INGO SCHULZE ADAM UND EVELYN
Roman Berlin Verlag
Für Clara und Franziska
Inhalt Dunkelkammer Lilli Adam, wo bist du?...
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INGO SCHULZE ADAM UND EVELYN
Roman Berlin Verlag
Für Clara und Franziska
Inhalt Dunkelkammer Lilli Adam, wo bist du? Der Auszug Warum lügt Adam schon wieder? Der Morgen danach Der Aufbruch Umwege Die erste Grenze Einer kommt durch Der Verdacht Eine neue Frau Verhandlungen Das Wagnis Mit leeren Händen Heldenleben Vorbereitungen für den Abschied Misslungener Abschied Wildes Camping Erstes Wiedersehen Eine Art Einladung Ein neuer Versuch Berichte vom ersten Tag Ein Schatz Der große Knall Paare Adam arbeitet Schattenspiele Weiber 2
005 011 016 021 026 033 035 040 045 048 054 060 063 068 075 079 083 088 092 096 101 106 110 113 119 123 128 133 138
Abend in Blaulicht Eine gemeinsame Fahrt Arbeit für die Ewigkeit Damenwahl Ein Märchen Im Schlepptau Ein Sonntag Freuden teuer Noch eine Autofahrt Das Missverständnis Bettlektüre Abschied Erkenntnisse Zwei Anträge In der Telefonzelle Spione Spione, zum zweiten Ein Küchengespräch Nach dem Anruf Zwei Frauen Juwelen Zürichsee und grünes Licht Bruder und Schwester Missglückte Rückkehr Letzte Dinge Feuer
144 148 153 159 164 169 172 178 183 188 192 199 203 212 218 222 229 235 240 245 252 257 262 266 273 279
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Im tiefsten Inneren unseres Wesens sind wir überzeuge davon, daß wir ewig leben sollten. Wir empfinden unsere Vergänglichkeit und Sterblichkeit als etwas, dass uns mit Gewalt aufgezwungen wurde. Nur das Paradies ist authentisch, die Welt ist es nicht - und sie besteht auch nur temporär. Deshalb spricht auch die Erzählung vom Sündenfall unsere Gefühle so an, als ob sie eine alte Weisheit wieder in unser schlummerndes Gedächtnis zurückriefe. Aus »Mein ABC« von Czeslaw Milosz Die Kirchenväter, nicht allein Augustin, erklärten es für Häresie, zu behaupten, Adam und mit ihm Eva seien für immer verdammt worden. Sie wurden also Heilige; ihr Ehrentag fiel auf den 24. Dezember. Sie avancierten schließlich zu Schutzpatronen, zwar nicht, wie man erwartet haben könnte, der Obstbauern, wohl aber der Schneiderzunft. Schließlich waren sie die ersten Menschen, die Kleider getragen haben. Und ihre Kleider hatte Gottvater selbst genäht. Aus »Eva und Adam« von Kurt Flasch 4
Dunkelkammer Plötzlich waren sie da, die Frauen. Sie erschienen aus dem Nichts, angetan mit seinen Kleidern, Hosen, Röcken, Blusen und Mänteln. Manchmal war ihm, als träten sie aus dem Weiß hervor oder als wären sie einfach aufgetaucht, als hätten sie endlich die Oberfläche durchbrochen und sich gezeigt. Er musste nur die Schale mit der Entwicklerflüssigkeit etwas ankippen, mehr brauchte er nicht zu tun. Erst war nichts und dann etwas, auf einmal war es da. Doch der Augenblick zwischen dem Nichts und dem Etwas ließ sich nicht fassen, ganz so, als gäbe es ihn nicht. Das große Blatt glitt in die Schale. Adam wendete es mit der Plastezange, stupste es tiefer, wendete es abermals, starrte auf das Weiß - und betrachtete dann so andächtig das Bild einer Frau im langen Kleid, das eine Schulter frei ließ und sich spiralförmig um den üppigen Körper wand, als wäre ein Wunder geschehen, als hätte er einen Geist gezwungen, seine Gestalt zu offenbaren. Adam hielt das Foto mit der Zange kurz hoch. Die schwarze Fläche des Hintergrunds war jetzt heller, ohne dass Kleid und Achselhöhle an Kontur verloren. Vom Rand des Aschenbechers nahm er die Zigarre, sog daran und blies den Rauch über das nasse Bild, bevor er es ins Stoppbad tauchte und von da in die Schale mit dem Fixierer. Das Quietschen der Gartenpforte machte ihn unruhig. Er hörte die lauter werdenden Schritte, drei Stuten hinauf, 5
sogar das dumpfe Geräusch der Einkaufstasche, als sie beim Aufschließen gegen die Haustür schlug. »Adam, bist du da?« »Ja!«, rief er gerade so laut, dass sie ihn hören musste. »Hier!« Ihre Absätze gingen über seinen Kopf hinweg, wahrend er das Negativ anhauchte, mit einem Lederläppchen putzte und wieder in den Vergrößerungsapparat einlegte. Er stellte das Bild scharf und machte das Apparatlicht aus. In der Küche wurde der Wasserhahn auf- und wieder zugedreht, die Schritte kehrten zurück - plötzlich hüpfte sie auf einem Bein, sie zog ihre Sandalen aus. Die leeren Flaschen in dem Korb, der hinter der Kellertür stand, klirrten. »Adam?« »Hm.« Er nahm ein Blatt aus der Verpackung, 18 mal 24, und schob es im Vergrößerungsrahmen zurecht. Stufe für Stufe stieg Evelyn hinunter. Ihre Finger würden wieder staubig sein, weil sie mit der Hand die niedrige Decke entlangtastete, um nicht anzustoßen. Noch einmal nahm er kurz die Zigarre und sog mehrmals daran, bis er ganz in Rauch gehüllt war. Die Zeitschaltuhr stellte er auf fünfzehn Sekunden und drückte den großen rechteckigen Knopf - das Licht ging wieder an, die Uhr begann zu brummen. Als würde Adam etwas verrühren, bewegte er über dem Kopf der Frau einen plattgeklopften Aluminiumlöffel, zog 6
ihn katzenhaft schnell zurück, streckte seine Finger vor, die, als plätscherten sie im Wasser, den Körper der Frau beschatteten, und nahm sie wieder zurück, bevor das Apparatlicht ausging, das Brummen verstummte. »Puah! Das stinkt. Mensch, Adam, musst du hier auch noch rauchend« Adam tauchte das Papier mit der Zange in den Entwickler. Er mochte es nicht, wenn man ihn bei seinen Bildern störte. Nicht einmal ein Radio duldete er hier. Evelyn, die selbst barfuß einen halben Kopf größer war als Adam, tastete sich zu ihm und berührte seine Schulter. »Ich dachte, du machst uns was zu essen?« »Bei der Hitze? Ich hab die ganze Zeit Rasen gemäht.« »Ich muss los.« Auf dem weißen Papier erschien wieder die Frau in dem langen Kleid. Adam ärgerte sich, dass sie offenbar den Bauch einzog, ja er glaubte ihrem Lachein anzusehen, dass sie die Luft anhielt. Aber vielleicht täuschte er sich auch. Mit der Zange stippte er das Bild ins Stoppbad und gab es von dort in den Fixierer. Dann nahm er ein neues Blatt aus der Packung, faltete es in der Mitte und riss es an der Tischkante entzwei. Die andere Hälfte steckte er zurück in die Packung. »Was isst du denn?«, fragte er. »Augen zu. Nun schiel nicht so.« »Sind die gewaschen?« »Ja, ich vergifte dich schon nicht«, sagte Evelyn und steckte ihm eine Weintraube in den Mund. »Wo gab's die denn? « »Bei Kretschmanns, der Alte hat mir ne Tüte 7
mehr rübergereicht, wusste gar nicht, was drin ist.« Das Vergrößerungslicht ging an. »Was sag ich denn nun der Gabriel?« »»Halt sie hin.« »…muss ihr aber heute was sagen. Wenn sie mir schon im August Urlaub geben, muss ich den nehmen.« »Die spinnt wohl. Wir fahren, wann wir wollen.« Das Licht ging aus. »Wir wollten ja im August. Du hast August gesagt, und Pepi hat auch gesagt, dass August besser wäre. Ohne Kinder gibt's eigentlich nie frei im August. Außerdem läuft das Visum ab.« »Das ist kein Visum.« »Ist doch egal, wie das Ding heißt. Wir haben für August beantragt.« »Das ist bis zehnten September gültig.« Adam zog das Papier durch die Schale, wendete es zweimal. »Die ist ja scharf«, sagte Evelyn, als die Frau im Hosenanzug erschien, die die Hände in den Rücken stützte und ihre Brüste nach vorn drückte. »Gab's Post?«, fragte Adam. »Nichts«, sagte Evelyn. »Warum fahren wir nicht mit dem Zug?« »Ich will nicht immer am selben Ort hocken. Ohne Auto ist es langweilig. Hast du noch mehr?« Evelyn schob ihm die restlichen Weintrauben in den Mund und wischte die nassen Hände an ihrer Jeans ab. »Und was sage ich nun der Gabriel?« »Wenigstens eine Woche, eine Woche soll sie uns noch lassen.« »Dann ist der August so gut wie rum.« »Kannst Licht machen«, sagte er, als er das Probefoto in den Fixierer gelegt hatte. Er ging hinüber zu dem eckigen Waschbecken, in dem 8
schon mehrere Fotos schwammen, fischte eins heraus und hängte es an die Leine zu den anderen. »Wer ist das?« »Lilli.« »Und in Wirklichkeit?« »Renate Horn aus Markkleeberg. Krieg ich noch was?« »Musst du hochgehen. Und die hier?« »Kennste doch, Desdemona.« »Wer? « »Na die Albrecht, aus der Poliklinik, die Gynäkologin.« »Die mit dem Algerier?« »Die hat keinen Algerier. Ihr habt euch sogar mal die Hand gegeben. Das da« -Adam deutete auf ein Foto an der Leine- »hab ich ihr im Juni gemacht.« »Sag mal ...« Evelyn stellte sich dicht vor das Foto. »Hat die meine Schuhe an, das sind doch meine Schuhe?! « »Wie?« »Das sind meine, da, die Spitze, die Schramme, sag mal, spinnst du?! « »Die haben alle keine Ahnung von Schuhen, die kommen immer mit solchen Tretern, das verschandelt alles, für ne halbe Minute ...« »Ich will aber nicht, dass deine Weiber meine Schuhe anziehen. Ich will auch nicht, dass du sie im Garten fotografierst und erst recht nicht im Wohnzimmer!« »Es war so heiß oben.« »Ich will das nicht!« Evelyn betrachtete nun auch die anderen Fotos genauer. »Fahren wir übermorgen?« »Sobald unser Schlitten da ist, geht's los.« »Das hör ich seit drei Wochen.« »Ich habe angerufen. Was soll ich denn machen?« »Wir fahren gar nicht, da geh ich jede Wette ein.« 9
»Du verlierst.« Adam holte Foto um Foto aus dem Wasser und hängte sie auf. »Du verlierst garantiert.« »Wir kriegen nie wieder ein Visum. Jetzt würden die uns schon gar keins mehr geben. Inzwischen musst du mindestens fünfzig sein, sagt die Gabriel.« »Die Gabriel, die Gabriel. Die erzählt viel, wenn der Tag lang ist.« »Das hier ist schön. Ist das rot?« »Blau, Seide.« »Warum machst du keine Farbfotos?« »Die Seide hat sie sich mitbringen lassen, die Seide, und das hier ...« Adam hielt ein Foto hoch, auf dem eine junge Frau in kurzem Rock und einer weiten Bluse zu sehen war. »Schweineteuer das Zeug, sogar im Westen, aber das spürst du gar nicht auf der Haut, so fein ist das.« Adam faltete ein nasses Foto zusammen und Warfes in den Papierkorb. »Was machst du?« »Das war nix.« »Warum nicht?« »Zu dunkel.« Evelyn griff in den Papierkorb. »Der Hintergrund ist voller schwarzer Locher«, sagte Adam. »Ist das LÜH?« »Richtig!« Evelyn warf das Foto zurück und ging hinaus in den Vorraum zu dem Regal mit dem eingeweckten Obst. »Das wird auch nicht weniger. Willst du Birne oder Apfel?« »Ist noch Quitte da? Mach die Tür zu!« Adam schaltete das Licht aus und wartete, bis die Tür ins Schloss fiel. »Von 85, wenn das hier eine Fünf ist«, rief Evelyn von draußen. »Ist doch egal.« Er zog das halbe Blatt aus der Verpackung, legte es unter den Apparat, wählte ein neues Negativ, stellte scharf und drückte den 10
Knopf der Zeitschaltuhr. Adam brummte in derselben Tonlage mit. »Willst du auch ein Schälchen?« »Später.« »Gehst du heut ins Museum?« »Haben die Führungen schon wieder begonnen?« »Ja, und ich verpass mal wieder alles.« »Ich kann auch nicht, hab noch ne Anprobe«, sagte Adam. Einen Moment blieb es still. Er ließ das Blatt in die Flüssigkeit gleiten, drückte es nach unten. Im Vorraum klackte der Lichtschalter. »Evi?« Er hörte wieder das Klirren der leeren Flaschen. »Evi!«, rief er und wollte ihr schon nach, doch im nächsten Moment beugte er sich tiefer über die Schale, als wollte er sichergehen, dass die Frau, die dort gerade lachend und mit ausgebreiteten Armen erschien, tatsächlich ihn ansah.
Lilli Einige Stunden später an diesem 19. August 1989, einem Sonnabend kniete Adam, ein halbes Dutzend Stecknadeln im Mund, das Maßband um den Hals, zu Füßen einer Frau Mitte vierzig. Sie hatte ihre Bluse abgelegt und fächelte sich mit dem »Magazin« Luft zu. Die Hitze nistete in dem ausgebauten Dachboden, obwohl die Giebelfenster und die Dachluke geöffnet waren. Die Nähmaschine war bereits abgedeckt, der Tisch, an dem er zuschnitt, aufgeräumt; die Scheren lagen der Größe nach geordnet, daneben die Garnrollen und Bänder, Dreiecke, Lineale, Schablonen, die Schneiderkreide, die Zigarrenschachtel mit den Rasierklingen und das Kästchen für die Knopfe, 11
an dem ein Foto lehnte. Selbst das Tablett, darauf zwei halbvolle Gläser Tee und eine Zuckerdose, stand parallel zur Tischkante. Unter dem Tisch stapelten sich die Stoffballen. Aus den Boxen des Plattenspielers kam Musik, von Kratzern durchsetzt. »Ist das Vivaldi?«, fragte Lilli. »Haydn«, presste Adam zwischen den Lippen hervor, »nicht einziehen!« »Was?« »Nicht einziehen!« Adam steckte den Rockbund neu fest. »Ich verstehe nicht, warum du Daniela nicht nimmst. Sie ist schön, sie ist jung und sie zahlt, was du verlangst. Sie will einfach nur mal ne schicke Klamotte. Außerdem hat ihr Vater ne Werkstatt, ist zwar für Skoda, aber wenn mal was ist, helfen die dir. Es eilt auch nicht. Daniela stellt sich ganz hinten an.« Sie warf das »Magazin« auf den Tisch. »Wann fahrt ihr eigentlich? Hast du den neuen Lada schon?« Adam schüttelte den Kopf. Lilli betrachtete im Spiegel ihren linken Oberarm, der halb erhoben war, und zupfte an ihrer Frisur. Adams Finger fuhr ein Stück im Bund ihres Rocks entlang. »Du brauchst gar nicht zu knurren«, sagte sie. »Ich zieh nicht den Bauch ein, ich bin doch keine Anfängerin!« Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. »Kürzer, finde ich«, sagte Lilli. Adam schlug den Saum um, sah in den Spiegel und schüttelte den Kopf. »Nicht? So sieht man ja überhaupt kein Bein«, sagte Lilli. Adam steckte die Lange ab und lächelte, was ihn merkwürdig traurig aussehen ließ. »Was denn?«, rief sie. »Sag mal, die Gürtelschlaufen könnten größer 12
sein.« Adam fasste Lilli an den Hüften, drehte sie herum und nahm die Nadeln aus dem Mund. »Da kommt ein Schlitz hin, ein Schlitz, verstehst du? Sie sollen danach schielen, sich die Hälse verrenken. Und sieh zu, dass du einen schmalen Gürtel auftreibst, was Elegantes. Hier kriegst du deine zwanzig Zentimeter, ungefähr zwanzig von hier ab.« Er steckte wieder eine Nadel fest und richtete sich endlich auf. »So, jetzt die Schuhe, dreh mal ein paar Runden.« Lilli fuhr in ihre braunen Pumps» lief zum Fenster, wo sie, auf die Zehenspitzen gestellt, eine schnelle Wendung vollführte, um dann zur anderen Giebelwand zu gehen, wo sie erneut kehrtmachte. Adam hatte die Zigarre aus dem kupfernen Aschenbecher genommen und so dann, bis die Spitze aufglühte. Lilli blieb vor ihm stehen, die Hände in die Hüften gestützt. »Ich kann gar nicht glauben, dass ich das dort bin. Bei dir werde sogar ich fotogen!« »Weiter, weiter«, sagte er. Als Lilli ihn wieder passierte, wedelte sie mit einer Hand, woraufhin Adam die Zigarre aus dem Mund nahm und ihr den Rauch in den Nacken blies. »Das reicht, komm her!«, rief er. »Hast doch den Bauch eingezogen.« Adam wollte mit dem Finger auf die kleine Wulst über ihrem Rockbund tippen, Lilli wich zurück. Sie tat, als hätte sie ihn nicht gehört, und strich ihr Haar nach hinten. Auch sie schwitzte. 13
Adam zog den zweiten Spiegel heran. »Hier, an der Kellerfalte, da muss ich was wegnehmen. Sonst fällt es sehr gut.« Unter Adams Händen spannte sie ihren Hintern an. »Eigentlich bin ich froh, dass du Daniela nicht willst. Nachher findest du noch Gefallen an so jungen Hüpfern. Das Futter ist toll, fühlt sich gut an. Wo hast du das her? Wenn ich nicht gleich ersticken würde, würde ich schnurren. Kannst du den Stinkestumpen nicht mal wegtun! Du kriegst noch Lungenkrebs.« »Den Webfehler hier, den hol ich rein, der verschwindet dann fast«, sagte er und steckte ein paar Nadeln neben die Kellerfalte. »Zu Hause riechen sie immer, dass ich bei dir war. Und dabei wasche ich mir schon jedes Mal die Haare.« Adam zog vorsichtig am Rock. »Sitzt, wackelt und hat Luft«, sagte er. »Dreh dich um.« Und als sie ihn fragend ansah, wiederholte er: »Umdrehen! Und mach das Ding hier ab!« Lill i löste den Verschluss ihres BHs, streifte die Träger ab und ließ ihn zwischen Daumen und Zeigefinger baumeln. »Zufrieden?«, fragte sie, als der BH zu Boden fiel. Adam nahm die Kostümjacke von der großen Schneiderpuppe. Lilli streckte die Arme nach hinten, schlüpfte in die Ärmel, zog sich die Jacke über die Schultern und drehte sich um. Unverwandt blickte sie ihm in die Augen, während er die Jacke mit Nadeln schloss. »Ich hab ein paar Knöpfe dafür gefunden, im Antiquitätenladen, rares Zeug, echt Perlmutt, Vorkriegsware, hätte mein alter Herr gesagt.« 14
Adam trat einen Schritt zurück. »Na und? Streck mal die Arme vor, beide - und zur Seite ... Ich hab's tailliert]0 Ist es zu eng?« »Wieso denn!«, sagte Lilli und sah in den zweiten Spiegel. »Entweder findest du noch einen ordentlichen BH, oder du ziehst nichts drunter, am besten nichts drunter. Den mittleren Knopf noch ein bisschen höher, und hier was weg, hüben wie drüben, siehst du, das sorgt allein für die richtige Form.« Er trat zur Seite und beobachtete, wie sich Lilli zwischen den Spiegeln hin und her drehte, ihre Hände flach auf die Taille legte und über den Stoff strich. »Ach, Adam«, sagte Lilli, als gerade das letzte Duett begann. »Ich müsste dir jedes Mal einen Strauß Rosen schenken!« Adam blies kleine Wölkchen in Richtung Dachluke. Eine Weile war nur die Musik zu hören, als lauschten beide dem Gesang. »Einen ganzen Rosengarten verdienst du!« Adam legte die Zigarre auf dem Fensterbrett ab, die Spitze ragte über die Kante. »Kannst sicher sein«, sagte er, »da gibt's für jeden was zu sehen, von vorn und von hinten und im Profil.« Er nahm das halbvolle Teeglas, rührte noch einmal um, leckte den Löffel ab, trank es aus und trat dicht hinter Lilli. Einen Moment betrachtete er ihre unzähligen Kopien in den Spiegeln. Dann schotf er ihr den Löffelstiel zwischen die Brüste, wo er stecken blieb. »Siehst du, was hab ich gesagt, du brauchst nichts weiter.« Der Löffel hielt selbst dann noch, als Lilli schon mit dem Rücken auf dem Tisch 15
lag und Adam, der ihren Rock vorsichtig nach oben geschoben hatte, sich in ihr bewegte. »Nicht so schnell«, sagte Lilli. »Und pass auf, du tropfst auf mein Kostüm!« Adam wischte sich die Stirn mit dem Ärmel ab und schob das Knopfkästchen und ihr Foto etwas weiter nach hinten. Bei den letzten Takten des Schlusschors ergriff Lilli das Maßband, das noch um Adams Hals hing, und zog ihn daran zu sich herab, bis seine Augen ganz dicht vor ihren erschienen. »Adam«, flüsterte sie, »Adam, du haust doch nicht ab, stimmt's?« Sie rang nach Luft. »Du kommst zurück, Adam, du bleibst doch hier!?« »Was soll der Quatsch?«, sagte Adam. Er sah den Schweiß auf Lillis Oberlippe, er spürte ihren Atem im Gesicht, unter seiner rechten Hand hämmerte ihr Herz wie wild. »Versprich es mir, Adam, versprich es mir«, rief Lilli plötzlich so laut, dass er ihr reflexartig den Mund zuhielt. Dabei rutschte der Löffel aus ihrem Dekollete. Adam nahm ihn von ihrer Schulter und stellte ihn zurück in sein Glas, aus dem nun leise ein last glöckchenklares Klingeln zu hören war.
Adam, wo bist du? Als Adam ihre Stimme und dann die Schritte auf der Holztreppe hörte, geschah es, dass er sich hinter den Schrank rechts von der Tür drückte. Lilli, die in der Wanne hockte, sah ihn angststarr an. Es klopfte, Lilli drehte die Brause ab, Evelyn trat ein. »Ich habe«, rief sie - und 16
sagte dann fast tonlos: »gekündigt.« Lilli, Seifenschaum an Armen und Schultern, stieg aus der Wanne. »Entschuldigung«, sagte Evelyn und machte kehrt. »Adam?«, rief sie draußen. »Adam, wo bist du?« Sie lief hinauf ins Atelier. Er wusste, wie es da oben aussah. Lilli versuchte ihren Slip nach oben zu ziehen, der ihr zusammengeringelt in den Kniekehlen hing. Über ihren glänzenden Rücken hinweg sah Adam in den Garten. Auf dem frisch gemähten Rasen hüpften Amseln, Spatzen und eine Elster umher. Das Unkraut in den angrenzenden Beeten hatte er in den letzten Tagen gezogen, der Zaun war im Mai neu gestrichen worden. Auf dem Feuerplatz neben der Garageneinfahrt lag ordentlich eingerollt der Wasserschlauch. Die Schildkröte in ihrem kleinen Gehege hatte sich verkrochen. Langsam kam Evelyn die Treppe herunter. Vor der Badezimmertür blieb sie stehen. »Adam, bist du hier drinnen?« Sie öffnete die Tür. »Adam?« «Entschuldigung«, flüsterte Lilli. Sie hatte den Slip nach oben gezerrt, der ihre Hüfte nun wie eine Kordel umspannte, und ein Handtuch unter die Achselhöhlen geklemmt, um ihre Brüste zu bedecken. »Entschuldigung«, wiederholte sie. »Haben Sie Adam gesehen?« Lilli sah zum Fenster, als suchte sie ihn draußen im Garten. Warum sagte sie nichts? Ich bin weit, weit weg, dachte Adam. Da stand Evelyn bereits vor ihm. Er musste lächeln, weil sie noch die weiße Bluse und den schwarzen Rock samt Servierschürze anhatte. »Wer ist das?«, fragte 17
Evelyn und deutete mit dem Kopf zu Lilli. Sie griff sich das Handtuch, das am Waschbecken hing, und warf es Adam vor die Brust. Von da fiel es zu Boden. »Wer ist diese Frau? « Er hob das Handtuch auf und hielt es sich wie einen Lendenschurz vor. »Entschuldigung«, flüsterte Lilli. »Sind das deine Anproben?« Lilli blickte kurz auf, sah jedoch gleich wieder zu Boden. »Es war so heiß«, sagte Adam. »Sag ihr, dass sie sich abduschen soll, das bringt ja jetzt auch nichts mehr.« An der Tür hielt Evelyn kurz inne und betrachtete Lilli, die etwas vorgebeugt dastand, die Oberarme an den Körper gepresst, und versuchte, den weißen Slip zu entrollen und über ihren Hintern zu ziehen. Adam zählte Evelyns Schritte. Auf der Schwelle ihres Zimmers schien sie zu verharren. Er fürchtete, dass sie umkehren und wieder ins Bad kommen könnte. Doch dann knallte die Tür. Das Ächzen ihres alten Sofas war in der Stille des Hauses gut zu hören. Adam saß am Küchentisch und kehrte mit den Fingern die Brotkrümel beisiite. Es tat gut, den Kopf in die Hände zu stützen. Vor ihm, neben dem geöffneten Quittenglas, lag eine Papiertüte voll lilafarbener Früchte. Sie sahen aus wie kleine Zwiebeln, doch durch das Papier hatten sie sich weich angefühlt. Er wagte es nicht, die Früchte in die Hand zu nehmen. Vielleicht war er schon damit zu weit 18
gegangen, die Tüte von der Treppe in die Küche zu tragen. Adam, barfuß, ein Handtuch um die Hüfte, hatte seine und Lillis Sachen im Atelier zusammengesucht und war von ihr wieder nach oben geschickt worden, weil er ohne BH und auch ohne das Foto zurückgekehrt war. Wieder musste er an Evelyns Zimmer vorbei, wieder über die knarrenden Stufen hinauf und wieder zurück - aber nur mit ihrem Foto. Evelyn habe wohl ihren neuen BH verschwinden lassen, hatte Lilli gezischt, war aber gleich darauf in Tränen ausgebrochen. Ihr fortwährendes »Was kann ich denn tun?« hatte Adam verleitet, »halb so schlimm« zu flüstern, »ist alles halb so schlimm«. Dabei hatte er nur gewollt, dass Lilli endlich den Mund hielt. Jedes weitere Wort fesselte ihn nur noch mehr an sie. Nein, er war nicht zurechnungsfähig gewesen. Wie hätte er sonst, statt sich anzuziehen, im Bademantel hinter Lilli hergehen können, um Evelyns Fahrrad aufzuheben, das am Quittenstamm heruntergerutscht war. Dabei hatte sich sein Bademantel geöffnet. Deutlicher hätte er den Nachbarn gar nicht vorführen können, was soeben passiert war. Vorher hätte Lilli den Mund aufmachen sollen, nicht erst, als alles zu spät war. »Er ist im Garten. Ich glaube, er ist draußen im Garten.« Mehr nicht. Er wäre ins Atelier entwischt, und gut. Nichts wäre passiert, gar nichts. 19
Zurück im Haus, hatte Adam für einen Moment tatsächlich geglaubt, es sei alles in Ordnung, wie es immer in Ordnung gewesen war, sobald er sein Haus betrat. Deshalb hatte er Evelyns Schlüsselbund aufgehängt und die Tüte in die Küche getragen. Sie ließ ihre Sachen immer irgendwo liegen. Das halbvolle Schälchen mit Quittenkompott hatte er auf der Brotbüchse entdeckt und in den Kühlschrank gestellt. Statt sich ein Brett zu nehmen, hatte sie das Brot auf der Zeitung geschnitten - neuerdings kaufte sie ständig dieses Käseblatt. An ihm war es wieder gewesen, die Zeitung über dem Waschbecken auszuschütteln, zusammenzufalten und in den Keller zum Altpapier zu bringen. Er hatte gestutzt, weil die Museumsführung »Geschichte der Laokoon-Gruppe« mit Filzstift markiert war, obwohl Evelyn doch wusste, dass sie keine Zeit dafür haben würde. Evelyn war im ersten Stock hin und her gelaufen. Sie hatte Türen zugeschlagen und wieder aufgerissen, Bücher waren zu Boden gefallen. Wäre er nicht verpflichtet gewesen, nach oben zu steigen, den ersten Schritt zu tun? Nun war es wieder still, nur der Kühlschrank surrte. Von Zeit zu Zeit wischte Adam Brotkrümel zur Seite, doch nur, um danach wieder dieselbe Haltung einzunehmen. Er war dankbar für jede Minute, die er am Küchentisch sitzen durfte, ohne etwas sagen zu müssen. Plötzlich spürte er den Schmerz. Es brannte unter dem Brustbein, als wäre dort etwas Festes stecken geblieben. 20
Adam sah sich bereits auf dem Küchenboden liegen, ohnmächtig, Evelyn in der Tür. Plötzlich fürchtete er, Evelyn würde sich etwas antun. Doch kurz darauf die Klospülung und dann ihre Schritte zu hören ängstigte ihn nicht weniger. Adam stand auf. Die Tüte in der einen Hand, mit der anderen seine Brust massierend, blickte er zur Decke, als könnte er Evelyn sehen. Alles, was ihm einfiel, war, sie um Entschuldigung zu bitten. Er ging zur Treppe, setzte sich auf die zweite Stufe und legte die Tüte neben sich. Enttäuscht registrierte Adam, dass der Schmerz nachließ. Die Ellbogen auf den Knien, stützte er mit beiden Händen seinen Kopf, der ihm, je länger er so verharrte, unnatürlich schwer erschien.
Der Auszug Adam erhob sich wie zum Duell. Evelyn blieb ein paar Stufen über ihm stehen und setzte den Koffer ab. Das grüne Zelt behielt sie unter dem Arm. Sie lächelte. »Ich geh zu Simone, erst mal.« »Erst mal?« »Na ja, mal sehen, sie hat auch ein Visum, vielleicht fahren wir zusammen.« Adam wollte sie korrigieren, das, was in ihren Ausweisen klebte, war kein Visum. Doch dann fragte er nur: »Und wohin?« »Na, wohin schon, in die Karibik!«Adam ließ den Knauf des Treppengeländers los, damit es nicht so aussah, als versperrte er ihr den Weg. Er hätte gern beide Hände in die Hosentaschen gesteckt, doch in der Linken hielt er die Papiertüte mit den Früch21
ten, die er beim Aufstehen ergriffen hatte. »Willst du nicht warten?« »Worauf?« »Wollen wir denn nicht reden?« »Worüber?« Adam verzog gequält den Mund. »Über das, was passiert ist.« Er konnte seinen Blick kaum von den hellroten Zehennägeln losreißen, die aus ihren Sandalen hervo rleuchteten. »Wenn du mir etwas zu sagen hast.« Sie nahm das Zelt wie ein Baby in die Arme und setzte sich halb auf den Koffer. »Es tut mir leid» entschuldige bitte.« Er sah ihr ins Gesicht, gerade so lange, dass er ihr Nicken wahrnahm. Dann fiel sein Blick wieder auf ihre Füße. Als ihn vorhin die Angst umtrieb, sie könnte sich etwas antun, hatte sie sich wohl die Nägel lackiert. »Es tut mir sehr, sehr leid.« »Mir tut es auch sehr, sehr leid» Adam.« Evelyn nickte dabei so übertrieben, als spräche sie mit einem Kind. »Und wenn ich dir nun sage, dass da nichts, gar nichts von dem war, was du glaubst, Lilli und ich kennen uns ...« »Was soll das denn?«, unterbrach sie ihn. »Wieso?« »Du lügst.« Sie klang resigniert, ais habe sie diese Wendung befürchtet. »Ich geh, bevor du noch mehr Unsinn redest.« »Was soll ich denn sagen?!« »Du wolltest reden.« Evelyn stand auf. »Willst du einfach so abhauen?« »Einfach so< ist gut. Ich versuche hier nur wegzukommen, bevor der große Hammer fällt.« »Welcher Hammer?« »Bevor ich wirklich begreife, was passiert ist.« »Es liat nichts, gar nichts zu bedeuten!« »Ah ja?« 22
»Wenn ich's dir sage!« »Für mich bedeutet das praktisch alles.« »Du kannst in jede Ecke leuchten, es bedeutet nichts, nichts, verstehst du? Du kannst mich alles fragen!« »Was denn? Wie lange es schon so geht? Ist Renate Horn aus Markkleeberg die Einzige? Macht dich üppiges Fleisch an? Brauchst du was Nuttiges, um in Fahrt zu kommen? Traust du dich nicht bei mir? Geht es um Abwechslung? Will der Schöpfer eine Belohnung? Machst du sie dir durch deine Dienste gefügig, oder kommen sie, weil ihnen zu Hause nichts mehr geboten wird?« Adam zog die Lippen ein und massierte mit der freien Hand seine Brust. »Ich hatte immer gehofft, dass ich davon nichts mitkriegen muss, dass ich1' nicht gezwungen werde, ernsthaft darüber nachzudenken, wie das bei euch abläuft, wenn deine Geschöpfe Seidenblusen auf nackter Haut tragen oder diese monströsen Dekolletes, die Ärsche, die du ihnen besser verkleinerst als jeder Chirurg ...« »Evi sagte er und schlug mit seiner Rechten auf den Knauf des Treppengeländers. »Ich hatte gehofft, dass der Verrat nur meine Schuhe betrifft oder den Garten oder die Couch, von mir aus hätte sie dir ... wenn du das brauchst, von mir aus! Aber ich wollte das nicht wissen, ich wollte das nicht sehen und nicht spüren, verstehst du? Als ich wegrannte vom Ratskeller, war da plötzlich dieser kleine Mann im Ohr, und der sagte, pass auf, pass bloß auf! Aber ich hab nicht daraufgehört. Und jetzt hab ich's 23
gespürt und gesehen, und jetzt ist Schluss. Ende der Durchsage.« Evelyn ergriff ihren Koffer, das Zelt unter dem linken Arm, und stieg die letzten Stufen hinunter, bis sie Adam fast berührte. Ihr Blick ging über ihn hinweg. Sie wartete, dass er den Weg freigab. Adam trat zur Seite, die Tüte hielt er mit beiden Händen wie einen Blumenstrauß vor der Brust. »Und warum kündigst du?« »Nicht jetzt.« »Nun sag schon.« Adam lehnte sich gegen die Wand. »Sie haben mich beklaut, wenn du's wissen willst, und dann haben sie mir auch noch vorgeworfen, dass ich mich darüber aufrege.« »Und was? Was haben sie geklaut?« »Parfüm.« »Dein Parfüm?« »Mein Parfüm.« »Das ich dir ...« »Nein. Ich hatt's gerad geschenkt bekommen.« »Aha.« »Simone war da, mit ihrem Cousin, der hat mir das mitgebracht, weil ...« »Der vom letzten Jahr? Dieser blasierte Affe? Setz doch den Koffer ab.« »Immerhin hat er sich gemerkt, dass ich das Parfüm gut fand. Ich hab's in meinen Spind getan, und dann war s weg.« »Ist das Zeug hier auch von ihm?« Adam hielt ihr die Tüte hin. »Du musst nicht so angewidert tun. Das sind frische Feigen.« »Sowie der dich angebaggert hat, du hast selbst gesagt ...« »Warum soll ich mich denn nicht anbaggern lassen?« »Von dem?« »Du meinst, ich hätte dir den Westkontakt melden sollen? Das wollte ich sogar, aber du warst ja be24
schäftigt! Leider! Nichts zu machen!« »Ich hab dir gesagt...« »Ich hab gesagt, ich rede gern über alles, aber zuerst will ich mein Eigentum16 zurück. Und da hat die Gabriel gesagt, dass sie sich solche Verdächtigungen verbittet. Ich hab gefragt, ob das ihr letztes Wort ist, und als sie dabei blieb, hab ich gesagt, dass ich jetzt meinen Urlaub nehme. Sie hat verlangt, dass ich bis zum Schichtende arbeite und morgen auch noch, da hab ich gekündigt, aus und Schluss.« »Und der feine Cousin hat draußen gesessen, gelächelt und dich empfangen!« »Quatsch, die waren längst weg.« »Ich dachte, du findest den aufdringlich?« »Soll ich sagen, das nehme ich nicht an, ich muss erst mal meinen Mann und meine Chefin fragen?« »Und jetzt gehst du zu ihm?« »Ach, Adam. Wenn dir weiter nichts einfällt.« Evelyn nahm im Vorraum ihren Schlüssel und öffnete die Haustür. »Du hättest dich wenigstens passend anziehen können«, sagte er. »Wie bitte?« »Grün und blau ist Kasper seine Frau.« Adam folgte ihr hinaus und half ihr, Koffer und Zelt auf dem Gepäckträger festzuklemmen. »Soll ich dich bringen?«, fragte er. »Das wird nicht halten.« »Warte mal«, sagte Evelyn, ging nach hinten in den Garten, setzte sich auf die kleinen Holzbohlen und kraulte mit einem Finger die Schildkröte unter dem Kopf. »Sei nett zu Elfriede«, sagte sie und krempelte das rechte Ho25
senbein ein Stück auf. »Jeden Tag frisches Wasser. Und mach nachts das Gitter drüber wegen der Marder.« Adam ging vor Evelyn her, offnere die Gartenpforte und gab ihr die Tüte mit den Feigen. »Danke«, sagte Evelyn und fuhr an. Nach wenigen Metern rutschte das Zelt zur Seite. Adam sah noch, wie Evelyn mit der Hand, die die Tüte hielt, nach hinten griff. Er lief zurück ins Haus und schloss hinter sich die Tür so vorsichtig, als befürchtete er, jemanden zu wecken. »Das wird nicht halten«, sagte er plötzlich und wiederholte diesen Satz mehrmals, wahrend er sich schon wieder seine Brust massierte.
Warum lügt Adam schon wieder? Adam wollte sich hinlegen und die Augen schließen, wenigstens für ein paar Minuten. Doch die Vorstellung, irgendwann wieder aufstehen zu müssen, hielt ihn auf den Beinen. Er stieg hinauf ins Atelier. Vorsichtig strich er Lillis Rock glatt und befestigte ihn an der Schneiderpuppe, darüber das Oberteil. Nachdem er die Platte zurück in die Hülle gesteckt, den Plattenspieler ausgeschaltet, die Fenster geschlossen und die Dachluke bis auf einen kleinen Spalt zugemacht harte!' nahm er das Tablett mit den leeren Glasern und der Zuckerdose und wandte sich zum Gehen, da fiel sein Blick auf das leuchtende Weiß in dem Spalt zwischen Wand und der geöffneten Tür - Lillis BH. Auf dem oberen Körbchen war ein dunkler Halbkreis zu sehen, der Abdruck seines Schuhs. Adam balancierte das 26
Tablett mit einer Hand, nahm den BH zwischen die Finger, als wollte er die Qualität des Stoffes prüfen, drückte ihn sich dann aber wie eine Maske aufs Gesicht - er roch nach nichts - und hängte ihn zurück an die Klinke. Als er an Evelyns Zimmer vorbeikam, warf er einen Blick hinein. Es war aufgeräumt, die weiße Bluse, ihren schwarzen Rock und die Servierschürze harte sie zusammengefaltet und auf das Sofa gelegt, darunter standen ihre Kellnerinnenschuhe. In der Küche wäre er fast auf eine Feige getreten. Sie musste ihm aus der Tüte gefallen sein. Selbst beim Abwaschen sah er Evelyn vor sich, wie sie ihn angeblickt hatte und dann Lilli. Er rieb weiter am Glasrand, obwohl der Abdruck von Lillis Lippenstift längst verschwunden war. Das bringt ja jetzt auch nichts mehr, dachte er und horte sich einen Laut ausstoßen, ein Ächzen oder einen Kampfschrei, etwas, was er gern wiederholt hätte, nur kräftiger noch, das Gesicht zur Decke gerichtet. Er schlug ins Spülwasser, Lillis Glas knallte auf den Boden des Beckens. Adam trocknete sich nicht mal die Hände ab. Er warf die Tür hinter sich zu und lief zur Garage. Rückwärts fuhr er den alten Wartburg heraus. Mit dem erstbesten Lappen, den er in der Garage fand, wischte er Staub und Spinnweben von den beiden 20-Liter-Kanistern und verstaute sie im Kofferraum. Adam fuhr bis zur Puschkinstraße und dann nach links, in einem Bogen um die Altstadt. Als er das Museum passierte, kam eine Gruppe heraus, die Füh27
rung war offenbar gerade erst zu Ende. Manchmal konnte man schon von hier das Ende der Autoschlange sehen. Doch Adam hatte Glück, unverschämtes Glück, wie Evelyn gesagt hätte. Er zählte sieben Wagen vor sich. Kaum war der Motor ausgeschaltet und die Handbremse angezogen, ging es weiter. Adams rot-weißer Wartburg 311 gehörte zu den Autos, die der Tankwart, ein kleiner Mann mit schwarzen Haaren und großer Brille, mochte. Letzten Herbst hatte er Adam ungefragt eine fehlende Radkappe beschafft und Adams zweifach gefalteten Geldschein unbesehen in der Brusttasche seines blauen Overalls verschwinden lassen. »Na, isc das Leben noch frisch?« Adam nickte. Er beeilte sich, die Kanister aus dem Kofferraum zu nehmen, solange der Wagen hinter ihm noch nicht heran war. Er öffnete sie und stellte sie neben die Zapfsäule. »Wohin soll's denn gehen?« »Warnemünde«, sagte Adam. Er wusste selbst nicht, warum er log. »So ein Glückspilz. Etwa ins >Neptum?« »Privatquartier«, antwortete Adam, ging zurück zum Kofferraum und tat, als würde er dort etwas suchen. Unter der alten Decke fand er das Vogel- und das Pflanzenbestimmungsbuch seines Vaters. Er legte die Decke zusammen, lächelte und richtete sich wieder auf, die Bücher unter dem Arm. »Gibt's vom Schloss was Neues?«, fragte Adam. Von hier sah man die Lücke, die der Brand zwei Jahre zuvor hinterlassen hatte. »In vierzig Jahren soll die Junkerei wieder stehen«, sagte der Tank28
wart, ohne den Blick von den Kanistern zu wenden. »In der Teichstraße«, sagte Adam, »gab's nach dem Krieg noch zwanzig Kneipen. Mein Vater hat immer mal versucht, in jeder ein Bier zu trinken, aber geschafft hat er das nie. Und jetzt? Jetzt gibt's noch eine.« Plötzlich hatte Adam den Verdacht, der Tankwart habe ihm diese Geschichte erzählt. »Und die eine macht auch bald dicht«, sagte der Tankwart, drückte mit dem Handballen den zweiten Kanister zu, zog einen Kuli hinter dem Ohr hervor und notierte die Summe. Dann kurbelte er die Anzeige der Zapfsäule auf null und begann den Wagen zu betanken. »Und sonst?«, fragte Adam. Der Tankwart sah vor sich hin, als müsste er über diese Frage gut nachdenken. »Eigentlich hätt ich schon Urlaub«, sagte er schließlich. »Aber wenn die Kollegin wegbleibt...« Adam gab ihm zwei Mark Trinkgeld. »Momentchen«, sagte der Tankwart. Die Hand auf seiner Beincasche, kehrte er aus dem Büro zurück »Kennen Sie das?« Er stellte sich mit dem Rücken zu dem Skoda hinter ihnen, zog eine Spraydose hervor, schüttelte sie, ging vor dem Kühler in die Hocke, spritzte einen Klecks Schaum auf die verchromte Stoßstange und verrieb ihn. »Na, ist das was?« Die Stelle glänzte tatsächlich heller. Adam hoffte, der Tankwart werde nun auch den Rest der Stoßstange damit behandeln, doch der erhob sich. »Haben Sie noch so ne Dose?« »Nee-e-e!«, meckerte der Tankwart. »Hab ich mir bei den Tschechen besorgt. 29
Wollte Sie fragen, falls Sie mal hinkommen, ob Sie mir eine mitbringen.« »Wir fahren nach Warnemünde«, sagte Adam. »Nur wenn sich's ergibt, dass Sie dran denken ...« »Gern«, sagte Adam und nickte. »Da denk ich dran. Haben Sie vielleicht nen Einfiilltrichter?« »Für Sie hab ich doch alles.« Mit der Dose in der Beintasche verschwand der Tankwart wieder. Adam rundete großzügig auf. Wortlos ließ der Tankwart das Geld in seiner Brusttasche verschwinden. Sie verabschiedeten sich mit Handschlag. Im Rückspiegel sah Adam, wie der Tankwart eine rot-weiße Kette vor die Zufahrt hängte, ihm aber noch immer nachsah, als wollte er sich sein Kennzeichen einprägen. Adam bog hinter der Bartholomäikirche nach rechts in die Ebertstraße, überquerte die Dr.-Külz-Straße, hielt sich dann links und kam endlich in die Martin-Luther-Straße. Neben der Haustür von Nummer 15 stand Evelyns Fahrrad, und direkt gegenüber, auf der anderen Seite, ein roter Passat-Kombi mit West-Nummernschild, das mit den Buchstaben HH begann. Ihm fiel keine Stadt ein, in deren Name zweimal H vorkam. Adam hatte Hunger. Zu Hause zwang er sich zur Sorgfalt, dekorierte den Wurstteller mit Gurken, stellte Senf, Meerrettich und das Schälchen mit Quittenkompott auf das Tablett, dazu zwei Teller, auf die er die beiden Stoffservietten in ihren silbernen Ringen legte. Nachdem er das Wachstuch auf dem Gartentisch abgewischt hatte, 30
holte er die Schildkröte aus ihrem kleinen Freigehege und setzte sie auf den Tisch, wie es Evelyn immer getan hatte. Die Schildkröte kroch näher zum Teller. Adam achtete darauf, langsam zu essen und langsam zu trinken. Der Abendwind war angenehm, auf dem Dachfirst sang eine Amsel. Zum Schluss versuchte er die Feige zu schälen, schnitt sie schließlich in der Mitte durch und aß sie mit dem Löffel. Den Rest legte er vor die Schildkröte, die sofort daran zu knabbern begann. Die Gegenwart des Tiers tat ihm gut, als wäre er schon zu lange allein gewesen. Es dämmerte bereits, als Adam den Gartenschlauch nahm und die Beete und Sträucher goss. Bei der Gartenarbeit kamen ihm immer die besten Ideen, deshalb lag im Schuppen auch ein Schreibblock, auf dem er seine Einfälle mit einem Zimmermannsbleistift skizzieren konnte. Zwischendurch setzte er die Schildkröte ins Gras, sprach mit den Nachbarn und säuberte den kleinen Teich, von dessen Rand vier Frösche aus Sandstein dünne Fontänen spuckten. Er freute sich wieder über den flachen Stein, den er im Frühling in die Mitte des Beckens gelegt hatte, kaum höher als der Wasserspiegel, ideal für die Vögel. Nachdem im Garten alles getan war, und die Schildkröte wieder in ihrem Gehege herumkroch, genehmigte er sich eine zweite Flasche Bier und eine Zigarre. Käme Evelyn, würde sie sehen, dass er sie nicht nur erwartet hatte, sondern dass er sich auch an die Absprache hielt, nur im Atelier oder draußen zu rauchen. 31
Jeder Gedanke geriet Adam zu einer Rechtfertigung, als würde er verhört, als dürfte es keine Unsicherheit, keinen Widerspruch in seinem Kopf geben. Selbst dass er hier saß und rauchte, schien ihm bereits mit Uhrzeit und Datum in einem Protokoll festgehalten zu sein. Er musste noch den Mülleimer leeren, die Fenster kontrollieren, auch im Keller, und darauf achten, dass alle Zimmertüren offen blieben, die Stecker herausziehen, das Wasser im Kühlschrank aufwischen, packen und für die Schildkröte einen Karton finden. Zur Belohnung würde er sich rasieren und duschen. Adam stellte gerade den Wecker, als es an der Haustür klingelte. Der Tankwart, schoss es ihm durch den Kopf. Aber warum der Tankwart? Evelyn! Er schaltete das Außenlicht an und öffnete. »Ach, Sie«, sagte er. Der Telegrammbote grüßte und reichte ihm ein Kuvert. Auf der Suche nach dem Portemonnaie klopfte Adam sein Jackett ab, das auf einem Bügel am Garderobenschrank hing. Er drückte dem Telegrammboten eine Mark in die Hand und wartete, bis er auf das im Leerlauf tuckernde Moped gestiegen und abgefahren war. »sonntag verhindert montag nachmittag? monika. Adam verzog den Mund und setzte sich auf die Treppe. An alles hatte er gedacht, nur nicht an die Frauen. Er nahm die Pappe, die in der Nische neben der Tür zwischen seinen Gartenschuhen steckte, und fächelte sich Luft zu. »Bin im Garten«, hatte er vor Jahren mit Rotstift 32
daraufgeschrieben, damit seine Kundinnen, falls er ihr Klingeln überhörte, nicht glaubten, er hätte sie versetzt. Einige reisten sogar aus Leipzig, Gera oder Karl-MarxStadt an. Etwa zwanzig Postkarten musste er schreiben: »Bin kurzfristig bis Anfang September im Urlaub, Gruß Adam.« Er hatte Zeit, es war schon alles gepackt. Die Zeitung hatte er ohnehin Anfang des Jahres abbestellt. Für alles andere war der Briefkasten groß genug. Er steckte das Schild zurück zwischen die schweren Schuhe. »Wer nicht lügt, braucht sich auch nicht zu verstecken«, sagte er plötzlich, stand auf und schloss von innen ab. Einen Moment erwog er, den Schlüssel stecken zu lassen - und zog ihn dann wie immer heraus. Er war es gewohnt, dass Evelyn spät kam. Adam nahm noch ihren Strohhut, den er manchmal selbst bei der Gartenarbeit trug, vom Schrank und legte ihn auf den gepackten Koffer. Den Karton für die Schildkröte polsterte er mit Stoffresten aus und stellte einen Wassernapf hinein. Bis kurz nach zwölf Uhr waren mehrere Fenster erleuchtet, vermerkte Adam in seinem imaginären Protokoll während des Zähneputzens, spülte den Mund aus, gurgelte kurz und ging ins Bett.
Der Morgen danach Obwohl Adam schon lange keinen Wecker mehr benutzt hatte, erwachte er wie früher kurz vor dem Klingeln. Wie jeden Morgen stellte er sich seinen Tod vor. Heute jedoch 33
beunruhigte ihn dieser Gedanke mehr, als dass er ihn tröstete. Im Schlafanzug ging er nach unten ins Wohnzimmer, öffnete den alten Sekretär, entnahm ihm die Schmuckschatulle und band sich die Glashütter Uhr um, Evelyns Geschenk zu seinem zweiunddreißigsten Geburtstag. Um die Schatulle im Koffer verstauen zu können, musste das zweite Paar Halbschuhe wieder heraus. Zum Frühstück aß er das Quittenkompott und spülte das leere Glas aus. Den Löffel trocknete er ab und legte ihn zurück in den Besteckkasten. Als das Auto gepackt war, schraubte er im Haus die Sicherungen heraus. In der Martin-Luther-Straße erkannte er schon von weitem den roten Passat-Kombi. Evelyns Fahrrad lehnte nicht mehr am Haus. Adam hielt, kurbelte die Scheibe nach unten und sah hinauf zu den geöffneten Fenstern im zweiten Stock. Gegen die hohen Räume mit ihren Stuckdecken und den Jugendstil-Schiebetüren wirkte sein Häuschen aus den Dreißigern plebejisch, eine Klitsche. Adam fuhr bis ans Ende der Straße, wendete und manövrierte den Wagen in die nächstgelegene Parklücke, drei Autos entfernt von der Haustür. Um diese über eine Hecke hinweg beobachten zu können, musste er sich aufrecht setzen. Die Schildkröte rührte sich nicht. Er stieg aus und zündete sich eine Zigarre an. Bis auf entfernte Straßengeräusche waren nur Vögel zu hören. Adam inspizierte den Passat. Die Rückbank war von Bonbonpapier und Krümeln übersät. Den Fahrersitz bedeckte ein Über34
wurf aus Holzkugeln, ein Anblick, bei dem Adam das Gesicht verzog. Der Sitz war so weit zurückgeschoben, dass dahinter bestenfalls für ein Kind Platz blieb. Adam trat vom Fußweg aus gegen den Vorderreifen. Er brauchte nur sein Taschenmesser aufzuklappen und zweimal kurz in die Knie zu gehen, schon säßen sie hier fest. Er ließ Wagen- und Zündschlüssel um seinen Zeigefinger kreisen, schlenderte die Straße hinauf, warf den Stapel Postkarten in den Briefkasten, kehrte zurück und rauchte, an den Wartburg gelehnt, seine Zigarre auf. Den Stummel ließ er fallen, der verschwand im Gully, ohne das Abflussgitter zu berühren. Adam nahm den Becher von der Thermoskanne ab und füllte ihn zur Hälfte. Vorsichtig nippte er daran, blies auf den Kaffee, nippte erneut, hielt sich den Plastebecher unter die Nase und lächelte. So roch Urlaub. So roch Urlaub von jeher. Er erinnerte sich nicht, wann er das letzte Mal aus der Thermoskanne getrunken hatte. Dabei gab es keinen Geruch, der mehr zu ihm gehörte als dieser, der Ferien, Freundin, Freiheit bedeutete. Ihm war, als würde der Druck von seinen Schläfen weichen, als könnte er wieder atmen. »Wir gehen auf große Fahrt, Elfi«, sagte er, setzte sich den Strohhut auf und schob ihn mit dem Zeigefinger aus der Stirn. Plötzlich erschien ihm alles sehr einfach.
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Der Aufbruch Adam erwachte von einem Klopfen. »Ich hab's dir gesagt, ich haLVs gerochen ...« Simone und Evelyn sahen zu ihm herein. Obwohl er sich im Sitzen aufrichtete, klopfte Simone weiter gegen die Scheibe. Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Adam nahm den Hut und öffnete die Tür. »Guten Morgen«, sagte er. »Was soll das?«, fragte Evelyn. »Bist du unter die Spione gegangen?« »Ich hab's gewusst!« Simone schlug mit der flachen Hand auf das Wagendach. »Das ist Adam, der steht unten und quarzt.« »Auf der Straße darf man ja wohl noch rauchen!?« »Was soll das, Adam?« »Ich wollte dich nicht wecken, ich weiß ja nicht, wann ihr aufsteht. Aber den Strohhut, den solltest du mitnehmen.« »Danke«, sagte Evelyn. »Noch was?« »Ist schön, dich wiederzusehen.« »Gestern hast du nicht diesen Eindruck gemacht.« »Gestern war ein schrecklicher Tag.« »Da hast du ausnahmsweise mal recht.« Sie musterten sich gegenseitig. »Ist sonst noch was?« »Eigentlich schon.« Adam sah von ihr zu Simone und dann wieder zu ihr. »Ich komm gleich«, sagte Evelyn. Simone verdrehte die Augen. »Lass dich nicht bequatschen!«, sagte sie un$3 ging zu dem roten Passat, dessen Heckklappe offen stand. »Nun mach's nicht so spannend, Adam, was ist?« »Ich wollte dich fragen, oder besser gesagt, ich wollte dich bitten, ob du mit mir zusammen nach Ungarn fahrst.« Evelyn lachte auf. »Das ist nicht dein 36
Ernst?« »Doch, ist alles vorbereitet. Und Elfi ist auch dabei.« »Du spinnst!« »Unser Heinrich hier«, sagte Adam und tätschelte das Wagendach des Wartburgs, »hält durch, wirklich, hat er mir versprochen.« »Nein, das ist mir zu unsicher, in jeder Beziehung. Mach's gut.« »Dann mit dem Zug, wie du gesagt hast, Evi, bitte.« »Damit kommst du genau einen Tag zu spät, Adam, tschüss, wir fahren.« Evelyn drehte sich um und ging davon. »Evi!«, rief Adam. »Evi!« Er wollte noch fragen, warum sie einen Rock von Simone trug. Evelyn warf den Hut hinten in den Wagen, die Heckklappe des Passats wurde heruntergedrückt - nun sah er den Cousin und erinnerte sich wieder. Michael hieß er. Michael war groß, Mitte vierzig vielleicht. Er trug Jeans und ein weites weißes Hemd, das die Rötung seines Gesichts hervorhob. Die Heckklappe ließ sich erst nach mehreren Versuchen schließen. Aus Michaels Feuerzeug schoss eine hohe Flamme. Er nestelte daran herum, bis die Flamme fast verschwunden war, zündete sich eine Zigarette an und stopfte die Schachtel zurück in die Brusttasche. Mit ausgestreckten Armen öffnete er beide Wagentüren gleichzeitig. Simone kam Evelyn zuvor und zwängte sich nach hinten. Evelyn protestierte, sie stritten miteinander und lachten. Michael wartete stumm wie ein Diener. Adai^ warf sich hinters Lenkrad. Obwohl er geradeaus sah, nahm er im Vorbeifahren dennoch wahr, dass sie ihn ans37
tarrten. Michael nickte ihm sogar zu. Adam versuchte, an der nächsten Kreuzung zu wenden; er war gezwungen zu rangieren. Doch als sich der rote Passat in Bewegung setzte, bog Adam gerade wieder in die Martin-Luther-Straße ein und schloss dichter zu ihnen auf, als es der vorgeschriebene Sicherheitsabstand erlaubte. Er folgte ihnen hinunter zur Poliklinik, an der Tankstelle bogen sie nach rechts, fuhren unterhalb des Schlosses am Theater vorbei und dann nach links durch die Straße der Arbeitereinheit zum Großen Teich. Die Ampel schaltete auf Gelb, der Passat stoppte abrupt, Adam glaubte den Knall schon zu hören - doch es geschah nichts. Er stieg aus, ging nach vorn und klopfte gegen di£4 Scheibe hinter dem Fahrersitz. Die Musik war so laut, dass sie ihn nicht hörten. Sogar Evelyn rauchte. Simone schrie kurz auf, als sie ihn erblickte. »Der Hut, ihr zerquetscht den Strohhut!«, rief Adam. Er wunderte sich, dass sie ihn nicht bemerkt hatten, wenigstens Michael hätte ihn doch im Außenspiegel erkennen müssen. Adam ging zurück, legte den ersten Gang ein und wartete. Als der Passat anfuhr und auf der ansteigenden Straße zur Stadt hinaus beschleunigte, fiel Adam zurück. Doch er kannte den Weg. Sie würden durch Gößnitz fahren, bei Meerane die Autobahn überqueren und dann weiter in Richtung Zwickau. Er tippte auf Bad Brambach als Grenzübergang, auf der tschechoslowakischen Seite wür38
den sie Cheb durchqueren. Oder sie wählten die östliche Route über Oberwiesenthal und Karlovy Vary, die erste ausländische Stadt, die er mit seinen Eltern besucht hatte. Oder gab es noch andere Übergänge? Was Michael durch Raserei gewann, wollte Adam durch Beständigkeit wettmachen. An der Ampel in Gößnitz wartete der rote Passat hinter einem Lastwagen. Der Strohhut klemmte immer noch an der Heckscheibe. Als es weiterging, vergrößerte Adam den Abstand, um dem Auspuffqualm des Lastwagens zu entgehen. Kaum hatten sie die Stadt durchquert, hielt der Passat, ohne zu blinken, am Straßenrand. Adam fuhr ebenfalls rechts ran. Evelyn sprang heraus und kam auf ihn zu. Auch die Sandalen mit den halbhohen Absätzen waren neu. »Du machst dich lächerlich, Adam, was soll das?« Adam versuchte auszusteigen, doch Evelyn stand zu dicht vor ihm, er hätte sie mit der Tür wegschieben müssen. »Willst du uns nachfahren? Ist das dein Ernst?« Hupend raste ein Auto vorbei, Evelyn drückte sich an den Wartburg. »Lass mich mal raus«, rief Adam. Evelyn wollte weitersprechen, doch ein paar Haarsträhnen wehten ihr vor den Mund. »Adam«, sagte sie, als sie sich gegenüberstanden. »Das ist nicht lustig, was du hier machst.« »Was soll ich denn machen?!« »Nichts, gar nichts! Kapierst du nicht, was gestern passiert ist, was du getan hast?« »Ich liebe dich.« »Das fällt dir zu spät ein.« »Ich will mit dir zusammen sein!« 39
»Aber ich nicht mit dir!" Evelyn ließ sich von Adam vor den Wagen drängen, damit sie nicht mehr auf der Straße standen. »Und du lässt mich jetzt in Ruhe, kapiert! Außerdem ist das Tierquälerei! Wenn sie Zugluft abkriegt das kann tödlich sein!« Evelyn redete gegen den Lärm der vorüberfahrenden Autos an und schlang ihr Haar zu einem Knoten. Adam musste sich beherrschen, um nicht die Arme auszustrecken und sie an sich zu ziehen. »Wir können doch zu viert Urlaub machen, die beiden und ...« »Lass mich in Ruhe! Das ist alles, was ich von dir will.« »Hat er dir auch Sandalen geschenkt?« Evelyn stieß einen hohen Laut aus. »Das geht dich einen Dreck an!« »Rauchst du wieder?« »Das geht dich nichts an!« Sie schnippte mit den Fingern. »Nicht so viel.« Beim zweiten Mal misslang das Schnippen. Sie lief zurück zum Passat. »Ihr zerquetscht den Hut!« Evelyn winkte ab, ohne sich umzudrehen, ihr Haarknoten löste sich. »Es ist sinnlos, sinnlos!«, hörte er sie sagen, als sie einstieg. Sie knallte die Tür zu, der Passat preschte los. Der Abstand zwischen den beiden Wagen wuchs schnell. Doch zu seiner großen Befriedigung sah Adam noch, wie der Strohhut von der Heckscheibe verschwand.
