Seewölfe 87 1
Fred McMason 1.
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Seewölfe 87 1
Fred McMason 1.
An Bord der „Isabella VIII.", die platt vor einem handigen Ostwind in Richtung des Cayman-Graben segelte, herrschte emsiger Betrieb. Ferris Tucker, Big Old Shane und der alte Donegal Daniel O'Flynn besserten Teile des Schanzkleides an der Backbordseite aus. Noch immer waren die Schäden, die die hohe Flutwelle verursacht hatte, nicht behoben. Die Schönheitsreparaturen waren geblieben und wurden jetzt nach und nach erledigt. Der grauhaarige Segelmacher Will Thorne, ein besonnener und ruhiger dann, hockte zwischen einem Wust von Segeln und Segelgarn auf dem Hauptdeck. Seine scharfkantige, dreieckige Segelnadel fuhr durch sperriges Segeltuch, verstärkte die Lieken. nähte die schweren Segel an das Liektau. Will Thorne hatte eine ganze Menge zu tun, was auch auf das schwere Seebeben zurückzuführen war. Die „Isabella" hatte es arg erwischt. Die meisten Segel waren von umherfliegenden Felsbrocken zerfetzt worden, als die etwa siebzehn Yards hohe Flutwelle ganze Felsen zermalmt, die Galeone hoch in die Lüfte gehoben und sie schließlich zwischen Felsen abgesetzt hatte. Daher rührten auch sämtliche Beschädigungen. Thorne gegenüber hockte der Schimpanse Arwenack. Seine braunen Augen folgten gebannt jeder Bewegung, der Nadel, dann blickten sie wieder treuherzig den Segelmacher an. Ab und zu kratzte sich Arwenack wie ein Mensch, streckte dann immer wieder die rechte Hand aus und versuchte, unauffällig nach der Segelnadel zu greifen, bis Will Thorne den Affen schließlich mißtrauisch musterte. „Hör zu, du haariger Halunke", sagte Thorne knurrend. „Ich weiß daß du nur darauf lauerst, die Nadel zu klauen, um mit ihr in den Großmars zu verschwinden. Aber das ist nicht drin, diesmal nicht. Wenn du deine Flossen nicht ruhig hältst, dann nähe ich dir deinen Affenarsch am Unterliek fest und laß dich aufheißen, klar?"
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Arwenack sah ihn an, entblößte die Zähne, schüttelte den Kopf und kratzte sich schließlich mit einer verächtlichen Gebärde an jener Stelle, die der Segelmacher gerade noch ans Unterliek nähen wollte. „Ich bin bloß froh, daß du nicht quasseln kannst", brummte Will. „Aber deine Gebärden sind genauso schlimm." Er drehte sich um, als der Affe starr an ihm vorbeiblickte. Will Thorne folgte dem Blick zum Land hin, und in diesem Augenblick hatte er das dumpfe Gefühl, als würde der Jonas gleich irgendwo aus der See auftauchen, jener geheimnisvolle, fast unheimlich wirkende Mann mit seinen düsteren Prophezeiungen, der die „Isabella" ein Stück auf ihrer letzten Reise begleitet hatte. Noch überdeutlich war jener rätselhafte Alte in seiner Erinnerung lebendig. Wie er an Deck stand, die schlohweißen Haare im Wind flatternd, die Hände zu imaginären Himmelspunkten ausgestreckt, die Augen tot und leblos. Und wie dann eins nach dem anderen eintraf. Das Pech, das die „Isabella" tagelang verfolgte, das schwere Seebeben, dessen verheerende Wirkungen noch an der Küste zu sehen waren. Dann war die riesengroße Welle herangerauscht. Will Thorne sah den Alten vor sich, den die See geholt hatte. Wie ein Teufel ritt er auf dem Kamm der Riesenwoge davon, hysterisch lachend, die große Welle an unsichtbaren Zügeln lenkend. Verwirrt sah er hoch, genau in das Gesicht des Affen, der jetzt höhnisch zu grinsen schien. Er hatte den alten Segelmacher wieder einmal überlistet. Mit gebleckten Zähnen stand er in sicherer Entfernung, die Segelnadel in der Hand, auf beiden Beinen hopsend. „Du verdammter Affe!" fluchte Will Thorne und sprang auf. Aber da enterte Arwenack schon wie der Blitz in die Wanten und verschwand. Auf dem Hauptdeck blieb ein erbittert fluchender Mann zurück, der sich jetzt auf die Suche nach einer zweiten Segelnadel machte.
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Hasard sah das alles vom Achterkastell aus. Wie seinerzeit Francis Drake schritt er unruhig auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt, von Steuerbord nach Backbord gehend, unruhig in seinem Innern. Er hatte das Gefühl, als müsse er die .“Isabella" schieben, sie lief ihm einfach zu langsam, obwohl sie alles an Zeug gesetzt hatten, was die überlangen Masten und Rahen tragen konnten. Er wollte so schnell wie möglich die Insel Little Cayman erreichen, auf der nach den Worten des Jonas eine dunkelhaarige Frau in Gefahr war, über die ebenfalls ein Unglück hereinbrechen sollte, wie der Alte düster prophezeit hatte. Diese Frau konnte nur Siri-Tong sein, die Rote Korsarin. Hasard ging der Alte ebenfalls nicht aus dem Kopf, dazu war die Erinnerung noch zu frisch in seinem Gedächtnis erhalten. Schließlich war es erst ein paar Tage her. Er blieb an der Schmuckbalustrade stehen, warf einen Blick in die Takelage und entdeckte im Großmars Dan O'Flynns Gesicht. Der junge Mann deutete nach Backbord voraus. „Ein Spanier!" rief er zum Deck hinunter. „Die Galeone hat sich an scheinend verfranzt, die Dons segeln wie die Teufel! Das wäre doch ein schöner Brocken für uns." „Keine Zeit, Dan!" rief der Seewolf zurück, wobei er die Hände trichterförmig an den Mund legte. „Auf den werden wir diesmal verzichten müssen." An Deck blickten die Männer gespannt nach Backbord voraus. Da segelte unter vollem Zeug eine spanische Dreimastgalone, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her. Sie hatte jeden Fetzen gesetzt, als wolle sie einem unsichtbaren Gegner entwischen. Der Seewolf sah allerdings keinen Gegner. Vielleicht hatte der Spanier sich aber nur von seinem Verband gelöst und versuchte nun, so schnell wie möglich den Anschluß zu erreichen. Unter normalen Umständen hätte sich Hasard diesen wie verrückt segelnden Don geschnappt. Es juckte ihn auch jetzt in den
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Fäusten, aber die innere Unruhe ließ ihn nicht los. Immer wieder hatte er das Gefühl, als würde er Little Cayman zu spät erreichen. „Vielleicht hat der Don Angst vor uns“, meinte der Profos, der das Achterkastell erklommen hatte und sich neben den Seewolf stellte. „Die Möglichkeit besteht auch, Ed, obwohl ich es nicht so recht glaube. Egal, wir werden ihm jedenfalls nichts tun." „Schade", sagte der Profos bedauernd. „Ich hätte diesen Rübenschweinen gern mal wieder eins übergebraten." „Mastspitzen an der Kimm!" schrie Dan zum zweiten Mal. „Ebenfalls eine Galeone. sieht nach einem Spanier aus' Hasard griff jetzt zum Spektiv und sah. hindurch. Sehr nachdenklich reichte er den Kieker an den Profos weiter. Carberry blickte sich die Augen aus. Sein Rammkinn war vorgeschoben, die Finger der linken Hand trommelten leicht auf dem ausgezogenen Spektiv herum. Fast drei Minuten blickte er hindurch. „Ho", sagte er verblüfft. „Wenn das nicht unsere alte ,Isabella` ist, freß ich den Großmast mitsamt den Segeln." „Jean Ribault?" Hasard war wie elektrisiert. „Dann kann ich mir denken, warum es der Spanier so eilig hat." „He, Leute!" brüllte der Profos mit Donnerstimme. „Dahinten rauscht unsere alte Isabella` heran. Ferris! Sieh mal durch das Spektiv! Du kennst die alte Tante besser als jeder andere." „Klar, sie ist es!" schrie Dan aus dem Großmars. „Das sieht man doch schon ohne Spektiv." „Du hast ja auch Spektiv-Augen", sagte Tucker. Ein schneller Blick genügte ihm. Außerdem war das Schiff schon näher herangesegelt. Es segelte über Backbordbug, genau wie der flüchtende Spanier. Hurrarufe brandeten an Deck auf. Die alten Freunde hatten sich lange nicht mehr gesehen, es würde eine Menge zu erzählen geben. Allerdings ging Jean Ribault dann auch der Spanier durch die Lappen.
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Hasard ließ das Großsegel halb aufgeien, um der „Isabella" etwas von ihrer rauschenden Fahrt zu nehmen. Die beiden Schiffe liefen jetzt in spitzem Winkel aufeinander zu. Auf der „Le Vengeur" hatte man den Seewolf ebenfalls bemerkt. Der flüchtende Spanier war vergessen. Gebrüll und Geschrei brandeten über Deck. „Der Seewolf!" hörte man etwas später das Geschrei. Die „Le Vengeur" änderte den Kurs, bis sie parallel mit der „Isabella" lief. Segel wurden aufgegeit, bis beide Schiffe nur noch kleine Fahrt liefen und sich immer mehr näherten. Winken, Rufen, Geschrei von beiden Seiten. Die Männer konnten sich schon fast in die Augen sehen. Dann segelten sie hart nebeneinander her. Tampen flogen von Bord zu Bord, Fender waren außenbords angebracht, und weil die See ziemlich ruhig war, riskierten sie es, sich Bordwand an Bordwand zu legen. Ein schwieriges Manöver, doch die erfahrenen Männer scheuten es nicht, sie hatten dem Teufel schon so manches Mal ein Ohr abgesegelt. Ribault und Karl von Hutten sprangen auf die „Isabella", wo die Seewölfe sich auf der Backbordseite am Schanzkleid ausnahmslos versammelt hatten. „Ho, ihr dreimal verdammten Rübenschweine!" rief der Profos gerührt. „Jean, Karl! Mann, Jan Ranse, du Himmelhund! Laßt euch an die Brustquetschen, Nils, Piet, Sven!" Grinsend standen die anderen Besatzungsmitglieder Jean Ribaults im Hintergrund. Puchan, Grand, Couteau, Winlow, Coogan, Trooper, und wie sie alle hießen. Da wurden harte Fäuste auf Schultern geschlagen, Ellenbogen in die Rippen geknallt, Handflächen auf die Hinterköpfe geschlagen und Schulter an Schulter gerammt. Es dauerte lange, bis sich die allgemeine Begrüßungszeremonie der harten Kerle endlich legte. „Wir segeln ein Stück zusammen", schlug
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der Seewolf vor. „Unsere Reise geht nach Little Cayman. Und wo wollt ihr hin?" „Ja, verdammt!" schrie Carberry dazwischen. „Hat denn noch keiner einen Begrüßungsschluck geholt, zum Teufel? Sollen wir in dieser Hitze etwa austrocknen, was, wie?" Die ehemaligen zur Crew der „Isabella" gehörenden Männer waren längst hinübergeklettert. Auf dem Hauptdeck wurde der Platz knapp. Ribault rief etwas zu seinen Leuten hinüber, die sogleich mit Flaschen aufkreuzten, ihnen die Hälse abschlugen und sie weiterreichten. „Feiner alter Malaga", sagte Ribault. „Haben wir vor ein paar Tagen einem lausigen Don abgenommen. Und um deine Frage zu beantworten, Hasard: Wir jagen den Himmelhund von Spanier, der vorhin euren Kurs gekreuzt hat." Ribault drehte sich verblüfft um, als ihm jemand hart auf die Schulter schlug. Er sah in Dans Gesicht und schüttelte den Kopf. „Ich werde verrückt, Mann! Das Bürschchen! Hölle, aus dir ist ja ein erwachsener Kerl geworden. Du bist ja fast größer als die anderen! Junge, hast du dich verändert!" Das ,.Bürschchen" strahlte über alle Backen. Den Ausdruck hatte Dan ohnehin schon lange nicht mehr gehört, und er war ihm so vertraut, daß ihm manchmal direkt etwas fehlte, nämlich die Erinnerung an die schon lange zurückliegende gemeinsame Zeit, als Ribault, Hutten und die anderen noch zur Crew gehörten. Die Flaschen wurden herumgereicht. Anschließend ging das große Erzählen los. Ribaults Gesicht verschloß sich, als er hörte, was in der Zwischenzeit alles passiert war. Hasards Zwillinge tot, Buck Buchanan erschossen, der Schatz der Malteser geborgen und abgeliefert. Aber es gab auch andere Sachen zu erzählen, und die stimmten ihn nach einer Weile etwas froher. Hasard sprach nicht gern über die letzte Vergangenheit und Karl von Hutten tat alles. um den Seewolf davon abzulenken.
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„Du bist älter geworden, Hasard, reifer, möchte ich sagen. Du bist nicht mehr so unbeschwert wie früher. Vielleicht bist du auch noch härter geworden", sagte er abschließend. Ribault hatte das Seebeben ebenfalls gespürt, und zwar sehr unangenehm, wie er versicherte. Die Flutwelle, stark abgeschwächt, hatte viele Schiffe in Mitleidenschaft gezogen und Inselteile von Jamaica überrollt, ehe sie sich in der Weite des Karibischen Meeres langsam verlaufen hatte. Dann wurde über die Rote Korsarin gesprochen. Ribault war ihr zum drittenmal begegnet. "Sehr merkwürdig", sagte er verwundert. „Und dieser Jonas hat euch gesagt, daß sich auf Little Cayman eine schwarzhaarige Frau in Gefahr befindet?" „Ja, er war ganz aufgeregt und fast verrückt. Er hat auch das Seebeben vorausgesagt." „Das ist mir unbegreiflich", sagte der Franzose. „Weißt du denn, wo die Rote Korsarin steckt?" Der Seewolf verneinte. „Ich hatte mir vorgenommen, auf das Geschwätz des Alten nicht viel zu geben, doch es läßt mir keine Ruhe. Immerhin sind alle seine Voraussagen eingetroffen"` „Ein unheimlicher Mann", sagte Ribault und sah dem Seewolf fest in die Augen. „Es ist wirklich unheimlich, aber Siri-Tong ist tatsächlich nach Little Cayman gesegelt." Hasard schluckte. Wieder hatte er das Gefühl, als richteten sich alle seine Nackenhaare auf. Die Kopfhaut auf seinem Schädel zog sich zusammen, ein Frösteln lief über seinen Körper. "Also doch", sagte er tonlos. „Was will sie auf Little Cayman? Hast du sie gesprochen?" "Allerdings. Ich erwähnte euren Stützpunkt, die Schlangen-Insel. Sie wollte nicht, daß ich das Geheimnis kenne. und noch viel weniger, daß ich die geheimnisvolle Bucht ebenfalls benutzen darf. Das wollte sie nur zusammen mit dir
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entscheiden. Falls du dazu deine Erlaubnis gibst, wäre sie einverstanden." Da gab es für den Seewolf nichts zu überlegen. Spontan legte er dem alten Freund die Hand auf die Schulter. „Du kannst den Stützpunkt jederzeit anlaufen, sofern du mir dein Wort gibst, niemandem das Geheimnis zu verraten. Wir haben Unmengen von Schätzen auf der Insel verborgen. Du kennst die Position?" „Mein Wort hast du, mein Ehrenwort", erwiderte der Franzose ernst. „Und die Position kenne ich auch. Es ist mir nur unerklärlich, wie das Einlaufen vor sich geht. Nach menschlichem Ermessen ist es ausgeschlossen, zwischen den Felsen hindurchzusegeln." Hasard grinste flüchtig. Natürlich würde er mit der Roten Korsarin noch darüber reden, aber die Erlaubnis hatte er Ribault ja schon gegeben. Die beiden Männer gaben sich die Hand und sahen sich an. Dann lösten sich ihre Hände, und der Seewolf erzählte dem Franzosen, wie es möglich war, durch die Passage zu segeln. Ribault war starr vor Staunen. „Eine Barriere?" sagte er leise. „Nun gut, gelegentlich werde ich es versuchen, da durchzusegeln. Falls du irgendwann mal Trümmer vor der Schlangen-Insel findest, könnten sie von meinem Schiff stammen." Der Seewolf lachte, aber er war mit seinen Gedanken ganz woanders. „Weshalb ist die , Korsarin nach Little Cayman gesegelt?" forschte er. Seine Finger trommelten auf der Schmuckbalustrade herum. Seine Blicke hingen gebannt an Ribaults Lippen. „Sie hat eine Botschaft in Tortuga erhalten. Danach ist sie ziemlich schnell aufgebrochen. Ich habe es von anderen erfahren." „Eine Botschaft?" fragte der Seewolf. „Eine Botschaft, die sie nach Little Cayman ruft? Kennst du den Inhalt dieser Botschaft, oder weißt du, von wem sie stammt?" „Nein, das weiß ich nicht. Ich habe auch keine Erklärung dafür."
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„Da ist der See mit den unvorstellbaren Schätzen", sagte Hasard mehr zu sich selbst. „Da sind die Wächter am Auge der Götter. Was, bei allen Geistern, kann sie nur dort wollen?" „Nicht die Spur einer Ahnung", versicherte Ribault. Sein sonnenverbranntes Gesicht legte sich in Falten, dann schüttelte er den Kopf. „Tut mir leid, ich kann es mir nicht einmal denken. Wäre es möglich, daß sie sich Schätze aus dem See holt?" „Nein, ausgeschlossen, das würde sie nie tun. Ich bin mir nicht sicher, ob sie das Geheimnis der Insel kennt." Ribault nahm einen tiefen Zug aus der Flasche. Mit dem Handrücken wischte er sich den Malaga von den Lippen. „Wer kennt schon die Frauen", sagte er lächelnd. „Und gerade diese Rote Korsarin scheint mir so undurchsichtig wie Nebel zu sein." „Darin hast du allerdings recht. Ich glaubte auch immer, sie zu kennen, doch das war ein Irrtum. Ich möchte wissen, welches Geheimnis diese Frau umgibt." „Vielleicht erfährst du es, wenn du nach Little Cayman segelst. Du bist ja auf dem Kurs. Ein Vorschlag, Hasard: Du segelst weiter, wir werden inzwischen den Spanier verfolgen und ihn ordentlich rupfen, sobald wir ihn haben. Danach folge ich euch nach Little Cayman." „Das ist ein Vorschlag. Einverstanden. Den Spanier wirst du sicher noch erwischen. Wir sollten also keine Zeit mehr verlieren." Karl von Hutten, Miteigner der „Le Vengeur", nickte beifällig. „So halten wir es, Hasard", sagte der Sohn einer indianischen Häuptlingstochter. Von Hutten war ein Spanienhasser, und wie Hasard ihn kannte, würde er nicht eher ruhen, bis sie den Don erwischt hatten. Seine Hilfe zur Kaperung des Dons brauchte Hasard ihm nicht anzubieten. Die „Le Vengeur" war gut armiert, schnell und beweglich, und die Kerle verstanden sich aufs Entern. Ribault wäre beleidigt gewesen, hätte der Seewolf seine Hilfe angeboten.
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Die Segel wurden wieder gesetzt. Beide Schiffe hoben und senkten sich im gleichen Rhythmus auf den Wellen. „Wir sehen uns in Little Cayman", versprach Ribault mit einem Händedruck und sah zur Kuhl hinunter, wo ein endloses Palaver zwischen den alten Freunden begonnen hatte. Die Flaschen kreisten, die Begrüßung wurde nach allen Regeln der Kunst gefeiert, bis der Profos die Arme in die Hüften stemmte und grimmige Blicke auf die Seewölfe schickte. „Habt ihr nicht gehört, was Jean und der Seewolf ausgehandelt haben, ihr Rübenschweine? Wir sehen uns später auf Little Cayman wieder, und wer jetzt noch einmal zur Flasche greift, dem ziehe ich persönlich die Haut in Streifen von seinem ..." „.. Affenarsch", fiel die Crew lachend ein. Jan Ranse und Piet Straaten brüllten begeistert los. „Mann, er hat immer noch die alten Sprüche im Seesack. Wie lange haben wir das schon nicht mehr gehört.`' „Ja, so ein Profos fehlt bei uns noch, was, wie?" schrie Nils Larsen und boxte Canberry in die Rippen. „Junge, war das eine Zeit damals", erinnerte er sich. Einer nach dem anderen ging wieder auf die „Le Vengeur" zurück, nachdem sie sich verabschiedet hatten. Die Leinen wurden gelöst, und sofort trieben beide Schiffe auseinander. Hasard zeigte Ribault die geballte Rechte mit dem Daumen nach unten. „Besorgt es dem Don!" rief er hinüber. „Denen juckt das Fell." „Wir werden ihnen die Flöhe schon aus dem Pelz klopfen", versprach Ribault lachend. Damit fiel die „Le Vengeur" etwas zurück und segelte am Heck der „Isabella" vorbei, ehe sie auf neuen Kurs ging. Eine ganze Weile winkten sich die Männer noch zu. Hasard hatte seine Wanderung auf dem Achterkastell wieder aufgenommen. In seinen Gedanken spukte der Jonas herum. Immer wieder dachte er an den Alten, den
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die Riesenwelle wie einen Geist auf ihrem Rücken davongetragen hatte, ohne daß er untergegangen war. „Dieser Alte wird mir immer unheimlicher", sagte er zu Ben Brighton, „jetzt befindet sich Siri-Tong auf dem Weg nach Little Cayman oder ist schon dort. Ich möchte wissen, welche Botschaft man ihr zugespielt hat, und vor allem: Woher kann diese Botschaft nur stammen?" „Darüber grüble ich die ganze Zeit nach. Es muß entweder mit dem kreisrunden See zusammenhängen oder..." Ben Brighton stockte. Er sprach nicht weiter, sondern sah' den Seewolf nur von der Seite her mit einem scheuen Blick an. ,,Ich weiß auch so, was du sagen ,willst. Alter, du scheust dich nur, es auszusprechen. Du meinst den schwarzen Segler:" Ben Brighton zuckte unmerklich zusammen Der Schwarze Segler! Das geheimnisvolle Schiff des toten Kapitäns El Diabolo. Es schien schon seit Ewigkeiten in jener Bucht auf Little Cayman zu liegen, mit seinen zerfetzten schwarzen Segeln und den Gerippen an Bord. „Ja, den meine ich, den Schwarzen Segler, das Totenschiff! Ich habe nur keine richtige Vorstellung, was die Korsarin auf der Insel sucht. Vielleicht haben Piraten den See beraubt oder..." Wieder sprach er nicht weiter. Dafür überlegte er angestrengt, gelangte aber zu keinem Ergebnis, das ihn befriedigte. Hasard wußte, daß Siri-Tong in irgendeiner Beziehung zu dem Auge der Götter stand, aber wie immer hatte sie sich beharrlich darüber ausgeschwiegen und weiterhin Rätsel gespielt. „Wir werden es bald erfahren", sagte er und hieb die Faust in die offene Handfläche. Was Hasard auf Little Cayman vorfinden sollte, hätte er in seinen kühnsten Träumen nicht erwartet. 2.
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Am Ruder stand der Boston-Mann, jener englische Pirat mit dem großen goldenen Ring im Ohr, der SiriTong absolut ergeben war. Er war schweigsam wie immer und sprach nur, wenn die Rote Korsarin ihn etwas fragte. Dann erst ging er aus sich heraus. Er betrachtete sie ausgiebig. Sie stand auf dem Achterkastell der zweimastigen Karavelle mit den blutroten Lateinersegeln und blickte auf die Insel, der sie jetzt entgegensegelten. Der Boston-Mann lächelte leicht. In den Augen seines kühn geschnittenen Gesichts blitzte es ab und zu auf, wenn er das runde Hinterteil in den engen blauen Schifferhosen sah, die rote, am Hals immer zwei Knöpfe geöffnete Bluse der Korsarin, die zwei feste Brüste umschloß, und ihr Gesicht, sobald sie sich umdrehte. Das war jetzt der Fall. Sekundenlang fing er den Blick aus ihren schräggestellten Mandelaugen auf, sah die herzerfrischenden roten Lippen und das gerade Näschen sowie die schräg gewölbten Augenbrauen. Klar, auch den Boston-Mann bewegten bei diesem Anblick immer sehr einseitige Gedanken, nur ließ er sich nichts anmerken wie die anderen Kerle, die Siri-Tong Tag für Tag mit den Augen verschlangen, sobald sie sich nur an Deck zeigte. Sie deutete mit der rechten schmalen Hand in die Bucht, die sich vor ihren Augen auftat. „Der schwarze Segler liegt nicht mehr am selben Platz, Boston-Mann." „Das stimmt„ Madame." „Er hat ihn verholt. Aber er scheint nicht hier zu sein." „Es ist jedenfalls kein Schiff zu sehen, Madame." Bis auf ein Schiff war die Bucht leer. Und dieses Schiff sah fürchterlich genug aus: Wer diesen Segler sah, den überlief unwillkürlich ein kühler Schauer. Siri-Tong sah, wie sich einige Männer aus ihrer Besatzung bei dem Anblick heimlich bekreuzigten. Der Boston-Mann, Juan und Bill, the Deadhead, der dunkelblonde Mann, der um den Hals eine grobe
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Goldkette mit einem handtellergroßen goldenen Totenkopf trug, kannten diesen Segler noch von früher und hatten ihn schon einmal gesehen. Die anderen jedoch, die Crew die sie in Tortuga angeheuert hatte, kannten das Schiff nicht, und so war ihre Reaktion durchaus verständlich. Das unheimliche Schiff lag halb auf dem feinen weißen Sand der halbkreisförmigen Bucht. Das Heck lag halb im Wasser, ein Stück des mächtigen Ruderblattes ragte in die Luft. Ein paar Männer stöhnten leise, als sich ihre neugierigen Blicke an dem Schiff festbrannten. Der Rumpf war pechschwarz, die Masten waren pechschwarz und auch die in Fetzen herabbaumelnden Segel des Schiffes waren schwarz wie die Nacht. Irgendwo hätte jemand eine andere Farbe: erwartet, doch es gab keine. Selbst das leicht geneigte Deck, das man von hier aus gut erkennen konnte, war schwarz geteert. Ebenso waren die Rahen rabenschwarz. Das Schiff strahlte eine beklemmende, vielleicht sogar tödliche Drohung aus. Wie ein Ungeheuer lag es in dem Sand und hob sich scharf davon ab. Es schien pausenlos zu knistern, zu ächzen und zu stöhnen. Jedenfalls glaubten die meisten Männer, diese Geräusche ganz deutlich zu hören. Das einzig Helle auf dem Hauptdeck des Schwarzen Seglers, das sich ebenfalls deutlich abhob, war ein teilweise ausgebleichtes Gerippe, an den Beinen noch mit einer vermoderten und zerschlissenen Hose bekleidet. Der Boston-Mann wandte den Blick ab. Selbst er, der den Segler schon kannte. konnte den unheimlichen Anblick nicht länger ertragen, denn jedesmal fühlte er ein kaltes Ziehen im Genick. „Runter mit den Segeln:" ertönte die helle Stimme der Roten Korsarin. „Klar bei Anker!“ Diese Worte rissen die Männer aus ihrer Erstarrung. Sie waren heilfroh, etwas zu tun zu haben, und so gingen sie mit ungewohntem Eifer an die Arbeit.
