Berte Bratt Alles kam ganz anders
Elaine ist fest entschlossen – sie muß ihrer Freundin Simone und deren kleiner Tochte...
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Berte Bratt Alles kam ganz anders
Elaine ist fest entschlossen – sie muß ihrer Freundin Simone und deren kleiner Tochter Titine helfen. Aber sie will sich auich um ihre geliebten Tiere kümmern und darf ihr großes Ziel nicht vergessen: Tierärztin zu werden. Vor allem aber ist da Ingo, den Elaine liebt und den sie heiraten will. Doch plötzlich kommt alles ganz anders“.
1983 by Franz Schneider Verlag GmbH & Co. KG München – Wien – Hollywood/Florida USA Titelfoto Susanne Schapowalow Illustration Nikolaus Moras ISBN 3 505 08.823 4 Bestellnummer 8823 Alle Rechte der weiteren Verwertung liegen beim Verlag, der sie gern vermittelt
Bei uns zu Hause Mein Name ist Elaine Grather. Meinen französischen Vornamen habe ich meiner Urgroßmutter zu verdanken. Sie ist nämlich gebürtige Französin und in der ganzen Familie so beliebt – um nicht zu sagen geliebt – daß es für meine Eltern eine Selbstverständlichkeit war, mir ihren Namen zu geben. Als ich sechzehn Jahre alt war, erbte ich ein Haus. Ja, ein ganzes Haus, ein entzückendes Haus in der Lüneburger Heide. Da sind wir eingezogen, meine Eltern, mein Bruder Marcus, mein Hund Bisken und unser Kater Anton. Papa, der Filmfotograf ist, gelang es, sich so einzurichten, daß er jedenfalls für ein Jahr in Norddeutschland bleiben konnte – natürlich öfters unterbrochen von Reisen in die seltsamsten Ecken der Welt. Plötzlich kommt er nach Hause und erzählt, daß er nächste Woche die Affen auf Gibraltar filmen soll, ein andermal muß Mama mitten im Sommer seine dicksten Wintersachen rausholen, weil er auf Grönland den Auftrag hat. Eskimos aufzunehmen. Aber zwischendurch kommt er nach Hause, redigiert seine Filme, kümmert sich um Haus und Garten und macht kürzere Filmfahrten an die Nordseeküste, um Seehunde aufzunehmen, oder zur Kieler Woche. Vor allem macht er Natur- und Tierfilme. Ab und zu darf ich
mitfahren als Scriptgirl, wenn ich zufällig Schulferien habe. Als ich sechzehneinhalb war, habe ich mich verlobt. Ich war also „noch ein Kind“, wie meine Eltern und mein Herzallerliebster unbarmherzig betonten. Also, wenn ich verlobt sage, bedeutet es nicht eine offizielle Verlobung mit Zeitungsanzeige, Ringen, Verlobungsfeier und so was. Es bedeutet nur, daß mein Ingo und ich uns lieben und fest entschlossen sind zu heiraten, so bald es praktisch möglich ist. Das heißt, wenn ich mit meiner Ausbildung fertig bin, und wenn mein Ingo eine feste Anstellung und am liebsten auch ein hübsches Doktortitelchen bekommen hat. Er ist Archäologe und weiß so unheimlich viel, daß ich mir ganz klein und dumm vorkomme. Trotzdem liebt er mich, verstehe es, wer kann! Ingo wohnt in Lübeck. Dort habe ich ihn und seine Mutter mehrmals besucht. Ja, und seinen Hund natürlich! Dem haben wir zu verdanken, daß wir uns überhaupt kennenlernten. Ein kleiner Hund und eine große Liebe rutschten gleichzeitig in mein Leben und machten mich zu einem unsagbar glücklichen Menschen! Ich habe auch selbst einen Hund. Er ist der Sohn von Ingos Cora, ein seltsam aussehendes Resultat von Coras ganz illegaler Liebe zum Nachbarhund! Er heißt Bisken, das ist ein norwegischer HundeKosename und bedeutet soviel wie „Hündchen“ oder „kleiner Wauwau“. Meine Eltern sind nämlich Norweger. Ja, eigentlich sind Marcus und ich es auch, aber wir sind beide in Deutschland geboren und haben immer hier gewohnt, mit dem Resultat, daß Deutsch unsere Sprache geworden ist. Norwegisch spreche ich mangelhaft, aber dafür kann ich gut Französisch, weil wir sehr oft in der Französischen Schweiz waren, im Wallis, wo wir liebe Verwandte haben. Vor allem meine schon erwähnte, einmalige Urgroßmutter. Ich habe drei Hobbys: Tiere, Reiten und Töpfern. Im Garten haben wir ein kleines Extrahäuschen, das eigentlich während des Krieges als Behelfsheim errichtet wurde. Papa hat es eigenhändig angebaut und renoviert, dort hat er jetzt einen Arbeitsraum mit Schneidetisch. Vorführapparat und was ein Filmfotograf sonst braucht. Und ich habe eine kleine Töpferwerkstatt, in der ich Weihnachtsgeschenke und Geburtstagsgeschenke eigenhändig herstelle. Im Nachbardorf gibt es einen Reitstall. Ich habe mich mit dem Sohn des Besitzers angefreundet, und wenn nicht gerade
Touristensaison ist, darf ich oft ganz billig reiten – ja, sogar ab und zu ganz umsonst, wenn die Pferde bewegt werden müssen. Dafür helfe ich beim Füttern und Striegeln, beides macht mir einen Heidenspaß. Wenn Not am Mann ist, kann ich auch beim Ausmisten helfen! Ich liebe Pferde. Am allerschönsten ist es, allein auszureiten – nur das Pferd und ich, ganz allein! Dann fühle ich, wie wir uns verstehen, wir sind eine Einheit, wir sind einander gut. Früher, als wir in Frankfurt wohnten, nahm ich Reitunterricht, viele Schüler und Schülerinnen ritten in der großen Reitbahn. Nie war ich allein mit meinem Pferd. Hier auf dem Lande war es anders – und viel, viel schöner! Und somit wären wir also bei meinem dritten und größten Hobby: den Tieren. Die Tierliebe habe ich von Papa geerbt. Unser herrlicher Bernhardiner Barry, der vor einem Jahr starb – wie viele Tränen hat sein Tod gekostet! – war mein erster Babysitter, mein Kindermädchen, mein Reit- und Zugtier. Als Barry gestorben war, hat uns das Schicksal Ingos Cora über den Weg geschickt, und später bekam ich dann Bisken, Coras urkomisches Söhnchen. Und dann haben wir, wie gesagt, unseren alten Kater Anton. Er ist dreizehn Jahre alt, was für einen Kater beinahe ein biblisches Alter ist. Aber er ist noch in guter Verfassung und kennt seine Pflichten. Die einzigen Tiere, die sich bei uns nicht wohl fühlen, sind Mäuse, denn die werden von Anton fachmännisch erlegt und verspeist. Mein Bruder Marcus hat sein erstes Schuljahr hinter sich, er hat den festen Plan, Fernfahrer zu werden. Er weiß schon mehr über Autos als ich jemals gewußt habe, und sein Wissen über Flugzeuge ist auch beachtlich. „Es ist ja gut, wenn man feste Berufspläne hat“, schmunzelte Papa, als Marcus ihm seinen Zukunftstraum mitgeteilt hatte. „Ich wünschte, daß meine Tochter genauso entschlossen wäre!“ „Bin ich doch, Papa!“ sagte ich. „Ich werde euch zuliebe mein Abitur machen, und dann – mir selbst zuliebe – Ingo heiraten!“ Das mit dem Abitur war auch so eine Sache. Es war Papa, der mich davon überzeugt hatte, daß ich es machen sollte. „Wenn ich nun Keramikerin werde, Papa“, hatte ich gesagt, „dann brauche ich doch kein Abitur!“ „Du weißt gar nicht, ob du Keramikerin wirst“, antwortete Papa. „Vielleicht wirst du plötzlich ganz andere Wünsche haben. Wünsche,
die eine bessere Ausbildung notwendig machen. Denk daran, Elaine: Es ist besser, etwas zu haben, was man nicht braucht, als etwas zu brauchen, das man nicht hat!“ Diese Logik war so einleuchtend, daß ich mich dazu entschloß, das Abitur zu machen. „Schön und gut, daß du heiraten wirst“, sagte Papa ein andermal. „Aber eine Ausbildung mußt du doch haben! Etwas, worauf du zurückgreifen kannst, falls… nun ja, falls es notwendig wird, daß du Geld verdienst. Wenn Ingo krank werden sollte, oder, was Gott verhüte…“ „Sprich nicht weiter, Papa!“ rief ich. „Ich weiß, was du sagen wolltest. Na gut, ich werde mir schon überlegen, was ich sozusagen als Nothilfe lernen könnte – aber es hat ja Zeit! Noch fehlt mir ein Jahr Schule! Aber ich habe das Gefühl, daß ich bei der Keramik bleibe! Dann kann ich Kopien von all den antiken Gefäßen machen, die Ingo ausbuddelt!“ „Davon wirst du kaum leben können“, meinte Papa. „Aber es stimmt, du hast noch ein Jahr Zeit. Vergiß bloß nicht, daß du Hausbesitzerin bist. Es kostet Geld, ein Haus zu halten, und wenn wir dir nicht mehr helfen können.“ „Dann kann Ingo!“ meinte ich. „Wenn er erst eine feste Anstellung kriegt, und wenn ihr doch zurück nach Frankfurt müßt, dann müssen Ingo und ich zusehen, daß wir mein Haus halten und erhalten und behalten!“ „Und du erwartest vielleicht, daß Ingo hier in der unmittelbaren Nähe eine gutbezahlte Anstellung bekommt?“ fragte Papa. „Ich fürchte, es wird wohl so werden, daß es nur euer und hoffentlich auch unser Ferienhaus wird. Also, Elainchen, unter allen Umständen werdet ihr Geld brauchen, und dann siehst du wohl ein, daß du auch die Möglichkeit haben mußt, etwas dazu zu verdienen. Kannst du folgen?“ „Ja“, seufzte ich. „Ich sehe die Probleme wie eine große dicke Wolke am Horizont! Aber vorläufig sind wir hier und haben es gut und sind glücklich – und ich werde mir noch einmal durch den Kopf gehen lassen, was ich anfangen könnte – etwas, das mir liegt und mir in der Zukunft Geld bringen kann!“ „Sieh zu, daß du ein gutes Abitur machst“, ermahnte mich Papa. „Das hängt davon ab, wie oft und wie intensiv du mir bei Mathematik hilfst“, sagte ich. „Hab ich mir schon gedacht“, seufzte mein vielgeplagter Vater.
Warum ich unterbrochen wurde Gestern räumte ich meinen Schreibtisch auf. Es war bitter nötig. Und dabei fand ich diese beschriebenen Bogen. Seit mehr als einem Jahr liegen sie ganz unten im linken Schreibtischfach. Ich habe das gelesen, was ich damals schrieb, und ich denke zurück. Damals war ich siebzehn. Es war Anfang der Ferien. Ich hatte wohl die Absicht, weiterzuschreiben, aber es kam alles ganz anders. Denn gerade an dem Tag, als ich das erste Kapitel abgeschlossen hatte, begannen die Ereignisse sich zu überstürzen, und meine Gedanken drehten sich um alles andere als Tagebuchschreiben, oder wie man nun mein Gekritzel nennen soll. In meiner Familie neigen die Ereignisse dazu, sich zu häufen. Immer passiert alles auf einmal! Es fing damit an, daß das Telefon klingelte. „Geh ran, Elaine!“ rief Mama aus der Küche. „Ich habe ganz klebrige Hände!“ Mama war dabei, die ersten selbstgezüchteten Erdbeeren einzukochen. Kein Wunder, daß sie klebrige Finger hatte! Also ging ich ans Telefon. „Hier bei Grather! Guten Tag!“ Eine ferne aber deutliche Stimme meldete sich. „Il faut parler français, ma petite! Ici grand-mère!“ „Grand-mère!!!“ rief ich. „Liebste grand-mère, wo bist du?“ „In Villeverte! Zu Hause! Sag mal, was ist mit euch los?“ „Mit uns? Gar nichts! Uns geht es glänzend! Und dir, grandmère? Geht es dir gut? Bist du gesund?“ „Gesund? Wütend bin ich! Deswegen rufe ich doch an!“ „Wütend? Doch etwa nicht auf uns?“ „Auf wen sonst? Was soll das heißen, daß ihr diesen Sommer nicht in die Schweiz kommt? Es ist das zweite Jahr, daß ihr uns im Stich gelassen habt! Ihr habt wohl vor, erst zu meinem Begräbnis zu kommen?“ „Um Gottes willen, grand-mère, wie sprichst du bloß! Du weißt doch, daß wir… Ach, da kommt Mama, schimpf weiter mit ihr!“ Mama hatte wohl in der Küche mitgekriegt, daß ich mit Grandmère sprach. Sie hatte in Windeseile ihre Hände „entklebt“ und nahm den Hörer. Ich horchte natürlich wie ein Luchs, aber vorerst gab es gar nichts
zu horchen! Grand-mère hatte das Wort allein, und sie hatte anscheinend viel auf dem Herzen. Als sie endlich Luft holen mußte, sprach Mama – italienisch! Seit sie als kleines Kind oft die Großeltern in Italien besuchte, hat sie mit Grand-mère italienisch gesprochen, und das ist hängengeblieben. Also konnte ich nur an ihrem Tonfall erraten, ob es traurige oder erfreuliche Dinge waren, die besprochen wurden. Mamas Gesichtsausdruck wurde immer heller, ein strahlendes Lächeln kam zum Vorschein, und die letzten Worte habe ich so einigermaßen verstanden. Ich meinte, sie sagte „großartig, wunderbar“, – und etwas, das ich mehr durch Instinkt als durch Sprachkenntnisse als „wir freuen uns unsagbar“ diagnostizierte. Endlich legte sie den Hörer auf. „Grand-mère kommt!! Sie will uns besuchen! In drei Tagen! Elaine, hol schnell Papa – und Marcus, falls du ihn irgendwo siehst – , ihr müßt mir alle helfen, wir haben tausend Dinge zu tun!“ Ich rannte in den Garten, wo unsere beiden Männer dabei waren, einen Maschendrahtzaun um Mamas Gemüsegarten zu bauen. Der Grund für diese Maßnahme, nämlich mein Hund, stand schwanzwedelnd dabei. „Papa! Marcus! Kommt schnell! Wir kriegen Besuch! Grandmère kommt!“ „Was?“ rief Papa und ließ eine Zange fallen. „Kommt sie hierher? Mit ihren einundachtzig Jahren? Sie hat vielleicht Mut! Das ist ja großartig – komm, Marcus, so wie ich eure Mama kenne, werden wir jetzt alle zum Großeinsatz abkommandiert!“ Das stimmte. Mama war ganz aufgeregt. „Ja. sie war also zuerst wütend, weil wir auch diesen Sommer hierblieben, dann hielt sie mir eine lange Rede über Familiensinn und Familienliebe, und teilte mir mit, daß sie zwei Jahre ihre beiden Urenkelchen nicht gesehen hätte. Dann kamen ein paar Reflexionen über die Tatsache, daß sie seit zwölf Jahren nicht in Deutschland gewesen sei. Und nun wollte sie endlich unser Haus sehen – Verzeihung. Elaine, ich meine dein Haus – mit anderen Worten, sie hat einen Flug gebucht und kommt am Freitag in Hannover an. Sie erwartet, daß sie dort abgeholt wird.“ „Worauf sie sich verlassen kann!“ rief Papa. „Du weißt doch, Bernadette, Grand-mère ist deine einzige Rivalin. Also, wir werden jetzt alle eingespannt. Was sollen wir machen?“ „Du mußt entweder nach Braunschweig oder Hannover fahren, zu
einem Feinkostgeschäft, ich schreibe dir gleich alles auf… Elaine, du mußt im Fremdenzimmer Staub wischen und den Teppich saugen… Ach, hol auch die Gardinen runter, wir stecken sie gleich in die Waschmaschine… Marcus, du läufst rüber zu Opa Geest und fragst, ob seine Hühner fleißig gewesen sind, ich brauche viele Eier zum Kuchenbacken!“ „Darf ich höflichst fragen, was du selbst machst?“ schmunzelte Papa. „Kannst du dir das nicht denken? Ich bringe die Küche auf Hochglanz! Du kennst doch Grand-mère! Sie kommt Freitag, am Sonnabend morgen steht sie schon in der Küche und fängt mit dem Mittagessen an!“ Gleich darauf war ich in vollem Gange im Fremdenzimmer. Ich hörte, daß Marcus mit Bisken und Eierkorb verschwand, und daß Papa seinen Wagen startete. In der ganzen Familie herrschte freudige Aufregung! Während ich wischte und putzte und den Staubsauger laufen ließ, ging ich meinen eigenen Gedanken nach. Wenn nun Ingo zum Wochenende käme? Nun ja, dann müßte er eben in Papas Filmwerkstatt schlafen, da war ja eine Couch. Gar nicht so übel! Da könnte ich ihn ja auch besuchen… Was solche Besuche bedeuteten, nun ja, das war kein Geheimnis. Meine Eltern waren nicht von gestern, und schließlich waren sie auch selbst einmal jung gewesen. Und es war ihnen sehr bewußt, daß die Zeiten und gewisse Begriffe sich geändert haben. Ein einziges Mal war dieses Thema zwischen Mama und mir zur Sprache gekommen. Ich hatte Ingo in Lübeck besucht, und als Mama fragte, wie es seiner Mutter ginge – sie hatte vor kurzem eine Grippe gehabt -. sagte ich die Wahrheit. Sie sei gar nicht dagewesen, sie hätte übers Wochenende eine Freundin besucht. „Dann wart ihr also allein“, sagte Mama. „Ja. Mamachen. Wir waren allein.“ Mama schwieg. Aber ich sprach weiter. „Mama jetzt weiß ich genau, was du denkst. Und ich kann ganz klar darauf antworten. Ich liebe Ingo, und ich werde ihn heiraten. Das, was du glaubst, stimmt natürlich. Erstens möchte ich dir sagen, daß du keine Angst haben sollst. Ich kriege kein Kind – das heißt, hoffentlich kriege ich eins, aber erst, wenn wir verheiratet sind. Und zweitens sollst du dich freuen, weil ich diesen sehr wesentlichen Teil des Lebens in… in… nun ja, sagen wir… in Schönheit
kennengelernt habe! Ich hätte mich nie, aber auch nie mit einem Mann einlassen können, den ich nicht liebte! Ich weiß, viele Mädchen leben mit ihrem Freund zusammen, nur weil andere es tun, nur weil sie nicht als Spätentwickler dastehen wollen. Sie wollen mitreden können. In meiner Klasse sind ein paar solche Mädchen. Und das mit dem ,Mitreden’ finde ich widerlich! Es gibt Dinge, die so schön sind, daß man einfach nicht darüber redet! Habe ich nicht recht?“ „Doch, das hast du! Unbedingt.“ Mamas Stimme war leise. „Ich weiß“, fuhr ich fort, „daß man es früher unmoralisch nannte, und man sollte hübsch warten, bis man verheiratet war. Aber Mama, sag ehrlich, findest du das moralisch? Kein Mensch erwartet, daß ein junger Mann wie ein Mönch leben soll. Und was war das Resultat? Daß der arme Mann von früher während der Verlobungszeit zu Frauen ging, die er für ihre… ihre… sagen wir Dienstleistungen, bezahlte. Nur weil das Mädchen, das er liebte, und sich nach ihm sehnte, ,rein’ bleiben sollte. Wäre sie vielleicht weniger ,rein’, wenn sie mit dem Mann, den sie doch heiraten wollte, das größte Glück des Lebens kennengelernt hätte?“ „Kleines Elainchen“. sagte Mama und streichelte mir die Wange. Sie lächelte ein bißchen. „Ich muß mich wohl so langsam an den Gedanken gewöhnen, daß ich eine erwachsene Tochter habe“, fügte sie leise hinzu. Ich hatte oft an dieses Gespräch gedacht. Und ich war so froh darüber, daß ich mit meiner Mutter so offen und ehrlich sprechen konnte. Mama verstand mich immer. Der Staubsauger brummte, unten brummte die Waschmaschine und wusch die Gardinen aus dem Fremdenzimmer. Wie freute ich mich auf Grand-mère! Es klingt vielleicht komisch, daß ein Mädchen sich auf den Besuch ihrer Urgroßmutter freuen kann, aber meine Urgroßmutter ist nun mal ein Unikum! Mama behauptet, daß Grandmère jedes Jahr jünger wird! Bei der großen Familienfeier vor einem Jahr, an ihrem achtzigsten Geburtstag – bei dem ich leider nicht dabei war – war Grand-mère die Lebhafteste von allen gewesen, voller Späße, voll Fröhlichkeit, geistreich und schlagfertig, herzlich und voll Liebe. Man konnte immer so wunderbar mit Grand-mère reden, sie hielt den Kontakt mit der Jugend aufrecht, interessierte sich immer für unsere Problemchen, unsere Arbeit und unsere Hobbys. Ja, ich freute mich ganz schrecklich auf sie! Ich wurde in meinen Gedanken unterbrochen. Mein Bruder
erschien auf der Bildfläche mit dem Gesichtsausdruck, der mir verriet, daß er etwas fragen wollte. Hoffentlich war es nicht allzu kompliziert! Was soll man antworten, wenn ein Kind fragt „was macht der Wind, wenn er nicht weht“ oder „wie kann die Sonne wissen, wann sie aufgehen soll?“ Diesmal waren seine Fragen zum Glück der augenblicklichen Situation angepaßt. „Elaine, was bedeutet eigentlich ,Grand-mère’?“ „Eigentlich bedeutet es Großmutter.“ „Warum sagen wir dann Grand-mère? Sie ist doch unsere Uroma!“ „Ja, das stimmt, aber weißt du, Grand-mère ist so eine Art Kosename geworden. Die ganze Familie und alle Freunde, jung und alt, nennen sie ja so.“ „Wie heißt dann Uroma auf französisch?“ „Oh, ganz was Langes und sehr unpraktisch. Es heißt ,arrièregrand-mère’.“ Marcus nahm es zur Kenntnis. Dann kam die nächste Frage: „Wie heißt ,willkommen’ auf französisch?“ „Bienvenue.“ Marcus’ Lippen bewegten sich. Anscheinend wiederholte er im stillen das Wort. Er ging zur Tür, dann drehte er sich um. „Wie heißt denn ‚liebe’?“ „Das heißt ,chère’. Willst du mit Grand-mère Französisch sprechen?“ Mein Bruder antwortete nicht. Er murmelte etwas vor sich hin, und dann verschwand er in seinem Zimmer. Das ganze Haus war blitzblank, vor allem die Küche und das Fremdenzimmer. Das Bett war mit der feinsten Leinen-Bettwäsche bezogen, auf dem Nachttisch standen Blumen, auf dem größeren Tisch Obst, Tellerchen, Obstmesser und Papierserviette. Die frischgewaschenen Gardinen wehten sanft im Sommerwind vor dem offenen Fenster, und der ganze Raum duftete förmlich von Sauberkeit! Im Wohnzimmer war der Kaffeetisch mit dem besten Porzellan gedeckt, und im Kühlschrank stand eine von Mama in stundenlanger Arbeit hergestellte Prachttorte bereit. Papa hatte seinen Wagen auf Hochglanz poliert – wir konnten also losfahren. Es war eine Selbstverständlichkeit, daß die ganze
Familie am Flughafen sein wollte! Mama hatte aus den schönsten Blumen des Gartens ein reizendes Biedermeiersträußchen gemacht – Blumen in Spitzenhöschen, wie Papa es respektlos nennt – das sollte Marcus überreichen. Die Tiere waren versorgt und konnten großartig für ein paar Stunden ohne uns auskommen. „Bisken hat ja Anton“, erklärte Papa. „Wie du weißt, ist es für einen Hund das Furchtbarste auf der Welt, allein zu sein, und wenn wir Anton nicht gehabt hätten, hätte Bisken mit nach Hannover kommen müssen.“ Aber Anton war da, der Garten war eingezäunt, und in der von Papa persönlich gebauten Hundehütte hatten die beiden Schutz, falls es anfangen sollte zu regnen. Futter und Trinkwasser waren hingestellt, also konnten wir fahren. „Da ist sie!“ Mama winkte mit beiden Händen, Papa lief so dicht wie möglich an die Sperre, damit er Grand-mère sofort Koffer und Reisetasche abnehmen konnte. War das eine Freude! Es wurde umarmt, Küßchen wurden gegeben, Blumen überreicht – und meine Urgroßmutter sah blendend aus, kein Mensch würde denken, daß sie schon über achtzig war. Sie sah aus wie eine sehr gut erhaltene Siebzigjährige, und hätte sie behauptet, sie sei fünfundsechzig, hätte man es ohne weiteres geglaubt! Grand-mère war keine Spur müde! Der Flug sei so schön gewesen, und die Stewardessen ganz reizend. O ja, alles war glatt verlaufen – „aber der Flughafen Frankfurt ist ja zum Verrücktwerden“, lächelte Grand-mère. „Es ist ein wahres Wunder, daß ich nicht in eine Maschine nach Tokio einstieg! Da war aber so eine nette Flughafenangestellte, die Französisch sprach, sie hat mir geholfen. Und im Flugzeug hierher bekamen wir ein wirklich anständiges Essen!“ „Wenn du das sagst, Grand-mère, dann ist es das allerhöchste Lob!“ schmunzelte Papa. „Was gab es denn?“ „Oh, ein recht gutes Hors d’oeuvre, Krabben und geraspelte Sellerie in Mayonnaise, und dann Roastbeef – aber wie die Deutschen essen! Habt ihr denn in diesem Land keine Ahnung? Denk dir, da saß doch ein Mann neben mir und aß das Hauptgericht vor der Vorspeise! Dem hätte ich gern einen Vortrag über Eßkultur gehalten! Nur der Umstand, daß er anscheinend kein Französisch verstand, hat ihn davor gerettet! Ach ja, und dann gab es Karamelcreme als Nachtisch, nicht schlecht, aber…“
„Aber nicht so gut wie deine Karamelcreme, das wolltest du doch sagen. Grand-mère?“ neckte Mama. Dieses Gespräch fand im Auto statt, während der Fahrt. Der einzige, der ganz gegen seine Gewohnheit schweigsam blieb, war Marcus. Das lag wohl zum Teil daran, daß er sehr wenig Französisch verstand, aber es lag auch an etwas anderem. Ich kenne mein Bruderherz, und jetzt sah ich ihm an, daß er irgendein ,Geheimnis’ hatte – etwas, das ihn ganz erfüllte, etwas, worauf er sich freute. Dann waren wir zu Hause, und Grand-mère brach in Begeisterungsrufe aus. Ein so entzückendes Häuschen, und einen so bezaubernden Vorgarten! „Wenn sie wüßte, daß ich gestern beinahe bis Mitternacht Unkraut gejätet habe!“ murmelte Papa auf norwegisch. Kaum waren wir im Haus – nachdem Bisken uns stürmisch begrüßt hatte – machte mein Bruder den Mund auf. „Ich kann Grandmères Koffer nach oben tragen!“ verkündete er. Aha, dachte ich. Er hat also im Fremdenzimmer irgendeine Überraschung. „Nimm lieber die Reisetasche, Marcus“, schlug ich vor. „Ich trage schon den Koffer.“ Mein Bruder ergriff die Tasche und eilte vor uns die Treppe hinauf. Als Grand-mère und ich ankamen, stand Marcus neben der Tür zum Fremdenzimmer. Seine Wangen glühten, seine Augen strahlten wie Sterne. An der Tür war ein großes Plakat mit Heftzwecken befestigt. Marcus hatte anscheinend sämtliche Buntstifte aus seiner großen Sammlung benutzt! Rechts die Schweizer Fahne, links die deutsche. Dazwischen war ein Flugzeug gezeichnet, ein farbenprächtiges Gebilde, das wirklich als ein Jumbojet zu erkennen war. Mein Bruder kannte sich mit Autos und Flugzeugen aus! Vorn am Bug stand auch deutlich zu lesen: „Boing 747“. Unter dem Bild stand mit großen, bunten, deutlichen, wenn auch nicht ganz regelmäßigen Buchstaben: BIENGWENÜ SCHÄHR GRANGMÄR! Das Plakat brachte Marcus Dankesworte, eine Umarmung, mehrere Küßchen und eine überdimensionale Tafel Schweizer Vollmilchschokolade ein. Ich habe den Verdacht, daß er letztere am höchsten schätzte!
Armer Bisken! Mama und ich hatten in der Küche zu tun: Mama war dabei, einen Fleischteig zu bearbeiten, und ich hatte auf mich genommen, einen Haufen Aprikosen zu entkernen. Papa hatte Grand-mère mitgenommen, um ihr den Garten und die Filmwerkstatt zu zeigen. Aber kein Garten kann Grand-mère von der Küche fernhalten, wenn sie ahnt, daß dort etwas passiert. Sie hatte wohl unsere Stimmen durch das offene Fenster gehört, denn plötzlich stand sie da und überblickte mit ihren wachen, interessierten Augen die Situation. „Was machst du da, ma petite?“ So nannte sie sowohl Mama als auch mich. Marcus und Bisken waren beide „mon petit“. Nur Papa mit seinen ein Meter neunzig war kein „petit“. Ihn nannte sie „mon ami“ oder „mon cher ami“. Diesmal war Mama gemeint, denn Grand-mères Augen waren auf den Fleischteig gerichtet. „Es sollen Kohlwickel daraus werden, Grand-mère!“ „Und was wird aus den Aprikosen?“ „Ganz einfach Kompott. Weißt du, ich hätte so gern richtige österreichische Marillenknödel gemacht, aber sie wollen mir nie gelingen!“ Grand-mères Augen strahlten. „Aber mir! Ich mache sie! Und wie ist es, ma petite, hast du denn nichts zu nähen? Das hast du doch so oft!“ „Nicht, wenn wir so lieben Besuch haben. Grand-mère! Ich habe meinen Kundinnen gesagt, daß sie sich schön gedulden müssen!“ „Aber, ma petite, was fällt dir ein? Lauf sofort zu deiner Nähmaschine! Denk nicht ans Kochen, das besorge ich!“ „Grand-mère, du bist unmöglich! Ich weiß schon, daß du für dein Leben gern kochst, aber hier bei uns sollst du dich erholen …“ „Erholen tue ich mich am allerbesten in der Küche! Ach, ma petite“ – jetzt waren ihre Augen auf mich gerichtet –, „lauf doch schnell in mein Zimmer, unterm Schub in der Kommode liegen meine Schürzen, holst du mir eine?“ Habe ich nicht recht? Ist meine Uroma nicht einmalig? Ich wüßte jedenfalls keine zweite Urgroßmutter, die Küchenschürzen mit einpackt, wenn sie zum Erholungsbesuch bei lieben Verwandten fährt! Als ich runterkam, war Mama endgültig aus der Küche verjagt.
Grand-mère war dabei, sich einen Überblick über den Inhalt des Kühlschranks zu verschaffen. „Brauchst du mich wirklich nicht, Grand-mère?“ „Nicht, wenn du was anderes vorhast.“ „Und wenn ich das nicht habe?“ „Na, dann kannst du ja die Aprikosen fertigmachen. Aber vorsichtig! Nicht ganz durchschneiden, nur eben soviel, daß du den Kern rauskriegst!“ Ich gehorchte. Zwischendurch warf ich Seitenblicke auf Grandmères fleißige, geübte Hände. Sie lächelte selig vor sich hin, jetzt fing sie tatsächlich an, eine kleine Melodie zu summen. Plötzlich mußte ich lachen. „Grand-mère, weißt du. wie du aussiehst?“ „Wie ein verliebter Teenager kurz vor einem Stelldichein“, sagte Grand-mère. „Das behauptete jedenfalls deine Mutter, als sie so alt war, wie du es jetzt bist!“ „Genau das wollte ich sagen! Du strahlst vor Glück, wenn du kochst.“ „Ich weiß. Und wie ist es mit dir, strahlst du auch?“ „Nicht beim Kochen! Meine Kochkünste beschränken sich auf Spiegeleier und Bratkartoffeln und, wenn Not am Mann ist, Milchreis und Frikadellen.“ „Was? Und du willst heiraten?“ „Das will ich, aber noch nicht, Grand-mère. Zuerst muß ich das Abitur machen, und Ingo muß eine Stellung kriegen, und…“ „Was macht er denn jetzt?“ „Seine Doktorarbeit. Das Examen hat er gemacht, aber den Doktor will er noch machen! Hoffentlich schafft er es, bis ich mit der Schule fertig bin.“ „Und dann heiratet ihr?“ „O nein, noch lange nicht! Ich muß doch einen Beruf erlernen!“ „Vor allem solltest du kochen und wirtschaften lernen, ma petite! Heute kannst du ja als erstes lernen, wie man Kohlwickel und Marillenknödel macht. Es ist doch schöner, in der eigenen Küche Kochunterricht zu kriegen als in einer Haushaltsschule?“ „Und wie!! Und mit einer solchen Lehrerin! Macht es dir denn Spaß, mich zu unterrichten. Grand-mère?“ „Ich wüßte nichts, das mir mehr Spaß machen würde! So, jetzt nimmst du den Kohlkopf und entfernst vorsichtig die äußeren schmutzigen Blätter, dann stellst du den großen Kochtopf auf den
Herd…“ Ich begriff, daß es Grand-mère ernst war. Von diesem Augenblick an war ich ihre aufmerksame Schülerin und sie die allerliebste Lehrerin! Papa mußte nach Hannover. Wie immer fragte er vor der Abfahrt, ob er etwas für Mama besorgen sollte. „Nein, für mich!“ rief Grand-mère. „Kannst du mir ein frisches, schönes Rinderherz besorgen?“ „Für dich besorge ich alles, Grand-mère! Ich ahne nicht, an welchem Tag die Schlachter Innereien haben, aber ich versuche es!“ Der Versuch gelang. Papa brachte ein Herz, das so groß war, als ob es von einem Mammut stammte. „Wunderbar“, lobte ihn Grand-mère. „Jetzt soll Elaine lernen, Rinderherz auf chinesisch zuzubereiten. Habt ihr Ingwer im Haus?“ Am Nachmittag stand Grand-mère am Küchentisch und machte das Rinderherz zurecht. Sie schnitt Fett ab und entfernte Sehnenstränge – und wenn ab und zu ein Stückchen Herz versehentlich mitrutschte, war Bisken wie ein Blitz da. Ich verfolgte lernbegierig Grand-mères Handgriffe und achtete nicht auf den Hund. Ich merkte nicht einmal, daß er plötzlich das Interesse für das Rinderherz verloren hatte und die Küche verließ. Aber nach ein paar Minuten erschien Papa. „Sag mal, Elaine, was hat Bisken gefressen? Er hat sich in eine Ecke verkrochen und liegt da und japst und piepst!“ „Nanu? Er hat nur ein paar kleine Stückchen von dem Rinderherz bekommen…“ Ich rannte ins Wohnzimmer. Ja, daß etwas mit Bisken nicht stimmte,’ das war sonnenklar. Er sah mich flehend an, rieb sich das Maul mit den Pfoten, und piepste ganz verzweifelt. Wir versuchten, ihm das Maul aufzumachen, um nachzusehen. „Ich glaube, es hat sich etwas im Hals festgesetzt“, meinte Papa. „Das Tier muß zum Tierarzt – aber wo finden wir einen?“ „Warte mal, der Vater von der Antje in meiner Klasse ist doch Tierarzt. Und sie sagte irgend etwas … Ja, sie würden erst Ende des Monats in Urlaub fahren, erst dann kriegt ihr Vater einen Vertreter. Ich rufe sie schnell an!“ Ich hatte Glück. Antje kam selbst an den Apparat. „Ach. du bist es, Elaine! Wo brennt es?“ Ich beeilte mich, ihr klarzumachen, daß mein Hund dringend einen Tierarzt brauchte. „Warte einen Augenblick, Elaine, ich hole
Vati an den Apparat!“ Ich reichte Papa den Hörer und überließ ihm das Weitere. Fünf Minuten später saßen wir im Wagen, ich mit Bisken auf dem Schoß, und fuhren mit Höchstgeschwindigkeit nach Braunschweig. Der Tierarzt sei sehr nett gewesen, erzählte Papa später. Es war schon lange nach der Sprechstunde, es war halb sieben, aber der Arzt wollte zurück in die Praxis gehen, und wir sollten nur kommen. Mein armes Hundchen litt wirklich. Seine Augen hatten einen so verzweifelten Ausdruck, und er piepste und japste immer noch. Papa kennt sich in Braunschweig gut aus, und nach einer Dreiviertelstunde hielt er vor dem Haus, an dem ein großes Schild mit „Dr. med. vet. J. Sager“ uns klarmachte, daß wir angekommen waren. „Geh sofort rein mit Bisken“, sagte Papa. „Ich muß nur noch einen Parkplatz suchen, dann komme ich nach.“ Dr. Sager öffnete selbst die Tür. „Ich habe keine Helferin zu dieser Tageszeit“, erklärte er. „Ich dachte, Ihr Vater käme mit? Er muß ja den Hund halten bei der Untersuchung.“ „Das kann ich“, erklärte ich. „Papa kommt gleich, er sucht nur einen Parkplatz.“ „Na, dann kommen Sie, Elaine. Hier herein, bitte. Setzen Sie den kleinen Kerl auf den Untersuchungstisch.“ Es war nicht mein erster Tierarztbesuch. Ich hatte längst gelernt, wie man einen Hund festhält. „Sehr gut“, sagte Dr. Sager. „So, dann wollen wir mal sehen. Reden Sie ihm gut zu, erzählen Sie was.“ Mit einem geübten Griff machte er Biskens Maul auf, und ich redete leise auf Bisken ein. „Da haben wir den Salat! Er hat irgend etwas um die Zunge, ganz tief in der Kehle – weiß der Himmel, was er gefressen hat. Ich muß ihm eine Narkose geben, da hilft nichts. Sie können hoffentlich mit ansehen, daß ich ihm eine Spritze gebe?“ „Natürlich!“ versicherte ich. „Spritzen kennt er, er ist ja geimpft. So Bisken, ganz ruhig, Frauchen ist ja bei dir. Und gleich fahren wir Auto, ja, wir fahren zurück zu Mama – gleich kommt Papa und holt uns ab…“ Schon hatte Bisken seine Kurznarkose intus, und in dem Augenblick kam Papa an. Es war keine Zeit für eine freundliche Begrüßung. Die beiden Männer nickten sich eben zu, und Papa blieb neben dem Untersuchungstisch stehen. „Soll ich dich ablösen, Elaine?“
Ich schüttelte den Kopf. „Danke, es geht gut so.“ Bisken lag jetzt regungslos auf dem Tisch, der Arzt hatte sich mit einer Pinzette und einer Schere bewaffnet. „Halten Sie ihm das Maul ganz weit auf. Ja, so ist es gut, na, das hat sich aber tief festgesetzt. Herr Grather, halten Sie einen Augenblick die Zunge, ja so ist es richtig. Da hätten wir es…“ Biskens Zunge war geschwollen, und das „Etwas“ da drin mußte durchgeschnitten werden. Jetzt holte der Arzt es mit einer Pinzette raus. Wir betrachteten es mit forschenden Blicken. „Oh, ich weiß!“ rief ich. „Das ist ein Ring von dem Stück Schlagader, das noch im Rinderherz drin war, und das Grand-mère ausgeschnitten hat! Das ist wohl runtergefallen, und dann hat Bisken es zu fassen bekommen!“ Der Tierarzt warf noch einen Blick auf das unappetitliche Gebilde, bevor er es in den Mülleimer warf. „Das könnte es sein“, stimmte er zu. „Mit anderen Worten. Vorsicht beim Innereifüttern! Solche Ringe immer kleinschneiden!“ „Das war ja auch nicht als Futter gedacht“, erklärte ich. „Bisken hat es einfach geklaut!“ Wir bedankten uns beide dafür, daß Dr. Sager extra in die Praxis gekommen war, Papa bezahlte für das Vergnügen, und die beiden Männer wechselten ein paar Worte. „Ihre Tochter kann anscheinend sehr gut mit Tieren umgehen“, sagte der Arzt. „Sie hat mir wie eine professionelle Praxishelferin geholfen!“ „Das wundert mich nicht“, schmunzelte Papa. „Elaine ist als Tiermensch geboren. Bevor sie in die Schule kam. kannte sie schon die meisten Tiere im Frankfurter Zoo.“ „Jetzt weiß ich es!“ rief Dr. Sager. „Ich sitze ja immer hier und zerbreche mir den Kopf, wo ich Sie schon einmal gesehen habe. Es war im Frankfurter Zoo! Da stand doch so ein Riese mit einer Filmkamera und neben ihm ein kleines Blondköpfchen. Ich höre noch die Kinderstimme, die sagte: ,Papa, wenn du die Axishirsche gefilmt hast, können wir dann nicht zu den Lemuren gehen?“ Ich müßte lachen. „Das war bestimmt ich! Ich wollte immer zu den Halbaffen und den kleinen Tamarins!“ „Ich habe mich jedenfalls amüsiert über das kleine Kind, das so gut Bescheid wußte! Aber warten Sie mal – Grather, Grather, da ist
doch etwas mit dem Fernsehen… sind Sie Tierfilmer, Herr Grather?“ „Nun ja, das kann man wohl sagen. Einige meiner Filme sind auch im Fernsehen gelaufen!“ „Dann ist es mir eine doppelte Freude, Sie kennengelernt zu haben!“ Bisken lag auf Papas Schoß. Er schien allmählich aus der Narkose zu erwachen. „Na. nun müssen wir wohl zusehen, daß wir mit unserem kleinen Patienten nach Hause kommen“, sagte Papa und stand auf. „Nimm du ihn, Elaine, ich muß den Wagen holen.“ Ich nahm Bisken in die Arme. Papa verschwand, und ich reichte Dr. Sager die Hand und bedankte mich noch einmal. „Wenn Sie mal Lust hätten, gelegentlich meine Assistentin zu vertreten – ich meine, wenn Sie vielleicht einen Ferienjob haben wollen – dann melden Sie sich!“ sagte Dr. Sager zum Abschied. Endlich saßen wir wieder im Auto. Bisken schlief friedlich auf meinem Schoß. Es störte ihn anscheinend nicht, daß mein rechtes Hosenbein ganz durchnäßt war. Daran war er selbst schuld. Als er in der Narkose lag, hatte er ein Bächlein produziert, und das hatte sich auf meine Jeans ergossen. „Papa, weißt du was. es würde mir einen Heidenspaß machen, bei Dr. Sager zu arbeiten! So als Ferienjob. meine ich. Glaubst du, daß es sein Ernst war?“ „Schon möglich. Das wird sich zeigen.“ „Ja. aber ich habe doch nichts weiter gemacht, als meinen eigenen Hund festzuhalten, das kann doch jeder Hundebesitzer!“ „Denkste! Habe ich dir nicht von meiner tierärztlichen Tätigkeit erzählt, als ich noch Schuljunge war? Nebenan war eine Tierarztpraxis. Damals ging es nicht so fein zu wie jetzt, die Tierärzte hatten gewöhnlich keine Assistentin. Ich war mal beim Tierarzt mit meiner Katze und mußte sie während der Behandlung festhalten, und der Tierarzt lobte mich, weil ich ruhig blieb und ein paar Kratzer als eine Selbstverständlichkeit hinnahm. Ja. und dann kam nach mir eine Hundebesitzerin, die nicht mit ansehen konnte, daß ihr Liebling eine Spritze bekam. Also steckte ich meine Katze in das Deckelkörbchen und hielt den Köter fest. Das ging großartig. Und eins, zwei, drei hatte der Tierarzt mich als eine Art Nothelfer angestellt! Wenn hysterische Tierbesitzer ihre Hunde und Katzen nicht selbst festhalten konnten und großes Theater machten, dann rief der Arzt bei uns an und fragte, ob der Asbjörn wohl einen
Augenblick rüberkommen könnte. Das konnte ich immer! Ich bekam auch ein paar Kronen dafür, oder genauer gesagt, eine Krone für jedes festgehaltene Tierchen! Siehst du, es kommt also wirklich vor. daß die Leute unfähig sind, ihre Lieblinge in einer solchen Situation zu behandeln, wenn eine eingewachsene Kralle ausgezogen oder ein Geschwür geschnitten werden muß. Es gibt Leute, die kein Blut und keinen Eiter sehen können, und die selbst zu erbrechen anfangen, wenn sie sehen, daß sich ein Hund übergibt!“ „Du liebe Zeit!“ sagte ich. „Aber Papa, Bisken hat weder geblutet noch gebrochen.“ „… aber gepüschert!“ lachte Papa. „Ich guckte Dr. Sager an, als das Bächlein auf deiner Hose landete, und ich meine, einen Ausdruck von Anerkennung beobachtet zu haben, als du keine Miene verzogen und keine Bewegung gemacht hast.“ Ich mußte laut lachen. „Das wäre noch schöner, wenn ich Bisken mitten in der Behandlung losgelassen hätte wegen des kleinen Bächleins!“ „Es gibt Leute, die es getan hätten“, sagte Papa. Da tauchte das Schild mit dem Namen Rosenbüttel auf, und ein paar Minuten später waren wir zu Hause. Grand-mère war untröstlich. „Es war alles meine Schuld!“ jammerte sie. „Ich hätte besser aufpassen sollen! Ich ahnte nicht, daß etwas auf den Fußboden gefallen war! Armer kleiner Bisken – mon pauvre petit!“ „Alles mit der Ruhe, Grand-mère!“ tröstete ich. „Bisken geht es jetzt blendend, und der Tierarztbesuch war sehr nützlich für mich. Er hat mich nämlich dazu gebracht, meine Zukunftspläne zu ändern. Es gibt etwas, das ich lieber tun möchte, als Keramik zu machen. Ich möchte Praxishelferin bei einem Tierarzt werden!“ „Helferin?“ wiederholte Grand-mère und sah mich sinnend an. „Warum willst du dich damit begnügen? Warum studierst du nicht Veterinärmedizin? Warum wirst du nicht selbst Tierärztin?“
Simone Jetzt drehte sich wirklich alles in meinem Kopf. Grand-mères Worte hatten mich beinahe aus der Fassung gebracht. Ganz neue Zukunftsperspektiven öffneten sich. Keine Sekunde hatte ich daran gedacht zu studieren. Nach dem Abitur wollte ich schon irgend etwas lernen – aber studieren? Und dann hatte Grand-mère so ganz einfach und unbeschwert gefragt, warum ich nicht Tiermedizin studieren wollte! Studieren – ein langes und schwieriges und unsagbar verantwortungsvolles Studium, ein Studium, das sehr viel Geld kosten würde – irgend jemand hatte mir erzählt, daß man elf Semester für dieses Studium brauchte. Elf Semester, fünfeinhalb Jahre –, ach, das war ja Wahnsinn, warum sollte ich bloß – ich wollte doch Ingo heiraten, ich wollte sobald wie möglich eine leichte und einfache Berufsausbildung haben, gerade so, daß ich etwas als Reserve hatte. Etwas, womit ich, wenn Not am Mann wäre, Geld verdienen konnte. Ich konnte nicht einschlafen. Immer wieder hörte ich Grandmères Stimme: „Warum studierst du nicht Veterinärmedizin?“ Eine Kleintierpraxis. Hunde, Katzen, Meerschweinchen, Hamster, ab und zu ein Affchen. Kleine kranke Tiere, denen man helfen könnte. Denen ich helfen könnte. Immer von Tieren umgeben zu sein. Die geliebten Vierbeiner, mit denen ich immer Kontakt gehabt hatte. „Elaine ist als Tiermensch geboren“, hatte Papa gesagt. Diejenige zu sein, welche! Die das Wissen hatte. Die, die unvernünftigen Tierhaltern Ratschläge geben und ihnen erklären konnte, wie man sein Tier behandelt. Die, die das Recht dazu hatte – das Recht, das Studium und Wissen einem verleihen. Keine toten Tongefäße um sich haben, sondern lebendige kleine Geschöpfe, deren Leiden man heilen kann. Oh, Grand-mère, Grand-mère, was hast du mit den wenigen Worten bloß angerichtet! Endlich schlief ich ein. Ich träumte, daß ich ein großes Tongefäß machte, ein langes, ovales Gefäß. Als Grand-mère mich fragte, was es sein sollte, antwortete ich: „Es ist für meine Praxis. Darin werde ich Meerschweinchen baden!“ „Jetzt weiß ich nicht, was ich machen soll“, seufzte ich am Frühstückstisch.