Umwege Adam lächelte, weil sich Michael an die Geschwindigkeitsbegrenzung hielt. Sie fuhren an Meerane vorbei, an jener Häuserreihe, die ihn immer an die Bauten seiner 40
Spielzeugeisenbahn erinnerten. Als der Passat zu blinken begann, schreckte Adam auf. Sie bogen auf die Autobahn in Richtung Karl-Marx-Stadt. Die Autobahn war das Flussbett, in dem er die Spur verlieren sollte. Aber was machte das schon, ob sie ihn hier abhängten oder in der Tschechoslowakei. Selbst wenn sie sich mit den Westmark des Cousins ein anderes Quartier am Balaton nahmen, statt sich bei Pepis Familie einzuquartieren, er würde sie finden. Nur darauf kam es an. Und irgendwann würde Evelyn verstehen, wie ernst es ihm war. In der Auffahrt wäre er fast aus der Kurve getragen worden. Dann musste er halten, um einen ganzen Pulk von Wagen vorbeizulassen. Wenige Kilometer hinter Glauchau hatte er den roten Passat jedoch wieder vor sich, der nicht mal hundert fuhr, so dass Adam ihn sogar überholte. Zuerst wollte er so tun, als bemerkte er sie nicht, wandte dann aber den Kopf und grüßte mit der Hand. Michael lächelte, die Frauen unterhielten sich und rauchten schon wieder. Am Berg trat er das Gaspedal ganz durch. Als sie die Steigung überwunden hatten und es hinunter nach Karl-Marx-Stadt ging, fuhr Adam schneller. Der rote Passat folgte. Adam drosselte plötzlich das Tempo, starrte in den Rückspiegel, immer gewärtig, noch im letzten Augenblick mit dem Passat die Ausfahrt zu nehmen. Vor Dresden, an der Wilsdruffer Tankstelle, blinkte Michael frühzeitig. Adam reihte sich rechts in die Schlange ein, der Passat links, so dass Evelyn direkt neben ihm ausstieg. Sie 41
verschwand mit Simone. Adam stellte den Motor ab und öffnete die Tür. Für ihn lohnte das Tanken kaum, aber wer konnte schon wissen, wofür diese paar Liter gut sein würden. »Wir kennen uns doch«, rief Michael. Er hatte sich über den Beifahrersitz gebeugt und Hielt die Hand zum offenen Fenster hin. »Michael, Monas Cousin.« »Ich weiß«, sagte Adam und machte zwei Schritte hinüber zu ihm. »Hallo.« Adam war es fast immer unangenehm, mit Männern zu reden, die aus dem Westen kamen, selbst wenn sie älter waren als er. »Da haben wir ja noch eine schöne Tour vor uns«, rief Michael. »Kann man wohl sagen.« Adam sah auf Michaels Hand, die mit den Fingerkuppen die herabgekurbelte Scheibe berührte. Die braunen Stellen an Zeige- und Mittelfinger ergaben zusammen ein Oval. Jemand mit solchen Nikotinflecken kam für Evelyn nicht in Frage. »Bis später«, sagte Michael. »Wohin fahrt ihr jetzt?« »Dresden, Hauptbahnhof, Mona kennt sich aus.« »Na dann«, sagte Adam und schob den Wartburg im Leerlauf weiter. Als die Frauen zurückkehrten, konnte er sehen, dass Evelyn eine Gänsehaut an den Unterarmen hatte. Adam blieb ruhig, als der Passat eher abfuhr. Hinab ins Elbtal ließ er den Wagen rollen. Er sah die Dresdner Kirchtürme, den Rathausturm, sogar den Fernsehturm auf den Höhenzügen stromaufwärts, wo es diesig wurde, so dass er die beiden Plateaufelsen, die links und rechts des Flusses den Eingang zum Elbsandsteingebirge 42
markierten, nur erahnen konnte. Adam entschied sich für die erste Abfahrt, folgte den Hinweisschildern und verfuhr sich. Erst als die Moscheekuppel der Tabakfabrik vor ihm auftauchte, wusste er wieder Bescheid. Auf dem Vorplatz des Hauptbahnhofs fand er eine Parklücke. Er ließ das Fenster einen Spalt offen und packte den Fotoapparat in die Umhängetasche. Einen roten Passat sah er nirgends. Der »Pannonia« nach Sofia über Budapest ging kurz nach drei, also in einer halben Stunde, der »Metropol« nach Budapest erst abends halb acht. Mit dem Finger suchte er die Spalten des Fahrplans ab - er hatte nichts übersehen. Adam stellte sich an einem Imbissstand in die Reihe. Wahrscheinlich machtet' sich die drei einen schönen Nachmittag in Dresden und fuhren erst abends, denn mit dem »Pannonia« kämen sie mitten in der Nacht an. Jetzt ärgerte er sich, dass sie so spät aufgebrochen waren. Bis zum Balaton schaffte man es an einem Tag. Er beschloss, allein weiterzufahren und Evelyn bei Pepi, die ja nicht nur ihre Freundin war, zu erwarten. Adam verlangte zwei Bockwürste, klaubte das Wechselgeld von der Untertasse, hängte sich die Tasche um den Hals und nahm die Pappe mit den Würsten und die Brötchen von der Theke - da eilten die drei vorüber, Evelyn mit Hut, den grünen Zeltsack im Arm, ihre Absätze klackerten. Michael trug ihren Koffer auf der Schulter, wie es Adam nur aus alten Filmen kannte. Simone schlitterte in ihren Sandalen über die Fliesen. Sie steuerten die südli43
chen Hochbahnsteige an und liefen gleich die erste Treppe hinauf. Prag, 14.39 Uhr. Wieso hatte er nicht an Prag gedacht? Eine Weile blieb er ratlos stehen. Ein älterer Mann keuchte an ihm vorbei die Treppe hinauf, hielt plötzlich vorgebeugt inne, die Koffer schräg auf den Stufen. Für einen Moment schien es, als verlöre er das Gleichgewicht. Ein Brötchen im Mund, das andere auf die Pappe mit den Würsten gepresst, griff sich Adam einen der Koffer und trug ihn hinauf. Der Mann schleppte den anderen mit beiden Händen. Oben angekommen, hörte Adam den Pfiff zur Abfahrt. Er riss die nächste Waggontür auf, wuchtete den Koffer hinein, danach den zweiten, half dem Mann im grauen Anzug hinauf und warf die Tür hinter ihm zu. Adam nahm das Brötchen aus dem Mund, der Zug fuhr an, hinter der Scheibe bewegten sich die Hände des Mannes. Michael kam ihm entgegen. Er ließ Evelyns Strohhut um seinen aufgestellten Zeigefinger kreisen. Adam wartete, bis Michael ihn erkannte. »Willst du eine?« Michael schüttelte den Kopf, langte aber schließlich zu und nahm sich auch das zweite Brötchen. Sie setzten sich auf eine Bank. Adam hielt die Pappe wie einen Aschenbecher in der Hand, obwohl Michael immer erst mit seiner Wurst in den Senf tippte, wenn Adam ihn durch eine Geste dazu aufforderte. »Wohin fährst du jetzt?« »Wir treffen uns in Prag.« »Über Zinnwald?« 44
»Mona meinte, Bad Schandau sei besser.« »An der Elbe entlang fahren alle.« »Ich kenne mich da nicht aus«, sagte Michael. »Wollte sie den Hut nicht?« »Doch.« »Harre wohl Angst, ihn zu verlieren?« »Hm. Du meinst, über Zinnwald ist es besser?« Adam nickte, wischte mit dem Zipfel der Wurst den Rest Senf auf und steckte die Pappe in den überfüllten Papierkorb. In der Bahnhofshalle blieb Adam vor dem Fahrplan stehen. »Jede volle Stunde unterm Reiterstandbild vom Wenzel«, sagte Michael. Sie verließen Dresden in südlicher Richtung. Als sie an einer der letzten Ampelkreuzungen halten mussten, füllte sich Adam hastig den weißen Becher mit Kaffee und trank. Wie auf Bestellung kehrte der Urlaubsgeschmack zurück, so dass Adam tatsächlich nichts einfiel, was er gerade lieber getan hätte, als in seinem Auto zu sitzen und an den Balaton zu fahren. Nur um Elfi machte er sich Sorgen.
Die erste Grenze Zwischen Allenberg und Zinnwald, die Serpentinen wanden sich empor zum Kamm des östlichen Erzgebirges, fuhr Adam auf einen Rastplatz. An einem der Tische hockten zwei Männer, einen davon hielt Adam zuerst für den Tankwart, weil der ihn so unverwandt ansah, als kennte er ihn. Michael folgte Adam in den Wald. Nebe45
neinander pinkelten sie einen Abhang hinunter, aus dem übler Gestank heraufzog. »Ich hab ne Tasche von Evelyn dabei«, sagte Michael, ohne den Kopf zu wenden. »Das ist keine gute Idee.« »Glaubst du?« »Ja.« »Und was soll ich tun?« »Um was zu tun, ist's vielleicht schon zu spät.« »Meinst du, die filmen uns?« »Die beiden Typen da sind strafversetzt, die müssen hier Tag für Tag picknicken.« »Merde«, sagte Michael. Zurück am Wagen, stellte Adam die Thermoskanne und den Beutel mit dem Proviant auf den Holztisch, der klebrig war, voller Staub und Insekten. Die beiden Männer hatten sich in einen weißen Lada verzogen. »Besser, du tust auch was her«, flüsterte Adam, während er die Thermoskanne aufschraubte. Michael stellte eine Tasche auf die Bank und legte Evelyns Strohhut darauf. »Die hatte sie in ihrem Koffer.« Eine Windböe rauschte durch die Kiefern und Fichten, deren Spitzen braun und kahl waren. »Mann, das stinkt«, sagte Adam. Michael zog mit den Lippen eine filterlose Zigarette aus der Packung und klappte sein silberfarbenes Feuerzeug auf. Die Flamme war wieder viel zu groß. »Ist das Kaffee?« Michael blies den Rauch über Adams Kopf. »Willst du?« »Echter Kaffee?« Michael roch an der Thermoskanne. »Ist gut«, sagte Adam. Vorsichtig nahm Michael den Becher und schlürfte. »Das war dumm von Evi. Dich filzen sie garantiert.« »Mona hat gesagt, für mich würden die 46
sich nicht interessieren, weil die mit euch beschäftigt sind. Ich weiß ja auch nicht.« »Ich hab die Typen dort zu spät gesehen, ich hätte hier nicht halten dürfen.« »Und was sag ich, wenn sie die Tasche finden?« »Hat ne Tramperin vergessen.« »Ich weiß gar nicht, ob wir das dürfen.« »Was?« »Tramper mitnehmen.« »Na und. Hast du reingeschaut?« Michael schüttelte den Kopf und reichte den Becher zurück. »Echt guter Stoff.« Adam schenkte erneut ein. »Danke, das reicht bis morgen.« »Ist genug da.« Michael, die Zigarette zwischen den Lippen, stemmte die Hände in die Hüften und ließ seinen Oberkörper kreisen. Danach legte er die Hände auf die Schultern und bewegte die Arme. Der Lada mit den beiden Männern fuhr an ihnen vorbei in Richtung Grenze. Zum Schluss streckte Michael die Arme nach vorn wie bei einer Schwimmübung. Seine Finger zitterten. »Bist wohl kein Schleusertyp?« »Ich rauch zuviel.« »Wie maus macht, macht man's verkehrt«, sagte Adam, setzte sich Evelyns Hut auf, griff nach Evelyns Sporttasche, die federleicht war, und verstaute sie hinter dem Fahrersitz. »Willst du gar nicht reinschauen?« »Das hätte Evi nicht gern.« »Verstehe.« »Hat sie was gesagt, ich meine, über mich?« »Nur zu Mona.« »Und was?« »Dass da ne andere war, du und . .« »Ich hab ein Kostüm entworfen. Und bei der Hitze ... Evi ist völlig durchgedreht.« Michael nickte. »Aber wenn sie dich filzen?« 47
Adam zuckte mit den Schultern. »Nicht dran denken. Die sind wie Tiere. Die riechen deine Angst, für Angst haben die nen echten Riecher.« »Scharfe Hunde, was?«, fragte Michael. »Wohin wollt ihr denn?« »Zum Plattensee, das hatte ich Mona versprochen.« »Wir treffen uns auf dem ersten Rastplatz hinter der Grenze«, sagte Adam. »Und wenn du nicht durchkommst?« »Dann fahr ich nach Warnemünde.« »Und Evis Tasche?« »Wirst ja sehen, was passiert. Und denk dran, du bist ein freier Mann und besuchst die Heimatländer des Proletariats, deine natürlichen Verbündeten ... In Ortschaften nie über sechzig und Landstraße neunzig!« Adam nahm den Karton mit der Schildkröte, öffnete den Kofferraum und1 0 stellte ihn hinein. »Tut mir leid, Elfi.« Er drückte die Klappe zu. »Beeilung!«, rief er und deutete die Straße hinunter. Ein Containerwagen kroch um die Kurve, hinter ihm eine Schlange von PKWs. An der Grenzstation hielt er hinter dem weißen Lada mit Dresdner Kennzeichen und den beiden Männern. Er stellte den Motor ab, stieg aus und zündete sich eine Zigarre an. Mit dem Rücken an die Fahrertür gelehnt, schloss er die Augen. Hier oben war es eindeutig kühler. Als es weiterging, löste Adam nur die Handbremse und schob seinen Wagen vor dem roten Passat her in Richtung Grenze. Zu spät bemerkte er dann, dass in seiner Reihe zwei Frauen kontrollierten. 48
Einer kommt durch Die Blonde in der olivgrünen Uniform, deren Locken unter dem Käppi hervorquollen, blätterte in seinem Ausweis. Obwohl sie schöne Beine hatte, wirkte sie in dem kurzen Rock steif und unsicher. »Sie fahren in die VR. Ungarn?« »Wollte ich ursprünglich, aber der Urlaub reicht nicht. Der Wagen war kaputt. Trau mich nicht mehr so weit weg mit ihm. Jetzt fahr ich ins tschechische Paradies, bisschen Wandern und so.« Die Brünette mit Dauerwelle umkreiste den Wagen, ihre lackierten Fingernägel trommelten kurz auf die Motorhaube. »Zollkontrolle«, sagte sie und nahm seinen aufgeschlagenen Ausweis von der Blonden entgegen. »Sie haben Kronen und Forint umgetauscht.« »Schon im Juni. Die Forint tausch ich zurück.« »Was führen Sie aus?« »Nichts, alles meine Sachen, Proviant und elf Zigarren, Eigenbedarf.« »Keine Geschenke?« »Nein.« Nach einem Blickwechsel stempelte die Blonde seinen Ausweis, reichte ihn zurück und salutierte nachlässig. »Danke«, sagte Adam und verstaute den Ausweis in der Brusttasche. Im Außenspiegel verfolgte er, wie die beiden gelockten Frauen in den zu kurzen Röcken dem roten Passat entgegenstaksten. Michaels Gesicht schien an der Frontscheibe zu kleben. Adam ließ den Wagen an und fuhr zur tschechoslowakischen Kontrolle. »Dohr? den«, antwortete Adam und reichte den Personalausweis hi49
naus. Er verstellte den Rückspiegel. Adam wiederholte das »na shledanou« des Grenzers. Die Schranke vor ihm hob sich. Als er sich umsah, wurde der rote Passat gerade aus der Reihe gewinkt. Michael stieg aus. Eine Traube Uniformierter umringte ihn. Nach der ersten Biegung hielt Adam, holte den Karton aus dem Kofferraum, stellte ihn auf den Beifahrersitz und öffnete ihn. Die Schildkröte rührte sich nicht. Die Serpentinen nach Teplice, eine herrliche Asphaltstraße, war er noch als Lehrling mit dem Fahrrad hinabgerast. Unten fand sich ein Parkplatz mit einem kleinen Lebensmittelladen, der geschlossen hatte. Adam breitete die Straßenkarte auf der Motorhaube aus und stellte die Thermoskanne auf den oberen Rand. Von Teplice musste er nach Lovosice, einfach immer weiter auf der E5, die zugleich die Hauptstraße Nr. 8 war, bis Prag. Auch in der Stadt war es die Nr. 8, an die er sich zu halten hatte. Zweimal würde er die Moldau überqueren. Wenn er die richtige Abfahrt fand, käme er direkt am Wenzelsplatz heraus. Er faltete den Plan zusammen, so dass er ihn mit einer Hand halten konnte, und schob ihn zur Hälfte unter den Karton. Adam goss sich den Rest Kaffee in den Becher. Hätte er die Verabredung getroffen, dann sicher nicht in Prag, sondern hier in der Nähe, in Usti nad Labern am Bahnhof, so wären sie schnell wieder beisammen gewesen. Er beschloss weiterzufahren, denn bis Michael kam, konnten noch Stunden vergehen. Hinter Terecin nahm er zwei 50
Frauen mit, die nicht viel älter waren als er, aber mit ihren Goldzähnen wie Großmütter wirkten. Jede hielt eine riesige Blechdose randvoll mit großen dunklen Kirschen auf dem Schoß. Die Frauen gerieten wegen der Schildkröte ganz außer sich. Adam gestikulierte, sie sollten ruhig sein und das Tier im Karton lassen. »Ticho«, fiel ihm ein, »ticho«, worauf die Frauen loslachten und selbst »ticho, ticho« riefen. Die Frau auf dem Rücksitz drückte die Schildkröte an ihre Brust. Dann sangen sie zweistimmig für ihn, rieben hin und wieder eine Kirsche an ihren Ärmeln und steckten sie ihm in den Mund. Die Schildkröte begann sich zu bewegen und reckte den Kopf. In Doksany stiegen sie wieder aus. Seine Beifahrerin wedelte mit flacher Hand geradeaus und rief »Praha, Praha«, worauf sie zu lachen anfingen, ohne dass Adam den Grund erriet. Er spuckte eine ganze Batterie Kerne durchs Fenster auf die Straße, worüber sie erneut in ihr Goldzahn-Gelächter ausbrachen und schließlich grußlos mit den Blechdosen davonzogen. Er wollte ihnen schon nach, die Schildkröte fehlte, doch als er den Karton hochhob, sah er sie. »Elfi«, sagte er, als sie den Kopf unter den Panzer zog, »du musst keine Angst haben.« Er hoffte, nicht viel später als Evelyn und Simone in Prag zu sein, geriet jedoch am Stadtrand in eine Umleitung. Vergeblich versuchte er sich an der Moldau und am Hradschin zu orientieren, geisterte durch die Stadt und merkte dann zu spät, dass er bereits den Wenzelsplatz passierte. 51
Als er endlich eine Parklücke gefunden hatte, dämmerte es schon. Adam kraulte die Schildkröte unter dem Kopf, um sie zu beruhigen, setzte sie wieder in den Karton und versuchte Evelyns Tasche zu öffnen. Nach ein paar Zentimetern klemmte der Reißverschluss, er fürchtete, ihn kaputt zu machen allen seinen Kundinnen riet er von Reißverschlüssen ab und war froh, ihn wieder unversehrt schließen zu können. Seine Umhängetasche mit dem Fotoapparat unter dem Arm, die Sporttasche über der Schulter, ihren Hut auf dem Kopf, schloss er den Wagen ab und ging los. Der Abend war warm. Er überlegte, ein Eis zu kaufen, hatte dann aber keine Lust, sich anzustellen. Evelyn und Simone saßen auf den oberen Stufen des Denkmalsockels, den Pferdekopf über sich, Koffer, Zelt und Rucksack vor sich, und blickten auf den Platz. Evelyn sah Adam an, als müsste sie sich erinnern, wer er sei. Simone war aufgesprungen. »Wo kommst du denn her?« »Aus der Deutschen Demokratischen Republik. Sie haben Michael rausgefischt.« »Schweine, Schweine, Schweine!«, rief Simone. »Woher hast du die Tasche?«, fragte Evelyn. »Hat sich so ergeben. Ich fand ...» »Was hat sich ergeben?« »Ihm war das mit der Tasche nicht ganz geheuer, da hab ich sie halt genommen, die riechen doch, wenn einer Angst hat.« »Ich versteh nur Bahnhofe, sagte Evelyn. »Vor der Grenze, Pinkelpause, da hab ich die Tasche genommen. Das waren vielleicht zwei Engelchen, die uns da 52
beschnuppert haben. Und immer so ne beleidigte Fleppe, als wären wir schuld, dass sie in so einer Kluft rumlaufen müssen.« »Erzähl doch mal richtig!« »Ich hab erst gewartet, dachte aber, ich komme lieber schnell, damit ihr Bescheid wisst.« »Haben sie ihn verhaftet?«, fragte Simone. »Glaub nicht, die filzen ihn nur.« Evelyn nahm ihre Tasche. Adam wollte ihr den Hut aufsetzen. Sie wich ihm aus. »Ich tu dir doch nichts«, sagte er und hängte ihr den Hut übers Knie. »Haben sie dich auf uns gehetzt, Adam?!« Simone trat zwischen ihn und Evelyn. »Ist das dein Auftrag?« Adam hoffte, Evelyn würde etwas sagen. Sie hielt Tasche und Hut auf dem Schoß und reagierte nicht. »Klar bin ich auf euch angesetzt, speziell auf dich!« »Das ist nichts für Witze, das macht man nicht.« »Sei froh, dass ich's mache, sonst müsste ich dir eine scheuern.« »Du hast kein Recht, uns zu verfolgen, Adam. Stimmt's, Evi? Er hat kein Recht dazu. Außerdem machst du damit alles nur noch schlimmer!« Evelyn starrte vor sich hin. »Wenigstens mit mir kannste ja reden«, sagte Simone und hockte sich neben sie. Tauben flogen einem Mann auf die Hand, der sie mit Brotkrümeln futterte. Simone verzog angewidert das Gesicht. »Wie lange fährt man von Bad Schandau hierher?« »Wir sind über Zinnwald.« »Wieso denn Zinnwald? War das deine Idee?« »Was heißt meine Idee. Ich hab gesagt, ich fahr über 53
Zinnwald. Der war doch froh, dass er nur hinterherfahren musste.« Simone schüttelte den Kopf. Adam setzte sich schräg unter Evelyn. Nach einer Weile stand er auf und ging zurück zu dem Eisladen. Mit drei Pepsi-Flaschen und drei Vanille-Schoko-Eis kehrte er wieder zurück. »Lass mich einfach nur in Ruhe«, sagte Evelyn, ohne aufzusehen. Simone nahm ihm ein Eis ab. Als Adam zwei Eis gegessen hatte, öffnete er mit dem Taschenmesser die Pepsi-Flaschen. »Nun zieht nicht so ein Gesichte, sagte er, nachdem er ihnen zugeprostet hatte. »Ist doch nichts passiert. Wenn ihr wollt, könnt ihr im Heinrich schlafen, Elfi würde sich freuen.« »Elfriede«, sagte Evelyn. »Elfi passt besser, das kommt von Elfe. Ihr müsse euch keine Sorgen machen. Was können sie ihm denn anhaben? Nichts! Die ärgern ihn ein bisschen, mehr nicht.« Adam stellte sich vor das Denkmal und öffnete die Lederhülle des Fotoapparats. Doch noch bevor er die Blende gewählt hatte, sprangen beide Frauen auf. »Lass das!« »Spinnst du, Adam?!« »Du kannst uns doch nicht einfach fotografieren?!« Adam ließ den Apparat sinken. »Warum denn nicht?« »Weil ich das nicht will! Wir wollen das nicht«, sagte Evelyn. »Hau ab damit!« Adam schloss die Druckknöpfe der Lederhülle und kehrte auf seinen Platz zurück. Er musste plötzlich an die beiden Frauen mit den Goldzähnen denken und daran, wie sie mit den Kirschen seine Lippen berührt hatten. Hinter 54
dunkelblauen Wolkenschlieren erglühte der Himmel in einem tiefroten Licht und versprach für den nächsten Tag trockene Straßen.
Der Verdacht Adam fröstelte. Er hatte der Polizei bereits seinen Ausweis zeigen müssen und war mehrmals von ein paar jungen Leuten, die sich neben ihm niedergelassen hatten, zum Mitsingen aufgefordert worden, einer hatte ihm sogar die Gitarre gereicht. Als auch sie gegangen waren, stand Adam auf, in jeder Hand eine Bierflasche, um sich einen Pullover aus dem Wagen zu holen. Da sah er Michael im Lichtschein eines Autos, er trug einen Koffer. Adam lief ihm entgegen. »Na endlich!« »Wo sind die beiden?« Michaels Stimme klang trocken, fast brüchig. »Die schlafen im Auto.« Adam öffnete die zweite Bierflasche und reichte sie ihm. »War's schlimm?« »Die haben mich bis aufs Hemd ausgezogen.« »Die beiden Engelchen?« »Die haben mir sogar in den Arsch geschaut.« »Das macht man halt so mit Schleusern, prost!« »Warum hast du nicht gewartet?« »Ich dachte, besser einer kommt an als keiner. Prost erst mal.« Sie stießen an. Mit dem Kinn wies Adam den Platz hinunter. »Nur ein paar Schritte.« »Wir harren doch ausgemacht, dass du wartest!« »Dann würden die beiden immer noch hier sitzen und denken, du hattest neu Unfall oder bist verhaftet worden wegen 55
der Tasche.« »Ich war last in Pilsen.« »Wie haste denn das fertiggekriegt?« Michael stellte den Koffer ab und nahm einen Schluck Bier. »Soll ich mal tragen?«, fragte Adam. Simone saß zusammengekauert auf dem Beifahrersitz. Evelyn hatte sich auf die Rückbank gelegt, einen Unterarm über den Augen, die Beine angewinkelt, den offenen Karton mit der Schildkröte auf ihrem Bauch. Michael klopfte auf die Motorhaube. Simone stieß die Beifahrertür gegen das Auto neben ihnen, als sie heraussprang, Evelyn zerrte den Rock über die Knie, der Karton mit der Schildkröte rutschte gegen die Lehne. Michael streckte den Arm mit der Bierflasche zur Seite, als sollte Adam sie ihm abnehmen, ging in die Knie und drückte Simone an sich. »Alles okay?«, fragte sie nach einer Weile. »Alles okay«, sagte Michael. Um Evelyn zu umarmen, musste Michael sich nicht bücken, er küsste sie neben den Mund. »Ich bin so froh, dass du da bist«, sagte Evelyn, »du nimmst mir das nicht übel?« »Was denn?« »Dass ich dir die Tasche gegeben habe?« Michael strich Evelyn durchs Haar. »Die hatten einen Tipp, woher auch immer, so wie die sich aufgeführt haben«, sagte er und stellte die Bierflasche auf den Bordstein. »Sogar in den Tank haben sie geleuchtet.« »Grins nicht, Adam«, rief Simone, »das ist ekelhaft.« »Die haben auseinandergeschraubt, was auseinanderzuschrauben war. Nur ne alte Zeitung, ne uralte Zeitung von vor paar Jahren, die im Ersatzrad steckte, die haben sie 56
mir abgenommen. Und ihr?« »Nichts, nur ein Haufen dummer Fragen«, sagte Evelyn. »Aber im nächsten Anteil hatten sie ne Familie am Wickel. Die mussten alles auspacken, restlos alles.« »Kennt ihr hier ein Hotel?« »Hotel Heinriehl«, sagte Adam. »Dann mal los«, sagte Michael und nahm auch Evelyns Koffer, »andiamo!« Evelyn schüttelte den Pullover aus, den sie als Kopfkissen benutzt hatte, warf ihn sich über den Rücken und verknotete die Ärmel unter dem Hals. »Elfriede hatte kein Wasser mehr«, sagte sie, klemmte das Zelt unter den Arm, nahm die Tasche und hielt sie kurz hoch. »Danke dafür«, sagte sie, ohne Adam anzusehen. »Gern geschehen, gute Nacht«, erwiderte er und machte eine Geste, als würde er ihr den Vortritt lassen. »Gute Nacht«, sagte sie, »und komm gut heim.« Simone, die mit dem Rucksack auf dem Rücken gewartet hatte, griff sich einen der Trageriemen der Tasche. Sie liefen jetzt schnell, um nicht zu weit hinter Michael zurückzubleiben. Die Tasche schlingerte und tänzelte zwischen ihnen auf und ab. Adam setzte die Schildkröte wieder in den Karton und schlich ihnen nach. Auf dem Wenzelsplatz verschwanden die drei plötzlich im Eingang des Hotels »Jalta«. Adam blieb eine Weile davor stehen. Als er das Foyer betrat, war es fast leer und noch angenehm warm. Hinter dem Portier hingen mehrere Schlüssel, in einigen Fächern steckten Pässe. »Dobry vecer«, sagte Adam. »Wie viel kostet 57
ein Einzelzimmer?« Der Portier lächelte. »Achthundert Kronen, mein Herr.« »Für eine Nacht?« Der Portier nickte. »Danke«, sagte Adam und ging. Er lief den Wenzelsplatz hinauf und dann nach links zum Bahnhof. In der Toilette rasierte sich ein untersetzter Mann am Waschbecken und summte laut; sein schwarzes Brusthaar quoll ihm aus dem Unterhemd, die Gürtelschnalle war geöffnet. Adam hockte sich aufs Klo. Er hörte auf die Melodie und dann auf die Geräusche, die der Mann von sich gab, als er sich das Gesicht wusch. Der Wasserhahn wurde abgedreht. Der Mann rief etwas, er wiederholte es, er schien auf eine Antwort zu warten; doch plötzlich fing er an zu singen und singend verließ er die Toilette. Als Adam ans Waschbecken trat, lag am Rand ein kleines Stück Seife, verpackt, ganz neu, allein für ihn. Vor dem Wartburg stand noch immer Michaels Bierflasche. Adam hielt sie hoch, wie um zu prüfen, ob sie leer war, und schüttete das Bier in den Rinnstein. Mit angezogenen Knien legte er sich auf die Rückbank und blickte direkt auf Evelyns Strohhut, der hinter dem Fahrersitz lag. Obwohl er müde war, konnte er nicht einschlafen. Er wunderte sich, wie laut es war. Immer wieder erschienen Gesichter an den Scheiben und glotzten herein, angelockt von dem Oldtimer - wie einer sagte. Jedes Mal schraken sie zurück, wenn sie ihn erblickten. 58
Am Morgen wurde er von einem Knall geweckt. Er setzte sich auf. Eine Kehrmaschine entfernte sich, der Berufsverkehr hatte bereits begonnen. Die Hoteltür stand offen. Doch statt des Portiers von gestern saß eine junge Frau mit hellblonden strohigen Haaren an der Rezeption, die nur kurz aufsah und seinen Gruß nicht erwiderte. Er setzte sich in einen der klobigen Sessel im Foyer. Als ihn die Hellblonde auf Tschechisch anfuhr, sagte er, »Ich warte auf jemanden«, und schlug die Beine übereinander. Nur wenn sich die Fahrstuhltüren öffneten oder jemand aus dem Frühstücksraum kam, hob er den Kopf. Es duftete nach Kaffee. Er beobachtete, wie die Frau die Pflanzen in den Kübeln neben der Rezeption goss und mit ihren langen weißen Fingernägeln vertrocknete Blätter abknipste. Adam wurde von einer knochigen Hand auf seiner Schulter geweckt. »Ich warte auf Evelyn Schumann, meine Frau«, sagte er. Er hörte Evelyns Namen aus dem Mund des Kellners, aber die Hellblonde hinter dem Tresen schüttelte den Kopf. Adam ging zu ihr und fragte nach Michael. »Michael, Michael«, wiederholte er. Schließlich drehte die Hellblonde das große Buch auf dem Tresen zu ihm herum und zeigte auf ein Feld, in dem der Eintrag »1 +2« mit roten Diagonalen durchgestrichen war. »Sie sind abgereist«, sagte der Kellner, »Sie müssen woanders suchen.« Adam sah ihn an. Der Kellner schwieg und zuckte schließlich mit den Schultern. 59
»Tja, dann werde ich sie mal woanders suchen«, sagte Adam und verabschiedete sich mit einem festen Händedruck.
Eine neue Frau Etwa zwanzig Kilometer vor Brno, an der Raststätte Devtfizu, hielt Adam, um zu tanken. Dann erwischte er eine Parklücke nicht weit vom Selbstbedienungsrestaurant. Mit Rasierzeug, Umhängetasche samt Fotoapparat und einem frischen Hemd ging er zu den Toiletten. Der Waschraum schien für Leute wie ihn gemacht, es gab Seife und unter dem Spiegel eine Konsole. Nur das Wasser blieb kalt. Vorsichtig begann er mit der Rasur. Er hätte sich fast geschnitten, weil ihn ein kräftiger Mann, der das Wasser von seinen Händen schüttelte, am Ellbogen stieß. Ihre Blicke trafen sich kurz im Spiegel. Der Mann, auf dessen Unterarm eine vollbusige Nixe tätowiert war, brummte etwas, was Adam als Entschuldigung nahm. Er wusch sich unter den Achseln, zog das frische Hemd an, das alte band er sich um die Hüften. Als er den vom Küchendunst schwülen Raum betrat, begann er zu schwitzen, Zigarettenrauch hing über den Köpfen, es roch nach Bier. Adam griff nach einem Tablett. Obwohl es nass war, legte er das Besteck darauf und wartete, dass die Schlange vorrückte. Zwischen den besetzten Tischen stand eine Familie; die überladenen Tabletts in Händen, drehten sie sich ratlos im Kreis. Das Stimmengewirr wurde immer 60
wieder von Lachsalven durchbrochen, als wäre man auf einer Feier. Adam bestellte Knödel mit Schweinefleisch, nahm sich die letzten zwei mit einem Zipfel Mayonnaise verzierten Salamibrote und ein Cremetörtchen, dazu eine grüne Limonade. Am Fenstertisch zog er einen freien Stuhl zurück und fragte »mozno?«. Da niemand antwortete, setzte er sich. Das Tablett auf dem Schoß, schob er einige Gläser zur Seite und stellte die einzelnen Teller vor sich hin. Die Limonade war ungenießbar süß. »Könnten Sie mich mitnehmen?« Eine junge Frau mit kurzen Haaren und hellbraunen Augen sah ihn an. »Es wäre dringend.« Sie setzte eine blaue Kraxe neben ihm ab. »Und wohin?« »Nach Prag?« »Ich fahr in die andere Richtung.« »Macht nichts.« Zwei Tische weiter rief ihr ein bulliger Typ in einer beigen Kunstlederweste etwas zu. Er hielt eine Handtasche hoch. Sie ging hinüber. Als sie zugreifen wollte, zog er die Tasche weg, doch beim zweiten Versuch entriss sie ihm die Handtasche, worauf er schallend lachte. »Nehmen Sie mich mit?« Adam nickte. »Danke«, sagte sie und blieb einfach vor ihm stehen. Ihm war es unangenehm, in ihrer Gegenwart weiterzuessen. »Wollen Sie was?«, fragte er und hob den Teller mit den Schnitten hoch. »Gern«, sagte sie und stopfte sich ein Salamibrot in den Mund. Adam bot ihr auch die Limonade an und rückte ein wenig auf dem Stuhl zur Seite. »Essen Sie die Knödel nicht mehr?« Sie setzte sich mit auf seinen 61
Stuhl und begann zu essen. Im Verhältnis zu ihrem athletischen Körper erschien ihm ihr Kopf klein. Plötzlich stand der Mann in der Weste neben ihnen. Er sprach laut, sein Zeigefinger bewegte sich auf und ab, als erkläre er etwas. Adam spürte, wie sich die junge Frau an ihn drückte, auch wenn sie weiteraß und tat, als hörte und sähe sie nichts. Als der Mann endlich schwieg, hatte Adam das Gefühl, der ganze Raum sei verstummt. Er schob seinen rechten Arm auf die Stuhllehne. Der Westenmann fragte etwas, er wiederholte seine Frage. Adam zögerte noch, den Arm um ihre Schulter zu legen, da lachte der Mann neben ihnen auf, holte sein Portemonnaie heraus, hämmerte einen Geldschein neben den leeren Teller und kehrte auf seinen Platz zurück. »Gott sei Dank«, flüsterte sie und steckte das Geld ein. Adam trug ihr die schwere Kraxe nach draußen und verstaute sie auf der Rückbank. »Danke, ich heiße Katja.« Sie gaben sich die Hand. »Adam«, sagte er, hielt ihr die Beifahrertür auf und wartete, bis sie im Sitzen ihre Wanderschuhe gegeneinandergeschlagen hatte, um den gröbsten Dreck von den Sohlen zu bekommen. »Ach«, rief Katja, als sie die Schildkröte sah, »da reisen wir ja zu dritt!« Unter den Blicken aus dem Raststättenfenster startete Adam den Wagen, der Rückwärtsgang ließ sich problemlos einlegen. »Vielen Dank noch mal«, sagte Katja. »Was war denn mit diesem Holzfäller los?« »Die haben mich mitgenommen.« Sie hustete. »Die üblichen 62
Missverständnisse.« »Und woher kommen Sie?« »Irgendwo dort«, sagte Katja und zeigte zur Frontscheibe hinaus. »Und wohin wollen Sie?« sWeiß ich noch nicht«, sagte Katja, hustete, drehte sich, so gut es ging, zur Seite, ihre Handtasche wie ein Kissen zwischen Tür und Kopf geklemmt, und schloss die Augen. Adam härte sich gern mit ihr unterhalten. Dennoch freute er sich, nicht mehr allein zu sein. Dafür ertrug er sogar den Geruch nach alter Wäsche, der von ihr ausging.
Verhandlungen »Ist Ihnen kalt?« Er griff nach ihrer linken Hand. »Geht's Ihnen nicht gut?« Sie räusperte sich, lächelte, drehte aber den Kopf weg, als er ihr die Stirn fühlen wollte. »Wo sind wir?« »Nicht mehr weit bis Bratislava. Ich brauchte mal ne kleine Pause.« Er wies mit dem Kopf auf die Toiletten neben ihnen. »Ich auch«, sagte Katja und beugte sich zu ihm hinüber, um in den Rückspiegel zu sehen. »Oh Gott, gespenstisch!« »Sie sollten mal Ihre Sachen wechseln.«»Stink ich?« Katja hob den linken Arm und roch an ihrer Achselhöhle. »Das ist doch alles klamm. Hat es hier so viel geregnet?« Katja schüttelte den Kopf. »Ich gebe Ihnen ein paar Sachen von mir. Was haben Sie denn gemacht?« »Ach, blöder Scherz, ist alles ins Wasser gefallen. Könnten wir mein Zeug vielleicht hier irgendwo waschen?« »Und wo?« 63
»Auf nem Zeltplatz. Da gibt's einen ganz in der Nähe.« »Nicht in Ungarn?« »Der Zeltplatz ist wunderschön, nicht weit von der Grenze, die haben sogar Waschmaschinen.« »Ich will heute zum Balaton.« »Mir geht's nicht so gut.« Adam stieg aus. Aus dem Kofferraum nahm er einen Pullover und eine Hose, dann auch Unterwasche und Socken. »Hier, versuchen Sie mal«, sagte er. »Ist wirklich besser so.« Katja stieg aus und verschwand in der Toilette. Die Schildkröte war gegen den Wassernapf gerutscht, der Karton drohte bereits durchzuweichen. Adam breitete die Straßenkarte vor dem Lenkrad aus. »Passt doch ganz gut, oder?«, sagte er dann. Der Pullover war zu kurz, der obere Hosenknopf ließ sich nicht schließen. Katja zog eine Tüte aus der Kraxe und stopfte ihre Sachen hinein. In Socken hockte sie sich auf den Beifahrersitz. »Haben Sie was zu trinken, Tee oder so?« »Nur Klappstullen.« »Kein Obst, einen Apfel?« Von der Rückbank nahm er das Netz mit dem Proviant. »Echte Leberwurst mit Bäckerbrot, allerdings vom Sonnabend, oder Mettwurst.« Er reichte ihr das Netz. »Und wo sind wir jetzt?« »Da ungefähr«, sagte Adam und tippte mehrmals auf die grün eingezeichnete Autobahn. »Und hier«, sagte Katja, wobei sie erst Adams Fingerkuppe auf der Karte streifte, dann aber ihren kleinen Finger auf ein blaues Zeltzeichen weiter entfernt setzte, »hier gibt es Waschmaschinen.« 64
»Die sind ja alle von uns«, sagte Adam, als sie in Zlatna an der Donau, nicht weit von Komärno, auf den Zeltplatz fuhren. »Da vor und dann rechts, dort wird's schön«, dirigierte ihn Katja. Doch als sie abbiegen wollten, versperrten zwei Wohnwagen den Weg. »Pech gehabt. Was für ein Zelt haben Sie?«, fragte Adam. »Ein Fichtelberg, schon bisschen älteres Modell.« »So eins haben wir auch.« Sie wendeten und fanden in der Mitte noch einen Platz. Adam begann das Zelt aufzubauen. Katja ging mit ihrer Kraxe zum Waschraum. Als sie mit dem Rest einer grünen Plasteleine, die voller Knoten war, und ein paar alter?0 Zeitungen zurückkehrte, stand das Zelt. »Da drin kann keiner schlafen«, sagte Adam. »Da holt man sich Rheuma.« »Wir müssen die Seitenleinen spannen.« »Das ändert nichts.« Schweigend betrachteten sie das nasse Zelt. »Ich versuch mal was«, sagte Adam und ging ohne weitere Erklärung zum Eingang des Zeltplatzes. Als er wiederkam, hielt er in der Hand einen armstarken Holzklotz mit einem Schlüssel daran. Katja zerriss eine Zeitung, knüllte die einzelnen Seiten zusammen und stopfte damit ihre Wanderschuhe aus. Die grüne Wäscheleine spannte sich von der vorderen Zeltstange zum rechten Außenspiegel. »Ich hab einen neuen Karton für die Schildkröte aufgetrieben«, sagte Katja, »da rutscht sie während der Fahrt nicht so herum.« »Die letzte Hütte«, sagte Adam und gab ihr den 65
Klotz mit dem Schlüssel. »Kleines Geschenk, zum Auskurieren. Ist für zwei Tage bezahlt.« »Sie fahren?« Adam nickte. »Und wenn ich Sie biete«, sagte Katja und trat näher heran, »wenn ich Sie ganz sehr bitte, bis morgen früh zu warten, eine Nacht? Wir können doch dort zusammen schlafen, das ist für zwei.« »Sogar für vier«, sagte Adam, »aber darum geht's nicht.« »Ich bitte Sie wirklich sehr.« »Ich werde erwartet.« »Bitte, eine Nacht, und morgen früh geht's gleich los.« »Aber warum?« »Wollen wir nicht du sagen?« »Von mir aus.« »Schauen wir uns das Ding da mal an?«, sagte Katja und sah zu der Frau, die sich am Nebenzelt zu schaffen machte und versuchte, einen Hering tiefer in den Boden zu drücken. »Außerdem muss sich die Schildkröte mal erholen. Ich hab sie gebadet, der geht's hier ganz gut, die braucht Bewegung, die wandert hier richtig los. Hat sie einen Namen?« »Elfi«, sagte Adam und setzte sich hinter der Schildkröte auf den Boden. »Elfi«, sagte Katja und kniete sich neben ihn, »Elfi ist schön.« Die vier Tische vor dem Lebensmittelkiosk waren dicht besetzt. Adam schien, als wären die Gespräche mit seinem Auftauchen leiser geworden. Alle sprachen Deutsch, selbst die Bestellungen wurden auf Deutsch aufgegeben. Sie hatten nur noch Würstchen mit Schwarzbrot. Adam kaufte ein Glas Senf, nahm ein großes Bier und aß im Stehen. »Hast ja dein Mädel lange warten lassen. Wo haste denn die ganze Zeit gesteckt?« Vor ihm stand ein Mann 66
Mitte dreißig mit einem verblichenen rotweißen Stoffhut auf dem Kopf »Na, iss mal in Ruhe. Hamse dich nich^1 rübergelassen?« »Emerson Fittipaldi«, entzitferte Adam die schemenhaften Buchstaben auf dem Hut. »Hatte noch zu tun«, sagte er und schluckte den Bissen herunter. Er merkte, dass ihnen bereits andere zuhörten. »Geile Karre«, sagte jemand hinter ihm. »Und was macht ihr jetzt?« »Mal sehen. Wir machen halt Urlaub.« Sein Gegenüber grinste. Adam prostete ihnen zu, setzte das Glas an, trank und trank, starrte auf den grünen Farbklecks, der am Glasboden erschien, trank weiter, hörte die Kommentare um sich herum, trank das Glas aus und setzte es so vorsichtig ab, als wäre es noch ganz voll. »Da hat aber einer Durst gehabte, sagte der mit der FittipaldiMütze. Adam wischte sich mit der Serviette den Mund ab und legte sie zusammengefaltet auf die Pappe. »Dann macht's mal gut.« Die Verkäuferin drückte ihm zwei Kronen Pfand in die geöffnete Hand. »Willste denn nicht noch eins?« »Nee, danke, sonst muss ich zu viel pinkeln, macht's gut«, sagte Adam, griff sich das Senfglas und versuchte, nicht schneller als sonst zu gehen. Als er die Hütte betrat, lag Katja zur Wand gedreht, die Decke bis zu den Ohren hochgezogen. Der neue Karton mit der Schildkröte stand am Kopfende zwischen ihren Betten. »Du willst abhauene, sagte er. Katja rührte sich nicht. »Egal. Ich verstehe ja, dass du mir das nicht gleich auf die Nase binden wolltest. 67
Aber was sind das für Typen? Was hast du denen erzählt?« Er zog seine Hose aus und legte sich auf das freie Bett. »Adam«, flüsterte sie. »Ich hab überhaupt kein Geld mehr.« »Ich kann dir was borgen.« »Ich hab überhaupt nichts, gar nichts mehr. Ich kann dir das auch nicht zurückgeben. Wenn du morgen nach Ungarn fährst, nimmst du mich dann mit?« »Ja natürlich ...« »Ich meine, im Kofferraum. Ich komm sonst nicht rüber.« Adam schwieg. Er sah auf ihre Hand, die reglos über die Bettkante hing. »Das heißt, die da draußen dürfen auch nicht nach Ungarn? Und ihr wartet hier? Worauf wartet ihr?« »Du darfst dir auch was von mir wünschen«, sagte Katja. »Ich hab es schon mal versucht, durch die Donau, da waren wir noch zu dritt.« »Und die anderen?« »Keine Ahnung. Die sind verschwunden, einfach verschwunden.« Langsam streckte Adam die Hand aus, doch auch als er Katja berührte, wandte sie sich nicht nach ihm um.
Das Wagnis »Willst du es wirklich tun?«, fragte Katja, als Adam die Augen öffnete. Wie sie so dalag und ihn ansah, eine Hand unter der Wange, wirkte sie wie ein Kind. Er drehte sich zur Seite, um seine Erektion zu verbergen. Fast neun Stunden hatte er geschlafen. Die Schildkröte knabberte 68
an Brotkrumen. »Geht's dir besser?«, fragte er. »Glaub schon.« »Warum darrst du nicht nach Ungarn?« »Ich hab's gar nicht beantragt. Niemand, den ich kenne, hat so ein Visum gekriegt, bis auf eine. Und bei der haben sie es am nächsten Tag wieder abgeholt. Sind nach Hause, haben geklingelt, und weg war's, ohne Begründung.« »Gibt's denn hier keine grüne Grenze?« »Die Donau.« »Ich meine die Landgrenze, die ist doch viel länger?« »Dort ist es schwierig, das bewachen sie besser, überall Zäune, dort kennt sich niemand aus. Was glaubst du, warum die alle hier sind. Die haben nur Schiss vor der Donau.« »Und wenn sie uns hopsnehmen?« »Werden sie nicht.« Katja stützte sich wie Adam auf den Ellbogen. »Die Ungarn sind kein Problem, die winken dich durch. Und die Tschechoslowaken kontrollieren nur die Ausweise. Die durchwühlen keine Autos mehr.« »Woher weißt du das?« »Das sagt dir jeder. Wenn sie hier was wissen, dann das.« Adam stand auf und öffnete die Tür. Der Himmel war bedeckt. Aus einem Zelt hörte er Kinderstimmen. Ein Mann in Gummistiefeln trug einen vollen Wasserkanister zu seinem Wohnwagen. »Bin ich der Erste, den du fragst?« »Ja.« Adam ging zum Waschraum. Auf dem Rückweg kaufte er zwei Milchflaschen, sechs Hörnchen und ein Glas Erdbeerkonfitüre. Katja nahm ihm das Glas ab. Die Schildkröte schob sich durch das dünne Gras. »Geh dich 69
waschen, ich mach den Rest.« »Wir müssen uns nicht beeilen, so früh ist nicht gut. « »Ich denk, die kontrollieren immer nur die Ausweise?« »So gegen zehn gibt's meistens ne Schlange, dann nehmen die es nicht so genau. Das haben die hier ausspioniert, mit Fernglas.« Adam setzte sich neben sie auf die Holzbank vor der Hütte. »Prost«, sagte er. Sie stießen mit den Milchflaschen an. »Ich danke dir.« »Reden wir nicht davon, am besten, wir vergessen das.« »Vergessen?!« Katja starrte ihn an. »Leise«, zischte Adam. »Das mein ich nicht. Ich hab schon gar nicht mehr dran gedacht. Das ist das Beste. Die merken doch, wenn man an so was denkt.« »Wir können ja bis morgen warten.« »Wegen der Wäsche? Die ist fast trocken.« »Um uns vorzubereiten.« »Aber nicht hier, nicht bei diesen Affen, das ist mir zu gefährlich.« »Idioten gibt's überall.« Adam fuhr mit dem Hörnchen ins Glas. Die Konfitüre fiel wieder von der Spitze. Er versuchte es ein zweites Mal, beugte sich tief hinunter und biss schnell ab. Katja klappte die große Klinge eines Schweizer Taschenmessers auf und nahm ihm sein Hornchen ab. »Oh, die Dame hat Westkontakte?« »Von meinem Freund.« »Ein Schweizer?« »Nee, Japaner.« »Ein Japaner? Sind die nicht ein bisschen klein für dich?« »Wieso?« »Muss schon ein wenig zusammenpassen. Und wenn du einen Kopf größer bist, für Männer ist so was immer ...« »Quatsch. Meiner ist so wie du, sogar ein 70
Stückchen länger.« Katja hatte das Hörnchen aufgeschnitten, bestrich es mit Konfitüre und reichte ihm eine Hälfte. »Willst du nach Japan?« »Mal sehen.« »Kann der dich nicht heiraten? Wäre einfacher.« »Der ist schon verheiratet.« »Na, gratuliere. Und seinetwegen willst du weg?« »Du etwa nicht?« »Ich nicht. Ich mach da Urlaub.« Katja lachte. »Eins a in Konspiration.« Sie streckte ein Bein aus, so dass ihre Zehenspitzen direkt vor der Schildkröte erschienen. »Renn nicht weg«, sagte Katja. »Ich will wirklich nicht abhauen«, sagte Adam. »Geht doch auch gar nicht. Denkst du, die Ungarn machen die Grenze auf?« »Haben sie schon gemacht, sind alle rübergerannt.« »Wer ist rübergerannt?« »Na unsere. Weißt du das nicht? Die haben die Grenze aufgemacht, und ein paar hundert Leute sind gerannt und gerannt und weg waren sie.« »Wann soll das gewesen sein?« »Am Sonnabend, vor drei Tagen.« »Die Grenze ist doch nicht offen!« »Jedenfalls war sie mal offen. Was ist denn? Ärgert dich das? Die aus der Botschaft sind auch schon alle raus.« Adam schüttelte den Kopf und trank die Milchflasche bis auf einen kleinen Rest leer. »Was willst du denn im Westen - oder in Japan?« »Das ist ne Frage! Besser leben, überhaupt leben!« »Und bisher, hast du nicht gelebt?« »Ich will das nicht mehr, eingesargt bis zur Rente, nichts kannst du machen, nichts.« »Findest du?« Katja sah zu Boden. »Ich muss dir was sa71
gen.« »Das geht ja gut los.« »Ich war allein in der Donau.« »Du meinst, die anderen - da ist gar niemand verschwunden?« Katja nickte. »Ich dachte nur ...« »Was?« »Eigentlich hab ich gar nichts gedacht - ich weiß auch nicht, warum ich das gesagt habe.« »Hast du jemanden, der dir drüben hilft?« »Unsere ganze Verwandtschaft ist drüben. Ich will studieren. Und irgend ne Arbeit nebenbei findet sich schon. - Was ist denn daran so komisch?« »Na ja, wenn man sich jemanden in den Kofferraum lädt - da will man schon wissen, ob das nur so ne Schnapsidee ist.« »Und du, hast du ein Quartier in Ungarn?« »Ja, in Badacsony, am Balaton, Freunde von Evi.« »Deine Frau?« »Kann man so sagen.« »Und wo ist sie jetzt?« Katja hielt ihm die andere Hälfte des Hörnchens hin. »Die wartet dort.« »Ihr macht tatsächlich Urlaub?« »Ja, klar. Evi muss im September wieder arbeiten. Und ich hatte noch zu tun. Da ist sie mit ner Freundin schon los.« »Verstehe.« Nach einer Weile, in der sie schweigend aßen, fragte Adam: »Wieso vertraust du mir eigentlich?« »Ich hab nicht groß nachgedacht. Ich hatte ja keine Wahl.« »Hattest du schon.« »Ich hab dich gesehen. Alle haben rausgeschaut, wegen des Wartburgs. Mit so ner ollen Pritsche fährt kein Spitzel.« »Na gerade! Noch nie was von Tarnung gehört, Mimikry des Gegners?« »Ach, komm, ganz blöd bin ich nicht. Und 72
dann noch Elfi! das ist ganz schön schräg, musst du schon zugeben.« »Ich sag ja, Mimikry.« »Und wieso glaubst du mir? Vielleicht bin ich ja der Spitzel. Junge Frau hängt sich an allein reisenden Mann und liefert ihn als Schleuser ans Messer. Siehste, da machst du große Augen.« »Ist doch Quatsch.« »Wieso? Wer hat denn wen angesprochen?« »Du meinst, der Trick mit dem schutzbedürftigen Mädchen ...« Katja zuckte mit den Schultern. »Warum nicht?« Adam schraubte das Glas zu, trank die Milch aus, wischte sich über den Mund und sah Katja an. »Ich weiß jetzt, wie es in Wirklichkeit ist. Wir sind beide von der Staatssicherheit und kontrollieren die Glaubwürdigkeit des anderen Mitarbeiters.« »Das ändert auch nichts«, sagte sie. »Und ob. Uns passiert so oder so nichts. Ich bringe dich rüber, weil ich auskundschaften will, wie es dort weitergeht, wen du triffst, wo du über die Grenze willst, und du ...« »Ach, hör auf jetzt.« Katja lief der Schildkröte nach und setzte sie wieder in den Karton. »Dann denk doch einfach an den Balaton oder den Kilimandscharo.« » Kilimandscharo?« »Wie heißt denn der Berg, der mit dem Schnee drauf?« »Du meinst den Fuji?« »Ja, denk an den Fuji.« »Kümmerst du dich um das Zelt? Ich hol die Wüsche. Sie müssen dir dein Geld wiedergeben, die Hälfte zumindest.« »Werde ich ausrichten«, sagte Adam und sah ihr nach, wie sie in seinem Pullover 73
und seinen Hosen und den Wanderschuhen zum Waschraum ging. Nach wenigen Kilometern, kurz hinter dem Dorf Nova Stra? hielten sie an einem Feldweg, den hohes Gras und Büsche säumten. Adam fuhr rückwärts hinein, bis er eine leichte Biegung erreicht hatte. Dort öffnete er den Kofferraum, nahm die beiden Kanister und verstaute sie, auf die Längsseite gelegt, hinter den Sitzen. Koffer, Luftmatratzen, Schlafsäcke und Beutel drapierte er so, dass die Kanister nicht zu erkennen waren. Katja schlug die Decke einmal zusammen und breitete sie zwischen dem Halbrund der Radkasten aus. Die Plastetüten mit ihrer Wäsche legte sie sich wie Kissen zurecht oder stopfte sie an die Seiten, als wollte sie den Kofferraum abdichten. »Also, denk an den Fuji.« Er hielt ihr eine Hand hin, um ihr beim Einsteigen zu helfen. »Ich muss noch mal«, sagte sie und ging ein Stück den Weg weiter. »Du musst dich umdrehen!« Adam stellte sich in das hohe Gras, pinkelte ebenfalls und beobachtete die wenigen Wagen, die vorüberfuhren. Als er zurückkam, lag Katja bereits mit angezogenen Knien im Kofferraum. Sie drehte sich auf den Rücken und dann auf die andere Seite. »Größer, als ich dachte«, sagte sie. »Wird engt, sagte er und reichte ihr die blaue Kraxe. Katja stieß sich am Kinn, als sie versuchte, die Kraxe an sich zu drücken. 74
»Das wird nichts, lass mal«, sagte er. Adam stellte die Kraxe neben den Wagen, bedeckte Katja mit der Wäsche aus einer der Tüten und legte zum Schluss eine Regenjacke auf ihre Schuhe. »Hier entdeckt dich niemand«, sagte er. »Adam, ich sag's dir lieber schon jetzt: Danke!« »Nicht singen oder grölen oder rumschaukeln, verstanden? Keine Angst, jetzt wird's dunkel.« Er warf die Klappe zu. Das Heck war auf die Hinterachse gesunken. »Du musst nach vorn rutschen«, sagte er, nachdem er den Kofferraum wieder geöffnet hatte, »so weit es geht, hier ran.« »So?«, fragte Katja und drückte sich mit Rücken und Schultern in den Kofferraum hinein. »Kann ich dir noch Elfi geben?« Katja zog das T-Shirt vom Kopf und nickte. »Ja, gib sie her, das ist schön.« Adam stellte den offenen Karton mit der Schildkröte hinein, Katja drückte ihif6 an sich. »Adam?« Sie blinzelte ein wenig. »Wenn es schiefgeht, dann sag die Wahrheit. Die Wahrheit ist das Beste.« »Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.« »Genau.« »Bis gleich«, sagte Adam. Er setzte sich ans Steuer und startete den Wagen. »Hörst du mich?« »Was?« »Kannst du mich verstehen?« »Mach schnell«, rief Katja. Adam nickte und fuhr an.
