Scan by Schlaflos Das Buch Lee Atwater, der Berater des US-Präsidenten George Bush, liegt im Sterben. In einem letzten G...
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Scan by Schlaflos Das Buch Lee Atwater, der Berater des US-Präsidenten George Bush, liegt im Sterben. In einem letzten Gespräch mit Außenminister James Baker steckt er diesem noch ein Papier zu, eine ungeheuerliche Planskizze für den Fall, daß die Wiederwahl George Bushs gefährdet sein sollte. In diesem Fall würde nur noch ein kleiner Krieg helfen. So entsteht unter dem Titel American Hero das Szenario für die »Operation Wüstensturm« - mediengerecht und publikumswirksam als großes Leinwandspektakel von einem erfahrenen Hollywood-Regisseur inszeniert. Der Golfkrieg: Made in Hollywood im Auftrag des Weißen Hauses. Denn Kriege werden heute nicht mehr auf den Schlachtfeldern, sondern in den Medien gewonnen. Eine junge Schauspielerin und ein ausgekochter Privatdetektiv kommen in Hollywood dem zynischen Plot auf die Spur. Magdalena Lazlo will sich nicht damit abfinden, daß der Starregisseur, mit dem sie vertraglich ihren nächsten Film drehen soll, plötzlich wie vom Erdboden verschwunden ist. Sie bittet
den professionellen Ermittler Joe Broz um Hilfe, ohne zu ahnen, daß sie beide damit in ein atemberaubendes Spiel um Leben und Tod hinter den Kulissen der amerikanischen Filmindustrie, in den Amtszimmern des Weißen Hauses und auf den Straßen von Los Angeles geraten sind. Mit American Hero hat Larry Beinhart eine hinreißende Mischung aus spannendem Polit-Thriller und beißender Medien-Satire geschrieben. Seine Thesen zum Golfkrieg sind ebenso schockierend wie plausibel und wecken ernsthafte Zweifel am offiziellen Bild dieses Krieges. American Hero ist einer der ersten großen internationalen Romane, der die neuen Machtverhältnisse der westlichen Welt zum Thema hat und die politische Moral unserer Zeit mit satirischer Schärfe bloßstellt. Der Autor Larry Beinhart, 1947 in New York geboren, schrieb bisher drei Kriminalromane, die auch in deutscher Sprache erschienen sind: Kein Trip für Cassella, Zahltag für Cassella und Priester waschen weißer. Für seinen ersten Roman erhielt er den renommierten Edgar- Award.
LARRY BEINHART
AMERICAN HERO Roman
Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger und Peter Torberg WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/9721 Titel der Originalausgabe AMERICAN HERO Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt. Copyright © 1993 by Larry Beinhart Copyright © 1994 by Kiepenheuer & Witsch, Köln Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1996 Umschlagillustration: Bavaria Bildagentur/Stock Imagery, Gauting Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Gesamtherstellung: Pressedruck, Augsburg ISBN 3-453-09243-0
Für meine Kinder - James Irving Beinhart und Anna Genevieve Beinhart - die das Glück haben, wie ich in einem reichen, sicheren und bedeutenden Land geboren zu sein. Hoffen wir, daß es so bleibt. Und für meine Frau - ihre Mutter - Gillian Farrell - ein außergewöhnlicher Mensch. DANKSAGUNG Mein Dank gilt der Bücherei von Woodstock und deren Bibliothekaren - vor allen Dingen Judy Fischetti -, die mir den größten Teil der Bücher, Filme und Videos besorgt haben, die der Arbeit an diesem Buch zugrunde liegen. Die meisten Informationen beziehen wir über stereotype Fernsehbilder und plakative Schlagzeilen. Wann immer wir etwas tiefer blicken wollen oder müssen und ein wenig ernsthafter nachzudenken haben, stellen unsere Bibliotheken die ergiebigste Quelle dar. Oft genug ist es auch unsere einzige. Und für die allgemeine Öffentlichkeit die einzig erschwingliche. Sie verdienen unsere Unterstützung. Mein Dank gilt auch Lieutenant Colonel Ky L. Thompson (United States Marine Corps i. R.), der so freundlich war, das Manuskript zu lesen und meine krassesten Fehler in bezug auf die Marines zu korrigieren.
Dies ist ein Roman. Viele Personen des öffentlichen Lebens tauchen im Text auf. Ihre Aussagen und Handlungen, so wie sie hier dargestellt werden, entspringen der Vorstellungskraft des Autors, mit Ausnahme jener Fälle, die sich durch allgemein zugängliche Unterlagen belegen lassen. Manche Menschen haben den Eindruck, Dichtung und Wahrheit seien heute schwerer auseinanderzuhalten, als dies früher der Fall schien. Sie könnten wiederholen, was in der Einleitung zu »The Heroes of Desert Storm« der Fernsehgesellschaft ABC gesagt wurde: »Der Film des heutigen Abends basiert auf wahren Geschichten und verwebt Dokumentaraufnahmen mit Spielszenen, an denen Schauspieler und tatsächlich Beteiligte mitwirken. Um Realismus zu erzielen, wird zwischen diesen Elementen keine Unterscheidung getroffen.« Larry Beinhart Der Leser wird vielleicht überrascht sein, daß der Roman Fußnoten enthält. Diese Fußnoten, die am Ende des Buchs zusammengefaßt sind, enthalten zusätzliche Erläuterungen, Hintergrundinformationen, Quellenangaben und Reflexionen und sind ein wesentlicher Bestandteil des Romans. Nicht zuletzt diese Anmerkungen zeigen, daß »American Hero« nicht nur ein spannender Thriller ist, sondern auch ein Buch über die Rolle der Medien in der Politik, über Hollywood und den Golfkrieg. Der Verlag
KAPITEL EINS Er hielt sich für den wiedergeborenen Machiavelli. Für einen politischen Theoretiker. Meisterintriganten. Für den cleversten und skrupellosesten Mann im Reich. Und um ein Reich handelte es sich zweifellos. In vielerlei Hinsicht um das größte Reich, das die Welt je gesehen hatte, auch wenn es in politischen Kreisen gegen den guten Ton verstieß, dies auszusprechen. Auf jeden Fall überstieg es kleinere Reiche wie das Herrschaftsgebiet der Borgias, den geringen Machtbereich der Medicis und den Einfluß all dieser italienischen Stadtstaaten derart, daß jeglicher Vergleich wie der zwischen einem Elefanten und einer Ameise wirkte. Dieses Reich konnte tatsächlich nur mit Rom verglichen werden, als Rom geradezu den Inbegriff eines Reiches darstellte, ganz gleich, was die politischen Sprachkonventionen den Menschen vorschrieben. Und er war der Königsmacher. Der König mochte keine Krone tragen, aber dennoch war er immer noch der Erste im Lande, Armeen unterstanden seinem Kommando, Milliardengelder waren auszugeben, und er besaß die Macht, Reichtümer zu schaffen oder Leben zu zerstören. Der Träumer auf dem Bett war der Mann, der den König beriet. Was tatsächlich mehr war, als der Meister Niccolo Machiavelli1 selber je erreicht hatte. Obwohl er phantasierte - Folge der tödlichen Krankheit, der starken Medikamente, die ebenso wirkungsvoll wie einschläfernd waren, und der Angst: schließlich stand der Tod bevor, und der Träumer wußte, daß er bevorstand -, war 13 nichts Unwahres an seinen Gedanken. Wenn sie auch ein wenig zu bunt gefärbt waren, eine kostümierte Version der Wirklichkeit, waren sie doch beweisbar, zutreffend, real. Er hätte dieselben Gedanken zu Hause gehegt, gesund, bei einem uramerikanischen Nationalfeiertagsbarbecue Hühnchen und Ribs und Wassermelone, Whiskey und Bier auf Eis, umgeben von seiner Familie, den Freunden, Speichelleckern, Günstlingen, Lobbyisten, Intriganten, Gefolgsleuten, Nachahmern, Möchtegerns, den Milliardären und Händlern der Macht, und er hätte alles Recht dazu gehabt. »Er schläft«, sagte die Krankenschwester leise. Sie war nicht hübsch, aber sie war sehr sauber, und sie war weise. »Er wacht vielleicht bald auf.« Der Besucher sah sie fragend an. »Sie können hier warten«, sagte die Krankenschwester und deutete auf einen Stuhl neben dem Bett. »Wenn Sie möchten«, fügte sie schüchtern hinzu. Es handelte sich nicht um ein öffentliches Krankenhaus mit all den Besuchsbeschränkungen und Regeln, in denen die Ärzte und selbst die kleinen Krankenschwestern den Patienten, deren Familien, Freunden oder regelmäßigen Besuchern vorschrieben, was sie wann zu tun und zu lassen hatten, und erwarteten, das man ihnen gehorchte. »Hat er nach mir gefragt?« wollte der Besucher wissen. »Ja«, sagte sie. »Er sagte, es sei wichtig. Sehr wichtig. Aber«, fügte sie sofort hinzu, »mehr hat er nicht gesagt«, so als wollte sie den Besucher beruhigen, das sie nicht mehr wußte, als sie wissen sollte. Der Besucher überlegte. Er war ein sehr, sehr beschäftigter Mann. Sehr beschäftigt. Ungefähr der Beschäftigte im Imperium. Also. Der Mann, der im Sterben lag, war ein Freund gewesen. Ein Kollege.
