gewalt abgenötigt werden können (II.ii.1.3: 78; dt. 115). Das ist aber nur in rechtlicher (juridical) Hinsicht richtig. Moralisch gesehen könnten wir gleichwohl verpflichtet sein, andere in ihrem Wohl zu fördern oder ihnen in Not zu helfen. Smith spricht zwar dann auch von „Pflichten des Wohltuns“ (duties of beneficence, II.ii.1.3: 79; dt. 116), und er nennt sogar das, was die Dankbarkeit von uns verlangt, eine „vollständige und vollkommene Verpflichtung (a. a. O.). Aber er gibt auch hier dem Pflichtbegriff eine nur eingeschränkte Bedeutung, weil er nur das Motiv zur Herausbildung der entsprechenden Tugend, nicht aber die möglichen Rechtfertigungsgründe für die entsprechenden Handlungen beachtet. Ein „Mangel an Dankbarkeit kann nicht bestraft werden“, da jemand, der nicht wohltätig ist, obwohl es zu Recht erwartet werden kann, damit doch kein „positives Übel“ (II.ii.1.3:78f.: dt. 115f.) anrichtet oder bewirkt. Es ist eigentlich auch unklar, warum wir uns dann sollen beklagen können, und zumindest das wird man als konstitutiv für den Pflichtbegriff ansehen müssen. Die moralische Reaktion auf das Unterlassen einer Wohltätigkeit ist daher nur mit dem Ausdruck einer Mißbilligung verbunden, nicht ein Zur-Rechenschaft-Ziehen, in dem rechtfertigende Gründe verlangt werden. Smith kennt daher keine moralisch begründbaren positiven (Hilfs-)Pflichten, sondern nur freiwilliges Wohltun. Erklären läßt sich diese Unterbestimmung moralischer Anteilnahme durch die Nichtbeachtung des internen Begründungsanspruchs moralischer Urteile. 25 Ein stärkeres Gewicht bekommen bei Smith hingegen die sogenannten „negativen Pflichten“, worunter Smith die Vermeidung von Schädigungen versteht. Sie rufen ein Übelnehmen hervor und verlangen Bestrafung. Smith deutet aber die negativen Pflichten sogleich in einer rechtlichen Weise, und auch sein recht einseitiger Gerechtigkeitsbegriff ist auf negative Rechtspflichten beschränkt. Gerecht ist ein Zu25 Siehe dazu Habermas 1999.
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stand, wenn kein Unrecht begangen wird. 26 Es fehlt ein moralisches Verständnis von Gerechtigkeit in dem Sinne, daß sie Kriterien für eine gerechte Verteilung benennt. Nicht das moralische Gefühl, wohl aber der Gesetzgeber können „Vorschriften erlassen, die nicht nur gegenseitige Schädigungen unter Mitbürgern verbieten, sondern bis zu einem gewissen Garde auch gegenseitige gute Dienste anbefehlen“ (II.ii.1.8: 81; dt. 120). Auch hier entspringt die einseitige Sicht der Gerechtigkeit der Nichtberücksichtigung des Begründungsanspruches moralischer Urteile. 2. Ihre Analyse würde man nun gerade in Smiths Ausführungen zur Unparteilichkeit erwarten. Das anfänglich bloß subjektive sympathetische Urteil und die reflexive unparteiische Zweitbeurteilung sind nun formal und in ihrer Struktur ähnlich, weil sie beide durch den Vorgang des Perspektivenwechsels charakterisiert und miteinander verbunden sind. Inhaltlich aber, so meine kritische These gegen Smith, sind sie in dem, worauf sie bezogen sind, zu unterscheiden: das sympathetische Verständnis bezieht sich auf die Anteilnahme am Wohl von Personen, das unparteiische Urteil bezieht sich auf die Gründe für die billigenswerte Anteilnahme und ist meines Erachtens daher auf die Fähigkeit von Personen, Gründe durch Überlegungen abwägen zu können, und damit letztlich auf die Freiheit von Personen bezogen.27 Ich will zunächst die formale Gemeinsamkeit beleuchten. Das sympathetische Verständnis der Lage eines anderen ist begründet in einem „in der Phantasie vollzogenen Wechsel der Situation“ (I.i.4.6: 21; dt. 23). Person A vertauscht in der Phantasie mit Person B den Platz und ihr subjektives und wohlinformiertes Mitgefühl zeigt, ob sie in der gleichen Weise wie B empfinden würde. Das subjektive Urteil des Billigens oder Mißbilligens, das aus diesem imaginierten Situationswechsel resultiert, schlägt sich in einem Sympathiegefühl (zweiter Ordnung) nieder. 28 An diesen, schon im sympathetischen Urteil gegebenen Situationswechsel kann eine unparteiische Beurteilung anknüpfen. Sie fordert uns auf, unser sympathetisches Urteil im Sinne einer Zweitbewertung 26 Vgl. Andree 2003, S. 83; Griswold 1999, S. 228 ff.; siehe auch den Beitrag von Griswold zu diesem Band. 27 Daß Personen deshalb frei sind, weil sie überlegen und Gründe abwägen können, war schon die Ansicht von Aristoteles (E. N., Buch III); siehe auch Bieri 2001 und Klemme 2003. 28 Ich lasse hier den Streit zwischen Smith und Hume außer acht, ob denn ein solches Sympathiegefühl (zweiter Ordnung) immer angenehm sein kann oder muß, wie Smith das behauptete; vgl. hierzu Andree 2003, S. 67 ff.
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aus der Perspektive einer dritten, unbeteiligten und unparteiischen Person zu modifizieren. Wie oben schon erwähnt, gewinnt Smith die Perspektive des unparteiischen Zuschauers durch einen fortlaufenden, andere mit einbeziehenden Perspektivenwechsel, der uns schließlich auffordert, die zu beurteilende affektive Reaktion einer Person relativ zu ihrer Lage aus der wechselnden Perspektive aller zu beurteilen. Gleichwohl, auch bei diesem Verfahren eines universellen Perspektivenwechsels bleibt unklar, wieso die resultierende, „unparteiische“ Sympathie nicht einfach nur eine andere, subjektive und insofern parteiische Beurteilung sein kann. Unparteilichkeit meint ja zunächst nur negativ: „nicht parteiisch“. Offen ist aber, worauf sich denn positiv der Anspruch der Unparteilichkeit stützen kann. 29 Die faktische affektive Übereinstimmung aller aber, die sich im resultierenden sympathetischen Urteil der Unparteilichkeit ausdrückt, könnte ja auch die zufällige affektive Harmonie einer beschränkten Gemeinschaft ausdrücken, und deshalb wäre eine Person nicht „wirklich“ verpflichtet, sich dem unparteiischen Urteil zu beugen. Smith sieht dieses Problem, behandelt es aber nur unter dem Aspekt einer unzureichenden Motivation. Wenn der einzelne nicht immer seinem Gewissen oder seinem „inneren Menschen“, die beide nur Stimmen der Unparteilichkeit darstellen, folgen kann, so mag es hilfreich sein, ein „noch höheres Tribunal“ anzurufen, das „des alles sehenden Richters der Welt, dessen Augen niemals getäuscht und dessen Urteil niemals verkehrt werden können“ (III.2.33: 131; dt. 195 f.). Der unparteiische, göttliche Richter verspricht eine jenseitige Gerechtigkeit und kann so, unter Umständen, eine zusätzliche Motivation zur Beachtung der unparteiischen Beurteilung geben. Der Sache nach aber kann er das, weil sein Urteil eine absolute Rechtfertigung beanspruchen kann. Es ist der im unparteiischen Urteil implizite Anspruch auf Rechtfertigung, der den positiven Bedeutungsaspekt von „Unparteilichkeit“ zu erläutern vermag. Positiv bedeutet ein unparteiisches Urteil, daß es rechtfertigbar ist, d. h., daß es mit transsubjektiven und in diesem Sinn objektiven Gründen begründbar ist. Dabei muß nicht verlangt werden, daß es eine absolut richtige Begründung gibt. Nein, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe 30, rekurrieren wir gerade auf den Begründungsanspruch der Unparteilichkeit, wenn und weil wir keine absolute Begrün29 Vgl. Lohmann 2001b, S. 445 ff. 30 Siehe Lohmann 2002b, S. 197 ff.
Sympathie und Unparteilichkeit bei Adam Smith
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dung erwarten können. Ein unparteiisches Urteil ist eines, und auch so läßt sich Smiths schrittweise Erweiterung des Perspektiventausches verstehen, in der es um die argumentative Einigung zwischen Beteiligten geht, in der alle nur Parteien sind und keiner für sich beanspruchen kann, nicht Partei zu sein. Die Einigung, die in einem unparteiischen Urteil angestrebt wird, ist eine Einigung, die alle hinsichtlich einer Argumentation überzeugen kann. Gegen Smith würde ich daher behaupten, daß das Kriterium der Unparteilichkeit nicht ein gemeinsam geteiltes Gefühl ist, sondern ein argumentatives, durch Überzeugung gewonnenes intersubjektives Einverständnis. Überzeugen aber kann eine Argumentation eine Person nur, wenn sie die Fähigkeit zu überlegen hat und Gründe abwägen kann. Beides sind Fähigkeiten, die die praktische Freiheit einer Person kennzeichnen. 31 Unparteilichkeit als Kriterium des Rechtfertigungsanspruchs moralischer Urteile bezieht sich daher letztlich auf den Respekt vor der praktischen Freiheit von Personen. Freilich setzt ein unparteiisches Urteil, weil es eine Zweitbeurteilung eines sympathetischen Urteils über die Angemessenheit einer affektiven Reaktion ist, bestimmte inhaltliche Konzeptionen über das Wohl von Personen voraus. Unparteilichkeit verlangt nicht die Neutralisierung oder die Negation von subjektiven Konzeptionen des Glücks oder des Wohls, im Gegenteil, sie zerstört nicht Subjektivität und Parteilichkeit, sondern läßt sie gerade, in einer für alle rechtfertigbaren Weise, in Kraft. Von hieraus ließe sich rückblickend sagen: Sympathie ohne Unparteilichkeit ist willkürlich, Unparteilichkeit ohne Sympathie ist blind. Natürlich sind damit nicht alle Probleme gelöst. In gewisser Hinsicht beginnen sie erst jetzt. Es ist aber die Aufgabe einer anderen Abhandlung, mit dieser Sichtweise nun eine Revision der Smithschen Unterscheidung von Sympathie und Unparteilichkeit zu unternehmen und sie in einem neuen Kontext fruchtbar zu machen. Mir ging es hier darum zu zeigen, daß Adam Smith in seiner Moralphilosophie dazu entscheidende Anregungen geben kann.
31 Siehe zum Verständnis von Freiheit als praktisches Überlegenkönnen Klemme 2003, Kapitel III.
Smith und der Kulturrelativismus Samuel Fleischacker / University of Illinois, Chicago In diesem Beitrag möchte ich der Frage nachgehen, inwieweit Adam Smiths Moralphilosophie eine relativistische Deutung zuläßt. Damit verfolge ich vor allem den Zweck, die Aufmerksamkeit auf diese Frage zu lenken und weitere Untersuchungen anzuregen. Was ihre Beantwortung betrifft, werde ich hier allerdings nicht mehr tun, als ein paar vorbereitende Hinweise zu geben. Da Smiths Philosophie diese Frage aufwirft, ergeben sich, wie auch immer die Antwort darauf ausfallen mag, einige interessante Konsequenzen für unser Verständnis dieser Philosophie. Das jedenfalls hoffe ich deutlich zu machen. Hervorheben möchte ich im Besonderen die Konsequenz, daß der relativistische Zug in Smiths Moraltheorie im Hinblick auf unser heutiges Interesse an ihr auch Vorteile und nicht nur Nachteile mit sich bringt. Smith hat das seltene Verdienst, Moralität in einer Weise zu präsentieren, die nicht nur Philosophen, sondern auch Anthropologen respektieren können. Normalerweise sind Philosophen und Anthropologen, wenn es um Moralität geht, so über Kreuz miteinander, daß man zweifeln kann, ob sie überhaupt über dasselbe reden. Die Gründe dafür betreffen den Kern beider Disziplinen. Wenn Anthropologen ansetzen zu untersuchen, was „Moralität“ ist, sind sie im Allgemeinen bemüht, die folgende Frage auszuklammern: „Welche Normen sollen als moralische Normen angesehen werden?“ Denn mit jeder Antwort auf diese Frage würden sie riskieren, die objektive Annäherung an ihren Untersuchungsgegenstand preiszugeben. 1 Wenn sie eine Kultur 1 Vgl. z. B. Boas 1931, S. 204 f.: „Die wissenschaftliche Untersuchung verallgemeinerter Gesellschaftsformen macht es erforderlich […], daß sich der Wissenschaftler aller Wertungen enthält, die ihren Ursprung in unserer Kultur haben. Eine objektive, im strengen Sinn wissenschaftliche Untersuchung kann nur durchgeführt werden, wenn es uns gelingt, uns jeder Kultur auf der ihr eigenen Grundlage zu nähern, wenn wir die Ideale jedes Volkes herausarbeiten und in unserer allgemeinen, objektiven Untersuchung die kulturellen Werte berücksichtigen, die wir in den verschiedenen Zweigen der Menschheit finden.“ (Dt. v. Christel Fricke)
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in dieser Hinsicht untersuchen, fragen sie einfach die Leute, welches Verhalten sie faktisch billigen bzw. mißbilligen. Sobald dagegen Philosophen daran gehen zu bestimmen, was Moralität ist, gilt ihr Interesse hauptsächlich einem Maßstab zur Beurteilung, d. h. zur Bewertung dessen, was die Leute in einer Kultur billigen bzw. mißbilligen. Anthropologen und Philosophen sind daher von vornherein auf Kollisionskurs, und sie landen, kaum überraschend, bei ganz verschiedenen Vorstellungen davon, was Moralität ist. Aufgrund ihres methodischen Ansatzes neigen Anthropologen dazu, moralische Normen einfach mit jenen Normen zu identifizieren, die in einer Gesellschaft mit einem ausgeprägten Sinn für „Frömmigkeit“ in einem bestimmten Sinn als „heilig“ angesehen werden – eine moralische Norm ist für sie also, grob gesagt, das, was man auf Hawai „tabu“ nennt. 2 Für Philosophen sind dagegen das „Tabu“ und die mit ihm verbundenen emotionalen Reaktionen gerade nicht geeignet, das Wort „Moralität“ mit Inhalt zu füllen. Infolge dieses Ansatzes kommen Philosophen oft dahin, die meisten oder sogar alle der Normen, die in einer Gesellschaft als „moralische“ gehandelt werden, für bestenfalls irrelevant im Hinblick auf die Moralität zu erklären. Umgekehrt kommen Anthropologen oft zu dem Urteil, daß das, was Philosophen unter Moralität verstehen, in den Kulturen, die sie untersuchen, als solches gar nicht erkannt würde. Bei diesem Streit geht es letztlich um die Frage, ob moralische Normen einer vernünftigen Rechtfertigung bedürfen. Seit Hobbes ist die neuzeitliche Moralphilosophie darauf aus, für Verhaltensnormen unabhängig von religiösen Verpflichtungen, zumindest aber unabhängig von nicht-rationalen, nur im „Glauben“ verankerten religiösen Verpflichtungen, Gründe anzugeben. Normen, die nur darin bestehen, daß sie zu verletzen gesellschaftliche Ächtung nach sich zieht, sie einzuhalten aber die Achtung in der Gesellschaft, gelten Philosophen deshalb tendenziell als nicht-moralisch. Gelegentlich hat man versucht, die Moralität im Rückgriff auf Universalität zu definieren: Moralisch sind alle und nur die Normen, die sich alle Menschen zu eigen machen können. Gelegentlich hat man auch versucht, die Moralität in einem unmittelbaren Rückgriff auf Rationalität zu definieren: Moralisch sind alle und nur die rationalen Normen (und universell gelten sie dann, weil sie ra2 Vgl. MacIntyre 1984, S. 111 f. Anthropologen berufen sich oft auf das, was William Sumner „mores“ genannt hat, deren Verletzung in jeder Gesellschaft eine starke, aber nicht juridische negative Reaktion auslöst; vgl. z. B. Kroeber 1948, § 116, S. 265–67.
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tional sind). Als Teil der Definition der Moralität ist aber in jedem Fall unterstellt, daß alles, was nur durch irgendeine Gruppe von Menschen gefühlsmäßig als richtig oder falsch angesehen wird, ohne daß andere davon überzeugt werden können, dies ebenso zu sehen, nicht in einem moralischen Sinne richtig oder falsch sein kann – daß dies nicht mehr als ein „Tabu“ sein wird. Ein im eigentlichen Sinne philosophisches Verständnis von Moralität soll in der Tat den Vorteil bieten, daß moralische Normen von Tabus klar geschieden werden können und im Lichte dieser Unterscheidung dann die in verschiedenen Gesellschaften geltenden Verhaltensregeln auch kritisierbar sind. Dieser Vorteil ist nicht gering zu schätzen, das will ich gleich betonen: Es ist eine wichtige moralische Errungenschaft, Tabus, die Vorurteile gegen Schwarze, Juden, Frauen, Homosexuelle u. a. einschließen, zurückweisen zu können; und diese Errungenschaft wäre unmöglich, wenn man die Moralität mit dem Tabu identifizieren müßte. Dennoch haftet dem philosophischen Zugang zur Moralität etwas Ungenügendes an. Philosophen sehen sich genötigt, einen Großteil dessen als nicht zur Sache gehörig auszublenden, was die meisten Menschen fast überall als moralisch bzw. unmoralisch ansehen. Was für gewöhnlich als „Moralität“ etikettiert wird, ist in den Augen der Philosophen darüber hinaus nicht nur zu Unrecht so benannt, sondern offensichtlich ohne jede Bedeutung für die Moralität. Wenn Eskimos glauben, daß es einfach verwerflich ist, während einer und derselben Mahlzeit sowohl Karibu- als auch Robbenfleisch zu essen, dann ist das nach dem Urteil der Philosophen ein offensichtlicher Fehler, insbesondere dann, wenn die Eskimos zudem glauben, daß dies ein Vergehen derselben Art ist wie die Verletzung einer anderen Person. Wenn gläubige Christen behaupten, auch einvernehmlicher homosexueller Verkehr sei einfach verwerflich, so sehen Philosophen darin einen ähnlich offensichtlichen Fehler. Sie erwecken damit den Anschein, als wüßten gewöhnliche Leute gar nicht, was Moralität ist; und gewöhnliche Leute in anderen Kulturen scheinen ihrer Darstellung zufolge sogar völlig verwirrt zu sein, wenn es um Moralität geht. Diesen Anschein zu erwecken ist jedoch nicht nur beleidigend, sondern auch unplausibel. Außerdem erweist sich die philosophische Definition der Moralität damit als unbrauchbar für deskriptive Untersuchungen sowohl darüber, wie die Menschen die Sprache der Moral tatsächlich gebrauchen, als auch darüber, wie sie sich moralisch entwickeln, d. h. wie vergesellschaftete Individuen lernen, sich selbst als Subjekte zu verstehen, die einen moralischen Standpunkt haben. Sobald man gesellschaftliche
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Tabus von den moralischen Normen einfach abgeschnitten hat, wird es schwer zu erklären, wie diese Normen überhaupt gelernt werden können. Das ist noch nicht alles. Die Philosophen rücken die Moralität in ihrem Bild zu weit weg von anderen Werten, sie trennen sie zu scharf von Ästhetik und Dekor, von Religion und Metaphysik ganz zu schweigen. In der Praxis funktioniert ein Tabu, das bestimmte Speisen verbietet, oft nicht anders, als ein Tabu, das verbietet, andere zu verletzen oder sie zu quälen. In vielen Kulturen gibt es eine Tendenz, die ihnen wichtigen Normen dadurch zu erklären, daß sie als Ausdruck einer kosmischen Ordnung gesehen werden. Jede Verletzung irgendeiner dieser Normen gilt als eine Verfehlung, weil dadurch eine natürliche und schöne kosmische Struktur gestört oder verunstaltet wird. Indem Philosophen dies für einen Irrtum erklären und darauf bestehen, daß Moralität nur betrifft, was Menschen einander schulden,3 berauben sie sich der Möglichkeit, die Moralität als etwas anzusehen, das dem Ganzen unseres Lebens und nicht nur unseren interpersonalen Beziehungen eine intrinsische Bedeutung verleiht und uns helfen könnte, alle unsere Ziele und Belange zu bestimmen. Die den Philosophen stets so wichtige Rationalität moralischer Normen schließlich erleichtert das Verständnis von deren präskriptiver Funktion nicht gerade. Normen, die wir uns aus aufgrund rationaler Überlegung zu eigen machen, sind oft gerade nicht diejenigen Normen, deren Befolgung uns besonders am Herzen liegt; umgekehrt gehören Normen der letzteren Art (z. B. das von Hindus befolgte Verbot, Rindfleisch zu essen) nicht zu denen, für die sich gute Gründe nennen lassen. Damit philosophisch begründete moralische Empfehlungen (wie etwa die Gleichbehandlung von Schwarzen und Weißen) uns überhaupt beeindrucken, müssen sie zumindest in unsere emotionalen Reaktionen eingebunden sein: Rassendiskriminierung muß für uns zu einem Tabu werden. Smith dagegen nimmt anders als fast alle seine Vorgänger den TabuCharakter moralischer Normen, 4 die Aura des „Heiligen“, die sie um3 Dies ist eine Anspielung auf Thomas Scanlons What we owe to each other (Scanlon 1998); dieses Buch wurde nicht ins Deutsche übersetzt. 4 Man beachte in diesem Zusammenhang den Unterschied zwischen Hume und Smith. Für Hume bedeutet „heilig“ nichts anderes als „unverletzlich“, vgl. Hume, EPM 3.2, S. 24 f. (Enq., S. 200 f.). Wer eine Regel „heilig“ nennt, bringt damit lediglich zum Ausdruck, daß sie keine Ausnahmen zuläßt, vgl. THN III.ii.2, S. 321, III.ii.6, S. 341 (ed. SBN, S. 501, 531 f.). Wer aber sagt, daß niemals gegen eine Regel verstoßen wer-
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gibt, durchaus ernst und definiert „Moralität“ in einer Weise, die eng angeschlossen ist an den Gebrauch dieses Wortes im täglichen Leben. Zum einen versteht er die Ausbildung moralischer Urteile, wie wir noch sehen werden, gerade so, daß deren Standards weitgehend durch die Standards der Gesellschaft bestimmt werden. Darüber hinaus scheint seine Entscheidung dafür, das moralische Urteil mit dem Urteil des unparteiischen Zuschauers zu identifizieren, von der Überzeugung getragen zu sein, daß es genau dies ist, was die Leute für gewöhnlich unter einem „moralischen Urteil“ verstehen. Überall in seinem Werk folgt Smith dem methodischen Rezept, philosophische Definitionen aus dem Common Sense zu entwickeln, und in seiner Theorie der moralischen Gefühle beruft er sich immer wieder auf das, was „wir denken“, was „wir bewundern“ und was „wir billigen“ (z. B. I.i.3.2: 17; dt. 15 f.; I.i.5.3: 24; 27 f.; I.iii.3.2: 62; dt. 88; III.vi.13: 178, dt. 271 f.; VII.iv.13: 323; dt. 554 f.). An einer besonders wichtigen Stelle begründet er auf diese Weise, daß „wir“ Hutcheson nicht zustimmen können, den solle, sagt damit noch nicht, daß sie „Ehrerbietung“, „Achtung“ oder irgendeine andere der psychischen Einstellungen verdient, die wir normalerweise mit „Heiligkeit“ im landläufigen Sinn verbinden. Naturgesetze, wie z.B. Newtons Gravitationsgesetz, sind unverletzlich, aber wir empfinden sie kaum als heilig. Ausdrücklich vergleicht Hume den scheinbaren Aberglauben, der den Anspruch auf Eigentum umgibt, mit dem wirklichen Aberglauben, der, wie er glaubt, religiösen Riten anhängt, und er stellt ausdrücklich fest, daß er kein Verständnis dafür hat, die Regeln der Gerechtigkeit mit Ehrfurch oder irgend einer Art von Tabu in Verbindung zu bringen. (EPM 3.2, S. 23 f.; Enq., S. 197–200): Die Gesetze der Gerechtigkeit sind so weit wie möglich eine Sache der Vernunft, und so sollte es auch sein; sie sind nicht von einem Mantel mysteriöser Gefühle umgeben. Smith dagegen ist der Auffassung, daß wir für uns selbst unverletzliche moralische Regeln festlegen, „um die falschen Angaben … richtig zu stellen“, die „die Richtschnur für [unser] Handeln betreffen“ und zu denen „ein besonders wütendes Übelnehmen“ oder der Überschwang der Selbstliebe uns verleiten können. Diese Regeln sind mittels der „Ehrfurcht“ und des „Respekts“ wirksam, die sie uns einflößen; ihre Macht beruht auf der Tatsache, daß uns in ihrem Licht bestimmte Handlungen erscheinen, als seien sie von einer höheren Macht verboten worden, daß sie diese Handlungen tabuisieren und damit als etwas darstellen, das zu tun wir uns nicht einmal vorstellen können. (III.iv.12: 160f.; dt. 241 f.) Wenn also Smith seine Regeln der Gerechtigkeit „heilig“ nennt (III.iii.6: 138; dt. 204 f.; III.iv.12: 160 f.; dt. 241 f.; VII.iv.8: 330; dt. 550), dann verwendet er diesen Ausdrucks in seiner normalen Bedeutung; nicht ihre bloße Unverletzlichkeit, sondern die Eigenschaft dieser Regeln, Ehrfurcht zu gebieten, ist für ihre Wirksamkeit zentral. (Die Tatsache, daß wir diese Regeln selbst festlegen, daß wir sie „uns selbst vorschreiben“, hindert uns nicht daran, sie als göttliche Gesetze anzusehen: wenn unsere moralischen Gefühle Gottes „Stellvertreter in uns“ sind, dann ist es durchaus vernünftig, die Regeln, zu denen sie uns hinleiten, ganz einfach als eine Weise zu begreifen, in der sich Gott uns offenbart.)
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wenn dieser Moralität mit Wohlwollen identifiziert (VII.ii.3.13: 302; dt. 505 f.). Auch seine Begründungen dafür, daß Moralität weder mit Klugheit noch mit sozialer Nützlichkeit gleichgesetzt werden kann, lassen sich, wie mir scheint, am besten nachvollziehen, wenn man sie auf die Prämisse zurückführt, daß wir das Wort „moralisch“ im alltäglichen Umgang einfach nicht dazu gebrauchen, um uns auf das Eigeninteresse eines Akteurs oder auf den Nutzen der Gesellschaft zu beziehen: Das Vokabular der Moral sei ein anderes als das der Klugheit oder der Nützlichkeit. Wenn wir eine Handlung als moralisch richtig beurteilen, dann ist das, was wir meinen, nichts anderes, als daß diese Handlung die Billigung eines unparteiischen Zuschauers findet: „Die Wörter ‚recht‘, ‚unrecht‘, ‚geziemend‘, ‚unschicklich‘, ‚anziehend‘, ‚unanständig‘ bedeuten nur das, was [unseren moralischen Vermögen] gefällt oder mißfällt.“ (III.v.5, 165; dt. 250) Auf diese Weise identifiziert Smith moralisches Denken mit dem, was die meisten Leute im alltäglichen Leben ohnehin für ein solches Denken halten. Dadurch unterscheidet er sich von Hobbes und Bentham, die statt dessen auf die äußere Funktion schauen, der die Inanspruchnahme moralischer Unterschiede im alltäglichen Reden dient. Ebenso unterscheidet er sich von Cudworth und Clarke, die sich (wie später auch Kant) an der diesem Reden zugrunde liegenden rationalen Struktur orientieren. 5 Diese in der Moralphilosophie geläufigeren Ansätze rechnen damit, daß unser alltägliches moralisches Urteilen durch und durch verworren sein könnte und deshalb einer Generalüberholung bedarf, die sich entweder an dessen grundlegender Funktion oder an dessen Struktur orientiert. Auch nach Smiths Ansatz mag eine Gesellschaft hin und wieder moralische Irrtümer begehen, aber das Wesen und die Funktion des moralischen Urteilens selbst kann sie nicht mißverstehen. Denn für Smith ist Moralität gar nichts anderes als die in ei5 Es gibt ganz offensichtlich eine ganze Reihe sehr wichtiger gesellschaftlicher Zwecke, denen moralisches Verhalten dient (individuelles Glück, sozialen Frieden und Stabilität, usw.; Smith berücksichtigt sie an verschiedenen Stellen der Theorie der moralischen Gefühle; vgl. I.i.4.4.: 20; dt. 21 f.; I.iii.1.5 ff.: 45; dt. 62 f.; II.ii.3.3 f.: 86; dt. 128 f.; 222 f.). Aber daß die Moral diesen Zwecken dient, ist nicht Teil ihrer Definition, ebensowenig wie es Teil jener Praktiken ist, die wir, direkt oder indirekt, mit diesen Zwecken in Verbindung bringen, wenn wir uns selbst und unsere Nachbarn zurechtweisen. Der Zweck der Moral liegt sozusagen jenseits des Rahmens, jenseits des Bildes, das darstellt, was Moral tatsächlich ist. Diese nicht-teleologische Haltung gehört der Sache nach zur Phänomenologie des moralischen Urteils; und gerade weil er teleologische Fragen ausklammert, gelangt Smith über Hobbes, Hutcheson und Hume hinaus und wird zu Recht als jemand angesehen, der Kant antizipiert.
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ner Gesellschaft praktizierte wechselseitige Korrektur von Verhaltensweisen, die von den in dieser Gesellschaft etablierten Standards abweichen (insbesondere wenn diese Verhaltensweisen Ausdruck eines ungezügelten Egoismus sind). Diese Definition läßt offen, wie die Standards einer Gesellschaft jeweils beschaffen sind. Doch der Gedanke, daß eine Gesellschaft das Wesen der Moralität ganz und gar mißverstehen könnte, ist angesichts dieser Definition einfach sinnlos.6 So kann Smith unter den modernen Moralphilosophen – zumindest unter denen des 17. und 18. Jahrhunderts – als derjenige gelten, der das ausgeprägteste anthropologische Gespür hat. Nun ist es aber gerade dieses anthropologische Gespür, das Smith den Vorwurf einträgt, seine Moralphilosophie sei mit jenem Relativismus belastet, den Philosophen gemeinhin den Anthropologen vorzuwerfen pflegen. Ob Smith dem etwas entgegenzusetzen hätte, sei dahingestellt. Doch das aufgeworfene Problem ist auch das unsrige. Für gewöhnlich verstehen wir unter einer moralischen Norm sowohl etwas, das unser Handeln leiten soll, als auch etwas, das das Verhalten der Mehrheit der Mitglieder einer Gesellschaft tatsächlich leitet. Von daher gesehen müssen der philosophische und der anthropologische Zugang zur Moralität in Einklang gebracht werden; die fortbestehende Kluft zwischen beiden ist indes Ausdruck unserer grundlegenden Schwierigkeit zu bestimmen, was Moralität leisten soll. Wir gehen über diese Schwierigkeit meist allzu leichtfertig hinweg, indem wir jeden der beiden Aspekte der Moralität im Sinne der bestehenden Arbeitsteilung jeweils einer eigenen Disziplin überlassen. Selbst wenn Smith also auf die Frage, wie der universalistische und der kultur-relative Aspekt der Moralität miteinander zu vereinbaren wären, keine überzeugende Antwort haben sollte, so ist doch die bloße Tatsache, daß seine Moralphilosophie diese Frage aufwirft, für uns Grund genug, uns mit seinen diesbezüglichen Überlegungen auseinanderzusetzen. Dazu möchte ich hier einen Beitrag leisten, indem ich die relativistischen und die universalistischen Tendenzen in Smiths Moralphilosophie verfolge. 7 Meine 6 Das sagt Smith selbst. Vgl. VII.ii.4.14: 313 f.: dt. 522 f. 7 Ich bin mir dessen bewußt, daß das Gegenteil von „relativistisch“ eigentlich „absolutistisch“ und das Gegenteil von „universalistisch“ eigentlich so etwas wie „gruppenspezifisch“ oder vielleicht „pluralistisch“ ist. Das erste Begriffspaar gehört in den Bereich der Meta-Ethik, während das zweite in den der Ethik gehört. Jedoch ist eine absolutistische Auffassung von den Grundlagen der Ethik meist mit einem starken ethischen Universalismus verbunden, während eine relativistische Auffassung dieser Grundlagen fast ohne Ausnahme mit pluralistischen Überzeugungen einhergeht.
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Überlegungen gliedern sich in drei Teile: Zunächst widme ich mich Textbelegen, die dafür sprechen, Smith als eine Art von Relativist zu lesen, dann solchen, die dagegen sprechen; abschließend erörtere ich, weshalb es so schwierig ist, diese beiden Aspekte in Smiths Denken zusammenzubringen.
I. Smiths Relativismus Beginnen wir also mit den relativistischen Tendenzen. Unter den Autoren des 18. Jahrhunderts zeichnet sich Smith durch seinen Respekt vor anderen Gesellschaften aus. Von Humes notorischen Spekulationen darüber, ob nicht nur die Zivilisation der Weißen überhaupt etwas Bemerkenswertes hervorgebracht habe, ist Smith weit entfernt, und er preist die Großherzigkeit der amerikanischen Ureinwohner und der Afrikaner, die er als den Europäern, die sie versklavt haben, charakterlich überlegen beschreibt. 8 Außerdem ist die Passage über die Afrikaner einem Abschnitt der Theorie der moralischen Gefühle (aus Teil V) entnommen, der dem Einfluß der Kultur auf die Moral gewidmet ist und in dem Smith ausführt, daß „die verschiedenen Lebensverhältnisse verschiedener Zeitalter und Länder der Mehrzahl derjenigen Menschen, die unter ihnen leben, ein verschiedenes Wesen […] verleihen“ (V.ii.7: 204; dt. 248 f.). Er bezieht sich auf verschiedene Standards der Höflichkeit in Rußland und Frankreich sowie auf Unterschiede bei zivilisierten und barbarischen Völkern im Verhältnis der „zarten“ (gentle) und der „ehrwürdigen“ (awful) Tugenden zueinander, die er als „große“ und „wesentliche“ Unterschiede der Moralvorstellungen verschiedener Völker beschreibt (V.ii.10–11: 207–209; dt. 354 f.). 9 Da Aus diesem Grund, und weil Smith tatsächlich hin- und her gerissen ist zwischen der meta-ethischen Gefahr des Relativismus und der ethischen Neigung zum Universalismus, werde ich die Spannung, die ich in Smiths Theorie sehe, in den meisten Fällen als eine zwischen „Relativismus“ und „Universalismus“ bezeichnen. 8 Vgl. Hume, Of National Characters, in: Ess., S. 208 Fn. Vgl. Smith, TMS V.ii.9: 205–207; dt. 349–353. Es gibt in diesen Abschnitten Anklänge an Montaigne und Vorausnahmen von Herder, aber ein solcher Respekt vor nicht-westlichen Gesellschaften ist im 17. und 18. Jahrhundert sehr selten. 9 James Otteson, mit dessen Diskussion dieser Fragen ich ansonsten weitgehend übereinstimme (Otteson 2002a, S. 215–220), unterschätzt gewissermaßen die Bedeutung, die Smith der kulturellen Vielfalt beimißt. Er zitiert eine Passage, die auf der dem eben zitierten Passus folgenden Seite steht, um zu zeigen, daß für Smith kulturelle Unterschiede in der Moral „von geringem Belang“ seien (V.ii.13: 209; dt. 356; Otte-
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der Gedanke, daß Moralität eine von kulturellen Unterschieden abhängige Variable ist, zu Smiths Zeiten nicht sehr verbreitet war, 10 ist die bloße Tatsache, daß er diesem Thema einen ganzen Abschnitt seines Buches widmet, schon sehr bemerkenswert. Allerdings ist die Rolle, die Smith hier der Kultur zuweist, grundsätzlich so begrenzt, daß von Relativismus kaum die Rede sein kann. Die Kindstötung, obwohl von ganzen Kulturen gebilligt, verurteilt er als eine Perversion der Moralität und erklärt, daß „der allgemeine Typus des Verhaltens oder Betragens“ niemals so pervertiert werden könne, ohne daß die Gesellschaft sich dadurch selbst zerstören würde (V.ii.15–16: 209–11; dt. 357–59). Der kulturellen Variierbarkeit der Moral sind von vornherein enge Grenzen gesetzt. Die Variation beschränkt sich darauf, dieser oder jener Tugend ein größeres Gewicht zuzumessen als anderen, was in Anbetracht unseres Bildes davon, wie Menschen leben sollen, allenfalls zu unterschiedlichen „Schattierungen“ führt: „Die Sitten verschiedener Völker verlangen verschiedene Grade der gleichen Eigenschaft an demjenigen Charakter, den sie für achtungswert halten“ (V.ii.13, 209; dt. 356) Gestützt allein auf die Belege in Teil V könnten wir Smith als einen kulturellen Pluralisten hinstellen, aber nicht als einen Relativisten. Sein Bild vom guten menschlichen Leben enthält einen Freiraum für unterschiedliche kulturspezifische Ergänzungen, aber dieses Bild soll nichtsdestoweniger das gute Leben aller menschlichen Wesen an allen Orten gleichermaßen treffen. Aber ein echter Relativismus bedroht seine zentralen Gedanken in den Teilen I und III der Theorie der moralischen Gefühle. Das läßt sich auf verschiedene Weise zeigen. Zunächst ist festzustellen, daß Smiths Vorgehen, soweit er sich in begründender Absicht auf das beruft, was „wir denken“, „wir billigen“ usw., den folgenden Einwand provoziert: Da jenes „wir“ sich stets auf diejenigen bezieht, die es aussprechen, kann das, was diejenigen glauben und fühlen, die sich in einer Gesellschaft so artikulieren, vollkommen verschieden sein von dem, was dieson 2002a, S. 219). Tatsächlich aber sagt Smith an dieser Stelle lediglich, daß moralische Unterschiede, die auf „verschiedene Berufe und Lebensstände“ zurückzuführen sind, von „geringem Belang“ seien. Unterschieden, die auf kulturelle Differenzen zurückzuführen sind, mißt er durchaus mehr Bedeutung zu. 10 In seiner modernen, anthropologischen Bedeutung wurde der Begriff der „Kultur“ erst im 19. Jahrhundert gebildet. Geprägt wurde er 1843 von Gustav Klemm, der dem deutschen Wort „Kultur“ damit eine neue Bedeutung geben wollte. Ins Englische wurde der entsprechende Begriff „culture“ 1871 von Edward Tylor eingeführt. Vgl. Fleischacker 1994, Kapitel 5.
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jenigen glauben und fühlen, die das in einer anderen Gesellschaft tun. Vieles von dem, was uns in Smiths Theorie gefällt, geht einher mit seiner Berufung auf den Common Sense: der nicht-metaphysische Charakter seines Moralkonzepts 11 ebenso wie seine Zurückweisung des Utilitarismus. (Zwar gibt es auch utilitaristische Momente bei Smith, [z. B. II.ii.3.11: 90 f.; dt.135–137 und VII.iii.3.15: 326; dt. 543], aber aufs Ganze gesehen bestreitet er, daß die Urteile des unparteiischen Zuschauers entweder auf Nützlichkeitsüberlegungen reduziert oder durch diese korrigiert werden könnten.) So attraktiv Smiths Berufung auf den Common Sense in manchen Hinsichten sein mag, setzt er sich mit dieser Methode doch dem Einwand aus, der typischerweise gegen eine Philosophie des Common Sense erhoben wird, dem Einwand nämlich, daß jede Gemeinschaft ihren eigenen Common Sense hat, 12 daß das, was in der einen Kultur dem gemeinschaftlichen Empfinden entspricht, in einer anderen Kultur diesem geradezu entgegengesetzt sein kann. Das gilt im Besonderen für das moralische Empfinden, und was dieses angeht, sind Unterschiede ganz besonders schwer zu überwinden. Verbreitete Formen des Aberglaubens – sei es bei uns, sei es in einer anderen Kultur – können wir vielleicht im Rückgriff auf wissenschaftliche Erkenntnisse überwinden, aber verbreitete moralische Überzeugungen werden wir auf diese Weise kaum je verändern. Auf einen zweiten Punkt hat Alan Gibbard aufmerksam gemacht: Daß ganze Kulturgemeinschaften die Standards der moralischen Billigung bestimmen, scheint gar nicht haltbar, wenn man mit Smith die moralische Billigung auf das Streben einer jeden Person nach Harmonie mit den Gefühlen der anderen in ihrer Umgebung zurückzuführen sucht. 13 Ist es nämlich der Wunsch, „geliebt zu werden“ (I.ii.5.1: 41; 11 Daß Smith in seiner Philosophie metaphysischen Appellen abschwört, ist eines der zentralen Themen in Charles Griswolds Smith-Monographie (Griswold 1999). Griswold sieht in Smith daher eine Art Skeptiker; ich dagegen lese ihn als einen „Common Sense Philosophen“. Zur weiteren Erörterung dieser Frage vgl. Fleischacker 2004, Teil I, Kapitel 2. 12 Vgl. Geertz 1983. 13 Vgl. Gibbard 1990, S. 280: „Wenn die pragmatische Geschichte, die Smith erzählt, seine Theorie vom unbeteiligten Beobachter bestätigt, dann bestätigt sie sie in einer relativierten Form. Smith muß sagen, daß die Gefühle, die eine Person angemessenerweise empfindet, die Gefühle eines unbeteiligten Beobachters sind, der jedoch zu derselben Kultur wie diese Person gehört. Die Gefühle, die Menschen empfinden, hängen schließlich in hohem Maß von dem kulturellen Umfeld ab, zu dem sie gehören und das sie geprägt hat. Eine Person will, daß anderer Gefühle den ihrigen entsprechen, so heißt es bei Adam Smith – und damit sind wahrscheinlich die Menschen
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dt. 56), unsere Nächsten und Freunde als liebenswürdig zu erfahren und überhaupt unsere Gefühle mit anderen in unserer Umgebung zu teilen, der uns dazu treibt, uns sowohl um die moralische Billigung durch andere zu bemühen als auch diesen unsere Billigung oder Mißbilligung mitzuteilen, dann wird das Ziel, auf das wir aus sind, mit jeder Variation in den Gefühlen, die in der betreffenden Gruppe vorherrschen, auch variieren müssen. Wenn Hinz mit offenen, warmherzigen Leuten zu tun hat, während Kunz nur mit kühlen, verschlossenen Personen verkehrt, dann werden Hinz und Kunz danach streben, sich zu entsprechend anders gearteten Personen zu entwickeln, und sie werden ganz verschiedene Arten von Handlungen und gefühlsmäßigen Reaktionen billigen bzw. mißbilligen. Wenn es die Funktion moralischer Billigung ist, zwischen den Mitgliedern einer Gruppe eine Art von emotionalem Gleichgewicht herzustellen, dann wird sich Verschiedenes ergeben je nach dem, Gefühle welcher Art und Stärke zur jeweiligen Zeit am jeweiligen Ort in das Gleichgewicht eingegangen sind. Der dritte Punkt scheint der wichtigste zu sein: Die Stellungnahmen des unparteiischen Zuschauers stützen sich auf Urteilsweisen, die ihrem Wesen nach für eine bestimmte Kultur spezifisch zu sein scheinen. Wir registrieren, was unsere Freunde und Nachbarn darüber sagen, was man zu tun und zu lassen habe, und wir bemühen uns darum, ihre Billigung zu finden. 14 Dann aber stellen wir fest, daß manche ihrer Urteile – aufgrund eines durchschlagenden Eigeninteresses15 oder aufgrund falscher Informationen 16 – unfair sind, und „um uns gegen solche parteiischen Urteile zur Wehr zu setzen, … lernen wir, in unserem eigenen Gemüt einen Richter über uns und diejenigen, mit denen wir leben, einzusetzen“ (III.ii.31: 129 dt. –; vgl. auch III.iii.2f.: 135; dt. 200f.). Dieser unparteiische Richter in uns kann nur dann etwas gegen unsere Verurteilung durch äußere Richter ausrichten, wenn er dieselben Standards der Beurteilung verwendet wie diese; andernfalls käme es gar nicht zu einer Auseinandersetzung mit ihren Urteilen. Die Gesellschaft gemeint, die dieser Person etwas bedeuten – typischerweise sind das Menschen der gleichen Kulturzugehörigkeit. Eine Person richtet ihre Gefühle nach denen eines unbeteiligten Beobachters aus, um Gefühle zu empfinden, von denen sie hoffen kann, daß sie denen ihrer Mitmenschen entsprechen. Wenn ihre Mitmenschen, diejenigen, die ihr etwas bedeuten, zu derselben Kultur gehören wie sie, dann sollte dies auch für den unbeteiligten Beobachter gelten.“ (Dt. v. Christel Fricke) 14 I.i.-iii: 9–66; dt. 1–94. 15 III.ii.31: 129. 16 III.ii.2 ff.: 114 f.; dt. 172 ff.; III.ii.32: 130 f.; dt. 194 f.
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hält uns den „Spiegel“ vor, in dem wir unser eigenes Verhalten sehen können: „die Mienen und das Betragen derjenigen, mit denen [wir] zusammenleb[en],“ befähigen uns, „die Schicklichkeit und Unschicklichkeit [unserer] eigenen Affekte“ zu erkennen (III.i.3: 110; dt. 168); und dadurch, daß wir uns vorstellen, wie unsere Umgebung uns agieren sieht, „prüfen wir die Schicklichkeit“ unseres eigenen Verhaltens (III.i.5: 112; dt. 170). Tatsächlich sind es die Anderen, die eine solche Prüfung vornehmen. Aber um die durch Parteilichkeit oder Unkenntnis bedingten Verzerrungen in deren Urteil zu korrigieren, unterziehen wir uns statt dessen jener Selbstprüfung. Indem wir die Affekte, die Interessen und die Fehlinformationen, die das Urteil unserer Freunde und Nachbarn färben, korrigieren, wenden wir uns an eine idealisierte Ausgabe unserer Freunde und Nachbarn und so gleichsam an eine Person, die dieselben Standards des moralischen Urteilens anlegt wie diese. Der unparteiische Zuschauer ist interesselos, wohl informiert und „aufrichtig“ (candid, siehe III.ii.31: 129), aber im übrigen ist er gerade so, wie wirkliche, parteiische Zuschauer zu sein pflegen. Er wird konstruiert aus tatsächlichen Zuschauern und im Besonderen aus den elementaren reaktiven Einstellungen und den unvermittelten moralischen Urteilen, die unsere tatsächlichen Freunde und Nachbarn äußern. Für eine Korrektur der Beurteilungsstandards, die in der umgebenden Gesellschaft gelten, gibt Smiths Konstruktion eines idealisierten Zuschauers uns wenig an die Hand. Die idealisierte Figur übernimmt diese Standards und korrigiert lediglich deren Gebrauch, sofern er durch Parteilichkeit oder Unkenntnis verzerrt ist. Wenn die moralischen Standards, die grundlegenden moralischen Gefühle, in einer Gesellschaft zutiefst korrumpiert sind – wenn in ihr z. B. Gefühle der Verachtung für Afrikaner, Hassgefühle gegenüber Juden oder Homosexuellen für moralische Gefühle gehalten werden und infolgedessen, was diese Leute tun, vollkommen verzerrt beurteilt wird –, dann wird der unparteiische Zuschauer in jedem einzelnen Mitglied der betreffenden Gesellschaft selber so korrumpiert sein, daß eine Korrektur ihrer Standards kaum möglich ist. 17 17 Dieses Problem wird durch die Tatsache verschärft, daß der gesellschaftlich geprägte unparteiische Zuschauer in uns nicht nur unser Mittel zum moralischen Urteilen ist: Er ist für eben das Selbst konstitutiv, das sich in allen unseren Urteilen artikuliert. Smith äußert sich an keiner Stelle zu Humes Dekonstruktion des Selbst im Treatise, aber seine Auffassungen in Teil III der Theorie der moralischen Gefühle setzen das Konzept eines kontinuierlichen, zur Introspektion befähigten Selbst voraus, das sich an seine eigenen Handlungen erinnern und die Verantwortung für diese Handlungen
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Nun scheint es aber ein durchaus einleuchtender Gedanke zu sein, daß der unparteiische Zuschauer, da er ja den Gebrauch der Standards einer Gesellschaft auf Verzerrungen durch Unkenntnis und Parteilichkeit überprüft, auch imstande ist, gegen diese Standards selbst geltend zu machen, daß sie auf Fehlinformationen beruhten oder nur zum Zwecke der Befriedigung gewisser Gruppeninteressen entstanden seien. 18 Mehr über die Afrikaner zu wissen und besser zu verstehen, auf welche Weise ablehnende Gefühle gegenüber Afrikanern den Interessen der Sklavenhalter dienten, das hätte die Leute in Amerika dazu bewegen können, sich von ihren Ressentiments zu befreien – vor allem dann, wenn sie ernsthaft versucht hätten, sich in die Lage der Afrikaner zu versetzen, die sich diesen Ressentiments ausgesetzt sahen. Es mag wohl sein, daß Smith der Überzeugung war, derartige Maßnahmen seien geeignet, uns von der moralischen Korruption der kollektiven Gefühle, in die wir verstrickt sind, zu befreien. Anderswo habe ich selber die Auffassung vertreten, Smith habe den Wohlstand der Nationen nicht zuletzt in der Absicht geschrieben, die Einstellung gegenüber den Armen auf ebendiese Weise zu korrigieren, nämlich durch bessere Informationen über sie und durch eine lebendige Schilderung übernehmen kann. (Vgl. vor allem III.i.4: 111 Fn. [3] und III.iii.1–6: 134–137; dt. 199–205) Die Gesellschaft stellt uns einen „Spiegel“ zur Verfügung, in dem wir uns selbst das erste Mal erblicken. (III.i.3: 110, dt. 168) Aber das läuft darauf hinaus, daß wir uns ohne einen solchen, gesellschaftlich konstruierten „Spiegel“ gar nicht dessen bewußt würden, daß wir überhaupt ein Selbst haben, das wir überwachen müssen. Und dies ist noch zu schwach ausgedrückt. Denn nicht nur wären wir uns ohne diesen Spiegel nicht einmal dessen bewußt, überhaupt ein Selbst zu haben, wir hätten tatsächlich kein Selbst. Die Spiegelmetapher führt uns auf die falsche Fährte. Ich habe einen Körper, bevor ich ihn im Spiegel sehe; der Spiegel erlaubt mir, mir meines Körpers bewußt zu werden, aber mein Körper existiert ganz unabhängig davon, ob ich mir seiner bewußt bin oder nicht. Aber es ist keineswegs geklärt, ob mein Selbst auch dann existiert, wenn ich mir seiner nicht bewußt bin. Alle gängigen Theorien des Selbst definieren es als etwas, das über sich selbst reflektiert, das sich seiner selbst bewußt ist. Aber in diesem Fall kann das Smithsche Selbst erst dann existieren, wenn es durch die Gesellschaft zu einer solchen Selbstreflexion erweckt wird. Es ist die Gesellschaft, die dem Selbst zu seiner Existenz verhilft, und gleichzeitig konstituiert sie die Maßstäbe, an denen sich der für es charakteristische Akt der Selbstreflexion ausrichtet. (Daraus ergibt sich interessanterweise unter anderem, daß Smith das Selbst eher als ein moralisches denn als ein kognitives Wesen versteht: Unser Vermögen zur Introspektion entsteht zuerst und in erster Linie auf dem Spielfeld der Moral. All die Lockeschen „reflexiven“ Sinne entstehen für Smith zunächst aus moralischen Praktiken und werden erst später auch im Bereich des Epistemischen verwendet. Auch darin könnte Smith Kant antizipieren: Die Moral, nicht die Epistemologie, gibt uns die besten Gründe dafür, ein kontinuierliches Selbst zu setzen.) 18 Es war Stephen Darwall, der mich auf diesen Einwand brachte.
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ihrer Lebensumstände, die den Leser motivierte, sich in ihre Lage zu versetzen. 19 Es ist jedoch unwahrscheinlich, daß bessere Informationen und der Nachweis, gewisse Einstellungen wurzelten in Parteilichkeit und Gruppenegoismen, sowie schließlich die größere Bereitschaft, sich in andere hineinzuversetzen, tatsächlich ausreichen, viele korrumpierte Einstellungen zu verändern. 20 Menschen mit Vorurteilen sind bekanntlich resistent gegenüber Informationen, die sie dazu nötigen würden, ihre Ansichten über die Gegenstände ihrer Ablehnung zu korrigieren. Und selbst wenn sie solche Informationen zur Kenntnis nehmen, dann nur durch den Filter ihrer Gefühle. Schließlich haben diejenigen, die Schwarze oder Juden verachten, es gemeinhin fertig gebracht, selbst Tatsachen, die unbestreitbare Qualitäten dieser Leute unter Beweis stellen, in Indizien ihrer abgrundtiefen Schlechtigkeit umzudeuten. Auch der Nachweis, daß eine Einstellung auf Gruppeninteressen oder Parteilichkeit beruht, führt nicht unbedingt weiter. Jedermann kann sich doch oft genug mit guten Gründen darauf berufen, daß er (oder sie) persönlich von der Diskriminierung von Schwarzen oder Homosexuellen gar keinen Vorteil habe; und es sind persönliche Vorteile dieser Art – „Interessen“ und „Neigungen“ (III.ii.31: 129) –, die Smith vor allem im Auge hat, wenn er von „Parteilichkeit“ spricht. Oft können die Leute sogar mit einer gewissen Plausibilität für sich Anspruch nehmen, daß eine unparteiische Betrachtung der Situation die von ihnen eingenommene Haltung stützen würde. Wenn wir sie auffordern, sich auch 19 Vgl. Fleischacker 2004, Teil IV, Kapitel 3. 20 Und selbst wenn Appelle zu einem solchen Verhalten in einigen oder vielen Fällen erfolgreich sind, kommen Hinweise auf Fehlinformationen und Parteilichkeit zu spät, um die perspektivische Beschränktheit, der auch der unparteiische Zuschauer noch unterliegt, angemessen zu korrigieren. Wenn der Smithsche Zuschauer, so wie ich ihnen aus den angegebenen Gründen verstehe, erst einmal aus den in einer Gesellschaft präsenten Gefühlen konstruiert wird, dann hängt dessen Verfahrensweise wesentlich von der Gesellschaft ab, aus der er stammt, und das gilt auch dann, wenn es ihm manchmal gelingt, die durch diese Gesellschaft gesetzten Grenzen zu überschreiten. Jeder Versuch, diese Grenzen ganz zu überwinden, ist zum Scheitern verurteilt, er ist in Smiths moralischer Methode einfach nicht vorgesehen. Von Kantischen und utilitaristischen Methoden, die wesentlich absolutistisch und universalistisch sind, unterscheidet sich Smiths Methode grundsätzlich. Natürlich hat die Smithsche Methode im Vergleich mit diesen Methoden ihre Vorzüge, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis – so ist sie der tatsächlichen, moralischen Praxis näher, sie ist nuancierter und ermutigt viel weniger zu Arroganz oder mangelnder Einfühlung – aber diese Vorzüge sind mit den relativistischen Nachteilen eng verknüpft, um die es mir hier geht.
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gefühlsmäßig in die Lage der Juden oder der Homosexuellen zu versetzen, die unter der ihnen entgegengebrachten Feindseligkeit leiden, könnten sie von uns im Gegenzug verlangen, uns gefühlsmäßig in die Lage derer zu versetzen, die an der Lebensweise von Juden oder Homosexuellen Anstoß nehmen, oder in die Lage von Juden, die ihr Judentum hassen, oder in die von Homosexuellen, die alles darum gäben, nicht schwul zu sein. Natürlich würden wir versuchen, dieses Ansinnen zurückzuweisen, indem wir feststellen, wer an Judentum oder Homosexualität Anstoß nehme, überlasse sich unschicklichen Gefühlen und pflege bloße Vorurteile oder, falls es um sich um Leute handelt, die selbst Juden oder schwul sind, hätten sie die gegen sie bestehenden Vorurteile eben internalisiert. Doch wir müssen auf die Replik gefaßt sein, es seien vielmehr diejenigen, die Judentum oder Homosexualität für unanstößig halten, sowie Juden und Homosexuelle, die sich mit Stolz als solche zu erkennen geben, die hier unschickliche Gefühle ausgebildet hätten und es zuließen, daß Stolz und egoistische Antriebe den Abscheu vor einer verwerflichen Lebensführung neutralisieren, den sie spüren müßten, wenn sie wirklich unparteiisch wären. Allein mit den Mitteln, die Smith uns zur Verfügung stellt, wird es schwierig sein, aus diesem Zirkel von Behauptung und Gegenbehauptung auszubrechen. Denn so wie Smith den unparteiischen Zuschauer beschreibt, funktioniert diese Figur am besten, wenn sie die in der Gesellschaft von allen geteilten Gefühle als Norm zugrunde legt und deren Anwendung in einem besonderen moralischen Urteil nur insoweit korrigiert, wie eine Informationslücke oder eine Interessenabhängigkeit vorliegt, die von allen durch das Urteil betroffenen Parteien als solche erkannt wírd. Smiths Verfahren funktioniert am besten, wenn es um die Korrektur lokaler Fehlurteile in einem weiteren sozialen Kontext geht, in dem emotionale Reaktionsmuster etabliert sind, die als normativ angesehen werden können. 21 21 Mit diesem Aspekt der Smithschen Theorie hängt zusammen, daß er vor allem auf die Selbstkorrektur setzt und nicht auf die Veränderung gesellschaftlicher Maßstäbe für die Moral. Der Untertitel der 4. Auflage der Theorie der moralischen Gefühle lautete: „Versuch einer Analyse der Prinzipien, mittels welcher die Menschen naturgemäß zunächst das Verhalten und den Charakter ihrer Nächsten und sodann auch ihr eigenes Verhalten und ihren eigenen Charakter beurteilen“ (TMS, editor’s introd.: 40; dt. LXXXV). Dieser Untertitel bezeugt die zentrale Bedeutung des III. Teils, in dem es um die Bedeutung dessen geht, uns dazu zu bringen, uns selbst an die moralischen Maßstäbe zu halten, die wir so gerne an das Verhalten anderer anlegen, und um die damit verbundenen Schwierigkeiten. Aber die Konzentration darauf, uns dazu zu bringen, uns selbst an die moralischen Maßstäbe zu halten, macht
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Wenn es jedoch um die radikale Kritik an einer Gesellschaft geht, ist ein Verfahren, das so nachhaltig von eben dieser Gesellschaft geprägt ist, kaum Erfolg versprechend. Falls die Grundhaltungen einer Gesellschaft global korrumpiert oder bigott sind, ist es, folgt man Smith, sehr unwahrscheinlich, daß die Individuen in dieser Gesellschaft dessen überhaupt gewahr werden, um von einer Handhabe, daran etwas zu verändern, gar nicht erst zu sprechen. 22
II. Smiths Universalismus Smith vertritt also einen Kulturrelativismus. Tut er das wirklich? In meiner ersten Arbeit über Smith habe ich die These vertreten, der unparteiische Zuschauer könne eine Quelle für Kants kategorischen Imperativ sein; 23 und kürzlich hat uns Stephen Darwall auf brillante und beeindruckende Weise gezeigt, was sich aus dieser Möglichkeit machen läßt. 24 Darin kommt freilich eine ganz andere Lesart von Smith zum Ausdruck – eine, die ihn nicht als Befürworter, sondern als Gegner eines Kulturrelativismus erscheinen läßt. Wir sollten jetzt diese kantische Seite von Smith näher in Augenschein nehmen. Zunächst ist festzustellen, daß Smith nicht nur seinen Respekt vor kulturellen Unterschieden ausdrücklich bekundet hat, sondern sich ebenso als Kosmopolit zu erkennen gibt. Obwohl „von Natur aus dazu bestimmt“, uns zuerst um uns selber und unsere lokalen Gemeinschaften zu kümmern, haben wir Smith zufolge auch Gefühle, die sich auf alle Menschen, ja sogar auf alle empfindungsfähigen Wesen erstrecken: „unes schwierig, sich ausführlich dem Problem zu widmen, wie diese Maßstäbe verändert werden könnten. Natürlich ist es kein logisches Problem, eine Moraltheorie zu entwickeln, die sowohl auf die Selbstbeurteilung als auch auf eine Veränderung der Gesellschaft abzielt. In der Praxis dient die Behauptung, alle Beurteilungsmaßstäbe einer Gesellschaft seien korrumpiert, aber allzu leicht nur als eine weitere Entschuldigung für unsere selbstbetrügerischen Versuche, uns selbst jeder moralischen Beurteilung zu entziehen – (so sagen wir z. B.: „Der Kapitalismus unterdrückt die Armen, deshalb brauche ich nicht davor zurückzuscheuen, meinen Chef zu bestehlen.“) Es ist einfacher, das widerspenstige Selbst dazu zu bewegen, sich auf einen Prozeß der Selbstbeurteilung einzulassen, wenn die dabei zugrundezulegenden Maßstäbe als festgelegt angesehen werden können. 22 So will Smith möglicherweise die stillschweigende Billigung der Kindstötung durch Aristoteles und Platon erklären. (Vgl. V.ii.15: 210; dt. 357 ff.) 23 Vgl. Fleischacker 1991. 24 Vgl. Darwall 1999 u. 2004.
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ser guter Wille ist durch keine Grenzen eingeschränkt, sondern kann die Unendlichkeit des Universums umfassen.“ (VI.ii.3.1: 235; dt. 397) Das Glück jedes „schuldlosen und fühlenden Wesen[s]“ ist uns ein Bedürfnis, und das Unglück eines jeden solchen Wesens erfüllt uns mit Widerwillen. Kurzum, wir sind zu einem „universellen Wohlwollen“ befähigt, das, obwohl viele Menschen es nur in Maßen zeigen und es auch „nur sehr selten“ in „gute Werke“ umgesetzt werden kann, doch eine Tugend zu sein scheint, die für Smith der krönende Abschluß der moralischen Entwicklung ist. So sagt er, daß „der Weise und Tugendhafte jederzeit gewillt ist“, seine eigenen und die Interessen seiner unmittelbaren Umgebung dem übergeordneten Interesse des Universums zu opfern. Ein solcher Mensch hat die „große Gemeinschaft aller fühlenden und verstandesbegabten Wesen“ als das vor Augen, was alle beschränkteren Gemeinschaften, denen er selber angehört, umfaßt. (A. a. O.) Aber Smiths System bietet uns keine gute Erklärung dafür an, wie irgend jemand derartig noble kosmopolitische Gefühle entwickeln könnte. Wie James Otteson betont hat, ist Smith der Überzeugung, daß moralische Gefühle sehr eng an das gebunden sind, was Otteson als „Prinzip der Vertrautheit“ (familiarity principle) bezeichnet hat. 25 – Danach ist die Anteilnahme, die wir Personen entgegenbringen, direkt proportional dazu, wie gut wir sie kennen. 26 Unsere moralischen Gefühle entwickeln sich allmählich in der Interaktion mit anderen Personen. Wenn nun die Gefühle unserer Freunde und Nachbarn, wie es seit jeher in den meisten Gesellschaften der Fall war, auch bittere und furchtsame Empfindungen gegenüber Fremden einschließen, dann werden wir selber aller Wahrscheinlichkeit nach allmählich auch mit dieser tribalistischen Feindseligkeit infiziert und nicht mit der von Smith gepriesenen kosmopolitischen Gutmütigkeit. Die expliziten Bekenntnisse zum Universalismus in der Theorie der moralischen Gefühle sind demnach offenbar nur sehr lose mit dem Grundgedanken der Smithschen Moraltheorie verbunden. Interessanter sind dagegen universalistische Konsequenzen, die der Kern dieser Theorie implizit enthält. Einige der Textstellen, auf die ich mich oben berufen habe, um die kulturelle Einbettung des unparteiischen Zuschauers deutlich zu machen, können auch in die entgegengesetzte Richtung ausgelegt werden. Denn was heißt es eigentlich, wenn „wir“ bei der Abwehr der parteiischen oder uninformierten Urteile anderer 25 Otteson 2002a, S. 4, und in diesem Band, S. 28. 26 III.iii.9: 139 f.; dt. 206; VI.ii.2.2: 227 f.; dt. 386 f.
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„lernen, in unserem eigenen Gemüt einen Richter über uns und diejenigen, mit denen wir leben, einzusetzen“? (III.ii.31: 129; vgl. auch III.iii.3: 135; dt. 200 f.) Zum Teil heißt das wohl, daß wir einen solchen imaginären Richter aus der Art zu urteilen konstruieren, die wir von denen gelernt haben, „mit denen wir leben,“ aber in erster Linie und hauptsächlich heißt es doch, daß wir einen Schritt über unseren lokalen Kontext hinaus zu tun versuchen, um am Ende über alle Parteilichkeit hinauszukommen. Es bedeutet auch, daß wir lernen, uns selber und alle anderen Menschen als Gleiche anzusehen. 27 In der Tat kann der ganze Witz, den es hat, den Standpunkt des unparteiischen Zuschauers einzunehmen, darin liegen, daß wir dadurch und allein dadurch die grundlegende Gleichheit aller Menschen zu erfassen vermögen: [D]en ursprünglichen, egoistischen Affekten der menschlichen Natur erscheint der Verlust oder Gewinn eines ganz kleinen eigenen Vorteils von ungeheuer größerer Wichtigkeit … als die bedeutendste Angelegenheit eines anderen Menschen, zu dem wir in keiner näheren Beziehung stehen. Solange seine Interessen von diesem Standpunkt aus gesehen werden, können sie niemals unseren eigenen das Gleichgewicht halten, …. Ehe wir einen gerechten Vergleich zwischen jenen entgegen gesetzten Interessen anstellen können, müssen wir unseren Standpunkt verändern. Wir dürfen sie weder von unserem noch von seinem Platz aus betrachten, weder mit unseren eigenen Augen noch mit den seinen, sondern wir müssen sie von dem Platz und mit den Augen einer dritten Person ansehen, die in keiner näheren Beziehung zu einem von uns beiden steht und die mit Unparteilichkeit zwischen uns richtet. (III.iii.3, 135; dt. 200 f.)
Was die Überwindung unserer Selbstliebe uns einträgt, ist das Verständnis der wahren Gleichheit aller Menschen. In dem Abschnitt der 27 Dazu Darwall 2004: „Smith ist der Auffassung, daß wir, wenn wir über das Motiv eines Akteurs urteilen, wir dies aus der Perspektive eben dieses Akteurs tun, und daß wir uns dazu imaginativ dessen praktische Situation so vorstellen, wie er sie in seiner praktischen Überlegung berücksichtigen muß. Und wenn wir über jemandes Gefühle oder Reaktion urteilen, dann nehmen wir dazu dessen Perspektive ein, die Perspektive des Betroffenen, imaginativ stellen wir uns die Situation so vor, wie sie sich dem, der auf sie reagiert, darstellt. Zu beiden Urteilen gehört eine implizite Identifikation mit und damit Respekt für den anderen als jemanden, der seinen eigenen, unabhängigen Standpunkt hat … Dem Smithschen Verständnis nach liegt Schicklichkeitsurteilen das Rahmenwerk einer moralischen Gemeinschaft von Personen zugrunde, die voneinander unabhängig und gleich sind. Diese Urteile beinhalten eine implizite Intersubjektivität, das Sich-Versetzen in die Standpunkte unabhängiger Individuen, dessen Maßstab der des Gleichen unter Gleichen ist, also desjenigen, der „nur einer aus der Menge [ist] und in keiner Hinsicht besser als irgendein anderer dieser Menge“ (III.iii.4: 137: dt. 203).“ (Dt. v. Christel Fricke) Vgl. in diesem Band S. 183 ff..
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Theorie der moralischen Gefühle, in dem Smith dem unparteiischen „Einwohner unserer Brust“ die Fähigkeit zuschreibt, „unsere vermessensten Affekte zu erschüttern“, stellt er unmittelbar anschließend fest, sobald unsere vermessensten Affekte in dieser Weise auf den Prüfstand kämen, stehe uns „die wirkliche Geringfügigkeit unseres eigenen Selbst“ ebenso klar vor Augen wie die Tatsache, „daß wir nur einer aus der Menge sind und in keiner Hinsicht besser als irgendein anderer dieser Menge“ (III.iii.4: 137; dt. 203). Smith wird nicht müde zu betonen, daß uns die größten moralischen Irrtümer unterlaufen, wenn wir uns über andere Menschen erhaben dünken. Im „Wettlauf um Wohlstand“ darf jeder „rennen, so schnell er kann, und jeden Nerv und jeden Muskel anspannen, um all seine Mitbewerber zu überholen“, doch „sollte er einen von ihnen niederrennen oder zu Boden werfen“, werden die Zuschauer sein Verhalten nicht dulden: „Der andere ist für sie in jeder Hinsicht so gut wie er; sie stimmen jener Selbstliebe nicht zu, in der er sich selbst so hoch über den anderen stellt“ (II.ii.2.2: 83; dt. 124). Und noch einmal: Was uns in erster Linie gegen den Mann aufbringt, der uns verletzt oder verhöhnt, ist die geringe Achtung, die er für uns zu hegen scheint, die unvernünftige Bevorzugung, in der er sich selbst über uns stellt, und jene unsinnige Selbstliebe, in der er sich einzubilden scheint, daß andere Leute jederzeit seiner Bequemlichkeit oder seiner Laune aufgeopfert werden dürfen. (II.iii.1.6: 96; dt. 143)
Dieser Abschnitt soll erklären, warum selbst kleinere Verstöße gegen das, was recht ist, eine Bestrafung zu verdienen scheinen; und das Argument dafür lautet: Auch wenn der materielle Schaden nur unerheblich ist, so stellt ein Verstoß gegen das, was recht ist, in jedem Fall eine erhebliche symbolische Verletzung dar, weil er zum Ausdruck bringt, daß der Täter sein Opfer als weniger wertvoll ansieht als sich selber. In dem Textstück ist ein Ärger zu spüren, der in der Tat ziemlich genau dem entspricht, was wir fühlen (und wir dürfen vermuten: was Smith selber oft gefühlt hat), wenn sich ein anderer einbildet, daß wir „jederzeit seiner Bequemlichkeit oder seiner Laune geopfert werden dürfen“, und wie bitter wir es übel nehmen, wenn wir eine solche symbolische Aberkennung des gleichen Ranges erleiden, den wir mit allen anderen Menschen zu teilen überzeugt sind. Nicht anders als Kant ist Smith überzeugt, daß es für die Moralität wesentlich ist, alle Menschen als gleich zu betrachten. 28 Bedeutsam ist das im besonderen für die Tugend der Gerechtigkeit, aber für die anderen Tugenden ist es, wie er ausdrücklich sagt, ebenfalls relevant: Indem
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er uns daran erinnert, „daß wir nur einer aus der Menge sind“, läßt uns der unparteiische Zuschauer „die Angemessenheit der Großzügigkeit“ und „die Häßlichkeit der Ungerechtigkeit“ erkennen (III.iii.4: 137; dt. 203). Wenn den Standpunkt des unparteiischen Zuschauers zu erreichen heißt, einen Standpunkt zu erreichen, von dem aus alle Menschen als gleich erscheinen, dann hängen alle Tugenden implizit von der Anerkennung der Gleichheit unter den Menschen ab. 28 Überdies betont Smith, daß die Gleichheit, die wir vom Standpunkt des unparteiischen Zuschauers aus erkennen, nicht nur die Gleichheit zwischen uns und unseren nächsten Nachbarn ist. Der Abschnitt, in dem er uns daran erinnert, wie wichtig es ist zu lernen, „daß wir nur einer aus der Menge sind,“ beginnt mit der Feststellung, daß „ein human gesinnter Mensch in Europa“ zwar von einem Erdbeben, das ganz China verschlungen hätte, wenig berührt wäre, aber dennoch 28 Man kann Smith auch in noch größere Nähe zu Kant bringen. „Ein moralisches Wesen ist zurechnungsfähig und verantwortlich“ (A moral being is an accountable being), so Smith (III.i.3/4 [1. Auflg. der TMS]: 111 Fn. [2]) Darwall weist in zwei Arbeiten ausdrücklich auf diese Stelle hin (vgl. Darwall 1999 u. 2004) Zurechnungsfähigkeit oder Verantwortlichkeit bilden für ihn, wie für Kant, das Herzstück einer Moraltheorie. Ebenso wie die christliche Naturrechtstradition vor ihm sagt auch Smith, daß wir letztendlich Gott gegenüber verantwortlich seien. Aber er sagt auch, daß wir „der zeitlichen Reihenfolge nach“ zuerst und vor allem unseren Mitmenschen gegenüber verantwortlich sind. Und er sagt, „zurechnungsfähig und verantwortlich“ (accountable) bedeutet, daß man „für seine Handlungen einem anderen Rechenschaft schuldig ist“ und daher seine Handlungen nach dem „ausrichten“ muß, was diesem „gefällt“ (a. a. O.). Abgesehen von dem Bezug auf das „Gefallen“ ist dies alles sehr Kantisch. „Zurechnungsfähigkeit“ (account) ist eines von vielen philosophischen Abkömmlingen des Platonischen logos; „Vernunft“ (reason) ein anderes. Wer sagt, jemand müsse für seine Handlungen „Rechenschaft“ ablegen, sagt damit eigentlich, er müsse einen Grund (reason) für sie angeben. Moralisch Handeln heißt, sein Handeln einem anderen vernünftigen Wesen erklären können. Und dann ist moralisches Handeln ein Handeln, das die Vernunft billigen kann. An einer Stelle legt Smith nahe, den Akt des den Standpunkt des unparteiischen Zuschauers Einnehmens als gleichbedeutend mit vernünftigem Handeln zu verstehen: „Es ist Vernunft, Grundsatz, Gewissen“, so schreibt er, die uns über unsere „wirkliche Geringfügigkeit“ aufklärt, und er identifiziert „Vernunft, Grundsatz [und] Gewissen“ mit dem „Inwohner unserer Brust, de[m] innere[n] Mensch[en], de[m] große[n] Richter und Schiedsherr über unser Verhalten“. (III.iii.4: 137; dt. 203) Diese Vernunft ist auch darin der Kantischen sehr ähnlich, daß sie sich über alle unsere Gefühle erhebt und diese zum Schweigen bringen kann: sie ist imstande, „unsere vermessensten Leidenschaften in Bestürzung zu versetzen“ (a.a. O.). Diese Vernunft ist auch unparteiisch, und in ihr offenbart sich, wie bereits erwähnt, die Gleichheit aller Menschen. Damit ist sie der Kantischen Vernunft sehr ähnlich, und zwar in einem solchen Maß, daß man sich fragt, ob Smith seinem moralischen Sentimentalismus wirklich immer ganz treu geblieben ist.
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niemals bereit wäre, für irgendein erbärmliches Interesse, das er selber hat, aktiv so viele Menschenleben zu opfern, mögen diese auch noch so weit von ihm und seiner Gesellschaft entfernt sein. (III.iii.4, 136 f.; dt. 201 f.) 29 „Vernunft, Grundsatz, Gewissen“, sie sind es, die uns wissen lassen, daß jeder einzelne dieser Hunderte von Millionen Menschen genau so wichtig ist wie wir selber und daß niemand von ihnen zugunsten unserer Interessen geopfert werden darf. Aber das heißt nichts anderes, als daß kein Mensch in China (und für einen Schotten konnte es weiter entfernte Menschen gar nicht geben), jemals unseren Interessen geopfert werden dürfte und daß jeder von ihnen uns selber gleich ist. 30 Läßt sich diese Anerkennung der Gleichheit aller Menschen auch dazu verwenden, eine Ethik à la Smith über den Horizont lokaler Gemeinschaften hinaus zu erweitern und die eigene Gesellschaft, wenn sie bigott oder sonst wie moralisch korrumpiert ist, zu kritisieren? Ich bin mir dessen nicht sicher. Wie sollen wir denn entscheiden, ob unsere Gesellschaft bigott ist oder nicht? Natürlich gibt es viele Fälle, in denen Vertreter unserer Gesellschaft Angehörige fremder Kulturen ohne jede menschliche Anteilnahme behandeln, wie etwa die Sklavenjagd in Afrika oder auch die Behandlung der Indios bzw. Indianer in Nord- und Südamerika, was Smith beides scharf verurteilt. 31 Aber in anderen Fällen kann sich die Bigotterie hinter der Maske eines durchaus aufrichtig gemeinten Bekenntnisses zum Wohlwollen verbergen – so etwa dann, wenn Christen sich anheischig machten, die vermeintlich barbarischen Ureinwohner zu bekehren, oder Juden zur Aufgabe dessen nötigten, 29 Man beachte hier auch die von Smith gewählte Ausdrucksweise: Er sagt, daß ein Mensch nachts nicht schlafen würde, sollte er am kommenden Tag seinen kleinen Finger verlieren, aber „mit der tiefsten Seelenruhe schnarchen“ würde, wenn „hundert Millionen seiner Brüder“ untergehen sollten; da beide Beispiele das Gleiche veranschaulichen sollen, ist es offensichtlich, daß wir die Menschen in China als unsere „Brüder“ erachten sollen. (A. a. O.) 30 Vielleicht ist es kein Zufall, daß am Ende dieses Absatzes etwas steht, das später wieder anklingt, wenn Smith über das „universelle Wohlwollen“ spricht. Die Schicklichkeit verlangt von uns, „auf den größten eigenen Vorteil zu verzichten und ihn dem noch größeren Interesse anderer Menschen aufzuopfern“, so schreibt er (III.iii.4: 137; dt. 203). Im Abschnitt VI.iii. wird er uns sagen, daß „der Weise und Tugendhafte“ immer bereit ist, seine privaten den allgemeinen Interessen seines Standes oder seiner Gemeinschaft aufzuopfern, und daß er bereit sein müsse, „alle jene niedrigeren Interessen dem größeren Interesse des Universums [aufzuopfern] …, dem Interesse jener großen Gemeinschaft aller fühlenden und Verstandesbegabten Wesen …“ (VI.iii.3: 235; dt. 398 f.). 31 V.ii.9: 206 f.; dt. 349–353; WN, IV.i: 448; dt. 364.
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was sie für absurde Praktiken hielten. Falls sich der unparteiische Zuschauer in uns selbst in der Weise entwickelt, wie Smith das behauptet, nämlich so, daß er die Standards unserer Gesellschaft auch dann noch übernimmt, wenn er deren Anwendung auf Parteilichkeit oder affektive Verzerrungen überprüft, ist keineswegs offensichtlich, wie wir jemals auf eine versteckte Bigotterie dieser Art sollten aufmerksam werden können. Es ist ebenso unklar, wie wir auf andere Arten der moralischen Korruption sollten aufmerksam werden können, z. B. auf die, die in Smiths Augen dafür verantwortlich ist, daß in der Welt der Griechen die Kindstötung akzeptiert war. Nur zu wissen, daß alle Menschen gleich sind, wird nicht ausreichen. Vermutlich waren die Griechen der Überzeugung, daß im Prinzip jedes beliebige Kind ausgesetzt werden durfte. Zudem waren sie bereit, die Praxis der Kindstötung gleichermaßen auf die ganze Menschheit auszudehnen. Deshalb genügt es nicht, zu wissen, daß alle Menschen gleich sind: Wir müssen außerdem wissen, auf eine Behandlung welcher Art diese einander gleichen Wesen Anspruch haben. Und diesbezüglich rät Smith uns vermutlich, die Frage zu stellen, welche Art der Behandlung unserer Erwartung nach die Billigung des unparteiischen Zuschauers finden würde. Wenn aber der unparteiische Zuschauer wiederum die in der ihn umgebenden Gesellschaft als normal geltenden Standards zugrunde legt, dann ist kaum zu erwarten, daß er just diese Standards als unangemessen verwirft. Da es äußerst unwahrscheinlich ist, daß der unparteiische Zuschauer so etwas überhaupt bemerkt, ist es ebenso unwahrscheinlich, daß er uns je erklärt, daß eine in unserer Gesellschaft vorgeschriebene Art der Behandlung für alle Menschen gleichwohl zu verurteilen sei.
III. Überlegungen zu dieser Spannung Abschließend will ich vier verschiedene Optionen darlegen, die wir haben, um mit der Spannung zwischen den kulturrelativistischen und den universalistischen Zügen in Smiths Denken umzugehen. Die erste Option ist, daß wir die relativistischen und die universalistischen Neigungen bei Smith einfach als Ausdruck eines fundamentalen Widerspruchs seiner Moralphilosophie ansehen und diese deshalb zu den Akten legen. Das überwiegend geringe Interesse an Smiths Moralphilosophie mag zu einem guten Teil auf den Eindruck zurückzuführen sein, daß es wegen der unaufgelösten Widersprüche in ihren Grund-
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lagen einfach nicht lohne, sich in aktuellen moralphilosophischen Debatten in derselben Weise an Smith zu orientieren, wie man sich an Aristoteles, Hume, Kant oder Mill zu orientieren pflegt. Wir, die wir uns gleichwohl für Smith interessieren, könnten dem entgegenhalten, daß es um die Weisheit, die Smith als Moralphilosophen auszeichnet, schade wäre, wenn man ihn so schnell fallen ließe; und außerdem könnten wir geltend machen, daß er nicht aufgrund irgendeines elementaren Fehlers mit den Spannungen zwischen Relativismus und Universalismus konfrontiert ist, daß es vielmehr für das Bestehen dieser Spannung sachliche Gründe gibt, weshalb wir damit ebenso konfrontiert sind wie seinerzeit Smith. Im Unterschied zur Mehrzahl der Philosophen nicht nur unter seinen Zeitgenossen sondern auch unter allen folgenden hat Smith in der Theorie der moralischen Gefühle versucht, nicht nur die grundlegenden Prinzipien zu berücksichtigen, die unser moralisches Urteilen bestimmen sollen, sondern ebenso dem faktischen Lernprozeß Rechnung zu tragen, in dem wir, angeleitet von Eltern, Lehrern und von unseresgleichen, die Fähigkeit zum moralischen Urteilen ausbilden.32 Je realistischer man die moralische Entwicklung von Personen beschreibt, desto weniger läßt sich die Tatsache ignorieren, daß Menschen in verschiedenen Gesellschaften unterschiedliche, ja unvereinbare moralische Standards entwickeln. Je überzeugender man dagegen erklärt, wie Menschen urteilen sollen, mit desto größerer Wahrscheinlichkeit wird man einigen Gesellschaften absprechen müssen, daß sie überhaupt eine angemessene Praxis des moralischen Urteilens ausgebildet haben. Deshalb sind wir mit einer beunruhigenden Tatsache konfrontiert, von der bisher noch niemand zu sagen gewußt hat, wie man vernünftig mit ihr umgehen könnte: Anthropologen gehen seit etwa 75 Jahren wie selbstverständlich davon aus, daß ein vernünftiger Mensch nur ein moralischer Relativist sein kann, während Philosophen zur selben Zeit ebenso einmütig der Überzeugung sind, daß der moralische Relativismus inkohärent ist und in seinen starken Versionen nur von Dummköpfen vertreten wird. Das bringt mich zu der zweiten Option, wie wir mit der Spannung zwischen Relativismus und Universalismus bei Smith umgehen könnten. Wir könnten festhalten, daß Smith (im Unterschied zu den meisten Philosophen vor ihm und auch seither), die Anziehungskraft, die der 32 Hume hatte etwas Ähnliches gemacht, aber seine soziologische Theorie blieb skizzenhaft und hatte außerdem seine wenig überzeugende „Ansteckungstheorie“ zur Voraussetzung, mit der er erklärte, auf welche Weise Gefühle von einer Person auf die andere übergehen: vgl. Hume, THN III.iii.1, S. 368 (ed. SBN, S. 576). Zu Smiths Kritik an dieser Auffassung vgl. TMS I.i.1.7 ff.: 11–12; dt. 5–7.
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anthropologische und der philosophische Zugang zur Moralität je für sich haben, klar gesehen hat. Dafür könnten wir ihm Beifall zollen, unbeschadet dessen, daß es auch ihm nicht gelungen ist, diese beiden Zugänge in einer befriedigenden Weise zusammenzubringen. Sie sollten am Ende aber zusammenkommen: Denn Philosophen können nicht zufrieden sein, wenn das, wovon sie sagen, daß es das Verhalten der meisten Menschen regeln solle, genau diese Rolle in den meisten oder sogar in allen Gesellschaften de facto nicht spielt; umgekehrt können Anthropologen nicht zufrieden sein, wenn die meisten oder sogar alle Praktiken der Verhaltensregulierung, die sie studieren, so beschaffen sind, daß eine vernünftige Person sich diese nach reiflicher Überlegung nicht zu eigen machen kann. Unter den philosophischen Konzepten der Moralität hat dasjenige von Smith noch mit die größten Chancen, von Anthropologen ernst genommen zu werden. Aus seinem Ansatz mag sich ergeben, daß er am Ende mit leeren Händen dasteht, wenn es darum geht, die in einer Gesellschaft tief verankerten Normen zu kritisieren oder zu zeigen, weshalb manche von ihnen nur zu Unrecht als moralische Normen ausgegeben werden. Aber das sei nun einmal der Preis für den Versuch, anthropologische und philosophische Zugänge zur Moralität zusammenzubringen. So könnten wir entschuldigen, daß er das Problem nicht gelöst hat, und ihn dafür, daß er wenigstens den Versuch unternommen hat, auch noch loben. Auch diese zweite Option führt jedoch schließlich dazu, daß wir Smiths Beitrag zu den Akten legen. „Gut gemeint“ ist nicht gerade ein überschwengliches Lob für ein philosophisches Unternehmen; und wenn wir tatsächlich überzeugt sind, Smith habe ein Problem formuliert, das er nicht lösen konnte, so wird alle Nachsicht, die wir dafür angesichts der Motivation seines Vorhabens aufbringen, doch nichts daran ändern, daß unsere Neigung, uns in unseren eigenen ethischen Untersuchungen an ihm zu orientieren, eher gering ist. Eine dritte Option, mit der von mir herausgestellten Spannung umzugehen, ist angesichts dessen wünschenswert. Ein allzu nahe liegender Ausweg wäre es, entweder Smiths Relativismus oder seinem Universalismus den Vorzug geben und den jeweils anderen Aspekt nicht weiter zu berücksichtigen. Tun wir ersteres, werden wir wahrscheinlich, wie T. D. Campbell, 33 Smith als einen Soziologen der Moral sehen, aber nicht als 33 Um seine Behauptung zu belegen, Smith liefere uns eine wissenschaftliche, keine normative Moraltheorie, macht sich Campbell eine ziemlich stark relativistische Lesart dieser Theorie zu eigen. Vgl. Campbell 1971, S. 139–145.
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Moralphilosophen. Tun wir letzteres, so können wir Smith kantisch interpretieren, wie es Darwall und ich schon vorgeschlagen haben. In beiden Fällen droht die Theorie der moralischen Gefühle doch wieder nur im Archiv der Geschichte der Moralphilosophie zu verschwinden, statt als lebendige Option erhalten zu bleiben. Denn warum sollten wir uns nicht, wenn Smith lediglich neuere sozialwissenschaftliche Zugänge zur Moralität antizipiert hat, jüngeren soziologischen Arbeiten zuwenden, die uns bessere, aktuellere Daten liefern zusammen mit einer raffinierteren Methodik? Und wenn Smith nur Kant antizipiert hat, können wir uns doch genauso gut gleich mit Kant beschäftigen. Allerdings hatten weder Darwall noch ich je die Absicht zu behaupten, Smith habe Kant bloß antizipiert. Diejenigen von uns, die eine Verwandtschaft zwischen Kant und Smith sehen, 34 finden das vor allem deshalb bemerkenswert, weil Smith etwas bietet, was Kant fehlt: insbesondere eine materialreiche und realistische Diskussion der moralischen Gefühle, die auch berücksichtigt, wie diese sich in einer Gesellschaft entwickeln. Wir glauben – ich jedenfalls glaube –, daß Smith uns eine Erklärung liefern könnte, die Kant uns schuldig geblieben ist, die Erklärung nämlich, wie Einstellungen, die Kant voraussetzt, im Verlauf einer moralischen Erziehung ausgebildet werden. 35 Aber damit geben 34 Davon gibt es inzwischen mehrere: z. B. Knud Haakonssen 1996 und Leonidas Montes in Montes 2003a. Mehrere Beiträge in diesem Band – insbesondere die von Georg Lohmann, Carola von Villiez und Christel Fricke – stellen einen Zusammenhang her zwischen Smiths Vorgehen und kantischen Einsichten (solchen von Kant selbst und von seinem modernen Nachfolger John Rawls). 35 Ich vermute, die erfolgversprechendste Strategie für eine Lösung des Problems, das ich in diesem Beitrag herausgearbeitet habe, liegt darin, eine Theorie darüber zu entwickeln, auf welche Weise sich der unparteiische Zuschauer in uns entwickelt; im Verlauf dieses Prozesses entstehen vielleicht implizit, im tatsächlichen Vollzug von Handlungen, vielfältigere Gelegenheiten, unsere moralischen Maßstäbe zu korrigieren, als Smith selbst zugesteht. Es könnte sich herausstellen, daß die moralische Erziehung in jeder Gesellschaft normalerweise oder sogar unausweichlich dazu führt, daß wir einen Schiedsrichter in uns ausbilden, der nicht nur „mild“, wohlinformiert und interesselos ist, sondern ein zumindest unausdrückliches Verständnis von allem hat, was uns als moralischer Maßstab angeboten wird, und der sich verpflichtet fühlt, jeden dieser Maßstäbe auf wahrhaft dialektische Weise zu hinterfragen, und sich dabei an einem Konzept des Guten orientiert, das für die Prüfung dieser Maßstäbe unverzichtbar ist. Was Charles Griswold am Ende seiner großartigen Smith-Monographie (Griswold 1999, S. 368–376) als Ergänzung zu Smiths Moralphilosophie vorschlägt – eine Wiederbelebung des sokratischen Fragens nach der Ethik – könnte man auf diese Weise innerhalb des Smithschen Denkens, wenn auch unausdrücklich, finden. Um zu entscheiden, ob dies so ist, ist eine genaue Untersuchung der Art und Weise erforderlich, wie genau solche Sokratischen Tendenzen in der gegenwärtigen moralischen Erziehung unterschwellig präsent sein könnten.
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wir zu, daß uns bei Smith gerade die soziologischen Aspekte anziehen, die zugleich das Gespenst des Relativismus aufstehen lassen. Wir können die Spannung bei Smith nicht einfach dadurch loswerden, daß wir den kantischen Part, der uns so gefällt, nehmen und den soziologischen Rest liegen lassen. 36 Deshalb plädiere ich für eine vierte Option des Umgangs mit der Spannung zwischen Relativismus und Universalismus bei Smith: Wir sollten Smith verwenden, um innerhalb unseres eigenen moralischen Denkens eine Auflösung dieser Spannung zu finden. Was den philosophischen Blick auf die Moralität vom anthropologischen Blick trennt, ist ebenso bedeutsam wie beunruhigend. Aus analytischen und auch aus normativen Gründen ist zu fordern, daß die Normen, die das Verhalten regeln sollen, hinreichend eng verknüpft sind mit den Normen, die das Verhalten der meisten Menschen in vielen Gesellschaften tatsächlich regeln. Eine philosophische Theorie der Moralität, die die meisten Menschen in den meisten Gesellschaften als moralische Dummköpfe abstempelt, ist nicht nur anstößig, sondern auch unplausibel. Genauso unplausibel, und zwar aus ähnlichen Gründen, ist eine sozialwissenschaftliche Betrachtungsweise, unter der aus moralischen Normen etwas wird, was keine rationale und reflektierte Person sich je zu eigen machen könnte. Es sollte daher unser Anliegen sein, die philosophische und die anthropologische Sichtweise der Moralität einander anzunähern. Vielleicht ist Smith eine ergiebige Quelle, aus der wir schöpfen können. Diese vierte Option birgt freilich auch Gefahren. Anderswo habe ich vorgeschlagen, Smith so zu interpretieren, daß es für ihn ein allgemeines Schema des guten Verhaltens und des guten Lebens gibt, das zwar für alle Gesellschaften gilt, aber Spielraum läßt für detailliertere Ausfüllungen und Schattierungen, die in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich ausfallen können. 37 Das ist eine Möglichkeit, die relativistischen und die universalistischen Züge bei Smith zusammenzubringen, aber vielleicht keine adäquate, wie ich inzwischen glaube. Zum ei36 Dieser Vorwurf könnte mich weit mehr treffen als Darwall. Die Perspektive der 2. Person, die Darwall bei Smith, aber nicht bei Kant findet, das Zugeständnis, zumindest die Ansprüche der Gerechtigkeit müßten von einer Position aus geltend gemacht werden, die anerkennt, daß andere Menschen ihren jeweils unabhängigen Standpunkt haben, läßt sich als eine a priorische und sicherlich universale Bedingung dafür verstehen, Ethik zu betreiben. Smiths eigene Theorie geht davon aus, daß die Fähigkeit, in dem anderen jemanden anzuerkennen, der einen eigenen Blickwinkel hat, eine Voraussetzung aller ethischen Systeme ist. 37 Vgl. Fleischacker 1999, S. 144–151 und Fleischacker 2004, Teil II, Kapitel 1.
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nen ist der Vorschlag ziemlich vage – was ist dem allgemeinen Schema und was der detaillierteren Ausfüllung oder Schattierung zuzurechnen? Bekanntlich unterscheiden sich Gesellschaften durch die Gewichtung, die sie gewissen Grundzügen des menschlichen Lebens beimessen: Vergleicht man z. B. moderne westliche Gesellschaften mit traditionellen muslimischen, jüdischen, christlichen oder hinduistischen Gesellschaften hinsichtlich ihrer Bewertung von Sexualität einerseits und Spiritualität andererseits, so wird man feststellen, daß die Werte von Sexualität und Spiritualität in beiden Arten von Gesellschaften ziemlich genau umgekehrt verteilt sind. Ist das nun ein Unterschied im Detail oder ein Unterschied im allgemeinen Schema? Mir ist nicht klar, wie diese Frage zu beantworten wäre. Es mag sogar ein grundsätzliches Problem darstellen, eine solche Abgrenzung vorzunehmen. Nach Smith werden allgemeine Verhaltensregeln und auch allgemeine Vorstellungen vom Glück aus Urteilen über einzelne Fälle gewonnen.38 Deshalb kann es sein, daß die Unterscheidung zwischen Schema und Detail gar nicht belastbar ist. Darüber hinaus könnte diese Unterscheidung zwar den Smithschen Universalismus mit seinem Kulturpluralismus versöhnen, aber wenig dazu beitragen, seinen impliziten Relativismus zu überwinden. Die ambivalente Anziehungskraft, die Smith für viele von uns hat, erwächst aus dem Problem, daß der unparteiische Zuschauer einem grundlegenden Respekt für alle menschlichen Wesen verpflichtet und zugleich in seinen Empfindungen geprägt ist durch die Gewohnheiten einer besonderen lokalen Gesellschaft. Kein noch so ausführlicher Rekurs auf detailliertere Ausfüllungen und Schattierungen trägt dazu bei, die aus der Abhängigkeit des Zuschauers von den in seiner Gesellschaft dominierenden Gewohnheiten resultierende Relativität zu überwinden. Und diese Relativität kann sogar Smiths Pluralismus unterminieren: Die meisten Menschen in den meisten Gesellschaften lehnen einen kulturellen Pluralismus entschieden ab, mit Nachdruck halten sie ihre eigene Lebensweise für die einzig richtige; und in derartigen Gesellschaften wird der unparteiische Zuschauer vermutlich ebendiese Haltung als normativ übernehmen. Es ist daher kaum zu erwarten, daß Smith für den meta-ethischen Konflikt zwischen Relativismus und Absolutismus eine direkte Lösung zu bieten hat. Und seine vielversprechenden Hinweise darauf, wie in der eigentlichen Ethik Pluralismus und Universalismus zusammengebracht werden können, werden ein Stück weit durch dieses meta-ethi38 III.iv.7–8: 159 f.; dt. 238–240.
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sche Dilemma unterminiert. Aber die Probleme, mit denen er sich konfrontiert sieht, sind auch unsere Probleme. Die Orientierung an seiner Moralphilosophie kann uns helfen, den Weg zu einer Lösung zu finden, auch wenn in seinem Werk keine ausgearbeitete Lösung zu finden ist. (Übersetzt von Christel Fricke und Hans-Peter Schütt)
Fair play, Übelnehmen und der Sinn für Gerechtigkeit: Kritische Überlegungen zu Adam Smith Charles L. Griswold, Jr. / Boston University Und ganz sicher kann keine Nation blühen und gedeihen, deren Bevölkerung weithin in Armut und Elend lebt. Es ist zudem nicht mehr als recht und billig, wenn diejenigen, die alle ernähren, kleiden und mit Wohnung versorgen, soviel vom Ertrag der eigenen Arbeit bekommen sollen, daß sich selbst richtig ernähren, ordentlich kleiden und anständig wohnen können. (WN, I.viii.36: 96; dt. 68) 1
Woran Adam Smith uns heute zuerst denken läßt, das ist zweifellos der freie Markt, der unaufhörlich in seinem Namen beschworen und verteidigt wird. Wie wir alle wissen, verteidigt Smith den freien Markt nicht ohne Einschränkung. Jedoch sollten wir anerkennen, daß er den freien Markt sehr wohl verteidigt. Es sollte auch nicht allzu schwierig sein, sich darauf zu einigen, daß seine Verteidigung (ich werde nicht weiter wiederholen, daß es eine eingeschränkte Verteidigung ist) letztlich auf zwei Voraussetzungen beruht: Der freie Markt ist gerecht und bei der Hervorbringung von Wohlstand effizient. Tatsächlich gibt Smith zu verstehen, daß dieser Markt gerechter ist als jedes alternative System, das jemals in Antike oder Neuzeit wirklich bestand, und konkurrenzlos in seiner Fähigkeit, Wohlstand für alle zu produzieren. 2 1 Auf diese Passage bezieht sich Marx (und verschmilzt sie mit anderen wie auch mit eigenen Auffassungen), wenn er bemerkt: „Da aber nach Smith eine Gesellschaft nicht glücklich ist, wo die Majorität leidet, da aber der reichste Zustand der Gesellschaft zu diesem Leiden der Mehrzahl und da die Nationalökonomie (überhaupt die Gesellschaft der Privatinteressen) zu diesem reichsten Zustand führt, so ist also das Unglück der Gesellschaft der Zweck der Nationalökonomie.“ (Marx, MEW-E I, S. 475) 2 Z. B. lesen wir im Wohlstand der Nationen (WN, IV.ix.17: 669; dt. 566): „… die unproduktive Klasse [kann] niemals daran interessiert sein, die beiden anderen Berufs-
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Beide Behauptungen, insbesondere die erste, stehen weiter zur Debatte. Es ist leicht zu begreifen warum. Die gewaltigen Wohlstandsdisparitäten sowohl innerhalb einzelner Nationen als auch zwischen ihnen, wie sie der freie Markt hervorbringt, sind von einem moralischen Standpunkt aus äußerst beunruhigend. In vielen westlichen Großstädten genügt ein Gang um den Block – ganz zu schweigen von einem Gang durch die wuchernden Großstädte der sogenannten Dritten Welt – um uns einige der Probleme vor Augen zu führen. Das uns in den Gesellschaften des freien Marktes so häufig begegnende nackte menschliche Elend der Armen, der absolute Grad menschlicher Destruktion, der dort so viele heimsucht, und die große Masse in Verhältnissen, in denen die weniger Begünstigten benachteiligt werden und Unrecht erleiden, trägt zu der Ansicht bei, daß das „System der natürlichen Freiheit“ äußerst ungerecht ist. (Ich werde nicht näher auf verwandte Probleme eingehen, wie das nicht-menschlichen Lebewesen zugefügte Elend und die Zerstörung der natürlichen Umwelt.) Eine bedeutende Anzahl (wenn nicht die Mehrzahl) der Bürger könnte wohl als „arm und elend“ angesehen werden. Wenn man uns bedeutet, alles werde sich kraft einer „unsichtbaren Hand“ zum Guten entwickeln, oder es werde sich auf irgendeine Weise kraft des weisen Plans der Natur die Gerechtigkeit des freien Marktes durchsetzen, oder Fairneß sei durch Spielregeln gewährleistet, die für alle gleich sind, dann fragen wir uns unwillkürlich, ob uns hier nicht das begegnet, was Marx und Engels „Ideologie“ genannt hätten. Mit einem Wort, unser unmittelbarster Berührungspunkt mit Adam Smith heute ist zugleich gerade der Punkt, an dem uns wahrscheinlich unsere größten moralischen Zweifel hinsichtlich seines Unternehmens überkommen. Oft erscheint uns das von ihm verteidigte System weit entfernt von dem Standard der Billigkeit (equity), den er selbst in der am Beginn dieses Essays zitierten Passage betont. Nicht, daß Smith das Problem verschweigt – seine eigenen Klagen über die menschlichen Folgen der Marktökonomie sind in ihrer Bitterkeit und rhetorischen Kraft kaum zu überbieten; unweigerlich stellt sich die Frage, wie sich die „natürliche Ordnung einer vollkommenen Freiheit stände [die ‚Landwirte‘ und die ‚Grundeigentümer‘] zu unterdrücken... Die Herstellung vollkommener Gerechtigkeit, uneingeschränkter Freiheit und weitgehender Gleichheit ist ganz einfach das Geheimnis, das allen drei Klassen höchsten Wohlstand am wirksamsten sichert.“ Daraus folgt nicht, daß man nicht einen Grad von Wohlstand ohne Freiheit haben könnte. Vgl. dazu Forbes 1975, S. 201.