Mit leeren Händen Vor der Grenzkontrolle in Komärno waren die beiden Autoschlangen gleich lang. Adam wechselte im letzten Moment auf die rechte Spur, weil er dort zwei Wohnwa75
gen ausgemacht hatte. Seine Uhr war stehen geblieben. Er kurbelte die Scheibe nach unten und fragte die Frau auf dem Beifahrersitz im benachbarten Wagen nach der Zeit. Der Mann am Steuer hob seinen linken Arm, die Frau ergriff ihn, drehte ihn ein Stück und rief: »Acht Minuten nach zehn! Gleich neun nach.« Adam bedankte sich, stellte die Uhr auf zehn nach zehn und zog sie auf. Die meisten Wagen hatten ein DDRKennzeichen. Die beiden alten Leute in dem ungarischen Trabant vor ihm saßen so reglos da wie Puppen, links der kantige Schädel mit den abstehenden Ohren, die Frau mit Kopftuch. Das Paar erschien ihm als der Inbegriff von Rechtschaffenheit und Harmlosigkeit. Vielleicht würde etwas von diesem Eindruck auf ihn übergehen, oder würde ihm gerade der Kontrast zum Verhängnis werden? Auch die Familie im Skoda hinter ihm starrte bewegungslos nach vorn. Wahrscheinlich wirkte er selbst nicht viel anders. Hätte er einen Wunsch frei gehabt, dann den: vor dem roten Passat in der Reihe zu stehen und Evelyn als Zeugin zu haben. Er würde keine Miene verziehen, wenn sie von ihm verlangten, die Kofferraumklappe zu öffnen. Selbst wenn sie ihn und Katja abführten, bliebe sein Blick stur auf den Boden gerichtet. Ihn beruhigte, dass auch der Trabant vor ihm auf der Hinterachse hing. Die rechte Spur rückte tatsächlich schneller voran, so dass Adam neben einem holländischen VW-Bus wartete, als die Ungarn 76
vor ihm ihre Ausweise herausreichten. Sie schienen den Grenzer gar nicht zu beachten. Ja sie stellten nicht einmal den Motor ab, wurden nichts gefragt und tuckerten gleich weiter. Der Grenzer winkte Adam, sich zu beeilen, ging dann leicht in die Knie und fragte mit aufgestelltem Daumen »jedno?«. Adam nickte und reichte seinen Ausweis hinaus. Noch bevor sein Lächeln sich verlor, sah er, wie der breite Metallstempel auf eine hintere Seite seines Ausweises gesetzt wurde und ratschend niederfuhr. »Dovidenia«, sagte der Grenzer. »Dovidenia«, antwortete Adam, startete den Wagen und fuhr langsam weiter, falls doch irgendwo ein Zöllner auftauchen sollte. Vor ihm lag die Brücke, er fuhr über die Donau. Am liebsten hätte er etwas gebrüllt. »Welches Baujahr besitzt ihr Wartburg?«, fragte der kleinere und ältere der beiden ungarischen Grenzer. »1961.« »Sie sind selten geworden. Diesen fährt heute niemand mehr, geben Sie mir recht?«, sagte der andere und stempelte den Ausweis. »Ja«, sagte Adam, »fährt aber gut, noch der erste Motor, alles original.« Beide Männer sahen in den Wagen. Vor allem das Lenkrad, dessen untere Hälfte einen kleineren Durchmesser als die obere hatte, und der kleine Schalthebel daneben interessierten sie. normen Sie bitte den Motorraum?« »Ja«, sagte Adam. Doch als er aussteigen wollte, winkte der Grenzer ab. »Nur öffnen«, sagte er. »Anwerfen.« Die beiden verschwanden hinter der Motorhaube. Adam trat mehrmals 77
aufs Gas, so dass sie hören konnten, wie der Motor klang. Drei Wagen warteten bereits hinter ihm. Als die beiden die Motorklappe wieder schlössen, rollte noch der VWBus heran. Adam machte den Grenzern ein Zeichen, dass sie die Klappe ganz schließen sollten, aber der Kleine rief nur »Viszontlatasra«. Adam legte den Gang ein und fuhr langsam von der Grenzstation auf die Straße. Er kurbelte die Scheibe hoch. Nach ein paar hundert Metern schrie er: »Geschafft! Geschafft!« Kurz darauffuhr Adam an den Straßenrand. Er öffnete den Kofferraum. Katja schob ein T-Shirt zur Seite und blinzelte ihn an. Sie lag noch genauso da wie vorhin. »Komm, schnell, das braucht niemand zu sehen.« Er hob den Karton mit der Schildkröte heraus. Katja jedoch bewegte sich wie in Zeitlupe. »Mein Arm ist eingeschlafen«, sagte sie leise und versuchte sich aufzurichten. Als hätten sie plötzlich die Kräfte verlassen, stützte sie sich auf Adam, der, als er ein Auto kommen hörte, sie einfach heraushob und festhielt. »Gratuliere!« Er küsste sie auf die Wange. Katja sagte nichts. Auf steifen Beinen ging sie nach vorn und setzte sich auf den Beifahrersitz. Er stellte den Karton auf die Rückbank und drückte die Motorhaube zu. »Herzlich willkommen in der Volksrepublik Ungarn. Hast du das mitbekommen? Die hat der Motor interessiert, diese Spielmätze!« Adam hupte, Katja zuckte zu78
sammen. Er fuhr los. Als er im Rückspiegel den VW-Bus erkannte, ging er vom Gas. »Weißt du, so was könnte mir richtig Spaß machen, ne Karriere als Hobby-Schleuser. Man geht da durch wie ne Nadel.« Adam hupte noch einmal, als ihn die Holländer überholten. »Sieh mal, was die für Augen machen!« Adam winkte ihnen zu. »Was ist denn los? Was hast du denn?« Die Tränen rannen ihr über die Wangen zum Kinn und tropften von da auf den Pullover. Adam hielt ihr sein blaukariertes Taschentuch hin. Weil sie es aber nicht nahm, ja es nicht einmal zu bemerken schien, ließ er es in ihren Schoß fallen, zwischen ihre nach oben gekehrten und halb geschlossenen Hände.
Heldenleben »Entschuldige«, sagte Adam, »das hab ich doch nicht gewusst!« Katja schnauzte sich in das Taschentuch. Sie hielt den Kopf gesenkt, als betrachtete sie den runden Tisch oder die leeren Kaffeetassen darauf. »So leicht ertrinkt man doch nicht.« »Hast du ne Ahnung. Flüsse sind anders, und wenn es stockfinster ist und du hast so ein Ding auf m Rücken. Und wenn erst mal dein Kopf unter Wasser geht, wenn es dich runterzieht, da kriegste Panik. Du weißt nur, das ist stärker als du.« »Ich wäre da auch nicht reingegangen, ich hätte mich lieber fangen lassen.« »Wenn du da rübersiehst, du starrst ans andere Ufer, da wird der 79
Fluss immer kleiner, und du denkst, los, rein, am besten gleich, gar nicht erst nachdenken. Nur vor Grenzern und Hunden hast du Angst.« Adam versuchte, ihre Hände zu berühren. Von den anderen Tischen sahen sie herüber. Er rückte näher an Katja heran. »Du kannst nichts dagegen machen, gar nichts, das packt dich und dreht dich, wie ein böser Engel, du bist machtlos...« »Du hast es geschafft.« »Ich hatte einfach nur Glück.« Sie wischte sich die Tränen ab und zog die Nase hoch. Plötzlich lehnte sie sich an ihn, den Kopf an seiner Schulter. Er rückte noch näher und legte einen Arm um sie. Er strich ihr übers Haar, über ihren Hinterkopf. Er sah ihren Nacken, den Verschluss einer dünnen silbernen Kette. Wäre der Kellner einen Augenblick später gekommen, er hätte sie wohl geküsst, genau auf die Stelle unter dem Verschluss, auf jenen hervorstehenden Halswirbel, an dem er bei jeder Kundin mit dem Maßnehmen begann. Der Kellner legte das in weiße Servietten gewickelte Besteck neben die Teller, öffnete den Deckel des Senfglases und steckte, als dürften die anderen Gäste das nicht bemerken, zwei kleine Ketchuppackungen unter Adams Tellerrand. Wortlos entfernte er sich wieder. Katja richtete sich auf. »Hier«, sagte Adam und schob ihr ein Glas mit Mineralwasser hin. Katja trank einen Schluck, behielt das Glas in der Hand, um es dann auf einen Zug auszutrinken. Sie schnauzte sich erneut und steckte das Taschentuch in die 80
Hose. Adam wickelte das Besteck aus und reichte es ihr. »Komm erst mal wieder zu Kräften.« »Wohin fährst du jetzt?« »Wohin willst du denn?« »Zur Botschaft, zur richtigen natürlich, nach Budapest.« »Ich bring dich.« Adam versuchte, eines der rot-weißen Päckchen zu öffnen. Er legte es wieder weg, wischte sich die Hände ab und probierte es erneut. Schließlich nahm er es zwischen die Zähne und zerrte daran. »Das kann man ja nicht mit ansehen«, sagte Katja, griff sich das andere Päckchen und öffnete es ganz leicht. Adam presste aus einer winzigen Öffnung den Ketchup auf die Würste. Ein paar Spritzer landeten auf dem Tisch. »Was bist du eigentlich von Beruf?« »Maßschneider, Damenmaßschneider.« »Da solltest du solche Tricks eigentlich kennen.» sWenn du willst, kleide ich dich neu ein.» sHast du davon die Hornhaut da?» Sie zeigte auf seinen rechten Daumen. »Ich dachte schon, du spielst Gitarre.» Sie aßen schweigend. Adam war froh, dass er Katja nicht auf den Nacken geküsst hatte. »Kriegt man hier vielleicht auch Schokolade?«, fragte sie. Adam drehte sich zum Büfett. Sie standen auf. Katja drückte beide Zeigefinger gegen die Giasvitrine neben der Kasse. »Kinderschokolade? Kinderschokolade!», sagte er und dirigierte die Hand des Kellners mit Kopfschütteln und Nicken. »Kettö!» Adam spreizte zwei Finger ab. Er kaufte noch vier Flaschen Wasser und bezahlte. Draußen setzten sie sich auf 81
eine Bank, jeder eine Packung Kinderschokolade in der Hand, aus der sie die Riegel rutschen ließen. Einen nach dem anderen wickelten sie aus und schoben ihn sich in den Mund, Adam immer ganze Stücke, Katja biss die Hälfte ab. »Was ist?», fragte Adam, als Katja aufhörte zu kauen und auf die Gehwegplatten starrte. sHat wohl nicht viel gefehlt, dass sich dieser Film abspult.» Adam wartete, dass sie weitersprach. »Du meinst, dass du ertrunken wärst?», fragte er schließlich. »Dass ich wieder Grund hatte, war Zufall, nichts weiter. Und für den Rest hab ich lang genug trainiert.» »Schwimmen?« »Rudern. Erst Einer, dann Zweier, dann Vierer, bis ich siebzehn war, dann hat's mir gereicht.« »Hast halt das Falsche trainiert.« »Wie ne Blöde hab ich gestrampelt, dass ich da wieder lauskomme.« »Woher bist du eigentlich?« »Aus Potsdam. Hab mir die Lunge aus dem Leib gejapst und mich später halbtot gefroren. War ja alles nass, mein Brustbeutel weg, kein Geld, kein Ausweis, alles weg!« »Und alles wegen eines verheirateten Japaners?« »Wieso denn?« »Hast du gesagt.« »Nein.« »Natürlich hast du das gesagt!« »Ach! Ich wollte schon immer raus.« Adam gab ihr seinen letzten Riegel Kinderschokolade. »Danke, heb ich mir auf, eiserne Reserve. Fährst du nun nach Budapest?« »Muss wohl.« »Musste 82
nicht.« »Siehst ja, was passiert, wenn man dich unbeaufsichtigt lässt.« Katja stopfte das Papier in die leere Schachtel. »Ich komme mir so blöd vor, wie ich mich gestern aufgeführt habe. Soll ich dir was verraten?« »Na los! Verrate mir was.« »Elfi hat die ganze Zeit Töne von sich gegeben, als wollte sie mich beruhigen. Du glaubst das nicht?« »Doch, doch«, sagte Adam. »Komm, wir gehen. Wenn du willst, trage ich dich auch.« »Das wäre schön, wenigstens ein Stück.« Sie standen auf, jeder nahm zwei Wasserflaschen, die leeren Schachteln ließen sie auf der Bank liegen und gingen zum Wagen.
Vorbereitungen für den Abschied Sie waren den Hinweisschildern in Richtung Zentrum gefolgt und hatten an der Donau, zwischen Ketten- und Elisabethbriicke, einen Parkplatz gefunden. In der Vici utca stellten sie sich bei einem Eiswagen an. Adam verfolgte, wie der Verkäufer den Hebel der Eismaschine nach unten drückte. Das Eis schlängelte sich in der Waffel, kroch nach oben und erreichte schnell eine waghalsige Höhe, bis der Gipfel plötzlich abknickte und erstarrte. Katjas Lippen umschlossen die Spitze des Eises, das sie andächtig in sieb hineinzuschrauben schien, als folgte ihr Mund automatisch den Spiralen abwärts. Adam, die Umhängetasche unter dem Arm, sah immer wieder auf die rundli83
che Narbe an ihrem linken Oberarm. Das ärmellose schwarze T-Shirt mit der verblichenen brasilianischen Flagge auf der Brust stand ihr. »Ich konnte glatt noch eins vertragen«, sagte sie. Der Eisverkäufer lächelte, als sie wieder vor ihm auftauchte. »Der hat dir extra was draufgepackt», sagte Adam, als sie die Vaci utca in Richtung Vörösmarry ter entlanggingen. Er steuerte auf einen Souvenirladen zu. Katja sah sich daf Schaufenster an, bis Adam den Stadtplan gekauft hatte. »Sieh mal, das gibt's hier«, sagte sie und tippte gegen die Scheibe. »Das Schneegestöber?« »Nein, das da.» »Die Pfeife?« »Den Würfel, den Zauberwürfel, den man so drehen kann.« Adam ging wieder hinein und kehrte mit dem Würfel zurück. Katja umarmte ihn kurz. Ihre Schultern waren heiß von der Sonne. »Entschuldige«, sagte Katja. »Eigentlich bin ich nicht so unerzogen und kindisch. Willst du ihn? « »Lass mich bloß damit zufrieden! Hier, noch was Praktisches, damit du wieder was in deiner Handtasche hast.« Adam gab ihr ein kleines Portemonnaie. »Da ist ja was drin! So viel!« »Nur dreihundert, wenn du mal wieder ein Eis willst.« Er ging voraus zu einer Bank, die gerade frei geworden war. Die Umhängetasche auf dem Schoß, schlug er den Stadtplan auf »Ach Adam, danke.« Katja setzte sich neben ihn, schob sich den Rest der Waffel in den Mund und drehte an dem Würfel. »Wie hieß die Straße?« »Irgendwas mit Nepstadion, aber dann die Parallelstraße davon, sonst landen wir 84
bei den falschen. Seit Wochen hab ich mir das vorgestellt, hier zu sitzen und Eis zu essen.« »Nicht den Blick auf den Fuji?« »Ist doch schon fast so.« »Ich mach mal ein Foto.« »Nein, nicht.« »Wieso, nur für mich!« Adam löste die Druckknöpfe an der ledernen Hülle des Apparats. »Ich möchte das aber nicht!« Katja wandte sich ab. »Was ist denn dabei? Ein Foto, für mich!« Katja schüttelte den Kopf. Erst als Adam wieder neben ihr saß und im Straßen Verzeichnis blätterte, drehte sie sich herum. »Wenn man wüsste, was Botschaft auf Ungarisch heißt.« »Soll ich fragen?« »Nein«, sagte Adam und ging zurück in den Souvenirladen. Durch die Scheibe beobachtete er Katja. Sie zog die Beine an, die Füße auf der Bank, und umschlang ihre Unterschenkel. Als sich jemand neben sie setzte, kam sie herübergeschlendert und blieb in der offenen Ladentür stehen. »Botschafter heißt«, Adam sah auf den Zettel, den ihm die Verkäuferin zugeschoben hatte, »nagykövet oder so ähnlich.« Er klimperte mit dem Münzgeld. Katja folgte ihm zur Telefonzelle. Adam nahm den Hörer ab und legte gleich wieder auf. »Funktioniert.« Er griff nach dem in einem Gestell herabhängenden Telefonbuch, klappte es nach oben, blätterte lange mit beiden Händen und schlug die Seiten immer wieder hin und her. »Mist!«, rief er plötzlich und ließ das Telefonbuch nach unten in die Aufhängung fallen. »Diese Idioten haben die Seite rausgerissen ... Katja?« Adam trat vor die Telefon85
zelle und blickte um sich. Eine Weile blieb er stehen. Dann ging er in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Katja saß auf dem Brunnenrand unter der HermesStatue, neben ihr ein junges Paar in den gleichen wildledernen Wanderschuhen wie sie, die Kraxen vor sich. »Hallo«, sagte Adam. »Mein Freund«, sagte Katja. Die junge Frau, mit einem dicken Zopf und abgeschnittenen Jeans, schrieb eine Telefonnummer auf Katjas Handrücken. »Die Botschaft ist geschlossen«, erklärte Katja. »Die lassen keinen rein. Wir müssen zu den Maltesern, in die Berge.« »Wieso Iässt die Botschaft niemanden mehr rein? Die können doch die Leute nicht wegschicken?«, fragte Adam. »Ihr müsst nach Buda, Zugliget heißt das, die haben Zelte im Kirchgarten. Die kümmern sich um euch«, sagte der junge Mann und zupfte an seinem dünnen rötlichen Bart. »Kozma heißt der Pfarrer. Ihr müsst nach der Szarvas Gabor üt fragen, nach der Kirche und diesem Pater Kozma, angeblich kennt den dort jeder.« »Und ihr?«, fragte Adam. »Wir schlafen auf der Margareteninsel«, sagte die Frau und fasste ihren Freund an der Hand. »Das ist schöner.« »Wir machen Urlaub, solange die Knete reicht«, sagte er. »In der Markthalle gibt s abends alles ganz billig. Manchmal schenken sie dir auch was, die wissen ja, was hier läuft.« »Komische Typen«, sagte Adam, nachdem sie sich verabschiedet hatten. »Wieso? Die waren doch in Ordnung.« »Kann schon sein. Aber wenn sie dich nicht 86
mal ansehen, also mich.« »Die haben dich angesehen!« »Eben nicht, als gäbe es mich gar nicht. Und wenn ich was nicht leiden kann, dann sind das abgeschnittene Jeans, Zöpfe und solche Kinderbärte.« »Sieh mal, wohin der Hermes zeigt, das ist doch Westen?« »Ja«, sagte Adam, »dort liegt Buda.« »Bringst du mich noch zu diesem Pfarrer?« Sie gingen die Vaci utca zurück. »Krieg ich noch ein Eis zum Abschied?« »Wenn ich von dir ein Bild machen darf?« »Nein, dann nicht.« Die Schlange war langer als vorhin. Katja steckte den Zauberwürfel in Adams Umhängetasche, legte dann beide Hände auf seine rechte Schulter und bettete ihren Kopf darauf, als wollte sie schlafen. »Hör mal, Adam«, sagte sie leise. »Es ist überhaupt nicht wichtig. Aber kann es sein, dass du meine Kraxe vergessen hast, dort vor der Grenze?« Adam antwortete nicht. »Auf der Rückbank war sie nicht«, fuhr Katja fort. »Und hinten drin auch nicht.« »Kann sein«, sagte Adam, ohne den Kopf zu wenden, »kann sein, dass du recht hast.« »Ist nicht schlimm, wirklich nicht, hab ich ja gesagt, überhaupt nicht.« »Du kannst meinen Schlafsack haben, auch die Luftmatratze«, sagte Adam und hielt sich ganz gerade. Wenn er vorrückte, dann mit winzigen Schritten, so dass Katja ihm folgen konnte, ohne ihre Hände von seiner Schulter zu nehmen. Auf diese Weise blieben sie sehr eng beieinander stehen, bis sie an der Reihe waren. 87
Misslungener Abschied Adam hielt den Stadtplan auf dem Autodach fest, der Wind hatte die obere Hälfte umgeschlagen. Die Abendsonne stand über den Hügeln von Buda. Am Kai lag ein Ausflugsdampfer, dessen Reling Girlanden aus winzigen Glühlampen schmückten. Eine Menschentraube wartete vor einer Kette, die den hölzernen Zugang zur Landungsbrilcke versperrte. Möwen kreischten. Die Fassaden der Pester Uferbauten schienen plötzlich Farbe bekommen zu haben und von innen zu leuchten. »Irgendwie gefällt mir das nicht«, sagte Adam und versuchte, die Karte kleiner zu falten. »Wir hätten sie trotzdem nach der Botschaft fragen sollen. Wer weiß, was das für ein Zeltlager ist.« Katja leckte noch an ihrem Eis. »Haben sie dich angesprochen oder du sie?« »Das hat sich irgendwie ergeben.« »Sag nicht irgendwie. Hast du sie gefragt?« »Die konnten nur von uns sein. Sie wollten nach Bulgarien und haben dann mitbekommen, was hier läuft, und sind zur Botschaft.« »Also hast du sie angesprochen?« »Ist doch egal! Denkst du, ich merke nicht, wenn da was faul ist?« »Mir haben die nicht gefallen, sahen aus wie Lockvögel, hat ja aucb funktioniert.« sich hab noch dein Taschentuch.» »Behalt's, als Erinnerung.» »lst jetzt sowieso nicnt mehr zu gebrauchen.» Sie wischte sich die Hände daran ab. sBekommst du gewaschen und gebügelt und blau kariert zurück, Ehrenwort.« »Per Einschreiben aus 88
Tokio.« »Feierlicher, auf dem Fuji oder so. Ich bezahl dir auch den Flug.« Adam hatte den Stadtplan so klein gefaltet, dass nur zwei Rechtecke nebeneinander übrig geblieben waren. Sie fuhren über die Kettenbrücke. Katja hatte die Schildkröte aus dem Karton genommen. »Am liebsten wurden wir jetzt ne Bootsfahrt machen, stimmt's, Elfi?» Ein Wartburg überholte und hupte. »Die hab ich nach der Zeit gefragt, als du im Kofferraum lagst.» »Fahr doch hinterher.«»Denkst du, die wollen aucb dorthin?« »Wer so rast, kennt sich aus.« Auf der anderen Seite der Brücke folgten sie ihnen durch den Tunnel. »Wäre gut, wenn du mal in die Karte siehst.» »Das macht er nur aus Eifersucht, Elfi«, sagte Katja, kniete sich rückwärts auf den Sitz und schob die Schildkröte von ihrer flachen Hand in den Karton. Als sie aus dem Tunnel heraus waren, gab Adam ihr die Karte und tippte mit dem Zeigefinger darauf. »Hier irgendwo. Ich hab's eingekringelt, dahin müssen wir.« »Die müssen irgendwann rechts rein, eigentlich schon da vorne.« »Tun sie aber nicht.« »Fahr rechts, die nächste rechts.« Katja dirigierte Adam. Zehn Minuten später bogen sie von der Hauptstraße ab hinauf in die Hügel. Hier hatten die Häuser Gärten. Hinter Bäumen und Sträuchern sah man Villen, die sich mit Neubauten und Mehrfamilienhäusern abwechselten. Den Straßenrand säumten Trabants und Wartburgs mit DDR-Kennzeichen. »Rat mal, wer da hinter uns herzuckelt«, sagte Adam, »unser 89
Raser.« Die Bäume in der Szarvas Gabor standen so dicht, dass Katja den Kirchturm zu ihrer Linken erst sah, als sie davor hielten. Im Kirchgarten wimmelte es von Leuten. Der Hang stieg steil an, weiter oben waren große Zelte. Katja holte den letzten Riegel Kinderschokolade hervor, wickelte ihn aus und brach ihn in der Mitte durch. »Zeit für die eiserne Reserve?«, fragte Adam und steckte die eine Hälfte in den Mund. Auch die Familie hinter ihnen im Wartburg zögerte auszusteigen. »Warte«, sagte Adam und hielt Katja, die die Tür schon geöffnet hatte, am Arm fest. »Ich seh mir das erst mal an.« Die Pfeiler am Fuß der Treppe ähnelten Schachfiguren. Im Garten stand ein langer Tisch, darauf große Töpfe und Wäschekörbe mit Brot. Adam stieg zur Kirche hinauf. »Guten Tag, ich möchte Herrn Kozma ...« Doch die Frau, die ihm entgegengekommen war, lief an ihm vorbei die Treppe hinunter zum Garten, wo sie sich in die schnell wachsende Schlange vor der Essenausgabe stellte. Adam betrat die Kirche: ein heller Zentralbau. Bis auf ein Ziborium im Zuckerbäckerstil mit einem winzigen Jesus am Kreuz war der Raum fast schmucklos. »Wir haben ihre Adresse von der Botschaff«, sagte Adam zu einer Frau, die wie eine Pförtnerin links vom Eingang an einem kleinen Tisch saß. Sie zeigte auf eine Tür, durch die es in einen Gang mit vielen Bücherschränken ging. Auch hier roch es nach Essen. »Sie wünschen?«, fragte 90
ihn ein kleiner Mann mit Halbglatze. »Ich suche Herrn Kozma.« »Der bin ich.« »Kann man bei Ihnen übernachten?« »Wenn Sie das wünschen.« »Ich nicht. Ich habe aber jemanden im Auto, die möchte gern. Sie ist durch die Donau geschwommen...« »Sie soll kommen«, sagte Kozma. In diesem Moment trat der Mann aus dem anderen Wartburg ein, zwei Nummernschilder in der Hand. »Wir sind zu fünft«, sagte er und sah zwischen Kozma und Adam hin und her. »Kommen Sie herein«, sagte Kozma. »Darf ich mich umschauen?«, fragte Adam. »Schauen Sie«, sagte Kozma, dessen Hand auf der Seitenwange einer Kirchenbank lag. Sein Daumen rieb über die Schnitzerei - ein Omega, das ein Kreuz umschloss. Auf den Stufen zum Garten saßen Kinder. Zwei größere Mädchen spielten Federball, die Leute, die nicht zur Essenausgabe gegangen waren, standen in kleinen Gruppen zusammen. Weiter oben hängte eine Frau im Trainingsanzug Wäsche auf. Als Adam hinausging, kam ihm die ganze Wartburgfamilie entgegen, die Eltern mit Koffern, die Kinder mit Campingbeuteln auf dem Rücken und Plüschtieren in den Händen. »Viel Glück«, sagte Adam, aber sie schienen ihn gar nicht zu bemerken. Die Frau blickte nur kurz über die Schulter zurück, als fürchte sie Verfolger. »Ich denke, die Sache ist sauber«, sagte Adam. »Sie haben Zelte, große Zelte, scheinen neu zu sein.« Adam öffnete den Koffer91
raum. Er nahm das Fichtelbergzelt und die beiden Beutel mit ihren Sachen heraus, die nicht in der Kraxe verstaut gewesen waren. Im Vorraum der Kirche kamen ihnen zwei Männer entgegen. Sie liefen barfuß über die Fliesen, starrten Katja an und gingen hinaus. Kozma war nicht mehr zu sehen. »Hoffentlich komm ich nicht zu denen«, flüsterte Katja. »Riecht bisschen wie Landheim.« »Dann mach's mal gut«, sagte Adam. »Meine Adresse hast du ja.« »Willst du nicht eine Nacht hier schlafen und morgen früh fahren?« Adam schüttelte den Kopf. Sie gaben sich die Hand. Dann fiel ihm Katja um den Hals. Sie sagte etwas, aber sie sprach so leise, dass er es nicht verstand. Adam hatte den Karton mit der Schildkröte schon auf den Beifahrersitz gestellt und den Wagen angelassen, da fiel ihm der Zauberwürfel ein. Gerade als er ausstieg, erschien Katja auf der Kirchen treppe. »Adam«, rief sie^ »Adam!«, und rannte, Zelt und Beutel an sich gepresst wie eine Diebin, die Stufen zu ihm herab.
Wildes Camping Adam stoppte hinter der Kreuzung. »Kannst du das lesen? Was steht da?« Katja beugte sich vor. In der Linken hielt sie die von Adam gefaltete Budapestkarte, in der Rechten den Würfel, auf ihrem Schoß lag die Ungarnkarte. 92
»Irgendwie finde ich die Straße nicht, die steht hier nicht drauf. Fahr doch zurück«, sagte sie. »Irgendwo sind wir falsch abgebogen. Fahr einfach zurück, bis die Schilder wieder kommen.« »Irgendwie-Irgendwo«, sagte Adam, öffnete die hintere Tür und zerrte einen der beiden 20Liter-Kanister hervor, schloss den Tank auf und setzte den Trichter hinein. Den Kanister musste er fast bis auf Brusthöhe heben, der erste Schwapp ging daneben. »Kann ich was helfen?«, rief Katja. »Bleib drin!«, presste Adam hervor, das Gesicht vor Anstrengung verzerrt. Sein Oberkörper bewegte sich im selben Rhythmus, in dem das Benzin herausgluckste und als ein Bum-Bum-Bum im Kanister hallte. Allmählich wurde das dumpfe Geräusch jedoch leiser, bis das Benzin fast laudos in den Trichter floss und sich Adams Gesichtszüge entspannten. Selbst als nur noch Tropfen herauskamen, hielt Adam den Kanister weiter senkrecht. Eine Grille zirpte. »Und?«, fragte Adam, als er sich ins Auto setzte. Seine Hände verströmten Benzingenich. »Du kannst mich ja zurückbringen.« Adam ließ den Wagen an und wendete. »Ich war kindisch«, sagte Katja. »Ich weiß auch nicht, ich hab einfach Panik bekommen.« Adam sah auf seine Armbanduhr. »Du kannst mich einfach hier rauslassen, ich finde schon zurück.« »Jetzt hör auf.« »Ich kann dir nicht immer hinterherrennen und hoffen, dass du mir noch ein Eis kaufst.« »Und wenn sie die Leute von dort 93
zurückschicken?« »Dann nützt mir auch der ganze Balaton nichts.« »Vielleicht passiert ja wieder ein Wunder.« »Hast du denn genug Geld?« Adam zuckte mit den Schultern. »Borgst du mir was? Ich zahl's dir zurück, in West, eins zu eins, so schnell es geht.« »Du musst nichts zurückzahlen. Sag mir lieber, wie ich fahren muss!« Sie hielten an einer Kreuzung, der Wagen hinter ihnen hupte. »Rechts, wir müssen rechtsherum, da ist das Schild! Ohne Geld, ohne Ausweis, ohne nix, das ist so beschissen!« »Ich hab nicht so viel, die üblichen Forint eben, du weißt ja, wie lange das reicht.« »Entschuldige.« »Wir fahren jetzt zum Balaton, und morgen früh sehen wir weiter. Wir kennen dort Leute. Wirst nicht verhungern. Musst dir keine Sorgen machen, darum nicht.« »Ich brauch nicht viel.« »Ich hab noch zweihundert Westmark. Wenn der Tank voll ist und wir abfahren, bekommst du den Rest.« »Du setzt mich dort irgendwo raus, Adam. Du musst keine Angst haben, dass ich dir Scherereien mache. Deine Frau kriegt mich gar nicht zu Gesicht, wenn es das ist, was dich wurmt.« »Nun hör endlich auf! Haben wir noch was zu essen?« »Die Hörnchen und Konfitüre und ein Glas Senf.« »Na dann, her damitl« »Ich hab keinen Hunger.« »Doch«, sagte Adam. »Du isst jetzt was, prophylaktisch.« Sie verließen die Stadt, als die Sonne gerade am Horizont verschwand. Gegen elf erreichten sie den Cam94
pingplatz von Badacsony. Die Schranke war unten, von einem Pförtner nichts zu sehen. »Oje, haben die Preise!«, sagte Katja. »Das sind ja dreißig Mark pro Nacht!« »Westdeutsche!«, sagte Adam und nickte in Richtung einer kleinen Gruppe, die gerade auf den Zeltplatz zurückkehrte. »Die haben die Preise verdorben.« »Ich geh einfach rein«, sagte Katja. »Treffen wir uns morgen noch mal?« »Morgen?« »Oder übermorgen?« »Komm mit, wir finden schon noch was.« »Fährst du nicht zu deiner Frau?« »Das ist jetzt zu spät.« »Wieso zu spät?« Adam stieg wieder ins Anco. »Was ist? Willst du nicht mit?« Katja zögerte. »Kennst du dich hier aus?« »Jetzt komm.« Sie fuhren weiter, bis Adam plötzlich stoppte und vorsichtig von der Straße abbog. »Na sieh mal«, sagte er und schaltete auf Fernlicht um, so dass sie eine Wiese und das Wasser erkennen konnten. »Das ist doch wie geschaffen für uns.« Er machte das Licht aus und öffnete die Tür. »Was hältst du von einem Bad? Ist es dir nicht recht?« »Doch, natürlich«, sagte Katja. »Ist nur so dunkel hier.« »Keine Menschenseele, nur Grillen.« »Ich muss mich erst mal dran gewöhnen.« Adam begann sofort, eine Luftmatratze aufzublasen. Katja entrollte das Zelt und steckte im Licht, das aus dem Wageninnern kam, die Stangen zusammen. Adam half ihr beim Aufbau. »Hör mal, Frösche«, sagte er. Als sie fertig waren, zog er sich aus und ging ins Wasser. »Willst du nicht mit? Ist angenehm, nicht zu kalt und nicht zu warm.« Nur allmählich 95
wurde es tiefer. »Katja? Bist du da?« Als er keine Antwoi£a erhielt, ließ er sich ins Wasser gleiten und schwamm los. Er versuchte sich so lautlos wie möglich zu bewegen. Alle anderen Geräusche schienen weit entfernt. Der See war von Lichtern umgeben. Nur hinter ihm war es dunkel. »Das ist vielleicht ne Pfütze! Jetzt stink ich nach Wasser statt nach Benzin«, sagte er. Katja reichte ihm ein Handtuch. Adam ging auf die andere Seite des Wagens, trocknete sich ab und nahm frische Sachen aus dem Koffer. »Wollen wir uns noch ein Bier holen?« »Ich nicht.« »Ich schlaf im Auto.« »Gehst du noch weg?« »Nein«, sagte er. »Hast du Elfi versorgt?« »Ich hab ihr bisschen Brot eingeweicht.« »Ist irgendwas?« »Gute Nacht«, sagte Katja, verschwand im Zelt und zog den Reißverschluss zu.
Erstes Wiedersehen »Hallo, guten Morgen.« Katja hielt zwei Zeltheringe in der Hand, schlug sie gegeneinander und schabte den Rest der daran klebenden Erde ab. Über einem Bikini trug sie das brasilianische T-Shirt. »Wir sollten hier verschwinden.« Adam setzte sich auf. Um sie herum hatten schon einige Familien Handtücher und Decken ausgebreitet, es roch nach Sonnencreme. »Der Pionier liebt und schützt die Natur«, sagte Adam. »Hab ich einen Mist geträumt.« Er rieb sein Gesicht mit 96
beiden Händen, als würde er sich waschen. »Wie spät ist es denn?« »Du hast doch ne Uhr.« »Lass uns wenigstens noch baden«, sagte Adam, nachdem sie alles im Auto verstaut hatten. »Du hast Nerven.« Katja zog ihr T-Shirt aus. Kinder spielten am Ufer. »Uuh, schlammig!«, rief Katja und lief rückwärts wieder raus. »Elefantenkacke, echte ungarische Elefantenkacke. Da musst du durch, wenn du in den Westen willst, bis rüber zum anderen Ufer«, sagte er leise. »Dort drüben ist doch nicht Westen!« »Ich bringe dich durch die Elefanten kacke und kassiere das Kopfgeld.« »Kopfgeld?« »Na, was du den Staat so gekostet hast und was die drüben dadurch sparen.« »Wieviel denn?« »Zwanzigtausend vielleicht?« »Nur?« »Oder fünfzigtausend. Davon kaut ich mir Stoffe! Nur die edelsten! Na los, komm doch.« »Ich will nicht.« »Wenn du erst mal drin bist.« »Ich kann nicht.« »Wie, du kannst nicht? Hast du deine Tage?« »Schrei nicht so!« »Was denn?« »Ich hab's dir doch erzählt. Ich kann nicht.« Adam watete zurück ans Ufer. »Komm«, sagte er und hielt ihr die Hand hin. »Wenn du erst mal mit diesem Hokuspokus anfängst, wirst du's nie wieder los. Komm, halt dich fest.« Widerstrebend, mit winzigen Schritten ging Katja ins Wasser, entriss ihm ihre Hand und rannte zurück. »Ich trag dich.« »Nein, ich bin viel zu schwer für dich.« »Komm, einen Arm um meinen Hals, und jetzt, jetzt, al97
lez hopp!« Adam schwankte kurz, ging dann aber sicher ins Wasser. Katja hielt sich mit beiden Armen fest. »Keine Angst«, keuchte er, als er nachfasste, »ich lass dich nicht fallen.« »Geh zurück, Adam, bitte, kehr um.« »Njet«, sagte er und watete, so schnell er konnte, weiter. »Bitte, ich hab Angst!« »Brauchst du nicht. Alles gut, alles gu-hut.« Adam rannte beinah, bis das Wasser seine Badehose berührte. »Denk an den Fuji oder an Elfi oder ... jetzt wird's nurn bisschen kalt.« Katja schrie auf, drehte sich jedoch im selben Augenblick auf den Bauch und kraulte los. Adam glitt ins Wasser. Katja schwamm einen Bogen um ihn. »Geht doch, oder?«, rief er und machte ein paar hastige Züge. »Alles in Ordnung?« Statt einer Antwort zog sie davon. Adam schwamm ein bisschen hin und her, blieb dann stehen, das Wasser reichte ihm bis zum Nabel, und blickte ihr nach. Die Arme in die Hüften gestemmt, sonnte er sich. Ab und zu öffnete er die Augen, Katja war hinter den Segelbooten verschwunden. Als er sie schließlich wieder auf sich zukraulen sah, schwamm er ihr entgegen. »Hier ist's gar nicht mehr so eklig.« »Nicht gerade angenehm«, sagte sie, wandte sich kurz ab und richtete ihr Bikini-Obeneil. »Darf ich dich was fragen?« »Was denn?« Sie fuhr sich über die kurzen Haare. »War gestern irgendwas? Hab ich was Falsches gesagt?« »Nee, nicht direkt.« »Also doch?« »Kannst du dir ja 98
denken.« »Was soll ich mir denken?« »Muss ich das sagen?« »Musst du nicht. Mir geht nur gerade so einiges im Kopf rum.« »Ich dachte, hier irgendwo ist deine Frau, und du willst plötzlich mit nem Mädchen zelten, das dir was versprochen hat.« »Versprochen?« »Sag nicht, dass du das vergessen hast.« »Du dachtest, ich kassier meine Belohnung?« »So ungefähr. Was ist daran so komisch? Das ist doch unnormal, lässt deine Frau warten!« »Was hat das mit meiner Frau zu tun?« »Ich denk, die ist hier?!« Katja schwamm langsam zum Ufer. Adam watete neben ihr her. »Das ist komplizierter«, sagte er. »Das lässt sich nicht so schnell erzählen.« »Ich versteh ja, dass es blöd ist, wenn ich hier als dein Anhängsel aufkreuze.« »Evelyn ist nicht allein. Sie ist mit ner Freundin zusammen.« »So ne Frau-Frau-Beziehung?« »Ach, überhaupt nicht.« »Kann doch sein.« »Die ist kein guter Umgang für sie, wirklich nicht.« 99
»Das hat mein Vater manchmal gesagt - kein guter Umgang.« »Ne frühere Arbeitskollegin von ihr, immer die große Klappe, alles nur heiße Luft. Die war auch schuld, dass Evi ihr Studium hingeschmissen hat.« »Was macht sie denn?« »Lernt Kellnerin. Eigentlich sollte sie Lehrerin werden.« »Pädagogik?« »Deutsch und Geographie, aber hauptsächlich Deutsch.« »Ich sollte auch Lehrerin werden. Da hab ich aber nicht mitgemacht.« »Und was hast du gemacht?« »Tischlerin, sogar ne abgeschlossene Lehre.« »Evi liest so viel. Wenn sie Zeit hat, liest sie.« »Als Lehrerin musst du die Jungs bearbeiten, dass sie Offizier werden oder Berufssoldat oder wenigstens drei Jahre zur Armee gehen! Da kommst du gar nicht mehr zum Lesen!« »Wenigstens hätte sie zu Ende studieren können.« »Und was hat das mit euch zu tun?« »Sie weiß gar nicht, dass ich hier bin.« »Ne Überraschung?« »Überraschung kann man das auch nennen.« »Spionierst du ihr nach?« »Wir haben uns gestritten. Sie hat was falsch verstanden, und ich hab Angst, dass sie Unsinn macht.« 100
»Abhauen?« »Nee, das nicht gerade. Aber mit einundzwanzig ...« »Ich bin auch einundzwanzig! Und du?« »Im Dezember dreiunddreißig.« »Hast dich gut gehalten.« »Wäre ich denn so ne Zumutung gewesen?« »Wieso Zumutung?« »Na, letzte Nacht?« »Darum geht's gar nicht.« »Worum denn?« »Vielleicht hatte ich einfach keine Lust.« »Hm.« Obwohl ihm das Wasser nur bis an die Knie reichte, konnte er seine Füße nicht sehen. »Wenn du's genau wissen willst: Meine Pille ist weg, war auch im Brustbeutel, und schwanger will ich jetzt nicht gerade werden, nicht mal von dir«, sagte sie und richtete sich auf, »Was macht die denn da! Kennst du die?« Eine junge Frau lehnte an der Fahrertür des Wartburgs, die Arme seitlich an der Dachkante ausgestreckt, und hielt ihr Gesicht in die Sonne. »Ach du Scheiße«, flüsterte Adam. »Deine Frau?« »Nee.« »Einlach die Wahrheit, Adam, nichts als die Wahrheit.«
Eine Art Einladung Eine Stunde später saßen Adam und Katja an dem Kiosk auf dem Zeltplatz, sie aßen Langosch und tranken Kaffee und Cola. Katja hatte den Strohhut auf, der Karton mit 101
der Schildkröte stand zwischen ihren Stühlen. »Bist du sauer auf mich?« »Du hättest das nicht erzählen sollen. Sie glaubt uns sowieso nicht.« »Deine Heldengeschichte?« »Ich trau der nicht. Die muss so was nicht wissen. Außerdem klang das wie erfunden.« »Aber so nett, wie die war.« »Das ist so ne Katzenfreundlichkeit, da musst du aufpassen.« »Ich hab nicht kapiert, dass die das ist, der schlechte Umgang. Ich dachte, das ist wirklich ne Freundin.« »Ich weiß ja auch nicht, wieso die plötzlich so scheißfreundlich ist.« »Und Michael? Wer ist das?« »Ihr Cousin, ihr Westcousin. Der soll sie rausheiraten. Jedenfalls haben sie uns zur Hochzeit eingeladen.« »Wann denn?« »Ach, alles heiße Luft.« Aus dem Lautsprecher kam »Don't wony, be happy«, am Nachbarrisch schnippten sie mit den Fingern. »Ist er hübsch?« »Alt ist er, Mitte vierzig vielleicht. Hat ne große Klappe, spielt sich auf, wenn er nicht gleich bedient wird, schenkt den Damen Parfüm, und wenn ihm was nicht passt, sagt er ‚merde‘. Ohne den gäb's das ganze Schlamassel nicht.« »Welches Schlamassel?« »Sie haben Evi das Parfüm geklaut, aus dem Spind raus oder wo immer sie das hatte ... Ach, lange Geschichte.« »Versteh ich nicht.« »Ich auch nicht. Sie hat gekündigt, auf der Stelle, und weil ich noch zu tun hatte und auf das Auto wartete, ist sie mit dem los, mit ihr und mit ihm.« »Und du hinterher?« »Ich hinterher.« 102
»Und warum hat sie nicht gewartet?« »Sag ich doch, sie hat was falsch verstanden.« »Und jetzt wohnen die alle bei deinen Bekannten?« »Sind eigendich Evis Freunde, ich war noch nie hier. Sie hat Pepi in Jena kennengelernt, gleich im ersten Studienjahr, und letztes Jahr war Pepi zwei Wochen bei uns.« Katja sah in ihre Tasse. »Früher nannte man das Mocca.« »Willst du noch einen?« »Gern, wenn's geht, mit Milch. Und ein bisschen mehr.« Adam ging zum Kiosk. Die Frau vor ihm hatte noch ganz weiße Haut, nur Schultern und Ohren waren gerötet. Er bestellte Kaffee und kaufte Brot, Wurst, Käse und Wasser. Als er zurückkam, saßen an ihrem Tisch zwei junge Männer, beide mit Sommersprossen und rötlichen Haaren. Sie aßen Eis. »Hier darfste das Zeug nicht kaufen«, sagte der mit den kurzen Locken. »Da musst du in'n Ort, in die Kofi fahren. Das is immer noch sauteuer. Aber das hier, das geht gar nicht. Früher hat die Wurscht mal drei achtzig Forint gekostet, das war Sozialismus, jetzt nehmse das Dreifache!« »Hier stehen noch Zelte von denen, die letzten Sonnabend über die Grenze gerannt sind«, sagte Katja. »Wir fahrn immer mal den Trabi von denen, da steckt der Zündschlüssel noch. Wir stelln ihn immer wieder vors Zelt, aber da kommt niemand mehr, und drin vergammelt alles!« »Wir ham eins aufgemacht, wegen dem Vogel da drin«, sagte der andere, der beim Sprechen rot wurde. »Der wäre sonst verdurschtet«, sagte der mit den Lo103
cken. »Ich geh dann mal«, sagte Adam, als Katja ihren Kaffee ausgetrunken hatte. Er hob den Karton mit der Schildkröte auf. »Morgen komm ich wieder.« »Ich bring dich ein Stück«, sagte Katja und nahm die Einkäufe vom Tisch. »Tschüss«, sagte sie zu den beiden Jungs. »Tschüssi«, sagten die, standen auf und wollten Katja die Hand reichen, aber sie hatte keine mehr frei. »Kommst du mit dem Geld hin?«, fragte Adam. »Mal sehen, wie scharf die hier kontrollieren. Eine Nacht kann ich ja erst mal bezahlen.« »Morgen so um die Zeit schau ich vorbei.« »Wirst ja sehen. Wenn's drauf ankommt, bin ich genügsam wie ne Ziege.« Adam packte ihr die Wasserflasche, die er ihr abgenommen hatte, wieder obenauf. »Wirst mir fehlen, Elfi«, sagte Katja. »Du ihr auch«, sagte Adam. Auf der Rückseite seines Adresszettels hatte Simone den Weg skizziert. Er fuhr die Hauptstraße zurück, bog nach links und an der Kirche im spitzen Winkel wieder nach links, auf die Römai-Straße. Schon von weitem erkannte Adam Evelyns weißen rotgepunkteten Popelinerock, den er ihr zu Ostern gemacht hatte. Eigentlich gehörte noch ein Haarband dazu. Den Stoff hatte ihm Desdemona überlassen. Neben Evelyn ging Michael. Adam überholte sie, ohne sich umzudrehen, und bog an dem grünen Pfahl mit der Nummer 8 nach rechts in die lange Auffahrt ein, die an Sträuchern und Bäumen und einem Schuppen vorbei hinaufführte. Adam hielt vor dem Haus und stieg aus. Er sah 104
den beiden entgegen. Sie sprachen nicht miteinander. Evelyn lief etwas schneller. Als Adam sie umarmen wollte, machte sie sich steif und wich zurück. »Hallo«, sagte Adam. »Simone meint, ich könnte unser Zelt haben, auch ihren Schlafsack und die Luftmatratze, ihr hättet Zimmer.« »Ja, klar. Willst du's gleich haben?« »Ich wollte es hier im Garten ...« »Hier?« Michael war herangekommen. Adam ergriff dessen ausgestreckte Hand. »Der Zeltplatz ist sauteuer.« »Das ist nicht dein Ernst?« »Wieso nicht?« »Kapierst du denn nicht, dass ich dich nicht sehen will, dass ich mal Ruhe brauch und nicht immer Angst haben möchte, dass du hinter der nächsten Ecke lauerst!?« »Und was soll ich deiner Meinung nach tun?« »Du sollst«, sagte Evelyn und betonte jedes Wort, »einfach nur abhauen!« Sie ließ ihn stehen und verschwand hinter dem Haus. Michael blickte zu Boden, nickte ihm kurz zu und folgte ihr mit der Badetasche. Adam setzte sich ins Auto. Er wendete und fuhr langsam zurück. An der Tankstelle hatte sich bereits eine kleine Schlange gebildet. Ein Tanklastzug von Shell stand zwischen den Zapfsäulen. Adam hielt hinter dem letzten Wagen. Er öffnete die Fenster, atmete tief durch und rieb sich die Brust. Wenigstens wusste er jetzt, wie er die nächste Stunde verbringen würde.
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Ein neuer Versuch Adam hielt auf Höhe des Schuppens und ging das letzte Stück die Auffahrt hinauf. Die Briefkastenkiappe glänzte in der Abendsonne. Rechts stand auf dem Blechschild die Nummer 8, die Klingel hatte kein Namensschild. Ein Weg aus kleinen Platten führte um das Haus herum. Adam zupfte an seinem Hemd» das ihm trotz des Windes, der vom See kam, schon wieder am Rücken klebte. Der Sonnenbrand an den Schultern tat weh. Am liebsten hätte er gewartet, bis die Schweißflecken getrocknet waren. Doch er glaubte, bereits bemerkt worden zu sein, so dass jedes Zögern befremdlich gewesen wäre. Er drückte die Klingel einen Moment länger als notwendig. Die Fenster waren bis auf eine angekippte Kellerluke geschlossen. Er hatte schon den Zeigefinger ausgestreckt, um ein zweites Mal zu klingeln, als eine Frau in einer grünen Kittelschürze um die Hausecke bog und auf ihn zueilte. Die Bewegungen ihrer Arme schienen die kleinen, in Schlappen steckenden Füße anzutreiben. Sie lachte und wischte sich, kurz bevor sie ihm die Hand reichte, mit dem Unterarm über die Nase. »Herr Adam«, sagte sie, noch bevor er sich vorstellen konnte. »Kommen Sie, ich bin Pepis Mutter, ich hab mir gedacht, dass Sie es sind, gehen Sie, gehen Sie.« »Ist Pepi da?« »Nein, wissen Sie, sie ist in Pees, bei ihrer Tante und ihren Cousinen, aber Sie können in das Zimmer, das hat sie 106
gesagt, Sie und Frau Evelyn können in ihrem Zimmer ...« Sie ging ihm voran um das Haus. »Das ist sehr liebenswürdig, Frau Angyal, aber ich wollte nur Pepi ...« »Pepi kommt nächste Woche, aber so lange können Sie gern in das Zimmer. Gehen Sie, gehen Sie.« Hinter dem Haus stieg das Grundstück an. Gegenüber einer Tür, vor der bunte Plastestreiren hingen, stand ein großer Tisch unter einer Pergola, die ganz mit Wein überwachsen war. Auf der kleinen Wiese daneben stützten Holzstangen die Wäscheleinen, an denen sich Hemden und Handtücher im Wind blähten. »Setzen Sie sich, setzen Sie sich«, sagte Frau Angyal und wies zum Tisch. Sie selbst verschwand im Haus. Sie sprach mit jemandem, aber die Stimme, die ihr antwortete, war kaum zu hören. Es roch nach Waschmittel und Eierkuchen und Kaffee. Adam stand auf, um Frau Angyal entgegenzugehen, die mit zwei Flaschen, Gläsern und etlichen Bilderrahmen, die sie unter die Achsel geklemmt hatte, herauskam. »Bitte sehr, bitte sehr, Herr Adam, trinken Sie, bei Hitze muss man trinken. Ich trinke den ganzen Tag.« Sie füllte ein Glas mit Wasser, das andere mit Weißwein, das augenblicklich von der Kälte des Weins beschlug, so dass Adam zuerst danach griff und Frau Angyal zuprostete. Dann erst nahm er das andere Glas und stürzte das Wasser hinunter. »Ach, die Pepi«, sagte Frau Angyal, während sie die gerahmten Fotos vor ihm aufbaute. »Die hat viel von Ihnen erzählt. Und glauben Sie mir, Herr Adam, dieses Kostüm, 107
das Sie ihr gemacht haben, Ihr Geschenk, dieses Kostüm ist ihr Lieblings... wie sagt man, ihre Lieblingseinkleidung. Sehen Sie hier, hier spricht sie im Seminar. Das war letzten Oktober. Und wissen Sie, mit dem Kostüm wird sie nicht dick. Kein Scherz, kein Scherz, nein, nein. Die Pepi sagt, wenn ich es ändern muss, dann geht es dahin, dann ist es nicht mehr die Naht von Herrn Adam. Lieber esse ich nichts, das sagt die Pepi.« Adam hielt ihr Foto in beiden Händen. Frau Angyal schenkte ihm Wein und Wasser nach. »Trinken Sie, trinken Sie«, rief Frau Angyal im selben Moment, in dem Evelyn um die Hausecke bog und lächelnd auf sie zukam. »Ja, Frau Evelyn, warum haben Sie mir nichts gesagt?« Frau Angyal eilte ins Haus, um mehr Gläser zu holen. »Hallo, Adam«, sagte Evelyn. »Dir geht's ja gut.« Sie setzte sich ihm gegenüber.« »Ich wollte nur das Zelt holen, dann hau ich wieder ab.« »Das geht nicht, Adam, das weißt du ganz genau. Du kannst jetzt nicht mehr weglaufen.« »Warum denn?« »Danke«, sagte Evelyn und lächelte Frau Angyal zu, die zwei Gläser vor sie hinstellte. Für sich selbst hatte sie eine grüne Flasche und ein Likörglas mitgebracht. »Auf einen schönen Urlaub, lieber Herr Adam, Frau Evelyn, Prosit!« »Prosit«, antworteten beide und tranken. Nachdem sie die Gläser wieder auf den Tisch gestellt hatten, schwiegen sie. Frau Angyal schenkte Wein und Wasser nach. »Sie können in Pepis Zimmer schlafen, wir können eine Matratze hineinlegen 108
»Nein, nein«, sagte Adam. »Bitte keine Umstände. Ich wollte Sie nur fragen, ob ich das Zelt hier im Garten aufhauen könnte, so war es ja doch gedacht, so hatten wir das auch mit Pepi besprochen.« Frau Angyal verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Bitte, Frau Angyal«, sagte Evelyn. »Ich will Mona nicht allein lassen, wir sind zusammen gekommen, wir wussten ja nicht, ob Adam Zeit finden würde. Ich kann sie jetzt nicht einfach ...« Frau Angyal sah ernst vor sich hin und füllte ihr Glas mit Likör. »Machen Sie, wie mögen«, sagte sie, »machen Sie, wie mögen, Frau Evelyn, aber solange Pepi nicht da ist...« Damit stand sie auf und ging ins Haus, als wollte sie nichts weiter davon hören. »Mist«, flüsterte Evelyn, »gratuliere!« »Du hast doch eben noch gesagt, ich soll nicht weggehen. Was willst du denn?!« »Ich hah ihr gesagt, dass du zu tun hast, dass du nicht kommst - wahrscheinlich.« Evelyn stand auf. Sie holte das Zelt aus dem Haus. Auf der Wiese schnürte sie den Zeltsack auf und ließ die Sachen herausfallen. »Ich finde deine Masche zum Kotzen!« »Wir müssen hier kein Theater spielen«, sagte Adam. »Dann weiß ich nicht, was du hier willst.« »Dich, nur dich.« »Wo ist Elfriede?« »Können wir nicht wenigstens mal miteinander reden?« »Essen gibt's um halb acht, Badezimmer und Klo sind für alle. Hast du Elfriede im Auto? Lebt sie noch?« 109
Adam legte den Autoschlüssel auf den Tisch. Als er das Zelt aurgebaut hatte, öffnete er den Reißverschluss und kroch hinein. In einer Ecke fand er ein paar Kiefern nadeln. Er kehrte sie mit den Händen zusammen, roch daran und steckte sie in die Brusttasche seines Hemdes.