Mitglied desselben Gewinnerteams. Der Besucher kalkulierte, das er wohl zehn Minuten erübrigen 14 konnte. Wenn der Träumer aufwachte und sprach, dann hatte die Mission ihr Ziel erreicht. Wenn nicht, dann hatte er seine Pflicht getan und konnte reinen Gewissens gehen. Der Patient hiefe Lee Atwater2. Er starb an einem Hirntumor. Dies war eine so perfide Ironie des Lebens, daß selbst seine Feinde es für geschmacklos hielten, darüber Witze zu reifeen3. Und seine Feinde haßten ihn. Er hatte auf brillante und vernichtende Weise mit Unterstellungen, Halbwahrheiten und politischen Verzerrungen gearbeitet, um aus den Widerwärtigkeiten der amerikanischen Gesellschaft, vor allen Dingen dem Rassismus, Kapitel zu schlagen4. Rassismus war immer wirkungsvoll, aber auch gefährlich und erforderte daher das Fingerspitzengefühl eines Fachmanns. Es war nicht übermäßig egoistisch gedacht, wenn der Sterbende das Gefühl hatte, niemand anderes als er habe George Bush 1988 zum Präsidenten gemacht. Bevor Atwater seine Kampagne startete, hatte Bush achtzehn Punkte in den Umfragen zurückgelegen. Bevor Atwater jenes Medienereignis inszeniert und den Fernsehjournalisten Dan Rather zu einem Angriff auf den damaligen Vizepräsidenten verleitet hatte, so daß Bush zurückschlagen konnte, war Georgie ein Mann mit der Reputation eines Schlappschwanzes gewesen. Ein Mann, der keinen ganzen verständlichen Satz herausbrachte, wenn er ihn nicht irgendwo ablesen konnte, ein Mann, der mit IranContra belastet war, und so weiter und so fort, eine verwundbare Stelle nach der anderen. Mit diesem verkrüppelten Pony, mit diesem lahmen - wenn auch reinrassigen - Gaul hatte Atwater das größte Rennen der Welt gewonnen. Die Sekunden tickten vorüber. Graue Wolken hingen vorm Fenster. Beerdigungswetter, dachte der Besucher. Noch war keine Minute vergangen, und schon war er ungeduldig. Es war dumm von ihm gewesen, sein Funktelefon nicht mit ins 15 Krankenzimmer zu nehmen. Verdammt, es war dumm von ihm gewesen, nicht sein Telefon und ein paar Berater und ein tragbares Faxgerät mitzubringen. Wenn irgend jemand verstanden hätte, wie kostbar Zeit für einen sehr, sehr beschäftigten Mann war, dann Lee. Atwater hing weiter seinen Gedanken nach, träumte weiter von dem Mann, den er zum König gemacht hatte und der nach seinem Tod allein zurechtkommen mußte. Obwohl Bush Präsident war und Atwater nur Berater - ein im Sterben liegender noch dazu; obwohl Bush in die Geschichte eingehen würde, während Lee froh sein konnte, wenn ihm mehr als eine Fußnote eingeräumt wurde; und obwohl Bush die Macht in Händen hielt, während Atwater nur Vorschläge machen konnte, wie sie eingesetzt werden sollte, eine Stimme unter vielen in einem kakophonen Chor, hegte Atwater George gegenüber immer noch recht gönnerhafte Gefühle. Das ist normal bei politischen Beratern. Nicht anders empfinden Anwälte gegenüber ihren Mandanten, Arzte gegenüber ihren Patienten, Agenten gegenüber Klienten. Sie halten den Klienten für ein Produkt, das nicht in der Lage ist, selber für sich zu sorgen, das dirigiert, instruiert, umsorgt und beschützt werden muß. Wenn der Klient tut, wie ihm geheißen, dann ist er erfolgreich, kommt voran, überlebt. Wenn nicht, dann bringt er alles durcheinander, schadet sich selbst, macht dem Betreuer mehr Arbeit, ganz gleich, welchen Titel der Betreuer trägt. Es gab hundert verschiedene Varianten dieser grundlegenden Story, die Atwater durch den Kopf gingen, manchmal rasten. Ein ganzes Sammelsurium von Bildern. Er war Merlin, samt Zauberstab, Hut und Umhang, für den Präsidentschafts-Artus. Cus d'Amato für Mike Tyson. Brian Epstein für die Beatles. Livia für den Kaiser Tiberius. Es war seine Mission, den König nicht nur auf den Thron gehoben zu haben, sondern ihn auch zu beschützen - ja, selbst noch aus dem Grab heraus. Wie ein 16 Schutzengel. Ein überirdisches Wesen. Ein Geist, der von jenseits des Grabes Einfluß nimmt. Eine Hand, die ein Flammenschwert hält, wie der Erzengel Gabriel, und vom Himmel herunterkommt... Darin lag eine gewisse Form von Unsterblichkeit. Wenn er das tun konnte, dann war er der Gerissenste von allen, raffinierter noch als der Tod. Genug, dachte der Mann auf dem Stuhl am Fenster. Ich habe meine Pflicht getan. Knapp drei Minuten waren vergangen. Er stand auf und wollte gehen. Atwater hatte sich weder gerührt noch gesprochen. Seine Botschaft lag noch immer unter Müdigkeit und Morphin begraben. Sein Besucher kam am Bett vorbei und betrachtete den verfallenen Körper und den verbundenen Kopf. Wo die Kreatur, die dort unter ihm lag, einst voller übersprudelnder Vitalität gewesen war, clever, tyrannisierend, scharfen Blicks und noch schärferer Zunge, hatte sich nun Mattheit breitgemacht, hatte die Leere eingesetzt. Atwaters Hand unter dem Laken schien geballt zu
sein. Dem Besucher fiel nichts zu sagen ein. Nicht zu diesem daliegenden Etwas, das weder sprach noch etwas sah. Er war nicht der Typ, der zu Menschen im Koma spricht und dann in dieser fürs Fernsehen erfundenen Redeweise sagt: »Doch, doch, er (oder sie) kann mich hören. Ich weiß es.« Wozu Lee ihn auch immer herbestellt hatte, mußte nun bis später warten, auf die Zweite Welt, Himmel oder Hölle oder Washington, D. C., im Sommer, wohin tote Politiker in diesem Jahrtausend auch kommen mochten. Er nickte und wandte sich ab, um zu gehen. In Atwater erwachte der Merlin. Wie durch Zauberei durchquerte er die betäubten und schlafenden Sinne - oder vielleicht öffnete er die Passage zwischen Gefühl und Verstand. Atwater erhielt die Botschaft, daß sein Gast da war. »Jim«, flüsterte er, »Jim.« 17 James Baker, Außenminister, blieb, die Hand auf dem Türknauf, stehen. Er drehte sich um. Atwater hatte die Augen immer noch geschlossen, aber seine Atmung war dringlicher, und seine Hand schien sich zu bewegen. »Lee?« »Aah«, ein Stöhnen, ein grunzen, eine Aufforderung. Baker trat ans Bett. Atwater schlug plötzlich die Augen auf. Der alte Falke sah ihn an. Voller Ränke und Selbstbewußtsein. »Hör zu«, sagte er. »George ...« »George was ...« Es kam Baker vor, als könne er Atwaters Gedanken sehen, die sich wie Uhrwerke hinter Atwaters Augen drehten und ineinandergriffen, und was er zu denken schien, war: Ich brauch kein Blatt vor den Mund nehmen. Baker kann es nicht im Büro gegen mich verwenden, weil ich tot sein werde, bevor er dazu kommt - ätsch! »George«, sagte Atwater über den Präsidenten, »ist ein Schlappschwanz. Ehrgeizig, intrigant, rachsüchtig, aber trotzdem ... Und er wird es vermasseln, Jim. Falls es soweit kommt...« »Was meinst du damit, vermasseln?« »Ich meine die Umfragen«, sagte Atwater, so als brauche Baker doch gar nicht zu fragen, so als gäbe es doch gar nichts anderes. »Und wenn er nichts dagegen unternimmt, die Wiederwahl.« Schwer vorstellbar, daß man nach Reagan, noch mal Reagan und dann Bush/Quayle, die die Opposition zermalmt hatten, die Wiederwahl nicht gewinnen würde. »Mach dir keine Sorgen deswegen«, wiegelte Jim in beruhigendem Ton ab. »Wir werden uns darum kümmern, Lee.« »Das ist mein Job. Meine Mission.« Eine Hand streckte sich vor und griff nach Baker, krallte sich an seinem Ärmel fest und zog ihn heran. Atwaters Atem war schlecht. Faulig, stinkend. Himmelherrgott, dachte Baker, warum putzen sie ihm nicht die Zähne oder lassen ihn mit Mundwasser gurgeln 18 oder so was. »Ich habe einen Plan«,sagte Atwater. Die andere Hand, die nähere, tauchte unter der Decke auf, wo sie erkennbar geballt gewesen war. Sie hielt einen halbzerdrückten Umschlag. »Wenn Georgie es versaut, dann öffnest du das hier. Das ist eine todsichere Sache, damit gewinnt ihr hundertprozentig die Wahlen.« »Hey, danke«, meinte Baker diplomatisch. »Ich werd's George sagen. Er wird gerührt sein. Du, in deinem Zustand -und da denkst du an ihn.« »Scheiß drauf«, sagte Atwater. »Meine Gedanken gehören dem Sieg. Denk dran, Baker. Es gibt nur zwei Dinge - Siegen und Sterben.« Er kicherte. »Zeig's ihm jetzt noch nicht. Schau es dir noch nicht mal an. Warte ...« »Worauf?« »Bis du in Schwierigkeiten steckst und es brauchst.« »Ist das wie eine Zaubermünze in einem Märchen oder so was Ähnliches?« fragte Baker. »So was Ähnliches«, sagte Atwater. »Warum darf ich es mir jetzt nicht anschauen?« »Weil du« - Atwater holte tief Luft - »es für verrückt halten wirst. Und es wird dich erschrecken. Aber es ist so vernünftig und logisch, daß du nicht widerstehen kannst und es zu früh einsetzt...« »Und dann?« »Dann funktioniert es vielleicht nicht mehr.« »Wie die Gans, die goldene Eier legt, oder drei Wünsche von der guten Fee?« »Ungefähr so wirkungsvoll«, sagte Atwater, der nicht ganz bei Verstand schien. Er drückte Baker den Umschlag in die Hand. Baker hatte nicht die leiseste Ahnung, worum es sich handeln konnte. »Es ist wunderbar. Der Präsident wird begeistert sein. Nachdem euch klargeworden ist, daß es nicht verrückt ist. Ganz im Gegenteil.« 19 KAPITEL ZWEI Ich bin ein echter amerikanischer Held. Wirklich. Genau das bin ich. Fangen wir zunächst mal damit an, daß ich im Grunde ein kleiner Mann bin. Damit meine ich nicht,
