Thomas Ziegler Sardor Band 02
Am See der Finsternis
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Thomas Ziegler Sardor Band 02
Am See der Finsternis
scanned by AnyBody corrected by Er ist Leutnant Dietrich von Warnstein, aber auf der Erde der fernsten Zukunft ist er Sardor Gott und Mensch zugleich, in die Welt gekommen, um der Menschheit im letzten kosmischen Krieg auf irdischem Boden beizustehen. ISBN 3-404-20074-8 © 1985 by Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co. Titelillustration: Vicente Segrelles Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Er ist Offizier im Dienst seiner Majestät Kaiser Wilhelm II., aber der Kaiser ist seit Milliarden Jahren tot. Er ist Jagdflieger in der Fliegertruppe des Deutschen Reiches, aber Deutschland ist seit Äonen vergessen. Er ist Leutnant Dietrich von Warnstein, aber auf der Erde der fernsten Zukunft ist er Sardor Gott und Mensch zugleich, in die Welt gekommen, um der Menschheit im letzten kosmischen Krieg auf irdischem Boden beizustehen. An der Spitze der Hainvölker kämpft er gegen die dämonischen Horden des Schwarzen Mirn, befreit die Festung Gorm und erschlägt im Geborstenen Berg den kosmischen Nachtmahr. Mit Churm, dem letzten vom uralten Orden des Horns, und dem Weißhorn Fe zieht er gen Osten, um weitere Verbündete zu gewinnen. Aber der Weg nach Osten wird von einem gigantischen Felsmassiv versperrt, den Krograniten. Und der einzige Paß über die Krograniten - der Knochenpfad - ist eine Todesfalle. Dehn am Knochenpfad hält L'Ingan Wacht...
Während des Ersten Weltkriegs wurden 17000 deutsche Offiziere und Soldaten im Fliegerberuf ausgebildet. Bei Kriegsende waren 13100 verwundet, vermißt, tot. Dies ist die Geschichte des Jagdfliegers Leutnant Dietrich von Warnstein. Seit dem Herbst 1917 A.D. vermißt und für tot erklärt.
Inhalt 1. Kapitel: Am Knochenpfad 11 2. Kapitel: Ein kurzer theologischer Disput mit der Kummerspinne 29 3. Kapitel: Die Herrin der Schmerzen 49 4. Kapitel: Die Rückkehr des Boslings 77 5. Kapitel: Zu Gast im denkenden Schlachthaus 105 6. Kapitel: Eine Audienz bei dem Soldatenkönig 133 7. Kapitel: Durch das Land der Wandernden Gräber 153 8. Kapitel: Die Fürsten der Nacht 175 9. Kapitel: Der See der Finsternis 187 10. Kapitel: Die Wege trennen sich 211
Zusammenfassung des ersten Buches Er ist Offizier im Dienst Seiner Majestät Kaiser Wilhelm II., aber der Kaiser ist seit Milliarden Jahren tot. Er ist Jagdflieger in der Fliegertruppe des Deutschen Reiches, aber Deutschland ist seit Äonen vergessen. Er ist Leutnant Dietrich von Warnstein, aber auf der Erde der fernsten Zukunft ist er SARDOR. Gott und Mensch zugleich, in die Welt gekommen, um der Menschheit im letzten kosmischen Krieg auf irdischem boden beizustehen. Ein Herbstabend im Jahre 1917 A. D.: Bei der Verfolgung eines englischen Fliegers gerät Warnstein mit seinem Doppeldecker vom Typ Albatros D-HI in eine Gewitterfront. Den Tod vor Augen, wird er von einer unbekannten Macht gerettet und mit seinem Jagdflugzeug in die fernste Zukunft der Erde versetzt in der Gruft unter den Heldenhügeln erkennt er seine wahre Bestimmung - er muß die größten Helden der letzten Menschen um sich sammeln und die Macht der Gehörnten von den Sternen, der kosmischen Nachtmahre und der Eisenmänner brechen. Aber ihm bleibt nicht viel Zeit; die Stunde der Entscheidungsschlacht rückt unerbittlich näher. Dietrich von Warnstein wird zu Sardor, dem mythischen Helden der barbarischen Hainvölker. An der Spitze der Hainvölker kämpft er gegen die dämonischen Horden des Schwarzen Mirn, befreit die Festung Gorm und erschlägt im Geborstenen Berg den kosmischen Nachtmahr. Mit Churm, dem letzten vom uralten Orden des Horns, und dem Weißhorn Fe zieht er gen Osten, um weitere Verbündete zu gewinnen. Aber der Weg nach Osten wird von einem gigantischen Felsmassiv versperrt, den Krograniten. Und der einzige Paß über die Krograniten - der Knochenpfad - ist eine Todesfalle. Denn am Knochenpfad hält L'Ingan Wacht...
1. Kapitel Am Knochenpfad Till the slow sea rise and the sheer cliff crumble, Till terrace and meadow the deep gulfs drink, Till the strength of the waves of the high tides humble, The fields that lessen, the rocks that shrink, Here now in his triumph where all things falter, Stretched out on the spoils that his own hand spread, As a god selfslain on his own stränge altar, Death lies dead, - Algernon Charles Swinburne »A Forsaken Garden«, 1866 Tot war er und lag dennoch lauernd in seinem Turm aus schwarzem Stein, lag reglos, leblos aufgebahrt in blinder Wacht am Knochenpfad und hörte nicht die Stimmen aus allen Ritzen dringen. »... einst war ich schlank und schön, gebleicht die Haut, mit Blut gefärbt das Haar, war Meisterhure im Rinnenland. Bis eines Nachts die Trotze kamen. Wurde von der üblen Brut gepackt, betäubt, verschleppt und erst an jenem Ort geweckt, wo Fleisch wie Obst an Bäumen wächst. Sah Ma Lyn Schmerzen weben, sah Trotze rasend Fleischobst nagen, und ich floh. Dann Qu'ail-In-Trümmern, die Eisenberge, die Kummerspinne am Knochenpfad, dann L'lngan... Leichnam Ingan, hörst du Beute nahen?« Denn Beute kam. In all den Zeitaltern, die er modernd verbracht, war Beute zu ihm heraufgestiegen; er hatte sie zu Tode gehetzt und das genommen, was er immer nahm: Die Köpfe, die geschwätzigen. Den Rest bekam der Knochenpfad. Nur die Schädel nahm der ]äger und trug sie in den schwarzen Turm, damit ihr klapperndes Geschwätz sein stilles Grab mit Leben füllte. In allen "Nischen, allen Winkeln waren Schädel aufgebahrt; aus jeder Ritze des Gemäuers drang knöchernes Gerede. »... einst war ich auf großer Fahrt von Pol zu Pol und sah im -6-
Quarz die Mahre ruhen. Und zu Tausenden im Glas begraben Riesen, die vom Eisenvolk, und die Gehörnten von den Sternen. Vor Mirsingval zerbrach mein Schiff am Riff aus Stahl. Der Alte, der das Meer beherrscht, fraß alle, nur mich fand er nicht. Ich floh an Land, dann durch die Wüste Tod, verlor die Hand, den Arm, behielt das Leben, bis ich zu den Seufzerschründen kam, am Fuß der Eisenberge. Stieg hinauf zum Knochenpfad, zu L'lngan, der dort wacht... Leichnam Ingan, hörst du Beute nahen?« Er hörte sie nicht, doch er spürte sie. Und da er tot war, und da das Leben nie in seinen kalten Gliedern gewesen, und da er blind wie alle Toten war, sah er auch nicht das Sonnenlicht in Ostiens Tälern strudeln und über die Berge fluten, über die Schluchten hinweg, die Gletscher und Klippen zu den Gipfeln hinauf, dem Westen entgegen. Am Himmel über L'Ingans Turm, wo eben noch der Eisenring die Dunkelheit grün angeschimmelt hatte, blähte sich die rote Sonne in ungeheurer Größe auf und goß Kirschlicht über Eis und Erzgestein, bis ihre purpurrote Glut den Grund des Knochenpfads erhellte: Ein Beinhaus auf dem Dach der Welt mit skelettierten Mietern. Dem Morgen folgte der Morgenwind und verirrte sich wie jeden Tag im Labyrinth der Felskamine, um dort bis zum Abend zu heulen, zu toben, zu rasen. Vom Lärm des Windes aufgeschreckt, hob sich tausend Meter tiefer Eisenherzog Hartrokor von seinem Gletscherlager. Schon zerriß sein erster Schrei des Morgens kalte Stille. Dem ersten Schrei folgte der erste Schlag der Eisenfaust, daß der Gletscher, der sein Kerker war, wie eine Glocke dröhnte, und dann begann des Herzogs Eisenleib vor Wut und Haß zu glühen: Wie besessen schlug er auf den Gletscher ein, und es dauerte nicht lange, bis unter den Erschütterungen Lawinen zu Tale stürzten. In seiner Wildheit rammte der Riese nun auch den Schädel ins rote Gletschereis und brüllte so laut, daß man sein furchtbares Geschrei noch am -7-
Knochenpfad vernahm. Der Gletscher bebte, der Gletscher kalbte, Lawinen lösten sich. In seinem Eisenwahn hielt Hartrokor den Donner für die Schritte nahender Retter, die ihm, nach all den Jahren Tiefkühlhaft, die Freiheit schenken wollten. Und er hielt inne; horchte, hoffte. Doch kein Retter nahte. Nur Beute kam. Zu L'Ingan, nicht zu Hartrokor. Beute... Wind winselte in den Klüften und Schrunden, die den Ahnen weg säumten. Schnee stieg aus den Tiefen herauf, Myriaden rote Flocken; blutgefärbtes Schneegestöber vernebelte die Berge. Dämpfte sogar das Licht des Fegefeuers, das als Sonnenball maskiert am Himmel hing. Dietrich von Warnstein, Leutnant in der Fliegertruppe Seiner Majestät Kaiser Wilhelm des Zweiten, marschierte keuchend l weiter. Die Augen hinter dem Glas der Fliegerbrille hielt er starr auf das Metall des Ahnenwegs gerichtet, die Hände waren tief in den Seitentaschen seiner gefütterten Lederjacke vergraben. Die Kälte, der Schnee, der schneidende Wind - barbarisch. Eisnadeln trafen sein ungeschütztes Gesicht; er senkte den Kopf, damit sie ihm nicht die ganze Haut zerstachen. Der Atem hing als weiße Fahne vor seinen blaugefrorenen Lippen. Ein Fluch entschlüpfte ihm. Was für eine jämmerliche Posse! Ausgerechnet er, des deutschen Kaisers treuester Flieger, zum Dasein eines Wurms verdammt! Melde gehorsamst, bin zum Wurm geworden, Eure Majestät. Ha! Könnte er doch noch einmal frei und ungebunden mit den Winden um die Wette fliegen. Könnte er doch noch einmal am Steuerknüppel seines Doppeldeckers sitzen und wie ein Vogel den Himmel durchkreuzen... Zornig schüttelte er den Kopf. Der Doppeldecker vom Typ Albatros D-III aus den Flugzeugwerken in Berlin-Johannisthal war beim Duell mit dem Schwarzen Mirn zu Bruch gegangen, brennend am Geborstenen -8-
Berg zerschellt. Ah, zum Henker damit! Was geschehen war, ließ sich nicht mehr ändern. Er mußte sich damit abfinden. Schließlich war er nicht der erste deutsche Jagdflieger, der seine Maschine verloren hatte. Wie oft war Boelcke schon vom englischen oder gallischen Feind die Kiste unterm Hintern fortgeschossen worden. Gott, wie oft hatte sogar der tollkühne Richthofen Bruch gebaut und nur mit knapper Not seinen Hals gerettet! Von Reimann und den anderen Fliegern ganz zu schweigen... Andererseits - weder Manfred Freiherr von Richthofen, noch Boelcke, Reimann oder einer der anderen Kampfflieger des Deutschen Reiches hatte sich je in einer dermaßen vertrackten Lage befunden: Durch Raum und Zeit vom Vaterland getrennt und in eine höllische Welt versetzt, wo sich der Antichrist anschickte, in Ewigkeit zu triumphieren; wo die Sonne ein aufgedunsener Ball aus Lava war und Kirschlicht über Länder warf, wie sie sich scheußlicher nicht denken ließen; wo Heiden, Halunken, Unholde und Dämonen zur Pfeife kosmischer Gespenster tanzten. Und diese durch und durch verderbte Welt, dieses lästerliche Pandämonium sollte die gute, alte Erde sein? Reinste Blasphemie! Denn nicht einmal in Afrikas wilden Dschungeln, wo es weiß Gott genug Götzendiener von Profession und heimtückische Fetischgesellen gab - nicht einmal im unerforschten Herzen des schwarzen Kontinents konnten Ungeheuer vom Format des schurkischen Mirn hausen; gar nicht zu reden vom kosmischen Nachtmahr oder von L'Ingan, dem menschenfressenden Ghul, der am Knochenpfad sein Unwesen treiben sollte... Und doch, raunte da eine Stimme in ihm, und doch ist es wahr, Sardor. Dietrich von Warnstein stöhnte auf. Nur zu vertraut war ihm diese Stimme, die im Gehäuse seines Schädels raunte; die Stimme seines anderen Ichs, seines unerwünschten Mieters, der fristlos sein Kellerloch in den Heldenhügeln gekündigt und es -9-
sich in Warnsteins Seele gemütlich gemacht hatte: Sardor, der Heidengötze, nach zwanzig Jahrtausenden gründlich betriebener Verwesung von den Toten wiederauferstanden.' Du irrst, wisperte die hartnäckige Stimme. Du und ich - wir sind eins - vereint im Fleisch, vereint im Geist. Nur gemeinsam sind wir er: Sardor, in die Welt gekommen, um die Menschen zu einem Heer zu schmieden, groß und stark genug, den Sieg über die Stern- und Eisenmacht zu erringen. Im zweiten und letzten kosmischen Krieg. Ja, dachte der deutsche Flieger. So geht die Legende: Die Glocke von Gorm ruft zur letzten Schlacht, und wenn der Glockenschlag über den ganzen Erdball dröhnt, dann schlägt auch unsere Stunde. Dann kehren die Eisenmänner aus ihrem Exil hinter der Zeit zurück; dann steigen die Gehörnten von den Sternen herab; dann rauscht der ganze Äther vom Flügelschlag der Mahrenschwärme. Und der Krieg beginnt. Die höllischen Heerscharen werden in die Schlacht marschieren, und kein Gott ist, da, sich ihnen entgegenzustellen... Aber Sardor, erinnerte die Geisterstimme, aber Sardor hält Wacht und schlägt die Stern- und die Eisenmacht. Mit einem unterdrückten Schrei riß Warnstein beide Hände hoch und preßte sie gegen die Stirn. Sie war heiß wie im Fieber. Mein Gott! Mein Gott! dachte er verzweifelt. Wann werde ich endlich aus diesem Alptraum erwachen? Da zerriß das Schneegestöber. Enthüllte kurz den basaltschwarzen Turm auf dem Massiv aus Erzgestein, das alle Gipfel überragte. Wie ein versteinerter Riesenfinger wies der Turm zum Himmel, und neben ihm ein Spalt, der bis zum Ahnenweg hinunter reichte - der Knochenpfad! Der einzige Paß über das Krograniten-Gebirge. Der einzige Weg nach Ostien. -10-
Wo L'Ingan wachte... Der Wind ließ jammernd nach, der Flockenvorhang schloß sich wieder. Warnstein marschierte grimmig weiter. Und in der dunklen Gruft des Turmes sprach klappernd eine Schädelstimme. »... war einst ein Krieger, war General, war General im Cryptenland. Mit blankpolierter Brüne und nimmersattem Schwert im Dienst des Lichtdespoten. Bis Verrat mich stürzte und ich nach Süden floh. Über den Strygenflufi, die rote Stryge, die Eisenberge hinauf und in den Knochenpfad hinein, wo L'Ingan mich fand. Und meinen Kopf mir stahl... Leichnam Ingan, hörst du Beute nahen?« Obwohl tot wie Stein, spürte L'Ingan, daß Beute kam. Er rührte sich und regte sich und Staub stieg von ihm auf. Gelenke schabten trocken; Haut knisterte wie Pergament; Wirbel knarrten; ein Kiefer knackte. Der Schädel knirschte, drehte sich lauernd, wandte sich von hier nach dort, ruckte hoch und reckte sich, nickte schräg und streckte sich. L'lngang lebte nicht und dachte nicht, war blind und taub und stumm und tot und spürte dennoch Beute nahen. In der Finsternis der Gruft erhob sich der Leichnam vom Totenbett, wuchs riesig, bleich und kalt empor, drehte den Kopf und drehte dann sich der Wendeltreppe zu, die sich steinern wie alles hier hinauf zu den Zinnen schraubte. Mit schlurfenden Schritten durchmaß er die Gruft, neigte den Kopf und reckte sich, knirschte und knarrte und hob das Gesicht zum Licht, das sich nie in die dunkle Tiefe wagte. Ein tauber Fuß schabte über tauben Stein; die erste von vielen Stufen. Knackend hob sich Bein nach Bein, trug L'Ingan hoch und höher, dann traf ihn ein verirrter Sonnenstrahl: Kirschröte überzog sein Wachsgesicht und seine erloschenen Augen. Das grausige Haupt nach oben gereckt, den Rücken -11-
gekrümmt, die Arme gestreckt, verharrte er. Er wartete, aber er wußte es nicht. Er wußte nie, was er tat. Er wußte nur, daß Beute kam. Tot wie er war, hatte er nie das Leben gekannt, doch wenn er es fand, dann nahm er es, aber er fand es nur, wenn es zu ihm kam. Also wartete er. Dann weckte ihn ein dumpfer Trieb. Mit grindigem Geknirsche stieg er die nächsten Stufen hinauf, von Absatz zu Absatz in engen "Windungen, dem Himmel entgegen, der Titanensonne, die wie eine Geschwulst über den Bergen schwärte. L'Ingan kümmerte es nicht. Gestorben und nie geboren, war das Kirschlicht ihm von jeher fremd. Blind folgte er der Korkenziehertreppe, erreichte die Zinnen und bemerkte es nicht. Wind bauschte sein schwarzes Gewand. Mit schmirgelnden Wirbeln drehte er Kopf und Körper dem Westen zu, sah blicklos auf Wolken hinunter, die wie Schorf die Luft verkrusteten. Unter den Wolken das tiefe Land: Die Seufzerschründe; die Stryge; die Pilzwälder der Hainvölker; die bemoosten Hügel, unter denen die Helden der Haine schliefen. Im Norden die Festung Gorm mit dem Wehrturm und der Glocke; die Alte Eisenstraße; der Geborstene Berg. Mit blinden Augen, tauben Ohren, mit dumpfer Gier hielt L'Ingan Wacht. Beute kam. Über den Ahnenweg, die stählerne Serpentine, die an rostigen Hängen entlang zu rostigen Gipfeln kletterte, Gletscher zerschnitt, Schluchten überbrückte, dann die Wolken durchstieß und sich zum Spalt des Knochenpfads schwang. Blutleere Lippen bewegten sich. Morsche Glieder knirschten. Beute.. , Der Morgen ging, der Mittag kam, und Warnstein -12-
marschierte weiter. Nur selten ließ das Schneegestöber nach, und wenn der rote Nebel zerriß, zog er es vor, das Haupt gesenkt zu halten - zu widerwärtig war ihm der Anblick des verwunschenen Turms, der am Knochenpfad in den schorfigroten Himmel ragte. Während er über den Ahnenweg wanderte, wanderte die Riesensonne in die entgegengesetzte Richtung: Westwärts, an Gorm vorbei, über den Strygensee hinweg zu den Purpursümpfen und den stacheligen Ländern Dorngrunds und weiter zur verfluchten Wüste namens Tod... Ein Knirschen im Heulen des Windes. Der Flieger sah sich um. Und fuhr zusammen, als ein Schatten aus dem Schneegestöber trat. Churm! Der Letzte vom Orden des Horns, der aberwitzige Heide, der ihn - welch lästerlicher Gedanke! - für einen Gott hielt. Einen Gott, ha! »Die Sonne wird bald sinken«, knurrte Churm. »Die Nacht ist nah, die Schatten über Ostien wachsen. Wir müssen vor der Finsternis den Knochenpfad erreichen!« Seine Augen schienen aus purem Silber zu bestehen; die Hände waren aus Hörn. Reif verkrustete den schwarzen Bart, Eis glänzte rot auf Helm und Rüstung. Blau leuchtete die Klinge Gly durch den tanzenden Schnee. »Und L'Ingan?« fragte Warnstein. Der Heide machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ah, L'Ingan! Er war tot, er ist tot und wird immertot sein. Mach dir wegen L'Ingan keinen Sorgen, Sardor.« »Ich soll mir keine Sorgen machen?« brauste der Flieger auf. »Weil L'Ingan tot ist? Aber hast du nicht selbst gesagt, daß das Totsein ihn nicht daran hindert, jeden, der den Knochenpfad betritt, im Handumdrehen zu köpfen? Allmächtiger, da lauert uns ein toter Menschenfresser auf, und du hast die Frechheit, -13-
mir zu sagen, ich soll mir keine Sorgen machen! In was für eine Welt bin ich da nur geraten? »Mein Gott!« »Wie stets bereit, dich selbst zu beschwören, eh?« Der Hörnmann lachte. »Aber Gott hin, Gott her - wir müssen so schnell wie möglich durch den Knochenpfad.« Er stieß einen Pfiff aus. Kaum war der schrille Ton verklungen, bebte der Stahl des Ahnenwegs. Groß, grau und einäugig stampfte das Weißhorn Fe heran: Ein Leviathan des Landes, das einzige Tier auf dem ganzen Erdenrund, das einen Menschen als Herrn über sich duldete. Träge bewegte Fe den mächtigen Schädel mit dem weißen Hörn hin und her; das Auge strahlte warm; die Nüstern dampften wie Schlote. Dann klaffte das geschuppte Maul, und wie Donner rollte animalisches Grollen über die Hänge. Mit verzerrtem Gesicht hielt sich Warnstein die- Ohren zu. Vergnügt peitschte das Untier mit dem Schwanz; die dorngespickte Quaste traf den Boden und ließ den Ahnenweg dumpf dröhnen. »Fe spürt es auch«, murmelte Churm mit einem finsteren Blick zum Paß. »Irgend etwas braut sich in den Bergen zusammen. Selbst Hartrokor schweigt - sonst rast der Herzog bis zum ersten Licht des Eisenrings...« Er gab dem Weißhorn einen Wink; Fe knickte in den Vorderbeinen ein und Churm stieg geschmeidig auf. Kaum saß er dem Tier im Nacken - im Rücken der gezackte Drachenkamm, den Schuppenkopf vor Augen - zog er Warnstein zu sich herauf. Fe stemmte sich hoch, stieß Dampf aus den Nüstern und trottete los. Trotz der Kälte und des wirbelnden Schnees war der Ahnenweg nicht einmal vom Hauch einer Eisschicht überzogen, und wo das Auge tückische Glätte argwöhnte, fand Fe sicheren Halt. Aus dem Trott wurde ein Galopp. Der Ahnenweg bebte unter der Wucht der stampfenden -14-
Säulenbeine. Wie im Flug schössen sie an Klippen aus zerfressenem Erzgestein vorbei, den Wolken entgegen, durch stiebende Flocken aus Rost und Schnee. Wie im Flug... Ein seltsames Gefühl beschlich Dietrich von Warnstein, eine Mischung aus Furcht und Abenteuerlust, ein Übermut, wie er ihn bisher nur hinter dem Steuerknüppel seines getreuen Albatros erlebt hatte: Hoch über der Erde, so hoch, daß er mit dem Kopf fast gegen die Wolken stieß; rechts und links die knatternden Kisten der Kameraden von der Jagdstaffel 11, an der Spitze die Maschine des roten Barons... Und am Horizont die Aasgeier Albions, oder eine Rotte gallischer Doppeldecker... Warnstein lachte auf, wie vom Jagdfieber gepackt, und dachte an die langen Nächte nach jenen Tagen, an denen wie durch ein Wunder alle Maschinen der Staffel unversehrt vom Feindflug heimgekehrt waren. Nächte voller Gesang und derber Scherze, die Zungen gelöst vom rheinischen Wein. Plötzlich kam ihm ein Lied in den Sinn, das sie häufiger als alle anderen angestimmt hatten, und in seinem Übermut begann er es zu singen: »Dort am Rhein auf hohem Felsen steht die Burg aus alter Zeit, wo im grünumrankten Erker wohnte einst die Rittermaid. Rittermaid war wie die Rose, tauesfrisch und schön und hold; lose um die Schultern wogte ihrer Haare leuchtend Gold. Sinnend sah sie in die Ferne, unten rauschte still der Rhein; und die Welt, die weite, schöne, lag verklärt im Sonnenschein. Warum hat so hell gesungen, hat so glücklich sie geschaut? Sieglind war seit kurzen Monden eines edlen Ritters Braut...« Seufzend verstummte er. Seine Augen brannten; Heimweh schnürte ihm die Kehle zu. Der Rhein... Verloren, unerreichbar wie die ostpreußische Heimat, wie das ganze deutsche Vaterland! »Gräm dich nicht, Sardor!« rief Churm über die Schulter -15-
hinweg. »Wir werden genug Weiber haben! Sie warten schon auf uns - mit lüsternen Brüsten und feuchten Schößen in den goldenen Ländern des Ostens!« Und ehe Warnstein seiner Empörung über die unerhörte Verderbtheit dieses Heiden Luft machen konnte, galoppierte Fe in die Wolken hinein, und die Welt ertrank in Rot. Die Beute war nun nah. Nah genug, daß sich der Tote von dumpfer Gier getrieben mit knirschenden Gliedern über die Zinnen schwang. In die Tiefe sprang er, doch er stürzte nicht. Er breitete die Arme und das wehende Gewand zu schwarzen Schwingen aus und flog über Klippen und Grate hinweg, so schwerelos, als hätte selbst die Schwerkraft erkannt, daß es nicht lohnte, in den Tod zu ziehen, was immer tot gewesen war. Lautlos glitt er dahin, spähte mit blinden Augen den Ahnenweg aus, legte dann die Schwingen an und stieß im Sturzflug auf den zernarbten Erzgrat nieder, der unterhalb des Knochenpfads das blanke Stahlband säumte. Er landete hart; der Erzgrat brach, Rost wallte auf. Des Toten morscher Leib knirschte unheilvoll, als wollte er im nächsten Augenblick wie mürbes Holz zersplittern. Doch die Beständigkeit des Todes konservierte ihn. Mißgestaltet auf dem Zackengrat kauernd, die Zehen ins rostende Erz gekrallt, den Schädel lauernd gereckt, das wächserne Antlitz gierig verzerrt, so wartete er, daß Beute kam. Beute... Arglos kam sie zum Knochenpfad, kam über den Ahnenweg galoppiert, wo L'lngan hungrig wachte. Um sie zu packen, ihre Köpfe abzuzwacken und - verfluchter Aberwitz! - die Schädelbeute in den Turm zu schleppen. Doch noch war es nicht soweit. Noch hatte er Zeit. Geduldig moderte er, beharrlich verweste er vor sich hin. -16-
Dann führ er hoch, mit einem Ruck, reckte in blinder Gier das grausige Haupt, denn nun war die Beute, der sein Lauern galt, nah, so nah. Rost rieselte vom Grat aus Erzgestein; Klauenzehen bohrten Löcher in den porösen Narbenkamm. Der Ahnenweg bebte, der Ahnenweg dröhnte, schon kam die Beute um die letzte Biegung der stählernen Serpentine gedonnert. Beute! Tote Augen starrten blind das Tier und seine beiden Reiter an. L'lngan regte sich. Er reckte den Schädel und reckte dann sich, er knirschte und knarrte leichenstarr und setzte an zum Sprung. Gestorben, ohne gelebt zu haben, ahnte er nicht, wer ihm gegenüberstand, und der Trieb zum Morden war ein unerbittlicher Zwang, dem er sich nicht entziehen konnte. Denn L'lngan war groß, ein Riese, und stark, im Tode von der furcht befreit, die alles Leben mit Schwäche bedrohte. Er hatte nie den Schmerz gekannt, hatte nie erfahren, wie bitter der Schmerz des Fleisches war. Also sprang er. Landete schwer auf dem Ahnenweg. Hob die Klauen zum Todesstreich. Da war das Untier heran. Und blind wie er war, sah er nicht das Hörn, nicht des Schädels wilde Drehung, nicht das weiße Schwert in des einen Reiters Hand, und nicht des Hornmanns blaue Klinge. Nie hatte L'lngan mehr getan als zugepackt und abgezwackt; nie hatte er erfahren, was er an diesem Tag erfuhr: Wie grausam Schmerzen waren. Das Hörn traf ihn, das weiße Schwert, des Hornmanns blaue Klinge, und dreifach schnitt ihm Schmerz ins fleisch. Er stürzte schwer, vom Schmerz umwabert, überschlug sich wohl ein Dutzend Mal, und dröhnend schoß das Tier vorbei. Das Dröhnen verklang, der Schmerz blieb. Morsch kam er hoch, -17-
besiegt, obwohl er aufrecht stand, und hob in stummer Agonie das Wachsgesicht zur Sonne. Kirschlicht floß wie Blut von seinem Haupt. Dann schrie er - er, der nie gewußt, wie laute Schreie klangen. Fremd und roh wie Mahrenfleisch lag L'Ingans Schrei über den Bergen. Aus Augen, matt wie alte Spiegel, tropften trübe Tränen, Wild fuhr der Unhold herum, mit knarrenden Gelenken, drehte sich mahlend und knirschend im Kreis und hieb blind nach seinen Feinden, die längst schon in donnerndem Triumph dem Knochenpfad entgegeneilten. Wie flehentlich streckte der Leichnam dann die Arme nach der Sonne aus, die teilnahmslos ihr lichtes Blut über Berg und Tal verströmte und den Toten dem Tod überließ, die Lebenden dem Leben. Der Wind verhöhnte ihn. Die Nacht schlich heran. So daß er sich geschlagen gab, waidwund zum Turme floh. Wie ein Geschoß jagte Fe über den Ahnenweg. Wie eine Furie heulte der Wind. Dem Flieger schauderte, während er mit beiden Armen Churm umschlungen hielt, damit er nicht den Halt verlor, vom Weißhorn stürzte, vom Tod geholt wurde, der hinter ihnen auf Insektengröße schrumpfte. Was für ein Unhold! dachte Warnstein und schüttelte sich. Was für ein garstiges, gotteslästerliches Geschöpf! Das Scheusal schreckte ja nicht einmal davor zurück, einen rechtschaffenen Christenmenschen anzufallen! War wohl Franzos', der Lump. Er schnaufte höhnisch. Ho, ho, und wie lebendig dieser bleiche Höllenwurm mit einemmal geworden war, als er die Schwerter und Fes hartes Hörn zu kosten bekommen hatte! -18-
Er verrenkte den Kopf, spähte durch das Glas der Fliegerbrille zurück zu jener Stelle, wo L'Ingan vom rasenden Weißhorn zu Boden gestreckt worden war. Ein verdutzter Schrei löste sich von seinen Lippen. Der Mordbube war fort! Vom Ahnenweg verschwunden! Verstummt war sein grausiges Gejammer. - Jesus Christus, wo steckte der Kadaver? Im Graben? Hinterm Grat aus Erz? Oder war er gar in die Schlucht gerutscht, die rechts vom Stahlband gähnte? Aber -! Was war das dort oben? Am dämmernden Himmel? Ein ungeheurer Rabe? Eine verfluchte Riesenmotte? Oder -?! »L'Ingan!« krächzte Warnstein. »Es ist L'Ingan! Und er fliegt! Beim Allmächtigen, der Satansbraten kann fliegen!« In der Tat glitt der Untote auf mitternachtsschwarzen Schwingen durch die Luft, schraubte sich torkelnd empor, stieß dann und wann ein elendes Gewimmer aus und näherte sich, schwankend wie eine flügellahme Fledermaus, dem zinnenbewehrten Turm, der fern auf dem Erzberg stand. Über den Zinnen legte er die Schwingen an, stürzte wie ein Sack voll Blei, verschwand auf Nimmerwiedersehen im verfluchten Turm. Geschieht ihm recht, dem Menschenfresser! dachte Warnstein. Das Scheusal hatte sie wohl für leichte Beute gehalten. Hatte nicht damit gerechnet, auf einen deutschen Offizier zu treffen, der schon mit ganz anderem Gelump fertiggeworden war. Kam ja genug davon Tag für Tag über den Kanal gebraust, um sich blutige Köpfe zu holen! Der Flieger lachte. »Da lacht der Gott«, brummte Churm, »wo jeder Sterbliche schlottert!« Warnstein sah ihn scheel von der Seite an. Lästerte der Heide wieder herum, oder wollte er ihn verhöhnen? Plötzlich riß der Hornmann den Arm hoch. »Dort!« brüllte er -19-
wie im Wahn. »Es ist geschafft! Dort vor uns, Sardor! Der Knochenpfad! Wir haben den Paß erreicht!« Hoch ragte der Berg, und in seinem rostigen Rot klaffte - wie ein V geformt - ein finsterer Spalt, einladend wie das Tor zur Unterwelt, wie das Maul eines gefräßigen Riesen. Tot war er und lag sterbend da in seinem Turm aus schwarzem Stein, lag reglos, leblos aufgebahrt in seiner Gruft am Knochenpfad und hörte nicht die Stimmen aus allen Ritzen dringen: Leichnam Ingan, nun spürst du nie mehr Beute nahen...« Und keines Menschen Auge sah, wie in den Nischen, in den Winkeln die Totenschädel häßlich grinsten... 2. Kapitel Ein kurzer theologischer Disput mit der Kummerspinne Tread lightly, she is near Under the snow, Speak gently, she can hear The daisies grow. - Oscar Wilde »Recquiescat«, 1881 Längst war aus dem Geheul des Windes ein köterhaftes Winseln geworden, und in das Winseln mischte sich Geklapper und Gerassel; wie von einem ausgedörrten Bambusfeld, mit dem die Stürme spielten. Oder wie - welch schauriger Gedanke! von Knochenmusikanten, die auf Knocheninstrumenten des Teufels Knochenmarsch aufspielten. Der Galopp des Weißhorns schlug dazu die Pauke. Und mit jedem Meter, den sie tiefer in das gespaltene Erzmassiv vordrangen, schwoll das gespenstische Lärmen an, wurde im engen Felskanal hundertfach gebrochen und hundertfach verstärkt. Zum Greifen nah stieg rechts und links das schroffe Erzgestein hinauf zum Abendhimmel, der vom Grund des Passes aus betrachtet ein gezackter Streifen Rot war, wie Blut, im Sonnenlicht getrocknet. Ein klammes Gefühl kam in Warnstein auf; er fühlte sich fatal an Verduns Schlachtfelder -20-
erinnert... L'Ingans Turm, der Ahnenweg, das Vförmige Tor im Erzmassiv - alles lag weit hinter ihnen. Der Leichnam hatte es nicht gewagt, die Verfolgung aufzunehmen; vielleicht hatten, sie ihm tatsächlich den Garaus gemacht - zu wünschen war's. Der Flieger sah finster drein. »Ich wußte doch«, überschrie Churm den Höllenlärm, »ich wußte, daß wir uns wegen L'Ingan keine Sorgen machen müssen! Wie kann ein Toter es auch wagen, sich mit einem Gott wie Sardor zu messen?« Warnstein versetzte ihm erzürnt einen derben Stoß. Unverbesserlicher Heide! Lernte der Hornmann es denn nie? Gott Sardor! Und diese Blasphemie in Gegenwart eines guten Katholiken! Unternehmen sollte man etwas, zur Not die Gottesfurcht in ihn hineinprügeln, ihm mit der Faust aufs Sünderhaupt hämmern, bis ihm die Lust am Lästern für immer verging... Warnsteins lodernder Zorn sank in sich zusammen. Aber wie sollte dieser Heidenmensch es auch besser wissen? Gottes Wort schien in dieser Welt seit Ewigkeiten vergessen - so unvorstellbar es auch war. Und er - er war ein Flieger, ein Soldat und Offizier, kein Missionar. Sein Herz wurde schwer, während das Weißhorn ihn in toller Hatz an Rost und Erz vorbei ins Unbekannte trug. Ein Seufzer floh von seinen kalten Lippen. Wäre der gute Pater Hering doch hier! Onkel Heinrich, der im Dienst des Heiligen Vaters, Papst Benedikt des Fünfzehnten, die Frohe Botschaft des Christentums im wilden Afrika verkündet hatte; in Togo, dem deutschen Schutzgebiet an der westlichen Sklavenküste... bis der Krieg ausbrach und die Engländer und Franzosen das Land besetzten. Bei jedem Besuch auf Gut Warnstein hatte der fromme Mann vor der Familie und allen Dienstboten gepredigt und mit -21-
bewegenden Worten von seiner mühseligen und gefährlichen Missionsarbeit im Busch erzählt. So beeindruckend Herings afrikanische Schnurren auch gewesen waren - erst jetzt konnte Warnstein ermessen, welch hartes Los es doch war, aus Heiden gute Christen zu machen. So manchen Kampf hatte der brave Pater den Abosamtowo geliefert, den Teufelsmenschen, die von allen Fetischleuten Afrikas den sittlich verkommensten Götzendienst betrieben. Nicht einmal vor Giftmord schreckten diese Satanisten zurück, um ihre Macht über die abergläubischen Buschvölker zu sichern. Manch bekehrter Kaffernhäuptling wurde samt seiner Kaffernsippschaft vom Fluch des Fetischs getroffen, kaum daß er getauft war, und der ganze Kral ging alsbald elend an Pocken zugrunde. Natürlich waren da keine übernatürlichen Kräfte, sondern diese Teufelsanbeter am Werk. Um dem Fetischfluch Nachdruck zu verleihen, hielten sie sich sozusagen eine Pockenzucht: Lumpen, mit den Erregern infiziert, im Erdreich vergraben, bis sie gebraucht wurden. Die Macht der Fetischgesellen war so groß, daß Hering und die anderen deutschen Missionare es nicht einmal wagten, bei Tageslicht die Götzenbilder fortzuschaffen, die überall im wilden Afrika die Wege wie Meilensteine säumten. Aber Hering wäre kein guter Katholik gewesen, hätte er die Sache auf sich beruhen lassen - und so hatte in manch mondloser Nacht das eine oder andere Schandbild Bekanntschaft mit dem Absatz eines Missionarenstiefels geschlossen und war auf Nimmerwiedersehen im dichten Dschungel verschwunden. Warnstein spitzte verzückt die Lippen, in seligen Erinnerungen schwelgend. Diese frommen deutschen Männer! Er fuhr aus seinen Gedanken hoch. Irgend etwas hatte sich verändert... Ja, das Stampfen der sechs Säulenbeine des Weißhorns, das Dröhnen des Metallbodens - es klang nun dumpfer, halb erstickt. Er starrte nach unten. Tatsächlich! Das -22-
Metall des Ahnenwegs war unter einer knöcheltiefen Schicht aus weißem Staub verschwunden. Wie Nebel - oder feingemahlenes Mehl - hing der Staub in der Luft und bleichte schon Fes graugepanzerte Flanken. Mit der Fingerkuppe nahm Warnstein eine Probe des sonderbaren Staubs. Roch daran, kostete vorsichtig mit der Zungenspitze. Das Zeug war geschmacklos. Er beugte sich nach vorn, brächte den Mund dicht an Churms rechtes Ohr. »Was ist das?« rief er aus Leibeskräften, um den dumpfen Donner des Galopps zu übertönen. »Kreide? Kalk?« »Knochenmehl.« Warnstein schluckte, schloß sekundenlang die Augen. Allmächtiger! Indessen wurde das Geklapper und Gerassel lauter und lauter. Ha! Hatten sich etwa die Buschtrommler Afrikas in diese Welt, in diese Zeit verirrt? Wirbelten dort Schlagstöcke aus menschlichen Rippen über knöcherne Trommeln, mit Menschenhaut bespannt? Verrückter Einfall! Der widerwärtige Staub wallte und suchte mit tausend aufgeregten Nebelarmen nach jenen, die ihn aus seinem Schlaf geschreckt hatten. Als hätten die gemahlenen Knochen - ganz wie der menschenfressende Leichnam vom schwarzen Turm einen Fetzen Leben bewahrt. Der Anblick war nun doch zu scheußlich, und rasch wandte er die Augen ab, legte den Kopf in den Nacken und sah zum Firmament hinauf. Der Himmelsstreifen wurde allmählich breiter. Die Klippenwände, am Grund des Passes nur wenige Meter voneinander entfernt, öffneten sich dort oben zu einem gezackten Maul. Gierig fraß dies steinerne Maul den roten Schorf der Dämmerung und legte das Schwarz des Weltraums bloß. Und Sterne: Spärlich gesät, trüb wie Petroleumfunzeln. Sieben waren zu einem Halbkreis geordnet - die Pforte der -23-
Gehörnten, wie die barbarischen Hainvölker diese Konstellation nannten. Während Warnstein auf dem Rücken des galoppierenden Weißhorns tüchtig durchgeschüttelt wurde, ohne daß er den Blick von diesem Siebengestirn wandte, wuchs in ihm eine schreckliche Sehnsucht nach den vertrauten Sternbildern seiner Heimat. Wo waren sie geblieben - der Kleine und der Große Bär, Cassiopeia und der Orion, das diffuse Band der Milchstraße? Was war geschehen, daß das glitzernde Sternenzelt verkohlt und schwarz wie Asche war? Asche, in der nur hier und da ein müder Funke glomm? Wieviele Jahrmillionen mußten verstreichen, damit das Äonen währende Leben der Sterne und Planeten erlosch und der finstere Tod den Himmel regierte? Und der Mond? Was war aus dem guten alten Mond geworden? Der deutsche Flieger kämpfte die Sehnsucht nieder, wußte er doch, daß die Ehre eines Offiziers Härte gegen sich selbst verlangte. Verdammte Rührseligkeit! Während zur rechten und zur linken Hand Spalten gierten, Schatten schlichen, Rost von ehernen Wänden fiel. Grollend hetzte Fe durch den Knochenpfad, dem höllischen Geklapper entgegen. Wie Maschinengewehrsalven knatterte es zwischen den schroffen Klippen, und dann mischte sich Knirschen und Knacken in den Klappermarsch, als ob das Tier bei jedem Stampfen Reis oder Kiesel zermalmte. Aber nicht Kiesel, sondern Knochen brachen. Denn aus der See aus Knochenmehl sah hier und dort Gebein hervor; die wüst verstreuten Überreste menschlicher Gerippe: Vom herrenlosen Fingerknöchel über dicke Oberschenkelknochen bis hin zu ganzen Bündeln spitzer Rippen. Ein tolles Durcheinander! Aber nirgendwo ein Totenschädel - die hatte L'Ingan zusammengerafft. Alles andere war im tiefen Spalt des Passes gelandet. -24-