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Während der Boston-Mann die Karavelle in die Bucht steuerte, wanderte der Blick Siri-Tongs weiter in der Bucht umher. Hinter dem Strand und einer breiten Landzunge von halbkreisförmiger Gestalt wuchsen übergangslos scharfkantige Felsen in die Höhe. Felsen standen auch weiter vorn im Wasser, drohend erhobene Riesenfinger, dunkelbraun, schwach von sanften Wellen umspült. Kein Vogel nistete in den gezackten Löchern der Felsen. Die unmittelbare Nähe des schwarzen Schiffes schien selbst sie vertrieben zu haben. Siri-Tong mußte den Kopf in den Nacken legen, um zu den hochwuchtenden Felsen hochzublicken. Stumm und drohend standen sie da, scheinbar unvergänglich, und bewachten das Geheimnis der Insel Little Cayman, das nur ganz wenigen bekannt war. „Fallen Anker!" „Aye, aye, Madame!" klang es vom Vordeck zurück. Der Anker klatschte ins Wasser und landete gleich darauf auf Grund. Das Wasser war hier nicht sehr tief. Dwars lief der Zweimaster dem Strand entgegen, bis die Ankertrosse sich straffte und ihn festhielt. Ganz langsam kam das Schiff zur Ruhe. Schweigen herrschte auf der Karavelle. Es war fast körperlich spürbar, und es machte alles nur noch schlimmer. Stumm standen die Männer da und sahen zu den gewaltigen Felsen hoch, in denen sich nichts rührte, die nur vom Gluthauch der Sonne beschienen wurden, genau wie der schwarze Segler mit dem unheimlichen Passagier an Deck. Siri-Tongs Stimme klang verwundert als sie sich an den Boston-Mann wandte. „Verstehst du das, Boston-Mann? E= scheint niemand hier zu sein. Früher sah man doch zumindest einen der Wächter ganz oben in den Felsen. L--1 habe jedoch nichts bemerkt." „Ich habe auch niemanden gesehen, Madame. Die Insel scheint wie ausgestorben zu sein." „Wächter?" stammelte ein schwarzhaariger Mann, der jetzt dicht neben dem Boston-
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Mann stand. „Was für Wächter, BostonMann?" „Die Wächter am Auge der Götter", sagte die Korsarin, als der Boston-Mann keine Antwort gab, sondern nur mit unruhigen Augen die Felsen absuchte. „Am Auge der Götter", hauchte der Mann. Siri-Tong sah, wie die braune Haut in seinem Gesicht blaßgrau wurde und eine Gänsehaut über seine Arme lief. „Später wirst du das verstehen." Doch der Mann verstand gar nichts. Er schlich sich leise davon, nachdem er noch einen scheuen Blick auf das schwarze Schiff geworfen hatte. Schien es ihm nur so oder hatte sich auf dem schwarzen Segler etwas verändert? Lauerten da nicht die Geister jener Toten, die sich fraglos außer dem einen Gerippe noch an Bord befanden? Seine Kopfhaut zog sich zusammen. Trotz der sengenden Sonne fror ihn plötzlich. Die meisten erwarteten jetzt eine langatmige Erklärung. Aber weder der Boston-Mann noch Siri-Tong dachten daran, etwas zu erklären. Der Korsarin war selbst einiges unerklärlich, so die Tatsache, daß sich keiner der Wächter zeigte, und daß der Mann, der sie hierher beordert hatte, ebenfalls noch nicht da war. Das war jedoch nicht weiter verwunderlich. Er konnte ja noch im Laufe des Tages eintreffen. Die Abwesenheit der Wächter beunruhigte sie viel mehr. Was mochte am Auge der Götter passiert sein? Hatten fremde Piraten Wind von dem Geheimnis gekriegt, die Wächter überfallen und den See geplündert? Eine Vorstellung, die ihr einfach nicht in den Kopf wollte. Die Wächter ließen kaum jemanden heran, und selbst eine Meute wilder Piraten hätten sie abgewehrt. Dabei wäre allerdings der ganze Berg in sich zusammengestürzt, denn die Wächter hatten für solche Fälle konsequent vorgesorgt. „Ich werde hinaufsteigen, Boston-Mann, und am Auge der. Götter nachsehen. Dort muß etwas passiert sein. Wie es aussieht, scheinen wir auf der Insel ganz allein zu sein."
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„Verzeihen Sie, Madame, daß ich widerspreche, aber ich an Ihrer Stelle würde da nur in Begleitung hinaufgehen." Ihre Hand fuhr unwirsch durch die Luft. Sekundenlang glomm es in ihren nachtschwarzen Augen ärgerlich auf. „Du weißt genau, daß kein Fremder lebend oben ankommen würde, selbst du nicht, Boston-Mann, auch Juan nicht." „Das stimmt, Madame." „Also werde ich allein gehen, verstanden?" „Wir sind nur um Sie besorgt, Madame", erwiderte der Boston-Mann. Für zwei Sekunden tönte ihr helles Lachen durch die Bucht. „Wie schön", sagte sie spöttisch. „Daß jemand um mich besorgt ist, schmeichelt mir direkt. Bring mir meinen Degen, Juan!" Juan, ein Klotz von einem Kerl, himmelte die Rote Korsarin an. Er war der Bootsmann, anderen gegenüber allerdings nicht immer ganz ehrlich, und er liebte es, Leute aus der Crew aus nichtigen Anlässen mitunter grundlos zu verprügeln. Dennoch konnte sich Siri-Tong unbedingt auf ihn verlassen. Er brachte ihr den Degen und das Wehrgehänge, dabei schielte er in ihre rote Bluse, bis der Boston-Mann ihm einen eiskalten Blick zuwarf. Juan wandte sich verlegen ab. Er war zwar der Bootsmann, aber vor dem Boston-Mann hatte er einen unerklärlichen Respekt. Dem Kerl war nicht beizukommen, und er hatte sich mit diesem Mann auch noch nie angelegt, weil er instinktiv spürte, daß er bei einer Schlägerei sehr schlecht abschneiden würde. Inzwischen wurde das Beiboot abgefiert. Leichtfüßig sprang die Rote Korsarin hinein, nachdem der Boston-Mann im Boot Platz genommen hatte. um es an den Strand zu rudern. Bevor es knirschend auf den Sand lief, warnte er sie noch einmal: „Überlegen Sie es sich gut, Madame. Auf der Insel ist irgend etwas passiert, was wir noch nicht wissen. Es droht Gefahr."
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„Du predigst ja wie ein Bordgeistlicher", sagte sie lachend. „Eine so lange Rede habe ich von dir noch nie gehört." Da gab der Boston-Mann es auf und schwieg. Wenn Siri-Tong sich einmal etwas in ihr hübsches Köpfchen gesetzt hatte, dann war daran nicht mehr zu rütteln. Und selbst wenn sie Angst hatte, dann überwand sie diese Angst immer, indem sie spöttisch lachte, so wie jetzt gerade. „Wenn ihr wollt, könnt ihr euch inzwischen am Strand umsehen, oder Fische fangen", sagte sie. „Aber daß niemand auf die Idee verfällt; mir nachzusteigen. Das ist ein Befehl, BostonMann! Niemand klettert in die Felsen hinauf. Und laßt die Finger von dem schwarzen Segler, das Schiff ist verflucht!" „Ja, es ist verflucht", sagte der BostonMann heiser. „El Diabolo selbst hat es verflucht. Der Teufel wird ihn in der Hölle rösten, für alle Zeiten." Er sah ihr mit einem Gefühl der Beklemmung nach, als sie über den feinen Sand ging, an den Felsen vorbei, bis sie eine schmale Rinne fand, in der man aufsteigen konnte, zwar sehr mühsam nur, und man mußte gut aufpassen. Siri-Tong kletterte weiter. Die Felsen strahlten die Hitze hundertfach zurück. Die Felsen schienen von innen her zu lodern oder zu brennen, so heiß waren sie, wenn sie sie anfaßte, um sich Stück für Stück weiterzuziehen. In diesen Felsen gab es immer wieder Pfade mit losem Geröll, scheinbar ausgetretene Wege, die oftmals in die Irre führten und vor steilen Wänden endeten. Siri-Tong kannte die Pfade, die der Regen ausgewaschen hatte und die oftmals auch künstlich angelegt worden waren. Ein Plateau mit großen Felsbrocken übersät, breitete sich vor ihr aus. Es ging jetzt schräg bergauf. Unter ihren Stiefeln knirschte es manchmal verdächtig Lavafelsen, teilweise hohl, darunter unsichtbar verborgen, tiefe Kavernen, in die man hineinfallen konnte. Es war ein Labyrinth der tausend Fallen.
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Ihr Blick wanderte nach rechts, und unwillkürlich drang ein leiser, erschrockener Schrei über ihre Lippen. Rechts lagen die Überreste eines Menschen zwischen den Steinen. Der Brustkorb war deutlich zu sehen, die Arme, ein Bein. Nur von dem Schädel fehlte jede Spur. Sie entdeckte ihn jedoch gleich darauf. Jemand hatte ihn auf einen langen Pfahl gesteckt, der zwischen zwei große Steine gerammt war. Sie blieb stehen und sah sich immer wieder um. Tief unter ihr dehnte sich die dunkelblaue Fläche des Meeres aus, am Strand lag der Zweimaster, von hier aus anzusehen wie ein Spielzeug, und nicht weit von ihm entfernt der schwarze Segler, der auch aus dieser Höhe nichts von seiner unheimlichen Ausstrahlung verloren hatte. Ihr Herz klopfte laut in ihrer Brust, pochte hart an die Rippen. Ihr Gesicht war gerötet von der Anstrengung. Noch dachte sie sich nicht viel dabei, seit sie das eine Gerippe gefunden hatte. Doch das änderte sich, als sie gleich zwei nebeneinander fand. Wieder waren die grinsenden Totenschädel auf Pfähle gespießt, als sollten sie den Weg zum Auge der Götter weisen. Die Schädel waren bleich. In dunkle, leere Augenhöhlen fiel ab und zu ein Lichtstrahl, wenn der Wind sie leicht bewegte. Dann blitzte es sekundenlang darin unheimlich auf. Sie blieb wieder stehen. Der nächste Schädel rollte ihr entgegen, als sich ein kleiner Stein bewegte und den Pfahl umstieß, auf den er gesteckt war. Sie sprang zurück, den Mund zu einem lautlosen Schrei geöffnet. Was war hier geschehen? Immer wieder stellte sie sich diese Frage, doch eine Antwort gab es nicht, die Felsen schwiegen, und auch von den Wächtern ließ sich niemand blicken. Ein weiterer Schädel wies den Weg nach oben. Jetzt sah Siri-Tong klar. 'Jedenfalls lag die Erklärung, die sie nun bereit hatte, auf der Hand.
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Hier mußten tatsächlich Piraten versucht haben, den See seiner gewaltigen Schätze zu berauben. Daß es ihnen nicht gelungen war, bewiesen ihre ausgebleichten Knochen, die überall zwischen den Felsen herumlagen. Diese Gerippe waren mit Sicherheit keine Wächter, das waren Piraten, die im Kampf mit den Wächtern ums Leben gekommen waren. Die überlebenden Wächter hatten die Totenschädel auf Pfähle gesteckt, um jeden Fremden nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß hier ihr Reich begann, und daß es jedem genauso ergehen würde, der sich weiter nach oben wagte. Anscheinend hatte niemand überlebt oder höchstens diejenigen, die an Bord zurückgeblieben waren. Die Rote Korsarin war nicht ängstlich, doch jetzt beschlich sie ein unheimliches Gefühl. Sie fühlte sich von tausend Augenpaaren belauert, überall zwischen den Felsen, in den Spalten konnten die Wächter stecken. Sie waren Fanatiker, das wußte Siri-Tong, und ihr Fanatismus kannte keine Grenzen. Für sie war jeder ein Frevler, der weiterging, ohne die Vorboten des Todes zu beachten. Sie überlegte. Sollte sie weitergehen oder umkehren, um nicht den Zorn jener heraufzubeschwören, die das Götterauge bewachten? Einen Augenblick rang sie mit sich selbst. Nein, umkehren wollte sie nicht. Es war die Neugier, die sie weitertrieb. Wenn es keine überlebenden Wächter gab - wie sah dann der See aus? Lagen an seinen weißen Ufern immer noch die Diamanten? Oder die Edelsteine, das Gold, die Skulpturen, die auf dem Grund des Sees ruhten. Waren sie noch dort, oder hatte man das alles geraubt? Früher hatte es hier viele Wächter gegeben, Indios, Indianer, die die Schätze behüteten und bewachten. Man hatte sie auch ständig sehen können. Nur heute gab es keine, und das beunruhigte die Rote Korsarin mit jeder Minute mehr. Dennoch stieg sie weiter, mit klopfendem Herzen, fliegenden Pulsen und einer
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beklemmenden Ungewißheit. Und immer wieder blickte sie sich nach allen Seiten um. Sie hatte ein untrügliches Gespür für unsichtbare Gefahren. Dieses Gespür hatte ihr schon mehr als einmal das Leben, gerettet, es ließ sie nie im Stich. Langsam ging sie weiter, den Totenköpfen nach, die immer zahlreicher wurden und ihr den Weg zum Auge der Götter wiesen, dem kreisrunden See, der einem Auge ähnelte. Die Felsen wurden jetzt glatter und sahen aus, als hätte man sie bearbeitet oder geschliffen. Siri-Tongs Augen waren zusammengekniffen und spähten in die spärlich wachsenden Büsche, ob sich dort etwas regte. Nichts, alles wirkte tot, ausgestorben, genau wie der schwarze einsame Segler in der Bucht. Vor ihr wuchteten jetzt glatte Felsmassen in die Höhe, die ein riesiges ringförmiges Massiv bildeten, das an einer Seite offen war. Jetzt mußten sich die Wächter zeigen, oder es gab sie nicht mehr. Sie ging auf den weißen Strand zu, der den See umsäumte. Der Anblick der sich ihr bot, war herrlich und schrecklich zugleich. Rechts stieg ein hoher Felswall an, der den See wie eine riesige Mauer umschloß. Der Anfang dieses Felsen bestand aus einem in den Stein gehauenen Totem, einem Götzenbild, fast viereckig, das sie aus hellen kalten Augen grausam anstarrte. Davor lag im hellen Sand wiederum ein menschliches Gerippe. Ein Totenschädel, davor die Arm- und Brustknochen, wahllos im Sand verstreut, in dem es gleißte und glitzerte. Diamanten lagen dort. Man brauchte sie nur aufzuheben und einzustecken, und schon war man reich, wenn man es bis hierhin geschafft hatte. Überall lagen sie herum, bläulich, grünlich, rötlich und strahlend weiß aufglitzernd, wenn das Licht der Sonne sie beschien. Der See war kreisrund und von jener tiefen Bläue, wie man sie nur in der Saragossasee findet, an tiefen dunklen Stellen. Und auch im See funkelte, gleißte und strahlte es. Siri-Tong war von dem Anblick überwältigt. Die hohen, majestätischen
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Felsen, die den See umschlossen, das grausame Gesicht im Felsen, das jeden Fremden warnen mußte, das Gerippe eines Menschen, der es bis hierher geschafft hatte und dann durch die Wächter umgekommen war. Dazu kamen die zahlreichen gleißenden Diamanten im weißen Sand. Sie stand da und staunte, keines Wortes mächtig. Aus dem See blinkte es geheimnisvoll hervor. Gold, das die Sonne beschien,' Juwelen, in denen sich das Licht brach. Sie war so gebannt, daß sie die Augen nicht bemerkte, die sie schon seit geraumer Zeit beobachteten. Die Augen glühten vor Haß, Fanatismus, den Gedanken an Rache, diese Frevlerin umzubringen, die es gewagt hatte, sich dem Auge der Götter zu nähern, und die jetzt einen verhängnisvollen Fehler beging. Siri-Tong konnte der Versuchung nicht widerstehen. Kein Mensch hätte das gekonnt. Sie bückte sich langsam, sah einen prächtigen, funkelnden Diamanten im Sand und hob ihn auf. Tausendfach brach sich das Licht in dem großen Stein, gleißte und schimmerte, leuchtete in allen Farben, strahlte. Es war eine Pracht, diesen Stein in der Hand zu halten, sie wurde magisch von ihm angezogen, von den Funken, die ihr Feuer nach allen Seiten versprühten. Sekundenlang wog sie ihn in der Hand, dann schüttelte sie den Kopf, holte weit aus und warf den Stein in den See. Vorerst rettete sie damit unbewußt ihr Leben, aber das ahnte sie noch nicht. 3. Die beiden Wächter sahen sich an, stumm, ohne ein Wort zu sagen. Der eine hatte einen Pfeil auf der Sehne, der auf SiriTong zielte und ihren Hals durchbohren sollte. Jetzt, als der große Diamant klatschend in den See fiel, zog sich der Pfeil unendlich langsam auf der Sehne zurück. Die beiden Wächter hatten die junge Frau schon seit ihrem Aufstieg pausenlos
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beobachtet. Und schon von weitem hatten sie das Schiff bemerkt, als es in die Bucht einlief. „Sie muß sterben", sagte Ngoon, der größere der beiden. Ihre Gesichter waren mit dunkler Erde bemalt, durch die sich helle Streifen zogen. U m die Augen waren runde, blutrote Kreise gezogen. Sie trugen nur einen Lendenschurz, Pfeil und Bogen und ihren hölzernen Speer, mit dem sie viele bärtige Männer durchbohrt hatten, die das Auge der Götter berauben wollten. Ihre Gebeine bleichten jetzt in der heißen Sonne, aber auch die meisten Wächter hatte es das Leben gekostet. Es gab nur noch Ngoon und Baraan. Sie hatten geschworen, das Auge der Götter mit ihrem Blut zu verteidigen, solange sie auf dieser Insel lebten. „Ja, sie wird auch sterben", erwiderte Baraan dumpf. „Sie hat gefrevelt. Der Tod wird zu ihr kommen." Ngoon hob wieder den Bogen und spannte die Sehne, doch Baraan schüttelte den Kopf. „Nicht so, es wäre ein schneller Tod. Sie soll unter Schmerzen für ihren Frevel büßen. Wir werden die weiße Schlange holen." „Sie ist eine Hündin“, sagte Ngoon. In seinen Augen brannte unbeschreiblicher Haß. „Dann soll sie wie eine Hündin sterben. Ich hole die Schlange. Oder nein, wir werden sie erst überwältigen." Lautlos schlichen sich die beiden Indianer heran. Sie umgingen den Felsen, auf dem sie versteckt gekauert hatten und näherten sich von der linken Seite, dort, wo das Götzenbild in den Felsen gehauen war. Ngoon hatte eine lange Gerte mit einer Schlinge daran. Er öffnete die Schlinge etwas, lockerte sie und schleuderte die Gerte dann aus dem Handgelenk nach der Frevlerin. Die Bewegung erfolgte blitzartig und schnell. Sirrend legte sich die Schlinge der Roten Korsarin um den Hals und zog sich zusammen.
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Ein weiterer Ruck, und die Rote Korsarin lag im Sand. Ihre Hände fuhren zu ihrer Kehle, sie versuchte, dem würgenden Druck der tödlichen Schlinge zu entkommen, doch der Indianer zog erbarmungslos zu, bis an seinen mächtigen Oberarmen die Muskelstränge stark hervortraten. So sehr Siri-Tong sich wehrte und zappelte, es nutzte ihr nichts. Vor ihren Augen tanzten blutrote Nebel, die immer dichter wurden, in ihrem Kopf dröhnte eine Glocke, vor ihr tat sich ein grenzenloser Abgrund auf. Da erst gab sie ihre Gegenwehr auf. Verschwommen sah sie über sich zwei schrecklich angemalte Gestalten und wollte sich aufsetzen. Doch der eine, ein riesenhafter bärenstarker Kerl, zog die Schlinge sofort weiter zu, bis sie endgültig aufgab. „Du hast die Götter beleidigt", vernahm sie eine rauhe Stimme hoch über sich. Das schrecklich angemalte Gesicht hatte sich zu einer Fratze des Hasses verzerrt. „Du weißt, was das bedeutet. Niemand darf das Auge der Götter betreten, es ist heilig. Wer das Tabu verletzt, der wird sterben." Der Druck ließ etwas nach, aber Siri-Tong erging es deshalb nicht besser. Sofort wurde sie von den beider. 'Männern an Händen und Füßen gefesselt. Lianen schlangen sich um ihre Knie, ihre Hände wurden auf den Rücken gerissen und dort zugebunden. mich doch an!" rief sie verzweifelt. „Ich kenne das Auge der Götter, ich weiß um sein Geheimnis. Ich habe auch erfahren, daß Fremde hier waren und das Auge der Götter berauben wollten. Ich bin nur heraufgestiegen, um nachzusehen, ob es noch Wächter gibt, die den Göttersee bewachen. Ich dachte, man hätte euch alle umgebracht." „Man hat alle umgebracht, bis auf uns. Die anderen sind tot, ebenso wie jene Frevler, die das Auge der Götter entweihen wollten. Sie sind grausame Tode gestorben." „Zum Teufel, ich will nicht sterben", fauchte Siri -Tong wie eine wilde Katze. „Ich habe euch nichts getan! Ich will auch die Edelsteine nicht, die hier liegen. Habt ihr nicht gesehen, daß ich einen der Steine
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wieder in den See geworfen habe, wo ihn keiner mehr holen kann?" „Wir haben es gesehen", antwortete Ngoon dumpf. „Du wirst den Tod durch die weiße Schlange sterben." „Ihr verdammten Fanatiker", schrie SiriTong und warf sich in ihren Fesseln wild hin und her. „Das Tabu dieses Sees ist doch längst erloschen! Bindet mich los, dann werden wir miteinander kämpfen!" Wütende Augen starrten sie an. Haß über den fremden Eindringling spiegelte sich darin, fanatischer Haß wie der von Priestern, denen man ihr Heiligtum entweiht hat. Und diese Wächter kannten keine Gnade. Für sie gab es keine Alternativen, am Ende stand nur der Tod, sonst nichts. „Es gibt keine Gnade für dich. Wir werden jeden töten, der die Insel auch nur betritt. Das allein reicht aus, um den Zorn der Götter hervorzurufen." Die beiden waren so erregt, daß Siri-Tong glaubte, sie würden sich auf sie stürzen und augenblicklich erwürgen. Stattdessen zogen sie jedoch die Fesseln noch fester zusammen und der eine ging fort, um die weiße Schlange zu holen, wie der andere gesagt hatte. Jetzt lag die Rote Korsarin genau vor dem Felsen mit der schrecklichen Fratze, die sie höhnisch anzustarren schien. Sie konnte sich mit ihrem Schicksal nicht abfinden und bereute, daß sie dem Boston-Mann ausdrücklich verboten hatte, ihr zu folgen. Einer der Männer wäre jetzt wahrscheinlich ihre Rettung gewesen, aber die hielten sich natürlich an ihre Befehle. Ngoon betrachtete das gefesselte Mädchen ausdruckslos. Nur in seinen Augen loderte es. Haß auf die Frevlerin schwelte darin, ein unbändiger, maßloser Haß. Sein Gesicht verriet jedoch nichts von den Gefühlen, die ihn beherrschten, sobald er sekundenlang die Augen schloß. Und dann sah Siri-Tong etwas, das sie mit panischem Entsetzen erfüllte. Der andere Mann, Indio oder Indianer, hielt einen langen Stock in der rechten Hand, und von diesem Stock, der an seinem oberen Ende eine Gabelung aufwies, ringelte sich eine
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große, fast zwei Yards lange, helle Schlange, die sich immer wieder um den Stock wand, abglitt und halb zur Erde abrutschte. Die -Schlange sah nicht gefährlich aus, aber diese Gattung kannte die Rote Korsarin. Der Biß dieser Schlange, die man sehr leicht reizen konnte, war tödlich. Sie hatte auf einer der Inseln einmal einen Mann der Besatzung verloren, dem niemand mehr helfen konnte, als ihn die weiße Schlange gebissen hatte. Zuerst war er stundenlang gelähmt gewesen, dann folgte ein Erstickungsanfall dem anderen, bis der Mann unter fürchterlichen Qualen endlich gestorben war. Und genau dieses Biest brachte der Kerl jetzt an. Er hielt den Stock weit von sich, um mit der Schlange nicht in Kontakt zu geraten, aber durch seine ständigen Bewegungen war die Schlange bis zum Äußersten gereizt und pendelte immer wilder hin und her. Dann schleuderte er sie mit einer weit ausholenden Bewegung in den Sand, genau vor die Rote Korsarin hin, die angstvoll zurückschreckte. Die Bewegung reizte das weiße Biest nur noch mehr. Zischend glitt sie auf ihr Opfer zu. Siri-Tong sah. überdeutlich die großen Giftzähne. Das wütende Reptil sperrte den Rachen auf und schlängelte sich auf sie zu. Der fanatische Indio nahm den gegabelten Stock, stieß die Schlange damit an und trieb sie in Siri-Tongs Richtung. Die Rote Korsarin schloß mit ihrem Leben ab. Von wem sollte sie jetzt noch Hilfe erwarten, nachdem sie sie untersagt hatte? Mit den gefesselten Füßen schleuderte sie der näherkriechenden Giftschlange weißen Sand entgegen, weißen Sand, der mit Diamanten durchsetzt war. Es erschien ihr wie ein Hohn. Und die beiden Wächter sahen zu. Ihre Gesichter waren unbewegt. Für sie war nur maßgeblich, daß für die Frevlerin bald ein grauenhaftes Sterben seinen Anfang nehmen würde. Alles andere schien sie nicht zu interessieren. 4.
