Strind berg Am offnen Meer
Eine Edition der eBook-Bibliothek
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Strind berg Am offnen Meer
Eine Edition der eBook-Bibliothek
August Strindberg Am offenen Meer
Das Cover wurde nach dem Einband der Ausgabe des Hyperionverlages gestaltet. Als Vorlage diente August Strindberg, Am offenen Meer, in der Übertragung von Else von Hollander, Hyperionverlag, Berlin, 920, aus Milalis’ Bibliothek.
© eBOOK-Bibliothek 2005 für diese Ausgabe
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littera scripta manet
Erstes Kapitel Ein Fischerboot segelte an einem Maiabend bei seitlichem Winde draußen in der Bucht. Die in den Schären allbekannten drei Pyramiden begannen zu blauen, und an dem klaren Himmel bildeten sich Wolken, als die Sonne zu sinken begann; das Wasser klatschte schon an den Landspitzen, und unangenehme Rucke am Rahsegel deuteten an, daß der Landwind sich bald an dem neu erwachten Luftzug von oben, von draußen, von hinten brechen werde. Am Steuer saß der Zollaufseher der Ostschäre, ein Riese mit schwarzem, langem Vollbart, und schien dann und wann Blicke mit den beiden Unterbeamten zu tauschen, die vor ihm Platz hatten und von denen der eine die Klaustange bediente, die das große Rahsegel im Winde hielt. Bisweilen warf der Steuermann einen prüfenden Blick auf den kleinen Herrn, der zusammengekrochen am Mast saß, ängstlich und erfroren aussah, und dann und wann den Schal fester um Magen und Unterleib zog. Der Zollbeamte mußte ihn lächerlich finden, denn er bog sich ab und zu leewärts, um mit dem Tabakspeichel gleichsam ein aufsteigendes Lachen auszuspucken. Der kleine Herr hatte einen biberfarbenen Frühjahrsüberzieher an, unter dem weite Beinkleider aus moosgrünem Trikot hervorsahen, die nach unten über ein Paar Krokodillederstiefel mit schwarzen Knopfreihen auf braunen Tuchschäften herab-
fielen. Von der Unterkleidung war fast nichts zu sehen, aber um den Hals hatte er ein cremefarbenes Foulardtuch geschlungen, und seine Hände wurden gut geschützt von einem Paar lachsfarbener Glacéhandschuhe mit drei Knöpfen; der rechte Handschuh war von einem dicken goldenen Armband umschlossen, in Form einer Schlange, die sich in den Schwanz biß. Unter den Handschuhen sah man an den Fingern Erhöhungen wie von Ringen. Das Gesicht erschien, soviel man davon sehen konnte, mager und leichenblaß, und ein kleiner, dünner, schwarzer Schnurrbart, dessen Enden hochgekämmt waren, erhöhte die Blässe noch und gab dem Ausdruck etwas Exotisches. Der Hut war nach hinten geschoben und ließ schwarzes, gleichmäßig geschnittenes Stirnhaar wie ein Stück von einem Käppchen sehen. Was die Aufmerksamkeit des Steuermanns am stärksten und unablässig zu fesseln schien, war Armband, Schnurrbart und Stirnhaar. Während der langen Fahrt von Dalarö hatte der Steuermann, der ein großer Spaßmacher war, eine muntere Unterhaltung mit dem Fischmeister einzuleiten versucht, den er nach der Station auf der Ostschäre hinaussegeln sollte; aber der junge Doktor hatte eine verletzende Unempfänglichkeit für die zudringlichen Witze an den Tag gelegt, woraus der Zollbeamte den Schluß gezogen hatte, der »Instruktor« sei hochmütig. Aber der Wind frischte auf, als sie die Insel Hansten luvwärts ließen, und das lebensgefährliche Segeln begann. Der Fischmeister, der eine Seekarte in der Hand gehabt und sich nach Fragen, die er dann und wann hinwarf, Notizen gemacht hatte, steckte jetzt die Karte in die Tasche und wandte
sich an den Steuermann mit einer Stimme, die mehr wie die einer Frau klang als wie die eines Mannes. »Wollen Sie bitte etwas vorsichtiger segeln!« »Haben Sie Angst, Herr Instruktor?« antwortete der Steuermann spöttisch. »Ja, ich habe Angst um mein Leben, denn daran liegt mir viel,« erwiderte der Fischmeister. »An dem anderer Menschen nicht?« wies ihn der Steuermann zurecht. »Wenigstens nicht soviel wie an meinem eigenen,« entgegnete der Fischmeister. »Und segeln ist eine gefährliche Beschäftigung, besonders mit dem Rahsegel.« »So? Sind Sie denn schon viel mit dem Rahsegel gesegelt?« »Nie in meinem Leben! Aber ich kann doch sehen, wo der Wind seine Kraft ansetzt, kann berechnen, wie großen Widerstand die Schwere des Bootes leistet, und weiß sehr wohl zu beurteilen, wann das Segel back schlägt.« »Nun, so setzen Sie sich doch selbst ans Steuer!« schnauzte der Zollbeamte. »Nein, das ist Ihr Platz; ich sitze nicht auf dem Kutschbock, wenn ich in Angelegenheiten der Krone reise.« »Sie können natürlich nicht segeln.« »Wenn ich es nicht kann, so ist es doch gewiß sehr leicht zu erlernen, da jeder zweite Schuljunge es kann und jeder Zollbeamte desgleichen; es ist also für mich keine Schande, es nicht zu können! Segeln Sie jetzt nur vorsichtig, denn ich will nicht naß werden und möchte mir ungern meine Handschuhe ruinieren.« Das war kurzer Bescheid, und der Zollbeamte, der doch der Haupthahn auf der Ostschäre war, fühlte sich etwas abgesetzt.
Nach einer Drehung des Steuers füllte sich das Segel wieder, das Boot schoß gleichmäßig dahin und hielt auf die Schäre zu, deren weißes Zollgebäude im ungebrochenen Licht des Sonnenuntergangs grell leuchtete. Die inneren Schären verblaßten, und man hatte das Gefühl, jeden Schutz und Schirm zurückzulassen, als man jetzt auf das große Wasser hinausmußte, das sich grenzenlos und im Osten düster drohend öffnete. Es war keine Aussicht, in Lee von Holmen oder Schären dorthin zu kreuzen, keine Möglichkeit, im Falle eines Sturmes abzutakeln und zu reffen; hinaus mußte man, mitten ins Verderben hinein, über den schwarzen Schlund hinweg, hinaus nach der kleinen Insel, die nicht größer aussah als eine ins Meer geworfene Boje. Der Fischmeister, dem, wie angedeutet, viel an seinem eigenen Leben lag und der intelligent genug war, seine unbeträchtliche Widerstandskraft gegen die unermeßlichen Kräfte einer übermächtigen Natur berechnen zu können, fühlte sich unbehaglich. Er war mit seinen sechsunddreißig Jahren zu scharfsichtig, um Einsicht und Mut des Steuermanns zu überschätzen, und blickte durchaus nicht mit Zuversicht auf das braune Gesicht mit dem Vollbart; er glaubte nicht, daß ein muskulöser Arm mit einem Wind fertig werden könne, der mit dem Druck von Tausenden von Pfunden gegen eine schwankende Segelfläche blies, und durchschaute diese Art von Mut, der nur auf mangelhafter Einsicht beruhte. Was für eine Dummheit, dachte er, sein Leben in einem kleinen offnen Boot aufs Spiel zu setzen, da es gedeckte Fahrzeuge und Dampfer gab. Was für eine unglaubliche Einfalt, ein so großes Segel an einem Tannenmast zu hissen, der sich wie ein Flitzbogen krümmte, wenn der Wind ihn faßte. Die
Leewant hing schlapp, ebenso das Vorderstag, und der ganze Winddruck lag auf der Luvwant, die obendrein morsch aussah. Einem so unsicheren Zufall wie der größeren oder geringeren Kohäsion einiger Hanftaue wollte er sich nicht überlassen; deshalb wandte er sich beim nächsten Windstoß an den Bootsmann, der am Fall saß, und mit kurzer, aber durchdringender Stimme befahl er: – »Das Segel herunter!« Der Mann blickte achteraus, um den Befehl des Steuermanns abzuwarten, aber der Fischmeister wiederholte seine Weisung unverzüglich und mit solchem Nachdruck, daß das Segel fiel. Jetzt begann der Aufseher zu schreien: »Wer zum Teufel kommandiert das Manöver in meinem Boot?« »Ich!« antwortete der Fischmeister. Und darauf wandte er sich mit einem neuen Befehl an die beiden Leute: »Legt die Riemen aus!« Die Riemen wurden ausgelegt, und das Boot schwankte hin und her, denn der Aufseher hatte in der Wut das Steuer losgelassen mit den Worten: »Ja, dann muß er sich selbst ans Steuer setzen!« Der Fischmeister hatte den Platz achteraus eingenommen, und die Ruderpinne lag unter seinem Arm, bevor noch der Aufseher zu Ende geflucht hatte. Der Glacéhandschuh platzte sofort an den Daumennähten, aber das Boot fuhr gleichmäßig dahin, während der Aufseher in seinen Bart hineinlächelte und ein Ruder bereit hielt, um nötigenfalls dem Boot seinen Kurs zu geben. Aber der Fischmeister konnte dem zweifelnden Seemann keine Beachtung schenken, er starrte nur aufmerksam nach der Windseite; bald
konnte er die Dünung mit ihrer viele Meter langen Talsenkung, die Windwoge mit ihrem kurzen Sturzfall unterscheiden, und nachdem er mit einem hastigen Blick achterwärts die Abtrift abgeschätzt und im Kielwasser die Strömung sich gemerkt hatte, war er sich vollkommen klar, welchen Kurs er einhalten mußte, um nicht an der Ostschäre vorbeizutreiben. Der Aufseher, der lange versucht hatte, den schwarzen, brennenden Blicken zu begegnen, damit sie sein Lächeln bemerken sollten, wurde dessen bald müde, denn es sah aus, als wollten diese Augen nichts von ihm annehmen, als wollten sie sich von der Berührung mit etwas Störendem oder Beschmutzendem rein halten; und nachdem er eine Weile gebettelt hatte, wurde er niedergeschlagen und zerstreut und begann schließlich das Manöver zu beobachten. Die Sonne war jetzt bis an den Horizont gesunken, und die Seen brachen sich, purpurschwarz unten am Fuß, tiefgrün im Fall, und wenn die Kämme sich sehr hoch erhoben, leuchtete es grasgrün und der Schaum sprühte und zischte in der Sonne rot, champagnerfarben; das Boot mit der Mannschaft lag unten in der Dämmerung, während oben auf dem Wellenrücken die vier Gesichter einen Augenblick aufleuchteten, um gleich darauf wieder zu erlöschen. Aber nicht alle Seen brachen sich, einige schaukelten auch heran und wiegten das Fahrzeug leise, hoben es und preßten es vorwärts. Es machte jedoch den Eindruck, als könne der kleine Steuermann von weitem beurteilen, wann eine Sturzsee kommen werde; mit einem leichten Druck auf die Ruderpinne hielt er dann stand, wich aus oder schmiegte sich an der furchtbaren grünen Wand vorbei, die drohend vorstürzte und ihre Wölbung über das Boot schlagen wollte.
Die Sache war die, daß durch das Einziehen des Segels die Gefahr wirklich erhöht war, denn die treibende Kraft hatte sich vermindert, und man mußte die Hebekraft des Segels entbehren, deshalb begann das Erstaunen des Aufsehers über das unglaublich feine Manövrieren in Bewunderung umzuschlagen. Er sah an dem wechselnden Ausdruck des blassen Gesichts und den Bewegungen der schwarzen Augen, daß da drinnen Berechnungen schwierigster Art angestellt wurden, und nachdem er, um nicht überflüssig zu erscheinen, sein Ruder ausgelegt hatte, hielt er die Zeit für gekommen, freiwillig seine Anerkennung zu äußern, ehe sie ihm abgerungen wurde. »Der ist schon auf See gewesen!« Der Fischmeister, der zum Teil stark in Anspruch genommen war, zum Teil in keinerlei Kontakt kommen wollte, um nicht in einem unvorhergesehenen Augenblick der Schwäche von der anscheinenden Überlegenheit im äußern des Riesen angeführt zu werden, antwortete nichts. Sein rechter Handschuh war längs der ganzen Daumenwurzel geplatzt, und das Armband war hinuntergeglitten. Als nun die Feuer oben auf den Wogenkämmen erloschen und die Dämmerung sich herabsenkte, holte er mit der linken Hand ein Monokel heraus, warf es ins rechte Auge und drehte hastig den Kopf nach verschiedenen Seiten, als suche er Land, wo kein Land zu sehen war. Dann schleuderte er eine blitzschnelle Frage hin: »Ihr habt kein Leuchtfeuer auf der Ostschäre?« »Nein, leider nicht!« antwortete der Aufseher. »Haben wir denn Untiefen?« »Reines Wasser.«
»Sind die Leuchtfeuer von Landsort und Sandhamn zu sehen?« »Sandhamn unbedeutend, Landsort mehr,« antwortete der Aufseher. »Sitzt jetzt still auf euern Plätzen, dann fahren wir richtig,« schloß der Fischmeister, der nach den Köpfen der drei Männer und einigen unbekannten festen Punkten in der Ferne ein Besteck gemacht hatte. Die Wolken hatten sich zusammengeballt, und an die Stelle der Maidämmerung war ein Halbdunkel getreten. Es war, als schaukele man in einer dünnen, aber undurchdringlichen Materie dahin, ohne Licht; die Seen erhoben sich jetzt nur wie dunklere Schatten gegen den Halbschatten der Luft, steckten die Köpfe unter das Boot, nahmen es auf den Rücken und tauchten auf der anderen Seite wieder auf, wo sie flach verebbten. Freund von Feind zu unterscheiden wurde jetzt schwerer und die Berechnungen unsicherer. Zwei Ruder waren auf der Leeseite in Tätigkeit und eins luvwärts, und durch Anwendung von größerer oder geringerer Kraft im rechten Augenblick mußte das Boot flott gehalten werden. Der Fischmeister, der bald nur noch die beiden Leuchtfeuer im Norden und Süden sah, mußte nun das Auge durch das Ohr ersetzen; aber ehe er sich daran gewöhnen konnte, am Tosen, Ächzen und Zischen der Welle eine Sturzsee von einer Windwelle zu unterscheiden, war schon Wasser ins Boot gekommen, und er mußte seine feinen Stiefel retten, indem er sie auf die Bäting setzte. Bald jedoch hatte er die Harmonielehre der Seen studiert und hörte sogar am Tempo des Schwalls, wenn die Gefahr nahte; er spürte am Trommelfell des rechten Ohres, wenn
der Wind stärker drückte und das Wasser tiefer aufzuwühlen drohte, es war, als habe er nautische und meteorologische Instrumente aus seinen empfindlichen Sinnen improvisiert, zu denen die Leitungen aus seiner großen Hirnbatterie führten, die von dem kleinen, lächerlichen Hut und den schwarzen Hundeponys verdeckt wurde. Die Männer, die beim Eindringen des Wassers einen Augenblick aufrührerische Worte gemurmelt hatten, verstummten, als sie spürten, wie das Boot dahinflog, und bei jedem Kommando: Luv oder Lee wußten sie, auf welcher Seite sie sich ins Zeug zu legen hatten. Der Fischmeister hatte auf die zwei Leuchtfeuer gepeilt und benutzte das viereckige Glas des Monokels als Distanzmesser; die Schwierigkeit, Kurs zu halten, lag darin, daß aus den Häusern auf der Schäre kein Lichtschein fiel, weil sie im Schutz der Klippen angelegt waren. Als nun die gefährliche Fahrt eine Stunde oder länger gedauert hatte, begann am Horizont eine dunkle Erhöhung aufzutauchen. Der Steuermann, der durch Einholen zweifelhafter Ratschläge seine Intuitionen, zu denen er mehr Zutrauen hatte, nicht stören wollte, steuerte schweigend auf die Erhöhung zu, die er für die Schäre oder für eine von ihren Vorklippen hielt, und tröstete sich mit dem Gedanken, das Erreichen eines festen Punktes, welcher Art er auch sein mochte, sei immer noch besser als dies Schweben zwischen Luft und Wasser. Aber die dunkle Wand näherte sich mit einer Schnelligkeit, die größer war als die Geschwindigkeit des Bootes, so daß in dem Fischmeister der Argwohn erwachte, daß mit der Richtung nicht alles in Ordnung sei. Um Gewißheit zu bekommen, was es sein konnte, und zugleich ein Signal zu geben, falls der dunkle
Gegenstand ein Fahrzeug sein sollte, das die Laternen zu hissen versäumt hatte, zog er seine Schachtel Sturmzündhölzer, strich das ganze Bund an der Reibfläche an und hielt es einen Augenblick hoch empor, worauf er es wegschleuderte, daß es einige Meter weit den Umkreis erhellte. Das Licht hatte nur für einen Moment die Dunkelheit durchdrungen, doch der Anblick, der sich wie das Bild einer Zauberlaterne offenbart hatte, stand noch mehrere Sekunden vor den Augen des Fischmeisters. Er sah Treibeis an einer seichten Stelle aufgetürmt, an der eine See sich brach wie eine Grottenwölbung über einer Riesendrüse aus Kalkspat; und er sah einen Schwarm Eisvögel und Meermöwen emporsteigen und in der Finsternis ertrinken, aus der nur ein vielstimmiger Schrei zu hören war. Der Anblick der Sturzsee hatte auf den Fischmeister wie der Anblick des Sarges gewirkt, in dem der zerteilte Körper des zum Tode Verurteilten liegen soll, und er fühlte im Augenblick dieser Vorstellung die doppelte Todesgefahr des Erfrierens und Erstickens; aber die Angst, die seine Muskulatur lähmte, weckte dafür alle verborgenen Kräfte des Seelenlebens, so daß er im Bruchteil einer Sekunde die Größe der Gefahr sicher abschätzen, die einzigen Mittel, zu entkommen, berechnen und darauf das Kommandowort »Stopp!« ausrufen konnte. Die Männer, die mit dem Rücken nach der Sturzsee gesessen und sie nicht wahrgenommen hatten, ließen die Riemen ruhen; das Boot wurde auf die Sturzsee zu gepreßt, die eine Höhe von drei, vier Metern haben mochte, die Woge brach sich hoch über dem Fahrzeug wie eine grüne Kuppel aus Flaschenglas und ging auf der andern Seite mit ihrer ganzen Wassermasse nieder; der Kahn wurde jenseits gewissermaßen ausgespien, freilich halb mit Wasser gefüllt, und die
Passagiere waren von dem fürchterlichen Luftdruck nahezu erstickt. Drei Aufschreie wie von Schlafenden, die der Alp reitet, ertönten gleichzeitig; aber von dem vierten Insassen, dem Steuermann, vernahm man keinen Laut. Er machte nur eine Handbewegung nach der Schäre hin, wo jetzt einige Kabellängen leewärts ein Licht zu flimmern schien, dann sank er auf den Achtersteven nieder und blieb liegen. Der Kahn hörte auf zu schaukeln, denn man war in ruhiges Wasser gekommen, die Ruderer saßen noch wie betäubt da und tauchten die Riemen ein, was nicht nötig war, da das Boot vom Winde sacht in den Hafen getrieben wurde. »Was habt ihr im Boot, gute Leute?« grüßte ein alter Fischer, nachdem er ein vom Winde weggefegtes »Guten Abend« gerufen hatte. »Das soll einen Fischmeister vorstellen!« flüsterte der Zollaufseher, während er den Kahn hinter einem Bootsschuppen ans Land zog. »Ach so, ist das so einer, der die Netze beschnüffeln soll! Na, dem wird’s gut gehen, da er noch dazu krank ist,« meinte der Fischer Öman, der das Haupt der armen, wenig zahlreichen Bevölkerung der Schäre zu sein schien. Der Aufseher wartete, der Fischmeister solle Anstalten zum Aussteigen machen, als aber von dem kleinen Bündel, das im Achtersteven lag, keinerlei Bewegung zu merken war, stieg er unruhig ins Boot, faßte mit seinen beiden Armen unter den zusammengesunkenen Körper und trug ihn an Land.« »Ist es aus mit ihm?« fragte Öman nicht ohne eine gewisse Hoffnung im Ton. »Viel ist nicht mit ihm los,« antwortete der Aufseher und trug seine nasse Last nach dem Hause hinauf.
Das Bild, als der hochgewachsene Aufseher in die Küche seines Bruders trat, wo die Schwägerin am Herd stand, hatte etwas vom Riesen und vom Däumling. Und als er den kleinen Körper auf ein Sofa niederlegte, leuchtete ein Zug von Mitleid mit dem Schwächeren aus dem großen Bart unter der niedrigen Stirn. »Sieh, da haben wir den Fischereiinspektor, Mari,« begrüßte er darauf seine Schwägerin und faßte sie um die Taille. »Hilf uns jetzt, daß er was Trocknes auf den Leib und was Nasses in den Leib kriegt, und dann kann er auf seine Stube gebracht werden.« Der Fischmeister gab eine klägliche und lächerliche Figur ab, wie er da auf dem harten Holzsofa lag. Der hochstehende weiße Hemdkragen wand sich wie ein schmutziger Lappen um den Hals, alle Finger der rechten Hand ragten aus dem aufgeplatzten Handschuh heraus; auf den die aufgeweichten Manschetten niederhingen, von der gelösten Stärke festgeklebt; die kleinen Stiefel aus Krokodilleder hatten Glanz und Form verloren, und nur mit größter Mühe konnten der Zollbeamte und seine Schwägerin sie vom Fuß ziehen. Als die Wirtsleute schließlich dem Schiffbrüchigen die meisten Kleider ausgezogen und Decken über ihn geworfen hatten, holten sie heiße Milch und Branntwein. Nachdem jeder einen Arm des Kranken geschüttelt hatte, nahm der Aufseher den kleinen Körper in den Arm und flößte die Milch langsam in den unter einem Paar geschlossener Augen weit aufstehenden Mund. Als aber die Schwägerin den Schnaps nachgießen wollte, schien der Geruch wie ein heftiges Gift auf den Fischmeister zu wirken. Mit einer Handbewegung, stieß er das Glas zurück, öffnete dann die Augen und fragte bei vol-
lem Bewußtsein, als habe er eben einen stärkenden Schlaf beendet, nach seinem Zimmer. Es sei natürlich nicht in Ordnung, aber es werde in einer Stunde fertig sein, wenn er nur so lange hier still liegen und warten wolle. Und nun lag der Fischmeister da und vertrieb sich eine unerträgliche Stunde damit, die Augen über Einrichtung und Bewohner der ungemütlichen Stube gleiten zu lassen. Es war die Amtswohnung des Aufsehers der kleinen Zollabteilung auf den Ostschären. Alles knapp bemessen, nur als Dach überm Kopf gedacht. Die weißen, untapezierten Wände abstrakt wie der Staatsbegriff, vier weiße Rechtecke, die einen Raum umschlossen, der wieder von einem weißen Rechteck gedeckt wurde. Unpersönlich, hart wie ein Hotelzimmer, das nicht zum wohnen, nur zum logieren bestimmt ist. Tapeten für seine Nachfolger oder für die Krone zu kleben, hatten weder dieser Aufseher noch seine Vorgänger Lust gehabt. Und mitten in diesem toten Weiß standen dunkle Möbel, schlechte Fabrikarbeit, von halbmodernem Stil. Ein runder Eßtisch aus knorrigem Fichtenholz, mit Nußbaumbeize gestrichen und voll weißer Tellerringe. Stühle aus dem gleichen Material mit hohen Lehnen, einige auf drei Beinen schaukelnd; ein Ausziehsofa, gleich fertiggekauften Herrenkleidern aus schlechtestem Stoff zum billigsten Preise hergestellt. Alles war unzweckmäßig; nichts schien seine Bestimmung, zur Ruhe oder Bequemlichkeit einzuladen, erfüllen zu können und war deshalb unschön, trotz den aufgeleimten PapiermacheeOrnamenten. Als der Aufseher sich mit seinem breiten Hinterteil auf das Rohrgeflecht des Stuhls setzte und seinen mächtigen Rücken
gegen die Lehne stützte, rief dies Manöver ein störendes Krachen des Möbelstücks und eine zornige Ermahnung der Schwägerin hervor, mit fremden Sachen vorsichtig zu sein, worauf der Aufseher mit einer zudringlichen Liebkosung antwortete in Verbindung mit einem Blick, der über die Art der Beziehungen zwischen den beiden keinen Zweifel ließ. Die Beklemmung, die das ganze Zimmer in dem Fischmeister hervorgerufen hatte, wurde durch die Entdeckung dieser Disharmonie noch verstärkt. Als Naturforscher hatte er nicht die üblichen Begriffe von Erlaubtem und Unerlaubtem, dafür aber einen stark ausgeprägten Instinkt für die Zweckmäßigkeit gewisser Naturgesetze, und er litt innerlich, wenn er das Gebot der Natur übertreten sah. Das war für ihn, als fände er in seinem Laboratorium eine Säure, die seit Erschaffung der Welt sich nur mit einer Base zu vereinigen pflegte, jetzt aber gegen ihre Natur mit zweien eine Verbindung einging. Das verwirrte seine Ansichten über die Entwicklung, die nach seiner Meinung vom allgemeinen Geschlechtsverkehr zur Monogamie fortgeschritten war, und er fühlte sich in die Urzeit unter wilde Menschenhorden zurückversetzt, die ein Korallenleben mit Massendasein lebten, bevor Zuchtwahl und Variation individuelle persönliche Existenz und Abstammung zu schaffen vermochten. Und als er ein zweijähriges Mädchen mit zu großem Kopf und Fischaugen mit Katzenschritten im Zimmer umhergehen sah, als fürchte es, gesehen zu werden, merkte er sofort, daß diese zweifelhafte Geburt Zwietracht gesät, auflösend, störend gewirkt hatte, und er konnte sich leicht ausrechnen, daß der Augenblick kommen mußte, da der lebende Zeuge
alle unfreiwillige Schuld eines gefährlichen Mitwissers entgelten mußte. Während dieser Gedanken öffnete sich die Tür und der Herr des Hauses trat ein. Es war der Bruder des Aufsehers, der bis auf weiteres das untergeordnete Amt eines Zollwächters versah. Elmar körperlich noch besser ausgestattet als der Aufseher, hatte aber ein blondes, offenes, freundliches und vertrauenerweckendes Aussehen. Nachdem er fröhlich Guten Abend gewünscht hatte, ließ er sich am Tisch neben dem Bruder nieder, nahm das Kind auf den Schoß und küßte es. »Wir haben Besuch bekommen,« sagte der Aufseher und zeigte nach dem Sofa, auf dem der Fischmeister lag. »Der Fischerei-Instruktor, der hier oben wohnen soll.« »Soo, der ist das?« antwortete Vestman und erhob sich zur Begrüßung. Mit dem Kind auf dem Arm näherte er sich dem Sofa, und da er der Wirt im Hause war, denn der Bruder als Junggeselle war nur bei ihm in Pension, so glaubte er seinen Gast willkommen heißen zu müssen. »Bei uns hier draußen ist es einfach,« fügte er nach einigen Willkommensworten hinzu, »aber meine Alte ist im Kochen nicht ganz unerfahren, denn sie hat früher in besseren Häusern gedient, bis sie sich vor drei Jahren mit mir verheiratet hat; seit wir aber das Kind haben, hat sie an etwas anderes zu denken – jaja, Kinder kriegt man, wenn man einander beisteht, – das heißt, nicht daß ich einen Beistand brauchte …« Der Fischmeister wunderte sich über die schroffe Wendung, die der lange Satz nahm, und fragte sich, ob der Mann et-
was wisse oder nur erst das Gefühl habe, daß etwas nicht in Ordnung sei. Er selber hatte ja in zehn Minuten gesehen, wie alles stand, – wie wäre es da möglich, daß der, den es anging, ein paar Jahre lang nichts gesehen haben sollte? Ekel vor dem Ganzen erfaßte ihn, und er drehte sich nach der Wand, um die Augen zu schließen und mit eigenen Bildern angenehmerer Art die noch bleibende halbe Stunde zu vertreiben. Aber er konnte sich nicht taub machen, sondern hörte gegen seinen Willen, wie die Unterhaltung, die vorhin so lebhaft gewesen war, weiterholperte, als würden die Worte, ehe man sie aussprach, mit dem Zollstock gemessen; und wenn eine Pause entstand, so wurde sie von dem Mann ausgefüllt, der die Stille zu verabscheuen schien, etwas zu hören fürchtete, was er nicht hören wollte und erst ruhig wurde, wenn sein eigener Wortschwall ihn berauschte. Als schließlich die Stunde um war und er immer noch wegen des Zimmers keinen Bescheid bekam, erhob sich der Fischmeister und fragte, ob es noch nicht fertig sei. Ja, meinte die Wirtin, gewissermaßen sei es fertig, aber … Der Fischmeister ersuchte nun in befehlendem Ton, sofort auf sein Zimmer geführt zu werden, indem er in gewählten Worten daran erinnerte, daß er nicht hergekommen sei, um einen Besuch zu machen, sondern in bestimmten Angelegenheiten der Krone reise und daß er nur verlange, wozu er ein Recht habe – und dies Recht habe er auf Grund der Verfügung, die vom Ministerium des Innern durch die Oberzolldirektion an das königliche Zollamt in Dalarö ergangen sei.
Damit war die Sache klargestellt, und mit einem Licht in der Faust geleitete Vestman den gestrengen Herrn eine Treppe hoch in eine Giebelstube, in deren Einrichtung nichts den verlangten einstündigen Aufschub erklären konnte. Es war ein ziemlich großes Zimmer mit den gleichen weißen Wänden wie unten in der Stube, und das große Fenster öffnete sich in der Mitte der Längswand wie ein schwarzes Loch, aus dem die Dunkelheit ins Zimmer strömte, ohne von Gardinen gehindert zu werden. Ein Bett war aufgemacht, primitiv, als sei es nur eine Erhöhung über dem Fußboden, damit der Schlafende nicht im Zug auf dem Boden liegen solle; ein Tisch, zwei Stühle, eine Waschkommode. Der Fischmeister warf einen verzweifelten Blick um sich, als er, der gewohnt war, sein Auge mit Eindrücken zu sättigen, nur die vereinzelten Bedarfsgegenstände in dem leeren Raum plaziert sah, in dem das Talglicht seinen Kampf mit der Finsternis ausfocht, und dessen großes Fenster jeden Lichtstrahl zu verzehren schien, den der brennende Talg erzeugte. Er fühlte sich so verloren, als sei er nach dem Kampf, durch den er sich während eines halben Menschenalters zu Verfeinerung, guter Stellung, Luxus emporgekämpft hatte, in die Armut hinunter gestürzt, in eine niedrigere Klasse versetzt; als sei sein schönheits- und weisheitsliebendes Gemüt ins Gefängnis gesteckt, seiner Nahrung beraubt, in eine Strafanstalt gekommen. Diese nackten Wände waren die Klosterzelle des Mittelalters, in der das Fehlen aller Bilder, die Leere des Milieus die hungernde Phantasie getrieben hatte, an sich selbst zu nagen, hellere oder dunklere Visionen hervorzurufen, nur um aus dem Nichts herauszukommen. Das
weiße, das formlose, das farblose Nichts im Kalkanstrich der Wände zwang einen Bildtrieb hervor, den die Höhlen oder Hütten des Wilden nie hervorgerufen, den der Wald mit seinen immer wechselnden Farben und beweglichen Konturen entbehrlich gemacht, einen Trieb, den weder die Ebene, noch die Heide mit dem reichen Farbenspiel der Luft, noch das nie ermüdende Meer geweckt hatten. Er fühlte plötzlich eine gärende Lust, in einem Augenblick die Wände mit sonnigen Landschaften voller Palmen und Papageien zu bemalen; einen persischen Teppich an der Decke auszuspannen, Tierfelle auf die wie ein Kontobuch liniierten Dielen zu legen, Ecksofas, mit kleinen Tischen davor, in die Winkel zu stellen, eine Lampe über einem anderen Tisch mit Zeitschriften und Büchern aufzuhängen, an einer Querwand ein Klavier aufzustellen und die lange Wand mit Bücherregalen zu bekleiden; und dann in die Sofaecke eine kleine Frauengestalt zu setzen, einerlei welche! Und gleichwie das Licht auf dem Tisch seinen Kampf mit der Dunkelheit ausfocht, arbeitete seine Phantasie an der Einrichtung des Zimmers; aber dann ließ sie nach, alles verschwand, und die schreckliche Umgebung scheuchte ihn ins Bett, worauf er das Licht löschte und die Decke über den Kopf zog. Der Wind rüttelte am Giebel, die Wasserkaraffe klirrte gegen das Trinkglas, der Luftzug ging durch das Zimmer vom Fenster zur Tür und bewegte bisweilen seine Haarsträhnen, die vom Seewind ausgetrocknet waren, so daß er das Gefühl hatte, es streiche ihm jemand mit der Hand über den Kopf; und zwischen den Windstößen schlugen gleich den Pausenschlägen eines Orchesters die großen Sturzseen dumpf gegen die aus-
gehöhlten Klippen auf der südlichen Spitze der Schäre. Als er sich schließlich an die einförmigen Laute von Wind und Wogen gewöhnt hatte, hörte er kurz vorm Einschlafen, wie eine Männerstimme unten in der Stube einem Kinde das Abendgebet vorsprach.
Zweites Kapitel Als der Fischmeister nach einem tiefen Grabesschlummer, der durch die Anstrengungen des vergangenen Tages und die starke Seeluft hervorgerufen war, am Morgen aufwachte und über die Bettdecke hinwegsah, empfand er zuerst eine unbegreifliche Stille und bemerkte, daß das Ohr leise Laute auffing, die er sonst nicht zu beachten pflegte. Er hörte jede kleine Bewegung der Decke, wenn sie sich unter seinen Atemzügen hob, hörte, wie die Haarsträhnen sich am Kopfkissen rieben, wie die Pulse in der Halsader pochten, wie das Schwanken des Bettes seinen Herzschlag in sehr kleiner Skala wiedergab. Er hörte die Stille, denn der Wind hatte sich völlig gelegt, und nur das Klopfen der Dünung gegen die zusammengepreßte Luft in den Höhlungen der Ufer wiederholte sich jede halbe Minute. Vom Bett aus, das dem Fenster gerade gegenüber stand, sah er in der unteren Scheibe etwas wie eine blaue Halbjalousie, die ein wenig blauer als die Luft war; sie bewegte sich langsam auf ihn zu, als wolle sie durch das Fenster hereinkommen und das Zimmer überschwemmen. Er wußte, daß es das Meer war, aber es sah so klein aus, und es erhob sich wie eine senkrechte Wand, statt sich als wagerechte Fläche zu dehnen; denn die langen Dünungen, die von der Sonne voll beleuchtet wurden, warfen keine Schatten, aus denen das Auge ein perspektivisches Bild hätte formen können.
Er stand auf, zog einige Kleider an und öffnete das Fenster. Die rauhe, feuchte Luft in der Kammer strömte hinaus, und vom Meer her kam eine warme Treibhausluft, die schon seit mehreren Stunden von der strahlenden Maisonne erwärmt war. Unterhalb des Fensters sah er nur zerklüftete Felsen, in deren Spalten kleine, verstaubte Schneehaufen lagen; daneben blühten winzige weiße Hungerblumen, in Moosbeeten gut geschützt, und dürftige Stiefmütterchen, blaßgelb wie von Hunger und blauviolett wie von Frost, die die kargen Farben ihres kargen Landes in der ersten Frühjahrssonne hißten. Tiefer unten krochen Heidekraut und Krähenbeere und blickten über die Abhänge, zu deren Füßen eine Schicht weißen Sandes lag, den das Meer pulverisiert hatte und in dem die verstreuten Stauden des Strandhafers steckten; dann kam der Tanggürtel gleich einer dunklen Schärpe oder einem Saum des weißen Sandes; dem Ufer zu, fast knochenschwarz, der vorjährige Tang, untermischt mit Muscheln, Tannennadeln, Reisern, Fischgräten, und der See zu, seifenbraun, die letzten frischen Tanghaufen, die, kraus und körnig, den Abschluß des Besatzes bildeten. Oben auf dem Sandtrottoir lag der Wipfel einer Kiefer, der Rinde beraubt, weiß geschält, vom Sande gescheuert, vom Wasser gewaschen, vom Winde poliert, von der Sonne gebleicht, und sah aus wie der Brustkorb eines skelettierten Mammuts. Und rings umher ein ganzes osteologisches Museum ähnlicher Skelette oder Fragmente. Da lag eine angespülte Prickenstange, die jahrelang das Fahrwasser angezeigt hatte und mit ihrem dicken unteren Ende wie der Schenkelknochen einer Giraffe in seiner Gelenkfuge aussah, dort ein ganzer Wacholderbusch wie das
Gerippe einer ersäuften Katze, die weiße, schmale Wurzel einem Schwanz gleich ausgestreckt. Dem Strande vorgelagert waren Riffe und Klippen, die einen Augenblick feucht im Sonnenschein glänzten, im nächsten überspült wurden von den Wellen, die tosend darüber hingingen oder, wenn sie nicht Kraft genug hatten, zerschmettert wurden, sich aufrichteten und einen Wasserfall von Schaum hoch in die Luft spritzten. Dahinter lag das blanke Meer; da kam man auf das große »Flach« hinaus, wie der Fischer es nennt, das sich jetzt in der Morgenstunde dehnte wie ein blaues Tuch, ohne Falten, aber wallend wie eine Fahne. Die große, runde Fläche würde ermüdend gewirkt haben, wenn nicht eine rote Boje vor dem Riff verankert gelegen hätte, die mit ihrem Mennigefleck wie ein Lacksiegel auf einem Brief saß und die einförmige Fläche belebte. Das war das Meer, freilich nichts Neues für den Fischmeister Borg, der verschiedene Ecken der Welt gesehen hatte, aber es war das einsame Meer gewissermaßen von Angesicht zu Angesicht. Es erschreckte nicht wie der Wald mit seinen dunklen Verstecken, sondern wirkte ruhig wie ein offnes, großes, blaues, treues Auge. Man konnte alles auf einen Schlag übersehen, keine Hinterhalte, keine Winkel! Es schmeichelte dem Beschauer, wenn er diesen Kreis um sich sah, in dem er selbst immer der Mittelpunkt blieb, welchen Platz er auch einnahm. Die große Wasserfläche war wie eine verkörperlichte Ausstrahlung des Betrachters, existierte nur in und mit dem Betrachter, der, solange er an Land stand, sich mit dieser jetzt ungefährlichen Macht vertraut fühlte, ihren ungeheuren Kraftmitteln, denen er im Augenblick unerreichbar war,
überlegen. Als er sich der Lebensgefahr erinnerte, der er am Abend vorher ausgesetzt gewesen war, der Angst, des Zornes in seinem Kampf gegen einen brutalen Feind, den er schließlich doch überlistet hatte, lächelte er edelmütig dem Besiegten und Geschlagenen zu, der nur ein blindes Werkzeug im Dienst der Winde gewesen war und sich jetzt streckte, um im Sonnenschein seine Ruhe wiederzugewinnen. Dies war die Ostschäre, die klassische, weil sie ihre alte Geschichte hatte, lange voll blühenden Lebens gewesen und schließlich verfallen war; die alte Ostschäre, die im Mittelalter ein großer Fischplatz gewesen war, in dem der wichtige Handelsartikel, der Strömling, gefangen und für den eine eigene, noch heute aufbewahrte Zunftordnung aufgestellt ward. Der Strömling hat in Nordschweden und Norrland die gleiche Aufgabe gehabt wie der Hering an der Westküste und in Norwegen und ist nichts anderes als ein Hering, ein Produkt der kleinen Verhältnisse der Ostsee und ihnen angepaßt. Sehr begehrt in den Zeiten, wenn der Hering selten und teuer, weniger begehrt, wenn Überfluß an Hering da war, bildete er lange Zeit hindurch die Winternahrung Mittelschwedens, und zwar so ausschließlich, daß noch heute im Liede die Klage der von der Königin Kristine ins Land gelockten Franzosen über das ewige Flachbrot und den endlosen Strömling erhalten ist. Vor einem Menschenalter bezahlten die Großgrundbesitzer den Knechten ihren Lohn noch in Heringen aus, aber als dann der Heringsfang abnahm, zahlten sie in gesalzenen Strömlingen. Der Preis stieg, und der Fang, der bis dahin in beschränktem Maße und für den Hausbedarf betrieben worden war, nahm jetzt die heftigere Natur der Spekulation an. Die Fischgründe um die Ostschäre,
die reichsten im Stockholmer Inselmeer, begannen in großem Maßstabe ausgebeutet zu werden; der Fisch wurde während seiner Laichzeit beunruhigt, die Maschen der Netze wurden immer mehr verkleinert, und die natürliche Folge war, daß der Fang abnahm, vielleicht nicht so sehr aus dem Grunde, weil der Fisch ausgerottet wurde, sondern eher deshalb, weil er die gewöhnlichen Laichplätze verließ und sich in die Tiefe zurückzog; und kein Fischer war resolut genug, dort den fliehenden Feind aufzusuchen. Lange bemühten sich die Gelehrten, durch ihre Untersuchungen die Ursache dieser Abnahme des Strömlingsfanges zu finden, bis die landwirtschaftliche Hochschule sich entschloß, durch erfahrene Fischmeister die Ursachen des Übelstandes feststellen und Abhilfe schaffen zu lassen. Das war nun die nächste Aufgabe des Fischmeisters Borg auf der Ostschäre in dem bevorstehenden Sommer. Der Ort gehörte nicht zu den besuchteren, denn die Schäre liegt nicht an einer der Haupteinfahrten nach Stockholm. Von Süden fahren die großen Fahrzeuge gewöhnlich über Landsort ein, an Dalarö und Varholm vorbei; von Osten, und bei gewissen Winden auch von Süden, nimmt die Schiffahrt den Weg über Sandhamn – Varholm; und von Norrland und Finnland dringt der Kauffahrer durch den Furus und Varholm ein. Die Fahrstraße über die Ostschäre ist ein Notweg, hauptsächlich von den Esthen aufgesucht, die in der Regel von Südosten kommen, aber auch von andern, die durch Wind, Strömung oder Sturm vor Landsort und mehr nach Sandhamn zu liegen geblieben sind. Deshalb ist der Ort nur mit einer Zollstation dritter Klasse unter einem Aufseher und einer kleinen Lotsenabteilung, die Dalarö untersteht, belegt.
Hier ist das Ende der Welt; ruhig, still, verlassen, außer in der Fischzeit im Herbst und Frühling. Und kommt an einem Hochsommertag eine vereinzelte Lustjacht dorthin, so wird sie wie eine Offenbarung einer helleren, fröhlicheren Welt begrüßt. Der Fischmeister Borg aber, der in anderen Angelegenheiten gekommen war, um zu »schnüffeln«, wie die Leute es nannten, wurde mit auffallender Kühle begrüßt, die in der Gleichgültigkeit des vorhergehenden Abends ihren ersten Ausdruck gefunden hatte und sich jetzt in dem elenden und kalten Kaffee äußerte, der ihm aufs Zimmer gebracht wurde. Er war mit einem höchst empfindlichen Geschmackssinn begabt, hatte aber zugleich durch strenge Übung die Fähigkeit erworben, unangenehme Empfindungen zurückzudrängen. Deshalb schluckte er, ohne mit der Wimper zu zucken, den Trank hinunter und ging dann aus, um sich die Gegend anzusehen und die Leute zu begrüßen. Als er an der Küche des Zollbeamten vorbeiging, wurde es still, und die Bewohner schienen sich unsichtbar machen zu wollen, schlossen die Türen und brachen ihre Unterhaltung ab, um sich nicht zu verraten. Unter dem unangenehmen Eindruck, unwillkommen zu sein, setzte er seinen Spaziergang über die Schäre fort und kam an den Hafen hinunter. Da lag eine Reihe kleiner Hütten einfachster Konstruktion, wie aus zusammengelesenen Steinen aufgeschichtet, mit etwas Mörtel hier und da verschmiert; nur der Schornstein war aus Ziegelsteinen über der Herdmauer errichtet; an einer Ecke war ein Bretterschuppen angebaut, an einer anderen nur ein Verschlag aus Stangen und Reisig, um die Schweine zu beherbergen, die während der Fangzeit zur Mast hierhergebracht
wurden. Die Fenster schienen Schiffswracken entnommen zu sein, und das Dach war mit allem möglichen gedeckt, was irgendeine größere Ausdehnung hatte und Regen aufsaugen oder abfließen lassen konnte: Tang, Strandhafer, Moos, Torf, Erdschollen. Es waren Herbergen, die jetzt leer standen, von denen aber jede etwa zwanzig Schläfer aufzunehmen pflegte, wenn der große Fischfang vor sich ging und dann jede Hütte eine Winkelkneipe war. Vor der ansehnlichsten dieser Baracken stand der erste Mann der Schäre, der Fischer Öman, und reinigte das Flundernetz mit einer Gerte. Da er sich in keiner Weise als Untergebener eines Fischmeisters ansehen konnte, trotzdem aber in dessen Gegenwart ein bedrückendes Gefühl hatte, wurde er borstig und bereitete sich auf scharfe Antworten vor. »Ist der Fang gut?« grüßte der Fischmeister. »Noch nicht, aber es wird schon werden, wenn die Regierung erst kommt,« antwortete Öman etwas unhöflich. »Wo liegen denn eure Strömlingsgründe?« fragte der Fischmeister wieder und überließ die Regierung ihrem Schicksal. »Ja, wir dachten, das wüßte der Meister besser als wir, denn Sie werden doch dafür bezahlt, daß Sie uns unterweisen,« meinte Öman. »Ja, ihr wißt nur, wo die Untiefen liegen, ich aber weiß, wo die Strömlinge stehen, und das ist ein bißchen wichtiger.« »Ach so,« scherzte Öman, »wir brauchen nur in die See zu fassen, dann haben wir den Fisch! – Ja, so ist es, zum Lernen ist man nie zu alt.« Seine Frau kam aus der Hütte und begann ein lebhaftes Gespräch mit ihrem Mann, so daß der Fischmeister es nicht zweckmäßig fand, die Unterhandlungen mit dem feindlichen
Fischer wieder anzuknüpfen, sondern seine Schritte nach dem Hafen hinunter lenkte. Da saßen einige Lotsen auf der Landungsbrücke, wurden plötzlich eifrig in ihrem eben noch matten Geplauder und schienen keine Lust zu haben, zu grüßen. Er wollte nicht umkehren, sondern setzte seinen Weg nach dem Strande fort; aber jetzt hörte bald der bewohnte Teil auf, und die nackte Schäre lag öde da, ohne einen Baum, ohne einen Busch, denn alles, was vom Feuer verzehrt werden konnte, war verbrannt. Er ging dicht am Wasser entlang, bald in feinem, weichem Sande, bald auf Steinen, und als er eine Stunde lang gegangen war und sich immer rechts gehalten hatte, befand er sich wieder an seinem Ausgangspunkt und hatte das Gefühl, eingeschlossen zu sein. Die Felsenhöhe der kleinen Schäre bedrückte und der kreisförmige Horizont des Meeres beklemmte ihn. Das alte Gefühl, nicht genug Raum zu haben, überfiel ihn, und er kletterte die Klippen hinauf, bis er auf das höchste Plateau kam, das etwa fünfzig Fuß über dem Meeresspiegel liegen mochte. Da warf er sich auf den Rücken und blickte in den Himmelsraum hinauf. Jetzt, da das Auge nichts auffangen konnte, weder vom Land, noch vom Meer, sondern nur die blaue Kuppel über sich sah, fühlte er sich frei, isoliert wie ein kosmischer Splitter, der im Äther schwebt und nur den Gesetzen der Schwere und der Gravitation gehorcht. Er war völlig einsam auf der Erdkugel, schien ihm, und die Erde nur ein Gefährt, auf dem er die Erdbahn durchfuhr; im leisen Säuseln des Windes hörte er den Luftzug, den die Fahrt des Planeten durch den Äther hervorrief, und das Dröhnen der Wogen klang, als brausten die Wassermassen, wenn der große Wasserbehälter sich um seine Achse drehte.
Alle Erinnerungen an Mitmenschen, Gesellschaft, Gesetz, Sitte waren verweht, da er kein einziges körperliches Teilchen der Erde mehr sah, an die er gebunden war; und er ließ seine Gedanken wie losgelassene Kälber laufen, alle Hindernisse, alle Rücksichten überspringen und berauschte sich damit bis zur Betäubung, gleich den Nabelbeschauern Indiens, die über dem Betrachten eines gleichgültigen Teiles ihres Körpers Himmel und Erde vergessen. Fischmeister Borg war kein Naturanbeter, ebensowenig wie der Inder den Nabel anbetet, vielmehr hegte er, da er Selbstbewußtsein hatte und als Mensch in der tellurischen Schöpfungskette am höchsten stand, eine gewisse Geringschätzung für die niedrigen Daseinsformen und war sich vollkommen klar darüber, daß die Erzeugnisse des selbstbewußten Geistes zum Teil viel sinnreicher waren als die der unbewußten Natur; vor allem auch vorteilhafter für den Menschen, der seine Werke mit Rücksicht auf den Nutzen und die Schönheit schafft, die er als Schöpfer durch sie haben kann. Aber aus der Natur nahm er das Rohmaterial zu seinem Werk, und obwohl man Licht und Luft durch Maschinen hervorbringen konnte, zog er die unübertrefflichen Äthervibrationen der Sonne und die unerschöpfliche Sauerstoffquelle der Atmosphäre vor. Er liebte die Natur als eine Helferin und eine Untergebene, die ihm dienen mußte, und es ergötzte ihn, diese mächtige Feindin zu verleiten, ihm ihre Kräfte zur Verfügung zu stellen. Nachdem Borg eine unbestimmte Zeit so gelegen und die große Ruhe der absoluten Einsamkeit, ihr Freisein von Einflüssen, von Druck empfunden hatte, erhob er sich und begab sich hinunter, um sein Zimmer aufzusuchen.
Als er in die halbleere Kammer trat, in der seine Schritte widerhallten, fühlte er sich eingefangen; die weißen Quadrate und Rechtecke, die den Raum abgrenzten, in dem er sich aufhalten sollte, erinnerten freilich an Menschenhände, aber an die Hände tief stehender Menschen, die sich nur mit den einfachsten Formen der anorganischen Natur befassen. Er war in einen Kristall, in ein Hexaeder oder etwas ähnliches eingeschlossen, und die geraden Linien, die gleichmäßig großen Flächen teilten seine Gedanken gewissermaßen in Quadrate, liniierten seine Seele, vereinfachten sie aus der Freiheit des organischen Lebens zu Formen, führten die reiche Urwaldvegetation seines Hirns mit ihren wechselnden Empfindungen zu den ersten kindlichen Ordnungsversuchen der Natur zurück. Nachdem er das Mädchen gerufen hatte, ließ er seine Kisten heraufbringen und ging sofort an die Umwandlung des Zimmers. Seine erste Sorge war, den Eintritt des Lichts durch ein paar schwere, fleischfarbene persische Vorhänge zu regulieren, die das Zimmer sofort auf einen weicheren Ton stimmten. Darauf klappte er die beiden Platten des großen Eßtisches auf und der leere Raum auf dem kahlen weißen Fußboden war ausgefüllt. Aber die weiße Tischfläche störte noch, deshalb verbarg er sie unter einem Wachstuch von warmem, moosgrünem Ton, der mit den Vorhängen harmonierte und beruhigend wirkte. Dann stellte er seine Bücherregale an der schlimmsten Wand auf, die dadurch freilich noch nicht verbessert wurde, denn sie wurde nur in Kolumnen eingeteilt wie ein sogenannter Rechenschieber, und die weiße Tünche wirkte noch kreischender gegen das nußbaumfarbene Holzgestell; er wollte je-
doch erst das Ganze skizzieren, bevor er sich auf Einzelheiten einließ. An einem Nagel in der Decke befestigte er seine Bettvorhänge und schuf damit gleichsam ein Zimmer im Zimmer, denn nun war die Schlafstelle von dem übrigen Arbeitsgemach getrennt, als sei sie unter einem Zelt aufgeschlagen. Die langen, weißen Dielen mit den parallel laufenden schwarzen Fugen, in denen Schmutz von Schuhwerk, Staub von Möbeln und Kleidern, Tabaksasche, Scheuerwasser und Besenabfall Treibbeete für Pilze und Verstecke für Holzwürmer bildeten, verdeckte er mit hier und da verstreuten kleinen Teppichen von verschiedener Farbe und Musterung, die wie grünende, blühende Inseln auf der großen weißen Fläche schwommen. Als nun Farbe und Wärme in den leeren Raum gekommen waren, ging er zur Feinarbeit über. Zunächst hatte er einen Herd zu schaffen, einen Altar der Arbeit, der das Zentrum werden, um den sich alles gruppieren und von dem alles ausstrahlen sollte. Deshalb begann er damit, seine große Lampe auf dem Schreibtisch aufzustellen. Sie war zwei Fuß hoch und erhob sich wie ein Leuchtturm über der grünen Tischdecke; der mit im gewöhnlichen Arabesken, Blumen und Tieren bemalte Porzellanfuß hatte ein munteres Farbenspiel und zeugte mit seiner Ornamentik von der Macht des Menschengeistes, die feststehenden, eintönigen Formen der Natur willkürlich ändern zu können. Hier hatte der Maler eine steife Hexendistel in ein Schlinggewächs verwandelt, hatte dort einen Hasen gezwungen, sich wie ein Krokodil zu strecken und mit der Büchse zwischen den Tigerklauen der Vorderläufe nach einem Jäger mit Fuchskopf zu zielen.
Um die Lampe herum stellte er Mikroskop, Diopter, Wage, Tieflot und Peilstöcke, deren poliertes Messing ein warmes, sonnengelbes Licht ausstrahlte. Das Tintenfaß, ein großer Glaswürfel, in Facetten geschliffen, zeigte das schwachblaue Licht von Wasser oder Eis; die Federhalter aus Stachelschweinborsten gaben mit ihren unbestimmten fetten Tönen einen Schimmer von animalischem Leben; das schreiende Zinnober der Siegellackstangen, die bunten Vignetten der Federschachteln, der kalte Stahlglanz der Schere, Lack und Gold des Aschbechers, die Bronze des Papiermessers alle diese Unmengen von nützlichen und schönen Kleinigkeiten füllten bald den großen Tisch mit einer Menge von Flecken, auf denen das Auge einen Moment verweilte, um einen Eindruck, eine Erinnerung, eine Eingebung zu bekommen, so daß es immer in Tätigkeit blieb und nie ermüdete. Nun galt es die Bücherregale zu füllen und dem leeren Raum zwischen den dunklen Brettern lebendigen Odem einzublasen; bald stand denn auch Reih an Reih die bunteste Sammlung von Nachschlagwerken und Handbüchern, in denen der Besitzer sich über alles, was in Vergangenheit und Gegenwart geschehen war, informieren konnte. Enzyklopädien, die gleich einem Lufttelegraphen beim Druck auf den richtigen Buchstaben antworteten, Lehrbücher der Geschichte, der Philosophie, der Archäologie und der Naturwissenschaften, Reisen durch alle Länder der Erde mit Karten, sogar sämtliche Handbücher von Bädecker, so daß ihr Eigentümer hier sitzen und die kürzeste und billigste Reise nach dem und dem Ort zusammenstellen, das Hotel bestimmen und wissen konnte, wieviel Trinkgeld er geben mußte. Da aber alle diese Werke den unvermeidli-
chen Keim des Veraltens in sich trugen, hatte er ein besonderes Brett mit einem Observationskorps von Fachzeitschriften bemannt, die ihm sofort über jeden kleinsten Fortschritt, jede noch so unbedeutende Erfindung berichteten. Und schließlich noch eine ganze Sammlung von Schlüsseln zu allem Wissen der Zeit in bibliographischen Notizen, Verlagskatalogen und Buchhandelszeitungen, so daß er, in seinem Zimmer eingeschlossen, genau wußte, wie hoch oder tief in all den Wissenschaften, die ihn angingen, das Barometer stand. Als er nun die Wand mit den Büchergestellen betrachtete, schien es ihm, als sei das Zimmer erst jetzt von lebenden Wesen bewohnt. Diese Bücher machten den Eindruck von Individuen, denn es gab nicht zwei Werke von gleichem äußern; das eine trat auf als Bädecker in Scharlachrot und Gold, wie einer, der eines Montagmorgens die Sorge hinter sich läßt und auf und davon geht; andere feierlich, schwarzgekleidet in einer ganzen Prozession wie die Enzyclopaedia Britannica, oder all die hellen, munteren, leichten Sommerkleider der Broschüren, die lachsrote Revue des deux Mondes, die zitronengelbe Contemporaine, die schilfgrüne Fortnightly, die grasgrüne Morgenländische. Von den Rücken grüßten große Namen wie Bekannte, die in seinem Zimmer zu Gast waren, und zwar hatte er hier das beste von ihnen, mehr als sie einem Reisenden geben konnten, der auf Besuch kam und sie in ihrem Mittagsschlaf oder bei ihrem Frühstück störte. Nach der Einrichtung von Schreibtisch und Bücherregal fühlte er sich von dem störenden Einfluß der Reise wiederhergestellt, seine Seele fand ihre Kraft wieder, als ihm seine Werkzeuge wieder zugänglich waren: diese Instrumente und Bücher, die in seinem Dasein festgewachsen waren gleich
neuen Sinnen, gleich andern Organen, stärker und feiner als diejenigen, die ihm die Natur als Vätererbe gegeben hatte. Der momentane Anfall von Furcht, der durch die Isolierung, die Einsamkeit und die Umzingelung durch Feinde – denn dafür hielt er die Schärenleute mit Recht – hervorgerufen war, wich der Ruhe, die die Installierung mit sich bringen mußte; und jetzt machte er sich wie ein gut gerüsteter General daran, den Feldzugsplan zu entwerfen, nachdem das Hauptquartier aufgeschlagen war.