Und nicht nur Knochen hatten hier ihre letzte Ruhestätte gefunden. An vielen Stellen gloste müdes Sternenlicht auf Schwert, auf Spieß und Brüne, und einmal fand Warnsteins wilder Blick sogar eine skelettbewohnte Rüstung in einer Nische rosten. Und da eine Lanze, schräg in den porösen Fels gerammt; dort ein Kettenhemd, halb von Knochenmehl bedeckt; etwas weiter eine ungeheure Axt, wie sie nur ein Riese schwingen konnte. Ein ganzes Waffenarsenal war hier in all den Jahrtausenden zusammengetragen worden und hatte aus dem Knochenpfad die Rüstkammer eines Geisterheers gemacht. Weiter ging es in donnerndem Galopp. Der Staub war nun gröber, körniger, und bald stampfte Fe durch Knochenschutt, über Rippen und Becken, ganze Skelette hinweg, die kopflos den Weg versperrten. Und das garstige Geklapper! Das höllische Gerassel! Bleich im Gesicht, so weiß wie die knöchernden Bewohner des Beinhauses auf dem Dach der Welt, klammerte sich Warnstein an Churms Kettenhemd. Die Stirn schweißnaß, die Augen fiebrig aufgerissen, betete er zum allmächtigen Gott, ihm auf diesem Ritt durch's finstere Tal beizustehen, um seiner Seele willen. Und erstickte fast beim nächsten Atemzug. Gestank schlug ihm entgegen. Gestank, der wie Giftgas die Luft verpestete: Schwer und schwül und süß wie Schokolade und kalt wie Todesangst. Würgend wie des Nachtmahrs fauler Odem, doch weit weniger fremd und aus diesem Grund weit grausiger. »Kämpfe!« hörte er wie von fern den Hornmann brüllen. »Du mußt kämpfen, Sardor, die Angst bekämpfen! Die Angst ist es, die hier die Luft verstänkert... Die Angst ist der wahre Wächter vom Knochenpfad! Kämpfe, Sardor, bekämpfe die Angst!« -25-
Angst, ja... Sie gefror das Herz, die Seele; lahmte alle Glieder, machte Muskeln und Sehnen schlaff. Im Gestank der Angst wurde selbst der kühnste Mann zum Hasenfuß. Hatte sie all die Unglücklichen dahingerafft, die in den vergangenen Jahrtausenden hinauf zum Knochenpfad gestiegen waren? Hatte sie die Wanderer gelähmt, daß L'Ingan sie ergreifen und enthaupten konnte? Die Angst, des Menschen ärgster Feind? Warnstein grub die Schneidezähne tief in seine Unterlippe. Blut quoll warm hervor. Aber der sengende Schmerz ernüchterte ihn. Mit einem verzerrten Schrei nahm er den Kampf gegen die tödliche Angst auf. Riß das weiße Schwert des Sardor hoch und ließ es über seinem Kopf kreisen, daß die Klinge zu strahlen, zornerfüllt zu singen begann, daß aus der breiten Klinge eine lodernde Fackel wurde und ihr kaltes Feuer den Gestank verbrannte. Triumphierend schrie er auf. Gelächter gesellte sich hinzu, gab den Takt für sein Triumphgeheul an, und in berserkerhafter Raserei schwang Churm die blaue Klinge Gly, schlug um sich, hieb wie tollgeworden auf Luft, Gestank und Schatten ein. Zuletzt geriet auch Fe in Wut und brüllte animalisch, brüllte derart infernalisch, daß die Felsen bebten, die Knochen brachen, daß selbst der Knochenmarsch für einen Atemzug verklang. Um dann noch höllischer im Spalt des Pfads zu lärmen. »Attacke!« kreischte Warnstein wie von Sinnen. »Für die Menschen!« brüllte Churm besessen lachend. Da bog sich vor ihnen der Knochenpfad; Fe galoppierte grollend um die Biegung, stampfte Dellen in den stählernen Grund. Die Klippen wichen auseinander, knickten fast rechtwinklig ab, öffneten sich zum hundert Schritte weiten Rund eines Felsenkessels. Und vom hohen Himmel tropfte schimmelig das -26-
Grünspanlicht des Eisenrings. Abrupt kam Fe zum Halt, so plötzlich, daß Warnstein fast kopfüber nach vorn geschleudert wurde. Mit bebenden Flanken, noch weiß vom Knochenmehl, stand das Horntier da und grollte warnend. Warnstein schob die Fliegerbrille hoch und sah sich unbehaglich um. Senkrecht und glatt, als hätte ein Riese jeden Vorsprung fortgehobelt, jeden Spalt und jeden Ritz verputzt, stieg der rostende Fels in die Höhe, ragte zwei- oder dreihundert Meter empor und wurde dann zu einem Zackenring. Ganz so, als wäre dies der Ort, wo einst, vor langer Zeit, der Schöpfer selbst die Welt zur Königin des Himmelreichs gekrönt hatte. Am schwarzen Rund des Himmels - vom Eisenring halbiert, von der Pforte der Gehörnten fahl gefleckt - gloste das letzte Rot der Dämmerung, um mit einem Flackern zu erlöschen. Warnsteins Blick wanderte weiter. Am Grund des weiten Kessels war zu seiner stillen Freude kein Knochenteppich ausgelegt. Leicht gewellt, wie ein See im Wind, breitete sich der Boden vor ihm aus: Ein See aus algengrünem Wasser, im strengsten aller strengen Winter zu Eis gefroren. Und auf der anderen Seite des Kessels... Wo das Schimmellicht des Eisenrings bizarre Schatten warf... Ein Loch im Fels, zwanzig Meter groß, das wahre Tor zur Unterwelt, und vor dem Tor ein Netz aus Gold. Ein Spinnennetz. Groß genug, um anstelle dummer Fliegen Elefantenbullen einzufangen. Groß genug, um einer pferdegroßen Spinne als Heim zu dienen. Und an den armdicken Spinnenfäden - Jesus Christus! - dicht an dicht, in lückenlosen Reihen, hingen blankgenagte Menschenknochen. Jedesmal, wenn aus dem düsteren -27-
Höhlengrund ein Windstoß pfiff, schwankte das Netz, tanzte der ganze Knochenputz zur Melodie der Böen, stieß klappernd, rasselnd weißes Bein an weißes Bein. Ha! Das also war das höllische Orchester, das im Knochenpfad aufspielte! Und wo steckte der Dirigent? Wo schwang er seinen Taktstock? Dort! Im Mittelpunkt des Spinnennetzes: Monströs und gebläht der haarige Leib, auf dem Rücken phosphoreszierende Warzen wie Laternen. Acht Spinnenbeine bebten, acht Spinnenbeine klammerten sich an die klebrigen Stränge des kolossalen Netzes. Zum Glück lag der Spinnenkopf im Schatten - schämte sich wohl ihrer eigenen Häßlichkeit, diese Ausgeburt der Hölle! Warnstein grauste es vor dem Geziefer. »Heilige Mutter Gottes!« sagte er. Churm lachte freudlos. »Das wohl kaum. Welche Gottesmutter frißt schon Menschenfleisch, eh? Das Tier verzehrt den Menschen!« Der Flieger ballte die Fäuste. Allein die bedrohliche Gegenwart des Spinnenmonstrums hielt ihn davon ab, dem Heiden an die Kehle zu fahren. »In meiner Heimat Deutschland«, raunzte er, »verzehrt der Mensch das Tier, und nicht umgekehrt. Das ist der Unterschied zwischen Barbarei und Zivilisation.« »Hu«, machte Churm. Er schnitt eine Grimasse. »Eher sterbe ich den Hungertod, als daß ich meine Zähne ins Fleisch der Kummerspinne schlage!« »Hirnverbrannter Wilder!« knirschte Warnstein. »Bist du denn von allen guten Geistern verlassen, daß du mich für einen verdammten Spinnenfresser hältst?« »Geister haben nie in mir gewohnt«, erklärte Churm pikiert. Warnstein sah ihn düster an. »Dabei ist in deinem Hohlkopf -28-
Platz für ein ganzes Geisterregiment...« Vom Netz drang wildes Klappern. Der Flieger reckte sich und äugte über Churm hinweg zum schwarzbehaarten Scheusal. Offenbar hatten ihre Stimmen die Riesenspinne aufgeschreckt. Sie krabbelte aufgeregt herum und zupfte dabei mit den garstigen Beinen an den goldenen Strängen, daß die Knochen klappernd aneinanderstießen. Wie es schien, bereitete das häßliche Geklapper dem Monstrum gewaltiges Vergnügen, denn schon war es mit sechs haarigen Beinen am Werk, zupfte hier und zupfte dort, riß bald an diesem, bald an jenem Strang, zerrte und riß dann wie entfesselt, rüttelte und schüttelte seine Knochenmusikanten und blähte im Dirigentenstolz den feisten Hinterleib zum doppelten Umfang auf. Das Rasseln und Klappern des Gebeinorchesters steigerte sich zu einem grausigen Crescendo. Allerdings schien der Leim, der die gespenstische Kapelle zusammenhielt, den Anforderungen des Spinnendirigenten nicht gewachsen zu sein: Zuerst vereinzelt, dann bündelweise lösten sich Gelenke, Wirbel, Knöchel, flogen im hohen Bogen durch die Luft. Mit Getöse rasselten die Knochenmusikanten zu Boden, wo sie teils brachen, teils den Aufprall überstanden und rasch zu einem Haufen wuchsen. Bald hatten sich Gebein und Knochensplitter zu einem Hügel angesammelt. Doch das Spinnenungetüm gab nicht eher Ruhe, bis sein goldenes Netz auch vom letzten Musikus gereinigt war. Stille kehrte ein. Gebläht und Phosphorlicht verströmend, mit vier Beinen am stärksten Goldstrang schaukelnd, mit den anderen vier sich eitel putzend, hing das Scheusal überm Knochenhaufen. Churm schlug Fe mit der flachen Hand auf den geschuppten Schädel. Folgsam trottete das Weißhorn auf das Spinnennetz zu. Warnstein schluckte und hielt sein Schwert stoßbereit. Näher -29-
und näher kamen sie dem Netz, heller und heller strahlte das weiße Schwert, verscheuchte die Schatten und enthüllte dann den Spinnenkopf, den... Der Flieger stöhnte auf. Sein Herzschlag setzte aus. Denn statt garstiger Spinnenaugen waren dunkle Menschenaugen unter glattem, schwarzem Haar. Und darunter Klauenzangen, die hungrig mahlten, ein Spinnenschlund, aus dem Speichel troff! Eine Spinne, groß wie ein Pferd, mit Menschenaugen, Menschenstirn und Menschenhaaren. Nun wurde die Welt vollends närrisch - eine Chimäre, ein Zwitterwesen! Doch nicht sonderlich überraschend; immerhin hatte Warnstein in dieser gottlosen Region schon weit scheußlichere Monstrositäten gesehen: Den schwarzen Mirn auf seinem fliegenden Knochenthron; den kosmischen Nachtmahr im Geborstenen Berg; den Bosling, in dessen Gegenwart alles Frische verdarb, alles Lebende starb; und natürlich L'Ingan nicht zu vergessen, dessen Profession das Schädelsammeln war... So betrachtet, war die Kummerspinne in bester Gesellschaft. Eine plötzliche Bewegung; ein Schaukeln des Netzes; schon kauerte das haarige Vieh auf dem Kamm des Knochenhügels. Mahlte gierig mit den Zangen, sabberte, zuckte mit den Laternenwarzen, gurgelte. Die Spinnenbeine wippten. »Und jetzt?« flüsterte Warnstein dem Hornmann zu. Churm gab keine Antwort. Statt dessen sprang er mit einem Satz von Fes Nacken, kam federnd auf dem Boden auf, die Klinge Gly zum Streich erhoben. Warnstein unterdrückte einen Fluch und stieg ebenfalls vom Weißhorn. Die Kummerspinne schlürfte. Schmatzend öffnete und schloß sich der Spinnenschlund, klebrig tropfte Speichel auf Gebein. Ein erneutes Gurgeln. Dann: -30-
»Frischfleisch, Frischfleisch«, geiferte die Bestie, pumpte das Hinterteil auf, stieß prustend Gase aus, die gottserbärmlich stanken: Schwer und schwül und süß wie Schokolade, wie Tod und Angst zugleich. Warnstein wich zurück, würgte und zitterte, von kalter Furcht gepackt. Nur mit aller Willenskraft gelang es ihm, die Lähmung abzuschütteln, die von ihm Besitz ergriffen hatte. Das also war der Fabrikant des Gestanks der Angst! »Vorsicht!« zischte Churm. Gurgelnd sprang das Spinnenvieh vom Knochenhaufen und krabbelte mit ungeahnter Flinkheit auf den Hornmann zu, hob ein krallenbewertes Spinnenbein zum Todesstoß. Die Klinge Gly zuckte hoch, traf die behaarte Wade, schnitt tief ins Fleisch, daß gelbes Blut aus der Wunde quoll. Ein gurgelnder Schrei, der Schmerz und Wut und Verblüffung verriet. Das Spinnenbein schnellte zurück, pendelte unterm geblähten Leib wie ein Schlegel hin und her, und auf den sieben unversehrten Beinen krabbelte die Bestie davon, den Knochenhaufen hinauf, hüpfte mehrfach auf und ab, drehte sich wie rasend, daß das aufgeschichtete Gebein ins Rutschen geriet. Kreischend hielt die Ausgeburt der Hölle in der Drehung inne und warf mit Knochen nach Warnstein, Churm und Fe. Hastig sprangen sie zurück und warteten, bis der Knochenhagel versiegte. »Unerhört! Unerhört!« kreischte das Spinnenvieh. Auf sieben Beinen wippte es so wild, daß sein schlaffes Fleisch wie Pudding wabbelte. »Wartet nur, ich zeig's euch noch! Ich werd' euch heut' noch schlachten!« »Den Teufel wirst du tun, Scheusal!« knurrte Warnstein. Er fuchtelte drohend mit dem Schwert. »Aus dem Weg, oder ich hacke dir jedes einzelne deiner gräßlichen Beine ab!« Aber dieser Satansbraten war nicht so leicht einzuschüchtern. »Versuch's doch! Versuch's doch! Komm doch her, dann sehen -31-
wir, wer wem die Beine abhackt! Hack, hack, hack!« Reichlich strömte Speichel aus dem Spinnenmaul. »Hast Angst vor dem Tod, was? Angst, daß ich dir den Kopf abzwack, wie? Zwack, zwack, zwack!« Gurgelndes Gelächter. Lüstern mahlten die Beißzangen. Lahm schaukelte das verletzte Bein. »Angst vor dem Tod?« schnaubte Warnstein. »Ich bin ein Offizier des Kaisers, du Vieh! Jagdflieger des Deutschen Reiches! Ein Dutzend Mal habe ich schon dem Tod ins Auge gesehen. Pah! Sterben muß jeder einmal - ob Heide oder Christ. Doch der eine fährt zur Hölle, der andere ins Himmelreich...« Die Kummerspinne versetzte einem Knochen einen wutentbrannten Tritt. »Lüge!« kreischte sie. »Lüge, Lüge! Jeder furchtet den Tod, das Ende des Lebens, das Nichts, hörst du? Das Nichts! Der Flieger sah zu Churm; der Hornmann grinste breit und gab ihm mit einer verstohlenen Geste zu verstehen, den Disput allein zu führen. Warnstein verzog den Mund. Typisch! Wenn es brenzlig wurde, hielt sich der Schwarzbart vornehm zurück! Er wandte sich wieder dem Untier zu, maß es mit einem scharfen Blick. »Nur wer nie den Trost der Religion gekannt hat, fürchtet sich vor dem Tod«, wies er den Einwand barsch zurück. »Nur der Törichte weigert sich, an den Tod zu denken; die Weisen aber halten ihn für den besten Lehrmeister.« »Geschwätz! Nichts als Geschwätz! Was lehrt der Tod schon außer Sterben? Was weißt du schon von Religion!« Das traf den Flieger nun doch. Wie konnte es dieses Scheusal wagen...! Sollte sich ein praktizierender Katholik, ein regelmäßiger Kirchgänger wie er etwa von diesem gottlosen Ungeheuer der Unkenntnis in religiösen Dingen bezichtigen lassen? Das ging zu weit! Der Spinne gehörte die Heilige Schrift rechts und links um die Ohren gehauen! Schneidend sagte er: »Gut sterben ist im Gegenteil die -32-
wichtigste Kunst. Und sie will gelernt sein, denn jeder wird sich einmal in dieser Kunst bewähren müssen. Wehe dem, der ein Stümper darin ist - sein Leben war zwecklos und seine Ewigkeit wird hoffnungslos sein.« »Ewigkeit?« kreischte das Ungeziefer. »Was für eine Ewigkeit? Nach dem Tod? Da fressen dich die Würmer - oder ich freß dich...« Wieder dieses unsägliche Gurgeln. »Und ob man gut oder mittelmäßig, schlecht oder stümperhaft stirbt, ist einerlei. Wichtig ist, wie man schmeckt. Außerdem, du Narr« ein schlürfendes Kichern - »verrat mir doch, wie man ohne zu sterben das Sterben lernt. Verrät's mir, verrät's mir, wenn du's kannst!« »Gut sterben lehrt dich, du Scheusal, zunächst der Gedanke ans Sterben...« Großartig! dachte Warnstein. Besser hätte es der gute Pater Hering auch nicht formulieren können! »Nur durch den Gedanken ans Sterben bekommt man den richtigen Blick für die zeitlichen und die ewigen Dinge. Nur durch den Gedanken ans Sterben wird man davor bewahrt, das Dasein auf Erden zu überschätzen und das Dasein in der Ewigkeit gering zu achten. Der Gedanke an die Gewißheit des Todes ist der beste Lehrmeister für die Kunst des Sterbens, und wer auf diesen Lehrer hört, der wird vor der gefährlichsten und verhängnisvollsten Enttäuschung bewahrt, die dem Toren droht...« »Zu verwesen, statt verzehrt zu werden?« fragte die Kummerspinne mit scheelem Blick. »Unsinn!« fauchte Warnstein. »Der gefährlichste Irrtum, der zur verhängnisvollsten Enttäuschung führt, ist der Irrrum, das Erdenleben hoch zu bewerten, wo das wirkliche Leben erst nach dem Tode beginnt, das Leben in der Ewigkeit. Nur weil das Erdenleben uns so nah ist, erscheint uns das ewige Leben so fern.« »Verrückt! Mehr als verrückt!« zeterte die Spinne. »Der Tod -33-
ist das Ende, nicht der Beginn. Das Ende, du Dummkopf, das Ende!« Beschwörend hob Warnstein die Arme zum Himmel. »Für uns Christen ist die Erde nur ein Wartesaal für die Reise in die Ewigkeit. Und ich sage dir, Scheusal, dieser Wartesaal wird dir nach der Abreise so bedeutungslos erscheinen wie ein Fahrplan vom letzten Jahr. Doch jeder soll ja dafür sorgen, daß er den rechten Zug besteigt, wenn er den Wartesaal verläßt. Wehe dem, der in die falsche Richtung fährt, weil ihm ein sicherer Führer fehlt! Deshalb erinnere dich im Leben des Todes, denn dies lehrt dich, die Tugend zu pflegen und der Sünde zu fliehen. Das erste ist der Keim des guten, das zweite der des bösen Todes. Einzig und allein der Gedanke an die Gewißheit deines Todes wird der sichere Führer sein, der dir den rechten Zug zuweist für die niemals endende Reise in die Ewigkeit. Und hüte dich, daß du nicht sündigst und keine bösen Taten begehst! Trag Sorge dafür, daß du bereust und allezeit der Vergänglichkeit des Erdenlebens gedenkst. Denn für den Sünder, du Spinnenvieh«, donnerte der deutsehe Flieger, »für den Sünder gibt es wahrhaftig den Tod - und nur den Tod. Für den Sünder ist er die Abenddämmerung des Lebens und das Grab eine ewige, grausige Nacht... Aber für den Gerechten ist der Tod die leuchtende Morgenröte und das Grab die Sonne ewiger Unsterblichkeit... Amen!« »Leben in der Ewigkeit?« kreischte die Spinne, verschluckte sich und zeterte dann fort: »Wartesaal? Rechter Zug und falsche Richtung?« Sie wußte sich kaum noch zu bezähmen, sprang wie toll auf den Knochenabfällen herum, warf alles durch die Gegend, daß erneut der Klappermarsch einsetzte, Knochenmehl hochstäubte und dem geblähten Spinnenleib ein Totenhemd anzog, bis der ganze widerliche Haufen aus abgenagtem Gebein ins Rutschen geriet und rasselnd in sich zusammenfiel. Die Spinne kümmerte es nicht: Sie tobte weiter, warf mit Rippen -34-
und anderem Unrat um sich, packte dann mit drei ihrer behaarten Beine einen Strang des Spinnennetzes, schaukelte daran wild hin und her und drohte Warnstein mit den freien Gliedern. »Wartesaal?« krähte sie wieder. »Zug? Zug? Welcher Zug? Und das nach dem Tod, dein sinnlosen Tod? Was ist das, was soll das Geschwätz? Nennst du das Religion, Idiot? Religion? Aus Zügen und Wartesälen zusammengeleimt? Und welche Reise, Stümper? In die Ewigkeit? Ich faß es nicht, ich glaub es nicht! Was für ein Geschwätz. Brabbel, brabbel, brabbel! Zug, ha! Reise, ha! Der einzige Zug der Toten ist der Sarg; und die Reise führt hinunter ins Grab. Der Sarg! Das Grab! Religion, Religion - ich sage dir, was Religion ist, Schwachkopf! Ich habe von meinen Mahlzeiten genug über Religion gelernt! Weiß mehr darüber als jeder eurer Priester. Totenkult ist Religion: Den Vater in die Urne, die Urne in den Schrank und dann den Schrank verschlossen, damit Vater in der Urne bleibt! Ehret die Verstorbenen, das ist Religion: Die Mutter an den Spieß, den Spieß über's Feuer, und ist sie knusprig braun gegrillt, wird Mutter Stück für Stück verfüttert - das Gehirnchen für den Ehemann, die Leber für die Kinder; Nieren, Milz und der andere Kram für Geschwister, Neffen, Nichten! Die Toten vergessen, die Erinnerung auslöschen, ausradieren, was von ihrem Leben zeugt - das ist Religion! Die Dahingeschiedenen nützlich machen, das ist Religion: Die Zehen der Liebsten auf einer Schnur aufziehen und bei Festlichkeiten als Kette tragen; den Schrumpfkopf des Gatten an den Gürtel ^hängen, ihn baumeln lassen, nur so zum Scherz, oder einen Spücknapf daraus machen; die Kadaver verbrennen, -35-
die Asche zum Düngen auf den Acker streuen das ist Religion! Was tot ist, ist tot - das zu sagen und an morgen zu denken, das ist Religion! Nach dem Tod soll das Elend weitergehen, das Leben erst richtig beginnen? Bah! Unerhört, schlichtweg unfaßbar! Woher nimmst du die Frechheit, he? Wie kannst du dich erdreisten, mir Lügen aufzutischen, Dinge zu sagen, die noch nie gesagt, die niemals gehört, die nirgendwo geschrieben stehen? Schwachkopf! Tölpel! Idiot! Komm zu Verstand - der Tod, der Sarg, das Grab, mehr gibt es nicht! Nur Religion!« In diesem Augenblick zerriß vom rasenden Gezerre des Spinnenmonstrums das Spinnennetz und legte sich golden über Gebein und Knochenmehl. Ein Gurgeln, ein Kreischen, ein Wirbel aus geblähtem Leib und borstigen Haaren - und als hätte das greuliche Spinnentier nun vollends der Vernunft entsagt, raste es die schroffe Klippenwand hinauf, zeterte dabei ohne Unterlaß, erreichte die Kante, sprang mit einem unmöglichen Satz zur Zacke hoch und... Spießte sich an der Spitze auf! An der Spitze der Zacke in der Krone der Welt. Wie erstarrt hatte Dietrich von Warnstein den Amoklauf der Kummerspinne verfolgt. Er schüttelte den Kopf, wandte schaudernd den Blick von dem aufgespießten Kadaver ab. Er sah zu Churm hinüber. »Selbstmord!« sagte er heiser. »Das Vieh hat sich selbst entleibt! Aber...« Er gestikulierte. »Beim allmächtigen Gott, aber warum?« Der Hornmann fuhr mit der Hornhand durch seinen Bart. »Aus Kummer, Sardor«, knurrte er. »Wie es die Art der Kummerspinnen ist - zuerst machen sie anderen Kummer, dann sich selbst.« Fe ließ ein ungeduldiges Grollen ertönen. »Schon gut, mein Kleines«, rief Churm. »Wir wissen es. Der Weg ist frei - der Weg ins goldene Ostien!« -36-
3. Kapitel Die Herrin der Schmerzen O lips füll of lust and of laughter Curled snakes that are fed from my breast Bite, hard, lest remembrance cotne after And press with new lips where you pressed. For my heart too spring up at the pressure, Mine eyelids too meisten and burn; Ah, feed me and fill me with pleasure, Ere pain come in turn, Algernon Charles Swinburne »Dolores (Notre-Dame des Sept Douleurs)«, 1878 Tief im Berg war es geschehen, im Stollen, der vom Felsenkessel der Kummerspinne aus sich ins Erz der Krograniten bohrte und in engen Windungen zum Fuß der Berge führte. In der Finsternis des Stollens war Sardor erwacht: Held und Gott zugleich, aus dem Geist des deutschen Fliegers und des Schläfers aus der Gruft zusammengesetzt. Und jenseits des offenen Stollenmauls: Das unbekannte Ostien... Steppe, karamel- und kaffeebraun, unterm Purpurhimmel. Hoch überragt vom Wall der Eisenberge, deren Hänge hier im Osten arabesk gemustert waren: Schwarz und grau graviert, mit Bildern kosmischen Grauens vollgeschmiert, Tätowierungen wie von Krebs ins Gestein gefressen. Die Berge waren wundgeschlagen; nicht einer der ehernen Riesen hatten widerstanden - damals, als die gehörnten Eroberer der Erde das Licht der nahen Sterne fokussiert und die Wunden ins rote Erz gebrannt hatten, Wunden, selbst nach all den Jahrmillionen kaum verheilt, knotig vernarbt, und aus dem Schorf, dem Narbengeflecht hatten sich Gemälde herausgeschält: Die allen Menschen Wahnsinn brachten. Obszön ins Berggestein geätzte Hymnen an den Sieg der gehörnten Sternmacht über die Riesen aus beseeltem Stahl, über das Eisenvolk der Erde. -37-
Was für gotteslästerliche Schmierereien! flüsterte es in Sardors Gedanken. Und doch nur eine von Millionen bösen Taten, dachte Sardor. Schmerzlich wurde ihm bewußt, wie sehr sein Geist gespalten war: Zwei Seelen wohnten in einem Körper, zwei Seelen, von denen jede sich vollkommen wähnte, obwohl die eine nur der anderen Seele Hälfte war... Was hinderte den Flieger und den Schläfer an der endgültigen Vereinigung? Welcher Bann lag über ihnen, daß der eine ruhen mußte, wenn der andere erwachte? Und gab es eine Medizin gegen diese Krankheit, diese quälende Zerrissenheit? Ein Kraut, das zusammenfügte, was eins sein mußte, wenn der Tag kam, der große und grausame Tag der letzten Schlacht zwischen der Stern- und der Eisenmacht, der Tag, an dem der zweite kosmische Krieg auf Erden ausbrach? Schon im ersten Ringen der Titanen war das Menschenvolk zermalmt und wie Vieh dahingeschlachtet worden. Nie zuvor in den Äonen seiner Existenz hatte der Mensch einen derartigen Aderlaß erlebt, und selbst jetzt, nach ungezählten Generationen, war der Blutzoll noch nicht wettgemacht. Und der große Tag der letzten Schlacht war nicht mehr fern. Er spürte es, er wußte es. Die Zeit schnellte dahin wie die Wilden Wasserstürze, die im Westen der Krograniten vom unbezwingbaren Quellenfels in den bodenlosen Schlund der Mahrengrube stürzten. Die Zeit entfloh ihm, die Galgenfrist schrumpfte; schon regten sich die alten Feinde zwischen den Sternen und unter dem gebleichten Licht kalter Sonnen; schon nahmen in der Region hinter der Zeit die Schmerzarchen der Eisenmänner Kurs auf die Küste der Wirklichkeit; schon bebte im fernen Wehrturm von Gorm die Glocke, die die Schlacht einläuten würde... Aber wie sollte Sardor, zerrissen wie er war, das alte Versprechen einlösen, das den Menschen gegeben worden war, -38-
zum Trost für das Leid von Jahrmillionen? Den Menschen zu beschützen, wenn der zweite kosmische Krieg entbrennt. Die Eisenmänner zu schlagen, die Gehörnten zu vertreiben, die Nachtmahre für immer von ihren unheiligen Gelüsten zu heilen... »Ruinen!« sagte Churm. »Nah genug, um hinzuspucken!« Er stand neben dem Weißhorn Fe, auf dem sie durch die Finsternis des Korkenzieherstollens ins ostische Morgenlicht geritten waren, und wies mit der schwarzen Hand auf gezackte Silhouetten, Schattenrisse am Horizont, Schatten der Vergangenheit: Die Ruinen von Qu'ail. »Qu'ail«, sagte Sardor. Seine Augen waren leer. »Ich erinnere mich. Die Blinde Stadt, Qu'ail-In-Trümmern. Schon vor zwanzigtausend Jahren lag Qu'ail in Trümmern da.« Er schob die Fliegerbrille hoch und blinzelte ins rote Licht der Morgensonne, die in diesem Augenblick in ihrer ganzen Größe hinter den Ruinen Qu'ails aufging und ihre Tageswanderung begann - westwärts, über die Krograniten hinweg, Gorm entgegen. »Qu'ail... Einst nannte man sie die Blinde Stadt, weil sie unter einem lückenlosen Baldachin aus schwarzen Fäulnisgasen lag, die aus einem Schacht im Herzen des Herrscherpalasts aufstiegen. Am Grund des Schachts, so sagte man, lag schwärend der Kadaver eines Gehörnten und hielt mit seinem Leichendunst alles Licht von Qu'ail ab. Die Lady Lyzis, die ihre Untertanen so sehr liebte, daß sie in jeder Nacht drei von ihnen bei lebendigem Leib verzehrte.« »Es heißt«, sinnierte Churm, »daß Rohkost der Gesundheit zuträglicher ist als Gekochtes oder Gebratenes. Oder war Lyzis aus religiösen Gründen Rohköstlerin?« »Sie hatte musikalische Gründe«, erwiderte Sardor. »Die gute Lady war ganz vernarrt in die Schmerzensmelodien, die ihre Untertanen komponierten, während sie verzehrt wurden -39-
- Lyzis' Speisekammermusik sagte man im Scherz dazu... Dann kam Calhan in die Stadt, kam im Auftrag der Gehirne, stahl Lyzis das rechte Bein, ließ den Fäulnisdunst versiegen und setzte Qu'ail der Sonne aus - nach zehntausendjähriger Nacht. Die Bürger starben, die Stadt zerfiel. Nur Ruinen blieben.« »Eine traurige Geschichte«, sagte Churm. »Sie gehört zu den fröhlichsten, die ich kenne.« »Hoffen wir, daß unsere Reise ebenso fröhlich verläuft.« Der Hornmann zupfte unbehaglich am krausen Bart, warf einen Blick zurück zur Stollenöffnung am Fuß einer Steilwand, die tausend Meter senkrecht in die Höhe stieg und sich kilometerweit von Nord nach Süd erstreckte. Hier im Osten wuchsen die Krograniten wie Festungsmauern in den Himmel, und der Stollen schien der einzige Weg zu sein, über den sich der Knochenpfad erreichen ließ. Zweifellos hatten die Eisenherzöge den Stollen angelegt - für den Fall, daß sie eines Tages aus ihren unterirdischen Schmieden fliehen mußten... vor den Mahren und ihren gehörnten Herren. Fe schnaubte. Es klang wie das Tosen der Wilden Wasserstürze. Dann senkte sich wieder Stille über Ostiens öde Steppe. Kein Laut war zu hören; weder Mensch, noch Tier, noch Element hob seine Stimme, um das schreckliche Schweigen zu beenden. Bleiern lastete Stille über dem karamelfarbenen Stoppelgras, das in sonderbarer Symmetrie die Steppe zeichnete: Jeder Grasstrunk war steinhart und von Form und Größe her einem Zaunpfahl ähnlich. Mit mathematischer Genauigkeit war jedem Strunk ein Revier zugeteilt, vier Quadratmeter groß. Dazwischen Kaffeebraun. In allen Richtungen breitete sich das Karamelgras aus, scheckte die Steppe, wuchs in der Ferne zu einem Nadelkissen zusammen, kesselte die Ruinenstadt am Horizont ein und schien bis zum Ende der Welt zu reichen. Kein Lufthauch kühlte die Haut. -40-
Kirschrot glühte der riesige Sonnenball und schwang sich träge über den Schattenriß von Qu'ail hinweg, kletterte zu den Wolken hinauf, die violett und purpurn am Himmel klebten, unbeweglich, schaumig erstarrt, zu Schorf getrocknet. Nur der bedächtige Aufstieg der Sonne verriet, daß die Zeit im vertrauten Takt verstrich. »Ich kann nicht behaupten, daß mir dieses Land gefällt«, sagte Churm. »Wirklich nicht. Es sieht mir verdammt nach einem Mahrenreich aus...« »Ah, das goldene Ostien!« spottete Sardor. »Vielleicht liegt das Gold hinter dem Horizont.« Sardor seufzte und trat auf Fe zu. »Das Gold liegt immer hinter dem Horizont.« Ein blasses Lächeln spielte um seine Lippen; für einen Moment war sein Gesicht wieder das des deutschen Fliegers: Jung, fast weich, die Augen verträumt, doch jederzeit zum kecken Glitzern bereit, um dann beim nächsten Atemzug in Schwermut zu verdunkeln; glatte Haut, heller Flaum an Kinn und Wangen - das Gesicht eines jungen Mannes, noch kaum vom Krieg gezeichnet. Dann erlosch das Lächeln; ein fremder, kalter Glanz trat in die grauen Augen. Erinnerungen an zwanzigtausend Jahre Tod und an ein wildbewegtes Leben gruben sich in die glatte Haut. Das Mienenspiel verhärtete sich, erstarrte zur Maske. Wie Trauerflor sah dunkles Haar unter der Fliegerkappe hervor. Grimm gefror den Mund zu einem roten Strich. Die rechte Hand umschloß den Knauf des Schwertes, die linke klatschte auf des hornbewehrten Tieres graue Flanke. »Reiten wir!« zerriß sein Ruf die Grabesstille der Steppe. »Reiten wir, Freund Churm, zum Horizont, zu den goldenen Ländern des Ostens! Für die Menschen, Churm Hörn, die von den Gehörnten und den Eisernen mit Tod bedroht werden. Reiten wir, bevor die Glocke die kosmischen Mächte zur -41-
Schlacht zusammenruft! Sammeln wir die Tapfersten der Menschen, damit es nach dem letzten Krieg noch Menschen auf Erden gibt!« Und sie taten es: Ritten über die ostische Steppe direkt in den brodelnden Sonnenball hinein, fort von den Eisenbergen und den grausigen Gemälden auf der Leinwand steiler Hänge. Stoppelgras brach wie morsches Holz unter Fes Säulenbeinen; kaffeebraunes Erdreich wurde festgestampft; Staub wehte als graue Fahne hinter ihnen her und zog in der Luft die Schneise nach, die das Tier durch die Steppe pflügte. Und in der Stille Ostiens donnerten die Paukenschläge des Galopps. Nach und nach schrumpften die Berge, bis sie nur ein rostigroter Strich am Horizont waren; nach und nach wuchs der Schattenriß von Qu'ail-In-Trümmern, bis aus Silhouetten Türme wurden, Mauerreste, bröckelndes Gemäuer, ein weites, dunkles Ruinenfeld, in dem nichts lebte, in dem sich nichts regte, das mit steinerner Geduld den Zerfall ertrug: Geborsten das Pflaster winkliger Gassen, schief die Stufen der Treppenstraßen, von Mauerwerk bedeckt die Laubengänge, voll Schutt die Hohlwege, eingestürzt, entzweigebrochen die Schraubenstiegen. Moder hauste dumpf in rußgeschwärzten Tempeln; unter eingesackten Firsten wohnte Finsternis; Staub hielt stumme Messen auf schwarzen Plätzen ab. Kaffeebraunes Erdreich und karamelfarbenes Gras machten einen großen Bogen um die zerstörte Stadt. In weitem Umkreis war der Boden rußig wie die Ruinen, gespalten wie das Mauerwerk, tot wie Lyzis' Untertanen. Als hätte der schweflige Baldachin, der zehntausend Jahre lang Qu'ail in die Blinde Stadt verwandelt hatte, die Erde so vergiftet, daß sie in alle Ewigkeit kein Leben tragen konnte. Selbst Dorngrund westlich des Strygensees war gegen diese Wüstenei ein Hort der Fruchtbarkeit - und Dorngrund galt als Königreich der Pestilenz. Sie spürten es, als sie an Qu'ails Ruinen vorbei galoppierten: Daß dies der Ursprung der Stille war, die Ostiens Steppe lahmte; -42-
daß dies der Herd des Übels war, das statt saftiges Gras harte Strünke wachsen ließ; daß eine böse Allianz bestand zwischen diesem Trümmerfeld und dem Wahnsinn der kosmischen Gemälde an der schroffen Eisenwand der Eisenberge. Und sie ritten beklommen weiter. Das Kirschrund der Sonne zog behäbig seine Bahn am purpurn gefleckten Himmel und verschwand zur Mittagszeit hinter einer Wolkenbank, die wie festgeleimt direkt über ihnen am Firmament hing. Die Wolken filterten das rote Licht, so daß es sich nun wie dünnes Blut über Ostiens Steppe ergoß. Endlos wuchs das Stoppelgras, endlos das Kaffeebraun der Erde. Schon längst lag Qu'ail-In-Trümmern hinter ihnen; schon längst hatte der Horizont den Eisenwall der Krograniten verschluckt. Aber noch immer lahmte Stille das weite, braune Land. Und in der Stille, Schlag auf Schlag, die Pauke des Galopps. Sie ritten Stunde um Stunde; sie ritten ohne zu rasten. Bald hatte die Titanensonne den Wolkenschleier abgelegt, hing aufgedunsen, gasig gebläht dicht über Ostiens Steppengrund und wärmte ihnen den Rücken. Während vor ihnen Schatten krochen. Organge und fahles Rosarot mischte sich ins Violett, ins Purpur der vertrockneten Wolken, und hier und dort schlich sich ein fauler Fleck ins Rouge der Abendröte. Zögernd sank die Sonne, sank mit solcher Langsamkeit, daß es schien, als ob selbst diese Höllensonne die tätowierten Berge scheute, die sie so wie jeden Tag auf ihrer langen Wanderung erklimmen mußte. Die Dämmerung nahm zu, die Schatten mehrten sich, legten sich wie die Weben einer Mohrenspinne übers öde Steppenland. Des Weißhorns Kräfte schienen unerschöpflich: Es schnaufte wie ein Blasebalg, es keuchte wie an Asthma erkrankt, es glühte wie ein Ofen, doch die Säulenbeine stampften so regelmäßig wie dampfbetriebene Kolben, als wäre F6 kein Tier aus Fleisch -43-
und Blut, sondern ein Konstrukt aus der Ära der Maschinen. Fes Galopp war noch immer so schnell wie am Morgen. Nur die beiden Reiter zeigten Anzeichen von Schwäche; seit über zehn Stunden wurden sie im Nackensattel durchgerüttelt, daß ihnen der Schädel brummte, die Ohren sausten, der Magen sich drehte, jeder Muskel schmerzte - vom wundgescheuerten Hinterteil gar nicht erst zu reden. Ein Kichern klang in Sardor auf: Ein Gott mit wundem Hintern, eh? Ist das nun Blasphemie - oder eine Roßkur gegen Größenwahn? Das ist das Leben, deutscher Mann, dachte Sardor ohne Ironie. Ein Hundeleben! gab der Geist in Sardors Geist zurück. Tod und Teufel, denk ja daran, daß ich mein Sitzfleisch noch länger brauche! Kolossale Frechheit, den Körper eines deutschen Offiziers derart zu malträtieren...! Churm stieß Sardor an und wies aufgeregt ins Dämmerlicht von Ostien. »Was ist das? Dort, weiter nördlich - der dunkle Fleck. Das ist kein Schatten!« Churm beugte sich über Fes geschuppten Schädel, starrte angestrengt; rief dann verblüfft: »Bei den Gehörnten, es könnte ein Wald sein, ein Hain! Wie bei uns im Westen. Vielleicht haben wir wirklich Glück. Vorwärts, Fe, vorwärts!« Das Weißhorn scherte zur Seite aus und hetzte auf das Waldstück zu, den schwarzen Fleck im Kaffeebraun und Karamel der Steppenöde. Sardor kniff die Augen zusammen und verwünschte das Zwielicht, das die Konturen verschwimmen ließ; die Schatten, die es unmöglich machten, Einzelheiten zu erkennen. Narrte die Dämmerung ihn - oder war dies tatsächlich der bizarrste Wald, den Menschenaugen je gesehen hatten? Denn -44-