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und Gerechtigkeit“ (WN, IV.vii.c.44: 606; dt. 509) mit unserem „Sinn für Gerechtigkeit“ verträgt. 3 In diesem kurzen Aufsatz möchte ich einen Aspekt des „Grundlagenproblems“ oder, vielleicht nicht ganz so anspruchsvoll, des Methodenproblems bei Smith untersuchen. Was ist die Grundlage von Smiths Theorie der Gerechtigkeit (und damit zumindest teilweise seiner Rechtfertigung des freien Marktes)? Ich möchte eine andere Antwort auf diese Fragen skizzieren als die meisten Smith-Kommentatoren – mich selbst eingeschlossen – bisher vorgelegt haben. 4 Meine Bemerkungen verweisen in etwas ungewöhnlicher Manier auf das berühmte Adam-Smith-Problem. Die Ausführungen beinhalten zugleich interessante Folgerungen für Theorien des unparteiischen Zuschauers im Allgemeinen.
I. Zur Orientierung ist es nützlich, daran zu erinnern, daß Smith sein System nicht vollendete, aber uns ein System zu präsentieren beabsichtigte. Er brachte – dies ist wichtig für das Folgende – weder den Teil, der die Grundsätze der natürlichen Jurisprudenz ausschließlich behandelt, 3 Smith schreibt über den Arbeiter oder einen der „arbeitenden Armen“, der zu sich ständig wiederholenden Arbeitsvorgängen verurteilt ist, daß er „so stumpfsinnig und einfältig wird, wie ein menschliches Wesen nur eben werden kann. Solch geistige Trägheit beraubt ihn nicht nur der Fähigkeit, Gefallen an einer vernünftigen Unterhaltung zu finden oder sich daran zu beteiligen, sie stumpft ihn auch gegenüber differenzierten Empfindungen, wie Selbstlosigkeit, Großmut oder Güte, ab, so daß er auch vielen Dingen gegenüber, selbst jenen des täglichen Lebens, seine gesunde Urteilsfähigkeit verliert“ (WN, V.i.f.50: 782; dt.662). Im Anschluß an diese rhetorische Entladung formuliert Smith mit Nachdruck das folgende Paradox: „Seine spezifisch berufliche Fertigkeit, so scheint es, hat er sich auf Kosten seiner geistigen, sozialen und soldatischen Tauglichkeit erworben.“ (WN, V.i.f.50: 782; dt. 663). Es ist leicht zu erkennen, warum Marx, wie ein Ausleger bemerkt, „es liebte, diese Textstellen zu zitieren“, und daß sie eine Quelle des Begriffs der „Entfremdung“ von Marx sein können. Vgl. zu beiden Thesen Meek 1977, S.14. Auf ähnliche Passagen wie im Wohlstand der Nationen trifft man auch in den Vorlesungen über Jurisprudenz: „Das sind die Nachteile des Handelsgeistes. Die Gedanken sind oft einseitig beschränkt und zur Erhebung unfähig geworden. Die Ausbildung wird verachtet oder zumindest vernachlässigt, und das heldenhafte Gemüt ist fast gänzlich ausgelöscht. Diese Nachteile auszumerzen, wäre ein Thema, das ernsthafte Aufmerksamkeit verdiente.“ (LJ [B]: 333; dt. 260). 4 Zur Debatte über Smiths Auffassung der distributiven Gerechtigkeit vgl. z. B. Verburg 2000; Salter 1994; Ignatieff/Hont 1985 und die Bücher: Winch 1996, Fleischacker (2004).
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noch den Teil, der im Einzelnen schildert, wie sich die Grundsätze der natürlichen Jurisprudenz in der Zeit entfalteten, zum Abschluß. Wir haben zwei Sammlungen von studentischen Vorlesungsnachschriften, die mit Sicherheit dieses zweite, viel historischer angelegte Projekt beschreiben. Aber bekanntlich sind studentische Nachschriften nicht völlig zuverlässig. 5 Wie wir auch wissen, ist für ihn die Politische Ökonomie ein Zweig der Moralphilosophie. Dies wird leicht übersehen, teilweise weil sich Smith in keinem seiner publizierten Bücher selbst zitiert, auf sich verweist oder auch nur – mit gewissen Ausnahmen – auf sein anderes publiziertes Buch anspielt. 6 Der Wohlstand der Nationen wird von moralischen Begriffen eingerahmt, und „Gerechtigkeit“ ist einer von ihnen. Die Theorie der „natürlichen Jurisprudenz“, die Smith hoffte auszuarbeiten, war in gewissem Sinn eine normative und keine nur deskriptive Theorie („natürlich“ ist in diesem Kontext das Gegenteil von „konventionell“). Das Problem, in welcher Relation das Normative zum Empirischen bei Smith steht, bleibt schwierig, und genau darauf beziehen sich meine heutigen Bemerkungen. Die Theorie der moralischen Gefühle möchte zwei Fragen behandeln. Die erste lautet: „Was ist Tugend?“ Und die zweite in seinen eigenen Worten: Durch welche Kraft oder durch welches Vermögen der Seele wird uns dieser Typus – sei es welcher immer – empfohlen? Oder mit anderen Worten: Wie kommt es und woher kommt es, daß die Seele eine Art des Verhaltens einer anderen vorzieht, die eine als recht, die andere als unrecht bezeichnet und die eine für würdig hält, Billigung, Ehre und Lohn zu empfangen, während der anderen Tadel, Rüge und Bestrafung gebühre? (VII.i.2: 265: dt.448)
Dies ist eine Frage der Moralpsychologie. Wenn man die einzelnen Aspekte bündelt, so kommt man leicht zu dem Schluß (das gilt auch für mich selbst), daß Smiths Theorie der Gerechtigkeit in seiner Moralpsy5 Dies bedeutet, daß die Darlegung von Smiths Theorie der Gerechtigkeit von Anfang an auf schwachen Füßen steht. Am Ende seines Lebens hatte Smith tatsächlich einige Manuskripte den Flammen übergeben, vermutlich jene, die die Entwürfe seiner Gedanken zur Jurisprudenz enthielten. Warum beendete er dieses Werk nicht, warum machte er dessen Veröffentlichung unmöglich? Spekulationen reichen von Zeitmangel – seine eigene Erklärung – bis hin zur Inkompatibilität zumindest des zuerst erwähnten Vorhabens (die bloßen Grundsätze der natürlichen Jurisprudenz zu formulieren), mit anderen Aspekten von Smiths theoretischem Apparat. 6 Smith verweist (vgl. LJ [B]: 12; dt. 41f.) seine Studenten im Kontext der mündlichen Vorlesungen auf die Theorie der moralischen Gefühle, d. h., er unternahm den Versuch, sein geschriebenes Werk zusammenzuführen; aber was in einen Vorlesungssaal paßt, muß sich nicht auch schon in einen publizierten Text einfügen lassen.
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chologie gründet – vor allem seine Auffassung der Affekte (insbesondere des Übelnehmens), der Sympathie und des unparteiischen Zuschauers – und die Politische Ökonomie (teilweise) in der Theorie der Gerechtigkeit. So scheint die moralische Fundierung des Wohlstands der Nationen in der Theorie der moralischen Gefühle ausgearbeitet und gerechtfertigt worden zu sein. Hier will ich jedoch darlegen, daß das Problem beträchtlich komplizierter ist.
II. Ich beginne mit einem knappen Überblick über Smiths Antwort auf die Frage: „Was ist Tugend?“. Tugend besteht in der „richtigen Leitung und Regierung aller unserer Neigungen“ und nicht in irgendeinem bestimmten Typ von Empfindungen (seien diese nun eigennützig oder von Rücksicht auf andere bestimmt). „Tugend ... [besteht] in der Schicklichkeit oder sittlichen Richtigkeit (propriety)“ (VII.ii.Einleitung.1: 266: dt. 449). D. h., sie besteht in dem passenden „Ton“ der gegebenen Leidenschaft. Wie Smith in der zustimmenden Zusammenfassung der Darstellung des IV. Buchs von Platos Staat meint, werden die tugendhaften Seelenvermögen der Menschen dadurch gebildet, daß jeder „sein eigenes Geschäft genau mit jenem Maß von Kraft und Stärke vollführt, wie sie ihm zukommt“. (VII.ii.1.11: 270; dt. 455 f.) Oder, die Aristotelische Terminologie übernehmend (die Smith für der eigenen ziemlich nahe hält), Tugend besteht in dem „Habitus ..., der rechten Mitte gemäß und in Übereinstimmung mit der wahren Vernunft zu handeln“. Aristoteles sagt uns, daß die rechte Mitte „von uns“ abhängt (pros hemas; EN 1107a1), und dem stimmt Smith in gewissem Sinn zu. Der orthos logos (die richtige Einsicht) wird durch den unparteiischen Zuschauer bestimmt (das ist Smiths Version des aristotelischen Konzepts des „idealen Richters“, des phronimos als Maß). Mit anderen Worten, was „richtig“ und „gut“ ist, wird gemäß den Reaktionen und Urteilen eines Menschen bestimmt, dessen Dispositionen und dessen Wissen über die Situation angemessen sind. Jede Leidenschaft und jede Gemütsbewegung kann tugendhaft oder unmoralisch sein, je nachdem, wie sie selbst, ihr „Grad“ oder „Ton“, und wie die Situation von einem tugendhaften Mensch eingeschätzt werden. 7 7 Vgl. Aristoteles E.N. 1113a25-b2; der spoudaios (der ausgezeichnete, tugendhafte Mensch) beurteilt alles richtig, und was ihm der Fall zu sein scheint, ist der Fall; er ist
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Folglich werten wir in unseren Urteilen über Tugend und Laster normalerweise und grob gesagt die Berechtigung einer Empfindung oder einer Handlung (a) in Relation zur veranlassenden Ursache oder zum veranlassenden Gegenstand und (b) in Relation zu den Folgen, die durch den Akteur hervorgerufen werden. Tatsächlich wird auch der zweite „Aspekt“ (Verdienst) aus den Erwägungen der „Schicklichkeit“ 8 entwickelt. Das Gefühl für Verdienst ist „eine zusammengesetzte Empfindung ..., die durch zwei verschiedene Gemütsbewegungen gebildet wird: durch eine direkte Sympathie mit den Gefühlen des Handelnden und eine indirekte Sympathie mit der Dankbarkeit derjenigen, die die wohltätigen Wirkungen von dessen Handlungen genießen“ (II.i.5.2: 74; dt. 108 – dies gilt auch für die Empfindung der Schuld). Smith kommt der Behauptung nahe, unsere „unmittelbare Sympathie“ führe zu einem Urteil über die Schicklichkeit des Motivs des Handelnden und unsere „mittelbare Sympathie“ zu einer Wertung der Verhältnismäßigkeit der Freude oder des Kummers des Betroffenen. Wenn wir z. B. dem Akteur niedrige Motive unterstellen, so sind wir nicht geneigt, uns in die Dankbarkeit des Betroffenen hineinzuversetzen, weil der Akteur keine Dankbarkeit zu verdienen scheint. Wenn wir die Motive des Akteurs billigen, sympathisieren wir nicht mit dem Kummer des Betroffenen (II.i.3.1: 71f.; dt. 99). D. h., Verdienst und Schuld bestehen in gutem oder schlechtem Lohn; ihr moralisches Lob oder ihr moralischer Tadel wird durch bestimmte Gefühle hervorgerufen, in diesem Fall Dankbarkeit (die uns zu Lob veranlaßt) und Übelnehmen (das uns zu Tadel veranlaßt) – beide vermittelt durch Sympathie mit den Individuen, die handeln oder betroffen sind, und zwar diejenige Sympathie, die aus der Perspektive des „vernünftigen Menschen“ empfunden wird (II.i.2.3: 70; dt. 100). 9 Diese Leidenschaften gehören zu denen, die das „Maß“ (metron) des Trefflichen und Wohltuenden. Aristoteles bezeichnet den tugendhaften Menschen nicht als einen „unparteiischen Zuschauer“; seine Ethik ist eher auf den Urheber als auf den Zuschauer zentriert und sieht keine eindeutige Rolle für Unparteilichkeit oder für das Einnehmen eines „allgemeinen Standpunkts“ vor. Dies ist für den heutigen Leser irritierend, und Smiths Theorie unterscheidet sich hier deutlich von der des Aristoteles. 8 So argumentiert Haakonssen (1981, S.64). Smith verwendet die Sprache der „Schicklichkeit“, wenn er Verdienst bestimmt; vgl. II.i.4.1. 2 u. 4: 73 f.; dt. 106 f. 9 Das Gefühl für Verdienst ist eine „zusammengesetzte Empfindung“, die aus der Billigung der Empfindungen des Akteurs und aus der Dankbarkeit derjenigen besteht, die die Wirkungen seiner Handlungen empfangen, unabhängig davon, ob nun die Nutznießer die Dankbarkeit empfinden, die sie empfinden sollten, oder nicht. Smith spricht hier von dem Fall, in dem wir in unseren Vorstellungen die Rolle des Akteurs
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von der Einbildungskraft herrühren. 10 So scheint Smiths Theorie der Gerechtigkeit organisch aus der Psychologie der sympathetischen Einbildungskraft hervorzugehen. Übelnehmen wird „stets nur durch solche Handlungen mit Recht hervorgerufen ..., die darauf abzielen, einer bestimmten Person einen wirklichen und positiven Schaden zuzufügen“ (II.ii.1.3: 79; dt.116). Jeder Teil dieser Aussage ist für Smiths Theorie wesentlich, denn sie dient als Grundlage dafür, zwischen Gerechtigkeit und Wohltätigkeit fundamental zu unterscheiden und die relevante Bedeutung von „Gerechtigkeit“ auf das Kommutative einzuschränken. Konzentrieren wir uns auf das Kriterium des „wirklichen und positiven Schadens“. Wie ist das zu verstehen? Hier betreten wir ein Gebiet, das ich kritisch untersuchen will. Die Vorstellung der „illusionären Sympathie“ ist entscheidend für Smiths Antwort. Denn als Zuschauer sind wir aufgefordert, in dem Fall, wo einem anderen der größte Schaden zugefügt wurde – ihm oder ihr wurde das Leben genommen – uns in die Lage der Verstorbenen zu versetzen und uns die Wut und das Übelnehmen vorzustellen, die dieser Mensch empfinden würde. Das Unrecht, das „in unserer Phantasie“ der oder die Verstorbene erlitten haben, ruft unter rechten Voraussetzungen „Tränen der innigsten Sympathie“ und „sympathetischen Zorn“ hervor und folglich unser starkes Verlangen, den Täter zu bestrafen (II.i.2.5: 70 f.; dt. 101–103; II.i.5.6: 76; dt. 111). Damit erweitert Smith seine Erörterung unserer Sympathie mit den Toten, wie er sie am Ende des ersten Kapitels der Theorie der moralischen Gefühle vorgenommen hatte; er macht sie von einer „Illusion der Einbildungskraft“ abhängig, dank derer wir „unsere eigene lebende Seele in ihren unbeseelten Leichnam einquartieren und uns dann die Gefühle vorzustellen suchen, die wir in dieser Lage haben würden“ (I.i.1.13: 13; dt. 9). Smiths Darstellung verdeutlicht, daß der ursprüngliche und grundlegende Kontext unserer Leidenschaften und unserer sympathetischen Einbildungskraft Individuen betrifft. Sie bilden die fundamentalen moralischen Einheiten. Die Übel und die Wohltaten, die sie erfahren, wiegen für die sympathetische Einbildungskraft am schwersten. Was ist folglich die grundlegende Hierarchie der Übel? Da „der Tod ... das größte aller Übel [ist], die ein Mensch einem anderen zufügen kann“ und somit „im höchsten Grad das Übelnehmen [erregt]“, so in einer Szene der Wohltätigkeit oder Gerechtigkeit übernehmen und unsere verschiedenen Urteile entsprechend ausrichten. (II.i.5.2, 3: 74 f.; dt. 108 f.). 10 Vgl. I.ii.2.1: 31 f.; dt. 39 f.
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ist Mord das größte Verbrechen gegen ein Individuum. Dann folgt als nächstes die Schädigung von dessen Person, erstens seines Körpers, dann seines erweiterten Selbst, wie z. B. seiner Reputation. Dann kommt das Eigentum, wobei Raub von Eigentum ein größeres Übel darstellt als die Enttäuschung einer Erwartung; darauf folgen verschiedene Vertragsverletzungen (II.ii.2.2: 83f.; dt. 124f.). 11 Dieser Hierarchie der Schädigungen entsprechen verschiedene Grade des Übelnehmens, die der unparteiischen Zuschauer empfindet und dessen Rolle Smith hier voraussetzt. Weil wir (das Pronomen tritt auf diesen Seiten häufig auf), in diesen Zusammenhängen diese Gefühle so empfinden, werden wir dazu veranlaßt, sowohl den Schädiger zu bestrafen als auch mit Nachdruck die genaue Einhaltung der Regeln zu erzwingen, die derartige Schädigungen verhindern. Die Regeln, die darauf zielen, der unberechtigten Verursachung von Leid vorzubeugen, haben diese besondere Dringlichkeit und werden als verbindlich vorausgesetzt. Diese Regeln sind die Grundsätze der Gerechtigkeit. Wenn im Gegensatz dazu ein Akteur es an dem angemessenen Wohlwollen fehlen läßt, dann fügt er damit niemandem „wirkliches Übel im eigentlichen Sinn“ zu. Sein Verhalten mag enttäuschen, verletzen, erzürnen und sogar zur Verurteilung des Akteurs führen, aber es ruft kein Übelnehmen hervor und führt daher nicht zur Anwendung strafender Gewalt. Daher darf Wohltätigkeit nicht rechtlich erzwungen noch ihre Unterlassung durch Zwang bestraft werden. Wir müssen die Pflichten der Gerechtigkeit erfüllen, und diese Pflicht ist „vollkommenen und uneingeschränkt“, aber keine der anderen Tugenden verpflichtet uns in vergleichbarer Weise. Wohltätigkeit steht „immer frei“ im juristischen Sinne, während Gerechtigkeit nicht „dem freien Belieben unseres Willens anheimgestellt ist“ (II.ii.1.5: 79; dt. 117). Indem Smith dem Schmerz und seiner Vermeidung besonderes Gewicht verleiht, präsentiert er uns als Tatsache der Moralpsychologie eine ethische Auffassung davon, was für einen Menschen von gutem Charakter erträglich ist und was nicht. Smiths Phänomenologie erscheint im Kontext unserer modernen, nichtheroischen Kultur plausibel.12 11 Für eine detaillierte Analyse von Smiths Jurisprudenz und insbesondere der Lectures on Jurisprudence vgl. Haakonssen 1981, Kap. 5–7. 12 Die Trennlinie zwischen den Pflichten der Wohltätigkeit und der Gerechtigkeit wird nicht immer deutlich; ein offensichtliches Beispiel dafür betrifft die Pflichten der Eltern gegenüber ihren Kinder. Smith räumt ein, daß in solchen Fällen die Obrigkeit „bis zu einem gewissen Grade gegenseitige gute Dienste anordnen“ kann, aber „von allen Pflichten eines Gesetzgebers erfordert jedoch vielleicht diese den größten Takt
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Nachdem Smith die Grundlagen in seiner Erörterung von Verdienst und Schuld, der Affekte der Dankbarkeit und des Übelnehmens und ihrer Verbindung mit Lohn und Strafe, des Unterschieds zwischen den Gefühlen der Kränkung, des Zorns oder des Elends einerseits und des „wirklichen Übels im eigentlichen Sinn“ andererseits gelegt hat, kann er „Gerechtigkeit“ als die obligatorische Befolgung von Grundsätzen des Verhaltens definieren, von Grundsätzen, deren Verletzung beim unparteiischen Zuschauer Übelnehmen hervorruft und das Verlangen nach angemessener Strafe (II.ii.1.4–5: 79f.; dt. 116–118). Gerechtigkeit und Vergeltung sind nicht voneinander zu trennen (II.ii.1.10: 82; dt. 121f.). Somit hat Smith nach seiner Einschätzung mehrere der Unterschiede zwischen kommutativer Gerechtigkeit und den anderen Tugenden begründet – das Gefühl der Verpflichtung, das eine Begleiterscheinung der Gerechtigkeit ist, ihren „negativen“ Charakter und ihre besondere Beziehung zu Schaden und Schmerz. Nicht nur die Dringlichkeit, sondern auch die Exaktheit der Regeln, die die Gerechtigkeit leiten, sind offenbar mit der Tatsache verbunden, daß die markierte ‚Schärfe‘ oder Deutlichkeit des Schmerzes uns Unterschiede zwischen Art und Ausmaß des Schmerzes mit relativer Genauigkeit feststellen läßt (I.iii.1.3: 44; dt. 61). 13 Weil das Übelnehmen durch den unparteiischen Zuschauer durch bestimmte Handlungen hervorgerufen wird, die bestimmten Einzelund die größte Zurückhaltung, um sie mit Schicklichkeit und Urteilsvermögen auszuführen.“ Wir sind weder überrascht von der nachdrücklichen Betonung des Urteilsvermögens noch von Smiths Präsumtion zugunsten der Ansicht, daß Beziehungen der Wohltätigkeit freiwillig sind. „Sie allzu weit zu treiben, wäre verderblich für alle Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit.“ (II.ii.1.8: 81; dt. 120) 13 Zugegeben, der Zusammenhang zwischen der „Schärfe“ des Schmerzes und der Exaktheit der allgemeinen Grundsätze der Gerechtigkeit ist etwas undeutlich. Wie Haakonssen anmerkt, legt Smith den Zusammenhang nicht im Einzelnen dar (Haakonssen 1981, S. 86). Ich vermute, die vollständige Antwort würde einen Nexus verschiedener Vorstellungen hervorbringen. Teil der Erklärung kann die vom Zuschauer empfundene Dringlichkeit sein, auf Schmerz zu reagieren. Der Anblick eines Kindes, das geschlagen wird – ein relativ einfaches Beispiel – erfordert vom aufmerksamen Zuschauer eine schnelle und bestimmte Reaktion, deren Verhältnismäßigkeit gegen die Übeltat sofort genau bestimmt werden muß. Eine Gleichheit zwischen dem erduldeten Schmerz und dem als Strafe dem Täter zugefügten Schmerz erscheint als ein Muß – ein emotionales und rationales – für die Reaktion des Zuschauers, und diese Gleichheit muß im allgemeinen genau festgelegt werden (genau dieses Strafmaß für genau diese Übeltat). Dagegen wird der Zuschauer, wie sehr und wie leicht er auch an der Freude eines Kindes teilhaben mag, das z.B. ein neues Spielzeug bekommen hat, wahrscheinlich und mit Recht keine Dringlichkeit empfinden, dieser Freude sofort nachzugeben und sie auf ein ganz bestimmtes Maß zu bringen.
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personen gelten und einen bestimmten Schaden verursachen, werden Urteile über das Unrecht des Akteurs nicht in erster Linie Urteile über dessen Charakter, dessen Lebensplan, das Muster seiner Tugenden oder seines Glücks sein. Daher Smiths Verwendung des Begriffs fair play an zentraler Stelle. Ein Akteur mag im „Wettlauf nach Reichtum, Ehre und Fortkommen rennen so schnell er kann und jeden Nerv und jeden Muskel anspannen, um alle seine Mitbewerber zu überholen“, und die Zuschauer können denken, der ganze Wettstreit sei dumm und beruhe auf einer „Täuschung“ der Einbildungskraft. Aber das Übelnehmen der unparteiischen Zuschauer wird nur dann geweckt, sollte der Akteur „einen [Mitbewerber] ... niederrennen oder zu Boden werfen“, denn das wäre eine Verletzung des fair play. Die Zuschauer haben keinen Grund, die Parteilichkeit des Akteurs oder seine Voreingenommenheit für sich selbst gelten zu lassen, und sie werden „mit dem natürlichen Übelnehmen des Geschädigten [sympathisieren]“, während „der Beleidiger zum Gegenstand ihres Hasses und ihres Unwillens [wird]“. (II.ii.2.1: 83; dt. 124) 14 Diese fair play-Auffassung von Gerechtigkeit erfordert weder Gleichheit im Ergebnis noch in der Ausgangsstellung des Spiels (z. B. hinsichtlich der Fähigkeiten, die für das Spielen des Spiels von Bedeutung sind), und sie nimmt nicht Stellung zur Fairneß der Belohnungen, die dem Gewinner winken. Zweifellos fungiert das hier porträtierte Übelnehmen des unparteiischen Zuschauers innerhalb einer besonderen, historisch lokalisierten Auffassung von Gerechtigkeit, der er oder sie sich bewußt zu sein scheint und die sie vollkommen akzeptabel finden. Smiths bemerkenswerte Äußerungen über die „religiöse“ Hochachtung des gerechten Menschen für die Gebote der Gerechtigkeit wird ergänzt durch eine gleichfalls bemerkenswerte Passage, in der er den Unglücksfall erörtert, bei dem ein gerechter Mensch ungewollt einen Unschuldigen schädigte. Ebenso wie der einem Gott in einer heidnischen Religion geweihte heilige Boden niemals widerrechtlich betreten werden darf, „so wurde durch die Weisheit der Natur in gleicher Weise die Glückseligkeit eines jeden schuldlosen Menschen zu etwas 14 Vgl. dazu: „Werden die Interessen irgendeines Standes nur deshalb mehr oder weniger beeinträchtigt, um die eines anderen zu fördern, so widerspricht das augenfällig der gerechten und gleichen Behandlung, die der Landesherr allen Untertanen schuldet.“ (WN, IV.viii.30: 654; dt. 552) Vgl. außerdem den Bezug auf die „liberalen Vorstellungen über Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit“ im WN, IV.ix.3: 663 f.; dt. 560. Bemerkenswert ist, daß solche Aussagen die Gerechtigkeit von Systemen behaupten, nicht von Handlungen.
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Heiligem gemacht, geweiht und ringsum mit einer Hecke umgeben gegen die Annäherung jedes anderen Menschen, damit sie nicht mutwillig mit Füßen getreten werde, damit sie nicht irgendwie – sei es auch bloß unwissentlich und unabsichtlich – verletzt und entweiht werde, ohne daß dafür Sühne und Buße gefordert würde, die zu der Schwere einer solchen unbeabsichtigten Verletzung in angemessenem Verhältnis stünde“ (II.iii.3.4: 107; dt. 163). Die Gebote der Gerechtigkeit sind „heilig“, denn das, was sie schützen – das menschliche Individuum – ist so heilig wie die Sphäre eines Gottes. Diese klingende Deklaration der Unverletzlichkeit des Einzelnen scheint den Kern von Smiths Moralphilosophie und Politischer Ökonomie zu bilden, sie erscheint als die moralische Grundlage des „Systems der natürlichen Freiheit“, das durch den Wohlstand der Nationen verteidigt wird. 15 Demgemäß wird die für berechtigtes Übelnehmen notwendige Betroffenheit weniger durch ein Denken an das Wohlergehen der Gesellschaft hervorgerufen als durch „jenes allgemeine Mitgefühl, daß wir für jedermann schon bloß darum hegen, weil er unser Mitmensch ist“ (II.ii.3.10: 90; dt. 135). Dieser Respekt bildet einen Teil des Charakters des gerechten Menschen. Er ist so tief in den Meisten von uns verwurzelt, daß selbst ein Mensch, dessen Charakter unredlich ist, nach begangener Tat seine Wirksamkeit aller Wahrscheinlichkeit nach empfinden wird. Mit einem Wort, Smith arbeitet mit der intuitiven Vorstellung, daß Gerechtigkeit ganz wesentlich an das Übelnehmen gebunden ist, das wir (die Zuschauer oder die unbeteiligten Dritten) empfinden, wenn jemandem etwas widerfährt, das wir als unverdienten Schmerz oder unverdiente Schädigung (d. h. als eine Verletzung) erachten. Der „negative“ Charakter von Gerechtigkeit entstammt dieser ursprünglichen Verbindung, und das Gleiche gilt für die Vorstellung, wer Gerechtigkeit walten lasse, bringe Waagschalen ins Gleichgewicht, vergelte den durch den Täter erlittenen Verlust durch Wiedergutmachung. Smith 15 Man beachte Smiths Äußerung im Wohlstand der Nationen: „Das Eigentum, das jeder Mensch an seiner Arbeit besitzt, ist in höchstem Maße heilig und unverletzlich, weil es im Ursprung alles andere Eigentum begründet. Das Erbe eines armen Mannes liegt in der Kraft und in dem Geschick seiner Hände, und ihn daran zu hindern, beides so einzusetzen, wie er es für richtig hält, ohne dabei seinen Nachbarn zu schädigen, ist eine offene Verletzung dieses heiligsten Eigentums“ und „offenkundig ein Übergriff in die wohlbegründete Freiheit“ des Einzelnen (WN, I.x.c.12: 138; dt. 107). Da Smith im Wohlstand der Nationen zeigt, daß öffentliche Maßnahmen und Individuen auf diese Weise unbefugt eingreifen – manchmal absichtlich und manchmal nich – wird ein gerechter Mensch gegen solche Eingriffe protestieren. Smith protestierte dagegen (unter anderem) durch seine Publikation des Wohlstands der Nationen.
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widersteht der Versuchung, diese Urintuitionen zu korrigieren und erläutert statt dessen sowohl deren Basis (die Theorie der Sympathie, der Freude und des Kummers und der Affekte) als auch die Jurisprudenz (eine Jurisprudenz der Rechte, spezifiziert durch unparteiische Zuschauer im gegebenen historischen Kontext), die sich daraus ergeben würde. Es ist eine normative Jurisprudenz, die zum größten Teil im Rahmen der begrifflichen Grenzen der kommutativen Gerechtigkeit bleibt und sich auf eine Doktrin der individuellen Freiheit von moralisch gleichberechtigten Individuen gründet. In Anbetracht der zentralen Rolle der „Sympathie“ in Smiths Theorie läßt sich – mit Stephen Darwalls treffender Wendung – sagen, Smith befördert ein System des „sympathetischen Liberalismus“. 16
III. Soweit ich sie bisher dargestellt habe, passen Smiths Ansichten zu einer nichtheroischen modernen Kultur, und die Moralpsychologie steht selbst unter dem Einfluß einer spezifischen, historisch lokalisierbaren, ethischen Auffassung (und somit nicht bloß deskriptiv). Vor diesem Hintergrund ergeben sich wichtige Fragen nach den Grundlagen dieser Ansichten. Letztlich ist der freie Markt so lange gerecht, wie die Regeln des fair play befolgt werden. Gesamtökonomische Ungleichheiten und deren massive menschliche und soziale Konsequenzen erzeugen auf Seiten des unparteiischen Zuschauers kein Gefühl der sympathetischen Entrüstung oder des Übelnehmens. Vielmehr wird er (oder sie) bedauern, bemitleiden und Gefühle großzügiger Menschlichkeit und Wohltätigkeit mit den Verarmten, mit den vom System Benachteiligten und den Verlierern des Spiels empfinden. Angesichts der Tatsache z. B., daß die Wettkampfteilnehmer ohne eigenes Verschulden unterschiedlich vorbereitet auf das Spielfeld kommen, wird der unparteiische Zuschauer kein Übelnehmen empfinden. 17 Der unparteiische Zuschauer empfin16 Vgl. Darwall 1999. 17 Das verstand Smith gewiß, wie seine historische Darstellung der Genesis der verschiedenen Systeme der Gerechtigkeit zeigt. Und er beginnt den Wohlstand der Nationen damit, daß er bestreitet, diese Unterschiede in der Befähigung– z. B. zwischen einem Träger und einem Philosophen – seien natürlich; er schreibt sie vorrangig den Wirkungen der Arbeitsteilung, der Erziehung usw. zu. Sein scharfsinniger Realismus
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det allem Anschein nach kein Übelnehmen gegenüber jenen, die es versäumen, den Unglücklichen oder Elenden konkrete Hilfe anzubieten. Außerdem „schafft“ man, so Smith, indem man gerecht im Sinne der kommutativen Gerechtigkeit ist, „kein wirkliches positives Gut“; zuweilen wird dieser Gerechtigkeit auch dadurch genüge getan, daß wir „still sitzen und nichts tun“, was einem „sehr wenig positives Verdienst“ einträgt (II.ii.1.9: 82; dt. 121). So wird sich der unparteiische Zuschauer wahrscheinlich nicht aufgefordert fühlen, aus Gründen der Gerechtigkeit aktiv einzugreifen oder ausdrücklich das System des fair play im Lichte seines menschlichen Tributs zu korrigieren, obgleich er natürlich weder die Regeln verletzen noch eine Verletzung der Regeln kommutativer Gerechtigkeit verzeihen wird. Abgesehen von der unklaren Ausnahme der zu Beginn dieses Beitrags zitierten Passage, in der die Billigkeit (equity), nicht aber die Gerechtigkeit erwähnt wird, sagt Smith dementsprechend niemals, daß die elenden Verhältnisse der Armen im System der natürlichen Freiheit ungerecht seien. 18 Es ist befremdlich, daß ein so bedeutender Theoretiker der Sympathie eine Theorie der Gerechtigkeit empfehlen sollte, die so … unsympathisch erscheint. Begriffe sozialer oder ökonomischer Gerechtigkeit, die die engen Grenzen der von ihm begründeten kommutativen Gerechtigkeit überschreiten, fehlen in seiner Theorie der moralischen Gefühle fast vollständig. wird an vielen Stellen deutlich, vgl. z. B.: „Wird also eine Regierungsgewalt zu dem Zwecke eingerichtet, das Eigentum zu sichern, so heißt das in Wirklichkeit nichts anderes, als die Besitzenden gegen Übergriffe der Besitzlosen zu schützen.“ (WN, V.i.b.12: 715; dt. 605). 18 Tatsächlich sind Verweise auf „Billigkeit“ (equity) im Wohlstand der Nationen sehr selten, während auf „Gerechtigkeit“ (justice) oft verwiesen wird. Der Index to the Works of Adam Smith, zusammengestellt von K. Haakonssen and A. S. Skinner (Haakonssen/Skinner 2001), führt nur diese Stelle an. Ich habe nur noch eine weitere finden können, nämlich WN, III.iv.8: 417; dt. 337. Als Adjektiv wird der Begriff bei wenigen Gelegenheiten in Verbindung mit „just“ (gerecht) (wie in der Belegstelle WN I.x.c.61: 157 f.; dt. 123 f.) für Maßnahmen verwendet, die „gerecht und billig“ (just and equitable) sind. Die Theorie der moralischen Gefühle enthält sehr wenige Belegstellen für „Billigkeit“ (equity), eine – der letzte Abschnitt des Buches – impliziert, daß die „Regeln der natürlichen Gerechtigkeit“ (rules of natural justice) (VII.iv.36: 341 f.; dt. 569) und „die Regeln der natürlichen Billigkeit“ (rules of natural equity) das gleiche sind (vgl. den natural sense of equity – Eckstein übersetzt hier mit „natürliches Billigkeitsgefühl“ – in der Theorie der moralischen Gefühl, II.iii.2.8: 103; dt. 156). Wenn das „Gerechte“ (just) und das „Billige“ (equitable) das gleiche sind, dann geht Smiths Theorie der Gerechtigkeit über das einfach Kommutative hinaus; wenn sie nicht das gleiche sind, dann entstehen die Probleme der Einschränkung auf das Kommutative.
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Aber mit welcher Begründung? Tatsache ist, daß viele Menschen ein Gefühl des Übelnehmens angesichts dessen empfanden und empfinden, was sie als die Ungerechtigkeiten des freien Marktsystems begreifen. In dem Abschnitt, mit dem wir begonnen haben, lesen sie „Billigkeit“ (equity) als „Gerechtigkeit“. Offensichtlich wurden andere Gerechtigkeitskodes entwickelt, längst bevor das System des freien Marktes entstand, bevor es so etwas gab wie Privateigentum oder Kapital oder Arbeitsteilung oder „eine Verbesserung der eigenen Lebensumstände“ in dem relevanten Sinne. Im Gegensatz zu dem Anschein, den die Theorie der moralischen Gefühle erweckt, kann daher nicht nur dieser „Sinn für Gerechtigkeit“ aus der Theorie der menschlichen Natur folgen. Die Theorie der Gerechtigkeit kann nicht nur auf der Theorie der moralischen Empfindungen basieren. Smith könnte erwidern, zumindest im Kontext dessen, was er „zivilisierte“ Gesellschaften nennt, seien jene, die nicht genau die eine Art des Übelnehmens empfinden, die er vorschlägt, keine unparteiischen Zuschauer. Aber diese Erwiderung könnte als Beleg dafür genommen werden, daß er das voraussetzt, was gerade strittig ist, indem er einfach unparteiische Zuschauerschaft so definiert, daß sie auf eine Übernahme genau der Grundsätze der Gerechtigkeit hinausläuft, die dem freien Markt zugrunde liegen.19 19 Betrachten wir eine Analogie: Wenn Smith seine Hierarchie der Schädigungen darlegt, verlangt er stillschweigend von uns, ihm darin zuzustimmen, daß Frömmigkeit und Gerechtigkeit so voneinander unterschieden sind, daß wir den Vorwurf, falschen oder perversen religiösen Überzeugungen anzuhängen, weniger übel nehmen als den Vorwurf, jemandem auf andere Weise geschadet zu haben. Ganz im Gegenteil, wir nehmen unbegründete Verletzungen der religiösen Freiheit übel, denn damit werden die Regeln des Fair-Play verletzt. Das mag eine aufgeklärte Sicht der Dinge sein. Doch man könnte sich leicht eine Konstellation vorstellen, bei der das bloße Vorhandensein einer religiösen Überzeugung – nicht zu sprechen von ihrer aufdringlich inszenierten Präsenz –, die mit der eigenen unvereinbar ist, bei einem Menschen erheblichen Schmerz und entrüstetes Übelnehmen hervorrufen würde. Der unparteiische Zuschauer mag sich sehr wohl dazu verstehen – nach eingehendem Nachdenken über eine vielschichtige geistige Tradition, die bestimmt, was ein Schaden und was die angemessene Reaktion darauf ist – die „Ungläubigen“ streng zu bestrafen, und zwar mit der Begründung, daß sie von Anschauungen überzeugt sind, die für einen zivilisierten Menschen abstoßend sind. Ebenso wie wir nicht länger zögern, einen Bezirk zu betreten, der einst einem heidnischen Gott geweiht war – um auf Smiths eigene Analogie zurückzugreifen – so mögen wir nicht zögern, die Ungläubigen niederzutrampeln, die in einem solchen Bezirk leben, gerade wegen unseres Übelnehmens angesichts des Schadens, den ihre Anwesenheit an diesem Platz unserem Empfinden nach anrichtet. Smith wendet ein, daß Dinge wie drastische religiöse Unterschiede und die Erfahrung, daß andere nicht mit den eigenen religiösen Überzeugungen sympathisieren – geschweige denn sie übernehmen –, sehr schmerz-
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Es ließe sich folgern, daß der Sinn für Gerechtigkeit in der Theorie der moralischen Gefühle insofern auf dem Wohlstand der Nationen beruht, als er eine Erklärung und Rechtfertigung der Politischen Ökonomie liefert. Die Theorie der menschlichen Natur würde dann mehr und mehr als das erscheinen, was Marx und Engels den „Überbau“ (die „Ideologie“) der Politischen Ökonomie nannten. Letztendlich ist es kein Zufall, daß die Theorie der menschlichen Natur und der freie Markt so nahtlos zusammenpassen. Da die Theorie der menschlichen Natur in der Theorie der moralischen Gefühle auf der normativen Ebene eine viel spezifischere Konzeption des Sinns für Gerechtigkeit hervorbringt, als sie aus der Moralpsychologie hervorgeht, entsteht der Verdacht, daß der Sinn für Gerechtigkeit eine Rationalisierung im Hinblick auf das „System der natürliche Freiheit“ ist. Der Verdacht ist begründet, aber er liefert nur ein sehr grobes Bild. Es scheint der Fall zu sein, daß die Moralpsychologie der Theorie der moralischen Gefühle, insbesondere die Analyse der Gerechtigkeit, in folgendem Sinn von der Politischen Ökonomie des Wohlstands der Nationen abhängt: Wenn der freie Markt in der Produktion von Wohlstand ineffizient wäre, zu allgemeiner Verarmung führte und die Armen sogar schlechter stellte als sie es vorher waren, so würde die Vorstellung, daß er gerecht im Sinn der „Gerechtigkeit“ der Theorie der moralischen Gefühle sei, sicherlich in Frage gestellt werden. Wenn sich die zentrale ökonomische These des Wohlstands der Nationen als empirisch falsch herausstellte, wenn die Verteilung, die auf das Wirken der „unsichtbaren Hand“ zurückzuführen ist (ein Wirken, auf das die Theorie der moralischen Gefühle wie zur Bestätigung verweist 20) katastrophal wäre, würde dann nicht der unparteiische Zuschauer der Theorie der moralischen Gefühle ein berechtigtes Gefühl des Übelnehmens empfinden, d. h. würde sich dann nicht das Verständnis dessen, was als „gerecht“ erachtet wird, im Licht der Tatsachen verändern, die der Zuschauer unparteiisch und mitfühlend assimiliert hat? lich sein können; aber dieser Schmerz ist nicht von der Art Schaden, der bei einem unparteiischen Zuschauer ein Gefühl des Übelnehmens und das Bedürfnis nach Bestrafung hervorrufen würde. Offene Meinungsverschiedenheiten könnten auf den absteigenden Pfad entstellten Übelnehmens führen, zu „Fanatismus“ und vielleicht sogar zu „Inquisition“. Aber Smith’ Erwiderung steht im Verdacht, etwas strittiges vorauszusetzen. Hat er nicht einfach eine Ansicht von dem natürlichen oder gesunden Funktionieren der Moralempfindungen und des Übelnehmens vorausgesetzt, ohne eine Argument dafür anzubieten, daß es korrupt sei, „Schaden“ so zu verstehen, wie es der „Fanatiker“ tut? 20 IV.1.10: 184; dt. 316.
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Betrachten wir eines von Smiths eigenen Beispielen: Wenn er die Frage diskutiert, ob die Regierung im Fall einer Hungersnot Lebensmittel verteilen sollte, z. B. indem sie Getreidehändler anweist, ihre Vorräte zu einem von der Regierung für annehmbar gehaltenen Preis zu verkaufen, dann lehnt er das ab, und er beruft sich dabei auf Gründe der Effizienz und der Gerechtigkeit. Die „unbegrenzte, unbeschränkte Freiheit des Getreidehandels“ ist tatsächlich die beste vorbeugende Maßnahme gegen Hungersnöte, und die Getreidehändler haben es auch verdient, in Zeiten des Mangels mehr zu fordern, um sich für die in gewöhnlichen Zeiten verlorenen Profite zu entschädigen. (WN, IV.v.b.7, 8: 527; dt. 438 f.). 21 Wenn aber umgekehrt die uneingeschränkte Freiheit des Getreidehandels zur Hungersnot beitrüge, würde dies den vernünftigen Sinn der These, der freie Markt sei gerecht, zweifellos aufs Spiel setzen – so sollte es jedenfalls sein. Gleichzeitig würden wir uns, wenn sich die ökonomischen Thesen des Wohlstands der Nationen als empirisch zutreffend erwiesen (einschließlich der Ansicht, daß ein minimal regulierter Markt Reichtum bei weitem effizienter hervorbringt und verteilt als alle bekannten Alternativen), und wenn sich der unparteiische Zuschauer über die Wirkungen des freien Marktes ungeachtet der signifikanten Verbesserung der Lage der Massen ärgerte, fragen, ob wir den wahren unparteiischen Zuschauer ausfindig gemacht hätten. Mit einem Wort, wir tun besser daran, die Theorie der moralischen Gefühle und den Wohlstand der Nationen als voneinander abhängig, als zwei Teile eines „Systems“ im etymologischen Sinn des Begriffs (als zusammen stehend) zu betrachten, als in der Theorie die Grundlage des Wohlstand der Nationen zu sehen oder im Wohlstand der Nationen eine Rationalisierung der Theorie. Überdies gibt es in der Praxis notwendigerweise einen gewissen Abstand zwischen der Moralpsychologie und der Politischen Ökonomie. Sie harmonieren nicht perfekt miteinander, und dies mag nicht der einzige Grund dafür sein, daß es schwer einzuschätzen ist, ob die Bü21 Smith bemerkt: „Einen Landwirt daran zu hindern, seine Erzeugnisse jederzeit auf den günstigsten Markt zu bringen, heißt augenscheinlich außerdem, das allgemein gültige Gesetz der Gerechtigkeit einer Idee der Gemeinnützigkeit, einer Art Staatsräson, zu opfern. Es handelt sich um einen Akt gesetzgebender Gewalt, die nur in äußersten Notfällen ausgeübt werden sollte und auch nur dann entschuldbar ist. Im Übrigen sollte die Preisgrenze für ein Ausfuhrverbot für Getreide, wenn überhaupt erforderlich, stets sehr hoch angesetzt werden.“ (WN, IV.v.b.39: 539; dt. 451). Zur Diskussion von Smiths Ausführungen über die Getreidegesetzgebung vgl. Winch 1996, S. 205–209. Ich stimme mit Winchs Bemerkungen in diesem Buch über Smiths Auffassung zur distributiven Gerechtigkeit überein (vgl. a. a. O., S. 97–103).
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cher die von ihnen jeweils gesetzten Erfolgsmaßstäbe erfüllen. Was ich damit meine ist folgendes. In der Theorie der moralischen Gefühle ist der unparteiische Zuschauer der innere Maßstab des moralischen Erfolgs: Was er oder sie als recht und gut bestimmt, ist recht und gut. Stellen wir uns vor, wir bemühten uns redlich darum, zu unparteiischen Zuschauern zu werden – zu weisen und tugendhaften Menschen eben – wie Smith es so schön ausmalt. Während wir uns so abmühen, fällen wir wohlüberlegte Urteile. Aber wir sind uns auch dessen bewußt, daß es uns nicht gänzlich gelungen ist, zu dem angestrebten „Ideal“ zu werden, ja, daß niemand jemals dieses Ideal der „göttlichen Schönheit“ (VI.iii.25: 247f.; dt. 418) erreichen wird. Wir werden immer Gründe haben, die Richtigkeit unserer Urteile und die richtige Einstimmung unserer Empfindungen in Frage zu stellen. Wir werden immer wieder anderer Meinung sein als andere, die für sich in Anspruch nehmen, eindrucksvolle Beispiele des unparteiischen Zuschauers abzugeben. Die Debatte kann nicht dadurch entschieden werden, daß eine Form des Unparteiischen Zuschauers betrachtet wird, die für sich selbst steht. Denn der unparteiische Zuschauer ist keine Norm, die wir auch dann theoretisch erfassen können, wenn es uns nicht gelingt, sie zu verkörpern. Der unparteiische Zuschauer ist gerade der Standpunkt, von dem aus zutreffende Urteile gefällt werden. Wir wissen nur dann, wie der unparteiische Zuschauer urteilen würde, wenn wir einer werden. Nur derjenige, dessen Empfindungen mit seiner Vernunft angemessen harmonieren, erfüllt die Bedingungen. Da wir wissen, daß noch niemand diesen herausragenden Standpunkt erreicht hat – und ihn wahrscheinlich auch niemals erreichen wird – werden unterschiedliche Vorstellungen darüber, worin genau das Ideal des unparteiischen Zuschauers besteht, um unsere Gefolgschaft wetteifern. All dies legt nahe, daß unser Verhalten angesichts der ungeheuren Ungleichheiten des freien Marktes ein Gegenstand unserer fortwährenden Prüfung sein sollte. Der unparteiische Zuschauer ist nachdrücklich aufgefordert, sich selbst zu erkennen. Selbstprüfung muß einen wichtigen Teil seiner oder ihrer moralischen Erziehung ausmachen. Im Wohlstand der Nationen ist der innere Maßstab primär ökonomisch, d. h. die Vermehrung des Reichtums der Nation. Daß sich in einigen historischen Instantiierungen des freien Marktes die Lebensbedingungen besonders der Armen nicht verbessern und sich sogar verschlechtern können, ist unvermeidlich. Die Beurteilung, ob das System insgesamt abzulehnen ist oder nicht, ist aus zwei Gründen notwendigerweise kompliziert. Erstens, wie Smith selbst ausführt, wird sich jede
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wirkliche liberale und kommerzielle Gesellschaft dem „Utopia“ eines „Systems der natürlichen Freiheit“ (WN, IV.ii.43: 471; dt. 385) nur annähern. So kann immer behauptet werden, ihre Fehler resultierten unter den gegenwärtigen Bedingungen aus einem Mangel an adäquater Umsetzung. Aber diese Behauptung ließe sich nur dann erhärten, wenn das Unmögliche – nämlich das „Utopia“ – wirklich geworden und seine Resultate überprüft worden wären. Zweitens präsentiert uns Smith in den Büchern III und V des Wohlstands der Nationen eine Theorie des „natürlichen Wachstums des Wohlstands“ in graduell verschiedenen Stadien (Stadien der Agrikultur, der Manufaktur und des Außenhandels). Er behauptet nicht, ein freier Markt könne – wie ein magischer Impfstoff in den Körper der Politik – in einen beliebigen historischen Kontext implantiert werden und dort positive Wirkungen erzielen. Doch dank verschiedener historischer Zufälle haben „alle modernen Staaten Europas“ diese „natürliche Ordnung der Dinge“ „völlig umgekehrt“, indem sie z. B. Manufakturen und den internationalen Handel aufbauten, bevor die Agrikultur hinreichend produktiv war. (WN, III.i.9: 380; dt. 314) Diese Umkehrung führt zu verschiedenen Verwerfungen, und diese sind weniger auf das System der natürlichen Freiheit zurückzuführen als auf das Unternehmen, dieses System einer einzelnen Gesellschaft zum falschen historischen Zeitpunkt aufzupfropfen. Im Namen der Gerechtigkeit könnten die moralischen Empfindungen des unparteiischen Zuschauers gegen das schlechte Funktionieren jedes gegebenen freien Markes protestieren – oder auch nicht; je nachdem. Ich bewege mich auf den Vorschlag zu, der unparteiische Zuschauer der Theorie der moralischen Gefühle müsse, zumindest was die Urteile der Gerechtigkeit betrifft, vom Inhalt des Wohlstands der Nationen unterrichtet werden (allerdings erwähnt dieses Werk den unparteiischen Zuschauer nur einmal, siehe WN, V.iii.90: 945; dt. 817). Dies verweist auf eine ungewöhnliche Möglichkeit, das legendäre AdamSmith-Problem aufzulösen. Umfassende empirische und historische Betrachtungen (die unter der Rubrik von Nützlichkeitsbetrachtungen zusammengefaßt werden könnten), sind für das weise Urteil des unparteiischen Zuschauers in Sachen Gerechtigkeit und folglich für die passende Einstimmung des Gefühls des Übelnehmens notwendig (aber nicht hinreichend). Um die Sympathie zu empfinden, die Smith verlangt, ist eine ganze Menge systematischen Wissens erforderlich. Ich behaupte auch, der umsichtige Zuschauer müsse, wenn er sich unter Bedingungen der wirklichen Welt bewegt, in seinen Urteilen der Ge-
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rechtigkeit zwei weitere, bisher noch nicht erwähnte Arten von Informationen berücksichtigen. Sie werden insbesondere im Wohlstand der Nationen deutlich, und ich schließe daraus, daß Smith dieses Werk als für die Erziehung der moralischen Empfindungen des unparteiischen Zuschauers wichtig erachtete. Was für zwei weitere Arten von Informationen sind gemeint? Erstens wird die Argumentation des Wohlstands der Nationen indirekt durch seine Einwände gegen alternative Auffassungen, wie die merkantilistische und die physiokratische, gestützt. Smith würde zweifellos die Verteidiger der alten Staatsformen dazu drängen, das System der Sklaverei, auf das sie gegründet waren, wie auch die allgemeine Armut zu rechtfertigen (vgl. seinen Kommentar über die „ideale Republik“ in Platos Nomoi – WN, III.ii.9: 387f.; dt. 319). Wenn er eine besondere Theorie der Politischen Ökonomie, und entsprechend die Theorie der Gerechtigkeit, die von ihr verkörpert werden soll, bekräftigt, so beruht dies auf einer Würdigung ihrer Verdienste im Vergleich mit konkurrierenden Alternativen. Diese Verdienste müssen zumindest teilweise durch eine historische Analyse verständlich gemacht werden. Wenn der unparteiische Zuschauer die Ungleichheit und das menschliche Strandgut in einem System der natürlichen Freiheit betrachtet, so würde (für Smith) ein besonnenes Urteil wohl ein beträchtliches Maß an Kenntnissen der Politischen Ökonomie erfordern, einschließlich der Erkenntnis, daß niemand (und am wenigsten der Souverän) je über das Wissen verfügen wird, das erforderlich ist, um „den Erwerb privater Leute zu überwachen und ihn in Wirtschaftszweige zu lenken, die für das Land am nützlichsten sind“ (WN IV.ix.51: 687 f.; dt. 582). Außerdem würde ein solches Urteil wohl eine geradezu philosophische Reflexion über einen verführerischen Gedanken erfordern, den Gedanken nämlich, die Theorie der kommutativen Gerechtigkeit sei durch eine Theorie der distributiven Gerechtigkeit zu ergänzen. Tatsächlich steht in der Theorie der moralischen Gefühle keine unüberwindliche Barriere der Ansicht entgegen, ein tugendhafter Mensch empfände angesichts der Leiden, der Entmenschlichung und der Unbilligkeit (inequity), die Smith so eindrücklich beschreibt, ein Gefühl des Übelnehmens; nichts hindert einen solchen Menschen, zu der Ansicht zu gelangen, daß grundlegende Gerechtigkeitsprinzipien verletzt wurden. Aber wenn dieser tugendhafte Mensch Smiths schwerwiegende Vorbehalte gegen eine distributive Gerechtigkeit verstünde und teilte, hätte er wahrscheinlich einen weiteren Grund, sein Gefühl des Übel-
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nehmens angesichts der Ungerechtigkeiten und des vom System der natürlichen Freiheit hervorgebrachten Elends zu mäßigen, wenn nicht gar auszumerzen. 22 Smith hat mehrere Vorbehalte – einige hat er von Hume übernommen – gegen alles, was nach einem ständigen Programm zur staatlichen Umverteilung von Gütern aussieht. Ich will sie kurz benennen: Smith setzt voraus, daß Grundsätze der Gerechtigkeit klar bestimmbar sein und sich erklären und genau anwenden lassen müssen. Meinem Verständnis nach behauptet er, jenseits der Regeln der kommutativen Gerechtigkeit könnten wir diesen Kriterien nicht genügen. Smith besteht wiederholt auf „der gewissenhaften Justizverwaltung“ (WN, IV.ix.51: 687 f.; dt. 582; V.i.b.1: 708 f.; dt. 600 f.; V.i.c.2: 723; dt. 612); diese gehört zu den drei Pflichten, die er dem Souverän zuschreibt. Distributive Gerechtigkeit ist kein vielversprechender Kandidat für eine exakte Amtsführung. Billigkeit (equity) zu bestimmen wäre zum Teil von einer Spezifizierung dessen abhängig, wer (und in welchem Ausmaß) für den zu behebenden Zustand verantwortlich ist. Die Bestimmung dessen, was sich der Kontrolle eines Menschen entzieht, ist natürlich eine höchst 22 Ich habe darauf geachtet, bei diesem Gegenstand besonders genau zu formulieren, denn Smith schlägt verschiedene Maßnahmen zur Herstellung distributiver Gerechtigkeit vor; eine besonders wichtige ist die allgemeine Schulpflicht. Zu diesen Maßnahmen gehören auch proportional höhere Steuern auf Luxuswagen, so daß der „Wohlhabende aufgrund seiner Bequemlichkeit und Eitelkeit auf höchst einfache Art zur Unterstützung der ärmeren Leute [beiträgt]“ (WN, V.i.d.5: 725; 614; vgl. auch WN, V.i.d.13: 728; dt. 616 f.), und dies wird durch Bemerkungen bekräftigt, denen zufolge es für die Reichen nicht „unvernünftig“ ist, zu den öffentlichen Ausgaben proportional mehr als die Armen beizutragen (WN, V.ii.e.6: 842; dt. 719 f.), sowie durch energische Einwände gegen die Besteuerung, die Ungleichheiten „auf die schlimmste Art“ befördert (bei der die Armen eine größere Last tragen als die Reichen, vgl. WN, V.ii.e.16–19: 846; dt. 724). Samuel Fleischacker verweist auf WN, V.i.f.61: 788; dt. 667, wo das System der allgemeinen Schulpflicht wie folgt gerechtfertigt wird: „Selbst wenn der Staat als solcher keinen Vorteil von der Schulausbildung für Menschen aus den niederen Schichten haben sollte, so müßte er dennoch daran interessiert sein, daß sie nicht Analphabeten bleiben. Tatsächlich aber bezieht er nicht unbeträchtlichen Nutzen daraus. Während Smith in seiner typisch undogmatischen Art Raum läßt für Maßnahmen wie diese, macht er doch deutlich, daß sie durch die schwersten Deformationen in den Lebensbedingungen der Armen hervorgerufen werden, Deformationen so schwerwiegend, daß sie das Überleben des Staates gefährden; d. h. es geht um Erwägungen der Nützlichkeit, nicht der Gerechtigkeit. Zur Erörterung weiterer Beispiele vgl. Rosenberg 1960. Vgl. auch Fleischacker 2004, Kap. 10. Dort wird dafür argumentiert, daß der Bereich der distributiven Gerechtigkeit bei Smith weit größer ist, als ich hier zugestehe.
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kontroverse Angelegenheit. Was für eine Kompensation wird einem Individuum für erlittene Versäumnisse geschuldet, z. B. für Versäumnisse in seiner Erziehung? Außerhalb der Sphäre der kommutativen Gerechtigkeit verzichtet Smith, soweit es um staatliche Intervention geht, weitgehend auf ein Urteil über diese komplexe Materie. Im allgemeinen kann der Staat Individuen nicht gegen die negativen Folgen von Faktoren versichern, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Smith scheint zu denken, es gäbe im Großen und Ganzen keinen gangbaren Weg, innerhalb eines juristischen Rahmens zu spezifizieren, wie Güter so zu verteilen (oder umzuverteilen) sind, daß damit die ungleichen „Startbedingungen“ der individuellen Spieler ausgeglichen würden. In einer komplexen kommerziellen Gesellschaft ist dies a fortiori so, denn dort sind die Beziehungen zwischen einem Individuum und seinen Startbedingungen oder Möglichkeiten sowie zwischen dem Individuum und den sozialen oder politischen Vereinbarungen zwangsläufig ungeheuer verwickelt. Weiterhin betont er häufig, daß es dem Gesetzgeber an ausreichendem Wissen mangelt, wenn es darum geht, Einzelnen in ihren Entscheidungen über die Beschäftigung von Arbeitskräften Vorschriften zu machen. Staatliche Kontrolle dessen, wie ein Einzelner seine Leistungen verteilt, ist nicht nur ungerecht, sondern auch aus guten epistemischen Gründen töricht. Im Allgemeinen sind einzelne Individuen in einer weit besseren Position, ihre gegenwärtigen und potentiellen Fähigkeiten und Risiken und die Besonderheiten örtlicher Gelegenheiten einzuschätzen. Smith betont dies sowohl in der Theorie der moralischen Gefühle 23 als auch im Wohlstand der Nationen. 24 Und es gilt auch für jeden staatlichen Versuch, Güter an 23 VI.ii.1.1: 219; dt. 371. 24 Zu der Frage z. B., welche Art von Arbeit geeigneter ist, Wert zu erzielen, bemerkt Smith: „Der einzelne vermag ganz offensichtlich aus seiner Kenntnis der örtlichen Verhältnisse weit besser zu beurteilen, als es irgendein Staatsmann oder Gesetzgeber für ihn tun kann, welcher Erwerbszweig im Lande für den Einsatz seines Kapitals geeignet ist und welcher einen Ertrag abwirft, der den höchsten Wertzuwachs verspricht. Ein Staatsmann, der es versuchen sollte, Privatleuten vorzuschreiben, auf welche Weise sie ihr Kapital investieren sollten, würde sich damit nicht nur, höchst unnötig, eine Last aufbürden, sondern sich auch gleichzeitig eine Autorität anmaßen, die man nicht einmal einem Staatsrat oder Senat, geschweige denn einer einzelnen Person getrost anvertrauen könnte, eine Autorität, die nirgendwo so gefährlich wäre wie in der Hand eines Mannes, der, dumm und dünkelhaft genug, sich auch noch für fähig hielte, sie ausüben zu können.“ (WN, IV.ii.10: 456; dt. 371). Vgl. auch: „Es ist eine Frechheit und Anmaßung höchsten Grades, wenn Könige und Minister vorgeben, sie müßten für Sparsamkeit bei den Privatleuten sorgen […].“ (WN, II.iii.36: 346; dt. 286). Und an anderer Stelle heißt es: „Der Gesetz-
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Bedürftige zu verteilen; auf konsistente Weise festzulegen, wer die Bedürftigen sind und was genau ihnen geschuldet wird, liegt außerhalb des Gesichtskreises des Gesetzgebers oder Staatsmanns. Smith hegt im allgemeinen große Skepsis im Hinblick auf die Fähigkeiten und Motive der Gesetzgeber und Staatsmänner, nur die philosophischsten unter ihnen nimmt er davon aus; dabei erwartet er von den Philosophen nicht, daß sie Regierungsverantwortung übernehmen. 25 Immer klar denkender Realist, erwartet er nichts anderes, als daß sich die Mächtigen ihren eigenen Interessen zuwenden, selbst wenn sie sich den Mantel öffentlicher Wohltätigkeit umhängen. 26 Das bringt er durch die Feststellung zum Ausdruck, die Autorität, derer es bedarf, um die Angelegenheiten von Privatleuten zu lenken, könnte nicht „getrost“ einer einzelnen Person, nicht einmal einem Staatsrat oder Senat „anvertraut“ werden, und schon gar nicht einem Mann, der vermessen genug wäre anzunehmen, er könne diese Autorität weise ausüben (WN, IV.ii.9: 455 f.; dt. 371). Smith bezweifelt, daß es ein „Mittel“ gegen die „Gewalttätigkeit und Ungerechtigkeit der Mächtigen der Menschheit“ gibt (WN, IV.iii.c.9: 493; dt. 407). 27 Er spricht von einem „Gesetzgeber“, der „sich von unveränderlichen und allgemein gültigen Grundsätzen leiten läßt“ – und der daher eher an einen platonischen Philosophenkönig erinnert –, aber er kontrastiert ihn mit „jenen geschickten, listenreichen und schlauen Geschöpfen, gemeinhin Staatsmänner oder Politiker genannt“; offensichtlich sind es diese, die die Welt beherrschen (WN, IV.ii.39: 468; dt. 382). Seine Bemerkungen über die Parteinahme der Händler und Geschäftsleute für ihre eigenen Interessen könnten diese nicht stärker verurteilen. Tatsächlich sieht er sie nahezu ständig in eine „Verschwörung gegen die Öffentlichkeit“ verwickelt. 28
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geber sollte es daher stets dem einzelnen selbst überlassen, seine Interessen wahrzunehmen, da dieser gewöhnlich besser in der Lage ist, die örtlichen Umstände zu beurteilen, als es der Gesetzgeber kann.“ (WN, IV.v.b.16: 531; dt. 442). Vgl. auch die Hinweise auf die Grenzen der „menschlichen Erkenntnis“ an folgenden Stellen: WN, I.ii.1: 25; dt. 16; IV.vii.b.21: 574 f.; dt. 483; IV.vii.c.80: 26 f.; dt. 526 f.; und III.iv.17: 422; dt. 340. WN, V.i.f.51: 782–784; dt. 652. Mit seinen eigenen Worten: „Ich habe kein allzu großes Vertrauen zur politischen Arithmetik …“ (WN, IV.v.b.30: 534; dt. 446); und „[a]lle, die jemals vorgaben, ihre Geschäfte dienten dem Wohl der Allgemeinheit, haben meines Wissens niemals etwas Gutes getan.“ (WN, IV.ii.9: 456; dt. 371). Vgl. den Verweis auf die „unmerkliche Führung und geschickte Überredung“ als das „leichteste und sicherste Mittel zum Regieren“. (WN, V.i.g.19: 798 f.; dt. 679) Z. B. WN, I.x.c.27: 145; dt. 112 und IV.iii.c.10: 493 f.; dt. 407.
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Die Legislative erscheint dominiert von der „lauten Aufdringlichkeit parteilicher Interessenvertreter“ (WN, IV.ii.44: 471 f.; dt. 386), und diese dominiert, so Smith, den gesamten öffentlichen Raum. Wenn Staaten mit der heiklen Aufgabe betraut werden, Reichtum umzuverteilen und damit Ungleichheiten zu korrigieren, wenn sie beauftragt sind, nicht nur allen ein gleiches Spielfeld zu bereiten, sondern es auch allen Spielern zu ermöglichen, den Wettbewerb unter gleichen Voraussetzungen anzutreten, so benötigen sie eine entsprechend umfangreiche Macht. Diese lädt zum Mißbrauch ein und stellt daher eine ernste Gefahren dar. Neben Machtmißbrauch drohen von Seiten der von Eigeninteresse und mangelnder Weisheit gekennzeichneten Politikerklasse auch Selbstbevorzugung und Selbstverewigung. Ein System distributiver Gerechtigkeit riskiert zu dem werden, was wir ein offenes Mandat nennen würden oder zumindest ein Mandat, dessen Reichweite und Dauer im Voraus wohl unmöglich zu bestimmen sind. Smiths kritische Bemerkungen über den Dünkel des „Parteidoktrinärs“29 passen hier gut zu der Haltung, die im Wohlstand der Nationen zum Ausdruck kommt. 30 Im Ganzen gesehen riskiert distributive Gerechtigkeit, ein in der Tat berechtigtes Gefühl des Übelnehmens hervorzubringen und damit soziale Instabilität und die Verwandlung von „Sympathie“ in Selbstsucht. Sie läuft Gefahr, den Staat von einem unparteiischen Herrschaftssystem in einen selektiv wohltätigen Elternteil zu verwandeln. Und wie immer können auch die edelsten Beweggründe unvorhergesehene und negative Folgen nach sich ziehen. Zusammengefaßt lautet mein Vorschlag, daß für Smith die moralischen Empfindungen des unparteiischen Zuschauers, und insbesondere das Gefühl des Übelnehmens, nicht durch das Schauspiel der ökonomischen Ungleichheit und ihrer massiven Folgen erregt werden; und dies liegt zum Teil daran, daß der unparteiische Zuschauer die Argumente gegen die staatlich erzwungenen Systeme distributiver Gerechtigkeit einsieht. Diese Argumente sind, wie meine Darstellung offensichtlich gemacht hat, zum großen Teil empirisch und folglich in ihrer Überzeugungskraft von der Wahrheit empirischer Behauptungen abhängig. Ich erwähnte bereits, daß sich der besonnene Zuschauer, wenn er seine Bewertungen (einschließlich der Bewertung seiner selbst) unter Bedingungen der wirklichen Welt vornimmt, auf zwei weitere Infor29 Z. B. VI.ii.2.15–17: 232–234; dt. 394–396. 30 Vgl. die Erläuterungen der distributiven Gerechtigkeit in Humes EPM 3.2, S. 19 ff. (Enq., S. 192–194). Smith muß diese Passagen gekannt haben.
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mationsquellen stützen soll. Eine besteht in der vergleichenden Bewertung des Erfolgs des freien Marktes und schließt die Berücksichtigung der Schwierigkeiten ein, die mit erzwungenen Systemen distributiver Gerechtigkeit geradezu endemisch verbunden sein sollen. Ich werde als nächstes die zweite dieser Quellen skizzieren. Auch diese hat Konsequenzen für die Grundlagen von Smiths normativer Theorie. Während Smith, wie ich ausgeführt habe, die Empfindungen des unparteiischen Zuschauers offenbar aus der Analyse der menschlichen Natur entwickelt – diese Analyse wird in Theorie der moralischen Gefühle präsentiert als ob sie zeitlos wäre – gehen in seine Darstellung dessen, wie der unparteiische Zuschauer urteilen würde, tatsächlich eine Reihe empirischer und historischer Überlegungen ein. Dies steht in Einklang damit, wie die Theorie der moralischen Gefühle die Art und Weise darstellt, in der die Urteile des Zuschauers in den besonderen Umständen der empirischen Situation verwurzelt sind. Ich gehe sogar noch weiter und behaupte, daß auch Smiths Verständnis der Verdienste, die der besonderen Auffassung der Gerechtigkeit zukommen und die er in den beiden von ihm publizierten Büchern dargelegt, von einer historische Erzählung unterlegt ist. Damit meine ich nicht einfach, daß die Entwicklung unserer intuitiven Vorstellungen von Gerechtigkeit und das System der natürlichen Freiheit historischem Wandel unterliegen. Ich meine vielmehr etwas Kontroverseres, nämlich daß diese Geschichte eine „Logik“ hat, die einen Teil der Rechtfertigung für die normative Position liefert, um die es geht. Smiths historische Erzählungen im Wohlstand der Nationen sollen offensichtlich mehr als Produkte schulmäßiger Geschichtsschreibung sein, und daher bezeichnet Smith sie manchmal als „spekulative Geschichten“, und zwar besonders im Hinblick auf die Theorie der „Stadientheorie der Gesellschaft“. Dabei geht es nicht darum, daß die historische Entwicklung irgendwie das Resultat von Vernunft oder absichtlicher Gestaltung ist – Smith verneint dies ausdrücklich – ebenso wenig wie darum, daß das System der natürlichen Freiheit die unvermeidliche Folge historischen Wandels oder ein Hegelianisches „Ende der Geschichte“ ist, sondern darum, daß das Studium der Geschichte wertvolle Lehren für die Einschätzung unserer gegenwärtigen Situation liefert. 31 31 Vgl. WN, III.iii.5: 400 ; dt. 327. Dies bleibt im Kontext der vorher erwähnten religiösen Differenz richtig; (als Beleg vgl. WN, V.i.g.24–25: 802–804; dt. 682–684). Smith verfügt über ein Argument, das die nachteiligen sozialen und politischen Wirkungen des Staates betrifft, der die Religion unterstützt, und Buch V des Wohlstand der Na-
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Buch III des Wohlstand der Nationen beschert uns eine faszinierende Erzählung der Entwicklung der Stadien der Geschichte, die in dem kulminiert, was Smith die „moderne Freiheit“ nennt. Es ist eine Geschichte nicht nur des ökonomischen, sondern auch des sozialen und moralischen Wandels. Sie liest sich wie eine Art Epos, getränkt von dramatischer Ironie. Retrospektiv betrachtet, dies ist natürlich Smiths Blickrichtung, gibt es in der Erzählung eine Art von Rationalität, die die vorläufige Überlegenheit des partiell verwirklichten Resultats – des Systems der natürlichen Freiheit – über die Konkurrenz nahe legt. Seine Geschichte erzählt nicht nur von Wandel, sondern von Verbesserung, und Smith beteuert wiederholt mit Enthusiasmus – vermutlich aus der Perspektive eines unparteiischen Zuschauers – die „Gerechtigkeit“ des freien Marktes. Seine epische Erzählung liefert eine der Stützen für diese Behauptung, wenn sie daran erinnert, daß frühere „Stadien“ der Geschichte an etwas litten, was auf interne Widersprüche hinausläuft, die innerhalb ihrer eigenen sozioökonomischen und moralischen Begrifflichkeit nicht aufzulösen sind. Sie sind an sich selbst, an ihrer inneren Dynamik gescheitert. Wahrscheinlich kann das System der natürlichen Freiheit seine Überlegenheit ihnen gegenüber behaupten, weil es die Lösung des für sie unlösbaren Puzzles darstellt. Das Puzzle ist so etwas wie ein gewaltiges Koordinationsproblem, angetrieben von Tatsachen der menschlichen Natur – Eigeninteresse, Affekten, Einbildungskraft, Sympathie, das angeborene Streben nach „besseren Lebensbedingungen“ 32 – und Tatsachen, die die verfügbaren Ressourcen betreffen. Den früheren Stadien bescheinigt Smith aus verschiedetionen ist wie Buch III in hohem Maße historisch. Bestandteil der Argumentation ist, daß die Religion auf unterschiedliche Weise ihre eigenen Behauptungen unterminiert, wenn sie die polizeiliche Macht des Staates dazu verwendet, ihre Dogmen zu institutionalisieren. Ich führe die Argumentation in meiner Monographie Adam Smith and the Virtues of Enlightenment weiter aus. (Vgl. Griswold 1999, Kap. 7). 32 Smith spricht von dem „Wunsch, die Lebensbedingungen zu verbessern“, und nennt ihn „ein Verlangen, das uns zwar im allgemeinen ruhig und leidenschaftslos läßt, aber doch ein ganzen Leben lang begleitet, von der Geburt bis zum Tode. In dem Intervall zwischen beiden Ereignissen im menschlichen Leben gibt es wahrscheinlich nicht einen Augenblick, in dem jemand mit seiner Lage so uneingeschränkt und vollkommen zufrieden wäre, daß er sich nicht wünscht, sie irgendwie zu ändern oder zu verbessern. Die meisten Menschen sehen in der Vergrößerung ihres Vermögens einen Weg, um ihr Los zu verbessern, einen Weg, weithin beliebt und auch leicht zu beschreiten.“ (WN, II.iii.28: 341; dt. 282; vgl. auch WN, IV.v.b.43: 540; dt. 451 f.). Die Wendung „Wunsch, die Lebensbedingungen zu verbessern“ wird auch in der Theorie der moralischen Gefühle verwendet (I.iii.2.1: 50; dt. 71), und bildet eine wichtige Brücke zwischen den beiden Werken.
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nen Gründen einen Mangel an Stabilität; sie verweisen damit auf das ebenso kontraintuitive wie „einsichtige und einfache“ System der natürlichen Freiheit, das „wirklichen Wohlstand und Größe“ hervorbringt, ohne dabei von falschen Annahmen über das Ausmaß menschlichen Wissens und menschlicher Tugend auszugehen oder sich selbst untergrabende ökonomische Maßnahmen einzuführen, (WN, IV.ix.50, 51: 687 f.; dt. 582).33 Ich nehme an, der Kernpunkt von Buch III und Teilen von Buch V des Wohlstand der Nationen besteht darin, derartige rechtfertigende Argumente für die Thesen des ganzen Werks zu liefern. Die quasi-historische Erzählung in Buch V über die Entstehung religiöser Toleranz legt ein analoges Verfahren im Hinblick auf die Rechtfertigung der Trennung von Kirche und Staat nahe. 34 Berechtigte moralische Empfindungen sind nicht nur empirisch begründet, sie hängen zu ihrer Rechtfertigung von einem umfassenden System empirischer, historischer und philosophischer Überlegungen ab. Dieses System sollte der unparteiische Zuschauer unbedingt reflektieren, wenn er oder sie seine oder ihre Gefühle des Übelnehmens oder seine Urteile der Gerechtigkeit ausbildet. Der unparteiische Zuschauer erscheint als ein Philosoph im Sinne des Begriffs des 18. Jahrhunderts – oder zumindest als ein paradigmatisch tugendhafter Akteur, der Smiths ökonomische und moralische Schriften verstanden hat. So kann es nicht überraschen, daß Smith selbst von dem vorausgesetzten Standpunkt dieses Akteurs aus seine moralischen und ökonomischen Theorien entwirft. Zugegeben, es läßt sich schwerlich behaupten, Smith selbst mache dies deutlich. Denn die Theorie der moralischen Gefühle präsentiert sich (bei diesem Gegenstand) als ein ahistorisches Werk, das auch nicht vom Wohlstand der Nationen abhängt. Smith erweckt den Anschein, 33 Smith vermerkt dort: „Gibt man daher alle Systeme der Begünstigung und Beschränkung auf, so stellt sich ganz von selbst das einsichtige und einfache System der natürlichen Freiheit her. Solange der einzelne nicht die Gesetze verletzt, läßt man ihm völlige Freiheit, damit er das eigene Interesse auf seine Weise verfolgen kann und seinen Erwerbsfleiß und sein Kapital im Wettbewerb mit jedem anderen oder einem anderen Stand entwickeln und einsetzen kann. Der Herrscher wird dadurch vollständig von einer Pflicht entbunden, bei deren Ausübung er stets unzähligen Täuschungen ausgesetzt sein muß und zu deren Erfüllung keine menschliche Weisheit oder Kenntnis jemals ausreichen könnte, nämlich der Pflicht oder Aufgabe, den Erwerb privater Leute zu überwachen und ihn in Wirtschaftszweige zu lenken, die für das Land am nützlichsten sind.“ 34 Im Wohlstand der Nationen werden die beiden Erzählungen verbunden. Vgl. WN, V.i.g.25: 803f.; dt. 683 f.
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als erschiene der unparteiische Zuschauer aus der Perspektive des sittlichen Lebens so unveränderlich oder so wenig philosophisch, wie sich Aristoteles den megalopsychos (die höchste Verkörperung von phronesis und moralischer Tugend) gedacht hat. Der Wohlstand der Nationen dagegen ist ein viel stärker historisch fundiertes Werk (insbesondere in den Büchern III und V), und präsentiert sich ebenfalls als unabhängig von der Theorie der moralischen Gefühle. Warum Smith diesen Weg der Darstellung wählte und in welchem Ausmaß das Unvollendete seines Werks (insbesondere das Fehlen seiner Auseinandersetzung mit Grundsätzen der „natürlichen Jurisprudenz“) dieses Problem gewichtiger erscheinen läßt als es wäre, hätte er es fertiggestellt, ist ein Gegenstand gesonderter Überlegungen. Aber wenn der unparteiische Zuschauer das Problem der Grundlagen aufwirft, wenn er fragt „ist mein Gefühl des Übelnehmens richtig gestimmt, wenn ich die Notlage der arbeitenden Armen in dieser (mehr oder weniger) freien Marktgesellschaft betrachte?“ und „Bin ich allein schon deshalb berechtigt, keine mitfühlendes Übelnehmen zu empfinden, weil die Gebote des ‚fair play‘ für alle gleich verbindlich sind?“, so ist die Antwort, die Smith hören will, ohne weit reichende philosophische Betrachtungen und empirische und historische Daten nicht verfügbar.
IV. Abschließend will ich drei Fragen zu dieser Argumentationslinie aufwerfen und die Antworten skizzieren. Erstens: In der Theorie der moralischen Gefühle erscheinen die Urteile der Gerechtigkeit vorrangig einzelne Handlungen oder einzelne Personen zum Gegenstand zu haben, nicht aber Systeme. Doch ich habe so getan, als ob sich der unparteiische Zuschauer auch mit der Gerechtigkeit von Systemen der Politischen Ökonomie beschäftigt. Ist dieser Schritt berechtigt? Es scheint eine gewisse Unklarheit über den Gegenstand der moralischen Urteile zu geben. Meine Antwort auf diese Frage ist, daß Smith selbst ab und zu über die Gerechtigkeit (oder Ungerechtigkeit) der Gesetze, Institutionen und Handlungsweisen spricht, so z. B. wenn er bemerkt, daß „… es ungerecht [wäre], wenn das gesamte Gemeinwesen für einen Aufwand aufkommen sollte, dessen Nutzen auf einen Teil des Landes beschränkt ist“ (WN, V.i.i.3: 815; dt. 694), oder daß, wenn „die Interessen irgendeines Standes nur deshalb mehr oder weniger beeinträchtigt [werden],
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um die eines anderen zu fördern, … das augenfällig der gerechten und gleichen Behandlung [widerspricht], die der Landesherr allen Untertanen schuldet“ und schließlich, daß „das Ausfuhrverbot in gewissem Umfang die Interessen der Wollerzeuger [verletzt], nur um die der Tuchfabrikanten zu fördern“ (WN, IV.viii.30: 654; 552). Wenn er für die „natürliche Ordnung einer vollkommenen Freiheit und Gerechtigkeit“ plädiert (WN, IV.vii.c.44: 606; dt. 509), meint er gewiß, daß das System gerecht ist. Läßt sich diese Ausdrucksweise mit der Theorie des moralischen Urteils vereinbaren, das der Theorie der moralischen Gefühle zufolge seinen Ursprung in Einzelfällen hat? 35 Sie scheint damit vereinbar zu sein; tatsächlich könnte man sagen, daß sich wertende Urteile über ein System von Gesetzen ursprünglich aus der sympathetischen Beschäftigung mit ihren Wirkungen im Konkreten entwickeln und daß diese Beschäftigung nach und nach – in Verbindung mit dem theoretischen Wissen, wie ich es oben erläutert habe – zu allgemeinen normativen Regeln führt, die das gegebene System mehr oder weniger verkörpern kann. Smith hält ausdrücklich fest, daß moralische Urteile letzten Endes Einzelfälle zum Gegenstand haben. Aber das bedeutet nicht, daß diese Einzelfälle notwendigerweise losgelöst von dem gesamten Hintergrund systematischer Konzeptionen betrachtet werden, als ob der Geist, wenn er Einzelfälle wahrnimmt, das ganze Netz seiner Annahmen, allgemeinen Regeln, Begriffe usw. beiseite schieben würde. (Der Verweis auf ein „unmittelbares“ Empfinden oder Fühlen in der Theorie der moralischen Gefühle 36 spricht allerdings dagegen, das gebe ich zu.) Der unparteiische Zuschauer ist „wohlunterrichtet“ 37, und das fragliche Wissen umfaßt in seiner Gesamtheit sicherlich auch Sätze systematischen Charakters. Smith vertritt die Auffassung, daß „[e]ine gewisse allgemeine und selbst systematische Vorstellung von vollkommenen politischen und rechtlichen Zuständen … zweifellos notwendig sein [mag], um den Absichten des Staatsmannes eine gewisse Richtung zu geben“ (VI.2.2.18: 234; dt. 396, siehe auch IV.ii.1–2: 187 f.; dt. 320f.). 38 Er legt Fälle wie den der Billigung von mo35 36 37 38
Vgl. z. B. IV.ii.2–3:227–229; dt. 321–323. VII.iii.2.7: 320; dt. 533. III.2.32: 130; dt. 194. Smith schreibt in der Theorie der moralischen Gefühle: „Das gleiche Prinzip, die gleiche Liebe zum geordneten Ganzen, die gleiche Rücksicht auf die Schönheit der Ordnung, der Kunst und wohl ersonnener Pläne, trägt häufig auch sehr viel dazu bei, uns jene Einrichtungen zu empfehlen, die bestimmt sind, die allgemeine Wohlfahrt zu fördern. … Es macht uns Vergnügen, die Vervollkommnung eines so schö-
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ralischen Regeln dar, die Kindstötung zulassen, bei denen man sich auf die Nützlichkeit beruft; 39 die Bewertung des Wachpostens, der während seines Dienstes einschläft, beruht in erster Linie auf Nützlichkeitserwägungen. 40 Diese Beispiele mildern den Gegensatz zwischen moralischen Bewertungen einzelner Handlungen einerseits und Grundsätzen oder Verhaltensmustern oder Systemen andererseits, ohne dabei zu bestreiten, daß das primäre Forum für die moralische Bewertung jeweils der einzelne Charakter oder die einzelne Handlung ist. 41 Es verdient erwähnt zu werden, daß es zu den Pflichten des Souveräns gehört, Gerechtigkeit „unparteiisch“ zu verwalten. So ist Unparteilichkeit nicht nur das Merkmal einer individuellen, sondern auch einer korporativen Person. Und so wie Gerechtigkeitsurteile eines Einzelnen irren, wenn sie nicht unparteiisch sind, können auch die Gerechtigkeitsurteile des Souveräns irren. Auch vom Souverän als dem Schiedsrichter des Spiels und demjenigen, der offiziell über die Einhaltung der Regeln des fair play zu wachen hat, kann man sagen, er handle unparteiisch oder nicht, er handle gerecht oder ungerecht, und dementsprechend wird das Spiel fair oder gerecht oder auch unfair und ungerecht gewesen sein. Die Begriffe werden analog verwendet, aber im Rahmen von Smiths Systematik ist dies durchaus akzeptabel. Zweitens: Folgt aus meiner Erörterung der Rolle der Geschichte in Smiths Theorie, daß der vollkommene unparteiische Zuschauer nur im vierten – dem kommerziellen – Stadium der Gesellschaft existiert, oder zumindest nur dort, wo eine vollkommene Gerechtigkeit herrscht?
nen und großartigen Systems zu betrachten und wir sind nicht ruhig, bis wir jedes Hindernis, das auch nur im mindesten die Regelmäßigkeit seiner Bewegungen stören oder hemmen kann, beseitigt haben. Indessen werden alle Einrichtungen der Regierung und Verwaltung doch nur in dem Verhältnis geschätzt, als sie eben die Tendenz haben, die Glückseligkeit derer, die unter ihnen leben, zu befördern. Das ist ihr einziger Nutzen und ihr einziger Zweck.“ (IV.i.11: 185; dt. 317 f.). 39 V.2.15–16: 209–211; dt. 357–359. 40 II.ii.3.11: 90f.; dt. 135 f. 41 Campbell (1971, S. 200 f.) vermerkt, daß es „eine gewisse Ambivalenz in Smiths Aussagen über die Beziehung zwischen Gerechtigkeit und Nützlichkeit gibt; an einigen Stellen scheint er sagen zu wollen, daß sich Nützlichkeitserwägungen auf den Inhalt und die Anwendung der Regeln der Gerechtigkeit auswirken.“ Campbell sieht Smith als eine Art Utilitaristen auf der Metaebene. Ich bin der Auffassung, daß der unparteiische Zuschauer weitgehende Erwägungen des Systems und der Nützlichkeit zu berücksichtigen hätte.
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Einerseits muß die Antwort auf diese Frage negativ ausfallen: Der unparteiische Zuschauer ist in den Gegebenheiten des historischen Kontexts verwurzelt. Es gibt keinen transhistorischen unparteiischen Zuschauer. Er ist, generell gesprochen, „jemand von uns“ in diesen Gegebenheiten. Es ergäbe keinen Sinn, den unparteiischen Zuschauer z.B. einer Gesellschaft der Jäger und Sammler zur Gerechtigkeit eines bestimmten Verfahrens der Distribution von Gütern in einer fortgeschrittenen kommerziellen Gesellschaft zu befragen– die entsprechenden Institutionen gab es in der Gesellschaft der Jäger und Sammler nicht.42 Aber andererseits fällt Smith Urteile, die allem Anschein nach transhistorische Urteile der Gerechtigkeit sind. Dazu gehört seine Feststellung, daß das „Utopia“ des Systems der natürlichen Freiheit ein System „vollkommener Gerechtigkeit“ sein würde – eine Einsicht, zu der man vermutlich nur in dem historischen Stadium gelangen konnte, in dem Smith schreibt. Smith hat niemals den Teil der „natürlichen Jurisprudenz“ vollendet, der die „allgemeinen Prinzipien des Rechts und der Regierung“ formuliert und sie von „den verschiedenen Umwälzungen, die sie in den verschiedenen Zeitaltern und Epochen der Gesellschaft durchgemacht haben“ unterscheidet. Aber das Projekt scheint auf eine Theorie der „natürlichen Grundsätze der Gerechtigkeit“ oder jener Grundsätze hinauszulaufen, die „sich durch die Gesetze aller Nationen hindurch ziehen und deren Grundlage bilden sollten“ (VII.iv.37: 341 f.; dt. 570), d. h. auf eine Darstellung der „unveränderlichen und allgemein gültigen Grundsätze“ (WN, IV.ii.39: 468; dt. 382). Wie bereits bemerkt, spricht er im Wohlstand der Nationen von der „Wissenschaft des Gesetzgebers“, die diese konstanten Grundsätze artikuliert. Das impliziert, daß sie für den idealen Gesetzgeber erkennbar sind, dessen Kontext wahrscheinlich das vierte, liberale, „zivilisierte“ Stadium der Geschichte ist. All dies legt nahe, daß nur im vierten Sta42 Samuel Fleischacker meinte mir gegenüber, wenn sich der unparteiische Zuschauer in der Zeit weiterentwickele, könne er zumindest im juristischen Kontext dazu kommen, Defizite der Armen in Bildung und Gesundheitsfürsorge als eine Ungerechtigkeit anzusehen. Dies könne der Fall sein, selbst wenn der unparteiische Zuschauer diese Probleme in Smiths eigener Zeit nicht so gesehen habe.– Ich finde das plausibel. Unsere veränderten Umstände heute könnten im unparteiischen Zuschauer ein verändertes Gefühl des Übelnehmens hervorbringen und mit diesem veränderte Grundsätze des fair play. Theoretisch gibt die Historisierung des unparteiischen Zuschauers dem Begriff der distributiven Gerechtigkeit eine weit größere Reichweite als dies im Wohlstand der Nationen und in der Theorie der moralischen Gefühle möglich ist; und das um so mehr, wenn meine spekulativen Überlegungen zum Zusammenhang zwischen dem unparteiischen Zuschauer und den Philosophen tragfähig sind.
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dium der Gesellschaft der unparteiische Zuschauer tatsächlich ein Philosoph ist, und zwar ein Philosoph, der in seinem Nachdenken über Gerechtigkeit die Grenzen der Geschichte überschreitet. Dies wiederum verweist auf einen Gedanken, der von Hegel aufgenommen wird, daß nämlich die Geschichte eine teleologische Struktur hat und zu einem passenden Zeitpunkt eine synoptische Perspektive liefert, die in früheren Perioden nicht zur Verfügung steht. Ich werde hier nicht versuchen, dieses Puzzle aufzulösen. Und schließlich: Wird nicht der unparteiische Zuschauer durch die Annahme, er sei auch ein Theoretiker, der über ein gewisses Niveau systematischen Wissens verfügt, zum „Parteidoktrinär“, vor dem Smith in unvergeßlicher Prosa warnt? 43 Ich denke, die Antwort fällt negativ aus. Ich schlage dagegen vor, daß Smiths System die Politik vom System befreien soll. Es ist eine Art antiutopischer Utopismus. Während die List der Geschichte zuerst das System hervorbringt und ein konkretes Handeln (einschließlich eines Handelns in Gestalt der Veröffentlichung des Wohlstands der Nationen) erforderlich ist, dieses System der natürlichen Freiheit aufrechtzuerhalten und zu verbessern, nimmt die Annäherung an dieses Ziel im Allgemeinen die Form der Beseitigung von Hindernissen für das System an und dann die der Reaktion auf die unvermeidbaren und unvorhersehbaren Selbstunterminierungen, so wie sie sich ereignen.44 Der „Parteidoktrinär“ ist voller Hybris, taub gegen die moralische Lebensart, blind gegen die berechtigten Ansprüche seiner Mitbürger und gewillt, alle Mittel zu nutzen, die für die Durchsetzung seiner Vision des Ideals notwendig sind. Er ist relativ „unsympathisch“ und verliebt in sein System mit all seinen ästhetischen Eigenschaften.45 Smiths unparteiischer Zuschauer teilt keinen dieser Fehler, teils aufgrund seines oder ihres systematischen Wissens davon, wie die Welt wirklich funktioniert, teils wegen einer lebendigen, mitfühlenden Identifikation mit einzelnen Menschen. Der unparteiische Zuschauer verfügt allem Anschein nach über Einsichten, die dem „Parteidoktrinär“ gar nicht zugänglich sind, vor allem der, daß selbst eine Gesellschaft unter Bedingungen vollkommener kommutativer Gerechtigkeit keineswegs vollkommen ist, und der, daß eine vollkommene Gesellschaft paradoxerweise ungerecht wäre. Ich 43 VI.ii.2.14–18: 232–234; dt. 393–397. 44 Vgl. ein weiteres Mal WN, IV.ix.51: 687 f.; dt. 582. 45 IV.1.11: 185–187; dt. 317–320.
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glaube, daß die Erziehung des unparteiischen Zuschauers zum Teil darin besteht, dieses Problem im Zusammenhang zu begreifen, denn ansonsten kommt es vermutlich dazu, daß das Gefühl des Übelnehmens und damit das Gefühl für Gerechtigkeit die von Smith gesetzten Grenzen überschreitet. Mit anderen Worten: Die gerechte Gesellschaft ist alternativen Gesellschaften im Hinblick auf die Gerechtigkeit überlegen, aber deshalb noch lange nicht moralisch gut oder glücklich; sie ist voller Irrationalität, voller Täuschungen der Einbildungskraft, Aberglaube, selbstzerstörerischer Tendenzen; der soziale Status ihrer Mitglieder wird eher von Affekten und Einbildungen bestimmt als von der Vernunft, die allein sich durch die Tugend der Mitte auszeichnet, u. s. w.. Smiths antisystematisches System stimmt mit Rousseau in der Auffassung überein, vollkommene Gerechtigkeit und vollkommene Tugend seien nicht zur Deckung zu bringen. Für Smith würde eine vollkommen moralische Gesellschaft die Freiheit ersticken und ökonomisch scheitern – zumindest in diesem fortgeschrittenen Stadium der Geschichte. Auf verschiedene Weise scheint er zu sagen, daß eine erfolgreiche moderne Gesellschaft ihrem Charakter nach tragisch ist, aber vielleicht ohne ein tragisches Ende, sofern die Gebote der Gerechtigkeit befolgt werden. Der unparteiische Zuschauer wird vermutlich all dies begreifen. Anders als der „Parteidoktrinär“ erkennt der unparteiische Zuschauer nicht zuletzt an, daß sich niemand gänzlich außerhalb des menschlichen Dramas befindet. Diese Selbsterkenntnis ist für die Entwicklung des von Smith verteidigten Sinns für Gerechtigkeit entscheidend.46 (Übersetzt von Christel Fricke und Jörg Heininger)
46 Dieser Aufsatz wurde auf dem Kolloquium „Adam Smith als Moralphilosoph“ am 22. Juni 2003 an der Universität Heidelberg vorgetragen. Einige, in der Zwischenzeit erheblich überarbeitete Teile stammen aus meiner Smith-Monographie Adam Smith and the Virtues of Enlightenment. Ich danke Andrea Nightingale, Doug Den Uyl, Aaron Garrett und Knud Haakonssen für die Diskussionen zu diesem Aufsatz und den Teilnehmern an dem Heidelberger Kolloquiom (besonders Stephen Darwall und Sam Fleischacker) für ihre Kommentare.
Adam Smith über den Zufall als moralisches Problem Aaron Garrett / Boston University Der Ausdruck „moralischer Zufall“ (moral luck) stammt aus einem berühmten Aufsatz von Bernard Williams und dem noch bekannteren Text, in dem Thomas Nagel zu diesem Aufsatz Stellung nimmt.1 Nagel definierte „moralischen Zufall“ als den Fall, „in dem ein signifikanter Aspekt dessen, was ein Mensch tut, von Faktoren abhängt, die außerhalb seiner Kontrolle liegen, wir ihn aber trotzdem auch in dieser Hinsicht weiterhin als Gegenstand moralischer Beurteilung ansehen“.2 Ferner unterschied Nagel vier verschiedene Hinsichten, in denen Personen dem Einfluß von Zufällen ausgesetzt sein können: das Phänomen konstitutiver Zufälle, von denen abhängt, zu welcher Art von Menschen jemand gehört; die Zufälligkeiten in den eigenen Lebensumständen, d. h. die Zufälle, von denen abhängt, welchen Umständen jemand in seinem Leben ausgesetzt ist; vorhergehende Zufälle, das Glück oder Pech in bezug auf frühere Lebensumstände eines Menschen; und nachfolgende Zufälle, das Glück oder Pech, das den Ausgang des Handelns eines Menschen betrifft. Was alle diese Zufälligkeiten zu Fällen „moralischen“, nicht bloßen Zufalls macht, ist die Tatsache, daß unsere moralischen Urteile über Akteure und ihre Handlungen auch von Bedingungen abhängen, die nicht der Kontrolle der Akteure unterliegen oder unabhängig sind von ihren moralisch relevanten Handlungen. So verwendet Nagel unter anderem das Beispiel eines Lastwagenfahrers, der ohne jegliches Verschulden ein Kind überfährt, das ist bloßes Pech. 1 Die Texte erschienen zuerst in den Proceedings of the Aristotelian Society 50, (1976) und wurden jeweils in Williams 1981 und Nagel 1979 wieder abgedruckt. Beide Texte findet man zusammen mit einem „Postscript“ von Bernard Williams in Statman 1993. Die deutsche Übersetzung des Texts von Nagel unter dem Titel „Glück gehabt! Zufall als moralisches Problem“ erschien in Nagel 1984. Die Seitenangaben beziehen sich auf die deutsche Übersetzung. 2 Nagel 1984, S. 40.
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Wenn ein Lastwagenfahrer auch nur ein kleines bißchen nachlässig ist, was den Zustand seiner Bremsen betrifft (so wie wir alle es sind), und in Folge dessen nicht verhindern kann, ein Kind zu überfahren, das auf die Straße gelaufen ist, dann ist dies für Nagel moralisches Pech, und zwar wegen der Verbindung moralischer Schuld mit kontingenten Umständen – der Tatsache, daß das Kind auf die Straße gelaufen ist. Da der Ausdruck „moralischer Zufall“ mehr als 200 Jahre nach der Publikation von Adam Smiths Theorie der moralischen Gefühle eingeführt wurde, mutet der Titel meines Aufsatzes anachronistisch an. Aber meiner Auffassung nach gibt es gute Gründe für die These, Smith habe sich mit einem Phänomen beschäftigt, das dem moralischen Zufall entspricht, wie Williams und Nagel ihn verstanden haben. Ich betone dies ausdrücklich, weil viele Philosophen sich mit Fragen des moralischen Zufalls in einem etwas anderen Sinn beschäftigen. In der Nikomachischen Ethik fragte Aristoteles: „Kann es die Toten betreffen, ob die Lebenden lobens- oder tadelnswert handeln?“ und „Wenn jemand auf schreckliche Weise zu Tode kommt, wie beurteilen wir das Ganze seines (oder ihres) Lebens?“ 3 Allem Anschein nach geht es in diesen Fragen um das, was Nagel und Williams „nachfolgende Zufälle“ nennen. Ganz in ihrem Sinn betonte auch Aristoteles, daß nur Menschen von guter Herkunft, die eine gute Erziehung erhielten, ziemlich wohlhabend sind und Griechisch sprechen, zu vollkommener Tugend fähig seien, wenn er auch gleichzeitig die These vertrat, daß Tugenden Charakterzüge sind, die sehr wohl unserer Kontrolle unterliegen. Dies wiederum klingt nach konstitutivem Zufall. Aber obwohl sich Aristoteles mit den Fragen beschäftigte, ob Zufälle, Glück oder Pech, die Tugenden beeinflussen und ob uns Tugenden helfen, mit katastrophalen Lebensumständen zurecht zu kommen, untersuchte er nicht ausdrücklich, ob und wie unsere moralischen Urteile von externen und kontingenten Faktoren beeinflußt werden. In „Glück Gehabt! Zufall als moralisches Problem“ wird Smith von Nagel kurz erwähnt. Im Unterschied zu Aristoteles beschäftigt sich Smith allem Anschein nach mit Fragen, wie sie auch Nagel und Williams gestellt haben, 4 z. B. mit der folgenden: 3 Vgl. Aristoteles, E.N. I.9–11. 4 Nagel 1984, S. 31 f. Es scheint allerdings, als habe Nagel Smith etwas mißverstanden, denn er unterstellt ihm die Auffassung, wir sollten und könnten moralische Handlungen auf „innere Akte des guten Willens“ reduzieren. Gilbert Harman beschäftigt sich kurz mit Smiths Theorie des moralischen Zufalls, macht sie sich zu eigen, und vergleicht sie mit der Theorie Nagels. Vgl. Harman 1999, § 7.1.2.
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Hätte Cäsar die Schlacht von Pharsalus verloren, anstatt sie zu gewinnen, so wäre von dieser Stunde ab das Ansehen, das er in der öffentlichen Meinung genossen hätte, nur wenig über demjenigen des Catilina gestanden und der ärgste Schwächling würde seine, gegen die Gesetze seines Landes gerichteten, Unternehmungen in schwärzeren Farben erblickt haben, als sie vielleicht selbst Cato mit all seiner parteimäßigen Erbitterung zu jener Zeit betrachtet hat. Sein wirkliches Verdienst, sein treffender Geschmack, seine einfache und elegante Schreibweise, seine glänzende Beredsamkeit, seine Kunst der Kriegführung, seine Fähigkeit, in jeder Notlage Rettungsmittel zu finden, seine kühle und ruhige Urteilsfähigkeit in der Gefahr, seine vertrauensvolle Anhänglichkeit an seine Freunde, sein beispielloser Edelmut gegenüber seinen Feinden, all das wäre wohl anerkannt worden, aber nur eben so, wie die wirklichen Verdienste eines Catilina, der auch viele große Eigenschaften besaß, bis auf den heutigen Tag anerkannt werden. Aber der Übermut und die Ungerechtigkeit seines unersättlichen Ehrgeizes hätte den Ruhm all dieser wahren Verdienste verdunkelt und vielleicht ganz zum Verlöschen gebracht. Der Zufall hat in dieser Hinsicht wie in anderen bereits erwähnten Beziehungen einen großen Einfluß auf die moralischen Gefühle der Menschen, und je nachdem, ob er günstig oder ungünstig ist, vermag er einen und denselben Charakter zum Zielpunkt allgemeiner Liebe und Bewunderung oder zu dem allgemeiner Verhaßtheit und Verachtung zu machen. (VI.iii.29: 252 f.; dt. 425 f.)