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Von den Vorgängen hatten die Männer auf dem Zweimaster keine Ahnung. Außerdem waren sie jetzt abgelenkt, denn Siri-Tong war in den Bergen verschwunden und nicht mehr zu sehen. Dafür gab es Abwechslung, und zwar eine von jener Sorte, die die Männer liebten. Das war mal etwas ganz anderes, als ständig dieses schwarze Totenschiff anstarren zu müssen. In die Bucht lief eine kleine Schaluppe ein, die der Boston-Mann schon eine ganze Weile mit den Augen verfolgt hatte. Auf dieser Schaluppe befanden sich nur fünf Männer. Einer stach allerdings ganz besonders unter diesen Männern hervor. Er stand am Bug der Schaluppe, ein mächtiger, bärtiger Mann, ein wahrer Riese von Gestalt. Er wirkte verwegen und kühn, und von ihm ging eine eigenartige Faszination aus, die sich mit Worten nicht beschreiben ließ. Ein eisgrauer Bart umrahmte sein gebräuntes Gesicht. Helle Augen blickten forschend und wissend umher. Auf seinem Schädel saß wie festgeklebt ein Helm, auf dem sich die Strahlen der Sonne tausendfach widerspiegelten. Seine mächtigen Oberarme waren entblößt, über seinem herkulisch gebauten Körper spannte sich eine Weste aus Fellen, wie sie in dieser Gegend niemand trug. Aber auch seine andere Kleidung, ein schürzenartiger Umhang, hatte einen Fellbesatz an der Hüfte, ebenso seine Stiefel, auch sie waren aus Fell und mit Lederriemen schräg gegurtet. Der Boston-Mann stieß zischend die Luft aus, als er diesen Mann sah. Er kannte ihn, einmal hatte er ihn gesehen, es war ein Nordmann, der in einer eigentümlichen Sprache redete, die sich anhörte wie das Grollen des Meeres, wenn der Wind es peitscht. Aber er beherrschte auch andere Sprachen. Es war ein seltsamer Mann, von vielen längst totgeglaubt, und der BostonMann glaube noch heute sein homerisch brüllendes Gelächter zu hören, seit er irr einmal begegnet war. Dieses Gelächter hatte ihn in seinen Träumen verfolgt, seit
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er gehört hatte, daß der Nordmann bei einem Kampf in der Windward-Passage mit seinem Schiff, der „Thor", in die Luft geflogen war. Regungslos sah der Boston-Mann zu, wie die kleine Schaluppe in die Bucht einlief und genau auf sie zuhielt. Nicht einmal Juan kannte den Nordmann, daher war seine Verwunderung nicht erstaunlich. Er stieß dem Boston-Mann den Ellenbogen in die Rippen. „Wer ist das? Was will dieser Kerl hier? Hast du ihn schon einmal gesehen?" „Natürlich, er ist ein Nachfahre der Wikinger, einer jener Leute, die ganz oben im Norden hausen." „Wo die Welt zu Ende ist?" fragte der Bootsmann. „Dort, wo es nicht mehr weiter geht. Ich rate dir, freundlich zu bleiben, auch wenn er seltsam erscheinen mag. Madame kennt und schätzt ihn seit vielen Jahren, er ist ein väterlicher Freund von ihr. Sein Name ist Thorfin Njal, man nennt ihn den Wikinger, und er stammt aus dem Land der geheimnisvollen Nebel, die das Ende der Welt anzeigen." Das ging dem Bootsmann hart an die Knochen. Fast scheu blickte er zu der Schaluppe, die sich nun anschickte, bei ihnen längsseits zu gehen, um festzumachen. Der Wikinger stand immer noch reglos am Bug. Sein Helm glänzte in der Sonne, sein eisgrauer Bart wurde vom Wind bewegt. Unverrückbar fest stand er dort vorn, und er scheute auch den Blick auf den schwarzen Segler nicht, wie Juan entsetzt feststellte. Im Gegenteil, dieser in tierische Felle gekleidete Mann betrachtete das schwarze Totenschiff mit fast liebevollen, zärtlichen Blicken. „Bist du nicht der Boston-Mann?" dröhnte seine hallende Stimme herüber. „Ich freue mich, dich zu sehen, Boston-Mann! Seid ihr schon lange hier? Habt ihr gewartet?" „Ich bin der Boston-Mann", antwortete er ruhig. „Und wir warten hier seit fast zwei Stunden. Sei gegrüßt, Thorfin Njal!" Der Wikinger stieß sein dröhnendes Lachen aus, das machtvoll die Luft
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erfüllte. Sein mächtiger Brustkorb wurde dabei von heftigen Stößen geschüttelt, als amüsiere ihn etwas kolossal. „Na?" dröhnte er herüber. „Und wo ist meine kleine Siri-Tong, das strahlende Licht der Karibik! Weshalb kommt sie nicht an Deck, um einen alten Freund zu begrüßen, he? Ich vermisse sie, ich bin froh, daß sie meine Botschaft erhalten hat." Zwei Leinen wurden herübergeworfen, die eine fing der Boston-Mann auf und legte sie um den Poller, den anderen schnappte sich Juan, der Bootsmann, der sich ebenfalls der Faszination dieses großen, fremden Mannes nicht entziehen konnte. Diese mächtige, tiefe und satte Stimme mit dem heiseren Unterton fesselte ihn. Unverwandt sah er den Riesen an, der wie ein Wesen aus einer anderen Welt wirkte. In aller Selbstverständlichkeit stieg Thorfin Njal zu ihnen herüber, klopfte dem BostonMann herzlich auf die Schulter, schob ihn etwas von sich, um ihn besser betrachten zu können und schlug-ihm dann mit sei nen mächtigen Pranken von der Seite her auf beide Schultern. „Ich habe noch keine Antwort erhalten, mein Freund", sagte der Riese, und wieder wurden seine Worte von einem machtvollen Lachen begleitet. „Wo ist sie denn, die liebliche Blume des weiten Ostens, der kleine schwarzhaarige Teufel?" Der Boston-Mann stand reglos da, ab und zu geschüttelt von den Pranken des mächtigen Mannes. Auch die anderen bestaunten den seltsamen Gast und seine Besatzungsmitglieder. „Sie ist in die Berge aufgestiegen", sagte der Boston-Mann endlich. „Wir konnten sie nicht davon abhalten." „Allein etwa?" Diese beiden Worte drangen dumpf und grollend aus der Brust des nordischen Riesen, und sie enthielten einen Vorwurf, unter dem sich alles an Bord des Zweimasters duckte. „Allein, Thorfin Njal. Du kennst sie ja. Was sie sich in ihr Köpfchen gesetzt hat, das führt sie auch durch. Zuerst suchte sie den Strand ab, danach stieg sie zum Auge
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der Götter empor, um nachzusehen, ob die Wächter noch leben." „Natürlich leben sie noch", grollte der Wikinger. „Aber weiß sie denn nicht, in welche Gefahr sie sich begeben hat? Man sollte ihren Babyhintern windelweich klopfen. Ho, vielleicht werde ich das nachholen, bei Odin! Allein zum Auge der Götter! Dieses Mädchen scheint verrückt zu sein:" Dem Boston-Mann und auch den anderen schien es, als bestünde zwischen Siri-Tong und dem mächtigen Wikinger ein ganz besonders herzliches Verhältnis, sonst hätte sich dieser in Felle gekleidete Riese niemals so stark engagiert. Und was kaum einer wußte: Thorfin Njal hatte auf Little .Cayman schon seit langer Zeit sein Domizil aufgeschlagen. Er kannte auf dieser Insel jeden Stein, jedes Versteck, und er war auch hinreichend über die tödliche Falle unterrichtet, die es hier schon lange gab. Eine Falle, die selbst ihm, der doch wirklich allerlei gewohnt war, Furcht einflößte. „Ich werde ihr folgen", sagte er, „sonst ist dieses törichte Mädchen verloren." „Aber Madame hat es streng verboten", erwiderte der Boston-Mann. „Pah! Was scheren mich Verbote!" sagte Thorfin grimmig. „Verbote sind dazu da, daß man sie umgeht, mein Freund. Oder hast du das nicht gewußt?" Angesichts dieser alles überragenden Persönlichkeit des Wikingers fand nicht einmal mehr der BostonMann die passenden Worte. Er nickte nur, grinste schwach und zog die Schultern hoch. „Du mußt es ja wissen, Thorfin", sagte er lahm. „Es wird Ärger geben." „Höchstens mit Siri-Tong", versicherte der Wikinger. „Aber ich hoffe, sie steht unter Odins Schutz." Der Boston-Mann schüttelte den Kopf. „Ich sagte schon, sie' ging allein hinauf, niemand war bei ihr." „Ho, du kennst Odin nicht, mein Freund. Du meinst, er sei ein gewöhnlicher Sterblicher, was? Laß dir sagen, daß er auf einem achtbeinigen Roß reitet, begleitet von den beiden Wölfen Qeri und Freki,
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ebenso von den beiden pechschwarzen Raben Hugin und Munin, deren scharfen Blicken nichts entgeht." Das war selbst für den Boston-Mann zuviel. Was faselte dieser Riese da von einem schnellen Roß, Wölfen und Raben. Hilflos zuckte er mit den Schultern und sah den Bootsmann an, dessen Gesicht in Falten lag, und der ebenfalls über diesen seltsamen Gast nachdachte. Nein, hier gab es keine achtbeinigen Rösser und auch keine Raben. Er jedenfalls hatte, nichts dergleichen gesehen. „Los, Männer!" forderte der Riese die vier Kerle in der Schaluppe auf. „Wir brechen sofort auf. Ich weiß, was dem Mädchen passiert, wenn es den Wächtern in die Hände fällt. Gebt mir mein Messer." Als der Boston-Mann das „Messer" sah, konnte er wieder nur in stiller Verwunderung den Kopf schütteln. Jeder andere hätte das Messer als Schwert bezeichnet, so groß war es. Der Riese aber trug es wie ein Spielzeug an seiner Hüfte. Er nahm seinen schweren, in der Sonne glitzernden Helm ab, kratzte sich ausgiebig die rötlichen Haare, die von hellen Silberstreifen durchzogen waren, und stülpte sich den glänzenden Helm wieder über den Schädel. Drei seiner Männer sahen so ähnlich aus wie er, aber sie waren kleiner und sprachen nicht mit dröhnenden Baßstimmen. Ihre Schwerter klirrten leise, als sie sich anschickten, über Deck zu gehen. „Wir haben das Beiboot..." sagte der Boston-Mann gerade, aber der Wikinger winkte ab. Sein Bart klaffte auseinander, als er grinste. „Wir brauchen kein Beiboot, BostonMann." Mit einem Satz flankte er über Bord, stand im Wasser, das ihm bis zur Hüfte reichte und watete weiter, gefolgt von den ebenfalls in rußgeschwärzte Felle gekleideten Gestalten. Ein Stück Vergangenheit schien lebendig geworden zu sein, als die mit Helmen und Schwertern ausgerüsteten Männer etwas später im Sand der Bucht standen. Von
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ihren Fellen tropfte das Wasser, die Hitze schien sie nicht im mindesten zu stören. Thorfin Njal kannte sich hier aus. Er kannte jeden Winkel, jedes Versteck dieser Insel - und er war der einzige, den die Wächter, die den See bewachten, akzeptierten. Lange blieb er am Strand stehen und starrte den schwarzen Segler an. Die Muscheln, die er an seinem Rumpf im Laufe der Jahre angesetzt hatte, waren verschwunden, ebenso ein paar Löcher in der Bordwand. Nur an Deck sah es immer noch so aus wie früher, als ein Brand einen Teil des Achterkastells gefressen hatte. Hinter seinem Rücken räusperte sich einer der Männer ungeduldig. „Bei Odin, wir sollten endlich aufentern, Thorfin, sonst kommen wir noch zu spät." Wortlos stapfte der mächtige Wikinger weiter. Natürlich, sie mußten sich beeilen. Wer wußte, was dieses kleine Luder in der Zwischenzeit alles angestellt hatte. Na, der Kleinen würde er eine gehörige Strafpredigt halten, schwor der Riese. Die Männer nahmen einen anderen Weg als Siri-Tong, einen halsbrecherischen Pfad, auf dem man sie allerdings nicht beobachten konnte. Auch hier fanden sich immer wieder Totenschädel, ausgebleichte Knochen und ab und zu ein ganzes Gerippe. Thorfin schenkte den Gebeinen längst Verblichener keinen Blick. Das alles waren karibische Piraten gewesen, die es nicht anders verdient hatten. Ihre Knochen würden noch jahrelang hier liegen, denn es gab niemanden, der ein Interesse hatte, sie wegzuräumen. Immer weiter ging es bergauf, bis der Wikinger stehenblieb und mit der Hand den anderen ein Zeichen gab. Sie verhielten sich ebenfalls still und griffen nach ihren Schwertern, damit die Waffen bei einer Bewegung nicht klirrten und sie vorzeitig verrieten. „Hier entlang", raunte er, „da ist ein Riß im Felsen, durch den wir uns hindurchzwängen können. Da sieht uns auch niemand."
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Der Riß befand sich in unmittelbarer Nähe der steinernen Figur, deren Augen den See bewachten.' Als der Wikinger sich durch den Spalt zwängte, blickte er auf den weißen Sand, an dem sich keine Welle brach. Still, wie geschmolzenes Blei, nur von tiefblauer Farbe, lag der See vor ihm. Und weiter rechts befand sich die tödliche Falle, die die Wächter geschickt angelegt hatten. Den eisenharten Riesen überlief ein kühler Schauer, wenn er daran dachte, daß die Wächter die Falle eines Tages benutzen könnten. Was dann passierte, daran mochte er nicht denken. Kaum war er durch den Spalt durch, da sah er die beiden Wächter. Er bedeutete seinen Männern, stehenzubleiben, und ging noch einen Schritt weiter vor. Einer der Wächter stieß mit einem langen Stock immer wieder nach einem Gegenstand hinter einem kleinen Gebüsch. Und dabei palaverten alle beide aufgeregt. Der nächste Schritt, den der Wikinger tat, klärte ihn über alles auf. Er erschrak, als er die Schlange sah und vor ihr das gefesselte Mädchen, das sich am Boden wand und jeden Augenblick damit rechnen mußte, von dem Reptil gebissen zu werden. „Kommt schnell!" rief er leise. Er selbst stürmte vor, daß der Boden unter seinen Tritten erzitterte. Die Konsequenzen die sich aus seiner Handlung ergaben, berührten ihn in diesem Augenblick nicht. Siri-Tong war in Gefahr, und sie würde einen sehr qualvollen Tod sterben, wenn die Schlange zubiß. Und das konnte in jeder Sekunde der Fall sein. Er sah nicht die völlig überraschten und erstarrten Gesichter der beiden Wächter, die ihn fassungslos anstarrten. Er sah nur die große weiße Schlange im Sand. Mit einem Knurren, das tief aus seiner mächtigen Brust drang, griff er zu. Ihm blieb nicht einmal mehr die Zeit, sein Schwert zu ziehen. Die Schlange fuhr herum und wollte nach dem Wikinger beißen, dessen Hände blitzschnell zurückzuckten und dann wieder vorstießen. Er erwischte das Reptil
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dicht hinter dem kantigen Schädel und hob es hoch über seinen Kopf. Die Schlange versuchte, sich um seinen Arm zu winden, doch der Riese war schneller. Er schlug mit der freien Hand zu, wirbelte die weiße Schlange dann durch die Luft und warf sie in einem weiten Bogen in den See. Seine Männer brauchten nicht mehr einzugreifen, es war alles viel zu schnell gegangen, und so standen sie nur stumm da, die Wächter im Auge behaltend, die anscheinend noch gar nicht begriffen, was hier geschah. Aufklatschend verschwand das Reptil, stieß aber gleich wieder an die Oberfläche und bewegte sich in zuckenden Windungen über das Wasser - dem jenseitigen Ufer zu. Ein Hieb mit dem Schwert, und Siri-Tongs gefesselte Hände waren frei. Der zweite Hieb fetzte ihre Beinfesseln auseinander. Dabei sprach Thorfin Njal kein Wort. Nur sein Gesicht war wild entschlossen und hart. Er packte die Rote Korsarin wie ein Kind auf seine mächtigen Schultern und stapfte davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Danach verschwand er mit seiner Last durch den Spalt, durch den sie gekommen waren. Die Wächter, unfähig sich zu rühren, starrten dem Wikinger und seinen Männern nach. Erst dann begriffen sie es Ungeheuerliches war hier eben vor ihren Augen geschehen. Aber sie rührten sich immer noch nicht. Sie bewegten sich erst, als der Riese längst verschwunden war. Thorfin stellte seine leichte Last etwas entfernt von den Felsen auf den Boden. „Kannst du allein laufen?" fragte er barsch. „Ja, natürlich. Oh, wenn du nicht eingegriffen..." „Spar dir deine Worte", unterbrach er sie grob. Er faßte ihr Handgelenk und zog sie mit sich fort. Seine vier Männer gingen neben ihm her und warfen immer wieder besorgte Blicke nach oben, doch da rührte sich nichts. „Ihr könnt jetzt vorgehen, wir folgen gleich nach", sagte der Wikinger. „Los, beeilt euch!"
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Während die anderen Männer weitergingen, blieb der Wikinger stehen, die Rote Korsarin immer noch am Handgelenk haltend. Er sprach solange kein Wort, bis die anderen außer Sicht waren. Siri-Tong sah ihn erwartungsvoll an. „Auf was wartest du, Thorfin?" fragte sie schließlich. „Du hast mir das Leben gerettet. Ohne dich.. ." Zwei mächtige starke Arme unterbrachen ihren Redefluß. Thorfin Njal hob sie hoch, leicht wie eine Feder. Nur in seinem Gesicht wetterleuchtete es, als ihr Blick seine Augen traf. „He, was soll das, Thorfin?" schrie sie plötzlich und riß entsetzt die Augen auf. „Das wirst du gleich sehen!" Er schlug mit der flachen Hand kräftig und ausdauernd mehrmals auf ihre hübsche runde Kehrseite. Dabei hatte er die Rote Korsarin über sein linkes Knie gelegt. Sie fluchte, schrie und versuchte, sich zu wehren, doch den riesigen Wikinger rührte das alles nicht. Der Zorn über diesen bodenlosen Leichtsinn fraß in ihm, dann die Angst, daß sie beinahe gestorben wäre, und das alles mußte er erst einmal abreagieren. Ihr Protest nutzte nichts. Der Wikinger klopfte weiter. Dann stellte er sie wieder auf die Beine. „So, das mußte sein", brummte er, „bei Odin, diese Tracht war schon lange einmal fällig." „Bist du wahnsinnig, Thorfin? Mich zu verprügeln?" Sie griff nach seinem Bart und wollte daran zerren. Aber Thorfin hielt ihre Handgelenke fest und lachte dröhnend. „Jetzt fühle ich mich wohler, Mädchen", sagte er lachend. „Du hast es verdient, verdammt! Mir solchen Kummer zu bereiten. Beinahe hätte dich die Schlange gebissen. Aber du mußtest ja auch allein zum Auge der Götter aufsteigen, du Wildkatze." Er gab der verblüfften Korsarin einen Kuß auf die Stirn und zog sie mit sich fort. Siri-Tong ging beschämt neben ihm her. Jawohl, sie hatte diese Tracht Prügel
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verdient, dachte sie, aber zwei oder drei Klapse hätten schließlich genügt. Aber nein, dieser sture Wikinger mußte sie buchstäblich versohlen. Ihr Hinterteil brannte wie Feuer, ihr Gesicht hatte hektische rote Flecken. „Wenn das meine Leute gesehen hätten", sagte sie leise. „Die hätten sich doch…" „Weshalb, glaubst du wohl, habe ich die anderen Kerle weggeschickt! Bei so einer Angelegenheit braucht man keine dämlichen Zuschauer, Mädchen. Jedenfalls danke ich dir, daß du gekommen bist", sagte er übergangslos im selben Atemzug. „Ja; ich erhielt deine Botschaft auf Tortuga und bin sofort hierher gesegelt. gelt. Was gibt es, brauchst du meine Hilfe?" „Ja", erwiderte er schlicht. „Es handelt sich um den schwarzen Segler. Er läßt mir einfach keine Ruhe mehr. Paß auf!" Er hielt sie gerade noch zurück, sonst wäre sie in eine der tückischen Felsspalten gestürzt, die man erst dann sah, wenn es bereits zu spät war. „Danke. Ich habe gesehen, daß jemand die Muscheln-am Rumpf abgekratzt hat. Willst du das Schiff El Diabolos wieder klarieren? Du weißt, es ist ein Totenschiff. An Bord liegen immer noch die Gebeine der Männer." „Ich weiß, aber ich habe es mir in den Kopf gesetzt. Es ist ein gutes Schiff, aus allerhärtestem Holz, und es wird länger halten, als ich lebe. Aber ich schaffe es nicht allein, ich habe nur vier Männer und keine Ausrüstung. Und mit der kleinen Kiste da", er wies verächtlich auf die Schaluppe, „kann ich keine Kaperfahrten unternehmen. Deshalb brauche ich das große Schiff." „Du hast meine Hilfe, ich tue alles, was du willst, Thorfin." Während sie sich unterhielten, stiegen sie weiter nach unten, bis sie auf die anderen vier Männer stießen, die bereits den Strand erreicht hatten und nun warteten. Thorfin warf einen langen Blick zurück zum Auge der Götter. „Es wird Ärger geben, Siri-Tong", sagte er ernst. „Ich fühle es. Du kennst diese beiden letzten Wächter nicht. Die werden vom
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Haß gefressen, sowie ein anderes Schiff Little Cayman anläuft. Und ganz schlimm wird es, wenn sie in der Schildkrötenbucht eins entdecken. Seit dem Überfall vor einem halben Jahr sind sie kaum noch ansprechbar. Sie haben sich in ihren Kult hineingesteigert, daß es direkt beängstigend ist." „Und ich habe das alles versaut'`, murmelte sie leise. „Weil mich die Neugier gepackt hatte und ich sehen wollte, was da oben los war. Kannst du mir das verzeihen, Thorfin?" Sie ist wie ein kleines Mädchen, überlegte der Riese, das etwas angestellt hat, ohne die Folgen zu überdenken. Zerknirscht, reumütig und kleinlaut lief sie neben ihm her. Ab und zu faßte ihre kleine Hand nach der mächtigen Pranke und drückte sie dankbar. Den hartgesottenen Mann übermannte die Rührung, und um dieses Gefühl nicht zeigen zu müssen, wurde er grob wie Segelleinen. „Bei Odin und seinen Wölfen", polterte er los. „Ist das jetzt endlich vergessen, oder fängst du schon wieder damit an, was? Ho, das liegt doch schon Ewigkeiten zurück. Vergessen wir es endgültig." Er wich einer riesengroßen Schildkröte aus, die sich stur und beharrlich ihren Weg durch den warmen Sand bahnte und die Menschen überhaupt nicht beachtete. Überall gab es Schildkröten, riesige, alte Tiere. Daher hatte die Bucht auf Little Cayman auch ihren Namen. Thorfin deutete nach rechts, als sie am Strand standen. „Willst du ihn dir noch einmal ansehen?" fragte er. Dabei deutete seine ausgestreckte Hand auf das schwarze Schiff. „Ich habe keine Angst, Thorfin, wenn du das meinst. Außerdem war ich schon einmal an Deck des Schiffes. Hast du es schon ganz erforscht?" „Ich glaube, man wird es nie ganz erforschen können", sagte der Wikinger. „Es hat raffinierte Verstecke,, die man nicht entdeckt, selbst wenn man das Schiff auf den Kopf stellt. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus, aber ich habe mich
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erst in letzter Zeit damit ernsthaft beschäftigt, den Segler zu überholen. Nur ich habe kein Gold mehr, um die Ausrüstungen beschaffen zu können. Ein Hohn, ich weiß es. Ich könnte hinaufgehen und mir Diamanten holen, soviel ich nur wollte. Aber ich tue es nicht, irgendwie fürchte ich mich vor dem Zeug." „Genau so erging es mir", sagte sie. „Aber Gold ist kein Problem, ich habe genügend und gebe dir soviel, wie du benötigst. Und meine Leute werden dir helfen." Siri-Tong musterte den Segler, während sie sprach. Das unheimliche Schiff schien zu leben. Über dem schwarzen Deck waberte der Sonnenglast, bleichte die Gerippe immer mehr aus und ließ die Kleidung der Toten morsch und brüchig werden. Überhaupt gab es genug Leichen auf der Insel. Die ersten, die sie entdeckt hatten, waren El Diabolo und seine Leute gewesen. Bis heute hatte niemand eine glaubwürdige Erklärung für den Vorfall gefunden. El Diabolo, die heimtückischste Bestie der Kariben, hockte noch heute in seiner Höhle, nicht weit von dem schwarzen Segler entfernt. Er und seine in schwarzes Tuch gekleideten Spießgesellen hatte der Tod von einer Minute zur anderen überrascht, und niemand wußte, weshalb das so war. Bei einer Orgie, die sie mit Weibern in den Höhlen gefeiert hatten, war der Tod erschienen. Noch heute hockten sie im Kreis um ein erloschenes Feuer. El Diabolo hielt in seinen längst skelettierten Händen noch immer den goldenen Pokal, aus dem er getrunken hatte. Neben ihm lagen die verwesten und teilweise skelettierten Frauen, daneben seine bärtigen Gesellen. Die anderen hatte der Tod auf dem schwarzen Schiff genauso geheimnisvoll überrascht. In der Stellung, in der sie gestorben waren, lagen sie an Deck herum, vier Gerippe. Selbst der Wikinger, der die Insel in- und auswendig kannte, vermied es, die Höhle aufzusuchen. Immer wenn er an ihr vorbeiging, überfiel ihn eine unerklärliche
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Scheu, und er hatte jedesmal das Gefühl, als würde El Diabolo mit Geschrei und Gebrüll aus der Höhle herausstürmen, er und seine schwarzen Gesellen. „Ich fühle, daß der schwarze Segler noch mehr Geheimnisse birgt", unterbrach die Rote Korsarin das Schweigen. „Dieses Schiff zieht jeden magisch in seinen Bann, der es auch nur ansieht. Es muß eine sehr bewegte Vergangenheit haben." „Ja, das denke ich auch", sagte der Wikinger und zog unbehaglich den Kopf zwischen die Schultern. Jetzt war er auf einmal gar nicht mehr so versessen darauf, den Segler zu klarieren. Aber das würde sich gleich wieder ändern, das wußte er. Vielleicht schwebte über dem Totenschiff im Augenblick auch nur der Geist El Diabolos und verpestete die Luft, dachte Thorfin. „Gehen wir an Bord zurück", sagte er schließlich. „Ich habe mächtigen Hunger und Durst natürlich auch." Zusammen bestiegen sie das Beiboot, das der Boston-Mann ans Ufer gepullt hatte, und fuhren zurück. 5. Es war überflüssig, daß Dan aus dem Großmars lauthals verkündete, die Insel Little Cayman wäre in Sicht. Jeder sah den schmalen Streifen am Horizont, hinter dem sich der steil ansteigende Berg befand. „Brüll nicht so, du Seesack!" schrie der Profos mit Donnerstimme zum Großmars hinauf. „Bis du die Insel gesehen hast, haben wir schon dreimal dort an Land geschissen." „Hoho!" schrie Dan zurück. „Hört euch den an! Der sieht ja nur soweit, wie seine Gedanken reichen. Bis zum Kombüsenschott!" brüllte er hinterher. Die Männer lachten. Daß sie sich gegenseitig anpflaumten, gehörte zur Tagesordnung. Blieb das einmal aus, dann war es meist ein Zeichen für miese Stimmung an Bord. So aber waren alle guter Laune, selbst Will Thorne, der dem Affen Arwenack die Segelnadel wieder
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listenreich abjagte, indem er ihn mit einer leeren, zusammengeklebten Kokosnuß köderte. Der Affe schrie und zeterte, als er den Betrug merkte. Und die Quittung dafür erhielt Will Thorne schon ein paar Minuten später, als der erboste Arwenack ihm die eine Hälfte, der Nuß zielsicher an den Schädel warf. Aber Will Thorne hatte seine Nadel wieder, und das allein zählte für ihn. Die Männer standen an Deck und sahen zu der Insel hinüber, die rasch größer wurde. Die Bucht war von hier aus nicht zu erkennen, sie lag versteckt hinter der südwestlichen Seite. Jeder von ihnen fieberte unbewußt dem Anblick des schwarzen Totenschiffes entgegen, obwohl sie es am liebsten in die finsterste Ecke der Hölle gewünscht hätten. Hasard ließ das Großsegel aufgeien, um nicht mit zuviel Fahrt in die Bucht einzulaufen, gleich darauf fiel auch das Lateinersegel am Besanmast. Es war Mittagszeit. Vom Himmel brannte die Sonne, nur eine leichte Brise milderte die Hitze etwas. In der Bucht würde es anders werden, da brannte die Sonne auf die Felsen und warf die Hitze hundertfach zurück. „Hier sind wir schon lange nicht mehr gewesen", stellte Ben Brighton fest. „Ewigkeiten ist es her. Ich bin nur gespannt, ob die Rote Korsarin wirklich hier ist." „Ich denke schon", erwiderte der Seewolf. „Nur wüßte ich nicht, wie ihr hier Gefahr drohen sollte. Jetzt, da wir fast an der Insel sind, glaube ich nicht mehr an die Worte des alten Jonas. Und noch gestern konnte ich nicht schnell genug segeln. Wahrscheinlich ist das eine Augenblicksstimmung, der man von Zeit zu Zeit unterworfen ist." „Merkwürdig, aber mir geht es fast genauso. Die Geschichte mit dem Jonas erscheint mir, als läge sie Jahre zurück, und dabei ist es erst ein paar Tage her." Die „Isabella" schor hart nach Backbord, als die Felsen immer höher aus dem dunklen Wasser emporwuchsen. Sie umsegelte diesen Teil der Insel, hinter dem sich die Bucht öffnete.