wenn er keiner Täuschung aufsaß, dann ähnelten die Bäume weder den vertrauten Riesenpilzen des Anger- oder Myrtenhains, noch den skurrilen, ja, unheimlichen Gewächsen aus des Fliegers Träumen: Deutsche Eiche, Buche, Ahorn oder Trauerweide genannt. Die Bäume Ostiens waren Gebilde aus grauem, schwarzem oder dunkelbraunem Schaum, der blasig und betriebsam quoll und dabei die sonderbarsten Formen schuf: Der eine Baum erinnerte frappant an L'Ingans häßliches Wachsgesicht, nur daß es zehnmal größer und auf widerliche Weise eingedrückt, nach außen gestülpt war; der nächste Baum ähnelte - wie fatal! - dem Knochenschutt der Kummerspinne, nur daß jeder Knöchel, jeder Wirbel, jede Rippe sich wie Gewürm bewegte; der dritte äffte die Sonne nach - ein kläglicher Versager, war er doch eher eckig und nicht rund; der vierte mühte sich nach besten Kräften, einen Riesenfisch darzustellen, doch verwechselte das dumme Geschäum Flossen mit Flügel; der fünfte gab sich bescheiden, war nichts weiter als ein aufgeblähter Kloß; der sechste wäre die perfekt kopierte Hakennase eines Titanen, wenn er nicht übersehen hätte, daß es Nasenlöcher gab; der siebte hatte liebevoll einen Menschen karikiert, aber dabei nicht bedacht, daß der Mensch nicht nur aus Innereien bestand... Und so ging es in einem fort: Ein Sammelsurium der Scheußlichkeiten. »Ho, langsam, Fe, langsam!« brummte Churm, mit der Hornhand den Knauf der Klinge Gly umklammernd. Doch das Weißhorn hatte schon aus eigenem Entschluß vom Galopp in eine trottende Gangart gewechselt, und nun grollte es verdrossen: Zweifellos war Fe wie Churm von diesem Hain enttäuscht. Hundert Schritte vom Waldrand entfernt blieb das Tier dann stehen, schnaubte und grollte abwechselnd, drohte den Schaumgewächsen mit dem massiven Hörn, stampfte mit dem linken Vorderbein. In der Kühle der beginnenden Nacht dampften die Nüstern; die Flanken bebten; rasselnd ging der Atem. -45-
Der Himmel dunkelte indessen weiter; schneller, wie es Sardor schien, als drüben im Westen. »Dieser Wald gefällt mir nicht«, sagte Churm. »Mir gefällt vor allem nicht, daß er ein verdammter Schaumschläger ist. Bei den Gehörnten - diese Bäume sehen mehr wie Seifenstücke aus, die wochenlang im Wasser gelegen haben. Auch wenn ich nur Gast in diesem Land bin, von Bäumen erwarte ich mehr!« »Du meinst«, fragte Sardor gedehnt, »es ist überhaupt kein Wald?« »Das meine ich!« bekräftigte der Hornmann. Sinnend sah Sardor zu den schäumenden Gebilden hinüber. Sie sahen in der Tat wie aufgeweichte Seifenstücke aus - aber das hatte nichts zu bedeuten. Von alters her galt alles, was groß, lebendig und nicht animalisch war, als Baum, und mochte er auch aus Schaum bestehen... »Es ist ein Wald«, erklärte er bestimmt. »Ein wenig anders als die Haine daheim, aber schließlich sind wir in Ostien.« Churm grunzte verächtlich. »Es würde mich nicht wundern, in deinem Hain auf Ungeheuer zu stoßen.« Und wie um des Hornmanns Worte zu bestätigen, drang Schmatzen aus dem Wald, feucht und fleischig und konsequent abscheulich. Als wäre das Geschmatze nicht garstig genug, folgte kurz darauf ein saugendes Gnatzen, bis ein schriller Pfiff für Ruhe sorgte. Unruhig schwenkte Fe den hornbewaffneten Schädel. Churm sah finster drein. »Ein netter Wald, dein Wald, Sardor. Jetzt fehlt nur noch, daß uns irgendwelche Steppenungeheuer ins schmatzende Geschäum treiben!« Und ringsum in den Schatten war plötzlich ein Knirschen und Schaben wie von schweren Felsenkugeln, die langsam über den Boden rollten, das harte Stoppelgras zermalmten. Sardor horchte in die Nacht, aber die Geräusche wiederholten -46-
sich nicht. Da war nur die Grabesstille der ostischen Steppe. Dennoch... Mit jeder Faser seines Körpers spürte er, daß sich etwas in den Schatten regte, daß etwas in der Finsternis schlich, etwas sie belauerte - nicht aus Hunger oder Raubgier, sondern aus purer Mordlust heraus. Etwas, das nicht auf diese Welt gehörte. Wachsam drehte Churm den Kopf, hielt die blaue Klinge stoßbereit, durchforschte mit scharfem Blick die Dunkelheit. Wolken verhingen den Himmel, so daß nicht einmal das Grünspanlicht des Eisenrings die Nacht anschimmeln konnte. Nur am Rand des blasig quellenden Waldes brachen sich die Wogen des rabenschwarzen Meeres: Fahles Licht durchschimmerte die grauen und die dunkelblauen Schaumgewächse. Brannte tief im Hain ein Feuer? War ein Glühwurmlüster aufgeflammt? Verströmte Quarz, vom Glaspol stammend, die dem Tag gestohlene Helligkeit? Das Weißhorn schnaubte. »Fe fürchtet sich«, flüsterte Churm. »Und du, Churm Hörn?« wisperte Sardor zurück. »Ich fürchte nur die Gehörnten von den Sternen.« Der letzte Überlebende des uralten Orden des Horns lachte ohne eine Spur von Fröhlichkeit. »Etwas geht dort draußen in der Steppe um. Ich spüre, wie es lauert: Wie eine kalte Krallenhand, die mich würgt, mir die Luft abschnürt...« Die Klinge Gly war ein Strich aus blauem Licht im Schwarz der Nacht. »Es wird uns holen, ehe der Morgen anbricht.« Sardor sagte nichts. Er horchte in die Steppe. Da! Da war es wieder - das Knirschen und Schaben massiger Leiber, unter derem Gewicht das Steppengras brach. Es waren mehrere Kreaturen - drei? Oder vier? »Ich zähle... sechs«, raunte Churm. »Sie bilden einen -47-
Halbkreis... Sie sind groß, sehr groß, nicht wahr? Und schwer... Sie kriechen. Wie die Würmer aus den Seufzerschründen. Aber es sind keine Würmer...« »Nein«, murmelte Sardor. Sein weißes Schwert war stumpf; es leuchtete nicht, obwohl es sonst seinen stummen Wünschen gehorchte und blendendhelles Licht verströmte, wenn es notwendig war. Selbst das Schwert schreckte davor zurück, ans Licht zu zerren, was draußen in der Steppennacht sein Unwesen trieb. Er sah zum Wald. »Vielleicht folgen sie uns nicht hinein...« »Vielleicht wollen sie auch nur, daß wir in deinem verdammten Schaumhain Zuflucht suchen.« Aber bleibt uns eine andere Wahl? dachte Sardor. Jemand muß dort leben; das Licht, das durch die Schaumbäume schimmert... Es ist künstlichen Ursprungs; es wurde erst während der Dämmerung entzündet. Und der dort lebt - Freund oder Feind? Es bleibt sich gleich. Wenn wir das Wagnis nicht eingehen, holt uns der Tod noch in dieser Nacht. Das Lauern aus der Finsternis wurde intensiver, gieriger. Schaben näherte sich. Knirschen kam heran, noch weit entsetzlicher als die unheilvolle Stille, die stumme Schwester der blinden Nacht. »Also gut!« zischte Churm. »Versuchen wir's. Vorwärts, Fe!« Das Weißhorn röhrte, peitschte mit dem dorngespickten Schwanz, warf den geschuppten Schädel hoch, drohte mit dem Spieß aus Hörn den unsichtbaren Ungeheuern, die von böser Lust erfüllt im Dunkeln knirschten, im Dunkeln schabten, das Tier und seine Reiter jagten. Gehorsam trottete Fe zum Leichenlicht, das totenbleich durchs aufgeblasene Geschäum schimmerte. Plötzlich ein fettes Schmatzen - aus dem Wald und nicht, wie Sardor unwillkürlich glaubte, von denen, die im Finstern gierten. -48-
Das gräßliche Geschmatze wiederholte sich, dann feuchtes Gnatzen und zum Schluß - wie anfangs schon - der schrille Pfiff, der sofort für Ruhe sorgte. »Klingt wie eine Einladung«, bemerkte Churm. »Oder wie eine Warnung an die in den Schatten.« »Mir gefallen beide Möglichkeiten nicht, Sardor!« Das Knirschen und Schaben in ihrem Rücken war verstummt, als wären selbst die Nachtgespenster Ostiens überrascht, daß der aufgeschäumte Wald es wagte, derart häßliche Geräusche zu machen, während sie auf Menschenjagd waren. Doch die Stille währte nur Momente; schon begann der glitschige Schaum erneut zu schmatzen und zu gnatzen und - als Krönung sozusagen - wie ein Wal zu prusten. Das Prusten hielt noch an, als das Geschmatze längst geendet hatte. »Wird von Mal zu Mal widerlicher, dein Wald«, kommentierte Churm. »Dem Wald scheint's zu gefallen«, gab Sardor gelassen zurück. In der Tat hatte der Schaumwald am eigenen Geschmatze nicht das Geringste auszusetzen; im Gegenteil - nun ging das garstige Geräuschemachen erst richtig los; An hundert Stellen zugleich fing es im seifigen Gehölz zu Blubbern und zu Gluckern an, dann schwabbelte es hier und wabbelte es dort, dann schmatzte und gnatzte es in einem fort, und zu allem Überfluß erklang allüberall sumpfiges Gebrabbel. Und so kollerte es schwammig und gurgelte es schlammig, als hätte sich der Wald in Morast verwandelt, der gelangweilt gärte und sich nicht daran störte, welch unvorteilhaften Eindruck er doch machte. Aus allen Ecken tönte glitschiges Gepruste, aus jedem Schaumgebüsch drang sabberndes Geschlabber, als wären die aufgeweichten Seifenbäume in einen gnadenlosen Wettbewerb verstrickt, in eine Olympiade der peinlichsten Geräusche. »Taub müßte man sein; das wäre was«, knurrte Churm. »Tot -49-
müßte man sein - oder besser noch: nie geboren. Und wenn doch, dann ohne Ohren...« »Ohne Hirn würde schon genügen«, meinte Sardor. Der Hornmann lachte wild. Und F6, das treue Panzertier, das kühn - trotz des elenden Gesumpfes - zum Schaumwald hingetrottet war, tat nun mit heiserem Gebrüll dem Hornmann und Gott Sardor kund, daß sie im nächsten Augenblick den Hain betreten konnten. Nur Meter von den lärmenden Gewächsen des obskursten aller Forste entfernt verharrte Fe und wartete schnaufend darauf, daß einer ihrer Reiter die Entscheidung fällte, ins fahl durchschimmerte Geschäum zu brechen. Während hinter ihnen in der rabenschwarzen Nacht die Ungeheuer Ostiens übers Stoppelgras der Steppe schabten und in haßerfüllter Hast der Beute nachjagten, die zu entkommen drohte. Churms Silberaugen blitzten Sardor fragend an. »Wagen wir es?« »Wir haben keine Wahl, Churm Hörn!« Der Ordensmann verzog den Mund. »Hatten wir je eine?« Ein Schlag mit der flachen Hand auf Fes geschuppten Hals, und das Weißhorn brach mit gesenktem grauen Schädel ins schwammige Gebüsch. Die Entscheidung war gefallen, und nun, nachdem die Wahl getroffen war, wurde Umkehr nicht geduldet, gab es kein Zurück: Es gab nur noch den einen Weg für F6, für Churm, für Sardor. Den Weg der süßen Qualen, den Weg der glühenden Pein, den Weg des gewebten Leidens. Den Weg, der nur in eine Richtung führte, an dessem Ende Ma Lyn harrte. Ma Lyn, die Herrin aller Schmerzen. Fe spürte es; Churm spürte es; und Sardor spürte es nicht minder. -50-
Zuerst war es nur ein matter Stich, so sacht, als hätte ihn ein dreister Floh ins Bein gezwickt, doch schon beim nächsten Atemzug stach ein Nadel ihm ins Ohr, ins Knie und in die Nase. Dann, beim übernächsten Atemzug waren es tausend Nadelstiche, ein wildes, feuriges Brennen, das gnadenlos durch Sardors Schädel sengte, sich im weichen Fleisch verbiß, im Knochen schmorte, wie ein Flammenmesser durch das Mark der Knochen schnitt. Die Feuersbrunst erfaßte rasch die Brust, dann wurden Arme und Hände gekocht, der Bauch gebraten, die ganze Haut gesotten. Vom Licht, das wie Gespinst im Finstern glitzerte und voll Grimm das rohe Fleisch röstete. Schmerzen im Herzen, Pein im Gebein, das Mark geplagt. Das Hirn in Qualen rasend! Sardor schrie in Agonie, in köstlicher Verzückung, krümmte den geschundenen Leib, doch seine Augen leuchteten in lusterfüllter Entrückung. Er war taub in seiner Lust, hörte nicht Churms Schreie, hörte auch nicht - laut wie es war - Fes viehisches Gebrüll. Er nahm nicht mehr das Schmatzen wahr, das Gnatzen und Schwabbeln, das feuchte Wabbeln der schaumigen Gewächse; er badete in purem Schmerz und der Schmerz schnitt ihn entzwei. Er stöhnte erstickt und ächzte voll Glück, er keuchte seine Angst hinaus, während in seinem Herzen Liebe wuchs und Lust in seinen Lenden. In blinder Raserei donnerte das Weißhorn durch den schlammig lärmenden Hain. Sah nicht nach rechts, sah nicht nach links, sah nichts in seiner Pein, wurde nur vom Schmerz geplagt, von Brunst gepackt, von Tollheit und vom geilen Trieb ins seifige Gehölz gelockt. Und aus eigener Willenskraft zogen Churms Hornhände die blaue Klinge blank, wie stets bestrebt, Churms Leben zu bewahren. Pfeifend schnitt Gly durchs Geschäume, schlug quellendes Gesträuch mit einem Hieb in Stücke, suchte den Feind, sang gnadenlos und fand doch nur Geflimmer, Weben -51-
aus fahlem Licht. Während der Hornmann in der Flut der Schmerzen schwamm und von den Schmerzen das bekam, was sonst kein Mensch erhielt: Das Geschenk verschrobener Lüsternheit durch Pein im Fleisch und roh gequälte Seele. Der Wald brabbelte in morastigem Triumph. Die Bäume schäumten hoch in hemmungsloser Gärung. Und das bleiche Friedhofslicht von Ma Lyns Schmerzgespinst aus weißem Glimmer gewebt, schimmerte durchs Unterholz des aufgescheuchten Haines. Mit röhrendem Gebrüll galoppierte Fe durch die ätherischen VJeben, die sich nun mit jedem Schritt verdichteten, vermehrten, bis die Luft wie Glimmer war, ein glitzerndes Gespinst aus fahlem Schmerzgeflimmer. Fe grollte, brüllte, stierte dumpf ins quälende Gefunkel, zerstampfte Schaum, schoß durch qualliges Grau ins blitzende Gewebe, raste so vom Schmerz getrieben zur Herrin aller Schmerzen, zur Quelle dieser süßen Pein aus Fleischeslust und Fleischesqual, zur grausamen Ma Lyn... Und da und dort am Wegesrand, hinter blasigem Geschäum, waren Augen: Schwarz von Tücke. Und hier und da im seifigen Gesträuch pfiffen schrille Gnomenstimmen, denn im Schaumwald hauste häßliches Gelichter, die üble Brut der Trotze. Wie Geziefer krochen sie aus ihren Erdlöchern. Hämisch tönte ihr Gekeife durchs schmatzende Geschäum; auf krummen Beinen jagte die Gnomenhorde dem Weißhorn hinterher; knotige Schädel wackelten; Froschaugen stierten gierig; Klauenhände schwenkten Spieße mit polierter Dreizackspitze. Und so ausstaffiert, spießbewaffnet, der Leib verwachsen, der Geist verdreht, hetzten die üblen Trotze dem Untier nach, jagten es mit Zwergenhaß und greulichem Gepfeife. Wie Wunden klafften schiefe Gnomenmäuler. Zur sumpfigen Musik des Haines stimmte die Höllenbrut ihren Schlachtruf an, Ma Lyn zum Hohn und zum eigenen -52-
Vergnügen: Ritze, Ratze, Rotze Grausig sind die Trotze! Schaurig wie der Große Gratz Ist jeder Ritze-Ratze-Fratz Ratz, Ratz, Ratz! Kaum war das aberwitzige Geschratel im Geschäum ertrunken, geriet das spießbewaffnete Geziefer vollends außer Rand und Band. Wie ein tollgewordener Gummiball hüpfte der erste Schrat dem Weißhorn auf den Rücken und stieß wahllos mit dem Dreizack zu, bis ihn ein instinktiver Peitschenschlag des dorngespickten Schwanzes zurück ins blubbernde Geschäume schleuderte. Ein zweiter Trotz zwickte Fe ins linke Hinterbein; der dritte schmetterte ihr den Spieß vors Schuppenmaul; der vierte sprang vom nächsten Schaumbaum auf Churms helmgeschützten Kopf und biß ihm kreischend in die Nase, in die rechte und die linke Wange, verlor den Halt und spießte sich - welch Gnomenpech - am totenbleichen Dolchhorn auf. Die Trotze rasten im Zwergenzorn! Ganz aus den Fugen geriet die Horde, als Fe - noch immer vom Schmerzgespinst geblendet - zur Seite ausbrach und unversehens ein Dutzend Zwerge in den Boden stampfte, ein zweites Dutzend rammte. Ratz! Ratz! Ratz! zeterte die garstige Brut. Nur von fern hörte Sardor das rachelüsterne Gekeife. Gemartert von den Qualenweben der Herrin aller Schmerzen, heftig auf des Weißhorns Schuppennacken hochgeschleudert, durchgeschüttelt, wurde er durchs Schaumgehölz getragen, das sich endlich vor ihnen öffnete. Zu Ma Lyns Garten. Wo an rosa Büschen, an hautfarbenem Gesträuch, am knöchernem Geäst der Knorpelbäume Fleischobst in bunter Vielfalt wuchs, gehegt, gepflegt, herausgeputzt, zurechtgestutzt von der Herrin aller Schmerzen: Hier die Herzen, im Schlafe pochend; dort die Nieren und gleich nebenan die Lungenflügel -53-
vor einer Traube Gallenblasen; da die Milz- und Leberbüschel; dahinter eine Magenstaude, glänzend vom Verdauungssaft; im Vordergrund ein kolossaler Baum, die Krone schwer von der Last der überreifen Hirne; seitlich ein Oberschenkelbusch, ein Beet mit frisch gesprossenen Brüsten, ein schmaler Streifen Hakennasen, eine Hecke aus verknotetem Gedärm, eine Ohrenkolonie; gegenüber ein Wiesenstück, wo wilde Haare wuchsen; und die Gartenwege aus straffgespannter Menschenhaut wurden von Blumen mit blauen, braunen und auch grünen Augenblüten gesäumt. Inmitten all des Fleisches, das gut durchblutet der Ernte harrte, eine einsame Pagode aus weißem und aus schwarzem Stein, die Türen offen, das geschwungene Dach von einem fensterreichen First gekrönt. Gewebtes Licht, das Schmerzen brachte, hing wie eine Glocke über Pagode und Fleischgarten. Ein letztes animalisches Gebrüll aus des Weißhorns breitem Schuppenmaul, dann erreichte es Gelände, das frei von Ma Lyns Schmerzgespinst war. Die Agonie wich. »Bei den Gehörnten!« ächzte Churm. Benommen schüttelte er den Kopf; Blut tropfte aus Bißwunden an Nase und Wangen. Die Silberaugen waren abgestumpft. »Die Trotze!« raunte Sardor. »Sie folgen uns!« Die Glocke aus leuchtenden Schmerzen tauchte die Organgemüsebeete in vages Dämmerlicht. Ringsum das von der Nacht gerußte Geschäum des Waldes, und aus dem seifigen Gehölz wütendes Geschratel. »Ratz! Ratz! Ratz!« Zwergenfüße trippelten; Dreizackspieße klirrten; Gnomenmünder brabbelten einen haßerfüllten Sprechgesang: »Ritze, Ratze, Rotze Grausig sind die Trotze! Schaurig wie der Große Gratz Ist jeder Ritze-Ratze-Fratz Ratz, Ratz, Ratz!« Churm sah selbstzufrieden drein. »Ich wußte doch, daß in deinem verfluchten Geräuschewald Ungeheuer hausen!« -54-
»Es ist nicht mein verfluchter Wald!« wehrte Sardor ab. »Und was ist das?« Der Hornmann zerrte empört an seinem blutverkrustesten Bart. »Blut! Großartig! Einer von deinen verfluchten Trotzen aus deinem verfluchten Geräuschewald hat mich gebissen!« Zornig schwang er sein blaues Schwert. »Wo versteckt sich das Gelichter? Kommt her, ihr Trotze, damit ich euch in Stücke schlagen kann!« Fe fiel in Churms Gebrüll ein. »Still!« stieß Sardor hervor. »Deine kleinen Bestien sollen nur kommen!« tobte der Hornmann. »Verdammtes Geschmeiß!« Sardor seufzte und wies zum Schaumwaldrand. »Sie kommen schon, Churm Hörn. Und nebenbei - es sind nicht meine Trotze...« Ein Gnatzen im Geseife. Aus den Schatten kroch der erste Gnom und beäugte voll Tücke den Fleischgarten. Im Blutrausch schwang er seinen Dreizackspieß, begann zu allem Überfluß aufs Scheußlichste zu' Ratzen, als wäre dies sein einziger Lebenszweck: »Ritze, Ratze, Rotze - grausig sind die Trotze!« Ein weiterer Wicht purzelte aus dem Schaum heraus. Kaum stand er wieder auf den krummen Beinen, riß er prompt das schiefe Maul auf und krähte seinen Schlachtgesang: »Schaurig wie der Große Grate ist jeder Ritze-Ratze-Fratz Ratz Ratz, Ratz!« Im nächsten Moment rasten die Wichte zu Hunderten aus dem Geschäum, rotteten sich zusammen, schüttelten die Spieße. Tausend schratelnde Zwergenstimmen fielen in den Schlachtruf ein: »Ratz! Ratz! Ratz!« Und das ohne Unterlaß! Fe antwortete mit einem ohrenbetäubenden Gebrüll, schwenkte drohend den hornbewehrten Panzerschädel. »Streitsüchtig sind sie, deine Trotze, Sardor«, stellte Churm -55-
verdrossen fest. »Ich denke, wir...« »Wir sitzen in der Falle«, fiel ihm Sardor rauh ins Wort. »Daran solltest du denken.« Die Reihen der widerwärtigen Gnomen hatten sich geschlossen. Mit Geritze und Geratze schlich das mordlüsterne Gesindel heran. Wo die Zwergenfüße trippelten, überzog Gänsehaut die Wege. Das Herzobst klopfte schnell und laut; die Blumen schlössen vor Angst die Blütenaugen; der Magenstaude drehten sich die Mägen; die Lungen bliesen sich auf und schrumpften zischend, keuchend. Das Trötzgelichter gackerte wie über einen guten Witz und kam mit stoßbereiten Dreizackspießen näher. Von allen Seiten drang das greuliche Geheule: »Ritze-Ratze-Rötze - grausig sind die Trotze! Schaurig wie der Große Grate ist jeder Ritze-Ratze-Fratz! Ratz, Ratz, Ratz!« Fe stampfte mit den Vorderbeinen; der Vormarsch der Wichte geriet ins Stocken, bis ein schriller Pfiff aus dem Hintergrund sie wieder vorwärts trieb. Sardor zog das Schwert blank, doch er machte sich keine Illusionen. Selbst mit der Unterstützung des mächtigen Weißhorns würden sie der Übermacht der Zwerge nicht lange standhalten können. Ein wilder Kampf, ein Berg erschlagener Feinde, ein schmachvoller Tod am Dreizackspieß mehr konnten sie nicht erhoffen. »Hinaus aus meinem Garten, Trotze!« schnitt eine helle Stimme ins tückische Geratze der Zwergenhorde. Die Trotze erstarrten und duckten sich. Spieße klirrten aneinander. Aus schiefen Mäulern klang schiefes Gewimmer. Sardor fuhr herum und spähte ins Dämmerlicht. Dort - vor dem Pagodenhaus! Eine schlanke Gestalt in einem hochgeschlossenen, knöchellangen Gewand. Das Gesicht ein helles Oval, von schwarzen Haaren gerahmt; die Augen zwei Kohlenstücke, die von innen her glühten. Unter dem weißen Stoff des Kleides die Umrisse knospender Brüste. -56-
»Ein Weib!« rief Churm verblüfft. »Es spricht für dich, Churm Hörn, daß du eine Frau erkennst, wenn du sie siehst«, nickte Sardor. Hinter den dichten Reihen der Trotze erneut der schrille Pfiff. Aufsässiges Geschratel antwortete, nur hier und dort eifriges Geratze. Einer der mißratenen Wichte sprang vor und hetzte mit gesenktem Spieß auf das Weißhorn und die beiden Reiter zu. Die glühenden Kohlenaugen der Frau loderten auf und aus dem weißen Feuer zuckten zwei glitzernde Schmerzweben; wie Blitze schlugen sie im knorrigen Kopf des Wichtes ein. Er gurgelte, schlug einen Purzelbaum und kam so unglücklich zu Fall, daß er sich den Dreizack in die Magengrube bohrte. »Ausgeratzt!« sagte Churm. Die übrige Brut heulte wütend auf, doch das Leuchten in den Augen der weißen Frau ließ sie im nächsten Moment furchtsam verstummen. Nur der Oberwicht, der im sicheren Geschäum des Geräuschewaldes lauerte, vermochte seine Mordlust nicht zu zügeln. »Auf sie drauf, Trotze!« kreischte er, ohne sich ans Licht zu wagen. »Ratz, Ratz, Ratz! Kümmert euch nicht um Ma Lyn! Spießt sie auf, hackt sie klein, spuckt sie an - vorwärts, ihr Fratze! Mit Geratze!« Ma Lyn trat einen Schritt nach vorn; ihre Augen waren feurig wie die Sonne, ihr liebliches Antlitz war gerötet, und sie bebte vor Zorn. »Zurück, sage ich!« befahl die Frau mit messergleicher Schärfe. »Wer nicht augenblicklich aus meinem Garten verschwindet, wird von mir in Schmerzen eingesponnen, bis ihm das Ratzen für immer vergeht! Und für dich, Fürst Gratz, denke ich mir etwas ganz Besonderes aus - vielleicht pflanze ich dich sogar in meinen Garten ein. Als Unkraut, auch wenn ich dich dann jeden Tag mit eigener Hand zurechtstutzen muß!« -57-
Die ganze Gnomenbrut stimmte jetzt ein derart wütendes Gekreische an, daß sich die Ohrenkolonie an der Hecke aus Gedärm schleunigst ins Erdreich grub. Aber wie es schien, überwog die Furcht die Mordlust des Gesindels. Mit trotzigem Geratze trollten sich die Trotze ins finstere Geschäum. In kürzester Zeit war der ganze Spuk verschwunden. Dann - ein letztes Mal - das keifende Organ des Großen Gratz: »Ratz, Ratz, Ratz! Wir kommen wieder, Fratz! Und dann wird ohne Gnade aufgespießt, kleingehackt und angespuckt und dich, Ma Lyn, mein Schatz, wird der kleine Matz des Großen Gratz zu Tode ratzen!« Ma Lyns Augen schössen Glitzerweben in den Wald, und kaum waren sie im Geseife verschwunden, schrillte ein schmerzerfüllter Schrei durch die Nacht. Dann Getrippel und Getrappel, ein tausendfaches Ratz! Ratz! Ratz! - und in den Schaumwald kehrte Stille ein. Die üblen Trotze des Großen Gratz waren wieder in den Löchern verschwunden, aus denen sie hervorgekrochen waren. Mit einem eleganten Satz schwang sich Sardor von Fes Nacken, kam federnd auf der straffgespannten Bodenhaut auf, schob das weiße Schwert in die Gürtelschlaufe und ging auf die Herrin der Schmerzen zu. Weitaus gemächlicher als er stieg Churm vom Panzerroß. Und als Sardor vor Ma Lyn ehrerbietig das Haupt neigte, ergriff ein anderer Geist Besitz von seinem Körper, und wie unter Zwang nahm er die zierliche Hand der Frau, führte sie zu seinem Mund und hauchte mit gespitzten Lippen einen zarten Kuß auf den Handrücken. In Sardors Augen glomm unvermittelt ein wildes, fremdes Feuer auf. »Euer Diener, schönste Herrin!« rief er mit verändert klingender Stimme. »Für immer Euer Diener! Verfügt über mich, teuerste Ma Lyn - über mich, meinen Freund, mein treues -58-
Roß!« »Dein treues Roß?« sagte Churm gedehnt. »Du scheinst etwas mißverstanden zu haben...!« Ma Lyns gedunkelte Kohlenaugen huschten geschwind von Churm zu F6 und wieder zurück zu Sardor. Ihre Lippen teilten sich zu einem Lächeln, das Sardor einen süßen Seufzer entlockte. Ihre Stimme - die eben noch mit schneidender Schärfe die mordlüsterne Zwergenbande vertrieben hatte - klang nun sanft. »Ihr seid zu gütig, Fremder«, sagte die Herrin der Schmerzen. »Ich nehme Eure Dienste dankbar und mit Freuden an. Seid meine Gäste. Aber möchtet Ihr nicht Euch und Euren Freund und Euer Roß vorstellen?« Das junge Gesicht unter der ledrigen Fliegerkappe, der hochgeschobenen Fliegerbrille, leuchtete glücklich auf. Mit unverkennbarem Stolz wies er auf das Weißhorn: »Das Roß, schönste Herrin, wird Fe genannt, und es gilt als mächtigstes Tier auf Erden. Der Freund heißt Churm und er ist der 'Letzte vom uralten Orden des Horns. Und ich, Ma Lyn...«Er lachte hell und rief in übermütigem Triumph: »Ich bin Dietrich von Warnstein, Leutnant in der Fliegertruppe des Deutschen Reiches, Offizier Seiner Majestät Kaiser Wilhelm des Zweiten! Ich bin wieder da! Hurra! Ich bin endlich wieder da!« 4. Kapitel Die Rückkehr des Boslings Good creatures, do you love your lives And have you ears for sense? Here is a knife like other knives, Thal cost me eighteen pence. l need but stick it in my heart And down will come the sky. And earth's foundations will depart -59-
And all you folk will die! - Alfred Edward Housman »Good creaturrs, do you love your lives«, 1936 Trällernd, die wasserblauen Kinderaugen vor Staunen weit aufgerissen, den Schmusemund zu einem feuchten O gespitzt, tief gerührt von der exquisiten Verdorbenheit des Panoramas, das sich ihren begeisterten Blicken bot - so hüpfte die fleischgewordene Verwesung durch den Knochenpfad. Wie ein nervöses Insekt sprang sie hierhin und dorthin, steckte die Stupsnase in das Knochenmehl, kostete es mit rosa Zunge, kreischte vor Entzücken und sprang weiter durch die Nacht. Traf die wandelnde Fäulnis auf einen halbwegs erhaltenen Menschenknochen, steigerte sich das ausgelassene Gekreische zu einem wilden Triumphgeschrei. Dann wackelte der Säuglingskopf auf der Knorpelröhre des Halses hin und her, dann sträubte sich das blonde, flaumige Haar, dann rollten die arglosen Kulleraugen, als wollten sie im nächsten Moment aus den Höhlen herausfallen. Niemals zuvor hatte der Knochenpfad einen derart gutgelaunten Gast gehabt. Fröhlich hopste die Kreatur an Erzgestein und wahllos verstreuten Skelettfragmenten vorbei, und wo ihre Krallenfüße sich ins Knochenmehl bohrten, wurde der weiße Staub grau und zerfiel in die kleinsten Bausteine der Materie. Und die Maden, die zwischen den Zehen der Krallenfüße nisteten, fluchten und schimpften im Madenzorn: Auswurf, Abschaum, Lump! Und die Mollusken, die am Knorpelhals wie Geschwüre wucherten, zischten wie gereizte Nattern, um den tiefer wohnenden Maden ihre Molluskensolidarität auszudrücken. Aber natürlich hinderte der Aufruhr der Schmarotzer den Wirt nicht einen winzigen Moment daran, seine elende Hüpferei fortzusetzen. Unverdrossen krähend, heiter gackernd und mit dem Ungestüm einer Jugend, die das verruchte Geschöpf nie gekannt -60-
hatte, näherte es sich hopsend dem Felsenkessel der Kummerspinne. Und schnitt dabei die kauzigsten Grimassen. »Meister! Meister!« krähte es vergnügt. »Ich komme, Meister! Ich kohommeee!« Was die Maden und Mollusken nur noch mehr erzürnte: Halt ein, Kadaver'. Kehr um, du Aas! zirpte es zwischen den Zehen. Doch wie immer lautete die Antwort: »Nimmer!« Denn die Pläne, die das maßlos scheußliche Geschöpf ausgebrütet hatte, sahen keinen Aufenthalt im Knochenpfad vor ganz zu schweigen von der Rückkehr in den Westen, die seine wutentbrannten Madenmieter verlangten. Der Westen, pah! Langeweile war dort zum Herrscher aufgestiegen, seit der Mahr erschlagen worden war, seit der Schwarze Mirn in der Luftschlacht gegen Sardor den ersehnten Tod gefunden hatte, seit kein Crypte mehr am Nordufer des Strygenflusses auf und ab marschierte und begehrliche Blicke nach Süden warf, wo die Heldenhügel und die Wälder der Hainvölker lagen. Was bot der Westen noch außer den Fluch des Friedens, die Drohung des Glücks, das Laster der Hoffnung? Was sollte er noch in Gorm, jetzt, wo er ohne Meister dastand, er, der sich nichts mehr wünschte, als eines gnadenlosen Tyrannen Sklave zu sein? Ach, geliebter Mirn! dachte das verderbte Geschöpf mit tränenfeuchter Lüsternheit. Mirn, mein monströser Meister, wie grausam von dir, wie eigensüchtig, deinem treuen Sklaven wegzusterben! Wer soll mich jetzt foltern, wer soll mich jetzt peinigen? Eine falsche Träne tropfte aus dem rechten Kullerauge und ätzte sich ins Knochenmehl. Säuerlich stieg Sehnsucht in ihm auf; Sehnsucht nach schlechter Behandlung, tödlichen Beleidigungen, wohldosiertem Haß und erbarmungsloser Unterdrückung. Nach all den schaurigschönen Dingen, die ihm nur ein Meister geben konnte. Ein schlaues Lächeln verzerrte den roten Kosemund. Mirn, -61-
das Aas, hatte sich davongemacht, doch wenn das Unglück ihm auch weiterhin gnädig war, würde er in Kürze in die Sklaverei eines neuen Meisters geraten - eines Meisters, von dem er eine weit grausamere Behandlung erhoffen durfte als Mirn sie ihm je gewährt hatte... »Ich kohommeee!« krähte der widerliche Wicht erneut, daß es hundertfach im Spalt des Knochenpfads widerhallte. »Geduld, Meister, dein Sklave ist schon unterwegs, hu, juhu!« Von den schroffen Wänden rieselte Rost; Knochen wurden morsch und zerbröselten zu Knochenmehl; und die Spieße, Schwerter, Äxte, die hier und dort im weißen Beinstaub lagen, setzten Grünspan an, sobald das verdorbene Geschöpf heuschreckengleich vorbeigehüpft kam. Die Neugierde spornte es zu größerer Schnelligkeit an. In weiten Sprüngen hopste es dem Felsenkessel entgegen, den es irgendwo vor sich in der Finsternis der Mitternacht wußte. Das wilde Geschnatter des Bösewichts war der einzige Laut im Knochenpfad, und die Stille versprach köstliches Entsetzen, grausige Entdeckungen, Begegnungen der häßlichen Art: Wie die Begegnung mit Ingan, dem Leichnam, der im Westen wachte - L'Ingan, der tot wie nie zuvor auf seinem Totenbett gelegen hatte; für alle Zeiten von der Leichenstarre an seine steinerne Bahre gefesselt, vom Schicksal dazu verdammt, statt auf Beutejagd zugrunde zu gehen. Während aus allen Ritzen des Gemäuers die Schädelstimmen drangen und den Schlächter, den toten Wächter verhöhnten, verlachten, sich einen Spaß nach dem anderen machten... Oh, oh, dachte das elende Geschöpf, welch herrliches Unglück ich doch habe! Kaum ist der eine Meister tot, schon jage ich dem nächsten nach. Und einen Meister wie diesen gibt es kein zweites Mal! Ein gluckerndes Lachen drang von den roten, vollen Lippen; der bräunliche Sack seines Leibes blähte sich vor Heiterkeit; die -62-
morschen Streichholzarme schlenkerten wild hin und her; nur die Maden und Mollusken pflegten ihre üble Laune und fluchten weiter vor sich hin, statt des Wichtes Frohsinn zu teilen. Das Schimmellicht des Eisenrings malte die Felsenwände grün und ertrank am Grund des Spalts im Knochenmehl. Noch ein Sprung, die Wände flohen und öffneten sich zum weiten Rund des Felsenkessels. Die Kreatur - die allein durch ihre Gegenwart alles verdarb, alles zersetzte, alles zum Verwesen brachte - dieses unselige Geschöpf sperrte den roten Schmusemund auf und gaffte an, was der Kessel zum Gaffen bot: Das Wirrwarr der Knochen, Wirbel und Knöchel, die verklebten und verknäulten Reste des riesigen Spinnennetzes und oben auf der Zacke in der Krone der Welt der aufgespießte Kadaver der Kummerspinne. Ein entzückter Pfiff, ein krähendes Gelächter, ein Purzelbaum voll Übermut, die Welt stand Kopf - der Schädel traf den Boden. Und zerbrach mit dumpfem Knirschen. Graues Hirn schickte sich an, aus dem geborstenen Haupt zu quellen, doch schon fügte sich die Schädeldecke wieder zusammen, wuchs rosige Haut über die schreckliche Wunde, kehrte das Leben in den entseelten Leib zurück. Mit einem Jubelschrei sprang die Kreatur auf die Beine, riß die morschen Arme hoch und wirbelte im rasenden Veitstanz hinüber zum Knochenschutt, zu den verklebten Spinnenweben und der schwarzen Öffnung im Fels, zum Einstieg jenes Stollens, der sich durchs Massiv der Eisenberge bohrte, Tausende von Metern in die Tiefe schraubte und mit seinem zweiten Maul ins unbekannte Ostien gähnte. Schnatternd hüpfte der Wicht über Knochen und Spinnenfäden hinweg ins Schwarz des Stollens. »Mein Meister, mein Held, mein schrecklicher Herr!« krähte es aus der Düsternis so schaurig, daß selbst die toten Knochen vor Entsetzen klapperten. »Dein Sklave ist auf dem Weg zu dir, Meister! Hu, juhu!« -63-
Dann verklang das grausige Geschnatter. Der Bosling stieg nach Ostien hinab. Friedlich wie ein Grab lag der Felsenkessel wieder unter dem grünen Licht des Eisenrings, der von West nach Ost den Himmel zerschnitt und jenseits der Berge, über Ostiens Steppenland, hinter Wolkenbänken verschwand. Und so nicht sah, was sich im Schaumwald tat oder im Fleischgarten Ma Lyns, der Herrin aller Schmerzen. , , Noch immer lastete die Nacht über der Steppe, doch fern am östlichen Horizont - über den Kronen der seifigen Bäume mehr zu erahnen denn zu erkennen - ließen die ersten Strahlen der Morgensonne bereits purpurne Spuren zurück. In vollen Zügen atmete Dietrich von Warnstein die kühle Nachtluft ein, die durch die offenen Fenster strich. Mit zerfurchter Stirn betrachtete er die Beete mit dem Organgemüse, die Fleischobstbäume und die Hautwege, die sich wie Schlangen durch den Garten wanden. Er schauderte, und er wußte nicht zu sagen, ob es an der frischen Luft oder am Anblick dieses Gartens lag. Aus dem dunklen Waldgeschäume drang wütendes Geratze. Der Flieger seufzte. Die Trotze hatten sich nur kurz von Ma Lyns Drohungen einschüchtern lassen. Zweifellos heckten die Gnomen im Schutz des schmatzenden Forsts irgendeine Teufelei aus. Auch hier im Osten war die Hölle an der Arbeit! »Sie sind nicht wirklich schlecht, die Trotze«, sagte Ma Lyn. »Im Grunde ihres Herzens sind sie gute Kreaturen. Aber seit Fürst Gratz den Untergrund regiert, werden sie mit jedem Tag unverträglicher.« Warnstein drehte sich um. Obwohl die Pagode von außen kaum größer schien als die Kate eines Einsiedlers, bot sie im Innern Platz für ungezählte Zimmer, Stuben, Kammern. Allein der Raum, in dem sie sich befanden, konnte mühelos eine ganze Festgesellschaft aufnehmen, und jenseits der Pforte reihte sich -64-
zu beiden Seiten eines endlosen Korridors Tür an Tür. Was dem Flieger verriet, daß Hexerei im Spiele war. Und die Herrin dieses Hexenhauses, Ma Lyn, war Weib genug, um einen Mann auch ohne Hexenkraft verzaubern zu können.. , Was bereits geschehen ist, deutscher Mann! raunte die Geisterstimme in seinen Gedanken. Misch dich da nicht ein, Gespenst! wies Warnstein seinen Mieter barsch zurecht. Gott, was war er froh, wieder sein eigener Herr zu sein, aus eigenem Willen den Arm zu heben, das Bein zu beugen, die frische Luft zu atmen! Verflixt, es mußte doch irgendein Mittel geben, dieses Gespenst daran zu hindern, unversehens vom Gast zum Wirt zu werden! Exorzismus... Ja, das würde helfen - doch woher in dieser heidnischen Welt einen Priester nehmen? Einer Welt, die das denkbar abschreckendste Beispiel trostloser geistiger Armut und sittlicher Versumpfung bot! Andererseits, grübelte der Flieger, mußte man dem Gespenst zugestehen, daß es sich halbwegs manierlich aufführte, wenn es den Befehl über den Körper übernahm. Ein Dämon war es ganz gewiß nicht! Trotzdem - dieser zutiefst unchristliche Seelentausch konnte auf die Dauer nicht geduldet werden. Was würde der Kaiser dazu sagen? Ein deutscher Offizier von der schwarzen Seele eines Heidengötzen besessen - undenkbar, unerhört! Wir müssen eines werden, Dietrich von Warnstein! wisperte das Gespenst. Dies ist unsere Pflicht und unsere Bestimmung. Die Hälften müssen sich zum Ganzen vereinigen, damit Sardor vollbringen kann, was vollbracht werden muß... Warnstein verbiß sich eine Verwünschung. Himmel, war der Kerl begriffsstutzig! Jedes Kind wußte doch, daß es nichts auf Erden gab, was ein deutscher Offizier nicht aus eigener Kraft vollbringen konnte! Er sah Ma Lyn an, und ein zartes Lächeln huschte über sein Gesicht. Ein entzückendes Persönchen! Mädchenhaft und doch -65-
