Kurt Brand
AKTION EXODUS Mondstation 1999
Science- Fiction – Roman
Bastei Lübbe
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH • Band 25...
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Kurt Brand
AKTION EXODUS Mondstation 1999
Science- Fiction – Roman
Bastei Lübbe
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH • Band 25011 MONDSTATION 1999 © Copyright by ITC Incorporated Television Company Ltd Deutsche Lizenzausgabe 1978 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Gladbach
Printed in Western Germany Titelbild: ATV Umschlaggestaltung: Roland Winkler Satz: Neo-Satz, Hürth Druck und Verarbeitung: Mohndruck Reinhard Mohn OHG, Gütersloh ISBN 3-404-00959-2
Aktion Exodus läuft an. Die Alphaner müssen die Mondbasis räumen, denn der Mond liegt auf Kollisionskurs mit dem Asteroiden Torso, einem 40 Kilometer langen Gesteinsbrocken, dessen Aufschlag auf die Mondoberfläche Alpha 1 vernichten kann. Aber während die Evakuierung vorbereitet wird, machen die Alphaner eine überraschende Entdeckung: Torso trägt Leben. Auf dem atmosphärelosen Asteroiden existiert eine unheimliche Lebensform, die so fremdartig ist, daß eine Verständigung unmöglich erscheint. Nur die Fremden könnten eine Kollision verhindern…
I
»Wir haben wirklich nur noch eine Frist von drei Tagen?« fragte Commander John Koenig abermals, obwohl ihm die beiden Astrophysiker soeben mit unmißverständlicher Deutlichkeit gesagt hatten, daß Luna und damit die Mondbasis Alpha dabei sei, auf kürzestem Weg mit einem Asteroiden zusammenzustoßen. »Zwei Tage und neunzehn Stunden, Sir«, erwiderte Piet Jefferson, Astrophysiker und Chef von Hank d’Albert, dem man unter Kollegen auf der guten alten Erde eine phänomenale Karriere vorausgesagt hatte. Nun raste er mit dem Mond unaufhaltsam in die Tiefen des Alls, und der Traum von weltweiter Berühmtheit war ausgeträumt. John Koenig strich über sein schwarzes Haar, ließ die Hand im Nacken liegen, warf noch einmal einen Blick auf die Karte vor ihm und nickte. »Mit anderen Worten – Evakuierung! Oder…?« Jefferson sah dem Commander fest in die Augen. »Es gibt kein ›oder‹, Sir. Uns bleibt keine andere Wahl, als abzuwarten, was nach dem Zusammenstoß mit dem Planetoiden Torso vom Mond und unserer Basis übriggeblieben ist.« Koenig fächelte mit einem Blatt, auf dem eine Zahlengruppe neben der anderen stand. Er wußte, was diese Werte zu bedeuten hatten. »Jefferson, Sie und Ihre Kollegen sind überzeugt, daß es keine Möglichkeit gibt, den Asteroiden in mehrere Teile zu brechen?« »Ja, Commander. Schließlich ist der ellipsoide Torso 46,3 Kilometer lang und 12,9 Kilometer dick. Die Teleauswertung
hat ergeben, daß er eine gigantische Metallplombe darstellt, in der Schwermetalle überwiegen.« Koenig sah von einem zum anderen. Jedes Gesicht, in das er blickte, zeigte starre Verschlossenheit. Jeder wußte, was die nahe Zukunft brachte. Niemand brauchte sein Testament zu machen. Mit dem Zusammenstoß fiel ihre Mondbasis wie ein Kartenhaus zusammen. Die unterirdischen Kavernen würden einstürzen, und alles, was in jahrelanger Arbeit und unter ungeheueren Kosten errichtet worden war, würde es nicht mehr geben. Auch nicht mehr die Sauerstofferzeuger! Und wie begrenzt die Sauerstoffvorräte in den Eagles waren, wußte jeder. Der Commander erhob sich. »Dann läuft Aktion ›Exodus‹ weiter.« Er wandte sich an Tony Verdeschi, den Sicherheitschef der Station. »Du garantierst mir, daß es zu keinen Zwischenfällen kommt.« Der Italiener, der Probleme am liebsten in einem Atemzug löste, brachte ein grimmiges Lächeln zustande. »Dein Vertrauen ehrt mich, John, aber eine Garantie gebe ich dir in diesem Fall nicht. Die Unruhe unter den Leuten ist schon zu groß. Wir, die wir uns hier zusammengefunden haben, wir haben es versäumt, sie früh genug über die unausweichliche Katastrophe zu informieren.« In Koenigs Augen blitzte es auf. »Ich will in diesem Fall den Ausdruck ›unausweichlich‹ nicht eher wieder hören, bis daß sich die Katastrophe wirklich ereignet hat!« Unwillkürlich erhob sich Tony Verdeschi. »Du glaubst an ein Wunder, John? Wirklich? Bitte schau uns an! Einen nach dem anderen!« Mit ausgestreckter Hand deutete er auf jeden. »Unter uns gibt es niemanden, der an ein Wunder glaubt.«
Seine Antwort kleidete Commander Koenig in eine Frage: »Habe ich das etwa erwartet, Tony?« An der Tür blieb er stehen. »Leslie«, er sprach den jungen Wyck an, der ein ausgezeichneter Organisator war, »ich hoffe, daß Sie Aktion ›Exodus‹ meistern werden.« Dann fiel die Tür hinter ihm zu.
In den 20-Uhr-Nachrichten erfuhr auch der letzte in der Mondstation, daß in weniger als drei Tagen Luna mit einem Planetoiden zusammenstoßen würde. Unmißverständlich deutlich wurde in den Nachrichten von einem Frontalzusammenstoß gesprochen. »Der Mond wird aller Wahrscheinlichkeit bei diesem Zusammenprall nicht auseinanderbrechen, fuhr der Nachrichtensprecher fort, aber schwerste Mondbebenwellen werden ihn bis in die tiefsten Tiefen erschüttern. Nach den Berechnungen unserer Wissenschaftler wird der Asteroid, dem man den Namen Torso gegeben hat, etwa 800 Kilometer von der Mondbasis entfernt einschlagen. Mit der ersten Druckwelle im Boden wird Alpha in sich zusammenbrechen. Darum muß bis zu diesem Zeitpunkt der letzte Mann die Base verlassen haben. Zur Stunde werden auf dem Mond, wie es Aktion ›Exodus‹ vorsieht, Sauerstofflager eingerichtet, die natürlich auch Lebensmittel in ausreichenden Mengen in sich bergen. Trotz des drohenden Unheils ist eine akute Gefahr nicht vorhanden. Die Besatzung von Alpha wird den Zusammenstoß zwischen Torso und Luna von den Eagles aus beobachten können und während der danach fälligen Wartezeit, bis der Mondboden sich wieder beruhigt hat, auf die vor uns allen liegende Wiederaufbautätigkeit vorbereitet.
Die nächsten Nachrichten über unsere Lage hören Sie morgen um 12 Uhr.« Das Studio schaltete sich im Kabel-TV ab. Die Bildschirme in den gemütlich eingerichteten Quartieren wurden wieder grau. Unterhaltungsmusik setzte ein, verstummte aber nach wenigen Takten, denn die Evakuierungszentrale hatte eine wichtige Mitteilung zu machen. Die Namen von achtundzwanzig Personen wurden verlesen. Darunter befand sich auch der Name Eugen Dinand, 34 Jahre, verheiratet, von Beruf Vakuumschweißer. Marie, seine Frau, die er nur ›Petite‹ nannte, blickte ihn fragend an. Auch er war überrascht, zur Katastrophenbereitschaft einberufen worden zu sein, und unter den achtundzwanzig Fachleuten war er der einzige Vakuumschweißer. »Eugen, was hast du bei diesen Eierköpfen zu suchen? Als einziger Handwerker.« »Woher soll ich es wissen, Petite? Aber ich mache mir auch meine Gedanken.« Mißgestimmt schüttelte er den Kopf. »Wenn ich gleich keinen klaren Wein eingeschenkt bekomme, warum man mich in die Bereitschaft gesteckt hat, haue ich auf den Tisch, daß der Putz von den Wänden fällt und…« Marie kannte ihren Eugen, und sie wußte, wie jähzornig er werden konnte. Diese Charaktereigenschaft hatte ihn um ein Haar den Mondjob gekostet, als er sich vor sechs Jahren darum beworben hatte. »Bitte, Eugen, reg dich nicht auf. Denk doch daran, daß wir alle in derselben Gefahr schweben. Bitte, Eugen, versuche ruhig zu bleiben.« Ihre dunklen Augen bettelten so lieb, und das Streicheln ihrer weichen Hände tat dem vierschrötigen Mann so gut, der sich nie bewußt geworden war, daß seine Petite ihn um den Finger wickeln konnte.
»Okay, Petite, okay, ich bleibe ruhig. Ich werde alles mit mir machen lassen, doch das eine sag’ ich… « Und gerade das wollte sie nicht wissen, und sie verschloß ihm mit einem Kuß den Mund. Ihre Arme um seinen Nacken ließen ihn nicht los, als sie fragte: »Sagst du mir Bescheid, wenn du nach draußen mußt?« Er lächelte sie an, und seine Pranken, die so hart zufassen konnten, strichen behutsam über ihr Gesicht. »Werde ich, Petite. Du kannst dich darauf verlassen.« An der Tür gab er ihr noch einmal einen Kuß. »Bis dann… « »Bis dann, Eugen«, sagte sie auch. Er sah die Angst in ihren dunklen Augen nicht. Er ahnte auch nicht, daß seine Petite von dem unbeschreiblichen Empfinden gequält und gefoltert wurde, ihn nie mehr wiederzusehen. Eugen! riefen ihre Gedanken, und sie blickte ihm nach, wie er den langen Gang zum Lift hinunterging. Sie hielt sich an dem Türrahmen fest, und Tränen kamen in ihre Augen. Eugen! riefen ihre Gedanken ununterbrochen, aber Eugen Dinand hörte dieses Rufen nicht. Leslie Wyck, der die Aktion ›Exodus‹ leitete, schien allgegenwärtig zu sein. Vor einer Viertelstunde war er noch in den Tiraniumlagern gesehen worden, und nun stand er im Eagle Center und ließ sich vom leitenden Ingenieur Bericht erstatten. Der versuchte daraus ein Referat mit Fachausdrücken zu machen. Wyck stoppte ihn. »Welche Checks zur Zeit an den Eagles durchgeführt werden, will ich gar nicht wissen, Pevez. Ich will nur wissen, wann der letzte Eagle voll einsatzklar ist. Und wann kann ich mit dieser Meldung rechnen?« Pevez zögerte mit der Antwort. Er wirkte ein wenig hilflos, aber auch Leslie Wyck war es bekannt, daß dieser Eindruck täuschte. Manuel Pevez war der Mann, der die Wartungs-Crew der Eagles an langer Longe fest in der Hand hatte. Und wenn
er es verlangte, gingen die Boys für ihn durch die Hölle. Etwas Ähnliches hatte er vor einigen Stunden gefordert. Und es würden noch fünf bis acht Stunden vergehen, um auch das letzte Raumboot voll einsatzklar gemacht zu haben. Es konnte auch zehn Stunden dauern. Darum war Pevez nicht in der Lage, Leslie Wyck einen Termin zu nennen. »Wyck, fragen Sie in fünf Stunden noch einmal nach«, sagte er dem nun erstaunten Einsatzleiter von ›Exodus‹. »Im Moment kann ich keinen Termin nennen. Und was hier los ist, sehen Sie ja.« Mit einer alles umfassenden Handbewegung deutete er auf die Eagles, die überholt oder gecheckt wurden. Bei dem Höllenlärm in dem riesigen Hangar war das eigene Wort kaum zu verstehen. Darum glaubte Wyck sich verhört zu haben. Er, der Chef der Aktion, sollte nicht vergessen, in fünf Stunden noch einmal nachzufragen? »Ja, das habe ich gesagt, Sir«, erwiderte Perez, »und mehr habe ich zu Ihrem Verlangen nicht zu sagen. Wenn Sie sich noch länger mit mir unterhalten wollen, müssen Sie schon mitkommen. Dort hinten, wo der lange Mann winkt, werde ich verlangt.« Leslie Wyck ging nicht mit. Er grinste, und erinnerte sich, wie hilflos eben erst Pevez ausgesehen hatte. Dieser Pevez war in seinem Innern hart wie Titanstahl. Okay, dachte Wyck, dann werde ich in fünf Stunden also noch einmal nachfragen, wann denn das letzte Raumboot klar ist. Zehn Minuten später tauchte er bei den Astronomen auf. Es überraschte ihn nicht, den Commander anzutreffen. Neben ihm am großen Schirm blieb er stehen. Der Schirm zeigte den Asteroiden Torso. Genauso sah der Kleinstplanet auch aus – ein kantiges, ellipsoides Rumpfstück, umgeben von dem starren Leuchten
von Milliarden Sonnen, die keiner der Männer vor dem Schirm sah. Dieser Bombe aus Schwermetallen war nicht anzusehen, daß sie sich mit dreihundertneunzehn Kilometern in der Sekunde dem Mond näherte. Torso schien unbeweglich im freien, nachtschwarzen Raum zu stehen. Er besaß keine Rotation. Er stand über dem Abgrund des Nichts. Der Gedanke, daß dieser Planetoid frontal mit dem Mond zusammenstoßen würde, war unvorstellbar, aber er würde in zwei Tagen und sieben Stunden rund 800 Kilometer von der Basis Alpha entfernt auf Luna herabstürzen und sich kilometertief in den Boden bohren. In der selben Sekunde würden Abermillionen Tonnen Gestein, teils vergast, teils als feurige Flammenbahnen in den freien Raum geblasen werden, und der gute alte Mond besaß dann einen Riesenkrater mehr. Was in der Folge des Aufpralles mit der Mondbasis Alpha geschah, lag auf der Hand, und Commander John Koenig sagte das, was alle anderen gerade dachten: »Wir werden den Ort nicht mehr wiedererkennen, wo jetzt noch unsere Basis steht. Großer Himmel, es muß doch eine Möglichkeit geben, Torso auf einen anderen Kurs zu bringen.« Er blickte in ausdruckslose, hoffnungslose Gesichter. Seinen Worten folgte kein Kommentar. Grau und häßlich schwarz an vielen Stellen stand das gigantische Bruchstück Torso im freien Raum und näherte sich mit jedem Atemzug um dreihundertneunzehn Kilometer dem Mond. Die Kunst der Astroingenieure hatte es fertiggebracht, Torso sichtbar zu machen. Es war eine Meisterleistung der Teletechnik, aber diese Meisterleistung belastete auch den letzten Mann in der Station, denn Torso war die Gewehrkugel, die auf jeden einzelnen in Alpha abgeschossen worden war und – die jeden einzelnen treffen würde, wenn die Flucht mit den Eagles nicht gelang.
Eine Flucht ins Sterben! Niemand sprach davon. Alle wußten es. Auch die auf Luna eingerichteten Notlager mit Sauerstoffreserven und Lebensmitteln würden bei den gewaltigen tektonischen Verschiebungen und Beben die Katastrophe nicht überstehen und entweder unter den Mondschollen begraben werden oder in die Bodenrisse stürzen. »Warum muß dieser verdammte Brocken auch noch aus Schwermetallen bestehen«, stieß Leslie Wyck beinahe haßerfüllt aus. Robbins, Astronom, lächelte dünn und schüttelte den Kopf. »Wyck, es ist absolut bedeutungslos, ob Torso aus Schwermetallen oder aus Erden besteht. Der Unterschied von einigen Millionen Tonnen ist für die Folgen nach dem Zusammenprall unbedeutend. Das Fürchterliche liegt in der hohen Aufprallgeschwindigkeit. Hoffentlich bewahrheiten sich nicht unsere Befürchtungen und die der Astrophysiker, daß Torso auf Luna einen Krater entstehen läßt, der einen Durchmesser von fünfhundert Kilometern und mehr aufweisen wird.« Das war neu für Leslie Wyck. Er spürte, wie er innerlich zu frieren begann und die allerletzte seiner kümmerlichen Hoffnungen erlosch wie ein kleines Öllicht. »Dann… dann wird unsere Station unter dem Kraterring zu liegen kommen?« Auch das wollte er nicht wahrhaben. Als er die Hand des Commanders auf seiner Schulter fühlte, stieß er ein scharfes »Verdammt!« aus. »Wyck«, sagte Koenig, »was Sie gerade gehört haben, darf in der Basis nicht bekannt werden, oder wir haben mit Panik zu rechnen.«
Wyck sah den Fall anders. »Verstehe ich nicht ganz, Sir. Warum sollte es zu panischen Ausbrüchen kommen, wenn es doch keine Hoffnung auf das Überleben mehr gibt?« »Gerade deswegen, Wyck. Wenn Sie Näheres wissen wollen, dann befragen Sie einen Psychologen. Wir hatten es getan, und sie warnten uns, der Besatzung den letzten Hoffnungsfunken zu nehmen.« Wyck glaubte unsichtbare Zentnerlasten auf seinen Schultern zu tragen. Dämonisch grinste ihn Torso vom Bildschirm her an. Unheimlich seine Bewegungslosigkeit. Geradezu häßlich sein bizarres Aussehen. Leslie Wyck hatte bis zu diesem Augenblick nicht gewußt, welch ein Gesicht Gevatter Tod besaß. Jetzt wußte er es. Jetzt kannte er Gevatter Tod. Über den Lautsprecher kam ein Durchruf. »Evakuierungszentrale an Wyck. Bitte, kommen!« Wyck meldete sich. »Ihre Anwesenheit ist in unserer Zentrale erforderlich. Sie werden hier erwartet. Ende.« Commander John Koenigs Blick sprach Bände. »Ich komme mit, Wyck.« Sie eilten über den Gang, benutzten den Lift, wichen hier und da Mondwanzen aus, die bis zur Grenze ihrer Belastbarkeit mit Materialien beladen waren, und stürmten in die Evakuierungszentrale. In der Tür blieben Koenig und Wyck wie angewurzelt stehen. Drei Handlaser und zwei Stunner zielten auf sie. In der Ecke standen Wycks Mitarbeiter und hielten die Hände hoch. Zwei entschlossene Kerle, ebenfalls Stunner in den Händen, hielten sie damit in Schach. »Tür schließen! Keine Tricks versuchen, und dann schön die Hände hochnehmen!« schnarrte Jean Single, der zur
Sicherheitscrew von Tony Verdeschi gehörte und jetzt der Boß der Meuterer zu sein schien. »Commander, wenn Sie versuchen sollten, sich durch einen Funkruf mit Verdeschi in Verbindung zu setzen, blase ich Ihnen mit dem Laser ein kleines Loch in den Schädel. Vergessen Sie meine Warnung nicht, und jetzt an die Wand! Ein bißchen plötzlich, wenn ich bitten darf.« Wyck hatte die Tür geschlossen und trat zu John Koenig, der unwahrscheinlich gelassen wirkte und furchtlos auf die auf sie gerichteten Waffen blickte. »Was soll der Unsinn, Single?« fragte der Commander. »In zwei Tagen und sieben Stunden prallt Torso gegen den Mond, und wir schauen uns das Spektakel vom Raum her an. Jeder von uns hat die gleiche Chance. Keiner ist besser dran als der andere und… « »Doch, wir!« unterbrach Jean Single scharf. »Wir werden besser dran sein. Und Sie werden dafür sorgen, daß es uns dann viel, viel bessergehen wird als allen anderen. Sie werden jetzt schon damit anfangen. Aber… « und seine Stimme drohte erneut, »denken Sie an meinen Handlaser und an das hübsche Loch, das ich Ihnen versprochen habe. Ich pflege meine Versprechungen einzuhalten. Und jetzt hören Sie mal gut zu, Sir… « Die vier Komplizen taten so, als seien sie Roboter, und auch die beiden Meuterer in der Ecke, die Wycks engste Mitarbeiter in Schach hielten, schienen das Ganze sehr uninteressant zu finden. Für sie gab es nur die ihnen gestellte Aufgabe, und darum waren sie in John Koenigs Augen so gefährlich, denn Menschen, die darauf verzichteten, ihren Verstand zu benutzen, waren stets nicht kalkulierbare Gefahrenfaktoren. Jean Single hatte sich die richtigen Typen ausgesucht. »Single, Sie… «
Der schnauzte den Commander an. »Mister Single! Und wenn Sie mich mit Mister nicht anreden können, bringe ich es Ihnen ganz schnell bei. Los, setzen Sie sich an den Schreibtisch, und geben Sie die Orders durch, wie ich es Ihnen aufgetragen habe, aber vergessen Sie das hübsche Loch nicht.« John Koenig dachte nicht daran einen Trick zu versuchen. In dieser Lage waren ihre Chancen gleich Null. Er setzte sich mit dem Pilot Center in Verbindung, und bekam Kontakt mit Pevez. »Hier Commander. Pevez, machen Sie die Eagles Eins bis Fünf für 23:30 Uhr abhebeklar. Schalten Sie die Bordcomputer von Zwei bis Fünf auf Eagle Eins. Der Fünfer-Pulk wird mit nur einem Piloten fliegen. Also auch die Steuerung der anderen Eagles auf Eins schalten und… « Pevez grollte und fiel John Koenig ins Wort. »Sir, was Sie gerade angeordnet haben, wirft meinen Gesamtplan um. Wenn Sie auf Ihren Befehl bestehen, bin ich nicht in der Lage in fünf Stunden auch das letzte Raumboot hundertprozentig zu haben. Und Sie wissen doch selbst, welche Gefahren mit einem Pulkflug dieser Art verbunden sind.« »Pevez«, sagte Koenig eiskalt, »lassen Sie das ausführen, was ich angeordnet habe. Drei Mondwanzen werden in etwa zehn Minuten eintreffen. Stellen Sie genug Leute ab, damit das Zeug schnell an Bord der Eagles geschafft wird, denn nach den drei Wanzen werden in kurzer Folge weitere eintreffen… « »Commander… « stieß der völlig hilflose Pevez aus. »Commander, wie soll ich denn meinen Hauptauftrag durchführen können? Wanzen entladen…?! Großer Himmel, warum werden die Eagles denn nicht im Bereich der Standbasis beladen? Dort gibt es doch die robotischen Ladestapler in rauhen Mengen. Wir haben nicht einen hier und…«
Wie ein Peitschenschlag knallte Commander Koenigs Durchsage: »Befehle ausführen, Pevez, Ende!« Er lehnte sich zurück und blickte Jean Single an, der nicht einmal ein Grinsen zeigte. »Okay, Commander, Sie haben also das hübsche Loch nicht vergessen. Bitte, vergessen Sie es auch in den nächsten Stunden bis zu unserem Start nicht. Und nun setzen Sie sich mit Gilles, Turreaux und Nowitsch in Verbindung. Oder sind diese drei Männer nicht die besten Tiraniumspezialisten?« Er wartete eine Antwort auf seine Frage nicht ab und fuhr im selben Atemzug fort: »Diesen drei Experten werden Sie den Befehl geben, an allen Eagles ab Nummer Sechs die Tiraniumtreibstoffsätze auszubauen und sie ins tiefste Lager zu schaffen. Die drei Männer fiebern schon danach, Ihre Order zu erhalten. Also tun Sie, was ich Ihnen aufgetragen habe!« Der Kreis um Jean Single schien viel größer zu sein, als Commander Koenig zuerst vermutet hatte. Aus Singles Worten schloß er, daß die drei Tiraniumexperten sich ebenfalls in der Hand von Meuterern befanden. Er gab die Anweisungen durch. Zeit verstrich. Immer wieder warf Single einen Blick auf seine Uhr. In der Ecke stöhnte ein Mann, der darum bat, die Hände herunternehmen zu dürfen. Er bekam nicht einmal eine Antwort auf seine Bitte. Single schien seinen Komplizen eingetrichtert zu haben, nicht zu sprechen. Plötzlich richtete er den nächsten Befehl an John Koenig. »Setzen Sie sich wieder mit Pevez in Verbindung, und fordern Sie ihn auf, unverzüglich nach hier zu kommen. Vollzug, Commander!« Der führte den Befehl aus. Pevez’ erregten Protest überhörte er.
Als sich Minuten später die Tür zur Evakuierungszentrale öffnete und der wütende Pevez hereinstürmte, wurde er von zwei Meuterern und deren Stunner empfangen. Pevez hielt sich den Kopf fest, stöhnte laut auf und sagte: »Großer Himmel, jetzt begreife ich Ihre idiotischen Anordnungen, Commander, aber das Zeug wird den Brüdern noch wie Blei im Magen liegen. Single, sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen?« Der herrschte ihn an: »Stellen Sie sich zu den beiden, Pevez!« Der blieb vor Single stehen, übersah einfach dessen Handlaser und sagte: »Single, Sie ahnen es noch nicht, aber Ihr sauberes Spiel ist aus. Ich habe die Sicherheitsgarde alarmiert, nachdem der Commander mir befohlen hatte: ›Stellen Sie genug Leute ab, damit das Zeug schnell an Bord der Eagles geschaffen wird‹. Das Wort ›Zeug‹ ließ mich den Alarm auslösen. Ob Sie uns umbringen oder umbringen lassen, Single, Sie und Ihre Männer kommen hier als Freie nicht mehr raus.« »Meinen Sie…?« kam des anderen ironische Frage. »Glauben Sie das tatsächlich, Pevez? Los, stellen Sie sich zum Commander und Wyck! Ihnen, Koenig, sollte ich eigentlich das versprochene hübsche Loch in den Kopf blasen, aber ich brauche Sie noch. Setzen Sie sich wieder an den Schreibtisch, und erzählen Sie Ihrem neunmalklugen Tony Verdeschi, daß ich in fünfzehn Minuten ein gutes Dutzend Bomben fernzünde. Dann haben wie den Asteroiden nicht mehr nötig. Bitte, Commander, beeilen Sie sich, denn der Countdown läuft schon!« John Koenig war überzeugt, daß der zu allem entschlossene Meuterer nicht bluffte. Er setzte sich mit Verdeschi in Verbindung und befahl seinem Sicherheitschef, die eingesetzte Garde wieder abzuziehen.
»Dann bist du wirklich bereit, dieser Bande fünf Eagles zur Verfügung zu stellen, John? Hast du dir auch überlegt, daß wir dann nicht alle Personen evakuieren können?« Der Italiener war hochgradig erregt, und er verbarg es nicht. »Auch das habe ich mir überlegt, Tony. Du gehörst auch zu dem Personenkreis, der in Alpha zurückbleibt. Ich rechne mit Freiwilligen, die uns bis zur Katastrophe die Zeit vertreiben.« »Deinen Humor möchte ich haben«, fauchte Verdeschi. »Okay, ich tue, was du befohlen hast, Commander!« Single hatte einen weiteren Befehl für John Koenig. »Erkundigen Sie sich, ob die ersten drei Mondwanzen schon entladen sind und die Vorräte sich an Bord der Eagles befinden.« Sie waren entladen, und die Vorräte befanden sich an Bord der Raumboote. »Commander, im Moment benötige ich Sie nicht mehr. Stellen Sie sich zu Wyck und Manuel Pevez!« In diesem Augenblick ging spürbares Zittern durch den Boden der Mondstation. Der Commander wie auch Single warfen den Kopf in den Nacken und lauschten, aber das Donnern einer Explosion blieb aus. »Was war das, Commander?« fragte Jean Single, und in seinen Augen glühte Mordlust. »Bin ich Hellseher, Single?« zischte Koenig, den das Zittern stark beunruhigte, weil er es sich nicht erklären konnte. »Basisbrücke an Commander! Roger!« klang es aus dem Lautsprecher. »Basisbrücke an Commander! Roger!« Jean Single nickte ihm zu und flüsterte dabei: »Denken Sie an das hübsche Loch.« Der Commander meldete sich. Die Stimme des Astrophysikers Jefferson klang auf. »Taststrahl unbekannter Spezies hat Mondstation Alpha voll getroffen und in ihrem Bereich die tragenden Decken für
Sekunden zum Schwingen gebracht. Laut Computeraussage ist der Taststrahl von Torso ausgegangen.« »Noch weitere Einzelheiten?« erkundigte sich Koenig. »Nein, Sir.« »Danke. Sie kennen ja Ihre Aufgabe, Jefferson.« Das Gespräch war zu Ende. Seine Kürze trug dem Commander einen mißtrauischen Blick des Meuterers ein. Das Pilot Center meldete sich. Eine Männerstimme wütete: »Hier Pilot Bloch von Eagle Achtzehn. Ich lasse mir den Tiraniumtreibsatz nicht ausbauen, Commander, und wenn Sie es hundertmal befehlen. Mein Kampf-Adler bleibt startklar. Commander, es geht auf Ihre Kappe, wenn ich einem von diesen drei miesen Burschen zerlasere. Mein Spuraufnahmesystem hat einen von diesen Brüdern voll erfaßt!« Das war keine schöne Ausdrucksweise, aber sie war unmißverständlich. Und unmißverständlich klar war Koenigs Order. Er schnarrte: »Commander an Pilot Center! Commander an Pilot Center! Pilot Bloch festnehmen und abfuhren! Ende.« Single grinste. »Sie scheinen allmählich einzusehen, daß ich hier das Sagen habe.« Er drückte ihm eine Liste in die Hand. »Durchgeben! Die Wanzen sofort damit beladen lassen und zum Pilot Center in Marsch setzen! Ich gebe den Boys im Center genau vierzehn Minuten, um alles an Bord der fünf Eagles zu schaffen. Die Gesamtaktion darf nicht länger als… « In diesem Moment entdeckte Single, daß das Videosystem nicht abgeschaltet war. Er zerstrahlte es, und in der ›Exodus‹-Zentrale stank es nach verbranntem Isolationsmaterial. »Dauer der Gesamtaktion sechsunddreißig Minuten, Commander. Bitte… «
Auch das ging über die Bühne wie Jean Single es verlangt hatte. Kein einziger Eagle besaß noch seinen Treibsatz, abgesehen von den ersten fünf Booten. Basis Brücke hüllte sich in Schweigen. Von keiner Stelle kamen Anfragen durch. Die Funktionen der Mondstation Alpha schienen gelähmt zu sein. Nicht aber Jean Singles Elan. »Commander, beordern Sie Mr. Verdeschi, Dr. Wesley Dukes, Dr. Vincent und Mr. Jefferson, den Astrophysiker, ins Pilot Center. Ohne Waffen! Sie sollen sich an Bord des Eagle Eins begeben, und das sofort. Befehlen Sie, Commander!« »Was soll das, Single… äh, Mr. Single? Haben Sie nicht schon genug Geiseln in Ihrer Gewalt?« Der schleuderte ihm entgegen: »Diese zweiwertigen Nummern zählen wenig. Ich will den Kopf der Mondstation in meiner Hand haben. Also, Order durchgeben!« »Und was geschieht mit den Personen, die…?« »Sie machen unseren Fünferflug mit, Commander. Sie natürlich auch.« Koenig schloß für einen Moment die Augen. Tief atmete er ein, seine Brust wölbte sich unter der eng sitzenden Uniform. Als er die Augen öffnete, warf er Single einen vernichtenden Blick zu, den dieser mit höhnischem Grinsen quittierte. »Single, Sie werden Ihre Meuterei noch bedauern. Sie werden Ihr ganzes Tun bereuen. Das schwöre ich Ihnen.« »Schwören Sie, Commander, aber geben Sie jetzt meinen Befehl durch, oder ich treibe Sie mit Schlägen dazu.« Commander John Koenig gab die Order durch. »Wir machen uns sofort auf den Weg, Commander«, bestätigte Tony Verdeschi aus der Basis Brücke. »Ende.« »Okay.« Single hatte diese Entwicklung erwartet. »Nun noch der allerletzte Befehl, Commander. Befehlen Sie allen Strahlgeschützstellungen, ihre Energieerzeuger so lange
abzuschalten, bis der Fünfer-Pulk sich außerhalb der Reichweite befindet. Oder haben Sie Lust in einem der Eagles gegrillt zu werden?« Als Koenig den Befehl durchgeben wollte, stoppte Single ihn. »Sagen Sie auch, daß ich ebenfalls von Bord des Eagle aus die versteckten Bomben in Alpha hochgehen lassen kann. Es ist manchmal gut, andere daran zu erinnern.« Commander Koenig konnte danach nicht verhindern, daß alle Geiseln bis auf ihn strahlgeschockt wurden und besinnungslos zusammenbrachen. Er und die Meuterer machten sich auf den Weg zu den fünf startklaren Eagles. Wie es weitergehen sollte, konnte er nicht sagen. Ihre Lage und die der Menschen in der Mondbasis Alpha war mehr als aussichtslos, aber im Grunde genommen spielte Singles Meuterei eine zweitklassige Rolle, denn der Untergang der Station war unausweichlich. Wenn der Asteroid Torso mit Luna zusammenstieß, blieb von der Basis kein Stein auf dem anderen. Und damit gab es für alle auch keinen Lebensraum mehr. Die paar Depots über den ganzen Mond verstreut – sie konnten das Leben einiger verlängern, aber den nahen Tod nicht bannen. Als er Eagle Eins betrat, blickten ihn Verdeschi, Vincent, Dukes und Jefferson ausdruckslos an. Er sagte auch kein Wort, als er Platz nahm.
II
Die Verwirrung in der Kommandozentrale hatte sich schnell wieder gelegt. Die Besatzung der Basisbrücke verdankte es Dr. Helena Russell, die allen klargemacht hatte, daß man gerade jetzt die Aktion ›Exodus‹ nicht vernachlässigen dürfe. »Commander Koenig hat schon mehrfach bewiesen, daß er auch mit Situationen fertig geworden ist, die zuerst hoffnungslos schienen. Ich bitte, das nicht zu vergessen.« Sie verließ die Basis und suchte das Lazarett auf, dessen Chef sie war. Niemand sah ihr die ungeheuere Angst an, die sie um John Koenig hatte. Sie betrat den kleinen Computerraum, ließ die Fingerkuppen über die Tasten des Datengebers tanzen, und eine Sekunde später spie das Rechengehirn einen bedruckten Papierstreifen aus. Sie las alle Daten über Jean Single, den Boß der Meuterer. Und je mehr Daten sie las, um so deutlicher erinnerte sie sich seiner. Er hatte einmal drei Wochen lang im Lazarett gelegen und eine bösartige Knochenhautentzündung auskurieren lassen. Sein Intelligenzquotient war unwahrscheinlich hoch. Allgemeinwissen mehr als überdurchschnittlich. Im Bereich der Emotionen unerklärbare Erscheinungen, Verdacht auf absolute Gefühlskälte. Unbeirrbar in seinen Versuchen, gestecktes Ziel zu erreichen – (Paranoia?) verliert zum Schluß Überblick? Berufliche Leistungen super-eins… Dann las Helena Russell die Daten über Jean Single zum dritten Mal, aber dadurch wurde das seelische Bild von ihm nicht deutlicher; im Gegenteil, noch verschwommener als beim ersten Lesen.