„Ich schlage vor, dein Zimmer aufzuräumen“, sagte Mama. „Oder mir beim Autowaschen zu helfen“, schlug Papa vor. „Ach, ihr versteht ja gar nichts! Ich spreche nicht von heute, sondern von der Zukunft! Grand-mère hat mir doch einen Floh ins Ohr gesetzt! Sie fragte ganz einfach, warum ich nicht Veterinärmedizin studieren will, und auf diese Frage weiß ich einfach keine Antwort. Ich sehe keinen Grund, warum ich nicht Veterinärmedizin studieren sollte!“ Mama guckte mich mit großen Augen an. Papa lächelte. „Ich auch nicht“, sagte er. „Ich fände es großartig.“ „Was wird Ingo dazu sagen?“ fragte Mama. „Warum sollte er nicht einverstanden sein? Steht es irgendwo geschrieben, daß ein Archäologe keine Tierärztin heiraten darf?“ „Das nicht“, meinte Papa. „Aber ihr werdet bestimmt nicht fünf Jahre mit dem Heiraten warten. Und was wird Ingo dazu sagen, daß seine Frau zu Vorlesungen geht, anstatt Staub zu wischen, Kartoffeln zu schälen, Kuchen zu backen…“ „Und Kinder kriegen“, ergänzte ich. „Es gibt unzählige Frauen, die es geschafft haben, ein Studium mit Hausfrauenaufgaben zu vereinen. Und mit allen elektrischen Hilfsmitteln, mit Tiefkühlkost und Dosenfraß und Anspruchslosigkeit und einem hilfsbereiten Ehemann wird es schon gehen!“ An diesem Gespräch nahm Grand-mère nicht teil. Sie bekam ihr Brötchen und ihre Tasse Kaffee ans Bett. „Kein Wunder, daß sie sich ausruhen muß“, schmunzelte Papa. „Morgens liegt sie da und speichert Kräfte für ihre Tätigkeit bis spätabends!“ Ich glaube, Papa hatte recht. Denn nach Grand-mères Auffassung gehörte eine ausgiebige, mit viel Kunst und Liebe zubereitete Abendmahlzeit zu einem gelungenen Tag. Und die ganze Arbeit, die diese Abendgenüsse mit sich brachten, hatte Grand-mère mit sanfter Gewalt an sich gerissen. Es war ja eigentlich gut, daß wir dieses so wichtige Gespräch auf deutsch führen konnten. Allerdings sprechen wir alle, abgesehen von Marcus, so ziemlich fließend Französisch – aber trotzdem! „Zwei Dingen mußt du ins Auge sehen“, sagte Papa. „Erstens mußt du dir hundertprozentig im klaren sein, ob du dies wirklich willst, also daß es dein Ernst ist und nicht nur eine Laune. Und zweitens: Du hast dann ein ganz tolles Arbeitsjahr vor dir. Natürlich solltest du versuchen, ob du an der Veterinärhochschule in Hannover
aufgenommen wirst, das wäre ja sehr praktisch – aber dazu gehört ein Abiturzeugnis sozusagen mit Goldkanten! Ich weiß nämlich, daß es sehr schwierig ist. dort aufgenommen zu werden, da ist ein enormer Andrang. Ohne ein Spitzenzeugnis ist es hoffnungslos!“ Ich blieb einen Augenblick mit entsetzten Augen und offenem Mund sitzen. „Das heißt also…“ „Daß du dich auf deine vier Buchstaben setzen mußt, und zwar auf den Schreibtischstuhl – nicht auf den Pferderücken oder auf den Fahrradsattel. Daß du lernen mußt wie nie zuvor in deinem Leben. Ist dieser Wunsch bei dir so groß, daß du das auf dich nimmst? Kannst du dir denken, dein ganzes letztes Schuljahr mit pausenlosem Arbeiten zu verbringen?“ Ich mußte einmal tief schlucken, bevor ich antwortete. „Ja. Papa. Ich werde es versuchen. Ich muß es einfach.“ „Gut“, nickte Papa. „Und wir beide“, er nickte Mama zu, „wir müssen eben zusehen, daß wir das notwendige Kleingeld für elf Semester Studium aufbringen!“ Nachmittags rief Ingo an. Ob er übers Wochenende kommen könnte? „Und ob!“ rief ich ins Telefon. „Je eher, desto besser! Ich habe eine ganze Menge mit dir zu besprechen! Ich habe alle meine Zukunftspläne geändert!“ „Nanu? Hast du einen anderen gefunden, den du lieber heiraten möchtest?“ „Ja, einen fünfundneunzigjährigen Multimillionär, du Quasselkopf! Heiraten werde ich dich schon, aber bis dahin soll noch eine ganze Menge geschehen!“ „Ich platze vor Neugier!“ „Oh, das ist alles zuviel, um es am Telefon zu besprechen. Komm sobald wie möglich, und nimm ein französisches Wörterbuch mit, damit du dich mit Grand-mère unterhalten kannst!“ „Ach du heiliger Strohsack! Französisch! Ich denke, sie ist Italienerin?“ „Gebürtige Französin, italienisch verheiratet“, erklärte ich. „Schaffst du es denn auf italienisch?“ „Etwas habe ich ja in dem halben Jahr gelernt, das ich in Rom verbrachte! Gut, mein Lillepus, ich komme dann Freitag abend. Soll ich Zelt und Schlafsack mitbringen?“ „I wo, du schläfst in Papas Filmwerkstatt!“
„Prima! Dann auf Wiedersehen, grüß Bisken und die übrige Familie. Und, Lillepus – ich habe dich nach wie vor lieb!“ Ich lächelte, als ich den Hörer auflegte. Jedes Telefongespräch mit Ingo endete mit den gleichen Worten. Und Ingo war der einzige Mensch, der mich noch bei dem Kosenamen aus meiner frühen Kindheit nennen durfte. „Lillepus“ ist ein norwegisches Wort und bedeutet „Muschi“. Jetzt erschien Grand-mère, ausgeruht und unternehmungslustig. „Grand-mère! Freitag kommt Ingo! Er freut sich darauf, dich kennenzulernen!“ „Oh, großartig! Ich muß schnell nachsehen, was wir im Haus haben – oder, warte mal! Heute ist Mittwoch, Elaine, wir fahren morgen nach Hannover! Da gibt es doch Feinkostgeschäfte?“ „Und ob!“ „Ich kann dich ja hinfahren, Grand-mère!“ bot Mama sich an. „Dich kann ich gar nicht gebrauchen! Asbjörn auch nicht! Elaine und ich fahren mit dem Bus. und zwar frühmorgens, spätestens um acht. Einverstanden, ma petite?“ La petite war einverstanden. Wenn Grand-mère etwas will, dann hat man einverstanden zu sein! Ich ahnte, warum sie Mama nicht mithaben wollte. In eineinhalb Wochen würden wir Mamas vierzigsten Geburtstag feiern. Grandmère sah in dieser Tatsache eine Gelegenheit, ein Supermenü zu kochen, außerdem wollte sie ganz bestimmt Geschenke kaufen. Ich selbst hatte auch einiges zu besorgen. Grand-mère und ich würden uns schon einen schönen Einkaufstag machen! Unsere erste Wanderung in Hannover führte uns zur Bank, wo Grand-mère Reiseschecks einlöste. Mit prall gefülltem Portemonnaie und einer meilenlangen Einkaufsliste starteten wir zu unserem Stadtbummel. Allmählich wurde das Portemonnaie leichter und unsere Einkaufstaschen bedeutend schwerer. Und ich hatte meine liebe Not mit dem Dolmetschen. Ich dachte, ich könnte Französisch, aber was Grand-mère an ausgefallenen Gewürzen und seltenen Früchten verlangte, ging über meine Kenntnisse! „Grand-mère!“ sagte ich endlich. „Wollen wir uns nicht einen Augenblick ausruhen? Dort drüben im Park stehen Bänke, wollen wir uns nicht fünf Minuten da hinsetzen?“ „Ich habe einen besseren Vorschlag“, sagte meine unermüdliche
Urgroßmutter. „Dort drüben scheint doch eine Konditorei zu sein? Da treffen wir uns in einer halben Stunde. Genau an der Ecke, vor der Eingangstür. Klar?“ „Ja, aber Grand-mère, geh nun nicht zu weit! Glaubst du bestimmt, daß du hier zurückfindest? Du kennst ja die Stadt nicht!“ „Ich bin doch nicht von gestern! Ich kann mich gut orientieren, und außerdem habe ich gar nicht vor, weit zu gehen. Ich will in einem Geschäft nach etwas fragen…“ „In welcher Sprache?“ „Deutsch! Ich habe doch das Taschenwörterbuch mit! Und übrigens, solltest du nicht etwas für deine Mutter besorgen?“ „Doch. Elektrische Birnen und eine Verlängerungsschnur. Gut, Grand-mère, das tue ich dann, während du weitere Leichtsinnigkeiten erledigst. Warte mal“, ich riß ein Blatt aus meinem Taschenkalender und kritzelte den Namen der Konditorei darauf. „Hier, Grand-mère. Falls du dich doch verlaufen solltest. Frage nach dieser Konditorei, die kennt jeder.“ „Ich brauche nicht zu fragen!“ behauptete Grand-mère, aber sie steckte doch den Zettel in die Tasche. „Und wenn wir uns dann treffen, lade ich dich zu einem Eis ein. Zu einem ganz großen – gemischtes Eis mit Früchten und Schlagsahne!“ Wenn etwas meine Lebensgeister wecken und meine Schritte beflügeln kann, dann ist es ein Versprechen auf Eisbecher mit Früchten! Also trennten wir uns. Ich merkte mir genau die Uhrzeit und wanderte zu meinem Elektrogeschäft. Ich hatte noch etwas zu erledigen: Ich wollte Mama ein ganz modernes Dampfbügeleisen zum Geburtstag schenken! Ich hatte monatelang etwas von meinem Taschengeld gespart und hoffte, daß es reichen würde. Ich habe es gerade noch geschafft. Als ich das Bügeleisen bezahlt hatte, betrug mein Vermögen noch genau fünfunddreißig Pfennige! Aber man braucht Zeit, um das richtige Bügeleisen zu finden. Jetzt mußte ich die Beine in die Hand nehmen, damit Grand-mère nicht auf mich warten mußte! Ich rannte los mit den beiden schweren Einkaufstaschen und dem Paket vom Elektrogeschäft und war eine Minute vor der verabredeten Zeit an der Konditorei. Weit und breit keine Grand-mère zu sehen. Ich stellte die Taschen neben mich an die Hauswand und wartete. Die Minuten vergingen, mein Eisbecherappetit wuchs.
Bald wuchs aber auch etwas anderes in meinem Inneren. Nämlich Angst. Es war Grand-mère gar nicht ähnlich, unpünktlich zu sein. Und sie hatte doch gesagt, daß das geheimnisvolle Geschäft, zu dem sie wollte, ganz in der Nähe war. Wir wären da vorbeigegangen. Um Gottes willen – der Großstadtverkehr war ihr fremd, kannte sie sich aus mit den Verkehrsampeln? War sie bei „Rot“ über die Straße gegangen? Oder hatte sie sich ganz verlaufen? Nach einer Viertelstunde war ich direkt verzweifelt. Oh, ich Schaf, warum hatte ich sie allein gehen lassen? Eine Einundachtzigjährige aus den Augen verlieren, in einer Stadt, die sie nicht kannte, in einem Land, dessen Sprache sie nicht beherrschte! Nach zwanzig Minuten war ich kurz vor dem Heulen. Aber… da! Da, um die nächste Ecke, erschien eine wohlbekannte Gestalt, sie winkte und lächelte, dann entdeckte ich, daß sie nicht allein war. Sie wurde von einer jungen Frau begleitet, die eine Sportkarre mit einem kleinen Kind (und einem Einkaufsbeutel mit dem Aufdruck „Ostasiatische Spezialitäten“) schob. „Denk dir, ma petite!“ berichtete Grand-mère mit strahlenden Augen. „Ich habe mich doch verlaufen! Dann fragte ich einen Herrn nach dieser Konditorei, er sah wirklich so aus, daß man erwarten müßte, er verstünde Französisch – und er verstand kein Wort! Dann kam diese reizende junge Dame und fragte im allerschönsten Französisch, ob sie mir behilflich sein könnte – und sie hat mir meine Tasche getragen, ich meine gefahren… Mademoiselle, dies ist meine Enkelin, ich meine Urenkelin Elaine, das arme Kind hat so lange auf mich gewartet…“ Ich kam gar nicht dazu zu fragen, wie man aussieht, wenn man Französisch spricht. Meine Augen waren auf die junge Frau gerichtet und auf das entzückende Kind in der Sportkarre. Jetzt reichte sie mir Grand-mères Beutel. „So, Madame, jetzt brauchen Sie mich nicht mehr. Es war sehr nett, mit Ihnen zu plaudern, ich habe so selten Gelegenheit dazu, Französisch zu sprechen.“ „Aber laufen Sie doch nicht gleich weg!“ unterbrach sie Grandmère. „Kommen Sie doch mit uns, ich lade Sie zu einem Eisbecher ein, und für die süße Kleine werden wir auch etwas finden.“ „Madame, es ist viel zu liebenswürdig.“ „Ich frage bloß, wer von uns ist liebenswürdig gewesen? Kommen Sie. ich möchte doch weiter mit Ihnen plaudern, und Elaine tut es auch gut. sich weiter im Französischen zu üben!“
Die junge Frau nahm das Kind aus der Sportkarre und faltete die Karre mit einem Griff zusammen. Kurz danach saßen wir an einem gemütlichen Ecktisch, und ich übersetzte mit Wonne die Bestellung! „Ich bin alt und neugierig“, sagte Grand-mère und sah das junge Mädchen lächelnd an. „Ich höre, daß Sie gebürtige Französin sind – wie in aller Welt sind Sie hier gelandet? Sind Sie ein Au-pair-Mädchen? Haben Sie einen Job als Kindermädchen in Deutschland, um die Sprache zu lernen?“ „Nein“, antwortete die junge Frau. „Ich wohne in Deutschland. Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater Franzose. Und ich bin auch kein Kindermädchen. Die Kleine ist meine Tochter.“ „Ach, da haben Sie aber früh geheiratet – genau wie ich!“ sagte Grand-mère. „Ich war achtzehn, als mein Erster geboren wurde. Aber Sie sehen noch jünger aus, Madame – ach, ich weiß ja gar nicht Ihren Namen! Ich heiße Bonassi, und dies ist… ach ja, das sagte ich, Elaine, mit Familiennamen Grather.“ „Sie können ruhig bei Mademoiselle bleiben, Madame“, sagte die junge Mutter. „Ich bin nicht verheiratet – und ich bin achtzehn. Ich war sechzehneinhalb. als Titine geboren wurde. Und ich heiße Simone.“ „Titine“, wiederholte Grand-mère. „Der Name erinnert mich ganz rührend an meine Jugend. Da war doch ein Schlager – Je cherche après Titine – ach, zu der Melodie habe ich mich verliebt. Ja, und dann ,Sur le pont d’Avignon’…“ Simone lächelte. „Ja, die Melodie stirbt wohl nie“, sagte sie. „Ich kenne sie besonders gut, ich bin in Avignon geboren.“ Da fiel Grand-mère der Eislöffel aus der Hand. „Was? Sie sind aus Avignon? Das bin ich ja auch! Da wohnte ich, bis ich nach Italien heiratete! Ach, mein schönes, liebes Avignon… meine Provence, mit den Rosen und den herrlichen Kastanien… und den wilden Pferden der Camargue. Das kennen Sie also alles, Simone?“ Simone nickte. „Ja, das kenne ich. Allerdings kam ich schon mit zwölf Jahren nach Deutschland, als meine Eltern geschieden wurden, aber ich habe jedes Jahr meinen Vater in Avignon besucht.“ Grand-mère und Simone plauderten weiter, ich hörte zu und beschäftigte mich mit Titine. Sie hatte eine rosa Eiskugel bekommen, und es machte mir Spaß, sie zu füttern. Wenn ich einen Augenblick zu lange wartete, kam eine helle kleine Stimme: „Titine
haben!“, und ein Händchen wurde in Richtung der Eiskugel ausgestreckt. Titine war entzückend. Allmählich verlor sie das Interesse für das Eis. Jetzt musterte sie mich, ihre Augen blieben an meiner Halskette hängen, und wieder kamen das kleine Händchen und die helle Stimme: „Titine haben!“ Ich nahm sie auf den Schoß, hakte die Kette aus und ließ sie damit spielen. Wie war sie süß, wie sie dasaß und strahlend die bunten Perlen durch die Hände gleiten ließ. Die Kette hatte ich von Marcus bekommen, und er hatte sie persönlich nach seinem eigenen Geschmack gekauft. Es war eine außerordentlich bunte Kette, aber zu einem Sommerkleid sah sie ganz lustig aus. Sollte Titine sie zerreißen, so wäre das kein allzugroßes Unglück – die Perlen waren aus Plastik und hatten einen entsprechenden Wert. Ich könnte beim Dorfkaufmann jederzeit neue kriegen. Während ich mit Titine spielte, horchte ich sozusagen mit halbem Ohr auf Grand-mères und Simones Gespräch. Grand-mère hat die merkwürdige Eigenschaft, anderen Menschen unbegrenztes Vertrauen einzuflößen. Ihre jungen, leuchtenden Augen strahlen so viel Güte aus, sie erzählen von einem Menschen, der die Freuden und Sorgen anderer teilen kann. Kein Wunder, daß Grand-mère überall beliebt ist! Ich mußte sie aber schließlich daran erinnern, daß wir versprochen hatten, rechtzeitig zu Mittag zu Hause zu sein. „Ach, ist es so spät? Nur einen Augenblick, ma petite, ich gehe schnell zum Kuchentisch, wir müssen doch ein paar Kuchen für Marcus… na ja, auch für deine Eltern mitbringen.“ „Soll ich dir helfen, Grand-mère?“ „I wo. das schaffe ich per Fingersprache. Sag nur schnell was ,envelopper’ heißt!“ „Einpacken!“ „Ach ja, richtig, das wußte ich ja eigentlich. So, ich komme gleich zurück!“ Ich kannte Grand-mères „gleich“. Das war ein dehnbarer Begriff wenn sie etwas gegenüberstand, das sie interessierte. Und jetzt war sie tief versunken in die Qual der Wahl zwischen Nußtorte und Kirschtorte, Obstkuchen und Sahnerollen, Quarktorte und Windbeuteln. Simone lächelte. „Wie ist Ihre Großmutter doch reizend!“ sagte sie, und jetzt sprach sie deutsch. „Das ist sie – aber sie ist nicht meine Großmutter, sondern meine
Urgroßmutter!“ „Ach ja, jetzt erinnere ich mich – sie sagte ja Urenkelin. Ich wünschte. ich hätte eine solche Urgroßmutter! Sie bat mich um meine Anschrift, ich gebe sie Ihnen.“ Simone schrieb schnell ein paar Zeilen auf die Papierserviette. „Und Sie heißen Grather und wohnen in Rosenbüttel, das weiß ich schon.“ „Was hat Grand-mère für Pläne mit Ihnen?“ „Sie will sich umhören, ob jemand vielleicht einen Job für mich hat. Und dann sagte sie freundlicherweise, daß sie mich gern wieder treffen möchte!“ „Das möchte ich auch! Und besonders gern möchte ich Titine wiedersehen! Die könnte ich direkt klauen!“ „Das brächten Sie nie übers Herz“, lächelte Simone. „Sie würden nie einem Menschen das Liebste, das er besitzt, stehlen!“ Sie sagte es lächelnd, aber in ihrer Stimme war etwas, das mich aufhorchen ließ. Jetzt erschien Grand-mère mit einem überdimensionalen Kuchenpaket. „Grand-mère!“ rief ich. „Glaubst du, daß ich ein Tintenfisch mit acht Armen bin? Wie sollen wir das alles mitkriegen?“ „Wir laden es auf die Sportkarre“, sagte Simone. „Ich bringe Sie zum Bus!“ Ich hatte gerade noch Zeit, zu Hause anzurufen und zu bitten, daß Marcus uns mit Mamas Einkaufsroller an der Bushaltestelle abholte. Am Bus verabschiedeten wir uns von Simone und Titine. Simone nahm das Kind auf den Arm, und beide winkten uns zu, als der Bus sich in Bewegung setzte.
Die Überraschungen nehmen kein Ende Grand-mère war ganz aufgekratzt. Erstens darüber, daß eine so reizende junge Frau ihr geholfen hatte – sie hatte wohl im Vorbeigehen gehört, daß Grand-mère sich vergeblich bemüht hatte, den Weg zu unserer Konditorei zu erfahren –, zweitens weil das hilfsbereite junge Mädchen aus derselben Stadt kam wie sie selbst – und drittens, und ich glaube, dieser Grund war der wichtigste: Ein junger Mensch brauchte Hilfe. Und Hilfe sollte sie haben, da war Grand-mère fest entschlossen, so wahr sie Elaine Désirée Bonassi hieß! Erst am Kaffeetisch kamen wir so weit zur Ruhe, daß Grand-mère zusammenhängend erzählen konnte. „Ja, wißt ihr, die kleine Simone ist ganz auf sich selbst angewiesen, sie muß sich selbst und das Kind versorgen. Sie hat ja ihre Mutter in Hamburg, aber sie arbeitet auch schwer. Simone hat allerlei Jobs gehabt, sie hat sich vor keiner Arbeit gescheut, wenn sie bloß das Kind bei sich haben konnte. Diese Anstellung in Hannover bekam sie durch eine Zeitungsanzeige. Sie hat ein paar Monate im Haushalt gearbeitet, jetzt ist die Familie in Urlaub, und Simone hütet ein. Sie betreut zwei Wellensittiche und ein großes Aquarium und eine Unmenge Zimmerpflanzen, nimmt Telefonate entgegen und so was. Aber wenn die Familie in vier Wochen zurückkommt, ist es aus, dann wird sie nicht mehr gebraucht. Wenn sie keinen neuen Job kriegt, muß sie zu ihrer Mutter. Da bleibt sie dann und lebt von dem, was sie während ihrer Jobs gespart hat, bis sie eine neue Arbeit findet.“ „Gibt es denn keinen Menschen, der sich um das Kind kümmern könnte, so daß die arme Simone eine regelmäßige Arbeit – also, eine feste Anstellung – annehmen könnte?“ Es war Mama, die fragte. „Anscheinend nicht. Ihre Mutter ist selbst berufstätig. Wenn Titine ein bißchen älter wird, könnte sie in einen Kindergarten kommen, aber vorläufig muß Simone sich selbst um sie kümmern. Und du sprichst von einer Anstellung, ma petite. Denk daran, daß das Mädchen mit sechzehneinhalb Mutter wurde. Sie hat also keine Berufsausbildung, wahrscheinlich auch keinen Schulabschluß!“ Papa dachte mit gerunzelter Stirn nach. „Was kann sie, außer Französisch?“
„Ein nicht fließendes, aber brauchbares Englisch, erzählte sie. Und das ist alles, was ich über sie weiß. Wenn man ihr bloß helfen könnte! Ihr müßt es euch auch überlegen, ob ihr einen Ausweg finden könnt. Ich mochte das junge Mädchen so gern – und du doch auch, ma petite?“ Diesmal war ich die petite. Ich nickte eifrig. „Ja. ich mochte sie furchtbar gern. Sie hat so schöne Augen – große, ernste Augen, die von Kummer erzählten, und sie war so unsagbar liebevoll zu der kleinen Titine…“ „Jedenfalls möchte ich sie wiedertreffen“, sagte Grand-mère entschlossen. „Ich möchte in Kontakt mit ihr bleiben!“ Der Anfang dieses Kontakts wurde schon am folgenden Tag gemacht. Da kam ein Brief für mich an, ein dicker Brief, an Fräulein Elaine Grather, Rosenbüttel adressiert. Also eine etwas unvollständige Adresse, aber Frau Henning an der Post ließ schließlich ihre Kleider von Mama nähen. Sie wußte Bescheid über Familie Grather! Der Brief kam aus Hannover. Als ich ihn öffnete, fiel ein kleines Schächtelchen heraus. Darin lag – meine Plastik-Halskette! Dabei hatte ich sie gar nicht vermißt! Liebe Elaine Grather! Als ich soeben nach Hause kam, fand ich Ihre Halskette in der Sportkarre. Ich bitte tausendmal um Entschuldigung für meine diebische Tochter! Ich denke so sehr an unsere nette Begegnung. Für mich war es ein ganz großes Ereignis, von dem ich in meiner Einsamkeit lange zehren werde. Grüßen Sie bitte Ihre entzückende Urgroßmutter. Ich glaube, sie ist ein ganz seltener Mensch – möge sie noch lange leben. Diese Welt könnte mehr solche Menschen brauchen. Viele Grüße von der Diebin Titine und Ihrer Simone. „So ein rührender kleiner Brief“, sagte Mama, als ich ihn ihr zeigte. Dasselbe sagte Grand-mère, als ich ihr den Brief übersetzt hatte. Sie dachte einen Augenblick nach, den Rührlöffel in der Hand und ihr mitgebrachtes französisches Kochbuch aufgeschlagen auf dem Küchentisch. Sie war dabei, ein feudales Essen zu Ingos Besuch
vorzubereiten. „Ach, Kinder, wißt ihr was – können wir nicht die kleine Simone einladen? Wenn ein Stündchen in einer Konditorei mit einer uralten Frau ein Erlebnis ist, was würde es dann für sie bedeuten, einen ganzen Tag mit einer lieben, herzensguten, fröhlichen Familie zusammenzusein! Was meinst du, ma petite?“ Diesmal war Mama die petite. „Hast du nicht ein paar Adjektive vergessen, Grand-mère?“ schmunzelte Mama. „Du sagst nur lieb, herzensgut und fröhlich – da fehlen doch bezaubernd, entzückend, hinreißend, großartig, genial…“ „…und unverschämt“, ergänzte Grand-mère. „Also, was meinst du?“ „Dasselbe wie du, wie immer, du alter Familientyrann“, lächelte Mama und küßte Grand-mères Wange. – „Ihr sagtet doch, daß Simone Telefongespräche entgegennehmen muß, also haben diese Leutchen Telefon. Ruf doch an, Elaine, lade Simone mit Anhang zum Dienstag ein. Bis dahin ist wohl dein lästiger Bräutigam wieder weg?“ „Und wir haben noch reichlich Zeit, um die Geburtstagsfeier für seine lästige Schwiegermutter vorzubereiten. Gut, ich rufe an!“ Simone freute sich so, daß ihre Stimme zitterte. „Oh, wie schön, nein, wie freue ich mich, das ist aber reizend von euch. Ich werde die Stunden und Minuten zählen! Wann sollen wir kommen?“ „Zum Frühstück“, sagte ich ohne Zögern. „Die Viecher können doch von morgens bis abends allein zurechtkommen? Sie müssen eben einen Haufen Futter frühmorgens hingelegt bekommen. Also, wir erwarten Sie dann mit dem Bus, der Viertel vor neun hier ankommt, dann kommen wir gerade pünktlich zum Frühstück um neun. Ja, natürlich hole ich euch am Bus ab! Ja richtig, was mag Titine am liebsten essen?“ „Oh, sie ist Allesesser, bloß keine allzu gewürzten Sachen!“ „Ich werde Grand-mère sagen, daß sie sich beherrschen muß und ihre ostasiatischen Höllengewürze für später aufhebt. Also, herzlich willkommen, Simone, wir freuen uns auf Dienstag!“ „Und ich erst!“ klang eine etwas unsichere Stimme aus dem Hörer. Es war, als hätte Simone einen Kloß im Hals. „Und ich erst!“ „So“, sagte ich, als ich den Hörer aufgelegt hatte. „Jetzt melde ich mich ab, ihr müßt ohne mich zurechtkommen.“
„Was hast du denn vor?“ fragte Grand-mère. „Ich dachte, du würdest mir in der Küche helfen, ein neues und sehr schönes Gericht kennenlernen und das Rezept aufschreiben?“ „Heute kann ich nicht, liebste Grand-mère. Ich muß doch das Zimmer für meinen Herzallerliebsten richten!“ „Gut, das sehe ich ein“, nickte Grand-mère. „Wann kommt er?“ „Irgendwann heute nachmittag. Dein Wundergericht müssen wir also bis heute abend aufheben.“ Grand-mère strahlte. „Großartig! Dann muß ich ja auch zu Mittag etwas kochen, etwas Leichtes, mal sehen…“ Schon hatte sie ihr geliebtes Kochbuch aufgeschlagen, setzte die Lesebrille auf und war für die nächsten Stunden nicht ansprechbar. Ich holte Bettwäsche, Staubtuch, eine Tischdecke und was man sonst so braucht, wenn man aus einer Filmwerkstatt ein halbwegs gemütliches Schlafzimmer zaubern will. Bisken blieb mir auf den Fersen. Während ich aus der Couch ein einladendes Bett machte, während ich aufräumte und Staub wischte, plauderte ich mit meinem Hündchen. Er zeigte durch andauerndes Schwanzwedeln, daß er es schätzte, und tat so, als verstünde er jedes Wort! „Was glaubst du, Bisken, wird Ingo zu meinen neuen Zukunftsplänen sagen?“ fragte ich. „Er glaubt, daß ich ein oder zwei Jahre Töpfern lernen werde, und dabei habe ich ein Studium von sechs Jahren vor mir. Und ein Jahr als tierärztliche Assistentin. Aber dann, Bisken – dann!!! Weißt du was? Wenn Mama und Papa und Marcus zurück nach Frankfurt müssen, und das müssen sie ja irgendwann, dann bleiben wir hier, du und Ingo und ich. Und aus diesem Häuschen hier machen wir ein Wartezimmer und ein Sprechzimmer und einen Röntgenraum, und dann verarzte ich Wauwaus und Muschis und Meerschweinchen und Wellensittiche! Glaubst du, daß hier in unserer Gegend so viele Kleintiere sind, daß meine Praxis sich lohnen wird, Bisken? Ja, im Sommer ganz bestimmt, dann kommen all die Landhausbesitzer hierher und bringen ihr Viehzeug mit – aber im Winter? Na, das wird sich alles finden. Hauptsache ist, ich mache mein Studium. Du, das wird was, Bisken! Ich werde vor Stolz platzen, wenn ich so ein feines Schild an die Tür machen kann, mit ,Dr. med. vet. Elaine Grather…’ Ach nein, da wird ja ,Elaine Moorhof-Grather’ stehen. Bis dahin bist du ein alter, vernünftiger Hund geworden, Bisken! Glaubst du, daß du jemals vernünftig wirst, du kleiner Nichtsnutz?“
So unterhielten Bisken und ich uns bestens, während ich mit viel Liebe das Zimmer richtete, bis der Gong uns klarmachte, daß Grandmères „leichtes Mittagessen“ fertig war. Wir rannten um die Wette zurück zum Haus. Es dürfte überflüssig sein zu erwähnen, daß Bisken den Wettlauf gewann! Nach dem Mittagessen hielt Grand-mère ihre ausgiebige und wohlverdiente Mittagsruhe. Das war ihr zu gönnen, sie hatte den ganzen Vormittag mit Leidenschaft in der Küche gearbeitet. Die Eltern zogen sich auch zurück, Marcus verschwand mit unbekanntem Ziel. Also saß ich allein da und guckte auf die Uhr und sehnte mich nach Ingo. Was hatte ich ihm diesmal alles zu erzählen! Natürlich vor allem von meinen Zukunftsplänen, aber auch von Simone. Ich freute mich auf Simones Besuch – und ich gebe zu, daß ich auch neugierig war. Ihre Titine war bestimmt kein Wunschkind gewesen, es war wohl ein Druckfehler, wie mein Onkel Ferdinand im Wallis sich ausdrückt. Aber daß Simone das Kind über alles liebte, das war mir klar. Sie war so offen zu Grand-mère gewesen, hatte ungehemmt erzählt – aber mit keinem Wort hatte sie Titines Vater erwähnt. Und es war klar, daß sie von ihm keine Unterstützung bekam, sonst hätte sie nicht so viele und große finanzielle Schwierigkeiten gehabt. Wie war es bloß möglich, daß ein Mann ein so reizendes Mädchen wie Simone hatte sitzenlassen? Vielleicht war er verheiratet und hatte ihr das verschwiegen? So was kam ja vor. Mit sechzehneinhalb hatte sie Titine auf die Welt gebracht. Also war sie damals höchstwahrscheinlich noch zur Schule gegangen. Ein Mädchen, das seine Ausbildung unterbrechen mußte. Die kleine Titine hatte ihrer Mutter die ganze Zukunft verbaut. Simone mit ihren klugen Augen, mit ihren Sprachkenntnissen, mit ihren vielen Möglichkeiten – sie kämpfte sich mit Hilfe von zufälligen Jobs durch – statt eine Lehre, ein Studium, eine gute Ausbildung zu bekommen. Ja, ich war neugierig. Ich wollte furchtbar gern mehr über Simone wissen. Simone, die ihr Kind über alles liebte und es so teuer bezahlt hatte! Ja, wenn sie am Dienstag kam, wollte ich… hoppla! Bisken rannte zur Tür, er kratzte und bellte und hopste, piepste und zeigte die allerhöchste Aufregung. Sein feines Tierohr hatte schon etwas gehört, bevor ich mit meinen lächerlichen Menschenohren es mitgekriegt hatte: das Geräusch von einem, uns
beiden wohlbekannten Auto! Bisken und ich liefen um die Wette durch die Einfahrt, auf die Straße – und da kam Ingos kleine grüne Ente angerollt! Zehn Minuten später saßen wir gemütlich zusammen in Ingos Zimmer, das heißt also, in der Filmwerkstatt. Ich hatte schon im voraus ein Kaffeetablett mit einer verschwenderischen Menge Kuchen – von Grand-mères Spitzenqualität – zurechtgemacht. Noch hatten wir eine Stunde für uns, bevor die schlafende Familie sich zeigen würde. Und wie wir die Stunde ausnutzten! Nicht nur für Liebkosungen und zärtliche Worte, sondern auch für Fragen und Erzählen. Ingo horchte mit großen Augen, als ich ihm von meinen geänderten Zukunftsplänen erzählte. Und es zeigte sich, daß ich recht gehabt hatte, als ich meinen Eltern sagte, Ingo hätte bestimmt nichts dagegen, mit einer Tierärztin verheiratet zu sein. „Ich finde es großartig, Lillepus!“ versicherte er. „Aber es wird ein tolles Arbeitsjahr für dich bedeuten, denn es soll irrsinnig schwer sein, an der Veterinärhochschule in Hannover aufgenommen zu werden!“ „Ich weiß! Aber siehst du, nun habe ich mein Leben lang, oder jedenfalls meine Schulzeit lang zu hören bekommen, ,du könntest, wenn du wolltest!’ Das sagten die Lehrer, das sagten meine Eltern, wenn meine Zeugnisse etwas zu wünschen übrig ließen. Immer hieß es, ,du könntest, wenn du wolltest’ – und jetzt will ich! Ich will wirklich! Ich werde mich durch nichts abhalten lassen – das heißt, nur von dir!“ Ingo legte den Arm fester um mich. „Und dabei bin ich gerade der Mensch, der dich am allerwenigsten stören wird. Ich werde es einfach nicht tun können. Denn ich werde im September für etwa drei Monate verreisen.“ „Was willst du, du altes Ungeheuer?“ „Verreisen. Fliegen. Verschwinden. Zusammen mit meinem Schweizer Professor, dem wir zu verdanken haben, daß wir uns damals auf Kreta trafen.“ „Aber wo fliegst du hin? Wieder nach Kreta?“ „Von wegen! Kreta liegt sozusagen direkt vor meiner Wohnungstür, im Vergleich mit der Entfernung zu meinem neuen Reiseziel. Ich fliege nach Yucatan.“ „Yuca… ach, wenn ich nur in den Geographiestunden etwas besser aufgepaßt hätte! Yucatan, warte mal, das liegt doch irgendwo
in Amerika?“ „Nicht irgendwo – es ist eine Halbinsel, die die Nase in den Golf von Mexiko reinsteckt.“ „Und was willst du da machen?“ „Buddeln, studieren. Aufzeichnungen machen und die alte Mayakultur kennenlernen. Und außerdem tüchtig schwitzen. Es soll eine Mordshitze dort sein. Ja. und mich nach meinem Mädchen in Rosenbüttel sehnen.“ „Ja. darum möchte ich auch sehr bitten! Aber Ingo, es ist ja furchtbar – sagtest du drei Monate? Kommst du dann jedenfalls Weihnachten zurück?“ „Ja. gerade noch. Und du hast Arbeitsruhe und kannst dich ganz und gar auf deine Schularbeiten konzentrieren. Du mußt es schaffen, die Beste der Klasse zu werden!“ „Himmel, was habe ich mir bloß vorgenommen! Aber sag nun, wieso hat der Professor ausgerechnet dich auserwählt? Braucht er einen Assistenten, oder…?“ „Warum er mich auserwählt hat? Und das fragst du? Warum hast du mich denn auserwählt? Natürlich, weil ich ein netter und freundlicher und intelligenter…“ „…und bescheidener“, unterbrach ich. „…und interessierter junger Archäologe bin. Außerdem, weil ich den Professor fahren und die anstrengendsten Dinge auf meine starken Schultern laden kann. Mein Professor ist zweiundsiebzig, du kannst nicht von ihm verlangen, daß er stundenlang bei sengender Hitze im Yucataner Kalksteinboden buddelt, womöglich auf den Knien liegend. So was überlaßt er mir. Im Ernst, Lillepus. Dies ist für meine Arbeit und meine Zukunft ungeheuer wichtig. Ich habe mir ja immer gewünscht, die Mayakultur näher kennenzulernen. Und wenn ich denke, daß ich jetzt selbst, persönlich, Ausgrabungen machen darf!“ „Hoffentlich findest du auch etwas“, sagte ich. „Also, nicht nur Unkraut und Steine, so wie hier, als du unseren Garten umgegraben hast!“ „Das war mit Abstand die schönste Arbeit, die ich jemals gehabt habe“, sagte Ingo. „Und mir können alle alten Mayaschätze gestohlen bleiben im Vergleich mit dem Schatz, den ich durch die Gartenarbeit hier gefunden habe!“ Was weiter zu diesem Anlaß gesagt wurde, geht nur Ingo und mich an.