Berichte vom ersten Tag Am nächsten Vormittag fand Adam das Zelt von Katja geschlossen, er wollte schon zum Wasser gehen, als er die großen Badeschuhe davor bemerkte. »Katja?« Er hörte ein leises Räuspern. »Katja, bist du da?« Eine Hand oder ein Ellbogen beulte das Zeltdach aus, es raschelte und der Reißverschluss ging ein Stück nach unten, doch nur so weit, dass ihr Kopf hindurchpasste. »Hallo, wie spät ist es denn?« »Halb elf.« »Wart mal.« Sie verschwand wieder. Adam versuchte durch die Öffnung zu sehen, erspähte aber nur kurz ihre nackten Schultern. Sie sprach leise. Adam trat gerade noch rechtzeitig zurück, als sich Katja, in T-Shirt und Rock, aus dem Zelt wand. Sie streckte sich und stieß einen Laut aus, etwas zwischen Gähnen und Juchzen. Der Himmel war blau, bloß ein paar Wölkchen, die eher aussahen wie weißer Rauch, trieben über den See. »Hast deine Pillen wohl wiedergefunden?«, fragte Adam. Katja zog den Strohhut aus dem Zelt und setzte ihn auf. »Ist spät geworden gestern. Wie war's denn?« 110
Adam zuckte mit den Schultern. »Nichts Besonderes. Und bei dir?« »Hier wollen alle weg, fast alle, die reden nicht drüber, ist aber wie ne große Familie.« »Kennste einen, kennste alle.« »Trinken wir nen Kaffee? Ich lad dich ein. Gestern hab ich Kinder gehütet, dort vorn, die sind aus Ulm, fünf Westmark pro Stunde. Und das noch ne ganze Woche lang.« »Verstehe ich nicht.« »Für ne Westmark tauschen die fünfundzwanzig Forint, manchmal noch mehr.« »Ich meine diese Ulmer, die kennen dich doch gar nicht. Lassen die dich allein mit den Kindern?« »Die sind ganz easy.« »Easy?« »Ja, die sagen ständig easy. Ich muss gar nichts machen, die Kinder schlafen ja schon, nur falls sie aufwachen, muss ich da sein.« »Aber die kennen dich nicht!« »Wir waren zusammen schwimmen und haben Abendbrot gegessen.« »Und wie machen das die anderen, alles Babysitter?« »Keine Ahnung. Wir bleiben halt hier, solange es geht, und dann.« »Wer ist wir?« »Na alle! Manche sind seit Juni da. Die warten, dass was passiert. Und wenn's nicht mehr geht, wollen sie hier in ein Pionierlager, Zänka, dort sind auch die Malteser. Morgen oder übermorgen kann ich dir das Geld zurückgeben.« »Lass mal, Kanister und Tank sind voll. Damit komm ich schon zurück.« »Ihr wollt zurück?« »Warum denn nicht?« »Und deine Frau?« »Nehm ich mit.« 111
»Nimmst du mit?« »Ja, was sonst.« »Vertragt ihr euch wieder?« »Fast.« »Liebst du sie?« »Sonst wäre ich ja nicht hier.« »Ich dachte, ich könnte dich überreden.« »Hast ja schon einen überredet.« Adam zeigte mit dem Daumen über die Schulter zum Zelt. »Du meinst Susanne? Die haben wir nicht mehr fahren lassen, die war ganz schön dicht.« »Die Badelatschen sind von ner Frau?« »Ihre Badelatschen?« »Das muss ja ne Riesin sein.« Sie stellten sich am Kiosk an. »Und wie war's mit der Ungarin?« »Pepi ist gar nicht da, aber ihre Mutter - was die uns auftischt, abends, morgens, und als ich los bin, stand sie schon wieder in der Küche! Die andern essen sogar mittags dort.« »Der schlechte Umgang nebst Cousin?« »Heute früh hat der ne halbe Stunde auf m Klo gehockt und dann dieselt er sich ein. Das ganze Haus stinkt nach dem Parfüm und nach der Kacke des Herrn Superhirn.« »Ist er ein Superhirn?« »Irgend so ein Forscher, lehrt sogar nebenbei an der Uni.« »Wartet der denn mit?« »Eigentlich nicht. Er muss zurück in den nächsten Tagen. Morgen wollen sie mal an die Grenze, an die Stelle, wo die anderen rüber sind.« »Das kannst du vergessen, dort kommt keiner mehr durch.« »Er meint, die Ungarn würden wegsehen.« »Da wäre ich nicht so sicher.« »Angeblich hat er's im Radio gehört, hat den ganzen Abend nichts anderes erzählt.« »Was denn?« »Von einer, die rüber ist. ‚Ist hier Österreich?‘, hat sie gefragt. Die Österreicher dachten, die spinnt. »Nein, der Mond<, ha112
ben die geantwortet. Da hat sie losgeschrien und ist wie ne Irre rumgesprungen.« »Hätte ich auch gemacht«, sagte Katja. »Wir sind dran.« Adam trug das Tablett mit den Joghurtbechern und dem Kaffee zu dem Tisch neben der kleinen Mauer, an dem sie tags zuvor schon gesessen hatten. »Vielleicht hauen ja Cousin und Cousine ab?« »Das wär's.« »Die erzählen hier ständig solche Geschichten. Du weißt nie, wo du landest, in Österreich oder im Stasiknast.« »Ach, lass gut sein. Versuch doch einfach, hier Urlaub zu machen.« »Wirst lachen, ein bisschen äst mir sogar danach«, sagte Katja. »Du klingst aber anders.« »Ist doch unheimlich, oder nicht?« »Ich versuch auch, hier Urlaub zu machen.« Katja lachte auf. »Ich denk, deshalb bist du hier?!« »Wie soll ich richtig Urlaub machen, wenn ich ständig jungen Republikflüchtlingen mit Rat und Tat zur Seite stehen muss?« »Prost«, sagte Katja und hob ihren Joghurtbecher. »Wir haben die Löffel vergessen.« »Brauchst du nicht.« Katja setzte den Joghurtbecher an die Lippen und trank. »Urlaub«, sagte sie dann, »auf den Urlaub.« »Ist doch schon fast Westen, oder?« »Ich verrat dir was, Adam. Wir sehen uns drüben wieder, in Wien oder Berlin oder Tokio, da geh ich jede Wette ein.« »Glaub ich nicht, glaub ich wirklich nicht.« Katja hielt ihm die Hand hin. »Komm, schlag ein.« »Lass den Quatsch, ich wette nicht.« »Los, sei kein Frosch, wir wet113
ten um nichts. Ich bin mir ganz sicher.« Adam schüttelte den Kopf. »So ein Blödsinn«, sagte er, schlug jedoch ein. Katja hielt seine Hand fest. »Prost«, sagte sie und hob den Joghurtbecher wieder hoch. »Prost!«, sagte Adam. Sie sahen sich an und tranken. Selbst als die Becher leer waren, ließ sie Adams Hand nicht los, sondern legte auch noch ihre Linke auf seine und beugte sich vor, als wollte sie ihm ein Geheimnis anvertrauen.
Ein Schatz »Hallo, hörst du, wir gehen!« Adam schrak zusammen. »Bist du eingeschlafen?« »Scheint so.« Er zog die Hose an und nahm die Uhr aus der Tasche. »Ist doch erst vier?« »Gleich halb sieben.« »Warte doch mal, Evi, bitte.« Sie blieb stehen, ohne sich nach ihm umzusehen, winkte dann aber den anderen, schon zu gehen. Adam legte die Decke zusammen und fuhr in seine Sandalen. »Der Rock steht dir. Nur das Haarband fehlt.« Sie liefen quer über die Wiese, auf der fast nur noch Paare waren, Adam immer einen halben Schritt hinter ihr. Simone und Michael warteten an der Straße. »Haben wir vielleicht mal zehn Minuten für uns?« »Warum?« »Ich wüsste gern, ob wir noch zusammengehören. Wenn man so zusehen muss, wie du einem anderen den Buckel einreibst...« »Adam, zum hundertsten Mal: Das ist nicht 114
meine Schuld. Und ich hab dich nicht gebeten, mir nachzufahren.« »Gut, es ist meine Schuld, das haben wir ja schon festgestellt. Ich habe mich entschuldigt, mehrmals, immer wieder.« Evelyn schüttelte lächelnd den Kopf und wandte sich wieder zum Gehen. »Evi, bitte, was soll das Theater?« »Weißt du, was das Schlimmste ist?« Sie drehte sich zu ihm um. »Dass du nicht mal begreifst, worum es geht. Dass du dich überhaupt noch traust, mir in die Augen zu sehen! Du hinter dem Schrank! Wenn ich da gestanden hätte und in der Wanne so ein fetter Kerl. Was würdest du tun, würdest du mir noch vertrauen?« »Ich weiß nur, dass ich dich liebe, dich und niemanden sonst.« »Hast dich ja schnell getröstet.« »Ich hab ihr geholfen, nichts weiter, ich hab sie im Kofferraum über die Grenze gebracht. Das ist die Wahrheit.« »Und das soll ich dir abkaufen?« »Es ist so, frag sie. Wenn ich dich nicht liebte, wäre ich nicht hier.« »Ich wollte weg aus diesem Kaff und von diesem Ratskeller und von dir, überhaupt, einfach nur mal für mich sein.« »Mit Mona und Michael?« »Das ist was anderes.« »Störe ich dich beim Nachdenken?« »Wenn du mich nicht verstehen willst ...« Evelyn zuckte mit den Schultern. Sie lief jetzt schneller. Simone und Michael hatten die Straße überquert und gingen die Abkürzung hinauf zur Römai-Straße. Adam lief ihr mit der Decke unter dem Arm nach. »Und was habe ich zu erwarten 115
außer Theater?« »Du kannst jederzeit abreisen, Adam, jederzeit!« »Und du? Wann reist du ab?« Sie standen nebeneinander an der Straße, aber die Reihe der Wagen riss nicht ab. »Weiß ich nicht.« »Wieso?« »Ist doch egal, wann ich komme, hab gekündigt, schon vergessen?« »Lässt du dich von Pepis Ekern durchfüttern?« »Nein.« »Geht doch gleich wieder los, die Fresserei.« »Das bezahlt Michael. Der hat das gemietet, zwei Wochen, er und Mona. Ich bin eingeladen, und du hast dich selbst eingeladen.« »Was?« »Nicht gewusst?« »Ich will mich nicht selbst einladen.« »Zwei Wochen bleib ich erst mal.« »Und dann? Wie kommst du zurück?« »Vielleicht will ich ja gar nicht zurück?« »Willst du abhauen?« »Noch lauter, schrei noch lauter!« »Ist das dein Ernst?« »Wer ne blöde Frage stellt, kriegt ne blöde Antwort.« Evelyn trat auf die Straße und wartete am Mittelstreifen. »Komm doch, komm.« 116
»Ich komm nicht mit«, sagte Adam, nachdem er die Straße überquert hatte, »Wohin kommst du nicht mit? « »Zum Abendbrot.« »Sei nicht albern, die kochen sowieso zu viel.« »Wieso lässt du dich aushalten?« »Pepi war auch zwei Wochen bei uns, nimm es als Gastfreundschaft.« »Von den Angyals?« »Du hast doch auch umsonst für sie genäht.« Sie liefen nebeneinander den kleinen Weg zwischen den Häusern und Gärten hinauf, gingen auf der Römai-Straße nach links und bogen dann hinauf zu dem Haus mit der grünen Tür. Simone und Michael standen in der Auffahrt auf Höhe des Schuppens. Zuerst sah es aus, als würden sie sich unterhalten. Es war aber allein Simone, die sprach. Als Adam und Evelyn heran waren, verstummte sie. Michael lächelte Evelyn an. Plötzlich marschierte Simone, ohne ein Wort zu sagen, mit schlenkernder Handtasche an Evelyn und Adam vorbei zurück zur Straße. »Mona!?«, rief Evelyn. »Was ist denn los? Mona?!« Simone hielt kurz inne, als wollte sie sich umdrehen und etwas sagen. Sie fingerte jedoch nur ihre Sonnenbrille hervor und lief weiter. »Mona!« »Die weiß ja selbst nicht, was sie will«, sagte Michael und ging um das Haus herum nach hinten. »Ich hab noch was für dich«, sagte Adam leise, »was Schönes.« »Ich will aber nichts von dir.« »Doch, du musst dich nur ins Auto setzen.« »Mach ich aber nicht.« »Dann bekommst du es nicht.« »Ich hab 117
doch gesagt, dass ich nichts will.« Adam schloss den Kofferraum auf und nahm die Schmuckschatulle heraus. »Bei Findeisens sind doch letzten Sommer welche eingestiegen«, sagte er und setzte sich auf die Rückbank. »Und ich dachte, wenn unser Häuschen leer steht, wenn da welche kommen, das wäre leichte Beute. Da hab ich's eingepackt.« »Meinen Schmuck?« »Eigentlich sollte ich dir das nicht so einfach geben.« »Spinnst du? Der gehört mir!« »Komm, bitte, eine Minute, nur eine Minute.« Adam öffnete die andere Tür von innen. »Bitte sehr, dein Schatz.« Evelyn setzte sich neben ihn, drehte den kleinen Schlüssel herum und klappte die Schatulle auf. »Sieh ruhig nach, ob alles da ist.« »Du hast Nerven, Adam, das über die Grenze zu schmuggeln, und dann lässt du es im Kofferraum liegen. Mehr Schwein als Verstand!« »Mehr gibt's dazu wohl nicht zu sagen?« »Was hast du dir dabei gedacht?« »Ich dachte, das wäre ne Möglichkeit, dich ins Auto zu locken.« Evelyn hob den oberen Einsatz an. »Alles drin, keine Bange.« Sie legte sich eine kurze goldglänzende Kette um und hängte tropfenförmige rubinrote Ohrringe ein. »Ist wirklich schön, dich mal wieder so nah zu haben«, sagte Adam. An dem gedeckten Tisch unter der Pergola saßen bereits Michael und Herr Angyal, der seine Brille auf die Stirn geschoben hatte. »Das hat Adam zufällig noch im Kofferraum gefunden«, sagte Evelyn, streifte die Haare zurück und drehte den 118
Kopf hin und her. In das Schweigen hinein, das ihrer Nachricht folgte, sagte Adam: »Ja, das stimmt.«
Der große Knall »Herr Adam, guten Morgen, gut geschlafen, Herr Adam?« »Wunderbar, wie in Abrahams Schoß. Und Elfi genießt den Balaton.« Adam trat an das kleine Gehege, das Herr Angyal für die Schildkröte gebaut harte. »Ich habe Elfi etwas Möhre gegeben.« »Hat sie schon alles weggeputzt», sagte Adam und setzte sich an den Tisch. »Nehmen Sie bitte Kaffee?« Frau Angyal hielt den Krug mit der warmen Milch schräg und ließ den Schneebesen darin kreisen. Adam öffnete die Klappe der Zuckerdose und schaufelte sich drei Teelöffel in die Tasse. »Ich dacht scfion, heute war ich mal der Letzte." Von den kleinen dunklen Weintrauben, die in einem Suppenteller lagen, nahm er eine Handvoll. »Was ist eigentlich für ein Wochentag?» Frau Angyal hörte ihn nicht. Ihr ganzer Oberkörper war in Bewegung geraten, ihr Gesicht gerötet. Sie stöhnte leise, japste dann einen Moment und blies in den kurzen Pausen, die sie sich gönnte, die Haarsträhnen aus der Stirn. »Fertig!«, sagte Frau Angyal, nahm einen Löffel und schob die geschäumte Milch über die Tülle, aus der ein dünner Strahl in Adams Tasse rann. Ihr Oberarm, der seine Schulter streifte, war klebrig und heiß. »Ihr Mann ist schon auf Arbeit?» 119
»Er holt Pepi, sie kommen morgen.« »Der Kaffee ist so gut, da bleibt der Löffel drin stehen.« »Sie sind sehr freundlich, Herr Adam, immer freundlich«, sagte Frau Angyal und seufzte. »Wie Sie uns umsorgen, so stell ich mir das Paradies vor.« »Darf ich Ihnen was zeigen? Nein, bleiben Sie sitzen, ich bringe es, behalten Sie Platz.« Frau Angyal eilte ins Haus, Adam öffnete noch einmal die Dose, streute den Zucker gleichmäßig über den Milchschaum und tunkte sein Hörnchen hinein. Bis auf die raschelnden Blätter, ohne die man den Wind gar nicht bemerkt hätte, die Grillen und eine Lerche über dem Weinberg war es still. »Schauen Sie, Herr Adam, ist das nicht eine Pracht? Fühlen Sie nur!« Frau Angyal hielt einen weinroten Stoffballen in den Armen und wiegte ihn vor Stolz und Freude. »Wo haben Sie denn den her?« »Er gehört einer Freundin. Hat sie aus der Schweiz, von ihrem Bruder. Bitte? hier!« Adam wischte sich die Hände an der Serviette ab und befühlte den Stoff. »Crepe de Chine? Das ist ja wunderbarer Crepe de Chine. Ich hatte mal was Ahnliches, aber nicht diese Qualität, und nicht so viel und nicht diese Farbe. Wie viel Meter sind das, zehn, zwölf1« »Ein Dutzend, hat sie gesagt, das reicht für uns alle, hat sie gesagt.« »Und was soll daraus werden?« »Was Festliches, für die Hochzeit des Sohnes, ein Kleid für sie. Hier, bitte!« Adam verzog anerkennend den Mund und übernahm den Stoffballen. 120
»Herr Adam, ich wage es nicht, aber ich soll fragen, auch wenn Sie Urlaub haben, ob Sie nicht mögen. Es wäre wunderbar, wenn Sie schneidern für sie, weil sie versprochen hat, dass ich, wenn etwas übrig ist, dieses für mich verwenden darf, wenn Sie mögen, obwohl Urlaub ist, deshalb ...« »Haben Sie eine Nähmaschine?« »Ja, ja, ja, Magda hat eine elektrische, eine Textima sogar.« »Wenn Sie glauben, dass ich der Richtige bin gem.« »Wirklich, Herr Adam, wirklich? Sie sind mir nicht böse?« »Nein, ich bin ja froh, wenn ich was tun kann, sie soll kommen, oder wir gehen hin, wie Sie mögen.« »So eine Freude, Herr Adam, so eine Freude! Ich ruf gleich an, ich ruf sie an.« Frau Angyal verschwand durch den Vorhang aus Plastestreifen ins Haus, Adam blieb mit dem Stoffballen am Tisch sitzen. Er zögerte, ihn neben sich abzulegen. »Wem gehört denn das Kind?«, fragte Simone. »Guten Morgen«, sagte Adam und drückte den Ballen an sich, damit Simone an ihm vorbei zu ihrem Platz kam. »Guten Appetit!« »Mir ist der Appetit vergangen«, sagte sie. »Bonjour«, sagte Michael, ohne Adam dabei anzusehen. Er setzte sich mit Evelyn ihnen gegenüber. »Guten Morgen, die Herrschaften.« Adam ging mit dem Stoff ins Haus, als müsste er ihn in Sicherheit bringen. Er klopfte an die halb offene Tür, hinter der Frau Angyal aufgeregt sprach. Sie winkte ihn herein, er beugte sich mit dem Stoff vor wie ein Hausierer, der seine Ware feilbietet. Frau Angyal deutete zum Tisch. Er legte 121
den Ballen neben die leere Kristallvase auf die gehäkelte Tischdecke. »Morgen Vormittag?«, fragte Frau Angyal, deckte die Sprechmuschel ab und flüsterte: »Sie ist sehr, sehr glücklich, Herr Adam.« Draußen saßen sie sich schweigend gegenüber. »Wartet ihr auf mich? Fangt doch an«, sagte Adam. »Oder habt ihr euch den Magen verdorben?«»So kann man es auch nennen«, sagte Simone. »Wollt ihr oder soll ich?« »Können wir nicht später noch mal darüber reden?«, fragte Evelyn. »Später? Von mir aus, ich weiß ja Bescheid.« »So einfach ist das nicht, Mona.« »Doch, sogar sehr einfach. Wo kommt denn das her? Tschechoslowakische Marmelade. Und der Senfr Zum Frühstück?« Adam setzte sich und tunkte das angebissene Hörnchen in seine Tasse. »Jetzt schmeckt es ihm noch, unserem Adam«, sagte Simone. »Nun mach hier nicht auf Tragödie!« »Das war nur eine Feststellung, nichts weiter.« »Das ist lächerlich, Mona«, sagte Michael, »vollkommen lächerlich.« »Sie wollen's dir offenbar selbst sagen, Adam, dauert noch ein Weilchen, ich werd's wohl nicht mehr mitbekommen.« Sie nahm sich Kaffee. Danach schenkte Michael Evelyn und sich Kaffee ein. »Möchtest du auch?«, fragte er und hielt Adam die Kanne hin. »Pardon, pardon«, rief Frau Angyal, die aus dem Haus geeilt kam. Sie prüfte mit dem Unterarm, ob der Milchkrug noch warm war, nahm den Schneebesen, drückte den Krug an die Brust und begann erneut die 122
Milch zu schlagen. »Ich bin sehr glücklich, Herr Adam«, presste sie hervor, ohne das Schlagen zu unterbrechen, »sehr glücklich!« »Na wenigstens eine«, seufzte Simone. »Bringst du mich zum Zug, Adam? Ich will das junge Glück nicht weiter stören.« »Und wann?«, fragte Adam. Er bekam keine Antwort und schien auch keine erwartet zu haben. Wie die anderen starrte er vor sich hin, kaute langsam, lauschte dem Schlagen des Schneebesens und Frau Angyals tiefem Stöhnen.
Paare »Pepi, der Herr Adam, komm!« Frau Angyals Stimme hallte im Hausflur. »Der Herr Adam, Pepi!« »Guten Morgen die Herrschaften«, sagte Adam. Michael nickte kauend. »Hallo«, sagte Evelyn. Die Arme von Frau Angyal erschienen zwischen den bunten Plastestreifen der offenen Tür. »Guten Morgen! Wann sind Sie gekommen, Herr Adam? Wir hörten Sie nicht!« »Gegen zwölf vielleicht? Wie spät ist es denn?« »Drei nach zehn«, sagte Michael. »Pepi!« Frau Angyal lief zurück ins Haus. »Wie war's denn?« »Sie ist mit dem ‚Saxonia‘ gefahren, 18.25 Uhr. Da steigt sie jetzt gerade in Leipzig aus. War alles reserviert, bis auf den letzten Platz. Aber kaum einer drin, sie hatte ein ganzes Abteil für sich.« »Hat sie noch was gesagt?« 123
Adam rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen und unterdrückte ein Gähnen. »Zumindest nichts, was ich ausrichten soll.« »War sie noch... wir hatten gehofft, du bringst sie wieder mit.« »Das fällt dir aber ein bisschen spät ein«, sagte Adam und wandte sich um. Jemand kam die Treppe heruntergepoltert. »Da ist sie«, sagte Evelyn, als Pepi durch die Plastestreifen tauchte. Adam ging ihr entgegen, sie küssten sich auf die Wangen. »Wirst ja immer hübscher!«, sagte er. »Schön, dass ihr da seid«, sagte Pepi. »Ja«, sagte Adam leise, »ich bin auch froh.« »Ich finde«, sagte Evelyn, »dass ihr das Kostüm jetzt noch besser steht als letztes Jahr, kann das sein?« Adam sah Pepi an, die offenbar nicht wusste, was sie tun und sagen sollte. »Hast du schon gegessen?«, fragte er. Pepi nickte. »Darf ich mich zu euch setzen?« »Keinesfalls«, sagte Adam, nahm ihre Hand und führte sie an den Tisch. »Ich hol mir noch eine Tasse«, sagte Pepi. »Steht hier«, rief Michael, »hab schon eingeschenkt.« Pepi setzte sich neben Adam. »Mir ist das peinlich, dass meine Mutter dich mit der Läszlo Magda inkommodiert, jetzt, im Urlaub, das ist unglaublich, wirklich ...« »Nein, überhaupt nicht!« »Du kannst ja nichts anderes sagen, du bist zu höflich ...« »Nein!«, sagte Adam mit vollem Mund. »Im Gegenteil, mir macht das doch Spaß!« Pepi schüttelte den Kopf. »Glaub ihm, Pepi, wirklich, Adam kann gar nicht Urlaub machen. Wenn der nichts zu tun hat, ist er 124
unglücklich, hast du doch selbst gesehen.« »Aber hier? Hier sollte das nicht sein. Rauchst du noch?« »Klar.« »Ich musste es schon mal in die Reinigung geben, und nun riecht es gar nicht mehr nach euch, nach eurem Haus. Willst du auch ein Ei, Adam? Frisch aus dem Hühnerstall, viereinhalb Minuten? Hab ich nicht vergessen, viereinhalb! Und Kuchen, Mama hat gebacken. Deinetwegen schwänzt sie sogar die Kirche.« Pepi nahm den leeren Milchkrug und ging ins Haus. »Es gibt also noch Kuchen? Sieh an, sieh an«, sagte Michael und hielt die Kaffeekanne hoch. »Danke«, sagte Adam. »Ist noch Milch da?« »Ist wohl in Arbeit.« Evelyn schob ihm die Zuckerdose zu. »Du darfst Mona wirklich nicht alles glauben.« »Was soll ich denn nicht glauben?« »Na egal. Hauptsache, sie führt sich zu Hause nicht so auf wie hier.« »Da kannst du beruhigt sein.« »Hat sie das gesagt?« »Jedenfalls hat es nichts mit dir zu tun.« »Nichts mit mir? Das hat sich aber anders angehört.« »Könnt ihr nicht mal von was anderem reden?«, sagte Michael, während er sich ein Hörnchen mit Butter bestrich. »Sie ist weg, Gott sei Dank! Sie hat lang genug rumgestänkert.« »Mona ist übers Ziel hinausgeschossen, hat sie zumindest selbst gesagt.« »Wirklich?«, fragte Evelyn. »Du fragst mich? Du musst es doch wissen! Aber dass Michael - also dass du sie heiraten wolltest, war sogar mir bekannt.« »Wirklich, Adam, du musst hier nicht ...« 125
»Er hat doch recht«, sagte Michael. »Ich hab's ihr versprochen. Ich hab ihr versprochen, sie rauszuheiraten. Dass sie daraus aber noch andere Ansprüche ableitet, dass sie glaubt, mir Vorschriften machen zu können, und mir am Ende droht, mich anzuzeigen, das ist nicht in Ordnung, das geht nicht.« »Hat sie das?«, fragte Adam. »Hat sie dir gedroht?« »Eve - Evelyn war dabei.« Michael zündete sich eine Zigarette an. »Das hat dir deine neue Freundin offenbar nicht erzählt. Und deshalb hab ich auch gehofft, ihr kommt beide zurück. Ich trau ihr alles zu. Selbst die Gabriel hatte Angst vor Mona, überleg mal, die Chefin und Angst vor ner Kellnerin.« Adam belegte ein Weißbrot mit Salami und einer Scheibe Käse. »Ich bin jedenfalls froh, dass Heinrich durchgehalten hat. Auf den ist Verlass.« »Heinrich?« »Adams Wartburg. Den Namen hat er schon von seinem Vater übernommen.« »Du nennst dein Auto Heinrich?« »Was gibt's da zu grinsen?« »Hab ich noch nie gehört.« »Ihr kauft euch alle paar Jahre einen neuen und der alte wird verschrottet. Bei uns gehört er zur Familie.« »Meiner hat dreihunderttausend weg, und ich ...« »Dreihunderttausend Kilometer?« »Wenn ichs dir sage.« Michael stippte die Asche in die Eierschale auf seinem Teller. »Dann hat er sich einen Namen verdient. Wir wärs mit Gabriela, würde irgendwie passen, die rote Gabriela? Wir hatten mal ne Isabella, unser erster Trabi, grau mit 126
grauem Himmel, elfenbeinfarben würdet ihr das wahrscheinlich nennen.« »Jö napot!« Vor ihrem Tisch stand eine Frau, eine Dame mit Hütchen und hellrot glänzenden Lippen. Das Pepitakostüm war ihr zu eng. Sie fragte etwas auf Ungarisch. Als sie den Namen Erzsi nannte und auf die offene Tür zeigte, rutschte ihr ein Stapel Zeitschriften unter dem Arm weg und fiel auf die Wegplatten. »Was für ein Auftritt«, sagte Adam und sprang auf, um ihr zu helfen. »Köszönöm, köszönöm szepen«, rief sie halb jammernd, halb lachend, und hörte auch nicht auf, als alle Zeitschriften aufgehoben waren und Pepi und Frau Angyal sie begrüßten. »Köszönöm.« »Das ist Magda«, sagte Pepi, »unsere Freundin.« Magda reichte jedem die Hand, man machte ihr Platz, Frau Angyal brachte auch ihr eine Tasse. Pepi stellte den Eierbecher samt Ei auf den Tisch. Adam, der die Zeitschriften im Arm hielt, war stehen geblieben, blätterte in der obersten und sah hin und wieder zu Magda. Ihr Hütchen war bei den Bemühungen, es zu richten, zu weit nach rechts gerutscht, was ihr ein keckes Aussehen verlieh. Michael nahm die Kaffeekanne, schenkte ihr ein, blies das Teelicht des Stövchens aus und öffnete die Zuckerdose. Magda strahlte Michael an und sagte etwas zu Pepi. »Frau Laszlo sagt, dass sie sehr froh ist, dass Sie hier sind.« »Und ich erst, so wunderschön, wie das hier ist!« Er lächelte Evelyn an. Pepi übersetzte. Danach schwiegen sie, bis sich Magda 127
wieder zu Pepi beugte und ihr ins Ohr flüsterte. Je länger sie flüsterte, umso kichriger wurde sie. Pepi hingegen, die sich ihr anfangs zugeneigt hatte, saß nun kerzengerade da und sah ernst vor sich hin. Mit einem kollernden Lachen beendete Magda ihre Flüsterei. »Frau Läszlö meint«, sagte Pepi, »sie habe schon viel von Ihnen gehört.« »Na, hoffentlich nur Gutes«, rief Michael und lachte mit Frau Läszlö. »Hoffentlich nur Gutes«, wiederholte er und blickte fragend zu Pepi, die nicht gewillt schien, seine Erwiderung zu übersetzen. »Frau Laszlö glaubt«, sagte Pepi und hob den Blick, als suchte sie etwas am Himmel, »sie glaubt, Sie würden ihr ein Kleid nähen.«
Adam arbeitet »Ach, Magda ist glücklich, ich brauche nichts zu übersetzen, sehen Sie Magda an!« »Sie hofft nur«, ergänzte Pepi, »dass sie den Künstler auch bezahlen kann, das beschäftigt sie.« Adam lächelte Magda zu, die unentwegt redete, sich den Stoff anhielt und immer wieder in die aufgeschlagene Zeitschrift und auf seine Zeichnung sah. »Ich hab noch gar nicht angefangen, und ihr tut so, als wäre schon alles fertig.« »Aber Herr Adam, wie Säe darüber reden, wie Sie das sagen, wir verstehen, dass es besonders wird, etwas sehr, sehr Besonderes.« »Nur gut, dass du ihr das Kleid ausgeredet hast.«»Das hängt sonst wirklich nur im Schrank«, sagte Adam. »Den 128
Rock kann sie kombinieren, « »Soll ich ihr das übersetzen?« »Sag ihr, dass sie eine gute Figur hat.« »Eine gute Figur?«, fragte Pepi. Auch Frau Angyal sah ihn überrascht an. Magda drehte sich um und blickte rados von einem zum anderen. »Nun sag es schon. Sie ist etwas vollschlank, aber die Proportionen stimmen, darauf kommt es an, wie bei Ihnen, nicht wahr?« Pepi und Frau Angyal wechselten einen Blick, dann redeten sie gleichzeitig los. Frau Angyal zeichnete eine Schlangenlinie in die Luft und gleich noch mal eine ähnliche Linie an ihrem Körper entlang. Magda starrte in den Spiegel, als wolle sie die Aussagen überprüfen, hob das Kinn und verharrte reglos. »Und jetzt sagt ihr bitte, dass ihr mich bezahlt, dass meine Arbeit ein Geschenk ist, sonst nimmt sie den Stoff wieder mit ...« »Ein Geschenk?« Beide Angyals starrten ihn an. »Sie könnte mich sowieso nicht bezahlen. Doch ihr hingegen, als Freunde, ihr konntet mich überreden ... Was ist denn, das ist meine Zeltplatzgebühr.« »Du verlangst gar nichts?« »Sie soll euch den restlichen Stoff überlassen, der ist allererste Qualität! So schnell bekommen wir so was nicht wieder zu sehen.« »Aber Herr Adam ... « Er setzte sich aufs Fensterbrett, zog aus seiner Brusttasche eine Zigarre, betrachtete kurz das abgeschnittene Ende und zündete sie an. Als er den ersten Rauch aus dem Fenster blies, standen die drei Frauen bereits vor ihm. »Sie ist glücklich«, sagte Frau Angyal, »aber sie hat Ihr Angebot 129
sofort angenommen, ganz selbstverständlich. Das ärgert mich, Herr Adam, das war falsch, das hätten Sie nicht tun dürfen.« »Versteht sie wirklich nichts?«, fragte Adam und nickte Magda zu. »Sie ist ein Geizhals.« »Ein Geizkragen«, sagte Pepi und wandte sich an Magda. Adam wedelte mit der Hand, um den Rauch zu vertreiben. Er sog wieder an der Zigarre und lehnte sich aus dem Fenster. »Lassen Sie, Herr Adam, wir riechen das gern. Das gehört zu Ihrer Arbeit, Pepi meint ...« »Gewonnen, gewonnen«, flüsterte Pepi. »Was übrig bleibt, dürfen wir behalten.« »Ich hab schon ne Idee.« »Es ist so ein Glück, dass du da bist«, sagte Pepi. »Rauch doch im Zimmer, das ganze Haus soll danach riechen.« »Was erzählt deine Mutter denn da alles?« »Sie erklärt Magda gerade, dass sie den Stoff nicht einfach annehmen kann? Wenn Mama nicht aufpasst, hat sie Magda gleich überzeugt.« »Sie soll in drei Tagen wiederkommen, in drei Tagen ist erste Anprobe. Sieh dir mal diese Frau an!« Magda zog Bauch und Wangen ein, stützte die Arme in die Hüften und stellte sich seidich zum Spiegel. Die halb geschlossenen Augenlider verliehen ihr etwas Dümmliches. Beim Abschied war sie dann verlegen und deutete einen Knicks an. Pepi sollte Magda nach Hause fahren. Frau Angyal schrieb noch einen Einkaufszettel für Pepi und begleitete sie zur Tür. Adam, die Zigarre im Mund, warf mit einer Hand den Ballen über den ausgezogenen 130
Tisch, so dass der StofFWellen schlug. »Wir können uns wirklich nicht beklagen«, empfing er Frau Angyal. »Selbst wenn ich ihr noch eine Bluse mache, bleibt uns mehr als die Hälfte. Das reicht auch noch für Pepi.« »Wirklich? Ich schäme mich, dass ich so schlecht rede vor Ihnen, Herr Adam. Aber Magda ist wirklich geizhälsig.« »Mir ist schon was Schönes eingefallen«, sagte Adam. »Fangen wir an?« »Gleich jetzt, hier?« Er nickte und blies eine Rauchwolke gegen die Deckenlampe. Vorsichtig legte er die Zigarre über die Kante des Fensterbretts und zog sich das Maßband vom Hals. »Wollen Sie nicht?« Frau Angyal hatte einen Stuhl vom Tisch abgerückt und sich auf die Kante gesetzt. »Wie soll das weitergehen, Herr Adam, das ist schrecklich, sagen Sie mir, was wird? Die Frau Evi ist so eine schöne Frau, bildschön, aber sagen Sie, was will sie von dem? Warum macht sie das?« Adam verzog den Mund. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich schätze mal, noch zehn Tage, dann fahr ich mit ihr zurück.« »Glauben Sie? Sind Sie denn bereit, sie wieder aufzunehmen?« Adam zuckte mit den Schultern. »Das sind Dummheiten.« »Wirklich? Ich weiß nicht.« »Wir werden sehen. Hauptsache, ich darf noch bleiben.« »Sie können bleiben, natürlich können Sie bleiben, solange Sie wollen, immer, solange Sie ...« »Vielen Dank, das ...« »Aber das wissen Sie, Sie können hier immer bleiben.« »Danke«, sagte Adam, nahm das Bandmaß in beide Hände und sah Frau Angyal an, die ih131
re lackierten Zehennägel zu betrachten schien. »Pepi hat mir alles verraten«, sagte sie plötzlich. »Und ich kann Ihnen verraten, dass wir das Kind genommen hätten. Pepi hat gehofft, dass sie schwanger wird.« »Wie denn? Was hat Pepi gesagt?« »Es hat nicht sollen sein, damals. Aber sie hat immer wieder von Ihnen erzählt?' Für Pepi waren die Tage bei Ihnen im Garten das Schönste.« sich fand es auch sehr schön«, sagte Adam. "Hat Pepi denn keinen Freund? Sie hatte doch einen Freund?« »Nein, der hat ihr nicht gutgetan, mit dem hat sie nur verloren. Sie kam zurück, und dann war es vorbei. Ich bin so froh gewesen.« »Pepi hat gehofft, schwanger zu werden?» Frau Angyal nickte. »So war es, so war es. Aber das weiß nur ich - und jetzt Sie.« Adam wickelte das Maßband um den linken Zeigefinger. Von draußen hörte man eine Kreissäge. »Wollen wir?«, fragte Adam. »Ja, ja, aber was.« Frau Angyal erhob sich vom Stuhl. »Ihre Maße brauche ich sowieso.« »Was soll ich machen, das ausziehen?» »Geht auch so.« Frau Angyal drehte sich seitlich und knöpfte ihre Kittelschürze auf. In einem weißen Unterrock mit breitem Spitzensaum stand sie vor ihm. »Die Sandalen lasse ich an?« »Unbedingt«, sagte Adam. Er trat hinter sie, hielt das Maßband an ihren Halswirbel und zog es von da über die Schultern bis zum Handgelenk. Dann maß er ihre Hüfte, die Taille, den Brustumfang ... »Ich wüsste schon, wie ich's machen würde«, sagte er und steckte Stift und No132
tizbuch wieder ein. »Aber vielleicht wollen Sie etwas ganz anderes? - Frau Angyal?« »Herr Adam, würden Sie mich bitte umarmen? Einmal nur. Oder darf ich?« Adam räusperte sich. »Ja«, sagte er und stopfte das Maßband in die Hosentasche. Frau Angyal trat heran und umschlang seinen Hals. Als seine Hände ihren Rücken berührten, drückte sie sich an ihn. »Seide, echte Seide«, flüsterte Adam. Seine Fingerspitzen strichen über ihre Schulterblätter, wanderten abwärts und erreichten Frau Angyals Hintern. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, presste sich an ihn und stieß einen kurzen lustvollen Laut aus, der Adam schlagartig klarmachte, dass er allein war mit ihr.
Schattenspiele »Bleib noch, bitte, noch fünf Minuten, ich will dich sehen.« »Du siehst mich doch, du siehst mich schon die ganze Zeit.« »Aber nicht richtig, komm.« »Nicht! Mach endlich das Fenster zu!« »Warum denn?« »Das hörst du doch, das Bett quietscht so fürchterlich!« »War es nicht schön?« »Doch«, sagte Evelyn und küsste ihn auf den Mund, »sehr sogar.« »Warum soll ich dann das Fenster zumachen?« »Meinetwegen sollst du das machen, ich möchte es.« Er schob sich zwischen ihre Beine, umschlang ihre Taille mit beiden Armen und legte den Kopf auf ihre Brüste. »Weißt du, wie du aussahst, als du vorhin hier reinkamst? 133
Wie eine Mumie, eingewickelt wie eine Mumie.« »Ich kann ja nicht nackt durchs Haus rennen.« »Ich dachte erst, die haben uns Laken statt Handtücher gegeben. Die riechen so schön altmodisch, nach Bügeleisen.« »Ja, die riechen gut«, sagte Evelyn und fuhr ihm mit beiden Händen durchs Haar. »Weißt du, was unglaublich geil an dir ist?« »Geil? Wie meinst du das?« »Geil eben!« »Ich finde das Wort scheußlich!« Michael schob sich ein Stück höher und zog mit den Lippen an den Härchen ihrer Achselhöhle. »In die bin ich affenmäßig verliebt. Gefällt dir das besser?« »Ja.« »Rasierst du dich nie?« »Soll ich?« Evelyn verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Das Laternenlicht von der Romai-Straße zeichnete den Schatten des Kirschbaums an die Wand. Ein ganz sanfter Wind musste durch die Zweige gehen. »Vielleicht kannst du jetzt mal das Fenster zumachen?« »Wer soll uns denn belauschen?« »Warum verstehst du das denn nicht!?« »Ich versteh auch nicht, warum du wieder zurück in dein Zimmer willst.« »Wir sind hier zu Gast...« »Ich bezahle das ganz normal, wie überall, ein stinknormaler Tourist.« »Ich kenne sie alle, und da draußen liegt Adam.« »Was weißt du, wo der gerade ist.« »Wenn er das hört!« »Na und? Nur herein, wenn's kein Schneider ist!« »Du bist blöd.« »Haben wir ihn eingeladen? Er hat dich hintergangen, jahrelang, und jetzt sollen wir die Luft anhalten, weil der da draußen pennt?« Michael legte sich ne134
ben sie auf den Rücken. »Sei nicht beleidigt, du hast mich doch.« Evelyn stützte sich auf und fuhr ihm mit der Hand über die Brust. »Dieses Versteckspiel ...« »Sei nicht bös.« »Ich bin nicht >bös<, ich begreife nur nicht, warum du bei den Angyals bleiben willst?!« »Ich muss mich erst dran gewöhnen.« »Gewöhnen? Woran?« »Na an dich, an die ganze Situation.« »Wieso denn gewohnen?« »Mit dir zusammen hier am Balaton.« »Gewöhnen! Ich denk seit einem Jahr an dich!« »Das glaub ich nicht.« »Nicht? Bei Monas Geburtstag letztes Jahr hattest du so ein Wickelding an, das sich vom kreuzte. Darin hab ich dich immer gesehen, ich hab immer daran gedacht, immer.« »Immer?« »In jeder Situation.« »Auch wenn du mit anderen Frauen ...?« »Mit anderen Frauen war nicht viel. Wenn du weißt, die ist die Richtige ...« »Du hast dabei an mich gedacht?« »Ja.« »Wirklich?« »Ja. Ich muss mich auch an einiges gewöhnen.« »Ach, auf einmal?« »Steck ihn rein, das hat noch nie eine zu mir gesagt, ‚steck ihn rein.‘« Evelyn versuchte ihm den Mund zuzuhalten, aber Michael ergriff ihre Hand. »Steck ihn rein«, wiederholte er, »steck ihn rein.« Evelyn wehrte sich, Michael hielt ihre Hand fest. »So unschuldig wie du kann das gar niemand sagen. Leg dich auf mich, komm, leg dich auf mich.« »Du Blödmann, Iass los.« »Komm, ich zeig dir was.« »Lass mich los, bitte, lass das.« 135
Michael drückte ihre Hand nach unten, bis sie sein Glied berührte. »Bitte«, sagte er, »wenigstens deine Hand, nur deine Hand.« Evelyn zog ihre Hand weg. »Komm schon, zum Abschied, nur so ein bisschen.« Evelyn strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Du bist ganz schön aggressiv, weißt du das?« »Ist doch nichts Schlechtes!« »Das war nicht als Kompliment gedacht, überhaupt nicht.« »Okay, bitte, mach, was du willst.« »Mach ich auch.« »Na, dann geh, Mädchen und Jungen schlafen getrennt.« »Mädchen und Jungen schlafen bis auf weiteres getrennt, sehr richtig«, sagte sie und fuhr ihm mit der Hand über Glied und Hodensack. »Der hier schläft ja sowieso schon.« »Wart's ab.« »Spürst du das?« »Was?« »Deine Eier, die wandern.« »Wandern?« »Spürst du das nicht? Die bewegen sich.« »Keine Ahnung, was die machen.« »Siehst du, ich muss dir erst sagen, was sie machen.« Evelyn küsste seine Brust. »Bleib so liegen«, sagte sie und zog mit den Lippen an seinen Achselhaaren. »Ist das angenehm?« »Hm. Zuerst machen wir ein paar Reisen, spätestens zu Weihnachten fliegen wir nach New York, in den Big Apple! Oder, wenn dir das lieber ist, nach Rio, der Strand von Ipanema, dort kannst du zu Weihnachten baden, und Wellen, wie du sie noch nie gesehen hast! Oder Mexiko. In Mexiko hab ich Freunde.« »Schneit es manchmal in Hamburg?« »Warum nicht? Nicht so wie im Gebirge, aber manchmal ist alles weiß.« »Weihnachtseinkäufe im 136
Schnee sind das Schönste.« »Was du willst.« »Mir reicht schon, sich das vorzustellen. Ich will es mir nur vorstellen könnend »Es ist alles viel schöner, als du es dir überhaupt vorstellen kannst.« »Weißt du doch gar nicht, was ich mir vorstelle.« »Aber du weißt nicht, wie schön es ist, wie schön! Bei uns lebst du einfach besser und länger.« »Kann schon sein. Erzähl mir lieber weiter von dem Kugelkönig und den Maschinen, die sich Geschichten ausdenken.« »Du brauchst nur ein bisschen Mut. Du hörst doch, jeden Tag schaffen es welche.« »Ich will das aber nicht riskieren, ich will nicht abgeführt werden.« »Siehst du, jetzt ist er aufgewacht. Hab ich doch gesagt. Du musst nur lieb sein.« »Angeber«, sagte Evelyn, nahm ihr Handtuch und stand auf. »Hey! Was ist denn los?« Evelyn ging zum Fenster und machte es leise zu. Dann breitete sie das Handtuch auf dem Läufer aus, legte sich auf den Rücken, verschränkte wieder die Arme unter dem Kopf und lächelte. Michael schob sich aus dem Bett heraus, glitt zu ihr herab und schmiegte sich an sie. Evelyn wand sich unter seinen Liebkosungen, ohne den Blick von den Schatten zu lassen, die auch bei geschlossenem Fenster an der Wand spielten.
Weiber »Willst du mitkommen, Pepi?«, fragte Evelyn. »Wir gehen zum See.« Pepi saß neben Adam und blätterte in den Zeitschriften, ihnen gegenüber saß Frau Angyal. »Pepi, Evelyn fragt dich!« »Kommst du mit uns mit?« »Nein, 137
ich bleib«, sagte Pepi und blätterte die Seite um. Evelyn winkte kurz, und Michael, die Badetasche über der Schulter, eine Decke unterm Arm, rief: »Bis später!« »Bis später«, antwortete Frau Angyal, aber auch sie sah nicht mehr auf. Evelyn ging voran, Michael folgte. Schweigend liefen sie um das Haus und dann hinunter zur Straße. Plötzlich blieb Evelyn stehen und drehte sich um. »Es tut mir so leid, ich konnte einfach nicht anders, es ist mir irgendwie rausgerutscht.« »Was denn?« »Bist du mir bös?« »Ich versteh gar nicht...?« »Dass ich dieses blöde Spiel mitspiele, dass ich - ach, du weißt doch.« »Lass uns weitergehen, nicht hier.« »Ich bin der ganzen Sache nicht gewachsen.« »Ist doch kein Wunder, komm, Eve.« »Diese Kuh, diese dumme Kuh antwortet nicht mal.« »Wieso hast du sie überhaupt gefragt?« »Das meine ich doch, es ist irgendwie passiert.« Michael nickte. »Ich bin dem nicht gewachsen, dieser Hass!« »Ich hab dir gleich gesagt, dass wir ...« »Für die bin ich jetzt ne Schlampe, ein Flittchen ...« »Eve, mach dich nicht fertig.« »Westhure, das denken sie, glaub mir. Nicht genug, dass ich ihren angebeteten Adam sitzen lasse, dann auch noch ein Westler!« »Ein zahlender Gast.« »Das macht es ja noch schlimmer. Selbst dafür hassen sie dich.« »Beruhige dich, Eve! Niemand hasst uns. Ich kapier nur nicht, warum du hierbleiben willst, bei den Angyals, das frag ich mich die ganze 138
ZeitI« »Meine blöde Anhänglichkeit. Ich hatte mich wirklich drauf gefreut, sie wiederzusehen, Pepi, ihre Eltern, das Haus.« »Woanders hätte er uns gar nicht gefunden.« »Da kennst du Adam aber schlecht. Der hätte gesucht ... Diese Weiber! Wenn die sich mal gegen einen verbünden, so was von kaltschnäuzig, so was von oben herabl« »Wir suchen uns was Schönes, irgendwas, das noch schöner ist, viel schöner!« »Weißt du, was das Schlimmste ist? Das Schlimmste ist, dass ich mich tatsächlich schuldig fühle, weil ich genauso denke wie sie.« »Eve! Der hat dich jahrelang betrogen, und jetzt, wo ein neues Leben beginnt »Aber wie denn? Denkst du, die machen noch mal die Grenze aufr Das können sich die Ungarn gar nicht leisten! Und irgendwann transportieren sie die hier alle zurück, alle!« »Ganz sicher nicht, glaub mir.« »Hast du es nicht gehört? Zwei Leute haben sie erschossen, zwei Leute ...« »Einen, und der hat sie angegriffen...« »Quatsch, angegriffen, das sagen die so. Die haben sie abgeknallt, deine tollen Ungarn. Wir sind hier im Osten, auch wenn es anders aussieht. Du kennst sie nicht!« »Ganz egal wie, Eve, bis Weihnachten sind wir zusammen.« »Hör auf mit dem Märchenl Wir sind schon fast zwei Wochen hier, und nichts tut sich.« »Verlass dich drauf.« »Worauf soll ich mich denn verlassen?« »Auf mich.« »Du kannst da gar nichts machen, überhaupt nichts!« »Das Wichtigste ist, keine Angst zu haben. Das 139
ist wichtig.« »Ich bin aber nicht so stark, wie du denkst, ich steige in keinen Kofferraum oder renne zwischen den Grenzern durch und ducke mich schnell, wenn sie schießen.« »So wie du bist, sollst du sein.« »Für dich bin ich doch nur die nette Kellnerin, und wenn du hopp sagst, spring ich. Ich bin nicht so!« »Das, was du sagst, das bist du, du, wie ich dich sehe.« »Ach! Du kannst mich doch gar nicht kennen!« »Lass uns ausziehen! Wenigstens die letzten Tage noch ohne die Angyals und den Schneider.« »Nein.« »Von mir aus ins ‚Hilton‘, nach Budapest! Ich versuch noch eine Woche Urlaub zu kriegen, wenns irgendwie geht, bleibe ich noch.« »Ein paar Tage ‚Hilton‘, und danach zieh ich in ein Lager, dreißig Leute in einem Zelt, wie die Palästinenser! Die Lager sind voller Stasileute, die werden dann irgendwann darum bitten zurückzudürfen, in ihr sozialistisches Vaterland.« »Wir gehen zusammen zur Botschaft, ich kümmre mich. Du bleibst irgendwo wohnen, ich zahl das, und wenn's dann geht ...« »Als externer Botschaftsflüchtling? Du hast vielleicht Vorstellungen! Da kriegt man ja Angst!« »Eve, hör auf, das hält doch keiner aus!« »Sag ich ja, du kennst mich nicht! Wenn dir das schon zu viel ist.« »Lass uns einen Schritt nach dem anderen machen. Wir können auch heiraten, das bleibt uns immer noch. Jetzt suchen wir uns erst mal ein anderes Quartier, einverstanden?« »Und was für eins?« »Eins, in dem wir nicht auf dem Fußboden liegen müssen und niemand et140
was dabei findet, dass wir zusammen sind!« »Und Elfriede? Ich kann die nicht so einfach mit mir rumrragen!« »Dann schenk sie den Angyals oder Adam, der hat sie schließlich hier angeschleppt.« »Warte noch, bitte. Damit würde ich sie auf ewig kränken.« »Wieso denn kränken? Die Angyals? Du bist wirklich ein Engel!« »Das ist oder war schließlich mal ne Freundschaft. Das hat auch mit Gastfreundschaft zu tun. Das krieg ich nicht hin.« » Gastfreundschaft?« »Das verstehst du nicht.« »Sie behandeln dich wie, na, du weißt schon, hast es ja selbst gesagt, und du fängst mit Gastfreundschaft an!« »Komm, lass uns weitergehen.« Michael versuchte Badetasche und Decke auf eine Seite zu nehmen und legte den freien Arm um Evelyn, doch die Tasche rutschte ihm von der Schulter. Sie überquerten die Straße und gingen jetzt auf einem Trampelpfad im Schatten der Bäume. »Spinn ich«, fragte Evelyn, »oder werden das hier wirklich jeden Tag mehr?« »Die müssen die Grenze aufmachen, das geht gar nicht anders. Der halbe Osten kampiert doch schon hier!« »Vielleicht sag ich Pepi, dass er seine Kundinnen bumst, dass ich das selbst sehen musste, als ich mal nach Hause kam.« »Ach, Evel Das hast du gar nicht nötig! Die würde nur denken, du willst dich rechtfertigen, das bringt nichts, glaub mir, überhaupt nichts.«' »Schade, ich hätte ein Foto machen sollen, Adam und seine fette Lilli im Bad.« »Du tust ja so, als müsstest du denen was beweisen. Warum denn? Du bist nicht auf sie 141
angewiesen! In ein paar Monaten schicken wir denen ne schöne Karte aus Rio oder Paraty!« »Ich fühl mich so ausgebootet. Pepi ist meine Freundin, nicht seine. Ohne mich hätten die sich nie kennengelernt!« Auf der Wiese nahe am Schilf war noch Platz. Michael breitete die Decke aus und legte zwei zusammengerollte Handtücher wie Kopfkissen nebeneinander. Evelyn zog nur den Rock aus, ihr T-Shirt behielt sie an. Michael begann ihre Beine einzucremen. »Soll ich dir die Geschichte weitererzählen?« Evelyn nickte, legte den Kopf auf die Hände und schloss die Augen. »Die weißlackierte Maschine hatte die erste Geschichte erzählt, nun ließ Trurl die zweite Maschine kommen, sie verbeugte sich vor dem König und . »Der König wollte doch noch erklären«, sagte Evelyn leise, »warum er Kugelform hat.« »Also gut«, sagte Michael, wischte die Hände am Gras ab und zündete sich eine Zigarette an. »Genius, der König, begann: Ich will dir erzählen, wie es dazu gekommen ist, wenn du es wirklich wissen willst. Früher, in grauer Vorzeit, sahen wir natürlich anders aus. Erstmals konstruiert worden war unser Volk von den sogenannten weichen Bleichlern, das waren schwammige, feuchte Wesen, die unsere Vorfahren nach ihrem Bilde formten. Deshalb gab es bei unseren Vorfahren Kopf, Rumpf, Arme und Beine. Nachdem sich unser Geschlecht aber von seinen Schöpfern befreit hatte, wollten sie ihre Abstammung möglichst vergessen machen. Deshalb veränderte jede Generation 142
ihre Gestalt ein wenig, bis wir die vollkommene Form der Kugel erreichten. Darauf sagte Trurl, der geniale Konstrukteur des kybernetischen Zeitalters, von meinem Standpunkt aus gibt es bei der Kugelform gute und weniger gute Eigenschaften. Auf jeden Fall aber ist es besser, wenn ein denkendes Wesen seine Gestalt nicht verändern kann, weil sonst seine Freiheit ihm zur Qual wird - zur Qual der Wahl. Denn wer bleiben muss, wie er ist, der mag sein Schicksal verfluchen. Wer aber die Kraft besitzt, die eigene Gestalt zu verändern, der kann niemanden auf der Welt für seine körperlichen Mängel verantwortlich machen. Denn ist er mit sich unzufrieden, trägt allein er selbst die Schuld daran. Ich jedoch, mein König, bin nicht hierhergekommen, um Euch die hohe Kunst der Selbstkonstruktion zu lehren? sondern um meine geschichtenerzählenden Maschinen ... Eve, hallo, Eve?», flüsterte Michael. Die Haare verdeckten Evelyns Gesicht. Michael beugte sich zu ihr hinab. Sie schnarchte ganz leise. Ihre Beine hatten eine Gänsehaut. Michael breitete den Rock über ihren Oberschenkeln aus, drückte die Kippe ins Gras und legte sich auf den Rücken. Wenn er den Kopf zu Evelyn wandte, konnte er ihre Haarspitzen küssen.