Drittes Kapitel Der Wind war in der Nacht nach Nordosten herumgegangen, und Treibeis trieb von Aaland heran, als der Fischmeister in den Kahn stieg, um vorbereitende Untersuchungen über die Beschaffenheit des Meeresbodens, die Tiefe des Wassers, über Flora und Fauna des Meeres anzustellen. Der Lotse, der als Ruderer mitgenommen wurde, hatte es bald satt, Erläuterungen zu geben, da er sah, daß der Fischmeister mittels Seekarte, Lot und verschiedener anderer Instrumente Dinge feststellte, an die er nie gedacht hatte. Wo die seichten Stellen lagen, das wußte der Lotse, und in welchen Fischgründen man die Strömlingsnetze aussetzen mußte, das wußte er auch. Der Fischmeister aber war damit nicht zufrieden, sondern ließ die Dregge in verschiedene Tiefen hinab und brachte allerlei Getier und Pflanzenschleim mit herauf, von denen nach seiner Annahme der Strömling lebte; er ließ das Lot bis auf den Boden hinunter und holte Proben von Lehm, Sand, Schlamm, Erde und Kies nach oben, die er sortierte und numerierte und in kleine Gläser mit Aufschriften legte. Und schließlich nahm er ein großes Fernglas zur Hand, das wie ein Sprachrohr aussah, und blickte in die See hinunter. Das hatte sich der Lotse nie träumen lassen, daß man ins Wasser hinuntersehen könne, und in seinem Erstaunen bat er,
das Auge ans Glas legen und in das Verborgene hinabschauen zu dürfen. Der Fischmeister, der einerseits nicht Hexenmeister spielen wollte, anderseits keine Lust hatte, durch übereilte Feststellungen dessen, was erst festgestellt werden sollte, allzu große Hoffnungen in bezug auf das Ergebnis wachzurufen, beschränkte sich darauf, die Bitte des Lotsen zu gewähren und einige populäre Erklärungen zu den lebenden Bildern zu geben, die sich unten in der Tiefe entrollten. »Sehen Sie den Blasentang auf der seichten Stelle?« begann der Fischmeister seine Vorlesung; »sehen Sie, daß er erst seifengelb ist, tiefer unten leberbraun wird und schließlich am Boden rot auesieht? Daran ist das abnehmende Licht schuld!« Er ruderte mit einigen Riesenschlägen von der Untiefe weg, aber immer im Schutz der Schäre, um nicht ins Eis hineinzukommen. »Was sehen Sie jetzt?« fragte er wieder den auf dem Bauch liegenden Mann. »Herr Jesus! Nein, ich glaube, das ist Strömling! Und sie stehen so dicht, so dicht wie die Karten im Spiel.« »Sehen Sie jetzt, daß der Strömling nicht nur nach den seichten Stellen geht? Und begreifen Sie jetzt, daß man ihn in der Tiefe fischen kann, und glauben Sie jetzt, wenn ich sage, daß man ihn nie an seichten Stellen fischen dürfte, an die er sich nur begibt, um seinen Laich abzulegen, der da besser von der Sonnenwärme getroffen wird als im tiefen Wasser?« Der Fischmeister ruderte weiter, bis er sah, wie das Wasser infolge der lehmigen Beschaffenheit des Bodens graugrün wurde.
»Was sehen Sie jetzt?« begann er wieder, während die Ruder ruhten. »Ich glaub meiner Seel, da sind Schlangen unten auf dem Meeresgrunde! Das sind wahrhaftig Schlangenschwänze, die aus dem Schlamm herausgucken, – und da sitzen die Köpfe.« »Das sind Aale, mein Junge,« erklärte der Fischmeister. Der Lotse sah ungläubig aus, denn von Aalen im Meer hatte er noch nie gehört, aber der Fischmeister wollte seine besten Karten nicht zu früh ausspielen und auch keine Kräfte an weitschweifige Erläuterungen unklarer Dinge verschwenden. Deshalb gab er die Ruder zurück, nahm sein Glas wieder an sich und legte sich zur Beobachtung über den Bootsrand. Er schien irgend etwas mit ungewöhnlichem Eifer zu suchen, etwas zu suchen, das sich auf diesen oder jenen Untiefen finden mußte, das er aber natürlich noch nicht dort gesehen hatte, da das Wasser bisher nicht von ihm untersucht worden war. Sie ruderten nach den Anweisungen des Fischmeisters etwa zwei Stunden umher. Bisweilen ließ er seinen Bodenkratzer abwechselnd mit dem Lot hinunter, und nach jeder Prüfung beugte er sich mit seinem Fernglas über den Bootsrand. Sein blasses Gesicht fiel von der Anspannung ein, und die Augen sanken in den Kopf. Die Hand, die das Rohr hielt, zitterte, und der Arm war steif wie ein Pfahl vor Überanstrengung. Der kalte, feuchte Wind, der durch das dicke Wams des Lotsen ging, schien die zarte Gestalt, die nur in einen halbzugeknöpften Frühjahrsüberzieher gehüllt war, nicht anzufechten. Seine Augen tränten vom Seewind und dem Bemühen, scharf in dies halb undurchdringliche Element hinunterzusehen, in diese drei Viertel der Erdoberfläche, über deren Leben
das letzte Viertel im allgemeinen so wenig wußte und so vieles mutmaßte. Durch sein Seeglas, das er nicht erfunden, sondern nach Angaben von Brückenbauern und Arbeitern bei Unterwassersprengungen konstruiert hatte, blickte er in die tiefere Welt hinunter, aus der die große Überwasserschöpfung sich entwickelt hatte. Der Tangwald, der gerade die Grenze zwischen anorganischem und organischem Leben überschritten hatte, der in der kalten Grundströmung wogte und eben geronnenem Eiweiß glich, der seine Gestalt dem Wellenschlag entlehnt hatte und an die Pflanzenformen des Wassers erinnerte, wenn es an der Fensterscheibe gefriert, breitete sich da unten in großen Parken mit güldenem Laub aus, in dem die Bewohner des Meeresgrundes auf den Bäuchen dahinkrochen und Dunkelheit und Kälte suchten, um ihre Scham darüber zu verbergen, auf der langen Wanderung nach Sonne und Luft zurückgeblieben zu sein. Tief unten im Lehm ruht die Flunder, halb im Schlamm vergraben, faul, regungslos, ohne die Erfindungsgabe, eine Schwimmblase zum Emporheben sich entwickeln zu lassen; einen glücklichen Zufall abwartend, der ihr den Raub an der Nase vorbeiführt; ohne den Trieb, zu ihrem Vorteil aufs Geratewohl umherzutasten. Aus purer Faulheit hat sie sich gewunden und gestreckt, so daß die Augen aus Gründen der Bequemlichkeit auf der rechten Seite des verschrobenen Kopfes stehen geblieben sind. Die Aalquappe hat vorn schon ein Paar Ruder ausgelegt, ist aber achterlastig und erinnert an die ersten Versuche, Boote zu bauen; sie zeigt zwischen dem heraldischen Laubwerk des Tangs ihren architektonischen Steinkopf mit dem Knebelbart
eines Kroaten und erhebt sich für einen Augenblick aus dem Schlamm, um sofort wieder einzusinken. Der Steinbeißer mit seinen sieben Rücken hat den Kiel nach oben: der ganze Fisch eine ungeheure Nase, nur nach Fressen und Weibchen schnüffelnd; er erhellt einen Augenblick das blaugrüne Wasser mit seinem rosafarbenen Bauch und verbreitet unten im Dunkel eine schwache Morgenröte um sich, setzt sich aber bald wieder mit seiner Saugscheibe auf einem Stein fest, um das Ende der Millionen Jahre abzuwarten, das den auf der endlosen Bahn der Entwicklung Zurückgebliebenen Erlösung bringen wird. Der schreckliche Meerskorpion, die verkörperte Wut, mit dem Ausdruck der Raserei in den Zöpfen des Gesichts, dessen Schwimmglieder Klauen geworden sind, mehr um zu martern, als um anzufallen und zu verteidigen, liegt genußsüchtig auf der Seite und liebkost seinen eigenen Körper mit dem schleimigen Schwanz. Höher oben aber, in dem helleren und wärmeren Wasser, schwimmt der schöne, tiefsinnige Barsch, vielleicht der charakteristischste Fisch der Ostsee. Wohlgebaut und beleibt, doch noch etwas plump wie ein Fährboot, hat er die eigentümlich blaugrüne Farbe und das nordische Wesen der Ostsee; etwas Philosoph und etwas Seeräuber; ein geselliger Einsiedler, ein Fisch der Oberfläche, der gern die Tiefen sucht und bisweilen auch dort anlangt; ein exzentrischer Müßiggänger, der lange Zeit hindurch still steht und auf die Strandsteine starrt, bis er aufwacht und wie ein Pfeil wegschießt; Tyrann gegen seinesgleichen, der aber bald zahm wird, gern an die gleichen Plätze zurückkehrt und sieben Würmer in seinen Eingeweiden beherbergt.
Und dann der Adler des Meeres, der König der Ostseefische, der schlank gebaute, wie ein Kutter getakelte Hecht, der die Sonne liebt und als der Stärkste die hellen Farben nicht zu scheuen braucht, der mit der Nase an der Oberfläche des Wassers steht, mit der Sonne in den Augen schläft und von den Blumenwiesen und Birkenhainen dort oben träumt, in die er nie kommen kann, von der dünner blauen Kuppel, die sich über seiner nassen Welt wölbt, jener Kuppel, in der er ersticken würde, während doch die Vögel mit ihren haarigen Brustflossen so leicht darin schwimmen. Das Boot war zwischen die Eisschollen geraten, deren Schatten wie Gewölk über die Tangparke auf dem Meeresgründe zogen. Der Fischmeister, der mehrere Stunden lang gesucht, aber nicht gefunden hatte, was er wollte, hob nun das Fernrohr aus dem Wasser, trocknete es ab und legte es weg. Darauf sank er auf die Achterbank nieder, hielt die Hand vor die Augen, als wolle er sie von Eindrücken ausruhen lassen, und schien einige Minuten in Schlaf zu sinken, worauf er dem Lotsen ein Zeichen gab, weiter zu rudern. Nachdem er den ganzen Vormittag seine Aufmerksamkeit auf die Tiefe gerichtet hatte, schien er jetzt erst das großartige Gemälde wahrzunehmen, das sich auf der Meeresoberfläche entrollte. Ultramarinblau breitete sich das Wassersegment vor dem Boote aus, eine ganze Strecke weit, bis das Treibeis begann und eine vollkommen arktische Landschaft zeigte. Inseln, Buchten, Sunde, zeichneten sich wie auf einer Karte ab, und wo das Eis auf Riffe hinaufgeritten war, hatten sich Berghöhen gebildet, indem der eine Block den andern hinuntergedrückt und der nachfolgende den vorhergehenden
erklommen hatte. Und auch über den Felseninseln hatte das Eis sich aufgeschichtet, sich zu Gewölben gehöhlt und Grotten gebildet, hatte Türme, Kirchenruinen, Kasematten, Bastionen aufgebaut; und das Zauberhafte dieser Formen lag darin, daß sie von einer ungeheuren Menschenhand geschaffen schienen, denn sie hatten nicht die zufälligen Formen der unbewußten Natur, sondern weckten Erinnerungen an menschliche Erfindung in vergangenen historischen Epochen. Hier hatten die Blöcke sich wie Zyklopenmauern geschichtet, wie assyrisch? griechische Tempel terrassenförmig geordnet; dort hatten die Wellen durch wiederholten Anprall ein romanisches Tonnengewölbe gegraben, einen Rundbogen gemeißelt, der sich einem arabischen Hufeisenbogen anfügte, in dem Sonnenstrahlen und Wellengischt Stalaktiten und Bienenzellen gebildet hatten; hier hatte die ganze Wogenreihe aus einer schon aufgestapelten Mauer eine Linie von der Wölbung einer römischen Wasserleitung ausgeätzt; dort standen die Grundmauern eines mittelalterlichen Schlosses, die die Spuren eingestürzter Spitzbogen, Wimpergen und Fialen trugen. Dies Schaukeln auf Gedankenverbindungen zwischen arktischer Landschaft und historischer Architektur versetzte den Beschauer in eine eigentümlich schwimmende Stimmung, der er durch das geräuschvolle Leben, das die streichenden Vogelscharen rings auf den fließenden Eisinseln und auf dem klaren blauen Wasser führten, entrissen wurde. In Scharen von Hunderten und aber Hunderten schwammen die Eider, die hier ausruhten, um auf offenes Wasser in Norrland zu warten; die unbedeutenden rostbraunen Weibchen waren von den prächtigen Männchen umringt, die
beim Schwimmen die schneeweißen Rücken wölbten und sich bisweilen zu einem kurzen Fluge erhoben, bei dem sie die rußschwarzen Bäuche sehen ließen; die Meertaucher, die in kleineren Scharen auftraten, zeigten ihre fehfarbenen Bäuche, ihre Reptilhälse und, wenn sie niedergingen, die schachbrettartig gewürfelten Flügelspiegel; die Legionen der lebhaften Eisvögel, schwarz und weiß, schwimmend, tauchend, streichend; die kleinen Völker der Meerpapageien und Lummen; die Streifkorps der düsteren, kohlschwarzen Wasserhühner, die von dem glänzenderen Zuge der Sägeschnäbler und Kolbentaucher mit den Helmbüschen im Nacken abstachen; und über dem ganzen tauchenden, flatternden Vogelheer, das ein Amphibiendasein lebt, schwebten die Möwen, die schon die Luft zu ihrem Element erwählt haben und das Wasser nur als Fischplatz und Badestelle benutzen. In diese eifrige Arbeitwelt hatte sich eine einsame Krähe eingeschmuggelt, die halb versteckt auf der Schäre saß und mit ihrer niederen Stirn, ihrer verdächtigen Farbe, ihrem Diebesbenehmen, ihrem Verbrechertyp, ihrem ganzen wasserscheuen schmutzigen Anstrich einen Gegenstand des Hasses für die Strebsamen bildete, die die Nestplünderin, die Eieraussaugerin kannten. Und aus dieser ganzen beschwingten Welt, deren Kehlen die atmosphärische Luft in Zittern versetzen konnten, über den Köpfen der Stummen unten im Wasser, ertönte eine Symphonie von Lauten; von den ersten, schwachen Versuchen des Reptils, durch Zischen seinen Zorn zu äußern, bis hinauf zur Musik der harmonischen Toninstrumente des Menschen. Dort zischte die Eibergans wie eine Natter, wenn der Eidervogel sie in den Nacken beißen und untertauchen wollte, dort quakte
der Gänsejäger wie ein Frosch, die Seeschwalben schrien, die Möwen krächzten und erhoben ein Kindergeschrei, die Eider knurrten wie Kater in der Brunstzeit, aber über allen, am lautesten und deshalb am schönsten, erklang die wunderbare Musik der Eisvögel; denn Gesang war es noch nicht. Ein unreiner Dreiklang in Dur, klingend wie der Ton des Hifthorns, mit seinem unvollständigen Akkord ein Kanon für Waldhorn ohne Ende und Anfang, Reminiszenzen aus den Kinderjahren der Menschheit, aus den ersten Zeiten der Hirten und Jäger. Nicht mit der träumenden Phantasie des Dichters, mit seinen dunklen und deshalb beunruhigenden Gefühlen und ungeordneten Empfindungen genoß der Beschauer das große Schauspiel, nein, mit den ruhigen Blicken des Forschers, des wachen Denkers übersah er den Zusammenhang in dieser scheinbaren Unordnung und konnte nur durch sein angehäuftes gewaltiges Material an Erinnerungen all die betrachteten Gegenstände in Verbindung miteinander bringen. Als er dann nach der Ursache des gewaltigen Eindrucks suchte, den besonders diese Natur ausübte, und die Antwort fand, fühlte er die unermeßliche Freude, die der Höchstentwickelte in der Kette der Schöpfung empfinden muß, wenn die Schleier sich über dem Verborgenen lüften, diese Wonne, die alles Erschaffene auf dem unendlichen Wege zur Klarheit begleitet hat und vielleicht die treibende Kraft ausmacht, die vom Träumen zum Wissen führt, eine Seligkeit, die der eines bewußten Schöpfers gleichkommen mag, der weiß, was er schuf. Diese Landschaft führte ihn in die Urzeit zurück, als die Erde unter Wasser stand und die höchsten Berggipfel sich über die Meeresfläche zu erheben begannen; denn die Schären ha-
ben ja den Charakter der Information, wo der Grundfels direkt zum Licht aufragte, bewahrt. Unten im Wasser aber, wo sich zugleich schon die Algen der Abkühlungsperiode eingefunden hatten, schwammen die Fische der Primärzeit, unter ihnen der älteste Abkömmling, der Hering, während auf den Schären noch die Farren und der Bärlapp der Steinkohlenzeit wuchsen. Weiter nach dem Festlande zu, erst auf den größeren Inseln, traf man die Nadelbäume und Reptile der Sekundärzeit, noch weiter hin die Laubbäume und Säugetiere der Tertiärzeit. Hier draußen in der Urformation jedoch schien die Natur launisch die Ablagerungszeiten übersprungen zu haben, hatte Seehunde und Fischottern in die Urzeit geworfen und heute früh die Eiszeit mitten in die Quartärperiode hineingeschleudert wie Gartenerde auf den Urberg. Er selbst saß als Repräsentant der historischen Zeit da und genoß, von dem anscheinenden Wirrwarr ungestört, diese lebenden Bilder der Schöpfung und steigerte den Genuß durch das Gefühl, im Großen gesehen der Höchste in dieser Kette zu sein. Das war das Geheimnis der Zauberkraft dieser Landschaft, daß sie und nur sie eine historisch gewordene Schöpfung mit Auslassungen und Verkürzungen wiedergab und man in einigen Stunden durch die Entwicklungsperioden der Erde geführt wurde, bis man bei sich selbst stehen blieb; daß man sich an heraufbeschworenen Empfindungen ergötzen konnte, die den Gedanken auf den Ursprung zurückführten; daß man sich in vergangenen Stadien ausruhte; daß die ermüdende Anstrengung, höhere Grade auf der Kulturskala zu erreichen, nachließ; daß man gleichsam in ein heilsames Hindämmern zurücksank und sich mit der Natur eins fühlte. Solche Augenblicke nahm
er als Ersatz für die entschwundenen religiösen Freuden, da der Gedanke an den Himmel nur eine veränderte Form des Vorwärtsstrebens war und in dem Unsterblichkeitsgefühl lediglich die Ahnung von der Unzerstörbarkeit der Materie in einer Verkleidung zum Ausdruck kam. Wie beruhigend war es, sich hier auf der Erde heimisch zu fühlen, die ihm in seiner Kindheit als das Jammertal geschildert worden war, das nur auf dem Wege zum Unbekannten durchwandert werden mußte; wie sicher und tröstlich war es, das früher Unbekannte wissenschaftlich erforscht zu haben, in Gottes bisher geheimen Ratschluß, wie man ihn nannte, hineinblicken zu dürfen, ihn und alle die Erscheinungen zu durchschauen, die für undurchdringlich gehalten wurden, weil man sie bis dahin nicht durchdringen konnte. Nun war man zur Klarheit über Ursprung und Zweck des Menschen gekommen; aber statt zu ermüden und sich zur Ruhe zu setzen, wie eine Kulturnation nach der andern, wenn sie sich zuschanden gedacht, hatte die jetzt lebende Generation ihren Entschluß gefaßt, hatte sich damit abgefunden, das höchste Tier zu sein und sich daran gemacht, auf vernünftige Weise die Himmelsgedanken hier unten zu verwirklichen; deshalb war die heutige die beste und größte von allen Zeiten und hatte die Menschen weiter gebracht, als es früher Jahrhunderte vermocht hatten. Nach dieser Andacht, bei der er sich den Gedanken an seinen Ursprung und seine Bestimmung hingegeben hatte, ließ der Fischmeister sein Gedächtnis seine persönliche Entwicklungsgeschichte durchlaufen, so weit er sie aufspüren konnte, um gewissermaßen zu seinem Selbst hinzufinden und in den verflossenen Stadien sein wahrscheinliches Schicksal zu lesen.
Er sah seinen Vater, den verstorbenen; Major der Festungsartillerie, mit dem unbestimmten Typ vom Beginn des Jahrhunderte; wie ein Konglomerat gemischt und aus Bruchstücken, aus Abfall vorangegangener Perioden gekittet, aufs Geratewohl nach der großen Eruption am Ausgang des vorigen Jahrhunderts zusammengelesen. Da er an nichts glaubte – denn er hatte gesehen, wie alles verging, alles sich wiederholte, wie alle Staatsformen ausprobiert, bei der Annahme mit Jubel begrüßt, nach einigen Jahren kassiert, wieder als neu hervorgesucht und von neuem als universale Entdeckungen begrüßt wurden –, war er schließlich bei dem Bestehenden als dem einzigen Handgreiflichen gelandet, mochte es nun – was unwahrscheinlich klang – durch einen führenden Willen, oder aber – was ziemlich sicher, doch gefährlich auszusprechen war –, durch einen Komplex von Zufällen zustande gekommen sein. Durch Studien auf der Universität war der Vater zum Pantheismus der Junghegelianer gelangt, der eine schlaue Umkehrung der Sache war und damals auf die Spitze getrieben wurde: die Individuen waren das einzig Wirkliche, und Gott der Inbegriff des Persönlichen in der Menschheit. Diese lebendige Vorstellung von dem intimen Zusammenhang des Menschen mit der Natur, in der er selbst als höchstes Glied in der Kette des Weltprozesses stand, beseelte eine auserwählte Gruppe von Persönlichkeiten, die insgeheim die wiederholten Versuche politischer Schwärmer, sich außerhalb der herrschenden Naturgesetze zu stellen und auf künstlichem Wege durch philosophische Systeme und Reichstagsbeschlüsse zu neuen Weltordnungen zu gelangen, verachtete. Unbemerkt gingen sie ihren Weg vorwärts, der für Hohe und Niedere nicht gangbar war. Oben sahen sie Mittelmäßigkeiten infolge
natürlicher Auslese sich um den mittelmäßigen Monarchen scharen; unten stießen sie auf Unwissenheit, Leichtgläubigkeit, Verblendung und, mitten dazwischen, im Bürgerstand, auf so ausgesprochene Handelsinteressen, daß sie, die nicht selbst Kaufleute waren, nicht mit diesen Leuten zusammen arbeiten konnten. Als fähige, kluge und zuverlässige Männer wurden sie bei Gelegenheit befördert; da sie sich aber keiner Partei anschließen konnten und keine Lust hatten, nutzlos persönliche Opposition zu machen, weil sie nicht zahlreich genug waren, eine Horde zu bilden, und außerdem als starke Individualisten keinem Leithammel nachlaufen wollten, verhielten sie sich ziemlich ruhig, verbargen ihr Mißvergnügen unter Großkreuz und Ordensstern, lachten wie Auguren, wenn sie sich am Ratstisch oder im Herrenhaus trafen und ließen die Welt ihren Gang gehen. Der Vater gehörte einem freilich nicht uralten Adelsgeschlecht an, das infolge bürgerlicher Verdienste um die Hebung des Bergbaus, nicht wegen zweideutiger, durch Naturzufälle oder Fehler des Feindes zustande gekommener kriegerischer Erfolge mit dem Adelsschild und sehr bescheidenen Privilegien belohnt worden war: sie durften zum Beispiel die Adelsuniform tragen und unbesoldet an dem schweren Regierungsgeschäft teilnehmen. Er rechnete sich also zum Verdienstadel, und das Bewußtsein, von talentvollen Vorfahren abzustammen, wirkte noch auf den damals lebenden Repräsentanten anspornend. Rechtmäßig, durch die Begabung und Arbeit der Väter erworbener Besitz setzte ihn auch in den Stand, sich in seinem Beruf auszubilden. Er wurde ein hervorragender Topograph und arbeitete am Bau des Götakanals und an den ersten Eisenbahnanlagen mit. Diese Beschäftigung mit ei-
nem ganzen Königreich, das er auf einer Karte auf seinem Schreibtisch ausbreitete und von oben zu betrachten und in einem Augenblick zu überschauen gewohnt war, verlieh ihm allmählich die Gewohnheit, die Dinge im Großen zu sehen. Da saß er und eröffnete mit dem Lineal eine Verkehrsstraße, die die Physiognomie der ganzen Landschaft umwandelte, alte Städte verschüttete, neue schuf, die Warenpreise modifizierte, neue Produktionsquellen erschloß. Die Karte mußte geändert, die alten Wasserstraßen vergessen und die schwarzen geraden Linien, die die neuen Eisenbahnen bezeichneten, die bestimmenden werden; die Höhen sollten ebenso fruchtbar sein wie die Täler, und der Kampf um die Flüsse würde aufhören; die Grenzen zwischen Reichen und Ländern würden nicht mehr markiert werden. Dies Schalten und Walten mit den Schicksalen von Ländern und Völkern hatte ein starkes Machtgefühl zur Folge, und es war unvermeidlich, daß der Vater allmählich von der mit der Macht zusammenhängenden Tendenz, sein Ich zu überschätzen, erfaßt wurde. Alles begann er aus der Vogelperspektive zu sehen; die Länder wurden Karten und die Menschen Zinnsoldaten; wenn der Topograph in wenigen Wochen eine Höhe dem Erdboden gleichmachte, zu deren Denudierung Jahrtausende nötig gewesen wären, fühlte er etwas vom Schöpfer in sich; ließ er Tunnel sprengen, Sandhügel in Seen abtragen, Moore zuschütten, so konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, die Neugestaltung der Erdkugel in die Hand genommen zu haben, da er die gesetzmäßigen geologischen Formationen durcheinanderwarf; dadurch wuchs sein Selbstgefühl unglaublich.
Hinzu kam seine Stellung als Offizier mit einer ganzen Menge von Untergebenen, mit denen er nur im Befehlston verkehrte und sie also als diensttuende Muskeln seines wollenden Großhirns betrachtete. Mit dem physischen Mut und der Entschlossenheit des Offiziers, der Gründlichkeit des Gelehrten, der Besonnenheit des Denkers, der Ruhe des ökonomisch Unabhängigen und der Würde und Selbstachtung des ehrenhaften Mannes erschien er als ein Typ höchster Ordnung, in dem Schönheit und Klugheit eine Verbindung eingegangen waren, deren Resultat eine maßvolle, harmonische Persönlichkeit war. An diesem Vater hatte der Sohn ein Vorbild und einen Lehrer, da die Mutter früh starb. Um dem Sohn die bitteren Augenblicke der Enttäuschung zu ersparen, und in Mißbilligung der üblichen Erziehungsmethode, die mit Märchenbüchern und Spukgeschichten das Kind zum Kinde erzog, statt zum Manne, öffnete er sofort den ganzen Vorhang zum Tempel des Lebens und weihte den Sohn in die schwere Kunst des Lebens ein. Lehrte ihn den intimen Zusammenhang zwischen dem Menschen und der übrigen Schöpfung: allerdings stehe der Mensch auf seinem Planeten am höchsten, stehe aber doch immer noch mitten darin, könne selber in gewissem Grade die Wirkungen der Naturkräfte modifizieren, werde aber doch immer noch von ihnen beherrscht, – also eine vernünftige Naturverehrung, wenn man unter Natur alles Existierende und unter Verehrung die Erkenntnis verstehe, von den herrschenden Naturgesetzen abhängig zu sein. Dadurch beseitigte er den Größenwahn des Christentums, die Furcht vor dem Unbekannten, vor dem Tode und vor Gott, und schuf einen klugen Mann, der über seine Handlungen
wachte, eine Persönlichkeit, die für die Folgen ihrer Taten die Verantwortung übernahm. Den Regulator für die niedrigeren Triebe des Menschen fand er in dem Organ, das eben durch seine vollkommenere Ausbildung den Menschen vom Tier unterscheidet, nämlich im Großhirn. Das auf allseitiges Wissen gegründete Urteil solle die niedrigeren Triebe leiten und, wenn nötig, unterdrücken, um die Art hochzuhalten. Ernährung und Fortpflanzung seien die niedrigsten Triebe, weil der Mensch sie mit den Pflanzen gemeinsam habe; die Gefühle, wie die niedrigeren Gedankenrudimente des Tieres genannt werden, müßten, weil sie in Blutgefäßen, Rückenmark und anderen niedrigeren Organen lokalisiert seien, bei einem Menschen des höheren Typs unbedingt dem Großhirn untergeordnet sein; alle Individuen, die ihre niederen Triebe nicht regulieren könnten, sondern mit dem Rückenmark dächten, seien niedrigere Formen. Deshalb warnte der Alte vor dem Glauben an jugendliche Begeisterung und Enthusiasmus, die ebenso leicht zum Verbrechen wie zur Tugend führen könnten. Das schließe freilich große, gemeinnützige Leidenschaften nicht aus, die nicht zu den Gefühlen gehörten, sondern mächtige Äußerungen des Willens zum Guten seien. Alles, was die Jugend leisten könne, sei vollständig wertlos, da es in der Regel der Ursprünglichkeit entbehre und nur auf den Gedanken der älteren Vorgänger beruhe, die die nächste Jugend als die ihren aufgenommen habe und mit großen Gebärden kolportieren wolle. Originalität könne nämlich nur entstehen, wenn das Hirn reif sei, ebenso wie wirkliche Fortpflanzung mit darauffolgender Erziehung des Nachkommen nur stattfinden könne, wenn der Mann mannbar sei und die Fähigkeit besitze, Existenzmittel für die Erziehung des Kindes zu beschaf-
fen. Ein sicheres Zeichen für die Urteilsunfähigkeit des unreifen Hirns sei der konstante Größenwahn, in dem Jugend und Frauen lebten. Die Jugend habe die Zukunft vor sich, pflege man zu sagen, aber diese Behauptung sei sehr anfechtbar, denn das Mannesalter weise eine geringere Sterblichkeitsziffer auf als die Jugend, und die wenig geistreiche Antwort, daß die Jugend, wenn sie ein Fehler sei, doch mit den Jahren abnehme, vermöge die Regel nicht umzustoßen, daß die Jugend ein Gebrechen, ein Mangel, also ein Fehler sei, dessen Vorhandensein ja zugegeben werde durch die Erkenntnis, daß er abnehmen könne; denn was überhaupt nicht da sei, könne auch nicht abnehmen. Alle Angriffe der Jugend auf das Bestehende seien hysterische Ausbrüche der Unfähigkeit des Schwachen, einen Druck zu ertragen und zeugten von ebenso geringer Klugheit wie das Verhalten der Wespe, den Menschen anzugreifen und einem sicheren Untergang entgegenzugehen. Als guten Beweis für den Mangel der Jugend an Urteilskraft und Konsequenz führte er den Robinson an, der, in der offenkundigen Absicht geschrieben, Naturzustand und isoliertes Leben herabzusetzen, trotzdem ein Jahrhundert lang regelmäßig von der Jugend falsch aufgefaßt worden sei als ein Lobgesang auf das Leben in der Wildnis; dabei werde dieses Leben in dem Buch gerade als eine Strafe für den törichten Jüngling hingestellt, der die Güter der Kultur wie ein Wilder mißbraucht hatte. Dieser kleine Zug beweise zugleich, welch eine niedrige ontologische Form der Jüngling sei, was sich in seiner Sympathie für Indianer und andere in der Entwicklung Zurückgebliebene verrate: Gefühle, die man einmal ablegen werde wie die Schilddrüse, die am Menschen außer Gebrauch gekommen sei, aber doch noch an ihrem alten Platz sitze.
Wenn der Sohn diese bitteren Wahrheiten nicht mit Vernunftgründen widerlegen konnte und erklärte, daß seine Gefühle, ja seine heiligsten Gefühle sich gegen diese trokkene Lehre empörten, erklärte ihn der Vater für eine Wespe, die noch mit Ganglien denke. Und er warnte ihn vor den Ausschweifungen der Phantasie oder Schlußfolgerungen ohne genügende Basis, ohne großes Material; nicht zu verwechseln mit wissenschaftlichen Schnellschlüssen, die aus wenigen Prämissen – anscheinend wenigen, weil man die Zwischenglieder vergißt – zu neuen Folgerungen kommen könnten, bei denen gewissermaßen durch eine chemische Vereinigung zwei ältere Begriffe in einander aufgingen und einen neuen Gedanken bildeten. Die Entstehungslehre habe ja gezeigt, wie der menschliche Fötus alle älteren Stadien von der Amöbe über den Frosch bis zum Antropomorph durchmache; wie könne die Jugend da bezweifeln, daß der Menschengeist beim Kinde die Geschichte des Menschen über das Tier und den Wilden durchleben müsse, so lange der Körper wachse; daß also der Mann weit höher stehe als der Jüngling! Besonders warnte er davor, sein Urteil durch den niedrigsten der Triebe, den Geschlechtstrieb, trüben zu lassen, der durch seine Stärke die gesunde Vernunft solange verblendet habe, daß aufgeklärte Männer noch immer in dem Aberglauben befangen seien, das Weib sei ein ebenso hoch stehender Typ wie der Mann, ja nach Ansicht mancher ein noch höherer, während es doch nur eine Zwischenform zwischen Mann und Kind bilde, was aus der Geschichte des Fötus hervorgehe, wo der Mann in einem Stadium Weib, das Weib aber niemals Mann sei. Den Jüngling vor der Übermacht der Geschlechtsimpulse zu warnen, war gleichbedeutend damit,
einen Schatten auf die Frau zu werfen; der Sohn fing denn auch bald an, Ganglienschlüsse zu ziehen, wie der Vater es nannte, die darauf hinausliefen, daß der Oberstleutnant ein Frauenhasser sei. Und wie konnte er anders, da er dauernd betonen hörte, daß dieser und jener seine Zukunft durch Weibergeschichten verdorben habe, daß große Begabungen ihr Talent in der Arbeit der Zeugung verschwendeten. Glück und Tätigkeit für eine Frau opferten, die untreu war, und für Kinder, die vor der Reife starben. Fortpflanzung sei nur für kleinere Geister, die größeren sollten in ihren Werken fortleben, und so weiter. Unter einer solchen Leitung wuchs der Sohn auf. Er war bei der Geburt ein ungewöhnlich zartes Kind, aber mit einem harmonisch entwickelten Körper, hatte fein ausgebildete Sinne, eine rasche und sichere Auffassungsgabe, einen scharfen Verstand und einen Adel der Gesinnung, der sich in Nachsicht und Zugänglichkeit den Menschen gegenüber äußerte. Er verstand früh sein Leben zu regeln und die Pflanzen- und Tiertriebe zu unterdrücken; und als er ein großes Material an Beobachtungen und Wissen gesammelt hatte, begann er es zu bearbeiten. Es zeigte sich bald, daß sein Gehirn die Fähigkeit der Fruchtbarkeit besaß, aus zwei Bekannten die gesuchte Unbekannte zu finden, aus alten Gedanken neue zu erzeugen, kurz, die Gabe, die man Originalität nennt. Er war ein werdender Neugestalter und verfügte über die Fähigkeit, im Ungeordneten den Zusammenhang zu durchschauen, die unsichtbare Kraft hinter den Erscheinungen zu entdecken, aber auch die verborgenen, so äußerst zusammengesetzten Motive zu den Handlungen der Menschen. Deshalb wurde er von den Kameraden in der Schule mit Mißtrauen betrachtet, und
die Lehrer spürten in ihm eine stille Kritik dessen, was sie als unerschütterliche Tatsachen hinstellten. Der Beginn seines Universitätsstudiums fiel mit den großen Volksbewegungen zusammen, die die Parlamentsreform begleiteten. Borg sah die Mängel der Vierständevertretung sehr wohl ein: da der Staat aus mindestens zwanzig Ständen mit verschiedenen Interessen bestand, deren Fähigkeit, so verwikkelte Probleme wie das der Volksregierung beurteilen zu können, ungleich war; er konnte sich aber anderseits nicht entschließen, auf die Organisation der Horde oder des Stammes zurückzugreifen, bei der alle gleich viel oder gleich wenig zu sagen hatten; er erkannte sofort, daß diese Vereinfachung des Regierungssystems, bei der »die Menge es machen sollte«, keine den Bedürfnissen der Zeit angemessene Reform sei, da er kürzlich gesehen hatte, daß das allgemeine Wahlrecht in Frankreich einen Kaiser und eine Scheinvertretung von Advokaten, Kaufleuten und Militärs hervorgebracht hatte, von der also Arbeiter, Landwirte, Gelehrte und Männer der Wissenschaft ausgeschlossen, mithin nur drei vom Kaiser willkürlich gewählte Stände vertreten waren. Nach seiner Berechnung wäre das richtigere eine entwickelte Standesvertretung mit proportionellem Repräsentationsrecht, das genau nach den Klasseninteressen und mit Rücksicht auf die höchsten Interessen zu bemessen wäre; das heißt auf das höhere Recht der Klugen, die Übermacht zu haben, weil sie den Fortschritt mehr fördern als die Törichten. Das hatten ja schon die Urheber des Kammersystems geahnt, als sie die Notwendigkeit einsahen, Fragen in Ausschüssen zu behandeln und gewisse Fragen von besonders zusammengestellten Ausschüssen, ja, von Kommissionen von Fachleuten, er-
örtern zu lassen. Sollte eine vollständige Volksversammlung geschaffen werden, so daß alle Interessen wahrgenommen, alle Gesichtspunkte erwogen und alle Aufschlüsse über die Lage des Reiches zugänglich gemacht würden, so mußte jede Volksklasse von der höchsten bis zur niedrigsten im Verhältnis zu ihrer Zahl einerseits und ihrer Bedeutung für die Hebung des ganzen Landes anderseits Abgeordnete wählen. Während er den Hofstaat strich, der mit dem Monarchen dem Auswärtigen Amt eingereiht werden mußte, wohin er gehörte, da der Monarch die Nation nur ausländischen Mächten gegenüber repräsentieren sollte, stellte er seinen beratenden, aber nicht gesetzgebenden Fachreichstag folgendermaßen zusammen: Erste Klasse: Grundbesitzer mit Pächtern, Bauern, Inspektoren. Großknechten usw. Zweite Klasse: Bergwerksbesitzer und Fabrikanten mit Bergleuten und Arbeitern. Dritte Klasse: Kaufleute, Seeleute, Hotelbesitzer, Träger, Fuhrleute, sowie Bank-, Zoll-, Post-, Eisenbahn-, Telegraphen- und Lotsenbeamte. Vierte Klasse: Zivil- und Militärbeamte, Geistliche mit Hilfspersonal und ähnlichem. Fünfte Klasse: Gelehrte, Lehrer, Literaten und Künstler. Sechste Klasse: Ärzte, Apotheker, Armenpfleger. Siebente Klasse: Hausbesitzer, Kapitalisten, Rentiers. In welchem Verhältnis aus jeder Klasse gewählt werden sollte, war eine Frage, die sich nicht aus dem Handgelenk lösen ließ, sondern von fähigen und in der Staatskunst erfahrenen Männern erforscht werden mußte; aus diesem Grunde konnte die Repräsentationsordnung stets nur provisorisch sein. Über dieser beratenden Versammlung sollte ein Staatsrat von Fachleuten der Staatswissenschaft stehen, die eigens für diese schwere Aufgabe ausgebildet waren, so daß
die schwerste aller Künste nicht von Pfuschern und unternehmungslustigen Dilettanten ausgeübt würde, wie es bisher der Fall gewesen war; außerdem sollte dem Amtsantritt dieser Staatsmänner eine genaue Prüfung ihres Vorlebens, ihrer privaten, ökonomischen und sozialen Verhältnisse vorangehen. Dies letztere würde die Jugend anspornen, sich selbst zu erziehen und ihr Tun und Lassen zu beachten, so daß ein Stamm von ausgezeichneten Männern geschaffen würde, ohne daß anderseits der sogenannte makellose Lebenswandel allein oder negative Tugenden ohne Begabung wie bisher ein Mittel zur Beförderung wären. Dies sollte der neue Adel werden, der Nachfolger des alten Verdienst-, Militär- und Hofadels, und da er sich nur selbst durch natürliche Auslese aus den Besten bildete, so war er eine Garantie dafür, daß das Land auf die beste Art regiert würde. Der Reichstag würde, da er nur über eine Ansicht, nicht über einen Beschluß abstimmen dürfte, eine große Untersuchungskammer sein, nicht ein Heer von Legionären, die bestochen oder überredet wurden, ihr Stimmrecht auszuüben. Der junge Mann war aber schon zu klug, um diese seine Ansichten zu äußern; in Zeiten, da Edelmann gleichbedeutend mit entartet, zurückgeblieben, verlebt war und die Massen so blind vorwärts stürmten, daß gerade die Industriearbeiter selber ihren künftigen Klassenfeinden, den Bauern, am meisten in die Hände arbeiteten, konnte ein kluger Mann nur lächeln und warten. Und er wartete, bis er erlebte, daß die Einklassenvertretung die Vierständevertretung verdrängte, da das Reich von jetzt an von dem früheren Bauernstand allein repräsentiert wurde. Aber dieses historische Ereignis hatte einen sehr großen Einfluß auf die Gedankenrichtung
und die ganze Entwicklung des Jünglings gehabt. Es war ihm dadurch klar geworden, in welcher entsetzlichen Unordnung sich bei den meisten der Gedankenmechanismus befand, und wenn er die Sitzungsberichte las und die Worte der einflußreichsten und glänzendsten Redner prüfte, fiel ihm auf, wie das, was er Ganglienerwägung nannte, die Zusammenziehung von Blutgefäßen und Blutandrang zum Herzen, den größten Einfluß auf die öffentliche Meinung ausübte. Es kam ihm bisweilen vor, als handle es sich gar nicht um das Vaterland oder um den Fortschritt, sondern um den Triumph der Antragsteller, ihren Willen durch Fehlschlüsse, durch die schlimmsten Verstöße gegen die Logik, die gröbste Entstellung der Tatsachen durchzusetzen. In ihm wurde durch diese Beobachtungen der große Verdacht erweckt, daß alles einem Kampf um die Macht galt, um den Genuß, die andern Gehirne mit seinem eigenen Gehirn in Einklang zu bringen, seine Gedankensaat in fremde Hirnrinde zu säen, wo sie gleich Misteln parasitisch wachsen sollte, während der Mutterstamm sich stolz in die Brust werfen konnte in dem Gedanken, daß die Schmarotzer dort oben in der Krone doch nur Schmarotzer seien. Das förderte seinen Ehrgeiz, und um diesen zu befriedigen, verschaffte er sich Wissen und Erfahrung durch Studien, Reisen und Verkehr mit kenntnisreichen und berühmten Männern. Und mitten in diesem ewig beweglichen Chaos von widerstreitenden Kräften und Interessen suchte er den Ankerplatz für sein Dasein, den Mittelpunkt des Kreises, den die Wirklichkeit um ihn schlug, in sich selber. Statt gleich den schwachen Christen einen Stützpunkt außerhalb seiner selbst in Gott zu fingieren, nahm er das Handgreifliche in seinem eigenen Selbst und versuchte
seine Person zu einem vollkommenen Typ des Menschen zu machen, dessen Wandel und Taten niemandes Recht kränken sollten, fest überzeugt, daß die Früchte eines gut gepflegten Baumes unbedingt andern Nutzen und Freude bringen würden. All das Verworrene und Verkehrte, das er in dem Streben derer sah, die angeblich für andere, im Grunde aber nur von andern lebten, von der Dankbarkeit anderer, der Meinung anderer, der Anerkennung anderer, vermied er und ging seinen Weg geradeaus in der Überzeugung, daß eine einzige große und starke Persönlichkeit unwillkürlich mehr nützen werde als diese Massen Gedankenloser, deren Zahl in umgekehrtem Verhältnis zu ihrem Nutzen stand. Und indem er so sich selbst als Muster hinstellte, erzwang er eine Norm für seine Lebensweise, die ihn zu einem hohen Grade von Sittlichkeit führte, da er, statt die Abrechnung einer Ungewissen Zukunft zu überlassen, selbst seinen Wandel so einrichtete, daß er nichts unabgerechnet ließ, nicht die Schuld auf einen unschuldig leidenden Christus schob, sondern in bewußtem Verantwortlichkeitsgefühl keine Handlung beging, die ein Bedürfnis nach einem Sündenbock wecken konnte. Dadurch lernte er, sich nur auf sich selbst zu verlassen, nie einen Rat anzunehmen, stets die wahrscheinlichen Folgen einer Handlung zu erwägen. Das hinderte aber nicht, daß er in Übereinstimmung mit seiner Generation, die in der Epoche des Dampfes und der Elektrizität geboren und erzogen wurde, in dieser Epoche, in der die Lebenstätigkeit ihr Tempo beschleunigte, unter Nervosität zu leiden hatte. Und wie konnte es anders sein bei einem Menschen, der Millionen alte Hirnzellen vernichten mußte, in denen veral-
tete Eindrücke aufgespeichert waren, der jeden Augenblick, wenn er sich ein Urteil zu bilden gedachte, überlebte Axiome, die sich als Prämissen vordrängen wollten, sorgsam wegzuschneiden hatte. Es war die Arbeit eines völligen Neubaus, von der diese Unordnungen im Nervensystem herrührten, die man ausschließlich dem Alkoholismus und den sexuellen Ausschweifungen der Vorfahren hat zuschreiben wollen; das krankhafte Symptom war nur ein Ausdruck gesteigerter Vitalität, von äußerer Empfindlichkeit begleitet, wie es bei dem Krebs der Fall ist, wenn er die Schale wechselt, oder bei dem Vogel, wenn er mausert. Es war die Neubildung einer Menschenrasse oder wenigstens einer Varietät, die den Alten krank oder ungesund erschien, weil sie in der Entwicklung stand; eine Tatsache übrigens, die sie ungern zugaben, da sie selbst die Norm sein wollten und sich gesund nannten, obwohl sie sich im Zustand der Auflösung befanden. Diese Empfindlichkeit der Nerven bei dem heranwachsenden Jüngling wurde erhöht durch seine Enthaltsamkeit in Essen und Trinken und die strenge Disziplinierung des Geschlechtslebens; denn er fand es erniedrigend, sich durch gegorene Getränke in den zügellosen Zustand des Wahnsinnigen und des Wilden zu versetzen, und seine Seele war zu vornehm, als daß er eine vorübergehende Verbindung mit einer Prostituierten hätte eingehen mögen. Diese Nervosität hatte aber auch eine zunehmende Schärfe der Sinne und eine Reizbarkeit gegenüber unangenehmen Eindrücken zur Folge, die in ihm oft Unlust hervorriefen, wenn andere mit roheren Sinnen Genuß empfunden hätten. »So blieb er viele Stunden lang verstimmt, wenn sein Morgenkaffee nicht stark genug war; eine schlecht gestrichene
Billardkugel und ein unsauberes Queue konnten ihn veranlassen, umzukehren und ein anderes Lokal aufzusuchen; ein nachlässig abgetrocknetes Glas erregte seinen Ekel, und er nahm den Geruch von Menschen an einer Zeitung wahr, die ein anderer gelesen hatte; er konnte auf einem fremden Möbelstück Menschenschweiß auf der Politur sehen und öffnete stets das Fenster, wenn ein Mädchen das Zimmer aufgeräumt hatte. War er aber auf Reisen und zwang ihn die Not, dann konnte er gleichsam alle Leitungen von den Sinneswerkzeugen zur Auffassung abstellen und machte sich hart gegen alle Unlustempfindungen. Als er nun an der Universität seine Studien in der Naturwissenschaft beendet hatte, der am wenigsten demütigenden Wissenschaft, weil hier Ansichten eine geringere Rolle spielten als das Sammeln von Material, erhielt er eine Assistentenstelle an der Akademie der Wissenschaften. Er hatte sich um diese Stelle beworben in der Absicht, alle Reiche der Natur, die hier an einem Ort gesammelt und geordnet waren, zu überschauen und daraus vielleicht den großen Zusammenhang zu erkennen, falls es einen gab, oder die universelle Ungeordnetheit, die das Wahrscheinliche war. Aber seine Absichten wurden bald entdeckt, besonders da er nicht lange der Gefahr widerstehen konnte, sich einen Vorschlag zur Neuordnung der Vogelarten nach ganz anderen Grundsätzen als den bisherigen entlocken zu lassen. Die Vorgesetzten, die natürlich nicht zu Materialsammlern für einen jungen Menschen herabsinken und nicht gern mit ihrem Werk veralten wollten, faßten eine instinktive Abneigung gegen den Scharfsichtigen. Die erste Abwehr gegen den Eindringling geschah dadurch, daß er mit Detailarbeiten von untergeordneter
Bedeutung beschäftigt wurde, die für seinen Schönheitssinn unangenehm waren. Zum Beispiel mußte er sechs Monate lang in der Fischsammlung den Spiritus wechseln. Anfangs bekam er Erbrechen von dem widerlichen Geruch; als er jedoch die unangenehmen Empfindungen überwunden hatte, wendete er sich mit wahrer Wut dem Studium der Fische zu, und da er schnell arbeitete, hatte er am Ende des Semesters sich mit dem großen Material gründlich vertraut gemacht. Er hatte aber den Winter über in einer kalten, schmutzigen und halbdunklen Küche gestanden, hatte schlechten Spiritus gerochen, an den Händen gefroren und sich einen schwer heilbaren Blasenkatarrh zugezogen. Darauf wurde er beauftragt, Etiketten für die Algen zu schreiben. Da er an der Universität keinen Schönschreibunterricht genossen und von Natur eine schwache, ungleichmäßige Handschrift hatte, wurden die Zettel vernichtet und er kam in den Ruf der Untüchtigkeit. Er könne ja nicht einmal schreiben. – Doch in zwei Monaten, in denen er ein Schreibinstitut besuchte und abends über Schreibheft und Vorlage saß, erwarb er sich eine schöne, leserliche Handschrift; er war also zu einer vollständigeren Kenntnis der Algen, als er vorher besessen, gelangt und hatte außerdem die unschätzbare Kunst des Schreibend erlernt. Die Vorgesetzten, die gedacht hatten, er werde die untergeordnete Arbeit verschmähen, merkten bald, daß er nicht umzubringen war, vielmehr alle Widrigkeiten zu seinem Vorteil zu benutzen verstand, indem er sein Wissen erhöhte, geschmeidig dem Schlage auswich und den Schauer abschüttelte. Aber seine zunehmende Schreibfertigkeit sollte eine neue Quelle der Demütigung werden, denn jetzt wurde er ausersehen, amtliche Urkunden und Briefe ins Reine zu schrei-
ben, und sank, wie man glaubte, auf diese Weise allmählich zu der dürftigen Rolle eines Abschreibers herab. Ohne zu klagen, übernahm er die Beschäftigung; und während er fremde Sprachen lernte, hatte er Gelegenheit, Einblick in alle Geheimnisse der großen Männer zu bekommen, die sie in seiner Hand für wertlos hielten. So sah er die wissenschaftlichen Streitfragen der Zeit brieflich behandelt, entdeckte die Wege zu den geheimen Zusammenkünften der gelehrten Gesellschaften, lernte die unterirdischen Gänge zu Auszeichnungen und zu den Möglichkeiten kennen, seine Forschungen fruchtbringend zu machen. Ihm war also nicht beizukommen, und wenn man ihn gerade niedergetreten zu haben glaubte, erhob er erst recht von neuem den Kopf. In seiner doppelten Eigenschaft als Edelmann und Selbstdenker geriet er in Isolierung. Sein Name klang nicht wissenschaftlich, seine Art, sich fein und modern zu kleiden, wurde als Beweis einer unwissenschaftlichen Natur von denen angesehen, die sich der zerlumpten Hosen Berzelius’ erinnerten, seine geduldige, scheinbare Demut wurde als Inferiorität aufgefaßt, und alle seine Gedanken über Naturwissenschaft als poetische Ergüsse. Um ihn jetzt, als man bereute, ihn hinter den Vorhang gelassen zu haben, wieder zu ducken, dachte man sich eine neue Arbeit für ihn aus, die noch jeder Neuling verschmäht hatte und die deshalb auch der Prüfstein oder der Stein des Anstoßes genannt wurde. Es hatte sich nämlich oben auf dem Boden ein Rest von Gesteinsarten und Mineralien angesammelt, die teils von Schenkungen und Testamenten, teils von Weltumsegelungen und Expeditionen herrührten; und da die meisten als Dubletten zu einer Zeit ausrangiert waren, als die Geologie noch in den Windeln lag, mußten sie
mit dem fortschreitenden Wissen von neuem durchgesehen und gesichtet werden. Sie hatten in einer Kammer unter den Dachziegeln ihren Platz gefunden und lagen in einem großen Haufen da, beträchtlich mit Staub und Spinngewebe untermischt. Borg, der jetzt unter den erhitzten Dachziegeln gebückt stehen und den Staub einatmen mußte, war nahe daran, auf und davon zu gehen; als er aber am zweiten Tage auf ein Mineral stieß, das er für unbekannt hielt, vertiefte er sich sofort in die Arbeit und begann zu ordnen. Dabei machte er Erfahrungen, die seinen bereits schwachen Glauben an das Lehrgebäude vollends erschütterten, und erkannte, daß nicht die Steine von der Natur geordnet waren, sondern daß das Gehirn die Erscheinungen ordnete. Im übrigen: ordnen ließ sich alles, wenn man sich nur ein Einteilungssystem schuf; und daß hier nicht das vernünftigste Einteilungssystem gefunden war, sah er bald ein. Da nun das System selbst eine unentschiedene Hypothese blieb, – eine Hypothese gleich der Voraussetzung, das Urgestein sei durch Schmelzen im Feuer entstanden, im Gegensatz zu den abgelagerten Bergarten, die sich bestimmt aus dem Wasser abgesetzt haben sollten, während doch tatsächlich das Urgestein ebenfalls gelagert war wie die jüngeren Sedimentärformationen – so fand er das ganze recht konstruiert und erkünstelt und das System auf Mutmaßungen aufgebaut. – Inzwischen hatte er sein Mineral analysiert und gefunden, daß es noch unbekannt sei, worauf er es dem Professor übergab, der es an die Berliner Akademie schickte und erreichte, daß dem neuen Mineral sein Name beigelegt wurde. Borg bekam keinen Dank, wurde nicht erwähnt, sondern hörte nur Stichelreden von den Vorgesetzten. Da ihn das reizte, nahm er selber das nächste Mineral un-
bekannter Art, das er fand, und schickte es an Lyell. Seine Abhandlung wurde in der Geological Society gelesen, und er wurde als Mitglied in die Gesellschaft aufgenommen. Kollegen und Vorgesetzte taten, als wüßten sie von seinem Erfolg nichts, da dieser in gewisser Weise den Professor bloßstellte, der das unbekannte Mineral für eine Dublette gehalten hatte; und nun wuchs die Abneigung zum Haß, um in Verfolgung überzugehen. Er aber entzog sich ihnen, machte sich unsichtbar und arbeitete. Da diese aufgesammelten Minerale aus allen Ländern Europas geholt waren und Borg es verstand, jeder Entdeckung einen Anstrich von direktem Nutzen für die Bergkunde der verschiedenen Länder zu geben, hatte er es in einigen Jahren so weit gebracht, daß er in die meisten der gelehrten Gesellschaften Europas aufgenommen und Inhaber des italienischen Kronenordens, der französischen Instruction publique, des österreichischen Leopoldordens und des russischen Sankt Annenordens zweiter Klasse war. Aber das alles nützte nichts bei seiner Umgebung, deren Lächeln nur mit jeder Auszeichnung, die doch auf Verdienst beruhte, stärker wurde. Da man das Faktum nicht ableugnen konnte, verringerte man den Wert oder tat, als wisse man nicht, was geschah, ließ sich aber nicht hindern, die von Borg gefundenen Spuren zu eigener Jagd zu benutzen. Als er schließlich nach siebenjähriger qualvoller Tätigkeit seinen Vater, der damals starb, beerbte, und seine Stelle aufgab, um als Privatmann ins Ausland zugehen, sagten die einen, er habe seinen Beruf verfehlt und es sei schade, daß er es zu nichts anderem gebracht habe, die andern aber, er sei aus dem Amt entlassen worden. Mit einer grenzenlosen Verachtung für die Menschen also verließ er sein Land, um in fremden Ländern
seine Studien fortzusetzen. Und in Hotels und Pensionen überall in Europa traf er viele Arten Menschen und knüpfte Verbindungen an, die bald durch gezwungene Trennung wieder abgebrochen wurden. Überall aber sah er, wie die Menschen der gleichen Epoche die gleichen Anschauungen über die gleichen Dinge äußerten, die Ansichten der Mehrheit als ihre eigenen hinstellten, Phrasen aussprachen, statt Gedanken in Worte zu fassen, und entdeckte dadurch, daß im Grunde die Gedanken einiger weniger Geister von den Massen nachgebetet wurden. So fand er, daß alle Geologen die Ansichten von Agassiz und Lyell aus den Jahren 830 und 840 wiedergaben; alle religiösen Freidenker beteten Renan und Strauß nach; alle rührigen Politiker lebten von Mill und Buckle; alle, die neue Literatur predigten, käuten Taine wieder. Also besaßen nur einige Hauptbatterien die Stromerreger und brachten durch die Leitungsdrähte der Talente alle diese Schellen zum Läuten. Von hier kam er bald auf das Gebiet der Psychologie, besuchte Spiritisten, Gedankenleser und Hypnotiseure und sah hinter diesen Schwindeleien mancherlei neue Entdeckungen, die sicher die viehische Art der Menschheit, gebankenlos dahinzuleben, ändern und vielleicht dazu beitragen konnten, den Gedankenapparat zu justieren; die zu der Erkenntnis führen mußten, daß der ganze Kampf um Ansichten nur der Kampf um die Macht war, fremde Gehirne in Bewegung setzen, die Massen zwingen zu können, wie das eigene Ich zu denken. Deshalb hatte er auch wissenschaftliche Dispute erlebt, die mit dem Siege der falschen Ansicht endeten, wenn nur der Siegende hinreichend Autorität und Majorität gehabt hatte. Er hatte politische Fehden gesehen und religiöse, die in einer aller Vernunft und Gerechtigkeit widersprechenden Gesetzgebung
endeten und allbekannte Irrtümer begründeten, die von der nächsten Generation als selbstverständliche Wahrheiten übernommen wurden. Nein, es kam wohl nur darauf an, seinen Willen durchzusetzen, und die ganze Triebkraft bei dem Verfechten der Meinungen waren Eigennutz und Passionen. Der Eigennutz war nichts anderes als ein Bedürfnis, das Bedürfnis nach Essen und Liebe, und um diese zu erringen, bedurfte es eines gewissen Quantums Macht. Wer nicht nach Macht strebte, war ein Schwächling, dessen Wille zum Leben dünn geworden war; deshalb hört man stets den Schwachen auf das Recht pochen, auf das Recht des Schwächeren, während es nur eine mathematische Gerechtigkeit, eine arithmetische Wahrheit gibt, zu deren Berechnung aber ein starker Gedankenapparat erforderlich ist, der sich von den optischen Täuschungen des Eigennutzes und der Passionen freimachen kann. Wenn nun Borg sein Inneres prüfte und sich mit einer großen Anzahl anderer verglich, fand er, daß er durch strenge Selbsterziehung sein Urteil in hohem Grade emanzipiert hatte und einen besonders ausgebildeten Trieb besaß, diese abstrakte Gerechtigkeit, diese Wahrheit zu suchen, die in dem wirklichen Verhältnis, in dem Kern der Sache bestand. Deshalb bezeichnete er sich auch als Freund der Wahrheit im höchsten Sinne, ohne jedoch umherzugehen und alles rund heraus zu sagen, was er dachte, und ohne etwa im Notfalle eine zudringliche Frage nicht mit einer Unwahrheit zu beantworten. Um der Organisation des Menschentieres näher auf die Spur zu kommen, stellte er spezielle Studien über die seelischen Kräfte der niederen Tiere an und versuchte so allmählich bis zum Menschen zu gelangen. Darauf legte er ein Hauptbuch
über all die Individuen an, die er auf seinem Wege getroffen hatte: von Angehörigen, Wärterinnen, Dienstmädchen, bis zu Schulkameraden, Studiengenossen. Verkehrsfreunden, Vorgesetzten, kurz über alle, die in seinen Beobachtungskreis gekommen waren; entwarf ihre Entstehungsgeschichte, die er durch Einholen von Personalien, Geburtsscheinen, Aussagen von Bekannten vervollständigte; er stellte ihre Gleichung auf und suchte ihr Lebensproblem zu lösen. Es war ein unglaublich großes Arbeitsmaterial, und als er den Wirrwarr geordnet hatte, sah er, daß die Menschen sich wie Tiere und Pflanzen in große Klassen, Ordnungen und Familien einteilen ließen, je nachdem das Einteilungssystem aufgebaut wurde. Dadurch, daß er mehrere Einteilungssysteme anwendete, kam er der Wahrheit recht nah und erlangte die vollste Beleuchtung seines Observationsobjektes. So stellte er unter anderm für Menschen ein Schema mit drei Unterabteilungen auf: Bewußte, Selbstbetrüger und Unbewußte. Die Bewußten oder Eingeweihten standen am höchsten, hatten den Betrug durchschaut, glaubten an nichts und an niemanden, wurden durchweg Skeptiker genannt und von den Selbstbetrügern gefürchtet und gehaßt, erkannten einander sofort und trennten sich gewöhnlich mit der Titulatur Schurke, indem sie sich gegenseitig schlechter Motive beschuldigten. Zu den Selbstbetrügern rechnete er alle religiös Gläubigen, hypnotische Medien, Propheten, Parteiführer, Politiker, Wohltätigkeitsgeister und den ganzen Schwarm schwacher Ehrgeiziger, die vorgaben, für andere zu leben. Zu den Unbewußten gehörten Kinder, die meisten Verbrecher, die meisten Frauen und einige Irre, die alle noch
auf einem halb säugetierhaften Standpunkt lebten ohne die Fähigkeit, Subjekt von Objekt zu unterscheiden. Nach einem andern Einteilungssystem, dem ontogenetischen, das sich vom Embryo zu dem am höchsten stehenden Mann entwickelte, erhielt er Kinder, Jugendliche, Frauen, Männer. Daneben suchte er bei Landsleuten ständig ancestrale Rassenmerkmale; unterschied Nordschweden und Südschweden, konnte in dem Wärmländer und dem Bohusländer den Norweger erkennen, stellte bei manchen Nordländern den Finnen fest, fand eingewanderte Deutsche, Wallonen, Semiten und Zigeuner heraus, was ihm oft den Schlüssel zu manchem Zuge in einem sonst unerklärlichen Charakter gab. Dann hatte er noch eine andere Einteilung der Charaktere nach der Dominante, wie er sie bezeichnete, und vereinigte auf diese Weise die Nutritiven oder Schlemmer, die Trinker und die Geizigen in einer niedrigsten Gruppe; dann die Sexuellen oder geschlechtlich Genießenden; die Affektiven oder Gefühlsmenschen, schließlich die Intellektuellen oder Denkenden, die am höchsten standen. Diese Wissenschaft entwickelte er zu einer hohen Stufe und besaß daher nach einer hinreichenden Zeit die Fähigkeit, einen Menschen beurteilen zu können oder seine Gleichung aufzustellen. Um die Richtigkeit feiner Beobachtungen zu prüfen, benutzte er sich selbst als psychologisches Präparat, schnitt sich bei lebendigem Leibe auf, experimentierte mit sich, legte Fisteln und Fontanellen an, unterwarf sich einer unnatürlichen, oft widrigen geistigen Diät, gab dabei aber genau auf die persönlichen Observationsfehler acht und vermied es, aus sich selbst und seinem Wandel eine Regel für die andern zu
machen. Als er schließlich seiner Auslandsreisen überdrüssig wurde und sein Körper sich nach seinem Milieu sehnte, kehrte er heim, um sich einen Wirkungskreis zu suchen. Da es ihm gleichgültig war, womit er sich beschäftigte, bewarb er sich um eine Stelle als Fischmeister; und da niemandem daran lag, ihn allzu nahe zu haben, wurde er als oberster Beamter im Stockholmer Inselmeer angestellt. Hier erwachte er aus dem Repetitionskursus seines Werdens, aus dem er sich neu zu gebären pflegte, indem er schnell sein Leben noch einmal lebte, sich dadurch gleichsam zu seinem Standpunkt hintastete und sich nach Berechnung seiner Mittel seinen weiteren Kurs, sein wahrscheinliches Ziel und seine Chancen klar machte. Der Lotse, der unterdes das Boot von den Eisschollen weg zwischen die Schären gerudert hatte und dem es schon klar geworden, daß der Doktor, der wie eine Bildsäule mit in sich gekehrten Augen ohne Ausdruck dasaß, ein bißchen verdreht war, benutzte jetzt die Gelegenheit zu fragen, ob sie in den Hafen zurückkehren wollten, was der Fischmeister durch ein Kopfnicken billigte. Noch einmal warf er einen Blick auf das prachtvolle Schauspiel da draußen, wo das Treibeis heranjagte, barst, sich staute, sich zusammendrängte, sich übereinanderschob, auf die Kante gestellt wurde, seine wagerechte Lage in Unmengen von Verschiebungen, Verwerfungen änderte und Berge, Täler, Hügel bildete. Er meinte die Erdrinde entstehen zu sehen, als einst auf dem glühenden Meer die erste erstarrte Scholle zerbrach, vorwärts gejagt, aufgerichtet wurde, sich zu Urbergen, Schären, Inseln, Holmen auftürmte, die nur Packeis, unge-
heure Eisberge waren, wenn auch aus einem andern Stoff als Wasser. Und über dieser erneuten Schöpfungsgeschichte zitterte das primitive, ungeteilte, weiße Licht des Eises neben dem Urblau der Luft und des Wassers, die erste Durchbrechung der Dunkelheit: hier schwebte der Gott der Schöpfungsgeschichte, der das Licht von der Finsternis schied, als sinnliche Erklärung vor seinem forschenden Geist. Und noch einmal klangen die ersten Versuche der vogelgewordenen Reptile, die Laute musikalisch zu ordnen, über den Wasserkreis hin, der sein Ich umgrenzte, sein Ich, das der Mittelpunkt bleiben mußte, welchen Platz er auch einnahm. – – – Im selben Augenblick trieb das Boot in den Hafen, und aus den Schornsteinen stieg der mittägliche Rauch.