Dies ist ein Beispiel für das, was Nagel „nachfolgende Zufälle“ nennt. Smith führt noch viele andere Beispiele an, die Nagels Beispielen entsprechen; so beschreibt er z. B. einen Reiter, dessen Pferd durchgeht und einen Passanten verletzt; 5 das ist fast das gleiche Beispiel wie Nagels Beispiel des Lastwagenfahrers, der ein Kind überfährt. Mehrere Beispiele von Smith erinnern an Williams Auseinandersetzung mit einem fiktiven, Gauguin ähnlichen Charakter, der sich seinem künstlerischen Dämon auf Kosten seiner Familie und seiner anderweitigen Verpflichtungen verschreibt. Im folgenden will ich versuchen zu erklären, wo und wie Smith diese und ähnliche Beispiele im Kontext des Gedankengangs analysiert, den er in der Theorie der moralischen Gefühle entwickelt. Ich werde die Auffassung vertreten, daß die Smithsche Analyse weitgehend überzeugt und daß einige Einwände gegen diese Analyse im Rekurs auf ein besseres Verständnis dessen, worum es Smith im Ganzen geht, entkräftet werden können.
5 Vgl. II.iii.2.10: 104; dt. 157 f.
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I. Der Kontext Smith beschäftigt sich mit „moralischem Zufall“ vor allem im iii. Abschnitt des II. Teils der Theorie der moralischen Gefühle, unter dem Titel „Über den Einfluß des Zufalls“. In diesem letzten Abschnitt des „Verdienst und Schuld“ gewidmeten Teils versucht Smith, Regelwidrigkeiten zu erklären, mit denen unsere Empfindungen für Verdienst, Schuld und Gerechtigkeit behaftet sind, ein Thema, mit dem er sich in den beiden vorangehenden Abschnitten des II. Teils beschäftigt hatte. Um zu verstehen, was Smith in dem Abschnitt „Über den Einfluß des Zufalls“ ausführt, müssen wir uns erst einmal den beiden vorangehenden Abschnitten widmen. Nach seiner einführenden Darstellung der Schicklichkeit oder Unschicklichkeit unserer Empfindungen unterscheidet Smith Verdienst und Schuld von anderen Eigenschaften, die wir Handlungen zuschreiben und die „den Gegenstand einer besonderen Art von Billigung und Mißbilligung bilden“ und Belohnung oder Bestrafung veranlassen. Obwohl Smiths Verwendung der Termini „Verdienst“ und „Schuld“ in diesem Zusammenhang etwas idiosynkratisch anmutet, geht es ihm offensichtlich darum, Themen anzusprechen, die zum Kern des von Pufendorf und Barbeyrac beeinflußten moralphilosophischen Kanons gehörten, über das die schottischen Philosophen des frühen und mittleren 18. Jahrhunderts ihre Vorlesungen hielten, d. h. um Fragen nach Belohnung und Bestrafung von Handlungen, wie sie die Naturrechtslehre in erster Linie interessierten. 6 Handlungen (und unsere Bewertungen derselben) bildeten die Schnittstelle zwischen der Naturrechtslehre und der Moralphilosophie, und daher verwendet Smith zur Illustration von Verdienst und Schuld viele Beispiele aus dem Bereich der Rechtsprechung. In der Theorie der moralischen Gefühle gründet er Verdienst und Schuld auf seine Theorie natürlicher Gefühle. Vertreter des Naturrechts wie Pufendorf und Barbeyrac hatten ausdrücklich darauf hingewiesen, wie wichtig es sei, das System von Strafen und Belohnungen letztlich auf das Göttliche zurückzuführen. Sie rechtfertigten Verdienst und Schuld sozusagen von oben nach unten und verlegten die Ursache für Belohnungen und Strafen in eine höhere Instanz. Smith erklärt in der Theorie der moralischen Gefühle, wie unsere Urteile über Verdienst und Schuld aus elementaren Bestandteilen unserer moralischen Psychologie aufgebaut werden kön6 Vgl. Haakonssen 1996.
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nen, und dies ist umgekehrt ein Verfahren der Rechtfertigung von unten nach oben. Es ist daher nicht verwunderlich, daß für ihn verdienstvolle und schuldhafte Handlungen nicht im Rekurs auf göttliche Erlasse unterschieden werden, sondern im Rekurs auf zwei natürliche Gefühle – Übelnehmen und Dankbarkeit – die ebenso natürlich nach Bestrafungen und Belohnungen (aber z. B. nicht nach Wohltaten) verlangen. Jedoch können Verdienst und Schuld nicht auf etwas reduziert werden, nach dem natürliche Gefühle verlangen; schließlich sind Gefühle sehr verschieden, und entsprechend verschieden müßten dann Verdienst und Schuld ausfallen, je nach der Befindlichkeit desjenigen, dessen Gefühle danach verlangen. Smith fügt die zusätzliche Einschränkung hinzu, daß eine Handlung nur dann zu Recht als verdienstvoll oder schuldhaft beurteilt wird, wenn der unparteiische Zuschauer oder der neutrale Beobachter mit ihr sympathisiert.7 Die Verbindung wirkmächtiger Gefühle mit der Bewertung durch einen unparteiischen Zuschauer macht daher verständlich, aus welchem Motiv heraus wir überhaupt über Verdienst und Schuld urteilen und wie (und daß) diese Urteile angemessen sind. In Verdienst und Schuld sah Smith die Grundlage der Gerechtigkeit, und um diese geht es im folgenden Abschnitt II.ii der Theorie der moralischen Gefühle. Hier legt Smith dar, daß die Gesetze der Gerechtigkeit für das gesellschaftliche Leben notwendig sind und sie allein es Menschen erlauben, in für alle von ihnen vorteilhafter Weise zusammen zu leben; damit vertritt er eine an Hume angelehnte Position. Das Motiv zu gerechtem Handeln kann aber nicht in der Nützlichkeit der Gerechtigkeit liegen, weil Akteure im allgemeinen nicht durch die Aussicht auf das Gemeinwohl motiviert werden; normalerweise sind es einzelne Mitmenschen und ihre Lebenslagen, die sie zu Sympathie oder Antipathie bewegen – gemäß dem Prinzip: „Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte“. Infolge dessen liegen die Motive zur Gerechtigkeit in den wirkmächtigen, individuellen Gefühlen, in denen Verdienst und Schuld, Dankbarkeit und Übelnehmen wurzeln, und die Belohnung und Bestrafung, nach der diese Gefühle verlangen, stützen die allgemeinen Regeln für das gesellschaftlich Nützliche. Um diesen Aspekt zu veranschaulichen, erwähnt Smith die militärische Praxis, einen Wachtposten zu exekutieren, der während seines Dienstes einschläft. 8 Wir erkennen die allgemeine Nützlichkeit dieser 7 Vgl. II.i.2: 69–71; dt. 99–103. 8 Vgl. II.ii.3.11: 90 f.; dt. 135 f.
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Strafe: Wenn alle Soldaten in einem Militärlager überleben sollen, dürfen die Wachtposten nicht schlafen, und die Härte der Strafe soll garantieren, daß sie, auch wenn sie noch so müde sind, wachen. Dennoch neigen wir zu der Auffassung, diese Strafe sei drakonisch, schließlich wird dem Wachtposten die gleiche Strafe auferlegt wie einem heimtükkischen und vorsätzlichen Mörder, obwohl jener im Unterschied zu diesem ohne jede böse Absicht gehandelt hat und sein Handeln ohne negative Folgen blieb. Wir können mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, daß dem Wachtposten am Gemeinwohl gelegen ist. Daher nehmen wir dem Wachtposten sein Verhalten nicht übel, wir haben ihm gegenüber nicht das Bedürfnis, ihm etwas heimzuzahlen, obwohl wir seine Bestrafung aus der Perspektive allgemeiner Nützlichkeit für gerecht halten. Andererseits können unsere natürlichen Gefühle einen heimtückischen Mörder bis ins Grab verfolgen, wenn dieser uns unzureichend bestraft worden zu sein scheint. 9 Der Wachtposten ist Smiths erstes Beispiel für die Regelwidrigkeit der Gefühle, nach denen wir Verdienst und Schuld in Fällen beurteilen, in denen sich die Motive des Handelns mit den tatsächlichen, dadurch erzielten Wirkungen nicht decken. Derartige Fälle stellen ein ernsthaftes Problem dar, denn an ihnen zeigt sich eine Regelwidrigkeit, die Smiths Verständnis der Gerechtigkeit betrifft, das, wie er ausdrücklich betont, die Gerechtigkeit von einzelnen gefühlsmäßigen Motivationen abhängig macht. Bei etwas verändertem Licht betrachtet kann der Fall des Wachtpostens als ein Beispiel für moralischen Zufall verstanden werden, das Smith dazu veranlaßt, im Abschnitt II.ii der Theorie der moralischen Gefühle die Regelwidrigkeiten von Gefühlen zu analysieren, die auf die Einwirkung von Zufällen zurückzuführen sind.
II. Zufall Smith beginnt den Abschnitt „Über den Einfluß des Zufalls auf die Gefühle der Menschen in Hinsicht auf Verdienst und Schuld ihrer Handlungen“ mit der folgenden These: Welches Lob oder welcher Tadel auch immer einer Handlung gebühren mag, beides muß sich entweder erstens auf die Absicht und die innerste Gesinnung richten, aus der sie hervorgeht, oder zweitens auf die äußere Tat 9 Vgl. insb. II.ii.2.
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oder die Körperbewegung, welche durch diese Gesinnung veranlaßt wurde, oder schließlich auf die guten oder bösen Folgen, die wirklich und tatsächlich aus ihr hervorgehen. (II.iii.Einleitung.1: 92; dt. 137 f.)
Die letzten beiden Faktoren sind schnell erläutert: Die äußere Tat oder bloße Körperbewegung ist nicht an und für sich lobens- oder tadelnswert, und die Folgen können, da sie oft von Zufällen abhängen, nicht als angemessene Grundlage für die Beurteilung eines Akteurs oder einer Handlung als lobens- oder tadelnswert dienen. Smith zufolge ist es ein „Grundsatz der Billigkeit“ (equitable maxim), daß Zuschauer ihre Urteile über Verdienst oder Schuld auf die Absichten des Akteurs gründen, und er wird in dieser abstrakten Form von fast allen vertreten.10 Um die Konflikte zu verstehen, die sich aus der Anwendung dieses Grundsatzes der Billigkeit ergeben, müssen wir erst einmal klären, was etwas zu einem angemessenen Gegenstand von Dankbarkeit oder Übelnehmen macht. Wenn etwas, oder vielmehr jemand, uneingeschränkt und zu Recht Gegenstand von Dankbarkeit oder Übelnehmen ist, so Smith, dann muß er (oder sie) erstens Kummer oder Freude verursachen, zweitens selbst Kummer und Freude empfinden können, und drittens muß sein (oder ihr) Handeln aus einer systematischen Absicht erfolgen, die in dem einen Fall gebilligt und in dem anderen Fall mißbilligt wird. (Vgl. II.iii.1.6: 96; dt. 144) Wenn also mein Nachbar den Plan ausheckt, auf meinen Fuß, und zwar genau auf den mit dem eingewachsenen Zehennagel, zu treten, ist er ein völlig angemessener Gegenstand des Übelnehmens. Wenn mein Pekinese mich beißt, kann ich mir kaum vorstellen, er habe das aus einer systematischen Absicht getan; deshalb werde ich den Pekinesen nur begrenzt als Gegenstand meiner Dankbarkeit und meines Übelnehmens ansehen. Wenn mich eine Fleisch fressende Pflanze ‚beißt‘ oder wenn mich ein herabstürzender Felsbrocken trifft, dann sind diese Gegenstände noch weniger dazu angetan, zu Adressaten meines Übelnehmens zu werden (und das gleiche gilt umgekehrt für die Dankbarkeit). Diese Urteile haben auf folgende Weise mit dem Problem des moralischen Zufalls zu tun. Obwohl ich meinem Nachbarn, meinem Pekinesen, der Fleisch fressenden Pflanze und vielleicht sogar dem Felsbrocken das, was geschehen ist, übelnehme, so nehme ich ihnen dies doch in verschiedenem Grad übel. Mein Übelnehmen (oder meine Dankbarkeit) hängt seinem Grad nach von dem Grad des Schadens (oder Nutzens) ab und davon, ob der Gegenstand meiner Dankbarkeit 10 Vgl. II.iii.intro.5: 93; dt. 139.
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oder meines Übelnehmens selbst in der Lage ist, Kummer zu empfinden. Fleisch fressende Pflanzen haben keine Absichten, und sie fühlen auch weder Freude noch Kummer. Unter normalen Umständen werde ich sie daher nicht als angemessene Gegenstände meines Übelnehmens oder meiner Dankbarkeit erachten. Wenn aber der Schaden, den sie mir zugefügt haben, hinreichend groß ist, werden Zuschauer meinen Wunsch verstehen können, auch Fleisch fressende Pflanzen zu bestrafen. Dies ist natürlich ein Extremfall; die meisten Fälle sind in jenem undurchsichtigen Bereich angesiedelt, in dem sie die Kriterien dafür, ein angemessener Gegenstand von Übelnehmen oder Dankbarkeit zu sein, weitgehend erfüllen. Die Folge wäre, daß unser Übelnehmen und unsere Dankbarkeit variieren, und dementsprechend auch unsere Urteile über Verdienst und Schuld, je nachdem, ob und in welchem Maß deren Gegenstände die oben genannten drei Kriterien erfüllen. Besonders bemerkenswert ist jedoch, daß ein Gegenstand auch dann in beschränktem Maß zum Adressaten von Dankbarkeit und Übelnehmen werden kann, wenn er diese Kriterien nicht vollkommen erfüllt. Ich kann mir immer wieder sagen, daß es nur ein Hund war, der mich gebissen hat, daß er es nicht absichtlich getan haben kann, und meinem Übelnehmen damit Einhalt gebieten. Aber wenn ich dann die Bißwunde sehe und der zornige Pekinese mich aus seiner Ecke mit den Augen fixiert, dann wallt mein Übelnehmen wieder auf. Ich fühle es sozusagen, wenn der Gegenstand meines Übelnehmens Zähne hat. Was hat dies nun mit dem Problem des moralischen Zufalls zu tun? Kehren wir zu Nagels Definition zurück. Wir haben es mit einem Fall von moralischem Zufall zu tun, wenn „ein signifikanter Aspekt dessen, was ein Mensch tut, von Faktoren abhängt, die außerhalb seiner Kontrolle liegen, wir ihn aber trotzdem auch in dieser Hinsicht weiterhin als Gegenstand moralischer Beurteilung ansehen“. Der oben beschriebene psychische Mechanismus führt dazu, daß moralische Zufälle mit unseren Urteilen über Verdienst und Schuld auf folgende Art zu tun haben: Wo es um Verdienst und Schuld geht, kann ein Gefühl der Dankbarkeit oder des Übelnehmens entstehen, das nur eins oder aber mehr als eins der oben genannten drei Kriterien erfüllt – wie z. B. mein Übelnehmen oder Groll gegenüber dem Pekinesen. Smith legt seiner Theorie offenbar unsere Psychologie zu Grunde, die nicht so viele Unterschiede macht; dieser Psychologie gemäß haben wir bestimmte Kriterien dafür, wann ein Gegenstand oder eine Person ein angemessener Adressat von Dankbarkeit oder Übelnehmen ist. Wenn zwei oder drei (oder auch nur eins) dieser Kriterien hinreichend deutlich erfüllt wer-
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den, vermischen wir diese verschiedenen Kriterien zu einem homogenen Gefühl. Wenn z. B. ein Akteur die Kriterien (1) und (2) erfüllt, d. h., wenn er großen Kummer oder große Freude verursacht und selbst in der Lage ist, solche Gefühle zu empfinden, dann können wir ihm gegenüber auch dann, wenn wir ihm keine Absichten zuschreiben, ein gewisses Maß an Dankbarkeit oder Übelnehmen empfinden, und das Maß dieser Gefühle kann von der Größe der durch diesen Akteur verursachten Wirkung abhängen – all dies läßt sich mit dem Grundsatz der Billigkeit nicht vereinbaren. Daher werde ich meinem Nachbarn selbst dann, wenn er mir ohne jede Absicht auf den Fuß tritt, dies in gewissem Grad übel nehmen. Wenn mein Nachbar versucht, mir auf den Fuß zu treten, aber statt dessen kopfüber in eine Schlucht stürzt, dann nehme ich ihm sein Verhalten nicht in gleichem Maß übel, obwohl ich das dem Grundsatz der Billigkeit zufolge tun sollte. Weil nun eines der drei genannten Kriterien nicht erfüllt ist, ist die negative Konsequenz, mein homogenes Gefühl des Übelnehmens, das eigentlich aufkommen sollte, wenn alle drei Kriterien erfüllt sind, nun wesentlich schwächer – ich empfinde kaum etwas. Die folgende, etwas gewagte Analogie wird hoffentlich zur weiteren Durchsichtigkeit dieses Mechanismus beitragen. Man stelle sich drei Flüsse vor, den Roten, den Grünen und den Blauen Fluß. Alle münden in einen größeren Fluß, den Großen Fluß. Man stelle sich weiterhin vor, daß wir normalerweise nur den Großen Fluß sehen, denn wir leben an seinem Ufer und sehen die anderen Flüsse nicht. Wir wissen jedoch, daß die anderen drei Flüsse in den großen Fluß münden. Wir stellen uns nun vor, daß wir, wenn man uns nach dem wichtigsten Zufluß des Großen Flusses fragt, antworten, dies sei der Rote Fluß, und ohne den Roten Fluß gäbe es keinen Großen Fluß. Eines Tages sehen wir in die strömenden Fluten des Großen Flusses. Ohne unser Wissen wurde der Rote Fluß aufgestaut, aber weil größere Mengen Eis vom Grünen Berg geschmolzen sind, ist der Grüne Fluß angeschwollen. Der Rote und der Grüne Fluß führen zusammen noch immer genug Wasser, um im Großen Fluß für eine hinreichend starke Strömung zu sorgen. So fließt der Große Fluß weiter, obwohl er vom Roten Fluß kaum mehr gespeist wird, und dies ist auf den erhöhten Wasserstand im Grünen Fluß zurückzuführen. Aber auf die Frage nach dem wichtigsten Zufluß des Großen Flusses würden wir weiterhin antworten, es sei der Rote Fluß, und ohne diesen gäbe es keinen Großen Fluß. Normalerweise wäre das wahr, es ist nur in diesem ungewöhnlichen Fall und vor dem Hintergrund des beschriebenen Mechanismus falsch. Ähnlich
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steht es mit den Quellen für unsere Gefühle der Dankbarkeit und des Übelnehmens. Wir können nun verstehen, warum Smith, obwohl er an der Geltung des „Grundsatzes der Billigkeit“ ohne Einschränkung festhält, eine ganze Reihe von Beispielen anführt, die unsere durchgängige Bereitschaft belegen, gegen diesen Grundsatz zu verstoßen. Er führt diese Bereitschaft auf genau den psychischen Mechanismus zurück, der auch unsere Urteile darüber, daß dies oder jenes ein Gegenstand von Verdienst oder Schuld sei, steuert. Wenn wir zwei Freunde haben, die in gleicher Weise beabsichtigen, uns etwas Gutes zu tun, wenn es aber nur einem gelingt, seine Absicht zu verwirklichen, werden wir diesem dankbarer sein als dem anderen, weil unsere Freude über die erfahrene Wohltat die Dankbarkeit verstärkt. Auch in den Augen anderer wird dieser verdienstvoller erscheinen als der andere. Umgekehrt wird eine Person, die kriminelle Absichten hegt, aber nicht im Stande ist, das von ihr geplante Verbrechen auszuführen, als weniger tadelnswert angesehen als ein Krimineller, der sein Verbrechen tatsächlich begeht. (Vgl. II.iii.2.4: 100; dt. 150 f.) Ein General in Friedenszeiten macht weniger Eindruck als Cäsar oder Alexander, wie brillant seine Pläne auch sein mögen: er ist nur ein Lehnstuhl-General. 11 Es ist Zufall, daß er nie die Gelegenheit dazu hatte, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen; dieser Umstand ist ausschließlich auf externe, kontingente Faktoren zurückzuführen. Dennoch beurteilen wir diesen General als weniger bedeutend. Nun mag dies aussehen wie ein irrtümliches Urteil, und Smith zufolge läßt es sich tatsächlich ein Stück weit berichtigen. Aber er legt, wie gesagt, Wert auf die Feststellung, der Regelwidrigkeit, die dem moralischen Zufall Einfluß auf das moralische Urteils verschafft, unterliege auch der unparteiische Zuschauer, der ebenso wie wir alle einen Akteur für mehr oder weniger verdienstvoll oder schuldhaft hält, je nach den tatsächlichen Folgen seines Handelns. Dies scheint den Tatsachen zu entsprechen: Wie abstrakt (man denke an den Lehnstuhl-General) oder weit zurückliegend (man denke an Cäsar oder Catilina) die Fälle auch sein mögen, die Folgen von Handlungen beeinflussen unser moralisches Urteil über sie. Dennoch mutet dies sehr merkwürdig an. Oberflächlich betrachtet könnte man der Meinung sein, wir würden uns, wenn wir uns an den unparteiischen Zuschauer wenden, streng an den Grundsatz der Billigkeit halten, Handlungen ausschließlich nach der 11 Vgl. II.iii.2.3: 99; dt. 148 f.
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ihnen zugrunde liegenden Absicht beurteilen und uns dabei lediglich von unseren gegenwärtigen Bedürfnissen und Gewohnheiten leiten lassen. Smith sagt mit aller Deutlichkeit, Gott sei „der große Richter unserer Herzen“, und daß Gott insbesondere beim Jüngsten Gericht die Fähigkeit besitzt, unsere Absichten zu durchschauen, war für die Vertreter des Naturrechts von zentraler Bedeutung, die den Grundsatz der Billigkeit als gültig erachteten. Aber Smith scheint doch zwischen einem göttlichen Urteil, das die Grenzen der weltlichen Irrungen und Wirrungen überschreitet, und dem Urteil unseres innerweltlichen unparteiischen Zuschauers zu unterscheiden. Und er gibt nicht nur zu verstehen, daß die äußeren Folgen einer Handlung unsere Urteile über Verdienst und Schuld beeinflussen (mittels des natürlichen psychischen Prozesses, in dem unsere Gefühle entstehen), sondern auch, daß der unparteiische Zuschauer die Handlungen, die diese Folgen verursacht haben, wegen dieser Folgen zu Recht sanktioniert: Der Zufall beeinflußt unsere moralischen Urteile bis ganz nach oben.12 Bisher habe ich Smiths psychologische Erklärung dafür dargestellt, daß und wie Handlungsfolgen zu Gegenständen unserer Urteile über Verdienst und Schuld werden können, obwohl der Grundsatz der Billigkeit allgemein anerkannt wird, und ich habe erklärt, wie Handlungsfolgen selbst in den moralischen Urteilen des unparteiischen Zuschauers eine Rolle spielen. Dies ist eine naturalistische, psychologische Erklärung der Art und Weise, wie moralische Zufälle unsere moralischen Urteile beeinflussen, und als solche ist sie vornehmlich deskriptiv. Wir müssen jedoch verstehen, warum auch der unparteiische Zuschauer in seinen Urteilen von den Auswirkungen moralischer Zufälle beeinflußt wird, und außerdem, wie Smith auf einer höheren Ebene die Regelwidrigkeit unserer Gefühle rechtfertigt. Wenn der Grundsatz der Billigkeit allgemein anerkannt wird, warum wird dann allem Anschein nach so oft gegen ihn verstoßen? Warum erlauben wir dem moralischen Zufall ganz allgemein, den allgemein anerkannten Grundsatz der Billigkeit zu untergraben? Wir sollten im Auge behalten, daß Smith uns nicht in allen Fällen erlaubt, den moralischen Zufall zu berücksichtigen, sondern nur, wenn wir über Verdienst und Schuld urteilen, und insbesondere dann, wenn es um Gerechtigkeit geht. Es ist die besondere Psychologie von Gefühlen der Dankbarkeit und des Übelnehmens, mit der der moralische Zufall ins Spiel kommt, denn in diesen Gefühlen gründen Urteile über Ver12 Vgl. II.iii.2.2: 97; dt. 146 f.
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dienst und Schuld und Gerechtigkeit. Da Smith die Gerechtigkeit im Rekurs auf die Nützlichkeit für die Allgemeinheit sowie auf bestimmte natürliche Gefühle erklärt, kann er sich bei der Verteidigung seiner Position auf beide Elemente stützen, und er wählt denn auch genau diese Strategie. Er legt Wert auf die Feststellung, wir könnten, sobald wir den Grundsatz der Billigkeit anwenden und uns dabei auch nur einen Schritt hinab auf die Ebene des Partikularen begeben, nicht mehr ohne Einschränkung an diesem Grundsatz festhalten: „ ... unsere Gefühle [entsprechen] kaum in einem einzigen Fall ganz genau dem ..., was dieser gerechte und billige Grundsatz uns vorschreiben würde“. Denn wenn wir diesen Grundsatz allgemein anzuwenden versuchten, würden wir nur noch Gefühle und Gedanken bestrafen, und dann „würde [es]... selbst für das unschuldigste und vorsichtigste Handeln keine Sicherheit mehr geben“. (II.iii.3.1–2: 105; dt. 159 f.) Jedem Verhalten könnte unterstellt werden, ein unschickliches Motiv zu verbergen, und umgekehrt könnte sich jede böse Tat hinter einem Schleier des Nichtwissens verstecken. Das bedeutet keineswegs, unsere Urteile über Verdienst und Schuld würden Absichten gar nicht mehr berücksichtigen, es bedeutet lediglich, daß Absichten nicht mehr als das einzige angesehen werden, was der Grundsatz der Billigkeit verlangt, und dafür gibt es gute Gründe. Andernfalls würde die Gerechtigkeit selbst geradewegs untergraben oder sogar unmöglich werden. Smith kommt zu folgendem Schluß: „Jene notwendige Regel der Gerechtigkeit also, daß die Menschen in diesem Leben der Bestrafung nur wegen ihrer Handlungen unterworfen sind, nicht wegen ihrer Absichten und Vorsätze, sie gründet sich auf diese heilsame und nützliche Regelwidrigkeit in den menschlichen Gefühlen in bezug auf Verdienst und Schuld, die auf den ersten Blick so sinnlos und unerklärlich scheint.“ (II.iii.3.2: 105; dt. 160 f.) Diese Verteidigungsstrategie läßt sich auf mindestens zwei Weisen angreifen. Zum einen mag das, was Smith behauptet, für gegenwärtige Gesetzeskodizes gelten, aber für Gerechtigkeit, Verdienst und Schuld braucht es deshalb nicht zu gelten. Wir könnten einen Gesetzeskodex haben, der nur Regeln für beobachtbares Verhalten enthält, und uns in unserem Umgang miteinander, oder jedenfalls in unseren privaten Urteilen über den moralischen Wert von anderen, an den Grundsatz der Billigkeit halten. Smith unterstellt, es gäbe zwischen Gesetzeskodizes und moralischen Kodizes einen nahtlosen Übergang, und Gesetzeskodizes bedürften einer moralischen Rechtfertigung. Wahrscheinlich hätte er ein solches System für instabil gehalten, es hätte sich selbst zerstört, weil es jene Belohnungen und Strafen nicht vorsieht und daher nicht ga-
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rantieren kann, nach denen die natürlichen Gefühle des Übelnehmens und der Dankbarkeit verlangen. Zum anderen könnten wir einwenden, Smith übertreibe das Unheil, das von einem Gesetzeskodex heraufbeschworen würde, der sich allein auf Absichten bezieht. Tatsächlich kann ein Gesetzeskodex, der zuläßt, daß unsere Urteile über Verdienst und Schuld in hohem Maß von moralischen Zufällen abhängen, noch viel größeres Unheil anrichten, wenn es nämlich um die Beurteilung von Handlungen geht, die nicht beabsichtigte Konsequenzen haben: Er kann dazu führen, daß Mütter exekutiert werden, die an einer Psychose leiden und in einem psychotischen Anfall ihre Kinder umgebracht haben, oder aber Kinder, die heimtückische Verbrechen begehen. 13 Dies ist ein vernünftiger Einwand, und Smith kann ihm nur begegnen, wenn er eine bessere Erklärung dafür gibt, warum ein System anderer Art so viel schlechter wäre oder sich selbst zerstörte. Man muß jedoch kein eingefleischter Smithianer sein um zuzugeben, daß Smiths Position nicht unplausibel ist. Zwei weitere Strategien der Rechtfertigung sind möglich, und beide sind mit der ersten verbunden. Smith behauptet, die Regelwidrigkeit, die darin besteht, dem moralischen Zufall Eingang in unser System der Gerechtigkeit zu verschaffen, sei auf eine sie bestärkende Weise nützlich. Zum einen ermuntert sie zum Handeln; würde man sich streng an den Grundsatz der Billigkeit halten, hätten die Menschen weniger Grund zu handeln und dabei wichtige und für die Allgemeinheit nützliche Ziele zu verfolgen. Mit anderen Worten: Absichten mögen der zentrale Anhaltspunkt unserer Beurteilung von Verdienst und Schuld sein, aber Handlungen sind auch allgemein nützlich, von ihnen können
13 Auf dieses Problem hat Paul Russell aufmerksam gemacht. Allerdings scheint er der Auffassung zu sein, daß die Mangelhaftigkeit des Mechanismus zur Korrektur unserer moralischen Gefühle unabhängig sei von Smiths Überzeugung, in Gesellschaften, die sich historisch weiterentwickeln, nähme die Gerechtigkeit zu, weshalb sich die Mangelhaftigkeit dieses Mechanismus auf eine Anzahl von untergeordneten Faktoren (ökonomische, nationale) zurückführen ließe, die zu korrigieren man hoffen könne. Smith zufolge finden wir das Argument dafür, daß die Gerechtigkeit im Verlauf der historischen Entwicklung zunimmt, und die Verbindung dieses Arguments mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen des Menschen und seiner Bedürfnisse, im (unvollendeten) Werk der Natur; wir können dieses Argument aus seinen Vorlesungen über Jurisprudenz rekonstruieren. Russells Mißverständnis zeigt sich darin, daß er sich auf Smiths These bezieht, die Strafen, die wir verhängen, seien denen der Barbaren „als Verfahren einer gut etablierten sozialen Praxis, das nicht auf natürliche Weise in der Natur des Menschen angelegt sei“ überlegen. (Vgl. Russell 1999, S. 46) Für Smith ist die menschliche Natur an sich auf Fortschritt angelegt.
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nicht nur die Akteure, sondern auch andere profitieren. Zum zweiten, und das ist wesentlich interessanter, „wird der Mensch dazu angehalten, davor zu zittern, daß er ... unabsichtlich zum unseligen Werkzeug ... des Elends [anderer] werden sollte“. (II.iii.3.4: 106; dt. 162) Wenn wir nämlich fürchten, anderen selbst unabsichtlich zu schaden, achten wir weit mehr darauf, anderen kein Leid zuzufügen, selbst in Fällen, die nicht unserer Kontrolle unterliegen. 14 Würden Reiter allein auf der Grundlage ihrer Absichten beurteilt, hätten sie kein Motiv (dafür oder dagegen), sich mit dem Prüfen des Zaumzeugs aufzuhalten oder sich zu vergewissern, daß ihr Pferd nicht so leicht durchgeht, u. s. w. Aber wenn ein Reiter, der jemanden umreitet, auch dann verurteilt wird, wenn er zuvor sorgfältige Vorkehrungen getroffen hatte und sich daher keiner Schuld bewußt ist, wird er mit größerer Wahrscheinlichkeit sicherstellen, daß die Zügel in Ordnung sind und daß das Pferd ruhig ist, u. s. w. Smith scheint der Auffassung zu sein, diese Vorsicht, zu der der moralische Zufall Anlaß gibt, führe dazu, einen bestimmten Rechtsbereich als heilig anzusehen: So wird „in gleicher Weise die Glückseligkeit eines jeden schuldlosen Menschen zu etwas Heiligem gemacht, geweiht und ringsum mit einer Hecke umgeben gegen die Annäherung jedes anderen Menschen, damit sie nicht mutwillig mit Füßen getreten werde, damit sie nicht irgendwie – sei es auch bloß unwissentlich und unabsichtlich – verletzt und entweiht werde, ohne daß dafür Sühne und Buße gefordert würde“. (II.iii.3.4: 107; dt. 163) Dieses zweite Argument endet mit einer erstaunlichen Bezugnahme auf den Grundsatz der Billigkeit. Wenn der Reiter ohne eigenes Verschulden jemanden tötet, werden diejenigen, die freundliche und mo-
14 Russell kritisiert den Nutzen dieser extremen Vorsicht zu Recht; tatsächlich kann man sich darüber streiten, obwohl man dies im Kontext von Smiths historistischer Theorie der Gerechtigkeit und der Rechte sehen muß (die ich in der vorangehenden Fußnote erwähnt habe). Russell kritisiert auch die Smithsche Handlungstheorie, weil sie zwischen „dem bloßen Empfinden bestimmter Gefühle und Begehrungen einerseits und Anstrengungen, diese in Handlungen umzusetzen, andererseits“ nicht hinreichend unterscheidet. (Russell 1999, S. 44) Wohl wahr. Aber Smiths Hauptargument betrifft das gar nicht, weil nämlich bloße Gefühle und die Anstrengungen, ihnen entsprechend zu handeln, für uns, wenn sie im Geist von anderen vorkommen, nicht offensichtlich sind. Wenn es für diese Anstrengungen beobachtbare Anzeichen gibt, werden wir diese streng beurteilen (und das tun wir auch), bloße Gefühle dagegen beurteilen wir weit großzügiger. Aber wir neigen dazu, sowohl die Gefühle als auch die Anstrengungen zu entsprechendem Handeln zu verurteilen, weil unsere geistigen Kräfte zu beschränkt sind, als daß wir beide immer eindeutig unterscheiden könnten. Beide können zu verwerflichen Handlungen führen.
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ralische Personen sind, voller Bedauern sein und das Unglück angemessen beurteilen. Aber ... die Natur [hat] ... doch die Unschuld dieses Mannes ... nicht ganz ohne Trost, und ... seine Tugend nicht ganz ohne Lohn gelassen. Er ruft dann jenen gerechten und billigen Grundsatz zu seinem Beistand, demzufolge ein solcher Erfolg, der nicht von unserem Verhalten abhängt, die Achtung nicht vermindern sollte, die uns gebührt. Er bietet dann seine ganze Seelenstärke und Geisteskraft auf, und ist bestrebt, sich selbst nicht in dem Licht zu erblicken, in dem er jetzt erscheint, sondern in dem, in welchem er erscheinen sollte, in welchem er erschienen wäre, wenn seine edlen Absichten mit Erfolg gekrönt worden wären ... . (II.iii.3.6: 108; dt. 164)
Paul Russell hat die Auffassung vertreten, diese Bezugnahme auf den Grundsatz der Billigkeit führe zu Konflikten innerhalb des Smithschen Naturalismus: Für Smith ergeben sich aus dieser Position Schwierigkeiten auf zwei verschiedenen Ebenen: Sie legt nahe, (i) an die Möglichkeit zu glauben, man könne den Regelwidrigkeiten der Natur widerstehen und sie korrigieren, und (ii) daran, eine Person werde sich, insofern sie zum „menschlichen Teil der Menschheit“ gehört, bemühen, ihre Gefühle zu korrigieren und sie nach dem Grundsatz der Billigkeit auszurichten. Jede derartige Korrektur würde, setzt man Smiths sonstige Auffassungen voraus, den „nützlichen“ Tendenzen in der menschlichen Natur entgegenwirken und daher vom unparteiischen Zuschauer nicht gebilligt werden. (Russell 1999, S. 46, dt. v. Christel Fricke)
Russell irrt hier aus zwei Gründen. Zum einen geht es Smith in dem oben zitierten Abschnitt um ein Urteil in der Perspektive der ersten Person über die eigene Unschuld, das auf eine Phase des Bedauerns folgt. Für jemanden, der ganz zufällig großes Leid verursacht hat, wird es immer angemessen sein, Bedauern zu empfinden, aber ebenso angemessen wird es für ihn sein, irgendwann den Grundsatz der Billigkeit auf sich selbst anzuwenden, und dies wird der „menschliche Teil der Menschheit“ billigen. Die Korrektur durch den Grundsatz der Billigkeit ist der Nützlichkeit nicht, wie Russell unterstellt, zuwider; schließlich werden alle Akteure die Phase des Bedauerns lieber vermeiden, als sie durchleben zu müssen, um das Leiden über das nützliche Maß hinaus auszugleichen. Außerdem ist auch die Anwendung des Grundsatzes der Billigkeit durchaus natürlich, nur sind es andere, die damit nach einer angemessenen Phase des Bedauerns beginnen und die Anwendung befürworten, allerdings nur dann, wenn der Akteur tugendhaft ist und sich durch Seelengröße und Charakterfestigkeit auszeichnet.
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Ein ähnliches Beispiel findet man in der Geschichte von der Besteigung des Mount Everest Into Thin Air. Der Autor Jon Krakauer beschreibt, wie er unter dem Einfluß mangelnder Sauerstoffzufuhr und eines Schneesturms zu der Fehleinschätzung kam, ein bestimmter Bergkamerad habe einen unheilvollen Tag am Mount Everest überlebt. Infolge dieser Fehleinschätzung kam es dazu, daß er der Familie dieses Bergkameraden mitteilte, dieser sei am Leben. Erst später mußte er feststellen, daß dieser Bergkamerad umgekommen war. Damit verursachte er in der Familie schreckliches Leid. Im ganzen Verlauf des Buches quält sich Krakauer deshalb mit Selbstvorwürfen, aber nach einer gewissen Zeit gewinnt der Leser den Eindruck, daß es nun, nach dem anfänglich durchaus angemessenen Bedauern, angemessen sei, den Grundsatz der Billigkeit walten zu lassen und mit dem Bedauern und den Selbstvorwürfen aufzuhören. Um nun zu Smiths Beispiel zurückzukehren: Was es Akteuren erlaubt, nach einer angemessenen Phase des Bedauerns von diesem Bedauern zu lassen, ist das Wissen in der Perspektive der ersten Person von ihren eigenen Absichten. Da einige Akteure im Verdacht stehen, ihre eigenen Absichten nicht realistisch zu beurteilen und sich selbst zu entlasten, betont Smith, daß wir die Anwendung des Grundsatzes der Billigkeit nur den Tugendhaften erlauben. Im Fall von Urteilen aus der Perspektive der zweiten oder der dritten Person könnte man nicht so verfahren, denn die Unzugänglichkeit der Absichten anderer stellt, so Smith, für die Anwendung des Grundsatzes der Billigkeit ein unüberwindliches Hindernis dar. Dabei ist es nicht nur schwierig, die Absichten eines anderen zu durchschauen, oft ist es unmöglich. Natürlich könnten wir andere zwingen, ihre Absichten zu offenbaren, aber das wäre fatal. Damit wird deutlich, daß Smith die Berücksichtigung des moralischen Zufalls mit dem Hinweis auf unsere Unfähigkeit verteidigt, eine Moraltheorie zu entwickeln, die den Grundsatz der Billigkeit gelten läßt und dabei sowohl dem elementare Charakter der Psychologie unserer natürlichen Gefühle als auch der Art und Weise Rechnung trägt, in der diese Gefühle dem Zweck der Gerechtigkeit dienlich gemacht werden können. Wir halten den Grundsatz der Billigkeit für universal gültig, aber mit der Einschränkung auf die Fälle, in denen die Absichten des Akteurs klar zu Tage liegen; in der praktischen Anwendung verliert dieser Grundsatz seine universale Gültigkeit. Der „elementare Charakter“ unserer Gefühlspsychologie führt dazu, daß der Zufall auf unsere Urteile über Verdienst, Schuld und Gerechtigkeit Einfluß erhält. Und
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angesichts unserer Unfähigkeit, den Grundsatz der Billigkeit praktisch anzuwenden, können wir diese Unzulänglichkeit dem, was der Allgemeinheit nützt, dienlich machen und gleichzeitig die Nützlichkeit so in den einzelnen motivierenden Gefühlen verankern, wie es Smiths Theorie erfordert. Auch der unparteiische Zuschauer bestätigt die Angemessenheit dieser Urteile über Verdienst und Schuld, und er tut dies allem Anschein nach deshalb, weil er denselben psychischen Mechanismen unterliegt wie wir alle. Ich möchte mit der Bemerkung schließen, daß das Thema des moralischen Zufalls im VI. Teil der Theorie der moralischen Gefühle, der von der Tugend handelt, wieder aufgenommen wird – im iii. Abschnitt, in dem es um die „Selbstbeherrschung“ geht, und dort im Zusammenhang einer Analyse von Menschen, die dazu neigen, sich moralisch zu überschätzen. Die oben zitierte Passage, in der es um Cäsar geht, ist diesem Abschnitt entnommen, und Smith verwendet dieses Beispiel um zu veranschaulichen, wie sehr wir in unseren Urteilen über Verdienst und Schuld zufällige Faktoren berücksichtigen. Dieselben Gefühlsmechanismen, die zur Anwendung kommen, wenn es um Gerechtigkeit geht, werden offenbar auch eingesetzt, wenn es um die historische Beurteilung von Personen geht. Der unparteiische Zuschauer ist zwar, wie Smith betont, zu einem konstanten und gleichbleibenden Urteil über Verdienst und Schuld von Personen wie Cäsar fähig, aber dennoch immer wieder von ihrem Erfolg „vollkommen gefangen genommen“, der „die große Ungerechtigkeit ihrer Unternehmungen“ verdeckt: Sobald sie indessen vom Unglück verfolgt werden, ändern die Dinge ihre Farben und ihre Namen. Was früher heldenmütige Seelenstärke war, das erhält nun wieder seinen richtigen Namen, nämlich den einer maßlosen Unbesonnenheit und Torheit; die Schwärze jener Habsucht und Ungerechtigkeit, die früher unter dem Schimmer des Gelingens verborgen war, wird vollständig sichtbar und verdunkelt den ganzen strahlenden Glanz ihrer Unternehmungen. (VI.iii.30: 252; dt. 425)
Wiederum verteidigt Smith diese Regelwidrigkeit in unseren Urteilen über Personen im Rekurs auf die Nützlichkeit; hier ist es die Nützlichkeit der Bewunderung für den Erfolgreichen, die dem Aufrechterhalten der Rangordnungen dient und damit die Höhergestellten daran hindert, uns alle umzubringen, was sie möglicherweise täten, wenn wir sie nicht so sehr bewunderten, wie sie sich selbst bewundern. Besonders interessant an diesem Beispiel ist jedoch, daß der unparteiische Zuschauer sich von großen Taten beeinflussen läßt, auch wenn sie weit zurückliegen; moralische Zufälle haben Einfluß auf einige unserer wich-
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tigsten historischen Urteile über Personen und Fragen der Gerechtigkeit, und sie werden bemüht, wenn es darum geht, diese Urteile zu erklären. Dies legt nahe, daß moralische Zufälle nicht nur die Gerechtigkeit, sondern das ganze System infizieren, daß die scheinbar fixierte (als solche sieht sie Williams) Grenzlinie zwischen dem, was moralisch verdienstvoll, und dem, was moralisch belanglos ist – in diesem Fall ist es die Grenzlinie zwischen Absichten und beobachtbaren Handlungen –, so beweglich ist, daß wir nicht davon ausgehen können, allein dadurch, daß wir uns von ihr fernhalten oder ihr ausweichen, schon aus dem Schneider zu sein. (Übersetzt von Christel Fricke)
Smith über die Gleichheit der Würde und den Standpunkt der 2. Person Stephen Darwall / University of Michigan Den egalitären Zug in Adam Smiths Denken haben Kommentatoren erst vor kurzem zu würdigen begonnen. 1 Bereits im Zuge der konservativen Reaktion auf die Französische Revolution, die 1790, im Todesjahr von Smith, einsetzte, begann man, seinen Egalitarismus zu vergessen, und dieser hat seitdem kaum jemals wieder Beachtung gefunden.2 Wo Smith das Zunftwesen mit seinen zahlreichen Reglementierungen insbesondere der Ausbildung kritisierte, hatte er nicht nur dessen mangelnde ökonomische Effizienz vor Augen, sondern auch einen Mangel an Gleichheit und gleicher Würde. Er war überzeugt, die Steigerung des britischen Wohlstands sei vor allem direkt abhängig von „jene[r] gerechten[n] und unparteiische[n] Justizverwaltung, welche die Rechte des Geringsten britischen Untertanen so schützt, daß sie auch der Mächtigste achten muß“ (WN iv.vii.3: 610; dt. 513). Im folgenden möchte ich darlegen, daß Smiths Vorstellungen von der Gleichheit der Achtung, die alle Menschen aufgrund der Menschenwürde verdienen, ein tiefer liegendes Fundament haben, als die Literatur bisher registriert hat, und zwar schon in der Anlage seiner Theorie der moralischen Gefühle und darüber hinaus in seiner Diagnose der spezifisch menschlichen Neigung zum Tausch im Wohlstand der Nationen. 3 Unter anderem werde ich aufzeigen, in welcher Weise Smith zufolge die Gestalt von Beurteilungen der Schicklichkeit und insbesondere der Billigkeit eine Art von gleicher Achtung einschließt und voraussetzt. Außerdem möchte ich zeigen, daß auch der Tausch, 1 Ich denke hier in erster Linie an Rothschild 2001. 2 Dies ist die Hauptthese, die von Rothschild (in Rothschild 2001) ebenso detailliert wie überzeugend begründet wird. 3 Es war Samuel Fleischackers Vortrag „Adam Smith Without Self-Interest: Re-Reading the Wealth of Nations“ (Central Division APA Meetings, 1996), der mich erstmals auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht hat, Adam Smith so zu verstehen.
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wie Smith ihn versteht, gleiche Achtung voraussetzt und realisiert. Der Tausch ist eine Form der Anrede in der 2. Person, die einschließt, was Fichte und andere Vertreter des Deutschen Idealismus nur wenig später wechselseitige „Anerkennung“ nennen sollten. Aufgrund dessen nimmt Smith in seiner Theorie die Gefühle auf eine ganz andere Weise in Anspruch als etwa Hutcheson oder Hume. Aus denselben Gründen ist ein anderer Kontrast erklärbar: Während die metaethischen Positionen von Hume und Hutcheson nicht zufällig so verstanden wurden, daß sie in der normativen Ethik auf den Utilitarismus hinauslaufen, konnte Smith gar nicht umhin, in der normativen Ethik anti-utilitaristische Überzeugungen zu vertreten. Bevor ich darauf eingehe, wie nach meiner Lesart bei Smith die Gleichheit der Achtung in die Metaethik und in die Moralpsychologie eingefügt ist, ist es vielleicht hilfreich, wenn wir uns zunächst an Smiths egalitäre Psychologie erinnern sowie an seine normativen Überzeugungen mit Blick auf Moral und Politik. Smith war fest davon überzeugt, daß soziale und politische Ungleichheiten praktisch nie auf naturgegebene Unterschiede zwischen Menschen zurückgehen. Der Unterschied „zwischen einem Philosophen und einem gewöhnlichen Lastenträger“ sei in erster Linie, sagt Smith, „aus Lebensweise, Gewohnheit und Erziehung entstanden“ (WN i.ii.4: 28; dt. 18); und naturgegebene Unterschiede zwischen Menschen seien überhaupt nicht halb so groß wie die zwischen „Windhund“ und „Spaniel“ (a. a. O. 30; dt. 18). 4 Einzig und allein ein weithin zugängliches öffentliches Erziehungssystem kann etwas bewirken gegen gesellschaftlich bedingte Ungleichverteilungen von Befähigungen und Fertigkeiten, wie sie insbesondere durch die Arbeitsteilung entstehen, in der Smith eine notwendige Bedingung für nationalen Wohlstand sah. Wie Emma Rothschild gezeigt hat, sind Smith und seine konservativen Kritiker in einer wichtigen impliziten Unterscheidung ganz einig: der zwischen Erziehung einerseits und Formen der Ausbildung andererseits, die wie die Unterweisung des Lehrlings durch den Meister eingebunden sind in eine gesellschaftlich vorgegebene Hierarchie. 5 Für Smith fördert Erziehung die Unabhängigkeit und bewirkt, daß „[j]eder einzelne […] sich selbst achtbarer [fühlt]“ (WN v.i.2: 788; dt. 667). Seine konservativen Kritiker dagegen verurteilen die öffentliche Erziehung (Playfair: „Lesen führt oft zu Unzufriedenheit, unangebrachtem Ehrgeiz und zur Vernachlässigung der Pflichten“), 4 Vgl. auch LJ (A): 47 f. 5 Vgl. Rothschild 2001, S. 97.
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und preisen die Unterweisung des Lehrlings durch den Meister, weil diese „Arbeitseifer“, „Folgsamkeit“ und „Unterordnung“ fördere.6 Smith ist ein scharfer Kritiker von Herrschaft und Knechtschaft in allen ihren Formen. Der „Unterwürfigkeit und Schmeichelei“ (WN i.ii.2: 26; dt. 16), zu der wir und andere Tiere fähig sind, wenn wir um jemandes Gunst buhlen, stellt er die implizite wechselseitige Achtung gegenüber, die menschliche Wesen – und darin unterscheiden sie sich von anderen Tieren – im freien Austausch miteinander erreichen können. (Dazu gleich mehr.) Hinzukommt, daß für Smith Freiheit nicht den instrumentellen Wert aufweist, den die Abwesenheit von Hindernissen hat, die uns den Zugang zu anderen an sich wertwollen Gütern verstellen. Zur Freiheit gehört wesentlich auch die an sich wertvolle Beziehung wechselseitiger Achtung. 7 Schließlich ist Smith überzeugt, daß weit verbreitete Armut nicht nur ein Indiz für und eine Ursache von ökonomischer Ineffizienz ist. Sie ist auch ungerecht: Es ist […] nicht mehr als recht und billig, wenn diejenigen, die alle ernähren, kleiden und mit Wohnung versorgen, so viel vom Ertrag der eigenen Arbeit bekommen sollen, daß sie sich selbst richtig ernähren, ordentlich kleiden und anständig wohnen können. (WN i.8: 96; dt. 68)
Doch was liegt diesen liberalen und zugleich egalitären Normen zugrunde? Oder: Was läßt Smith so sicher sein, daß andere dazu gebracht werden sollten, sie zu akzeptieren? Meiner Auffassung nach sind es mindestens zwei Dinge: 1. Seine Metaethik und seine Psychologie moralischer Beurteilungen der Schicklichkeit und Billigkeit und 2. seine Bestimmung des Wesens des freien Austauschs zwischen Menschen. Nach seiner Analyse beruhen sowohl moralische Urteile als auch freie Tauschbeziehungen auf einem Fundament, das Gleichheit der Würde und wechselseitige Achtung als integrale Bestandteile enthält. Beginnen möchte ich mit Smiths Theorie des moralischen Gefühls. Moralphilosophische Ansätze, die so auf Gefühle rekurrieren, wie wir es bei Hutcheson und Hume finden, verstehen moralische Urteile im allgemeinen als Urteile, die aus der Beobachterperspektive bzw. vom Standpunkt einer 3. Person aus gefällt werden. Motive und Charaktere werden aus einer Distanz betrachtet wie Teile eines Geschehens auf der 6 Vgl. Rothschild 2001, S. 99. 7 Eine zeitgenössische Formulierung dieses Gedankens findet man bei Pettit 1996.
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Bühne und von eben diesem Standpunkt aus gebilligt oder mißbilligt. Nach Hutcheson haben wir von Natur aus ein Gefühl der Billigung für Wohlwollen und eines der Mißbilligung für den eklatanten Mangel daran, wenn wir entsprechende Verhaltensweisen aus der Beobachterperspektive betrachten. 8 Hume verwirft Hutchesons Konzept eines „originären“ moralischen Sinns. 9 Er behauptet, moralische Billigung sei ein Effekt des Vermögens der „Sympathie“, dessen Wirken typisch ist für das menschliche Gemüt. Sobald wir das Motiv eines Akteurs betrachten, kommen uns nach den Gesetzen der Assoziation alsbald Ideen der Folgen in den Sinn, die das Motiv üblicherweise bewirkt. Falls zu diesen Folgen Lust- und Unlustzustände des Gemüts gehören, bewirkt das von Hume „Sympathie“ genannte Vermögen, daß jene Ideen durch Intensivierung in Lust- und Unlustgefühle des Betrachters verwandelt werden. Die derart entstandenen Gefühle werden dann wiederum mit den betrachteten Motiven assoziiert, so daß der Betrachter, wenn er bei der Betrachtung eines Motivs von einer bestimmten Art selbst Lust (bzw. Unlust) empfindet, dieses Motiv billigt (bzw. mißbilligt). Was ihren Ansätzen gemeinsam ist, lenkt das Denken von Hume und Hutcheson in utilitaristische Bahnen. Nach Hutcheson ist jedes Motiv, das der moralische Sinn billigt, eine Art von Wohlwollen, wobei das moralisch beste Motiv ein universelles Wohlwollen ist, das nach dem „größten Glück der größten Zahl“ 10 trachtet. Daraus folgt, so Hutcheson, daß eine Handlung in moralischer Hinsicht am besten ist, wenn sie die größtmögliche Lust für alle bewirkt. Hume für seinen Teil bestreitet, daß es einen einzelnen moralischen Sinn gäbe und daß wir nur Wohlwollen in seinen verschiedenen Erscheinungsformen billigen. Für ihn sind die Gegenstände der Billigung ganz verschiedenartig. Nichtsdestoweniger läuft seine auf Sympathie gegründete Psychologie des moralischen Gefühls darauf hinaus, daß wir diejenigen Motive als moralisch gut beurteilen, die tendenziell das allgemeine Lustniveau anheben. Aus diesem Grund konnte Bentham über seine Lektüre von Humes Treatise sagen, dabei sei es ihm „wie Schuppen von den Augen gefallen“, und er habe „eingesehen, daß Nützlichkeit Probierstein und Maßstab aller Tugend“ sei. 11 8 Vgl. Hutcheson, Inq., CW I. 9 Vgl. Hume, THN; zum Unterschied zwischen Hutcheson und Hume vgl. Darwall 1994 und die Kapitel über Hutcheson und Hume in Darwall 1995. 10 Vgl. Hutcheson, Inq., CW I, S. 164. 11 Vgl. Bentham W I, S. 268 f. Fn.
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So gesehen hat es Moralität nicht wesentlich mit Urteilen zu tun, die wir als Teilnehmer am moralischen Leben fällen, in dem Akteure und Betroffene miteinander interagieren und sich vom Standpunkt der 2. Person aufeinander beziehen. Moralität ist dann nicht unbedingt eine Sache wechselseitiger Beziehungen zwischen Gleichen oder irgendeiner gegenseitigen Anerkennung, die der Ausdruck gleicher Achtung ist. Moralität hat vielmehr etwas Ästhetisches, und moralische Güte ist, wie Hume ausdrücklich sagt, gleichsam eine besondere Art von Schönheit. 12 Moralität ist ein Phänomen für Beobachter auf dem Standpunkt der 3. Person und nicht für Teilnehmer auf dem Standpunkt der 2. Person. Es liegt eine gewisse Ironie darin, daß der Terminus „unparteiischer Zuschauer“ von Smith geprägt wurde, nicht aber von Hutcheson oder Hume. Denn Smith zufolge ist die Perspektive, aus der moralisch geurteilt wird, gerade nicht der Blickwinkel eines Zuschauers im strikten Sinne. Das primäre moralische Urteil betrifft für ihn keine Form der Schönheit, sondern etwas, das er „Schicklichkeit“ nennt. Smith unterscheidet ausdrücklich zwischen Schicklichkeit und Schönheit, und er tut das mit einem Seitenblick auf Hume. (IV.ii.1 ff.: 187 f.; dt. 320 ff.) Um zu beurteilen, ob ein Motiv oder ein Gefühl schicklich ist, müßten wir, sagt Smith, statt irgendeines externen Standpunkts den Standpunkt der Person einnehmen, die das Motiv oder Gefühl selbst hat: im Fall der Motivation den Standpunkt des Akteurs, im Fall des Gefühls den des Betroffenen (I.i.3–4: 16–23; dt. 14–26). Was wir dabei berücksichtigen müssen, ist aber nicht das Motiv des Akteurs oder das Gefühl des Betroffenen für sich genommen, sondern die auslösende Situation, wie sie sich aus der Perspektive des Akteurs oder des Betroffenen darstellt. Natürlich meint Smith, daß unser Urteil nicht parteiisch sein darf. Aber Unparteilichkeit ist keine Sache der Einnahme eines eigenen, äußeren Standpunktes, sondern sie reguliert die Art und Weise, in der wir den Standpunkt des Akteurs oder den des Betroffenen einnehmen. Es ist die unparteiische Einnahme dieser Standpunkte, die für das moralische Urteilen wesentlich ist. Nicht als wir selbst, sondern als wären wir irgendeiner von uns allen nehmen wir in Gedanken diese Standpunkte ein. (II.ii.2.1: 82; dt. 122; III.iii.4–5: 137 f.; dt. 201 f.) Wenn wir das Mo12 Hume verwendet häufig den Ausdruck „moralische Schönheit“ moral beauty), um sich auf die Tugend zu beziehen. Vgl. z. B. THN III.i.1, S. 299, III.ii.1, S. 308, III.ii.2, S. 311 (ed. SBN, S. 465, 479, 484). Obwohl Hutcheson zwischen Schönheit und Tugend unterscheidet, gibt es seiner Auffassung nach für beide auf Seiten des Wahrnehmungssubjekts einen besonderen Sinn.
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tiv eines Akteurs oder das Gefühl eines Betroffenen als schicklich beurteilen, so ist dabei etwas im Spiel, was Smith „Sympathie“ nennt: die Vorstellung, wir würden dieses Motiv oder dieses Gefühl selber haben, nachdem wir die jeweiligen Standpunkte unparteiisch eingenommen haben. (I.i.1.3–5: 10; dt. 4 f.) Smith bestimmt die Perspektive, aus der das moralische Urteil gefällt wird, anders als Hume; und dementsprechend versteht er auch die Sympathie anders als dieser. Für ihn ist Sympathie ein besonderes „Mitgefühl“ (fellow-feeling), zu dem das gehört, was Philosophen und Psychologen heutzutage „Simulation“ nennen: die fingierte Einnahme des Standpunktes einer anderen Person in der Absicht zu prüfen, ob man ihre Situation in derselben emotions- oder motivationsgeladenen Weise wie sie sehen kann. Was die Sympathie übende Person in den Blick nimmt, ist nicht das Fühlen des Anderen, wie es sich aus der Perspektive der 3. Person darstellt, sondern es sind dessen Gegenstände, wie sie sich aus der Perspektive des Anderen darstellen würden. Mit seinem Konzept der Sympathie trägt Smith implizit der Tatsache Rechnung, daß die andere Person stets ihren eigenen unabhängigen Blickwinkel hat. Hume dagegen versteht unter Sympathie einen psychischen Mechanismus, der Ideen von den Gefühlen oder Affekten einer anderen Person, wie sich diese aus der Perspektive der 3. Person darstellen, in „ebendiesen Affekt selbst“ verwandelt. 13 Die Humesche Sympathie schließt die Einnahme der Perspektive einer anderen Person geradezu aus, da sie ja die durch Zuschauen, also aus der Perspektive der 3. Person gewonnenen Ideen von den Gemütszuständen des Anderen in Simulationen dieser Zustände verwandelt, ohne daß dabei der eigene Blickwinkel verlassen wird. Ganz anders Smith: Wenn wir die Motive eines Akteurs beurteilen, dann nehmen wir dabei dessen Standpunkt ein, indem wir die Situation, in der er handelt, so betrachten, wie sie sich unserer Vorstellung nach ihm in seiner praktischen Überlegung darstellt. Und wenn wir jemandes Fühlen oder seine emotionale Reaktion beurteilen, dann tun wir das aus dessen Perspektive, aus der des Betroffenen also, indem wir die Situation, auf die er reagiert, so betrachten, wie sie sich unserer Vorstellung nach ihm, der ihr ausgesetzt ist, darstellt. In beiden Fällen schließt das Urteil zweierlei ein: eine implizite Identifikation mit dem Anderen als einer Person, die einen unabhängigen Blickwinkel hat, und deshalb auch die Achtung des Anderen mit seinem eigenen Blickwin13 Vgl. Hume, THN II.i.11, S. 206 (ed. SBN, S. 317).
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kel. Allein schon damit entfernt sich Smith von einer auf das Zuschauen gegründeten Tugendethik, wie sie Hutcheson und Hume entwickelt haben. Was ihn davon noch weiter entfernt, ist seine Metaethik der Gerechtigkeit. Unrecht ist für Smith wesentlich mit einem gerechtfertigten Übelnehmen verbunden. Unrecht ist seiner Natur nach mehr als bloß unangemessenes Verhalten. Es ist ein unangemessenes Verhalten, dem man angemessen nur auf eine Weise begegnet, nämlich mit dem direkt an ein „Du“ (2. Person!) gerichteten reaktiven Gefühl, das den Akteur stellen oder ihn irgendwie zur Verantwortung ziehen soll und dafür an die richtige Adresse gerichtet sein muß. Smith ist der Auffassung, daß Unrecht nicht aus der Perspektive eines bloßen Beobachters beurteilt werden kann. Um Urteile zu fällen, die ein Unrecht konstatieren, müssen wir vielmehr selbst auf unparteiische Weise den Standpunkt des Akteurs und – das ist natürlich entscheidend – auch den der betroffenen Parteien einnehmen. Da Smith es als ein Charakteristikum der Gerechtigkeit ansieht, daß sie den einzelnen Betroffenen ins Zentrum stellt, lehnt er utilitaristische Aufrechnungen ab und vertritt, daß Widerstand gegen Unrecht nicht etwa durch Abschätzungen des Gesamtnutzens gerechtfertigt ist, sondern um „gerade jenes Individuum[s]“ willen, das geschädigt würde. (II.ii.3.10: 90; dt. 135; III.iii.6: 138; dt. 203) Darüber hinaus überlegen wir uns aus dem Blickwinkel der betroffenen Parteien, ob wir mit einem ganz bestimmten Gefühl reagieren sollen, nämlich einem, das die wechselseitige Verantwortlichkeit von Personen voraussetzt. Sympathie mit dem Empfinden des Opfers ist für Smith mehr, als nur dessen Gefühl zu teilen, daß ihm etwas Übles geschehen sei. Zu ihr gehört auch, dem Opfer das Recht zuzugestehen, dem Übel damit zu begegnen, daß es sich ihm widersetzt oder, falls das mißlingt, irgendeine Art der Entschädigung oder die Bestrafung des Übeltäters verlangt. Sympathie mit dem Opfer impliziert, ihm den Status dessen zuzuerkennen, der in der 2. Person formulierte Forderungen nach Gerechtigkeit geltend machen kann. 14 Ob der Widerstand gegen oder die Vergeltung für etwas angemessen oder schicklich sind, können wir daher nur beurteilen, wenn wir uns vorstellen, den Platz der betroffenen Parteien 14 Man beachte in diesem Zusammenhang das, was Smith über diejenigen sagt, die sich schuldig fühlen, weil sie andere ungerechterweise verletzt haben. Selbst wenn ihre Opfer von dem Verbrechen, das ihnen angetan worden ist, gar nichts wissen, können sich die Schuldigen genötigt sehen, ihre Schuld zuzugeben und, in der Hoffnung auf irgendeine Art der Versöhnung, „sich selbst dem Übelnehmen ihrer beleidigten Mitbürger unterw[e]rfen“ (III.ii.9: 118 f.; dt. 180).
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einzunehmen, und prüfen, ob irgendeiner von uns vernünftigerweise mit einem nach Ausgleich verlangenden Gefühl reagiert, durch das zugleich eine in der 2. Person ausgedrückte Forderung oder Beschwerde plaziert wird. Deshalb sind Urteile über Billigkeit und Schicklichkeit für Smith nur im Rahmen einer moralischen Gemeinschaft unabhängiger und gleicher Personen möglich. Urteile beider Art sind implizit inter-subjektiv: Sie setzen voraus, daß die urteilende Person die Einnahme der Standpunkte anderer unabhängiger Individuen gemäß der Regel simuliert hat, daß jedes Individuum nur eines unter Gleichen ist, „nur eine[s] aus der Menge […] und in keiner Hinsicht besser als irgendein andere[s] dieser Menge“. (III.iii.4: 137; dt. 203) Da Billigkeitsurteile jeder Person implizit den Status einer unter Gleichen, die einander wechselseitig Rechenschaft schulden, zuerkennen, setzen sie die moralische Gemeinschaft unter Gleichen in einem ganz konkreten Sinne voraus. „Ein moralisches Wesen“, so belehrt uns Smith, „ist ein verantwortliches Wesen […], das einem Anderen für sein Handeln Rechenschaft schuldet und dieses daher an dem Gutdünken des Anderen ausrichten muß“. (III.i.3: 111 Fn. [3]; dt. 295 Fn. 53) Obwohl Smith einräumt, daß der Mensch „in erster Linie Gott Rechenschaft schuldet“, so beeilt er sich hinzuzufügen, daß jeder Mensch „sich notwendigerweise als jemand verstehen muß, der seinen Mitmenschen Rechenschaft schuldet, bevor er sich überhaupt eine Vorstellung der Gottheit machen kann […].“ (a. a. O.) 15 Diese egalitäre Meta-Ethik begründet eine normative Ethik gleicher Würde. Was uns am meisten „gegen den Mann aufbringt, der uns verletzt oder verhöhnt,“ sagt Smith, „ist die geringe Achtung, die er für uns zu hegen scheint“ – „jene unsinnige Selbstliebe, in der er sich einzubilden scheint, daß andere Leute jederzeit seiner Bequemlichkeit oder seiner Laune aufgeopfert werden dürfen.“ (II.iii.1.5: 96; dt. 143; H. v. m.) Was wir übel nehmen, ist die Mißachtung unserer Würde, unseres Status als Personen, die man auf bestimmte Weise einfach nicht behandeln darf. Worauf das Übelnehmen zielt, „ist nicht so sehr das, unseren Feind nun seinerseits Schmerz erdulden zu lassen, als vielmehr […] ihn fühlen zu lassen, daß die Person, die er beleidigt hat, es nicht verdiente, in dieser Weise behandelt zu werden.“ (II.iii.1.5: 95 f.; dt. 143) Mit anderen Worten: Wenn wir andere zur Rechenschaft ziehen, geht es uns 15 Dieser Abschnitt fehlt in späteren Auflagen der Theorie der moralischen Gefühle, aber ich sehe keinen Anlaß zu der Vermutung, Smith habe seine Auffassung geändert.
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darum, daß sie unsere gleiche Würde anerkennen, indem wir sie diese fühlen lassen. Wir verlangen die wechselseitige Achtung als Gleiche.16 Dieselben Grundgedanken kommen auch in Smiths Analyse des freien Austauschs zur Geltung, worauf ich nur kurz eingehen werde. Zwar ist das ausschlaggebende Motiv für jeden Austausch der persönliche Vorteil, aber der Austausch selbst wäre unmöglich, wenn nicht eine in der 2. Person formulierte normative Infrastruktur vorausgesetzt wäre. Wenn ein Tier Hilfe benötigt, dann hat es, so Smith, „kein anderes Mittel, als die Gunst dessen zu gewinnen, von dem es etwas möchte. „So umschmeichelt ein junger Hund seine Mutter, und ein Spaniel versucht alles, um die Aufmerksamkeit seines Herrn […] auf sich zu ziehen […].“ (WN I.ii.2: 26; dt. 16) Wer nur um Sympathie und Gunst buhlt, bedarf weder der Fähigkeit, sich an ein Du (2. Person!) zu wenden, noch der zur Empathie durch Simulation der Gefühle dieses Du. Antworten, die nicht an ein Du gerichtet sind, kann man aus der Perspektive der 3. Person beurteilen. Nicht jede Reaktion eines Anderen auf einen selbst ist auch eine Antwort auf etwas, das man selbst ausdrücklich an ihn gerichtet hat, und erst recht nicht immer eine Antwort auf eine Anrede, durch die er aufgefordert war, einen selbst als ein Du zu behandeln. Natürlich verlassen auch wir Menschen uns häufig auf gegenseitige Gunst und Sympathie. Oft ist das auch genug, aber „der Mensch [ist] fast immer auf Hilfe angewiesen, wobei er jedoch kaum erwarten kann, daß er sie allein durch das Wohlwollen der Mitmenschen erhalten wird.“ (WN I.ii.2: 26; dt. 17) Außerdem droht jeder Versuch, die Gunst anderer zu erlangen, in Unterwürfigkeit umzuschlagen. Durch „Unterwürfigkeit und Schmeichelei“ setzen wir uns womöglich auf Gnade und Ungnade der Willkür anderer aus. Im Unterschied zu den anderen Tieren jedoch hat uns die Natur eine würdigere Alternative gelassen: die allgemeine „Neigung oder Anlage zum Tauschen und Handeln“ 16 Emma Rothschild hat darauf aufmerksam gemacht, daß Smith die Bedeutung der Anerkennung oft ausdrücklich macht. Denn die „Absicht“, der „all die Mühseligkeit und all die lärmende Geschäftigkeit dieser Welt“ dient, ist doch nur, „daß man uns bemerkt, daß man auf uns Acht hat, daß man … von uns Kenntnis nimmt“ (I.iii.2.1: 50; dt. 70 f.). Und das Unglück des armen Mannes besteht darin, daß er „unbeachtet kommt und geht“, „aus dem Gesichtskreis der Menschen [ausgeschlossen]“ ist (I.iii.2.1: 51; dt. 72), und daß „niemand … auf ihn [achtet] und … auf seine Lebensführung [schaut]“ (WN, V.i.g/3.1.3. 12: 795; dt. 675). Rothschild verweist darauf, daß Smith den Ausdruck „andere Menschen“ („other people“) in der Theorie der moralischen Gefühle 84 mal verwendet. Nach dem Index (InteLex database of philosophical texts – ) kommt dieser Ausdruck im Wohlstand der Nationen 43 mal vor, aber nur 5 mal in Humes Treatise, Enquiries, Dialogues und Essays zusammen genommen.
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(WN I.ii.4: 29; dt. 18). Der freie Austausch ist eine Form der Anrede in der 2. Person, die wechselseitige Achtung voraussetzt. Ein Gedanke von Smith ist uns allen vertraut: In einer Gesellschaft mit einer gut funktionierenden Wirtschaft befriedigen Reiche und Arme gleichermaßen ihre Bedürfnisse und Wünsche auf formellen und informellen Märkten, die der Ort für einen Austausch zum wechselseitigen Vorteil sind. „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir, daß, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen“ (WN I.ii.2: 26 f.; dt. 17). Aber obwohl das ausschlaggebende Motiv der Eigennutz ist, wäre der Austausch selbst unmöglich ohne die Voraussetzung einer in der 2. Person formulierten normativen Infrastruktur. Warum sonst sollte Smith glauben, daß andere Tiere nicht zum Austausch befähigt sind? Niemand, sagt er, hat je erlebt, daß ein Hund mit einem anderen einen Knochen redlich und mit Bedacht gegen einen anderen Knochen ausgetauscht hätte, und niemand hat auch je beobachtet, daß ein Tier durch sein Verhalten einem anderen bedeutet hätte: Das gehört mir und das gehört dir, ich bin bereit, dieses für jenes zu geben. (WN I.ii.2: 26; dt. 16)
Smith versteht den Austausch ganz offensichtlich als eine Interaktion in der Form der 2. Person, für die sich beide Parteien auf verschiedene normative Voraussetzungen verständigt haben, z. B. darauf, daß der Tausch die freie Zustimmung beider erfordert, daß beiden, was sie jeweils anbieten, rechtmäßig gehört und dergleichen. Beide Parteien müssen voraussetzen, daß die andere sich fair verhält, nicht in dem Sinne, daß der geforderte Preis fair ist (caveat emptor – das wird durch Eigeninteresse und Feilschen geregelt), sondern daß sie wie ein „ehrbarer Kaufmann“ handelt: daß die angebotenen Waren auch tatsächlich ausgeliefert werden, daß jede Seite die Freiheit hat, den Handel auszuschlagen, und unbehindert weggehen kann, daß niemand versuchen wird, was er freiwillig verkauft hat, sich mit Gewalt wiederzubeschaffen, und dergleichen. So impliziert jeder Austausch die wechselseitige Anerkennung von Normen, die für beide Parteien gelten und ihnen den Status von Personen zuweisen, die einander Rechenschaft schulden, mit dem Recht auf Beschwerde wie auch darauf, sich mit Gewalt der Gewalt zu widersetzen, und dergleichen. Um an einem Austausch teilnehmen zu können, muß man daher zu der erforderlichen wechselseitigen Anerkennung fähig sein, und das erfordert Empathie. Um also abzuschätzen, ob die andere Seite in gutem Glauben verhandelt, muß jeder versuchen heraus-
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zufinden, ob die andere Seite versucht herauszufinden, ob man selbst ehrlich verhandelt, und auch, ob die andere Seite versucht herauszufinden, ob man selbst versucht herauszufinden, ob sie ihrerseits ehrlich verhandelt, und so weiter. Alles das setzt voraus, daß beide Seiten sich vorstellen können, den Standpunkt der anderen Seite einzunehmen, und daß sie die Antworten, die aus dieser vorgestellten Perspektive sinnvoll scheinen, vergleichen mit den von der anderen Seite faktisch gegebenen Antworten, wie diese sich aus der Perspektive der 3. Person darstellen. 17 1819 Wenn man erst einmal erkannt hat, wie tief die wechselseitige Anerkennung als gleiche Personen, die einander Rechenschaft schulden, in Smiths Metaethik und in seiner Moralpsychologie verwurzelt ist, und zwar sowohl in seiner Theorie des moralischen Urteils als auch in seinem Konzept des Austauschs, kann einen der liberale und egalitäre Zug seiner normativen Überzeugungen nicht verwundern. Diese Überzeugungen verpflichten Smith darauf, daß Ziele wie z. B. ökonomische Effizienz nur in dem Maß verfolgt werden dürfen, wie sie mit der gegenseitigen Achtung aller als freier und gleicher Personen vereinbar sind. Darüber hinaus stellt sich Smith mit diesen Überzeugungen in eine Tradition, zu der Thomas Reid und die Deutschen Idealisten gehören, die 17 Es ist der Mühe wert, darauf hinzuweisen, daß Smiths historische Darstellung der Institution des Privateigentums und ihres zivilen Schutzes durchaus mit dem Gedanken vereinbar ist, daß Tausch und Privateigentum eine Infrastruktur der 2. Person voraussetzen. Obwohl wir beide, du und ich, voraussetzen müssen, daß jeder von uns den jeweils anderen an seinem Standpunkt wahrnehmen kann, wenn wir über ein Geschäft verhandeln wollen, haben wir doch mit dem Problem zu tun, wie unsere gegenseitigen Versicherungen und Erwartungen bestimmt werden können; dieses Problem kann nur durch allgemein anerkannte, formale Praktiken und Institutionen gelöst werden. Zu Smiths Ansichten über die historische Entwicklung von Institutionen des Privateigentums vgl. z.B. LJ (B), 20 u. WN, V.i.b/2. 12: 715; dt. 605. Ich danke an dieser Stelle Charles Griswold für wertvolle Hinweise. 18 Vgl. vor allem Thomas Reids Kritik an Humes Konzept von Recht, Rechtlichkeit und Gerechtigkeit in seinen Essays on the Active Powers of Man (Reid, EAP V.v, WH II, S. 651 ff.) sowie Johann Gottlieb Fichtes Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (Fichte, GA I.3, S. 313–360). 19 Ich danke den Teilnehmern des Heidelberger Kolloquiums Adam Smith als Moralphilosoph (Juni 2003) für ihre Hinweise, die ich für diese Fassung meines Beitrags berücksichtigt habe. Eine frühere Fassung habe ich während eines Treffens der Adam Smith Society im Dezember 2002 vorgetragen, bei dem Emma Rothschilds Economic Sentiments diskutiert wurde. Auch den Teilnehmern dieses Treffens danke ich für wertvolle Hinweise, insbesondere Emma Rothschild. Eine englische Fassung einiger meiner Überlegungen zu diesem Thema ist unter dem Titel „Equal Dignity in Adam Smith“ in der ersten Nummer der Adam Smith Review erschienen.
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vertreten haben, daß unser Verständnis der moralischen und der politischen Seite unserer Existenz wesentlich durch unsere Fähigkeit bestimmt ist, einen Standpunkt der 2. Person und der wechselseitigen Achtung einzunehmen. 18 19 (Übersetzt von Christel Fricke und Hans-Peter Schütt)
Moralische Dilemmata und der Dialogismus von Adam Smiths Theorie der moralischen Gefühle 1 Vivienne Brown / Open University, Milton Keynes I. Zu den wichtigsten Neuerungen der Theorie der moralischen Gefühle gehören das Verfahren der Beurteilung durch Sympathie und die Methode des unparteiischen Zuschauers. Vermittels ihres Sympathievermögens können Akteure – als Zuschauer – moralische Urteile aus der Perspektive der dritten Person fällen, sofern sie sich vorstellen, wie sie in der Lage einer anderen Person reagieren würden, wenn sie diese Person wären, d. h. wenn sie deren bestimmten Charakter und Lebenseinstellung hätten. 2 Dieses Verfahren ist kompliziert; es fordert von den Akteuren, ihre eigene Identität einzuklammern, während sie sich vorstellen, wie sie selbst an Stelle einer anderen Person reagieren würden; und zu diesem Zweck müssen sie sich als diese andere Person, ausgestattet mit deren Charakter und Lebenseinstellung, vorstellen. Die Methode des unparteiischen Zuschauers ermöglicht es Akteuren, sich selbst ebenso wie andere zu beurteilen; und dies setzt ein noch komplizierteres Verfahren voraus. Dabei versetzen Akteure sich in die Lage eines imaginären Zuschauers, der im Hinblick auf die gegebene Handlungssituation unparteiisch ist, weshalb er das Sympathieverfahren am verläßlichsten anwenden kann und die beste Instanz für ein moralisches Urteil ist. 3 Wir haben es hier mit einem doppelten Verfahren imaginierter Sympathie zu tun. Denn der Akteur muß sich mittels seiner 1 Ich danke den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an dem Kolloquium für ihre kritischen Bemerkungen. 2 II.1.2.5: 70 f.; dt. 101–103; VII.3.1.4: 317; dt. 528 f. 3 III.1.2: 109 f.; dt. 166 f.
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Sympathie und per Imagination in die Lage des Zuschauers versetzen, und dieser muß sich seinerseits mittels seiner Sympathie und per Imagination in die Lage des Akteurs (oder in die eines anderen Akteurs) versetzen. Der Akteur, der aus der Perspektive der ersten Person moralisch urteilt, teilt sich dabei in zwei Personen: „… ich [teile] mich offenbar … gleichsam in zwei Personen. … ich, der Prüfer und Richter, [spiele] eine Rolle, die verschieden ist von jenem anderen Ich, nämlich von der Person, deren Verhalten geprüft und beurteilt wird.“ (III.1.6: 113; dt. 170) Diese imaginären Positionswechsel des Subjekts der moralischen Handlung bilden das Herzstück der Theorie des moralischen Urteils, wie sie in der Theorie der moralischen Gefühle entwickelt wird. Smith geht von der Sozialisation des moralischen Handlungssubjekts aus, die er in Analogie zu einem Spiegelungsprozeß begreift: Das moralische Bewußtsein, vielleicht sogar das Bewußtsein, selbst ein moralisches Wesen zu sein, setzt Beziehungen zu anderen voraus. Auf dieser Grundlage stellt dieses Modell der zentralen Funktion imaginativer Positionswechsel eine Erklärung dafür bereit, daß das Innen, der Geist oder das Gewissen des Akteurs, und das Außen, seine sozialen und familiären Beziehungen, eng verbunden sind und aufeinander einwirken. 4 Der innere Dialog des Akteurs ist das Gegenstück zum gesellschaftlichen Gespräch, stellt jedoch Mittel für die moralische Debatte und die moralische Selbstgenügsamkeit im Inneren bereit, die unabhängig von der Gesellschaft sind. Moralisches Handeln hat zwar seine Wurzeln in der sozialen Natur des Menschen; aber mit dem Modell für das innere moralische Urteil, das aus dieser Natur erwächst, ist es vereinbar, daß ein Mensch sich unter Umständen von der Gesellschaft weitgehend zurückzieht. Wenn ein vollkommen weiser und guter Mensch die fehlbaren Urteile einer kommerzialisierten, eitlen oder egoistischen Gesellschaft zurückweist und sich auf den unparteiischen Zuschauer seines Verhaltens einläßt, so sind damit die Voraussetzungen für einen inneren Dialog gegeben, der ihn in seiner Haltung unterstützt; der Weise kann auch dann, wenn er in strengster sozialer Isolation inmitten einer korrupten Welt lebt, aus der Verbundenheit mit dem unparteiischen Zuschauer in seinem Innern Trost schöpfen. Diese imaginären Positionswechsel können jedoch niemals vollständig gelingen, obgleich sie für das in der Theorie der moralischen Gefühle entwickelte Modell des moralischen Urteils so wichtig sind. 4 III.1.: 109–113; dt. 166–171.
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Das Verfahren der Beurteilung durch Sympathie kann niemals vollkommen gelingen oder eine perfekte Zusammenstimmung herbeiführen; was allenfalls gelingen kann sind musikalische Klänge, die miteinander harmonieren, nicht aber Einstimmigkeit. 5 Eine vollständige Identifikation mit dem unparteiischen Zuschauer ist aus technischen Gründen nicht möglich, da der Akteur seine eigene Identität nicht ganz und gar hinter sich lassen kann; ebenso wenig kann er bei dem Versuch, sich in die Lage des unparteiischen Zuschauers zu versetzen, seine eigene Identität mit der eines imaginierten anderen verschmelzen. Während er sich selbst in Richter und Gerichteten aufteilt, muß die Verschiedenheit beider unbedingt erhalten bleiben: „Daß jedoch der Richter in jeder Beziehung mit demjenigen, über den gerichtet wird, identisch sein sollte, das ist ebenso unmöglich, wie daß die Ursache in jeder Beziehung mit der Wirkung identisch wäre.“ (III.1.6: 113; dt. 171) Die Einbildungskraft kann nur Teilerfolge erzielen, aber dies ist für eine wohlgeordnete Gesellschaft ausreichend. Was die Sympathie betrifft, so ist für die Harmonie der Gesellschaft keine Einstimmigkeit erforderlich; und was den unparteiischen Zuschauer betrifft, so ist im Moment des Handelns keine vollständige Identifikation mit ihm erforderlich. Denn auch ohne eine solche Identifikation können Personen in ihrem Handeln durch die Urteile des unparteiischen Zuschauers hinreichend beeinflußt sein, um ein Funktionieren der Gesellschaft zu ermöglichen. Eine einigermaßen wohlgeordnete Gesellschaft ist nicht auf unerreichbare Perfektion angewiesen. Das Zugeständnis, daß die imaginären Positionswechsel, wie sie die Sympathie und der unparteiische Zuschauer fordern, nur partiell gelingen können, führt zu einem ‚dialogischen‘ Modell moralischen Handelns und Urteilens. 6 Ein Akteur ist niemals ganz ‚eins‘ mit sich; vielmehr besteht er aus verschiedenen imaginierten Personen, die in seiner Vorstellung gleichzeitig existieren. Bei seinem Versuch, sich mit dem unparteiischen Zuschauer zu identifizieren, teilt er sich in zwei verschiedene Personen, den Richter und denjenigen, über den gerichtet wird. Der unparteiische Zuschauer betrachtet uns mit Augen, die nicht durch natürliche Parteilichkeit oder Selbsttäuschung getrübt sind. Das 5 I.i.4.7: 21f.; dt. 23–25. 6 Diese Theorie des Dialogismus in der Theorie der moralischen Gefühle wurde erstmals in Brown 1991 und dann auch in Brown 1992/3 präsentiert. Weiter entwickelt wurde sie in Brown 1994, Brown 1995 und in Brown 1997. Zum Konzept des ‚Dialogismus‘ vgl. Bakhtin 1981 u. 1986.
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bedeutet, daß die Person, die die Rolle des Richters spielt, sich an die Akteure mit einer Stimme wendet, die die „Täuschungen der Selbstliebe“ und die „wirkliche Geringfügigkeit unseres eigenen Selbst“ entlarven. (III.3.4: 137; dt. 203; vgl. auch III.3.5–6: 137f.; dt. 203–205) Beider Ansichten – die der Akteure und die des Zuschauers – sind dem Akteur unweigerlich präsent: „Die verschiedenen Betrachtungsweisen beider Personen bestehen in seinem Geiste getrennt und wohl unterschieden voneinander, und während ihn die eine zu diesem Verhalten hinzieht, leitet ihn die zweite zu einem anderen, ganz verschiedenen Verhalten an.“ (III.3.28: 148; dt. 220) Dieser Abschnitt bezieht sich auf den „weisesten und stärksten Menschen“ in einer Situation, in der er die „Paroxysmen des Leidens“ erfährt; aber das Argument ist von allgemeiner Reichweite. Denn diejenigen, die weniger weise und stark sind, werden „die verschiedenen Betrachtungsweisen beider Personen ... in [ihrem] Geiste“ auch in weniger konfliktträchtigen Situationen erleben. Das moralische Urteil ist in dem Sinn dialogisch, daß es in der Interaktion verschiedener Betrachtungsweisen und verschiedener axiologischer Positionen gründet, deren Verschiedenheit nicht vollkommen überwunden wurde: Wenn Akteure sich vorstellen, die Positionen anderer Personen einzunehmen, wenn sie versuchen, sich in die imaginierte Lage anderer Akteure und des unparteiischen Zuschauers zu versetzen, werden diese verschiedenen, imaginierten Reaktionen in einen Zusammenhang zueinander gebracht, aber sie bleiben verschieden und werden nicht miteinander verschmolzen. Auch die stilistischen Merkmale der Theorie der moralischen Gefühle belegen diesen moralischen Dialogismus. Der Text ist reich nuanciert, geprägt von einer Mehrzahl von ‚Stimmen‘ überall dort, wo er mit der Stimme der ersten, zweiten und dritten Person spricht und damit das Zusammenspiel der Stimmen zwischen den Akteuren und ihren Zuschauern widerspiegelt. Die Stimmen, die im Text vernehmlich sind, haben nicht alle das gleiche moralische Gewicht. So gibt es z. B. eine unabhängige, unpersönliche Stimme, deren Urteile maßgeblich sind; und es gibt die Stimme der ersten Person Plural, die Stimme der Menschheit im Allgemeinen, die manchmal die Verletzlichkeit und Schuldhaftigkeit der Menschheit zum Ausdruck bringt. Der Wechsel von einer Stimme zur andern führt zu einem Zusammenspiel verschiedener Stimmen, das gewissermaßen den Dialogismus verkörpert, der für den Mechanismus des moralischen Urteils, wie er in der Theorie der moralischen Gefühle entwickelt wird, charakteristisch ist. Die stilistischen Eigenheiten der Theorie der moralischen Gefühle sind daher kein
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bloßes schmückendes Beiwerk, das der Unterhaltung oder Überzeugung des Lesers dient und mit dem wesentlichen Argument gar nichts zu tun hat. Ich erlaube mir, eine Smithsche Metapher etwas abzuwandeln und zu sagen: Der Stil der Theorie der moralischen Gefühle ist nicht nur „die Verzierung, die das Gebäude verschönt“, sondern auch „das Fundament, das es trägt“ (II.ii.3.4: 86; dt. 128). Der Dialogismus der Theorie der moralischen Gefühle manifestiert sich in einer theoretischen und einer stilistischen Eigenart, in der Getrenntheit oder Unterschiedenheit von verschiedenen Gesichtspunkten oder Stimmen. Dies führt zu einer gewissen Offenheit oder Unbestimmtheit des moralischen Urteils. Die verschiedenen Stimmen werden nicht immer zum Einklang gebracht, und die moralische Beurteilung läßt sich nicht in allen Fällen endgültig abschließen. Dieses dialogische Element der Theorie der moralischen Gefühle muß nicht als Schwäche ausgelegt werden; ganz im Gegenteil, es kann als Zeichen der Stärke aufgefaßt werden – als unübersehbare Quelle von Einsichten – das uns etwas Wichtiges und in den Angelegenheiten der Menschen unweigerlich Gegebenes entdecken läßt, etwas, das in der Art und Weise, wie wir über uns selbst und über andere denken, in unseren moralischen Urteilen und in unserem geistigen Innenleben präsent ist. Angesichts dieses dialogischen Elements stellt sich die Frage, ob die Theorie der moralischen Gefühle moralische Dilemmata und moralische Nachwirkungen zuläßt. Viel von dem, was in der Theorie der moralischen Gefühle über das Verfahren der Beurteilung durch Sympathie und über die Methode des unparteiischen Zuschauers gesagt wird, wird von einer optimistischen Stimme vorgetragen. Es gibt jedoch auch eine durchgängiger vernehmbare und ihrer selbst weniger gewisse Stimme, die mit dieser verwoben ist und die die Spannungen und Uneindeutigkeiten registriert, die nicht nur aus der geringen Standhaftigkeit der Menschen erwachsen, sondern auch aus dem Wesen der moralischen Beurteilung selbst, wo der Akteur sich konkurrierenden Anforderungen und Unsicherheiten ausgesetzt sieht. Dieser Frage will ich in meinem Beitrag nachgehen und damit versuchen, eine weitere Dimension des Dialogismus der Theorie der moralischen Gefühle zu erkunden.
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II. Ein moralisches Dilemma ist eine Handlungssituation, in der eine Person X verpflichtet ist, A zu tun, und verpflichtet ist, B zu tun, wobei es jedoch unmöglich ist, daß X sowohl die Handlung A als auch die Handlung B ausführt. Weil sie nur eine dieser Handlungen ausführen kann, kann sie einer ihrer Pflichten nicht nachkommen, weshalb diese unerfüllte Pflicht sozusagen auf der Bühne des Geschehens verbleibt. Diese unerfüllte Pflicht wird zur Quelle einer moralischen Nachwirkung, eines persönlichen Bedauerns, eines Vorwurfs oder einer Schuld selbst dann, wenn die Person sich für die ‚richtige‘ Handlung entscheidet und daher auch im Nachhinein die Entscheidung für diese Handlung nicht rückgängig zu machen wünscht. Die Frage nach der Möglichkeit moralischer Dilemmata und entsprechender moralischer Nachwirkungen ist schon viel diskutiert worden. 7 Die beiden einflußreichsten und einander entgegen gesetzten Positionen in dieser Debatte lassen sich wie folgt skizzieren: Der einen Position zufolge sind moralische Dilemmata Anzeichen dafür, daß das entsprechende moralische System irrational ist. Diese Irrationalität wird durch den Nachweis veranschaulicht, daß, wenn sowohl das deontische Prinzip der Agglomeration [also das Prinzip (Oa & Ob) ⊃ O (a & b)] als auch das Prinzip ‚Sollen impliziert Können‘ [also das Prinzip Oa ⊃ ◊a], als gültig angesehen werden, die Beschreibung moralischer Dilemmata in dem Sinn in sich widersprüchlich ist, als sie sowohl ¬◊(a & b) als auch ◊(a & b) behauptet. 8 Daraus wird auf die Unmöglichkeit moralischer Dilemmata geschlossen, jede Rede von ihnen gilt entsprechend als unklar und inkohärent. Wenn es zwei Pflichten gibt, die dem Anschein nach miteinander konfligieren, ist eine von ihnen nicht wirklich eine moralische Pflicht. In einer solchen Situation kann es schwierig sein, moralisch zu urteilen, und die moralische Beurteilung kann mit Gefühlen des Bedauerns (sogar mit Vorwürfen) darüber verbunden sein, wie sich die Dinge entwickelt haben; aber es gibt keine unerfüllte Pflicht, kein moralisches Verschulden, weshalb sich in diesen Gefühlen eher Menschlichkeit als die Existenz moralischer Dilemmata manifestiert. Die entgegengesetzte Position hält moralische Dilemmata für möglich und 7 Einige einflußreiche Artikel über moralische Dilemmata haben zum einen Christopher W. Gowans und zum anderen H. E. Mason zusammengestellt: vgl. Gowans 1987, Mason 1996. 8 Vgl. z. B. den Nachweis in Gowans 1987, S. 20 f.
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vertritt die Auffassung, daß sie mit moralischen Nachwirkungen in Form von unerfüllten Pflichten verbunden sind, denen der Akteur nicht hat nachkommen können. Einige Versionen dieser zweiten Position bezweifeln die Verläßlichkeit des Prinzips ‚Sollen impliziert Können‘ und des Prinzips der Agglomeration; andere betonen die moralische Bedeutung der Phänomene, die mit der Erfahrung moralischer Nachwirkungen verbunden sind, wie persönliches Bedauern, moralische Vorwürfe, Schuldgefühle, die Mißachtung eines moralischen Werts oder die Zerstörung des eigenen Lebens. Appelle an normale menschliche Gefühle ebenso wie an die großen Werke der Tragödienliteratur werden als verläßlichere Markierungen auf dem Weg zur moralischen Wahrheit angesehen als vernünftige Argumente, mit denen die Selbstwidersprüchlichkeit moralischer Dilemmata nachgewiesen werden soll. Diese Debatte scheint in eine Sackgasse geraten zu sein; es könnte jedoch möglich sein zu zeigen, daß die Inkonsistenz, durch die sich moralische Dilemmata auszeichnen, nicht auf widersprüchlichen Prinzipien beruht, sondern darauf, daß in bestimmten Handlungssituationen bestimmte Handlungen einander ausschließen. 9 So könnten die Prinzipien, die für menschliches Handeln verbindlich sind, sehr wohl konsistent sein, ohne daß damit ausgeschlossen ist, daß bestimmte Handlungen, die diesen Prinzipien zufolge geboten sind, einander in der Praxis ausschließen. Dieses Argument läßt den formalen Nachweis der Selbstwidersprüchlichkeit, den ich oben erwähnt habe, unangetastet; aber es könnte den Anfang einer neuen Weise markieren, auf kohärente Weise über moralische Dilemmata nachzudenken. 10 In seiner Theorie der moralischen Gefühle gründet Adam Smith moralische Urteile auf ganz gewöhnliche menschliche Erfahrungen und Gefühle, nicht auf deduktive Ableitungen aus ersten Prinzipien. Er 9 Ruth Barcan Marcus verteidigt die Möglichkeit moralischer Dilemmata auf der Grundlage dieser Annahme; vgl. ihren Beitrag in Mason 1996, S. 23–35. 10 In einem Aufsatz über „Moralische Dilemmata“, an dem ich gerade arbeite, vertrete ich die Auffassung, daß man, wenn man in diesen formalen Nachweis ein weiter entwickeltes Handlungsmodell, in dem Handlungen als Ereignisse aufgefaßt werden, einpaßt, zeigen kann, daß sich moralische Dilemmata ohne Widerspruch beschreiben lassen, selbst dann, wenn man an der Gültigkeit des Prinzips der Agglomeration und des Prinzips ‚Sollen impliziert Können‘ festhält. Damit versuche ich im einzelnen zu zeigen, wie sich die Konsistenz der Prinzipien mit der Inkompatibilität bestimmter Handlungen auf der Ebene der Praxis in Einklang bringen läßt. Diese Theorie moralischer Dilemmata liegt der nicht formalen Darstellung moralischer Dilemmata zugrunde, die ich hier mit Bezug auf die Theorie der moralischen Gefühle entwickle.
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bezieht sich dabei unter anderem auf den moralischen Wert literarischer Werke, wie z. B. Tragödien und Romane, in denen menschliche Gefühle geschildert werden; seiner Auffassung nach sind sie der Erziehung zu den richtigen moralischen Gefühlen förderlich.11 In ihrem dialogischen Stil, in ihrem Spiel mit verschiedenen Stimmen, ähnelt die Theorie der moralischen Gefühle einigen dieser literarischen Werke, auf die sie sich zu moralischen Zwecken bezieht. Auch Smiths Analyse des moralischen Urteils als Prozeß, in dem die Zuschauerperspektive eine zentrale Rolle spielt, und seine Verwendung von Metaphern aus dem Bereich von Theater und Schauspiel in einem öffentlichen Raum legen die Auffassung nahe, zwischen moralischen Überlegungen und dem Verfassen von Theaterstücken gebe es einige Parallelen. Es ist daher berechtigt zu fragen, wie sich auf der Grundlage der Theorie der moralischen Gefühle die Frage nach der Möglichkeit moralischer Dilemmata beantworten läßt.
III. Es gehört zu den strukturellen Eigenschaften eines moralischen Dilemmas, daß ein Akteur nicht in der Lage ist, in seinem Handeln zwei verschiedene Regeln oder Prinzipien zu befolgen. Das bedeutet nicht, daß diese Regeln oder Prinzipien einander widersprechen, sondern daß unter ganz bestimmten äußeren Bedingungen, die sich aus der Person dieses Akteurs sowie aus dem Zeitpunkt und dem Ort, an dem er sich befindet, ergeben, von zwei bestimmten Handlungen gilt, daß sie nicht beide möglich sind. Eine Person ist verpflichtet, A zu tun, und sie ist verpflichtet, B zu tun, aber es ist ihr nicht möglich, AX,t,p und BX,t,p auszuführen (dabei beziehen sich die Indizes ‚X‘, ‚t‘ und ‚p‘ auf eine bestimmte Person, einen bestimmten Zeitpunkt und einen bestimmten Ort). Läßt das Modell des moralischen Urteils, das in der Theorie der moralischen Gefühle entwickelt wird, die Möglichkeit eines solchen Dilemmas zu? Im Vergleich mit dem Verfahren der Sympathie und der Methode des unparteiischen Zuschauers nehmen Regeln in der Theorie der moralischen Gefühle einen der hinteren Plätze ein. Daß allgemeine Regeln existieren und moralische Autorität haben, wird aus dem Zusammenfügen früherer Urteile des unparteiischen Zuschauers erklärt, und diese 11 Vgl. III.3.14: 142 f.; dt. 210 f.
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wurden den Mitgliedern einer Gesellschaft im Zuge ihrer allgemeinen moralischen Erziehung eingetrichtert. 12 Wer in seinem Handeln diese allgemeinen Regeln befolgt, empfindet „Pflichtgefühl“.13 Wer aber allein diesen Regeln folgt und sich dabei nicht auf eine Auseinandersetzung mit dem unparteiischen Zuschauer einläßt, ist nicht wirklich auf der Höhe des eigentlichen und unabhängigen moralischen Urteilens. Dies gilt jedoch nicht für die Regeln der Gerechtigkeit, die als die positiven Gesetze eines Landes kodifiziert sind; um gerecht zu handeln reicht es, diesen Regeln zu folgen, also Ungerechtigkeit zu vermeiden.14 Die allgemeinen Regeln sind für sich genommen unzureichend, unter anderem, weil sie unspezifisch, ungenau, vage und unbestimmt sind. So schreibt Smith: Die Mehrzahl der allgemeinen Regeln, die von den einzelnen Tugenden gelten, die allgemeinen Regeln, die bestimmen, was die Pflichten der Klugheit, der Nächstenliebe, des Edelmutes, der Dankbarkeit, der Freundschaft sind, diese Regeln sind in vielen Beziehungen unbestimmt und ungenau, sie lassen viele Ausnahmen zu und erfordern so viele Modifikationen, daß es uns kaum möglich ist, unser Verhalten ganz und gar durch die Rücksicht auf sie zu bestimmen und einzurichten. ... Von allen Tugenden ... ist vielleicht die Dankbarkeit diejenige, deren Regeln die bestimmtesten sind und die wenigsten Ausnahmen zulassen. ... Es ist offenbar, daß man keine allgemeine Regel aufstellen kann, nach welcher man auf irgendeine dieser Fragen in allen Fällen eine genaue Antwort geben könnte [nicht einmal dann, wenn es um Dankbarkeit geht]. ... Diejenigen Regeln, welche die Handlungen bestimmen, die durch Freundschaft, Menschlichkeit, Gastfreundlichkeit, Edelmut, gefordert werden, sind noch weit vager und unbestimmter. (III64.9: 174; dt. 264–266)
In dieser Hinsicht sind die Regeln aller anderen Tugenden nicht anders als die Regeln, mit denen die Kritiker festlegen, was in einem Text erhaben und elegant ist; sie geben nur eine allgemeine Idee von dem Standard vor, den zu erreichen man sich bemühen sollte. Im Unterschied dazu sind die Regeln der Gerechtigkeit den grammatischen Regeln ähnlich, die präzise und genau sind. 15 Für die Unbestimmtheit dieser Regeln gibt Smith noch einen weiteren Grund an, nämlich die Tatsache, daß die allgemeinen Begriffe selbst vage und unbestimmt sind: 12 13 14 15
III.4.7–12: 159–161; dt. 238–243. III.5.1: 161–163; dt. 243–245. II.ii.1.5: 79f.; dt. 117f. III.6.11: 175 f.; dt. 268; VII.iv.1: 327; dt. 545 f.