Abend in Blaulicht »Wollen wir noch baden gehen?«, fragte Evelyn. »Der Mond ist rausgekommen.« Michael war auf der Restaurantterrasse stehen geblieben, auf der immer noch eine Band in plissierten Hemden und roten Fliegen Abba 143
spielte. Die Stimme der Sängerin war kaum zu hören, obwohl ihre Lippen das Mikrophon berührten. »Das ist einfach nicht totzukriegen!« Michael sprang, die Beine werfend, die Stufen hinunter. Evelyn tat, als wäre ihre linke Faust ein Mikro, und sang »you are the dancing queen ...«, mit dem ausgestreckten rechten Zeigefinger wies sie auf Michael. Der ergriff ihre Hand und küsste sie. »Danke«, sagte er. »Das hat solchen Spaß gemacht! Wo hast du das alles gelernt?« »Was?« »Na, die ganzen Tänze! Die musst du mir beibringen, einen nach dem anderen.« »Du kannst sie doch!« »Ach, nichts kann ich.« »Du hast mir in die Augen geschaut und konntest es.« »Und wenn du losgelassen hast, war's aus.« Michael bückte sich und hob Evelyn mit beiden Armen empor. Sie umschlang seinen Hals, den Kopf an seiner Schulter. Nach ein paar Metern verlor sie eine Sandale. Michael ging mit Evelyn in die Hocke, erwischte die Sandale mit einem Finger, richtete sich wieder auf und ging weiter. Als er stehen blieb, küsste sie seinen Hals. »Noch ein Stück, nur ein kleines Stück noch«, flüsterte Evelyn. »Merde!« Er versuchte Evelyn abzusetzen. Sie hielt sich weiter fest. »Das Auto«, sagte er und machte sich von ihr los. Die Fahrertür war angelehnt. »Hast du nicht abgeschlossen?« Michael lief um den Wagen. Evelyn schlug die Hände vor den Mund, als sie die kaputte Scheibe sah. Michael setzte sich auf den Beifahrersirz und klappte das Handschuhfach auf. »Und?«, fragte sie. Seine 144
Hände tasteten weiter. »Weg, alles weg!« »Alles?« »Alles«, sagte Michael und zog ein Bündel Forintscheine aus der Brusttasche seines Hemdes. »Das ist alles, was ich noch habe.« »Auch die Ausweise?« »Und die Kreditkarten, alles.« »Hast du nichts im Zimmer gelassen?« »Den Wohnungsschlüssel.« »Die haben das Radio geklaut!« »Das hätte ich denen geschenkt.« »Wie haben die das rausgeholt?« »Ich bin so ein Idiot! Ich wollte nicht mit einer Beule in der Hosentasche tanzen. Ich dachte, wenn der Wagen hier steht, auf dem Hotelparkplatz, da passiert so was nicht.« »Ist meine Schuld. Wenn ich ne Handtasche gehabt hätte, aber ich bin kein Handtaschen typ, ich ...« »Wir müssen die Polizei herkriegen.« »So spät?« Die große Glastür des Hotels war schon abgeschlossen. Michael klingelte mehrmals. Ein hagerer alter Mann fingerte im Gehen an einem großen Schlüsselbund. Eine Weile standen sie sich gegenüber, getrennt durch die Scheibe. Vergeblich rüttelte der Portier von innen, Michael von außen. »Herrgott noch mal, die ist abgeschlossen, merkt der das denn nicht?« Der Portier verschwand. »Es tut mir leid, entschuldige.« Evelyn streichelte Michaels Hand. »Vielleicht steckt der mit denen unter einer Decke. Der soll den Parkplatz bewachen und sich hier nicht einschließen.« Michael hämmerte an die Tür. Der Portier kam angerannt und hielt einen Schlüssel hoch. 145
»Sind Sie sicher, dass Ihnen das hier widerfahren ist?«, fragte der Portier, als er schon den Telefonhörer in der Hand hielt und wählte. »Wir stellen doch keinen Wagen mit ner kaputten Scheibe hierher und lassen das Geld drinnen!« Michael musste seinen Namen buchstabieren, das Kennzeichen und schließlich die Marke des Wagens. »Sie kommen zur Untersuchung«, sagte der Portier und bot ihnen ein Sofa an. Zwei Stehaschenbecher rahmten es ein, deren silberne Halbkugeln mit Kippen gefüllt waren. »Lass uns draußen warten«, sagte Evelyn. »Seien Sie froh, dass der Wagen noch dasteht«, sagte der Portier, der die Tür aufhielt und hinter ihnen wieder abschloss. Michael setzte sich auf die oberste Stufe und zündete sich eine Zigarette an. »Willst du auch?« Evelyn schüttelte den Kopf. »Trotzdem, es war wunderschön, das kann uns niemand mehr nehmen«, sagte sie. »Frierst du?« Sie lehnte sich an ihn. »Vielleicht ist das ja ein Zeichen, vielleicht hat das ja was Gutes zu bedeuten!« »Was soll denn das Gutes bedeuten?« »Vielleicht heißt das, wir beide sollen zusammen über die Grenze gehen.« »Über die grüne Grenze? Illegal?« »Ja klar, wir haben ja nichts mehr. Und wenn sie uns schnappen, sagst du, ich bin deine Frau aus Hamburg.« »Wer soll uns das denn abnehmen?« »Die wissen es ja nicht besser. Und die im Westen merken es schon, aber vielleicht schalten die ja und sagen, ja, stimmt.« »Aber warum sollte jemand aus dem Westen das illegal machen?« »Na, weil er keinen 146
Ausweis mehr hat! Du hast doch selbst gesagt, dass die Chancen mindestens fifty-fifty stehen.« »Du hast Ideen!« »Wollen wir das nicht versuchen, wir beide zusammen, Hand in Hand, wir rennen einfach rüber?« »Wenn sie mich schnappen, denken sie garantiert, ich bin ein Spion oder so.« »Die wissen doch nicht, wer du bist.« »Das kriegen die schon raus. Und dann lande ich in Ostberlin.« »Wir hätten ne gute Ausrede.« »Ausrede? Weil sie mir den Pass gestohlen haben, versuche ich abzuhauen? Das kaufen dir nicht mal die ösis ab.« »Wer?« »Die Österreicher.« Evelyn sah vor sich hin. Als Michael seinen Arm um sie legen wollte, wich sie ihm aus. »Was ist denn? Bist du sauer?« »Ich stelle mir das nur so vor, mit dir in ein Flüchtlingslager, und wir beide fangen von vorn an. Und wenn es schwierig wird, dann brauchen wir nur daran zu denken, wie wir Hand in Hand über die Grenze gerannt sind.« »Eve, du musst nicht ins Flüchtlingslager, und du musst auch nicht über die grüne Grenze.« »Mit dir zusammen fände ich das aber schön.« »Es wird noch romantisch genug. Warts ab, bis wir in Brasilien sind.« »Das hat nichts mit Romantik zu tun.« Michael atmete tief durch. »Jetzt jedenfalls wird's unromantisch.« »Vielleicht fährt uns ja Adam nach Budapest.« »Wieso Adam?« »Ich denk, du hast kein Geld mehr?« »Ich borg mir was.« »Bei wem? Bei den Angyals? Und dann mit der kaputten Scheibe und ohne Fahrerlaubnis nach Buda147
pest?« »Ich kann ja auch mit dem Zug fahren oder mit dem Bus, wenn dir das lieber ist.« »Wieso denn du? Mein Ausweis ist auch weg!« Sie sahen sich an. Michael wollte etwas sagen, da erloschen die Außenlampen des Hotels. Noch bevor sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, näherte sich ihnen ein Wagen mit Blaulicht, langsam fuhr er auf den Parkplatz. Einander an den Händen haltend, tasteten sich Evelyn und Michael die Treppe hinunter und liefen dem Blaulicht entgegen.
Eine gemeinsame Fahrt »Ich geh nach hinten», sagte Evelyn, als Adam ihr die Beifahrertür aufhielt. »Dann soll Michael vor, hier ist mehr Platz für lange Beine.» Michael zögerte und sah fragend zu Evelyn. »Wir holen noch jemanden ab, komm vor«, sagte Adam. »Wie, Pepi?« »Nein, Katja vom Zeltplatz.« »Wer ist denn >Katja vom Zeltplatzt?« »Die, die ich mitgenommen habe.« »Macht ihr zusammen einen Ausflug?«, fragte Michael und setzte sich nach vorn. »Die hat auch keinen Perso, und nen Perso brauchst du hüben wie drüben.« »Einen was?« »Einen Personalausweis. Sie hat keinen mehr. Sonst halten unsere Brüder und Schwestern sie vielleicht für ne Ungarin oder gar Russin, die einfach nur gut Deutsch spricht.» Adam ließ den Wagen an und klopfte dreimal aufs Armaturenbrett. »Halt durch, Heinrich, Budapest und zurück.« »Das macht er immer so, musst dich nicht wundern.« 148
Michael beobachtete, wie Adam den Gang einlegte, die Handbremse löste und anfuhr. »Adam ist abergläubisch. Am liebsten hätte er für jeden Tag ein Horoskop.« »Klingt gar nicht schlecht, dein Heinrich. Wie viel Zylinder hat der, vier?« »Drei, Baujahr 61. Mein Vater hat ihn gehegt und gepflegt. Gefahren wurde nur sonntags oder ab und zu ins Theater. Er wollte ihn schonen, immer nur schonen.« »Das hat abgefärbt«, sagte Evelyn. »Versteh ich. So ein Oldtimer ist jetzt vielleicht schon mehr wert als damals.« »Das ist kein Oldtimer, ich fahr ganz normal damit, siehst du ja!« »Nach fast dreißig Jahren hat er sich den Titel verdient.« »Der fährt einwandfrei.« »Na ja«, sagte Evelyn, »hoffen wir's.« »Kannst mir vertrauen.« Ihre Blicke trafen sich kurz im Rückspiegel. »Der hat mich noch nie im Stich gelassen.« Evelyn verzog spöttisch den Mund und lehnte den Kopf gegen die Scheibe. Katja wartete bereits an der Straße. »Oje, will die umziehen?«, fragte Michael. »Die hat ja meinen Hut auf!« Katja tätschelte zur Begrüßung das rechte Vorderlicht, bevor sie die Plastetüten, Adams Schlafsack, die Luftmatratze und das Zelt aufhob. Adam öffnete den Kofferraum und verstaute alles, was sie ihm reichte. »Die ist ja ein Schrank«, flüsterte Michael. »Hat doch ne gute Figur«, sagte Evelyn und lächelte, als die Tür aufging und Katja sich neben sie setzte. 149
»Hallo, ich bin Katja.« Sie reichte Evelyn die Hand und streckte sie auch nachvorn zu Michael. »Danke, dass ihr mich mitnehmt.« »Wir sind alle in Adams Hand, ob wir das nun wollen oder nicht. Stimmt's, Adam, du hältst uns jetzt aus.« »Ob ich will oder nicht.« »Ach, komm, das genießt du doch.« »Unter genießen stell ich mir was anderes vor, als euch bei dem Wetter hin und her zu kutschen.« »Das ist dein Schicksal, dass du ständig den Ritter spielen musst«, sagte Katja, »gibt aber auch keinen Besseren dafür.« »Kannst du das Radio anmachen, Radio Danubius«, fragte Evelyn. »Oder ist das immer noch kaputt?« »Singt doch lieber was«, sagte Adam und richtete den Rückspiegel. Katja lächelte. »Willst du in Budapest bleiben?«, fragte Evelyn. »Ich dacht nur, wenn die das heute nicht hinkriegen?... irgendwo muss man ja pennen.« »Bei uns machen die das gleich«, sagte Michael. »Hast du Passbälder?«, fragte Katja. »Gar nichts hab ich mehr, vierhundert Forint knapp.« »Ist doch nicht schlecht, das reicht für zwei, drei Tage.« »Nicht mal mehr ne Uhr hab ich.« »Auch geklaut?« »Musste ich im Hotel lassen, als Pfand, wegen der Telefoniererei.« »Deine Familie?«, fragte Adam. »Wegen der Kreditkarten, die musste ich sperren lassen.« »Vor zwei Wochen haben sie hier noch Babysitter gesucht, ich hatte manchmal zwanzig Westmark am Abend, sechshundert Forint! Jetzt wird's aber langsam dünn«, sagte Katja. »Hast du nichts mehr?«, fragte Adam. 150
»So um die hundert Westmark, aber die Westfamilien sind fast alle weg.« »An fünf Abenden mehr, als wir überhaupt umtauschen dürfen«, sagte Evelyn. »Meinst du wirklich, die Botschaft schafft das mit den Ausweisen nicht an einem Tag?« »Weiß nicht, wie das läuft. Hauptsache, ihr lasst mich dort nicht allein.« »In Budapest?« »In der Botschaft. Ich hab doch kein Visum. Wenn die rauskriegen, dass ich eigentlich gar nicht hier sein darf« »Merde«, sagte Michael und drehte sich um. »Wieso denn das?« »Hat Adam nichts erzählt? Er hat mich im Kofferraum rübergeschleust.« »Wirklich?« »Ich dachte, ihr wisst das.« »Na das kann ja heiter werden!«, sagte Michael. »Wenn wir da zu dritt reingehen und ihr mich nicht allein lasst ...« »Die sollen sogar Taxifahrer anheuern, die die Leute kidnappen, und du gehst freiwillig in die Botschaft«, sagte Evelyn. »Wo ist denn dein Ausweis?« »Ich wollte durch die Donau, das war keine so gute Idee.«»Da sind doch welche ertrunken«, sagte Michael. »Weiß nicht.« »Wenn sie dir komisch kommen, sagst du die Wahrheit, einfach die Wahrheit und dass du es dir nun anders überlegt hast. Dann kaufen sie dir sogar noch ne Fahrkarte für den Zug«, sagte Adam. »Plötzlich kümmern die sich«, sagte Evelyn. »Die haben sich schon immer gekümmert«, sagte Adam. »Du redest ja schon wie ein Bonze!« »Wieso?« »Gekümmert? Als ihr Eigentum behandeln die uns.« »Ich meine die Fahr151
karten! Man muss ja zurückkommen. Das haben die immer gemacht. Jede Botschaft tut das!« »Nur dass unsere nebenbei noch ein paar Leute verschwinden lässt«, sagte Evelyn. »Glaub doch diese Märchen nicht...« »Die haben sogar von uns Leute verschwinden lassen«, sagte Michael, »und nicht nur ein paar.« »Aber doch jetzt nicht mehr.« »Auch jetzt noch.« »Jedenfalls werden sie Katja nicht verschwinden lassen.« »Zu Befehl, Genosse Adam!« »Ich war sogar mal Genosse.« »Was, bei den Kommunisten?«, fragte Michael. »Fast zwei Jahre, vor der Armee rein, nach der Armee wieder raus, steile Karriere!« »Keine Angst, Adam ist im Mai nicht mal zur Wahl gegangen.« »Und was ist passiert?«, fragte Michael. »Nichts, ihm konnten sie doch nichts anhaben! Mich hätten sie wahrscheinlich rausgeschmissen, als Lehrling.« »Haben sie dir keine Schwierigkeiten gemacht?«, fragte Katja. »Adam hat starke Freundinnen, die wollen alle was geschneidert haben.« »Red doch keinen Quatsch. Wovor sollen die mich denn beschützen?« »Kannst ruhig zugeben, dass ein paar Bonzenweibchen unter deinen Kundinnen sind.« »Was gehen mäch deren Männer an?« Evelyn lachte. »Nee, deren Männer sind dir egal, wegen denen willst du sicher nicht zurück.« »Wann fahrt ihr denn?«, fragte Katja. Adam schaltete einen Gang herunter, weil er den Lastwagen vor ihnen nicht überholen konnte. Die Straße war schmal und kurvenreich. »Das steht noch nicht fest«, erwiderte 152
Adam. »Wie lange bleibst denn du?« »Ich?«, fragte Michael. Adam nickte. »Noch drei Tage, ich hab schon überzogen. Aber ich komm wieder, jedes Wochenende.« »Na ja, mal sehen, wie das Wetter wird«, sagte Adam. »Danke, dass ihr dran gedacht habt«, sagte Evelyn, nahm Katja den Sonnenhut vom Schoß und setzte ihn auf. Alle vier sahen geradeaus, als wären sie gebannt von dem Antistatikband des Lastwagens, das auf dem Asphalt schleifte und sich wie eine winkende Hand auf und ab bewegte.
Arbeit für die Ewigkeit »Normalerweise hältst du den Pass hoch, und sie lassen dich rein. Aber so ...« »Den Trick kennt man halt«, sagte Adam und nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche. Auch Michael trank. Sie saßen in Budapest auf der Margareteninsel, nicht weit entfernt von dem grünen Zelt, das, von Büschen verdeckt, nahe am Wasser stand und in dem Evelyn und Katja lagen. »Wie spät ist es eigentlich?« »Irgendwas zwischen eins und zwei, würde ich sagen. Du hast doch ne Uhr!" »Ich vergesse manchmal, sie aufzuziehen, und dann weiß ich nicht, ob sie stimmt.« »Meine ist ne Automatik, die zieht sich von allein auf.« »Zu Haus brauch ich keine Uhr. Die hier hab ich von Evi.« »Ne Uhr brauchst du immer.« »Eigentlich will ich nur noch den Lada, vielleicht noch ne zweite Garage, aber sonst ...« »Meine Ex hat immer gesagt ...« »Wer?« »Meine Ex, meine Ehemalige. Ich war 153
mal verheiratet, ungefähr so lange, wie du in der Partei warst.« »Und was hat sie gesagt, deine Ehemalige?« »Wenn man jemanden liebe, meinte sie, wüsste man immer, was man ihm schenken kann.« »Glaubst du das? « »Das war noch ihr bester Spruch. Mir ist wirklich nichts mehr für sie eingefallen.« »Vielleicht hatte sie ja alles.« »Früher musste ich nur die Straße langgehen und sah sofort was.« »Am liebsten würde ich Eve nen Studienplatz schenken.« »Bei uns kannst du dir den selber schenken und endlos studieren.« »Ohne Begrenzung?« »Manche studieren zehn Jahre und mehr.« »Bei uns musst du einen Platz kriegen, und wenn du den nicht bekommst ... Evi hatte so ne blöde Beurteilung, weil sie als Einzige in der Klasse geraucht hat und manchmal zu spät kam, obwohl sie nur um die Ecke wohnte. Die Zensuren waren gut, aber für Kunstgeschichte hat man sie zweimal abgelehnt.« »Kunstgeschichte ist eine brotlose Kunst.« »Wieso? Die verdienen nicht weniger als alle anderen.« »Bei euch vielleicht, aber da brauchst du auch eine Stelle.« »Wenn du erst mal den Studienplatz hast, dann kriegste auch ne Stelle, da muss sich sogar die Uni drum kümmern.« »Wieso die Uni?« »Ist schon besser, du suchst dir selbst was, aber wenn du nichts findest, müssen die was für dich finden oder dich behalten.« »Ist ja kurios.« »Frag Evi.« »Wie lang gilt euer provisorisches Ding überhaupt?« 154
»Bis zum dreizehnten«, sagte Adam und zog die vier Seiten im A5-Format aus seiner Umhängetasche. »Provisorischer Reisepass A 08969, für Ungarn, CSSR und DDR (Bad Schandau). Glaubst du denn, dass ich bei euch ne Arbeit fände?« »Wenn du wirklich willst, wieso denn nicht?« »So einfach wird's ja auch nicht sein.« »Jeder, der will, findet was.« »Aber nicht unbedingt das, was du willst.« »No problem. Du brauchst eine Idee, eine Idee und Fleiß und etwas Glück. Manchmal reicht es schon, freundlich zu sein.« »Sind bei euch nicht alle freundlich, zumindest die, die was verkaufen wollen?« »Wer bei euch richtig gut ist, findet auch bei uns was. An der Spitze ist immer Platz! Warum fragst du?« »Ewig können wir ja nicht bei den Angyals wohnen.« »Dich vergöttern sie doch, der ideale Schwiegersohn.« »Erzsi ist aber auch nicht schlecht.« »Ihre Mutter? Im Ernst?« »Wieso, die ist vielleicht jünger als du.« »Na, dir trau ich alles zu.« Michael hielt ihm die Bierflasche hin, Adam stieß mit ihm an. »Warst du schon mal hier?« »Nein, der Osten hat mich nie interessiert. Der war schon vor zwanzig Jahren abgehängt.« »Du meinst ökonomisch?« »Wer seine Busse ‚Ikarus‘ nennt«, Michael lachte auf, »was soll denn dabei herauskommen? Der Fortschritt wohnt im Westen.« »Ich leb nicht schlecht.« »Eure Bonzen sollen mal die Krebsstatistik veröffentlichen, dann sagst du das nicht mehr. So eine Dreckschleuder wie in Rositz, die wäre bei 155
uns verboten, völlig undenkbar. Mona hat mir mal den Teersee gezeigt. Das ist die Pest! Das sind alles Verbrechen!« »Was machst du eigentlich?« »Zellbiologie.« »Na und weiter?« Michael lächelte. »Wir versuchen herauszubekommen, warum wir alt werden und sterben, damit wir einmal nicht mehr alt werden und sterben.« »Und warum werden wir alt und sterben?« »Willst du das wirklich wissen?« »Ja, na klar.« »Wenn sich die Zellen vermehren, wenn die Chromosomen kopiert werden, dann geht immer was verloren, jedes Mal wird da ein Stück weggeschnitten. Irgendwann fehlt so viel Information, dass die Zelle kaputtgeht, das ist ungefähr nach fünfzig Zyklen. Das muss aber nicht so sein. Wenn sich die Zelle ohne Verlust reproduzierte, würden wir immer weiterleben, das heißt, wir müssten nicht sterben.« Michael schnippte die Zigarette wie ein Glühwürmchen weg und zündete sich eine neue an. »Wer Lunge raucht, stirbt früher.« »Das hat damit nichts zu tun, oder nicht viel. In jedem von uns ist eine Uhr, und wenn die abgelaufen ist, ist Schluss, es sei denn, du ziehst sie immer wieder auf. Im Prinzip könnte man schon jetzt rauskriegen, wie lange du lebst, ziemlich genau sogar.« »Du meinst, das ließe sich machen, dieses Neuaufziehen?« »Ja sicher, nur eine Frage der Zeit. In vierzig, fünfzig Jahren haben wir das meiste im Griff.« »In vierzig 156
Jahren?« »So ungefähr. Wenigstens kannst du sie dann so aufziehen, dass du zweihundert Jahre lebst oder länger.« »Und du suchst das Schlüsselchen dafür?« »Hast du schon mal was von Telomeren gehört?« »Diese Tierchen?« »Telomere sind die Enden der Chromosomen, so eine Art Überhang, wie die Plastikkappen an den Schnürsenkeln. Mit jeder Kopie werden die kürzer, mal sehr bildlich ausgedrückt - das ist die tickende Uhr. Bei Fadenwürmern sind wir schon dicht dran.« »Das kriegt ihr hin?« »Die Amerikaner wahrscheinlich.« »Du sagst das alles so selbstverständlich. Das würde ja heißen, wir hätten Pech - wir wären die Letzten, die sterben müssen?« »Oder Glück, je nachdem. Vielleicht sind wir auch die Vorletzten oder Vorvorletzten, aber in hundert Jahren haben wir's.« »Und wieso hört man nichts davon, wenn ihr schon so nah dran seid?« »So einfach ist's ja auch nicht, aber Krebszellen zum Beispiel, Krebszellen sind unsterblich, die hören nicht auf, die kopieren sich ohne Verlust weiter. Wir müssen das, was die Krebszellen machen, auf gesunde Zellen übertragen. Wir haben sozusagen schon das Muster.« »Für die Unsterblichkeit.« Adam massierte sich die Brust. »Dann hätten ja diejenigen recht, die sich einwecken, die sich einfrieren lassen!« »Könnte sein, könnte durchaus sein.« »Mir würde es schon reichen, so alt wie Elfi zu werden.« »Wie die Schildkröte? Als Haustier wird die nicht älter als fünfzig, das ist für die zu stressig mit uns.« »Nicht älter?« »Die 157
frei lebenden schaffen es über hundert, aber Elfriede mit Sicherheit nicht. Hast du das nicht gewusst?« »Nein.« »Wenn ich den Moment erleben könnte, in dem wir den Tod ausknipsen ... Das wäre was!« »Ich weiß nicht. Wenn die einen sterblich sind und die anderen nicht oder sie leben zumindest fünfmal so lange.« »So ist es doch schon! Angst hilft uns da gar nichts! Wir müssen uns von deP& Vergänglichkeit, von der Sterblichkeit befreien. Das ist der eigendiche kategorische Imperativ, raus aus deiner selbstverschuldeten Sterblichkeit.« »Klingt irgendwie komisch.« »Das ist wie eine Droge, wenn du da erst mal drauf bist, kommst du nicht mehr runter.« »Lebst du, um zu arbeiten, oder arbeitest du, um zu leben?« »So kannst du nicht fragen.« »Doch, dein ganzes Leben geht für die Ewigkeit drauf.« »Für mich ist Arbeit Leben. Für dich nicht?« »Schon, aber wir meinen nicht dasselbe.« »Wieso nicht, du hast doch eine schöne Arbeit.« »Eben weil ich machen kann, was ich will.« »Aber wenn sie ein Kleid haben will, kannst du ihr keinen Hosenanzug machen.« »Doch, wenn sie in dem Hosenanzug besser aussieht.« » Selbstbewußtsein hast du, das muss man dir lassen.« »Liebst du Evi?« »Ob ich Evelyn liebe?« »Ja.« »Sonst wäre ich ja nicht mehr hier. Ich musste längst in Hamburg sein.« »Sind drei Wochen zu lang?« »Weißt du, was das bedeutet, drei Wochen verschwinden? Damit kannst du alles aus der Hand geben, alles, nicht nur die ei158
gene Existenz, auch die der anderen, das ganze Projekt!« »Und die Unsterblichkeit.« »Ja, auch die Unsterblichkeit.« Beide nickten, als stimmten sie nun endlich überein.
Damenwahl »Ich war so müde«, sagte Katja, »aber jetzt wird das nichts mehr. Eigentlich kann ich auch aufstehen.« »Vielleicht wollen ja die Männer schlafen?« »Und wir halten Wache? Ich glaub, die unterhalten sich ganz gut.« »Hast du was verstanden?« »Nee. Aber Adam hat ne schöne Stimme. Mensch, als der seinen richtigen Namen nannte, hab ich gedacht, jetzt geht die Welt unter.« »Du hast gedacht, er hat dich reingelegt?« »Einen Augenblick - ja.« »Ich war schon bei ihm eingezogen, selbst da wusste ich es noch nicht. Überall stand nur sein Nachname drauf.« »Weil der hier so vorsteht?« Katja tippte sich auf den Kehlkopf »Als Junge muss er sich dafür geschämt haben, dürrer Hals und so einen Adamsapfel. Irgendwie war er schon immer Adam.« »Sieht männlich aus.« »Hm, fand ich auch.« »Jetzt nicht mehr?« »Doch.« »Und Michael?« »Ist was ganz anderes. Dagegen ist Adam ein Kind.« »Findest du?« »Michael weiß, was er will, bei dem geht es weiter, bei dem passiert immer was, ein richtiger Forscher. Der war überall, der spricht zig Sprachen, das ist 159
seine Weite, der atmet viel freier, nicht Jahr für Jahr dasselbe.« »Er hat schöne Hände.« »Hm. Der hat auch so verrücktes Zeug im Kopf. Der kennt alles von Lern, wegen Lern hat er sogar mal angefangen, Polnisch zu lernen.« »Dieser Science-FictionMensch?« »Ja, der mit den Robotern und Maschinen. Für Michael ist er der Größte.« »Den gibt's doch auch bei uns?« Katja stützte sich auf, so dass sie Evelyn sehen konnte. »Ist er ein guter Liebhaber?« Evelyn nickte. »Hat es gleich gefunkt?« »Ich hab an so was gar nicht gedacht. Er wollte eine Freundin heiraten, seine Cousine.« »Mona?« »Ach so, du kennst sie ja.« »Der schlechte Umgang.« »Hat das Adam gesagt?« »Ist ihm so rausgerutscht. Warum bist du ohne ihn los?« »Das hat Adam dir natürlich nicht erzählt.« Evelyn stützte sich ebenfalls auf und berührte dabei das Zeltdach. »Ist feucht«, sagte sie und strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Morgens musst du aufpassen, wenn du da anstößt, gibt's nen kleinen Regenguss«, sagte Katja. »Wir haben auch so eins, so ein ähnliches.« »Und was war nun?« »Ich hab das schon lange gewusst, das heiße, ich konnt's mir denken. Mona hat gesagt, alle wussten es, nur ich nicht.« »Was denn?« »Dass er sie bumst, seine Frauen.« »Seine Frauen?« »Seine Kundinnen, seine Geschöpfe. Er gibt ihnen sogar Namen. Am Anfang hat er noch gesagt, seine Kreationen heißen so. Aber das ist eher so wie die Spitznamen von leichten Mädchen. Er fotogra160
fiert sie in den neuen Sachen. Du musst nur ihre Augen ansehen, richtig lüstern, als hätten sie nur mal kurz Pause gemacht. Zuletzt war da eine in ner Seidenbluse, nichts drunter natürlich, an deren Nippel konntste dir die Augen ausstechen.« »Noch jünger als du?« »Ach, überhaupt nicht! Wenn du die auf der Straße sehen würdest, da würde sich im Leben keiner rumdrehen, richtige Muttis sind das.« »Wirklich?« »Aber wenn er denen was auf den Leib schneidert, und das kann er nun mal, dann sehen die richtig gut aus, und daran geilt er sich eben auf.« »Liegt vielleicht am An- und Ausziehen?« »Nee, nee, so einfach ist das nicht. Ich hab sie erwischt, ich hab sie gesehen, dabei hätt ich's gar nicht wissen wollen.« »Au, Mist! Das tut weh.« »Ich bin nicht eingebildet, wirklich nicht, aber wenn du die gesehen hättest.« Evelyns Hand berührte wieder das Dach. »Entschuldige. Das glaubst du nicht, wirklich nicht. Nackt war die ne Vettel.« »Und Adam?« »Wie er dastand, hinterm Schrank und nix an...« »Adam im Adamskostüm. Steht er denn auf solche?« »Das ist es nicht, sind ja nicht alle so. Aber theoretisch könnte es jede sein, jede Kundin, jede Frau.« »Ich weiß nicht, ob dich das interessiert, aber zu mir war er echt anstandig, wirklich, ein richtiger Engel.« »Glaub ich, glaub ich dir gern.« »Ich hatte was Blödes gesagt, dass ich ihm jeden Wunsch erfüllen würde oder so, ich hab sogar an so was gedacht. Ich wollte nur, dass er mich mitnimmt, 161
alles andere war mir egal. Aber nicht mal ne Bemerkung oder sonst was Blödes. Ich dachte schon, der ist schwul ...« »Adam?« »Na als Schneider. Ich kenn nen schwulen Frisör, und Frisör und Schneider, so verschieden ist das ja nicht.« »Schneider ist schon anders!« »Ist ja egal, ich wollt nur sagen, entweder schwul oder er Hebt seine Frau wirklich.« »Hat er vielleicht mal.« »Wenn mir ein Mann in so ner Klapperkiste nachfahren würde, obwohl ich mit nem anderen ... Das ist schon was.« »Ja, aber was?« Katja legte sich auf den Rücken, eine Hand unter dem Kopf. »Willst du wirklich zurück?« »Das Schreckliche ist, dass sich das alle paar Stunden ändert«, sagte Evelyn. »Hast du jemanden drüben?« »Nein, niemanden. Adam hat ne Tante, keine richtige, die kam wohl immer mal zu Besuch. Ihr Mann ist irgendwann geflüchtet, der wollte nicht mehr in den Osten oder durfte nicht mehr, der ist irgendwas Hohes.« »Von uns sind alle drüben. Wir waren immer die Einzigen, die fehlten.« »Wenn du einmal anfängst, drüber nachzudenken, und wenn es plötzlich so realistisch wird, wenn du dich plötzlich fragst, wie lebe ich eigentlich, wie geht das weiter...« »Dann ist's aus mit der Ruhe. Ich denke sogar, man hat die Pflicht wegzugehen, wir wissen doch gar nicht, was Leben bedeutet.« »Adam ist so genügsam. Abends sein Bier und im Garten sitzen und die Zigarre, und dann kommt der Nachbar an den Zaun ... Er versteht sich sogar 162
mit den Nachbarn. Mich hat das fasziniert, er war so unabhängig, weißt du, das hatte Charakter. Die an der Uni, die waren so vorsichtig und brav, da war Adam ne richtige Befreiung. Der hat kein Blatt vor den Mund genommen. Doch wenn er dann nur im Garten sitzen bleibt ...« »Seid ihr nie weggefahren?« »Wir waren mal in Bulgarien. Geld hat er ja. Geld wie Heu, zumindest füPa meine Begriffe. Adam wollte sogar Kinder. Aber ... ich ...« Evelyn drehte sich zur Zeltwand. »Was ist denn? He, Evi?« Katja strich ihr vorsichtig übers Haar und über die Schultern. »Was ist denn? Weinst du?« »Ich hab mir eins wegmachen lassen.« »Das hab ich auch hinter mir. Aber das war so ln Scheißkerl, so 'n richtiger Verbrecher.« »Das weiß Adam gar nicht. Das darfst du ihm auch nie sagen, nie, versprichst du mir das?« »Ja, klar.« »Du hattest wenigstens einen Grund. Aber ich, ich dachte nur, ich will warten. Und nun denke ich, gut, dass ich keins habe. Was soll ich denn mit nem Baby im Westen?« »Ich wollt nicht mein ganzes Leben an den gekettet sein, ich denk sowieso viel zu oft dran.« »Sind die überhaupt noch da?« Evelyn hob den Kopf. »Deine Männer?« »Meine Männer?!« »Na ja, ist doch so, du hast zwei, und ich hab keinen.« Evelyn putzte sich die Nase. »Kannst ja einen abhaben, das würde die Sache irgendwie einfacher machen.« »Dann frag ich mal morgen, ob einer mich will.« »Und wen fragst du zuerst?« »Adam natürlich.« »Aber der will 163
doch gar nicht rüber!« »Trotzdem, wenn's dir nichts ausmacht?« »Hör mal - was is'n das?!« »Ne ganze Horde.« »Verstehst du was?« »Das Deutschlandlied?« »Nee, das ist doch unsere, unsere Nationalhymne!«
Ein Märchen Evelyn, Katja und Adam saßen in einem Ideinen Eckcafe an der Nepstadion ut, fast gleich weit entfernt von den Botschaften der DDR und der BRD. Katja schob die leere Tasse von sich weg. »Vor lauter Kaffee werde ich noch müde.« »Ist schon komisch, dass wir hier deren Geld verprassen«, sagte Evelyn. »Wieso, kriegt die Botschaft doch von mir wieder«, sagte Adam. »Oje, und ich dachte, ich lebe endlich mal nicht auf deine Kosten«, sagte Katja. »Dafür ist das Geld ja da, dass man es ausgibt.« »Nun hau nicht so auf den Putz, Adam. Wir können hier nicht mal ein Hotelzimmer nehmen oder richtig essen gehen.« »Vermisst ihr was? Ich hab nicht den Eindruck, dass ich mir was verkneifen muss. Viel besser können wir's doch gar nicht haben.« »Du merkst ja nicht mal mehr, wie entwürdigend das ist.« »Wenn dich das >Hilton< glücklicher macht, na bitte. So ne Nacht wie die letzte erlebst du da jedenfalls nicht.« »Auf unsre besoffenen Landsleute kann ich verzichten.« »Alles Ausreisekandidaten, hast du doch selbst gehört.« Der Kellner kam, wechselte den Aschenbecher und nahm die leeren Teller mit. 164
»Ich schäme mich dafür«, sagte Katja, »aber mit nem Ausweis fühl ich mich besser.« »Ist doch normal.« Adam zog eine neue Zigarre hervor. »Stört euch das?« »Mich nicht.« »Wart doch, bis wir draußen sind. Wollen wir zahlen?« »Ich würde noch was trinken, einen Saft oder so was.« »Was aber wirklich schlimm äst ...« Katja stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und verbarg das Gesicht in den Händen. »Was denn?«, fragte Adam, schon mit der Zigarre im Mund, und schüttelte die S treichholzschachtel. »Ihr werdet mich für völlig bekloppt halten, aber als ich da raus bin, da hätt ich fast geheult ...« »Ich hab dich sowieso bewundert«, sagte Evelyn, »dass du dich das traust.« »Mir ging auch echt die Düse.« »Der Arsch auf Grundeis ...«, sagte Adam und zündete sich die Zigarre an. »Na, Hauptsache dir geht's gut«, sagte Evelyn. »Ich hab fast geheult, das roch so vertraut.« Katja schüttelte den Kopf. »Entschuldigt bitte.« »Stimmt, mich hat das auch irgendwie an was erinnert. Schule oder so.« »Brotkapsel«, sagte Katja. »Als hätten sie alle ihre Brotkapseln geöffnet. Und dass sie uns noch getröstet haben.« »Die waren nicht unangenehm«, sagte Adam. »Ist doch kein Wunder, jetzt, wo ihnen alle weglaufen. Da springen die vor Freude an die Decke, wenn welche sagen, wir wollen zurück. Wart mal ab, bis du wieder zu Hause bist, wie nett sie dann zu dir sind. Die verbieten dir sogar schon seit zwanzig Jahren den Text ihrer Nationalhymne!« 165
»Ich will nicht zurück, um Gottes willen!«, sagte Katja. »Dich meine ich doch nicht.« »Auf einmal wieder dieser Geruch. Plötzlich war mir so, als wäre ich schon jahrelang weg.« Adam lachte und musste husten. »Ich könnte doch meinen >provisorischen Reisepassi verkaufen, meistbietend.« »Dich kann man wirklich nicht mehr ernst nehmen, Adam.« »Wart's ab. Gibt bestimmt ne Menge Leute, die sich dafür interessieren. Diese Typen, die sich da die Dollarscheine vorgezählt haben. Wenn ich die frage...« »Da war Michael!« Katja sprang auf und rannte hinaus. »Tust du mir einen Gefallen, Evi? Setzt du dich auf der Rückfahrt nach vorn?« »Dann mach aber dieses Ding aus.« Adam legte die Zigarre in den Aschenbecher und sah sich nach dem Kellner um. Katja erschien in der Tür. »Wir sollen rauskommen, er will uns was sagen, irgendwas ist passiert!« »Was Schlimmes?« »Glaub nicht.« Evelyn folgte Katja. Adam nahm die Zigarre aus dem Aschenbecher, sog daran, bis sie wieder aufglomm, und ging zur Theke. Er beobachtete die Bewegungen, die der Kuli des Kellners auf dem Block machte, und starrte dann auf die zweimal unterstrichene Summe. Er zählte die Scheine ab und legte sie mit einem leisen »Viszondätäsra« neben die Rechnung. Der Kellner dankte mit einer knappen Verbeugung. 166
Auf der Schwelle sog Adam wieder an der Zigarre und blies den Rauch in den milchig blauen Septemberhimmel. »Er hat dir wohl einen Platz in der Botschaft besorgt?», fragte Adam, als sich Katja und Evelyn aus ihrer Umarmung lösten. sUnd wenn du noch so viele Witze machst, in ein paar Tagen geht die Grenze auf", sagte Michael. sDas ist sicher.« sSo sicher wie die Unsterblichkeit.» sDie machen die Grenze auf!«, sagte Michael. »Quatsch«, sagte Adam. »Wer erzählt denn solche Märchen!» »Auch wenn's dir nicht passt, noch ein paar Tage ...» sWarum soll mir das nicht passen? Dann krieg ich vielleicht wirklich noch was für meinen Pass.« sAb jetzt geht alles auf meine Rechnung», sagte Michael. »Und heute Abend gehen wir groß aus!« Adam blies ein Rauchwölkchen nach dem anderen in die Luft und ging voran zum Auto. Er schloss auf und öffnete die Türen von innen. Michael hielt die Tiir zuerst für Katja, dann für Evelyn auf. »Darf ich vom sitzen?«, fragte Evelyn. Michael nickte und trat zur Seite, damit sie einsteigen konnte. Sie brauchten eine Dreiviertelstunde, um aus Budapest herauszukommen. Adam hatte Evelyn die Karte gegeben, aber sie war schnell eingeschlafen. Auch Katja hatte die Augen geschlossen. Nur Michael saß aufrecht da und sah aus dem Fenster, als dürfte ihm keine Kleinigkeit entgehen. In Szekesfehervir waren sie von der Autobahn abgefahren. In Veszprem nahm Adam nicht den Abzweig nach 167
Balatonfüred, sondern fuhr parallel zum Nordufer in Richtung Tapolca, um noch etwas von der Landschaft zu sehen. Wenige Kilometer nachdem sie den Stadtring verlassen hatten, begann jedoch der Motor zu stottern, bis er schließlich verstummte. Plötzlich waren alle hellwach. »Kein Problem», sagte Adam und ließ den Wagen an den Straßenrand rollen, »das sind nur die Zündkerzen.« Er nahm das Werkzeug aus dem Kofferraum, löste den Haken der Motorhaube und lächelte. Evelyn erschien er wie ein Zauberer, der nun seinl?1 Vorstellung begann. Er öffnete die Haube. Schon ein paarmal hatte er ihr gezeigt, wie man den Zündkerzenstecker zog, die Kerzen herausschraubte und mit der Drahtbürste putzte. Doch als Evelyn jetzt ausstieg, sah sie, dass er nichts tat, dass er nur dastand, die Hände auf den Wagen gestützt, die Augen geschlossen. »Adam«, fragte sie leise, »ist was?«
Im Schlepptau Es war schon früher Nachmittag, als Adam sich endlich überzeugen ließ, keine weiteren Reparaturen auf eigene Faust anzustellen und sich stattdessen abschleppen zu lassen. Evelyn und Katja hielten mehrere Wagen an. Aber entweder fuhren sie nicht zum Balaton oder hatten kein Abschleppseil dabei oder erklärten etwas, was sie nicht verstanden. Schließlich trampten Evelyn und Katja bis in die nächste Ortschaft und riefen die Angyals an. Gegen 168
fünf stieg Herr Angyal aus seinem weißen Trabant, Michael und die beiden Frauen hatten sich auf einer Decke am Straßenrand ausgestreckt und waren eingenickt. »Die Zylinderkopfdichtung!«, rief Adam Herrn Angyal entgegen, der eine große Schüssel vom Beifahrersitz nahm. Nachdem Evelyn ihm den Kartoffelsalat abgenommen hatte, beugte sich Herr Angyal, die Brille auf der Stirn, über den Motor. Katja verteilte Besteck und Teller, und Michael schenkte aus einer großen Flasche Weißwein aus. Doch weder Adam noch Herr Angyal wollten an dem Picknick teilnehmen. Als endlich das Abschleppseil am Wartburg befestigt war, wischten sie ihre Hände im Gras ab und setzten sich zu den anderen. Adam aß den Kartoffelsalat gleich aus der Schüssel und stopfte sich die restlichen Fleischbällchen in den Mund. »Meinst du, der Wagen schafft uns aller«, fragte Michael. »Wir können auch trampen«, sagte Katja. »Ihr steigt alle bei ihm ein«, sagte Adam. »Zweimal lang auf die Hupe heißt halten. Zweimal kurz - ihr seid zu schnell!« »Dreimal lang«, sagte Michael und stand auf, »du überholst uns.« Er reichte Adam die Hand, der streckte ihm seine entgegen und ließ sich hochziehen. Als sie im Auto saßen, kurbelte Herr Angyal die Scheibe herunter, schob seine Brille wie ein Visier nach unten und hielt den Arm hoch, während er langsam anfuhr. »Das knattert ja unglaublich«, sagte Michael. »Da bekomm ich noch das ganze 169
Programm geboten.« Katja drehte sich um und winkte Adam zu, der aber konzentriert zwischen Rückspiegel und dem Heck des Trabants hin und her sah. »Ich hab mich wie im Märchen gefühlt«, sagte Michael. »Ich kann euch giP2 nicht beschreiben, wie happy ich bin. Als der mir sagte, ich brauchte mir keine Gedanken zu machen, in ein paar Tagen ist alles vorbei - ich bin so froh, dass ich dich nicht allein lassen muss!« Michael drehte sich halb nach hinten und legte seine Hand auf Evelyns Knie. »Das ist doch wirklich wie ein Märchen, oder?« »Bitte«, sagte Evelyn, »schau lieber nach vorn.« »Ich glaub das erst, wenn ich drüben bin«, sagte Katja. »Verlass dich drauf Aus den Botschaftsleuten kriegst du sonst nie was raus. Wenn die schon mal freiwillig den Mund aufmachen ...« »Vielleicht wollten die dich nur abwimmeln«, sagte Katja. »Die Ungarn haben das internationale Flüchtlingsstatut unterzeichnet und das Abkommen mit euren Betonköpfen gekündigt, die liefern niemanden mehr aus! Das haben die mir gesagt! Und in Bayern ziehen sie ein Lager nach dem anderen hoch. Die erwarten einen Massenansturm! Das steht nicht nur in der Bildzeitung.« »Und wir fahren dann einfach ruber?«, fragte Katja. »Wir düsen los, sobald die Grenze offen ist, und dich nehmen wir mit.« »In München könnt ihr mich raussetzen.« »Du kannst mitkommen nach Hamburg, dann könnt ihr zu zweit den ganzen Behördenkram erledigen, ist doch praktisch!« »Ich wollte eigentlich nicht nach 170
Hamburg.« »Nur für ein paar Tage. Bei mir hättest du sogar ein Zimmer für dich allein!« »Ich weiß ja gar nicht, ob das Evelyn recht ist. Ihr wollt ja vielleicht ...« »Nein, gerade für Evelyn wäre es doch fantastisch! Überlegt mal, ihr könnt dann zusammen los, der Hafen, Fischmarkt, die Alster, die Museen, das macht doch viel mehr Spaß, als alles allein zu machen. Und am Wochenende, da unternehmen wir was, da machen wir Ausflüge ...« Michael hatte sich so weit nach hinten gedreht, dass Herr Angyal ihn antippte und auf den Rückspiegel deutete. »Jetzt setz dich mal richtig hin!«, sagte Evelyn. »Und wenn es doch nur ein Märchen ist?«, fragte Katja. »Die wussten, wovon sie reden!« Herr Angyal klappte die Blende nach unten. Die Sonne stand direkt über der Straße und schien ein Loch in den Horizont zu sengen. »Wenn du willst, Katja, kannst du ja erst mal zu uns, zu den Angyals ziehen, in meinem Zimmer ist noch ein Bett frei«, sagte Evelyn. »Du meinst, das geht, einfach so?« »Ja, warum nicht.« »Wird komisch sein, wenn man Adam nicht mehr im Rückspiegel hat», sagte Michael und sah durch die Heckscheibe. Auch Evelyn und Katja drehten sk193 um. Adam schien auf das Abschleppseil und die Rücklichter des Trabants zu starren. Zwischen seinen Augenbrauen waren zwei senkrechte Falten zu erkennen. Er blinzelte. »Er sollte die Sonnenblende herunterklappen«, sagte Katja, drehte sich wieder um und holte den Zauberwürfel aus ih171
rer Handtasche. »Ja, sollte er«, sagte Evelyn und machte Adam ein Zeichen. Doch er bemerkte sie nicht.
Ein Sonntag »Stehen lassen, bitte«, sagte Frau Angyal und drängte Evelyn, die das Frühstücksgeschirr zusammenräumen wollte, vom Tisch weg. »Geht in die Berge, alle zusammen! Adam, bitte, es soll schön sein.« »Früher sind wir da oft hinauf«, sagte Pepi, »das ist wirklich schön dort.« Niemandem fiel etwas Besseres ein. Und auch Michael und Katja, die schon wieder vor dem Fernseher saßen, verschwanden wie folgsame Kinder in den Zimmern. Adam nahm die Halbschuhe, die er seit Anfang des Sommers nicht mehr getragen hatte, aus dem Kofferraum und tauschte sie gegen seine Sandalen aus. Sie mussten noch auf Pepi warten, die nach ihrem Rucksack suchte. Frau Angyal hatte Tee gekocht und trotz aller Proteste Schnitten geschmiert. Es war so still, dass man jedes Auto und jedes Moped kilometerweit hören konnte. Nur einzelne Rufe und das Schreien von Kindern drangen zu ihnen herauf. Manchmal knallte es in der Feme wie Gewehrschüsse. »Die armen Stare«, sagte Evelyn. Als das Sonntagsläuten begann, erschien Pepi mit dem Rucksack, den sie weder Adam noch Michael überlassen wollte. Sie gingen die Einfahrt hinunter und wandten sich dann nach links, die Romai-Straße entlang, als wollten sie zum See. An der St.-Annen-Kapelle bogen sie ab. »Das hab ich 172
ja noch nie gesehen«, sagte Adam. Er war vor der Kapelle stehen geblieben. »Was denn?«, fragte Michael. »Na, da!« Adam zeigte auf die Jahreszahl über der Tür. » 1789 »Stellt euch mal darunter. Kommt, wir haben noch überhaupt keine Fotos. Mischa und Evi nach links und rechts, ihr beiden in die Mitte.« Widerspruchslos folgten sie Adams Anweisung. Er ließ sich Zeit und wechselte mehrmals die Blende. »Wenn ich sage >Ios<, dann lauft ihr los, dann macht ihr einen Schritt vor.« »Warum das?«, fragte Michael. »Glaub ihm, das ist ein schöner Effekt, wirklich«, sagte Evelyn. »Los!«, sagte Adam und drückte auf den Auslöser. »Wunderbar. Und gleich noch mal.« Die vier stellten sich wieder unter »Anno domini 1789« auf. »Und - los!«, rief Adam. »Sehr gut!« »Jetzt du!« Evelyn nahm ihm den Apparat aus der Hand. »Katja nach außen, du daneben«, sagte sie. Adam zuckte zurück, als er Michaels Arm berührte, der bereits um Pepis Schulter lag. Vorsichtig fasste er Pepi um die Taille. »Das geht so nicht«, sagte Evelyn, »einfach nur hinstellen.« »Und los!«, kommandierte Adam. Wieder machten sie einen Schritt nach vorn. Danach ging Pepi auf dem Trampelpfad voran, der sich durch die Grundstücke und Weinberge schlängelte, hinauf zur oberen Straße. Von der bogen sie bald wieder ab und folgten dem Hinweisschild zum Szegedy-Röza-Haus. »Das hier isc bestimmt noch älter als zweihundert Jahre«, sagte Pepi, als 173
sie davorstanden. Ein Dutzend Leute warteten, dass gegenüber die Terrasse der Restaurants öffnete. »Hier gehen wir nachher was essen«, sagte Michael. »Wenigstens einmal muss ich euch doch einladen.« Dahinter begann der Wald. Im Gänsemarsch liefen sie über die steinigen Wege, Pepi mit dem Rucksack voran, hinter ihr Evelyn, am Schluss Michael. Nach einer Viertelstunde verlor der Weg seine Steigung und führte quer durch die oberen Weinberge. »Ernten die schon?«, fragte Michael. Sie hörten Stimmen und das Geräusch von Weintrauben, die in Plasteeimer geworfen wurden. »Das ist Zweigelt«, sagte Pepi. Als der Besitzer des Weinbergs Pepi erkannte, schnitt er ein paar Trauben ab, reichte sie einzeln zwischen Daumen und Zeigefinger über den Zaun, wo die Deutschen sie mit beiden Händen in Empfang nahmen. Im Gehen aßen sie die kleinen süßen Trauben. Der Tag war noch einmal so warm wie im August. Auf dem See und der Bucht vor ihnen kreuzten Segelboote, überreife Pflaumen lagen am Wegrand, Wespen schwirrten darüber. Als sie an eine schmale Steintreppe gelangten, stiegen sie hinauf und rasteten auf einer in den Felsen gehauenen Bank, der eine feuchte Kälte entströmte. Oben angekommen, war es nicht mehr weit bis zu dem Kreuz, einem Steinkreuz von 1857 mit einem Jesus aus Blech, der so bemalt war, dass vor allem die Blutstropfen auffielen. Nicht weit davon hatte sich um einen überfüllten Papierkorb ein Müllberg gebildet. 174
Sie setzten sich unterhalb des Kreuzes auf den Felsen, zwei, drei Meter vom Abgrund entfernt. Die Gegend auf der anderen, der südlichen Balatonseite war bis auf die beiden Hügel ihnen gegenüber flach. Die Sonne spiegelte sich im Wasser, auf dem sich die Schatten der Wolken deutlicher abzeichneten als auf dem Land. Sie schienen sich nicht zu bewegen. Die Weinberge unter ihnen sahen aus wie schraffierte Flächen, ein paar Feuer erkannte man am Rauch. Fast auf selber Hohe mit ihnen stand eine Lerche in der Luft. Die Thermoskanne mit dem Tee ging herum, Pepi verteilte die eingewickelten Doppelschnitten. Adam breitete sein verschwitztes Hemd auf dem warmen Felsen aus und machte ein paar Fotos. »Da unten gibt's dann Wels vom Rost mit Weinsoße und Knoblauch«, sagte Michael. »Fährst du morgen?«, fragte Katja. Michael nickte und schob sich einen Apfelschnitz in den Mund. »Ich dachte, du wartest auf uns.« »Nichts lieber als das, aber es geht nicht.« »Die haben dich angelogen, die wollten uns nur loswerden.« »Ich verspreche dir, es ist kein Märchen.« »Ich halte das nicht mehr aus«, sagte Katja. »Kannst du mich nicht im Kofferraum verstecken?« »Der hat keinen Kofferraum.« »Dann unter Decken oder Taschen, das kriegt man schon hin. Die kontrollieren doch nicht mehr. Und selbst wenn, die lassen uns durch.« »Glaub mir, das sind nur noch ein paar Tage.« »Du riskierst doch nichts«, sagte Katja. 175
»Und wie stellst du dir das vor? Soll ich sagen, ich hätte nicht gemerkt, dass du reingekrochen bist?« »Zum Beispiel.« »Könnt ihr nicht mal von was anderem reden?«, sagte Adam. »Schöner bekommt ihr's sowieso nirgendwo.« Er ging mit Pepi hinauf zum Denkmal. Sie hörten das sirenenartige Hupen, bevor der Zug zu sehen war, der nach Badacsony einfuhr. Das rhythmische Schlagen der Räder wurde langsamer. Als der Zug hielt, tönte der Bahnhofslautsprecher. Adam fuhr mit der Hand über den Sockel des Kreuzes, in den Namen und Jahreszahlen gemeißelt oder geritzt waren. Je älter die Jahreszahl, umso kunstvoller war die Ausführung. »Pepi«, sagte Adam und deutete auf einen Namen, der über zwei zum Halbkreis geschwungenen Lorbeerzweigen stand. »Kiss Gabor, 1889. Und hier ist noch ein anderer Neunundachtziger, Bodo Jözsef. Wir könnten jemanden bitten, unsere Namen hier einzuschlagen, dann haben die in hundert Jahren auch was zum Staunen.« »Ja«, sagte Pepi und nickte. »Da müssten wir nachts kommen. Ich kenne jemanden, der das könnte.« »Hm«, machte Adam und nickte. Sie gingen zurück zu den anderen, er zog sein Hemd wieder an. Pepi führte sie weiter zu einem Aussichtspunkt, von dem aus sie den spitzen Hügel im Hinterland sahen, erzählte von den Römern, nach denen immer noch die Romai-Straße benannt sei, und erklärte, dass sich das Lavagestein gut für den Weinbau eigne. Sonst sprachen sie wenig. Michael legte mehrmals den 176
Arm um Evelyns Schulter, aber Evelyn antwortete einsilbig auf alles, was er sagte, und der Weg zwang sie immer wieder hintereinanderzugehen. Pepi hielt sich in Adams Nähe. Auf dem letzten Stück lief Evelyn zwischen Katja und Pepi, die beiden Männer eilten voraus, um vielleicht noch einen freien Tisch auf der Terrasse zu bekommen. Nachmittags gingen sie hinunter zum See, sonnten sich und tranken Kaffee. Nur Katja ging ins Wasser. Sie schwamm so weit hinaus, dass Pepi bereits den Rettungsdienst alarmieren wollte. Abends, kurz vor sieben, saßen sie an dem gedeckten Tisch und warteten, dass das Ehepaar Angyal herauskam. »Das war schön heute«, sagte Evelyn. Fast im selben Moment hörten sie die Rufe von Frau Angyal im Haus, ihre Arme fuchtelten unter den Plastestreifen hervor. Sie trug Adams Bluse. »Kommen Sie, kommen Sie!« Katja, Evelyn und Michael stürzten zum Fernseher. Adam schenkte sich nach. Mit dem Glas in der Hand stand er auf. Doch statt hineinzugehen, blieb er an dem kleinen Gehege stehen und betrachtete die Schildkröte, die sich in die flache Schale mit Wasser gelegt hatte. »Adam«, sagte Pepi. Von drinnen war Frau Angyals Stimme zu hören, sie übersetzte. »Jetzt ist es wohl so weit«, sagte Pepi. Auch sie schrak zusammen, als Katja und Michael aufschrien. »Entschuldigung«, sagte Adam, stellte das Glas zurück auf den Tisch und wischte seine nasse Hand an der Hose ab. 177
Freudenfeuer In der Auffahrt vor dem Haus hatten Adam und Herr Angyal Zweige, Aste und Holzscheite aufgeschichtet. Adam hatte sich das Feuerzeug von Michael geborgt und mit einem in Spiritus getränkten Lappen das Feuer entfacht. Drum herum saßen die Angyals und ihre Gäste auf Stühlen. »Für ihn ist das ein Sieg, auch wenn er Gyula Horn nicht leiden kann, fast so wichtig wie die Beisetzung von Imre Nagy im Juni«, übersetzte Pepi. »Sechsundfünfzig war er neunzehn Jahre alt, er hat alles mitgemacht«, sagte Frau Angyal. »Alles hat er mitgemacht.« »Und er ist wirklich nie wieder in Budapest gewesen?«, fragte Katja. »Nein. Wir waren zweimal am Flughafen. Aber jetzt, jetzt fahren wir bestimmt, jetzt muss er fahren.« »In Budapest kannst du hingehen, wo du willst, fast jedes Haus hat Einschüsse. Oder es ist neu verputzt«, sagte Pepi.»Auf die Helden von sechsundfünfzig!«, sagte Michael, erhob sein Glas und nickte Herrn Angyal zu. »Wenn ich hier wohnen würde«, sagte Adam, der einen Stock mit einer aufgespießten Kartoffel ins Feuer hielt, »bekämen mich auch keine zehn Pferde nach Budapest.« »Das dürfen Sie nicht sagen, Adam. Für ihn war Budapest alles, Freunde, Familie, Mädchen, Cafes, Theater und Kinos, die Bäder. Darauf zu verzichten ... Budapest war die schönste Stadt der Welt.« »Ich bewundere Papa, seine Konsequenz, er wollte studieren, aber er hat lieber ver178
zichtet.« »Warum ist er nicht in den Westen? Das wäre doch möglich gewesen, oder?«, fragte Katja. »Das versteht niemand, leider. Wenn ich das als seine Frau sage, klingt es merkwürdig, schließlich und endlich hätte ich Andras sonst gar nicht getroffen. Ob er eine Frau wie mich in Budapest überhaupt gewürdigt hätte?« »Ach, Mama, ihr hättet euch überall gefunden. Sag doch nicht so was.« »In Budapest gab es Frauen, ganz andere Frauen.« »Papas bester Freund war so schwer verletzt, dass sie ihm die Beine abnehmen mussten. Er hat sich dann selbst erschossen. Deshalb heiße ich Jozefa, also Josefine«, sagte Pepi. »Mir hat er Angst gemacht, mit seiner Konsequenz. So etwas kannte ich nicht. Ich war siebzehn, als Pepi kam. Was hat er hier gelernt, mit den Fingern schnippen und Wein trinken, das hat er gelernt!« »Papa sagt gerade, dass sie von allen verraten wurden, alle haben sie verraten.« Herr Angyal sprach weiter. Seine Stimme klang so brüchig, als müsste er sich jeden Augenblick räuspern. »Sie hatten gedacht, die Amerikaner, wenigstens die würden helfen. Nicht mal Waffen haben sie geschickt. Ein junger Freund von ihm - der hat in der Schweiz ein Internat besucht, alles Diplomatenkinder -, der hat gleich gewusst, dass es niemand wagen würde, den Ungarn zu helfen.« Herr Angyal erhob sich und verschwand mit wankenden Schritten hinter dem Haus. »Bleib, Mama, lass ihn.« »Er ist so schwierig. Wir hätten nicht damit anfangen sollen.« 179
»Er hat selbst damit angefangen. Mach nicht so ein Gesicht, er hat fast nix getrunken.« »Entschuldigen Sie bitte, wir sprechen nie darüber ... Mein Mann glaubt noch immer, bei uns in Ungarn würde Europas Freiheit entschieden.« »Das ist nicht von Papa, das sagte Lajos Kossuth.« »Wie geht das Gedicht?«, fragte Frau Angyal, »‘Verlassen der Magyar ... verlassen ...‘« »Verlassen ist, im Stich gelassen von feigen Völkern der Magyar.« Papa war sogar Mitglied im Petofi-Club.« »Was für ein Club?«, fragte Katja. Alle wandten sich nach Herrn Angyal um. Mit der Linken drückte er etwas an sich, in der Rechten hielt er eine Zeitschrift. Die gab er Evelyn. Vom Titelblatt des »Time Magazine« vom Januar 1957 spähte ein junger, intellektuell wirkender Mann, den Kopf leicht gesenkt, ein kurzes Gewehr in der Hand, dessen Lauf die Finger eher antippten als umschlossen. »Hungarian Freedom Fighter« stand darunter, in der rechten oberen Ecke war wie auf einer Banderole »Man Of The Year« zu lesen. Herr Angyal blieb stehen. Er breitete ein Stück Stoff aus und hielt es mit beiden Händen vor sich hin. Eine Ecke war angesengt. »Eine Fahne?«, fragte Michael. »Papa hat sie gerettet. Wenn sie ihn damit erwischt hätten ...« »Wenn ich erzähle. « Frau Angyal winkte ab. »Von der Hausdurchsuchung, eine richtige Hausdurchsuchung!« »Was? Das habt ihr nie erzählt!« »Du warst gerade geboren. Er war im Keller, oje, wenn ich daran denke, aber die 180
sahen die Kellerluke nicht, sind immer nur hin und her, hin und her. Er hatte die Fahne angezündet, sie brannte nicht. Er hat Spiritus drübergekippt, aber sie waren schon wieder weg. Ich habe die Fahne gewaschen und gewaschen, aber der Geruch geht nicht hinaus, nichts zu machen. Sie stinkt schon zwanzig Jahre.« »Und wenn sie ihn damit gefunden hätten?« »Gefängnis, mindestens.« »Er wollte sie verbrennen, um sie zu retten«, sagte Adam. »Wie meinst du das?«, fragte Michael. »Na ja, lieber verbrennen, damit sie nicht in falsche Hände fallt. Einen größeren Liebesbeweis gibt es nicht.« »Was ist das?«, fragte Evelyn. »Was sind das für Flüsse?« »Unser Kossuth-Wappen«, flüsterte Frau Angyal leise. »Vier Flüsse und drei Berge.« Noch leiser wandte sie sich an ihren Mann. Er würdigte sie keines Blickes. Als Pepi sanft auf ihn einredete, antwortete er kurz und unwirsch. Dabei rutschte ihm die Brille von der Stirn vor die Augen. »Papa will die Flagge hissen, irgendwann einmal will er sie hochziehen, damit alle sie sehen.« »Wer soll sie hier bitte schön sehen? Die Nachbarn? Er ist betrunken, mal wieder betrunken.« »Mein Vater war Jahrgang dreiunddreißig«, sagte Adam. »Die waren 1945 zu jung, um mitzumachen, und alt genug, um zu begreifen, was passiert. Von denen ist keiner in den Westen und keiner in die Partei. Das hat auch nie jemand verstanden.« Herr Angyal legte die Flagge zusammen, hielt sie in beiden Händen und küsste sie dann. Er setzte sich auf sei181
nen Stuhl, die Flagge im Schoß, schob die Brille wieder auf die Stirn und bückte sich nach seinem Glas. »Mir leuchtet das immer mehr ein«, sagte Adam. »Denen konnte niemand was vormachen. Die hielten zu allen Distanz, wenn sie Charakter hatten.« Er betastete seine Kartoffel und versuchte die schwarze Schale abzupellen. »Ich verstehe es vielleicht deshalb nicht, weil es so traurig klingt, hoffnungslos, als wäre das Leben gleich zu Beginn vorbei gewesen. Man muss es doch wenigstens versucht haben«, sagte Katja. »Was willst du denn versuchen, was soll das sein?«, fragte Adam. Nach einer Pause, in der alle auf Katja sahen, sagte sie: »Na glücklich zu sein, irgendwo hinzugehen, wo es klappt, wo du vernünftig leben kannst. Ich würde es immer wieder versuchen, immer wieder, oder ich würde aus dem Fenster springen.« »Es gibt ja nicht nur ein Entweder-oder«, sagte Adam, ohne den Blick von seiner Kartoffel zu wenden. »Du kannst doch nicht sagen, dass das hier nichts ist. Und außerdem ist es schon genug, dass Leute wie Andras oder meine Eltern sich nicht verkauft haben, dass sie nicht korrumpierbar waren. Man soll das wissen und dran denken.« »Ein richtiger Philosoph, unser Adam!«, sagte Frau Angyal. »Ich kritisiere das doch nicht, Adam. Wer bin ich denn«, sagte Katja. »Es ist nur so ein Gefühl, dass ich gerade das nicht will. Noch nie wollte ich so sehr weg wie jetzt, wie in diesem Moment. Am liebsten möchte ich auf der Stelle losrennen.« 182
»Für euch ist es sicher das Richtige«, sagte Pepi. sZumindest für Katja ist es gut», sagte Adam. »Papa, lass es doch mal knallen, bitte!» Pepi wiederholte ihre Bitte auf Ungarisch. Frau Angyal schüttelte den Kopf. Plötzlich hob Herr Angyal die Hand, ein Knall, so trocken und laut, als wären seine Finger aus Holz. »Noch mal«, rief Pepi und zog den Kopf zwischen die Schultern. Aber Herr Angval bückte sich schon wieder nach seinem Weinglas. »Gute Reise«, sagte er auf Deutsch und prostete Evelyn zu, dann Katja. Bis auf Adam, der die heiße Kartoffel von einer Hand in die andere warf, erhoben alle die Gläser. Evelyns Glas war schon wieder leer. Trotzdem setzte sie es an die Lippen und schluckte.