daß es mir an körperlicher Größe fehlt oder daß ich irgendwie unzulänglich wäre. Ich bin so was wie ein ganz normaler Bursche. Da bin ich also, ein ganz normaler Bursche. Ich will die Welt nicht ändern. Bin nicht scharf drauf, irgendeine große Nummer zu sein. Ich hab keine hochgesteckten Ziele. Ich bin einfach ein Mensch, der einen Job zu erledigen hat, und dabei gebe ich mein Bestes. Tja, was das für ein Job ist, das ist natürlich wieder was ganz anderes. Ich bin ein Dick. Ein Gumshoe. Ein P. 7.5 Der Stoff, aus dem die Träume sind. In Büchern, im Fernsehen und im Kino. Der Unterschied zwischen mir und denen, also den Typen, die Sie normalerweise in der Flimmerkiste sehen, liegt darin, daß ich weder ein mickeriger Einzelgänger bin, der aus einem schäbigen kleinen Büro über einer chemischen Reinigung operiert, noch ein Playboy mit einem Lamborghini, der den Beruf des Privatdetektivs nur des Nervenkitzels wegen ausübt. Ich arbeite für eine große Firma. Sie gehört zwar nicht zu den Fortune500, kommt aber schon ziemlich nahe ran. Unsere nationale Zentrale befindet sich in Chicago. Wir haben Filialen in zweiundzwanzig Städten der USA und in vierzehn Ländern. Ein Unternehmen wie Wackenhut oder Pinkerton, verstehen Sie. Was auch immer ein Klient in Sicherheitsfragen benötigt - wir machen es. Alarmanlagen, gepanzerte Fahrzeu20 ge, bewaffneter Wachdienst rund um die Uhr, Objektschutz für die Wirtschaft, bei uns bekommt er alles aus einer Hand. Wir haben auf allen Ebenen der Firma ein Prämiensystem. Wenn Sie zum Beispiel eine dieser vielen von uns angebotenen Dienstleistungen in Anspruch nehmen wollen, könnte ich mir eine Provision verdienen, indem ich sie Ihnen anbiete, auch wenn ich strenggenommen ein Ermittler bin. Ich arbeite hier in Los Angeles. Manchmal in Hollywood. Manchmal im Valley. Sogar in East L. A. Allerdings nicht besonders oft. Wir folgen dem Geld. Also arbeiten wir meistens für Großunternehmen. Ich persönlich habe schon für die Bank of America, GulfOil, Toshiba, Matsushita, Hitachi, Boeing und Smart gearbeitet, an allen möglichen Orten. Ob wir auch Scheidungen machen? Schäbiges Schlüsselloch-Spannen? Worauf Sie einen lassen können. Aber wenn ich's beziffern sollte, dann würde ich sagen, daß die Untergrenze der Summe, um die sich jemand streiten will, wenn er zu uns kommt, also, das dürfte wahrscheinlich schon eine Scheidung im Wert von einer Million Dollar sein. Sehen Sie's mal so. Angenommen, Sie möchten Ihren Gatten einfach nur beschatten lassen. Weil das Herumbumsen keinen Stundenplan kennt, sind wir normalerweise rund um die Uhr im Einsatz. Tatsächlich läuft so was oft genug außerhalb der normalen Arbeitszeiten. Einmal bin ich einem Typen gefolgt, von dem seine Frau glaubte, er würde in den frühen Morgenstunden immer joggen. In seiner Yves Saint Laurent-Kombi und den Astes Gel lllern war er morgens um halb fünf unterwegs. Das ist so früh, man könnte glatt von einer Mondscheinnummer sprechen. Wie heißt noch gleich dieser blöde Spruch? »Morgenstund hat Schwanz im Mund.« Um sechs, halb sieben kommt er dann nach Hause, springt unter die Dusche und zischt ab zur Arbeit. Was glauben Sie, wie weit läuft der Mann? Er läuft ungefähr eine viertel Meile, so weit läuft er. 21 An der nächsten Ecke wartet seine Freundin auf ihn. In einem kastanienbraunen Dodge Minivan, überhaupt nicht schick, dafür aber sehr zweckmäßig. Sie treiben's im Van. Anschließend fährt sie vielleicht eine halbe Meile, damit er zurückjoggen kann. Damit er ein bißchen Schweiß über diesen anderen Schweiß powern kann. Sehr clever. Sie würden staunen, wie viele Scheidungen mit einem Satz anfangen wie »Ich hab die Schlampe an ihm gerochen«. Ich schweife ab. Allerdings finde ich, Sie sollten schon eine grobe Vorstellung von meiner Arbeit und dem Laden bekommen, für den ich arbeite. Ich habe vorhin von Geld gesprochen. Angenommen, Sie wollen zum Beispiel in einem Scheidungsfall jemanden rund um die Uhr beschatten lassen. Den Anwälten berechnen wir 60 Dollar pro Stunde und Mann plus Spesen. Das ist das absolute Minimum -2880 Dollar den Tag, 20160 Dollar die Woche und 86400 Dollar für einen Dreißig-Tage-Monat. Das ließe sich problemlos verdoppeln. Bei einem einfachen WBW. WBW steht für Wer Bumst Wen. Also verstehen Sie jetzt auch, daß man so viel Geld nicht für Ermittlungen in einer Scheidungssache ausgibt, bei der nur ein paar Hunderttausend an gemeinsamem Besitz zu verteilen sind. Es muß schon um das richtig große Geld gehen. Was ich dabei verdiene? Es läuft auf ungefähr 22 Dollar die Stunde raus, dazu kommt dann noch Urlaub und Lohnfortzahlung bei Krankheit. Außerdem haben wir ein anständiges Paket an Sozialleistungen - Krankenversicherung und Rente. Ich habe mir sagen lassen, das kostet die Firma noch mal ungefähr 33 Prozent unserer Gehälter. Das ist weniger, als echte Cops verdienen. Aber die Arbeitsbedingungen sind besser. Genau wie unser Umgang. Das Gebäude, in dem ich arbeite, ist ein typisches L.-A.-Bürogebäude. Eine gläserne Kiste
mit getönten Fenstern, 22 Downtown. Nichts unterscheidet uns von irgendeiner x-beliebigen anderen Firma. Wirklich nicht. Früher hatte ich eine mit Tee gefüllte Flasche Bourbon in meiner Schreibtischschublade. Als Scherz, wissen Sie. Damit ich einen auf Fernseh-Detektiv machen konnte. Selbst wenn wir keine regelmäßigen Urinuntersuchungen hätten, würde ich im Büro keinen Alkohol aufbewahren. Das ist übrigens eine weitere Dienstleistung, die wir anbieten. Komplette Drogenüberprüfung Ihres gesamten Personals oder eines bestimmten Teils davon, egal, ob Blut- oder Urinuntersuchung. Wir testen auf Alkoholmißbrauch, Marihuana, alle Opiate, Barbiturate und Amphetamine. Das ganze Spektrum oder nur eine bestimmte Droge, Sie haben die Wahl. Das Büro ist modular konzipiert. Variable Raumtrenner, keine gemauerten Wände. Wir haben standardisierte Schreibtische, Stühle und Telefone. Neonröhren. Nicht direkt umwerfend, aber auch nicht schäbig. Meiner Meinung nach ist das ein Vorteil. Darin kann sich Otto Normalverbraucher wiederfinden. Gerade die totale Normalität des Büros ist etwas erfrischend anderes. Was ich außerdem gleich zu Anfang anschneiden will, ist das Thema Glaubwürdigkeit. Weil dies nämlich eine unglaubliche Geschichte ist. Eine ungeheuerliche Geschichte. Ich mache diesen Job jetzt schon seit zehn, fünfzehn Jahren. Immer bei derselben Firma. Zweimal jährlich werde ich fotografiert. Die Firma garantiert für alles, was wir machen. Sie können sich die Liste unserer Klienten ansehen hochkarätige Anwaltskanzleien, Unternehmen der Fortune500, große Filmstudios und Schallplattenfirmen. Ich hatte gerade für eines der großen Brokerhäuser eine Ermittlung über den Diebstahl von Wertpapieren abgeschlossen. Ich war damit beschäftigt, Schreibkram aufzuarbeiten und meine handschriftlichen Aufzeichnungen an der 23 Workstation auf meinem Schreibtisch in die firmeneigene Datenbank einzugeben. Dann kommt Maggie Krebs herein. Maggie ist eine der zehn schönsten Frauen der Welt. Das ist amtlich. Direkt aus dem People Magazine. Sie kennen sie als Magdalena Lazlo, Filmstar. Ich kenne sie als Maggie Krebs, geschieden. Ich habe ihr geholfen, diese Scheidung durchzuziehen und ihr Vermögen zusammenzuhalten. Daß soviel Glamour in unsere tristen Büros kommt, ist an sich nichts Einmaliges, aber ungewöhnlich ist es schon. Viele Stars sind die Produkte ihrer Betreuer - der Maskenbildner und Hairstylisten, der Leute für die Garderobe und plastischen Chirurgen. In gewisser Hinsicht Produkte unserer Phantasie. Aber Maggie hat's, selbst wenn sie nicht auf der Leinwand steht und ganz normal gekleidet ist. Auf dem Weg zu meinem Büro schaut ihr jeder nach, Männer wie Frauen. »Tag joe«, sagt sie. Sie sieht mir direkt in die Augen, schenkt mir dieses Lächeln, und dann diese Stimme - aus dieser Stimme kann man alles heraushören - genau so hat sie in Over (he Line geredet - und paaaf! Sie könnten mich mit einem Zahnstocher antippen, und ich fiele vom Stuhl. Natürlich lasse ich mir nichts anmerken, aber ich schätze, sie weiß genau, was dieses »Tag, Joe« anrichten kann. Wie sollte sie es auch nicht wissen? Es ist ihr Job, starke Männer schwach und schwache Männer stark zu machen. »Tag, Maggie«, erwidere ich. Ich spreche leise, langsam und ruhig. Nicht, weil ich mich für John Wayne halte oder so, sondern um zu verhindern, daß ich piepse wie ein Vierzehnjähriger. Sie sieht sich um. Dann beugt sie sich vor. »Joe, können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?« »Wir haben ein Konferenzzimmer«, sage ich. Ich muß mich beim Sprechen nicht mehr so konzentrieren, Stimme und Atmung sind langsam wieder unter Kontrolle. 24 »Hey, Joe«, sagt sie. »Haben Sie 25 Cents für mich übrig?« »Ja.« »Warum laden Sie mich dann nicht auf eine Tasse Kaffee ein?« »Maggie, es gibt nur sehr wenig, was ich Ihnen ausschlagen würde.« Jetzt muß ich Ihnen etwas über diesen kleinen Dialog erzählen. Zunächst mal ist er wortwörtlich so gelaufen. Das ist eines meiner Talente, so was wie ein fotografisches Gedächtnis. Allerdings besitze ich es überhaupt nicht für das gedruckte, sondern ausschließlich für das gesprochene Wort. Wenn ich Ihnen also im Verlauf dieser Geschichte erzähle, daß Soundso dieses und anschließend der und der jenes gesagt hat, dann ist das genauso, als hätte es unser Schreibservice direkt vom Band abgetippt. Zweitens ist unser Geplauder im wirklichen Leben nicht immer so flott. Drittens gibt es in Los Angeles, vielleicht sogar in ganz Amerika kein Lokal, von dem ich wüßte, wo man eine Tasse Kaffee für fünfundzwanzig Cents bekommt. Leichter wäre es, die Fünf-Dollar-Tasse
Kaffee zu finden. Eindeutig ist Maggie hier ein bißchen aufgekratzt. Tatsächlich erfahre ich später, daß ihre beiden Zeilen aus einem Drehbuch stammen, an dem sie gerade gearbeitet hatte. Es besitzt schon einen gewissen Reiz, wenn ein echter Filmstar ihren Text an einem ausprobiert, als wäre man ihr echter Co-Star. Es ist eine Erinnerung, mit der eine Menge Typen ins Bett gehen könnten, selbst wenn sie sich zur letzten Ruhe betten, wenn Sie wissen, was ich meine. Viertens und letztens ist da noch etwas, von dem ich nicht weiß, ob sie es weiß, obwohl sie es vielleicht vermutet, nämlich daß alle unsere Besprechungszimmer gründlicher verdrahtet sind als das Weiße Haus unter Nixon. Alles, was in 25 einem Konferenzzimmer von Universal Security passiert, wird aufgezeichnet. Audioüberwachung ist Routine. Zeitraffer- und Echtzeit-Videoüberwachung stehen beide zur Verfügung. Stimmanalyse ebenfalls. Unsere Büros und Telefone werden abgehört, allerdings werden die Gespräche nicht immer mitgeschnitten. Der Grundsatz lautet: »Wir machen bei uns das, wofür andere uns bezahlen müssen, um es bei ihren Angestellten zu tun.« Wir sind ein leuchtendes Beispiel für ein Leben unter totaler Überwachung durch die Unternehmensleitung. Wir nehmen Maggies Cadillac und lassen meine alte Karre stehen. Es überrascht Sie vielleicht, daß ein Star von ihrem Kaliber einen Caddy fährt, aber den hat General Motors ihr geschenkt. Irgendeine Werbegeschichte. Die glauben, daß der neue Seville mit Mercedes, BMW, Lexus und Infiniti konkurrieren kann. Ich finde ihn ziemlich nett. Es ist ein Kabrio. Sie fährt. Das Verdeck ist offen. Im Wagen spricht sie nicht viel. Läßt einfach das Radio laufen. Country and Western. Extra für mich. Das zeigt Ihnen, welche Klasse - und welches Gedächtnis - die Lady hat. Einmal hat sie mich gefragt, welche Art Musik ich mag, damals, während ihrer Scheidungsklage. Ich hab's ihr gesagt. Hank Williams, Merle Haggardjohnny Cash, ErnestTubb und Patsy Cline haben mich durch den Krieg gebracht. Wirklich wahr. Alle Jungs in meinem Zug, die Rock 'n' Roll gehört haben, sind gestorben. Bis auf zwei. Mike Galina - er ist immer noch in einem Veteranenkrankenhaus - hat Augen und Beine verloren. Paul Frederic Hight hat ebenfalls einiges gefehlt, als er zurückkam - von seinem Körper, seinem Verstand und seinem Herzen -, er ist fünf Jahre nach seiner Rückkehr gestorben. Versehentliche Überdosis oder Selbstmord. Wer weiß das schon ? Wer will das beurteilen ? Von den Schwarzen haben drei überlebt. Auch die haben nicht Rock 'n' Roll ge26 hört. Zwei sind als Junkies zurückgekommen, und ich habe sie aus den Augen verloren. Aber Steve Weston ist clean und wohlbehalten zurückgekehrt. Von Zeit zu Zeit trinken wir zusammen ein Gläschen. Reden nicht viel. Trinken einfach. Wie ich hat er Country gehört, oder Soul, wie seine Leute. Seine Lieblingsmusik allerdings ist Gospel. Außerdem sieht Maggie mich an, lächelt und berührt meine Hand. Einen Block vom Strand in Venice entfernt stellt sie den Wagen auf einem Parkplatz ab. Wir steigen aus und schlendern los. Sie hakt sich bei mir ein. Ich fühle mich wie einsdreiundachtzig und obendrein verflixt gutaussehend. An der Ecke gibt es einen schicken Espresso- und Cappucino-Laden, wo man seine Erfrischung alfresco einnehmen und die menschliche Komödie beobachten kann, während sie auf der Uferpromenade vorüberzieht. Man muß kein Angelino sein, um zu wissen, daß man in Venice Beach die Menschheit von ihrer komischsten Seite erleben kann. Wenn im Film typisches L.