Der Gong tönte durch den Garten. Die Familie war endlich wach. Kurz danach tranken wir zum zweitenmal Kaffee und aßen noch mehr von Grand-mères Superkuchen. Ingo hatte gerade meinen Eltern von seiner bevorstehenden Reise erzählt, als Grand-mère erschien. Ausgeruht, lächelnd, mit wachen, strahlenden Augen und einer feinen Röte in den Wangen. Ingo sprang wie ein Blitz vom Sessel hoch, eilte Grand-mère entgegen und küßte ihr die Hand. Was er sagte, verstand ich nicht, denn er sprach Italienisch. Das konnte ja gut werden! Wir würden dieses Wochenende ein sprachliches Durcheinander erleben! Grand-mère und Ingo italienisch. Grand-mère, Papa und ich französisch, Papa und Mama unter sich norwegisch. Mama außerdem französisch und italienisch – je nachdem – und ab und zu würden wir uns beim Deutschsprechen ausruhen können! Mein einziger Trost war, daß Ingo nur wenig Italienisch konnte! Aber die paar Worte, die er an Grand-mère richtete, waren anscheinend gut gewählt, denn sie strahlte wie die Sonne und teilte mir nach zwei Minuten auf französisch mit, daß sie meinen Auserkorenen reizend, charmant und äußerst sympathisch fände! „Grand-mère“, schmunzelte Mama. „So habe ich dich nicht gesehen, seit ich mich mit Asbjörn verlobte!“ Grand-mère lächelte ihr verschmitztes Jungmädchenlächeln. „Ja, siehst du“, schmunzelte sie. „Das war nämlich auch Liebe auf den ersten Blick!“ Dies kam auf französisch. Ingos französische Sprachkenntnisse sind leider sehr mangelhaft, aber nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, hatte er diesen Satz verstanden. Es wurde ein urgemütlicher Nachmittag. Mama erzählte Grandmère von Ingos Reiseplänen, Papa und ich unterhielten uns über die Tatsache, daß ich in diesen Monaten nichts, aber wirklich gar nichts haben würde, was mich von der Schularbeit ablenken könnte, und Marcus fragte Ingo nach Cora und erzählte von Biskens vielen Klugheitsbeweisen und Erlebnissen. Wer vollkommen uninteressiert war, war Kater Anton. Er lag friedlich schnurrend mit halboffenen Augen in der Sofaecke. Allmählich wurde es Zeit, den Tisch abzuräumen; Grand-mère erhob sich und verschwand zielbewußt in der Küche. Ich habe nie einen so kochfreudigen Menschen getroffen wie meine Urgroßmutter! Und jetzt sah ich ihr an, daß sie irgendeine besondere
Überraschung für den Abend plante. Dann klingelte das Telefon, und Papa ging ran. „Ach, guten Tag, Herr Feldmann… nein gar nicht, Sie stören überhaupt nicht…“ Während Papa sprach, schaltete er den kleinen Telefonlautsprecher an. Es ist so ein kleines batteriebetriebenes Etwas, das man mit einem Saugnapf ans Telefon klebt. Nachdem Papa sich einmal katastrophal verhört hatte – er hatte den Auftrag bekommen, in Mailand zu filmen, und erzählte uns freudig erregt, daß er nach Thailand sollte – also, danach schaffte er sich den kleinen Lautsprecher an, und Mama und ich hatten den Auftrag, seine Gespräche mit Feldmann, seinem Brötchengeber, mitzuhören. Also horchten wir. „Ja, passen Sie mal auf, Herr Grather. Ich habe einen großen und eigentlich sehr schmeichelhaften Auftrag für Sie, vorausgesetzt, daß Sie willens sind, Ihre Familie für zwei bis drei Monate zu verlassen!“ „Ich werde meine Frau fragen, ob sie mich so lange entbehren kann“, lächelte Papa. „Schießen Sie los, Herr Feldmann, ich bin neugierig!“ „Dazu haben Sie allen Grund! Also, ich bekomme soeben einen Brief aus der Schweiz, von einem Archäologen, der Ihren Film von den Ausgrabungen in Kreta gesehen hat. Er ist hell begeistert davon, was ich eigentlich gut verstehen kann, und jetzt fragt er, ob es möglich wäre, diesen Kameramann für eine Expedition nach Yucatan zu engagieren!“ „Was!“ schrien Mama, Ingo, Marcus und ich gleichzeitig. „Würden Sie das wollen, Herr Grather?“ „Es kommt ja ein bißchen plötzlich“, meinte Papa. „Aber natürlich würde es mich sehr interessieren.“ „Das freut mich. Nun ist es ja ein bißchen unpraktisch, daß der Leiter der Expedition ausgerechnet in der Schweiz sitzt, aber er hat einen sehr tüchtigen jungen Assistenten, mit dem Sie alles Notwendige besprechen könnten. Er befindet sich in Lübeck…“ „Sie irren sich, Herr Feldmann“, sagte Papa. „Er befindet sich in einem Sessel, drei Meter von mir entfernt. Sie sprechen doch von dem jungen Archäologen Ingo Moorhof?“ „Ja. sagen Sie, haben Sie schon… ich meine, wie in aller Welt kommt es, daß er sich bei Ihnen in Rosenbüttel befindet?“ „Eigentlich nicht bei mir, sondern bei meiner Tochter“, klärte Papa Herrn Feldmann auf. „Ingo Moorhof ist nämlich mein zukünftiger Schwiegersohn.“
„Was? Ist die kleine Elaine schon so groß? Sie war doch so ein niedliches kleines Ding, ein reizendes Kind…“ In dem Augenblick schaltete Papa den Lautsprecher aus!
Eine neue Freundin Es fehlte uns an diesem Wochenende nicht an Gesprächsthemen! Papa und Ingo saßen über Landkarten gebeugt, Ingo erzählte, was er durch Vorträge und Bücher von der Mayakultur wußte - und beide freuten sich anscheinend sehr darüber, daß sie gemeinsam diese interessante Expedition mitmachen würden. „Daß du nur gut auf Ingo aufpaßt, Papa!“ ermahnte ich. „Ingo, paß gut auf Asbjörn auf!“ bat Mama. „Ich freue mich natürlich für euch, aber es ist doch schrecklich, drei ganze Monate den Ehemann entbehren zu müssen!“ „Was soll ich denn sagen?“ fragte ich. „Du entbehrst nur einen einzigen Mann, und ich entbehre sowohl meinen lieben Papa als auch meinen herzallerliebsten Auserkorenen!“ „Und wie soll es uns nun ergehen, ohne einen Mann im Haus?“ sagte Mama bekümmert. Da erhob mein Bruder seine Stimme. „Du hast doch mich, Mama! Ich bin zwar klein, aber ich bin doch schon fast ein Mann!“ „Das bist du, Marcus!“ stimmte Mama zu und legte liebevoll den Arm um den halben Mann. „Und ich werde öfter deine Hilfe brauchen, da kannst du sicher sein!“ „Ich kann Nägel einschlagen!“ verkündete Marcus. „Und lockere Schrauben zuziehen, und Pflöcke für den Gemüsebeetzaun einschlagen!“ Marcus war bei seinem Vater in der Handwerkslehre gewesen und wußte genau, bei welchen Gelegenheiten Mama praktische Hilfe brauchte! In solchen Augenblicken wird es mir klar, daß ich eigentlich einen ganz goldigen kleinen Bruder habe! „Und wenn wir zurückkommen“, sagte Papa, „dann ist Elaine die Beste in ihrer Klasse, weil sie den ganzen Herbst nichts hat, das sie von der Schularbeit ablenken kann!“ Wenn Papa eine Ahnung gehabt hätte! Und ich, und wir alle – wenn wir in die Zukunft hätten sehen können! „Was hast du eigentlich für einen merkwürdigen Beruf, Ingo“, sagte ich. Wir hatten uns für ein Weilchen in sein Zimmer, also in Papas
Filmwerkstatt, zurückgezogen, um ein bißchen allein zu sein. Jetzt, wo ich wußte, daß ich ihn so lange entbehren mußte, war mir jeder Augenblick mit ihm allein noch teurer. „Wieso merkwürdig?“ fragte Ingo. „Ich meine, so vielseitig! Dein Beruf gleitet sozusagen rüber in die Kunstgeschichte – und Religionsgeschichte und Alterstumskunde – und Altgriechisch und Hieroglyphen und Sanskrit, und was es nun alles heißt…“ Ingo lächelte. „Ja, das stimmt schon. Mit Buddeln allein ist es nicht getan. Es ist ein sehr umfassendes Studium, und erst wenn man es geschafft hat, wird einem klar, wie wenig man weiß, und wieviel man noch zu lernen hat!“ „Und nun wirst du also in Yucatan weiterlernen?“ „Das hoffe ich sehr! Weißt du, Lillepus, wenn ich versuchen werde, eine Anstellung an einem Museum zu kriegen, dann… ja, dann gibt es nichts in meinem Fach, das ich nicht brauche! Wenn ich mich auch in der Mayakultur auskenne, wird das ein sehr großes Plus sein!“ Ich seufzte abgrundtief. „Nun ja, also alles für die Zukunft – für unsere Zukunft! Ich sehe dich schon vor mir als Universitätsprofessor…“ „Und ich dich als hochgeschätzte Tierärztin, mit einer eigenen Praxis hier in Rosenbüttel!“ „Und wir werden hier in unserem eigenen Haus wohnen, und vielleicht können wir mit der Zeit so viel anbauen, daß ich meine eigene Kleintierklinik bekomme!“ „Aber bis dahin haben wir einen weiten Weg vor uns, Lillepus. Und zum Universitätsprofessor einen noch weiteren! Vorläufig muß ich buddeln und du pauken. Übrigens, hast du vor, deine Eltern aus dem Haus zu schmeißen? Du sprichst immer davon, daß du und ich allein hier wohnen werden!“ „Irgendwann muß Papa ja zurück nach Frankfurt“, erklärte ich. „Ich bete und hoffe nur, daß er so lange hierbleiben kann, bis wir heiraten, und bis wir es uns finanziell leisten können, im eigenen Haus zu wohnen!“ „Also, wie gesagt: Buddeln und pauken!“ wiederholte Ingo, und um seinen Worten richtigen Nachdruck zu geben, gab er mir einen innigen Kuß. Die Stunden flogen nur so dahin, und am Sonntag abend hieß es Abschied nehmen. „Wann kommst du wieder, Ingo?“ fragte Mama.
„Wenn ich darf, in einer Woche“, sagte Ingo. „Ich möchte doch den Geburtstag meiner lieben Schwiegermutter mitfeiern!“ „Ach du liebe Zeit, meinen Geburtstag! Den hatte ich jetzt total vergessen! Ja, komm, Ingo, du darfst gern meinen Geburtstag als Vorwand benutzen!“ Als Ingo sich von Grand-mère verabschieden wollte, küßte er ihr wieder die Hand. Aber Grand-mère legte ihm die Arme um den Hals, und er mußte den Kopf neigen, damit sie ihm beide Wangen küssen konnte. Dabei sagte sie ihm etwas auf italienisch – etwas, das ich nicht verstand, aber Ingos Gesichtsausdruck verstand ich! Wetten, daß Grand-mère so ungefähr gesagt hatte: „Ich freue mich so sehr, daß meine kleine Elaine einen so netten und sympathischen Mann gefunden hat!“ Dann noch einen letzten Kuß – die Familie hatte sich dezent zurückgezogen, damit Ingo und ich die letzten Minuten für uns hatten – und dann verschwand die kleine grüne Ente um die Ecke. Sei vernünftig, Elaine, sagte ich streng zu mir selbst. Eigentlich ist alles gut so. Ingo kriegt drei Monate, die für sein Fach und seine Zukunft ungeheuer wichtig sind, und ich werde sozusagen die Ärmel hochkrempeln und mit voller Kraft für mein großes Ziel arbeiten. Ja. Alles war eigentlich gut und richtig und erfreulich! Aber du lieber Himmel, wie würde ich mich nach ihm sehnen! „Papa“, sagte ich, als ich wieder mit der übrigen Familie im Wohnzimmer saß. „Eigentlich bist du ein sehr kluger Mann!“ „Und das entdeckst du erst jetzt!“ Papa schmunzelte. „Darf ich fragen, wieso du plötzlich zu dieser Erkenntnis gekommen bist?“ „Ich denke an dein überzeugendes Argument, als wir davon sprachen, daß ich das Abitur machen sollte. Ich weiß genau, was du sagtest: Besser etwas zu haben, was man nicht braucht, als etwas zu brauchen, was man nicht hat. Jetzt werde ich das Abitur brauchen – und wie! Im Grunde bist du ein Goldstück, Paps!“ „Das weiß ich seit zwanzig Jahren“, kam es leise von Mama. „Eigentlich…“, sagte ich langsam und nachdenklich, „eigentlich ist es sehr schön, einen festen Zukunftsplan zu haben. Ein klares Ziel, wofür man arbeiten kann. Wißt ihr, ich denke so oft an Simone. Sie hat ja ihre ganze Zukunft verbaut – ich ahne allerdings nicht, was für Pläne sie ursprünglich hatte, aber jedenfalls ist es mir klar, daß die kleine Titine alles über den Haufen geworfen hat.“ „Ich bin sehr gespannt auf Simone“, sagte Mama. „Grand-mère
hat Menschenkenntnis und einen sicheren Instinkt, und wenn sie sich für einen Menschen sozusagen auf Anhieb begeistert, dann ist es gewöhnlich ein guter Mensch!“ „Unbedingt!“ stimmte ich zu. „Denk nur daran, wie sie sich gleich mit Ingo angefreundet hat!“ „Nun ja“, meinte Mama. „Man braucht kein begnadeter Menschenkenner zu sein, um festzustellen, daß dein Ingo ein prima Kerl ist!“ „O Mama, das werde ich Ingo wörtlich weitersagen! Weißt du noch, den Tag, als wir ihn kennenlernten – und die nächsten Wochen – ach, wie war alles schön! Und jetzt ist es genau ein Jahr her…“ Hier wurde ich von Bisken unterbrochen. Er sprang auf meinen Schoß und machte einen Vorstoß, um meine Nasenspitze mit seiner Zunge zu erreichen. „Ja, ja, Bisken, du gehörst auch dazu!“ sagte ich und kraulte ihn hinter dem Ohr. „Du und Ingo, ihr kamt gleichzeitig in mein Leben! Mein kleiner Hund und meine große Liebe!“ Nun erschien Grand-mère mit den leuchtenden Augen, die immer verraten, daß sie dabei ist, irgendein kulinarisches Meisterwerk zu planen. „Ma petite“ (diesmal war ich gemeint), „Simone ist ja Halbfranzösin – ob sie nicht gern französisch ißt?“ „Bestimmt, Grand-mère! Was hast du vor?“ „Ich dachte an Weinbergschnecken Bourguignonne, und dann Hammelkoteletts Murillo – und als Nachtisch Mokka-Eis in Baisers.“ „Grand-mère“, mischte Mama sich ein. „Du hast mir Weinbergschnecken als Geburtstagsessen versprochen, warte doch die paar Tage damit! Und deine Hammelkoteletts – wie nanntest du sie – war es Goya oder El Greco – ach nein, Murillo – also, die werden bestimmt so himmlisch schmecken, daß wir es bedauern würden, wenn wir etwas von unserem Appetit durch eine Vorspeise verlieren würden!“ „Nun ja, wenn du meinst“, sagte Grand-mère zögernd. „Dann muß ich eben… ach ja, ma petite (diesmal war Mama die petite), wo hast du deine Pfeffermühle?“ „Ich besitze keine. Grand-mère“, sagte Mama schuldbewußt. „Ich kaufe fertig gemahlenen Pfeffer.“ „Und du willst meine Enkelin sein!“ seufzte Grand-mère und zog sich enttäuscht zurück in die Küche. Ich würde meine Hand ins
Feuer legen, daß Mama zum Geburtstag eine Pfeffermühle als Extrageschenk bekommen würde! Es war Dienstag, und ich war rechtzeitig an der Bushaltestelle. Als der Bus kam, winkten Simone und Titine schon vom Fenster, und sie waren die ersten, die ausstiegen. „Willkommen, Simone! Willkommen, Titinchen!“ Ich mußte die Kleine schnell in die Arme nehmen und sie an mich drücken. „Gib mir deine Tasche, Simone, du hast genug mit deiner Tochter!“ Simone lächelte. „Wie nett, daß Sie… daß du gleich du sagst, Elaine!“ „Oh, habe ich das getan? Entschuldigung, es kam mir wohl so ganz natürlich vor!“ „Großartig! Und warum sollten wir uns siezen, du bist doch erst siebzehn und ich achtzehn!“ „Aber du bist eine würdige Mutter!“ meinte ich. „Würdig ist das richtige Wort! Ach, ich habe mich so schrecklich über eure Einladung gefreut, es ist für Titine und mich ein großes Ereignis! Nun bin ich so gespannt auf deine Eltern und dein Brüderchen und euer Haus!“ „Du vergißt das Wichtigste – meinen Hund! Er ist nämlich die Hauptperson des Hauses! Übrigens darfst du nicht ,euer’ Haus sagen, es gehört nämlich mir – ja, mir persönlich!“ Dann mußte ich natürlich erzählen, wie ich Hausbesitzerin geworden war, wie die gute Tante Elsbeth mir das Haus vermacht hatte. Ich schaffte es gerade noch, meinen Bericht zu beenden, bis wir unser Gartentor erreicht hatten, und die Hauptperson des Hauses uns wild schwanzwedelnd entgegenrannte. „Der ist ja süß!“ lächelte Simone. „Aus seiner Rasse werde ich allerdings nicht schlau, aber das spielt ja keine Rolle.“ „Bisken ist ein Fehltritt“, erklärte ich. „Seine Mutter ist ein reinrassiger Lakelandterrier, aber sie hat sich auf ein unerlaubtes Abenteuer eingelassen, wie du siehst!“ „Unerlaubte Abenteuer sollen ja hin und wieder vorkommen“, sagte Simone mit einem kleinen Lächeln. „In dem Punkt habe ich gewisse Erfahrungen!“ Ich wußte keine Antwort darauf, aber das war auch nicht nötig, denn jetzt ging die Tür auf, und Mama kam uns entgegen. Titine wurde aus der Sportkarre geholt. Da stand sie, guckte Mama an, und plötzlich reckte sie ihre Armchen hoch.
„Titine will Küßchen geben!“ Mama nahm sie auf den Arm, und die Kleine schmiegte sich an sie und gab ihr ein kleines feuchtes Küßchen auf die Wange. „Nein, so was!“ rief Simone. „So habe ich Titine nie gesehen!“ „Siehst du, Kinder haben Instinkt“, nickte ich. „Alle kleinen Kinder rennen zu meiner Mutter und fühlen sich bei ihr geborgen.“ „Das kann ich gut verstehen“, sagte Simone leise. Ihre Augen ruhten auf dem Kind in Mamas Armen. Sie sagte nichts weiter, aber ihr Gesicht hatte einen glücklichen Ausdruck. Jetzt erschien Grand-mère und reichte Simone beide Hände. „Wie nett, Sie wiederzusehen, Mademoiselle Simone, Sie, mein Retter in der Not! Erzählte ich dir, ma petite (diesmal war es Mama), daß Mademoiselle Simone mir nicht nur half, in Hannover zurechtzukommen, sie ging auch mit in das ostasiatische Geschäft und dolmetschte! Eine vorzügliche Dolmetscherin war sie!“ Simone lächelte, ein unergründliches kleines Lächeln. „Das hätte auch mein Beruf werden sollen“, sagte sie. „Hast du ihn denn aufgegeben?“ fragte ich. „Ja, jedenfalls vorläufig. Es ist eine lange und kostspielige Ausbildung. Ich hatte die Wahnsinnsidee, daß ich Simultandolmetscherin werden wollte. Solche Dolmetscherinnen sind gefragt und werden hoch bezahlt. Dann wäre ich für mein ganzes Leben versorgt gewesen.“ „Aber dann kam also Titine“, nickte ich. „Ja. Dann kam Titine.“ Es folgte eine kleine Pause, dann streichelte Grand-mère plötzlich Simones Wange. „So, nun wollen wir aber frühstücken! Auf deutsch! Hier gibt es keinen Milchkaffee mit einem trockenen Hörnchen dazu. Wenn ich das meiner Familie vorsetzen würde, gäbe es Krach! Wo ist Asbjörn?“ „Hier!“ Papa kam gerade zur Tür herein, mit einem Korb voll Apfel in der Hand. „Guck, all die Falläpfel habe ich gesammelt! Willkommen bei uns, Frau Simone, Ihren Familiennamen habe ich vergessen, das macht wohl nichts?“ „Nein, das macht nichts – und außerdem bin ich keine Frau oder Madame…“ „Wenn man ein Kind hat, hat man Anspruch auf die Anrede
,Frau’“, sagte Papa bestimmt. „Hallo, Kleines, du bist also Titine.“ Mit einem Griff nahm er die Kleine und setzte sie auf seine Schultern. Titine jauchzte vor Freude. „Wo ist mein Bruderherz?“ fragte ich. „Keine Ahnung“, antwortete die treusorgende Mutter. „Er erschien vorhin in der Küche und aß in Windeseile ein Honigbrot, teilte mir mit, daß er zu tun hatte, und verschwand.“ Endlich konnten wir zu Tisch gehen. Titine protestierte laut und vernehmlich, als sie von Papas Schultern runter mußte, beruhigte sich aber schnell, als sie auf Mamas Schoß landete. „Ich bin anscheinend für heute abgeschrieben“, lächelte Simone. „Wenn es so weitergeht, werde ich allmählich eifersüchtig!“ „Meine Mutter ist eine Kindernärrin und mein Vater ein Tiernarr“, erklärte ich. „Damit mußt du dich abfinden!“ „Und unsere Grand-mère ist eine Küchennärrin“, ergänzte Papa. „Meine Frau ist aus der Küche vertrieben, seit vierzehn Tagen führt Grand-mère die Alleinherrschaft in der Küche. Und wir nehmen katastrophal zu, wir müssen nachher alle eine Schlankheitskur machen!“ „Haben Sie immer so gern gekocht, Madame?“ fragte Simone. „Eigentlich fing es erst an, als ich heiratete“, sagte Grand-mère. „Ich wollte ja, daß mein Mann einsehen sollte, was für eine tüchtige Frau er heimgeführt hatte, und außerdem hatte meine Mutter mir klargemacht, daß der Weg zum Herzen des Mannes durch den Magen geht!“ „Sie sagten doch, Sie heirateten schon mit achtzehn“, sagte Simone. „Also kochen Sie jetzt seit… seit dreiundsechzig Jahren!“ „Dreiundsechzigeinhalb“. schmunzelte Grand-mère. „Ich heiratete schon mit siebzehneinhalb!“ „So früh? War es damals üblich, so früh zu heiraten?“ Grandmère hatte ein junges, verschmitztes Lächeln, als sie antwortete. „Das eigentlich nicht. Aber mir blieb nichts anderes übrig!“ „Aber warum denn?“ fragte ich. „Warum? Weil dein Großvater schon unterwegs war!“ „Mein Groß… der war ja dein Sohn, Grand-mère! Willst du damit sagen, daß du heiraten mußtest?“ „Ja. damals mußte man. Es war nicht so wie heute, wo kein Mensch etwas dazu sagt, daß eine unverheiratete Frau ein Kind bekommt.“
„Na“, sagte Simone langsam. „Daß kein Mensch etwas dazu sagt, das stimmt nun nicht so hundertprozentig!“ „Jedenfalls zu neunzig Prozent! In meiner Jugend wäre es ein Riesenskandal gewesen! Und als mein Bernardo geboren wurde, begann die ganze Nachbarschaft an den Fingern die Monate abzuzählen; da gab es aber etwas zu flüstern, als man nur bis sechs statt bis neun kam!“ „Ich bin sehr froh, daß du deinen Bernardo bekamst, Grandmère“, sagte Mama. „Sonst wäre ich nicht auf der Welt gewesen.“ „Furchtbarer Gedanke!“ sagte Papa. „Liebe Grand-mère, ich danke dir von ganzem Herzen für deine Jugendsünde! Und ich erteile dir nicht nur Absolution, sondern auch meinen Segen!“ „Ich auch“, nickte Mama. „Aber es tut mir von Herzen leid, daß mein Vater so früh starb! Ich war vierzehn Tage alt, als er verunglückte“, erklärte sie Simone. „Er war Zirkusartist, Trapezkünstler, und er stürzte vierzehn Tage nach meiner Geburt ab!“ „Es war furchtbar“, erinnerte sich Grand-mère. „Und für deine arme kleine Mutter! Nun ja, das Leben geht weiter, und wir Menschen sind Gott sei Dank so geschaffen, daß wir das Schlimme hinter uns bringen können, eines Tages hat man das Bittere und Schmerzhafte überwunden und freut sich nur noch über all die schönen Erinnerungen.“ Ich warf einen schnellen Blick auf Simone. Ihre Augen waren auf Grand-mère gerichtet, sie horchte aufmerksam auf ihre Worte. Vielleicht war es Grand-mères Offenheit und Unbefangenheit, die Simone nachher auch zum Erzählen brachten. Das Frühstück zog sich in die Länge, weil wir es so gemütlich hatten – und weil es so gut schmeckte! Grand-mère hatte eine Omelette mit feinen Kräutern gemacht, nachher gab es Toast mit Mamas feinster Erdbeermarmelade und Brombeergelee. Titine saß quietschvergnügt auf Mamas Schoß und ließ sich füttern. Vielleicht hatte sie die feine französische Zunge geerbt, denn sie streckte immer wieder die Arme nach der Omeletteplatte aus! Mitten in der Mahlzeit kam Marcus angerast, mit einem kleinen zerzausten Kätzchen in den Armen. Er hatte keine Zeit, Simone zu begrüßen, sein Redestrom lief wie ein Wasserfall. „Guck. Papa“. Marcus wußte, daß Papa zuständig für Tiere war, „denk dir, die Leute, die da neben Opa Geest wohnten, die Sommergäste, weißt du, sie sind weggefahren, und sie haben ihre
Katze hiergelassen, und sie hat zwei Tage miaut und ging immer ums Haus rum. und niemand ließ sie rein, und sie hat so einen Hunger – sie bekam Milch bei Opa Geest, aber sie muß auch Essen haben, und ein Körbchen und ein Spielzeug, und sie heißt Felix, so habe ich sie getauft, und Mama, wo sind die Katzenfutterdosen?“ Ich half Marcus, eine Dose zu öffnen, und Marcus betrachtete glücklich seinen Felix, der (es zeigte sich, daß es ein Kater war) sich gierig auf das Futter stürzte. „So“, sagte Mama still resigniert. „Das wäre also unser drittes Haustier. Das Nächste wird wohl sein, daß er eine Ziege hier anschleppt!“ „Behalten Sie denn die Katze?“ fragte Simone. „Was bleibt uns anderes übrig?“ lächelte Mama. „Mein Mann würde mir nie verzeihen, wenn ich so ein kleines verwahrlostes Tier an die Luft setzte! Und Marcus erst recht nicht!“ „Ich auch nicht!“ sagte ich. „Wenn wir Futter für zwei Tiere haben, werden wir es wohl auch schaffen, für ein drittes zu sorgen!“ Simone sah uns an, ihre Augen waren der Reihe nach auf uns alle gerichtet. „Was seid ihr doch für eine liebe Familie!“ sagte sie leise. „Lieb zu mir, zu Titine und zu der armen kleinen Katze. Ich glaube tatsächlich, daß… daß es euch einfach Spaß macht, lieb zu sein!“ „Da haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen, Simone“, nickte Papa „So ist meine Frau nämlich. Ihr hat es immer Spaß gemacht, lieb zu sein, das hat sie von ihrem Vater geerbt, und er hatte es von seiner Mutter, von unserer Grand-mère. Unsere Kinder haben es wiederum von ihrer Mutter geerbt!“ „Und Sie?“ fragte Simone mit einem kleinen, verschmitzten Lächeln. „Ich habe es von meiner Frau gelernt! Ursprünglich war ich gar nicht so…“ „Doch! Das warst du, Asbjörn! Du hattest nur nicht gelernt, es zu zeigen!“ rief Mama. „Nun ja, und dann bin ich ein Tiernarr, wie Sie wissen.“ „Aber Sie sind auch lieb zu Titine und mir, wenn wir auch keine Tiere sind!“ „Nun, es ist keine Kunst, zu einem so entzückenden Kind wie Titine lieb zu sein!“ schmunzelte Papa. „Und was Sie betrifft, könnte ich vielleicht auch ein paar Gründe aufzählen!“ Bevor Papa mit dem Aufzählen anfangen konnte, erschien Marcus
wieder und konnte endlich die Gäste begrüßen. „Bist du… ich meine, sind Sie die Mutter von Titine?“ wollte er wissen. „Du kannst ruhig du zu mir sagen, Marcus“, erklärte Simone. „Ja, ich bin die Mutter von Titine.“ „Warum ist ihr Vater nicht mitgekommen?“ „Weil er weit weg ist, Marcus. Er ist in Frankreich.“ „Wie schade“, meinte Marcus. „Er möchte bestimmt lieber hier sein und mit Titine spielen!“ Zum Glück ließ Felix ein deutlich vernehmbares Miauen hören. Marcus rannte los und vergaß Simones Familienprobleme. Endlich brachen wir auf. Titine war auf Mamas Schoß eingeschlafen, den Daumen im Mund. „Ja, es ist die Zeit für ihr Vormittagsschläfchen“, erklärte Simone. „Ich werde gleich…“ „Sie werden gleich mit Elaine in den Garten gehen und sich gemütlich in unsere Sonnenecke setzen“, unterbrach Mama. „Ich werde Titinchen auf die Couch betten und ein Auge auf sie haben.“ „Aber Sie haben doch bestimmt zu tun“, meinte Simone. „Keine Spur! Ich bin sowieso aus der Küche verjagt, solange Grand-mère hier ist! Ich habe vielleicht ein bißchen zu nähen, das mache ich, während ich auf Titine aufpasse. So, nun raus mit euch, Simone soll sich endlich einmal entspannen können! So reizend auch ein kleines Kind ist und so innig man es auch liebt – manchmal ist es doch schön, es für ein Weilchen los zu sein, um sich brutal auszudrücken!“ Simone lachte laut. „Da spricht die erfahrene und vielgeplagte Mutter! Sie haben unbedingt recht, Frau Grather! Also, wenn Sie wirklich meinen…“ „Ja, ich meine! Nun macht, daß ihr wegkommt!“ Wir gehorchten.