Noch eine Autofahrt »Du bist gut, als könnt ich jetzt schlafen!« »Aber in deinem Zustand?!« »Fahren ist das Letzte, was ich nicht mehr kann, glaub mit, das Letzte. Hast du Angst?« »Meinetwegen musst du nicht rasen. Außerdem zieht es ganz schön.« »Sie wird es bereuen! Ich weiß, dass sie es bereut! Sie war besoffen, einfach besoffen!« »Wir hatten alle ein bisschen viel getrunken ...« »Ich meine, nachts, nachts war sie dann richtig besoffen. Wie eine Irrsinnige hat sie geredet, wirklich, immer dasselbe, als hätte sie den Verstand verloren.« Katja zündete eine Zigarette an und reichte sie Michael. Wegen der kaputten Scheibe hatte sie sich seinen Pullo183
ver und seine Windjacke übergezogen und ein T-Shirt um den Kopf gewickelt. »Kehr doch um, wirklich, kehr um. Ich komm schon irgendwie rüber.« »Ich kann nicht, es geht nicht!« Michael schlug so hart auf das Lenkrad, dass der Wagen einen kurzen Schlenker machte. »Bist du verrückt!«, rief Katja. »Warum begreife ihr das denn nicht, ich hab keinen Urlaub mehr, die Woche war eine Gnade, schon die davor war eine Gnade, die warten auf mich! Aber so was kennt ihr nicht, dass man auch arbeiten muss, das ist euch völlig fremd!« »Ist es nicht«, sagte Katja. »Nur wenn du Evi liebst, wenn du sie wirklich liebst ... Ich hätte nicht mitfahren sollen.« »Ihr zuliebe hab ich das vorgeschlagen, damit sie nicht allein ist, damit es einfacher wird. Was hab ich denn davon? Das ist doch absurd, mir das vorzuwerfen!« »Also doch!« »Was, >also doch« »Also liegt's doch an mir!« »Nein.« »Ihr habt aber über mich gesprochen.« »Säe bewundert dich. Sie hat gleich gesagt, dass ich mit dir fahren soll.« »Mit mir?« »Wegen der Kofferraumgeschichte. Du würdest besser in den Westen passen als sie und solches Zeug.« »Ich war mir sicher, dass sie mitgeht.« »Na, ich erst! Was wir schon alles geplant hatten! Sie wollte studieren, sie wollte sofort anfangen. Sie wollte nach Brasilien und New York, nach Italien, und ich sagte ja, machen wir, wir machen, was du willst.« »Du warst ne ganz neue Erfahrung für sie.« »War ich, ja, bin ich gewe184
sen, vergangen, vorbei.« »So meinte ich das nicht.« »Aber ich.« »Du solltest umkehren, wirklich, kehr um!" »Sie kam jede Nachc rübergeschlichen, jede Nachr. Ich hab doch gemerkc, welche Sehnsucht in ihr steckt. Richcig ausgehungert war sie...« »Nach Sex?« »Nach allem, nach Sex, nach Festhalten, Streicheln, Plänemachen, alles! Sie hat es mir doch gesagt, wie sie sich fühlt, beerdigt, begraben in diesem Kaff, hat sl£1 gesagt, lebendig begraben. Und der kriegt nichts mit. Oder will nichts mitkriegen. Wenigstens bin ich den los! Wenigstens das!« »Adam ist glücklich, so wie es ist, es gibt so Genügsame.« »Genügsam!? Der und genügsam?! Sie hat ihn doch erwischt. Ich war dabei, wie sie angeheult kam, weil er mit so einer Vettel rumgevögelt hat, und nicht zum ersten Mal. Das hat sie mir alles erzahlt. Und dann ist sie uns um den Hals gefallen, als wir sagten, komm mit, wir fahren ...« Michael überholte einen Wartburg und blieb trotz des Gegenverkehrs auf dem Mittelstreifen, bis er an einer ganzen Reihe Ostwagen vorbei war. »Keine Angst, hier passen drei nebeneinander.« »Und dann?« »War sie plötzlich bei mir. Ich dachte erst, sie wollte sich mal amüsieren. Aber dafür war sie zu verklemmt, zumindest am Anfang, ich glaubte zuerst, es muss schnell gehen, damit Mona nichts mitkriegt. Aber sie war so, ich weiß nicht - säe hat so schöne Sachen gesagt. Das hab ich mir nicht träumen lassen, dass eine, die so gut aussieht, auch noch so sein kann.« »Wie denn?« 185
»Wie man das eigendich immer will. Ich dachte, das gibt's nur im Film. Und kein Kind und nicht mal geschieden, sondern ganz jung und trotzdem irgendwie anders. Dachte ich zumindest. War mein Fehler, merde!« Wieder schlug Michael aufs Lenkrad. »Was meinst du mir ‚anders‘?« »Wenn da eine plötzlich alles stehen und liegen lässt wegen dir, das ist doch unglaublich, oder?« »Ja.« »Das gab mir so eine Sicherheit, deshalb hab ich das auch alles mitgemacht. Sie hat sich ständig entschuldigt, weil die Angvals natürlich auf seiner Seite waren, für die war ich der böse Westmann. Eve hat richtig gelitten.« »Du aber auch.« »Was soll man denn noch glauben, wenn eine, die so ist, plötzlich Schluss macht.« »Sie hat doch nicht Schluss gemacht.« »Sie wollte, dass ich bleibe, dass ich noch eine ganze Woche bleibe.« »Und dann?« »Danach würde sie vielleicht mitkommen, vielleicht. Ich hab ihr erklärt, dass man auf mich wartet, dass die schon seit zwei Wochen auf mich warten. Warten ist gar kein Ausdruck! Ohne mich kommen die nicht weiter.« »Sie wollte einfach noch am Balaton bleiben?« »Ja, klar.« »Nichts weiter?« »Was heißt denn »nichts weiten?« »Na ja, wenn sie ...« »Ich muss arbeiten, verdammt noch mal, arbeiten. Warum kapiert dies niemand?!« Den Rest der Fahrt sprachen sie kaum noch. Als sie an der Grenzstation hinter Sopron ankamen, zog sich Katja das T-Shirt vom Kopf und holte den provisorischen Reisepass aus ihrer Handtasche. 186
»Und wenn sie mich jetzt zurückschicken?« »Die interessiere doch weder der Stempel noch dieses Ding da.« Das helle Tuckern eines Trabants, der hinter ihnen hielt, war zu hören und aufgeregte Summen. Erst kurz vor der Grenzkontrolle sahen sie die Leute am Straßenrand. Es waren nicht mehr als zwanzig. Sie machten einen solchen Lärm, dass Katja lächelte und ihnen zuwinkte. Doch sie beachteten den roten Passat und seine beiden Insassen nicht. Sie jubelten den beiden Männern in dem weißen Lada mit Dresdner Kennzeichen vor ihnen zu und dem Trabant hinter ihnen, der so dicht auffuhr, dass man die Tränen erkennen konnte, die der Frau auf dem Beifahrersitz über die Wangen liefen. »Da vorn sind Kameras«, sagte Michael, »mach dich auf was gefasst.«
Das Missverständnis »Musst du wissen«, sagte Evelyn. »Du weißt doch, was ich will. Aber wenn er plötzlich wieder hier auftaucht?« »Darüber musst du dir nicht den Kopfzerbrechen.« »Mach ich aber.« »Er kommt nicht wieder. Um ihn geht's gar nicht.« »Aha.« »Ziehst du nun zu mir oder bleibst du bei Pepi?« »Wieso denn bei Pepi?« »Adam, bitte! Ich hab Augen im Kopf.« »Ich war nur ein Mal wegen der Anprobe ...« »Ich will das nicht wissen, verschone mich.« »Verschonen ist gut. Als hättest du mich verschont.« »Machen wir 187
uns jetzt Vorwürfe? Der Rock für Pepi ist schön geworden, so einen hätte ich auch gern.« »Kannst du haben. Es ist immer noch Stoff übrig.« Adam griff nach der Wasserflasche. Sie war leer. Er hob sie hoch und wartete, dass die Kellnerin zu ihm sah. »Wart ihr oft hier?«, fragte er. »Einmal, zum Tanzen, als sie uns beklaut haben.« »Keine angenehme Erinnerung.« »Wie man's nimmt. War rappelvoll.« Evelyn vermied es, zu dem Mann mit der großen Brille und den schwarzen Haaren hinzusehen, der drei Tische hinter Adam saß und sie ununter-brachen anstarrte. »Hättest du unseren das zugetraut?«, fragte Adam. »Was?« »Jetzt kriegen wir ne richtige Opposition.« »Vergiss es. Übermorgen ist das vorbei. Wirst sehen, wie schnell die alle im Westen landen.« »Trotzdem. Ungarn ist jetzt wie ne Westreise. Und die Polen spielen auch nicht mehr mit.« »Je weniger die zu beißen kriegen, umso weiter dürfen sie ihr Maul aufreißen. Und nach Ungarn lassen sie uns bald auch nicht mehr.« Sie drückte ihre Zigarette aus. »Hast du eigendich noch Geld?« »Noch fast alles. 2500 oder so.« »Ich hab die Kronen umgetauscht, der Tank ist voll.« Adam zeigte auf die leeren Kaffeetassen und die Wasserflasche. "Dafür reicht's noch.« »Hast du hier nicht gut verdient?« »Ich hab unbegrenzt Quartier, zumindest bis Weihnachten.« »Du wärst nicht zurückgefahren?« »Nicht ohne dich. Arbeit hätte ich hier haben können 188
noch und nöcher.« »Pepi hat mich gefragt, ob ich Deutschstunden geben will, sie kennt zwei Russischlehrerinnen, die müssen jetzt Deutsch unterrichten, von heut auf morgen.« »Wie lange willst du noch bleiben?« »Ein paar Tage, solange es schön ist. Was ist denn nun mit Heinrich?« »Der Anlasser, im Prinzip brauch ich nen neuen Anlasser. Ich hoffe, dass er es hinkriegt.« »Unser Angyal hat goldene Hände. Hast du die Kiste gesehen, die er für Elfriede gebaut hat?« »Echter Schildkrötenluxus ist das. Elfi will bestimmt hierbleiben.« Der Kellner kam mit der Rechnung - Evelyn reichte Adam ihr Portemonnaie. »Hattest du nicht noch was bestellt?« »Ich trink draußen was«, sagte Adam und bezahlte. Sie schob ihm ihr halbvolles Glas hin. Adam trank aus. Auch der Schwarzhaarige bezahlte. Sie standen auf und verließen das Restaurant. »Eigentlich niederschmetternd«, sagte Adam und sah an Evelyn herab, »aber ne viel bessre Hose als diese Jeans würde ich für dich auch nicht hinkriegen.« »Ich bin hier richtig fett geworden. Gefallt dir wohl?« Evelyn setzte im Gehen ihren Strohhut auf. Sie sah sich nicht um, aber sie hatte das Gefühl, dass der Schwarzhaarige ihnen folgte. Vor dem Schiffskai, der wie eine Mole auf den See hinausführte, sprach sie ein alter Mann auf Deutsch an. In seinem Korb lagen Feigen auf großen dunkelgrünen Blättern. »Probieren Sie, probieren Sie«, sagte er, »nehmen Sie, so viele Sie wollen.« Evelyn rieb die Feige vorsichtig 189
mit den Fingern ab und biss hinein. Adam nahm Geld aus ihrem Portemonnaie. »Ganz frisch, aus meinem Garten«, sagte der Mann. Evelyn nickte und starrte auf die verwachsenen Hände des Alten, der die schönsten Feigen aus dem Korb klaubte. »Nehmen Sie, bitte, nehmen Sie alle.« Adam bezahlte, sie gingen weiter. Der Schwarzhaarige folgte ihnen tatsächlich. Er war klein, geradezu schmächtig. »Hast du die Hände von dem gesehen, wie Wurzeln«, sagte Evelyn und legte einen Arm um Adams Schultern, »und den Daumen, zerschnitten wie ein Holzbrett.« »Ich hab früher nie kapiert, was das sein soll, der Plattensee«, sagte Adam. »Sieh dich nicht gleich um«, sagte Evelyn, »aber uns schleicht so ein Typ hinterher. Kennst du den?« Ein paar Leute, die die Abfahrt eines Schiffes beobachtet hatten, kamen ihnen entgegen. An den Rändern des Kais saßen Angler. »Na, guten Tag«, sagte der Schwarzhaarige, stellte sich ihnen in den Weg und streckte Adam die Hand hin. »War wohl nichts mit Warnemünde, oder sind wir hier vielleicht an der Ostsee?« Ein Verrückter, dachte Evelyn, als sie das meckernde Lachen hörte. Adam, in jeder Hand eine Feige, hielt ihm den Unterarm hin, den der andere drückte. »Ich hab Sie gar nicht erkannt. Machen Sie hier auch Urlaub?« »Na ja, Urlaub würde ich das nicht gerade nennen, eher ne Dienstfahrt.« Wieder meckerte er los. »War nur ein Scherz. Ich dachte, 190
wenn ich schon mal ein Visum hab, muss ich auch fahren.« »Ich weiß Ihren Namen leider nicht«, sagte Adam und wandte sich an Evelyn, »das ist der Tankwart, unten, an der Poliklinik. Von ihm hab ich die Radkappe bekommen.« »Na ja, die Welt ist klein, besonders bei uns, da kann man nichts machen«, sagte der Tankwart und lachte wieder. »Wollte mich doch wenigstens mal bemerkbar gemacht haben, man sieht sich, man sieht sich!« »Ja«, sagte Adam, »alles Gute. Auf Wiedersehen.« Auch Evelyn nickte ihm zu. »Huu«, sagte sie, als sie ein Stück weitergegangen waren, »der ist unheimlich.« »Find ich auch«, sagte Adam. »Dabei ist er garantiert harmlos.« »Hattest du eigentlich Angst, als du über die Grenze bist?« »Komischerweise nicht.« »Wirklich nicht?« »Ich hab an dich gedacht, die ganze Zeit.« »Auch mit Katja im Kofferraum?« »Ja, das hatte mit dir zu tun. Ich kann es nicht begründen, aber es war so.« Evelyn legte wieder den Arm um Adam. »Ich muss endlich mal meine Mutter anrufen, die weiß noch gar nichts.« »Zum Kartenschreiben ist es zum Glück zu spät«, sagte Adam. »Red dich nicht raus, wir haben doch Zeit.« »Wollen wir morgen mit der Fähre fahren, von Tihany? Dort gibt's eine wunderbare Konditorei. Kennst du die schon?« »Nein, kenne ich nicht«, sagte Evelyn. »Liest du mir heute Abend vor? Pepi hat einen Gustav Schwab in ihrem 191
Zimmer, noch einen mit den alti.'!?Buchstaben.« Sie waren am Ende des Kais angekommen und blieben zwischen zwei Anglern stehen. Das Wasser wirkte wie tot. Nur vom Heck des Schiffes breiteten sich kleine Wellen nach links und rechts über den See aus. Schweigend aßen sie die letzten beiden Feigen. Dann lehnte Evelyn ihren Kopf an Adams. Ihr Strohhut verrutschte dabei etwas. Für einen Moment sah es aus, als trügen sie ihn beide.
Bettlektüre »Aber das muss dir doch klar gewesen sein, spätestens seit Prag!« »Was heißt, seit Prag?« »Oder früher schon, du hattest doch meine Tasche!« »Und?« Adam legte das aufgeschlagene Buch auf seinen Bauch. »Da war alles drin, Zeugnisse, Geburtsurkunde, Impfausweis, sogar mein Taufschein.« »Woher sollte ich das wissen?« »Hast du sie nicht aufgemacht?« »Nein.« »Und der Schmuck? Warum hast du mir den Schmuck mitgebracht?« »Hab ich dir doch gesagt, das war mir zu Hause zu unsicher.« »Du hast so gelächelt dabei. Für mich war das wie ein Zeichen.« »Weil ich endlich mal wieder neben dir saß.« »Und heute - ich hab doch gesagt, dass ich es meiner Mutter endlich sagen muss!« »Du wolltest deine Mutter anrufen, weil sie nicht weiß, wo du bist. Ich dachte, wenn du bleibst, dann bleibst du meinetwegen, dann fahren wir gemeinsam zurück. Willst du wirklich in den Westen?« 192
»Ich hatte gehofft, du auch.« Evelyn klopfte ihr Kopfkissen auf, umfing es mit beiden Armen und legte sich darauf. »Denkst du denn, ich lass das alles im Stich, das Haus, den Garten, die Gräber, alles? Wie stellst du dir das vor?« »Auf dich wartet doch niemand, für dich ist es doch viel leichter!« Evelyn stand auf und schloss das Fenster. »Ich hab immer gesagt, dass ich zurückfahre, was soll ich denn im Westen?« »Du hast dich aber anders verhalten, warum trägst du mir dann alles hinterher, Zeugnisse, Schmuck, Elfriede. Du findest doch überall Arbeit. Und wirst hundertmal besser bezahlt. Warum hast du Michael danach gefragt? Ich dachte, du überlegst dir das ernsthaft!« Evelyn lehnte im Nachthemd am Fensterbrett und verschränkte die Arme. »Und ich dachte, wenn du bleibst, dann bleibst du. Warum bist du dann nicht mitgefahren?« »So ne blöde Frage, wirklich, für die Frage sollte man dich - ach, lass mich.« Adam war aufgestanden und blieb vor ihr stehen. »Denkst du, ich hätte das alles mitgemacht, wenn ich dich nicht liebte?« »Dann stell nicht so dämliche Fragen. Ich hab schließlich auch was mitgemacht.« »Na gut, dann sind wir jetzt quitt.« »Und was soll das heißen?« »Dass ich dir keine Vorwürfe mache und du mir auch nicht.« »Klingt wie ein Scheidungsvertrag.« Evelyn ließ sich aufs Bett fallen. »Und seit wann weißt du, dass du wegwillst?« 193
»Wirklich sicher bin ich mir erst seit heute früh.« Sie sah an die Decke. »Ist das dein Ernst? Seit er weg ist?« »Ich weiß nur, dass ich nicht zurückgehe.« »Und warum?« »Warum ich das erst seit heute weiß?« »Warum du rüberwillst.« »Weil ich nicht zurückwill. Ich will nicht wieder kellnern, mich wieder um einen Studienplatz bewerben, wieder abgelehnt werden, wieder all die Visagen sehen, die einen fragen, warum man nicht für den Frieden ist, und der ganze Scheiß.« »Das wird sich ändern, beim dritten Mal klappt es, die nehmen dich.« »Nein. Das war hier schon zu viel Freiheit, ich hab mich zu sehr daran gewöhnt.« »Gewöhnt, woran?« Adam setzte sich auf die Bettkante. »An den Gedanken weiterzufahren. Ich will weiterfahren.« »Was ist denn das für eine Begründung?« »Ich weiß auch nicht, ob es mir drüben wirklich gefällt, aber ausprobieren will ich es.« »Ausprobieren, na wunderbar, und wenn es schiefgeht? Wir haben nur ein Leben.« »Ja, ebendeshalb.« »Du hast nie darüber gesprochen!« »Natürlich haben wir darüber gesprochen. Du hast doch selbst diese Theorie entwickelt mit den Transiträumen und den verschiedenen Bordkarten. Das war deine Idee.« »Das war nur ein Spiel. Wir haben nie gesagt, dass wir das versuchen.« »Ich hab immer dran gedacht, immer.« »Das glaub ich dir nicht.« »Wie kannst du das sagen? Mona und ich haben von nichts anderem geredet, Mona war schon gar nicht mehr da!« »Und ist zurückgefahren.« »Na und? Was soll das 194
beweisen?« »Dass sie ihn geliebt hat.« »Das stimmt nicht, das stimmt einfach nicht. Was glaubst denn du, warum sie nichts mehr gejuckt hat. Sie hat nur gelacht, wenn die Gabriel was sagte, nur gelacht. Für die war Mike die Fahrkarte in den Westen, darum ging's.« »Dann hätte sie ja bleiben können.« »Worüber reden wir hier eigentlich?« »Du hast auch gekündigt. Hatte das was mit Abhauen zu tun?« »Irgendwie schon.« »Und was?« »Mona hat immer gesagt, das ist unsere Milchzahnzeit, die eigentlichen Zähne kommen erst noch.« »Das ist lächerlich, merkst du nicht, wie lächerlich das ist, Milchzahnzeit ...« »Das gab mir so ein Gefühl von Freiheit. Das war schon immer so. Die können mich alle mal gern haben, dann geh ich eben.« »Das ist kindisch, Evi.« »Wieso?« »So ein Gefühl von Freiheit«!« »Wenn Freiheit kindisch ist, dann bin ich eben kindisch. Ich empfinde das aber so.« »Nachdenken wäre besser.« »Ich brauche nicht mehr darüber nachzudenken, ich habe schon viel zu lange darüber nachgedacht. Warum willst du denn nicht rüber?« »Warum sollte ich?« »Dann denkst du nicht nach! Könnte ich auch sagen, wer nicht rüberwill, hat nicht nachgedacht.« »Warum muss ich darüber nachdenken, wenn ich gar nicht rüberwill?« »Warum muss ich darüber nachdenken, wenn ich gar nicht bleiben will. Merkst 195
du überhaupt noch, wie arrogant du bist, wie borniert?« »Für mich stellt sich die Frage doch gar nicht. Warum soll ich denn weggehen?« »Immerhin hast du Michael gefragt ...« »Blödsinn! Wir haben darüber geredet. Über irgendwas mussten wir ja reden.« »Jeder denkt darüber nach, auch du denkst darüber nach. Es gibt niemanden, der nicht darüber nachdenkt.« »Das heißt, entweder ich komm mit, oder Schluss?« »Das wird doch alles nur schlimmer und schlimmer.« Evelyn drehte sich zur Seite und sah zu Adam hinüber. »Nach dem vierzigsten Jahrestag geht's dann richtig los. Du hast dich doch immer viel mehr aufgeregt als ich. Hast du vergessen, wie's die Chinesen gemacht haben? Wieso siehst du das denn nicht!« »Das wird anders. Schon allein die Polen. Und wenn die Ungarn die Grenze offen lassen ...« »Ich sag dir doch, die lassen uns nicht mehr raus, Klappe zu, Affe tot. So sieht's aus!« »Das können die nicht!« »Die haben schon ganz anderes gekonnt.« »Und wie geht das jetzt weiter?«, fragte Adam, ohne Evelyn anzusehen. »Wir haben denen schon genug zugemutet.« »Angyals?« »Hat er überhaupt bezahlt?« »Wieso nicht?!« »Pepi hat so ne Andeutung gemacht. Jedenfalls hat er nicht alles bezahlt.« »Na, dafür, dass sie uns beklaut haben, kann er nichts.« »Die Angyals auch nicht.« »Wenn er wirklich nicht alles bezahlt hat, dann schickt er es. Die kriegen ihr Geld. Hast du deshalb ein schlechtes Gewissen?« »Wieso schlechtes Gewissen?« »Du musst 196
nicht abwaschen, die mögen das nicht, die wollen dich bewundetrt] vielleicht sogar als Schwiegersohn, aber die wollen bestimmt keinen Mann, der abwascht.« »Was spricht denn gegen einen Mann, der abwäscht?« »Nichts, aber du bist hier nicht zu Hause.« »Ich weiß schon, was ich mache.« »Darf ich dich mal was fragen? Reine Neugierde, kein Vorwurf - hast du auch mit Pepis Mutter?« »Wie kommst du denn darauf?« »Ja oder nein?« »Nein, wieso denn?« »Klingst ein bisschen dünn.« »Evi, bitte! Nicht auf die Tour!« »Ich will ja nur rauskriegen, welchen Typ du bevorzugst.« »Das hat dir auch dein feiner Michel erzählt. Der traut mir sowieso alles zu.« »Sie war so launisch! Erst stinksauer, weil ich mit ihm aufkreuze ...« »Kann ich verstehen.« »Dann plötzlich war alles wie früher und ich ihre zweite Tochter, und jetzt muss sie wieder grimassieren, damit sie ein Lächeln hinbekommt.« »Was verlangst du? Was sollen sie denn noch für uns tun?« »Die würden dich gern behalten.« »Ach ja?« »Als Schneider, als Schwiegersohn, als Liebhaber. Da musst du gar nicht lachen!« »Und was sagen wir ihnen? Dass wir ewig Urlaub machen?« »Nicht ewig.« »Bleiben wir bis morgen, drei Tage, noch eine Woche?« »Wie du willst, ganz wie der Herr Adam wäll.« »Ist dir überhaupt klar, worüber wir reden?« Adam klappte das Buch zu und schob es auf den Nachttisch. »Du wolltest mir die Lao197
koon-Geschichte vorlesen«, sagte Evelyn. »Morgen«, sagte Adam, löschte das Licht und legte sich auf den Rücken. Er zog die Decke bis zum Hals und atmete tief durch. Als Evelyn sich an das Dunkel gewöhnt hatte, erkannte sie die Silhouette seines Gesichts. Vorsichtig hob sie den Kopf, um herauszufinden, ob seine Augen noch offen waren. Im Licht, das von der Straßenlaterne hereinschien, erkannte sie Adams lange geschwungene Wimpern. Seine rechte Hand lag zwischen ihren Kopfkissen, die linke auf seiner Brust. Sie hörte die Schildkröte in ihrer Kiste. Selbst wenn sie sich stritten, war ihr Adam vertraut. Sie wollte das nicht. Sie hatte Besseres verdient als einen Mann, der sie betrog. Trotzdem bettete sie ihr Gesicht auf Adams rechte Hand. Säe streichelte seinen Unterarm, fuhr hinauf än den Ärmel des T-Shirts, schob ihre flache Hand über seine Schulter, erreichte den Hals und berührte mit den Fingerkuppen seinen Adamsapfel, der wie ein Tier davonhuschte, doch schon im nächsten Augenblick zu ihr zurückkehrte.
Abschied »Was hast du denn die ganze Zeit gemacht?«, rief Adam und ließ den Motor aufheulen. Der Wagen holperte die Auffahrt hinunter. »Ich hab doch gesagt, du sollst einsteigen.« Evelyn kurbelte die Scheibe nach unten, lehnte den Kopf hinaus und sah zurück. In ihrer rechten Hand flat198
terte ein Taschentuch. Die Angyals waren von der Auspuffwolke verschleiert. Sie trug wieder ihre neue Bluse, Herr Angyal winkte mit dem Werkzeug, als wollte er noch etwas reparieren. Pepi ging ins Haus. Adam bog nach links auf die Römai-Straße. »Was war denn los?« »Ich musste noch mal, und die beiden haben Schnitten geschmiert, eine nach der anderen.« »Wer soll denn das essen? Eine Woche Klappstullen!« »Sind auch Äpfel dabei und Pflaumen, Gurken, Wein, Most, Wasser und Kuchen. Sie haben uns sogar dein tschechisches Senfglas wieder mitgegeben.« »Warum denn das?« »Alles für ihre verlorenen Kinder«, hat sie gesagt, >und für Elfriedchen.« Wo ist sie, im Kofferraum?« »Die Kiste hat gerade so da reingepasst.« »Dann kriegt sie also keinen Zug«, sagte Evelyn. »Der Käsekuchen ist noch warm. Treffen wir uns hier mal wieder?« »Ich war froh, wenn wir hier überhaupt erst mal weg wären!« Er klopfte dreimal aufs Armaturenbrett. »Heinrich, es geht nach Haus!« »Ich weiß nicht, ob das gut ist, Adam. Du kannst mich auch am Bahnhof rauslassen. Ich hab noch die Verbindung, die sich Katja rausgeschrieben hat.« »Das ist kein Umweg.« »Und wenn sie dir Ärger machen?« »Du meinst, die lassen mich nicht wieder rein? Mit Kusshand und Rosen empfangen die mich.« »Kannst ja sagen, dass man dich entführt hat, ich hab dir Schlafmittel in den Tee getan, und als du aufgewacht bist, warst du im Westen. Zum Glück konntest du 199
fliehen, zurück in den Staat, in dem die Arbeiter und Bauern die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ein für alle Mal ... entschuldige, entschuldige, das war blöd.« Sie strich kurz über Adams Schulter. »Ich wollte nur sagen, dass es wirklich leichter wäre, wenn wir uns schnell trennen.« »Ich hab gesagt, ich bring dich, und du fandest das gut.« »Und wenn ich mal muss?« »Du warst doch eben.« »Ich meine ja nur, falls ich mal muss - oder du.« »Der Wagen darf nicht ausgehen, oder nur oben, am Berg.« »Willst du die Strecke in einem Ritt fahren?« »Das ist ne bergige Tour. Oben kann ich ja halten.« »Ehrlich gesagt, hab ich mir unseren Abschied anders vorgestellt.« »Wie denn? Mit Tränen und langer Umarmung?« »Jedenfalls nicht mit einem Fuß auf dem Gaspedal.« »Du brauchst ja nur sitzen zu bleiben. Ich meine, du kannst auch einfach nicht aussteigen. Heute Nacht sind wir zu Hause. Alles deine Entscheidung.« »Fang nicht wieder damit an. Außerdem haben die dein Haus schon versiegelt. Du kommst gar nicht mehr rein.« »Denkst du, so ein Siegel stört mich?« »Dich wird jetzt überhaupt niemand mehr stören.« »Wie meinst du das?« »Genau so.« »Hör auf mit diesem Mist!« »Wieso Mist? Was passiert denn, wenn du zurückkommst? Schreibst du mir dann Liebesbriefe, dass du nur mich liebst, nur mich und mir treu bist und auf mich wartest?« »Ist das so abwegig?« »Ich geh jede Wette ein, Adam, dass spätestens 200
übermorgen eins von deinen Geschöpfen auftaucht und dich tröstet. Und wie sie dich trösten werden. Sie werden sich darum reißen, dich zu trösten.« »Du hättest gar nicht so schlecht zu diesem Michel gepasst. Der wusste auch immer alles über mich. Der kannte sogar die Zukunft.« »Es wird doch alles weitergehen wie bisher.« »Wieso denn weitergehen! Was soll denn weitergehen, wenn du weg bist? Nichts geht weiter!« »Jetzt hast du ne sturmfreie Bude. Ende der Langeweile. Der Harem schon auf Erden, jeden Tag ne andere.« »Fehlen nur noch Eunuchen.« »Ich mein das ernst. Hab mich sowieso gefragt, wofür du mich brauchst. Eigentlich habe ich in deinem Paradies doch nur gestört. Nicht, dass du mich nicht mochtest, und so ganz schlecht sehe ich ja auch nicht aus.« »Aber deine Kochkünste waren mangelhaft.« »Deine auch. Und du hattest zwölf Jahre mehr Zeit zum Lernen.« »War es denn nicht schön?« »Manchmal ja, manchmal sogar sehr schön.« »Schau mal, da ist der See.« »Nimmst du Elfriede?« »Sie gehört dir.« »Trotzdem, bei dir geht's ihr besser. Da hat sie Ruhe für den Winterschlaf. Außerdem kann ich doch nicht mit so ner riesigen Kiste ankommen.« Evelyn kurbelte das Fenster nach oben. »Das wäre nicht schlecht, jetzt so ein Winterschläfchen«, sagte Adam. Sie fuhren in Richtung Keszthely, Zalaegerszeg, Körmend. »Hast du Hunger, du hast doch nichts gegessen?« Evelyn nahm den Käsekuchen nach vorn auf den 201
Schoß, packte ihn aus, brach ein Stück ab und steckte es Adam in den Mund. Auf der Suche nach Taschentüchern öffnete Evelyn das Handschuhfach. »Hat sie den vergessen?« Evelyn hielt den Zauberwürfel in der Hand. »Den hat sie mir geschenkt, den braucht sie jetzt nicht mehr.« Ein neuer Wartburg überholte sie hupend, aber weder Evelyn noch Adam winkten zurück. An der Grenzstation von Räbafuzes ließen die Ungarn sie ohne Stempel passieren, die Österreicher winkten sie durch. »Freust du dich denn gar nicht?«, fragte Evelyn, als sie sich bereits Fürstenfeld bei Graz näherten. »Nein, warum sollte ich.« Nach einer kurzen Pause jedoch sagte er: »Ist schon komisch, kannst alles lesen und bist trotzdem nicht bei uns. Mir kommt das vor wie ein Rummelplatz, nur dass die Riesenräder und Schießbuden fehlen.« »So ähnlich, wirkt irgendwie koloriert.« »Potjomkinsche Dörfer.« »Ja«, sagte Evelyn, »als war das gar nicht echt.«
Erkenntnisse »Glaub nicht, dass die Geld erwarten. Das ist halt so ein Service, wir können ja nichts dafür. Tanken war doch auch umsonst.« »Du hast Nerven. Im Osten hättest du das auch bezahlen müssen, überall muss man dafür zahlen«, sagte Evelyn. Sie hielt die Rotlichtlampe auf die Schildkröte gerichtet. »Ich hab gesagt, dass ich kein Geld hab, nur noch ein paar Schilling.« »Und die zweihundert Westmark?« »Eiserne Reserve.« Evelyn sah ihn an. 202
»Bin ich deshalb gleich ein Betrüger? Für die ist so ein Wagen was Besonderes, da können die noch richtig rumbasteln und haben obendrein das Gefühl, was für ihre Schwestern und Brüder zu tun.« »Das ist hässlich, Adam. Ohne Rudolf würden wir wer weiß wo hocken. Und was Warmes hätten wir auch nicht im Bauch.« »Den See hast du noch vergessen, den See hätten wir ohne ihn auch nicht gesehen.« »Sei nicht so gereizt.« »Ich sag ja nur, dass er uns auch noch den See aus dem Autofenster gezeigt hat.« »Sieh mal, sogar daran haben die Angyals gedacht.« Evelyn hatte die Rotlichtlampe zwischen ihre Knie geklemmt und wickelte die winzigen Salz- und Pfefferstreuer aus. »Kannst du ihnen nicht wenigstens hundert geben, so als Geste?« Sie schnitt ein paar Gurkenscheiben ab. »Der Werkstatt?« »Und fürs Abschleppen.« »Ich weiß doch gar nicht, ob die das hinbekommen.« Adam biss in ein Brot mit Schmelzkäse, schob sich ein Gurkenstiick in den Mund, zog den Korken aus der Weinflasche und prostete Evelyn zu. »Auf die Angyals!« Er trank und reichte dann ihr die Flasche. Auch sie trank. »Wenigstens bis morgen früh brauchen wir uns keine Gedanken zu machen«, sagte Adam, nahm noch einen Schluck und warf sich aufs Bett.»Bist du schon fertig?« »Mir reicht's.« »Ich könnte immer weiteressen.« »Wer weiß, wann du das nächste Mal hier was kriegst.« »Ich hab ganz schön zugenommen, trotz allem.« »Was meinst du mit >trotz allem«?« 203
»Ein entspannter Urlaub war das ja nicht gerade.« »Immerhin haben wir es bis hierher geschafft, ist doch ne schöne Gegend. Wird das nicht zu warm für Elfi?« »Die fühlt sich wohl, das sehe ich. Hier könnte man wirklich mal Urlaub machen.« Adam zog die Nachttischschublade auf. »Echtes Holz sieht anders aus ... Da hat jemand was vergessen. Ne Bibel, ist ja komisch.« »Ob die unsertwegen hier liegt?« »Weil wir so ne Art Flüchtlinge sind?« »Na ja, als Aufmunterung oder so ähnlich. Die sagen ja auch ernsthaft Grüß Gott.« »Die wussten doch nicht, dass wir kommen.« »Können sie ja hergelegt haben, als wir am See waren.« Adam machte seine Nachttischlampe an und stopfte sich auch Evelyns Kopfkissen in den Nacken. »Ich hab schon wieder den Namen vergessen.« »Rudolf und irgendwas mit Dunkel«, sagte Evelyn. »Ich meine den See, Chiemsee ist der berühmte, und der hier, der kleinere, wie heißt der?« »Hab mir auch nur Chiemsee gemerkt. Willst du wirklich nichts mehr? Die Birnen sind gut.« »Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.« »In die Nase?« »Du dachtest wohl, in den Mund, wie beim Erste-HilfeKurs? »Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. Und Gott der Herr ließ aufwachsen aus der 204
Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. « »Das hab ich alles mal gelesen, weil ich dachte, danach fragen sie mich in Leipzig.« »Bei der Kunstgeschichte?« »Ja, beim Eignungsgespräch.« »Das mit dem Baum des Lebens, hast du das gewusst?« Adam legte das aurgeschlagene Buch auf seinen Bauch. »Nicht so richtig.« »Ich dachte, es geht um Erkenntnis, um Gut und Böse! Vom Baum des Lebens hab ich noch nie gehört.« »Du meinst, das sind zwei Bäume?« »Hab ich doch gerade vorgelesen«, sagte er und nahm das Buch wieder auf. »>... den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Und es ging von Eden ein Strom, den Garten zu bewässern, und teilte sich von da in vier Hauptarme. Der erste heißt Pischon, der fließt um das ganze Land Hawila, und dort findet man Gold; und das Gold des Landes ist kostbar. Auch findet man da Bedolachharz und den Edelstein Schoham. Der zweite Strom heißt Gihon, der fließt um das ganze Land Kusch. Der dritte Strom heißt Tigris, der fließt östlich von Assyrien. Der vierte Strom ist der Euphrat...« »Wie auf dem Kossuth-Wappen«, sagte Evelyn. »Entschuldige, lies weiter.« »Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte. Und Gott der Herr gebot dem Menschen und sprach: Du darfst essen von allen Bäumen 205
im Garten, aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tage, da du von ihm issest, musst du des Todes sterben.«« »Des Todes?« »Ich denk, du hast das gelesen?« »Aber wieso denn des Todes? Ich dachte, die müssen nur aus dem Paradies raus?« »Das ist doch dasselbe.« »Weil sie im Paradies nicht sterben?« »Ja, natürlich. Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei. Und Gott der Herr machte aus der Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen; aber für den Menschen ward keine Gehilfin gefunden, die um ihn wäre. Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe ...« »Männer und Frauen haben doch gleich viele Rippen!?« »... ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. Da sprach der Mensch: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin nennen, weil sie vom Mann 206
genommen ist. Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen, und sie werden sein ein Fleisch. Und sie waren beide nackt, der Mensch und sein Weib, und schämten sich nicht.'« Adam musste niesen. »Hast du ein Taschentuch?« »Im Auto, hier gibt's nur Klopapier.« Evelyn brachte ihm aus dem Bad eine neue Rolle Toilettenpapier. »Das ist weiß und weich, nicht dieses Schmirgelpapier.« »Ist ganz schön unlogisch«, sagte Adam und schnauzte sich. »Vielleicht meint er ja mit Vater und Mutter Gott?« »Aber wieso Mutter?« »Kennst du den? Sagt der liebe Gott zu Eva, willst du einen Apfel? Hast du mir das nicht verboten?, fragt Eva. Nimm schon, der schmeckt wundervoll, du wirst es nicht bereuen. Wirklich?, fragt Eva. Ja, sagt der liebe Gott, aber das muss unter uns Frauen bleiben! Hat mir Katja erzählt, ist doch gut?!« »Katja hat dir Witze erzählt?« »Vielleicht sehe ich Katja ja wieder.« »Aber die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der Herr gemacht hatte, und sprach zu dem...« »Ob wir Katja wiedersehen?« »Woher soll ich das wissen? und sprach zu dem Weibe: Ja, sollte Gott gesagt haben: ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten? Da sprach das Weib zu der Schlange: Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet! Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet kei207
neswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. Und das Weib sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil...« »Steht das da wirklich, Lust und verlockend?« »... dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon, und er aß. Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze. Und sie hörten Gott den Herrn, wie er im Garten ging, als der Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seinem Weibe vor dem Angesicht Gottes des Herrn unter den Bäumen im Garten. Und Gott der Herr rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du? Und er sprach: Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich. Und er sprach: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du nicht gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen? Da sprach Adam: Das Weib, das du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum, und ich aß.« Ha!«, rief Adam. »Wunderbarer Vorwurf. Das Weib, das du mir zugesellt hast.« Da sprach Gott der Herr zum Weibe. Warum hast du das getan? Das Weib sprach: Die Schlange 208
betrog mich, so dass ich aß. Da sprach Gott der Herr zu der Schlange: Weil du das getan hast, seist du verflucht, verstoßen aus allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Erde fressen dein Leben lang. Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen; der soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen. Und zum Weibe sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du ...« »Herein!««, rief Evelyn, Adam schnellte vom Bett hoch. Es klopfte wieder. Evelyn stellte die Rotlichtlampe auf den Stuhl, ging zur Tür und öffnete. »Ich hab Ihnen noch schnell was gemacht«, sagte die Wirtin, die das Tablett drehte, um durch die Tür zu passen. Evelyn schob die Sachen auf dem Tisch an die Wand. »Das ist Leberkäse, bitte schon, wenn Sie Hunger haben, es ist von allem reichlich da. Wünsche guten Appetit den Herrschaften, wenn ich etwas für Sie tun kann bitte, melden Sie sich. Geht's Ihrem Schützling gut?«« »Danke, ja, vielen Dank«, sagte Evelyn. »Na, dann schlafen Sie gut«, sagte die Wirtin. Evelyn und Adam standen um das Tablett herum, das fast den ganzen Tisch bedeckte. »Das hätte mal eher kommen sollen«, sagte Evelyn. »Jetzt bin ich satt.« Sie legte die Tüten mit den geschmierten Broten und dem Obst aufs Fensterbrett neben den Rest Käsekuchen. »Ob sie gelauscht hat?«, 209
fragte Adam. Er warf sich wieder aufs Bett und hob die Bibel vom Boden auf. »Soll sie doch, dann hätten wir einen guten Eindruck gemacht«, sagte Evelyn und richtete die Rotlichtlampe wieder auf die Schildkröte. »Und zum Weibe sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, aber er soll dein Herr sein. Und zum Manne sprach er: Weil du gehorcht hast der Stimme deines Weibes und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen - verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.« »Ist das das Ende?«, fragte Evelyn. Sie hatte ein Stück Leberkäse aufgespießt, betrachtete es kurz und steckte es sich in den Mund. »Jetzt sinnst du wohl wieder deinem Lieblingsthema nach?«, sagte sie kauend. »Kennst du den Mythos, in dem sich Gott zurückzieht, in dem er Platz macht, damit etwas entstehen kann? Den müssen wir mal lesen.« »>Und Adam nannte sein Weib Eva; denn sie wurde die Mutter aller, die da leben. Und Gott der Herr machte Adam und seinem Weibe Röcke von Fellen und zog sie 210
ihnen an.«« »Auch Gott war Schneider!«, unterbrach ihn Evelyn. »Willst du noch zuhören?« Evelyn nickte und schaltete die Rodichtlampe aus. »Und Gott der Herr sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner, und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nur nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich! Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, dass er die Erde bebaue, von der er genommen war. Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens.« Adam schlug das Buch mit einem solchen Knall zu, das Evelyn zusammenfuhr. »Das ist doch unglaublich, oder? Wir dürfen nicht ins Paradies zurück, weil wir wissen, was gut und was schlecht ist und uns zur Vollkommenheit nur noch das ewige Leben fehlt. Gott will aber nicht seinesgleichen. Das ist doch ungeheuerlich, warum sagt einem das niemand. Und von einem Apfel ist auch nicht die Rede, oder hab ich das überlesen? « »Willst du was?«, fragte Evelyn. »Das ist köstlich, probier mal, süßer Senf!« Sie schnitt ein Stück von der Kruste des Leberkäses ab, strich Senf darauf und setzte sich neben Adam auf die Bettkante. »Das ist doch wirklich hundsföttisch«, sagte Adam. »Was regst du dich denn so auf. Koste mal.« Evelyn verharrte mit dem aufgespießten Leberkäse vor seinem Mund. 211
»Regt dich das nicht auf?», fragte Adam. »Probier doch mal«, sagte Evelyn und hielt eine Hand unter die Gabel. »Es schmeckt köstlich.«
Zwei Anträge »Grüß Gott, hat der Herr gut geschlafen?« Adam nickte. »Wir würden gern frühstücken.« »Ja, natürlich, bitte, in der Gaststube ist das Büfett. Möchten Sie Kaffee oder Tee?« »Gehört das mit zur Übernachtung?«, fragte Adam, sein Zeigefinger beschrieb zwei Kreise. »Ja selbstverständlich, bitte, nehmen Sie Platz, was darf ich Ihnen bringen?« »Dann Kaffee, zweimal Kaffee.« »Möchten Sie vielleicht auch ein Ei?« »Gern.« »Und wie möchten Sie es, weich oder hart gekocht?« »Weich gekocht.« »Viereinhalb Minuten, wäre das dem Herrn recht?« »Ja, bitte.« »Und wo möchten Sie sitzen?« »Ist egal.« »Bitte, wo Sie möchten, bitte der Herr.« »Guten Morgen«, sagte Evelyn, als sie die Treppe herunterkam. »Grüß Gott, haben Sie gut geschlafen?« »Ja, vielen Dank«, sagte Evelyn. »Ja, das freut mich, der Herr hat Kaffee bestellt, ist es recht so?« »Sehr gem.« »Und vielleicht ein Ei?« »Gern, ja.« »Viereinhalb Minuten wie der Herr?« »Ja.« »Vielen Dank«, sagte die Kellnerin und ging in die Küche. »Willst du ein Tischgebet sprechen?«, flüsterte Adam, als sie nebeneinander vor dem Büfett standen. »Warum schleppst du das mit?« »Das war deine Idee. Du wolltest das zurückgeben.« 212
Adam klemmte die Bibel unter den Arm, reichte Evelyn einen Teller und nahm die durchsichtige Plasteglocke von der Wurstplatte. »So ganz geheuer ist mir das nicht.« »Hm?« »Ich denk immer, die wollen was von einem.« »Was sollen sie denn wollen?« »So scheißfreundlich. Die kennen uns doch gar nicht!« »Davon will ich auch was noch ein bisschen mehr, und von den roten Fischstücken da.« Mit vollen Tellern gingen sie zu einem Ecktisch. Adam legte die Bibel neben sich auf die Sitzbank und bedeckte sie mit dem herabhängenden Tischtuch. Hinter der Kellnerin, die auf einem Tablett zwei silbrig glänzende Kaffeekannen brachte, trat ein junger Mann in Turnschuhen ein. »Oh, unser Retter!«, rief Evelyn. »Grüß Gott, Rudi!«, sagte die Kellnerin. »Und, wie stehen die Chancen?«, fragte Adam und rückte Rudolf einen Stuhl zurecht. »Wir haben alles versucht, wir haben verschiedene Anlasser probiert, aber mit keinem funktioniert es. Wir können ihn fremdstarten, das ist kein Problem, aber dann müssen Sie durchfahren.« »Das hatte ich sowieso vor.« »Es tut mir leid. So einen hatten wir noch nie in der Werkstatt.« »Baujahr 61 eben«, sagte Adam. »Und was machen wir nun?« »Na was schon, dasselbe wie gestern.« »Und warum sind wir dann überhaupt hiergeblieben?« »Tut mir leid, ich dachte, wir bekommen das wieder hin«, sagte Rudolf. »So hab ich das nicht gemeint«, sagte Evelyn. »Nur, wenn wir wieder stehen blei213
ben ...« »Da kann ich Sie abholen. Das ist kein Problem.« Er gab ihr seine Visitenkarte. »Wir müssen es halt riskieren«, sagte Adam. « »Wohin wollen Sie denn?« »Nach Trostberg, ganz in der Nähe, dort soll ein Lager sein.« »Kennen Sie hier niemanden?« Evelyn sah Adam an. »Ich kenne niemanden hier.« »In Trostberg kampieren sie in Zelten, tausendvierhundert Mann oder mehr, und die schicken Sie dann auch nur weiter.« »Und wohin fährt man da am besten?«, fragte Adam. »Wenn ich das wüsste. Ich würde mir eine feste Unterkunft suchen. Sind Sie zu zweit?« Die Kellnerin kam mit den Eiern und stellte Rudolf einen Kaffee hin. »Lassen Sie es sich schmecken.« »Das war wirklich ne Schnapsidee«, flüsterte Evelyn. »Ich fahr mit dem Zug oder Bus ins Lager, und gut ist.« »Ich weiß nicht, vielleicht ist das alles Schmarrn«, sagte Rudolf und sah zwischen ihnen hin und her, »für den Fall bitt ich um Entschuldigung, das ist nur ein Vorschlag. Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten.« »Worum geht's denn?«, fragte Adam. »Wie gesagt, nur ein Vorschlag, ich weiß nicht, wie viel Ihr Wagen wert ist, der ist ja schon ein Oldtimer, ich meine nur ...« »Der ist kein Oldtimer!« »Ich hätte dreitausend, dreitausend könnte ich Ihnen dafür geben. Ich weiß nicht, ob das zu viel ist oder zu wenig, nur ein Vorschlag, mir gefällt er eben, er hat Stil, das Lenkrad, das Armaturenbrett, die Kotflügel, wirklich Stil.« »Dreitausend?«, 214
fragte Evelyn. »Ein Vorschlag, wie gesagt, ich hab keine Ahnung.« »Das ist ein Garagenwagen!«, sagte Evelyn. »Stimmt, das sieht man, kaum Rost, wirklich sehr gepflegt.« »Sie meinen, dreitausend West?«, fragte Adam. »Ja, natürlich. Dreitausend, cash.« »Cash?« »In einer halben Stunde haben Sie es.« »Auf die Hand?« »Ja, ein Vorschlag, nur ein Vorschlag. Wären Sie interessiert daran?« »Im Prinzip, ja, das wäre vielleicht das Beste. Ich meine, in unserer Situation.« Er sah zu Evelyn, die ihn anstarrte. »Nicht dass Sie glauben, ich will Ihre Situation ausnutzen.« »Tun Sie aber«, sagte Evelyn leise. »Evi, was soll das?« »Ich bringe Sie auch, wohin Sie wollen, kein Problem.« »Es geht mich ja nichts an«, sagte Evelyn, »aber dreitausend für so ein Auto, das ist doch nichts.« »Evi, das ist ein Angebot.« »Ich denke, dein Wagen ist unverkäuflich, hast du immer gesagtl Seinetwegen wolltest du sogar eine zweite Garagel« »Lass uns doch drüber reden.« »Wieso denn jetzt plötzlich, beim erstbesten Angebot?« »Es tut mir wirklich leid, ich wollte Sie nicht ...«»Das ist ein gutes Angebot.« »Das stimmt nicht, Adam, du weißt selbst, dass das nicht stimmt.« Evelyn lachte auf. »Er ist mit diesem Ding verheiratet, Rudolf, wissen Sie das? Der gehört zu ihm!« »Mei ... das war nur eine Idee. Ich schau mal kurz in die Küche«, sagte Rudolf, stand auf und ging mit seiner Kaffeetasse hinaus. »Dreitausend ist verteufelt gut, 215
Evi. Das könnte ich eins zu acht oder neun tauschen und bekäme den Lada für umsonst.« »Machen dich dreitausend Westmark verrückt?« »Ich weiß schon, was ich mache«, sagte Adam, nahm das Ei, köpfte es, schnitt ein Brötchen auf, bestrich die Hälften mit Butter und begann zu essen. Evelyn sah ihm zu, wie er schluckte und hastig von neuem abbiss. »Mach, was du willst. Aber das machst du ja sowieso.« Sie steckte sich eine Zigarette an. »Willst du das nicht mehr?« »Kannst du haben.« »Ich meine nur, ist schade, wenn das wegkommt.« Adam nahm ihr angebissenes Brötchen und legte es auf seinen Teller. »Schmier doch ein paar Bemmen zum Mitnehmen - oder traust du dich das nicht?« Evelyn zog den Aschenbecher heran. »Ich hätte mit dem Zug fahren sollen, dann wäre alles einfacher.« »Dann hätten sie dich in irgendein Zelt gesteckt. Nachts ist es hier schon richtig kalt.« »Hol ihn wenigstens wieder rein«, sagte Evelyn. "Ist schon alles peinlich genug.« »Der Kaffee ist gut, fast noch besser als bei den Angyals.« »Soll ich gehen?«, fragte Evelyn. »Eins nach dem anderen«, sagte Adam und aß weiter. Evelyn drückte ihre Zigarette aus, nahm sich ein paar Weintrauben, griff nach dem Zimmerschlüssel und stand auf. »Evi, warte mal, bitte.« Sie drehte sich halb herum. »Evi«, sagte er, wischte sich mit der Serviette den Mund ab und rutschte hinter dem Tisch hervor. Dabei fiel die Bibel von der Sitzbank. »Was ist denn?« Adam bückte 216
sich. Er fand die Bibel nicht gleich. »Ich wollte dich fragen«, sagte er und richtete sich auf, das Buch an die Brust gedrückt. »Ich wollte dich fragen - ob du mich heiraten willst.« Er machte noch einen Schritt auf sie zu. »Ich meine das ernst, willst du?« Er nahm ihre rechte Hand und strich mit dem Daumen über ihre Finger und den rubinroten Ring. »Du siehst wunderschön aus«, sagte Adam und lächelte. »Wie kommst du denn jetzt darauf?« »Haben die Herrschaften noch einen Wunsch?«, fragte die Kellnerin und sah auf die Bibel in Adams Hand. Evelyn und Adam schüttelten gleichzeitig den Kopf. »Oder doch«, rief AdaiW0 ihr nach. »Vielleicht zwei Kaffee, bitte, wenn es geht? Ist Rudi noch da?«
In der Telefonzelle »Bleib doch.« »Ist so eng.« »Willst du nicht mithören?« »Das stinkt hier drinnen.« »Dann lass doch offen.« Evelyn lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür. Adam hielt Hörer und Adressbuch in einer Hand. »Ist komisch, wenn man drücken muss.« »Wieso?« »Geht so schnell.« Er legte einige Markstücke auf den Apparat und sah Evelyn an. »Hallo?«, fragte er und wandte sich ab. »Ja, guten Tag, hier ist Lutz, der Sohn von Waltraud und Manfred. Könnte ich bitte Gisela sprechen, Gisela Lippolt. - Lutz, ja, wir sind in Bayern. - In Bayern! - Nicht weit von Rosenheim, in Haidholzen, also Stephanskirchen - mit Evelyn, wir sind zusammen hier - ja, von Ungarn, mit dem 217
Auto, also bis hierher. - Wir wollten fragen, ob wir uns mal sehen könnten, mal treffen...« Adam hielt die Hand über die Sprechmuschel. »Ihr Mann. Tante Gisela? Hallo, hier ist Lutz - Adam, na klar, Adam - wie du willst - Rosenheim, in der Nähe von Rosenheim - war auch nicht geplant, wir dachten nur, wenn sie die Grenze aufmachen, dann nutzen wir die Gelegenheit, kommt wohl so schnell nicht wieder. - Ganz problemlos, mit dem Auto, einfach so. - Seit fünf Tagen. Wir wohnen hier bei einer Familie, im alten Kinderzimmer. Rudolf, bei dem wir wohnen, fährt uns immer mal rum, nach Trostberg, wegen des Laufzettels - der Laufzettel, so ein Ämterweg wegen der Registrierung und der Versicherungen, alles Mögliche, und Befragungen kommen auch noch, aber nur bei mir, das müssen wir hier machen - ich weiß nicht, keine Ahnung, wollen wissen, wo ich bei der Armee gewesen bin und so was. - Zum Glück nicht, bei den Nachttemperaturen! Da hatten wir echtes Glück, wirklich, ganz viel Glück. - Evelyn, sie heißt Evelyn, nein, noch nicht, wir sind zusammen, wir dachten, wenn wir das schaffen, dann schaffen wir auch das andere. - Noch nicht, aber kann ja noch werden. « Er wandte sich zu Evelyn um und nickte ihr zu. »Das weiß ich noch nicht, das kam alles plirzplautz, jetzt oder nie. - Arbeiten natürlich, arbeiten, Evi will studieren, vielleicht in München. - Einundzwanzig, sie durfte nicht bei uns, da haben sie sie nicht gelassen, also nicht das, was 218
sie wollte - ja - und wie gern - so gern - gar keine Frage auf jeden Fall - du, das macht nichts, überhaupt nichts ...« Adam warf ein Markstück ein. Evelyn drückte die Tür ganz auf und ging hinaus. Sie lief an der Drogerie vorbei und setzte sich auf die Bank an der Bushaltestelle. Zwei Männer, die aus der Sparkasse gekommen waren, gestikulierten und redeten aufeinander ein, reichten sich die Hand und gingen auseinander. Der größere drehte sich nach ein paar Schritten um und rief etwas, worauf der kleinere, die Hände in den Manteltaschen, sich im Gehen ebenfalls umwandte und dann, statt etwas zu erwidern, den linken Arm hob und kurz winkte. Die Spatzen in seiner Nähe flatterten auf, und mit ihnen etliche Tauben. Evelyn schloss die Augen und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Dann legte sie den Kopf zur Seite, bis sie den Kragen der wattierten blauen Jacke an der Wange spürte. Die Jacke roch nach Waschpulver und noch etwas, etwas Fremdem. »Was machst du denn?«, rief Adam. »Ich such dich!« Evelyn war aufgeschreckt. Jetzt lehnte sie sich wieder zurück. »Setz dich doch«, sagte sie und schloss erneut die Augen. »Was ist los?« »Was soll los sein?« »Hast du mich nicht gesehen?« »Da waren gerade zwei Männer. Ich hab erst gedacht, die sind taubstumm, die haben so viel gestikuliert.« »Warum hast du nicht gewartet?« »Ich hab doch gewartet.« 219
Adam setzte sich neben sie. »Wir können zu ihnen ziehen. Die haben so ne Art Gästezimmer, Dusche und Klo separat, also nur für uns. Kostet auch nichts, wir sind eingeladen.« »Schön.« »Was ist denn?« »Nichts, prima.« »Sie war wirklich herzlich. Ich musste gar nichts erklären, sie hat gleich gesagt, dass wir kommen sollen.« Evelyn nickte und zog den Reißverschluss der Jacke bis ganz nach oben, so dass ihr Mund im Kragen verschwand. »Willst du denn nicht mehr? Willst du hierbleiben?« »Telefonieren ist wirklich nicht deine Starke.« »Geht das wieder los.« »Du wolltest doch, dass ich dabei bin.« »Ja, um mitzuhören.« »Aber du hast mich ja gar nicht mithören lassen.« »Du hättest mal ein Zeichen geben müssen.« »Ist gut.« »Ich mach das doch nicht zum Vergnügen. Das ist ne Scheißsituation. Da will ich dich mal hören!« »Du bist dann so völlig fremd, ich krieg richtig Angst.« »Willst du etwa hierbleiben?« »Nein, natürlich nicht.« »Dann zieh nicht so ein Gesicht.« »Ich kann nichts dagegen machen. Ich muss mich erst wieder an dich gewöhnen.« »Ich dachte, das hätten wir hinter uns.« »Hab ich auch gedacht«, sagte Evelyn. »Hast du ihr gesagt, dass wir mlf12 Elfriede kommen?« »Ist doch nicht so wichtig.« »Mir ist irgendwie wie früher ...« » Irgendwie«.« »Wie am Ende der großen Ferien.« »Ich fand die ersten Schultage immer gut. Da brauchte man noch kein schlechtes Gewissen 220
zu haben.« »Ich überleg die ganze Zeit, ob's richtig war, Mona den zweiten Schlüssel zu schicken.« »Ist schon gut, wenn jemand im Ort Bescheid weiß, nicht nur deine Mutter.« »Ich hätte es ihr gern selbst gesagt.« »Das wird so oder so ein Schock sein.« »Die hat sogar mal was unterschrieben, sie darf keine Westkontakte haben.« »Du bist doch ihre Tochter, das ist was anderes.« »Im Gegenteil, das kann sie ihre Stellung kosten.« Eine Weile saßen sie da, ohne etwas zu sagen. »Woran denkst du gerade?«, fragte Evelyn. »Ach, nichts.« »Man denkt immer an etwas!« »In Dresden, auf dem Bahnsteig, als euer Zug abfuhr, da hab ich einem Mann geholfen, der hatte zwei Koffer. Ich glaube, das war der Portier aus eurem Hotel.« »Aus dem ‚Jalta‘?« »Ja. Sein Anzug war aus so einem leichten Sommerwollstoff, ganz ungewöhnlich. Den gibt's bei uns gar nicht.« »Und was bedeutet das?« »Nichts, gar nichts«, sagte Adam. »Hast du wenigstens heute früh was gegessen?«, fragte Evelyn. »Du riechst gut.« »Und du stachelst«, sagte Evelyn. Sie lehnte sich an ihn, griff nach seinem Arm und hielt sich mit beiden Händen daran fest.