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Wenn ein Philosoph daran geht, eine Untersuchung darüber anzustellen, warum Menschlichkeit gebilligt oder warum Grausamkeit verurteilt wird, dann wird er sich nicht immer in besonders klarer und deutlicher Weise die Vorstellung irgendeiner einzelnen Handlung der Grausamkeit oder der Menschlichkeit zu bilden suchen, sondern er wird gewöhnlich mit der vagen und unbestimmten Idee zufrieden sein, welche die allgemeinen Namen jener Eigenschaften in ihm erwecken. ... Wenn wir Tugend und Laster in allgemeiner Weise betrachten, dann schwinden scheinbar die Eigenschaften, durch welche sie diese verschiedenen Empfindungen hervorrufen, zum größten Teile, und die Empfindungen selbst werden weniger auffallend und weniger deutlich erkennbar. (IV.2.2: 187 f.; dt. 321 f.)
Ein letzter Grund dafür, daß die allgemeinen Regeln für sich genommen unzureichend sind, liegt in der Angemessenheit des Gefühls, weshalb ein Handeln, in dem nur Regeln befolgt werden und dem jene feine Abstimmung der Gefühle fehlt, kein moralisches Verhalten im eigentliche Sinn ist: „ ... unser Verhalten [soll] eher durch eine gewisse Vorstellung von dem, was schicklich ist, durch ein gewisses Gefühl für eine besondere Art des Verhaltens geleitet werden, als durch irgendwelche Rücksicht auf einen fest bestimmten Grundsatz oder eine Regel; und wir sollen hier mehr den Zweck und den Grund der Regel als diese Regel selbst ins Auge fassen.“ (III.6.10: 175; dt. 267) Dennoch sind solche Regeln in hohem Maß nützlich, denn sie stellen Richtlinien für „die große Masse der Menschen“ dar, so daß auch sie mit „wenigstens leidlichem Anstand“ handeln. Denn der „grobe Stoff“, aus dem sie geformt sind, so stellt Smith folgerichtig fest, kann nicht zu solcher Vollendung gebracht werden, wie sie für ein Handeln erforderlich ist, das mehr als nur pflichtgemäß ist. (III.5.1: 161–163; dt 243–245). Werden in der Theorie der moralischen Gefühle Vorkehrungen dafür getroffen, einem Konflikt dieser Regeln in der Praxis vorzubeugen? Oder gibt es Vorkehrungen für den möglichen Fall eines solchen Konflikts, die verhindern, daß die Regel, die zu befolgen einer Person unmöglich ist, für sie zur Quelle einer moralischen Nachwirkung wird (eine solche Vorkehrung wäre das positive Gegenstück zu der Regel ‚Sollen impliziert Können‘)? Am Ende der Theorie der moralischen Gefühle, im Zusammenhang eines Vergleichs antiker Moraltheoretiker mit Vertretern des Naturrechts und der Kasuistik, werden diese Fragen beantwortet (vgl. VII.iv). Die antiken Moraltheoretiker gehören zu der Gruppe jener Moraltheoretiker, die über die moralischen Regeln nach einer „wenig bestimmten Methode“ schreiben, insofern sie zum einen die verschiedenen Empfindungen des Herzens bedenken, denen die verschiedenen Tugenden zugrunde liegen, und zum anderen die Arten
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des Verhaltens, zu denen diese Empfindungen Anlaß geben. Dies ist die Wissenschaft der Ethik, und zu ihren Vertretern gehören antike Moraltheoretiker wie Aristoteles und (in einigen seiner Schriften) Cicero. Im Anklang an zuvor ausgeführte Überlegungen im 4. Kapitel des III. Buches der Theorie der moralischen Gefühle, denen zufolge die allgemeinen Regeln wenig bestimmt, vage und unpräzise sind, wird die Wissenschaft der Ethik darin mit der Interpretation literarischer Werke verglichen, daß auch sie zwar nicht zu vollständiger Genauigkeit fähig, aber dennoch in hohem Maße nützlich und angenehm ist. Wenn sie außerdem mit rhetorischen Verzierungen daher kommt, gehören zu den besten Auswirkungen einer solchen Wissenschaft der Ethik auch eine erhöhte Empfänglichkeit für die Empfindungen des Herzens und für die Bedeutung der Pflichtgebote, weshalb sie auf unabhängige Weise zu einer gesteigerten moralischen Sensibilität beiträgt. (VII.iv.1–6: 327–329; dt. 545–549) Kasuistiker und all jene, die sich mit dem Naturrecht beschäftigen, bilden die zweite Gruppe der Moraltheoretiker; charakteristisch für sie ist ihr Bemühen, „genaue und fest bestimmte Regeln aufzustellen, nach denen wir unser Verhalten bis in die kleinsten Umstände hinein bestimmen sollen“. (VII.iv.7: 329; dt. 549) Zwischen beiden besteht vor allem folgender Unterschied: während die Vertreter des Naturrechts die Auffassung vertreten, das Naturrecht lasse sich genau, in ganz bestimmte Regeln fassen, die die positiven Gesetze eines Landes in Form von Vorschriften, deren Befolgung erzwungen werden kann, verkörpern, versuchen die Kasuisten, ganz bestimmte Regeln für die Anleitung zum guten Handeln vorzuschreiben, obwohl ein solches Unterfangen angesichts der Myriaden verschiedener Handlungssituationen im tatsächlichen Leben zum Scheitern verurteilt ist und daher eher zu moralischer Bevormundung führt. In diesem Kontext diskutiert Smith das Problem einander widerstreitender Pflichten. Sein Beispiel für widerstreitende Pflichten ist ein unter Zwang gegebenes Versprechen (es geht um jemanden, der einem Wegelagerer, der ihn mit dem Tod bedroht, Geldzahlungen verspricht), und die Frage ist, ob derjenige, der das Versprechen gegeben hat, verpflichtet ist, es zu halten. Nach der Rechtslage ist dies ein klarer Fall: Es gibt kein Gesetz, das vorschreibt, ein unter derartigen Umständen gegebenes Versprechen zu halten. Aber wenn man den Fall nach moralischen Maßstäben beurteilt, so stellt er sich ganz anders dar, und dies wird in dem genannten Abschnitt deutlich. Smith argumentiert hier wie folgt: „Betrachten wir die Angelegenheit so, wie sie sich dem gewöhnlichen Empfinden der Menschen darstellt, so werden wir finden, daß dieses selbst einem
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derartigen Versprechen eine gewisse Achtung zubilligt, daß es jedoch unmöglich ist, durch eine allgemeine Regel, die auf jeden einzelnen Fall ohne Ausnahme passen würde, zu entscheiden, wie viel Achtung ihm gebühre.“ (VII.iv.12: 331; dt. 552) Jemanden, der solche Versprechen auf die leichte Schulter nimmt und sie ohne viele Umstände zu machen bricht, sollten wir „nicht zu unserem Freund und Gefährten wählen“ (a. a. O.). Wie viel jemand dem Wegelagerer zu zahlen hätte, hinge von den besonderen Umständen des Falls ab; im allgemeinen gilt jedoch, daß es weniger akzeptabel ist, eine kleine versprochene Summe nicht zurückzuzahlen als eine große. Ob das Versprechen gehalten werden muß oder nicht, hängt auch von den weiteren Pflichten desjenigen ab, der das Versprechen gegeben hat. Pflichten, für die eigene Familie und andere Untergebene zu sorgen oder guten Zwecken zu dienen, denen nachzukommen nicht mehr ohne weiteres möglich wäre, wenn eine große Summe an den Wegelagerer zu zahlen wäre, würden der Pflicht, das diesem gegebene Versprechen zu halten, widerstreiten. Hier scheint nun ein moralisches Dilemma zu entstehen. Der Akteur hat zwei Pflichten – P1, für die ihm Untergebenen zu sorgen, und P2, seine Versprechen zu halten – und er kann aus prinzipiellen Gründen nicht beide erfüllen. In seiner bestimmten Lage ist es ihm nicht möglich, sowohl für die ihm Untergebenen zu sorgen als auch sein Versprechen gegenüber dem Wegelagerer zu halten. Er kann daher jede seiner beiden Pflichten nur um den Preis erfüllen, der jeweils anderen nicht nachzukommen. Er kann zwischen zwei Handlungsoptionen wählen, jede von ihnen stellt eine ‚komplexe Handlung‘ dar, die zwei Elemente enthält. 16 Er kann entweder A1 wählen und damit für die ihm Untergebenen sorgen, aber sein Versprechen brechen, oder aber A2 und damit sein Versprechen halten um den Preis, nicht für die ihm Untergebenen zu sorgen. Dieses Dilemma läßt sich mittels einer Analogie zu einem Dilemma der traditionellen Logik veranschaulichen: Prämisse 1
Prämisse 2
Konklusion
( A1 ⊃ ¬P2 ) und ( A2 ⊃ ¬P1 )
A1 ∨ A2
¬P2 ∨ ¬P1
Der ersten Prämisse zufolge führen beide Handlungsoptionen A1 und A2 dazu, daß eine Pflicht versäumt wird. Die zweite Prämisse besagt, 16 Die Bedeutung des Konzepts einer ‚komplexen Handlung‘ für moralische Dilemmata entwickele ich in dem in Fn. 10 erwähnten Aufsatz über „Moralische Dilemmata“.
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daß entweder A1 oder A2 ausgeführt werden. Und der Konklusion zufolge wird der Akteur eine seiner Pflichten versäumen. Welchen Status hat die versäumte Pflicht in der Theorie der moralischen Gefühle? Behauptet Smith, daß diese Pflicht nicht mehr besteht, wie diejenigen annehmen, die moralische Dilemmata für unmöglich halten? Oder behauptet er, daß diese moralische Pflicht unverändert besteht, obwohl es dem Akteur nicht möglich ist, sie zu erfüllen? Der Antwort zufolge, die Smith in Theorie der moralischen Gefühle gibt, bleibt die Pflicht, Versprechen zu erfüllen, bestehen, auch wenn die im Vergleich schwerer wiegende andere Pflicht den Bruch des Versprechens erforderlich macht. Das bedeutet, daß es in diesem Fall eine moralische Nachwirkung gibt: Man kann im allgemeinen sagen, daß die strenge Rücksicht auf das sittlich Richtige überall dort die Einhaltung solcher Versprechungen verlangt, wo dies nicht mit anderen, heiligeren Pflichten unvereinbar ist ... Es ist jedoch bemerkenswert, daß immer, wenn derartige Versprechen – und sei es auch aus zwingendsten Gründen – gebrochen werden, dies für denjenigen, der sie geleistet hat, eine gewisse Schande mit sich bringt. (VII.iv.12–13: 332; dt. 553f.) 17
Die moralische Nachwirkung manifestiert sich in diesem Fall in der „gewissen Schande“, der sich der Akteur nicht erwehren kann.18 Diese Beurteilung erfolgt durch die unabhängige Stimme im Text, ihre Autorität steht damit außer Frage. In der Folge untersucht Smith, wie Zuschauer in diesem Fall reagieren würden. Treulosigkeit und Falschheit, so heißt es dort, sind derartig gefährlich, daß „wir ... in unserem Denken mit allen Verletzungen der Treue in jedem Verhältnis und in jeder Lage die Vorstellung von Schande [verbinden]“. (VII.iv.13: 332; dt. 554) Hier geht Smith in die Redeweise der ersten Person Plural über, er läßt die Stimme der allgemeinen Menschlichkeit sprechen; und diese Stimme sagt weiter unten im Text: Treue ist eine so wichtige Tugend, daß wir im allgemeinen der Ansicht sind, sie zieme sich auch gegenüber demjenigen, gegen den wir keine andere Tugend zu üben verpflichtet sind, und den wir unserer Überzeugung nach mit Fug und Recht töten und vernichten dürfen. Vergebens würde derjenige, 17 In der Folge schreibt Smith: „Ein rechtschaffener Mann sollte eher sterben wollen, als ein Versprechen leisten, das er ohne Torheit nicht halten und ohne Schande nicht brechen kann.“ (VII.iv.12: 331; dt. 554) 18 Hier unterscheidet sich Smiths Position von der Kantischen, der zufolge es keine Pflicht gibt, unter Zwang gegebene Versprechen zu halten. Vgl. Donagan in Gowans 1987, S. 273 f.
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der sich eines Treuebruches schuldig gemacht hat, darauf bestehen, daß er das Versprechen nur gegeben habe, um sein Leben zu retten, und daß er sein Versprechen nur deshalb gebrochen habe, weil es mit einer anderen achtenswürdigen Pflicht unvereinbar gewesen wäre, es zu halten. Diese Umstände können seine Schmach geringer erscheinen lassen, aber sie vermögen nicht, sie gänzlich auszulöschen. Er scheint sich einer Tat schuldig gemacht zu haben, mit der eben in dem Urteil der Menschen eine gewisse Schande unabtrennbar verbunden ist. Er hat sein Versprechen gebrochen, das zu halten er feierlich versichert hatte; und an seinen Ruf, wenn er nicht gar mit unauslöschlichen Flecken besudelt ist, haftet von nun ab zumindest etwas Lächerliches, und es wird ihm sehr schwer werden, dies gänzlich zu beseitigen – kein Mensch, der ein derartiges Abenteuer erlebt hat, wird, wie ich glaube, besonders gerne die Geschichte davon erzählen. (VII.iv.13: 332 f.; dt. 555)
Hier wird die Existenz moralischer Nachwirkungen– in Form von Unehre, Scham, charakterlicher Abstumpfung oder charakterlichem Verfall oder der Preisgabe der Lächerlichkeit – durch das „Urteil der Menschen“ bezeugt. An früherer Stelle wird die Formulierung „Urteil der Menschen“ abfällig verwendet und steht nicht für das richtige moralische Urteil, sondern für das Verfehlen dieses Urteils. In einem Zusammenhang, in dem es um das Ringen um gesellschaftlichen „Status“ geht, schreibt Smith: So ungeheuer wichtig scheint es nach dem Urteil der Menschen zu sein, daß sie in eine Situation gelangen, die sie am meisten in den Gesichtskreis allgemeiner Sympathie und Aufmerksamkeit bringt. Und so ist Status, jener große Zankapfel, der die Frauen der Ratsherren entzweit, der Endzweck der Hälfte aller Mühe und Arbeit des menschlichen Lebens und ist die Ursache all des Treibens und Lärmens, all der räuberischen Gewalttätigkeit und Ungerechtigkeit, welche die Habsucht und der Ehrgeiz in diese Welt gebracht haben. (I.iii.2.8: 57; dt. 83) 19
Vielleicht muß man auch die spätere Stelle, an der es um moralische Nachwirkungen geht, in dem Sinne verstehen, daß eine zweite Stimme eingeführt wird, die zu der ersten ein Gegengewicht bildet, um deren Verurteilung des Treuebruchs abzumildern? Dann wäre dies in Analogie zu der ersten Stelle, an der ein gegengewichtiges Element eingeführt 19 Anm. zur Übers.: Im englischen Original ist an beiden Stellen der Theorie der moralischen Gefühle, die Vivienne Brown hier zitiert (VII.iv.13: 333; dt. 555 u. I.iii.2.8: 57; dt. 83), von den „imaginations of men“ die Rede. Eckstein übersetzt nur an der späteren Stelle mit „Urteil der Menschen“; an der früheren Stelle, wo die Formulierung „imaginations of men“, wie Brown ausdrücklich feststellt, abfällig verwendet wird, übersetzt er dagegen mit „Menschen in ihrer Einbildung“. Hier ist eine Modifikation seiner Übersetzung nicht nur aus stilistischen Gründen erforderlich.
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wurde, um der Verurteilung des Strebens nach Status mehr Gewicht zu geben. Aber hier, an der späteren Stelle, gibt es keine Doppeldeutigkeit; und im letzten Satz bekräftigt die Einfügung der Stimme der ersten Person Singular mit der ihr eigenen Autorität die Beurteilung durch das „Urteil der Menschen“. Die letzen Worte in diesem Abschnitt – „ ... kein Mensch, der ein derartiges Abenteuer erlebt hat, wird, wie ich glaube, besonders gerne die Geschichte davon erzählen“ – bringen die Überzeugung zum Ausdruck, daß in dieser Situation ein moralischer Wert verletzt worden ist und daß der Akteur dabei Schaden genommen hat. Der Theorie der moralischen Gefühle zufolge gilt also, daß eine Pflicht, die unerfüllt bleibt, dem moralischen Urteil des unparteiischen Zuschauers zufolge nicht aufgehoben wird, sondern ihre moralische Bedeutung behält. Es geht hier um moralische Dilemmata, und die moralische Nachwirkung, die in Form von Scham und Unehre zurückbleibt, bezeugt die gleich bleibende moralische Bedeutung des Sollens oder der unerfüllten Pflicht.
IV. Damit kommen wir zum Verfahren der Beurteilung durch die Sympathie des unparteiischen Zuschauers, in dem die Schicklichkeit oder Unschicklichkeit, das Verdienst oder die Schuld von einzelnen Handlungen nicht nach allgemeinen Regeln oder abstrakten Sätzen, sondern auf der Grundlage von Zuschauermechanismen bewertet wird.20 Besteht die Möglichkeit von moralischen Dilemmata, die aus widerstreitenden Prinzipien moralischer Urteile erwachsen? Im VI. Teil (der in der 6. Auflage hinzugefügt wurde), findet sich eine Theorie der verschiedenen Prinzipien, die die Wohltätigkeit betreffen, und hier gesteht Smith zu, daß eine Person von verschiedenen wohltätigen Neigungen in verschiedene Richtungen gedrängt werden kann. So stellt er z.B. die Frage, „in welchen Fällen die Freundschaft der Dankbarkeit weichen soll oder die Dankbarkeit der Freundschaft, in welchem Falle die stärkste aller natürlichen Neigungen der Rücksicht auf die Wohlfahrt derjenigen höherstehenden Personen zu weichen hat, von deren Wohlfahrt die der ganzen Gesellschaft abhängt, und in welchen Fällen die natürliche Neigung dieser Rücksicht vorangehen darf, ohne daß man dadurch gegen 20 Vgl. z. B. IV.2.2.
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die Sittlichkeit verstößt“ (VI.ii.1.22: 226; dt. 385). Aus diesem Stoff werden Tragödien gemacht: aus dem Widerstreit zwischen Freundschaft und Dankbarkeit und dem Widerstreit zwischen der Liebe zu und den Verpflichtungen gegenüber verschiedenen Mitgliedern der eigenen Familie oder derselben Gesellschaft. Wieder vertritt Smith die Auffassung, es sei nicht möglich, für derartige Konfliktfälle bestimmte Regeln anzugeben: Wenn jene verschiedenen wohltätigen Neigungen zufällig verschiedene Wege nehmen, dann ist es vielleicht ganz unmöglich, durch eine genaue Regel zu bestimmen, in welchem Fall wir der einen und in welchem wird er anderen nachkommen sollen.
Und wenig später heißt es von den „kasuistischen Regeln“, daß wir sie nicht brauchen, „um unser Verhalten danach zu bestimmen“, weil es oft unmöglich ist, sie all den verschiedenen Schattierungen und Abstufungen der Umstände, unserer Stellung und der Situation anzupassen, Unterschieden und Abweichungen, die zwar nicht unwahrnehmbar, wohl aber infolge ihrer Feinheit und Zartheit durchaus unausdrückbar sind. (VI.ii.1.22: 227; dt. 385)
Als Beispiel für einen Fall, in dem verschiedene wohltätige Neigungen eine Person in verschiedene Richtungen drängen, verwendet Smith an dieser Stelle der Theorie der moralischen Gefühle die „schöne Tragödie“ von Voltaire mit dem Titel Der Waise in China. Er führt aus, daß die Frage, was der Akteur zu tun habe, in derartigen Fällen „durchaus der Entscheidung des Menschen in unserer Brust überlassen werden [muß], der Entscheidung jenes vorgestellten unparteiischen Zuschauers, des großen Richters und Schiedsherrn über unser Verhalten. Wenn wir uns völlig in seine Situation versetzen, wenn wir uns wirklich mit seinen Augen betrachten und so, wie er uns betrachtet, und wenn wir mit gespannter und ehrerbietiger Aufmerksamkeit auf alles horchen, was er uns einflüstert, dann wird uns seine Stimme niemals täuschen.“ Dies ist eine sehr starke These über die entscheidende Rolle des unparteiischen Zuschauers, aber es bleibt unklar, in welchem Maß Smith sie sich in der Theorie der moralischen Gefühle zu eigen macht: Während wir […] die Seelengröße des Zamti bewundern, der bereit ist, das Leben seines eigenen Kindes zu opfern, um das Leben des letzten schwachen Überrests seiner alten Herrscher und Herrn zu erhalten, werden wir die mütterliche Zärtlichkeit der Idame nicht nur verzeihen, sondern sogar lieben, die auf die Gefahr hin, das wichtige Geheimnis ihres Gatten zu enthüllen, ihr Kind aus den grausamen Händen der Tataren zurückfordert, denen es ausgeliefert worden war. (VI.ii.1.22: 227; dt. 386 f.)
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Die Bewunderung der Seelengröße Zamtis spricht für die Tugend der Selbstbeherrschung, aber die Liebe zu Idamé in ihrer mütterlichen Zärtlichkeit spricht für eine andere, eine sanftere Tugend, die einen Kontrast zu der Seelengröße Zamtis bildet. 21 Idamé wird hier ihre Tugend mütterlicher Zärtlichkeit „verziehen“. Wie kann das sein? Sollen wir daraus, daß es an Idamés mütterlicher Zärtlichkeit etwas zu verzeihen gibt, etwa schließen, daß sie unter den gegebenen Umständen falsch war? Wenn sie aber verdient, geliebt zu werden, wie kann ihre Zärtlichkeit dann falsch gewesen sein? Außerdem stellt sich angesichts der Situation, in der die Protagonisten hier auftreten, die Frage nach der Geschlechterdifferenz zwischen diesen beiden Tugenden: Würde die Theorie der moralischen Gefühle die Seelengröße einer Mutter bewundern, die ihr einziges Kind opfert, und würde sie die Zärtlichkeit eines Vaters lieben, der das Opfer seiner Frau hintertreibt? Wenn wir uns Smiths „Letter to the Edinburgh Review“ zuwenden, der im Jahr nach der Uraufführung des Stücks in Frankreich veröffentlicht wurde, so stellen wir fest, daß Voltaires „Der Waise in China“ wieder lobend erwähnt wird, allerdings unter veränderter moralischer Bewertung. Voltaire wird „das universalste Genie“ genannt, „das Frankreich vielleicht jemals hervorgebracht hat“; und es heißt weiter: „Das schöpferische und erfindungsreiche Genie dieses Edelmanns zeigte sich niemals eindeutiger als in seiner letzten Tragödie mit dem Titel ‚Der Waise in China‘ “; aber die Seelengröße Zamtis wird nicht mehr uneingeschränkt bewundert: „Es ist ebenso angenehm wie überraschend zu sehen, wie die Abscheulichkeit, wenn ich so sagen darf, der chinesischen Tugend und die Rohigkeit der tartarischen Brutalität den Weg auf die französische Theaterbühne gefunden haben, ohne jene hübsche Etikette zu verletzen, über die diese Nation so differenziert und skrupulös urteilt“.22 Die „Grausamkeit“ von Zamtis Seelengröße? Was würde der unparteiische Zuschauer dazu sagen? Die Experten haben oft darauf hingewiesen, daß Smith Theaterstücke und Romane schätzte, weil sie die Empfänglichkeit der Menschen für Gefühle förderten und die Vielschichtigkeit des menschlichen Daseins aufzeigten und daher eine positive Wirkung auf die moralische Erziehung hätten. 23 Smiths Bezugnahme auf be21 Im Text der Theorie der moralischen Gefühle steht „Idame“, aber in L’orphelin de la Chine lautet der Name „Idamé“. 22 Vgl. Smiths Essays on Philosophical Subjects (EPS 254) u. die Bemerkungen des Hrsg. (EPS 229–231). 23 Vgl. z. B. Griswold 1999, S. 151, 215 f. u. 283; vgl. auch Marshall 1986.
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stimmte Werke kann aber auch ganz bestimmte Einsichten in die moralischen Beurteilungen vermitteln, um die es in diesen Werken geht, und das haben die Experten bisher weitgehend übersehen. Es lohnt sich daher, auf „Der Waise in China“ etwas näher einzugehen. In diesem Stück von Voltaire, dem eine alte chinesische Geschichte zugrunde liegt, ist China von Dschingis Khan, dem König der Tataren, erobert worden. Die königliche Familie wird niedergemetzelt und der im Sterben liegende König bittet Zamti, einen vertrauten Mandarin und Priester, das jüngste der königlichen Kinder zu retten. Zamti schwört, dieser Bitte zu entsprechen. Die Lage wird immer schlimmer und mündet in ein allgemeines Blutbad. Als die Tataren die Auslieferung des Königskindes verlangen, kann Zamti sein Versprechen nur dadurch einlösen, daß er seinen eigenen Sohn als den Sohn des Königs ausgibt. Zamtis Frau Idamé verrät, daß das Baby, das die tatarischen Soldaten gerade töten wollen, gar nicht der königliche Erbe ist, wie es ihr Mann sie hatte glauben machen, sondern ihr eigener Sohn, und sie bittet um seine Unversehrtheit. Die Verwirrung über die wahre Identität des Babys führt dazu, daß der Fall Dschingis Khan vorgetragen wird, und Idamé bittet diesen, ihren Sohn zu schonen. Dschingis Khan erfüllt ihr diese Bitte, Zamti aber wird abgeführt und gefoltert, damit er den wahren Aufenthaltsort des königlichen Babys verrate. Zamti bleibt jedoch standhaft und verrät nichts. Währenddessen stellt sich heraus, daß Dschingis Khan sich früher einmal erfolglos um die Gunst Idamés bemüht hatte (als er sich als unerkannter Fremder in China aufhielt). Jetzt erwacht seine Liebe zu Idamé wieder, und er versucht, ihre Liebe zu gewinnen, indem er abwechselnd alles verspricht und alles androht; er verspricht, sie zu heiraten (nachdem Zamti entweder von seinen Soldaten ermordet oder von ihr geschieden wurde). Idamé überzeugt Zamti davon, daß ihnen nur noch ein einziger ehrenhafter Ausweg bleibt, nämlich zusammen Selbstmord zu begehen. (Dabei geht sie davon aus, daß ihr Sohn dann in Sicherheit wäre, da Dschingis Khan versprochen hatte, ihm nichts zu tun, und daß der Aufenthaltsort des königlichen Babys unentdeckt bliebe.) In der Zwischenzeit hat Dschingis Khan sich jedoch, unter dem Eindruck ihres beispielhaften tugendhaften Verhaltens, selbst auf den Pfad der Tugend begeben. Er kommt ihrem Selbstmord zuvor. Auf diese Weise werden alle vier der zuvor bedrohten Leben gerettet, und von nun an soll China nach den alten chinesischen Tugenden regiert werden, nämlich nach der Tapferkeit, der Stärke und der Treue, wie sie Zamti und Idamé (auf ihre je verschiedene Weise), so bewundernswert unter Beweis gestellt haben.
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Sowohl Zamti als auch Idamé werden als in hohem Maße tugendhaft dargestellt; sie sind beide tapfer und loyal und bereit, lieber zu sterben, als in einer ihnen unehrenhaft erscheinenden Weise zu handeln. Aber ihre Tugenden sind nicht gleich, wie oben bereits bemerkt, und ihr gleichermaßen starkes Pflichtbewußtsein drängt sie zu verschiedenen Handlungen. Das Stück geht diesen moralischen Unterschieden in einem Dialog zwischen Zamti und Idamé nach, in dem es um die richtige Handlungsweise geht. Dieser ist für das, worum es in der Theorie der moralischen Gefühle geht, aufschlußreich. Auch nimmt die Auseinandersetzung zwischen Zamti und Idamé die Struktur eines moralischen Dilemmas an. Die Uneinigkeit zwischen Zamti und Idamé wird als Konflikt zwischen Elternpflichten und Bürgerpflichten dargestellt. Zunächst stellt Zamti die moralische Auseinandersetzung als Konfrontation zwischen zwei Gegenspielern dar, mit Pflicht und Stärke auf der einen und Natur und Schwäche auf der anderen Seite. Im Verlauf des Stücks werden diese binären Gegensätze jedoch von Idamé in Frage gestellt, die die moralischen Probleme, um die es geht, neu deutet. Idamé vertritt die Auffassung, daß die Forderungen der Natur selbst „Pflichten“ begründen, und daß diese Pflichten stärker zu gewichten sind als die bürgerlichen Pflichten: „Die Natur und die Eh, dies sind die ersten Gesetze, / Dieses sind unsere Pflichten, das Band der Geschlechter und Völker, / Und von Gott sind diese Gesetze, die andern von Menschen.“ (II. Akt, 3. Szene). 24 Außerdem ist sie überzeugt und stellt dies auch in ihren Handlungen unter Beweis, daß mütterliche Pflichten Charakterstärke erfordern; sie stellt damit die Auffassung in Frage, daß ihre „Schwäche“ als Mutter auch eine Schwäche in der Befolgung ihrer Pflichten umfaßt: „Ja, ich bin schwach. Vergieb es. Das ist die Pflicht einer Mutter. / Dann aber werd ich von dir den harten Vorwurf nicht hören, / Wenn ich dir soll folgen, und wenn wir müssen erbleichen. / Liebster Gemahl, wo du dem blutbegierigen Wütrich / An die Stelle des Sohns, die Mutter wagest zu opfern, / Vgl., dann bin ich bereit, da wird Idamé nicht klagen, / Und mein Herz ist allemal ebenso edel als deines.“ (II. Akt, 3. Szene). 25 24 „La nature et l’hymen, voilà les lois premières, / Les devoirs, les liens, des nations entières; / Ces Lois viennent des dieux; le reste est des humains.“ (Voltaire, TM IV, S. 318; dt. S. 21). 25 „Je suis faible, oui, pardonne; une mère doit l’être. / Je n’aurai point de toi ce reproche à souffrir / Quand il faudra te suivre, et qu’il faudra mourir. / Cher époux, si tu peux au vainqueur sanguinaire, / A la place du fils, sacrifier la mère, / Je suis prête:
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Sein Verständnis der Pflicht erscheint ihr wild und unzivilisiert, und sie will nicht glauben, daß er noch grausamer und barbarischer als die Tataren sein könne. „[…] Du Barbar! ists möglich? / Und du hast es befohlen, ein so entsetzliches Opfer? / Nein! das kann ich nicht glauben. […] / Nein! du kanst doch wohl nicht härter und grausamer werden, / Als die Gesetze des Siegers und als die Tartarische Schwerdter. / […] ich kenne sie nicht, die gar zu entsetzliche Tugend.“ (II. Akt, 3. Szene). 26 Später bezichtigt sie ihn noch einmal der Grausamkeit, weil er einer strengen Pflicht folgt: „[…] du irrst dich, Grausamer, deine zu ernstliche Tugend / Hat wider dich zwei Laster in einem Tage begangen, / Welche Natur und Liebe zugleich zum Abscheu bewegen. / Grausam bist du gegen den Sohn, doch gegen mich selber / grausamer […].“ (IV. Akt, 6. Szene). 27 Zamti erkennt schließlich Idamés Tugend an, und an manchen Stellen gibt er sogar zu, daß sie der seinen überlegen sei.28 In dem Stück werden die Tugenden der Idamé nicht als weniger wertvoll als diejenigen Zamtis dargestellt, und trotz ihrer „mütterlichen Zärtlichkeit“ erscheint sie nicht als ein schwächerer Charakter. Auch in den Dialogen behauptet sie sich, gegenüber Zamti und Dschingis Khan verteidigt sie ihre Überzeugung mit wohlüberlegten Argumenten. In dem Stück werden Zamti und Idamé als Vertreter und Vertreterin je einer Seite eines moralischen Dilemmas dargestellt. Am Anfang des Stücks ist die Lage die, daß zwei Handlungen, nämlich ihren eigenen Sohn zu retten und dafür zu sorgen, daß das Königshaus nicht ausstirbt, nicht beide ausgeführt werden können. Dies sind die komplexen Handlungen, die zur Wahl stehen: A1, die Rettung ihres einzigen Sohnes, und der Verrat des jungen Prinzen; und A2, die Rettung des jungen Prinzen und das Opfer ihres eigenen Sohnes. Die widerstreitenIdamé ne se plaindra de rien; Et mon cœur est encore aussi grand que le tien.“ (Voltaire, TM IV, S. 319; dt. S. 22). 26 „Barbare, est-il possible? / L’avez-vous commandé, ce sacrifice horrible? / Non, je ne puis le croire; […] / Non, vous ne serez point plus dur et plus barbare / Que la loi du vainqueur, et le fer du Tartare / […] / […] je ne connais point cette horrible vertu.“ (Voltaire, TM IV, S. 315 f.; dt. S. 18). 27 „Tu t’abuses, cruel, et ta vertu sévère / A commis contre toi deux crimes en un jour, / Qui font frémir tous deux la nature et l’amour. / Barbare envers ton fils, et plus envers moi-même, / […].“ (Voltaire, TM IV, S. 344; dt. S. 51). 28 „Deine Tugend, Idamé, ist weit erhabner, als meine.“ IV. Akt, 6. Szene – „Idamé, ta vertu l’emporte sur la mienne.“ (Voltaire, TM IV, S. 345; dt. S. 60). Auch später, als sie vorschlägt, sich gemeinsam mit dem Messer zu töten, das sie in seine Zelle geschmuggelt hat, erkennt Zamti ihre Tugend an. (V. Akt, 5. Szene: Voltaire, TM IV, S. 352 ff.; dt. S. 60 ff.).
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den Pflichten sind: P1, die elterliche Pflicht; und P2, die bürgerliche Pflicht. Diese Pflichten widerstreiten einander nicht prinzipiell, aber unter den besonderen gegebenen Umständen der Zeit ist es nicht möglich, der einen Pflicht zu genügen, ohne die jeweils andere zu verletzen. In Analogie zu einem Dilemma der traditionellen Logik läßt sich dies wie folgt darstellen: Prämisse 1
Prämisse 2
Konklusion
( A1 ⊃ ¬P2 ) und ( A2 ⊃ ¬P1 )
A1 ∨ A2
¬P2 ∨ ¬P1
Der ersten Prämisse zufolge führen beide Handlungsoptionen A1 und A2 dazu, daß eine Pflicht versäumt wird. Die zweite Prämisse besagt, daß entweder A1 oder A2 ausgeführt werden. Und der Konklusion zufolge wird der Akteur entweder seine elterliche oder seine bürgerliche Pflicht versäumen. Im Verlauf des Stücks tritt Zamti für die Überlegenheit von A2 im Vergleich zu A1 ein, Idamé dagegen verteidigt die Überlegenheit von A1 im Vergleich zu A2, und beide gestehen ausdrücklich zu, daß die von ihnen favorisierte Handlung auch mit einer moralischen Nachwirkung verbunden ist. Zamti versucht, Idamé davon zu überzeugen, daß die Bürgerpflicht höher einzuschätzen sei als die Elternpflicht, 29 jedoch bedeutet seine Favorisierung der Bürgerpflicht nicht, daß für ihn die Elternpflicht nicht mehr besteht. Schließlich bereitet ihm seine Entscheidung äußerst schmerzlichen Kummer. Wenn sich die „Stimme“ der väterlichen Pflicht und Liebe deutlich vernehmen läßt, fleht er den Himmel um Hilfe an: „[…] unglücklicher Vater! / O ich vernehme zu stark die liebe, die dringende Stimme. / Du, o Himmel! Befiehl dem Geschrey der Leiden zu schweigen. / Meine Gemahlinn, der einzige Sohn zerreißen mein Herze: / […].“ (I. Akt, 7. Szene). 30 Auch bittet er um „Vergebung“ für seine väterlichen Tränen. 31 Die Stimme des Vaters, so mächtig und beharrlich sie auch sein mag, wird für Zamti jedoch von der Pflicht übertönt, das Versprechen zu erfüllen, das er seinem König ge29 „[…] du warest ja Bürgerinn eher als Mutter.“ II. Akt, 3. Szene – „Vous êtes citoyenne avant que d’être mère.“ (Voltaire, TM IV, S. 316; dt. S. 18). 30 „[…] Ah! trop malheureux père / J’entends trop cette voix si fatale, et si chère. / Ciel! impose silence aux cris de ma douleur: / Mon épouse, mon fils, me déchirent le cœur.“ (Voltaire, TM IV, S. 313; dt. S. 15). 31 „Ihr meine Könige, nun vergebet dem Vater die Thränen.“ II. Akt, 2. Szene – „O mes Rois, pardonnez mes larmes paternelles.“ (Voltaire, TM IV, S. 315; dt. S. 17).
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geben hat; und die „Stimme“ des toten Königs spricht unverändert zu ihm, selbst aus dem Grab, und auf sie beruft er sich, als er sich Dschingis Khans Bitte widersetzt und den Aufenthaltsort des königlichen Thronfolgers nicht preisgibt: „Meiner erlauchtigen Herrn gewaltig mächtige Stimme / Spricht, viel höher als du, aus unterirrdischen Grüften.“ (III. Akt, 3. Szene). 32 Zamti hört weiter beide Stimmen: Obwohl er seine Bürgerpflicht stärker gewichtet als seine Elternpflicht, bleibt auch die weniger gewichtige Pflicht auf der Bühne präsent. Idamé wendet gegen Zamti ein, daß elterliche Pflichten stärker zu gewichten seien als Bürgerpflichten. Auch gegen Zamtis Überzeugung, an sein Versprechen, das jüngste Kind des Königs zu retten, weiterhin gebunden zu sein, erhebt sie Einwände. Sie gibt zu bedenken, daß dieses Versprechen in der besten Absicht gegeben wurde, daß er aber nun, angesichts der veränderten Umstände, da der Thronfolger nur um den Preis ihres einzigen Sohns gerettet werden könne, nicht länger an dieses Versprechen gebunden sein könne; schließlich hatte der König nicht von Zamti gefordert, den Thronfolger um den Preis der Opferung des eigenen Sohns zu retten. 33 Es ist diese Überzeugung – und nicht bloß „mütterliche Schwäche“ – die Idamé veranlaßt, sich über Zamtis Anweisung hinwegzusetzen, ihren Sohn mit dem königlichen Thronfolger zu vertauschen, und sie bestärkt sie in all ihren Auseinandersetzungen mit Zamti (dem sie vorhält, daß es ein Fehler gewesen sei, den eigenen Sohn zu opfern), und Dschinghis Khan (den sie bittet, um der Gerechtigkeit willen als Sieger Gnade walten zu lassen). Sie ist sich aber auch darüber im klaren, daß sie mit dem Festhalten an ihrer Überzeugung sowohl ihren Ehemann als auch ihren König verrät. So sagt sie zu Dschingis Khan, sie hätte dem Beispiel von Zamti folgen sollen, und bietet ihm zur Bekräftigung ihr Leben an in der Absicht, Zamti und ihren Sohn vor dem Zorn Dschingis Kahns zu bewahren: „… Ich sollte die standhafte Strenge mehr ehren, / Und ich sollte mich zeigen, wie er: Allein, ich bin Mutter. / Einer so grausamen Stärk ist meine Seele nicht mächtig, / … / Darum strafe nur mich allein; ich bins, die auf einmal / 32 „La souveraine voix de mes maîtres augustes / Du sein de leurs tombeaux, parle plus haut que toi: / […].“ (Voltaire, TM IV, S. 330; dt. S. 35). 33 „Willst du […] / […] das Blut des Sohnes hingeben, den niemand verlanget? / […] / Ja, errette den Waisen vom Menschen erwürgenden Sieger, / doch er ist viel zu theuer durch Kindermorden erlöset.“ II. Akt, 3. Szene – „Veux-tu […] / Livrer le sang d’un fils qu’on ne demande pas? / […] / Oui, sauvons l’Orphelin d’un vainqueur homicide: / Mais ne le sauvons pas au prix d’un parricide“ (Voltaire, TM IV, S. 316, 318; dt. S. 19, 21).
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Den Gemahl, den sie verehrt, das Blut der Fürsten verrathen.“ (III. Akt, 3. Szene). 34 Auch für Idamé ist die schwächer gewichtete Pflicht als solche nicht gegenstandslos geworden, sie bleibt auf der Bühne präsent; dafür bietet sie ihr Leben an. Sowohl Zamti als auch Idamé machen für ihr jeweiliges Handeln moralische Gründe geltend, und sie beide geben zu, daß ihr Handeln moralische Nachwirkungen hat. Beide erkennen die Tugend des (oder der) anderen an, beide preisen den anderen (oder die andere) als tugendhafter als er (oder sie) selbst, jedoch werfen auch beide dem anderen (oder der anderen) moralisches Versagen vor, weil dieser (oder diese) eine seiner (oder ihrer) Pflichten nicht erfüllt. Beide, Zamti und Idamé, werden als moralische Menschen dargestellt, aber das ändert letztlich nichts daran, daß sie nicht mit einer, sondern mit zwei einander widerstreitenden Stimmen sprechen. Das kommt darin zum Ausdruck, daß sie beide nacheinander Einwände gegen das eigene Verhalten ebenso wie gegen das des (oder der) anderen erheben. Und es ist diese Erfahrung – daß beide Stimmen richtige moralische Urteile äußern, von denen keines durch das andere außer Kraft gesetzt oder zum Verschwinden gebracht werden kann – die auch dem Text der Theorie der moralischen Gefühle erlaubt, beide Positionen zu respektieren: Zamtis Seelengröße ist zu bewundern, obwohl diese Tugend dem „Letter to the Authors of the Edinburgh Review“ zufolge „abscheulich“ ist. Idamés mütterliche Zärtlichkeit dagegen ist als liebenswürdig anzusehen, obwohl sie ihr gleichzeitig verziehen werden muß. Der Dialogismus der Theorie der moralischen Gefühle stellt gewissermaßen eine Lösung für das Problem bereit, wie sich der moralische Wert ausdrücken läßt, der beiden Seiten eines moralischen Dilemmas zukommt.
V. Das Verfahren der Beurteilung durch Sympathie und die Methode des unparteiischen Zuschauers stellen Akteuren Mittel zur Verfügung, die es ihnen erlauben, ihren Standpunkt imaginativ zu verändern und moralische Empfindungen zu haben, die sich von denen, die ihrem eigenen 34 „J’ai dû plus respecter sa fermeté sévère; / Je devais l’imiter: mais enfin je suis mère; / Mon âme est au-dessous d’un si cruel effort. /…/ Ne punissez que moi, qui trahis à la fois / Et l’époux que j’admire, et le sang de mes rois“ (Voltaire, TM IV, S. 329; dt. S. 34).
Moralische Dilemmata und der Dialogismus von Adam Smith
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Standpunkt angemessen sind, unterscheiden. Diese Empfindungen bilden die Grundlage für die moralische Beurteilung. Zu den Konsequenzen der dialogischen Struktur dieses Prozesses gehört es, daß im Geist des Akteurs mehrere Charaktere präsent sind und er einander widerstreitende Empfindungen erlebt. Die Empfindungen, die mit den Handlungsoptionen einhergehen, die nicht gewählt werden, werden nicht von der Bühne vertrieben und bleiben im Geist des Akteurs präsent. In den einander widerstreitenden moralischen Forderungen, wie sie für moralische Dilemmata typisch sind, können daher Beispiele für den moralischen Dialogismus gesehen werden. Das Verfahren des unparteiischen Zuschauers ermöglicht es Akteuren, Handlungen richtig moralisch zu beurteilen. Gleichzeitig stellt dieses Verfahren ein Mittel zur Verfügung (das es gleichzeitig verkörpert), die miteinander konkurrierenden moralischen Forderungen zum Ausdruck zu bringen, die für moralische Dilemmata charakteristisch sind. (Übersetzt von Christel Fricke)
Tugendideale in Smiths Theorie der moralischen Gefühle Kate Abramson / Indiana University, Bloomington In der Theorie der Moral ist es oft wie im wirklichen Leben: Wir bemühen Maßstäbe einer vollkommenen Lebensführung und charakterlichen Gesinnung, von denen wir nicht einmal zu hoffen wagen, daß wir selbst oder andere ihnen genügen könnten. An derartig idealen Maßstäben orientieren wir uns in unserem Streben wie an unerreichbaren, in der Ferne funkelnden Sternen. 1 Dabei stehen sie für einige unserer festesten Überzeugungen in Sachen der Moral. Denn das Bekenntnis zu diesem oder jenem Modell vollkommener Tugend kann spezifischere Ansichten über die Natur oder die Quelle moralischer Normativität entweder zur Folge haben oder ausschließen, insbesondere Ansichten über moralische Urteile, über die Funktion von Gefühlen im ethischen Leben, über moralische Motivation und bzw. oder über das Verhältnis zwischen moralischen und nicht moralischen Angelegenheiten. Vor diesem Hintergrund ist es ebenso interessant wie erstaunlich, daß die Theorie der moralischen Gefühle ihren Leserinnen und Lesern zwei verschiedene Modelle vollkommener Tugend präsentiert. 2 Das erste dieser Modelle betont die „ehrwürdige“ Tugend der „Selbstbeherrschung“ – eine strenge Kontrolle des eigenen Verhaltens, der Gefühle und Wertungen durch den „unparteiischen Zuschauer“ in uns. Dagegen kommt es bei dem zweiten Modell darauf an, daß sich der Handelnde vollständig mit dem unparteiischen Zuschauer identifiziert und 1 Ich bediene mich hier einer Humeschen Formulierung, allerdings zu einem anderen als dem Humeschen Zweck; vgl. Hume, EPM 5.2, S. 45 (Enq., S. 230). 2 In diesem Aufsatz konzentriere ich mich auf die Theorie der moralischen Gefühle. Mit dem Wohlstand der Nationen und dem Verhältnis dieser beiden Werke zueinander sind zusätzliche Schwierigkeiten verbunden, was die Interpretation von Smiths Konzept vollkommener Tugend betrifft, insbesondere Fragen nach den ausdrücklich politischen Dimensionen dieses Konzepts. Diese Fragen muß ich hier auf sich beruhen lassen.
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auf die Gleichstimmung seiner Gefühle achtet, wie sie derjenige erfahren würde, dem es gelänge, zu jenem großen Schiedsrichter in seiner Brust zu „werden“. Ich will zeigen, daß wir, wenn wir Smiths Konzepte dieser Ideale so hinnehmen, wie er sie präsentiert, zu dem Schluß kommen müssen, daß er zwischen mindestens zwei zutiefst verschiedenen Modellen vollkommener Tugend hin- und hergerissen war. In den Abschnitten eins und zwei analysiere ich die beiden von Smith präsentierten Modelle vollkommener Tugend, und im Abschnitt drei skizziere ich die Unterschiede zwischen ihnen. Man könnte diesen Aspekt der Smithschen Moralphilosophie auf eine Nachlässigkeit des Autors zurückführen oder annehmen, Smith sei die Lösung dieses Problems weniger dringlich erschienen als die anderer Probleme, denen er sich mit einiger Ausführlichkeit widmet. Im Abschnitt vier vertrete ich eine andere Hypothese, die für unser Verständnis der Stellung Smiths sowohl in der Geschichte der Moralphilosophie als auch in der gegenwärtigen moralphilosophischen Diskussion von erheblicher Bedeutung ist: Smith hat sich für keines der Modelle vollkommener Tugend, die er in der Theorie der moralischen Gefühle präsentiert, eindeutig entschieden, weil er andernfalls – schon allein um der Konsistenz willen – wesentliche Züge seiner Auffassungen moralischer Normativität, moralischer Motivation und der Natur moralischer Überlegung hätte aufgeben müssen. 3
3 Zwei Erklärungen vorweg: Erstens bestreite ich in gewisser Hinsicht die These, daß der unparteiische Zuschauer den Maßstab für die Tugend, wie Smith ihn versteht, konstituiert. Aber diese These läßt zwei verschiedene Lesarten zu. Es könnte zum einen eine These über das moralische Urteil sein, die These nämlich, daß wir Charaktere und Handlungen nur aus der Perspektive des unparteiischen Zuschauers angemessen einschätzen können. Es könnte zum anderen aber auch eine These sein, die Smiths Ideal vollkommener Tugend betrifft, die Behauptung nämlich, der unparteiische Zuschauer verkörpere die Vorstellung eines vollkommen tugendhaften Menschen. Andere Forscher haben die Auffassung vertreten, der unparteiische Zuschauer konstituiere den Smithschen Tugendmaßstab in diesen beiden Lesarten. So scheint z. B. Griswold 1999 beides über Smiths unparteiischen Zuschauer behaupten zu wollen. Während auch ich meine, Smith mache sich die erste dieser Thesen zu eigen, behaupte ich, daß er die zweite nicht durchgängig vertritt. Die zweite Erklärung betrifft die von Smith in der Theorie der moralischen Gefühle getroffene Unterscheidung zwischen zwei Maßstäben für die Tugend: den Maßstab „genauer sittlicher Richtigkeit und Vollkommenheit“, und den weniger präzisen Maßstab, der sich aus dem Vergleich zwischen uns und den „Freunden und Gefährten“, den „Rivalen und Mitbewerbern“ ergibt. (VI.iii.23: 247; dt. 417; vgl. VI.iii.27: 249 f.; dt. 421 f.) Ich beschäftige mich hier mit dem Smithschen Charakterideal, das dem präziseren Tugendmaßstab entspricht.
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I. Die vollkommene Selbstbeherrschung In einem der bekanntesten Abschnitte der Theorie der moralischen Gefühle schreibt Smith: „Selbstbeherrschung ist nicht nur selbst eine große Tugend, sondern von ihr scheinen auch alle anderen Tugenden ihren Glanz in erster Linie zu empfangen.“ (VI.iii.11: 241; dt. 407) Und an anderer Stelle heißt es: Demjenigen erkennen wir die vollendetste Tugend zu, denjenigen lieben und verehren wir natürlicherweise am höchsten, der mit der vollkommensten Herrschaft über seine ursprünglichen egoistischen Gefühle die außergewöhnlichste Empfindsamkeit sowohl für die ursprünglichen als für die sympathetischen Gefühle anderer verbindet. Derjenige, der mit all den sanften, zarten und liebenswerten Tugenden auch all die erhabenen, ehrwürdigen und achtunggebietenden verbindet, der muß sicherlich auch mit Recht unsere höchste Liebe und Bewunderung auf sich ziehen. (III.iii.35: 152; dt. 227)
Einige Aspekte dieser „ehrwürdigen“ Tugend sind Smiths Lesern wohl bekannt. Ähnlich wie die stoische Tugend, die zu ihren Vorläufern gehört, ist die Selbstbeherrschung, wie Smith sie versteht, jene „Festigkeit des Charakters“ oder „Geistesstärke“, die es dem Handelnden ermöglicht, selbst den „stärksten natürlichen Neigungen“ zu widerstehen. (VI.iii.12: 241; dt. 407 f.; IV.2.12: 192 f.; dt. 329 f.; VI.1.12–14: 215 f.; dt. 365–367). Es ist diese Tugend, „die uns befähigt, uns gegenwärtiger Lust zu enthalten oder gegenwärtigen Schmerz zu ertragen, um zu einem künftigen Zeitpunkte eine größere Lust zu erlangen oder einem größeren Schmerz zu entgehen“. (IV.2.6: 189; dt. 323 f.) Ebenso wie die entsprechende Humesche Tugend der „Geistesstärke“, läßt sich die Smithsche Selbstbeherrschung auch in den Dienst schlechter Ziele stellen – z. B. in den Dienst der Ungerechtigkeit statt in den der Gerechtigkeit – und dabei wird sie, wenn auch nicht allen Wert, so doch einen Teil ihres Wertes einbüßen. (VI.iii.12: 241; dt. 407 f.; VI.Schluß.7: 264; dt. 446) Wenn aber die Selbstbeherrschung einer Person auf deren „Sinn für Tugend und Angemessenheit“ beruht, wenn sie sich von jenem „vollkommenen, unparteiischen Zuschauer, dem Menschen in ihrer Brust“ leiten läßt, dann wird die Selbstbeherrschung die glänzendste ebenso wie die „ehrwürdigste und achtunggebietendste“ der Tugenden. (IV.2.12: 192 f.; dt. 329 f.; VI.1.2.: 212; dt. 361; III.3.38: 153 f.; dt. 229 f.) Ein wichtiger Aspekt dessen, was die Selbstbeherrschung, wie Smith sie versteht, zu solch einer „ehrwürdigen“ Tugend macht, ist
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deren „Nötigung“, die für diese Tugend konstitutive Kontrolle über unsere „ursprünglichen und egoistischen Gefühle“.4 Unter ansonsten gleichen Bedingungen gilt Smith zufolge: Je mehr solcher Nötigung erforderlich ist, desto mehr ist eine Person berufen, über sich selbst und andere zu urteilen (I.i.5.7–9; 25 f.; dt. 29–31; III.3.26: 147; dt. 218 f.) All die anderen Tugenden erhalten ihren ‚Glanz‘ von der Selbstbeherrschung, denn die Ausübung dieser Tugenden erfordert Selbstbeherrschung, und der Grad der Tugend hängt vom Grad der Selbstbeherrschung ab. 5 Viele Leserinnen und Leser der Theorie der moralischen Gefühle werden sich gewiß daran erinnern, daß Smith zwei Geschichten erzählt, die ausdrücklich von einer Art ‚Fortschritt‘ oder ‚Evolution‘ der Selbstbeherrschung handeln. Mit der ersten will Smith die ‚Grade‘ der Selbstbeherrschung veranschaulichen, wobei er zu deren Unterscheidung Kriterien der Stabilität verwendet: sie beginnt mit dem launischen Kind, dessen Eltern es nicht seinem Zorn überlassen, und endet mit dem „Mann von wahrer Charakterfestigkeit und Stärke“, der „bei allen Gelegenheiten die Herrschaft über seine passiven Gefühle behaute[t]“. (III.3.21–26:145-ff.; dt. 214–219) Die zweite handelt davon, wie sich die Fähigkeit einer Person zur Selbstbeherrschung mit der Entwicklung der Gesellschaft von einem „barbarischen“ zu einem „zivilisierten“ Zustand verändert. (V.2.9–10: 205–208; dt. 349–354) Smith gibt zu bedenken, daß eine Gesellschaft nur um den Preis zu zivilisieren sei, daß sich ihre Mitglieder tendenziell weniger beherrschen als die Mitglieder „barbarischer“ Nationen, weil „jeder Wilde ... eine Art spartanischer Zucht [erfährt] und ... infolge des Zwanges, den seine Lage ihm auferlegt, mit jeder Art von Mühsal und Entbehrung vertraut [ist]“. (V.2.9: 205; dt. 350) Um zu überleben, muß sich der „Wilde“ selbst beherrschen, sein Verhalten ebenso wie seine Gefühle, weshalb er diese Selbstbeherrschung rasch erlernt. „Diese heldenhafte und unbesiegbare Stärke ... wird von denjenigen nicht verlangt, die für das Leben in zivilisierten Gesellschaften erzogen wurden.“ (V.2.10: 207; dt. 353) Infolgedessen sind wir im Schutz 4 Siehe z. B. I.i.5.6: 25; dt. 29: „[…] die ehrwürdigen und achtunggebietenden Tugenden [bestehen] in jenem Grade von Selbstbeherrschung, der uns durch seine wunderbare Gewalt über die unlenkbarsten Leidenschaften der menschlichen Natur in Erstaunen setzt.“ Siehe auch VI.iii.4; I.i.5.7–9; VI.i.11; VI.iii.19; III.iii.44. Nützliche und bemerkenswerte Erörterungen der Smithschen Selbstbeherrschung findet man bei Darwall 1999, Fleischacker 1999 und Griswold 1999. 5 Ähnlich argumentiert auch Griswold 1999, S. 203.
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unserer Sicherheit oft schwächer als die „Wilden“. Der gesellschaftliche Fortschritt führt in gewissem Sinn zu unserem kollektiven, moralischen Verfall. 6 Aber es gibt noch eine dritte, bisher vernachlässigte Geschichte über die Herausbildung der Selbstbeherrschung, die sich aus vielen, über den ganzen Text der Theorie der moralischen Gefühle verstreuten Passagen herauslesen läßt. Smith präsentiert in diesen Passagen eine Entwicklungstheorie der Selbstbeherrschung, der zufolge sich die Fortschritte, die ein Handelnder bei der Ausbildung seiner Tugendhaftigkeit macht, an den verschiedenen Formen seiner Selbstbeherrschung ablesen lassen. 7 Die Formen der Selbstbeherrschung, um die es in dieser Entwicklungstheorie geht, unterscheiden sich in zwei Hinsichten voneinander. Zum einen unterscheiden sie sich hinsichtlich der Gegenstände, die der Selbstbeherrschung eines Handelnden „unterliegen“. So ist eine Person, deren Gesichtausdruck keinerlei Rückschlüsse auf ihre Gefühle erlaubt, im Vergleich mit einer Person, die nur ihr Verhalten beherrscht, auf dem Weg der Tugendhaftigkeit weiter fortgeschritten, jedoch nicht so weit fortgeschritten wie diejenige, die außerdem die Fähigkeit hat, ihre übermäßig intensiven Gefühle zu dämpfen, oder gar diejenige, die sich so weitgehend selbst beherrscht, daß sie die Gefühle, die sie spontan empfindet, um ihrer Tugend willen in ihrer Intensität nicht zu verändern braucht. Eine Person, die sich vollkommen beherrscht, empfindet trotz des „drängenden Einflusses“ ihrer „natürlichen Neigungen“ nur solche Gefühle, die der „unparteiische Zuschauer“ in ihrer Brust „sich zu eigen machen kann“. (VI.iii.9: 240; dt. 405 f.) Zum zweiten unterscheiden sich die Formen der Selbstbeherrschung hinsichtlich ihres motivationalen Inhalts. Der Soldat, der „sein Leben wegwirft, um seinen Offizier zu verteidigen“, der Ehrgeizige, der seine Ansprüche auf ein Amt zu Gunsten eines anderen, Verdienstvolleren aufgibt, Sokrates auf dem Sterbebett, und selbst der Räuber, der „auf das Schafott gebracht wird und dort mit Anstand und Stärke 6 „Mühsal und Gefahren, Unrecht und Mißgeschick, das sind die einzigen Lehrmeister, unter deren Zucht wir die Übung dieser Tugend erlernen können. Aber das alles sind Lehrer, in deren Schule kein Mensch sich freiwillig begibt.“ (III.3.36: 153; dt. 228) 7 Die Rede von „Entwicklung“ ist in diesem Zusammenhang moralisch, nicht psychologisch zu verstehen. Natürlich glaubt Smith, es sei für eine Handelnde psychologisch möglich, ihre Selbstbeherrschung auf diese Weise zu „entwickeln“ oder zu bewahren. Aber er sieht keine psychologische Notwendigkeit dafür, daß sich die Selbstbeherrschung in dieser Weise entwickelt – „Notwendigkeit“ bedeutet in diesem Zusammenhang soviel wie „notwendig für den Fortschritt der Tugendhaftigkeit“.
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auftritt“, sie alle stellen Smith zufolge Selbstbeherrschung unter Beweis. (IV.2.10–11: 191 f.; dt. 326–329; VI.iii.6: 239; dt. 404) Auch ist er der Auffassung, all diese Personen in verfolgten in ihrem Handeln zumindest teilweise Ziele, die sie zu Recht als moralisch wertvoll betrachten. 8 In diesem Sinn gilt, daß die moralischen Gefühle dieser Personen– ihre Gefühle der moralischen Billigung und Mißbilligung – für ihre Motivation zu von Selbstbeherrschung geprägtem Verhalten unverzichtbar sind. Jedoch sind die moralischen Gefühle dieser Handelnden für deren Emotionen und bzw. oder deren Verhalten auch noch auf eine etwas andere Weise maßgeblich. Wenn eine Person z. B. nur ihr Verhalten beherrscht, ist die motivationale Rolle ihrer moralischen Gefühle auf die Rolle eines „begrenzenden Motivs“ beschränkt. Ist die Selbstbeherrschung einer handelnden Person dagegen weiter entwickelt, können deren moralische Gefühle auch über die Struktur ihrer Emotionen bestimmen. 9 Drei Gründe sprechen dafür, sich im gegenwärtigen Zusammenhang diese Entwicklungstheorie genauer anzusehen. (1) Wenn wir verstehen, was den verschiedenen Arten der Selbstbeherrschung gemeinsam ist, werden wir besser gerüstet sein, die genaue Bedeutung der Smithschen These zu verstehen, der zufolge Tugend nur unter der Voraussetzung von Selbstbeherrschung realisiert werden kann. Mit dieser These will Smith vor allem begründen, daß der Selbstbeherrschung im Gesamtbild der vollkommenen Tugend eine besondere Bedeutung zukommt. (2) Einem Grundgedanken der Smithschen Entwicklungstheorie der Selbstbeherrschung zufolge unterscheidet sich die Form der Selbstbeherrschung, über die eine vollkommen tugendhafte Person verfügt, von der, über die weniger tugendhafte Personen verfügen. Das Verständnis dieser Unterschiede ist für das Verständnis der Smithschen Auffassung idealer Selbstbeherrschung unverzichtbar. (3) Wir benötigen ein präzises Bild dieser Theorie um die Spannungen zu erkennen, 8 So beginnt Smith seine Entwicklungstheorie der Selbstbeherrschung erst jenseits der niedrigsten Stufe, der Stufe der seiner Auffassung nach am wenigsten lobenswerten (aber doch lobenswerten) Selbstbeherrschung, nämlich jener Form der Selbstbeherrschung, mit der Personen Ziele verfolgen, die nicht moralisch wertvoll sind. 9 Ein „begrenzendes Motiv“ ist ein Motiv, das den Einfluß eines anderen Motivs oder eines Affekts begrenzt und damit den Handelnden daran hindert, so zu handeln, wie er es ohne eine derartige motivationale Begrenzung getan hätte. So kann z. B. mein Urteil, Rauchen sei schädlich für mich, im Hinblick auf mein aktuelles Bedürfnis danach zu rauchen als begrenzendes Motiv fungieren. Die Rolle moralischer Urteile als begrenzender Motive diskutieren z. B. Marcia Baron (Baron 1988) und Barbara Herman (Herman 1981).
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die zwischen Smiths Konzept eines vollkommenen, von Selbstbeherrschung geprägten Charakters und seinem Konzept eines Charakters bestehen, der sich vor allem durch seine Identifikation mit dem unparteiischen Zuschauer auszeichnet. Betrachten wir vor diesem Hintergrund einige der weniger lobenswerten Formen der Selbstbeherrschung, die Smith beschreibt! Von den Personen, die sich in Selbstbeherrschung üben und in ihrem Handeln moralisch wertvolle Ziele verfolgen, verdienen diejenigen das geringste Lob, die lediglich ihr Verhalten beherrschen. Wo er die Billigung, die z. B. die Klugheit verdient, erklärt, schreibt Smith, daß die Gefühle, die unser Verhalten bestimmen, auch dann, wenn es uns dabei nicht um wichtige, soziale Güter, sondern um Klugheit geht, „genau mit denjenigen des Zuschauers übereinzustimmen [scheinen]“, und er fährt fort: Der Zuschauer fühlt ja nicht die Kraft, mit der uns jene augenblicklichen Gelüste antreiben. Für ihn ist die Lust, die wir in einer Woche oder in einem Jahr genießen werden, genau so wichtig wie jene, die wir in diesem Augenblick genießen sollen. Wenn wir nun um der gegenwärtigen Lust willen die zukünftige opfern, dann erscheint ihm deshalb unser Betragen im höchsten grade töricht und unbesonnen und er kann den Prinzipien nicht beipflichten, die uns dabei bestimmen. Umgekehrt, wenn wir uns gegenwärtiger Lust enthalten, um uns eine größere, künftige Lust zu sichern, wenn wir so handeln, als ob der weit entfernte Gegenstand uns ebenso wichtig wäre wie jener, der sich unmittelbar unseren Sinnen aufdrängt, dann wird er – da unsere Neigungen dann genau mit seinen eigenen übereinstimmen – nicht umhin können, unser Benehmen zu billigen; und da er aus Erfahrung weiß, wie wenige Menschen dieser Selbstbeherrschung fähig sind, wird er unser Verhalten mit Erstaunen und großer Bewunderung betrachten. (IV.2.8: 189; dt. 324 f.) 10
Man beachte, daß Smith von einem solchen Menschen sagt, er handle, „als ob“ seine eigenen Gefühle mit denen des unparteiischen Zuschauers übereinstimmten. Die Gefühle, an die Smith in diesem Zusammenhang denkt, sind nicht die Gefühle moralischer Billigung oder Mißbilligung, die der Kluge bei der Planung seines Verhaltens berücksichtigt. 10 In dem Kapitel, aus dem dieses Zitat stammt, geht es Smith unter anderem um die Kritik einer Auffassung, die er Hume zuschreibt und die den Grund für unsere moralische Billigung der Klugheit und anderer Haltungen, die für den Handelnden selbst „nützlich und angenehm“ sind, betrifft. Grob gesagt wendet Smith gegen Hume ein, dieser reduziere unsere Billigung solcher Haltungen auf Nützlichkeitserwägungen, obwohl die Hauptquelle dieser Billigung in Wahrheit in ganz andersartigen Erwägungen der Angemessenheit liegt. Ich bin der Meinung, daß Smith Humes Analyse des Werts der Selbstbeherrschung – dessen, was Hume nach dem Vorbild von Cicero „Geistesgröße“ nennt – mißverstandene hat. Siehe dazu Abramson 2002.
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Der Kluge (insofern er klug ist) und der unparteiische Zuschauer billigen gleichermaßen jenes Handeln, mit dem eher zukünftige, größere als gegenwärtige, geringere Ziele verfolgt werden. Mit anderen Worten: Die moralischen Gefühle, die der Kluge in Bezug auf sein Handeln empfindet, stimmen tatsächlich mit denen des unparteiischen Zuschauers überein. Der Unterschied zwischen dem lediglich Klugen und dem großen Schiedsrichter in uns liegt eher darin, daß dieser tatsächlich an zukünftigen Gütern ebenso interessiert ist wie an gegenwärtigen. So erklärt sich, daß der Kluge handelt, „als ob“ seine Gefühle mit denen des unparteiischen Zuschauers übereinstimmten: Er handelt, als ob seine Begehrungen in ihrer Stärke seinen Urteilen über den relativen Wert der von ihm gewählten Handlungsoptionen entsprächen. Aus diesem Grund ist die moralische Billigung der Klugheit für Smith ein Phänomen, das schwer zu verstehen ist. 11 Hier sind es, wie in allen anderen Fällen, die Gefühle des unparteiischen Zuschauers, die den Maßstab für die moralische Billigung setzen.12 Jedoch hat der unparteiische Zuschauer in Bezug auf die gewöhnliche menschliche Klugheit gemischte Gefühle. Einerseits billigt er es, wenn jemand in seinem Handeln um zukünftiger größerer Güter willen auf geringere Güter verzichtet. Andererseits kann er es nicht billigen, wenn jemand, der sich durch gewöhnliche Klugheit auszeichnet, sich für das gegenwärtige, geringere Gut doch mehr interessiert – es stärker begehrt. In dieser Hinsicht beherrscht der Kluge seine Begehrungen nicht. Und unter einem anderen Gesichtspunkt ist zu ergänzen: Der unparteiische Zuschauer würde den Klugen bei weitem nicht so bewundern, wäre dessen Begehrung gegenwärtiger, geringerer Güter weniger stark. Denn kluges Verhalten ist nur deshalb so schwierig, weil dieses Begehren so stark ist. Umgekehrt betrachtet der unparteiische Zuschauer „unser [kluges] Verhalten mit Erstaunen und großer Bewunderung“, gerade weil es so schwierig ist und weil daher „wenige Menschen dieser Selbstbeherrschung fähig sind“. Die Komplexität der Smithschen Klugheitsanalyse läßt sich teilweise direkt auf die Tatsache zurückführen, daß der Kluge nur sein Verhalten beherrscht, nicht aber den Inhalt oder die Stärke seiner Gefühle und 11 Ich behaupte nicht, hier eine erschöpfende Analyse von Smiths Auffassung der Quelle unserer Billigung von Klugheit geliefert zu haben. Ich will nur auf einige Schwierigkeiten hinweisen, die mit dieser Auffassung verbunden sind, die in der Literatur zu diesem Thema bisher noch nicht erwähnt wurden. 12 Siehe dazu auch: oben, Fn. 3.
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Begehrungen. Daraus, daß die Selbstbeherrschung des Klugen in ihrer Reichweite so begrenzt ist, erklärt Smith die motivationale Rolle von dessen moralischen Gefühlen: es ist die Rolle des begrenzenden Motivs. Die moralischen Gefühle des Klugen schränken die motivationale Wirksamkeit seines Begehrens erster Stufe, seines Begehrens eines geringeren, unmittelbareren Gutes ein, so daß sein (schwächeres) Begehren eines größeren, zukünftigen Guts für sein Verhalten den Ausschlag geben kann. 13 Der Kluge muß sich also in Selbstbeherrschung üben, er muß die motivationale Wirkung seiner Begehrungen erster Stufe unter Kontrolle haben; dafür wird er dann belohnt, denn seine Begehrungen geringerer, unmittelbarerer Güter sind stärker als sie sein sollten. Die Tugend der Smithschen Klugheit, so können wir sagen, ist eine Form der Selbstbeherrschung, die notwendig ist, weil es der Akteur versäumt hat, sich in einer anderen Form der Selbstbeherrschung zu üben. Unter den Smithschen Tugenden ist die Klugheit in dieser Hinsicht nicht einzigartig. So schreibt er z. B. über den Wilden, dessen Leben ständig in Gefahr ist, daß „die Affekte, die ihn bewegen, und mögen sie noch so heftig und gewaltsam sein, [niemals] den heiteren und ruhigen Ausdruck seiner Miene oder die Gelassenheit seines Benehmens und seines Verhaltens stören [dürfen]“ (V.2.9: 205; dt. 350). 14 Ebenso wie der Kluge hat auch der Wilde seine Affekte nicht völlig unter Kontrolle. Heftig und gewaltsam empfindet er sie; und wegen ihrer Gewaltsamkeit sind sie, so Smith, nicht nur ungeeignet, wenn es um die Ausrichtung des Verhaltens geht, sondern auch an sich zu mißbilligen. Ebenso wie den Klugen billigen wir auch den Wilden, gerade weil und in dem Maß, in dem es ihm gelingt, die Auswirkungen dieser gewaltsamen, 13 Ich entnehme das dem oben zitierten Abschnitt. Man könnte statt dessen die Auffassung vertreten, selbstbeherrschte Personen handelten trotz der sie bedrängenden Affekte klug, weil ihr gegenwärtiges, schwaches Begehren jenes zukünftigen, größeren Guts dadurch verstärkt wird, daß sie ein Handeln billigen, das auf die Verwirklichung eines solchen größeren Guts zielt. (Das wäre ein verstärkendes Motiv, wie Smith es im Anschluß an den zitierten Abschnitt diskutiert.) Das Problem, wie Smith es in diesem Abschnitt konzipiert, ist jedoch nicht, daß das auf ein größeres, zukünftiges Gut gerichtete Begehren des Klugen zu schwach ist; das Problem ist vielmehr, daß sein auf ein gegenwärtiges, geringeres Gut gerichtetes Begehren zu stark ist. Daher schreibt Smith, daß der unparteiische Zuschauer– im Unterschied zu normalen Menschen – „nicht die Kraft [fühlt], mit der uns jene augenblicklichen Gelüste antreiben“. 14 Vgl. auch den folgenden Abschnitt der Theorie der moralischen Gefühle (V.2.10: 207 f.; dt. 353 f.).
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bösartigen Affekte auf sein Verhalten und seine Haltung unter Kontrolle zu behalten. Nun könnte man zu dem Schluß kommen, zwischen der Klugheit – wie Smith sie beschreibt – und der Selbstbeherrschung, die den oben beschriebenen Wilden auszeichnet, bestehe tatsächlich gar kein Unterschied. Aber es besteht zwischen ihnen doch mindestens der folgende Unterschied: Smiths Feststellung, daß die „heftigen“ und „gewaltsamen“ Affekte des Wilden „[niemals] den heiteren und ruhigen Ausdruck seiner Miene ... stören [dürfen]“, ist bemerkenswert. Offensichtlich hat der Wilde sowohl sein Verhalten als auch andere, unmittelbarere Äußerungen der Affekte, die er gerade empfindet, unter Kontrolle (so z. B. seinen Gesichtsausdruck); ob man das gleiche über den Klugen sagen kann, ist jedoch unklar. Es ist zu vermuten, daß Smith diesen Unterschied für moralisch bedeutsam hält. Denn er legt in der Theorie der moralischen Gefühle nahe, daß es leichter sei, entgegen starken Affekten zu handeln als seinen Gesichtsausdruck zu kontrollieren. 15 Bedeutsam ist dies insofern, als Smith, wie wir wissen, das Maß an Lob, das eine bestimmte Form der Selbstbeherrschung verdient, unter anderem von der Schwierigkeit abhängig macht, diese Form der Selbstbeherrschung zu erlangen. Offenbar müssen wir schließen, daß der Smithsche Wilde mit seinem Pokerface die Tugend der Selbstbeherrschung in höherem Maß hat als der Kluge. Nehmen wir einmal an, dies sei der Fall. Dann könnten wir vermuten, daß der Wilde mit seinem Pokerface und der Kluge nicht nur unterschiedlich viel Lob für ihre Selbstbeherrschung verdienen, sondern sich auch hinsichtlich ihrer Handlungsmotive voneinander unterscheiden. Ähnlich wie vor ihm Hutcheson und Hume betrachtet auch Smith im allgemeinen Motive als die hauptsächlichen Gegenstände moralischer Urteile. 16 Wenn aber der Wilde und der Kluge für ihre Selbstbeherrschung je unterschiedlich viel Lob verdienen, so haben wir allem 15 Siehe z. B. I.iii.1–5. Während Smith ausdrücklich feststellt, daß das Böse sowohl im Mangel von Affekten als auch in deren Übermaß liegen kann, und obwohl er dies sogar im Kontext seiner Analyse der Selbstbeherrschung erwähnt (VI.iii.13–16: 242–244; dt. 408–412 und auch VI.iii.21–22: 246 f.; dt. 415–417), scheint er die Möglichkeit einer Form der Selbstbeherrschung nicht bedacht zu haben, die darin besteht, aus seinen affektiven Dispositionen einen bestimmten Affekt zu aktualisieren, den man gerade nicht oder nur schwach empfindet. Diesem Phänomen am nächsten kommt er noch in VI.iii.16: 243 f.; dt. 411 f., wo er sich auf unangemessen gemäßigte Affekte bezieht, die ein Zeichen von „Schwäche“ sind. 16 Offensichtlich behandelt Smith die Gerechtigkeit in dieser Hinsicht als einen Sonderfall.
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Anschein nach Grund anzunehmen, daß sich auch ihre Motive inhaltlich unterscheiden. Möglich wäre z. B. folgendes: Angenommen, ich beurteile, ähnlich wie der Wilde und der Kluge, einige der Affekte oder Begehrungen, die ich gerade empfinde, als zu heftig.17 Wenn ich eine meiner Begehrungen moralisch mißbillige, könnte mich dies dazu veranlassen, so zu handeln, als seien meine Gefühle anders, als sie tatsächlich sind. Dann fungiert diese Mißbilligung als begrenzendes Motiv. 18 Wie wir gesehen haben, hat Smith so etwas im Sinn, wenn er die motivationalen Zustände des Klugen beschreibt. Aber die moralischen Gefühle eines Menschen, die als begrenzende Motive fungieren, könnten auch (oder stattdessen) als stützende oder bestärkende Motive fungieren – wie Christine Korsgaard vorgeschlagen hat. 19 Dieser Überlegung zufolge kann moralische Billigung oder Mißbilligung in Verbindung mit einem psychologisch ausgezeichneten Begehren allein dazu ausreichen, eine Person zu einer Handlung zu motivieren, die sie allein aufgrund ihres für sich genommen zu schwachen Begehrens nicht ausgeführt hätte. Wir können uns z. B. den Smithschen Wilden vorstellen, wie er einen anderen angreift und dabei zwischen heftiger Furcht oder Zorn und dem Wunsch hin- und hergerissen ist, in den Augen seines Feindes weder als Feigling noch als Verrückter zu erscheinen. Die moralischen Gefühle des Wilden könnten, insofern sie als begrenzende Motive fungieren, den Effekt seines Zorns oder seiner Furcht eindämmen und ihn daran hindern, unter dem Einfluß dieser Affekte zu handeln. Insofern sie aber als stützende Motive fungieren, könnten diese Gefühle ihn in seinem psychologisch bestimmten Wunsch bestärken, nicht als Feigling oder Verrückter zu erscheinen. Damit will ich sagen, daß die Selbstbeherrschung, die Smith dem Klugen zuschreibt, als Zustand eines Handelnden zu verstehen ist, in dem dessen moralische Gefühle in bezug auf die Affekte, die er gerade empfindet, als begrenzende Motive fungieren. Die Selbstbeherrschung dagegen, die Smith dem Wilden zuschreibt, ist als Zustand eines Handelnden zu verstehen, in dem seine moralischen Gefühle in bezug auf 17 W. D. Falk (1986) diskutiert den Unterschied zwischen gegenwärtig gefühlten Affekten und Dispositionen zu bestimmten Affekten ausführlich. 18 In diesem ganzen Abschnitt rede ich so, als sei beabsichtigtes Verhalten der einzige Gegenstand eines moralischen Urteils (nicht auch der eigene affektive Zustand, der Gesichtsausdruck, oder eigene Äußerungen usw.). Ich tue dies nur um der Klarheit willen und um Wiederholungen und Schachtelsätze zu vermeiden. 19 Christine Korsgaard (1989) schreibt Hume eine Auffassung des motivationalen Einflusses moralischer Gefühle zu, die in etwa dieser zweiten Möglichkeit entspricht.
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die Affekte, die er gerade fühlt, nicht nur als begrenzende, sondern auch als stützende Motive fungieren. Soweit ich sehe behauptet Smith an keiner Stelle ausdrücklich, daß sich der Kluge und der Wilde genau darin voneinander unterscheiden, daß ihre Form der Selbstbeherrschung einen je verschiedenen motivationalen Inhalt hat. Aber die vorgeschlagene Lesart des Textes hat verschiedene Vorzüge. Zum einen können wir, wenn wir die Motive des Klugen und des Wilden so charakterisieren, Smith entgegenkommen und erklären, warum nur der Wilde in der Lage ist, sowohl sein Verhalten als auch seinen Gesichtsausdruck zu kontrollieren. Natürlich könnte es sein, daß es hier um nichts anderes geht als darum, daß die moralischen Gefühle des Wilden stärker sind als die des Klugen. Aber diese alternative Interpretation provoziert die Frage: ‚Stärker in welchem Sinn?‘ Die moralischen Gefühle des Wilden sind stärker als die des Klugen in dem Sinn, daß ihre Wirkung als begrenzende Motive stärker ist als die der moralischen Gefühle des Klugen. Aber diese Antwort scheint mir psychologisch unplausibel zu sein. Sie würde Smith nämlich auf die Position festlegen, daß der Wilde, um den es ihm in diesem Beispiel geht, niemals unklug handeln würde, er würde nicht einmal den Anschein erwecken, in Versuchung zu sein, unklug zu handeln. Wir können uns aber ohne weiteres vorstellen, daß dies nicht den Tatsachen entspricht. So könnte der Smithsche Wilde jeden Anschein von Feigheit zu zeigen vermeiden, wenn er in Lebensgefahr ist, aber der Versuchung erliegen, die süße Frucht zu verzehren, die er eigentlich trocknen und für den Winter aufbewahren wollte. Zum anderen gibt es weitere Gründe für die Annahme, Smith habe die Selbstbeherrschung des Wilden für lobenswerter gehalten als die des gewöhnlichen Klugen. Zwischen diesem Aspekt der Smithschen Entwicklungstheorie der Selbstbeherrschung und seiner bekannten Geschichte von dem moralischen Verfall der Selbstbeherrschung in zivilisierten Gesellschaften besteht im übrigen ein Zusammenhang. Auch Smiths Beschreibung des Wilden mit seinem Pokerface ist ein Teil dieser Geschichte. Smith hält die Klugheit für eine unter den erwachsenen Mitgliedern einer zivilisierten Gesellschaft relativ weit verbreitete Form der Selbstbeherrschung. Daraus scheint offensichtlich hervorzugehen, daß die Entwicklung von einer Gesellschaft, unter deren Mitgliedern die Selbstbeherrschung des Wilden weit verbreitet ist, zu einer Gesellschaft, in der die Selbstbeherrschung des Klugen vorherrscht, als moralischer Verfall zu deuten ist. Jene Form der Selbstbeherrschung verdient mehr Lob als diese. Auf der Grundlage meiner Interpretation der motivationalen Unterschiede zwischen diesen beiden Formen der
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Selbstbeherrschung läßt sich gut erklären, warum Smith die Kontrolle über das Verhalten und andere Arten des Ausdrucks von Gefühlen (z. B. die Kontrolle, die uns unsere Fassung wahren läßt), für lobenswerter hält als die bloße Kontrolle des Verhaltens. Ein Maßstab für das Lob, das eine bestimmte Form der Selbstbeherrschung verdient, ist Smith zufolge der Grad der mit dem Erwerb dieser Selbstbeherrschung verbundenen Schwierigkeit. Nach meiner Interpretation ist die Kontrolle des Gesichtsausdrucks und des Verhaltens schwieriger zu meistern als die bloße Kontrolle des Verhaltens, weil den moralischen Gefühlen einer Person nur im ersten, nicht aber im zweiten Fall eine Doppelfunktion zukommt. Wie immer wir Smiths Vergleich zwischen der Selbstbeherrschung des Wilden und der des Klugen interpretieren, fest steht, daß es Formen der Selbstbeherrschung gibt, die seiner Auffassung nach mehr Lob verdienen als diese. Auf manche Menschen, so räumt Smith ein, hat der von ihnen verinnerlichte unparteiische Zuschauer einen so großen Einfluß, daß die Affekte, die sie empfinden – die Affekte, die zu den Gegenständen der moralischen Beurteilung gehören – sich verändern. 20 So erwähnt Smith schon im ersten Teil der Theorie der moralischen Gefühle, wie sehr wir diejenigen bewundern, die, auch wenn sie die „größten Beleidigungen“ erleiden, sich vollkommen unter Kontrolle haben und sich nicht von „der Wut“ beherrschen lassen, die derartige Beleidigungen „in der Brust des Angegriffenen zu erregen pflegen“, sondern von „dem Unwillen“, wie ihn Beleidigungen „naturgemäß im Herzen des unparteiischen Zuschauers hervorrufen“ (II.i.5.8: 24; dt. 28). In gleicher Absicht erinnert Smith seine Leserinnen und Leser später daran, daß „das Übelnehmen, das in den Graden, in denen wir es oft beobachten, der wohl verabscheuungswürdigste unter allen Affekten ist, nicht mehr Gegenstand der Mißbilligung ist, sobald er gemäßigt und auf den Grad des sympathetischen Unwillens des Zuschauers herabgestimmt wird“ (II.i.5.8: 76; dt. 112). Smith unterscheidet nicht nur zwischen der Selbstbeherrschung derartiger Personen und der Selbstbeherrschung von Personen, deren Affekte nicht von moralischen Gefühlen verändert werden; er betont auch ausdrücklich, daß jene Form der
20 Ein Affekt, dessen kognitive und affektive Dimensionen durch die moralischen Bindungen des Handelnden bestimmt würden, wäre ein moralisches Gefühl in dem Sinn eines moralisierten Gefühls oder einer moralisierten Emotion. Um Mißverständissen vorzubeugen verwende ich den Ausdruck ‚moralisches Gefühl‘ in der Folge nur für Gefühle moralischer Billigung oder Mißbilligung.
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Selbstbeherrschung im Vergleich mit dieser in höherem Maß „angemessen“ ist. So schreibt er in milder Nachsicht für die Fehlbarkeit des Menschen: „Es gibt Situationen, die so große Anforderungen an die menschliche Natur stellen, daß der höchste Grad von Selbstbeherrschung, […], nicht fähig ist, […] die Gewalt der Leidenschaften auf jene Stufe der Mäßigung herabzudämpfen, auf der der unparteiische Zuschauer sie nachfühlen kann.“ (I.i.5.8: 25 f.; dt. 30) In solchen Situationen zollen wir, so Smith, dem Betragen des Leidenden „Beifall“, obwohl es „die vollkommenste Richtigkeit und Schicklichkeit nicht erreicht“ (I.i.5.8: 25 f.; dt. 30; siehe auch VI.iii.9: 240; dt. 405 f.). Nicht zufällig verwendet Smith in diesem Abschnitt aktive Verben: die Person, die einer anderen etwas übel nimmt, „mäßigt“ ihren Ärger und reduziert ihn auf den „Grad“, der dem angemessenen Unwillen entspricht; es gibt Situationen, in denen selbst die vollkommenste Selbstbeherrschung einer Person nicht ausreicht, die Gewalt ihrer Affekte „herabzudämpfen“. Diese Redeweise unterscheidet diejenigen, die sich durch diese Form der Selbstbeherrschung auszeichnen, von denen, die, wie der Wilde mit seinem Pokerface und der Kluge, die Gewalt (oder Kraft) ihrer Affekte nicht zügeln können. Auf welche Weise oder Weisen unterscheidet sich der motivationale Zustand eines Menschen, der sein Übelnehmen mäßigt, von dem eines Wilden, dessen Wut zwar nicht zum Ausdruck kommt, aber dennoch heftig ist? Offenbar liegt der wichtigste Unterschied darin, daß die moralischen Gefühle nur im ersten, nicht aber im zweiten Fall regulierend auf die Affekte wirken. Wenn ein Mensch einem anderen etwas sehr übel nimmt, er die Heftigkeit seines Affekts jedoch mißbilligt, so daß seine moralischen Gefühle sein Übelnehmen zügeln, spielen seine moralischen Gefühle eine bestimmende Rolle, die über ein Begrenzen oder Stützen von Motiven hinausgeht. Die Aufgabe dieser Gefühle besteht nicht darin, andere, psychologisch verschiedene Affekte oder Begehrungen erster Ordnung herabzudämpfen oder ihre Intensität zu stärken; vielmehr müssen sie den Inhalt dieser Affekte direkt beeinflussen. In dem Moment, in dem eine Person ihre unangemessen heftigen Affekte oder Begehrungen mäßigt, hat die Unterscheidung zwischen ihren Begehrungen erster Ordnung und ihren moralischen Gefühlen, die diese Begehrungen mäßigen und daher Gefühle zweiter Ordnung sind, eine nur mehr rechtfertigende Funktion. Anders als im Fall des Wilden oder des Klugen ist diese Unterscheidung nicht psychologisch zu verstehen. Wenn Smith von einer solchen Person sagt, sie „mäßige“ die Heftigkeit ihrer Affekte oder „dämpfe“ sie herab, so unterscheidet er damit
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auch die Form der Selbstbeherrschung, durch die sich diese Person auszeichnet, von der „vollkommenen Selbstbeherrschung“. Der wichtigste Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Selbstbeherrschung besteht darin, daß diejenige, die sich selbst vollkommen beherrscht, niemals einen Affekt tatsächlich empfindet, den sie dann dämpfen und auf einen Grad mäßigen muß, mit dem der unparteiische Zuschauer sympathisieren kann. „Ein Mann von wahrer Charakterfestigkeit und Standhaftigkeit“, so schreibt Smith, „heuchelt nicht etwa die Empfindungen jenes unparteiischen Zuschauers, sondern er macht sie sich wirklich zu eigen. Er identifiziert sich beinahe mit ihm, er wird beinahe selbst jener unparteiische Zuschauer, und fühlt sogar kaum mehr anders, als jener große Schiedsrichter über sein Betragen ihn fühlen heißt.“ (III.iii.25: 146 f.; dt. 217 f.) Ähnlich äußert sich Smith über Brutus: Als dieser seine Söhne zur Hinrichtung führte, hätte ihm der Tod seiner eigenen Söhne weit näher gehen müssen als alle die ungünstigen Folgen, die sich möglicherweise für Rom aus dem Fehlen eines so großen Beispiels hätten ergeben können. Aber er betrachtete seine Söhne nicht mit den Augen des Vaters, sondern mit denen des römischen Bürgers. Und so sehr dachte er sich in die Empfindungen hinein, die seiner Eigenschaft als römischer Bürger entsprachen, daß er jenem Band keine Beachtung schenkte, daß ihn selbst mit ihnen verknüpfte …. (IV.2.11: 192; dt. 329)
In diesem und ähnlichen Abschnitten, in denen Smith den höchsten Grad der Selbstbeherrschung beschreibt, den ein Mensch hoffen kann zu erreichen, ist davon, daß Menschen ihre Affekte „mäßigen“ oder „herabdämpfen“ nicht mehr die Rede. Wer sich vollkommen selbst beherrscht, zeichnet sich vielmehr dadurch aus, daß er die Gefühle des unparteiischen Zuschauers „tatsächlich übernimmt“. Es scheint, daß seine Gefühle von denen des unparteiischen Zuschauers niemals abweichen. An dieser Stelle muß ich eine Überlegung einfügen, die auf den ersten Blick als Abschweifung erscheinen mag. Daß ein Mann von wahrer Charakterfestigkeit und Standhaftigkeit, wie Smith ihn beschreibt, die Gefühle des unparteiischen Zuschauers „tatsächlich übernimmt“, habe ich besonders hervorgehoben. Jedoch scheint Smith diese Auffassung schon im folgenden Satz wieder einzuschränken; denn er schreibt dort, daß ein Mann von wahrer Charakterfestigkeit und Standhaftigkeit „sich beinahe mit ihm identifiziert“, daß er „beinahe selbst jener unparteiische Zuschauer“ wird und „kaum mehr anders [fühlt]“ als jener. Daraus könnte man schließen, es sei nicht mehr als eine nachlässige, rhetorische Floskel, wenn Smith von dem Mann von wahrer Charakterfestigkeit und Standhaftigkeit behauptet, er würde die Gefühle
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des unparteiischen Zuschauers „tatsächlich übernehmen“, und Smith eigentlich Auffassung sei, daß dieser Mann sich in seinen Gefühlen dem unparteiischen Zuschauer lediglich in vielen Fällen annähere. Für diese Interpretation gilt jedoch wie für jede andere Interpretation eines Textes, die seinem Autor mangelnde Sorgfalt unterstellt, daß sie erst übernommen werden sollte, wenn alle alternativen Interpretationen ausgeschlossen wurden. Man könnte stattdessen darauf bestehen, Smith sei in Wahrheit eher der Auffassung, daß ein Mann von wahrer Charakterfestigkeit und Standhaftigkeit die Gefühle eines unparteiischen Zuschauers „tatsächlich übernimmt“. Die folgenden Einschränkungen hätte man dann als Ausdruck eines unbegründeten Zögerns zu lesen. Aber diese Interpretation wäre noch weniger überzeugend als die erste, denn mit ihr müßten wir Smith nicht nur mangelnde Sorgfalt unterstellen, sondern außerdem darauf verzichten, seine wiederholte Versicherung ernst zu nehmen, der zufolge ein „schmerzhafter Widerstand“ gegen jede Versuchung zur Selbstbeherrschung unweigerlich dazugehört. Würde sich eine Person, die sich vollkommen unter Kontrolle hat, mit dem unparteiischen Zuschauer identifizieren, wäre sie keinen Versuchungen ausgesetzt, denen sie nur unter Schmerzen widerstehen kann. Schließlich „fühlt sich [der unparteiische Zuschauer] keineswegs aufgerieben durch die Mühe und Arbeit, die diejenigen eben jetzt mitmachen, deren Verhalten er betrachtet; er fühlt sich durchaus nicht aufgeregt durch die ungestümen Rufe der Begierden, die sie eben jetzt bewegen“. (VI.i.11: 215; dt. 365) Das gleiche sollten wir über jeden sagen können, der sich mit dem unparteiischen Zuschauer vollständig identifiziert. Wenn dies aber auch von dem Mann „von wahrer Charakterfestigkeit und Standhaftigkeit“ gilt, von jemandem, der „die ungestümen Rufe der Begierden“ nicht hört, dann muß er keinen „Widerstand“ leisten, wie er für die Smithsche Selbstbeherrschung konstitutiv ist. Worin besteht dann aber seine „Standhaftigkeit“? Wir brauchen eine bessere, dritte Interpretation von Smiths Auffassung der wahren Charakterfestigkeit und Standhaftigkeit. Eine wahrhaft charakterfeste Person „übernimmt“ die Gefühle des unparteiischen Zuschauers „tatsächlich“, und das heißt, sie empfindet nur solche Affekte erster Ordnung, die der unparteiische Zuschauer billigen kann. Jedoch kann sie sich nicht vollständig mit ihm identifizieren, weil sie immer noch versucht ist, ihre Lage aus anderen Blickwinkeln als jenen, die der unparteiische Zuschauer billigt, zu betrachten. Der idealisierte Richter über unser Verhalten, den wir uns vorstellen, wenn
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wir uns um Selbstbeherrschung bemühen, betrachtet seine Lage nicht aus einem „natürlichen Blickwinkel“, und es ist dieser Blickwinkel, den wir unweigerlich einnehmen; und weil wir ihn einnehmen, müssen wir uns um die Tugend der Selbstbeherrschung bemühen. Wenn wir der Versuchung nicht widerstehen und unsere Lage aus einem unangemessenen Blickwinkel betrachten, empfinden wir entsprechend unangemessene Affekte erster Ordnung. Das Beste, das wir dann tun können ist, entweder unsere Affekte zu mäßigen, oder, wenn das nicht möglich sein sollte, zu handeln, „als ob“ wir unsere Affekte gemäßigt hätten. Zu vollkommener Selbstbeherrschung hat es derjenige gebracht, der beharrlich der Versuchung widersteht, seine Lage anders als aus dem Blickwinkel des unparteiischen Zuschauers zu betrachten. Insofern er dieser Versuchung beharrlich widersteht, empfindet er nur solche Affekte erster Ordnung, die den Maßgaben des von ihm verinnerlichten unparteiischen Zuschauers entsprechen. Weil aber auch er immer wieder versucht ist, seine Lage aus einem anderen Blickwinkel als dem des unparteiischen Zuschauers zu betrachten, identifiziert auch er sich nicht vollständig mit dem großen Schiedsrichter ein seiner Brust. In diesem Sinn fühlt er „kaum“ mehr anders, als es den Weisungen des großen Schiedsrichters entspricht: Obwohl er all die Affekte erster Ordnung empfindet, die der unparteiische Zuschauer billigt, ist er im Unterschied zu diesem Versuchungen ausgesetzt, und daher stimmt sein affektiver Zustand mit dem des unparteiischen Zuschauers nicht vollkommen überein. Nur diese dritte Interpretation von Smiths Auffassung vollkommener Selbstbeherrschung läßt den Text konsistent erscheinen, und es gibt weitere Belege für sie. In mehreren Abschnitten der Theorie der moralischen Gefühle unterscheidet Smith Blickwinkel oder Dispositionen, die zu unangemessenen Affekten (oder affektiven Dispositionen) führen, von diesen Affekten selbst. An diesen Stellen unterscheidet er außerdem zwischen zwei verschiedenen Arten der Versuchung, denen eine selbstbeherrschte Person widerstehen muß: der Versuchung, seine Lage aus dem natürlichen Blickwinkel zu betrachten, und der Versuchung durch die Affekte, die derjenige empfindet, der seine Lage aus diesem Blickwinkel betrachtet. So schreibt er z. B. an einer Stelle über die „Paroxysmen des Leidens“: Aber der weiseste und stärkste Mensch wird […] eine beträchtliche und vielleicht sogar eine schmerzlich Anstrengung aufwenden müssen, um seinen Gleichmut zu behaupten. Das Gefühl seines Elends, das düstere Bild seiner Lage, die sich ihm naturgemäß aufdrängen, werden schwer auf ihm
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lasten, und nur mit sehr großer Anstrengung wird er seine Aufmerksamkeit auf die Gefühle und die Betrachtungsweise des unparteiischen Zuschauers dauernd richten können. Beide Betrachtungsweisen bieten sich ihm gleichzeitig dar. Sein Ehrgefühl und die Rücksicht auf seine eigene Würde werden ihm gebieten, seine ganze Aufmerksamkeit auf die eine Betrachtungsweise zu richten. Seine natürlichen, unbelehrten und undisziplinierten Empfindungen werden sie beständig von da abzulenken und auf die andere Betrachtungsweise zu leiten suchen. In diesem Fall wird er sich nicht völlig mit jenem gedachten Menschen in seiner Brust identifizieren, er wird hier nicht selbst zum unparteiischen Beobachter seines Verhaltens werden. Die verschiedenen Betrachtungsweisen beider Personen bestehen in seinem Geiste getrennt und wohl unterschieden voneinander, und während ihn die eine zu diesem Verhalten hinzieht, leitet ihn die zweite zu einem anderen, ganz verschiedenen Verhalten an. (III.3.28: 148; dt. 219 f.)
Die moralischen Gefühle sind in ihrer Funktion als begrenzende Motive selbst für einen Menschen unverzichtbar, der sich vollkommen selbst beherrscht. Vom Wilden und vom Klugen unterscheidet sich ein solcher Mensch aber insofern, als es nicht Affekte sind, denen er aus moralischen Gründen widerstehen muß; vielmehr muß er vermeiden, seine Lage aus den „natürlichen“ Blickwinkeln zu betrachten, aus denen diese Affekte entstehen würden. Für den Klugen fungieren dessen moralische Gefühle nur als ‚begrenzende Motive‘. Es wäre jedoch ein Irrtum zu glauben, daß dies auch für einen Menschen von vollkommener Selbstbeherrschung gilt. Wer die Tugend vollkommener Selbstbeherrschung hat, hat zuvor viele Entwicklungsstufen durchlaufen. Selbstbeherrschung läßt sich aber nur vervollkommnen, wenn die moralischen Gefühle eines Menschen nicht nur als begrenzende Motive fungieren. Für sich genommen ist dies natürlich mit der Auffassung vereinbar, daß moralische Gefühle, ist die vollkommene Selbstbeherrschung einmal erreicht, nur noch diese affektbegrenzende Funktion haben. Man könnte auch vermuten, daß die motivationale Rolle, die moralische Gefühle in frühen Phasen der Entwicklung vollkommener Selbstbeherrschung spielen, am Ende dieser Entwicklung verzichtbar sind. Schließlich kann man die grammatischen Regeln einer fremden Sprache, die man einmal gelernt hat, getrost vergessen, sobald man diese Sprache fließend beherrscht. Jedoch erfolgt die Vervollkommnung der Selbstbeherrschung nicht in Analogie zu dem Erwerb einer fremden Sprache, und dies hat mit der motivationalen Rolle zu tun, die die moralischen Gefühle in frühen Phasen des Prozesses dieser Vervollkommnung spielen. Während z. B. „das Übelnehmen […] gemäßigt und auf den Grad des sympathetischen Un-
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willens des Zuschauers herabgestimmt wird“ (II.i.5.8: 76; dt. 112), wird der Inhalt dieses Übelnehmens durch die moralischen Gefühle der Person so verändert, daß, wie wir gesehen haben, zwischen den Affekten der Person (ihrem Übelnehmen) und ihren moralischen Gefühlen (den Gefühlen, die zu haben ihr angemessen erscheint), gar kein psychologischer Unterschied mehr besteht. Zugespitzt kann man sagen: Weil die Vervollkommnung Smithscher Selbstbeherrschung teilweise ein Prozeß der Verinnerlichung ist, geht die motivationale Rolle, die die moralischen Gefühle in frühen Phasen dieses Prozesses spielt, in die motivationalen Zustände mit ein, die für eine Person charakteristisch sind, die diesen Prozeß bis zu seinem Ende durchlaufen hat.
II. Ich und mein unparteiischer Zuschauer in mir Smiths zweites Modell vollkommener Tugend ist der unparteiische Zuschauer selbst. Diesem Modell zufolge hat derjenige die vollkommene Tugend erlangt, der sich vollständig mit dem großen Schiedsrichter seines Verhaltens identifiziert. Smith bezieht sich sehr oft auf dieses Ideal, er beschreibt Erfolge und Mißerfolge im Bemühen einer Person um die vollkommene Tugend als deren mehr oder weniger erfolgreiche Versuche, ein unparteiischer Zuschauer „zu werden“. 21 Die meisten Exegeten haben, wenn es um das in der Theorie der moralischen Gefühle präsentierte Tugendmodell geht, dieses zweite Modell vor Augen. Das gilt insbesondere für die Monographie über Adam Smith von Charles Griswold. Wortreich schreibt Griswold Smith die Auffassung zu, wir erlangten in dem Maß, in dem wir mit dem Zuschauer in unserer Brust ‚eins werden‘, eine „Harmonie der Empfindungen, Worte und Taten, eine Ganzheit unseres Selbst und mit ihr die Einheit der Tugenden“. 22 Griswold gibt sich alle Mühe zu zeigen, daß ein solcher harmonischer Geisteszustand ein ferner Abkömmling der Stoischen apatheia sei; dabei ist dieser Zustand alles andere als frei von Affekten.23 Es ist eher ein Zustand der Harmonie von Affekten, die soweit gemäßigt wurden, daß sie denjenigen entsprechen, die sich ein unparteiischer Zuschauer in einer solchen Lage „zu eigen machen“ könnte.