Viertes Kapitel Eines Sonntagvormittags saß der Fischmeister an seinem offnen Fenster, denn der Vorsommer war gekommen mit hellblauer Farbe auf dem Wasser und einem schwachen Grün in den Felsschluchten auf den unbedeutenden Resten von Flechten und Moosen. Die Vogelscharen waren nordwärts gezogen, nur vereinzelte Eidervögel schwammen paarweise in den Buchten. Die große Einsamkeit, wie er die Ostsee nannte, ergriff ihn heute, als er hier und da ein Fahrzeug nach Süden steuern sah unter den lebhafteren Farben der fremden Flaggen, die vielleicht zufällig, vielleicht folgerichtig alle lichtkräftiger waren als die schwedischen mit ihrem dürftigen Blau und fahlen Gelb, das so leicht schmutzig wird. Er sah die aufreizende Trikolore auf einer Brigg, die Bretter aus Norrland ausführte, nachdem sie vor kurzem Weine und Apfelsinen gebracht hatte; jetzt eilte sie lichtgelben, bevölkerten Küsten zu; der verweichlichte Danebrog auf einem Butterschoner lag im Kielwasser der weißen Fahne eines riesigen deutschen Postdampfers, die Trauerränder hat und über ein wenig roter Farbe wie ein Pik-As das Zeichen der Krone trägt; die englische Blutfahne, die spanische Markisenleinwand, der amerikanische Baumwollbettbezug, das waren ebensoviele Grüße von fremden Völkern, denen er sich näher verwandt fühlte als den Fremdlingen, die er Landsleute zu nennen verurteilt war; denn er besaß das Recht, an seinem Festanzug all ihre
Farben zu tragen, nicht aber die seines eigenen Landes. Heute fand er, daß diese Erinnerungen an seine Weltbürgerschaft ihn mehr als sonst stärkten, da er in seiner Verbannung seit einigen Tagen von offen ausgebrochener Feindschaft umgeben war. Er hatte nämlich kürzlich die Anwendung des seit mehreren Jahren geltenden, aber nicht beachteten Gesetzes gefordert, wonach die Maschen in Netz und Garn ein bestimmtes Maß haben mußten, war dabei aber auf einen Widerstand gestoßen, der damit endete, daß er, als man ihm offen trotzte, den Amtmann rufen und die Netze beschlagnahmen lassen mußte. Er hatte den Leuten vorher gründlich auseinandergesetzt, daß das Eingreifen des Staates nur von dem Gedanken an das eigene Wohl der Bevölkerung veranlaßt sei, hatte ihnen vor Augen gehalten, wie sie, die doch einen Hof nicht teilen mochten, weit sie lieber einen Sohn im Wohlstand als Stammhalter des Geschlechts haben wollten, durch ihr unverständiges Fischen so vorgingen, daß ihre Kinder sicher Almosenempfänger sein würden. Nichts half. Alle Maßnahmen und Schritte wurden als boshafte Einfälle eines Haufens beschäftigungsloser Beamte angesehen, die mit dem Gelde des Volkes bezahlt wurden, nur um es zu quälen. Vergebens wendete er ein, daß gerade die Bauern im Reichstage das Gesetz zur Annahme gebrach hätten, worauf die Fischer ihren Haß auf Bauern und Regierung zusammen warfen. Ihm war aufgefallen, daß diese Fischerbevölkerung wirklich ein Überbleibsel des Urzustandes der Gesellschaft darstellte, sorglos und unbedacht, ohne den Gedanken des Bauern an den morgigen Tag und das nächste Jahr. Es waren Wilde, die zwei Tage jagten und acht Tage schliefen. Und gleich den
Wilden besaßen diese Leute gewisse negative Fähigkeiten, zu entbehren und zu dulden, ohne die positive Kraft, ihre Lage durch Erfindungen zu verbessern; auch hatten sie einen ausgesprochenen, instinktiven Widerwillen gegen Neuerungen, wodurch sie ihre Unfähigkeit verrieten, sich einem höheren Kulturstadium anzupassen. Alle diese Fischer waren Bodensatz vom Volksstamm des Landes; sie hatten sich, als der Kampf um die fruchtbaren Flußtäler und Binnenseeufer begonnen hatte, im Streit nicht behaupten können, waren auf die Klippen hinausgezogen oder gedrängt worden, dorthin, wo die fruchtbare Erde ein Ende hatte und nur das unsichere Wasser seinen Spielgewinn bot. Und als Spieler waren sie unzuverlässig wie das Glück, nahmen es mit den Mitteln nicht genau und lebten vom Vorschuß auf den immer erhofften großen Fischzug, den ein glücklicher Schiffbruch ihnen bringen konnte. Deshalb war sofort ihr Haß gegen den Ankömmling aufgeflammt, und in ihrer Verblendung hatten sie nicht einzusehen vermocht, daß er nur von dem Ehrgeiz getrieben wurde, ihre Lage zu verbessern und sie von Arbeit zu befreien. So hatte er dem Oberlotsen, der meteorologische Berichte erstatten mußte, einen selbstkontrollierenden Windmesser aus einem alten Holzbohrer und zerschnittenen Sardinenbüchsen konstruiert; doch der Lotse hatte ihn nicht angenommen, sondern auf den Boden gestellt. Er hatte in Krankheitsfällen Hilfe leisten wollen, war aber abgewiesen worden; er hatte den Hausfrauen zeigen wollen, wie sie dem Rauchen der Herde vorbeugen konnten, indem sie eine Heringstonne als Rauchhaube außen über dem Schornstein anbrachten; aber sie hatten über ihn gegrinst und jammerten weiter über den unvermeidlichen Rauch; er hatte einen Fischer, der vergebens
den Kartoffelbau versuchte, lehren wollen, den Strandsand mit Tang und Fischabfällen zu düngen, wie er es die Leute an den englischen Küsten mit großem Erfolg hatte tun sehen; aber es war vergeblich. Und als er sah, wie die Überreste der großen Strömlingsfischerei im Frühling aus Mangel an Salz verfaulten, wollte er ihnen die Methode der Leute von Färö beibringen, im Notfall für den Hausbedarf mit Tangasche zu salzen, einem Konservierungsmittel, das die erwähnten Inselbewohner stets zur Käsebereitung anwenden. Die Folge all seiner Bemühungen, nützliche Dinge zu lehren, war, daß er den Spitznamen Doktor Allwissend bekam, für einen Idioten gehalten wurde und einen ständigen Unterhaltungsstoff bei Kaffeeklatschen und Schnapsgelagen bildete, und daß sogar die Kinder grinsten, wenn er vorbei ging. Das Mißverhältnis zwischen dem, was er war und dem, wofür er gehalten wurde, wirkte im Anfang nur komisch; allmählich jedoch, als Feindseligkeit an Stelle der Kälte trat, spürte er einen ungünstigen Einfluß auf sein seelisches Befinden. Es war, als liege eine Gewitterwolke von ungleichnamiger Elektrizität über ihm, störe sein Nervenfluidum und wolle es durch Neutralisierung vernichten. Er hatte das Gefühl, als besäßen die Gedanken dieser vielen, die auf ihn gerichtet waren, die Kraft, ihn allmählich herabzuziehen, auf seine Meinung von seinem eigenen Wert einen solchen Druck auszuüben, daß der Augenblick kommen würde, da er nicht mehr an sich selbst und seine geistige Überlegenheit glauben konnte; ihre Ansicht, daß er der Idiot sei und sie die Gesunden, würde schließlich sein Gehirn ergreifen und ihn zwingen, ihnen beizustimmen.
Während diese Gedanken kamen und gingen, war ein neuer Gegenstand in die fünfundvierzig Grade des Horizonts getreten, die er von seinem Fenster aus mit den Blicken bestreichen konnte. Ein Kanonenboot der Flotte ging mit halber Kraft in Lee um die Schäre, strich die Segel und ließ die Anker nieder. Durch das Fernglas sah er die Bootsleute sich anscheinend in einem Wirrwarr bewegen, aber ohne sich zu drängen; jeder einzelne eilte an seine Klampe, sein Ende, sein Fall, als die Pfeife des zweiten Offiziers ertönte. Die knappen Seiten des Fahrzeugs, der gestraffte Steven, dessen Platten sich scheinbar auseinanderstemmen wollten und doch ihre zusammengepreßten Kräfte in einer Richtung vereinigten, als strömten sie in den Bugspriet aus, die energischen Röhrenformen des Dampfrohrs und des Schornsteins, das Aufstreben der Masten zu Stag und Want, die kreisrunde Mündung der Kanone, das alles bezeichnete eine Ansammlung von Kräften, die geordnet waren und einander zügelten, entgegen- und zusammenwirkten und deren Betrachtung ihn in eine harmonische Stimmung versetzte. Es war ihm, als strömten Kraft und Ordnung von dem keilförmigen Eisenrumpf aus, in dem sich Zweckmäßigkeit, Begrenzung, Maß zu einem schönen Ganzen vereinten und der durch Reflexion einen tieferen Genuß gewährte, als ein schönes Kunstwerk auf dem Wege des Gefühls dem oberflächlichen Betrachter zu schenken pflegt. Aber von der kleinen fließenden und umflossenen Gemeinschaft kam durch das Nachdenken noch etwas anderes in ihn hinein. Er fühlte sich gestärkt, als habe er eine Stütze an diesem Bilde der Macht, das, von Volksvertretung und Regierung ermächtigt, unter Anwendung aller Hilfsmittel der Kultur und der Wissenschaft die höher Entwickelten gegen
das Andringen der Barbarei von unten her schützte; er sah mit Befriedigung ein paar von den Klügsten nach bestandener Prüfung mit einer Pfeife dieses Hundert Halbwilde lenken, die sich für das, was sie nicht begriffen, kein Verständnis anzumaßen wagten. Er hatte sich nie verleiten lassen, den modernen persönlichen Beobachtungsfehler zu begehen: zu glauben, daß die unteren Klassen unter ihrer untergeordneten Stellung und ihren gröberen Nahrungsmitteln leiden. Er wußte nämlich recht gut, daß sie genau auf dem Punkt standen, auf dem sie stehen konnten, und daß sie ebensowenig unter ihrem Standpunkt litten, wie die Fische dort unten darunter leiden, nicht Amphibien geworden zu sein; und was die grobe Nahrung betraf, so wußte er aus Erfahrung, daß die Fischer, als er einige von ihnen einmal zum Mittagessen eingeladen hatte, alle Speisen verschmähten, die nicht ausschließlich den Bauch füllten, ja, er hatte sie aus dem Brotkorb das schlechtere Roggenbrot wählen sehen statt des feineren Weizens. Er hatte nie an die Redensart vom Hungern geglaubt, außer wenn ein Unglück vorlag und auch dann nur ausnahmsweise, denn die Armenpflege wurde so oft von Müßiggängern und Gaunern, die durch vorgespiegelte Krankheiten sich Unterstützungen verschafften, mißbraucht. Er hatte nie die Kleinen angebetet, hatte nie das Bedürfnis gehabt, vor den Unbedeutenden zu knien, obwohl er selbst oben aus einer Schicht ausgestoßen war, die in einer Periode allgemeinen Verfalls sich mit gestohlenem Ansehen in die Höhe gearbeitet hatte und drückend auf allem lag, was emporwachsen wollte. Er ließ sich auch jetzt nicht verleiten, dieses Ungefährbild der oberen Gesellschaft zu überschätzen, das in der Gestalt eines Kriegsschiffes von einem gewissen Gesichtspunkt ihm Bewunderung einflößte,
anderseits aber ein Überbleibsel des Staatssystems war, das mit komprimiertem Gas und Bessemerzylindern Gewalt über die Geister ausübte. Jetzt wurde unten bei den Wirtsleuten eine Tür zugeworfen, und die Zungen wurden von dem Eintretenden in Bewegung gesetzt, von Öman, der sein Netz eingebüßt hatte. Die Branntweingläser klirrten und der Lärm wuchs, da der gestrige Rausch neu erwachte. »Idioten und Volksverderber, die mehr zu verstehen glauben als verständige Fischer; auf dem Sofa liegen und Bücher lesen, die zweitausend Kronen kosten! Rotzbuben, die den Vater belehren wollen, Diebsgesellen und Zigarettenhelden, die mit Sauschwänzen unter der Nasenwurzel herumlaufen …« Und dann eine Sturzsee, die sich an Bestmanns tatsächlichen Auskünften brach, die er an Bord des Jakob Bagge eingeholt hatte, über die Herkunft des Fischmeisters, über die unregelmäßigen geschlechtlichen Beziehungen des Vaters, über die niedrige Herkunft der Mutter, Andeutungen über die Entlassung des Fischmeisters aus seinem früheren Amt und so weiter. Der Zuhörer versuchte sich taub und gleichgültig zu machen wie sonst, aber die Worte bissen sich in ihn hinein, beschmutzten ihn, verletzten ihn gegen seinen Willen. Alte Zweifel an des Vaters Rechtschaffenheit begannen aufzuwachen, Zweifel an dem eigenen Wert, die Besorgnis, ob es möglich sein werde, sich in diesem Schlammregen trocken zu erhalten, einem Kampf auszuweichen, in dem er vielleicht infolge seines Feingefühls bei der Wahl der Mittel untergehen würde.
Jetzt läutete die Glocke auf dem Kriegsschiff, ein Trommelwirbel rollte, und der Sommerwind führte aus hundert Kehlen ernste, rhythmisch geordnete, ergebene Klänge eines Chorals über das Wasser, während Lärm und Drohungen von unten dumpf grollend heraufdrangen wie aus den Käfigen einer Menagerie und in den Fermaten des Chorals zum Geheul anwuchsen. Denn jetzt war Uneinigkeit unter den Parteien entstanden, da die Frage auftauchte, das Netz mit Gewalt wiederzunehmen. Der Fischmeister, der Kirchen als archäologische Sammlungen oder interessante Pagodenbauten aus verflossener Zeit betrachtete, erinnerte sich jetzt unfreiwillig einer Äußerung, die ein junger Geistlicher eines Nachts getan hatte, als man den christlichen Kultus diskutierte: »Ich glaube nicht an die Gottheit Christi und all das andere, aber glauben Sie mir, das Pack muß eingeschüchtert werden!« Das Pack muß eingeschüchtert werden, wiederholte er in Gedanken bei sich selbst, verlor aber sofort den Faden, als er unten die Prügelei ausbrechen hörte. Stühle wurden umgeworfen, Absätze stampften und stießen gegen Möbel, Brüllen wie von Vieh mischte sich mit Zischen wie von Reptilen, und durch alles hindurch keifte eine Frauenstimme, die in der Minute viele hundert Worte hervorbrachte. Im selben Augenblick pfiff der Dampfer, der Anker wurde gelichtet, die Segel gehißt, und der Schornstein schickte eine rußschwarze Wolke zu dem blauen Vorsommerhimmel empor. Mit einem Gefühl der Leere und der Unruhe sah er den Dampfer und die schöne Kanone im Süden verschwinden; es war ihm, als habe er eine Stütze verloren, als schließe sich der
Haß um ihn wie ein Sack; und er wollte fliehen, hinaus, einerlei wohin. Jetzt schrie ein Kind, ob vor Furcht oder Schmerz, konnte er nicht hören, denn während des Tumults hatte er sich die Treppe hinuntergeschlichen, war an den Hafen gelangt und hatte sein Boot losgemacht, mit dem er, so schnell er konnte, vom Lande abstieß. Die Schäre, die er verließ, war die östlichste eines ganzen kleinen Archipels, den er früher nicht bemerkt hatte, und den er erst jetzt in dem Bedürfnis, allein zu sein, aufsuchen wollte. Er haßte starke Körperbewegungen, die er zum Teil überflüssig fand, da es Verkehrsmittel und Maschinen gab, zum Teil auch für schädlich für sein Nerven- und Gedankenleben hielt, da die feinen Werkzeuge, die die Gehirnkapsel einschließt, ebensowenig Erschütterungen vertragen wie das Haus, in dem die Präzisionsinstrumente des Astronomen aufbewahrt werden; so hatte er nie rudern gelernt, aber sein Taktgefühl und seine wohl abgewogenen Bewegungszentren machten ihn sofort zu einem geschickten Ruderer, und sein physikalisches Wissen lehrte ihn die uralte Erfindung verbessern, so daß er Armkraft sparte, indem er die Ruderbank erhöhte. Als er nun die Schäre sich hinter dem Boot entfernen sah, begann er leichter zu atmen, und wie er bei der ersten Klippe anlegte, wurde er von einem unbeschreiblichen Glücksgefühl erfaßt. Es war ein heller, flacher, langgestreckter Holm, dessen Strandklippen aus grauem Gneis einen kleinen Hafen bildeten, in den der Kahn einlief. Das Wasser am Rande war so durchsichtig wie verdichtete flüssige Luft, und die weichen Farben des Tangs leuchteten unten auf dem Grunde wie in eine Glasmasse eingeschmolzen. Die Steine am Strande wa-
ren gewaschen und geschliffen und boten eine Abwechselung an Farben, die nie ermüdete, denn es gab nicht zwei gleiche. Und zwischen ihnen hatten Schmiele und Segge Halt für ihre Stauden gesucht. Sanft stiegen die Felsen an und in den Vertiefungen im Moose lagen die Eier der Möwen, immer drei und drei, kaffeebraun mit schwarzen Flecken, während die Besitzerinnen hoch über seinem Kopf schrien und krächzten. Er stieg höher hinauf; oben neben einem Steinhaufen, der von Seevermessern errichtet und von Möwen und Seeschwalben geweißt war, wuchsen einige Wacholderbüsche, wie Teppiche ausgebreitet; und unter ihnen hatten Scharen des weißen, zarten Siebensterns ihren Standort improvisiert, eine Verbindung der Berggegenden Mitteleuropas mit dem Schatten nordischer Wälder. Der kleine, kecke, fröhliche Steinwälzer umflatterte unruhig den Friedensstörer, um ihn vom Nest abzulenken. Kein Busch, kein Baum erhob sich über die halbnackten Felsen, und dies Fehlen von Schatten, von Verstecken versetzte den Besucher in eine helle und fröhliche Gemütsstimmung. Alles lag offen, übersichtlich, sonnenglänzend auf diesem Bergfelsen, und das Wasser, das ihn von der eben verlassenen Häuslichkeit bei den Wilden trennte, schien ihn mit einer unüberschreitbaren Grenze reiner Durchsichtigkeit zu umgeben. Die halb arktische, halb alpine Landschaft mit ihrer Urzeitformation erfrischte und beruhigte ihn. Und als er sich ausgeruht hatte, nahm er das Boot und ruderte weiter. Er passierte drei blankgeschliffene Felsklippen, die wie drei versteinerte Wellen aussahen, nackt wie eine Hand, ohne eine Spur von organischem Leben, nur ein wissenschaftliches geologisches Interesse hinsichtlich ihres Entstehens erre-
gend; streifte an einer platten Schäre aus rötlichem Gneis vorbei, auf deren Leeseite eine hundertjährige Eberesche stand, einsam, moosbewachsen, knorrig; in ihrem rissigen Stamm nistete eine Bachstelze in Ermangelung von Dachziegeln oder Steinmauern. Der kleine gefallsüchtige Vogel flog auf die Strandsteine nieder und wollte dem Feinde einreden, daß überhaupt kein Vogelnest und keine grauweißen Eier hier zu finden seien. Die einsame Eberesche stand auf einer Grasfläche von einigen Quadratellen und sah recht einsam aus, aber auch ungewöhnlich stark infolge des Mangels an Mitbewerbern, da sie dem Sturm, dem Salz und der Kälte besser zu trotzen vermochte als dem Gezänk neidischer Genossen um die Erdbrocken. Er fühlte sich zu dem einsamen Greise hingezogen und sehnte sich einen vorübergehenden Augenblick lang danach, eine Hütte an seinem Stamm aufzuschlagen; dann zog er weiter, während der Eindruck sich verwischte. Jetzt kam hinter dem letzten Felsvorsprung eine dunkle Klippe zum Vorschein. Sie war kohlschwarz von der vulkanischen Gesteinsart Diorit. Als er sich ihr näherte, empfand er eine Beklemmung. Die schwarze kristallisierte Masse schien vom Meeresgrunde hinaufgespien und, als sie einigermaßen erstarrt war, in einen furchtbaren Kampf mit dem Wasser oder einer Gewitterwolke geraten zu sein, denn sie war in acht Teile gespalten; die Klüfte waren dann von See und Eis fortgetragen oder in die Tiefe hinuntergezogen. Steil, senkrecht standen die schwarzen, glitzernden Wände um den kleinen Hafen, und als das Boot unter ihnen anlegte, hatte er ein Gefühl, als sei er in einem Kohlenbergwerk oder in einer rußigen Schmiede. Es beklemmte und bedrückte ihn.
Er kletterte die Klippe hinauf, da erhob sich auf der Höhe eine Stange mit einem weißgetünchten Fäßchen. Diese Spur von Menschenhand hier draußen, wo keine Menschen zu sehen waren, diese kombinierte Erinnerung an Galgen, Schiffbruch, Steinkohle, dieser schroffe Kontrast zwischen den ungemischten, farblosen Farben schwarz und weiß, zwischen unfruchtbarer, gewaltsamer Natur ohne organisches Leben, – nicht eine Flechte, nicht ein Moos befand sich auf der ganzen Klippenmasse – und dieser Tischlerarbeit, ohne die Vegetationsübergänge zwischen Urnatur und menschlicher Handarbeit, wirkte erschütternd, beunruhigend, brutal. Und in der großen Sonntagsstille hörte er unter seinen Füßen, wo zusammengeschobene Blöcke ein Dach über einer Spalte bildeten, wie die lange Dünung die halbe Schäre unterspülte, die Luft vor sich herpreßte, daß sie einen Lockton von sich gab und sich mit einem zischenden und hohlen Seufzen zurückzog. Er stand eine Weile da und genoß die Beklommenheit, ließ sich zu älteren Empfindungen zurückführen, die ihm stets Unlust verursacht hatten, spürte Steinkohlengeruch, sah Fabriken, schwarze, unzufriedene Menschen, vernahm Stadtlärm, Dampfmaschinen, hörte Menschenstimmen Worte hervorstoßen, die sich durch seine Ohren in sein Hirn einfressen, Samen ausstreuen, wie Unkraut seine eigene Saat ersticken und seinen mit so vieler Mühe kultivierten Acker in eine natürliche Wiese wie bei den andern verwandeln wollten. Als er ins Boot stieg und dem düsteren Bilde den Rücken kehrte, war es ihm wieder ein Genuß, die unendliche Reinheit des Wassers zu sehen, das leere Blau, das gleich einer unbeschriebenen Tafel beruhigend vor ihm lag, weil es keine
Erinnerungen wecken, keine Eingebungen hervorrufen, keine starken Sensationen aus ihm herauspressen konnte; und als er sich nun einer etwas größeren Insel näherte, begrüßte er sie wie eine neue Bekanntschaft, die etwas anderes erzählen und die soeben empfundenen Stimmungen auslöschen sollte. Neue Schären und Klippen schwammen vorüber, von denen jede ihre Überraschung, ihre besondere Physiognomie bot, meistens mit so feinen Unterschieden, daß ein scharfes, geübtes Auge erforderlich war, um sie zu sehen. Diese kleinen Gipfel, die von einem vorübergleitenden Boot aus so nackt aussahen, so ermüdend gleichförmig, boten bei näherem Hinsehen ein höchst abwechslungsreiches Schauspiel, gerade wie Varianten derselben Münze nur dem Numismatiker ihre Geheimnisse verraten. Er landete jetzt an einem etwas größeren Holm, dessen unregelmäßiges, zerrissenes Aussehen ihn lockte, zumal er Kronen dicht belaubter Bäume über die Klippen ragen sah. Als er die nördliche Felsspitze erklettert hatte, deren schwarzer Sockel von den Seen glattpoliert war, konstatierte er, daß der Holm sich aus mindestens vier Schären zusammengeballt hatte, die anscheinend von ungleichen Winden aufeinandergetrieben, durch Anhäufung verschiedener geologischer Bildungen ein ganzes Konglomerat von Landschaftsbildern aller Zonen geschaffen hatten. Der nördliche Teil bestand in einem Kegel aus Hornblendschiefer, unten am Strande in unerhörte Blöcke zerklüftet, die von der Felswand niedergestürzt waren und vom Wasser noch nicht hatten geschliffen werden können; zwischen diesen schwarzen Würfeln wuchs, sehr eigentümlich, wie von einer geheimen Sympathie hierhergelockt, eine unglaubliche Menge schwarzer Johannisbeerbüsche, düster in
der Farbe, und im Ton zu den schwarzglitzernden Steinen passend. Es war so etwas Unerwartetes, diese geputzten Ausreißer des Gartens hier draußen in der Wildnis zu finden, daß sie wie ein Scherz der Natur wirkten; vielleicht hatte ein angeschossenes Birkhuhn, das einst hierher geflogen war, um zu sterben, die Beere im Schnabel gehabt und so den Samen zu einer kommenden Kultur mit sich getragen. Höher oben in den Steinhaufen stand ein Wäldchen von Laubbäumen mit hellem Grün, deren Wipfel aber gestutzt und deren Stämme weiß waren, als seien sie von sorglicher Menschenhand mit Kalk bestrichen. Er versuchte aus der Entfernung die Baumart zu erraten, aber sie war so verschieden von allen andern, die er in diesem Breitengrad gesehen hatte, daß seine Gedanken zwischen den im südlicheren Europa so häufigen Akazien, Buchen, japanischen Lackbäumen hin und her schwankten und er schließlich seinen Ohren nicht traute, als er das wohlbekannte Rascheln der gewöhnlichen Pappel hörte; bis er gleich darauf, während er einer Natter auswich, die wie ein Wasserstrahl zwischen ein paar Steinen hinunterlief, näher kam und sah, daß er recht gehört hatte. Es war die stattliche, schmucke Pappel der Haine und Hage, die Nordwind und Steinboden, Treibeis und Salz zu einer kaum erkennbaren Varietät gezüchtet und stilisiert hatten; die im Kampf mit Unwetter und Kälte oben ergraut war, die Krone verloren hatte und deshalb nur aus erfrorenen Schößlingen bestand, die unaufhörlich wieder ausgeschlagen waren und sich unermüdlich erneuerten, während die Ziegen die schützende Rinde abschälten und die Säfte entströmen ließen. Es war eine ewige Jugend in diesen zarten, hellgrünen Schößlingen, an diesem graubärtigen Stamm ohne Zweige, der ein Greisentum
ohne Mannesalter darstellte, eine Abnormität, die erfrischend wirkte, weil sie neu war und das Banale vermied. Als er zwischen den scharfen Steinen hinaufgeklettert war und auf der Höhe anlangte, war es, als habe er in zehn Minuten ein Hochgebirge erstiegen. Die Laubwaldregion lag unter ihm, und auf dem Plateau des Berges breitete sich bereits die Alpenflora aus mit der Hochgebirgsform des Wacholders neben der echt nordischen Multbeere im Torfmoos der feuchten Schluchten; dazwischen die kleine so zivilisierte Herlitze, vielleicht die einzige Pflanze, die Schweden und dem schwedischen Inselmeer eigentümlich ist. Jetzt stieg er langsam zum südlichen Abhang hinunter durch Preiselbeere und Bärentraubenkraut, Schmiele und Segge, Wollgras und schwellendes Moos, bis er plötzlich vor einer Schlucht stand, wo die Insel sich gespalten und zwischen den schwarzen Felswänden einen Kanal gebildet hatte. Mit wildem Geschrei flogen die naseweisen Alken auf, während er auf einer natürlichen Steinbrücke über den seichten Kanal schritt, eine neue Felswand von hellerer Formation erkletterte und sich in einem neuen Teil der wunderbaren Insel befand. Der helle, elegante Eurit, bei dem schwach rosenroter Feldspat sich mit leicht blaugrünem Quarz geschichtet hatte, während der Glimmer sich nur durch einen Schimmer wie von mikroskopischem Rauhreif zu erkennen gab, verlieh der ganzen kleinen Landschaft einen heiteren Ton und bot, bis ins Unendliche zerklüftet, bei jedem Schritt Sofas und wirkliche Lehnstühle. Ein dicker Streifen von körnigem, weißem Kalkstein ging wie ein Gürtel quer durch die Gesteinsmasse, und der fruchtbare Grus, der von diesem Streifen durch Regen
und Frost abgebröckelt war, hatte sich unten zwischen den mäßig hohen Bergwänden angesammelt. Hier breitete sich nun ein Talkessel aus, der einen so bezaubernden Anblick bot, daß Borg staunend stehen blieb und sich auf einen Felsschemel setzte, um das unerwartete, schöne Schauspiel zu genießen. Vor ihm entrollte sich zwischen den senkrechten, im Wiesenboden verschwindenden Felswänden eine Grasmatte mit lauter Blumen durchwebt, aber mit erlesenen Blumen, die üppiger waren als die des Festlandes. Das blutrote Geranium war vom Berge niedergestiegen und hatte hier unten Feuchtigkeit und Wärme gesucht, das honigweiße Herzblatt der feuchten Seggenwiese traf mit dem blaugelben Wachtelweizen des Waldes zusammen, und die südländischen Orchideen, vielleicht Windflieger aus dem Weinland Gotland, hatten sich hier angesiedelt; das hyazinthenähnliche Holunderknabenkraut, die prachtvolle Helmorchis, das stattliche Waldvöglein, eine Art verschönerten Maiglöckchens, hatten in treibendem Kalk und feuchter Meerluft zwischen schützenden Wänden hier in dem üppigsten grünen Grase ihr Treibhaus gefunden. Ganz im Hintergrunde wurden die Bergwände von Birken und Erlen verdeckt, die sich allerdings nur schüchtern in die Luft erhoben, ohne zu wagen, den Kopf in den Wind emporzustrecken. Hier und da auf der Grasmatte verstreut standen Schneeballbüsche, deren weiße Bälle auf die weinlaubähnlichen Blätter herabhingen. Und wie an einem Spalier an der Bergwand lehnend, wuchs der scharf dunkelgrüne Kreuzdorn, dessen blankes Laub schwach an das vielbesungene der Orange erinnert, aber mehr Saft, reichere Töne, feinere Zeichnung und gleichsam empfindlichere Struktur hat.
Es war ein Park, eine Binnenlandsnatur, die hier draußen schwamm, und erst als er durch einen Spalt oder eine Senkung im Berge den blauen, wagerechten Meeresstrich sah, frappierte ihn durch den Kontrast das Wunderbare dieses Bildes. Als er eine Weile gesessen und dem Frühlingslied eines Buchfinken gelauscht hatte, das vom Krächzen und Schreien der Möwen und Lummen unterbrochen wurde, und er fühlte, wie die Einsamkeit sich gleich einem Schlaf um ihn legte, als die Vögel einen Augenblick verstummten und nur die schwache Meeresbrise in den Birkenwipfeln säuselte, ohne tiefer hinunter zu dringen, hörte er unvermutet ein Husten. Er zuckte zusammen, blickte umher, gewahrte aber keine Spur von einem Menschen. Der leidende hohle Ton aus einer Menschenbrust mitten in der stillen Natur weckte ihn plötzlich und unangenehm und brachte einen Schauer von Unlustgefühlen mit. War es ein Einsamer wie er, der Ruhe suchte, oder ein Eierplünderer? Auf jeden Fall wollte er sich von der Unruhe befreien und erkunden, wer ihn störte. Deshalb kletterte er auf einer natürlichen Treppe in der Zerklüftung des Kalksteins über die Bergwand und gewahrte jetzt die dritte Abteilung des polypenähnlichen Holms. Über eine niedere Steinmauer, die anscheinend die Blumenwiese vor weidendem Vieh schützen sollte, kam er in eine Nadelholzregion auf Gneisgrund, ging unter Fichten dahin, zwischen ellenhohen Farnkräutern, die unter den Nadelbäumen einen Niederwald bildeten und wie Zwergpalmen aussahen, aber mit frischerem Grün und eleganterem Blattwerk, und zu deren Füßen sich Walderdbeeren röteten.
Als er aus der Schlucht herauskam, sah er eine Bucht mit Binsen, wo einige verlassene Angelruten noch im Schlammboden steckten. Er blieb stehen, um zu lauschen, und hörte jetzt eine Stimme, die auf der andern Seite des Bergfelsens sprach. Sie klang hoch und weich wie eine Kinderstimme, sank dann aber etwas, so daß er glaubte, irgendein segelnder Jüngling habe sich hier herausgewagt. Aber die Worte klangen so passiv, so anziehend, gewinnend, einladend, und er wunderte sich, einen Burschen sich so gewählt ausdrücken zu hören. Das Wortrepertoire war nicht groß, es waren die gewöhnlichsten Redensarten der gebildeten Umgangssprache, ohne alle konkreten, farbenreichen Ausdrücke, und wenn etwas Bestimmtes bezeichnet wurde, war es inkorrekt. Die Stimme sprach von dem Grün der Bäume, ohne den Namen der Bäume anzugeben, nannte die Lummen Möwen, den Buchfink einen Vogel, den Gneis Granit, die Binsen Schilf. Es konnte allerdings ein Jüngling sein, der mit solcher Sicherheit und solcher Prätention, gehört zu werden, so lange sprach, ohne sich von der leise brummenden Stimme eines älteren Mannes unterbrechen zu lassen, die dann und wann einen Einwand oder eine Erklärung hervorknurrte. Jetzt lachte die jugendliche Stimme, ein nach der Unterhaltung zu urteilen unmotiviertes Lachen, ein Lachen, um die schöne Stimme zu hören, oder die weißen Zähne zu zeigen, ein Lachen ohne belustigenden Anlaß, eine Reihe klingender Töne ohne andern Sinn, als eifersüchtig die Aufmerksamkeit von etwas Wirklichem abzulenken, das sich dazwischen drängen wollte: ein Achtungssignal, ein Lockton! Es war zweifellos ein junges Weib!
Widerstandslos stieg er auf die letzte Höhe, nachdem er Halstuch und Hut befühlt hatte, und sah jetzt unter sich ein Bild, das später immer mit all seinen Einzelheiten in seinem Gedächtnis haftete. Auf einem kleinen Wiesenstück von Hartweide, unter einer Gruppe alter Elsbeerbäume vor einer weißen Drillichserviette, auf der eine Butterdose aus schwedischem Marmor in einem aufgetischten Eßkorb stand, saß eine ältere Frau mit schönem, grauem Haar und gutsitzendem feinen Kleid, neben ihr ein Mann von den Schären in Hemdsärmeln mit einem Butterbrot in der Hand. Und aufrecht davor stand eine junge Dame, ein eingeschenktes Glas Bier in der Hand, das sie mit einem scherzhaften Knicks und mit dem Zucken des eben ersterbenden Lachens auf den Lippen dem verlegenen Bootsmann überreichte, Borg war sofort von dem Aussehen des jungen Weibes gefesselt, und obwohl seine Überlegung ihm unverzüglich die Bemerkung zuflüsterte, daß sie mit dem Burschen kokettiere, fühlte er sich unwiderstehlich hingezogen zu der dunklen olivenfarbigen Haut, den schwarzen Augen und der stattlichen Figur. Es war freilich nicht die erste Frau, die so auf den ersten Blick auf ihn wirkte, aber sie gehörte zu der Gruppe von Frauen, die nie ihre Anziehungskraft auf ihn verfehlten. Der Einsamkeit und dem Mangel an andern Frauen konnte er diese rasche Auslese nicht zuschreiben, denn er hatte ganz dasselbe Gefühl, als wenn er eine Farbe für ein Halstuch gesucht hatte und, nachdem er verstimmt von Laden zu Laden gegangen war, ohne das Lustgefühl zu empfinden, das die gesuchte Farbe mit sich brachte, schließlich vor einem Ladenfenster stehen blieb, in dem die rechte lag; er fühlte sich im gleichen
Augenblick von einem Druck befreit, sobald seine Gedanken leise in ihm sagten: Die ist es! Nachdem er einen Augenblick gezögert hatte, ob er hingehen und sich vorstellen oder umkehren solle, machte er eine Bewegung, die ihn verriet. Das Mädchen, das ihn zuerst bemerkte, ließ im selben Moment den Arm sinken und betrachtete den so unerwartet Auftauchenden mit dem Blick des erschreckten Kindes, der dem Friedensstörer sofort Mut machte, näher zu treten und die Gesellschaft durch eine Erklärung zu beruhigen. Und den Hut lüftend, trat er heran und grüßte.
Fünftes Kapitel Eine halbe Stunde später saß der Fischmeister in dem Segelboot der kleinen Gesellschaft, seine eigene Jolle im Schlepptau, und hatte schon seine Stellung als Begleiter der beiden Damen angetreten, die sich aus Gesundheitsrücksichten auf der Ostschäre für den Sommer eine Wohnung gemietet hatten und also seine Nachbarn werden würden. Das Gespräch zwischen den drei neuen Bekannten schlängelte sich behaglich hin mit jenem etwas überstürzten Eifer, den der Wettbewerb, seine Fertigkeiten und schönen Seiten zu zeigen, bei denen hervorruft, die sich zum erstenmal treffen. Die geringste Mühe gab sich jedoch die alte Dame, die sich als Mutter der jungen Schönheit vorgestellt hatte. Sie schien nämlich zu vollkommener Harmonie und Resignation gekommen zu sein, alle Ecken abgeschliffen zu haben und, in der Erinnerung lebend, mit halber Gleichgültigkeit das zu betrachten, was sich um sie her zutrug, da sie nichts von außen erwartete; sie war auf alles gefaßt, was das Leben an Gutem oder Widrigem bieten konnte und nahm durch ihr gleichmäßiges, sanftes Wesen ein. Zwischen dem jungen Mann und dem jungen Weibe war bereits der Kontakt hergestellt: sie schien Genuß am Empfangen zu finden und er, der so lange darauf gewartet hatte, geben zu dürfen, fühlte seine Kräfte wachsen, als der so lange angesammelte Überschuß Abfluß fand. Er gab in einer halben Stunde mit verschwenderischen Händen von allem, was er an
Erklärungen gesammelt hatte, soweit es Interesse für diese beiden haben konnte, die mit den Verhältnissen, in die sie für eine Weile eintreten sollten, unbekannt waren; er schilderte alle Reize und Mängel der Schäre, malte das Leben dort so verlockend aus, wie es sich ihm zu gestalten schien, seit er nicht mehr einsam war. Und das junge Weib, das die Schäre nie gesehen hatte, empfing ihren ersten bestimmten Eindruck davon durch seine Schilderungen; sie sah das rote Haus, in dem sie mit ihrer Mutter wohnen würde, so nett und einladend, wie sie es nach seinem Willen sehen sollte, um dort gedeihen und bleiben zu können. Während er sprach, war ihm, als empfange er etwas Gutes und Starkes wieder, als höre er neue Gedanken, neue Gesichtspunkte von diesen halboffenstehenden Lippen klingen, nicht als verschlängen sie, was er darreichte, sondern als sprächen sie selber; und wenn diese beiden großen treuherzigen Augen bewundernd und erstaunt zu ihm aufblickten, glaubte er, alles, was er sagte, sei wahr, und mit einer steigenden Achtung vor sich selber spürte er neue Kräfte aufwachen und alte an Stärke und Ausdauer gewinnen. Er fühlte, als das Boot an Land stieß, eine wirkliche Dankbarkeit, wie nach empfangenen Wohltaten in harter Zeit, so daß er unwillkürlich einen herzlichen Dank aussprach, als er den Damen aus dem Boot half und ihre schweren Reisetaschen an Land trug. Das junge Mädchen beantwortete die Höflichkeit mit einem »Keine Ursache«; aber doch als habe sie wirklich aus ihren reichen Schätzen etwas weggeschenkt, wenn auch nur eine Lappalie im Vergleich zu dem, was noch in ihrem Besitz blieb.
Als der Fischmeister die Damen nach ihrer neuen Wohnung begleitete, die sich als Ömans Haus erwies, brach das junge Mädchen in einen Strom des Entzückens aus, da sie noch unter dem Einfluß von Borgs verführerischer Beschreibung stand. Das verfallene Haus hatte etwas ungewöhnlich Pittoreskes in seinem Äußern, denn es besaß nicht eine gerade Linie. Sturm, Salzwasser, Frost, Regen hatten jede geradlinige Kontur gebrochen, und da der Mörtel vom Schornstein abgefallen war, sah dieser wie ein großer Tuff aus. Noch angenehmer war die Überraschung über das wirklich gemütliche, altmodisch komfortable Innere. Die beiden Zimmer lagen zu beiden Seiten der Diele, die Küche dazwischen. Das Wohnzimmer war ein geräumiges Gemach mit dunkelbraunen Tapeten, die durch Rauch und Alter einen gleichmäßig braunen, sanft wohltuenden Ton angenommen hatten, zu dem alle Farben stimmten. Die niedrige Decke, die nicht viel Raum ließ, der von Phantasien bevölkert werden konnte, zeigte die Balken, die den Boden trugen. Zwei kleine Fenster mit angelaufenen alten Scheiben, eine viertel Elle im Quadrat, boten Aussicht auf Meer und Hafen, und die hereinflutende große Lichtmenge wurde von weißen Tüllgardinen angenehm gedämpft, die vor den Blicken von draußen schützten, ohne das Tageslicht abzusperren; sie hingen wie helle Sommerwolken auf Balsaminen und Geranien in englischen Fayencetöpfen nieder, die in Gelb und Grün Königin Viktoria und Lord Nelson zeigten. Die Möbel bestanden aus einem großen, weißen Klapptisch, einem gustavianischen Bett mit mehreren Schichten schwellender Eiderdaunenpolster, einem weißgestrichenen Holzsofa, einer Schlaguhr echt schwedischer Art, einer Birkenkommode mit einem Toilettenspiegel aus Erlenwurzel, von einem
Brautschleier umgeben und mit Porzellansachen überladen. Auf der Kommode stand ein ausgestopfter Papagei unter einer Glasglocke, und an den Wänden hingen kolorierte Lithographien aus dem Alten Testament, unter denen ein paar über dem Bett befindliche in weniger schöner Absicht entstanden zu sein schienen, da die eine Simson und Delila in einer recht unverschleierten Lage, die andere Josef und Potiphars Weib darstellte. In der einen Ecke nahm einen beträchtlichen Raum der offene Kamin ein, der unheimlich gewirkt hätte, wenn nicht der schwarze Schlund von einer weißen Gardine verdeckt gewesen wäre, die an einer Zugschnur lief. Es war heimisches Behagen, Idyll und Reinlichkeit. Die zweite Stube war der ersten ähnlich, hatte aber zwei Betten und einen Waschtisch und war mit Läufern versehen, die in ihrem bunten Farbenspiel ein Album von Erinnerungen an Großvaters Wams, Großmutters Jacke, Mutters Baumwollkleid und Vaters Uniform aus der Lotsenzeit bildeten. Da sah man die roten Strumpfbänder der Mädchen, die gelben Tressen der Söhne aus ihrer Dienstzeit, die blauen Badehosen der Sommergäste, Düffel und Manchester, Baumwolle und Boy, Wolle und Jute, von allen Moden und Garderoben des Armen wie des Reichen. Hier stand ferner ein großes weißes Büfett mit Malereien in den Türfüllungen. Wunderbare kleine Landschaften, von bronzenen Efeuranken eingefaßt, mit kornblauen Buchten, Schilfbänken und Segelbooten; Bäume unbekannter Arten aus dem Paradiese oder der Steinkohlenzeit, bewegte Meere, deren Wellen so gerade waren wie die Furchen auf einem Kartoffelacker, ein Leuchtturm, der wie ein Pfeiler auf einer Klippe von Treppensteinen stand, alles so naiv, wie ein Kind
die an Formen und Farben unendliche Mannigfaltigkeit der reichen Natur, die nur das hochentwickelte Auge sehen kann, vereinfachend auffaßt. Aber all dies Altmodische, Einfältige war gerade der Hauptbestandteil der Kur für das ermüdete Hirn, das im Vergangenen Ruhe suchen sollte. Das abgenutzte Uhrwerk sollte eine Zeitlang unaufgezogen bleiben und die Feder ihre Spannung entbehren, um die erschlafften Kräfte wiederzugewinnen. Der Verkehr mit den niedrigeren Klassen, der nicht zum Wettbewerb im Kampf um die Macht reizte, sondern unwillkürlich die Höherstehenden täglich und stündlich an ihren teuer erworbenen Standpunkt erinnerte, würde den Ansporn vermindern und die Machtlüsternen in den Gedanken einwiegen, daß es bereits zurückgelegte Stadien gebe. Das alles zu sehen und zu empfinden, hatte der Fischmeister die Sinne der Fremden schon vorbereitet; die beiden Frauen wurden nicht müde, ihre Befriedigung über die neue Wohnung auszudrücken, und waren so vertieft in ihre Untersuchung der Räumlichkeiten, daß sie es nicht merkten, wie ihr Begleiter sich entfernte, um sie ungestört zu lassen. Der Fischmeister saß am Sonntagnachmittag an seinem Fenster und sah zu, wie die beiden Damen unten in ihrem Hause kramten. Wenn er mit den Blicken ihren weichen, aber unregelmäßigen Bewegungen folgte, war es ihm, als höre er Musik. Die gleichen Modulationen, die eine Reihe harmonischer Töne auf dem Trommelfell hervorrief und ins Nervensystem fortpflanzte: die gleichen sanften Vibrationen wurden jetzt durch das Auge erzeugt und schwirrten die weißen Saiten entlang, die von der Schnecke des Schädels über
den Resonanzboden des Brustkorbs gespannt sind und die Schwingungen durch den ganzen Untergrund der Seele weiterleiten. Ein Gefühl allgemeinen Wohlbehagens strömte durch seinen ganzen Körperbau, als er das dem groben Auge nicht wahrnehmbare, aber doch so elastische Heben und Senken der Hüften und der Schultern, die Wellenlinien dieser Frauenhände sah, wenn sie aus den Koffern Kleinigkeiten herausholten und auf Tische und Stühle legten. Und wenn das junge Weib durch das Zimmer ging, entstand doch keine gerade Linie; keine Ecken und Kanten, wenn sie sich umdrehte, keine Winkel, wenn sie sich bückte. Er war vollkommen in Betrachtung versunken, so daß es einen Augenblick seiner Aufmerksamkeit entging, daß es draußen auf dem Boden polterte, daß die Treppen knarrten und Türschlösser geöffnet wurden. Er war völlig vertieft in die Betrachtung der jungen Dame, deren Äußeres ihm vollendet schön erschien, bis auf einen Punkt; und an diesen Mangel suchte er sein Auge zu gewöhnen, um ihn nicht zu sehen. Ihr Kinn war nämlich um einige Linien zu groß und deutete einen Unterkiefer an, der unnötig stark ausgebildet war für einen Menschen, der aufgehört hat, rohes Fleisch zu packen, festzuhalten und zu zerreißen; wenn er es im Profil sah, konnte er sich eine künftige Hexenphysiognomie konstruieren, sobald einmal die Zähne des alten Weibes sich lösen, die Lippen einfallen, einen stumpfen Winkel bilden und die Nase auf das hervortretende Kinn herabsinken würde. Aber er mußte diese Reminiszenz an Raubtiere überwinden; er verfolgte das Gesicht mit seinen Blicken, zeichnete es in der Phantasie um, zwang das Auge,
wenn es sich auf das Gesicht heftete, es in seiner Ganzheit zu sehen. Jetzt hörte er Schritte und Rufe unten vorm Hause, und in wilder Freude erschien Ömans Frau mit einer Schar Weiber, die im Triumph das wiedergeholte Zugnetz nach den Trockenstangen hinuntertrugen. Da er sofort seine Autorität verletzt füllte, setzte er den Hut auf, ging hinunter zum Aufseher und rief dessen Hilfe an; denn dieser stand ja auch im Dienst der Krone und war zum Beistand verpflichtet. In der Stube saß der Zollbeamte am Kaffeetisch und hatte wie gewöhnlich, wenn Vestman fort war und fischte, den Arm um die Taille der Schwägerin gelegt. Beim Eintritt des Fischmeisters ließ er den Arm sinken; und unter dem Einfluß der Furcht, verraten zu werden, zeigte er eine größere Dienstwilligkeit, als er sie sonst an den Tag gelegt haben würde. Nachdem er seine tressenbesetzte Mütze genommen hatte, ging er hinaus; und in dem plötzlichen Bedürfnis, den Gerechten zu spielen, stürmte er auf den Haufen Weiber los und faßte das Netz: »Verdammte Vetteln, wißt ihr nicht, daß es Zwangsarbeit kostet, wenn man Verschluß und Siegel der Krone bricht?« Die Frauen antworteten mit einem Chorus von Schmähungen, die über den Fischmeister und den Aufseher gemeinsam hergingen, des Hauptinhalts, daß sie sich den Teufel um Verschluß und Siegel der Krone scherten und daß die beiden Herren selber fürs Gefängnis reif seien. Da fing der Aufseher Feuer und rief einem Zollwächter zu, er solle die Polizei holen.
Bei dem Wort Polizei liefen die Leute zusammen und krochen aus Löchern und Winkeln hervor wie Ameisen, wenn man in den Haufen sticht. Sie schienen alle sofort bereit zu sein, für die Frauen Partei zu nehmen, und drohende Worte fielen. Aber der Fischmeister hielt jetzt die Zeit für gekommen, persönlich einzugreifen, um nicht unter den Schutz eines Untergebenen zu geraten. Er ging deshalb auf den Volkshaufen zu und fragte, was sie wünschten. Da er hierauf keine Antwort erhielt, wendete er sich an die Frauen und sprach sie in höflichem, aber bestimmtem Ton an. »Wie ich euch schon früher erklärt habe, hat der Reichstag, das heißt eure von euch selbst gewählten Abgeordneten, beschlossen, um eurer Kinder und eurer Nachkommen willen die Fischerei zu schützen durch das Verbot, Geräte zu benutzen, die den Fang zerstören, ohne euch irgendwelchen Vorteil zu bringen. Da ihr nun drei Jahre Zeit gehabt habt, die alten Netze zu verbrauchen, dennoch aber entgegen den gesetzlichen Vorschriften neue verfertigt, so bin ich im Namen der Krone gezwungen gewesen, die gesetzwidrigen Geräte zu beschlagnahmen. Nichtsdestoweniger und in Auflehnung gegen bestehende Verbote habt ihr Verschluß und Siegel der Krone erbrochen, was mit Zwangsarbeit bestraft werden kann. Ich will aber trotzdem Gnade für Recht ergehen lassen, wenn ihr euch fügt und gehorcht, und frage euch deshalb zum letztenmal: wollt ihr das Zugnetz gutwillig herausgeben?« Darauf antworteten die Frauen mit neuem Geschrei und einer neuen Flut von Beschimpfungen.