schon Weib! Wie sie da lag, auf dem mit weißer Seide bezogenen Canape... Ein Engel konnte nicht anmutiger sein! Und dieses dünne Kleid, unter dem sich die Umrisse ihres graziösen Körpers abzeichneten; die runden Hügel ihrer Brüste... Warnstein hüstelte. Hitze stieg ihm ins Gesicht, und er war dem Licht der Glühwurmlampe für seine Schummerigkeit dankbar - wäre doch peinlich, wenn Ma Lyn sehen könnte, daß er rot wie ein Schuljunge wurde, während er sie betrachtete... Churm saß auf einem Stuhl, aus Elfenbein geschnitzt, und polierte mit einem Tuch sein blaues Schwert. Draußen schwoll das Geratze der Trotze an. »Die Bande scheint sich auf einen Überfall vorzubereiten«, argwöhnte Churm und hielt einen Moment im Polieren inne. »Wir sollten die Fenster schließen, die Türen verriegeln. Wäre jammerschade, wenn Trötzeblut die Dielen beschmutzen würde...« »Das werden sie nicht wagen«, wehrte Ma Lyn ab. Verzaubert sah Warnstein, wie es in ihren dunklen Augen zu leuchten begann. »Gratz weiß ganz genau, was ihn erwartet, wenn er sich eine derartige Dreistigkeit herausnimmt!« »Darauf würde ich mich nicht verlassen«, sagte Churm. »Wer so häßliche Geräusche macht, ist zu allem fähig.« Die Herrin der Schmerzen schüttelte den Kopf. Rabenschwarz das Haar, die Haut so weiß wie Sahne. Ja, sie war ein Engel! Plötzlich spürte Warnstein das Verlangen, vor ihr auf die Knie zu sinken, ihr seine Liebe zu gestehen, ihr zu sagen, daß sie die Dame seines Herzens war... Doch dann wurde er sich seiner unwürdigen Erscheinung bewußt: Zerknittert und zerknautscht der dunkelblaue Uniformrock; stumpf die einstmals glänzenden Messingknöpfe; die Hose fleckig vom Rost der Eisenberge; die Ulanenstiefel schmutzig, matt, mehr grau als schwarz. Und es war überaus fraglich, ob der strenge Schweißgeruch, der ihn umgab, ihrem zarten Naschen schmeichelte. -66-
Dreimal verflucht - er bot das Zerrbild eines deutschen Offiziers! Was er brauchte, das war ein Bursche. Höchste Zeit, daß er sich darum kümmerte! Schon allein, um sich die Schmach zu ersparen, mit eigener Hand die Stiefel zu putzen... Mit einem kalten Lächeln sah er den Hornmann an. Wenn der Heide das Schwert polieren konnte, dann wohl auch die Ulanenstiefel! Und da ihn der Schwarzbart für einen leibhaftigen Gott hielt, würde er gewiß mit Freuden bereit sein, seinem Gott als Bursche zu dienen. Eine kolossale Karriere - vom Heiden zum Offiziersburschen, ho, ho! Die Trotze ratzten unverdrossen weiter. »Scheußlich!« kommentierte Churm. »Oh, nein«, rief Ma Lyn, richtete sich halb auf ihrem Canapö auf, daß ihr entzückender Busen sich so deutlich unter dem Seidenstoff abzeichnete, als wäre ihr rosiges Fleisch unbedeckt. Keusch wandte Warnstein den Blick von ihrem jungfräulichen Körper ab. Teufel auch - machte sie das absichtlich? Wollte ihm die Hexe die Sinne verwirren? »Oh, nein«, wiederholte die Herrin der Schmerzen. »Das Ratzen ist bei den Trotzen Tradition - obwohl es, wie ich zugeben muß, seit dem Amtsantritt des Großen Gratz schlimmer als je zuvor geworden ist. Und ich lebe lange genug im Schaumwald, um das mit Sicherheit sagen zu können.« »Wie lange ist lange genug?« warf Warnstein neugierig ein. Sein Herz begann unter ihrem Blick wie ein ängstlicher Vogel zu zucken. »Mehr als fünftausend Jahre«, sagte Ma Lyn. Der Flieger schnappte nach Luft. »Aber...! Unmöglich! Ihr könnt unmöglich so alt...!« »Im Vergleich zu dir, Sardor«, sagte Churm gelassen, »ist sie noch ein halbes Kind.« Und zu Ma Lyn gewandt: »Sardor starb -67-
bereits in grauer Vorzeit nach einem Leben, das an Jahren reicher war als Eures jetzt ist... Vor sechzig Tagen dann kehrte er auf dem Rücken eines roten Riesenvogels in die Welt zurück, um die Menschen zu beschützen, wenn der zweite und letzte kosmische Krieg ausbricht.« »Ihr nennt Euren Freund Sardor?« Verwunderung färbte Ma Lyns helle Stimme dunkel. »Aber er sagte doch, er hieße Dietrich von Warnstein...« »Ein Scherz.« Der Hornmann polierte wie im Fieber weiter, dabei trug er - aus welchem Grund auch immer - eine sauertöpfische Miene zur Schau. »Sardor ist ein Gott; deshalb genießt er das Privileg, von Zeit zu Zeit jemand anders zu sein! Und wenn Ihr mich fragt - er nutzt es weidlich aus.« Ein langer Blick aus schwarzen Augen. »Dann seid Ihr es? Der, von dem gesagt wird,, daß sein Erscheinen die lange Friedenszeit beendet? Gott und Mensch zugleich?« Ihre Bewegungen waren fließend wie quellklares Wasser, als sie sich vom Canape erhob und auf den Flieger zutrat. Sie war einen Kopf kleiner als Warnstein, so daß er den Kopf senken mußte, um in ihr liebliches Gesicht zu sehen, und der Kragen wurde ihm zu eng. Scheu berührte ihr zierliche Hand den zerknitterten Stoff seines Uniformrocks. »Mir wurde gesagt«, flüsterte sie, »daß Ihr kommen werdet. In der Morgendämmerung des großen und grausamen Tages der letzten Schlacht zwischen der Sternund Eisenmacht. So lange habe ich schon auf Euch gewartet - und ich habe euch nicht erkannt! Vergebt mir, Sardor, vergebt Eurer Vasallin Ma Lyn.« Verwirrt und hilfesuchend sah Warnstein zu Churm, aber der Hornmann blieb stumm; nur in seinen Silberaugen blitzte es verräterisch auf - schien sich zu amüsieren, der Heide! Der Flieger mußte sich mehrfach räuspern, ehe er seiner Stimme zutraute, so fest zu klingen, wie es diese Situation verlangte. -68-
»Teuerste!« sagte er. »Ihr bringt mich in Verlegenheit. Der Schwarzbart dort sitzt einer Täuschung auf: ich bin nicht wirklich dieser Sardor. Ich bin Dietrich von Warnstein, ein gewöhnlicher Mensch, durch eine unerklärliche Schicksalsfügung in diese Welt versetzt, die mir so fremd und bizarr erscheint wie der entsetzlichste Alptraum. Meine Heimat ist Deutschland, das Deutsche Kaiserreich, dem als Offizier zu dienen ich die Ehre habe. Und in dieser Zeit, aus der ich komme, tobt ein schrecklicher Krieg - schrecklicher vielleicht als es die Kriege zwischen den kosmischen Mächten je gewesen sind. Ich weiß nicht, wer mich aus meiner Welt gerissen hat; aber ich ahne, daß ein Plan dahintersteckt, von einer Macht ersonnen, die sich irgendwo auf Erden oder im Weltall verborgen hält... Daß es diese Macht gibt, dessen bin ich mir sicher - seit die Stimme zu mir gesprochen hat, im Sturm, vor dem Sturz in diese Welt. Sie sagte, daß es für den toten Gott an der Zeit ist, aus dem Schlaf zu erwachen und die Träume mit der Wirklichkeit zu messen. Sie nannte mich Sardor, diese Stimme - und dann, als ich die Gruft unter den Heldenhügeln betrat, jenen Hügeln westlich der Krograniten, da gesellte sich eine fremde Seele zu mir, in meinen Körper, die Seele eines heidnischen Gottes, Sardors Seele, nach zwanzigtausend Jahren Tod in mir zu neuem Leben erwacht. Um die Menschheit zu beschützen! Ein Heer zu sammeln für den Tag der letzten Schlacht! Ein Bollwerk zu errichten gegen die Stern- und Eisenmacht! Seitdem, liebste Ma Lyn«, sagte der Flieger, »ziehe ich mit meinem Freund und Vasallen Churm Hörn und dem getreuen Panzerroß Fe durch die Welt, um nach Menschen zu suchen, die stark und tapfer genug sind, den kosmischen Horden der Gehörnten und den stählernen Horden der Eisenmänner entgegenzutreten - wenn der Tag kommt. Einige Verbündete haben wir bereits gewonnen: Die Nurn unter ihrem Fürsten Caliman; die Anger des Fürsten Gorrenhart; Fürst Tür und seine Myrten; und die Woyden-Amazonen der Fürstin Lidinya... Alle -69-
vier Hainvölker stehen bereit, mir in die grausame Schlacht des letzten Tages zu folgen, sobald die Wehrglocke der Feste Gorm zum zweiten kosmischen Krieg ruft. Doch die Zeit verrinnt, und die Feinde sind zahlreich wie die Sterne am Himmel...« »Ein schiefer Vergleich«, mäkelte Churm. »Es gibt kaum Sterne am Himmel. Sieben, die die Pforte der Gehörnten bilden; dann die Vier Mahrenaugen; dann das gute Dutzend der Brücke durch die Nacht; und zuletzt das halbe Hundert der Wolke von Zwarn. Ah, und der Einzige Wandelstern - aber der leuchtet in jedem Jahrtausend nur für eine einzige Nacht am Himmel auf. Die andere Seite des Firmaments - über dem brennenden Nordpol - soll etwas sternenreicher sein, aber alles in allem wirst du kaum mehr als fünfzehnhundert Lichter zusammenbekommen. Und die Zahl unserer Feinde geht in die Millionen...« Warnstein seufzte. »In meiner Zeit«, murmelte er sehnsuchtsvoll, »war der Himmel ein einziges Glitzern.« »Dann, Sardor, muß deine Zeit am tiefsten Grund der Vergangenheit liegen«, stellte der Hornmann unbeeindruckt fest. »Zu tief, um jemals dorthin zurückzukehren.« Ma Lyn ergriff Warnsteins Hände; erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er noch immer Handschuhe trug, schwarz wie des Hornmanns Hände. »In mir, Sardor«, rief die Herrin der Schmerzen mit weithin hallender Stimme, »hast du eine weitere Vasallin gefunden. Und ein ganzes Heer obendrein - das Heer der Trotze!« Warnstein fuhr zusammen. »Die Trotze?« schrie er. »Ich will verdammt sein! Diese Mordbrenner sollen meine Vasallen werden, auf Seiten der Menschen für die Menschen kämpfen? Weib!« donnerte er. »Willst du mich verhöhnen?« Auch Churm war aufgesprungen. »Mir diesem Lumpenpack in die Schlacht ziehen? Mit Geratze obendrein, eh? Eher trete ich den Mahrenschwärmen allein entgegen! Den Trotzen auch -70-
nur einen Moment lang den Rücken zuzukehren, hieße doch, von hundert Dreizackspießen durchbohrt zu werden!« Er kniff die Silberaugen zusammen, starrte Ma Lyn finster an. »Ein schlechter Scherz, Herrin der Schmerzen!« Abrupt, mit zarter Zornesröte auf dem liebreizenden Gesicht, ließ Ma Lyn Warnsteins Hände los, trat zwei Schritte zurück. »Ihr wißt nichts!« fauchte sie, und sie war bezaubernd in ihrer Empörung. »Wie könnt ihr es wagen, so mit mir zu reden? Haltet ihr mich für eine Närrin?« Die dunklen Augen glühten jetzt, und in Warnsteins Brust begann es wie von Feuer zu brennen, und der Schmerz war Qual und Lust zugleich. Doch dann erlosch das Feuer. Ma Lyn wurde blaß und fiel auf die Knie. Erschrocken wisperte sie: »Verzeiht mir! Oh, ich flehe Euch an, ich...« Schon war Warnstein bei ihr, ergriff galant ihre Hand und zog sie wieder hoch. »Ich muß Euch um Vergebung bitten, schönste Ma Lyn!« rief er zerknirscht. »Ich bin sicher, daß Ihr gute Gründe habt, die garstigen Trotze zu unseren Verbündeten zu zählen.« »Es sind Menschen«, sagte Ma Lyn, »Menschen wie ich, wie Ihr...« »Ratz, Ratz, Ratz!« höhnte Churm. Warnstein funkelte ihn an. »Still, verfluchter Heide!« Der Hornmann blinzelte, dann erhellte sich sein düsteres Gesicht, und etwas wie Lüsternheit sprach aus seinen Augen, seinem Grinsen, das kurz den schwarzen Bart teilte. »Oho! Ich wußte es! Habe ich dir nicht gesagt, Sardor, daß du deiner Rittermaid nicht hinterher trauern brauchst, daß wir im Osten genug Weiber mit feuchten Schoß...« »Noch ein Wort, du wahnsinniger Wilder«, knirschte Warnstein außer sich vor Zorn, »und ich schlage dir den Schädel ein!« -71-
Der Hornmann zuckte die Schultern, ließ sich auf den Elfenbeinstuhl fallen und widmete sich - eingeschnappt - der Politur seins Schwertes. Mit grimmiger Befriedigung wandte sich Warnstein wieder der schönen Schmerzensherrin zu. »Sprecht weiter, liebste Ma Lyn«, bat er sanft. Sie lächelte, daß ihm heiß und kalt zugleich wurde und sein Grimm dahinschmolz. Allein ihr Lächeln machte ihn trunken vor Glück. »Die Trotze«, sagte sie mit fester Stimme, »sind Teil des Menschenvolkes. Gewiß, ihre Gestalt hat sich verändert, sie sind etwas schrullig geworden und ihre Sitten mögen auf Fremde verschroben wirken - dennoch sind sie Menschen. Das Leben im Untergrund hat sie gezeichnet. So viele Generationen hausen sie schon unter Ostiens Steppe, daß sich nicht nur ihr Geist, sondern auch ihr Fleisch der Unterwelt angeglichen hat... Die ganze Steppe ist unterhöhlt und untertunnelt; gewaltige Mengen an Rüstzeug, an Waffen und Vorräten lagern in ungeheuren Kavernen. So wie ich, so warten auch die Trotze auf den großen Tag der letzten Schlacht... Ihr seid über die ostische Steppe geritten; ihr habt das sonderbare Stoppelgras gesehen, nicht wahr?« Warnstein nickte. »Sah künstlich aus, das Zeug. Zu geometrisch übers Land verteilt, um natürlich entstanden zu sein. Also sind diese Gewächse das Werk der Trotze?« »Nicht ganz«, entgegnete Ma Lyn. »Das Speerholz - so der althergebrachte Name - ist natürlichen Ursprungs, doch die Trotze haben es in all den verflossenen Jahrtausenden gehegt und gepflegt und jedes andere Kraut beseitigt. Und nun wartet das Speerholz auf die Blütezeit.« »Das Speerholz blüht? Diese Zaunpfähle bekommen Blüten?« »Wenn die Schwärme der kosmischen Nachtmahre am Himmel über Ostien erscheinen, wird das Speerholz blühen.« Sie lächelte; scheu, stolz und wild zugleich. »Und es wird -72-
schnell wie der Blitz in die Höhe steigen, zu Millionen und aber Millionen, und jeder blühende Speer wird sich ins kalte Herz eines Mahres bohren...« »Bei Gott!« rief Warnstein. »Unglaublich! Eine... eine Fliegerabwehr? Könnte ich doch nur...« Er verstummte; zu kühn, zu phantastisch war der Gedanke, als daß er ihn laut auszusprechen wagte: Dies tödliche Gewächs mit heimzunehmen, falls es je eine Rückkehr für ihn geben sollte; das Speerholz dem Kaiser und dem deutschen Volk zum Geschenk zu machen, es überall im Reich zu pflanzen, als Schutz vor den Fliegern Frankreichs und Englands... Ha! Was würde Richthofen für Augen machen, wenn ein Mann aus seiner Staffel dem Reich einen Luftschild schenkte, der undurchdringlich war für jede Feindmaschine - die neue Wacht am Rhein und an den deutshen Küsten. Lieb Vaterland, magst ruhig sein... Er riß sich aus den Träumen, sah forschend der Maid ins Gesicht; einer Maid, die -^ wenn man ihren eigenen Angaben trauen konnte - fünftausend Jahre alt war. Als hätte der Mensch aus der vorchristlichen Zeit sich ins beginnende 20. Jahrhundert hinübergerettet, ein Mensch, noch vor dem Fall von Babylon und Ninive geboren, längst den Kinderschuhen entwachsen, als Gott der Herr sich Moses offenbarte, in Feuer und Rauch auf dem Berg Sinai, und ihn die Zehn Gebote in Stein tafeln ritzen ließ. Diese Frau war viermal so alt wie der biblische Methusalem, war vielleicht sogar unsterblich wie der Mensch vor dem Sündenfall! Nur mit Mühe gelang es dem Flieger, sich wieder auf das Thema ihres Gesprächs zu konzentrieren. »Dieses Speerholz...«, sagte er. »Welcher - welcher Mechanismus läßt es in die Höhe schießen? Und wer hat es gezüchtet, gepflanzt, dafür gesorgt, daß es - Äonen vielleicht! - mit dem Blühen wartet, bis die Mahre über der Erde erscheinen?« »Gas sorgt für den Auftrieb«, erläuterte Ma Lyn bereitwillig. -73-
»Der Schaumwald - er erzeugt Faulgas, Sumpfgas, und es wird in unterirdische Kanäle geleitet, natürliche Kanäle, in das weit verzweigte Wurzelnetz des Speerholzes, und die Wurzeln verdichten es und verdichten es, bis der Druck groß genug ist, um jedes einzelne Speerholz zweitausend oder dreitausend Meter hoch in den Himmel zu schießen. Wenn die Zeit der Blüte kommt, die Zeit der Mahre.« »Ah«, mischte sich Churm Hörn ins Gespräch ein. »Das erklärt das häßliche Geräuschemachen deines Schaumwalds, Sardor!« »Es ist nicht mein Schaumwald! Wie oft soll ich das noch sagen?« explodierte Warnstein. Verdammter Quälgeist! »Meine Mutter hat das erste Speerholz gepflanzt«, fuhr Ma Lyn versonnen fort. »Ich war damals noch nicht geboren... Sie kam aus dem Norden, meine Mutter, und sie erzählte mir, daß sie einst aus reinem Feuer bestand, aus ewigen Flammen, und daß sie ihren unsterblichen Flammenleib gegen einen langlebigen, aber dennoch sterblichen Leib aus Fleisch und Blut eintauschte und deshalb den brennenden Pol, ihre Heimat, verlassen mußte. Sie sagte, sie hätte es aus Liebe getan, aus Liebe zu einem Menschen, der versprochen hatte, sich zu ihr zu legen und sie zu schwängern, sobald er göttlich genug worden war, um nicht selbst in Flammen aufzugehen und zu Asche zu werden... Aber dieser Mann kam nie zum Pol zurück, und nach langen Jahrhunderten des Wartens folgte meine Mutter ihm in die Welt. Sie hat ihn nie gefunden, diesen Mann. Dafür fand sie - irgendwo im Westen, an einem Ort namens Dorngrund Schößlinge des Speerholzes. Sie nahm sie mit, züchtete und kreuzte und veränderte sie, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden war... und die Zeit der Saat begann. Meine Mutter war - genau wie ich, ihre einzige Tochter - Herrin aller Schmerzen, und mit dieser Macht unterwarf sie die wilden Steppenvölker, die damals noch die kosmischen Gemälde des Wahnsinns an den Hängen der Eisenberge anbeteten und jeden -74-
Fremden, der die Steppe betrat, ihrer schrecklichen, blutgierigen Göttin opferten: Der Mutter der Mahre, der Königin der Schwarzen See, der Namenlosen, die seit Millionen Jahren im See der Finsternis schläft, im erloschenen Vulkan östlich der Großen Rinne... Meine Mutter peinigte die Priester der Namenlosen Göttin mit lichtgewebten Schmerzen, bis sie aus dem Steppenland flohen, und sie lehrte die wilden Steppenvölker sie mehr zu fürchten als die Schläferin im See der Finsternis, und als neue Generationen geboren wurden, schlössen sich die Steppenvölker ihr aus freien Stücken an und schworen, bereit zu sein, wenn der große und grausame Tag kommt, und die Menschheit zu beschützen...« Ma Lyn strich eine Strähne rabenschwarzen Haares aus ihrem milchweißen Gesicht, und ihre dunklen Augen blickten in den Abgrund der Zeit, aus dem sie emporgestiegen war. »So gingen die Nachkommen der wilden Steppenvölker in den Untergrund, und aus deren Nachkommen wurden im Lauf der Jahrhunderte und Jahrtausende die Trotze.« Warnstein bemerkte, wie Churm lauernde Blicke verschoß. »Vom Pol kam Eure Mutter, Ma Lyn?« fragte der Hornmann. »Eine Flammine war sie, auf der Suche nach dem sterblichen Mann, der versprochen hatte, sie und die anderen brennenden Frauen vom brennenden Pol zu schwängern? Und...« Das Lauern der Silberaugen wurde noch um eine Spur diabolischer. »Und der Name dieses Mannes? Kennt ihr den Namen dieses treulosen Sterblichen, der zum Gott werden wollte, um sein Versprechen einzulösen?« Ma Lyn schüttelte traurig den Kopf. »Nein; Mutter kannte ihn, aber sie verschwieg ihn mir. Sie sagte, der Name wäre am Pol zum Fluch geworden, und ich als ihre Tochter hätte Wichtigeres zu lernen als Flüche, aus den Namen ehrloser Sterblicher geboren.« Warnstein schluckte; er erinnerte sich an die Dinge, die ihm der Hornmann über Sardor, sein alter ego erzählt hatte, über die Flamminen und ein gebrochenes -75-
Versprechen... Hoffentlich hielt der Kerl den Mund! - Aber nein, der Heide hob jetzt erst recht frech das Haupt, grinste wie Beelzebub persönlich und begann: »Vielleicht kann ich Euch helfen, was den Namen dieses Schurken...« »Genug!« fuhr Warnstein dazwischen und sah den Heiden vernichtend an, griff wie zufällig nach dem weißen Schwert an seiner Seite. Der Schwarzbart schien die Geste zu verstehen; sein dreistes Grinsen erlosch wie eine Kerzenflamme in einer stürmischen Nacht. »Reinste Zeitverschwendung, diese alten Geschichten auszugraben«, fuhr der Flieger entspannter fort. »Schönste Ma Lyn, Ihr sagtet, daß Fürst Gratz...« Ihr liebliches Antlitz verzerrte sich plötzlich in wilder Wut, die ihn erschreckte und gleichzeitig sein Herz höher schlagen ließ - was für ein Temperament dieses Persönchen doch hatte! »Gratz!« stieß sie hervor; wie eine giftige Frucht spuckte sie den Namen aus. »Fürst Gratz, der Große Gratz der Trotze - pah! Die Mahrenkinder, die des Nachts in der Steppe umherschleichen, sollen ihn holen! Unter seiner Herrschaft sind aus den putzigen Trotzen abscheulich ratzende kleine Ungeheuer geworden. Sie gehen auf Raub aus im Rinnenland, stehlen wahllos, was ihnen in die schmutzigen Finger gerät: Metall, Elfenbein, Jungfrauen...« »Ha!« machte Warnstein. »Dachte ich's mir doch!« »Die Trotze schrecken nicht einmal davor zurück, in meinen Garten einzufallen und am Fleischobst zu nagen!« empörte sich die bezaubernde Maid. »Stellt Euch das vor! Natürlich stiftet Gratz sie dazu an - er ist einfältig wie alle anderen, aber dann und wann blitzt die tückische Schläue seiner barbarischen Ahnen in ihm auf, und dann geht das Geratze los.« »Mir scheint«, sagte Warnstein grimmig, »dem Schrat fehlt eine tüchtige Tracht Prügel - am Fleischobst Eures Gartens zu nagen! Unfaßbar! Nebenbei: Wozu züchtet Ihr diese Unmengen, uh, Organe?« -76-
»Für den Krieg«, antwortete sie und schlug in mädchenhafter Bescheidenheit die Augen mit den langen, glänzend schwarzen Wimpern nieder. »Für den letzten kosmischen Krieg, um die Wunden der menschlichen Krieger zu heilen, abgetrennte Gliedmaßen zu ersetzen, zerfetzte Eingewei...« »Uh, hm, das genügt!« unterbrach der Flieger hastig. »Nun, ich stelle fest, Euer - und unser - Problem ist dieser Fürst Gratz. Richtig? Sobald er gestürzt ist und ein moderater Fürst auf dem Thron sitzt, werden sich die üblen Trotze wieder manierlicher benehmen. Richtig?« Sie schüttelte den Kopf. »Gratz kann nicht gestürzt werden«, sagte sie bedrückt. »Das Zepter ist in seinem Besitz; das Wahrzeichen der Trötzefürsten - und das einzige Mittel, um das Speerholz zum Blühen zu bringen.« »Dann nehmen wir dem Wicht dieses Zepter eben ab«, sagte Warnstein leichthin. »Und drücken es einem anderen Trotz in die Hand; einem, der sich anständig aufführt.« Ma Lyn schüttelte erneut den Kopf. »Gratz hat das Zepter an einem sicheren Ort versteckt. Niemand kann es zurückholen - es wäre sein Tod.« »Teuerste Ma Lyn!« rief Warnstein, und seine Augen waren mit einem Mal hart wie Stahl. »Ich bin ein deutscher Offizier! Ich fürchte weder Tod noch Teufel! Und es gibt nichts, was ein deutscher Offizier nicht vollbringen kann! Sagt mir, wo der Hundesohn sein verdammtes Zepter versteckt hält, und ich hole es und lege es Euch zu Füßen...« »Nein, es ist unmöglich!« wehrte sie ab, mit Tränen in den Augen. »Ihr werdet sterben!« »Ein Offizier des Kaisers stirbt nicht so leicht, Ma Lyn!« donnerte der Flieger. »Sprecht! Wo finde ich das Zepter des Trötzefürsten? Wo?« Sie duckte sich unter dem barschen Klang seiner Stimme, und -77-
schon bedauerte er es, einen derart rauhen Befehlston angeschlagen zu haben. »Im Schlachthaus«, flüsterte die Maid. »Im denkenden Schlachthaus am Rand der Großen Rinne, südlich der Rinnenbrücke.« Churm fuhr hoch. »Bei den Gehörnten?« preßte er hervor. »Also gibt es doch noch eines von diesen verfluchten Schlachthäusern der Eisernen! Und ich dachte, die Mahre und die gehörnte Rasse hätten diese Stätten unsäglichen Grauens dem Erdboden gleichgemacht, bevor sie die Erde verließen...« Wie eine große Katze sprang der Hornmann an Ma Lyns Seite. »Lebt es noch?« zischte er. »Denkt es noch? Wißt ihr es?« Sie schauderte. »Ich... ich weiß es nicht«, stammelte sie. »Ich habe nie den Garten verlassen. Ich weiß nur, was mir... was mir Fürst Gratz erzählt hat... als er kam, um mir seine Liebe zu gestehen... als er mich bat, seine Frau zu werden... als er mich verfluchte, da ich ihn nicht erhören wollte, nicht erhören konnte...« »Das wird ja immer toller!« entfuhr es Warnstein. »Ihr die Frau dieses abscheulichen Schrats? Nimmer!« Churm packte Ma Lyns Schulter, schickte sich an, sie zu schütteln und ließ abrupt los, als er Warnsteins drohenden Blick bemerkte. »Ma Lyn!« drängte er. »Was hat Gratz Euch über das Schlachthaus erzählt? Erinnert Euch! Es ist von unvorstellbarer Wichtigkeit! Denn wenn es 'noch lebt, wenn es noch denkt, dann...« Er beendete den Satz nicht; unheilvoll wie der Schatten des Todes lastete das Schweigen über dem Raum. Ma Lyn strich nervös ihr Haar zurück, zupfte am hoch geschlossenen Kragen ihres seidigen Gewandes, sah den Hornmann furchtsam an. »Churm Hörn«, sagte Warnstein verweisend, »du ängstigst unsere Gastgeberin!« -78-
»Nein«, rief Ma Lyn schnell und legte Warnstein ihre zarte Hand auf die Brust, dort, wo sein Herz unter der Berührung wild und schmerzhaft pochte. »Nicht Euer Freund ängstigt mich, sondern der Gedanke an das Entsetzliche, was ich von Gratz erfuhr... Es war wenig, doch genug, um mir lange Zeit den Schlaf zu rauben. Er kleidete seine Worte in einen Vers von solchem Aberwitz, daß sich alles in mir sträubt, ihn zu wiederholen.« »Ihr müßt!« sagte der Hornmann streng. »Um der Menschen willen!« Sie nickte; scheu wie ein Rehkitz. »Ihr habt recht, Freund Churm«, murmelte sie. »Um der Menschen willen...« Und dann, mit einer fremden, kalten Stimme, die wie ein Messer in Warnsteins Herz schnitt, sprach sie den Vers, den Fürst Gratz für sie erdacht hatte: »Es schlachtet, was nicht schnell ausreißt, Ob Mann, ob Frau, ob Kind, ob Greis. Das Schlachthaus macht aus Menschen Brei; Es denkt - und denkt sich nichts dabei.« »Es denkt«, wiederholte Churm. »Es lebt.« Und seine Silberaugen waren mit einemmal wie zerbrochene Spiegel. Verwirrt sah Warnstein von Ma Lyn zu Churm. »Ich wüßte nicht, was das ändert«, sagte er ungeduldig. »Ich habe den Mirn besiegt, den Mahr geschlagen, L'Ingan von seiner Sammelleidenschaft geheilt und die Kummerspinne in den Selbstmord getrieben - ha! dann sollte ich wohl auch mit einem Schlachthaus fertig werden. Ob es nun denkt oder nicht!« Der Hornmann bewegte bedächtig den Kopf. »Nicht einmal ein Gott wie du, Sardor, kann ein denkendes Schlachthaus der Eisenmänner betreten und es lebend wieder verlassen. In derartigen Schlachthäusern haben vier Fünftel der menschlichen Rasse ein blutiges Ende gefunden. In derartigen Schlachthäusern wirkt das Erbe der Eisenmänner nach. Diese Häuser denken, -79-
aber nicht auf menschliche Art. Ihre Klugheit ist die Klugheit beseelten Stahls: Gedanken, scharf wie Schwertklingen; Gefühle, die dich wie Würgedraht umschlingen; Wünsche, die dich wie Spieße durchbohren...« »Hast du Angst?« fragte Warnstein verächtlich. »Nur vor den Gehörnten«, erwiderte der Heide dumpf. »Doch ich fürchte um unsere Mission...« »Pah!« machte der Flieger geringschätzig. »Und was ist mit Ma Lyn? Willst du, daß dieser Gratz Fürst der Trotze bleibt? Daß er diese liebe Frau in sein finsteres unterirdisches Reich zerrt und ihr Gewalt antut? Ma Lyn, schönste Ma Lyn - ich habe Euch meine Dienste angeboten, und bei meiner Offiziersehre, ich verspreche Euch, daß ich dieses Zepter aus dem Schlachthaus holen, Gratz vom Thron der Trotze stürzen und Euch von den Nachstellungen dieses üblen Wichts erlösen werde! Herrin der Schmerzen - vertraut mir!« Und mit einem Seufzer, der ihn wie süßes Gift berauschte, sank sie an seine Brust. Triumphierend sah der Flieger den Schwarzbart an. »Nun, Churm Hörn? Hast du Schneid genug, mir zum.. « »Still!« zischte der Hornmann, den Kopf wie lauschend geneigt. Warnstein runzelte die Stirn. »Was, zum Teufel...?« »Der Tod!« raunte der Hornmann. »Der Tod ist auf dem Weg zu uns...« Und der Tod kam, der fleischgewordene Tod, die wandelnde Verwesung, der große Verderber. Mahrenschwingen trugen ihn durch die Luft, der Morgenröte entgegen, die fern im Osten den Himmel bluten ließ. Der Tod ritt auf dem Rücken eines Mahrenkindes, eines jener Ungeheuer, die im schwarzen Meer der Nacht auf Beute -80-
lauerten und ruhelos den Schaumwald umschlichen, voll böser Lüsternheit aus den Schatten gierten. Seit Äonen schon durchstreifte dieses Mahrenkind das Steppenland; seit Äonen schon verließ es in der Abenddämmerung seine Höhle im Massiv der Eisenberge und kehrte mit Beginn des Morgengrauens in sein finsteres Loch zurück, da es die Sonne mehr als alles andere fürchtete. Wie die bastardisierten Sprößlinge der Eisenmänner - die Eisenherzöge -, so waren auch die Bastarde der kosmischen Nachtmahre von ihren Erzeugern auf Erden zurückgelassen und vergessen worden. Und wie die Eisenherzöge, so verfügten auch die Mahrenkinder nur über einen Bruchteil der Macht ihrer Ahnen. Klauenbewehrt waren sie, stachelgespickt, über und über von Giftdrüsen bedeckt, schreckliche Ungeheuer, die alles anfielen, was sich des Nachts hinaus in die endlose Weite der Steppe wagte. Ihr Lebenszweck war Mord; ihr einziger Feind war die Sonne. Und auf der Flucht vor diesem entsetzlichen Feind, der selbst ein unsterbliches Mahrenkind töten konnte, war die Bestie auf schwarzen Schwingen zu den Eisenbergen zurückgekehrt, um sich in der Höhle hoch oben zwischen den Gipfeln vor der Sonne, dem lichten Tag zu verstecken. Als der Bosling aus dem Stollenmaul am Fuß der Krograniten gehüpft kam. Krähend: »Hu, juhu, bald bin ich bei dir, mein Meister, mein Peiniger! Dein Sklave kommt, um von dir gequält, mißhandelt, beschimpft und verabscheut zu werden! Ich kohommee! Hu, juhu!« Und das Mahrenkind, Beute witternd, vor Mordlust zitternd, hatte sich mit ausgestreckten Klauen auf das Opfer gestürzt und war selbst zum Opfer geworden. Unsterblich, wie es war, -81-
konnte es nicht sterben, selbst als es in des Boslings Dunstkreis geriet, wo alles Leben starb, alles Frische verdarb. Doch der verderbenbringende Dunst des Boslings hatte den bösen Geist des Mahrenkinds umnachtet, es seinen Wünschen gefügig gemacht, seinem Willen unterworfen - und nun trug es ihn ins Sonnenlicht, zum fernen schwarzen Fleck des Schaumhains im Kaffeebraun und Karamel der Steppe, Und dem Mahrenkind und seinem grausigen Reiter kamen grausige Schatten entgegen, und in der Luft hing krächzendes Mahrengeschrei. Während schwarze Schwingen rauschten. Die Sonne ging auf, die Sonne! Doch das Mahrenkind flog weiter. Blutlicht floß aus dem wunden Leib der Riesensonne und bedeckte bald den Horizont mit einer dicken Kruste. Doch das Mahrenkind flog weiter. Und der Morgenröte folgte die erste Helligkeit des Tages: Wie frischgepreßter Kirschsaft spülte es den Schorf der Dämmerung vom Horizont, überflutete die Steppe, daß die Gischt bis zum Schaumhain spritzte. Doch das Mahrenkind flog weiter. In den Tod. Vom Tod gelenkt. Ins Licht, ins gnadenlose Licht, das dem Mahrenkind die Schwingen verbrannte, den Leib versengte, aus Klauen, Gift und Stacheln Asche machte. Über dem Schaumhain. Über Ma Lyns Garten. Asche fiel wie schwarzer Schnee, und mit der Asche fiel der Bosling, vor Vergnügen krähend, vor Heiterkeit schnatternd, wie rasend mit den morschen Armen, den streichholzdünnen Beinen schlenkernd, den molluskenbewohnten Knorpelhals verrenkend, mit blauen Kulleraugen den Boden anstarrend, dem der Unhold wie ein Stein entgegenstürzte. Ein entzücktes Zungenschnalzen, ein letztes: »Meister! Meister!« - und der Bosling prallte auf. Im Ohrenbeet. Fünfzig Schritte von Ma Lyns Haus entfernt. Beim Aufprall zerplatzte der Bosling wie ein prall gefüllter Wasserschlauch, und das Geräusch, das er dabei erzeugte, übertraf sogar die Geräusche des Geschäums an Garstigkeit. Und die Ohren -82-
verdorrten; der Hautweg, der am Beet vorbei zur Hecke aus Gedärm führte, wurde runzlig, schlaff und grau; und die Haarwiese gegenüber - soeben noch braun und blond und schwarz - nahm eine silberweiße Färbung an, bis der Morgenwind ganze Büschel wilder Haare ins Geschäume trug, dort Geheimratsecken schuf, da den Wiesengrund rasierte. Selbst in diesem beklagenswerten Zustand war des Boslings tödliche Aura noch stark genug, Verderben über Ma Lyns Fleischgarten zu bringen. Langsam, fast widerwillig, fügten sich die weit verstreuten Teile des Bösewichts zusammen. Wie Würmer krochen Glieder, Innereien zum zerschundenen Torso; wie eine angenagte Billardkugel rollte der Säuglingskopf zum schlaffen Knorpelhals. Dann - während der Rand der aufgedunsenen Sonne über den Wipfeln des Schaumwalds erschien und mit frischem Kirschlicht das Organgemüse und das Fleischobst rötete - da endlich war der Bosling restauriert. Nicht eine Schramme, nicht der winzigste blaue Fleck kündete noch von der harten Landung. Die Lider flatterten, öffneten sich, und mit der Unschuld des Bösen, das seine Bosheit als Tugend betrachtete, besahen die wasserblauen Kulleraugen den jungen Morgen. Und aus dem seifigen Hain - Geratze. »Hm!« machte der Bosling angenehm berührt. »Uh!« Dann reckte er den Hals und starrte zu Ma Lyns Haus hinüber. Der Schmusemund verzog sich zu einem breiten Lächeln der Begeisterung, als er die vertraute Gestalt im dunklen Rechteck des offenen Fensters erspähte. »Meister! Meister!« krähte der Wicht. »Meister, ich bin da, hu, juhu! Dein Sklave ist endlich zu dir gekommen, um von dir beschimpft, gequält, verflucht zu werden! Ist das nicht -83-
wunderbar, Meister Sardor?« 5. Kapitel Zu Gast im. denkenden Schlachthaus Und so auch wünschte ich zur Nacht, Schlägt mir der Wollust kühne Stunde, Zu des Alkovens reichem Grunde Mich feig zu schleichen mit Bedacht. Um dort dein frohes fleisch zu plagen Und um zu quälen deine Brust, In den erstaunten Leib mit Lust Dir eine Wunde tief zu schlagen. - Baudelaire »Der Allzufrohen«, 1852 Still und stählern, ein Monolith, aus einem Stück gegossen, stand das Schlachthaus am westlichen Rand der großen Rinne. Es stand dort seit Äonen, und seit Äonen wartete es. Auf Gäste. Voll Hoffnung und Sehnsucht sah es nach Westen, wo sich die Speerholzsteppe bis zum Grenzwall der Kroganiten dehnte, ein menschenleeres Land, am Tag blutüberströmt, in der Nacht finster wie ein Kohlenkeller, abweisend, schweigend, öde. War es hell, pfiff der Wind über die Pfähle aus steinhartem Holz, rüttelte an ihnen und jagte enttäuscht davon, wenn die Strünke widerstanden. War es dunkel, rauschten Schwingen in der Luft, und über den Boden schabten schwere Körper, ließen Speerholz splittern,: Mahrenkinder und andere Schattenwesen. Das Schlachthaus kannte die Mahrenkinder und die, die in den Schatten gierten, und es haßte sie, da es wußte, daß sie die Brut des alten Feindes waren. Mit eiserner Willenskraft bezwang es seinen Haß und ließ die Feinde schleichen unerfüllbar war der Wunsch. Denn die einzigen Gäste, die die Sehnsucht des Schlachthauses stillen konnten, waren Menschen. Und der Haß des Schlachthauses wuchs. So spähte es dann nach Osten, wo Dampf in mächtigen Wolken aus der Rinne quoll, dem großen Graben, der von Nord -84-
nach Süd das weite Land spaltete, der sich tief in den Leib der Erde fraß, tief genug, daß an seinem Grund die Säfte der Welt hervorsprudelten, daß die Säfte brodelten und dampften, Blasen warfen, in der Hitze kochten, die der greise Planet in solchen Tiefen bewahrt hatte. So alt die Große Rinne auch war, so war sie doch jünger als das Schlachthaus. Die Rinne war die letzte Wunde, die der erste kosmische Krieg der Erde geschlagen hatte. Wo sie klaffte, hatten sich einst die Schwärme der Nachtmahre gesammelt, um die Krograniten zu stürmen, das einzige Bollwerk, das den Eisenmännern nach Jahrmillionen erbitterten Widerstands geblieben war. An diesem Ort hatten die Gehörnten von ihren schwebenden Thronen aus die mahrischen Heere gelenkt und sie in immer neuen Angriffswellen gegen die Eisenberge gelenkt, bis auch der letzte stählerne Riese bezwungen, niedergerungen, und eingeschmolzen war. So gründlich, daß nur noch eine Handvoll Späne blieben: Die Eisenherzöge, vaterlos in der Welt zurückgelassen, von den Menschen gehaßt, den Mahren gejagt, den Gehörnten verachtet. Auf der Flucht vor den kosmischen Mächten hatten sich die Eisenherzöge ins Erzgestein der Krograniten gegraben, während sich draußen in der Welt - kaum daß der Krieg gegen die Eisenmacht gewonnen - die Mahre und die Gehörnten entzweiten. Denn die Mordlust der kosmischen Nachtmahre war unersättlich, und wie damals, als sie noch in den schwärzesten Regionen des Alls gehaust und die Sterne belauert hatten, suchten sie mit gefrorenen Augen nach Opfern, die es zu verderben galt. Richteten die lüsternen Blicke himmelwärts, richteten sie hinauf zu den hohen Thronen ihrer gehörnten Verbündeten, und im Eis ihrer Seelen sagten sie sich: Laßt uns unsere Herren stürzen. Laßt uns Herrenfleisch kosten, Herrenblut trinken, laßt uns selbst zu Herren werden. Und sie taten es. Fielen mit mahrischer Wildheit über die Gehörnten her, die -85-