-A.-Flair gezeigt werden soll, ist es genau das hier: Rollschuh laufende Mädchen in knappen Tangas, Muscle Beach und so weiter. Doch wir überqueren die Uferpromenade und gehen hinunter zum Strand. Sie bleibt kurz stehen und zieht die Schuhe aus. Machen Filme uns, oder machen wir die Filme? Was ich damit sagen will, diese Geste, wie sie sich auf meinen Arm stützt, die Schuhe abstreift, sie in einer Hand an den Riemchen trägt, das alles hat Anmut und - ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen soll Weiblichkeit. Während ich sie dabei beobachte, sehe ich die Szene eines Films vor mir. Sie verstehen, was ich meine - hat sie das aus den gleichen Filmen, die ich gesehen habe, oder ist dies vielmehr eine jener durch und durch femininen Bewegungen, deren sich Regisseure und Schauspielerinnen bewußt sind und die sie für die Leinwand einfangen wollen? 27 Nahaufnahme ihrer Hand auf meiner Schulter, als sie sich auf mich stützt. Wir gehen dorthin, wo sich die Brandung bricht. Maggie barfuß, ich in meinen Florsheimern6. Natürlich trage ich Anzug und Krawatte, was der Kleiderordnung der Firma entspricht, sofern man nicht gerade an einem Auftrag arbeitet, der ausdrücklich etwas anderes verlangt. Verstehen Sie, es ist,
als wäre ich mit ihr in meinem eigenen Film. Ich träume, daß daraus etwas Persönliches werden könnte. Aber der Profi in mir weiß genau, daß es nicht so kommen wird. Viele Klienten gehen mit einem an die merkwürdigsten und abgelegensten Orte, um über ihre Angelegenheiten zu sprechen. Aus verschiedenen Gründen. Verschwiegenheit, Verlegenheit, und manchmal ist es einfach, daß auch sie in ihrem eigenen Film spielen und auf geheimnisvolle Nacht-und-Nebel-Aktionen aus sind. Draußen am Wasser, wo der Sand naß und fest ist, sagt sie: »Joe, ich brauche Hilfe.« »Dafür sind wir schließlich da«, sage ich. »Nicht wir. Nicht alle. Nur Sie«, sagt sie. »Verraten Sie mir, wo das Problem liegt«, sage ich. Ich bin der Firma gegenüber loyal. Das ist schon eine ganze Weile so. Neben den jährlichen Gehaltserhöhungen gibt es bei uns Zulagen je nach Dauer der Firmenzugehörigkeit. Außerdem habe ich Anspruch auf eine ordentliche Rente und kann zu besonders günstigen Bedingungen Firmenaktien kaufen. Da werde ich natürlich was ohne die Firma machen. Aber sicher »Sie müssen mir etwas versprechen«, sagt sie. »Was?« »Daß Sie sich anhören, was ich zu sagen habe. Falls Sie es nicht tun können, ohne der Firma etwas zu sagen, werden Sie vergessen, daß wir diese Unterhaltung je geführt haben. Sie 28 werden ins Büro zurückgehen und denen erzählen, daß es der erste Jahrestag meiner Scheidung war und ich mich bei Ihnen bedanken wollte, daß wir zusammen einen Kaffee getrunken haben, weil ich gerade eine Entziehungskur mache. So was in der Richtung.« Ich setze umständlich an, ihr das Versprechen zu geben. So macht man das, und dann erklärt man den Klienten ganz genau, warum man die Firma trotzdem informieren muß. Es ist öde, aber elementar. »Nein«, sagt sie. »Sehen Sie mir in die Augen und versprechen Sie es mir.« Also sehe ich ihr in die Augen. Ich habe schon einer ganzen Menge Leuten direkt in die Augen gesehen. Betrügern, Psychopathen, Spielern, Aufsichtsratsvorsitzenden, Anwälten. Jeder, der Ihnen erzählen will, die Augen seien die Fenster der Seele, hat einen Knall. Es gibt Ausnahmen. Wenn man zum Beispiel einem Jungen in die Augen sieht, der bald sterben wird und der es weiß. Man kann seine Seele buchstäblich wegfliegen sehen. Das kann man wirklich. Es stimmt. Und die Fenster schließen sich. Als hätte jemand die Hand ausgestreckt und zwei altmodische Fensterläden zugeschlagen. Was durchsichtig war, wird trüb. Ähnlich ist es, wenn man einer Frau in die Augen sieht, die man stärker begehrt, als gut für einen ist. Ich rede hier von mehr als sexuellem Verlangen. Ich rede von Gier, dummer Gier. Sie sieht einen mit offenen Augen an, und diese Augen sagen: »Schau einfach hinein.« Selbst wenn sie Schauspielerin ist und dein Verstand dir sagt, daß man ihr pro Film jüngsten Presseverlautbarungen zufolge, 1,3 Mio Dollar plus Prozente zahlt, um haargenau das für die Kamera zu machen, könnten sich dann deine eigenen Augen öffnen und zu Fenstern deiner eigenen Seele werden, so daß sie sieht, was man ist, und schon hat sie einen unter ihrer Fuchtel. Das 29 ist wohl ganz in Ordnung. Die Natur hat wohl gewollt, daß wir manchmal so sind. Ich sage ihr also: »Wenn ich's nicht tun kann, vergesse ich die Sache wieder.« »Joe«, sagt sie. »Erzählen Sie's einfach, okay?« erwidere ich ein wenig gereizt. »Vor einem Jahr habe ich einen Filmvertrag unterschrieben. Mit John Lincoln Beagle als Regisseur. Sie kennen seine Arbeiten?« Ich nicke. Jeder kennt ihn. Auch wenn man nicht ins Kino geht. So wie Spielberg oder Lucas oder Lynch oder Stone. »Wir arbeiten beide mit RepCo7. Das ist ihr Package. Regisseur, Star und Drehbuchautor. Ich habe das Drehbuch gelesen und war begeistert. Eine Story mit Tiefgang. Kein seichtes Zeug. Es ging nicht darum, meine Titten hüpfen zu lassen, mit dem Hintern zu wackeln und so zu tun, als würde ich das auch noch toll finden. Mit diesem Projekt könnte ich mich als ernsthafte Schauspielerin etablieren. Das ist der Film, den ich jetzt eigentlich drehen sollte. Und zwar genau jetzt. Dann ist das Projekt gecancelt worden.« »So was kommt öfters vor«, sage ich. »Ja, stimmt. Aber dieses Mal hätte es nicht passieren dürfen. Alles war geregelt. Das Package stand, das Studio war dabei, und einen Produzenten hatte man auch schon gefunden. Das Geld war da. Urplötzlich wird alles abgesagt. Offiziell heißt es, Beagle sei krank geworden. Das glaube ich nicht. Genaugenommen bin ich sogar sicher, daß ich ihn ein- oder zweimal in der Nähe seines Hauses im Napa Valley gesehen habe. Er besitzt dort ein Weingut. Ich übrigens auch. Außerdem gab es eine Zeit zwischen Vertragsabschluß und Annullierung, während der ich mitbekommen habe, wie er sich geistig von dem Projekt entfernt hat. Bei einem Treffen 30
war er noch Feuer und Flamme. Er war besessen von diesem Film. Und er wollte mich unbedingt dabeihaben.« »Wie sollte der Film heißen?« »Pirandelk.« »Hm-hmh.« »Sie wissen, wer das ist? Ein Dramatiker. Italiener. Aber es ist kein Film über ihn. Das war nur ein Arbeitstitel. Noch nicht der endgültige Titel. Beim nächsten Treffen war Beagle jedenfalls nicht mehr richtig bei der Sache. Irgend etwas anderes hat ihn mehr interessiert. In Hollywood interessiert sich ein Regisseur für nichts außer seinen nächsten Film.« »Er ist angeblich krank«, sage ich. »Heißt das AIDS? Wenn ein Bursche bald sterben wird, könnte er sich noch für andere Dinge als nur für seinen nächsten Film interessieren.«Junge Menschen, die wissen, daß sie bald sterben, denken nur daran, wie schrecklich unfair das ist. Oder sie müssen sich unbedingt davon überzeugen, daß es doch nicht passieren wird. Vielleicht ist es gut, in dem Glauben abzutreten, daß man nicht abtritt. Ich weiß nicht viel darüber, was alte Menschen denken, wenn sie bereit sind zu sterben. Ich habe noch nicht so viele alte Menschen sterben sehen. »Ein Regisseur, der bald sterben muß, interessiert sich erst recht für nichts anderes«, sagt sie. »Meine Güte, dann ist es nicht bloß sein nächster Film, es ist sein letzter.« »Wo ist Beagle jetzt?« »Er ist spurlos verschwunden.« »Irgendwo habe ich gelesen«, sage ich, »daß er mit den Japanern an HDTV-Projekten arbeitet.« "Ja, die Geschichte habe ich auch gehört. Aber man sollte doch meinen, daß er auf meine Anrufe reagiert.« »Oh«, sage ich. »So ist das.« Sie nimmt meinen Arm. Wir gehen ein paar Schritte, bevor sie weiterspricht. »Wenn jemand Sie belügt, dann merken Sie das.« 3i »So, würde ich das?« »Ach joe«, seufzt sie und lehnt sich an mich. Ich geb's ja zu: Auf so was falle ich immer wieder rein. »Ich bin eine Frau. Männer sollten mich belügen. Ich bin eine schöne Frau, ich sollte es genießen. Ich lebe in Hollywood, wo die Wahrheit nur ein Sprachfehler ist. Da dürfte mir so was eigentlich nichts mehr ausmachen. Ich wollte diesen Film. Jemand hat ihn mir weggenommen. Man lügt mich an, was den Grund dafür betrifft. Einerseits geht es sicher auch um Geld. Wenn sie absagen, weil Beagle krank geworden ist, fällt das unter höhere Gewalt. Das ist nicht in allen Verträgen so, aber bei diesem schon. Wenn sie aus irgendwelchen anderen Gründen außer Flutwelle, Erdbeben, Taifun oder Krieg absagen, etwa weil Beagle es sich anders überlegt hat oder einen anderen Film macht, müssen sie mir ein beträchtliches Ausfallhonorar zahlen.« »Wieviel?« frage ich sie. »Unterm Strich gehen mir fast siebenhundertfünfzigtausend Dollar durch die Lappen.« »Okay«, sage ich, »dafür lohnt es sich, der Sache nachzugehen.« »Joe, da ist noch was anderes im Gange. Ich war stinksauer. Ich wollte wissen, was los war. Was das alles sollte. Bennie Hoffrau, mein eigener Agent, hat mich für dumm verkaufen wollen. Wenn so was passiert, wird es Zeit, mal einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Man muß herausfinden, was ihm wichtiger ist als man selbst. Also bin ich zu Hartman gegangen -« »Hartman?« »David Hartman ist der Chef von RepCo. Was ihn zu einem der zehn oder fünf oder drei mächtigsten Leute der Branche macht. Wir haben zusammen zu Mittag gegessen. Wir haben uns über alles mögliche unterhalten, nur nicht darüber, wes32 wegen wir uns getroffen haben. So läuft das manchmal. Nach dem Hauptgericht und vor dem Kaffee sagt er: »Wirklich jammerschade, das mit dem armen Line -<« »Line?« »Wenn man Beagle gut genug kennt, nennt man ihn Line. Das ist eine dieser Allüren. Ich will schon antworten: Ja, nicht wahr. Was fehlt ihm denn?< oder etwas in der Richtung. Bloß ist mir nicht klar, daß in diesem Moment hinter mir Tom Cruise an unseren Tisch kommt. David muß ihm also um den Bart gehen. Und wenn ich weiß, was gut für mich ist, sollte auch ich eine Nummer abziehen, und sei es nur, daß ich so tue, als würde es mich überhaupt nicht interessieren. David hatte seine Bemerkung so getimt, daß er sie beiläufig in die Unterhaltung einstreuen konnte und ich keine Chance hatte, die Sache weiterzuverfolgen. Das ist ein ziemlicher Aufwand dafür, nichts zu sagen. Am Tag nach dem Mittagessen mit Hartman ruft mich dann Bennie an und sagt, er hätte einen Film für mich. Es ist ein Film, der während des Zweiten Weltkrieges an der Heimatfront spielt. Ich, Gena Rowlands und Bette Midler. Beeindruckend, stimmt's? Erinnern Sie sich an den Film Die besten Jahre unseres Lebens?« »Ja«, antworte ich. Der Titel war ironisch gemeint. Es ist die Geschichte dreier Typen, die in den Krieg zogen und nach Hause kamen, wo sie erkennen müssen, daß der Krieg genau das gewesen war -