»Nun,« schloß der Fischmeister, »da ich kein Polizist bin und ihr in der Mehrzahl seid, ersuche ich den Zollaufseher, den Amtmann zum Beistand zu holen und zugleich einen Haftbefehl gegen Frau Öman zu beantragen.« Als er das letzte Wort gesprochen hatte, fühlte er zwei weiche, warme Hände seine rechte Hand fassen, sah zwei große, kindliche Augen in seine blicken und hörte eine Stimme mit dem Tonfall einer Mutter, die für das Leben ihres Kindes um Gnade bittet. »Im Namen des Himmels, haben Sie Erbarmen mit einer unglücklichen, armen Frau und tun Sie ihr nichts zu leide,« flehte das junge Mädchen, das zu Beginn des Auftritts aus dem Hause getreten war. Der Fischmeister wollte sich los machen und sich von den großen Augen abwenden, deren Blicke er nicht ertragen konnte, aber er fühlte, wie seine Hand immer fester umschlossen und schließlich gegen eine weiche Brust gedrückt wurde, er hörte Worte mit schmelzendem Tonfall, und vollständig besiegt flüsterte er der Schönen zu: »Lassen Sie mich los, und ich will die Sache auf sich beruhen lassen.« Das Mädchen ließ los, und der Fischmeister, der in einer halben Sekunde seinen Plan entworfen hatte, nahm den Aufseher beim Arm und führte ihn mit nach dem Zollhause hinauf, wie um ihm irgendwelche Befehle zu geben. Als sie die Tür erreichten, sagte er kurz und entschieden, als habe er einen neuen Entschluß gefaßt: »Ich werde mich selbst schriftlich mit der Regierung in Verbindung setzen. Ich danke einstweilen für den Beistand.« Und damit ging er auf sein Zimmer.
Sobald er allein war und seine Gedanken gesammelt hatte, mußte er sich gestehen, seine letzte Handlung sei durch niedrigere Motive bestimmt worden, da seine Geschlechtsimpulse ihn in so hohem Grade beherrscht hatten, daß er sich zu einer gesetzwidrigen Handlung verleiten ließ; denn von Mitleid konnte nicht die Rede sein: die Leute waren ja verhältnismäßig vermögend, da sie Haus und Fischwasser, Boote und Geräte im Wert von vielen hundert Kronen besaßen, Robbenbänke und Vogelklippen ihr eigen nannten und außerdem Kapital und ein paar kleine Grundstücke versteuerten, die sie verpachtet hatten. Die falsche Vorstellung, daß eine Frau ihn besiegt habe, fand aber keinen Eingang bei ihm; denn bewußt, wie er in allen Punkten war, täuschte er sich nicht darüber, daß er seinen eigenen Trieben oder dem Interesse, von dieser Frau etwas zu erringen, unterlegen war. Dem Volkshaufen gegenüber war es indessen mit seiner Autorität vorbei; sein Ansehen war erschüttert, und es würde von jetzt an kein altes Weib und keinen jungen Burschen mehr geben, die nicht über ihm zu stehen glaubten. Das konnte allerdings gleichgültig sein, denn ob er über diese Tröpfe Macht hatte oder nicht, war ziemlich einerlei. Schlimmer erschien ihm, daß diese Frau, an die er sich, wie er jetzt fühlte, binden mußte, um glücklich sein zu können, vom ersten Augenblick an sich in dem Glauben wiegen durfte, einen Sieg über ihn errungen zu haben, daß also das Gleichgewicht in einer künftigen Verbindung gestört sei. Er hatte freilich schon viele Neigungen und Beziehungen zu Frauen gehabt, aber sein bestimmtes Wissen um die Überlegenheit des Mannes über die Zwischenform zwischen Mann und Kind, die man Weib nennt, hatte es ihm unmöglich gemacht, diese Auffassung lange zu verbergen, und so waren
seine Beziehungen immer nur von kurzer Dauer gewesen. Er wollte von einer Frau geliebt werden, die zu ihm als dem Stärkeren aufsah, er wollte angebetet werden, nicht anbeten, er wollte der Stamm sein, dem der schwache Schößling aufgepfropft wurde; doch er war in einer Zeit geistiger Seuchen geboren, in der das weibliche Geschlecht von epidemischem Größenwahnsinn verheert wurde, einem Größenwahn, den entartete kranke Männer und politische Schwachköpfe, die der Massen für die Abstimmungen bedurften, hervorriefen. Deshalb hatte er einsam bleiben müssen. Wohl wußte er, daß in der Liebe der Mann geben, sich betören lassen muß und sich nur auf allen Vieren einem Weibe nähern darf. Er war auch dann und wann gekrochen, und so lange er kroch, war alles gut gegangen; doch wenn er sich schließlich aufgerichtet hatte, war es aus, stets unter einer Menge Beschuldigungen, er sei falsch gewesen, er habe Ergebenheit geheuchelt, er habe nie geliebt und so weiter. Außerdem hatte er, der über die höchsten intellektuellen Genüsse verfügte und sich als einen der Ausnahmemenschen fühlte, kein sehr lebhaftes Verlangen nach niedriger Liebe empfunden, nie danach getrachtet, Unterlage für einen Parasiten zu werden, nie sich danach gesehnt, Konkurrenten großzuziehen; sein starkes Ich hatte sich dagegen aufgelehnt, für die Frau ein Mittel zur Fortpflanzung ihres Geschlechts zu sein, eine Rolle, die er fast alle gleichaltrigen Männer spielen sah. Jetzt stand er trotzdem wieder vor dem Dilemma: eine Frau zu assimilieren, indem er sich von ihr assimilieren ließ. Sich verstellen oder sein Äußeres etwas ausdrücken lassen, was er nicht fühlte, konnte er nicht; aber er besaß ein großes Talent,
sich dem Verkehr anzupassen und sich in die Art anderer, zu denken und zu leiden, zu versetzen; denn bei andern fand er immer nur verflossene Stadien, die er selbst durchlaufen hatte, und brauchte infolgedessen nur aus Erinnerung und Erfahrung zu schöpfen, den Griff zu lockern, den Vorwärtstrieb zu vermindern. Er hatte immer Freude an der Gesellschaft von Frauen gefunden, die Ruhe und Zerstreuung gewährte, aus demselben Grunde und derselben Ursache, wie der Verkehr mit Kindern Verjüngung und stärkende Unterhaltung gewährt, wenn er nicht zu lange andauert und in Anstrengung ausartet. Jetzt hatte er den Entschluß in sich wachsen fühlen, diese Frau zu besitzen; doch obwohl er Forscher war und wußte, daß der Mensch ein Säugetier ist, blieb er sich völlig klar darüber, daß die menschliche Liebe sich wie alles andere entwikkelt und Bestandteile höherer seelischer Art in sich aufgenommen hat, ohne die sinnliche Basis zu verlassen. Er wußte genau, wieviel ungesunde Verhimmelung sich mit der Reaktion des Christentums gegen das rein Tierische, das entfernt werden sollte, eingeschmuggelt hatte, und glaubte nicht an die Zimperlichkeit, die verbarg, was man nicht zeigen konnte, ebensowenig wie er zugab, daß das Bett das einzige Ziel der ehelichen Verbindung sei. Er erstrebte eine innige, vollständige Vereinigung von Körper und Seele, in der er als die stärkere Säure die passive Base neutralisieren würde, ohne jedoch wie in der Chemie einen neuen indifferenten Körper zu bilden, sondern um im Gegenteil einen Überschuß an freier Säure zu haben, der stets der Verbindung ihren Charakter geben und in Bereitschaft liegen sollte, um jeden Befreiungsversuch der Base zu neutralisieren; denn die menschliche Liebe war keine
chemische Verbindung, sondern eine psychische, organische, die jener in gewisser Hinsicht gleicht, ohne die gleiche zu sein. Er erwartete also keinen Zuwachs zu seinem Ich, keinen Zuschuß an Kraft, nur eine Erhöhung seiner Lebenslust; und statt eine Stütze zu suchen, erbot er sich als Stütze, um seine Kraft kennen zu lernen und den Genuß zu empfinden, sie zu messen, mit vollen Händen seine Seele auszustreuen, ohne dadurch schwächer oder wehrloser zu werden. In diesen Gedanken ließ er seine Blicke wieder durch das Fenster schweifen, und sie trafen sofort die, die er suchte; denn das junge Mädchen stand vor dem Vorbau ihres Hauses und nahm Händedrücke von Frauen und Männern entgegen, streichelte Kindern die Köpfe und schien von den Gefühlen überwältigt zu sein, die eine so große und so offenkundige Sympathie hervorrief. »Welche eigentümliche Sympathie für Verbrecher,« dachte der Fischmeister, »welche Liebe zu den geistig Armen! Wie gut sie die gegenseitigen Triebe verstehen, die sie prahlerisch als Gefühle bezeichnen und für mehr halten als klare, reife Gedanken.« Die ganze Szene war ein solches Gewebe von Absurdität, daß sie nicht zu entwirren war, da sie das Chaotische der ersten schwachen Denkversuche dieser Gehirne und Rückenmarke widerspiegelte. Da stand sie, die ihn zu einer Gesetzesübertretung verleitet hatte, und nahm wie ein Engel die Anbetung hin. Wenn nun seine Verletzung des Gesetzes von ihrem Standpunkt aus eine schöne, edle Handlung war, so hätte doch er, der Gnade für Recht ergehen ließ, den Dank dafür bekommen müssen. Das verhalte sich nicht so, mochte der Haufe denken, der wußte, daß das Motiv seiner Handlung nicht Wohlwollen gegen die
Leute gewesen war, sondern daß wahrscheinlich zarte Gefühle für ein junges Mädchen, Galanterie oder die Hoffnung, die Frau zu gewinnen, mitgesprochen hatten. Das Motiv ihres Auftretens jedoch mochte in diesem Falle der Wunsch gewesen sein, die Sympathie der Masse zu erwerben, sich beliebt, populär zu machen, Händedrücke zu empfangen; das Volk spielte hier dieselbe Rolle wie das Publikum im Ballsaal, die Spaziergänger auf Straße oder Markt. Sie hatte ihn durch eine körperliche Berührung, die vielleicht unschuldig, möglicherweise aber berechnet, wahrscheinlich jedoch beides zu gleichen Teilen war, verleitet, eine schlechte Handlung zu begehen, und dafür wurde sie angebetet. Aber jetzt mußte er sie erobern und deshalb all seine Reflexionen über die Sachlage in den Sack stecken; er sah in einem Moment ein, daß er durch dieses Medium seine Ideen und Pläne auf das Volk überpflanzen, durch diese Leitung die Massen bewegen, ihnen seine Wohltaten aufzwingen, sie zu seinen Vasallen machen konnte; dann durfte er dasitzen und wie ein Gott über ihre Torheit lächeln, wenn sie sich ihr Glück selbst geschaffen zu haben glaubten und doch nur mit seinen Gedanken, seinen Plänen geschwängert waren, die Treber von seinem Gebräu aßen, dessen starken Malztrunk sie nie an die Lippen bringen würden. Denn was kümmerte es ihn, ob diese öden Schären eine halbverhungernde, überflüssige Bevölkerung unterhielten oder nicht; was für Mitleid konnte er mit seinen natürlichen Feinden empfinden, den Repräsentanten der unbeweglichen Masse, die erstickend auf seinem Leben gelastet, sein Wachstum gehindert hatten und selbst jeder Spur von Mitleid mit andern ermangelten, die mit
Raubtierhaß ihre Wohltäter, deren Rache nur neue Wohltaten waren, verfolgten. Das sollte sein großer, starker Genuß sein, unbemerkt dazusitzen, als ein Tor angesehen, und die Schicksale dieser Menschen zu lenken, während sie ihn geduckt, seine Verbindungen abgeschnitten, ihm die Hände gebunden zu haben glaubten. Er würde sie mit Blindheit schlagen, würde den Toren das Gesicht blenden, daß sie sich einbilden sollten, sie seien seine Meister und er ihr Diener. Während diese Gedanken sich konzentrierten und zu einem starken Beschluß wuchsen, klopfte es an die Tür, und auf das Herein des Fischmeisters erschien der Aufseher, der die Einladung der Damen zu einer Tasse Tee überbringen sollte. Der Fischmeister dankte und versprach zu kommen. Nachdem er seinen Anzug in Ordnung gebracht und überlegt hatte, was er sagen und was er nicht sagen wollte, ging er hinunter. Im Vorbau traf er Fräulein Maria, die mit übertriebener Wärme seine Hände faßte, sie drückte und voll Rührung sagte: »Haben Sie Dank für das, was Sie der armen Frau getan haben! Das war edel, das war groß!« »Nein, mein Fräulein, es war keins von beiden,« antwortete der Fischmeister schnell, »denn es war von meiner Seite eine schlechte Handlung, die ich bereue, und die mir nur die Artigkeit gegen Sie diktiert hat.« »Aus lauter Artigkeit machen Sie sich selbst schlecht, und ich würde mehr Wert auf etwas Aufrichtigkeit legen,« erwiderte das Fräulein im selben Augenblick, als die Mutter hinzukam.
»Ach, Sie sind ein gutes Kind,« fiel die Mutter mit einer ganz unerschütterlichen Überzeugung ein und bat den Fischmeister, in die große Stube einzutreten, wo der Tee serviert war. Ohne sich tiefer in bodenlose Fragen einzulassen, trat er ein. Und jetzt sah er mit einem Blick, wie die einfache Einrichtung der Fischerhütte mit den Trümmern des abgenutzten Luxus einer Stadtwohnung gekreuzt war. Vergilbte Alabastervasen waren auf die Kommode, Photographien vor das Fenster zwischen die Blumen gestellt; ein Lehnstuhl mit geblümtem Kreton und Messingnägeln stand in einer Ecke am Kamin, ein paar Bücher waren auf einem Sofatisch um eine Stehlampe arrangiert. Es war nett angeordnet, wenn auch mit einer ängstlichen mathematischen Genauigkeit; alles symmetrisch, aber doch etwas schräg und schief, während es gerade sein sollte. Das Teeservice, altes sächsisches Porzellan mit Goldrändern und kirschroten Namenszügen, war hier und da gesprungen, und der Kannendeckel hatte einige Nieten. Nachdem er das Bild des verstorbenen Familienvaters betrachtet und nicht zu fragen gewagt hatte, was er gewesen sei – er machte den Eindruck eines Beamten –, war ihm klar, daß er verschämte Arme vor sich hatte. Die Unterhaltung streifte zunächst alles Äußere, was das Auge fesseln konnte, ging zu den Ereignissen des Tages über und kam dann auf die Bevölkerung. Der Fischmeister hörte sofort, daß die Damen sich für fremde Angelegenheiten interessierten und in krankhafter Besorgnis um das Wohl der unteren Klassen lebten. Da er sah, daß seine Aufrichtigkeit die Frauen vor den Kopf stieß und er nicht die Absicht hatte, sie durch Vorbringen seiner Meinungen zu verletzen, gab er
sofort nach und ließ sich treiben. Bisweilen empörte sich sein Inneres und er wollte eine kleine Bemerkung oder Erklärung riskieren; aber sofort legte es sich wie weiche Hände vor seinen Mund, schmiegten sich runde Arme um seinen Hals, so daß das Wort erstickt wurde. Im übrigen waren die Ansichten hier so felsenfest, alles war so fertig, alle Fragen gelöst, daß die beiden Damen nur freundlich, mild nachsichtig lächelten, wenn sie in ihm einen Zweifel an ihren Axiomen lasen. Dann aber ging das Gespräch auf die moralische und geistige Verfassung der Bevölkerung über, und jetzt war der Fischmeister ganz bei der Sache. Er schilderte mit Wärme die Roheiten des Vormittags, die in Trunkenheit und Prügelei ausgeartet waren, beklagte den Mangel an Bildung und berichtete schließlich von Szenen, die vollständiges Heidentum verrieten. Er erzählte, wie die Fischer auf Steinen opferten, die Flinten mit Blei von Kirchenfenstern lüden, von Tors Böcken sprächen, wenn der Donner rollte und von Odins wilder Jagd, wenn im Frühling die grauen Gänse kämen, wie sie auf den Inseln die Elstern unter den Kücken hausen ließen, da die Leute aus Furcht vor unbekannten Rächern die Elsternnester nicht herunterzureißen wagten. »Ja,« fiel die Kammerrätin ein, wie sie auf einer Reisetasche, die noch unter einem Tisch stand, tituliert war, »das ist nicht ihre Schuld, und hätten sie es nicht so weit zur Kirche, so würde es hier anders aussehen.« Diese Richtung hatten die Gedanken des Fischmeisters nicht genommen, aber im Moment erfaßte er, welche Großmacht er zum Bundesgenossen bekommen würde; und indem er den Gedankenkeim entwickelte, den er am Morgen beim Anblick des Gottesdienstes an Bord des königlichen Schiffes empfangen hatte, rief er mit wirklicher Begeisterung:
»Man kann doch für billigen Preis ein Missionshaus bauen lassen. Was meinen Sie, wenn ich an die Regierung schriebe!« Die Damen griffen den Gedanken mit dem größten Eifer auf, erboten sich, selbst an das Stift und einige Vereine zu schreiben, schlugen einen Bazar vor, erinnerten sich aber, daß es hier kein tanzendes Publikum gab. Der Fischmeister beseitigte alle Schwierigkeiten, indem er sich erbot, die Summe vorzuschießen und das Gebäude zu besorgen, das man aus der Tischlerei fertig beziehen konnte, wenn nur die Damen einen Laienprediger beschaffen wollten. Aber, fügte er hinzu, man müsse zu diesem Zweck und für den Anfang am besten einen von der scharfen Sorte wählen, der die Leute sich vorzunehmen verstände und sie in ernstester Art aufrütteln könne, denn hier sei Halbheit nicht am Platze. Die Damen machten gelinde Einwendungen und empfahlen liebevollere Mittel, der Fischmeister jedoch bewies, daß Furcht das Grundelement sei, auf dem man eine erste Erziehung aufbauen müsse; später könne man mit Liebe kommen. Ein großes gemeinsames Interesse hatte ihre Seelen zusammengeschweißt, während sie sich an dem Feuer der großen Liebe wärmten, und sie redeten sich in eine überströmende Allbarmherzigkeit gegen alles Geschaffene hinein, drückten sich die Hände und schieden unter Dank und Segenswünschen, weil das Schicksal drei gute Menschen zusammengeführt habe, die in Eintracht für das Wohl der Menschheit arbeiten würden. Als der Fischmeister herauskam, schüttelte er sich, als wolle er sich von Staub befreien; er hatte dasselbe Gefühl, das er beim Besuch in einer Mühle empfand: ein gewisses Wohlbehagen,
alle Gegenstände mit einem weichen, halbweißen Mehlton überzogen zu sehen, der Eisen, Holz, Leinwand, Glas zu einem Akkord stimmte, dasselbe Gefühl dunkler Wollust wie bei der Berührung von Schlössern, Geländern, Säcken, die mit losem Mehlstaub bepudert waren; zugleich aber fiel ihm das Atmen schwer, er mußte husten und das Taschentuch hervorholen. Und doch war es ein angenehmer Abend gewesen. Diese unmerkliche Wärmeausstrahlung von der Mutter, die die Starre der Gedanken auftaute, dieser Dunstkreis von Herzlichkeit und Kindlichkeit bei dem jungen Weibe, der ihn verjüngte, dieser Kinderglaube an das, was in seiner Jugend das naive Ideal des Tages gewesen war: das emporzuheben, was danieder lag, das Verkrüppelte, Schwache, Kranke zu beschützen, all diese Dinge, die, wie er jetzt wußte, das Gegenteil von dem waren, was die Seligkeit und die Besserung der Menschheit fördern konnte; all das, was er aus Instinkt haßte, weil er sah, wie alles Starke, jeder Ausbruch von Ursprünglichkeit von den Enterbten verfolgt wurde. Und jetzt sollte er mit diesen einen Bund gegen sich selbst schließen, an seinem eigenen Untergang arbeiten, sein Niveau herabdrücken, Teilnahme für den Erbfeind heucheln, die Kriegskosten der Widersacher bestreiten. Der Gedanke an die Genüsse, die diese Kraftprobe ihm schenken würde, berauschte ihn, und er lenkte seine Schritte nach dem Meeresstrande hinunter, um in der Einsamkeit sich selbst wiederzufinden. Als er nun in der stillen, lauen Sommernacht im Sande dahinwanderte, wo er seine eigenen Fußspuren von den vorhergehenden Tagen wiederfand, wo er jeden Stein kannte und wußte, wo diese und jene Pflanze stand, da merkte er, daß alles ein anderes Aussehen bekom-
men, eine neue Gestalt angenommen hatte, einen ganz andern Eindruck machte als am Tage vorher, da er hier entlang geschritten war. Eine Veränderung war eingetreten, etwas Neues dazwischengekommen. Er konnte nicht mehr dieses große Einsamkeitsgefühl hervorrufen, in dem er sich gegen Natur und Menschheit isoliert fühlte, denn es stand jemand an seiner Seite, hinter ihm. Die Isolierung war aufgehoben, und er war an das kleine, banale Leben festgelötet, Fäden hatten sich um seine Seele gesponnen, Rücksichten begannen seine Gedanken zu binden, und Furcht und Feigheit, anders zu denken als seine Freunde, schlugen ihre Klauen in ihn. Ein Glück auf falschem Grunde aufzubauen wagte er nicht, denn wenn er bis zum First gezimmert haben würde, konnte alles auf einmal zusammenstürzen, und dann würde der Fall tiefer, der Schmerz größer sein; und doch mußte es geschehen, wenn er sie besitzen wollte, und das wollte er mit der ganzen Kraft des Mannesalters, die Berge versetzen kann. Sie zu sich emporziehen? Wie sollte das zugehen? Er konnte sie nicht aus einer Frau zum Mann machen, sie nicht von den unbezähmbaren Trieben befreien, die ihr Geschlecht in sie hineingelegt hatte, er konnte ihr nicht seine eigene Erziehung geben, die dreißig Jahre gedauert hatte, ihr nicht die Entwicklung schenken, die er durchgemacht, die Erfahrungen, die Studien, die er sich erkämpft hatte. Also mußte er zu ihr niedersteigen, aber der Gedanke an dieses Niedersteigen quälte ihn wie das größte Übel, das ausdenkbar war, weil es ein Sinken, ein Abwärtsgehen, ein Vonvornanfangen bedeutete, das im übrigen unmöglich war. Blieb ihm nur, seine Person zu verdoppeln, sich zu spalten, eine Persönlichkeit zu schaffen, die ihr faßlich und zugänglich war, einen überlisteten Liebhaber zu
spielen, ihre Unterlegenheit bewundern zu lernen, sich an eine Rolle zu gewöhnen, wie sie sie haben wollte, und dann in der Stille und für sich selbst sein anderes halbes Leben zu leben, mit einem Auge zu schlafen und das andere offen zu halten. Er war auf der Schäre emporgestiegen, ohne es zu merken. Und nun sah er Licht unten im Fischerdorf und hörte wildes Geschrei, Jubelgeschrei über den geschlagenen Feind, der ihre Kinder und Kindeskinder der Armut hatte entreißen wollen, ihnen Arbeit zu ersparen, ihnen neue Genüsse zu geben gedachte. Und plötzlich erwachte in ihm wieder das Begehren, diese Wilden zu zähmen, diese Torsanbeter das Knie vor dem weißen Christus beugen, die Riesen durch die lichten Asen untergehen zu sehen. Der Barbar mußte durch das Christentum hindurch wie durch ein Fegefeuer, mußte Ehrfurcht vor der Macht des Geistes in den schwachen Muskelbündeln lernen; die Überreste der Völkerwanderung mußten ihr Mittelalter durchmachen, ehe sie zur Renaissance des Denkens und zur Revolution der Tat kommen konnten. Hier auf dem höchsten Grat der Schare sollte sich die Kapelle erheben, mit ihrem kleinen Turm über Ausguck und Fahnenstangen wegsehen und die Seefahrer auf weite Entfernung grüßen wie eine Erinnerung daran, daß … Hier hielt er inne und überlegte. Und ein Lächeln zog über sein blasses Gesicht, als er sich bückte und vier Gneisplatten aufhob, mit denen er ein Rechteck von Osten nach Westen legte, nachdem er dreißig Schritt in der Länge und zwanzig in der Breite abgeschritten hatte. »Was für eine ausgezeichnete Landsicht für die Seefahrer!« dachte er, als er den Berg hinunterstieg und auf sein Zimmer ging, um sich niederzulegen.
Sechstes Kapitel Der Fischmeister hatte sich zwei Tage eingeschlossen, um zu arbeiten, und als er am Morgen des dritten Tages ausging, um eine Strandwanderung zu machen, begegnete er zufällig der Kammerrätin. Sie hatte ein bekümmertes Aussehen, und als der Fischmeister sich nach dem Befinden ihrer Tochter erkundigte, erfuhr er, daß diese unpäßlich sei. »Das ist Mangel an Zerstreuung,« sagte er aufs Geratewohl. »Ja, was soll man in der Einsamkeit machen,« antwortete die bekümmerte Mutter. »Das Fräulein muß auf die See hinaus, muß fischen und segeln und sich Bewegung machen,« empfahl er, ohne weiter darüber nachzudenken, was er sagte. »Ach ja,« stimmte die Mutter bei, »aber meine arme Maria kann doch nicht allein fahren.« Da er hierauf nur eine Antwort zu geben hatte, erwiderte er: »Wenn die Damen mit meiner Gesellschaft fürlieb nehmen wollen, stehe ich gern zu Diensten.« Die Mutter fand, er sei allzu gütig und nahm das Anerbieten an, indem sie erklärte, sie wolle Maria sofort sagen, daß sie sich fertig mache. Der Fischmeister begab sich nach dem Hafen hinab, um das Boot zu rüsten, aber unterwegs begann er die Schritte zu verlangsamen, als gehe er einen Abhang hinunter, auf dem die
Schwerkraft schneller schob, als er wollte. Es widerstrebte ihm, daß er so rasch, ehe er sich hatte besinnen können, durch eine Kraft von außen in Bewegung gesetzt wurde, und er wollte Widerstand leisten, ohne es zu können. Es war zu spät, und er ließ sich treiben, in dem Bewußtsein, daß er ja noch immer das Steuer nehmen und den Kurs bestimmen könne. Er hatte das Focksegel gehißt, das Steuer eingesetzt, die Fangleine losgemacht und war zur Abfahrt bereit, als das Fräulein mit der Mutter am Strande auf; tauchte. Das Mädchen hatte ein ultramarinblaues Kleid an und trug eine blaue schottische Wollmütze, die ihr ausgezeichnet stand und ihr einen knabenhaften, kecken Ausdruck gab, der von dem engelhaften, den sie vor ein paar Tagen gezeigt hatte, sehr verschieden war. Nachdem der Fischmeister gegrüßt und nach dem Befinden gefragt hatte, streckte er seine Hand aus, um die Damen an Bord zu geleiten. Das Mädchen nahm die dargereichte Hand und war mit einem leichten Sprung im Boot, wo sie hinten am Steuer plaziert wurde, aber als er dann der Mutter die Hand reichen wollte, erklärte diese, sie könne nicht mitfahren, da sie das Mittagessen bereiten müsse. Der Fischmeister, dem diese Überraschung zu plötzlich kam, verspürte von neuem Lust, Widerstand zu leisten gegen diese weiche Kraft, die ihn dahin leitete, wohin er nicht wollte, wurde aber von der Furcht, Mangel an Lebensart zu zeigen, zurückgehalten; nachdem er also kurz und bündig bedauert hatte, die angenehme Gesellschaft der Kammerrätin entbehren zu müssen, löste er die Fangleine, befahl Fräulein Maria, das Steuer umzulegen, steckte ihr die Großschote in die Hand und hißte das Segel.
»Aber ich kann ja nicht segeln,« rief das Mädchen; »ich habe noch nie ein Steuer in der Hand gehabt!« »Das ist keine Kunst! Tun Sie nur, was ich sage und Sie werden gleich segeln können,« antwortete der Fischmeister, setzte sich dem Mädchen gegenüber und half ihr beim Manövrieren. Es wehte eine schwache Brise, und das Boot glitt vor seitlichem Winde aus dem Hafen. Der Fischmeister hielt die Fockschote und instruierte anfangs die schöne Bootführerin, faßte dann und wann ihr Handgelenk und drückte die Ruderpinne gegen den Wind, bis sie draußen waren, Fahrt bekamen und die Richtung einschlugen, in der sie direkt nach den Schären hinausfahren konnten. Die Verantwortung, die Anstrengung, das Gefühl, das Fahrzeug zu beherrschen, das ihrer beider Leben einschloß, weckte schlafende Kräfte in der weichen Frauengestalt, und ihre Augen, die aufmerksam die Stellung des Segels verfolgten, glühten vor Mut und Zuversicht, als sie sah, wie das Boot dem geringsten Druck der Hand gehorchte. Machte sie einen Fehler, so berichtigte er ihn mit einem freundlichen Wort, sprach ihr Mut zu, fortzufahren, indem er ihre Aufmerksamkeit lobte, räumte Schwierigkeiten weg, indem er den ganzen Verlauf als etwas, was sich von selbst verstehe, hinstellte. Sie strahlte vor Glück, begann von der Vergangenheit zu sprechen, von ihren vierunddreißig Jahren; wie sie geglaubt habe, Leben und Lebensmut seien vorbei, wie sie sich wieder jung fühle, wie sie immer von einem Leben der Tätigkeit geträumt habe, in männlicher Tätigkeit vor allem, um ihre
Kräfte der Menschheit, andern widmen zu dürfen. Sie wisse, daß sie als Frau ein Paria sei … Der Fischmeister hörte das alles mit an wie wohlbekannte Geheimnisse, wie Formeln eines unsinnigen Bestrebens, das gleich zu machen, was die Natur mit Absicht so ungleich wie möglich gemacht hatte, um der Menschheit Arbeit zu ersparen. Aber jetzt auf diese Dinge zu antworten, erkannte er als zwecklos; er behielt jedoch seine Rolle als dankbarer Zuhörer bei und ließ sie ihre krankhaften Einbildungen, die der frische Wind fortwehen würde, sich von der Seele reden, statt das Messer zu nehmen und die verwirrten Fäden durchzuschneiden, die ihre ungeordneten Gedanken ihm darreichten, tat er ganz einfach, als sehe er sie nicht; er wollte, indem er Eindrücke sammelte, die er absichtlich hervorrief, den alten Wirrwarr aufwickeln und als Spule benutzen, als Unterlage für neues, von seiner reichen Spindel gesponnenes Garn. In Eile improvisierte er einen Plan, wie er unter Benutzung des Anschauungsmaterials, das die Schären boten, in lebenden Bildern, ohne daß sie es merkte, sie in wenigen Stunden Empfindungen durchmachen lassen konnte, die nach ihrer Ansicht von außen kamen; auf diese Weise wollte er heimlich das Netz seiner Seele über ihre Seele werfen, wollte ihre Saiten nach seinem Instrument stimmen. Mit einer Bewegung des Kopfes deutete er jetzt an, das Boot solle geradeaus fahren, und nachdem er die Schote etwas gelockert hatte, verlor der Kahn die Landsicht und plätscherte über das offne Meeresgatt. Der weite Horizont, das unendliche Lichtmeer, in dem kein Gegenstand dunkel blieb, warf einen Schimmer über das schöne Gesicht; die kleinen Züge vergrößerten sich gewissermaßen, kaum merkbare Runzeln glätteten sich, der
ganze Ausdruck nahm den Charakter der Befreiung von Alltagssorgen und kleinlichen Gedanken an, und das Auge, das in einem Augenblick einen so großen Teil der Erdkugel Überschauen konnte, schien im Großen zu sehen, so daß die kleine Persönlichkeit wuchs und ihre relative Macht fühlte. Und als nun die langen Meereswellen das Boot in gewaltigen Rhythmen sacht hoben und senkten, sah er, wie das Entzücken sich mit einem Gran Furcht mischte, die niederdrücken wollte. Der Fischmeister, der bemerkte, daß das große Bild seinen Eindruck nicht verfehlte, beschloß nun, der leisen Musik der Gefühlswallungen einen Text unterzulegen, ihre aufdämmernden Gedanken auf die große Straße zu führen; er wollte die Schale der schwellenden Samenkörner lösen, so daß die Keime aufsprießen konnten. »Dies wirkt planetarisch,« improvisierte er. »Die Erde, die banale, die langweilige, die staubige, wird Himmelskörper. Fühlt man sich nicht schon des Himmels teilhaftig, wenn man den Gegensatz auflöst, den falschen Gegensatz zwischen Himmel und Erde, die eins sind wie der Teil und das Ganze? Spüren Sie nicht, wie Sie wachsen, statt zusammenzuschrumpfen, wenn Sie den Wind überlisten und ihn zwingen, Sie nach rechts zu tragen, wenn er nach links will? Empfinden Sie nicht, welche Macht in Ihnen wohnt, wenn Sie auf der Woge reiten und er Sie mit Tausendpfundgewicht in die Tiefe niederpressen will? Der die Schwingen der Vögel erschaffen haben soll und fünfzigtausend Jahre gebraucht hat, um aus einem Kriechtier einen Flieger zu machen, war weniger gescheit als der Mensch, der zuerst ein Tuch an einer Stange befestigt und in einem Augenblick die Schiffahrt erfunden hat.
Ist es da ein Wunder, daß der Mensch Gott nach seinem Ebenbilde schuf, indem er aus seiner Klugheit auf einen noch Klügeren schloß!« Das Mädchen, das seinem Ausbruch aufmerksam gelauscht hatte, betrachtete ununterbrochen sein Gesicht, als habe sie ihr eigenes einem Feuer zugewendet, um gewärmt zu werden; die ungewöhnlichen Worte, die sie gehört hatte, schienen tief in ihr Gemüt eingedrungen zu sein und wie Gärstoff zu wirken. Betäubt, eingeschläfert von dem weichen, überredenden Tonfall, nahm sie ohne Besinnen die neuen Gesichtspunkte an, die er ihr hinsichtlich der vorher für sie so leblosen, eintönigen Landschaft, in bezug auf Ursprung und Sinn des Lebens gab, und ohne einzusehen, daß ihre eigene religiöse Überzeugung verschüttet wurde, ehe sie aufgelöst war, nahm sie die neue an und schichtete sie über der alten auf. »Sie reden, wie ich noch niemanden habe reden hören,« sagte sie träumend; »sprechen Sie weiter!« Er schwieg und gab durch ein neues Zeichen dem Boot einen neuen Kurs. Sie kamen an die unheimliche Vulkanbildung der Schwarzschäre. Der schwarzfunkelnde Diorit mit dem leichenweißen Seezeichen, das die weiße Mähre genannt wurde, sah im Sonnenschein, der vergebens die extremen Farben schwarz und weiß abzustimmen versuchte, noch viel düsterer aus. Über das Gesicht des Mädchens zog eine Wolke, die Züge schrumpften zusammen, die Augenbrauen legten sich in Wulste, als wollten sie sich senken und das niederdrückende Bild zudecken. Eine unmerkliche Bewegung des Steuers deutete an, daß sie von der Schäre abhalten wollte, er aber gab dem Boot die Richtung wieder, und mit den zusammenge-
preßten Kräften des Windes schoß der Kahn in die Schlucht zwischen den schwarzen Klippen hinein, wo die Seen ihn seufzend vorwärts schoben. Es wurde still im Boot, und der Fischmeister wollte nicht die düsteren Erinnerungen zu erraten suchen, die in seiner Begleiterin geweckt wurden, sondern beschränkte sich darauf, auf das gebleichte Skelett eines Eisvogels zu deuten, das auf dem schwarzen Felsen lag. Und dann faßte der Wind die Segel wieder, füllte sie und schleppte das Fahrzeug aufs offne Wasser hinaus. Sie passierten die Ebereschenschäre mit ihrem einzigen Baum und ihrer Bachstelze und näherten sich dem Schwertholm, wo er sie zum erstenmal gesehen hatte. Dort landeten sie, und er führte sie denselben Weg, den er an jenem Sonntagvormittag gegangen war, ließ sie die gleichen Eindrücke empfangen, die er gehabt hatte, schritt mit ihr hinunter auf die Blumenwiese und zeigte ihr zwischen den wilden Apfelbäumen die Stelle, wo er sie zuerst bemerkt hatte. Sie kam jetzt in eine mutwillige Stimmung, denn daß all diese kleinen Nebenumstände sich seinem Gedächtnis eingeprägt hatten, mußte bedeuten, daß er verliebt war. Sie lachte, als er davon sprach, wie er sie zuerst hatte husten hören, und in einem Ausbruch von Spielerei bat sie ihn, an dieselbe Stelle hinunterzugehen und zu sprechen, dann wolle sie raten, wer da spreche. Er gehorchte und sprang von dem Felsschemel hinunter, stellte sich hinter die Mehlbeerbäume und ahmte das Brüllen eines Stieres nach. »Nein, wie schön der singen kann,« scherzte das Mädchen. »Das ist sicher ein Hottentottenschauspieler!«
Der Fischmeister, der Gefallen an der Kindlichkeit fand und seit vielen Jahren nicht mit Kindern gespielt hatte, behielt seine Rolle bei, und indem er mit umgewendetem Rock auf die grüne Fläche heraustrat, das Monokel ans Ohr gehängt, führte er einen improvisierten wilden Tanz auf, begleitet von einem Gesang, den er von den Hottentotten im Jardin d’Acclimatation gehört hatte. Das Mädchen schien verwundert und belustigt zugleich. »Wissen Sie was?« sagte sie. »So gefallen Sie mir viel besser, wenn ich sehe, daß Sie einen Augenblick Mensch sein und die philosophische Miene ablegen können.« »Ist denn der Hottentott in Ihren Augen mehr Mensch als der Philosoph?« entschlüpfte es dem Fischmeister; aber er bereute sofort, sie zum Bewußtsein geweckt zu haben, brach einen Zweig vom Mehlbeerbaum, wand einen Kranz und überreichte ihn dem Mädchen, das in der Erkenntnis, eine große Dummheit gesagt und sich verraten zu haben, etwas finster geworden war. »Jetzt müssen Sie das Opfertier bekränzen, Fräulein Maria!« lenkte der Fischmeister ab. »Ich wollte, ich stellte hundert Stiere dar und könnte als Hekatombe für Sie zur Schlachtbank gehen.« Er fiel auf die Knie und nahm den Kranz von der besänftigten Schönheit entgegen, worauf er an den Strand hinunterlief, wohin das Mädchen ihm folgte. Unten im Sande blieben sie stehen.« »Wollen wir Butterbrot werfen?« schlug sie vor. »Gern!« antwortete er und wählte einen flachen Stein. Sie schleuderten eine Weile Steine aufs Wasser, bis sie warm geworden waren.
»Wollen wir baden?« rief das Mädchen plötzlich, als habe sie lange über dem Gedanken gebrütet, der zum Ausbruch kommen mußte. Der Fischmeister wußte nicht, wie er daran war; ob es ein Scherz, oder ob der Vorschlag ernst gemeint sei, mit Einschränkungen, zum Beispiel, daß man einige Kleider anbehielt oder die eine Partei sich entfernte. »Baden Sie, dann gehe ich so lange fort,« fand er schließlich richtig zu sagen. »Baden Sie denn nicht?« fragte das Mädchen. »Nein, ich habe keinen Anzug mit,« antwortete der Fischmeister, »und außerdem bade ich nicht kalt.« »Hahahaha!« erscholl ein kaltes, unangenehm höhnisches Gelächter aus dem Kehlkopf des Mädchens. »Sie haben Angst vor kaltem Wasser?« spottete es, »und können vielleicht nicht schwimmen?« »Das kalte Wasser ist zu rauh für meine feinen Nerven. Aber wenn Sie hier ein kaltes Bad nehmen, so gehe ich nach der nördlichen Landzunge und nehme ein warmes.« Das Mädchen hatte schon die Stiefel ausgezogen, und mit einem Blick der Verachtung und verletzten Eitelkeit sagte sie: »Sie können mich von dort doch nicht sehen?« »Wenn Sie nicht allzuweit hinausschwimmen,« sagte der Fischmeister und ging. Als er die nördlichen Hänge der Insel erreichte, suchte er sich eine Schlucht im Berge, die von einer Bergwand von gut fünfzig Fuß Höhe gegen nördliche Winde geschützt war. Der schwarze Hornblendgneis war von dem Wogenanprall wie Achat poliert und wölbte sich in sanften, schönen Wülsten, die den Muskeln des menschlichen Körpers glichen und
sich wie ein Polster den Höhlungen des nackten Fußes anschmiegten. Kein Windhauch drang hierher und die Sonne hatte sechs Stunden lang auf die dunklen Felsen gebrannt, so daß hier eine erwärmte Luft, mehrere Grad höher als die Temperatur des Körpers, entstanden war und die Steine fast unter den Füßen brannten. Er war ins Boot hinuntergegangen und hatte eine Axt geholt, mit der er jetzt das trockenste Heidekraut und den Strandhafer abhieb; dann zündete er, während er sich entkleidete, ein flammendes Feuer auf dem Berge an. Als das Feuer rasch niedergebrannt war, fegte er den Fels wie einen Backofen, goß mit dem Schöpfeimer das kristallklare Meerwasser auf die erhitzten Steine und ließ seinen nackten Körper vom Dampf einhüllen. Darauf setzte er sich in einen der Lehnstühle, die das Meer in die Felsen gemeißelt hatte, zog seine Decke um sich, kroch zusammen, daß die Knie das Kinn berührten, schloß die Augen und schien in Schlaf zu versinken. Aber er schlief nicht, sondern brauchte diese Methode, um sich aufzuziehen, wie er es nannte, damit sein Gehirn für einige Augenblicke ruhen und seine Elastizität wiedergewinnen konnte. Denn es strengte ihn an, sich im Verkehr den verworrenen Gedanken anderer anzupassen. Sein Gedankenmechanismus litt unter der Berührung mit andern, so daß er unruhig wurde, unzuverlässig wie die Kompaßnadel in der Nähe von Eisen. Und immer, wenn er klar über etwas nachdenken oder einen Beschluß fassen wollte, versetzte er durch ein warmes Bad seine Seele in harmonische Betäubung und löschte für eine kurze Weile das Bewußtsein in einem Halbschlummer, indem er an nichts dachte; dabei wurde alles aufgenommene Observationsmaterial gleichsam zum
Schmelzen gebracht, und wenn er die Feuer löschte und sein Bewußtsein wieder aufweckte, quoll die Legierung hervor. Als er eine Weile gesessen und die Sonne ihn durchs wärmt hatte, erhob er sich plötzlich und stand wach da, wie nach einer durchschlafenen Nacht. Seine Gedanken arbeiteten wieder, und er sah glücklich aus, als habe er ein Problem gelöst. Sie ist vierunddreißig Jahre alt, dachte er. Das hatte ich unter dem Eindruck ihrer jugendlichen Schönheit vergessen. Daher dieses Chaos von zurückgelegten Stadien, diese Bruchstücke von Rollen, die sie sukzessive im Leben gespielt hat, diese Menge wechselnder Reflexe von Männern, die sie zu erobern und denen sie sich anzupassen gesucht hat. Und ganz kürzlich mußte sie in irgendeiner Liebesgeschichte einen Zusammenbruch erlitten haben. Der Mann, der all diese Fetzen einer Seele zusammengehalten, hatte sich zurückgezogen, der Sack war geplatzt, und nun lag alles da wie der Trödel eines Lumpensammlers. Sie hatte Proben der Pfarrhausromantik von 850 gezeigt und käute die Menschenrettungsideen vom Anfang des Jahrhunderts wieder, holte Glaubenseifer aus den Konjunkturströmungen der Taubenstimme und der Pietisten, Zynismen aus der George Sand und der Androgynperiode. Den Boden in diesem Sieb zu suchen, durch das so viele Suppen hindurchgelaufen waren, ein Rätsel zu lösen, das keines war, daran Zeit zu verschwenden war er zu klug. Es blieb nur übrig, aus dem Knochenhaufen das herauszulesen, was geeignet war, ein Skelett zusammenzusetzen, das er dann mit lebendigem Fleisch bekleiden und dem er seinen Geist einhauchen würde. Aber das durfte sie nicht merken, denn dann ließ sie es nicht zu. Sie durfte nie sehen, wie sie von ihm empfing, denn das würde nur Haß und
Widerstand wecken. Er mußte unterirdisch wachsen wie der Wurzelstock und sie auf sich pfropfen, damit sie aufschießen, der Welt sichtbar werden und Blüten tragen konnte, die die Menschen bewundern würden. Jetzt hörte er die Möwen schreien und schloß daraus, daß sie hinausgeschwommen sei. Er kleidete sich deshalb schnell an, und als er seine Sachen zusammengepackt hatte, suchte er aus dem Bootsproviant ein kleines Frühstück zusammen, das er auf dem Moos unter einer halbstämmigen, pinienähnlichen Kiefer anrichtete. Es waren nur wenige Gerichte, aber alle erlesen, kostbar und auf den Trümmern einer Porzellansammlung angerichtet, die er einmal hatte anlegen wollen. Die Butter leuchtete dottergelb in einer Schlangensteindose mit Schraubdeckel und stand in einem Bruchstück einer Fayence Heinrichs II. auf Eis; die Keks lagen auf einer durchbrochenen Schale aus Marieberg und die Sardellen auf einer Unterschale aus blauscheckigem Nevers. Die Furcht vor der überall in Kunst, Industrie und täglichem Leben sich breitmachenden Banalität hatte den Besitzer zu dem modernen Suchen nach dem Ungewöhnlichen getrieben; die entsetzliche Trivialität seiner Zeit, ihr Haß gegen das Originelle, hatten ihn wie so viele andere ins Raffinement gejagt, um seine Persönlichkeit davor zu retten, von der großen Geröllflut geschliffen zu werden. Seine fein entwickelten Sinne suchten nicht die dürftige Schönheit in Form und Farbe, die so leicht veraltet, sondern er wollte Geschichte, Erinnerungen an Weltereignisse in dem sehen, was ihn umgab. Diese Scherbe einer Fayence Heinrichs II. mit ihrem fahnenweißen Pfeifenton und mit rot, schwarz und gelb inkrustiert, weckte zum Beispiel Erinnerungen an die schöne Loirelandschaft
mit ihren Renaissanceschlössern; dies Ornament im Stil eines Bucheinbands erinnerte an die Burgfrau Helene de Genlis und ihren Bibliothekar, die zusammen mit einem Töpfer einen ganz persönlichen Stil schufen, der gleichwohl unvermeidlicherweise von der Zeit der Ritterlichkeit gefärbt wurde, jener Zeit, als man Schönheit im Leben schätzte und selbst das Handwerk sich der Wissenschaft und Kunst unterordnete, da man die Vorteile einer Rangordnung des Geistes einsah. Als er alles aufgetischt hatte und sein Werk besah, war ihm, als habe er ein Stück Kultur in diese halbarktische Wildnis getragen. Sardellen aus der Bretagne, Kastanien aus Andalusien, Kaviar von der Wolga, Käse aus den Gruyerealpen, Wurst aus Thüringen, Keks aus England und Apfelsinen aus Kleinasien. Dazu eine bastumsponnene Flasche Chiantiwein aus Toscana, der in Fußgläsern mit dem goldenen Namenszug Friedrich des Ersten serviert werden sollte; all das bildete ein kunterbuntes Durcheinander, ohne nach Sammler und Museum zu schmecken, kleine Farbflecke hier und dort hingeworfen, Blumen, die als Erinnerungen zwischen den Blättern eines Reisehandbuches und nicht in einem Herbarium gepreßt waren, Jetzt hörte er die Stimme des Mädchens von der Badestelle hallo rufen, worauf er antwortete; und gleich danach trat sie aus den Büschen hervor, aufrecht, frisch und strahlend vor Gesundheit und Lebenslust. Als sie das aufgetischte Frühstück erblickte, lüftete sie die Mütze und verbeugte sich scherzend; die Vornehmheit der Anrichtung imponierte ihr gegen ihren Willen. »Sie sind ein Zauberer,« sagte sie, »gestatten Sie, daß ich mich vor Ihnen beuge!«
»Nicht um so wenig,« antwortete der Fischmeister. »Ja, Sie deuten an, daß Sie mehr können; aber die Natur beherrschen, wie Sie vorhin faselten, das lassen Sie wohl bleiben,« wendete das Mädchen mit dem überlegenen mütterlichen Ton ein. »Mein Fräulein, so kategorisch habe ich mich nicht ausgedrückt; ich habe nur darauf aufmerksam gemacht, daß wir teilweise gelernt haben, die Naturkräfte zu unterjochen, denen wir selbst zum Teil gehorchen – beachten Sie das kleine wichtige Wort teilweise – und daß es in unserer Macht steht, den Charakter einer Landschaft wie das ganze Seelenleben ihrer Bewohner zu ändern.« »Gut! So zaubern Sie doch eine italienische Landschaft mit Marmorvillen und Pinien aus dieser schrecklichen Feldsteinnatur!« »Ich bin freilich kein Taschenspieler, aber wenn Sie mich herausfordern, so verspreche ich Ihnen, zu Ihrem Geburtstag in drei Wochen dieses frische Stück Natur, dessen gleichen Sie in Europa suchen können, in eine waldlose, verbrannte Blumenkohllandschaft nach Ihrem Geschmack zu verwandeln.« »Topp! Die Wette gilt! In drei Wochen also; und wenn ich verliere?« »Dann gewinne ich – was? »Das werden wir dann sehen!« »Das werden wir sehen! Aber wollen Sie inzwischen meinen Dienst tun?« »Ihren Dienst? Was ist das für ein Dienst? Auf dem Sofa liegen und Zigaretten rauchen.«
»Ja, wenn Sie gleich mir meinen Dienst vom Sofa aus versehen können – gern. Aber das können Sie nicht; und jetzt will ich Ihnen sagen, warum nicht, und was für einen Zweck mein Aufenthalt hier auf der Schäre hat! Nehmen Sie erst ein Glas Wein zur Wurst!« Er schenkte ein Glas von dem dunkelroten Chiantiwein ein und reichte es dem Mädchen, das es in einem Zuge leerte. »Sie wissen,« begann der Fischmeister, »meine offizielle Aufgabe hier im Fischerdorf ist, die Bevölkerung fischen zu lehren.« »Das mag nett werden, wo Sie sich rühmen, nie eine Angelrute in der Hand gehabt zu haben.« »Unterbrechen Sie mich nicht – ich will ihnen auch nicht das Fischen mit der Angelrute beibringen. Sehen Sie, die Sache verhält sich so, daß diese Zurückgebliebenen, konservativ wie alles Pack …!« »Was ist das für eine Sprache!« unterbrach das Mädchen wieder. »Eine ungeschminkte Sprache! Also gut! Aus Unverstand und Konservatismus sind diese Ureinwohner im Begriff, ihre Stellung als fischfressende Säugetiere zu untergraben; deshalb hat der Staat das Recht, sie unter Vormundschaft zu stellen. Der Strömling – Gott segne den Fisch! – der die hauptsächliche Nahrungsquelle dieser Autochtonen ausmacht, droht zu versiegen. Das geht mich freilich durchaus nichts an, denn ob einige hundert Ichthyophage mehr oder weniger einen überflüssigen Volksstamm mehren oder mindern, ist für das große Ganze vollständig gleichgültig. Doch sie sollen leben, da die Landwirtschaftliche Akademie es wünscht, und deshalb soll
ich sie hindern, ihre Notdurft zu fischen. Ist Ihnen die Logik klar?« »Das ist unmenschlich, aber Sie sind auch aus einem Stoff, aus dem Henker gemacht werden!« »Deshalb habe ich auch aus eigener Initiative, ohne den Wasaorden oder irgendeinen Dank zu beanspruchen, eine neue Erwerbsquelle ausfindig gemacht, welche die alte ersetzen soll; denn selbst wenn der Strömling nach einem halben Menschenalter, nach Auswandern der Schärenbewohner, wieder in Scharen herumschwimmen sollte, wird doch dieser Erwerbszweig von einem Konkurrenten bedroht, der nach hundertjähriger Ruhe furchtbarer als je aufgetaucht ist. Wissen Sie, daß der Hering im Herbst wieder nach Bohuslän kommt?« »Nein, ich habe lange keinen Brief von ihm gehabt!« »Es ist aber Tatsache. Also müssen wir mit dem Strömling Schluß machen und statt dessen Lachs fischen.« »Lachs? In der Tiefe des Meeres?« »Ja, er muß da sein, obwohl ich ihn noch nicht gesehen habe. Sie sollen ihn finden!« »Aber wenn er nicht da ist?« »Ich sage Ihnen ja, daß er da ist! Sie brauchen nur den ersten zu fangen, dann ist die Lachsfischerei eröffnet.« »Aber wie können Sie wissen, daß es hier Lachs gibt, wenn Sie ihn nicht gesehen haben?« wieherte das Mädchen. »Durch eine Menge Untersuchungen, die zu weitläufig sind, um sie gesprächsweise zu erörtern; sie sind teils draußen auf der See vorgenommen …« »Einmal!«
»Ich arbeite so schnell wie zwanzig andere, dank meiner ungewöhnlichen Intelligenz – teils sind sie auf meinem Sofa erwogen und meistens aus Büchern geholt. Kurz, wollen Sie mitmachen und die Bevölkerung verderben, erstens mit Lachs und dann mit dem Missionshause, das Sie vergessen haben?« »Sie sind ein Dämon, ein Teufel!« rief das Mädchen zwischen Scherz und Ernst aus. Der Fischmeister, der nur in einem Anfall von Humor den skeptischen Ton angeschlagen hatte, aber jetzt entdeckte, daß er am meisten Eindruck machte, fand es angebracht, bei dieser Rolle zu bleiben. »Sie glauben bestimmt nicht an Gott?« fragte das Mädchen mit einer Miene, als werde sie ihn auf ewig verabscheuen, wenn er ja sagte. »Nein, das tue ich nicht.« »Und Sie wollen ein Ansgarius werden und das Christentum auf der Schäre einführen?« »Und den Lachs! Ja, ich will ein dämonischer Ansgarius werden! Aber wollen Sie auch die Lachsschnur legen und sich von den Revisoren des Reichstags segnen lassen?« »Ja, ich will für dies Volk arbeiten, an das ich glaube, ich will meine schwachen Kräfte für die Unterdrückten opfern, und ich will Ihnen zeigen, daß Sie ein blasierter Mensch sind, ein Verlebter, ein Spötter … Nein, das sind Sie nicht, wenn Sie sich auch schlechter machen, als Sie sind, denn Sie sind doch ein gutes Kind, das habe ich am Sonntag gesehen …« Sie sagte das von dem guten Kinde, wie es schien, in der bestimmten Berechnung, daß er auf den Köder anbeißen und sich als Kind ihr unterstellen werde, einerlei, ob als ein gutes oder ein böses. Doch jetzt hatte er schon an dem Dämon
als dem überlegeneren und interessanteren Geschmack gefunden, deshalb behielt er die dankbarere Aufgabe bei. Freilich wußte er aus Erfahrung, daß die leichteste Art, sich bei einer Frau einzuschmeicheln, die ist, sie Mutter spielen zu lassen, mit all deren Freiheit zur Intimität, aber es war ein so abgenutztes Spiel und konnte so leicht zu unausrottbarer Bevormundung von ihrer Seite führen. Dann lieber ihr, die dankbarere Aufgabe der Erlöserin zuweisen, in der nichts absolut Herrschendes lag, sondern nur die Vermittleraufgabe der Gottesmutter: als Mittlerin wurde sie zwischen zwei gleich starke Mächte gestellt. Der Übergang war indes nicht leicht zu finden, und in einem Anfall von Überdruß an diesem ganzen Spiel, das doch notwendig war, wenn er sein Ziel erreichen wollte, und das wollte er, gab er vor, nachsehen zu müssen, ob das Boot richtig vertäut sei, da es jetzt windig zu werden begann. Als er an den Strand hinuntergekommen war, atmete er auf wie nach einer übermäßigen Anstrengung. Er knöpfte die Weste auf, als habe er ein eisernes Wams getragen, kühlte sich den Kopf und warf einen sehnsüchtigen Blick auf das freie Wasser. Jetzt hätte er viel darum gegeben, allein sein zu können, die Spreu abzuschütteln, die bei der Berührung mit einem niedrigeren Geist auf seine Seele gefallen war. Er haßte sie in diesem Augenblick, wollte frei von ihr sein, sich selbst wieder besitzen, aber es war zu spät! Die Spinngewebe hatten sich auf sein Gesicht gelegt, seidenfein, schleimig, unsichtbar, und waren nicht zu entfernen. Und zugleich, – als er sich umdrehte und sie dasitzen sah, wie sie mit ihren langen Fingern und den scharfen Zähnen eine Kastanie schälte, an einen Mandrill erinnernd, den er in einer Menagerie gese-
hen hatte – wurde er von unendlichem Mitleid erfaßt, einem Hauch des Weltschmerzes, den der Glücklichere empfindet, wenn er einem Stiefkind des Schicksals begegnet. Sofort aber dachte er an ihr Entzücken, ihn als Hottentotten zu sehen, wurde wieder böse, tat sich Zwang an und kam mit der ganzen Selbstbeherrschung des Weltmanns zu ihr zurück. Um das erste bemäntelnde Wort zu finden, erinnerte er daran, daß sie segeln müßten, weil der Wind stärker würde. Sie hatte jedoch den Zug von Müdigkeit und Zerstreutheit in seinem Gesicht bemerkt, und mit einer Schärfe, die seine Gefühle für den Augenblick völlig abkühlte, erwiderte sie: »Sie sind meiner Gesellschaft müde! Fahren wir!« Doch als er nicht mit einer Höflichkeit antwortete, sagte sie mit einer Rührung, die ebensogut echt wie erheuchelt sein konnte: »Verzeihen Sie, daß ich boshaft war! Aber ich bin so geworden, und ich bin undankbar! So, nun ist es heraus!« Sie wischte sich die Augen und begann mit der geübten Sorgfalt eines Hausmütterchens das Geschirr zusammenzuräumen. Und jetzt, als sie sich, die Serviette als Schürze um die Taille gebunden, tief über die Überreste der Mahlzeit und schmutzige Teller bückte und das Service an den Strand hinuntertrug, um es abzuwaschen, da eilte er hinzu, um sie von der Last zu befreien, von dem unwiderstehlichen Verlangen getrieben, sie nicht in dienender Gestalt zu sehen; denn er fühlte einen Stich, wenn ihn die Frau bediente, die er hoch über sich zu erhöhen gedachte, während sie zugleich zu ihm aufschauen sollte als zu dem, der ihr Macht über sich verliehen hatte.