voll Hochmut zwischen Himmel und Erde thronten; die zu stolz waren, um den Schwärmen zu weichen; die zu grausam waren, um einen Verrat wie diesen ungesühnt zu lassen. Und aus hornigen Augenhöhlen lohte Feuer und verbrannte die Schwingen der Mahre; und hornige Lippen formten Worte in einer Sprache, die wie pures Gift war und jeden tötete, der sie vernahm; und in den Hirnen der gehörnten Häupter wuchs der Zorn zu einer physischen Kraft, zu einem Fallbeil von riesenhaften Ausmaßen, und das Fallbeil sauste nieder, zerschmetterte die Mahrenheere und spaltete die Kruste der Erde, spaltete sie dort, wo das letzte denkende Schlachthaus stand. Das letzte von all den Tausenden, die die Eisenmänner auf dem Höhepunkt ihrer Macht in allen Ländern der Welt errichtet hatten, um die Menschen wie Vieh zu schlachten. Ehern stand das Haus am klaftertiefen Spalt der Großen Rinne, und wie schon so oft im Lauf der langen Zeitalter, die es auf Gäste wartend verbracht hatte, fragte es sich auch an diesem Tag, warum es nicht auch von den Gehörnten abgerissen, zerstört worden war. Warum hatten die Gehörnten gerade dieses Haus verschont? Aus Respekt vor dem einzigen Gegner im Kosmos, der ihnen länger als einen Tag widerstanden hatte? Als höhnischen Gruß an die verängstigten Herzöge im Erzmassiv der Krograniten? Oder als Denkmal für den größten Sieg im größten Krieg, den die gehörnte Rasse je in ihrer an Kriegen reichen Geschichte geführt hatte? Vielleicht würde diese Frage - die einzige Frage, die sich das Schlachthaus je gestellt hatte - am grausamen Tag der Entscheidungsschlacht beantwortet werden. Wenn seine eisernen Erbauer aus ihrem Exil hinter der Zeit zurückkehrten, wenn die Schmerzarchen in die Häfen der Wirklichkeit einliefen, wenn der ganze Erdball unter den Schritten der metallenen Titanen dröhnte. Vielleicht. Bis dahin wartete es auf Gäste anderer Art: Auf das Menschenvieh, das in den großen, blutigen Tagen der -86-
Vergangenheit zu Millionen zur Schlachtbank geführt worden war und das sich nun so rar machte, herzlos die angediente Gastfreundschaft verschmähte. Denn Menschen gab es. Sie hausten in den Höhlen, die sie in die. senkrecht fallenden Wände der Rinne geschlagen hatten; sie hausten in steinernen Häusern auf der Ostseite des ungeheuren Spalts, in dem schmalen Streifen Land zwischen der Rinne und dem Reich der Wandernden Gräber; sie hausten hoch im Norden, wo sich fischreiche Gewässer wie Perlen an einer Schnur aneinanderreihten; und sie hausten tief im Süden, zwischen gewaltigen Säulen aus einem seltsam schimmernden Stoff, der Nacht für Nacht im Licht des Eisenrings erglühte. Aber weder die aus dem Osten, noch die aus dem Norden oder Süden kehrten im Schlachthaus ein. Nicht einmal jene Kreaturen, die erst seit einigen Jahren im Osten siedelten und an der Grenze zum Land der Wandernden Gräber Burgen aus schwarzem Glas errichtet hatten, wagten sich über die Große Rinne. Obwohl doch eine Brücke den Abgrund überspannte; die Rinnenbrücke, die massiv genug war, daß sie nicht einmal an jenem Tage schwankte, an denen die warmen Aufwinde aus dem Schlund die Stärke eines Orkans erreichten... Möglicherweise ahnten jene Neuankömmlinge, daß des Schlachthauses Gastfreundschaft nicht ihnen, sondern nur den Menschen galt. Denn die in den Burgen aus Glas waren keine Menschen, auch wenn sie äußerlich Menschen ähnelten. Soldaten, dachte das Schlachthaus. Schreckliche Soldaten sind's... Und dachte klirrend weiter - und dachte sich nichts dabei. Mit eiserner Geduld ertrug es die ereignislos verstreichenden Tage und Jahre, die Jahrhunderte der Einsamkeit, die Jahrtausende der Langeweile. Störte sich weder am Kirschlicht der Sonne, noch am Regen, der in Sturzbächen aus Blut vom Himmel rauschte. -87-
Kein Gast kehrte ein, und wenn doch - wie vor Monaten geschehen - dann war der Gast kein Mensch, sondern ein griesgrämiger Gnom, der nur gekommen war, um einen Stab aus verstofflichtem Licht auf der größten der vielen Schlachtbänke zurückzulassen. Um ratzend aus dem Haus zu rasen, wieder in der endlosen Steppe zu verschwinden, aus der er gekommen war. Geblieben war nur das Licht des Stabes und das Echo eines Liedes, das das Schlachthaus dann und wann - als Wiegenlied, als Nachtgebet - klirrend vor sich hin dachte: »Es schlachtet, was nicht schnell ausreißt, Ob Mann, ob Frau, ob Kind, ob Greis. Das Schlachthaus macht aus Menschen Brei; Es denkt - und denkt sich nichts dabei.« Und es dröhnte in eiserner Heiterkeit. Ließ stählerne Fleischerhaken scheppernd tanzen. Schärfte sehnsuchtsvoll die Schlachtermesser. Träumte traurig vom Tranchieren. Und wachte auf, fuhr klirrend aus dem Schlummer hoch. Denn aus der Steppe, der weiten Ödnis, aus jener Richtung, wo der Gnom verschwunden war, kamen... Gäste. Drei Menschen; und ihnen auf den Fersen ein Wicht, wie ihn der Osten nie gesehen hatte, und eine ganze Gnomenschar. »Das Problem sind keineswegs die Trotze«, erklärte Dietrich von Warnstein, während Fe im gemächlichen Trott durch das Speerholzgras der ostischen Steppe pflügte. »Das Problem ist diese widerliche Kreatur hinter uns.« Von fern bestätigte dünnstimmiges Geschrei sein Urteil. »Hu, juhu! Meister, Meister, warte doch!« Ma Lyn, die zwischen Warnstein und Churm im Nackensattel des Weißhorns saß, schauderte und lehnte sich wie schutzsuchend an den deutschen Flieger. Ihm wurde heiß, und für einen seligen Moment erstrahlte die Welt in einem anderen Licht: Die aufgeblähte Kirschsonne, das Karamel und -88-
Kaffeebraun der Steppe unter den schorfigen Wolkenbänken, selbst das furchtbare Geschrei des Boslings, der ihnen hartnäckig folgte - alles erschien ihm wunderbar verklärt, fast anheimelnd. »Meister Sardor! Hu, hu, ich bin noch immer da!« Der Klang der Krähenstimme beendete den kurzen Augenblick der Harmonie. Hinzu gesellte sich Geratze; zum Glück so leise, daß man sich mit ein wenig Mühe einreden konnte, der Wind wäre es, und nicht die Trötzehorde des Trötzefürsten Gratz. »Einfach unerträglich!« entrüstete sich der Flieger; schon allein, um seine Gedanken von dem beunruhigend weichen und warmen Leib der Herrin der Schmerzen abzulenken. »Seit Stunden geht es so: Ratz, Ratz, Ratz! und Hu, Juhu! Wir hätten schneller reiten und unsere gräßlichen Verfolger abschütteln sollen, Churm.« Ohne sich umzudrehen, schüttelte der Schwarzbart den Kopf. »Der Bosling hält uns die Trotze vom Hals, Sardor; wir sollten ihm dankbar sein. Immerhin hätten wir ohne ihn den Schaumwald wohl kaum ohne Kampf verlassen können.« »Trotzdem!« beharrte der Flieger. »Ich meine, es ist nicht gerade ein beruhigendes Gefühl, vom fleischgewordenen Tod verfolgt zu werden. Gott, manchmal sehne ich mich geradezu nach L'Ingan oder der Kummerspinne zurück - im Vergleich zum Bosling waren selbst diese Scheusale recht umgängliche Zeitgenossen.« Er warf einen Blick über die Schulter; und fluchte leise, als er am Horizont die winzige Gestalt des Boslings erspähte, der wie ein wahnsinniges Insekt durch das Gewirr der Speerholzstrünke hüpfte. »Meister Sador!« schnaubte er. »Ha! Genau das hat mir noch gefehlt!« »Hättest du Mirn nicht getötet«, wandte der Hornmann ein, »hättest du dem Wicht die Mühe erspart, sich einen neuen Meister suchen zu müssen.« -89-
»Hätte ich Mirn nicht getötet«, fauchte Warnstein, »dann hätte er mich getötet!« »Und wir«, hauchte die liebreizende Ma Lyn, »wären uns nie begegnet, Sardor...« Aber der Flieger war nicht bereit, nach dem süßen Köder zu schnappen; erst kam die Pflicht! Ehe er das verfluchte Zepter des Großen Gratz nicht aus dem Schlachthaus geholt hatte, stand es ihm nicht zu, seiner Angebeteten offen seine Liebe zu gestehen. Außerdem beschäftigte ihn der Bosling und die Trötzhorde zu sehr, als daß er sich der Dame seines Herzens so widmen konnte, wie sie es verdiente. »Jedenfalls hat uns die tödliche Aura des Boslings einen Weg durch den Belagerungsring der Trotze gebahnt«, erinnerte Churm. »Und ich glaube, der Wicht wird uns noch in anderer Hinsicht nützlich sein. Er könnte...« »Zum Teufel mit dem Bosling!« unterbrach Warnstein; er mußte schreien, um sich verständlich zu machen - so laut war das Krachen, mit dem das Speerholz unter Fes Säulenbeinen barst. Himmel und Hölle! dachte er beeindruckt. Dieses Weißhorn ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Panzertier! »Ich habe es mir anders überlegt. Das Problem sind doch die Trotze. Ich befürchte nämlich, daß es nicht damit getan ist, den Großen Gratz zu stürzen, um diese streitlustigen Kreaturen auf Vordermann zu bringen. Meiner Meinung nach ist - schon aus moralischen Gründen - ein umfangreiches Missionierungswerk notwendig, damit unsere schönste Ma Lyn fürderhin vom Kriegsgeratze verschont bleibt.« »Mein Beschützer!« hauchte die Herrin der Schmerzen und preßte ihren entzückenden Rücken an seine Brust. »Ich wußte, daß ich mein Schicksal in deine starken Hände legen kann, Sardor.« Er schluckte, verlegen und stolz zugleich. »Uh, ja«, nickte er. Von Hornmann drang ein Kichern. »Ich hoffe«, sagte er heiter, -90-
»daß dieses Missionierungswerk nicht so unglücklich endet wie dein Bekehrungsversuch bei der Kummerspinne. Oder ist es das Ziel des Christentums, durch Tod zu bekehren?« »Deine spitze Zunge, Churm Hörn, wird noch einmal dein Verderben sein«, warnte der deutsche Offizier. »Auch meine Geduld ist begrenzt...« »Hu, juhu, Meister!« krähte es in der Ferne; offenbar wollte sich der Bosling in Erinnerung bringen. Warnstein ignorierte das Gekreische. »Was meinen Plan betrifft - nun, ich gestehe, daß er in vielerlei Hinsicht auf den Erfahrungen beruht, die mein väterlicher Freund, Pater Heinrich Hering, im heidnischen Togo gesammelt hat. Togo«, fügte er erklärend hinzu, »ist ein Land an der Westküste des schwarzen Kontinents; Afrika.« »Es gibt keinen Erdteil namens Afrika«, widersprach Churm entschieden. »Es gibt Naric, und dieses Ostien ist ein Teil davon; es gibt den Brennenden Pol im Norden und den Glaspol im Süden; dann die Insel der Mitte östlich von Naric, jenseits der Weiten Wasser; noch weiter östlich Simbrien und südöstlieh von Simbrien das Eisenland und der Alte Kontinent mit der Insel Gymt an der Südspitze - das ist alles. Vier Erdteile, zwei j große Inseln und die beiden Pole. Kein Afrika - und auch kein Deutschland, was das betrifft.« Zorn verdüsterte Warnsteins blasses Gesicht. »In meiner Zeit, du Tropf«, knurrte er, »gibt es ein Afrika - genau wie es ein Deutschland gibt. Und jetzt halte deine Zunge in Zaum, oder ich schneide sie dir ab!« Der Hornmann lachte, beherzigte aber den Ratschlag. »Togo«, sagte Warnstein. »Schutzgebiet des Deutschen Reiches und wie fast ganz Afrika von Negern bewohnt, den sogenannten Togonesen. Die Togonesen und die Trotze haben - so sehr sie sich auch sonst voneinander unterscheiden mögen - eine Gemeinsamkeit: Das Heidentum. Beide Völker sind gottlos. -91-
Allerdings können sich die Togonesen glücklicher schätzen als die Trotze, denn in Togo haben eine Reihe frommer deutscher Männer mit der Verkündigung des Evangeliums begonnen. Mit Erfolg, wie ich stolz feststellen kann. Dank der Tüchtigkeit des Apostolischen Präfekten Pater Nikolaus Schönig und meines guten Herings gelang es den deutschen Missionaren, binnen weniger Jahre über zehntausend Heiden zum Christentum zu bekehren - und das trotz des sich immer mehr ausbreitenden Mohammedanismus!« »Was ist Mohammedanismus?« fragte Ma Lyn. »Etwas zutiefst Unchristliches«, sagte er. »Unchristlich wie der Okkultismus, der Atheismus und die Sozialdemokratie. - Aber ich will nicht abschweifen. Um den großen Erfolg der destschen Glaubensboten im afrikanischen Busch zu illustrieren, möchte ich nur erwähnen, daß die Zahl der Taufen in Todesgefahr von 358 im Jahre 1906 auf 910 im Jahre 1910 anstieg. Eine Verdreifachung in einem halben Jahrzehnt! Großartig, nicht wahr?« Der Hornmann grinste schlau. »Dein Hering hat wohl bei der Verdreifachung der Todesgefahren etwas nachgeholfen, eh?« Warnstein ersparte sich eine Antwort auf diese lächerliche Frage, konnte aber nicht umhin, die Ehre des guten Herings mit dem Hinweis auf einen noch eindrucksvolleren Erfolg zu verteidigen: »Oder die Zahl der Heiligen Beichten - sie stieg im gleichen Zeitraum von rund 13 000 auf 33 000. Damit hat jeder togonesische Christ dreimal im Jahr gebeichtet!« »Was sind Beichten?« fragte Ma Lyn in ihrer entzückenden Naivität. »Bei einer Beichte gesteht man dem Priester all seine Sünden, böse Taten und Verfehlungen und wird darauf hin von eben diesen Sünden freigesprochen«, erläuterte Warnstein bereitwillig. »Und was«, mischte sich Churm erneut ein, »hat zu dieser -92-
haarsträubenden Zunahme böser Taten geführt?« Warnstein ignorierte die freche Stichelei des Schwarzbarts. »Nun, worauf beruhte der Erfolg der frommen Männer? Wie konnte es ihnen gelingen, in einem Land voller Götzendiener und Fetischgesellen Tausende von Negerseelen durch das Bad der Heiligen Taufe zu reinigen und dem Leib Jesu Christi einzugliedern?« »Indem sie die Neger zu bösen Taten angestiftet und sie in Todesgefahr gebracht haben!« sagte Churm. »Indem sie Schulen bauten!« sagte Warnstein barsch. »Denn Schulen bieten dem Missionar die beste Gelegenheit zur Christianisierung eines Landes. Die Schule ist es, die der Verkündigung des Wortes Gottes am besten dient. In der Schule werden den jungen Heiden die christlichen Wahrheiten am nachdrücklichsten und dauerhaftesten vermittelt. Schulen helfen nicht nur, das Reich Gottes auszubreiten, sondern fördern auch die Interessen des Deutschen Reiches - obwohl dies im Fall der Trotze natürlich kaum von Belang ist. Kurz und gut«, schloß Warnstein, »die Trotze brauchen Schulen, in denen sie ein anständiges Handwerk erlernen können, denn ein christlicher Handwerkerstand ist nicht nur die beste Stütze für das Christentum selbst, sondern auch Garant dafür, daß den Trotzen keine Zeit mehr für das Ratzen bleibt. Wer arbeitet, der ratzt nicht!« »Oh, Sardor«, seufzte die zauberhafte Ma Lyn, »du bist ja so klugl« Der Hornmann indes gab keine Ruhe. »Aber wer soll den Trotzen das Ratzen austreiben? Der fromme Hering ist nicht zur Hand...« Der Flieger zuckte bekümmert die Schultern. »Das ist ja das Problem. Ich bin Offizier, kein Missionar. Und außer mir gibt es, wie es scheint, keinen Christen auf dieser Welt.« Ma Lyn zog ihr zartes Naschen kraus. »Vielleicht«, sagte sie -93-
nachdenklich, »würde es für den Anfang genügen, die Trotze beichten zu lassen. Gewiß hat jeder einzelne von ihnen soviel Sünden, böse Taten und Verfehlungen auf dem Kerbholz, daß man sie Tag und Nacht mit den Beichten beschäftigen könnte.« »Natürlich!« rief Churm erleichtert. »Wer beichtet, der ratzt nicht. Ist es nicht so, Sardor?« Warnstein bedachte den Rücken des Hornmanns mit einem finsteren Blick. Dann seufzte er leise; erneut wurde ihm auf schmerzliche Weise bewußt, daß er nur ein einfacher Jagdflieger und kein Pater Hering, der mit seinen wortgewaltigen Predigten - dem Flammenschwert des berufsmäßigen Evangelisten - die Frohe Botschaft auch ins verstockteste Heidenherz hineinbrennen konnte. Das Weißhorn grollte. Warnstein reckte den Kopf. Vor ihnen veränderte sich die eintönige Steppenlandschaft. Das Kaffeebraun des Bodens und das Karamel des pfahlähnlichen Speerholzgrases wichen bleichen Gewächsen; Sträuchern - oder was in dieser Welt als Strauch bezeichnet wurde: Kopfgroße, farblose Knollen, aus denen drahtige, stachelige Triebe wuchsen; an den Trieben hingen kirschrote Früchte, wie gefärbte Ostereier. Außer den Stacheldrahtbüschen gab es noch jede Menge grauenhafter Unkräuter, in Punkto Farbe wenig eindrucksvoll, doch dafür rannten sie wie besessen auf ihren Wurzeln durch die Gegend, daß es schien, als hätte Fe die Bewohner eines dichtbesiedelten Hühnerhofs aufgescheucht. Dichte Dampfschwaden verhüllten den Horizont; dort mußte die Große Rinne liegen, ein viele hundert Kilometer langer Canyon mit heißen Quellen am Grund, Geysiren von der Größe des Berliner Tierparks, sofern Ma Lyns Angaben zutrafen. Der aufsteigende Wasserdampf schenkte dem Land zu beiden Seiten der Rinne eine tropisch anmutende Fruchtbarkeit; bedauerlich war nur, daß sich die üppig wuchernden Gewächse nicht wie -94-
normale Pflanzen benahmen, sondern ununterbrochen hin und her rasten, als wäre ihnen der Leibhaftige auf den Fersen... Doch das Beeindruckendste waren nicht die laufenden Krauter. Es war das Haus. , Das stählerne Haus, das riesig, eckig, bedrohlich in den bedeckten Himmel ragte. Das Kirschlicht verlieh den Dampfschwaden etwas Rohes, Blutiges und betupfte sogar die bleichen Drahtsträucher und die fahlen Laufkräuter mit einem Hauch Rouge, aber der massive Block des Stahlgebäudes hüllte sich in unnahbares Grau. Nieten, groß wie Wagenräder, waren in die Stahlmauern gestanzt und schufen quadratische Muster. Hier und dort, dicht an dicht, stachen Eisenzacken hervor; an anderen Stellen gab es sichelähnliche Klingen, Stahlnadeln, Sägeblätter und ähnlichen Stuck. An der Frontseite ein rundes, geschlossenes Tor aus einem dunkleren Metall, massig wie alles an diesem unheimlichen Haus. Als sie näher kamen, hörten sie, wie es im Innern des Stahlgebäudes klirrte und schepperte, und einmal glaubte Warnstein ein schreckliches Knirschen zu vernehmen, ein Knirschen wie von verrosteten Zahnrädern, die sich nach Jahren der Ruhe langsam zu drehen begannen. Eine Aura des Bösen und der Brutalität ging von dem Stahlklotz aus. »Das Schlachthaus«, flüsterte Ma Lyn. »Das denkende Schlachthaus.« »Horcht!« raunte Churm. Im Schlachthaus rumpelte es; das Rumpeln wurde lauter, zu einem Dröhnen, in das ein schrilles Quietschen schnitt. Dann, von knirschendem Protest begleitet, öffneten sich die Türflügel? mit der Bedächtigkeit tonnenschweren Metalls. Aus dem Eingang fiel blendendes, weißes Licht, heller als die Kirschsonne,' heller als das gelbe Gestirn der jungen Erde, -95-
gleißend undbeständig wie das elektrische Licht von hunderttausend Glühbirnen, die ein Wunder der Technik auf eine Fläche von wenigen Quadratmetern konzentriert hatte. »Einladend wie ein Ofen«, knurrte Churm. »Ein gastliches Haus, dein Schlachthaus, Sardor.« »Deine schlechten Scherze werden durch Wiederholung nur noch schlechter, Freund Hörn«, konterte Warnstein kühl. Ma Lyn schauderte. »Das Haus«, flüsterte sie, »es macht mir Angst.« Beruhigend legte der Flieger seine Arme um sie und streifte dabei - wie er mit leisem Erröten bemerkte - ihren jungfräulich knospenden Busen. Ma Lyn schauderte erneut, und er hoffte mit einer gewissen Kühnheit, daß es diesmal nicht am grausigen Schlachthaus, sondern an seiner Berührung lag... »Hu, juhu! Meister! Meister!« Der verfluchte Bosling! Vorbei war es mit der romantischen Stimmung; Warnstein fuhr herum, die linke Hand zur Faust geballt, die rechte am Knauf des weißen Schwertes. Ha! Hatte sich dieser Mordbube doch heimlich herangeschlichen! In all ihrer Häßlichkeit sprang die satanische Kreatur zwischen den Speerholzpfählen hin und her, winkte dabei wie toll und wackelte mit dem gräßlichen Säuglingskopf, daß Warnstein schon hoffte, er würde sich im nächsten Moment vom Knorpelhals lösen und wie eine Kanonenkugel durch die Luft sausen. Natürlich geschah nichts dergleichen. Und selbst wenn - es hätte den Flieger nur für kurze Zeit von dem klebrigen Wicht befreit. Der Bosling war nicht einmal durch vollständiges Verbrennen loszuwerden, vom Köpfen ganz zu schweigen. Sogar aus Asche, über die ganze Welt verstreut, würde nach und nach der Bosling in all seiner Penetranz und -96-
Scheußlichkeit wiederauferstehen. Warnstein machte ein grimmiges Gesicht. Nun, töten ließ sich der Teufelsknochen zwar nicht, aber man konnte ihn mit dem Schwert kitzeln; ihn für eine Weile in kleine Portionen zerlegen... Besser noch, der Hornmann tat's. Die Klinge Gly, vom Eisenherzog Hartrokor geschmiedet und durch List und Tücke in Churms Hornhände geraten, war die ein/ige Waffe auf Erden, die einem Bosling Schmerz zufügen konnte. »Da bin ich! Da bin ich!« schnatterte der häßliche Schrat. »Nun kannst du mich nach Herzenslust quälen, Meister, kannst mich quälen und plagen, verfluchen und versklaven, genüßlich foltern, behaglich martern. Erdrosseln, erschlagen, vierteilen, zerhacken. Und auf meine Überreste - spucken! Gnadenlos und ohne Erbarmen! Brutal und gemein! Feig und...« »Schweig, du Wahnsinniger!« donnerte der Flieger. »Ich bin deutscher Offizier!« Der Schmusemund des Boslings spitzte sich zu einem erstaunten O, die Kulleraugen starrten ihn enttäuscht und begeistert zugleich an. »Offizier?« krähte der häßliche Wicht. »Leutnant im Dienst des deutschen Kaisers! Und ein deutscher Offizier, du Satansbraten, kennt keine Feigheit - er weiß nicht einmal, was Feigheit ist!« »Offizier? Offizier?« brabbelte der Bosling. »Kein Gott?« »Auch noch lästern, Schurke!« brüllte Warnstein. Zornrot im Gesicht, ging er mit der blanken Klinge auf den Teufelsknochen los. »Für diese Blasphemie werde ich dir den Kopf abschlagen, du Höllenhund!« Der Bosling gackerte entzückt. »Den Kopf abschlagen, Meister? Aber das ist ja wunderbar, einfach wunderbar...« Er hüpfte näher; F6 peitschte grollend mit dem dorngespickten Schwanz, und der Unhold machte einen Satz -97-
zurück. »Vorsicht«, rief Churm. Er sprang vom Roß und war im herz stieß. Manchmal hatte er das Gefühl, die Nähe des Schwarzbarts nicht mehr ertragen zu können. Wahrscheinlich hätte selbst der fromme Hering an seiner Stelle alle christliche Nächstenliebe vergessen und diesen lästerlichen Wilden längst mit dem Kruzifix grün und blau geschlagen... »Hallo, hu!« krakelte der Bosling. »Ich bin immer noch da. Und ich warte! Ich will endlich leiden, Meister!« Warnstein nickte. »Leiden, ja!« sagte er, und dies schien ihm ein passendes Stichwort für einen weiteren erbaulichen Bibelspruch zu sein: »›Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden...‹« »Geröstet?« kreischte der Bosling begeistert. Sein vollwangiges, rosiges Säuglingsgesicht nahm einen lüsternen Ausdruck an. »Wirklich und wahrhaftig geröstet? Aber das ist ja wunderbar, einfach wunderbar, Meister!« Dietrich von Warnstein stieß einen gellenden Wutschrei aus; was zuviel war, war zuviel! Schon hob er das weiße Schwert zum Hieb, da hielt ihn Churm erneut zurück. »Verflucht!« Warnstein funkelte den Heiden an. »Loslassen«, knirschte er. »Ich werde diesem Bastard...« »Warte!« unterbrach Churm. In des Hornmanns Silberaugen war ein merkwürdiges Glitzern. »Ich glaube, es gibt eine einfache Möglichkeit, die verdorbenen Wünsche unseres häßlichen Freundes zu erfüllen.« »Redet ihr von mir?« fragte der Bosling. »Verdorbene Wünsche? Häßlicher Freund?« Ein gluckerndes Lachen drang von den blutroten Lippen. In der Ferne, in der öden Unendlichkeit der Speerholzsteppe, erklang Geratze - die Trotze! Das Heer des Großen Gratz marschierte heran; bald würde das spießbewaffnete Geziefer das -98-
Schlachthaus erreichen und über sie herfallen. Warnstein ballte die linke Hand zur Faust. Ihnen blieb nur wenig Zeit, das Lichtzepter aus dem Schlachthaus zu holen und die Macht des grausigen Trötzefürsten zu brechen. Doch das gierig klaffende Tor... Heller Wahnsinn, sich in diese stählerne Todesfalle zu wagen! Doch wenn sie das Lichtzepter nicht in ihre Hände nächsten Augenblick an Warnsteins Seite; die Klinge Gly drohte. »Laß ihn nicht zu nahe kommen - seine Aura...« »Ich weiß«, fiel ihm der Flieger unwirsch ins Wort; er fühlte Ma Lyns Blicke auf sich ruhen, und - Teufel auch! - Chrums Eingreifen konnte in der Maid den fatalen Eindruck erwecken, daß er nicht fähig war, allein mit dem garstigen Wicht fertig zu werden. Glys blaues Stahlfeuer flößte dem Bosling sichtlichen Respekt ein; ängstlich, mit weit aufgerissenen Kulleraugen, starrte er das Schwert an und hob abwehrend die dünnen Arme. Churm lachte. »Sag ihm, er soll's wegstecken, Meister«, kreischte der mörderische Zwerg. »Oh nein, oh nein, nicht dieses Schwert! Rette mich, Meister, rette mich vor dem bösen Mann!« »Churm!« rief Ma Lyn. »Churm Hörn! Genug - das arme Geschöpf ist ja völlig verängstigt. Fort mit dem Schwert, Freund Churm!« »Allein das Schwert hält ihn davon ab, uns alle umzubringen.« Churm lächelte grausam. »Denn der Bosling ist der fleischgewordene Tod...« »Aber das ist doch nicht meine Schuld!« krähte der Wicht empört. »Was kann ich denn schon dafür?« »Nichts, schätze ich«, nickte Warnstein, und sein Lächeln war noch grausamer als das des Hornmanns. »Aber so ist der Lauf der Welt - man kann sich nicht aussuchen, in welcher Gestalt man ins Leben geboren wird. Doch tröste dich, Schurke; unser Herr Jesus Christus hat gesagt:›Selig sind die, die da geistlich -99-
arm sind; denn das Himmelreich ist ihr.‹« »Ein Freund von dir, dieser Herr Jesus Christus?« fragte Churm interessiert. Der Flieger warf ihm einen finsteren Blick zu. »Unsinn - er ist Gottes Sohn.« »Ich wußte nicht, daß du Vater bist.« Warnstein schloß für einen Moment die Augen und betete zu Gott, ihm Kraft zu geben, damit er diesem unverbesserlichen Heiden nicht in der nächsten Sekunde das Schwert ins Sünderbrachten, würde Gratz weiter im Untergrund regieren und der bezaubernden Ma Lyn nachstellen. Die Herrin des Schmerzes in den Armen dieses mißgestalteten Schrats - ein unerträglicher Gedanke! Mit einem Ruck löste er sich aus dem Griff des Schwarzbarts. »Genug geschwätzt! Wir haben schon zuviel Zeit mit diesem Scheusal verschwendet. Ich erschlage ihn, und dann hole ich das vermaledeite Zepter - und sollte es mich das Leben kosten...« »Warte«, bat Churm. »Bosling, hör zu - du willst, daß Sardor dein Meister wird? Daß er dich versklavt, quält, foltert, anspuckt und verhöhnt? Ist das dein Wunsch?« Blaue Kulleraugen blickten treuherzig drein. Der Bosling nickte, sah dann verschämt zu Boden. »Nun, Bosling«, fuhr Churm im unverfänglichen Plauderton fort, »als erster und treuester Vasall Sardors obliegt mir die Auswahl der Sklaven. Und ich sage dies in aller Offenheit: Wir könnten Hunderte, ja, Tausende Sklaven haben - wären unsere Ansprüche nicht zu hoch.« Warnstein musterte Churm voll Argwohn. Teufel auch, was führte dieser Heide jetzt schon wieder im Schilde? »Ansprüche?« sagte der Bosling gedehnt. Offenbar teilte er Warnsteins Argwohn. »Wie meinst du das?« »Ich meine«, erklärte Churm, ohne die stoßbereite Klinge Gly -100-
zu senken, »ich meine, daß Willigkeit allein nicht genügt. Wer sich von Sardor versklaven lassen will, muß erst einmal beweisen, daß er würdig ist, der Sklave eines Gottes zu sein.« »Du wirst in der Hölle schmoren, Churm«, prophezeite Warnstein. »Im tiefsten Höllenpfuhl - auf jenem Rost, den Satan für die Franzosen reserviert hat.« Der Bosling hüpfte einen Meter in die Höhe. »Eine Prüfung!« krähte er. »Das ist es - eine Prüfung!« »In der Tat«, bestätigte der Hornmann mit einem raubtierhaften Grinsen. »Wenn es dir gelingt, in die innerste Kammer des denkenden Schlachthauses vorzudringen und mit dem Stab aus gefrorenem Licht, der dort versteckt ist, zu uns zurückzukehren... dann wird sich Sardor dazu herablassen, dich zu versklaven. Bring uns das Lichtzepter der Trötzefürsten, und du kannst Sardor deinen Meister nennen.« Der Bosling sah rasch von Churm zu Warnstein, dann wanderte sein Blick hinüber zum offenen Schlachthaustor, zum blendend hellen Licht, das die Kirschröte des Tages wie finsterste Nacht erscheinen ließ. »Das ist alles?« quäkte der Bosling. »Hinein und wieder hinaus?« »Mit dem Zepter. Kommst du ohne Zepter zurück, hast du versagt.« Wieder das Raubtiergrinsen, bei dessen Anblick es selbst Warnstein schauderte. Churm machte eine ungedulige Bewegung mit dem Schwert. »Nun?« »Und dann versklavt er mich?« »Auf grausamste Weise.« »Und er quält mich?« »Mit Genuß!« Der Bosling gackerte entzückt. »Und er foltert mich, martert mich, plagt mich?« »Auf die denkbar scheußlichste Art!« -101-
»Und...« Ein scheeler Blick, bei dem es Warnstein grauste. »Und er wird mich auch - anspucken?« »Bis du ersoffen bist«, versprach Churm gutgelaunt. Der Bosling kreischte vor Freude, schlug einen Purzelbaum, stolperte über die eigenen Beine und kam so unglücklich zu Fall, daß er sich das Genick brach. »Großer Gott!« rief Warnstein verzweifelt. »Lieber tausend Feinde als auch nur einen Verbündeten dieser Art!« Churm deutete hinaus in die Steppe. »Es sind mehr als tausend Feinde, die dort heranmarschiert kommen...« Das garstige Geratze des Trötzeheers war lauter geworden, und der Flieger glaubte, über den endlosen Reihen der Speerholzstrünke die Dreizackspieße der kampfeslüsternen Schrate im Kirschlicht blitzen zu sehen. Fe schnaubte warnend, und der deutsche Offizier wandte den Kopf und blickte zu Ma Lyn hinauf, die wie eine Königin auf dem geschuppten Nackenpanzer des Weißhorns thronte. Wie schön sie war - ach! »Ma Lyn«, sagte er. »Hab keine Angst, Ma Lyn. Wenn dieser Gratz es wagen sollte, Hand an dich zu legen, werde ich ihn töten!« Sie schüttelte langsam, traurig den reizenden Kopf. »Das darfst du nicht, Geliebter«, flüsterte sie so leise, daß er ihre Worte mehr erahnte als verstand. »Wenn du den Fürst der Trotze tötest, wirst du dir die Feindschaft der Unterirdischen zuziehen, und sie werden dir nicht in die Schlacht folgen, wenn die Glocke den großen und grausamen Tag des Krieges einläutet. Wer wird sich dann den Mahrenschwärmen entgegenstellen? Wer wird das Speerholz zum Blühen bringen, wenn die Horden der kosmischen Nachtmahre am Himmel erscheinen, um alles zu morden, was auf Erden lebt, um alles zu verzehren, was gemordet wurde?« Ma Lyn richtete sich auf, stolz und schön, das feingeschnittene, sanfte Gesicht vom purpurnen Tageslicht feurig gerötet, die Kohleaugen schwärzer -102-
als die Dunkelheit zwischen den Sternen. »Ich werden mich opfern«, entschied sie mit klarer Stimme. »Ich werde die Braut des Großen Gratz, wenn dies der Preis ist, den die Trotze für ihre Hilfe verlangen. Ich werde mich opfern - für die Menschen!« »Für die Menschen!« grollte Churm. Und Warnstein sagte nichts. In diesem Moment sprang der Bosling mit einem wilden, schrillen Schrei auf, raste an Churm und Warnstein vorbei, schlug um Fe und Ma Lyn einen Bogen und hüpfte mit großen Sprüngen auf das einladende Tor des denkenden Schlachthauses zu. Noch einmal kreischte er sein unsägliches: »Meister! Meister!« - dann verschwand er im grellen Licht. Aus der Steppe drang Geratze. Dietrich von Warnstein betrachtete die Dampfwolken, die am östlichen Horizont aus dem klaftertiefen Schlund der Großen Rinne stiegen und wie ätherische Riesen bis hinauf zum roten Schorf der Wolkendecke wuchsen. Weiter nördlich, unsichtbar im quellenden Dunst, verband die Rinnenbrücke das gespaltene Land. »Nein«, beantwortete Ma Lyn seine unausgesprochene Frage. »Keine Flucht. Ich kann nicht; es ist unmöglich. Mein Platz ist im Fleischgarten, im Schaumwald. Ich kann den Garten nicht verlassen - nicht jetzt, wo der letzte kosmische Krieg unmittelbar bevorsteht. Ich muß den Garten hegen und pflegen, damit die Verwundeten und Verstümmelten der Entscheidungsschlacht geheilt werden können. Fünftausend Jahre sind eine zu lange Zeit; niemand verläßt nach fünftausend Jahren der Pflichterfüllung sein Heim.« Pflicht, dachte Warnstein. Ja - sie hat recht. An erster Stelle kommt die Pflicht. Wer könnte das besser verstehen als ich ein deutscher Offizier? »Ratz/ Ratz! Ratz!« Aus Tausenden von Zwergenkehlen drang der garstige -103-
Schlachtruf. Ein Meer von Dreizackspießen wälzte sich durch das Speerholz auf sie zu; nur noch Minuten, dann würden sie den üblen Trotzen Äug in Äug gegenüberstehen. »Geht!« sagte Ma Lyn. »Freund Churm - Sardor, Geliebter! Geht und laßt mich allein mit Fürst Gratz reden. Ich werde ihm mein Jawort im Tausch gegen die Hilfe der Trotze im letzten kosmischen Krieg geben. Er wird zustimmen - ich weiß es - aber wenn er euch in meiner Nähe findet, bevor ich ihm versprochen habe, seine Frau zu werden, wird ihn die Eifersucht zur Raserei treiben...« »Wir bleiben«, erklärte Warnstein barsch. »Und - bei Gott! eher lasse ich mich von den Spießen der Trotze durchbohren, als mit dem Wissen weiterzuleben, daß du Tisch und Bett mit diesem scheußlichen Oberschrat teilst, Ma Lyn!« »Offenbar«, brummte Churm Hörn, »sind Eifersucht und Raserei nicht allein auf die Trotze beschränkt.« »Ritze-Ratze-Rötze!« zerriß Geschratel die Stille Ostiens. »Grausig sind die Trotze! Schaurig wie der Große Gratz ist jeder Ritze-Ratze-Fratz! Ratz, Ratz, Ratz!« Warnstein preßte die Lippen zusammen. Sein Blick wanderte zum strahlend hellen Tor des Schlachthauses, das stählern, stumm und drohend die Steppe überragte, und wieder zur Steppe, zu den Trotzen, die in diesen Sekunden zwischen den dicht an dicht stehenden Speerhölzern auftauchten und ihre Spieße schüttelten. Der Flieger fluchte. Packte das weiße Schwert mit beiden Händen. Stand breitbeinig da, zum Kampf bereit. Ein Rasseln und Klirren ließ ihn zusammenfahren. Tief im massiven Stahl des Schlachthauses rumorte es. Das Klirren wiederholte sich; metallisches Dröhnen folgte - wie von einem niedersausenden Fallbeil. Dann ein entsetzlicher Schrei - der -104-
Bosling! Jesus Christus, dachte Warnstein, der Wicht wird geschlachtet! Und trotz der Abscheu, die er für diese teuflische Kreatur empfand, wurde ihm das Herz schwer. »Ratz, Ratz, Ratz!« Die Gnomenhorde des Großen Gratz stürmte mit stoßbereiten Spießen heran; tückische Augen funkelten im Blutrausch; aus aufgerissenen Zwergenmäulern drang der ratzende Schlachtgesang; knorrige Fäuste schwenkten polierte Dreizackspieße. Da und dort stolperte einer der Wichte und wurde gnadenlos von seinen Hintermännern in den Boden gestampft. Und dort - der Große Gratz, der Fürst der üblen Trotze: Noch verwachsener, noch häßlicher als seine elenden Untertanen, noch inbrünstiger ratzend und wilder seinen Dreizack schüttelnd, das Gnomengesicht von viehischer Lüsternheit entstellt, die grausamen Augen von einer fliehenden Stirn überwölbt, auf dem eiförmigen, kahlen Kopf eine lächerlich kleine Krone aus Gold, mit Silberkettchen an den knotigen Ohren festgebunden. Bis auf die Krone nackt. »Ich habe mir den kleinen Matz des Großen Gratz wesentlich kleiner vorgestellt«, bemerkte Churm nach einem prüfenden Blick. Und Warnstein fragte sich, wen er zuerst erschlagen sollte: Diesen wahnwitzigen Heiden, oder den dreisten Schrat. »Meister! Meister!« Warnstein wirbelte herum. Riß ungläubig die Augen auf. Ächzte vor Entsetzen. Denn aus den Lichtfluten des Schlachthaustors kroch der Bosling: Auf schreckliche Weise zugerichtet und vor Vergnügen gackernd. Das rechte Bein war dicht über dem Knie abgetrennt, das linke fehlte ganz; vom linken Arm war nur noch ein fingerlanger Stumpf übriggeblieben; im ranzigen, sackartigen Leib klafften tiefe Schnittwunden; das Gesicht ähnelte einer rohen Frikadelle. -105-
Doch der rechte Arm war unversehrt. Und in der Krallenhand: Ein Stab aus purem Licht. Das Zepter! Das Lichtzepter des Trötzefürsten! Der Bosling hatte es geschafft! »Meister!« krähte der Bosling. »Hu, juhu, es ist vollbracht, Meister! Dein Sklave ist zu...« Der Rest des Satzes ging in einem halb entsetzt, halb fasziniert klingenden Gurgeln unter. Denn die tonnenschweren Flügel des stählernen Tores - soeben noch weit geöffnet begannen sich rumpelnd, dröhnend und quietschend zu schließen. Und der Bosling, verstümmelt wie er war, lag hilflos auf der Schwelle. Nur noch Sekunden, dann würden ihn die Metallplatten zermalmen. Warnstein rannte los. »Hu, juhu!« krähte der irrwitzige Wicht, winkte mit dem Lichtzepter - und die Torflügel prallten aufeinander, verwandelten den Bosling in Gehacktes! Warnstein schrie enttäuscht auf - diese dumme Kreatur! Mußte sie denn ausgerechnet auf der Schwelle liegen bleiben? Nur noch ein oder zwei Meter, und sie wäre in Sicherheit gewesen. Nun war alles verloren... Er blieb stehen und ließ bekümmert den Kopf hängen. Die Trotze ratzten triumphierend. Aus! dachte Warnstein. Verloren! Und sah im gleichen Moment, wie sich am Fuß des mächtigen Stahltors etwas bewegte. Eine Hand, am Gelenk vom Arm getrennt, die Krallenhand des Boslings, die noch immer das Lichtzepter umklammert hielt! Die Hand zappelte wie ein sterbender Fisch, dann entfloh der letzte Lebensfunke, Krallenfinger zitterten und kamen dann leichenstarr zur Ruhe, und das Zepter aus purem Licht entglitt der toten Hand und fiel zu Boden. Doch es blieb nicht liegen. Es drehte sich, wie von einem eigenen Willen getrieben, drehte sich schneller und schneller, bis aus dem Stab eine Lichtscheibe wurde, die heller strahlte als das Riesengestirn am -106-