die besten Jahre ihres Lebens. Über Vietnam wird man garantiert nie einen Film mit so einem Titel drehen. »Es ist ein Remake. Aus der Sicht der Frauen. Wie sie aufblühten, während die Männer fort waren, auch wenn sie darunter gelitten haben. Gutes Konzept, ein ordentliches Drehbuch. Eine Frau führt die Regie. Anita Epstein-Barr. Sie ist nicht schlecht. Es ist zwar nicht der Beagle-Film, aber ganz klar 33 eine große Produktion. Jedenfalls ist das Bonbon verlockend genug, um meine Gedanken von dem Film abzulenken, der einfach so verschwunden ist. Also sage ich zu Bennie: 'Vielen herzlichen Dank. Ich weiß das zu schätzen, ich freue mich, ich werde es machen, ach, und was ist übrigens aus John Lincoln Beagle und dem Film geworden, den ich eigentlich machen sollte?« Bennie sagt: >Maggie, Baby, sei ein braves Mädchen. Mach diesen Film mit der Midler und der Rowlands. Die hochkarätigste Frauenbesetzung seit Die Hexen von Eastwick. Vergiß, was dich nichts angeht. Du fährst nicht schlecht dabei.«« »Was auch der Fall ist«, sage ich. »Was auch der Fall ist«, wiederholt sie. »Man kümmert sich wirklich sehr gut um mich. Beinahe schon zu gut. Nun kenne ich aber Bennie. Wenn nichts faul gewesen wäre, hätte er einfach gesagt...« Sie macht Bennie Hoffrau nach. Ich habe den Mann noch nie getroffen, trotzdem weiß ich, daß es eine absolut treffende Imitation ist. »>Scheiße, Babe, wen interessiert es? Wen interessiert's? Du verlierst 'n Film, du kriegst 'n anderen Film. Du kriegst Action. Steig drauf ein. Denn nur daaaarum geht's. Um Action. Geh und mach einen Film, sack die Mäuse ein, und behalt in der Öffentlichkeit dein Höschen an. Scheiße, Babe, du verstehst, was ich meine.« Verstehen Sie, so hätte er normalerweise reagiert, er hätte seine Karikatur von einem Agenten abgezogen. Er tut so, als wär's nur ein Scherz, aber das ist sein echtes, wahres Selbst. Wenn es der normale Hollywood-Bockmist gewesen wäre, wenn sie nur versucht hätten, mich wegen meines Ausfallhonorars zu linken, dann hätte er genau das gesagt. Zwei Abende später«, fährt sie fort, »war ich auf einer Party und wurde ein bißchen high. Bennie war auch da. Ich unterhielt mich gerade mit Janice Riley. Sie ist eine gute alte Freundin. Und ich sage: >Sieh mal, das da drüben ist mein Agent. Er 34 kümmert sich wirklich sehr gut um mich, aber er belügt mich. Das macht mich sehr unglücklich. Findest du, so was sollte mich unglücklich machen?« Janice fragt, wovon ich rede. Ich erkläre es ihr. Am nächsten Tag ruft Bennie mich an und zitiert mich in sein Büro. Eine Vorladung. Okay, ich gehe hin. >Ich hab dir doch gesagt, du sollst den Beagle-Film vergessen. Es ist überhaupt nichts Geheimnisvolles oder Merkwürdiges daran, daß das Projekt gecancelt worden ist. Er ist krank geworden. Ich kann dir ein Attest von seinem Arzt zeigen. Bestimmt ist er schon bald wieder auf dem Damm. Einzelheiten weiß ich nicht. Du brauchst auch keine Einzelheiten zu wissen. Aus diesem Rowlands-Midler-Film bist du übrigens raus. Sorry. Keine Widerrede. Laß es dabei bewenden. Geh nach Hause. Mach Urlaub. Gönn dir mal eine Pause, leg dich irgendwo in die Sonne, wo du richtige Luft atmen kannst, du weißt schon, was ich meine. Vergiß das alles. Ich werde dir ein paar Skripts schicken, über die du mal nachdenken solltest. Bis du zurückkommst, haben wir was Neues für dich.«« »Es gibt Menschen«, sagt sie und sieht mich dabei direkt an, »die tatsächlich sagen können >In dieser Stadt wirst du nie wieder ein Bein auf den Boden kriegen«, und dein Leben ist gelaufen. David Hartman ist einer von ihnen. Also habe ich den Mund gehalten und bin gegangen.« »Klingt vernünftig. Und wieso fangen Sie jetzt wieder damit an und ziehen mich da rein?« »Joe, bitte lassen Sie mich ausreden. Und joe, falls Sie zu dem Urteil kommen, daß ich in dieser Sache recht haben könnte, dann muß ich mehr für Sie sein als nur eine Klientin.« »Was muß ich denn sein, Maggie?« Sie sieht mich an. Wenn sie hochhackige Pumps trägt, ist sie tatsächlich größer als ich. Aber jetzt, barfuß und auf dem nassen Sand, befinden sich unsere Augen auf gleicher Höhe, ihre 35 sind sogar ein paar Millimeter unter meinen. Ich schaue als erster weg. »Erzählen Sie die Geschichte lieber zu Ende«, sage ich. »Schön, ich lasse die Sache also auf sich beruhen. Dann, vor drei Tagen, sagt Anita, mein Hausmädchen ... Sie erinnern sich an sie?« »Ja.« »Sie sagte: >Erinnern Sie sich noch, als Mr. Beagle krank wurde und Sie es nichtgeglaubt haben?« Ich sagte: >Oh, ich hab's geglaubt«, aber mit ironischem Unterton, denn wir wissen beide, daß es nicht so war. »Also, meine Cousine«, sagte sie, >die arbeitet für Mr. Beagle. Ich sehe sie morgen. Ich werde das für Sie herausfinden.«« »Und? Was ist dann geschehen?« »Sie ist abgeschoben worden«, antwortet Maggie. »Wann?«
»Am nächsten Morgen.« »Sie können froh sein, daß man Sie nicht auch noch wegen Beschäftigung eines illegalen Einwanderers drangekriegt hat.« »Ist sie aber nicht«, sagt Maggie. »Ist sie aber nicht?« wiederhole ich verständnislos. Obwohl ich es hätte verstehen müssen. Es ist eine klare Feststellung. »Ist sie aber nicht. Sie hat eine green card. Eine Sozialversicherungsnummer. Das ganze Pipapo.« »Was wollen Sie?« frage ich. »Ich will wissen, was hier los ist«, sagt sie. »Das ist dumm«, stelle ich klar. »Sie haben die Botschaft doch erhalten. Wenn Sie die Sache vergessen, was immer es nun genau ist, soll es Ihr Schaden nicht sein. Wenn Sie Ärger machen, sind Sie erledigt.« »Sagen Sie mir eins, Joe. Sie sind ein Mann. Ein echter Kerl. Wirklich. Nicht irgendein Schauspieler, der den harten Typen mimt. Was würden Sie an meiner Stelle tun?« 36 »Ich weiß es nicht, Maggie. Die simple Wahrheit ist doch, daß ich nicht in derselben Liga spiele wie Sie.« »Wenn Ihnen jemand siebenhundertfünfzigtausend Dollar schuldet, würden Sie das Geld dann einfach abschreiben?« »Nein, wahrscheinlich nicht. Das würde ich wohl nicht tun. Aber für so was hat man Anwälte.« »He, wir sind hier in Hollywood. Kein Mensch hat behauptet, hier sei die Welt in Ordnung«, sagt sie. »Aber ich habe das Gefühl, als hätte ich mich verpflichtet, mit Piranhas zu schwimmen, und plötzlich merke ich, daß sich der große weiße Hai womöglich im gleichen Gewässer herumtreibt wie ich. Joe, ich muß wissen, womit ich es hier zu tun habe. Geht es um das, was sie behaupten? Oder ist meine Karriere vorbei? Habe ich irgendwo da draußen einen Feind, von dem ich nichts weiß? Läuft irgend etwas, von dem ich nichts weiß? Wenn ich versehentlich das Falsche sage, ist meine Karriere dann vorbei? Lassen sie mich dann genauso sang- und klanglos verschwinden wie Anita?« »Was erwarten Sie von mir?« sage ich. »Ich möchte, daß Sie herausfinden, was hier los ist. Ich möchte, daß Sie mich beschützen. Ich möchte, daß Sie sich um mich kümmern, Joe.« »Wieso ausgerechnet ich?« »Sind Sie bestechlich, Joe?« fragt sie, als wüßte sie darauf schon die Antwort, als kenne sie die Rolle, die ich spielen soll. »Ich weiß es nicht«, sage ich. Ich lächle. »Bis jetzt hat's noch niemand ernsthaft versucht.« »Falls sie es versuchen, kommen Sie vorher zu mir und holen sich ein Gegenangebot. Versprechen Sie mir das.« »Dürfte kein Problem sein.« »Vielleicht nicht. Aber ich werde mich jedenfalls von niemandem überbieten lassen«, sagt sie. 37 »Fahren wir zurück zur Firma. Ich lasse einen Vertrag aufsetzen.« Bei dieser Sache würde ganz schön was abfallen. Ich versuchte, meine Provision zu überschlagen. Aber so dicht neben Magdalena Lazlo zu stehen, tat meinen Rechenkünsten überhaupt nicht gut. »Ich möchte nicht, daß Sie auch nur ein Wort über diese Ermittlung verlauten lassen.« »Wie soll ich das denn machen?« »Lassen Sie sich von der Firma als meinen Leibwächter und Chauffeur abstellen. Rund um die Uhr. Ich brauche Schutz. Wirklich. Das ist eine ernste Sache, Joe. Erzählen Sie ihnen nichts von der anderen Geschichte. Das geht doch, oder?« »Maggie, Sie verstehen nicht ganz, wie eine Ermittlung funktioniert. Überlegen Sie mal, was Sie da an Personal, Ausrüstung, Kontakten, Organisation und Quellen brauchen. So etwas kann nur eine große Firma schaffen.« Das gehört natürlich zu unserem üblichen Verkaufsblabla. Diese Nummer ziehen wir immer ab, wenn wir einen potentiellen Klienten von einer Zwei-Mann-Klitsche abbringen wollen, die einen billigeren Preis verspricht. Abgesehen davon stimmt es auch noch. »Sie verstehen nicht, wie mächtig die sind. Stellen Sie sich RepCo als Exxon der Filmindustrie vor. Groß, skrupellos und mit ausgezeichneten Verbindungen. Überall. Wenn Ihre Firma weiß, was Sie tun, wird RepCo es innerhalb weniger Stunden auch wissen.« »Unser Ruf, diskret zu sein, absolute Diskretion zu wahren, ist alles, was wir haben. Das ist der springende Punkt«, sage ich. Noch mehr Blabla. Dann küßt sie mich. Zum Teufel, sie ist jünger als ich, aber sie hat schon mehr Filme gesehen, und vielleicht hat sie auch mehr Übung darin, jedenfalls macht sie es besser als ich. Außerdem bin ich nur ein ganz normaler Mensch. Wenn 38 Magdalena Lazlo mich küßt, kann ich nicht mehr daran denken, daß sie die geschiedene Maggie Krebs ist. Ich bin ein völlig normaler Durchschnittstyp - mein Schwanz ist doppelt so groß wie mein Gehirn. Irgendwie bringt sie es fertig, daß es wie mehr als das wirkt, mehr als nur meine Hormone in Aktion.