Bei dem Scheinstreit, der darum entstand, wer den andern bedienen sollte, ließ das Mädchen das Service fallen. Sie stieß einen Schrei aus, aber als sie die Scherben gemustert hatte, klärte sich ihr Gesicht: »Es war glücklicherweise nur Altes! Gott, habe ich einen Schreck bekommen!« Er unterdrückte seinen kleinlichen Gedanken an den Verlust, indem er sich sofort auf ihre Seite als der vom Unglück Getroffenen stellte, und voll Freude, daß die widerstreitenden Stimmungen, die ihn zerrissen, einen lärmenden Abschluß gefunden hatten, warf er mit den Scherben Butterbrot über die Bucht und rundete die zugespitzte Situation mit den scherzenden Worten ab: »Jetzt sparen wir das Abwaschen, Fräulein Maria!« Worauf er ihr die Hand reichte, um sie ins Boot zu führen, das schon unter dem Plätschern der wachsenden Seen an der Fangleine riß.
Siebentes Kapitel An einem sonnigen Sommermorgen sitzt der Fischmeister mit seiner Schülerin oben in dem Holzpavillon, den er auf dem höchsten Kamm der Schäre hatte ausführen lassen, dicht neben dem kürzlich gelegten Grundstein zum Missionshause. Unten im Hafen liegt ein Schoner und löscht die für das Gebäude zurechtgezimmerten Bestandteile, die von dem Werkmeister und seinen Arbeitern an ihren Platz hinaufgetragen und zusammengefügt werden. Es ist daher seit einiger Zeit auf der Schäre ungewöhnlich lebhaft, und es haben schon kleinere Scharmützel zwischen den Fischern und den Arbeitern aus der Stadt stattgefunden, die die Fischer mit Anmaßung behandelten; das hatte wieder Anlaß zu einer Reihe von Versöhnungsfesten gegeben, die von neuem Trunkenheit und Schlägereien, Attentate auf Sittlichkeit und Eigentum zeitigten. Deshalb hatten der Fischmeister und die Kammerrätin auch einen Augenblick bereut, sich mit dem Zivilisieren der Bevölkerung befaßt zu haben, da bereits die ersten Schritte ein so trauriges Resultat ergaben, um so mehr, als der nächtliche Spektakel, das Singen, Schreien und Jammern sie in jeder Arbeit und die beiden, die einzig und allein um der Ruhe willen hergekommen waren, in jeder Ruhe störten. Der Fischmeister, der alles Ansehen verloren, nachdem er einmal auf seine Autorität verzichtet hatte, konnte die Ruhe nicht wiederherstellen; Fräulein Maria hatte
dagegen mehr Glück und verstand durch frisches Auftreten und ein hier und da hingeworfenes gutes Wort den Sturm zu dämpfen; da sie diesen Erfolg nicht ihrer Schönheit und ihrem angenehmen Wesen zuschreiben wollte, maß sie sich einen höheren Grad von Kraft und Verstand bei, als sie besaß, und hatte sich so in die Vorstellung von ihren ungewöhnlichen seelischen Fähigkeiten hineingelebt, daß sie selbst jetzt, da sie als Schülerin neben ihrem Lehrer saß, seine Lehren als bekannte Dinge hinnahm, die sie mit mehr spitzfindigen als scharfsinnigen Bemerkungen zu korrigieren und zu erklären schien, statt sie sich zu eigen zu machen. Die Mutter, die daneben saß und eine Decke für die Kanzel des neuen Missionshauses stickte, schien dann und wann über den durchdringenden Verstand und die großen Kenntnisse ihrer Tochter zu erstaunen, wenn diese mit einer einfältigen Frage den Lehrer sprachlos machte. »Sehen Sie, Fräulein Maria,« dozierte der Fischmeister, der sich noch immer mit der Hoffnung betrog, sie erziehen zu können, »das ungebildete Auge hat eine Neigung, alles einfach zu sehen, das unentwickelte Ohr die Neigung, alles einfach zu hören. Sie sehen hier ringsumher nur Feldsteine, und dem Maler und dem Dichter geht es ebenso. Deshalb malen und schildern sie alles so monoton, deshalb finden sie die Schären so monoton, und doch, sehen Sie diese geologische Karte der Gegend an und werfen Sie dann einen Blick über die Landschaft. Wir sitzen in der Region des roten Gneises. Sehen Sie diesen Stein an, den Sie Feldstein nennen; in wie reicher Abwechselung ist er aus schwarzem Glimmer, weißem Quarz und rosenrotem Feldspat zusammengesetzt.«
Er hatte eine Probe von dem Steinhaufen genommen, den die Grundsteinleger aus der Schäre herausgesprengt und am Fuß des Gebäudes zusammengeworfen hatten. »Und sehen Sie hier einen andern. Das ist der sogenannte Eurit. Sehen Sie diese feinen Farbenübergänge von lachsrot zu stahlblau. Und hier ist weißer Marmor oder Urkalk.« »Gibt es hier Marmor?« fragte das Mädchen, das bei der Vorstellung von dieser Luxussteinart aufhorchte. »Ja, es gibt Marmor, wenn er auch an der Oberfläche grau aussieht, ohne aber grau zu sein. Denn wenn Sie genauer nachsehen, werden Sie finden, welch einen unendlichen Reichtum an Farben die Flechten besitzen. Welche Skala der feinsten Tönungen vom Tuchschwarz der Sengflechte, über das Aschgrau der Steinflechte, das Lederbraun der Schildflechte, das Scheelesche Grün der Ringflechte, bis zum fleckigen Kupfergrün der Lungen- und dem Dottergelb der Mauerflechte. Sehen Sie genauer über die Schären hin, die die Sonne jetzt beleuchtet, so merken Sie, daß die Klippen verschiedene Farben haben und daß das Volk, das gewohnt ist, zu beobachten, sie nach der ihm bekannten Farbenskala benannt hat, ohne es zu wissen. Sehen Sie, daß die schwarze Schäre schwärzer ist als die andern, weil sie aus der dunklen Hornblende besteht, daß die Rotkobbe rot aussieht, weil sie aus rotem Gneis gebildet ist, die Weißschäre aber aus glatt poliertem Eurit. Ist es nicht mehr, zu wissen, warum es so ist, als zu wissen, daß es so ist? Und ist es nicht armselig, weiter nichts als ein gleichmäßiges Grau zu sehen wie die Maler, die alle Schären mit einer Mischung von Schwarz und Weiß malen! Hören Sie nun auf das Rauschen der Wogen, wie die Dichter summarisch diese Symphonie von Tönen nennen.
Schließen Sie einen Moment die Augen, dann hören Sie besser, und ich will Ihnen diese Harmonie in einfache Töne zerlegen. Sie hören zunächst ein Brausen, wie man es ähnlich in einem Maschinenraum oder in einer großen Stadt vernimmt. Das ist das Geklirr der Wassermassen gegen sich selbst; dann hören Sie ein Zischen, das sind die leichteren, kleineren Wasserteile, die zu Schaum zerpeitscht werden, und jetzt ein Schaben wie das Schaben des Messers am Schleifstein, das ist das Reiben der Welle gegen den Sand; und jetzt ein Gerassel, als wenn man einen Kieskarren entleert; das sind die kleinen Steine, die die See auswirft, und jetzt ein Dröhnen, dumpf, als wenn man die gewölbte Hand gegen das Ohr schlägt, das ist die Woge, die die Luft vor sich her in einen hohlen Raum preßt; und schließlich dies Murren wie von einem fernen Donner, das sind die großen Steinblöcke, die auf dem Grunde rollen.« »Ja, aber das heißt doch, sich die Natur zerstören!« rief das Mädchen. »Das heißt sich mit der Natur vertraut machen! Mir gibt das Wissen Ruhe, und ich werde dadurch von der halbverborgenen Furcht des Dichters vor dem Unbekannten befreit, die nichts anderes ist denn die Erinnerung an die Dichterzeit des Wilden, als man Erklärungen suchte, sie aber in der Eile nicht finden konnte und deshalb in seiner Not zu Fabeln von Seejungfrauen und Riesen seine Zuflucht nahm. Doch jetzt gehen wir zum Fischfang über, der gefördert werden soll, und lassen den Lachs einstweilen, um es zunächst mit neuen Strömlingsmethoden zu versuchen. In zwei Monaten beginnt die große Fangzeit, und wenn ich nicht falsch gerechnet habe, wird sie in diesem Herbst fehlschlagen.«
»Wie können Sie das von Ihrem Sofa aus prophezeien?« fragte das Mädchen mehr spitz als neugierig. »Ich prophezeie das aus dem Grunde, weil ich – von meinem Sofa aus – gesehen habe, wie im Frühjahr das Treibeis den Meeresgrund von Tang und andern Algen, in denen der Strömling zu laichen pflegt, rein geschabt hat; ich sage das aus dem wissenschaftlichen Grunde voraus, daß die kleinen Krebstiere – egal wie sie heißen –, von denen der Strömling lebt, von den Bänken weggeblieben sind, seit der Tang abgeschabt ist. Was soll man da tun? Nun, man muß versuchen, in der Tiefe zu fischen! Wenn der Fisch nicht zu mir kommt, muß ich zum Fisch gehen. Und deshalb müssen wir es mit dem Treibgarn versuchen, das hinter einem treibenden Boot schwimmt. Das ist sehr einfach!« »Das ist großartig!« rief Fräulein Maria. »Das ist alt,« wendete der Fischmeister ein, »und ist nicht meine Erfindung! Doch jetzt müssen wir als kluge Menschen an die Reserven denken, denn wenn wir Strömling fangen, aber keine Preise dafür erzielen, weil die Westküste wieder Hering fängt, so müssen wir etwas anderes in Bereitschaft haben.« »Das ist der Lachs.« »Das ist der Lachs, den es hier geben muß, obwohl ich ihn noch nicht gesehen habe!« »So weit waren wir neulich gekommen, aber jetzt will ich hören, wie Sie das wissen können.« »Ich will die Sache kurz machen und Ihnen in wenigen Worten die Gründe meiner Überzeugung klarlegen. Der Lachs wandert wie die andern Zugvögel.« »Ist der Lachs denn ein Vogel?«
»Ja gewiß, ein richtiger Zugvogel. Er findet sich außerhalb der norrländischen Flüsse, ist ein paarmal im nördlichen Inselmeer im Zugnetz gefangen, wird vor Gotland und auf dem ganzen Wege nach Süden gefischt, also muß er hier vorbeikommen. Nun ist es an Ihnen, ihn mit schwimmenden Langschnüren zu suchen. Haben Sie Lust dazu in der Eigenschaft als mein Assistent gegen Genuß meines Gehalts?« Das letzte kam ganz unvermittelt heraus, aber mit Berechnung, und verfehlte seine Wirkung nicht. »Ich soll Geld verdienen, Mama,« rief das Mädchen in belustigtem Ton, der die wirkliche Freude, die sie empfand, verbergen sollte. »Aber,« fügte sie hinzu, »was wollen Sie denn machen?« »Ich will auf meinem Sofa liegen und Ihnen die Natur zerstören.« »Was wollen Sie?« fragte die Mutter, die falsch gehört zu haben glaubte. »Ich will eine italienische Landschaft für Fräulein Maria machen,« antwortete der Fischmeister. »Und jetzt verlasse ich Sie, meine Damen, um die Skizze zu entwerfen.« Damit erhob er sich und ging mit einer höflichen Verbeugung zum Strande hinunter. »Das ist ein wunderlicher Mensch,« sagte die Mutter, als der Fischmeister sich entfernt hatte. »Ein ungewöhnlicher Mensch zum mindesten,« antwortete das Mädchen, »aber ich glaube nicht, daß es ganz richtig mit ihm ist. Grundsätze scheint er jedoch zu haben und ist im ganzen ein wohlwollender Mann. Was meinst du zu ihm?« »Gib mir mein Knäuel, Kind,« antwortete die Kammerrätin.
»Aber so sage doch etwas … sag, ob er dir gefällt oder nicht,« wiederholte das Mädchen. Die Mutter antwortete nur mit einem halb traurigen, halb resignierten Blick, der ausdrückte: ich weiß nichts. Inzwischen war der Fischmeister nach dem Hafen hinuntergegangen und hatte sein Boot genommen, um nach den Schären hinauszurudern. Die Sommerwärme hatte hier draußen einen Monat lang geherrscht, so daß die Luft heiß war; aber noch kam das Treibeis von Norden, wo ein ungewöhnlich strenger Winter an den Küsten Grundeis erzeugt hatte, das jetzt, während es südwärts schwamm, das Wasser abkühlte, so daß die unteren Luftschichten eine größere Dichtigkeit behielten als die oberen; die Strahlenbrechung hatte dadurch das Aussehen der Schären entstellt und in den letzten Tagen die prachtvollsten Luftspiegelungen hervorgerufen. Diese Schauspiele hatten Veranlassung zu langen Disputen zwischen dem Fischmeister und den Damen gegeben, und schließlich waren die Fischer als die Kompetentesten, da sie diese Naturphänomene von Kind auf gesehen hatten, als Schiedsrichter hinzugerufen worden. Als eines Morgens die hellroten Gneisschären durch Strahlenbrechung in die Höhe gestreckt wurden und infolge der verschiedenen Dichtigkeit der Luftschichten wie die Klippen der Normandie aussahen, verfocht Fräulein Maria die Ansicht, es seien wirklich diese Kalksteinfelsen, die durch ein der Wissenschaft noch unbekanntes Naturgesetz hierher in die Ostsee reflektiert würden. Zugleich war der weiße Schwall der Dünungen an den Strandsteinen durch die Strahlenbrechung vergrößert und vervielfacht worden, so daß es wirklich aussah, als kreuze eine Flottille normannischer Fischerboote unter
den Klippen. Der Fischmeister versuchte vergebens, die einzig richtige Erklärung zu geben und damit den Anschein von etwas Übernatürlichem zu entfernen, denn die Leute wollten aus dem Phänomen die Prophezeiung eines bevorstehenden Unglücks entnehmen; dieser Glaube an ein unglückliches Geschick konnte lähmend auf ihren Unternehmungsgeist wirken, und so sah er sich in die Lage versetzt, als Zauberer auftreten zu müssen, um das Ohr des Volkes zu gewinnen; später wollte er dann das Wunderbare ausscheiden, indem er ihnen erklärte, wie er seine Zauberkünste bewerkstelligt hatte. Deshalb hatte er die Gläubigen gefragt, ob sie auch glauben würden, eine Spiegelung von Italien zu sehen, wenn sie eine italienische Landschaft erblickten, und da die Antwort bejahend gewesen war, beschloß er, das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden und durch einige kleine Veränderungen die Fräulein Maria zum Geburtstag versprochene südländische Landschaft so herzustellen, daß sie bei der nächsten Luftspiegelung in großem Maßstabe am Horizont aufsteigen würde, gesehen durch das kolossale Vergrößerungsglas, das die verschieden dichten Luftschichten boten. Während er in seinem Boot saß, besichtigte er nun den Schwertholm durch sein Diopter, dessen Linsen er bedeutend verstärkt hatte. Es kam zunächst darauf an, das Charakteristische der Formation oder der abgelagerten Gesteinsarten hervortreten zu lassen, und das hatte die Natur teilweise schon besorgt. Ferner brauchte er eine Pinie, eine Zypresse, einen Marmorpalast und eine Terrasse mit einem Spalier von Orangenbäumen.
Nachdem er nun die Kontur der Schäre beobachtet und gezeichnet hatte, stand der Plan deutlich vor ihm, und er landete also mit seinem Boot, in dem er eine Brechstange, eine Schiffsscharre, eine Rolle Zinkdraht, einen Eimer gelben Ocker mit einer großen Teerbürste, sowie Axt, Säge, Nägel und einen Vorrat Dynamitpatronen verstaut hatte. Als er an Land gekommen war und seine Sachen ausgepackt hatte, fühlte er sich wie ein Robinson, der auf die Natur losgehen und einen Kampf mit ihr aufnehmen wollte, aber kräftiger und siegesgewisser, da er alle Hilfsmittel der Kultur bei sich hatte. Nachdem er auf einem Stativ einen Meßtisch und auf diesem das Diopterlineal aufgestellt hatte, machte er sich ans Werk. Den Bergrücken, dessen abschüssige Form die sedimentären Lagerungen des Südens glücklich nachahmte, brauchte er nur von Flechten, wo solche vorhanden waren, reinzuschaben, mußte aber einige horizontale Linien übrig lassen, die dunkler waren als das Grundgestein. Das war keine schwere Arbeit, denn die Schiffsscharre fuhr über die glatte Fläche wie ein Retuschierpinsel über die große Leinwand eines Dekorationsmalers. Bisweilen überkam ihn ein Ekel, daß er Zeit und Kräfte an Kindereien verschwendete, aber die körperliche Anstrengung trieb ihm das Blut in den Kopf, so daß er die Kleinigkeiten größer sah und etwas vom Titanen fühlte, der die Schöpfung stürmte, die Krähenfüße des Urhebers korrigierte, an der Erdachse drehte, so daß Süden ein klein wenig nach Norden kam. Als er so die Bergwand, deren Fläche nur einige Meter lang zu sein brauchte, da sie von den Luftschichten verviel-
facht werden sollte, streifig gemacht hatte, ging er an die Herstellung der Pinie. Auf dem Kamm des Felsenberges stand eine Gruppe halbstämmiger Kiefern, die zusammen nur wie ein Waldsaum sich zu spiegeln pflegten. Es hieß nun, ein halbes Dutzend zu fällen, um die beste, und zwar die, welche sich gegen die Luft abzeichnete, zu isolieren. Die überzähligen abzusägen war die Arbeit einer halben Stunde. Die stehengebliebene war ein schlanker Baum, dessen ganzes Wachstum sich in der Krone konzentrierte, gerade weil die andern, dicht daneben stehenden die Zweigbildung des Stammes gehindert hatten. Jetzt mußte er mit der Axt die Krone lichten, damit die charakteristische Schirmstellung mit ihren Sprossen herauskam. Das war leicht gemacht, doch als er dann sein Werk im Diopter aufs Korn nahm, merkte er, daß der Stil noch nicht vollkommen war, sondern daß die Wipfelzweige mit Zinkdraht nach oben und die Seitenzweige etwas nach unten und nach außen gesteift werden mußten. Als die Pinie fertig war, trank er ein Glas Wein und sah sich dann nach dem Rohmaterial für die Zypressen um. Das ergab sich bald von selbst in ein paar kegelförmigen Wacholdern, die er nur so zu wählen brauchte, daß sie sich gegen die Luft abzeichneten, worauf Beil und Messer putzten. Da aber sie sehr hell aussahen, nahm er einen Eimer Wasser, in dem er Kienruß auflöste; mit dieser Lösung besprengte er sie, bis sie eine richtige Kirchhofsfarbe angenommen hatten. Als er dann sein Werk betrachtete, wurde ihm unheimlich zumut; ihm fiel eine dunkle Geschichte von dem Mädchen ein, das auf Brot trat, und als die weißen Möwen über seinem Kopf ein schreckliches Geschrei erhoben, dachte er an die bei-
den schwarzen Raben, die vom Himmel kamen, um die Seele in die Hölle zu holen. Nachdem er eine Weile gesessen hatte, so daß das Blut wieder ins Gehirn zurückgekehrt war, lächelte er über sein Werk und seine kindische Furcht. Wenn die Natur bei der Entstehung der Arten nicht ganz so rasch zu Werk gegangen war, so bedeutete das nicht Mangel an Willen, sondern nur an Können. Jetzt kam der Marmorpalast an die Reihe; aber da er von diesem ausgegangen war und sich zu Hause auf seinem Sofa alles ausgedacht hatte, so war diese Arbeit nicht sonderlich schwerer als das übrige. Die Kalkschicht lag gerade recht, um Fassade zu werden, freilich nur einige Quadratmeter breit, aber mehr war nicht nötig; es brauchten nur die Euritplatten, die durch Verwitterung sich abgespalten hatten, vom Kalk gelöst zu werden. Das Brecheisen erwies sich anfangs als ausreichend, am Fuß jedoch mußte er eine Dynamitpatrone in die Kluft legen. Als der Schuß losging und die Splitter niederprasselten, spürte er etwas von der Sehnsucht des Dichters, die Pulverwagen aller stehenden Heere auf einmal in einen Vulkan hineinzuschleudern und die Menschheit so von den Schmerzen des Daseins und den Mühen der Entwicklung zu befreien. Jetzt war die Marmorplatte bloßgelegt, und die Kristalle des körnigen Kalksteins glitzerten im Sonnenschein wie Hutzucker. Mit seinen Farbtöpfen führte er nun einen unbehauenen Sockel aus und zeichnete zwei kleine quadratische Fenster ein. Auf dem Bergschemel oben rammte er zwei Pfähle in den Boden, legte einen dritten darüber und band ihn fest, so daß das Ganze eine Pergola bildete. Dann brauchte er nur
noch die klafterlangen Ranken der Mehlbeere hochzuheben und um die Pfähle zu schlingen; da war die Weinrebe an ihrem Platz und hing in Gewinden herunter. Schließlich retuschierte er das Terrain mit einer Flasche Salzsäure, mit dem nötigen Wasser verdünnt, wodurch im grünen Grase eine leuchtend weiße Schattierung entstand, die Flecken von Bellis oder Galanthus vorstellen sollte, das Charakteristikum der römischen Campagna, wenn der »zweite Frühling« sich nach Schluß der Weinlese im Oktober einstellte. Und damit war seine Arbeit fertig. Aber es hatte bis zum Abend gedauert. Sollte das Wunder indes die richtige Wirkung tun, so war noch erforderlich, sein Eintreten im voraus zu prophezeien, am allerbesten: den Tag zu bestimmen. Nun wußte er, daß im südlichen Europa große Hitze herrschte, und daß infolgedessen ein nördlicher Wind nicht lange ausbleiben konnte. Es war jetzt eine Zeitlang Ostwind gewesen, weil der Barometerdruck auf der Nordsee niedrig gewesen war. Nach den Berichten lag bei Arholma Treibeis; sobald der Wind einige Striche nach Norden umschlug, mußte dies Treibeis der Strömung folgen, die westlich um Aaland herumgeht, wo der Bottnische Meerbusen sich in die Ostsee entleert. Stellte sich nur am Abend eines Tages nördlicher Wind ein, so würde er sicher ein paar Tage anhalten, und da mit ihm stets klare Luft verbunden war, konnte man also zum mindesten am Tage vorher das Auftreten des Phänomens prophezeien; war man jedoch erst so weit, so war die Stunde eine Kleinigkeit, denn eine Spiegelung tritt stets einige Stunden nach Sonnenaufgang auf, gewöhnlich zwischen zehn und zwölf Uhr.
Als er nun seine Kammer betrat, verschloß er die Tür, um sich an seine Arbeit zu setzen, seine große Arbeit, die er seit zehn Jahren plante und bis zu seinem fünfzigsten Jahr vollendet haben wollte; das Ziel, das sein Leben aufrecht erhielt und das er wie ein Geheimnis hütete. Er freute sich bei dem Gedanken, einige Stunden sich selbst besitzen zu können; denn in den Wochen, die seit der Ankunft der beiden Frauen vergangen waren, hatte er jeden Abend damit verbracht, ihnen Gesellschaft zu leisten, und was Ausruhen und Vergnügen hätte sein sollen, war ein Zwang und eine Arbeit geworden. Das junge Mädchen liebte er und wollte mit ihr in der Ehe leben, in einer vollständigen Vereinigung, in der die freien Stunden vertraulicher Ruhe gehörten; doch dieser Zustand der Halbheit, bei dem er sich zu bestimmten Stunden einfinden und, ob disponiert oder nicht, sie unterhalten mußte, quälte ihn wie eine Dienstpflicht. Sie hatte sich an ihn geklammert und wurde nie müde, zu empfangen, da er die Fähigkeit besaß, stets neu und unterhaltend zu sein; er aber, der nie etwas bekam, mußte auf die Dauer das Bedürfnis empfinden, sich zu erneuen. Doch wenn er sich dann zurückzog, wurde sie unruhig, nervös und quälte ihn mit Fragen, ob sie aufdringlich sei, worauf er als gut erzogener Mann nicht gut ja antworten konnte. Jetzt öffnete er seinen Manuskriptenschrank, in dem wohlgeordnet die Mappen mit Aufzeichnungen lagen: kleine Zettel mit improvisierten Gedanken, wie bei einem Herbarium auf halben Bogen befestigt; es machte ihm Spaß, dies alles zu ordnen und nach neuen Einteilungsgrundsätzen wieder umzuordnen, um zu erforschen, ob wirklich die Erscheinungen sich auf so vielerlei Art schematisieren ließen, wie das Gehirn
wollte, oder ob sie nur nach einem einzigen Einteilungsprinzip zu ordnen waren, so wie die Natur sie geordnet hatte, ob also die Natur tatsächlich nach einem bestimmten Gesetz vorgegangen sei. Diese Beschäftigung erweckte in ihm die Vorstellung, er sei der wirkliche Ordner des Chaos, der Licht und Finsternis schied; das Chaos habe erst mit der Entstehung des unterscheidenden Bewußtseinsorgans aufgehört, zu einem Zeitpunkt, als Licht und Finsternis in Wirklichkeit noch nicht geschieden waren. Er berauschte sich an diesem Gedanken, fühlte, wie sein Ich wuchs, wie die Gehirnzellen sich dehnten, ihre Schale sprengten, sich vermehrten und neue Arten von Vorstellungen bildeten, die dereinst als Gedanken in die Welt hinausgehen, als Gärpilze in fremde Gehirnmasse fallen, und wenn nicht früher, so nach seinem Tode Millionen zu Beeten für seine Gedankensaat machen sollten … Es klopfte an die Tür, und mit exaltierter Stimme, als sei er bei einem heimlichen Stelldichein gestört worden, fragte er, wer da sei. Ein Gruß von den Damen mit der Anfrage, ob der Herr Fischmeister nicht hinunterkommen wolle. Darauf antwortete er mit einem Gegengruß, er habe heute abend keine Zeit, weil er arbeiten müsse, es sei denn, daß ein zwingender Grund seine Anwesenheit erfordere. Dann blieb es eine Weile still. Da er bestimmt zu wissen glaubte, was jetzt kommen werde, gab er die unterbrochene Arbeit auf und räumte sein Manuskript weg; mit dieser Beschäftigung war er gerade fertig, als er den Schritt der Kammerrätin auf der Treppe hörte. Statt ein Klopfen abzuwarten, öffnete er die Tür und begrüßte sie mit einer Frage. – »Fräulein Maria ist krank?«
Die Mutter stutzte, faßte sich aber schnell und bat den Doktor, mitzukommen und nach ihr zu sehen, da es unmöglich sei, einen Arzt holen zu lassen. Der Fischmeister war nicht Mediziner, hatte sich aber durch die Elemente der Pathologie und Therapie hindurchgelesen, hatte sich selbst und alle Kranken beobachtet, die in seinen Gesichtskreis gekommen waren, hatte über die Natur der Krankheiten und Heilmittel philosophiert und schließlich eine Therapie aufgestellt, die er für sich selbst anwendete. Er versprach deshalb, in einer halben Stunde zu kommen und Heilmittel mitzubringen, als er gehört hatte, daß das Mädchen in Krämpfen liege. Es war nämlich für ihn nicht schwer gewesen, die Natur der Krankheit zu erraten. Da die erste Bestellung nichts von einer Erkrankung zu melden gehabt hatte, mußte diese zwischen den beiden Botschaften eingetreten und eine Folge seiner Weigerung, zu kommen, sein, also ein psychisches Übelbefinden, das er so gut kannte und das unter dem noch unbestimmten Namen Hysterie ging. Ein kleiner Druck auf den Willen, ein unerfüllter Wunsch, ein durchkreuzter Plan, und sofort trat eine allgemeine Depression ein, bei der die Seele die Schmerzen in den Körper zu verlegen versuchte, ohne sie jedoch lokalisieren zu können. Er hatte in der Pharmakodynamik so oft neben dem Namen des Heils mittels und seiner Wirkung kleine wichtige Zusätze gefunden wie: »in noch nicht bekannter Weise« oder »Wirkungsart unvollständig bekannt« und hatte durch Beobachtung und Nachdenken herauszufinden geglaubt, daß das Heilmittel gerade auf Grund der Einheit von Geist und Materie chemisch-dynamisch und psychisch zugleich wirke. Die Medizin
einer neueren Zeit hatte das Heilmittel oder die materielle Unterlage gestrichen und im Hypnotismus sich einer rein psychischen oder in Diät und Körperbewegungen einer vulgären, oft schädlichen mechanischen Methode zugewandt. Diese Übertreibungen hielt er für notwendige und wohltuende Übergangsformen, obwohl die Versuche ihre Opfer gefordert hatten, zum Beispiel, wenn man durch kaltes Wasser nervöse Personen noch mehr aufreizte, statt sie durch warme Bäder zu beruhigen, oder Schwache durch gewaltsame Promenaden in rauher Luft ermüdete. Er glaubte zu dem Schluß gekommen zu sein, daß die alten Heilmittel noch gewissermaßen, populär ausgedrückt, als Anschauungsmaterial dienen könnten, um Stimmungen hervorzurufen und zu ändern. Wie die Gruppe der Adstringenzien tatsächlich eine Zusammenziehung des Magensacks bewirkte, so rief sie gleichsam auch eine Konzentrierung der zerstreuten Kräfte der Seele hervor, was der erschlaffte Trinker, der am Morgen sein abgelaufenes Uhrwerk mit einem Bittern wieder aufzieht, aus Erfahrung weiß. Diese Frau fühlte sich körperlich leidend, ohne es direkt zu sein. Deshalb stellte er jetzt eine Serie von Heilmitteln zusammen, von denen das erste ein wirkliches physisches Übelbefinden hervorrufen sollte, um die Patientin zu zwingen, den krankhaften Seelenzustand aufzugeben und die Krankheit im Körper zu lokalisieren. Zu diesem Zweck entnahm er seiner Hausapotheke die widrigste von allen Drogen, nämlich Teufelsdreck, die am besten den Zustand eines allgemeinen Unwohlseins erzeugen kann, und in so starker Dosis, daß wirkliche Krämpfe entstehen mußten, das heißt: der ganze Körper mit Geruchssinn und Geschmack würde
sich gegen diesen dem Körper fremden Stoff empören und alle Funktionen der Seele sollten ihre Aufmerksamkeit darauf richten, ihn zu entfernen. Damit würden dann die eingebildeten Schmerzen vergessen sein, und es galt nur noch, nacheinander Übergänge von der einen widrigen Empfindung zu immer schwächeren hervorzurufen, bis schließlich die Befreiung von dem letzten Stadium durch eine emporsteigende Skala kühlender, erfrischender, lindernder, mildernder Mittel ein vollkommenes Lustgefühl erzeugte wie nach überstandenen Mühen und Gefahren, an die die Erinnerung lieblich ist. Nachdem er sich ein weißes Kaschmirjackett angezogen und ein cremefarbenes Halstuch mit matt amethystlila Streifen umgeknotet hatte, legte er zum erstens mal seit Ankunft der Damen sein Armband an. Warum all das, konnte er nicht sagen; aber er tat es unter dem Einfluß einer Stimmung, die von dem Krankenbette hergeholt war, das er besuchen wollte, und in die er sich versetzt hatte. Und als er sich nun im Spiegel sah, ohne sein Gesicht zu beachten, empfand er, daß sein Äußeres mild, sympathisch, aber auch ungewöhnlich wirkte und die Aufmerksamkeit auf sich zog, ohne eine nervöse Person aufzuregen. Darauf packte er seine Requisiten zusammen wie ein Magier, der hingeht, um Kunststücke zu machen, und begab sich an das Krankenbett. Als er in die Kammer geführt wurde, sah er das Mädchen auf dem Sofa liegen, mit einem persischen Morgenrock bekleidet und mit gelöstem Haar. Die Augen waren unnatürlich groß und starrten den Eintretenden verächtlich an.
Der Fischmeister fühlte sich einen Augenblick verlegen, aber nur einen Augenblick, dann ging er auf sie zu und faßte ihre Hand. »Wie ist Ihnen, Fräulein Maria?« fragte er teilnehmend. Sie schärfte das Auge, als wolle sie durch ihn hindurchsehen, antwortete aber nicht. Er holte seine Uhr heraus, zählte den Puls und sagte: »Sie haben Fieber.« Das log er, aber er mußte ihr Vertrauen gewinnen; das gehörte zur Kur. Das Gesicht des Mädchens veränderte auch sofort den Ausdruck. »Ob ich Fieber habe! o ich glaube, ich verbrenne!« Sie hatte klagen dürfen, und die feindliche Stimmung gegen den Eintretenden war gewichen, so daß der Kontakt hergestellt werden konnte. »Wollen Sie versprechen, meinen Verordnungen zu gehorchen, so will ich Sie heilen,« setzte der Fischmeister das Gespräch fort, während er seine Hand auf ihre Stirn legte. Bei dem Wort gehorchen fühlte er, wie die Patientin zusammenzuckte, als wolle sie keinesfalls gehorchen, aber im selben Augenblick glitt das Armband unter der Manschette hervor und der Widerstand der eingebildeten Kranken hörte auf. »Tun Sie mit mir, was Sie wollen,« antwortete sie unterwürfig, während sie die Augen auf die goldene Schlange gerichtet hielt, die sie faszinierte und ihre Furcht vor etwas Unbekanntem erregte. »Ich bin nicht Arzt von Beruf, wie Sie wissen, aber ich habe die Kunst studiert und weiß so viel, wie für diesen Fall nötig ist. Hier habe ich eine Arznei, die sehr schwer zu nehmen ist, aber
unfehlbar zu sein pflegt. Ich bin kein Geheimniskrämer und will Ihnen sagen, was ich Ihnen eingebe. Es ist Gummiresina (Asa foetida), aus der Wurzel eines vieljährigen Krautes bereitet, das im steinigen Arabien wächst.« Das Mädchen horchte bei dem Wort Arabien auf, das vermutlich irgendwelche Gedanken an Wohlgerüche in ihr weckte, die Lady Macbeths stinkendes Verbrechen nicht zu übertäuben vermochten. Sie nahm deshalb den Löffel und roch an dem Inhalt. Im selben Augenblick aber warf sie den Kopf zurück und rief: »Ich kann nicht!« Er legte seinen Arm um ihren Nacken, kräftig und sanft, hielt ihr noch einmal den Löffel hin und redete ihr zu: »Zeigen Sie jetzt, daß Sie ein braves Kind sind!« Darauf flößte er ihr die Arznei ein, ohne daß sie Widerstand hätte leisten können. Sie fiel auf das Sofapolster zurück, und ihr Körper wand sich unter den Schmerzen des widrigen Eindrucks, den das nach Knoblauch riechende Harz hervorgerufen hatte; ihr Gesicht drückte ein Entsetzen aus, als hätten alle Übel und Widerwärtigkeiten dieser Welt sich über sie ergossen. Mit flehender Stimme bat sie um Wasser, um sich von der Qual zu befreien. Das bekam sie nicht, sondern sie mußte sich hinlegen und sich auf Gnade und Ungnade den unangenehmen Gefühlen überlassen, die das Heilmittel hervorgerufen hatte. Als er sie nun vom Ekel aufgelöst sah, holte er seine Droge Nummer zwei hervor. »Jetzt, Fräulein Maria, ist die Wüstenwanderung im steinigen Arabien zu Ende und Sie sollen auf die Alp hinauf und
Bergluft trinken, die sich in der scharfen, sonnenscheingelben Wurzel des gesunden Enzians konzentriert,« sagte der Fischmeister mit ermunternder, mannhafter Stimme. Willenlos nahm das Mädchen die bittre Droge und fuhr zusammen, als habe man ihr ein Messer in den Leib gestoßen. Doch sofort richtete sie sich auf, als seien ihre zerstreuten Kräfte gewaltsam gesammelt und die Energie zurückgekehrt. Das starke Mittel hatte den widerlichen Geschmack des ersten vertrieben, reizte aber die Magenhäute durch seine Schärfe und beschleunigte den Puls. »Jetzt wollen wir das Feuer mit Decken löschen,« fuhr der Fischmeister fort. »Und darum gehen wir an den Meeresstrand der Bretagne, um uns aus der milden Caraghenalge Balsam zu holen. Fühlen Sie, wie der Leim sich schützend und weich auf die angegriffenen Magenwände legt; und spüren Sie den Duft der Salze des Meeres?« Eine stille Ruhe breitete sich über das erhitzte Gesicht der Patientin, und da der Arzt sie nun für kräftig genug hielt, auf seine Worte zu hören, begann er von den Gestaden der Bretagne zu sprechen, von Segelfahrten auf dem Atlantischen Ozean, vom Leben bei den Fischern in Quimper und von Seevögeljagden bei Sarzeau. Sie folgte seiner Schilderung, schien aber noch etwas ermüdet, weshalb er abbrach und ihr eine Symphonie gab, wie er es nannte, bestehend aus der klassischen Raute, bekannt bei den Brautpaaren des Mittelalters als Weinwürze, der himmlischen Angelika, der nach Familie duftenden Krauseminze, einer Spur Cardui benedicti, um die Frische zu erhalten, und einem Gran Wacholderöl, um vom Wald erzählen zu können.
Er massierte sie gleichsam mit Stimmungen, riß sie aus krankhaften Gedanken, indem er sie in der Phantasie von Ort zu Ort schweifen, die Alte und die Neue Welt bereisen, sie alle möglichen Landschaften, Volksstämme, Zonen sehen ließ. Als sie müde schien, gab er ihr einen Löffel Zitronensaft mit etwas Zucker, der kühlte und linderte, so daß sie nach der entsetzlichen halben Stunde, die sie durchgemacht hatte, die einfache Erfrischung als einen großen Genuß hinnahm, der ihr ein Lächeln entlockte. »Drehen Sie sich jetzt nach der Wand,« bat der Fischmeister, »und tun Sie fünf Minuten, als schliefen Sie, während ich hinausgehe und mit der Kammerrätin spreche.« Der Fischmeister, der seine Kräfte versagen fühlte, mußte in die frische Luft hinaus, um sich zu erholen. Und er brauchte nur einen Blick über den halbhellen Nachthimmel zu werfen, über das stahlblaue Meer, brauchte nur die Augen zu schließen und zu versuchen, an nichts zu denken, um zu fühlen, wie das in Unordnung gebrachte Gehirn sich gewissermaßen wieder zurechtlegte und seinen wachsenden, leidenden Gang vorwärts fortsetzte, nachdem es ein Stück zurückgedreht worden war. Während er so mit verkreuzten Armen halbschlafend dastand, hörte er doch in seinem einen Ohr einen Gedanken summen: »Ein Kind von vierunddreißig Jahren!« Dann erwachte er und ging wieder ins Haus hinein. Fräulein Maria saß auf dem Sofa, das aufgelöste Haar gefallsüchtig um sich drapiert, sah aber sonst vollkommen gesund und vergnügt aus. Der Fischmeister nahm jetzt aus seinem Korbe eine Flasche Syrakuser Wein und ein Paket russische Zigaretten.
»Jetzt müssen Sie tun, als wenn Sie gesund sind,« sagte er, »und als wenn wir uns nach einer langen Reise treffen. Sie trinken ein Glas süßen sizilianischen Wein und rauchen eine Zigarette, denn das gehört zur Kur.« Das Mädchen schien eine Anstrengung zu machen, unbekannte Leiden zu verbergen, trank aber, während sie immer die Augen auf das Armband gerichtet hatte. »Sie sehen mein Armband an,« brach der Fischmeister das Schweigen. »Nein, das tue ich nicht,« leugnete das Mädchen. »Ich habe es von einer Frau bekommen, die natürlich tot ist, denn sonst hätte ich es zurückgegeben.« »Sie haben geliebt?« fragte das Mädchen stark zweifelnd. »Ja, aber mit offnen Augen! Wenn man es sonst lobenswert findet, seine Vernunft zu brauchen, warum sollte man sie dann auslöschen, wenn man einen der wichtigsten Schritte im Leben tun will?« »Ach so, man soll in seiner Liebe berechnend sein?« »Sehr, unglaublich berechnend, wenn es sich darum handelt, einen der wildesten Triebe loszulassen!« »Triebe?« »Triebe! Jawohl!« »Sie glauben nicht an die Liebe?« »Sie stellen Fragen, auf die es keine Antwort gibt! An die Liebe im allgemeinen glauben? Was meinen Sie damit? Es gibt eine Menge Arten von Liebe, die so entgegengesetzt sind wie schwarz und weiß! Ich kann nicht an beides zugleich, an alle zugleich glauben.« »Und die höchste Art?«
»Die intellektuelle; in drei Stockwerken aber wie das englische Haus. Hoch oben das Arbeitszimmer, darunter das Schlafzimmer und im Erdgeschoß die Küche.« »Wie praktisch! Aber die Liebe, die große, ist nicht berechnend, ich habe sie mir als das höchste vorgestellt, als einen Sturm, einen Blitzschlag, einen Wasserfall!« »Als eine rohe, ungezähmte Naturkraft? So offenbart sie sich bei den Tieren und bei den niedrigeren Varietäten des Menschen …« »Niedrigeren? Sind nicht alle Menschen gleich?« »Doch, doch! Alle Menschen sind gleich wie zwei Beeren; Jünglinge und Greise, Männer und Frauen, Hottentotten und Franzosen. Gewiß sind sie gleich! Sehen Sie nur uns beide an! Vollständig gleich, bloß der Bart unterscheidet uns! Verzeihen Sie, mein Fräulein, ich sehe jetzt, daß Sie gesund sind, und verlasse Sie. Schlafen Sie wohl!« Er war aufgestanden und hatte seinen Hut genommen, aber im nächsten Augenblick stand das Mädchen an seiner Seite und umschloß seine beiden Hände mit den ihren, und mit den gleichen Blicken, mit denen sie ihn das erstemal besiegt hatte, bat sie: »Bleiben Sie!« Unter diesen brennenden Blicken und diesem Händedruck verspürte er etwas, was nach seiner Meinung ein junges Mädchen fühlen muß, wenn es den feurigen Angriffen eines Verführers ausgesetzt ist. Er wurde verwirrt, und es erhob sich in ihm ein Gefühl verletzter Scham, gekränkter Männlichkeit. Er machte seine Hände los, zog sich zurück und sagte mit ruhiger Stimme, die vor erkünstelter Kälte schneidend war: »Besinnen Sie sich!«
»Bleiben Sie oder ich suche Sie in Ihrem Zimmer auf!« ertönte die exaltierte Antwort des Mädchens, die eine Drohung zu enthalten schien, gegen die es keinen Einspruch gab. »Dann schließe ich meine Tür zu!« »Sind Sie ein Mann?« erklang in einem harten Lachen die volle Herausforderung. »Ja, in so hohem Grade, daß ich sowohl der Wählende als auch der Angreifende sein will, und ich liebe es nicht, verführt zu werden!« Damit ging er und hörte hinter sich ein Gepolter, als sei ein menschlicher Körper umgefallen und habe sich an Möbeln gestoßen. Als er draußen war, wäre er beinahe umgekehrt, denn er befand sich infolge der seelischen Anstrengung in einem Schwächezustand, der ihn für fremde Leiden sehr empfänglich machte. Als er aber einige Sekunden allein geblieben war und sich gesammelt hatte, so daß seine Kraft wiederkehrte, fühlte er sich fest entschlossen, dies Verhältnis aufzugeben, das sein ganzes Seelenleben in Anspruch zu nehmen drohte, und beizeiten die Verbindung mit einer Frau abzubrechen, die so deutlich gezeigt hatte, daß es nur sein Körper war, den sie begehrte, während sie seine Seele, die er diesem leblosen Fleischbild eingießen wollte, ausspie. Sie genoß den Klang seiner Stimme, aber seine Gedanken nahm sie nur in solchen Fällen in sich auf, wenn sie von unmittelbarem Nutzen waren; er hatte sie oft dabei überrascht, daß sie die Linien seiner Figur betrachtete, und sie pflegte bisweilen gedankenlos seinen Oberarm zu umspannen, dessen schwellende Muskeln einen Wulst unter dem weichen Tuch bildeten. Er erinnerte sich jetzt der vielen Herausforderungen beim Baden, beim Segeln,
beim Besteigen des Ausgucks, den er nie besuchte, weil es sein Nervensystem beunruhigte, ohne hinreichende Stütze auf einer Höhe zu stehen. Und nachdem er nun heute abend diesen Ausbruch unbeherrschter Mutterwut erlebt hatte, erkannte er mit Besorgnis, daß diese Frau nicht zu der entwickelten Rasse gehörte, die ihre Liebe zu einem bestimmten Mann individualisieren kann, daß er für sie nur die Rolle des unvermeidlichen Geschlechtsgegensatzes im allgemeinen spielte. Er war nach dem Strande hinuntergewandert, um sich abzukühlen, aber die Nacht war lau. Das Meer hatte sich gelegt und im Nordwesten hing der Himmel schwach melonenfarben, draußen im Osten hingegen über dem Wasser ruhte die Nacht. Die Strandklippen waren noch warm, und er setzte sich in einen dieser vielen Ruhestühle, die der Frost gesprengt und die Wogen geschliffen hatten. Das soeben Durchlebte zog an ihm vorüber, und jetzt, wo das Gemüt sich beruhigte, sah er den Vorfall in einem andern Licht. Es war doch immer sein Traum gewesen, in solchem Grade die Liebe einer Frau zu erregen, daß sie bettelnd, kriechend zu ihm käme und sagte: »Ich liebe dich; würdige mich deiner Liebe!« Das war ja die Ordnung der Natur, daß die Schwächere sich demütigen Sinns dem Stärkeren nahte und nicht umgekehrt, obwohl das Gegenteil noch bei allen der Fall war, die in Überbleibseln der abergläubischen Vorstellung lebten, daß die Frau etwas mystisch Erhabenes sei; und doch hatte die Forschung festgestellt, daß das Mystische nur Wirrnis und das Erhabene nur eine Dichtung sei, die dem komprimierten Begehren des männlichen Triebes entsprang. Jetzt war sie so gekommen, wie er es erträumt hatte; die von Vorurteilen befreite Frau einer neuen Zeit hatte die glühende
Natur ihres ganzen Innern gezeigt, und er hatte sich zurückgezogen. Warum? Vielleicht weil das Gesetz der Tradition und der Gewohnheit ihn noch beherrschte! Denn es lag ja nichts Unkeusches in ihrem Ausbruch, keine Spur vom Feilbieten der Dirne, keine unzarte Gebärde oder freche Miene! Sie liebte ihn auf ihre Art! Was konnte er mehr verlangen? Und mit einer solchen Liebe konnte er sich getrost an sie binden, da vielleicht nicht viele Männer sich rühmen konnten, eine solche Flamme entfacht zu haben. Aber er fühlte keinen Stolz darüber, sie erobert zu haben, denn er kannte seinen Wert, er fühlte eher eine drückende Verantwortung, von der er sich befreien wollte. Und deshalb mußte er reisen. In Gedanken packte er schon seine Sachen. Er räumte den Schreibtisch ab und sah das leere grüne Tuch; nahm die Lampe fort, die am Abend Licht und am Tage funkelnde Farbe verbreitet hatte. Und es entstand ein leerer Raum. Entkleidete die Wände ihrer Bilder und Teppiche, daß die weißen, tristen, mathematischen Figuren erschienen; nahm die Bücher von den Regalen, daß die unheimliche Leere ihn angrinste, die Einförmigkeit, die Nacktheit, die Armut! Und dann kam die Ermüdung von der körperlichen Anstrengung, die Furcht vor der Reise mit ihrer lähmenden Wirkung; die Angst vor dem Unbekannten, in das er jetzt geschleudert werden würde, das Vermissen des Gewohnten und ihrer Gesellschaft. Und er sah das junge Mädchen in ihrer kindlichen und doch majestätischen Schönheit, hörte ihre Klage, sah ihre blaßgewordenen Wangen, die nach Verlauf einiger Zeit ein anderer wieder zum Erröten bringen würde. So hatte er eine ganze Viertelstunde lang, die ihm wie viele Stunden erschienen war, alle Qualen der Trennung durchlitten,
als er im Halbdämmer der Sommernacht eine Frauengestalt oben auf dem Berge sich gegen den hellen Himmel abzeichnen sah. Die herrlichen Konturen, die er so gut kannte, nahmen noch edlere Proportionen an vor der jetzt blaßgelben Wolke, die ebensogut das Ende eines Sonnenuntergangs wie der Beginn eines Sonnenaufgangs sein konnte. Sie schien vom Zollhause zu kommen und etwas oder jemanden zu suchen. Barhäuptig, das Haar noch um die Schultern hängend, spähend den Kopf hin und her werfend, schien sie plötzlich entdeckt zu haben, was sie suchte, und mit raschen Schritten stürzte sie an den Strand hinunter, wo der Wiedergefundene regungslos saß, ohne die Macht, zu fliehen, ohne den Willen, sich zu erkennen zu geben. Und als sie bei ihm angelangt war, fiel sie nieder, legte den Kopf auf seine Knie und sprach wild, scheu, flehend, als wolle sie vor Scham vergehen, ohne ihre Zunge zügeln zu können. »Gehen Sie nicht von mir,« schluchzte sie, »verachten Sie mich, aber haben Sie Erbarmen! Lieben Sie mich, lieben Sie mich, sonst gehe ich dahin, von wo ich nie wiederkomme!« Jetzt erwachte in ihm das ganze unerhörte Liebesverlangen des Mannesalters. Aber als er das Weib zu seinen Füßen sah, überkam ihn auch die ererbte Ritterlichkeit des Mannes, der in seiner Gattin die Herrin sehen will, nicht die Sklavin, und er stand auf, hob sie auf, legte seinen Arm um sie und drückte sie an sich. »An meine Seite, Maria, nicht zu meinen Füßen,« sagte er. »Du liebst mich, denn du wußtest, daß ich dich liebe, und jetzt bist du mein, fürs Leben. Du kommst nie lebend aus meinen Händen, hörst du! Für das ganze lange Leben! Und jetzt setze ich dich auf meinen Thron und gebe dir Macht über mich und das meine, über meinen Namen und mein
Eigentum, meine Ehre und mein Werk. Aber vergißt du, daß ich selbst dir die Macht verliehen habe und mißbrauchst du sie oder gibst sie ab, so stürze ich dich wie einen Tyrannen, so tief, daß du nie mehr die Sonne leuchten sehen wirst. Doch das kannst du nicht, denn du liebst mich, nicht wahr, du liebst mich?« »Er hatte sie auf den Felssessel gesetzt, hatte die Knie gebeugt und den Kopf in ihren Schoß gelegt. »Ich lege meinen Kopf auf deine Knie,« fuhr er fort, »doch schneide mir nicht das Haar ab, wenn ich an deiner Brust schlafe; laß mich dich emporheben, aber zieh mich nicht hinunter; werde besser als ich, denn das kannst du, da ich dich vor der Berührung mit dem Schmutz und Elend der Welt schütze, in das ich hinaus muß; adle dich durch die großen Eigenschaften, die mir fehlen, dann werden wir zusammen ein vollkommenes Ganzes?« Seine Gefühle begannen die kühle Farbe der Gedanken anzunehmen und schienen ihre Aufregung löschen zu wollen. Sie unterbrach ihn, indem sie ihr glühendes Gesicht an seins legte, und als er ihre Liebkosung nicht erwiderte, drückte sie einen brennenden Kuß auf seinen Mund. »Du Kind,« sagte sie, »wagst du nicht zu küssen, wenn niemand es sieht?« Da sprang er auf, packte sie um den Nacken und küßte sie immer wieder auf die Kehle, bis sie sich losmachte und sich mit einem Lachen aufrecht vor ihn hinstellte. »Du bist ja ein richtiger kleiner Wilder,« schalt sie. »Der Wilde ist da, hüte dich,« antwortete er, und dann faßte er sie um die Taille, und sie wanderten durch den warmen Sand, der um ihre Füße wisperte.
Jetzt blitzte in der Ferne das Leuchtfeuer, nachdem die Luft sich abgekühlt hatte und der Nebel gesunken war. Draußen in den Klippen hörte man die Seehunde wie Schiffbrüchige schreien. Sie gingen eine Stunde lang und länger, und sie sprachen über die erste Begegnung, über die heimlichen Gedanken dann und wann, über die Zukunft, über den kommenden Winter, über Reisen ins Ausland; und dabei kamen sie auf die Landzunge hinaus, wo der Steinhaufen mit dem Kreuz zum Gedächtnis an einen Schiffbruch errichtet war, bei dem Menschen ertranken. Plötzlich sahen sie zwei Schatten auftauchen, fortschleichen und verschwinden. »Das war Vestman mit seiner Schwägerin,« sagte Borg. »Pfui! wenn ich der Mann wäre, würde ich sie ersäufen!« »Ihn nicht?« warf das Mädchen hin, schärfer als sie wollte. »Er ist nicht verheiratet!« antwortete Borg kurz; »das ist der Unterschied.« Es wurde still, unangenehm still, so daß man nach einem Gesprächsthema zu suchen begann; unterdes flüsterten die Gedanken, die sich aus dem Bann gelöst hatten, und er sehnte sich bereits zurück nach der Verzauberung, dem Rausch, die blind machten, die Grau in Rosenrot verwandelten, Piedestale bauten, Goldränder auf gesprungenes Porzellan malten. Nun machten sie an der Bergwand kehrt, um den Rückweg anzutreten. Der Wind, der geschlafen hatte, kam ihnen jetzt entgegen, und in seiner Beklemmung fühlte der erwachte Liebhaber, wie kühl es wehte. Es war der Nordwind, den er erwartet hatte und den er jetzt als Retter begrüßte. Da der Widerspruch des Mädchens in einer Lebensfrage gewisser-
maßen etwas in ihm zerbrochen hatte, so daß er fühlte, ihr Wesen könne nur dem seinen angelötet, nicht mit ihm verschmolzen werden, es sei denn, er gebe zuvor den Widerstand auf und liefere sich ganz und gar aus, ergriff er jetzt in einer Sekunde die Gelegenheit, sich wieder zu erheben, ohne sie niederzutreten. »Warum hassen mich die Leute?« fragte er ganz unvermittelt. »Weil du ihnen überlegen bist,« entschlüpfte es dem Mädchen, ohne daß sie merkte, was für ein Geständnis sie ablegte. »Das glaube ich nicht,« antwortete er, »denn ihr Verstand reicht nicht aus, meine Überlegenheit zu erkennen.« »Ihr Haß kann sie blind machen!« »Ausgezeichnet geantwortet! Aber wenn sie ein Wunder sähen, würden ihnen dann die Augen aufgehen? »Vielleicht! Wenn das Wunder Furcht erregt.« »Nun, so sollen sie das Wunder haben! Morgen um zehn Uhr wird das Zeichen geschehen!« »Welches?« »Das ich dir versprochen habe!« Das Mädchen blickte ihm bestürzt ins Gesicht, als glaube sie nicht, was er sagte. Dann wendete sie lachend ein: »Wenn es aber trübes Wetter wird?« »Das wird es nicht,« antwortete der Fischmeister bestimmt. »Aber da wir jetzt schon so weit gekommen sind, daß wir über schönes Wetter sprechen, so können wir auch daran denken, was deine Frau Mutter morgen hierzu sagen wird.« »Sie mischt sich nicht hinein,« antwortete das Mädchen schnell.
»Sonderbar, daß eine Mutter sich nicht darum kümmert, mit welchem Mann ihre Tochter eine Verbindung eingeht und wessen Namen sie tragen wird. Kann ihr das gleichgültig sein?« »Jetzt gute Nacht!« unterbrach Fräulein Maria und hielt den Mund hin, um geküßt zu werden. »Morgen beizeiten machst du deinen Besuch, nicht wahr?« »Bestimmt,« antwortete er, »ganz bestimmt!« Und sie ging. Er aber blieb auf seinem Platz stehen und sah ihre schlanke Gestalt sich gegen die jetzt schwefelgelbe Wolke abheben, als sie die Klippe hinanstieg; und als sie ganz oben angelangt war, drehte sie sich um, warf ihm eine Kußhand zu und schien dann hinter dem Abgang zu versinken, bis er nur noch ihren Kopf mit dem gelösten Haar sah, das im Nordwind flatterte.