21 Vgl. z. B. III.3.28–29: 148 f.; dt. 219 ff. 22 Griswold 1999, S. 213. 23 Griswold 1999, S. 219, 226.
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In der Debatte über die Frage, welche Affekte ein Mensch empfindet, der die vollkommene Tugend, wie Smith sie versteht, erlangt hat, wird ein anderer, besonders wichtiger Aspekt dieses Tugendideals leicht übersehen. Smith wird nicht müde zu wiederholen, daß der unparteiische Zuschauer in unserer Brust das „Drängen“ unserer „natürlichen Neigungen“ nicht fühlt. Der große Schiedsrichter ist keinerlei Versuchungen ausgesetzt. (VI.i.11: 215; dt. 365.) Manchmal wird er ärgerlich sein, oder jemandem etwas übel nehmen, sich freuen, Mitleid empfinden, vielleicht ist er manchmal sogar begeistert, aber er wird niemals auch nur die geringste Neigung haben, einen dieser Affekte in einem im Verhältnis zu seinem Anlaß unangemessenen Grad zu empfinden. Für denjenigen, der sich vollständig mit dem unparteiischen Zuschauer identifiziert, müßte alles dies auch gelten. Es ist nicht ganz klar, wie dieses Tugendideal zu verstehen ist. Aus Smiths Charakterisierung der vollständigen Identifikation mit dem unparteiischen Zuschauer geht nicht genau hervor, welche (wenn überhaupt eine) motivationale Rolle den moralischen Einschätzungen einer Person zukäme, wenn sie diesem Tugendideal vollkommen entspräche; ebenso unklar ist, ob ihre moralischen Einschätzungen für ihre Motivation zu einem ihrer Tugend entsprechenden Verhalten unverzichtbar sind. 24 Eine Möglichkeit wäre, daß die Harmonie der Empfindungen, die eine Person erreicht, die sich vollständig mit dem unparteiischen Zuschauer identifiziert, darin besteht, daß ihre Affekte erster Ordnung und ihre moralischen Gefühle, die sich auf diese Affekte beziehen, eine psychologische Einheit bilden, so daß die moralischen Gefühle dieser Person die Struktur ihrer Affekte bestimmen. Theorien dieses neoaristotelischen Typs werden seit dem neuerlichen Erstarken der sogenannten Tugendethik wieder populär. So hat z. B. Barbara Herman die neokantianische Auffassung vertreten, der Inhalt unserer Emotionen sei kognitiv aufgeladen und es sei daher sinnvoll zu sagen, die Herrschaft der Moral über unsere Affekte sei diesen Affekten inhärent. Herman gesteht zu, daß Emotionen nicht nur intentionale Gegenstände haben, sondern typischerweise auch Vorstellungen von dem Wert dieser Gegenstände enthalten. Ihr zufolge ist Moralität motivational wirksam, insofern sie die Wertvorstellungen beeinflußt, die eine Person von den Gegenständen ihrer Begehrungen hat, wobei diese Wertvorstellungen 24 Ich danke Stephen Darwall, der mich auf diesen Punkt aufmerksam gemacht hat.
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eine Einheit mit diesen Begehrungen bilden. 25 Die ‚Harmonie der Empfindungen‘, die eine solche Person erreicht hat, manifestiert sich in der Struktur ihrer Begehrungen: In ihnen sind die moralischen Gefühle Wertvorstellungen der begehrten Gegenstände. Ähnlich läßt sich auch die Theorie der moralischen Gefühle verstehen. Dafür sprechen Smiths schwach kognitivistische Auffassung von Emotionen, sein Verständnis der Rolle, die Emotionen in der moralischen Wahrnehmung spielen, und auch seine verschiedenen, im weitesten Sinn aristotelischen Positionen. 26 Gemäß dieser Interpretation sind die moralischen Gefühle, wie Smith sie versteht, für die Motivation zu einem Verhalten, das vollkommener Tugend entspricht, unverzichtbar. Denn die Harmonie der Empfindungen, in der vollkommene Tugend besteht, kann dieser Interpretation zufolge nur erreicht werden, wenn die moralischen Gefühle eines Menschen die Struktur von dessen Begehrungen bestimmen und der Grad seiner Tugend von der Reichweite dieser Bestimmung abhängt. Man könnte Smith jedoch auch anders lesen, nämlich als Vertreter der Auffassung, daß zwar die Zusammenstimmung der Empfindungen eines Menschen, der sich mit dem unparteiischen Zuschauer vollständig identifiziert, sowohl seine Affekte erster Ordnung als auch seine moralischen Gefühle betrifft, diese beiden Arten von Empfindungen dabei aber psychologisch unterschieden bleiben – selbst dann, wenn dieser Mensch vollkommen tugendhaft ist. Stellen wir uns vor, daß die Affekte erster Ordnung dieses Menschen angemessen sind und miteinander zusammenstimmen und daß er diesen Affekten gemäß handelt. Gleichzeitig, so nehmen wir weiter an, sind auch seine moralischen Gefühle der Billigung und Mißbilligung angemessen und in gegenseitiger ‚Übereinstimmung‘. Die Verbindung der zusammenstimmenden Affekte erster Ordnung mit den harmonierenden, evaluativen Gefühlen und der ebenfalls harmonischen Zusammenstimmung zwischen diesen Affekten und Gefühlen würde dann die „Ganzheit des Selbst“ dieses Menschen konstituieren, die „Einheit seiner Tugenden“. Aus Gründen, die in der Folge hoffentlich zu erkennen sein werden, werde ich diese Interpretation des Smithschen Tugendideals „reduktionistisch“ nennen. Wäre diese Interpretation dem Smithschen Verständnis des Tugendideals angemessen, könnten moralische Gefühle bei der Motivati25 Siehe Herman 1996. 26 Alle diese Aspekte der Theorie der moralischen Gefühle diskutiert Griswold 1999.
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on zu vollkommen tugendhaftem Handeln nur eine Nebenrolle spielen. Man bedenke nur einige der vielen Wege, auf denen unsere moralische Billigung oder Mißbilligung unsere Affekte beeinflussen könnte. Ein moralisches Gefühl könnte in Bezug auf einen Affekt als begrenzendes Motiv fungieren und uns daran hindern, aus diesem Affekt zu handeln; es könnte uns aber auch daran hindern, einen Affekt zum Ausdruck zu bringen. (Ein moralisches Gefühl könnte mich z. B. dazu bewegen, meiner Großzügigkeit durch eine anonyme Spende Ausdruck zu verleihen und auf den Ruhm zu verzichten, der mit einer öffentlichen Spende verbunden wäre.) Ein moralisches Gefühl könnte uns in einem Affekt jedoch auch bestärken. In allen diesen Fällen ist ein moralisches Gefühl zur affektiven Ausrichtung des Handelns nur erforderlich, wenn der Handelnde an dem Affekt, den er empfindet, etwas auszusetzen hat, d. h., wenn der Affekt zu stark oder zu schwach ist und daher gemäßigt oder gestärkt werden muß oder wenn es unangemessen wäre, diesen Affekt ohne vorherige Korrektur durch moralische Gefühle auszudrücken. Mit anderen Worten: Unsere moralischen Gefühle brauchen unsere Affekte nur in dem Maß zu korrigieren, in dem sie nicht im Zustand jener „harmonischen Zusammenstimmung“ sind, der die vollkommene Tugend auszeichnet. Es ist nicht leicht zu sehen, warum man sagen sollte, daß die Empfindungen eines solchen Akteurs vollständig miteinander „harmonieren“, oder daß sich sein Seelenleben in einem Zustand vollständiger Harmonie befindet. Seine Empfindungen scheinen der Harmonie zumindest in dem Sinne zu entbehren, daß nicht alle seine Affekte erster Stufe mit seinen moralischen Empfindungen harmonieren – d. h., er mißbilligt einige dieser Affekte erster Ordnung als zu stark, zu schwach und bzw. oder als auf die falschen Objekte bezogen. Aber es gibt noch einen weiteren, direkteren Grund, die vorgeschlagene Lesart für unplausibel zu halten. Einen Akteur, dessen Affekte gelegentlich korrigiert, umdirigiert und bzw. oder verstärkt werden müssen, beschreibt Smith als jemanden, den die eigenen „natürlichen Neigungen“ in Versuchung führen. Wer sich im Gegensatz dazu vollständig mit dem unparteiischen Zuschauer identifiziert, „spürt das Drängen seiner natürlichen Neigungen nicht“. Und nur der Person, der die vollständige Identifikation mit dem unparteiischen Zuschauer in ihrer Brust gelingt, schreibt Smith zu, eine vollständige Harmonie ihrer Empfindungen erreicht zu haben. Die moralischen Gefühle einer Person könnten dennoch auch dann, wenn man an dieser Auffassung des Smithschen Tugendideals
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festhält, als Motive erster Ordnung fungieren. So ist Smith offenbar der Ansicht, nur diejenigen, denen es in ihrem Handeln um „Achtung“ vor den Gesetzen der Gerechtigkeit geht, handelten aus Motiven, mit denen sie die Tugend der Gerechtigkeit unter Beweis stellen. 27 Die Gerechtigkeit stellt in dieser Hinsicht jedoch eine Ausnahme dar (wenn auch nicht die einzige). Smith ist ganz offensichtlich der Auffassung, daß die Affekte in fast allen tugendhaften Handlungen eine unverzichtbare motivationale Rolle spielen. In dem Maß jedoch, in dem die Affekte eines Handelnden diesen zu tugendhaftem Handeln motivieren, sind seine moralischen Gefühle als motivationale Kräfte ausgeschlossen; denn wie wir gesehen haben, kann die motivationale Funktion moralischer Gefühle für einen Handelnden nur darin bestehen, eine Disharmonie seiner Affekte zu korrigieren, wobei sich ihr möglicher Einfluß nach dem Grad der Disharmonie bemißt. Wer Smith die Auffassung zuschreibt, die harmonische Zusammenstimmung der Empfindungen, die derjenige erreicht, der sich mit dem unparteiischen Zuschauer vollständig identifiziert hat, sei eine Zusammenstimmung zwischen Affekten erster Ordnung und moralischen Gefühlen, also zwischen psychologisch verschiedenen Empfindungen, der muß ihm auch eine ganz bestimmte Auffassung moralischer Motivation zuschreiben: Er kann die Motivation eines Menschen zu vollkommen tugendhaftem Handeln entweder auf dessen moralische Gefühle zurückführen, oder aber auf dessen Affekte erster Ordnung. Diese reduktionistische Interpretation des Smithschen Tugendideals schließt jedoch aus, ein Handeln als vollkommen tugendhaft gelten zu lassen, das sowohl durch Affekte erster Ordnung als auch durch moralische Gefühle motiviert ist. Es ist vielleicht das Beste, Smith wie folgt zu verstehen: Die Harmonie der Empfindungen, die derjenige erreicht hat, der sich vollständig mit dem unparteiischen Zuschauer identifiziert, ist eine ‚harmonische‘ Mischung dessen, was ich unter den Etiketten einer ‚aristotelischen‘ und einer ‚reduktionistischen‘ Lesart beschrieben habe. In bezug auf bestimmte Tugenden, oder auf bestimmte Situationen, oder im Kontext bestimmter Kulturen ist derjenige vollkommen tugendhaft, dessen moralische Gefühle die Struktur seiner Affekte bestimmen (und der eine in diesem Sinn zu verstehende ‚Harmonie der Empfindungen‘ erreicht). In bezug auf andere Tugenden, andere Situationen oder ande27 Vgl. Griswold 1999, S. 236–238, und den Beitrag von Stephen Darwall in diesem Band.
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re Kulturen dagegen ist derjenige vollkommen tugendhaft, der entweder durch seine moralischen Gefühle oder durch Affekte motiviert wird, die nicht spezifisch moralisch sind. Der offensichtliche Vorteil dieser dritten, ‚gemischten‘ Interpretation liegt in dem Spielraum, den sie nicht nur Smith, sondern auch den heutigen Verfechtern seiner Theorie einräumt. Aus philologischer Sicht ist diese Interpretation aber genauso wenig überzeugend wie die aristotelische oder die reduktionistische. Allerdings wären wir in arger Verlegenheit, müßten wir in der Theorie der moralischen Gefühle einen eindeutigen Beleg dafür finden, daß Smith eines der von mir unterschiedenen Tugendmodelle den anderen definitiv vorgezogen habe. Daß es für eine solche Präferenz keine eindeutige Textgrundlage gibt, ist insofern ein willkommenes Resultat, als jede der Interpretationen seines Tugendmodells Smith ein in sich widersprüchliches Konzept vollkommener Tugend unterstellt. Um diese Widersprüche geht es im folgenden Abschnitt.
III. Wessen Tugend? (im Stil von Smith) Meine Überlegungen in den Abschnitten I. und II. haben folgendes ergeben: Smith bietet uns ausdrücklich zwei verschiedenen Modelle vollkommener Tugend an. Das erste betont die „ehrwürdige“ Tugend der „Selbstbeherrschung“, und das zweite beschreibt diese Tugend als Identifikation mit dem unparteiischen Zuschauer. Smiths Ausführungen zu dem zweiten Modell sind jedoch nicht ganz klar. Diese Unklarheit erlaubt uns, seine Auffassung vollkommener Tugend auf drei verschiedene Weisen zu interpretieren. D. h., daß wir es bei Smith insgesamt mit vier verschiedenen Modellen vollkommener Tugend zu tun haben: 1. Das Modell der Selbstbeherrschung: Vollkommene Tugend ist die entschiedene Bereitschaft einer Person, allen Arten von Versuchungen zu widerstehen. Eine in diesem Sinn vollkommen tugendhafte Person wird trotz des „Drängens“ ihrer „natürlichen Neigungen“ ihre Lage immer aus der Perspektive eines unparteiischen Zuschauers betrachten. Ihre moralischen Wertvorstellungen haben im Hinblick auf die Motivation ihres tugendhaften Handelns verschiedene, unverzichtbare Funktionen: sie fungieren als begrenzende oder be-
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stärkende Motive ebenso wie als Motive, die die Affekte dieser Person und deren Gegenstände kontrollieren (und korrigieren). 2a. Das Modell aristotelischer Harmonie: Vollkommene Tugend besteht in einer ‚Harmonie der Empfindungen, Worte und Taten‘, wie sie diejenige erlangt, deren Affekte durch moralische Gefühle bestimmt werden. Die moralischen Gefühle einer vollkommen tugendhaften Person haben in all ihrem Handeln eine unverzichtbare, motivationale Funktion. Es ist die Funktion von Motiven zweiter Ordnung, die sowohl die Gegenstände der Begehrungen bestimmen, als auch die Wertvorstellungen, die sich auf diese Gegenstände (und damit auf die Begehrungen derselben) beziehen. 2b. Das Modell reduktiver Harmonie: Die ‚Harmonie der Empfindungen, Worte und Taten‘, wie sie diejenige erlangt, deren Affekte durch moralische Gefühle bestimmt werden, wird durch zwei psychologisch verschiedene Arten von Empfindungen gewährleistet und besteht teilweise aus diesen Empfindungen: aus Affekten erster Ordnung und aus moralischen Gefühlen. Jede dieser Empfindungen ist für sich ‚harmonisch‘ und beide stimmen zusammen. Die moralischen Gefühle einer vollkommen tugendhaften Person können nur dann eine unverzichtbare Rolle in der Motivation ihres Handelns spielen, wenn sie allein durch diese Gefühle zu dem richtigen Handeln motiviert wird. Wenn sie dagegen durch ihre Affekte zum Handeln motiviert wird und dieses Handeln tugendhaft ist, kann diese Motivation durch nichts anderes als ihre Affekte erfolgen. 2c. Das Modell ‚gemischter‘ Harmonie: Vollkommene Tugend besteht in der ‚Harmonie der Empfindungen, Worte und Taten‘ einer Person. Welches jedoch im einzelnen der harmonische, motivationale Zustand einer Person ist, variiert mit der bestimmten Tugend, um die sie gerade bemüht ist, mit ihrer Lage und bzw. oder mit dem kulturellen Kontext, in dem sie sich bewegt. Manchmal ist es ein Zustand, in dem der Gegenstand eines Affekts von moralischen Gefühlen bestimmt wird, so daß die moralische Wertvorstellung, der dieser Gegenstand entspricht, in diesen Affekt eingeht. In anderen Fällen wird der harmonische, motivationale Zustand entweder allein von moralischen Gefühlen bestimmt, oder allein von nicht moralischen Affekten (die auch nicht von moralischen Gefühlen bestimmt wurden). Diese vier Modelle unterscheiden sich in der Auffassung der Funktion, die Wertvorstellungen eines vollkommen tugendhaften Menschen im
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Hinblick auf seine Handlungsmotivation spielen. Dem ersten Modell zufolge kann ein Handelnder, dessen moralische Gefühle nicht als begrenzende Handlungsmotive fungieren, nicht vollkommen tugendhaft sein. Umgekehrt kann ein Handelnder, dessen moralische Gefühle sehr wohl als begrenzende Handlungsmotive fungieren, gemäß den Modellen 2a, 2b und 2c nicht vollkommen tugendhaft sein. Und ein Handelnder, der allein durch seine Affekte motiviert wird, kann nach dem Modell 2b durchaus vollkommen tugendhaft sein, nicht aber nach dem Modell 2a. Der Hauptkonflikt besteht jedoch zwischen dem ersten Modell auf der einen und den Modellen 2a, 2b und 2c auf der anderen Seite. Das erste Modell versteht den vollkommen Tugendhaften als denjenigen, der jeder Versuchung widersteht. Die anderen drei Modell verstehen ihn als einen, der einer Versuchung nicht einmal ausgesetzt ist. An manchen Stellen der Theorie der moralischen Gefühle scheint Smith diese Spannung in seinem Konzept vollkommener Tugend einzugestehen, z. B. in einem Abschnitt, in dem sich Smith von den Stoikern distanziert, über die er sich an vielen anderen Stellen sehr wohlwollend äußert. 28 Angesichts seines „Elends“, so schreibt Smith dort, muß auch der weiseste und stärkste Mensch […] eine beträchtliche und vielleicht sogar eine schmerzliche Anstrengung aufwenden […], um seinen Gleichmut zu behaupten. Das Gefühl seines Elends, das düstere Bild seiner Lage, die sich ihm naturgemäß aufdrängen, werden schwer auf ihm lasten, und nur mit sehr großer Anstrengung wird er seine Aufmerksamkeit auf die Gefühle und die Betrachtungsweise des unparteiischen Zuschauers dauernd richten können. (III.iii.28: 148; dt. 220)
Diese „Anstrengung“ ist das charakteristische Merkmal der Selbstbeherrschung; gleichzeitig ist es diese Anstrengung, die Smith zu dem Schluß kommen läßt, daß dieser Weise „sich nicht völlig mit jenem gedachten Menschen in seiner Brust identifizieren [wird], [daß er] hier nicht selbst zum unparteiischen Zuschauer seines Verhaltens [wird].“ (III.3.28: 148; dt. 220) Der Konflikt zwischen der „Anstrengung“, die jede Selbstbeherrschung mehr oder weniger kostet, und der vollständigen Identifikation mit dem unparteiischen Zuschauer wird auch im fol28 Gegen die Stoiker gerichtet schreibt Smith in diesem Abschnitt, daß auch ein Mensch, der seine Affekte, z. B. das Gefühl, das ihn angesichts seines „Elends“ befällt, unter Kontrolle hat, wegen der „unabänderlichen Gesetze der Natur … immer noch leidet“, obwohl ihn die Natur „nicht ganz ohne Entschädigung“ läßt und er „sich seiner eigenen völligen Selbstbilligung“ freuen kann. (III.3.28: 148; dt. 220)
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genden Abschnitt sichtbar, in dem sich Smith mit der Frage beschäftigt, wie wir uns normalerweise auf Gebrechen einstellen, von denen wir nicht erwarten können, sie bald wieder los zu werden. Nach kurzer Zeit, so schreibt Smith, wird auch „ein Mann mit einem Stelzfuß“ feststellen, daß „die Betrachtungsweise des unparteiischen Zuschauers […] ihm selbst so völlig zur Gewohnheit [wird], daß er gar nie mehr daran denkt, sein Unglück in einem anderen Licht zu betrachten, ohne daß ihn diese Gemütsverfassung noch irgendeine Anstrengung oder Selbstüberwindung kosten würde.“ (III.3.29: 148 f.; dt. 221) Auch hier kontrastiert Smith wieder die „Anstrengung“, die jede Selbstbeherrschung kostet, mit der Identifikation mit dem unparteiischen Zuschauer. Smith hält diese „Anstrengung“ für einen wesentlichen Bestandteil der Selbstbeherrschung, denn die Entschiedenheit, jeder Versuchung zu widerstehen, ist gerade das, was Selbstbeherrschung, wie er sie versteht, ausmacht. Im allgemeinen behandelt Smith jedoch die Selbstbeherrschung und die Identifikation mit dem unparteiischen Zuschauer als zwei Aspekte eines und desselben Modells vollkommener Tugend. Seine Exegeten sind ihm darin gefolgt und haben die Berechtigung dieser Auffassung nicht in Frage gestellt. Jedoch unterliegt diese Auffassung einem Irrtum: Entweder widersteht die vollkommen Tugendhafte jeder Versuchung, oder ihre Tugend besteht unter anderem darin, daß sie niemals in Versuchung gerät.
IV. Die Quelle des Smithschen Konflikts In gewissem Sinn ist es gar nicht so verwunderlich, daß Smith sich nicht so sicher war, wie er mit diesem Konflikt umgehen sollte. Debatten zwischen Neo-Aristotelikern, Neo-Kantianern, und (manchmal auch) Neo-Humeanern über eben dieses Problem füllen auch heute die philosophischen Zeitschriften. Erstaunlich ist höchstens, daß Smith nicht einmal versuchte, dieses Problem zu lösen, obwohl es in der Theorie der moralischen Gefühle doch offensichtlich war. Smith war sich allem Anschein nach wenigstens zeitweise dessen bewußt, daß seine beiden Modelle vollkommener Tugend nicht miteinander zu vereinbaren sind. Nicht nur aus Nachsicht, sondern auch aus anderen exegetischen Prinzipien sollten wir ihm hier jedoch nicht einfach mangelnde Sorgfalt unterstellen. Aber was sollen wir machen? Sol-
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len wir annehmen, Smith habe den Konflikt zwischen seinen beiden Tugendmodellen für philosophisch unbedeutend gehalten und ihn daher vernachlässigt? Das scheint wenig wahrscheinlich. Zwar waren Diskussionen dieses Problems im 18. Jahrhundert nicht so populär wie etwa Diskussionen zwischen Verfechtern rationalistischer und emotivistischer Auffassungen moralischer Urteile. Dennoch dürfte dieses Problem Smiths Leserinnen und Lesern nicht ganz unbekannt gewesen sein. Hinzu kommt, daß Smith selbst sich viel zu oft auf antike Quellen seiner Tugendmodelle beruft, als daß wir annehmen könnten, ihm sei der Konflikt zwischen ihnen entgangen. Und schließlich ist seine Auffassung der Tugend mit Themen, denen er in der Theorie der moralischen Gefühle Aufmerksamkeit widmet (z. B. Fragen der moralischen Motivation und des moralischen Urteils), aufs engste verbunden. Gerade dieser letzte Punkt legt eine alternative Erklärung dafür nahe, daß es Smith nicht gelungen ist, den Konflikt zwischen seinen beiden Tugendmodellen zu entschärfen. Vielleicht konnte er keines dieser Modelle allein übernehmen, ohne dabei einen anderen zentralen Aspekt seiner Moraltheorie aufzugeben. Wir sollten z. B. bedenken, wie Smith in der Theorie der moralischen Gefühle mit Fragen nach der Quelle moralischer Normativität umgeht. Für Smith ist die Frage nach dieser Normativität die Frage, ‚Warum sollen wir die Urteile des unparteiischen Zuschauers für verbindlich halten?‘. Darüber, wie Smiths Antwort auf diese Frage zu verstehen sei, streiten sich die Experten noch, nicht zuletzt, weil Smith seinen Leserinnen und Lesern verschiedene Antworten auf diese Frage präsentiert. 29 Die Experten scheinen sich jedoch weitgehend darüber einig zu sein, daß Smiths Theorie moralischer Normativität Züge einer Tugendlehre trägt. Dieser Lehre zufolge sind die Urteile des unparteiischen Zuschauers verbindlich, weil wir, wenn wir die Perspektive des unparteiischen Zuschauers übernehmen und seinem Urteil getreu folgen, in der Beförderung unseres individuellen Glücks (unseres Wohlbefindens) besonders erfolgreich sind. 30 Wie Samuel Fleischacker gezeigt hat, vermeidet Smith alle möglichen hedonistischen oder egoistischen Implikationen einer solchen Theorie, indem er folgendes zugesteht: Ein Mensch, der in seinem Handeln versucht, sein eigenes Glück unabhängig von moralischen Belangen zu verfolgen, versteht weder, worin das 29 Vgl. z.B. Griswold/Den Uyl 1996, Fleischacker 1999, Griswold 1999 u. Darwall 1999. 30 Vgl. Darwall 1999, Fn. 23, Fleischacker 1999, Fleischacker 2002 u. Griswold 1999.
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Glück, noch, worin Moralität besteht. Ihm fehlt in seinem Innern die Perspektive des unparteiischen Zuschauers; (zumindest hat er diese Perspektive für sich nicht hinreichend ausgebildet). Daher übersieht er entweder, daß er von anderen keinerlei Zustimmung zu seinen unmoralischen Handlungen erwarten kann, oder aber, daß solche Zustimmung ein unverzichtbarer Bestandteil des Glücks ist. Erst wenn er sich in seinem Handeln um Tugend bemüht, wird er lernen, worin Tugend besteht. Smith sagt ausdrücklich, daß der Tugendhaft die Dinge anders sieht als andere. Wir könnten sagen, daß Smith Theorie der Tugend und der Glücks McDowellsche Züge trägt: der Tugendhafte kann „sehen“, warum er besser tugendhaft handelt, und er kann sehen, wie er mit diesem Handeln sein Glück befördert, aber er kann dies nur aus der Perspektive eines tugendhaft Handelnden sehen. Und es gibt keinen Anlaß zu der Hoffnung, außerhalb der Perspektive tugendhafter Praxis bessere, oder überhaupt irgendwelche Argumente dafür zu finden, daß man tugendhaft sein und handeln soll.31
Diese Antwort auf die normative Frage, warum die Moral verbindlich sei, setzt ein stark moralisiertes Verständnis des Glücks voraus. Es ist daher mehr als schwierig, sie mit dem Smithschen Modell vollkommener Tugend zu vereinbaren, demzufolge Tugend sich im Widerstand gegen jede Versuchung zeigt. Was ist es denn, was einen vollkommen tugendhaften Menschen in Versuchung führt, wenn nicht die „natürlichen Neigungen“ seines Eigeninteresses und das, was Hume eine „parteiliche Zuneigung“ genannt hat, also eine zu beschränkte Sorge um eine begrenzte Zahl von anderen Menschen? Nur diese beiden Arten von Interessen können Versuchungen generieren, und diesen Versuchungen muß ein tugendhafter Mensch in dem Maß widerstehen, in dem er kein vollständig moralisiertes Verständnis seines Glücks und des Glücks anderer hat. Wer dagegen sein Eigeninteresse so versteht, daß es nur im Rahmen einer vorbildlich moralischen Lebensführung verfolgt werden kann, ist gar nicht in Versuchung, eine „egoistische“ Perspektive einzunehmen, die der des unparteiischen Zuschauers entgegengesetzt wäre. Für sie bestünde zwischen beiden Perspektiven gar kein Unterschied. Das bedeutet, daß der aristotelische Charakter von Smiths Theorie der Quelle moralischer Normativität mit seiner Auffassung der Tugend als vollkommener Selbstbeherrschung unvereinbar ist. Um so schlimmer für die Smithsche Selbstbeherrschung, könnte man hier versucht sein zu sagen. Aber es ist nicht so einfach, die Selbstbeherrschung vom Tisch der Textexegese zu wischen. So heißt es z. B. 31 Fleischacker 2002.
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in dem folgenden Abschnitt aus Stephen Darwalls Rezension der Smith-Literatur: Zwar kritisiert Smith die Stoiker in einigen Punkten, aber zwei Überlegungen übernimmt er von ihnen, weshalb sich seine Tugendlehre von derjenigen Hutchesons oder Humes unterscheidet. Die erste betrifft den Ort, die der „Selbstbeherrschung“ in seiner Tugendlehre zukommt. Im Anschluß an Shaftesbury und Butler und in Antizipation von Kant vertritt Smith die Auffassung, daß nur diejenige moralische Überlegung wirklich moralisch wertvoll oder tugendhaft ist, in der sich ein Handelnder bewußt von moralischen Angemessenheitsurteilen leiten läßt. Kant ist berühmt u.a. für die Auffassung, daß eine wohltätige Handlung, wenn sie aus Menschenliebe unternommen wurde, keinen moralischen Wert habe, wie „liebenswert sie auch sei“, weil ihr kein selbstbewußtes, moralisches Motiv zugrunde liegt. Smiths Unterscheidung zwischen „liebenswerten“ Tugenden wie dem Wohlwollen und „achtunggebietenden“ Tugenden der Selbstbeherrschung nimmt diese Auffassung weitgehend vorweg. (I.i.5.1: 23; det. 27) Für Smith ist die Selbstbeherrschung die „große“ und „ehrwürdige“ Tugend, „von … [der] auch alle anderen Tugenden ihren Glanz in erster Linie … empfangen“. (I.i.5.1: 23; det. 27; VI.iii.11: 241; dt. 407) 32
Dieser Abschnitt verdeutlicht den Zusammenhang zwischen Smiths Konzept der Selbstbeherrschung und seiner Theorie der moralischen Motivation, einer Theorie, der zufolge die Wertvorstellungen eines Menschen – wie sie in seinen moralischen Gefühlen zum Ausdruck kommen – für alle diejenigen seiner Handlungen unverzichtbar sind, in denen sich seine Tugend manifestiert. Allerdings ist diese Theorie der moralischen Motivation mit den Modellen 2b und 2c für Smiths Verständnis vollkommener Tugend nicht vereinbar. Denn beide Modelle lassen den Fall zu, daß jemand vollkommen tugendhaft handelt, ohne durch seine moralischen Gefühle dazu motiviert worden zu sein. Die Modell 1 und 2a dagegen sind mit den Aspekten der Smithschen Theorie moralischer Motivation kompatibel, auf die Darwall hinweist. Und da zumindest ein Aspekt der Smithschen Theorie moralischer Normativität dafür spricht, eine der drei Versionen von Modell 2 dem Selbstbeherrschungsmodell (Modell 1) vorzuziehen, könnte man nun schließen, daß Smiths Theorie moralischer Normativität und seine Theorie moralischer Motivation zusammen genommen für das Modell 2a sprechen. Oberflächlich betrachtet scheint jedoch allein schon die von Darwall in dem zitierten Abschnitt erwähnte Unterscheidung zwischen 32 Darwall 1999, S. 149.
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den liebenswerten und den ehrwürdigen Tugenden weder mit dem Modell 1 noch mit dem Modell 2a vereinbar zu sein. Schließlich kann Smith nicht gleichzeitig behaupten, es gäbe eine Klasse von „liebenswerten“ Tugenden, die mit einem motivationalen Zustand ohne ausdrückliche, selbstbewußte, moralische Motive verbunden sind, und außerdem, alle Handlungen, in denen sich wahre Tugend offenbart, seien auf irgendeine Weise durch die moralischen Gefühle des Handelnden motiviert. Dem Modell 1 und dem Modell 2a zufolge ist das Verhalten eines tugendhaften Menschen immer zum Teil durch seine moralischen Gefühle motiviert. Die entsprechenden Konzepte vollkommener Tugend lassen eine Klasse „liebenswerter“ Tugenden nicht zu. Aus demselben Grund kann Smith nicht widerspruchsfrei eine so verstandene Klasse „liebenswerter“ Tugenden zulassen und gleichzeitig behaupten, alle Tugenden erhielten „ihren Glanz“ vor allem durch die Selbstbeherrschung, die ihnen zugrunde liegt. In dem Maß, in dem Selbstbeherrschung ein wesentlicher Bestandteil der Tugend eines Menschen ist, wird der Mensch, der diese Tugend hat, auch durch seine moralischen Gefühle motiviert, und diese Gefühle sind für seine Motivation zur Tugend unverzichtbar. Streng genommen gilt also: in dem Maß, in dem alle Tugenden „ihren Glanz“ vor allem durch die Selbstbeherrschung erhalten, kann es keine „liebenswerten“, sondern nur mehr oder weniger „ehrwürdige“ Tugenden geben. Vergleichbare Spannungen gibt es auch zwischen den verschiedenen charakteristischen Elementen von Smiths Theorie des moralischen Urteils. Ich will zwei Beispiele nennen: (1) Gemäß dieser Theorie sind es zwei verschiedene charakterliche Eigenschaften eines Handelnden, die ihn zum einen zu richtigem moralischem Urteilen befähigen und zum anderen zu Affekten, die moralisches Lob verdienen. Smith zufolge muß ein Mensch, dessen Affekte nicht harmonisch zusammenstimmen, sich über die Disharmonie seiner Affekte im klaren sein, wenn es ihm möglich sein soll, sich selbst zu beherrschen oder Selbstbeherrschung zu erlernen. Der gewöhnliche Kluge, der Wilde mit dem Pokerface und derjenige, der sein Übelnehmen „auf den Grad des sympathetischen Unwillens des Zuschauers herabstimmt“, sie alle empfinden Affekte, die der unparteiische Zuschauer nicht billigt. Der Kluge und der Wilde mäßigen ihre Affekte absichtlich, um wenigstens so zu handeln, wie der unparteiische Zuschauer handeln würde. Und wer sein Übelnehmen bewußt mäßigt, verändert dabei dessen Charakter. Diese Eigenschaft von Smiths Theorie des moralischen Urteils kann entweder als eine natürliche Ergän-
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zung zu einer Tugendlehre gelesen werden, die Tugend als Widerstand gegen Versuchungen versteht (Modell 1), oder als Ergänzung einer Tugendlehre nach den Modellen 2b und 2c. Smith muß jedoch zugestehen, daß zwischen der Fähigkeit eines Handelnden, richtige moralische Urteile zu fällen, und der moralischen Qualität seiner Affekte ein großer Unterschied besteht, nicht zuletzt, als die Selbstbeherrschung eine Schlüsselrolle spielt, wenn es darum geht, vollkommene Tugendhaftigkeit zu entwickeln. Angenommen, zu der vollkommenen Tugend, wie Smith sie versteht, gehört eine Einheit von Affekten und moralischen Empfindungen, wie sie das Modell 2a postuliert. Eine nach diesem Modell vollkommen tugendhafte Person zeichnet sich nicht durch Selbstbeherrschung aus. Wenn aber Selbstbeherrschung für die Entwicklung vollkommener Tugend unverzichtbar ist, dann muß Smith die Möglichkeit einräumen, daß ein Mensch, dessen Affekte nicht harmonisch zusammenstimmen, die moralische Qualität dieser Affekte in den Situationen, in denen er sie empfindet, doch richtig beurteilen kann und dazu auch verpflichtet ist. (2) Smiths Theorie des moralischen Urteils unterstellt, daß zwischen der Befähigung eines Menschen zu richtigem moralischem Urteilen und der moralischen Qualität seiner Affekte ein enger Zusammenhang besteht. Auf diese These von Smith legt Griswold besonderen Wert. So schreibt er, daß für Smith […] Emotionen nicht nur Urteile verkörpern; sie leiten zu Urteilen an, insofern sie Informationen darüber enthalten, was wichtig und was unwichtig ist. Natürlich führen Emotionen uns manchmal in die Irre. Aber wenn sich diese Verirrungen häufen, wenn sie normal und regelmäßig werden, wird die Fähigkeit zum moralischen Urteil und zur moralischen Überlegung untergraben; das führt zum Verlust der Fähigkeit, in einer bestimmten Situation deren moralisch bedeutsamen Faktoren zu erkennen. … Urteilen Lernen und Fühlen Lernen sind zwar nicht dasselbe, aber sie sind untrennbar miteinander verbunden. 33
Zwischen dieser Auffassung des moralischen Urteils und jener, die in Smiths Konzept der Selbstbeherrschung enthalten ist, besteht jedoch ein wesentlicher Unterschied. Die letztere impliziert, daß Fragen von hervorragendem moralischem Interesse (die unter anderem eine Handlungssituation oder die Qualität von Affekten betreffen können), von den moralischen Gefühlen eines Menschen entschieden werden. Dagegen werden der ersten Auffassung gemäß derartige Fragen zum Teil 33 Griswold 1999, S. 137 u. 215.
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auch von den Affekten entschieden, die derjenige, der sie empfindet, billigt oder mißbilligt. D. h., die Emotionen eines Handelnden spielen für seine moralische Wahrnehmung eine Schlüsselrolle. Dieses Verständnis des moralischen Urteils ist mit dem ersten Smithschen Modell vollkommener Tugend, das Tugend als Selbstbeherrschung versteht, nicht vereinbar. Denn ein Mensch kann sich nur unter der Voraussetzung selbst beherrschen, daß er seine Situation auch dann moralisch richtig beurteilen kann, wenn seine Affekte nicht harmonisch zusammenstimmen. Wenn aber Emotionen in der moralischen Wahrnehmung eine Schlüsselrolle spielen, kann diese Voraussetzung nicht erfüllt sein. Man könnte versuchen, die unter (1) und (2) beschriebenen Elemente von Smith Theorie des moralischen Urteils miteinander zu vereinbaren. Zu diesem Zweck könnte man annehmen, daß die Emotionen in der moralischen Wahrnehmung zwar unverzichtbar, aber doch nicht allein maßgeblich sind, daß dieses Problem keine Lösung in Form eines ‚Alles oder Nichts‘ verlangt. 34 So könnte man z. B. sagen, daß der Wilde mit seinem Pokerface, obwohl seine Affekte nicht harmonisch zusammenstimmen, seine Situation doch zumindest annähernd richtig moralisch beurteilen kann: teilweise, weil auch seine moralischen Gefühle Informationen darüber liefern, worauf es in dieser Situation „ankommt“, und teilweise, weil seine Affekte (die es u. a. moralisch zu beurteilen gilt), sich nicht in einem Zustand vollständiger Disharmonie befinden. Wenn aber Emotionen für die moralische Wahrnehmung unverzichtbar sind, dann müßte Smith selbst unter der Voraussetzung dieser Lesart die These vertreten, der Wilde nähme seine Situation verzerrt wahr. Aber er vertritt diese These nicht. Wenn es um die Beurteilung ihrer jeweils eigenen Situation geht, so Smith, stimmen die Gefühle des Klugen und die des Wilden „genau mit denjenigen des Zuschauers überein“. (IV.2.8: 189; dt. 324 f.) Für sein Verständnis der Selbstbeherrschung ist dies von zentraler Bedeutung; denn das Verhalten des Klugen und Wilden ist lobenswert, weil sie genau das tun, von dem sie zu Recht annehmen, daß sie es tun sollten, obwohl sie starke, diesem Tun entgegenstehende Affekte empfinden. Was den unparteiischen Zuschauer an ihnen beeindruckt ist ihre Fähigkeit, entgegen Affekten zu handeln, die nicht nur sehr stark sind, sondern auch von ihren moralischen Gefühlen radikal verschieden. (Siehe z. B. IV.2.6: 189; dt. 323 f.) Deshalb ist die Selbstbeherrschung für Smith eine so „ehrwürdige“ Tu34 Siehe Griswold 1999, S. 191 f.
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gend. Hätten ihre Affekte Einfluß auf ihre moralischen Gefühle, wären diese Empfindungen nicht so radikal verschieden, und das aus ihnen resultierende Verhalten wäre weniger eindrucksvoll. Die Elemente (1) und (2) von Smiths Theorie des moralischen Urteils lassen ihm für sein Konzept vollkommener Tugend die Wahl zwischen Alternativen, von denen keine wirklich attraktiv ist. Hätte er sich eindeutig und ausschließlich zu dem Tugendideal bekannt, welches Tugend als Selbstbeherrschung versteht, hätte er die These aufgeben müssen, Emotionen spielten in der moralischen Wahrnehmung eine wichtige Rolle. Diese These kann er nur in Verbindung mit einer Version des Tugendmodells aufrechterhalten, welches vollkommene Tugend als Identifikation mit dem unparteiischen Zuschauer versteht, und auch nur dann, wenn er außerdem die Vorstellung aufgibt, Selbstbeherrschung, wie sie in der Theorie der moralischen Gefühle beschrieben wird, sei möglich. Die eindeutige und ausschließliche Übernahme des Ideals der Tugend als Selbstbeherrschung hätte Smith auch gezwungen, sich von der Strategie, die Autorität der Moral in Form einer Tugendlehre zu rechtfertigen, zu verabschieden, die er in der Theorie der moralischen Gefühle verfolgt, ebenso wie von seiner Unterscheidung zwischen „liebenswerten“ und „ehrwürdigen“ Tugenden. Würde Smith sich dagegen zu dem Modell 2a vollkommener Tugend entschließen, könnte er seine Theorie moralischer Normativität im wesentlichen beibehalten, allerdings nur um den Preis der Aufgabe seiner Unterscheidung zwischen den liebenswerten und den ehrwürdigen Tugenden. An dieser Unterscheidung könnte er nur festhalten, wenn er ein Tugendideal nach den Modellen 2b oder 2c übernähme, aber dafür müßte er seine Theorie moralischer Normativität opfern ebenso wie seine Auffassung, in Motive zu tugendhaftem Handeln gingen immer auch Wertvorstellungen des Handelnden ein. Man könnte an dieser Stelle versucht sein, Smiths konfligierende Modelle vollkommener Tugend als Indiz dafür zu deuten, daß seine Moraltheorie hoffnungslos unklar sei und nicht in der Lage, ein bestimmtes, in sich kohärentes Konzept vollkommener Tugend zu begründen. Ich denke aber, wir können etwas nachsichtiger sein, wenn auch alles, was ich zur Verteidigung von Smith sagen kann, vorläufig noch spekulativ ist. Die Theorie der moralischen Gefühle bietet eine Fülle von Auffassungen über viele Themen, die von der moralischen Normativität bis zu den Unterschieden zwischen den verschiedenen Tugenden reichen. Smith hatte nicht nur verstanden, daß und warum jede dieser Auffassungen philosophisch attraktiv ist; er verwendete in
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der Theorie der moralischen Gefühle auch sehr viel Raum darauf, die Details dieser Auffassungen auszuarbeiten. Damit hoffte Smith, eine Theorie moralischer Gefühle zu entwickeln, die die besten Elemente der Theorien von Hume und Hutcheson bewahren, aber den Einwänden entgehen kann, die gegen seine Vorgänger in der Theorie des moralischen Gefühls vorgebracht worden waren. Die Theorie der moralischen Gefühle basiert auf Vorlesungen, die Smith an der Universität gehalten hat. So naheliegend es für eine Vorlesung war, einfach ein Thema nach dem anderen zu behandeln, so barg dieses Verfahren doch Risiken, sobald es darum ging, aus diesen Vorlesungen eine Theorie der moralischen Gefühle zu entwickeln. Smiths Bemühen darum, den Einwänden zu begegnen, die gegen Hutcheson und Hume vorgebracht worden waren, war für die Einzelheiten seiner Auffassungen von verschiedenen Themen maßgeblich – so z. B. für die Rolle der Emotionen in der moralischen Wahrnehmung und das Verständnis der Selbstbeherrschung – mit dem Resultat, daß am Ende nicht alle diese Einzelheiten miteinander verträglich waren. Letztendlich sind die beiden Modelle vollkommener Tugend, mit denen Smith operiert, nur eines unter vielen Beispielen für miteinander unverträgliche Teile seiner Theorie. Jedes dieser Modelle steht für ein ganzes Bündel von Theorieteilen, die in anderen Bereichen der Moralphilosophie eine Rolle spielen und die Smith nicht aufzugeben bereit war, gerade weil er bei seiner Arbeit an der Theorie der moralischen Gefühle zu der Überzeugung gelangt war, daß eine solche Theorie alle diese Teile berücksichtigen muß.
Abschließende Überlegungen zu Smiths Platz in der Moralphilosophie des 18. und des 21. Jahrhunderts Für einige Verfechter der Smithschen Moraltheorie werden die Ergebnisse dieses Aufsatzes sicherlich enttäuschend sein. Ich will daher zum Abschluß einige Anmerkungen zu Smiths Platz in der Moralphilosophie des 18. und des 21. Jahrhunderts machen, die Anlaß zu einer gewissen Hoffnung geben mögen. In der Sekundärliteratur über Smith, die seine Philosophie in die Geschichte der Moralphilosophie einzuordnen sucht, wird er oft als ein Vorläufer Kants gelesen. Diese Lesart ist sicherlich in vielen Fällen begründet. Tatsächlich lassen sich viele Elemente der Smithschen Moraltheorie, die ich hier analysiert habe – die Theorie der Selbstbeherr-
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schung, das Verständnis vervollkommneter Tugend als vervollkommneter Selbstbeherrschung, das Verständnis dessen, wie Selbstbeherrschung geübt und moralisch verbessert werden kann, ebenso wie einige seiner Ansichten über moralische Motivation – durchaus als ‚kantisch‘ charakterisieren. Aber diese Theorie enthält auch viele Elemente, die ‚kantisch‘ zu nennen sehr merkwürdig, zumindest sehr umstritten sein würde. Diese Elemente zeugen eher von aristotelischem Einfluß– dafür spricht das zweite Modell vollkommener Tugend, oder aber von Humes Einfluß – dafür spricht die Unterscheidung zwischen liebenswerten und ehrwürdigen Tugenden, oder von Shaftesburys Einfluß – dafür spricht Smiths Verbindung vollkommener Tugend mit einer „Harmonie der Empfindungen“. 35 Andauerndes Interesse verdient Smiths Moralphilosophie unter anderem deshalb, weil sie in einer Phase der frühen Neuzeit entstand, in der alle diese verschiedenen moralphilosophischen Ansätze zusammen kamen bzw. miteinander kollidierten – so wie es in der Theorie der moralischen Gefühle geschehen ist. Wir müssen diese Kollisionen in der Theorie der moralischen Gefühle aber nicht begaffen wie pathologisch Neugierige einen Verkehrsunfall. Vielmehr sollten wir in ihnen Zeichen eines Dialogs sehen, der an einem Wendepunkt der Geschichte der Moralphilosophie geführt wurde. Nicht zufällig schrieb Smith in den Jahren zwischen Hume und Kant; in gewissem Sinn wurde die Schlacht zwischen Humeanern und Kantianern, die in den philosophischen Zeitschriften des 21. Jahrhundert tobt, schon auf den Seiten der Theorie der moralischen Gefühle ausgetragen. In diesem Licht verdient Adam Smith nicht weniger, sondern mehr Interesse, wenn es um die Geschichte der Moralphilosophie geht. Ähnlich stellen sich die Ergebnisse dieses Aufsatzes dar, wenn es um die Position von Smith im Kontext der gegenwärtigen Moralphilosophie geht. Auf der Suche nach einem Verbündeten, der weder die Aristotelische Metaphysik, noch die wenig überzeugende Theorie der Emotionen, die gewöhnlich (wenn auch zu Unrecht) Hume zugeschrieben wird, im Gepäck hat, wenden sich gegenwärtige ‚Tugendethiker‘ immer öfter Smith zu. Der Grund dafür ist leicht einzusehen; dieser Aufsatz liefert Material für Tugendethiker, die in Smith einen Weggefährten aus der frühen Neuzeit sehen. Jedoch können Tugendethiker mit Smith nur partiell übereinstimmen, denn einige Auffassungen von Smith – z. B. die der Selbstbeherrschung oder die Klasse der „liebenswerten“ Tugenden (verstanden als Tugenden, die mit motiva35 Vgl. Hume THN III.iii.4, S. 387 f. (ed. SBN, S. 607 f.)
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tionalen Zuständen einer Person verbunden sind, auf die deren Wertvorstellungen keinen Einfluß haben) – passen schlecht zu den neoaristotelischen Positionen, die in der gegenwärtigen Tugendethik vorherrschen. Jedoch gilt auch hier wieder, daß wir am meisten von Smith lernen können, wo er sich gegen eine Einordnung sperrt. Ein Beispiel dafür ist die Schwierigkeit, mit der Smith bei seinem Versuch zu kämpfen hatte, die These, moralische Emotionen spielten in der moralischen Wahrnehmung eine wichtige Rolle, mit der These zu vereinbaren, Selbstbeherrschung sei der Inbegriff einer ‚großen‘ und ‚ehrwürdigen‘ Tugend. Gegenwärtige Tugendethiker haben sich lange darum bemüht, in ihren Theorien zu berücksichtigen, daß Emotionen in der moralischen Wahrnehmung eine wichtige Rolle spielen. Erst vor kurzem sind sie darauf aufmerksam geworden, daß sie, wenn sie Tugend als die Fähigkeit verstehen, Versuchungen zu widerstehen, auch so etwas wie die Smithsche Selbstbeherrschung benötigen. Sie müssen noch herausfinden, wie sich beides in einer einheitlichen Tugendlehre verbinden läßt. Smith führt uns in der Theorie der moralischen Gefühle nicht nur vor Augen, daß diese Probleme gelöst werden müssen, sondern auch, wie sie im einzelnen entstanden und beschaffen sind. Wenn heutige Tugendethiker jene Elemente in Smiths Werk vernachlässigen, die sich mit ihren eigenen Auffassungen nicht ohne weiteres vertragen, verpassen sie die Gelegenheit, von Smith zu lernen, wie bestimmte Probleme zu lösen sind, und laufen dabei Gefahr, sich hilflos in diese Probleme zu verstricken. Ich kann es auch einfacher sagen: Wir können uns für Smith als Figur der Philosophiegeschichte interessieren, oder aber als Fundgrube für gegenwärtige moralphilosophische Diskussionen; aber am meisten werden wir lernen, wenn wir einfach Smith Smith sein lassen. (Übersetzt von Christel Fricke)
Sympathie für Adam Smith Einige aktuelle philosophische und psychologische Überlegungen Robert C. Solomon / University of Texas, Austin Im folgenden werde ich Adam Smiths Behauptung nachgehen, die Sympathie sei ein „natürliches“ Gefühl bzw. eine natürliche Empfindung und zugleich die Grundlage der Moralität. Den Begriff „Sympathie“ gebrauchte Smith weder eindeutig noch in demselben Sinn wie wir heute. Dennoch scheint mir, daß Smith ganz richtig lag, wenn er die Grundlage der Moralität und Gerechtigkeit eher unter den Affekten als im Reich der Theorie und der Grundsätzen suchte und die Auffassung vertrat, die Sympathie sei ein „natürliches“ oder vielmehr ein Grundgefühl. Ungeachtet der üblichen Versuchung, Smith als Vorläufer Kants zu betrachten (insofern er z. B. die Betonung auf die Bedeutung des „unparteiischen Zuschauers“ oder auf das Ideal der „vollkommenen Tugend“ legt), werde ich mich dafür stark machen, Smith (ganz ähnlich wie auch Hume) als modernen Vertreter einer Tugendethik zu lesen, der die Rolle der „Neigungen“ nachdrücklich betont, unter denen (für ihn) die Sympathie im Zentrum steht. So versuche ich zu erklären, was Sympathie für Smith und seinen Freund Hume war. Dabei will ich gleich hinzufügen, daß Smith diesen Begriff geradezu zweideutig verwenden mußte, um mit ihm zugleich emotionale Verbundenheit und Motivationskraft ausdrücken zu können. Außerdem beschäftige ich mich mit einigen Überlegungen, die z. Zt. in der Psychologie und der Philosophie angestellt werden und die viele Einsichten Smiths bestätigen. Auch rücke ich Smith ein wenig weiter von Kant weg, wenn ich darauf hinweise, daß sein Begriff der Sympathie sogar „natürlicher“ ist als er und die meisten seiner Kommentatoren vermuten. Vielleicht war es die Kantische Wende in der Philosophie, die zur Verbannung der liebenswürdigen Empfindungen und „Neigungen“
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aus der Moralphilosophie geführt hat. „Schmelzende Theilnehmung“ nannte Kant sie mit vernichtendem Sarkasmus in seiner Grundlegung, 1 wiewohl er auch versucht hat, die eher gefühlsfeindlichen Auswirkungen seiner Moralphilosophie zu überspielen, so daß man bei ihm oft und ohne langes Suchen liebenswürdige Empfindungen benannt und gepriesen findet. In neueren Kommentaren erscheint Kant verändert oder aktualisiert, und wenn er dadurch auch nicht zu einem Fürsprecher der moralischen Empfindungen geworden ist, so wird er doch zumindest nicht länger als deren Erzfeind betrachtet. Überdies gibt es in vielen Bereichen der gegenwärtigen Ethik eine Tendenz zur Sturköpfigkeit, um nicht zu sagen Gefühllosigkeit – nicht zu sprechen von der amerikanischen Realpolitik (über deren wahre Natur das scheinheilige Oxymoron vom „mitfühlenden Konservatismus“ nicht hinwegtäuschen kann). Heutzutage erfahren „Sympathie“ und „Mitleid“ in der Politik nur wenig Hochschätzung. Man könnte dagegenhalten, daß zumindest in der Philosophie John Rawls, der vor kurzem verstorbene und einflußreichste Moralphilosoph der letzten Jahrzehnte, die Empfindungen ja nicht verbannt hat, obgleich er ganz offensichtlich ein Schüler Kants war. Rawls betont zwar die Objektivität seiner Grundsätze, aber zwischen den Zeilen der langwierigen „Deduktion“, die den Hauptteil seiner Theorie der Gerechtigkeit bildet, erwähnt er auch die Empfindungen und unseren „Sinn“ für Gerechtigkeit. Diese Empfindungen scheinen jedoch all zu oft nicht mehr zu sein als spontane Instantiierungen abstrakter rationaler Prinzipien oder kasuistische Belege dafür. Doch bei aller vermeintlichen Bedeutung unserer „Intuitionen“ (sind einige davon Gefühle?) für Rawls’ vielgerühmtes „Überlegungsgleichgewicht“ wird deutlich, daß sein primäres Anliegen die Unanfechtbarkeit seiner Beweisführung ist und nicht die Sympathie seiner Leser. Dies vorausgeschickt wende ich mich Adam Smith zu, den man zwar in Wirtschaftskreisen als Vater einer mitleidlosen freien Marktwirtschaft schätzt, der aber besser als die Mutter aller Moraltheoretiker verstanden werden sollte, genauer gesagt, als der Theoretiker des moralischen Empfindens. Vor dem Hintergrund der Kantischen Tradition lohnt es immer daran zu erinnern, wie sehr Kant (ebenso wie Rawls) für sich in Anspruch nahm, seinem Helden Rousseau auf dem Fuße zu folgen. Schließlich ist Rousseau einer der ersten großen Verteidiger natürlicher Neigungen. Aber auch vor Kant und etwa zur gleichen Zeit 1 Kant, AA IV, 399.
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wie Rousseau traten in Schottland (und anderswo) Theoretiker des moralischen Empfindens auf; darunter David Hume und Adam Smith. Sie verteidigten die zentrale Rolle des „natürlichen“ Sympathieempfindens für die Moral und machten einen Unterschied zwischen Sympathie und Gerechtigkeit (die Hume überhaupt nicht für „natürlich“ hielt). Theorien des moralischen Empfindens gehen von der These aus, Moralität und Gerechtigkeit beruhten auf unserer natürlichen Veranlagung, bestimmte, auf andere gerichtete Gefühle zu haben. Damit war nicht gemeint, daß Moralität nicht auch eine Funktion der Vernunft sei oder vornehmlich damit zu tun habe, „das Richtige tun“. Sowohl Hume als auch Smith unterstrichen schon früh die Relevanz der „Nützlichkeit“. Aber offensichtlich wird das Richtige für gewöhnlich nicht aus den falschen Gründen getan, und wir sehen uns oder andere in der Regel nicht als gerecht oder moralisch an, sollte das Richtige tatsächlich einmal aus den falschen Gründen getan werden oder das Falsche aus richtigen Gründen. Aber sympathetische Gefühle gehören doch wohl zu den „richtigen Gründen“. Anders als es zumindest ein dominanter Zweig der Kantischen Tradition haben möchte, heißt moralisch und gerecht zu sein keineswegs, daß man aus Prinzip handeln muß. Ein guter Grund, einem Bedürftigen zu helfen ist: „Er tut mir leid“. Ein guter Grund, einer Freundin zu helfen, ist: „Ich bin um sie besorgt“. In der Tat fällt es schwer, sich irgendeinen anderen Grund vorzustellen, der so wenig durch Argumente irritierbar ist (was nicht heißt, daß er nicht doch widerlegt werden könnte). Gleichwohl wäre ein philosophisch nicht präparierter Leser schokkiert darüber, wie sehr in der philosophischen Literatur der letzten zwei Jahrhunderte „Er tut mir leid“ und „Ich bin um sie besorgt“ als moralische Gründe mißachtet wurden, sofern man sie nicht sogar als „sentimental“ oder „gefühlsduselig“ abgetan hat. Derartige Empfindungen stehen in dem Ruf, unzuverlässig, unberechenbar und irrational, in jedem Fall aber unerheblich zu sein. Gute Gründe hält man eher für Leistungen eines vernünftigen Überlegens, das typischerweise als ein intellektuell anspruchsvolles, leidenschaftsloses Vorgehen verstanden wird. Der gute Mensch, der gerechte Mensch kennt die richtigen Prinzipien und wendet sie unparteiisch und leidenschaftslos an. Natürliche Reaktionen wie „Er tut mir leid“ oder „Ich bin um sie besorgt“ haben darin allem Anschein nach keinen Platz. Meine These ist schlicht und einfach: Sympathie, wie Smith sie versteht, ist eine Grundlage (freilich nicht die einzige) der Ethik, und die Fähigkeit, mit anderen mitzufühlen (etwas für sie zu empfinden), liegt unserem emotionalen Leben zugrunde.
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Adam Smith über die Natur der Sympathie Mag man den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein. Ein Prinzip dieser Art ist das Erbarmen oder Mitleid, das Gefühl, das wir für das Elend anderer empfinden ... der ärgste Rohling, der verhärtetste Verächter der Gemeinschaftsgesetze ist nicht vollständig dieses Gefühles bar. (I.i.1.1: 9; dt. 1 f.)
Traditionell hat sich die Theorie des moralischen Empfindens mit einer Familie „natürlicher“ Gefühle befaßt, zu der Wohlwollen, Sympathie, Mitleid und Erbarmen gehören. (Sorge und Fürsorge wurden bemerkenswerterweise im allgemeinen nicht dazu gerechnet.) Diese natürlichen Gefühle wurden oft in einen Topf geworfen und nicht selten als identisch betrachtet (z. B. gelegentlich von Hume). In den Lehrbuchdarstellungen wird ihr Francis Hutchesons Theorie eines „moralischen Sinns“ zugerechnet, obwohl Hutcheson dem Empfinden ausdrücklich eine besondere moralische Rolle abgesprochen hat. Jean-Jacques Rousseau dagegen wird den Theoretikern des moralischen Empfindens für gewöhnlich nicht zugerechnet, obwohl er ganz offensichtlich einer war. Wie seine schottischen Mitstreiter verfocht er die Natürlichkeit des Mitleids, einer Empfindung, die dem Mitgefühl eng verwandt ist. Aber das exemplarische moralische Empfinden war, wie im besonderen Hume und Smith dargelegt haben, die Sympathie. (Das englische „sympathy“ läßt sich mit dem im Deutschen gebräuchlichen „Sympathie“, aber vielleicht auch mit „Mitleid“ oder „Mitgefühl“ übersetzen – obgleich keine dieser Übertragungen hinreichend genau ist, die Nuancen und Vieldeutigkeiten des englischen Worts einzufangen.) Die Empfindung der Sympathie, so meine ich, ist ein unhandliches Amalgam verschiedener emotionaler Zustände und Dispositionen, einschließlich des Mitgefühls sowie einer gewissen Beimischung dessen, was wir heute „Fürsorge“ nennen. Speziell für Smith umfaßt sie auch unseren Begriff der Empathie. Was „Sympathie“ bzw. „sympathy“ bedeutet, ist freilich ziemlich unklar. Das gilt für die Texte der klassischen Theoretiker des moralischen Empfindens und nicht minder für den allgemeinen Sprachgebrauch heute. In der englischen Umgangssprache heißt „sympathy“ zu äußern soviel wie Mitleid zu bekunden, während für viele englischsprachige Philosophen wie z. B. Hume „sympathy“ (wie das deutsche
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„Sympathie“) eng mit Wohlwollen verbunden ist. Smith ist bemüht, diesen Unterschied festzuhalten. Daß einem jemand „leid tut“, kann ein Zeichen der Fürsorge sein, aber gewiß nur ein sehr kleines, schließlich können uns auch Fremde oder sogar unsere Feinde leid tun. Wohlwollen hat viel gemeinsam mit dem handlungsorientierten Konzept der „Fürsorge“, aber es bezieht sich auf einen viel größeren Bereich als die Sympathie im eigentlichen Sinn. Wir können Wohlwollen abstrakt empfinden (ohne uns auf einen besonderen Gegenstand zu beziehen), und Wohlwollen für jene, deren Gefühle äußerst böswillig oder uns gegenüber indifferent sind. (Wenn wir z. B. barmherzig gegenüber einem verurteilten und noch immer verhaßten Übeltäter sind, mag das ein Ausdruck unserer Großzügigkeit sein, ist aber nicht frei von Wohlwollen). Oft, im Deutschen sogar für gewöhnlich, verwendet man „Sympathie“ oder das Verb „sympathisieren“, um Übereinstimmung oder Billigung auszudrücken, obgleich keine dieser Verwendungen genügt, um den philosophischen Gebrauch dieses Begriffs adäquat zu erfassen. Als Paraphrase für sein Verständnis von „sympathy“ weist Smith „Bemitleiden“ (feeling sorry for) ausdrücklich zurück. Trotzdem glaube ich nicht, daß er das Mitleid deshalb als wesentlichen Teil der Bedeutung von „sympathy“ aufgibt, jedenfalls werde ich das zu zeigen versuchen. Was Smith zumeist mit „Sympathie“ meint ist Mitgefühl (fellowfeeling), d. h. ein Fühlen mit jemandem. Genau genommen ist Sympathie (was ja buchstäblich durch „Fühlen mit“, oder „Mit-leid“ aus dem Griechischen zu übersetzen wäre), das Teilen von Gefühlen oder, als Disposition verstanden, die Fähigkeit, die Gefühle anderer zu teilen. Wer darauf besteht, daß Emotionen durch die Menschen, die sie haben, individuiert werden und deshalb von verschiedenen Menschen nicht geteilt werden können, mag mit dem Random House Dictionary sagen, Sympathie sei eine „Übereinstimmung von Gefühlen“ im Sinne von „das gleiche Gefühl bzw. denselben Typ von Gefühl haben“. Selbstverständlich darf man diese Übereinstimmung nicht im Sinne einer „Billigung“ des fraglichen Gefühls verstehen. Man muß ja nicht einmal die eigenen Gefühlen genießen, schätzen oder billigen. Unsere Gefühle mögen übereinstimmen, wir als Personen müssen es noch lange nicht. Ein Gefühl zu teilen ist eine Sache, eine ganz andere aber, dieses Gefühl auch zu akzeptieren oder zu billigen. Wenn wir einen zweitklassigen Film ansehen, können wir die faschistoiden Rachegelüste des beleidigten Helden durchaus teilen und uns zugleich dieses Gefühls wegen tadeln. Wir können uns dabei ertappen und dafür kritisieren, daß wir
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Sympathie für einen mißgünstigen oder verhaßten Menschen empfinden. In einem solchen Fall teilen wir Mißgunst und Haß, aber wir akzeptieren oder billigen diese Gefühle keineswegs. Adam Smith verwendet „sympathy“ in dieser Weise als terminus technicus für eine „Übereinstimmung der Gefühle“; aber er denkt dabei nicht an die Übereinstimmung bestimmter Gefühle oder bestimmter Arten von Gefühlen. Wir haben es hier mit einer unaufhebbaren Zweideutigkeit zu tun: mit dem Unterschied zwischen Sympathie als einer bestimmten Empfindung und Sympathie als einer Disposition, überhaupt Empfindungen (welche auch immer das sein mögen) mit anderen zu teilen, oder, wie Smith sagt, als „ein Mitgefühl mit jeder Art von Affekten“ (I.i.1.5: 10; dt. 4). Soweit sie als eine Disposition vorgestellt wird, Empfindungen mit anderen zu teilen, ist Sympathie selbst überhaupt keine Empfindung, sondern eher ein Vehikel für das Verständnis der Empfindungen anderer Menschen. Man kann mit beliebig vielen Gefühlen anderer Menschen (in diesem technischen Sinn) „sympathisieren“, d. h. diese Gefühle teilen, nicht nur mit den liebenswürdigen und sozialethisch erwünschten Empfindungen, sondern auch mit so asozialen wie Mißgunst, Wut und Übelnehmen bis hin zu maßlosen Rachegelüsten. Wenn Smith aber anschließend betont, die Sympathie sei kein tatsächliches Teilen von Empfindungen (im Sinne von „das gleiche Gefühl haben“), schränkt er dies auf eine bemerkenswerte Weise ein; und die Sympathie entpuppt sich als ein Akt der Einbildungskraft, durch den wir die Gefühle eines anderen Menschen einschätzen können, indem wir uns „in seine Lage versetzen“. Da wir keine unmittelbare Erfahrung von den Gefühlen anderer Menschen besitzen, können wir uns nur so ein Bild von der Art und Weise machen, wie eine bestimmte Situation auf sie einwirken mag, daß wir uns vorzustellen suchen, was wir selbst wohl in der gleichen Situation fühlen würden. (I.i.1.2: 9; dt. 2)
Diese Einschränkung erlaubt es Smith zu erklären, wie es sein kann, daß Menschen nicht wesentlich selbstsüchtig oder nur an ihrem eigenen Wohlergehen interessiert sind, sondern soziale Lebewesen, die um anderer willen handeln können, deren Gefühle sie nicht wirklich teilen (ja, nicht einmal teilen können). Zugleich stellt das Manöver aber auch in Frage, ob die Sympathie genau die Art von motivierendem Faktor für unser Handeln sein kann, den die Theorie des moralischen Empfindens zu verteidigen sucht. An dieser Stelle operieren Vertreter dieser Theorie mit einer wichtigen Annahme (was bei Hume desto deutlicher wird, je polemischer er
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wird): Die Sympathie motiviert zu moralischem Verhalten. Nicht alles, was Hume zur Sympathie in dieser Hinsicht zu sagen hat, ist miteinander verträglich, aber seine berühmt-berüchtigte These, die Vernunft sei nur die „Sklavin der Leidenschaften“ und solle auch nicht mehr sein, zeigt, wohin die Richtung bei ihm geht. 2 Im Rückblick von heute aus erscheint diese starke, motivationspsychologische These als der wichtigste Unterschied zwischen Kant und den Schotten. Während diese überzeugt sind, daß Motivation auf Neigungen zurückgehen muß, glaubte jener, praktische Vernunft könne selbst motivieren, was Hume bekanntlich bestreitet. Aber so wie Smith Sympathie versteht, nämlich als Mitgefühl (fellow-feeling), wird weder deutlich, ob sie eine Neigung ist und (folglich) motivieren kann, noch, ob sie gegen das ebenso natürliche (und oft mächtigere) Empfinden des Interesses am eigenen Wohlergehen wirken kann. 3 Das Problem verschärft sich nur, sobald man auf die Rolle des unparteiischen Zuschauers abhebt. Smith hält sich bedeckt, wenn er betont, daß der unparteiische Zuschauer Sympathie empfindet, eine Empfindung, die im Gegensatz zum gänzlich selbstlosen und auch leidenschaftslosen Gebot der Vernunft steht. Aber wenn Sympathie lediglich Mitgefühl ist und nicht selbst eine wirkliche Empfindung (Neigung), dann scheint sie nicht den notwendigen Motivationsschwung zu besitzen, um Smiths vorkantische Attacke gegen Kant in Gang zu bringen. So wie Smith Sympathie definiert, nämlich als Mitgefühl (fellowfeeling), scheint sie mehr mit Begreifen als mit Fühlen zu tun zu haben, und das Begreifen ist einem Humeschen „Vergleich zwischen Ideen“ zu ähnlich, als daß man verstehen könnte, wie es „Empfindungen der Lust und des Abscheus“ hervorbringen sollte, deren es doch bedarf, damit die Sympathie in der Moral die ihr zugedachte Rolle spielen kann.4 Einerseits muß sie Smithsche Sympathie mehr als ein „Begreifen“ sein, andererseits ist es unglaubwürdig, sie als wirklich geteiltes Gefühl (mein Leid oder Neid als Spiegelbild des deinigen) zu verstehen.5 Aber wenn man hier das (damals wie heute) übliche Verständnis von „sym2 Hume, THN II.iii.3, S. 266 (ed. SBN, S. 415). 3 Einige der Empfindungen und Gefühle, die man aufgrund von Empathie haben kann, können natürlich eine motivierende Wirkung haben. Empfindet man Empathie mit dem Zorn eines anderen, so wird man motiviert, den Täter zu bestrafen und das Opfer zu rächen. Aber die Empathie als solche hat keine motivierende Kraft. 4 Vgl. Werhane 1991. 5 Vgl. Crospey 1957, S. 12.
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pathy“ im Sinne von „leid tun“ ins Spiel bringt, überbrückt das die Kluft zwischen bloßem Begreifen und echtem Mitfühlen. Denn daß ein anderer einem leid tut, setzt (zumindest in einem minimalen Sinn) ein Verständnis von dessen Lage voraus; und zugleich erfordert es auch ein Mindestmaß an eigenem Mitfühlen, freilich sehr viel weniger, als für ein Spiegelbild des Leidens des Anderen nötig wäre. Einer Beschränkung der Sympathie auf emotionale Reaktionen, die durch das Leiden anderer hervorgerufen werden, will ich hier nicht das Wort reden, obgleich der Begriff (meiner Ansicht nach) zumeist auf diese Weise verwendet wird. Man kann auch die Freude oder den Stolz eines anderen teilen, und ich meine, daß die Wörter „Sympathie“ und „sympathisieren“ gelegentlich so verwendet werden. Aber ich behaupte, daß Smith den Begriff auf eine ungemein komplexe, um nicht zu sagen inkonsistente Weise verwendet. Einerseits braucht er einen Mechanismus für „Mitgefühl“, andererseits ein Motiv für moralisches Verhalten. Wird Sympathie als Mitgefühl verstanden, ist überhaupt nicht klar, wie er beides soll haben können. Aber wenn wir voraussetzen, Smith meine nicht, was er sagt, wenn er die Interpretation als „leid tun“ ausschließt, wenn wir vielmehr annehmen, er sage (zu Recht), daß dies allein noch nicht einmal im Ansatz die vielfältige Bedeutung von Sympathie einfängt, dann kann er Sympathie als Mitgefühl verstehen und behaupten, sie habe motivierende Kraft. 6
Hume gegen Smith in Sachen Gerechtigkeit und: Alle gegen Hobbes Smith und vor ihm Hume und die anderen Theoretiker des moralischen Empfindens wandten sich ungeachtet der Differenzen zwischen ihnen einhellig und mit gleicher Entschiedenheit gegen den Zynismus eines Hobbes oder Mandeville und damit gegen die Idee, Menschen handelten ihrem Wesen nach egoistisch, wenn nicht gar selbstsüchtig, und keine anderes Motiv als die Verfolgung des Eigeninteresses könne 6 Daß einem jemand leid tut, muß einen selbstverständlich nicht zum Handeln motivieren, aber es ist auch kein bloßes Zuschauergefühl. Manchmal motiviert Sympathie zum Handeln. Ein anderes Mal ist sie dazu nicht in der Lage (aufgrund der Entfernung, der Unfähigkeit, der Zurückweisung der Hilfe seitens des Opfers usw.). Aber ich habe eine gewisse Sympathie für das Argument, daß, wenn jemand ohne weiteres helfen kann, es aber nicht tut, es unmöglich ist, ihm eine wirkliche Sympathieempfindung zuzuschreiben.
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menschliches Verhalten erklären. Dagegen wurde vertreten, es gebe neben dem Eigeninteresse andere Triebfedern menschlichen Handelns – seien dies nun moralische Wahrnehmungen oder Gefühle oder sei es auch nur eine ursprüngliche „innere Güte“ des Menschen. Entsprechend wurde Sympathie in einigen Fällen erörtert, als ob sie nicht mehr sei als ein generalisiertes altruistisches Empfinden: eine Sorge um das Wohlergehen anderer ohne jeden Gedanken an den eigenen Vorteil. So wenig wie das Wohlwollen impliziert der Altruismus jenes Teilen von Gefühlen, das die Sympathie auszeichnen soll. Außerdem erfaßt der Altruismus die zentrale These von Smiths Tugendethik nicht, denn nach dieser These hat die strenge Unterscheidung zwischen Eigeninteresse und Altruismus keinen Bestand. Hier besteht ein Problem, das auf Sokrates zurückgeht, wenn auch Aristoteles es besser erklärt haben mag. Sokrates brachte die These ins Spiel, es sei ziemlich egoistisch, wenn er sich tugendhaft verhalte, weil dies ja seine Seele gut mache. Und was könnte egoistischer sein als das? Aristoteles erklärte, Tugend könne man auch daran erkennen, daß ihre Ausübung Freude bereite: eine Tugend sollte eine „zweite Natur“ sein. Mit anderen Worten, das postheidnische Modell des Kampfes zwischen Versuchung und Rechtschaffenheit wurde nicht als moralisch angesehen und galt keineswegs als Merkmal des tugendhaften Menschen. Bemerkenswerterweise bedurfte Kant der Vorstellung eines „heiligen Willens“ und des „Supererogatorischen“, um die sich nur gelegentlich, z. B. bei Jesus und den Heiligen, einstellende Harmonie der Neigungen und des vernünftigen Willens zu erklären. Solche Fälle sind offensichtlich die Ausnahme und nicht die Regel. Für Tugendethiker wirkt die rechte Handlungsweise motivierend, weil sie für den tugendhaften Menschen angenehm und eine Quelle der Selbstbestätigung ist. Hume, wenn auch nicht Smith, bezeichnete sich nicht ohne Stolz als einen Heiden. Sein eigenes, postheidnisches Ethikmodell ging auf Aristoteles und die Alten zurück, und seine Ethik war insbesondere in dem Sinne eine Tugendethik, daß nicht innerer Kampf, sondern innere Harmonie den „tugendhaften Charakter“ auszeichnete. Auch für Smith, der zu sehr Christ war, um sich seines Heidentums zu rühmen, war Ethik zuallererst Tugendethik und damit das Bemühen um einen tugendhaften Charakter und innere Harmonie. Seine These, Sympathie sei eine natürliche menschliche Empfindung, war nicht so sehr ein Plädoyer für Altruismus als eine Absage an die totale Selbstsucht und das Beharren darauf, daß tugendhaftes menschliches Verhalten weder aus-
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schließlich das Eine noch das Andere sein müsse. Wenn Smith, darin ganz besonders brillant, das natürliche Bedürfnis nach Anerkennung durch andere hervorhebt, so führt dies genau zu der folgenden These: Den meisten selbst unserer „eigennützigsten“ Motive liegt das Verlangen nach freundschaftlicher Verbundenheit und Gruppenübereinstimmung zugrunde. Was ich für mich möchte, ist deine Anerkennung, und um sie zu erhalten, werde ich aller Wahrscheinlichkeit nach das tun, was ich deiner Vorstellung nach tun sollte. Zwischen dem, was ich für mich selbst will, und dem, was ich tun wollen sollte, besteht keine grundsätzliche Spannung, und dem Zyniker fiele es schwer, hier seinen Zynismus anzubringen. Humes zeitlich vorhergehende Theorie der Sympathie und Gerechtigkeit, die Smith stark beeinflußte, unterscheidet sich in bestimmten Hinsichten von dieser, woraus Smith kein Hehl macht. Die Sache wird dadurch erschwert, daß Hume seine Ansichten zwischen dem Verfassen seines frühen Meisterwerks, dem Treatise of Human Nature, und seiner späteren Enquiry Concerning the Principles of Morals änderte. In dem früheren Werk behandelt Hume die Sympathie eher beiläufig und vertritt die Ansicht, sie sei, verglichen mir den meisten egoistischen Motiven, eine meist eher schwache Gemütsbewegung. Im späteren Werk versteht er die Sympathie als eine universelle Empfindung, die meistens stark genug ist, den Egoismus zu überwinden. Insbesondere in der Enquiry betrachtet Hume die Sympathie als eine Form des Wohlwollens, als ein Gefühl für seine Mitbürger und als eine Sorge um ihr Wohlergehen. Aber Hume und Smith stimmen darin überein, daß die Sympathie zu oft durch das Eigeninteresse konterkariert und überwältigt wird, und aus diesem Grund ist ein Gefühl für Gerechtigkeit erforderlich. Aber während Smith im Gerechtigkeitsgefühl einen natürlichen Abscheu vor der Schädigung der Mitmenschen sieht, versteht Hume unter Gerechtigkeit eine „künstliche“ Tugend, die die Vernunft für unser gemeinsames Wohlergehen ersinnt. (Es ist wichtig, „künstlich“ nicht als „willkürlich“ mißzuverstehen. Künstliche Tugenden können präzise sein und sich ohne weiteres rechtfertigen lassen.) Für Hume ist Gerechtigkeit eher ein dem eigenen Vorteil dienendes, konventionelles „Schema“ als eine natürliche Empfindung als solche. Folglich ist die Sympathie für Hume eine genuin moralische Empfindung, nicht aber die Gerechtigkeit. Dennoch erschien Hume die Gerechtigkeit so vorteilhaft, daß er zugestand, sie sei mit dem moralischen Empfinden untrennbar verknüpft. Denn was konnte diesem Empfinden besser zur Grundlage dienen als unser Sinn für das allge-
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meine Wohlergehen eines jeden, „ein dem Glück der Menschheit zugeneigtes und ihrem Elend abgeneigtes Gefühl“. 7 Hume schreibt auch: Keine Tugend wird höher geschätzt als die Rechtlichkeit, und keine Schlechtigkeit mehr verabscheut als die Rechtswidrigkeit; zugleich gibt es keine Eigenschaften, die einem Charakter mehr den Stempel des Liebenswürdigen bezw. des Verabscheuungswürdigen aufdrücken. Nun ist aber Rechtlichkeit nur darum eine sittliche Tugend, weil sie auf das Wohl der Menschheit tendiert. Ja sie ist gar nichts anderes als eine künstliche Erfindung zu diesem Zweck. 8
Das ganze Schema der Gesetze und der Rechtsordnung ist vorteilhaft für die Gesellschaft; in Rücksicht auf diesen Vorteil führten die Menschen sie durch ihre freiwilligen Abmachungen ein. Und nachdem die Einführung durch diese Abmachungen einmal stattgefunden hat, wird sie natürlicherweise von einem starken Sittlichkeitsgefühl begleitet.9 Hume geht nicht so weit zu sagen, die Gerechtigkeit sei selbst eine Sache des Empfindens, aber er besteht darauf, daß das moralische Empfinden im allgemeinen und die Sympathie für andere im besonderen für die Moral so wesentlich sind, daß keine Ethik ohne sie auskommen kann. 10 Hume und Smith wenden sich beide gegen das Hobbessche Bild, wonach Menschen allein durch ihr Eigeninteresse motiviert werden, und plädieren dafür, ganz besondere, natürliche „soziale Affekte“ ernst zu nehmen. Der Kern ihrer Argumentation gegen Hobbes lautet in Smiths Worten: Als die Natur den Menschen bildete, stattete sie ihn mit einem ursprünglichen Verlangen aus, seinen Mitmenschen zu gefallen, und einer ebenso ursprünglichen Abneigung, sie zu verletzen. … [Überdies] stattete ihn die Natur nicht nur mit einem Verlangen aus, gelobt und gebilligt zu werden, sondern auch mit einem Verlangen, so zu sein, daß er gelobt werden sollte, oder so zu sein, wie er selbst es an anderen Menschen billigt. (III.2.6 f.: 116 f.; dt. 176)
Es ist nicht lediglich Sympathie, sondern ein ganzer Komplex gegenseitigen Wahrnehmens und wechselseitiger Affekte, die uns aneinander 7 8 9 10
Hume, EPM App. I, S. 84 (Enq., S. 286). Hume, THN III.iii.1, S. 369 (ed. SBN, S. 577), dt. II 330. Hume, THN III.iii.1, S. 370 (ed. SBN, S. 579), dt. II 333. Hume, THN III.iii.1, S. 369 (ed. SBN 577), dt. II 332: „Wir nehmen aber in so weitem Umfang Anteil an der Gesellschaft nur vermöge des Mitgefühls. Folglich ist es das Prinzip des Mitgefühls, das uns so weit über uns selbst erhebt, daß wir dem Charakter anderer gegenüber ein behagen oder Unbehagen empfinden, als ob derselbe eine Tendenz auf unseren eigenen Vorteil oder Schaden hätte.“
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binden. Man muß also gar nicht viel an der schottischen Theorie des moralischen Empfindens herumbasteln, um unter ihrem Vorzeichen Gerechtigkeit mit Sympathie zu verbinden und das Ganze als eine willkommene Alternative sowohl zu dem Slogan „Der Mensch ist seinem Wesen nach egoistisch“ wie auch zu der übermäßig intellektualistischen Parole „Moralität ist Rationalität“ zu verstehen, wie sie Kant und die meisten gegenwärtigen Theoretiker der Gerechtigkeit vertreten. Teil des Problems ist für Smith ebenso wie für Hume, daß zwischen Sympathie und Gerechtigkeit eine essentielle Spannung besteht, die sie aber auf eher unterschiedliche Weise lösen. Wie schon erwähnt unterscheidet Hume zwischen der Sympathie als einem natürlichen Gefühl, das je nach persönlicher Nähe oder Ferne variiert, und der Gerechtigkeit als einer künstlichen Tugend, die von überpersönlichen Konventionen und Institutionen abhängt. Smith dagegen verläßt sich auf seinen sogenannten unparteiischen Zuschauer und überwindet damit die auf persönlicher Nähe beruhenden parteiischen Präferenzen. Ich finde beide Strategien plausibel, aber nicht für sich, sondern nur als Tandem. Die Gerechtigkeit ist, wie Rawls sagt, die grundlegende Tugend von Institutionen, aber sie ist auch, wie bei Platon und Aristoteles, eine Tugend von Personen. Das komplexe Verhältnis zwischen dem Bezug auf Institutionen und dem auf Personen wird in Humes Unterscheidung teilweise deutlich, aber auch stark vereinfacht. Es ist das Persönliche, das institutionalisiert wird, und dies geschieht nicht von oben nach unten wie in Theorien à la Rawls, sondern von unten nach oben, vom Persönlichen über das Kommunale zum Institutionellen. So verhält es sich auch mit Smiths imaginärem unparteiischen Zuschauer, der meines Erachtens nach als Bild für einen Prozeß steht: nämlich für eine sich in Lernschritten vollziehende Erweiterung des moralischen Horizonts, die ausgeht von unmittelbaren Erfahrungen mit Freunden und der Familie und sich dann auf die nur undeutlich vorgestellten Erfahrungen weiter entfernter anderer ausdehnt. Deshalb sehe ich in der Hypostasierung des unparteiischen Zuschauers – als ob er eine Person wäre, die man „anrufen“ könnte – ein bedauerliches Mißverständnis der Theorie Smiths. Diese fordert uns mit Recht dazu auf, Vorurteile und perspektivische Beschränkungen hinter uns zu lassen; sinnlos aber wäre die Forderung, von jeder Perspektive überhaupt abzusehen. Smith selbst gibt das natürlich zu, und deshalb ergänzt er seinen doch noch etwas parteiischen unparteiischen Zuschauer durch einen wahrhaft unparteiischen Zuschauer, nämlich Gott. Aber hier würde ich mich zu Hume und Nietzsche gesellen und dafür eintreten, daß wir die Vorstellung ei-
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ner solchen perspektivlosen Perspektive oder eines göttlichen Blicks, des „Blicks von nirgendwo“, zurückweisen. Die Gerechtigkeit und ebenso die Sympathie beruhen immer auf einem Blick von irgendwo. Hume und Smith wollen gegen Hobbes zur Geltung bringen, daß wir uns „von Natur aus“ wirklich um andere Menschen sorgen und zum Mitgefühl mit anderen ebenso befähigt sind wie zu Gefühlen für uns selbst. Das gilt für intimere persönliche Beziehungen ebenso wie für distanziertere Beziehungen, die nach Kriterien von Recht und Unrecht zu betrachten sind. Selbstverständlich sind sie nicht in allem einig, aber das Hobbessche Bild, das den Menschen als durch und durch eigennützig darstellt, lehnen beide mit derselben Entschiedenheit ab. Ich denke, es ist ein Mißverständnis oder zumindest unfair, Hume vorzuhalten, er sei in Wahrheit ein verkappter Individualist à la Hobbes, der die „Sympathie“ nur als eine verzweifelte Maßnahme einbringt, um die nicht zwingende Gültigkeit der Moral zu erklären. 11 Wie auch immer es um die Unklarheiten ihrer Theorien und um deren Differenzen bestellt sein mag, Smith und Hume machen gemeinsam Front gegen Hobbes und die Egoisten, aber auch gegen die erst im Anzug befindlichen Bataillone der Kantianer.
Was ist natürlich? Sympathie alias Empathie nochmals betrachtet Smith und Hume preisen die Sympathie als ein „natürliches“ Gefühl oder eine „natürliche“ Empfindung und als Grundlage aller Moralität, obgleich ihr Sympathiebegriff unklar und vielleicht auch allzu ehrgeizig ist. Nichtsdestoweniger haben Philosophen und Psychologen inzwischen vieles von dem, was die beiden zu sagen hatten, klarer gefaßt und bestätigt. Werfen wir doch, um ihnen Respekt zu bezeugen, einen Blick auf diese Forschungen. Zunächst stellt sich freilich auch bei Smith und Hume ein allgemeines Problem, das empiristische Gefühlstheorien von Locke bis zum (viel gerühmten) William James mit sich bringen. Es ist die Vorstellung, ein Gefühl sei eine Art „innerer“ Wahrnehmung, die Wahrnehmung 11 Vgl. MacIntyre 1984, S. 214 f. Dazu Milton Friedman (bezeichnenderweise): „Smith betrachtete Sympathie als eine typisch menschliche Eigenschaft, aber als eine, die selten anzutreffen war und die man sparsam einsetzen sollte.“ Vgl. Friedman 1976, S. 16.
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von etwas, das im Geist vorgeht (oder, insbesondere bei James, im Körper). Humes komplizierte Theorie der Affekte im Treatise verdeutlicht dies. Er definiert einen Affekt als eine „indirekte Wahrnehmung“ („indirect perception“), 12 was ihm außerordentliche Schwierigkeiten bereitet, sobald er daran geht, einzelne Affekte zu analysieren. In seiner Untersuchung des Stolzes z. B. bleibt er stecken zwischen der geforderten empiristischen Analyse des Gefühls als einer angenehmen Empfindung und der viel aufschlußreicheren Vorstellung, daß Stolz wie alle Gefühle, intentional ist. Stolz hat die Welt zum Gegenstand, nicht (nur) den Körper oder den Geist. Im Treatise versucht Hume, seine empiristische Interpretation des Stolzes mit der Intentionalität dieses Gefühls durch die Annahme einer monströsen Ansammlung von Ideen in Einklang zu bringen – Ideen, die sich auf das Selbst beziehen und andere. Aber das Resultat ist (wie er selbst eingesteht) ein inkohärentes Durcheinander. 13 Weder Smith noch Hume unterziehen die Sympathie einer derartig ausgedehnten Analyse. Doch offensichtlich steht ein allgemeiner Analyserahmen wie dieser im Hintergrund. Mir scheint, daß kein Gefühl und keine Empfindung – und insbesondere nicht die Sympathie – sich mit den begrifflichen Mitteln, die dieser Rahmen zur Verfügung stellt, verständlich machen läßt. Die Sympathie ist kein bloß angenehmes Gefühl (möglicherweise im Zusammenhang mit einem anderen Menschen). Sympathie hat den anderen Menschen zum Gegenstand, und diese Rolle kann keine andere Sinneswahrnehmung spielen.14 Um diesen Irrtum zu korrigieren (was kein großes Problem mehr ist, seit der Behaviorismus das gesamte Vokabular des „Inneren“ und „Geistigen“ lächerlich gemacht und damit vom Tisch gewischt hat), können wir etwas einfach sagen, was Smith und Hume noch nicht sagen konnten, daß nämlich Sympathie andere Menschen und deren Gefühle zum Gegenstand hat. Aber ich habe bereits die Auffassung vertreten, Smiths Verständnis von Sympathie sei in der Form, die er benötigt, damit dieses Gefühl all das leisten kann, was es ihm zufolge leisten soll, zweideutig. Um dies moderner und weniger problematisch auszudrücken, habe ich die These vertreten, daß „Sympathie“, wie Smith sie 12 Vgl. Hume, THN II.i.1, S. 182 (ed. SBN, S. 276). 13 Vgl. Hume, THN II.i.3, S. 184 f. (ed. SBN, S. 280 ff.). 14 Peter Goldie (2000) verweist in diesem Zusammenhang auf die „geliehene Intentionalität“ („borrowed intentionality“) der Gefühle. Das ist ein treffender Ausdruck, der die Vorstellung unterstreicht, daß Sinnesempfindungen als solche nicht intentional sind, jedoch als Teil des „Pakets“, aus dem ein Gefühl besteht, durch Assoziation auch die Eigenschaften erwerben, auf einen Gegenstand bezogen zu sein.
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versteht, zwischen Sympathie und Empathie changiert. Einerseits steht „sympathy“ bei ihm für so etwas wie Ärger über oder das Hegen freundlicher Gefühle für einen Mitmenschen (der im letzteren Fall für gewöhnlich leidet), andererseits steht es aber auch in einem gewissen Sinn für das wirkliche „Teilen“ des Leids oder anderer Gefühle unserer Mitmenschen. So kann „sympathy“ entweder ausdrücken, daß wir jemanden bedauern, oder aber, daß wir dasselbe empfinden wie er – und das ist nicht das Gleiche. (Um dies noch einmal zu betonen: Es sollte Raum bleiben für ein Sympathisieren mit den „positiven“ Gefühlen von anderen, aber ich werde mich – so wie es gewöhnlich geschieht – auf das Sympathisieren mit dem Leiden anderer konzentrieren.) Das Wort „Empathie“ ist jüngeren Ursprungs und stand den schottischen Theoretikern der moralischen Empfindens nicht zur Verfügung. Die heute übliche Unterscheidung zwischen Sympathie und Empathie ist allerdings für unsere Interpretation hilfreich und von erheblicher Bedeutung. Man kann, wie ich das oben getan habe, die These vertreten, Empathie (die von Smith favorisierte Variante der „Sympathie“) sei als solche kein Gefühl: sie verweise eher auf das Teilen von Gefühlen (welcher auch immer) oder zuweilen auch auf das Vermögen, Gefühle mit anderen zu teilen. Sympathie dagegen sei ein Gefühl, und zwar ein ganz eigentümliches, obwohl es ziemlich diffus und abhängig vom jeweiligen Kontext bestimmt sei. (So gesehen ist Sympathie bestimmt durch ihr intentionales Objekt: eine einzelne Person in ihrer besonderen Lebenssituation.) Sympathie ist konstitutiv für die Motivation, die Smith fordert, aber sie erfordert ihrerseits Empathie, das Vermögen zu „lesen“ und die Gefühle anderer Menschen bis zu einem gewissen Grad zu teilen. Meiner Ansicht nach bringt Smith die beiden Begriffe also zu Recht sozusagen unter einem Dach unter, denn obgleich nicht jede Empathie Sympathie einschließt, setzt jede Sympathie Empathie voraus. Er behauptet ebenfalls zu Recht, daß Empathie die wahre Grundlage unseres Menschseins ist, und dieses grundlegende menschliche Vermögen kommt in der Ethik vermittels der Sympathie zum Tragen. Wie gesagt halte ich die Annahme für wenig überzeugend, daß es Smiths mit seiner Sympathie um buchstäblich „geteilte Gefühle“ geht. Wenn ich mit Ihnen in Ihrer Lage sympathisiere, ist mein Leiden (oder mein Neid oder mein Übelnehmen) nicht das Spiegelbild Ihres Leidens oder Neids oder Übelnehmens. Wenn Sie sich ein Bein brechen und ich mit Ihnen sympathisiere, sind Ihre physischen Schmerzen und Leiden nicht nur einfach viel größer als meine. Abgesehen von der Möglichkeit
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eines geringfügigen „sympathetischen“ Zwickens, empfinde ich nichts, was Ihrem Schmerz auch nur nahe käme. (Selbst wenn wir beide uns auf mehr oder weniger gleiche Weise die Beine brechen sollten, ist keineswegs ausgemacht, daß wir in höherem Maß miteinander sympathisieren. Viel wahrscheinlicher ist, daß jeder von uns, überwältigt von seinem eigenen Schmerz, den Schmerz des jeweils anderen nur undeutlich wahrnimmt.) Natürlich muß ich irgendetwas fühlen, wenn ich Ihren Schmerz erleide: Ich muß leiden, weil Sie Schmerzen haben. Wenn aber mein Leiden daraus resultiert, daß ich mich belästigt fühle, dann ist das keineswegs Sympathie; und wenn ich mich krümme, weil ich mir vorstelle, die gleichen Schmerzen zu haben, so ist keineswegs ausgemacht, daß ich mit Ihnen sympathisiere. Ich kann mir ebensogut einfach vorstellen, selbst eine besonders unangenehme Erfahrung zu machen (und Sie dabei als ein geeignetes Modell verwenden). Außerdem werde ich Ihren Schmerz nicht einfach „registrieren“. (Was für ein kalter, gefühlloser Mensch wäre ich dann!) Und überdies kann mir jemand leid tun, ohne daß ich auf irgendeine Weise dessen Schmerz teilen müßte, wie ich auch jemandes Schmerz teilen kann, ohne daß dieser mir in irgendeiner Weise Leid tun muß. Schließlich kann ich sogar Empathie empfinden, wenn die entsprechende Person gar nichts empfindet: Ich kann z. B. zurückzucken, wenn ich in einem Film eine Augenoperation sehe, was aber nicht bedeutet, daß ich fühle, was der Patient fühlt. (Dieser wird ja gar nichts spüren, weil er betäubt ist.) Hier hat die Phänomenologie noch viel zu tun: Sie muß so genau wie möglich beschreiben, wie sympathetisches Leiden in allen diesen Fällen beschaffen ist. Es reicht nicht aus, einfach darauf zu bestehen, daß im Fall von Empathie zwei Menschen das gleiche Gefühl „teilen“. Ein quälender (und in der Philosophie überstrapazierter) Fall ist der des Sadisten, der in bezug auf sein Opfer Empathie empfinden muß, wenn er den Schmerz genießen will, den er ihm zufügt. Aber in diesem Fall sind die „geteilten Gefühle“ ganz offensichtlich ihrer Art nach völlig verschieden. Um mit dem Offenkundigen zu beginnen: Der Sadist genießt es, sein Opfer nicht. Aber ebensowenig können wir sagen, daß der Sadist einfach nur erkennt, daß es Schmerz ist, den er zufügt. Natürlich erkennt er ihn, und die Tatsache, daß er ihn verursacht, ist Gegenstand seiner Wertschätzung. Aber die Tatsache, daß er ihn genießt, erfordert ein gewisses Mitgefühl, wie pervers und anscheinend unsympathetisch (im Sinne von „leid tun“) es auch immer sein mag. (Und es ist nicht nur der Schmerz, den der Sadist mittels seiner Empa-
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thie empfindet. Er ergötzt sich auch an der ohnmächtigen Wut und der Furcht, die er bei seinem Opfer hervorruft, und wiederum muß er diese Empfindungen zum Gegenstand seiner Empathie machen, um sie zu genießen.) Je weiter wir uns vom physischen Schmerz entfernen und uns Situationen zuwenden, die an sich geteilt werden können, desto einfacher ist es natürlich, den Begriff des geteilten Leids wörtlich zu verstehen. Ich kann Ihre Furcht, daß wir das Spiel nun verlieren werden, durchaus teilen, ebenso wie Ihren Ärger darüber, daß Sie am Samstag nicht mit mir zu Abend essen können, und Ihr Gefühl drohender Langeweile angesichts der Aussicht, die Nacht im Krankenhaus zu verbringen, obgleich diese Empfindungen wohl kaum den Kern Ihres oder meines Leidens ausmachen (soweit ich wirklich mit Ihnen sympathisiere). Wenn ich in den Nachrichten von jemandem höre, der seine gesamten Ersparnisse beim Zusammenbruch von Enron verloren hat, und ich mich empathisch in ihn einfühle, dann deshalb, weil ich mir leicht vorstellen kann, wie ich mich fühlen würde, sollte mir etwas Vergleichbares passieren. Die Tatsache, daß ich mir nur vorstelle, in dieser Lage zu sein, könnte zu der Annahme führen, mein Gefühl könne nur ein vorgestelltes sein, aber das halte ich für einen Fehlschluß. Es kann durchaus sein, daß einige emotionale Reaktionen auf imaginäre Situationen (z. B. furchtbare Umstände, wie sie in Romanen vorkommen oder Gegenstand bloßer Darstellungen sind), gar keine genuinen Gefühle sind, aber andere sind es zweifellos. Entsetzen z. B. kann in solchen Fällen durchaus real sein, Furcht jedoch eher nicht. 15 Sympathie und Mitgefühl, so meine These, gleichen in dieser Hinsicht dem Entsetzen, und sie sind, wie Smith indirekt behauptet, weitgehend „Zuschauer“-Gefühle, d. h. solche, die kein Handeln erfordern (wenn sie auch selbstverständlich Handlungen motivieren können und diese nicht verhindern). Natürlich werden meine Gefühle desto intensiver sein, je besser ich mich in die entsprechende Situation hineinversetzen kann und je realer oder plausibler sie mir erscheint. Je mehr ich bereit und in der Lage bin, selbst auf diese Situation Einfluß zu nehmen, desto wahrscheinlicher ist es, daß meine Sympathie mich unmittelbar zum Handeln motivieren wird. Selbst wenn ich hier betone, daß ich mich imaginativ in die Lage oder Situation des anderen versetze, will ich damit keineswegs Smiths grundlegendere Einsicht verdecken, derzufolge die Empathie der Imagination auch vorhergehen kann. Empathie ist nicht an Imagination ge15 Vgl. Walton 1990.
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bunden, und meiner Ansicht nach schwächt Smith seine Position insofern, als er manchmal genau das anzunehmen scheint.
Empathie verstehen Für die heutige Psychologie hat Nancy Eisenberg Empathie definiert als „eine affektive Reaktion, die der Apprehension oder Komprehension des emotionalen Zustands oder der Stimmung eines anderen entstammt und die mit dem, was der andere Mensch fühlt oder fühlen sollte, identisch oder diesem Gefühl sehr ähnlich ist.“ 16 Eisenberg gibt das folgende Beispiel an: „Wenn eine Frau einen traurigen Menschen sieht oder von ihm erfährt und wenn sie daraufhin selbst Trauer empfindet, so erfährt sie Empathie.“ 17 Sie verfolgt den Begriff zurück bis ins frühe 20. Jahrhundert und vermerkt, der anfängliche Gebrauch des Begriffs sei stark kognitiv geprägt gewesen und habe die imaginative „Übernahme der Rolle des anderen“ eingeschlossen, darin dem deutschen Begriff des Verstehens sehr ähnlich. Wohlgemerkt hebt Eisenberg jedoch den „affektiven“ Aspekt von Empathie hervor, und sie betont, das Denken (oder die Imagination) brauchten überhaupt nicht beteiligt zu sein. Dennoch ist es wichtig, Empathie von bloßer Verärgerung oder „persönlicher Betroffenheit“ zu unterscheiden. Empathie setzt zumindest die „kognitive“ Trennung zwischen einem Selbst und anderen voraus. Daher können Kleinkinder keine Empathie empfinden, obgleich sie sehr aufgebracht sein können, wenn ihre Mütter aufgebracht sind. Aufgebracht sein, weil jemand anderes es ist, kann ganz und gar selbstbezüglich und mit der Ablehnung des anderen verbunden sein (z. B. kann ich unangenehm berührt sein, wenn jemand mich mit seiner Leidensgeschichte so beglückt, daß ich nur noch den Raum verlassen möchte). Dies ist kein Fall von Empathie. Empathie ist auch kein bloßes „Einfangen“ der Gefühle anderer vermittels „emotionaler Ansteckung“, wie Psychologen das heute nennen. Daher ist Empathie keine Sache bloßer Affektion. Empathie ist kognitiv, und sie ähnelt in dieser Hinsicht tatsächlich dem deutschen Verstehen. Aber das heißt nicht, daß sie so eng an eine aktive Imagination gebunden sein muß, wie insbesondere Smith unterstellt.