Simones Erzählung Wir saßen in bequemen Liegestühlen, und Marcus brachte uns – im Auftrag von Mama – gekühlten Orangensaft und Gläser. Dann teilte er uns mit, daß er uns nicht Gesellschaft leisten könne, er müsse sich um Felix kümmern. Worauf er sich aus dem Staube machte. Simone sah ihm nach, und um ihren Mund lag ein kleines Lächeln. „Er ist ja ein ganz goldiger kleiner Junge, dein Brüderchen“, sagte sie. „O ja, im großen und ganzen“, stimmte ich zu. „Aber er kann auch ein furchtbarer Bengel sein!“ „Also vollkommen normal“, meinte Simone. Sie schwieg ein Weilchen, dann sprach sie wieder. „Weißt du, Elaine, ich habe mir viel von diesem Tag versprochen, ich habe mich schrecklich gefreut, ich habe buchstäblich die Stunden gezählt. Und jetzt schon, nach… nach…“, sie warf einen Blick auf die Uhr, „nach gut zwei Stunden sind alle meine Träume in Erfüllung gegangen, ihr habt mir mehr gegeben, als ich mir vorzustellen wagte.“ „Aber, liebe Simone, wir haben doch gar nichts…“ „Doch. Ihr habt mich teilnehmen lassen an dieser Fröhlichkeit, habt mich sozusagen bei euch aufgenommen – und deine phantastische Grand-mère, wie hat sie herrlich offen von ihrer Jugend gesprochen. und von ihrer – was sagte nun dein Vater – ihrer Jugendsünde. Oh, ich habe viel von deiner Grand-mère gelernt, Elaine. Daß man geradeaus und offen sprechen soll, daß man ohne Umwege die Tatsachen erklären soll, die sich nicht ändern lassen.“ „Du denkst an die Tatsache, daß du dein Titinchen hast? Aber davon sprichst du ja ganz offen und ehrlich, und was solltest du sonst tun? Die Kleine ist nun mal da!“ „Ja, so meine ich es auch nicht. Aber weißt du, ich habe keinem Menschen erzählt, wie alles kam, und warum ich keine Verbindung mit Titines Vater habe – und wieso und warum ich mich auf so ein Abenteuer eingelassen habe.“ „Hast du es nicht einmal deiner Mutter erzählt?“ „Nicht alles. Ach, meine arme Mutti, es war schwer für sie. Es kam alles auf einmal, alles stürzte auf sie ein, Geldsorgen, eine neue und sehr anstrengende Arbeit – und dann das mit mir.“
„Glaubst du nicht, daß jede Mutter verzweifelt gewesen wäre, wenn eine so junge Tochter ein Kind bekäme?“ „O ja, das glaube ich. Weißt du, nachdem ich deine Mutter kennengelernt habe, frage ich mich, wie sie es hingenommen hätte, falls dir so was passierte.“ „Es wird nicht passieren. Ich passe schon auf. Aber weißt du, ich bin ja verlobt, oder sagen wir, mein Ingo und ich sind fest entschlossen, zu heiraten, wenn wir auch keine Ringe tragen und keine Verlobungsanzeige in der Zeitung gehabt haben. Sollte es mir passieren, würde es bedeuten, daß ich gleich heiraten würde. Es wäre problematisch und unpraktisch, aber ein so großes Unglück wäre es nicht. Vielleicht hätten sich meine Eltern um das Kind gekümmert, damit ich meine Ausbildung beenden könnte und nicht meine ganze Zukunft verbaute.“ Simone nickte. „Das ist es gerade. Die Zukunft verbauen.“ Sie schwieg. Ich wartete etwas, dann legte ich meine Hand auf die ihre. „Simone, weißt du was? Ich habe das Gefühl, daß ich in dir eine Freundin gefunden habe.“ Sie lächelte und sah mich an. „Denk dir, Elaine, genau dasselbe Gefühl habe ich. Ich… ich… ich mag dich so gern.“ „Und ich dich. Wie schön, daß wir uns getroffen haben! Aber ich wollte dir noch etwas sagen. Du bist sehr allein, habe ich recht?“ „Ja. Ich bin furchtbar allein.“ „Und du hast niemanden, mit dem du so richtig sprechen kannst?“ „Das stimmt.“ „Ja. siehst du, deswegen wollte ich dir sagen: falls du einen Menschen brauchst, mit dem du dich richtig aussprechen kannst, dann bin ich für dich da. Du kennst mich kaum, aber ich gebe dir mein Ehrenwort, daß ich es keinem Menschen weitererzählen werde, falls du mir etwas anvertraust.“ „Ich würde gar kein Ehrenwort verlangen. Wenn ich dir etwas erzähle, dürftest du es herzlich gern deinen Eltern weitererzählen. Es ist so merkwürdig hier bei euch. Nie in meinem Leben habe ich bei fremden Menschen so ein Gefühl gehabt – ein Gefühl der Geborgenheit! Ja, so ist es. Bei euch fühle ich mich geborgen. Ihr seid Menschen, die einem nur Gutes tun. Stimmt das vielleicht nicht?“ „Doch, ich glaube schon. Meine Eltern sind beide so. Und etwas habe ich wohl von ihnen gelernt. Weißt du, Simone, wenn ich dir
sage, daß ich dir jederzeit zuhören werde, wenn du mir etwas zu sagen hast, dann ist es – ja, es ist vor allem der Wunsch, dir zu helfen. Aber nun will ich auch ganz ehrlich sein und zugeben, daß ich neugierig bin. Ich denke immer über die merkwürdige Tatsache nach, daß du anscheinend nichts mehr mit Titines Vater zu tun hast, und dabei müßte er doch über ein so bezauberndes Kind voller Vaterstolz sein!“ Simone schwieg einen Augenblick. Dann sagte sie leise, aber deutlich: „Er weiß gar nicht, daß er ein Kind hat.“ „Weiß es nicht…“ Ich glaube, mein Gesicht sah aus wie ein einziges Fragezeichen. „Nein. Er weiß es nicht. Gut, Elaine, ich nehme dein Angebot an. Ich habe nie meine ganze Geschichte erzählt, ich hatte keinen Menschen, dem ich sie anvertrauen wollte. Aber dir gegenüber wage ich es, und es wird mir guttun, endlich alles loszuwerden. Aber ich muß weit ausholen, Elaine, und du wirst viel Geduld brauchen.“ „Ich habe sehr viel Geduld, Simone.“ Simone nahm ihr Glas, trank einen Schluck Orangensaft, dann lehnte sie sich in ihrem Liegestuhl zurück und fing an zu sprechen. Sie blickte geradeaus, ins Leere. „Ich muß mit der Scheidung meiner Eltern anfangen. Ich war damals zwölf Jahre. Wir hatten immer in Frankreich gewohnt, in der Provence – ja, in Avignon, in der Heimatstadt deiner Grand-mère. Aber ich war jedes Jahr im Urlaub in Deutschland gewesen, und Mutti sprach immer deutsch mit mir. Mit anderen Worten, ich bin zweisprachig aufgewachsen. Dann kam also die Scheidung. Das war sehr, sehr schwer für Mutti. Mein Vater hatte sich in eine andere Frau, eine Französin, verliebt und wollte sie heiraten. Mutti und ich fuhren dann nach Deutschland. Anfangs wohnten wir bei einer Verwandten – ja, sie hat eine große Rolle in meinem Leben gespielt, von der muß ich mehr erzählen. Sie ist so um ein paar Ecken meine Tante, daß heißt – ja, was heißt es? Ich glaube, Großtante zweiten Grades. Die Cousine meiner verstorbenen Großmutter. Sie ist Hebamme im Ruhestand und wohnt in einem kleinen Dorf im allernördlichsten SchleswigHolstein. Sie ist auf dem Lande aufgewachsen, hat selbst einmal, als ihr Mann noch lebte, eine kleine Landwirtschaft gehabt. Sie ist ein ruhiger, nüchterner Mensch, weder impulsiv noch strahlend aufgeschlossen, sie ist eher wortkarg, und lächeln ist bei ihr eine Seltenheit. Aber sie ist ein Mensch, auf den man sich verlassen kann,
ein Mensch, der immer hilft, wo Hilfe nötig ist. Sie sagt nicht viel, aber sie handelt. Und das wenige, was sie sagt, hat Hand und Fuß. Sie ist vernünftig, hat in einem langen Leben viele Erfahrungen gesammelt und ist immer diejenige, die einen Rat weiß, wenn jemand einen Rat braucht. Also, bei ihr wohnten wir einige Wochen. Sie war es, die Mutti dazu half, eine Halbtagsstellung zu bekommen. Mutti hatte vor ihrer Heirat die Handelsschule besucht und bekam jetzt Arbeit als Kassiererin in einem Supermarkt in Flensburg. Dort kam ich zur Schule. Ja, das war auch so eine Sache. Ich war mit fünf in Avignon in die Schule gekommen und bin gern zur Schule gegangen. Bei der Aufnahmeprüfung in Flensburg zeigte es sich, daß ich schon für eine Klasse reif war, in der die anderen ein Jahr älter waren als ich. Damit fingen vielleicht die Schwierigkeiten an. Ich kam aus ganz anderen Verhältnissen, ich kannte einen anderen Ton, andere Umgangsformen, andere Sitten und Gebräuche. Es war schwer, sich in all dem Neuen zurechtzufinden. Ich wurde oft geneckt und gehänselt und ausgelacht. Ich konnte mich nur in einem Punkt behaupten: daß ich eine gute Schülerin wurde. Nun, allmählich ging es besser, ich bekam Freundinnen und fing an, mich in Flensburg zu Hause zu fühlen. Dann wurde Mutti nach Hamburg versetzt. Das heißt, man bot ihr eine bessere Stellung in einem größeren Supermarkt in Hamburg an. Mutti ist tüchtig, verstehst du! Sie arbeitet schnell, konzentriert und fehlerfrei, und ihre französische Höflichkeit half ihr dazu, beliebt zu werden. Diese besondere Form der Höflichkeit hatte sie sich während ihrer Ehejahre in Avignon angeeignet. Also zogen wir nach Hamburg, wir bekamen sogar eine nette Zweizimmerwohnung. Mutti arbeitete nach wie vor nur halbtags, das ging, weil sie ja durch mich keine Ausgaben hatte. Für mich sorgte mein Vater. Ich besuchte ihn und seine neue Familie jeden Sommer. Ich ergänzte dadurch meine Französischkenntnisse – die Sprache war mir ja geläufig, aber der Wortschatz einer Zwölfjährigen reicht ja nicht immer aus. In seiner zweiten Ehe hat mein Vater den heißersehnten Sohn bekommen und außerdem eine zweite Tochter. Nein, jetzt muß ich mich kürzer fassen, sonst werde ich nie fertig! Langweilt es dich, Elaine?“ „Was? Langweilen? Ich höre ja zu mit Ohren und Augen und Kopf und Seele! Ich bin nur gespannt auf…“ „Ich weiß genau, worauf du gespannt bist, es kommt gleich. Also,
ich war wieder in einer neuen Stadt und in einer neuen Schule, wieder die Jüngste der Klasse und eigentlich eine Außenseiterin. Ich hatte das Gefühl, daß meine Mitschülerinnen mich nicht für voll nahmen, ich war jünger und eine Fremde. Sie tuschelten und flüsterten und erzählten von ihren Freunden – als sie sechzehn waren und ich fünfzehn, hatten sie alle Freunde. Ich war jung und klein und dumm und unerfahren, fremd in der Stadt, neu in der Schule – verstehst du, wie mir zumute war. Elaine?“ Ich nickte. „Ja. ich verstehe es sehr gut.“ „Dann kam das Jahr, in dem ich sechzehn wurde- oder werden sollte. Mein Vater schrieb, daß es dieses Jahr mit meinem Sommerbesuch nicht passen würde, aber vielleicht hätte ich Lust, in den Osterferien zu kommen? Also fuhr ich auf Osterbesuch in die Provence. Kennst du den Frühling in der Provence? Oh, er ist unwahrscheinlich schön! Rosen und Kastanien blühten schon, die Parks waren wie eine Explosion in Farben! Und ich fühlte mich zu Hause unter Menschen, die ich kannte, ich traf ein paar alte Schulkameraden wieder. Ich traf auch andere junge Leute. Ich traf Jean-Louis.“ „Der war es also“, sagte ich. „Ja. Der war es. Er saß neben mir im Bus auf einem Ausflug nach Arles. Wir kamen ins Gespräch, er war wahnsinnig nett – und so hübsch! Ach, Elaine, wie das alles sich entwickelte, brauche ich gar nicht zu erzählen. Solche Bekanntschaften und die Zuneigung, die daraus entsteht, das ist alles so alt wie die Menschheit selbst. Natürlich war ich verliebt. Aber wenn ich jetzt zurückdenke, wird mir etwas anderes klar. Das war nicht nur Verliebtheit. Es war auch Stolz darüber, daß ein so charmanter junger Mann wie Jean-Louis sich für meine kleine unerfahrene Wenigkeit interessierte. Ich erzählte über mich, er auch ein klein wenig über sich. Ich sagte ihm, daß ich vorhatte, mich als Simultandolmetscherin ausbilden zu lassen, und das fand er großartig. Er hatte sein Abitur gemacht und vertrödelte jetzt ein Jahr; er fuhr kreuz und quer durch Frankreich, wollte endlich sein Land richtig kennenlernen, wie er sagte. Wir machten Vormittagsausflüge und Abendspaziergänge, er küßte mich unter einem blühenden Kastanienbaum, und dann – nun ja. es gibt eben Dinge, über die ich nicht sprechen kann. Ich erlebte drei Tage, an denen ich auf rosa Glückswolken schwebte. Und ich gebe zu. daß ein ganz böser kleiner Gedanke mich öfter erfüllte: Ich habe auch
einen Freund, und was für einen! Ich bin nicht mehr die kleine dumme, unerfahrene Simone. Ach, Elaine, ich hatte so schwierige Jahre hinter mir, ich war so einsam gewesen – das ist wohl meine einzige Entschuldigung!“ „Du brauchst keine Entschuldigung, Simone“, sagte ich. „Aber sag mir bloß, was sagte dein Vater dazu, daß du so oft fort warst, wo du ihn doch besuchtest?“ „Oh. ich sagte, daß ich mit meinen alten Schulfreunden zusammen war. und das fand er verständlich und erfreulich. Außerdem hatte ich das Gefühl, daß mit meinem Vater etwas nicht ganz stimmte. Er sah oft so aus. als hätte er irgendwelche Probleme, und seiner Frau ging es ebenso. Ich glaube, sie waren froh, daß ich ihnen nicht andauernd auf der Pelle saß. – Welche Sorgen sie hatten, erfuhr ich erst später. Dann, eines Morgens, kam ein Briefchen für mich. Oder vielmehr ein paar Zeilen, schnell hingekritzelt: Liebe kleine Simone, ich habe ein Telegramm gekriegt und muß sofort nach Hause. Es war nett, dich kennenzulernen, und diese Tage werden mir immer als etwas sehr Schönes in der Erinnerung bleiben. Ich wünsche Dir alles Gute und danke Dir für alles. Tausend Küsse, Jean-Louis. Ja. da saß ich nun. Einsamer als je zuvor. Denn es gab keinen Menschen, dem ich meine Sorgen und meine bittere Enttäuschung anvertrauen konnte. Ich mußte allein mit allem fertig werden, ich kleine, unbeschreiblich Dumme. Was für mich das größte Erlebnis gewesen war – ja. das war für Jean-Louis eben ein kleines Abenteuer unterwegs, ein Abenteuer, so wie er es bestimmt sehr oft auf seiner Reise ‚kreuz und quer durch Frankreich’ erlebte. Ich kannte seinen Namen, wußte aber seine Anschrift nicht. Außerdem wollte ich keinen Finger krumm machen, um ihn ausfindig zu machen. So viel Stolz hatte ich doch, mitten in meiner bodenlosen Enttäuschung. Die Ferien gingen zu Ende, ich fuhr wieder nach Hause zu Mutti, und war nach wie vor einsam. Furchtbar einsam. Was mich aber tröstete, waren meine Zukunftspläne. Ich war froh, daß ich mir ein Ziel gesetzt hatte, und ich wußte, daß mein Vater mich finanziell unterstützen würde, so daß ich die teure Ausbildung kriegen konnte. Ich trainierte heimlich,
indem ich deutsche Rundfunksendungen ins Französische übersetzte. Satz für Satz, – während ich einen Satz übersetzte, mußte ich mir den nächsten anhören – du, das ist anstrengend. Aber es machte sehr viel Spaß. Mutti war auch sehr interessiert daran und meinte, daß diese Arbeit mir liegen würde. Und ich versuchte, Jean-Louis aus meinem Gedächtnis zu streichen und nur an die Zukunft zu denken. Drei Wochen, nachdem ich zurückgekommen war, erlebten Mutti und ich den großen Schock. Es war ein Brief von Vati; die alte Firma, in der er Abteilungsleiter war, hatte Pleite gemacht, er stand da ohne Stellung, und zu allem anderen kam, daß seine Frau ihr drittes Kind erwartete. Wahrscheinlich würde er sein Haus verkaufen müssen, und so sah er keinen Ausweg, den Unterhalt für mich weiter zu zahlen. Wo nichts ist, hat auch der Kaiser sein Recht verloren – heißt es nicht so? Mutti war sehr tapfer. Sie wollte alles Menschenmögliche tun, damit ich jedenfalls mein Abitur machen konnte. Sie hatte Glück. Eine große Firma suchte eine Auslandskorrespondentin, ‚perfekt im Französischen und mit guten Englischkenntnissen’. Mutti erfüllte die Bedingungen und bekam die Anstellung. Aber das bedeutete für mich noch mehr Einsamkeit, denn jetzt war Mutti den ganzen Tag fort, ja, sie mußte oft Überstunden machen, allerdings gut bezahlte Überstunden, aber ich war allein, so schrecklich allein. Eines Morgens ging es mir furchtbar schlecht. Ich mußte mich übergeben und fühlte mich hundeelend. Und dann fing ich an zu zählen und rechnen – ich hatte ja sechs Wochen lang meine Tage nicht gehabt! Ach was! Warum gleich das Schlimmste glauben! Ich hatte gestern zuviel von einem süßen Kuchen gegessen – und ich hatte doch mal gelesen, wenn eine Frau einen schweren Schock erleidet, kommt es vor, daß die Periode ausbleibt. Ich schob die Angst von mir, ich wollte nicht glauben, daß es etwas anderes sein konnte. Die Tage vergingen, die Wochen vergingen, ich hatte öfter die Übelkeitsanfälle und sagte mir selbst, das sei nur Nervosität, und das nächste Mal würde ich meine Tage ganz normal kriegen. Die Anfälle von Übelkeit hörten auf, und ich war für eine kurze Zeit erleichtert. Das Schuljahr ging zu Ende, und die Angst, die ich tief in meinem Inneren seit Wochen, ja seit zwei Monaten gespürt hatte, wurde jetzt bewußt und versetzte mich in Panik. Was sollte ich
bloß tun – was sollte ich tun? Mutti würde erst viel später ihren Urlaub bekommen. Sie schlug vor, daß ich zu der alten Tante Hedwig in dem kleinen norddeutschen Dorf fahren sollte, da war ich immer willkommen. Und da, auf dem Lande, in der frischen, schönen Natur, würde ich mich erholen, meinte Mutti. Ich war froh, daß ich fort konnte. Tante Hedwig – also diese Großtante zweiten Grades, bei der wir in der ersten Zeit nach der Scheidung gewohnt hatten – empfing mich freundlich, ja beinahe herzlich in ihrer ruhigen, nüchternen Art. Aber nach einigen Tagen merkte ich, daß ihr Blick öfter forschend auf mich gerichtet war. ,Du bist so still geworden, Simone’, sagte sie eines Tages. ,Geht es dir nicht gut?’ Natürlich versicherte ich, daß es mir großartig ginge. Aber Tante Hedwig ist Menschenkennerin, und sie hat dreißig Jahre lang als Hebamme gearbeitet. Dann sagte sie eines Abends, kurz und ohne Umschweife: ,Hör, Simone. Was ist mit dir los? Bekommst du ein Kind?’ Dann fing ich an zu heulen. Tante Hedwig schimpfte nicht. Sie war nur praktisch, nüchtern und hilfsbereit. Sie ist so ein Mensch, der sich für die Probleme anderer Menschen einsetzt, sie ist eine, die den Mut hat, jeder Situation in die Augen zu sehen. Sie ließ mich weinen, ließ mich zur Ruhe kommen, bevor sie weitersprach. ,Ich habe sehr viele solcher Fälle erlebt’, sagte sie. ,Du mußt dir darüber im klaren sein, daß du jetzt unbedingt einen Plan für die nächsten Jahre machen mußt. Mit deiner Ausbildung wird es vorläufig nichts. Und du mußt finanzielle Hilfe haben. Der Vater muß für sein Kind sorgen. Wo ist er?’ Ich konnte nur ,Ich weiß nicht’ flüstern. Wie soll man in Frankreich einen Mann ausfindig machen, der Jean-Louis Martin heißt? Der Name ist mindestens so häufig wie Peter Müller in Deutschland! Ich wußte nicht einmal, in welcher Stadt er wohnte! ,Ich muß mir die Sache durch den Kopf gehen lassen’, sagte Tante Hedwig. Das tat sie dann. Und während sie nachdachte, kam überhaupt kein vorwurfsvolles Wort über ihre Lippen!“
Simone schwieg, trank wieder einen Schluck Orangensaft und wollte weitererzählen, aber da wurden wir unterbrochen. Es war Mama, die erschien, mit Titinchen auf dem Arm. „Na, hier habt ihr es ja gemütlich“, sagte sie lächelnd. „Simone, haben Sie ein paar Extrawindeln mit, und vielleicht ein Höschen? Ich habe das bestimmte Gefühl, daß so was angebracht sein würde!“ „O ja, natürlich, ich habe beides…“ Sie nahm ihre Tochter, beeilte sich, zurück ins Haus zu kommen, wo sie ihre große Tasche ergriff und in Richtung Badezimmer verschwand. Ich ging zurück in den Garten, holte die Gläser und die leere Saftflasche, und war dabei in tiefe Gedanken versunken. Was hatte die arme Simone alles durchgemacht! Ich war rasend gespannt auf die Fortsetzung ihrer Erzählung. Ich guckte auf die Uhr. Liebe Zeit, den ganzen Vormittag hatten wir hier gesessen. Jetzt verrieten himmlische Düfte aus der Küche, daß eins von Grand-mères Spitzenmenüs gleich fertig war! Aber das Ende von Simones Bericht wollte ich unbedingt hören. Dazu mußten wir eine Gelegenheit finden!
Papa bekommt ein Fotomodell und Simone einen guten Rat „Es ist so merkwürdig“, sagte Simone. Wir saßen am Kaffeetisch nach einem unglaublich guten Mittagessen. Grand-mère hatte mit einem glücklichen Lächeln eine Menge begeisterte Lobesworte kassiert. „Was ist merkwürdig?“ fragte Mama. „Ich habe das Gefühl, daß ich Elaine schon lange kenne. Als ob wir lange Freundinnen sind. Es ist ein so neues und merkwürdiges und sehr, sehr schönes Gefühl!“ „Und ich empfinde es genauso!“ rief ich. „Was für ein Segen, daß du dazukamst, Grand-mère an dem Tag in Hannover helfen zu können!“ „Für mich war es ein ganz großer Segen“, lächelte Simone. „Furchtbar nett für uns alle!“ meinte Mama. „Nicht wahr, Asbjörn?“ „Wie… was… entschuldige, ich habe gar nicht hingehört. Was hast du gesagt?“ „Möchte mal wissen, wo du deine Gedanken hast“, sagte Mama. „Bei meinem Beruf, antwortete Papa…Ich brauche ein Fotomodell und meine, eins gefunden zu haben.“ „Willst du Simone als Fotomodell haben?“ „Durchaus nicht. Aber Titine! Titine ist genau das, was ich brauche! Wie meinen Sie, Simone, glauben Sie, daß Ihre Tochter geneigt wäre, ein paar hundert Mark zu verdienen?“ „Wer ist da nicht geneigt?“ lächelte Simone. „Was soll sie machen?“ „Ihre Hand nach einem Stück Seife ausstrecken und womöglich dabei glücklich lächeln!“ Jetzt war ich im Bilde. Papa hatte schon ein paar Werbefilme für eine Babyseife gemacht, und die Seifenfirma war immer auf der Suche nach hübschen, „fotogenen“ Babys. Also wanderten wir in die Filmwerkstatt, der passende Hintergrund wurde aufgestellt, die Kamera aufnahmebereit gemacht und die Scheinwerfer eingestellt. Titine fand anscheinend alles äußerst interessant. Sie protestierte überhaupt nicht, als sie ausgezogen und als Aktmodell auf ein Kissen
gesetzt wurde. Sie streckte die Arme aus nach der Kamera, und als ich ihr meine bunte Halskette zeigte, reckte und streckte sie den ganzen Körper. Und die Kamera surrte. „Aber die Seife?“ fragte Simone. „Kommt noch! Vorläufig nur das Kind, solange es so lächelt und so guter Laune ist! Elaine, da liegt doch so ein Stück Seife da oben im linken Schrank, hol das mal!“ Kinder zu filmen ist eine Sache für sich. Ungefähr so eine Geduldsprobe wie das Tierfilmen. Papa hat seit mehr als zwanzig Jahren Tierfilme gemacht und hat also eine märchenhafte Geduld aufgebracht. Mit Titine machte er es wie mit den Tieren: Wenn die Kleine lustige Bewegungen machte, wenn sie begeistert lächelte, wenn sie die Hände nach etwas ausstreckte, egal wonach, dann filmte er eben! Leider zeigte Titine sehr wenig Interesse für das Stück Seife. Aber endlich, nach viel Spielen und Plaudern, geruhte die kleine Hoheit, das Seifenstück in die Hände zu nehmen – und eins, zwei, drei war die Szene im Kasten! „Genug für heute“, sagte Papa. „Außerdem verträgt sie das Scheinwerferlicht nicht mehr!“ Wir hatten sowieso zwischendurch immer das Licht ausgemacht, um Titinchens Augen zu schonen. „Ich bin bestimmt dumm“, sagte Simone, als sie angefangen hatte, die Kleine wieder anzuziehen. „Aber ich verstehe nicht, wofür Sie zum Beispiel die Aufnahme von Titine mit der bunten Kette brauchen können, es geht ja nicht um Ketten, sondern um Seife!“ „Das ist ganz einfach“, erklärte Papa. „Als Elaine ihr die Kette zeigte, machte ich nur von Titine eine Aufnahme. Elaines Hand kam nicht mit ins Bild. Man sieht also nur, daß das Kind sich eifrig bemüht, etwas zu fassen zu bekommen. Und als sie mit der Kette spielte, habe ich nur ihr begeistertes Gesicht gefilmt. Wissen Sie, das alles wird ja zusammengeschnitten, die Seife wird mit eingeblendet zwischen die Kinderaufnahmen, und ganz zuletzt kommt der Streifen von Titine mit der Seife in den Händen! Ich habe zehnmal soviel gefilmt, wie ich brauche, alles wird ja nur ein Werbespot, der wenige Sekunden dauert; und ich benutze nur das Allerbeste und werfe das Überflüssige weg!“ „Oh. bitte nicht!“ rief Simone. „Geben Sie es mir! Ich habe so wenige Bilder von Titine – kann man nicht aus so einem Film auch Fotos machen?“ „Man kann schon. Aber richtige Fotos werden besser. Die möchte
ich aber bei Tageslicht machen, im Garten, vielleicht neben einem Blumenbeet, oder mit Bisken zusammen.“ „Aber jetzt haben wir kein Tageslicht mehr“, sagte Simone. „Du liebe Zeit, es ist ja bald achtzehn Uhr. wir müssen zusehen, daß wir den Bus um neunzehn Uhr schaffen!“ „Schade“, sagte Papa. Dann hellte sich sein Gesicht auf. „Wissen Sie was? Ich muß sowieso morgen früh nach Hannover. Können Sie nicht hier übernachten? Dann machen wir morgen früh ein paar nette Bildchen von Titine. und Sie fahren mit mir gegen zehn Uhr nach Hannover!“ „Oh. das wäre wunderbar!“ sagte Simone. „Aber…“ „Aber was? Haben Ihre Kamele und Krokodile – ach nein, es sind ja Wellensittiche und Zierfische, war es nicht so? Also, verhungern sie bis elf Uhr morgen vormittag?“ „Nein, das nicht, sie haben reichlich Futter bekommen. Aber es macht doch so viel Mühe für Sie, plötzlich zwei Übernachtungsgäste…“ „Oh. prima!“ rief ich. „Das ist das einfachste auf der Welt, Simone! Für Titine stellen wir Marcus’ altes Gitterbettchen auf, und ich habe doch so eine Schlafcouch, aus der man ruck, zuck zwei Betten machen kann! Papa, du hast ab und zu wirklich geniale Ideen, man merkt direkt, daß du mein Vater bist!“ „Das wirst du gleich in einer ganz anderen Weise merken, falls du unverschämt bist! Lauf nun schnell zu deiner schwergeprüften Mutter und gib ihr Bescheid, und mach Grand-mère die Freude, ihr mitzuteilen, daß sie auch morgen ein sehr schönes Frühstück machen darf!“ Simones Proteste wurden immer schwächer – ich sah es ihr auch an, wie riesig sie sich über diese verlängerte Einladung freute. Oh, wie herrlich, jetzt konnten wir einen gemütlichen Abend zusammen haben, und vor allem: heute abend, wenn wir zu Bett gegangen waren, konnte Simone mir den Rest ihrer traurigen Geschichte erzählen! Oder – ist traurig vielleicht nicht das richtige Wort? Eine Geschichte, die mit der Geburt eines gesunden, entzückenden Kindes endet, kann man ja nicht traurig nennen! Der Abend wurde wirklich reizend. Wir plauderten so nett, Simone erzählte von Frankreich, wir erzählten etwas von Norwegen und von der Schweiz und selbstverständlich auch über unser Erlebnis mit Biskens Mutter Cora, die wir als ausgesetzten Hund gefunden
hatten, wie wir sie behielten, und wie ich Hebamme sein mußte, als Bisken geboren wurde. Und natürlich auch, wie ich Cora zu verdanken hatte, daß ich meinen Ingo kennenlernte! Aus Rücksicht auf Grand-mère wurde die ganze Zeit französisch gesprochen, was uns drei Frauen keine Schwierigkeiten machte. Papa konnte ab und zu nach einem Wort suchen oder die Grammatik ein bißchen durcheinanderbringen, aber Marcus, der Ärmste, war hilflos. Er wußte sich aber zu trösten: Es gab ein Fußballspiel im Fernsehen, er montierte mit geübter Hand den Kopfhörer an, schaltete den Lautsprecher aus und störte uns nur ein paarmal mit einem lauten, begeisterten Aufschrei. „Toooor!“ Nach dem Spiel wurde er ins Bett geschickt. Jetzt in den Ferien durfte er bis neun Uhr aufbleiben, sonst mußte er Punkt acht schlafen gehen. Titinchen schlief schon fest im Gitterbettchen, das wir in mein Zimmer gestellt hatten. Nach dem Fußballspiel stand Papa auf, um das Fernsehen auszuschalten, aber er blieb stehen – da kamen so wunderbare Aufnahmen aus den Schweizer Alpen. Grand-mère machte große Augen. „Oh. laß es doch laufen, mon ami! Und stell den Ton an… ach nein, davon verstehe ich ja doch nichts…“ Dann setzte Simone den Kopfhörer auf, horchte konzentriert – und übersetzte den Begleittext. Satz für Satz, ins Französische. Es ging beinahe fließend, ganz selten mußte sie ein Wort suchen, ein paarmal wurde die Wortstellung ein bißchen unkorrekt, aber im großen und ganzen ging es sehr gut. Und Grand-mère war entzückt. „Merveilleux!“ rief sie, als der Film zu Ende war und Simone den Kopfhörer weglegte. „Jetzt verstehe ich, warum Sie Simultandolmetscherin werden wollen!“ „Wollte“, sagte Simone mit einem kleinen, traurigen Lächeln. „Daraus wird ja nichts.“ „Natürlich muß etwas daraus werden!“ rief Grand-mère eifrig. „Sie müssen nur warten, bis Titine groß genug für den Kindergarten ist. Inzwischen müssen Sie Geld sparen und das Abitur nachmachen, und dann kann es losgehen!“ „Welches Geld soll ich sparen?“ fragte Simone. „Das, was Sie erhalten werden, wenn wir alle unsere Köpfe zerbrochen und zuletzt herausgefunden haben, wie Sie inzwischen
etwas verdienen können! Setzen Sie sich eben das feste Ziel, entschließen Sie sich dafür, diese Ausbildung zu machen! Alles im Leben geht leichter, wenn man bewußt für ein bestimmtes Ziel arbeitet. Sagen Sie mal“, Grand-mères Augen wurden jung und leuchtend wie immer, wenn sie eine gute Idee hat. „haben Sie jemals versucht, in einem Kinderheim eine Anstellung zu kriegen? Dorthin könnten Sie ganz sicher Titine mitnehmen. Sie hätten Unterkunft und Essen, anfangs wohl kaum sehr viel Gehalt, aber immerhin so viel, daß Sie etwas davon auf die hohe Kante legen könnten. Ist das vielleicht eine Idee?“ „Eine sehr gute sogar“, nickte Simone. „Merkwürdig, daß ich selbst nicht darauf gekommen bin. Ob es mir gelingt, eine solche Arbeit zu finden, weiß ich nicht, aber ich werde alles tun, um es zu schaffen!“ Mama sah aus, als ob ihr auch etwas einfiel. Sie wollte anscheinend etwas sagen, besann sich aber und schwieg. Es wurde spät, und wir mußten aufbrechen. Mama zauberte eine neue Zahnbürste aus ihren Vorräten im Badezimmerschrank, ich gab Simone einen meiner Schlafanzüge, Handtücher und Frotteelappen, und eine halbe Stunde später lagen wir bequem in unseren sehr praktischen Ausziehbetten. „Stört es Titine, wenn wir ganz leise sprechen?“ fragte ich. „Keine Spur. Wenn sie schläft, dann schläft sie! Du möchtest wohl wissen, ob ich weitererzählen kann?“ „Genau das. Ich bin rasend gespannt!“ „Also langweilt dich mein langer Bericht nicht?“ „Langweilt??? Ich möchte alles wissen – ich meine, alles, was du mir erzählen willst!“ „Du darfst gern alles wissen“, sagte Simone. Sie lag auf dem Rücken und starrte vor sich hin. Im Licht der kleinen Nachttischlampe sah ich ihr Gesicht. Es war ruhig, entspannt – beinahe hätte ich ,glücklich’ gesagt. Dann sprach sie. Sie sprach leise, um ihr schlafendes Kind nicht zu stören.
Simone erzählt weiter „Wie weit war ich nun gekommen? Ach ja, ich war bei Tante Hedwig. Ja, da blieb ich. Ich wohnte gratis bei ihr, habe ihr nur etwas im Haus und im Garten geholfen. Das Schlimmste war. meiner Mutter zu schreiben. Ich mußte ihr ja jetzt die Wahrheit sagen und sie bitten, mich von der Schule abzumelden. Arme Mutti! Es war furchtbar hart für sie. Ich bekam ein todtrauriges Briefchen zurück, nicht ganz frei von Vorwürfen, und das kann ich natürlich verstehen. Gleichzeitig schrieb sie Tante Hedwig und bedankte sich sehr herzlich dafür, daß sie sich um mich kleinen Unglücksraben kümmerte. Ja, das tat Tante Hedwig, in ihrer sehr nüchternen Art. Sie hat wirklich ein großes Herz, aber es würde ihr nie einfallen, mich mal zu umarmen oder mir tröstend die Wange zu streicheln. Sie zeigte ihre Güte durch Taten, nicht mit Worten, und immer ganz unsentimental. Sie fuhr mich zum Frauenarzt, einem lieben, väterlichen Arzt, den Tante Hedwig gut kannte. Er stellte fest, daß alles bei mir in Ordnung war. und das Kind würde voraussichtlich Mitte Januar auf die Welt kommen. Dann habe ich wieder geheult, und der Arzt tat etwas, das Tante Hedwig nie machte, er streichelte mir die Wange. Ich werde dir was sagen. Kind. Deine Situation ist schlimm, das weiß ich, aber es gibt Schlimmeres. Vor einer halben Stunde mußte ich einer jungen Frau erzählen, daß sie nie Kinder bekommen könnte, und dabei wünscht sie es sich so brennend! Sie ist ein reizender Mensch, würde eine sehr gute Mutter sein, sie ist finanziell gut dran, ihr Mann möchte auch so sehr gern ein Kind – und sie werden nie eins bekommen. Siehst du. kleines Mädchen, das ist noch schlimmer! Na, dann also alles Gute, komm nächsten Monat wieder zur Kontrolle. Und sei froh, daß du eine so liebe Tante hast, die sich um dich kümmert!’ Ja. das tat Tante Hedwig! Als wir zurückfuhren, war sie schweigsam. Aber am gleichen Abend fing sie an, mit mir zu sprechen, in ihrer klaren, direkten Art. ,Sag mir nun, was du jetzt getan hättest, wenn dies nicht passiert wäre’, fing sie an. Ja, dann erzählte ich ihr, daß ich den Plan gehabt hatte, Simultandolmetscherin zu werden. Mutti meinte, sie würde es schaffen, allein für mich zu sorgen, jedenfalls bis ich das Abitur unter Dach und Fach hätte. Dann sollte ich versuchen, eine
Studienhilfe zu kriegen – falls Vati nicht bis dahin eine neue Stellung, das heißt eine gute und einträgliche neue Stellung hätte, so daß er mir helfen könnte. Schlimmstenfalls würde ich versuchen, für ein paar Jahre einen Job zu kriegen und selbst Geld für das Studium zusammenzukratzen. Irgendwie würde es schon gehen. Tante Hedwig hörte zu und nickte. Dann sagte sie – und den Satz vergesse ich nie: ‚Könntest du dir denken, das Kind zur Adoption freizugeben?’ Ich glaube, ich machte entsetzte Augen, ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Aber Tante Hedwig sprach weiter. Sie erzählte, daß viele Leute sozusagen Schlange stehen, um ein Adoptivkind zu bekommen. Leute wie die Frau, von der der Arzt erzählt hatte. Die, die sich bei der Adoptionsvermittlung melden, werden genauestens geprüft, erst wenn man weiß, daß es gute Menschen in sicheren Verhältnissen sind – Menschen, von denen zu erwarten ist, daß sie dem Kind ein glückliches Elternhaus geben würden –, erst dann können sie sich die Hoffnung machen, ein Adoptivkind zu kriegen. ‚Denk daran’, sagte Tante Hedwig. ‚Dein Kind ist kein Wunschkind, aber bei liebevollen Adoptiveltern wäre es unbedingt ein Wunschkind! Du müßtest die Geburt und das Wochenbett wie eine Krankheit betrachten, eine Krankheit, nach der du dich schnell erholst. Du würdest das Kind nicht zu sehen bekommen, es würde nach ein paar Tagen seinen neuen Eltern überlassen werden. Und du könntest dann nach Hause fahren, wieder in die Schule gehen, dein Abitur machen, und deine Zukunft so gestalten, wie du sie geplant hast.’ Ach. Elaine, wenn du wüßtest, wie schwer es war. sich zu entscheiden! Ich war sechzehn Jahre alt und sollte plötzlich ganz allein die Entscheidung treffen! Um es kurz zu machen: Ich entschloß mich dafür, das Kind wegzugeben. Was für eine Zukunft konnte ich einem Kind bieten? Und wie schön würde es für so ein kleines Wesen sein, zu guten, womöglich sogar wohlhabenden Eltern zu kommen’ Tante Hedwig nahm wieder die Sache in die Hand. Sie hatte während ihrer vielen Jahre als Hebamme öfters mit der Adoptionsvermittlung zu tun gehabt. Bald war die Sache in Ordnung. Ich sollte in einer Klinik in Flensburg entbinden, vielleicht sogar in Narkose, das Kind würde mir gleich weggenommen werden, und ich sollte zurück zu meiner Schule und meinem normalen Dasein.
Meine Mutter war erleichtert, als ich es ihr geschrieben hatte. Ich bat sie. mir die Schulbücher zu schicken, und versuchte dann, allein ein bißchen weiterzukommen. So verging der Herbst, und zu Weihnachten kam Mutti zu Besuch, nur zwei Tage. Aber wir konnten jedenfalls den Heiligen Abend zusammen feiern. Daß ich an dem Abend auch ein bißchen heulen mußte, na. das war vielleicht nicht so merkwürdig. Mutti fuhr zurück nach Hamburg und zu ihrer sehr anstrengenden Arbeit. Sie verdiente ganz gut. aber das brauchte sie auch! Unsere Wohnung war teuer, und sie versuchte, etwas Geld auf die hohe Kante zu legen, erstens als Notgroschen – zweitens als Studienhilfe für mich. Die einzige Ausgabe, die sie nicht hatte, war Umstandskleidung für mich! Tante Hedwigs Nachbarin borgte mir zwei Umstandskleider. Also hieß es. nur noch zu warten. Die wenige Hausarbeit, die ich machte, fiel mir immer schwerer – ich wuchs und wuchs, und Titinchen machte Ballettübungen in meinem Bauch, oder vielleicht waren es Turnübungen. Jedenfalls bewegte sie sich außerordentlich lebhaft, und besonders zu Zeiten, wo ich am liebsten geschlafen hätte! Dann kam der dreißigste Dezember. Ich vergesse es nie. Ich war früh wach und ging in die Küche, um den Frühstückstisch zu decken. Die Katze miaute und wollte hinaus, also machte ich die Hintertür auf – das heißt, ich versuchte es. aber die Tür war blockiert. Ich guckte zum Fenster raus, es war noch ziemlich dunkel, aber als ich die Außenlampe anmachte, sah ich die Bescherung. Es hatte die ganze Nacht geschneit, der Schnee lag kniehoch, und es schneite immer weiter, es schneite und schneite, der Schnee türmte sich zu Bergen! Es gelang mir. die Tür so weit aufzukriegen, daß ich mich hindurchzwängen konnte, und eben so viel Schnee wegzuschippen. daß die Katze ihr Geschäftchen machen konnte. Dann weckte ich Tante Hedwig, und dann ging es los mit dem Schneeschippen! Wie haben wir gearbeitet! Ja. du erinnerst dich bestimmt an die Schneekatastrophe damals, ihr hattet ja auch die Bescherung hier in Niedersachsen!“ „Wir wohnten damals in Frankfurt“, erklärte ich. „Aber wir sahen ja Bilder im Fernsehen und hörten die Berichte.“ „Es war schrecklich! Nach ein paar Stunden wurde die Stromzufuhr unterbrochen. Die Ölheizung ging nicht, und beim
Nachbarn war es ganz schlimm, er hatte viele Kühe, die alle elektrisch gemolken wurden. Es gelang uns und den nächsten Nachbarn, eine Verbindung zwischen den Häusern zustande zu bringen, einen ganz schmalen Pfad zwischen hohen Bergen von Schnee. Und dieser Pfad wurde benutzt, das kann ich dir sagen! Das Furchtbare war, daß die jüngeren Leute nicht melken konnten. Aber die Oma des einen Nachbarn konnte es noch, und Tante Hedwig konnte es. Die beiden alten Frauen arbeiteten, bis sie sich vor Rückenschmerzen kaum noch aufrichten konnten! Nach zwei Tagen saßen wir da, ohne Verbindung mit der Außenwelt. Wir froren wie die Schneider, unsere Vorräte gingen zu Ende. Wir hatten einen einzigen warmen Raum im Haus, das war die Küche, in der noch zum Glück der alte Kohlenherd stand. Etwas Holz und Kohle gab es noch im Schuppen, und ich war es, die den Weg dorthin schippen mußte. Ach. was sich alles so abspielte, das weißt du bestimmt noch. Ich kann dir sagen, es war kein Vergnügen, mittendrin zu sitzen! Aber eins lernte ich: was gute Nachbarschaft bedeutet! Eine Nachbarin hatte etwas Hefe, eine andere hatte noch Mehl, und dann hieß es Brot backen für drei Familien! Wir konnten mit Kartoffeln aushelfen, und Milch hatten wir in Hülle und Fülle, so viel, daß literweise jeden Tag weggegossen werden mußte. Die Milch konnte ja nicht zur Meierei transportiert werden! Ein Nachbar mußte seine Schweine notschlachten, sonst wären sie erfroren. Ja, dann aßen wir Schweinefleisch und tranken Milch und mußten das Brot rationieren. Und wir wohnten in der Küche, in der es einigermaßen warm war. Das einzige, das noch funktionierte, war das Telefon. Und es schneite immer weiter. Wir wußten nicht, wie weit diese Katastrophe verbreitet war, wir hatten ja weder Fernsehen noch Radio, und Zeitungen erst recht nicht. Dann, am sechsten Januar, setzten bei mir die Wehen ein, ich hatte mich wohl mit dem Schneeschippen überanstrengt. Mit anderen Worten, das, was ich befürchtet hatte, geschah. Ich konnte nicht ins Krankenhaus, und kein Arzt konnte zu uns kommen. Ich mußte mein Kind hier zur Welt bringen, und ich hatte überhaupt kein Babyzeug, keine Aussteuer für das kleine Würmchen. Es war mir ja gesagt worden, dafür sei gesorgt, ich sollte das Kind gebären – und versuchen, es zu vergessen. Tante Hedwig war großartig! Sie bettete mich auf die Couch im Wohnzimmer und ließ die Tür zur Küche offen, damit etwas von der
Küchenwärme ins Zimmer kam. Kannst du dir denken, eine Geburt bewältigen zu müssen ohne elektrisches Licht, ohne fließendes warmes Wasser – jedes Tröpfchen mußte auf dem Kohlenherd heiß gemacht werden! Bald interessierte mich das alles nicht mehr, ich lag da und schrie wie ein Tier! Tante Hedwig stand in Telefonkontakt mit dem Arzt – im Krankenhaus hätte man mir bestimmt eine Narkose gegeben, denn es war eine schwere Geburt. Endlich, endlich am späten Abend war es soweit. Dann war ich so erschöpft, daß ich kaum sah, wie Tante Hedwig etwas Kleines, Lebendiges in ein Tuch wickelte und in die Küche trug. Tante Hedwig war phantastisch. Sie sagte sehr wenig, aber sie kümmerte sich rührend um mich. Am folgenden Tag, als ich wie eine Tote geschlafen hatte und mich etwas besser fühlte, sagte sie mir ruhig und nüchtern wie immer, sie hätte die Klinik benachrichtigt, und sie würde das Kind pflegen, bis die Straßen frei wären, dann würde sie es hinbringen. Die gute Nachbarin hatte ihr Babyzeug und Fläschchen geborgt, und das Kind war in einer Ecke in der großen molligen Küche in einen Wäschekorb gebettet. Und jetzt sollte ich mich um nichts kümmern, ich hätte alles Schwere hinter mich gebracht. Auf meine Frage ‚Junge oder Mädchen’ wollte sie zuerst nicht antworten, aber ich ließ nicht locker, und zuletzt sagte sie dann, daß es ein Mädchen sei. Dann stand sie auf, stellte einen alten Petroleumofen in mein Zimmer und schloß die Tür zur Küche. Sie mußte zum Nachbarn zum Melken. Ich lag da ganz allein, ganz schrecklich allein. Mein Nachthemd war naß von all der Milch, die ausgesickert war, und die Brüste taten mir weh. Und da, auf der anderen Seite der Wand, lag mein Kind und wurde künstlich ernährt, mit Kuhmilch und irgendeiner FabrikBabynahrung. Ich versuchte« an etwas anderes zu denken, versuchte zu lesen. Dann hörte ich ein schwaches Schreien – ein Babyschreien. Ich zog die Decke über den Kopf, ich wollte nichts hören, ich mußte stark bleiben. Das Schreien wurde kräftiger, mir liefen die Tränen übers Gesicht – und dann war ich mit einem Satz aus dem Bett, etwas wackelig auf den Beinen – ich ging in die Küche, in die Ecke, in der das schön zurechtgemachte Körbchen stand. Ich nahm mein Kind, nahm es zu mir ins Bett, ich legte es an die Brust, führte die Brustwarze in den kleinen Mund – und das Baby trank, es trank gierig!
In dem Augenblick wußte ich es: Nie, nie gebe ich mein Kind weg! Koste es. was es wolle, ich nehme alles auf mich, alle Probleme, alle Schwierigkeiten – mein Kind und ich gehören zusammen! Weißt du. Elaine… aber Menschenskind, du weinst ja!“ Simone starrte mich verblüfft an. Es stimmte. Dicke Tränen kullerten aus meinen Augen. „Ich kann nichts dafür – laß mich nur weinen –, erzähle weiter, Simone, bitte, bitte erzähle weiter!“ „Viel gibt es nicht mehr zu erzählen. Es war ein so sonderbares Gefühl, ein großer Friede kam über mich, über uns beide. Wenn ich jetzt zurückdenke, weiß ich, daß ich in diesen Minuten ein erwachsener Mensch wurde. Ich war nicht mehr ein hilfloser Teenager, ich war eine erwachsene Frau, die einen Entschluß gefaßt und eine enorme Verantwortung auf sich genommen hatte. Ich war Mutter. Das Kind trank sich satt, dann schlief es in meinem Arm ein. Ich lag da und sah mir das kleine Gesichtchen an. Es war so hübsch, glatt und rosig, keine Spur von Runzeln und Falten, wie man es manchmal bei Neugeborenen sieht. Jetzt lächelst du, Elaine, woran denkst du?“ „An etwas, das meine Mutter einmal sagte. Als ich geboren wurde, sah ich aus wie ein geschrumpfter Apfel oder ein kleiner Affe.“ „Ja. das tat Titine nicht. Sie war ein wunderschönes Baby. Und während ich so dalag und sie betrachtete, da stieg ein Glücksgefühl in mir hoch, ein Glücksgefühl so überwältigend, wie ich es nie erlebt hatte. Ich wußte, daß ich eine schwere Zukunft vor mir hatte, wußte, daß es nichts mehr mit der Schule und einer Ausbildung werden würde, aber das alles schrumpfte zusammen zu nichts – ich war glücklich, nur glücklich! Als Tante Hedwig nach Hause kam und den leeren Babykorb fand, ahnte sie, was passiert war. Sie kam zu mir, und bevor sie ein Wort sagen konnte, sprach ich. ,Tante Hedwig’, sagte ich, und ich hörte, daß meine Stimme einen neuen Klang hatte – fest, entschlossen, erwachsen. ,Tante Hedwig, mein Kind bleibt bei mir. Nie im Leben gebe ich es her. Ich weiß genau, was ich auf mich nehme, ich weiß, daß es tausend Schwierigkeiten geben wird, aber mein Kind bleibt bei mir.’ Dann passierte etwas Merkwürdiges. Tante Hedwig, die
praktische, nüchterne Tante Hedwig, kam einen Schritt näher. Sie sah sich uns beide an, und plötzlich beugte sie sich herunter und küßte meine Stirn. Ja, Elaine, das war die Geschichte. Und jetzt mußt du schlafen. Es ist halb zwei Uhr!“ „Sag bloß schnell, wie deine Mutter reagierte!“ „Sie war zuerst entsetzt, aber als sie Titine sah… ja, da schmolz ihr Herz. Sie war beinahe froh, als ich ihr sagte, daß die Kleine ihren Namen bekommen hatte.“ „Heißt deine Mutter Titine?“ „Nein, sie heißt Katharina. Titine ist nur ein Kosename, der mir selbst einmal so ganz natürlich über die Lippen kam. Meine Mutter nahm noch mehr Extraarbeit an, um uns alle drei über den Berg zu kriegen, und ich fing bald an, alle möglichen Jobs anzunehmen – jede Arbeit war mir recht, wenn ich nur das Kind immer mitnehmen konnte. Und so wird es wohl bleiben, bis Titine in einen Kindergarten oder in ein Tagesheim kommen kann. Nur eins steht fest: Titine bleibt bei mir!“ Simone schwieg. Ich sah sie an, ihr Gesicht war ruhig und entspannt in dem schwachen Licht der Nachttischlampe. „Simone“, sagte ich. „Nun hätte ich eigentlich eine ganze Menge, das ich dir sagen möchte…“ „Warte bis morgen“, sagte Simone. Sie hob den Arm und machte das Licht aus. „Jetzt wollen wir schlafen. Gute Nacht. Elaine, ich danke dir für einen wunderschönen Tag!“ „Ich habe zu danken“, antwortete ich. „Gute Nacht. Simone.“
Dreifacher Abschied Simone und ich trafen uns noch zweimal, bevor sie Hannover verlassen mußte. Einmal besuchte ich sie in der Wohnung, wo sie einhütete; und als ihr Job da zu Ende war. besuchte sie uns einen Tag und fuhr dann von uns direkt nach Hamburg. Sie versprach mir hoch und heilig, mich auf dem laufenden zu halten, wo immer sie sich befand und wo ich sie erreichen konnte. Grand-mères Besuch ging auch zu Ende. Wir schafften es noch, ein paar schöne Ausflüge mit ihr zu machen, in die Heide, wo das Heidekraut jetzt anfing zu blühen, und dann zu dem herrlichen Vogelpark Walsrode und in den Zoo in Hannover. Und dann feierten wir natürlich zusammen Mamas vierzigsten Geburtstag! Grand-mère verbrachte zwei volle Tage in der Küche, das Resultat war atemberaubend! Ingo kam, wie angekündigt, und brachte sogar Cora mit. was alles natürlich noch lebhafter bei uns machte. Marcus setzte sich enorm dafür ein, ein gutes Verhältnis zwischen Cora und dem kleinen Kätzchen Felix zu etablieren; Bisken nahm Coras Anwesenheit zur Kenntnis, ohne irgendwelche Zeichen von Sohnesliebe zu zeigen. Aus Kiel kam Jessica, und von Nord und Süd, Ost und West flatterten Telegramme. Briefe, Blumen und Pakete ins Haus. Das Telefon läutete den ganzen Tag. Wenn ich es nicht schon vorher gewußt hätte, hätte mich dieser Tag jedenfalls davon überzeugt, daß meine Mutter sehr beliebt ist! Jessica hatte uns auch per Post geholfen. Sie kann so gut „Gelegenheitsgedichte“ schreiben, und nun schickte sie ein sehr nettes Gedicht, das Marcus mit viel Eifer auswendig lernte und am Frühstückstisch aufsagte. Kurz gesagt, es wurde ein Geburtstag, so wie ein Geburtstag sein soll – und Mama war glücklich über das Dampfbügeleisen, wenn auch nicht sprachlos – das wurde sie erst, als sie Papas Geschenk auspackte: eine wunderbare Perle an einer goldenen Kette. Dieser Tag bildete eigentlich den Abschluß eines sehr schönen Sommers. Ja, wie war alles schön gewesen! Grand-mères Besuch – wenn sie auch auf eigenen Wunsch die längste Zeit in der Küche verbracht hatte – Ingos Wochenendbesuche, und die Bekanntschaft mit Simone. Oder vielmehr, die gute Freundschaft mit Simone. Und die Bekanntschaft mit der süßen kleinen Titine!