So als würde es wirklich etwas bedeuten. Besser kann ich es nicht ausdrücken. Danach greife ich in meine Tasche. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, wir rechnen damit, daß Klienten manchmal an den merkwürdigsten Orten über ihre Probleme reden wollen, weit ab von unseren fest installierten Kameras und Mikrophonen. Daher ist es üblich, daß wir immer einen Minirecorder mitführen. Ich nehme das Ding raus. Ich spule das Band zurück. »Warum setzen wir uns nicht einfach eine Weile hier hin und lassen unsere Unterhaltung vom Geräusch der Brandung löschen«, schlage ich vor. »In Ordnung, Joe«, sagt sie. Als das Band zurückgespult ist, drücke ich den Aufnahmeknopf und stelle den Recorder mit dem Mikrophon zum Pazifik in den Sand. Wir setzen uns. Seite an Seite. Maggie nimmt meine Hand. Sie hat mich in der Hand. Es ist, als würde sie mich in ihren Film mitnehmen. Eine echte Großproduktion mit erstklassigem Kameramann und Regisseur, den besten, die Hollywood zu bieten hat. 39 KAPITEL DREI Melvin Taylor war einer der Vizepräsidenten von Universal Security. Seine Karriere verlief langsam, aber stetig. Er war weder der Typ, der mit einem brillanten Schachzug über Nacht den Aufstieg schafft, noch besaß er jene Fähigkeiten, die ihn zum großen Zampano des Managements gemacht hätten. Aber er achtete darauf, daß in seinem Bereich nichts schiefging. Wie in vielen großen Konzernen ist der Weg nach oben lang und dornenreich und führt von kleineren Filialen zu größeren. Taylor hatte für die Firma in Columbia, South Carolina, gearbeitet; in Nashua, New Hampshire; Austin, Texas; Minneapo-lis, Minnesota; Phoenix, Arizona. Es gab zwei Filialen, die als letzte Bewährungsproben vor der Beförderung in die Zentrale nach Chicago galten: Los Angeles und Dallas. Vor drei Jahren war Taylor nach L. A. versetzt worden. Wenn eine wichtige Operation im Gange war, hatte er ein Auge darauf. Kaum hatte er gehört, daß Magdalena Lazlo U. See. einen Besuch abgestattet hatte, ließ er sich die Bänder davon bringen. Er beobachtete, wie sie den Flur entlangging merkwürdige, ruckende Bewegungen in Schwarzweiß -, Einzelbilder, um Band zu sparen, dies war ein Dokument, kein Kunstwerk. Stopp. Zurückspulen. Start. Er zögerte den Moment hinaus, wo er sehen würde, wohin sie ging. Genau so wartete er nach dem Essen mit seiner Zigarre. Für ihn war das ein Spiel. Er suchte nach dieser oder jener Ausflucht - den Aschenbecher zurechtrücken; genau die richtige, nicht zu trockene auswählen; entscheiden, ob er ein Streichholz oder das Feuerzeug nehmen sollte; die Tasse koffein4° freien Kaffee austrinken; zusehen, wie seine Frau in stummer Ablehnung die Lippen zusammenkniffum den Augenblick noch ein wenig länger hinauszuzögern. Er frequentierte einen Massagesalon zweier Vietnamesinnen, Mutter und Tochter. Jedenfalls behaupteten sie das. Er hatte nie nach ihren Ausweisen gefragt und stellte auch keine Nachforschungen über ihre Herkunft an. Sie behaupteten es, und nichts, was sie sagten oder taten, widersprach dem. Er suchte sie einmal die Woche auf. Dienstags, 17 Uhr 30 bis 19 Uhr. Sie massierten ihn und holten ihm einen runter. Wenn sie erst mal angefangen hatten, nachdem er die Kleidung abgelegt hatte, auf dem Tisch lag und einen Schluck Brandy zu sich nahm, etwa gegen 17 Uhr 38, bestand ihre Aufgabe darin, ihn hochzukriegen und ihn mehr oder weniger bis zur Ejakulation eine Stunde später in diesem Zustand zu halten. Die ultimative Übung in hinausgezögertem Genuß, wie er stolz bei sich vermerkte. Laß sie näher kommen. Stopp. Zurückspulen. Start. Hinausgezögerter Genuß, so fand Taylor, war das grundlegende Prinzip jeglicher Kultur, ob beim einzelnen oder in der Gruppe. Das war es offensichtlich -, was die europäischen Rassen so überlegen machte. Der gegenwärtige Niedergang Amerikas und der Aufstieg Japans war offensichtlich die Folge davon, daß man diese einfache und grundsätzliche Lektion vergessen hatte. Iß deinen Nachtisch erst, wenn du ihn dir verdient hast. Gib dein Geld erst aus, wenn du es verdient hast. Genieße erst, wenn du stärker bist als der Genuß und das beweisen kannst. Noch näher. Stopp. Zurück. Start. Näher. Stopp. Nein. Zu spät. Er hatte ein Bild zu weit vorlaufen lassen. Sie betrat das Büro von Joe Broz. Genau wie Taylorgedacht hatte. Er hatte die Luft angehalten. Nun atmete er aus und spürte Befriedigung bis tief in die Knochen. 4i In der unteren linken Ecke jedes Bildes erschien die Zeiteinblendung. Sie bezog sich auf die Zeit, als die Aufnahme gemacht wurde, nicht auf die Bandzeit. Taylor ging ans Tonband. Tonaufzeichnungen der U.-Sec.-Angestellten gab es nur zeitweise, nicht durchgehend. Studien bewiesen, daß die Drohung,
jederzeit abgehört werden zu können, das Verhalten der Angestellten ebenso wirkungsvoll kontrollierte wie ständige Observierung, dabei aber kostengünstiger war. Bloß konnte man in Situationen wie dieser auch mit heruntergelassener Hose erwischt werden. Die Tonbandaufnahmen waren mono. Die zweite Spur wurde für den Zeitcode verwendet, der, wie beim Video, die Zeit im Moment der Aufnahme registrierte. Das vereinfachte die Suche und Identifizierung erheblich. Taylor gab die Zeit vom Videobild ins Tonbandgerät ein. Dann holte er tief Luft und schloß die Augen. Er zählte langsam rückwärts. Diese Technik wandte er auch bei seinen wöchentlichen sexuellen Exerzitien an. Er hatte bemerkt, daß sich dies sehr gut zur Dämpfung der Erregung eignete. Manchmal ging er so darin auf, daß das Mutter-Tochter-Team mit allen Tricks arbeiten mußte, um ihn oben zu halten. Er schlug die Augen auf. Der Zeitcode lautete »14:28:16« - das System arbeitete mit einer 24-Stunden-Uhr. Das blinkende rote Licht bedeutete »Ready«. Er drückte mit der einen Hand auf den Abspielknopf am Tonbandgerät. Mit der anderen betätigte er den Pausenknopf des Videogeräts, um die Kassette laufen zu lassen und eine gewisse Synchronisierung zu erzielen. Er beobachtete, wie sich Magdalena Lazlo auf der Kante von Joe Broz' Schreibtisch niederließ. So als spiele sie eine Szene aus einem alten Marlene-Dietrich-Film - oder hatte er diesen Eindruck, weil das Video in körnigem Schwarzweiß war? Broz' Mund stand offen, und er sah Taylors Meinung nach so intelligent drein wie ein Rindviech. 42 »Heyjoe«, sagte Magdalena. »Haben Sie 25 Cents für mich übrig?« »Ja«, sagte Broz. Wirklich schlagfertig, dachte Taylor. »Warum laden Sie mich dann nicht auf eine Tasse Kaffee ein?« »Maggie, es gibt nur sehr wenig, was ich Ihnen ausschlagen würde.« War's das? Das war's? Und dann sind sie weggegangen - wohin? Und haben was gemacht? Und was gesagt? Wurde sie beobachtet? Rund um die Uhr? Er griff nach der Akte und hatte dieses Gefühl im Bauch, das er haßte. Er schlug die Akte auf. Natürlich nicht. Natürlich wußte er das. Er hatte sich selbst zum Sicherheitsbeauftragten in diesem Fall gemacht. Oh, sie hatten in einer Sitzung darüber geredet, und die übereinstimmende Meinung war, daß eine komplette Überwachung im Moment nicht angebracht sei, ja regelrecht kontraproduktiv wäre, da Lazlo dafür bekannt war, egozentrisch und sehr empfindlich zu sein. Aber wenn sie irgendwas Wichtiges übersehen hatten und die Operation ging schief, dann konnte er die Beförderung nach Chicago vergessen. Möglich, daß er sich dann in Newark wiederfand, als Leiter des Sicherheitspersonals in einem Supermarkt. Aber noch war Hopfen und Malz nicht verloren. Wenn sich herausstellte, daß Magdalena Lazlo wegen dieser Sache mit John Lincoln Beagle immer noch Ärger machte und gerade joe Broz mit hineingezogen hatte, dann hieß das, daß Joe bis zum Hals drinsteckte. Und darauf hatte Mel Taylor schon erheblich länger gewartet als auf ein kleines Nikotinhigh oder eine Ejakulation. Mel Taylor hatte zwanzig Jahre darauf gewartet, daß Joe Broz mal wieder in die Scheiße trat. 43 KAPITEL VIER Die »Schau nicht hin«-Geschichte ist eine der Urgeschichten. Gott erlaubte Lot, Sodom zu verlassen. Gott sprach: »Schau nicht zurück.« Lots Frau schaute zurück und wurde in eine Salzsäule verwandelt. Orpheus ging in die Unterwelt, um seine Frau von den Toten zurückzuholen. Hades, Gott der Unterwelt, sagte: »Schau erst hin, wenn du draußen bist.« Orpheus schaute trotzdem, und er verlor sie. Pandora, die erste Frau auf Erden, hatte eine Büchse. Sie war gewarnt worden, sie nicht zu öffnen, aber sie tat es dennoch, und all die Übel der Menschheit kamen heraus. Wenn eine Geschichte derart universal und grundsätzlich ist, dann gibt es dafür einen Grund. In jeder Kultur existiert im kollektiven Bewußtsein das Wissen, daß es Dinge gibt, die nicht dazu bestimmt sind, gesehen zu werden. Sie tauchen in den Geschichten als magische Gegenstände oder mythologische Objekte auf. Aber wir alle wissen, daß diese Geschichten Parabeln sind, Lernbeispiele, die wir in der Kindheit hören oder zumindest mit kindlichem Verstand, die wir zu Füßen unserer Mutter lernen, damit wir sie als Allgemeinregeln mit uns tragen, damit sie uns durchs Leben führen und wir überleben können. Außenminister James Addison Baker III war in Texas geboren und in Princeton ausgebildet worden. Er war bibelfest und kannte sich in der klassischen heidnischen Mythologie aus. Ein Teil von ihm reagierte auf die atavistischen Warnungen. Aber Baker war Rationalist und in rationalistischer Stim44 mung. Wenn er das Übernatürliche, das Paranormale, das Mythologische - mit Ausnahme des Christentums natürlich -öffentlich oder privat überhaupt erwähnte, dann nur abfällig. Wie in: »Der