Wie konnte man einen Mann, der im Verdacht stand an einer Geisteskrankheit zu leiden – und wenn diese Krankheit sich im Anfangsstadium befand –, der Mondstation zugeteilt haben? Wie war es möglich gewesen, aber darüber gab ihr Computer keine Auskunft. Und in der Gewalt dieses Menschen befanden sich der Commander und seine wichtigsten Leute. In der Interkommunikation klang es auf: »Der Fünfer-Pulk hat gerade abgehoben und startet in den freien Raum.« Helena Russells Hand zitterte, die den Papierstreifen mit den Angaben über Single festhielt. Sie war froh, allein zu sein, und sie brauchte sich vor niemandem zu schämen, als sie sich die Tränen abwischte. Mit Piet Jeffersons Abwesenheit in der Mondbasis war Hank d’Albert automatisch an die Stelle seines Kollegen gerückt und damit Chef der Astrophysik geworden, die man intern schlicht A-Phy nannte. Der schlanke Mann mit der auffallenden Habichtsnase strich über sein blondes Haar, als er sagte: »Bitte, den Monitor auf maximale Vergrößerung schalten.« Torso schien in den Raum hineinzuspringen, und Sekunden später, als die Scharfeinstellung durchgeführt worden war, war von dem Asteroiden auf dem Schirm nur ein Drittel seiner elliptischen Größe zu sehen. Eigentlich unvorstellbar, daß Torso mit einer Stundengeschwindigkeit von 1 148 400 km auf den Mond zuraste. Er schien im freien, nachtschwarzen Raum stillzustehen. Vier Männer und eine Frau starrten Torso auf dem Monitor an. »Bild langsam nach rechts wandern lassen!« befahl d’Albert. »Ist die Teletastung auch genau auf Torso justiert?« Aus dem Nebenraum kam über Interkommunikation die Antwort: »Justierung hundertprozentig.«
»Hmmm… « brummte jemand in d’Alberts Nähe. Sie suchten nach der Stelle, wo jener rätselhafte Taststrahl seinen Ursprung hatte, der dann so stark gewesen war, und die tragenden Decken in Alpha zum Schwingen brachte. Torso stand schwarz und drohend und rotierte nicht. Ein gigantischer Brocken aus Schwermetallen, und zugleich ein winziges Trümmerstück, wenn es einmal zu einem Planeten gehört hatte. Das andere Ende des Asteroiden war nun auf dem Bildschirm zu sehen. Die Teletastung hatte nichts erbracht. Ihre Augen hatten auf der zerrissenen Oberfläche des Irrläufers nichts Ungewöhnliches entdecken können. »Aber es muß auf oder in diesem Brocken etwas geben, das in der Lage ist, einen uns unerklärlichen Taststrahl zu erzeugen«, sagte Bonin erregt und blickte Hank d’Albert beinahe herausfordernd an. Der legte ihm die Hand auf die Schulter und nickte dazu. »Monitor aus!« ordnete er an, wandte sich wieder Bonin zu und meinte: »Wenn es klappt, werden wir uns an Ort und Stelle umsehen.« Vier Männer und eine Frau starrten ihn wie ein Gespenst an, das sich unter ihnen befand. Sollte das etwa heißen, daß…? War Hank d’Albert die neue Position zu Kopf gestiegen, daß er ein Selbstmordunternehmen starten wollte? Er verstand ihre Blicke. Er hatte mit seinem Commlock schon das Trennschott geöffnet und war auf dem Weg, den Monitorraum zu verlassen. Im Schott blieb er stehen. »Wenn man mir schnell genug einen Eagle mit einem Treibsatz versehen kann, werde ich mir in der Zentrale vom Computer den Kurs nach Torso ausrechnen lassen. Ich bin
nicht besorgt, keine Freiwillige für das Unternehmen zu finden. Vielleicht möchten Sie mitkommen, Bonin?« Der hatte seine Gedanken und seine Zunge nicht unter Kontrolle: »Ich bin doch nicht verrückt, d’Albert!« stieß er aus und bereute im selben Moment, was er gesagt hatte. Der andere zuckte die Achseln. »Dann nicht. Bis dann. Halten Sie mir Torso schön unter Kontrolle.« Hinter ihm schloß sich das Trennschott. »Bonin, wie konnten Sie d’Albert solch eine Antwort geben?« machte ihm Vivian Blaird den Vorwurf. »Wie konnte ich? Warum hätte ich es nicht tun sollen?« fragte Bonin verärgert. »Ich bin eben kein Selbstmörder.« »Aber daß wir alle in drei Tagen nicht mehr leben, oder in spätestens drei Wochen, wenn es keine atembare Luft mehr in den Eagles gibt, das zählt nicht, Bonin?« fragte sein Kollege, der rechts von ihm saß. »Melden Sie sich doch freiwillig, Seraw. Warum meldet ihr alle euch nicht? Es muß doch ein unbeschreibliches Vergnügen sein, auf Torso spazierenzugehen!« Vivian Blaird erhob sich. »Ich werde d’Albert nach Torso begleiten«, sagte sie schlicht, zog ihr Commlock und öffnete damit die Tür, die den Weg zu ihrem Wohnquartier freigab. »Die ist verrückt geworden«, bemerkte Bonin gehässig. Das Schweigen, das darauf folgte, war Aussage genug. Plötzlich kam sich Bonin wie ein Aussätziger unter seinen Kollegen vor. Eugen Dinand hatte sich schnell mit den anderen Männern der Katastrophenbereitschaft bekannt gemacht und es kam ihm gar nicht mehr außergewöhnlich vor, unter Wissenschaftlern und Spezialtechnikern der einzige Handwerker zu sein. Denn Vakuumschweißen war ein Handwerk und ein gefährliches dazu. Im letzten Jahrzehnt, bevor der Mond aus seiner Umlaufbahn geschleudert wurde, waren mehr als
fünfzehnhundert Vakuumschweißer bei der Ausübung ihres Berufes im freien Raum umgekommen. Eine Sekunde ohne Konzentration arbeiten, konnte jenes Loch in den Raumanzug brennen, das dann diesen Anzug zum Sarg machte. Mit den anderen siebenundzwanzig Männern hatte Dinand die erfolgreiche Meuterei Jean Singles und seiner Kumpanen miterlebt und über den Monitor den Start des Fünfer-Pulks in den Raum beobachtet. Keins der Strahlgeschütze von Mondbasis Alpha hatte den Versuch gewagt, den Pulk so zu beschädigen, daß er um Hilfe hätte rufen müssen. Die Warnung, in solch einem Fall die versteckten Sprengladungen in Alpha per Funk hochgehen zu lassen, war nicht vergessen worden. Bisher waren trotz intensivster Suche erst zwei dieser Sprengstoffladungen gefunden worden – eine im Luftversorgungssystem der Wohnquartiere und eine im Bereich der zentralen Wasserversorgung. Single hatte sich neuralgische Punkte ausgesucht, und das bewies abermals seine teuflische Intelligenz. »Ist was, Dinand?« fragte ihn Benito Torbole, ein Landsmann von Tony Verdeschi, von Beruf Supraleitexperte. Der vierschrötige Dinand druckste herum. »Ich möchte mich nicht lächerlich machen, Torbole, aber… verdammt noch mal, wenn ich Single wäre, hier hätte ich auch eine Bombe versteckt. Dieser Kreuzungspunkt, über dem wir uns befinden, lädt doch dazu ein. Mich hätte er wenigstens eingeladen. Aber vielleicht habe ich bloß Quatsch geredet.« Das kam Benito Torbole nicht so vor. »Moment mal«, sagte er, ließ Eugen Dinand stehen und suchte sich drei bestimmte Männer aus, auf die er hastig einsprach. Einmal deutete er in Richtung Dinand. Die drei Angesprochenen nickten.
Einer von ihnen setzte sich mit MacHolm in Verbindung, der die Suche nach den versteckten Sprengsätzen leitete. Er befand sich in Basisbrücke. »Ja, ich schicke zwei Männer mit Suchgeräten hinunter. Sind in fünf Minuten da.« Sie benötigten eine weniger. »Bevor wir mit der Suche anfangen, müssen wir sie bitten, den Raum zu verlassen. Die Räume über und unter ihnen sind schon leer.« »Ich möchte bleiben«, widersprach Eugen Dinand. »Ich könnte Ihnen zeigen, wo sich der Sprengsatz befindet.« Der vierschrötige Mann zeigte keine Befangenheit oder Unsicherheit mehr. Er war zu einer Persönlichkeit geworden, und das ließ bei dem Zweiersuchtrupp gar nicht erst mitleidiges, spöttisches Lächeln aufkommen. »Wenn ich nicht völlig schiefliege, dann befindet sich die Bombe in der Ecke, wo hinter der Verkleidung die Heizungssensoren zusammentreffen, und von dort gebündelt nach unten in die Tiraniumlager führen. Und was aus unserem Tiranium wird, wenn es eine bestimmte Temperatur überschreitet, haben wir um ein Haar fast schon mal erlebt. Nur hatte es niemand von uns überstanden. Nun, keine Lust, dort mit der Suche zu beginnen?« »Woher wollen Sie das mit den Heizungssensoren wissen?« klang die Frage auf. »Weil ich am Bau dieses Teiles von Alpha mitgearbeitet habe. Als Vakuumschweißer. Ich habe die Bauzeichnungen oft genug in der Hand gehabt. Daher weiß ich, was hinter der Verkleidung liegt. Ich kann sie auch abnehmen.« Die beiden Spezialisten hinderten Eugen Dinand daran. Sie bestanden darauf, daß alle den Raum verließen. Dinand weigerte sich.
»Ohne mich finden Sie den verdammten Sprengsatz nie. Sie wissen doch, wie raffiniert die beiden entdeckten isoliert waren. Mit Ihren Suchdingern, auf die Sie so bauen, finden Sie die Ladung nie.« Er durfte bleiben. Er fand den Sprengsatz, der komplett von Sensoren abgedeckt im Mittelpunktsbereich versteckt worden war. Die Suchgeräte hatten nicht reagiert. Als die Experten sich die Isolationshülle ansahen, die den Satz umgab, brach ihnen der Schweiß aus. »Dann finden wir die anderen nie«, sagte einer und schrie auf, weil Eugen Dinand sich die Bombe unter den Arm geklemmt hatte und mit ihr den Raum verlassen wollte. »Mann, sind Sie des Teufels?« brüllte er ihn an. »Wohin wollen Sie damit?« »Fortschaffen, was Sie zu tun wohl vergessen haben, oder haben Sie vor, das Ding hier zu entschärfen?« Sie rasten damit davon und ließen ihre Suchgeräte zurück. Dinand bemerkte es. Trocken sagte er: »Die beiden haben die Hosen gestrichen voll. Ich bring’ die Suchgeräte zur Zentrale. Dort sollen sie diese sich bei MacHolm abholen.« MacHolm wollte sich die Story von Dinand erzählen lassen, und gerade das konnte der vierschrötige Mann nicht. »Befragen Sie Ihre beiden Männer, Sir«, sagte er, wollte nichts von einem Lob wissen und meinte, nun wieder ein wenig verlegen und unsicher: »Ich muß wieder runter. Ich gehöre doch zur Katastrophenbereitschaft.«
III
Captain Manning gehörte zu dem siebenköpfigen Team, das die Kommandogewalt über Mondstation Alpha Eins übernommen hatte. Er hörte sich den Vorschlag des Astrophysikers an, um ihn mittendrin zu unterbrechen. »Ersparen Sie sich jedes weitere Wort, d’Albert. Ich kann Ihnen keinen Eagle zur Verfügung stellen. Sie wissen doch, daß wir durch den Verlust der fünf Boote nicht mehr in der Lage sind, alle zu evakuieren. Natürlich sind inzwischen ein paar Eagles wieder mit Treibsätzen bestückt. In einer Stunde ist auch das letzte Boot wieder startklar. Aber wie gesagt d’Albert, Ihr Wunsch ist unerfüllbar. Tut mir leid für Sie. Im gewissen Sinne bewundere ich Sie. Sie wissen, daß in zwei Tagen für uns die Uhr abgelaufen ist, und trotzdem möchten Sie diese Spanne ausnutzen, um zu erfahren, was auf Torso den Taststrahl zu uns hereingeschickt hat. Das nenne ich wissenschaftliche Begeisterung. Tja, das wärs dann wohl, oder… « »Ja, das war’s«, sagte Hank d’Albert und hatte begriffen, daß Captain Manning nicht anders handeln konnte. Er wollte die Kommandozentrale verlassen, stand neben Yasko, der auffallend schönen japanischen Computerspezialistin, die gerade Daten beim Bordrechner abgerufen hatte, als ihm eine unmögliche Idee kam. Captain Manning blickte verwundert auf, als der Astrophysiker neben ihm Platz nahm. Hank d’Albert kam ihm zuvor. »Ich habe eine Idee, Captain… « Diese Idee durfte er ihm vollständig vortragen.
»Wenn Sie diese Freiwilligen finden, d’Albert«, meinte der Captain zweifelnd. »Alpha Eins ist zu einem supernervösen Bienenschwarm geworden, seitdem jeder weiß, wie es um uns steht. Befragen Sie Mr. Verdeschis Stellvertreter. Wenn der Mann von der Sicherheit nichts dagegen einzuwenden hat… « Den Rest ließ er unausgesprochen. Hank d’Albert wurde von einem unglaublichen Zwang vorwärtsgepeitscht, seine Idee in die Tat umzusetzen. Verdeschis Vertreter sagte zuerst kategorisch nein, dann vielleicht, und schließlich gab er seine Zustimmung. Aber an einen Erfolg glaubte er nicht. »Kein Mensch in Alpha wird sich die Chance entgehen lassen, mit einem Eagle der Katastrophe entfliehen zu können, d’Albert. Sie werden niemals die Anzahl Freiwilliger finden, die bereit sind, in der Base auf die Rückkehr Ihrer Eagle von Torso zu warten, und Sie werden die Crew nie zusammenstellen können, mit der Sie zu Torso fliegen wollen. Mann, stellen Sie sich vor, Ihr Start von Torso mißlingt, und sie knallen mit dem Asteroiden auf dem Mond auf… « »Ist es denn nicht egal, wo man sitzt, ob auf Torso oder auf dem Mond, Sir?« fragte d’Albert. Der war verblüfft, faßte sich an die Stirn und lachte trocken. »Verdammt, ja, das ist dann wirklich egal. Das hatte ich vollkommen übersehen. Aber machen Sie erst dann Ihr Spiel, wenn ich meine Leute informiert habe. Und wie gesagt, sollte es über Ihren Plan noch mehr Unruhe geben, ist Ihr Spiel gelaufen.« Hank d’Alberts Spiel lief durch bis zu seinem Ende. Captain Manning fand keine Worte. Verdeschis Vertreter sagte: »Alles hatte ich erwartet, aber das nicht.« In der Kommandozentrale rechnete man den Kurs der Eagle nach Torso und zurück schon aus.
Mehr als siebzehn Stunden standen nicht zur Verfügung, – Hin- und Rückflug eingeschlossen. Das hieß im Klartext: der Aufenthalt auf Torso durfte nicht länger als 5:20 Stunden dauern. Ziemlich wenig Zeit für das Vorhaben, auf einem Asteroiden einen Suchspaziergang zu machen, der eine Länge von 46,3 Kilometer aufwies, bei einer Dicke von 12,9 Kilometern. Mehr als fünfzig Menschen hatten sich demonstrativ bereit erklärt, in der Base auf die Rückkehr des Torso-Eagle, wie man ihn nannte, zu warten, und mehr als zwanzig wollten den Flug nach Torso mitmachen. Hank d’Albert wählte sechs Personen aus. Eine bessere Crew als diejenige, die er zusammengestellt hatte, gab es nicht. Da meldete sich das Radar. »Der Fünfer-Pulk wandert plötzlich nach Rot 23 Grad aus und steigert dabei seine Geschwindigkeit.« Captain Manning stand schon vor dem Radar. »Yasko, was hat der abrupte Kurswechsel zu bedeuten? Frage gilt auch für Radar. Mit maximaler Kraft Pulk erfassen!« Die Japanerin ließ sich durch die außergewöhnliche Situation nicht aus der Ruhe bringen. Die Hektik auf der Brücke traf sie nicht. Ihre tanzenden Finger über den Datengeber vertippten sich nicht. Die Lichter auf der Konsole flammten in arhythmischer Folge auf, erloschen, um an deren Stelle erneut zu erscheinen. Der Computer gab keine Auskunft. Das Radar konnte auch nichts sagen. Der Kurswechsel des Fünfer-Pulks nach Rot 23 Grad blieb unerklärlich. »Aber das gibt’s doch nicht«, polterte Manning. »Wohin die jetzt fliegen, gibt es auf Lichtjahre hinaus keine einzige Sonne.«
»Aber vielleicht gibt es irgendwo noch einen Asteroiden, den man nun anfliegt«, meinte Hank d’Albert. Beinahe feindselig schaute der Captain den Experten an. »Phantasie haben Sie, aber die ist jetzt mit Ihnen durchgegangen. Sagen Sie mal, wollen Sie tatsächlich Ihre Kollegin Vivian Blaird mitnehmen?« »Warum nicht, Captain. Bald ist doch alles egal… « »Stimmt! Warum auch nicht… «
Mit Jean Single zählten die Meuterer einunddreißig Personen, sechsundzwanzig Männer und der Rest Frauen. Single hatte sich kein schlechtes Material ausgesucht. Seine Leute waren diszipliniert und wußten, was sie wollten. In den fünf Eagles hielten sie es sieben Jahre lang aus. Danach würde der Sauerstoff zu Ende sein, aber nicht das Wasser und die Lebensmittel. Beides reichte ins zweite Jahrzehnt hinein. Single saß den Geiseln gegenüber. Gerade hatte er ihnen ihre Lage geschildert und sie brutal vor die Wahl gestellt, entweder voll mitzumachen, oder – wie er beliebte sich auszudrücken – oder zu krepieren. Der Pilot von Eagle Eins, Rolf Mitterson, checkte sein Radar, weil ihm das Gerät nicht mehr geheuer war. Es erfaßte mal sekundenlang drei Körper, um sie im nächsten Moment wieder zu verlieren und dann erneut zu orten. Der Check verlief positiv. Die drei Körper gab es auf Rot 23 Grad, sie aber flogen auf der Hauptachse Grün 02 Grad, und dementsprechend war und mußte Rot dann minus 7 Grad sein. Ein wenig kompliziert, aber es war nun mal nicht leichter zu formulieren.
Da hatte das Radar die drei Körper schon wieder erfaßt. Diesmal ganz exakt, und dieses Mal verschwanden sie auch nicht wieder. »Pilot Mitterson an Commander! Messe mit Bordradar auf Rot 23 drei unbekannte Objekte an. Größe noch nicht bestimmbar. Flugrichtung auch noch unbekannt. Roger! Ende.« Jean Single traf seinen Entschluß sofort. Er erhob sich und gab John Koenig das Zeichen, ihm zum Piloten zu folgen. Rolf Mitterson wunderte sich über den zweifachen Besuch nicht. Nur vermochte er seinen Widerwillen Jean Single gegenüber nicht zu unterdrücken. Er konnte ihn buchstäblich nicht riechen. »Schalten Sie die dritte Ebene ein, Mitterson«, befahl ihm der Commander. »Die läßt sich nicht schalten, Sir. Sie reagiert auf keinen Impuls.« Koenig versuchte es selbst und hatte auch keinen Erfolg. »Was hat das zu bedeuten?« fragte der ewig mißtrauische Single. Koenig sah keinen Grund, ihm die Wahrheit vorzuenthalten. »Das hat zu bedeuten, daß wir weder die Größe der Körper, noch ihre Flugrichtung bestimmen können.« »Aber wir könnten ihnen nachfliegen, wie?« fragte Single lauernd. »Wir können, aber denken Sie daran, daß die TiraniumTreibsätze eines Tages verbraucht sind. Wenn es soweit ist, dringt die Raumkälte in die Eagles.« »Wem erzählen Sie das? Los, Mitterson, gehen Sie auf Rot 23 Grad und versuchen Sie die drei Körper einzuholen! Mehr als Gesteinsbrocken können sie nicht sein.« Über den Computer von Eagle Eins gingen alle fünf Boote abrupt auf neuen Kurs und machten Rot zur Hauptachse. Der
Pilot saß wieder allein vor seinen Instrumenten, und John Koenig saß Single, zusammen mit Jefferson, Dukes, Verdeschi und Vincent, wieder gegenüber. »Ich warte auf Ihre Entscheidung!« polterte der Boß der Meuterer. »Ich mache voll mit!« sagte John Koenig fest und übersah die verächtlichen Blicke der anderen. »Voll und ganz!« fügte er noch unnötigerweise hinzu. Die vier anderen quälten sich ihre Zustimmung ab. »Okay«, meinte Single lässig, »dadurch ändert sich an Ihrer Lage nichts. Sie wird sich erst dann ändern, wenn es Mondbasis Alpha Eins nicht mehr gibt.« Und nach einem Blick auf seine Uhr fuhr er fort: »Das dürfte in zwei Tagen und drei Stunden der Fall sein. Danach werden wir Sie voll in unsere Gemeinschaft der Letztem aufnehmen, und Sie können sich an Bord der Eagles frei bewegen.« Er ging nach hinten, aber drei andere Meuterer mit Stunnern schußbereit in den Händen ließen sie nicht aus den Augen. Tony Verdeschi blickte Koenig voll ins Gesicht und sagte eiskalt: »Du Schuft!« Commander Koenig kreuzte die Arme vor der Brust, legte sich bequem zurück, wich Verdeschis Blick nicht aus und stellte die Frage, die auch an Jefferson, Vincent und Dukes gerichtet war: »Kann mir jemand von euch sagen, was ich anderes hätte tun sollen?« Sie sagten ihm nichts. »Ich habe Blutvergießen verhindert. Das ist mir vielleicht als Fehler vorzuwerfen, denn es ist das nutzloseste Verhindern gewesen, das es jemals gegeben hat.« Da fragte Tony Verdeschi mit aller Ironie, die er in seine Stimme legen konnte: »Hat es nicht einmal einen Commander Koenig gegeben, der sich verbat, das Wort ›unausweichlich‹ noch einmal hören zu müssen, weil er an ein Wunder glaubte,
das nie eintreffen würde? Ich habe bis zur Stunde nicht gewußt, und ich habe auch nicht geglaubt, daß sonst mutige Männer sich zu ekelhaften Feiglingen verändern können… Ich möchte einen Drink zu mir nehmen! Kommen Sie mit, Jefferson, Vincent, Dukes…?« Commander Koenig blickte nicht einmal hinter ihnen her. Er hatte die Augen geschlossen und zerbrach sich den Kopf, wie er sich in den Besitz von Eagle Eins setzen konnte, um mit dem Raumboot zum Mond zurückzurasen und ein paar Menschen mehr vor der Katastrophe zu retten. Er fühlte sich beobachtet. Er öffnete die Augen, und Single stand vor ihm. »Commander«, sagte er mit drohendem Unterton in der Stimme, »ich gäbe sehr viel darum, wenn ich eben Ihre Gedanken hätte lesen können, als Sie die Augen geschlossen hatten… « Mit Jean Single hatte er zu jeder Stunde und Sekunde zu rechnen…
IV
Eagle Achtzehn hob von der Plattform ab und stieg senkrecht in den Raum. Unter ihr blieb die kreisrunde Mondstation zurück, die auf dem flachen Boden eines Kraters aufgebaut worden war. Der Ringwall, der alles umgab, war nicht besonders hoch. Gerade deswegen hatte man diesen Krater als Bauplatz für die Lunabasis ausgewählt, und die sensorischen Monitoren, die Augen und Ohren der Station Alpha, konnten den freien Raum beinahe in einem 180-Grad Winkel erfassen. Eagle Achtzehn meldete sich ab. Basisbrücke bestätigte. Der Mond schien in die Tiefe zu stürzen, so schnell beschleunigte das Raumboot. Der Kurs lag fest. Der Bordcomputer überwachte ihn. Pilot Derain konnte nichts falsch machen. Wortlos saßen Hank d’Albert und seine sechs Begleiter in den bequemen Sesseln und beobachteten über einen Bildschirm das kaltleuchtende Sternenmeer auf samtschwarzem Grund. Es war das gleiche Bild wie von Alpha Eins aus, und ein jeder hatte sich an seinen Anblick gewöhnt. Auch Pilot Jack Derain. Ihn bewegte das Universum mit seinen Abermilliarden Sonnen nicht mehr. Seine Aufmerksamkeit galt dem Bordradar. Es hielt Torso fest, der bei seinem Aufprall auf Luna der Mondstation den Garaus machen würde. Derain begriff nicht, was die sieben Wissenschaftler auf dem Asteroiden suchen wollten, aber das hatte ihn nicht gehindert, sich freiwillig zu melden, denn vor seinem Tod wollte er wenigstens einmal seinen Fuß auf solch einen gewaltigen Brocken gesetzt haben.
Alpha meldete sich noch einmal über das Videosystem. »Torso-Eagle, der Fünfer-Pulk hat einen unerwarteten Kurswechsel von Grün 02 Grad nach Rot 23 Grad durchgeführt. Versuchen sie ab Bordzeit 3:45 Uhr über Radar in Richtung Rot 23 Grad herauszufinden, warum dieser Kurswechsel vorgenommen worden ist. Basisbrücke hat dafür keine Erklärung, Roger.« »Verstanden, Basisbrücke. Ende.« Auch Hank d’Albert dachte sich nichts dabei. Er und fast alle anderen in der Mondstation hatten den Commander und die vier anderen Geiseln, die sich in Singles Gewalt befanden, abgeschrieben. Was zählte es auch, wenn in gut zwei Tagen alles vorbei war? Das leichte Zittern des Torso-Eagle veränderte sich nicht. Das Ticken und Brummen behielt seine Tonlage bei. D’Albert sah seinen Mitarbeiter an. »Checken wir noch einmal alle Geräte.« Er wollte keine Langeweile aufkommen lassen, und den anderen war dieses nutzlose Tun recht. Inzwischen war es 3:45 Uhr Bordzeit geworden. Jack Derain justierte das Bordradar auf Rot 23 Grad. Besonderes erwartete er nicht zu sehen. Welches Bild der Fünfer-Pulk auf dem Schirm abgab, wußte er. Sein Radar erfaßte den Pulk als Einheit, aber da war doch noch etwas. Da gab es auf dem Schirm drei Punkte zu sehen. Eagle-Pilot Derain schaltete die dritte Ebene am Radar ein, um Größe und Flugrichtung der drei unbekannten Körper bestimmen zu können. Die dritte Ebene kam nicht. Derain befragte den kleinen Bordcomputer nach der Ursache der Panne, und das Gehirn mußte zugeben, den Grund nicht zu kennen.
Die Videoverbindung zur Mondstation Alpha stand wieder. Die Verbindung mit Basisbrücke war erstklassig. Captain Manning blickte ihn über den Schirm an. Jack Derain berichtete, was sein Radarschirm zeigte, er meldete auch, die dritte Ebene nicht einschalten zu können. »… Als ob irgend etwas von außen sie blockiere, Sir.« »Reden Sie keinen Unsinn, denn das gibt’s nicht. Versuchen Sie es immer wieder, und erfassen Sie von Zeit zu Zeit den Pulk und die drei unbekannten Objekte. Ende.« Mach ich! dachte Derain und richtete sein Radar wieder auf Torso aus. Das Bild, das von dem Asteroiden hereinkam, schien unverändert zu sein, aber da war Vivian Blaird aufgesprungen und stieß erregt aus: »Der Sektor drei im Uhrzeigersinn hat sich verändert. Das kuppelartige Gebilde war vorhin nicht zu sehen gewesen.« »Zeigen, Vivian!« verlangte Hank d’ Albert, der von einem kuppelartigen Bau nichts entdecken konnte. Sie nahm den kleinen Lichtstab hoch, schaltete ihn ein und markierte mit dem scharfgebündelten Strahl die Stelle, die ihr verändert vorkam. »Hm… kann kuppelartig sein. Muß aber nicht. Kann auch eine Täuschung sein. Wer sieht das anders?« Alle hielten mit ihrer Ansicht zurück. »Dann ist es eben keine Kuppel«, bemerkte Vivian Blaird trotzig und schaltete den Lichtstab aus. Hank d’Albert warf seiner temperamentvollen Kollegin einen vergnügten Blick zu. »Wir werden die Stelle im Auge behalten… « Im gleichen Moment begann das Bild von Torso zu flackern und dann waren nur noch diese schönen, nichtssagenden Schwarzweißstreifen zu sehen. Abermals gab der Computer an, den Grund der Bildstörung nicht zu kennen, und abermals wurde der Eagle-Pilot das Gefühl nicht los, die Störung käme von draußen. Aber so etwas
würde es nicht geben, hatte ihm Captain Manning erst vor knapp einer Stunde gesagt. Der Norweger Olaf Asgert versuchte die Störung mit Bordmitteln zu beheben, und sie mußte behoben werden, denn eine Blindlandung auf Torso war einer Bruchlandung gleichzusetzen. Nicht einmal die waghalsigsten Eaglepiloten hielten viel von reinen Instrumentenlandungen. Es hatte im Laufe der Zeit zu viele tödlichen Unfälle gegeben. »D’Albert«, rief Asgert dem Astrophysiker zu, »die Anlage ist okay, aber warum wir kein Bild haben… « Es war wieder da! Aber die Kuppel war nicht mehr zu sehen. Entsetzen machte sich in dem Torso-Eagle breit. Betreten sahen sich die Experten an. »Ist Torso gar kein Asteroid? Kein toter Gesteinsbrocken?« Irgend jemand hatte diese beiden Fragen gestellt. Alle hatten sie gedacht. Plötzlich sahen sie Torso mit anderen Augen an. Ein jeder fühlte Beklemmung. »Und das Zittern, das durch unsere Mondstation lief und alle tragenden Elemente zum Schwingen brachte? Hat man nicht behauptet, der nicht identifizierbare Taststrahl sei von Torso gekommen, d’Albert?« stellte der Schweizer Wulf Selon die Bemerkung in den Raum. Der erwiderte scharf: »Wir verpassen uns mit solchen Spekulation selbst Scheuklappen.« »Mag sein«, bemerkte der schlanke Pierre Marlaux darauf, »aber ich möchte vorschlagen, schon jetzt Rotalarm zu geben.« Die höchste Alarmstufe! D’Albert fuhr zu dem Franzosen herum. »Was würden wir damit erreichen, Marlaux? Ich halte nichts davon. Daß der Flug nach Torso keine Spazierfahrt werden würde, hat jeder vor Antritt gewußt. Ich empfehle, schon jetzt in die Raumanzüge zu steigen.«
Pilot Jack Derain sorgte für eine Unterbrechung der Diskussion. Er rief den Wissenschaftlern zu: »Der Fünfer-Pulk und die drei unbekannten Objekte sind von einem Moment zum anderen vom Radarschirm verschwunden. Auf Rot 23 Grad gibt es nichts mehr zu orten.« Hank d’Albert überzeugte sich. Nachdenklich kam er zu seinen Mitarbeitern zurück. Er fühlte auf einmal auch das Ungeheuerliche als schwere Last auf den Schultern liegen. »Da ist was«, sagte er dumpf. »Da scheint irgend etwas Unbegreifliches oder sogar Unmögliches zu sein. Aber was…?« Und sein Blick brannte sich auf dem Bildschirm fest, der Torso in seiner ganzen brutalen Größe und Zerrissenheit zeigte. Sollte er befehlen, den Flug abzubrechen und zum Mond zurückzukehren? Kaum hatte er sich diese Frage in Gedanken gestellt, als in ihm wieder jenes Gefühl übermächtig wurde, das ihn veranlaßt hatte, diese Fahrt nach Torso zu realisieren. Er… sie mußten Torso erreichen! Sie mußten sich auf Torso umsehen… Bloß auf das ›warum‹ gab es keine Antwort.
Entgegen der Ankündigung innerhalb der letzten 20-UhrNachrichten wurde der nächste Lagebericht nicht erst um 12 Uhr am anderen Mondtag, sondern schon um 8:30 Uhr durchgegeben. »Inzwischen sind mehr als fünfzig Notdepots über die gesamte Mondoberfläche verstreut eingerichtet worden. Die letzten Lastschiffe haben unsere Basis wieder erreicht und werden für die bevorstehende Evakuierung noch einmal überprüft. Der Asteroid Torso hat in den letzten beiden Stunden aus noch ungeklärten Gründen seine Geschwindigkeit um
dreiunddreißig Kilometer pro Sekunde erhöht. Damit beträgt seine Stundengeschwindigkeit nicht mehr 1148400 Kilometer, sondern 1267200 Kilometer. Das ist eine Steigerung von etwas mehr als zehn Prozent. Das bedeutet, daß die Zeitspanne bis zum Zusammenstoß sich auch um zehn Prozent verkürzen wird. Diese Tatsache bringt den Evakuierungsplan ›Exodus‹ nicht durcheinander. Die Kommandozentrale wird nur früher als bis jetzt bekannt die Räumung der Mondstation Alpha anordnen. Das siebenköpfige Team, das an Stelle von Commander John Koenig die Leitung der Basis übernommen hat, erwartet, daß diese Nachricht über Torso ebensowenig Unruhe auslöst, wie bisher alle anderen Nachrichten. Der nächste Lagebericht wird heute mittag um 12 Uhr zu hören sein.«
Der kleine Monitor vor Captain Manning flammte auf und Funker Fayenz sah ihn an. »Sir, der Torso-Eagle ist über Funk nicht mehr zu erreichen. Das Raumboot gibt seit fünf Minuten auf Rufe keine Antwort mehr.« Captain Manning beugte sich vor. »Haben Sie alles versucht, Fayenz?« »Alles, Sir, wirklich alles.« Die Radarabteilung wollte mit dem Captain sprechen. Manning schaltete um, nachdem er Fayenz befohlen hatte, zu warten. »Captain, seit fünf Minuten kann das Basisradar die TorsoEagle nicht mehr erfassen!« Manning ließ sich nichts anmerken. »Wie weit war der Torso-Eagle noch von dem Asteroiden entfernt?« »Bis zum Orbit-Beginn 17:34 Minuten, Sir.«
Er schaltete nun wieder auf Fayenz um. »Genaue Zeit, wann Torso-Eagle über Funk nicht mehr zu erreichen war.« Der gab sie durch. Manning drehte sich nach der rassigen Computerspezialistin Yasko um. »Jagen Sie alle Daten durch den Rechner!« Sie holte sich die Informationen von den beiden Abteilungen. Blitzschnell warf der Computer die Werte aus. Sie schob Manning den Streifen zu. Der hatte kaum einen Blick darauf geworfen, als sein Gesicht versteinerte. Funk und Radar hatten zur selben Sekunde keine Verbindung mehr mit dem Torso-Eagle! Was spielte sich im freien Raum vor dem Planetoiden Torso ab? Wie konnte man verhindern, daß Eagle Achtzehn durch Radar nicht mehr zu erfassen und über Funk nicht mehr zu erreichen war? Im gleichen Augenblick erinnerte sich Manning, was ihm der Eagle-Pilot Derain gesagt hatte, nachdem er am Bordradar die dritte Ebene nicht hatte einschalten können: Als ob irgend etwas von außen sie blockiere. Sein kleiner Monitor flammte erneut auf, und mit der Stabilisierung des Bildes, das den Radarmann zeigte, hörte Manning auch dessen gellenden Aufschrei. »Sir, der Fünfer-Pulk kommt wieder zurück! Er nimmt genauen Kurs auf den Mond. Aber er ist nicht mehr allein. Er hat drei unbekannte Objekte im Schlepp. Großer Himmel, hat der Pulk ein wahnsinniges Tempo drauf. Hat der… « Captain Manning schnauzte den fassungslosen Radarmann an. »Nehmen Sie sich zusammen, Joule. Ich will Daten hören und keine Kommentare. Geben Sie alle auch an Yasko durch…«
Die Tatsache war nicht aus der Welt zu schaffen. Der FünferPulk kam wieder zum Mond zurück, aber was hatten diese drei Objekte zu bedeuten, die mit dem Pulk gleichen Kurs flogen? Manning blieb keine Zeit, über diese Sache nachzudenken. Das Pilot Center schlug Alarm. Mehr als fünfzig von Panik erfaßte Menschen versuchten das Center zu stürmen. Die Sicherheitsgarde war kaum noch in der Lage die tobende Menge unter Kontrolle zu halten. »Sir, sie drohen uns mit Handlasern zusammenzuschießen! Sir, geben Sie Feuerbefehl!« Mannings Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Über das Videosystem hörte er das Toben der vor Angst wahnsinnig gewordenen Männer und Frauen. Der blutjunge Lieutenant im Pilot Center, der die Feuerfreigabe verlangt hatte, zeigte dem Captain über Video, in welch aussichtslosem Kampf die Sicherheitsgarde sich befand, und wie gnadenlos die rasende Gruppe auf die Männer einschlug. Manning duckte sich unwillkürlich, als er den ersten Laserstrahl aufblitzen sah und auch sah, wie ein Mann der Garde tödlich getroffen zu Boden brach. Jetzt mußte er handeln. Quer durch die Kommandozentrale brüllte er Lieutenant Brooks zu: »Pilot Center unter Neurogas setzen! Volle Dosis! Vollzug sofort!« Für einen Augenblick schien Basisbrücke den Atem anzuhalten. Jeder wußte, was Mannings Befehl bedeutete. Im Pilot Center gab es in ein paar Sekunden nur noch bewußtlose Menschen, die danach mehr als fünfzig Stunden benötigen würden, um die gelähmten Nervenbahnen wieder voll aktionsfähig werden zu lassen. Mit anderen Worten: Die Basis hatte mit einem Schlag mehr als achtzig Mitarbeiter verloren, und die Gruppe Single mit den Geiseln und die Crew in dem Torso-Eagle dazugerechnet, war
das Kräftepotential der Mondbase Alpha um mehr als fünfundzwanzig Prozent geschwächt worden. Und das in einer Lage, in der jede Hand, jeder Kopf erforderlich war, um die Evakuierung reibungslos ablaufen zu lassen. »Vollzug!« meldete Lieutenant Brooks. Manning sah es auf seinem Monitor. Im Pilot Center rührte sich kein Mensch mehr. »Gas absaugen!« Mannings Stimme klang müde. Er, der Commander John Koenig so oft beneidet hatte, begriff in diesem Augenblick, welch ein grausames Leben Koenig seit der Stunde geführt hatte, in der der Mond aus seiner Umlaufbahn ins All hineingesprengt worden war. »Gas wird abgesaugt.« Meldung von Lieutenant Brooks. »Fünfer-Pulk mit den drei Objekten hält Kurs auf den Mond.« Meldung aus der Radar-Abteilung. »Verdammt noch mal, warum kann man denn diese drei Objekte nicht sichtbar machen, wie wir es bei Torso geschafft haben?« bellte der Captain. Eine Meldung sprang ihn an, und sie schien ihm nackter Hohn auf seine Bemerkung zu sein. »Asteroid Torso ist nicht mehr sichtbar zu machen, Sir… « Er schüttelte nur den Kopf. Als Manning sich erhob, war sein Gesicht kalkweiß. Ein unheimlicher Gedanke war ihm gekommen. Er glaubte zu wissen, warum der Fünfer-Pulk wieder den Mond anflog. Jean Single und seine Bande waren zurückgekommen, um über Funk die versteckten Sprengladungen zu zünden. Irgend etwas an Bord der fünf Eagles mußte vorgefallen sein, das Single zur Rückkehr veranlaßt hatte. Maya, die Psychonerin in der Basis, die nach Belieben ihre Gestalt verändern konnte, legte Manning die Hand auf die Schulter.