Spione »Haben Sie die Formulare nicht bekommen?« »Nein.« »Das kann eigendich nicht sein. Schauen Sie, so sehen die aus.« Der Mann ihr gegenüber, der zur Begrüßung aufgestanden war und ihr die Hand gegeben hatte, hielt meh221
rere Blätter hoch. »Haben Sie die nicht zusammen mit den anderen ausgefüllt, unter Anleitung?« »Wir wohnen bei Freunden. Ich habe die nicht bekommen.« »Das kann - wie gesagt, ich bin mir sicher, dass Sie die auch ...« Er schob den Fragebogen auf dem Tisch zurecht und schrieb ein paar Zahlen in ein dick umrandetes Feld. »Sie sehen doch, was hier los ist«, sagte er wie zu sich selbst. Er wirkte müde, wie er da vor ihr saß. Evelyn mochte ihn, als wäre sie ihm schon vorher einmal begegnet, diesem Mann um die fünfzig, der einen dünnen senffarbenen Pullover trug und darunter ein helles Hemd. »Also, Zu- und Vorname?« »Schumann, Evelyn.« »Geboren?« »Am 19. Mai 1968.« »In?« »Torgau.« »Torgau? In Sachsen?« »Ja, an der Elbe, Bezirk Leipzig.« »Die Eltern?« »Wofür brauchen Sie denn das?«, sagte sie lächelnd. Er war so steif, er sollte auch mal lächeln. »Das gehört dazu. Ihre Eltern?« »Mit Datum und Geburtsort? Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen, bis meine Mutter fertig war mit dem Studium.« »Dann zuerst die Mutter.« »Am 23.11.1946 in Wittenberg.« »Hat sie einen Beruf?« »ökonomin.« »ökonomin, wofür?« »Na allgemein, für die Produktion. Sie arbeitet in Wolfen.« »Und was macht sie da?«
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Er schrieb langsam und manchmal zögerte er, die Kulispitze aufs Papier zu setzen, als fertigte er eine Zeichnung an. »Ihr Vater?« »Er kam aus der Türkei, und dahin ist er auch wieder verschwunden. Hat auch nie gezahlt.« »Aus der Türkei, im Osten?« »Aus Westberlin. Meine Mutter hat in Berlin studiert.« »Sie können keine Angaben machen?« »Die haben sich nie wieder gesehen.« »Geschwister?« »Ich hab noch einen Bruder, einen Halbbruder, Sascha, der ist zwölf.« »Ihre Ausbildung?« »Abitur, anderthalb Jahre Pädagogikstudium in Jena. Seit 1988 eine Lehre als Kellnerin.« Evelyn zündete sich eine Zigarette an. »Darf ich?«, fragte sie, als der Mann die Stirn krauszog. Sie lächelte. »Das ist hier eigentlich nicht üblich«, sagte er und schob ihr einen leeren Aschenbecher hin. »Sind Sie allein gekommen?« »Nein, mit meinem Lebensgefährten. Wir wollen heiraten.« »Und wie heißt ihr Lebensgefährte?« »Ich denke, Sie befragen nur Männer, die bei der Armee waren?« »Ich brauche das für Ihre Unterlagen. Sie sind zusammen gekommen.« »Frenzel.« »Vorname?« »Frenzel ...« »Der Vorname!? Kennen Sie ...« »Lutz, heißt er, Lutz Frenzel.« »Und geboren?« »1956, 6. Dezember.« »Und wo?« 223
»Das müssen Sie ihn fragen, das weiß ich nicht.« »Seit wann kennen Sie sich?« »Seit 1987.« »Sie haben zusammengewohnt?« »Bei ihm, in seinem Elternhaus, seit sein Vater gestorben war, lebte er dort allein.« »Seine Mutter?« »Da war er noch sehr jung, ein Unfall, mit dem Moped, soviel ich weiß.« »Und sein Beruf?« »Damenschneider, also Schneidermeister - selbstständig, er hätte Lehrlinge haben können.« »Und der Wunsch, die DDR zu verlassen, besteht seit wann?« »Schon immer.« »Und da studieren Sie Pädagogik?« »Es gab nur noch für Pädagogik Studienplätze, in Kunstgeschichte haben si1!34 mich nicht genommen. Ich hätte auch gern Germanistik gemacht oder was mit Französisch.« »Können Sie Französisch?« »Was man so in der Schule lernt, ab der siebenten Klasse, im Abitur hatte ich ne Eins.« »Sie waren in der FD]?« »Ja.« »Jugendweihe?« »Ja.« »SED oder Blockpartei?« »Nein.« »Und Sie und Herr Frenzel sind nach Ungarn gefahren in der Absicht, die Gelegenheit zu nutzen?« »Ich wollte weg.« »Er nicht?« »Er kam nach.« »Sie haben sich dort getroffen?« »Ja.« »Hatten Sie Angst, dass man Sie nicht fahren lasst, wenn Sie zusammen sind?« »Wir hatten Streit.« »Er wollte nicht?« 224
»Darüber möchte ich nicht sprechen, das war privat, wir haben uns ganz privat gestritten.« »Hat er versucht, Sie zurückzuhalten?« »Nicht direkt.« »Und sein Motiv?« »Ein zwischenmenschliches Problem, wenn Sie so wollen.« »Hat Herr Frenzel gedient?« »Gedient?« »War er bei der NVA?« »Ja, klar, achtzehn Monate.« »Sind Sie sich da sicher?« »Hat er immer gesagt, achtzehn Monate und keinen Tag langer.« »Wissen Sie seinen Dienstgrad als Reservist?« »Soldat, wenn das ein Dienstgrad ist.« »Manche werden auch als Gefreiter oder als Unteroffizier entlassen.« »Das müssen Sie ihn fragen.« »War er bei den Grenztruppen?« »Nein, was ganz Einfaches, Fußlatscher.« »Und warum wollte er nicht, dass Sie in die freie Welt gehen?« Evelyn drückte ihre Zigarette aus. Sie sah ihn an und versuchte zu lächeln. »So kann man das nicht sagen. Er wollte mit mir zusammenbleiben. Deshalb ist er schließlich mit.« »Sind Sie sicher?« 225
»Ich glaube, dass es auch für ihn gut ist. Er hat wirklich goldene Hände. Jetzt kann er hier richtig loslegen und sich was aufbauen.« »Ich muss noch mal fragen, warum wollte er nicht gleich mit Ihnen gehen? Oder anders gefragt, sind Sie sich in der Beurteilung ihres Lebensgefährten sicher?« »Denken Sie etwa, Adam ist ein Spion?« »Adam? Wer ist denn jetzt Adam?« »Herr Frenzel. Alle haben ihn Adam genannt.« Der Mann notierte etwas auf einem karierten Zettel. »Aber der Nachname stimmt?« »Ja, Lutz Frenzel, genannt Adam.« »Diese Befragung ist auch in Ihrem Sinn.« »Das ist lächerlich, wirklich. Adam war der Einzige, den ich kenne, der nie zur Wahl gegangen ist. Die haben immer Freunde seines Vaters geschickt, die waren in der LDPD, und die mussten ihn fragen, warum er nicht wählt. Adafö5 hat doch nur über die DDR gelacht, er hat die doch gar nicht mehr ernst genommen.« »Und wollte trotzdem bleiben?« »Er ist bequem.« »Als Selbstständiger?! Muss man da nicht besonders viel arbeiten?« »Er hat eigendich ununterbrochen gearbeitet.« »Sie meinten bequem nicht im Sinne von faul?« »Von ihm aus hätte das so bis zur Rente gehen können. Im Sommer zwei Wochen an die Ostsee oder nach Bulgarien, den Rest sitzt er und näht und zeichnet und fotografiert.« »Hat er, während Sie in Ungarn waren, in die DDR telefoniert?« »Er hat zwei oder drei Kundinnen Bescheid gegeben.« 226
»Dass er nicht zurückkommt?« »Dass es länger dauert.« »Hatte er mit jemandem Kontakt, der oder die zurückgefahren ist?« »Er hat eine Freundin von uns nach Budapest zum Zug gebracht.« »Und die Freundin ist in die DDR zurückgefahren?« »Ja, private Gründe.« »So privat vielleicht doch nicht?« »Es ging um einen Mann, wenn Sie es wissen wollen, um einen Mann aus dem Westen, aus Hamburg!« »Kennen Sie seinen Namen?« »Ja, aber den sag ich nicht.« »Hatte Herr Frenzel Kontakt mit der DDR-Botschaft?« »Wieso sollte er denn Kontakt haben?« »Eine Routinefrage.« »Wir waren mal dort.« »Sie waren in der Botschaft?« »Man hatte uns die Ausweise geklaut, das ganze Portemonnaie.« »Ihnen und Herrn Frenzel?« »Mir und einem Bekannten.« »Dem aus dem Westen?« »Ja.« »Und wie hat sich Herr Frenzel verhalten?« »Wie soll er sich denn verhalten haben? Er hat uns geholfen.« »Könnte es sein, dass er eine Situation herbeigeführt hat, die Sie zwang, in die DDR-Botschaft zu gehen?« »Sie 227
denken doch nicht wirklich, dass Adam uns die Ausweise geklaut hat!? Das ist abstrus! Wir sind da schließlich wieder heil raus und haben sogar Geld bekommen.« »Aber Herrn Frenzel wurde doch gar nicht der Ausweis gestohlen, wieso war er dann mit in der Botschaft?« »Er hat so getan als ob, er hat uns begleitet.« »Und wer ist jetzt >wir« »Eine Freundin, die durch die Donau schwimmen wollte und dabei ihre Papiere verloren hat.« »Hat er Ihnen das erzählt?« »Ja. Aber mir hat sie das auch erzählt.« »Und wie heißt diese Freundin?« »Das möchte ich nicht sagen.« »Eine Gleichung mit ziemlich vielen Unbekannten, finden Sie nicht auch?« »Die hat er an der Autobahn aufgegabelt, ohne Ausweis, ohne Geld, und hat sie rübergeschleust.« »Und wie hat er sie rübergeschleust?« »Im Kofferraum. Er hat auch meinen Schmuck und unsere Schildkröte über die Grenze gebracht.« Der Mann kniff kurz die Augen zusammen, sein rechter Mundwinkel zuckte. »Er hat also jemanden im Kofferraum über die Grenze nach Ungarn gebracht?« »Ja.« »Das hat er Ihnen erzählt?« »Ich weiß es auch von ihr.« »Und kannten sich der Herr aus Hamburg und Herr Frenzel vorher?« »Nur flüchtig. Adam war eifersüchtig. Das war ne Männergeschichte oder Frauengeschichte, sonst nichts.« »Zwischen ihrem Bekannten aus Hamburg und Herrn Frenzel.« »Ja.« »Und wo haben Sie Ihren Bekannten kennengelernt?« »Ich bin mit ihm und seiner Freundin nach Ungarn gefahren.« »Und Herr Frenzel 228
Ihnen hinterher?« »Ja, aber nicht aus politischen Gründen. Adam liebt mich, ist das so schwer zu verstehen?« »Ich verstehe Sie, aber bitte, es ist unsere Pflicht, hier und da nachzufragen.« »Adam, also Herr Frenzel, hielt nichts von der DDR und ist mit mir zusammen abgehauen. Das sind Tatsachen. Was soll er denn ausspionieren? Schnittmuster?« »Es gibt einfach ein paar Merkmale, die, wenn wir sie »Sie sehen doch, dass wir beide hier sind!« »Es reicht auch für jetzt. Ich danke Ihnen.« »Dann kann ich jetzt gehen?« »Ja, natürlich.« »Na dann.« »Und wenn Sie die Formulare bei sich finden, seien Sie bitte so gut und bringen Sie die vorbei, die werden hier nämlich langsam knapp.« Evelyn nickte. Sie erhob sich, schob den Stuhl an den Tisch heran und sah hinüber zu dem Mann, der ebenfalls aufgestanden war und etwas in den Kasten hinter sich zu suchen schien. Sie wartete, dass er sich noch einmal umdrehen würde, aber schließlich verließ sie grußlos den Raum.
Spione, zum zweiten »Die haben wirklich auch die schönere Landschaft«, sagte Evelyn. Der Nagel ihres Zeigefingers berührte mehrmals das Zugfenster. Sie hatte die Schuhe ausgezogen, die Beine auf dem gegenüberliegenden Sitz ausgestreckt und den Karton mit der Schildkröte geöffnet. »Was sind denn 229
das für olle Schwarten? Die riechen so komisch.« Sie zeigte auf die beiden Bücher neben ihm. »Unsere Bestimmungsbücher, Tiere und Pflanzen, die lagen immer im Auto, die mussten immer mit.« »Elfriede vermisst bestimmt ihre schöne Kiste.« »Wer hätte die denn tragen sollen? Außerdem können wir dort nicht mit so ner Kiste aufkreuzen.« »Sieh doch mal, da sind wieder die Alpen, dahinter liegt Italien»Dahinter liegt Österreich ...« »Die Alpen sind Österreich, aber hinter den Alpen liegt Italien, Elfriede, da fahren wir bald hin.« »Aber ohne Elfi.« Er faltete die Zeitung zusammen. »Kann sein, Elfriede, da musst du zu Hause bleiben.« Evelyn legte den Deckel auf den Karton. »Du tust, als würdest du das schon alles kennen!« »Mach ich wieder was falsch?«, fragte er, ohne aufzusehen. »Bise du denn gar nicht aufgeregt?« »Klar bin ich aufgeregt, vor allem wenn ich mich wieder falsch benehme oder was Falsches sage.« »Du musst deine Wut nicht an mir auslassen. Mich hat er genauso in die Mangel genommen.« »Den hätten sie garantiert auch bei uns beschäftigt.« »Er war doch höflich. Bei uns hätten sie dir Angst gemacht, da hättest du gar nicht gewusst, ob du wieder rauskommst.« »Sowie der hat mich noch nie jemand ausgequetscht.« »Dich vielleicht nicht.« »Dich auch nicht.« »Du bist aber empfindlich.« »Und du bist schon beleidigt, wenn ich dich frage, ob du diesen Michel angerufen hast.« »Weil du mir nicht glaubst. Und selbst wenn 230
ich ihn angerufen hätte, na und? Trotzdem darf ich doch wohl erwarten, dass du mir glaubst?« »Mir glaubst du ja auch nicht.« »Ich glaube einfach nicht, dass Michael in Trostberg war! Dann hätte er sich bei uns gemeldet, wir waren doch registriert.« »Warum hätte er sich denn melden sollen? Er trug Uniform, er hatte da zu tun.« »Und ich glaube eben, dass du dich irrst. Was soll denn Michael in so einer Baracke und auch noch in Uniform?!« »Ich habe ihn gesehen, natürlich hab ich ihn gesehen. Er hat zwar die Tür gleich wieder zugemacht, weil er sich erschrocken hat ...« »Erschrocken - das ist neu. Du hast gesagt, er hat die Tür gleich wieder zugemacht, aber nicht, dass er sich erschrocken hat.« »Er hat sich erschrocken. Er hat mich gesehen und ist zurückgezuckt, richtig zurückgezuckt.« »Warum sollte er lügen?« »Weiß ich doch nicht. Forschung für die Ewigkeit klingt besser als Offizier beim Nachrichtendienst oder was auch immer er ist.« »Wir können ihn ja mal anrufen.« »Was soll das beweisen?« »Dass er in Hamburg wohnt.« »Sei doch nicht so naiv.« »Du meinst, er hat mir eine falsche Nummer gegeben?« »Weißt du denn, wo es klingelt?« »Und wozu das ganze Theater?« »Denkst du, die haben keine Spione? - Du brauchst gar nicht so zu grinsen. « »Ihr habt doch nicht alle Tassen im Schrank!« »Wieso ihr?« 231
»Du, du hast nicht alle Tassen im Schrank.« »Warum sagst du dann ihr?« »Ich meine Leute, die ständig andere Leute verdächtigen.« »Wieso ständig und welche Leute denn?« »So allgemein, ich meine das ganz allgemein.« »Ich verdächtige nicht allgemein.« »Können wir das jetzt lassen, ja? Bitte!« Evelyn lehnte sich zurück und sah wieder zum Fenster hinaus. »Hatte Michael mich im Verdacht? Sag doch, hat er gedacht, ich war von der Stasi? Sag einfach ja oder nein, nichts weiter.« »Nein«, sagte sie, ohne den Kopf zu wenden. »Wir haben überhaupt nicht über dich gesprochen.« »Für euch habe ich also gar nicht existiert?« »Ich wollte nicht über dich sprechen. Er hat nach dir gefragt, aber ich fand, dass ihn das nichts angeht. Verstehst du das nicht? Hast du mit deinen Lillis und Desdemonas und wie sie alle heißen über mich gesprochen? Hoffentlich nicht. Das würde ich dir übel nehmen.« »Hab ich nicht, aber ich wollte mich ja auch nicht trennen.« »Du wolltest was ganz andres, aber deine Seele war bei mir, vielen Dank.« »Du wirst lachen, meine Seele war wirklich immer bei dir.« Adam schlug die Beine übereinander und schien wieder in der Zeitung zu lesen. »Würde ich dir wirklich gern glauben«, sagte Evelyn. »Tus doch.« »Ich versuch es ja. Ich versuch es ja schon seit zwei Wochen.« »Und was hindert dich daran?« »Nichts. Ich versuch es halt.« »Und wenn du's nicht schaffst?« Sie sahen sich an. 232
»Du bist irgendwie so unfroh. Du warst immer irgendwie gut drauf, sogar in Ungarn. Vielleicht ist das nichts für dich, nur so mit mir.« »Irgendwie, immer irgendwie.« »Brauchst du Vielweiberei?« »Lass uns erst mal heiraten, und dann können wir ja sehen, ob ich noch eine oder zwei dazunehme.« »Zieh das nicht gleich ins Lächerliche. Männer sind so - manche zumindest. Mir ist es lieber, wir reden darüber, als nur herumzublödeln.« »Ich vermisse Lilli nicht und habe sie auch nie vermisst. Punkt. Was soll ich denn noch sagen?« »Und Pepi?« »Pepi ist ein schönes Mädchen und wird bestimmt eine gute Unilehrerin, und ich würde sie auch gerne wiedersehen, aber es ist nicht das, was du denkst.« »Und was ist es dann?« »Was denn?« »Irgendwas ist doch los mit dir.« »Du bist gut. Wir lassen alles stehen und liegen und ich weiß nicht, wie ich meine Brötchen verdienen soll, und du fragst, was los ist.«»Willst du zurück?« »Ich stelle mir nur vor, wie es ist, wenn Mona in unser Haus geht und deine Mutter und die anderen, und sie holen sich da raus, was sie brauchen da denkt man halt dran, ich kann nicht einfach abschalten.« »Wir brauchen es eben nicht mehr.« »Am Montag waren es zehntausend in Leipzig. Stell dir das mal vor, zehntausend!« »Adam, wir haben's geschafft, wir sind im Westen, wir haben alle Papiere, wir bekommen Pässe, wir haben dreitausend Westmark, ich kann studieren, was ich will, wir dürfen umsonst wohnen, und du ziehst so ein Zit233
ronengesicht.« »Besonders lustig war das alles bisher nicht.« »Das ist vorbei, wir fahren nach München.« »Na ja, München ist es nicht gerade.« »Du hast nur vor der Glotze gesessen oder mit diesem blöden Würfel gespielt!« »Ist ja auch interessant, was unsere Brüder und Schwestern da im Osten treiben. Solange die das noch machen dürfen, sollte man ihnen wenigstens dabei zusehen.« »Du bist so überhaupt nicht neugierig.« »Wir haben uns doch alle möglichen Seen und Dörfer und Städte angesehen. Außerdem hab ich gelesen, wenn's dich beruhigt - schon fast die Hälfte.« Adam nahm die Bibel, die neben ihm lag, und hielt sie hoch. In der Mitte steckten mehrere Blätter. »So weit musst du erst mal kommen!« »Du hättest ja mal bei einem Schneider reinschauen können oder in einem Stoffgeschäft. « »Guten Tag, ich heiße Adam, ich bin aus dem Osten.' Denkst du, die können mir was beibringen?« »Ich meine das Geschäftliche, was man wofür nimmt, wo man sich anmelden muss. Das ist verschenkte Zeit.« »Eins nach dem anderen. Außerdem wissen die hier gar nicht mehr, was ein Schneider ist. Die kaufen sich doch alles fertig.« Evelyn zog mit den Zehen ihre Schuhe heran und schlüpfte hinein. »Schade, wir sind gleich da. Ich würde gern noch weiterfahren.« Sie ging vor dem Spiegel ein Stück in die Knie und kämmte sich. »Sag mal, wenn die Frage erlaubt ist, was sind das für Zettel in der Bibel? Schreibst du dir kluge Sprüche raus?« »Was für Zettel? Die Formulare? Die hab ich als Lesezei234
chen.« »Wieso Formulare?« »Hier.« Er reichte ihr die Blätter. »Nein, Adam, das ist nicht wahr!« »Was denn? Dieser ganze Quatsch, den die wissen wollen, das ist doch wie im Osten.« »Wir sind aber nicht mehr im Osten!« »Aha.« »Wieso hast du das denn nicht gesagt! Die hätten wir ausfüllen müssen. Die wollte die von mir haben, der hat mich danach gefragt.« »Haben sie dich auch nach mir gefragt?« »Nein.« »Gar nichts?« »Nur ob ich allein weg bin oder mit jemand zusammen.« »Hat er mich auch gefragt. Ich hah gesagt, dass sie dich fragen sollen.« »Hab ich denen auch gesagt.« Evelyn zog sich die Jacke an. »Komm, mach dich fertig.« »Ich möchte mal wissen, was das soll«, sagte Adam. »Sie suchen Spione.« »Wenn ich Spion war, dann hätt ich aber ne gute Geschichte für die.« »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht«, sagte Evelyn, setzte sich wieder, nahm den Karton mit der Schildkröte auf den Schoß und sah aus dem Fenster.
Ein Küchengespräch »Suchst du was?«, fragte Gisela, als Evelyn die Tür unter der Spüle öffnete, worauf der Abfalleimer herausfuhr und der Deckel aufging. »Das ist so praktisch«, sagte Evelyn, »und irgendwie auch lustig, als würde er seinen Hut lüften.« »Du musst das Geschirr nicht vorher abspülen, einfach so rein, wie es ist, an der Seite oder so, schau, hier dazwischen.« Gisela nahm ihr den großen Teller ab und 235
steckte ihn quer zu den anderen Tellern in die Spülmaschine. »Tassen und Untertassen, überhaupt das ganze Kleinzeug nach oben, Besteck da hinein. Nur nicht das große Messer, schau, das hat einen Holzgriff. Holzsachen immer von Hand. Gib mir mal die Schüssel.« »Die ist irgendwie zu groß.« »Ah, geh, schau, einfach obendrauf, das schafft der. Und die Tassen auch noch, die passen hier noch hin, so schräg. Wenns richtig voll ist, geht's am besten. Nur die Löffel nicht zusammen, weil die sich übereinanderschieben.« Gisela verteilte einige Teelöffel über die Kästchen des Besteckkorbes. »Mach noch mal die Tür auf. Da unter der Spüle, mach's nur wieder auf, ist Pulver und Klarspüler. Das Pulver hier rein, und das für den Klarspüler braucht's jetzt nicht, hat noch genug, das reicht für vier-, fünfmal. Und jetzt drück zu - fester, fest zudrücken. Und nun mach's an. Genau. Einstellen musst du es nicht, mehr, einfach an und Schluss, ich wasche immer mit 55 Grad. Einfach nur an, wenn's voll ist. Und zwischendurch nicht öffnen, das mag sie nicht, ist nicht mehr die jüngste.« »Und auch nicht abtrocknen?« »Nein, morgen früh holen wir's blitzblank raus.« »Und die Gläser?« »Über die Gläser geh ich noch mal ruber. Wenn die nicht ganz senkrecht stehen...« »Ich würde mich ganz gern irgendwie nützlich machen. Vielleicht einkaufen? « »Ach Eva, ich freu mich doch, dass ihr da seid. Das Einkaufen machen 236
wir mit dem Wagen, und die kleinen Sachen, die hol ich, wenn ich von der Arbeit komm.« »Und Putzen?« »Das macht Monica, montags und freitags. Ich bin doch froh, dass endlich wieder Leben ins Haus kommt. Johannes war nicht mal zu Weihnachten da, versteh ich auch, Guatemala ist interessanter als Eichenau. Und Birgit, wenn säe mal kommt, die schläft dann sowieso lieber im Wohnzimmer, da kann sie fernsehen.« »Wir kriegen bald ein bisschen Geld, das können wir vielleicht in die Haushaltskasse tun, ich glaub auch, dass das deinem Mann ganz recht wäre.« »Das könnt ihr machen, ja. Aber du darfst nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Der ist eigendich ein lieber Kerl. Komm, setz dich, trinkst du einen Baileys mit mir? Magst du Likör?« »Ja, gern.« Gisela wischte mit dem Lappen über den Kuchentisch. »Hab ja sonst niemanden, der mal einen mit mir pichelt«, sagte sie, setzte sich Evelyn gegenüber und schraubte die Flasche auf. »Warten die nicht auf uns?« »Lass nur. Sollen sie ruhig unter Männern reden. Eberhard ist ein Gerechtigkeitsfanatiker, das heißt, alle, die weniger arbeiten als er, müssen auch weniger verdienen. Er misst die Leute daran, was sie schaffen. Den hab nicht mal ich geändert, das liegt in der Familie. Die haben sich alle totgerackert, alles tüchtige Brummbären.« »Adam hat's im Urlaub auch nie lange ausgehalten.« »Prosit, Eva, auf dich und euch, und darauf, dass ihr da seid, und auf euer neues Leben.« Sie stießen an und tran237
ken. »Na, ist das was?« »Oh ja.« »Na dann mal runter mit dem Rest.« »Ganz schön süffig«, sagte Evelyn. »Kann man direkt süchtig von werden.« Gisela schenkte neu ein. »Auf einem Bein steht sich's schlecht. Solange ihr jung seid, müsst ihr genießen.« »Deshalb bin ich ja weg. Ich dachte, es muss noch was anderes kommen im Leben.« »Ja, es muss immer noch was anderes kommen, prosit, Eva, auf die Zukunft.« »Und auf dich, Tante Gisela!« »Nenn mich bloß nicht Tante!« »Entschuldige, nur weil Adam ...« »Prosit, Eva.« »Prosit, Gisela.« Aus dem Wohnzimmer kam Lachen. »Morgen gehen wir wandern, ins Hochmoor, das wird euch gefallen. In Bayern muss man wandern. Ihr wandere doch mit? Und wenn ihr den restlichen Ämterkram hinter euch habt, geht's los, dann stell ich Adam den Frauen vom Nähkurs vor. Mit ein bisschen Glück kann er den halb übernehmen - die, die den leitet, ist nämlich gar keine Schneiderin. Wenn's ans Zuschneiden geht, flattern der die Hände.« »Adam kann zuschneiden. Und wie! Wirklich, um den haben sie sich immer gerissen.« »Um dich mache ich mir keine Sorgen. Wer so aussieht wie du, Mädel, und wenn du nicht auf die schiefe Bahn gerätst ...«, Gisela drohte mit dem Zeigefinger, »wirst sehen, die werden sich um dich reißen, überall. Wo hast du nur dieses Haar her?« »Von meinem Vater - meine Mutter ist sogar blond.« »Und dann noch blaue Augen, dir müssen doch Heerscharen zu Füßen liegen.« »Na ja, geht so. Ich 238
will studieren, auf jeden Fall will ich studieren.« »Adam muss halt klein anfangen, aber wenn er die Ärmel hochkrempelt .., Prosit.« »Ja, erst mal klein anfangen«, sagte Evelyn und trank ihr zweites Glas aus. »Noch einen Schluck?« »Ich bin völlig aus der Übung, ich vertrag nichts mehr.« »Na los, auf drei Beinen steht man besser.« Evelyn prustete los und presste den Handrücken vor den Mund. »Entschuldige.« »Du bist mir ja eine. Nun schau nicht so erschrocken!« Gisela begann zu kichern. Die Flaschenöffnung rutschte vom Glasrand - sie starrte auf die kleine Lache Baileys. Einen Augenblick schien sie vollkommen nüchtern, begann dann aber wieder zu kichern und tat so, als müsste sie die Flasche mit beiden Händen halten. »Weißt du, für mich ist das alles wie ein Traum«, sagte Evelyn. »Wenn ich denke, dass ich nächste Woche nach München fahre und mir dann aussuchen kann, was ich studiere, das ist doch völlig unglaublich!? Das kann ich mir noch nicht mal vorstellen ...« Evelyn schreckte auf. »Was war'n das?« »Das war in der Maschine, die Luke ist aufgegangen, das macht so einen Klack.« Gisela kicherte wieder. »Schade, dass du dich grad nicht gesehen hast! Auf den Schreck müssen wir noch einen heben, na, zier dich nicht, den schaffen wir schon.« Evelyn hatte die Hand auf ihr Glas gelegt. »Lieber nicht«, sagte sie. »Ich glaube, mir wird schlecht.« »Von dem bisschen? Was denn? Mensch, Eva, das kann doch nicht sein. 239
Du bist ja ganz weiß!« Gisela hielt ihre Hand gegen Evelyns Stirn. »Kindchen, mach keinen Mist.« Das waren die letzten Worte, an die sich Evelyn später erinnern konnte. Und daran, dass sie noch »ja« hatte sagen wollen.
Nach dem Anruf »Willst du jetzt überhaupt nicht mehr mit mir reden? Du benimmst dich wie ein Kind«, flüsterte Evelyn. Sie saß auf ihrem Bett und legte die Wäsche zusammen. Adam hatte sich auf dem Bett gegenüber ausgestreckt. »Wenn ich dir das nicht erzahlt hätte, wäre jetzt gar nichts.« »Nun gib mir die Schuld daran«, sagte er leise. »Du machst aus allem eine Affäre.« Sie klaubte Adams Socken von der Heizung und setzte sich mit ihnen im Schoß wieder auf ihr Bett. »Eine Affäre?« »Eine Staatsatfäre.« »Du könntest dich wenigstens entschuldigen.« »Wofür denn, Adam?! Für deine Gespensterseherei?« »Und warum hast du mir vorher nichts gesagt? Wir hätten ihn ja zusammen anrufen können.« »Was wäre dann anders?« »Alles.« »Alles?« »Ja.« »Wie das, wenn die Frage erlaubt ist?« »Das wäre dann eine gemeinsame Aktion gewesen.« »Gemeinsame Aktion« - ich dachte, das alles hier ist eine gemeinsame Aktion.« »Hatte ich auch gehofft.« »Armer schwarzer Ka...« Mit einem Satz saß Adam aufrecht und packte ihr Handgelenk. »Du rufst diesen Großkotz an«, 240
zischte er, »ich weiß nicht, wie oft, gibst ihm unsere Nummer und zu mir kein Sterbenswort. Hätte Katja nicht angerufen, wüsste ich von der ganzen Sache nichts. So sieht's aus. Und jetzt spar dir deine Witze.« »Und von wem weißt du, dass Katja angerufen hat?« Evelyn raffte mit beiden Händen die Socken zusammen und warf sie auf Adams Bett. Mit ihrer zusammengelegten Wäsche ging sie zum Schrank neben der Tür und sortierte sie in die Fächer ein. »Wie kann man nur so blöd sein!«, flüsterte sie. »So was von bescheuert!« Adam breitete die Socken neben sich aus. Evelyn zog sich eine Strickjacke an, legte sich auf ihr Bett, streckte sich dann hinüber zu Adams Kopfkissen und griff sich die Bibel. »Du könntest wenigstens fragen«, sagte er. »Wieso, die gehört dir doch auch nicht. Die haben wir gemeinsam geklaut.« Evelyn schlug die Bibel an der Stelle auf, an der die Formulare als Lesezeichen steckten. »Was hättest denn du gemacht, wenn er dich nach unserer Nummer fragt, weil Katja die haben möchte.« »Ich glaub nicht, dass ich mit ihm gesprochen hätte.« »Und wie willst du herausfinden, ob er Offizier ist?« »Wie hast du es denn gemacht? Der verrückte Adam sieht Gespenster?« »Ich hab ihm gesagt, dass wir gut angekommen sind. Das hatten wir vereinbart, dass ich ihm wenigstens noch Bescheid gebe.« »Ihr hattet vereinbart, dass du dich meldest?« »Er hatte mich darum gebeten.« 241
»Na wunderbar, vielleicht willst du ja in Hamburg studieren?«' »Willst du dich trennen?« »Egal was er macht, der verdient garantiert besser, als ich je verdienen werde.« »Was du nicht sagst.« »Dann wären alle Probleme gelöst, alle auf einen Streich.« »Ach ja? Mir ging's um Katja.« »Um Katja?« »Ja, was denn sonst. Wir haben hier ja so viele Freunde, dass wir gar nicht wissen, wen wir zuerst besuchen sollen.« »Ich wusste nicht, dass du und Katja, dass ihr so dicke miteinander seid.« »Was heißt dicke, sie hat mir gleich gefallen.« »Wegen ihres missglückten Schwimmversuchs?« »Weil sie wusste, was sie wollte, und sie hat das durchgezogen, ganz auf sich gestellt.« »Mir hat sie mal was von einem Japaner erzählt.« »Ein Japaner? Welcher Japaner? Du bist doch ihr Held. Ohne dich - wer weiß, wo sie gelandet wäre.« »Katja hätte das so oder so geschafft.« »Kann sein, kann aber auch nicht sein. Jedenfalls war's ne Heldentat. Daran solltest du immer mal denken, täte dir gut.« »Warum sollte mir das guttun, ausgerechnet das!? Du willst doch immer, dass ich an die Zukunft denke.« »Ich wollt ja nur sagen, dieser Nähkurs und dieses Zimmer und Onkel Eberhard» das ist doch nicht alles. Das ist bald vorbei.« »Glaub ich nicht.« »Wir finden schon was in München, irgendwo in der Stadt...« »Mit Garten und Parkett, ideal geschnitten, in angenehmer Wohnlagel« »Und wenn's klein ist, von mir aus klitzeklein. Ich kann 242
auch wieder kellnern.« »Du sollst studieren, nicht kellnern!« »Für mich ist das viel schöner, noch mal von vorn zu beginnen, mit dir zusammen, und nicht in einem Haus zu leben, wo alles nach deiner Familie riecht. Mir gehörte doch nicht mal mein Kopfkissen. Und Leute wie dich suchen die in München händeringend, das sagt jeder.« »Steht das in der Bibel?« Evelyn blätterte die Seite um. »Jemand wie du, der zuschneiden kann, der so zuschneiden kann, der solche Ideen hat! Wieso soll das denn nichts werden? Selbst wenn du erst mal die zweite Geige spielst, für ein, zwei Jahre, das ist doch nicht schlimm. Da schaust du dir die Tricks ab, die geschäftlichen, und übernimmst dann die halbe Kundschaft. Wer einmal bei dir war, der will nirgendwo anders mehr hin. Das weißt du doch. Glaube, Liebe, Hoffnung, das steht hier irgendwo. Liebe, das haben wir, den Glauben an dich auch, dir fehlt nur die Hoffnung, ganz allein die Hoffnung, aber dafür hast du mich, ich bin die Hoffnung. Ich verkauf auch den Schmuck.« »Das lässt du schön bleiben, keinesfalls machst du das!« »Meine Oma würde das richtig finden. Die hat auch nur ein paar von den Sachen getragen, alles andere blieb im Kasten, falls es mal nötig ist, und jetzt ist es nötig.« »Ich find schon was, Evi. Nur nicht diesen Nähkurs, nicht nach dieser Szene.« »Szene? Welche Szene denn?« Evelyn setzte sich auf. »Hat Gisela nichts gesagt?« 243
»Nein. Sie war irgendwie kurz angebunden, komisch irgendwie.« »Sag nicht immer irgendwie, irgendwie ist furchtbar.« »Was ist denn passiert?« »Nichts, ich hab's gemacht wie immer, wie ich es richtig finde und wie es besser ist.« »Und was?« »Ihre Freundin Gaby wollte noch zwei Schleifen oder Bändchen dran, links und rechts, unglaublich, wie ne fette Hummel mit winzigen Flügeln.« »Das hast du ihr gesagt?« »Du glaubst es einfach nicht, ich dachte, die macht nen Witz.« Evelyns Hände umklammerten die Bettkante. »Ich hab nur gesagt, dass ich das nicht mache, für solchen Kokolores fühle ich mich nicht zuständig.« Evelyn atmete tief durch. »Aber wenn sie es doch wollte?!« »Kann sie ja selbst machen, wozu braucht sie mich dafür? Entweder mache ich was oder ich mache es nicht. Und für so einen Mist schneide ich nicht zu. So einfach ist das.« »Ach, Adam ...« »Das habe ich immer so gehalten und bin damit ganz gut gefahren - und alle anderen auch.« Evelyn griff sich ein paar Socken, krempelte sie um und schlang sie zu einer Stoffkugel ineinander. Plötzlich hielt sie inne, auch Adam schien wie erstarrt. Eine Etage tiefer wurde die Haustür zugezogen. »Waren das beide?«, flüsterte Evelyn. »Glaub nicht, nur Gisela. Erschließt immer ab.« »Du hattest es ihr zuliebe tun müssen, wegen Gisela. Sie ist so stolz auf dich gewesen. Du hättest es zuschneiden können, sie hätte es sehen 244
müssen und dann sicher verstanden ...« »Zwei fehlen«, sagte Adam. »Zwei?« »Zwei verschiedene sind übrig.« »Das war schon immer so.« »Wie? Du meinst, ich hab die immer zusammen getragen?« »Das siehst du doch nur, wenn du sie nebeneinanderhältst.« »Trotzdem geht mir das gegen den Strich.« »Dann schmeiß sie halt weg«, sagte Evelyn und stand auf. »Und du bist dir sicher, dass nicht noch irgendwo zwei sind?« »Irgendwo schon. Aber nicht hier.« Evelyn ging in das kleine Badezimmer nebenan. Als sie wieder zurückkam, saß Adam auf dem Bett. Die Tüte mit den SockeM6 war weggeräumt. Nur auf der Heizung lagen zwei Exemplare nebeneinander, als wären sie noch Dicht ganz trocken.
Zwei Frauen »So, die müssen jetzt sieben Minuten kochen.« »Ich weiß ja gerade mal, dass es China gibt.« »Na und?« »Aber gleich ne ganze Wissenschaft.« »Alles ist ne Wissenschaft.« »China und die Hoffnung auf Glück, liest du das?« »Bei dem haben wir Vorlesung.« »Ich kann doch kein einziges WortI« »Ich fang doch auch erst an. Es ist gleich neben dem Hauptgebäude. Und in zwei Jahren gehen wir für ein Jahr nach China oder Taiwan.« »Sinologie passt aber nicht zu Kunstgeschichte.« »Ich hat's mir nur so vorgestellt, weil du sagtest, was mit Sprachen, ich dachte, wir gehen zu245
sammen hin.« »Diese ganzen Zeichen, das ist mir zu viel.« »Pauken musst du überall.« »Trotzdem.« »Wir können uns ja mittags treffen oder zum Frühstück. Vielleicht findest du was hier in der Nähe.« »So was mir Stuck und Parkett? Mir würde schon die Küche reichen. So ne riesige Küche hab ich noch nie gesehen. Kommen die beiden noch?« »Michaela ist in der Uni, und Gabriela hat Fahrschule, wohl nicht gerade ihre Stärke. Braucht ihr mehr als ein Zimmer?« »Wäre schon gut.« »Ich kann immer noch nicht glauben, dass Adam mit ist. Der muss dich wirklich lieben.« »Hast du schon mal gesagt.« »Ich dachte, mit ihm ist's hoffnungslos, ein hoffnungsloser Fall. Was ist denn?« »Du siehst gut aus.« »Ach, Evi, bist lieb.« »Das hat nichts mit lieb zu tun.« »Was soll ich denn zu dir sagen? Du brauchst nur einen Spiegel.« »Ich meine was anderes. Wer dich sieht, käme nie auf die Idee, dass du erst ein paar Wochen hier bist. Bei dir ist alles so, als würdest du einfach hierhergehören, als wärst du hier zu Hause. Wenn du dagegen Adam siehst, der läuft hier rum wie Falschgeld, der isst auch fast nichts mehr.« »Und du?« »Ich bin so dazwischen, zwischen dir und ihm.« »Also kein hoffnungsloser Fall?« Katja lachte. »Evi, komm, das war ein Witz! »Ich mach aber keine Witze.« »Du machst dir zu viele Sorgen.« »Mit deinem Clan im Rücken würde ich mir auch keine Sorgen machen!« »Mein Clan lädt mich ab und an zum 246
Essen ein, und Onkel Klaus hat mir das Zimmer hier vermittelt - eigentlich will ich gar nichts von denen.« »Das meine ich ja, ohne die hättest du das nicht bekommen!« sDafür soll ich den beiden Russisch beibringen, ich kann das gar nicht mehH7 Aber ich hab erst mal ja gesagt.« sSiehst du, und ich hätte nein gesagt. Das ist schon ein Unterschied. Du hast hier Verwandtschaft, eine richtige Familie, das ist doch herrlich.« »Dafür hast du Adam und Flitterwochen im Westen.« »Wenn du das Flitterwochen nennst.« »Immerhin Simssee. Und wann wollt ihr heiraten?« Evelyn zuckte mit den Schultern. »Du hast doch gesagt, dass ihr dort glücklich wart.« »Wie gewonnen, so zerronnen.« Katja verzog das Gesicht. »Entschuldige«, sagte Evelyn. »Mir fallen nur noch solche Sprüche ein – ‚Was mich nicht umbringt, macht mich stark‘ und solches Zeug. Ich weiß selbst, dass das furchtbar ist.« »Ich hätte mich fast in Adam verliebt.« »Hab ich gemerkt.« »Wann?« »Als icb dicb mit dem Sonnenhut da am Zeltplatz sah, als du auf uns gewartet hast, da hab ich so was gedacht. Hattet ihr was miteinander?« »Nein.» »Klingt nicht sehr überzeugend.« »Ich hab doch gesagt, dass ich micn fast in ihn verliebt hätte, da kann ich ja nicht sagen, dass da nichts ist. Aber ich war ihm völlig egal.» »Ich hab mir schon gewünscht, er wäre tot.« »Tot?» »Hast du dir nie gewünscht, dass ein anderer nicht mehr auf der Welt sein soll? Dass man ihn los ist, dass man nicht mehr an ihn denken muss?« »Nee.« »Er sitzt den ganzen 247
Tag vorm Fernseher und dreht an deinem Würfel, und wenn er das nicht macht, liegt er vor Elfriede auf dem Bauch und beobachtet sie. Und Onkel Eberhard sagt fünfmal am Tag, dass die, die jetzt da drüben kämpfen, Helden sind. Das sind Helden, nicht die, die abhauen.« »Ich denk, er ist selbst abgehauen.« »Er war im Gefängnis, in Bautzen, fast ein Jahr. Für den sind wir Wirtschaftsflüchtlinge, denn jetzt, jetzt muss man kämpfen und nicht hier rumsitzen. Und Adam denkt letztlich genauso.« »Ach, Quatsch, das wird nichts. In ein paar Wochen ist dort alles wie früher. Ob Krenz oder Honecker ist völlig egal.« »Sage ich ja auch. Aber Adam faselt von der Stunde X, er verpasst seine Stunde X.« »Was heißt hier Stunde X? Wenn einer was erreicht hat, dann wir. Ohne uns würde dort gar nichts passieren.« Katja rührte in dem Spaghetti topf. »Lass ihn erst mal ne Arbeit haben.« »Maßschneider brauchen die hier nicht, die kaufen alles fertig. Selbst Gisela wünscht sich nichts von ihm, nicht mal umsonst, sozusagen als Miete. Ich weiß auch nicht, warum die Frauen hier nichts wollen, was ihnen wirklich passt, was wirklich sitzt. Adam sagt, die hätten gar kein Gefühl mehr dafür, was Maßanfertigung bedeutet. Und auf die Bewerbungen hat sich auch noch nichts getan.« »Die suchen doch überall Leute. Die haben sogar in den Lagern Zettel verteilt, die suchen Fachkräfte!« 248
»Aber keine Damenmaßschneider.« »Natürlich, die suchen sie auch.« »Du hättest ihn früher mal erleben müssen. Er hat praktisch nie Urlaub gemacht, er konnte das gar nicht, einfach mal nichts tun.« »Ja und?« »Bei ihm war das eigentlich nie Arbeit.« »Du meinst, eher so als Künstler?« »Die Weiber kamen zu ihm, und er hat sie schön gemacht. Und wenn sie dann schön waren, hat er sie gebumst.« »Ist das nicht ein Gerücht?« »Ich hab ihn doch erwischt. Aber das hatten wir ja schon mal.« »Du meinst, ihm fehlen die Frauen?« »Wenn es das wäre! Wir streiten uns zwar ständig, aber er ist anhänglich wie ein Schoßhund. Ich seh mir die Männer an, und dann frage ich mich, wieso bin ich gerade mit Adam zusammen. Ich glaube, ich käme mit fast jedem zurecht, wenn der halbwegs nett ist.« »Wenn's so einfach wäre.« »Warum ausgerechnet Adam?« »Ach komm, Evi. Fühlst du dich zu gut für ihn?« »Quatsch! Das meine ich nicht. Und Marek?« »Nun wart erst mal ab. Ich hab keine Ahnung, was daraus wird. Lieber flache oder tiefe Teller?« Evelyn nickte. »Na was, flach oder tief!« »Ist doch egal. Manche Männer haben so eine Art zu sprechen und zu gestikulieren, die haben so was Flottes, die sind so wach. Die gefallen mir, diese wachen Typen. Das merkst du schon am Gang. Ich muss nur sehen, wie einer läuft, dann weiß ich schon alles, fast alles.« »Ein bisschen Glück gehört halt dazu.« »Hast du Glück gehabt?« 249
»Und wie! Erst Adam, dann ihr. Michael hat mir Geld geborgt, für die Kaution.« »Wie? Warst du im Gefängnis?« »Im Gefängnis?« »Na, Kaution?« »Nein, nein, für die Vermieter. Drei Monatsmieten im Voraus, falls mal was repariert werden muss.« »Drei Monatsmieten? Sind die verrückt?!« »Ach, das kriegt ihr schon hin. Und schlimmstenfalls fragst du Michael, muss ja Adam nicht wissen.« »Adam glaubt, Michael wäre Offizier, irgend so was. Er sagt, er hätte ihn in Trostberg gesehen.« »Wieso denn Offizier? Ich hab doch bei ihm gewohnt.« »Vor dem Lager?« »Er kannte da einen, der hat das so geregelt, dass ich gar nicht ins Lager musste. Ich hab dort nur die Formulare ausgefüllt. Gib mir mal dctf9 Gorgonzola.« »Das ganze Stück?« »Ja.« Sie legte den Käse in die Pfanne. »Michael hat die Fahrt über nur von dir erzählt. Er fing immer wieder an.« »War er böse?« »Er hat es einfach nicht kapiert. Ich hab gesagt, kehr um, aber da war er stur.« »Wenn er mir ein bisschen mehr Zeit gelassen hätte.« »Bereust du's?« »Weiß nicht.« »He, Evi. Sind das jetzt Tränen?« Katja nahm den Topf und goss die Spaghetti ab. »Was ist denn? Tut es dir leid?« »Ich muss dir was sagen.« »Oje, spuck's aus. - Was denn? - Nun sag doch!« »Ich krieg ein Kind.« »Heiliger Bimbam, Evi!« Katja starrte sie an, das Sieb mit den Spaghetti in beiden Händen. »Ich weiß, blöder kann man 250
sich nicht anstellen.« »Da muss der Mensch erst mal drauf kommen. Von Michael?« »Weiß ich nicht, vielleicht, vielleicht auch nicht.« »Kannst du das nicht rauskriegen?« »Ja, wie denn?« »Und Adam?« »Kann sein.« »Weiß der was?« »Nein.« »Willst du es denn behalten?« »Weiß ich nicht. Funktioniert das hier wie bei uns?« »Keine Ahnung, glaube schon. Schlimmstenfalls denkst du dir was aus.« Katja schüttete die Spaghetti in die Pfanne mit dem Gorgonzola. Dann ging sie um den Tisch und umarmte Evelyn. »Den Duft kenne ich«, sagte Evelyn, »das hatte ich auch mal.« »Von Michael?« »Hm.« »Bise du jetzt enttäuscht?« »Du doch auch, oder?« »Ach komm, er hat sich einfach Mühe gegeben. Und du solltest es Adam sagen, vielleicht wacht er dann auf. Er wollte doch immer ein Kind. Entschuldige, ich muss umrühren.« Katja ging zurück zum Herd. »Gibst du mir mal die Birne? Das haut mich wirklich um. Ich dachte, jetzt kommt irgendwas mit Stasi oder so.« »Na, vielen Dank.« »Wenn du das so ankündigst. Wer denkt denn an ein Baby?« »Es ist nur, wenn du niemanden hast zum Reden, dann platzt das alles so raus.« »Geht mir ja auch so.« »Ist das jetzt fertig?« Evelyn zeigte auf die Pfanne. »Gib mir doch mal die Birne. Hast du Hunger?« »Nein.« »Komm«, sagte Katja, »versuchen wir es wenigstens. Oder willst du Birne, wenigstens ein Stück Bir251
ne?« »Ja, ein Stück Birne.« Katja drehte das Gas ab. Während sie die Birne in Viertel schnitt, holte Evelyn ein kleines Päckchen aus ihrer Handtasche. »Hier, für dich«, sagte sie. Katja sah sie an, zögerte, nahm dann das Geschenk aus Evelyns Hand, riss den Klebstreifen ab und faltete die Papierserviette auf.»Wie - für mich?« »So einen habe ich auch.« Evelyn zeigte ihr die rechte Hand, an der ihr rubinroter Ring steckte. »Evi ...« »Wir sind doch Freundinnen, fast Schwestern, oder?« Evelyn nahm den Ring. »Wo soll er denn hin, links oder rechts?« »Egal.« »Siehst du, passt doch.« »Du bist verrückt, völlig verrückt«, sagte Katja. Dann setzten sie sich einander gegenüber an den Tisch und aßen von der Birne.