Ich hatte meinen Eltern und Grand-mère Simones ganze Geschichte erzählt, nicht ohne Pausen, ganz einfach, weil mir ab und zu ein sehr störender Kloß in die Kehle stieg. Und als ich zum Schluß der Geschichte kam und erzählte, wie Simone ihr Kind zu sich holte, es stillte und sich dazu entschloß, es zu behalten – ja, da mußten sowohl Mama als auch Grand-mère schnell die Augen wischen. „Das arme kleine Ding“, sagte Grand-mère. „Man muß ihr irgendwie helfen, wir müssen uns etwas einfallen lassen.“ „Ja“, nickte Mama. „Du hast recht, Grand-mère. Etwas müssen wir tun!“ Papa sagte nichts, dafür handelte er. Er steckte mir zwei Hundertmarkscheine in die Hand. „Lauf zur Post und schick eine Postanweisung an Simone“, sagte er. „Allerdings ist der Babyseifen-Film noch nicht fertig, und ich weiß nicht, wieviel er Titine einbringen wird; aber ich kenne die Firma, sie werden den Film mit Begeisterung nehmen. Wenn wir Glück haben, bezahlen sie dem kleinen Fotomodell mehr. Schreib Anzahlung Honorar für Titine auf den Abschnitt!“ Ich sprang aufs Rad, und zehn Minuten später war die Postanweisung unterwegs! Dann kam Grand-mères Abreisetag. Sie mußte früh aufstehen, und ich hatte versprochen, sie zu wecken, was ich mit einem Kuß besorgte. „So möchte ich jeden Tag geweckt werden“, sagte Grand-mère mit ihrem lieben Lächeln. „Was für Reisewetter kriege ich, ma petite?“ „Der Himmel weint, weil du wegfährst“, berichtete ich. „Es regnet!“ Ich zog die Vorhänge zur Seite, und Grand-mère warf einen Blick hinaus in die nasse Welt. „Du liebe Zeit! Es regnet ja Hellebarden!“ rief sie. Sie wanderte ins Bad. und ich ging hinunter zu Mama in die Küche. „So ein Wetter!“ stöhnte sie. „Es regnet ja Bindfäden!“ „Grand-mère behauptet, es regnete Hellebarden!“ sagte ich. „Ja. das sagt man in Frankreich! Nun, wie dem auch sei, wir müssen uns beeilen – setz mal bitte Kaffeewasser auf!“ Dann erschien Papa. „Na, das kann ja gut werden“, brummte er. „Es regnet ja Schuster
und Schneider!“ „Was tut es?“ „Es regnet Schuster und Schneider! Kennst du den Ausdruck nicht? Und du willst Norwegerin sein? Es ist eine direkte Übersetzung aus dem Norwegischen. Aber wenn du den englischen Ausdruck lieber hast, dann meinetwegen. Die Engländer sagen ‚it rains cats and dogs’!“ „So was!“ rief ich. „Also, in England regnet es Katzen und Hunde, in Norwegen Schuster und Schneider, hier regnet es Bindfäden und in Frankreich Hellebarden!“ „Wir müssen bald los“, sagte Papa. „Bei dem Wetter kann ich nicht schnell fahren!“ Also beeilten wir uns und trugen bei strömendem Regen Grandmères Gepäck in den Wagen. Ihre Reisetasche war bei der Ankunft mit lauter Mitbringseln gefüllt gewesen. Jetzt war sie wieder vollgestopft mit Mitbringseln von uns für die liebe Familie in der Schweiz. Die Tiere wurden versorgt, und dann ging es auf regennassen Straßen nach Hannover. Grand-mère mußte versprechen, uns wieder zu besuchen, und wir umarmten sie der Reihe nach und dankten ihr von ganzem Herzen, daß sie gekommen war. Sie sah uns an mit ihren jungen, strahlenden Augen und sagte – und dabei zitterten ihre Lippen ein ganz klein wenig -: „Kinder, wie hat der liebe Gott es gut mit mir gemeint! Sich denken, über achtzig zu sein, und von so vielen Menschen geliebt zu werden!“ In dem Augenblick wurden die Fluggäste nach Frankfurt aufgerufen, und Grand-mère ging durch die Sperre. Noch einmal drehte sie sich um und winkte uns zu. Dann fuhren wir bei Bindfäden. Hellebarden. Schustern und Schneidern. Katzen und Hunden nach Hause. Die Schule hatte angefangen. Zum erstenmal in meiner ganzen Schulzeit freute ich mich auf das Schuljahr. Es ist etwas Schönes, ein Ziel zu haben und bewußt dafür zu arbeiten. Vom ersten Tag an ging ich mit voller Kraft an die Arbeit. Nach einer Woche stellte ich fest, daß es eigentlich sehr schön ist. wenn man nicht in der Schule auf Kohlen sitzt vor lauter Angst, aufgerufen zu werden! Nicht heimlich auf die Uhr gucken, ob nicht bald die Stunde zu Ende ist. Nicht mit einem Tadel im Zeugnisheft klein und häßlich nach Hause zu kommen!
„Du kannst, wenn du willst“, hatten meine Eltern so oft gesagt. „Du könntest, wenn du wolltest“, sagten meine Lehrer in Frankfurt. Sie hatten also recht. Jetzt konnte ich. weil ich wollte! Aber es kostete Arbeit! Schluß mit Reitstunden. Schluß mit langen Nachmittags-Radtouren und unbedingt Schluß mit meiner Töpferei! Meine Hausarbeit beschränkte sich darauf, daß ich die Tiere versorgte und mein Bett machte – letzteres offen gesagt sehr oberflächlich! Dann kam der Tag, an dem Ingo uns zum letztenmal vor der Abreise besuchte. Zum letztenmal erlebten wir ein paar unsagbar glückliche Stunden, und dann hieß es für drei Monate Abschied zu nehmen. „Papa, paß gut auf Ingo auf!“ bat ich. „Ingo, paß gut auf Asbjörn auf!“ bat Mama. Dann waren wir allein. Mama, Marcus, die Tiere und ich. Jetzt hatte ich nichts, wirklich gar nichts, was mich von der Schule ablenken konnte. Ja. natürlich schrieb ich an Ingo, ziemlich oft. aber nur kurze Grüße. Von ihm kam Post der gleichen Art. Wer sehr zufrieden war, war mein Bruder. Er sammelte neuerdings Briefmarken und hatte Vater und seinen zukünftigen Schwager sehr eindringlich ermahnt: „Ihr braucht gar nicht viel zu schreiben, aber oft, und mit vielen verschiedenen Briefmarken!“ „Du hast aber viel auf“, meinte Mama. Sie hatte mich zum Abendessen gerufen, nachdem ich den ganzen Nachmittag in meinem Zimmer mit den Schulbüchern verbracht hatte. „Nicht so sehr viel“, gestand ich. „Aber ich muß leider zugeben, daß mein Wissen ganz furchtbare Lücken und Löcher aufweist. Die Löcher müssen gestopft werden, und das bedeutet eine Heidenarbeit.“ „Ja. es wäre vielleicht besser gewesen, wenn du dir das große Ziel ein oder zwei Jahre eher gesetzt hättest“, meinte Mama. „Nun iß aber, Kind, du hast tatsächlich abgenommen in der letzten Zeit!“ Da mußte ich lachen. „Das ist mein Glück! Bei Grand-mères Essen habe ich drei Pfund zugenommen! Es ist tatsächlich eine Katastrophe für die Linie, von Grand-mère bekocht zu werden!“ „Wem sagst du das“, stöhnte Mama und bestrich ihr Knäckebrot mit Magerquark anstatt mit Butter.
Die Feuerprobe „Was ist mit dir los. Elaine?“ fragte Antje Sager. „Hast du dir vorgenommen, die Beste in der Klasse zu werden?“ „Nein, das nicht, das ist mir ganz egal, wer besser ist. Aber ich habe mir etwas vorgenommen, und daran ist dein Vater schuld!“ „Was? Mein armer Vater, was willst du ihm in die Schuhe schieben?“ „Ich schiebe gar nichts! Aber er meinte doch, daß ich gut mit Tieren umgehen kann, und das brachte mich dazu, meine Pläne zu ändern. Zuerst wollte ich Keramikerin werden, dann hatte ich mich für tierärztliche Helferin entschlossen.“ „Aber dazu brauchst du doch kein Abitur!“ „Warte mal. Den Rest meiner Zukunftspläne muß ich meiner Urgroßmutter in die Schuhe schieben. Sie war es nämlich, die fragte, warum ich nicht Veterinärmedizin studieren wollte. Und das will ich nun also. Jetzt weißt du. daß ich ein phantastisch gutes Abitur brauche!“ „Du heiliger Strohsack! Ja. dann verstehe ich! Was sagtest du übrigens – deine Urgroßmutter? Hast du eine wirkliche, lebendige Urgroßmutter?“ „Das habe ich! Und was für eine!“ Dann erzählte ich von Grand-mère und von ihrer jugendlichen Einstellung, ihrer strahlenden Laune und ihrer Kochleidenschaft. „So eine Urgroßmutter möchte ich auch haben!“ lächelte Antje. „Du, es wird Vati aber interessieren, daß du Tierärztin werden willst! Wenn es soweit ist. mußt du dich um eine Assistentenstellung bei ihm bewerben. Du weißt ja. daß du ein Jahr Praxis machen mußt, bevor du eine eigene Praxis aufmachen darfst?“ „Weiß ich alles. Aber bis dahin ist viel Zeit. Noch ein Jahr Schule, dann elf Semester Studium – falls ich überhaupt angenommen werde – und dann werde ich mich bei deinem Vater melden! Aber Antje, warum wirst du selbst nicht Tierärztin? Bist du keine Spur erblich belastet?“ „Doch! Sehr reichlich! Von meiner Mutter! Sie hat Kunstgeschichte studiert, und das will ich auch! Nein, du ich würde eine seltsame Tierärztin abgeben! Ich sollte einmal unseren Hund halten, als Vati ihn impfen wollte; ich habe mehr Angst gehabt als der Köter, und im entscheidenden Augenblick habe ich ihn
losgelassen. Er hopste vom Tisch, und da stand Vati und fuchtelte mit der Spritze!“ Ich mußte lachen. „Ja. dann sehe ich ein. daß du dich lieber für die Kunst einsetzen solltest. Übrigens muß ich demnächst mit Anton zu deinem Vater.“ „Mein Vater ist doch kein Menschenarzt!“ „Anton ist auch kein Mensch, er ist mein Kater. Er ist dreizehn Jahre alt und beinahe so klug wie ein Mensch. Aber er gefällt mir nicht so richtig, ich werde ihn untersuchen lassen. Ich muß laufen. Antje, ich habe nur noch zehn Minuten, bis mein Bus fährt – tschüs, grüße meinen zukünftigen Chef!“ Es war schon Oktober, und wir bekamen Herbstferien. Ich atmete auf. Es war gar nicht so leicht gewesen, sich auf diese konzentrierte Arbeit umzustellen. Ich war müde. Mit der Müdigkeit kamen auch manchmal Anfälle von Mutlosigkeit. Die verflixte Mathematik machte mir furchtbar zu schaffen, und jetzt war Papa nicht da, er war sonst immer sozusagen mein mathematischer Trost und meine Zuflucht gewesen. Ich mußte weiterarbeiten, auch in den Ferien. Aber vorerst hatte ich ein paar Dinge zu tun. Briefe zu schreiben – ich saß bis über die Ohren in Briefschulden – und Anton zum Tierarzt zu bringen. Mama mußte Einkäufe machen, was sie sehr gut in Braunschweig erledigen konnte, wie sie behauptete. Also fuhren wir los, Mama, Marcus. Anton und ich – Anton in seiner feinen Transportkiste mit Decke und Gittertür. Unterwegs lag er allerdings auf meinem Schoß, aber für die Strecke vom Parkplatz bis zur Praxis mußte er in seine Kiste, was er seelenruhig über sich ergehen ließ. Leider waren wir etwas zu spät losgefahren – da war eine Kundin mit Kleiderwünschen gekommen, und Mama wurde aufgehalten. So war es kurz vor Praxisschluß, als wir bei Dr. Sager ankamen. „Ich mache dann die Besorgungen“, sagte Mama. „Hier hast du den zweiten Autoschlüssel, du und Anton könnt ja im Wagen warten, falls ihr fertig seid, bevor ich zurück bin.“ „Kommt darauf an, wie voll es ist“, sagte ich. „Jedenfalls werden wir nicht unnötig trödeln!“ Also trennten wir uns. In Dr. Sagers Wartezimmer saßen ein junger Mann mit einem Schäferhund und ein kleines Mädchen mit einem Meerschweinchen, das liebevoll in einen Schal gehüllt war. Ich mußte eine halbe Stunde warten. Anton kam als letzter Patient dran.
„Ach. Sie sind es. Elaine“, begrüßte mich der Arzt. „Haben Sie was Schlimmes, oder schaffen wir es ohne die Helferin?“ „O ja. das tun wir“, beteuerte ich. „Ich glaube, daß es nur Alterserscheinungen bei meinem Kater sind. Aber man kann ja nicht wissen.“ „Setzen Sie ihn auf den Untersuchungstisch. Ach Rosi, Sie können gehen, dies schaffe ich ohne Sie, laufen Sie zur Post, es eilt mit dem Paket. So. jetzt wollen wir mal sehen. Na, das ist ja ein stattliches Tier und gut gepflegt. Wie alt ist er?“ „Dreizehn. Er ist übrigens halber Siamese.“ „Dann ähnelt er wohl dem nichtsiamesischen Elternteil“, schmunzelte Dr. Sager. „Also, was macht er Ihnen für Sorgen?“ „Er ist so… ja, so still geworden. So ruhig. Früher sprang er immer auf meine Schulter, wenn ich nach Hause kam… er saß immer auf dem Torpfosten und wartete auf mich. Meine Mutter sagte immer, der Kater hat eine Uhr im Bauch! Seit einiger Zeit sitzt er auf dem Boden vor dem Tor, er springt nie mehr auf den Torpfosten, und wenn ich komme, muß ich ihn hochnehmen, er kommt nie mehr auf meine Schulter. Ja. und dann schläft er furchtbar viel. Ich weiß nicht, ob es nur das Alter ist. oder ob er vielleicht Rheuma hat? Ja, und er verliert so viele Haare, sehen Sie sich seinen Bauch an, der ist ganz nackt.“ Dr. Sager hörte Anton ab. er horchte auf die Herztöne. „Ja“, sagte er. „Er hat das. was wir ein Altersherz nennen. Die Haarausfälle sind auch altersbedingt. Ich gebe ihm eine Spritze und schreibe Ihnen ein Vitaminpräparat auf. Mehr kann man nicht machen. Sie verlangen auch nicht von einem Uropa, daß er Leistungssport treibt oder in Diskotheken tanzt?“ Anton bekam seine Spritze und wurde wieder in seine Transportkiste gesteckt. „Ich habe nicht den Eindruck, daß er irgendwelche Schmerzen hat“, erklärte Dr. Sager. „Aber, wie gesagt, sein Herz ist nicht mehr das beste, und ich fürchte. Sie müssen sich darauf gefaßt machen, daß er nicht vierzehn wird. Sie hängen wohl sehr an dem Tier?“ „Und ob! Ich war vier Jahre, als ich ihn bekam, er ist… ja, er ist sozusagen ein Teil meines Lebens.“ „Das kann ich verstehen. Und genießen Sie nun die Wochen oder Monate, die Sie noch mit ihm verleben können. Denken Sie nicht immer daran, daß es bald zu Ende ist. Was macht übrigens ihr ulkiger kleiner Hund?“
„Oh, dem geht es prima! Er ist quietschvergnügt und furchtbar verwöhnt!“ „Das glaube ich Ihnen gern. Übrigens. Antje hat mir erzählt, daß Sie vorhaben. Veterinärmedizin zu studieren! Dann halte ich Ihnen die Daumen, daß Sie an der Hochschule aufgenommen werden!“ „Lieber wäre es mir. wenn Sie mir eine Spritze gegen mathematische Unbegabtheit geben könnten“, seufzte ich. „So? Hapert es… nanu!“ Wir hörten ein verzweifeltes, durchdringendes Hundegeheul – die Wartezimmertür wurde aufgerissen und knallte von selbst wieder zu. Eilige Schritte, und schon hatte Dr. Sager die Praxistür aufgerissen. Eine ältere Frau taumelte herein. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, in den Armen hielt sie ein heulendes, blutüberströmtes, jämmerliches Etwas. „Sofort auf den Tisch, Frau Albertsen! Überfahren?“ „Nein, nein… gebissen… zerfleischt vor meinen Augen… ein großer Schäferhund…“ Ich weiß nicht, woher ich den Mut nahm, mich einzumischen. Es war mir klar, daß Dr. Sager sich jetzt ganz und gar um das blutende Bündel auf dem Tisch kümmern mußte, und daß er die aufgeregte Hundebesitzerin jetzt nicht brauchen konnte. Ich legte meine Hand auf die Schulter der Frau. „Kommen Sie. Setzen Sie sich ins Wartezimmer. Überlassen Sie alles dem Herrn Doktor.“ Ich schob sie sanft hinaus und machte die Tür zu. „Was kann ich machen, Herr Doktor?“ „Festhalten. Vorsichtig. Die rechte Hand da… ja, genau so. Und mit der linken dort fassen… der kleine Kerl muß sofort betäubt werden.“ Dr. Sager handelte schnell und sicher. Das arme Tier spürte den kleinen Einstich der Spritze wohl kaum. Dann wurde der Hund auf dem Behandlungstisch angeschnallt. Dr. Sager untersuchte das Tier, die tiefen, blutenden Wunden. Dann nahm er das Stethoskop und horchte auf das Herz. „Elaine, in der Trommel rechts sind sterile Tupfer. Nicht mit den Händen reinfassen. Nur mit der Zange da im Becher. Legen Sie einen Tupfer dahin!“ Er zeigte mit dem Finger auf eine Stelle, dann holte er eine gebogene Nadel aus einem Behälter, Fäden aus einem anderen, und mit geschickten Fingern fädelte er ein.
„Schere da. im kleinen Kasten. Bitte abschneiden.“ Die Nadel wurde auf den bereitgelegten Tupfer gelegt. „Drei, vier Tupfer noch!“ Ich reichte sie ihm mit der Zange. Er wischte damit die Wunden aus. betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. „Kleine Schere, gebogen, aus dem Glaskästchen. Und die Pinzette daneben.“ Ich holte die Instrumente, faßte sie ganz vorsichtig nur am Griff. Er drückte mit der Pinzette eine stark blutende Stelle zu. „Hier festhalten. Nicht loslassen.“ Dann nähte er. tief innen in der Muskulatur. Stich für Stich. Schnell, gekonnt. Nach jedem Stich Faden abschneiden, schnell weiter. Dann wurden ein paar blutige Muskelfetzen abgeschnitten. „Loslassen. Haare am Wundrand abschneiden. Aufpassen, daß kein Härchen in die Wunde fällt.“ Während ich das tat. fädelte er eine andere Nadel ein. Dann ging es ans Hautnähen. Viele Stiche waren notwendig, bevor die große Wunde geschlossen war. Die anderen Wunden waren kleiner, eine wurde genäht, eine nur mit einem Pflasterstreifen zusammengehalten. Dr. Sager horchte wieder. Dann warf er alles hin, das er in den Händen hatte, und fing an, eine Herzmassage zu machen, mit regelmäßigen, ruhigen Bewegungen. Nie habe ich einen Menschen so konzentriert arbeiten sehen. „Ich muß diesen Hund retten“, sagte er leise. „Ich muß!“ Endlich konnte er die Wunde verbinden. Der Hund wurde losgeschnallt, ich konnte zwei Pfoten verbinden, und Dr. Sager kümmerte sich um die tiefe, zweimal genähte Wunde. Die Narkose war gerade ausreichend gewesen, denn jetzt fing der kleine Patient allmählich an zu wimmern. Dr. Sager gab mir die Mullbinde in die Hand. „Machen Sie den zweiten Verband fertig. Ich muß eine neue Spritze aufziehen.“ Bevor der Hund noch richtig zur Besinnung gekommen war. hatte er die Spritze bekommen. „Ein herzstimulierendes Mittel“, erklärte Dr. Sager. Er beobachtete den Hund unentwegt. „Ich muß diesen Hund retten“, wiederholte er. „Es muß gutgehen. Ich erkläre Ihnen nachher, warum. Ich glaube, es sind nur Fleischwunden, keine inneren Verletzungen, hoffe ich. Aber er hat ja
Unmengen Blut verloren. So, Kleiner, bist du wach? Holen Sie jetzt Frau Albertsen, Elaine.“ Ich tat es. Außer ihr fand ich Mama im Wartezimmer sitzen. „Wo bleibst du bloß, Kind?“ „Ich komme gleich, Mama. Es war ein Unfall…“ „Ja. das ist mir klar. Die Frau war ganz außer sich. Na, ich gehe dann zum Wagen, ich kann ja Antonchen mitnehmen.“ Ich holte Antons Kiste, Mama ging los, und jetzt kam Frau Albertsen mit ihrem kleinen verbundenen Hund aus dem Sprechzimmer. „Oh, Herr Doktor, ich bin Ihnen ja so dankbar. Glauben Sie, daß mein Pussel es schafft? Wird er wieder gesund?“ „Ich glaube es, Frau Albertsen. Rufen Sie mich heute nachmittag an und sagen Sie mir, wie es ihm geht. Heute abend komme ich dann auf einen Sprung vorbei. Hier gebe ich Ihnen zwei Tabletten mit, eine für heute abend, eine für morgen früh. Soll ich Ihnen ein Taxi bestellen? Ach. Elaine, rufen Sie an. die Nummer steht da auf dem Block!“ Kurz danach war die Dame mit ihrem Dackel gegangen. Erst nach der Behandlung konnte man den Hund als einen Dackel erkennen. Vorher war er nur wie ein Klumpen Blut und Haare und rotes Fleisch gewesen. Dr. Sager und ich sahen uns an. „Sie sehen schön aus! Nun waschen Sie sich erst mal, hier ist ein frisches Handtuch. Das Gesicht auch, sie haben Blutspritzer auf beiden Backen! Und Ihre Jeans sehen aus, du meine Güte!“ Ja. die Jeans sahen märchenhaft aus. Als der Hund in der Narkose lag, war Urin und Kot abgegangen, etwas davon war auf meinen Jeans gelandet. Und Blut, Blut überall! „Macht nichts, Herr Doktor. Wir haben eine Waschmaschine!“ „Sie sind sehr, sehr tüchtig gewesen, Elaine. Ich weiß nicht, was ich ohne Sie getan hätte!“ „Aber. Herr Doktor, ich habe ja nur die Sachen aus den Kästchen geholt und eine Pinzette festgehalten… und ein paar Haare abgeschnitten…“ „Und Verbände gemacht, und kein störendes Wort gesagt, das war das allerbeste. Und Sie sind nicht blaß geworden und haben keine Zustände gekriegt, als sie die zerfetzte Muskulatur und all das Blut sahen. Ich würde sagen, dies war Ihre Feuerprobe, Elaine. Und Sie haben sie glänzend bestanden.“
Ich errötete vor Freude. „Herr Doktor, sie sagten, Sie würden mir nachher erklären, warum sie gerade diesen Hund unbedingt retten wollten!“ „Ja. sehen Sie. die Frau Albertsen verlor vor zwei Jahren ihren Mann und vor einem halben Jahr ihren einzigen Sohn, durch einen Unfall. Ihre Tochter hat – nein, das erzähle ich nicht, auch ein Tierarzt hat Schweigepflicht. Jedenfalls, die arme Frau war kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Ich glaube tatsächlich, daß der Hund sie gerettet hat. Sie hatte ein lebendiges Wesen, um das sie sich kümmern mußte, und sie sagte mir einmal, als sie mit ihrem Pussel hier zum Impfen war: ,Was soll bloß aus meinem Pussel werden, wenn ich krank werden sollte? Ich muß fit bleiben, und mein Pussel muß gesund bleiben.’ Sie liebt das Tier abgöttisch, verwöhnt es natürlich nach Strich und Faden, das darf sie meinetwegen gern tun. Ich wage einfach nicht daran zu denken, was geschehen würde, wenn der Hund sterben sollte. Na, machen Sie nun. daß Sie nach Hause kommen. Wo ist übrigens Ihr Kater?“ „Meine Mutter hat ihn geholt. Ach ja, dann möchte ich gleich zahlen!“ „Was? Ich höre immer zahlen! Das haben Sie durch Ihre Hilfe hier schon vielfach bezahlt! Ich will keinen Pfennig haben! Und noch eins. Elaine: Wenn die Zeit kommt, wo Sie eine Assistentenstellung suchen, dann kommen Sie zu mir.“ „Oh. Herr Doktor, tausend Dank, wenn es bloß schon soweit wäre! Wenn ich nur an der Hochschule aufgenommen werde!“ „Und wenn Sie bloß Ihr Abitur… ach ja, was sagten Sie vorhin? Sie haben Schwierigkeiten mit Mathematik?“ „Und wie! Und mein Vater, der immer mein Trost ist, sitzt ausgerechnet in Yucatan!“ „Aber ich sitze hier. Und in der Schule war Mathematik meine Stärke! Wissen Sie was, Elaine? Ich helfe meiner Antje jeden Abend eine Stunde mit den Mathematikaufgaben. Schließen Sie sich doch an! Jedenfalls jetzt in den Herbstferien. Ist das nicht eine gute Idee?“ „Oh, und was für eine! Meinen Sie das wirklich im Ernst?“ „Unbedingt. Kommen Sie heute abend gegen achtzehn Uhr. Abgemacht?“ „Herr Doktor, ich könnte Sie umarmen!“ „Darauf werden wir zurückkommen, wenn Ihre Kleidung von Hundeblut gesäubert ist. Nun gehen Sie los, Ihre Mutter wartet schon
allzu lange.“ „Meine Mutter wird Verständnis haben! Also, dann bis heute abend – und tausend, tausend Dank!“ Ich schwebte wie auf Wolken die Treppe hinunter und dann zum Parkplatz, in meinen blutverschmierten Jeans! Beim Mittagstisch hatte ich so viel zu erzählen, daß ich kaum zum Essen kam. Daß ich vielleicht in sechs Jahren Assistentin bei Dr. Sager werden sollte, daß ich meine Feuerprobe gut bestanden hatte, daß ich gelobt worden war und als Krönung: Dr. Sager wollte mir bei der Mathematik helfen! „Das ist ja großartig!“ sagte Mama. „Nach deinem Aussehen heute mittag zu beurteilen, hast du ja auch einen großen Einsatz gemacht. Ein Glück, daß du Blut sehen kannst!“ „Ja, und Kot und Urin! Wenn ich das nicht könnte, hätte ich wohl lieber bei meiner Töpferei bleiben sollen. Ach, ich bin ja so froh! Wenn mir endlich das mathematische Licht aufgehen würde, dann… ja, dann schaffe ich es! Dann mache ich ein gutes Abitur! Weißt du, Mama, ich bin so aufgekratzt, ich bin so arbeitsfreudig – ich habe nie geahnt, daß konzentrierte Arbeit einen Menschen direkt glücklich machen kann!“ „Das hätte ich dir erzählen können. Weil meine Arbeit, allerdings auf einem bescheideneren Gebiet, mich glücklich macht. Ich werde heute nachmittag an der Nähmaschine glücklich werden! Frau Geest wartet sehnlichst auf das Kleid, das sie zu Opas fünfundsiebzigstem Geburtstag tragen wird.“ „Mama“, sagte ich. „Mußt du wirklich so viel arbeiten? Du hast den ganzen Haushalt, du hast nicht einmal eine Putzfrau – und dann nähst du obendrein für andere Leute! Sag ehrlich, Mamachen, arbeitest du so viel meinetwegen? Wegen meiner kostspieligen Ausbildung?“ Mama strich mir schnell über die Wange. „Und wenn es so wäre?“ sagte sie mit ihrer guten, leisen Stimme. „Ist das vielleicht kein Glück? Etwas für sein Kind zu tun?“
Und dann kam es ganz anders Dr. Sager war phantastisch. Er hatte eine Fähigkeit zu erklären, die Probleme zu vereinfachen, uns zum logischen Denken zu bringen. Kein Wunder, daß Antje immer beneidenswert gute Noten in Mathematik hatte. Dabei hatte ich den Eindruck, daß es ihm selbst Spaß machte, uns Unterricht zu geben. Er lächelte strahlend und zufrieden, wenn ich etwas kapiert hatte, er machte mir Mut, und immer wiederholte er: „Mathematik ist nichts anderes als logisches Denken, vergiß das nicht, Elaine!“ Ja, er hatte sich so oft mit der Anrede versprochen, daß ich ihn bat, mich endgültig zu duzen. Antjes Mutter hatte es gleich ganz selbstverständlich getan. Am ersten Abend hatte ich gleich nach unserem Patienten Pussel gefragt. „Er schafft es!“ sagte Dr. Sager glücklich. „Ich glaube wirklich, daß er es schafft! Aber ich habe ein Wort mit dem Schäferhundbesitzer zu reden, und das wird kein freundliches Wort sein. Erstens hat er aus seinem Hund ein bissiges Tier gemacht, und dann läßt er ihn frei laufen, obwohl er weiß, daß er gefährlich für alle kleinen Hunde ist.“ „Aber was soll man in einem solchen Fall machen?“ fragte ich. „Wenn mein kleiner Hund von einem bissigen Schäferhund angegriffen wird, was mache ich dann?“ „Versuchen, den angreifenden Hund an den Hinterbeinen zu packen, die Beine spreizen und den ganzen Hund seitlich werfen. Dann läßt er los. das garantiere ich dir.“ „Klingt leicht“, sagte ich. „Aber ich habe nicht die Kraft, einen großen Hund zu werfen!“ „Aber ihn an den Hinterbeinen zu packen, dazu hat jeder gesunde, erwachsene Mensch die Kraft. So, dann also zur Mathematik, Kinder. Was habt ihr für morgen auf?“ Diese Stunden halfen mir wirklich. Als die Schule wieder anfing, hatte ich neuen Mut. Eins hatte ich gelernt: Wenn ich etwas nicht verstand, durfte ich auf keinen Fall darüber hinweggehen, ich durfte kein Problem ungelöst hinter mir lassen. Entweder mußte ich es selbst lösen, oder ich mußte Antje fragen, und wenn es nicht anders ging, Dr. Sager um Hilfe bitten.
„Denk daran, Elaine“, hatte er gesagt. „Die Mathematik ist wie eine solide Kette. Man kann nicht ein Glied der Kette überspringen, kein Glied darf brüchig sein, dann platzt nämlich das Ganze. Jedes Kettenglied muß fest sein!“ Ich sah das ein und richtete mich danach. O ja. Ich würde ein gutes Abitur machen! Ich arbeitete wie ein Kuli, und jetzt schon freute ich mich darauf, meinem Vater das Zeugnis auf den Tisch zu legen! Nur noch zwei Monate. In zwei Monaten war Weihnachten, in zwei Monaten würden die beiden zurückkommen – Papa und Ingo. Und wenn ich an Ingos Rückkehr dachte – ja, dann freute ich mich so. daß ich für einen Augenblick sogar meine Zukunftspläne und meinen löblichen Fleiß vergaß! Eines Tages vergaß ich ihn wieder für einige Minuten. Es kam ein Brief aus Basel! Ausgerechnet aus Basel? Da kannte ich doch keinen Menschen! Ich riß den Brief auf und suchte die Unterschrift: Simone! „Denk Dir, Elaine, ich habe einen neuen Job, und zwar in der Schweiz! Also, es kam so: Meine Leutchen in Hannover waren anscheinend sehr zufrieden mit meinem Einsatz für Fensterblumen und Wellensittiche. Ich blieb noch ein paar Tage nach der Rückkehr der Familie dort, es gab so viel Wäsche zu bügeln und alles, was so nach einer Reise zu tun ist, außerdem zwei kleine Kinder zu hüten und im Zaum zu halten, das war das Schlimmste. Sie waren ganz aufgeregt nach der Reise. Übrigens – erzählte ich dies nicht in meinem vorigen Brief? Ach nein, der ging so schnell, er war ja nur ein Gruß und ein Dank für die zweihundert Mark für meine Tochter, das Fotomodell! Ja. also, die Frau in Hannover hat eine Schwester, die in Basel verheiratet ist, und sie wollte so gern ihren Mann auf eine Auslandsreise begleiten. So gern, daß sie – anscheinend auf Empfehlung ihrer Schwester in Hannover – mich anrief und fragte, ob ich für drei Wochen nach Basel kommen wollte, um ihre Kinder, sieben und neun Jahre alt, zu versorgen. Natürlich dürfte ich meine Kleine mitbringen. Der Hin- und Rückflug wurde bezahlt, außerdem ein großzügiges Gehalt – in Schweizer Franken!!! Natürlich sagte ich zu, und hier sitze ich. Das heißt, sitzen ist das, was ich am wenigsten tue. Man hat eigentlich ein ganz reichhaltiges Tagesprogramm, wenn man für vier Personen, darunter drei Kinder,
einkaufen, kochen und waschen, die Wohnung in Ordnung halten und vor allem aufpassen soll, daß die lieben Kleinen nicht allzuviel Unfug machen. Sie sind übrigens ganz manierlich. Ich kann mich nicht beklagen. Die Neunjährige hat sich richtig in Titine verliebt und beschäftigt sich viel mit ihr, sie ist so richtig eine kleine Puppenmutti, die es wunderbar findet, eine lebendige Puppe zur Verfügung zu haben! Augenblicklich schläft die ganze Bande, es ist spätabends, und ich gehe auch gleich ins Bett, ich will nur eben diesen Brief fertigschreiben. Ich möchte dir erzählen, was ich jetzt vorhabe, falls ich nicht nach den drei Wochen hier einen neuen Job finde: Ich werde versuchen, Nachhilfestunden in Französisch zu geben. Die Sprache kann ich, wie Du weißt. Aber die Grammatik!! Ich versuche, abends Grammatik zu lernen, aber ich bin eigentlich so müde nach all meinen Pflichten, daß ich am liebsten mit den Hühnern ins Bett ginge oder sagen wir, mit meinen drei Küken hier! Aber wenn ich wieder zu Hause bin, werde ich vierzehn Tage fest pauken, denn eins ist mir klar: um eine Sprache zu lernen und zu lehren, muß man nicht nur die Grammatik der fremden Sprache kennen, sondern auch die der Muttersprache. Besonders wenn es um Nachhilfestunden geht. Was nützt es, wenn ich sage, daß es so und so auf französisch heißt, wenn ich nicht erklären kann, warum? Also, wie gesagt, Grammatik pauken und dann eine Zeitungsanzeige Französin gibt Nachhilfestunden. So was wird gut bezahlt. Vielleicht, wenn ich Glück habe, könnte mir das über die Zeit hinweghelfen, bis Titine für den Kindergarten alt genug ist. Es geht uns also gut, ich quäle mich mit Schwyzerdeutsch ab, und wenn es in den Geschäften gar nicht anders geht, spreche ich französisch und tue so, als verstünde ich überhaupt kein Deutsch. Beinahe alle Menschen sprechen ja hier französisch, so kann ich mir also helfen. Meine beiden kleinen Schützlinge gehen zur Schule, dort wird auf Hochdeutsch unterrichtet, mit denen kann ich mich also gut unterhalten. Nur wenn ich sie mit gutem Grund beschimpfe, verstehen sie nur Schwyzerdeutsch, die kleinen Racker! Grüße Deine Mama, Marcus und die Viecher. Machst Du schon Striche in den Kalender? Falls es so ist, daß Dein Ingo zu Weihnachten zurückkommt, fehlen ja nur noch sechzig und ein paar Striche! Alles Gute, liebe Elaine! Falls Du gegen jede Vermutung irgendwann eine freie Minute hast, dann schreib doch drei Worte an
Deine Simone“ Als ein PS hatte sie ihre genaue Adresse und die Telefonnummer geschrieben. Nun ja, ich konnte sie abends anrufen. Zum Schreiben würde ich bestimmt nicht kommen! Ich faltete den Brief zusammen und holte mein Lateinheft aus der Schultasche. Für die nächsten zwei Stunden durften Mama, Marcus und die übrige Welt nicht mit mir rechnen! „Ach, Elainchen“, sagte Mama am nächsten Morgen. „Ich habe vor, heute dein Rad zu klauen! Gibst du mir bitte den Schlüssel?“ Mamas Wagen war in der Werkstatt, sie würde ihn erst am nächsten Tag wiederkriegen. „Kannst du denn noch radfahren?“ fragte ich. „Radfahren verlernt man nicht! Das habe ich seit meinem achten Lebensjahr gekonnt. Ich muß heute so viel einkaufen, und deine Radtaschen fassen doch eine ganze Menge!“ „Stimmt! Also, viel Vergnügen, fahr vorsichtig! Ich berechne fünfzig Mark Miete pro Stunde! Tschüs!“ Dann rannte ich zum Bahnhof, mit der guten Laune und dem guten Gewissen, das eine Schülerin hat, wenn sie weiß, daß sie in allen Fächern vorzüglich vorbereitet ist! In der vorletzten Unterrichtsstunde hatten wir Latein. Antje war gerade aufgerufen, sie hatte gewisse Probleme mit der Übersetzung. Da wurde die Tür geöffnet, und der Direktor erschien höchstpersönlich. „Ich möchte Elaine Grather sprechen. Elaine, kommen Sie bitte mit, nehmen Sie gleich Ihre Schultasche und Ihre Sachen mit. Elaine hat für den restlichen Tag frei“, das war an unseren Lateinlehrer gerichtet. Ich wanderte hinter dem Direktor her in Richtung Büro und fragte mich, was in aller Welt… ich hatte ein reines Gewissen, hatte wirklich nichts ausgefressen. Was war bloß los? „Setzen Sie sich, Elaine.“ Seine Stimme war freundlich, aber sehr ernst. „Ich habe gerade einen Anruf von Ihrer Nachbarin in Rosenbüttel gekriegt.“ „Um Gottes willen, ist Mama was passiert? Mit dem Rad?“ „Ja, leider, genau das ist es. Sie ist gestürzt und hat Verletzungen
erlitten, die Frau…. die Frau…“ „Geest“, half ich. „Ja, richtig, Frau Geest, sie wußte nicht, welche Verletzungen, aber Ihre Mutter wurde ins Krankenhaus hier in Braunschweig gebracht. Fahren Sie gleich hin. Ja, und dann sollte ich Ihnen sagen, daß Frau Geest sich um Ihren kleinen Bruder und die Tiere kümmert, in dem Punkt können Sie beruhigt sein.“ Ich biß mir auf die Lippen, versuchte die Tränen zu unterdrücken. „Haben Sie Geld bei sich? Nicht sehr viel? Hier…“ Ein Zwanzigmarkschein wurde mir in die Hand gedrückt. „Ich rufe ein Taxi. Und falls Sie morgen nicht zur Schule können, dann rufen Sie mich an und sagen Sie mir, wie es Ihrer Mutter geht. Ich drücke Ihnen die Daumen, Elaine.“ „Vielen Dank, Herr Direktor, tausend Dank.“ Dann saß ich mit Herzklopfen und voller Angst im Taxi. Meine Mami, mein Muttilein, oh, möge es nur eine leichte Verletzung sein, oh, lieber Gott, mach, daß es nichts Schlimmes ist, lieber Gott, laß Mama bald gesund werden… Die Schwester beim Empfang wußte Bescheid. „Ach ja, die Patientin aus Rosenbüttel, der Unfall mit dem Rad. Ich gebe Bescheid, warten Sie einen Augenblick. Ich glaube, sie wird gerade geröntgt.“ Es folgten zwei Telefongespräche, dann gab die Schwester mir Bescheid. „Ihre Mutter ist gerade vom Röntgen gekommen. Gehen Sie auf die Chirurgische Station, da können Sie den Arzt sprechen. Ich zeige Ihnen…“ Sie erklärte mir, wie ich gehen sollte, und ein paar Minuten später stand ich einem jungen Arzt gegenüber. „Nein, nein, lebensgefährlich ist es nicht!“ beeilte er sich zu erklären. „Nur sehr unangenehm. Ihre Mutter hat beide Arme gebrochen!“ „Beide… beide Arme!“ wiederholte ich. „Ja, ich habe mir gerade die Röntgenaufnahmen angesehen. Rechts ein kleiner Bruch, der wird bald ausgeheilt sein, aber links sieht es etwas komplizierter aus. Den Arm müssen wir schön zurechtzupfen, bevor wir ihn gipsen können.“ Der Ausdruck „schön zurechtzupfen“ beruhigte mich! Dieser kleine Scherz überzeugte mich davon, daß meine geliebte Mama jedenfalls nicht in Lebensgefahr schwebte!