»Die Katastrophenbereitschaft ist vor zehn Minuten eingesetzt worden. Zusammen mit der Feuerwehr versucht sie einen Brand in der Sauerstofferzeugung zu löschen. Die Nachrichten von der Brandstelle sind beunruhigend. Sehr beunruhigend. Man scheint das Feuer nicht mehr unter Kontrolle halten zu können. Die automatischen Sprinkler haben nicht funktioniert. Sabotageverdacht liegt auf der Hand.« Der Captain konnte nur noch nicken. Der komplette Ausfall der Sauerstofferzeugung machte aus dem Evakuierungsplan ›Exodus‹ eine Farce. »Zur Hölle, was brennt denn da unten, Maya?« »Flüssiger Sauerstoff… « Er war noch zu einem »Mein Gott!« fähig. Einen Augenblick später war er wieder der unwahrscheinlich ruhig wirkende Mann. »Hoffen wir das Beste, Maya.« Auf seinem Schirm erschien das Gesicht der Ärztin Helena Russell. Er ahnte, was sie ihm sagen wollte. Ihr Lazarett war zu klein, um alle mit Nervengas betäubten Menschen aufnehmen zu können. »… Captain, Sie wissen, daß die Betäubten ohne ausreichende ärztliche Versorgung an schwersten Folgeschäden dahinsiechen können.« »Macht das in unserer Lage noch etwas aus, Doc?« »Sir, noch leben wir. Noch sind wir nicht erstickt. Vergessen Sie das nicht.« Ja, dachte er voller Grimm, noch leben wir. Noch…
V
Die eisgrauen Augen Jean Singles ließen den Commander nicht mehr los. Unheimlich war ihm auch die Kälte, die der Meuterer ausstrahlte. Gefühle schien es für ihn keine zu geben. Und diese Fakten machten den Mann so gefährlich. Nicht seine Intelligenz, über die Single verfügte. Ohne sich darauf eine Antwort geben zu können, fragte sich John Koenig, wie solch ein Mann im Sicherheitsdienst hatte Unterschlupf finden können. Bei den Psychotests auf der Erde, die jeder Einstellung zum Dienst auf der Mondstation Alpha vorausgegangen war, mußte im Fall Jean Single eine Panne passiert sein. Die Folgen hatten die Menschen in der Mondbase zu tragen. Commander Koenig hatte im Kopilotensitz neben Pilot Mitterson Platz genommen. Drei Schritte hinter ihm stand ein Meuterer mit schußbereitem Stunner. Koenig hatte sich daran schon gewöhnt und tat so, als ob der Bursche gar nicht existiere. Sein Blick flog über die Instrumentenkonsolen. Die Computersteuerung, die den Fünfer-Pulk zusammenhielt, arbeitete einwandfrei. Es konnte höchstens bei einer Landung brenzlig werden. Im freien Raum war wenig zu befürchten. Die drei Punkte auf dem Radarschirm waren größer geworden, aber wie groß sie wirklich waren und in welche Richtung sie flogen, war nicht zu erfahren, weil die dritte Ebene des Bordradars nicht eingeschaltet werden konnte. »Sir«, sagte Mitterson, ohne den Kopf seinem Commander zuzuwenden, »ich schätze, daß wir die Objekte in einer halben Stunde erreicht haben. Ob ich nicht besser mit der Geschwindigkeit heruntergehen sollte?«
»Holen Sie sich die Erlaubnis von Single ein. Er ist hier der Boß, ich bin nur einer seiner Mitläufer.« Jetzt blickte Mitterson den Commander an. »Hm… « brummte er vieldeutig. »Ich bin auch einer. Okay, ich frage ihn, diesen… « Er sprach das Wort nicht aus. Single gab die Erlaubnis die Geschwindigkeit zu verringern. Zeiger tanzten über Skalenscheiben, Kontrollen flammten auf oder erloschen. Relais tickten und verstummten wieder. Im Triebwerksteil brummten Trafos und Rotoren. Der Pulk bremste ab, dennoch wurden die drei unbekannten Objekte rasend schnell größer. Ein ungeheurer Verdacht wurde in Koenigs Kopf wach. »Mitterson, die Körper fliegen auf uns zu! Raus aus dem Kurs! Raus, oder wir haben uns gleich in Atome verwandelt!« Da brüllte hinter ihnen der Kerl mit dem schußbereiten Stunner: »Der Kurs wird beibehalten, es sei denn… « Koenig stand schon, wirbelte herum, ging auf den Burschen zu und übersah, wie dieser die Strahlwaffe hochhob und auf seinen Kopf zielte. »Der Pilot nimmt den Pulk aus dem Kurs, Mann, verstanden…?« Er holte kurz Atem, griff blitzschnell nach dem Stunner und drückte den Lauf nach unten. Wenn der Mann jetzt den Kontakt betätigte, würde er ein hübsches Loch in die Wanne des Eagle blasen, und das konnte dann zu einem lebensgefährlichen Druckabfall führen. Aber er betätigte den Kontakt nicht, weil Single sich bemerkbar gemacht hatte. »Die drei Körper kommen rasend schnell auf uns zu, Single«, informierte der Commander den Boß der Meuterer. »Dann soll Mitterson doch den Pulk… « »Hat er schon getan, Single, nur dieser Heini wollte es verhindern. Sie sollten ihm mal beibringen, wann er eingreifen darf und wann nicht.« Er ließ den Lauf des Stunners los und
trat zurück. Single ging an ihm vorbei, warf einen forschenden Blick auf die Scheibe ihres Bordradars. Die drei Punkte befanden sich nicht mehr im Schnittpunkt des Fadenkreuzes, sondern waren nach rechts oben ausgewandert. Aber sie waren inzwischen so groß wie Dessertteller geworden. »Und immer noch nicht zu erkennen, was es ist?« fragte Jean Single barsch. »Das sehen Sie doch selbst«, gab Mitterson übellaunig Antwort. Er konnte nun mal diesen Kerl nicht riechen. Aber dann hatte er keine Zeit mehr, seiner Aversion dem Meuterer gegenüber nachzugehen. Er steuerte den Pulk in einen Orbitkurs. Koenig hatte sofort erkannt, was Mitterson vorhatte, aber für Single war es ein Buch mit sieben Siegeln. Koenig erklärte es ihm. »Damit passen wir uns der Geschwindigkeit und dem Kurs der drei Punkte an, Single, und können dadurch ohne Gefahr sehr nahe herangehen. Sehen Sie hier… « und er deutete auf drei Instrumente. »Die zeigen an, wenn die Nadeln im Grünbereich stehen, wie hoch die Geschwindigkeit der Körper wirklich ist. Aber noch ist es nicht soweit.« Das Mißtrauen schlief in dem Meuterer nicht. Er belauerte den Commander. »Sie sind mir zu freundlich, Mann. Vergessen Sie nie, daß ich Ihnen ein hübsches Loch im Kopf versprochen habe.« John Koenig fühlte die verachtungsvollen Blicke von Verdeschi, Jefferson, Vincent und Dukes auf seinem Rücken brennen. Er dachte nicht daran, ihnen sein Verhalten zu erklären, aber daß Tony ihm vorgeworfen hatte, sich feige zu verhalten, hatte er nicht vergessen. Es tat weh, daran zu denken. »Single«, erwiderte er scharf auf dessen Bemerkung, »stellen Sie endlich Ihre haltlosen Drohungen ein. Ohne uns sind Sie und Ihre Bande bald am Ende mit Ihrem Latein. Und wenn ich
Ihnen zu freundlich vorkomme, okay, dann werde ich ab jetzt nur noch im Schnauzton mit Ihnen sprechen… Machen Sie gefälligst Platz! Ich will mich in den Kopilotensitz setzen!« Der zum ersten Mal verblüffte Single machte Platz. Da schien sich die Eagle wie ein Springpferd aufzubäumen, das eine Hürde nehmen muß. Die Sterne auf dem Monitor rasten über die Kante ins Nichts hinein, und von unten her schossen andere Sternenbilder über den Schirm, die beim Normalflug nicht erfaßt werden konnten. Der Pulk bäumte sich auf. Jeder, der nicht angeschnallt war, wirbelte durch die Kabine. Schmerzensschreie gellten auf. Koenig hörte den Piloten unterdrückt fluchen. »Was ist hier los? Großer Himmel, was ist hier los?« stieß er verzweifelt aus. »Wir stürzen ja ab, Commander! Wir stürzen auf die drei Körper herab!« Abrupt hatte sich die Fluglage schon wieder geändert. Der Pulk stürzte ab! Es war vergebens, daß Mitterson die Triebwerke auf maximale Leistung geschaltet hatte. Die Eagles reagierten auf Steuerimpulse nicht mehr. Vom Radarschirm schienen die drei Körper in die Kabine hereinzufliegen. Einen Augenblick später konnte der Schirm nur noch einen von ihnen erfassen, so groß waren sie geworden. »Rotalarm!« schrie der Commander mit Stentorstimme. »In die Raumanzüge! Alle in die Raumanzüge… « Er und alle anderen sahen etwas Gelbliches aus den Wänden der Kabine quellen. Aber das Gelbliche war kein Rauch, es war Licht. Es war Raubtierlicht. So begriff es Commander Koenig, als er davon getroffen wurde und blitzartig sein Vermögen schwand, noch denken zu können.
Das Gelblicht bemächtigte sich seiner Gedanken und auch aller Gefühle. Schlagartig hatte er keine Angst mehr. Ein unheimliches, farbloses Loch tat sich vor ihm auf, und es verschlang ihn und alle anderen.
VI
Jack Derain im Torso-Eagle kam aus dem Schwitzen nicht mehr heraus. Es gab keinen Kontakt mehr mit der Mondstation Alpha, weder über Funk, noch durch Radar. Die Aufregung darüber war im Raumboot noch nicht abgeklungen, als er mit der nächsten Hiobsbotschaft kam. Der kleine Bordcomputer behauptete, der Kurs des TorsoEagle stimme mit den Realitäten nicht mehr überein. Erstens sei das Raumboot viel näher an Torso heran, und zweitens seien die Zeitangaben falsch. Das Boot würde in 17:04 Minuten über dem Asteroiden in den Orbit gehen. Mit grausamem Schweigen wurden diese Meldungen aufgenommen. Jeder Experte versuchte diesen Widerspruch zu erkennen, aber die Aufgabe war zu kompliziert. Her Ibn, der Araber und der beste Computermann, den es in der d’Albert-Crew gab, fütterte das Rechengehirn mit Daten und Fragen. Die Antwort kam sofort. Die Geschwindigkeit des Planetoiden Torso hatte sich um rund zehn Prozent erhöht, aber der Grund dieser Steigerung wäre unbekannt. Hank d’Albert glaubte, eine eiskalte Hand würde nach seinem Herzen greifen und versuche es zu zerdrücken. »Ibn, überprüfen Sie noch einmal alles durch den Computer.« Der Bordrechner blieb bei seinen Behauptungen. D’Albert saß schon neben Derain im Kopilotensitz. »Wenn abermals der Monitor ausfällt und wir keine Sicht auf Torso haben, können wir nur eins tun: umkehren. Fragt sich bloß, wie
wir auf dem Mond landen werden. Haben Sie schon mal eine Instrumentenlandung mit einem Eagle gemacht, Derain?« Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Ich habe zwei Kollegen gekannt, die es tun mußten. Sie kamen beide dabei um. Aber warum soll der Monitor noch einmal ausfallen?« Warum sollte er? fragte sich d’Albert in Gedanken. Im Sitz drehte er sich nach dem Araber Ibn um. »Versuchen Sie über Computer einen neuen Anflugkurs zu erstellen.« »In den paar Minuten?« fragte Her Ibn zurück. »Wir werden dann länger im Orbit über Torso bleiben.« »Dann verlieren wir kostbare Zeit, d’Albert. Sie geht uns für unseren Spaziergang auf dem Asteroiden verloren, den wir durch dessen Geschwindigkeitssteigerung um rund 45 Minuten verkürzen müssen.« Jack Derain wurde mit dem Torso-Eagle allein fertig. Der Astrophysiker trat zu seinen Kollegen. »Derain hat niemals eine Instrumentenlandung gemacht. Sollte unser Monitor nochmals ausfallen, dann bleibt uns nichts anderes übrig als umzukehren. Wer ist anderer Meinung?« Der ebenholzschwarze Afrikaner Noe Sua hielt seinen Kopf mit dem Kraushaar ein wenig schief und blickte d’Albert nachdenklich an. »Es haben sich inzwischen zu viele mysteriöse Dinge ereignet, die nach einer Aufklärung verlangen. Darum schlage ich vor, selbst wenn erneut eine Monitorstörung auftreten sollte, abzuwarten, bis sie beseitigt worden ist, und dennoch auf Torso zu landen. Wenn wir auf dem Planetoiden nicht schnell und durch Zufall das finden, von dem wir bis jetzt nicht einmal wissen, was wir finden sollen, dann spielt es auch keine Rolle, ob unser Aufenthalt auf Torso 5:20 Stunden dauert oder um 45 Minuten verkürzt werden muß.«
Selon, Asgert, Ibn und Vivian Blaird waren der gleichen Meinung; nur Pierre Marlaux, der Franzose, trug Bedenken vor und gab den Rat, Aktion Torso abzubrechen und zu versuchen, den Mond wieder zu erreichen. »Fünf Stimmen für eine Landung auf Torso gegen zwei«, stellte Hank d’Albert fest. »Die Mehrheit hat entschieden.« »Wir haben den Piloten nicht befragt«, machte Marlaux darauf aufmerksam. Jack Derain war auch für eine Landung auf Torso. »Wenn die neuen Computerzeiten stimmen, gehen wir in neun Minuten über Torso in den Orbit.« »Dann ist es höchste Zeit, in die Raumanzüge zu steigen. Und das Checken nicht vergessen!« d’Albert übernahm für eine Minute den Pilotsitz, bis Derain auch seinen Anzug angezogen hatte. An allen Anzügen arbeiteten die Geräte und die Sauerstoffzufuhr einwandfrei. Neun Minuten später ging der Torso-Eagle über den Planetoiden in den Orbit. Der Monitor war auf maximale Vergrößerung geschaltet worden. Das Bild auf dem Schirm war gestochen scharf. Die kleinsten Kleinigkeiten, Risse und schwache Vertiefungen auf der bizarren Oberfläche des ellipsoiden Brockens waren deutlich zu erkennen, aber es war kein kuppelartiges Gebilde zu sehen. »Im Sektor 23, Derain, das kleine Plateau. Wäre das nicht der gegebene Landeplatz?« fragte d’Albert den Piloten. »Ich fliege ihn schon an, Sir«, erwiderte dieser. Das Bordradar hatte ihn auch erfaßt. Der Pilot schien mit Tasten und Hebeln zu spielen. Die Geräuschkulisse im Triebwerksteil des Eagle Achtzehn veränderte sich hörbar. Schrille Töne klangen auf, und ein bestimmtes Brummen setzte ein. »Ist was, Derain?« fragte d’Albert, der die Unruhe des Eaglepiloten bemerkt hatte.
Flüsternd gab dieser Antwort. »Wir kommen auf einmal nicht mehr näher. Wir werden nach 18 abgetrieben, als ob man uns auf dem Plateau nicht landen lassen wolle.« Hatten die anderen Derains Worte verstanden? Der Astrophysiker drehte sich nach seinen Kollegen um, aber die saßen ahnungslos und beobachten den Landeanflug über ihre kleinen Monitoren. »Was treibt uns ab, Derain?« Der junge Mann zuckte die Schultern. »Keine Ahnung, aber etwas, das stärker ist, als wir es sind.« Höhe über dem Asteroiden knapp fünftausend Meter. Die höchste Erhebung darauf dreihundertzwanzig Meter. Unter ihnen lag eine schauerliche, weltraumkalte Miniwelt – ein Irrläufer. Der Rest von einem Planeten, der wahrscheinlich vor Äonen auseinandergeflogen war. Und dieses winzige Stäubchen im All jagte auf einem Kurs über den Abgrund von Zeit und Raum, um sich einen nichtssagenden Trabanten auszusuchen, den ein böses Geschick selbst zu einem Irrläufer gemacht hatte, um mit ihm zusammenzustoßen. »D’Albert«, meldete sich Olaf Asgert. »Warum haben wir gestoppt? Gibt es einen Grund, das Plateau nicht anzufliegen und nun sogar nach links, Mitte, abzuwandern?« Man hatte das Abtreiben des Torso-Eagle bemerkt. Der Astrophysiker verschwieg seinen Kollegen nichts mehr. »Mir wird dieser Gesteinsbrocken immer unheimlicher«, sagte Vivian Blaird und hatte ausgesprochen, was die anderen gedacht hatten. Auch Hank d’Albert. Jack Derain meldete mit ruhiger Stimme: »Die Geschwindigkeit, mit der wir unverändert in Richtung 18 trieben, hat sich soeben verringert. Wird noch niedriger… Und jetzt stehen wir im freien Fall über Torso.« Dafür interessierte sich niemand. Jeder wollte erfahren, wie das Gelände unter dem Torso-Eagle aussah.
»Wir sinken, aber nicht durch eigenen Impuls. Etwas bringt uns nach unten… « Hank d’Albert, Vivian Blaird und Noe Sua liefen zum hinteren Ende der Kabine, wo über drei Konsolen eine Instrumentenwand aufgebaut worden war. Sekunden später erwachten diese Instrumente zu flackerndem Leben. »Großer Himmel«, stieß der Afrikaner aus und zog d’Albert zu sich heran, um gleichzeitig auf eine Instrumentenkette zu deuten. »Gebündelte Magnetbänder, d’Albert!« Das war eindeutig. Die Aussagen aller Instrumente, die Magnetbänder anmessen konnten, waren klar. Aber gebündelte Magnetbänder konnten mit Hilfe irdischer Technik nicht erzeugt werden! Selon, Ibn, Asgert und Marlaux sahen ihnen über die Schulter. Leicht erschüttert fragte Her Ibn: »Behauptet ein etwas fragwürdiges physikalisches Gesetz nicht, daß es gebündelte Magnetbänder niemals geben würde?« Jack Derains Meldung ließ über diesen Punkt keine Diskussion aufkommen. »Wir sind nur noch fünfhundert Meter hoch. Unter uns ist der reinste Schluchten- und Rissesalat.« Bildlicher konnte die Landschaft unter dem Torso-Eagle nicht beschrieben werden. Für einen Augenblick waren diese mysteriösen Magnetbänder vergessen. Die Experten begriffen nicht, was sie im zerklüfteten Bereich von Torso suchen sollten. Waren die vier Auflageplatten der Landebeine des TorsoEagle groß genug, um diese Risse zu überbrücken? »Raumhelme schließen, Funk auf!« befahl Hank d’Albert, und dann hörte er, wie sein Raumhelm in der Arretierung einschnappte. In diesem Augenblick kam er sich winzig und unbedeutend vor. Dennoch fühlte er sich ein wenig glücklich, als er sich der
Besatzung der Mondstation Alpha erinnerte, die doch nur noch in der Erwartung des gräßlichen Zusammenstoßes lebte. Sie aber standen Problemen gegenüber, die ihnen keine Zeit gaben, sich über die Katastrophe Gedanken zu machen. Im Funk blieb es still. Was sollte auch gesagt werden. »Hundert Meter Höhe. Sinkgeschwindigkeit knapp zwei Meter in der Sekunde.« Das war langsam. Dementsprechend weich war auch der Stoß, der durch den Torso-Eagle lief, als er mitten im Rissegewirr aufsetzte. »Landung. Null!« sagte Jack Derain. »Und keine gebündelten Magnetbänder mehr«, sagte Noe Sua. Sie konnten alles abschalten, denn die Meßinstrumente zeigten nichts mehr an. Der gebündelte Spuk war vorbei. »Ibn, lassen Sie über den Computer ausrechnen, wie lange wir uns auf Torso aufhalten dürfen.« Die Bewegungen des Arabers im Raumanzug waren schwerfällig, aber jeder von ihnen ging so plump. Eine andere Gangart ließen diese Anzüge nicht zu. Mitten in die mit Spannung gefüllte Stille hinein klang Vivian Blairds Frage auf: »Ob Commander Koenig noch lebt oder schon von den wahnwitzigen Meuterern umgebracht worden ist?« Im Funk blieb es still. Niemand gab einen Kommentar zu ihrer Frage. Her Ibn räusperte sich. Der Computer hatte die Berechnung durchgeführt. »Wir können uns 4:32 Stunden auf Torso aufhalten, wenn… « und dann kam die große Pause. »Wenn Torso in der Zwischenzeit seine Geschwindigkeit nicht noch einmal erhöht, sondern sie konstant beibehält.« Der Schweizer Wulf Selon hatte seinen kleinen Monitor auf eine 180-Grad-Erfassung geschaltet und erhielt somit einen erstklassigen Überblick über die zerrissene Oberfläche.
Schlucht lag neben Schlucht. Riß neben Riß. Manche waren ein paar hundert Meter lang, manche ganz kurz. Wie tief sie reichten, war nicht abzuschätzen. Und dieses Risse- und Schluchten-Gewirr sollte technische Geheimnisse bergen? Der Funk störte den Schweizer. Hank d’Albert hatte gerade Vivian Blaird und Pierre Marlaux bestimmt, an Bord des Eagle zu bleiben. »Für alle Fälle, daß sich Unvorhergesehenes ereignet.« Vivian Blaird zog einen Schmollmund. Marlaux protestierte gegen die Entscheidung. »Gefällt mir ganz und gar nicht, d’Albert.« »Es ist nicht zu ändern… Fertigmachen zum Aussteigen!« Das galt den anderen. Dann erfolgte der Uhrenvergleich. Jack Derain hatte seine letzten Instruktionen erhalten. D’Albert wiederholte seine ein zweites Mal. »Falls wir zur vereinbarten Zeit nicht zurück sind, starten Sie ohne uns. Ist das klar, Derain?« »Ja, aber warum sollten Sie nicht pünktlich zurück sein…?« »Sie starten durch, wenn wir nicht in der Nähe des Eagle zu sehen sind. Derain, das ist der wichtigste Befehl, den ich Ihnen gegeben habe. Ich muß mich darauf verlassen, daß Sie ihn ausführen. Denken Sie an die Menschen in der Mondbasis Alpha, denen ich mein Wort gegeben habe, daß Eagle Achtzehn zur vereinbarten Stunde wieder zurück sein wird. Möchten Sie von verzweifelten, enttäuschten Menschen verflucht werden? Ich nicht… « Dann verließen fünf Männer den Torso-Eagle und setzten ihren Fuß auf einen ellipsoiden Asteroiden, der in der Hauptsache aus Schwermetallen bestand. Enttäuscht und lustlos sahen Pilot, Vivian Blaird und Pierre Marlaux über den Monitor die fünf Männer vorsichtig an einer breiten und langen Schlucht vorbeigehen.
»Ich möchte bloß wissen, warum d’Albert mich auf diesen Flug mitgenommen hat«, maulte Marlaux, löste die Arretierung und klappte seinen Raumhelm zurück. Vivian Blaird zeigte auch kein fröhliches Gesicht. Nur Pilot Jack Derain fühlte sich nicht betroffen, denn die meiste Zeit ihres Dienstes verbrachten Eaglepiloten mit Warten. Er lehnte sich im bequemen Sessel weit zurück und schaltete seine Gedanken auf Dösen um. Auch das mußte man können…
VII
Die Flammenfurie in der Sauerstofferzeugung raste von Minute zu Minute ungestümer und wilder, und die Katastrophe schien sich anzubahnen. Sheraton, der Chef der Feuerwehr, mußte sich in den nächsten Minuten entscheiden, ob er feuerfestes Plastikbeton einsetzen oder die Schotten schließen lassen sollte. Das eine wie das andere bedeutete Aufgabe der Sauerstofferzeugung. Der hagere Vierziger mit den abstehenden Ohren hielt das Commlock fest in der Hand, wollte gerade anordnen, aus Spezialkanonen Plastikbeton in Richtung der brennenden Sauerstofftanks zu verschießen, als der kleine Bildschirm seines Sichtsprechgerätes aufflammte und er darauf das verrußte Gesicht eines Mannes erblickte, den er noch nie gesehen hatte. Einer aus der Katastrophenbereitschaft! schoß es ihm durch den Kopf. »Was sagen Sie?« rief Sheraton erregt. »Sie sind zu dritt vom Feuer eingeschlossen? Aber dann müßten Sie doch längst erstickt sein. Zum Teufel, wer sind Sie?« »Wir leben noch«, schrie ihm der rußgeschwärzte Mann über das Commlock zu. »Holt uns aus der Hölle raus! Lange versorgt uns die Sauerstoffleitung nicht mehr mit Luft. Macht schnell, wir halten uns im Abschnitt Bh inter den Pumpenaggregaten auf… Das Wasser wird schon heiß… Holt uns raus! Aber macht schnell!« Drei Männer befanden sich in größter Gefahr. Ein Wunder, daß sie noch lebten, wenn es stimmte, daß sie von Flammen eingeschlossen waren.
Sheraton schaltete an seinem Commlock auf eine andere Frequenz – auf die Alarmfrequenz. »Sheraton an Red Squad! Sheraton an Red Squad! Hinter den Pumpenaggregaten im Abschnitt B sind drei Männer von der Katastrophenbereitschaft von den Flammen eingeschlossen! Boys, holt sie raus, aber verdammt schnell, denn in ein paar Minuten muß ich die Plastikkanonen einsetzen. Roger. Ende!« Bill Lenkins, Boß der Roten Truppe, meldete sich. »Chef, wir sind in zehn Sekunden im Einsatz. Ende.« Sheraton nickte ein wenig erleichtert. Nach menschlichem Ermessen mußten die drei eingeschlossenen Männer in drei, vier Minuten aus der Flammenhölle herausgeholt worden sein, wenn sie bis dahin noch lebten. Er durfte an sie nicht mehr denken. Er hatte den Auftrag, das Feuer unter Kontrolle zu bekommen und zu löschen. Er hielt abermals das Commlock vor den Mund. »Plastikkanonen klar machen! Einsatz kann in drei, vier Minuten erfolgen… « Am anderen Ende der riesigen unterlunaischen Halle, in dem sich die Lufterzeugungsanlagen der Mondbasis Alpha befanden, brüllte eine donnernde Explosion auf und grell wie ein Blitz prallte ein gräßlich aussehender Feuerstrahl gegen die Decke, und versprühte daran nach allen Seiten. »Chef, Tank 17 gerade explodiert. Die Tanks 18 bis 20 stehen dicht davor. Ende!« Das Inferno wütete in der gigantischen Anlage. Ein Wunder, daß noch nicht der gesamte Komplex explodiert war, aber zugleich auch ein Beweis, daß man beim Bau der Station die strengen Sicherheitsvorschriften nicht außer acht gelassen hatte. Sheraton gab über Sichtsprech seine Order. »Setzt noch zehn Kältebomben ein. Drei auf die gefährdeten Tanks 18 bis 20. Die anderen in die Flammenzentren… «
Jemand verlangte Sheraton zu sprechen. Er schaltete, und zuletzt – aber das schon nach zwei Sekunden – auf die Alarmfrequenz. Bill Lenkins, Boß der Red Squad, blickte ihn verbissen an. »Meine Boys kommen an die drei Männer nicht heran. Die Flammenmauer ist über zehn Meter dick und hat eine Hitze…« Sheraton lief rot an und brüllte in Richtung seines Sichtsprechs: »Wie heiß die Flammen sind, will ich nicht wissen. Holt mir die Leute raus, oder ich schlage auch den letzten Redman ungespitzt in den Boden.« Bill Lenkins Zähneknirschen konnte Sheraton bei dem Höllenlärm nicht hören, aber wie es in dem anderen aussah, zeigte sein Gesichtsausdruck, der ungebändigte Wut widerspiegelte: »Okay, Chef, wir holen die drei Männer raus, und wenn darüber der letzte Redman vor die Hunde geht!«
Hinter den Pumpenaggregaten im Abschnitt B hockten drei verzweifelte Männer in ihren Isolaschutzanzügen auf einem kleinen Podest an einer Leitung, die bestes Luftgemisch führte, aber diese Luft wurde von Sekunde zu Sekunde heißer, und es war abzusehen, wann sie die Lungen der eingeschlossenen Männer schmelzen würde. Um sie herum tobten sich unbeschreibliche Flammenwände aus. Wohin sie sahen, gab es diese Infernomauern, diese Höllenorgien an wütenden Feuerbahnen, die versuchten, auch die großen Pumpenaggregate zu verschlingen. Petite, dachte Eugen Dinand, der zu den drei eingeschlossenen Männern gehörte, hier kommen wir nie mehr raus. Petite, meine kleine Petite, fühlst du, wie lieb ich dich habe? Der Schweiß rann über sein Gesicht. Der klare Isolahelm war viel heißer als die hitzereflektierende Schicht der Isolaanzüge.
Das Wasser, das schenkeldick aus einer Leitung in der Decke auf sie herunterschoß, hatte längst vierzig Grad Celsius überschritten, aber diesem heißen Wasser hatten sie es zu verdanken, daß sie noch lebte, und – dem Luftgemisch aus der Leitung. Marsall riß Dinand zur Seite. »Ich bin dran! Du hast genug Luft gepumpt… « Wie egal ihm das war. Er taumelte ein wenig, prallte gegen den blutjungen Busley und fühlte sich von ihm aufgefangen. Eine Flammenbahn schoß dicht an ihnen vorbei, traf voll Marsall, der im Wasserstrahl stehend den Isolahelm einen Schlitz geöffnet hatte, um direkt von der Leitung heiße Luft einzuatmen. Busley und Dinand sahen Marsall zur Seite fliegen. Sie hörten im Helmfunk seinen gellenden Schrei. Im nächsten Augenblick hatte ihn die gierige Flammenwand, die vom Boden bis zur Decke des Industriedomes reichte, verschlungen. »Mutter… « war das Letzte, was Busley und Dinand von ihm zu hören bekamen. Eugen Dinand, der Vakuumschweißer hatte noch nicht voll begriffen, daß sie jetzt nur noch zu zweit am Pumpenaggregat auf ihr Sterben warteten. Er fühlte Busleys Stoß und hörte ihn sagen: »Los, tanken Sie schnell wieder Luft. Ich halte es noch ein paar Minuten aus… « Im gleichen Moment hatte Eugen Dinand die Flammenhölle in der Lufterzeugung vergessen. Voller Haß starrte er den jungen Busley an. Blitzschnell hatte er begriffen, was der mit seinem großzügigen Vorschlag erreichen wollte. Die Flammenbahn, die Marsall ins Feuer geschleudert hatte, sollte auch ihn gleich treffen, wenn er an der Leitung hing und Heißluft tankte. Dieser heimtückische Schuft wollte sich die Chance verschaffen, ungestört und allein dann an der Leitung
zu hängen und unter dem Wasserstrahl zu stehen und zu warten, bis man ihn herausholte. Der nackte Wahnsinn bereitete sich wie eine Explosion hinter Dinands Stirn aus. Bevor er begriff, was er tat und bevor Busley erkannte, welche Gefahr auf ihn zuflog, hatte der vierschrötige Mann zugeschlagen und dem anderen einen grausamen Tiefschlag verpaßt. Busley klappte wie ein Taschenmesser zusammen, schrie gellend auf, hielt sich den Leib fest, wälzte sich unter irrsinnigen Schmerzen am Boden und kam dadurch der Kante des kleinen Podestes, auf dem sie Zuflucht gefunden hatten, immer näher. Eugen Dinand, der nur noch rot sah und auch nur noch aus Haß bestand, schaute mit blutunterlaufenen Augen zu, wie Busley über die Kante in die Tiefe und in die Flammenhölle stürzte. Er war allein! Niemand riß ihn von der Luftleitung fort. Niemand befahl ihm, aus dem Wasserstrahl zu verschwinden, um einem anderen Platz zu machen. Die Hölle hatte auch Busley verschlungen. Dieser Schuft, der ihn den Flammen ausliefern wollte. Petite, dachte Dinand und sog gierig die heiße Luft in die gequälten Lungenflügel, ich halte hier aus. Ich rühr’ mich nicht vom Fleck bis man mich rausgeholt hat. O Petite, weißt du, wie ich dich liebe…? Die geschützten Hände gegen den Schlitz des ein wenig geöffneten Isolahelmes gepreßt, ließ er sich von der armdicken Luftleitung mit dem lebenserhaltenden Gemisch berieseln. Zugleich stand er mitten im Wasserstrahl, dessen Temperatur in den letzten Minuten wiederum um einige Grade gestiegen war. Der Vakuumschweißer sah nicht die drei Männer flink wie Affen die eiserne Leiter heraufkommen, die feuerrote
Schutzanzüge trugen und darin wie Humanoide einer fernen Welt aussahen, aber er schrie auf, schlug wild um sich, als Hände nach ihm griffen und jemand seinen Helm schloß. Eugen Dinand begriff: Busley war aus der Feuerhölle zurückgekommen, um ihn ins Verderben zu stoßen! »Nein, ich will nicht…! Busley, laß mich los…! Du sollst mich loslassen, du heimtückischer Schuft… « Zwei Haken schlossen ihm den Mund. Jemand riß ihm die Beine unter dem Leib fort, und er krachte gegen etwas, das ihm den letzten Rest Luft aus den Lungenflügeln trieb. Er glaubte explodierende Sterne zu sehen, fühlte, daß er schon wieder geschlagen wurde und sah das grauenhafte, schwarze Nichts rasend schnell auf sich zukommen. Petite, waren seine letzte klaren Gedanken, Petite, Busley hat mich ermordet. Räche mich, wenn du ihn triffst! Petite, Petite o, Petite… Und dann war nichts mehr. Fünf Minuten später meldete Bill Lenkins dem Chef der Alpha-Feuerwehr Sheraton lapidar: »Eugen Dinand, einer der drei eingeschlossenen Männer im Pumpenbereich B, konnte gerettet werden. Von den beiden anderen fehlt jede Spur. Dinand ist ins Lazarett eingeliefert worden. Ende.« Sheraton schluckte und nickte in Richtung des kleinen Bildschirmes. Er konnte nicht erkennen, ob Bill Lenkins sein anerkennendes Nicken gesehen hatte. Dann schaltete er von der Alarmfrequenz auf normal. Der verzweifelte Einsatz der ungeheuer teuren Kältebomben – der vierte seit Ausbruch des Feuers – schien Wirkung gehabt zu haben. Oder machte er, Sheraton, sich etwas vor und waren die brüllenden, fauchenden Flammenbahnen nach wie vor so stark und unbesiegbar? Eine gewaltige Explosion erschütterte den domartigen Raum, aber die Flammenwände verhinderten, daß Sheraton auf seinem winzigen Monitor etwas sehen konnte. Doch er war in
der Lage zu hören. Er erkannte auch, wem die Stimme gehörte: Walt Gregor, einem seiner besten Truppführer. »Chef, wir haben noch drei Kältebomben, wenn wir die sofort einsetzen, könnten wir das Feuer im Tankbereich unter Kontrolle bringen. Könnten… habe ich gesagt.« »Bomben einsetzen. Sofort!« schnarrte Sheraton. Auch er klammerte sich an einen Strohhalm.