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Kaum hatten sie die vorspringenden Felsen umrundet, als der Seewolf auch schon den Zweimaster der Roten Korsarin entdeckte. Hasard fühlte sich plötzlich erleichtert. Selbst wenn die Reise nach Little Cayman umsonst gewesen sein sollte, so hatte sich der Abstecher zu der Insel trotzdem gelohnt. Er brachte Abwechslung in das Bordleben. Die blutroten Segel des Zweimasters hingen im Gei. „Na also", hörte er Ferris Tucker sagen, „da ist sie ja, die Kleine mit den Mandelaugen. Sieht aber alles friedlich aus, ich wüßte nicht, was da passiert sein sollte. Was ist denn das für ein alter Kahn neben ihr?" Hasard hatte die Schaluppe natürlich auch gesehen. Aber er hatte keine Vorstellung, wem sie gehören mochte. Es wunderte ihn zwar, daß sich in der Schildkrötenbucht noch ein anderes Schiff befand, aber weshalb sollte nicht auch ein anderes Schiff diese Insel anlaufen! Dann geriet der schwarze Segler in ihr Blickfeld. Die Rufe der Begeisterung verstummten schlagartig, als das unheimliche Schiff auftauchte. Hasards Augen verengten sich unwillkürlich. „Ich habe ihn ganz anders in Erinnerung", sagte er. „Damals, als wir hier waren, lag er doch viel weiter im Wasser. Jetzt hat man ihn halb auf den Sand gezogen. Gib mir mal den Kieker, Ben!" Der Bootsmann reichte ihm das Spektiv. Er zuckte unwillkürlich zusammen, als er Hasards Worte hörte. „Das Gerippe liegt immer noch an Bord, genau an derselben Stelle wie damals. Und dennoch ist an diesem Schiff etwas anders, es sieht aus, als hätte jemand daran gearbeitet." Das Gerippe war gut zu erkennen. Jetzt sah man es schon mit bloßem Auge. Die anderen Toten lagen wahrscheinlich hinter dem Schanzkleid, von der „Isabella" aus konnte man sie nicht sehen. Hasard entsann sich der vielen vertrockneten Muscheln, die bis an die Wasserlinie gereicht und den Rumpf des schwarzen Schiffes in der ganzen Länge
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bedeckt hatten. Jetzt waren sie sauber abgekratzt worden. „Legen wir neben der Karavelle an?" fragte Ben Brighton den Seewolf. Hasard antwortete nicht sofort, gedankenversunken starrte er den schwarzen Segler an. „Wie? Ja, natürlich, dort können wir vorerst anlegen." Auf dem Zweimaster der Roten Korsarin standen Männer an Deck, die begeistert winkten. Einer hatte sich sein rotes Tuch vom Schädel gerissen und ließ es durch die Luft kreisen. „Der Boston-Mann", stellte Hasard fest. „Und da - jetzt erscheint auch die Rote Korsarin." Er freute sich ehrlich, denn sie hatten sich lange nicht gesehen, seit sie ins Mittelmeer gesegelt waren. Nur auf der Schaluppe zeigte sich niemand. Vereinsamt lag sie neben der Karavelle. „Ob Siri-Tong das Ding aufgegabelt hat?" fragte Ben. Er winkte mit beiden Händen zurück, als auch Siri-Tong die Arme hob. „Was sollte sie damit? Die Schaluppe ist nicht viel wert. Die taugt bestenfalls als Beiboot", sagte Hasard abfällig. „Vielleicht hat der Wind sie in die Bucht getrieben, und Siri-Tong hat das Schiff untersucht." Pete Ballie steuerte die „Isabella" in einem Bogen nach Backbord, so daß die Galeone fast vierkant an die Karavelle heranlief. Der Anker klatschte ins Wasser, Leinen flogen von Bord zu Bord und wurden belegt. Beide Schiffe trieben leicht herum, dabei wurde die Karavelle der Korsarin ein ganzes Stück mitgezogen, ehe sie schließlich still lag. Die Begrüßung fiel hier lange nicht so herzlich aus, wie es bei Jean Ribault der Fall gewesen war. Das waren alles alte Freunde, von der Crew des roten Zweimasters zählten lediglich Siri-Tong und der Boston-Mann. Die Blicke der Roten Korsarin brannten sich in den Augen des Seewolfs fest,-als sie seinen Händedruck erwiderte. Sie hielt seine Hand einfach fest, bis die
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umstehenden Männer grinsten und: der Boston-Mann sich verlegen räusperte. „Du hast mir gefehlt, Seewolf!" sagte sie heiser. Immer noch war der Blutblick aus ihren Mandelaugen auf Hasards Gesicht gerichtet, und der Seewolf fühlte, wie tausend winzige Ameisen über seinen Rücken liefen. Die Luft knisterte, wenn sich die beiden begegneten. „Ich habe oft an dich gedacht, Korsarin", sagte er lachend und entzog seine Hand vorsichtig der ihren. So, als wäre es ganz selbstverständlich, wich sie nicht mehr von seiner Seite. Immer wieder streifte ihr Blick seine Gestalt, ab und zu, ohne jeden Anlaß, berührte sie leicht seinen Arm. „Wie hast du mich gefunden?" fragte sie. „Oh", erwiderte Hasard grinsend, „das war ganz einfach. Wir haben einfach jedes Meer abgefahren und in jede Bucht gesehen. Da blieb es nicht aus, daß wir euch fanden. Ist alles in Ordnung?" forschte er mit leicht besorgter Stimme. „Was sollte nicht in Ordnung sein", fragte sie verwundert. Wieder brannte sich ihr Blick in seinem Gesicht fest. „Eine ganz normale Frage", sagte Hasard ausweichend. „Und wie hast du mich wirklich gefunden, Hasard?" Der Seewolf blickte in ihr braunes Gesicht, in die nachtschwarzen Mandelaugen, sein Blick wanderte weiter bis zu ihrer Bluse, die wie immer zwei Knöpfe geöffnet war, bis zu ihren Beinen, die in engen blauen Schifferhosen steckten. „Wir haben Jean Ribault getroffen, zufällig, als er hinter einem Spanier her war. Der hat uns erzählt, du seist ganz überraschend nach Little Cayman gesegelt. Den Grund kannte er allerdings nicht. Du hättest in Tortuga eine Botschaft erhalten." „Ja, das stimmt, deshalb bin ich hier. Hat Ribault dich um die Erlaubnis. gebeten, die Schlangen-Insel anzulaufen? Ich wollte es ihm nur mit deinem Einverständnis gestatten, schließlich kenne ich ihn und seine Männer nur flüchtig." „Er ist ein alter Freund von mir, einer, auf den man sich immer und unter allen
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Umständen verlassen kann. Deshalb habe ich meine Zustimmung gegeben. Er will nach der Kaperung des Spaniers hier ebenfalls aufkreuzen." Der Seewolf begrüßte den Boston-Mann und auch die anderen, die ihm alle auf den Pelz rückten. Für sie war der Seewolf schon fast so etwas wie eine Legende und seine Mannschaft' ebenfalls. Ihre Kaperfahrten, ihre Raufereien und ihr übermenschlich anmutender Kampfgeist waren Tatsachen, die sich längst an allen Küsten der Karibik herumgesprochen hatten. Siri-Tong hakte sich bei ihm unter. Die verstehend grinsenden Gesichter der anderen störten sie nicht. „Du hast mir sicher viel zu erzählen, Hasard", sagte sie leise. „Wie ist es dir ergangen in der langen Zeit?" „Das werde ich dir gelegentlich erzählen", versprach der Seewolf. „Vielleicht heute abend bei einer kleinen Feier. Mir selbst brennen ebenfalls viele Fragen auf der Zunge." Er deutete auf die Schaluppe, die neben ihnen lag, und deren Anwesenheit er sich nicht erklären konnte. „Wem gehört der Kahn? Hast du ihn erbeutet?" „Nein, er gehört mir nicht. Und als Beute ist er mir zu gering, ich kann damit nichts anfangen." „Das glaube ich gern, aber..." In diesem Augenblick legte ein Boot im toten Winkel der Karavelle an. Der Wikinger und seine vier Männer hatten Muscheln am Rumpf des schwarzen Seglers abgekratzt und die Galeone erst bemerkt, als sie schon in der Bucht anlegte. Jetzt war Thorfin neugierig geworden, denn er wußte nicht, wem die Galeone gehörte, er kannte die neue „Isabella VIII." noch nicht. Als sein behelmter Schädel an Deck auftauchte, schloß der Seewolf für zwei Sekunden die Augen. Zunächst glaubte er an eine Vision, an ein Spukbild. Dann setzte fast sein Verstand aus, als er den Mann erkannte. Eine Erinnerung schoß ihm durch den Kopf, die
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lange zurücklag, aber noch sehr lebendig war. Hasard starrte den Mann an wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Das gab es doch gar nicht - das konnte ja gar nicht sein! Dieser Mann dort, der vor ihm auf den Decksplanken stand, war doch längst tot! Zerrissen von einer gigantischen Explosion, in der zwei Schiffe gleichzeitig in die Luft geflogen waren. Die riesige „Thor" des Wikingers und eine spanische Galeone, die die „Isabella" damals um ein Haar gerammt und mit sich ins Verderben gerissen hätte. Nur das entschlossene Eingreifen des Wikingers hatte Hasard und seine Seewölfe gerettet. Hasard schüttelte unbewußt den Kopf. Diese schreckliche Explosion konnte der Wikinger nicht überlebt haben! Er nicht und auch kein Mann seiner Besatzung. Denn die Druckwelle hatte sogar die Männer der „Isabella" noch quer über die Decks gefegt und gegen die Schanzkleider oder Geschütze geschmettert. Hasard öffnete die Augen, die er, einem inneren Zwange folgend, geschlossen hatte, während diese Szenen von donnernden Breitseiten, schreienden, sterbenden Menschen, immer wieder aufzuckenden Mündungsfeuern durch seine Erinnerung zogen. Aber der Mann, der vor ihm stand, war kein Trugbild, keine Erscheinung, dieser Mann war der Wikinger, wie er leibte und lebte. An Deck des roten Zweimasters war unheimliche Ruhe eingekehrt. Die Seewölfe, sonst harte und nahezu unverwüstliche Gesellen, durch nichts aus der Fassung zu bringen, schluckten. Einer nach dem anderen bekreuzigte sich. Und auch ihre Gesichter wurden fahl. So standen sie sich schweigend gegenüber. Der Wikinger auf der einen, die Seewölfe auf der anderen Seite. „Der Geist des Wikingers!" flüsterte einer der Seewölfe erschauernd. Es war Luke Morgan, der das sagte und der totenbleich am Schanzkleid lehnte. Im Bruchteil einer Sekunde schoß dem Seewolf alles an Erinnerungen durch den
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Kopf, was ihn jemals mit diesem Mann verbunden hatte. Das erste Mal hatte er Thorfin Njal vor der bretonischen Küste getroffen und ihn aus einer üblen Lage befreit. Die zweite Begegnung fand in der Karibik hier auf Little Cayman statt, wo der Wikinger seinen Schlupfwinkel hatte, und die dritte war sein Untergang in der WindwardPassage. Seither hatte jeder den Wikinger für tot gehalten, denn sie alle hatten selbst mitansehen, wie er untergegangen war, ohne ihm helfen zu können. Doch nach menschlichem Ermessen war es kaum möglich, daß Thorfin noch einmal mit dem Leben davongekommen war. Und doch stand er ihm jetzt gegenüber! Hasard hatte noch nie so verblüfft ausgesehen wie in diesem Augenblick, er vermochte einfach nicht klar zu denken. Dafür handelte der Wikinger, der sich als erster von dem Schreck erholt hatte. Sein mächtiges, dröhnendes Lachen erscholl plötzlich und erfüllte die ganze Insel. Die Brust des Riesen bebte wild und hob sich in einem mächtigen Atemzug. Dann brüllte eine Stimme lös, die sich vor Freude fast überschlug. „Sehe ich dich endlich wieder, du verdammter schwarzhaariger Satansbraten!" schrie der Wikinger. Mit drei riesigen Schritten war er bei dem Seewolf und hieb ihm die Faust auf die Schulter, daß Hasard glaubte, ihm würden alle Knochen im Leib brechen, und das wollte bei einem Mann vom Kaliber des Seewolfs schon viel heißen. Aber dann erwachte er aus seiner Erstarrung. „Bei Gott, du bist kein Geist", sagte er und hieb seinerseits zu, daß der Hüne ins Straucheln geriet. „Du bist es, Thorfin Njal, der verdammte nordische Himmelhund. Odin persönlich muß dich aus den Tiefen der See geholt haben, in der du untergegangen warst. Wie kommt es, daß deine Gebeine nicht längst vermodert sind, alter Freund?" Hasard brauchte wirklich lange, um sich zu erholen. Hier stand ein längst totgeglaubter
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Mann wieder sehr lebendig vor ihm und wollte sich ausschütten vor Lachen, daß ihm die Überraschung so prächtig gelungen war. Die beiden Männer knufften sich in die Seite, packten sich an den Schultern und brüllten sich an. Die Crew der Seewölfe stand schweigend im Hintergrund. Sie alle sahen in dem Wikinger immer noch einen Geist. Nein, er konnte es nicht sein, das gab es nicht. Das war für die raubbeinigen Kerle einfach zu viel, um es begreifen zu können. Tucker donnerte dem Profos den Ellenbogen hart in die Rippen. „Er ist es wirklich, verdammt, er ist es!" brüllte der Schiffszimmermann laut, ging auf den Riesen, zu und packte dessen Hand, als wolle er sie zermatschen. „Ho!" rief der Wikinger und schlug begeistert ein. „Ihr alle starrt mich an, als könntet ihr es nicht glauben. Was, bei Odin, ist da verwunderlich? Ich bin schon verdammt lange auf Little Cayman, aber ihr Höllenhunde habt euch in dieser Ecke der Karibik ja nie mehr blicken lassen." Einer nach dem anderen näherte sich jetzt zögernd dem Wikinger. Klar, er hatte es überlebt damals. Deshalb verstand er nicht, warum die Männer deswegen so ein Geschrei veranstalteten. Er war mit Knochenbrüchen, Blutergüssen, Schnitten und Rissen davongekommen, aber immerhin, er lebte. Sein Blick wanderte über die Gesichter, die ihn anstarrten. „Einer fehlt", sagte er heiser, „nein zwei! Dieser kleine, vorlaute Rotzlümmel fehlt, das Bürschchen. Ho, das Bürschchen habt ihr ihn immer genannt. Er hatte seine große Schnauze immer vorn. Wo ist er geblieben? Ich wollte ihn immer in meine Mannschaft aufnehmen, seine große Schnauze hat mir so gut gefallen." Dan trat vor. Er mußte hart schlucken, denn auch er glaubte immer noch, der Wikinger sei ein Geist, aus den Tiefen des Meeres auferstanden und nun umherwandelnd.
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„Ich bin der Rotzlümmel", sagte er kläglich, „ich war das mit der großen Schnauze." „Du?" Das eine Wort wurde ungläubig gebrüllt, und da merkte Dan zum erstenmal richtig, daß er längst nicht mehr das Bürschchen war, als daß er sich oft noch fühlte. Nein, er war ein Mann geworden, er hatte sich verändert, das hatten auch die anderen schon gesagt, die ihn lange nicht mehr gesehen hatten. Er fiel dem rauben Wikinger einfach um den Hals, schlug ihm bretthart die Faust vor überschäumender Freude in den Magen und hielt die Luft an, als der Wikinger ihn an seine Riesenbrust preßte. „Heute saufen wir einen", verkündete der Wikinger, „das Wiedersehen muß gefeiert werden, da gibt es keine Ausreden. Ho, ich werde ein großes Faß spendieren, und wir saufen uns den Kragen so voll, bis wir nicht mehr stehen können. Alle, wir alle werden einen heben, am Strand ein Feuer entfachen und die Flaschen und Becher kreisen lassen. Was sagst du dazu, du schwarzhaariger Satan?" wandte er sich an Hasard. Das konnte der Seewolf auf keinen Fall abschlagen, und da sie sich in letzter Zeit ohnehin enthaltsam wie die Mönche benommen hatten, und weil ein Toter plötzlich wieder lebendig geworden war, hatten sie natürlich mehrere Gründe. „Mein Wort darauf, Thorfin, aber du mußt uns erzählen, wie es dir gelungen ist, dem Teufel von der Schippe zu springen." „Das hat Zeit, Leute, es ist eine verdammt lange Geschichte und eine unangenehme dazu. Organisieren wir erst das Fest für heute abend. Schickt ein paar Leute zum Fischen hinaus, wir werden unsere Außenbordskameraden braten und dazu den allerfeinsten Branntwein saufen, ein ganzes Faß voll. Seid ihr alle damit einverstanden?" Er drehte sich fragend im Kreis um und sah in grinsende Gesichter. „Hurra!" brüllte Dan. „Ein Hoch auf Thorfin Njal, der von den Toten auferstanden ist! Er soll leben!" „Er soll leben!" schrien rauhe Kehlen.
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Die einzigen, die etwas enttäuscht wirkte, war die Rote Korsarin, die sich den Abend etwas anders vorgestellt hatte. In ihrer Phantasie spielte der sich ganz anders ab, denn sie hatte sich einen Hang zur Romantik bewahrt. Vielleicht wäre Hasard heute abend beim Mondschein in der Bucht mit ihr an den Strand gerudert, sie hätten sich geküßt und... „Fehlt dir was, Mädchen?" erklang die Donnerstimme des Wikingers an ihrem Ohr. „Das wird ein Abend heute, sage ich dir. Ein ganzes, großes Faß. Stell dir das einmal vor!" „Bestimmt wird es schön", sagte sie heiter, um ihre Enttäuschung zu verbergen. Wenigstens konnte sie sich dann neben den Seewolf setzen, denn immer, wenn sie ihn ansah, fühlte sie einen heftigen Stich in der Brust, und eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Drei Männer aus Siri-Tongs Crew, einer der Männer Thorfin Njals und Bob Grey von den Seewölfen zogen los, um Fische zu fangen, die es hier in der stillen Bucht massenweise gab. Ebenso fand sich angeschwemmtes Treibholz in großer Menge, ausreichend für ein Feuer, um drei Tage hintereinander zu brennen. Nachdem sich die Gemüter wieder einigermaßen beruhigt hatten, wurde erzählt, palavert und geredet. Jeder gab seine Abenteuer zum Besten, doch als der Wikinger auf das Auge der Götter zu sprechen kam, wurde der Seewolf ernst. „Erzähle mehr davon, Thorfin. Es gibt nur noch zwei Wächter, sagtest du? Wo sind die anderen?" „Tot, ermordet von einer Piratenmeute, die damals den See ausplündern wollte. Es muß ein fürchterlicher Kampf gewesen sein. Ich erfuhr davon, als ich zurückkehrte und die Leichen überall im Sand liegen sah, auch die der toten Wächter. In der Bucht trieb die Karavelle der Piraten und brannte lichterloh, bis sie absoff: Die Wächter hatten das Schiff in Brand gesteckt. Die restlichen Kerle sind dabei über die Klinge gesprungen. Sie haben furchtbar gehaust."