16 Vgl. Eisenberg 2000. 17 Vgl. Eisenberg 2000, S. 677; dt. v. Christel Fricke u. Jörg Heininger.
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Die Unterscheidung zwischen dem Affektiven und dem Kognitiven ist ein weites Feld. Hier beschränke ich mich auf den Hinweis, daß ich die Unterscheidung übertrieben finde. 18 So ist die Vorstellung, Empathie (und Sympathie) seien „affektive Reaktionen“, durchaus mit der Annahme vereinbar, daß sie auch kognitiv sind und die Verwendung von Begriffen und verschiedener Arten von Weltentwürfen einschließen. 19 Aber das bedeutet nicht, daß es zum Wesen der Empathie (oder Sympathie) gehört, sich gedanklich oder imaginativ „in die Haut des anderen“ zu versetzen; in diesem Sinn gleicht keines dieser Gefühle dem Verstehen. Verstehen kann minimal und lediglich stillschweigend sein, es setzt keine Artikulation voraus. Im Anschluß an Nell Noddings und ihr Buch Caring läßt sich eine nützliche Unterscheidung vornehmen. 20 Im Zusammenhang mit dem, was sie „the one-caring“ nennt, schreibt sie: Wir können diese Beziehung „Empathie“ nennen, aber wir sollten uns gut überlegen, was wir damit ausdrücken wollen. Das Oxford English Dictionary definiert Empathie als „das Vermögen, seine Persönlichkeit in das Objekt seiner Kontemplation zu projizieren und dadurch zu einem vollkommenen Verständnis desselben zu gelangen.“ Dies mag jedoch eine eigentümlich rationale, westliche, männliche Betrachtungsweise von „Mitfühlen“ sein. 21
So viel man auch gegen die Definition des Oxford English Dictionary und Noddings eher pauschale Kritik daran einwenden möchte, sollte man doch sehr ernst nehmen, wenn Noddings zwischen der Empfänglichkeit für die Gefühle anderer einerseits und der Projektion und Kontemplation von Gefühlen andererseits unterscheidet. („Ich versetze mich in die Haut des anderen.“) Ihr Beispiel ist eine Mutter, deren Baby die Windel naß gemacht hat und schreit. Mit Recht bemerkt Noddings, daß hier keine Projektion stattfindet. Die Mutter versetzt sich nicht in ihren Säugling und fragt sich, wie sie sich fühlen würde, wenn sie naß bis auf die Haut wäre. Das tun wir nur, fügt Noddings hinzu, wenn der natürliche Impuls versagt. Ohne die Unterscheidung zwischen dem 18 Ich verweise auf Solomon 1993 u. 2003. 19 Im II. Teil ihres Buches Upheavals of Thought: The Intelligence of Emotions verteidigt Martha Nussbaum (2001) ihre Auffassung, Mitleid sei ein rein kognitives Gefühl (ein Werturteil). Sie behauptet, was ich nicht oder zumindest nicht länger behaupten würde, daß Mitleid (und andere Gefühle) nicht mit irgendwelchen ausgeprägten Gefühlen oder „Affekten“ verbunden sein müssen. 20 Vgl. Noddings 1984. 21 Noddings 1984, S.30; dt. v. Christel Fricke.
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Affektiven und dem Kognitiven zu übertreiben oder zurückzufallen auf die Vorstellung der „emotionalen Ansteckung“, könnten wir darauf bestehen, daß Empathie in erster Linie ein praekontemplatives, aber kein „praekognitives“ Gefühl sei. In welchem Sinne es ein geteiltes Gefühl ist, muß noch genauer analysiert werden. Denn darum, wie es wäre, wenn die Mutter des nassen Säuglings sich „naß bis auf die Haut“ fühlte, geht es nicht. Trotzdem teilt sie „natürlicherweise“ den Kummer ihres Säuglings, und das bedeutet, daß auch sie bekümmert ist – wenn auch offenkundig auf ganz andere Weise und vermittelt über einen wesentlich komplizierteren kognitiven Apparat. Um Empathie zu empfinden, müssen wir also nicht fragen: „Wie würde ich mich in einer solchen Situation fühlen?“ Mit anderen Worten: Es gibt ein weit ursprünglicheres Vermögen der Empathie in uns (und zweifellos auch in anderen Lebewesen), als die ziemlich komplizierte Fähigkeit, uns in Situationen hineinzuversetzen, die von der, in der wir uns aktuell befinden, verschieden sind. Viel zu oft gehen wir davon aus, Empathie sei nur ein Gefühl und nicht vielmehr mehrere oder sogar viele. Tatsächlich reicht Empathie offenbar, abhängig von dem jeweiligen Komplexitätsgrad der Imagination, vom bloßen Mitfühlen nach „emotionaler Anstreckung“ (dem „Einfangen“ des Kummers oder auch der Freude eines anderen allein aufgrund der räumlichen Nähe zu diesem), bis zu dem „höherstufig kognitiven“ Teilen von Gefühlen, das zustande kommt, wenn wir uns imaginativ und dabei unserer selbst durchaus bewußt „an die Stelle eines anderen versetzen“. Die „emotionale Ansteckung“ am „unteren“ Ende der Skala ist nur mit minimaler Intentionalität verbunden: Sie bewirkt ein vages Gefühl geteilten Leids oder geteilter Freude. Und es ist keineswegs notwendig oder auch nur wahrscheinlich, daß das Subjekt eines solchen Gefühls in der Lage wäre, deutlich zu sagen, „worauf“ sich sein Gefühl bezieht, ganz zu schweigen von dem, was es anzeigt oder bedeutet. Die Frage „Warum fühlst du das?“ kann nur mit einer Kausalerklärung beantwortet werden, wie z. B.: „Weil ich bei ihr bin und sie sich ärgert.“ Erheblich komplizierter ist, was Nell Noddings „Empfänglichkeit“ (receptivity) nennt. Dabei mag die Intentionalität immer noch minimal sein. Aber während es zur „emotionalen Ansteckung“ allein aufgrund räumlicher Nähe kommt, muß man sich „öffnen“, um empfänglich zu sein, man muß es „geschehen lassen“ (was sich oft hinter der Bemerkung verbirgt, eine solche emotionale Empathie sei „spontan“). Dazu gehört auch eine Entscheidung für den Typ des Fühlens (wobei die maßgebliche Entscheidung vor Jahren getroffen worden sein kann, z.B.
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mit dem Entschluß, ein Kind zu bekommen oder genau diese Freundschaft zu pflegen). In der kognitiven Dimension noch komplexer sind Empathieerfahrungen, an denen die Imagination beteiligt ist. (In ihrer Darstellung der Empfänglichkeit läßt Noddings, wie mir scheint, die Einbildungskraft zu Recht aus dem Spiel.) Aber auch die Einbildungskraft nimmt viele Gestalten an. Da ist zum einen die Einbildungskraft in ihrer Grundgestalt, von der z. B. Kant behauptet, sie bilde die Grundlage jeder Wahrnehmung und erfordere keine Anstrengung und kein Selbstbewußtsein, vielmehr werde sie als Teil unseres Gewahrwerdens der Welt automatisch aktiviert. Entsprechend könnte man behaupten, es gebe eine Einbildungskraft, die in ihrer Grundgestalt unser Gewahrwerden anderer Menschen fundiere und die ebenfalls keine Anstrengung und kein Selbstbewußtsein erfordere. Aber unabhängig davon, ob dies so ist oder nicht, besteht die Aufgabe der Einbildungskraft vor allem in der „Komprehension“, auf die Adam Smith verweist, und diese erfordert eine gewisse Anstrengung des Verstandes. Auch hier ist die Bandbreite der geistigen Komplexität wieder beträchtlich. Ich sitze im Kino und schaue mir Goldfinger an. Der Gorilla des Schurken versucht James Bond zu erwürgen und dieser wehrt sich mit einem Tritt in dessen Genitalien. Die männlichen Zuschauer reagierten mit einem kollektiven „Au!“. (Es gab keine vergleichbaren Reaktionen im Zusammenhang mit den anderen Schlägen, Stichen, Hieben usw.) Ich verstehe dies als ein ebenso aussagekräftiges wie primitives Beispiel für minimale imaginative Empathie. Ich brauche nicht zu betonen, daß in diesem Augenblick nicht einer der männlichen Zuschauer unter wirklichen Schmerzen in seinen Genitalien litt, und doch war die Reaktion (einschließlich der prädikablen Geste des Selbstschutzes) ziemlich bemerkenswert. Hier hat Intentionalität nichts Geheimnisvolles. Um mich nun um vornehmere Etikette und einen höheren Grad geistiger Komplexität zu bemühen, erinnere ich mich daran, wie ich einige romantische Filme sah, wobei ich „mit“ dem Helden oder der Heldin „fühlte“. (Ich habe bei mir keine grundlegende Vorliebe oder Abneigung festgestellt, die sich allein auf das Geschlecht bezieht.) Tatsächlich ertappe ich mich dabei, wie ich mich ohne jeden Vorbehalt „mit“ einer Figur „identifiziere“, die ich auf der Leinwand sehe.22 Bemer22 Zugleich sollte ich geltend machen, daß dieser Begriff von „Identifikation“ wahrscheinlich der am meisten überbeanspruchte und am wenigsten erläuterte Begriff in der Filmkritik ist. Ich werde nicht versuchen, dies hier weiter zu verfolgen.
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kenswert ist allerdings der erhebliche Unterschied zwischen unserer Empathie mit Figuren auf der Leinwand und der mit Romanfiguren (und natürlich mit Personen, wie sie in Biographien und anderen Sachbüchern auftreten). Man sagt oft, es gehöre zu den Anstrengungen des Lesens, fehlende Details „zu ergänzen“, dem Knochengerüst, das die verbale Beschreibung liefert, durch Imagination zu „Fleisch und Blut zu verhelfen“, Farben (ob sie nun im Buch beschrieben werden oder nicht), und alle Arten von Einzelheiten hinzuzufügen. Seltener wird erwähnt, in welchem Ausmaß man sich mit den Figuren in einem Roman oder einer Biographie dadurch „identifizieren“ kann, daß man eigene Details hinzufügt, einschließlich seiner eigenen emotionalen Reaktionen (wiederum unabhängig davon, ob sie so im Buch geschildert werden oder nicht). Am oberen (was nicht heißt „besseren“) Ende der Skala von Empathieempfindungen steht der gewissenhafte Versuch, sich dadurch „in die Haut eines anderen Menschen zu versetzen“, daß man sich ganz bewußt die besonderen Umstände vorstellt, in denen er oder sie sich befindet. Dazu kann echte Forschung erforderlich sein, z. B. das Rekonstruieren der historischen Umstände, in denen Figuren eines bestimmten Typs oder eine ganz bestimmte Person lebten. Es kann auch eine außergewöhnliche imaginative Anstrengung erforderlich sein. Ich kann z. B. versuchen, mir die Gefühle Jeanne d’Arcs vorzustellen, die sie empfand, als sie zum ersten Mal an Robert Baudricourt herantrat, um Charles VII. ihre Dienste anzubieten. Ich bin nun wirklich keine junge Frau, ich bin nicht einmal mehr jung, ich bin nicht religiös, meines Wissens nach hat weder Gott noch ein anderes himmlisches Wesen jemals zu mir gesprochen, und ich lebe nicht im Mittelalter (und weiß weniger über diese Zeit als über andere Perioden der westlichen Geschichte). Und doch kann ich mich, wenn ich mich sehr anstrenge, in die Gefühle der jungen Jeanne einfühlen, wenn ich sie nämlich – nicht ohne Beklommenheit – mit meinen eigenen Erfahrungen vergleiche: mit meinem jugendlichen Enthusiasmus, meiner Selbstgerechtigkeit, meiner Einschüchterung durch Autoritäten, meinem aggressiven Ehrgeiz. Vergleichen wir diese Anstrengung mit etwas Vertrauterem. Ich habe gerade ein Buch über Nietzsche, einen meiner Lieblingsphilosophen, abgeschlossen. Eine der Herausforderungen, vor die mich dieses Buches (und der Anspruch, Nietzsche zu verstehen) stellte, bestand darin, „in seinen Kopf einzudringen“, d. h. zu verstehen, warum er all diese grobschlächtigen und blasphemischen Dinge gesagt hat. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß dies zum Teil einem persönlichen Res-
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sentiment gegen seine christliche Erziehung und gegen sein von Einsamkeit und Krankheit gezeichnetes Leben geschuldet war. Zu einem anderen Teil lag es an seiner mentalen Verfassung, die wir heute „bipolar“ nennen würden. Nun, auch ich bin ein Philosoph (und keine mittelalterliche, heilige, junge Analphabetin). Ich weiß einiges über das 19. Jahrhundert, und ich habe die Orte besucht, an denen sich Nietzsche oft aufgehalten hat. Ich war einsam und gelegentlich kränklich. Ich habe leichte Depressionen und Zeiten großen Enthusiasmus’ durchlitten. Ich hatte in meinem Leben Gelegenheiten genug zum Übelnehmen (obgleich ich mir, wie Nietzsche sich, jedes Ressentiment übelnehme, was ein Gewirr sich widersprechender Gefühle hervorruft). Und so kann ich, wenn ich mir nur ein bißchen Mühe gebe, Nietzsche „verstehen“, d. h. ich fühle mich in ihn ein. Das erfordert allerdings eine außergewöhnliche Anstrengung der Einbildungskraft, die sich über mehr als dreißig Jahre der Lektüre, der Imagination und der Forschung erstreckt. Es ist natürlich Empathie, aber sie ist alles andere als „spontan“.
Sympathie als Grundgefühl Im Unterschied zur Empathie definiert Eisenberg Sympathie als „eine affektive Reaktion in Form eines Gefühls von Kummer oder Sorge in bezug auf den bedrängten oder notleidenden Anderen (und nicht als ein Gefühl der Art, wie es der andere empfindet).“23 Das ist genau das, was Smith bestreitet. Wir aber haben das „Leid tun“ als einen Aspekt der Bedeutung von „Sympathie“ hervorgehoben. Philosophisch gesehen ist diese Empfindung weit weniger interessant als die Empathie. Tatsächlich ist es die Empathie, nicht die Sympathie, in bezug auf die man fragen kann, ob sie überhaupt eine Empfindung sei oder nicht vielmehr ein Vermögen, allerlei Gefühle zu haben, die von den Gefühlen anderer abhängen. Ein Gefühl ist Sympathie ganz offensichtlich in dem Sinn, daß sie ein klar bestimmtes Gefühl ist, eines, das von Gefühlen anderer abhängen kann, aber nur als Reaktion auf diese, nicht als deren Nachahmung oder Reproduktion. So kann man mit einem anderen Menschen sympathisieren und dabei seinen oder ihren Gefühlszustand völlig falsch verstehen. Von Empathie jedoch sprechen wir offenbar nur dann, wenn ein Gefühl tatsächlich die Gefühle eines anderen Menschen auf eine komplexe Weise spiegelt. 23 Eisenberg 2000 (s. o. Fn. 16); dt. v. Christel Fricke.
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Sympathie ist, wie Peter Goldie sagt, ein „Grund“-Gefühl, weil sie auf charakteristische Weise sowohl mit einer klar bestimmten emotionalen Erfahrung als auch mit einem typischen Gefühlsausdruck verbunden ist (wenngleich dieser in der Regel nur in einem entsprechenden Kontext als solcher verstanden werden kann), und meistens motiviert sie zum Handeln (nämlich zu hilfreichem oder zumindest unterstützendem Verhalten). 24 Diese Auffassung scheint mir ganz richtig zu sein, und sie bestätigt Smith, obwohl Goldie die Absicht hatte, Hume zu verteidigen und von „Mitleid“ (compassion) spricht, aber nicht von „Empathie“. Ausführlich beschäftigt sich Goldie mit dem Status der Sympathie als einem „Affektprogramm“ – das ist die z. Zt. in der Forschung übliche Auffassung von Gefühlen. Mit überzeugenden Argumenten bestreitet er, daß es gute Gründe gibt, die Sympathie bzw. das Mitleid (compassion) von einer Liste der „Grundgefühle“ wie Furcht und Wut zu verbannen. Was er in diesem Zusammenhang über den Gesichtsausdruck sagt, ist von besonderem Interesse. Theoretiker des Affektprogramms wie Paul Ekman und Paul Griffiths neigen dazu, den jeweiligen Kontext zu vernachlässigen. Ekmans Forschungen bestehen hauptsächlich darin, Fotografien von Gesichtsausdrücken vorzuführen, ohne sie auf einen Kontext zu beziehen oder zusätzliche Hintergrundinformationen zu liefern. Ausdrücke von Sympathie könnten unter diesen restriktiven Bedingungen gar nicht als solche erkannt werden, sie ließen sich nicht von Ausdrücken der Trauer oder Verzweiflung unterscheiden. Bemerkenswert ist jedoch, daß auch Goldie seine Auffassung der Sympathie von derjenigen Humes abgrenzt, denn so, wie er Hume versteht, betont dieser die „imaginative Identifikation“ (wie auch nach gängiger Interpretation Smith). Ich halte es für einen Irrtum, die Sympathie oder die Empathie als wesentlich projektiv oder kontemplativ zu verstehen, als Produkt des Denkens statt als geteiltes Gefühl in einer geteilten Beziehung. (Selbstverständlich können das Teilen und die Beziehung einseitig sein, wie bei der Empathie der Mutter für den Kummer ihres Säuglings.) Ich halte diesen Punkt für äußerst wichtig, wenn wir unser Gefühlsleben verstehen wollen, unsere „natürliche“ Fähigkeit, die eigenen Gefühle ohne Vermittlung durch eine reiche empathetische Imagination auf die Gefühle anderer einzustimmen. Unser Gefühlsleben beruht hauptsächlich auf Nachahmungen, die wir in „paradigmatischen Szenarien“ erlernen, wie Ronald De Sousa sagt. Wir lernen die Gefühle anderer kennen, lan24 Vgl. Goldie 2000 u. 2002.
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ge bevor wir imstande sind, uns gedanklich „in ihre Haut zu versetzen“. Wir lernen von ihnen, wann ein Gefühl angemessen ist. Wir lernen von ihnen, wann wir ein Gefühl empfinden sollten (und wann nicht). Wir lernen von ihnen, was es überhaupt heißt, ein Gefühl zu haben. Im Alter zwischen 18 Monaten und zwei Jahren zeigen Kinder Zeichen von Empathie, und dabei ahmen sie zweifellos Ältere nach, obgleich sie erst mit zunehmendem Alter und durch Lernprozesse wirklich zu verstehen beginnen, wie die tatsächlichen Gefühle anderer Menschen beschaffen sind. „Die goldene Regel“ ist eine wirksame und möglicherweise universelle moralische Richtschnur, aber das Befolgen einer solchen Regel bildet keineswegs die Grundlage von Moralität. Diese Grundlage ist die Empathie, und die Empathie ist weit grundlegender als komplizierte Denkprozesse der Art „Wie würde es mir gefallen, wenn ...?“ oder „Wie wäre es, wenn ...?“. Natürlich lernen wir, auf diese Weise zu denken, und wir können ein sehr komplexes Verständnis der Gefühle anderer erreichen. Aber bevor wir verstehen können „Warum?“, müssen wir dessen gewahr werden, daß andere Menschen Gefühle haben, und erst dann lernen wir, welche Gefühle der andere hat. Vielleicht müssen wir zuallererst lernen, daß der andere „verärgert“ ist, und das, so behaupte ich, kann man nicht durch Nachdenken erlernen. Möglicherweise machen das Autisten, aber das wäre ein Grund mehr, es als höchst ungewöhnlich anzusehen. Philosophen behandeln die Unterscheidung zwischen einem selbst und den anderen sowie die zwischen Eigen- und Fremdinteresse oft als virtuelle Absolutheiten. Aber von Smiths Hervorhebung des Vorrangs der Empathie und von seiner Tugendethik im allgemeinen können wir lernen, daß dieses Bild die komplexe emotionale Beziehung zwischen einem selbst und den anderen vollkommen falsch darstellt. Es ist gar nicht der Fall, daß wir unsere eigenen Interessen einfach haben. Wir teilen Interessen. Und auch unsere eigenen Motive, Wünsche, Gefühle und Stimmungen haben wir nicht einfach so. Wir teilen unsere Motive, Wünsche, Gefühle und Stimmungen. Das bedeutet nicht nur, daß wir zu einer gegebenen Zeit die gleichen Interessen, Gefühle usw. haben wie andere. Es bedeutet ganz buchstäblich, dasselbe Interesse, dasselbe Gefühl zu haben (ohne die cartesianische Regel zu verletzen, jedes Subjekt habe sein oder ihr eigenes Exemplar des betreffenden Gefühls). Empathie ist weder altruistisch noch egoistisch. Vielmehr führt sie vor Augen, wie unangemessen es ist, die menschliche Natur über Gebühr zu individualisieren. Wir sind sowohl soziale als auch emotionale Ge-
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schöpfe, für die gegenseitiges Einvernehmen – d. h. das wechselseitige Verständnis der Gefühle des jeweils anderen – wesentlich ist. Ohne dieses Einvernehmen würde es nicht nur so sein, als ob jeder von uns ein geschlossenes emotionales System wäre, in sich reich, aber unempfänglich für die Bedürfnisse und Interessen der anderen. Wir wären vollkommen autistisch, leer, unfähig auch nur zu den grundlegendsten Gefühlen, abhängig von Launen und Enttäuschungen, aber ohne die Dramatik und Komplexität, die sich erst einstellt, wenn wir in einer geteilten Gefühlswelt leben. Dies halte ich für die bleibende Bedeutung von Smiths Analyse. Bei Hume wird dasselbe weniger deutlich. Gegen einige monströsen Theorien der menschlichen Natur – wie die von Hobbes und Mandeville – setzte er ein viel humaneres und schöneres Bild der menschlichen Natur. Die eigennützigen Aspekte des Menschen (die Smith gar nicht in dem Maß hervorgehoben hat wie dies einige berühmte Kommentatoren seines Wohlstands der Nationen getan haben), erscheinen in diesem Bild eingeschränkt und erheblich relativiert. Die menschliche Natur wird dort weder als ein „Krieg aller gegen alle“ noch als ein summender Bienenstock dargestellt, sondern als eine sympathetische Gemeinschaft, deren Mitglieder einander mit Mitgefühl begegnen und nichts mehr verabscheuen, als einen Mitbürger von Schmerzen gepeinigt oder leidend zu sehen. (Übersetzt von Christel Fricke und Jörg Heininger)
Angemessenheit und Mittelmaß – Wie Gefühle und Handlungen aufeinander abgestimmt werden Allan Gibbard / University of Michigan, Ann Arbor Heutzutage ist Adam Smith vor allem für die „unsichtbare Hand“ bekannt: für den Wohlstand der Nationen mit seiner umfassenden und scharfsinnigen Analyse des Wirtschaftslebens und seiner unermüdlichen Offensive gegen den Merkantilismus. Was Smith selbst zur Begründung der unsichtbaren Hand vorgebracht hat, ist nicht schlüssig: Es läßt nicht nur außer Acht, was Russell Hardin „die Kehrseite der unsichtbaren Hand“ nennt – externe Effekte (externalities), Probleme mit öffentlichen Gütern und dergleichen –, sondern er läßt selbst für Bedingungen, auf die seine Schlußfolgerung zutrifft, unberücksichtigt, wie der Wohlstand einiger eben dadurch vermindert werden kann, daß andere ihren Wohlstand maximieren. 1 Spätere Ökonomen waren freilich in der Lage, Theoreme zu beweisen, die in die von Smith gewiesene Richtung gehen, wobei sie klar abgrenzten, welche Effekte einer wohltätigen unsichtbaren Hand nachweisbar sind und welche Bedingungen diese Effekte beeinträchtigen. 2 Ökonomen betrachten Smith natürlich nicht als den Begründer ihres Fachs, sondern als einen Autor, der zu dessen Fundament vieles beigetragen hat. Nun war Smith nicht der erste Philosoph, der sich mit Politischer Ökonomie befaßt hat. Rousseau z. B. verfaßte den einschlägigen Artikel für Diderots Encyclopédie, und noch vor kurzem war eine Tagung an der Columbia University der Politischen Ökonomie Humes gewidmet. Im Rückblick muß man allerdings sagen, daß Rousseaus Artikel von einer bemerkenswert geringen Einsicht in ökonomische Zusammenhänge zeugt, während Smiths 1 Smith verwendet das Argument der „unsichtbaren Hand“ im WN, IV.ii.9: 456; dt. 371. Die Rede von der „Kehrseite der unsichtbaren Hand“ stammt von Russell Hardin (1982). 2 Vgl. z. B. Arrow/Hahn 1971 u. Debreu 1959.
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Buch mit Einsichten, die Ökonomen bis heute für relevant halten, geradezu gespickt ist. Derweil lassen historische Darstellungen der Moralphilosophie in der Mehrzahl Smith und seine Theorie der moralischen Gefühle einfach links liegen. Er hat seine ausdrücklichen Bewunderer, aber die erdrükkende Mehrheit zieht es vor, sich auf Kant zu konzentrieren und auf die Geschichte der Moralphilosophie, soweit sie Hume und Kant betrifft.3 Wir jedoch, die wir Smiths Moralpsychologie bewundern, können ähnlich wie Ökonomen ein System scharfsinniger Einsichten und Theoriestücke finden, die sich in Denkweisen einfügen, die uns heutzutage vielversprechend erscheinen. Vor Jahren schon sagte mir Annette Baier, daß Überlegungen, die ich selber im Kontext der aktuellen Forschungsdiskussion entwickelte, eine nicht unerhebliche Affinität zu Smith hätten. Daraufhin sah ich mir Smith an und fand dies vielfach bestätigt. In diesem Beitrag beschäftige ich mich mit Smiths Theorie der Gefühle oder Emotionen. Vieles von dem, was er sagt, paßt nahtlos zu neueren Forschungsergebnissen der evolutionären Psychologie und der sich auf diese stützenden Moralphilosophie. 4 Smiths Theorie bedarf, wenn ich mich nicht irre, einiger Ergänzungen und kleinerer Korrekturen. Möglicherweise bedarf sie aber auch einer substantiellen Überarbeitung. Die zentralen Aspekte von Smiths Denken finden wir jedoch in den Versuchen, die Rolle der Emotionen in moralischen Urteilen und im gesellschaftlichen Leben zu bestimmen, die gegenwärtig besonders aussichtsreich erscheinen. Natürlich hatte Smith keine Vorstellung von Darwin und der Macht der natürlichen Selektion. Es konnte sich nur nach einem übernatürlichen Plan als causa finalis der emotionalen Ausstattung des Menschen umsehen. Anpassung im Darwinschen Sinn läßt sich aber verstehen wie das Bild eines Reproduktionsplans und all der Dinge, die zur Reproduktion der Gene in weit späteren Generationen beitragen. Die Reproduktion einer vielfältig sozialisierten Spezies wie der unsrigen hängt von höchst verschlungenen sozialen Beziehungen ab. Smiths Theorie der Sympathie paßt gut zur modernen evolutionären Spieltheorie: Daß jemand ein „Mittelmaß“ in seinen Emotionen erreicht, indem er sie auf ein Niveau dämpft oder steigert, auf dem ein be-
3 So enthält z. B. die sehr schöne, von Schneewind herausgegebene Anthologie Moral Philosophy from Montaigne to Kant (Schneewind 1990) keinen Text von Smith. 4 Als Beispiel für die evolutionäre Psychologie vgl. Barkow, Cosmides und Tooby 1992 sowie Nesse 2001. Ich diskutiere die evolutionäre Psychologie in Gibbard 1993.
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teiligter Zuschauer sie teilen kann, können wir als eine Strategie ansehen, Emotionen und damit auch Handlungen zu koordinieren.5 Ich beginne mit Smiths Theorie der Sympathie und seiner Inanspruchnahme von „Zweckursachen“ (final causes). Eine entsprechende Unterscheidung „nächster“ und „letzter“ Ursachen spielt in aktuellen Versionen des Darwinismus eine Schlüsselrolle. Anschließend nehme ich mir die „Angemessenheit“ von Gefühlen vor. Zu recht, so werde ich zeigen, stellt Smith diese Angemessenheit ins Zentrum seiner Moraltheorie; und seine Theorie der Angemessenheit als Mittelmaß erklärt bemerkenswert gut, wie wir Gefühle als angemessen oder unangemessen einschätzen. In zweierlei Hinsicht jedoch ist sie, wie ich zeigen werde, unzureichend: Erstens kommt es vor, daß wir ein bestimmtes Gefühl unerschütterlich für angemessen halten, obwohl wir wissen, daß andere es nicht teilen werden. Zweitens gibt es Paare von Gefühlen, die gleichsam miteinander „verzahnt“ sind: Übelnehmen und Schuldgefühl z. B., oder aber Verachtung und Scham. Wenn wir derartig „verzahnte“ Gefühle im Hinblick auf unsere Umgebung koordinieren, dann nicht dadurch, daß wir einfach die Gefühle unserer Mitmenschen übernehmen. Diese Probleme haben mich bei meinen eigenen Überlegungen teils in die Richtung von Smith, teils aber auch in eine andere Richtung geführt – wie ich jetzt darlegen will.
Sympathie Da wir keine unmittelbare Erfahrung von den Gefühlen anderer Menschen besitzen, können wir uns nur so ein Bild von der Art und Weise machen, wie eine bestimmte Situation auf sie einwirken mag, daß wir uns vorzustellen suchen, was wir selbst wohl in der gleichen Lage fühlen würden. (I.i.1.2: 9; dt. 2)
Dies ist nicht etwa Smiths Erklärung der Sympathie. Was er hier erklärt, ist vielmehr die Art und Weise, wie wir uns überhaupt eine Meinung darüber bilden können, was eine andere Person fühlt: Wir tun das, indem wir uns vorstellen, wie wir selber in der Situation dieser Person fühlen würden. An dieser Stelle hätte Smith vielleicht drei Fragen unterscheiden können. Eine lautet: Wie können wir überhaupt einen Gedanken denken, der sich darauf bezieht, was jemand fühlt? D.h., wie wir 5 Vor allem in meinem Buch Wise Choices, Apt Feelings (Gibbard 1990) habe ich die Moralphilosophie und die Moralpsychologie mit der Evolutionstheorie verbunden.
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selbst wohl sagen würden: Wie können wir uns vorstellen, wie jemandem zumute sein könnte, gleichgültig, ob wir glauben, ihm sei tatsächlich so zumute, oder nicht? Sich vorzustellen, wie es sich anfühlt, z. B. verliebt zu sein, hat etwas damit zu tun, sich verliebt zu fühlen. Und sich Furcht vorzustellen hat damit zu tun, sich zu fürchten. Das Milchmädchen Patience in der Operette von Gilbert und Sullivan „kann nicht sagen, was dieses ‚Liebe‘ bedeuten mag“, bis sie selber Liebe fühlt; und die Wikinger bei Astérix können sich nicht vorstellen, was Furcht ist, solange sie dieses Gefühl nicht selbst erfahren. 6 Von Hume kennen wir den Vorschlag, daß selbst das bloße Fassen des Gedankens, eine Person fürchte sich, eine freilich stark verblaßte Kopie eines Gefühls der Furcht einschließt. Zu glauben, daß er selber sich fürchte, so Hume, schließt dagegen eine solche Kopie ein, die weniger verblaßt ist und mit einem besonderen Gefühl einhergeht. Etwas ähnliches firmiert in der aktuellen Diskussion als „Simulationstheorie“: Wenn wir etwas denken, das Furcht zum Inhalt hat, so geschieht das, indem die für Furcht typischen mentalen Mechanismen off line ablaufen; und wir bilden eine Meinung darüber aus, was jemand fühlt, indem wir simulieren, in der Lage dieses Jemand zu sein, und dann die Simulation ablaufen lassen, um zu sehen, welches Gefühl sich einstellt – alles off line. 7 Die Simulationstheorie ist umstritten, aber so viel scheint festzustehen: Man verfügt nicht vollständig über den Begriff der Furcht, bevor man nicht in der Lage ist zu erkennen, daß man sich fürchtet, wenn man sich fürchtet. Es sieht nicht so aus, als sei Smith vorrangig daran interessiert gewesen herauszufinden, was das Fassen eines Gedankens, der die Gefühle anderer zum Inhalt hat, erfordert oder worin die Ausbildung einer Meinung über die Gefühle anderer besteht. Sein Interesse galt einer psychologischen Theorie, die erklärt, wie wir zu den Gefühlen kommen, die wir tatsächlich haben – insbesondere zu sympathetischen Gefühlen. Er macht sich anheischig zu zeigen, „daß dies die Quelle des Mitgefühls ist, welches wir gegenüber dem Elend anderer empfinden, daß wir erst dann, wenn wir mit dem Leidenden in der Phantasie den Platz tauschen, dazu gelangen, seine Gefühle nachzuempfinden ….“ (I.i.1.3: 10; dt. 3) Sich ein Gefühl vorzustellen heißt noch nicht, dieses Gefühl zu teilen; und Smith beginnt mit der ungeschützten Behauptung: „Bei allen Affekten, deren das menschliche Gemüt fähig ist, ent6 Vgl. die Operette Patience von Gilbert und Sullivan (Gilbert/Sullivan 1881) und Astérix le Normand von Goscinny und Uderzo (Goscinny/Uderzo 1967). 7 Zur Simulationstheorie vgl. Davies/Stone 1995.
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sprechen die Gemütsbewegungen des Zuschauers immer dem Bilde, das dieser sich von den Empfindungen des Leidenden macht, indem er sich in dessen Fall hineindenkt“ (I.i.1.4: 10; dt. 4). Das stellt Smiths eigene Auffassung verzerrt dar. Smiths Theorie läuft nicht etwa auf den Anspruch hinaus, dies laufe unweigerlich so ab, sondern sie zielt auf unser Bemühen, unsere Gefühle derart zu bändigen, daß sie so funktionieren. Smith zeigt uns hier, wie die Dinge sich auf eine gute Weise entwickeln können: Der Beobachter stellt sich vor, wie das Subjekt fühlt, und fühlt dadurch schließlich ebenso. Das ist Sympathie – oder nicht ganz, denn Sympathie, sagt Smith, „entspringt nicht so sehr aus dem Anblick des Affektes, als vielmehr aus dem Anblick der Situation, die den Affekt auslöst“ (I.i.1.10: 12; dt. 6). Wo jemand den Verstand verloren hat und auf manische Weise glücklich ist, „[muß] das Mitleid des Zuschauers vielmehr ganz und gar aus der Erwägung entstehen, was er selbst wohl fühlen würde, wenn er in die gleiche unselige Lage versetzt wäre und wenn er dabei gleichzeitig fähig wäre – was vielleicht unmöglich ist – diese Lage mit seiner gegenwärtigen Vernunft und Urteilskraft zu betrachten“ (I.i.1.11: 12; dt. 7). Smith bemüht sich sehr zu zeigen, daß andere Personen oft genug dazu kommen, unsere Gefühle in Anbetracht unserer Situation zu teilen. Diese Anteilnahme ist aber auch etwas, nach dem wir uns sehnen: „nichts [erweckt] unser Wohlgefallen mehr … als einen Menschen zu sehen, der für alle Gemütsbewegungen unserer Brust Mitgefühl empfindet, und ... nichts [verdrießt] uns so sehr ..., als wenn wir an einem Menschen kalte Gefühllosigkeit beobachten“ (I.i.2.1: 13; dt. 9). Dabei geht es nicht nur um die Hoffnung auf Beistand und dergleichen, denn „sowohl das Wohlgefallen als der Ärger [wird] stets so augenblicklich empfunden und oft auch bei solch geringfügigen Anlässen, daß offenbar keines dieser beiden Gefühle aus einer derartigen eigennützigen Betrachtung abgeleitet werden kann“ (I.i.2.1: 14, dt. 10). So schwächt die Sympathie den Kummer ab, „indem sie dem Herzen die einzige angenehme Empfindung einflößt, für die es in jenem Augenblick empfänglich ist“ (I.i.2.2: 14; dt. 11). Gute Gefühle erwachsen aus der Gewißheit, daß andere unsere Gefühle teilen, selbst wenn die geteilten Gefühle selbst eher schrecklich sind. Wir sehnen uns nicht nur nach der Sympathie anderer, umgekehrt sind wir auch gerne in der Position dessen, der Sympathie empfindet: Wie derjenige, den ein Ereignis in erster Linie angeht, sich über unsere Sympathie freut und sich über deren Fehlen kränkt, so scheint es, daß auch wir uns freuen, wenn wir fähig sind, mit ihm zu sympathisieren, und daß
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wir uns kränken, wenn wir dazu nicht imstande sind. Wir eilen nicht nur, dem Glücklichen, der irgendeinen Erfolg errungen hat, unsere Glückwünsche auszusprechen, sondern auch den Betrübten unseres Beileides zu versichern; und es scheint, daß die Freude, die wir an dem Umgang mit einem Menschen finden, mit dem wir in allen Gefühlen, die sein Herz bewegen, sympathisieren können, die Schmerzlichkeit jenes Kummers überwiege, den uns der Anblick seiner Lage bereitet. Umgekehrt, ist es uns immer unangenehm, zu fühlen, daß wir mit ihm nicht sympathisieren können, und anstatt uns darüber zu freuen, daß wir von dem sympathetischen Schmerz befreit sind, kränkt es uns, wenn wir bemerken, daß wir seine Unruhe nicht teilen können. (I.i.2.6: 15 f.; dt. 13).
Was eine Person gesellschaftsfähig macht, ist zu einem guten Teil diese Sehnsucht nach Sympathie mit unseren Gefühlen. Wir wünschen uns, daß andere „unsere Motive teilen“, und das heißt vermutlich, daß sie auch unsere Ziele teilen: Ich fühle mich unbehaglich, wenn ich selber reicher zu sein wünsche, als andere wünschen, daß ich es sei. Ich sehne mich auch danach, daß andere mir bestimmten Gefühle entgegenbringen: Ich möchte geliebt werden. Darin liegt jedoch nicht der größte Ansporn gesellschaftsfähig zu sein: Ich will nicht nur geliebt werden, sondern auch liebenswert sein. Ich möchte, daß es angemessen ist, mich zu lieben, und das hängt davon ob, ob ein distanzierter, interessierter und wohlinformierter Beobachter mich lieben würde. Weiter unten werde ich der Frage nachgehen, wie so etwas zu analysieren ist. Smith unternimmt es dann, einen wesentlichen Aspekt der Funktionsweise unserer Gefühle zu beschreiben. Außerdem differenziert er die Theorie in verschiedenen Hinsichten, aber seine Theorie der Sympathie hat von Anfang an drei charakteristische Züge: (1.) Der Beobachter entwickelt genau das Gefühl, von dem er meint, daß er selbst es in der Situation des Subjekts empfinden würde, (2.) das Subjekt wünscht sich, daß seine Gefühle vom Beobachter geteilt werden, und (3.) der Beobachter bemüht sich darum zu sympathisieren. Wenn wir fragen, weshalb dies so ist oder weshalb wir uns danach sehnen, liebenswert zu sein, so wird Smith uns aller Wahrscheinlichkeit nach antworten, daß er uns Grundprinzipien der menschlichen Natur vor Augen geführt habe. Jeden Versuch, diese Prinzipien auf ein Eigeninteresse zu gründen, weist er entschieden zurück – und er kennt keine andere alternative Grundlage als das Eigeninteresse.
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Zweckursachen Wir könnten auf den Gedanken kommen weiterzufragen: Warum sind wir so konstruiert? Smith unterscheidet Fragen nach der „Zweckursache“ von den Fragen nach wirkenden Ursachen, um die es ihm meistens geht: In jedem Teil des Universums beobachten wir, daß die Mittel auf die genaueste und kunstvollste Weise den Zwecken angepaßt sind, die sie hervorzubringen bestimmt sind, und wir bewundern es, wie in dem Mechanismus einer Pflanze oder eines tierischen Körpers alles so ausgedacht ist, daß es die zwei Hauptabsichten der Natur, die Erhaltung des Individuums und die Fortpflanzung der Gattung, befördert. Bei diesen wie bei allen derartigen Gegenständen unterscheiden wir jedoch immer die wirkende Ursache von der Zweckursache ihrer verschiedenen Bewegungen und Organisationen. (II.ii.3.5: 87; dt. 129 f.)
Smith beruft sich hier auf Beispiele wie die Verdauung von Nahrung und das Funktionieren eines Uhrwerks: Obgleich wir aber, wenn wir die Funktionen tierischer Körper erklären, niemals es unterlassen, ... die wirkende Ursache von der Zweckursache zu unterscheiden, so sind wir doch sehr geneigt, diese beiden verschiedenen Betrachtungsweisen miteinander zu verwechseln, sobald wir die Leistungen der Seele [mind] erklären wollen. Sooft wir durch natürliche Triebe [natural principles] dazu bestimmt werden, jene Zwecke zu fördern, die eine verfeinerte und aufgeklärte Vernunft uns anempfehlen würde, dann sind wir sehr geneigt, jener Vernunft als der wirkenden Ursache die Gefühle und Handlungen zuzurechnen, durch die wir jene Zwecke befördern, und uns einzubilden, dasjenige sei die Weisheit von Menschen, was in Wirklichkeit die Weisheit Gottes ist. (II.ii.3.5: 87; dt. 130)
Smith macht also einen scharfen Unterschied zwischen menschlichen Zwecken einerseits und andererseits jenen Zwecken, die hinter der Anlage der menschlichen Seele stecken, als der „Zweckursache“ der menschlichen Natur. Wie fast alle seine Zeitgenossen erklärt er Zweckursachen im Rückgriff auf die Weisheit Gottes, der organische Wesen so geplant hat, daß sie zum Überleben und zur „Fortpflanzung der Gattung“ tauglich sind. Eine andere glaubwürdige Erklärung stand ihm nicht zur Verfügung. Die einzig mögliche Alternative schien der pure Zufall zu sein – daß aber etwas, das sich raffinierter Planung zu verdanken scheint, aus blindem Zufall entstanden sein soll, hat eine nur verschwindend geringe Wahrscheinlichkeit für sich. Später haben Darwin und seine Nachfolger gezeigt, wie natürliche Selektion und Zufall sich verbünden können in einer langen Folge zufälliger Mutationen, die
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sich als der Reproduktion förderlich erweisen und über Millionen und Milliarden von Jahren den Anschein eines raffinierten Planes für das Überleben und die Reproduktion erwecken. Im dritten Jahrtausend sind wir imstande, die Frage nach der Zweckursache so zu reformulieren, daß die Antworten nicht mehr direkt auf einen göttlichen Zweck rekurrieren, sondern auf genetische „Anpassung“. Wir sind lebendige Organismen, und die Wissenschaft vom Leben ist die Biologie. Wir können daher fragen, ob allgemeine biologische Prinzipien so auf unsere spezifische Lebensform anwendbar sind, daß wir die Phänomene, auf die sich Smith bezogen hat, besser verstehen. Biologen unterscheiden wie Smith zwischen „nächsten“ (proximate) und „letzten“ (ultimate) Ursachen. Außerdem sind Fragen nach der Entwicklung zu beantworten: Biologen untersuchen, wie ein Genotyp durch Interaktion mit der Umwelt einen Phänotyp hervorbringt.8 Smith formuliert zumeist Hypothesen über die „nächstgelegenen“ (proximate) psychischen Mechanismen und deren Funktionsweise. Zu diesen Funktionsweisen gehören unter anderem die Sympathie und ein Bedürfnis nach Sympathie. Experimentelle Psychologen können Smiths Hypothesen untersuchen, indem sie Experimente zu deren Überprüfung konzipieren oder Alternativen entwerfen und diese experimentell überprüfen. Neuropsychologen könnten jetzt versuchen, etwas über die beteiligten neuronalen Mechanismen herauszufinden. In allen diesen Projekten geht es um nächste Ursachen (proximate causes), d. h. um die psychischen Mechanismen, die in Menschen wirksam sind. Die Evolutionsbiologie untersucht, warum sich aufgrund der genetischen Ausstattung eines Organismus die nächsten Mechanismen in ihm entwickeln. Die natürliche Selektion stellt eine schematische Antwort bereit: Genotypen werden rekombiniert und mit gelegentlichen Mutationen vererbt; Genotypen interagieren mit der jeweiligen Umwelt und bringen Phänotypen hervor; und in einer gegebenen Umwelt tendieren einige Phänotypen dazu, sich stärker zu reproduzieren als andere. Reproduktion verlangt ein Überleben bis zur Geschlechtsreife, günstige Partnerwahl und bei einigen Arten auch die Aufzucht, möglicherweise sogar die Ausbildung der Nachkommen.9 In erster Annähe8 Zu diesen verschiedenen Erklärungen vgl. Alexander 1979. 9 Wir können fragen, ob es auch in anderen Spezies als der menschlichen Anpassungen in bezug auf die Ausbildung von Nachkommen gibt. Viele Menschen leben in Gesellschaften, die erhebliche Mühe auf die Ausbildung der Nachkommen verwenden. Tatsächlich wäre es auch in bezug auf sie nicht einfach nachzuweisen, ob dieses Ver-
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rung ergibt sich daraus eine Tendenz zu Variationen, die die Reproduktion bis zur Ausbreitung über die ganze Population verstärken. Eine Akkumulation von Variationen, die der Reproduktion förderlich sind, kann etwas so Raffiniertes wie das menschliche Auge hervorbringen – oder wie das menschliche Gehirn. Jedes Organ wird so aussehen, als wäre es gestaltet und vervollkommnet, um auf die eine oder andere Weise, direkt oder indirekt, zur Reproduktion beizutragen. Metaphorisch gesprochen können wir ein Organ „vom Standpunkt der Gene“ aus betrachten, die konservativ (as it were) auf ihre eigene Reproduktion aus sind, und fragen, „wofür“ das Organ denn „gut“ ist und welche seiner Eigenschaften seine „Zweckbestimmung“, d. h. seine Zweckursache befördern. Was man Anpassung nennt, ist nichts anderes als eine Organeigenschaft, die auf diese Weise genetisch „geformt“ ist. Woran sie angepaßt ist, das ist dagegen das, „wofür“ das Organ „gut“ ist. (Nicht alles, was ein Organ leistet, geht auf solche Anpassungsprozesse zurück: Als Brillenträger fungiert die Nase nicht kraft genetischer Anpassung.) Was Hände und Augen angeht, ist all dies kaum kontrovers. Aber die Übertragung auf die menschliche Psyche provoziert oft heftige Ablehnung. Offensichtlich ist jedoch, was immer ein Tier tut, wesentlich für seine Reproduktion: Es kommt darauf an, wie es sich verhält. Bestimmte Verhaltensweisen können zum Tod führen oder potentielle Geschlechtspartner abschrecken. Angesichts der Komplexität des menschlichen Lebens muß es jedoch entmutigend kompliziert sein bestimmen zu wollen, welche Verhaltensweisen der Reproduktion förderlich sind. Es ist heiß umstritten, ob wir überhaupt auch nur die Anfänge dessen verstehen, wie die menschliche Psyche durch natürliche Selektion „geformt“ wurde, und ob wir genetische Anpassungen von anderen ihrer Eigenschaften unterscheiden können. Wenn die Theorie der moralischen Gefühle auf dem richtigen Weg ist, dann erklärt Smith Muster von Gefühlen oder Emotionen und damit einige der Funktionsweisen verschiedener psychischer Mechanismen – insbesondere von Gefühlsmechanismen. Irgendwie müssen diese Mechanismen durch natürliche Selektion geformt worden sein. Keine andere Erklärung, weshalb sie so sind, wie sie sind, wäre einer biologischen Theorie angemessen. Aber können wir die Entwicklungsgeschichte hinreichend vollständig erzähhalten in ihrem genetischen Plan spezifisch angelegt ist oder ob es nur ein Nebeneffekt von anderen Anpassungsleistungen ist, die unter bestimmten äußeren Bedingungen stattfinden.
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len, dementsprechend wohlbegründete Erklärungen formulieren und am Ende sagen, worin diese Anpassungen bestehen? Oder müssen wir uns auch künftig damit abfinden, daß wir nicht wissen, wie es sich zugetragen hat, weil die wahre Geschichte so überaus komplex sein muß und außerdem in der Vergangenheit verschlossen ist? Ich bin der Auffassung, daß wir zuverlässige Hinweise darauf finden können, was zu leisten die Mechanismen menschlicher Emotionen angepaßt sind. Was immer wir in Betracht ziehen, steht unter Vorbehalt, aber wir können Hypothesen entwickeln und sie auf ihre Plausibilität und ihre Kompatibilität mit psychologischen Daten überprüfen. In diesem Sinne werde ich eine spekulative Rahmengeschichte skizzieren.
Emotionen und Anpassungen Emotionen bestehen aus Abläufen von Mechanismen im Gehirn, in den inneren Organen und sonstwo. Die Gene liefern „Programme“ für die Entwicklung dieser Mechanismen im Verlauf des Wachstums aus einer Zygote in Reaktion auf Umweltreize nach gewissen Mustern. Letztendlich sind dies Programme, die „für“ eine erfolgreiche Reproduktion „gut“ sind. Aber jedes Programm ist auch angepaßt, etwas Spezifischeres zu leisten – etwas, das in den Populationen der Vorfahren zur Reproduktion beigetragen hat, d. h. dazu Kinder, Enkel und weitere Nachkommen zu haben. 10 Smith will zeigen, daß wir mit anderen in Sympathie verbunden sind, daß wir uns wünschen, andere fühlten so wie wir, und daß wir selbst mit anderen zu sympathisieren wünschen. Wir können fragen, warum das so ist. Von der Frage, wie die „nächsten“ (proximate) Mechanismen, die die Sympathie betreffen, funktionieren, können wir übergehen zu der Frage, an was sie angepaßt sind. Kummer liebt das Mitgefühl – aber wie ergibt sich ein Fünkchen Freude aus meinem Wissen, daß ein Freund mit mir in meinem Kummer mitleidet? „Unsere Gefährten merken zu lassen, daß uns ihre Freude nicht nahegeht, ist nur ein Mangel an Höflichkeit; aber keine ernste Miene anzunehmen, wenn sie uns ihre Bekümmernisse erzählen, ist wirklich eine arge Unmenschlichkeit“ (I.i.2.4: 15; dt. 12). Warum sollten wir so „programmiert“ sein, daß es uns verletzt, wenn unser Kummer einen Freund ungerührt läßt? 10 Zu dieser Auffassung von Emotionen vgl. Damasio 1994, zu Programmen der Entwicklung von Anpassungen vgl. Tooby/Cosmides 1990.
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Woran also sind, erstens, die Mechanismen angepaßt, deren Wirken Kummer, Übelnehmen und dergleichen ausmacht? Smith schreibt: Die Empfindung oder die Neigung des Herzens, aus welcher eine Handlung hervorgeht, und von welcher in letzter Linie ihr ganzer Wert oder Unwert abhängen muß, kann von zwei verschiedenen Gesichtspunkten oder in zwei verschiedenen Beziehungen betrachtet werden; erstens in Beziehung auf die Ursache, die sie hervorrief, oder den Beweggrund, der sie veranlaßte. (I.i.3.5: 18; dt. 17)
Ich werde „die Ursachen“ einer Emotion, „die sie hervorrufen“, als auslösende Reize bezeichnen und „die Wirkungen, die sie hervorzubringen pflegen“ (I.i.3.8: 18; dt. 18), als Handlungstendenzen. Genauer gesagt, stellen Tendenzen zum Handeln eine Art von Wirkung dar, während Tendenzen zu bestimmten Formen des emotionalen Ausdrucks einer anderen Art von Wirkung angehören. Demnach können wir sagen: Zu einer Emotion gibt es typischerweise (i) auslösende Reize, (ii) Handlungstendenzen und (iii) Ausdrucksformen. In manchen Fällen werden nicht alle drei Faktoren auftreten. Im Falle des Kummers z. B. ist an Handlungstendenzen kaum mehr präsent als eine gewisse Lähmung. Im Fall persönlichen Übelnehmens dagegen gibt es Tendenzen zu Vergeltungshandlungen: Man möchte es dem Übeltäter „heimzahlen“. Was die auslösenden Reize betrifft, so hat der Common Sense nur wenig Differenziertes zu sagen. Die auslösenden Reize für ein Übelnehmen sind Dinge wie Verunglimpfungen, Beleidigungen und Verletzungen. Wir haben damit ein Syndrom gewisser auslösender Reize, die tendenziell zu Handlungen einer bestimmten Art führen. Daß man wirklich in einer bestimmten Weise handelt, sobald Bedingungen erfüllt sind, die tendenziell mit den entsprechenden auslösenden Reizen einhergehen, ist also das, woran die emotionalen Mechanismen, um die es geht, angepaßt sind. Sie sind dem angepaßt, diejenigen zu schädigen, die einen geschädigt haben. (Dies schreit nach Einschränkungen und Präzisierungen, aber das sei anderen Gelegenheiten vorbehalten.) Was den Ausdruck von Kummer oder Übelnehmen angeht, so sind wir alle damit vertraut. Vom „Standpunkt der ‚Gene‘ “ aus gesehen ist ein Ausdruck ein an andere gerichtetes Signal. David Lewis erklärt das Wesen überlegten Signalisierens in seinem Buch Convention und greift dabei auf Arbeiten von Thomas Schelling und anderen Spieltheoretikern zurück. 11 Sobald sie ein Signal verabredet haben, sind Sender und Empfänger jeweils auf eine Weise disponiert, die auf die des anderen 11 Vgl. Lewis 1969, der sich auf Schelling 1960 beruft.
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bezogen ist: Ihre Dispositionen sind gleichsam miteinander „verzahnt“. Unter bestimmten Bedingungen sendet der Sender etwas Wiedererkennbares (das „Signal“), und der Empfänger kommt aufgrund seiner Beobachtung, daß es gesendet wurde, zu der Überzeugung, daß eben diese Bedingungen (der „Inhalt“) bestehen. Paul Reveres Konföderierte beobachteten, daß die Briten von der Seeseite kamen und hängten zwei Laternen auf, das vorher verabredete Signal mit genau diesem Inhalt. Im besonderen Fall des Übelnehmens signalisiert eine finstere Miene die Tendenz des Senders zur Vergeltung. Daraufhin kann der Empfänger den ihm drohenden Schaden abwenden, indem er den Sender entweder besänftigt oder das Feld räumt. Gegeben die Disposition des Empfängers, so oder so zu reagieren, tut der Sender oft gut daran, das Signal zu senden; und gegeben, der Sender sendet das Signal nur dann, wenn er dazu tendiert, dem Empfänger zu schaden, sofern dieser ihn nicht besänftigt, tut der Empfänger, sobald er das Signal empfängt, oft gut daran, entweder den Sender zu besänftigen oder das Feld zu räumen. In diesem Sinne bilden die Dispositionen von Sender und Empfänger ein Nash-Gleichgewicht. Die konventionelle Spieltheorie analysiert die Handlungen rationaler Akteure. Die evolutionäre Spieltheorie dagegen beschäftigt sich mit dem evolutionären Gegenstück menschlicher Zwecke, Handlungen und Pläne, d. h. damit, wie die natürliche Selektion zweckgerichtetes Planen imitiert. 12 Daß man die Strategien verfolgt, die der konventionelle Spieltheoretiker beschreibt, ist das, woran psychische Mechanismen angepaßt sind. Im einfachsten Fall ist das emotionale Syndrom fest „verdrahtet“, ein Teil der hardware-Architektur: Die Mechanismen sind dem angepaßt, daß sie das beschriebene Syndrom produzieren. In komplexeren Fällen sind Lernprozesse beteiligt: Die konservative (as it were) Strategie der Gene wird darauf zielen, die gegenwärtige Reaktion irgendwie von vergangenen Reizen abhängig zu machen. Wer in seiner Kindheit grob behandelt worden ist, mag später ein zu mehr Gewalttätigkeit neigendes Syndrom des Übelnehmens ausbilden, und das könnte ein Anpassungsprozeß sein. Die natürliche Selektion formt einen Entwicklungs„plan“, demzufolge das Wirken psychischer Mechanismen irgendwie abhängig gemacht wird von einer langen Folge von „Reizen“ aus der Kindheit. 13 12 Zur evolutionären Spieltheorie vgl. Smith 1982 und, z. B., Skyrms 1996. 13 Eine solche Darstellung genetischer „Pläne“ findet sich bei Tooby/Cosmides 1990 und Marcus 2004.
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Können wir die Muster, die Smith beschreibt, als genetische Anpassungen erklären? Zu sagen, „wofür“ jedes einzelne Gefühl „gut“ ist, bleibt einer eigenen Geschichte vorbehalten. Aber woher kommen die drei Merkmale der Sympathie: daß wir überhaupt sympathisieren, daß wir uns die Sympathie der anderen wünschen und daß wir gerne selbst sympathisieren? Alle drei wirken daraufhin, daß wir alle in bezug auf etwas auf dieselbe Weise fühlen. Die in Frage stehenden Mechanismen sind der Koordination des Fühlens angepaßt, so könnte man sagen. Und warum ist es, aus der Perspektive der Gene gesehen, wichtig, daß wir alle in bezug auf etwas auf dieselbe Weise fühlen – z. B. in bezug auf den Verlust, den einer von uns erleidet, oder eine Beleidigung, die er erfährt? Damit unsere entsprechenden Handlungstendenzen sich nicht in die Quere kommen, indem sie uns gegeneinander aufbringen oder jede Kooperation untergraben – das ist eine naheliegende Hypothese. Sympathie und unser Streben danach koordinieren unsere Gefühle, und dadurch koordinieren sie auch unsere Handlungen.
Die Bedeutung der Angemessenheit Smith spricht von der „Angemessenheit oder Unangemessenheit“ von Emotionen, und er entwickelt eine differenzierte psychologische Theorie darüber, wie wir Gefühle als angemessen oder unangemessen einschätzen. Wenn die ursprünglichen Affekte desjenigen, der durch ein Ereignis in erster Linie betroffen wird, mit den sympathetischen Gemütsbewegungen des Zuschauers in voller Übereinstimmung stehen, dann werden sie notwendig diesem letzteren als richtig und schicklich und als ihren Anlässen angemessen erscheinen; und umgekehrt, wenn dieser sich in den Fall hineinzudenken s7ucht und dabei findet, daß diese Affekte nicht mit dem übereinstimmen, was er selbst fühlt, dann erscheinen sie ihm notwendig als unrichtig und unschicklich und als den Ursachen unangemessen, die sie hervorrufen. (I.i.3.1: 16; dt. 14).
Damit erklärt Smith nicht direkt, was es heißt, daß ein Affekt angemessen ist, er bietet nur eine Antwort auf die Frage an, wann ein Affekt angemessen erscheint. Er untermauert seinen Vorschlag mit einer allgemeinen Betrachtung über Gemütszustände, die man als entweder korrekt oder inkorrekt ansehen kann. Die Ansichten eines anderen billigen heißt, diesen Ansichten beipflichten, und ihnen beipflichten heißt, sie billigen. Wenn die gleichen Beweisgründe,
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die dich überzeugen, auch mich ebenso überzeugen, dann werde ich notwendig deine Überzeugung billigen, wenn nicht, dann werde ich sie notwendig mißbilligen. Und ich kann mir gar nicht vorstellen, daß ich das eine ohne das andere tun würde. Die Ansichten anderer billigen oder mißbilligen bedeutet also, wie jedermann zugeben wird, nichts anderes, als deren Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit unseren eigenen bemerken. Ganz gleich aber verhält es sich in bezug auf unsere Billigung oder Mißbilligung der Empfindungen oder Affekte anderer. (I.i.3.2: 17; dt. 16).
In Teilen dieser Passage scheint Smith zu sagen, wir müßten, um einen Gemütszustand für korrekt zu halten, mit der jeweiligen Person in der betreffenden Sache „gleichen Sinnes“ sein, d. h. den Gemütszustand mit ihr teilen. Analysen dieses Typs werden auch als expressivistisch bezeichnet, weil sie, um die Bedeutung eines Wortes (oder einer Phrase) kenntlich zu machen, nicht ein Synonym angeben, sondern darlegen, wie das betreffende Wort (oder die Phrase) als Expression bzw. Ausdruck von Gemütszuständen gebraucht wird. 14 Wer von einem Gemütszustand sagt, er sei „korrekt“, bringt damit, so scheint Smith zu behaupten, zum Ausdruck, daß auch er sich in diesem Gemütszustand befindet. Entsprechendes gilt für die Korrektheit oder Angemessenheit von Affekten. Was Smith hier sagt, paßt auch zu aktuellen Theorien „minimaler Wahrheit“. Beginnen wir – wie Smith – mit geradlinigen Meinungen über Tatsachen. Jedes Vermögen, das ein Mensch in sich findet, ist der Maßstab, nach welchem er das gleiche Vermögen bei einem anderen beurteilt. Ich beurteile deinen Gesichtssinn nach meinem Gesichtssinn, dein Gehör nach meinem Gehör, deine Vernunft nach meiner Vernunft, dein Übelnehmen nach meinem Übelnehmen, deine Liebe nach meiner Liebe. Ich habe kein anderes Mittel und kann kein anderes Mittel haben, sie zu beurteilen. (I.i.3.10: 19; dt. 19)
Stellen wir uns vor, Gretel glaube, es sei kein Brot im Haus. Was sie glaubt, ist wahr genau dann, wenn kein Brot im Haus ist – das ist eine Variante des Tarski-Schemas. Wer nun weiß, was sie glaubt, und denkt, dies sei wahr, denkt auch, daß kein Brot im Haus ist. 15 Die Angemessenheit von Gefühlen, ihre Paßgenauigkeit bezogen auf ihre Gegenstände funktioniert ganz ähnlich wie die Wahrheit von Überzeugun14 Zu den Theoretikern, deren Arbeiten ich als „expressivistisch“ bezeichne, gehören die Emotivisten Ayer (1936) und Stevenson (1963), der universale Präskriptivist Hare (1981), der Quasi-Realist Blackburn (1993), die Kantianerin Korsgaard (1996) und ich selbst (Gibbard 1990 u. 2003). 15 Über minimale Wahrheit vgl. z. B. Horwich (1998).
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gen. Die Wahrheit einer Überzeugung ist in einem gewissen Sinn geradezu deren Paßgenauigkeit bezogen auf deren Gegenstand. So wie wir einer Überzeugung zustimmen, sie als paßgenau bezogen auf ihren Gegenstand ansehen, indem wir sie teilen, so stimmen wir auch einem Gefühl zu, indem wir es teilen. Dafür, was es heißt, daß ein Affekt „angemessen“ ist, legen andere Formulierungen von Smith eine Erklärung nahe, die sich von dieser auf subtile Weise unterscheidet: Wenn wir also die Affekte eines anderen als ihren Gegenständen angemessen billigen, so bedeutet das nichts anderes, als daß wir unserer vollen Sympathie mit diesen Affekten inne geworden sind. (I.i.3.1: 16; dt. 14).
Das legt nahe, daß ‚Affekt A ist angemessen‘ dasselbe bedeutet wie ‚Ich teile Affekt A‘. Allerdings erwähnt Smith Ausnahmen, die eine Modifikation dieser semantischen Äquivalenz erfordern würden. In niedergeschlagener Stimmung können wir einen Witz sehr wohl für komisch halten, ohne durch ihn erheitert zu sein, und deshalb glauben, Heiterkeit sei hier durchaus angemessen, ohne sie zu teilen. Wir halten den Witz für komisch, weil „wir uns ... dessen bewußt [sind], daß wir sonst in den meisten Fällen recht herzlich mitlachen würden“ (I.i.3.3: 17; dt. 16). Oder, wenn wir an einem trauernden Hinterbliebenen vorbeihasten, so reagieren wir auf dessen Betrübnis kaum, aber „wir wissen, daß wir ohne Zweifel äußerst aufrichtig mit ihm sympathisieren würden, wenn wir uns Zeit nähmen, seine Lage gründlich und in jeder Hinsicht zu überdenken“ (I.i.3.4: 18; dt. 17), und kommen so zu der Einschätzung, seine Trauer sei ihrem Gegenstand angemessen. Die allgemeinen Regeln, die wir uns aufgrund früherer Erfahrungen gebildet haben und die uns darüber belehren, womit gemeinhin unserer Empfindungen übereinstimmen würden, werden in diesen wie in manchen anderen Fällen die Unangemessenheit unserer gegenwärtigen Gemütsbewegungen richtigstellen (I.i.3.4: 18; dt. 17).
Damit eine gewisse Übereinstimmung der Empfindungen zwischen dem Zuschauer und dem zunächst Betroffenen zustande komme, muß der Zuschauer in allen derartigen Fällen vor allem sich bemühen, so sehr er kann, sich in die Lage des anderen zu versetzen und jeden noch so geringfügigen Umstand des Unglücks nachzufühlen, der möglicherweise jenem begegnen kann. Er muß die ganze Angelegenheit seines Gefährten mit allen ihren noch so unbedeutenden Zwischenfällen gleichsam zu seiner eigenen machen und trachten, jenen in der Phantasie vollzogenen Wechsel der Situation, auf welchen sich seine Sympathie gründet, so vollständig als möglich zu gestalten. (I.i.4.6: 21; dt. 23).
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Es ist mithin möglich, die eigenen aktuell empfundenen Emotionen für nicht angemessen zu halten. ‚Ps Affekt A ist seinem Gegenstand X angemessen‘ bedeutet dann vielleicht so viel wie ‚Wenn ich mir die Zeit nähme, Ps Situation vollständig und in allen Hinsichten zu berücksichtigen, würde ich in den meisten Fällen in bezug auf X selber den Affekt A haben‘. Das ist eine dispositionale Analyse von genau der Art, die in den vergangenen fünfzig Jahren ausgiebig untersucht worden ist.16 Um die Analyse mit Smiths Auffassung in Einklang zu bringen, sind jedoch weitere Differenzierungen erforderlich. Meine eigenen Emotionen, mit denen ich auf meine Situation reagiere (z. B. mein Kummer über den Verlust meiner Ehefrau oder meines Kindes), werden unweigerlich über das hinausgehen, was – Smith zufolge – angemessen ist, weil sie über das hinausgehen, was ein Zuschauer an Emotionen nachvollziehen kann. Ich berücksichtige meine Situation „vollständig und in allen Hinsichten“, aber ich empfinde mehr als angemessen ist. Ich würde nur dann angemessen fühlen, wenn ich meine Situation sozusagen „von außen“ betrachtete oder wenn ich mir eine andere Person in meiner Situation vorstellte. Wohlbekannt ist Smiths Berufung auf den „kühlen und unparteiischen Zuschauer“ (I.ii.3.8: 38; dt. 51) bzw. auf den „indifferenten Zuschauer“ (I.ii.4.1: 39: dt. 52) als Maßstab der Angemessenheit. Demnach muß ich die Situation vom Standpunkt einer Person aus betrachten, die vollständig informiert und auch beteiligt, aber unparteiisch ist. Wir können versuchen, was Smith vor Augen steht, mit der folgenden dispositionalen Analyse zu treffen: ‚Ps Affekt A ist seinem Gegenstand X angemessen‘ bedeutet so viel wie ‚Wenn ich einen unparteiischen Standpunkt einnähme, Ps Situation richtig verstünde und mir die Zeit nähme, diese vollständig und in allen Hinsichten zu bedenken, dann würde ich in den meisten Fällen in bezug auf X selber den Affekt A haben‘. Vielleicht heißt es aber auch so viel ‚Wenn ein unparteiischer Beobachter Ps Situation richtig verstünde und sich die Zeit nähme, diese vollständig und in allen Hinsichten zu bedenken, dann würde er in den meisten Fällen in bezug auf X selber den Affekt A haben‘. Smith läßt zu, daß Unterschiede in den „Sitten“ auf die Gefühle eines Zuschauers in bezug auf eine Situation durchschlagen können. Wenn also der Zuschauer und ich aus unterschiedlichen Gegenden oder Zeitaltern stammten, so könnte die Art und Weise, wie einerseits der Zuschauer in bezug auf meine Situation und andererseits ich selbst als unparteiischer Zuschauer in bezug auf 16 Dispositionale Theorien haben z. B. Firth 1952 und Smith 1994 entwickelt.
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eine entsprechende Situation fühlen würde, durchaus verschieden sein. 17 Diese beiden Varianten einer dispositionalen Analyse erlauben den Fall, daß ich das, was ich gerade in bezug auf etwas fühle, für dieser Situation nicht angemessen halte und ich deshalb nicht die angemessenen Handlungsmotive habe. Diesen Fall läßt die expressivistische Analyse nicht zu. Ihr zufolge ist es ausgeschlossen, einen Witz für komisch zu halten, ohne dadurch erheitert zu sein. Wer sagt, der Witz sei komisch, sucht eine Heiterkeit zum Ausdruck zu bringen, die er gar nicht empfindet. Er spricht daher unaufrichtig wie jemand, der behauptet, was er nicht glaubt. Der expressivistischen Analyse zufolge ist es mir gar nicht möglich, meine aktuellen Handlungsmotive für unangemessen zu halten, weil ich sie trivialerweise teile. Wenn mich nach Rache dürstet, werde ich akzeptieren, daß mein Rachedurst angemessen ist. Denn ein Gefühl zu akzeptieren ist nichts anderes, als es zu teilen. Und wenn ich sage ‚Mein Rachedurst ist angemessen‘, bringe ich damit nur meinen Rachedurst zum Ausdruck. Meine Überzeugung, daß dieses Gefühl angemessen sei, besteht in nichts anderem als darin, dieses Gefühl zu haben. Eine expressivistische Analyse des Begriffs der Angemessenheit müßte deshalb auf andere Ressourcen zurückgreifen, um der Möglichkeit Rechnung zu tragen, daß man einen Witz für komisch hält, ohne gleichzeitig erheitert zu sein. In meinem Buch Wise Choices, Apt Feelings habe ich mich um eine solche Analyse bemüht. Versuchsweise habe ich dort unterstellt, es gebe ein spezifisch menschliches Syndrom, das ich ‚eine Norm akzeptieren‘ genannt habe. Manche Normen sagen uns, wie wir angesichts bestimmter Dinge fühlen sollen, wie etwa die Norm ‚Angesichts eines neuerlich eingetretenen großen Verlustes sei in dem Maße bekümmert, wie es ein unparteiischer Zuschauer wäre, wenn er deine Situation vollständig und in allen Hinsichten berücksichtigen würde!‘. Sobald ich einen solchen Verlust erleide, mag ich weit über dieses Maß hinaus bekümmert sein, und kann dennoch diese Norm weiterhin akzeptieren und mit ihr auch die normative Anweisung ‚Bekümmere dich nicht so sehr über diesen Verlust!‘. In diesem Fall akzeptiere ich, daß mein Kummer übermäßig, d. h. größer ist, als angemessen wäre. Damit eröffnen sich Aussichten auf eine alternative 17 Ich glaube nicht, daß Smith meint, verschiedene Testverfahren würden einander ausschließen, müßte in dieser Frage aber diejenigen um Rat fragen, die mit den Schriften von Smith besser vertraut sind.
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expressivistische Analyse für Wörter wie ‚angemessen‘, ‚passend‘ und ‚richtig‘, die Smith bei der Formulierung seiner Theorie ausnutzt. Freilich entwickelt Smith selbst keineswegs die Ressourcen, auf die eine expressivistische Analyse der Angemessenheit angewiesen wäre. Die expressivistische Analyse aber, die durch manche seiner Formulierungen nahegelegt wird, wäre offensichtlich inadäquat. Die Mehrzahl seiner Aussagen legt eine dispositionale Analyse nahe, und ich habe zwei derartige Analysen formuliert, die sich mit seinen Auffassungen decken. Ich glaube, daß Smith irgend etwas in dieser Richtung akzeptieren würde und daß eine dieser dispositionalen Analysen seinen Intentionen am besten entspricht.
Emotionen beherrschen Aber welche Rolle spielt eigentlich die Beurteilung von Emotionen als angemessen oder unangemessen, wie ich sie im Sinne von Smith analysiert habe, in den Angelegenheiten der Menschen? Vielleicht keine sehr große, vielleicht sind wir immer intelligent genug gewesen herauszufinden, ob eine Emotion der Smithschen dispositionalen Analyse der Angemessenheit entspricht, also, grob gesagt, zu beurteilen, ob ein unparteiischer Zuschauer diese Emotion teilen würde, ohne daß diese Beurteilung irgendeinen Einfluß auf unsere Gefühle gehabt hätte. Smith dagegen glaubt, wir bemühten uns darum, unsere Gefühle auf das hin zu entwickeln, was wir als angemessen empfänden. Wir arbeiteten daran, uns von Gefühlen und Motiven zu befreien, die wir unangemessen finden, Gefühle, die wir übertrieben finden, zu dämpfen und solche, die wir für angemessen halten, tatsächlich in der uns angemessen erscheinenden Intensität zu haben. Zum Teil geht es dabei um das, was wir fühlen wollen: Wenn uns eine unserer Emotionen übertrieben vorkommt, wollen wir sie gedämpft haben. Aber ein Gefühl haben zu wollen bewirkt noch lange nicht, es tatsächlich zu haben. Es ist anders als beim Juckreiz, wo es oft so ist, daß jemand, der sich kratzen will, dann auch kratzt. Über eine unglückliche Liebe hinwegkommen zu wollen führt einen, wie wir alle nur zu gut wissen, nicht geradewegs dazu, tatsächlich darüber hinwegzukommen. Nun weiß auch Smith sehr wohl, daß jemand seinen Kummer für übertrieben halten kann und dabei doch außerstande ist, ihn zu dämpfen. Gleichzeitig ist Smith aber der Meinung, die Einschätzung des eigenen Kummers als übertrieben bringe gleichwohl eine gewisse Tendenz zur Dämpfung mit sich. Es geht
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nicht darum, daß wir willentlich weniger intensiv fühlen könnten, als wir es gerade tun. Ebensowenig geht es um solche Strategien zur Veränderung unserer Gefühle wie z. B. ins Kino zu gehen oder uns gezielt den schlechten Charakter der Person vor Augen zu halten, die uns verlassen hat. Ein Urteil über die Angemessenheit oder Unangemessenheit von Gefühlen tendiert direkt dazu, diese zu verändern. Andernfalls hätten diese Urteile nicht annähernd die Bedeutung für menschliche Angelegenheiten, die Smith ihnen zumißt. So wie Smith die Wirkungen beschreibt, die es hat, wenn jemand die eigenen Gefühle angemessen oder unangemessen findet, sind diese Wirkungen omnipräsent und für das Funktionieren einer Gesellschaft unverzichtbar. Um dieser Rolle willen und um uns gesellschaftsfähig zu machen, müssen unsere Gefühle für unsere Urteile über deren Angemessenheit empfänglich sein. Smith dachte offenbar an einen Mechanismus für eine derartige Beherrschung der Emotionen durch Urteile über deren Angemessenheit: an einen Mechanismus, der Sympathie einschließt. Über jemanden in Not und dessen Mitmenschen schreibt Smith: Wie ihre Sympathie sie veranlaßt, seine Lage gewissermaßen mit seinen Augen zu betrachten, so veranlaßt ihn seine Sympathie, seine Lage gewissermaßen mit ihren Augen anzusehen, insbesondere, wenn er sich in ihrer Gegenwart befindet und unter ihren Augen handelt. Und da der reflektierte Affekt, den er so empfindet, weit schwächer ist als der ursprüngliche, so dämpft jener die Heftigkeit der Gefühle, die ihn bewegten, bevor er in die Gesellschaft dieser Zuschauer kam, bevor er anfing, sich darauf zu besinnen, welchen Eindruck seine Lage auf sie machen würde, und bevor er begann, seine Lage in diesem gerechten und unparteiischen Lichte zu betrachten. (I.i.4.8: 22; dt. 25)
Die hier wirksame Tendenz scheint die folgende zu sein: das zu fühlen, was, wie man spürt, die Mitmenschen fühlen, und es auch nur mit der Intensität zu fühlen, mit der sie, wie man spürt, es fühlen. Das ist etwas anderes als nur fühlen zu wollen, was unsere Mitmenschen fühlen, und für diesen Zweck geeignete Mittel zu ergreifen. Vielmehr haben wir eine elementare psychische Tendenz, schließlich so zu fühlen, wie wir empfinden, daß unsere Mitmenschen fühlen. Und diese elementare Tendenz, so mag Smith denken, erstreckt sich auch auf Gefühle, die ein nicht unmittelbar betroffener, aber beteiligter Zuschauer haben würde. Ich denke, Smith hat recht mit der These, daß Einschätzungen der Angemessenheit oder Unangemessenheit einer Emotion direkte Auswirkungen auf eben diese Emotion haben – nicht unausweichlich, aber oft. Angesichts heftiger Gefühle von Kummer, Wut und dergleichen
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werden Urteile, diese seien unangemessen, bisweilen nichts ausrichten können. Normalerweise aber geht Ärger einher mit einer Empfindung seiner Angemessenheit. Geht einem dagegen auf, daß er unangemessen ist, so kann einem das „den Wind aus den Segeln nehmen“ und den Ärger dämpfen. Wenn ich mich nicht irre, spielen Urteile darüber, wie man angesichts von etwas richtig fühlt – welche Gefühle begründet, welche der Situation angemessen sind – eine wesentliche Rolle in der menschlichen Psyche. 18 Es ist allerdings eine andere Frage, ob der Mechanismus, den Smith vorschlägt, diese Tendenz vollständig erfaßt. Seine Hypothese darüber, wie das Empfinden der Angemessenheit auf Emotionen wirkt, macht meines Erachtens alles abhängig von einer Tendenz, unsere Gefühle denen unserer tatsächlichen oder gedachten Mitmenschen anzupassen und uns anderenfalls unbehaglich oder schlechter zu fühlen. Das ist eine ernst zu nehmende Hypothese. Sie könnte zutreffen, und sie bietet empirischen Sozialpsychologen genügend Anhaltspunkte, sie zu überprüfen. Wir wissen, daß Einstellungen und Motive auf Gefühle des Unbehagens reagieren: Forschungen zur „kognitiven Dissonanz“ haben gezeigt, daß Probanden, die dazu gebracht werden, eine ihnen eigentlich mißfallende Sache zu vertreten, ihre Einstellungen zugunsten dieser Sache ändern – es sei denn, sie sind gezielt in einen Zustand der Selbstzufriedenheit versetzt worden. Der Effekt tritt nur ein, wenn man sich nicht wohl in seiner Haut fühlt. 19 Es ist also plausibel, daß der von Smith angegebene Mechanismus tatsächlich existiert und auch substantielle Effekte hat. Aber wird unser ganzes Empfinden für die Angemessenheit von Gefühlen und auch die gefühlsmäßige Reaktion darauf durch diesen Mechanismus erfaßt?20 18 Vgl. Gibbard 1990. 19 In einem Standardexperiment zur kognitiven Dissonanz wird der Proband, ein Student, aufgefordert, in einem Aufsatz die Erhöhung der Studiengebühren zu befürworten. Wenn für das Schreiben des Aufsatzes eine große Belohnung winkt, ändern sich die Einstellungen, nicht, wenn aber die Anreize so verschwindend gering sind, daß dem Probanden gar nicht klar ist, weshalb er der Aufforderung folgt, ändern sich die Einstellungen und die Erhöhung der Studiengebühren wird favorisiert. Der Effekt stellt sich allerdings nicht ein, wenn man vorklinische Studenten weiße Arztkittel tragen läßt. Die Erklärung für diesen scheinbar bizarren Effekt scheint darin zu liegen, daß der Arztkittel für ein günstiges Selbstbild sorgt; und Effekte der kognitiven Dissonanz hängen davon ab, daß die Probanden sich in ihrer Haut nicht wohl fühlen. Vgl. Steele 1988. 20 Unwillkürlich habe ich davon gesprochen, daß man die Angemessenheit einer Emotion „empfindet“ und „spürt“, was unsere Mitmenschen fühlen, und daß wir eine
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Zwar mag sich die von Smith beschriebene Dynamik in der Kindheit anfangs so entwickeln, wie er sie beschreibt, aber im weiteren Verlauf der Kindheit entwickeln wir ein ausgeprägtes Gespür dafür, was fair ist und was nicht, wer Bewunderung verdient und wer nicht, sowie für weitere Faktoren, die uns gewisse Gefühle angemessen finden lassen, andere dagegen nicht. Mangelnde Übereinstimmung mit unseren Mitmenschen ist, wie Smith beobachtet, für uns ärgerlich und befremdend, doch können wir auch zu der Überzeugung kommen, daß sie „es einfach nicht kapieren“, und die Nähe von Gesinnungsgenossen suchen, sofern wir welche finden. Nichts von alledem würde Smith überraschen, aber der von ihm vorgeschlagene Mechanismus deckt dies nicht ab. Man stelle sich vor, in der Nachbarschaft hielte sich hartnäckig das Gerücht, daß es da eine Hexe gebe, die kleine Kinder frißt. Dennoch schickt die Mutter Hänsel in den Wald, um Holz zu holen. Gretel findet das empörend, eine schreiende Ungerechtigkeit – obwohl niemand unter ihren Freunden und Verwandten daran etwas falsch zu finden scheint. Gretel findet, mit Smith gesprochen, ihre Empörung angemessen und mit Bezug auf deren Gegenstand passend. Nach Smith bedeutet das, grob gesagt, daß sie folgendes akzeptiert: Die meisten nicht unmittelbar betroffenen Beobachter wären, wenn ihnen der Sachverhalt vollständig bekannt wäre, empört über das, was man dem armen Hänsel abverlangt. Hier ist zweierlei festzuhalten. Erstens: Wenn das, was Gretel in ihrer Empörung bestärkt, der Gedanke ist, daß die meisten nicht unmittelbar betroffenen Beobachter ihr Gefühl teilen würden, dann wirkt hier ein anderes Prinzip als jenes, das uns zur Anpassung an die Gefühle treibt, die wir bei unseren Mitmenschen spüren. Herauszufinden, was die meisten nicht unmittelbar betroffenen Beobachter fühlen würden, kann natürlich ein Anhaltspunkt sein, um zu ermitteln, was diejenigen, die tatsächlich um uns sind, wahrscheinlich fühlen; und darin liegt zweifellos der Nutzen, den es hat, dies herauszufinden. Gretel weiß jedoch schon, wie die Leute um sie herum fühlen, und deshalb muß ihre Einschätzung der Angemessenheit ihre Gefühle auf eine andere Weise beeinflussen als so. Zweitens: Wenn Gretel findet, ihre Empörung sei begründet oder gerechtfertigt, dann scheint sie dabei nicht daran zu denken, wie es sich mit der Mehrzahl der nicht unmittelbar betroffenen Beobachter verhält. Es könnte sogar sein, daß sie denkt: Emotion angemessen „finden“. Denn was hier normalerweise im Spiel ist, sind nicht ausdrückliche Urteile darüber, ob eine Emotion angemessen ist, sondern so etwas wie implizite Urteile.
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‚Die Menschen sind so schlecht, daß sie nicht einmal merken, wie empörend es ist, von Hänsel zu verlangen, in den Wald zu gehen, wo doch dort eine Hexe lauert.‘ Smiths dispositionale Analyse mag zwar alles erfassen, was Gretel sinnvollerweise meinen könnte, wenn sie geltend macht, daß hier Empörung angebracht ist, aber was sie tatsächlich meint, kann etwas ganz anderes sein. Ich meinerseits möchte vermuten, das Gespür dafür, daß ein Gefühl berechtigt ist, hat den Status einer elementaren psychischen Gegebenheit, die sozusagen in die menschliche Grundausstattung eingebaut ist. Dafür gibt es auch sprachliche Indizien: im Englischen z. B. das Suffix ‚-ble‘ in Wörtern wie ‚horrible‘ und ‚admirable‘. 21 Es berührt uns tatsächlich unangenehm, sobald wir finden, daß die uns umgebenden Mitmenschen anders fühlen als wir selbst. Doch sind wir offenbar nicht nur daraufhin angelegt vorherzusehen, wie andere fühlen werden, und uns dem anzupassen, sondern auch darauf, Gefühle in einer Weise als angemessen oder unangemessen anzusehen, die dem, was unserer Einschätzung nach die meisten anderen Menschen fühlen würden, entgegengesetzt sein kann. Was man in unserer Umgebung fühlt, wird unser Gespür für das Angemessene in hohem Maß beeinflussen, aber dieser Einfluß kann nach Graden variieren und auch unvollständig sein. Ein Gefühl angemessen zu finden ist eine Sache; zu erwarten, die Leute würden so fühlen, ist dagegen etwas anderes – und es bleibt auch etwas anderes, selbst wenn wir, wie Smith es tut, die relevanten Umstände genauer angeben, in denen die Anderen sein müßten.
Angemessenheit und Koordination Wenn wir so ausgestattet sind, daß wir unsere Emotionen durch Urteile über ihre Angemessenheit beherrschen können: Was wird damit erklärt? Angenommen also, es sei ein Zustand sui generis, eine Emotion angemessen zu finden, und dieser beherrschte unsere Emotionen. Es wäre damit keineswegs sichergestellt, daß dieses Muster Produkt einer genetischen Anpassung ist. Möglicherweise glaubt Smith zu recht, daß diese Muster auf das Wirken von Mechanismen zurückzuführen sind, die sich aus der Anpassung an etwas ganz anderes erklären – obgleich die Mechanismen, die er selbst angibt, das, wie ich oben begründet 21 Deutsche Gegenstücke sind Wörter, die auf ‚-lich‘ enden, wie z. B. ‚schrecklich‘, ‚kümmerlich‘, ‚erfreulich‘ oder ‚lieblich‘. (Anm. d. Übers.)
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habe, nicht leisten. Gleichwohl können wir unter anderem die Hypothese aufstellen, daß dieses Muster tatsächlich Produkt einer genetischen Anpassung unserer Spezies ist. Es ist eine notorische Schwierigkeit, derartige Hypothesen zu überprüfen, und ich kann hier zu einer solchen Prüfung kaum etwas beitragen. Wenn ich plausibel machen kann, daß die genannte Hypothese weitere Untersuchungen wert ist, habe ich erreicht, worum es mir vor allem geht. Es wäre schön, wir hätten mehr Daten, als zur Zeit vorliegen– zumindest mehr, als mir bekannt sind – über das Wechselspiel zwischen Urteilen, welche die Angemessenheit von Gefühlen offenbar voraussetzen, und diesen Gefühlen selbst. Es wäre auch schön zu wissen, wie weit ein Muster von der Art des Smithschen verbreitet ist und wie nahe es einem universell verbreiteten Muster kommt. Schließlich wäre es auch schön, die in der Kindheit wirksamen Entwicklungsmuster zu kennen. Wofür ich mich auch ohne reiches Datenmaterial stark machen kann, ist die These, daß ein Muster von der Art des Smithschen adaptiv wäre: Ihm entspräche eine evolutionär stabile Strategie. Das heißt: Wo immer in der Umgebung einer Person ein solches Muster realisiert ist, gibt es für diese Person nichts Besseres, als es ebenfalls zu realisieren – nichts Besseres im Hinblick auf die Reproduktionschancen. Das habe ich in meinem Buch Wise Choices, Apt Feelings ausführlich dargelegt. In diesem Beitrag hier ging es mir darum, die in diesem Buch angestellten Überlegungen mit Gedanken von Adam Smith zu verknüpfen. Kurz gesagt laufen meine Überlegungen auf folgendes hinaus: Mit Urteilen über die Angemessenheit eines Gefühls reagieren wir auf die Gefühle, die wir selbst haben, ferner auf die Gefühle, die wir bei anderen um uns herum spüren, und schließlich auch auf das, was diese anderen, im Gespräch mit uns ausdrücklich als angemessen oder unangemessen beanspruchen. Umgeben von Leuten, die ein Verhalten als unverschämt bezeichnen, sind wir geneigt, dieses Verhalten selbst als unverschämt anzusehen – und dadurch sind wir auch geneigt, die Scham darüber als angemessen anzusehen und deren Mangel als unangemessen. Die Mitglieder einer Gemeinschaft tendieren deshalb zu übereinstimmenden Ansichten darüber, wann Scham angemessen ist. Diese Urteile steuern aber auch unser Empfinden von Scham, und deshalb tendieren die Mitglieder einer Gemeinschaft dazu, sich unter denselben Bedingungen zu schämen. Scham und Verachtung sind miteinander verzahnt; und wenn das Empfinden von Scham und Gefühle der Verachtung nicht koordiniert sind, sind zerstörerische Konflikte unausweichlich. Kurzum, Angemessenheitsurteile koordinieren Gefühle; koordinierte
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Gefühle begünstigen koordiniertes Handeln; und koordiniertes Handeln zahlt sich auf den unterschiedlichsten Umwegen durch verstärkte Reproduktion aus. Ein solches Muster genügt den Anforderungen an eine evolutionäre Anpassungsleistung, und darum ist, was ich skizziert habe, eine mögliche Zweckursache für die Angemessenheitsurteile, auf die es Smith ankommt. Koordinierte Gefühle sind nicht immer Gefühle gleicher Art. Scham ist mit der Verachtung durch andere koordiniert, und Schuld mit dem Ärger anderer über einen selbst. Triumph und Unterwürfigkeit, Schmerz und Trost sind weitere Beispiele für Fälle, in denen das Teilen von Gefühlen wohl nicht die beste Strategie zur Koordination von Handlungen ist; es ist in diesen Fällen besser, wenn Leute in verschiedenen Positionen durch ihre je verschiedenen Gefühle zu verschiedenem Rollenverhalten getrieben werden. Wenn jemand stirbt, so erwarten wir von Nahestehenden mehr Kummer als von Fremden; den unzureichenden Kummer eines Nahestehenden oder den übertriebenen Kummer eines Fremden werden wir als Zeichen einer pervertierten emotionalen Konstitution verstehen, so wie wenn Der Fremde von Camus bei der Beerdigung seiner Mutter keinen Kummer zeigen kann. (Smith würde einen „mittleren“ Grad an Kummer als bewundernswert, aber für Menschen unerreichbar ansehen.) Smiths Strategie, die eigenen Gefühle zu mäßigen und sie den Gefühlen anzupassen, die ein distanzierter, interessierter und wohlinformierter Beobachter empfinden würde, ist nur ein Verfahren unter mehreren, Gefühle zu koordinieren, und dieses Verfahren kann angemessen sein, wenn die koordinierten Gefühle geteilte Gefühle sein sollen. Um Schuld mit Ärger oder Scham mit Verachtung zu koordinieren, werden andere psychische Strategien benötigt. Und in den Fällen, die Smith vor Augen hat, in denen koordinierte Gefühle geteilte Gefühle sind, sollte der distanzierte Beobachter, der den Maßstab für die Angemessenheit von Gefühlen setzt, normalerweise am Ort des Geschehens präsent sein. Denn die Anpassung von Gefühlen an einen fremden Maßstab wäre zu schwierig, wir würden das nicht schaffen. (Dies gilt jedoch nicht ohne Ausnahme: Kopfjäger, die Ehrgefühle entwickeln und koordinieren, leben in der Furcht vor jedem, der nicht zu ihnen gehört, wie geringfügig entfernt dieser auch sei, und sie haben die fremden Maßstäbe der Missionare als friedensstiftend erfahren. 22) 22 Vgl. Rosaldo 1980. In anderen Fällen wurde die Jagd auf Köpfe schon vor der Konvertierung zu einer der großen Religionen aufgegeben; vgl. Burling 1963.
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Stellt Smith mit seiner Theorie die Voraussetzungen dafür bereit, ihrer Art nach verschiedene, miteinander verzahnte Gefühle, wie sie von einer Person zur anderen differieren, zu koordinieren? Kann Gretel, wenn Hänsel sich für etwas, was er ihr angetan hat, schuldig fühlt, sich seinem Schuldempfinden „anpassen“, ohne selbst sympathetische Schuld zu empfinden? Ich sehe nicht, wie wir allein mit den von Smith zur Verfügung gestellten Mitteln erklären können, in welchem Sinn Gretel Hänsels Schuldempfinden als angemessen beurteilen könnte. Jedenfalls sehe ich nicht, wie eine solche Erklärung zu allen Teilen von Smiths Theorie passen könnte. Natürlich kann Gretel der Auffassung sein, sie würde, solange ihr Empfindungsvermögen intakt wäre, an Hänsels Stelle Schuld empfinden, oder der Auffassung, die meisten Leute, deren Empfindungsvermögen intakt ist, würden an Gretels Stelle Schuld empfinden. Nach Smith kann jedoch keine dieser Auffassungen dem entsprechen, was Gretel meint, wenn sie der Auffassung ist, daß Hänsels Schuldempfinden angemessen ist. Andernfalls könnte sie, ohne die Bedingungen der Kohärenz zu verletzen, nicht denken, sie würde, wäre sie an seiner Stelle und wäre ihr Empfindungsvermögen intakt, mehr Schuld empfinden als angemessen wäre. Smith ist jedoch der Auffassung, daß der Kummer über den Tod eines Kindes, den dessen Mutter oder Vater empfinden, unweigerlich größer sei als angemessen (I.i.5.8.: 25 f.; dt. 30 f.). Er kann diese Auffassung nicht vertreten und gleichzeitig als Maßstab für die Angemessenheit einer Empfindung das verwenden, was Beobachter an Stelle der betroffenen Eltern fühlen würden. Meine eigene Position, derzufolge die Meinung, Hänsels Empfinden sei angemessen, auf der Akzeptanz einer Norm beruht, die ihm vorschreibt, genau so zu empfinden, wie er empfindet, läßt eine Vielfalt von Auffassungen über die Angemessenheit von Empfindungen als kohärent erscheinen. Welche dieser Auffassungen richtig ist, hängt davon ab, wie man auf das, was geschieht, gefühlsmäßig reagieren sollte. Als kohärent kann man eine Norm akzeptieren, die Gretel vorschreibt, sich über Hänsel zu ärgern, Hänsel dagegen, Gretels Ärger nicht zu teilen, sondern Schuld zu empfinden. Als kohärent kann man eine Norm akzeptieren, die einem vorschreibt, beim Tod eines Kindes weniger Kummer zu empfinden, als dessen Eltern unweigerlich empfinden. Ich selbst akzeptiere diese Norm nicht; ich akzeptiere Normen, die den hinterbliebenen Eltern mehr Kummer zu empfinden vorschreiben als einem distanzierten Beobachter – auch dann, wenn der Beobachter die Lage der Eltern versteht und sich die Zeit nimmt, sie vollständig und in all ihren Hinsichten zu bedenken. Meiner Ansicht nach hängt der an-
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gemessene Grad von Kummer, Schuld oder Ärger über eine Tat oder ein Geschehen davon ab, ob und wie eine Person von den Konsequenzen dieser Tat oder dieses Geschehens betroffen ist.
Koordination und gemeinsame Ziele Ich habe psychische Strategien der Koordination von Gefühlen (und damit Handlungen) „vom Standpunkt der Gene“ als mögliche genetische Anpassungen analysiert. Smith betont, daß wir uns danach sehnen, die Gefühle unserer Mitmenschen zu teilen und den Mangel an geteilten Gefühlen als vernichtend empfinden. Er ist der Meinung, daß wir uns sogar noch mehr danach sehnen, liebenswert zu sein und uns Ziele zu setzen, die Billigung und Bestärkung durch andere verdienen; wir möchten geliebt werden und wir möchten, daß unsere Mitmenschen auch in der Einschätzung unserer Ziele als angemessen mit uns übereinstimmen. Dies sind wertvolle Dinge, Dinge, die im Leben haben zu wollen angemessen ist. Geteilte Empfindungen und Ziele tragen zu dem Gemeinschaftsgefühl bei, nach dem wir uns sehnen, ebenso wie zu der Koordination von Handlungen, die einem guten Leben zuträglich sind. Zweifellos können Gemeinschaftsgefühle auch zum Schlimmsten führen, zu dem Menschen fähig sind; man denke nur an Fremdenfeindlichkeit, gemeinschaftlich begangene Greueltaten und kollektive Hysterien, die zu Lynchmorden führen. Wer aber die Empfindungen seiner Mitmenschen nicht teilen kann, ist sozial behindert. Wenn die Mitmenschen böse oder ohne Grund in Panik geraten sind, oder wenn sie einem schaden wollen, kann es richtig sein, sich der Teilhabe an ihren Empfindungen zu verweigern. Smith erklärt, wie eine solche Verweigerung möglich ist: Gefühle, die auf falscher Information, Unaufmerksamkeit und Parteilichkeit beruhen, schätzen wir gering, und wir sehnen uns nach der Sympathie eines angenommenen, interessierten, wohlinformierten und distanzierten Beobachters. In manchen Hinsichten kann diese Sehnsucht zu einer besseren Koordination von Handlungen führen als die Sehnsucht nach der Sympathie unserer Mitmenschen; jene Sehnsucht orientiert sich an einem Maßstab, der stabiler ist als die schwankenden Empfindungen wirklicher Menschen. Auch sie trägt zur Koordination bei – und diese Koordination kann das Gute im Leben bestärken und das Schlechte abmildern. In ihrer relativierten Form bietet die Theorie von Smith daher einen guten Ausgangspunkt. Zu Recht betont sie die Vorteile der Koordina-
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tion. Smith jedoch richtet seine Aufmerksamkeit auf einen besonderen Fall von Koordination: die Koordination von Gefühlen, bei der es um das Teilen von Gefühlen geht. Die Früchte der Koordination wachsen auf einem Baum, dessen Stamm von gemeinschaftlichen Zwecken gebildet wird, von Zwecken zumindest, die innerlich so aufeinander abgestimmt wurden, daß sie nicht in Konflikt geraten – in diesen Zusammenhang paßt Kants Rede von einem „Reich der Zwecke“. Miteinander verzahnte Zwecke stammen nun aber ihrerseits aus miteinander verzahnten Empfindungen, und diese sind nicht immer Empfindungen gleicher Art. Dein Ärger über mich läßt sich mit Schuldempfindungen von meiner Seite verzahnen und führt gegebenenfalls zur Verwirklichung des gemeinschaftlichen Zwecks, daß ich Wiedergutmachung leiste. Empfindungen haben schließlich einen Bezug zum eigenen Ich. Meine Leidenschaft für die Ehefrau eines anderen läßt sich nicht mit seiner Leidenschaft für sie verzahnen, denn sie wird nicht dazu führen, daß wir auf dasselbe aus sind. In einem Sinn wollen wir beide dasselbe, nämlich sie zur Frau haben, aber eine Koordination ist nur möglich, wenn wir Dinge wollen, die miteinander kompatibel sind, Dinge, die aus dem „Blick von Nirgendwo“ als dieselben erscheinen. So, wie ich ihn verstehe, bestreitet Smith etwas, was einige Moralphilosophen des 20. Jahrhunderts behauptet haben: daß die Moral Ziele anweist, die auf den einzelnen Handelnden zugeschnitten sind und die miteinander konfligieren können. So muß ich aus moralischen Gründen ein gegebenes Versprechen auch dann halten, wenn dies dich daran hindert, ein von dir gegebenes Versprechen zu halten, das einzulösen du aus moralischen Gründen versuchen mußt. Wenn es in der Moral um Koordination geht, hat Smith Recht. Im Vergleich mit all den Hinsichten, in denen wir übereinstimmen, sind meine Einwände gegen ihn daher geringfügig. Meine eigenen Ansichten liegen auf der Linie von Smiths zentralen Überlegungen. Bei der Koordination geht es darum, daß wir die Motive anderer teilen, daß wir gemeinschaftliche Zwecke haben oder Ziele verfolgen, die miteinander kompatibel sind. Verzahnte Empfindungen sind dieser Koordination zuträglich.23 (Übersetzt von Christel Fricke und Hans-Peter Schütt)
23 Ich habe diese Arbeit als Visiting Scholar am Department of Philosophy der New York University verfaßt, was durch ein Nelson Fellowship der University of Michigan ermöglicht wurde. Für die Unterstützung bin ich außerordentlich dankbar.
„Moral Sense“ – Zur Geschichte einer Hypothese und ihrer Kritik bei Adam Smith Georg Mohr / Universität Bremen Gliederung 1. 2. 3. 4. 5.