VIII
Der freudige Schock über die unglaubliche Nachricht, daß sich der Fünfer-Pulk auf dem Rückflug zum Mond befände, hatte nur für Augenblicke Doktor Helena Russell in Euphorie versetzen können. Jetzt hatte sie keine Zeit mehr, auch nur einen einzigen Gedanken an John Koenig zu verschwenden. Sie hastete im Lazarett von Krankenliege zu Krankenliege und traf überall das gleiche Elend an – Männer und auch ein paar Frauen, die an Verbrennungen dritten Grades litten. Unwillkürlich drehte sich Helena Russell um, als abermals auf einer Liege jemand ins überfüllte Krankenzimmer gebracht wurde, in dem man sich kaum noch bewegen konnte. Ein Mann, der festgeschnallt war. »Doc«, sagte der Redman, der der Liege gefolgt war, »wir haben den Mann aus der Flammenhölle geholt. Er scheint wahnsinnig geworden zu sein. Er redet unentwegt über einen Busley, der ihn in die Flammen gestoßen habe. Verbrennung scheint er nicht abbekommen zu haben.« Sie ordnete an, dem Angeschnallten den Isolahelm abzunehmen. Aus blutunterlaufenen Augen traf sie unbändiger Haß. »Du bist ja nicht Petite! Was willst du Hure? Willst du mich verführen?… Petite, meine Kleine, komm und hol mich! Hol mich hier raus… « Helena Russell wandte sich ihrem Assistenzarzt zu. »Sedativa injizieren, und wenn er sich beruhigt hat, über den Mental-Computer beobachten. Vor allen Dingen Lungenkontrolle!«
Der Mental-Computer, der alle Gehirnströme und Impulse anmaß, war sogar in der Lage bei bestimmten Geisteskrankheiten eine absolut sichere Diagnose zu stellen. Hier schien es eine dieser Krankheiten zu geben. »Doc, Sie meinen…?« »Ja«, unterbrach Helena Russell ihren Assistenzarzt, »ich meine… Veranlassen Sie das Nötige!« Sie verließ das überfüllte Krankenzimmer, stieß auf dem Gang mit zwei Kollegen zusammen und wurde von ihnen aufgehalten. »Haben Sie schon die neuste Nachricht vom Fünfer-Pulk gehört, Kollegin? Wenn der Pulk und die drei immer noch nicht identifizierten Objekte Kurs und Geschwindigkeit beihalten, landen sie in knapp einer Stunde.« Ihr Herz schlug schneller. John, dachte sie voller freudiger Erregung, und sie wußte, daß strahlende Röte über ihr Gesicht lief. Aber welche Rolle spielte das? Jedem in der Mondbasis Alpha war bekannt, daß John und sie sich liebten. Hastig fragte sie: »Hat man schon Kontakt mit dem Pulk?« Im nächsten Moment fühlte sie, daß ihre Frage mit Nein beantwortet werden würde. Und das Nein kam. »Keinen Kontakt mit den fünf Eagles, und das ist ein wenig unheimlich.« Ein wenig…? dachte sie. Die freudige Erregung in ihr gab es nicht mehr. Sie ahnte Unheimliches. Unbewußt glaubte sie in diesem Unheimlichen Gefahr zu erkennen. Aber wo sollte es Gefahr geben? Vielleicht waren alle technischen Einrichtungen in den Eagles ausgefallen oder durch noch unerklärliche Umstände blockiert. Sie zuckte zusammen, und es störte sie nicht, daß ihre männlichen Kollegen dieses Zusammenzucken sahen.
Wenn alle technischen Einrichtungen im Pulk ausgefallen waren, dann war auch die Sauerstoffversorgung zusammengebrochen, und das bedeutete, daß es in den fünf Raumbooten kein Leben mehr gab. Ein fliegender Sarg kehrte zur Mondbase Alpha zurück. Wie ein Mensch, der vor Übermüdung vor dem Zusammenbruch steht, war Helena Russell wortlos weitergegangen. »Was ist denn mit der los?« fragte ein Arzt den anderen. Beide zuckten die Schultern. Einer meinte: »Die Russell sollte sich doch freuen, bald ihren Commander wiederzuhaben. Aber so sind nun mal die Frauen… «
Ein Todesschrei konnte nicht gräßlicher klingen. Er gellte Commander Koenig in den eigenen Ohren nach. Der Hieb mit einer Neuropeitsche hatte ihn getroffen. Er krümmte sich, hielt sich die schmerzende Brust fest, und richtete sich dabei unter Stöhnen auf. Er lag auf dem Boden zwischen Piloten- und Kopilotensitz. Neben ihm Jean Single: bewußtlos. Und auf der anderen Seite des Pilotensitzes lag Rolf Mitterson, krumm wie ein Fragezeichen und so leblos wie der Boß der Meuterer. Wie ein Ertrinkender zog der Commander sich am Kopilotensitz hoch. Ohne diesen Halt hätte er es nicht geschafft, im Sessel Platz zu nehmen. Das Denken war eine Qual. Was war eigentlich gewesen? Woher habe ich den schweren Kopf? Jede Bewegung tat weh, dennoch drehte er sich um und blickte in die Kabine des Eagle Eins. Da lagen sie, der eine wie der andere – Meuterer und Geisel.
Die Instrumente über den Konsolen standen auf Null, keine Kontrolle flackerte. Das Raumradar und sein Bildschirm waren tot. Der Funk lief nicht. Der Bordcomputer war ausgeschaltet. Ausgeschaltet…?! John Koenig wischte mit der Linken über seine Stirn, dabei geriet sein Scheitel in Unordnung. Er, der immer Wert auf gepflegtes Aussehen legte, achtete nicht darauf. Ausgeschaltet…?! Das Denken fiel ihm so ungeheuer schwer. Es schmerzte buchstäblich. Er hörte sich stöhnen. Es klang laut und ein wenig hohl. Kein Wunder bei der unheimlichen Stille in der langgestreckten Kabine des Eagle Eins. Wer… wer… wer hat… hat das alles… alles ausge-… ausgeschaltet…? Er hatte es trotz allem geschafft, die Frage komplett zu denken. War da nicht etwas mit einem Gelblicht? Mit einem Gelblicht gewesen? Seine Erinnerung verblieb im dunkeln. Ist ja auch egal, dachte er, bloß warum ist es egal? Er fühlte, daß er sich verändert hatte, aber er begriff es nicht. Ausgeschaltet… der Bordcomputer war ausgeschaltet worden… Na, wenn schon… Er versuchte sich zu erheben, den Kopilotensitz zu verlassen, und es klappte. Schwankend wie ein Betrunkener ging er an Jean Single vorbei, dann an dem Mann, neben dem der Stunner lag. Er dachte nicht daran, sich in den Besitz der Waffe zu bringen. Er wollte bloß sehen, wie es Dukes, Jefferson, Verdeschi und Doc Vincent ging. Die lagen auf dem Boden wie die anderen auch. Sie rührten sich nicht, als er sie anstieß. Sie hatten es viel besser als er, denn sie brauchten nicht zu denken. Sein Denken tat ihm weh.
Er wurde von dem Gefühl gepeinigt, sein Kopf würde jeden Moment auseinanderfliegen. Dann nicht…! Das betraf Jefferson, Vincent, Dukes und Verdeschi. Er wankte wieder nach vorn, ließ den Stunner liegen, wo er lag; brachte sich auch nicht in den Besitz des Handlasers von Single. Ihm kam nicht einmal die Idee, solches zu tun. An Mitterson schlich er sich vorbei und nahm im Pilotensitz Platz. Durfte man eigentlich einen Bordcomputer ausschalten? »Ja, wenn er im… im… « Koenig wußte es nicht mehr. Beide Ellbogen stützte er auf die Kante der Konsole, hielt beide Hände unter sein Kinn und überflog mit leerem Blick die Kette der Instrumente und Hebel. Aber er begriff nicht, was er sah. Ja, ich heiße John… John… John… Rolf Mittersons gellender Aufschrei kümmerte ihn nicht. Er wollte herausbekommen, wie er hieß. Hinter dem Wort John kam noch etwas. Ausgeschaltet…?! Er kaute gedankenverloren auf der Unterlippe herum. Wann durfte man einen Bordcomputer abschalten oder ausschalten? Doch nur… Ein Blitz zuckte hinter seiner Stirn und riß einen Vorhang entzwei. Im gleichen Moment wurden die Augen des Commanders klar. Mit der linken Hand stieß er Mitterson zur Seite, der versuchte, sich in seinen Sessel zu ziehen. Er konnte den Piloten jetzt wirklich nicht gebrauchen. Er hatte den Bordcomputer einzuschalten. Er mußte den Funk einschalten und das Bordradar. Und… und… und… »Nein!« hörte er sich fassungslos ausstoßen. »Nein, das gibt es nicht! Das kann nicht sein…! Großer Himmel, alles ist eingeschaltet, aber nichts funktioniert! Gar nichts.«
Mitterson versuchte ein zweites Mal in seinen Pilotensessel zu gelangen. Als der Commander in anschaute, blickte er in das Gesicht eines Irren. Daß er vor Minuten auch so ausgesehen hatte, ahnte er nicht. Er machte dem Piloten des Eagle Eins Platz, blieb neben Jean Single stehen und hob den Handlaser auf. Der Kerl mit dem Stunner wurde die furchtbare Strahlwaffe auch los. John Koenig setzte das Einsammeln der Waffen fort. Die körperliche Bewegung tat ihm gut, auch seinem Gehirn. Langsam kam die Erinnerung zurück. Bruchstückweise. Die einzelnen Mosaikstücke ergaben aber noch kein erkennbares Bild. Achtlos lag der Haufen Waffen neben Verdeschi. Hatte der ihn nicht einen feigen Lumpenhund oder ähnliches geschimpft? Jemand blickte ihn an. John Koenig nahm den Kopf hoch und schaute nach vorn. Es war der Pilot, dessen Blick auf ihm ruhte. Seine Augen waren klarer geworden, aber in ihnen stand ein einziges Fragezeichen. »Commander, was ist mit uns passiert? Warum arbeiten die eingeschalteten Instrumente nicht? Sogar der Bordcomputer nicht? Und warum das alles?« Der Commander wußte es auch nicht. War da nicht eine Meuterei im Spiel gewesen und stand dieser Single damit nicht im Zusammenhang? Jean Single, von der Sicherheitsgarde? Aber die Sicherheitsgarde meuterte doch nie und… da explodierte der zweite Blitz hinter John Koenigs Stirn, und im gleichen Moment war seine Erinnerung wieder voll vorhanden. Die Erkenntnisse trafen ihn wie Faustschläge. »Mitterson, kommen Sie her, und holen Sie sich einen Stunner! Los, zum Teufel, kommen Sie schon.« Der Pilot blieb in seinem Sessel sitzen. Ihm sagte der Befehl des Commanders nichts. Er wollte keinen Stunner haben. Ein Waffenfreund war er noch nie gewesen. Und warum sollte er einen Stunner besitzen? Er war Pilot und nichts anderes.
Piloten trugen keine Stunner, oder nur in außergewöhnlichen Fällen, und den gab es hier nicht. Koenig hatte begriffen, warum Mitterson seinem Befehl nicht nachgekommen war. Er mußte warten, bis der Pilot wieder sein Erinnerungsvermögen besaß. Zum dritten Mal schrie ein Mann in der Kabine von Eagle Eins – Jean Single, der Boß der Meuterer, der sich unter qualvollem Stöhnen aufzurichten bemühte. Immer wieder fiel er nach vorn aufs Gesicht. Da war Rolf Mitterson bei ihm und half ihm auf die Beine. Der Commander beobachtete den Vorgang voller Spannung. Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, Mitterson daran zu hindern, diesem Meuterer zu helfen. Er hoffte nur, daß der Pilot früher wieder fit war als Single. Warum habe ich Single nicht gefesselt? fragte sich Koenig verwundert und stellte fest, daß er anders als normal handelte. Demnach war mit ihm immer noch einiges nicht wieder voll in Ordnung. Was, zum Teufel, hatte das Gelblicht mit ihnen angestellt, und vor allem, wie hatte es solches anrichten können? Es mußte sogar Macht über die Bordtechnik besitzen, denn anders war der komplette Ausfall nicht zu erklären. Ausfall aller Geräte, obwohl kein einziges abgeschaltet worden war! Mitterson erholte sich zusehends. »Single, Sie…? Sie, Lump, und ich habe… ich habe… « Weiter ging es noch nicht, aber der fragende Blick zum Commander war schon klar. »Mitterson, los, holen Sie sich einen Stunner!« befahl er ihm ein zweites Mal. »Sie wissen doch, daß Single der Boß der Meuterer ist. Oder wissen Sie das nicht? Ganz bestimmt wissen Sie es!« Seine suggestiven Behauptungen wirkten ungeheuer stark bei dem Piloten, wie John Koenig es nie
erwartet hatte. Sie lösten die Sperre auf, die bei Mitterson noch bestand. »Verdammt, Commander, und ob ich das weiß!« Er kontrollierte seinen Stunner, ob er entsichert war und richtete ihn dann auf Jean Single, der das alles noch nicht in seinen Auswirkungen begriff. »Geben Sie Single keine Chance, Mitterson«, sagte der Commander und führte dann das durch, was er vorhin zu tun versäumt hatte – den anderen zu fesseln. Die eisgrauen Mörderaugen versuchten ihn zu bannen, aber sie waren nicht in der Lage zu verhindern, daß der Commander ihm unzerreißbare Handschellen an Händen und Füßen anlegte. Mit den übrigen Meuterern verfuhr er nicht anders. Darüber kam sein Verwundern, und er stellte eine Frage, auf die er keine Antwort erwartete: »Wer auf der Erde muß beim Bau des Eagle geplant und durchgesetzt haben, daß man jedem Boot so viele Handschellen als Standardausrüstung mitgegeben hat? In dem Fach liegen ja noch immer zehn oder mehr Stück.« Eine halbe Stunde später war Dr. Wesley Dukes, der Älteste von allen an Bord des Eagle Eins, auch wieder im Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte. Die Lage hatte sich grundlegend geändert – was der Eagle Eins betraf. In den anderen vier Raumbooten hatten nach wie vor die Meuterer das Sagen, doch das hatte zur Zeit nichts zu bedeuten, denn sie konnten nicht wissen, was an Bord des Eagle Eins geschehen war. Die unsichtbare Mauer zwischen John Koenig und Tony Verdeschi war nicht niedergerissen worden, weder der eine noch der andere hatte dazu einen Versuch unternommen. Sie sprachen miteinander, aber ohne jede Herzlichkeit – wie Roboter, die keine Emotionen kennen.
Der Astrophysiker Jefferson hatte es aufgegeben, das Phänomen der außer Funktion gesetzten Bordtechnik zu erklären; alle anderen auch, der Commander eingeschlossen. »Eigentlich müßten wir längst erstickt sein, oder etwa nicht?« fragte Dr. Dukes. »Das müßten wir, sind es jedoch nicht«, erwiderte der Commander, »und so lange es diese Gefahr nicht gibt, sind wir auch nicht gefährdet.« Die Diskussion über das rätselhafte Gelblicht war nach wenigen Minuten eingestellt worden. Auch die Versuche, das Bordradar wieder in Gang zu setzen. Die Scheibe blieb grau, und der wischende Strahl blieb aus. Piet Jefferson, der Astrophysiker, war mit ihrer Untätigkeit nicht einverstanden. »Wir können doch nicht bis zum Jüngsten Tag herumsitzen und überhaupt nichts tun.« »Was sollten wir denn tun, Mr. Jefferson?« erkundigte sich Dukes. »Aber ich habe zu diesem Punkt einen vernünftigen Vorschlag: Wir sollten uns bemühen, allen ein appetitliches Essen zu bereiten.« Doc Ben Vincent verdrehte die Augen: »Ein Essen aus diesen verdammten Konserven? Dazu gehört schon eine Art perverser Phantasie, um sich ein lukullisches Mahl vorzustellen, aber ich will mich bei den Menüvorschlägen nicht ausschließen. Wie wäre es, wenn wir als Zwischengang Hummer auf… « Er wischte über seine Augen. »Sehe ich plötzlich gelb, oder wie haben wir das?« Das Entsetzen schnürte allen die Kehle zu. Das Gelblicht quoll wieder aus allen Wänden und breitete sich blitzschnell in der Kabine von Eagle Eins aus. Commander Koenig konnte gerade noch warnend sagen: »Daß nachher bloß niemand auf den Gedanken kommt, den Meuterern die Handschellen abzunehmen.« Dann hatte das Gelblicht ein zweites Mal zugeschlagen.
IX
Die Stimmung in der Basisbrücke der Mondstation war nicht besonders gut. Captain Lyonell war es bei Dienstantritt aufgefallen, hatte aber von Manning, den er ablöste, keine Erklärung erhalten können. »Wer von uns ist schon guter Stimmung, Lyonell?« hatte er gefragt und war gegangen, um in seinem Wohnquartier schnell noch eine Handvoll Schlaf zu nehmen, denn in knapp zehn Stunden startete der erste Eagle mit Evakuierten an Bord in den Raum. Leslie Wyck und sein Stab, die den Plan ›Exodus‹ durchführten, konnten sich rühmen, daß ihnen bisher keine folgenschwere Panne passiert war, und es sah danach aus, daß die Evakuierung vollkommen reibungslos verlaufen würde. »Wenn es bloß diesen verrückt gewordenen Fünfer-Pulk mit den drei Objekten nicht geben würde«, maulte Arrag, »der im Orbit nun schon zum siebten Mal den Mond umläuft. Der Pulk macht mit diesem Zirkus die Menschen in der Station nervös. Warum holt man den Pulk nicht herunter, verdammt noch mal?« Von diesem Gefühlsausbruch überrascht, starrte Leslie Wyck seinen engsten Mitarbeiter verwundert an. »Was ist mit Ihnen los? Irritiert Sie der Pulk auch, Arrag?« »Sie denn nicht? Sind Sie denn aus Holz, Wyck? Und was steckt hinter den drei verfluchten Objekten, die am Pulk kleben? Warum versucht man denen nicht mit Strahlkanonen das Dasein auszublasen? Oder haben unsere Leute von den Strahlengeschützen nicht immer wieder ausposaunt, auf tausend Kilometern oder was weiß ich, eine Fliege vom
Porzellanteller zu fegen, ohne den Teller zu beschädigen? Warum nimmt man diese Maulhelden jetzt nicht beim Wort und zwingt sie, endlich mal ihr Können unter Beweis zu stellen?« Arrags hemmungsloser Gefühlsausbruch löste in Leslie Wyck Alarm aus. Er kannte seinen besten Mitarbeiter als einen disziplinierten Mann, der sich im Dienst nie gehen ließ. Gerade aber hatte er gezeigt, wie es in ihm aussah: Er war ein innerlich verzweifelter, hoffnungsloser Mensch geworden, der drauf und dran war, mit der Situation nicht mehr fertig zu werden. Doch er konnte auf Arrag nicht verzichten. Die Zahl seiner Mitarbeiter war viel zu klein und hätte eigentlich doppelt so groß sein müssen. Leider gab es in der Mondbasis Alpha nicht mehr Fachleute, die einen komplizierten Evakuierungsplan abwickeln konnten. Leslie Wyck beschloß, bei Arrag den Teufel mit Beelzebub auszutreiben. Er konfrontierte ihn mit der vollen Wahrheit über den FünferPulk und den drei unbekannten Objekten. Arrag hielt sich an der Schreibtischkante fest und starrte Wyck an, als habe er ein Gespenst vor sich. »Die drei Objekte lassen sich nicht… lassen sich nicht identifizieren? Aber man kann sie doch sehen, wenn sie zusammen mit dem Pulk unsere Basis überfliegen! Und was man sehen kann, das gibt es. Oder neuerdings nicht mehr?« Arrag war darüber laut geworden. Leslie Wyck störte sich nicht daran. »Ja, Arrag, man kann die drei Objekte sehen. Man kann sie mit Radar erfassen und auf dem Schirm sichtbar werden lassen. Damit hört aber alles auf. Unsere Technik verfügt über keine Mittel, auf Telebasis diese Objekte zu erkennen. Niemand weiß, was sie darstellen. Einige Beobachter behaupten, sie besäßen einen gelblichen Schimmer, andere wiederum bestreiten es und sagen, sie seien farblos.«
»Was hat das mit dem Fünfer-Pulk zu tun, Wyck? Uns fehlen diese fünf Raumboote. Wir können deswegen nicht alle Personen aus der Basis schaffen. Warum tut man in dieser Sache nichts? Warum setzt man denn keine Kampf-Eagles ein?« Wyck beugte sich vor und legte Arrag die Hand auf die Schulter. »Mann, reißen Sie sich zusammen! Wir sitzen alle im selben Boot. Man hat drei Kampf-Eagles eingesetzt. Sie haben den Pulk im dritten Orbit über der Mondbasis gestellt… ah, vielmehr sie wollten ihn stellen und zur Landung zwingen. Im Anflug darauf drehten alle drei Kampf-Eagles ab. Sie kehrten zur Basis zurück. Jeder Pilot behauptete, die Order erhalten zu haben, sofort zurückzukehren.« »Und den Unsinn hat man hingenommen?« »Man hat nicht, Arrag. Man hat drei andere Kampf-Eagles mit anderen Piloten hochgeschickt und den Pulk beim vierten Orbit anfliegen lassen. Es ereignete sich genau das gleiche.« »Was…? Auch diese drei Boote kehrten um, und deren Piloten behaupteten nach der Landung…?« »Ja, sie behaupteten es. Sie blieben bei ihrer Behauptung, auch als man ihnen die Kontrollbänder vorspielte. Darauf hätte sich der per Funk übermittelte Befehl, sofort umzukehren, befinden müssen. Es gab ihn auf diesen Bändern ebensowenig wie auf den drei ersten. Die medizinische Untersuchung der Piloten ergab nichts. Keine Spur von Hypnose oder Suggestion oder ähnlichen Erscheinungen. Nach wie vor steht man vor einem Rätsel. Begreifen Sie nun, warum man keinen Versuch unternimmt, die drei Objekte mit Kampfstrahlen anzugreifen?« »Nicht ganz, Wyck.« Arrag schüttelte den Kopf und starrte die Schreibtischplatte an. »Wenngleich die drei Objekte sich bisher friedlich verhalten haben, so sind sie es doch oder anders gesagt, sie sind es wahrscheinlich, die den Fünfer-Pulk an der Landung hindern. Wir benötigen diese Eagles aber. Ihr
Fehlen bedeutet, daß mehr als eine Handvoll Menschen beim Zusammenstoß sofort ihr Leben verlieren werden. Und berechtigt diese Tatsache nicht, alles zu versuchen, um in den Besitz der fünf Eagles zu kommen?« »Die ›Sieben‹, die die Kommandogewalt über die Mondbasis Alpha übernommen haben, denken anders darüber, Arrag.« Wyck beobachtete seinen Mitarbeiter scharf und hatte den Eindruck, daß er ruhiger geworden war. »Und Commander Koenig, der sehr wahrscheinlich noch lebt, scheint es nicht für erforderlich halten, jetzt schon zu landen, oder er kann nicht landen. Er kann es deshalb nicht, wie die Piloten der KampfEagles nicht an den Pulk herankommen konnten. Nicht einmal auf Schußweite.« »Wyck, aber meine Schußweite reicht… « Arrag war blitzschnell aufgesprungen und wollte Leslie Wyck die Faust ins Gesicht schlagen. Der Chef des Unternehmens ›Exodus‹ warf sich zurück, prallte mit dem Hinterkopf gegen die Wand, sah Sterne, aber er sah auch Arrags entstelltes Gesicht, in dem der Wahnsinn sich widerspiegelte. Wyck kam nicht der Gedanke, seinen Handlaser zu benutzen. Er riß seine Fäuste hoch, warf sich dem heranstürmenden Arrag entgegen. Unterlief dessen linken Schwinger und schoß seine Doublette ab. Er hatte das Boxen nicht verlernt, obwohl er diesem Hobby seit einem halben Jahr nicht mehr nachgegangen war, weil sein Partner Fink einfach keine Lust mehr hatte, jeden Fight gegen ihn zu verlieren. Der Leberhaken kam voll an, und die Gerade gegen Arrags Kinn auch. Und die fällte seinen Mitarbeiter wie einen Baum. »Hallo«, stieß Wyck überrascht aus und musterte den besinnungslosen Arrag, »Boy, du hast ja ein Glaskinn… « Dann forderte er vom Lazarett einen Arzt an. »Mein engster
und bester Mitarbeiter hat soeben durchgedreht, Doc. Lassen Sie ihn abholen. Für uns stellt er eine Gefahr dar.« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Wyck, ich kann Ihnen niemanden schicken. Ich habe nicht einmal mehr einen Pfleger verfügbar. Seit ein paar Minuten ist in unserer Basis an mehr als dreißig Personen eine bisher unbekannte Form von Wahnsinn explosionsartig ausgebrochen. Auffallend daran ist, daß die Erkrankten wie ein gefällter Baum zu Boden brechen, wenn man sie hart anfaßt. Was ist mit Ihrem Mann, Wyck?« Der erwiderte trocken: »Liegt wie ein gefällter Baum am Boden.« »Fesseln Sie ihn, Wyck. Ich kann Ihnen nur diesen Rat geben. Sie verstehen, ich werde hier an allen Ecken und Enden benötigt.« Der Arzt hatte abgeschaltet. Wyck hatte ein Plastikseil gefunden und war dabei, Arrag zu fesseln, als die Tür zu seinem Arbeitsraum aufflog und eine Gruppe tobender Männer eindrang. Die Laser in ihren Händen redeten eine deutliche Sprache. »Binde den Mann los, Wyck«, sagte der kleine und schlanke Mann, dessen Augen Irrsinn ausstrahlen. »Und dann wirst du deinen teuflischen Evakuierungsplan abblasen. Nicht wahr, Brüderchen, das wirst du gern tun, und später wirst du uns dankbar sein, daß wir dir das Leben gerettet haben…« Durch die Mondbasis Alpha gellte Rotalarm. »An den Sicherheitsdienst und die Katastrophenbereitschaften! An den Sicherheitsdienst und die Katastrophenbereitschaften! In der Station ist der Wahnsinn explosionsartig an vielen Stellen ausgebrochen. Die Erkrankten sind unverzüglich zu schocken und… « Mehr nahm Leslie Wyck nicht auf.
Geschockt und dadurch besinnungslos brach er zu Boden und lag neben Arrag. Die Gruppe Wahnsinniger schob die beiden Leblosen in eine Ecke und begann die Einrichtung des Arbeitsraumes mit Hilfe ihrer Handlaser zu zerstören. Als ein paar dicke Ordner in Flammen aufgingen, stießen die Irren gellendes Lachen aus und verstreuten die brennenden Blätter durch den ganzen Raum. Hier und da züngelten schon Flammenherde. Die Wahnsinnigen fütterten sie mit weiteren Papiermengen. Hinter dem umgestürzten, demolierten Schreibtisch quoll dunkler Rauch hoch. In weniger als einer Minute vertrieb dieser Rauch die Wahnsinnigen. Der Letzte ließ die Tür hinter sich laut ins Schloß fallen und rannte dann den anderen nach. Auch er wußte nicht mehr, daß er zwei bewußtlose Männer in Rauch und Flammen zurückgelassen hatte.
Hank d’Albert war am Ende der langen Schlucht stehengeblieben und hatte sich nach seinen Begleitern umgedreht. Im Gänsemarsch kamen sie langsam heran. Sie lernten noch auf diesem Planetoiden zu gehen, der ihnen inzwischen eine Überraschung dargeboten hatte. Drei Zonen, von denen die breiteste knapp hundert Meter maß, lagen hinter ihnen, in der Schwerkraftverhältnisse geherrscht hatten, die sie nur mit letzter Kraftanstrengung hatten meistern können. Jetzt befanden sie sich wieder in einem Bereich, in dem ein hastiger Schritt zu einem Sprung über dreißig Meter und mehr führte. Dem Schweizer Wulf Selon war dieses Mißgeschick passiert, und Glück im Unglück, obwohl er dabei in etwa acht Metern Höhe drei Saltos geschlagen hatte, war er mit den Füßen wieder gelandet. Die vier Männer umringten d’Albert. Nur sein Handscheinwerfer brannte noch. Die anderen hatten die ihren
abgeschaltet. Über den Funk sagte der Astrophysiker zu seinen Begleitern: »Der Teil, der vor uns liegt, ist ausgesprochen arm an Spalten und Rissen. Der bizarre Turm linker Hand ist unser nächstes Ziel. Ich möchte, daß wir zu einem Fächer ausschwärmen und den Turm breitflächig zu erreichen versuchen, falls uns nicht wieder Schwerkraftzonen stoppen wollen. Aber bei irgendwelchen Zwischenfällen oder Erscheinungen sofort stehenbleiben und über Funk Meldung machen. Wer ist mit meinem Vorschlag nicht einverstanden?« Es kam kein Einspruch. »Okay, gehen wir! Ich versuche so weit wie möglich nach links zu kommen und von dort aus den Turm anzugehen. Sua, Sie versuchen es von rechts aus. Ibn, Asgert und Selon teilen sich den Zwischenbereich auf. Und bitte keine Unterhaltungen, ja?« Er nickte den anderen zu und setzte sich vorsichtig in Bewegung. Die zerrissene Oberfläche des ellipsoiden Asteroiden hätte an das Aussehen einer groben Feile erinnern können, wenn die vielen Risse und Spalten nicht gewesen wären, deren Entstehung rätselhaft geblieben war. Dunkles Braun und viele Streifen im Boden, die pechschwarz waren, gaben der Oberfläche ein tristes Aussehen. Bisher hatte niemand von ihnen auch nur einen leuchtenden Farbpunkt entdeckt. So weit das Auge und der Lichtstrahl aus der Handlampe reichte, gab es dieses trostlose Dunkelbraun zu sehen. D’Albert war stehengeblieben und musterte die treppenartige Bodenformation, die er begehen mußte, um weiterzukommen. Drei nadelspitze, schwarze Minitürmchen interessierten ihn. Er bückte sich und griff nach einer Spitze. Wider Erwarten konnte er sie nicht abbrechen. Auch nicht verbiegen. Er nahm den Handlaser vom Gürtel und richtete den gebündelten Strahl darauf.
Der Miniturm veränderte sein Aussehen nicht, aber als der Strahl nebenan gegen den Boden prallte, brannte er ein Loch hinein. D’Albert stand vor einem Metall, das auf Erde und Mond unbekannt war. Schade, dachte er, daß uns keine Zeit mehr verbleibt, uns näher damit zu befassen. Er stieg über die natürliche Treppe hinauf. Fünf Meter Höhenunterschied schaffte er spielend. Die trostlose Oberfläche von Torso war von diesem Punkt aus noch schauerlicher. Ist es nicht Unsinn hier herumzulaufen und nach etwas zu suchen, von dem wir nicht einmal wissen, was es ist? fragte sich der Astrophysiker schon wieder. Diese Frage verfolgte ihn wie sein Schatten. Hier kann es nichts geben außer Schwermetallen und Erden – nichts außer taubem Gestein und Raumkälte. Er ging weiter, glaubte dann weit genug nach links gegangen zu sein, machte eine halbe Drehung nach rechts und schritt nun auf den bizarren Turm zu, dabei spähte er zur anderen Seite hinüber und sah vier Lichtstrahlen, die sich bewegten. Sie gehörten zu seinen vier Mitarbeitern. Ein Spalt zwang ihn zur Seite auszuweichen. Er war nicht lang, auch nicht breit, doch d’Albert wagte keinen Sprung. Er hatte Selons artistischen Sprung noch nicht vergessen. Dann konnte er wieder geradewegs auf sein Ziel zugehen. Unter seinen Füßen gab es wieder die pechschwarze Strecke. Sie löste in d’Albert Unbehagen aus. Glücklicherweise war sie nicht breit, und als er wieder über dunkles Braun schritt, atmete er erleichtert auf. Hier gibt es etwas Ungeheuerliches, sagte er sich in Gedanken. Hier muß es dieses Ungeheuerliche geben. Es ist so gewaltig, daß es in der Lage war, die Geschwindigkeit des Asteroiden um rund ein Zehntel zu erhöhen. Und das bedeutet,
daß Torso einen Antrieb besitzt, darum glaube ich, daß wir einen Fehler machten, als wir auf dieser Seite landeten. Wir hätten uns die Rückseite als Piste aussuchen sollen. D’Albert zuckte mit den Schultern. Das war nun nicht mehr zu ändern. In Gedanken beschäftigte er sich weiter mit Torso, auf dem er einherschritt. Auch diese Seite muß technische Einrichtungen aufweisen, denn von hier aus ist der rätselhafte Taststrahl emittiert worden, der in unserer Mondbasis die tragenden Decken zum Schwingen brachte. Aber fast unvorstellbar, daß sich in diesem Brocken etwas befinden soll, das von Intelligenzen geschaffen worden ist. Wie mögen sie ausgesehen haben, diese Intelligenzen? Doch das werden wir nicht mehr erfahren, denn bei seinem Aufprall auf unseren guten, alten Mond, wird dieser Brocken teils vergasen, teils schmelzen. Von ihm wird nicht viel übrigbleiben bei dieser wahnsinnig hohen Aufprallgeschwindigkeit… Tja, und dann ist mit uns allen ja auch Schluß. Er ging weiter und weiter – wie alle anderen auch. Hin und wieder prüfte jeder durch einen kurzen Kontrollblick, ob er die Scheinwerferstrahlen seiner Kollegen noch sah. Es war beruhigend diese vier Strahlen zu sehen, die sich langsam bewegten. Im Torso-Eagle hatte Jack Derain sein Dösen eingestellt und konnte auch nicht begreifen, was er über den Monitorschirm sah. Aber an der Tatsache gab es nichts zu ändern. Und dann hatte auch der letzte die langgestreckte Kabine des Torso-Eagle betreten und öffnete seinen Raumhelm. Pierre Marlaux und Vivian Blaird warfen sich hilflose Blicke zu. D’Albert und seine Männer, mit denen der Astrophysiker auf Torso gewesen war, kamen ihnen verändert vor, nur waren sie nicht in der Lage anzugeben, worin die Veränderung zu
sehen war. Und warum erklärten sie ihre so schnelle Rückkehr nicht? Sollte etwa ein anderer Ort angeflogen werden? Marlaux fragte Hank d’Albert. »Warum sollten wir, Marlaux? Uns ist dieser Landeplatz schön genug. Nicht wahr?« Er fragte die anderen. Sie nickten wie Automaten. »Ja«, sagte Pierre Marlaux, »der Landeplatz ist wirklich schön. Nicht wahr, Vivian?« Dabei wischte er sich über die Augen, um die durchsichtige Nebelwand zu entfernen, die sich dicht vor seinem Gesicht bewegte und nun versuchte, in seinen Kopf einzudringen. Das sah er, obwohl er es eigentlich nicht hätte beobachten können. Und genau das gleiche erlebten Vivian Blaird und der Pilot Jack Derain. Es tat nicht weh als die Nebelwand in ihren Kopf eindrang. Sie löste dabei ein Gefühl aus, daß alle gleich aussahen. Sogar die Gedanken waren identisch und für alle sichtbar. Niemand wunderte sich darüber, auf einmal die eigenen Gedanken sehen zu können. »Es ist schön hier. Es ist einfach herrlich hier«, schwärmte Jack Derain, und die anderen nickten Zustimmung. Sie saßen in ihren Sesseln, und ihre Blicke hatten sich auf dem Schirm des Monitors festgebrannt. Verzückung gab ihren Gesichtern ein unwirkliches Aussehen. Sie starrten das Sternenmeer an, das auf samtschwarzem Untergrund zu ihnen hereinschaute. Alles schien stillzustehen. Bloß die Zeit nicht. Sie lief unaufhaltsam weiter. Dann war die Minute erreicht, in der der Torso-Eagle vom Asteroiden Torso hätte abheben müssen. Das Raumboot hob nicht ab. In der langgestreckten Kabine saß Hank d’Albert mit seiner sechsköpfigen Crew, und im
Pilotensitz saß Jack Derain, und sie bewunderten das Sternenmeer, das zu ihnen hereinschaute…
Jean Single stand zwischen dem Commander und Tony Verdeschi. Alle drei beobachteten über den Schirm des Monitors, wie die Mondstation Alpha am Horizont auftauchte und immer deutlicher zu erkennen war. »Ich kann mich an Alpha nicht sattsehen«, meinte Commander Koenig und legte Single die Hand auf die Schulter, als sei der sein bester Freund. »Ich finde das Aussehen der Station auch wunderbar«, sagte Tony Verdeschi und stieß Jean Single kameradschaftlich in die Seite. Der grinste breit: »Soll ich vielleicht auch sagen, ich fände die Mondbasis schön? Verdammt noch mal, sie sieht auch gut aus. Sie paßt harmonisch in diesen Mondkrater mit seinem relativ niedrigen Ringwall hinein.« Er rieb nacheinander seine Handgelenke, die wunde Stellen aufwiesen. »Ich möchte aber endlich wissen, wie ich an diese Verletzungen an beiden Handgelenken gekommen bin. Weiß das wirklich keiner von euch?« Lachend fragte der Commander: »Wenn du es nicht weißt, wieso sollen wir es dann wissen?« Die Mondstation befand sich genau unter ihnen. »Warum sind keine Kinder hier?« fragte Tony Verdeschi völlig unmotiviert. Niemand wunderte sich darüber. Auch Dr. Dukes nicht, der zu ihnen getreten war. »Es sind wohl keine Kinder mitgenommen worden, oder hast du schon welche hier herumlaufen sehen, Dukes?« erkundigte sich John Koenig. »Ich habe keine gesehen«, erwiderte der Doktor. »Gut sieht die Mondstation aus. Wirklich gut, aber der Stern dort hinten
auch. Der wird immer größer und größer. Ist euch das noch nicht aufgefallen?« »Doch. Natürlich«, sagte der Commander. »Der Stern – das ist Torso, und Torso wird mit dem Mond zusammenstoßen und dabei wird die schöne Mondstation Alpha zerstört… « »Dann könnten wir vorher doch wenigstens einmal draufspucken«, verlangte Verdeschi. »Wenn sie doch zum Teufel geht. Oder wird sie doch nicht zerstört.« Dr. Dukes sah ihn strafend an: »Wie kann man nur so dumm fragen, wo jeder von uns weiß, daß Alpha kaputtgehen wird. Und das ist auch gut so, denn Alpha ist viel zu schön für diesen miesen, flachen Krater.« »Ja«, bestätigte Commander Koenig seine Ansicht, »Alpha ist wirklich viel zu schön für den Flachkrater, aber drauf spucken sollten wir doch nicht.« Hinter ihnen sagte einer von Singles Männer: »Sollten wir auch nicht. Ja, wenn wir Kinder wären… ja, dann ja… « »Aber wir sind keine Kinder«, sagte Single. »Schade, ich wäre so gern Kind… « Und sie beobachteten gemeinsam, wie die Mondstation Alpha wieder hinter dem Mondhorizont verschwand…
X
Der Wahnsinn breitete sich wie schleichendes Gift in der Mondbasis aus, und man hatte sich nicht anders zu helfen gewußt, als die Erkrankten, von denen jeder eine tödliche Gefahr für die anderen darstellte, aus dem besinnungslosen Schockzustand nicht mehr auftauchen zu lassen. Trotz schwerwiegender Bedenken hatte Doktor Helena Russell als Chefärztin diese Anordnung getroffen, und sie hatte die volle Zustimmung des siebenköpfigen Gremiums gefunden, das statt Commander Koenig die Geschicke in der Basis lenkte. Captain Manning machte wieder in Basisbrücke Dienst. Doch nicht ihm, sondern seinem Kollegen Lyonell war aufgefallen, daß kein einziger Angehöriger der drei Zentralemannschaften, die sich in einem achtstündigen Turnus abwechselten, am Wahnsinn erkrankt war. »Das kann kein Zufall sein, Manning« behauptete Lyonell. »Okay, aber was ist es dann, Lyonell?« Der kratzte am Kopf herum. »Wenn ich darauf eine Antwort wüßte.« Manning winkte ab. »Ist unwichtig, Lyonell. Alles ist unwichtig geworden bis auf die Evakuierung… « »An die ich nicht mehr glaube, daß wir sie durchführen können.« Manning war über Lyonells Ansicht nicht einmal überrascht. »Leslie Wyck und Arrag, sein bester Mitarbeiter, sind tot. Erstickt. Ein Drittel der Eaglepiloten haben entweder Neurogas geschluckt oder sind geschockt. Wenn die Ausfälle diese hohe Rate beibehalten, haben wir in zehn Stunden nur noch eine Handvoll Männer, die ein Raumboot fliegen können.«
»Und so wird es kommen, Manning.« Sie hatten die Kommandozentrale verlassen, um ungestört miteinander zu sprechen. Der Computer meldete das sechzehnte Überfliegen der Mondbasis durch den Fünfer-Pulk und die drei unbekannten Objekte. Beide blickten sich an. Lyonell stöhnte. »Ich begreife den Commander nicht. Zur Hölle, was will er mit dem Unfug bloß erreichen?« Manning brauste nicht auf. Warum auch? Es lohnte sich doch nicht mehr. Es hatte ihn nicht einmal geärgert, daß der TorsoEagle nicht zurückgekommen war. Soweit das Radar der Mondstation Alpha reichte – es gab keine Spur von der TorsoEagle. Da wurde Captain Manning von Doktor Russell gesucht. Er meldete sich über sein Commlock. Das Gesicht der Ärztin war in den letzten Tagen und Stunden um Jahrzehnte gealtert. Manning war bereit zu wetten, daß sie sich nur noch mit Hilfe aufputschender Mittel auf den Beinen hielt. Eine Ahnung, daß die Ärztin schon wieder eine schlimme Nachricht bereithielt, beschlich die beiden Männer. »Gentlemen, Plan ›Exodus‹ kann zu den Akten gelegt werden. Wir verfügen nur noch über drei gesunde Eaglepiloten und… « »Das kann doch nicht sein, Doc…!« schrie Manning, der sich vorgenommen hatte, sich nicht mehr aufzuregen. »Vor einer halben Stunde erst hat man mir die Zahl der erkrankten Piloten… « »Captain Manning«, unterbrach ihn die Ärztin, »vor einer halben Stunde stimmte diese Zahl noch. Aber sie stimmt jetzt nicht mehr… Moment… « Ihr Gesicht verschwand vom kleinen Schirm des Commlock, Manning und Lyonell hörten über das Sichtsprechgerät Stimmen, konnten sie aber nicht verstehen, dann tauchte das Gesicht der Frau wieder auf.