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„Und keiner hat es überlebt?" fragte Hasard. „Niemand, sie konnten auch nicht mehr von der Insel fliehen, sie hatten ja kein Schiff mehr. Die zwei überlebenden Wächter haben sich einen nach dem anderen vor ihre Pfeile geholt. Sie schossen winzige vergiftete Pfeile aus Blasrohren ab. Ihre Opfer überfielen sie aus dem Hinterhalt, obwohl die Piraten mit Musketen und Pistolen bewaffnet waren. Keiner überlebte es." „Und wie sieht es jetzt da oben aus?" Der Wikinger lachte rauh und stoßweise. „Frag die Kleine da! Sie hat es vor Neugier nicht mehr ausgehalten und mußte mit aller Gewalt zum See aufsteigen. Natürlich haben die Wächter sie gleich geschnappt, gefesselt und wollten sie durch eine Schlange zum Tod befördern." „Wann war das?" „Heute", erklärte der Wikinger trocken, „es ist erst ein paar Stunden her." „Und sie ist entwischt?" „Ich habe sie befreit, aber jetzt werden die Wächter sich natürlich an mir rächen wollen. Ich kann mich in den Felsen nicht mehr blicken lassen, ohne einen Pfeil in den Hals zu riskieren." Thorfin Njal beugte sich vertraulich vor. Sein Bart zitterte, als er weitersprach. „Weißt du, was ich getan habe? Ich habe ihr an Ort und Stelle den Hintern versohlt, dieser kleinen, verdammten Göre. Sie hatte es wirklich verdient." Zuerst glaubte Hasard, sich verhört zu haben, aber als er in das grinsende Gesicht seines Gegenübers blickte, da konnte er nicht anders und mußte lachen. Er lachte, bis seine Augen tränten. Der Wikinger hatte der Roten Korsarin, dieser heißen Wildkatze, den Hintern verhauen. Einfach so! Es war nicht zu fassen. Die anderen nahmen an, daß die beiden Männer sich Witze erzählten, so ausgelassen waren sie. Hasard hatte Bauchweh vor Lachen. Zu gern hätte er dabei das Gesicht der Roten Korsarin gesehen.
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Das war noch so ein Punkt, überlegte er gerade. Thorfin und Siri-Tong schienen sich schon seit Ewigkeiten zu kennen, nur hatte die Korsarin darum immer ein großes Geheimnis aufgebauscht und es bei rätselhaften Andeutungen belassen. Der Seewolf nahm sich vor, den Wikinger danach zu fragen, aber das mußte nicht gleich sein, das hatte Zeit bis morgen. Wesentlich mehr Sorgen bereitete ihm der See. Er sprach Thorfin Njal darauf an. „Am liebsten würde ich noch heute dort hinaufklettern", sagte Hasard. „Ich möchte sehen, was da oben los ist. Wenn man mit den Wächtern reden würde, könnten sie vielleicht ihre Meinung ändern und wenigstens nicht die Männer überfallen, die hier öfter die Bucht anlaufen." Er blickte zur Sonne hoch. Es war jetzt Nachmittag, und man konnte es ohne weiteres bis vor Anbruch der Dunkelheit schaffen. Thorfin Njal schüttelte seinen mächtigen Schädel. Die Sonnenstrahlen trafen seinen Kupferhelm und schleuderten Blitze nach allen Richtungen. „Ich würde dir davon abraten, Hasard. Noch kocht ihr Zorn über den Frevel, und sie würden dich aus dem Hinterhalt umbringen. Damit ist keinem von uns gedient." „Ja, wahrscheinlich hast du recht", gab der Seewolf zu. Das war wirklich ein Punkt, der genau zu überlegen war. Morgen sah vielleicht alles ganz anders aus. „Dann werde ich es morgen, nach Tagesanbruch, versuchen." „Aber nicht allein, du schwarzer Pirat. Ich werde dich begleiten, wir gehen gemeinsam. Vor mir haben diese buntbemalten Burschen Respekt." Siri-Tong trat näher. Ein liebevollzärtlicher Blick traf den Seewolf, der das Lächeln kurz zurückgab. „Ihr wollt morgen zum Auge der Götter?" fragte sie. „Ganz richtig", entgegnete Hasard. „Ich hörte, du bist heute schon einmal dort oben gewesen?" Anscheinend lag doch ein wenig Anzüglichkeit in seiner Stimme, denn ihr
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Gesicht übergoß sich mit purpurner Röte. Ihre Mandelaugen blitzten gefährlich. „Hat dieser unverschämte Kerl dir etwa erzählt, was..." „Was?" fragte Hasard sanft. „Ach nichts", sagte sie schnell, „ich war wohl etwas zu unvorsichtig, als ich diesen Diamanten aufhob." „Das hat Thorfin mir erzählt", sagte Hasard und verkniff sich das Lachen nur mühsam. „Hat er sonst noch was erzählt?" forschte sie voller Mißtrauen. Hasard tat so, als überlege er. „Ich glaube nicht." Die Korsarin überwand sich. Ihre Lippen wurden schmollend. „Dann will ich es dir sagen", zischte sie. „Verprügelt hat er mich, dieser nordische Lümmel, ganz brutal verprügelt. Nach genau dem Muster, wie sie es in ihrer kühlen Heimat immer mit ihren Ehefrauen oder Töchtern tun. Barbaren sind das, richtige Barbaren, die sich an wehrlosen Frauen vergreifen." Hasard blieb ganz ernst. Sein Gesicht war starr, aber das dahinter versteckte Grinsen trat doch deutlich zutage. „Das ist ja ein tolles Ding, eine Gemeinheit sozusagen", sagte er hinterhältig. „Man sieht aber keine blauen Flecken." „Die - die kann man auch gar nicht sehen", stotterte sie verwirrt. „Dann wird es wohl auch nicht so schlimm gewesen sein", sagte der Seewolf und blickte ihr in die Augen. „Nein, keine Schwellungen, nichts. Bist du sicher, daß du das nicht geträumt hast?" Neben ihm hielt der Wikinger sich den Bauch. Aus seinem Mund drangen glucksende Töne, sein gewaltiger Brustkasten bebte. Siri-Tong wurde wütend. War der Seewolf so begriffsstutzig, oder tat er nur so? Konnte er denn nicht weiter denken? „Verdammt", sagte sie und stampfte mit ihrem zierlichen Stiefel auf die Decksplanken. „Er hat mir, ach was - er ist ein Rohling, ein Barbar. Und du hast einfach keine Phantasie!" schrie sie den Seewolf an. Sie drehte sich um und lief zur
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Back, mit sprühenden Augen und Schmollmündchen. „Hoho, haha", lachte der Wikinger und hielt sich den Bauch. Es dauerte lange, bis er sich beruhigt hatte. Der Seewolf lachte ebenfalls mit, er konnte nicht anders, wenn er sich die Szene vorstellte. „Im übrigen gehe ich morgen mit zum Auge der Götter!" rief Siri-Tong trotzig herüber. „Manchmal ist sie wirklich noch ein kleines Mädchen", sagte Thorfin. „Und dabei kämpft sie wie eine Teufelin gegen die abgebrühtesten Kerle mit dem Degen." Hasard sah den Wikinger von der Seite an. Wie, zum Teufel, lief das merkwürdige Verhältnis nur? überlegte er. Siri-Tong schien alle Leute zu kennen, sie konnte Schriftzeichen lesen, die kein anderer Mensch auch nur annähernd begriff. Sie hatte den üblen Piraten Caligu gekannt, sie kannte den Wikinger und Gott und die Welt. Er wurde einfach nicht mehr schlau aus ihr. Er hätte Thorfin fragen können, aber das sah zu neugierig aus. Wenn der Wikinger darüber sprechen wollte, dann würde er es von sich aus tun. Also beschloß Hasard, zu schweigen und sich seine Fragen für einen späteren Zeitpunkt aufzuheben. „Ich habe gesagt, ich gehe morgen früh mit", wiederholte sie noch einmal genau so trotzig wie zuvor. Der Wikinger drohte mit dem Zeigefinger und schüttelte den Kopf. „Du wirst schön brav an Bord bleiben und dich dort oben nicht mehr blicken lassen. Oder..." Sie warf den Kopf in den Nacken, daß ihre schwarzen Haare nach allen Seiten flogen. „Pah", sagte sie großspurig, „ich möchte den sehen, der mich davon zurückhält!" In der Kuhl und auf dem Vordeck ging es inzwischen los. Jeder der Seewölfe hatte seine eiserne Ration geholt, und nun wurden die ersten Flaschen geköpft und gingen reihum. Als Thorfin das sah, strahlte er. „Deine Männer, das sind Kerle, Hasard. So eine Crew wünsche ich mir einmal. Kannst
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du mir nicht das Bürschchen überlassen? Dieser Bengel gefällt mir am besten von allen. Ein aufgeweckter Kerl ist das, ein richtiger Mann nach meinem Herzen." Hasard sah den Wikinger an und lächelte. „Du kannst ihn ja mal fragen, aber ich glaube nicht, daß er bei mir abmustert, dazu ist er mit der Crew viel zu sehr verwachsen." „Hm, das glaube ich dir, das war nichts weiter als ein heimlicher Wunsch von mir." Hasard wollte den Wikinger jetzt anzapfen und unternahm einen diesbezüglichen Vorstoß in der Richtung. Er deutete auf die Schaluppe, die nur einen Mast hatte. „Ihr seid fünf Leute auf dem Kasten, Thorfin. Ein sechster hätte ja kaum noch Platz auf dem Schiff." „Das ist richtig. Aber wer spricht von der verdammten Schaluppe? Sieh dort hinüber, da liegt mein künftiges Schiff." „Du willst den schwarzen Segler..." „Klar, ein gutes Schiff, ein prächtiger Kahn, der nur verrottet, wenn er nicht gefahren wird. Ich werde ihn aufriggen und wieder klarieren. Ihr könnt ihn euch später ja einmal ansehen." Ferris Tucker hatte die letzten Worte gehört. Jetzt lehnte er sich neben den Wikinger ans Schanzkleid und blickte zu dem unheimlichen Schiff hinüber. „Du willst ihn wirklich aufriggen?" fragte er und sah genauso erstaunt aus wie der Seewolf, der glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Wir haben schon die Muscheln vom Rumpf abgekratzt und den Kahn verholt. Aber ich habe keine Leute. Mit fünf Männern ist das nicht zu schaffen. Das Schiff muß von Grund auf überholt werden, deshalb habe ich Siri-Tong um Hilfe gebeten, und sie ist ja auch sofort her gesegelt." Jetzt erst wurden dem Seewolf die Zusammenhänge klar. Der Wikinger hatte die Botschaft in Tortuga hinterlassen. Er war es, der die Rote Korsarin hierher gebeten hatte.
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„Ihr habt keinen Schiffszimmermann", sagte Hasard. „So wie das Schiff aussieht, braucht es einen Spezialisten, und die Reparatur wird eine verdammt lange Zeit in Anspruch nehmen. Du brauchst neue Masten, neue Segel, laufendes und stehendes Gut." „Die Wanten müßten auch erneuert werden", sagte Tucker. Dann wandte er sich an den Seewolf. „Wir könnten uns das Schiff morgen ja einmal in aller Ruhe ansehen, ob es sich überhaupt lohnt, es von Grund auf zu überholen. Vielleicht ist sein Holz durch das lange Liegen längst morsch und unter der Wasserlinie verfault und vergammelt." Thorfin Njal wiegte den Schädel. „Du bist der beste Schiffszimmermann, den ich kenne", lobte er Tucker. „Ich verlange nichts von dir, aber sieh dir das Schiff morgen mal an, und dann sagst du mir deine ehrliche Meinung. Taugt es nichts, dann lassen wir es liegen, oder wir stecken es in Brand. Aber deine Meinung interessiert mich." „In Ordnung", sagte Hasard. „Wenn wir vom Auge der Götter zurückkehren, sehen wir uns das Schiff an." „Das ist ein Wort!" rief der Wikinger begeistert aus und schlug Hasard auf die Schulter. „Darauf werden wir jetzt einen trinken, du Sohn der Hölle. Ich werde das Faß an den Strand pullen. Bringt Humpen mit, wenn ihr welche habt, denn wenn wir direkt vom Faß saufen, läuft zuviel daneben in den Sand." Thorfin erhob sich und marschierte schwergewichtig zu seiner Schaluppe hinüber, um das Faß zu holen. „Die Sauferei ist genehmigt", sagte Hasard, nachdem ihn ein fragender Blick Carberrys getroffen hatte. „Ich selbst werde mit gutem Beispiel vorangehen." Gebrüll und Geschrei war die Antwort. Hasard war nicht der Mann, der sich bescheiden zurückhielt. Verdammt, was waren sie denn, Korsaren der Weltmeere, rauhe Gesellen oder verkümmerte Moralapostel, die fromme Lieder sangen? Seewölfe waren sie, Seewölfe, die Beute rissen, die Tod und Teufel nicht scheuten,
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die sich tausendfach im Kampf bewährt hatten. Und da war es nur recht und billig, wenn sie auch wieder einmal über die Stränge schlugen. Schon lange hatte keine Kneipe mehr unter ihren Fäusten gezittert, viel zu lange hatten sie sich zurückgehalten, und deswegen sollte es heute abend losgehen. Auch die Piraten der Roten Korsarin stimmten ein Freudengeheul an, bis auf Siri-Tong, die immer noch schmollend an dem Schanzkleid lehnte. Aber sie sagte nichts, nur ein leicht vorwurfsvoller Blick aus ihren Mandelaugen traf den Seewolf, der grinsend mit den Schultern zuckte. „Dagegen kann man nichts tun, Madame", sagte er. „Eine wilde Horde muß nun mal ausgelassen sein. Und wenn die Kerle heute abend nicht richtig feiern, dann sinkt die Stimmung, und der Endeffekt ist der, daß sie sich gegenseitig die Schädel einschlagen. Auch ich habe das schon oft erlebt, und deshalb muß man von Zeit zu Zeit die Zügel schleifen lassen." „Das ist es auch nicht, was mich berührt, Sir! Sollen sie doch saufen, bis sie umfallen. Allerdings hatte ich mir unser Wiedersehen etwas - nun - anders vorgestellt. Begreifst du das nicht?" Hasard fühlte wieder jenes angenehme Prickeln in sich, wie er es schon seit langem nicht mehr gespürt hatte. In der Nähe der Roten Korsarin knisterte die Luft, unsichtbare Funken schienen hin und her zu fliegen. „Wir sind nicht allein auf der Insel", sagte er leise. „Später, wenn die Brüder alle voll sind, können wir ja - äh... „Was?" Unüberhörbar schwang in ihrer Stimme Zärtlichkeit. „Verdammt! Bin ich zum Süßholzraspeln hier oder. .." „Weshalb bist du eigentlich hier?" fragte sie schelmisch. „Nur so aus Zufall oder wegen mir?" Hasard grinste, es wirkte verlegen. „Ich habe dir doch gesagt, daß ich Jean Ribault traf. Und dann bin ich hierher gesegelt." Sie ließ nicht locker, ihre Augen brannten in den seinen.
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„Und aus welchem Anlaß?" Hasard griff nach ihrem Arm. „Ich dachte, du befändest dich vielleicht in Gefahr", sagte er leise, „und das war ja auch tatsächlich der Fall, als du oben am See warst, aber wie du siehst, bin ich etwas zu spät erschienen." Er dachte wieder an den alten Jonas und seine wirren Reden, nach denen eine schwarzhaarige Frau auf Little Cayman in Gefahr wäre. Jetzt hatte sich das durch Thorfin Njal erledigt, sonst wäre sie längst tot. Er war zu spät aufgekreuzt, aber schuld daran war nur das Seebeben, das sie solange aufgehalten hatte. Zu diesem Zeitpunkt ahnte der Seewolf allerdings noch nicht, daß der alte Jonas eine ganz andere Gefahr gemeint hatte. „Also bist du doch wegen mir gekommen", stellte sie fest. „Und ich dachte immer, ich wäre dir gleichgültig." Ihr Gesicht hatte sich total verändert, es war weicher, fraulicher geworden, wie Samt, und auf dem Grund ihrer schwarzen Augen blinkten wieder zahlreiche goldene Pünktchen. Ja, sie war verliebt in den Seewolf, stellte sie fest. Schon lange, aber es wurde immer schlimmer, wenn er in ihrer Nähe war. „Du bist mir nicht gleichgültig", sagte er leise. Dann drehte er sich abrupt um und ging zum Achterkastell hinauf. * Zwei Stunden später war auf Little Cayman die Hölle los. Thorfin hatte sein Faß an Land gebracht, die Wikinger und Bob Grey hatten eine Menge Fische gefangen, die jetzt an einem großen Feuer im Sand über Stöcken gebraten wurden. „Ein Strandfest der Piraten", sagte der Profos lachend. Und damit hatte er in gewisser Weise recht. In einem großen Kreis saßen die Männer um das Feuer herum. Das Faß stand in greifbarer Nähe und jeder konnte sich bedienen. Der Wikinger schien sich am wohlsten zu fühlen. Sein Kupferhelm glänzte im Widerschein der zuckenden Flammen. In
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der einen Hand hielt er einen mächtigen Humpen, in der anderen einen gebratenen Fisch von Armeslänge, in den er immer wieder kräftig hineinbiß. Ab und zu wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund. „Ha, ist das ein Leben!" rief er begeistert aus. „So gut sollte man es sich alle Tage ergehen lassen. Was meinst du, Rotschopf?" wandte er sich kauend an den Schiffszimmermann. Tucker war ebenfalls beschäftigt. Er mampfte, trank, lachte. „Herrlich", schwärmte er. „Von mir aus jeden Tag, ich bin damit einverstanden." Die Dämmerung war über Little Cayman hereingebrochen, eine Dämmerung, die schnell zur Nacht wurde. Über dem Meer stieg der Mond hoch, gelb und rot hing er wie ein riesiger Ballon am Himmel. Und eine frische Brise, die auflandig wehte, vertrieb die Hitze, die die Felsen ausstrahlten. „Sagt mal, ihr Burschen, was ist eigentlich mit euch los?" fragte der Wikinger neugierig. Er hatte einen nach dem anderen ins Auge gefaßt und wunderte sich. Der Kutscher hatte die Arme voller Schrammen, Sam Roskill trug eine riesige Beule zur Schau, Brighton konnte den rechten Arm nur mühsam bewegen, und Luke Morgan humpelte beim Gehen. „Wieso?" fragte Carberry zurück.. „Glaubst du etwa, wir saufen zu wenig? Keine Angst, Wikinger, dein Faß wird noch leer werden, das verspreche ich dir." „Ich meine eure Gesichter. Ihr seht aus, als hättet ihr eine fürchterliche Keilerei hinter euch, bei der ihr ordentlich was abgekriegt habt." „Keilerei?" Der Profos schaute den Wikinger erstaunt an. „Wußte nicht, daß wir uns geprügelt haben." Dann schlug er sich mit der Hand vor die Stirn. „Wir sind in ein Seebeben geraten, eine Flutwelle hat uns zwischen Felsen geworfen, und dabei muß es uns wohl ein wenig durchgerüttelt haben. War halb so schlimm", sagte Carberry, und damit untertrieb er ganz beträchtlich, denn ihr aller Leben hatte bei dem Seebeben nur
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noch an einem seidenen Faden gehangen, und es war ein Wunder, daß bei der Katastrophe nicht noch mehr passiert war. „Ein Seebeben?" fragte die Rote Korsarin, die sich zurückhielt, was Essen und Trinken betraf. „Wir haben nichts davon bemerkt." „Erinnerst du dich nicht, daß das Wasser vor drei oder vier Tagen etwas zurückgegangen ist?" fragte der Wikinger. „Es hatte den Anschein, als wolle das schwarze Schiff mit aller Gewalt ins Meer hinaus. Ich habe mich noch darüber gewundert. Und etwas später war das Wasser wieder da, etwas höher als sonst, doch dann verlief es sich wieder." „Da habt ihr aber Glück gehabt." Ferris Tucker warf die Überreste des Fisches ins Feuer, das knisternd aua-glühte. „Wir wären beinahe abgesoffen." ,.Ho, weil du gerade vom Saufen sprichst, Mann!" schrie Thorfin. „Darauf einen großen Schluck! Prost, Dan, du ehemaliger Rotzlümmel! Jetzt bist du erwachsen!" „Prost, Wikinger!" schrie Dan zurück. Und dann wurde getrunken, bis sich die ersten Nebel vor die Augen legten und das Meer auf und ab tanzte wie in einem wilden Reigen. Etwas später merkte Thorfin, daß die Rote Korsarin verschwunden war. Ebenso fehlte auch der Seewolf. Er runzelte die Stirn, kratzte sich den Bart und sah nachdenklich in den Mond. „Ach, so ist das", murmelte er. „Aha, aha. Na, auch darauf werde ich noch einen heben. Trinken wir auf das was mir durch den Sinn geht", sagte er lachend und hob seinen Humpen. Die anderen wußten zwar nicht, was ihm durch den Sinn ging, aber es konnte gewiß nichts Schlechtes sein, und so tranken sie sich wieder grölend zu. Den meisten fiel auch gar nicht auf, daß der Seewolf und Siri-Tong nicht mehr da waren, und als sie später wieder aufkreuzten, fiel erst recht nichts mehr auf. Das fröhliche Gelage artete in eine handfeste Sauferei aus, die bis zum Morgengrauen andauerte. .
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Dann lag der Fall genau umgekehrt. Das Faß war leer, und die Männer waren voll. So blieb alles wieder im Gleichgewicht. Die meisten legten sich einfach in den warmen Sand und schnarchten. Nur ab und zu wurden sie gestört, wenn ein( der großen Schildkröten schwerfällig aus dem Wasser stieg, um ihre Eier irgendwo im Sand zu verbuddeln. Aber auch das störte niemanden. 6. Der nächste Morgen unterschied sich in nichts von den vorangegangenen, was das Wetter betraf. Schor morgens war es sehr warm. Die ersten Schläfer wurden durch die Sonne geweckt, die ihnen heiß in die Gesichter schien. Der Seewolf schwamm ein paar Runden in der Bucht, bis er sich er• frischt fühlte. Danach schickte er die Männer in die Kojen, die sich nacht: mit der Wache abgewechselt hatten. Einer nach dem anderen kam auf die Beine. Carberry erwachte mit de! Geräuschentwicklung eines killenden Großsegels. Er schnaufte, prustete und hielt sich den Schädel. Die meisten Männer lagen noch in Sand, röchelten vor sich hin schnarchten. „Da liegen sie, die Fürsten der Meere, die Könige der See", sagte de Profos laut. „Und keiner bringt seinen verdammten Affenarsch au dem Sand." Er stiefelte zu dem Faß hinüber, denn jetzt plagte ihn doch ein gewaltiger Brand. Dabei murmelte er vor sich hin: „Man soll immer damit an fangen, womit man aufgehört hat." Aber aus dem Faß floß kein Tropfen mehr, als er es umdrehte, es war innen völlig trocken. „Hol auf, ihr Rübenschweine brüllte der Profos mit einer Stimme, die den Sand rieseln ließ. „Wollt ihr wohl hoch, ihr müden Knochen, was, wie? Ein neuer Tag bricht an, es gibt Arbeit. Hoch, ihr Seesäcke, sonst zieht euch der alte Carberry die Haut in Streifen von euren gottverdammten Affenärschen. Oh,
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höllische Seligkeit, ihr triefäugigen Kakerlaken, wollt ihr wohl hoch. Willig, willig!" Carberry starrte verblüfft auf eine magere Gestalt, die aus den Ascheresten des abgebrannten Feuers kroch, sich die Augen rieb und völlig schwarz im Gesicht war. „Wer ist denn dieser Leibhaftige", knurrte er. „Einer aus der anderen Crew, was, wie? Hol auf, zu deiner Karavelle!" Ein rußgeschwärztes Gesicht mit weißen Ringen um die Augen starrte ihn gespenstisch an. „Verdammt, ich bin doch der Kutscher", fluchte die Gestalt. „Ich wird mich wohl auch mal anständig besaufen dürfen!" Er taumelte davon, er, der zivilisierteste Mann an Bord der „Isabella", der sich sprachlich immer etwas gepflegter auszudrücken beliebte als die anderen. Jetzt sah er allerdings wie ein Teufel aus, der versehentlich ins Fegefeuer gefallen war. „Da soll mich doch der Teufel holen. Der Kutscher!" Carberry blickte der wankenden Gestalt nach, die zum Wasser taumelte. Der Kutscher warf sich hinein, kühlte sich ab, und dabei hatte er das Gefühl, sein Schädel würde die ganze Bucht ausfüllen, so groß war er inzwischen geworden. Aber nachdem er ebenfalls ein paar Runden gedreht hatte, ging es ihm besser, und er schwamm an Bord zurück. Der Profos wurde aus verschlafenen Augen angestiert, aus verquollenen, dickenunrasierten Gesichtern, und brummend kam einer nach dem anderen auf die Beine, um zum Wasser zu wanken. „Ja, ihr seid ja tatsächlich triefäugige Kakerlaken", sagte er verwundert. „Seht euch nur mal selbst in die Visagen, ihr Lahmärsche, dann werdet ihr merken, woran ihr seid!" „Glotz du lieber auf deine eigene Schnauze", sagte Luke Morgan heiser. „Dir glaubt auch keiner, daß du der Profso bist." Hasard sah stumm zu. Er verlor kein Wort, schließlich kannte er die Kerle besser als sie sich selbst. Nach dem Bad würden sie
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alle sehr schnell wieder munter sein und ihren Mann stehen. Der einzige, der schon sehr früh auf den Beinen war, war Thorfin Njal. Der hockte schon seit einer geschlagenen Stunde vor dem schwarzen Totenschiff und kratzte den Rest der vertrockneten Muscheln ab, die auf der Backbordseite noch hingen. Hasard grinste, als die ersten an Bord kletterten. Der Kutscher flitzte in seine Kombüse, um das Frühstück für die hungrigen Männer vorzubereiten. Gleich darauf brutzelten in einer Riesenpfanne Mengen von Speck, und ein lieblicher Duft zog vom Vordeck über das ganze Schiff hin. Hasard blickte durch das Spektiv zum Auge der Götter hoch.. Einmal glaubte er, dort eine hastige Bewegung gesehen zu haben, aber es konnte auch ein Tier sein, das in den Felsen herumhuschte. Von den Wächtern sah er keinen, und doch war er sicher, daß sie alle vom Berg aus ständig beobachtet wurden. Der Kutscher reichte dem Seewolf eine dicke Scheibe Maisbrot, einen Teller voll Speck dazu und goß ihm in eine Muck einen Viertelliter kühles Wasser. Hasard aß gleich an Deck, obwohl es an Bord der „Isabella" im Achterschiff eine Messe gab. Er hatte es eilig, er wollte zum Auge der Götter. Etwas später ließ er sich an Land rudern, wo die Rote Korsarin ihn schon voller Ungeduld erwartete. „Ben, du übernimmst das Kommando über die Galeone. Ich halte es für besser, wenn nicht so viele Leute mitgehen, sonst könnten die Wächter auf dumme Gedanken verfallen." „Aye, aye", sagte Ben. „Wenn ihr bis zum Abend nicht zurück seid, lasse ich die Hölle los, dann ist etwas schiefgelaufen." „Ja, bis zum späten Nachmittag könnt ihr uns folgen, dann ist wirklich etwas schiefgegangen", erwiderte Hasard. Der Wikinger begrüßte den Seewolf überschwenglich, dann fiel sein Blick auf Siri-Tong, die glücklich lächelnd zwischen den beiden Männern stand.