Achtes Kapitel Als der Fischmeister am nächsten Morgen am Kaffeetisch bei seiner Braut saß, nachdem er ohne weiteres als Schwiegersohn aufgenommen worden war, hatte er abermals das Gefühl einer großen Ruhe darüber, in einen kleinen Kreis einbezogen zu sein, in dem gemeinsame Interessen zu unbeschränktem Vertrauen zusammenhielten, verbunden mit der Besorgnis, sich selbst aufgeben zu müssen angesichts dieser mannigfaltigen Rücksichten, die Sympathie und Verwandtschaft mit sich bringen. Der vorhergehende Abend war in sein Leben hineingestürzt, hatte Kleines und Großes vermischt, wie das Leben es bietet. Seine ganze Liebesgeschichte, die er mit offnen Augen zu erleben sich erträumt hatte, war doch mit absichtlich verbundenen vor sich gegangen. Er hatte vor der erheuchelten oder eingebildeten Krankheit des Mädchens die Augen geschlossen, hatte sie so fest geschlossen, daß er sich selbst verleitet hatte, sie ernst zu nehmen, denn hätte er es nicht getan, sondern vom ersten Augenblick an rund heraus gesagt: Stehen Sie auf und seien Sie gesund. Sie bilden sich Ihre Krankheit nur ein, so hätte sie ihn für das ganze Leben gehaßt, und sein Ziel war doch, ihre Liebe zu erringen. Jetzt hatte er ihre Liebe errungen, vielleicht deshalb, weil sie ihn getäuscht zu haben glaubte; also stand ihre Liebe in direktem Verhältnis zu seiner Leichtgläubigkeit; und als er sich nun am Morgen wieder und wieder die Frage vorlegte: glaubst du an deine Maria? über-
setzte sein ausgeschlafener Verstand die Frage folgendermaßen: Bin ich sicher, daß ich dich täuschen kann? Nein, es gab keine Liebe mit offnen Augen, und eine Frau mit Offenheit zu gewinnen, war unmöglich; mit klaren Worten, mit erhobenem Kopf sich ihr nähern, hieß sie von sich stoßen. Er hatte mit Lüge begonnen und mußte mit Verstellung fortfahren. Aber während die Unterhaltung zwischen Kleinigkeiten und Gefühlsausbrüchen dahinplätscherte, war keine Zeit zum Grübeln. Das Behagen, in einem Heim zwischen zwei Frauen zu sein, machte alles so froh und weich, daß er sich dem Genuß überließ, der Schützling, das Kind, der Kleine, der Sohn der Schwiegermutter zu sein, und es nicht beachtete, daß die Tochter, die der Mutter schon über den Kopf gewachsen war und sie als ihr Kind behandelte, durch eine leichte Reduktion allmählich sich ihm, der eine ihr Gleichstehende Schwiegermutter nannte, überlegen fühlte. Diese Umwälzung der Naturordnung machte ihm Spaß und er hatte immer das Bild des Riesen vor Augen, der das Kind drei Haare aus seinem Bart zupfen läßt, aber nur drei. Während sie nun bei den Kaffeetassen saßen und plauderten, hörten sie plötzlich vom Strande das Gemurmel von Leuten. Vom Fenster aus sahen sie jetzt die Leute auf den Hafendämmen versammelt, wie sie bisweilen regungslos dastanden und die Augen mit der Hand beschatteten, bisweilen von einem Fuß auf den andern traten, als brenne der Boden unter ihnen, oder als könnten sie vor Unruhe nicht stillstehen. »Das ist das Wunder!« rief das Mädchen und eilte hinaus, während die Mutter und der Verlobte folgten. Als sie auf die Anhöhe hinauskamen, blieben die Frauen wie gelähmt vor Schreck stehen, weil sie mitten an dem son-
nenhellen Morgen einen leichenweißen ungeheuren Mond über einem Kirchhof mit schwarzen Zypressen, der auf der Meeresfläche schwamm, aufgehen sahen. Der Fischmeister, der die Wirkung nicht von dieser Stelle aus berechnet hatte, erfaßte den Zusammenhang nicht schnell genug, sondern wurde selbst leichenblaß von einer Erschütterung, die etwas Ungeheuerliches, Unerwartetes in der sonst so gesetzmäßigen Natur hervorruft. Er eilte an den Frauen vorbei, die versteinert dastanden, ohne sich rühren zu können, und kam an den Strand hinunter, wo die Leute versammelt waren. In einem Augenblick fand er die Lösung des Rätsels. Der von ihm beabsichtigte Marmorpalast war nämlich zufällig von einer vorspringenden, ausgebauchten Klippenwand auf der einen Seite und der Krone einer Kiefer auf der andern Seite eingefaßt worden, so daß die Kalkfläche kreisrund erschien und mit den allzu schwach gemalten Fenstern die Karte der Mondscheibe widergab. Die Leute, die von dem Eintreten des Wunders zu festgesetzter Stunde, als von dem Fischmeister prophezeit, benachrichtigt worden waren, betrachteten den herantretenden Mann mit erschrockenen, aber ehrfurchtsvollen Blicken, und die Männer nahmen gegen die Gewohnheit Hüte und Mützen ab. »Nun, was sagt ihr jetzt zu meiner Luftspiegelung,?« fragte er scherzend. Keiner antwortete, aber der Oberlotse, der Mutigste, deutete nach der nordwestlichen Himmelsgegend, wo der wirkliche Mond bleich im ersten Viertel stand. Das Wunder wirkte niederschmetternd, und der starke Eindruck, den die beiden Monde schon hervorgerufen hatten, war zu tief, um durch eine Erklärung verwischt werden zu
können. Nachdem der Fischmeister dennoch einen Versuch dazu gemacht hatte, dessen Anfang nicht einmal angehört wurde – die Leute standen wie betört da, wie verliebt in ihr Entsetzen über das Unerklärliche – gab er jeden Versuch auf, ihren Glauben zu erschüttern. Er hatte ihnen einen Beweis geben wollen, daß weder er noch die Natur Gesetze brechen könne, und der Zufall hatte ihn trotzdem zum Zauberer gemacht. Als er sich umdrehte, fand er seine Braut in ekstatischem Zustand, von der Mutter zurückgehalten; aber als er sich näherte, riß sie sich los, und indem sie auf die Knie fiel, rief sie mit halb wahnsinnigen Gebärden und Worten, die einem spiritistischen Zirkel entlehnt zu sein schienen: »Mächtiger Geist, wir fürchten dich! Nimm unsere Furcht von uns, damit wir dich lieben können!« Die Sache hatte schon eine bedenkliche Wendung genommen und der Fischmeister rief alle seine Kunst zu Hilfe, um das ungewollte Wunder zu erklären, aber vergebens. Der Genuß, betört zu sein, die Lähmung durch die Furcht und das dahinter lauernde Ehrgefühl, die Sinnestäuschung nicht zugeben zu wollen, hatten sich des jungen Mädchens so bemächtigt, daß keine Vorstellungen oder Beteuerungen halfen. Die Mutter mit ihrem unerschütterlichen ruhigen Gleichmut schien nicht zu wissen, wie sie daran war und hatte das ganze Naturphänomen über dem beunruhigenden Benehmen ihrer Tochter vergessen. Aber jetzt war die Aufmerksamkeit des Volkshaufens am Strande durch Fräulein Marias Geschrei und Gebaren von dem Schauspiel auf dem Meere zu ihr hingelenkt. Als sie das junge Weib vor dem weißgekleideten Mann mit den tiefen
dunklen Blicken, der barhäuptig auf dem Berge stand, knien sahen, mußte ihnen aus der biblischen Geschichte irgendeine Erinnerung an einen jungen Mann, der Wunder tat, vorschweben. In aller Eile ballten sie sich zusammen und begannen zu flüstern, und auf den Rat des Oberlotsen eilte eine der Frauen in die nächste Hütte und kam mit einem dreijährigen Kinde zurück, das eine offne, eiternde Wunde an der Backe hatte. Mit der Fähigkeit, eine Luftspiegelung hervorzurufen, mußte also eine übernatürliche Kenntnis der Heilung von Krankheiten Hand in Hand gehen. Die Rolle, die dem Fischmeister zuerteilt wurde, begann ihn jetzt über die Maßen zu quälen, und als er sah, wie Fischer, Lotsen und Zollbeamte ihre Arbeit vergassen, Zimmerleute und Tischler den Bau der Kapelle im Stich ließen, um seinen Worten wie Prophezeiungen mit wundertätiger Kraft zu lauschen, wurde ihm bange wie vor einer Naturkraft, die er heraufbeschworen hatte, aber nicht zügeln konnte. Es war jedoch der Augenblick gekommen, da er sich unzweideutig, bestimmt aussprechen und dies von sich weisen mußte. »Gute Leute,« begann er. Doch dann stellte sich heimlich die Überlegung ein: wie sollte er beginnen, welche Worte sollte er anwenden, da jeder Ausdruck eine Erklärung verlangte und jede Erklärung wieder Kenntnisse voraussetzte, die fehlten. Und in den Sekunden, in denen er darüber nachdachte, welcher Abgrund zwischen diesen Leuten und ihm lag, hörte er Schritte herankommen, drehte sich um und gewahrte einen Mann, der wie ein älterer Seemann auf Urlaub wirkte. Der Mann lüftete einen runden Filzhut und sah anfangs etwas verzagt aus, doch als er näher herankam, richtete er sich
auf und wollte gerade etwas sagen, als der Fischmeister ihn aus der Verlegenheit befreite, indem er fragte: »Sind Sie vielleicht der Stiftsprediger, der erwartet wird?« »Der bin ich,« antwortete der Ankömmling. »Wollen Sie nicht einige Worte zu den Leuten sprechen; sie befinden sich in Aufruhr infolge einer Naturerscheinung, die sie nicht erklärt haben wollen und der ich in diesem Augenblick keine Deutung geben kann,« sagte der Fischmeister in seinem Eifer, aus dieser schiefen Situation herauszukommen. Der Prediger erklärte sich sofort bereit. Strich seinen langen Kinnbart und holte eine Bibel aus der Tasche. Als die Leute das schwarze Buch sahen, ging eine Bewegung durch den Haufen und der eine und der andere von den Männern entblößte den Kopf. Der Prediger blätterte eine Weile, hielt schließlich inne; räusperte sich und begann zu lesen: »Und ich sah, daß es das sechste Siegel auftat, und siehe, da ward ein großes Erdbeben, und die Sonne ward schwarz wie ein härener Sack, und der Mond ward wie Blut; und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde, gleichwie ein Feigenbaum seine Feigen abwirft, wenn er von großem Wind bewegt wird; und der Himmel entwich wie ein zusammengerolltes Buch, und alle Berge und Inseln wurden bewegt aus ihren Örtern; und die Könige auf Erden und die Großen und die Reichen und die Hauptleute und die Gewaltigen und alle Knechte und alle Freien verbargen sich in den Klüften und Felsen an den Bergen und sprachen zu den Bergen und Felsen: Fallet über uns und verberget uns vor dem Angesichte des, der auf dem Stuhl sitzt, und vor dem Zorn des Lammes. Denn es ist
gekommen der große Tag seines Zorns, und wer kann bestehen?« Der Fischmeister, der sofort merkte, eine wie gefährliche Wendung die Sache nahm, hatte seine Braut mit halber Gewalt aus der gefährlichen Nachbarschaft weggezogen und an den Strand hinuntergeführt. Er wollte ihr von dem richtigen Standort aus beweisen, daß es kein vom Himmel gefallener Mond sei, sondern nur die italienische Landschaft, die er ihr zu ihrem Geburtstag versprochen hatte. Aber jetzt war es zu spät. Das innere Auge des Mädchens hatte die Erscheinung bereits in ihrer ursprünglichen Gestalt gesehen, und die erregende Auslegung des Predigers ätzte die erste Gesichtstäuschung tiefer ein. Der Fischermeister hatte mit den Naturgeistern gespielt, hatte einen Feind zu Hilfe beschworen, wie er glaubte, und nun waren alle zum Feind übergegangen, so daß er jetzt allein stand. Während Marias Blicke noch an dem Prediger auf dem Berge hafteten, wendete er sich versuchsweise an die Mutter und flüsterte: »Hilf uns hier heraus. Komm mit auf die Schäre und überzeuge dich, daß es Spielsachen sind, ein Geburtstagsscherz.« »Ich kann in diesen Dingen nicht urteilen,« antwortete die Kammerrätin, »und will nicht urteilen. Aber ich glaube … ihr solltet bald heiraten.« Das war ein Rat, ein nüchterner, prosaischer Rat, doch von dieser alten Frau, die selbst Mutter war, klang er sehr klug. Und seinem eigenen scharfen Verstande sagte er zu, obwohl er die Erklärung etwas vereinfacht fand. Aber nach diesem Wink, den er bekommen hatte, ging er geradenwegs auf das Mädchen zu, legte seinen Arm um ihre Taille, sah ihr mit
einem Lächeln, das sie verstehen mußte, in die Augen und küßte sie mitten auf den Mund. Im selben Augenblick schien das Mädchen von dem Zauberer oben auf dem Berge befreit zu sein, und indem sie sich ohne Widerstand an den Arm ihres Freundes hängte, ging sie fast tanzend mit ihm nach dem Hause der Mutter. »Hab Dank,« flüsterte sie, ihre Blicke in die seinen gesenkt, »– hab Dank, daß du – wie soll ich sagen?« »Dich vom Bergtroll befreite,« vollendete Borg. »Ja, vom Troll!« Und sie drehte sich um und wollte auf die überstandene Gefahr zurückblicken. »Nicht zurücksehen!« warnte der Bräutigam und zog Maria durch die Haustür hinein, während einige abgerissene Worte des Bergpredigers vom Winde zu ihm hinuntergetragen wurden.
Neuntes Kapitel Als der Fischmeister acht Tage später eines Morgens nach einer gut durchschlafenen Nacht aufwachte, war sein erster klarer Gedanke, daß er von der Schäre wegmüsse, irgendwohin, um einsam zu sein, sich zu sammeln, sich selbst wiederzufinden. Die Ankunft des Predigers hatte nämlich in einer Richtung die beabsichtigte Wirkung gehabt, »das Pack einzuschüchtern«, so daß Lärm und Roheiten aufhörten. Anderseits aber hatte der Fischmeister sich des neuerworbenen Friedens nicht freuen können, denn der exaltierte Zustand, in dem seine Braut sich befand, nötigte ihn, sie nie aus den Augen zu lassen. Er hatte ihr also Gesellschaft geleistet, hatte sie förmlich vom Morgen bis zum Abend gehütet und sie in endlosen Gesprächen über Religionsfragen von den verführerischen Reden des Predigers zu befreien versucht. Alles, was er in seiner Jugend durchkämpft hatte, mußte er jetzt wiederholen, und da seit jener Zeit immer neue Gegenbeweise ausfindig gemacht worden waren, mußte er seine ganze Apologie umredigieren. Er improvisierte psychologische Erklärungen für Gott, Glauben, Wunder, Ewigkeit, Gebet und bildete sich ein, das Mädchen verstehe dies. Als er indessen nach drei Tagen merkte, daß sie noch auf demselben Punkt stand und daß diese Gefühlssache außerhalb der Vernunft lag, ließ er alles fallen, versuchte das erotische Element zu wecken und durch eine neue Gefühlssphäre die erste auszutreiben. Aber hier mußte
er bald die Waffen strecken, denn durch die Gespräche über das, was erlebt werden sollte, wurde nur das Gefühlsleben des Mädchens noch mehr gesteigert, und er merkte bald, daß es zwischen der religiösen und der sinnlichen Ekstase geheime Brücken gibt. Von der Liebe zu Christus sprang sie so leicht zu der Liebe zum Manne über auf der breiten Zugbrücke der Liebe zum Nächsten; von der Enthaltsamkeit trippelte man über den Steg Entsagung zur Nachbarin Kasteiung; eine kleine Neckerei rief das unangenehme Gefühl Schuld hervor, das in die Lustempfindung Versöhnung aufgelöst werden mußte. In seiner Not mußte er zunächst die Brücken abbrechen, mußte sie der rohen Lust Aug in Aug gegenüberstellen, mußte ihr Begehren nach dem Zeitlichen wecken, das er in glühenden Farben schilderte. Aber als ihm das gelungen war und er sich im letzten Augenblick zurückzog, entstand in ihr die Kälte der Enttäuschung, und als er dann ihre Gefühle zu veredeln, sie auf den Gedanken an Nachkommen und Familie hinzulenken versuchte, schrak sie zurück und erklärte energisch, keine Kinder haben zu wollen. Sie wendete wohl sogar eine Redensart an, die bei einer gewissen Gruppe von Frauen hoch im Kurs stand: sie wolle nicht die ihm fehlende Gebärmutter ersetzen oder seine Erben tragen, die sie ihm mit Lebensgefahr zur Welt bringen müßte. Da fühlte er, daß die Natur etwas zwischen sie gestellt hatte, was er noch nicht kannte: redete sich zum Trost ein, dies sei nur die Furcht des Schmetterlings, das Ei zu legen und zu sterben, das Mißtrauen der Blume, die Schönheit werde mit der Samenbildung vergehen.
Er hatte sich in diesen acht Tagen aufgerieben, die feinen Räder seiner Gedanken begannen in ihren Lagern zu stocken und die Feder des Werkes war schlaff geworden. Wollte er am Tage nach einer solchen Überanstrengung ein paar Stunden arbeiten, schwirrte ihm der Kopf. Kleine Worte wiederholten sich fast hörbar vor seinen Ohren; Gebärden und Mienen, die sie bei der Unterhaltung angewendet hatte, spiegelten sich vor ihm; Einfälle, wie er da und da und da hätte antworten müssen, tauchten auf, und eine Erwiderung, die er besonders gelungen fand, schenkte ihm in der Erinnerung einen Augenblick des Vergnügens. Mit einem Wort, sein Kopf war mit Bagatellen vollgepfropft, und er merkte jetzt, daß er es unternommen hatte, ein Chaos zu entwirren, daß er einen Schulknaben unterhalten hatte, statt mit einer reifen Frau Gedanken auszutauschen, daß er Unmengen von Kraft verausgabte, ohne irgend etwas wiederzubekommen, daß er einen trocknen Schwamm mitten in seine Seele gelegt und der Schwamm sich vollgesogen hatte, während er selber trocken geworden war. Er hatte das alles satt, war dessen müde und sehnte sich fort, für eine Weile, denn für immer fliehen konnte er nicht. Als er nun gegen fünf Uhr morgens zum Fenster hinausblickte, sah er nur einen dichten Nebel, der trotz einem schwachen, südlichen Winde bewegungslos stand. Statt ihn aber abzuschrecken, lockte ihn dieses lichte, hellweiße Dunkel, das ihn verbergen, ihn von dem kleinen Bruchstück der Erde, an das er sich jetzt gebunden fühlte, absondern würde. Barometer und Wetterfahne sagten ihm, daß es später am Tage Sonnenschein geben werde. So setzte er sich ohne lange Vorbereitungen ins Boot, nur mit Seekarte und Kompaß ver-
sehen, auf die er sich aber nicht zu verlassen gedachte, weil er eine halbe Meile seewärts die Glockenboje hörte, gerade in der Richtung, wo er an Land gehen wollte. Er hißte also und befand sich bald mitten im Nebel. Hier, wo das Auge von allen Eindrücken der Farbe und Form befreit war, empfand er zuerst das Behagen über die Isolierung von der bunten Außenwelt. Er hatte gewissermaßen seine eigene Atmosphäre um sich und schwebte einsam wie auf einem andern Himmelskörper dahin in einem Medium, das nicht Luft war, sondern Wasserdampf, angenehmer und erquickender einzuatmen als die trockne Luft mit ihren überflüssigen neunundsiebzig Prozent Stickstoff, die ohne ersichtlichen Zweck zurückgeblieben waren, als die Erdmaterie sich aus dem Chaos der Gase geordnet hatte. Es war kein dunkler, rauchfarbiger Nebel, sondern ein heller, der frisch geschmolzenem Silber glich und durch den das Sonnenlicht sickerte. Warm wie Watte legte er sich heilend um sein müdes Ich, schützte gegen Stoß und Druck. Er genoß eine Weile diese wache Ruhe der Sinne, die ohne Laut, ohne Farbe, ohne Geruch war, und fühlte, wie sein gepeinigter Kopf sich erfrischte durch diese Gewißheit, von andern nicht berührt werden zu können. Er war sicher, nicht gefragt zu werden, brauchte nicht zu antworten, nicht zu reden. Der Apparat stand einen Augenblick still, da alle Leitungen unterbrochen waren; dann begann er wieder zu denken, klar, geordnet, an alles, was er erlebt hatte. Aber das, was er jetzt durchgemacht, war so untergeordnet, so klein, daß er erst das in der letzten Zeit eingedrungene Wasser abfließen lassen mußte, ehe frisches kam.
In der Ferne hörte er die Glockenboje in Zwischenräumen von mehreren Minuten rufen, und nach diesem Laut steuerte er seinen Kurs gerade in den Nebel hinein. Dann wurde es wieder still, und nur das Plätschern vorn am Boot und das Brodeln des Kielwassers hinten gab ihm die Empfindung, daß er sich vorwärts bewege. Gleich darauf aber hörte er eine Möwe im Nebel schreien, und im selben Augenblick meinte er das Plätschern und Rauschen eines Bootes hinter sich zu hören. Als er rief, um die Gefahr zu vermeiden, bekam er keine Antwort, sondern vernahm nur ein Geräusch im Wasser, wie wenn ein Boot abfällt. Nachdem er wieder eine Weile gesegelt war, bemerkte er im Luv die Spitze eines Mastes mit Großsegel und Fock, aber von Rumpf oder Steuermann war nichts zu sehen, denn die hohe Dünungswelle verbarg sie. Dieser Vorfall hätte unter anderen Verhältnissen seine Gedanken nicht gestört, jetzt aber machte er einen Eindruck wie das in der Eile Unerklärliche, das Furcht einflößt, und von da ist zum Gedanken an Verfolgung nur ein Schritt. Das erwachte Mißtrauen steigerte sich noch, als er gleich darauf das Gespensterboot wie in den Nebel hineingemalt leewärts an sich vorbeischießen sah, ohne jedoch den Steuermann gewahren zu können, der vom Sprietsegel verdeckt war. Jetzt rief er wieder, aber statt einer Antwort sah er nur das Boot abfallen und konnte dadurch feststellen, daß der Steuersitz leer war; dann verschwand die Erscheinung in dem alles verschlingenden Nebel. Gewohnt, sich von der Furcht vor dem Unbekannten zu befreien, suchte er sofort Erklärungen, blieb aber schließlich vor der Frage stehen: warum der Steuermann sich ver-
steckte; denn daß in einem segelnden Boot, das nicht trieb, ein Steuermann sein müsse, daran zweifelte er nicht. Warum wollte er ungesehen bleiben? Gewöhnlich wünschte man das, wenn man auf unrechten Wegen ging, ungestört sein oder jemanden erschrecken wollte. Daß der unbekannte Segler nicht die Einsamkeit suchte, war anzunehmen, da er denselben Kurs beibehielt, und wenn er einen Furchtlosen, der für Aberglauben nicht empfänglich war, erschrecken wollte, hätte er sich etwas besseres ausdenken können. Unterdes hielt Borg seinen Kurs auf die Boje zu, während ihn hartnäckig und andauernd das Gespensterboot in Lee verfolgte, jedoch in solchem Abstand, daß es sich nur wie verdichteter Nebel abzeichnete. Als er weiter hinauskam, wo der Wind auffrischte, schien der Nebel sich etwas zu lichten, und wie lange Silberbarren lag der vom Nebel versilberte Sonnenschein auf den Wellenkämmen. Mit dem stärker werdenden Winde nahm das Rufen der Boje zu, und jetzt steuerte er mitten ins Sonnenlicht hinein, wo der Nebel zerriß, und lief mit stärkster Fahrt auf die Boje zu. Da lag sie und wiegte sich auf den Wellen, zinnoberrot und glänzend feucht wie eine ausgenommene Lunge, deren große, schwarze Luftröhre schräg hinauf in die Luft ragt. Als die Welle das nächste Mal die Luft zusammenpreßte, stieß die Boje einen Ruf aus, als brülle das Meer nach der Sonne, die Grundkette rasselte, bis sie abgelaufen war, und als die Welle sank und die Luft zurückströmte, stieg ein Brüllen aus der Tiefe wie aus dem Riesenrüssel eines ertrinkenden Mastodons. Dies war der erste mächtige Eindruck, den er nach einem Monat voll Kindereien und Bagatellen empfing. Er bewun-
derte das menschliche Genie, das dem hinterlistigen Wolf, dem Meer, diese Schelle umgehängt hatte, damit es selbst seine schutzlosen Opfer warne. Er beneidete diesen Einsiedler, der an eine Grundklippe mitten im Meer gefesselt war und Tag und Nacht mit Wind und Wellen um die Wette brüllen konnte, so daß man es meilenweit hörte, der als erster den Fremdling in seinem Lande willkommen hieß, seinen Schmerz herausstöhnen und gehört werden konnte. Das Schauspiel war schnell vorbei, das Halbdunkel schloß sich wieder um das Boot, das jetzt auf die Schäre abfiel, auf der er sich auszuruhen gedachte. Eine halbe Stunde hielt er die gleiche Richtung inne, bis er die Uferbrandung dröhnen hörte, dann fiel er ab, um Lee zu nehmen, und schoß bald in eine Bucht hinein, wo er landen konnte. Es war die äußerste Schäre hinter der Einfahrtstraße; sie bestand aus einigen Morgen rotem Gneis ohne anderen Pflanzenwuchs als ein paar Flechten an den Stellen, wo das Treibeis die Klippen nicht ganz reingeschabt hatte. Nur die verschiedenen Möwen hatten hier ihren Ruheplatz und schrien jetzt Alarm, als der Fischmeister sein Boot vertäute und den Scheitel der Schäre erstieg. Dort hüllte er sich in seine Decke und setzte sich in eine gut polierte Kluft, die ihm einen bequemen Ruhesessel bot. Hier, ohne Zeugen, ohne Zuhörer, ließ er seinen Gedanken freien Lauf; beichtete sich selber, reinigte sein Innerstes und hörte seine eigene innere Stimme. Nur zwei Monate hatte er sich an anderen Menschen gerieben, und schon hatte er durch das Gesetz der Anpassung den besten Teil seines Ichs verloren, hatte sich, um Streit zu vermeiden, daran gewöhnt, beizustimmen, hatte sich, um einen Bruch zu verhindern, darin geübt, auszuweichen, hatte sich zu
einem charakterlosen, geschmeidigen Gesellschaftsmenschen entwickelt; den Kopf voll Nichtigkeiten und gezwungen, in abgekürzter, vereinfachter Sprache zu sprechen, fühlte er, daß seine Sprachskala die Halbtöne verloren hatte, daß seine Gedanken auf alte, abgenutzte Geleise gekommen waren, die zum Landungsplatz zurückführten. Alte schlappe Sophismen, wie: man habe den Glauben anderer zu respektieren, jeder müsse auf seine Fasson selig werden, hatten sich in ihn eingeschlichen, er war aus purer Höflichkeit als Hexenmeister aufgetreten und hatte sich schließlich einen gefährlichen Konkurrenten auf den Hals geladen, der jeden Augenblick die einzige Menschenseele, die er mit der seinen vereinigen wollte, loszulösen drohte. Ein Lächeln glitt über seine Lippen, als er daran dachte, wie er diese Leute, die ihn zu betrügen glaubten, betrogen hatte; aber ein halblauter, unwillkürlicher Ausruf »Ihr Esel« ließ ihn zusammenfahren, erschrocken in dem Gedanken, daß einer ihn hätte hören können. Und dann arbeiteten die stillen Gedanken weiter! Sie hatten geglaubt, seine Seele gefangen zu haben, und er hatte sie gefangen! Sie hatten sich eingebildet, er führe ihre Ideen aus, und wußten nicht, daß er sie benutzte, um seine Seele zu trainieren und den Genuß der Macht zu empfinden. Diese Gedanken, die er bisher nicht als die seinen anzuerkennen gewagt hatte, traten jetzt als Kinder seiner Seele auf, als große, gesunde Kinder, die er als die seinen anerkannte. Und was hatte er anders getan als sie wollten, aber nicht konnten! Und diese junge Frau, die eine Drehorgel nach sich gestimmt zu haben glaubte, argwöhnte nicht, daß sie ausersehen sei, der Resonanzboden seiner Seele zu werden …
Plötzlich sprang er auf und unterbrach den Gang seiner gefährlichen Gedanken, denn er hörte durch den Nebel deutliche Schritte auf dem Klippenfelsen; obwohl er im ersten Augenblick eine Gehörtäuschung vermutete, hervorgerufen durch die Einsamkeit und die Furcht, überrascht zu werden, lenkte er doch die Schritte zu seinem Boot hinunter. Als er es in guter Ordnung fand, beschloß er, um die Schäre herum zu gehen, und das zweite Boot zu suchen, denn es mußte, da noch ein Mensch hierhergekommen war, ein zweites Boot vorhanden sein. Er schritt über die Steine am Strande und fand bald hinter der nächsten Landzunge auf der Leeseite einen Kahn mit demselben Sprietsegeltakelwerk, das er draußen auf See bemerkt hatte. Es war also klar, daß der Segler auf der Schäre sein mußte. Der Fischmeister begann nun einen Streifzug im Nebel, hielt sich dabei aber immer in der Nähe der Boote, so daß er den Rückzug abschneiden konnte. Nachdem er noch mehrmals gerufen hatte, ohne Antwort zu bekommen, sah er schließlich ein, daß er die Boote verlassen müsse, um den Geheimnisvollen einzufangen. Er ging hinunter, nahm die Steuerruder ab, um jede Flucht unmöglich zu machen, und begab sich dann wieder in den Nebel hinein. Er hörte Schritte vor sich, folgte nach dem Gehör der Spur, vernahm aber bald den Laut aus einer ganz andern Richtung. Müde von der Jagd und gereizt von der Vergeblichkeit der Anstrengungen, beschloß er, dem Auftritt ein schnelles Ende zu machen, da er keine Lust hatte, das Zerteilen des Nebels abzuwarten. So laut er konnte, rief er: »Ist jemand da, so soll er antworten! Oder ich schieße.« »Herr Jesus! nicht schießen!« Klang es aus dem Nebel.
Der Fischmeister meinte diese Stimme schon früher gehört zu haben, aber vor sehr langer Zeit, vielleicht in seiner Jugend. Als er sich nun der Stelle näherte, wo der Unbekannte stand, und dessen Silhouette sich grau in grau abzeichnen sah, erwachten alte Erinnerungen an diesen Umriß eines Menschen. Die eingedrückten Knie, die zu langen Arme und die schiefe linke Schulter hatten ein Gegenstück in einem in den Magazinen des Gedächtnisses vergessenen Bilde eines Schulkameraden aus der dritten Klasse der Elementarschule. Doch als er den amerikanischen Bart des Reisepredigers aus dem Nebel auftauchen sah, paßten die Bilder nicht mehr zusammen, sondern er sah nur den Mann auf dem Berge, der die Offenbarung Sankt Johannis auf die Luftspiegelung angewendet hatte. Mit abgezogener Mütze und erschrockenem Gesicht näherte er sich dem Fischmeister, der sich diesem schleichenden Verfolger gegenüber nicht sicher fühlte, da er in Wirklichkeit keine Schußwaffe bei sich hatte. Um seine Unsicherheit zu verbergen, schlug er einen scharfen Ton an, als er fragte: »Warum verstecken Sie sich vor mir?« »Ich habe mich nicht versteckt; das hat der Nebel getan!« antwortete der Prediger weich und zutunlich. »Aber warum saßen Sie im Boot nicht am Steuer?« »Hm, ich wüßte nicht, daß man gezwungen ist, am Steuer zu sitzen; ich saß auf der Luvseite, damit das Boot besser segelte! Ich habe nämlich am Steuer eine Fangleine, wie es in meiner Heimat Brauch ist.« Die Erklärungen waren annehmbar, gaben aber doch keine Antwort auf die Frage, warum er dem Fischmeister hierher gefolgt sei. Und dieser fühlte jetzt, daß es zu einem seelischen
Handgemenge kommen mußte, denn ihr Zusammentreffen hier war kein Zufall. »Was haben Sie so früh an Morgen hier zu suchen?« nahm der Fischmeister den verlorenen Faden wieder auf. »Ja, wie soll ich das sagen; mir ist manchmal, als hätte ich ein Bedürfnis, mit mir selbst allein zu sein.« Diese Antwort fand bei dem Frager ein gewisses Echo, und als der Prediger einen Zug von Sympathie in seinem Gesicht las, fügte er hinzu: »Denn sehen Sie, wenn ich mich selber in Betrachtung und Gebet suche und mich finde, so finde ich auch meinen Gott.« Es lag ein naives Bekenntnis in diesen Worten, aber der Fischmeister wollte die unfreiwillige Ketzerei nicht übersetzen, wollte nicht die Schlußfolgerung ziehen: Gott ist also mein eigenes Selbst oder in meinem Selbst; denn er wurde von einer gewissen Achtung vor diesem Mann erfaßt, der mit einer Fiktion allein, also sozusagen einsam sein konnte. Aber während der Fischmeister das Gesicht des Predigers betrachtete, das bis auf die Oberlippe mit einem langen braunen Bart bedeckt war, wie es bei Seeleuten und Reisepredigern Brauch ist, wahrscheinlich um das gesprochene Wort durchzulassen und doch einem Apostel zu gleichen, meinte er hinter diesem Gesicht ein zweites zu sehen. Da ihn die Arbeit quälte, die sein Gedächtnis unbewußt begann, fragte er unvermittelt: »Haben wir uns nicht schon früher im Leben gesehen?« »Ja, das haben wir allerdings,« antwortete der Prediger, »und Sie, Herr Fischmeister, haben, vielleicht ohne es zu wissen, so
tief in mein Leben eingegriffen, daß man sagen könnte, Sie haben meine Laufbahn bestimmt.« »Ach nein! Erzählen Sie mir davon, denn ich erinnere mich an nichts!« bat der Fischmeister und setzte sich auf den Felsen, indem er den andern aufforderte, Platz zu nehmen. »Ja, es sind nun wohl fünfundzwanzig Jahre her, als wir zusammen in der dritten Klasse waren …« »Wie hießen Sie damals?« unterbrach der Fischmeister. »Damals hieß ich Olsson und wurde Ochsolle genannt, weil mein Vater Bauer war und ich selbstgewebte Anzüge trug.« »Olsson? Warten Sie einmal! Sie konnten am besten von allen rechnen?« »Ja, das stimmt. Aber dann eines Tages war der fünfzigste Geburtstag des Rektors. Wir hatten die Schule mit Laub und Blumen geschmückt und nach Schluß der Schulstunden schlug einer vor, unsere Klasse solle die Blumensträuße nehmen und sie der Frau des Rektors und ihrer Tochter hintragen. Ich erinnere mich, daß Sie das unnötig fanden, weil die Damen des Rektors nichts mit der Schule zu schaffen hätten, oft aber störend in die Schulangelegenheiten eingriffen. Sie gingen aber doch mit – und ich auch. Als ich die Treppe hinaufsteige, fallen Ihnen meine selbstgewebten Kleider auf, vermute ich – und da Sie sahen, daß ich das schönste Bukett trug, riefen Sie: Wie kommt Saul unter die Propheten!« »Das habe ich vollkommen vergessen!« sagte der Fischmeister sehr kurz. »Aber ich vergesse es nie,« wendete der Prediger mit zitternder Stimme ein. »Mir war ins Gesicht gesagt worden, ich sei das räudige Schaf, der Eindringling, dessen Huldigung eine Dame von Stand nicht ernst nehmen könne. Ich ging von
der Schule ab, um Kaufmann zu werden und dadurch schnell zu Geld und feinen Kleidern zu kommen, Manieren zu lernen und eine gebildete Sprache zu erlangen. Aber ich bekam nie eine besondere Stellung. Mein Äußeres, meine Redeweise, mein Benehmen waren mir hinderlich. Deshalb fing ich an mich zu isolieren, und in der Einsamkeit fühlte ich Kräfte in mir wachsen, die ich nie geahnt hatte. Pfarrer hatte ich einmal werden wollen, aber jetzt war es zu spät. Die Einsamkeit flößte mir Furcht vor den Menschen ein, und die Menschenfurcht machte mich ganz einsam, so einsam, daß ich meine einzige Bekanntschaft in Gott suchen mußte und in dem Heiland der Vernachlässigten, der Räudigen, der Gezeichneten, in unserm Herrn Jesu Christ. Das habe ich Ihnen zu danken!« Die letzten Worte wurden mit einer gewissen Bitterkeit gesprochen, so daß der Fischmeister es für das Klügste hielt, mit offnen Karten zu spielen. »Sie haben mich also fünfundzwanzig Jahre lang gehaßt?« »Grenzenlos! Aber jetzt nicht mehr, seit ich die Rache Gott überlassen habe.« »Sie haben also einen Gott, der rächt! Glauben Sie, daß er Sie zum Werkzeug wählt, oder meinen Sie, daß er seinen elektrischen Funken auf mich niederschleudern, mein Boot umblasen oder mir die Pocken schicken wird?« »Des Herren Wege kennt niemand, aber die Wege der Ungerechten sind allen offenbar!« »Sehen Sie darin, daß ein Schuljunge einen losen Mund hat, etwas so Ungerechtes, daß Gott ihn ein Menschenalter lang verfolgen muß? Ich frage mich, ob dieser rachgierige Gott nicht in Ihrem Herzen sitzt, wo Sie, wie Sie vorhin behaupteten, sich mit ihm treffen.«
Als der Prediger sich in seinen eigenen Worten gefangen sah, konnte er sich nicht länger bezähmen. »Lästern Sie nur! Jetzt weiß ich, wer Sie sind! Aber der Apfel fällt nicht weit vom Stamm! Jetzt verstehe ich alle Kniffe des Satans. Sie bauen dem Herrn ein Haus als Hurenhaus, um einer Dirne zu opfern! Sie spielen den Zauberer und Magier, damit das Volk niederfällt und den Verneiner anbetet. Der Herr aber sagt: Selig sind, die ihre Kleider waschen, auf daß sie Macht haben an dem Holz des Lebens und zu den Toren eingehen in die Stadt. Denn draußen sind die Hunde und die Zauberer und die Hurer und die Totschläger und die Abgöttischen und alle, die liebhaben und tun die Lüge!« Die letzten Worte hatte er, ohne sie anderswo als auf den Lippen suchen zu müssen, mit einer unglaublichen Übung und Erregung hervorgeschleudert, und gleichsam, als fürchte er eine treffende Antwort, die den Eindruck abschwächen könne, drehte er sich um und ging zu seinem Boot hinunter. Unterdes hatte sich der Nebel gehoben und das Meer breitete sich rein blau, beruhigend, befreiend aus. Der Fischmeister blieb noch eine Weile in seinem Felssessel sitzen und grübelte darüber, daß die Seele den gleichen Gesetzen unterworfen sei wie die physischen Kräfte. Der Wind wühlt unten bei Esthland eine Welle auf, diese Welle jagt eine andere und die letzte, die die Bewegung bis an die schwedische Küste fortpflanzt, bewegt einen kleinen Kieselstein, der einen Felsblock stützt; nach einem Menschenalter werden die Folgen sich zeigen in dem Niederstürzen des Blockes, das eine neue Unterminierung der entblößten Klippe, die jetzt ungeschützt daliegt, zur Folge haben wird.
Sein Gehirn hatte vor fünfundzwanzig Jahren ein für ihn bedeutungsloses Wort herausgeschleudert; das Wort war durch ein Ohr eingedrungen und hatte ein Gehirn in so starke Bewegung gesetzt, daß es noch jetzt nachzitterte, nachdem dieses Wort dem ganzen Leben eines Menschen die Richtung gegeben hatte. Und wer wußte, ob nicht dieser Innervationsstrom durch Berührung und Reibung von neuem verstärkt war, so daß er sich abermals mit verstärkten Kräften entladen und andere Gegenkräfte in Bewegung setzen, Erschütternis und Zerstörung im Leben anderer hervorrufen würde! Als jetzt das Boot des Predigers um die Landzunge schoß und auf die Ostschäre zuhielt, hatte der Fischmeister das bestimmte Gefühl, daß dort ein Feind saß, der gegen seine Stellungen stürmte. Er stand auf, um nach seinem Boot zu gehen, nach Hause zu fahren und sich in Verteidigungszustand zu setzen. Als er glücklich im Boot saß und durch das sachte Schaukeln der Seen beruhigt wurde, verspürte er eine heftige Lust, noch einige Stunden in völliger Einsamkeit auf dem Meer zu bleiben und die letzten störenden Eindrücke verwehen zu lassen. Warum sollte er auch den Einfluß dieses Mannes auf die Braut fürchten, da diese, wenn sie auf ein Niveau mit den Ungebildeten zurücksank, sich doch zu einer Verbindung fürs Leben kaum eignen würde? Trotzdem aber grämte es ihn, daß diese Furcht vorhanden war. Sie erinnerte an das Verhalten der Männer, die in Angst vor dem Verlust leben, einer Angst, die mit dem lächerlichen Namen Eifersucht gestempelt ist. Verriet das Gefühl der Unfähigkeit, festhalten zu können,
eine Schwäche bei ihm? Oder war es nicht eher eine Schwäche von ihr, sich nicht zusammennehmen zu können, wenn der Ballon aufsteigen, die Notanker der Religion sich losmachen und die Ballastsäcke der Gefühle über Bord werfen wollte? So lag es wohl eher, obwohl diese Schwäche bei denen, die nichts zu verlieren hatten, ziemlich eingebürgert war. Borg hatte nun gekreuzt und lag südöstlich unter der Schäre, an einer Stelle, von der aus er sein Gefängnis noch nicht betrachtet hatte. Hoch oben auf der Anhöhe sah er das Skelett der unfertigen Kapelle mit ihren Gerüsten, aber er erblickte keine Arbeiter, obwohl der Morgen weit vorgeschritten war. Er sah auch keine Fischerboote auf See; es herrschte überhaupt eine große Stille auf der Schäre, und auch beim Zollhause oder dem Lotsenturm waren keine Menschen zu sehen. Er schlug einen neuen Kurs ein, um die Schäre zu umsegeln. Aber als er an die Außenseite kam, wurden die Seen höher, und er kam durch Kreuzen nur unbedeutend vorwärts, so daß es eine ganze Stunde dauerte, bis er in den Hafen gelangen konnte. Jetzt sah er das Haus, in dem die Damen wohnten, und als er um die Spitze des Hafens schoß, bemerkte er, daß alle Bewohner der Insel sich um das Haus versammelt hatten, in dessen Vorbau der Prediger barhäuptig stand und predigte. In der klaren Erkenntnis, daß hier ein Kampf bevorstand, landete er, zog die Segel ein und ging auf sein Zimmer. Durch das offne Fenster hörte er jetzt einen Choral singen. Er hatte sich an seine Arbeit setzen wollen, aber der Gedanke, daß er bald unterbrochen werden könne, hinderte ihn, überhaupt anzufangen.
Eine qualvolle halbe Stunde verging, in der er deutlicher als je spürte, daß er sich selbst nicht mehr besaß, nicht ein paar Quadratmeter beherrschte, auf denen er sich einschließen konnte, um der Berührung mit Seelen auszuweichen, die sich gleich Muscheln auf der Haut des Walfisches festsetzten, um schließlich durch ihre Schwere seine Bewegungsfähigkeit zu hindern. Da wurde nach kurzem Klopfen die Tür geöffnet, und Fräulein Maria stand vor ihm, mit einem neuen Ausdruck im Gesicht, etwas wie schmerzlichem Vorwurf und überlegenem Mitleid. Sie kam auch mit dem Bewußtsein, die Meinung der Masse für sich, hinter sich zu haben und fühlte sich deshalb stark gegenüber dem Einsamen. Er ließ sie zuerst sprechen, um einen Ausgangspunkt zu gewinnen. »Wo bist du gewesen?« begann sie mit einem Versuch, nicht allzu übermütig zu erscheinen. »Ich habe gesegelt!« »Ohne mich einzuladen?« »Ich wußte nicht, daß du so streng darauf hältst!« »Doch, das wußtest du, aber du wolltest wohl mit deinen finsteren Gedanken allein sein!« »Vielleicht!« »Sicher! Meinst du, das hätte ich nicht gemerkt? Glaubst du, ich hätte nicht gesehen, daß du meiner überdrüssig bist?« »Ich bin deiner nicht überdrüssig, wenn ich dich tagaus, tagein hüte und mir eines Morgens, wo du zu schlafen pflegst, die Freiheit nehme, ein paar Stunden zu segeln. Aber du hast
es wohl satt bekommen, fischen zu lernen, denn ich habe dich nicht ein einziges Mal draußen auf See gesehen.« »Es wird jetzt nicht gefischt, wie du wohl weißt!« antwortete Fräulein Maria in der festen Überzeugung, die Wahrheit zu sagen. »Nein, das sehe ich!« warf der Fischmeister in der Absicht ein, sich der Mine selbst zu nähern, auf die Gefahr einer Explosion hin. »Ich sehe, wie die Leute die Arbeit im Stich lassen, um Predigten zu hören …« Jetzt kam es zum Ausbruch. »Hast du nicht die Kirche hier draußen haben wollen?« »Ja, an den Sonntagen. Sechs Tage soll man arbeiten, am siebenten aber in die Kirche gehen. Hier jedoch wird jetzt an keinem Tage mehr gearbeitet, sondern an allen gepredigt. Und statt sich und den Seinen ein gutes Auskommen hier auf Erden zu bereiten, laufen sie alle um die Wette etwas so Ungewissem wie dem Himmel nach. Selbst die Arbeiter der Kapelle sind davongelaufen, so daß wir diese Kirche wohl nie unter Dach sehen werden, und ich erwarte stündlich zu hören, daß Armut ausgebrochen ist, so daß wir auf Wohltätigkeit bedacht sein müssen …« »Darüber wollte ich gerade reden!« rief Fräulein Maria, froh, das Thema nicht anschneiden zu müssen, übersah dabei aber, daß es im voraus von dem Fischmeister erschöpft war. »Ich bin nicht hergekommen, um Wohltätigkeit zu üben, sondern um die Leute zu lehren, ohne Wohltaten zurechtzukommen.« »Du bist ein durch und durch herzloser Mensch, wenn du dich auch anders hinstellst.«
»Und du willst dein großes Herz auf meine Kosten zeigen, ohne einen Meter von dem Besatz deines Kleides opfern zu wollen.« »Ich hasse dich! Ich hasse dich!« brach das Mädchen los und ihr Gesicht nahm einen schrecklichen Ausdruck an. »Ich weiß ja, wer du bist, ich weiß alles, alles, alles!« »Nun, warum verläßt du mich dann nicht?« fragte der Fischmeister in stahlkaltem Ton. »Ich werde dich verlassen! Ich werde es!« rief sie und näherte sich der Tür, ohne aber zu gehen. Der Fischmeister, der sich an den Tisch gesetzt hatte, nahm eine Feder und begann zu schreiben, um der Versuchung zu entgehen, ein Gespräch wieder anzuknüpfen, das zu Ende war, da man alles gesagt hatte. Er hörte wie im Traum, wie geschluchzt wurde und wie die Tür sich schloß, wie auf dem Flur Schritte klangen, wie sie auf der Treppe knarrten. Als er dann erwachte und das Papier betrachtete, über das seine Feder geflogen war, sah er, daß da das Wort Pandora so oft geschrieben stand, daß eine ganze Weile seit dem Auftritt verstrichen sein mußte. Aber dann frappierte ihn das Wort, und da er die Bedeutung im Lauf der Jahre vergessen hatte, wenn er auch eine schwache Erinnerung daran aus der Mythologie bewahrte, erwachte seine Neugier; er nahm sein Handlexikon vom Tisch, schlug auf und las: »Pandora, die Eva der Antike, das erste Weib auf Erden. Wurde von den Göttern aus Rache dafür, daß Prometheus das Feuer raubte, zu den Menschen geschickt und brachte alles Unglück mit, das seitdem die Welt heimgesucht hat. Wird
in der Poesie in der Gestalt von etwas Gutem, das ein blendendes Übel ist, dargestellt, als ein Wesen, das auf Betrug und Überrumpelung angelegt ist.« Das war Mythologie ebenso wie die Sage von Eva, um derentwillen der Mensch aus dem Paradiese vertrieben wurde. Aber da die Sage sich von Zeitalter zu Zeitalter bestätigte und er selbst erfahren hatte, wie die Anwesenheit einer Frau auf diesem kleinen Stück Erde draußen im Meer schon Dämmerung verbreitete, wo er Licht hatte machen wollen, mußte doch der Bildersprache des hellenischen und des jüdischen Dichters ein Gedanke zugrunde liegen. Daß sie ihn haßte, fühlte und erkannte er daran, daß sie gemeinsame Sache mit dem Haufen dort unten machte. Aber an ihrer Liebe wollte er trotzdem nicht zweifeln, wenn auch diese Liebe nur in dem Streben der Sonnenblume zur Sonne bestand, um für eine schlechte Imitation der gelben Scheibe Lichtstrahlen zu entleihen. Doch es war auch etwas Niedriges darin, wie bei den Niedrigen, etwas Böses mit dem Wunsch zu schaden, ein Kampf um die Macht, der unberechtigt war, da es ihm auf einen Sieg über das Unvernünftige ankam. Ihr das sagen, ja, das hieße das Verhältnis abbrechen, da dieses auf seiner Unterwerfung oder wenigstens der Anerkennung ihrer Überlegenheit beruhte, das hieß ein Leben auf einer Notlüge aufbauen, einer Notlüge, die Wurzel fassen, wachsen und vielleicht alle Möglichkeiten zu einem ehrlichen Zusammenleben ersticken würde. Darin gerade lag die tiefste Ursache des relativen Unglücks aller Ehen, daß der Mann die Verbindung mit einer bisweilen absichtlichen Lüge einging, meistens als Opfer einer Halluzination, da er sein Ich in das Geschöpf hineindichtete, das er sich ähnlich machen wollte.
Durch diese Sinnestäuschung, diese second sight, war Mill in solchem Grade betört worden, daß er glaubte, all seine scharfen Gedanken von der einfältigen Frau bekommen zu haben, die er selbst sich erzogen hatte. Das war der Preis der Liebe seit undenklichen Zeiten, daß der Mann verschweigen mußte, wer das Weib war. Auf dieses Schweigen hatten Jahrhunderte ein Chaos von Lügen aufgebaut, an denen die Wissenschaft nicht zu rütteln wagte, das die mutigsten Staatsmänner nicht berühren mochten und das die Theologen bewog, ihren Paulus zu verleugnen, wenn es sich um die Frau in der Gemeinde handelte. Aber seine Liebe war gerade entstanden und hatte Feuer gefangen, als er diese Frau mit flehenden Blicken zu sich emporschauen sah; sie war geschwunden, als sie mit dem Siegerlächeln der Dummheit kam, nachdem sie niedergetreten, was er zu ihrem und zum Glücke vieler hatte schaffen wollen. »Schluß!« sagte er vor sich hin, stand auf und verschloß seine Tür. Schluß mit der Hoffnung seiner Jugend, die Frau zu finden, die er suchte. »Die Frau, die mit genügend Verstand geboren war, um einzusehen, daß ihr Geschlecht dem andern unterlegen sei.« Er hatte freilich dann und wann die eine und die andere getroffen, die das Faktum zugegeben, sich aber schließlich immer gegen die Ursache dieser Sachlage verwahrt, die Schuld auf eine nicht existierende Unterdrückung geschoben und sich in der Hoffnung gewiegt hatte, bei größerer Freiheit bald den Mann zu überholen; und dann war der Kampf in vollem Gange gewesen.
Er wollte seine Intelligenz nicht in einem ungleichen Kampf mit Mücken zermürben, die er nicht mit dem Stock treffen konnte, weil sie zu klein und weil ihrer zu viele waren, deshalb sollte jetzt für immer Schluß sein mit dem eitlen Suchen nach dem Nichtvorhandenen. Er wollte alle seine Kräfte an die Arbeit verwenden, Verwandtschafts-, Familien-, Häuslichkeitsund Geschlechtstrieb ablegen und die Vermehrung den andern »Reproduktionstieren« überlassen. Das Gefühl, frei zu sein, machte seine Seele ruhig; und es war ihm, als sei ein Sperrhaken in seinem Gehirn gelöst, das jetzt ohne Hemmungen zu arbeiten begann. Der Gedanke, sein Äußeres nicht mehr angenehm machen zu müssen, veranlaßte ihn, eine gewisse Art Kragen abzulegen, die ihm hinderlich gewesen, die aber seine Braut chic gefunden. Er frisierte sein Haar auf bequemere Art und merkte, wie das seine Nerven beruhigte, da er in beständigem Kampf mit der Frisur gelegen hatte, die seiner Braut am besten gefiel. Die Tabakspfeife, die er wie eine alte Bekannte geliebt und die er hatte weglegen müssen, wurde wieder vorgeholt; der Schlafrock und die Sandalen, die er schon lange nicht mehr zu tragen gewagt, verliehen wieder dies Befreitsein von Druck, das an ein luftigeres Medium erinnerte, in dem er ungehindert atmen, ungeniert denken konnte. Und jetzt, erlöst von all diesem Anpassungszwang, merkte er erst, welche Tyrannei er sogar in Einzelheiten ertragen hatte. Er konnte in seinem Zimmer umhergehen ohne die Furcht, durch ein Klopfen an der Tür gestört zu werden, konnte sich seinen Gedanken überlassen, ohne sich unaufrichtig zu erscheinen.
Er hatte die neugewonnene Freiheit noch nicht lange genossen, da klopfte es an die Tür. Ein Ruck ging durch seinen Körper, als wenn einige Vertäuungen ihn noch festhielten. Als er die Stimme der Kammerrätin hörte, traf ihn wie ein Keulenschlag der niederdrückende Gedanke, daß es noch nicht aus sei, sondern wieder von vorn anfange. Zuerst wollte er die Tür verschlossen lassen, aber sein Gefühl für das Schickliche, die Furcht, für feig gehalten zu werden, bewog ihn zu öffnen. Und als er die freundlichen, klugen Augen der alten Dame sah, wie sie mit einem guten Lächeln und einem schalkhaften Kopfschütteln eintrat, war ihm, als sei die Szene der letzten halben Stunde nur ein Traum gewesen, aus dem er erwachte, voll Freude, ihn überstanden zu haben. »Haben wir uns nun wieder gezankt!« begann die Alte und verwischte das Unangenehme der Bemerkung durch das vertrauliche Wir. »Ihr müßt heiraten, Kinder, ehe ihr brecht! Glaubt den Worten einer alten Frau; und denkt nicht, daß ihr als Brautleute eure Herzen erprobt; denn je länger ihr verlobt seid, desto schlimmer wird es!« »Aber nachher ist es zu spät, zu brechen,« antwortete der Fischmeister. Und wenn man schon solche Verschiedenheiten in Stimmungen und Ansichten entdeckt hat …« »Was sind das für Ansichten? Ihr habt ja gar keine verschiedenen Ansichten, bloß das Mädel hat sich gelangweilt, als ihr Axel fort war, und da ist sie dem Prediger nachgelaufen. Und was die Stimmung betrifft, so kommt und geht das, je nachdem die Nerven sind. Du bist doch ein so gelehrter Mann, Axel, und müßtest wissen, wie die Frauenzimmer sind!«
Er wollte in dem ersten Entzücken, die Frau zu treffen, die ihr Geschlecht kannte, ihr die Hand küssen. Da erinnerte er sich, daß er immer, wenn eine Frau ihn hatte gewinnen wollen, sie schlecht von Frauen hatte reden hören; das war mehr eine Schmeichelei als ein Zugeständnis, denn wenn es ernst wurde, hatten sie stets solche Äußerungen mit Zinsen zurückgenommen. Er beschränkte sich deshalb darauf, zu sagen: »Wir wollen abwarten, Mütterchen! Hier draußen heiraten kann ich nicht, aber laß uns nur im Herbst in die Stadt kommen … vorausgesetzt, daß Maria mehr Sympathie für meine Arbeit zeigt und weniger Widerwillen gegen meine Art, Welt und Leben anzusehen.« »Du bist so schrecklich tiefsinnig, Axel, und wenn ein armes Mädchen dir nicht immer folgen kann, so ist das doch kein Wunder.« »Ja ja, aber wenn sie mir nicht nach oben folgen kann, so kann ich ihr anderseits nicht nach unten folgen; das scheint jedoch ihre bestimmte Absicht zu sein, so bestimmt, daß ich heute das Gefühl hatte, es stecke ein verborgener Haß dahinter.« »Haß? Das ist nur Liebe, mein Freund! Komm jetzt zu uns und sag ihr etwas Freundliches, dann ist sie wieder gut!« »Nie, nach den Worten, die wir heute gewechselt haben! Denn entweder bedeuten diese Worte etwas, und dann sind wir Feinde, oder sie bedeuten nichts, und dann ist zum mindesten der eine Teil unzurechnungsfähig.« »Ja, sie ist unzurechnungsfähig, aber du mußt doch bedenken, Axel, daß eine Frau ein Kind ist, bis sie Mutter wird. Komm jetzt, mein Junge, und spiele mit dem Kinde, sonst
sucht sie sich andere Spielsachen, die gefährlicher sein können!« «Ja, aber liebste Mutter, ich kann nicht den ganzen Tag spielen, ohne müde zu werden; und ich glaube, Maria ist auch nicht sonderlich beglückt darüber, als kleines Kind behandelt zu werden!« »Doch, das ist sie, wenn es nur nicht so aussieht! Ach, was für ein Kind bist du in diesen Dingen, Axel!« Wieder eine Artigkeit, die von einer andern als der Schwiegermutter eine Beleidigung gewesen wäre! Und als sie nun seine Hand faßte, um ihn hinauszuführen, fühlte er allen Widerstand schwinden. Sie hatte, indem sie sein Argument unbeantwortet ließ, die Frage außerhalb aller Erörterung gestellt; sie hatte aufs Garn gepustet, statt es zu entwirren; hatte seine Zweifel eingelullt, die Unruhe weggestreichelt und ihn zugleich durch ihre weibliche Atmosphäre, ihre mütterliche Art veranlaßt, seinen Willen zu persönlicher Freiheit abzulegen. Und nachdem er den Rock gewechselt hatte, folgte er gehorsam, fast mit Wohlbehagen, der unaufhörlich plaudernden alten Frau die Treppe hinunter, um das Spiel fortzusetzen und die Ketten wieder anzulegen.« Als er auf die Diele hinunterkam, begegnete ihm der Prediger, der ihm einen Brief mit dem Stempel der Landwirtschaftsakademie überreichte. Der Fischmeister erbrach sofort das Siegel, steckte den Brief in die Tasche und beeilte sich, voll Freude, ein Gesprächsthema, einen Blitzableiter gefunden zu haben, der wartenden Kammerrätin die Neuigkeit mitzuteilen.
»Es kommt Besuch,« sagte er. »Das Amt schickt mir einen jungen Mann, der fischen lernen soll.« »Nun, das ist ja hübsch, daß du etwas männliche Gesellschaft bekommst, Axel,« sagte die alte Frau mit aufrichtiger Anteilnahme. Und der Fischmeister ging mit leichten Schritten zu der wartenden Braut hinunter, in der Gewißheit, daß er mit einer Neuigkeit die unangenehmsten Auseinandersetzungen überbrücken könne.