Lyonell wie Manning hatten den Eindruck, Helena Russell sei von einem Faustschlag getroffen worden. Nur war es kein Körpertreffer gewesen, sondern ein traumatischer Schock. »Gentlemen, auch die gerade noch gesunden drei letzten Eaglepiloten hat es erwischt. Knock-out für ›Exodus‹… « Das war das Todesurteil. Es gab für die Menschen in der Mondstation Alpha Eins keine Gnadenfrist mehr. Die Lunabasis würde ihr Grab werden. »Aber wir brauchen nicht hoffnungslos zu werden, Gentlemen… « War Helena Russell übergeschnappt? Hatte der Wahnsinn sie auch erwischt? »Nein, ich bin nicht verrückt geworden, Gentlemen, wenngleich mir Ihr Gesichtsausdruck das sagt. Wir haben noch den Commander. Wir… « In Captain Manning riß etwas. Er schrie über das Commlock die Ärztin an: »Ja, wir haben einen ebenfalls übergeschnappten Commander, der sich einen höllischen Spaß daraus macht, im endlosen Orbit unsere Basis zu überfliegen. Stecken Sie sich Ihren Commander an den Hut, Doc!« Lyonell zischte ihm zu: »Manning, sind Sie denn ganz und gar des Teufels…?« Der raste: »Stimmt es nicht, was ich gesagt habe? Oder ist dieses Herumkurven dort oben keine Idiotie? Und wenn der Mann, der sich diese Idiotie erlaubt, hundertmal Commander Koenig ist, so brauche ich diesen Unfug nicht gutzuheißen. Mit seinem verdammten Getue, und nur damit, Doktor Russell, hat er aus deprimierten Stationsangehörigen Menschen gemacht, die nun von panischer Angst gequält werden.« Er machte eine kurze Pause, zwang sich ruhiger zu werden, und sagte dann mit
normaler Stimme: »Bis zum Zusammenstoß mit Torso möchte ich nicht mehr an einen Commander John Koenig erinnert werden… Danach ist es mir egal.« Er schaltete ab, und der kleine Bildschirm wurde grau. »Jetzt fehlt uns nur noch, daß Torso wieder einmal schneller geworden ist… « Captain Manning sah nicht, wer an ihm vorbeiging, und er hörte nicht, wer ihn grüßte. Er stand noch voll unter der furchtbaren Nachricht, über keinen einzigen Eaglepiloten mehr zu verfügen. Mit dem Commlock öffnete er das Schott zur Zentrale, das blitzschnell nach oben in die Decke einfuhr. Die Stille, die ihn ansprang, alarmierte ihn. Die versteinerten Gesichter der Crew sagten ihm, daß er sich auf eine neue Katastrophennachricht vorzubereiten habe. Er fragte nicht. Er nahm wieder in seinem Sessel Platz, strich sein Haar aus der Stirn nach hinten und sah die Japanerin Yasko an, die zitterte. »Sir«, kam von der Monitorkontrolle der Ruf, »Torso ist auf einmal so schnell geworden, daß er in sieben Stunden aufschlagen wird.« Sie hatten also noch sieben Stunden zu leben. »Wo wird Torso einschlagen?« fragte Manning. Stille. Nur die Relais tickten, und ein paar Transformer summten. Mannings Stimme hatte an Lautstärke gewonnen, als er seine Frage wiederholte: »Darf ich erfahren, wo Torso einschlagen wird?« Das Kopfnicken der Japanerin zwang ihn, sie abermals anzusehen. Sie winkelte ihren rechten Arm an, streckte den Zeigefinger und deutete in mehrfacher Bewegung auf den Boden.
»Hier, Sir. In unserem Krater wird Torso einschlagen. Der Asteroid hat sich erlaubt, seinen Kurs so zu ändern, daß er uns voll trifft.« Mannings Blick glitt plötzlich in die Unendlichkeit hinein. Das ist gut so, dachte er. Das ist wirklich gut. Er wußte nicht, daß er den Kopf schüttelte. Komisch, dachte er weiter, und sein Blick endete immer noch in der Unendlichkeit, wie stark man sich mit dem Gedanken, in ein paar Stunden sterben zu müssen, vertraut machen kann. Ich fürchte mich vor dem Sterben nicht. Ich meine, es macht mich eigenartig froh, daß bald alles vorüber ist. Auf Raten zu leben ist scheußlich…
Mit einer Gleichgültigkeit, die schon krankhaft war, stellte Astrophysiker Hank d’Albert fest, daß der Monitor ihres Torso-Eagle nicht mehr in der Lage war, den Mond komplett zu zeigen. Daß er ihn sofort wieder vollständig sehen konnte, wenn er die Vergrößerung herunterschalten würde – auf den Gedanken kam er nicht. D’Albert drehte sich nach Noe Sua, dem ebenholzschwarzen Afrikaner, um. »Wir müssen dem Mond sehr nahe gekommen sein, und ich frage mich, wann wir ihn erreicht haben werden.« Der Blick aus den leichtverschleiert wirkenden Augen des Schwarzen veränderte sich nicht, als er antwortete: »Ich kann nur einen Schätzwert abgeben, denn die Instrumente unseres Eagle arbeiten nicht, obwohl sie nicht ausgeschaltet sind. Warum das so ist, weiß ich nicht. Ist auch uninteressant. Also ich schätze, daß wir in sieben Stunden den Mond erreicht haben werden.« »Könnte stimmen«, sagte der Astrophysiker. Er wollte noch mehr sagen, wurde jedoch von Vivian Blaird, seiner Kollegin, gestört.
»Hat jemand eine Nagelfeile bei sich? Ich habe mir einen Nagel eingerissen, und mit einem eingerissenen Nagel möchte ich nicht sterben, wenn wir mit Torso auf dem Mond aufschlagen. Möchtest du so sterben, Hank?« »Nein, das möchte ich auch nicht, Vivian… He! Hat jemand von euch eine Nagelfeile bei sich?« Olaf Asgert, der Norweger, meldete sich. Vivian Blaird holte sie sich bei ihm ab, bedankte sich mit einem strahlenden Lächeln, das aber bei Asgert keine Wirkung auslöste, und nahm wieder neben Hank d’Albert Platz, um sofort mit der Maniküre zu beginnen und den beschädigten Nagel zu bearbeiten. Einmal warf sie ihrem Chef einen prüfenden Blick zu, zog die Augenbrauen hoch und tippte ihn an. »Hallo, Hank, schläfst du?« Er schlief nicht. Er hatte die Augen geschlossen, um etwas in seiner Erinnerung zu suchen. Die Suche war durch Vivians Bemerkung ausgelöst worden, daß sie mit einem eingerissenen Nagel nicht sterben möchte. Woher wissen wir das? fragte d’Albert sich in Gedanken, und woher wissen wir, daß dieser Asteroid Torso heißt? Beide Fragen blieben in einer Ecke seines Gehirns hängen, und er beließ sie dort. Dann bewegte er ruckartig den Kopf, schaute Noe Sua an und fragte: »Hast du vorhin nicht gesagt, die Instrumente unseres Eagle arbeiteten nicht, obwohl sie nicht ausgeschaltet wären?« »Ja, das habe ich gesagt, Hank, und…?« »Nichts, Noe. Wirklich… « Er lehnte sich wieder zurück, schloß abermals die Augen und stellte sich unter stärkster Konzentration die Frage: Wieso sind alle Geräte des Eagle ausgefallen, wenn man sie nicht abgeschaltet hat?
Seine Augen blieben nicht lange geschlossen. Er öffnete sie, erhob sich und ging nach vorn, wo Jack Derain vor sich hin döste. Er stieß ihn an und forderte ihn auf, ihm den Sitz zur Verfügung zu stellen. Kommentarlos räumte Derain den Platz. Hank d’Albert traute seinen Augen nicht. Alle Instrumente arbeiteten. Alle Instru-… In seinem Kopf zerriß ein greller Blitz das Wort ›Instrument‹. Er hörte sich stöhnen, und er fühlte, wie stark er sich krümmte, als quäle ihn eine Kolik. Sein Herz raste, der Puls flog wie nach einem 10000-Meter-Lauf. Er hatte in diesem Moment sein Erinnerungsvermögen wiedergefunden. Aber nur er allein. Alle anderen saßen in apathischer Gleichgültigkeit in ihren Sesseln und starrten vor sich hin oder führten kindische Gespräche, die oft keinen Sinn ergaben. Warum haben wir die Erforschung der Torsooberfläche abgebrochen? Wer von uns hat den Befehl zur Rückkehr nach dem Eagle gegeben? Warum haben wir nie den bizarr aussehenden Turm erreicht? D’Albert warf einen Blick auf die Borduhr. Sie hatten den Start zur Rückkehr nach der Mondstation Alpha nicht durchgeführt. Sie waren auf Luna längst überfällig, und nicht wenige würden in ihnen feiges, hundsgemeines Pack sehen, die mit dem Vertrauen anderer Menschen Schindluder trieben. Die Erregung des Astrophysikers wurde immer bedrohlicher. Er fühlte, wie sein Herz sich verkrampfte. Mit einem Satz stand er vor der Bordapotheke, riß sie auf, fand auf Anhieb die mit Coryn geladene Kompripistole, hatte ein Stück seines Oberarmes freigelegt und schoß sich das Coryn in den Muskel. Nach zehn weiteren Herzschlägen begann er sich wohler zu fühlen. Die Wirkung des Mittels setzte schon ein. Niemand in
der Kabine des Torso-Eagle hatte von seinem Tun Notiz genommen oder sich dafür interessiert. Was hat man mit uns angestellt? fragte sich d’Albert, und wer ist es gewesen? Unwillkürlich blickte er über den Schirm des kleinen Monitors nach draußen auf Torso hinaus, als könne er dort denjenigen sehen, der sie in diesen unerklärlichen Zustand versetzt hatte. Wieso konnte Sua vorhin behaupten, keines der Instrumente würde arbeiten? Hatte er es wirklich so gesehen, wie er dann behauptet hatte? D’Albert rief ihn. Noe Sua kam heran. »Noe, bitte, ich möchte eine Distanzangabe haben und…« Der Schwarze legte ihm die Hand auf die Schulter, entblößte seine schneeweißen Zähne und sagte unter onkelhaftem Lachen: »Du weißt doch, daß kein einziges Instrument arbeitet, du Witzbold.« Kopfschüttelnd machte er kehrt und nahm wieder in seinem Sessel Platz. Hank d’Albert nahm die Messung selbst vor. Das Resultat kam ihm unglaublich vor, denn der Asteroid konnte dem Mond noch gar nicht so nahe gekommen sein. Er wiederholte die Distanzmessung und erhielt dasselbe Resultat. Dann sträubten sich ihm die Haare, als er die Geschwindigkeit des Asteroiden berechnen ließ. Eine Kontrollmessung warf das gleiche Resultat aus. In sieben Stunden und vier Minuten würde Torso mit dem Mond zusammenprallen. Jack Derain saß im Kopilotensitz und döste vor sich hin. Ihn interessierte es nicht, was der Astrophysiker mit den Meßgeräten der Eagle anstellte. Von unheimlicher Ahnung getrieben versuchte d’Albert den Kurs von Torso zu erstellen, eine Arbeit, die er wohl
beherrschte, aber nicht mit den Instrumenten des Eagle. Dennoch versuchte er es. Er schluckte, als er Kurs und Endposition errechnet hatte. Natürlich waren beide Wertgruppen falsch. Nach den ihm vorliegenden Angaben hatte Torso in der Zwischenzeit nicht nur die Geschwindigkeit erhöht, sondern den Kurs so geändert, daß der Zusammenstoß mit Luna im Krater der Mondstation Alpha Eins stattfinden würde. Er weckte Derain und fragte den Piloten, wie er eine Kursund Positionsbestimmung an den Eaglegeräten durchzuführen habe. D’Albert erfuhr so, daß ihm bei den Bestimmungsmessungen kein Fehler unterlaufen war. Aber dann… Großer Himmel, dann würde Torso die Mondstation Alpha Eins in sieben Stunden in Atome zerlegen! Er stützte den Kopf in beide Hände und begann zu grübeln. Hier ging vieles nicht mit rechten Dingen zu. Den Beweis für diese Behauptung lieferte ihm Vivian Blaird, die auf einmal neben ihm stand und ihm sagte: »Hank, ob du es glauben willst oder nicht, dieser Asteroid wird genau auf die Mondstation fallen. Stimmt es nicht, Jack?« »Natürlich stimmt es, Vivian. Wie kann man daran nur zweifeln. Torso wird auf die Mondbasis stürzen.« D’Albert gab ihm einen Stoß. »Derain, starten Sie mit Kurs auf den Mond!« Derain blickte ihn mitleidig an. »Ich werde nicht starten, Hank, denn ich habe keine Lust mit der Mondstation unterzugehen, wenn Torso darauf stürzt.« Das war doch vollendeter Blödsinn! Glaubte Derain tatsächlich auf Torso die Katastrophe zu überstehen? Vivian Blaird mischte sich ein. »Jack, hast du denn vergessen, daß wir alle in sieben Stunden sterben werden? Mann, das ist doch das Schöne daran, daß die
in der Station nicht allein sterben. Möchtest du denn nicht mehr sterben, Jack?« Hank d’Albert graute schon vor Derains Antwort. »Aber sicher will ich mit denen in der Mondstation sterben. Glaubst du, ich wollte mir diesen Spaß entgehen lassen, Vivian?« Eiskalte Wut brach in dem Astrophysiker aus. Welcher Bestie waren sie in die Hände gefallen, die sich den perversen Genuß verschaffte, ein paar hundert Menschen nicht nur zu vernichten, sondern ihnen zu suggerieren, das Sterben sei ein Vergnügen! Und mit einer Hellsichtigkeit, die ebenfalls voller Schrecken für den Wissenschaftler war, erkannte er, daß der Zusammenstoß zwischen Torso und Mond kein tückischer Zufall, sondern durch eine satanische Intelligenz durchgeführt werden würde. Und diese Intelligenz steckte in Torso! Seine eiskalte Wut wich einer tiefen Depression. Seine Erkenntnis kam zu spät, aber was hätte diese Handvoll Menschen in der Mondstation ausrichten können, wenn man das früher gewußt hätte? Nichts! Denn ihre technischen Mittel reichten nicht aus, um einen Asteroiden von 46,3 Kilometern Länge und einer Dicke von 12,9 Kilometern zu zerstören. Aus! dachte d’Albert. Aber wenn ich sterben muß, dann will ich zusammen mit den paar Menschen sterben, die in der Station zurückbleiben mußten, weil ich mein Versprechen gebrochen habe, pünktlich wieder auf dem Mond zu sein. Wie unter einem Peitschenhieb zuckte er zusammen, als er die Nebelwand vor seinen Augen erkannte. Er hatte inzwischen begriffen, was sie auslöste. Alles wurde gleich. Auch die Gedanken, und es war kein vollwertiger Ersatz, daß er seine eigenen Gedanken sehen konnte – Gedanken, die sich glichen wie ein Ei dem anderen.
Hank d’Albert lehnte sich zurück. Verzückung machte sich auf seinem Gesicht breit. Unentwegt blickte er auf den Schirm des Monitors, und innerlich unbewegt sah er den Mond langsam näher kommen.
XI
Die Computerspezialistin Yasko kniff die Augen zusammen, als sie wie gewohnt die Instrumente des Rechengehirns mit einem kontrollierenden Blick überflog. Ihr Computer verlor etwas. Ununterbrochen. Sie beugte sich über die Instrumente, hielt sich an der Kante der Konsole fest und atmete ganz tief ein, um ruhiger zu werden. Sie hatte ihren Verdacht geändert. Ihr Computer verlor ununterbrochen etwas, aber er bekam im gleichen Atemzug auch etwas herein. Die Instrumente behaupteten es, wenn sie einwandfrei arbeiteten, was der Fall zu sein schien. Hastig gab sie Order, die Meßinstrumente zu überprüfen. Es war eine Arbeit von wenigen Minuten. »Yasko, alle Geräte sind okay.« Sie hatte nichts anderes erwartet. Manning war ihre Unruhe aufgefallen, und er trat zu der hübschen Japanerin, deren Lächeln jeden Mann becircte. »Der Computer verliert keine Energie, Yasko?« fragte der Captain erstaunt. »Er verliert etwas anderes? Ja, was denn, um alles in der Welt?« »Das weiß ich eben nicht«, erwiderte die Japanerin über sich selbst unzufrieden. »Der Computer bekommt dazu auch etwas von draußen… « »Von draußen?« echote Captain Manning. »Und verliert etwas, aber keine Energie? Hm… Was kann ein Computer noch verlieren? Doch höchstens die Daten, mit denen er beschickt worden ist oder…?«
In diesem Augenblick meldete sich das Lazarett. Aber nicht die Medizin, sondern die kleine Computer-Abteilung. »Wir registrieren an unserem Rechner Vorgänge, die wir uns nicht erklären können«, hieß es hilflos. Es waren die gleichen Vorgänge wie am Hauptrechner der Mondstation Alpha. Yasko rief alle anderen Abteilungen an, die über kleine Computer verfügten. Überall das gleiche Bild. »Aber man müßte doch feststellen können, was weggenommen und was hereingegeben wird, Yasko«, schnaubte der Captain, dem die Sache immer unheimlicher wurde. »Ob das auch mit dem verdammten Asteroiden zusammenhängt, der uns schon mal mit einem Taststrahl beglückt hat, von dem unsere Experten immer noch nicht wissen, was er darstellte?« »Oder ob jemand in der Basis Experimente macht, Sir«, gab Yasko ihre Ansicht preis. »Das dürfte unter den gegebenen Umständen bedeutungslos sein.« Beide blickten zur großen Uhr in der Kommandozentrale. In drei Stunden siebzehn Minuten stießen Torso und Mond in ihrem Krater, in dem die Mondstation Alpha stand, zusammen. Ihre letzte Lebensrate lief ab.
Eugen Dinand wußte, daß er träumte, nur wunderte es ihn, daß die Träume in den Flammenhöllen genauso schön waren wie im normalen Lebensbereich. Petite, seine Frau, sah ihn lächelnd an, und jetzt streichelte sie sogar sein Gesicht. »Eugen«, hörte er sie flüstern, »Eugen, ich bin bei dir, und ich gehe von deiner Seite nie mehr fort.«
Wie gut das klang, und wie gut es ihm tat. Seine Petite war ihm im Traum erschienen, seine liebe, süße Petite. Er genoß ihr Streicheln. Er öffnete ein wenig den Mund, als ihre Fingerspitzen über seine Lippen glitten. Warum diese entzückenden Fingerspitzen nicht mit der Zungenspitze küssen? fragte er sich, schob die Zunge heraus und fühlte… Er fühlte, daß das alles kein Traum war. Er öffnete die Augen und erblickte Petites tränenüberströmtes Gesicht. Er war ja gar nicht in der Flammenhölle. Er lag in einem großen Zimmer, und in diesem Zimmer lagen viele andere, und an seiner Liege saß seine Petite, seine Frau. Und ihre Fingerspitzen küßte er. Ruckartig setzte er sich aufrecht. Sie wollte ihn zurückdrücken, doch er sträubte sich dagegen. »Laß das!« sagte er barsch, wie es nur Ehemänner zu ihrer Frau sagen können. »Wo sind Marsall und Busley? Weißt du etwas über die beiden? « Ein unheimliches Gefühl sagte ihm, daß beide nicht mehr lebten. Busley…? Was war da gewesen? Hatte dieser Busley ihn nicht in die Hölle locken wollen, in die Flammenhölle, von der sie eingeschlossen gewesen waren? »Eugen, ich habe diese Namen noch nie gehört. Wer sind Busley und Marsall?« fragte sie und hatte vergessen, daß er sie gerade angeschnauzt hatte. »Dann erkundige dich danach.« Sie war im Begriff aufzustehen, als er sie am Arm festhielt. »Petite, wie steht es um uns? Wann werden wir evakuiert?« Er sah das Lächeln einer Frau, die vom Leben nur noch ein paar Stunden zu erwarten hatte, und diese paar Stunden wollte sie in Glück und Harmonie verbringen.
»Wir werden nicht evakuiert, Eugen. Niemand. Alle Eaglepiloten sind lebensgefährlich erkrankt. Wir werden zusammen sterben.« Er glaubte sich einer Ohnmacht nahe. Verzweiflung drohte ihn zu übermannen, und er wäre in Tränen ausgebrochen, hätte er nicht das verklärte Lächeln von Petite gesehen. »Wann, Petite? Wann ist es soweit?« Sie fühlte sein Zittern. Sie hatte das Zittern in seiner Stimme gehört, und sie hatte beides vergessen. Sie beugte sich zu ihm und küßte ihn. Es störte sie nicht, daß andere sehen konnten, wie er sie liebkoste. Wer konnte im Angesicht des Todes darin mehr sehen als Liebesworte, die nur nicht ausgesprochen worden waren? »In knapp zwei Stunden, Eugen. Torso hat seinen Kurs geändert und ist dazu noch schneller geworden. Er wird in unserem Krater aufschlagen… Du… «, und ihre Stimme flüsterte, und ihre Lippen berührten sein Ohr, »es ist schön zusammen zu sterben. Danach werden wir uns nie wieder trennen, Eugen. Wir werden zusammenbleiben bis in alle Ewigkeit.« »Ja«, sagte er und wunderte sich, wie schnell er sich gefangen hatte. Er blickte seiner süßen Petite tief in die unbeschreiblich schönen Augen und sagte: »Wir werden zusammenbleiben bis in alle Ewigkeit.« Jetzt lächelte auch er.
Torso war nur noch zweieinhalb Millionen Kilometer vom Mond entfernt. Das bedeutete, daß er in weniger als hundert Minuten im Krater Mondstation Alpha aufschlagen würde. Der Countdown zum Sterben war angelaufen… Das Vorhaben des siebenköpfigen Kommandoteams, der Luft ein geruchloses Gas mit beruhigender Wirkung beizugeben,
brauchte nicht durchgeführt zu werden. Angesichts des bevorstehenden Unterganges hatten panische Angst einer tiefen Depression Platz gemacht, die den Lebenswillen der Stationsbesatzung buchstäblich lähmte. Selbst in der Kommandozentrale war sie festzustellen, und Captain Manning ertappte sich, auch nicht frei von Niedergeschlagenheit zu sein. Es war ja auch keine Kleinigkeit, mitten im besten Lebensalter von der Bühne abtreten zu müssen. Manning nahm Verbindung mit der astronomischen Abteilung auf. Die dort Dienst machten, waren Torso am nächsten. Mit ihren Geräten holten sie ihn bis auf Steinwurfnähe heran. »Seit einer halben Stunde können wir den Torso-Eagle sehen, Sir«, sagte einer der Astronomen. »Er steht scheinbar unversehrt auf dem Asteroiden. Das macht es noch rätselhafter, warum er nicht pünktlich zurückgekommen ist.« Das interessierte den Captain nicht. »Hat sich an Torso irgend etwas verändert?« bohrte er. »Ja und nein, Sir… « Manning horchte auf, polterte dann los, weil der andere sich mit der Antwort zuviel Zeit ließ: »Was denn, ja und nein…?« »Sir, zwei meiner Kollegen wollen auf der zerrissenen Oberfläche des Planetoiden eine kuppelförmige Anlage gesehen haben. Zwei andere Kollegen haben sie nicht auffinden können, obwohl ihnen der Platz genau angezeigt wurde. Nach einigen Minuten verschwand dann diese Kuppel spurlos. Mehr ist nicht zu sagen, Sir.« Halluzinationen, dachte Manning und schaltete aus. Wie alle anderen in der Kommandozentrale blickte er schon wieder zur großen Uhr. Der Minutenzeiger schien über das Ziffernblatt zu rasen.
Die letzte Lebensrate hatte noch eine Länge von sechsundneunzig Minuten. Jemand verlangte Captain Manning zu sprechen. Dieser Jemand war eine Gruppe von dreiundvierzig Frauen und Männern. Sie protestierten dagegen, daß das Ärzteteam sich weigere, ihnen letale Injektionen zu geben. »Sir, wir wollen den gräßlichen Augenblick nicht miterleben, wenn der Höllen-Asteroid uns in Atome verwandelt. Wir wollen jetzt schon sterben, und darauf haben wir ein Recht. Veranlassen Sie, daß Doktor Helena Russell ihre Weigerung vergißt und unserer Forderung nachkommt!« Manning verstand nicht, warum die Ärztin sich weigerte. Dann dauerte es fast fünf Minuten, bis ihr Gesicht auf dem Bildschirm auftauchte. »Doktor Russell«, sagte Manning, »eine Gruppe Stationsmitglieder verlangt, daß sie jetzt schon sterben kann, und besteht darauf, tödlich wirkende Injektionen zu erhalten. Ich bin verwundert, warum Sie diesem Verlangen, auf das die Leute ein Recht haben… « In Helena Russells müden Augen blitzte es auf. »Wegen dieses Irrsinns reißen Sie mich aus der Arbeit heraus, Captain? Ich habe Sie für vernünftiger gehalten. Noch leben wir alle. Noch haben wir eine Chance davonzukommen… « Das hatte Manning schon mal aus ihrem Mund gehört. Diese Frau, die sich so mutig zeigte, hatte insgeheim unheimliche Angst vor dem Sterbenmüssen und zwang sich darum, an ein Wunder zu glauben, das nicht eintreffen würde. Aber es führte zu nichts, wenn er ihr befahl, den Sterbewilligen die letale Dosis zu spritzen. Er konnte der Ärztin Helena Russell keine Befehle geben. Auf dem medizinischen Sektor nicht. Die Verbindung zu den dreiundvierzig Frauen und Männern stand wieder. »Doktor Russell weigert sich. Ich kann ihr keine
Befehle erteilen. Warum wollen Sie nicht mit uns zusammen sterben. Gemeinsam stirbt sich’s leichter. Versuchen Sie es doch mal… « Schwarzen Humor gab es in der Mondstation Alpha auch noch. Captain Manning blickte wieder zur Uhr: noch vierundachtzig Minuten bis zum Zusammenstoß.
Commander John Koenig stand als einziger vor dem Monitorbildschirm von Eagle Eins. Die anderen hatten sich zurückgezogen. Es war ihm nicht aufgefallen. Es störte ihn auch nicht, daß Rolf Mitterson seinen Pilotensitz verlassen hatte und irgendwo in einer Ecke lag und schlief. Er wartete darauf, die Mondstation Alpha über dem Lunahorizont auftauchen zu sehen. Den Wunsch, darauf zu spucken, hatte er nicht mehr. Er war ja kein Kind. Aber Mondstation Alpha Eins kam hinter dem Horizont nicht zum Vorschein. Es dauerte noch ein paar Minuten, bis Commander Koenig begriff, warum die Mondbasis ausblieb. Der Fünfer-Pulk stand über dem Mond und rührte sich nicht von der Stelle! Er beobachtete scharf den oberen Rand des Monitorbildschirmes. Die Krater dort veränderten ihre Position nicht. Das begriff er, aber irgendwie sagte ihm etwas in seinem Innern, daß es eine physikalische Unmöglichkeit war, über dem Mond in relativ niedriger Höhe unbeweglich im Raum zu stehen. Mondstation Alpha Eins tauchte am Horizont nicht auf, und der Asteroid Torso war auch nicht zu sehen. Unwillkürlich schloß Commander Koenig die Augen. Konzentriere dich, John! befahl er sich in Gedanken. Konzentriere dich, und versuche eine Erklärung für den Stillstand unseres Fünfer-Pulkes zu finden. Vergiß darüber
nicht, daß der Mond nicht rotiert wie die Erde. Er dreht sich also nicht unter uns hinweg. Langsam brach ihm der Schweiß aus, so stark war seine gedankliche Konzentration geworden. Er hielt sich an der breiten Lehne des Pilotensitzes fest. Auch seine Handflächen waren schweißnaß. Man will uns die Mondstation nicht mehr sehen lassen, und wir sollen Torso nicht mehr sehen. Torso, der die Mondstation beim Einschlag in den flachen Krater in Atome verwandeln will. Er wußte auch, wann die Katastrophe sich ereignen würde, doch dieses Wissen löste in ihm nichts aus. Es geschah eben – und damit basta! Gleichgültig zuckte er mit den Schultern, denn es lohnte sich wirklich nicht, sich deswegen den Kopf zu zerbrechen. Langsam wandte er sich ab, ließ die breite Lehne des Pilotensitzes los und ging an dem Sessel vorbei. Aus dem Nichts traf ihn ein Bild, ein verschwommenes Bild, aber er ahnte, daß er es kannte. Diese Vision bannte ihn auf der Stelle. Er hielt Arme und Hände ausgestreckt, als sei er blind. Das Bild war ein Gesicht. Ein Gesicht voller Liebreiz und mit einem Paar Augen, die immer schöner wurden, je klarer sie zu sehen waren. Er wußte doch, wem dieses Gesicht gehörte, bloß, warum kam er nicht auf den Namen des Besitzers? John, das ist doch… John, das ist… Er winkelte die Arme an, ballte die Hände, sein Gesicht verzog sich, als ob er in Tränen ausbrechen wolle, um plötzlich wie bei einem Korkenknall, wenn dieser unter Druck aus dem Hals der Sektflasche fliegt, ein Wort über die Lippen zu bringen: »Helena!«
Unsichtbarer Zwang barst wie der Damm einer Talsperre. Er schlug die Hände vors Gesicht und flüsterte wieder und wieder ihren Namen. Dann stand er abermals vor dem Schirm des Monitors, und der zeigte ihm eine unveränderte Mondlandschaft, wie er sie in Erinnerung hatte. Sein Blick huschte über Instrumente, Schalter und Tasten. Das Triebwerk der Eagle Eins lief. Seine Tiraniumtreibsätze waren die Kraft, die das Raumboot daran hinderten, abzustürzen und auf Luna zu zerschellen. »Helena… « flüsterte er, als hätte er Angst, die anderen könnten es hören. Die aber lebten im apathischen Nichtstun dahin. Sie hatten nicht begriffen, daß die unsichtbare Sperre um Commander Koenig zerbrochen worden war. Eine Frau, Doktor Helena Russell, mit ihrer ganzen Liebe zu John Koenig, hatte die isolierende Sperrschale um den Commander herum aufgebrochen, als sie in Ratlosigkeit und Verzweiflung daran festhielt, er würde im letzten Moment die Katastrophe doch noch verhindern. Er begriff mit hellsichtiger Deutlichkeit, was ihn geweckt hatte. Er glaubte Helenas Gesicht immer noch zu sehen. »Du, alle Instrumente sind eingeschaltet, und alles arbeitet einwandfrei… Du, Helena, ich war doch schon einmal bei vollem Verstand. Kannst du mir nicht sagen, was man mit uns im Fünfer-Pulk gemacht hat? Oh, großer Himmel, die drei Körper und das Gelblicht… « Er schaute sich um, wie ein Stück Wild, das vor der Meute geflohen ist und keinen Ausweg mehr sieht. Er fürchtete, das Gelblicht wieder beobachten zu müssen, wie es aus allen Ecken kam, um ihn zu bändigen. Es war noch nicht da. »Helena, ich beeile mich… « Da rief er schon die Mondbasis an.