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„Du bleibst hier!" sagte Thorfin bestimmt. „Oder willst du noch einmal Bekanntschaft mit der weißen Schlange schließen?" „Ich gehe mit", erwiderte sie fest. „Und wenn du dich auf den Helm stellst." Der Wikinger hob die flache Hand. „Soll ich?" fragte er. Aber diesmal benahm sie sich wie eine fauchende Wildkatze. „Wage es nicht noch einmal!" schrie sie empört. „Ich gehe mit, daran wird sich nichts ändern." „Na schön. Um dich hier zu lassen, müßten wir dich an die nächste Palme binden, das ist mir zu umständlich. Gehen wir also." Hasard hatte auf Waffen verzichtet. Seine Radschloßpistole lag an Bord, er trug nur ein breites Entermesser im Gürtel, sonst nichts. Dann stiegen sie in die Felsen auf. Thorfin deutete nach rechts. „Wir werden diesmal einen anderen Weg wählen", sagte er, „ich kann mir zwar nicht denken, daß sie uns angreifen, aber mit der Möglichkeit müssen wir rechnen. Auf mich werden sie verdammt böse sein, hoffentlich gelingt es uns, sie zu überzeugen." „Das hoffe ich auch. Sie sehen ja, daß wir ohne Waffen sind." „Das zählt bei ihnen nicht", widersprach der Wikinger. „Für sie zählt nur, daß man überhaupt den Berg hochsteigt. Ich werde dir zeigen, was sie gebaut haben. Eine tödliche Falle, die uns alle schlagartig vernichten kann, wenn die Wächter es wollen." Hasard lächelte. Er war ja schon einmal hier gewesen: „Du meinst die Baumstämme, mit deren Hilfe sie das Wasser ablassen können? Die kenne ich. Es wird nicht mehr passieren, als daß etwas Wasser den Berg hinunterläuft." „Ha", sagte der Wikinger. „Die haben an ihrer neuen Vorrichtung monatelang geschuftet, die ist jetzt perfekt. Die Baumstämme sind durch zwei. riesige Steinquader ersetzt worden. Eine Handbewegung von ihnen, und der ganze See bricht donnernd in die Tiefe. Er wird bis auf den letzten Tropfen
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herunterrauschen, das verspreche ich dir. Ich habe die Burschen beobachtet, lange genug." Wenn sie jetzt zum Auge der Götter wollten, mußten sie sich weiter rechts einen Weg durch Geröll, Felsen, Steine und dornige Büsche bahnen. Allerdings gingen sie auf diesem Weg direkt die Falle an, die die Wächter gebaut hatten. „Sie belauern uns, das weiß ich", sagte Thorfin, der selbst bei dieser Hitze seinen Helm nicht ablegte. ..Aber noch trauen sie sich nicht, uns anzugreifen. Haltet die Augen offen!" Allen drei lief bald der Schweiß von der Stirn, als sie immer weiter nach oben stiegen. Bald darauf wuchs vor ihnen eine steile, glatte Wand senkrecht in die Höhe. Diese Wand lief in einem Halbkreis um den Berg. Direkt hinter der Felswand befand sich der See, das Auge der Götter. Hasard blieb stehen und sah hinauf. An der Wand ging es nicht mehr weiter, man mußte weiter rechts herumklettern, und dann gelangte man oben auf dem Felsen wieder heraus, wie der Wikinger versicherte, der hier wirklich jeden Stein kannte. Teilweise war die Wand feucht, und große Tropfen rannen an ihr herunter, wie bei einem Schiff, das ein winziges, kaum wahrnehmbares Leck hat. Thorfin klopfte mit der Faust gegen den Fels. Es dröhnte hohl. „Ungefähr hier muß die Stelle sein", erklärte er. „Dahinter, auf der anderen Seite haben sie den Fels bis auf eine ganz dünne Schicht ausgehöhlt. Das war eine verflucht harte und langwierige Arbeit. Nachher wirst du sehen, wie es weitergeht. Sieh einmal nach unten!" forderte er den Seewolf auf. Hasard tat es. Fast senkrecht fiel es an dieser Stelle ab. Tief unter ihnen lag die Schildkrötenbucht und darin wie Spielzeuge, die drei Schiffe. Klein und zerbrechlich sahen sie aus. Wenn die Felswand tatsächlich an dieser Stelle brach, überlegte Hasard, dann gab es für die Schiffe kaum eine Rettung. Eine Sintflut würde sie überrollen, auch noch
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den schwarzen Segler, obwohl der viel weiter weg lag. Aber auch er würde von den tosenden Wassern nicht verschont bleiben. Bei dem Gedanken begann er noch stärker zu schwitzen. „Du hast recht, Thorfin. Es würde ein Chaos geben, einem Seebeben sicher nicht unähnlich. Hoffen wir inständig, daß dies niemals passiert." „Das liegt weniger an uns .als an den Wächtern", sagte Siri-Tong, die sich bisher schweigend verhalten hatte. „Oder an den vorlauten Mädchen, die Diamanten aufheben", sagte der Wikinger grollend. Siri-Tong schwieg, was hätte sie auch darauf schon erwidern sollen! Hasard schätzte, daß sie jetzt etwas mehr als eine Stunde lang geklettert waren. Die Hitze in den Felsen nahm zu, es wurde immer wärmer, und der Wikinger mußte unter dem Kupferhelm wie ein Verrückter schwitzen. Warum er ihn nicht abnahm, blieb Hasard ein Rätsel. Ob Thorfin unter dem Helm eine neue Art von hitzebeständigen Läusen ausbrütete, überlegte er. Jetzt hatten sie den halbkreisförmigen Felsen an seinem oberen Ende erreicht. Blickte man von hier zur Bucht, dann konnte einem schwindlig werden, so klein sah sie aus. Nicht einmal mehr die Männer auf den Schiffen waren zu sehen. Hasard sah noch etwas anderes, etwas, das ihm vorher nicht aufgefallen war, während sie aufgestiegen waren. Wenn man von oben nach unten blickte, sah man es ganz deutlich. Zahlreiche Löcher befanden sich in dem Lavafelsen, tückische, kaum sichtbare Spalten und Risse. Der ganze Berg war von ihnen durchzogen. Der Wikinger hatte jetzt die obere Krone der glatten Felsen erreicht und kletterte hinauf. Hasard und die Rote Korsarin folgten. Jetzt erblickten sie den See aus größerer Höhe, aus einer anderen Perspektive. Er war kreisrund und tief. Und auf seinem Grund funkelte und schimmerte es in
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unvorstellbarer Pracht. Tonnenweise lagen Gold und Diamanten darin. Kein Wunder, daß die Wächter neugierige Piraten nur noch trickreich oder aus dem Hinterhalt abwehren konnten. Der See war Anreiz genug, und das was auf dem Grund lag, hätte für mehrere Banden von Piraten ausgereicht, den Rest ihres Lebens ohne Sorgen zu verbringen. „Siehst du die Anlage?" fragte Thorfin. Er deutete mit dem Kopf nach links hinüber, wo ein paar vorstehende Felsen leicht in den See ragten. Hasard sah das teuflische Ding. Aus der Sicht der Wächter war es eine geniale Konstruktion, einfach aber sehr wirkungsvoll. Eine schräg geneigte hölzerne Rutsche war in den See gebaut worden. Ihre Länge betrug etwa zwanzig Yards, die Breite annähernd drei - Yards. Auf dieser Rutsche lag ein gewaltiger Felsquader ganz am oberen Ende. Drei starke, fast armdicke Taue waren um den tonnenschweren Quader geschlungen, die ihn am Anfang der geneigten Ebene festhielten. Die drei Taue vereinigten sich zu einem einzelnen dicken Tau, das hinter einem am Ufer liegenden Felsen verankert war. „Die Taue haben die Burschen heimlich vom schwarzen Segler geklaut, als ich einmal nicht da war. Kannst du dir jetzt vorstellen, wie das Teufelsding funktioniert?" „Und ob ich das kann", sagte Hasard. „Sogar sehr lebhaft. Schlägt jemand das Tau durch, dann setzt sich der schwere Quader in Bewegung. Sein enormes Gewicht durchschlägt mühelos die ausgehöhlte Felswand an der untersten Stelle, wo sie am schwächsten ist. Alles weitere geht von allein. Der Druck des Wassers reißt die gesamte Felswand auseinander, und der See läuft nicht langsam aus, sondern rast wie eine gewaltige Welle sofort nach unten." „So ist es", sagte Thorfin düster. „Nichts und niemand kann diesen mächtigen Quader aufhalten, wenn er erst einmal rutscht. Der See dürfte den ganzen Berg auseinanderreißen."
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„Das müssen wirkliche Fanatiker sein", sagte Hasard. Er sah sich um, aber von den beiden Wächtern war keiner zu sehen. Und doch fühlten sie heimliche Blicke auf sich gerichtet. „Wenn das meine Leute sehen könnten", sagte Hasard, immer noch tief beeindruckt von der mörderischen Anlage, „dann hätten sie auf die Strandfeier sicher gern verzichtet. Wer weiß, ob es nicht einem der Kerle einmal einfällt, einfach das Tau durchzuschlagen." „Deshalb wäre es besser, wir verschwinden wieder, um nicht unnötig ihren Zorn herauszufordern", sagte Siri-Tong. Hasard und der Wikinger blickten sich an. „Ich glaube, sie hat recht", sagte Hasard beklommen. „Unnötig sollte man sie wirklich nicht herausfordern, und wir sind auf die Schätze im See nicht angewiesen, wir haben selbst genug." Auch der Wikinger fühlte sich nicht mehr so richtig wohl. Aus zusammengekniffenen Augen spähte er in die Felsen, dann wieder sah er zu der anderen Seite des Sees hinüber. Merkwürdig, aber niemand ließ sich blicken. „Gehen wir hier entlang, zur anderen Seite hinüber, dort können wir in einem großen Bogen nach unten zurückkehren. Falls ihr unterwegs Diamanten findet, hebt sie nicht auf, sonst lassen die Wächter doch noch das Donnerwetter los. Wenn es dir allerdings lieber ist, Seewolf, dann schnappen wir uns die beiden Kerle und jagen sie von der Insel, während einer von uns die Ramme bewacht, damit keiner der Wächter an sie her an kann." Hasard schüttelte den Kopf. „Welchen Sinn hätte das schon? Gar keinen, denn wir wollen uns ja nicht an den Schätzen bereichern. Lassen wir das Auge der Götter am besten so, wie es ist, dann wird auch nichts passieren." Dieser Vorschlag fand auch die Zustimmung des Wikingers. Auch SiriTong war dafür. Wenn es irgendwie ging, dann wollten sie Blutvergießen vermeiden
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und die stille Bucht nicht der sinnlosen Vernichtung preisgeben. Damit wäre auch Thorfins Unterschlupf verloren. Vorsichtig umgingen sie den See und nutzten die Vorsprünge der Felsen aus, um nicht gesehen zu werden. Doch die Wächter hatten sie längst gesehen, und sie hatten auch schon ihren Entschluß gefaßt. Siri-Tong stolperte plötzlich und fiel der Länge nach auf den harten Felsboden. „Langsam, Mädchen", sagte Hasard. „Laufen müssen wir noch lange nicht, ich helfe dir." Auch der Wikinger blieb stehen und grinste. „Daß sie es immer so eilig hat", murmelte er in seinen Bart. Die Rote Korsarin rührte sich nicht. Sie lag mit geschlossenen Augen halb auf der Seite. Hasard beugte sich zu ihr nieder, hob ihren Kopf an, der schlaff wieder in seine Hand zurückfiel. Jetzt war er wirklich verwundert. Er ließ sich auf die Knie nieder, drehte ihr Kinn etwas zur Seite und tätschelte ihre Wangen. Sie rührte sich immer noch nicht. Hatte sie sich etwa den Kopf an den Felsen gestoßen? fragte sich Hasard. Das war ausgeschlossen, denn er hatte nichts bemerkt. Er legte sein Ohr an ihre Brust. In seinen Augen war ein leicht verständnisloser Ausdruck. „Das verstehe ich nicht", sagte er leise. „Ihr Atem geht nur noch ganz flach. Ich kann mir nicht vorstellen, daß das ein Schwächeanfall sein soll." In diesem Augenblick erwischte es auch den Seewolf. Lautlos, unsichtbar flog es heran, und noch ehe er reagieren konnte, fühlte er einen brennenden Schmerz in der linken Halsseite, als hätte ihn eine Hornisse gestochen. Automatisch schlug er mit der Hand auf die Stelle, fühlte etwas langes, haariges im Hals und zuckte zurück. Durch den reflexartigen Schlag auf die brennende Stelle trieb er den winzigen, gefiederten
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Pfeil nur noch weiter in seinen Hals. Danach ging alles sehr schnell. Er wollte dem ungläubig dreinblickenden Wikinger etwas zurufen, doch die mächtige Gestalt des Mannes schien durchsichtig zu werden und sich zu verflüchtigen wie Nebel, den der Wind verweht. „Thorfin!" Er glaubte, seine eigene Stimme weithin hallen zu hören, doch über seine zuckenden Lippen drang kein Ton. Seine Stimme versagte. Vor ihm wuchs der Wikinger zu riesenhafter Gestalt auf, schien dann wieder davonzuschweben und sich auf den Kopf zu stellen. Der Berg stellte sich ebenfalls auf den Kopf, die ganze Insel rotierte wie wild um sich selbst, und Hasard glaubte eine riesige dunkle Wolke zu sehen, die ihn aufnahm und eilig mit ihm davonsegelte, eine Wolke so groß wie die Welle, auf der der Jonas hysterisch lachend über das Meer davongeritten war. Immer schneller, immer eiliger trug sie ihn einem schwarzen Ufer zu und warf ihn dann unsanft in ein pechschwarzes Meer von endloser Tiefe. Die eiserne Kondition des Seewolfes brachte ein kleines Wunder zustande. Jeder andere wäre längst bewußtlos zusammengebrochen und hätte sich nicht mehr gerührt. Der Seewolf aber kämpfte noch lange mit der tiefen Bewußtlosigkeit, immer wieder bäumte sich sein Körper auf, doch schließlich siegte das betäubende Gift, das sich in seinem Kreislauf immer weiter ausbreitete. Schlagartig brach er zusammen und rührte sich nicht mehr. 7. Ngoon setzte das Blasrohr ab. Seine Augen glühten, als der Seewolf endlich zusammenbrach. „Ein starker Mann", sagte er zu Baraan, dem anderen Wächter. „Er scheint viele Leben zu haben. Die Hündin brach gleich zusammen, so wie sie es verdient hat. Wehe denen, die es wagen, das Götterauge noch einmal zu entweihen."
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Drohend hob er das Blasrohr hoch und seine Augen sahen wild zu den Schiffen in der Bucht hinunter. Die beiden Wächter hockten zusammengekauert in einem Felsenriß, der ihnen ausgezeichnete Deckung bot. Sie selbst konnten nicht gesehen werden, sahen aber alles, was um sie herum vorging. Ngoon gab keine Antwort. Er setzte das Blasrohr an den Mund, in dem der winzige gefiederte Pfeil steckte, und zielte auf den Wikinger, der ratlos vor den beiden zusammengesunkenen Gestalten stand. Er holte tief Luft, doch dann setzte er das Blasrohr wieder ab. Er traute sich nicht, auf den Mann mit dem blinkenden Helm zu schießen, die in Felle gekleidete Gestalt flößte ihm Furcht ein. Außerdem war er der einzige Vertrauenswürdige, den es weit und breit auf der Insel gab, und der sich nie an den Schätzen der Götter vergreifen würde. Noch ein paar Male setzte er das Blasrohr an die Lippen, und jedesmal sank es kraftlos in seiner Hand zurück. „Wir sollten auch ihn töten", sagte der andere Wächter leidenschaftlich. „Er hat die Hündin unserer Rache entzogen, über die schon das Urteil gefällt war. Damit hat er seine Grenzen überschritten. Wir können es nicht zulassen, daß er. . ." „Dann töte du ihn. Ich habe die beiden anderen nicht getötet, das Gift war verdünnt, es hat sie nur gelähmt." Sie beratschlagten, palaverten und diskutierten aufgeregt miteinander. Und das Ergebnis blieb das gleiche: Sie wollten den Wikinger, den Mann mit dem strahlenden Helm, nicht töten, es widerstrebte ihnen. Nie hatte er etwas Böses getan. Er war nur ab und zu zum Götterauge emporgestiegen, hatte sich nie nach den Steinen gebückt, die heilig waren und kalte Blitze nach allen Seiten schleuderten. Nur die Frau hatte er befreit. „Wir werden es dem Auge der Götter überlassen, ob er stirbt, oder ob er sein Leben behalten darf", erklärte Ngoon.
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„Aber diese vielen Männer da unten werden erscheinen, um die Frevler zu rächen", sagte der andere. „Ich weiß. Wir werden das Vermächtnis erfüllen. Wir können das Auge der Götter nicht länger schützen, und einem anderen darf es nicht in die Hände fallen, das haben wir geschworen." „Dann werden wir das Götterauge vernichten und uns mit ihm." „So sei es", sagte der andere Wächter feierlich. „Nie wieder soll es jemand betreten." Dieser Entschluß fiel ihnen äußerst schwer, sie hatten ihn schon einmal erwogen, ihn dann aber wieder verworfen, weil sie sich nicht einig waren. Jetzt waren sie sich einig. Lieber sollte das Götterauge untergehen, als daß Frevler ihre Hände danach ausstreckten. Feierlich gaben sie sich die Hand, sahen sich fest in die Augen und nickten dann ernst. „Schieß den Pfeil ab, Ngoon. Er wird ihn nicht töten, wie du sagtest, er wird ihn nur betäuben. Das weitere Schicksal sollen die Götter entscheiden." „Es sei, wie du sagst, Baraan. Der Wille der Götter geschehe!" Das Blasrohr fuhr hoch, der Wächter holte tief Luft. 8. Thorfin Njal stand immer noch ratlos vor den beiden. Weder Hasard noch Siri-Tong rührten sich. Die kleinen Pfeile, die in ihren Hälsen steckten, hatte er noch nicht entdeckt, aber daß die Wächter hinter dem Anschlag steckten, war ihm klar. Sie hatten aus dem Hinterhalt heraus angegriffen. Aber womit? Aus schmalen Augen sah er sich um und musterte argwöhnisch jede Spalte, jeden noch so kleinen Riß im Gestein. Aber er sah niemanden. „Zeigt euch, ihr feigen Hunde!" brüllte er in einem Anfall von hilfloser Wut. Er riß sein mächtiges Schwert aus dem Gehänge,
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von dem er behauptete, es wäre nur ein Messer, und hielt es in der Faust. Seine Augen loderten und schleuderten Blitze. Wie der altgermanische Gott Donar aus der nordischen Mythologie stand er da, zornbebend, Blitz und Donner nach allen Seiten schleudernd. „Kommt 'raus!" brüllte er noch einmal, daß seine Stimme in den Felsen schaurig widerhallte. „Bei Odin, wenn ihr nicht kommt, dann hole ich euch!" Während er brüllte, hatte er die Umgebung genau gemustert, und schließlich eine kleine Spalte entdeckt. Es war möglich, daß die beiden Wächter dahinter hockten. Vielleicht war der Spalt auf der anderen Seite eine Höhle im Felsen, die man nur von einer Seite betreten konnte. Er kannte genug davon. Das Echo warf seine Worte zurück, die sich wiederum an den Felsen brachen, bis sie verwehten. Als sich immer noch nichts rührte, bückte er sich. Im ersten Moment glaubte er, der Seewolf und SiriTong wären tot, dann entdeckte er die kleinen gefiederten Pfeile. Mit einem Ruck zog er sie heraus und schleuderte sie fort. Ihre Herzen schlugen nur noch ganz schwach, der Atem ging flach und unregelmäßig, als würde er jeden Augenblick aussetzen. Er wußte nicht, ob die Pfeile mit tödlichem Gift präpariert waren, aber er nahm es an. Und er hatte keine Ahnung, wie er den beiden helfen konnte. Sein Zorn wurde immer wilder, ungezügelter und wandelte sich in grenzenlosen Haß auf die beiden hirnverbrannten Wächter in ihrem verblendeten Fanatismus. Mit wilden Schritten stürmte er vor. Dort hinter dem Spalt hatte sich soeben etwas bewegt. Sein Schwert hieb durch die Luft, klirrte laut gegen die Felsen, schlug in den Spalt hinein. Wie ein Berserker hieb er zu, in ohnmächtiger Wut, und als das alles nichts half, packte er den Griff des Schwertes und rammte ihn mit aller Kraft in den Spalt, bis die Brocken nach allen
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Seiten davonflogen. Seine Wut verlieh ihm unheimliche Kräfte. Aber gegen den Felsen konnte er schließlich auch nichts ausrichten. Er lief wieder zurück und nahm Anlauf. Da traf ihn der Pfeil dicht hinter dem Ohr, das der schimmernde Helm nicht mehr bedeckte. Brüllend wie ein großes, zottiges Ungeheuer tobte der Wikinger auf dem schmalen Grat herum. Er spürte die Lähmung, die sich durch seine Glieder fraß, die ihn bewegungslos und immer schwächer werden ließ. Er wollte sich dagegen wehren, doch auch er schaffte es nicht. Seine Bewegungen wurden schwächer, sein massiger Körper zuckte, bis er auf den Boden fiel. „Oh, ihr verdammten Hunde", stöhnte er. Mit beiden Händen griff er sich an den Hals, zerrte den kleinen Pfeil heraus und warf ihn die Felsen hinunter. Es war zu spät. Auch bei ihm verteilte sich das lähmende Gift rasch im Körper, und je mehr er tobte, je -schneller begann die Wirkung einzusetzen. Auf Händen und Knien kroch er auf dem Boden herum, zu schwach, tun seinen schweren Körper noch einmal aufzurichten. Er suchte nach einem Halt, doch es gab keinen, im mer wieder griffen seine Hände ins Leere. Und er spürte, wie er stürzte, wie er ebenfalls in bodenlose Tiefen fiel, die kein Ende und keinen Anfang hatten. Vor ihm wogte der Abgrund auf und nieder, er sah die Schiffe auf haushohen Wellen tanzen, obwohl die See ruhig war, und er blickte mit glasigem Blick auf den schwarzen Segler, der jetzt alle Segel gesetzt hatte und zum Auge der Götter emporsegelte. Das war Thorfins letzter Eindruck. Danach verlor er schlagartig das Bewußtsein. Dunkelheit breitete sich aus. * Die beiden Wächter waren wie zu Stein erstarrt, als der wilde Angriff des bärtigen
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Mannes erfolgte. Es schien, als besäße er die Kraft, die Felsen zu sprengen und zu zerschmettern. Blitzende Funken stoben aus seinem Schwert, das laute Klirren wurde immer bedrohlicher. Ngoon hatte bereits zwei Pfeile auf den Wikinger abgeschossen, doch der eine war an seinem blitzenden Helm wirkungslos abgeprallt, und der andere war in seiner zottigen Kleidung hängengeblieben, ohne daß sich eine Wirkung zeigte. Erst der dritte hatte getroffen und ihn nach und nach gelähmt, bis auch er zusammengebrochen war. Jetzt lag er auf dem Boden, dicht am Abgrund, der senkrecht in die Tiefe führte, und rührte sich nicht mehr. Der Kampf war zu Ende, die unheimliche Donnerstimme des Mannes schwieg jetzt für längere Zeit. „Es wird nicht mehr lange dauern, bis das Bewußtsein diesen Mann wieder erreicht', sagte Baraan, der eine unerklärliche Scheu vor dem Wikinger hatte. „Deshalb müssen wir uns beeilen. Bringen wir sie in die Höhlen, alles andere werden die Götter entscheiden. Wenn sie es wünschen, wird der Mann mit dem Helm weiterleben und die anderen auch. Wünschen sie es nicht, dann werden alle sterben und wir sind unschuldig an ihrem Tod." Vorsichtig hoben sie den Wikinger an. Er war schwer, ein Koloß, an dem sie zu schleppen hatten. Aber er war auch gefährlich, genau wie der andere Mann, dessen Körper sich lange gegen das Gift gewehrt hatte. Keuchend schleppten sie Thorfin Njal auf einem halsbrecherischen Pfad nach unten und blickten ihn immer wieder an, ob er nicht vorzeitig erwachte. Aber der Wikinger war wie tot. Er rührte sich nicht. Die Höhle, in die sie ihn brachten, war lang und schmal und hatte weitere Zugänge in die inneren Felsen. Sie ließen ihn hinunter, stiegen dann nach und schleppten ihn weiter ins Innere des Berges. Dort legten sie ihn auf den Boden. Mochten die Götter jetzt entscheiden, was aus ihm wurde, wenn die große Träne aus dem Auge rollte. Sahen sie in seinem
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Vorgehen keinen Frevel, dann würden sie ihn verschonen, wenn nicht, dann mußte er ertrinken oder wurde von ihrem Zorn erschlagen. Danach holten sie den Seewolf, der ebenfalls in tiefer Bewußtlosigkeit lag. Er war nicht so schwer wie der Mann mit dem blinkenden Helm, sie konnten ihn leichter tragen. Sie ließen ihn in die Höhle hinunter, in der der Wikinger an die Wand gelehnt hockte, sprangen dann hinterher und schleppten ihn weiter durch den schmalen Gang, bis es noch tiefer abwärts in die Felsen ging. Diese Höhle war größer und breiter, eine zweite schloß sich noch weiter unterhalb dieser Grotte an. Ganz schwach drang das Sonnenlicht durch winzige Risse herein. Es herrschte Halbdämmer, in dem man nur schwach die Umrisse erkennen konnte. Und es war erdrückend heiß in diesen Kavernen, auf die die Sonne erbarmungslos niederbrannte. Dann war die Rote Korsarin an der Reihe. Sie hätte schon längst tot sein müssen, wäre nicht der Wikinger gewesen, der sie vor der weißen Schlange gerettet hatte. Sie war leicht wie eine Feder, deshalb konnten sie die Frau noch tiefer hinabbringen. Ngoon reichte ihren Körper durch eine Felsspalte. Baraan nahm ihn entgegen und lief mit, der leichten Last durch endlose Gänge, bis er zu einer Grotte gelangte, in der totale Finsternis herrschte. Er legte die Rote Korsarin auf den Boden und beeilte sich, um wieder das Tageslicht zu erreichen. „Geschafft!" sagte er. „Jetzt bleibt uns nichts anderes übrig, als das Vermächtnis zu erfüllen. Komm, ehe die anderen den Weg zum Auge der Götter finden. Die beiden Wächter liefen über den feinen, weißen Sand, bis sie die Ramme erreichten, auf der der mächtige Block aus Steinquadern thronte. Gleich würde sich der Zorn der Götter entladen! 9.