Moralische Gefühle, Moralsinn, Vernunft: von Burnet zu Smith Shaftesbury über den Moralsinn als Sinn für Richtig und Falsch Hutcheson über den Moralsinn als Wahrnehmung von Wohlwollen Smith über die Rolle der Vernunft im moralischen Urteil Die Bedeutung moralischer Gefühle: Sympathie und natürlicher Sinn für Angemessenheit 6. Smiths Kritik an der Hypothese eines Moralsinns
1. Moralische Gefühle, Moralsinn, Vernunft: von Burnet zu Smith Mit A. A. C. Shaftesbury und Francis Hutcheson stimmt Adam Smith in der allgemeinen These überein, daß moralische Urteile auf einer besonderen Art von Gefühlen gründen. Smith nennt sie „moralische Gefühle“. Bereits der Titel seines Hauptwerks, The Theory of Moral Sentiments, macht deutlich, daß Smith ihnen eine durch die Moralphilosophie zu eruierende grundlegende Bedeutung zuschreibt. Damit ist jedoch noch nicht präjudiziert, welcher begründungstheoretische Status dem moralischen Gefühl genau zukommen soll. Die Behauptung, Gefühle seien wesentlich für die Bildung von Urteilen, mit denen wir moralische Wertungen vornehmen, ist nicht schon per se eine Entscheidung darüber, ob sie auch hinreichend für die moralische Urteilsbildung sind. Smith ist der Auffassung, daß letzteres nicht der Fall ist. Moralische Gefühle sind nach Smith sowohl Ausgangspunkt als auch Resultat einer Prozedur der Angemessenheitsprüfung, für die die heu-
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ristisch-konstruktive Position eines „unparteiischen Betrachters“ (impartial spectator) maßgeblich ist. 1 Zur Bezeichnung einer natürlichen menschlichen Fähigkeit (Vermögen), aufgrund derer wir moralische Gefühle haben, hatte Shaftesbury in „Eine Untersuchung über Tugend und Verdienst“ (Inquiry Concerning Virtue, or Merit, 1699, ²1711) 2 den Begriff eines „Sinns für Richtig oder Falsch“ (Sense of Right or Wrong) 3 verwendet, den er auch als „Moralsinn“ (Moral Sense) bezeichnet. 4 Der Terminus scheint, zumindest im Kontext einer Theorie des moralischen Urteils, eine Erfindung Shaftesburys zu sein. Der Sache nach verwandt ist hiermit der Begriff des „natürlichen Gewissens“ (natural conscience), den Thomas Burnet zur selben Zeit in seinen „Dritten Bemerkungen über John Locke“ (Third Remarks on John Locke, 1699) verwendet. In kritischer Auseinandersetzung mit Lockes Moralphilosophie in dessen „Versuch über den menschlichen Verstand“ (An Essay concerning Human Understanding, 1690) führt Burnet das „natürliche moralische Bewußtsein“ als ein Vermögen ein, das über „natürliche moralische Unterscheidungen“ verfügt und als solches die Grundlage von Moralität und moralischem Wissen ist. Burnet schreibt, es sei notwendig, als einen Grund für Moralität eine natürliche Unterscheidung zwischen gut und böse, richtig und falsch, turpe et honestum, Tugend und Laster anzunehmen. Und diese Unterscheidung [wird] durch das natürliche Gewissen manifestiert und bekräftigt, und zwar sowohl bei denen, die äußere Gesetze haben, als auch bei denen, die diese nicht haben.5 1 Zu Smiths Theorie der Unparteilichkeit vgl. z. B. Raphael 1975, Tugendhat 1993: 15. Vorlesung, Lohmann 2001, Andree 2003, Mohr 2003. 2 Im folgenden zitiert als Inquiry nach den Ausgaben in C5 II, SE II.2 und der dt. Übers. in SE II.3; die drei Seitenangaben werden durch Schrägstriche verbunden. 3 Der Übersetzer der Inquiry in SE, Erwin Wolff, übersetzt „Sense of Right or Wrong“ durch „Sinn für Recht oder Unrecht“ (SE II.3, S. 62 et passim). Um das Mißverständnis zu vermeiden, es ginge um Rechtsbegriffe, ziehe ich „richtig oder falsch“ vor, das wir auch in moralischen Kontexten verwenden in Sätzen der Form „X hat moralisch richtig (bzw. falsch) gehandelt“. 4 Im Haupttext der Inquiry selbst findet sich der Ausdruck „moral sense“ nur einmal (27/94/73); in den Kurztiteln am Seitenrand erscheint er des öfteren. Der Ausdruck „moral sense“ wird häufiger, so auch in SE, mit „moralischer Sinn“ wiedergegeben. Ich ziehe die Übersetzung „Moralsinn“ vor. 5 Burnet, Remarks, S. 58 (1. u. 4. Hvh. von mir): „[I thought it was] necessary as a ground for morality to allow a natural distinction betwixt good and evil, right and wrong, turpe et honestum, virtue and vice. And this distinction, I thought, was manifested and supported by natural conscience, whether amongst those that have or have not external laws.“ – Auf Thomas Burnet (1635–1715) hat Ernest L. Tuveson
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Dem entsprechend definiert Burnet dieses „natürliche Gewissen“ als„eine natürliche Fähigkeit, zwischen moralisch gut und böse zu unterscheiden, oder deren unterschiedliche Wahrnehmung und Empfindung, aus der jeweils eine unterschiedliche Affektion des Bewußtseins entsteht; und dies so unmittelbar, daß sie allen externen Gesetzen und jeder Überlegung zuvorkommt und sie antizipiert.“6 Shaftesbury bezieht sich nicht auf Burnets Remarks, auch nicht in der revidierten Fassung, die 1711 in den dreibändigen Characteristicks of Men, Manner, Opinions, Times erschienen ist. Er hat ihn offenbar nicht zur Kenntnis genommen. Hutcheson jedoch greift seinerseits auf Shaftesbury zurück, wenn er den Begriff des Moralsinns (Moral Sense) in seiner „Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen von Schönheit und Tugend“ (Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue, zuerst 1725 anonym veröffentlicht) und den „Erläuterungen zum Moralsinn“ (Illustrations [up]on the Moral Sense, anonym 1728) 7 aufgreift und theoretisch weiterentwickelt. Mit ihrer MoralsinnTheorie, auf die ich im folgenden eingehe, 8 widersprechen diese Autoren vor allem theologischen und rationalistischen Ethiktheorien. Sowohl Gottes Gebote als auch naturrechtliche Normen im antiken ontologischen Sinne werden von ihnen als Maßstäbe des moralisch Richtigen abgelehnt, da sie externe Instanzen sind und die Erkenntnis des Richtigen an kognitiv unzugängliche Instanzen binden. Moral muß sich – so die sich verfestigende Überzeugung – unabhängig von Religion und aus anderen als vermeintlich jenseits des Menschen festgeschriebenen Quellen begründen lassen. Solche Quellen sind vielmehr im Menschen selbst, in der menschlichen Natur zu suchen. Gegenüber der theologischen und der naturrechtlichen Konzeption, die beide in der Philosophiegeschichte fest verankert sind, hat es die 1947 in seiner Untersuchung über Ursprünge der Moral-Sense-Theorie hingewiesen. Bonar 1930 und Schrader 1984 erwähnen weder Burnet noch die Studie von Tuveson. Burnets Ausführungen über den Begriff des natürlichen Gewissens und Lockes Replik referiert und erörtert Jaffro 2000b, S. 16–23. 6 Burnet, Remarks, S. 63: „I understand by natural conscience a natural sagacity to distinguish moral good and evil, or a different perception and sense of them, with a different affection of the mind arising from it; and this so immediate as to prevent and anticipate all external laws and all ratiocination.“ 7 Als Anhang zu Hutchesons „Versuch über die Natur und das Verhalten der Leidenschaften und Affektionen“ (An Essay on the Nature and Conduct of the Passions and Affections) erschienen. 8 Zu Begriff und Theorie(n) des Moralsinns vgl. Bonar 1930, Raphael 1947, Schrader 1984, Hope 1989, Jaffro 2000a. Dort auch weitere Literatur.
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neue Theorie des Moralsinns schwer, sich terminologisch zu profilieren. 9 Während die Vernunft als das Vermögen, allgemeine Regeln zu bilden und anzuwenden, sowie als Vermögen der Erkenntnis ewiger Wahrheiten von alters her zum festen Bestand der philosophischen Terminologie gehörte, fehlte es für ein Vermögen moralischer Wahrnehmung und moralischer Gefühle an einem technischen Terminus. Obwohl Hutcheson den Begriff des Moralsinns zu einem tragenden Grundbegriff seiner Moralphilosophie macht und einen entsprechenden Aufwand der konzeptionellen Verankerung und Explikation treibt, nehmen sich die Reaktionen der unmittelbaren Nachfolger eher zögernd bis ablehnend aus. David Hume, ein Autor, der in der Regel auf Sparsamkeit besteht, wenn es um die theoretische Inanspruchnahme von Prinzipien und Vermögen geht, ist interessanterweise gerade hier ambivalent. Einerseits verteidigt er den Gedanken, daß „moralische Unterscheidungen aus einem Moralsinn entspringen“.10 So schreibt er auf einer der letzten Seiten seines Treatise of Human Nature (1739/40), in einem Kapitel, das überschrieben ist mit „Über natürliche Anlagen“ (Of natural abilities): wir müssen auf einen gewissen Sinn zurückgreifen, der ohne Überlegung wirkt und nicht die Folgen von Eigenschaften und Charakteren berücksichtigt. Einige Moralisten erklären alle Tugendgefühle durch diesen Sinn. Ihre Hypothese ist sehr plausibel. 11
Auf der anderen Seite schließt er in einer direkt anschließenden Bemerkung nicht aus, daß „nur eine gesonderte Untersuchung irgend einer anderen Hypothese den Vorzug geben könnte“. Diese Bemerkung bringt offenbar zumindest implizit einen Zweifel zum Ausdruck, ob die Hypothese eines Moralsinns tatsächlich den moralphilosophischen Erklärungswert besitzt, der gerade sie zu einer hinreichend stark begründeten Annahme machen könnte. Adam Smith weist die Moralsinn-Hypothese zwanzig Jahre später in seiner Theorie der moralischen Gefühle im Schlußteil (VII), in dem er 9 Ein Umstand, der dann auch in Smiths (und Kants) Kritik und noch in der gegenwärtigen Moralphilosophie seinen Niederschlag findet. 10 Hume, THN, Überschrift von III.i.2, dt. S. 212 – „Moral distinctions […] are deriv’d from a moral sense“, Traetise III.i.2, ed. SBN, S. 470. 11 Hume, THN, dt. S. 368; Übersetzung verändert, Hervorhebungen von mir („we must have recourse to a certain sense, which acts without reflexion, and regards not the tendencies of qualities and characters. Some moralists account for all the sentiments of virtue by this sense. Their hypothesis is very plausible.“ (THN, III.iii.4, ed. SBN, S. 612)
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verschiedene Konzeptionen von Moralphilosophie einer Kritik unterzieht, explizit zurück. Dies scheint gerade bei einem Philosophen, der die Basis moralischer Bewertungen von Affekten und Handlungen in moralischen Gefühlen festmachen will, einigermaßen überraschend und unplausibel. Ist es nicht inkonsistent, moralischen Gefühlen einen so fundamentalen Stellenwert in der Begründung moralischer Urteile einzuräumen, wie Smith dies tut, und dennoch die Hypothese eines Moralsinns abzulehnen – worunter immerhin genau dasjenige Vermögen verstanden wurde, solche Gefühle zu haben? Was sind Smiths Gründe für diese Zurückweisung der Moralsinn-Hypothese? Sind seine Einwände überzeugend, mit denen er sich zwar explizit nur auf Hutcheson bezieht, die er aber als Einwände gegen die Moral-SenseTheorie als ganze verstanden wissen will? Um diese Fragen zu erörtern, referiere ich im folgenden zunächst die Moralsinn-Theorien Shaftesburys (Abschn. 2) und Hutchesons (Abschn. 3). Daran anschließend geht es um Smiths Auffassung von der Rolle der Vernunft im moralischen Urteil (Abschn. 4), um die Bedeutung moralischer Gefühle (Abschn. 5) sowie um Smiths Kritik an der Hypothese eines Moralsinns (Abschn. 6). Diese Kritik scheint mir insgesamt nicht sehr überzeugend, wenn sie auch zum Teil lehrreich ist. Die sachlichen Perspektiven, die sich aus einer Metakritik an Smiths Kritik sowie einer Auswertung von daran anknüpfenden Potentialen einer Rekonstruktion der Moralsinn-Theorie ergeben, können hier nicht weiter verfolgt werden. Dies soll an anderer Stelle geschehen. Ich vermute lautet, daß eine Theorie moralischer Gefühle wie die von Adam Smith um die Annahme eines Moralsinns letztlich nicht herumkommt und daß ein präzisierter Begriff von Moralsinn, genauer: von moralischer Sensibilität, einen wichtigen Beitrag zur gegenwärtigen Moralphilosophie leisten kann. Zunächst sind also einige zentrale Aussagen der wichtigsten Autoren von Moral-Sense-Theorien, die Adam Smith rezipiert hat, zu rekapitulieren. Leitend ist dabei die Frage, welche Rolle die Hypothese eines Moralsinns in deren Theorien moralischen Urteilens spielt.
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2. Shaftesbury über den Moralsinn als Sinn für Richtig und Falsch Shaftesbury führt in seiner „Untersuchung über Tugend und Verdienst“ den Moralsinn, noch bevor er ihn explizit so bezeichnet (moral sense, oder: sense of right and wrong), als einen „reflektierten Sinn“ (reflected sense) ein (Inquiry 16/66/60). Er greift dabei grundsätzlich Lockes Unterscheidung zwischen „Empfindung“ im äußeren Sinn (sensation) und „Reflexion“ im inneren Sinn (reflection, internal sense) auf. 12 Shaftesbury vertritt die These, die Fähigkeit, „allgemeine Begriffe von Gegenständen zu bilden“, setze zwei Arten von Objekten voraus, die ihrerseits beide Objekte von „Affektionen“ (affections) seien. Für diese voneinander verschiedenen Arten von Affektionen sind, so Shaftesbury, zwei verschiedene Arten von Sinnen zuständig: (1) „äußerer Sinn“ (external Sense) und (2) „reflektierter Sinn“ (reflected Sense). 1. Äußere, räumliche Gegenstände (outward Beings) im Sinne gewöhnlicher physikalischer Körper (ordinary Bodys) sind Objekte des äußeren Sinns und damit Objekte der Affektion (vgl. Untersuchung 16/66/60). Shaftesbury denkt hier offenbar (wie Locke) an Sinneswahrnehmungen in der üblichen Bedeutung des mentalen Korrelats der Stimulierung der fünf Sinnesorgane. Dieser erste Typ von Affektionen, die durch äußere Gegenstände verursacht sind, können als primäre mentale Daten bezeichnet werden. Der äußere Sinn kann dementsprechend auch als Vermögen der Affektionen ersten Grades bezeichnet werden. 2. Dieses Affiziertwerden des äußeren Sinns und dementsprechend das Haben von primären mentalen Daten kann, wie jede Handlung des Bewußtseins (mentaler Akt) durch Reflexion wiederum Objekt des Bewußtseins, genauer: Objekt eines „reflektierten Sinns“ (reflected Sense) 13 werden. Dadurch entsteht ein zweiter Typ von Affektionen: Affektionen von denjenigen Affektionen, die bereits als
12 Vgl. Locke, EHU, II.i. Mit Bezug auf die erkenntnistheoretisch-empiristische Grundbegrifflichkeit knüpft Shaftesbury an Locke an. Moralphilosophisch aber wendet er sich von ihm ab. In der moralphilosophischen Distanzierung ist er vergleichbar mit Burnet. 13 Erwin Wolff übersetzt „affection“ durch „Gemütsbewegung“ (SE II.3, S. 55 u. ö.), „reflected sense“ durch „nach innen gewandter Sinn“ (ebd., S. 60 u. ö.). Um die Übersetzung so neutral wie möglich zu halten, ziehe ich „Affektion“ bzw. „reflektierter Sinn“ vor.
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primäre mentale Daten bewußt waren oder sind. Es sind Affektionen von Affektionen und als solche sekundäre mentale Daten. Sie können auch Affektionen zweiten Grades genannt werden. 3. Dieses im wesentlichen mit der Grundstruktur der Lockeschen Erkenntnistheorie übereinstimmende Modell wird nun von Shaftesbury angewendet auf solche Affektionen, die nicht nur das Empfangen von Eindrücken qua Daten für rein deskriptive Kontexte betreffen, sondern die eine evaluative Funktion haben. Es geht um Affektionen, die eine Bewertung von etwas Empfundenem als angenehm oder unangenehm, Lust oder Unlust bereitend, Zustimmung oder Ablehnung hervorrufend beinhalten. Diese können auftreten als affektive Reaktionen auf bereits gegebene (empfundene) Affektionen. Auf diese Weise entsteht durch den „reflektierten Sinn“ eine „andere Art von Affektion, die sich wiederum auf jene Affektionen bezieht, die bereits empfunden wurden und die jetzt zum Gegenstand einer neuen Zuneigung oder Abneigung (new Liking or Dislike) werden“ (Inquiry 16/66/60). 4. Die Fähigkeit, auf gegebene primäre mentale Daten (Affektionen ersten Grades) wertend zu reagieren und somit eine spezifische Art von Affektionen zweiten Grades auszubilden, die man „evaluative Affektionen“ nennen kann, ist eine wichtige, notwendige Bedingung für das Generieren moralischer Gefühle, aber sie ist noch nicht hinreichend. Eine weitere wesentliche Vorbedingung ist die Fähigkeit handelnder Personen, ein Bewußtsein davon zu haben, daß sie selbst es sind, die handeln. Nur ein Wesen, das imstande ist, zu „reflektieren, was es tut“ (reflect on what he himself does) (Inquriy 18/70/62), kann moralische Gefühle entwickeln und moralisch Stellung nehmen. Personen müssen über ein reflexives Akteurs-Selbstbewußtsein verfügen, aufgrund dessen sie sich eigene Handlungen selbst zuschreiben können. 5. Damit ist dann, in Verbindung mit den vorgenannten Bedingungen, die Voraussetzung dafür gegeben, daß eine Person imstande ist, „zu bemerken (take notice), was wertvoll oder ehrenhaft (worthy or honest) ist, und dieses Bemerken oder Begreifen (Conception) von Wert und Ehrenhaftigkeit (Worth and Honesty) zum Gegenstand seiner Affektion zu machen“. Erst auf der Grundlage dieser Fähigkeit kann (a) eine Person bzw. ihr Handeln moralisch bewertet und ihr Charakter als „tugendhaft“ bezeichnet werden („Character being virtuous“) und (b) ihr ein „Sinn für Richtig und Falsch“ („having a Sense of Right or Wrong“), also ein moralisches Urteil unter-
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stellt werden (Inquiry 18/70/62). Das „Wesen der Tugend“ besteht nach Shaftesbury in einer „richtigen Disposition oder angemessenen Affektion eines vernünftigen Wesens in Bezug auf die moralischen Sachverhalte des Richtigen und Falschen“ (Inquiry 23/86/69). 14 Der Sinn für Richtig und Falsch muß laut Shaftesbury bestehen in einer „wirklichen Affektion oder Liebe zu Billigkeit und Richtigkeit (Equity and Right) um ihrer selbst willen und um ihrer eigenen natürlichen Schönheit und Würde (Beauty and Worth) willen“. Und Shaftesbury hebt eigens hervor, der Sinn für moralische Richtigkeit sei „uns so natürlich wie natürliche Affektion selbst“ und als solcher ein „Grundprinzip in unserer [natürlichen] Konstitution und Beschaffenheit“ (a first Principle in our Constitution and Make: Inquiry 25/92–4/71–2). Er nennt ihn daher einen „natürlichen Moralsinn“ („natural moral Sense“: 27/94/73). 15 Die These, der Moralsinn sei ein „natürlicher“ Sinn, besagt, daß er eine grundsätzlich zuverlässige, irrtumsimmune Quelle moralischer Urteile sei. An anderer Stelle schreibt Shaftesbury, es sei ein „natürlicher und richtiger Sinn für Richtig und Falsch“ („natural and just Sense of Right and Wrong“: Inquiry 23/86/69). Grundsätzlich jedes Wesen, daß über einen solchen Sinn verfügt, ist nicht nur zu richtiger moralischer Beurteilung vollzogener Handlungen anderer Personen befähigt, sondern handelt auch selbst notwendigerweise diesem Sinn entsprechend, vorausgesetzt, daß die „Natürlichkeit“ dieses Sinns „intakt“ ist. Dies ist dann nicht der Fall, wenn er durch äußere Bedingungen in seiner Ausübung deformiert oder sabotiert wird. Es sind nach Shaftesbury drei Bedingungen denkbar, unter denen der Moralsinn unwirksam (ineffectual) werden könnte: 1. Etwas bewirkt den Verlust des Moralsinns („takes away the natural and just Sense of Right and Wrong“; „Loss of Moral Sense“). 2. Etwas erzeugt einen falschen Sinn für Richtig und Falsch („creates a wrong Sense of it“). 3. Etwas führt dazu, daß sich dem richtigen Sinn eine gegenläufige Affektion widersetzt („causes the right Sense to be oppos’d, by contrary Affections“: Inquiry 23/86/69). Die erste Möglichkeit, der völlige Verlust des Moralsinns, scheide aus, da jedes rationale Wesen von Natur aus über diese Fähigkeit (Disposi14 „The Nature of Virtue consist[s] in a certain just Disposition, or proportionable Affection of a rational Creature towards the Moral Objects of Right and Wrong“. 15 Burnet sprach von „natural conscience“; s. o. Fn. 5.
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tion) zur Unterscheidung zwischen gut und schlecht, richtig und falsch verfüge (vgl. Inquiry 24 f./88–92/70–72) und eine Naturanlage nicht verloren werden könne. Anders verhalte es sich mit der zweiten Möglichkeit: der dauerhaften, durch Gewohnheit oder/und Erziehung verursachten Fehlkonditionierung. Durch falsche Religion, Aberglaube oder Fantasterei könne die moralische Wahrnehmungsfähigkeit verzerrt und damit das Urteil verfälscht werden (vgl. Inquiry 30/102/77). Schließlich kann drittens ein intakter, richtig funktionierender Moralsinn durch gegenläufige Affekte (plötzliche zwanghafte Emotionen oder starke Triebregungen) konterkariert werden. Ist in der Folge davon das richtige Handeln im Sinne der Tugend gefährdet, kann durch den gezielten Einsatz von affektwirksamen Anreizen wie Androhung von Strafe, die Furcht (Fear) erzeugt, oder Aussicht auf Belohnung, die Hoffnung (Hope) auslöst, die fehlende innere Handlungsorientierung durch eine äußere Motivation kompensiert werden. Dieselbe Effektivität, die den Moralsinn korrumpieren kann, kann dessen Versagen auch kompensieren, zumindest zugunsten äußerlich tugendkonformen Verhaltens (vgl. insbes. Inquiry 33/112/81 u. 36 f./120/85). Fazit: Der Moralsinn ist eine Art innerer Sinn, der Affektionen von Affektionen liefert. In einer Übersicht zusammengefaßt unterscheidet Shaftesbury zunächst folgende fünf Ebenen: (1) Wahrnehmungen von äußeren Objekten – Affektionen ersten Grades, primäre mentale Daten (2) reflexives Bewußtsein von Affektionen – Affektionen zweiten Grades, sekundäre mentale Daten (3) evaluative Affektionen – wertende Reaktionen auf die Daten (deren Inhalte, Sachverhalte) (4) Akteurs-Selbstbewußtsein – Selbstzuschreibung eigener Handlungen (5) moralische Gefühle – Affektionen des Moralsinns durch Handlungen Es tritt aber noch eine weitere Ebene hinzu. Denn dem Moralsinn schreibt Shaftesbury eine zweifache Funktion zu. Zum einen ist er seitens eines Betrachters die Fähigkeit der Wahrnehmung moralischer Qualitäten gegebener Handlungen. Zum anderen ist er seitens des Handelnden auch selbst ein Vermögen der Anleitung und Motivierung
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einer Handlung. 16 Schon die bloße Vorstellung einer Handlungsqualität, noch bevor sie tatsächlich ausgeführt ist, löst im Moralsinn diejenige Reaktion aus, die im Hinblick auf die mögliche Ausführung der Handlung motivierend (durch moralische Zustimmung) oder distanzierend (durch moralische Ablehnung) wirkt. Daher wären die oben aufgeführten fünf Ebenen durch eine sechste zu ergänzen: (6) moralische Einsicht – Anleitung und Motivierung zum richtigen (tugendgemäßen) Handeln. Hier fällt es allerdings schwer, die entsprechende Fähigkeit allein einem inneren Sinn zuzuschreiben, als den Shaftesbury ansonsten den Moralsinn charakterisiert. Denn offenbar ist bei (6) Rationalität und Regelwissen, also Vernunft maßgeblich beteiligt. Es sieht so aus, daß Shaftesbury auch hier an die Stelle eines (vermeintlichen) Dualismus eine integrative moralische Wertungs- und Orientierungsinstanz setzen möchte. Den Moralsinn scheint Shaftesbury sowohl als rezeptiv-evaluatives Wahrnehmungsvermögen wie auch als praktisch-rationale Urteilsfähigkeit denken zu wollen. 17 Genau durch diese „Doppelsinnigkeit“ bietet seine Theorie aber auch eine empfindliche Angriffsfläche.
3. Hutcheson über den Moralsinn als Wahrnehmung von Wohlwollen In seiner „Kurzen Einführung in die Moralphilosophie“ führt Hutcheson den Begriff des Moral Sense im Zusammenhang einer Vier-Ebenen-
16 Dies hat Jaffro (2000b, insbes. S. 19) klar herausgearbeitet. 17 Im Blick auf das elf Jahre nach der Inquiry verfaßte „Selbstgespräch“ (Soliloquy, 1710) macht Jaffro bei Shaftesbury vor allem die zweite Linie stark: moral sense als handlungsleitender logos, den er mit der stoischen Ethik in Verbindung bringt und als „inneren Diskurs“ (discours intérieur) versteht: „der Autor seines Verhaltens zu sein, setzt also voraus, daß man sich die Kunst eines Dialogs zwischen dem affizierten und dem vernünftigen Selbst zu eigen macht. Der logos kann sich in einer paideia entwickeln. Der Moralsinn […] erweist sich als abhängig von einer Erziehung zur Vernunft und einer Kultur des Geschmacks [culture du goût]. […] Die Kontrolle der Vorstellungen ist eine Kunst, die ausgeübt und entwickelt werden muß.“ (Jaffro 2000b, S. 29). – Zu Shaftesburys Moralphilosophie vgl. auch Darwall 1995, Kap. 7, sowie Bonar 1930, Kap. 1, Schrader 1984, Kap. 1, u. Jaffro 1998, zum moral sense insbes. S. 173–208.
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Theorie der Wahrnehmung ein. 18 Smith referiert diese Theorie in TMS VII.iii.3.6. Ich beziehe mich folgenden zunächst vor allem auf dieses Referat. Die Unterscheidung zwischen den vier Ebenen ergibt sich durch die Anwendung zweier Parameter-Paare: „außen“ und „innen“ sowie „direkt“ und „reflexiv“. Während dies in Hutchesons „Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen von Schönheit und Tugend“ und in den „Erläuterungen zum Moralsinn“ weniger offensichtlich ist, knüpfen die Überlegungen, die Smith mit Hinweis auf Hutcheson referiert, nahtlos an die oben aus Shaftesburys Inquiry herausgearbeiteten Punkte an. Und auch Hutcheson stützt sich in der erkenntnistheoretischen Grundbegrifflichkeit auf Lockes Essay. 1. Klänge und Farben werden durch direkte äußere Sinne wahrgenommen. Hutcheson nennt diese Wahrnehmungen „direkte oder primäre Wahrnehmungen“ (direct or antecedent perceptions), das entsprechende Wahrnehmungsvermögen „direkte Sinne“ (direct senses). Durch die Angabe des Objekttyps, d. h. Klänge und Farben, wird aber klar, daß mit dieser ersten Ebene von Wahrnehmungen äußere, auf Räumliches bezogene Wahrnehmungen gemeint sind. Als „direkt“ bezeichnet Hutcheson diese Wahrnehmungen, weil sie keine anderen, vorausgehenden Wahrnehmungen voraussetzen. Die Wahrnehmung eines Klangs oder einer Farbe setzt nicht die vorausgehende Wahrnehmung einer anderen Qualität oder eines anderen Objekts voraus. 2. Harmonie und Schönheit hingegen sind Objekte der „reflexiven oder sekundären Sinne“ (reflex or consequent senses). Diese setzen die vorhergehende Wahrnehmung anderer Qualitäten bzw. Objekte voraus, nämlich die der direkten, äußeren Sinneswahrnehmung. Die Harmonie eines Klangs wahrzunehmen, setzt voraus, daß der Klang wahrgenommen wird, denn die Harmonie ist eine Eigenschaft nicht des physikalischen Schallereignisses als solchen, sondern der KlangWahrnehmung. Entsprechendes gilt für die Wahrnehmung von Schönheit. Wahrnehmungen von Harmonie und Schönheit sind „reflexiv“, da sie Wahrnehmungen der Eigenschaften von Wahrnehmung sind. Und da es dabei um Eigenschaften von Wahrnehmungen äußerer Objekte geht, können die entsprechenden Sinne präzisierend auch als „reflexive äußere Sinne“ bezeichnet werden.
18 Vgl. Hutcheson, Introd. I.i.3–12, CW IV, S. 4–26.
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3. Eine analoge Unterscheidung wendet Hutcheson nun auch auf den inneren Sinn an. (Hutcheson selbst sowie auch Smith in seinem Referat sprechen von äußeren Sinnen im Plural, vom inneren Sinn jedoch im Singular.) Leidenschaften und Gefühle (passions and emotions) sind die Objekte des „direkten inneren Sinns“ (direct internal sense). Sie sind elementare Daten des Bewußtseins, die nicht durch mentale Operationen erzeugt werden, sondern – wie sinnliche Eindrücke von äußeren Objekten (oder Eigenschaften) – als einfache Ideen (simple ideas) auftreten. 4. Diese Leidenschaften und Gefühle können nun ihrerseits Objekte einer inneren Wahrnehmung und damit Gegenstände des „reflexiven inneren Sinns“ (reflex internal sense) werden. Wir können Gefühle mit Bezug auf unsere Gefühle haben. Diese sekundären, „reflexiven“ Gefühle des „reflexiven inneren Sinns“ sind wertende Gefühle gegenüber unseren primären, „direkten“ Gefühlen. Wir empfinden Zustimmung oder Ablehnung gegenüber unseren Gefühlen. Wir nehmen, so Hutcheson, die Schönheit oder Häßlichkeit (beauty or deformity), die Tugendhaftigkeit und Lasterhaftigkeit (virtue and vice) der Leidenschaften und Gefühle wahr. Dieser reflexive innere Sinn als das Vermögen wertender Gefühle gegenüber unseren Gefühlen ist nach Hutcheson der Moralsinn (moral sense). In einer Übersicht zusammengefaßt stellen sich die vier Ebenen der Wahrnehmung in der Theorie Hutchesons folgendermaßen dar: 1) Töne (Klänge, Geräusche) und Farben – direkte äußere Sinne 2) Harmonie und Schönheit – reflexive (äußere) Sinne 3) Leidenschaften und Emotionen – direkter innerer Sinn 4) Tugend und Laster – reflexiver innerer Sinn Die Charakterisierung des Moralsinns als eines Sinns (Wahrnehmungsvermögen) unterstützt Hutcheson mit verschiedenen Argumenten. Ich gehe auf diese im einzelnen hier nicht ein. Als zentrale These Hutchesons ist aber festzuhalten, daß moralische Zustimmung bzw. Ablehnung, Billigung bzw. Mißbilligung nicht auf Vernunftprinzipien zu reduzieren sind, sondern nur als ursprüngliche, irreduzible „Wahrnehmungen“ des Moralsinns adäquat verstanden werden können. Der Moralsinn ist eine dritte Art der Wahrnehmung, die zu den beiden bei Locke unterschiedenen Arten, äußere Wahrnehmung (sensation) und innere Wahrnehmung (reflection), hinzutritt: die „moralische Wahrnehmung“ (moral perception). Ihr Objekt ist das Wohlwollen (benevolence, benevolent desires) als Motiv menschlicher Handlungen. Dieses Wohlwollen
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als Handlungsmotiv ist es, was dem Moralsinn „Freude macht“ (pleasure). Der Moralsinn ist nach Hutcheson das Vermögen des Menschen, aufgrund der Beobachtung von wohlwollenden und damit tugendhaften Handlungen angenehme, erfreuliche Wahrnehmungen (pleasant perceptions) zu haben. Die moralische Wahrnehmung ist nach Hutcheson auf keine der beiden anderen Arten von Wahrnehmungen und weder auf eine Verbindung aus beiden noch auf eine Verbindung sinnlicher Wahrnehmung mit Verstandesoperationen zurückzuführen. Daher verteidigt Hutcheson die „Hypothese“, 19 daß sich in der moralischen Wahrnehmung ein irreduzibles, genuines Vermögen manifestiere: der Moralsinn. Dieser wird von Hutcheson nach dem Modell des inneren Sinns konzipiert, dabei aber als ein eigenständiges Vermögen verstanden. 20 Die These, daß moralische Vorstellungen (moral ideas) nicht aus der Vernunft abgeleitet, sondern ursprünglich als solche wahrgenommen werden, erläutert Hutcheson anhand einer Analogie des Moralsinns mit den beiden anderen Arten von Sinnen. Der Moralsinn sei wie die anderen Sinne ein „Vermögen des Bewußtseins (mind), unabhängig von unserem Willen Vorstellungen durch die Anwesenheit eines Gegenstands, der uns gegeben ist, zu empfangen und Wahrnehmungen von Freude und Schmerz (pleasure and pain) zu haben“. 21 Billigung und Verurteilung (approbation and condemnation) sind „einfache Vor19 Vgl. Hutcheson, Essay [³1742], S. XIII: „The following Papers [gemeint sind die Illustrations] attempt to shew, that all these Schemes [of accounting for our moral Ideas] must necessarily pre-suppose this moral Sense “; vgl. auch ebd. S. 148. In Inq. vgl. S. 101, 103, 105: „wenn wir annehmen, daß Menschen von Natur aus einen Sinn für das Gute in Taten besitzen […]“; auch S. 135. In den Illustrations vgl. Abschnitt IV, wo in der Überschrift von der „Annahme“ (Supposition) die Rede ist, daß wir die Vorstellungen von Tugend und Laster „durch einen Moralsinn erhalten“ (ebd. S.280; dt. S. 65). Auch Joseph Butler spricht von einer „supposition of such a moral faculty; whether called conscience, moral reason, moral sense, or divine reason“; vgl. dazu TMS, GE I, S. 164, die Fn. der Herausgeber. 20 Im Essay unterscheidet Hutcheson zwischen äußeren Sinnen (External Senses), innerem Sinn (Internal Sense), Gemeinsinn (Publick Sense), Moralsinn (Moral Sense) und Ehrgefühl (Sense of Honour) (S. 5–6). 21 Hutcheson, Inq., dt. S. 18 (Übers. geändert); CW I, S. 109: „We must then certainly have other Perceptions of moral Actions than those of Advantage: And that Power of receiving these Perceptions may be call’d a Moral Sense, since the Definition agrees to it, viz. a Determination of the Mind, to receive any Idea from the Presence of an Object, which occurs to us, independently of our Will“. Vgl. Essay, CW II, S. 4: „wir können jedes Vermögen unseres Bewußtseins, unabhängig von unserem Willen Vorstellungen zu empfangen und Freude und Schmerz wahrzunehmen, einen Sinn nennen“ („we may call every Determination of our Minds to receive Ideas independently on our Will, and to have Perceptions of Pleasure and Pain, a Sense“).
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stellungen“ (simple ideas). 22 Sie werden als solche unmittelbar erfahren und nicht durch Deduktion oder Syllogismen erschlossen. Sie sind unmittelbares, kein inferentielles Wissen. Das Bewußtsein „rezipiert“ sie, sie sind nicht die Konklusion eines Schlusses. Im Essay on ... the Passions schreibt Hutcheson: Moralische Wahrnehmungen entstehen in uns so notwendig wie irgendwelche anderen Empfindungen. Wir können sie weder verändern noch stoppen, während unsere vorherige Meinung (previous Opinion) oder Auffassung von der Affektion (Apprehension of the Affection 23), dem Temperament oder der Intention des Akteurs dieselbe bleibt; genauso wenig wie wir den Geschmack von Wermut süß und den von Honig bitter machen können. (CW II, S. 4)
Hutcheson hat an zahlreichen Stellen seiner moralphilosophischen Schriften immer wieder neue Anläufe unternommen, um seine Auffassung vom Moralsinn zu präzisieren und gegen Einwände zu verteidigen. Es ist häufiger versucht worden, die theoretische Konsistenz seiner Ausführungen zu stützen oder aber in Frage zu stellen, mit verschiedenen Akzentsetzungen und abweichenden Ergebnissen. Auch die weitere, an Hutcheson direkt anschließende Diskussion durch Zeitgenossen und Nachfolger ist, oft mit Hilfe weiterführender begrifflicher Differenzierungen, verschiedentlich untersucht worden.24 Darauf soll hier nicht eingegangen werden. Auch die inhaltlich-ethischen Thesen Hutchesons sollen hier ausgeblendet werden. Statt dessen als Zwischenbilanz ein kurzer Vergleich der Konzeptionen Shaftesburys und Hutchesons. Bei aller strukturellen Gemeinsamkeit zwischen Shaftesburys und Hutchesons Konzeption des Moralsinns als eines inneren Sinns, die im wesentlichen auf die gemeinsame Anknüpfung an Lockes Erkenntnistheorie zurückzuführen ist, stimmen sie jedoch in zwei grundsätzlichen Punkten nicht überein. Zum einen umfaßt für Shaftesbury der Moralsinn sowohl unmittelbares Gefühl (Wahrnehmung) als auch vernünftiges Bewerten (Urteil), während Hutcheson darum bemüht ist, zwischen Gefühl und Vernunft schärfer zu unterscheiden und den Mo22 So laut Jensen (1971, S. 43) ab der 3. Aufl. der II. Abhandlung Concerning Moral Good and Evil; vgl. dazu auch Schrader 1984, S. 79. 23 Leidhold übersetzt „affections“ mit „Affekte“. Zu meiner Übersetzung „Affektion“ siehe oben Fn. 13 zur Übersetzung von Shaftesburys Terminologie. 24 Vgl. Frankena 1955, Jensen 1971, Leidhold 1985 und 1986, Norton 1974 und 1977, Sprute 1980, sowie die oben, Fn 8, angeführten Monographien. Weitere Literaturangaben zu Hutcheson in Leidhold 1985 und 1986.
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ralsinn dezidiert als eigenständiges und von der Vernunft unabhängiges Wahrnehmungsvermögen zu fassen. Zum anderen schreibt Shaftesbury dem Moralsinn neben der bewertenden Funktion auch eine handlungsleitende und motivierende Funktion zu, während Hutcheson unter dem Moralsinn stets das Vermögen der Wahrnehmung von Wohlwollen versteht und dieses Wohlwollen als Grund der positiven moralischen Bewertung geschehener Handlungen (anderer), nicht aber als Vermögen motivierender Gründe des eigenen Handelns beschreibt. 25 Dabei ist allerdings nicht klar, ob dies von Hutcheson als strikte Trennung von Bewertung und motivierendem Grund von Handlungen intendiert ist oder eher eine darstellungsbedingte Gewichtung ist. Der Sache nach hängen beide direkt zusammen: was ich als Grund der positiven Bewertung geschehener Handlungen anderer betrachte, kann und sollte ebenso ein Grund für mich sein, diese Handlungen meinerseits zu wollen, so wie umgekehrt eine Handlung, die ich aus moralisch gutem Grund („Wohlwollen“) will, von mir damit als moralisch gut bewertet wird, auch dann, wenn sie von jemand anders aus demselben Grund getan wird oder wurde.
4. Smith über die Rolle der Vernunft im moralischen Urteil Smith knüpft insofern an Shaftesbury und Hutcheson an, als er wie sie Moral nicht für eine Sache der Vernunft allein hält. Sowohl für die eigene Handlungsmotivation als auch für das moralische Urteil (die Bewertung) sind laut Smith moralische Gefühle konstitutiv. Dennoch schlägt er in Abgrenzung gegen beide Autoren einen eigenen Weg ein. Dieser ist wesentlich durch das Bemühen um eine differenziertere Gewichtung beider Grundvermögen, der Vernunft und des Gefühls, gekennzeichnet. Moral ist laut Smith ebenso wenig eine Sache des Gefühls allein. Daher muß vor der näheren Erörterung dessen, was Smith unter moralischen Gefühlen versteht und welche Bedeutung er ihnen in seiner Theorie angemessener moralischer Urteile zuschreibt26, zu-
25 Zu den Differenzen zwischen Shaftesburys und Hutchesons Moralsinn-Theorien vgl. Sprute 1980, Darwall 1995, Kap. 7–8, und Jaffro 2000b. 26 Siehe dazu die folgenden Abschnitte 5 und 6.
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nächst auf seine Auffassung von der Rolle der Vernunft eingegangen werden. Ein moralisches Urteil ist stets auf allgemeine moralische Regeln rückbezogen. Moralische Wertbegriffe, wie sie in solchen Regeln entweder explizit erwähnt oder aber implizit verwendet werden, sind Allgemeinbegriffe von einem hohen Abstraktionsgrad. Gefühle sind im Unterschied dazu – zunächst und in einer elementaren formalen Beschreibung – situativ und personal auftretende mentale Ereignisse, die in der Zeit individuiert sind. Allerdings ist dasjenige, was ein Gefühl zu einem moralischen Gefühl macht, etwas, was nicht auf diesen Charakter des singulären mentalen Ereignisses reduziert werden kann. Ein moralisches Gefühl „enthält“ eine allgemeine Bedeutung, die in der Anerkennung einer allgemeinen moralischen Regel begründet ist. Der Wertungsaspekt, der einem moralischen Gefühl inhärent ist, kommt in der Billigung oder Ablehnung zum Ausdruck, die sich rational als Zustimmung zu einer Regel rekonstruieren läßt. Wie aber kommen wir zu diesen Regeln? Und wie liegen hier die Bedingungsverhältnisse? Sind unsere moralischen Gefühle die Folge der Anerkennung solcher Regeln oder entwickeln wir die Regeln aufgrund unserer moralischen Gefühle? Eine wichtige Rolle der Vernunft besteht nach Smith darin, daß sie ausgehend von Erfahrungen allgemeine moralische Regeln bildet. „Durch die Vernunft“, so schreibt Smith in seiner kritischen Erörterung vernunftbasierter (rationalistischer) Moralphilosophien in TMS (VII.iii.2.6: 319; dt. 532) „entdecken wir jene allgemeinen Regeln der Gerechtigkeit [verstanden als moralische Tugend; G.M.], durch welche wir unsere Handlungen bestimmen sollen“. Auch die „Begriffe von dem, was klug, was anständig, was edel und vornehm ist“ (ebd.), werden von der Vernunft gebildet. Das Verfahren, das sie dabei anwendet, ist laut Smith die „Induktion“. Die allgemeinen Grundsätze der Sittlichkeit (general maxims of morality) werden wie alle anderen allgemeinen Grundsätze aus Erfahrung und Induktion gebildet. Wir bemerken an einer großen Mannigfaltigkeit von Einzelfällen, was unserem moralischen Vermögen (moral faculties) gefällt oder mißfällt, was dieses billigt oder mißbilligt, und durch Induktion aus diesen Erfahrungen bilden wir jene allgemeinen Regeln. Die Induktion wird aber immer als ein Verfahren angesehen, das ein Werk der Vernunft ist. Man sagt deshalb mit vollem Recht, daß wir alle jene allgemeinen Grundsätze und Begriffe aus der Vernunft ableiten. (VII.iii.2.6: 319; dt. 532)
Smith operiert hier mit zwei empiristischen Grundprämissen: (1) daß allgemeine Prinzipien Verallgemeinerungen von Einzelfällen sind und
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(2) daß Vernunft genau dasjenige Vermögen ist, das durch solche Verallgemeinerungen Begriffe und Grundsätze ableitet. Bemerkenswert ist, daß Smith auf der Grundlage seines empiristischen Vernunftbegriffs rationalistischen Moralphilosophien ein wichtiges Zugeständnis macht. Unsere moralischen Urteile wären hochgradig unzuverlässig und schwankend (uncertain and precarious), wenn sie sich ausschließlich auf situativ wechselnde „unmittelbare Empfindungen und Gefühle“ (so many variations of immediate sentiment and feeling) stützten. Konstanz des Maßstabes, Konsequenz seiner Anwendung und Kohärenz der Begründung ist durch Empfindung und Gefühl nicht (oder nicht alleine) zu gewährleisten. Die Kontingenzen individueller Situationen und temporären Bedingungen der Erfahrung von Handlungen und Affekten müssen durch ein Generalisierungsverfahren kompensiert werden. Hierzu bedarf es einer Generalisierungskompetenz, über die nicht das Gefühl, sondern allein Vernunft verfügt. Daher trifft auch nach Smith tatsächlich zu, was Rationalisten behaupten: daß die Vernunft „Quelle und Prinzip der Billigung und Mißbilligung“ sei und Tugend in einer „Übereinstimmung mit der Vernunft bestehe“ (VII.iii.2.6: 320; dt. 533). In einer weiteren Hinsicht ist die Vernunft ebenfalls ein wichtiges Vermögen: bei der Wahl zwischen Handlungsalternativen, die unter dem Aspekt der Zweckdienlichkeit abzuwägen sind. Die Vernunft ist hier instrumentelle Rationalität. Sie gibt Antworten auf Fragen des Typs: „Ist x ein geeignetes Mittel, y zu realisieren?“ Die Voraussetzung ist allerdings, daß – aus anderwärtigen Gründen, welchen auch immer – bereits entschieden ist, daß y realisiert werden soll. Die Vernunft kann uns zeigen, daß dieser Gegenstand das Mittel ist, um einen anderen zu erlangen, der [seinerseits] von Natur aus uns wohlgefällig oder mißfällig ist, und sie kann in dieser Weise den Gegenstand uns um eines anderen willen angenehm oder unangenehm machen. (VII.iii.2.7: 320; dt. 533)
Smith schließt sich hier der entsprechenden Unterscheidung zwischen Vernunft und Gefühl, wie Hume sie im Anhang seiner Untersuchung der Grundlagen der Moral vornimmt, an. 27 Vernunft (in Humes und Smiths Verständnis) legt weder die Wünschbarkeit (oder das Gebotensein) eines Zwecks fest noch bewertet sie das Mittel seinerseits unter normativ-moralischen Kriterien. Sie beschreibt lediglich eine Kausal27 Vgl. Hume, EPM, App. I: „Über das moralische Gefühl“ (Concerning Moral Sentiment).
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beziehung zwischen zwei oder mehr Gegenständen (Ereignissen, Weltzuständen), deren Kenntnis eine Aussage über die Effizienz eines Mittels für einen gegebenen Zweck sowie eine Prognose über den voraussichtlichen Erfolg von Handlungen als Realisierungsstrategien erlaubt. Dasjenige, was hingegen für moralisches Urteilen ausschlaggebend ist, nämlich die Billigung einer Handlung als an sich selbst gut (nicht nur für die Realisierung eines anderen Zwecks geeignet) oder deren Mißbilligung als an sich selbst schlecht (nicht nur für die Realisierung eines anderen Zwecks ungeeignet), kann diese Vernunft nicht leisten. Sie hat folglich nach Smith keine ursprünglich praktische, Zwecke setzende Kompetenz.
5. Die Bedeutung moralischer Gefühle: Sympathie und natürlicher Sinn für Angemessenheit Aus den referierten Argumenten, mit denen Smith die Kompetenz der Vernunft bestimmt und moralphilosophisch begrenzt, läßt sich nunanhand von zwei weiteren Überlegungen seine Auffassung von Funktion und Kompetenz moralischer Gefühle entwickeln. Die erste Überlegung betrifft Smiths Analyse der Funktion instrumenteller Vernunft. Sie macht deutlich, daß diese keine Zwecke bewertet und keine praktischen Prinzipien begründet. Sie kann alternative Strategien unter Effizienzgesichtspunkten beschreiben, aber sie vermag nicht zu entscheiden, welches Mittel unter mehreren möglichen den moralischen Vorzug verdient und was einen Zweck als zustimmungswürdig auszeichnet. Vernunft ist für Smith (wie für Hume) kein Vermögen wertender Stellungnahme und begründet keine moralischen Urteile. Sie setzt eine moralische Wertung voraus, die nur durch ein Gefühl, das moralische Gefühl, vorgenommen wird. Die Zwecke, auf die hin instrumentelle Vernunft funktional-effiziente Strategien beschreibt, können nicht durch sie selbst, sondern nur durch das moralische Gefühl moralisch qualifiziert werden. Ein weiterer wichtiger Punkt, von dem ausgehend Smith die Bedeutung moralischer Gefühle darlegt, betrifft die normative Insuffizienz der Induktion als Generalisierungsverfahren. Wenn das Ergebnis der Generalisierungen der Vernunft Normen, also Regeln, sein sollen, dann gelangt sie zu diesem Ergebnis nur dann, wenn die Einzelerfah-
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rungen, von denen sie ausgeht und die sie generalisiert, ihrerseits bereits normativ gehaltvolle Erfahrungen sind. Die Ausgangsdaten bzw. -erfahrungen der Generalisierungsoperation der Vernunft müssen bereits Setzungen von Normen und Werten enthalten, wenn das Resultat der Generalisierung eine Norm (Regel) sein soll. Nun besteht das Vermögen der Vernunft aber ausschließlich in Verfahren der Verallgemeinerung und des Schließens aus gegebenen Daten und primären Erfahrungen. Diese Ausgangsdaten und primären Erfahrungen selbst aber setzt nicht wiederum die Vernunft. Sie setzt sie voraus. Insbesondere der Bewertungsaspekt, den primäre Billigungs- oder Mißbilligungsgefühle beinhalten, kann nach Smiths Vernunftbegriff nicht selbst wiederum Produkt der Vernunft sein. Dies war auch das (mit Hume konforme) Ergebnis der Erörterung der instrumentellen Vernunft. An das (oben zitierte) negative Ergebnis der normativ-moralischen Inkompetenz von Zweckrationalität schließt Smith die Feststellung an: Nichts aber kann angenehm oder unangenehm um seiner selbst willen sein, das nicht durch eine unmittelbare Empfindung und ein Gefühl dazu gemacht würde. (VII.iii.2.7: 320; dt. 533)
Aber es ist nicht nur festzustellen, daß die Vernunft nicht selbst moralische Wahrnehmungen generiert, sondern hinzu kommt noch der weitere Umstand, daß unsere „ursprünglichen moralischen Wahrnehmungen“ auch nicht erst aus dem Vergleich einer Handlung mit einer Regel resultieren. Wir billigen oder verurteilen ursprünglich gewisse [particular] Handlungen nicht deshalb, weil sie sich bei näherer Prüfung als mit einer bestimmten allgemeinen Regel verträglich oder unvereinbar erweisen. Vielmehr wird umgekehrt die allgemeine Regel danach gebildet, daß wir aus der Erfahrung gelernt haben [by finding from experience], wie [that] alle Handlungen einer gewissen Art, oder unter gewissen Umständen verübt, gebilligt oder mißbilligt werden. (III.4.8: 159; dt. 239)
Das Induktionsverfahren, so wichtig es ist, um zu Regeln zu gelangen und den Verhaltensmaßstäben und Handlungsbewertungen Konstanz und Kohärenz zu geben, vermag die wertend-normativen Maßstäbe nicht selbst zu generieren, sondern ist auf das Faktum „ursprünglicher Wertungen“ in „unmittelbaren moralischen Wahrnehmungen“ als ‚Input‘ angewiesen. Die ersten Wahrnehmungen [von richtig und falsch (right and wrong)] können ebenso wenig wie alle anderen Erfahrungen (experiments), auf welche sich allgemeine Regeln gründen, Gegenstand der Vernunft (object of reason), sondern müssen Gegenstand einer unmittelbaren Empfindung
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oder eines Gefühls (immediate sense and feeling) sein. Wenn wir in einer großen Mannigfaltigkeit von Fällen finden, daß eine bestimmte Art des Verhaltens beständig in einer gewissen Weise unser Wohlgefallen erregt und eine andere ebenso beständig unser Mißfallen, dann bilden wir aus diesen Erfahrungen die allgemeinen Regeln der Sittlichkeit. Die Vernunft aber kann nicht irgendeinen einzelnen Gegenstand um seiner selbst willen uns angenehm oder unangenehm machen. (VII.iii.2.7: 320; dt. 533)
Den zitierten Überlegungen zur Funktion von Vernunft und Gefühl in moralischen Urteilen läßt sich ein Zwischenfazit entnehmen. Laut Smith ist (a) sowohl das unmittelbare Gefühl als auch die Vernunft mit ihrer Regelkompetenz in moralischen Urteilen involviert. Jedoch sind (b) die in solchen Urteilen sich artikulierenden Wertungen, Billigungen und Mißbilligungen weder allein im jeweiligen unmittelbaren Gefühl noch allein in allgemeinen Regeln der Vernunft hinreichend begründet. Während dem unmittelbaren Gefühl, das von Person und Situation abhängt, die Konstanz, Kohärenz und Zweckrationalität fehlt, erbringen allgemeine Regelvernunft und instrumentelle Vernunft keine praktischen, normativ-moralischen Wertungen. Smiths Theorie moralischer Gefühle versucht dieser Diagnose Rechnung zu tragen. Unter einem moralischen Gefühl versteht Smith nicht jedwede unmittelbare emotionale Zustimmung oder Ablehnung in Bezug auf eine gegebene Handlung, sondern nur ein solches Gefühl, das einer Situation und den faktisch oder potentiell involvierten Personen hinsichtlich der moralisch relevanten Situationsmerkmale insgesamt angemessen (appropriate) ist. Voraussetzung dieser Angemessenheit (propriety) ist laut Smith zum einen die natürlich-menschliche Sympathie als die Fähigkeit und Bereitschaft zur Anteilnahme an den Gefühlen und Motiven anderer. Zum anderen muß das durch diese natürliche Sympathie mögliche Gefühl gewisse kognitive Kriterien der Wohlinformiertheit (well informed) über Hergang und Gründe sowie der Unvoreingenommenheit (indifference) und Unparteilichkeit (impartiality) hinsichtlich faktisch und potentiell Betroffener erfüllen. Die „sympathetischen Gefühle des unparteiischen und wohl informierten Betrachters“ und nur sie sind der „genaue Maßstab“ angemessener moralischer Gefühle. 28 Sie sind aber keine unmittelbar gegebenen, stets als erste Reaktion auftretenden Gefühle, sondern das Resultat eines rationalen Verfahrens reziproken Perspektivenwechsels. Nicht nur die faktischen
28 „That precise and distinct measure can be found nowhere but in the sympathetic feelings of the impartial and well-informed spectator.“ (VII.ii.1.49: 294; dt. 490)
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Gefühle der Betroffenen sind relevant, sondern mehr noch die Situationskenntnis und die entsprechend „informierten Gefühle“. „Sympathie entspringt (arise) also nicht so sehr aus dem Anblick des Erleidens (view of the passion), als vielmehr aus dem Anblick der Situation, die es auslöst (excites).“ (TMS I.i.1.10, 12/6) Das angemessene moralische Gefühl entspricht derjenigen „Harmonie“ zwischen den Gefühlen moralisch empfindender Personen, die sich tendenziell und als idealer Grenzwert dann einstellt, wenn sie dieselbe Situation aus verschiedenen Teilnehmer- und Beobachterpositionen betrachten. Um diese Harmonie (concord) zustande zu bringen, hat die Natur die Betrachter gelehrt, sich in Gedanken in die Lage des zunächst Betroffenen (person principally concerned) zu versetzen, und ebenso hat sie diesen letzteren gelehrt, sich wenigstens bis zu einem gewissen Grade in jene der Betrachter hineinzudenken (assume). (I.i.4.8, 22/25)
Durch „affektives Kommunizieren“ 29 erzielen sie eine wechselseitige „affektive Einstimmung“ 30. Sympathie ist nicht Sache unmittelbaren Affiziertseins von den Affekten eines Anderen, sondern setzt nach Smith Gedanken, Analysen und Überlegungen voraus, die in eine informierte und reflektierte Beurteilung der betreffenden Situation, also in eine begründete Stellungnahme münden. Das Mitleid des Betrachters muß […] aus der Erwägung (consideration) entstehen, was er selbst wohl fühlen würde, wenn er in die gleiche unselige Lage versetzt wäre und wenn er dabei gleichzeitig fähig wäre – was vielleicht unmöglich ist –, diese Lage mit seiner gegenwärtigen Vernunft und Urteilskraft (present reason and judgment) zu betrachten. (I.i.1.11: 12; dt. 7; Hvh. von mir)
Im Zuge dieser affektiven Kommunikation eruieren beide eine Sicht auf die Lage der primär betroffenen Person in einem „gerechten und unparteiischen Licht“ (candid and impartial light) (I.i.4.8: 22; dt. 25). Das Ergebnis der wechselseitigen Sympathie im Prozeß eines affektiven Kommunizierens zwischen Betroffenem und Betrachter ist eine einstimmige Billigung oder Mißbilligung der Affekte der primär betroffenen Person. Als ein solches Produkt eines reziproken Perspektivenwechsels ist sie eine berechtigte Billigung. 31 Die moralischen Gefühle, die in der Billigung einer Handlung involviert sind und diese „verursachend begründen“ (Ursache und 29 Tugendhat 1993, S. 295. 30 Tugendhat 1993, S. 286. 31 Zur Mehrdeutigkeit des Sympathiebegriffs bei Smith vgl. Andree 2003.
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Grund fallen hier zusammen), beziehen sich nach Smith auf vier Aspekte oder Momente einer Handlung: 32 1. „Wir sympathisieren mit den Beweggründen (motives) der handelnden Person“ (dies war der für Hutcheson ausschlaggebende Aspekt). 2. „Wir nehmen teil an der Dankbarkeit (gratitude) der durch die Handlung Begünstigten“ (who receive the benefit). 3. „Wir beobachten, daß das Verhalten der handelnden Person mit den allgemeinen Regeln, nach denen diese beiden Formen der Sympathie sich gewöhnlich richten, in Einklang steht.“ 4. „Wir betrachten schließlich solche Handlungen als Teile eines ganzen Systems von Verhaltensweisen“ – der System-Gedanke spielte bei Shaftesbury eine zentrale Rolle – „welches die Tendenz hat, die Glückseligkeit des Individuums oder der Gesellschaft zu fördern“ (VII.iii.3.16: 326; dt. 544). An diesen Ausführungen in Verbindung mit dem Modell des wohlinformierten und unparteiischen Betrachters wird erneut ersichtlich, daß Smith keine sensualistische Moraltheorie vertritt und moralisches Urteilen nicht auf unmittelbares emotionales Reagieren reduziert. Anders als Hutcheson beschränkt er die Rolle moralischer Gefühle auch nicht auf die Wahrnehmung von Wohlwollen. Auf der Basis der Berücksichtigung der vier Momente einer Handlung besteht die Angemessenheit eines moralischen Urteils in einer angemessenen Relation (a) zwischen einem Gefühl und seiner Ursache und (b) zwischen den auf dieselbe Situation bezogenen Gefühlen verschiedener Personen. Das richtige Maß aller dieser Gefühle ist dasjenige, was die Sympathie des unparteiischen Betrachters findet. Wie weit dies von einem unmittelbaren Wahrnehmen entfernt ist, kommt deutlich dort zum Ausdruck, wo Smith den unparteiischen Betrachter als eine heuristische prozedurale Fiktion charakterisiert: als „Gerichtshof in unserer Brust“ (tribunal within the breast), als „inneren Richter“ „in unserer eigenen Seele“, als den „menschlichen Standpunkt schlechthin“, als vorgestellten „Repräsentanten der Menschheit“. 33 Mit einem solchen konstruktiven Modell wird (1) der Perspektivenwechsel von faktisch (wenn auch nur „imaginativ“) durchzuführen-
32 Smith schreibt, die moralischen Gefühle stammten aus vier „Quellen“, sources. Diese Art kausaler Metapher könnte hier aber zu Mißverständnissen führen. 33 TMS (2. Aufl.) III.2: 129 f.; dt. 297 f.
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den Verfahren, (2) das Ideal des unparteiischen Standpunkts von kommunikativ real zu erzielenden Einstellungsharmonisierungen und (3) die Sympathie von den unmittelbaren Gefühlen involvierter oder betrachtender Personen losgelöst, an denen Smith an zahlreichen Stellen in TMS gleichwohl festhält. Smiths Theorie von Sympathie und Unparteilichkeit ist in drei Hinsichten methodisch zweideutig: 1. Das Verfahren, dessen Resultat ein angemessenes moralisches Gefühl und entsprechendes unparteiisches Urteil sein soll, wird von Smith zum einen als ein von mehreren Personen, die aufgrund ihrer Sympathie-Fähigkeit eine gemeinsame Annäherung an ein einstimmiges unparteiisches Urteil wünschen, in realer „affektiver Kommunikation“ durchzuführender reziproker Perspektivenwechsel beschrieben, zum anderen aber auch als eine rationale Operation, die jede Person für sich selbst anwenden kann. 2. Der Maßstab („Standard“) der Angemessenheit eines moralisches Gefühls und der Unparteilichkeit des Urteils wird einmal als ein „Annäherungsstandard“ eines real-empirisch durchzuführenden Verfahrens charakterisiert, für den der faktische Beifall der Gesellschaft zählt, ein anderes Mal hingegen als „Idealstandard“, der eine rationale Konstruktion des Billigungswerts von Handlungen ausgehend von der heuristischen Fiktion einer idealisierten Betrachterposition darstellt. 34 3. In der vermögenstheoretischen Verankerung hebt Smith einerseits die konstitutive Bedeutung des Gefühls für die Begründung moralischer Urteile hervor, sowohl als Ausgangspunkt der Generierung des Urteils (als Wertprämisse im praktischen Syllogismus) wie auch als Resultat einer affektiven Kommunikation, stellt aber andererseits bei seinen Ausführungen zum Unparteilichkeitsprinzip die rationale Konstruktion eines idealisierten, „abstrakten“ Standpunkts derart in den Vordergrund, daß Gefühlen letztlich nur noch eine moralphilosophisch sekundäre Relevanz zu bleiben scheint. Ob diese Zweideutigkeiten negativ als Unentschiedenheit und Inkonsistenz, die zu Lasten der Tragfähigkeit von Smiths Moralphilosophie gehen, oder vielmehr positiv als Ausdruck einer unserer moralischen Urteilspraxis durchaus entsprechenden Realitätsnähe zu bewerten sind, muß hier offen bleiben. Vor dem Hintergrund des Befundes, daß 34 Zum „doppelten Standard“ vgl. die differenzierten und klärenden Analysen in von Villiez 2005 und ihren Beitrag in diesem Band.
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Smith die Angemessenheit des moralischen Gefühls weitgehend an rationale Kriterien und Prozeduren bindet, soll stattdessen nun auf die eingangs angesprochene Kritik, die Smith an Hutchesons Theorie des Moralsinns übt, eingegangen werden. Wenn es auf den ersten Blick geradezu unverständlich schien, daß eine „Theorie moralischer Gefühle“ die Annahme eines Moralsinns ablehnt, so ist inzwischen jedenfalls deutlich geworden, daß und warum Moral (moralisches Bewerten) für Smith keine Sache einer einfachen und unmittelbaren Wahrnehmung (simple idea, immediate perception) durch einen Sinn (sense) sein kann. Wie lauten Smiths Einwände gegen die Moralsinn-Theorie im Einzelnen?
6. Smiths Kritik an der Hypothese eines Moralsinns Smiths Kritik an Moralsinn-Theorien ist Teil einer umfassenderen Kritik an verschiedenen Typen von Moralphilosophie, die er in Teil VII von TMS unter der Überschrift Of Systems of Moral Philosophy vorführt. Eine Moralphilosophie hat nach Smith zwei Fragen zu beantworten. Die erste betrifft die Bestimmung der Tugend. Laut Smith sind im wesentlichen drei Antworten auf diese Frage gegeben worden. Nach der einen Auffassung besteht Tugend in Angemessenheit (propriety), nach der zweiten in Klugheit (prudence) und nach der dritten in Wohlwollen (benevolence). Die zweite Grundfrage der Moralphilosophie ist nach Smith die nach dem Prinzip der Billigung (principle of approbation). Auch hier benennt er drei Theorietypen. Der eine leitet dieses Prinzip aus der Selbstliebe (self-love) her, ein zweiter aus der Vernunft (reason) und der dritte aus dem Gefühl (sentiment), genauer: aus dem moralischen Gefühl (moral sentiment). Diesem dritten Theorietyp ordnet Smith Hutcheson, Hume und sich selbst zu. Smith teilt mit Hutcheson und Hume die Auffassung, daß weder Selbstliebe noch Vernunft (allein und als solche), sondern Gefühle moralische Billigung begründen. Er setzt sich aber in dem betreffenden Kapitel Of those Systems which make Sentiment the Principle of Approbation (VII.iii.3 wie auch III.4.5, III.5.5 und VII.ii.3.21) kritisch mit Hutchesons Theorie auseinander, der zufolge diese moralischen Gefühle die Annahme eines „Vermögens besonderer Art“, d. h. eines Moralsinns, erforderlich machen. In einem letzten kurzen Absatz grenzt Smith seinen Sympathie-
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Begriff gegen den Humes ab. – Smiths Kritik an Hutchesons Moralsinn-Theorie läßt sich auf vier Punkte bringen: 35 1. Die Annahme eines „Moralsinns“ ist überflüssig. Die moralischen Gefühle, die unsere Billigung oder Mißbilligung einer Handlung begründen, sind nach Smith hinreichend beschrieben und erklärt, wenn wir die oben erwähnten vier Momente einer Handlung, auf die sich diese Gefühle beziehen, in Betracht ziehen: Sympathisieren mit den Motiven des Handelnden, Anteilnahme an der Dankbarkeit der Begünstigten, Feststellung der Sympathieangemessenheit der Verhaltensregeln, Erkenntnis der Glückstendenz der Handlung.36 Es bedarf nach Smith darüber hinaus keiner weiteren Annahme eines besonderen Vermögens, das einen zusätzlichen und unverzichtbaren Erklärungswert mit Bezug auf die durch diese vier Momente veranlaßten moralischen Gefühle hätte. Wenn wir in irgendeinem einzelnen Falle alles abziehen, wovon man anerkennen muß, daß es aus dem einen oder dem anderen dieser vier Momente hervorgeht, so würde ich sehr gerne wissen, was dann noch übrig bleibt, und würde bereitwillig zustimmen, daß dieses ‚Mehr‘ (overplus) dem Moralsinn zugeschrieben wird oder irgendeinem anderen besonderen Vermögen, vorausgesetzt, daß irgend jemand genau feststellt, was dieses Mehr ist. (VIII.iii.3.16: 326; dt. 544)
2. Die Annahme eines Moralsinns unterstellt implizit einen privilegierten Zugang der individuellen Person zu den eigenen Affekten und moralischen Gefühlen und unterminiert dadurch Unparteilichkeit. Würden Urteile über die Angemessenheit moralischer Gefühle auf einem besonderen Seelenvermögen (a peculiar faculty) beruhen, das nach der Analogie mit dem innerem Sinn gedacht wird, dann würde dieses Vermögen, „da ihm die eigenen Affekte des Menschen in unmittelbarerer Weise gegeben wären, über diese mit größerer Pünktlichkeit urteilen als über die Affekte anderer Menschen, die es nur gleichsam aus größerer Entfernung betrachten könnte“.37 Dieses Argument geht also davon aus, daß es keine unmittelbare Wahrneh35 Gelegentlich wird Smith ohne weiteres als Vertreter der Moral-Sense-Theorie präsentiert. Vgl. etwa noch Turco 2003. 36 Vgl. VII.iii.3.16: 326; dt. 544. Dazu oben Abschnitt 5. 37 III.4.5: 158; dt. 237 f. Ich weiche hier von Smiths Formulierung seines Arguments ab, um es auf den vorliegenden Kontext zuzuspitzen. Von einer Analogie des Moralsinns mit dem inneren Sinn spricht er in III.4.5 nicht, obwohl er in dem Argument so etwas vermutlich meint. An anderer Stelle unterstellt er – sachlich falsch – eine Analogie des Moralsinns mit den äußeren Sinnen; vgl. VII.3.8: 322; dt. 537.
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mung des Bewußtseins bzw. der mentalen Zustände einer anderen Person, wohl aber der eigenen gibt. Diesen Punkt hatte David Hume (THN III.iii.1, ed. SBN, S. 576; dt. II, S. 329) herausgestellt: Kein Affekt eines anderen zeigt sich dem Geist unmittelbar. Wir bemerken nur seine Ursachen oder Wirkungen. Aus diesen schließen wir auf den Affekt, folglich sind es diese, die unsere Sympathie erwecken.
Aus diesen Voraussetzungen scheint Smith nun zu schließen, daß die Annahme eines Moralsinns aufgrund der Opakheit des Bewußtseins anderer Personen Unparteilichkeit unterminiert. Gegen diesen Punkt von Smiths Kritik muß allerdings festgehalten werden, daß Hutcheson keineswegs an eine sinnliche Wahrnehmung von inneren Bewußtseinsvorgängen anderer Personen im Sinne einer sense perception of other minds dachte. So etwas gibt es nicht, und weder Hutcheson noch Shaftesbury haben dergleichen unterstellt. Ihre Theorien nötigen auch nicht implizit zu einer derartigen, offenkundig aussichtslosen Annahme. 3. Der Moralsinn ist normalen Menschen unbekannt. Die Annahme eines Moralsinns büßt – so Smith – auch aufgrund des Umstands von vornherein erheblich an Plausibilität ein, daß nicht einleuchten will, warum ein die „menschliche Natur beherrschendes Prinzip“, als das der Moralsinn beschrieben wird, „bisher so wenig sollte bemerkt worden sein, daß er noch in keiner Sprache einen Namen erhalten hat.“ (VII.iii.3.15: 326; dt. 543) Smith wendet sich gegen die Erfindung von Kunstwörtern für hypothetische Vermögen. Auch hier ist Smiths Kritik nicht sehr überzeugend. Interessanterweise hatte Hutcheson selbst diesen Einwand bereits antizipiert und beantwortet: der Moralsinn ist eine „okkulte Eigenschaft“, die sich aber in der moralischen Wahrnehmung von Wohlwollen äußert. Es ist ja nichts per se Dubioses, für offenkundige Phänomene weniger offenkundige Ursachen und für offenkundige menschliche Leistungen weniger offenkundige menschliche Vermögen als Voraussetzungen philosophisch zu rekonstruieren. Smith hat Hutchesons Argument offenbar nicht zur Kenntnis genommen. 4. Die Annahme eines Moralsinns ist eine Form von Reduktionismus. Nicht eine einzelne, bestimmte Affektion, sondern der angemessene Grad jeder einzelnen Affektion ist ausschlaggebend für Tugend und moralische Richtigkeit. Es kann nach Smith nicht darum gehen, ein Sondervermögen mit einem besonderen Gefühl zu finden, das moralische Urteile begründet, sondern einen „natürlichen und ur-
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sprünglichen Maßstab des richtigen Grades“ der vielfältigen Affektionen und ihrer richtigen Relation zueinander. Dieser Maßstab ist für Smith die Sympathie des unparteiischen Betrachters (vgl. VII.ii.3.21: 306; dt. 510). Es wäre nun zu prüfen, inwieweit Smiths Kritik die philosophische Substanz der Moralsinn-Theorie tatsächlich tangiert und diskreditiert. Ein aus der Sicht heutiger moralphilosophischer Grundlagendebatten auffallender Umstand ist, daß Smith gegen die Moralsinn-Theorie nicht den Vorwurf des naiven moralischen Realismus erhebt. Vor allem in einer empiristischen Lesart dessen, was als Grundkonzeption einer Moralsinn-Theorie zu gelten habe, drängt sich der Vorwurf auf. So kommt D. D. Raphael (1947, ch. 1) zu dem Ergebnis, daß eine empiristische Moralsinn-Theorie ein aussichtsloses Unternehmen sei. Die ihr zugrunde liegende Annahme einer Analogie zwischen moralischem Vermögen und Wahrnehmung (sense) kann nach Raphael durch nichts gestützt werden (ebd., S. 14). Die entscheidende Prämisse von Raphaels Ergebnis ist allerdings die, daß diese Analogie-Annahme in irgend einem starken Sinne für die Moral-Sense-Theorie wesentlich sei, da sie notwendigerweise unterstelle, wir nähmen moralische Qualitäten durch den Moralsinn genau so wahr, wie wir sinnliche Qualitäten durch den äußeren Sinn wahrnehmen. Wie oben im Zusammenhang mit Smiths zweitem Kritikpunkt bereits bemerkt, ist diese Analogie sicher falsch. Richtiger und offenbar auch von Shaftesbury und Hutcheson intendiert ist hingegen die Analogie mit dem inneren Sinn. Aber auch diese Analogie wäre daraufhin zu prüfen, ob und gegebenenfalls inwiefern sie für die moralphilosophisch grundlegenden und wichtigen Absichten einer Moralsinn-Theorie tatsächlich wesentlich ist.
David Hume und Adam Smith. Zur philosophischen Dimension einer Freundschaft Karl Graf Ballestrem / Katholische Universität Eichstätt Ein Artikel über David Hume und Adam Smith könnte mit guten Gründen die Gemeinsamkeiten, nicht die Differenzen hervorheben. Daß beide eng befreundet waren und in vieler Hinsicht ähnlich dachten, war schon den Zeitgenossen bekannt. Und wenn man heute zurückblickt, um die „Erfindung der Freiheit“ 1 im Zeitalter der Aufklärung zu rekonstruieren, findet man Hume und Smith an einer Front gegen absolutistische Willkür, feudale Rechte, religiöse Intoleranz und Wirtschaftsmonopole. Oder, positiv formuliert, verdanken wir ihnen einflußreiche Argumente für eine liberale Rechtsordnung, für die Vorzüge eines freien Marktes, für eine durch Gewaltenteilung und Repräsentation gemäßigte Regierungsform. Freilich hat jeder von beiden eigene Akzente gesetzt, z. B. Adam Smith durch seine Merkantilismuskritik und seine Theorie der begrenzten Staatsaufgaben; Hume durch seine Parteientheorie, seine Kritik an Gesellschaftsvertragstheorien, sein Plädoyer für die Möglichkeit einer Republik oder repräsentativen Demokratie auf großem Territorium. Hier ergänzten sie sich, ohne sich zu widersprechen. Es ist deshalb sicher nicht falsch, im ideengeschicht-
1 Der vorliegende Aufsatz ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, der im Januar 1996 im Rahmen des Studium Generale an der Universität Marburg gehalten wurde. Das gemeinsame Thema der Vortragsreihe in Marburg war „Die Erfindung der Freiheit“ (nach dem Titel des Buches von Jean Starobinski). Dieser Aufsatz erschien erstmals als Beitrag zur Festschrift für Martin Kriele zum 65. Geburtstag. Siehe Ziemske 1997, S. 873–887. Für den Wiederabdruck in diesem Band wurden die Zitatverweise und die bibliographischen Angaben in den Fußnoten der für diesen Band gewählten Zitierweise angepaßt. Die vollständigen bibliographischen Angaben sind in der Gesamtbibliographie zu finden.
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lichen Kontext Hume und Smith in einem Atemzug zu nennen, etwa als Denker des klassischen Liberalismus. 2 Auch die umfangreiche Forschung, die in den letzten 20 bis 30 Jahren das faszinierende Phänomen der schottischen Aufklärung entdeckt und bearbeitet hat, 3 tendiert dazu, Hume und Smith zusammenzusehen. Knud Haakonssen, einer der besten Kenner dieser kulturellen Blüte am Rande Europas, macht z. B. den Vorschlag, zwischen Hume und Smith (und eventuell John Millar) auf der einen Seite und „the mainstream of the Scottish Enlightenment“ auf der anderen Seite zu unterscheiden (Haakonssen 1989, S. 41). Die Hauptströmung: das sind Francis Hutcheson (der Vater der schottischen Aufklärung), Lord Kames, Adam Ferguson, Thomas Reid, Dugald Stewart und viele kleinere Gestalten. Auch unter ihnen gab es große Denker, aber sie bewegten sich doch weitgehend auf der „via antiqua“ einer realistischen Erkenntnistheorie, einer normativen Tugendethik, einer metaphysisch fundierten Naturrechtslehre und einer teils aristotelischen, teils republikanisch-utopischen Vorstellung von Politik und Gemeinwohl. Demgegenüber erscheinen Hume und Smith als die modernen Denker: wegen ihrer empiristisch-kritischen Erkenntnistheorie, ihrer naturalistischen und metaphysikfreien Moral- und Rechtsphilosophie, wegen ihrer Theorie des Staates als Rechtsstaat. Mir geht es heute darum, auf Unterschiede im Denken von Hume und Smith aufmerksam zu machen: Ich möchte zeigen, daß zwar beide zu den Erfindern der modernen Freiheit gehören, aber diese sehr verschieden begründen – der eine konsequent naturalistisch, der andere noch immer metaphysisch. Dabei will ich auch den persönlichen Aspekt ihrer Freundschaft im Auge behalten. Denn je mehr man sie philosophisch unterscheidet, desto interessanter wird diese Freundschaft. Ich beginne mit einer kurzen Skizze ihres Lebens. Dann kommt der Hauptteil, in dem ich einige Aspekte der Moral- und Rechtsphilosophie von Hume und Smith vergleiche. Zuletzt versuche ich, eine relativ gewagte Interpretation von Humes Dialogues concerning Natural Religion plausibel zu machen.
2 Einer heute einflußreichen Gruppe von Historikern des politischen Denkens (allen voran Quentin Skinner) gelten Verallgemeinerungen wie ‚klassischer Liberalismus‘ als suspekt. Zur Begründung einer gegensätzlichen Position vgl. Ballestrem 1991. 3 Für eine kurze Zusammenfassung vgl. Ballestrem 1988.
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1. Zwei Leben Humes intellektuelles Leben beginnt mit einem genialen Fehlstart. Sein frühes Hauptwerk, der Traktat über die menschliche Natur (1739/40), erscheint zunächst unbeachtet, dann beschert es ihm den Ruf eines radikalen Skeptikers. Spätere Versuche, den Inhalt seiner Philosophie in kürzerer Form so zu präsentieren, daß sie erstens gelesen und zweitens ihr konstruktiver Charakter erkennbar wird (1748, 1751), bleiben zunächst kaum beachtet, später werden sie von geistlicher Seite als Werke eines Ungläubigen attackiert. Zwei Versuche, in Schottland Professuren zu erhalten, scheitern. Erst langsam festigt sich Humes Ruf als eleganter und überparteilicher Schriftsteller, vor allem durch seine Political Discourses von 1752 und durch die große Geschichte Englands, die zwischen 1754 und 1761 erscheint. Weil er darin vor allem die Ideologie der Whigs kritisiert, gilt er vielen als ungläubiger Tory (womit er zwischen allen Stühlen sitzt). Nur im Ausland genießt er uneingeschränkte Anerkennung. Während seiner Zeit als Diplomat in Frankreich (1763–66), wird Hume in den Pariser Salons und am Hof gefeiert. Zuletzt verbringt er noch einige relativ ruhige und glückliche Jahre in Edinburgh, wo er am 25. August 1776, von den Rechtgläubigen mißtrauisch beobachtet, offenbar in großer Seelenruhe stirbt. Das Thema Religion durchzieht Humes Leben wie ein roter Faden. Davon zeugen, neben vielen Einzelpassagen in fast allen Werken, die Essays über Wunder (1748), über Selbstmord (1772) und über die Unsterblichkeit der Seele (1777); ferner seine Naturgeschichte der Religion (1757) und insbesondere die Dialoge über natürliche Religion (die, schon um 1750 begonnen und immer wieder überarbeitet, erst 1779 erscheinen). Die strenge, unerbittliche Religiosität, die seine Jugend prägte, scheint Hume als einen Alptraum empfunden zu haben, den nur eine konsequent naturalistische Philosophie überwinden konnte, die uns von jenen Mächten der Phantasie befreit, die – ohne recht verstanden werden zu können – die Menschen unterdrücken und entzweien. Ganz anders, nämlich als relativ ruhig und angepaßt, erscheint das Leben des um 12 Jahre jüngeren Adam Smith. Nach Studien in Glasgow (1737–40) und Oxford (1740–46), und einigen Jahren als Privatgelehrter (1749–1751), wird er Professor für Logik (1751–52), bald schon für Moralphilosophie (1752–63) in Glasgow. Seinen Vorlesungszyklus teilt er, nach dem Vorbild seines Lehrers Hutcheson, in vier Teile: Natürliche Theologie, Ethik, Rechts- und Staatsphilosophie, Politische
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Ökonomie. Adam Smith war ein überaus erfolgreicher Lehrer, aus ganz Europa trafen Studenten ein um bei ihm zu studieren. Auch seine beiden großen Werke fanden unmittelbar große Anerkennung: die Theorie der moralischen Gefühle (1759), die aus dem zweiten Teil seines Moralphilosophiekurses hervorging; ebenso viel später seine Untersuchung über den Wohlstand der Nationen (1776), die eine neue Wissenschaft begründete und die Wirtschaftspolitik vieler Staaten beeinflußte. Smith zog wohl in seiner Jugend in Erwägung, Geistlicher zu werden. Das Stipendium für Oxford, das er mit 17 Jahren annahm, sollte diesem Zweck dienen. Das Studium in Oxford scheint ihn auch in dieser Hinsicht abgestoßen zu haben, auf jeden Fall ist von diesem Berufsplan nach der Rückkehr nach Schottland nicht mehr die Rede. Später lehrte er natürliche Theologie. Leider besitzen wir keine studentische Nachschrift dieser Vorlesung, weshalb wir – was den Inhalt angeht – auf das kurze Zeugnis seines Schülers John Millar beschränkt sind, der darüber schreibt: „He considered the proofs of the being and attributes of God, and those principles of the human mind on which religion is founded.“ 4 Dies könnte, muß aber nicht, ein Hinweis auf religionspsychologische Überlegungen im Sinne Humes sein. Zieht man seine Theorie der moralischen Gefühle zum Vergleich heran, so kann man vermuten, daß er kritisch über Aberglauben und „corrupt forms of religion“ (wie den Katholizismus) gesprochen hat, zurückhaltend über das Christentum im allgemeinen und mit Überzeugung von der natürlichen Religion (insbesondere vom teleologischen Gottesbeweis). Die Beziehung zwischen Hume und Smith beginnt, bevor sie sich persönlich kannten. Smith liest als Student in Oxford Humes Traktat, aber das Werk des gefährlichen Agnostikers wird konfisziert. Sie scheinen sich Ende der 40er Jahre zum ersten Mal in Edinburgh begegnet zu sein. 1751 beginnt eine Korrespondenz (Hume schreibt viel, Smith ist schreibfaul), die zunehmend vertraute und herzliche Züge annimmt. Zuletzt sind sie füreinander „my dearest friend“, bestimmen einander (erst Smith Hume, dann Hume Smith) zum literarischen Nachlaßverwalter. Das schönste Dokument dieser Freundschaft ist der Brief, den Smith nach Humes Tod – zum Zweck der Veröffentlichung – an Humes Londoner Verleger schreibt und in dem er dem toten Freund bescheinigt, im Leben wie im Sterben „der Idee eines vollkommen weisen und tugendhaften Menschen so nahe zu kommen, wie es die Natur mensch4 Vgl. den Bericht des ersten Biographen von Adam Smith: Dugald Stewarts „Account of the Life and Writings of Adam Smith“ (Stewart 1795).
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licher Schwäche vielleicht erlaubt.“ Diese Worte lösten einen Sturm öffentlicher Entrüstung aus. Die Vertreter der Kirchen von Schottland und England waren nicht bereit, die Heiligsprechung des bekanntesten Agnostikers ihrer Zeit einfach hinzunehmen. Das Verhältnis zwischen Hume und Smith erscheint auf den ersten Blick in reiner, ungetrübter Harmonie. Wenn man genauer hinsieht, fallen allerdings zwei Dissenspunkte auf. Einmal die Hume-Kritik in der Theorie der moralischen Gefühle, die zwar in höflicher, mit Komplimenten garnierter Form vorgetragen wird, aber fundamental ist. Zum anderen die beharrliche Weigerung von Smith, den letzten Wunsch seines Freundes zu erfüllen, nämlich bald nach dessen Tod die Dialoge über natürliche Religion herauszugeben. Streminger hält dafür die Erklärung bereit, Smith habe nach der soeben erfolgten Veröffentlichung seines ökonomischen Hauptwerks auf ein öffentliches Amt gehofft und seine Chancen nicht dadurch gefährden wollen, daß man ihn mit dem ungläubigen Hume in Verbindung brächte. 5 Diese Erklärung leidet nicht nur daran, daß jeder Nachweis fehlt, sondern erscheint auch wegen Smiths offenen Briefes zum Tode seines Freundes als unplausibel. Viel wahrscheinlicher ist, daß beide Dissenspunkte zusammenhängen: Was Smith in der Theorie der moralischen Gefühle an Hume kritisiert, ist zugleich Grund dafür, daß er die Dialoge für ein verderbliches Werk hält, das man nur im Kreise der „literati“ diskutieren, aber nicht der breiten Öffentlichkeit zugänglich machen sollte. Für Smith ist die natürliche Religion wichtig, auch zur Begründung von Moral und Recht – für Hume nicht, im Gegenteil. Hier, scheint mir, liegt der zentrale Punkt ihres philosophischen Dissenses, den ich im folgenden verdeutlichen will.
2. Moral- und Rechtsphilosophie Bei einem Vergleich von Humes und Smiths Moral- und Rechtsphilosophie fallen zunächst die Gemeinsamkeiten ins Auge. Beiden geht es um die Analyse und kausale Erklärung der Phänomene des moralischen Bewußtseins, nicht um normative Tugendethik. Im Streit zwischen Rationalisten und Gefühlsethikern gehören Hume und Smith zu denen, die moralische Werturteile – wie Shaftesbury und Hutcheson – zum affektiven Bereich des Bewußtseins rechnen. In der von Hobbes 5 Streminger 1994, S. 619.
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und Mandeville angeregten Diskussion über die Motive menschlichen Handelns und ihre moralische Bewertung, nehmen sie eine mittlere Position zwischen Egoisten und Altruisten ein. Auch in der Rechtsphilosophie scheint Smith dem älteren Freund zu folgen: Seine Lectures on Jurisprudence enthalten Passagen, in denen Humes Argumente gegen Naturzustands- und Vertragstheorien wiederholt werden. 6 Es gibt aber auch Unterschiede. Der Begriff der Sympathie, der schon bei Hume vorkommt, gewinnt bei Smith eine neue Bedeutung, wird zum zentralen Erklärungsprinzip für moralische Gefühle, ersetzt den „moral sense“. Das Problem der Objektivität moralischer Werturteile – ein zentrales Problem für jede Ethik, besonders aber für Gefühlsethiken – erhält durch den „impartial spectator“ eine Antwort, die über Hume hinausgeht. Humes Erklärung der Wertschätzung von Recht und Gerechtigkeit aus rein utilitaristischen Erwägungen wird von Smith als implizit rationalistisch zurückgewiesen (seine eigene Erklärung verweist auf das Vergeltungsgefühl). Schließlich fällt auf, daß Smith – im Gegensatz zu Hume – ein ganz ungebrochenes Verhältnis zum modernen Naturrecht hat: Gerade wenn es um die Rechte von Arbeitern und ihre Verletzung durch die „merchants und manufacturers“ geht, spricht er immer wieder von natürlicher Freiheit und Gerechtigkeit. 7 Fraglich bleibt, wie diese Unterschiede einzuordnen sind. Ist Smith ein inkonsequenter Humeaner oder vertritt er in wichtigen Bereichen eine alternative Moralphilosophie? Einen ersten Schritt zur Klärung dieser Frage können wir tun, indem wir beider Antwort auf das Problem der Objektivität moralischer Werturteile vergleichen. Die Analyse der moralischen Selbsteinschätzung und des Pflichtgefühls bildet den Gegenstand des 3. Teils der Theorie der moralischen Gefühle. Im Mittelpunkt steht das Problem der Objektivität des moralischen Selbstbewußtseins, allerdings nicht als normativ-kritische Frage, etwa: Wie können wir wissen, ob wir Recht haben, wie wir handeln sollen, was unsere Pflicht ist? Smith fragt umgekehrt: Wie kommt es, daß wir dies in der Regel ganz genau wissen, obwohl unsere Selbsteinschätzung durch falsches Lob und falschen Tadel, durch Parteigeist, Vorurteile und Interessen getrübt werden kann? Tatsächlich unterscheiden die Menschen sehr wohl zwischen gelobt werden und Lob verdienen, zwischen gehaßt werden und hassenswert sein, oder zwi6 LJ, V.114–119; 14–18. 7 Z. B. WN, I.x.c/2.59: 157; dt. 123.
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schen dem, was mein Interesse und dem, was die Pflicht gebietet. Nicht die Selbsttäuschung („self-deceit“), die es natürlich gibt, ist primär erklärungsbedürftig, sondern warum wir sie so oft durchschauen können. Diese Fragestellung ergibt sich aus Smiths Ansatz, bei dem die moralische Zustimmung aus der Sympathie erklärt wird. Jeder Mensch beurteilt den anderen mit eigenen Augen, sich selbst mit den Augen des anderen. Es ist eine Spiegel-Theorie der moralischen Sozialisation (III.i.3: 110 f.; dt. 167 f.), die davon ausgeht, daß die Menschen auf die Zustimmung ihrer Mitmenschen Wert legen und ihre Gefühle und Handlungsweisen aufeinander abstimmen, um diese wechselseitige Zustimmung zu erreichen (I.i.2). Somit scheint aber die Sympathie, als „principle of approbation“, nur das Funktionieren einer konventionellen Moral erklären zu können, die als gut bewertet, was in einer Gruppe als gut gilt oder den gemeinsamen Interessen der Gruppe dient. Bevor wir Smiths Lösung dieses Problems kennenlernen, ist es interessant, zum Vergleich Humes Antwort zu hören. Hume konstatiert die Tatsache, daß moralische Werturteile – im Gegensatz zu reinen Geschmacksurteilen – mit dem Anspruch der Objektivität verbunden sind. Aber er tut sich schwer, diese Tatsache mit seiner Auffassung von Sympathie in Übereinstimmung zu bringen. Ist doch für Hume, mehr noch als für Smith, Sympathie ein subjektives Prinzip: mein Mitgefühl ist stärker oder schwächer, je nach dem wie nahe mir die beobachteten Personen stehen. Humes Antwort besteht im Hinweis auf die Kommunikation in modernen Gesellschaften: hier begegnen wir ständig neuen, auch fremden Menschen, müssen wir ständig neue Standpunkte einnehmen, um andere zu verstehen und ihnen verständlich zu sein. „Somit wirkt der Austausch der Gefühle in Gesellschaft und Gespräch dahin, daß wir einen allgemeinen, unveränderlichen Maßstab schaffen, vermöge dessen wir Charaktere und Sitten billigen und mißbilligen können. Und mag auch das Herz sich nicht ganz mit diesen Allgemeinbegriffen befreunden … so üben [sie] … immerhin einen erheblichen Einfluß aus, und da sie wenigstens für den mündlichen Verkehr ausreichen, so genügen sie allen unseren Zwecken, in der Gesellschaft, auf der Kanzel, im Theater und in der Schule“. 8 Ganz anders die Antwort von Adam Smith. Sein Weg führt nur zunächst nach außen, in die Sozialisation, dann nach innen, in die Reflexion. Um die Objektivität des moralischen Selbstbewußtseins zu erklären, führt er die Figur des „impartial spectator“ ein: Wenn wir unseren 8 Hume, EPM 5.2, S. 44 (Enq., S. 229); dt. (1962) S. 72 f.
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Charakter und unsere eigenen Handlungen beurteilen, kommt es uns darauf an, ob ein „unparteiischer und wohl-informierter Zuschauer“ (VII.ii.1.49: 294; dt. 490) mit uns sympathisieren kann. Wenn ich mich in dessen Perspektive versetze, wird z. B. offenkundig, daß das falsche Lob der Unwissenden oder Schmeichler nichts wert ist;9 daß die falschen Anschuldigungen, die mich in den Augen meiner Gesellschaft als Verbrecher erscheinen lassen, obgleich schmerzlich, mir innerlich nichts anhaben können; 10 daß ich, wenn ich zu entscheiden hätte zwischen dem Verlust meines kleinen Fingers und dem Tod tausender von Menschen, die in China bei einem Erdbeben umkämen, selbstverständlich wüßte, was ich zu tun hätte – nämlich meinen Finger opfern. 11 Doch wer ist dieser „impartial spectator“ und wo findet man ihn? Nachdem es sich um eine empirische Theorie der Moral handelt, genügt es ja nicht, eine hypothetische Figur einzuführen, die objektive moralische Werturteile erklären könnte. Gefragt ist nach Motiven für tatsächliche moralische Werturteile, die die Unterscheidung von Sein und Schein, von Vernunft und Interesse, von Pflicht und Trieb voraussetzen. Warum sollte ich mich in die Perspektive einer solchen objektiven Instanz der Beurteilung versetzen? Smith gibt drei Antworten, genauer: er identifiziert den „impartial spectator“ an drei Orten, die auch als drei Gerichte und als Instanzenweg der Gerichtsbarkeit bezeichnet werden. Erstens die Mitmenschen (Smith sagt öfter: „the bystander“), auf deren Zustimmung wir hoffen; zweitens der innere Mensch, der „man within the breast“, das Gewissen; drittens Gott, „der alles sehende Richter der Welt, dessen Auge nicht getäuscht und dessen Urteile nicht verkehrt werden können“ (III.2.31–33: 128 ff.; dt. 193 ff.). Diese drei Instanzen verkörpern Grade der Objektivität: Die Mitmenschen berücksichtigen wir, weil wir von ihnen geschätzt und gelobt werden wollen; das Gewissen, weil es uns sagt, ob wir der Wertschätzung und des Lobes würdig sind. Aber das Gewissen, so Smith, läßt sich unter dem Druck der Umstände täuschen, wird schwankend. In dieser Hinsicht ist es ein Halbgott, von Gott als Richter in uns eingesetzt, aber mit menschlichen Schwächen behaftet. 12 „Der einzig wirksame Trost eines gedemütigten und gekränkten Menschen liegt in dem Appell an ein noch höheres Gericht“, eben das Gericht Gottes (III.2.33: 131; dt. 195). 9 10 11 12
III.2.4–10: 114 ff.; dt. 173 ff. III.2.11–12: 119 ff.; dt. 180 ff. III.3.4: 136 f.; dt. 201 ff. III.2.32: 130 f.; dt. 194 f.
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Was Smith im Anschluß an diese Stelle vorträgt, ist eine Art moralphilosophisches „argument from design“, ein teleologischer Gottesbeweis, der zwar zu keiner Gewißheit, aber doch zu einer vernünftigen Hoffnung berechtigt: Ebenso wie das Universum zur Erklärung seiner Ordnung letztlich auf den Schöpfer verweist, so der moralische Kosmos auf den obersten Richter. Nur ein festes Vertrauen auf das niemals irrende, wahrhaft richtige Urteil dieses hohen Tribunals […] kann ihn [den unschuldig Verurteilten, Smith denkt an den Fall Calas] aufrechterhalten angesichts der Schwächlichkeit und Verzagtheit seiner Seele […]. Daß es eine künftige Welt gibt, in der jedermann volle Gerechtigkeit zuteil werden wird, in der jeder mit allen gleichgestellt sein wird, die ihm nach ihren sittlichen und geistigen Eigenschaften wahrhaft ebenbürtig sind […], das ist eine Lehre, so verehrungswürdig in jeder Hinsicht, so trostreich für die Schwäche, so schmeichelhaft für die Größe der menschlichen Natur, daß der tugendhafte Mensch, der das Unglück hat an ihr zu zweifeln, doch unmöglich umhin kann, den […] Wunsch zu hegen, an sie zu glauben. (III.2.33: 131 f.; dt. 196 f.).
Und noch einmal später: Wenn wir so daran verzweifeln, eine Macht auf Erden zu finden, die dem Triumph der Ungerechtigkeit Einhalt zu bieten vermöchte, dann wenden wir uns naturgemäß an den Himmel und hoffen, daß der große Urheber unserer Natur dereinst ausführen werde, was all die Prinzipien, die er uns zur Leitung unseres Verhaltens gegeben hat, uns hier schon zu versuchen angeregt haben. Wir hoffen, daß er den Plan vollenden werde, den er selbst uns anzufangen gelehrt hat […]. Und so werden wir zum Glauben an ein künftiges Dasein nicht nur durch die Schwächen, Hoffnungen und Ängste der menschlichen Natur geführt, sondern durch die edelsten und besten Prinzipien, die zu ihr gehören – durch die Liebe zur Tugend und durch den Abscheu vor Laster und Ungerechtigkeit. (III.5.10: 169; dt. 256).
Bedenkt man die theologische Dimension von Smiths Moralphilosophie, so wirkt die Kritik an Hume vielschichtiger, als sie zunächst scheint. Smiths gegen Hume gerichtete Argumentation, daß Nutzenerwägungen weder das ursprüngliche Motiv der Entstehung von Tugenden und Normen sein können, noch der wichtigste Gegenstand unserer moralischen Zustimmung sind, sondern allenfalls verstärkend hinzukommen, 13 ist offensichtlich. Dahinter steht jedoch eine tiefergehende Kritik an der Idee, moralische Grundnormen könnten etwas sein, was Menschen erfinden, statt es vorzufinden. In Theorie der moralischen Gefühle (II.ii.3) z. B. diskutiert Smith die Frage, inwiefern der Sinn für 13 IV.2.3–12: 188 ff.; dt. 322 ff.
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Gerechtigkeit („sense of justice“) eine nützliche Einrichtung der Natur sei. Nützlich sei dieser Sinn in der Tat, sogar ganz unverzichtbar für das Bestehen und Funktionieren einer Gesellschaft. Absurd aber sei die Vorstellung, er verdanke der Erfahrung oder Erkenntnis dieses Nutzens seine Entstehung. Eine solche Annahme beruhe auf einer groben Verwechslung von Wirk- und Endursachen. Obwohl wir bei der Erklärung von Organismen oder Uhrwerken genau wissen, daß das regelmäßige Zusammenwirken nicht auf die Absicht der Glieder und Rädchen zurückgeht, sondern auf den Willen des Schöpfers oder Uhrmachers, vergessen wir dies leicht, sobald es um die „Leistungen der Seele“ geht. So oft wir durch natürliche Triebe dazu bestimmt werden, jene Zwecke zu fördern, die eine verfeinerte und aufgeklärte Vernunft uns anempfehlen würde, dann sind wir sehr geneigt, jener Vernunft als der wirkenden Ursache die Gefühle und Handlungen zuzurechnen, durch die wir jene Zwecke befördern, und uns einzubilden, dasjenige sei die Weisheit von Menschen, was in Wirklichkeit die Weisheit Gottes ist […]. Da die Gesellschaft nicht bestehen kann, wenn die Gesetze der Gerechtigkeit […] nicht beobachtet werden, […] so hat man gemeint, es sei die Rücksicht auf diese Unentbehrlichkeit der Gerechtigkeit der Grund gewesen, weshalb wir es billigen, wenn die Beobachtung der Gesetze der Gerechtigkeit […] erzwungen werde. (II.ii.3.5–6: 87; dt. 131).
Letztlich ist es der teleologische Naturbegriff, der Smith von Hume unterscheidet. Bei der Beförderung ihrer wichtigsten Zwecke – wie Selbsterhaltung des Einzelnen, Funktionieren der Gesellschaftsmaschine, Überleben der Gattung – läßt es die Natur, wie Smith immer wieder betont, nicht darauf ankommen, ob die Menschen die zweckmäßigen oder zielführenden Mittel erkennen. Sie hat uns so programmiert, daß wir die Mittel als solche anstreben und anwenden, auch wenn wir gar nicht verstehen, wie aus ihnen die wohltätigen Zwecke hervorgehen, „welche der große Lenker der Natur (‚the great Director of nature‘) durch sie hervorbringen wollte“ (II.i.5.10: 78; dt. 114). So ist es z. B. die Sympathie mit dem Vergeltungsbedürfnis dessen, dem Unrecht geschieht, die uns Gerechtigkeit schätzen läßt, nicht die Erkenntnis des sozialen Nutzens der Gerechtigkeit (der oft gar nicht unmittelbar einleuchtet). Die Natur hat auch den meisten Menschen eine Faszination für das Funktionieren komplexer Systeme eingepflanzt, was– oft ungewollt – zum Einsatz für das Gemeinwohl führt. 14 Sie täuscht die Menschen oft über ihre wahren Zwecke. Z. B. denken viele, daß Reichtum 14 IV.1.11: 185 ff.; dt. 317 ff.
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glücklich macht. Erst nach vielen Anstrengungen merken sie, daß es nicht stimmt. Bis dahin haben sie schon bewirkt, was die Natur wollte: den Wohlstand zu steigern und auf breite Bevölkerungsschichten zu verteilen. 15 Im Kontext dieser Hume-kritischen moralischen Teleologie taucht das Bild der „unsichtbaren Hand“ auf (IV.1.10: 184; dt. 316), welche die von Menschen nicht intendierten Wirkungen hervorbringt. Aus heutiger Sicht erscheint Hume hier als der modernere Denker. Die Entstehung und Geltung funktional zweckmäßiger Regeln erklärt er nicht als Verwirklichung einer theologisch verstandenen Naturordnung, sondern als sozialen Lernprozeß. Seine „principles of justice“ sind in der Tat „Konventionen“, also menschliche Vereinbarungen, aber weder im Sinne eines Vertrags, noch im Sinne eines gemeinsamen Plans, sondern einer – aus der Erfahrung der Not und des Nutzens hervorgehenden – sozialen Praxis, die sich verfestigt, indem sie sich bewährt (vgl. das Ruderbeispiel in Humes Traktat III.ii.2 und in Untersuchung 2, Anhang 3). Smith denkt hier traditioneller und hält daran fest, „daß jene wichtigen Regeln der Sittlichkeit Gebote und Gesetze der Gottheit sind, die schließlich die Gehorsamen belohnen und diejenigen bestrafen wird, die ihre Pflicht verletzen“ (III.5.3: 163; dt. 247). Diese Einsicht habe sich den Menschen immer schon natürlicherweise aufgedrängt und bestätige sich durch philosophische Reflexion (a. a. O. und II.5.4). Die Theorie der moralischen Gefühle ist ein stoisch-deistischer Traktat. Auf Schritt und Tritt begegnet uns der Autor und Lenker der Natur, der die Mechanik der moralischen Gefühle so eingerichtet hat, daß systemkonformes Handeln in der Regel das größtmögliche Glück des Einzelnen und die Erhaltung der menschlichen Gattung befördert. 16 Vielen heutigen Interpreten scheint das so wenig ins Bild ihres „modernen“ Adam Smith zu passen, daß sie es am liebsten übersehen oder uminterpretieren. 17 Dagegen scheint Hume selbst den Unterschied zwischen seiner eigenen und Smiths Position klar gesehen zu ha15 IV.1.10: 183 ff.; dt. 315 f. 16 Z. B. III.5.7: 166; dt. 250 f. 17 Dafür zwei prominente Beispiele: 1. Um zu zeigen, daß „the impartial spectator is still a man, not a god, and indeed a perfectly normal man“, vergißt D. D. Raphael (1975, S. 95) den entscheidenden Absatz III.2.33 zu erwähnen, in dem Gott als oberstes Tribunal und höchste Stufe der Objektivität eingeführt wird. 2. Knud Haakonssen (1982, S. 211) schreibt, Smith habe Humes Kritik teleologischer Erklärungen übernommen; die angegebene Stelle (II.ii.3.5) zeigt genau das Gegenteil und ist gegen Hume gerichtet.