„Herr Doktor, darf ich meine Mutter sehen? Kann ich einen Augenblick mit ihr sprechen? Sie beruhigen, denn sie macht sich bestimmt Sorgen um uns!“ „Fünf Minuten dürfen Sie bei ihr bleiben. Der Chef kommt gerade, er macht sich für die Operation zurecht, und dann kümmert er sich um Ihre Mutter. Ja, sie kriegt eine kleine Narkose, bevor wir…“ „…zupfen!“ ergänzte ich. Der Arzt lächelte. „Eben. Kommen Sie mit.“ Eine Bahre auf Rädern, von einer Krankenschwester geschoben. Da lag meine Mama. Ich wagte nicht, sie anzufassen, ich küßte nur ihre Stirn. „Mamachen, Liebstes, hast du große Schmerzen?“ „O nein, es geht, wenn ich ganz still liege. Ach, Elainchen, was bin ich für ein Trottel! Kind, ich mache mir Sorgen um euch – wo ist Marcus?“ „Bei Frau Geest. Du brauchst dir gar keine Sorgen um uns zu machen, Mama. Ich bin doch da, und wir haben liebe Nachbarn, das weißt du.“ „Elaine, immer die Sicherheitskette vorlegen! Nicht aufmachen ohne Kette. Geld ist in dem roten Kästchen links im Bücherschrank, hinter Grzimeks Tierleben, Zweiter Band. Und im Tiefkühlfach…“ „Mamachen, ich komme schon zurecht, es ist alles nur halb so schlimm!“ „Nein, doppelt so schlimm, ein doppelter Armbruch! Den rechten Bruch nannte der Arzt Radiusfraktur – ich werde ihn fragen, was das bedeutet –, und das nahm er anscheinend nicht so ernst. Aber links scheinen alle bösen Geister los zu sein.“ „Dann muß ich wohl dein guter Geist sein, Mamachen“, sagte ich. „Sei nun ganz ruhig, ich werde alles zusammenraffen, was ich an Vernunft besitze, ich werde auf Marcus und das Haus und alles aufpassen!“ „Und Elaine, um Gottes willen, schreib Papa kein Wort! Er kann ja doch nichts tun, und er soll nicht bei der Arbeit gestört werden. Versprichst du mir das?“ „Ja, wenn du meinst. Ich verspreche es.“ Jetzt kam ein älterer Arzt. „Na, Sie haben sich ja was geleistet“, waren seine Begrüßungsworte an Mama. „Nun, wir werden es schon hinkriegen. Sie sind wohl die Tochter? Künftig müssen Sie besser auf Ihre
radfahrende Mutter aufpassen. So, nun an die Arbeit…“ Eine Schwester fing schon an, die Bahre zur Tür zu rollen. „Wann darf ich meine Mutter wieder besuchen, Herr Dok… Herr Professor?“ änderte ich die Anrede sicherheitshalber. „Morgen zwischen vierzehn und fünfzehn Uhr. Haben wir Ihre Telefonnummer? Nun, das ist gut.“ Ich schaffte es gerade noch, Mama einen Kuß zu geben, dann verschwanden Mama, die Bahre, die Krankenschwester und der Professor, die Tür wurde zugemacht, und ich konnte nichts anderes tun, als den Kloß im Hals herunterzuschlucken und mit dem nächsten Bus nach Hause fahren. Ich holte Marcus ab, er hatte bei der guten Familie Geest gegessen, und man hatte ihm sowenig wie möglich von Mamas Unfall erzählt. Er wußte nur, daß sie eben zum Arzt hatte fahren müssen, weil sie mit dem Rad gestürzt war. Nun brachte ich ihm bei, daß Mama wohl ein paar Tage wegbleiben würde, und er und ich müßten auf das Haus aufpassen und für uns selbst sorgen – „wie gut, daß wir zu zweit sind, Marcus!“ fügte ich hinzu. Dann wanderten wir nach Hause, wir beiden Verlassenen – wie Marcus sich fühlte, weiß ich nicht, ich kam mir aber sehr klein und häßlich vor! Ich versorgte die Tiere, ich machte uns ein paar Schnitten Brot zum Abendessen zurecht. Daß ich selbst kein Mittagessen gehabt hatte, störte mich nicht. Appetit war das, was ich am wenigsten hatte. Als Marcus ins Bett gekommen war, rief ich Jessica an. „Elainchen, das ist ja furchtbar!“ rief sie, als ich ihr von Mamas Malheur erzählt hatte. „Ein Armbruch ist ja an sich kein so großes Unglück, aber beide Arme! Ich glaube bestimmt, daß alles gutgeht, ich kenne den Professor dort, er ist ein fabelhafter Chirurg. Aber es wird eine schwere Zeit für dich werden! Weißt du, deine Mama wird wahrscheinlich bald entlassen werden, und dann ist sie ganz und gar auf dich angewiesen. Oh, wenn ich bloß nicht meine Praxis hätte, dann würde ich schnurstracks kommen und euch helfen. Halt, heute haben wir Mittwoch. Ich könnte mir denken, daß deine Mutter am Freitag entlassen wird. Weißt du was, ich setze mich am Freitag nachmittag in den Wagen und komme übers Wochenende zu euch, dann kann ich dir jedenfalls ein bißchen helfen und dir die weitere Pflege erklären. Denk daran, daß deine Mutter sich nicht einmal die Nase putzen kann! Sie kann nicht allein zur Toilette gehen, sie kann
sich nicht anziehen und nicht waschen, und bei Tisch muß sie gefüttert werden. Weißt du, Kind, jetzt hast du jedenfalls die Gelegenheit, deine ganze Tochterliebe zu beweisen. Was meinst du – die Schule? Ja, das ist so eine Sache. Sprich doch mit deinem Direktor, erkläre ihm die Situation, vielleicht darfst du eine oder zwei Wochen zu Hause bleiben, und dann müssen wir uns nach einer zuverlässigen Hilfe umsehen. Ach, Elaine, was ich noch sagen wollte: du wirst deiner Mutter Kleidung bringen müssen. Denk daran, daß sie wahrscheinlich nicht in Ärmel schlüpfen kann – du mußt ein paar Sachen zurechtmachen, an einer Bluse die Armel auf der Oberseite aufschneiden und Bändchen annähen – und die Träger der Unterwäsche durchschneiden und Knöpfe oder Bändchen anmontieren. Alles muß von unten angezogen werden, verstehst du! Ich rufe dich morgen an, wenn du wieder im Krankenhaus gewesen bist, dann weißt du mehr. Und wie gesagt, ich komme Freitag abend!“ Die gute Jessica! Ich empfand trotz allem eine kleine, blasse Erleichterung, nachdem ich mit ihr gesprochen hatte. Dann setzte ich mich hin, mit Mamas Nähkasten vor mir und mit einer alten Bluse, die man wohl opfern konnte. Ich will, nicht behaupten, daß meine Näherei tadellos wurde, aber jedenfalls würde Mama jetzt die Sachen anziehen können, ohne die Arme zu bewegen. Ich bin keine geübte Näherin, und es war spät, bis ich fertig wurde. Ich wurde einmal unterbrochen, es war Dorte, die kam. Sie sollte von ihrer Mutter ausrichten, daß Marcus auch morgen direkt von der Schule zu ihnen kommen dürfte, er würde Mittagessen kriegen und könnte bleiben, bis ich ihn abholte. Auch übermorgen, wenn es nötig wäre! Die gute, liebe Frau Geest! Sie war so hilfsbereit, Jessica war einmalig – aber mit meinem wirklichen, schrecklichen Problem konnte mir niemand helfen. Wenn Mama nach Hause kam, würde ich nicht zur Schule gehen können. Und wo in aller Welt sollten wir eine erstklassige Hilfe bekommen? Eine Krankenschwester? Ja, sie würde Mama pflegen können, aber man konnte ihr nicht zumuten, den ganzen Haushalt zu machen. Eine Hilfe im Haushalt? Da war ich genausoweit, denn von ihr konnte man nicht verlangen, daß sie eine Pflege übernehmen sollte, die einer Säuglingspflege gleichkam. Omi in Norwegen? Unmöglich. Sie war noch berufstätig. Ingos
Mutter? Sie war auch berufstätig und von ihrem Verdienst abhängig. Nein, ich mußte der Tatsache ins Auge sehen: ich mußte auf unbestimmte Zeit zu Hause bleiben, den Haushalt machen, Einkäufe besorgen, mich um die Tiere kümmern und Tag und Nacht, vierundzwanzig Stunden am Tag auf Mama aufpassen, sie pflegen und ihr bei allem helfen – vom Füttern und Naseputzen bis zum Waschen, Anziehen und Aufs-Klo-Gehen! Ich kroch ins Bett und hatte nur noch einen einzigen Wunsch: daß dies alles ein böser Traum sein sollte – daß ich morgen früh von Mamas Stimme geweckt werden würde: „Elainchen, sieben Uhr! Aufstehen, das Kaffeewasser kocht schon!“ Endlich schlief ich ein – und ich muß zu meiner Schande gestehen: mit Tränen auf beiden Wangen!
Ich werde Krankenpflegerin Jessica behielt recht. Mama sollte am Freitag entlassen werden. Ich erntete Lobesworte für die merkwürdige Garderobe, die ich Mama brachte. So hatte sie jedenfalls etwas anzuziehen – oder sagen wir, etwas, das ihr angezogen werden konnte! Ich hatte mit meinem Direktor gesprochen, er war sehr nett und voller Verständnis. Daß ich an diesem Tag ganz unvorbereitet kam, wurde mir verziehen, ich wurde überhaupt nicht aufgerufen. Und was die nächsten paar Wochen betraf – der Direktor dachte mit gerunzelter Stirn nach. „Sie sind ja ungeheuer fleißig gewesen diesen Herbst“, sagte er. „Es liegt Ihnen wohl sehr daran, ein gutes Abitur zu machen?“ Ich bestätigte es und erzählte ihm auch, weshalb. „Gut“, sagte er. „Zwei Wochen können Sie getrost zu Hause bleiben, das kann ich verantworten. Sollten Sie bis dahin keine Hilfe bekommen haben, müssen wir darüber wieder sprechen. In diesen zwei Wochen können Sie ja versuchen, falls Sie Zeit haben, selbst ein bißchen weiterzulernen. Sie haben ja jetzt eine gute Grundlage. Also, viel Glück, Elaine. Gerade jetzt ist die Schule nicht Ihre erste Pflicht. Die Tochterpflichten stehen an erster Stelle!“ Es war ein neues und merkwürdiges Gefühl, diejenige zu sein, die denken und handeln mußte, die die ganze Verantwortung zu tragen hatte. Bis jetzt hatten andere für mich gedacht und gehandelt. Wenn ich Besorgungen machte, dann mit Mamas Einkaufsliste in der Hand; ich brauchte mir nie zu überlegen, was wir brauchten, was gekauft werden mußte. Ich hatte schon manchmal im Haus geholfen, aber immer nur das getan, was mir gesagt wurde. Ich hatte ein behütetes Leben geführt. Außer meinen Schulaufgaben hatte ich nie die Verantwortung für irgend etwas gehabt. Ich setzte mich auf eine Bank im Warteraum des Krankenhauses und überlegte, was ich einkaufen mußte. Morgen würde Jessica kommen, ich mußte für Sonnabend und Sonntag etwas im Haus haben. Hatten wir genug Kartoffeln? Wieviel Brot mußte ich für zwei Tage für vier Personen berechnen? An dem Freitag war ich zum letztenmal in der Schule. So merkwürdig es auch klingt – ich war niedergeschlagen, als ich zum Tor hinausging. Ich würde mich nach der Schule sehnen! Wenn mir jemand das vor einem Jahr gesagt hätte!
Diesmal brauchte ich nicht auf die Besuchszeit im Krankenhaus zu warten. Ich mußte nur schnell zur Krankenkasse und den Krankenschein für Mama holen; dann nichts wie los, um meine arme Patientin abzuholen. Angezogen mit der von mir zurechtgebastelten Bluse, und mit dem Mantel lose über die Schultern gehängt, trat Mama per Taxi die Heimfahrt an. Sie war ruhig und lieb, aber kein Mensch konnte behaupten, daß sie bester Laune war! Als ich ihr erzählte, daß Jessica am gleichen Abend kommen würde, spürte ich eine Art Erleichterung aus ihrem Gesichtsausdruck. Sie sprach wenig, sah aber sehr nachdenklich aus. Na, mit dem Sprechen eilte es nicht. Der Himmel wußte, daß wir in den nächsten Wochen reichlich Zeit fürs Sprechen haben würden. Wir holten Marcus ab, und das Sprechen besorgte er! „Tut es weh, Mama? Wie war es im Krankenhaus? Wie lange mußt du diese komischen Verbände tragen? Mama, kannst du jetzt nicht mein Zeugnis unterschreiben? Muß Elaine schreiben, falls ich einen Entschuldigungszettel brauche? Mama, wieso bist du gestürzt, war viel Sand auf dem Weg? In solchem Sand bin ich auch einmal gestürzt, aber ich habe nichts gebrochen! Mama, kannst du auch nicht allein essen? Müssen wir dich füttern, so wie Titine?“ „Ja, Marcus“, sagte Mama mit einem angestrengten kleinen Lächeln. „Wenn ihr mich nicht füttern würdet, dann müßte ich verhungern!“ „Aber wir füttern dich ganz bestimmt, Mama! Ehrenwort! Und weißt du, heute kommt Jessica, dann gibt es bestimmt Zitronenpudding, und du kriegst eine ganze Menge davon, nicht wahr, Elaine?“ „Doch, Marcus, ganz bestimmt!“ Das Taxi hielt. Wir waren zu Hause. Schon an diesem ersten Nachmittag fing ich an, Erfahrungen als Krankenschwester zu sammeln. Ich machte Kaffee, dazu hatte ich in Braunschweig Kuchen besorgt. Es war keine Kunst, Mama Kuchenstückchen in den Mund zu stecken, mit dem Kaffeetrinken war es schwieriger. „Weißt du was?“ sagte Mama. „Ich glaube, ein Strohhalm wäre das richtige. Guck doch nach, ob wir nicht noch eine Packung Trinkhalme haben!“ Das hatten wir. drei oder vier Stück waren noch da. Ich beeilte
mich, auf meinem Einkaufszettel für morgen Trinkhalme aufzuschreiben. Ich zog Mama die Schuhe aus. und Marcus holte bereitwillig und dienstbeflissen ihre Hausschuhe. Dann kam die erste der intimeren Dienstleistungen. Ich mußte Mama helfen, als sie zur Toilette mußte. Dann kämmte ich ihr die Haare und holte eine warme Stola, mit der sie ihre merkwürdige Bluse verdecken konnte. Ich putzte ihr die Nase und legte ihr den Brief hin, der am gleichen Tag von Papa gekommen war. „Elainchen“. sagte Mama. „Wenn ich mich jedesmal gerührt bedanken sollte, wenn du mir geholfen hast, dann käme ich aus dem Danken gar nicht raus. Wollen wir uns darüber einigen, daß ich nachher alles in einem einzigen Riesen-Dank zusammenfasse, wenn diese schlimme Zeit zu Ende ist?“ „Unbedingt, ich bin ganz einverstanden. Aber weißt du. Mama, vielleicht wird es keine schlimme Zeit. Du und ich verstehen uns doch so gut. wir haben einander so lieb, und jetzt werden wir Tag und Nacht zusammen verbringen, wir werden mehr miteinander reden können als je zuvor. Wer weiß – vielleicht wird es letzten Endes eine schöne Zeit!“
Not macht erfinderisch Jessica war da. Wo Jessica ist. da wird etwas getan. Sie sah sich Mamas Gipsarme an und bestätigte die vollkommene Hilflosigkeit. Dann fing sie an nachzudenken. Sie dachte weiter, während sie ihre Sachen auspackte – die Gute hatte drei fertige Mittagsmenüs in einer großen Kühltasche mitgebracht, außerdem einen selbstgebackenen Kuchen. Inzwischen machten wir gemeinsam das Abendessen, und Jessica brühte den Tee auf. Das Resultat des Nachdenkens verkündete sie uns beim Abendessen. „Bernadette“, fing sie an. „Du kannst deine Arme nicht gebrauchen, aber deinen Kopf! Und deine Sprache! Also, die Hausarbeit wird Elaine nicht so schwerfallen, wenn du ihr immer zur Seite stehst und ihr sozusagen diktierst. Dann kann sie problemlos kochen, und du erklärst ihr. wie du deine Hausarbeit einteilst, damit alles nach System geht.“ „Ja“, nickte Mama. „Das kann ich.“ „Du bist doch eine alte Turnerin. Ich habe selbst gesehen, daß du einen Spagat machst und eine Brücke und was es alles gibt. Nein, ich verlange nicht, daß du es jetzt tust, aber worauf ich hinauswollte: du bist gelenkig. Überleg dir. was du mit den Füßen machen kannst!“ „Jedenfalls nicht schreiben“, sagte Mama mit einem kleinen blassen Lächeln. „Na. das würdest du auch lernen können. Wenn du wüßtest, was ich alles bei behinderten Menschen gesehen habe, es ist unglaublich, was sie mit Mund und Füßen machen können! Überlegen wir mal!“ Wir überlegten. Mama selbst am intensivsten. „Ich weiß was!“ sagte sie dann. „Ich kann nicht schreiben, aber ich müßte doch den Pausenknopf am Kassettenrecorder bedienen können. Dann könnte ich Tonbandbriefe an Asbjörn sprechen, und Einkaufslisten für Elaine, und…“ Marcus rannte zu seinem Kassettenrecorder. Er legte ein Band auf, stellte die Lautstärke ein. drückte auf den Aufnahmeknopf und anschließend auf den kleinen Pausenhebel. Das Gerät wurde auf den Fußboden vor Mamas Sessel gestellt, das Mikrofon in seinem Halter auf den Tisch neben ihr. „So. nun mach mal eine Generalprobe!“ verlangte Jessica. Mama
schlüpfte mit dem rechten Fuß aus dem Hausschuh, ihre große Zehe fand den Pausenhebel, schob vorsichtig – und das Band kam in Gang. Dann sprach sie. „Ihr seid alle so lieb zu mir und so wunderbar erfinderisch! Elaine, morgen mußt du unbedingt Zucker kaufen, und guck nach, ob wir genug Brot im Haus haben. Ach nein, nachgucken kann ich selbst. Ich glaube, ich werde den Kühlschrank und die unteren Küchenschränke mit dem Fuß aufmachen können!“ Nach dieser geistreichen Rede betätigte sie wieder den Pausenhebel. Wir hörten das Band ab. alles war klar und deutlich zu verstehen. Wir gingen in die Küche, und Mama hatte recht gehabt. Sie konnte den Kühlschrank ganz leicht auf- und zumachen, und die unteren Küchenschränke konnte sie auch inspizieren. „Genug für heute“, sagte Jessica mit ihrer strengen Ärztinnenstimme. „Es ist bald Zeit fürs Heiabettchen.“ Mama war folgsam. Ich brachte sie nach oben, wusch sie. putzte ihr die Zähne – wobei ich furchtbar ungeschickt war – und zog ihr ein altes Nachthemd an. nachdem ich die Ärmel und Schultern durchgeschnitten hatte. Es wurde vorerst mit Sicherheitsnadeln zusammengehalten. Morgen würde ich es säumen und Bändchen annähen. Es war mühsam für sie. eine halbwegs bequeme Schlafstellung zu finden, mit ihren beiden schweren, steifen Gipsbandagen. Ich half mit ein paar Extrakissen nach, und endlich lag sie einigermaßen bequem. „Mamachen, ich komme bald, ich werde nur ein bißchen aufräumen und zusehen, daß Jessica alles hat. was sie braucht. Ich habe mein Bett für sie bezogen, und wie du siehst, habe ich mein Bettzeug in Papas Bett gelegt. Es ist doch besser, daß du mich in der Nähe hast?“ „Ja, mein Kind“, sagte Mama leise. „Das ist besser. Mein kleines, großes, tüchtiges Mädchen.“ „Siehst du. Elaine“, sagte Jessica, als ich wieder nach unten kam. „Die vollkommene Untätigkeit ist das Allerschlimmste für eine Patientin, die sich an und für sich nicht krank fühlt. Wir müssen zusehen, daß uns mehr einfällt. Und wenn du auf irgend etwas kommst, das deine Mutter bewältigen kann, dann sage es ihr. Gib ihr das Gefühl, daß sie etwas Nützliches macht!“ „Ich werde die ganze Nacht darüber nachdenken“, versprach ich.
„Das tust du gefälligst nicht, du sollst schlafen. Du siehst wahnsinnig müde aus.“ „Ich bin auch müde“, gestand ich. „Dann hops ins Bett. Nur noch eins. Elaine: du hast eine schwere Zeit vor dir. bis ihr eine Hilfe kriegt, und es ist mir klar, daß es für dich schrecklich ist, daß du lange nicht zur Schule kannst, ich kenne ja deine Zukunftspläne. Aber du darfst nicht immer daran denken. Du mußt dich hundertprozentig für deine Aufgaben hier zu Hause einsetzen. Später solltest du eben Nachhilfestunden kriegen, damit du das Versäumte nachholst. Der Gedanke an die Schule darf dich nicht nervös und schlaflos und kribbelig machen. Begreifst du das?“ „Ja. ich begreife es. Weißt du, Jessica, du bist eigentlich ein Goldstück!“ Die beiden nächsten Tage waren nicht so schlimm, denn Jessica nahm mir enorm viel ab im Haushalt. Was sie mir aber ganz und gar überließ, war die Pflege meiner armen Mutter. Daran sollte ich mich gewöhnen, ich mußte sofort den richtigen Dreh finden – meinte Jessica! Also hieß es wieder waschen und „Intimpflege“ machen und dann Zähne putzen. Das – war das schwierigste. Zuletzt holte ich zum Mundspülen einen Trinkhalm, dann ging es einigermaßen. Aber als ich die Zahnputzsachen in den Schrank einräumte, seufzte ich: „Ach, Mamachen, wieviel einfacher wäre es gewesen, wenn du eine Zahnprothese gehabt hättest!“ Da mußte Mama lachen. „Vielen Dank, ich bin trotz allem froh, daß ich meine eigenen, gesunden Zähne habe! Merkwürdig, was eine sonst so liebevolle Tochter einem alles wünschen kann!“ Jessica machte das Frühstück. Als wir am Tisch saßen, zeigte es sich, daß sie Mamas Lieblingsmarmelade vergessen hatte, und sie lief in die Küche. Von dort rief sie: „Elaine, wo steht bloß diese verflixte Marmelade?“ Ich war gerade dabei, Mama Butterbrotstücke in den Mund zu stecken. Ich unterbrach diese interessante Arbeit und ging in die Küche, wo Jessica und ich sowohl die Marmelade als auch das Honigglas ausfindig machten. Als wir zurück zum Frühstückstisch kamen, hatte Marcus meinen Platz eingenommen. Da saß er nun, tief ernst und konzentriert und fütterte seine Mutter, mit einem Stück nach dem anderen. Ich machte auf der Schwelle kehrt und rannte nach dem
Fotoapparat. Marcus sah so süß aus, die ganze Situation war so einmalig, daß sie festgehalten werden mußte! Und mein Bruder war von seiner wichtigen Aufgabe so in Anspruch genommen, daß er kaum den Blitz bemerkte! „Du kannst ruhig jetzt zum Kaufmann gehen, Elaine“, beschloß Jessica. „Jetzt bin ich ja hier, aber ab Montag mußt du die Einkäufe nachmittags machen, und Marcus sollte solange zu Hause bleiben. Deine Mutter darf keine Minute allein im Hause sein.“ „Aber Jessica, ich bin doch…“, fing Mama an. „Stimmt, du bist zur Zeit körperbehindert. Sei bloß froh und dankbar, daß wir dich nicht in einen Rollstuhl stecken. Und ihr beide“, sie sah Marcus und mich sehr streng an. „ihr versprecht auf Ehrenwort, eure Mutter nie allein zu lassen, solange sie ihren Gips trägt!“ „Ehrenwort“, sagte Marcus. „Aber jetzt muß ich zur Schule.“ Du liebe Zeit! Marcus’ Schulbrote! Die hatten wir alle vergessen. „Marcus, ich komme in der großen Pause und bringe dir die Brote – komm zum Tor. damit du mich gleich siehst.“ „Vier Scheiben! Mit Wurst!“ rief Marcus, und die Tür schlug hinter ihm zu. Jessica hatte seinerzeit ihr Medizinstudium wegen Geldmangels unterbrochen und ein Jahr als Hausgehilfin gearbeitet. Wahrscheinlich waren es ihre Erfahrungen von damals, die mir jetzt zugute kamen. Sie lehrte mich, einen Plan für die Arbeit zu machen, immer morgens Kühlschrank und Vorräte zu untersuchen, damit ich genau wußte, was ich noch holen mußte. Und dann die Arbeiten so zu planen, daß die eine die andere ablöst, daß ich nicht leere Wartezeiten hatte. „Das Bettzeug gleich nach dem Aufstehen zum Lüften hinlegen, dann kannst du sofort nach dem Frühstück die Betten machen“, erklärte sie. „Kocht ihr jeden Tag Tierfutter? Gut, das setzt du vor dem Frühstück auf. dann ist es fertig, wenn ihr gegessen habt. Wenn du einen Nachtisch machst, der abkühlen, womöglich steif werden soll, dann tu das sofort, wenn du die Viecher versorgt hast. Die vergißt du nicht, das weiß ich! Überhaupt. Elaine, alles was du schon frühmorgens erledigen kannst – besorge das! Nichts aufschieben!“ „Wenn ich mich ganz bescheiden einmischen darf“, kam es von Mama. „Wenn große Wäsche an der Reihe ist, immer abends die Maschine füllen. Waschpulver reintun und Programm einstellen.
Nächsten Morgen gleich vor dem Duschen und Anziehen runterlaufen und einschalten. Dann ist die Wäsche kurz nach dem Frühstück fertig und kann gleich aufgehängt werden. So ist sie mit Petrus’ Hilfe gegen Mittag trocken.“ Mit anderen Worten: Die guten Ratschläge von zwei klugen, erfahrenen Hausfrauen prasselten auf mich nieder. Ich mußte zuletzt Papier und Stift holen und in Stichworten alles notieren! Ich machte Marcus’ Schulbrote zurecht, und in einem Anfall von schwesterlicher Liebe packte ich ein Stück Kuchen und eine Schokoladentafel mit ein. Ich bekam den Auftrag, auch das Mittagessen zu besorgen, für heute und morgen. „Ich koche!“ sagte Jessica. „Das, was ich mitbrachte, und was ihr sonst im Tiefkühlfach habt, wirst du später brauchen. Kauf reichlich Zitronen, morgen gibt es Zitronenpudding. Das wird meine letzte gute Tat sein, bevor ich losfahre, nach Hause zu meinem sich sehnenden Ehemann! Aber ich komme nächstes Wochenende zurück, falls ihr mich braucht!“ „Oh, Jessica, du bist ein Engel.“ Ich umarmte sie so heftig, daß sie stöhnte. „Von mir hast du eine Umarmung gut“, versprach Mama. „Mit Zinsen!“ An diesem Tag lernte Mama ein neues Kunststück: bei ihrer gesegneten Gelenkigkeit konnte sie die Türklinken mit dem Fuß runterdrücken und so die Türen öffnen. Also konnte sie sich von Zimmer zu Zimmer ohne Hilfe fortbewegen. Die Idee mit den Gläsern für Getränke kam aber von mir: ich stellte in jedem Zimmer ein Glas Orangensaft – Mamas Lieblingsgetränk – parat, mit einem Trinkhalm quer über dem Glas. Nach kurzer Übung schaffte es Mama, den Halm mit dem Mund ins Glas zu stecken, wieder rauszuholen und zurückzulegen, quer über das Glas. Mit solchen und ähnlichen Kleinigkeiten war sie beschäftigt, das war ungeheuer wichtig. Dann sprach sie auf ein Kassettenband alles, was ihr so einfiel, woran ich denken mußte – Sachen, die sie sonst auf einer Notizrolle aufgeschrieben hätte. O ja. wir wurden alle erfinderisch, und das wurde so allmählich ein Sport für uns. Dann mußte Jessica uns verlassen, und wir drei Zweibeiner und drei Vierbeiner waren uns selbst überlassen. Der kleine Kater Felix hatte sich ganz eingelebt bei uns, er hatte mit Anton und Bisken
dicke Freundschaft geschlossen; er verbrachte seine Nächte in Marcus’ Zimmer und seine Ruhestunden über Tag am liebsten auf Mamas Schoß. Bisken war anscheinend etwas verwirrt, er begriff wohl nicht so ganz, daß Mama ihn nie mehr streichelte. In dem Punkt war er nämlich sehr verwöhnt. Als die Post am Montag kam – von Marcus auf dem Nachhauseweg von der Schule abgeholt, diese Aufgabe hatte er zugeteilt bekommen –, zeigte es sich, daß auch andere erfinderisch gewesen waren. Für mich kam ein dicker Brief von Antje Sager! Er enthielt ein Kassettenband und ein Briefchen: „Liebe Elaine! Dies hast Du meinem erfinderischen Vater zu verdanken: Als wir gestern unsere Mathematikstunde hatten, kam ihm die glorreiche Idee, alles auf Band aufzunehmen. Ich fand seine Erklärungen ganz besonders klar und leicht verständlich gestern. Vielleicht können sie Dir auch helfen? Wenn Du willst, kann ich auch den Romulus bitten, seine lateinischen Goldkörnchen aufnehmen zu dürfen, ich schicke Dir dann das Band, oder die Bänder. Ich habe einen Haufen alte Bänder, die ich benutzen kann, ich kriege sie dann zurück, wenn Du sie nicht mehr brauchst. Hoffentlich schaffst Du es. wenn Du diese Hilfe in den beiden schwierigsten Fächern kriegst. Du mußt eben die Bänder abhören, wenn Du beim Bügeln oder Kartoffelschälen bist, oder in der Badewanne oder auf dem Klo! Meine Eltern lassen grüßen. Vati spricht noch von Deinem Einsatz bei dem schwerverletzten Dackel. Als ich antwortete: ‚Und dabei ist doch Elaine ein blutiger Laie’, sagte Vati: ‚Blutig war sie jedenfalls!’ Also, alles Gute, hoffentlich klappt es mit Romulus und der Bandaufnahme. Du brauchst keine gerührten Dankbarkeitsanfälle zu kriegen. Du wirst Dich nämlich bei mir später ausgiebig revanchieren können – beim Französischen! Unfaßbar, daß es Menschen gibt, die diese verflixte Sprache fließend sprechen! Sogar kleine Kinder! Ich laufe zum Briefkasten! Herzliche Grüße, Deine Antje“ Romulus war unser „Kosename“ für den Lateinlehrer. Ja, wenn er das mitmachen würde… wenn ich Mathematik- und Lateinunterricht
sozusagen frei Haus bekäme, dann würde ich vielleicht… vielleicht… Antje war wirklich eine wahre Freundin in der Not. Ich rief sie an und bedankte mich, und sie informierte mich kurz über den nächsten deutschen Aufsatz, und wieviel wir in Geschichte und Englisch aufhatten. Ja. vielleicht, vielleicht würde ich es per Fernunterricht schaffen! Nicht an die Schule denken, hatte Jessica gesagt. Leichter gesagt als getan!