rot verkrusteten Himmel. Dann flog das Zepter durch die Luft, flog in Warnsteins Hand, schmiegte sich kühl und glatt an seine Haut, und von der Macht des Lichts wurde seine Hand in die Höhe gerissen. Die Hand hielt das Zepter, und das Zepter war Licht. Licht, zu einem langen, dünnen Stab geformt und zu Stoff geronnen. Licht, das sich von der Hand über den Arm und die Schulter, den Kopf, die Brust, den Bauch, über des Fliegers ganzen Körper ausbreitete, so daß der Mann selbst zu Licht wurde. Und die Trotze waren still. Sanken in den Staub. Rührten sich nicht. Und Fürst Gratz winselte, als er sah, was seine Wichte trieben; er jaulte wie ein geprügelter Hund und riß sich die Krone vom Kopf - und da sie angekettet war, die Ohren gleich dazu - und sein Gesicht war eine Fratze aus Schmerz und Haß. Dann sank auch er in den Staub, und er fiel so geschickt, daß er in die gespitzten, blitzenden Zinken seines Dreizacks stürzte und so trotzig und häßlich starb, wie er gelebt hatte: Mit Geratze. Still war es in Ostien. »Trotze!« Ma Lyns klare, süße Stimme war nun hart und scharf wie der Stahl der Klinge Gly. »Ihr Trotze! Euer alter Fürst ist tot, Volk aus dem Untergrund! Es lebe euer neuer Fürst! Es lebe Fürst Sardor, der Herr der Trotze, der Herr des Lichts!« Kaum hatte sie ausgesprochen, da sprangen die Trotze wie ein Mann auf, schüttelten begeistert ihre Spieße, gafften stolz die strahlende Gestalt des Fliegers an, verzogen die schiefen Gnomenmäuler und ehrten ihren neuen Fürsten auf die einzige Art, die den Trotzen gegeben war - mit einem -107-
tausendstimmigen, dreifachen donnernden: »Ratz, Ratz, Ratz!« 6. Kapitel Eine Audienz bei dem Soldatenkönig Warrior, what of the night? Whether it be not or be Night, is as one thing to me. l for one, at the least, Ask not of dews if they blight, Ask not of flames if they slay, Ask not of prince or of priest How long ere we put them away. - Algernon Charles Swinburne »A Watch in the Night«, 1871 Gläsern die Burg und schwarz das Glas; glatt die Wälle und hoch die Türme, und auf den Türmen spitze Dächer. Durstig trank das schwarze Glas das Kirschlicht der Titanensonne, die jetzt, in den trägen Abendstunden, als monströs pulsierendes Geschwür im Westen schwärte - jenseits der Großen Rinne, jenseits der ostischen Steppe, dort, wo unterm Horizont die Krograniten rosteten. Dann schminkten Wolken das Geschwür zum Auge um, und Wolken ließen das Auge blinzeln. Die Sonne sank, die Sonne erlosch, und der Eisenring umspannte den Himmel: Warf schimmelgrüne Schimmer über Burg und Rinne und mühte sich, das ganze Land neu einzufärben nach all dem Rot des Tages. Doch der Durst der schwarzen Burg war unstillbar wie der Hunger der Nacht, und jeder Funke Grün verschwand im Glas, im Schlund der Finsternis. Gläsern thronte die Burg über den Hügelketten, sie sich diesseits der Großen Rinne schier endlos aneinanderreihten; das Schwarz der Burg war tief genug, um selbst in Ostiens dunkler Nacht als Schatten zu bestehen. Und aus den Schatten marschierten Soldaten ins letzte Abendrot, das nun auch im Westen verglühte. Ein Heer verließ die Burg und kam zum Rinnenschlund, ein Heer, zehntausend Köpfe stark und doch nur -108-
eine kleine Welle des Soldatenmeers im gläsernen Schoß der Burg. Und dort, auf den Hügeln im Süden, ein zweites Heer. Und da, auf den Hügeln des Nordens, wo Nebelschwaden bleich wie Gespenster wallten, ein drittes Heer. Gepanzert, bewaffnet, klirrend marschierend. »Ich wußte nicht, daß es sie auch hier im Osten gibt«, murmelte Churm, »die Burgen der Soldatenkönige.« »Vor zwanzigtausend Jahren«, erinnerte sich Sardor, »waren die Soldatenkönige die Herren der Welt... Bis sie der Macht überdrüssig wurden.« Der Boden dröhnte unter den eisernen Stiefeln der marschierenden Soldaten; die Luft roch nach Metall; und von den gläsernen Zinnen der Burg drang das langgezogene, dunkle Tuten der Kriegshörner. Soldaten im Norden und im Süden, Soldaten im Osten. Sardor drehte den Kopf und sah zur Großen Rinne, aus der riesige Dampfwolken quollen, ewiger Dampf, der warme, feuchte Atem der Erde, der das Land zu beiden Seiten der Kluft in eine tropische Oase verwandelte. Er suchte nach der Rinnenbrücke, die sich stählern und trägerlos über den kilometerbreiten Abgrund spannte, aber der Nebel, die Nacht hatten die Brücke verschluckt. Aus weißem Metall war sie geschmiedet, so wie alle Bauwerke der Großen Alten, jener mächtigen Menschenrasse, die für Millionen Jahre die Erde und den Kosmos beherrscht hatte. Damals, vor der Zeit der roten Sonne, vor dem Ausbruch des ersten kosmischen Krieges. Nur ihre Bauwerke aus dem unzerstörbaren weißen Metall hatten die Äonen überdauert; Wunder wie der Ahnenweg in den Krograniten, der Himmelsturm von L'aa auf der Insel der Mitte, wie die Rinnenbrücke. Schmal und geländerlos war die Brücke, ein Steg, umtost von den heißen Aufwinden, den Wirbelströmen und Dampffontänen aus dem gasgeblähten Bauch der Welt. Wer auf dem glitschigen Steg nicht freiwillig ausrutschte, über den -109-
fielen die Böen her. Voll Tücke spielten sie mit ihren Opfern, schacherten rücksichtslos und ränkevoll um jeden Meter, versetzten ihm Knüffe und Püffe, wilde Schläge, schreckliche Hiebe, verbrühten es mit heißem Dampf und heulten in elementarer Enttäuschung auf, wenn ihr Opfer dann doch entkam und, halb gesotten zwar, aber lebend das andere Ende der Brücke erreichte. Statt in den Schlund zu stürzen. Und beim Sturz begafft, beklatscht oder ausgebuht zu werden. Denn in den vor Nässe glänzenden Wänden der ungeheuren Schlucht wohnten Menschen: In Höhlen, die weit ins massive Gestein hinein reichten; in Spalten, die gezackt im Milliarden Jahre alten Granit klafften, in Kaminen, die bis hinunter zum kochenden Grund des Schrundes führten. Menschen mit krebsroter Haut, mit weichgekochtem Fleisch, mit feuchten, großen Augen. Menschen, die den Todessturz der Brückengänger für ein Schauspiel hielten, ein Drama, eigens für sie inszeniert. Kultivierte Menschen. Und grausamer als die Soldaten, die gepanzert und bewaffnet über die Hügel marschierten, im Gleichschritt wie seit Äonen. Soldaten mit stählerner Haut, mit stählernen Knochen und kalten Augen, schwarz und gläsern wie die Mauern der Burg, in der sie ausgebrütet worden waren. Vom König der Soldaten, der tief unten in den Katakomben der Burg ans Wochenbett gefesselt war und ohne Unterlaß Söhne gebar, dazu bestimmt, vom ersten Lebenstage an in den Sold des Krieges zu treten. Churm reckte sich im Nackensattel und starrte forschend in die Nacht, und Besorgnis trübte seine Silberaugen; die drei Heersäulen hatten sich vereinigt und sich zu einem Halbkreis formiert, der langsam näher rückte. Phophoreszierende Banner flatterten im Wind: Gespenstisch grün das Tuch, schwarz der Stern mit den fünf Zacken - das Wappen der Könige des -110-
Ostens. »Ein fremder Stock«, sagte Churm. »Kein Verwandter der Stöcke im Süden der Haine.« Er spuckte aus. »Verflucht sollen sie sein!« Sardor nickte stumm; er wußte, daß der Hornmann im Auftrag der Hainfürsten zu den Soldatenkönigen des Südens gezogen war, um Hilfe gegen die cryptischen Horden des Schwarzen Mirn zu erbitten - aber die Mission war gescheitert. Wie die Herren von Dorngrund, die im Westen der Purpursümpfe regierten, und wie die Eisenherzöge der Krograniten, so hatten auch die Soldatenkönige des Südens Churms Bitte barsch zurückgewiesen; sie hatten gewußt, daß die Hainvölker nicht nur von den Crypten bedroht wurden, sondern auch vom kosmischen Nachtmahr. Aus Furcht vor dem Mahr hatten die Soldatenkönige die Zugbrücken ihrer Burgen hochgezogen und sich in den tiefsten Verließen verbarrikadiert, um dort in verzweifelter Eile weitere Soldaten auszubrüten; Tausende und Abertausende Soldaten, nur ins Leben geworfen, um für ihre Väter und Könige auf dem Schlachtfeld zu sterben. Churm bezichtigte die Könige des Südens der Feigheit, doch er hatte Unrecht. Nicht Feigheit hatte das Verhalten der Soldatenherrscher bestimmt, sondern Vernunft. Denn selbst alle Armeen des Südens zusammen wären nicht stark genug gewesen, den kosmischen Nachtmahr zu besiegen. Der Mahr hätte die Heere zerschlagen, die Soldaten verzehrt und wäre dann über die Burgen hergefallen, über die Königsväter in den Katakomben. Feine Soldaten, ha! raunte es da in Sardors Gedanken. Sehen mehr wie Ameisen aus, oder wie verdammte Riesenkakerlaken, wenn du mich fragst, Götze! Sardor runzelte die Stirn. Ameisen? Kakerlaken? Ah! Getier aus des deutschen Mannes Träumen... Er seufzte und fragte sich, -111-
wann der Deutsche endlich aus seinen Träumen erwachen würde, damit sich die Seelen vereinigen konnten und aus dieser Vereinigung der wahre Sardor entstand. Noch war er nur ein Schatten, innerlich zerrissen, in den Geist des Fliegers und den Geist des Helden gespalten, und manchmal schien es ihm, daß es besser war, auf die Vereinigung zu verzichten und dafür endgültig von diesem Körper Besitz zu ergreifen... Keine Faxen, Schurke! warnte der Geist des Deutschen. Dann schwieg er wieder, versank in den verschrobenen Träumen, in den Trugbildern und schrulligen Visionen von einer Welt unter einer gelben Zwergensonne, einer Welt, die der Mensch beherrschte, einer Welt, so reich an Schrecken und unsäglichem Entsetzen, daß sich nur ein ganz und gar Verrückter nach ihr zurücksehnen konnte... Erneut durchdrang das Tuten der Kriegshörner die Nacht. Während die Soldaten marschierten. »Noch können wir fliehen«, sagte Churm. »Zur Rinne und über die Brücke, zum Schaumwald, zu Ma Lyn.« Zur geliebten Herrin der Schmerzen! dachte Sardor. Aber so sehr er sich auch wünschte, der Stimme seines Herzens zu folgen, zusammen mit Ma Lyn im Haus der tausend Zimmer zu leben, so wußte er doch, daß es unmöglich war. Ma Lyn war an der Spitze der Trötzeschar in den Schaumwald zurückgekehrt, um dort auf den Ruf der Glocke von Gorm zu warten; und wenn die Glocke rief, würde sie das Lichtzepter nehmen und in den Untergrund tragen und mit dem Zepter die Speerholzsteppe zum Blühen bringen, damit die Schwärme der Nachtmahre schon hoch am Himmel vom Tod ereilt wurden. Damit nicht die Menschen die Gier der kosmischen Gespenster nach Blut und heißem Leben stillen mußten. »Für uns, Freund Churm«, raunte Sardor dem Hornmann zu, »für uns gibt es keinen Weg zurück. Unser Weg führt uns weiter, Freund Churm, immer weiter.« -112-
Und der Ring der Soldaten schloß sich um Sardor, um Churm, um das Weißhorn Fe, das mit bebenden Panzerflanken, noch feucht vom Wasserdampf der Rinne, und mit stoßbereitem Hörn die Feinde erwartete. Fall es Feinde waren. Überall war nur das Klirren der Rüstungem und Kettenhemden, der Spieße, Schwerter und Äxte, das leise Quietschen schlecht geölter Scharniere und das Scheppern eiserner Beinkleider. Und in der Finsternis Augen aus schwarzem Glas, und im geschliffenen Quarz der Pupillen die Kälte gefühllosen Wissens, das Wissen um Dinge, die den gewöhnlichen Menschen verschlossen blieben. Wissen, Äonen alt. Älter als der Mensch. Und je näher die Soldaten kamen, desto mehr enthüllten sie ihre Nichtmenschlichkeit. Sie verriet sich in ihren kalten, harten Insektenaugen, in ihren maschinenhaften Bewegungen, ihrem Schweigen, das weitaus entsetzlicher und bedrohlicher war als der ratzende Schlachtruf der Trotze. Kakerlaken! fluchte der Geist des deutschen Fliegers. Ungeziefer, das menschliche Gestalt angenommen hat und Gottes Schöpfung verhöhnt. Verfluchtes Krabbelzeug! Aber Warnstein irrte sich, wie sich auch Churm geirrt hatte man konnte die Soldaten weder der Feigheit bezichtigen, noch sie als Ungeziefer verfluchen, das den Menschen in seiner eigenen Gestalt verhöhnte. Feigheit und Hohn waren ihnen ebenso fremd wie Tapferkeit, Furcht oder Mitleid. Sie waren Soldaten, und das war alles. Für den Krieg, die Schlacht, den Kampf geboren und dazu bestimmt, auf den Schlachtfeldern der Welt zu fallen. Den Heldentod zu sterben, flüsterte Warnstein. Aber welcher Tod ist so heroisch wie das Leben? dachte -113-
Sardor. Wo das Leben doch all unseren Mut verlangt... »Reiten wir!« sagte er laut zu Churm Hörn. Der Schwarzbart gestikulierte mit der linken Hand, während die Rechte den Knauf der Klinge Gly umklammert hielt. »Reiten?« wiederholte er. »Wohin?« »Zur Burg«, anwortete Sardor. »Siehst du nicht, was vor sich geht? Die Soldaten sind nicht gekommen, um uns zum Kampf zu fordern. Sie sind unser Ehrengeleit; der Soldatenkönig verlangt uns zu sprechen. Er gewährt uns eine Audienz.« Der Hornmann wölbte die buschigen Brauen. »Und woher«, fragte er gedehnt, »willst du das wissen?« »Wäre es anders, hätten uns die Soldaten bereits erschlagen«, sagte Sardor. Er hob dann seine Stimme und rief den Gepanzerten zu: »Wir kommen, Soldaten! Wir kommen!« Klirrend kam Bewegung in die festgefügte Formation der halbmenschlichen Soldaten, und ihre Reihen öffneten sich, daß eine Schneise entstand, gerade breit genug, um das mächtige Weißhorn passieren zu lassen. Grollend, im zögernden Trott, näherte sich Fe den gepanzerten Geschöpfen, und dann ging's im Galopp durch die Schneise zur Burg hinterm gähnenden Graben. Schweigend ritten sie über die gläserne, schwarze Brücke, die den breiten Graben überspannte, und aus der Tiefe des Grabens drang feuchtes, hungriges Schmatzen, und in der Finsternis der Tiefe regte sich animalisches Leben und starrte mit wahnsinnigen Augen hinauf zur Brücke, zum Eisenring, zum sternenlosen Himmel Ostiens. Das Glas der Brücke knirschte unter F6s dröhnendem Tritt, und auf halbem Weg ließ das Weißhorn den Dornenschwanz peitschen, daß armlange Splitter aus dem Schwarz der Brücke brachen und wie Pfeile durch die Luft pfiffen. Pfeile, die am Panzer der Soldaten in tausend Stücke zersprangen. Und die Soldaten sagten nichts, standen stumm und reglos da, mit kalten, wissenden -114-
Augen. Sie ritten durch das Tor, und hinter ihnen bebte die Brücke unter marschierenden Soldatenstiefeln. Sie ritten durch das Tor ins glasierte Labyrinth der Burg, und kaum hatten sie den Torbogen passiert, erlosch das Licht des Eisenrings, erlosch das Licht der Sterne. Dennoch wurde es nicht finster. Das Glas glühte von innen heraus, verströmte die Helligkeit, die es dem kirschroten Tag gestohlen hatte, und leuchtete ihnen den Weg aus. Der sich tief ins glühende Quarz hinunter schraubte, zu den Katakomben im Glas, zum Wochenbett des Soldatenkönigs. Die Burg war aus einem Stück gegossen und tausendfach durchlöchert, kreuz und quer durchtunnelt; Räume im Glas, ganze Gewölbe: Proviantlager und Waffenkammern, Kasernenhöfe und Exerzierplätze, Kasinos und Lazarette, und in der größten von allen Höhlen der Friedhof des Unbekannten Soldaten. Der überall maschierte. Gepanzert und bewaffnet, klirrend und rasselnd, die Spieße, Schwerter und Äxte polierend. Schweigend ritten sie ins Glas hinein. Tiefer und tiefer. Zum König der Soldaten. Seine Titanische Majestät, der Erste vom Osten. Er empfing sie im Thronsaal kreißend, ein Gigant, von seinem eigenen Gewicht an ein Thronbett von den Ausmaßen eines Sportplatzes gefesselt. Ein Gigant mit knotiger, weißer Haut, so ausgebleicht, daß nicht einmal das Glaslicht seine Haut zu röten vermochte, menschenähnlich, aber ins Ungeheure gewuchert, in ewigen Geburtswehen bebend, ewig gebährend, unermüdlich neuen Söhnen das Leben schenkend. In Fruchtblasen, schillernd wie Furunkel, wuchsen die Söhne auf der bleichen Haut des Vaters heran, zappelten im Fruchtwasser, zerrten an ihren Nabelschnüren und harrten voller Ungeduld der Stunde der Geburt... wenn sie kräftig genug waren, um mit den Waffen, die mit ihnen wuchsen, die -115-
Fruchtblase zu durchstoßen, vom väterlichen Riesenleib zu springen und hinauf zu den Kasernen zu marschieren, zum ersten Tag ihres Soldatenlebens. Der König stöhnte in endlosem Schmerz; in seinen Hautfalten sammelte sich das Fruchtwasser und wurde von greisen Veteranen abgeschöpft, als Proviant für des Königs Armeen. Ganze Fässer, ganze Bottiche wurden mit dem Königswasser gefüllt. Und andere Soldaten schleppten riesige Mengen Pflanzenbrei heran, den der König schmatzend verschlang, den er ohne Unterlaß verzehrte, so wie er ohne Unterlaß Söhne gebarte. Des Königs Augen waren blind, aber er hörte den schweren Schritt des Weißhorns. Sein Stöhnen wurde leiser, ohne ganz zu verstummen, und aus dem breiverklebten Riesenmaul drangen dumpfe Worte. »Seid ihr es?« grollte der Soldatenkönig, während auf seiner Haut die Fruchtblasen schwollen und platzten und neue Soldaten gebaren. Gerüstet und bewaffnet, von Kopf bis Fuß gepanzert, krabbelten sie über den königlichen Leib, kletterten vom Thronbett und marschierten klirrend davon. »Seid ihr es?« dröhnte des Soldatenkönigs dumpfe Stimme durch das Gewölbe. »Ihr, auf die ich seit tausend Jahren warte? Seid ihr es?« Während die Soldaten marschierten. »Der Krieg!« brüllte der König auf und rüttelte mit seinen ungeheuren Pranken an Bettpfosten, gläsern und groß wie Tempelsäulen. »Ich rieche den Krieg! Zwischen den Sternen und hinter der Zeit hebt der Krieg sein grausiges Haupt. In den leeren, dunklen Räumen fernab aller Sonnen rüstet sich der Krieg zur letzten Schlacht, damit die ganze Welt zugrunde geht. Riecht ihr ihn auch, den Gestank des Krieges?« Während die Soldaten marschierten. »Es heißt«, donnerte der König, »es heißt, daß vor Ausbruch des letzten Krieges ein Mensch in die Welt kommen wird, um -116-
die Welt zu retten. Es heißt, daß dieser Mensch die größten Helden der Menschenmacht um sich sammeln wird, um den Heeren der Gehörnten, den Armeen der Eisenmänner und den Schwärmen der kosmischen Nachtmahre entgegenzutreten. Es heißt, daß mit der Ankunft dieses Menschen die Zeit der kosmischen Mächte für immer enden wird, daß Frieden auf Erden herrscht, ewiger Frieden bis zum Erlöschen der Sonne. Und daß sich selbst die mächtigsten Könige der Welt diesem Menschen unterwerfen und an seiner Seite in die große und grausame Schlacht gegen die Stern- und Eisenmacht ziehen werden.« »So ist es prophezeit«, sagte Churm Hörn. »So steht es geschrieben im unzerstörbaren weißen Metall des Himmelsturms von L'aa.« »Ich kenne dich!« donnerte der Soldatenkönig. »Du bist Churm, der Letzte vom uralten Orden des Horns!« »Der einzige Ordensmann, der den Verrat der Gehörnten überlebt hat«, bestätigte Churm. »Zum Leben verdammt. Schirmherr der Menschen und Sardors erster Vasall.« »Ich kenne dich, Churm Hörn«, wiederholte der König. »Die Majestäten des Südens haben mir von dir berichtet. Jahrhunderte hast du bei den Hainvölkern verbracht. Jahrhunderte hast du gewartet.« »Wie Ihr, Majestät«, sagte der Hornmann. »Und dieses Roß, dessen Schritt den Boden beben läßt... Sein Name ist F6, nicht wahr?« Das Weißhorn schnaubte und ließ den Dornenschwanz aufs schwarze Glas niedersausen. »Das einzige Tier auf Erden, das einen Menschen auf seinem Rücken duldet«, sagte Churm. »Das letzte seiner Art.« »Du irrst, Hornmann«, grollte der Soldatenkönig. »Es gibt andere Tiere, die Menschen dienen - oder Wesen, die wie -117-
Menschen aussehen. Meine Soldaten haben sie beobachtet - sie reiten auf geflügelten Rössern durch die Luft. Sie reiten durch die Nacht, und sie tragen Sterne in den Händen, ihren dunklen Händen. Hast du nie von ihnen gehört, Churm Hörn? Hast du nie von den Fürsten der Nacht gehört?« »Niemals«, erwiderte Churm. »Vor wenigen Jahren sind sie hier im Osten aufgetaucht... Niemand weiß, woher sie kommen; niemand weiß, ob sie wirklich Menschen sind; niemand weiß, welche Pläne sie verfolgen. Sie reiten durch die Nacht, durch die Luft; jenseits des Landes, das man das Land der Wandernden Gräber nennt, das Land des Todes, daß bis zum Fuß des Mahrenbergs reicht...« Der König rekelte sich in seinem Bett, gebar in jeder Sekunde neue Söhne, Soldatensöhne, die ins Purpurlicht marschierten. »Die Fürsten der Nacht«, röchelte der König, schlürfte Brei, den seine Kinder aus riesigen Bottichen in das klaffende Maul, den unersättlichen Schlund schütteten, damit des Königs Kraft und Fruchtbarkeit bewahrt blieb. »Steht es nicht geschrieben im Metall des Himmelsturms, daß am Vorabend des zweiten und letzten kosmischen Krieges große Unruhe über die Welt kommen wird? Daß die Schattengeschöpfe aus dem Dunkel ihrer verborgenen Existenz treten und sich entscheiden werden, auf welcher Seite sie kämpfen, auf der Seite der Menschen oder der Seite der kosmischen Mächte?« »So steht es geschrieben, Majestät«, sagte Churm. »Die Insel der Mitte!« brüllte der Soldatenkönig. »Hast du sie gesehen, Hornmann? Hast du mit deinen Silberaugen den Turm von L'aa im Herzen der Insel gesehen?« »Wir alle vom Orden des Horns haben die Insel der Mitte besucht und die metallene Schrift gelesen, Majestät. Auf Befehl unserer Herren mußten wir zum weißen Turm von L'aa pilgern, zu dem sich kein Gehörnter wagte. Und auch kein kosmischer Mahr.« Der Hornmann lächelte fahl. »Die Sternmacht mied die -118-
Insel und den Turm, und selbst auf dem Höhepunkt des ersten kosmischen Krieges war die Insel eine Oase des Friedens. Denn die Schrift flößte den Gehörnten Furcht ein, weil sie von Dingen wußte, die noch kommen würden. Die Schrift wußte vom Ausgang des ersten kosmischen Krieges; sie wußte, wie das Ringen der feindlichen Mächte enden würde: Mit der Flucht der Eisenmänner in das Exil hinter der Zeit; mit dem Sieg der Mahre und Gehörnten; mit dem Verrat der kosmischen Nachtmahre und dem schrecklichen, zehntausendjährigen Krieg zwischen Mahr und Hornmacht; mit der Geburt des Ordens vom Hörn und der Vertreibung der Mahre von der Erde; und mit dem Verrat der Gehörnten an den Ordensmännern... All das, König der Soldaten, steht im Metall des Himmelsturms geschrieben.« »Also wußtet ihr vom Hörn, welches Schicksal euch eure Väter zugedacht hatten.« Das Seufzen und Ächzen des riesigen Soldatenkönigs brauste wie Sturmwind durch den Thronsaal; der Koloß wälzte sich auf seinem Glaslager und forschte mit blinden Augen das Purpurlicht aus, als hoffte er, durch bloße Willenskraft sehend zu werden. »Ihr wußtet, daß die Gehörnten alle Ordensmänner erschlagen würden, sobald sie ihre Pflicht erfüllt und die Mahre vertrieben hatten. Ihr wußtet es, und dennoch habt ihr der Sternmacht treu gedient.« »Aber wir wußten auch«, rief Churm dem Riesen zu, »daß unser zehntausendjähriger Kampf gegen die Nachtmahre den Menschen Zeit geben würde, sich von den Schlägen des ersten kosmischen Kriegs zu erholen. Wir wußten, daß unser Tod der Menschenmacht das Leben erkaufen würde. Denn wir kannten auch den zweiten Teil der Prophezeiung, jenen Teil, von dem wir den Gehörnten nichts verrieten. Der die Rückkehr der kosmischen Mächte vorhersagte; der den Menschen für all das Leid der vergangenen Jahrmillionen den Sieg über den Mahr, den Gehörnten und den Eisenmann versprach; der den Menschen Hoffnung machte, Hoffnung auf ewigen Frieden bis -119-
zum Ende der Zeit. Dieses Versprechen, Soldatenkönig«, murmelte der Hornmann, »rechtfertigte das Opfer von uns Ordensleuten.« Schweigen kehrte in den Thronsaal ein. Nur der Gleichschritt eiserner Soldatenstiefel dröhnte durch die Glashöhle. Und das Schlürfen des hungrigen Königs, der den nahrhaften Brei in Strömen trank, als hätte er ohne einen Tropfen Wasser die Wüste Tod durchwandert. Soldaten wurden geboren, Soldaten marschierten davon; und neue Soldaten wuchsen auf des Königs Leib heran. »Churm Hörn!« donnerte der König. »Noch ist nicht alles gesagt, was gesagt werden muß!« »Ich weiß, Majestät.« Schwarze Hornhände strichen über das Blau der Klinge Gly. Ich weiß Majestät, dachte der Hornmann, und ich wünschte, es bliebe auch weiterhin ungesagt. »Ich warte, Churm Hörn.« »Ihr seid grausam, König der Soldaten!« Aber der König schwieg. Sardor legte Churm die Hand auf die Schulter, drückte leicht, und der Hornmann drehte halb den Kopf, daß sich das Purpurlicht im Silber seiner Augen brach. »Nur Mut, Freund Churm«, sagte Sardor. »Nun gut, König«, wandte sich der Hornmann an den gebärenden Koloß. »Ich werde dir das größte Geheimnis meines Ordens verraten... Am Schluß des zweiten Teils der Prophezeiung von L'aa, dort, wo die Rückkehr der kosmischen Mächte geweissagt wird, dort steht geschrieben, daß ein Mensch am Vorabend des großen und grausamen Tages der Entscheidungsschlacht in die Welt kommt und es heißt, daß er durch die Länder der Erde zieht und in allen Ländern Verbündete findet, und es heißt außerdem, daß dieser Mensch auf seiner Reise von einem Mann begleitet wird - von einem -120-
Mann mit Händen aus schwarzem Hörn.« Der König röchelte; der König regte sich; das Glasbett knirschte. »Und dieser Mann bist du, Churm Hörn«, rollten des Königs Worte wie stürzende Felsen durch die Katakombe. »So ist es, Majestät.« »Dann, Churm Hörn«, grollte der Koloß, »dann ist es wahr, was mir die Boten der Majestäten des Südens berichtet haben... Dann ist er, der andere, der hinter dir auf dem Panzerroß sitzt, tatsächlich der Mensch, der den Menschen versprochen wurde: Der Tote, von den Toten wiederauferstanden, um den Lebenden das Leben zu erkämpfen. Der Mann, der über dem Schlachtfeld zwischen Stryge und Heldenhügeln auf dem Rücken eines roten Vogels erschien; der das stählerne Geisterheer des Schwarzen Mirns vertrieb, die Festung Gorm und die Stadt Hencoren befreite, Mirn im Duell zwischen Himmel und Erde besiegte und den Nachtmahr im Geborstenen Berg tötete...« Sardor.« »Er ist es, Majestät«, nickte Churm, und in seiner Stimme verriet sich eine Spur Bitterkeit, da des Königs Worte ihn an die Majestäten des Südens erinnerten, an das Scheitern seiner Mission... Und der König las seine Gedanken. »Sie konnten nicht anders handeln, Churm Hörn«, dröhnte der Koloß. »Du weißt es! Du weißt, daß es der Könige Tod gewesen wäre, hätten sie ihre Heere in die Schlacht gegen den Mahr geschickt.« »Ich weiß, König der Soldaten.« Schweigen. Während die Soldaten marschierten. Während Sardor, einem Instinkt - oder einem lautlosen Ruf folgend, von Fes geschupptem Nacken rutschte und auf spiegelglattem Glas zu stehen kam, schwarz wie das Leder der Ulanenstiefel, wie das Leder der Fliegerkappe. Langsam, das weiße Schwert in der rechten Hand, die Fliegerbrille -121-
hochgeschoben, das junge Gesicht mit uralten Augen vom Purpurlicht gerötet, schritt Sardor auf das Riesenbett des Riesen zu. »Du hast auf micht gewartet, König?« »Seit tausend Jahren, Sardor«, bestätigte der Koloß, »Wie alle Soldatenkönige in allen Ländern der Erde.« »Dann weißt du, daß ich eine Antwort von dir verlange.« »Ich weiß, Sardor.« Ein Beben erschütterte den Fleischberg. »Und ich gebe sie dir irn Namen aller Soldatenkönige.« Sardor blieb stehen, den Kopf in den Nacken gelegt, zum mächtigen Glasbett und zur Titanenkreatur auf dem schwarzen Glas hinauf blickend, mit Augen, die im Kirschlicht bluteten. »König der Soldaten!« rief Sardor. »Der zweite und letzte kosmische Krieg steht bevor! Die Schmerzarchen der Eisenmänner durchkreuzen die Meere der Zeit und steuern die Küste der Wirklichkeit an. Die Gehörnten regen sich im giftigen Staub kalter Welten und schmieden im Frostlicht sterbender Sonnen ihre Pläne, die den Tod aller Menschen bedeuten. Und zwischen den Sternen, fern im Schwarz des leeren Raums, wo eisbedeckte Dunkelwelten seit Äonen durch die Leere wandern, schieben sich mahrische Schädel aus schwarzen Schrunden und starren mit hungrigen Augen die Sterne an. König der Soldaten! Zum zweiten und letzten Mal haben die kosmischen Mächte die Erde zu einem Schlachtfeld auserkoren, und dieser Krieg wird des Menschen Ende sein, wenn er sich nicht wappnet, wenn er sich nicht rüstet, wenn er nicht all seine Kräfte unter einem Banner vereinigt. König der Soldaten! Ich bin gekommen, dieses Banner zu tragen; ich bin gekommen, unter dem Rund der roten Sonne nach Menschen zu suchen, tapfer, stark und verzweifelt genug, sich den Eisernen, den Gehörnten und den Mahren entgegenzustellen, wenn die Wehrglocke von Gorm zur großen Schlacht der letzten Tage -122-
ruft. König der Soldaten! Ich frage dich: Bist du bereit, auf der Seite der Menschenmacht in diese Schlacht zu ziehen? Bist du bereit, dem Ruf der Glocke zu folgen und der Menschenmacht den Sieg im zweiten kosmischen Krieg zu erkämpfen? Bist du bereit, zum menschlichen Heer zu stoßen, das sich im Klang der Glocke sammeln wird, und bist du bereit, den Schwur zu leisten und durch den Schwur dein Schicksal mit dem Schicksal aller Menschen zu verknüpfen? Bist du dazu bereit, König der Soldaten?« Der Atem des Soldatenkönigs rauschte schwer und feucht im Glas der Katakombe; der Fleischberg auf dem schwarzen Bett regte sich, richtete sich halb zu seiner titanenhaften Größe auf, und blinde Augen suchten die grauen Augen des Zwergs, der es gewagt hatte, vom mächtigen Herrscher der Soldaten einen Treueschwur zu verlangen. Und das Verlangen wurde erfüllt. »Ich bin bereit, Sardor«, grollte der Soldatenkönig. »Ich bin bereit! Wie alle Majestäten!« Sardor riß das weiße Schwert hoch, daß es das Purpur aus dem Glas mit seiner blendenden Helligkeit überstrahlte, und dann glitt auch des Hornmanns Hornhand in die Höhe, und die Klinge Gly flammte blau durchs allgegenwärtige Rot. »Ich verpflichte dich, König der Soldaten!« rief Sardor. »Ich verpflichte dich wie Churm vom Orden des Horns; wie das Weißhorn Fe; wie die Völker der Myrten, Anger, Woyden und Nurn; wie Ma Lyn, die Herrscherin aller Schmerzen; wie das unterirdische Volk der Trotze - Für die Menschen!« »Für die Menschen!« donnerte der König. »Für die Menschen!« schrie Churm. Und das Weißhorn brüllte, brüllte so laut, daß an hundert Stellen Glas zersprang. Während die Soldaten marschierten. -123-
Dann neigte der König den mächtigen Kopf und erzählte von der Mutter der Mahre, vom Mahrenberg, der ganz Ostien verdarb, und vom See der Finsternis. 7. Kapitel Durch das Land der Wandernden Gräber 0 wandering gravesl O restless sleep! O silence of the sunless day! O still ravine! O stormy deep! Give up your prey! Give up your prey! - Oscar Wilde »Ave Imperatix«, 1881 Sie verbrachten die Nacht in der gläsernen Burg, und auf des Königs Befehl hin wurden ihnen von den stummen Soldaten menschliche Speisen und menschliche Getränke gebracht, während das Weißhorn einen Schober voll des saftigen Laufkrauts erhielt, das in vieltausendköpfigen Horden durchs Land am Rand der Rinne raste. Sie aßen und tranken mit Genuß und lachten über das Kraut, das aufgeregt zu fliehen versuchte, bis das Weißhorn des Spiels überdrüssig wurde und dem Kraut das Laufen austrieb. Die ganze Nacht über dröhnte die Burg vom Gleichschritt der Soldaten; die ganze Nacht über stieß der Rinnenschlund schnaufend Dampf und Gase aus; und jede Stunde bliesen Hörner das Lied vom Ewigen Soldaten. Trotz des Lärms schliefen sie fest in den Kasernen, die für sie mit weichen Stoffen ausgelegt worden waren; erfrischt, von Tatendrang erfüllt, erwachten sie früh am nächsten Morgen. Der neue Tag ließ die Hügel in hellen und dunklen Rottönen schimmern; nur die Burg blieb schwarz wie stets, und ihre Mauern und Türme tranken durstig das Morgenlicht. Zeit zum Aufbruch! Tief unten in den Katakomben schlief der Soldatenkönig und gebar selbst im Schlaf neue Söhne, neue Soldaten. Sie verabschiedeten sich nicht von ihm. -124-
Sie verließen die Burg, bevor das blutige Riesengestirn in voller Größe am Himmel stand; die Luft war kühl, von Osten her strich Wind heran und verschwand im Dampf der Großen Rinne. An Fes geschuppten Panzerflanken schaukelten prall mit Proviant gefüllte Säcke und volle Wasserschläuche im Rhythmus des Galopps. Sie ritten weiter nach Osten; die flachen Hügel hinauf und wieder hinunter, durch grasbewachsene Niederungen in dunklen Rot- und Blauschattierungen, wo Stachelbüsche mit Drahtschlingen das Laufkraut jagten. Das Land wurde ebener, der Ritt ging vorbei an murmelnden Bächen, stillen Weihern und seichten Seen voller merkwürdiger Kreaturen, nicht Fisch, nicht Tier, sondern Pflanzen mit diamanten glitzernden Augen, Pflanzen, deren Gesang wie Flötenklänge war. Eine Zeitlang hörten sie die Soldaten in den Hügeln marschieren; in den späten Nachmittagsstunden, als der Horizont auch den höchsten Turm der Burg verschluckte, war das Land wieder still. Nur die singenden Pflanzen musizierten, und die Musik war pures Leben, zu Noten geronnen, zu Melodien komponiert, und jede Melodie war eine Warnung: Meidet die Wandernden Gräber, kling, kling, meidet die hungrigen Grüfte... Gegen Abend setzte Regen ein; dünner Nieselregen, der von einem Moment zum anderen zu einem Wolkenbruch wurde, und jeder Regentropfen war groß wie eine Faust, und die feuchten Fäuste schlugen wild auf Roß und Reiter ein, als hätten die Elemente den Verstand verloren, als hätte Raserei den Regen befallen, eine unstillbare Zerstörungslust, die kein Erbarmen kannte. Und der Regen sprach mit feuchter Stimme: Kehrt um, platsch, platsch, dreht um, platsch, platsch, und meidet die Wandernden Gräber. Aber sie ritten weiter. -125-
Im Abendrot ließ der Regen nach, und das Land versumpfte: Ein Moor breitete dich vor ihnen bis zum Horizont aus, wo schon die Nacht das dunkle Rot der Dämmerung verzehrte. Schlamm schwärzte das Brackwasser in den Pfützen und Tümpeln, als ob sie Teer enthielten, und durch den Teer schlängelten sich Pfade aus reiner Kohle. Nebelbänke trieben wie große, fremdartige Schiffe über dem Moor und zerschellten an Riffen aus Schilf. Jenseits des Moors: Das Land der Wandernden Gräber. Und noch weiter im Osten der Mahrenberg. Der Mahrenberg... Sardor fröstelte. Denn er erinnerte sich an des Soldatenkönigs Worte; an die Worte nach dem Treueschwur, die unmißverständliche Warnung: Dies ist der Berg der schwarzen Wasser Dies ist das Heim der Mahrenmutter Dies ist der Hort der bösen Schätze Dies ist der Schoß, der Tod gebiert. Der See der Finsternis! dachte Sardor. Der Kratersee, wo seit Jahrmillionen die Mahrenmutter ihre Brut aufzieht, um ganz Ostien zu verderben... Die Mahrenkinder und die, die in den Schatten gierten - die Geschöpfe der Nacht, die in der Speerholzsteppe ihr Unwesen trieben - sie waren von der Mutter der Mahre ins Leben geworfen worden. Und vielleicht gehörten zu ihren Kindern auch die Fremden auf den geflügelten Rössern, die Fürsten der Nacht, die des Königs Soldaten beobachtet hatten. Verfluchtes Höllengesindel! Wieder erwacht, deutscher Mann? fragte Sardor den Geist des Fliegers, der am Rande* seines Bewußtseins rumorte. Du hast lange geschwiegen, Dietrich von Warnstein... -126-