»Hier Commander Koenig. Mondstation Alpha Eins kommen!… kommen!« Der Videoschirm flammte auf. Er sah darauf das Gesicht von Captain Manning, und dahinter ein paar Angehörige der Zentrale-Crew. »Hier Captain Manning. Wenn Sie Wünsche haben, Commander, wir können Ihnen keinen einzigen Wunsch mehr erfüllen. Wir alle leben die letzte Lebensrate. Wir alle… « Koenig unterbrach den Captain. »Warum halten Sie sich noch in der Station auf, Manning?« Der knurrte wie ein bissiger Hund: »Weil auch der letzte Eaglepilot an Wahnsinn erkrankt ist. Kein Mensch ist evakuiert worden. Nur Sie haben es geschafft und dieser Hank d’Albert mit Eagle Achtzehn. Ich möchte Ihnen zurufen, wie es seiner Zeit die Gladiatoren im alten Rom hielten: ›Ave Commander, morituri te salutant!‹, aber ich verkneife es… « Die Verbindung brach zusammen. Erstaunt überflog Koenigs Blick die Instrumente. Weder die Basis noch die Eagleautomatik hatte abgeschaltet. Der Grund dieser Störung war ein anderer, nur fand er die Ursache nicht heraus. Die dem Tode Geweihten grüßen dich… morituri te salutant. Den Spruch kannte er aus seiner Pennälerzeit her. Die Todgeweihten, und Helena war auch eine Todgeweihte. Und sie im Fünfer-Pulk waren es auch, wenngleich sie erst später sterben würden, wenn der Sauerstoffvorrat zu Ende gegangen war. »Nein!« stieß er aus und saß schon im Pilotensitz. »Nein, Helena, du stirbst nicht allein. Ich komme, und dieses Gelblicht soll nur nicht versuchen, mich aufzuhalten oder die drei Körper. Helena, Darling, ich komme…!« Er stieß die Worte aus wie ein Mensch, der weiß, daß er um sein Leben rennen muß. Seine Hände flogen über Tasten und Schalter. Der Bordcomputer gab alle Impulse direkt an die anderen vier
Eagle weiter. Dort wie in Eagle Eins wurden die TiraniumTreibsätze auf volle Leistung geschaltet. Der Pulk nahm Fahrt auf. Die Krater im oberen Schirmbereich verschoben sich. Die Raumboote gehorchten den Steuerimpulsen. Koenig rief die Positionsdaten der Mondstation Alpha ab, stellte den Kurs des kleinen Verbandes darauf ein. Als die Grünkontrolle aufflammte, konnte er die Hände in den Schoß legen, denn von jetzt ab flog der Pulk unter der Kommandogewalt des Bordrechners. »Darling, ich komme. Ich lass’ dich nicht allein sterben.« Es klang nicht pathetisch. Es klang wie ein Schwur. Und wie erleichtert atmete John Koenig auf, als er über dem Horizont die Mondbasis auftauchen sah. Gleichzeitig sah er aber auch Torso. Torso, der wie eine kleine Sonne strahlte. Torso, der ein winziges Scheibchen war, das nach allen Seiten weißblaue Energiebahnen in den nachtschwarzen Raum stieß. Der Commander hielt sich mit beiden Händen den Kopf fest. »Bin ich verrückt geworden, oder sehe ich Halluzinationen? Wie kann der Asteroid sich in eine Sonne verwandeln. Verdammt und zur Hölle, das kann doch nur Spuk sein… « Der Videobildschirm flammte auf. Koenig schaute in Mannings verbissenes Gesicht. »Commander, wir haben Ihren Pulk geortet. Wir wissen, daß Sie inzwischen auch sehen, wie Torso sich verändert hat. Wir ahnen, was Sie im letzten Moment beabsichtigen zu tun. Okay, aber wenn Sie mit uns zusammen sterben wollen, müssen Sie sich schon ein wenig beeilen, denn in elf Minuten und siebzehn Sekunden fällt uns das glühende Mini-Ungeheuer auf den Kopf.« Koenig hatte die Zeiten nicht zur Notiz genommen. »Manning, sagen Sie Helena Russell, daß ich unterwegs bin… «
»Sagen Sie es ihr selbst, denn sie steht neben mir, Commander.« Captain Mannings Stimme klang längst nicht mehr knurrig und widerborstig. Welchen Sinn sollte es auch angesichts des dicht bevorstehenden Unterganges haben? Auf dem Schirm tauchte ihr Gesicht auf. John Koenig erschrak, als er sah, wie sehr sie in den letzten Tagen gealtert war, aber deshalb war sie für ihn genauso liebenswert und reizvoll wie eh und je. »Helena, ich bin unterwegs. Wir schaffen es noch. Wenn du mich an der Abhebebasis erwarten willst…?« Unbeschreibliches Lächeln flog über ihr Gesicht. »John, ich bin schon zur Startbasis unterwegs.« Im gleichen Moment hatte sie ihre Behauptung wahrgemacht. Ihr Gesicht war vom Schirm verschwunden, und er hörte Captain Manning sagen: »Commander, Doktor Russell wird früher dort sein als Sie mit Ihrem Pulk. Wissen Sie übrigens, daß die drei immer noch nicht identifizierten Objekte Torso angeflogen haben, um sich mit dem Asteroiden zu vereinigen?« Das interessierte Commander Koenig jetzt nicht mehr. »Wieviel Zeit haben wir noch, Manning?« »Keine neun Minuten mehr, Commander… Oh, was habe ich gerade in der Zentrale gehört? Achtzehn ist geortet worden. Der Eagle Achtzehn, mit der Astrophysiker d’Albert und sechs Kollegen zu Torso geflogen sind, versucht auch noch kurz vor dem Zusammenstoß unsere Basis zu erreichen. Allem Anschein nach will im freien Raum kein einziger sterben… Commander, ich habe ein paar Daten erhalten. Sie mit Ihrem Pulk haben ein Tempo drauf, das Sie eigentlich in dieser kurzen Beschleunigungszeit gar nicht erreichen könnten. Haben Sie was Besonderes mit den Eagles angestellt?« »Nein, den Treibsätzen nur maximale Leistung abgefordert. Ende, Captain, aber bevor ich abschalte, möchte ich mit allen
Menschen in der Station kurz sprechen. Stellen Sie die Ringschaltung her.« Sie stand Sekunden später, und wer in der Mondstation Alpha Eins nicht zu den Geschockten und Besinnungslosen zählte, hörte zum letzten Mal die Stimme des Commanders. Er sprach nur ein paar Sätze. »… Niemand hat dieses Ereignis voraussehen können. In wenigen Minuten wird unsere Reise durch das All für immer zu Ende sein. Ich bin glücklich, daß ich zusammen mit Ihnen allen und meiner Mondstation Alpha Eins sterben kann, und nicht allein im All mein Ende finden werde. Leben Sie wohl… Ende!« Es klang irgendwie unheimlich – dieses Wort ›Ende!‹ Man konnte es gleichsetzen mit dem Begriff ›Ewigkeit‹.
XII
Als der Astrophysiker d’Albert endlich begriff, daß Jack Derain im Pilotensitz saß und der Torso-Eagle Kurs Mond flog, waren viele Sekunden vergangen. »Mr. d’Albert, schauen Sie sich bloß mal Torso an, diese furchtbare Sonne, die uns wie die Hölle verfolgt. Sie ist aufgeflammt wie ein blauweißer Diamant im grellsten Licht, als aus Richtung Mond drei Körper heranjagten und in Torso verschwanden. Ich habe geschrieen, als der Asteroid zur Sonne wurde, so schmerzhaft wurden meine Augen geblendet… « Hank d’Albert legte Derain die Hand auf den Arm. »Bitte, Derain, der Reihe nach. Wer hat Ihnen den Befehl gegeben Torso zu verlassen?« »Das weiß ich nicht. Ich wurde im Pilotensitz wach, und da flog unser Raumboot schon Kurs Mond. Der Planetoid sah aus, wie wir ihn kannten. Plötzlich schossen hinter dem Mondhorizont drei Punkte hervor. Mit dem Radar erfaßte ich sie und verfolgte ihre Bahn. Sie endete auf oder in Torso. Im gleichen Moment, als sie darauf oder darin verschwanden, explodierte dieser verdammte dunkelbraune Brocken zu einer Sonne…« »Dann wissen Sie nicht, was zum Start führte, Derain?« »Wie schon gesagt, nein. Ich kann mir auch das hohe Tempo nicht erklären, das wir draufhaben, Sir. Bis heute habe ich nicht gewußt, daß ein Eagle so schnell fliegen kann.« »Ich meine, Sie hätten keine Ahnung vom Start… « Ein wenig ungeduldig unterbrach der Pilot den Wissenschaftler: »Das stimmt auch, aber ich kann doch über den Computer abfragen, wann wir gestartet sind, und das habe
ich getan. Dadurch habe ich entdeckt, daß wir mit einer unerklärlich hohen Beschleunigung fliegen. Nur hilft uns das wenig. Ich schätze, wir werden vor dem Zusammenprall wieder in der Station stecken… Wenn es hochkommt, verbleiben uns knapp drei Minuten bis… na ja, bis es aus ist. Verdammtes Höllenbiest…!« So unbegreiflich, wie es schien, aber Hank d’Albert war in dieser Situation nichts anderes als Forscher. Er stand vor dem abgedunkelten Bildschirm des Monitors und beobachtete das rätselhafte Phänomen Torso. Ein ellipsoider Planetoid, der aus Erden und Schwermetallen bestand, war zu einer blauweiß strahlenden Sonne geworden, die ihnen als feuriges Ungeheuer auf den Fersen war, um in rund zehn Minuten im Krater der Mondbasis einzuschlagen. Und zur Mondbasis waren sie unterwegs… um dort mit den anderen zu sterben. Da hakte bei Hank d’Albert etwas aus. Er trat zu seinen Kollegen, die wie er im gleichen Moment wieder klar denken konnten. »Ich bin über einen Punkt gestolpert, der mir zu denken gibt. Ich… « Olaf Asgert lachte verärgert auf. » D’Albert, Sie haben auch jetzt noch Zeit sich über diesen Mist Gedanken zu machen? Jetzt, wo wir noch ein paar Minuten zur Verfügung haben, bis wir abkratzen? Bitte, lassen Sie uns mit Ihren Problemen in Ruhe.« Die anderen waren der gleichen Meinung, nur Vivian Blaird nicht. Sie spürte, wie gut es ihr tat, von der Todesangst abgelenkt zu werden. »D’Albert, was hat Ihnen zu denken gegeben?« erkundigte sie sich. Er warf ihr einen dankbaren Blick zu, nahm sie zur Seite, und als die anderen ihn nicht hören konnten, sagte er: »Warum
verspüren wir alle den gleichen Wunsch in uns! Warum drängt es uns vor der Katastrophe die Mondstation zu erreichen? Vivian, ist das nicht eigenartig? Dafür gibt es nur eine Erklärung… « Leise und zögernd meinte sie und blickte unsicher: »Hypnose oder etwas Ähnliches…?« Er zuckte mit den Schultern. »Ja, das oder Ähnliches. Oder haben Sie nicht den Wunsch, so schnell wie möglich die Station zu erreichen?« »Den verspüre ich, d’Albert.« Sie warf dem blauweißen Mini-Ungeheuer auf dem Schirm einen angstvollen Blick zu. »Diese Planetoidensonne ist ein Monstrum. Sie macht sich das Morden leicht. Sie sorgt dafür, daß wir vor ihr die Basis erreichen, um mit ihr vernichtet zu werden… Großer Himmel, wie satanisch muß das Gefühlsleben der Intelligenzen gewesen sein, diesem verfluchten Asteroiden ein technisches Eigenleben mitgegeben haben. Hank, es müssen unvorstellbare Bestien gewesen sein… « Er nickte. »Das ist auch meine Ansicht.« Er legte den Arm um sie, und sie wehrte ihn nicht ab. »Mich sollte es nicht wundern, wenn wir in der Station den Commander und alle anderen aus dem Fünfer-Pulk wiedersehen würden. Warum sollen wir im Torso-Eagle allein zur Mondbasis Alpha zurückrasen?« Sie warf den Kopf in den Nacken, und ihn aus großen Augen ansehend, stieß sie hervor: »Das würde bedeuten, daß wir nicht in der Lage wären, den Kurs zu ändern, Hank!« Er machte die Probe aufs Exempel. »Derain, gehen Sie auf Grün 35 Grad!« befahl er dem Piloten. Jack Derain reagierte nicht. D’Albert wiederholte seinen Befehl im scharfen Ton, so daß die anderen aufmerksam wurden und herankamen.
Die Reaktion des Piloten war wieder gleich Null. »D’Albert, was hat dieser Unsinn zu bedeuten? Warum soll Derain den Torso-Eagle aus dem Kurs nehmen?« Jetzt war er es, der sagte: »Marlaux, verschonen Sie mich mit Ihren Fragen.« Er legte den Arm wiederum um Vivian, zog sie nach hinten in die Kabine und sagte: »Ihre Vermutung stimmt. Irgendeine hypnotische Kraft zwingt Derain, den Direktkurs zur Mondstation Alpha nicht zu verlassen. Jetzt bin ich überzeugt, daß wir in der Basis den Commander und auch Jean Single und Konsorten wiedersehen… « »… um zu sterben«, sagte Vivian Blaird, und die Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie war vierundzwanzig Jahre jung…
Der Torso-Eagle landete als erster auf der Startrampe der Mondstation Alpha. Kaum hatte er aufgesetzt, als die Rampe in die Tiefe und ins Innere der Basis glitt. Kaum merkbar war der Ruck, als die große Landefläche am Ziel von den Arretierungen gesichert wurde. »Raus…!« befahl Astrophysiker Hank d’Albert, und an ihm rasten sie vorbei- Pierre Marlaux, Noe Sua, Wulf Selon, Her Ibn und Olaf Asgert. Dann folgte Jack Derain, der Pilot. Hank d’Albert nahm Vivian Blairds Hand. »Komm«, sagte er, »wir haben nicht mehr viel Zeit. Die Leute aus dem Fünfer-Pulk wollen auch noch in die Station.« Ihrer aller Leben währte keine fünf Minuten mehr. Als sie festen Boden unter den Füßen hatten, bemerkten sie Helena Russell, die am Rand der Startrampe stand. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, und sie sah die Menschen nicht, die fast fluchtartig ihren Eagle verlassen hatten. Die Automatik arbeitete blitzschnell.
Sie schaffte Eagle Achtzehn von der Rampe. Wie ein Lift jagte dieser wieder nach oben. Eine raffinierte Technik sorgte dafür, daß jedes Mal nur ein Minimum an Luft aus der Mondbasis Alpha entwich, wenn das Dach wie bei einem Schlitzverschluß aufsprang, um der Rampe den Weg in den luftleeren Raum über dem Mond freizugeben. Rolf Mitterson und die Computersteuerung schafften es, daß alle fünf Eagles zugleich aufsetzten. Kaum hatte das letzte Raumboot Kontakt mit der Rampe, als sie sich schon in Bewegung setzte und nach unten fuhr, als wüßte sie, daß es nur noch Minuten bis zum Untergang dauern würde. Dann stürmten aus fünf Eagles zweiunddreißig Männer und fünf Frauen. »John… « rief Helena Russell und lief ihm mit ausgestreckten Armen entgegen. Ihr Gesicht glich dem einer Göttin, der der ganze Olymp gehört. John Koenig umschlang sie, preßte sie an sich, und ihre Lippen trafen sich zu einem glühenden Kuß. »Helena… « »John… « Seine Hände strichen über ihren Kopf, über ihr Gesicht. Er nahm ihre Hände und küßte auch sie. »Ich bin wieder da, Helena. Ich bin bei dir… « »Ja… « sagte sie. »Ja, John… « Die anderen hatten die Halle verlassen. Blitzartig wurde John Koenig sich dessen bewußt. »Komm, ich muß in die Zentrale!« Und das zwei Minuten vor dem Sterben! Sie rannten durch die Mondstation Alpha. Zum allerletzten Mal. Zum allerletzten Mal öffnete er mit seinem Commlock das Schott zur Zentrale.
Niemand nahm von ihrem Eintreten Notiz. Auch der letzte starrte den großen Schirm des Monitors an und sah mit angstverzerrtem Gesicht, wie Torso als weißblau leuchtendes Monstrum und jetzt gigantisch groß auf den Mond herabstürzte. Der allerletzte Countdown lief. Der Computer zählte laut und deutlich. 73… 72… 71… 70… 69… 68… und immer weiter. Torso raste herab. Die Flammen- und Energiebahnen, die diese mörderische Höllenwelt in den Raum jagte, löschten im weiten Umkreis das Licht aller anderen Sterne aus. Ihr Leuchten gab es nicht mehr. Es gab nur Torso – Torso, der Untergang. 21 __20… 19… 18… und immer weiter. Menschen, die sich früher nicht einmal angesehen hatten, jetzt suchte der eine beim anderen Schutz. Schluchzen kam auf. 11… 10… 9… und immer weiter. John Koenig fühlte, wie wild und stark Helenas Herz schlug. Sie zitterte etwas. Sie hielt ihn umschlungen wie er sie. Der Monitor zeigte nur noch einen Ausschnitt von Torso. Der Sonnen-Asteroid war dem Mond schon zu nahe. Sein blauweißes Feuer sprang in die Zentrale der Mondbasis herein, aber es blendete nicht, weil eine Filtersteuerung es verhinderte. 5…4…3… und gleich nichts mehr! »Nein! Ich will nicht sterben… « schrie irgendwer. Da riß der Mond auseinander. Finsternis sprang vom Bildschirm des Monitors herein. Luna brüllte. Der Tod kam unter satanisch jaulendem Schrillen. Dieses gräßliche Geräusch fraß sich blitzschnell ins Gehirn der Menschen.
Dort schlug es zu und es traf den Letzten. Aus… Aus für alle…
XIII
Commander Koenig setzte seinen Plastikbecher von den Lippen ab und stellte ihn links. Neben seinen Unterlagen. Er nickte, während er von einem zum anderen schaute. An Dr. Dukes blieb sein Blick hängen. Der sah darin eine Aufforderung zu sprechen. Der Wissenschaftler sprach mit klarer, aber etwas leiser Stimme. Auch John Koenig mußte angestrengt lauschen, um alles mitzubekommen. »Wir haben in den letzten drei Monaten die Geschehnisse um Torso wieder und wieder analysiert. Die Untersuchungen haben stets ein und dasselbe Resultat erbracht: Torso war ein Spion, ob Torso auch ein Relikt eines zerstörten Planeten gewesen ist, werden wir nie erfahren. Ebensowenig haben wir eine physikalische Erklärung zur Hand, die uns wissenschaftlich einwandfrei sagt, wie Torso eine Sekunde vor dem Zusammenstoß mit unserer Station sich um fast eine halbe Million Kilometer versetzen konnte. Der Planetoid befand sich zu diesem Zeitpunkt 418 km hoch über dem Mond. Ein Vorgang dieser Art wäre über der Erde nicht möglich gewesen, denn dort hätte allein schon die Druckwelle unvorstellbare Zerstörungen angerichtet. Bei uns konnte dergleichen nicht geschehen. Ich darf zusammenfassen: Torso war mehr als ein ellipsoider Gesteinsbrocken aus Erden und Schwermetallen. Er barg in sich eine uns unvorstellbare Technik, die uns sogar suggestiv beeinflussen konnte. Torso hat sich nicht nur aller gespeicherten Daten in unseren Computern bemächtigt, er hat sich auch das Wissen eines jeden einzelnen von uns
angeeignet. An diesen Tatsachen gibt es nichts zu rütteln. Die drei Objekte gehörten zu Torso. Sie waren, wenn ich es vereinfacht ausdrücken darf, seine Agenten. Nach unserer Auffassung war das Verhalten der Agenten wie das von Torso sehr menschlich. Die Intelligenz, die diese Technik erstellte, muß allergrößte Achtung vor dem Leben an sich gehabt haben. Erinnern wir uns, daß Torso, in dem es alle unserer Eaglepiloten erkranken ließ, es uns unmöglich machte, den Evakuierungsplan durchzuführen. Und Torso zwang die Menschen, die sich draußen in den Eagles befanden, durch einen ›Heimweh-Trieb‹ in letzter Minute unsere Basis aufzusuchen. Selbst der Absturz auf unseren Krater hatte nicht den Zweck, uns in panische Angst zu versetzen, sondern war der Test, um herauszufinden, wie wir uns in solch einer Katastrophensituation verhalten. Auch das steht wissenschaftlich eindeutig fest: Unsere seelischen Nöte während der Phase des Absturzes hat sich Torso ebenso angeeignet wie all das andere, was wir besaßen. Torso nahm alles an sich, um es im gleichen Moment wieder an uns zurückzugeben. Denken wir daran, wie eigenartig sich einmal alle Computer der Station verhielten. Und nun hat sich Torso unserer Kontrolle entzogen. Wir werden niemals erfahren, wer der nächste Stern sein wird, den er mit seiner Anwesenheit beglückt.« Dukes lächelte leicht. »Wir brauchen ja auch nicht alles zu wissen. Eins möchte ich zum Schluß aber noch sagen: Torso war ein Spion, der mir immer sympathischer wird, je länger ich mich mit ihm zu beschäftigen habe. Er wird uns Wissenschaftlern noch für Monate Arbeit machen.« »Ja, Torso, der Spion«, führte Koenig das Thema weiter, »der den Wahnsinn ebenso schnell wieder verschwinden ließ, wie er unter der Stationsbesatzung ausgebrochen war. Ein Glück, daß
alle Gasvergifteten ohne Folgeschäden davongekommen sind. Professor, die gleiche Sympathie, die Sie Torso, dem Spion, schenken, hege ich für ihn auch. Mein Wunsch wird wohl allen verständlich sein, bei unserer endlosen Reise durch das All auf die Wesen zu treffen, die Torso geschaffen haben, nur befürchte ich, daß dieser Wunsch nie in Erfüllung gehen wird. Gentlemen, ich danke Ihnen für Ihre Referate.« Damit hob er die Sitzung auf. Auf dem Weg zu seinem Wohnquartier begegnete er Maya, der Psychonerin. Sie war die einzige in der Station, die kraft ihrer Fähigkeiten ihre Gestalt beliebig zu verändern vermochte. »Kann ich dich mal sprechen?« fragte sie. In seinem Quartier bot er ihr Platz an. Er selbst blieb stehen, mixte sich und ihr einen Drink und reichte ihr den Plastikbecher. »Du willst doch wohl nicht schon wieder für Single und Konsorten ein gutes Wort einlegen, Maya?« Sie lächelte ihn an. »Warum fragst du, wenn du es weißt, John? Die Psychobehandlung, die sie durchlaufen haben, hat sich bei jedem Meuterer fixiert. Das heißt: Sie werden nie mehr auf die Idee kommen, eine zweite Meuterei anzuzetteln oder sich daran zu beteiligen. Wir… « Er nahm ihr den Plastikbecher ab und sah ihr scharf in die Augen: »Maya, ich bin der Commander von Alpha Eins, aber nicht ihr Diktator. Das Gericht hat Jean Single und seine Komplizen verurteilt, und nur das Gericht kann die verordnete Psychobehandlung absetzen lassen. Bitte, stell deinen Antrag dem Gericht. Ich bin dafür nicht zuständig. Doch wenn du meine Meinung über den Fall Single wissen willst: Ich hätte nichts dagegen, wenn er und seine Komplizen wieder an die Arbeit müßten, aber an eine Arbeit, die sie so schlaucht, daß sie glücklich wären, schlafen zu dürfen.« Sie lachte hell auf. »Du Sklaventreiber, aber mit dieser Methode kann man auch strafen, und ich finde, es ist nicht
einmal die schlechteste Art von Strafe. Okay, Commander, dann will ich mal meinen Bau aufsuchen und mich hinsetzen, um den Antrag an das Gericht zu formulieren. Aber… « und als sie ihn so spitzbübisch ansah, ahnte er schon den Pferdefuß, den sie ihm zeigen würde, »würdest du dann so nett sein und meinen Antrag mit unterschreiben?« »Mach daß du rauskommst!« erwiderte er. »Danke«, sagte sie und erhob sich. »Ich hatte es doch gewußt, daß du es tun würdest. Finde ich dich nachher in der Zentrale?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich fahre mal nach unten, um mir in der Sauerstofferzeugung die technische Abnahme anzusehen.« Maya war an der Tür stehengeblieben. »Soll das heißen, daß die Brandschäden schon restlos beseitigt sind?« »Ja. Gleich um 16 Uhr ist Abnahme, und bei der möchte ich dabeisein. Doch gegen 20 Uhr kannst du mich bei Helena treffen. Sie besteht darauf, daß das Lazarett vergrößert wird. Das muß ich ihr ausreden, denn wir haben im Moment dafür keine Arbeitskräfte verfügbar.« Maya schmunzelte. »Wenn ich weiß, daß du mit Helena nur über ihr Lazarett sprichst, komme ich natürlich vorbei, denn dann störe ich euch ja nicht… « Er verstand ihr Anspielung und lachte herzhaft. »Jetzt aber raus, Lady! Aber schnell…!« Er sah sie nicht gehen. Seine Gedanken waren bei Helena. John Koenig freute sich auf den heutigen Abend. Ein Durchruf riß ihn aus seinen Träumen. Tony Verdeschi wollte ihn sprechen. John Koenig wehrte ab. »Tony, ich bin auf dem Weg nach unten zur Sauerstofferzeugung. Wenn es so wichtig ist, was du mit mir besprechen willst, mußt du schon nach unten kommen.« »Dann komme ich, John.«
Es gab zwischen ihnen kein Zerwürfnis mehr. Sie hatten sich längst ausgesprochen, und was damals während der Meuterei geschehen war, trugen sie sich gegenseitig nicht nach. Commander John Koenig verließ sein Wohnquartier. Auf dem Weg zum Lift grüßte er automatisch. Seine Gedanken beschäftigten sich schon wieder mit Torso, dem Spion. So schnell würde er den nicht vergessen…
XIV
Maya zeigte Tony Verdeschi ihre schönste Schnute. »Langsam, aber sicher regt ihr Männer uns mit eurem Torso auf. Gibt es denn kein anderes Thema, als über diesen Asteroiden zu sprechen? Torso ist auf und davon. Ich habe keine Sehnsucht, ihn noch einmal zu sehen. Der Schrecken, den er uns eingejagt hat, war mir groß genug. Also, bist du bereit, das Thema zu wechseln, mein Lieber.« Sein Schmunzeln war ein wenig hinterhältig. »Okay, Baby«, meinte er, »schalten wir auf Thema eins um… « »Untersteh dich!« blitzte sie ihn an. Er winkte großartig ab. »Thema eins, die Frau, Maya. Warum hast du etwas dagegen, wenn wir beide uns über euch Frauen unterhalten?« »Schuft!« warf sie ihm an den Kopf; es hätte genausogut ein Kuß sein können, und so verstand Tony Verdeschi auch ihre Bemerkung. Sie aalte sich auf der bequemen Liege und futterte schon die siebte Praline. Diese winzigen Kalorienbomben taten ihrer erstklassigen Figur nichts. Maya konnte sich diese Scherze erlauben. Mitten im Kauen krauste sie ihr Naschen. »Ich möchte wissen, woran du jetzt denkst, Tony. An alles mögliche, aber nicht an Frauen oder…?« Er zuckte mit den Schultern: »Ob du es glaubst oder nicht, Maya, ich habe an Torso gedacht und… « »Großer Himmel, ich geb’s auf!« stöhnte sie und strampelte mit den Beinen, die ihre rassige Form nicht versteckten, denn
ihre Hose war wie eine zweite Haut. Sie wußte, wie gern Tony sie so sah, und warum sollte sie ihm diese Freude nicht machen? In der Verständigung knackte es. Beide sahen auf. Da kam schon die Durchsage. »Zentrale an Sicherheitschef Verdeschi! Roger!« Maya lag ganz züchtig auf der Liege. Das Strampeln mit ihren Beinen hatte sie beim ersten Knacken eingestellt. Verdeschi meldete sich. »Wir schalten um auf Lazarett«, bekam er zu hören. Verwundert fragte er sich, warum man es so umständlich machte. Wenn das Lazarett etwas von ihm wollte, hätte es ihn doch direkt anrufen können. Doc Vincents Gesicht erschien auf dem Bildschirm. »Hallo«, sagte er, »die Zentrale hört mit. Wir haben seit einer Stunde einen unsichtbaren Patienten im Lazarett, der schwer erkrankt ist.« In Verdeschis Augen blitzte es auf. Der Italiener in ihm zeigte sich. »Doc, wollen Sie mich mit einem faulen Witz auf den Arm nehmen?« Seine Stimme hatte fatale Ähnlichkeit mit der eines bellenden Hundes. Doc Ben Vincent ging auf den erregten Einwurf des Sicherheitschefs nicht ein. »Verdeschi, alarmieren Sie die Garde! Wir haben Anlaß zu vermuten, daß sich noch weitere Invis in Alpha Eins aufhalten.« »Einen Namen haben Sie denen auch schon gegeben. Passe, Doc! Den Spaß machen Sie sich mit einem anderen, aber nicht mit mir. Werden Sie mit Ihren… äh, mit Ihren Invis selig.« Doc Vincent sah auf seinem Monitorschirm Verdeschis ausgestreckte Hand, die abschalten wollte. »Stop, Verdeschi! Nicht abschalten! Soll Doc Russell Sie auffordern, meiner dringenden Bitte nachzukommen und in der Station nach Invis suchen zu lassen?«
Maya lag längst nicht mehr auf der bequemen Liege. Aufgerichtet blickte sie Tony fragend an. Der hatte ihr kurz zugeblinzelt. Commander Koenig von der Zentrale aus schaltete sich ins Gespräch ein. »Tony, es gibt diesen Invis. Doc, kommen Sie zur Sache, und informieren Sie Verdeschi!« In diesem Augenblick hatte er auf seinem Bildschirm Mayas Beine entdeckt. Genauer formuliert: zwei Frauenbeine vom Fuß bis zum Knie. Und wer in der Zentrale-Crew kannte nicht Mayas atemberaubende Gehwerkzeuge. Es genügte wirklich, nur die untere Hälfte zu sehen, um sie identifizieren zu können. »Hallo, Maya, befasse dich auch mit den Invis… mit dem oder mit denen. Kann sein, daß nur einer sich im Lazarett aufhält, um sich auskurieren zu lassen.« Das klang immer verrückter. Tony Verdeschi hatte sich unfeinerweise den Zeigefinger ins rechte Ohr gebohrt. Das war bei ihm ein Zeichen, das er sich unbehaglich fühlte. »Doc, schießen Sie los! Was wissen Sie über Ihren Invis… heißt der im Singular vielleicht Invi, ohne ›s‹ am Ende?« Ben Vincent überhörte es. »Wir haben den Invis mit dem Geigerzähler entdeckt. Ja, zur Hölle, er ist unsichtbar. Er benötigt kein Gasgemisch, um leben zu können. Er hat uns wissen lassen, daß ihm schon die kleinste Lichtquelle genügt, um ewig zu leben… « »Unterhalten haben Sie sich auch schon mit Ihrem Invis… Verdammt noch mal, John, du hörst doch zu, ja? Warum hast du dich zu diesem blöden Spaß breitschlagen lassen? Dieser Mumpitz reicht mir und ich… « Für einen Augenblick verschwand Vincents Gesicht vom Monitorschirm, und Commander John Koenig war darauf zu sehen. »Laß den Doc ausreden! Was er dir zu sagen hat, stimmt, wenn es dir auch noch so unglaublich klingen mag.« »Okay, ich, äh, Maya und ich hören zu.«
Auf dem Schirm war wieder Ben Vincent zu sehen. Sein Gesicht zeigte Besorgnis. »Wir glauben dem Invis nicht, daß er allein in der Station ist. Wir haben mit dem Geiger unerklärliches Kommen und Gehen in seiner Nähe festgestellt. Wenn Sie Ihre Mannschaft in den Einsatz schicken, jeden Mann mit einem Geigerzähler ausrüsten… « Verdeschi gehörte zu den Italienern, die Geduld für etwas völlig Überflüssiges hielten. »Okay, werde ich veranlassen, aber ich kapier’ das Ganze immer noch nicht, oder haben Sie nicht gesagt, ein Invis befände sich im Lazarett, um seine schwere Erkrankung behandeln zu lassen. Doc, zum Teufel, wie behandelt man denn einen Unsichtbaren? Und woran ist dieser Spuk erkrankt?« »An Lumen-Allergie, Verdeschi.« Der bohrte nicht mehr mit dem Zeigefinger in seinem Ohr herum, sondern stöhnte verzweifelt auf. »Großer Himmel, Licht-Überempfindlichkeit.« Ruckartig richtete er sich kerzengerade auf. »Doc, haben Sie mir nicht erzählt, der Invis ernähre sich von Licht?« »Ja, und weil er von einer Lumen-Allergie befallen ist, droht ihm der Tod.« »Uns droht der Tod vom Augenblick der Geburt an, Doc. Wer regt sich darüber auf? Niemand! Und wir sollen uns über das Ableben eines Invis aufregen? Lassen Sie ihm doch seinen Spaß, zu sterben.« Doc Vincents Gesicht wurde zur Maske. »Wir hätten uns vielleicht so verhalten, wenn wir nicht wüßten, daß der Invis im Augenblick des Sterbens zu einer superkritischen Atombombe wird. Die freiwerdende Energie würde ausreichen, zwanzig Stationen von der Größe der Alpha-Basis zu vernichten.« »Das hat Ihnen Ihr Invis erzählt, Doc?«
»Nein!« polterte der. »Das hat er uns nicht erzählt. Das haben unsere Experten entdeckt. Der Invis hat sich in diesem Punkt nicht in die Karten blicken lassen. Als wir ihn daraufhin ansprachen, hüllte er sich in Schweigen.« Verdeschi trat trotz der beschwörenden Blicke, die Maya ihm zuwarf, ganz nahe an den Schirm heran. »Ich komme ins Lazarett, Doc, und ich mache Ihnen Feuer unter dem Hintern, wenn Sie mich auf den Arm genommen haben. Ende.«
XV
Tony Verdeschi, Maya und Commander John Koenig starrten den fußballgroßen Autoklaven an, der verschraubt war. »Darin steckt der Invis«, hatte Doktor Helena Russell behauptet. Verdeschi ballte seine Hand und sagte unter grimmigem Lachen: »Und in meiner Hand halte ich ein Klavier versteckt… « Im gleichen Augenblick hörte er in seinem Kopf: – Warum fällt es dir so schwer zu glauben, was man dir über mich erzählt hat? – »Verdeschi, sind Sie jetzt überzeugt?« fragte der Doc. »Ich habe es auch gehört«, sagte ihm Maya. Unwillkürlich war Tony Verdeschi einen Schritt vom Autoklaven zurückgetreten, der einsam und allein auf dem kleinen Tisch stand. Das Erlebnis soeben war ihm unheimlich, und er stellte sich in Gedanken die Frage: Kann der Invis auch Gedanken lesen? Darauf erhielt er keine Antwort. Wortlos reichte ihm Doc Helena Russell einen Geigerzähler. Tony Verdeschi machte damit eine vollständige Drehung auf der Stelle. Was ihm die drei Meßinstrumente am Geiger erzählten, war unheimlich. Der im Autoklaven eingesperrte Invis bekam Besuch aus allen Richtungen. »Der Invis besitzt keinen Körper. Was wir darunter verstehen, ist bei ihm konzentrierte Energie. Wenn er will, hindert ihn nichts daran, den verschraubten Autoklaven zu verlassen. Die fünf Zentimeter dicke Wandung aus Titanstahl
kann ihn nicht aufhalten. Beobachte doch mal, wie die anderen Invis kommen und gehen, Tony.« Er kam Helena Russells Vorschlag sofort nach, und die Instrumente bestätigten, was sie behauptet hatte. »Okay, Helena, ich glaube jetzt an die Existenz der Invis, aber ich begreife nicht, warum meine Männer mit Geigerzählern auf sie Jagd machen sollen. John, bei dieser Suche kommt doch nichts heraus. Was habt ihr euch denn eigentlich gedacht?« »Wir wollen nicht nur wissen, wie viele sich in der Station aufhalten, sondern wir wollen Kontakt mit ihnen aufnehmen. Bis auf den Invis im Autoklaven ist es uns bisher nicht gelungen, mit einem zweiten ins telepathische Gespräch zu kommen, und der Invis im Druckkörper tritt nur dann mit uns in Verbindung, wenn er es will. Nicht wenn wir es wünschen. Daher wissen wir auch nicht, ob er unsere Gedanken lesen kann.« »Schöne Vorstellung«, brummte Verdeschi unerfreut. »Und jeder Invis ist eine Atombombe, wenn er seine Ewigkeit verliert und eingeht?« Das Wort ›sterben‹ wollte ihm nicht über die Zunge. »Ja, Tony, eine Atombombe, die explodiert«, sagte der Commander mit Nachdruck. »Wirklich reizend. Torso sind wir vor ein paar Monaten losgeworden, und nun handeln wir uns nun diese Invis ein. Manchmal frage ich mich, womit wir uns das alles verdient haben.« Er sah, wie es in John Koenigs Augen aufleuchtete. Ahnungslos drehte er sich in die Richtung, in die der Commander blickte, und starrte entgeistert Maya an. Die Psychonerin schien sich in Trance zu befinden. Weit geöffnet waren ihre Augen und die Pupillen unnatürlich groß und fast weiß. In diesem Zustand hatte Tony seine Freundin noch nie gesehen. Irgend etwas Unheimliches mußte in ihr
vorgehen. Sie setzte sich in Bewegung, ging wie ein Roboter und blieb vor dem Tischchen und dem Autoklaven darauf stehen. Sie streckte ihre Hände aus, spreizte dabei die Finger, um die Handflächen zehn Zentimeter von der Autoklavoberfläche entfernt bewegungslos stehenzulassen. Atemlose Stille herrschte in dem relativ kleinen Raum, der als Abstellkammer diente. Niemand hatte für Mayas Tun eine Erklärung. Die Hoffnung, auf telepathischem Weg mit dem ›erkrankten‹ Invis in Verbindung zu treten, erfüllte sich nicht. Der Unsichtbare im Druckbehälter blieb stumm. Langsam machten Mayas Hände mit den gespreizten Fingern kreisende Bewegungen rechts und links neben dem Autoklaven. Das Tempo steigerte sich unmerklich. Unheimlich dazu, daß Maya nicht mehr atmete. Sie schien es in diesem Trancezustand nicht nötig zu haben. Das Spiel ihrer Hände wurde noch schneller – rechts im Uhrzeigersinn, links entgegengesetzt. Und der Abstand der Handflächen veränderte sich nicht, als würden sie sich auf einer unsichtbaren Wölbung drehend bewegen. Commander Koenig ging um den kleinen Tisch herum, stand Maya nun genau gegenüber und beobachtete ihr Tun. Er hatte gehofft, von dieser Position aus zu entdecken, warum sie sich so eigenartig verhielt, aber seine Hoffnung erfüllte sich nicht. Ihre Augen, bisher unnatürlich groß und weit geöffnet, veränderten ihr Aussehen. Ein rötlicher Schimmer darin nahm an Farbkraft zu. Ihre Pupillen immer noch weiß, waren klein geworden. Inzwischen hatten sich die Drehbewegungen ihrer Hände grotesk beschleunigt. John Koenig hatte so etwas noch nie gesehen. Er stand einer fremden Frau gegenüber, und nicht der Psychonerin Maya. Ein Zucken ging durch den Körper. Ruckartig blieben ihre Hände stehen. Ihr Gesicht wurde wachsbleich. Sie schloß die
Augen, öffnete den Mund und – kein Ton kam über ihre Lippen, dennoch war der Commander überzeugt, daß Maya in diesem Moment einen Schrei ausgestoßen hatte. Aber einen lautlosen Schrei. Tony Verdeschi ängstigte sich um Maya. Er stand sprungbereit neben ihr, jede Sekunde bereit, zuzugreifen. Mayas Hände zogen sich vom fußhohen Titanstahlbehälter zurück und hingen dann vollkommen natürlich nach unten. Blut schoß wieder in ihr Gesicht, und es nahm ein normales Aussehen an. Sie schloß den Mund und öffnete die Augen. Darin war keine Spur von einem farbkräftigen Rot zu sehen. Als sei nichts geschehen, drehte sie sich nach Tony um, um zu fragen: »Habe ich einen gräßlichen Anblick geboten?« »Gräßlich nicht, aber unheimlich, Maya. Warum hast du das getan?« Ohne Zögern erwiderte sie: »Er zwang mich dazu und hat mich dabei bestohlen. Er hat es mir in schamloser Offenheit gesagt. Er hat auch gedroht. Wenn wir ihm nicht helfen, seine Ewigkeit zu behalten, will er uns vernichten.« »Dann können sie Gedanken lesen, Maya?« »Nein und wiederum ja. Nur wenn wir bereit sind mit einem Invis auf telepathischer Basis zu sprechen, können sie unsere Gedanken lesen. Wenn wir uns weigern und auf ihren Anruf nicht reagieren, bricht die Verbindung in sich zusammen. Dieser Zusammenbruch bringt ihren Energiehaushalt durcheinander; er kann sogar einen Kollaps auslösen.« »Und das bedeutet?« »Das bedeutet, daß eine unsichtbare Atombombe explodiert, Tony.« »Demnach dürfen wir uns nicht weigern, wenn sie über Telepathie einen Kontaktversuch machen?« »Habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt, Tony?«
Commander Koenig mischte sich ein. »Hast du erfahren, wie der Invis behandelt werden soll, um von seiner LumenAllergie befreit zu werden?« »Kein Sterbenswort, denn der Invis weiß nicht, wie man diese Allergie bekämpfen soll. Sie ist bisher noch nie an einem Unsichtbaren beobachtet worden.«
XVI
Drei Tage waren vergangen. Die Besatzung der Mondstation hatte sich mit der Invasion der Invis nicht abfinden können. Es war auch ein miserables Gefühl zu wissen, daß in jeder Sekunde der Invis im Autoklaven zu einer explodierenden Atombombe werden konnte. Tony Verdeschi hatte seine Sicherheitsmannschaft nicht eingesetzt. Durch die Informationen, die man über Maya erhalten hatte, wußte man, daß sich über tausend Unsichtbare in der Mondstation Alpha aufhielten. Tausend, die auf die Genesung eines ›erkrankten‹ Invis warteten. Die dramatische Wende kam in der Nacht zum vierten Invasionstag. Doktor Helena Russell wurde brutal aus tiefstem Schlaf gerissen. Die Stimme in ihrem Kopf schrie gellend. Der Invis im Druckkörper strahlte auf telepathischer Basis seine Höllenqualen aus, und Helena Russell erlebte sie mit, als ob sie die Kranke sei. Mit letzter Kraft schaltete sie ihr Commlock ein, um John Koenig zu alarmieren. Dieser meldete sich nicht. Die Ärztin war kaum noch in der Lage, das Schreien zu verhindern. Dreimal griff ihre Hand daneben. Erst beim vierten Versuch konnte sie umschalten und erreichte die Zentrale. »Nein, Doc, der Commander hat vor zwei Stunden erst sein Wohnquartier aufgesucht und liegt bestimmt im ersten Schlaf.« Sie schaltete wieder zu ihm um und schrie. Sie könnte den unbeschreiblichen Qualen nicht länger stumm standhalten.