Mama und ich Ich war redlich müde. Ein erwachsener, erfahrener Mensch hätte natürlich viel besser all die Aufgaben bewältigt, die ich jetzt erledigen mußte. Aber ich war unerfahren, ich hatte meine Schule gehabt, mein Reiten. Lesen, Ausflüge und anderes. Ich hatte nie darüber nachgedacht, wieviel Arbeit hinter der frisch gemangelten Bettwäsche steckte, was alles erledigt werden mußte, bevor aus den Falläpfeln im Garten ein delikates Gelee entstand. Ich hatte mir keine Gedanken darüber gemacht, wie es kam. daß die Zimmer blitzblank waren, daß manchmal frischgewaschene Gardinen vor den Fenstern hingen, daß die Zimmerpflanzen gediehen, daß immer etwas in unseren Kuchendosen war. Langsam wurde mir klar, was eine Hausfrau im Grunde leistet. Und alles so selbstverständlich, ohne ein Wort darüber zu verlieren! Natürlich konnte Mama schimpfen, wenn Marcus mit seinen dreckigen Gummistiefeln über den frisch gesaugten Teppich lief, und wie gut konnte ich es jetzt verstehen, daß sie mir einmal einen soliden Klaps auf den Hintern versetzt hatte, als ich beinahe den ganzen Napfkuchen aufgegessen hatte, der für den Sonntagskaffee gedacht war! Ich machte mir wirklich Mühe, aber ich brauchte viel Zeit und war oft furchtbar ungeschickt. Es lief auch nicht ohne Pannen ab! Mein Grießpudding war voll Klumpen, meine Frikadellen kamen als kleine steinharte Bällchen auf den Tisch, ein Schlafanzug von Marcus hatte einen versengten Fleck in Bügeleisengröße auf dem Po. Aber die Pflege von Mama schaffte ich! Da konnte sie sich nicht beklagen. Übrigens beklagte sie sich nie. Aber sie fing an, beim Kochen dabeizusein und mir mit Worten, wenn auch nicht mit Taten, beizustehen. „Nicht zu starke Hitze, Elainchen! Die Butter darf nicht braun werden. Ja. jetzt ist es genau richtig. Jetzt das Mehl einstreuen, nein, langsamer, und dabei immer rühren, ja. mit der rechten Hand rühren, mit der linken streuen! Noch einen Löffel Mehl, jetzt die Milch rein, aber langsam, nicht zuviel auf einmal, sonst bilden sich Klumpen. Ja, so ist es richtig!“ Somit hatte ich gelernt, wie man eine helle Soße macht! In derselben Weise lernte ich. wie ein Kartoffelbrei leicht und
geschmeidig wird, wie man vermeidet, daß die Milch anbrennt, wie gebratene Fische knusprig werden. Ab und zu. wenn ich irgendeine Arbeit vorhatte, die automatisch ging – Staubwischen, Kartoffelschälen und so was –, hörte ich mir die Bänder von Antje an. Romulus war großartig, er hatte während der ganzen Unterrichtsstunde das Mikrofon vor sich gehabt. Einen Teil kapierte ich, viel ging an mir vorbei, ganz einfach weil ich zu müde war und zu sehr von dem in Anspruch genommen war, was ich noch erledigen mußte. Nicht immer an die Schule denken, hatte Jessica gesagt. Aber ich konnte es nicht lassen! Bald war eine Woche um, entweder mußte ich für dieses Jahr mit der Schule aufhören, oder wir mußten eine Hilfe kriegen. Eine, die es auf sich nehmen würde, Mama zu pflegen und zwei Drittel der Hausarbeit zu machen – ein Drittel würde ich wohl mit gutem Willen nachmittags schaffen. Aber woher nahmen wir eine solche Frau? Jessica hatte versprochen, sich umzusehen und umzuhören, vielleicht wüßte eine ihrer Patienten jemanden… Eine Zeitungsanzeige – nein! Dann würde man nicht wissen, was für Menschen sich meldeten. Und ich würde in der Schule keine ruhige Sekunde haben, ich würde immer daran denken, ob Mama nun die Hilfe bekam, die sie brauchte. Und würde ein fremder Mensch all die Geduld aufbringen, die unsere Viecher beanspruchten? Würde er ein Auge zudrücken, wenn Marcus vier Freunde auf einmal in sein Zimmer schleppte, das nachher dementsprechend aussah und extra saubergemacht werden mußte? Eines Nachmittags saß ich bei einer sehr verantwortungsvollen Arbeit: Ich schnitt Mamas Zehennägel und massierte ihr die Füße. „Weißt du Mama“, philosophierte ich. „Eigentlich ist es ja ein Glück im Unglück, daß du nur die Arme und nicht die Beine gebrochen hast!“ „Wenn du es so siehst, können wir ja froh sein, daß ich nicht das Genick gebrochen habe“, schmunzelte Mama. „Aber im Ernst! Du kannst mit den Füßen Türklinken und Hebel und Knöpfe bedienen, aber du kannst nicht auf den Händen laufen!“ „Wer hat gesagt, daß ich das nicht kann – ich meine, konnte! Wenn meine Arme so werden wie früher, werde ich es dir zeigen – ich gehe auf den Händen quer durch die Küche und den Flur und über die Schwelle rein ins Wohnzimmer!“ „Auf den Anblick freue ich mich“, sagte ich. „So, Mamachen,
jetzt sind deine Füße so gepflegt wie ein paar Babyfüßchen, sie erinnern mich an Titine… Mensch! Ich Idiot! Titine! Simone!! Mama, du bist auch doof! Warum hast du nicht gleich gesagt, daß ich Simone anrufen soll! Sie sucht doch immer Jobs!“ „Ich dachte, sie wäre in Basel?“ „Ja. aber nicht so lange! Drei Wochen, schrieb sie mir, und eine Woche ist schon um, wenn nicht anderthalb! Ich rufe an, in dieser Sekunde!“ In Windeseile suchte ich Simones Brief mit der Telefonnummer heraus und wählte die lange Auslands-Vorwahlnummer und die ebenso lange Teilnehmernummer – alles in allem zwölf Ziffern! Eine Kinderstimme meldete sich auf Schwyzerdeutsch! Wenn ich richtig verstand, was äußerst zweifelhaft war, sagte sie, daß Simone und Titine beim Kaufmann waren, aber sie würden gleich kommen. Ich bedankte mich und legte auf. denn mir war ein Gedanke gekommen: Ich wollte lieber von der Post anrufen. Mama sollte das Gespräch nicht mit anhören – von der Post konnte ich ungehemmt meine Verzweiflung und unsere schreckliche Lage schildern. Also sagte ich Mama, daß ich schnell zum Kaufmann mußte, ergriff Geld und Einkaufstasche und machte mich aus dem Staub. Bei der Post hatte ich Glück. Es war Simone, die sich am Telefon meldete. „Ach. Elaine! Du bist es! Hast du vorhin versucht, anzurufen?“ „Ja, und ob. Simone, ich brauche Hilfe! Wir brauchen dich! Du kannst dir nicht denken – aber sag vor allem, wie lange mußt du noch in Basel bleiben?“ „Noch eineinhalb Wochen. Bis zum übernächsten Sonntag. Was ist denn los, Elaine?“ Ich erzählte von Mamas Unfall, von unserer verzweifelten Lage und von meinem unterbrochenen Schulunterricht. Während ich sprach – und ich glaube, daß meine Stimme recht aufgeregt klang –, wurde ich mir wohl so richtig meiner Situation bewußt, denn plötzlich hopsten mir die Tränen aus den Augen. „Elaine, liebe Elaine“, kam Simones Stimme. „Ich fahre am übernächsten Sonntag direkt zu euch, ich lasse meinen Flug umbuchen und fliege nach Hannover, anstatt nach Hamburg.“ „Kommt es dir furchtbar ungelegen, Simone? Du kriegst aber ein gutes Gehalt, das verspreche ich dir…“ „Ich pfeife aufs Gehalt! Ich wüßte nichts, was ich lieber täte, als euch zu helfen!“
„Aber es wird sehr viel zu tun sein. Simone…“ „Um so besser! Elaine, sowie ich meinen Flug umgebucht habe, rufe ich dich an und sage, wann ich komme.“ „Ich kann dich aber leider nicht abholen. Simone!“ „Tut auch nicht nötig, ich kenne den Weg!“ „Aber ich schicke Marcus mit dem Rad zur Bushaltestelle, dann kannst du jedenfalls deinen Koffer daraufstellen!“ „Nun hör mal auf damit, dir Sorgen zu machen. Also, ich komme, zehn wilde Pferde würden mich nicht zurückhalten können! Tschüs, Elaine, ich rufe morgen an!“ „Nanu?“ war Mamas erstes Wort, als ich zurückkam. „Was ist mit dir geschehen? Du siehst aus wie ein neuer Mensch! Hast du sechs Richtige im Lotto, oder was?“ „Ich spiele nicht im Lotto, das weißt du doch! Aber denk dir, Mamachen…“ „...Simone kommt und hilft uns“, ergänzte Mama. „Du hast sie von der Post angerufen, damit ich es nicht hörte, denn du wolltest deine ganze Verzweiflung schildern.“ „Mama, bist du Gedankenleser?“ „Ja, das bin ich. wenn die Gedanken so leicht zu lesen sind wie in diesem Fall. Außerdem behauptet dein Vater, daß ich eine besondere Einfühlungsgabe habe, und ich konnte mich sehr gut in deine Probleme einfühlen. Also, das ist ja eine Riesenerleichterung für uns alle! Wann kommt das gute Mädchen?“ „Am übernächsten Sonntag! Das haut gerade hin! Dann kann ich am folgenden Tag zur Schule! Aber eins verspreche ich dir hoch und heilig: ich werde so früh aufstehen, daß ich dich waschen und anziehen kann, bevor ich lossause, und das habe ich vor zu tun, solange du mit deinen Gipsarmen durch die Gegend läufst. Und abends versorge ich dich auch, das lasse ich mir nicht nehmen! Und ich kaufe ein auf dem Nachhauseweg von der Schule, damit Simone das Haus nicht verlassen muß!“ Mama sah mich mit einem kleinen Lächeln an. „Du hast eine harte Zeit in diesen Wochen“, sagte sie. „Aber vielleicht wird es sich nachher zeigen, daß sie dir nützlich gewesen ist. Du hast gelernt, nachzudenken, dich einzurichten, und du hast gelernt, dich mit dem Unvermeidbaren abzufinden.“ Ich nickte. „Ja. Mamachen. Ich habe viel gelernt. Das stimmt.“ Ich guckte Mama an. dann fragte ich: „Und du? Was hast du gelernt?“ „Das, was ich soeben sagte: mich mit dem Unvermeidbaren
abzufinden und das Beste aus jeder Situation zu machen. Und noch etwas: ich habe gelernt, dem lieben Gott zu danken – für die Tochter, die er mir geschenkt hat!“ Da mußte ich tatsächlich einmal gewaltig schlucken! „Dafür müßtest du dich wohl eigentlich bei Papa bedanken“, meinte ich. „Auch beim lieben Gott! Oder, ihm sollte ich wohl letzten Endes dafür danken, daß ich Papa kennengelernt habe!“ Ich schwieg ein Weilchen. Dann setzte ich mich zu Mama. „Weißt du, woran ich denke?“ „Vielleicht. Du denkst daran, daß deine Eltern miteinander sehr glücklich sind.“ „Stimmt.“ „Und du wünschst und hoffst und betest, daß du und Ingo euch in zwanzig Jahren auch so lieb haben werdet wie heute.“ „Ja. Ganz richtig. Und ich denke auch daran, wie schrecklich es ist, wenn zwei Menschen, die sich innig lieben und glücklich heiraten – daß sie sich eines Tages nicht mehr verstehen und sich streiten und einander häßliche Worte an den Kopf werfen, bis sie sich scheiden lassen – zwei Menschen, die sich einmal so innig geliebt haben. Ich habe viel darüber nachgedacht, seit ich Ingo kennenlernte, weil seine Eltern geschieden sind.“ Mama nickte. „Ja. Lillepus. es ist traurig. Es ist schrecklich, besonders wenn Kinder da sind.“ „Aber dann frage ich mich, was sollen sie machen? Wenn sie merken, daß die Liebe tot ist? Man bestimmt nicht über sein eigenes Herz. Die Liebe hat keinen Willen – heißt es nicht so? Ich meine, manchmal kann man einfach nichts dafür! Du sagtest vorhin, man muß sich mit dem Unvermeidbaren abfinden. Also auch mit einer gestorbenen Liebe? Muß man weiterhin mit einem Menschen zusammen leben, den man nicht liebt?“ „Ich weiß nicht, Lillepus. Ich weiß nur, daß man etwas tun kann, um die noch existierende Liebe am Leben zu halten.“ „Was kann man tun. Mama? Was hast du getan?“ Mama antwortete nicht gleich. Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. Als sie endlich sprach, kamen die Worte langsam, sie wählte sie sorgfältig. „Ich glaube, daß es wichtig ist, Einfühlungsgabe zu besitzen, oder sie sich anzueignen. Wenn man den Gedankengang oder die Handlungsweise eines anderen Menschen nicht so recht versteht,
wenn man findet, er macht etwas falsch, dann sollte man versuchen, sozusagen in seine Haut zu kriechen, die Sache mit seinen Augen zu sehen, man sollte für ein Weilchen sein eigenes Ich ausschalten und mit dem Ich des Partners denken. Verstehst du, was ich damit meine?“ „Ja. ich verstehe es gut.“ „Und wenn es zu einem Streit kommen sollte, dann sollte man in sich gehen und sich ganz genau prüfen – ob man doch selbst derjenige ist, der unrecht hat. Wenn man letzten Endes einsieht, daß das der Fall ist, dann ist das Problem ja gelöst! Dann kann man um Verzeihung bitten, dann kann alles wieder gut werden. Viel schwieriger ist es. wenn einem klar wird, daß der Partner im Unrecht ist.“ „Ja, was kann man dann machen?“ fragte ich. „Dann muß man sich selbst sagen: aber du liebst ihn doch so. wie er ist, mit seinen Fehlern und Schwächen. Du liebst ihn und nicht den Menschen, den du aus ihm machen möchtest. Wenn du all seine guten Seiten liebst und dich darüber freust, mußt du die schwachen Seiten mit in Kauf nehmen! Ja. und dann muß man eben darüber hinwegsehen, man sollte lieb und freundlich bleiben, und wenn man sich verletzt fühlt oder ungerecht behandelt, dann muß man das eben hinunterschlucken.“ „Hast du das tun müssen, Mama?“ „Oh. vielleicht ein paarmal. Natürlich haben Papa und ich uns ab und zu gestritten, wir sind ja schließlich keine Engel. Aber die Liebe hat immer gesiegt, wir haben gelernt, über die kleinen Unstimmigkeiten zu lachen. Ja, mein Kind, lachen muß man können! Auch über sich selbst! Das ist sehr, sehr wichtig! Wenn man eine Schwierigkeit mit guter Laune und einem Lächeln hinnehmen kann, dann ist das Leben und das Zusammenleben viel, viel leichter!“ Ich dachte nach. Lange. Dann fragte ich: „Aber wenn nur der eine Partner diese so löbliche Einstellung hat. und der andere nicht, was dann?“ „Ich glaube, man sollte von Anfang an. also wenn alles schön und gut ist und die erste Liebe noch auf ihrem Höhepunkt, eine Verabredung treffen! Eine Art Versicherung gegen spätere Unstimmigkeiten!“ „Jetzt kann ich nicht mehr so richtig folgen.“ „Kannst du nicht? Gut, dann werde ich dir etwas erzählen, was ich noch keinem anderen Menschen erzählt habe.“
„Jetzt bin ich aber gespannt! Ist es so etwas Furchtbares?“ „Nein, im Gegenteil.“ Mama lächelte wieder, und ich glaube nicht, daß ich jemals ein so hübsches Lächeln auf einem Menschengesicht gesehen habe. „Als Papa und ich uns gerade verlobt hatten – du weißt, das war in einem Sommer in der Schweiz –, da hatten wir ein paar kleine Auseinandersetzungen – nichts Schlimmes, aber immerhin. Kleine Unstimmigkeiten, weil wir eben verschiedene Auffassungen hatten.“ Ich nickte. „Du warst wahrscheinlich zu impulsiv und Papa zu nüchtern!“ „Ja. ungefähr so war es. Aber es ging schnell vorüber, und wir waren sehr, sehr glücklich miteinander. Dann machten wir einen ganz wunderbaren Ausflug auf den Gornergrat.“ „Oh, da bin ich ja auch gewesen, ich habe das Matterhorn bewundert!“ „Ja. und dasselbe taten wir. Es war ein so prachtvoller Tag. und wir waren so glücklich, und die Natur war so überwältigend schön. Da sagte ich zu Papa: ,Wenn wir jemals böse aufeinander werden sollten, wenn es jemals dahin käme, daß wir einander verletzen oder kränken – dann sagen wir ganz einfach Matterhorn und denken an diesen Augenblick zurück, und dann wissen wir, wie sehr wir einander lieben und wie vieles wir miteinander gemeinsam haben. Wir werden sofort wissen, daß die kleinen Ärgernisse des Alltags im Grunde nichts zu bedeuten haben, und zwei Menschen, die einander so nahestehen, stets über alles sprechen und alles verstehen können…’“ „Jetzt begreife ich!“ rief ich. „Jetzt begreife ich. warum ihr das große, schöne Bild vom Matterhorn in eurem Schlafzimmer habt! Aber. Mama, hat es immer geholfen?“ „Ja. weißt du. das hat es! Aber es wurde mit der Zeit immer seltener, wir brauchten es zuletzt nicht mehr. Wir sind zwanzig Jahre verheiratet, und in zwanzig Jahren lernt man viel. Ich glaube, Papa hat es verstanden, mir ein bißchen Vernunft und Nüchternheit einzuflößen…“ „Und du hast ihn gelehrt, lieb zu sein!“ rief ich. „Das behauptet er jedenfalls selbst! Aber, Mama, wenn man nun eine solche Verabredung mit seinem Partner Hat, und es kommt zu einer scheußlichen Auseinandersetzung, so daß der eine oder die andere sagt ,hör doch endlich auf mit deinem lächerlichen, sentimentalen Matterhorn’. was dann?“
„Ja, dann ist es schlimm. Dazu kann ich nur sagen, daß man erst heiraten darf, wenn man sich so gut kennt, daß man weiß – hundertprozentig sicher weiß –, daß man dieselben Grundbegriffe hat.“ „Und was nennst du Grundbegriffe?“ „Dieselbe Auffassung von Ehrlichkeit, anständiger Gesinnung, Offenheit. Mit anderen Worten, man soll sich kennen, richtig gut kennen, am liebsten auch ein paar Auseinandersetzungen gehabt haben, bevor man heiratet!“ „Und dann soll man also ein ‚Matterhorn’ haben!“ Mama lächelte. „Ja, oder ein anderes Wort – für dich und Ingo käme wohl ,Cora’ oder ‚Bisken’ in Frage!“ „Oder ‚Kreta’“, meinte ich. „Du kannst dir nicht denken, wie schön wir es auf Kreta hatten!“ „Ja. irgend etwas wird euch bestimmt einfallen!“ Wir wurden unterbrochen: mein Bruderherz erschien in einer solchen Verfassung, daß ich ihn am liebsten in voller Verpackung unter die Brause gestellt hätte! Ich ergriff seine Hand, bevor er das Wohnzimmer mit dem guten Teppich betreten konnte, verfrachtete ihn ins Badezimmer, schälte ihn wie einen Apfel aus seiner Kleidung und stellte ihn unter die Brause. Dann holte ich Unterwäsche. Strümpfe. Jeans und Pulli und teilte ihm mit. daß es in einer halben Stunde Abendessen gäbe, er sollte sich schnell anziehen. Seine schmutzige Kleidung legte ich in einen Eimer zum Einweichen. Sie so in die Waschmaschine zu stecken, würde eine Schlauchverstopfung zur Folge haben! „Welch ein Glück, daß du damals keine Drillinge bekamst, Mama“, seufzte ich. als ich wieder ins Wohnzimmer kam. „Wenn ich mir denke, drei so dreckige Brüder zu haben!“ „Siehst du. man findet immer Gründe, um froh und dankbar zu sein“, lächelte Mama. „Und heute haben wir viele Gründe!“ stellte ich fest. „Daß wir nicht Marcus in dreifacher Ausgabe haben, daß Simone kommt, und vor allem, daß du so offen mit mir gesprochen hast und mich viel, viel gelehrt hast! Das ist alles so schön, daß wir es feiern müssen! Wollen wir Schinken und Rührei zum Abendessen spendieren?“
Es geht uns wieder gut Alles war mit einem Schlag besser geworden. Nicht, daß ich nicht viel zu tun hatte! Mein Tag war mehr als reichlich mit Arbeit ausgefüllt, und ich hatte wenig Zeit, mir die „Unterrichtsbänder“, die Antje mir lieb und getreu schickte, anzuhören. Aber jetzt wußte ich, daß ich bald wieder zur Schule gehen konnte, daß unser Dasein weniger kompliziert werden würde. Gut, ich würde noch viel zu tun haben, ich durfte nicht vergessen, daß Simone auch ihr Kind zu versorgen hatte. Ich würde wohl bei der Wäsche, beim Bügeln, bei Besorgungen und anderem tatkräftig mithelfen müssen, aber trotzdem… alles würde gehen, wenn ich bloß wieder zur Schule kam! Mama setzte sich hin und sprach einen langen Tonbandbrief an Papa. Sie behauptete, sie hätte es geschafft, ohne direkt zu lügen, weiß der Himmel, wie sie das fertigbrachte! Ich schrieb einen schnellen kleinen Brief an Ingo, das mußte ich tun, auch wenn ich einen Haufen Bügelwäsche zu erledigen hatte und drei Betten zu machen. Wenn Ingo nicht regelmäßig seine Briefe bekäme, würde er sich ängstigen. Ich rief Jessica an und erzählte ihr, daß wir ab Sonntag Hilfe bekommen würden. „Himmlisch!“ rief sie. „Ich hatte eine Frau hier auf dem Kieker, aber es zeigte sich, daß sie eine Katzenallergie hatte, dann…“ „Um Himmels willen!“ rief ich. „Wenn sie Anton in ihrem Bett vorfände oder Felix auf ihrer sauberen Wäsche!“ „Eben! Also, das wurde nichts. Wie schön, daß Simone kommt! Nach allem, was ihr erzählt habt, möchte ich sie gern kennenlernen. Also, ich komme dann Freitag, mit gefüllter Tiefkühltasche wie gehabt!“ „Jessica, ich weiß einfach nicht, wie ich dir danken soll!“ „Bedanke dich bei Falko, der mich zwei Wochenenden entbehren muß. Tschüs, Elainchen, grüß deine Mutter und Marcus und das Viehzeug!“ Außer der Pflege von Mama hatte ich zwei Tage nichts zu tun. Jessica übernahm den Haushalt, schmiß mich aus der Küche raus und forderte mich sehr bestimmt auf, mich um meine Schularbeiten zu kümmern. Also setzte ich mich hin und hörte sämtliche Unterrichtsbänder ab und schickte zwischendurch dankbare Grüße
an meinen Lateinlehrer, an Dr. Sager und an Antje. Wir erwarteten Simone gegen fünfzehn Uhr. Jessica setzte sich in ihren Wagen, sie nahm Marcus mit und fuhr zur Bushaltestelle. Eine Viertelstunde später kam die ganze Bande angerollt. Das gab vielleicht ein Wiedersehen! Titine war gewachsen, ihr Wortschatz auch. Daß sie sich vorwiegend auf Schwyzerdeutsch äußerte, machte die Verständigung etwas kompliziert, aber Simone verstand sie und übersetzte. „Simultan-Dolrnetscherin!“ stellte Mama fest. Jessica trank mit uns Kaffee und unterhielt sich lebhaft und interessiert mit Simone. Dann mußte sie losfahren, sie hatte immerhin eine Strecke von beinahe dreihundert Kilometern vor sich. „Nun gib mir sofort deine Instruktionen“, verlangte Simone. „Du verschwindest ja morgen früh, dann muß ich…“ „Auf mich hören!“ unterbrach Mama. „Es sind meine Arme, die gebrochen sind, nicht meine Stimmbänder. Ich kann Ihnen doch selbst alles erklären und sie hin und her schicken und meckern und schimpfen, je nachdem. Packen Sie nun aus, kümmern Sie sich um Titinchen, nachher wollen wir in Ruhe alles Notwendige besprechen.“ Mit Marcus’ Hilfe hatte ich das Gitterbettchen ins Fremdenzimmer gestellt. Im Wohnzimmer stand ein Laufställchen bereit – von der hilfsbereiten Frau Henning von der Post geborgt – und im Bad wartete eine Babybadewanne aus Plastik auf Titine. Als die beiden Kleinen ins Bett gelegt beziehungsweise geschickt waren, setzten wir drei uns zusammen und machten einen Plan für die kommenden Tage. „Morgens versorgen Sie und Elaine also je ein Kind“, lächelte Mama. „Ich bin ja auch so hilflos wie ein Baby. Tagsüber brauchen Sie nicht viel für mich zu tun, es sei denn, ich muß während Elaines Abwesenheit zur Toilette…“ „Kleinigkeit!“ meinte Simone. „Mit solchen Situationen kenne ich mich aus, fragen Sie Titine!“ Ich zeigte Simone, wo Lebensmittel, Wäsche, Reinigungsmittel, Bürsten und Staubsauger zu finden waren. Dann überließ ich ihr und Mama, sich über das Gehalt zu einigen, was schnell und einfach erledigt wurde. Als ich am folgenden Morgen in den Bus stieg, war ich beinahe in Feststimmung! Während Jessicas Besuch hatte ich mich so gut wie es ging auf die Schule vorbereitet. Mama war versorgt, die Tiere
auch. Marcus’ Schulbrote waren – nach seinen eigenen, sehr bestimmten Anweisungen – von Simone zurechtgemacht worden. Also konnte ich mich für die nächsten Stunden seelenruhig und mit dem allerbesten Gewissen um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Als ich das Klassenzimmer betrat, war ich direkt gerührt! Die Klassenkameraden fragten alle: „Wie geht es, Elaine?“ – „Hast du überhaupt Schularbeiten machen können?“ – „Wie geht es deiner Mutter?“ Und das Allerschönste war: „Prima, daß du wieder da bist, Elaine!“ Die Unterrichtsstunden gingen ganz gut, die Lücken in meinem Wissen waren nicht allzu groß. Komischerweise machten sie sich bei meinem schwächsten Punkt, der Mathematik, am wenigsten bemerkbar. Oh. der gesegnete Dr. Sager! Ihm, nur ihm allein hatte ich es zu verdanken, daß ich jetzt nicht wie ein hilfloses Fragezeichen dasaß, und das sagte ich auch Antje. „Ja“, schmunzelte sie. „Ich sage Vati doch immer, er kann so gut erklären, daß sogar seine vierbeinigen Patienten es verstehen können! Ich begreife nicht, daß er nicht Mathematiklehrer geworden ist!“ „Ich bin sehr froh, daß er Tierarzt ist!“ meinte ich. Ich bedankte mich beim Lateinlehrer, der das Kassettenbandsystem mitgemacht hatte, und ich ging zum Direktor und bedankte mich, daß er mir diese vierzehn Tage freigegeben hatte. Alles ging also sehr gut, und meine gute Laune stieg. Ich würde es schaffen! Ich wollte es schaffen! Wenn ich auch noch ein paar Wochen lang keine freie Minute haben würde. Ich hatte eine Einkaufsliste nach Mamas Diktat geschrieben, rannte zu einem Supermarkt und kam schwer beladen nach Hause – zu fertigem Mittagessen, zu einem vor Freude nicht zu bändigenden Hund, zu einer fröhlich lächelnden Mutter, einem mitteilungsbedürftigen Bruder, einem süß plaudernden Kleinkind – und zu der gesegneten Simone, die mich freudig begrüßte. „Das nenne ich einen Job!“ sagte Simone. „Mitten in einer freundlichen Familie, mit lieben Menschen um mich – wenn bloß alle Jobs so wären!“ „Hast du denn so böse Erfahrungen?“ fragte ich, während ich Mama Fleischbissen in den Mund steckte. Simone war in der gleichen Weise mit ihrer Tochter beschäftigt.
„Sagen wir, verschiedene Erfahrungen“, antwortete Simone. „In Hannover hatte ich natürlich weniger zu tun. Titine und ich waren ja allein, die Wellensittiche und die Fische machten wenig Arbeit – aber ich war so furchtbar allein! Ich kannte ja keinen Menschen da. Ich hatte viel zuviel Zeit zum Grübeln, und manchmal kam mir alles so hoffnungslos vor. Wenn du ahntest, was es für mich bedeutete, dich und deine Grand-mère damals zu treffen – und die Stunde in der Konditorei –, es klingt komisch, aber die Begegnung damals gab mir tatsächlich neuen Mut!“ „Hast du denn nie einen Job in einer Familie gehabt?“ fragte ich und wischte Mamas Mund mit der Serviette ab. „O doch“, sagte Simone und wischte Titines Mund mit dem Sabberlätzchen. „Einmal war ich .Mädchen für alles’ in einer Familie, deren Hausfrau im Krankenhaus lag, und ich mußte drei Kinder bekochen und versorgen. Es wurde mir gesagt, daß es gar nicht so anstrengend sein würde, denn da war eine Oma, die sich sehr um Haushalt und Kinder kümmerte. Pustekuchen! Was sie tat, das war, mir den ganzen Tag auf der Pelle zu bleiben und alles zu bemängeln, was ich tat. Wenn ich aus der Schublade einen Kochlöffel zum Umrühren holte, nahm sie ihn mir weg und gab mir einen anderen. Wenn ich für die Kinder Brote bestrich, behauptete sie, daß ich zu verschwenderisch mit der Butter war, am folgenden Tag war ich zu geizig. Wenn ich Wurst aufs Brot legte, war das verkehrt, die Kinder wollten Käsebrote haben. Bekamen sie Käsebrote, wollten sie lieber Marmelade. Ach. da war alles verkehrt, Dinge, die ich in drei Minuten hätte erledigen können, dauerten ewig, weil sie immer dazwischenfunkte. Und dann schrie Titine, ich mußte wegrennen, dann gab mir die Oma zu verstehen, daß ich gefälligst daran denken sollte, hier wären auch andere Kinder als mein eigenes zu versorgen. Es war überhaupt furchtbar.“ „Warum bist du dann geblieben?“ fragte ich. „Ach, die Kinder brauchten mich, und der Hausherr war dankbar, daß ich ihnen half- und er bezahlte sehr gut. Also hielt ich die drei Wochen durch, aber ich muß sagen, ich habe ohne Tränen das Haus verlassen!“ „Und wie ist es mit meiner Mama?“ wollte ich wissen. „Meckert sie auch?“ „Und ob!“ lachte Simone. „Heute vormittag bekam ich Schimpfe, weil ich Wäsche einsprengte, anstatt eine halbe Stunde mit Titine zu
spielen! Kann ich abräumen? Es gibt Schokoladenpudding als Nachtisch.“ „Wenn ich das bloß gewußt hätte!“ seufzte Marcus, der dreimal von dem Gulasch gegessen hatte. Simone war ein Phänomen. Sie arbeitete wahnsinnig schnell und schaffte so viel, daß sie meine Hilfe nachmittags kurz und bestimmt ablehnte. „Geh zu deinen Büchern!“ kommandierte sie. „Denk an dein Abitur! Denk an alles, was du aufzuholen hast!“ Gerade daran dachte ich ja! Weil die gute Simone mir beinahe alle anderen Arbeiten abnahm, konnte ich mich jeden Tag stundenlang auf die Schularbeiten konzentrieren. Es war. als ob Dr. Sager ein Licht in meiner mathematischen Finsternis angezündet hätte, und es brannte dauernd! Ja. ich würde es schaffen! Ich mußte es schaffen! Dann kam der große, der unvergeßliche Tag. an dem Mama zur Kontrolle beim Arzt war. Ich saß im Wartezimmer und war gespannt. Endlich erschien meine Mama, strahlend wie eine Sonne – und mit dem rechten Arm frei, ohne Gips! Der Bruch war sehr schön verheilt, jetzt sollte sie vorsichtig anfangen, den Arm wieder zu gebrauchen! Was war das für eine Erleichterung! Mama konnte ohne Hilfe essen und trinken, zur Toilette gehen, sie konnte sich sogar waschen, wenn ich ihr mit ihrem rechten Arm und der Schulter half. Sie konnte schreiben, sie konnte telefonieren – kurz gesagt, sie fühlte sich plötzlich wieder wie ein Mensch, wie sie selbst sagte. „Wenn der Gips auch links runterkommt, wißt ihr. was ich dann zu allererst mache?“ fragte sie. „Handstand“, schlug ich vor. „Elaine umarmen“, meinte Simone. „Nein, das kommt als zweites. Das allererste, was ich tue, ist, in die Badewanne zu steigen!“ „Aber das kannst du doch gleich!“ rief Simone, die sich schon seit einer Woche mit Mama duzte. „Wir packen sicherheitshalber deinen linken Arm in Plastik, zum Beispiel in einen Müllbeutel, du steigst in die Wanne, und wir legen den Gipsarm vorsichtig auf die Wannenkante, ich halte ihn sicherheitshalber, und Elaine hilft dir mit dem Waschen!“
Gesagt, getan. Es gab viel Geplansche und noch mehr Gelächter! Ja, wie konnten wir zusammen lachen! Und wie hatten wir es gemütlich! Wenn wir drei Frauen abends in Ruhe zusammensaßen, fragten und erzählten, wenn Mama uns aus ihrer reichen Lebenserfahrung gute Ratschläge gab – es war so schön, es waren so reiche, so positive Gespräche, die Simone und mir viel gaben. Natürlich sprachen wir auch viel über Simones Zukunft. „In dreizehn Monaten wird Titine drei“, sagte Simone. „Dann kann sie in den Kindergarten kommen, und ich kann versuchen, mit Hilfe eines Privatkurses das Abitur zu machen. Also habe ich dreizehn Monate Zeit, mir das notwendige Geld zusammenzukratzen. Ich habe mein ganzes Gehalt in Basel auf die hohe Kante gelegt, und beinahe alles, was ich hier verdient habe, das ist ein guter Anfang.“ „Vielleicht kann deine Tochter dir helfen“, meinte Mama. „Wenn mein Mann sie öfters für Reklamefilme nehmen kann… Ich bin gespannt, was diese Seifenfirma zu den Aufnahmen sagt, die er schon gemacht hat!“ Mama brauchte nicht lange gespannt zu bleiben. Denn eines Nachmittags rief Herr Feldmann an. Ich war am Apparat. „Na. Fräulein Elaine, wie geht es? Halten Sie es noch aus vor Sehnsucht? Wir haben schon einige Filmrollen von Ihrem Vater gekriegt, sehr gut wie immer. Also, was ich fragen wollte: Kennen Sie zufällig den Namen und die Adresse der Eltern des Seifenbabys? Die Firma ist hochbegeistert und schreit nach mehr, und eine Fabrik für Babynahrung fragt nach einem fotogenen Kind. Ich habe gerade ein Honorar für die Seifenaufnahmen bekommen und wollte es den Eltern schicken. Falls Sie also wissen, wo…“ „Ich weiß wo!“ rief ich. „Die Mutter sitzt hier neben mir!“ Er notierte Simones Namen, und zwei Tage später kam ein dicker Scheck. Simone gab Mama die zweihundert Mark, die Papa ihr als Vorschuß bezahlt hatte, der Rest kam auf ihr Sparkonto. „Wenn ich bloß bald beide Arme gebrauchen könnte!“ seufzte Mama. „Ich habe doch so viele zu klein gewordene Kleidungsstücke von Marcus, die ich so schön für Titine zurechtmachen kann! Ich garantiere dir. daß du dann ein Jahr lang gar nichts für sie zu kaufen brauchst!“ „Zu schön, um wahr zu sein!“ strahlte Simone. „Allerdings habe ich hin und wieder etwas für sie geschenkt bekommen, aber manchmal muß ich ja kaufen, und Kinderkleidung ist schandbar
teuer! Aber ob du Zeit dafür haben wirst?“ „Solange du hier bist, werde ich ja mit Volldampf nähen können“, meinte Mama. „Es hängt nur von meinem blöden Arm ab!“ „Aber wenn der wieder brauchbar ist, braucht ihr mich wohl nicht mehr?“ fragte Simone zaghaft. „Darüber werden wir sprechen, wenn unsere Männer zurück sind“, sagte Mama. „Wir brauchen dich unbedingt, aber es kommt ja darauf an. ob du es so lange hier aushältst.“ „Ich höre immer aushalten!“ rief Simone. „Ich bleibe, bis ihr mich mit Brachialgewalt rausschmeißt!“ „Dann dauert es etwas“, sagte Mama trocken. „Mein linker Arm wird sich noch lange nicht für Brachialgewalt eignen!“ „Mein Glück!“ lachte Simone.
Wiedersehen und Weihnachten An einem klaren, kalten Dezembertag begleitete ich Mama zum Arzt. Als sie im Sprechzimmer verschwand, fing ich an. die Daumen zu drücken, und das tat ich so intensiv, daß ich selbst beinahe eine chirurgische Behandlung brauchen konnte! Ich hatte das Gefühl, als ob meine armen Daumen zuletzt gelb und grün waren! Ich ließ sie erst los. als Mama mit einem strahlenden Lächeln erschien. Ihr linker Arm lag noch im Dreieckstuch – aber ohne Gips! Sie hatte nur einen Stützverband, und die ganze Hand war frei! Sie war überglücklich. „Denk dir. jetzt kann ich das Weihnachtsbacken mitmachen, und ich kann Marcus’ Hosen flicken und ich kann…“ „Mama!“ sagte ich streng. „Was hat der Arzt nun gesagt? Bitte die Wahrheit und nichts als die Wahrheit!“ „Nun ja… ich soll natürlich vorsichtig sein… und Massagen bekommen und nur leichte Arbeit machen.“ „Also, keinen Teig ausrollen, keinen Eimer heben, nicht mit dem Staubsauger hantieren, stimmt das?“ „Ja. so ungefähr, aber…“ „Lieber Himmel“, seufzte ich. „Wie werden Simone und ich auf dich aufpassen müssen!“ „Ich werde vernünftig sein, Elainchen! Das muß ich nämlich, damit ich noch vor Weihnachten wieder Auto fahren kann!“ „Glaubst du, daß du das schaffst? Du willst natürlich zum Flughafen und Papa abholen, stimmt das?“ „Das stimmt unbedingt. In ein paar Tagen darf ich den ersten Versuch machen, beim Autofahren brauche ich ja hauptsächlich die rechte Hand. Ich werde eine Probefahrt auf unserer ruhigen kleinen Straße machen, und dann…“ „Und dann geht es am zwanzigsten Dezember nach Hannover, das ist mir klar. Mama, machst du auch Striche im Kalender?“ „Das nicht gerade, aber ich zähle die Stunden!“ Ich guckte auf die Uhr. „Es sind nur noch dreihundertvierundsechzig“, sagte ich. Zum erstenmal seit Anfang des Schuljahres mußte Mama mich ermahnen: „Bist du mit den Schularbeiten fertig, Elaine? Sollst du nicht übermorgen deinen Aufsatz fertig haben? Wie ist es mit deinen Mathematikaufgaben?“
Dann mußte ich mit einem schweren Seufzer den Backtisch verlassen und mich in die Mathematikaufgaben stürzen. „Sag mal. Elaine“, fragte Mama. „Dein Lateinlehrer, wie heißt er nun gleich – ja richtig. Buchental war es –, hat der Kinder?“ „Ja, vier, glaube ich. Wieso, warum mußt du das wissen?“ „Laß das meine Sache sein. Geh du zu deiner Mathematik!“ Ich ging. Und dabei gehört das Weihnachtsbacken zu meinen Lieblingsbeschäftigungen! Seit ich fünf war, durfte ich mitmachen, ich stand auf einem Hocker und rollte Teig aus mit einem PuppenTeigroller und kam mir ungeheuer wichtig und unentbehrlich vor. Ich war in Feststimmung! Aber dieses Jahr mußte ich alles, sogar die Back-Feststimmung, opfern! Als ich am folgenden Tag aus der Schule kam, duftete es ganz himmlisch im Haus. Der Duft kam aus der Küche. Da standen zwei riesengroße Torten – ich erkannte sie sofort, es waren die berühmten Familien-Adventstorten, nach Grand-mères verschwenderischem Rezept, mit Walnüssen, Marzipan, kandierten Früchten und der Himmel weiß was noch. Das Wasser lief mir im Mund zusammen. „Nicht anrühren, Elaine!“ kam die mahnende mütterliche Stimme. „Sie sind nicht für uns!“ „Für wen denn?“ „Eine für Dr. Sager und eine für Studienrat Buchental.“ „Ach, Mamachen, du bist ja ein Schatz! Ein Dank für den Tonbandunterricht, nicht wahr? Hast du ihnen auch geschrieben?“ „Klar. Daß ich mich in dieser Form dafür bedanke, daß sie meinem Kind so großartig geholfen haben, deswegen möchte ich ihren Kindern auch eine kleine Freude machen.“ „Na, die werden sich aber auch mächtig freuen, jedenfalls wenn sie den ersten Bissen intus haben!“ „Jetzt werde ich die Torten einpacken. Dortes Bruder hat versprochen, sie morgen nach Braunschweig mitzunehmen und sie bei den beiden Privatwohnungen abzugeben. Ja, und aus den Resten habe ich eine ganz kleine Torte auch für uns zusammengeschustert, die gibt es heute zum Kaffee!“ Zwei Tage später kam ein Briefchen von Studienrat Buchental. „Mama las ihn lächelnd, dann reichte sie ihn mir: Sehr verehrte gnädige Frau! Ganz herzlich danke ich Ihnen für Ihre wunderbare Sendung, auch im Namen meiner Familie. Die
Kinder sind entzückt, so entzückt, daß meine Frau Ihre Wundertorte unter Verschluß hält, und pro Nase jeden Tag ein auf der Briefwaage abgewogenes Stück aushändigt! Was ich für Elaine getan habe, war wirklich nicht der Rede wert, aber es freut mich sehr, daß die besprochenen Bänder ihr nützlich gewesen sind. Es ist eine Freude, einer so gewissenhaften und fleißigen Schülerin helfen zu können. Elaine hat ja das notgedrungen Versäumte sehr schön aufgeholt, und ist – so sagen auch meine Kollegen – eine der Besten ihrer Klasse, vielleicht sogar die Beste. Ich weiß, wie viel es ihr bedeutet, ein gutes Abitur zu machen, und es sieht so aus. als würde es ihr auch gelingen.“ Die Schlußgrüße las ich gar nicht. Ich fiel Mama um den Hals vor Freude. Die Beste! Die Beste der Klasse! Mama hatte mit Simone ausgemacht, daß sie auf jeden Fall bis Ende Januar bei uns blieb, nur mit einer kurzen Unterbrechung: sie wollte die Weihnachtstage bei ihrer Mutter verbringen und dann zurückkommen. Die letzte Nacht vor Papas und Ingos Rückkehr konnte ich kaum schlafen. Ich wußte, jetzt saßen sie im Flugzeug – irgendwo würden sie eine Zwischenlandung machen, dann ging es weiter nach Frankfurt. Dort, in dem großen Flughafen, hatten sie noch zwei Stunden Wartezeit – und dann kam nur noch der letzte kleine Hopser nach Hannover! Nie in meinem Leben hatte ich mich auf etwas so gefreut, wie ich mich jetzt auf Ingos Rückkehr freute. Ja. natürlich auch auf Papas… aber ich gebe zu. daß ich vor allem an den Augenblick dachte, da ich Ingo die Arme um den Hals schlingen konnte! Mama hatte ihre „Probefahrten“ gemacht, es war alles sehr gut gegangen, und sie hatte keine Bedenken, nach Hannover zu fahren. Endlich, endlich war es soweit! Ich rannte von der Schule zum Bahnhof, sprang in den Zug nach Hannover, und da waren Mama und Marcus schon auf dem Bahnsteig. In zwei Stunden sollte das Flugzeug landen, wir hatten reichlich Zeit. „Weißt du was. Mama“, sagte ich. als wir in der Halle des Flughafens saßen. „Diese Minuten hier, die scheinen mir länger zu sein als all die Wochen zu Hause!“ Mama lächelte.
„Geht es dir auch so? Ich habe das Gefühl, daß die Uhrzeiger sich überhaupt nicht bewegen!“ Ich drückte Mamas Hand. „Weißt du. was ich wünsche, Mama?“ „Daß Ingo heil und gesund zurückkommt!“ „Ja. das ist klar. Aber ich wünsche, daß ich. wenn ich in zwanzig Jahren so sitze und Ingo von einer Reise zurückerwarte, genauso ungeduldig und so voll Freude und so verliebt sein werde, wie du es jetzt bist!“ „Das wünsche ich dir auch. Kind. Diese unveränderte Liebe, die keine Alltagssorgen, keine kleinen Ärgernisse, keine Probleme töten können – ich glaube, die ist das größte Geschenk, das der liebe Gott einem machen kann!“ Da. endlich, kam die Stimme aus dem Lautsprecher. Das Flugzeug war gelandet. „Marcus“, sagte Mama. „Du weißt, was ich dir gesagt habe?“ „Klar! Wir dürfen nicht erzählen, daß du die Arme gebrochen hast, denn Papa soll… er soll… o ja, jetzt weiß ich, er soll keinen Schrecken kriegen, und du wirst es später erzählen!“ „Richtig. Marcus. Vergiß es nun nicht.“ „Ich bin doch nicht doof“, sagte mein Bruder. Da! Ein Männerkopf ragte über all die anderen empor – es ist immer sehr leicht. Papa in einer Menschenmenge zu finden, wegen seiner Größe! Sonnenverbrannt, lächelnd, winkend – und da Ingo, der auch nicht der Kleinste ist. aber neben Papa ist er beinahe ein Zwerg. Auch braungebrannt, auch etwas abgemagert, aber sein Gesicht war ein einziges Lächeln! Als Ingo mich umarmte, hatte ich die Gelegenheit, ihm ins Ohr zu flüstern: „Biete dich an zu fahren. Ingo. Mama muß sich schonen, ich erzähle dir nachher warum.“ So kam es. daß Ingo sich ans Steuer setzte, und Papa genoß es. hinten im Wagen zu sitzen, mit dem Arm um Mamas Schultern und mit seinem Sohn auf dem Schoß. Und ich saß glücklich neben Ingo mit der Hand auf seinem Knie. Wir hatten so eine kleine Verabredung. Wenn ich beim Autofahrer meine Hand auf sein Knie legte, bedeutete es: „Ich habe dich ganz schrecklich lieb!“ Ingo wollte bei uns übernachten und am nächsten Morgen nach Lübeck fahren. „Ich habe das Filmatelier für dich zurechtgemacht“, sagte ich.
„Denn im Fremdenzimmer wohnen Simone und Titine.“ „Ach, ist Titine da?“ sagte Papa. „Das ist ja wunderbar, ich brauche sie dringend. Ja. ich habe einen Brief von Feldmann, ich soll nur losfilmen, nachher werden wir alles auseinanderschneiden und zusammenschustern und sehen, was für Werbefilme wir daraus machen können. Der Seifenfilm ist schon nach England und Frankreich verkauft, das bedeutet Geld sowohl für Simone als auch für mich! Ist sie schon länger bei euch?“ „Ja, einige Wochen, sie hat uns im Haushalt geholfen“, erklärte Mama. „Damit du an der Nähmaschine sitzen konntest, um Geld zu verdienen“, meinte Papa, und niemand korrigierte ihn. Simone wartete mit einem entzückend gedeckten Abendbrottisch. Titine schien Papa wiederzuerkennen, jedenfalls verlangte sie energisch, auf seinen Schultern zu reiten! Erst als sie ins Bett gebracht war. und die Mitbringsel überreicht waren, sagte Mama: „So, Marcus, du bist sehr brav gewesen. Dafür darfst du jetzt Papa erzählen, was uns passiert ist. während er weg war! Asbjörn. mach dich auf alles gefaßt, und kriege keinen Schrecken, du siehst ja. daß alles hier in Ordnung ist.“ „Nanu, habt ihr ein Erdbeben gehabt oder ein Feuer?“ Marcus holte tief Luft, seine Backen waren hochrot, als er endlich sprechen durfte. „Mama hatte beide Arme gebrochen!“ Papas Teetasse schwappte über. „Was hat Mama?“ „Beide Arme gebrochen! Beide auf einmal! Und Elaine konnte nicht zur Schule, und sie mußte Mama aufs Klo begleiten, und ich habe Mama gefüttert, manchmal, also, und ich habe ihr die Nase geputzt, und Jessica kam und half Elaine, und sie machte Zitronenpudding, zweimal!“ Marcus war nicht zu bremsen. Sein Redefluß brauste weiter. „Und weißt du, Papa, Mama kann die Türen mit dem Fuß aufmachen, und sie kann die Knöpfe vom Kassettenrecorder mit der großen Zehe drücken, und dann… ja, und dann kamen Simone und Titine, und dann konnte Elaine wieder zur Schule…“ Endlich mußte Marcus Luft holen, und Papa benutzte die Pause: „Bernadette! Stimmt das alles?“ „Ja, das muß ich zugeben. Aber es ging recht gut, und wie du weißt, konnte ich den Wagen nach Hannover fahren, und ich habe
dich auch umarmen können, das hast du doch gemerkt?“ Die Fragen hagelten nur so auf uns herunter. Fragen von Papa und von Ingo. Wie war es geschehen, wann war es passiert, warum hatte ich Papa nicht benachrichtigt? „Aber Asbjörn. warum sollten wir?“ sagte Mama. „Du hättest ja doch nichts machen können. Solltest du diese wichtige Arbeit unterbrechen und nach Hause kommen, nur um mir tröstend das Händchen – ich meine den Gipsverband – zu halten?“ „Und Elaine?“ wollte Papa wissen. „Wäre ich hier gewesen, hätte ich dir helfen können, und Elaine hätte zur Schule gehen können. Was ist nun mit diesem so wichtigen Schuljahr? Kannst du all das Versäumte wieder aufholen? Natürlich kriegst du Nachhilfestunden. Kind, aber ihr hättet es mir erzählen sollen!“ Ich stand auf und ging zu Mamas Schreibtisch im Wohnzimmer. Da holte ich den Brief von Studienrat Buchental und legte ihn neben Papas Teller. Er las, und Ingo las über seiner Schulter mit. Dann guckten sie mich an. mit zinntellergroßen Augen. „Donnerwetter“, sagten Papa und Ingo. Es wurde spät, bis wir zur Ruhe gingen. Es gab so furchtbar viel zu fragen und zu erzählen. Papa brachte einen Riesenstoß Fotos mit – zu viel, um alle gleich zu studieren, das mußte warten, bis wir uns leergeplaudert hatten! Simone zog sich zurück. Marcus ließ sich auch endlich überreden, ins Bett zu gehen. Er war so müde, daß er die Augen kaum aufhalten konnte. Ich ging mit Ingo hinunter ins Filmatelier. Er blieb vor der Tür stehen und atmete die kühle Abendluft ein. „Danach habe ich mich drei Monate gesehnt“, sagte er. „Wenn du wüßtest, wie schlimm es ist. wenn man die Lungen mit heißem Dampf füllt, statt mit frischer Luft!“ „Hast du dich noch nach mehr gesehnt?“ fragte ich. Ingo sah mich an. legte den Arm fester um mich. „Und ob. Lillepus! Und ob!“ Ohne weitere Worte gingen wir hinein. Hier waren wir allein, nur Ingo und ich. Ingo machte die Tür hinter uns zu.