Halunke? wisperten des Fliegers zornige Gedanken. Am eigenen Busen habe ich die Giftschlange genährt, und zum Dank stiehlst du mir den Körper. Satan! Mordbube! Götze! Es war nicht meine Entscheidung, wehrte Sardor ab. Ich habe keine Macht über die Gesetze, die dem einen die Herrschaft über diesen Körper geben, während sie den anderen zur Untätigkeit, zum Beobachten zwingen. Gib nicht mir die Schuld, deutscher Mann. Weiche von mir, Satan! Dann wurde das wütende Geraune der anderen Seele leiser, bis es gar nicht mehr zu vernehmen war. Sardor seufzte. Und er fragte sich, welches tragische Geschick ihn an diesen Fremden gekettet hatte. Warum Warnstein? Was zeichnete diesen Mann aus? Seine Träume? Seine Hirngespinste? Seine grausigen Wahnideen - sofern es Wahnideen waren? Und wenn es dieses Deutschland, diese Welt unter der kleinen gelben Sonne tatsächlich gab, irgendwo tief unten im Abgrund der Zeit - wer hatte den deutschen Mann in diese Welt versetzt, über Milliarden Jahre hinweg in die Zukunft der Erde? Die Großen Alten? Die Erbauer des Himmelsturms von L'aa? Jene, die auch die Prophezeiung ins weiße Metall des Turmes geschrieben hatten? Die Insel der Mitte, dachte Sardor. Ja, ich muß zur Insel der Mitte und die Schrift mit eigenen Augen sehen. Denn wer diese Worte geschrieben hat, der muß die Zukunft gekannt haben; und wer die Zukunft kennt, der verfügt auch über die Macht, einen Menschen durch die Zeit zu tragen... Die Schatten wuchsen, die Schatten fraßen das Moor, die Nacht kam über das Land. »Wir sollten die Nacht über rasten«, brummte Churm. »Das -127-
Moor ist mir nicht geheuer. Wir könnten in diesem Sumpf glatt ersaufen...« »Ein schmachvoller Tod, Freund Churm«, nickte Sardor. Er sah nach Norden; einen Moment lang glaubte er, im Dämmerungsdunst die Schattenrisse hoher, spitzer Türme zu erkennen; Türme aus Glas, Türme aus Schwarz, einem Schwarz, das weit dunkler war als die Dunkelheit der Nacht. Vielleicht die Burg eines anderen Soldatenkönigs; fünf dieser gläsernen Festungen waren in den letzten Jahren im Osten der Großen Rinne errichtet worden, Bollwerke gegen das Böse, das im Mahrenberg lauerte. Aber die Dämmerung nahm zu, und das Zwielicht des Sonnenuntergangs täuschte die Augen, so daß die Grenze zwischen Wirklichkeit und Phantasie verschwamm und man Dinge sah, die nur in der Einbildung existierten. Hoch im Norden sollte es große, fischreiche Seen geben, an deren Ufern Menschen siedelten; keine Barbaren, sondern zivilisierte Völker, die miteinander in Frieden lebten und prächtige Städte gebaut hatten, prächtiger noch als das aus Gold, Silber und Platin gegossene Hencoren am Strygensee. Eine dreifache Wehr aus eisernen Mauern, eine höher und dicker als die andere, trennte die See vom Land der Wandernden Gräber und dem Mahrenberg; eine ganze Armee hielt Tag und Nacht an den Mauern Wacht. Stolz waren die Menschen von den Seen; stolz waren die Namen ihrer Städte: Macoran, die Stählerne; Goyeen, die Unbesiegbare; Han Hon, die Eherne. In Städten mit derartigen Namen mußte es leicht sein, Verbündete für den kommenden Tag der großen Schlacht zu finden. Aber zuweilen war Stolz ein Laster und machte die Menschen blind für die Wirklichkeit; vielleicht war diese Blindheit auch für das Mißtrauen verantwortlich, mit dem die Menschen von Macoran, Goyeen und Han Hon den Soldatenkönigen begegneten... Später, sagte -128-
sich Sardor, werde ich zu den Seen ziehen. Dann blickte er nach Süden, wo sich die Hügel ins Unendliche zu dehnen schienen und zwanzig Tagesmärsche weiter wie die Wogen eines gefrorenen Meeres die Felsenküste eines Hochplateaus umspülten: Das Säulenland, eine Wüste aus Stein, runzlig und rissig wie Greisenhaut, und aus dem Steingrund wuchsen Säulen in den Himmel. Säulen, die im Licht des Eisenringes wie flüssiges Eisen glühten. Säulen, die nicht von dieser Erde stammten, sondern die - wie der Stoff der schweren Mauern Gorms - vor Äonen den Welten anderer Sonnen geraubt worden waren, in den Zeitaltern menschlicher Macht und Größe, vor dem ersten kosmischen Krieg. Zwischen jenen Säulen sollten Menschen hausen, die ihre Menschlichkeit verloren hatten; Menschen mit Raubtierinstinkten, Raubmenschen, die im Säulenlicht das Sternbild der Wolke von Zwarn anbeteten, wo ihre blutrünstigen Götter wohnten... Dieses gnadenlose Menschenvolk hatte die Erinnerung an das Zeitalter der Sterne bewahrt, in dem die Irdischen das All durchkreuzt und tausendmal tausend Sterne besucht, erforscht und in Besitz genommen hatten. Vielleicht enthielten die Legenden des Säulenvolks einen wahren Kern; vielleicht waren sie wirklich die Nachkommen jener Götter aus dem Sternbild der Wolke; vielleicht war die Erde tatsächlich vom Rudel von Zwarn besucht worden: Räuberische Kreaturen, reißende Bestien, durch eine Laune der Natur intelligent geworden, klug genug, um wie die Menschen Sternenschiffe und Waffen zu bauen und das Weltenall zu bereisen, Beute suchend, Beute findend, alles tötend, in dem auch nur ein Funke Leben war, alles Leben aus reiner Barmherzigkeit mordend... Denn die intelligent gewordenen Raubtiere von Zwarn litten unter dem Leben, und Mord war für sie ein Gnadenakt. Bis sie auf die wandernden Dunkelwelten der -129-
Mahre trafen; bis sie erkannten, daß ihre Barmherzigkeit und die Bosheit der Mahre nur zwei Seiten einer Münze waren; bis sie ihr Spiegelbild im Eis der Mahrenwelten sahen: Das entstellte, grausige Gesicht des Todes. Und Entsetzen erfaßte das Rudel von Zwarn. Unsägliches Entsetzen, wahnsinniger Schrecken, Angst und Abscheu. So daß sie sich selbst zerrissen, um den unerträglichen Schmerz zu heilen, um ihre Untaten zu büßen, um dem Leben zu beweisen, daß sie die Schwere ihrer Verbrechen erkannt hatten, daß sie entschlossen waren, diese Verbrechen zu bestrafen. Und die Strafe, die sich das Rudel selbst auferlegte, war: Tod für alle Zwarn. Ob sie geahnt haben, fragte sich Sardor, ob sie gewußt haben, daß ihre Saat auf anderen Welten aufgehen wird, auf Welten wie der greisen Erde? Daß es Menschen geben wird, verblendet genug, um das Rudel von Zwarn zu Göttern zu erheben? Gottheiten, denen es nachzueifern gilt; fleischfressende, bluttrinkende Götzen, die Nacht für Nacht ihre Opfer verlangen... Meidet den Süden, hatte der Soldatenkönig gewarnt, aber Sardor war entschlossen, dem Land der leuchtenden Säulen, dem Reich der menschlichen Raubtiere einen Besuch abzustatten. Später, dachte Sardor. Nach dem Mahrenberg. Es war nun finster genug geworden, daß sich der Eisenring als grüner Strich am Himmel abzeichnen konnte. Grünspan befiel das Moor; Schimmel verseuchte die Tümpel. Und in der Asche der Milchstraße glosten, wie halb verbrannte Kohlenstücke, die letzten alten Sterne. Das Siebengestirn der Pforte der Gehörnten war am hellsten von allen Sternbildern; die Wolke von Zwarn war im Dunst verschwunden, die Vier Mahrenaugen glühten vergeblich gegen das Schimmellicht des Eisenrings an; und das Dutzend Sterne der Brücke durch die Nacht schien sterbend zu -130-
flackern. Sardor betrachtete sie stumm. Wie seltsam, sagte er sich, daß mir die Konstellationen so vertraut vorkommen, während sie für die Augen des deutschen Mannes fremd und voller Schrecken sind... Und noch seltsamer, sich einen Himmel vorzustellen, der über und über mit Gefunkel bedeckt ist, mit sovielen Sternen, daß man sie sein Leben lang zählen kann, ohne zu einem Ende zu kommen... Und diese Scheibe aus Licht, die in Warnsteins Träumen am Sternenhimmel steht; Licht, das den Namen Mond trägt... Er fröstelte. Was für eine furchtbare Welt, was für eine beängstigende Zeit, furchtbarer und beängstigender als alle Schrecken, die Menschen je ersonnen hatten... »Genug gegrübelt?« Sardor wandte den Blick vom Nachthimmel ab und sah in des Hornmanns Silberaugen; das Spiegelbild des Eisenrings teilte jedes Auge wie eine senkrecht verlaufende Narbe. »Wir reiten weiter«, sagte Sardor. »Durch das Moor und durch das Land der Wandernden Gräber bis zum Mahrenberg.« Der Schwarzbart spuckte aus. »Ich bin noch immer dafür, eine Rast einzulegen. Am Tag dürfte ein Ritt durch diesen verdammten Morast schon unerfreulich genug sein; in der Nacht ist es ein selbstmörderisches Unternehmen.« »Wir reiten.« »Und du hast gehört, was der Soldatenkönig gesagt hat«, fuhr Churm unbeeindruckt fort. »Daß lichtscheues Gesindel diese Gegend verunsichert - daß nach Sonnenuntergang finstere Gestalten durch die Luft reiten - die Fürsten der Nacht...« Sardor verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln. »Fürchtest du dich, Freund Churm?« »Furcht, pah!« Der Schwarzbart lachte rauh. »Ich sagte dir bereits, daß ich mich nur vor den Gehörnten fürchte.« -131-
Sardor versetzte dem Weißhorn einen leichten Schlag gegen den geschuppten Nacken. »Also vorwärts, F6! Zum Mahrenberg! Zum See der Finsternis!« Und das gepanzerte, gigantische Tier riß den hornbewehrten Schädel hoch und ließ ein Gebrüll ertönen, daß es wie Donner über das stille Moor grollte, Donner, laut genug, um jedes Gewitter zu beschämen. Dann stürmte das Weißhorn los, hob und senkte die mächtigen Beine, und Schlamm spritzte in schwarzen Fontänen hoch, wollte das Tier und seine Reiter unter sich begraben, doch da war Fe schon viele Meter weiter, stampfend, brüllend, galoppierend. Stets fanden die Säulenbeine festen Grund; mit dem Instinkt des Tieres erahnte Fe die tückischen Stellen, die für jeden Unvorsichtigen den Tod bedeuteten, den jämmerlichen Tod im Moor. Hin und her sprang das schwere Tier und mehrfach machte es kehrt, um einen besseren Weg zu suchen, da der zunächst gewählte nicht hielt, was er versprochen hatte. Der weiche Boden gurgelte; Brackwasser gluckerte; Schlammfontänen fielen klatschend ins Moor zurück. Längst war das Hügelland hinter ihnen in der Nacht verschwunden. Längst gab es nur noch das Moor. Morast, schwarz und nachgiebig wie brandiges Fleisch; Tümpel und Teiche, schimmelig schillernd im Licht des Eisenrings; Pfützen, im müden Sternenschein giftig leuchtend. Und da und dort - blaue Schemen, wie elektrische Funken, von unsichtbarer Hand gesammelt und in vage menschliche Form gepreßt. Die Schemen folgten dem Tier und seinen Reitern auf ihrem wilden Ritt durch den Sumpf; sie folgten, doch sie wagten nicht, den Eindringlingen zu nahe zu kommen. Die Nacht wurde älter und älter, und noch immer galoppierten sie durch Morast und Schlick. Tief im Sumpf wuchs graues Schilf in großen Kolonien, und wo es wuchs, band Wurzelwerk -132-
den breidünnen Schlamm, daß fester Boden entstand. Fe brach wie ein Geschoß durchs Schilf, und das Schilf schoß zurück: Voll Sumpfgas pumpten sich die Halme und sprengten die harten Spitzen ab, daß sie sich wie Pfeile in des Weißhorns Schuppen bohrten. Fe kümmerte es nicht. Ohne Schaden anzurichten, fielen die Pfeile vom Panzerkleid des Tieres ab. Das Schilf raschelte enttäuscht. Das Weißhorn galoppierte dröhnend weiter. Durch Brackwasser, schimmelig im Grünspanlicht des Eisenrings, durch ganze Pfeilschilfwälder. Nur allmählich wurde der Boden trockener; noch immer war fester Grund selten. Sie ritten eine weitere Stunde. Endlich wich der faulige Gestank des Moors dem würzigen Geruch fetten Erdreichs, und die blauen Schemen stellten die Verfolgung ein. Fe brüllte freudig auf. Da riß der Boden auseinander. Das Tier stolperte, fing sich im letzten Moment und sprang mit einem verzweifelten Satz über die Grube hinweg, die sich vor ihr geöffnet hatte; eine Grube wie ein Grab, rechteckig, länglich, tief, schwärzer als die Nacht, und aus der Schwärze: Seufzer, Ächzen, aasiges Geschwätz: Ins matte Herz der erste Stich Mit kaltgeführter Hand Damit der Schmerz das Herz mir bricht Das mich an Dich band Gelächter schloß sich den Worten an, schnatterndes, verdorbenes, ganz und gar verrücktes Gelächter. Kalt wie die Kälte des Grabes; heiter wie die Heiterkeit des Todes. Donnernd prallte das Tier auf der anderen Seite der Grube -133-
auf. »Ein Grab!« schrie Churm. F6 wirbelte herum und schüttelte wütend das knochenweiße Dolchhorn. Doch die Erde hatte sich wieder geschlossen. Dumpfes Gelächter war alles, was vom Grab geblieben war, und dann verklang es in einem erstickten Gurgeln: Als hätte ein Brocken verwesenden Fleisches des Grabes Kehle verstopft. »Ein Grab!« sagte Churm wieder, Gly in der Hornhand, die andere zur Faust geballt. »Es war leer; das verfluchte Grab war leer! Es wollte uns verschlingen, mit uns seine Leere füllen, die schreckliche Leere des Todes...« Sardor durchforschte die Nacht: Weites Land, ödes Land, nackte Erde, zerfurcht und aufgewühlt, wie ein Acker, von einem wahnsinnigen Bauern ohne Sinn und Zweck umgepflügt. Kein Baum, kein Strauch, nicht eine Pflanze. Kein Tier, nur schwarze, fette Erde. »Das Land der Wandernden Gräber«, murmelte Sardor. »Wir haben es erreicht; dann kann auch der Mahrenberg nicht mehr weit sein.« Churm fluchte. »Wahrscheinlich verschlingen uns die Gräber, bevor wir zum Berg gelangen. - Vorwärts, Fe!« Das Weißhorn schüttelte grollend den schuppigen Schädel und begann zu trotten; das Auf und Ab der Säulenbeine wurde schneller, der Trott verwandelte sich in einen Galopp - und der Boden riß auf. Fe schrie, stemmte die Vorderläufe ins aufgewühlte Erdreich, warf das Hinterteil herum, schwankte, wankte, stürzte. Doch als ihre Flanke wie ein Schmiedehammer den Boden traf, waren Churm und Sardor schon vom Nacken gesprungen. Mit gezogenen Schwertern standen sie am Rand des Grabes, das sich vor ihnen aufgetan hatte, das hungrig, gierig, böse klaffte, mit -134-
finsterem, röchelndem Schlund. Und aus der Gruft drang der Gestank des faulenden Fleisches, verrottender Knochen, der Gestank von Krankheit, Tod, Verwesung. Und sehnsuchtsvolles Seufzen: Ins wunde Fleisch der zweite Schnitt Mit zorngeschärfter Kling' Damit ich bleich - und Du? verzückt! Vor Dir zusammensink' Dann lachte das Grab, dann kicherte es schrill, lachte geifernd, gröhlte vor Vergnügen, kreischte vor Lust, schnatterte und gackerte, bis Kummer alle böse Freude erstickte; und aus Gelächter Schluchzen wurde. Brüllend kam Fe wieder hoch, stampfte drohend mit den Vorderbeinen, schwenkte kampfbereit das Dolchhorn, als wollte sie in der nächsten Sekunde auf das gähnende Grab losgehen. »Zurück!« schrie Churm. »Zurück, Fe, zurück!« Das Tier gehorchte, kaum daß der Hornmann das erste Wort beendet hatte. Eine Kältewelle drang aus dem Grab, fraß sich in Sardors warmen Leib, lahmte seine Glieder, gefror seinen Willen. Da packte ihn eine Hornhand am Kragen und riß ihn fort von dem leeren Grab, das mit Kälte seine Beute fing. Ein enttäuschtes Stöhnen, dann schloß sich der Boden. Churm spähte in die Dunkelheit. Ein Dutzend Schritte nur entfernt geriet das Erdreich in Bewegung; es klaffte auf, ein Grab erschien und gähnte schwarz die Männer an. Ein Seufzer, gebrabbelte Worte: 7ns Auge dann der dritte Streich Mit grimmgestähltem Dolch Damit mir's wild das Hirn zerreißt Nichts bleibt von meinem Stolz -135-
»Vorsicht!« schrie der Hornmann und wies nach links, denn auch dort riß der Boden auf, quoll aasiger Gestank hervor, Gestank und dumpfes Gerumpel: In meine Seel' der letzte Hieb Mit süßmaskiertem Haß Damit, gequält, die heiße Lieb' zu Dir abkühlt, verblaßt Gelächter schnatterte; Gekicher schrillte. Und an einer weiteren Stelle wühlte sich ein hungriges Grab aus dem Boden. Verbreitete Gestank und Grabeskälte, sprach mit schwerer Zunge: Ins Grab, den Tor', die kalte Leich' Mit tränenfeuchter Lust Damit sie verwest im Totenreich Und Du nicht trauern mußt Überall bebte und wogte nun der Boden; von allen Seiten drang wahnwitziges Gebrabbel, Seufzen, Ächzen und fauliges Schluchzen, Geschnatter und Geklapper. Kälte hing wie Nebel in der Luft, und der Nebel hüllte sie ein. »Wir sitzen in der Falle«, stieß Churm hervor. Fe brüllte in verzweifelter Wut. Nirgendwo ein Fluchtweg; überall klafften die Grüfte. Sardor atmete flach; der Gestank verwesenden Fleisches war unerträglich geworden. Und die Gräber lachten, die Gräber wanderten, zogen den Ring enger und enger. Die Kälte nahm zu, lahmte die Männer, das Tier, ließ ihre Muskeln erstarren, ihre Willenskraft erlahmen, nahm ihnen langsam das Leben. »Das ist der Tod, nicht wahr?«, sagte Churm. »Ja«, nickte Sardor. »Das ist unser Tod, Freund Churm.« »Vielleicht... Wenn wir springen... mit etwas Glück...« Der Hornmann verstummte, als er die Sinnlosigkeit seines Vorschlags erkannte. Nur noch ein kleiner Fleck festen Bodens -136-
war ihnen geblieben; ringsum die Wandernden Gräber. Kein einfacher, sondern ein doppelter, ein dreifacher Ring, und hinter dem äußersten Ring geriet der Boden nun auch in wilde, wühlende Bewegung. Das Land tobte. Das Land raste. Überall riß das Erdreich auf, öffnete sich zu Grüften, aus denen Stimmen, Kälte und Gestank drangen, und jenseits davon kamen weitere Gräber herangewandert, angelockt vom Lärm und vom grausigen Geschrei aus den Gruben. Resignierend senkte Sardor das nutzlose weiße Schwert. Und trauerte um die Menschen, die nun allein in die große Entscheidungsschlacht ziehen, allein im zweiten kosmischen Krieg gegen die Stern- und Eisenmacht kämpfen mußten. Die nun vergeblich darauf warten würden, daß sich das Versprechen des Sieges und des ewigen Friedens erfüllte. »Sardor!« gellte Churms Schrei durch das Gebrabbel und Geseufze der Wandernden Gräber. »Dort, Sardor! Dort!« Müde hob er den Kopf und sah in die Nacht, und in der Nacht waren Lichter. Viele Lichter, soviele Lichter! Kalt und klar wie die Sterne. Und die Lichter flogen durch die Luft, die Lichter kamen näher und näher, und dann erkannte Sardor, daß es Fackeln waren, Fackeln in den Händen vermummter Gestalten, die auf großen, gefügelten Tieren ritten. Auf Tieren wie Riesenlibellen. Die Gräber seufzten, die Gräber stöhnten im Fackellicht. Die Gräber fürchteten das Licht, die Gräber schlössen sich, gruben sich tief in den Boden. Dann war nur noch das laute, dunkle Surren der Libellenflügel zu hören. Sardor sah Churm an, und der Schwarzbart grinste, schob die Klinge Gly mit einer schwungvollen Bewegung in den Waffengurt, fuhr dann herum, drehte sein Gesicht den -137-
Vermummten auf ihren fliegenden Rössern zu, riß beide Hornhände hoch und rief mit weithin hallender Stimme: »Habt Dank! Habt Dank, ihr Fürsten der Nacht!« 8. Kapitel Die Fürsten der Nacht The earth, a brittle globe of glass, Lies in the hollow of thy hand, And through its heart of crystal pass, Like shadow through a twilight land, The spears of crimsonsuited war, The long whitecrested waves of fight, And all the deadly fires are The torches of the Lords of Night, - Oscar Wilde »Ave Imperatix«, 1881 Das Grauen lag hinter ihnen, verschluckt von der Nacht, die sich gemächlich auf den neuen Tag vorbereitete, doch sie wußten, daß ein noch entsetzlicheres Grauen auf sie wartete: Am Mahrenberg, in den schwarzen Wassern des Sees der Finsternis. »Der Weg war weit«, sagte D'Auyen, Fürst der Nacht, mit einer Stimme, die rostig war wie das Eisenerz der Krograniten. Sein Gesicht war eine Maske, dunkel wie Ruß, starr wie Metall, eine Maske, in der nur die Augen lebten. »Der Weg war weit«, sagte Fürst D'Auyen, »und voller Gefahren. Zehn Grenzen mußten wir passieren, und an jeder Grenze wartete der Zöllner Tod und nahm, was wir nicht geben wollten: Das Leben jener, die wir am meisten liebten...« Ganz in Dunkelheit gehüllt, das Gesicht maskiert, der Schädel von der vierzackigen Helmkrone umwölbt, stand Fürst D'Auyen in der alternden Nacht und hielt die Fackel hoch, damit ihr kaltes Sternenlicht die Gräber schreckte, die hungrigen Gräber des Landes. Aber selbst das helle Sternenlicht der unlöschbaren Fackel war nicht hell genug, die Finsternis zu durchdringen, aus der des Fürsten Kleid gewoben war: Finsternis, zu einer schweren Kutte gewirkt, die vom Halsansatz bis zum Boden reichte. Der Saum flüsterte, wenn er über die Erde strich, mit -138-
einer Stimme, die rostig war wie die des Fürsten. »Die erste Grenze war die Sonne Graun«, sagte der Fürst D'Auyen, »und auf der Wasserwelt von Graun ertrank Fürst H'Ayn in den Fluten. Versank im Meer, wo wilde Fische kämpften. Und tauchte nie wieder auf.« Und der Fürst an seiner rechten Seite - Fürst K'Oruum, mit Metall maskiert, in Dunkelheit gehüllt, mit Stahl gekrönt wie alle hier - Fürst K'Oruum hielt die lodernde Fackel hoch und sprach mit knirschender Stimme: »Zehn Grenzen zu passieren, zehn Tore zu durchschreiten, und das zweite Tor war das Tor der Sonne Nymmer. Auf Nymmers Wüstenwelt verschlang der Sand Fürst D'Abolaar und gab ihn nicht wieder her. Er blieb unter Nymmers Dünen zurück und wir anderen wanderten weiter.« »Der Tod«, sagte Sardor in die Nacht, »dies ist der einzige Tribut, mit dem sich der Tod zufrieden gibt.« »Das dritte Tor war Shrekken und lag in blauem Licht«, mahlte rauh Fürst B'Urnyik. »Auf Shrekkens Welt aus Feuer und Stein starb Fürst K'Ahlan, der dritte von uns Fürsten. Er starb den Tod in der Flamme; nur Asche blieb vom Leben.« Und Churm, der Hornmann, der an des Weißhorns Panzerflanke lehnte, sah mit Silberaugen ins Fackellicht und raunte: »Der Tod holt stets, was uns kostbar ist.« Schatten in der Luft, unterm Eisenring; Schatten mit zwei Flügelpaaren und Augen, groß wie Köpfe, drei an der Zahl: Die fliegenden Rösser der Fürsten; Rösser, die summten und brummten und über ihre Herren wachten; die alles sahen, alles hörten, die jeden Feind aufspürten... Schnell und schön flogen die Rieseninsekten an der Grenze des Gräberlands hin und her, auf Feinde hoffend und bereit, sie mit einem Stich zu töten, mit dem Stich des Stachels an der Spitze des langen, biegsamen Schwanzes, mit Gift, das wie Säure war und selbst Stahl zerfressen konnte. -139-
»Das vierte Tor hieß Niich«, knarrte Fürst T'Eryonen, »Niich von der weißen Sonne. Der vierte tote Fürst war L'Uun, und er starb im klirrenden Gletscher. Er blieb im Eis von Niich zurück und wir anderen wanderten weiter.« Und der Schmerz, dachte Sardor, der Kummer zerfrißt eure Seelen. Aber er sagte nichts. »Bald kommt der Tag«, murmelte Churm. »Der Feind der Nacht«, nickte Fürst D'Auyen. »Der kleine Bruder des Räubers Tod, und diebisch wie er. Der Tag stiehlt unsere Macht, der Tag stiehlt unser Leben. Bis die Schwester Nacht heimkehrt und gibt, was uns genommen wurde - vom Tagedieb und nicht vom Tod. Was der Tod geraubt, gibt er niemals wieder her.« »Du irrst, Fürst der Nacht!« sagte Churm Hörn. »Ich weiß«, gab D'Auyen mit rostiger Stimme zurück. »Deshalb sind wir hier«, fügte Fürst K'Orrum knirschend hinzu. »Deshalb ist Fürst G'Irn auf Eynsamen geblieben«, mahlte rauh Fürst B'Urnyik, »am fünften Tor der Reise. Wo immer Tag ist, wo keine Luft ist, nur das Licht der Drillingssonnen in alle Ewigkeit sengt.« »Deshalb«, knarrte Fürst T'Eryonen, »deshalb starb am sechsten Tor Fürst H'Ornbrucht in stählernen Fallen. Auf Hasz, wo alles stählern und aller Stahl ein Schlächter ist. »Fürst M'Uhn verdarb am siebten Tor, am Tor der Sonne Todt. Die Welt war schwer und zermalmte ihn; wir anderen gingen fort.« »Bald kommt der Tag«, sagte Churm zum zweitenmal. Denn im Osten, dort, wo die dunkle Nacht den Basaltkegel des Mahrenbergs verbarg, mischte sich ein Hauch Rouge ins fahle Grün des Eisenrings und in die Schatten, die Ostiens Länder bis zum Krograniten-Wall regierten. -140-
Die Fackeln verströmten ihr Sternenlicht, die fliegenden Rösser wachten, die Fürsten schwiegen hinter den Masken. Es war Churm, der das Schweigen brach. Er trat neben Sardor, der im Zentrum des Rings, den die Fürsten gebildet hatten, auf dem Boden saß, düster brütete, finster grübelte, an den Mahrenberg dachte, an die schwarzen Wasser des Kratersees, an das, was in den lichtlosen Tiefen hausen mochte, und Churm wies mit der Hornhand auf ihn. »Dies ist der Mann, ihr Fürsten der Nacht, dem der Tod das Leben nahm, vor zwanzigtausend Jahren, und der den Tod überlebte. Dies ist der Mann, der die Länder der Erde bereist, um die Menschen gegen die Mächte zu einen, die von den Sternen und aus der Zeit zur Erde zurückkehren werden wenn der Tag kommt, der grausame Tag der Entscheidungsschlacht; wenn die Glocke von Gorm zum zweiten und letzten kosmischen Krieg auf Erden ruft... Er ist Sardor, ihr Fürsten der Nacht«, rief der Hornmann. »Zwanzigtausend Jahre hat er unter dem Moos der Heldenhügel gemodert, tot wie alle Helden, die in jenen Grüften darauf warten, den Hainvölkern in der Stunde der Not beizustehen, aber nicht tot genug, um für ewig im Grab zu bleiben. Des Todes überdrüssig, verließ Sardors Geist die Heldengruft, um durch die Welt zu irren, auf der Suche nach dem Leben. Doch was er suchte, fand er nicht in dieser Zeit: Die Wiederauferstehung im Fleisch. So wandte er sich dann der Vergangenheit zu. Den verflossenen Äonen. Er stieg hinab in den Millionen und Milliarden Jahre tiefen Abgrund der Zeit, ruhelos suchend, rastlos forschend, bis er nah am Grund der Vergangenheit ins Zeitalter der Deutschen geriet.« Der Hornmann hob beschwörend die Arme zum Himmel. »Ihr Fürsten der Nacht! Weder Mensch, noch Gott, weder -141-
Mahr, noch Eisenmann hat je die Tiefen der Zeit so ausgelotet wie es Sardor getan hat. Das Zeitalter der Deutschen! Das Zeitalter der Flieger! Im Licht einer Zwergensonne durchkreuzten die deutschen Flieger die Lüfte und fochten schreckliche Schlachten. Einen ewigen Krieg kämpfte das Volk der Deutschen - gegen den gallischen Erbfeind, gegen englische Lords, gegen Togonesen und andere Fetischgesellen, gegen Satan und seine höllischen Heerscharen, gegen die ganze Welt! Erdteile verbrannten in diesem erbarmungslosen Krieg - Erdteile wie der Schwarze Kontinent, das scheußliche, wilde Afrika, wo schwarze Teufel herrschten, das Negervolk der Heiden. Tagein, tagaus übten sich Afrikas Heiden in bösen Taten, grausigen Verbrechen, deren Zahl sich jedes Jahr verdoppelte, verdreifachte! Aber die frommen deutschen Männer, die im Dienste ihres Kaisers Afrika missionierten, mußten nicht nur gegen Heiden kämpfen. Ihr größter Feind waren die Götzenbilder, die hinter jedem Busch den Missionaren auflauerten. Tag und Nacht mußten die Deutschen das Land von Götzenbildern säubern, und es wuchsen ständig neue nach: Grausame heidnische Gottheiten wie Mohammedanismus, Okkultismus, Atheismus oder Sozialdemokratie... Dann kam der deutsche Held, der Hering, und er siegte: Die Zahl der Taufen in Todesgefahr stieg in schwindelerregende Höhen; die Heiden gingen dreimal im Jahr zur Heiligen Beichte; das Reich Gottes und das Deutsche Reich breiteten sich in den Schulen aus. Und den endgültigen Sieg errang der fromme Hering durch die Gründung des christlichen Handwerkerstands von da an wurde in ganz Afrika nur noch gebeichtet und in Todesgefahr getauft... Aber Hering war nicht der größte Held der Deutschen - der größte Held war ein Flieger, ein Mann, der auf dem Rücken eines roten Vogels ritt, der kühn und todesmutig gegen den gräßlichen Franzosen und das perfide Albion zu Felde zog; den man bald des deutschen Kaisers -142-
treuesten Flieger nannte: Leutnant Dietrich von Warnstein, Jagdstaffel 11 der Deutschen Fliegertruppe!« Der Hornmann machte eine dramatische Pause. Nun ist der Heide vollends übergeschnappt! raunte des deutschen Fliegers Geist in Sardors Gedanken. Bei Gott, ich wünschte, ich wäre Herr über meine Glieder - ich hätte diesem Wahnsinnigen längst das lose Mundwerk gestopft...! »Und dieser größte deutsche Held, ihr Fürsten der Nacht«, rief Churm den maskierten Gestalten zu, »dieser Dietrich von Warnstein wurde von Sardor auserkoren, ihm in die Zeit der roten Sonne zu folgen, in das Zeitalter des letzten kosmischen Kriegs, in unsere Zeit... Der deutsche Held folgte dem Ruf des toten Gottes, vereint im Geist, vereint im Fleisch, und Sardor erwachte - der wirkliche Sardor, der wahre Sardor, der Mensch, in die Welt gekommen, um der Menschenmacht den Sieg in der Entscheidungsschlacht zu erkämpfen, um das Versprechen ewigen Friedens einzulösen...« Die Fackeln loderten. Und im Osten wurde der schmale Streifen Morgenröte breiter und heller. »Wir wissen, Churm Hörn, daß dieser Mann der Mensch ist, von dem die Prophezeiung von L'aa spricht«, sagte rostig Fürst D'Auyen. »Wir wußten es, als wir den langen Weg beschriften. Wir kannten den Namen Sardor.« Sardor hob langsam den Kopf. »Also habt ihr mich gesucht, ihr Fürsten«, stellte er fest. »Gesucht - und gefunden«, knirschte Fürst K'Oruum. »Und den Preis dafür bezahlt«, fügte des Fürsten B'Urnyik mahlende Stimme hinzu. »Den zehnfachen Preis«, nickte Fürst D'Auyen. »Denn zehn Grenzen mußten wir passieren, zehn Tore durchschreiten, und der Tod nahm, was wir nicht geben wollten...« -143-
»Das Leben jener, die wir am meisten liebten«, knarrte der Chor der Fürsten. »Am achten Tor«, sagte D'Auyen, »am Tor der Sonne Waan, fraß ein Tier den achten Fürsten. L'Uryn starb durch das Tier von Waan, und das Tier war groß wie die Sonne.« »Wir anderen wanderten weiter«, sagte Fürst T'Eryonen rauh. »Zum neunten Tor.« »Am neunten Tor«, rasselte Fürst D'Auyen rostig, »das Tor von Umbrinken genannt, nahm der Tod uns den guten Fürsten K'Irn. Er starb auf elendste Weise; er starb durch die eigene Hand, da am neunten Tor die Todesfurcht zur Sehnsucht wird und die Sehnsucht wie eine Seuche grassiert.« »Dann wanderten wir zum zehnten Tor«, mahlte Fürst T'Eryonen. Und K'Oruum knirschte: »Zum letzten Tor unserer Reise.« »Zum Tor mit Namen Erde.« Fürst D'Auyen schwieg einen langen Moment. »Denn die Erde war das Ziel unserer langen und tödlichen Reise. Das zehnte Tor nahm dem Fürsten B'Aan das Leben, und B'Aan starb den schrecklichsten Tod, den Tod in der kosmischen Leere.« »Doch wir anderen«, rief B'Urnyik, »wir anderen wanderten weiter!« »Durchs zehnte Tor zur Erde.« »Um auf Erden die Suche aufzunehmen...« »Nach dem Mann, dessen Namen wir kannten.« Die Fürsten sahen sich an, mit Augen, die im Metall der Masken wie lebende Feuer brannten. Eine Entscheidung bahnte sich an. Die Augen lebten, die Augen brannten, die Masken waren tot wie die zehn verlorenen Fürsten. Dann regte sich D'Auyen und gab den anderen ein Zeichen. -144-
»Wir suchten!« grolle B'Urnyik. »Nach dem Mann«, knirschte K'Oruum, »den zu finden wir geschworen hatten und dem wir das Leben von zehn Fürsten opfern mußten.« »Wir kannten seinen Namen«, knarrte Fürst T'Eryonen, »und so durchschritten wir die zehn Tore, und die Tore führten uns zu dieser Welt, und wir nahmen die Suche nach dem Mann Sardor auf.« »Um ihm zu sagen, was gesagt werden muß«, rasselte Fürst D'Auyen. »Um ihn zu warnen«, knirschte K'Oruum. »Vor dem Mahrenberg, vor der Mutter der Mahre, vor dem alten Feind.« »Denn die Mutter der Mahre, die Bestie aus dem finsteren See, kennt dich, Sardor«, raunten die Fürsten der Nacht. »Und sie haßt dich«, grollten andere Stimmen. »Weil sie dich fürchtet.« »Und ihr?« fragte Sardor, während seine Blicke von einer Maske zur anderen wanderten. »Warum habt ihr mich gesucht? Nur um mich zu warnen? Warum habt ihr zehn von euch geopfert, um mich zu finden? Ihr seid keine Menschen, ihr Fürsten - ihr seid auf dieser Welt so fremd wie die Gehörnten oder die Mahre...« »Du irrst!« widersprach D'Auyen. »Wir sind fremd auf dieser Welt«, knarrte T'Eryonen, »aber wir sind keine Fremden.« »Einst waren wir Menschen«, knirschte K'Oruum, »einst, vor Jahrmillionen. Geboren unter einer anderen Sonne, einer schwarzen Sonne, der Sonne mit Namen Nhacht.« »Die Welt war Nhacht«, sprach Fürst D'Auyen, »und die Nacht währte ewig, und in dieser längsten Nacht aller -145-
kosmischen Nächte vergaßen wir, was es heißt, Mensch zu sein. Wir veränderten uns. Wir tranken die Nacht, und die Nacht trank uns.« »Auf jener fernen Welt, zehn Tore weiter.« »Wo wir uns und unsere Herkunft vergessen hatten, die Erinnerung an die Erde der Menschen. Und das war gut.« »Denn auf der Erde brach der erste kosmische Krieg aus«, rasselte D'Auyen. »Und die Mahrenschwärme forschten im All nach den Kindern und Enkeln der Menschen, nach der Spreu, im Zeitalter der Sternfahrer über den ganzen Kosmos verstreut. Und die Mahre töteten, wen sie fanden.« »Nur uns töteten sie nicht«, knarrte T'Eryonen. »Denn wir waren keine Menschen mehr; wir wußten nicht einmal, was Menschen waren.« Sardor sah in D'Auyens Maskengesicht. »Was seid ihr dann?« fragte er. »Was seid ihr, wenn ihr keine Menschen seid?« »Fürsten der Nacht«, sagte Fürst D'Auyen. »Herren der Schatten«, knirschte Fürst K'Oruum. »Meister aller dunklen Wesen«, knarrte Fürst T'Eryonen. »Nur der Mahre nicht und aller Mahrenkinder.« »Und nun, Sardor von den Menschen«, rief rostig Fürst D'Auyen, »nun sind wir heimgekehrt zu dieser fremden, schrecklichen Welt, heimgekehrt zur Erde. Weil das Wissen in uns fuhr, das uns vor Millionen Jahren verlassen hatte. Wir wissen nun, daß wir Kinder der Erde sind und daß unser Platz an der Seite der Menschen ist - wenn der Tag kommt, da es gilt, das uralte Versprechen von L'aa zu erfüllen...« »Das Versprechen, das jeder kennt.« »Das erfüllt werden muß.« »Und erfüllt werden wird.« -146-
»Das Versprechen des Friedens«, grollte Churm Hörn. »Nach dem Sieg über die Stern- und Eisenmacht«, nickte Fürst D'Auyen. Und flüsternd fügte er hinzu: »Manchmal, Sardor, manchmal fragen wir uns, wer das Geschenk der Erinnerung zu unserer Welt in ewiger Nacht gebracht hat, und wir finden keine Antwort.« Churm deutete nach Osten. »Bald kommt der Tag«, sagte er zum drittenmal. Der Horizont wurde mehr und mehr in Rouge getaucht, und die Dämmerung trug auch einen Tupfer Purpur auf, etwas Karmesin, einen Spritzer Blut, einen Tropfen Kirschsaft. Der Morgen kam; der Tag schickte sich an, die Herrschaft über diesen Teil der Erde zu übernehmen. (Der Tag wurde heller und klarer, die Fürsten verloren an Macht. Sie wurden zu Gespenstern, zu Nebelgeistern, und auch die fliegenden Rösser verblaßten. »Zum Mahrenberg!« wisperte Fürst D'Auyen. »Zum See der Finsternis, Sardor! Zur Mutter der Mahre... Wenn du nicht zu ihr gehst, wird sie zu dir kommen... Kämpfe, Sardor, kämpfe und siege... Für die Menschen!« »Für die Menschen, Fürsten der Nacht«, sagte Sardor. »Für die Menschen!« Dann war er allein mit Churm und F6. Der Tag hatte das Leben der Fürsten gestohlen, ihnen die Macht genommen, und erst mit dem dämmernden Abend würden D'Auyen und die anderen Fürsten der Nacht wiederauferstehen. Sardor drehte den Kopf und sah nach Osten. Zum Berg. Zum Mahrenberg. Wo die Mahrenmutter wartete. Da dröhnte eine Stimme in ihm auf und brüllte deutsche Worte: »Ich komme, Götze! Hinab mit dir in die Grube!« -147-
9. Kapitel Der See der Finsternis Then star nor sun shall waken, Nor any change of light: Nor sound of waters shaken, Nor any sound or sight: Nor wintry leaves nor vernal, Nor days nor things diurnal; Only the sleep eternal In an eternal night. -Algernon Charles Swinburne »The Garden of Proserpine«, 1866 Hölle, Tod und Teufel! Das war vollbracht, der Götze war bezwungen. Ha! Wie gut es doch tat, wieder Herr über den eigenen Körper zu sein, aus eigenem Willen heraus Arme und Beine zu bewegen, den Kopf zu drehen, zu reden... selbst wenn der einzige Gesprächspartner der heidnische Churm Hörn war. Dietrich von Warnstein lachte glücklich auf, doch dann verdüsterte sich seine Miene. Sein Blick fiel über Churms Schulter hinweg auf den Mahrenberg: Schwarz war der Berg, schwärzer noch als das Glas der Soldatenburg, und während die Glaswälle der Burg das Kirschlicht des Tages getrunken hatten, so entzog sich der Basalt des Berges auf unerklärliche Weise der blutgefärbten Helligkeit. Oder scheute das Licht die Berührung mit dem schwarzen Fels? Jedenfalls - der Berg war verhext! Steil ragte er in den wolkenverhangenen Himmel Ostiens, ein Koloß, aus einem Stück gehauen, mit seinem ungeheuren Gewicht das Land erdrückend, das passenderweise bar jeglicher Vegetation war: Erodierte Öde, steinig, zerfressen, von Spalten und ausgetrockneten Flußbetten durchzogen, selbst im Purpurtag grau wie alte Spinnweben. Der Morgenwind blies Staub auf, und unter PC'S stampfenden Säulenbeinen barst knirschend und -148-