John…! John, warum wirst du denn nicht wach? John… John! Ewigkeiten verstrichen. Sie schrie immer lauter, immer gellender. Ihr Verstand wollte nicht begreifen, daß auch Energie Schmerzen erleiden kann. »Ja, Helena, ist was…?« meldete John Koenig sich verschlafen und hörte ihr Schreien. »John, der Invis… der Invis… der Invis läßt mich seine Schmerzen miterleben. John, komm! Komm schnell. Großer Himmel, ich werde noch wahnsinnig… « Er streifte den Bademantel über, öffnete mit dem Commlock die Tür, raste über den Gang und kümmerte sich nicht über die verwunderten Blicke der anderen, die ihrem barfüßigen Commander verblüfft nachsahen, wie er in Helena Russells Wohnquartier neben dem Lazarettsektor verschwand. Sie wälzte sich auf ihrem Bett. Ihr Gesicht war vor Schmerzen verzerrt und schweißnaß. Wie eine Ertrinkende streckte sie ihm ihre Hände entgegen. »John, hilf mir…! John, John… « Sie schrie wieder gellend auf. Und dann entdeckte sie, was er tun wollte. »Nein, John, keine Injektion! Die hilft jetzt nicht. Das sind doch Invis Schmerzen, nicht meine.« Sie kniete, krümmte sich dabei, hielt sich ihren Leib fest, warf sich wieder auf die Seite, hatte Schaum vor den Lippen und verdrehte die Augen. Der Commander in seiner ganzen Hilflosigkeit stand an ihrem Bett, die Kompripistole geladen mit einem sofort wirkenden schmerzstillenden Mittel, in der Hand, und wußte weder ein noch aus. Einen Augenblick lang lag Helena Russell ruhig. Er überging ihre Anweisung nicht zu injizieren. Von mehr als fünfhundert Atü herausgejagt war der Strahl zur Injektionsnadel geworden, und subcutan schoß das schmerzstillende Mittel in ihren rechten Oberschenkel.
Sie hatte davon nichts bemerkt. Sie warf sich wieder herum, schrie erneut und war dann mit einem Satz aus dem Bett. »John, ich werde wahnsinnig! John, so hilf mir doch… « Und der wartete darauf, daß das schmerzstillende Mittel zu wirken begann. Es wirkte nicht. Helena Russell bog und krümmte sich, schrie und tobte, wimmerte und stöhnte. Die Schmerzen nahmen kein Ende. Und sie war am Ende ihrer Widerstandskraft. Sie konnte nicht mehr. Sie bettelte darum, besinnungslos zu werden. Sie flehte John an. »Gib mir eine Dosis Neurogas! John, gib sie mir… « Ihre Augen weiteten sich. Ihr verzerrtes Gesicht entspannte sich. Sie ließ sich in den Sessel fallen, blickte an sich herunter und sah, daß sie nackt war. Als sie ihre Hand ausstreckte und um eine Zigarette bat, sagte sie: »Ich habe keine Schmerzen mehr. Großer Himmel, John, so etwas möchte ich nicht noch einmal mitmachen.« Sie schüttelte sich und fröstelte. Er reichte ihr den Morgenmantel, in den sie schlüpfte. Dann berichtete sie. »Es gibt keinen Zweifel, John, ich habe Invis Schmerzen miterlebt. Sie waren fürchterlich, glaube mir.« Er saß stumm da und schaute sie an. Hinter seiner Stirn rasten die Gedanken. »Erzähl noch einmal alles, Helena«, bat er sie, »und versuche nicht die bedeutungsloseste Kleinigkeit zu vergessen.« Sie tat ihm den Gefallen. Mißmutig erhob er sich und ging in ihrem Schlafraum auf und ab. »Ich werde das Gefühl nicht los, daß wir bei den Invis etwas sehr Wichtiges übersehen haben. Entweder vor drei Tagen, als Maya in diese eigenartige Trance geriet und Kontakt mit Invis hatte, oder gerade eben.« Helena Russell erholte sich zusehends. Ihre Miene verriet, wie angestrengt sie nachdachte. »Ich wüßte nicht, was Maya uns an Wichtigem berichtet hat. Daß der Energiehaushalt der
Invis zusammenbricht, wenn wir uns weigern, in telepathischen Kontakt zu treten, der bei ihnen im Extremfall zum Kollaps führen könnte. Meinst du das etwa, John?« Er wußte es nicht… »Was werdet ihr mit dem Invis im Autoklaven machen?« erkundigte sie sich. »Hoffentlich stehst du nicht auch auf dem albernen Standpunkt, der Invis sei ein Fall fürs Lazarett. Ich habe nicht den Schimmer einer Ahnung, wie man an einem Energie-Wesen eine Lumen-Allergie zu behandeln hat. Dieser Invis ist ein Fall für die Physik.« Über sein Kopf schütteln wunderte sie sich. »Etwa nicht, John? Willst du ihn mir doch aufhalsen?« »Wie käme ich dazu, Helena, aber die Physiker können mit Invis auch nichts anfangen. Wenn ich mich mit diesem Unsichtbaren doch ein einziges Mal in Verbindung setzen könnte, um ihn das zu fragen, was ich ihn fragen muß.« Ihr Blick sprach Bände. »John, ich habe Angst. Nicht allein Angst vor erneuten Schmerzen. Ich habe Angst um uns – um die Mondstation. Ich habe Angst vor den Unsichtbaren.« Er verstand sie. Das unheimliche Gefühl, daß ihnen das Schlimmste noch bevorstand, verließ ihn nicht, doch er hütete sich Helena gegenüber davon zu sprechen. Insgeheim wunderte es ihn, wie diszipliniert die Besatzung die Invasion der Invis zur Kenntnis genommen hatte. Die Lehren, die sie aus dem Fall Torso erhalten hatten, wirkten noch nach. Er gähnte. Die beiden letzten Tage waren für ihn neunzehn und zwanzig Arbeitsstunden lang gewesen. Er war müde wie ein Hund. »Gute Nacht, John«, sagte sie. Er gab ihr einen Kuß und ging. Über seinen barfüßigen Zustand mußte er lachen, als er nun die erstaunten Blicke der anderen bemerkte. John Koenig legte sich nieder, aber der Schlaf kam nicht. Die Zahlen der Uhr wechselten mit unendlicher Langsamkeit.
Invis… die Unsichtbaren. Invisible – unsichtbar. Unsichtbare Energiewesen… und eines davon hielt sich in einem Autoklaven versteckt, um jeden Lichtschimmer zu meiden, weil es an einer Lumen-Allergie litt. »Das gibt es doch nicht«, hörte er sich sagen. »Das kann es nicht geben. Nur ein organischer Körper kann unter Schmerzen leiden… « Er stoppte sich selbst und erkannte, wie müde er war. Konnten seelische Schmerzen nicht viel schlimmer, furchtbarer als organische Schmerzen sein? Nein, sagte er sich in Gedanken, darüber zerbreche ich mir nicht länger mehr den Kopf. Der Invis ist ein Fall für unsere Psychologen. Pedro Ronzales jubelte innerlich keineswegs, als er hörte, welchen Auftrag er vom Commander erhalten hatte, sondern er versuchte den Auftrag abzulehnen. »Commander, ich bin Psychologe… « »Ich weiß. Gerade darum habe ich Sie rufen lassen, Ronzales. Sie als Spezialist für Seelenkunde können sich vielleicht besser und auch schneller in das Innenleben eines Energiewesens hineindenken, als wir Techniker und Praktiker es vermögen. Ich habe mit Absicht vermieden, den Ausdruck ›Seelenleben‹ auf die Invis anzuwenden. Ein Auftrag dieser Art muß Sie doch reizen, Ronzales. Er liegt doch weit abseits vom Alltagstrott.« Der Mexikaner nickte lahm. »Ihr Wort in Gottes Ohr, Commander, aber gerade die abseits liegenden Fälle haben meistens den Teufel in der Tasche. Nur weiß man nicht, in welcher Tasche.« »Dann exorzieren sie vorher. Ich habe keine Einwände dagegen«, erwiderte der Commander so trocken, daß der Wissenschaftler nicht wußte, ob John Koenig gerade gescherzt oder tatsächlich vorgeschlagen hatte, bei dem Invis durch
Beschwörung jenen Teufel auszutreiben, von dem er eben etwas leichtsinnig gesprochen hatte. »Okay, Sir, ich werde mich mit dem Fall beschäftigen.« Das wollte der Commander nicht hören. »Sie sollen sich in den Fall verbeißen, Ronzales. Er brennt uns auf den Nägeln. Wenn die Information stimmt, dann haben wir tausend Unsichtbare in der Station Alpha. Einer davon ist krank. Verliert er seine Ewigkeit, dann wird er zur explodierenden Atombombe. Uns bleibt dann nicht einmal Zeit, uns gegenseitig ›gute Nacht‹ zu wünschen.« Diese Tatsachen, die Pedro Ronzales unbekannt gewesen waren, machten ihm den Fall noch widerlicher. Allein schon die Vorstellung, in unsichtbarer, konzentrierter Energie ein Wesen mit Intelligenz zu sehen, bereitete ihm körperliche Schmerzen. Der Commander stand vor ihm und überragte den kleinen Mexikaner um Kopfeslänge. »Lösen Sie die Aufgabe so schnell wie möglich. Es geht um unser aller Leben. Halten Sie sich das stets vor Augen. Ich möchte jeden Tag über den Stand Ihrer Forschungsarbeit unterrichtet werden. Natürlich stehen Ihnen alle Mittel der Mondstation zur Verfügung. Wenn Sie weitere Kollegen hinzuziehen möchten, bitte, ordnen Sie es an, mein lieber Ronzales.« Der hätte gern den ganzen Jahresurlaub dafür gegeben, wenn der Commander einen anderen Psychologen mit diesem vertrackten Fall beauftragt hätte. Jetzt war er für Commander Koenig sogar noch der ›liebe Ronzales‹. Mit sich und der ganzen Mondstation Alpha Eins unzufrieden, fuhr er mit dem Lift zwei Stockwerke tiefer und suchte dort seinen Arbeitsraum auf. Über seinen Computeranschluß rief er beim Bordrechner in der Zentrale alle gespeicherten Daten über die Invis ab.
Pedro Ronzales begann sich mit dem Fall Invis zu beschäftigen, aber er dachte nicht daran, sich darin zu verbeißen, wie es ihm der Commander geraten hatte. War es nicht ausgewachsener Nonsens, daß ein Spezialist für Seelenkunde sich mit dem Innenleben eines Energiewesens befassen sollte?
XVII
Bata Ljubic bog pfeifend um die Ecke, die Hände in den Taschen seines Overalls, und war bester Stimmung, denn in zehn Minuten hatte er mal wieder das Tagesziel erreicht und durfte Feierabend machen. Mit Tatjana Posamantirowa, diesem schwarzäugigen Wirbelwind aus Polen. Er brauchte bloß an ihre Küsse zu denken, und schon war sein Verstand beim Teufel. Aber es war ein netter Teufel – die Tatjana. Bata Ljubic pfiff noch lauter als eben, keineswegs dafür schöner. Er konnte sich diesen Krach leisten, denn hier unten, fast auf der Sohle der Mondstation, waren selten Menschen anzutreffen. Höchstens Reparatur- und Kontrolltrupps, die das Gewirr der Leitungen ausbesserten oder auf technisch einwandfreien Zustand überprüften. Seit dem Brand in der Sauerstofferzeugung, der einwandfrei auf Schlamperei zurückzuführen war, waren die Kontrollen schlagartig verzehnfacht worden. Trotzdem hatte er in zehn Minuten Feierabend. Bata Ljubic blieb stehen, zog sein Commlock aus der Tasche und richtete es gegen einen Metalldeckel, der fußhoch über dem Boden in der Wand saß. Es machte deutlich ›Klick‹, und der Techniker konnte den Deckel aus dem Rahmen nehmen. Aus der Brusttasche seines Overalls zog er das Prüfgerät, kniete vor dem schenkeldicken Bündel Leitungen und nahm eine Messung nach der anderen vor. Plötzlich kniff er das linke Auge zusammen. Bei ihm ein Zeichen der Überraschung oder Verblüffung.
Mitten im Prüftakt war die Leitung gerade gebrochen! Sein Commlock holte er wieder aus der linken Overalltasche und rief die technische Zentrale an. Die nahm den Fall auf. »Wir schicken sofort zwei Monteure los, Ljubic. Sie müssen denen aber sagen, wo der Bruch zu finden ist.« Bata Ljubic fluchte in Gedanken. Seine Verabredung mit Tatjana Posamantirowa konnte er abschreiben, und daß die ihm jetzt den Laufpaß geben würde, war ihm klar, denn dreimal hatte er sie nun schon versetzen müssen. Er war ein Gemütsathlet. Jetzt kam es ihm auf eine halbe Stunde länger auch nicht mehr an. Gemütlich prüfte er weiter durch. Und da gab es schon den zweiten Bruch mitten im Prüftakt. Doch als er den dritten Bruch erlebte, glaubte Bata Ljubic nicht mehr an einen Zufall. In der Mondstation Alpha war jemand damit beschäftigt, das technische Nervensystem der Lunabasis zu beschädigen. Bata Ljubic hatte einen Einfall und setzte ihn sofort in die Tat um. Er begann seine Prüfung von vorn, und darüber kroch ihn das Entsetzen an, den siebzehn von dreiundfünfzig Leitungen waren gebrochen. Davon waren allein sechs Reserveleitungen. Die Notphasen waren in einem anderen Teil des Tiefkellers verlegt worden. Sie hatten nun automatisch die Funktionen der gestörten Leitungen übernommen. Fielen sie jedoch ebenfalls aus, dann war die Panne da. Er wiederholte die Prüfung ein drittes Mal. Aus siebzehn gestörten Leitungen waren neunundzwanzig geworden; mehr als die Hälfte bei dreiundfünfzig Leitungen, die zum Bündel eins gehörten. Er hatte das Commlock in der Hand, wollte über das Sichtsprechgerät seiner technischen Zentrale Bescheid geben, als ihm Bedenken kamen. Er steckte beides ein, verschloß den Verteilerkasten und raste zum Lift.
Fünf Minuten später stand er in der Technikzentrale von Alpha Eins. Eine Stunde später mußte die Kommandozentrale unterrichtet werden, denn der Fall ›gebrochene Leitungen‹ hatte sich zur Katastrophe ausgeweitet. Das technische Innenleben der Mondstation drohte zusammenzubrechen. Mehr als hundert Aggregate verschiedenster Größe und Bedeutung waren nicht mehr zu steuern, weil die Leitungen dahin unterbrochen waren. Was den Fall so unheimlich machte, lag in der Tatsache, nirgendwo einen Täter bei frischer Tat zu erfassen.
Tony Verdeschi mußte zugeben, daß seine Sicherheitsmannschaft versagt hatte. Er hatte den letzten Mann eingesetzt, aber sie bekamen auch nicht einen Täter zu fassen. »Als ob diese verdammten Saboteure sich unsichtbar machen – … Allmächtiger! John, die Invis! Du, die verdammten Invis sind am Werk! Sie legen uns Alpha Eins lahm, und wir können nichts anderes tun als Däumchen drehen.« Tony Verdeschi, verantwortlich für die Sicherheit der Lunabase, rannte erregt in der Zentrale hin und her, stand mal am Computer, mal vor dem Monitorbildschirm, mal vor den Kommunikationskonsolen. Jetzt hielt er sich am Oszillographen fest, über den Amplitudensalat lief. Commander John Koenig stimmte Verdeschis Verdacht zu. Diese Störungen konnten nur ein Werk der Invis sein, aber er stimmte nicht mit Tonys Meinung überein, Däumchen zu drehen. Er ging zu Verdeschi, kreuzte die Arme vor der Brust und sagte: »Wenn meine Vermutung richtig ist, dann wollen uns die Invis zwingen, endlich etwas für den Unsichtbaren im Autoklaven zu tun.« Der Italiener zweifelte.
»Du meinst, daß sie es nicht auf die Zerstörung unserer Mondstation angelegt haben?« »Nein! Ich bin überzeugt, daß sie im Prinzip daran nicht interessiert, sonst hätten sie sofort nach der Invasion damit begonnen. So aber haben sie erst einmal abgewartet, was wir tun würden. Und was haben wir getan? Nichts!« »Darf ich dich dann fragen, was wir dem kranken Invis Gutes tun sollen, John?« Leichte Ironie klang durch. Koenig nahm sie seinem Freund nicht übel, und Verdeschi hatte ja auch ein Recht, diese Frage zu stellen, denn darauf wußte er keine Antwort. »Vielleicht ein paar Gramm Tiranium schenken. Das soll ja hübsch strahlen, aber nicht leuchten.« »Zerbrich dir lieber den Kopf, was wir tun können, um den Invis von seiner Allergie zu heilen. Ich verstehe nicht, warum sich kein einziger Invis mit uns auf telepathischer Basis in Verbindung setzt. Sie müßten doch fühlen, daß wir es wünschen.« »Vielleicht bekommt ihnen unsere gedankliche Ausstrahlung nicht, John. Bei uns Menschen gibt es dazu eine Parallele. Man sagt nicht umsonst, ich kann den anderen nicht riechen. Und wenn es zwischen den Invis und uns so ist… Hallo, John, wo willst du denn hin?« Der hatte mit seinem Commlock schon das kleine Schott geöffnet und trat auf den breiten, hellerleuchteten Gang hinaus, auf dem Tag und Nacht lebhaftes Treiben herrschte. Tony Verdeschi ging neben ihm. Noch einmal fragte er den Commander. »Ich muß Pedro Ronzales sprechen. Ich bleibe dabei, daß, wenn uns jemand helfen kann, es nur die Psychologen sind, die uns im Fall der Unsichtbaren weiterbringen. Oder bringst du so viel Einfühlungsvermögen mit, um dich in das Innenleben eines Energiewesens hineinzudenken?«
Prompt fragte Tony Verdeschi zurück: »Hast du schon einmal eine Batterie oder ein Triebwerk geküßt, John?« »Dann sind wir uns über unser Können ja einig.« Sie fanden den Psychologen in seinem Arbeitszimmer im Gespräch mit seinen Kollegen Harry Ortwein und Claus Shellack. »Behalten Sie Platz, Gentlemen«, sagte der Commander und informierte die drei Seelenkundler über die katastrophale Lage in der Mondstation und die Invis-Aktivität. »Wenn wir nicht verantwortungslos handeln wollen, müssen wir davon ausgehen, daß die Invis uns mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zwingen wollen, etwas für den an Lumenallergie Erkrankten zu tun. Mr. Ronzales, welche Erkenntnisse haben Sie über die Invis gewonnen?« Der kleine, drahtige Wissenschaftler versuchte Koenigs durchdringendem Blick auszuweichen, was ihm jedoch nicht gelang. Er unternahm drei Versuche zu sprechen. Erst beim vierten Versuch klappte es. »Sir, meine beiden Kollegen und ich haben mit dem Geigerzähler versucht herauszufinden, warum die Invis so zahlreich den im Autoklaven befindlichen besuchen. Dabei stellten wir fest, daß der Strom der Unsichtbaren niemals abreißt. Die Abstände von einem zum anderen Invis verändern sich, sind dann wiederum zu allen anderen gleich.« »Sie sprechen von einer endlosen Kette, Mr. Ronzales?« erkundigte sich Tony Verdeschi. Der nickte. »Ja, davon müssen wir ausgehen.« Das besorgte Gesicht des Commanders machte ihn stutzig. »Sir, sind Sie anderer Meinung?« »Keineswegs, nur haben mir Ihre Beobachtungen zu denken gegeben. Sie sprachen von einer endlosen Kette. Wenn nun der im Autoklav steckende Invis eingeht, stirbt oder endet, dann ist
doch diese Endloskette gebrochen, oder wie sehen Sie das, Gentlemen?« Die Zentrale meldete sich und hatte eine wichtige Mitteilung für den Commander. »Basisbrücke an Commander! Die Invis haben die Steuerung der sensorischen Monitoren lahmgelegt; auch die Notphasen. Roger!« »Verstanden Basisbrücke. Ende.« Die Mondstation war blind und taub. Die sensorischen Monitoren waren Augen und Ohren der Lunabasis. Der Blick ins All war unmöglich und das Lauschen in die Tiefen des Universums hinein ebenfalls. »Gentlemen, Sie wissen, was diese Nachricht zu bedeuten hat?« stellte John Koenig die rhetorische Frage. »Kommen wir zum Bruch der Endloskette zurück. Welche Folgen könnten sich daraus ergeben?« Pedro Ronzales versuchte sich durch eine Bemerkung an der Beantwortung vorbeizudrücken. »Wenn die Behauptung des Invis stimmt, daß er mit seinem Untergang zu einer explodierenden Atombombe wird, dann könnte es uns kaum noch interessieren, was danach sein wird, Sir.« »Mich interessiert es aber, Mr. Ronzales«, sagte der Commander mit Schärfe in der Stimme. »Gewiß, Sir, gewiß«, dienerte der Mexikaner hastig. »Ich habe als Antwort darauf nur eine Hypothese bereit: Mit Bruch der Endloskette könnte der energetische Zusammenhalt unter den anderen Invis verlorengehen. Meine Kollegen und ich neigen zu der Ansicht, daß der ununterbrochene Besucherstrom zum Invis im Autoklaven den Bruch der Kette verhindert.« »Okay«, erwiderte der Commander, ohne zu der Annahme des Psychologen Stellung zu nehmen. »Sind die Unsichtbaren sehr intelligent? Die Betonung liegt auf ›sehr‹, Mr. Ronzales.«
Der wand sich wie ein zertretener Wurm. »Sir, hier handelt es sich um Wesen, deren Aufbau konzentrierte Energie ist… « John Koenig machte es kurz. »Also Sie können diese Frage nicht beantworten, Gentleman?« Die Experten schüttelten den Kopf. Der Commander und sein Sicherheitschef verließen die Psychologen. Auf dem Weg zur Zentrale meinte Verdeschi: »Erwartest du nicht zu viel von unseren Psychos?« Etwas heftig erwiderte Koenig: »Wird unser gesamtes Gefühls- und Seelenleben nicht auch durch Energie unterhalten? Ist der Unterschied zwischen uns und den Invis so groß, wenn man die Unsichtbaren von diesem Standpunkt aus betrachtet? Sie haben nur Gefühls- und Seelenleben, aber keinen organischen Körper wie wir.« Er blieb stehen und schaute nachdenklich geworden den breiten Gang entlang, ohne irgend einen Menschen zu sehen. »Ich möchte herausfinden, auf welche Weise die Invis das technische Nervensystem unserer Mondstation zerstören. Wie sie eine Leitung nach der anderen durch Bruch unterbrechen. Ich werde unsere Metallexperten mit diesem Fall beschäftigen.«
XVIII
Monica Strong kam von der Schicht und stand vor der Tür ihres Wohnquartieres. Sie hielt das Commlock gezückt und wartete darauf, daß die Tür aufschwang. Sie bewegte sich nicht in den Angeln. Das war ihr noch nie passiert. Verwundert betrachtete sie das Commlock, aber daran war nichts Auffälliges zu sehen. Sie steckte es ein, betätigte den Knopf der Sprechanlage und wollte darüber ihren Mann bitten, ihr zu öffnen. Die Kontroll-Lampe flammte nicht auf. Das typische Knacken aus dem Lautsprecher war nicht zu hören. Dennoch rief sie und lauschte dann. Aus der Wohnung kam keine Antwort. Aber von rechts wurde sie angesprochen. Von Juan Jose. Der stand auch vor der verschlossenen Tür und war nicht in der Lage seine Wohnung zu betreten. »Unsere Sprechanlage funktioniert auch nicht«, sagte Monica Strong verärgert. »Dabei hatte ich meinem Mann versprochen, heute pünktlich von der Schicht nach Hause zu kommen. Jetzt bin ich schon zehn Minuten über der Zeit. Wie froh das meinen Mann macht, weiß ich.« Sie war schon länger verheiratet. Juan Jose blieb die Ruhe selbst. »Ich rufe den Pannendienst an, Monica. Der wird den Schaden in ein paar Minuten behoben haben.« Er irrte sich, denn es war ihm nicht möglich, den Pannendienst anzurufen. Er bekam keine Verbindung mit ihm. Kurz darauf waren sie zu siebt, und keiner der sieben war in der Lage, seine Wohnung zu betreten. Auf den Impuls aus dem
Commlock reagierten die Türen nicht und blieben verschlossen. Als dann zwei Frauen und ein Mann aus der unter ihnen liegenden Etage hochkamen und aufgeregt sagten, auf ihrem Stockwerk könne keiner seine Wohnung betreten oder verlassen, war die Aufregung perfekt. »Ich habe meinen Mann innen klopfen hören«, sagte eine Frau, die vor Erregung am ganzen Leib zitterte. »Ich habe Angst um meinen Mann, denn der Arzt hat ihm strikt verboten sich aufzuregen. Das Herz meines Mannes ist nicht in Ordnung. Großer Himmel, wenn ihm jetzt etwas zugestoßen ist?« Zwei Männer versuchten die aufgeregte Frau zu beruhigen. Zu allem Überfluß kamen Bewohner der oberen Etage. Ihnen erging es nicht anders. »Zwei sind zum Pannendienst unterwegs«, sagte jemand. »Ich verstehe nicht, daß man nicht einmal die Kommandozentrale erreichen kann… « Das Licht begann zu flackern. Wie gebannt starrten die Menschen die Leuchtröhren an. Das Flackern wurde stärker. Aus… an… aus… an… aus… Und es blieb dunkel. Die Notbeleuchtung versagte auch. Die Finsternis war absolut. Eine Frau schrie hysterisch auf. Das war das Startzeichen. Das Geheul, das dann erscholl, war unbeschreiblich. Im Wohntrakt der Mondstation Alpha war Panik ausgebrochen… Die Invis mußten Genies sein, denn sie hatten nur ein paar Tage benötigt, um das komplexe technische Nervensystem der Mondstation Alpha Eins kennenzulernen. Das bewiesen ihre erfolgreichen Sabotageanschläge.
»Tony, wenn sie uns die Luftversorgung lahmlegen, sind wir verloren«, gab der Commander zu bedenken. Doktor Russell an seiner Seite nickte. Dr. Wesley Dukes hatte die ganze Zeit über kein Wort gesagt. Maya und Yasko hüllten sich in Schweigen. Verdeschis Kurzreferat war eine Ballung an Hiobsnachrichten gewesen. Wie geprügelte Hunde hockten die drei Psychologen in der Ecke und wagten nicht aufzusehen. Die Stimmung war alles anderes als gut. »Warum unternehmen die Invis keinen Versuch mehr, mit uns auf telepathischer Basis in Kontakt zu kommen?« fragte Helena Russell, die sich erinnerte, welche unbeschreiblichen Qualen sie hatte ertragen müssen, als sie der Autoklaven-Invis seine Schmerzen miterleben ließ. »Sind wir es doch, die die Unsichtbaren daran hindern, es zu versuchen? Es gibt doch keine andere Alternative.« Ratlos zuckte der Commander mit den Schultern. »Wir wissen es nicht, Helena. Du weißt doch, wie oft Maya schon versucht hat, mit den Invis in Verbindung zu treten. Es war bisher immer vergeblich gewesen.« »Und doch muß es einen Weg zu den Invis geben«, sagte die temperamentvolle Ärztin. »Leicht gesagt, Helena«, meinte Tony Verdeschi. »Wie ist unser Unsichtbarer von seiner Lumenallergie zu heilen?« Er erhob sich und begann im Kreis zu laufen. »Ich darf gar nicht daran denken, daß es in der Station kein einziges verschlossenes Schott, keine abgesperrte Tür mehr gibt. Die strahlengefährlichsten Materialien sind jedem zugänglich. Ein Zustand, den ich mir nicht vorstellen darf, sonst bricht mir der Schweiß aus… « Vom Gang her drang das Geräusch schneller Schritte herein.