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ben. Das kommt zwischen den Zeilen des Briefes zum Ausdruck, den Hume am 12. April 1759, kurz nach Erscheinen der Theorie der moralischen Gefühle, aus London an Adam Smith schreibt. Smith wartet in diesem Moment gespannt auf die ersten Reaktionen des Publikums auf sein Erstlingswerk. Hume schreibt, daß es erste Reaktionen gäbe, unterbricht aber seinen Bericht mehrmals an der entscheidenden Stelle, um langatmig von anderen Dingen zu erzählen. Schließlich bittet er Smith, sich innerlich zu wappnen und zu bedenken, daß nur oberflächliche Bücher bei der Menge Erfolg haben. Dann endlich die Nachricht, daß das Buch großen Erfolg hat, von einflußreichen Leuten gelobt wird, die Ausgabe bereits zu zwei Dritteln verkauft ist. „In that view (d. h. als Verkaufsschlager) I believe it may prove a very good book.“ (CAS, 35). Der Brief wird häufig als Beispiel für Humes Humor und seine Fähigkeit zur Freundschaft zitiert. Bedenkt man aber, daß Humes erstes Buch keinerlei Erfolg hatte, daß er seither stets im Visier geistlicher Kritik stand, daß Smith ihn in der Theorie der moralischen Gefühle einer kräftigen Kritik unterzieht, so erscheint der Brief in einem etwas anderen Licht. Er ist noch um eine Dimension witziger, als er zunächst scheint, denn er enthält das Körnchen bitterer Wahrheit, das den starken Humor würzt. Zu den Dingen, die Hume beiläufig erzählt, gehört das Erscheinen des Candide von Voltaire, der Satire auf den teleologischen Optimismus. Später berichtet er Smith, wer sich über sein Buch lobend geäußert hat: Drei Bischöfe– „you may conclude what opinion true philosophers will entertain of it, when these retainers of superstition praise it so highly“. Die Frommen und Großen, Bischöfe und Hochadel, scheinen besonderen Gefallen an dem Buch zu finden. Zuletzt schreibt Hume: „Zweifellos bist Du ein so guter Christ, um Gutes auf Schlechtes zu erwidern und meiner Eitelkeit dadurch entgegenzukommen, daß Du mir erzählst, wie all die Gottesfürchtigen in Schottland mich beschimpfen für meine Darstellung von John Knox und der Reformation“ (so Hume in seiner Geschichte Englands, CAS, S. 36). In Humes Augen hat Smith ein frommes und gefälliges Buch geschrieben, im Gegensatz zu seiner eigenen, vom Publikum verkannten Philosophie.
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3. Dialoge über natürliche Religion Humes Dialoge über natürliche Religion, zwischen dem Skeptiker Philo, dem Deisten Cleanthes und dem Christen Demea, haben den Interpreten viele Rätsel gestellt. Am rätselhaftesten ist der 12. und letzte Dialog, in dem Philo, nachdem er – unter Vorwegnahme vieler Einsichten der modernen Philosophie und Wissenschaften – die Argumente für die Erkennbarkeit der Attribute Gottes, damit aber auch für die Existenz Gottes, insbesondere den teleologischen Gottesbeweis, elegant zerfetzt hat; nach all dem also einen Rückzieher macht und zugibt, daß er nicht umhin könne, eine Ordnung in der Natur und damit eine höchste Intelligenz als Schöpfer anzuerkennen. Für manche Interpreten 18 ist damit die Spitze der Ironie erreicht, die in der abschließenden Pointe gipfelt, daß Pamphilius, ein ungebildeter junger Zuhörer, den zuvor vielfach widerlegten Cleanthes zum Sieger des Streitgesprächs erklärt. Der Gesamtduktus des Gesprächs legt freilich den umgekehrten Gedanken nahe, daß nämlich mit dem Ende des 11. Dialogs die Ironie ein Ende hat und nun zwischen zwei engen Freunden ernsthaft über das gesprochen wird, was sie entzweit: die Frage der praktischen Bedeutung der Religion für Moral und Politik. In den Dialogen 1–11 wird Philo ja in der zweideutigen Rolle eines Skeptikers gezeigt, der es genießt, auf einer Seite mit dem frommen Demea gegen Cleanthes zu stehen und den Mystiker zu spielen. Als Demea schließlich den Spaß durchschaut und verärgert weggeht, schlägt Philo einen ganz anderen Ton an gegenüber Cleanthes, dem Freund, „mit dem ich in uneingeschränktem Vertrauen lebe“ (Hume, DNR dt., S. 122). Seine eigene Skepsis läßt Philo in dem Licht erscheinen, in dem Hume sie – zumindest in allen Werken nach dem frühen Traktat – immer erscheinen läßt: als Methode, die unberechtigte Selbstsicherheit der Dogmatiker und Rationalisten zu erschüttern. Andererseits verschließt er sich nicht den Eindrücken der Natur, wo sie mit der überwältigenden Evidenz alltäglicher Erfahrung auftreten. Sie sind das Fundament des praktischen Lebens und der Wissenschaft vom Menschen. Wie sich die Idee einer bewußtseinsunabhängigen Außenwelt aufdrängt, so auch die Idee der Ordnung und Zweckmäßigkeit der Natur. In der Gestalt des Philo stellt Hume sich selbst dar: Er ist lebhaft, gesprächig, scharfsinnig, ironisch ohne verletzend zu sein – und vertritt 18 Z. B. Mossner 1977.
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Humes Philosophie. Cleanthes ist vernünftig, gebildet, ruhig und zurückhaltend. Diese Gestalt und was sie sagt, paßt gut zu Adam Smith, ohne zunächst spezifische Züge anzunehmen. Im letzten Dialog verdichtet sich das Bild: Cleanthes wird als engster Freund angesprochen. Von welchem seiner deistischen Philosophenfreunde, außer Smith, würde Hume zuletzt gesagt haben, daß er „in uneingeschränktem Vertrauen“ mit ihm lebe? Als Zeichen dieses Vertrauens läßt Philo, also Hume, nun erkennen, was ihn zutiefst gegen die Religion einnimmt: ihre Schädlichkeit für Moral und Politik. Wenn er von einem Menschen höre, so Philo, er sei betont religiös, so vermute er, es handle sich um einen Betrüger (Hume, DNR dt., S. 133). Bei Smith dagegen heißt es in der Theorie der moralischen Gefühle: „Religion enforces the natural sense of duty“, deshalb schenkten wir religiösen Menschen doppeltes Vertrauen, wenigstens „whenever the natural principles of religion are not corrupted“ (III.5.13: 170; dt. 258). Ganz ähnlich spricht Cleanthes im 12. Dialog: „Jede Form von Religion, wie pervertiert sie auch sei, ist immer noch besser als gar keine. Die Lehre von einem zukünftigen Dasein (nach dem Tod) stellt eine so starke und notwendige Garantie der Moral dar, daß wir sie niemals aufgeben oder vernachlässigen sollten.“ (Hume, DNR dt., S. 130 f.). Nun kommt Philo erst recht in Fahrt, spricht von „Zwietracht, Bürgerkriegen, Verfolgungen, Regierungsumstürzen, Unterdrückung und Sklaverei“ als Folgen des „gewöhnlichen Aberglaubens“ (a.a.O, S. 131). Cleanthes versucht einzuwenden, dies seien nur die Folgen pervertierter Religion. Philo dagegen: „Dazu wird alle Religion … mit Ausnahme der philosophischen Vernunftreligion“ (a.a.O, S. 131), d. h. der Minimalthese von der Existenz einer irgendwie gearteten höchsten Intelligenz. Von der Erwartung einer Belohnung oder Bestrafung im Jenseits gehe offenbar keine moralisierende Wirkung aus (a.a.O, S. 132). Immer weiter und leidenschaftlicher spricht Philo seine religionsfeindlichen Überzeugungen aus. Cleanthes erhält nur noch einmal die Gelegenheit, vor Übertreibung zu warnen. Ansonsten behält Philo das letzte Wort. Ob Hume im 12. Dialog an Smith dachte, ob Smith sich in Cleanthes wiedererkannte, wird sich nicht mehr mit Sicherheit klären lassen. Daß Smith aber vom Inhalt der Dialoge, von der Widerlegung des teleologischen Gottesbeweises, vom Bild einer überwiegend schlechten oder verpfuschten Welt (11. Dialog), vor allem aber von der These der praktischen Schädlichkeit der Religion für Moral und Politik abgestoßen sein mußte, sollte jedem Leser der Theorie der moralischen Gefühle eigentlich klar sein. 19 Und auch wenn man Smiths Diskussion der Frage
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der praktischen Nützlichkeit von Religion in seinem ökonomischen Hauptwerk hinzunimmt, 20 bleibt der Gegensatz zu Hume deutlich. Denn bei aller Kritik, die dieses hochinteressante religionssoziologische Kapitel enthält (einschließlich langer Hume-Zitate), singt Smith hier das uneingeschränkte Lob derer, die Hume das Leben besonders schwergemacht haben – der presbyterianischen Geistlichkeit (u. a. in Schottland): „There is scarce perhaps to be found anywhere in Europe a more learned, decent, independent, and respectable set of men […].“ 1920 (WN, V.i.g.37: 810; dt. 689) Abschließend kann man sagen, daß der antimetaphysische Affekt, der Humes Philosophie von Anfang bis zum Ende prägt, Smiths Denken fremd ist. Was Hume betrifft, so könnte man diesen Affekt, seine Ursachen und Folgen, stark vereinfacht so zusammenfassen: Erschreckt von den Höllenpredigten seiner Kindheit und angewidert von Ungerechtigkeiten und Kriegen, die im Namen der Religion begangen und geführt werden, beschließt Hume – nach einer tiefen Krise – sich in einer Welt einzurichten, die von nichts Transzendentem beunruhigt wird. Erfahrung, Gewohnheit, Regelmäßigkeit, Unparteilichkeit, Beschränkung der Phantasie, sind die Prinzipien seiner Philosophie. Agnostizismus im Religiösen, Phänomenalismus in der Erkenntnistheorie, Ablehnung absoluter Pflichten und heroischer Tugenden in der Ethik, Kritik kontrafaktischer Normen in der Politik sind Ergebnisse seiner Philosophie der Selbstbeschränkung. Die Autobiographie, wenige Wochen vor seinem Tod geschrieben, macht klar, was ihm persönlich am meisten bedeutete: literarischer Ruhm, aber mehr noch seine Freunde, sein gemäßigter Charakter, seine Ruhe. Zuletzt war sein einziger Ehrgeiz die Kochkunst. 19 Das gilt auch, wenn man die verschiedenen Ausgaben der Theorie der moralischen Gefühle vergleicht. Daß Smith in der 6. Ausgabe von 1790 eine Passage über das Sühneopfer Christi (am Ende von II.ii.3) streichen ließ, erlaubt keineswegs die Schlußfolgerung: „er wurde in seiner Religionskritik noch deutlicher“ (so Streminger 1989, S. 134). Denn eine allgemeine Religionskritik gibt es nirgendwo und in keiner Ausgabe der Theorie der moralischen Gefühle. Kritik wird nur an bestimmten, in Smiths Augen korrupten Formen der Religiosität geübt, etwa an der einseitigen Wertschätzung mönchischer Tugenden durch die Katholiken (III.2.35). Der für die natürliche Religion zentrale Gedanke Gottes als des „all-sehenden Richters der Welt“ wird in der letzten Ausgabe sogar noch verstärkt (III.2.12 und III.2.33). Warum die Passage über das Sühneopfer, am Ende eines Kapitels, in dem Hume kritisiert wird, Smith zuletzt als „unnecessary and misplaced“ erschien, wird in Appendix II von den Herausgebern der Theorie der moralischen Gefühle plausibel erklärt (S. 398–401). 20 WN, V.i.g.
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Smith dagegen dachte, wie die umfangreichen Ergänzungen zur 6. Ausgabe der Theorie der moralischen Gefühle zeigen, bis zuletzt über die Grundfragen der Moralphilosophie nach. Immer wieder stieß er auf das Problem, daß unsere moralischen Gefühle, so wie sie de facto beschaffen sind, einer religiösen Hypothese zu ihrer Erklärung bedürfen. Z. B. das universelle Wohlwollen und seine Kehrseite, das Mitgefühl mit dem Leid anderer Lebewesen, wo immer sie sich befinden. Ohne die Annahme, „daß alle Einwohner des Universums, die kleinsten wie die größten, unter der unmittelbaren Sorge und dem Schutz dieses großen, wohlwollenden und allwissenden Wesens stehen, das alle Bewegungen der Natur leitet“, könnten die Menschen, als mitfühlende Wesen, niemals glücklich sein. Für sie muß im Gegenteil „allein der Verdacht einer vaterlosen Welt die trübsinnigste aller Erwägungen sein“, der Gedanke etwa, „daß alle die unbekannten Gegenden des unendlichen und unvorstellbaren Weltraumes möglicherweise mit nichts anderem erfüllt seien, als mit endlosem Elend und Jammer.“ (VI.ii.3.2: 235; dt. 398) Hier ist nicht der Ort, um Smiths Verhältnis zum Deismus eingehend zu untersuchen. Warnen möchte ich aber davor, aus anachronistischen Gründen die Bedeutung der natürlichen Religion im Werk von Adam Smith zu unterschätzen. Weil sich der Versuch, Religion auf ihren vernünftigen Kern zu reduzieren, historisch so ausgewirkt hat, Religion scheinbar entbehrlich zu machen, verstehen wir den Deismus leicht als Zwischenschritt auf dem Wege der Immanentisierung der Religion und vergessen, wie ernst es den Deisten mit der natürlichen Religion war. Ihnen war sie Ausdruck eines wissenschaftlichen Weltbildes, Grundlage einer wahrhaft humanistischen Moral, Programm für eine tolerante Politik, die endlich zwischen den Religionen vermitteln und den Streit der Religionen beenden könnte. 21
21 Vgl. dazu Reventlow 2004.
Zur Natürlichkeit der Moralphilosophie Adam Smiths Georg Johannes Andree / Graz Ganz in der Tradition der allermeisten Wissenschaftler seiner Zeit und vor allem seiner Herkunft verwendet Smith in seinen Schriften einen positiven Naturbegriff. Dies betrifft alle Aspekte der Natur und des Natürlichen – die äußere unbelebte Natur, die belebte Natur inklusive der Natur des Menschen genauso wie die Natur als das Ganze, die Welt oder das Universum. In Smiths Moralphilosophie spielen Überlegungen zur Natur des Menschen die zentrale Rolle. Bevor auf diese näher eingegangen wird, ist zunächst noch darauf zu verweisen, daß es für Wissenschaftler zu Beginn des 18. Jahrhunderts keineswegs eine Selbstverständlichkeit war, der Natur positiv gegenüber zu stehen. Zu stark war noch der Einfluß der theologischen Traditionen auf alle Bereiche der Wissenschaften. Im Wohlstand der Nationen beklagt Smith, daß allzu lange „Moral- ebenso wie Naturphilosophie ausschließlich als Hilfswissenschaft der Theologie gelehrt wurden“, was für die Moralphilosophie zur Folge hatte, daß sie zur „Kasuistik und einer asketischen Morallehre“ verkümmerte, „wodurch der bei weitem wichtigste Zweig der Philosophie zum weitaus schlechtesten“ wurde (WN V.i-ii.3.30: 771; dt. 654 f.). Hinsichtlich des Naturbegriffs berief sich vor allem die christliche Theologie auf die einschlägigen Passagen aus der Bibel. Nach dem Sündenfall (davor lebten Menschen, Tiere, Pflanzen und Gott ja friedlich zusammen), sahen sich die Menschen einer Natur ausgesetzt, mit der es nun auszukommen galt. Wie so ein Auskommen zu bewerkstelligen sei, auch diesbezüglich finden sich in der Bibel praktische Anweisungen. Der Boden ist zu kultivieren, die Tiere zu domestizieren. Die den Menschen umgebende Natur ist nur zu dem Zweck da, vom Menschen beherrscht zu werden. Einen Wert hat die unbelebte und belebte Natur nur dann, wenn sie vom Menschen so geformt und gestaltet wird, daß sie seinem Leben dient, für ihn wertvoll ist. Zumindest bis zum Beginn der Neuzeit war ein solcherart religiös
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fundierter Anthropozentrismus in Europa das unumstritten vorherrschende weltanschauliche Konzept. Warum gerade im Schottland des 18. Jahrhunderts eine Emanzipation von dieser Ideologie mit so viel Erfolg stattfand, diese Frage mögen Wissenschaftshistoriker einer vollständigen Beantwortung zuführen. Die Vorzeichen für diese schottische Emanzipation standen alles andere als gut. Der durch John Knox gerade in Schottland tief verwurzelte Calvinismus war zu Lebzeiten Francis Hutchesons, David Humes und Adam Smiths keinesfalls restlos überwunden. Ein Grund für die Entwicklung eines positiven Naturbegriffs und damit zusammenhängend für die Loslösung von einer religiös fundierten anthropozentristischen Weltauffassung ist mit Sicherheit in dem Mitte des 17. Jahrhunderts einsetzenden rasanten Aufstieg der empirischen Naturwissenschaft zu sehen. Die Natur und ihre Erscheinungen erreichten nun den Status autonomer– d. h. von ihrem Nutzen für den Menschen unabhängiger– Erkenntnisgegenstände. 1 Dem sehr gut ausgebildeten und umfassend gebildeten Adam Smith ist dies nicht verborgen geblieben, zumal einige seiner Freunde und viele seiner Landsleute zur Etablierung solcherart neuer Wissenschaftszweige beitrugen. Joseph Black, ein Mitbegründer der modernen Chemie, und James Hutton, der Begründer der modernen Geologie, waren beide gute Bekannte Smiths und seine literarischen Nachlaßverwalter. Alexander Monro und Smiths Hausarzt William Cullen waren wesentlich daran beteiligt, die Medizinische Fakultät Edinburghs zur besten Europas werden zu lassen. 2
1 Was beispielsweise die heute so bezeichnete Botanik betrifft, so tauchten ab dem 16. Jahrhundert erstmals strukturelle und intrinsische Merkmale als Einteilungskriterien für Pflanzen auf. Mit Carl von Linnés Klassifikation der Pflanzen durch deren Geschlechtsorgane und die Art der Befruchtung etablierte sich die Botanik endgültig als eigenständiger Wissenschaftszweig. Vgl. dazu: Streminger 1995, S. 18 f. Smith erwähnt in seinem „Essay Of the External Senses“ (EPS, 135–168) Linné (als Carolus Linnaeus) an drei Stellen (S. 162, 164, 166) anerkennend, was ebenso seine Kenntnis der Lehren Linnés bestätigt wie der Umstand, daß neben einer Einführung zur Pflanzenkunde eines gewissen John Lee sich in Smiths Bibliothek vier Werke Linnés finden. Vgl. dazu Ross 1998, S.332 f. bzw. zur Bibliothek Smiths Mizuta 1967. 2 Zur Dichte an herausragenden Wissenschaftlern schottischer Herkunft im Bekanntenkreis Smiths vgl. Anikin 1990, S. 89–104 sowie Streminger 1999, S. 11 und S. 33 ff.
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1. Moralphilosophie als Naturwissenschaft Besonders beeindruckt zeigte sich Smith von den Arbeiten Isaac Newtons. Die Philosophiae naturalis principia mathematica (1687) erachtete Smith als vorbildlich hinsichtlich ihres Inhalts, der in ihr angewandten Methode und der Art der Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnis. Bezüglich der Präsentation wissenschaftlicher Erkenntnis entwirft Smith in den Lectures on Rhetoric and Belles Lettres Richtlinien, nach denen eine wissenschaftliche Arbeit optimal zu konzipieren und zu strukturieren sei. Grundsätzlich unterscheidet Smith zwei Modelle der Gestaltung wissenschaftlicher Arbeiten. Das eine Modell verbindet Smith mit dem Namen Aristoteles. Diesem Modell zufolge werden zunächst die zu erklärenden Phänomene aufgezeigt, danach erfolgt die Darlegung einiger Prinzipien, die erklären sollen, wie ein fragliches Phänomen mit einem anderen in Beziehung steht. Der Namensgeber für das zweite Modell ist Isaac Newton. Am Anfang wissenschaftlicher Arbeiten, die diesem Modell folgen, steht die Darlegung eines Prinzips bzw. einiger weniger Grundkräfte, von dem bzw. von denen ausgehend die zur Diskussion stehenden Phänomene und deren Relationen untereinander erklärt werden. Smith erachtet das Newtonsche Modell als „das unzweifelhaft philosophischste und weit geistreichere Modell, weshalb es für jede Wissenschaft – sei sie nun Humanwissenschaft oder Naturphilosophie – gewinnbringender ist als das andere“, das aristotelische Modell. Konsequenterweise eröffnet Smith seine Theorie der moralischen Gefühle mit der Darlegung der allgemein menschlichen Grundkraft der Sympathie. 3 Mit ihr glaubt Smith das gefunden zu haben, was für Newton die Gravitation im Bereich der Physik darstellt – nämlich eine Art Grundkraft, die als monokausales Modell fungiert, das dort die Bewegung von Körpern und hier die Modalitäten des moralischen menschlichen Zusammenlebens erklärt. Smiths Definition der Moralphilosophie trägt dieser Einschätzung Rechnung: Die Grundsätze menschlichen Zusammenlebens wurden methodisch geordnet und durch wenige Fundamentalprinzipien miteinander verknüpft, genau so, wie die Phänomene der Natur geordnet und verbunden worden waren. Die Wissenschaft, die solche verknüpfende Prinzipien zu erforschen und zu erklären vorgibt, wird als die eigentliche Moralphilosophie angesehen. (WN V.i.f/3.25: 769; dt. 653) 3 Zur Gliederung der Theorie der moralischen Gefühle vgl. Eckstein 1925, S. LXVILXXI; Ross 1998, S. 239–266.
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Auf den Umstand, daß Smith auch die in Newtons Principia zur Anwendung gekommene empirische Methode für die bestmögliche hielt, braucht wohl nicht näher eingegangen zu werden. Die empirische experimentelle Methode Newtonscher Prägung stellte für zahlreiche Wissenschaftler des 18. Jahrhunderts dasjenige Werkzeug bereit, das sich am besten dazu eignete, Theoriegebäude, deren Fundament Hypothesen spekulativen Charakters bildeten, zum Einsturz zu bringen. Mit diesem Werkzeug gelang es außerdem, eine Gegenposition zu jenen Theorien aufzubauen, die eine Wirklichkeitserkenntnis aus reiner Vernunft für möglich hielten. Für Smith hat die Übertragung der Newtonschen Art der Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnis sowie der empirischen Methode auf das Gebiet der Moral zur Folge, daß seine Theorie der moralischen Gefühle recht eigentlich als Beitrag zur Naturwissenschaft anzusehen ist, deren Erkenntnisobjekt die Natur des Menschen ist. Smiths von Newton geprägtes Wissenschaftsverständnis und seine Auffassung, daß der Ursprung der Moral nicht in etwas Übernatürlichem, sondern in der Natur des Menschen zu finden ist, lassen seine Moralphilosophie als ein Kontrastprogramm zu allen theologisch-metaphysisch fundierten Moraltheorien erscheinen, was auch aus der folgenden Zusammenfassung des bisher Gesagten deutlich wird: Smiths Moraltheorie ist diesseitsorientiert. Dies ergibt sich aufgrund seiner Überzeugung, wonach Moralphilosophie als Wissenschaft – so wie jede andere Human- oder Naturwissenschaft – jedes zur Diskussion stehende Ereignis und Phänomen unter Anwendung der experimentellen empirischen Methode auf (möglichst wenige) Ursachen zurückzuführen hat. 4 Dieses Wissenschaftsverständnis bietet metaphysischen bzw. transzendenten Erklärungsmodellen keinen Platz. Mit dieser Metaphysikkritik und Diesseitsorientierung sind gleichzeitig zwei Hauptmerkmale der schottischen Aufklärung genannt. Bei4 Die Einfachheit stellt für Smith das wichtigste Kriterium dar, an dem die Qualität einer wissenschaftlichen Arbeit zu messen ist. Die Hauptfunktion der Wissenschaft sieht Smith darin, die Komplexität der Natur durch wenige Ursachenerklärungen auf einige wenige Grundkräfte bzw. Prinzipien zurückzuführen. Ist dieses Kriterium gegeben, so stehen nach Ansicht Smiths die Chancen gut, das wichtigste Ziel jeder Wissenschaft zu erreichen. Es besteht darin, unseren Gefühlshaushalt zu beruhigen – „to sooth the imagination“ (EPS, 46). Vgl. dazu den Essay „The History of Astronomy“ (EPS, 44–77). Dort finden sich kompakt dargestellt Smiths Auffassungen über Ziele, Prinzipien und Qualitätskriterien der Wissenschaft.
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des kulminierte häufig in einer teilweise überaus heftigen religionskritischen Haltung, die – wie schon weiter oben angeführt – von Smith geteilt wurde, 5 aber nicht so scharf und scharfsinnig ausfiel, wie dies beispielsweise bei Hume der Fall war. Im Gegensatz zum Agnostiker Hume war Smith wie so viele seiner Bekannten aus den Clubs Edinburghs und Glasgows Deist. Die Anziehungskraft der deistischen Gesinnung wurde ebenfalls durch Newton und – was die spezifisch philosophische Ebene betrifft – durch John Locke zur Entfaltung gebracht. Auf Newton konnten sich Deisten berufen, wenn sie feststellten, daß sich Gottes Wille nicht in Wundern, sondern in der natürlichen Ordnung des Universums offenbart. Mit Locke hatten sie einen prominenten Fürsprecher gefunden, der unmißverständlich zum Ausdruck brachte, „daß der Wille Gottes, wenn er in Worte gekleidet ist, dem Zweifel und der Ungewißheit unterworfen ist“. Nicht das vieldeutige Wort, welches allzu häufig Auslöser für Streit, Revolution und Krieg war und ist, sondern das Werk macht Gottes Größe aus, welches er „in so leserlichen Schriftzeichen vor der ganzen Welt ausgebreitet“ hat. Locke nennt diese (theistische) Haltung „natürliche Religion“ („natural religion“). „Geoffenbarte Wahrheiten, die uns durch Bücher und Sprachen vermittelt werden, unterliegen dagegen den den Wörtern anhaftenden üblichen und natürlichen Dunkelheiten und Schwierigkeiten“ (Locke, EHU III.ix.23, S. 490, dt. 118 f.). Auf der Landkarte der Varianten christlichen Glaubens kann der Deismus somit als Gegenpol zum Calvinismus bezeichnet werden, der durch John Knox’ Wirken in Schottland auch noch im 18. Jahrhundert eine große Anhängerschaft hatte. Die Deisten und mit ihnen Smith konnten weder mit der calvinistischen Auffassung von der völligen Verderbtheit und der Urschuld des Menschen, noch mit der Prädestinationslehre etwas anfangen. Sie waren diesseitsorientiert und stellten der calvinistischen Lehre die Suche nach natürlichen Ursachen entgegen. Sie reduzierten Gott auf den Weltschöpfer, der nur als solcher übernatürliches Geschick bewiesen hat. Auf die menschlichen Geschicke einzuwirken, vermag er nach deistischer Auffassung allerdings nicht. Außerdem lehnte der Deismus die Annahme der Offenbarung ab. Der Berufung auf geoffenbarte Wahrheiten setzten sie – ganz im 5 Ein weiterer Beleg für Smiths gemäßigte religionskritische Haltung findet sich im dritten Teil der Theorie der moralischen Gefühle. Dort heißt es: „Falsche Religionsvorstellungen sind fast die einzigen Ursachen, die eine wirklich bedeutende Umkehrung aller unserer natürlichen Gefühle […] herbeiführen können […]“ (III.6.12: 176; dt. 269).
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Sinne Newtons und Lockes – durch Erfahrung gewonnene Erkenntnis entgegen. Ein weiteres Charakteristikum der schottischen Aufklärung, nämlich die Ablehnung politischer Systeme feudalistischer oder absolutistischer Prägung, findet sich ebenfalls in Smiths Schriften.6 Dies gilt auch für das letzte hier zu nennende Merkmal der schottischen Aufklärung, das als kritisch-rationale Weltsicht bestimmt werden kann. Ein Spezifikum der schottischen Aufklärung ist darin zusehen, daß sie sich – vor allem in den Schriften Smiths und noch mehr in denjenigen Humes – eingehend mit der Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Gefühl, Rationalem und Emotionalem beschäftigt. Auf den Bereich der Moralphilosophie übertragen stellt sich diese Frage so: Ist es der Verstand oder das Gefühl, was uns das eine Verhalten als lasterhaft und das andere als tugendhaft bezeichnen läßt? Für Hutcheson, Hume und Smith bestand kein Zweifel daran, daß bezüglich dieser Frage das Gefühl das entscheidende Moment ist.
2. Moralphilosophie als Wissenschaft von der Natur des Menschen Wie Smith unmißverständlich im VII. Teil der Theorie der moralischen Gefühle feststellt, sind es im wesentlichen zwei Hauptfragen, die jede Moralwissenschaft zu beantworten hat. Die Frage nach dem Wesen des Sittlichen und die Frage nach den menschlichen Fähigkeiten, die als Grundlage für die Billigung des einen und die Mißbilligung des anderen Verhaltens anzusehen sind. 7 Smith wandte sich unverhältnismäßig ausführlicher der Beantwortung der zweitgenannten Frage zu. Der Untertitel ab der vierten Auflage (1774) der Theorie der moralischen Gefühle 8 mag als Beleg dafür dienen: Versuch einer Analyse der Prinzipien, mittels welcher die Menschen naturgemäß zunächst das Verhalten und den Charakter ihrer Nächsten und so6 Zu Smiths Feudalismuskritik und Ablehnung jedes politischen Absolutismus vgl. WN II.ii bzw. IV.vi sowie Smiths Glasgower Vortrag aus dem Jahre 1755, der sich auszugsweise in D. Stewarts Smith-Biographie wiedergegeben findet; vgl. Stewart 1795, S. 322). 7 Vgl. VII.i.2: 265; dt. 448. 8 Der zitierte Untertitel wurde ab der vierten Auflage 1774 von Smith dem Haupttitel hinzugefügt.
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dann auch ihr eigenes Verhalten und ihren eigenen Charakter beurteilen. (TMS, ed.’s introd.: 40; dt. LXXXV)
Die oben genannten Hauptfragen der Moralphilosophie bedürfen gleichsam als Fundament einer befriedigenden Beantwortung eine durch Erfahrung gewonnene Lehre von der menschlichen Natur. Denn, daß der Ursprung der Moral in der Natur des Menschen zu suchen und zu finden ist, darin waren sich alle Hauptvertreter der sogenannten schottischen Schule – der neben Smith dessen Lehrer Francis Hutcheson, dessen Freund David Hume und auch Thomas Reid und Adam Ferguson zuzurechnen sind – einig. Diese Auffassung markiert einen der Höhepunkte der Emanzipation der schottischen Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts von all jenen Moraltheorien, die Jahrhunderte lang monopolistisch das Sittliche als unter der Obhut eines göttlichen – d. h. übernatürlichen – Wesens stehend sahen. Smith suchte und fand das Sittliche in etwas Natürlichem, nämlich in der Natur des Menschen. Die mitunter an Heftigkeit nicht zu überbietenden Auseinandersetzungen darüber, ob die Befolgung von Geboten und Verhaltensregeln, deren Autor als Prototyp des Übernatürlichen anzusehen ist, für ein glückliches Leben im Jenseits ausreicht oder nicht, interessierten Smith nicht. Im Zentrum seines Interesses, und darin war sich Smith nicht nur mit Hutcheson und Hume, sondern vor allem mit Philosophen der stoischen und epikureischen Tradition einig, standen die Fragen nach dem diesseitigen Glück und danach, welche Rolle das Sittliche zu seiner Erreichung spielte. Was war nun Smiths Auffassung der Natur des Menschen? Seine Ausführungen in der Theorie der moralischen Gefühle lassen den Schluß zu, daß er eine Mittelposition zwischen den diesbezüglich so unterschiedlichen Positionen von Hobbes und Shaftesbury einnahm. Im Unterschied zu Smith und im Gegensatz zu Shaftesbury zeichnet Hobbes bekanntlich ein äußerst negatives, düsteres Bild vom Wesen des Menschen. In Hobbes Schriften tritt der Mensch in Gestalt eines machtbesessenen Egoisten auf, der vom Streben nach Lustmaximierung und Erhaltung des eigenen Selbst ohne Rücksicht auf andere geleitet wird. Insgesamt nennt Hobbes vier Aspekte, die das Wesen der menschlichen Natur bestimmen. 1. Das Streben nach Selbsterhaltung: Die Erhaltung des eigenen Selbst, ohne Rücksicht auf andere, ist Hobbes zufolge das Ziel alles menschlichen Strebens. Die Erreichung dieses Ziels erfolgt unter Aufwendung aller zur Verfügung stehenden Mittel. Der „Gegenstand der willentlichen Handlungen
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jedes Menschen ist ein Gut für ihn selbst“. 9 Mit diesem Streben nach Selbsterhaltung geht ein Streben nach Lustmaximierung einher, denn alles, was unser Streben nach Selbsterhaltung fördert und hilft, es zu verwirklichen, läßt in uns ein Lustgefühl entstehen. Wenn etwas unser Streben nach Selbsterhaltung hindert, erleben wir hingegen ein Unlustgefühl. 2. Machtakkumulation: Unser Streben nach Erhaltung des eigenen Selbst, so haben Hobbes Beobachtungen ergeben, wird am geeignetsten durch eine unaufhörliche Anhäufung von Macht verwirklicht. 3. Angst vor einem gewaltsamen Tod: Der Tod ist dem Streben nach Selbsterhaltung diametral entgegengesetzt. Die Angst vor ihm ist des Menschen ständiger Begleiter. Wir sind uns unserer (physischen) Verletzlichkeit genauso bewußt wie der Tatsache, daß unser Leben von einem anderen als Mittel zur Verwirklichung seines Strebens nach Selbsterhaltung aufs Spiel gesetzt werden kann. 4. Vernunftbegabtheit: Für Hobbes politische und moralische Theorie ist hinsichtlich der Vernunftbegabtheit des Menschen jener Aspekt wesentlich, der in der vernünftigen Einsicht besteht, daß die Verwirklichung unserer Langzeitinteressen, eine partielle Einschränkung unserer aktuellen egoistischen Neigungen erfordert. Diese vier Aspekte lassen sich Hobbes zufolge in allen Menschen finden, was ihn in seiner Annahme von der weitestgehenden Gleichheit der menschlichen Natur bestätigt. Doch nicht nur darin, sondern auch in der „Schwäche“ der Natur des Menschen zeigt sich diese Gleichheit. Im Wissen um diese Schwäche – wozu Hobbes unter anderem die Notwendigkeit zu schlafen zählt, da wir während des Schlafens in einer Situation sind, in der wir auch von physisch viel Schwächeren leicht verletzt oder getötet werden können – verstärkt sich des Menschen Streben nach Machtakkumulation. Gepaart ist dieses Streben mit dem Mißtrauen gegenüber den Mitmenschen. Die ersten beiden oben angeführten Aspekte – Streben nach Selbsterhaltung unter Einsatz aller zu Verfügung stehenden Mittel und Machtakkumulation – zusammen mit dem Mißtrauen gegenüber den Mitmenschen und unserem Wissen um unsere Schwächen und unsere 9 Hobbes Lev. I.14, dt. S. 101.
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Verletzlichkeit sind jene Faktoren, die in einem von Hobbes hypothetisch eingeführten Naturzustand schließlich zu einem Kampf aller gegen alle führen. Die beiden anderen genannten Aspekte – Angst vor gewaltsamer Tötung und vernünftige Einsicht – erachtet Hobbes als jene natürlichen Merkmale des Menschen, die dazu angetan sind, solch einen universellen Kampf egoistischer Individuen erst gar nicht entstehen zu lassen. Beide Aspekte führen schließlich zur Einsicht, daß es zur Sicherstellung der eigenen (Langzeit-)Interessen einer artifiziellen Ordnung bedarf, der alle Mitglieder einer Gemeinschaft alle Rechte übertragen und dies in einem Vertrag festhalten. Die Motivation zu solch einem gemeinschaftlichen Zusammenschluß sieht Hobbes in der Erwartung der Erfüllung der eigenen Langzeitinteressen. Unabhängig von seiner Größe ist solch ein gemeinschaftlicher Zusammenschluß – mag er nun eine Kegelrunde oder ein Staatswesen sein – immer bloß das Mittel zur Erreichung des obersten Ziels, zu dem hin alle Menschen streben und das bei Hobbes stets die Erhaltung des eigenen Selbst ist. Der Ursprung des Staates liegt in vernünftiger Einsicht und dem Streben nach Sicherstellung der eigenen Interessen, und Entsprechendes gilt für den Ursprung des Rechts und der Moral. Aus dem Blickwinkel der Hobbesschen Moral ist demgemäß alles Verhalten zu mißbilligen, das die Tendenz in sich trägt, zum Zustand des Kampfes aller gegen alle zurückzuführen. Jedes gegenteilige Verhalten ist hingegen billigenswert. Indem Hobbes den Menschen als wesentlich egoistisches Wesen betrachtet, das „alles in Hinblick auf seinen eigenen Vorteil tut“, 10 bestimmt er gleichzeitig das Motiv der menschlichen Handlungen. Alles Verhalten jedes Menschen geschieht aus Selbstsucht. Dem kann, und dies wurde auch von Smith getan, entgegengehalten werden, daß es empirisch nachweisbar viele altruistisch motivierte Handlungen gibt und gegeben hat. 11 Damit allein ist der psychologische Egoismus als empirische Theorie widerlegt. Von Vertretern dieser Theorie – und Hobbes bildet da keine Ausnahme – wird diese Widerlegung allerdings nicht anerkannt. Die von ihren Gegnern angeführten altruistischen Handlungen und Verhaltensweisen versuchen die „Egoisten“ als bloß scheinbar altruistisch zu entlarven. Hilft beispielsweise jemand einer in Not geratenen Person, so tut er dies nach Auffassung der Egoismustheorie nur deshalb, weil er sich durch diese Handlung einen eigenen Vorteil 10 Hobbes Lev. I.15, dt. S. 120. 11 Vgl. dazu VII.iii.1: 315–317; dt. 525–529.
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durch den zu erwartenden Dank der Person, der er geholfen hat, verspricht. Dieses Gegenargumentationsmuster ist aber wenig überzeugend und taugt nicht, die Einwände, die mit dem Verweis auf altruistisches menschliches Verhalten hantieren, zu entkräften. Mag es auch hie und da möglich sein, altruistisches Verhalten egoistisch zu deuten bzw. durch egoistische Motive zu erklären, so folgt daraus nicht, daß dieses Verhalten egoistisch motiviert war. Selbst wenn es zutreffen sollte, daß– um zu dem oben angeführten Beispiel zurückzukehren – die helfende Person durch den Dank der Person, der sie geholfen hat, einen gewissen Nutzen oder Vorteil davongetragen hat, ist der Deutungsversuch der Egoisten, der helfenden Person ein in Wahrheit – wenn auch womöglich unbewußtes – egoistisches Motiv zu unterstellen, zurückzuweisen. Und zwar nicht, weil es gänzlich unmöglich ist, daß Menschen aus selbstsüchtigen Interessen nur scheinbar altruistische Handlungen ausführen, sondern weil es keine unbewußten Absichten gibt und deshalb die Rede von unbewußten egoistischen Handlungsmotiven sinnlos ist. Auch dem gelegentlich vorgenommenen Versuch seitens des egoistischen Psychologismus, die These vom stets egoistisch motivierten Handeln durch den Hinweis zu stützen, daß alles bewußte Handeln nichts als die Verwirklichung der eigenen Wünsche ist, bleibt der Erfolg versagt. Dies deshalb, weil einerseits in besagtem Versuch eine Neubestimmung des egoistischen Verhaltens vorgenommen wird, die vom Egoismus nicht mehr viel übrig läßt. Gemäß dieser Neubestimmung liegt ein egoistisches Verhalten schon dann vor, wenn es der Realisierung der eigenen Wünsche entspricht. Üblicherweise gilt ein Verhalten dann als egoistisch, wenn es allein den eigenen Interessen ohne Rücksicht auf die Interessen der Mitmenschen folgt. Andererseits folgt aus dem Umstand der Korrespondenz von Verhalten bzw. getätigter Handlung und Wunsch nicht, daß die Erfüllung des eigenen Wunsches das Motiv der betreffenden Handlung bzw. des betreffenden Verhaltens war. Übertragen auf das oben angeführte Beispiel heißt dies: Einer in Not geratenen Person Hilfe zu leisten, kann durchaus als Realisierung eines Wunsches – nämlich des Wunsches zu helfen – angesehen werden. Aus der Tatsache der Hilfeleistung ist aber nicht ableitbar, daß diese nur deshalb geschah, um der Verwirklichung eines egoistischen Wunsches gewahr zu werden. Aus dem Umstand, daß ich das tue, was ich mir wünsche, folgt nicht, daß ich es tue, weil ich es mir wünsche.12 12 Zu den Argumentationsschemen egoistischer Theorien à la Hobbes und deren Schwächen vgl. Kutschera 1999, S. 67 ff.
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Im Gegensatz zu Hobbes ist das von Shaftesbury in seinen Schriften präsentierte Bild von der Natur des Menschen als äußerst positiv zu bezeichnen. Im Einklang mit Smith lehnt Shaftesbury eine von theologischer Seite Jahrhunderte lang praktizierte Trennung von Natur und Sittlichem ab. So wie Shaftesbury die Natur als Gesamtheit der Wirklichkeit als schön und gut und ihre harmonische Ordnung als göttlich begreift – weshalb er die Annahme eines jenseitigen Gottes für entbehrlich hielt –, erachtet er auch die Natur des Menschen als Teil der ganzen schönen, guten und harmonisch geordneten Natur als schön, gut und nach Harmonie strebend. Erfolgreich ist dieses Streben dann, wenn es gelingt die menschlichen Affekte und Neigungen zu harmonisieren. Shaftesbury legt seine Auffassungen über die verschiedenen Affekte und die Möglichkeiten sie harmonisch wirken zu lassen in einer Affektenlehre dar. Insgesamt unterscheidet Shaftesbury drei Arten von Affekten, die zusammen die Hauptantriebskräfte der menschlichen Natur ausmachen. Es sind dies: 1. natürliche Affekte Zu dieser Affektart zählt Shaftesbury alle altruistischen Affekte. Sie alle haben die Tendenz, das Wohl der Gemeinschaft bzw. Gesellschaft zu fördern. 2. selbstische Affekte Zu dieser Affektart zählt Shaftesbury alle egoistischen Affekte. Sie zielen auf das Wohlergehen bzw. die Steigerung des Wohlergehens des Einzelnen ab. 3. unnatürliche Affekte Zu den unnatürlichen Affekten zählt Shaftesbury alles das, was üblicherweise als moralisches Laster bezeichnet wird. Unnatürliche Affekte schaden sowohl dem Einzelnen als auch der Gemeinschaft bzw. Gesellschaft. 13 Die Aufgabe des nach Harmonie strebenden Menschen besteht nun darin, die unnatürlichen Affekte erst gar nicht aufkommen zu lassen und die Antriebskräfte der natürlichen (altruistischen) und der (natürlichen) egoistischen Affekte in einem Verhältnis so zu bündeln, daß das Wohl der Gemeinschaft unter Wahrung eigener Interessen möglichst gewährleistet ist. In der ausgewogenen Realisierung der natürlichen Affekte und Neigungen besteht Shaftesbury zufolge die Sittlichkeit. Wie nach ihm Hutcheson, Hume und Smith trennt Shaftesbury nicht 13 Shaftesbury, Inquiry: SE II-2, S. 156–177.
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nur nicht das Natürliche vom Moralischen, sondern identifiziert nahezu das eine mit dem anderen. Überdies, und auch das findet sich in den Theorien der drei Schotten 14 wieder, vertrat Shaftesbury die Auffassung, daß die genannten Affekte nicht nur unsere Aufmerksamkeit erregen, sondern Gegenstand der Reflexion sind, die als Ergebnis gleichsam reflektierte Gefühle entstehen läßt, die sich als Lust oder Unlust bzw. Gefallen oder Mißfallen äußern. Im Unterschied zu Hutcheson, Hume und Smith hält Shaftesbury jedoch an der prinzipiellen Göttlichkeit der inneren und äußeren Natur sowie an der Auffassung, daß der Mensch ein metaphysisches Geistwesen ist, fest.15 Smiths Lehre von der Natur des Menschen übernimmt nun sowohl von Hobbes als auch von Shaftesbury wichtige Aspekte. So wie Hobbes sieht auch Smith, daß das Eigeninteresse und die rationale Einsicht nicht nur wesentliche Merkmale der Natur des Menschen sind, sondern auch die stärksten Faktoren im Prozeß des Entstehens von Gesellschaften darstellen. Hobbes und Smith sind sich auch darin einig, daß der Mensch ein Interesse an der Gesellschaft und ihrem Wohlergehen hat, da er sich dessen bewußt ist, daß er auf sich allein gestellt so gut wie keine Überlebenschancen hat. In ihrer Beantwortung der Frage danach, was Menschen motiviert, zum Wohlergehen der Gesellschaft beizutragen, treten die Hauptunterschiede zwischen den Auffassungen Smiths und Hobbes am stärksten zutage. Während Hobbes als Motive des Menschen Selbstliebe und Eigeninteresse nennt, steht für Smith außer Frage – und hierin trifft er sich mit Shaftesbury –, daß der Mensch altruistische Neigungen hat und ein geselliges Wesen ist, das ganz selbstlos ein Interesse am Wohlergehen der Mitmenschen und der Gesellschaft hat. Ergänzt wird Smiths Auffassung vom Wesen der menschlichen Natur durch seine Ausführungen zu den menschlichen Bedürfnissen. Smiths diesbezüglichen Überlegungen in den Lectures on Jurisprudence und in dem Essay über die „History of Astronomy“ (EPS, 31–105) ergeben ansatzweise eine Bedürfnistheorie, in der die Grundbedürfnisse nach Nahrung, Bekleidung und Behausung ebenso Platz finden wie das allgemeinmenschliche Bedürfnis, die drei genannten Grundbedürfnisse in einer qualitätsvollen Weise zu befriedigen. 16 Dieses Bedürfnis erach14 Hutcheson, ein gebürtiger Ire, ist zumindest als dreiviertel Schotte zu zählen. Er stammte aus einer schottischen Familie, studierte in Glasgow und lehrte an der dortigen Universität bis zu seinem Todesjahr 1746. 15 Vgl. Shaftesbury, Inquiry: SE II-2, S. 146.
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tet Smith als Grundlage für den Wunsch nach Luxusartikeln. Zu diesen Bedürfnissen kommt noch das Bedürfnis nach Geordnetheit hinzu.17 Smith zufolge ist das Suchen und Finden ordnungsstiftender Prinzipien oder Grundkräfte sowohl Hauptziel jeder Naturwissenschaft als auch ein allgemeines Bedürfnis der menschlichen Natur. Darüber, wie diese Grund- und allgemeinmenschlichen Bedürfnisse zu befriedigen sind, worunter Smith auch die Selbsterhaltung und die Fortpflanzung der Art zählt, 18 gibt – pointiert formuliert – der Wohlstand der Nationen Auskunft. Das wirkliche Glück wird durch die Befriedigung dieser Bedürfnisse allerdings nicht erreicht. Sie macht uns bestenfalls zufrieden. Wirklich glücklich sind wir nach Auffassung Smiths erst dann, wenn wir auch moralisch sind. Da für Smith außer Streit steht, daß der Ursprung der Moral in der Natur des Menschen liegt, sucht er nach natürlichen Antriebskräften, Neigungen und Trieben der menschlichen Natur als Grundlage des moralischen Bewußtseins. Smith wurde fündig. Der entscheidende natürliche Antrieb, dem zu folgen ist, damit ein Mensch ein moralischer Mensch wird, was letztlich das Tor zum Glück öffnet, ist Smith zufolge die allgemein menschliche Grundkraft der 161718 Sympathie. Bevor ich nun einige Aspekt des Natürlichen der Grundkraft Sympathie genauer untersuchen werde, gilt es darauf hinzuweisen, daß Smith ‚das Natürliche‘ und den Begriff ‚Natur‘ in der Theorie der moralischen Gefühle in voneinander zu unterscheidenden Varianten verwendet. So unterscheidet Charles Griswold (1999, S. 311–317) insgesamt sieben Smithsche Verwendungsweisen des Begriffs ‚Natur‘. Es sind dies: 1. Natur als Substanz oder Wesen 2. Natur als Opposition zum Konventionellen 3. Natur als Opposition zum Künstlichen 4. Natur bzw. das Natürliche als das uns (empirisch) Gegebene 5. Natur als Opposition zum Übernatürlichen, Wunderbaren, Göttlichen 6. das Natürliche als Synonym für den richtigen Platz, die bestmögliche Funktion innerhalb eines übergeordneten Ganzen
16 Vgl. dazu LJ, VI.9–13, S. 334–335. 17 Vgl. dazu EPS, S. 33–105. 18 Beides zählt Smith zu den „favourite ends of nature“, den „Lieblingszwecken der Natur“; vgl. II.i.5.10: 77; dt. 113.
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7. Natur als dieses übergeordnete Ganze, im Sinne von ‚die Welt‘ und ‚das Universum‘. Diese Bestimmung der verschiedenen Verwendungsweisen des Begriffes ‚Natur‘ läßt sich mit Ausnahme der Variante 7 auf den Sympathiebegriff übertragen. Indem Smith die Sympathie als allgemeinmenschliche Grundkraft ausweist, bestimmt er sie als etwas der menschlichen Natur wesentliches, substantielles – also gemäß der Variante 1. Als Opposition zum Konventionellen (Variante 2) taucht die Sympathie in der Theorie der moralischen Gefühle beispielsweise da auf, wo es um die Unterscheidung von natürlicher Gerechtigkeit und positivem Recht geht. Ihre Opposition zum Künstlichen (Variante 3) führt Smith unter anderem dann ins Treffen, wenn er seine Moraltheorie als die überzeugendere gegenüber anderen Moraltheorien ausweist. Hutcheson beispielsweise führt als Prinzip der Billigung ein neues Wahrnehmungsvermögen bzw. ein ganz eigentümliches Gefühl – den moralischen Sinn – ein. Smiths Ansicht nach „ist es nicht nötig, ein neues Wahrnehmungsvermögen anzunehmen, von dem man niemals zuvor gehört hatte“. Die Sympathie als natürliches Vermögen, „von dem man immer schon Kenntnis gehabt hatte, und mit dem die Seele ganz offenkundig begabt ist“ (VII.iii.3.3: 321; dt. 535), leistet als Grundlage der Billigung mindestens ebenso viel, wie der ‚künstlich‘ eingeführte moralische Sinn. Auch die Forderungen Zenons und anderer Stoiker, mit deren Moraltheorie Smith ebenso wie mit derjenigen Hutchesons in vielen Punkten übereinstimmt, nach Ausrottung einiger egoistischer Neigungen, weist Smith als unnatürliches Vorgehen zurück. Daß die Grundkraft der Sympathie etwas der menschlichen Natur Gegebenes ist (Variante 4), steht für Smith außer Frage. Als natürliche Grundkraft der menschlichen Natur setzt er sie bewußt all jenen Moraltheoretikern entgegen, die ihr Heil in wunderbaren, übernatürlichen Erklärungsmodellen suchen (Variante 5). Schließlich versucht Smith in der Theorie der moralischen Gefühle auch nachzuweisen, daß das Wirken der natürlichen Grundkraft der Sympathie zu einem glücklichen Leben führt, welches in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Griswold als übergeordnetes Ganzes zu betrachten ist. In den nun folgenden Untersuchungen zur Grundkraft der Sympathie wird auf deren Natürlichkeit gemäß den Varianten 1, 4 und 6 besonderes Augenmerk zu legen sein.
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3. Sympathie – der natürliche Wunsch nach Anteilnahme Mit der Sympathie hat Smith die natürliche Grundkraft gefunden, die als Grundlage unserer Beurteilung des fremden sowie des eigenen Verhaltens angesehen werden kann. Dem bereits oben zitierten programmatischen Untertitel der Theorie der moralischen Gefühle zufolge, ist dieses Werk Smiths eine Analyse der Grundkraft der Sympathie. Und daß diese Grundkraft eine natürliche ist, wobei ‚natürlich‘ hier in der Bedeutung von ‚allgemeinmenschlich‘, ‚zum Wesen des Menschen gehörend‘, zu verstehen ist, daran läßt Smith tatsächlich ab der ersten Seite seiner Theorie der moralischen Gefühle keinen Zweifel aufkommen. Der Anfangssatz der Theorie der moralischen Gefühle bestimmt die Sympathie als eine jener natürlichen Grundkräfte19 des Menschen, „die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen“ (I.i.1.1: 9; dt. 1). Kummer, Erbarmen, Mitleid, aber auch Freude, nennt Smith als weitere derartige Grundkräfte. 20 Wie die soeben genannten nicht nur Grundkräfte der menschlichen Natur bzw. allgemeinmenschliche Neigungen des Menschen sind, sondern auch die Gemütsbewegungen bezeichnen, die wir bei der Verwirklichung dieser Neigungen empfinden, so trifft diese doppelte Bestimmung auch auf die Grund19 Im Unterschied zu Eckstein übersetze ich im folgenden „principle“ mit „Grundkraft“ bzw. „Grundantrieb“. Die Übersetzung mit einem Terminus aus der Physik empfiehlt sich m. E. deshalb, da – wie schon weiter oben ausgeführt wurde – Smith sich in der Konzeption seiner wissenschaftlichen Arbeiten stark an Newton orientierte; und so wie dieser eine Kraft, nämlich die Gravitationskraft, an den Beginn seiner Physik stellt, so setzt Smith die (Grund-)Kraft der Sympathie an den Anfang seiner Moralphilosophie. Zum anderen habe ich mich gegen die Übersetzung „Prinzip“ entschieden, da im Philosophendeutsch der Terminus „Prinzip“ häufig in der Bedeutung gebraucht wird, die Kant diesem Begriff zugeordnet hat. Entgegen Kant wollte Smith aber mit dem Wort „principle“ nicht ein Gesetz oder einen Grundsatz bezeichnen, sondern eine allgemein menschliche Disposition oder Grundkraft bzw. eine allgemein menschliche Neigung. 20 Dies bedeutet freilich nicht, daß bei allen Menschen diese Grundkräfte in gleicher Intensität zu Tage treten, sondern bloß, daß sie als Veranlagung in allen Menschen anzutreffen sind. Mit dem Bedürfnis nach Anteilnahme an der Situation anderer Menschen, aber auch unserm Bedürfnis danach, selbst Gegenstand sympathetischer Empfindungen zu sein, und dem Bedürfnis nach Übelnehmen und Dankbarkeit verhält es sich so, wie es sich mit jedem anderen ursprünglichen Affekt („original passion“) oder Gefühl („sentiment“) verhält. So ein Gefühl zu empfinden, bleibt Smith zufolge „keineswegs auf die Tugendhaften und human Empfindenden beschränkt, sondern selbst der ärgste Rohling, der verhärtetste Verächter der Gemeinschaftsgesetze ist nicht vollständig dieses Gefühles bar“ (I.i.1.1: 9; dt. 2).
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kraft der Sympathie zu. Als Gemütsbewegung wird die Sympathie von Smith als „unser Mitgefühl mit jeder Art von Affekten“ (I.i.1.5: 10; dt. 4) bestimmt. Zur Klarheit vieler Passagen der Theorie der moralischen Gefühle trägt diese doppelte Bestimmung nicht bei. 21 Die Grundkraft bzw. Antriebskraft selbst und die Wirkung bzw. das Ziel, wohin uns diese Kraft hintreibt, mit demselben Terminus zu bezeichnen ist m. E. nach ungewöhnlich und mitunter verwirrend. Smith hat nun einmal diesen Weg eingeschlagen, auf dem die Grundkraft Sympathie als in der Natur des Menschen schlummernde Disposition auftritt, die, einmal erweckt, die Wirkung Sympathie als sympathetische Empfindung nach sich zieht. Auf die Definition von Sympathie – als Bedürfnis bzw. als allgemein menschlicher Wunsch am Schicksal anderer Anteil zu nehmen – umgelegt, bedeutet dies: Der allgemein menschliche Wunsch, am Schicksal anderer Anteil zu nehmen, wird erfüllt, wenn wir sympathetischer Empfindungen gewahr werden. Während diese doppelte Bestimmung von Sympathie eine von Smith wohl unbemerkt selbst konstruierte Schwierigkeit darstellt, hat er eine andere das Wirken der Sympathie betreffende Schwierigkeit nicht nur klar gesehen, sondern auch gleich die Antwort auf die Frage bereit gestellt, wie diese zu überwinden sei. Sie bestehet darin, daß wir das Bedürfnis nach Anteilnahme am Schicksal anderer vollständig nur dann befriedigen können, wenn wir Einblick in ihr Gefühlsleben haben, über das unsere unmittelbare Erfahrung uns keine Auskunft gibt. „Mag auch unser eigener Bruder auf der Folterbank liegen– solange wir selbst uns wohl befinden, werden uns unsere Sinne niemals sagen, was er leidet“ (I.i.1.2: 9; dt. 2). Die unmittelbare Erfahrung liefert uns keinen Einblick in das Gefühlsleben anderer. Das, was uns diesen Einblick gewährt, ist eine natürliche, allgemein menschliche Fähigkeit, die Fähigkeit zur Imagination. Um bei obigem Beispiel zu bleiben: Smith zufolge gelingt es uns, unseren Wunsch nach Anteilnahme mit unserem auf der Folterbank liegenden Bruder zu erfüllen, wenn wir uns mittels Imagination in seine Lage versetzen und uns vorstellen, was wir empfänden, wären wir in dieser so unangenehmen Situation. Damit das Bedürfnis nach Anteilnahme am Schicksal anderer vollkommen befriedigt wird, bedarf es neben diesem imaginären Situationswechsel noch der 21 Zusätzlich wird ein klares Verständnis der Theorie der moralischen Gefühle dadurch erschwert, daß ihr Schlüsselbegriff „Sympathie“ von Smith in mehreren, sich zum Teil widersprechenden Bestimmungen verwendet wird. Zur Mehrdeutigkeit des Smithschen Sympathiebegriffes vgl. Haakonssen 1981, S. 51, u. Andree 2003, S. 88–93.
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Erfüllung einer weiteren Bedingung. Erst wenn wir von den Umständen – also von den Motiven, Ursachen und intendierten Wirkungen – des Affekts einer Person Kenntnis haben, den diese in der betreffenden Situation zum Ausdruck bringt, wird unser Wunsch nach Anteilnahme an der Situation dieser Person restlos erfüllt. Nur die Sympathie, „die also nicht so sehr aus dem Anblick des Affektes, als vielmehr aus dem Anblick der Situation, die den Affekt auslöst“ (I.i.1.10: 12; dt. 6) entsteht, kann als vollkommene bzw. vollständige Sympathie bezeichnet werden. 22 Diese Bedingung zu erfüllen erachtet Smith besonders dann für wichtig, wenn wir mit Affekten konfrontiert sind, an denen sich erfahrungsgemäß selten und auch dann nur zögerlich sympathetische Gefühle entwickeln. Unser Bruder auf der Folterbank gibt hier ein schlechtes Beispiel ab. Seine Wehklage ruft in uns gleichsam automatisch Mitgefühl hervor. 23 Entkäme er allerdings der Folter und brächte er danach seine Hassgefühle gegenüber seinen Peinigern zum Ausdruck, stünden die Chancen gut, diesen Gefühlen mit Sympathie zu begegnen – und zwar dann, wenn sich herausstellen sollte, daß unser Bruder vollkommen zu unrecht und mutwillig sich einst auf der Folterbank wiederfand. Das bisher Gesagte macht deutlich, daß Smith die Erfüllung unseres natürlichen Wunsches nach Anteilnahme am Schicksal anderer an zwei Bedingungen knüpft. Es sind dies: 1. Die Fähigkeit zur Imagination. Sie ermöglicht uns, uns in die Lage des betroffenen Mitmenschen hineinzuversetzen; „in unserer Phantasie treten wir gleichsam in seinen Körper ein und werden gewissermaßen eine Person mit ihm, von diesem Standpunkt bilden wir uns eine Vorstellung von seinen Empfindungen und erleben sogar selbst gewisse Gefühle“, die im 22 In der Theorie der moralischen Gefühle kommt der Ausdruck „perfect sympathy“ nicht vor, wohl aber der Ausdruck „imperfect sympathy“ (vgl.: I.i.1.9: 11). Diesen Ausdruck verwendet Smith zur Bezeichnung der Sympathie, die zustande kommt ohne Kenntnis der Ursachen und Motive der Affekte der betreffenden Person. Beruht eine Sympathie auf derartigen Kenntnissen, scheint es mir angemessen und konsequent zu sein, den Ausdruck „vollkommene“ bzw. „vollständige Sympathie“ zu gebrauchen. 23 Smith würde aber auch hier nicht von vollständiger Sympathie sprechen. Er vertritt die auf Beobachtungen beruhende Ansicht, daß allgemeine „Wehklagen, die nichts anderes zum Ausdruck bringen als die Qualen, die der Leidende empfindet, eher eine gewisse Neugierde in uns [erwecken], den Wunsch, seine Lage kennen zu lernen, verbunden mit einer gewissen Geneigtheit, für ihn Sympathie zu empfinden, als ein wirklich deutlich erlebtes Gefühl der Sympathie“ (I.i.1.9: 11; dt. 6).
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Vergleich mit denen des Mitmenschen ihrer Intensität nach schwächer aber ihnen zumindest „nicht ganz unähnlich sind“. Die Gefühle der betroffenen Person werden so zu unseren eigenen, und „schließlich … fangen [sie an] auf unser eigenes Gemüt einzuwirken“ (I.i.1.2: 9; dt. 2). 2. Die Kenntnis der Umstände, unter denen der Affekt der Person auftritt, an deren Schicksal Anteil zu nehmen uns ein Bedürfnis ist. Diese Bedingung fügt dem Gesamtphänomen Sympathie eine intellektuelle Komponente hinzu. Denn mit der Kenntnis der Umstände meint Smith nichts anderes, als das Kennen bzw. Erkennen der Motive, Ursachen und der möglichen Folgen des Affektes der betroffenen Person bzw. ihres diesem Affekt folgenden Verhaltens. Smith zufolge ist unser natürlicher Wunsch nach Anteilnahme so stark, daß Menschen in den allermeisten Fällen die Mühen auf sich nehmen, die eine Erfüllung dieser beiden Bedingungen mit sich bringt. Nicht ganz umsonst, so könnte mit Smith gesagt werden, denn die Befriedigung unseres Bedürfnisses nach Anteilnahme am Schicksal anderer ist angenehm. Genauso wie es umgekehrt für die Person angenehm ist, die Anteilnahme an ihrem Schicksal erfährt. Warum sich dies so verhält, versucht Smith mit Hilfe der Grundkraft der Sympathie zu erläutern, die diesmal aber als wechselseitige Sympathie („mutual sympathy“) auftritt. 24
3.1 Der natürliche Wunsch, selbst Gegenstand sympathetischer Empfindungen zu sein Die Bestimmung der Grundkraft Sympathie als Bedürfnis nach wechselseitige Sympathie ergibt sich für Smith aus seinen zahlreichen Beobachtungen, die deutlich machen, daß wir nicht nur mit dem natürlichen Wunsch nach Anteilnahme, sondern ebenso mit einem ebenso natürlichen Wunsch, selbst Gegenstand sympathetischer Empfindungen zu sein, ausgestattet sind. Erneut verwendet Smith das Prädikat „natürlich“ im Sinne von „allgemeinmenschlich“. Die natürliche Veranlagung zur Sympathie stellt sich somit als Kraft dar, die auf zwei Ziele hin wirkt. Einmal auf den Mitmenschen, dem Anteilnahme entgegenge24 Das zweite Kapitel der Theorie der moralischen Gefühle wurde von Smith mit „Of the Pleasure of mutual Sympathy“ betitelt, was von Eckstein mit „Von dem Wohlgefallen, welches durch gegenseitige Sympathie erzeugt wird“ übersetzt wurde.
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bracht wird, und einmal auf die Person, die Anteil nimmt. Diesen beiden Zielen korrespondieren zwei in der Grundkraft wechselseitiger Sympathie angelegte allgemein menschliche Wünsche. Zwei Bedingungen der Erfüllung des ersten Wunsches, nämlich an der Situation unserer Mitmenschen Anteil zu nehmen, wurden bereits oben dargelegt. Auch der zweitgenannte Wunsch wird nicht ohne Bedingung erfüllt. Darüber, welche Bedingungen zur Erfüllung des Wunsches, selbst Gegenstand sympathetischer Empfindungen zu sein, gegeben sein müssen, gibt uns unser Erfahrungswissen Auskunft. Dabei haben wir dreierlei bemerkt: 1. Unsere Geneigtheit zur Anteilnahme hängt vom Affekttypus ab. 2. Die Fähigkeit zur Anteilnahme hängt von der Angemessenheit des Affekts in Relation zu seinen Ursachen und seinen Wirkungen ab. 3. Das Sympathisieren hängt von der Ähnlichkeit der zum Ausdruck gebrachten Empfindungen der Person, die Anteilnahme wünscht, und unseren Gefühlen ab, die wir empfinden, wenn wir uns in die Lage der betroffenen Person hineinversetzen. Ad 1. Smith unterscheidet in der Theorie der moralischen Gefühle zwischen physischen und psychischen Affekten. Physische Affekte, wie das Gieren nach Essen, erwecken so wie alle Begierden, die vom Körper ihren Ursprung nehmen, unsere Abneigung. „Jeder starke Ausdruck derselben wirkt ekelhaft und unangenehm“ (I.ii.1.3: 28; dt. 34). Innerhalb der psychischen Affekte unterscheidet Smith zwischen sozialen, unsozialen und egoistischen Affekten. Smiths Beobachtungen haben ergeben, daß wir am meisten dazu neigen, mit sozialen Affekten, wie Menschlichkeit, Mitleid und Güte zu sympathisieren. Bei der Konfrontation mit sozialen Affekten stellt sich sogar eine verdoppelte Sympathie ein. Unsere Sympathie betrifft sowohl die Person, die Ziel eines sozialen Affekts bzw. Verhaltens ist, als auch die Person, die so einen Affekt bewirkt bzw. so ein Verhalten gezeigt hat. Doch auch mit unsozialen Affekten, wie dem Hass und dem Übelnehmen, sympathisieren wir unter gewissen Umständen – nämlich dann, wenn wir genauestens über die Ursachen solch eines Affekts informiert sind und dieser in einer sehr moderaten Form zum Ausdruck gebracht wird. Natürlicherweise sind unsoziale Affekte Gegenstand unserer Abneigung, weshalb wir selbst danach trachten, solche Affekte erst gar nicht aufkommen zu lassen. Hier wird das Prädikat ‚natürlich‘ in einer anderen Bedeutung als bisher von Smith verwendet. ‚Natürlich‘ wird nun nicht mehr nur mit
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‚allgemein menschlich‘ identifiziert, sondern auch mit ‚bestmöglich‘ bzw. ‚allgemein nützlich‘. Daß wir natürlicherweise unsoziale Affekte, die Smith ebenfalls als natürliche bzw. als „notwendige Charakterzüge der menschlichen Natur“ (I.ii.3.3:34; dt. 45) ansieht, zu unterdrücken versuchen, ist gut für das harmonische Zusammenleben innerhalb einer Gesellschaft. Aufgrund einer besonders starken Neigung der menschlichen Natur, d. h. der Sympathie, unterdrücken wir andere, weniger starke Neigungen. Geben wir dem Grundtrieb der Sympathie nach, so ermöglicht dies uns die Kontrolle über andere natürliche Neigungen, und dies bringt positive Effekte für uns selbst und für die Gesellschaft mit sich. Egoistische Affekte, wie „Kummer und Freude, sofern wir sie um unseres eigenen persönlichen Glücks oder Unglücks willen empfinden“ (I.ii.5.1: 40; dt. 55), sind im Vergleich zu den sozialen und unsozialen Affekten indifferent. Sie erwecken in uns weder ein besonderes Gefühl der Zustimmung noch ein starkes Gefühl der Ablehnung. Ad 2. und ad 3. Beide Punkte, sowohl die Abhängigkeit unserer Anteilnahmefähigkeit von der Angemessenheit des Affekts in Relation zu seinen Ursachen und seinen Wirkungen als auch die Abhängigkeit des Sympathisierens von der Ähnlichkeit der zum Ausdruck gebrachten Empfindungen der Person, die Anteilnahme wünscht, und unseren Gefühlen, die wir empfinden, wenn wir uns in die Lage der betroffenen Person hineinversetzen, sind insofern von besonderer Wichtigkeit, als sie in Smiths Theorie des moralischen Urteils die entscheidende Rolle spielen. Sie stellen die stärksten Bindeglieder zwischen allgemein menschlicher natürlicher Veranlagung und dem Bereich der Moral dar. Die Sympathie tritt in der Theorie der moralischen Gefühle nicht nur als neutrales, allgemein menschliches Bedürfnis auf, sondern auch als Maßstab der Billigung menschlichen Verhaltens. Unter Sympathie versteht Smith in diesem Zusammenhang nicht eine allgemeine Grundkraft des Menschen, sondern die Wirkung derselben, was als sympathetisches Gefühl bezeichnet werden kann. Sein Entstehen ist gewissermaßen die Realisierung der natürlichen Disposition zur Sympathie. Diese wiederum erfährt in diesem Zusammenhang eine Erweiterung. Nicht nur am Schicksal anderer wünschen wir Anteil zu nehmen, sondern auch an weit weniger dramatischen Situationen unserer Mitmenschen. Die Sympathie als natürliche Grundkraft präsentiert sich hier als unser Interesse an unseren Mitmenschen, an deren Verhalten, Gemütsäußerungen und Meinungen und gleichzeitig als Interesse an einem Feed-
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back zu unserem Verhalten, zu unseren Gemütsäußerungen und zu unseren Meinungen. Stellen wir, nachdem wir uns in die Lage der Person versetzt haben, zu deren Schicksal, Verhalten oder Meinungsäußerung wir Stellung beziehen wollen, eine Ähnlichkeit zwischen den zum Ausdruck gebrachten Affekten dieser Person und unseren eigenen fest, so billigen wir das Verhalten dieser Person, wir stimmen ihrer Meinung dann zu – wir verstehen ihre Gemütsäußerungen. Die Ansichten eines anderen billigen, heißt diesen Ansichten beipflichten und ihnen beipflichten, heißt sie billigen. … Die Ansichten anderer billigen oder mißbilligen, bedeutet also, wie jedermann zugeben wird, nichts anderes als deren Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit unseren eigenen bemerken. Ganz gleich aber verhält es sich in bezug auf unsere Billigung oder Mißbilligung der Empfindungen oder Affekte anderer. (I.i.3.2: 17; dt. 15 f.)
Am Beispiel unseres zu Unrecht gefolterten Bruders können die zwei genannten Punkte in einen praktischen Kontext transportiert werden. Unser Bruder, der zu Unrecht die Qualen der Folter erlebt hat, nimmt seinen Peinigern dies sehr übel und will sich an ihnen rächen. Damit wir mit diesem Gefühl sympathisieren können, versetzen wir uns zunächst in die Lage unseres Bruders. Wir sind informiert über die Umstände, die zu seiner Folterung führten, und über die Qualen, die er dabei litt, und wir teilen seine Einschätzung, daß er zu unrecht gefoltert wurde. Wir verstehen sein Drängen auf Vergeltung. Wird dieses Drängen von ihm in einer nicht allzu aggressiven und impulsiven Art zum Ausdruck gebracht, stehen die Chancen gut, daß die Empfindungen, die wir während des Prozesses des Sympathisierens fühlen, seinen sehr ähnlich sind. Ist dies tatsächlich der Fall, billigen wir sein Vergeltungsgefühl. 25 Unser Bruder ist sich all dessen bewußt. Ebenso weiß er aus Erfahrung, 25 Des Menschen Sympathie für Personen, die Gefühle des Übelnehmens zum Ausdruck bringen, ist aber niemals sehr intensiv. Zum einen liegt dies daran, daß unsoziale Affekte, wozu Smith neben dem Übelnehmen auch den Hass zählt, „von Natur Gegenstände unserer Abneigung sind“ (I.ii.3.5: 37; dt. 49). Für alle Beteiligten sind Hass- und Vergeltungsgefühle unangenehm; und Unangenehmes trachten wir zu vermeiden. Zum anderen teilt sich Smith zufolge unsere Sympathie, die in Konfrontation mit dem Affekt des Übelnehmens eventuell doch einmal auftritt. Gegenstand unserer sympathetischen Empfindungen sind sowohl die Person, die Übelnehmen empfindet, als auch die Person, auf die sich dieses Übelnehmen richtet. Diese ist ja Ziel einer jedenfalls für sie unangenehmen Handlung, bzw. Verhaltensweise. Smith spricht in diesem Zusammenhang von einer „geteilten Sympathie“ („divided sympathy“). Die ganze Kraft und Intensität unserer sympathetischen Empfindungen verteilt sich hier auf zwei Personen (bzw. auf Affekte zweier Personen). Vgl. dazu: I.ii.3: 34–38; dt. 44–52 und I.ii.4.1: 38; dt. 52.
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daß er, wenn er seinem Übelnehmen freien Lauf ließe, Abneigung und Unverständnis als Reaktionen ernten würde; er weiß auch, daß, wenn er überhaupt kein Gefühl des Übelnehmens gegenüber seinen Peinigern zeigte, die ihn ja zu unrecht gefoltert hatten, er verachtet, als Feigling angesehen werden würde. Doch ist ihm auch bewußt, daß er nur dann, wenn er sein Übelnehmen mäßigt und abschwächt, eine Chance hat, sein Bedürfnis danach, Gegenstand zumindest geteilter Sympathie zu sein, befriedigt zu finden. Aus dieser komplexen Entscheidungssituation und aus dem Umstand, daß auch die erstrebenswerteste Reaktion auf ein dem Übelnehmen folgendes Verhalten unser Streben nach inniger Anteilnahme nicht gänzlich befriedigen kann, erklärt sich nach Ansicht Smiths, daß solcherart Affekte selten zum Ausdruck gebracht werden, weshalb wir sehr selten mit ihnen konfrontiert sind. Es war, scheint es, die Absicht der Natur, daß diese roheren und unliebenswürdigeren Gemütsbewegungen, die die Menschen untereinander entzweien, sich weniger leicht und seltener mitteilen sollten. (I.ii.3.5: 37; dt. 49)
Wenn Smith hier das seltene Auftreten unsozialer Affekte als natürlich bezeichnet, so trägt dies seiner durch Beobachtungen gestützten Einschätzung Rechnung, daß Menschen wesentlich soziale Wesen sind. Andernfalls wären sie ohne gemeinschaftliche Bindungen, sie verspürten kein Bedürfnis nach Anteilnahme; in diesem Fall könnte ein Mensch „sich ebenso wenig über seinen Charakter, über die Schicklichkeit oder Verwerflichkeit seiner Empfindungen und seines Verhaltens Gedanken machen, als über die Schönheit oder Häßlichkeit seines Gesichts. ... Bringe jenen Menschen in Gesellschaft anderer und er ist sogleich mit dem Spiegel ausgerüstet, dessen er vorher entbehrte“. Und schließlich wird er „bemerken, daß die Menschen manche dieser Affekte billigen und gegen andere Widerwillen empfinden“ (III.i.3: 110 f.; dt. 167 f.).
3.2 Natürlichkeit und Opportunismus Diese Passage und auch jene Textstellen der ersten beiden Teile der Theorie der moralischen Gefühle, in denen Smith die Erfüllung des allgemein menschlichen Wunsches, selbst Gegenstand von Anteilnahme zu sein, maßgeblich an ein Mäßigen und Abdämpfen heftiger Gemütsbewegungen knüpft, lassen sich ohne viel Mühe als Gebrauchsanweisung für ein gesellschaftskonformes Leben interpretieren. Weniger wohlwollende Deutungen könnten aus den erwähnten Passagen sogar
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eine Anleitung zum Opportunismus herauslesen. Und tatsächlich betont Smith häufig in den ersten beiden Teilen der Theorie der moralischen Gefühle, daß Menschen ihr Verhalten so gestalten, auf daß sie von der Gesellschaft, in der sie leben, Zustimmung und Billigung erfahren. Im dritten Teil der Theorie der moralischen Gefühle allerdings, der die Analyse der Grundlage der Selbstbeurteilung zum Thema hat und in dem Smith die Funktionen und Eigenschaften des unparteiischen Betrachters in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt, gelingt es Smith, den sich aus den genannten Interpretationen und Deutungen ergebenden Vorwurf des Opportunismus als substanzlos abzuwehren. Smith unterscheidet dort zwischen unserem Wunsch, liebenswert zu sein, und dem Wunsch, geliebt zu werden. Die Erfüllung des erstgenannten Wunsches hat für uns Priorität. Werden wir aufgrund unseres Verhaltens von unseren Mitmenschen geliebt, so mag uns das freuen, doch wirkliche Freude, Befriedigung und ein echtes Glücksgefühl stellt sich erst dann ein, wenn wir zur Auffassung gelangen, daß unser Verhalten liebenswert ist. Die Gewißheit, sich liebenswert verhalten zu haben, ist für uns Smith zufolge von größerem Interesse als die Billigung unseres Verhaltens durch unsere Mitmenschen. Der Weg, den wir mit unserem Verhalten einschlagen, hängt weniger von den Urteilen der Gesellschaft, in der wir leben ab, als vielmehr von den Urteilen über unser Verhalten in Hinsicht auf den Wunsch, liebenswert zu sein. Der unparteiische Zuschauer, der sich einmal als imaginierte, einmal als reale Person und gelegentlich als Stimme des Gewissens zeigt, ist derjenige, der die adäquaten Urteile hinsichtlich unseres Wunsches liebenswert zu sein, zu fällen imstande ist. 26 Dieser unparteiische Zuschauer taucht schon in den ersten beiden Teilen der Theorie der moralischen Gefühle als Kriterium für die oben erwähnte Abschwächung bzw. Modellierung der eigenen Affekte auf. Das Motiv dieser Abschwächung bestimmt Smith allerdings erst im dritten Teil als unser Bestreben, liebenswert zu sein, das sich qualitativ von unserem Bedürfnis, Gegenstand sympathetischer Empfindungen zu sein, von dem in den ersten beiden Teilen der Theorie der moralischen Gefühle die Rede ist, unterscheidet. So sehr Smith sich mit der Einführung des unparteiischen Zuschauers und der Unterscheidung des Wunsches, geliebt zu werden, von unserem Bestreben, liebenswert zu sein, dem Opportunismusvorwurf ent26 Eine detaillierte Analyse über die verschiedenen Funktionen, die Smith dem unparteiischen Zuschauer in der Theorie der moralischen Gefühle zuschreibt, findet sich in Andree 2003, S. 113–136.
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ziehen kann, stellt sich spätestens hier die Frage, ob dabei immer noch von natürlichen Grundlagen seiner Moraltheorie zu sprechen ist. Ist es tatsächlich natürlich, unser Verhalten nach so edlen Motiven wie dem Bestreben, liebenswert zu sein, einzurichten? Ist dieses Bestreben, selbst wenn zugestanden werden mag, das es motivierende Kraft besitzt, so stark, wie Smith glauben machen wollte? Machte sich heute jemand die Mühe, diese Fragen mit Hilfe empirischer Informationen zu beantworten, würde er oder sie, so vermute ich, die genannten Fragen allesamt mit einem Nein beantworten müssen. Zu vermuten ist weiter, daß Smiths diesbezügliche Beobachtungen wohl deshalb kein klares Bild geliefert haben, als sie gefärbt durch die Brille des Aufklärers erfolgten.
3.3 Wechselseitige Sympathie und der Gleichklang der Gefühle Die Befriedigung des Bedürfnisses nach wechselseitiger Sympathie ist Smith zufolge angenehm; sowohl für die Person, die Anteil nimmt, als auch für diejenige, die Gegenstand der Anteilnahme ist. So einleuchtend dies hinsichtlich der Person sein mag, die Anteilnahme empfangen hat, so ist es doch eher zweifelhaft, ob die Wirkungen des Sympathisierens auf die Person, die jemandem sympathetische Empfindungen entgegenbringt, stets angenehm sind. Ziehen wir erneut das Beispiel unseres auf der Folterbank liegenden Bruders zur Veranschaulichung heran, so ergibt sich folgendes: Via Imagination gelingt es uns, an dessen Gemütsbewegungen Anteil zu nehmen, und diese – wie Smith meint – „zu unseren eigenen [zu] machen“, bis sie „anfangen auf unser eigenes Gemüt einzuwirken“. Schließlich werden wir „zittern und erschauern bei dem Gedanken an das, was er jetzt fühlen mag“ (I.i.1.2: 9; dt. 2). Unsere sympathetischen Empfindungen, die wir in Konfrontation mit Situationen solcher Art haben, können wohl schwerlich als angenehm bezeichnet werden. Smiths Rede von der stets angenehmen Sympathie ist hier mißverständlich. Darauf machte auch David Hume Smith in einem Brief, der das Datum vom 28. Juli 1759 trägt, aufmerksam. Ab der zweiten Auflage der Theorie der moralischen Gefühle findet sich an der betreffenden Textstelle eine Fußnote, in der Smith den Einwand Humes abzuwehren versucht. 27 In seiner Entgegnung auf Humes Einwand unterscheidet Smith zwischen dem Affekt der Person, die Anteilnahme 27 Vollständig abgedruckt ist dieser Brief in Smith, GE VI: vgl. CAS 36, S. 42–44.
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gibt, welcher durchaus unangenehm sein kann, und dem Gefühl, das diese Person hat, wenn sie eine völlige Übereinstimmung des eigenen Affektes mit dem der betroffenen Person bemerkt. Dieses Gefühl der Übereinstimmung ist das Gefühl, „in welchem das Billigungsgefühl eigentlich besteht“; es ist „immer angenehm und erfreulich“ (I.iii.1.9: 46; dt. 64). Doch diese Entgegnung präsentiert sich bei genauerer Betrachtung bloß als eine Verschiebung des Problems, auf das David Hume in besagtem Brief hingewiesen hat. Denn, so ließe sich nun mit Hume weiterfragen, trifft es tatsächlich zu, daß das Bemerken der Übereinstimmung der eigenen unangenehmen Empfindungen mit den unangenehmen Empfindungen beispielsweise des auf der Folterbank liegenden Bruders, angenehm ist? 28 Außerdem nimmt Smith in seiner Entgegnung auf Humes Einwand eine Bestimmung der Sympathie vor, die nicht derjenigen entspricht, die er üblicherweise in der Theorie der moralischen Gefühle verwendet. In dieser Entgegnung tritt die Sympathie nicht mehr als Bedürfnis bzw. allgemein menschlicher Wunsch nach Anteilnahme auf, sondern als Wunsch nach Gleichklang bzw. Übereinstimmung mit den Gefühlen anderer. Die Erfüllung dieses Wunsches kann aber, wie soeben gezeigt wurde, schwerlich als in allen Fällen angenehm bezeichnet werden, obwohl sie es sinnvollerweise sein sollte. Und daß Sympathie stets angenehm ist, daran zweifelt Smith an keiner Stelle der Theorie der moralischen Gefühle. Für ihn steht außer Frage, daß das Empfangen wie das Geben von Sympathie immer als angenehm empfunden wird. Smiths Entgegnung auf Humes Einwand entschärft diesen nicht nur nicht, sondern schwächt auch Smiths Grundannahme von der stets angenehmen Sympathie, indem er diese als allgemein menschlichen Wunsch nach Gleichklang der Gefühle bestimmt, was in Widerspruch zu seiner üblicherweise vorgenommenen Definition steht. Mit diesem Widerspruch geht – überspitzt formuliert – eine Widernatürlichkeit einher, die, um dies nochmals zu betonen, darin besteht, daß in Smiths Entgegnung die Erfüllung eines natürlichen allgemein menschlichen Wunsches bisweilen offenbar in etwas Unangenehmen besteht.29
28 Der Auffassung Stremingers, wonach in diesem Zusammenhang bloß der Wunsch nach Gleichklang m i t d en eignen Empfindungen unmittelbar einsichtig wäre, ist zuzustimmen. Vgl. dazu Streminger 1999, S. 50. 29 In der Sekundärliteratur zur Theorie der moralischen Gefühle wird diesem Einwand Humes und Smiths Entgegnung nur wenig Beachtung geschenkt. Zumeist wird in diesem Zusammenhang nur darauf hingewiesen, daß Hume und Smith mit dem Ter-
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Nicht in seiner Entgegnung auf Humes Einwand, sondern an einer anderen Stelle der Theorie der moralischen Gefühle gelingt es Smith allerdings, diese Widersprüchlichkeit aufzulösen und seine Theorie von dem Verdacht der Widernatürlichkeit zu befreien. An besagter Stelle heißt es: Wie derjenige, den ein Ereignis in erster Linie angeht, sich über unsere Sympathie freut und sich über deren Fehlen kränkt, so scheint es, daß auch wir uns freuen, wenn wir fähig sind, mit ihm zu sympathisieren, und daß wir uns kränken, wenn wir dazu nicht imstande sind. …; und es scheint, daß die Freude, die wir an dem Umgang mit einem Menschen finden, mit dem wir in allen Gefühlen, die sein Herz bewegen, sympathisieren können, die Schmerzlichkeit jenes Kummers überwiege, den uns der Anblick seiner Lage bereitet. Umgekehrt, ist es immer unangenehm zu fühlen, daß wir mit ihm nicht sympathisieren können. (I.i.2.6: 15–16; dt. 13)
In dieser Passage unterscheidet Smith zwischen dem Inhalt sympathetischer Empfindungen und der diesen folgenden Reflexion. An diesen reflexiven Aspekt knüpft Smith – hier genauso wie in seiner Entgegnung auf Humes Einwand – das stets Angenehme der Sympathie. Während in der soeben zitierten Passage die Fähigkeit, am Schicksal anderer Anteil zu nehmen, als Objekt der Reflexion auftritt, ist es in seiner Entgegnung auf Humes Einwand die Übereinstimmung sympathetischer Empfindungen. Unter Beibehaltung seiner üblicherweise vorgenommenen Bestimmung der Sympathie gelingt es Smith in der zitierten Passage auch, seine Annahme von der stets angenehmen Sympathie aufrecht zu erhalten. Das Angenehme besteht im Registrieren der Fähigkeit, das zu tun, an dem uns natürlicherweise liegt – nämlich Anteil am Schicksal anderer zu nehmen.
Schlußbemerkungen Aufgrund seines von Newton geprägten Wissenschaftsverständnisses und unter Anwendung der von Newton perfektionierten empirischen experimentellen Methode steht für Smith außer Zweifel, daß Moralphilosophie als Wissenschaft von der Natur des Menschen anzusehen ist. Sowohl das Sittliche selbst als auch die Beurteilung des menschlichen und des eigenen Verhaltens als sittlich oder unsittlich haben ihre geminus „Sympathie“ Unterschiedliches meinten. Vgl. dazu Ross 1998, S. 274, Campbell 1971, S. 95, Ballestrem 2001.
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meinsame Grundlage in der Natur des Menschen. Diese Grundlage, die bei Smith als natürliche, allgemein menschliche Grundkraft auftritt, ist die Sympathie. Die Betonung der Natürlichkeit des Sittlichen und des Maßstabs, nach dem wir moralische Urteile fällen, machen einen Gutteil der Anziehungskraft seiner Moraltheorie aus. Smith gelingt es, eine auf natürlichen Grundlagen stehende Moralphilosophie in seiner Theorie der moralischen Gefühle zu präsentieren, die ohne metaphysische, religiöse oder transzendente Annahmen auskommt und daher von der Fülle von Problemen, die solcherart Ethiken anhaften, verschont bleibt. Smiths Moraltheorie hat mit anderen Schwierigkeiten zu kämpfen. Einige von ihnen liegen – so bin ich geneigt zu sagen – in der Natur der Sache, die empirische Moralphilosophie heißt. Es sind dies, um nur die bekanntesten zu nennen, das Induktionsproblem, die Frage ob die Theorie der moralischen Gefühle als empirisch fundierte Theorie jemals über den Bereich des Deskriptiven hinauszukommen imstande ist, und schließlich die Frage, ob so eine Theorie hinsichtlich des Geltungsbereiche moralsicher Urteile nicht zwangsläufig subjektivistisch sein muß. 30 Andere Schwierigkeiten sind hingegen gewissermaßen hausgemacht. Zwei von diesen galt es hier aufzuzeigen. Wie oben dargelegt wurde, überfrachtet Smith gewissermaßen die natürliche Grundkraft der Sympathie mit Bestimmungsstücken und Wirkungsweisen, so daß einerseits die Frage zu stellen ist, ob jedes dieser Bestimmungsstücke und jede angeführte Wirkungsweise dem von Smith selbst erhobenen Anspruch der Natürlichkeit gerecht werden. Hinsichtlich Smiths Definition der Sympathie als Bedürfnis bzw. allgemein menschlichen Wunsch nach Übereinstimmung der Gefühle zwi30 Da Smith, ausgehend von seinen Beobachtungen darüber, wie eine begrenzte Anzahl von Menschen moralisch urteilt, zunächst auf die altruistische Neigung schließt, die diese Menschen so urteilen ließ, wie sie urteilten, und danach schließt – was ein Induktionsschluss ist –, daß alle Menschen auf diese beobachtete Art und auf Grundlage der erschlossenen altruistischen Neigung moralisch urteilen, ergibt sich für ihn das Induktionsproblem. Die beiden anderen angeführten Schwierigkeiten stellen für Smith recht eigentlich keine dar. Selbst an den wenigen Stellen der Theorie der moralischen Gefühle, an denen Smith von Normen und Regeln der Sittlichkeit spricht, werden diese als auf Gefühlen beruhend und als beobachtete Beurteilungsmodalitäten ausgewiesen. Daß der Geltungsbereich moralischer Urteile über den Bereich des Privaten hinausgeht, steht für Smith vor allem deshalb außer Frage, da er ja von einer Ähnlichkeit der menschlichen Grundbedürfnisse und Allgemeinmenschlichkeit einiger Grundbedürfnisse überzeugt war. Eine genauere Diskussion dieser drei Probleme findet sich in Andree 2003, S. 57 u. 190-196.
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schen betroffener und Anteil zu geben wünschender Person, scheint dies nicht der Fall zu sein. Andererseits stellt sich die Frage, ob das auf der Sympathie beruhende Bedürfnis, nicht nur geliebt zu werden, sondern auch liebenswert zu sein, natürlich und allgemein menschlich ist und ob dessen Befriedigung von so großer Dringlichkeit ist, wie Smith dies als gegeben darstellt. Die diesbezüglichen Erfahrungsdaten sprechen dagegen und dürften sich von jenen, die Smith vor knapp 250 Jahren potentiell zur Verfügung standen, nicht wesentlich unterscheiden. Allerdings bleibt festzuhalten, daß sich einige Passagen in der Theorie der moralischen Gefühle finden, die sowohl die eine als auch die andere aufgezeigte „Widernatürlichkeit“ zumindest zu relativieren imstande sind. Der Umstand, daß Smiths Bestimmung der Sympathie als Übereinstimmung der Gefühle einem nicht sehr markanten Ort seiner Theorie der moralischen Gefühle, nämlich einer Anmerkung entstammt, ist dazu weniger angetan, als vielmehr die Tatsache, daß Smith Sympathie in der Theorie der moralischen Gefühle meistens als allgemein menschlichen Wunsch nach Anteilnahme bestimmt. Was die besondere Funktion unseres Wunsches, liebenswert zu sein, und was die Wichtigkeit der Erfüllung dieses Wunsches betrifft, so räumt Smith ein, daß dieser Wunsch nicht nur häufig zusammen mit unserem Wunsch, geliebt zu werden, auftritt, was eine Unterscheidung beider Wünsche voneinander erschwert, 31 sondern auch, daß dieser oftmals intensiver zutage tritt, als der noble Wunsch, liebenswert zu sein, 32 den zudem noch verschiedene Personen in unterschiedlicher Intensität zu erfüllen bestrebt sind. Doch diese Relativierung bekräftigt recht eigentlich den durch Beobachtung gestützten Einwand gegen Smiths Auffassung, wonach wir unser Verhalten nach dem edlen Motiv und Bedürfnis, liebenswert zu sein, einrichten. Ein Einwand, gegenüber dem der schottische Aufklärer und Empirist Adam Smith – womöglich aufgrund der in diesem Fall erfolgten Beschränkung seiner empirischen Analysemittel auf die Selbstbeobachtung – letztlich blind gewesen zu sein scheint.
31 Vgl. III.2.1: 114; dt. 172. 32 Vgl. III.2.33: 131; dt. 195.
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Namenregister Namensnennungen in Vorwort und Literaturverzeichnis bleiben unberücksichtigt. Abramson, K. 7, 220 Alexander, R.D. 284 Andree, G.J. 10, 66, 89 f., 92 ff., 97, 305, 324, 362, 369, 373 Aristoteles 7, 90, 97, 115, 122, 132 f., 161, 200, 259, 262, 349 Arrow, K. 277 Ayer, A.J. 290 Baier, A. 278 Bakhtin, M.M. 192 Ballestrem, K. Graf 2, 9, 81, 89, 332, 372 Barbeyrac, J. 163 Barcan Marcus, R. 196 Barkow, J.H. 278 Baron, M. 219 Barry, B. 74 Baumann, U. 63 Bentham, J. 105, 181 Bieri, P. 97 Black, J. 348 Blackburn, S. 290 Boas, F. 100 Bonar, J. 306, 313 Brandt, R. 81 Brown, V. 7, 27, 32, 192 Butler, J. 243 Burling, R. 300 Burnet, T. 8, 305 f., 311 Campbell, T.D. 123, 156, 372 Camus, A. 300 Cantillon, R. 26 f. Charles I., König von England 30 Cicero, M.T. 200, 220
Clarke, S. 105 Cosmides, L. 278, 286, 288 Crospey, J. 257 Cudworth, R. 105 Cullen, W. 348 Damasio, A. 286 Daniels, N. 81, 85 Darwall, S. 6, 66, 112, 115, 117 f., 125, 139, 159, 181, 217, 233, 236, 241, 243, 313, 318 Davies, M. 280 De Sousa, R. 274 Debreu, G. 277 Den Uyl, D. 159, 241 Donagan, A. 202 Donne, J. 30 f. Eckstein, W. 12 f., 349, 361, 364 Eisenberg, N. 268, 273 Ekman, P. Engels, F. 129 Erasmus von Rotterdam 31 Falk, W.D. 224 Ferguson, A. 332, 353 Fichte, J.G. 6, 61 Firth, R. 292 Fleischacker, S. 5, 77, 108, 113, 115, 125, 130, 147, 157, 159, 178, 217, 241 f. Forbes, D. 129 Forman-Barzilai, F. 23 Frankena, W. 317 Friedman, M. 263 Garrett, A. 6, 159
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Namenregister
Gauguin, P. 162 Gibbard, A. 8, 22, 109, 278 f., 290, 296 Gilbert, W.S. 280 Geertz, C. 109 Goldie, P. 264, 274 Goscinny, R. 280 Gowans, C.W. 195, 202 Griffiths, P. 274 Griswold, C. 5, 35, 77, 88 f., 93, 97, 109, 124, 152, 188, 206, 215, 217, 232, 236, 241, 245, 359 f. Haakonssen, K. 124, 132, 135 f., 140, 159, 163, 332, 341, 362 Habermas, J. 74, 95 f. Hahn, F.H. 277 Hardin, R. 277 Hare, R.M. 290 Harman, G. 161 Hegel, G.W.F. 6, 61, 158 Henri IV., König von Frankreich 30 Henry, Prince of Wales 30 Herder, J.G. 107 Herman, B. 219, 233 f. Hobbes, T. 10, 37 f., 101, 105, 258, 263, 335, 353–358 Hocutt, M. 20, 32 Höffe, O. 1 Hoerster, N. 81 Home, H. Lord Kames 332 Hont, I. 130 Hope, V.M. 306 Horwich, P. 290 Hume, D. 2, 8 ff., 31, 42, 47, 65, 81, 88 f., 97, 103, 105, 107, 111, 122, 147, 150, 179–184, 186, 214 ff., 220, 224, 243, 248 f., 251, 253 f., 256 ff., 260 ff., 263, 274, 276, 277 f., 280, 307, 320 ff., 327 ff., 331–337, 339–345, 348, 351 f., 357 f., 370 ff. Hutcheson, F. 1, 8, 9, 65, 104 f., 179 ff., 182, 184, 248, 254, 304, 306 f., 313–318, 327 ff., 330, 332 f., 335, 348, 352 f., 357 f., 360 Hutton, J. 348 Ignatieff, M. 130
Jaffro, L. 306, 313, 318 James, W. 263 Jensen, H. 317 Kames, H. Home Lord 332 Kant, I. 2, 7, 35 ff., 62, 64, 105, 112, 118 f., 122, 124, 243, 248 f., 251 ff., 257, 259, 277, 307 Kleer, R.A. 23 Klemm, G. 108 Klemme, H. 97, 99 Knox, J. 342, 348, 351 Korsgaard, C. 224, 290 Krakauer, J. 175 Kroeber, A.L. 101 Kutschera, F. von 356 Leidhold, W. 317 Lewis, D. 287 Locke, J. 263, 305 f., 309 f., 314, 317, 351 Lohmann, G. 4, 64, 90, 92, 94, 98, 124, 305 Lindgren, R.J. 38 Lyons, D. 81 Macfie, A.L. 71, 81 MacIntyre, A. 101, 263 Mandeville, B. 258 Marcus, G. 288 Marcus, R. Barcan 196 Marshall, D. 206 Marx, K. 27, 128 ff. Mason, H.E. 195 f. Meek, R.L. 130 Meyer-Faje, A. 88 Mill, J.S. 122 Millar, J. 332, 334 Mohr, G. 8, 65, 74, 305 Monro, A. 348 Montaigne, M. de 31, 107 Montes, L. 88, 124 Nagel, T. 6, 67, 74, 160 ff., 167 Nesse, R.M. 278 Newton, I. 10, 88, 104, 349 ff., 372 Nietzsche, F. 262, 272 f.
Namenregister Nightingale, A. 159 Noddings, N. 269 ff. Norton, D.F. 317 Nussbaum, M. 269 Otteson, J. 3, 23, 25, 28, 40, 107, 116 Paganelli, M.P. 24 Pettit, P. 180 Plato 32, 115, 119, 132, 262 Protagoras 32 Pufendorf, S. 163 Raphael, D.D. 71, 81, 305 f., 330, 341 Rawls, J. 4, 64 f., 68, 74, 80–86, 124, 252, 262 Raz, J. 81 Reid, T. 188, 332, 353 Reventlow, H. Graf 346 Ricardo, D. 27 Richards, R. 32 Rosaldo, R. 300 Rosenberg, N. 147 Ross, I.S. 349, 372 Rothschild, E. 178 ff., 186, 188 Rousseau, J.-J. 40, 159, 252 ff., 277 Russell, P. 172 ff. Scanlon, T.M. 103 Schelling, F.W.J. 20 Schelling, T. 287 Schneewind, J. 30 Schrader, W.H. 65, 313 Schneewind, J.B. 278 Schrader, W.H. 306, 317 Schumpeter, J. 27, 29 Searle, J.R. 20 Shaftesbury, A.A.C. Earl of 8, 9, 10, 65, 243, 249, 304 ff., 308, 309–313, 317 f., 329 f., 335, 357 f. Skinner, A.S. 140 Skyrms, B. 288
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Smith, M. 288, 292 Sokrates 259 Solomon, R. 7, 269 Sousa, R. De 274 Sprute, J. 317 f. Starbatty, J. 1 Starobinski, J. 331 Statman, D. 160 Steele, C.M. 296 Stevenson, C. 290 Stewart, D. 332, 352 Stone, T. 280 Strawson, P.F. 92 Streminger, G. 335, 345, 371 Sullivan, A. 280 Summer, W. 101 Taylor, C. 32 Thomas von Aquin 26 Tooby, J. 278, 286, 288 Toulmin, S. 30 Tugendhat, E. 2, 66 f., 81, 88, 94, 305, 324 Turco, L. 328 Tuveson, E.L. 305 f. Tylor, E. 108 Uderzo, A. 280 Ulrich, P. 88 Verburg, R. 130 Villiez, C. Freiin von 4, 65, 124, 326 Voltaire 7, 205–212, 342 Walton, K.L. 267 Werhane, P. 257 Williams, B.A.O. 6, 160 f., 177 Winch, D. 130, 143 Wolff, E. 305, 309 Zeno von Kition 360
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