Ein halbes Jahr später Die Zeit raste dahin. Simone fuhr zu ihrer Mutter, und das Fremdenzimmer wurde in aller Eile für Ingos Mutter zurechtgemacht. Am Heiligen Abend rollte Ingos grüne Ente vor unser Tor und entlud ihre teure Last: Ingo. Mutti. Cora und einen großen Karton, den Ingo schleunigst in Sicherheit vor meinen neugierigen Augen brachte. Cora feierte schwanzwedelnd und fröhlich das Wiedersehen mit uns allen, stellte sich etwas kühl ihrem leiblichen Sohn Bisken gegenüber, leckte Anton und begutachtete Felix, der sich inzwischen zu einem stattlichen, schönen Kater entwickelt hatte. Tannenduft, brennende Kerzen, schöne Radiomusik, gutes Essen – man merkte, daß Mama wieder kochen konnte! – und sechs Menschen, die sich gut verstanden, die sich gern hatten und diese Tage so richtig genossen! Nach diesen schönen Tagen fühlten wir uns alle gestärkt, wir hatten für die Arbeit, die uns erwartete, neue Kräfte gespeichert. Das war auch nötig. Ingo arbeitete mit Hochdruck an seiner Doktorarbeit. Im Februar mußte er für einige Wochen zu einem Schweizer Professor fahren, um mit ihm zusammen den Bericht über die Yucatan-Ergebnisse zusammenzustellen. Bis Ende Januar wollte er unbedingt die Doktorarbeit schaffen – was ihm auch gelang. Simone blieb bis Ostern bei uns. Alle die Kundinnen, die ungeduldig auf Mamas Genesung gewartet hatten, überhäuften sie jetzt mit Stoffen und Modezeitschriften, und die Nähmaschine lief beinahe heiß. Simone entwickelte sich zu einer recht guten Köchin und war eine enorme Hilfe für uns. Papa redigierte Yucatan-Filme, und dazwischen machte er ein paar Werbefilme mit Titine als Hauptperson. Sie fühlte sich anscheinend sehr wohl vor der Kamera und ahnte nicht, daß das Glas Kindernahrung, das schöne bunte Spielzeug oder die feinen neuen Schuhe, mit denen sie sich eifrigst beschäftigte, die Hauptsache waren. „Sich denken, mit zwei Jahren schon berufstätig zu sein“, sagte Simone. „Eigentlich wollte ich all das Geld für Titine auf ein Sparbuch einzahlen, aber…“ „Das Geld kannst du wirklich mit gutem Gewissen von deiner
Tochter borgen“, beruhigte sie Mama. „Wenn du erst SimultanDolmetscherin geworden bist, kannst du alles zurückzahlen, mit Wucherzinsen!“ „Außerdem möchte Titine bestimmt gern ihre Mutter versorgen“, meinte ich. Simone wollte dann zu Ostern nach Hause fahren und versuchen. Nachhilfeschüler in Französisch zu kriegen. Gerade die letzten Monate vor Schuljahrabschluß müßte die richtige Zeit dafür sein, meinte sie. Bevor sie uns verließ, brachte sie das Haus auf Hochglanz. Da lag kein Staubkörnchen, da war kein ungebügeltes Wäschestück, die Kuchendosen waren gefüllt. Kupfer und Silber strahlten in frischgeputztem Glanz. „Ich frage mich immer“, sagte Mama, „wie es kommt, daß ein achtzehnjähriges Mädchen so arbeiten kann! Als ich achtzehn war. hatte ich weiß Gott ganz andere Dinge im Kopf als Bügeln und Silberputzen!“ „Das hast du Titine zu verdanken“, sagte Simone mit einem kleinen Lächeln. „Ich habe euch doch erzählt, daß ich mit einem Schlag erwachsen wurde – ja. wenn ich daran zurückdenke, kommt es mir vor. daß ich in wenigen Minuten die Kindheit abstreifte und wußte, daß ich jetzt erwachsen war. Das Verantwortungsgefühl wurde wach, und das hat sich wohl auch auf andere Dinge erstreckt, nicht nur Titine gegenüber. Anders kann ich es nicht erklären.“ „Die Erklärung ist gut genug“, nickte Mama. „Und sieh dir deine eigene Tochter an“, fuhr Simone fort. „Hat sie nicht auch ganz plötzlich ein enormes Verantwortungsgefühl bekommen?“ Da mischte ich mich ein. „Sagen wir, daß ich zielbewußt geworden bin. Ich weiß, daß ich wie eine Rasende für ein einziges Ziel arbeite!“ „Nun ja. das ist jedenfalls mit Verantwortungsgefühl sehr nahe verwandt“, meinte Simone. „Überhaupt finde ich. daß wir alle hier im Haus außerordentlich fleißig sind!“ Da konnte sie recht haben. Mama saß von morgens bis abends über ihrer Näherei, ich paukte nach Leibeskräften, und Simone ermöglichte es uns. beim Nähen und Pauken zu bleiben, indem sie den ganzen Haushalt schmiß! Papa war auch vollkommen ausgelastet. Er fuhr öfter nach Frankfurt, und wenn er zu Hause war. war er schweigsamer als sonst.
Er hatte bestimmt sehr viel im Kopf. Dann mußte er für ein paar Wochen losfahren, um einen Frühlingsfilm im Donaudelta zu drehen. Und ich las und las. ich schrieb, und ich rechnete. Oft war ich müde, ab und zu war ich in Versuchung, dasselbe zu denken wie früher, in der Zeit, als ich meine Schularbeiten auf die leichte Schulter nahm: „Ich wurde ja gestern aufgerufen, und vor zwei Tagen auch, heute wird mich kein Mensch nach englischen Wörtern fragen…“ Aber mein besseres Ich, oder sagen wir mein Ehrgeiz, siegte immer. Wenn ich die geringste Lücke im Pensum hatte, könnte das mein Abitur gefährden! Ich würde riskieren, bei dem so wichtigen Abitur gerade da gefragt zu werden, wo ich eine Lücke hatte! Also büffelte ich weiter.
* Gerade während der Zeit, als Papa bei seinen Vögeln im Donaudelta war. wurde Kater Anton krank. Seine Hinterpfoten waren gelähmt. Er lag in seinem Körbchen und sah mich mit todtraurigen Augen irgendwie so flehend an. Ich wußte, was ich jetzt tun mußte. Ich mußte es. weil ich das treue alte Tier so lieb hatte, und weil ich das Beste für ihn tun wollte. „Ich nehme es dir ab. Lillepus“. sagte Mama. „Ich fahre mit ihm zum Tierarzt.“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Mama. Ich fahre selbst. Das heißt, wenn du mich hinfahren willst, wäre es sehr lieb von dir. aber ich bleibe bei Anton, bis alles vorbei ist.“ So geschah es auch. Dr. Sager untersuchte Anton, dann sah er mich an: „Ja. Elaine, nun ist wohl der Augenblick gekommen. Du weißt, was ich dir damals sagte…“ „Ja. ich weiß es. Deswegen komme ich.“ „Geh ins Wartezimmer. Elaine. Ich rufe dich, wenn es getan ist.“ „Nein. Herr Doktor. Ich bleibe hier.“ „Kannst du das? Kannst du ruhig bleiben?“ „Ja.“ Als Dr. Sager die Betäubungsspritze vorbereitete, stand ich neben dem Untersuchungstisch und streichelte Anton und plauderte mit ihm. wie ich es immer beim Tierarzt getan hatte.
„So, Anton, jetzt wird alles gut, Onkel Doktor hilft dir. und bald tut es nicht mehr weh. Mein braver, guter Anton. Siehst du, Frauchen ist bei dir…“ Ich mußte mich gewaltig beherrschen, damit meine Stimme alltäglich klang. Natürlich verstand Anton nicht die Worte, aber ein feines Tierohr hört unendlich viel aus Herrchens oder Frauchens Stimme heraus. Er zuckte eine Sekunde zusammen, als er die Betäubungsspritze bekam. Dann war er ganz ruhig, schloß die Augen, der Körper entspannte sich – und dann lag er da in tiefer Bewußtlosigkeit und spürte nicht mehr die letzte, entscheidende Spritze direkt ins Herz. Jetzt erst kamen mir die Tränen. „Du warst sehr tapfer. Elaine“, sagte Dr. Sager. „Und jetzt darfst du ruhig weinen. Das ist dein gutes Recht.“ Ich legte meinen toten Kater in die Transportkiste und nahm ihn mit nach Hause. Er sollte sein Grab im Garten kriegen, neben seinem Freund Barry. Wie oft würde ich dies selbst tun müssen – kranken Tieren die letzte Hilfeleistung zu geben? Wie oft würde ich so ein kleines Leben auslöschen müssen? Das würde das schwerste für mich werden! Ich würde auch weinende Frauchen trösten müssen. Eins wußte ich: für solche Tränen würde ich immer Verständnis haben! Bisken ging mehrere Tage ruhelos umher und suchte Anton. Er piepste und war unglücklich, holte Antons Spielzeug, trug es mit in die Küche, in mein Zimmer, in den Garten – überallhin, wo er Anton immer gesucht hatte, um mit ihm zu spielen. Es dauerte eine Woche, bis er wieder zur Ruhe kam und sich mit Felix begnügte. Wie hat doch so ein kleines Tier ein treues Herz! Dann kam der Tag. an dem Simone uns verließ. Sie hinterließ einen großen Leerraum, wir hatten sie alle so sehr ins Herz geschlossen. Ihr erster Brief war an Mama und mich gemeinsam gerichtet. „Ich denke mit so unsagbar viel Dankbarkeit an euch“, schrieb sie. „Die Zeit bei Euch war meine schönste Zeit seit Titines Geburt. Diese merkwürdige Zeit, wo ich von einem Job zum anderen wanderte, wo ich nicht wagte, an die Zukunft zu denken, wo alles mir so hoffnungslos vorkam. Jetzt habe ich neuen Mut. Natürlich türmen sich die Probleme zu unübersehbaren Höhen, aber trotzdem, hinter diesen Türmen meine ich doch, einen Lichtschimmer zu sehen. Ich muß, ich muß es schaffen! Mein gespartes Geld habe ich
nicht angerührt. Ich habe – hört und staunt! – drei Nachhilfeschüler bekommen! Mögen sie mich weiterempfehlen! Es ist oft eine Heidenarbeit, besonders ein sechzehnjähriges Mädchen scheint mehr Sägemehl als Hirnzellen im Kopf zu haben, jedenfalls anstatt der Zellen, mit denen ein normaler Mensch französische Grammatik lernen kann. Nun ja. ich strenge mich enorm an. hoffentlich schaffe ich es. daß sie jedenfalls ein ‚Ausreichend’ erreicht. Übrigens, für Juni habe ich einen Job. der mir hoffentlich viel Trinkgeld einbringen wird. Mutti hat im Juni Urlaub und hat mir angeboten, sich um Titine zu kümmern. Ich werde in einem Ausflugslokal in der Nähe von Hamburg servieren. Sie haben oft ausländische Gäste, ich bete und hoffe, daß mehr Franzosen als Engländer kommen werden! Ich werde so lieb und so höflich und hilfsbereit und geduldig sein, daß alle Gäste den unwiderstehlichen Drang verspüren werden, dieser reizenden Serviererin reichlich Trinkgelder zu geben! Es ist unglaublich, wie so ein kleines Wesen wie Titine das ganze Leben eines Menschen umkrempeln kann. Ich hatte meine Zukunftspläne so fix und fertig, ich freute mich auf die Dolmetscherschule, auf meine interessante Ausbildung – und alles, alles kam ganz anders! Ich habe keine richtige Jugend gehabt. Das ist etwas, das man nie im Leben nachholen kann. Als ‚die schöne Jugendzeit’ gerade anfangen wollte, beging ich diese Riesendummheit mit Jean-Louis. Mit einem Mann, den ich nicht liebte, einem Mann, für den ich nur ein kleines Ferienabenteuer war. Ich möchte es auf dem Markt laut ausrufen, ich möchte es in allen Zeitungen schreiben, ich möchte es im Fernsehen und Rundfunk immer wieder sagen: ‚Liebe Mädchen, ihr solltet euch selbst nicht um das Schönste auf der Welt betrügen: das erste Erlebnis mit einem Mann, den ihr aufrichtig von ganzem Herzen liebt! Das, was ihr nur ein einziges Mal im Leben verschenken könnt, das dürft ihr nicht verschleudern, aus Abenteuerlust, nur weil ihr eben ‚in Stimmung’ seid. oder damit angeben wollt, gewisse Erfahrungen zu haben. Ihr dürft eure Jugend nicht verpfuschen, eure Zukunft nicht aufs Spiel setzen! Hört auf mich, Mädchen, ich weiß, wovon ich rede!’ Ich liebe mein Titinchen. Ich liebe sie abgöttisch. Jetzt, da sie da ist, liebe ich sie. Aber ich weiß, daß es besser gewesen wäre, wenn ich vernünftig gehandelt hätte, meine Ausbildung gemacht, einen Beruf ergriffen, daß es besser gewesen wäre, wenn mein Leben eine
andere Form gefunden hätte. Dann erst hätte ich Kinder kriegen sollen. Kinder, denen ich ein viel, viel besseres Leben hätte geben können als das. was ich meinem Titinchen zu bieten habe. Ach. wenn ich nur schreiben könnte! Ich hätte ein Buch darüber geschrieben, ich hätte all meine Erlebnisse, meine Gedanken, meine Qualen und meine bodenlose Dummheit preisgegeben, um anderen Mädchen zu helfen!“ Mama und ich hatten den Brief gemeinsam gelesen. Bei diesem Punkt hörte Mama mit Lesen auf und sah mich an. „Elaine, ich glaube, ich habe eine Idee!“ „Und die wäre?“ „Tante Edda! Die müßte man mit Simone zusammenführen!“ Natürlich. Tante Edda, unsere gute Tante Edda, die Jugendschriftstellerin Edda Callies! Wie oft habe ich sie sagen hören: „Ach Kinder, habt ihr nicht eine gute Idee für mich? Manchmal habe ich das Gefühl, ich habe über alle Themen geschrieben, die junge Mädchen interessieren können!“ Ja, Mamas Idee war gut! „Wenn ich bloß Zeit hätte…“. fing ich an. „Überlaß das mir. Bleib du bei deinen Schulbüchern“, sagte Mama. Ich blieb bei den Schulbüchern. Das Abitur rückte unheimlich schnell näher. Die Frühlingssonne strahlte. Mama fing mit der Gartenarbeit an – ich las! Dorte radelte zu ihren Reitstunden, sie winkte mir zu – ich las. Bisken kam und zupfte an meinem Hosenbein und legte mir sein Spielzeug vor die Füße. Ich rief Marcus, er spielte mit Bisken – ich las. Ich bekam Briefe, sie wurden schnell gelesen und beiseite gelegt. Briefe beantworten, das war bei mir nicht drin. Ich las. Dann war es soweit. Zum erstenmal ging ich ruhig zu einer Prüfung, zu der bisher wichtigsten in meinem Leben. Zum erstenmal gab es keinen Grund, die Daumen zu drücken, daß ich nicht in einer meiner zahllosen Lücken geprüft werden würde. Zum erstenmal gab es keine Lücken! Ich hatte mein Bestes getan. Mehr hätte ich nicht tun können. Ich arbeitete mich durch die Examenstage, durch Fach auf Fach, bis ich eines Tages alles hinter mich gebracht hatte. Die Nervosität kam hinterher. War es doch dumm, das was ich in dem deutschen Aufsatz
geschrieben hatte? Hatte ich im Lateinischen etwas mißverstanden? Hatte ich aus dem enormen englischen Wortschatz die richtigen Worte in meiner Englischarbeit gebraucht? Ich war furchtbar müde. Und plötzlich wußte ich nicht mehr, was ich mit all meiner freien Zeit anfangen sollte. Es war nach diesen Monaten intensiver Arbeit so merkwürdig, nicht lesen, nicht lernen zu müssen! Ich fühlte mich richtig ratlos. Und dann kam der Tag. der unvergeßliche Tag. Der Tag, an dem ich meinen Eltern das feierliche, für mich so unsagbar wichtige Papier hinlegen konnte. Mein Abitur-Resultat. Das Papier, das zeigte, daß ich den Notendurchschnitt erreicht hatte. Am gleichen Tag half Papa mir. an die Veterinär-Hochschule in Hannover zu schreiben. Eine Fotokopie von dem Zeugnis wurde mitgeschickt, und ich brachte persönlich den Brief zur Post. An diesem Abend kam Ingo, und das war mein Glück! Erst jetzt, als er mich in die Arme nahm und mir gratulierte, erst jetzt wurde mir bewußt, daß ich mein Ziel erreicht hatte, soweit ich selbst etwas dafür tun konnte. Das Weitere lag in den Händen der strengen Herren an der Veterinär-Hochschule. Man konnte nicht wissen – vielleicht waren es viele, die beim Abitur genausogut abgeschnitten hatten – viel mehr Studenten, als man aufnehmen konnte. Deutsche und Ausländer… du liebe Zeit! Daran hatte ich nicht gedacht! Ich war ja Ausländerin! Ich hatte die norwegische Staatsangehörigkeit! „Wenn man nun nach der Staatsangehörigkeit gefragt wird!“ rief ich. „Die Konkurrenz ist ja messerscharf, dann werden bestimmt die Deutschen mit den besten Abiturzeugnissen aufgenommen – man läßt doch nicht eine Norwegerin vor… dann ist das ganze Büffeln für die Katz…“ Dieser Gedanke jagte mir die Tränen in die Augen. „Meines Wissens“, sagte Papa. „ist es an allen deutschen Universitäten und Hochschulen so, daß ein gewisser Prozentsatz Ausländer aufgenommen wird. Vielleicht acht oder zehn Prozent, dann hast du ja…“ „…beinahe keine Chance!“ rief ich. „Ich gehöre dann zu den lausigen zehn Prozent, die aus Skandinavien und Indien und Afrika und Korea und Japan kommen – und die Deutschen, die gehören zu den neunzig Prozent! Ich kann gleich anfangen zu töpfern. ich werde bestimmt nicht aufgenommen!“ In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Mama ging hin. und
als sie hörte, wer die Anruferin war. schaltete sie den kleinen Lautsprecher ein. „Ja. Grand-mère, wir wollten dich ja anrufen, ich habe es versucht, aber bei dem Billigtarif abends ist es beinahe unmöglich durchzukommen. Ja, Grand-mère, du darfst ruhig stolz auf deine Urenkelin sein, sie hat es blendend geschafft!“ Dann folgte ein begeisterter Redestrom von Grand-mère, und zuletzt die Frage, ob ich vor lauter Glück überhaupt ansprechbar sei. „Das Glück hat leider seine Grenzen“, sagte Mama. „Elaine hat plötzlich Angst bekommen, daß sie nicht aufgenommen wird, weil sie keine deutsche Staatsangehörige sei.“ „Das ist doch nicht schlimm“, sagte Grand-mère, und selbst durch das Telefon und den Minilautsprecher konnte ich ihren besonderen Stimmklang erkennen – den Klang, der mir sagte, daß sie eine glänzende Idee hatte. „Elaine muß eben blitzschnell heiraten, dann wird sie ja die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen! In dem Augenblick, wo sie am Standesamt ja sagt!“ Ich sah Ingo mit aufgesperrten Augen und aufgesperrtem Mund an. Mir fehlten die Worte. Ich sah es Ingo an. daß er trotz mangelhafter französischer Sprachkenntnisse verstanden hatte. Er ergriff meine Hände, er sah mir ins Gesicht, und seine Augen strahlten. „Ja. Grand-mère, sie kommt an den Apparat!“ Mama reichte mir den Hörer. Ich brauchte kaum etwas zu sagen, denn Grand-mères Redestrom floß reichlich und lebhaft. „Ja, und was ich noch sagen wollte, ma petite“, kam es endlich zum Schluß. „Ich komme zur Hochzeit!“
Wer nicht wagt… Wir blieben sitzen, sahen uns bloß an. Es war Mama, die endlich sprach: „Unsere gute Grand-mère! Sie scheint sich dauernd als Schicksalsgöttin für uns zu betätigen!“ Ich sah meine Eltern fragend an. „Ja. meint ihr denn, daß wir ihren Vorschlag befolgen sollen?“ „Er hat etwas für sich“, meinte Papa. „Natürlich bist du reichlich jung für eine Ehe…“ „Ich bin volljährig“, betonte ich. Das stimmte auch. Ich war achtzehn geworden, am Tag vor der Mathematikprüfung. Daher hatte das Feiern sich auf ein absolutes Minimum beschränkt. „Aber es ist etwas anderes“, fuhr Papa fort. „Etwas, worüber wir nicht mit dir gesprochen haben, weil du dich nur auf dein Büffeln konzentrieren mußtest.“ „Nanu, wollt ihr euch scheiden lassen oder in Yucatan ein Haus bauen?“ fragte ich. „Ich weiß nicht, welcher der beiden Vorschläge schlimmer wäre“, sagte Papa mit einem kleinen Lächeln. „Nein, es geht um etwas anderes. Weißt du. Elainchen, als wir vor zwei Jahren hierherzogen, hat Feldmann sozusagen Norddeutschland für mich reserviert. Alles, was hier gefilmt werden sollte, hat er mir überlassen, dann kam die Zeit in Yucatan und dann das Donaudelta – so konnte ich die Zeit hier ausdehnen, bis meine teure Tochter das Abitur geschafft hatte.“ „Und jetzt?“ fragte ich. „Jetzt geht es nicht mehr?“ „Nein, ich habe zwei Jahre statt des einen Jahres bekommen, jetzt muß ich zurück nach Frankfurt. Du hast vielleicht gemerkt, daß ich in der letzten Zeit sehr oft da war? Also, wir kriegen eine Wohnung – wie und wo, erzähle ich später, wir haben sehr viel Glück gehabt!“ „Kriegst du Arbeitsräume? Und darfst du einen Hund halten?“ wollte ich wissen. „Ja, und da ist ein Garten, in dem Marcus sein Indianerzelt aufschlagen darf! Also, darüber später mehr. Aber es ist uns auch klar, daß du nicht mitkommen kannst, falls du an der Hochschule in Hannover aufgenommen wirst. Du kannst auch nicht mutterseelenallein hier in deinem eigenen Haus wohnen. Wir haben uns widerstrebend dazu entschlossen, uns in Hannover nach einer Studentenbude für dich umzusehen…“
„Wo ich ein eigenes Haus habe! Bei euch piept es wohl!“ rief ich. „Nur so lange, bis die Situation sich etwas geklärt hat! Das heißt, bis Ingo weiß, wo er bleibt, wo er eine Stellung bekommen kann.“ „Und damit bin ich also endlich an der Reihe“, sagte Ingo. „Also, Lillepus. dies alles haben dein Vater und ich durchgesprochen, wenn wir in Yucatan wegen der mörderischen Hitze schlaflos dalagen. Ich habe sehr fleißig Geld gespart, es reicht bestimmt für ein Jahr…“ „Für eine oder zwei Personen?“ wollte ich wissen. „Allerdings nur für eine, aber dein Vater meint…“ „…daß er damit gerechnet hat. seine Tochter während der Studienzeit zu versorgen“, unterbrach Papa. „Das heißt, mit dem Monatswechsel von mir und mit Ingos Gespartem solltet ihr dann ohne Schwierigkeiten durch das erste Jahr kommen. Aber dann…“ „Ja. was dann? Wenn Ingo nun plötzlich mit seinem Schweizer Professor Scherben in Kreta oder Wikingerschiffe in Norwegen rausbuddeln muß, dann sitze ich doch allein hier!“ Ich sah Ingo und Papa fragend an. „Ich hatte allerdings vor, jetzt seßhaft zu werden“, erklärte Ingo. „Das heißt, ich habe mich um eine Stellung an einem Museum beworben – eine Stellung, die mit einem Archäologen besetzt werden soll. Ich müßte eigentlich ganz gute Chancen haben – mit meinen Yucatan-Erfahrungen. meinen Arbeiten in Rom. Ägypten und Kreta…“ „Und mit deinem feinen Doktortitel!“ rief ich. Seit zwei Monaten konnte mein Ingo sich nämlich mit diesem Titel schmücken. „Und wo liegt nun das Museum?“ „In Hannover“, sagte Ingo. „O Ingo! Wenn das bloß klappen würde! Du am Museum und ich an der Veterinär-Hochschule…“ „Und beide in Rosenbüttel“. ergänzte Ingo. „Ja, was meint ihr? Wollen wir es riskieren, morgen das Aufgebot zu bestellen?“ „Ja!“ rief ich. „Und wenn ich nicht aufgenommen werde, dann flehe ich Dr. Sager an. bei ihm ein Jahr als Helferin arbeiten zu dürfen, und dann versuche ich es nächstes Jahr wieder. Und wenn du die Stellung nicht bekommst. Ingo…“ „Dann setze ich mich auf meine vier Buchstaben und schreibe Artikel für Fachzeitschriften. Artikel mit großartigen Fotos, von deinem Vater aufgenommen, oder ich fahre Taxi oder mache Gartenarbeit oder…“ „Wir tun es!“ rief ich. „Wir riskieren es! Wer nicht wagt, nicht
gewinnt!“ Keiner von uns hatte auf die Uhr geguckt. Wir hatten allerdings das Gefühl, daß es sehr spät geworden war, aber wie spät, das erfuhren wir erst, als das Telefon klingelte. Dann sah ich auf die Uhr. Es war Mitternacht. „Wer in aller Welt ruft jetzt an?“ sagte Mama. Schon hatte ich den Hörer abgenommen. „Bist du es. Elaine? Habe ich euch geweckt? Es war ganz unmöglich, durchzukommen, ich glaube, halb Hamburg hat mit Niedersachsen telefoniert!“ Es war Simones Stimme. „Nein, wir sind noch auf – was ist. Simone, ist was los?“ „Von wegen, ich platze nur vor Neugier – wie ist es dir ergangen?“ „Prima! Bestens! Eine Fotokopie von meinem Zeugnis ist schon unterwegs nach Hannover. Und du. wie geht es dir?“ „Fein. Die Trinkgelder häufen sich, und du ahnst nicht, wie reizend ich zu den Gästen bin. wenn ich auch ab und zu Lust hätte, ihnen das Genick umzudrehen. Aber sobald ich hier fertig bin, mache ich ganz etwas anderes. Weißt du, wer hier plötzlich aufkreuzte und nach mir fragte?“ „Wie könnte ich das wissen? Die holländische Königin oder der amerikanische Präsident?“ „Viel besser! Die Schriftstellerin Edda Dieters-Callies! Du, deine Mutter hatte ihr ja geschrieben, der Himmel weiß, was sie geschrieben hat – aber Frau Callies wollte unbedingt mit mir sprechen, wollte mich kennenlernen. Wir haben stundenlang miteinander geredet, und sie ist Feuer und Flamme bei dem Gedanken, mein ganzes Schicksal in einem Buch zu schildern – natürlich mit anderen Ortsnamen und Personennamen, aus Titine macht sie einen Jungen und aus mir eine Dänin! Und Elaine, weißt du – sie will mir die Hälfte des Honorars geben! Sie hat mich eingeladen, den Sommer bei ihr zu verbringen, ich fahre hin. sowie mein Servierjob zu Ende ist – ja. du weißt ja. daß sie auf einer Nordseeinsel wohnt…“ „Und ob ich das weiß!“ rief ich. „Da war ich ja selbst als kleines Kind, da habe ich meinen Anton bekommen…“ „Elaine, ich bin ja so glücklich! Natürlich kenne ich die Bücher von Edda Callies, die habe ich verschlungen – und zu denken, daß ich jetzt sozusagen mit ihr arbeiten darf! Ist ihr Mann auch so lieb
und nett?“ „Onkel Benno? Er ist ein Prachtstück. Er wird bestimmt den Sommer damit verbringen. Zeichnungen von Titine zu machen! Ach. Simone, dies wird teuer für dich, du hast viel zu lange geplaudert, wir schreiben uns noch – nur eins: Kommst du in drei Wochen – zu Ingos und meiner Hochzeit?“
Das Schicksal hat es gut mit uns gemeint Ich sah auf die Uhr. Schon halb zwölf! Jetzt mußte ich mich beeilen. Ich hatte Ingo hoch und heilig versprochen, das Mittagessen um eins fertig zu haben! Ich stellte den großen Einmachtopf zum Abkühlen hin. Ich hatte seit sieben Uhr früh Himbeeren eingemacht, eine Reihe Gläser stand schon auf dem Küchentisch. Dies war die letzte Portion. Es gibt immer etwas zu tun. wenn man ein Haus und einen Garten hat. Und die Beeren neigen dazu, gerade dann reif zu werden, wenn man tausend andere Dinge vorhat, und die Äpfel fallen und müssen gleich verwertet werden, wenn man eigentlich seine turmhohen Briefschulden erledigen wollte. Ja, ich hatte viel zu tun, und ich genoß es! Anfangs konnte ich mich kaum daran gewöhnen, daß ich kein Schulbuch mehr aufzumachen brauchte. Aber nach ein paar Tagen war ich so von Hochzeitsvorbereitungen in Anspruch genommen, daß ich die ganze Büffelei allmählich vergaß. Und jetzt wollte ich die Zeit ausnutzen, mich um mein Haus kümmern, um das Einkochen und Einfrieren, so viel wie möglich im voraus erledigen, damit ich mich – toi, toi. toi – um meine Studien kümmern konnte – wenn ich also aufgenommen würde! Immer kreisten die Gedanken um diesen einen Punkt. Oh, wenn diese hohen Herren endlich von sich hören ließen! Ich setzte die Kartoffeln auf, putzte Gemüse, goß die rote Grütze in eine Schüssel und Milch in eine Kanne – da hörte ich Ingos „Ente“ kommen. Bisken rannte ihm mit Jubelgekläff entgegen. Ingo hatte im Nachbardorf Besorgungen gemacht und auf dem Rückweg die Post geholt. „Lillepus, guck mal! Einschreibpäckchen von deinem Vater!“ „Oh, das wird der Hochzeitsfilm sein! Ich platze vor Neugier! Was sonst?“ „Ein Brief von Simone, von ihrer Nordseeinsel.“ „Ich platze noch einmal! Ach, Ingo, leg doch das Hundefutter in Biskens Napf, du kriegst auch gleich etwas…“ „Ja, ja, das bin ich ja gewohnt, daß die Viecher an erster Stelle kommen. Ein armer, hungriger Ehemann muß warten!“ „Wie gut, daß du das einsiehst. Hier, nimm auch dies für Felix!
Fein, dann kannst du die Hände waschen, gleich gibt es für dich auch etwas!“ Es stimmte schon, daß ich mich sehr viel um die Tiere kümmerte. Felix kam immer mit dem Leben zurecht, er war ein Lebenskünstler, aber Bisken war ganz ratlos und desorientiert, als plötzlich drei Viertel der Familie verschwanden. Ein Dreiviertel seines Rudels! Also mußte ich viel mit ihm spielen, mit ihm plaudern, und ihm hundertmal am Tag sagen, daß er der schönste und liebste Hund auf der Welt sei! Erst als ich Ingo gegenüber am Eßtisch saß. bemerkte ich seinen Gesichtsausdruck. Um seinen Mund lag ein ganz kleines Lächeln, und seine Augen hatten ein neues Leuchten. „Was ist mit dir?“ fragte ich. „Hast du was Nettes erlebt?“ „Unbedingt!“ „Ja, dann sag doch, was es war!“ Ingo kaute den Fleischbissen, den er gerade in den Mund geschoben hatte, dann holte er einen Brief aus der Tasche. „Bitte schön. Ich habe nämlich auch Post bekommen!“ „Und das sagst du erst jetzt!“ „Ich wollte zuerst feststellen, ob das Essen so gut ist, daß du eine Freude verdienst!“ „Du Scheusal“, sagte ich und faltete den Briefbogen auseinander. „O Ingo! INGO!“ Ich mußte aufstehen und zu Ingo hinrennen, um ihn zu umarmen. Der Brief war vom Museum in Hannover. Ingo hatte die Stellung bekommen! Jetzt waren wir über den Berg. Sollte ich nun ein Jahr mit meinen Studien warten müssen, war das nicht so schlimm. Ingo würde genug verdienen, und wir saßen mietfrei und schuldenfrei in meinem eigenen Haus. Kaum hatten wir gegessen, riß ich das Päckchen auf. Ganz richtig, es war der Film von unserer Hochzeit! Ein paar Zeilen von den Eltern lagen auch dabei, und außerdem ein Brief von Marcus. „Liebe Elaine, uns geht es gut, und ich habe einen Hund, und der Hund ist eine Hündin, und sie heißt Musti, weil sie ganz schwarz ist, und Musti ist Finnisch und bedeutet schwarz, das hat Papa gesagt. Wir haben sie im Tierheim geholt, und sie war ein ausgesetzter Hund. Wir waren
beim Tierarzt, und er meinte, daß Musti eine Mischung von Pudel und Spitz ist. Ich denke oft an Bisken und Felix, aber sie haben es bestimmt gut bei Euch. Ich habe ein schönes Zimmer, und da ist auch Platz für meine Eisenbahn, und ich habe einen Freund, der Dieter heißt. Viele Grüße an Dich und Bisken und Felix und Ingo von Deinem Bruder Marcus.“ Während ich las, hatte Ingo Leinwand und Projektor aufgestellt, und wir konnten uns den Film ansehen. „Nichts geht über einen Kameramann als Schwiegervater“, sagte Ingo anerkennend. „Die Aufnahme da von Grand-mère ist fabelhaft, und sieh da, wir vor dem Standesamt, ach, da hat er auch den historischen Augenblick mitgekriegt…“ Der „historische Augenblick“ war nicht die Trauung, sondern eine Aufnahme, die wenige Momente vor der kirchlichen Trauung gemacht worden war. Da, den Augenblick würde ich nie vergessen! Wir waren vom Standesamt in Braunschweig zurückgekommen und Mama half mir, in meine weiße Pracht zu steigen und befestigte persönlich den Schleier. Da klingelte es, es war die gute Dorte, die für uns die Post geholt hatte. „Elainchen, steh doch still – die Post kann warten“, sagte Mama. „Denkste! Dies hier kann keine Sekunde warten!“ Schon hatte ich ein großes Kuvert aufgerissen und einen Bogen auseinandergefaltet. Es war ein Formular von der Tierärztlichen Hochschule! Ich rief nach einem Kugelschreiber, ließ Schleier Schleier sein, las schnell die Fragen durch – alles war ganz einfach zu beantworten. „Schuhgröße, Kragenweite, wenn nicht verheiratet, warum?“ sagt Onkel Benno immer, wenn er Fragebogen ausfüllen muß. Da kam es: Staatsangehörigkeit. Mit großen deutlichen Buchstaben schrieb ich: DEUTSCH! Und dann die Unterschrift: Elaine Moorhof-Grather. „Elaine, wir müssen jetzt los!“ „Ja, ja, eine Sekunde – Marcus, hol mir schnell ein Kuvert und eine Briefmarke! Und steck den Brief auf dem Weg zur Kirche ein.“ Das also war der historische Augenblick, den Papa gefilmt hatte! Der Film ging weiter. „Eigentlich stand es dir gut. Braut zu sein, Lillepus“, meinte Ingo. „Schade, daß du es nur einmal im Leben warst!“ „Bist du so sicher – aua, laß meine Haare – du, da ist die ganze
Tafel, sieht direkt feierlich aus!“ Ja. es war feierlich gewesen. Ingo und ich wollten ja ohne große Umstände schnell zum Standesamt, aber da hatten wir nicht mit meiner Familie gerechnet! „Wenn du denkst, daß ich es mir nehmen lasse, ein Brautkleid für meine einzige Tochter zu schneidern, dann irrst du dich!“ hatte Mama sehr energisch gesagt. „Wenn ihr denkt, daß ich es mir nehmen lasse, das Hochzeitsessen für meine einzige Urenkelin zu kochen, dann habt ihr euch aber geirrt!“ hatte Grand-mère sehr klar und bestimmt am Telefon gesagt. „Wenn du denkst, daß meine einzige Enkelin heiraten darf, ohne daß ich dabei bin, dann irrst du dich!“ hatte Oma aus Norwegen am Telefon versichert. Jessica und Falko teilten mit, daß wir ohne ihre Anwesenheit nicht heiraten durften, unsere Mutti in Lübeck sagte dasselbe, und Simone hatte ich ja schon eingeladen. Also, ehe wir es uns versahen, war eine Gesellschaft von zwölf Personen zusammengekommen, und Mama und Papa mußten eine Pause in ihren Umzugsvorbereitungen machen, um die teure Tochter in geziemender Weise – mit kirchlicher Trauung, Mamas Brautschleier, einem wunderbaren Kleid und dem Bräutigam im Frack – in den Hafen der Ehe zu lotsen. Eigentlich war ich froh darüber. Und jetzt machte es mir unsagbar viel Freude. Papas gekonnte Aufnahmen von der Hochzeit zu sehen! Endlich kam ich auch dazu. Simones Brief zu lesen. „Dies ist wie ein Märchen“, schrieb sie. „Zu denken, sozusagen Hand in Hand mit der berühmten Edda Callies arbeiten zu dürfen! Jeden Tag liest sie mir vor. was sie geschrieben hat, und ich darf, ja ich soll sogar meinen Senf dazugeben. Es ist ganz merkwürdig, sein eigenes Schicksal so vorgelesen zu bekommen. Ich sehe es selbst jetzt viel klarer, und ich verstehe allmählich, daß ich es zeitweise furchtbar schwer gehabt habe. Ich bin froh, daß das Buch geschrieben wird, und hoffe nur von ganzem Herzen, daß es viele Mädchen zum Nachdenken bringen wird! Während Frau Callies schreibt, kümmere ich mich ums Kochen. Titine weiß ich in den besten Händen: Herr Dieters nimmt sie immer mit ins Atelier und hat schon einen ganzen Haufen Zeichnungen von ihr gemacht! Der einzige Nachteil ist, daß sie, wenn mein Verdacht richtig ist, an einem Tag mehr Süßigkeiten bekommt als sonst in
einem Monat. Frau Callies erzählt übrigens, daß es genauso war, als du mit vier Jahren hier warst. Ich habe nie einen so kinderlieben Mann wie Benno Dieters gesehen, und Titine liebt ihn schon heiß und innig. Ja, und dann muß ich dir erzählen, was ich ab morgen tun werde, oder jedenfalls versuchen werde. Es ist Frau Callies’ Vorschlag: Ich werde versuchen, das Buch kapitelweise ins Französische zu übersetzen. Frau Callies hat einen französischen Verleger, der immer gern ihre Bücher herausbringt, aber bis jetzt war sie ziemlich verzweifelt über die Übersetzungen. Eine Sache ist es, zwei Sprachen zu können, etwas ganz anderes, den Stil, die Ausdrucksweise, sozusagen den Geist eines Buches in eine andere Sprache übertragen zu können. Also, ich werde es versuchen, und Frau Callies kann selbst so viel Französisch, daß sie meine Arbeit beurteilen kann. Halt mir die Daumen! Es ist ja eine Arbeit, die sehr nahe mit meinem Traumberuf verwandt ist. Ich hoffe und bete und wünsche, daß ich die Aufgabe schaffe!“ Ich las Ingo den Brief vor. Wir freuten uns beide aufrichtig für Simone! Wie konnte sie doch endlich Lichtpunkte in ihrem Dasein brauchen, nach all den schweren Zeiten, die sie gehabt hatte. Sie war so tapfer gewesen, hatte jede Arbeit angenommen, jeden Pfennig zusammengekratzt, auf alles verzichtet, was andere achtzehnjährige Mädchen als selbstverständliche Annehmlichkeiten betrachten. Wenn jemand die Konsequenzen aus seinen unbedachten Handlungen gezogen und mutig den Kampf gegen die Folgen aufgenommen hatte, dann war es Simone! „Weißt du, Ingo… hoppla, was ist das denn?“ Es hatte geklingelt, und ich lief zur Tür. Da stand der Sohn von Frau Post-Henning. „Eingeschriebener Eilbrief für dich, Elaine!“ Nanu? Es war Papas Handschrift. Außer meinem Namen und der Adresse stand mit Rotstift: „Empfängerin wohnt in Rosenbüttel. Nicht umadressieren!“ Was sollte das bedeuten? Ich riß das Kuvert auf. Drinnen lag ein anderer Brief und ein Zettelchen von Papa: Liebes Elainchen, hiermit ein Irrläufer, er ist wohl versehentlich zusammen mit meiner Post nach Frankfurt umadressiert. Wir sind ungeheuer gespannt, ruf uns gleich an. In aller Eile, dein alter Papa.
Der Brief war von der Tierärztlichen Hochschule. Mein Herz klopfte, daß ich es hören konnte! Mit zitternden Fingern riß ich den Briefumschlag auf. Die Buchstaben flimmerten vor meinen Augen, aber Ingo, der über meine Schulter mitlas, sah sie anscheinend sehr deutlich. Denn plötzlich bekam ich eine Umarmung, daß mir die Puste wegblieb, und Ingos Stimme klang wie Musik – und was für eine Musik! – in meinem Ohr: „Gratuliere, mein Schatz! Gratuliere, Frau stud, vet.! Gratuliere, Frau werdender Doktor!“ Ich war an der Tierärztlichen Hochschule aufgenommen worden. Es dauerte mehrere Minuten, bis ich wieder im Zusammenhang reden konnte. „Ingo, ich kann es noch nicht fassen! Ich bin ja so glücklich, so unwahrscheinlich glücklich! Wie habe ich das alles bloß verdient?“ „Verdient“, wiederholte Ingo. „Doch, Lillepus, du hast es verdient. Denk daran, wie du geschuftet hast! Denk an die Zeit, als du deine Mutter pflegtest, den ganzen Haushalt machtest, das Waschen und Kochen…“ „Dein Glück!“ unterbrach ich ihn. „Ohne diese Erfahrungen könnte ich jetzt nicht dich bekochen!“ „Laß mich ausreden, holdes Weib! Ich wollte sagen, daß du gar nicht unverdient zu diesem Glück gekommen bist. Du hast wie eine Irre geschuftet, du hast – genau wie Simone – auf alles verzichtet, was andere Mädchen als ‚selbstverständliche kleine Annehmlichkeiten’ betrachten. Daß du glücklich bist, das verstehe ich, aber du hast letzten Endes dir selbst das Glück zu verdanken.“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, Ingo. Ich habe es anderen Menschen zu verdanken, anderen, unsagbar guten Menschen. Als es ganz schlimm war, ich meine, als Mama nichts tun konnte, da hat Jessica geholfen und Dr. Sager, gesegnet sei er. und Antje und mein Lateinlehrer, der mir die Unterrichtsbänder besprach – und du, weil du dich mit winzig kleinen Kartengrüßen statt mit Briefen begnügt hast, und dann Simone!“ „Ja, siehst du“, nickte Ingo. „Wir hören und lesen so viel über Grausamkeiten und Verbrechen, über böse Menschen, über egoistische Menschen. Wir dürfen nicht vergessen, daß es auch gute Menschen auf der Welt gibt – man muß sie nur finden!“ „Ich habe eine ganze Menge gefunden, Ingo. Und jetzt rufe ich die beiden allerbesten an!“
Worauf ich zum Telefon ging und Papas und Mamas neue Frankfurter Nummer wählte.