Ein Lieutenant aus der Kommandozentrale stürmte herein. Er grüßte nicht einmal. Er stieß aus: »Die Wasserversorgung in der Station ist zusammengebrochen!« »Danke, Lieutenant«, sagte der Commander. Der verschwand wieder. John Koenig sah einen nach den anderen an. »Die Invis haben zur letzten Runde angeläutet. Wenn uns nicht bald einfällt, was wir zu tun haben, können wir unserer Basis einen anderen Namen geben: Sargstation Alpha Eins.«
John Koenig hatte fünf Physiker um sich versammelt. Er hatte ihnen gedroht, sie nicht eher zu entlassen, bis sie ihm anschaulich erklärt hätten, was er sich unter einem Energiewesen vorzustellen habe. Sie gaben sich redlich Mühe, leider war sie umsonst. Der Commander verstand ihre Erläuterungen nicht. Schließlich stellte er ihnen eine Frage: »Können Sie sich exakt ein Energiewesen vorstellen, meine Herren?« »Nein«, sagten sie einstimmig, »das können wir nicht.« Also durften sie gehen. John Koenig drehte sich nach Helena und Tony um, die im Hintergrund saßen und wie Statisten schweigend dem unfruchtbaren Gespräch zwischen dem Commander und den Physikern gelauscht hatten. »Was jetzt?« »Auch Dukes ist mit seinem Latein am Ende, John«, sagte Verdeschi. Koenig schloß die Augen, schüttelte den Kopf und murmelte: »Wir haben etwas Wichtiges übersehen. Etwas ganz Wichtiges, und ich versuche seit Tagen schon darauf zu kommen. Bis jetzt leider vergeblich.« »Kann es etwas mit der Lumenallergie zu tun haben?«
Er strich Helena über die Schulter. »Ich weiß es nicht.« Sie blickten auf, denn Maya kam herein. Sie sah abgespannt aus. Das zeigten allein schon die dunklen Ringe unter ihren Augen. »Ich habe wieder einen Kontaktversuch am Autoklaven gemacht. Wieder vergeblich.« Tony sah sie besorgt an. »Du machst dich mit deinen Paraversuchen noch krank, Maya.« Er stand neben ihr, hatte seine Hände um ihre Oberarme gelegt und schaute ihr ins Gesicht. Die beiden in ihrem Wesen so unterschiedlichen Menschen verstanden sich ausgezeichnet, und jeder in der Mondstation wußte, daß ihre Verbindung zueinander sehr eng war. »Du siehst erschöpft aus… « Sie machte sich aus seinem Griff frei. »Ich habe noch knapp zwei Liter Wasser, wenn man es mir nicht aus meinem Wohnquartier gestohlen hat.« Lakonisch erklärte der Commander: »Mein Wasservorrat ist in der letzten Nacht gestohlen worden.« »Und das sagst du erst jetzt«, fuhr Helena ihn an. »Du hast schon achtzehn Stunden keinen Tropfen mehr getrunken, John?« »Und du hast vor, deinen Wasservorrat mit mir zu teilen, nicht wahr?« »Natürlich. Würdest du umgekehrt anders handeln, John?« In ihren Augen blitzte der Zorn. »Natürlich nicht. Bitte, laß mich aus dem Spiel. Es ist sinnlos, Wasserdiebstahl mit drakonischen Strafen zu belegen. Über kurz oder lang kommt der Moment, in dem jeder wahnsinnig vor Durst bereit ist, dem anderen Trinkwasser zu stehlen, wenn es dann überhaupt noch einen Tropfen gibt.« Verdeschi brauste auf. »Warum können die Techniker denn die Pumpen nicht wieder in Gang setzen?« »Das weißt du doch, Tony«, entgegnete John Koenig seinem Freund. »Sie haben es schon ein Dutzend Mal versucht, und
ein Dutzend Mal haben die Invis sofort die Steuerleitungen erneut unterbrochen. Sie wissen, daß wir ohne Trinkwasser verloren sind, darum verhindern sie eine Reparatur.« »Warum werden keine mechanischen Mittel eingesetzt, John? Ein Schöpfwerk… « »Und womit wird das Schöpfwerk betrieben, mein Bester? Wetten, daß die Invis sofort die Motoren lahmlegen? Und aus der Tiefe bekommt man nicht einmal einen Eimer Wasser heraufgezogen. Wir sind verloren, wenn wir nicht herausfinden, wie wir den einen Invis von seiner Allergie befreien können.« »Wenn ich das höre, bekomme ich jedesmal ein schlechtes Gewissen, denn im normalen Fall sind wir Ärzte dafür zuständig.« »Ja, Helena, bei Allergie am Menschen. Hier haben wir es mit einem Energiewesen zu tun.« Alles drehte sich im Kreis. Alles drehte sich um diesen Invis im Autoklaven. John Koenig stützte den Kopf mit seinen Händen ab, die Ellbogen auf der Tischplatte. »Wenn wir einmal davon ausgehen, daß die Invis Wesen wie wir sind, nur unsichtbar… wenn wir ausschalten würden, daß sie konzentrierte Energie sind, kämen wir dann in unseren Überlegungen mit ihnen weiter?« Die Frage war an alle gerichtet. Einer nach dem anderen sagte nein. Alles drehte sich im Kreis. Plötzlich vermißte der Commander Helena. Sie kam mit einem Plastikbecher voll Wasser zurück. »Hier«, sagte sie unerbittlich, »das trinkst du. Auf der Stelle!« Für einen Augenblick schmunzelte er, strich ihr weich über die Wange und trank dann. So gut hatte ihm Wasser noch nie geschmeckt.
Als er den Becher abstellte, hatte er eine Vision, eine apokalyptische… Er sah Männer und Frauen, wahnsinnig vor Durst, durch die Gänge der Mondstation rasen, er sah wimmernde Frauen mit gefalteten Händen auf dem Boden vor dem Autoklaven liegen, und er hörte sie betteln: ›Gib uns das Wasser wieder! Laß uns trinken, wir wollen alles tun, was du verlangst… ‹ John Koenig schüttelte sich und warf den anderen einen forschenden Blick zu, doch niemand ahnte etwas von seiner schauerlichen Vision. So würde es werden; so mußte sich die Lage entwickeln, wenn bis dahin kein Wunder geschehen war und sie herausgefunden hatten, wie der eine Invis von seiner Lumenallergie geheilt werden konnte. Ein Energiewesen, das allein von Licht lebt und plötzlich dagegen allergisch geworden ist! Parallel dazu konnte man sagen: ein Mensch, der Luft zum Atmen benötigt und plötzlich dagegen überempfindlich geworden ist. Tony Verdeschi verließ den Raum. »Wohin, Tony?« rief John ihm nach. »Ich weiß es selbst nicht. Ich will mir nur ein wenig Bewegung verschaffen. Vielleicht schau’ ich mir noch einmal den verdammten Autoklaven an. Oder ich höre mich bei meinen Männern um. Hast du was Bestimmtes vor?« »Ja, grübeln. Versuchen herauszufinden, was wir bei den Invis übersehen haben, aber davon hältst du wohl wenig.« Sein Freund zuckte mit den Schultern, erwiderte nichts darauf und ging. Maya folgte ihm. Er, John Koenig, war mit Helena allein. Sie sahen sich an, aber sie sagten kein Wort. Auf dem Gang war lebhafter
Verkehr. Hin und wieder schnappten sie ein paar Wortfetzen auf. Jeder sprach von Wasser, von Durst und vom Trinken. Der Würgegriff der Unsichtbaren hielt der Mondstation und ihrer Besatzung die Kehle zu. »Trotzdem bin ich noch überzeugt, daß die Invis uns nicht vernichten wollen, Helena«, sagte er ohne jede Einleitung. »Dieser Überzeugung bin ich nicht mehr, John… « Sie legte ihm die Hand auf seinen Arm, drehte sich mit dem Sessel. »Warum treten die Invis mit uns nicht mehr in Kontakt? Liegt in diesem Punkt die Lösung des Rätsels? Warum hat der Invis mich seine Schmerzen miterleben lassen? Sollte ich als Ärztin fühlen, wie sehr er litt? Meiner Ansicht nach ziemlich unwahrscheinlich. Ich frage mich immer wieder, was hat mir der Invis damit sagen wollen? Sind wir zu dumm, um sie zu verstehen, John?« Sie drehten sich wieder im Kreis. Alles drehte sich im Kreis. »Es muß an uns liegen, daß sie sich mit uns nicht mehr in Verbindung setzen, Helena. Entweder ist dieser Kontakt mit uns für sie existenzgefährdend, oder sie sind dazu einfach nicht mehr imstande. Wenn die Unsichtbaren nun ebenso verzweifelt sind wie wir? Hast du daran auch schon einmal gedacht?« Im stillen bewunderte sie ihn. Koenig besaß jenes undefinierbare Etwas, sich in die Sorgen und Nöte der anderen hineinzufinden. Bloß bei diesen Invis versagte sein Einfühlungsvermögen. Sie hatte nicht nur das Gefühl, nein, sie wußte, daß er an der Lösung des Problems ununterbrochen haarscharf vorbeiglitt und darüber nicht erkannte, was so nah und deutlich sichtbar vor ihm lag. Sollte sie ihm von ihrer Vermutung erzählen? Sie unterließ es. Und dann wurden sie gestört. Zwei Männer standen in der offenstehenden Tür, hatten ihren Handlaser auf sie gerichtet und zischten mit verzerrtem Gesicht: »Wasser raus! Jeden Tropfen her… «
Der Spuk war schon zu Ende, kaum daß er aufgetaucht war. Zwei Männer der Sicherheitstruppe fällten mit Karateschlägen die beiden Männer. Sie nahmen die Laser an sich, richteten sich auf, und dann sagte der Größere: »Commander, das ist in unserem Sektor schon der vierte Fall. Wie mag es erst in ein paar Tagen aussehen, wenn es keinen einzigen Tropfen Wasser mehr gibt?«
XIX
Jeweils fünf Männer des Sicherheitsdienstes bewachten den 1000-Liter-Wassertank im Lazarett. Fünf Stunner lagen schußklar auf dem Tisch. Nur eine Handvoll Menschen in der Mondstation wußten, daß es hier noch eine Wasserreserve von rund 800 Litern gab. Diese geringe Menge sollte unter der Besatzung in viermal einem halben Liter verteilt werden, wenn der Durst bedrohliche Formen angenommen hatte. Staff Waggon, der gerade die batteriegespeisten Warnanlagen kontrolliert hatte, die im dreifachen Kordon das kostbare Naß überwachten, blieb an der offenstehenden Tür des Raumes, in dem seine vier Kollegen ihre Wache absaßen, wie angewurzelt stehen. Er hörte Wasser plätschern! Zur Kontrolle kniff er sich in die Wange. Das tat weh. Also träumte er nicht mit offenen Augen. Und das Wasserplätschern war innerhalb von Sekunden lauter geworden. Aber er mußte träumen. Er konnte unmöglich Wasserplätschern hören. Dann sah er Wasser aus dem Tankraum fließen. »Nein!« brüllte er auf. »Nein, das nicht… « Und die Stunner schußbereit gehalten, rannte er auf den Raum zu, in dem der 1000-Liter-Tank stand. Er lief durch Zentimeter hoch stehendes Wasser. Bei jedem Schritt spritze es nach allen Seiten. Hinter seinem Rücken hörte er schreien: »Woher kommt das Wasser, Staff?« Staff Waggons Gedankenlähmung verschwand blitzschnell. Er brüllte: »Holt Eimer! Schöpft das Wasser auf! Bringt Eimer
her, so viel wie ihr beschaffen könnt. Schnell, zur Hölle! Schnell…! Schnell…!« Und er wußte, daß alles sinnlos war. Er stand da und er tat nichts, um das Furchtbare zu verändern. Der 1000-Liter-Wassertank war ein Sieb geworden. Ein Sieb, das immer mehr Löcher bekam, und durch diese Löcher sprudelte Wasser. Ihr Wasser! Drei Mann mit Eimern in der Hand rannten an ihm vorbei. Sie fingen das unersetzliche Naß auf. Im gleichen Moment wurden aus den Eimern Siebe. Die drei Männer ließen die Behältnisse fallen, als hätten sie Beelzebub berührt. Staff Waggon schaute mit ausdruckslosen Gesicht zu. Er wußte, auf wessen Konto dieser Sabotageanschlag ging. Die Invis hatten einfach die Struktur des metallenen Wasserbehälters aufgelöst und so diese Löcher geschaffen, durch die das Naß nun auslief. Ebenso waren sie mit den Eimern verfahren und hatten sich über das Plastikmaterial hergemacht. Nicht anders waren sie im Bereich des technischen Nervensystems der Mondstation vorgegangen. Die Kabel waren nicht gewaltsam durchgebrochen worden. So plump hatten die Unsichtbaren nicht gehandelt. Sie hatten einfach an einer beliebigen Stelle die Metallstruktur des Kabels aufgehoben und so die Brüche zustande gebracht. Staff Waggon fühlte sich angesehen und drehte sich um. Hinter ihm stand Helena Russell und fragte ihn: »Warum löschen Sie nicht wenigstens Ihren Durst, Waggon?« Ohne zu überlegen erwiderte der Mann: »Und ich soll dann zusehen, wie meine Frau Tage vor mir vor Durst wahnsinnig wird, Doc? Warum trinken Sie denn nicht?« Aber seine vier Männer tranken mit unbeschreiblicher Gier. Er hatte Verständnis dafür und Doktor Helena Russell auch.
Wie Betrunkene wankten die vier mit verklärtem Gesicht hinaus. Das letzte Wasser im Tank tropfte aus den Löchern. Draußen auf dem Gang war die Hölle los. Weder die Ärztin noch Staff Waggon wollten das scheußliche, und doch so menschliche Schauspiel miterleben: Männer und Frauen lagen bäuchlings auf dem Boden des Ganges und schlürften das verschmutzte Wasser gierig in sich hinein. Ein Schrei gellte auf. »Das ist mein Wasser, du Dreckskerl!« Eine Frau wimmerte. Ein Mann fluchte. Ein dumpfer Aufprall war zu hören. »Wasser…! Wasser…! Hier gibt es ja Wasser…!« schrie man. Und neben Staff Waggon sagte Helena Russell: »Jetzt gibt es keinen Tropfen Wasser mehr.« Waggon reagierte nicht darauf. Er hatte eine Frage auf dem Herzen. »Doc, was haben wir diesen Invis eigentlich getan, daß sie uns nun auf solche hundsgemeine Weise umbringen?« In Waggons Augen stand geschrieben, daß er auf seine Frage eine zufriedenstellende Antwort hören wollte. Und Helena Russell gab sie ihm. »Waggon, weil wir nichts getan haben, darum setzen uns die Invis unter Druck. Einer von ihnen ist erkrankt. Woran er leidet, wissen wir. Jeder Invis ernährt sich von Licht, doch der Unsichtbare im Autoklaven leidet an einer LichtÜberempfindlichkeit. Leider wissen wir nicht, wie wir diese Allergie beseitigen können. Unser Unwissen haben uns die Invis falsch ausgelegt. Sie scheinen anzunehmen, wir wollten ihrem Unsichtbaren nicht helfen, dabei würden wir es sofort tun, wenn wir wüßten, wie zu helfen wäre.« Er hatte verstanden, was sie ihm erklärt hatte. »Demnach ist unsere Lage hoffnungslos, Doc?« Sie sagte schlicht: »Ja.«
Der Commander nahm die Nachricht vom Verlust der letzten Wasserreserve so ruhig hin, als ob ihm alles bereits gleichgültig geworden war. Kein Muskel zuckte in seinem Gesicht. Ihre Lage war hoffnungslos, und er erwartete jeden Moment zu hören, daß die Luftversorgung auch zusammengebrochen sei. Dann gab es wenigstens nicht diesen grausamen Dursttod, sondern schnelles Ersticken. Er trat zu der Japanerin Yasko. »Weißt du noch, wer von unseren Experten behauptet hat, ein Invis, der eingehe, würde zu einer explodierenden Atombombe? Ich verstehe mich selbst nicht mehr, daß mir der Name entfallen ist.« Die Computerspezialistin tippte die Frage. Die Antwort des Computers kam sofort. Yasko las sie, schüttelte den Kopf und gab den kurzen Streifen an den Commander weiter. Niemand! Irgend etwas elektrisierte John Koenig. Die Verbindung zum Lazarett bekam er sofort. Er verlangte nach Doc Vincent. Der schaute ihn vom Monitorschirm her an. »Doc, als Sie Tony Verdeschi über die Invasion der Invis informierten, haben Sie unter anderen gesagt, daß ein Unsichtbarer im Moment des Sterbens zu einer explodierenden Atombombe werden würde. Sie haben weiterhin gesagt, das hätten unsere Experten entdeckt. Wer war es oder wer waren sie? Ich möchte die Namen wissen.« Die Verblüffung auf Vincents Gesicht wurde immer größer. »Was soll ich gesagt haben? Commander, was Sie gerade angeführt haben…? Nie und nimmer habe ich so etwas oder ähnliches behauptet. Wie käme ich dazu?« »Einen Moment, Doc.« Der Commander hatte Tony Verdeschi in der Zentrale entdeckt und winkte ihn heran. Mit wenigen Worten informierte er ihn.
»Natürlich hat Vincent das gesagt. Er hat mir dazu noch erzählt, man habe vom Invis darüber die Bestätigung haben wollen, der jedoch habe sich in Schweigen gehüllt.« Der Arzt protestierte gegen die Behauptung des Sicherheitschefs. »Und ich habe es mir nicht aus den Fingern gesogen«, polterte Verdeschi. »Ich bin bereit meine Aussagen zu beschwören.« »Und ich, daß ich dergleichen niemals gesagt habe«, sagte der Doc verärgert. Der Commander mischte sich ein. »Doc, das würde Ihnen nicht gut bekommen, denn ich habe Ihrem Gespräch mit Tony Verdeschi zugehört. Sie haben diese Behauptung von der Atombombe über Ihre Lippen gebracht und… « Bei dem Arzt schlug eine Sicherung durch. »Und wenn Sie es hundert Mal behaupten, Commander, ich habe es nicht gesagt.« Er starrte Koenig an, als habe er seinen Todfeind vor sich. »Okay«, sagte Commander Koenig und schaltete ab. »Tony, was hältst du von Vincents energischem Widerspruch?« »Würde ich unseren Doc nicht so gut kennen, müßte ich ihn einen abgefeimten Lügner nennen, aber du und ich, wir haben doch seine Angaben mit eigenen Ohren gehört. Sag mal, John, wer hat dich denn vor mir über die Invis informiert?« Die Antwort des Commanders war ungewöhnlich. »Ich gäbe viel darum, wenn ich das noch wüßte. Der Doc war es auf jeden Fall nicht. Helena auch nicht… « »Hm… und wer war es, der den ersten Invis bemerkte? Sag mal, wie kann man einen Unsichtbaren sehen? Und kannst du mir einen einzigen Menschen im Lazarett nennen, der ständig mit einem Geigerzähler herumläuft? Und nur mit diesem Zähler ist die Existenz eines Invis feststellbar, das heißt aber
noch lange nicht, daß man ihn durch einen Geigerzähler sichtbar machen kann.« John Koenig trommelte mit den Fingern gegen die Kante der Kommunikationskonsole. »Du, ich glaube, wir haben Doc Vincent Unrecht getan. Nehmen wir an, die Invis haben uns auf irgendeine Art und Weise, die jetzt nicht aufgeklärt zu werden braucht, dieses Wissen so zugespielt, daß wir glaubten, es vom Doc erhalten zu haben. Was wollten sie damit erreichen?« »Dann glaubst du, die Behauptung, ein sterbender Invis würde zur A-Bombe, stimme gar nicht, John?« »Sie stimmt, denn davon bin ich überzeugt, doch zurück zu meiner Frage: Was wollten die Unsichtbaren damit erreichen? Und warum haben wir nicht erkannt, was sie von uns verlangten? Tony, sie gaben uns unaufgefordert wichtige Informationen über sich. Sie warnten uns sogar. Wie nahmen alles zur Kenntnis und das war’s dann… Tony, fühlst du denn nicht, daß wir auch jetzt wieder etwas Wichtiges übersehen?« Der Sicherheitschef fühlte nichts; aber er hatte irrsinnigen Durst. »Ich muß mal ein paar Minuten allein sein, um ungestört nachzudenken, Tony«, sagte Koenig und verließ die Kommandozentrale. Er hütete sich, den breiten Hauptgang zu benutzen. Er ging über Gang C zur Kantine. Als er sich ihr näherte, hörte er Grölen und Lachen, Singen und Fluchen. Einige waren dabei sich brutal vollaufen zu lassen. Koenig konnte es ihnen nicht einmal verübeln. Mit größeren Mengen alkoholischer Getränke konnte man auch seinen Durst löschen. Warum war niemand auf den Gedanken gekommen, diesen Getränken ihren Prozentsatz Wasser zu entziehen? Er würde in einer halben Stunde dazu den Befehl geben, selbst auf die Gefahr hin, daß die Unsichtbaren dann auch über diesen Wasservorrat herfallen würden.
Hastig ging er an der Kantinentür vorbei, warf nicht einmal einen Blick hinein, erreichte das Ende des C-Ganges und benutzte die schmale Wendeltreppe, die ihn zum Aussichtsfenster brachte. Als er davor stehenblieb, breitete sich vor ihm der flache Mondkrater aus, der im grellen Sonnenlicht lag. Er übersah die kalte Schönheit dieses langen Mondtages, blickte über den niedrigen Ringwall hinweg zu den Sternen hin und konzentrierte alles Denken auf die Invis. Unmerklich änderte sich seine Ansicht über ihre Gutmütigkeit. Doch durfte er überhaupt diese Energiewesen mit den moralischen Maßstäben der Menschen bewerten? Aber ihnen war klar, was Leben bedeutete und darstellte, bangten sie doch um ihre Ewigkeit. Warum benutzen sie dann das brutale Druckmittel und entzogen der Stationsbesatzung das Wasser? »Zur Hölle, warum setzen sie sich mit uns nicht in Verbindung?« fragte er sich zum hundertsten Mal. Abrupt stoppte John Koenig sein Kopfschütteln. Er fühlte, wie es ihm kalt über den Rücken lief. Ihm war ein Gedanke durch den Kopf geschossen, wie er bizarrer nicht sein konnte. Mit beiden Händen hielt er sich irgendwo fest. Die Augen geschlossen, ging er noch einmal alles durch. Von Anfang an. »Ja… «, hörte er sich sagen, und er sagte es noch mehrfach. Dann verstummte in der Kantine schlagartig das Grölen und Lärmen, als der Commander sich unter die Saufbrüder stellte und einen doppelten Whisky verlangte. Trotz seines Durstes trank er keinen zweiten. Von der Basisbrücke aus forderte er Captain Manning auf, ihn für ein paar Stunden in der Kommandozentrale zu vertreten. Danach setzte er sich mit dem Eagle Center in Verbindung und erkundigte sich, ob der Eagle Eins abhebeklar sei. Er war es.
»Willst du etwa einen Raumflug unternehmen, John?« erkundigte sich Tony Verdeschi. »In dieser Situation?« »Ja, einen kurzen Flug. Er dauert nicht lange.« »Kann ich mitfliegen, John.« »Nein!« klang es scharf und schroff, und das machte Verdeschi mißtrauisch. »John, was hast du vor?« Der warf einen Blick auf die Uhr. »Helena hat noch zwei Stunden Dienst im Lazarett. In fünf Minuten rufst du sie unter irgendeinem Vorwand an… Dir wird schon was einfallen. Und du hältst sie so lange auf, bis ich gestartet bin. Laß mich nicht hängen, Tony.« »Sag mir, was du vorhast, John?« »Nein, denn ich weiß nicht, ob es funktioniert. Ich mache bloß einen Test. Einen Versuch. Ich möchte nicht, daß Helena jetzt schon davon erfährt. Also in fünf Minuten.« Tony Verdeschi sah hinter dem Freund her, bis er in der Menge verschwunden war. Was konnte John vorhaben? Welchen Test wollte er machen? Und warum hatte er ihn nicht eingeweiht? Verdeschi wurde das ungute Gefühl nicht mehr los. Dann waren die fünf Minuten vorüber, und er setzte sich mit Helena Russell in Verbindung. »Gut, Tony, ich komme sofort. Hier gibt es ja doch nichts zu tun.« Dann verschwand ihr Gesicht wieder vom Bildschirm. Jetzt hatte Tony Verdeschi sogar ein schlechtes Gewissen.
XX
Als Helena Russell das Lazarett verließ, bemerkte sie John nicht, der an der Ecke stand und wie gedankenverloren den Gang entlangblickte. Sie eilte zum Lift, um zur Kommandozentrale hochzufahren. Niemand hielt den Commander auf, als er das Lazarett betrat. Es fragte ihn auch niemand, als er den kleinen, aber schweren Autoklaven an sich nahm und damit verschwand. Unter seinem Raumanzug verborgen, den er über dem Arm gelegt trug, hastete er zum Eagle Center. Der Eagle Eins gehörte zu den Raumbooten, die zur Alarmwache eingeteilt waren. Rolf Mitterson im Pilotensitz drehte sich neugierig um, als er hörte, daß jemand durch die kleine Schleuse die Kabine betrat. »Sie, Commander?« fragte er erstaunt. Der nickte. »Mitterson, haben Sie Lust mich in den freien Raum zu kutschieren? Aber ich sag’s Ihnen sofort: Der Flug kann ins Auge gehen. Sollten Sie ablehnen, ich nehme es Ihnen nicht übel und… « »Aber Commander, darüber zu sprechen lohnt sich nicht. Sofort abheben?« Da sah er den Autoklaven, den John Koenig zwischen seinen Beinen auf den Boden der Eagle stellte. Er schluckte und seine Augen waren groß geworden. »Sir, ist darinnen etwa der Invis?« »Ja, und wenn mich nicht alles täuscht, haben sich die rund tausend anderen Unsichtbaren gleichen Bienen, die mit ihrer Königin auf Hochzeitsflug sind, an den Autoklaven gehängt. Los, Blitzstart verlangen, Mitterson, oder wir kommen nicht in den Raum!« Die Rampenzentrale bestätigte.
Die großflächige Rampe, von einem turmdicken Titanstahlzylinder nach oben gestoßen, jagte den auf vier schweren Auflageplatten ruhenden Eagle durch die sich blitzschnell öffnende Decke des Centers in den freien Raum. Im gleichen Moment sprang der Tiraniumtreibsatz auf maximale Leistung, und senkrecht stieg das Raumboot in die Höhe, um von Sekunde zu Sekunde stärker zu beschleunigen. »Noch alles klar, Commander!« Der stieg in den Raumanzug, schloß aber den Raumhelm nicht. Mit der Hand gab er Mitterson ein Zeichen, verstanden zu haben. Die Station schien unter ihnen in die Tiefe der Unendlichkeit zu stürzen, so sah es auf dem Schirm des Monitors aus. Kein Mensch in der Mondbasis hatte den Start des Eagle Eins beobachten können, denn nach wie vor waren die sensorischen Monitoren – die Augen und Ohren der Base – durch Bruch der Steuerleitungen ausgefallen. John Koenig hielt einen Geigerzähler in der Hand. Ein Blick auf seine drei Meßinstrumente genügte. Sie verrieten ihm, daß es in der Eagle von Invis nur so wimmelte. »Wenn mich nicht alles täuscht, haben wir alle Unsichtbaren an Bord oder draußen in der Nähe des Bootes, Mitterson.« Der brummte: »Ich kann mir was Schöneres vorstellen, Sir, aber ich hab’ es ja so gewollt.« Der Pilot war ein Prachtkerl, und er hatte sich von der besten Seite gezeigt, als Jean Single seine Meuterei gestartet hatte. »Alles noch okay, Mitterson?« fragte der Commander besorgt. Er hatte das Gefühl, zwischen den Beinen eine Atombombe stehen zu haben, die jeden Moment kritisch werden konnte. Die drei Zeiger am Geigerzähler spielten verrückt. Die Unsichtbaren umkreisten den Autoklaven, in dem der Lichtallergische Invis steckte. Die Strahlung, die sie abgaben, besaß keinen hohen Röntgen-Wert und war harmlos.
Der Commander drückte die Videotaste an der Instrumentenkonsole. »Commander an Basisbrücke! Roger!« Die Kommandozentrale der Mondstation meldete sich sofort. Auf dem Monitor war Captain Mannings Gesicht zu sehen. »Sir, bitte?« »Manning, ich muß sofort erfahren, wer den Autoklaven verschraubt hat, nachdem der Lumen-allergische Invis sich darin versteckt hat. Der Computer muß es wissen.« Rolf Mitterson warf seinem Commander und dem Autoklaven zwischen dessen Beinen einen vielsagenden Blick zu, schwieg sich jedoch aus. Ganz wohl fühlte er sich bei diesem Unternehmen nicht, und allmählich hatte er begriffen, daß er mal wieder an einer Himmelfahrtsaktion beteiligt war. Die Sekunden jagten dahin. Die zweite Minute lief an, als Captain Mannings Stimme wieder in der Kabine des Eagle Eins zu hören war. »Sir, unser Computer behauptet, der Autoklav sei verschlossen gewesen, als der Invis sich darin versteckt habe.« John Koenig wurde blaß, und er fühlte es. Er beugte sich in Richtung des Mikrophons vor und fragte: »Mit wieviel Prozent Wahrscheinlichkeit hat der Computer diese Angabe gemacht?« »Mit hundert Prozent, Sir.« »Danke, Ende.« Koenig hatte abgeschaltet. Der Schirm wurde grau. »Wie weit sind wir inzwischen vom Mond entfernt, Mitterson?« »Elftausend… nähern uns der ZwölftausendkilometerDistanz, Sir.« »Zwanzigtausend sind das Minimum. Können Sie nicht noch stärker beschleunigen, Mitterson?« »Wenn Sie einen Brenndefekt am Treibsatz auf Ihre Kappe nehmen, Commander… «
Der nickte verkniffen. »Ich verantworte es. Los, Mitterson, legen Sie die Sicherungen lahm!« Um das zu tun, waren vier Schaltungen erforderlich. Im nächsten Moment brüllten entfesselte energetische Kräfte im Triebwerksteil des Eagle Eins auf. »Länger als drei Minuten können wir uns den Spaß nicht erlauben, Sir«, machte Mitterson den Commander darauf aufmerksam, »oder wir jagen uns selbst in die Luft.« Das hieß, daß dann der Tiraniumtreibsatz zu einem atomaren Schweißbrenner werden würde, der langsam aber sicher den Eagle auffraß. Zufällig streifte Rolf Mittersons Blick wieder den ihm unheimlichen Autoklaven zwischen Koenigs Beinen. Der Druckkörper aus Titanstahl strahlte blaues Licht aus! Ein lauerndes, schwaches und eiskaltes Blau, das wie eine Gloriole darum lag. »Commander, der Autoklav… «, schrie Mitterson, den das Entsetzen gepackt hatte. John Koenig zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen, als er sah, wie sich der fußgroße Druckkörper verändert hatte. »Raumhelm schließen, Mitterson! Rotalarm für uns beide!« Er drückte den Helm in die Arretierung, die laut einschnappte. Jetzt waren Gespräche nur noch über Helmfunk möglich. »Mitterson, Schleusentüren entriegeln!« befahl John Koenig, der sich nach dem blaustrahlenden Autoklaven bückte und ihn anhob. Mit beiden Händen preßte er ihn gegen seine Brust und lief mit ihm zur kleinen Schleuse des Eagle. Die Innentür öffnete sich. Er trat mit seiner Last ein, und beobachtete wie unendlich langsam sich die innere Schleusentür wieder schloß. Finger auf den Kontaktknopf. Widerwillig zogen sich die beiden Flügel der äußeren Schleusentür in die Wandung des
Raumbootes zurück. Das Universum mit seiner ewigen Finsternis sprang John Koenig lautlos an. Aber er sah nur das unheimliche Blau des Druckkörpers. Er stemmte ihn jetzt hoch, um ihn gleich einem schweren Stein weit von sich zu schleudern. Er sah ihn auf den ersten Metern davonfliegen, als er über den Helmfunk brüllte: »Mitterson, sofort Gegenkurs! Sofort, und Beschleunigung stehenlassen! Stehenlassen…!« Der Commander stand in der offenen Schleuse des Eagle Eins, hielt sich rechts und links fest und sah hinter dem blauleuchtenden Autoklaven her, der sich immer schneller um die eigene Achse rotierend von dem Eagle entfernte. Plötzlich schien der Druckkörper steil nach oben zu rasen. Für Koenig das Zeichen, daß Mitterson den Eagle auf Gegenkurs nahm, aber er verlor den Autoklaven nicht aus den Augen. Nichts Ungewöhnliches geschah. Der Druckkörper wurde nur kleiner, je weiter er sich vom Raumboot entfernte. Koenig hielt in der rechten Hand den Geigerzähler. Alle Instrumente daran blieben in der Null-Position. Der Beweis, daß es keine Unsichtbaren mehr in dem Eagle Eins gab. Sie alle verfolgten den Autoklaven. Der Commander blinzelte auf einmal, wischte unwillkürlich über die blendungsfreie Fläche seines Raumhelmes und fragte sich in Gedanken, woher plötzlich der grelle Lichtschein kam, als er im Funk seinen Piloten rufen hörte: »Commander, unser Tiraniumtreibsatz brennt! In spätestens fünf Minuten müssen wir aussteigen, oder wir werden gegrillt!« John Koenig war nicht einmal zusammengezuckt. Gelassen fragte er zurück: »Wie weit werden wir dann von der Mondstation entfernt sein, Mitterson?«
Mein Gott, dachte der, hat der Commander Nerven, und erwiderte: »Immer noch dreitausend bis viertausend Kilometer.« »Fordern Sie… « Dort, wo es den Autoklaven geben mußte, hatte der dunkle Weltraum eine Sonne geboren. Aus dem Nichts heraus war sie entstanden, um sich mit unvorstellbarer Geschwindigkeit gleich einem Flächenbrand nach allen Seiten auszudehnen. Sie verlor dabei nicht an Leuchtkraft. Die stieg ins Unmeßbare. Längst sah John Koenig nichts mehr, und nicht anders erging es seinem Piloten Rolf Mitterson, den die Lichtflut über den Monitorschirm geblendet hatte. »Commander, was ist passiert? Was ist da geschehen?« »Irgend etwas mit den Invis, Mitterson. Ich glaube, der Invis in der Druckkugel ist zur Atombombe geworden. Ich glaube, ich habe mit meinem Verdacht recht gehabt. Aber rufen Sie die Mondstation an. Man soll uns drei Eagles entgegenschicken, die uns suchen sollen, wenn wir aussteigen müssen. Funken Sie, bevor… « Ganz schwach hörte John Koenig im Helmfunk Mitterson sagen: »Sir, der Funk fällt aus. Ich kann Alpha Eins nicht mehr… « Und dann war nichts mehr. Die Blendwirkung ließ nach. Langsam konnte er wieder sehen. Das Heck des Eagle war ein einziges atomares Flammenmeer. Neben ihm tauchte Mitterson auf. Durch Gesten versuchten sie sich zu verständigen. Die Störungen im Helmfunk waren unerträglich. In den freien Fall hineinspringen! hatte Mitterson deutlich gemacht. Er nahm einen kurzen Anlauf, drückte sich kräftig ab und flog in einem weiten Salto in die Tiefen des Alls hinein.
Koenig zögerte keine Sekunde, sprang hinter ihm her und begriff im Absprung, daß er weit, weit von seinem Piloten entfernt im Raum dahintrieb. Der brennende Eagle Eins war nur noch als ein schnell kleiner werdender Stern zu sehen, der sich in der Ferne noch einmal aufblähte, als der Tiraniumtreibsatz alle verfügbaren Energien schlagartig freisetzte. Hier kann ich mein Testament machen, dachte der Commander, als er eine Stimme in seinem Kopf hörte. Der Invis im Autoklaven sprach auf telepathischer Basis mit ihm. – Du dankst mir? – fragte John Koenig fassungslos, während sich die Milchstraße immer schneller für ihn um 360 Grad drehte. – Du lebst noch? – Der Begriff ›leben‹ war ihm spielend leicht über die Lippen gekommen. – Ja, um am Ende der Ewigkeit anzukommen, John Koenig. – Es erschütterte den Commander der Mondstation Alpha von einem Energiewesen mit vollem Namen angesprochen zu werden. – Du hast das Ende der Ewigkeit erreicht? Wie habe ich das zu verstehen? – fragte Koenig kraft seiner Gedanken, während er durch das Nichts schwebte. – Ich bin der winzige Teil des großen Ganzen, das du in flammender Lohe hast untergehen sehen, John Koenig. Du glaubtest, ich sei an Lumenallergie erkrankt, aber tatsächlich war es der große Teil. Du wolltest mich mit dem Autoklaven dem freien Raum übergeben in dem Glauben, die anderen Teile würden dir folgen und es zu verhindern versuchen. John Koenig, deine Annahme war falsch und dennoch richtig, denn der große Teil konnte nicht auf mich verzichten. Nur als ganzes Großes sind wir Leben. Fehlt ein Teil des Ganzen, vergeht alles. Darum folgte der große Rest dir und deinem Eagle, aber es kostete den kranken Teil die letzte Lebensenergie. Als ich es erkannte, war ich nicht mehr in der
Lage, den Autoklaven zu verlassen, denn nun bin ich auch an Lumenallergie erkrankt. John Koenig, ich bin am Ende der Ewigkeit angekommen. Verzeih, was das ganze Große euch angetan hat. Verzeih, wenn du es kannst… – Ein zweites Mal jagte ein Flächenbrand atomarer Energie über den samtschwarzen Himmel, und der Commander der Mondstation Alpha beobachtete gebannt dieses ungewöhnliche Schauspiel. Der letzte Teil eines energetischen Gruppenwesens verging in flammender Lohe. Etwas Unvorstellbares hatte sein Ende gefunden, das eigentlich ewig Bestand haben sollte, aber gab es das zwischen den vergänglichen Sternen? Dann erfaßte ihn der gebündelte Strahl eines starken Scheinwerfers. Ein Eagle näherte sich ihm lautlos. Er steuerte sich auf die geöffnete Schleuse zu, betrat sie, schloß das Außenluk, und öffnete das innere. Vor ihm stand Helena. Er klappte seinen Raumhelm nach hinten, und ihre Lippen fanden sich. Tränen rannen über ihr Gesicht. Sie küßte ihn zärtlich auf die Wange. Endlich kam er dazu zu fragen: »Wieso habt Ihr Mitterson und mich so schnell gefunden?« »Das fragst du noch, John?« stellte sie ihre Frage. »Bevor der Invis im Autoklaven zur flammenden Lohe wurde, teilte er uns auf telepathischer Basis mit, wo wir euch im Raum zu suchen hatten. Sag mal, war er dein Freund?« Er zögerte mit der Antwort nicht: »Im gewissen Sinne, ja, er war mein Freund, und ihm verdanke ich mein Leben. Einem Unsichtbaren… dem Teil eines Ganzen.«