Zehntes Kapitel Einige Tage später war der Fischmeister allein hinausgesegelt, um in aller Heimlichkeit Lachsleinen zu legen. Er hatte die Mittagsstunde versäumt, kam jetzt vom Hafen herauf, und hörte Schwatzen und Lachen der Damen auf der Veranda. Ohne die Absicht zu lauschen, trat er näher. Als er an die westliche Giebelwand kam, sah er durch die beiden Fenster der großen Stube, die im Winkel der Hausecke saßen, daß die beiden Damen draußen zu Mittag speisten und einen männlichen Gast am Tisch hatten. Er trat noch einen Schritt vor und gewahrte Fräulein Maria, die mit blitzenden Augen ein Glas Wein hob, um es über den Tisch dem männlichen Gast zu reichen, von dem er nur ein paar breite Schultern sah. Sofort fiel ihm ein, daß er diese Gebärde und diesen Ausdruck in den Augen des Mädchens schon einmal gesehen hatte. Er erinnerte sich ihres ersten Anblicks auf der Schäre, als sie dem Bootsmann ein Glas Bier anbot, wobei er gedacht hatte: Sie kokettiert mit dem Burschen! Aber er wunderte sich jetzt, daß er diesen Ausdruck nie in ihren Augen bemerkte, wenn sie ihn selber ansah. Sollten ihre Blicke nur die seinen widerspiegeln? Oder verbarg sie ihr Innerstes stets vor ihm, der ihr Opfer werden sollte? Er betrachtete sie eine Weile, und je länger er schaute, desto fremder erschien ihm der Ausdruck im Gesicht des Mädchens,
so fremd, daß er ängstlich wurde, als wenn man einen Betrug seines Allernächsten aufdeckt. »Sieht man soviel, wenn man ungesehen ist, was wird man da nicht alles zu hören bekommen?« dachte er und blieb hinter der Hausecke stehen, um zu lauschen. Die Mutter erhob sich jetzt und ging in die Küche, so daß die beiden Jungen allein blieben. Im selben Moment senkten sich ihre Stimmen, und Fräulein Marias Blicke wurden schwimmend, während sie den mit Wärme gesprochenen Worten des Fremden lauschte: »Eifersucht ist das schmutzigste von allen Lastern, und in der Liebe gibt es kein Besitzrecht …« »Haben Sie Dank für diese Worte! Tausend Dank!« sagte Fräulein Maria und hob ihr Glas, während ihre Augen von ein paar halben Tränen feucht wurden. »Sie sind ein wirklicher Mann, wenn Sie auch noch jung sind, denn Sie glauben an das Weib.« »Ich glaube an das Weib als an das Herrlichste, das die Schöpfung hervorgebracht hat, das Beste und Wahrste,« fuhr der junge Mann mit gesteigerter Begeisterung fort. »Und ich glaube an das Weib, weil ich an Gott glaube!« »Sie glauben an einen Gott?« fuhr Fräulein Maria fort. »Das beweist, daß Sie auch intelligent sind, denn nur die Dummheit leugnet den Schöpfer!« Der Fischmeister meinte genug gehört zu haben. Um nun auch gleich zu sehen, wie groß die Verstellungskunst seiner fürs Leben erkorenen Freundin sein mochte, legte er alle Gesichtsmuskeln zurecht und trat mit einem strahlenden Ausdruck schnell vor, als sei er entzückt, die Ersehnte wiederzusehen.
Das Mädchen behielt die schwärmerische Begeisterung im Gesicht, und mit dem gleichen Feuer, das dies soeben ausgesprochene Glaubensbekenntnis an das Weib hervorgerufen hatte, nahm sie die Umarmung ihres Verlobten entgegen und erwiderte sie durch einen Kuß, der heißer als gewöhnlich brannte. Darauf stellte sie scherzend den Assistenten Blom vor, der schon früh am Morgen angekommen sei und aller Herzen auf der Schäre gewonnen habe, da er ein Fischer sei wie kein anderer. »Und wir sprachen gerade vom Hering in Bohuslän, als du kamst und uns störtest,« schloß das Mädchen die Vorstellung. Der Fischmeister ließ sowohl die Lüge als auch das gefährliche Wort »störtest« und das herausfordernde »Aller Herzen« an sich abgleiten, und streckte einem Riesenjüngling von einigen zwanzig Jahren die Hand hin. Der Jüngling, dem ein größeres Verstellungstalent fehlte, erfaßte mit der Miene eines Verbrechers die dargereichte Hand und stotterte einige unverständliche Worte. Jetzt kam die Mutter heraus, begrüßte ihren Schwiegersohn und begann den Tisch zu ordnen. Die Unterhaltung kam schnell in Gang, und Fräulein Maria fing an, über die Toilette ihres Verlobten zu scherzen; wahrscheinlich in dem Gefühl, Unterstützung zu finden. »Dieser Schleier, weißt du, ist kostbar,« plauderte sie; »du müßtest nur noch einen Sonnenschirm haben, wenn du am Steuer sitzt.« »Das kommt noch, das kommt noch,« antwortete der Fischmeister und verbarg den unangenehmen Eindruck, den diese
Bloßstellung vor einem Untergebenen und einem Fremden auf ihn machte. Der Assistent, der sich dem rücksichtsvollen Vorgesetzten schon überlegen fühlte, aber doch nicht umhin konnte, über die grausame Behandlung, der jener ausgesetzt war, Mißstimmung zu empfinden, wurde von einem taktlosen Mitleid erfaßt, und während er mit seinen langen Fingern den Flor befühlte, den der Fischmeister um den Hut trug, sagte er: »Es ist wohl aber sehr praktisch!« Dann verfiel er schnell wieder in den buhlerischen Ton, den er vom ersten Augenblick an angeschlagen hatte, und fügte hinzu: »und wenn Fräulein Maria ebenso besorgt um ihren schönen Teint wäre …« »Wie Sie um Ihre schönen Hände,« entschlüpfte es dem Mädchen, indem sie die Hand berührte, die auf dem Tisch ruhte und Brotkügelchen formte; damit schien sie sofort wieder in eine Stimmung zurückzugleiten, die, wie der Verlobte vermuten konnte, den ganzen Vormittag geherrscht haben mochte. Er kam sich lächerlich vor wie einer, der in Gegenwart Gesättigter allein ißt, und bedurfte seiner ganzen Nervenkraft, um die Beklemmung zu unterdrücken, die die angehörte Unterhaltung hervorgerufen hatte. – Sie preisen schon gegenseitig ihre Körperteile in meiner Gegenwart, dachte er mit Ekel. Aber er sah sofort ein, daß er verloren sei, wenn er ein einziges Zeichen von Mißfallen über dies unpassende Benehmen zeigte, ein Mißfallen, das sofort zu jenem schmutzigen Laster gestempelt werden würde, über das er vorhin hatte sprechen hören.
»Sie haben wirklich eine ungewöhnlich schöne und von Intelligenz zeugende Hand, Herr Assistent,« sagte er, indem er mit Kennermiene den Gegenstand der Bewunderung seiner Braut betrachtete. Sie aber, die diese Übereinstimmung der Ansichten nicht wünschte, schwenkte ab und versuchte gegen seine vermeintliche Dummheit einen neuen Hieb zu führen. »Man kann doch nicht von intelligenten Händen sprechen,« rief sie mit einem Lachen, das etwas angeheitert klang. »Deshalb habe ich auch den korrekteren Ausdruck ›von Intelligenz zeugend‹ benutzt –« »O du Philosoph!« hohnlachte das Mädchen. »Du träumst und siehst nicht, daß wir dir alle Radieschen aufgegessen haben.« »Es freut mich, daß es einem Reisenden geschmeckt hat, und ich sehe mit Vergnügen, daß ihr mir in der Sorge um sein Wohlbefinden zuvorgekommen seid,« sagte der Fischmeister zwanglos. »Gestatten Sie mir. Sie willkommen zu heißen, Herr Assistent, und Ihnen viel Freude von Ihrem Aufenthalt hier in der Einsamkeit zu wünschen. Und jetzt lasse ich Sie in Fräulein Marias Obhut; sie kann Ihnen alle vorbereitenden Auskünfte über die Fischereiangelegenheiten geben, während ich hinaufgehe und mich ausruhe. Lebwohl, meine Taube,« wendete er sich an das Mädchen; »nimm dich jetzt des jungen Mannes an und führe ihn auf den rechten Weg. Gute Nacht, Mütterchen,« sagte er zu der Kammerrätin und küßte ihr die Hand. Sein Abgang war völlig unerwartet gekommen, aber seine vollständige Motivierung und die abgerundete Form, die keine Spur von unwilliger Stimmung hinterließ, retteten ihn
vor Protesten, während sie ihm zugleich das letzte Wort gaben und ein Übergewicht, das ihm nicht gegönnt war. In seiner Kammer angelangt, kam er kaum dazu, sich darüber zu wundern, daß die »Furcht, zu verlieren«, ihm eine so unglaubliche Fähigkeit hatte verleihen können, sich zu verstellen, unangenehme Empfindungen zu unterdrücken, sich hart zu machen; da lag er auch schon auf seinem Sofa, die Decke überm Kopf, und schlief traumlos ein. Nach ein paar Stunden wachte er auf und erhob sich mit einem Entschluß, der sich, wie er fühlte, fürs Leben festgebissen hatte: sich von dieser Frau freizumachen. Aber wie sie sich durch die Gewohnheit in seine Seele hineingefressen hatte, so konnte sie nur auf die gleiche Weise wieder herausgenagt werden; und der leere Raum, den er in ihr zurücklassen würde, mußte zuvor von einem andern ausgefüllt werden. Von dem, der sie beim ersten Zusammentreffen in Brand gesteckt zu haben schien. Weiter kam er nicht, als es klopfte. Es war der Prediger, der mit vielen Entschuldigungen eintrat und mit einiger Verlegenheit vorzubringen versuchte, was er auf dem Herzen hatte. »Haben Sie bemerkt, Herr Fischmeister, daß die Leute hier nicht gerade sehr skrupulös sind?« »Das habe ich sofort bemerkt,« antwortete der Fischmeister. »Was ist denn jetzt geschehen?« »Ja, die Arbeiter bei der Kapelle sagen, es seien Bretter fortgekommen und nun reiche es nicht zum Fertigmachen.« »Das wundert mich nicht, aber was kann ich dabei tun?«
»Ja, sehen Sie, Herr Fischmeister. Sie haben doch alles beschafft, was nötig war?« »Das war damals! Jetzt bereue ich das, da ich gesehen habe, daß Ihre Predigten die Leute von der Arbeit abziehen und sie indirekt zu Dieben machen.« »Das kann man wohl nicht so direkt sagen …« »Nein, deshalb sagte ich es ja auch indirekt! Aber wenn Sie Geld haben wollen, so wenden Sie sich an jemand anders. Sagen Sie mir eins: wer ist der neue Assistent?« »Ja, er ist Seekadett gewesen, heißt es, und jetzt soll er die Fischerei lernen, da sein Vater reich ist, heißt es.« Der Fischmeister hatte sich ans Fenster gesetzt, als die Unterhaltung begann, und zugesehen, wie Fräulein Maria und der Assistent Ball spielten. Er hatte auch gesehen, wie ihre Kleider jedesmal hochflogen, wenn sie sich nach hinten bog, um den Ball des andern zu fangen. Jetzt sah er, wie der Assistent sich scherzend bückte, als das Kleid hochflog und gleichsam durch Gebärde und Miene andeutete, daß er etwas sähe. »Hören Sie,« begann er, »ich habe lange darüber nachgedacht, daß es ökonomisch für die Leute sehr vorteilhaft sein würde, wenn es hier einen Kaufladen gäbe, so daß sie nicht in die Stadt zu fahren brauchten, um Einkäufe zu machen; möglich wäre auch, daß der Kaufmann ihnen Waren auf Vorschuß lieferte, gegen die Berechtigung, ihre Fische zu verkaufen. Was meinen Sie dazu, Herr Olsson?« Der Prediger strich seinen langen Kinnbart, während sich auf seinem Gesicht mancherlei wechselnde Begierden und schwankende Ansichten ausdrückten.
Der Fischmeister sah nun durch das Fenster, wie der Assistent den Ausguck enterte, während Fräulein Maria unten in die Hände klatschte. »Ja, sehen Sie, Herr Olsson, wenn man hier einen Laden einrichten könnte, so würde das doch nur Gutes stiften.« »Gewiß, aber die Gemeinde läßt das wohl nicht zu, wenn man nicht einen Kaufmann findet, auf den man sich verlassen kann, ich meine einen Menschen, der …« »Wir nehmen einen geistlich Gesinnten und lassen einen Anteil am Gewinn dem Kapellenfonds zufließen, dann haben wir Gemeinde und Stift beide auf unserer Seite.« Jetzt klärte sich das Gesicht des Predigers auf. »Ja, auf diese Weise könnte es gehen!« »Überlegen Sie sich die Sache und versuchen Sie eine geeignete Persönlichkeit zu bekommen, die die Leute nicht schindet und der Kirche nicht schadet. Überlegen Sie sich das einstweilen. Nun zu etwas anderm. Ich habe zu bemerken geglaubt, daß es mit der Sittlichkeit hier auf der Schäre schlecht bestellt ist. Haben Sie gesehen, Herr Olsson, oder geargwöhnt, daß es hier unten bei Vestmans nicht ganz in Ordnung ist?« »Hm! Ja, man sagt ja, es sei etwas los, aber man weiß es nicht! Und ich glaube nicht, daß man sich einmischen darf!« »Meinen Sie! Aber ich frage mich, ob man nicht beizeiten einschreiten müßte, ehe sie sich selbst verraten, denn so etwas pflegt hier draußen ein schlimmes Ende zu nehmen!« Der Prediger schien sich durchaus nicht mit der Sache befassen zu wollen, sei es, daß er es für nicht der Rede wert hielt, sei es, daß er es mit den Leuten nicht verderben wollte. Außerdem schienen, nach seinem kränklichen Aussehen zu urteilen, seine Gedanken sich mit eigenen Leiden zu beschäf-
tigen, weshalb er in einer unvermittelten Wendung sein eigentliches Anliegen vortrug. »Ja, und dann wollte ich fragen, ob Sie mir nicht etwas zum Einnehmen geben können, Herr Fischmeister, denn ich habe mir wohl hier draußen in der Feuchtigkeit das kalte Fieber geholt.« »Das kalte Fieber? Lassen Sie mich sehen!« In einer momentanen Eingebung und ohne einen Augenblick zu vergessen, daß es ein Feind war, der ihn herausgefordert hatte, untersuchte der Fischmeister den Puls des Patienten, besah die Zunge und das Weiße des Auges und hatte seine Verordnung fertig. »Haben Sie schlechte Kost bei Ömans?« »Ja, die ist allerdings elend,« antwortete der Prediger. »Sie haben Hungerfieber und sollen von meinem Tisch beköstigt werden. Sie haben wohl auch alle starken Getränke abgeschworen?« »Das heißt, ich trinke Bier …« »Hier haben Sie für den Anfang ein Chinapräparat, das Sie dreimal täglich nehmen müssen. Wenn es verbraucht ist, sagen Sie mir Bescheid.« Damit gab er ihm eine Flasche Chinabitter, faßte die Hand des Predigers und sagte: »Sie müssen mich nicht hassen, Herr Olsson, denn wir haben große gemeinsame Interessen, obwohl wir verschiedene Wege gehen. Wenn ich Ihnen zu Diensten sein kann, bin ich immer bereit.« Ein so einfaches Mittel wie ein wenig scheinbares Wohlwollen genügte, dem einfachen Mann den Blick zu verwirren; er
glaubte einen Freund gewonnen zu haben. In aufrichtiger Rührung streckte er ihm die Hand hin und stammelte: »Sie haben mir einmal Böses getan, Gott aber hat es zum Guten gewendet; und nun danke ich für alles, Herr Fischmeister, und bitte Sie, das mit dem Laden und der Gemeinde nicht zu vergessen.« »Das vergesse ich bestimmt nicht,« schloß der Fischmeister mit einer verabschiedenden Gebärde. Nachdem er sich einen Augenblick gesammelt hatte, ging er hinunter, um den Assistenten aufzusuchen, den er in einer Fechtübung mit Fräulein Maria begriffen fand; er gab sich große Mühe, ihren Handgelenken und ihrem Oberarm die nötige Biegsamkeit für eine schöne Auslagestellung beizubringen. Der Fischmeister bat nach einem Kompliment um Entschuldigung, daß er störe, aber er müsse mit dem Herrn Assistenten über die Wohnungsfrage sprechen. »Hier auf der ganzen Schäre ist keine andere Kammer frei als die Bodenkammer über, der Wohnung der Damen,« sagte er mit einer Kühnheit, als habe er sich alle Mühe gegeben, ein anderes Zimmer zu finden. »Nein, das geht nicht!« rief Fräulein Maria. »Wieso?« widersprach der Fischmeister. »Was sollte da im Wege sein? Es gibt nur dieses eine Zimmer, wenn Herr Blom nicht meins haben soll; dann müßte ich ja aber im selben Hause wohnen wie die Damen, und das ginge doch sicher nicht.« Da es keine andere Wahl gab, wurde die Sache abgemacht und das Gepäck des Assistenten hinaufgetragen.
»Nun aber kommt der Ernst!« fuhr der Fischmetster fort, nachdem es wieder ruhig geworden war. »Der Strömling ist gekommen, und in acht Tagen beginnt der Fang. Deshalb, Herr Assistent, müssen Sie sofort, am besten heute nacht noch, so lange dieser Wind anhält, mit den Netzen hinaus und den Fang mit dem Treibnetz versuchen, auf den Sie sich ja verstehen.« »Darf ich mit?« bettelte Fräulein Maria, die jammernde Stimme eines Kindes nachahmend. »Natürlich darfst du das, mein Engel,« antwortete der Fischmeister, »wenn Herr Blom nichts dagegen hat. Aber Sie müssen entschuldigen, daß ich Sie jetzt allein lasse, denn ich muß die ganze Nacht Berichte schreiben. Um eins müssen Sie draußen sein. Sie können den Kaffeekessel mitnehmen.« »O wie nett, wie nett!« jubelte das Mädchen, das zehn Jahre jünger geworden zu sein schien. »Und jetzt lasse ich Boot und Netze in Ordnung bringen. Legen Sie sich dann heute abend früh nieder, damit Sie die Zeit nicht verschlafen.« Damit ging er, erstaunt über die unglaubliche Sicherheit, mit der er seinen Willen durchsetzte, nachdem er eine unmögliche Verteidigung aufgegeben hatte und zum Angriff übergegangen war. Zum erstenmal trat er bei dem feindlichen Großfischer Öman ein. Er merkte sofort, daß hier Kälte und Widerwillen herrschten, aber er stellte so bestimmte Fragen und gab so bestimmte Befehle, daß alles sich beugte. Ließ einige freundliche Fragen nach den Kindern einfließen; verhieß, daß bald bessere Zeiten für die Schäre kommen würden und nahm alles Risiko auf
sich; warf ein Wort über den Kaufladen hin; ermahnte die Leute, Fässer und Salz bereit zu halten; wenn sie kein Geld hätten, sich diese Dinge zu kaufen, sollten sie Vorschuß bekommen. Er ging als aller Freund fort und mußte versprechen, dem Alten, der sich erkältet hatte, sofort einige starke Tropfen zu senden. Darauf ging er nach den Schuppen hinunter und wählte einen Zug Netze mit steifen Bojen und starken Tauen aus. Untersuchte das beste Boot genau und kommandierte zwei tüchtige Burschen. Als er diese Vorbereitungen getroffen hatte, läutete es unten im Hause der Damen zum Abendbrot. Beim Abendbrot plauderte er mit der Mutter, während die Jungen, wie er sie jetzt nannte, sich mit den Augen verzehrten, sich neckten und knufften, als zögen ihre Körper sich unwiderstehlich an. »Willst du die beiden so allein lassen?« flüsterte die Mutter ihm zu, als er Gute Nacht sagte, um sich in sein Zimmer zu begeben. »Warum nicht? Zeige ich Mißfallen, so werde ich lächerlich, und zeige ich kein Mißfallen …« »So wirst du noch lächerlicher …!« »Also: in jedem Fall. Es ist mithin gleichgültig, wie ich mich verhalte! Gute Nacht, Mutter!«
Elftes Kapitel Es hatte acht Tage lang geregnet nach jenem ersten Versuch mit dem Treibgarn, der kein anderes Ergebnis gehabt hatte als eine kleine Szene zwischen den Verlobten. Der Fischmeister, der sehr wohl wußte, daß keine Fische zu bekommen waren, und mit Absicht die jungen Leute irregeführt hatte, war an den Strand hinuntergegangen, um die Heimkehrenden zu empfangen. Dabei war er von seiner Braut, die von der Nachtwache völlig kaputt war, Idiot tituliert worden. Als die Bootsleute heimlich grinsten, war der Assistent, der einen Sturm befürchtete, mit einem Scherz dazwischengetreten. Beim Mittagessen hatten die Witzeleien über die neue Art des Fischens größeren Umfang angenommen, und der Fischmeister hatte tiefe Zerknirschung geheuchelt, so daß Herr Blom sich mehrmals verpflichtet glaubte, ihn in äußerst verletzender Weise in Schutz zu nehmen. Dann hatten die Regentage die Gesellschaft eingeschlossen gehalten, wobei sich ein äußerst intimes Zusammenleben unten im Hause der Damen entwickelte. Der Assistent hatte den Brauch eingeführt, aus schwedischen Dichtern vorzulesen. Der Fischmeister hatte anfangs zugehört, sich aber schließlich mit der Erklärung zurückgezogen, die schwedische Poesie sei für Konfirmanden und Damen geschrieben, und er wolle warten, bis ein Dichter komme, der für Männer schreibe. Er war dann durch allgemeine Abstimmung für unpoetisch er-
klärt worden, und war’s zufrieden; denn das befreite ihn von der Verpflichtung, den Sitzungen beizuwohnen. Das Regenwetter hatte auch die Arbeiten an der Kapelle unterbrochen, und die Arbeiter saßen in den Häusern und gaben Branntwein zum besten für den Kaffee, den sie bekamen. Der Reiseprediger, der die Leute nicht auf der Anhöhe versammeln konnte, ging in den ersten Tagen in den Küchen umher und wollte aus der Bibel vorlesen, wurde aber mit Gleichgültigkeit empfangen und geriet mit den Arbeitern, die meistens Freidenker waren, in Streit. Darauf hatte er sich in seine Kammer zurückgezogen, sich krank gemeldet und, als seine Flasche geleert war, sich von dem Fischmeister das Chinapräparat holen lassen. Plötzlich war er verschwunden, und es hieß, er sei mit einem Dampfer nach der Stadt gefahren. Jetzt war er am Abend vorher wieder auf der Schäre angelangt, begleitet von einem Mann, den er Bruder nannte und der eine Bootsladung verschiedener Waren mitbrachte, in der Hauptsache Bier. Die Waren wurden in einem Schuppen aufgestapelt, in dessen offner Tür ein auf zwei Fässer gelegtes Brett als Ladentisch dienen mußte. Die Gemeinde hatte der Eröffnung eines Kaufladens zugestimmt. In den letzten Tagen hatten sich die Fischer von den landeinwärts gelegenen Inseln hier auf der Schäre versammelt. Und jetzt wurden die Seeschuppen geöffnet und ganze Familien dort einquartiert; die Häuser füllten sich mit Verwandten und Bekannten, und auf der ganzen Schäre herrschte ein Leben, das erheblich gegen die gewöhnliche Einsamkeit abstach. Da die Schäre mit den Fischgründen einem Privatmann im Binnenlande gehörte, bezahlte jedes Boot eine bestimmte
Abgabe, die von einem hierher entsandten Beamten erhoben wurde. Zu diesem kam der Fischmeister sofort in ein gespanntes Verhältnis, als er von dem Fang mit Treibgarn sprechen wollte; denn das würde das Verlassen der seichten Stellen und damit das Aufhören des Wasserschillings zur Folge haben. Aber auch diesen anscheinend ungünstigen Umstand hatte er zu seinem Vorteil zu nützen verstanden; denn der Beamte, der von dem Widerstand gegen das Neue veranlaßt wurde, für das Alte Propaganda durch Branntwein zu machen, sollte dadurch unfreiwillig den dunklen Hintergrund bilden, gegen den sich die Wirkung der Treibgarnfischerei nur um so stattlicher ausnehmen würde. Und er war seines Sieges vollkommen sicher, da er zu allen Zeiten, Tag und Nacht, Wasserproben entnommen, mit der Dregge gearbeitet und mit seinem Seeglas die Tiefen untersucht hatte, um festzustellen, wo die Strömlingsschwärme sich aufhielten. All diese Einzelheiten hatten aber für ihn kein anderes Interesse, als daß sie dazu dienten, seine Energie für kommende Kämpfe auszubilden, ihm dies Gefühl von Macht wiederzugeben, ohne das niemand leben kann, der ungewöhnliche Kräfte besitzt, Kräfte, die leicht verloren gehen, wenn sie nicht gebraucht werden. In der Zeit, die seit der Ankunft des Assistenten vergangen war, hatte die tägliche Bevormundung von seiten der Jungen ihn so allmählich an die Rolle des Unterlegenen gewöhnt, daß er sich in diese Rolle einzuleben begann, zumal er nicht selbst brechen wollte, sondern es notwendig fand, den Bruch von ihr ausgehen zu lassen. Zwischen den beiden jungen Leuten bestand nämlich in allen Punkten vollständige Sympathie, und er sah, wie die reife Frau sich sofort auf das gleiche Niveau mit
dem unreifen Manne stellte, dessen unreife Gedanken, dessen improvisierte Meinungen als Gipfel der Weisheit hingenommen wurden. Jeder Versuch seinerseits, eine Dummheit zu widerlegen, scheiterte an der Unfähigkeit der beiden, die Glieder einer Beweisführung zusammenzuhalten, da ihr Denken ausschließlich von dem Trieb, einander zu besitzen, beherrscht war. Auf eine Konkurrenz in Akrobatenkunststücken oder Lobpreisungen des niedrigeren Geschlechts wollte er sich nicht einlassen. Es lag ja gerade in seinen Absichten, sich ausstechen zu lassen und einer Verbindung, die sein ganzes künftiges Dasein bedrohte, ein sicheres Ende zu machen. Und diese Biandrie, in der er lebte, da er in den wenigen einsamen Stunden mit seiner Braut nur die Reflexe des andern auffing, gewissermaßen dessen Hauch auf ihren Lippen fühlte, dessen Kindereien aus ihrem Munde wiederklingen hörte – all dies hatte ihm schließlich einen Ekel vor einem Verhältnis eingeflößt, das an eine ménage à trois erinnerte. Die Eingebildetheit des jungen Mannes kannte auch keine Grenzen, und er war in den Wahn verfallen, dem Fischmeister überlegen zu sein, weil er mit Fräulein Maria al pari stand. Diese ihrerseits wußte die Illusion zu erwecken, als stände sie über dem Fischmeister, nach der sehr richtigen Formel: Wenn A größer ist als B und C ebenso groß ist wie A, so ist C ebenfalls größer als B – ohne jedoch vorher zu untersuchen, ob A wirklich größer war als B. Nie hatte er geglaubt, daß einmal das Geheimnis der Jugend so offen zutage treten würde, wie es ihm hier auf dem Präsentierteller dargereicht wurde, und wie gut erkannte er sich selbst aus dem zurückgelegten Stadium wieder. Wie hatte er nicht vor Hunger und Brunst geweint, hatte Weltschmerz
empfunden aus Neid gegen die älteren, die bereits errungen hatten, was er erstrebte, und ihn jetzt niederdrückten. Dadurch war seine Sympathie für alle Unterjochten und Kleinen geweckt worden. Diese Unfähigkeit, seine Kräfte zu beurteilen, die auf einer Antezipation dessen beruhten, was in einem langen Leben ausgerichtet werden konnte, wenn man es sich in einer einzigen Handlung konzentriert dachte! All diese Sentimentalität, die nur von unbefriedigten Trieben herrührte! Diese Überschätzung der Frau, die darauf basierte, daß die Kinderstubenerinnerungen an die Mutter noch frisch waren! Diese schlaffen Halbgedanken des noch weichen Gehirns unter dem Druck von Blutgefäßen und Testikeln! Er erkannte sogar diese Ansätze von gutem Verstand wieder, die in der Form primitiver, tierischer List, offne Mittel scheuend, sich so oft für höhere Klugheit halten, während sie doch nur der einfache Versuch des Fuchses sind, schlau zu sein; daher wirken sie irreführend gleich der berühmten Weiberlist, der Pfarrerschläue, den Advokatenschlichen. Der junge Mann hatte nämlich auch versucht, mit dem Fischmeister Gedankenlesen anzustellen und damit seine Annahme verraten, daß dieser irgendwelche gefährliche Geheimnisse mit sich herumtrage, da er anders war als andere Menschen. Dabei hatte er sich aber so plump benommen, daß der Fischmeister alles erfahren hatte, was man unten bei den Damen über ihn dachte und sprach, und statt eine einzige Auskunft zu geben, hatte er mit seiner Antwort den jungen Mann so mystifiziert, daß dieser zu zweifeln begann, ob der Rivale ein Dummkopf oder eine dämonische Natur sei. Unter dämonisch verstand er eine bewußte Persönlichkeit, die unter dem Anschein größter Naivität mit voller Berechnung han-
delte und stets bereit war, die Schicksale der Menschen nach den eigenen Plänen zu lenken. Der Begriff Berechnung – in Wahrheit eine Tugend – hat bei den Jungen, die die Folgen einer Handlung nicht berechnen können, immer eine schlechte Bedeutung; und so erwuchs aus dem Neid des Assistenten die leidenschaftliche Begierde des Unterlegenen, niederzuziehen, unter die Füße zu treten. So standen die Dinge, als der große Tag kam, an dem die ganze Existenz der Schärenbewohner für den nahenden Winter sich entscheiden sollte. Der Augustabend hing bettwarm über der Schäre, deren Klippen und Steine alle heiß waren, auch noch nach Sonnenuntergang, so heiß, daß der Tau nicht darauf niederfallen konnte. Das Meer breitete sich glatt und lavendelgrau draußen aus, wo der Vollmond kupferrot aufging und gerade jetzt von einer Brigg halb verdeckt wurde, die mitten auf dem mare serenitatis des Trabanten zu segeln schien. In der Nähe des Strandes sahen all die ausgelegten Netzbojen wie Scharen von Seevögeln aus, die sich auf der Dünung schaukelten. Während die Leute den Anbruch des Morgens erwarteten, um die Netze nachzusehen, hatten sie sich mit Kaffeekesseln und Schnapsflaschen am Strande um angezündete Feuer gelagert. In dem Schuppen, in dem der Kaufmann Bier verkaufte, hatte der Prediger einen Platz neben dem Bruder eingenommen, um ihm bei dem starken Verkehr zur Hand zu gehen, und zog, mit einer blauen Schürze um den Leib, wie ein alter, geübter Gastwirt Bierflaschen auf. Der Fischmeister, der hinausgegangen war, um Strömung, Temperatur und Barometerstand zu beobachten, wanderte jetzt am Sandstrande, um seine Gedanken ausruhen zu las-
sen. Hier und da stieß er auf ein Paar, das die Einsamkeit gesucht hatte. Ihr Benehmen war so unbegreiflich naiv, daß er ihnen nur mit Lächeln und Ekel den Rücken kehrte. Als er auf die Landzunge hinausgekommen war, kletterte er die Klippen hinauf, um seinen Sitzplatz aufzusuchen, wo er zu denken pflegte. Es war ein von den Wellen vollkommen glatt geschliffener Lehnstuhl, der von der brennenden Sonne des Tags noch warm war wie ein Kachelofen. Er hatte eine Weile dagesessen und sich von dem Seufzen der Dünung einschläfern lassen, als er unten am Meeresufer den Sand knirschen hörte. Es raschelte in dem getrockneten Tang und er erblickte seine Braut und den Assistenten, wie sie eng umschlungen leise dahinwanderten. Sie blieben zwischen dem unsichtbaren Zuschauer und der Mondbahn auf dem Wasser stehen, so daß er ihre Gestalten sich scharf abzeichnen sah, als habe er sie zwischen dem Objektiv und dem Brennspiegel des Mikroskops. Und er sah nun mit dem geschärften Blick der Antipathie ihr Raubvogelprofil sich dem großen Affenkopf des andern zuneigen, dessen ungeheure Backen nur für Trompeter zu brauchen waren und dessen kegelförmiger, schmaler Schädel keine Stirn hatte. Er betrachtete jetzt die überflüssigen Fleischmassen in der Gestalt des Mannes, dessen unedle Linien mit den allzu starken Hüften an eine Frau erinnerten, wie bei dem farnesischen Herkules. Ein männliches Ideal aus der Zeit der Halbtiere, da die Faust über das Großhirn, das noch nicht fertig war, herrschte. Er war tief verletzt, als sei er eine Verbindung mit einer Kentaurin eingegangen. Er fühlte seine Seele mit einem Niedergangstyp verschwägert, und ihm war, als stände er am Beginn eines Verbrechens, das, einmal vollzogen, sein Geschlecht für alle kommenden Zeiten fälschen würde; ei-
nes Verbrechens, das ihn verleiten sollte, sein einziges Leben für das Kind eines andern zu opfern. Und wenn er erst seine besten Gefühle verschwendet, sein Herz daran gehängt hatte, würde er seine Erniedrigung wie einen Klotz am Fuß mitschleppen, ohne frei werden zu können. Die Eifersucht, »dieses schmutzige Laster«, was war sie anders als die Furcht des gesunden, starken Geschlechtsinstinkts, gehindert zu werden in seinem lobenswerten Egoismus, das Beste des Individuums fortzusetzen? Und wem fehlte diese gesunde Leidenschaft anders als dem sterilen Familienerhalter, dem Gattinnenkuppler, dem schwachen Narren, dem Cicisbeo, dem Gynolater, der an platonische Liebe glaubte? Er war eifersüchtig; doch als der erste Zorn über die Beschimpfung sich gelegt hatte, erwachte ein ungezügeltes Verlangen, diese Frau zu besitzen, ohne sie zu heiraten. Der Fehdehandschuh war hingeworfen, die Freiheit der Wahl verkündet, und er verspürte Lust, den Kampf aufzunehmen, das Band zu zerreißen und als Liebhaber aufzutreten, um nach errungenem Sieg ruhig davongehen zu können in dem Bewußtsein, nicht der von der Natur Enterbte zu sein, der im Liebeskampf unterlegen war. Es handelte sich ja nicht mehr um einen ehrlichen Wettbewerb mit loyalen Mitteln, sondern um einen hinterlistigen Kampf mit Einbrechern. Der Herausfordernde hatte die einfache Waffe der Dietriche gewählt und der Kampf galt gestohlenem Gut. Wenn eine Frau der Preis war, schwanden alle Skrupel. Das Tier war erwacht, und die wilden Instinkte, die sich unter dem großen Namen Liebe verbargen, rasten wie losgelassene Naturmächte. Er verließ unbemerkt seine Klippe und lenkte die Schritte heimwärts, um sein Schicksal zu ordnen, wie er es nannte.
Zwölftes Kapitel Um sieben Uhr am folgenden Morgen herrschte eine dumpfe Stille auf der Schäre, denn die Grundfischerei war aus all den Ursachen, die der Fischmeister angegeben hatte, mißlungen. Niedergeschlagen saßen die Schärenbewohner in ihren Booten und ordneten die Netze, aus denen sie hier und da einen einsamen Strömling lasen, der an Land geworfen wurde. Der Verkehr vor dem Kaufladen hatte mit sinkendem Kredit aufgehört; der Prediger hatte seine blaue Schürze abgelegt und mit der Bibel in der Hand einen kleinen Kreis verzweifelter Frauen in einem Hause um sich versammelt. Mit einer unbegreiflichen, aber bei seiner Klasse nicht ungewöhnlichen Logik sprach er darüber, wie Jesus mit fünf Broten und zwei Fischen fünftausend Menschen gespeist habe. Ein Vergleichsmoment war ja gegeben, insofern, als im vorliegenden Falle viele Münder und wenig Fische vorhanden waren, aber wie diese Fische so viele sättigen sollten, das konnte er nicht sagen. Da er also keine Hilfe bringen konnte, mußte er eine Erklärung versuchen, warum das Wunder heute nicht mehr geschehen könne, und suchte die Ursache in dem herrschenden Unglauben. Wenn sie nur Glauben hätten so groß wie ein Senfkorn, so werde das Wunder sich wiederholen. Und der Glaube könne nur durch Gebet erlangt werden. Deshalb ermahnte er die Versammlung zu beten.
Wenn auch keiner von den Anwesenden an das Wunder von den zwei Fischen glaubte, von dem die meisten nie gehört, weil sie die Geschichte nicht gelesen hatten, folgten sie dem Beispiel und wiederholten das Vaterunser, das sie beim Konfirmandenunterricht notdürftig gelernt hatten. Aber als sie halb damit fertig waren, wurden sie plötzlich durch ein Gemurmel vom Hafen her unterbrochen. Die Frauen, die dem Fenster zunächst saßen, sahen jetzt ein Netzboot, das gerade das Rahsegel strich, an der Landungsbrücke anlegen. Vorn stand Fräulein Maria mit flatterndem Haar unter der schottischen blauen Mütze und am Steuer saß der Assistent und schwenkte seinen Hut zum Zeichen des Erfolgs. Das Boot war mit Netzen überladen, durch deren dunkle Maschen Fisch an Fisch glitzerte. »Kommt her, ihr sollt Strömling haben!« rief das Mädchen mit der Freigebigkeit des Siegers. »Sobald ich ihn aufgemessen habe, sollen die Leute ihn bekommen,« wendete der Fischmeister ein, der von seinem Fenster aus die Heimkehr des Bootes beobachtet und sich deshalb eingefunden hatte, um das Ergebnis seiner Arbeiten zu sehen. »Was hat das für einen Zweck?« wendete Fräulein Maria mit nicht geringer Anmaßung ein. »Das ist für die Statistik, meine Gnädigste,« antwortete der Fischmeister, ohne ein Zeichen des Ärgers, da er wußte, daß der erfolgreiche Fang den von ihm gemachten Angaben zu verdanken war, die sich auf Strömung, Tiefe, Wassertemperatur und Bodenverhältnisse erstreckten. »Du mit deiner Statistik,« scherzte Fräulein Maria mit einem Aufdruck tiefster Verachtung.
»So nimm ihn, aber laß mich nachher wissen, wieviel es gewesen ist,« schloß der Fischmeister die Unterredung und ging auf sein Zimmer. »Er ist neidisch auf uns,« bemerkte Fräulein Maria zu dem Assistenten. »Vielleicht eifersüchtig,« meinte dieser. »Das kann er wohl nicht werden,« entgegnete das Mädchen halblaut wie zu sich selber und verriet damit den seit mehreren Tagen versteckten Ärger über die unglaubliche Gleichgültigkeit ihres Bräutigams gegen den Rivalen. Ihr erschien diese Gleichgültigkeit als geradezu verletzender Ausdruck seiner Überzeugung, sie fesseln zu können. Die Betstunde war abgebrochen worden, und alle Schärenbewohner scharten sich um das heimgekehrte Netzboot. »Ja, das Fräulein ist ein ganzer Kerl!« schmeichelte der Prediger, der, wie er meinte, die Gelegenheit wahrnahm, ein wenig Samen der Zwietracht zu säen. »Eine sitzende Krähe kriegt nichts,« scherzte der Aufseher. »Eine auf dem Sofa liegende, meint er,« flüsterte der Assistent Fräulein Maria zu. Das Mädchen blähte sich unter dem Lob, teilte mit vollen Händen Fische aus an die auf der Brücke stehen, die nicht müde wurden, in Lobesworte und Segenswünsche für den rettenden Engel auszubrechen. Aber es war nicht Dankbarkeit für empfangene Wohltat, die diese schönen Regungen hervorrief, sondern ein innerliches Bedürfnis, sich dem Fischmeister gegenüber, über dessen Fischerei sie gewitzelt hatten, nicht selbst ins Unrecht zu setzen. Es war die Kehrseite des Hasses gegen den wirklichen
Wohltäter, vor dem sie sich nicht in Dankbarkeit beugen wollten. Als die Fische aus den Netzen genommen und unter die Ärmsten verteilt waren, stellte sich heraus, daß es gegen zehn Tonnen waren, die sofort von dem Kaufmann aufgekauft und gesalzen wurden. Das Geld wurde gleich wieder in Kaffee, Zucker und Bier verwandelt. Denn den eigenen Winterströmling glaubte man mit Leichtigkeit der See entnehmen zu können, da Fräulein Maria alle Erklärungen gegeben hatte, wie bei der neuen Treibgarnfischerei verfahren werden müsse. Als der Fischmeister auf sein Zimmer kam, fand er einen Brief vor, den ein heimkehrender Zollbeamter mitgebracht hatte. Er enthielt eine Einladung für den Fischmeister und seine Braut, den Ball der Offiziere an Bord der Korvette Loke zu beehren, die am Abend desselben Tages um acht Uhr vor der Schäre ankern werde. Er sah sofort ein, daß der Augenblick gekommen sei, die Beziehungen abzubrechen; denn die Geliebte eines andern in die Gesellschaft einführen und als seine künftige Frau vorstellen, wollte er natürlich nicht. Deshalb zog er den Verlobungsring ab und legte ihn in einen Brief, den er in der Nacht vorher an die Kammerrätin aufgesetzt hatte und in dem er mit den stärksten Ausdrücken der Verzweiflung beklagte, daß seine Verbindung mit Fräulein Maria ein Ende nehmen müsse, weil eine ältere Beziehung, die er leichtsinnig mit einer Frau eingegangen sei, jetzt durch die Geburt eines Kindes zu gesetzlichen Ansprüchen geführt habe. Diese Ansprüche könnten zwar nicht zur Ehe mit der Klägerin zwingen, doch
besäßen sie die Macht, die Verbindung mit einer andern zu hindern. Als Mann von Ehre, der niemand verletzen wollte, erkläre er sich bereit, dem so unschuldig gekränkten und vielleicht in Bedrängnis versetzten Mädchen beizustehen, sowohl was die Rettung ihrer Ehre wie ihre Subsistenz anging. Diese Fabel hatte er als die einzig mögliche Art, einen Bruch herbeizuführen, erkannt, da sie die Ehre beider Teile schützte, am meisten aber die des Mädchens, und wie ein unabwendbares Schicksal ohne Hoffnung auf Minderung wirken mußte. Als er den Brief versiegelt hatte, pfiff er seiner Ordonnanz und übergab ihr das Schreiben mit dem Bescheid, es zur Kammerrätin hinüberzutragen. Darauf zündete er sich eine Zigarette an und stellte sich ans Fenster, um zu sehen, wie der Schuß losging. Im Vorbau stand die alte Dame und schüttelte einen Bettvorleger aus, als der Mann stehen blieb, um den Brief abzuliefern. Sie nahm ihn mit einiger Verwunderung entgegen, die sich steigerte, als sie mit der linken Hand das Kuvert befühlte, um zu untersuchen, was es enthalten mochte. Dann drehte sie sich um und ging ins Haus hinein. Eine Weile darauf sah er Fräulein Marias Gestalt sich hinter den Gardinen des Eßzimmers bewegen. Sie schien heftig hin und her zu gehen, blieb bisweilen stehen und gestikulierte mit den Armen, als wolle sie sich gegen Vorwürfe verteidigen, die ihr gemacht wurden. Das dauerte ungefähr eine Stunde, worauf sie im Vorbau zum Vorschein kam und einen rachsüchtigen Blick nach dem Fenster des Fischmeisters hinüberwarf. Dann winkte sie dem Assistenten, der vom Hafen heraufzukommen schien.
Nachdem sie beide ins Haus gegangen und eine halbe Stunde lang unsichtbar geblieben waren, erschienen sie wieder und gingen in den Holzschuppen, aus dem sie einen Koffer und eine Reisetasche holten. Man hatte also einen Entschluß gefaßt und eingesehen, daß ein Verbleiben auf der Schäre unmöglich sei. Nach einer Weile tauchte der Assistent wieder auf, diesmal mit seiner eigenen Reisetasche, die der Fischmeister an dem Messingbeschlag erkannte. Also gedachte auch er zu reisen. Bald fanden sich die Wirtsleute des Hauses und das Gesinde ein, und das ganze Haus schien auf den Kopf gestellt zu werden. Der Fischmeister verbrachte seine Zeit mit Lesen und sah gegen Mittag den Assistenten und Fräulein Maria in die Veranda treten, in einer lebhaften Unterhaltung begriffen, die immer lebhafter wurde und von Gebärden begleitet war, die auf einen Wortwechsel schließen ließen. Sie sind weit gekommen, da sie sich schon zanken, dachte der Fischmeister. Am Nachmittag wurden die alte Dame und der Assistent mit dem Lotsenboot an einen nach der Stadt gehenden Dampfer gebracht. Warum Fräulein Maria blieb, konnte er nicht begreifen. Vielleicht eine Hoffnung auf Wiedervereinigung, vielleicht ein Bedürfnis, ihren Trotz zu zeigen, oder noch etwas anderes. Sie setzte sich an ein Fenster, so daß sie vom Zollhause aus gesehen werden konnte. Und da saß sie fast die ganze Zeit; bald trommelte sie an der Scheibe, bald las sie in einem Buch,
und dann und wann führte sie das Taschentuch über das Gesicht. Gegen sieben Uhr abends dampfte die Korvette von Landsort heran und ging bald darauf zwischen den Schären vor Anker. Als sie mit der Dampfpfeife dem Lotsen signalisierte, stand das Mädchen auf und ging hinaus, um zu sehen, was es gebe. Und als sie nun auf der Anhöhe stand und das schmucke Fahrzeug betrachtete, das zum Fest mit Flaggen an allen Leitern und einem bunten Zelt auf dem Zwischendeck geschmückt war, konnte der Fischmeister sehen, wie das lokkende Bild sie faszinierte. Sie blieb mit den Händen auf dem Rücken in einer abgeschmackten Pose stehen, bis der Wind die Klänge eines Festmarsches nach der Schäre herübertrug. Da begannen ihre Füße sich zu bewegen. Leise bog sich der schlanke Körper nach vorn, als würde er von den Tönen der Musik gezogen; plötzlich fiel die ganze Gestalt zusammen, die Hände bedeckten das Gesicht und das Mädchen stürzte wieder ins Haus, voll Verzweiflung, wie ein Kind, dem ein erhofftes Vergnügen entgangen ist. Der Fischmeister zog sich jetzt zum Ball an; auf dem schwarzen Doktorfrack befestigte er seine sechs Orden in Miniaturformat an einer Kette und legte das Armband an, das er seit dem Verlobungstage nicht getragen hatte. Nach Beendigung seiner Toilette blieb ihm noch eine Stunde, bis das Boot ihn holen würde. Er beschloß, Fräulein Maria einen Abschiedsbesuch zu machen, vor allem, um nicht in den Verdacht der Feigheit zu kommen, aber auch, weil er das Verlangen hatte, seine Macht über eigene Gefühle zu erproben. Als er auf die Diele kam, polterte er etwas, damit das Mädchen Zeit haben solle, eine Pose anzunehmen, aus der er
dann ersehen konnte, warum sie dageblieben war und was für Absichten sie hatte. Er klopfte, trat ein, und fand Fräulein Maria bei einer Näherei sitzen, – eine Beschäftigung, bei der er sie noch nie gesehen hatte. Ihr Gesicht ließ Zerknirschung, Reue, Demut erkennen, wenn es sich auch bemühte, gleichgültig vornehm auszusehen. »Empfangen Sie, Fräulein Maria, oder soll ich gehen?« begann der Fischmeister. Und er fühlte wieder dieses unerklärliche Verlangen, sie als Frau über sich emporzuheben, sobald sie mit den Attributen der Frau auftrat und sich an ihn lehnte, ebenso lebhaft, wie er sonst eine unbezähmbare Lust verspürte, sie niederzuschlagen, wenn sie sich männliche Ansprüche und Gebärden zulegte. Jetzt in diesem Augenblick erschien sie ihm so schön, wie er sie schon lange nicht mehr gesehen hatte, so daß er seinen Gefühlen nachgab und, ohne Widerstand zu leisten, sich aufschloß. »Ich habe Ihnen Kummer bereitet, Fräulein Maria …« Als sie den weichen Tonfall hörte, richtete sie sich sofort auf und sagte bissig: » »Aber Sie waren zu feig, mir es selbst zu sagen.« »Zu rücksichtsvoll, Fräulein Maria! Mir fällt es nicht so leicht wie Ihnen, Leuten ins Gesicht zu schlagen. Und Sie sehen doch, daß ich den Mut habe, mich zu zeigen, wie Sie den Mut haben, mich zu empfangen.« Das letzte war absichtlich zweideutig, um zu erfahren, ob sie an sein Motiv zum Bruch glaubte. »Dachten Sie, ich hätte Angst vor Ihnen?« fragte sie und machte einen Stich mit der Nadel.
»Ich wußte ja nicht, wie Sie meine Erklärung aufnähmen, obwohl ich zu sehen glaubte, daß sie Ihnen keinen untröstlichen Kummer bereiten würde.« In dem Worte untröstlich lag etwas, was das Mädchen wie eine Anspielung auf den jungen Tröster zu verletzen schien. Aber keiner hatte Lust, sich zu verraten, der eine aus Furcht, Eifersucht zu zeigen, die andere aus Besorgnis, er könne etwas gesehen haben. Das Mädchen, das über ihre Arbeit gebeugt gesessen hatte, blickte jetzt auf, um in den Mienen ihres Gegners zu lesen, und bemerkte mit einem Staunen, das sie nicht verbergen konnte, die vielen Orden am Aufschlag des Fracks. Und mit einer kindlichen Bosheit, die nur den Neid verbergen sollte, spottete sie: »Wie fein Sie sind!« »Ich will auch zum Ball!« Es zuckte in dem Gesicht des Mädchens, zuckte so entsetzlich, daß der Fischmeister den Reflex ihres Schmerzes fühlte und in demselben Augenblick, als sie in heftiges Weinen ausbrach, ihre Hand faßte. Als er sich zu ihr beugte, schmiegte sie den Kopf an seine Brust und weinte, daß sie wie im Fieber bebte. »Du Kind!« begütigte der Fischmeister. »Ja, ich bin ein Kind! Deshalb hättest du Nachsicht mit mir haben müssen!« schluchzte das Mädchen. »Hör einmal, wie weit soll man Nachsicht mit einem Kinde haben?« »In die Unendlichkeit!« »Nein! Das habe ich nie gehört! Es gibt eine ganz bestimmte Grenze, wo die Willkür sich der verbrecherischen Handlung nähert.«
»Was meinst du?« Und jetzt flog sie in die Höhe. »Du weißt, was ich meine –, das sehe ich,« antwortete der Fischmeister, der wieder aus der Verzauberung heraus war, sobald sie hart wurde, denn im selben Augenblick wurde sie häßlich. »Eifersüchtig also,« höhnte das Mädchen, das ihn gefangen zu haben glaubte. »Nein, denn Eifersucht ist ein unberechtigtes Mißtrauen, bisweilen eine Vorsichtsmaßregel; meine Befürchtungen aber haben sich als begründet erwiesen. Also nicht eifersüchtig!« »Und auf einen Knaben! Einen jungen Hund, über dem du so hoch stehst,« fuhr das Mädchen fort, ohne die Erklärung zu registrieren. »Um so schimpflicher für dich!« »Die ganze Geschichte war also nicht wahr,« warf sie ein, um von dem Schimpf nicht getroffen zu werden. »Von A bis Z nicht wahr! Aber ich wollte deiner Mutter keinen Kummer und dir selbst keine Schande bereiten! Verstehst du dieses Zartgefühl?« »Ja, ich verstehe! Aber ich verstehe mich selbst nicht!« »Das würde ich können, wenn du mir dein vergangenes Leben zeigtest!« »Mein vergangenes Leben! Was meinst du?« »Es gibt also eine Vergangenheit in deinem Leben! Diesen Verdacht habe ich immer gehabt.« »Du erlaubst dir Beleidigungen …« »Da es mich nichts mehr angeht, wer du bist oder was du gewesen bist, so … Jetzt muß ich mich verabschieden!« schnitt der Fischmeister ab, als er einen Kanonier, der ihn abholen wollte, die Anhöhe heraufkommen sah.
»Geh noch nicht fort!« bat das Mädchen, faßte seine Hand und sah ihm mit ertrinkenden Blicken in die Augen. »Geh nicht fort, denn dann weiß ich nicht, was ich tue.« »Warum uns länger quälen, da die Trennung unwiderruflich ist?« »Wir wollen uns nicht quälen! Du sollst heute abend bei mir bleiben, damit wir uns aussprechen können, ehe wir uns trennen. Ich will dir alles erzählen, was du wissen willst, und dann wirst du mich anders beurteilen.« Der Fischmeister glaubte aus dieser Äußerung alles entnehmen zu können und gewann die Überzeugung, daß er dem Unglück entronnen sei, sich an die Geliebte eines andern oder gar mehrerer anderer zu ketten. Sein Entschluß stand fest. Er trat ans Fenster und fertigte den Kanonier mit dem Bescheid ab, er werde später im eigenen Boot kommen. Danach setzte er sich aufs Sofa, um die Unterhaltung in Gang zu bringen. Aber als das Mädchen von der Unruhe befreit war, fiel es zusammen und wurde wortkarg, so daß schließlich ein vollständiges Schweigen eintrat. Man hatte sich nichts zu sagen, und die Furcht, Gewittervögel aufzuscheuchen, drückte immer mehr auf die Stimmung, so daß die Langeweile sie angrinste. Der Fischmeister begann die Bücher in die Hand zu nehmen, die noch auf dem Sofatisch lagen, und sein Blick fiel auf eins, auf dem der Name des Assistenten geschrieben stand. »Die Geschichte eines jungen Mädchens, glaube ich. Hast du sie schon gelesen?« fragte er. »Nein, ich bin noch nicht dazu gekommen! Was ist mit dem Buch?«
»Ja, es ist insofern merkwürdig, als es von einer Frau geschrieben und trotzdem aufrichtig ist.« »So? Wovon handelt es denn?« »Es handelt von der freien Liebe. Ein junger Gelehrter verlobt sich mit einem vorurteilsfreien Mädchen. Und während er auf einer Expedition ist, verschenkt sie sich an einen Künstler, um sich dann später mit ihrem Bräutigam zu verheiraten.« »Nun? Und was sagt die Verfasserin dazu?« »Die lacht natürlich darüber.« »Pfui!« sagte das Mädchen und stand auf, um eine Flasche Wein zu holen. »Wieso? Kein Besitzrecht in der Liebe! Und der Bräutigam war im übrigen langweilig, wenigstens in ihrer Gesellschaft, wenn man nach der Schilderung des Buches urteilen darf.« »Jetzt fangen wir auch an, langweilig zu werden,« unterbrach Fräulein Maria, indem sie die Gläser füllte. »Womit wollen wir uns denn unterhalten?« fragte der Liebhaber mit einem zynischen Lächeln, das nicht mißverstanden werden konnte. »Komm und setz dich zu mir.« Statt von dem brutalen Ton und der Geste, die die Aufforderung begleiteten, verletzt zu sein, schien das Mädchen mit einer gewissen Bewunderung zu dem Manne aufzublicken, den sie bisher wegen seines allzu respektvollen Benehmens fast verachtet hatte. Die Dämmerung war herabgesunken und der abnehmende Mond warf nur einen gelbgrünen Streifen über den Fußboden und silhouettierte den Schatten der Balsaminen. Durch das offne Fenster drangen gedämpfte Töne des ersten Walzers, Ballkönigin, wie ein Vorwurf, ein Gruß aus dem ver-
lorenen Paradiese, und fachten zugleich die Hoffnung an, daß noch nicht alles zu Ende sei. Und in der Hoffnung, ihn durch die Erinnerung an die höchste Seligkeit zu binden, machte sie nach einer stürmischen Liebeserklärung von seiner Seite das letzte Zugeständnis.
Dreizehntes Kapitel Drei Tage später landete der Fischmeister an der Ostschäre, nachdem er sich inzwischen in Dalarö aufgehalten hatte. Als er erfuhr, daß das Fräulein abgereist sei, um nicht mehr wiederzukommen, empfand er eine unbeschreibliche Erleichterung, als sei die Luft höher und reiner geworden. In seinem Zimmer angelangt, legte er sich bei offnem Fenster aufs Sofa, um zu rauchen und in der Erinnerung die wechselnden Sensationen der letzten Tage durchzugehen. Als er sich um Mitternacht aus den Armen des Mädchens riß, hatte er sich ins Boot gesetzt mit einer Befriedigung, als habe er eine drückende Pflicht erfüllt. Es war, als sei erst jetzt das Gleichgewicht in seinem Innern wiederhergestellt. Sein Recht war in einem Falle verletzt worden, in dem das Gesetz keine Genugtuung gab. Deshalb mußte er sich selbst Recht verschaffen; und er hatte nur nach den Grundsätzen gehandelt, die von den Gegnern selber aufgestellt waren. Als er dann auf die Korvette gekommen war und Menschen getroffen hatte, mit denen er eine gebildete Sprache sprechen konnte, hatte das zuerst wie ein Rausch gewirkt, zumal er mit dem Arzt wissenschaftliche Themen erörtern konnte. Er brauchte nicht sein Hirn herabzudrücken, um zu plaudern, sich nicht halbdumm zu machen, um verstanden zu werden. Und wenn er in Andeutungen, mit Nuancen sprach, begriff man ihn sofort. Da fühlte er, daß er in dreimonatiger Barbarei
gelebt, die ihn ganz allmählich und unbemerkt in kleinliche Zwiste hinuntergezogen, die sein Gedankenleben dem affektiven und vegetativen untergeordnet, die Reproduktionsdinge zur Hauptsache erhoben und ihn verleitet hatte, bei einem Beschälerwettbewerb als Konkurrent aufzutreten, aus dem er wahrscheinlich als Sieger hervorgegangen war. Jetzt wurde ihm klar, warum die Vertreter der allgemeinen christlichen Kirche, die die Zivilisation unter Wilde aller Völkerschaften tragen sollten, früher einmal verpflichtet worden waren, keine Familie zu gründen, sich nicht an Frau oder Kinder zu binden, und er sah ein, daß in Fasten und Entsagungen ein vernünftiger Sinn für alle die liegen konnte, die ein höheres geistiges Leben leben wollten. Nicht um der Ruhe willen hatte der Anachoret die Einsamkeit gesucht: wie das durch einen Zufall auf die Brache gefallene vereinzelte Weizenkorn sechzig Ähren treiben konnte, während das Korn auf dem Acker nur zwei gab, weil es von Millionen andern auf gedüngtem Boden eingeengt wurde, so konnte das Individuum, das nach reicherer Entwicklung als die andern strebte, nur in der Einöde wachsen. Die Erfahrungen von drei Tagen hatten das bestätigt, denn als er auf der Korvette und im Badeort von Kreis zu Kreis geschleppt wurde, merkte er jeden Abend, wenn er sich niederlegte, wie sich im Lauf des Tages seine Kanten abgeschliffen hatten, wodurch er wie der Edelstein an Aussehen gewann, an Karat jedoch verlor. Infolge allgemeiner Sympathie für die Menschen und durch Anpassungstrieb im Verkehr war er in so hohem Grade zu feigen Zugeständnissen verleitet worden, daß seine in der Gesellschaft improvisierten Meinungen ihm nachgingen und in der Erinnerung auftauchten mit
dem Anspruch, seine innersten Gedanken darzustellen. Er wurde schließlich dessen müde und hatte am letzten Tage das Gefühl gehabt, ein unaufrichtiger Mensch geworden zu sein, der das eine sagte und das andere dachte; hatte angefangen, sich vor sich selbst zu schämen, und sah, daß er alle Achtung vor sich selbst verlor, je mehr die Achtung zunahm, die die Gesellschaft ihm seiner liebenswürdigen Art wegen entgegenbrachte. Wenn er es vermeiden wollte, zu sinken, mußte er sich isolieren, und die Einsamkeit, die er jetzt wiedergefunden hatte, wirkte auf seinen Geist wie ein Dampfbad oder wie Schwimmen im Meer, wo man von jedem Druck befreit ist, wo jede Berührung mit der festeren Materie aufgehört hat. Er beschloß, den Winter über auf der Schäre zu bleiben. Zu diesem Zweck mietete er auf eigene Kosten die Wohnung, in der die Damen gewohnt hatten und begann am selben Tage sich einzurichten. Das eine große Zimmer nahm er als Bibliothek und Laboratorium, das andere als Eßzimmer und Salon, und die Bodenkammer richtete er als Schlafzimmer ein. Am folgenden Morgen erwachte er in seiner neuen Wohnung nach einer traumlos durchschlafenen Nacht. Er spürte ein neues Behagen, ein Haus für sich allein zu besitzen. Hier brauchte er sich nicht Suggestionen von fremden Stimmen aufzwingen zu lassen, keine anderen Eindrücke aufzunehmen, als die er selber bestimmte. Nach dem Kaffee setzte er sich in seine Bibliothek und gab Bescheid, daß er vor drei Uhr nachmittags keine Besuche empfange.