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Auf der „Isabella" begann Ben Brighton immer unruhiger zu werden. Tucker, Davies und Carberry umstanden ihn. „Ich sage noch mal, daß da oben etwas faul ist", erklärte Matt Davies und wies mit seiner Hakenprothese, die ihm die rechte Hand ersetzte, zum Berg hinauf. „Heute früh sind sie losgezogen, jetzt ist es Nachmittag, und wir haben kein Lebenszeichen von ihnen. Wir sollten nachsehen, Ben." Der Schimpanse raste an ihnen vorbei. Er benahm sich merkwürdig, rannte verängstigt in die Kuhl, dann wieder aufs Hauptdeck und von da aus zum Achterkastell. Immer wieder fegte er in langen Sprüngen an ihnen vorbei. Dan O'Flynn lief dem Affen nach, kriegte ihn aber nicht zu fassen. „Möchte wissen, was in den gefahren ist", sagte er. „Der benimmt sich wie ein Verrückter. Ich glaube, er will an Land." „Batuti glauben auch", sagte der GambiaNeger, „kleines Arwenack vielleicht suchen Frau an Land." ,,Hier gibt es für ihn keine Frauen", sagte Dan. „Es sieht fast so aus, als hätte er Angst. He, was zieht ihr für Gesichter?" fragte er die Männer. Ben Brighton sagte es ihm. „Wir sind in Sorge um Hasard und seine Begleiter. Sie sind jetzt zu lange fort und haben sich kein einziges Mal gemeldet. Zumindest müßten sie sich auf dem Rückweg befinden. Aber wir haben mit dem Spektiv alles abgesucht, sie sind verschwunden." „Dann steigen wir doch einfach in die Berge", schlug Dan vor. „Die Zeit ist um, Hasard hat ja gesagt, daß wir am späten Nachmittag folgen können." „Es ist aber noch nicht später Nachmittag", sagte Ben Brighton. „Oh, man kann sich schon um ein paar Stunden irren", erwiderte Dan trocken. „Seht mal, der Boston-Mann starrt auch dauernd in die Felsen, und die Wikinger sind ebenfalls nicht mehr die Ruhe selbst." Das stimmte. Überall herrschte Nervosität. Auf dem roten Segler der Korsarin genauso wie bei den vier Wikingern. Über
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deren Anwesenheit waren die Seewölfe immer noch nicht ganz hinweggekommen. Es gab einige von ihnen, die ernsthaft behaupteten, Thorfin Njal wäre nur ein Geist, ihn gäbe es nicht wirklich. Luke Morgan hielt ihn für den Geist des Jonas, und auch Gary Andrews teilte diese Meinung mit ihm. Jetzt stieg der Boston-Mann herüber. Sein verwegenes Gesicht war ernst und verschlossen. Wenn einer wie ein Pirat aussah, dann war er es. Sein schwerer Ohrring unterstrich diesen Eindruck noch. Er sah die Männer nur fragend an, ohne etwas zu sagen, aber die Seewölfe wußten auch so, was er wollte. „Wir überlegen gerade, ob wir in die Berge klettern sollen, um nach unseren drei Leuten zu suchen", erklärte Matt Davies. „Was hältst du davon, Boston-Mann, schließlich geht es auch um eure Korsarin." Der Boston-Mann nickte bedächtig, wobei sein Ohrring hin und her schwang. Aus schmalen Augen sah er die Männer an. „Ich bin dabei", sagte er. Sein Blick verfolgte den Affen, der sich immer verrückter benahm. Arwenack unternahm Anstalten, über Bord zu klettern. Er balancierte auf dem oberen Abschluß des Schanzkleides entlang, bleckte die Zähne und keckerte aufgeregt. Offensichtlich spürte er die drohende Gefahr, die vom Auge der Götter ausging. Ben blickte noch einmal durch das Spektiv. Jeden Stein suchte er ab, ohne eine Spur von den drei Leuten zu entdecken. Über dem Berg waberte der Sonnenglast und ließ die Felsen naß erscheinen. Beunruhigt setzte er das Spektiv wieder ab. „Vielleicht sind sie zur anderen Seite des Berges gegangen", sagte er. „Oder die Wächter haben sie aus dem Hinterhalt überfallen", erwiderte Dan erregt. „Mit der Korsarin haben sie es ja auf die gleiche Art versucht. Nein, verdammt, ich halte diese Ungewißheit nicht mehr aus. Ich gehe." „Wir kommen mit", sagten die Wikinger. Ein paar Männer stiegen in das Boot, und dann wurden es immer mehr, die sich der
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Gruppe anschlossen. Der erste, der ins Boot sprang war der Affe. Er schlenkerte mit den Armen und konnte es kaum erwarten, an den Strand zu gelangen. Ben hatte den Männern drei Musketen aushändigen lassen, ebenso ein paar Pistolen. Batuti trug seinen Morgenstern, Ferris Tucker hatte seine Lieblingswaffe mitgenommen, die riesige Axt, die er so gut handhaben konnte. Auch von der Karavelle setzte sich ein Boot in Bewegung und wurde zum Strand gepullt. Ein paar Männer sprangen einfach über Bord, schwammen ein paar Yards und legten den Rest der Strecke gehend im hüfthohen Wasser zurück. An Bord der „Isabella" befanden sich jetzt nur noch der Kutscher, Big Old Shane und der alte Donegal Daniel O'Flynn, der seines Holzbeins wegen ohnehin nicht in die Felsen aufsteigen konnte. Als das erste Boot anlegte, sprang der Affe hinaus und raste los. „Was ist denn bloß mit dem los?" wunderte Dan sich schon wieder. „Ich hätte geschworen, er rennt zum Felsen, aber jetzt wetzt er am Strand entlang. Und mit was für einem Tempo!" Die Seewölfe sahen dem Affen nach, der mit unglaublich anmutender Geschwindigkeit am Strand entlang fegte, bis er den schwarzen Segler erreicht hatte. Vor dem Schiff hockte er sich in den Sand und blieb sitzen. Auch Dans Geschrei konnte ihn nicht herbeilocken. „Arwenack spüren Gefahr", sagte Batuti. „Vielleicht Wasser von Berg stürzen und Arwenack das riechen." Die Seewölfe sahen Batuti verblüfft an. „Wie kommst du denn darauf?" fragte Carberry. Der Neger sprach in seinem fürchterlichen Kauderwelsch weiter: „Batuti hören, was Wikinger zu Seewolf sagen. Sagen, wenn Wächter böse, dann zerstören See." „Stimmt, da oben gibt es eine tückische Falle", pflichtete einer der Wikinger dem Neger bei. „Thorfin hat es oft erzählt. ;Ein einziger Hieb auf die Vorrichtung, und die
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Felswände zerspringen. Dann entleert sich schlagartig der ganze See." Brighton wurde merklich blasser. Er legte den Kopf in den Nacken und sah zu dem Berg hinauf, zu den Felsen, die wie Riesenfinger in den Himmel stachen, zu den großen Steinen, die überall herumlagen. Sein Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an. „Dann stehen wir ja genau an der richtigen Stelle", murmelte er. „Wenn der See nach unten rauscht, gibt es hier unten keine Überlebenden, dann geht alles in Trümmer." Sie hörten den Affen wieder zetern, als wolle er sie warnen. Arwenack hatte auf diese Art den Seewölfen schon oft Gefahr signalisiert, und sie würden gut daran tun, auch diesmal auf ihn zu hören. Er hatte die besseren Instinkte, die bei den Menschen längst verkümmert waren. Ben Brighton versuchte zu errechnen, was alles zerstört wurde, wenn diese Katastrophe wirklich eintrat. Da der See tief war und dementsprechend viel Wasser enthielt, mußte zwangsläufig über den größten Teil der Insel ein Chaos hereinbrechen. Wie weit es sich ausbreitete, ließ sich nur annähernd schätzen. Siri-Tongs wilde Horde hatte jetzt ebenfalls den Strand erreicht und ging den Seewölfen entgegen. Auch sie hatten sich nach dem Vorbild der Seewölfe mit Musketen und Pistolen bewaffnet. Ben Brighton klärte sie kurz darüber auf, was ihnen bevorstand, falls es den Wächtern einfiel, den See zu sprengen. Er sah in ratlose und verstörte Gesichter. „Dann sollten wir hier schleunigst verschwinden!" rief Juan, der Bootsmann von Siri-Tong. „Der Affe macht es richtig, der ist schlauer als wir." Ben Brighton hatte keine Lust, dem Bootsmann auseinanderzusetzen, daß der Affe keinesfalls schlauer war, sondern daß es sich um eine rein instinktive Angelegenheit handelte, aber Juan mit seinem bißchen Grips im Schädel würde das ohnehin nicht begreifen.
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„Wir steigen jetzt in die Felsen auf", sagte Ben ruhig. „Wer uns von euch begleiten will, der kann es tun. Aber ich wünsche keine unüberlegten Handlungen. Nicht gleich drauflosballern, wenn ihr einen Wächter seht." Dan O'Flynn stieß Carberry an. „Sieh dir das an", sagte er staunend, „da kneifen doch tatsächlich ein paar von diesen Kerlen." Carberry lachte verächtlich. „Für sie springt ja auch dabei nichts 'raus, kein Gold, keine Diamanten, nur die Korsarin. Aber sie verstehen es, sich elegant aus der Affäre zu ziehen." Einer aus Siri-Tongs Crew hielt sich für ganz besonders schlau. Er war ein bärtiger Geselle mit breitem Kreuz und eingeschlagener Nase. Er trug eine knielange Hose und war barfuß. Lediglich um den Schädel hatte er sich einen Fetzen Tuch gebunden. „Eigentlich Blödsinn, daß wir alle da 'raufsollen", sagte er. „Ein paar Leute genügen doch, sonst sehen uns die Wächter." „Er hat recht!" riefen ein paar andere erleichtert. Insgeheim stellten sie sich vor, daß es eigentlich auch genügen würde, wenn nur ein paar Mann die riesigen Wassermassen auf den Schädel kriegten. Und weshalb sollten ausgerechnet sie das sein? Einer nach dem anderen verdrückte sich ,in westlicher Richtung und tat so, als sähe er sich den schwarzen Segler an. „Hosenscheißer", sagte der Profos verächtlich, dem das Theater viel zu durchsichtig erschien. Die Seewölfe hatten es alle sofort durchschaut. Übrig blieben schließlich die Seewölfe, bis auf jene, die an Bord geblieben waren, die vier Wikinger, der Boston-Mann, Juan und noch drei andere Kerle, die zur Roten Korsarin hielten, und denen es nicht viel bedeutete, ihr Leben zu riskieren. Langsam setzte sich der Trupp in Bewegung. *
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Das war der Augenblick, in dem Hasard aus seiner Bewußtlosigkeit erwachte. In seinem Kopf hämmerte und dröhnte es, da waren tausend Teufel an der Arbeit, die pausenlos mit Morgensternen und Belegnägeln in seinem Schädel kämpften. Er wollte hoch. Noch immer tanzten vor seinen Augen wabernde Nebel hin und her. Benommen stand er auf, taumelte aber gleich wieder und mußte sich setzen. Er war sicher, daß er die Augen geöffnet hatte, und dennoch umgab ihn pechschwarze Finsternis. War es Nacht? Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren und die Orientierung erst recht. Mühsam fand er Halt an einer rauhen Wand, an der er sich langsam emporzog. Seine Hände tasteten umher. Erst jetzt merkte der Seewolf, daß von irgendwoher ganz schwach dämmeriges Licht einfiel. Es ließ sich nicht feststellen, woher es kam, überhaupt ließ sich gar nichts feststellen, fand er. Er lehnte an der Wand und suchte krampfhaft nach einer Erinnerung. Sie waren zum Auge der Götter aufgestiegen, Siri-Tong und der Wikinger, das wußte er. Dann - richtig, sie hatten die Ramme aus Steinquadern gesehen und danach war die Rote Korsarin gestolpert. Als er sich über sie beugte, hatte ihn etwas gestochen, und er war in einem schwarzen Nebel versunken. Siri-Tong! Der Wikinger! Wo waren sie und wo war er? Hasard überwand die Übelkeit, die plötzlich in ihm hochstieg und tastete sich vorsichtig weiter. Seine Augen hatten sich jetzt an die Dunkelheit mit dem schwachen Halbdämmer gewöhnt, und er konnte etwas besser sehen. Er befand sich in einer Gruft aus Felsen, und in dieser Gruft war es -ungemütlich heiß, so heiß und stickig, daß ihm das Atmen schwerfiel und die Luft sich glühend in seine Lungen fraß. Aber wie war er hierher geraten? Er sorgte sich um die beiden anderen. Waren sie auch in einer solchen Höhle gefangen? Oder suchten sie ihn? „Thorfin!" rief er laut.
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Keine Antwort. Der Berg schwieg, nur die Hitze schien noch stärker zu werden. Hasard lief der Schweiß übers Gesicht, seine Hände fühlten sch heiß und klebrig an. Er wollte 'raus hier, irgendwo mußte es doch einen Ausweg geben. Langsam und vorsichtig tastete er sch an den Wänden entlang. Dann rief er noch einmal laut den Namen 'des Wikingers und den der Roten Korsarin. Wieder herrschte tiefes Schweigen, erhielt keine Antwort. Der Seewolf ging weiter, eine mit einen übersäte, schräg geneigte ne hinunter. Er schien sich mitten im Berg der Insel zu befinden, denn jetzt ging es immer steiler nach unten. Gleichzeitig wurde es auch dunkler. Dann verlor er plötzlich den Halt. Unter seinen Stiefeln knirschte es, ein paar Steine kollerten in die Tiefe und schlugen auf. Ein Felsstück gab unter ihm nach, und er spürte, wie er fiel. Verzweifelt klammerte er sich an Gestein, aber das bot keinen Halt, es riß ihm nur die Hände auf. Jeden Augenblick erwartete er den Aufprall, der auch gleich hart erfolgte. Hasard blieb benommen liegen. Im Moment war er nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
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Er trampelte in der Höhle herum, wütend, geladen über die Niederlage, die er erlitten hatte. Er war mit sich und der Welt unzufrieden, und er sorgte sich um SiriTong und den Seewolf. Er irrte weiter durch die Dunkelheit, in der Hoffnung, irgendwo einen Ausgang oder einen anderen Weg zu finden, der weiter in die Felsen führte. Ihm war es egal, er wollte nur weg, irgendwo gab es sicher eine Stelle, an der man das Tageslicht wieder erreichen konnte. Aber er fand diese Stelle nicht. So sehr er auch suchte, fluchte, Odin und alle Götter anrief und schließlich laut brüllte, er blieb in seinem Gefängnis, das anscheinend keinen Ausgang und auch keinen Eingang hatte. Den großen Spalt im Felsen sah er nicht, der sich in Kopfhöhe über ihm befand, er fand ihn erst sehr viel später. So hockte er sich auf den Boden, überlegte, verfluchte sein Schicksal und zermarterte sich den Schädel nach einem Ausweg. Und das schwor er sich: Sollte er je wieder ans Tageslicht gelangen, dann würden diese hinterhältigen Wächter in ihrem eigenen See ersaufen, er, Thorfin Njal, würde die Halunken eigenhändig ertränken. *
* Auch Thorfin Njal war inzwischen erwacht. Er hatte eine Bärennatur, und er entsann sich ziemlich schnell, was geschehen war. Die Halunken hatten ihn in eine der tausend Grotten oder Höhlen geschleppt, aus denen man nicht mehr herausfand, wenn man sie nicht sehr genau kannte. Und die Höhlen kannte der Wikinger längst nicht alle. Die ganze Insel war von ihnen durchzogen. Wütend stand er auf, wütend darüber, weil sie ihn überlistet hatten. Sein Schädel brummte und schmerzte, als hause ein ganzer Hornissenschwarm darin. ,;Ho, Seewolf!" brüllte er mit seiner Donnerstimme in die Dunkelheit hinein. „Melde dich! Wo bist du?"
Siri-Tong spürte von alledem nichts. Sie erwachte einmal kurz aus ihrer Bewußtlosigkeit, sah sich verständnislos nach allen Seiten um und schloß die Augen wieder. Sie ahnte nicht einmal, wo sie sich befand. Auch in ihrem Kopf rumorte es pausenlos. Ein paar Sekunden lang hatte sie das Gefühl von sengender Hitze, und sie hätte jetzt viel für einen Schluck Wasser gegeben. Aber es gab nichts Erfrischendes. Gleich darauf umfing sie wieder Bewußtlosigkeit. 10. Spiegelglatt lag der See da. Kein Lüftchen trübte seine Oberfläche, die grell von der Sonne beschienen wurde.
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Die beiden Wächter gingen am Ufer entlang, den schweren Stämmen entgegen, die in den See ragten und die schräg geneigte Ebene hielten, auf der der mächtige Block thronte. „Wir werden bei der Erfüllung unserer Aufgabe sterben", sagte Ngoon feierlich. „Die Götter wollen es so. Unser Zweck ist erfüllt." „So sei es", sagte Baraan ebenso feierlich. Er trug in der Hand ein scharfes Messer, während Ngoon sich das Schwert des Wikingers angeeignet hatte. Mit dieser Waffe genügte ein einziger Schlag, um das dicke Tau zu zerschlagen. Hoch über ihnen befand sich der mächtige Quader, zu dem sie nun hochstarrten, das Geschoß, das die Mauern des Sees durchbrechen würde, wenn es einmal ins Rutschen geriet. Drohend lag der Gigant auf dem höchsten Punkt der Rutsche. Mehr als vierzig Leute hatten sie benötigt, um den Quader auf der Rutsche hochzuziehen. Und diese Leute waren längst tot. Baraan erklomm die Rutsche an den Stämmen. Von oben konnte er zwischen den Felsen hindurch zur Schildkrötenbucht sehen. Was er sah, beschleunigte seinen Herzschlag. Da standen sie, die verhaßten Frevler, standen am Strand und unterhielten sich miteinander. Und bewaffnet waren sie auch - wie jene Piratenbrut, die damals so schrecklich unter ihnen gehaust hatte. Haßerfüllt blickte er hinunter. Er hatte scharfe Augen, und so erkannte er die dunklen Punkte im Sand und sah auch, daß ihre Waffen im Sonnenlicht hell aufblitzten. Er setzte sich rittlings auf den Quader. Wenn er Ngoon das vereinbarte Zeichen gab, würde der das Seil am unteren Ende durchtrennen und er zusammen mit dem gewaltigen Steinblock in die Felsmauer rasen. Wie ein Gott der Rache würde er mitten unter seine Feinde fahren, sie zusammen mit den ungeheuren Wassermassen töten, zerschmettern, erschlagen und erdrücken.
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„Sie kommen", sagte er zu Ngoon, der das Schwert in der Hand hielt. „Sie kommen, um das Auge der Götter zu erobern. Unsere Handlung ist gerechtfertigt. Wir können sie nicht mehr aufhalten." Nein, das konnten sie nicht mehr. Zwei Wächter gegen eine ganze Horde bewaffneter Seeräuber hatten keine Chance. Sie würden nach oben klettern und den See mit seinen Schätzen plündern. Ein Frevel, den sie nur noch auf ihre Art bestrafen konnten. Baraan hob die Hand, als die verhaßten Fremden sich anschickten, den Fuß des Berges zu erklimmen. Sein dunkles Gesicht war eine von grenzenlosem Haß entstellte Fratze. Wie der Blitz fuhr sein Arm nach unten. Gleich würde die große Träne aus dem Auge der Götter quellen, eine gewaltige Träne, die die Götter weinten, da man gefrevelt hatte. Ngoon holte mit dem Schwert des Wikingers weit aus. Mit einem gewaltigen Hieb zertrennte er das schwere Tau. Der riesenhafte Quader verlor seinen Halt, wankte einen Augenblick und setzte sich dann in Bewegung, donnernd, knirschend und polternd. Immer schneller raste er die Rutsche hinunter, und auf seinem oberen Teil hockte der Wächter und klammerte sich fest, als die Fahrt immer sausender und rasender wurde. Die Stämme bebten und erzitterten unter dem gewaltigen Ungetüm, das mit unvorstellbarer Kraft in den See drängte, auf die Felsmauer zu. Eine gischtende, hoch aufspritzende Welle riß das Auge der Götter aus der jahrelangen Ruhe. Machtvoll schoß der große Block in den See, bohrte sich durch das Wasser, das ihn nicht bremsen konnte und raste weiter in die Tiefe. Und der Wächter raste mit ihm, wie ein Rachegott tauchte er unter, fest an den Felsen geklammert. Ngoon schien das alles nicht zu berühren. Sein Blick war seltsam starr auf den eintauchenden Block gerichtet. Jetzt konnte ihn niemand mehr aufhalten,
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mühelos würde er durch die Felsenwand brechen. Er warf das Schwert des Wikingers achtlos in den Sand, blickte zum Himmel und sprang mit einem Satz in den See, in dem er augenblicklich versank. Der Block raste' weiter, und es gab keine Kraft, die ihn noch bremsen konnte. Immer noch erzitterte die schräg geneigte Ebene unter dem rasenden Gewicht. Auf der hölzernen Rutschbahn entstand hellblauer Rauch, der sich in den Himmel kringelte. Dann erfolgte der Anprall gegen die dünne Felswand. Der mehrere Tonnen schwere Block krachte dagegen und sprengte sie wie eine Eierschale. Die ganze Wand barst auseinander, die Insel erbebte, und dann brach das Chaos über Little Cayman herein. * Es begann mit einem leisen Winseln, das zu einem Singen anschwoll. Ben Brighton blieb stehen. Er legte den Kopf in den Nacken und lauschte angestrengt nach dem fremden Geräusch. Neben ihm erstarrte einer der Wikinger zu Stein. Er holte tief Luft und schien in dieser Stellung zu verharren. „Das Auge der Götter", murmelte er. „Sie haben ihre Drohung wahrgemacht." Zum Fragen blieb keine Zeit mehr. Ben Brighton sah sich gehetzt nach allen Seiten um. In diesem Augenblick lief ein leichtes Grollen durch den Erdboden, einem schwachen Rumoren ähnlich, das sich fortpflanzte und in dumpfes Donnern überging. „Zurück!" brüllte er aus Leibeskräften. „Lauft, was ihr könnt! Der See kommt herunter!" Die Seewölfe, sonst immer besonnen bis auf ein paar Hitzköpfe wie Luke Morgan, gerieten in Panik. In ihrer Erinnerung stand noch zu deutlich die riesige Flutwelle in der Windward-Passage, die alles zermalmt, die Felsen auseinandergesprengt und die Berge eingedrückt hatte.