arme Lee, die Drogen haben ihm den Verstand geraubt«, oder: »Ein Gehirntumor - Sie verstehen. Er drückt mir diesen Umschlag in die Hand, als ob es sich um die Büchse der Pandora handelt, und sagt, »Schau nicht rein!«« Also öffnete Baker den Umschlag natürlich, kaum daß er das Krankenzimmer verlassen hatte. So ließ sich die Zeit wenigstens effizient nutzen. Er hatte immer noch kein Telefon, keine Dossiers zu lesen, keinen Mitarbeiter, mit dem er sich beraten oder dem er Befehle erteilen konnte. Der Gang zum Fahrstuhl und die Fahrt nach unten waren die geeigneten 420 Sekunden, um sich Lee Atwaters letztem Memo zu widmen, dem Versuch eines Sterbenden, noch aus dem Grab heraus die Ereignisse zu beeinflussen. Zuerst las er schweigend. James Baker war schon seit langem ein Mann des öffentlichen Lebens und unterwarf auch noch seine zwanglosesten Äußerungen in der Öffentlichkeit einer strengen Zensur. »Baker ist nicht fähig, Leidenschaft zu zeigen«, konnte man lesen. »Wenn man Baker gegenübersitzt, dann ist das so, als ob man sich schwarze Seide ansieht... Stille... ab und an... ein recht kühles Lächeln. Er kontrolliert die Unterhaltung mit makellosen Sätzen, makellosen Abschnitten, makellosen Seiten.«8 Er drückte noch beim Lesen auf den Fahrstuhlknopf. Als der Fahrstuhl kam und die Türen zischend aufglitten, trat er ein, ohne aufzublicken. Es war ihm klar, daß er nicht allein war. Ein grüngekleideter Krankenpfleger und ein Patient auf einem Rollbett waren in dem Aufzug, ebenso wie die Überwachungs- und Sicherheitssysteme. Und dennoch sagte er: 45 »Ach du heilige Scheiße.« Er sprach leise, aber deutlich hörbar. »Atwater ist komplett übergeschnappt.« Dann sagte er, wenn auch nicht laut: Dieses Stück Papier darf niemals, niemals das Licht der Öffentlichkeit erblicken. Es muß vernichtet werden. Er hatte recht. All die Barrieren, die vernünftiges Handeln von Gedankenfreiheit trennen, bedeutungsvolles Handeln von irrelevanten Aktionen, gefährliche Reden von notwendigen Überlegungen, das Private vom Öffentlichen, waren durchbrochen worden. Das Militär zum Beispiel verwendete viel Zeit darauf, »Was wenn«-Szenarios zu entwickeln. Was tun wir, wenn »es eine russische Konterrevolution gibt und sie Raketen auf Moldawien, die Ukraine und Berlin abfeuern«? Wenn »es gewalttätige Unruhen in den Vereinigten Staaten gibt«? Wenn »China einen Krieg gegen Japan führt«? Jeder mit einem Funken Verstand würde dies als vernünftige Spekulationen betrachten, damit man eine Art Plan hat, wenn das Undenkbare eintritt. Aber nein! Wenn eines dieser Papiere an irgendein liberales Arschloch von Weltverbesserer geriet, dann reagierten die Medien, als plane der Präsident persönlich, Konzentrationslager einzurichten für alle, die 1968 nicht Richard Nixon gewählt hatten. Wenn ein Mann von Einfluß einen dreckigen Witz erzählte, seinen Schwanz in die Büchse irgendeiner heißen Pandora steckte oder seinem Unmut über eine Person oder Gruppierung in Begriffen Luft machte, die für irgendeine Minderheit beleidigend waren, dann war das Anlaß genug, um eine Karriere, sogar eine ganze Regierung zu vernichten. Vor allen Dingen, wenn die andere Seite einen Lee Atwater besaß, der wußte, wie man so was einsetzt. Dieses Memo, oder wie immer man das nennen sollte, war der reine Wahnsinn. Zuzugeben, daß irgend jemand in dieser Regierung jemals auch nur gedacht hatte, was Atwater aufgeschrieben hatte, würde sie alle vernichten. 46 Und dennoch verbrannte James Baker das Papier nicht, er zerriß es nicht in kleine Fetzen, um es aufzuessen, und er suchte nicht nach dem nächsten Reißwolf. Er steckte es ein. Und behielt es. 47 KAPITEL FÜNF Maggie wohnt am Strand. In Trancas, direkt oberhalb von Malibu. Ich wohne in Sherman Oaks. Beides liegt in Amerika. Das war ein Witz. Ich gebe Ihnen mal ein Bild davon. Ich in meinen drei Zimmern - Schlafzimmer, Bad und das Zimmer, das alles andere ist - beim Packen. Zwei große Koffer. Weil ich nämlich zu Maggie ziehe. Ich weiß nicht genau, was mir bevorsteht, also packe ich zuviel ein. Bei den Waffen bin ich mir nicht ganz sicher. Aber aus dem gleichen Grund, aus dem ich meinen guten Anzug und eine Badehose mitnehme, packe ich auch die Glock 17 mit Schulterhalfter, eine 9 mm Star mit Knöchelhalfter und die kleine Beretta 92 ein, die in ein Holster auf meinem Kreuz paßt. Alle benötigen 9-mm-Munition. Ich nehme meine Ausrüstung in den Fiberglaskoffern mit. Die Firma empfiehlt, daß wir sie wann immer möglich bei einem Auftrag dabeihaben. Es gibt drei Standard-Kits. Zum AS - Abwehrsystem - gehören: ein CMS-3, mit dem man RF-Wanzen, Trägerströme und Sender aufspüren kann; der DL-1000, das ist ein portabler Wanzendetektor; ein portabler Waffendetektor; Geräte zur Rückverfolgung von
Telefonanrufen und ein Chiffriergerät für Telefongespräche. Kit Nummer 2 enthält aktivere Systeme »für jene Momente, wenn Angriff die beste Verteidigung ist.« Ein EAR-200 - man kann damit durch Wände hören; ein Richtmikrophon für größere Distanzen; ein Gerät zur elektronischen Verfolgung von Fahrzeugen. Computer-Software, um den Zugang zu einem PC zu sperren. Ein Fernanlasser fürs Auto - für die 48 wirklich sicherheitsbewußten Zeitgenossen; es gibt Leute, die so was brauchen, glauben Sie mir. Eine Minox Infrarot-Kamera mit Infrarot-Blitz; dazu mehrere Mikrophone, Sender und Empfänger in Miniaturausführung. Das dritte Kit enthält eine Betäubungswaffe, einen Schlagstock, der Elektroschocks austeilt, kugelsichere Einlagen für die Aktentasche und verschiedene Arten von chemischen Keulen. All diese Ausrüstungsgegenstände beeindrucken die Klienten. Zumindest sagen uns das die Marketing-Ausbilder der Firma, und nach meiner eigenen Erfahrung ist das auch so. Die Leute, die uns engagieren, sind die gleichen Leute, die sich Mercedes und Porsche kaufen - die stehen auf technischen Schnickschnack. Außerdem ist die ganze Ausrüstung so was wie ein Dukatenesel. Alles, was man benutzt, berechnet man auch. »Möchten Sie, daß ich Ihre Telefonleitungen überprüfe, Sir?« Man packt ein 3 000 Dollar teures CMS-3 aus und berechnet für dessen Benutzung 150 Dollar die Stunde oder einen entsprechenden Teil davon. Die Klienten verstehen das. Man kann ihnen die Ausrüstung auch verkaufen. Es ist wie in diesem Werbespot von Honda - »Das Auto, das sich selbst verkauft«. Es sind Spielzeuge, nach denen sich die Leute sehnen. Möchten Sie nicht auch durch Wände hören können? Hören, was gesagt wird, wenn man das Zimmer verläßt? Wissen, was die Ehefrau macht, wenn man nicht zu Hause ist? Können Sie sich vorstellen, wie sich ein Typ fühlt, wenn er seine Aktentasche, in der sich normalerweise nur Papiere befinden, in ein Schild verwandeln kann, das eine .357er Magnum aufhält? Da wird jeder Bürohengst zum Macho. So was kostet dann 150 Dollar. Männer im aktiven Einsatz wie ich bekommen saubere zehn Prozent von allem, was wir verkaufen. Als ich davon sprach, Ihnen ein Bild geben zu wollen, meinte ich, wie klein und trostlos meine Wohnung ist. Was gibt's da 49 schon groß zu sehen? Allerdings habe ich ein interessantes Gemälde an der Wand. Es ist ein Original, Öl, gegenständlich. Es stellt eine Frau dar, die auf einem kalifornischen Weinberg steht und ein Baby auf dem Arm hält. Als ich aus Vietnam nach Hause gekommen bin, habe ich den Kram von diesem Jungen mitgebracht. Das Militär hat für so was die geeigneten Möglichkeiten und Kanäle - natürlich hat es die. Aber dieser Junge, Kenny Horvath, er war so was wie ein Freund von mir - er ist einen Tag vor dem Ende meiner Dienstzeit gestorben. Ich habe seinen Kram nach Hause gebracht. Seine Mutter hat mir das Bild geschenkt. Kenny hat es gemalt. Die Frau auf dem Bild war mal sein Mädchen. Das Baby war auch seines. Aber sie war schon längst zu einem anderen Mann gezogen, schon vor Kennys Tod. Das ist also der einzige Farbtupfer in dem Zimmer. Auf meinem Schreibtisch steht die Schwarzweißaufnahme einer Frau. Komisch, daß ich sie behalte. Die Purple Hearts liegen in der Schublade. Zwei Stück. Eins von meinem Dad, das andere von mir. Verschiedene Kriege, aber die Orden und die Schmuckkästchen, die man dazu bekommt, sind die gleichen geblieben. Es ist ein einsames Zimmer, das weiß ich. Ich kann sogar die Musik hören, die man einer Filmaufnahme davon unterlegen würde, höre sie in meinem Kopf. Dann der absolute Gegensatz. Man könnte die Autofahrt dazwischen zeigen, oder auch nicht. Ich jedenfalls tu's nicht. Ich mache einen harten Schnitt. Sorge sogar dafür, daß es ein wunderschöner Tag mit strahlender Sonne auf blauem Himmel ist. Im Landesinneren, Richtung L. A., gibt es Smog, aber da draußen bläst die Meeresbrise einfach alles weg. Die Brecher des Pazifiks rollen herein. Zwei Kids sind auf ihren Brettern draußen. Schwänzen die Schule - jedenfalls sind sie jung genug, daß sie eigentlich 50 in der Schule sein müßten. Ein alter Mann geht mit einem jungen Hund spazieren. Er wirft einen Stock. Der Hund rast los. Der alte Mann erinnert sich an junge Beine, Vitalität und ausgelassene Freude. Er ist dankbar, daß es jemanden gibt, der diese Dinge an seiner Stelle tun kann. Eine MalibuPrinzessin mit einem perfekten Privattrainer-Body joggt am Wasser entlang. Es gibt nur eine Reihe Häuser zwischen dem Pacific Coast Highway und dem Strand. Alle haben Zäune oder Mauern und am Eingang ein Metalltor mit Videoüberwachung und elektronischen