Juwelen Evelyn stieg in Eichenau aus dem letzten Wagen der SBahn und ging in Richtung Ausgang. Plötzlich griff jemand nach ihrer Hand» sie fuhr herum. »Adam! Ist was passiert?« »Du wolltest doch mittags kommen.« »Ich hab gesagt, dass ich nicht weiß, wann ich komme. Du bist ja eiskalt!« Evelyn zog ihren Schal vom Hals und knotete ihn unter Adams Kinn zusammen. »Ich wollte dich einladen«, sagte Adam, »zum Mittagessen. Hast du schon gegessen?« »Wir haben spät gefrühstückt.« »Hat aber lange gedauert.« »Geht's dir besser?« 252
»Wenn ich draußen bin, ja. Ich war beim Arzt, der hat mich krankgeschrieben.« »Was hast du?« »Ach, nur so, ‚Übersiedlungssyndrom‘, ‚Adaptionsschwierigkeiten‘, das würden sie anerkennen, ich krieg sogar mehr Geld, hat er gesagt.« Adam versuchte Evelyns Hand zu nehmen. »Ich mach doch nichts Schlimmes, ich hab noch nie krankgemacht. Das ist das erste Mal. Das ändert doch nichts, nur ein bisschen mehr Geld. Hätte ich das nicht machen sollen? Stimmt doch letztlich. Irgendwie stimmt es schon. Und du, wie war's denn?« »Nicht so toll.« »Mit Katja?« »Ach, Katja, die hat mich von vorn bis hinten bemuttert. Die hat mir sogar noch was mitgegeben.« Evelyn hakte sich bei Adam unter. Sie gingen an einem Jungen vorbei, der leise fluchend am Schloss seines Fahrrads rüttelte, und bogen auf die Straße, die zum Ort führte. »Katja wohnt traumhaft, schon im Hausflur gibt's Spiegel und Kronleuchter, alles ganz vornehm, so richtig Westen.« »Und wie viele Zimmer?« »Nur eins, aber riesig. Sind noch zwei Studentinnen in der Wohnung, jede hat ein Zimmer. Die Küche ist riesig, die feiern sogar Partys da drin, und ein altmodisches Bad mit ner riesigen Wanne. Da merkst du erst mal, wie piefig das hier alles ist. Ich hab Taschentücher gekauft, hier.« Adam blieb stehen und schnauzte sich. »Gab's Ärger?« »Eigentlich nicht.« »Eigentlich?« »Sein neuster Spruch ist, ‚was mich nicht umbringt, macht mich stark.« 253
»Den kenn ich schon.« »Ich find den Hausschlüssel nicht mehr.« »Adam ...« »Ich sag nur, dass ich ihn nicht finde. Ich dachte, vielleicht hast du ihn aus Versehen mitgenommen.« »Ich hab deinen Schlüssel nicht aus Versehen mitgenommen.« »Eberhard wollte, dass ich mich in dem Laden melde, die suchen halbtags Leute für die Flaschenannahme.« »Bei Tengelmann?« »Irgend so was.« »Und?« »Was und?« »Warst du dort?« Adam blieb stehen. »Soll ich etwa Flaschen sortieren?« »Ich würde das machen.« »Das kann jeder sagen.« »Ich würde das wirklich machen.« »Und ich würde das nicht machen. Warst du in der Uni?« »Ich muss mir das erst notariell beglaubigen lassen.« »Was?« »Mein Abiturzeugnis.« »Was soll denn daran beglaubigt werden?« »Weiß ich nicht, muss sein. Und dann mach ich Kunstgeschichte und Romanistik.« »Und nachmittags arbeitest du in der Flaschenannahme.« »Die wollen alle Kaution. Nichts kannst du ohne Kaution mieten. Ich war beim Juwelier.«
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Adam blieb stehen. »Du hast mir doch versprochen ...« »Er wollte ihn nicht.« »Was?« »Er wollte ihn eben nicht.« »Was heißt, er wollte ihn nicht?« »Er meint, der sei nicht echt.« »Spinnt der?« »Er hat gesagt, dass keiner der Steine echt ist.« »Der wollte handeln.« »Gar nicht, überhaupt nicht. Der hat es mir gleich wieder übergeschoben, überhaupt kein Interesse.« »Ich hab dir ja gesagt, du sollst es nicht machen. Das ist die Strafe. Man soll Familiensachen behalten.« »Du hast Heinrich auch bei der erstbesten Gelegenheit verkauft.« »Familienschmuck ist eiserne Reserve.« »Die könnten wir aber gebrauchen. Ich will nicht immer betteln.« »Das würde Onkel Eberhard gefallen. Wer nicht die Ärmel hochkrempelt, landet im Müll.« »Hör auf damit.« »Hast du den Schmuck noch einem anderen gezeigt?« »Nein, das hat mir gereicht.« »Er bleibt ja trotzdem schön. Für mich ist alles echt.« »Möchte mal wissen, ob sie das gewusst hat.« »Natürlich hat sie das gewusst.« »Meine Mutter nicht. Die ist ja ausgerastet, dass ich den bekam und nicht sie. Ich hab Katja einen der Ringe geschenkt!« »Du bist ja großzügig.« »Wie steh ich denn jetzt da!« »Denkst du, die geht damit ins Pfandhaus?« »Trotzdem.« »Wie hat sie denn so schnell diese Wohnung gefunden?« »Ihre Verwandeschaft. Die kümmern sich um alles. Außerdem hat sie nen Freund, einen Polen.« »Den hätte sie auch einfacher kriegen können.« »Der lebt schon lange 255
hier. Der hat Gartenbau studiert und noch was, der macht bald sein Diplom. Katja und er wollen in zwei Wochen nach Zürich fahren, sie würden uns mitnehmen.« »Hältst du das für ne gute Idee?« »Wäre doch schön. Er hat dort zu tun, und wir sehen uns die Stadt an. Morgens hin und abends zurück.« Es klingelte hinter ihnen. Der Junge von vorhin überholte sie auf seinem Fahrrad. Als er schon vorbei war, rief er ihnen etwas zu, was sie nicht verstanden. »Ich bin auch beim Arzt gewesen«, sagte Evelyn. »Beim Frauenarzt?« »Ja.« »Und? Alles in Ordnung?« »Ja.« »Was hat dir Katja denn mitgegeben?« »Marmorkuchen.« Adam zog Evelyn zu der Bank an der Bushaltestelle. »Komm, wir machen ein kleines Picknick.« »Nicht hier, das ist zu kalt. Du bist doch schon erkältet.« »Was hast du gegen ein Picknick?« »Willst du dir gewaltsam was holen?« Evelyn ging ein paar Schritte weiter und drehte sich dann nach Adam um. »Wo hast du deine Winterjacke?« »Das ist nicht meine Jacke, die zieh ich nicht an.« »Dann kaufen wir dir eine, aber so geht das nicht. Komm jetzt!« »Nein.« »Du hältst Eberhards Sprüche aus, da kannst du auch seine Jacke anziehen.« »Gestern waren es über zweihunderttausend in Leipzig, und in Berlin soll es ne Riesendemonstration geben, ganz legal.« »Was hat das mit deiner Jacke zu tun?« »Stimmt's, wir müssen hoffen, dass sie es nicht schaffen?« »Red keinen Stuss.« »Doch, wir hoffen, dass sie es nicht schaffen, und Eber256
hard hofft, dass sie es schaffen, so sieht's aus.« »Ich hab wirklich andere Probleme. Komm, bitte!« »Den Schwestern und Brüdern im Osten würde der heilige Eberhard gern seine Jacke schenken.« »Komm jetzt!« Adam machte kehrt. Sie sah ihm nach. An der Bushaltestelle zog er eine Zeitung aus dem Papierkorb, legte sie auf die Bank, setzte sich darauf, streckte die Beine aus und spitzte den Mund, als wollte er pfeifen. Langsam, ganz langsam ging Evelyn zur Bank zurück. Mit jedem Schritt durchmaß sie einen weiten Raum. Noch ein paar Atemzüge, und sie würde vor ihm stehen, ihm in die Augen sehen und einfach jene Worte sagen, die ihr vertraut waren, so vertraut, dass es ihr plötzlich sinnlos erschien, sie auszusprechen.
Zürichsee und grünes Licht »Wir hätten uns nicht trennen dürfen, ich hab gewusst, dass es nicht klappt.« »Marek ist doch auch noch nicht da.« »Wir hätten einfach an Bord gehen sollen und gut. Jetzt stehen wir hier dumm rum und gucken in die Rohre!« »Wir haben doch ne Menge gesehen. Zur Strafe essen wir das jetzt auf.« »Wie heißen die noch mal?« Katja hatte die kleine weiße Pappschachtel geöffnet und hielt sie hoch, um die blaue Aufschrift lesen zu können. »Luxenbür-ger-li, Sprüng-li.« »Was ist es denn nun?« »Na Sprüngli, weil sie einem in den Mund springen.« »Die rosafarbenen sind die besten.« »Nimm noch eins.« 257
»Wollen wir nicht wenigstens jedem eins aufheben?« »Ach, wir kaufen neue.« »Hast du denn so viel Geld?« »Sind doch nur ein paar Franken. Über Geld denken wir heute nicht nach.« »Komisch, nicht?« »Was?« sDass wir jetzt solches Geld haben, mit dem alles geht? Ist das für dich schon normal?« sDiese Sprüngli hier«, sagte Katja kauend, »kannst du gar nicht beschreiben, eiskalt drinnen und schmelzend, und plötzlich, wenn du denkst, es war alles zerlaufen, beißt du auf was Festes, das ist der tollste Moment.« »Und die Gipfel, die Schneegipfel, und das Leuchten, als ginge es da in den Himmel. Ich denk manchmal, Adam lebt auf einem anderen Planeten! Ich steh davor und bin glücklich, und er, er sieht es gar nicht.« »Hast ihm ja auch ne Kröte zu schlucken gegeben.« »Er stellt sich an wie der erste Mensch.« »Habt ihr seither wirklich nicht mehr miteinander gesprochen?« »Nein.« »Kein Wort?« »Nichts, gar nichts.« »Will er denn das Kind? Er muss doch irgendwas gesagt haben?« »Er hat gefragt, wer der Vater ist. Und dann hat er gesagt, dass er jetzt nachdenken muss.« »Seit zehn Tagen Funkstille?« »Seit fünf, ich hab's nicht fertiggebracht, es kam mir einfach nicht über die Lippen.« »Ich begreife nicht, wie ihr fünf Tage lang nicht miteinander reden könnt?! Vorhin war er doch richtig lustig, er und Marek.« »War vielleicht nicht der richtige Moment. Er hat Bewerbungen geschrieben, jede Menge Bewerbungen. Aber je258
der sagt dir, so läuft das nicht. Du musst hingehen, du musst was zeigen, du musst Leute kennenlernen. Ich hab ihm gesagt, du musst dich anstrengen, dich überwinden, wir erwarten ein Kind. Das mit dem Kind hat ihm den Rest gegeben.« »Schade, ich hatte gehofft...« »Jede Nacht haut er ab, fast jede. Wenn du die Treppen runtergehst, knarrt es furchtbar - da sitzen die beiden Herrschaften natürlich senkrecht in ihren Kissen und fragen sich, was passiert jetzt. Eberhard hat sogar geglaubt, Adam wollte ihm das Haus anzünden. Zweimal stand der schon im Schlafanzug vor meinem Bett. Ach Mist, es ist so schön hier, und der Kerl vermiest mir auch das!« »Ist wirklich unglaublich hier. Hast du schon mal von dem grünen Licht gehört? Das ist das seltenste Licht, das es gibt, nur wenn die Luft ganz ganz rein ist und du siehst, wie die Sonne ins Meer sinkt, dann kann plötzlich ein türkisgrüner Strahl aufscheinen, ein kurzes überirdisches Leuchten. Hak dich ein. Vielleicht passiert ja was.« »Und wenn Marek kommt, und er ist immer noch nicht da?« »Dann wird uns schon was einfallen. Du musst deinen Schal zubinden, du siehst ja ganz verfroren aus. Ich glaub, Adam ist richtig erschrocken, als er die Rechnung sah.« »Er hat das mal wieder gebraucht, dass er einladen kann.« »Aber gleich dieses >Terrasse< oder wie sich das ausspricht. Wir hatten doch fifty-fifty machen können.« »Lass ihm das, das ist gut so. Ihr bezahlt ja schon die Reise. Das ist sein Autogeld. Je schneller er das ausgibt, desto 259
besser. Am besten, wir haben gar nichts mehr, vielleicht kapiert er es dann.« »Er hatte so ein bisschen feuchte Hände.« »Er riecht auch irgendwie anders. »Irgendwie« darf ich ja nicht sagen, wenn er dabei ist, aber es ist so.« »Das ist deine Schwangerschaftsnase.« »Nein, er riecht wirklich anders.« »Adam hat ne blöde Rolle abbekommen.« »Hör bloß auf. Er konnte sich an Marek ein Beispiel nehmen, der hat sich durchgeboxt, der musste sogar Deutsch lernen, und jetzt hat er bald sein Diplom in der Tasche. Marek ist ein Goldstück - für den würde ich sogar katholisch werden.« »Ich glaube, der ist gar nicht katholisch, wenigstens hab ich noch nichts davon gemerkt.« »Adam liest dauernd in diesen uralten Tier- und Pflanzenbestimmungsbüchern, die er noch im Auto gefunden hat. Neuerdings fahrt er auch in den Zoo. Und wenn ich ihn frage, was er dort macht, sagt er ispazieren gehen«. Er könnte doch wenigstens mir was nähen, für di^5 Schwangerschaft, Kleider, Hosen. Wie klar das Wasser hier ist.« »Du musst einfach ne Idee haben, dann kommst du hier ganz easy durch. Marek hat ne Freundin, die kauft auf Züricher Flohmärkten die schicksten Klamotten und verkloppt sie wieder in München, das muss richtig gut laufen.« »Ich denk, hier ist alles teurer?« »Die tragen das hier zweimal, dann schenken sie es ihrer Putzfrau, und die verscheuert das für ein paar Franken.« »Ach, ich möchte, dass alles normal wird, dass es mal 260
ganz selbstverständlich ist, hier in den Laden zu gehen und solche Sprüngli zu kaufen. Schaffen wir das irgendwann, hier langzugehen und zu sagen, den Hut da, den kaufe ich mir jetzt?« Katja machte sich los und rannte auf die Brücke zu. Marek breitete die Arme aus. Evelyn wandte sich ab. Der Bus nach Küsnacht öffnete noch einmal seine Türen und ließ eine Frau einsteigen. Dann sah sie wieder über den See. Durch die bläulichen Wolken zogen sich orangefarbene Äderchen. Sie hörte Katja lachen. Katja rief nach ihr. »Marek will uns was verraten, komm!« Evelyn verlangsamte ihre Schritte, als sich die beiden erneut umarmten. »Wisst ihrs schon?«, fragte Marek. »Wirklich nicht? Habt ihr das nicht in der Zeitung gesehen? Alle reden davon, ununterbrochen reden sie davon.« »Ja, was denn?«, fragte Katja. »Sag doch!« »Hast du Adam gesehen?«, fragte Evelyn. »Ich dachte, ihr fahrt zusammen Schifft« »Wir warten seit einer Dreiviertelstunde hier.« »Sieh mal: ‚Bitte sofort genießen‘ steht hier - und das haben wir auch gemacht. Du kommst zu spät.« Katja klappte den leeren Sprüngli-Karton auf. »Die Mauer äst weg«, sagte Marek. »Wer erzählt denn den Quatsch?«, fragte Evelyn. »Alle! Das Fernsehen bringt nur noch Berlin, alle rennen rüber, schon seit letzter Nacht. Ihr seid die Letzten, die's noch nicht wissen! Ich schwöre es!« Marek hob die Hand. »Wartet mal!« »Marek, nein, bitte!« Marek ging auf ein älteres Paar zu. 261
»Entschuldigen Sie, meine Freundin glaubt nicht, dass in Berlin die Mauer weg ist.« »Ja, doch«, sagte der Mann. Die Frau nickte. Der Mann griff an seinen Hut. Sie gingen weiter. »Na was«, rief Marek, »glaubt ihr's mir jetzt?!« Evelyn und Katja hatten sich bereits abgewandt. Sie sahen übers Berge und das Abendrot, das nun den ganzen Himmel erfüllte.
Bruder und Schwester Die Musik im Radio beruhigte sie ein wenig. Dreißig achtundzwanzig Minuten gab sie sich. Wäre Adam dann immer noch nicht da, wollte sie zur Telefonzelle gehen und Katja anrufen. Punkt zehn würde sie gehen, zehn Uhr war nicht zu spät. Ist er bei dir, würde sie Katja fragen, na Adam, wer denn sonst? Er ist schon wieder weg. Seit letzter Nacht, ohne ein Wort, mitten in der Nacht ist er los. Mir sagt er ja nichts, nur mit euch redet er noch. Woher soll ich wissen, wo er hin ist. Evelyn wusste, wie Katja klingen würde in diesen riesigen Räumen, in denen alles schön war und überlegt und richtig. Katja war ihre Freundin, ihre einzige Freundin, aber auf Adam würde sie nichts kommen lassen. Für Adam, hatte Katja gesagt, würde sie alles tun. Aber sie hatte auch gesagt, dass Adam nicht auf ihr herumtrampeln dürfe, dass das nicht angehe, einfach abzuhauen und nichts zu sagen. Evelyn sah Adam wieder vor sich, wenn er hier am Fenster stand, reglos, ohne zu atmen, als sei ihm selbst das zu viel, und wie er 262
dann Luft holte, tief Luft holte und sie ausstieß wie ein Seufzen, und wie er sich die Brust massierte. Sie sah seinen Kehlkopf, seinen Adamsapfel, als wäre der etwas, woran er würgte, was er nicht herunterbekam. Vielleicht war er ja auch deshalb krankgeschrieben. Sie kannte niemanden wie ihn, niemanden, der versuchte, sich an den Tod zu gewöhnen. Aber davon würde sie nicht sprechen, nicht zu anderen, nicht mal zu Katja durfte sie davon sprechen. Jetzt hatte er nur Angst, dass die alle rüberkamen, dass er die wiedersah, die reden, das wäre Verrat. Sie würde ihr die Geschichte von gestern Abend erzählen, als sie noch mal rausgegangen waren, weg von Onkel Eberhard, dem Scheusal, dem Bautzen-Häftling von 1957, der kein Flüchtling war, sondern ein politischer Flüchtling, der nicht vor seiner Verantwortung davonlief. Eberhard, das Scheusal, hatte behauptet, Adam habe die Spülmaschine kaputt gemacht. Nur ein Bier hatten sie im »Blauen Engel« trinken wollen, wo Adam Billard spielen konnte. Sie würde Katja von dem Maler erzählen, der sich zu ihnen gesetzt hatte, ein Maler aus Dresden. Sie hatte gleich gemerkt, dass der nicht hierhergehörte, nicht nach Bayern, saß auch allein da. Aber er hatte es nie bereut, dass er weg ist, vor vier oder fünf Jahren war er schon abgehauen. Diese Angst hatte sie nicht, aber dass denen drüben jetzt alles in den Schoß fiel ohne Flucht, einfach so, sie mussten nur zu Hause hocken bleiben, brauchten nichts zu riskieren - ungerecht war das schon. Mit ihm hatte sie reden 263
können. Frank hieß er, wohl gar nicht so unbekannt, Frank, den Nachnamen hatte sie vergessen. Frank hatte sie eingeladen, sie sollten vorbeikommen, einfach mal so, das Atelier ansehen, essen, trinken, reden, die meisten Maler, hatte er gesagt, sind gute Köche. Er hatte sie richtig eingeladen, die Adresse auf dem Bierdeckel. Und weißt du, was Adam gesagt hat? Nicht, was du denkst, nichts, worauf irgendjemand kommen könnte. Vielen Dank, sagte Adam, gern, sehr gern - und jetzt kommt's -, gern würde er ihn mal mit seiner Schwester besuchen. Mit seiner Schwester! Stell dir das mal vor! Mich hat er gemeint. Er wollte mich verkuppeln! Was hätte ich denn sagen sollen? Ich hätte ihn ja bloßgestellt. Und der Maler hat natürlich reagiert, wie ausgewechselt, gleich peng, Knie an Knie und das ganze Programm. Ich hätte mir sein Zeug angesehen, wirklich, aber jetzt ... Ich spiel doch kein Theater. Außerdem käme Adam sowieso nicht mit. In ihm ist alles Kraut und Rüben. Und dieses Atmen. Ich denk immer, er liegt irgendwo. Ich weine nicht, ich hab schon genug geheult. Ich weiß ja nicht mal, warum ich weine, wirklich nicht. Er liebt mich. Ja, er liebt mich, er liebt mich und hasst mich. Seit er mich liebt, hasst er mich auch. Weil er sonst nicht hier wäre. Das ist so, das kannst du nicht wegreden. Evelyn putzte sich die Nase. Fünfmal am Tag will ich mich trennen. Dann aber ... Weißt du, wo er in Zürich war, wo er wirklich gewesen ist? Ich hab das nicht geglaubt. Ich hab auch gar nichts mitbekommen. Als wir von 264
der Villa Wesendonck zurück sind, hat er seinen Fotoapparat in der Straßenbahn liegen lassen, in der Tram. Er ist seinem Fotoapparat hinterhergelaufen, zurück zur Haltestelle, Polizei, Fundbüro. Und gemerkt hab ich's nur, weil Adam ständig in die Schweiz telefonierte. Ich dachte, der knüpft einen Kontakt, denn so wie die Schweizer gekleidet sind, das hat ihm gefallen, die Schweiz, das war sein Westen. Und ich dachte, vielleicht schafft er es ja in der Schweiz. Aber es war nur das Fundbüro, mit dem er sprach. Alles futsch, nicht nur die Kamera, auch die Bilder vom Balaton und vom Simssee, die waren alle noch auf dem Film, der drinsteckte£a alles futsch, futsch, futsch, wie nicht gewesen. Ihm war es peinlich, er war wütend auf sich, verzweifelt, ja, verzweifelt. Adam ist plötzlich wie ein kleiner Junge. Im nächsten Augenblick aber kommt er mir dann mit diesen Sprüchen, wie Eberhard, das Scheusal, nur umgekehrt. Von allem zu viel, sagt er, zu viele Worte, zu viele Kleider, zu viele Hosen, zu viel Schokolade, zu viele Autos, statt froh zu sein, dass es endlich alles gibt, sagt er: zu viel, zu viel, eine Inflation, die alles begräbt, die eigentlichen Dinge, die richtigen Dinge. So redet er. Einmal hat er sogar von Erbsünde gesprochen. Tatsächlich, Erbsünde! Er meinte, Erbsünde sei der Trieb, immer mehr und mehr Geld zu wollen, das würde alles kaputt machen. Nicht nur die Schweiz, er meinte das grundsätzlich. Weil alle immer mehr und mehr wollen und gar nichts anderes mehr kennen, nur mehr und mehr. 265
Und als ich sagte, falls es wirklich so etwas gibt wie Erbsünde, dann ist der liebe Gott schuld, weil die Leute zu wenig haben. Und wer wenig hat ... Aber da war er eingeschnappt. Er dachte, ich mach einen Witz. Dabei wünscht er sich doch selbst ein Auto. Jedenfalls sehnt er sich nach seinem Heinrich. Vielleicht hat er auch zu viel in der Bibel gelesen. Mir reicht's mit ihm! Ich kann seine Reden nicht mehr hören! Am liebsten würde ich bei dir einziehen. Wenn mal was frei wird, ein Zimmer neben dir, genau so ein schönes Zimmer. Du brauchst keine Angst zu haben, dass ich dir was vorheule oder dich zuquatsche, überhaupt nicht, nur nicht hier allein sein und immer, wenn man rauswill, an Eberhard vorbeimüssen. Oder du kommst, das wäre auch schön, aber wenn du sagst, dann komm doch, komm her, dann komm ich, nur für eine Nacht, komm doch, komm, und sei es nur für ein paar Stunden. Komm her, hier kannst du ruhig schlafen, noch zwanzig Minuten, noch neunzehn ...
Missglückte Rückkehr »Mein Gott«, sagte Katja und zeigte auf den kleinen Klapptisch, »was ist denn das?« »Das ist nicht mal alles, da, das ganze Bett, und noch ein Karton.« »Und wer war das?« »Irgendwelche Irren oder die Staatssicherheit, keine Ahnung. Ist Marek nicht mit?« »Der sitzt bei seinem Professor, da kann er nicht einfach gehen. Haben die 266
alle Fotos zerrissen?« »Siehst du doch, leg ab.« »Klebt ihrdie?« »Seit zwei Tagen machen wir nichts anderes.« Evelyn nahm Katja den Mantel ab und hängte ihn auf einem Kleiderbügel an die Oberkante des Schranks. »Wenn du die in ein Album steckst, merkt man es vielleicht nicht so.« »Mach ich gerade, ein Album mit allen seinen Kreationen, zumindest die, die noch halbwegs zu gebrauchen sind. Das kann er vorlegen, wenn er sich bewirbt.« »Du bist ja heroisch.« »Wenn du mir gesagt hättest, dass ich mal meine Feindinnen restauriere ...« »Zumindest ihre Bilder.« »Das sind ja meine Feindinnen, die Bilder und die Frauen, die Bilder vielleicht noch mehr.« »Sind die alle schwarz-weiß?« »Er hat immer nur schwarz-weiß fotografiert.« »Sag mal Katja blätterte das Album durch. »Sieht wirklich gut aus. Ist sie hier dabei?« »Du meinst ...« Evelyn nickte, nahm Katja das Album aus der Hand und blätterte darin. »Die hier, Lilli I und Lilli II, und hinten kommt sie noch mal im Kleid, eine Schulter frei.« Sie gab ihr das Album zurück. Katja lächelte. »Komische Vorstellung. Liebt er so Dralle?« »Sind nicht alle so.« »Die Jüngste ist die auch nicht mehr.« »Schreckt ihn nicht ab.« »Ist schon ein begabter Kerl, dein Adam«, sagte Katja und klappte das Album zu. »Willst du was trinken?« »Das ist ja verrückt.« Katja beugte sich über ein Foto, dem die untere Hälfte fehlte. »Hast du ihn mal mit 267
solchen Haaren und Bart erlebt?« »Das war vor meiner Zeit. Er kommt gleich, er ist nur mal schnell in die Kaufhalle.« »Schreckliche, sagte Katja, setzte sich auf die Bettkante und schob ein Foto, das auf der Rückseite mit Tesafllm zusammengeklebt war, vom Tisch auf ihre flache Hand. »Solche Barbaren!« »Kannste laut sagen.« »Sind das seine Ekern?« »Glaub ja.« »Sprecht ihr wieder miteinander?« »Hin und wieder, das Notwendigste. Willst du Tee?« Evelyn zog eine große Fliese unter ihrer Matratze hervor, die sie auf den Teppichboden unter der Steckdose legte. Sie ließ Wasser in einen Topf und stellte ihn auf die Fliese. Dann nahm sie den Tauchsieder vom Haken neben dem Waschbecken. »Dürft ihr denn auch die Küche nicht mehr benutzen?« »Doch, schon, aber ich bleib lieber oben.« »Ich hab euch noch nen Schlüssel bestellt. Die Kaution übernehmt ihr von mir, Michael findet das völlig okay.« »Nur Adam wird nicht mitmachen.« »Muss er ja nicht wissen, kannst ja sagen, dass Marek zahlt oder meine Familie.« »Adam hat doch sein Autogeld.« »Soll er sich lieber ne neue Kamera kaufen. Sag mal, ist das unser Senfglas, das vom Zeltplatz?« »Die Angyals haben es ihm wieder mitgegeben.« »Darf ich das haben, wenn es leer ist?« Evelyn nickte. »Du darfst Michael nichts von dem Kind sagen, ja?« »Mach ich nicht. Aber irgendwann erfährt er es ja doch! Und wenns seins ist?« »Nicht jetzt schon. Eine Änderungsschneiderei hat sich gemeldet, da 268
könnte Adam anfangen, erst mal halbtags.« »Das sagst du so nebenbei?!« »Abwarten.« »Und? Macht er's?« »Mit ihm wären sie zu dritt, der Chef kommt aus Teheran, ein Perser.« »Adam muss unter Leute. Spielt er noch damit?« Sie sah zum Fensterbrett, auf dem die zwei Socken und der Zauberwürfel lagen. »Er versucht es immer wieder. Hast du das mal geschafft?« »Nein. Aber ich hab mir nie wirklich Mühe gegeben. Wo ist eigentlich Elfi?« »Unter der Heizung. Elfriede gefällt's hier auch nicht.« Katja schob die drei Teile eines Fotos näher zusammen. »Adam ist wirklich ein schöner Mann, klein, aber schön.« »Er isst nur fast nichts mehr.« »Was ich nicht begreife, ist, dass die Adam so einfach wieder reingelassen haben.« »Die dachten, der wäre gleich in der Nacht in den Westen und käme jetzt erst zurück. In seinem Abteil wollten sie wissen, wie es gewesen ist.« »Der Mauerfall?« »Ja, wo er war und was er da gemacht hat.« »Marek sagt, dass sie die Mauer ganz schnell wieder dicht machen können.« »Hab ich Adam auch gesagt. Die verlieren doch jede Kontrolle.« »Und wie sah es aus?« »Alles verwüstet, siehst du doch!« »Ich meine im Osten, so allgemein.« »Nichts weiter, nichts Besonderes.« »Hat er dir Bücher mitgebracht?« »Wieso Bücher?« »Na ja, ich denk, du bist so ne Leseratte.« »Er hat nur die Fotos eingepackt, die Benachrichtigung, dass er am 29. September den neuen Lada abholen kann, und mein Haarband, das zu dem Sommerrock mit den ro269
ten Tupfen passt. Nicht mal Schuhe, keine Mäntel, nichts.« Katja stand auf, als Adam ins Zimmer kam. Sie umarmten sich kurz. »Stör ich?«, fragte er. »Wir würden uns gar nicht stören lassen, stimmt's, Evi? Hier, kleine^1 Geschenk, sollen gut sein.« »Zigarillos? Sieht ja nobel aus!« »Marek war in Amsterdam, hat er für dich gekauft. Und von mir dein Taschentuch, gewaschen, gebügelt, wie versprochen.« »Und immer noch blau kariert«, sagte Adam. »Katja wollte wissen, wie es war.« Evelyn nahm Klebstoff und Tesafilm aus der Einkaufstüte. »Siehst ja die Bescherung«, sagte er. »Sind sie eingebrochen?« »So kann man's auch nennen. Die einen durch die Tür, die anderen durchs Fenster. Muss ein munteres Rein und Raus gewesen sein.« »Diese Schweine!«, sagte Katja. »Na, wenigstens lachst du wieder.« »Ich weiß nicht«, sagte Evelyn, »wenn du das Lachen nennst.« Adam schob sich zwischen Bett und Klapptisch zum Fenster und öffnete es. »Habt ihr was dagegen?« Vorsichtig öffnete er die Schachtel und roch an den Zigarillos. »Vornehm geht die Welt zugrunde«, sagte er. »Werde Onkel Eberhard mal eine anbieten; mal sehen, ob er's zu schätzen weiß.« »Wenigstens um den Briefkasten hätte sich Mona kümmern können, auch ohne Schlüssel«, sagte Evelyn und zog den Stecker des Tauchsieders heraus. »Was heiße das?« »Angeblich hat sie unseren Brief mit dem Schlüssel nie erhalten. Hat sie zumindest Adam gesagt.« »Und deine Mutter?« »Die geht nicht ans Tele270
fon. Ich weiß nicht, was los ist.« Evelyn nahm die Butter und die eingeschweißten Würste aus der Einkaufstüte und legte sie aufs Tablett. »Und wie sah es aus?« »Schön, alles von Laub bedeckt, Rasen, Beete, Wege. Die Quitten haben geleuchtet, alles andere war kahl, und in der Nische unterm Vordach standen noch meine Gartenschuhe nebeneinander ...« Evelyn schob die zusammengeklebten Fotos und die Fotoreste auf eine Pappe und legte sie an das Fußende des freien Bettes. Sie hatte Adams Bericht erst ein Mal gehört, aber was er erzählte, war ihr so vertraut, als hätte sie es selbst erlebt. Sie sah all das vor sich, woran sie schon gar nicht mehr gedacht hatte, weil es kein Wiedersehen geben würde: Die Pforte, den Garten, das Haus, die drei Stufen hinauf zur Tür, sie hörte den Klebestreifen des Siegels reißen und spürte die Kälte, die Adam entgegenschlug. Auch säe war überrascht von dieser Kalte. Die Waschmaschine aus dem Gästekio fehlte. Die Scheibe in der Tür zum Flur hatte einen Sprung. Wie dunkel es plötzlich wurde, als er die Haustür hinter sich schloss. Den Kühlschrank und den Herd hatten sie weggeschleppt, die Scherben des Geschirrs bedeckten wie bei einem Polterabend die Fliesen, so dass sie an der Küchentür stehen bleiben musste. Auch die Mischbatterie an der Spüle war herausgerissen. Evelyn schmierte Schnitten. Die Butter war weich. Um die Tür zum Wohnzimmer zu öffnen, musste sie sich dagegenstemmen. Etwas Schweres 271
schabte über die Dielen. Als sie sich durch den Türspalt zwängte, sah sie, was sie bereits wusste: Nichts war unberührt geblieben. Zuerst versuchte säe, das Regal für die Schallplatten wegzuschieben, um dann die Tür weiter öffnen zu können. Doch das Regal stieß gegen den umgekippten Sekretär, der geplündert worden war. Überall lagen zerrissene Fotos oder zerknüllte Briefe und Rechnungen. Sofort machte sie sich ans Aursammeln. Die Splitter der Schallplatten nahm sie nur in die Hand, wenn sie etwas darauflesen konnte. Erst als sie sich bis zur gegenüberliegenden Wand vorgearbeitet hatte und das Fenster schließen wollte, merkte sie, dass das Fensterkreuz angebrochen und nach unten gesackt war. Sie brauchte Stunden, um die Fotos oder das, was davon übrig geblieben war, einzusammeln. Es gelang ihr sogar, den Sekretär wieder aufzustellen und an die Wand zu rücken. Jetzt goss sie heißes Wasser auf die Teebeutel in der Glaskanne. Zurück im Flur, öffnete sie die Kellertür, griff in den Winkel dahinter, fand die Taschenlampe, ging hinunter und leuchtete in die Dunkelkammer. Sie war leer. Auch ihr erschien diese Leere inmitten der Verwüstung trösdich. Von dem eingeweckten Kompott im Vorraum waren nur noch die Abdrücke der Gläser auf den staubigen Regalbrettern zu sehen. Adam lachte. Katja sagte etwas. Evelyn hatte die Brote belegt, in Viertel geschnitten und garnierte sie nun mit Schnittlauch, Meerrettich und Senf, dazwischen legte sie 272
im Wechsel Gewürz- und Senfgurken. Sie gab sich Mühe und ließ sich Zeit, als würde Adam nur so lange erzählen, wie sie arbeitete. Ins Bad und in die übrigen Zimmer warf sie nur einen Blick. Überall dasselbe. Sie fürchtete sich davor, hinauf ins Atelier zu steigen. Evelyn reichte Katja und Adam die Teller. Durch die offene Tür erblickte sie schon die kleinere der beiden Ankleidepuppen, die an dem Haken für den Weihnachtsstern hing. Die größere lag aufgeschlitzt am Boden. Die Stoffe waren mit irgendwas Stinkendem übergössen worden. Als sie sich umdrehte, um wieder nach unten zu steigen, musste auch sie ihn sehen, den großen schneeweißen BH über der Klinke. Sie selbst hatte ihn damals aufgehoben. Sie wusste, dass er tatsächlich weiß schimmerte, ja inmitten der Verwüstung leuchten musste wie draußen die Quitten. Sie nahm ihn in die Hand. Wusste sie tatsächlich immer noch nicht, was sie mit diesem Ding tun sollte? Sie nahm ein Feuerzeug, hielt die Flamme darunter und schleuderte ihn endlich wie eine Brandfackel ins Wohnzimmer. Wieder lachte Adam. Nein, es war kein Lachen, aber Evelyn kannte kein anderes Wort dafür als Lachen. Adam warf den Rest des Zigarillos in den Garten und schloss das Fenster. Evelyn wollte mehr hören, sie war auch bereit, immer neue Schnitten zu schmieren, abzuwaschen und abzutrocknen, Hauptsa273
che, er sprach weiter. Und da erst wurde Evelyn gewahr, dass sie Adam wieder glaubte.
Letzte Dinge Evelyn ließ sich von den Leuten, die mit ihr aus der UBahn gestiegen waren, überholen. Kurz bevor sie die Treppe erreichte, blieb sie stehen. Für einen Moment war sie ganz allein auf dem Bahnsteig. Der gehörte also jetzt zu ihr, zu ihrem Weg, wenn sie aus der Universität kam. Noch war er von keiner Sorge verdorben, keine schlechte Erinnerung haftete an ihm. Und sie selbst war nicht jene, die sie kannte, sondern eine, die sie sich immer vorgestellt hatte, wenn sie an die Zukunft dachte. Als sie Adam oben an der Treppe sah, erschrak sie und blieb stehen. Dabei freute sie sich doch, dass er auf sie wartete. »Wo bleibst du denn?«, rief er, als sie nur noch ein paar Stufen trennten. Er sah auf seine Uhr und winkte Katja und Marek zu. »Bin ich zu spät?« »Wir wollten eigentlich noch in eine Kondi, um nicht mit leeren Händen dazustehen.« »Ich dachte, Gabriela und Michaela backen für uns?« »Wer?« »Na unsere Mitbewohnerinnen.« »Für die Studentin, nachträglich«, sagte Marek und überreichte Evelyn eine kleine Zuckertüte. »Herzlichen Glückwunsch«, sagte Katja und umarmte sie. »Danke«, sagte Evelyn. »Ich hab nur das hier für euch.« Sie holte das halbvolle Senfglas aus ihrer Tasche. »Von wegen«, sagte Katja und hielt die Hand mit dem 274
rubinroten Ring hoch. »Außerdem gibt's das hier nur ein Mal!« Sie schnippte gegen das Glas, das1 4 einen hellen stumpfen Ton von sich gab. Evelyn hakte sich bei Adam unter. Sie überquerten die Straße und gingen unter den Kastanien weiter. »Michaela und Gabriela«, sagte Adam. »So heißt nicht jede«, sagte Marek. »Aus gutem Hause«, sagte Katja. »Was heißt >aus gutem Hause«, wie redest du denn?«, sagte Adam. »Ist aber so, ihr kommt in die absolute EdelWG.« »Früher nannte man das Kommunalka.« »Richtig!«, rief Marek. »Kommunalka.« »Was Eigenes wäre mir lieber, muss nichts Besonderes sein, aber eigenes Bad, eigenes Klo, schon wegen des Kindes.« »In der Lage hier kriegst du nichts Eigenes.« »Oder einen Keller«, sagte Marek. »Ich hab schon mal im Keller gewohnt.« »Wäre mir lieber.« »Aber nicht mit einer schwangeren Frau, Adam. Ihr könnt die beiden doch zu Patentanten machen.« »Und dort gibt's wirklich nen Garten?« »Ihr blickt auf einen Garten, der ist allerdings nur für die im Erdgeschoss, denen gehört das Haus. Die haben aber bestimmt nichts dagegen, wenn ihr den Kinderwagen mal auf die Wiese stelle und Elfi da ein bisschen rumkraucht.« »Und die Kaution? Hast du denn so viel?«, fragte Adam. »Wir stottern das so schnell bei dir ab, wie es geht ...« »Stottern?«, fragte Marek und lächelte. »Abbezahlen, so nach und nach. Kein Problem, wirklich nicht«, sagte Katja und schob ihren Arm unter 275
den von Evelyn, so dass die vier nun die ganze Breite des Fußwegs einnahmen. Evelyn bewegte sich wie im Traum. Sie hörte die Stimmen der anderen, aber sie wollte sich nicht stören lassen in diesem neuen Leben. Mit jedem Schritt, den sie ihrem eigenen Zimmer mit Parkett und Stuckdecke und der riesigen Küche näher kam, fühlte sie sich sicherer. »Und wieso ist der Palast so billig?«, fragte Adam. »Billig ja nicht gerade. Das haben wir deren Eltern zu verdanken. Die wollen ordentliche Leute für ihre Töchter«, sagte Katja. »Sind wir ordentliche Leute?« »Na klar, keine Drogen, keine Boheme, vor dem Kommunismus geflohen, Studium, arbeitsam und schön, solchen muss man helfen. Außerdem soll Evi ihnen Russisch beibringen.« »Du?« Adam war stehen geblieben. Evelyn zuckte mit den Schultern und zog ihn weiter. »Du hast Glück«, sagte Marek. »Ihr alle habt Glück, euch kann doch nichts5 passieren!« »Wie alt sind die denn?« »So zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, studieren noch. Michaela weiß alles über Musik und Gabriela alles über Politik, zwei Superhirne. Gabriela hat sogar schon ihre Dissertation begonnen, irgendwas mit dem Nahen Osten. Die wird mal Botschafterin, da gehe ich jede Wette ein. Die Wette mit dir hab ich ja auch gewonnen.« Sie beugte sich vor, um Adam anzusehen. »Kann man das studieren, Politik?«, fragte Adam. 276
»Klar, du kannst hier alles studieren«, sagte Marek. »Sehen aber aus wie Abiturientinnen. Ich weiß sowieso nie, wie alt die Frauen hier sind.« An der Konditorei blieben sie stehen. Die Schlange reichte bis in die Eingangstür. »Da kannst du jeden Morgen Brötchen holen oder Apfelstrudel mit Vanillesoße«, sagte Katja. »Täglich frisches Manna«, sagte Adam. »Die haben doch versprochen zu backen«, sagte Evelyn. Sie wollte nicht stehen bleiben. Nur solange sie liefen, fühlte sie sich sicher. »Ich hab euch noch gar nicht erzählt, dass Frau Angyal angerufen hat«, sagte Katja. »Frau Angyal?«, rief Adam. »Woher hat die denn die Nummer?« »Wahrscheinlich von Michael.« »Ist ja wunderbar. Hat er nicht bezahlt?« »Sie wollte nur hören, wie es uns geht.« »Und was hat sie gesagt?« »Nichts weiter - nur dass du dich mal melden sollst.« Adam musste Platz machen, um zwei Frauen mit einem großen Kuchenpaket herauszulassen. »Lasst uns doch gehen, das dauert ja ewig hier«, sagte Evelyn. »Dann haben wir aber nichts«, sagte Katja. »Na und? Dafür sind wir pünktlich.« Evelyn zog Adam weiter. Die beiden anderen folgten. »Und wenn du plötzlich zurückwillst in deine Villa?«, fragte Adam und wartete, bis sich Katja wieder bei Evelyn untergehakt hatte. »Will ich aber nicht«, sagte sie und küsste Marek. »Nun kommt schon!«, sagte Evelyn. »Wenn Adam erst mal loslegt«, sagte Katja, »wenn du erst mal loslegst, könnt ihr überall wohnen, fast überall.« 277
»Red doch nicht! Wo soll ich denn loslegen? Das läuft hier anders, ganz anders. Bis vor ein paar Tagen dachte ich noch, wir hätten die Wahl, aber das ist vorbei, verstehst du das nicht?« »Nein, wieso denn?«, sagte Katja. »Adam kapiert«, sagte Marek, »dass das alles jetzt dieselbe Soße wird, sagt man doch so, oder?« »Ja, dieselbe Soße«, sagte Adam. »Es würde Adam nicht mal was nützen, wenn er nach Polen ginge«, sagte Marek. »Aber besser hier die Soße löffeln als dort.« »Solange es was zum Löffeln gibt«, sagte Adam. »Nun ist aber gut«, sagte Katja. »Das klingt ja wie ne Beerdigung. Seid ihr eigentlich gläubig?« »Du meinst, ob uns die dreizehn was ausmacht, die Hausnummer?«, fragte Adam. »Nein, ob ihr an was glaubt, an Gott oder so?« »Wie kommst du denn darauf?« »Ich frag nur.« »Du etwa?« Katja schüttelte den Kopf. »In bin hier schon mal gefragt worden, ob ich katholisch oder evangelisch bin. Wenigstens hab ich einen katholischen Mann.« »Oh nein, nein, das bin ich nicht mehr, bitte nicht«, sagte Marek und hob den freien Arm, als müsste er etwas abwehren. »Mein Perser wird mich das hoffentlich nicht fragen«, sagte Adam. »Ach, kein Problem.« »Evi ist sogar getauft, wegen ihrer vornehmen Oma, stimmt's?« »Ja«, sagte Evelyn, »aber das war's dann auch.« »Dann hole ich das eben nach, gibt ja sowieso bald ne Massentaufe«, sagte Adam. »Ach, ich hätte gar nicht damit anfangen sollen.« »Sieh dir doch an, was die zweitausend Jahre lang ange278
richtet haben. Sie regen sich über unsere Betonköpfe auf, weil die daran glauben, dass es kein Privateigentum an Produktionsmitteln mehr geben soll ...« »Bitte nicht«, sagte Katja plötzlich sehr ernst. »Wenn ich etwas nicht mehr hören will, dann das.« »Darum geht's auch nicht, aber das kann ich immerhin noch nachvollziehen! Aber das andere, das kapier ich nicht, wie ein erwachsener Mensch tatsächlich an Ewigkeit, Sünde, Hölle und den ganzen Zinnober glauben kann.« »Wenn du das von früh an eingetrichtert bekommst, glaubst du eben daran.« »Das ist doch keine Entschuldigung«, sagte Marek »Da hörst du's. Mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, war auch in der Partei und hat dran geglaubt. Aber achtundsechzig war's bei ihm vorbei, nach Dubcek war ein für alle Mal Schluss«, sagte Adam. Jetzt konnte Evelyn das Haus bereits sehen. Die meisten Fenster waren erleuchtet, es sah festlich aus. »Das kannst du nicht vergleichen«, sagte Katja. »Das Religiöse steckt halt irgendwie im Menschen drin, dagegen kommst du nicht an.« »Ist das falsch, was ich sage? Sag mir, ist es falsch?«»Mensch, Adam, reg dich doch nicht so auf«, sagte Katja. Kann dir doch wurscht sein, woran die hier glauben.« »Wurscht«, wiederholte Marek. »Wurscht!» »Da, die beiden Fenster in der ersten Etage, die gehören euch.« »Ist das Weihnachtsschmuck?«, fragte Adam. »Nächste Woche ist erster Advent. Du hast doch bald 279
Geburtstag, gibt's da vielleicht ne Einladung?« »Wenn mich die Engelchen bis dahin nicht rausgeschmissen haben ... oder Evi.« »Dann gibt's Wurscht«, sagte Marek. »Mach du«, sagte Katja und gab Evelyn den Schlüsselbund. »Der große Gezackte.« Was waren alle Worte gegen diesen Schlüssel, dachte Evelyn. Mit einem leichten Klack öffnete sich die Pforte.
Feuer »Die sind doch wirklich nett, nett und witzig«, sagte Evelyn, als sie das Zimmer betrat, und wedelte mit einem Polaroidfoto. »Und das Ideine Klo haben wir praktisch für uns allein.« Sie ging zu Adam, der mit einer Hand den Fensterknauf umschlossen hielt und mit der Stirn die Scheibe berührte. Neben ihm lag der Zauberwürfel, dessen Seiten nun alle einfarbig waren. »Was habt ihr denn gemacht?« »Wir haben Elfriede das Gemüsefach eingerichtet, das funktioniert perfekt, sind genau sechs Grad.« »Bist du sicher, dass sie nicht tot ist?« »Gabriela hat sie mit einem Zahnstocher ins Bein gepikt, sie hat reagiert, ist aber nicht aufgewacht. Mach dir mal keine Sorgen. Außerdem wenn sie tot wäre, wäre sie ausgetrocknet und viel leichter.« »Im Gemüsefach hat sie doch keine Ruhe!« »Wieso nicht? Im März oder April holen wir sie da wieder raus. Hast du die CD-Sammlung gesehen? Michaela schreibt was über Haydns ‚Schöpfung‘.« »Kenn ich, sogar ganz 280
gut.« »Haben wir das?« »Hatten wir, mit Schreier und Adam.« »Übermorgen um die Zeit«, sagte Evelyn und legte einen Arm um Adams Schulter, »hast du deinen ersten Arbeitstag schon hinter dir.« »Beim Flickschuster.« »Du hast selbst gesagt, Änderungen sind das Schwierigste.« Sie nahm ihren Arm wieder von seiner Schulter. »Katja will sich doch was machen lassen von dir, und Michaela überlegt auch schon ...« Der Wind zerrte an den letzten Blättern der Kastanie. Das zusammengerechte Laub verstreute sich bereits wieder über die Wiese und blieb in den Rosensträuchern und der Hecke hängen. »Der Blick ist so traumhaft, im Frühjahr ...« »Wo hast du denn den Pullover her?« »Der ist praktisch neu.« »Den haben die wohl für die Bergwacht gestrickt.« »Orange steht mir. Sieh mal, das bin ich.« Evelyn zeigte ihm das Polaroid. »Hast doch eine hübsche Frau, findest du nicht? Bisher hat noch niemand was gemerkt.« Sie fuhr sich über den Bauch. »Wäre auch bisschen früh dafür.« »Trotzdem, so im Gesicht und überhaupt, bei manchen merkst du es gleich. Schenke ich dir.« »Danke«, sagte Adam und nahm das Foto. Eine Elster landete vor dem Fenster auf einem Ast. »Gefälles dir hier denn gar nicht?« »Was heißt gefallen ...« »Wie spät ist es?« »Drei nach vier.« »Soll ich Tee machen? Oder Kaffee? Wenn wir ein bisschen Geld haben, kaufen wir uns erst mal ein richtiges 281
Service, vielleicht was Chinesisches, wie Katja es von Marek bekommen hat.« Evelyn küsste Adam auf die Wange und setzte sich an den Tisch. »Ich werd noch ein paar Alben kaufen.« »Wofür denn?« »Wer weiß, wie lange es die noch so günstig gibt. Gabriela würde uns ihren Apparat borgen, wie gestochen sind die Bilder. Und wenn unser Murkel kommt...« »Sag bitte nicht Murkel, Murkel ist grauenhaft.« »Wenn unser Kind kommt, will ich ein Album beginnen, jedes Jahr eins.« »Das hat doch Zeit. Kümmere dich lieber um die Uni. Habt ihr denn nie Hausaufgaben?« »Mach ich in der Bibliothek.« Evelyn blätterte in dem Album mit Adams Modellen. »Dass du die Fotos alle aufgesammelt hast, das war großartig von dir. Ich weiß nicht, ob ich das geschafft hätte. Vielleicht wäre ich fortgerannt. Warum sie die auch noch zerrissen haben, schon der Aufwandl Ich würde sie auspeitschen, diese Schweine! Mir flimmert's richtig vor Augen, wenn ich daran denke. Aber weißt du, falls die das bei uns drüben wirklich hinbekommen, könnte man ja in ein paar Jahren überlegen, ob wir vielleicht…« »Zurück? Zu den Nachbarn, die mir das Fahrrad geklaut haben, die uns alles geklaut und kurz und klein gehauen haben!?« »Die Nachbarn? Wieso denn die Nachbarn?« »Ich hab doch gesehen, wie es bei Kaufmanns am Haus lehnte. Mein Fahrrad war das.« »Du meinst, die haben die Fotos zerrissen? Das glaub ich nicht!« 282
»Oder zugeschaut und nichts gemacht.« »Und verkaufen?« »Das Haus? Was soll das denn bringen - das ist doch alles nichts wert. Hab doch gesehen, eins zu zehn, in zwei Wochen werden es eins zu fünfzehn sein, so geht das immer weiter. Wenn ich das Geld jetzt nicht umgetauscht hätte, wäre es bald gar nichts mehr wert.« »Du musst dort was einkaufen, und hier wird's verkauft, Schmuck oder Porzellan, alte Münzen und Truhen, überhaupt, Antiquitäten.« »Besonders Schmuck, gratuliere, da musst du dir einen anderen Mann suchen.« »Ist doch kein großer Aufwand.« »Ich geh schon zu dem Flickschuster.« Adam sah wieder hinaus in den Garten. Evelyn betrachtete die Fotos. »Du könntest mir doch ein Modell nach dem anderen machen, und ich trage die dann, ich bin dein Mannequin. Das funktioniert, wenn die das erst mal sehen.« »Das hängt vom Typ ab, vom Gang, von der Figur »Trotzdem. Wenn du dich damit vorstellst und ich begleite dich. Oder du kreierst eine neue Kollektion für mich, für mich mit Bauch. Das hast du doch noch nie gemacht, oder?« »Ach Evi, was redest du denn da.« »Stell dir doch mal vor, Anfang Juni, Sonne, blauer Himmel, alles grün, die Berge - unser Kind kommt in die schönste Welt, die es je gegeben hat.« »Findest du?« »Na, dann sag, wann es besser gewesen ist!? In welche Zeit willst du zurück?« »Und Michael lässt uns erst zweihundert Jahre werden, bevor wir dann ganz unsterblich sind.« »Wäre doch gut! 283
Und Angst vor Krieg braucht auch niemand mehr zu haben. Jetzt können sie das ganze Geld für sinnvolle Sachen verwenden, nicht nur hier, überall auf der Welt. Bald muss man nur noch dreißig Stunden arbeiten, und statt anderthalb Jahre zur Armee zu gehen, machen alle ein Jahr was Nützliches.« »Und die Wölfe werden bei den Lämmern liegen.« »Warum sagst du das?« Sie versuchte, sein Spiegelbild in der Scheibe zu erkennen, aber er stand zu nah davor. »Glaubst du wirklich, dass alles weitergeht wie bisher? Das wäre doch absurd!« Adam zuckte mit den Schultern. Das Polaroid war vom Fensterbrett gerutscht und lag mit der Rückseite nach oben vor der Heizung. Evelyn schnitt ein Stück Tesafilm ab und klebte das Foto an die Scheibe. »Damit du mich auch mal wieder ansiehst. Willst du Tee oder Kaffee?« »Egal.« »Tee oder Kaffee?« »Was du willst.« »Also Tee«, sagte Evelyn. In der Küche stand Gabriela und schälte Äpfel. An ihren Fingernägeln klebte Teig. »Für morgen«, sagte sie, »Sonntagsfrühsrück.« »Darf ich auskratzen?«, fragte Evelyn. »Das hab ich schon Ewigkeiten nicht mehr gemacht.« Gabriela schob ihr die blaue Plasteschüssel über den Tisch, zog mit dem kleinen Finger den Besteckkasten auf und reichte ihr einen Teelöffel. sUnd Michael lässt uns erst zweihundert Jahre werden, bevor wir dann ganz unsterblich sind.« »Wäre doch gut! Und Angst vor Krieg braucht auch niemand mehr zu haben. Jetzt können sie das ganze Geld für sinnvolle Sachen 284
verwenden, nicht nur hier, überall auf der Welt. Bald muss man nur noch dreißig Stunden arbeiten, und statt anderthalb Jahre zur Armee zu gehen, machen alle ein Jahr was Nützliches.« »Und die Wölfe werden bei den Lämmern liegen.« »Warum sagst du das?» Sie versuchte, sein Spiegelbild in der Scheibe zu erkennen, aber er stand zu nah davor. »Glaubst du wirklich, dass alles weitergeht wie bisher? Das wäre docb absurd!« Adam zuckte mit den Schultern. Das Polaroid war vom Fensterbrett gerutscht und lag mit der Rückseite nach oben vor der Heizung. Evelyn schnitt ein Stück Tesafilm ab und klebte das Foto an die Scheibe. »Damit du mich auch mal wieder ansiehst. Willst du Tee oder Kaffee?« »Egal.« »Tee oder Kaffee?« »Was du willst.« »Also Tee«, sagte Evelyn. In der Küche stand Gabriela und schälte Äpfel. An ihren Fingernägeln klebte Teig. »Für morgen«, sagte sie, »Sonntagsfrühstück.« »Darf ich auskratzen?«, fragte Evelyn. »Das hab ich schon Ewigkeiten nicht mehr gemacbt.« Gabriela schob ihr die blaue Plasteschüssel über den Tisch, zog mit dem kleinen Finger den Besteckkasten auf und reichte ihr einen Teelöffel. »Danke.« Evelyn begann auf dem Boden der Schüssel zu schaben. Gabriela belegte den Teig auf dem Blech mit Apfelscheiben. »Willst du?«, fragte sie, wischte sich mit dem Handrücken eine Strähne aus der Stirn und hielt Evelyn zwei Apfelstücken hin, die übrig geblieben waren. »Magst du mir noch beim Schälen helfen?« »Noch mehr?« 285
»Das kommt nach dem Kuchen in den Ofen.« »Bratäpfel?« »So ähnlich, ein Auflauf mit Zimt und Vanillesoße.« »Aha«, sagte Evelyn. Sie stellte die ausgekratzte Schüssel ins Waschbecken und hielt den Kessel unter den Wasserhahn. Als sie mit den Äpfeln fertig waren und die Teekanne samt Glasgeschirr auf dem Tablett stand, band Gabriela ihre Schürze ab und bot Evelyn eine Zigarette an. Sie setzten sich an den Tisch und rauchten. »Du ahnst gar nicht, wie ich das alles hier genießet, sagte Evelyn. »Als hätte ich nie woanders gelebt.« Nach wenigen Zügen jedoch drückte sie ihre Zigarette wieder aus. Adam war nicht im Zimmer. Evelyn deckte den Tisch, stellte die Zuckerdose und eine Untertasse mit Apfelstücken in die Mitte und goss Tee ein. Erst als sie Adams Stimme und sein Lachen aus dem Garten hörte, bemerkte sie, dass eines der Fenster angelehnt war. Es roch nach Feuer. Zuerst sah sie ihren Strohhut auf seinem Kopf. Adam hielt das aufgeschlagene Album wie eine Partitur vor sich, zog eines der großen geklebten Fotos seiner Frauen heraus und ließ es in die Flammen fallen. Er tat dies ohne Hast. Er blätterte um, zog das nächste heraus, warf es ins Feuer. Eines flatterte halb verbrannt wieder auf, krümmte sich zusammen und verging in der Hitze. Am meisten ängstigten Evelyn das Gleichmaß und die Ruhe seiner Bewegungen. Zwei Frauen waren am Zaun stehen geblieben und gestikulierten in Adams Richtung. 286
Von dem Nachbargrundstück zur Rechten versuchte ein Mann über die Hecke zu steigen. Er hielt einen Spaten wie ein Gewehr über den Kopf und rief etwas. Auch aus dem Parterre war eine Männerstimme zu hören, ein Fenster wurde zugeschlagen. Adam blätterte weiter, zog die Fotos heraus, warf sie ins Feuer und lachte. In der Flasche neben Adams Füßen steckte ein blaukarierter Fetzen. Von einem Moment auf den anderen fiel das Feuer in sich zusammen. Die Flammen duckten sich an den Boden. Adam klappte das Album zu. Der Mann mit dem Spaten ergriff die Flasche und trug sie aus ihrem Blickfeld. Schnell jedoch kehrte er wieder zurück und schlug mit dem Spaten auf das Feuer ein. Funken stoben auf. Adam trat zurück, um einem zweiten Mann Platz zu machen. Beide Männer scharrten nun feuchtes Laub heran, trampelten die letzten Flammen aus und brüllten irgendetwas. Plötzlich sah Adam über die Schulter zu ihr herauf, als hätte er die ganze Zeit gewusst, dass sie dort stand. Er zog den Hut, lächelte, nickte ihr zu und setzte den Hut wieder auf. Evelyn überlief es kalt. Sie schloss das Fenster und wich ins Zimmer zurück, bis nur noch die Frauen am Zaun zu sehen waren, dann auch die nicht mehr. Sie stieß gegen den Tisch und blieb stehen. Die Elster hüpfte weiter über die kahlen Äste und Zweige der Kastanie und wippte dabei hin und her, als würde sie jeden Augenblick das Gleichgewicht verlieren. Die Lampe spiegelte sich in der Scheibe. Darunter erkannte Evelyn 287
sich selbst und um sich herum das ganze Zimmer, das noch viel größer schien als in Wirklichkeit, beinah riesig, und direkt sah sie, klein und farbig, ihr eigenes Bild.
Danksagung Peter Bacsö verdanke ich die Idee, einen Schneider und seine Frau aus der ostdeutschen Provinz im August 1989 an den Balaton zu schicken. Anregungen erhielt ich unter anderem durch folgende Filme und Bücher: »Kein Abschied - nur fort«, ein Film von Joachim Tschirner und Lew Hohmann, 1991; »Und nächstes Jahr am Balaton«, Regie Herrmann Zschoche, 1979/1980; »Der Schwimmer« von Zsuzsa Bank, Frankfurt 2002; »Heimspiel« von Ines Geipel, Berlin 2005; »Balaton-Brigade« von György Dalos, Berlin 2006. Ein Großteil des Buches entstand 2007 in der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo, einem paradiesischen Ort. In der Rolle des Mäzens trat die Bundesrepublik auf, als Engel/Cherubim die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Villa. Die Mitstipendiaten wurden zu Mitvertriebenen. Ihnen allen, besonders aber meiner Familie, danke ich sehr herzlich. 288