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Jetzt saß ihnen der Schock derart in den Knochen, daß sie eine Sekunde wie gelähmt waren. In diesem Augenblick sah jeder noch einmal zum Auge der Götter empor. Dort erfolgte zu diesem Zeitpunkt ein donnernder Schlag. Eine kleine Wasserwelle schäumte über die Felsen. Jeder wußte, was das zu bedeuten hatte. Der riesige Quader war ins Wasser gerast und hatte diesen Vorläufer vor sich her geschoben und über die Felswände schwappen lassen. Ein sintflutartiger Wasserschwall war das erste, was über die Felsen schäumte. Ben Brightons Beine hämmerten ein rasendes Stakkato über die Felsen. Eine niegekannte Angst saß ihm im Nacken und trieb ihn voran. Ferris Tucker hatte noch das Rumoren in den Ohren. Er hatte das Gefühl, als liefe unter ihm der Boden wellenförmig davon und würde ihn nicht vorwärtskommen lassen. Ein paar Männer schrien und hieben in wilder Panik um sich. Dann begannen sie alle zu rennen, so schnell wie noch nie in ihrem Leben. Hier gab es eine Chance. Hier konnte man laufen, hetzen, sich in der. Luft überschlagen, wenn es sein mußte. Man konnte dem Inferno einfach weglaufen, wenn man schnell genug war. Und das beflügelte ihre Schritte. In der Windward-Passage waren sie hilflose Spielbälle auf einem Schiff gewesen, mit dem das Meer anstellen konnte, was es wollte. Da nutzte es nichts, wenn man lief. Carberry nahm diesmal seine Beine in die Hände. Er rannte wie ein Wilder, blickte sich dabei immer wieder um und stürmte über Felsen. Einmal überschlug er sich, aber er sprang sofort wieder auf, denn das, was sich hinter ihm zusammenbraute, war schlimmer als alles andere und ließ ihn einfach blindlings Weiterrennen. Er sah nicht die drei Wikinger, die mit ihm um die Wette liefen, er hörte nicht das Brüllen der Männer, ihre hämmernden Stiefel auf dem Untergrund. In den Ohren
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hatte er nur ein grausen, das rasch anschwoll, das sich näherte und ihn einzuholen schien. Jede Sekunde glaubte er zu spüren, wie ihn eine riesige Wassermasse von hinten packte und wegwischte. Einer der Wikinger war stehengeblieben. Rein instinktiv versuchte er, Schutz hinter einem Felsen zu suchen, in der Hoffnung, die Wassermassen würden ihm nichts anhaben. Doch dann sah er, daß dieser Gedanke einfach absurd war und begann weiterzulaufen. Dabei hatte er allerdings wertvolle Zeit verloren. Er ließ sich einfach fallen, warf sich mit Schwung nach vorn und zog den Schädel zwischen die Schultern. Und dann rollte er wie ein Stein, sich immer wieder überschlagend den Fuß des Berges hinunter. Auf der „Isabella" hatten sie das Rumoren ebenfalls vernommen. Big Old Shane sah die Männer am Fuß des Berges wie Figuren, die auf der Stelle verharrten. Dann liefen sie los, -Ä "e vom Satan gepeitscht und geknüppelt. „Um Himmels willen!" stöhnte er und griff nach Old O'Flynns Arm, der neben dem Kutscher stand. „Sieh dir das an! Diese Verrückten haben den See in die Luft gejagt!" Old O'Flynns Wangenmuskeln :raten scharf hervor, seine Augen quollen aus den Höhlen. Er dachte in diesem Moment gar nicht einmal an sich selbst, denn daß auch die „Isabella" von dem Inferno nicht verschont bleiben würde, war ihm klar. Er dachte vielmehr an die Seewölfe, die nicht rasch genug waren. Er hörte ihr Brüllen, sah auch die verzweifelten Männer der Roten Korsarin und dachte an Hasard, SiriTong und den Wikinger, die sich noch oben am Auge der Götter befanden. Zumindest für diese drei schien es nach menschlichem Ermessen keine Rettung mehr zu geben. Big Old Shane hörte, wie der alte O'Flynn plötzlich schluchzte. Er seufzte tief und senkte den Kopf.
Am Auge der Götter
„Sie sind verloren", sagte er mit erstickter Stimme, „niemand kann ihnen noch helfen, ein paar werden vielleicht davonkommen." Lauter wurde das Rumoren. Der Berg dröhnte und bebte. Und dann ging es los, es war fast noch furchtbarer als das schwere Seebeben, das sie fast verschlungen hätte. Oben flog der Berg explosionsartig wieinander, als der Felsbrocken ihn traf und zerfetzte. Tausende kleiner Felstrümmer flogen nach allen Seiten davon. Ein gewaltiger Riß erschien in den Felsen, der zickzackförmig nach unten lief und den Berg immer weiter aufriß. Wie ein ausbrechender Vulkan sah es aus, der seine Brocken wild in die Gegend warf, der explodierte. Shane schloß gequält die Augen. Der Kutscher murmelte ein Gebet und Old Flynn vergrub das Gesicht zwischen den Händen. Auf der Karavelle der Roten Korsarin sanken ein paar Kerle auf die Knie und bekreuzigten sich. Nackte Angst stand in ihren Gesichtern, als der Berg aufplatzte und eine Wasserwelle herausschleuderte, die niemand in dieser Größenordnung jemals gesehen hatte. So ging eine ganze Welt unter, dachten sie alle entsetzt, unfähig ein Wort hervorzubringen. Die Seewölfe rannten immer noch um ihr Leben. Zwei hatten den Strand erreicht. Der letzte, hinter dem jetzt schäumend, fauchend und brüllend wie ein riesiges Untier die Welle herraste, war der Schwede Stenmark. Niemand gab für sein Leben noch einen Cent. Shane hätte ihnen am liebsten zugerufen, sie sollten doch, verdammt noch mal, schneller laufen, aber das war natürlich Unsinn, dachte er. Es war die Hilflosigkeit, die ihn so denken ließ. Nichts, aber gar nichts konnte er unternehmen, ihm blieb nur das ohnmächtige hilflose Zuschauen. Sein Herz krampfte sich zusammen. Noch einmal sah er zum Berg hinauf, der jetzt buchstäblich in Stücke zu fliegen schien, den es unter unvorstellbaren, mächtigen Gewalten immer weiter zerriß.
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Wassermassen, ein ganzer Ozean schien es zu sein, ergossen sich mit fürchterlichem Gebrüll in die Tiefe. Nichts bot ihnen Widerstand. Felsen, auf die die Wasser trafen, wurden. einfach weggefegt, überrollt, herausgerissen und in den kochenden Höllenschlund geworfen, der sie brodelnd mit sich riß, zertrümmerte, zu Steinchen zermalmte, die in der Masse versanken und untergingen. Der See drängte nach. Jetzt, da das natürliche Hindernis verschwunden war, zog ihn die Tiefe an wie ein Magnet. Old Shane glaubte, einen Körper in den Fluten weit hervorschießen zu sehen. Das Wasser spie ihn aus, warf ihn weit von sich auf die Felsen und holte ihn wieder ein. Das Brüllen und Tosen wurde lauter. Fürchterliches Getöse erklang, Brüllen, Poltern, Rumoren, und nun bildeten sich auf dem Wasser der Schildkrötenbucht plötzlich kleine Kreuzseen, die die „Isabella", die Karavelle und die Schaluppe des Wikingers wütend von allen Seiten zugleich angriffen. Es war ein schauriges Schauspiel, das die Sonne grell beschien. Kopfgroße Goldklumpen schossen aus den Wassern heraus, in Diamanten brach sich tausendfach glitzernd das Licht, ehe sie von den nachdrängenden Wassermassen weggeschwemmt wurden. Immer wilder, immer ungezügelter brach das Wasser herab. Riesige Kaskaden schwemmten die Felsen weg, bahnten sich ihren Weg, zerschlugen alles, rissen das poröse Gestein auf, das donnernd davonflog und schossen ins Innere des Berges. Das Auge der Götter ging unter, in einem Fauchen und Kreischen, als hätten die Götter selbst die Naturgewalten entfesselt. Und Stenmark lief immer noch um sein Leben. Er wagte nicht, sich umzudrehen, er hatte ganz einfach Angst vor dem, was er dann sehen würde. Seine Lungen brannten, sein Herz pumpte wie wild. Hinter sich hörte er das hohle Brausen von Tausenden von Tonnen Wasser, das sich rasch näherte, das auf tausend unsichtbaren Beinen hinter ihm herraste.
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Die ersten Felsbrocken, durch die Wucht des Wassers aus dem Berg herausgesprengt, flogen an ihm vorbei, begleiteten die Höllenflut und lieferten die Geräuschkulisse des Untergangs. Stenmark konnte nicht mehr weiter, er war ausgelaugt, ohne Kraft. Und dann blieb er stehen und sah, sich um. Ruhig, gefaßt und von eisiger Kälte erfüllt, blickte er dem Höllenstrudel entgegen, der sich ihm entgegenwälzte. Nein, das bin ich nicht, der hier steht, dachte er immer wieder. Ich bin nur ein Zuschauer, der sich in Sicherheit befindet und den das alles nicht das geringste angeht. Fast interessiert betrachtete er das Quirlen und Brausen, sprang zur Seite als ein Felsbrocken auf ihn zuraste und in zwei Teile zersprang und entging dem nächsten Brocken nur ganz knapp. Stenmark erwartete den Tod mit der Gelassenheit eines Mannes, der jetzt genau wußte, daß er die Grenze erreicht hatte und sich der Schwelle zum Jenseits näherte, von der es kein Zurück mehr gab. Spielerisch leckten kleine Wellen an dem Fels, schossen auf ihn zu, tanzten an ihm vorbei und verloren sich gurgelnd weiter unten im Sand. Dann raste ein Schwall wie eine Riesenwand auf ihn zu. Nein, dieser Wand wäre er nie entkommen, da hätte er laufen können, so schnell er gewollt hätte. Die nasse Wand hüllte ihn fast zärtlich ein, dann warf sie ihn brutal und mitleidlos um, schleuderte ihn fort und wälzte sich mit der ganzen Wucht ihres Gewichtes über ihn. Dem Schweden drang Wasser in Mund und Nase, er wußte nicht mehr was oben und unten war, er glaubte immer wieder, auf der Stelle ersticken zu müssen und schluckte Mengen von Wasser. Halb betäubt rollte er weiter. Manchmal berührten seine Hände scharfkantiges Gestein, dann wieder 59 drückte ihn das Wasser direkt in die Felsen und hielt ihn dort fest. Edelsteine überspülten ihn, Gold floß an ihm vorbei und kostbare Perlen umschmeichelten seinen Körper.
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Merkwürdig, aber die paar Gedanken, die er noch fassen konnte, waren nicht von Angst durchsetzt. Ihm überkam eher so etwas wie ein tiefer Friede und ihm war, als höre er in nebelhafter Ferne riesige Glocken läuten. Danach erhielt er einen Schlag ins Kreuz. Der Schmerz war so grell und stechend und fuhr so sengend durch seinen Körper, daß er schlagartig wieder klar denken konnte. Vor ihm im Sand schäumte und brodelte es, und er sah sich verblüfft um. Er lag auf der Backbordseite des schwarzen Seglers halb im Wasser und begriff gar nichts mehr. Der liebe Gott persönlich mußte ihn hierher geschleudert haben, anders konnte er sich das nicht erklären. Er sah seine Kameraden, die immer noch rannten, sah wie Wasserwirbel sie erfaßten, umwarfen und auch wieder auf die Beine stellten. Da begriff er, daß für ihn ein kleines Wunder geschehen war. Er schlug die Hände vors Gesicht und begann fassungslos zu schluchzen. Er, der der letzte gewesen war, lag jetzt als erster hier am Strand, in Sicherheit, und da fiel ihm das ein, was der Bordgeistliche einmal gesagt hatte: „Die Letzten werden die ersten sein!" Merkwürdig, aber auf ihn traf dieser Spruch zu, allerdings in einem anderen Sinne, als der Bordgeistliche das gemeint hatte. * Hasard hörte es rumoren- und poltern. Der erste Gedanke galt dem Wikinger. Nur er konnte so geräuschvoll auftreten oder mit Felsen :mm sich werfen, wenn er wütend war. Der Seewolf lächelte leicht, vergessen waren die Schmerzen und die Finsternis. Thorfin Njal schien hier irgendwo in der Nähe zu stecken. „Thorfin!" schrie er, so laut er konnte, wobei er die Hände trichterförmig an den Mund legte. Aber es war nicht Thorfin, der ihm Antwort gab, sondern das Auge der Götter selbst.
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Nach dem wüsten Gepolter herrschte eine Sekunde lang absolute Stille. Dann erschütterte ein mächtiger, kraftvoller Schlag den Berg und ließ ihn bis in die Grundfesten erbeben. Unwillkürlich hielt der Seewolf die Luft an. Hinter ihm wackelte die Felswand bedrohlich, sie knirschte laut, und an manchen Stellen wurde sie blitzschnell von Rissen durchzogen. Er wußte, was das bedeutete, noch ehe das unaufhaltsame Rauschen und Tosen begann. Die Wächter hatten den Quader in Bewegung gesetzt und das Auge der Götter vernichtet. Und Siri-Tong, der Wikinger und er selbst, sie waren in dem Berg gefangen, denn er glaubte nicht, daß es den beiden anders ergangen war als ihm. Hasard geriet nicht in Panik. Er überlegte nur angestrengt, was er zu seiner Rettung unternehmen konnte. Es fiel ihm allerdings kaum etwas ein, denn er wußte nicht, wo er sich befand, ob an der Vorder- oder der Rückseite des Berges. Darüber erhielt er gleich Gewißheit, als ein noch mächtigerer Schlag die Felsen erzittern ließ. Steine polterten aus großer Höhe auf ihn herab, und ganz überraschend wurde es hell. Der Seewolf starrte nach oben, wo ein großer Felsbrocken Teile der Decke weggerissen hatte. Er war nicht sonderlich froh darüber, denn gleich würden unvorstellbare Wassermengen auf ihn herunterrauschen und das Loch noch weiter vergrößern. Das Rauschen rückte näher, unheimlich klang es in seinen Ohren, verstärkt durch die zahlreichen Hohlräume in den Felsen. Riesige Felsbrocken donnerten hoch über ihm vorbei, sprangen yardhoch in die Luft, krachten dann auf andere und rissen sie mit in die Tiefe. Er sah sich in der Höhle um. Sie war so groß, daß er sie nicht überblicken konnte und an ihrem vermeintlichen Ende herrschte tiefste Dunkelheit. Er rannte los, weg von dem klaffenden Loch in der Decke, in das sich gleich darauf der erste Schwall brodelnden
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Wassers ergoß, der in die Höhle hereinschäumte und sich kraftvoll einen Weg bahnte. Es kam ihm vor, als befände er sich auf einem untergehenden Schiff, das mit rasender Fahrt in die Tiefe glitt, erdrückt und zermalmt von dem ungeheuren Druck des Wassers. Ein paar Schritte schaffte er noch, dann stolperte er, als das brausende Wasser ihm die Beine unter dem Leib wegriß und ihn mit fürchterlicher Gewalt durch die Höhle trug. Hasard versuchte, dagegen anzukämpfen, doch es war aussichtslos. Gegen die Flut gab es keine Kraft, sie riß ihn mit sich fort, schmetterte ihn an die Wände, trug ihn weiter, begrub ihn unter sich, bis er kaum noch etwas fühlte. Zerschunden und angeschlagen fühlte er noch, wie er mit einem großen Schwall zusammen in eine bodenlose Tiefe fiel. Danach begrub ihn eine brüllende Welle. Wieder wurde es um den Seewolf herum dunkel. Er hörte ein letztes Krachen und Bersten, dann vernahm er nichts mehr. Die Welt um ihn herum wurde still und ruhig, sie hatte keine Geräusche mehr. * Auch dem Wikinger erging es ähnlich. Nur blieb er nicht ruhig und gefaßt. Als er den ersten donnernden Schlag vernahm, wußte er, daß jetzt das unvermeidliche Ende kam. Unbeherrscht fluchte er, rannte ziellos in seinem Gefängnis hin und her und bedauerte, daß er nicht wenigstens diese beiden tollwütigen Hunde, wie er die Wächter nannte, vorher noch hatte ersäufen können. Jetzt würde er selbst elend ersaufen, und das trieb ihn zur Raserei. Mit den Fäusten hämmerte er wütend gegen die Felsen. Über sich hörte er es rauschen und gurgeln. Immer lauter wurden die Geräusche, bis sie in ein machtvolles Dröhnen übergingen. Er hörte das Gestein knirschen und brechen, als wäre es morsches Holz. Durch zahllose winzige Risse drang Wasser in seine Grotte, das rasch den
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Boden bedeckte, immer höher stieg, bis es ihm an die Hüften reichte. Hallende Schläge erschütterten die Felsen jetzt von allen Richtungen, seitlich von ihm platzte die Wand auf, ein gezackter Riß schob sie weiter auseinander, sofort drängte Wasser nach und füllte den Raum schlagartig an. Ungläubig schaute der fluchende Wikinger auf den Goldsegen, der in die Höhle schwemmte. Ganze Schätze, Diamanten, Perlen, Gold und Edelsteine zog das Wasser mit sich. Unvorstellbare Werte, die ihm verdammt wenig von Nutzen waren. Jetzt erhielt er den Segen, jetzt, da er ihn nicht mehr brauchte. Vorher hätte er es nötig gehabt, um den schwarzen Segler aufzuriggen. Aber auch den brauchte er nicht mehr, der ging jetzt genauso zum Teufel wie er selbst. „Verdammte Scheiß-Insel!" brüllte er laut durch das Tosen. „Jetzt holt uns alle der Teufel, einen nach dem anderen, Mist, verfluchter!" Dann konnte er nicht mehr brüllen, denn Wasser drang ihm in den Hals und erstickte jeden weiteren Fluch. Es trug ihn ebenfalls wie den Seewolf in einem reißenden Strudel mit sich fort - ins Unbekannte hinein, in unterirdische Kavernen, die sich immer mehr mit Wasser füllten, die alle voll liefen, eine nach der anderen. Mit dem Helm knallte er an einen Felsen, gleich darauf noch einmal, und dann verschwand der Wikinger in einer engen Röhre, in die ihn das Wasser schleuderte. Auch er fiel nach einer Weile, aber er spürte es nicht mehr. Auch für ihn war die Gegenwart erloschen. Die einzige, die von dem Inferno kaum etwas mitbekam, war die Rote Korsarin. Zwar hatte sie mehrmals wieder das Bewußtsein erlangt, war aber immer wieder danach ohnmächtig geworden. Um sie herum war die Luft vom Zischen und Brausen wild heulender Winde erfüllt. Gurgeln, hartes Pochen, einen brüllenden Knall, mehr vernahm sie nicht. Sie sah auch das Wasser nicht, das ihren Körper umspülte. Eine neue Ohnmacht nahm sie gefangen.
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In der Schildkrötenbucht ging das Drama seinem Ende entgegen. Ben Brighton war es gelungen, dem tobenden Wasser zu entkommen. Aber er war so erschöpft, daß er keinen einzigen Schritt mehr gehen konnte. Schweratmend lag er im Sand, restlos fertig, total am Ende. Nur halb unbewußt nahm er wahr, daß die Männer immer noch liefen, schrien und brüllten. Er spuckte Sand aus, der ihm zwischen die Zähne geraten war, hob müde den Kopf und sah zum Auge der Götter. Dort war noch lange nicht Ruhe eingekehrt. Der See schien unerschöpflich zu sein. Immer noch brachen Felswände, immer noch polterten riesige Brocken in die Bucht, sprangen yardhoch in den Himmel, rollten ins Wasser, wo sie große Wirbel erzeugten. „Ich glaube, ich bin längst tot", sagte jemand neben ihm. Ben drehte mühsam den Kopf, er konnte kaum sprechen, und es dauerte eine Weile, bis er den blonden Schweden erkannte, der nicht weit von ihm ebenfalls im Sand lag und ständig einen Schwall Wasser nach dem anderen erbrach. „Stenmark", sagte er matt, wobei er versuchte, sich auf einen Ellenbogen aufzurichten. Es gelang ihm nicht, kraftlos fiel er wieder in den Sand zurück. „Die Insel geht unter", sagte Stenmark. „Glaube ich nicht. Aber die Schiffe werden etwas abkriegen. Verdammt, wir hätten sie doch aus der Bucht bringen sollen. Aber das haben wir ja vorher nicht gewußt." Jetzt erst sah er den Schweden deutlicher, der vorher immer vor seinen Augen auf und ab getanzt war. „Junge, wie siehst du denn aus!" hauchte er mühsam. Das Gesicht des Schweden sah aus, als hätte es jemand mit grobem Schmirgelleinen abgerieben. Überall traten winzige Blutstropfen aus der Haut hervor. Seine Augen waren rot, aus seiner Nase lief Blut, seine Lippen waren aufgeplatzt,
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zerschunden, und beim Sprechen wackelte bedrohlich ein Zahn. „Mir geht's gut", stöhnte Stenmark. „Aber du siehst auch nicht viel besser aus, Ben." Das Wasser wälzte sich immer noch den Berg hinunter. Es schien kein Ende zu nehmen. Dazwischen wirbelten große Goldbrocken, Diamanten glitzerten. Das Wasser nahm sie mit, schwemmte sie wieder in die zahlreichen Risse hinein und überdeckte sie. Die sagenhaften Schätze vom Auge der Götter waren wahrscheinlich für alle Zeiten verloren, doch daran störte sich jetzt niemand. Sie kämpften um ihr Leben, das höchste aller Güter. Carberry kam heran, ihn hatte die Flut ein wenig durcheinandergewirbelt, aber er konnte schon wieder grinsen, wenn auch nur unter Schmerzen. Einer nach dem anderen trabte an, erledigt, Angst im Gesicht, blaue Flecken am ganzen Körper. Ferris Tucker war halb ertrunken. Er hatte Unmengen Wasser geschluckt, genau wie Stenmark. Der Profos legte ihn in den Sand, drehte ihn um und pumpte ihm mit letzter Kraft die Brühe aus den Lungen. Und noch immer rumorte und tobte der Berg, schleuderte Wasser heraus, warf mit riesigen Felsen. Die Männer konnten nicht mehr hinsehen, selbst der „Isabella" schenkten sie kaum einen Blick. Schlammassen wälzten sich mit dem Wasser hinab und deckten die Schätze wieder zu. Bob Grey torkelte heran, warf sich wortlos in den Sand und kotzte, bis er keine Luft mehr kriegte. Hier waren sie einigermaßen in Sicherheit, hierher drang das Wasser nicht, es tobte sich weiter am anderen Ende der Bucht aus, und es drang auch in die Höhlen, in denen der tote El Diabolo im Kreiseiner Huren und Gefolgsleute hockte, die alle längst nur noch aus Skeletten bestanden. Carberry richtete sich auf, setzte sich in den Sand und sah die anderen Männer der Reihe nach an. Sein Gesicht war plötzlich ernst, seine Lippen zuckten. „Was mag aus Hasard, dem Wikinger und der Korsarin geworden sein?" fragte er
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dumpf. „Heruntergekommen sind sie nicht, sonst hätten wir es gesehen. Also stecken sie irgendwo dort oben oder sind mit dem Wasser irgendwohin geschwemmt worden." Ja, Hasard und die anderen. Jeder dachte jetzt an sie, nachdem sie selbst ihr Leben gerettet hatten. Jetzt tauchten andere Probleme auf. Niemand glaubte ernstlich, daß sich die drei noch in Sicherheit hatten bringen können. Der Seewolf! Wie mochte es ihm ergangen sein? Eine bange Frage, die sie alle bewegte, die in ihnen fraß. Gab es das, daß er hier auf Little Cayman sein Ende gefunden hatte? Er. der unverwüstliche Kerl, der immer mit einem blauen Auge davonkam? „Erinnert ihr euch an den Jonas?" fragte Carberry. Er half Smoky auf die Beine, der am Wasser entlang wankte und immer wieder hinfiel, weil er zu schwach zum Laufen war. Natürlich, sie erinnerten sich an den Jonas, was sollte Carberrys Frage' „Er hat doch prophezeit, daß einer schwarzhaarigen Frau hier auf Little Cayman ernsthafte Gefahr drohe, „Ja, das hat er. Ganz aufgeregt war es. ich kann mich noch deutlich daran erinnern", sagte Ben. „Er hat recht behalten", murmelte Carberry. „Er hat immer recht behalten, dieser sonderbare Alte. Und wißt ihr, was ich glaube? Könnt ihr es euch denken?" „Sag, was du glaubst!" „Ich glaube, der Jonas ist der Wikinger", flüsterte Carberry. „Den Wikinger gibt es, längst nicht mehr, das wissen wir alle. Wir haben ihn untergehen sehen. Er ist nur in die Gestalt des Wikingers geschlüpft, und diesmal ist er endgültig gestorben." Die Männer sahen ihn an und schwiegen. Immer noch grollte, brüllte und tobte es weit vor ihnen. Der Berg, das Auge der
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Götter, schüttete seinen letzten Zorn gegen die Frevler aus, er gelangte nicht zur Ruhe. Aber die meisten waren in Sicherheit, hatten den Strand erreicht und waren mit blauen Flecken davongekommen. Immer wieder tauchte einer auf wie ein Gespenst, ausgelaugt und erledigt. Ben Brighton stand mühsam auf und stützte sich auf Carberry, der ihn festhielt. Unsicher stand er auf den Beinen und stöhnte verhalten. Dann sah er zur „Isabella" hinüber. Ja, sie war noch da, tanzte und schlingerte wie wild auf den Wellen, die sich in der Bucht gebildet hatten. Auch die Karavelle und die Schaluppe waren noch da und verschont geblieben. Er wollte etwas sagen und deutete mit der Hand in die Bucht, aber da unterbrach ihn ein tiefes Grollen, das sich anhörte, als würde ein Vulkan losbrechen. Ein riesiges Stück der unteren Felswand brach heraus, das dem Druck solange noch standgehalten hatte. Jetzt fiel es auseinander, und der Rest des Sees ergoß sich brüllend, tobend und nach allen Seiten Steine und Felsen schleudernd in die Tiefe. Das Auge der Götter gab keine Ruhe. Es sah so aus, als würde es zum allerletzten, vernichtenden Schlag gegen die Überlebenden ausholen. Brüllend wälzte sich der Rest hinunter, begleitet von mächtigen Brocken, die noch weiter stürzten als die ersten. „Jetzt können wir nur noch beten", sagte Carberry fassungslos. „Und ich hatte geglaubt, es wäre vorbei." Nein, es war noch nicht vorbei. Diw Seele war den Göttern noch nicht entwichen, die wurde erst jetzt frei, und mit neuer Gewalt brauste es los. Die Männer wandten sich ab. Sie alle hatten graue Gesichter. Das Drama nahm eine neue Wende.
ENDE