Jetzt nahm er einen älteren Plan zur Erforschung der gegenwärtigen Ethnographie Europas in Angriff, wobei alle nutzlosen Reisen vermieden werden sollten. Auf gedruckten Zirkularen, die mit dem Namen einer fingierten Firma versehen waren, füllte er jetzt die Adresse und den Titel des Gewerbetreibenden aus, kuvertierte sie und versah sie mit Briefmarken. Um möglichst vollständige Angaben über Schädelmaße und Körperdimensionen zu erlangen, war er auf den Einfall gekommen, daß Rundschreiben an Hutmacher, Sargtischler, Hemden- und Strumpffabrikanten in den Hauptorten Europas ihm das gewünschte Resultat verschaffen würden. Diese Zirkulare ersuchten um Angabe der Maße, die im Inlandshandel und im Export engros am besten gingen und den größten Gewinn erzielten. Außerdem hatte er noch ein anderes Rundschreiben an die größten wie die kleinsten Buchhändler in den Haupt- und Kleinstädten Europas aufgesetzt mit der Bitte, Photographien aller Art zum höchsten Preise gegen Postnachnahme einzusenden, und hatte sich mit einem Techniker, der Photographien aufkaufte, um das Silber zu verwerten, in Verbindung gesetzt. Mit diesen und den Tausenden von Bildern, die er aus allen illustrierten Zeitungen ausgeschnitten hatte, gedachte er seine Forschungen zu beginnen. Als er diese Arbeit abgeschlossen hatte, war es Mittag. Er ging hinaus, um zu essen, da bemerkte er, daß ein Brief in den Kasten an der Tür gesteckt war. Die Schrift war ihm bekannt, und nachdem er sich vergewissert hatte, daß er von Fräulein Maria war, öffnete er ihn nicht, sondern ließ ihn neben sich auf dem Tisch liegen, während er in großer Eile sein einfaches Mittagsmahl verzehrte. Daß das Schreiben
nichts Angenehmes enthalten konnte, war ihm klar, da er sein Versprechen gebrochen hatte, am nächsten Tage zurückzukommen, um Abschied zu nehmen. Er wollte sich alle unangenehmen Eindrücke ersparen, und legte deshalb den Brief in eine Tischschublade, ohne ihn zu öffnen. Aber als er nach dem Essen eine Stunde geschlafen hatte und das Arbeits- und Eßfieber geschwunden war, merkte er, daß die Gedanken nicht mehr zu den Büchern gingen, sondern von der Tischschublade angezogen wurden. Und nun begann er in der Stube hin und her zu wandern, die Beute eines heftigen und ermüdenden Kampfes. Es war, als habe er einen Teil ihrer Seele in diese Schublade eingeschlossen; sie befand sich im Zimmer, und die Anziehungskraft ihres Geistes lag geladen unter dem weißen Kuvert, auf dem ein rotes Siegel wie ein Kuß leuchtete. Er sah sie hier auf demselben Sofa sitzen, hörte ihr Flüstern, fühlte ihre Augen in der Dämmerung glühen, und sein Fleisch begann wieder zu brennen. Wie dumm, dachte er, die höchste Seligkeit des Lebens aus den Händen zu lassen. Da Liebe ein gegenseitiger Betrug war, warum sich nicht betrügen lassen? Nichts für nichts! Und da es das vollkommene Glück nicht gab, warum sich nicht mit dem unvollkommenen begnügen? Jetzt wünschte er, er wäre zu ihr gekrochen, hätte gelogen, ihr Sklave zu sein, und hätte sich besiegt erklärt. Den Rivalen hätte er ja verscheuchen können, und unter vier Augen mit ihr in vollständiger Vereinigung wäre es ein Leichtes gewesen, sie durch das Band der Gewohnheit und des Interesses so fest zu binden, daß sie schließlich bei keinem andern ihre Lust hätte stillen mögen.
Aber dann kam die Furcht, dieser Brief könne ihm die letzte Hoffnung rauben, die doch besser war als nichts, und er wollte ihn nicht lesen. Er hatte sich an seinen Laborationstisch gesetzt, und fast ohne zu überlegen, was er tat, öffnete er eine eiserne Retorte, steckte den Brief hinein und zündete die Gebläselampe darunter an. Nach einer Weile pustete der Rauch aus dem Hals der Retorte, und als der Rauch aufgehört hatte, zündete er mit einem Streichholz das Gas an. Eine kleine blaugelbe Flamme brannte einige Minuten lang mit einem wimmernden Laut wie dem Pfeifen, einer Fledermaus. Der Geist des Briefes, wie ein Alchimist gesagt haben würde. Eine Papiermasse, die verzehrt wurde und die gleichen Verbrennungsprodukte Kohlenstoff und Wasserstoff ergab wie eine brennende Seele in einem lebenden Körper. Kohlenstoff und Wasserstoff! Das war alles und das einzige! Die Flamme flackerte, wurde kleiner, kroch in die Röhre hinein, und es war wieder dunkel im Zimmer! Draußen über dem Meer hatte es sich von neuem bewölkt, und die Wellen wurden von einem östlichen Winde gepeitscht, so daß sie gegen den Strand schlugen, seufzend und zischend; der Wind brach sich an der Hausecke wie eine Welle am Steven, aber mitten durch all diese Klagelaute hörte man die Boje über das Meer hinschreien, rhythmisch wie ein tragischer Schauspieler, der rezitiert, mit Pausen, als schöpfe er Luft, oder wolle das letzte Wort verklingen lassen, ehe er ein neues hervorströmen ließ. Es war ein Solo für einen Titanen, mit Sturmbegleitung: eine Riesenorgel, deren Bälge der Ostwind trat. Das Zimmer wurde ihm dumpf, und er nahm seinen Mantel, um in den Sturm hinauszugehen und die Unlust
sich wegblasen zu lassen. Gegen seinen Willen wurde er von dem Licht einer Laterne im Kaufladen angezogen und lenkte seine Schritte dorthin. Da der Fang mit dem Treibgarn sehr ergiebig gewesen war, wurde der Laden lebhaft besucht, und vom Dunkel versteckt, konnte er dicht an den schwatzenden Fischern vorbei gehen, ohne gesehen zu werden. »Und der Assistent hat ihm das Mädel abspenstig gemacht,« sagte der alte Öman, »da kriegt sie doch einen tüchtigen Kerl statt dieses …« »Ja, er ist nicht, wie ein Mensch sein soll,« erklärte Vestman, der Unverheiratete, »denn heut hat er seine hundert Briefe geschrieben, die mit der Post wegsollen. Und was er da drinnen kocht und treibt, das kann kein Sterblicher sagen, aber ich denke, was ich denke! Und die Augen müssen wir alle aufmachen, denn solche, die sich einschließen und brauen, die kennen wir!« »Ach was!« warf der verheiratete Vestman ein, »laßt ihn sich seinen Tropfen nur selber brauen; es ist wohl mit ihm nichts Schlimmeres als mit dem alten Söderlund, der draußen auf den Klippen maischte. Ich finde, wir sollten uns nicht einmischen.« »Ja, wenn es nur das wäre,« fing der alte Öman wieder an, »dann ließen wir ihn schon gewähren, aber seht ihr, ich kann nicht vergessen, daß er mir damals das Netz wegnehmen wollte, und krieg ich ihn mal bei der Flosse zu packen, dann lasse ich ihn nicht los, bis ich ihn in den Fischkasten werfe …« »Ja, wer keinen Gott hat, ist ein schlechter Mensch!« schloß der Reiseprediger. »Das ist gewiß!«
Ohne sich die geringsten Illusionen über Dankbarkeit gemacht zu haben, konnte der Fischmeister nicht umhin, ein gewisses Unbehagen zu verspüren, in der Einöde von lauter Feinden umgeben zu sein, und zwar von den allergefährlichsten Feinden, die in ihm einen Verrückten oder einen Verbrecher zu sehen meinten. Sie glaubten, er brenne Schnaps, um fünfzig Pfennig an der Kanne zu verdienen. Sie hatten ihn im Verdacht, Gift für sie zu mischen. Wenn hier ein Unglück geschähe, würde er sicher die Schuld bekommen. Und benutzten sie ihre ungesetzlichen Zugnetze, so wagte er sie nicht zu beschlagnahmen, weil er dann eine mehr oder weniger skandalöse Anzeige oder, was schlimmer war, ihre Rache zu befürchten hatte. Es war eine gefährliche Gesellschaft, lebensgefährlich wie die Dummheit. Und obwohl er wußte, daß er jeden Augenblick sie alle zu Freunden haben könne, wenn er sie zu einer Kanne Branntwein einlud und selber mittrank, so fiel ihm das doch nicht ein. Ihre Feindschaft machte ihn frei, ihre Freundschaft würde ihn in ihren Schlamm hinuntergezogen haben. Ihr Haß konnte nur wie ein Stromwecker auf seine Kraft wirken, aber ihre Ergebenheit würde sie neutralisiert haben, wenn auch ihr Geist nie mit seinem in Kontakt treten konnte. Und selbst die Gefahr hatte ihren Reiz, weil sie seinen Geist wach und geschmeidig hielt, ihm etwas gab, gegen das er reagieren, an dem er sich üben konnte. Im übrigen war die Gefahr hier draußen unter den Wilden kleiner als in den Kreisen, die er vor kurzem verlassen hatte und wo die Macht, wirklichen Schaden zuzufügen, größer war. Hatte nicht der Arzt auf der Korvette ihn als einen Kranken betrachtet, als er darüber gesprochen hatte: es müsse eine Methode erfunden werden, sich die uner-
hörten Quantitäten freien Stickstoffs zunutze zu machen, die bei der Schwefelsäurefabrikation verschwendet würden, während man gleichzeitig den teuren Chilisalpeter importiere, um die Stickstoffverluste des Bodens zu ersetzen. Und als er eine Bemerkung über die Verwertung des Schornsteinrauchs zu technischen Zwecken hinwarf, hatte da der Freund ihm nicht angeraten, auf einige Zeit in einen Badeort zu gehen und sich unter Menschen zu mischen? Lieber dann doch in absoluter Einsamkeit bleiben und unter Rothäuten für einen Verrückten zu gelten, als von Seinesgleichen durch ein unfehlbares Gericht von Autoritäten zum bürgerlichen Tod verurteilt zu werden. Nachdem er eine Zeitlang in der Dunkelheit umhergewandert war, kehrte er in sein Haus zurück und zündete in seinen beiden Zimmern Lichte und Lampen an, öffnete die Türen zur Diele und entfernte dadurch das Gefühl, eingeschlossen zu sein. Als er jetzt nach der Uhr sah, war es erst acht. Der lange Abend und die Nacht, die bevorstand, erschreckten ihn, denn sein Kopf war zu ermüdet, um arbeiten zu können, aber nicht müde genug, um zu schlafen. Das Stöhnen des Windes an der Hausecke, das Tosen der Wellen und das Heulen der Glockenboje machten ihn nervös. Um sich von diesen Gehörsuggestionen zu befreien, deren Sklave er nicht sein wollte, legte er seine in Deutschland gekauften »Schlafkugeln« ein, kleine Stahlstücke, die, in die Ohren eingefügt, verhinderten, daß irgendein Laut eindrang oder gehört wurde. Aber als er nun den vielleicht größten Kommunikationsleiter nach der Außenwelt abgesperrt hatte, begann seine Phantasie mit Hochdruck zu arbeiten. Eine rasende Neugier, zu erfah-
ren, was der verbrannte Brief enthalten hatte, ergriff ihn so unwiderstehlich, daß er die Retorte öffnete, um zu versuchen, in der Asche zu lesen. Aber auch die Tinte war vom Feuer verzehrt, und es war keine Spur von der Schrift mehr zu sehen. Jetzt war das Feld für alle möglichen Zweifel und Vermutungen frei. Bald glaubte er aus allem Vorangegangenen schließen zu können, was der Brief enthalten hatte, bald verwarf er das, weil er sich der unlogischen Denk- und Handlungsweise des Mädchens erinnerte. Dann blieb er schließlich dabei stehen, daß es unmöglich festzustellen sei, und beschloß, nicht mehr darüber zu grübeln. Aber das Gehirn war ihm durchgegangen und grübelte auf eigene Hand, mahlte und siebte, bis er ganz erschöpft war und doch nicht einschlafen konnte. Und mit der zunehmenden Schwäche des Denkorgans erwachten die niedrigeren Triebe. Rasend, daß seine Seele dem Kampf mit einem gebrechlichen Körper nicht standhalten konnte, entkleidete er sich schließlich und nahm eine Dosis Bromkalium; sofort hielt das Gehirn in seinem wilden Lauf inne, die Phantasien erloschen, das Bewußtsein wurde betäubt, und er sank in einen schweren Schlaf, als sei er gestorben.
Vierzehntes Kapitel Der Herbst war vorgeschritten. Aber auf der Schäre war es nicht zu sehen, daß der Sommer geflohen war, denn da war kein Laubbaum, der gelb werden konnte, und die Flechten auf den Klippen wurden immer üppiger und saftiger von Feuchtigkeit; Heidekraut und Krähenbeere grünten aufs neue, Wacholder und Zwergkiefern, die immergrünen Bäume des Nordens, wurden von dem Regen aufgefrischt und vom Staub gereinigt. Die Fischer waren fortgezogen, nachdem ihre Herbstarbeit beendet war; die Stille war wieder eingetreten, und der Kaufladen geschlossen. Das Holzgerippe der Kapelle wurde immer nackter, da die Bretter als Brennholz und zu Tischlerarbeiten gestohlen worden waren, so daß nur noch die Pfosten dastanden, die wie eine Gruppe von Galgen aussahen. Der Prediger ließ sich nur noch selten blicken, denn seit er Absolutist geworden war, hatte er Mißbrauch mit dem Chinawein getrieben, der Kognak enthielt; er hatte schon Ohrensausen und Herzklopfen und schlief meistens. Dem Fischmeister war es nach einmonatiger Arbeit gelungen, seine Seele von der Schußwunde zu heilen, die sie im Liebesspiel erhalten hatte. Mit Jodkalium und herabgesetzter Diät hatte er die Begierde unterdrückt, und wenn die Trübsal der Einsamkeit ihn überfiel, stellte er eine Portion Lustgas aus Ammoniumnitrat her, denn er hatte seit langem
erkannt, daß der Alkoholrausch gemein war und nur größere Niedergeschlagenheit, ja Selbstmordideen zur Folge hatte. Anfangs hatte das wunderbare Stickstoffoxydul ihn ermuntert und zum Lachen gebracht, aber dies banale Grinsen löste all seine großen Gedanken und Bestrebungen in ein Nichts auf, über das er lachte; wenn er sich dann unten bei den Spöttern fand, die sich über ihn lustig gemacht hatten, fühlte er das Bedürfnis, sich wieder über sich selbst emporzuheben, und vermißte seinen Kummer und seine Schmerzen. Als er sich nun vollständig isoliert hatte, so daß die Magd nur aufräumen und Essen hereintragen durfte, wenn er auf der Bodenkammer eingeschlossen war, begannen alle Erinnerungen vom Sommer zu spuken. Er entsann sich, ohne es zu wollen, jedes einzigen Wortes, das gefallen war. Und nun erschien ihm das Auftauchen des Predigers auf der Klippe im Nebel als etwas Planmäßiges. Die Worte, die dieser über seinen Vater und seine eigenen Verhältnisse geäußert hatte, zusammen mit Fräulein Marias Ausspruch, sie wisse, wer er sei, faßten nun Wurzel, wuchsen und wurden groß. Es mußte ein Geheimnis in seinem Leben geben, das alle außer ihm kannten. Und bald sah er in dem Auftreten des Predigers eine bewußte Spionage, die von Leuten, die ihn verfolgen wollten, ins Werk gesetzt war. In ruhigeren Stunden glaubte er nicht daran, denn er wußte sehr wohl, daß Verfolgungswahn das erste Symptom der Schwäche ist, die auf Isolierung folgt. Die Menschheit war eben eine große elektrische Batterie von vielen Elementen, und das Element, das isoliert wurde, verlor sofort seine Kraft. Die mit Kupferdraht übersponnene Rolle war ja lahm im selben Augenblick, in dem die weiche Eisenstange
herausgenommen wurde, und er war auf dem Wege, lahm zu werden, seit seine Eisenstange stahlhart geworden war. Ja, aber er litt doch nicht an diesem krankhaften Verfolgungswahn, der aus körperlicher Schwäche resultiert, denn er wurde tatsächlich verfolgt; man hatte ihm entgegengearbeitet von dem Augenblicke an, da er in der Schule sich als eine Kraft offenbarte, als ein Artbildner, der aus der Familie ausbrechen und gleich der sich differenzierenden Pflanze sich einen eigenen Namen geben wollte, vielleicht den Namen für eine neue Familie. Er war verfolgt worden, instinktiv von unten von den Untergeordneten und von oben von den Mittelmäßigen, die später im Eichamt saßen und den Maßstab bestimmten, nach dem die Größe beurteilt werden sollte. Er war gehaßt und gehackt worden wie der gelbe Rassevogel von den Kanarischen Inseln, als er sich aus dem Bauer verflog und zwischen die Zeisige draußen im Walde geriet, wo sein allzu prächtiges Gefieder die wilden Vögel reizte. Aber die Natur, deren Umgang er früher gesucht hatte, war jetzt tot für ihn, denn das Zwischenglied, der Mensch, fehlte. Das Meer, das er verehrt und als das einzig Großzügige in seinem dürftigen Land mit seiner kargen, kleinlichen Sommervillenlandschaft aufgesucht hatte, begann ihm eng vorzukommen, je mehr sein Ich sich ausdehnte. Dieser blaue, terpentingrüne, graue Ring umschloß ihn wie ein Gefängnishof, und die einförmige kleine Landschaft verursachte die gleiche Pein, die die Gefängniszelle mit sich bringen soll: Mangel an Eindrücken. Fortgehen von allem konnte er nicht, denn er haftete mit den Wurzeln in seinem Boden, in seinen kleinen Eindrücken, seiner Diät und konnte sich nicht mit den Wurzeln verpflanzen. Das war die Tragik des
Nordländers, die sich in der Sehnsucht nach dem Süden äußerte. Jetzt begann er an die Verbindung des Landes, des Inselreiches – denn daß Schweden durch Lappland mit dem Kontinent zusammenhing, änderte die Sache nicht – mit dem Festlande zu denken und Pläne zu entwerfen. Zuerst sollte ein Sechsstundenblitzzug nach Helsingborg in Verbindung mit der Dampffähre über den Öresund die dänische Hauptstadt zum Zentrum des Nordens machen. Eisfreie Häfen auf Djurö und Nynäs sollten in Verbindung mit Eisbrechern Handel und Schiffahrt das ganze Jahr aufrecht erhalten; der nordische Winterschlaf würde dadurch beschränkt werden und der Nationalcharakter, die Unbeständigkeit, die dieser sechsmonatigen Unterbrechung aller Tätigkeit zugeschrieben wurde, seine Natur verändern. Der russische Handel mit England würde über Stockholm und Göteborg geleitet und der alte Plan Karls XI. und Karls XII. Persiens und Indiens Handel über Rußland und Schweden zu führen, sich verwirklichen. Schweden sollte ein Touristenland werden, in das man die Ausländer lockte. Stockholm wollte er in eine Seestadt verwandeln, indem er die beiden Ausflüsse des Mälar an der Nordbrücke und der Schleuse in Stockholm sperrte und von der Bucht Strängnäs durch den See Baaven bis zur Bucht Trosa ein Kanalsystem eröffnete. Dadurch würde das Salzwasser bis ins Innere der Stadt dringen, was die atmosphärischen Verhältnisse und infolgedessen die Menschen verändern mußte. Aber dann erinnerte er sich der Zeit, da Schweden durch seine Zugehörigkeit zu der großen allgemeinen christlichen Kirche in direkter Verbindung mit Rom gestanden und da-
durch in Europa mitgezählt hatte; falls sich herausstellte, daß die Religion von der großen Volksmasse nicht aufgegeben werden konnte, wollte er deshalb den Glauben der Väter wieder einführen, den abzuschwören sie durch Feuer und Schwert gezwungen wurden und dessen Märtyrer Hans Brask, Olaus und Johannes Magnus, Nils Dacke, Ture Jönsson in der Geschichte so schändlich besudelt worden sind. Der Katholizismus, das Römererbe, der erste Ideenträger des Europäismus, hatte bereits seinen Siegeszug durch Europa gehalten. Bismarck war im Kulturkampf unterlegen, nach Kanossa gegangen und hatte den Papst zum Friedensschiedsrichter erwählt, nachdem er begonnen hatte an Schiedsgerichte ohne Stahlkanonen zu glauben. Dänemark hatte katholische Kathedralen gebaut, und schon stellte das junge Dänemark seine Feder in den Dienst der Sache. Die Germanisierung des Nordens und Norddeutschlands war nur ein Rückfall in die Barbarei nach den Hunnenschlachten von 870. Deren Konsequenzen hatten sich in Verfolgung des Lateinischen und Franzosenhaß gezeigt und äußerten sich in Ausrottungskriegen gegen französische Literatur, in norddeutscher Familienpolitik und lutheranischer Inquisition mit Ketzergefängnissen und allgemeinem Sinken des Intelligenzniveaus. Das Luthertum, das war der Feind! Teutonenkultur, Bürgerreligion in schwarzen Hosen, Sektiererbeschränktheit, Partikularismus, Abschließung, Einsperrung und geistiger Tod! Nein, Europa mußte wieder eins werden, und der Weg des Volkes ging über Rom, der Weg der Intelligenz über Paris. Der schwedische Bauer sollte sich wieder als Weltbürger fühlen und aus seiner untergeordneten Stellung heraustre-
ten, sollte jenen Schimmer einer Kultur der Schönheit wieder bekommen, den die Kirche früher in Bildern und Tönen geboten hatte; sein Gottesdienst sollte ein rechter Lobgesang in römischer Sprache werden, von Dichtern, nicht von Gesangbuchverfassern, gedichtet, und er sollte nur gerade soviel von ihm verstehen, daß seine höchsten Vorstellungen von dem erweckt wurden, was er doch nicht zu fassen vermochte; sein Hochamt sollte von wirklichen Priestern verrichtet werden, die ihr Leben der Religion und der Seelsorge widmeten, nicht Ackerbau, Meierei, Kartenspiel und Büroarbeit betrieben; dann hätte die Frau des Bauern einen Seelsorger, dem sie in der Beichte ihre Sorgen anvertrauen konnte, statt in die Küche der Pastorenfrau zu laufen und mit den Mägden darüber zu klatschen. Mit der Wiedereinführung des Lateinischen konnte wie früher die Doktorarbeit jedes Upsalaer Studenten von den Gelehrten Europas gelesen werden, würde jeder schwedische Forscher sich als Mitglied der großen allgemeinen Vereinigung der Geister unter dem Pontifikat in Paris fühlen. Diese und andere Gedanken brachte er zu Papier und legte sie in die Tischschublade, denn er hatte keine Zeitung zur Verfügung, die sie gedruckt hätte, am allerwenigsten die der Patrioten, die »aus Eifersucht keine Lust hatten, irgendwelche Vorschläge zur Hebung des Vaterlandes entgegenzunehmen«. Er hatte nun Antwort auf seine Zirkulare bekommen und die Bodenkammer mit Material zu seiner europäischen Ethnographie gefüllt. Doch jetzt hatte der Stoff sein Interesse für ihn verloren. Seine Seele war ernstlich krank geworden, so daß er nicht einmal auszugehen wagte. Der Anblick eines Menschen erregte ihm einen solchen Widerwillen, daß
er umkehrte, sowie er nur einen sah. Gleichzeitig wuchs aber das Bedürfnis, seine eigene Stimme zu hören, durch Kontakt mit einem andern Menschen sein überproduzierendes Gehirn zu entladen, seine Wirkung auf das Dasein anderer zu fühlen und Verkehr zu haben. Er hatte einen Augenblick daran gedacht, sich einen Hund anzuschaffen, aber die Ablagerungen seiner Seele, seiner Gefühle in einen Tierkörper verpflanzen, hieß Trauben auf Disteln pfropfen, und von der Sympathie der schmutzigen, schmarotzenden Tiere hatte er sich nie täuschen lassen. Es gab einen einzigen Mann auf der Schäre, zu dem er sich in gewisser Weise hingezogen fühlte, das war der verheiratete Zollbeamte Vestman, dessen Frau in Bigamie lebte, ohne daß der Mann es wußte. Er hatte ein ehrliches Aussehen und einen wachen Verstand. Mit ihm knüpfte der Fischmeister den Verkehr wieder an, indem er ihm eine Lachsleine mit Haken schenkte. Er hatte ihm nämlich zu Beginn des Sommers einige Bücher geliehen und ihm Schönschreibunterricht gegeben, aber als die Fangzeit gekommen und die Schiffahrt lebhaft geworden war, hatten sich ihre Wege getrennt. Um nun aber den Mann zu veranlassen, die Lachsleine tatsächlich auszulegen, sagte der Fischmeister nicht, daß es sich um Lachs handle. Denn dann würde der konservative Fischer sich nie mit einer nach seiner Meinung unsinnigen und nutzlosen Arbeit befaßt haben; deshalb erhielt er ihn in dem Glauben, es solle ein Versuch mit einem neuen einträglichen Dorschfang gemacht werden, bei dem man die allergrößten Fische bekommen könne. Als der Fischmeister jetzt nach einmonatiger Isolierung mit Vestman hinausruderte und wieder seine Stimme hörte, merkte
er, daß sie aus Mangel an Gebrauch die Klangfarbe geändert hatte und dünner geworden war, so daß er einen Fremden sprechen zu hören meinte. Und jetzt berauschte er sich mit Sprechen. Sein Gehirn, das nur durch Hand und Feder nach außen gearbeitet und produziert hatte, durchbrach nun die Schleusen des Kehlkopfes; all seine Gedanken strömten wie in einem Wasserfall heraus und gebaren unterwegs neue. Und da er vor einem menschlichen Ohr als Resonanzboden sprechen durfte, ohne unterbrochen zu werden, ohne einer Frage zu begegnen, erschien es ihm, als habe er einen verständnisvollen Zuhörer vor sich. Nach ihrer ersten Ausfahrt war er überzeugt, daß Vestman der intelligenteste Mensch sei, den er seit langem getroffen hatte. Jetzt setzte er das acht Tage lang fort und erzählte bei ihren Ausflügen von allen Geheimnissen der Natur, erklärte die Einwirkung des Mondes auf die Wasserfläche, warnte vor dem Glauben, daß alles, was das Auge erblicke, so beschaffen sei, wie es »aussehe«. Berichtete, daß der Mond zum Beispiel birnenförmig sei, obwohl er wie eine Kugel wirke; man habe deshalb auch gar keine Sicherheit, daß die Erde kugelförmig sei … Hier machte Vestman eine Grimasse und wagte zum erstenmal eine Einwendung: »Ja, aber in meinem Almanach steht das jedenfalls.« Der Fischmeister begriff, daß er sich zu weit hinausgewagt hatte und umkehren mußte, aber es war zu spät. Denn eine Darstellung der neueren Forschungen, nach denen die Erdform ein dreiachsiges Ellipsoid darstellte, konnte er nur geben, wenn bei dem Zuhörer Fundamente vorhanden waren; deshalb ging er zu einem andern Thema über. Sprach von Luftspiegelungen und fragte dabei, ob sie den Schwertholm
aufgesucht und gesehen hätten, wie er, der Fischmeister, dort gehaust habe. »Freilich haben wir gesehen, daß jemand auf der Schäre gehaust hat, aber an Land geht dort niemand mehr, und Netze und Schafweide sind preisgegeben,« antwortete Vestman völlig glaubwürdig. Nach diesem Bekenntnis zog sich der Fischmeister zurück, voll Scham, einer solchen optischen Täuschung zum Opfer gefallen zu sein, als habe sein Zuhörer verstanden, was er gesagt. Er hatte gegen eine Mauer gesprochen und sein Echo für die Stimme des andern gehalten. Acht Tage später war großer Aufruhr auf der Schäre, denn Vestman hatte einen Lachs von sechsundzwanzig Pfund gefangen. Da er der Entdecker dieser Fischerei zu sein glaubte, stand bald eine Notiz in der Zeitung über eine neue Erwerbsquelle für die Stockholmer Schären, da der Strömling abzunehmen beginne. Der glückliche Fischer Erik Vestman von der Zollstation habe sich dadurch die Achtung und Dankbarkeit seiner Mitbürger verdient … Kurz darauf erschien in einem Wochenblatt für das Volk ein ehrenrühriger Aufsatz über Fischmeister, die nichts verstehen, aber alles besser zu wissen meinen. Darauf folgte bald ein Schreiben von der Landwirtschaftlichen Akademie an den Fischmeister mit dem Ersuchen um eingehendere Berichte über den Fischereibetrieb, besonders über den Lachsfang, worauf der Fischmeister nur mit dem Entlassungsgesuch antwortete. Ohne jede weitere Bedeutung für die Bevölkerung und ohne die kleine Stütze, die seine bisherige amtliche Stellung
ihm gegeben hatte, mußte er bald erleben, wie die Wilden, die erfuhren, daß er »verabschiedet worden sei«, einen regelrechten Ausrottungskrieg gegen ihn einleiteten. Sie begannen damit, sein Boot loszubinden, unter dem Vorwand, an der Landungsbrücke sei kein Platz. Es wurde an Land getrieben und zerschellte. Beim nächsten Regenwetter merkte er, daß es in die Bodenkammer hineinregnete. Und als er sich bei Öman beklagte, begann es auch in den andern Zimmern durchzuregnen, ohne daß er einen fehlenden Dachziegel entdecken konnte. Kurz darauf wurde eines nachts in seinem Keller ein Einbruch verübt. Die Täter sollten Estländer gewesen sein. Die Absicht, ihn zu vertreiben, war unverkennbar, doch jetzt machte es ihm Spaß zu trotzen, und das tat er nur dadurch, daß er sich nicht mehr beschwerte, sondern alles ertrug. Doch als er nun von wirklichen Feinden umgeben und allen Ernstes aus der Gesellschaft ausgeschieden war, kam die Angst des Geächteten mit doppelter Geschwindigkeit über ihn. Er schlief schlecht in den Nächten, obwohl er seine Träume dadurch zu regeln versuchte, daß er sich vor dem Einschlafen starke Suggestionen gab. Aber wenn er aufwachte, hatte er geträumt, er sei eine losgerissene Glockenboje, die trieb und trieb, um einen Strand zu suchen, auf den sie geworfen werden könne. Und im Schlaf hatte er unbewußt eine Stütze an den Brettern des Bettes gesucht, um eine Berührung mit irgendeinem Gegenstand, sei es auch einem toten, zu fühlen. Bisweilen träumte ihm, er schwebe in der Luft und könne weder hinauf noch hinunter; und als er schließlich nach einem Ohnmachtsanfall zu sich kam, hielt er mit den Händen das
Kissen umklammert, auf das er den Kopf gelegt hatte. Jetzt begann die Erinnerung an seine verstorbene Mutter aufzutauchen. Er erwachte, nachdem er geträumt hatte, er liege wie ein Kind an ihrer Brust. Die Seele war unverkennbar im Rückgang begriffen, und die Erinnerung an die Mutter, den Ursprung, das Glied zwischen unbewußtem und bewußtem Leben, die Trösterin, die Fürbitterin stieg auf. Kindheitsgedanken an ein Wiedersehen in einem andern Leben erstanden, und seine ersten Selbstmordpläne äußerten sich in einer unbezwinglichen Sehnsucht, die Mutter irgendwo in einer andern Welt, an die er nicht glaubte, wiederzufinden. Alle Wissenschaft war machtlos gegen einen niedergehenden Geist, der jedes Interesse am Leben verloren; das Gehirn hatte gekämpft, bis es müde geworden war, und die Phantasie arbeitete ohne Regulator. Noch hielt er sich aufrecht, als sich Weihnachten näherte, aber er aß wenig und nahm zur Nacht nur Äther. Das ganze Leben ekelte ihn an, und er lächelte jetzt über sein früheres Streben. Das Regenwasser hatte seine Bücher und Papiere verdorben, die Apparate hatten Grünspan und Rost angesetzt. Die Pflege seiner eigenen Person hatte nachgelassen: der Bart war ausgewachsen, das Haar blieb ungekämmt, und er scheute das Wasser. Die Wäsche hatte er schon lange nicht mehr zum Waschen gegeben. Die Fähigkeit, Schmutz zu sehen, hatte er verloren. An den Kleidern fehlten Knöpfe, der Rock war vorn immer fleckig, begossen, denn die Hand, die Messer und Gabel führte, gehorchte dem Willen nicht mehr. Wenn er einmal ausging, blieben die Kinder stehen, grinsten über ihn und riefen ihm Spitznamen nach.
Eines Morgens war der Kinderschwarm wieder um ihn. Sie zupften ihn am Rock, und als er sich umdrehte, wurde ein Stein geworfen, der ihn mitten am Kinn traf, so daß Blut floß. Da brach er in Tränen aus und bat, sie sollten ihm nicht böse sein. »Ja, du sollst draufgehen, du verrückter Teufel,« rief ein zwölfjähriger Junge, »denn sonst kriegen wir dich in Armenpflege.« Und nun warfen sie ihn mit Steinen. Aber da kam Ömans Magd heraus und packte den Jungen bei den Haaren. Und als sie ihn gezüchtigt hatte, trat sie an den Überfallenen heran und wischte ihm mit ihrer Schürze das Blut aus dem Gesicht. »Armes Herrchen,« sagte sie. Da lehnte er den Kopf an ihren vollen Busen und sagte: »Ich will bei dir schlafen.« »Ach schämen Sie sich!« fuhr das Mädchen ihn an und stieß ihn von sich. »Wie roh du denkst! Pfui!« Einige Tage später kam eines Abends Vestmans Magd gelaufen und bat den Doktor, hinaufzukommen und nach der Frau zu sehen, die im Sterben liege. Der Auftrag kam dem Fischmeister etwas unerwartet, aber mit der Hellsichtigkeit, die in lichten Augenblicken seine Krankheit begleitete, erkannte er, daß hier ein Mord vorlag und daß man seinen Namen und Titel benutzen wollte, um eine gerichtsärztliche Untersuchung zu vermeiden. Die Sache war ihm gleichgültig, rüttelte ihn aber für eine Weile auf. Es war etwas geschehen, und das Ungewöhnliche hatte einen lange entbehrten Eindruck gemacht. Er ging deshalb nach dem Zollhause hinauf, wurde von den beiden Brüdern
empfangen und mit einer Höflichkeit in das Krankenzimmer geführt, die dem Fischmeister höchst verdächtig erschien. Aber er sagte nichts, fragte nichts, denn er wollte das dunkle Bekenntnis dem Manne dadurch abzwingen, daß er ihn nötigte, zuerst zu sprechen, überzeugt, daß er sich beim ersten Wort verraten werde. Bei einem Talglicht saß das Kind und aß einen Safrankringel, der nicht zum Spaß hervorgeholt worden war. Es hatte seine besten Kleider an, wahrscheinlich, damit es sich feierlich vorkommen und ein gezwungenes Benehmen beobachten sollte. Nachdem der Fischmeister sich im Zimmer umgesehen und bemerkt hatte, daß der Bruder Vestman hinausgeschlichen war, trat er an das Bett, in dem die Frau lag. Er konstatierte sofort, daß sie tot war. An ihren zusammengekniffenen Gesichtsmuskeln sah er, daß irgendeine Gewalttat begangen sein mußte. Als er zugleich bemerkte, daß ihr Haar sorgfältig über den Scheitel gekämmt war, wurde ihm klar, daß man die alte gute Methode mit dem Nagel angewendet hatte. Aber er wollte den Mann veranlassen, zuerst zu sprechen, und mit halboffnen Lippen und sprechenden Augen, als wolle er etwas fragen, wendete er sich zu Vestman. Dieser ließ sich auch sofort anführen und in dem Glauben, daß er bei einem Verrückten keine besondere List anzuwenden brauche, sagte er: »Herr Doktor können ja bescheinigen, daß sie tot ist, dann können wir sie gleich begraben, denn sehen Sie, wir armen Leute haben nicht die Mittel, einen Arzt kommen zu lassen.« Mehr war nicht nötig, um ihm halbe Gewißheit zu geben. Aber statt aller Antwort wendete sich der Fischmeister
halb flüsternd an den Mann, der, nach Vorbringung seines Anliegens, vollkommen beruhigt war. »Wo ist der Hammer?« fragte er. Zuerst flog der Mann zwei Schritt zurück, als wolle er seinen Widersacher erwürgen; Borg aber entwaffnete ihn durch einen Blick auf das Mädchen, und da blieb Vestman zitternd stehen. »Sie wissen nicht, wo der Hammer ist, aber ich weiß, wo der Nagel sitzt,« fuhr jetzt der Fischmeister mit unerschütterlicher Ruhe fort. »Überkluge Esel, die nichts Neues erfinden können, sondern gleich dem Kinde sich immer auf derselben Stelle verkriechen, wenn sie Versteck spielen. Ich bin überzeugt, daß dieses Nageln des Scheitels im Mittelalter von einem Edelmann oder einem Priester erfunden und jetzt erst zu den unteren Klassen hinuntergesunken ist, wo es als ein Beweis für die Schlauheit des Volkes ausgegraben wird. Alles kommt von oben, Lachs, Arsenik, Nägel, fehlgehende Schüsse, Revolutionen, Volksfreiheit, ökonomischer Wohlstand, Volkslieder, Dialekt, Bauernpraktik, anthropologische Museen, aber nur als gestohlenes Gut, denn ihr Pöbel stiehlt lieber, als daß ihr ein Geschenk annehmt, weil ihr zu kleinlich seid, um danke sagen zu wollen. Deshalb bringt ihr eure Wohltäter ins Irrenhaus und eure Edelleute aufs Schafott. Bringt mich jetzt ins Irrenhaus, dann kommst du nicht ins Gefängnis!« Wieder in seinem Zimmer, fiel ihm ein, daß der Genuß, sich aussprechen zu können, ihn zu einer Unvorsichtigkeit verleitet hatte. Da er die Natur der Leute kannte, wußte er, daß die Selbstverteidigung gegen einen gefährlichen Zeugen den Mörder veranlassen konnte, diesen zum Schweigen zu brin-
gen. Er schlief deshalb in der Nacht mit dem Revolver im Bett und hatte böse Träume, die ihn weckten. Am folgenden Tage hielt er sich eingeschlossen und sah, daß weiße Laken vor dem Fenster des Zollhauses hingen. Am dritten Tage wurde die Leiche hinausgetragen und auf einem Boot weggeführt, und am vierten Tage kamen die Männer wieder. Er schlief seitdem nicht mehr, und die Schlaflosigkeit vollendete das Zerstörungswerk. Die Furcht, wahnsinnig zu werden und ins Irrenhaus zu kommen, untermischt mit der Angst, jeden Augenblick meuchlings ermordet zu werden, bestärkte ihn in seinem Entschluß, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Nun, da der Tod sich näherte und das Ende eines Lebens, einer Familie in dieser Einsamkeit bevorstand, war es, als erwache der Geschlechtstrieb, der sich in der Sehnsucht äußerte, ein Kind zu haben. Aber der Gedanke, den ganzen banalen Weg gehen zu müssen, sich ein Weib zu suchen, sich durch Familie an die Erde und die Gesellschaft zu binden, war ihm widerwärtiger als je. Und in seinem schwachen, zerrissenen Zustand verfiel er auf einen Ausweg, der ihm, wenn auch nur für wenige Stunden, die Vaterfreude schenken würde. Auf Umwegen, gegen die sein Feingefühl sich noch vor wenigen Monaten empört hätte, verschaffte er sich nach einigem Warten Menschensamen, nachdem er unter dem Mikroskop eine Couveuse konstruiert hatte, die bei sechsunddreißig bis einundvierzig Grad Wärme erhalten werden konnte. Als die Befruchtung vor sich ging, beobachtete er, wie die Männchen das bewegungslose Weibchen umschwärmten, und bildete sich ein, es erröten zu sehen. Und nun drängten, stießen, peitschten sie sich in dem Kampf, den Antrieb zu einer Familie zu geben; jeder wollte seine Anlagen fortpflanzen, seinen lebhaften,
schöpferischen Geist einer kräftigen, wilden Unterlage aufpfropfen. Aber es waren nicht die gröbsten, die mit großen, dummen Köpfen und dicken Schwänzen, sondern die raschesten, geschmeidigsten, feurigsten, die zuerst die Membran durchstießen, um in den Kern einzudringen. Die Schraube der Spirituslampe unter dem Daumen und das eine Auge auf dem Thermometer, betrachtete er ein paar Stunden lang dies entschleierte Mysterium der Liebe. Sah, wie die Zelle sich zu spalten begann und wie schon zwischen den verschiedenen Keimblättern die Arbeitsteilung stattfand; wartete mit Unruhe das Anschwellen der vorderen Markröhre zu einer Blase ab, die das Gehirn bilden sollte, träumte davon, diesen Sitz des Denkens sich schön wölben zu sehen, verspürte eine Sekunde lang Stolz über diese seine Schöpfung, die das Problem des Homunkulus löste, als eine Bewegung an der Lampenschraube das Eiweiß zum Gerinnen und den Funken des Lebens zum Erlöschen brachte. Er hatte in diesen Augenblicken so intensiv das Leben dieses zweiten Wesens gelebt, daß er jetzt, als er den mattweißen, runden Fleck auf dem Glase sah, das Gefühl hatte, als erblicke er ein im Tode gebrochenes Auge. Und von seinem kranken Gemüt vergrößert, wuchs der Schmerz zur Trauer, zur Trauer um sein totes Kind. Das Band zwischen diesem und dem Kommenden war zerrissen, und er hatte nicht mehr die Kräfte, von vorn anzufangen. Als er zur Besinnung kam, fühlte er, wie eine starke, warme Hand seine rechte Hand umfaßt hielt. Er erinnerte sich, geträumt zu haben, er sei ein gescheitertes Fahrzeug, das auf den Wogen zwischen Luft und Wasser hin- und hergeworfen wurde, bis er schließlich den Ruck der Ankerkette fühlte
und eine Ruhe empfand, als sei die Verbindung mit der festen Erde wiederhergestellt. Ohne aufzusehen, drückte er die feste Hand, um die Berührung mit einem lebenden Wesen zu fühlen, und bildete sich ein, zu empfinden, wie Kraft auf ihn überströmte, als sich der schwächere Nervenstrom an den stärkeren schloß. »Wie ist Ihnen?« hörte er die Stimme des Predigers über seinem Kopf. »Wenn du ein Weib wärst, würde ich wieder leben, denn das Weib ist des Mannes Wurzel in der Erde, antwortete der Kranke und duzte zum erstenmal seinen alten Schulkameraden. »Preise dein Glück, daß du die faule Wurzel verloren hast!« »Ohne Wurzel können wir nicht wachsen und blühen!« »Aber mit einer solchen Frau, Borg!« »Mit einer solchen! Weißt du, wer sie war? Ich habe es nie erfahren.« »Ja, dann brauchst du nur zu wissen, daß sie so eine war, mit der ein Mann sich nicht verheiratet. Aber jetzt ist sie jedenfalls verlobt …« »Mit ihm?« »Mit ihm! Es hat vorgestern in der Zeitung gestanden.« Nach einem Augenblick des Schweigens wollte der Prediger aufstehen und gehen, aber der Kranke hielt ihn zurück. »Erzähle mir ein Märchen,« bat er mit einer kindlichen, flehenden Stimme. »Hm! Ein Märchen?« »Ja, ein Märchen! Vom Däumling zum Beispiel. Tu es, weil ich dich bitte!« Der Prediger setzte sich wieder, und da er sah, daß es dem Kranken voller Ernst war, tat er ihm den Willen und erzählte.
Der Fischmeister hörte mit großer Aufmerksamkeit zu, aber als der Prediger seiner Gewohnheit getreu eine moralische Lehre ziehen wollte, unterbrach ihn der Kranke und bat ihn, sich an den Text zu halten. »Es tut so gut, alte Märchen zu hören,« sagte er, »es ist wie ein Ausruhen, wie ein Versinken in die besten Erinnerungen aus der Zeit, da man ein kleines Tier war und das Unnütze, das Unvernünftige, das Sinnlose liebte. Sprich jetzt für mich ein Vaterunser!« »Du glaubst doch nicht ans Vaterunser?« »Nein, nicht mehr als an die Märchen; aber es tut ebensogut, und wenn der Tod kommt und man wieder zurückschreitet, liebt man das Alte und wird konservativ. Bete das Vaterunser. Du sollst meine Hinterlassenschaft haben und deinen Schuldschein zurückbekommen, wenn du betest.« Der Prediger zögerte einen Augenblick. Darauf begann er zu beten. Der Kranke hörte anfangs still zu, dann folgten seine Lippen den Lauten und sprachen sie schließlich deutlich und in dem Tonfall eines Betenden aus. Als sie zu Ende waren, sagte der Prediger: »Beten ist gut, glaube ich!« »Es ist wie Medizin. Die Worte, die alten, wecken Erinnerungen und geben Kräfte, die gleichen Kräfte, die sie früher dem Ichlosen gaben, der Gott außerhalb seiner selbst suchte. Weißt du, was Gott ist? Das ist der von Archimedes gewünschte feste Punkt außerhalb, von dem aus er die Erde hätte heben können. Er ist der fingierte Magnet der Erde, ohne den die Bewegungen der Magnetnadel unerklärt bleiben würden. Er ist der Äther, der erfunden werden mußte, damit der leere
Raum gefüllt werden konnte. Er ist das Molekül, ohne das die chemischen Gesetze ein Wunder sein würden. Gib mir noch mehr Hypothesen, vor allem den festen Punkt außerhalb meiner selbst, denn ich bin vollständig gelöst.« »Willst du, daß ich von Jesus spreche?« fragte der Prediger, der glaubte, der Kranke phantasiere. »Nein, nicht von Jesus! Das ist weder ein Märchen noch eine Hypothese. Das ist eine Erfindung rachgieriger Sklaven und böser Frauen, das ist der Gott der Mollusken im Gegensatz zum Gott der Wirbeltiere … aber warte, ich bin ja eine Molluske. Sprich von Jesus! Sprich davon, wie er mit Zöllnern und feilen Weibern umging, wie ich es habe tun müssen; sprich davon, wie die geistig Armen das Himmelreich besitzen sollen, weil sie auf Erden nicht herrschen; wie er unredliche Pächter falsche Schuldbriefe ausstellen lehrte, wie er die Handwerker zum Müßiggang anhielt und Bettler, Faulenzer, verlorene Söhne, die nichts besaßen, in Gütergemeinschaft mit den Arbeitenden leben ließ, die etwas besaßen.« »Nein, du Lästerer, ich bin nicht dein Narr!« unterbrach der Prediger und erhob sich allen Ernstes. »Geh nicht, geh nicht!« rief der Kranke. »Fasse meine Hand und laß mich deine Stimme hören. Sprich über was du willst! Lies! Lies aus dem Almanach oder aus der Bibel, es ist mir einerlei. Horror vacui, die Furcht vor dem leeren Nichts muß weg!« »Siehst du, daß du den Tod fürchtest!« »Gewiß tue ich das, gleich allem Lebenden, das ohne die Furcht vor dem Tode nie gelebt haben würde; aber das Gericht, siehst du, das fürchte ich nicht; denn das Werk richtet den Meister, und ich habe mich nicht selbst geschaffen!«
Der Prediger war gegangen! Es war am Tage vor Weihnachten, als Borg nach einer stürmischen Nacht, in der er Kanonenschüsse und Rufe von Menschen zu hören geglaubt hatte, in den frischgefallenen Schnee hinausging. Der Himmel war schwarzblau wie Eisenblech, und die Wellen stürzten gegen den Strand, während die Glockenboje ein einziges zusammenhängendes Geheul ausstieß, als rufe sie um Hilfe. Und jetzt sah er im Südosten draußen auf dem Riff einen großen schwarzen Dampfer, dessen zinnoberroter Boden wie eine blutige, zerrissene Brust leuchtete. Der Schornstein mit dem weißen Ring war nach der einen Seite umgebrochen, und in Masten und Rahen hingen dunkle Gestalten, die sich krümmten wie Regenwürmer am Angelhaken. Aus einem Riß mitten im Schiff holten die Wellen Stückgut heraus, Pakete, Ballen, Schachteln, Kartons, um die schwersten zu versenken, die leichteren aber an Land zu führen. Mit einer Gleichgültigkeit für das Schicksal der Schiffbrüchigen, die der empfinden mag, der Sterben für ein Glück hält, ging er am Strande dahin und kam auf die Landzunge, auf der sich der Steinhügel mit dem Kreuz befand. Da schäumten die Wellen heftiger als irgendwo anders, und auf dem grünen Wasser sah er verstreute Gegenstände von sonderbarer Form und Farbe, über denen die Möwen mit wütenden Schreien kreisten, als seien sie in ihrer gierigen Hoffnung auf Beute betrogen worden. Als er die seltsamen Dinge betrachtete, die immer näher kamen, sah er, daß sie kleinen, sehr fein gekleideten Kindern glichen. Einige hatten blonde Löckchen auf der Stirn, andere schwarze, ihre Backen waren rosig und weiß, und ihre großen, offnen, blauen Augen blickten regungslos und ohne zu blin-
zeln zu dem schwarzen Himmel auf. Aber als sie dem Strande näher kamen, merkte er, daß sich bei einigen, wenn sie auf den Wellen schaukelten, die Augen bewegten, als wollten sie ihm ein Zeichen geben, sie zu bergen. Und von der nächsten Sturzsee wurden fünf an den Strand geworfen. Sein fixer Wunsch, ein Kind zu besitzen, hatte in dem weichen Gehirn so fest Wurzel gefaßt, daß er gar nicht auf den Gedanken kam, es könnten Puppen sein, die das verspätete und gescheiterte Fahrzeug auf den Weihnachtsmarkt hatte bringen wollen. Und er nahm die kleinen Findelkinder, die das Meer, die große Mutter, ihm geschenkt hatte, in den Arm. Seine nassen Schützlinge an die Brust drückend, eilte er in das Haus zurück, um sie zu trocknen. Aber er hatte nichts, womit er Feuer anmachen konnte, denn die Leute hatten erklärt, sie hätten kein Holz zu verkaufen. Er selbst empfand die Kälte nicht. Seine kleinen Weihnachtsgäste aber sollten es warm haben. Deshalb zerschlug er ein Büchergestell und machte ein flammendes Feuer in dem großen Kamin, rückte das Sofa heran und setzte die fünf kleinen Geschöpfe in einer Reihe gerade vor das Feuer. Da er einsah, daß sie nicht trocknen konnten, ohne daß er sie entkleidete, begann er ihnen die Kleider auszuziehen, aber da er sah, daß es alles Mädchen waren, ließ er ihnen die kleinen Hemden an. Jetzt wusch er ihnen Füße und Hände mit seinem Schwamm, kämmte ihnen dann das Haar, zog sie wieder an und legte sie schlafen. Es war, als habe er Besuch bekommen, und er ging auf den Zehen, um sie nicht zu wecken. Er hatte nun etwas, wofür er leben, etwas, womit er sich beschäftigen, dem er seine Teilnahme schenken konnte. Und
als er eine Weile umhergegangen war, die schlafenden Kinder betrachtet und gesehen hatte, daß sie mit offnen Augen dalagen, glaubte er, das Licht störe sie. So ließ er die Rouleaus herunter. Als es dämmerig im Zimmer geworden war, wurde er von einer schweren Schlaflust befallen, die von Hunger herrührte. Er vermochte jetzt nicht mehr die Ursache der Empfindungen an den rechten Ort zu verlegen und wußte es nicht, wenn er Hunger oder Durst hatte. Da aber das Sofa von den Kleinen besetzt war, legte er sich auf den Fußboden und schlief ein. Als er aufwachte, war es dunkel im Zimmer, aber die Tür war geöffnet, und eine Frau stand mit brennender Laterne auf der Schwelle. »Herr Jesus, er liegt auf dem Fußboden!« hörte er Ömans Magd rufen. »Aber liebes Herrchen, wissen Sie denn nicht, daß heut Weihnachtsabend ist?« Er hatte über vierundzwanzig Stunden geschlafen, bis zum Nachmittag des zweiten Tags. Bewußtlos stand er auf, vermißte etwas, denn die Zollbeamten waren dagewesen und hatten das Strandgut konfisziert. Er konnte sich aber nicht erinnern, was er vermißte. Er empfand nur eine furchtbare Leere wie bei einer großen Trauer. »Jetzt müssen Sie mit zu Ömans kommen und Weihnachtsgrütze essen, denn am Weihnachtsabend ist man doch ein Christenmensch. Ach Herr Jesus, so ein Elend!« Und das Mädchen brach in Tränen aus. »Einen Menschen auf diese Weise draufgehen sehen, das ist doch, um blutige Tränen zu weinen! Kommen Sie doch! Kommen Sie doch!«
Der halb Wahnsinnige machte nur ein Zeichen, er werde nachkommen, das Mädchen solle nur vorangehen. Als sie fort war, blieb er noch eine Weile in der Stube, nahm die zurückgelassene Laterne und trat vor den Spiegel. Beim Anblick seines Gesichtes, das dem eines Wilden glich, schien es in seinem Verstand zu tagen, und sein Wille spannte sich zu einer letzten Anstrengung. Er ließ die Laterne stehen und ging hinaus. Der Wind war nach Westen umgesprungen und etwas abgeflaut, die Luft war klar und der Sternenhimmel funkelte. Von den Lichtern aus den Häusern geführt, ging er an den Hafen hinunter, schlich sich in einen Bootsschuppen und holte sich Segel für ein Boot heraus. Als er sie gehißt hatte, machte er los, nahm das Steuer und hielt mit günstigem Winde direkt auf das Meer hinaus. Zuerst kreuzte er, um noch einmal das kleine Stück Erde zu sehen, auf dem er zuletzt gelitten hatte; als er aber einen dreiarmigen Weihnachtsleuchter am Fenster des Zollhauses brennen sah, wo der Mörder den Vergeber der Sünden feierte, Jesum, den Abgott aller Verbrecher und Schufte, mit dem alles Böse, das das bürgerliche Gesetz straft, entschuldigt wurde, wendete er um, spie aus, zog die Schote an und nahm vollen Wind. Das Land im Rücken, steuerte er unter der großen Sternenkarte dahin und nahm Peilung auf einen Stern mittlerer Größe zwischen Leier und Krone im Osten. Es schien ihm, als leuchte er stärker als irgend ein anderer. Er suchte in der Erinnerung, und ihm dämmerte etwas von dem Weihnachtsstern, dem Leitstern nach Bethlehem, wohin drei abgesetzte Könige wallfahrteten, um als gefallene Größen ihre Kleinheit in dem geringsten der Menschenkinder anzubeten, das später der erklärte Gott aller Kleinen wurde … Nein, der
konnte es nicht sein, denn die christlichen Zauberer hatten zur Strafe dafür, daß sie das Dunkel über die Erde brachten, keinen einzigen Lichtpunkt am Himmelsgewölbe bekommen, der einen ihrer Namen trug; deshalb feierten sie die dunkelste Jahreszeit – wie erhaben lächerlich! – indem sie Wachsstöcke anzündeten! Jetzt wurde es in seiner Erinnerung hell – das war der Stern Beta im Herkules. Herkules, daß sittliche Ideal von Hellas, der Gott der Kraft und der Klugheit, der die hundertköpfige lerneische Hydra tötete, der den Augiasstall reinigte, der die menschenfressenden Stuten des Diomedes einfing, der Amazonenkönigin ihren Gürtel raubte, Zerberus der Hölle entführte, um schließlich der Dummheit einer Frau zu unterliegen, die ihn aus lauter Liebe vergiftete, nachdem er im Wahnsinn der Nymphe Omphale drei Jahre lang gedient hatte … Hinaus zu ihm, der wenigstens am Himmel aufgenommen wurde, der sich nie peitschen oder ins Gesicht speien ließ, ohne wie ein Mann zurückzuschlagen und zu speien, hinaus zu dem Selbstverbrenner, der nur durch die eigene starke Hand fallen konnte, ohne um Erlösung von dem Kelche zu bitten, zu Herakles, der Prometheus, den Lichtbringer, befreite, selber Sohn eines Gottes und einer menschlichen Mutter, den dann die Wilden zu dem Knäblein einer Jungfrau verfälschten, dessen Geburt von milchtrinkenden Hirten und schreienden Eseln begrüßt wurde. Hinaus, dem neuen Weihnachtsstern entgegen ging die Fahrt, hinaus über das Meer, die Allmutter, aus deren Schoß der erste Funke des Lebens sich entzündet hatte, den unerschöpflichen Brunnen der Fruchtbarkeit, der Liebe; den Ursprung und den Feind des Lebens.