knackend Geröll. Die Riesensonne stand jetzt direkt über dem Berg, und ihr gewaltiges rotes Rund glühte gespenstisch durch die dichten Wolkenbänke, die den Blick auf den Gipfel verwehrten, auf den Krater, der dort klaffen sollte, gefüllt mit verseuchten Fluten: Der See der Finsternis, in dem die Mahrenmutter hauste. Der Flieger preßte die Lippen zusammen. Wahnsinn! Offenen Auges ritten sie ins Verderben! Jeder, der sich auch nur einen Funken Vernunft bewahrt hatte, würde beim Anblick dieses Höllenbergs kehrtmachen, das Ödland so schnell wie möglich verlassen und erst Rast einlegen, wenn der schwarze Berg und die graue Steinwüste hinter dem Horizont verschwunden waren... Jeder, aber nicht Churm Hörn, der nie so etwas wie Verstand besessen hatte, der statt eines Hirns einen Klumpen Hörn in seinem Dickschädel spazieren trug, der nicht einmal davor zurückschrecken würde, in den tiefsten Pfuhl der Hölle hinabzusteigen, um Verbündete für jenes kosmische Armageddon zu finden, das dieser Erde prophezeit war. Und ich, dachte Dietrich von Warnstein, ich bin ebenfalls vom süßen Wahn befallen, die Erde und die Menschen zu retten. Selbst wenn dies bedeutet, der Mutter der Mahre entgegenzutreten. Dabei sollte ich doch am besten wissen, auf was für ein aberwitziges Unternehmen ich mich da einlasse ich, der ich im Geborstenen Berg gegen den kosmischen Nachtmahr gekämpft habe. Und fast hätte es mich das Leben und die Seele gekostet...! Aber du mußt es tun, deutscher Mann! flüsterte der Heidengötze. Du bist Sardor, und nur Sardor kann es wagen, den Mahrenberg zu ersteigen und am Ufer der Schwarzen See die Mahrenmutter zum Kampf zu fordern... Und denke an die Worte der Fürsten der Nacht: Kommst du nicht zur Mutter der Mahre, dann kommt sie zu dir... Und du hast mir das eingebrockt, Dämon! dachte der Flieger -149-
grimmig. Es war dir von jeher bestimmt, erwiderte des Götzen Seele. Warnstein mahlte mit den Zähnen; er schwor sich, nicht noch einmal zu dulden, daß sein gespenstischer Untermieter zum Herrn im Hause seines Körpers wurde. Von nun an würde er das Heft in der Hand behalten. Bei Gott, schließlich war er deutscher Offizier! Der Gedanken munterte ihn auf. Ein deutscher Offizier fürchtete weder Tod, noch Teufel. Für Gott, Kaiser und Vaterland hatte er gegen den Franzosen und den Engländer gekämpft; er hatte den gallischen Mordbrennern Feuer unter dem Hintern gemacht und Albions dreiste Lords vom deutschen Himmel geschossen. Und da sollte er sich von diesem diabolischen Gezücht, das im See der Finsternis hauste, ins Bockshorn jagen lassen? Ha! Selbst wenn alle Schranzen vom Hofe Seiner Satanischen Majestät im Kratersee des Mahrenbergs lauern sollten Leutnant Dietrich von Warnstein würde ihnen die Stirn bieten. Als guter Christ war es sogar seine Pflicht, gegen Beelzebub und Anverwandte in den Kampf zu ziehen. Konnte man denn mehr für sein Seelenheil tun, als mit Luzifer die Klinge zu kreuzen? Verriet sich in einer derartigen Tat nicht der wahre Gläubige, dessen Gottvertrauen so unerschütterlich war, daß er es sogar wagte, mit der Mutter aller kosmischen Gespenster zu ringen? Der Flieger lachte, und in heiligem Zorn riß er das weiße Schwert hoch und drohte damit dem schwarzen Berg, und ein Vers kam ihm in den Sinn, ein Vers, den er in seiner Jugend in einer christlichen Illustrierten gelesen hatte und der so treffend der Mahrenmutter Schicksal vorweg nahm: »Doch sieh, da naht ein Gottesgericht'. Den Bösen faßte ein -150-
Bangen, Vom Himmel zuckten im roten Licht Der Blitze feurige Schlangen. Das Schloß versank, es brodelt und zischt Empor aus den tiefsten Gründen. Die Wellen kochen, gekrönt von Gischt, Herauf wie aus finstern Schlünden. Nun wich das Dunkel der Wetternacht, Die Iris spannte den Bogen, Und leuchtend in siebenfarbiger Pracht Erglänzen des Sees Wogen...« »Gericht?« schrie Churm über die Schulter hinweg, laut genug, daß Warnstein ihn tortz des donnernden Galopps verstehen konnte. »Ein Gottesgericht willst du abhalten, Sardor? Dann gibst du endlich zu, daß du ein Gott bist? Dann ist der Kampf der Seelen in deiner Brust entschieden, des verrückten Deutschen Widerstand gebrochen?« Heiß schoß dem Flieger das Blut ins Gesicht. Er beugte sich nach vorn, brachte den Mund an das Ohr des Schwarzbarts und zischte: »Ich bin der verrückte Deutsche, Schurke! Und so wahr mir Gott helfe, ich werde dem Götzen die Faxen schon austreiben. Also sieh dich vor, Heide! Die nächste Lästerung könnte deine letzte sein!« Der Hornmann drehte den Kopf; ein zähnebleckendes Grinsen teilte das borstige Bartgestrüpp. »Ich bewundere deine Verwandlungskunst, Sardor. Sie macht das Reisen mit dir so kurzweilig. Insbesondere, da ich beide deiner Seelen mag.« »Aber eine dieser Seelen mag dich nicht«, gab Warnstein boshaft zurück. »Ach?« Der Heide tat erstaunt. »Und welche soll das sein?« Warnstein öffnete den Mund, aber er sagte nichts. War das nun Frechheit oder Dummheit? War denn des Heiden geistige Versumpfung noch trostloser als er bisher geglaubt hatte? Oder wollte ihn der Lumpenhund zum Narren halten? Ah, in den Orkus mit dem Schwarzbart! Ein Offizier des Kaisers gab sich nicht mit Gesindel ab. Und als guter Katholik war er moralisch -151-
jedem Heidentölpel turmhoch überlegen, vom Verstand gar nicht zu reden... Plötzlich kam dem Flieger ein Gedanke. Voll diebischer Vorfreude grinste nun auch er so zähnebleckend wie Freund Hörn. Natürlich! Das hatte er schon die ganze Zeit zur Sprache bringen wollen; seit dem Besuch im Haus der tausend Zimmer, Ma Lyns verwunschenem Heim. Die Auseinandersetzung mit den abscheulichen Trotzen - deren Fürst er jetzt war, ho, ho! - und die Jagd nach dem Lichtzepter hatten ihm keine Zeit gelassen, diese dringliche Angelegenheit zu klären. Besser, ertat'sjetzt, vordem Auf stieg zum See der Finsternis... »Freund Churm«, sagte Warnstein, »Churm Hörn, ich habe eine Überraschung für dich.« »Die Überraschungen der Götter«, knurrte der Hornmann, »sind für uns Sterbliche oft mit häßlichen Folgen verbunden, mein Gott.« Warnstein wollte ob dieser neuerlichen Blasphemie aufbrausen, bezwang aber seinen Zorn - Jesus Christus, wenn ihn dieser Einfaltspinsel wahrhaftig für einen Gott hielt, konnte ihm das in dieser Sache nur dienlich sein. Er entschied, ohne Umschweife zum Thema zu kommen. »Freund Churm, ich brauche einen Burschen!« Der Schwarzbart tat einen Moment verdutzt, dann schnalzte er mit der Zunge - auf eine Art und Weise, die Schlüpfrigkeit sehr nahe kam. »Einen Burschen«, wiederholte Churm. »So, so. Demnach waren Ma Lyns Reize nicht reizvoll genug, eh? Aber woher hier im Mahrenland einen Knaben nehmen? Oder gelüstet es dich nach deinem Vasallen, dem treuen, aber alten Churm Hörn?« Es dauerte einige Sekunden, ehe Warnstein dämmerte, zu welcher ungeheuerlichen Unterstellung sich der aberwitzige Heide da verstiegen hatte. Unfaßlich! »Du dreimal verfluchter -152-
Lumpenhund!« brüllte er. »Wie kannst du es wagen, mich als... als...« Der Flieger gurgelte, schnappte nach Luft, zitterte vor Empörung. Der Schwarzbart sah ihn besorgt an. »Was ist mit dir?« fragte er. »Enttäuscht, daß ich ein alter, zäher Knochen bin?« »Wahnsinniger!« donnerte Warnstein. »Scheinheiliges, verderbtes Subjekt! Erst meine Liebe zur holden Ma Lyn in den Dreck zerren, dann mich auf widerwärtige Weise beleidigen und nun auch noch Hohn und Häme! Noch ein Wort, und auf der Welt gibt's einen Heiden weniger.« Entweder war der Wilde tatsächlich verwirrt, oder er war ein besserer Mime, als man aufgrund seiner Dummheit vermuten konnte. Jedenfalls drückte sein Gesicht völlige Verblüffung aus - sogar der Bart sträubte sich. »Aber du sagtest doch, daß du einen Burschen brauchst!« rief Churm Hörn. »Einen O/ffzzersburschen, Idiot!« »Ich bin ein Ordensmann; kein Offizier - was immer das auch sein mag.« Warnstein stöhnte verzweifelt auf. Herrgott, war der Kerl stumpfsinnig! »Ein Offiziersbursche«, erklärte er mit mühsam erzwungener Ruhe, »ist der Bursche eines Offiziers. Geht das in deinen Holzkopf?« Churm lachte erleichtert. »Das war gemeint! Oh natürlich bin ich bereit, dein Bursche zu sein, Sardor. Aber bin ich das nicht schon seit unserer Begegnung auf dem Schlachtfeld am Fuß der Heldenhügel?« »Nein«, fauchte der Flieger. »Bisher habe ich dich nur in meiner Nähe geduldet; aus Mitleid, aus christlicher Barmherzigkeit. Weil ich mir eingebildet habe, aus dir einen halbwegs anständigen Christen machen zu können. Doch -153-
inzwischen weiß ich, daß selbst der gute Hering an deiner verstockten Heidenseele verzweifelt wäre. Sei's drum! Auch ein Heide kann ein passabler Bursche sein.« »Und welche Aufgabe«, fragte der Hornmann wißbegierig, »hat ein solcher Offiziersbursche?« »In erster Linie muß ein Bursche gehorsam, fleißig und ständig auf Zack sein. Damit sein Herr sich frei von allen lästigen Dingen des Alltags ganz auf die wirklich wichtigen Probleme konzentrieren kann. In meinem Fall also auf die Rettung der Erde. Wie deine Pflichten nun im einzelnen aussehen, wird sich von Fall zu Fall ergeben. Was mir vor allem am Herzen liegt, das sind meine Stiefel.« Der Schwarzbart runzelte die Stirn. »Am Herzen?« wiederholte er gedehnt. »Deine Stiefel? Ho! Und ich dachte, du trägst sie an den Füßen - nebenbei, wie lebt es sich mit zwei Herzen, die obendrein gestiefelt sind?« »Gott steh mir bei!« Dietrich von Warnstein schloß die Augen. Nur ruhig, dachte er. Ganz ruhig! »Offenbar«, knurrte er, »trifft auch auf dich des Rittmeisters liebster Spruch zu...« »Ja?« Der Flieger grinste höhnisch. »Ihnen wird das Sterben sehr leicht werden - Sie haben nicht viel Geist aufzugeben...« Dann schnaufte er. Schluß damit! Bei diesem Tölpel war jedes weitere Wort verpfeffert! »Also, Heide, von heute an wirst du meine Stiefel wichsen, sie auf Hochglanz polieren, verstanden? Als Offizier kann ich unmöglich wie ein Vagabund herumlaufen. Außerdem schadet es dem Leder, wenn...« Das Weißhorn grollte. Churm fuhr herum, spähte zum Berg. Warnstein folgte seinem Blick, und ihm schauderte. Teufel auch, wie nah sie dem verfluchten Berg schon waren! Wenige Kilometer entfernt ragte er schwarz und drohend in -154-
den Himmel, der an diesem Morgen mehr denn je einer ozeangroßen Blutlache glich; rings um den Berg war das Himmelsblut zu Wolken geronnen, hinter denen sich gemächlich das brodelnde Riesengestirn hervorschob, um wie an jedem Tag zur Großen Rinne und über die Speerholzsteppe zu den Krograniten zu wandern. Der Berg warf seinen Schatten über das Ödland, und wo der Schatten lag, war das Grau des Steins schmutzig von des Berges Rabenschwärze. Der Koloß war ein Fremdkörper; er gehörte nicht in diese Landschaft. Übergangslos wuchs er aus der flachen Geröllwüste, als hätte sich ein Titan an diesem Ort ein Denkmal setzen wollen. Nie und nimmer konnte dieser Berg durch natürliche geologische Prozesse entstanden sein! Ein Kegel aus pechschwarzem Basalt - war es überhaupt Basalt? -, mächtig wie das Matterhorn, fast senkrecht in die Höhe steigend, glatt wie die Glasmauern der Soldatenburg. Fe wechselte vom Galopp in eine langsamere Gangart; auch das Panzertier schien die Aura des Bösen zu spüren, die von dem düsteren Giganten ausging. »Das wäre es dann wohl«, sagte Warnstein mit belegter Stimme. Er räusperte sich. »Unmöglich, an dieser Steilwand hinauf zu klettern!« Churm schüttelte den Kopf. »Siehst du nicht den Weg? Die Serpentine?« Der Flieger kniff die Augen zusammen. Er pfiff durch die Zähne. Teufel, der Heide hatte recht! Eine Serpentine war ins Gestein gefräst und führte in sanft ansteigenden Windungen rund um den Berg zu den Wolken hinauf, wie die Windungen einer kosmischen Schraube. Wegen der Entfernung und dem glanzlosen Schwarz des Felsmassivs ließ sich die Breite der Serpentine schwer schätzen, aber Warnstein vermutete, daß sie gut und gerne zehn Meter betrug. »Einladend«, sagte Churm. »Wirklich einladend, dein Berg, -155-
Sardor.« Bis auf Fes stampfende Schritte war es still am Mahrenberg; selbst der Wind, der weiter draußen in der Steinwüste den Staub aufwirbelte, hatte sich gelegt. Nichts regte sich. Lähmung hatte das Land befallen. Die Luft war stickig, abgestanden; das Kirschlicht matt und kalt. Ein flaues Gefühl beschlich den Flieger; überdeutlich spürte er, daß etwas - jemand - sie belauerte, jeden ihrer Schritte mit bösem Hunger verfolgte. Aber der Ursprung des Lauerns ließ sich nicht bestimmen; überall schienen unsichtbare Augen zu sein: Am Berg, in der Öde, in der Luft, am Himmel. Vor ihnen und hinter ihnen, nah und fern. Seine Nackenhärchen richteten sich auf; Gänsehaut überlief seinen Rücken. Hastig drehte er den Kopf und starrte ins schmutzige Grau der Steinwüste - nichts, nur Leere, Stille, Leblosigkeit. Vielleicht, dachte er fröstelnd, vielleicht ist der Mahrenberg der Brocken dieser Welt, dieser Zeit; eine ältere und \noch schrecklichere Ausgabe des Brockens im Harz, wo sich in der Walpurgisnacht die Diener der Hölle zum Tanz einfinden, zum Hexentanz auf dem Blocksberg... Er hörte kaum, wie Churm der scheuenden Fe zuredete, wie das mächtige Tier schnaubte und grollte, als wollte es seine Reiter warnen, und wie aus dem Trott ein Galopp wurde. Immer und immer wieder blickte er über die Schultern zurück ins Grau der Geröllebene, und obwohl er nie jemand sah, wußte er mit unerschütterlicher Sicherheit, daß sie verfolgt wurden. Ein ähnliches Gefühl wie in jener Nacht in der Speerholzsteppe; das Gefühl, von grausigen Wesen beobachtet und eingekreist zu werden, von Kreaturen, die nicht aus Hunger, sondern aus Mordlust töteten. Die Mahrenkinder! dachte Warnstein. Und die, die in den Schatten gieren... -156-
Oder war es der Berg selbst, der sie belauerte? War der Mahrenberg mehr als nur ein Koloß aus totem, schwarzem Fels? Lebte er? Nicht so, wie Menschen, Tiere oder Pflanzen lebten, sondern auf eine Weise, die sich völlig von der Art irdischen Lebens unterschied, die im Weltenall enstanden war, in der Finsternis fernab aller Sterne, in den Klüften und Abgründen der wandernden Dunkelwelten, die den kosmischen Nachtmahren Milliarden Jahre lang als Heim gedient hatten... Oder ging dieses furchtbare Lauern von der Mutter der Mahre aus, die über den Wolken im See der Finsternis auf Sardor wartete? Im Kratersee, wo sie seit Urzeiten hauste und ihre Kinder gebar, Kinder des Bösen, Kinder der Nacht, Zerrbilder der kosmischen Nachtmahre, aber mächtig, schlecht und hungrig genug, die Menschen zu verderben. Unerträglich, dieses Lauern! Das Weißhorn brüllte auf, und das Donnern des Galopps veränderte sich; es klang nun hohler, unwirklicher, als hätte der Stoff der Schöpfung an Festigkeit verloren - und als Warnstein den Blick zu Boden richtete, sah er, daß der Boden schwarz war. Sie hatten den Fuß des Mahrenbergs erreicht, und ohne innezuhalten, stürmte die treue, tapfere Fe die Serpentinenstraße hinauf, an der glatten Bergwand entlang zu den Wolken, zum Gipfel, zum Kratersee. Der Fels war makellos; weder die Zeit, weder Wind, noch Wetter hatten in ihm ihre Spuren hinterlassen. Kein Basaltgestein, soviel stand fest; nicht einmal irdisches Gestein. Churm bestätigte es. »Von den Sternen«, rief er über die Schulter. »Dieser Berg kam von den Sternen zur Erde.« Höher hinauf und höher hinauf. In langsam ansteigenden Kreisen. Das graue Land unter ihnen schrumpfte, bis es ebenso makellos und unstrukturiert wie der schwarze Fels des -157-
Mahrenbergs aussah; der Horizont schob sich weiter und weiter zurück, und als sie nach Stunden, wie es Warnstein schien, dicht unter der düster roten Wolkendecke waren, nahm am äußersten Rand seines Blickfeldes das Land eine andere Farbe an: Aus dem Grau wurde das faulige Braun des Reichs der Wandernden Gräber. Und er wünschte die Abenddämmerung herbei, die Rückkehr der Fürsten der Nacht, aber dann entsann er sich der Worte des Fürsten D'Auyen: Daß die Fürsten Macht über die meisten Kreaturen der Finsternis hatten, nur nicht über die Mahrenkinder, die Brut des Ungeheuers im Kratersee. Sie ritten in die Wolken hinein, und eine Zeitlang war die Welt rot wie heller Schorf und feucht wie eine schwüle Sommernacht kurz vor einem reinigenden Gewitter. Auch hier in den Wolken wurde Warnstein von dem Gefühl gepeinigt, belauert und verfolgt zu werden, von schrecklichen Feinden, die sich im Dunst der blutgefärbten Wolken verbargen. Dann riß der Dunst auf, dann trug Fe sie ins wolkenlose, purpurn angehauchte Schwarz des Himmels. Hinauf zum Gipfelplateau, das plötzlich vor ihnen lag. So unerwartet für Fe, daß sie sekundenlang die alte Richtung beibehielt und erst kurz vor der Kante, dem steil zu den schorfigen Wolken abfallenden Abgrund, die Säulenbeine in den Boden stemmte und sich gleichzeitig zur Seite warf. Schnaufend, mit dampfenden Nüstern blieb das Weißhorn stehen. Kalt war es auf dem Hochplateau, aber es wehte kein Wind. Die Luft war klar und schien im Rouge des Sonnenlichts zu glühen. Der Boden war schwarz, aber nicht glatt, sondern gewellt, und in den Wellentälern hatte sich kreideweißer Staub gesammelt. Zuerst hielt Warnstein den Staub für Schnee, doch dann erkannte er, um was es sich wirklich handelte: Knochenmehl. Ganze Tonnen sorgfältig gemahlene Knochen. -158-
Hundert Meter weiter stand die Mauer. Aus dunklen Steinblöcken zusammengefügt, zehn oder fünfzehn Meter hoch und - wie es schien - lückenlos das Innere des Plateaus umschließend. Hinter der Ringmauer lag zweifellos der See der Finsternis. »Hübsche Gegend«, brummte Churm mit einem bezeichnenden Blick zu den Knochenmehlhalden, die allgegenwärtig wie die Mauer waren. »Wirklich hübsch, dein Berg, Sardor.« »Offenbar sind wir nicht die Erstbesteiger des Mahrenbergs«, nickte Dietrich von Warnstein. »Jungfräuliche Berge sind wie Jungfrauen«, entgegnete der Hornmann. »Sobald der erste sie bestiegen hat, drängelt sich die halbe Welt, es ihm nachzumachen.« Warnstein stieß Churm die Faust in den Rücken. »Hast du denn gar keinen Anstand?« raunzte er. »Ich verbitte mir diese losen Redensarten! Vielleicht ist es bei euch gottlosen Wilden üblich, das heiligste Gut der Frau, ihre Jungfräulichkeit, in den Schmutz zu zerren. Ich aber rate dir: Hüte dich, oder ich bleu dir die Moral mit dem blanken Schwert ein!« Der Hornmann zuckte die Schultern; schien gar nicht zu begreifen, der Kerl, was Moral eigentlich war! Fe trottete indessen auf die Mauer zu und dann an ihr entlang, auf der Suche nach einer Lücke, einem Tor vielleicht. Knochenmehl stäubte, und der Flieger wurde unangenehm an den Ritt durch den scheußlichen Knochenpfad erinnert. Die Minuten verstrichen, und dann war die erste Stunde um, ohne daß ihre Suche nach einer Öffnung Erfolg gehabt hatte. Die Kälte fraß sich durch die Kleidung ins Fleisch, ins Mark, und das staubtrockene Knochenmehl ließ Warnstein würgen und husten. Was für eine elende Sitte, das Gebein der Toten in aller Öffentlichkeit herumliegen und verrotten zu lassen! -159-
Und über das, was jenen Menschen zugestoßen war, deren verrottete Knochen sich hier zu Halden türmten - darüber wagte er gar nicht erst nachzudenken... »Sardor!« Warnstein schreckte aus seinen düsteren Überlegungen auf und folgte mit dem Blick dem ausgestreckten Arm des Hornmanns. Dort! Eine Unregelmäßigkeit in der Ringmauer; drei Säulen überragten die Mauerkrone um ein gutes Stück. Steinsäulen wie riesige Finger, die auf den Kuppen steinerne Riesenkugeln balancierten. Fe trabte näher heran. Ein Tor! Halbrund, rechts und links von einer Säule flankiert, während die dritte, mittlere direkt aus dem Torbogen zu wachsen schien. Doch am seltsamsten waren die stählernen Zacken, die wie Eiszapfen von der Bodenwölbung hingen und den Durchgang halb versperrten. Weiße Metallzähne im schwarzen Maul eines steinernen Ungeheuers... »Sehr gastlich«, sagte Churm. »Wirklich, sehr gastlich, dein Berg, Sardor.« Warnstein ignorierte ihn, glitt vom Nacken des Weißhorns, zog das Schwert und stapfte durch den Knochenstaub auf das Tor zu. Fe und Churm fogten im gemächlichem Trott. Was jenseits der Toröffnung lag, war hinter einem schwarzen Schleier verborgen. Vor der Schwelle blieb Warnstein stehen und sah argwöhnisch zu den Eisenzapfen hinauf, aber sie waren fest im Gestein verankert. Er holte tief Luft, zögerte - und wagte esTrat durch das Tor. Die Welt veränderte sich. Wo Finsternis gewesen war, strahlte Licht. Er stand in einem Palast: Marmorn der Boden, marmorn die Wände, mit riesigen -160-
Fenstern, gazeverhangen, die Decke wie aus Kupfer, hoch und gewölbt, von Grünspan befallen. Anden Wänden, auf wuchtigen Sockeln, große Feuerschalen, in denen Flammen tanzten. Die Feuer prasselten, die Feuer wärmten und verbreiteten flackerndes Licht. Der Saal war leer. Schweigen; nur die Flammen wisperten. Der Boden war weiß und auf Hochglanz poliert; kein Staubkorn trübte die Marmorfliesen. Hundert Meter weiter flatterten hauchdünne Gazeschleier vor dem Palasttor, dessen Rund fast bis hinauf zur Kupferkuppel reichte. Lag dahinter der Kratersee, der See der Finsternis? Lauerte dort die Mahrenmutter, nach Menschenfleisch hungernd, nach Menschenfleisch gierend? Verfluchte Stille! Sie zerrte an den Nerven. Hergott, wo blieb denn der Heide? So aufdringlich er auch gewöhnlich war, wurde es ernst, hielt er sich vornehm zurück. Der Flieger warf einen Blick über die Schulter und schnaubte verächtlich. Von dieser Seite aus behinderte kein schwarzer Nebel den Blick; er sah Churm Hörn an des Weißhorns Seite unentschlossen vor dem Tore stehen, die Klinge Gly befingernd, voll Argwohn in den Nebel spähend. Dann zuckte der Hornmann die Schultern, sagte etwas zu F6, das Warnstein nicht verstand, und trat dann über die Schwelle. Tauchte im Marmorpalast auf. Fe folgte und der Boden bebte, die Marmorfliesen knirschten unter ihrem Gewicht. »Hübscher Palast, dein Palast, Sardor«, meinte der Schwarzbart anerkennend. »Du raubst mir noch den letzten Nerv!« fuhr der Flieger ihn an. Er deutete auf den fernen Ausgang. »Vorwärts! Die Mahrenmutter wartet.« Ein letzter Blick auf schwarzen Fels, aufs weiße Knochenmehl, der Flieger wandte sich ab - und fuhr erneut herum. He da! War da nicht eine Bewegung gewesen, eine -161-
schattenhafte Gestalt auf dem Kamm der nächsten Knochenhalde? Er starrte angestrengt. Nein, nichts; er mußte wohl einer Täuschung aufgesessen sein. Dennoch... Das Gefühl, von einem Unsichtbaren verfolgt zu werden, blieb hartnäckig bestehen. Churrn und Fe waren bereits zum Ausgang unterwegs. Mit finsterem Gesicht trottete Warnstein hinterher. Heller Wahnsinn! dachte er wieder. Wir gehen in den Tod! Aber statt umzukehren, wie es ihm sein gesunder Menschenverstand befahl, schritt er schneller aus und hatte den Hornmann und das Panzertier bald eingeholt. Die Aura des Bösen war jetzt körperlich spürbar. Sie lastete wie eine Bürde aus Blei auf Warnsteins Schultern, und er glaubte, ersticken zu müssen. Je näher sie dem gazeverhangenen Palastportal kamen, desto schwerer wurde die unsichtbare Last. Dann kam noch der Geruch hinzu: Wie von stehendem Wasser, das an seiner eigenen Trägheit zugrunde gegangen war, durch Fäulnis und Verwesung. Süße und Tod und Pestilenz hatten sich zu einer heiligen Allianz vereinigt, um diesen scheußlichen Gestank zu kreieren. Die Stille blieb. Die Stille verschluckte selbst den schweren Schritt des Weißhorns. Plötzlich - im Rücken - ein Gackern. Churm und Warnstein wirbelten gleichzeitig herum, horchten, starrten - nichts. Die Nerven, dachte der Flieger. Zu überreizt. »Irgend jemand folgt uns«, raunte Churm. »Ich kann ihn nicht sehen, aber ich spüre ihn.« »Der Tod wird's sein«, sagte Warnstein in einem Anflug von Galgenhumor. Die letzten Schritte, dann stand er vor dem wehenden Gespinst des Palastportals. Es sah wie Gaze aus, doch wenn man -162-
es berührte, hatte man den Eindruck, in ein Sieb mit feuchten, tagealten Teeblättern zu fassen - schleimig, glitschig, im höchsten Maße unappetitlich. Der Flieger würgte, trat zurück und schlug mit dem Schwert auf den Vorhang ein. Das Gespinst zuckte, als wäre es ein lebendes Geschöpf und nicht unbeseelter Stoff. Eine Öffnung entstand; sofort wurde der süße Verwesungsgeruch stärker. Aber Warnstein war viel zu sehr von dem Anblick fasziniert, der sich ihm bot, um sich von dem Gestank schrecken zu lassen. Von dem Portal führte eine breite, vielstufige Marmortreppe in die Tiefe, zum Ufer eines Sees, der glatt und schwarz unter einem schwarzen Himmel lag. Das Ufer war von gewaltigen, golden glitzernden Steinbrocken übersät, ohne Ecken oder Kanten, rundgeschmirgelt, moosbewachsen. In der Ferne Nebel. »Der See der Finsternis«, flüsterte Dietrich von Warnstein. Auch hier die Stille des Todes. Nervös befeuchtete der Flieger seine Lippen, sah kurz zu Churm, dem das ganze Panorama keineswegs geheuer war, und trat dann durch das Tor und auf die oberste Stufe. Der Gestank machte ihn schwindlig; er mühte sich, flach und nur durch den Mund zu atmen, winkte dem Hornmann ungeduldig zu und huschte leise die Treppe hinunter. Lautlos folgte Churm; polternd das schwere Tier. Wieder das Gefühl von lauernden Augen im Rücken, doch auch diesmal fand ein rascher Blick über die Schulter nur Menschenleere vor. Unbewegt und undurchdringlich vor ihnen der schwarze See. Es kostete einige Mühe, bis direkt ans Wasser zu gelangen; die tonnenschweren Felsbrocken türmten sich wirr zu sperrigen Formationen auf, und es gab kaum Lücken zwischen ihnen. Zudem war der Boden so glatt, als hätte man ihn eigens zu -163-
ihrem Empfang tüchtig eingeseift. Mehrmals rutschte Warnstein aus und fiel ganz unheldisch auf die Nase. Der einzige Trost für ihn war, daß es dem Hornmann nicht besser erging. Nur Fe hatte keine Probleme; sie war es auch, die den Weg durchs Felsgewirr zum Wasser fand. Als Warnstein endlich am Ufer stand, war er grün im Gesicht. Jesus Christus, wenn er nicht bald von hier verschwand, würde er an diesem abscheulichen Gestank noch ersticken! »Und nun, Sardor?« fragte Churm. »Was weiß ich!« fauchte Warnstein gereizt. Er fuchtelte mit dem Schwert. »Warum läßt du dir nicht etwas einfallen, Heide? Du weißt doch sonst immer alles besser!« Die Aura des Bösen verdichtete sich. Etwas braute sich zusammen... Noch immer war die Oberfläche des Sees spiegelglatt und schwarz wie Teer. Nur ein Teufel konnte in dieser Brühe leben! »Rufe sie«, sagte Churm. »Wie?« Der Flieger runzelte die Stirn. »Rufen? Wen?« »Die Mahrenmutter.« Der Hornmann stand geduckt am schmalen Uferstreifen; vor ihm der See, hinter ihm die Felsen. Gly glühte blau. Fe schnaubte, trottete an Churms Seite, drohte mit dem Dolchhorn dem See und dem, was in ihm hauste. Warnstein starrte ins Wasser. Die Mahrenmutter rufen, zum Kampf herausfordern... Der Gedanke ließ ihn schaudern, doch was blieb ihm anderes übrig? Wenn der Satansbraten nicht freiwillig kam, mußte er aus seinem nassen Reich herausgelockt werden. Vater im Himmel, betete Warnstein. Beschütze mich und gib mir die Kraft, diese Höllenkreatur zu schlagen und zurück in die Hölle zu schicken... Er atmete tief ein und wurde noch grüner im Gesicht - was für ein widerwärtiger Gestank! Schlimmer als im Schlafsaal einer -164-
Kaserne, wenn fünfzig Soldaten nach einem Geländemarsch die Knobelbecher auszogen... und wer das Rekrutenleben kannte, der wußte, was das hieß! »Mahrenmutter!« rief der Flieger, das Schwert zum Streich erhoben. »Mutter der Mahre! Zeige dich, Scheusal! Heraus aus deinem stinkenden Pfuhl. Stell dich zum Kampf, Dämon! Sardor ist gekommen, dir deine bösen Taten tausendfach heimzuzahlen... Heraus aus deinem verwunschenen See, Mutter aller Mahre!« Die Worte hallten lange nach, um dann im See zu ertrinken. Nichts regte sich, nichts zeigte sich im schwarzen Wasser. Warnstein fluchte. Tod und Teufel, wo steckte das Ungeheuer? War der See ganz leer? hatte man sie zum Narren gehalten? Waren sie umsonst zum See der Finsternis gekommen? Hatten sie den Mahrenberg erstiegen, nur um von diesem Satansbraten zum Besten gehalten zu werden? »Scheusal!« donnerte der Flieger. »Bist du zu feig? Muß ich dich holen?« Da rührte sich der See. Zuerst glaubte Warnstein an eine Täuschung, aber das Wasser geriet tatsächlich in Bewegung, kräuselte sich, schuf Wellenringe, vereinzelte Strudel, bis sich die Strudel zu einem einzigen großen Wirbel vereinigten. Die Wellen wurden höher, Gischt spritzte auf, schwarze Gischt, und dann begann es im See zu brodeln, als würde das Wasser kochen; Blasen stiegen auf und platzten, entließen Fäulnisgase, die gottserbärmlich stanken. Tief unten am Grund des finsteren Sees rumorte es, und das Rumoren wurde lauter, immer lauter, zu einem Rauschen und Brausen, zu einem wilden Brüllen, das bald die ganze Welt erfüllte. Churm schrie etwas, doch sein Schrei ging im wahnsinnigen Lärm des Untiers unter, das sich anschickte, sein grausiges Haupt aus dem Wasser zu heben. Die Mahrenmutter kam! Kam aus dem Dunkel des Sees. Kam kreischend heraufgeschossen. -165-
Fe stimmte ihren Schlachtruf an und bohrte das Hörn in die Luft. Da brach des Scheusals Schädel durchs Schwarz der tobenden See. Schwarz war die Mutter der Mahre, und schimmernd ihre Haut. Eine Riesin war die Mahrenmutter; größer als der Eisenherzog, größer als der Soldatenkönig, ein Ungetüm, wie es die Welt noch nie gesehen hatte. Höher und höher wuchs sie aus dem Wasser. Reckte den Titanenschädel, riß brüllend das monströse Maul weit auf, bleckte meterlange, spitz zulaufende Zähne, einen feuchten, blutigen Schlund, der mit einem Bissen ein Schlachtschiff der kaiserlichen Marine verschlucken konnte. Voll Grausen sah Warnstein an diesem Giganten hinauf. Hundert Meter über ihm klaffte das schreckliche Maul; und Augen wie Wagenräder erwiderten tückisch des Fliegers Blick. Diese Augen... sie lahmten. Mit Kälte und Haß. Mein Gott, mein Gott! dachte Warnstein voll Furcht. Er wollte sich umdrehen, wollte fliehen, vor dem sicheren Tod davonlaufen, aber sein Körper gehorchte ihm nicht. Er war gebannt. Der zähnestarrende, riesige Mahrenschädel stieß brüllend auf den Mann hinab. Churm! Churm! Rette mich, Churm! dachte der Flieger verzweifelt. Er ahnte nicht, daß Churm Hörn das gleiche Schicksal erlitten hatte, daß er gelähmt wie Warnstein war, vom Wahnsinn in der Mahrenmutter Augen an seinen Platz gebannt, damit ihn der Tod ereilte. Der Mahrenschädel wuchs und füllte Warnsteins Blickfeld aus. Der ganze Vorgang konnte nur Bruchteile von Sekunden gedauert haben, doch in der Todesangst dehnte sich die Zeit ins -166-
Unerträgliche. Sterben! dachte der deutsche Flieger benommen. Ich muß sterben. Da - ein Schatten - ein grauer Koloß - das Weißhorn sprang zwischen den Mann und den zustoßenden grausigen Schädel. Wie klein das mächtige Panzertier doch war, wie winzig gegen die titanische Mutter der Mahre! Eine Drehung des Mahrenkopfes, ein leichtes Nicken, und des Weißhorns Knochen brachen am stahlharten Riesenschädel. Wie eine Strohpuppe wurde Fe durch die Luft geschleudert, schlug zwischen den Felsen auf und blieb zerschmettert liegen. Tränen der Trauer und Tränen der Wut traten in Warnsteins Augen. Dann kam der Tod zu ihm. Noch ein kurzer Moment, und... »Meister! Meister!« Ein Gackern, ein Krähen, ein tolles Geschnatter - der Bosling hüpfte heran! Das stählerne Tor des Schlachthauses hatte ihn zermalmt, in Brei verwandelt, doch nicht einmal ein solcher Tod hatte dem elenden Dasein des Unholds ein Ende machen können. Heimlich war er Sardor gefolgt, und nun hopste er wahnsinnig vor Verzückung - direkt ins Maul der Mahrenmutter. Kreischte: »Hu, juhu! Meister, Meister...!« Und verschwand im fleischigen Schlund. Die Mahrenmutter brüllte auf, so laut, daß Felsen zersprangen; die Mahrenmutter krümmte sich, der Schädel ruckte zurück, und krachend brach das Genick. Der wandelnde Tod, der der Bosling war, hatte das Untier getötet. Ein Donnerschlag spaltete die Welt, und aus dem Spalt drang Finsternis. Finsternis... Der Bosling! dachte Warnstein. Er hat uns gerettet! Und... Fe! Fe ist tot! -167-
Dann holte ihn das Vergessen. 10. Kapitel Die Wege trennen sich Doglike, hoglike, horselike now he raced, Riderless, in ghost across a ground Flint of breast, blankfaced, Fast the fleshly bound. - George Meredith »Kings Harald's Trance«, 1887 Verschwunden war der Mahrenberg, verschwunden war die Mutter der Mahre. Und F6 war tot. Lag reglos im grauen Staub, lag gestorben im Geröll, lag da mit zersplittertem Drachenkamm, gebrochen das eine Auge. Das Dolchhorn war nur noch ein geborstener Stumpf, und Blut verklebte die Schuppen. Die Mutter der Mahre war zur Hölle gefahren, und mit ihr der Mahrenberg. Aber Fe war tot. Aus Silberaugen tropften Silbertränen auf des Tieres Leib. »Geh nicht fort, mein Schatz«, wisperte Churm seiner Fe ins Ohr, ins taube Ohr. »Bleib hier, mein Herz, bleib hier bei mir, geh nicht zu diesem anderen Ort.« Doch das Tier war tot. Es mußte gehen. So verlangte es das Gesetz, das keinem Toten die Gnade erwies, bei den Lebenden zu verweilen. Hornhände strichen zärtlich übers zerrissene Schuppenkleid, wollten heilen, was sich nicht heilen ließ. Hornlippen küßten das Schuppenmaul und flüsterten Koseworte. »Bleib, Fe, geh nicht fort von mir, komm mit mir auf meinem Weg.« Aber Fe war tot, und der Tod trennte immer die Wege. In schrecklichem Schmerz kauerte Churm beim -168-
zerschmetterten Tier, waidwund die uralte Seele, und er schrie gellend auf in seinem Gram, und sein Schrei traf auf taube Ohren. »Sie ist tot!« brüllte der Hornmann den Steinen und der Öde zu. »Sie ist tot!« Die Steine, die Öde, sie schwiegen. Und der Flieger, der neben dem Hornmann stand, suchte vergeblich nach Worten, um den Schmerz seines Freundes zu lindern. Zu spät, dachte er bekümmert. Der Bosling ist zu spät gekommen, um auch Fes Leben zu retten. Sie hat sich geopfert, sie hat sich für uns in den Tod gestürzt, und wir leben dank ihres Heldenmuts. Wir leben - und Fe ist tot. Der Hornmann sprang auf, verzerrt das Gesicht, Wahn in den Silberaugen. »Die Wege!« krächzte er und tastete nach Sardors Arm, damit er nicht den Halt verlor, nicht aus dem Leben stürzte. »Die Wege trennen sich, Sardor. Wir gehen den Weg der Lebenden und Fe geht den Weg der Toten...« Warnstein sagte nichts. Es gab keine Worte, die ausdrücken konnten, wie nahe ihm der Tod des Weißhorns ging. Es gab nur Schmerz und Trauer. Der Hornmann wandte sich ab, schritt schleppend durchs Geröll, trug große Steine zum Leichnam hin und baute dem Tier ein Grab. Und da der Schmerz ihn blendete, wie der Schmerz den Flieger blendete; und da sie beide nur Menschen waren und nicht sahen, was andere sahen; und da ihnen der Kummer das Hirn zerriß, das Herz zerbrach, die Seele mit stummer Trauer marterte... erkannten sie nicht, das etwas geschah, was nie geschehen sollte. Der tote Leib im steinernen Grab war tot und würde tot bleiben. Aber aus dem gestorbenen, kalten Fleisch sprang Fes Seele hinaus in die Welt. Schüttelte stolz den gewaltigen Kopf -169-
und hob das mächtige Hörn, stampfte grollend mit den Beinen auf und grollte den Himmel an. Warm ruhte das Auge auf Churm und auf Sardor, die in blinder Trauer verharrten, dann wanderte der Blick zur Sonne empor und weiter zum Horizont. Vom Horizont drang der Ruf, den nur die Seele des Tieres vernahm. Fe lauschte, peitschte den Dornenschwanz, scharrte wartend im grauen Sand. Der Ruf wurde lauter und drängender, mahnte zum Aufbruch, denn die Zeit lief ab. Das Tier ließ unter dem Schuppenkleid die stählernen Muskeln spielen und antwortete grollend dem Ruf. Das Tier war bereit. Ein letzter Blick, ein letztes Gebrüll, ein letzter unhörbarer Gruß, dann galoppierte das Weißhorn los. Hinein in die Öde, hinein ins Grau, hinein in die andere Welt. Die Wege trennten sich. Doch nicht für immer. Lebt wohl, freund Churm, Freund Sardor, rief das Weißhorn den Menschen zu. Lebt wohl bis zum Wiedersehen. Und es rannte und rannte voll Glück und voll Lust, befreit und bereit zur 'Wiederkehr. Doch die Wiederkehr hatte noch Zeit. Während draußen in der Öde der Flieger und der Hornmann dem Tier die letzte Ehre erwiesen. »Gehen wir, Freund Churm«, sagte Warnstein rauh. »Ziehen wir weiter durch die Welt. Die Menschen zu warnen, die Menschen zu sammeln, die Menschen für den Krieg zu wappnen, den letzten kosmischen Krieg...« So taten sie es dann. Gingen davon ins Kirschrot des Tages und wurden vom Rot bald verschluckt. Zurück blieb das Grabmal aus Stein. ENDE DES ZWEITEN BUCHES -170-