Schlössern. Das Haus unmittelbar südlich von Maggies ist eine Tudor-Villa. Das Haus im Norden ist eine Hazienda. Maggies Haus ist im zeitgenössischen kalifornischen Stil, viel Holz und Glas. Es hat eine kreisförmige Zufahrt. Im Vorgarten wachsen Kakteen und Wüstenpflanzen im Wert von Tausenden Dollar. Die Haustür ist überdimensional und aus irgendeinem Tropenholz. Die Beschläge sind aus Messing, und das Messing ist poliert. Sie hat ein neues Hausmädchen. Die Neue öffnet die Tür. Sie erwartet mich. Auch das sagt einiges über Maggie. »Guten Tag, Mr. Broz«, sagt sie. Sie ist eine ältere Frau. So um die Mitte Fünfzig, schätze ich. Irin, mit deutlichem Akzent. Wie ich später erfahre, ist sie eine illegale Einwanderin. Aber sie macht sich deswegen keine großen Gedanken. Die Grenzpolizei wird sie nicht auf offener Straße aufgreifen und abschieben, genausowenig wird man sie bei einer routinemäßigen Verkehrskontrolle nach ihrer green card Fragen, und das weiß sie. »Sie können mich Joe nennen«, sage ich, während ich mich umschaue. »Das werden wir erst noch sehen«, sagt sie. »Okay«, sage ich. »Wie heißen Sie?« 5i »Mrs. Mulligan«, antwortet sie. »Gibt es auch einen Mr. Mulligan?« »Es gab einen, aber der ist tot.« »Tut mir leid.« »Nicht nötig. Niemand vermißt ihn. Ich jedenfalls nicht. Sie sollten sich lieber entscheiden, ob Sie reinkommen oder einfach nur das Haus anstarren wollen.« »Ich komme rein. Danke«, sage ich. »Keine Ursache. Nehmen Sie im Wohnzimmer Platz. Die Missus wird gleich bei Ihnen sein. Möchten Sie eine Erfrischung? Ich kann Ihnen gern einen Drink machen, auch wenn es meiner Meinung nach dafür noch ein bißchen früh ist. Sie können aber auch ein Glas frisch gepreßten Saft bekommen. Gemüse- oder Obstsaft. Ich kann Ihnen auch Wasser aus sechs verschiedenen Ländern anbieten, mit oder ohne Kohlensäure. In Irland fällt's vom Himmel und kostet nichts.« »Saft klingt nicht schlecht«, sage ich. »Ist eine Menge Arbeit, aber es ist ja schließlich mein Job«, stöhnt sie. Sie läßt mich allein. Ich schaue mich um. Das Wohnzimmer geht über zwei Etagen. Auf halber Höhe und über zweieinhalb Seiten zieht sich eine Galerie. Mehrere Türen gehen zu Schlafzimmern ab. An einer Seite führt eine Treppe herunter. Sie steht ein Stück von der Wand ab, und die Wand dahinter ist aus Natur- oder Kunststein, über den ein Wasserfall plätschert. In den Nischen der Steine wachsen Pflanzen. Darunter ein Teich mit lebenden Fischen. Die vierte, zum Strand liegende Hauswand besteht fast ausschließlich aus Glas. Unter der Galerie gibt es andere Türen, die zu weiteren Zimmern führen. Eine Küche, ein Eßzimmer, ein Vorführraum. Zwei Bilder an den Wänden. Das eine wirkt sehr französisch, eine Ansammlung von Färbtupfern. Das andere sieht aus wie 52 eine alte 3-D-Zeichnung, kombiniert mit einem Gemälde. Es sieht aus wie dieses Bild von Gott und Adam aus der Sixtinischen Kapelle, nur daß Adam Elvis ist, und Gott eine Coke-Flasche in der Hand hält. Ich werfe einen näheren Blick darauf und sehe, daß es eine altmodische 3-D-Brille aus Pappe gibt, um es in seiner ganzen Pracht bewundern zu können. Es ist ein Original von James Trivers. Ich habe das Gefühl, als hätte ich das alles schon mal gesehen - bis auf das Gemälde. Nichts Mystisches, auch kein Dejavu-Erlebnis, sondern eher in der Richtung, als wäre das Haus schon mal in einem Film oder im Fernsehen als Kulisse benutzt worden. Vielleicht wurde es von einem Designer entworfen, der auch Bühnenbilder macht, oder von einem Architekten, der seine Inspirationen hauptsächlich aus Filmen über Hollywood bezieht. Was ich herausfinden möchte, indem ich mir das Haus ansehe, ist aber etwas ganz anderes. Dann kommt sie. Aus einem der Zimmer in der oberen Etage. Barfuß, Jeans, Baumwollhemd. Locker, lässig, perfekt. Das Baumwollhemd ist wie ein Herrenhemd geschnitten, aber es ist kein Männerhemd - es ist ihr Hemd. Jetzt wird mir auch klar, wonach ich eigentlich suche - nach Spuren eines Mannes. Lebt sie allein oder nicht? Das hier soll eine rein berufliche Beziehung sein. Ist es aber nicht. Was mache ich, wenn ihr Lover aufkreuzt? Wenn sie von einer Party zurückkommt und jemanden für die Nacht mitbringt? Oder von einem Lunch, um sich einen Film anzusehen? Wie soll ich das wegstecken? Ich bin ein Profi. Bin es schon ziemlich lange. Aber bei dieser Sache habe ich von Anfang an aufgehört, Profi zu sein. Am Strand. Als ich die Bänder löschte. Die Unterlagen frisierte. Der Paranoia einer Klientin nachgab. In ihrem Interesse und nicht dem der Firma handelte. Es noch schlimmer machte, als 53 ich einen falschen Bericht schrieb. Warum sollte ich so was tun? Weil sie mich geküßt hat? Vielleicht
ist es sogar noch früher passiert, als sie in mein Büro kam, wie ein Filmstar aussah - was sie ja auch ist - und ihren Text wie das Skript zu einer Filmszene abspulte - was er ja auch war. »Hijoe«, sagt sie. »Daß Sie. jetzt hier sind, wirkt sehr beruhigend auf mich.« »Ja. Schönes Haus. Wirklich nett.« »Danke«, sagt sie und sieht mir dabei direkt in die Augen. Ich wende den Blick ab. Nichts ist unwiderruflich. Ich kann noch zur Vernunft kommen, den Bericht um die Information ergänzen, daß sie mich nach meiner Ankunft darum gebeten hat, all diese anderen Dinge zu überprüfen. Das kann ich machen. Kann wieder auf den richtigen Weg zurückkehren. »Sie müssen mir alles zeigen«, sage ich. »Einschließlich Sicherungskästen, Waschküche und Heizraum. Das heißt, falls Sie wissen, wo die sind.« »Ich weiß es«, sagt sie. »Und wir müssen über die Sicherheitseinrichtung sprechen. Beim Reinkommen habe ich die Videoüberwachungsanlage gesehen. Wir sollten auch zusammen einmal das gesamte Terrain abgehen.« »Das Terrain?« »Alte Gewohnheiten«, sage ich. »Außerdem finden manche Klienten es gut, wenn ich so rede. Ihnen gefällt die Vorstellung, daß sich ein ehemaliger Marine um ihre Sicherheit kümmert.« »Ich glaube, mir auch«, sagt sie. »Und wohnt hier« - ich sage das so beiläufig, wie es nur geht - ich glaub's einfach nicht, meine Kehle ist knochentrocken -»noch jemand. Zur Zeit.« »Joe.« Sie sagt meinen Namen und schweigt, damit ich sie ansehen und ihr zuhören muß. »Es gibt niemanden.« 54 »Das erleichtert manches«, sage ich. »Nur Mrs. Mulligan«, sagt sie. Natürlich hatte sie recht, die Haushälterin nicht zu erwähnen, als sie die Frage zunächst beantwortete, denn danach hatte ich nicht gefragt, und das weiß Maggie. »Und jetzt sollten wir einen Platz für Sie finden«, sagt sie. »Der traditionelle Platz für einen Chauffeur und Leibwächter ist ein Apartment über der Garage. Ich wette, dieses Haus hat auch eins.« »Hat es«, sagt sie. »Sah auch so aus.« »Aber ich finde, Sie sollten hier im Haus bleiben. Oben ist ein Gästezimmer.« »Wo ist Ihr Zimmer?« »Auch oben. Zwei Türen weiter. Ist das ein Problem für Sie?« Zwei Türen und ein paar Meter zwischen uns. War das ein Problem für mich? Es war kein Problem für mich, als sie bei all den anderen reichen Leuten hier draußen am Strand und ich im Valley bei dem Smog war. Nachdem ich jetzt weiß, daß es ein freies Gästezimmer zwei Türen von ihrem Schlafzimmer gibt, in dem ich meine Taschen parken und mein Haupt niederlegen kann, gibt es wahrscheinlich keinen Ort auf der Welt, der für mich weit genug entfernt ist, um das wieder vergessen und in Frieden schlafen zu können. Es gibt nur einen einzigen Ort auf der Welt, an dem ich mich noch wohl fühlen werde. »Ist in Ordnung«, sage ich. »Joe.« Sie kommt näher und legt eine Hand auf meinen Arm. »Was passiert, passiert.« »Sie haben gut reden.« »Wirklich?« »Hier kommt der Orangensaft für Sie beide«, ruft Mrs. Mulligan. Sie hört sich wie etwas an, das man in einer nebligen Nacht vor einer Felsenküste hören könnte. 55 »Danke, Mary«, sagt Maggie. Der Saft hat etwas weniger als Zimmertemperatur. Süß und aromatisch. Er gräbt sich durch die Trockenheit in meiner Kehle. »Danke, Mary«, sage ich. »Haben Sie schon entschieden, wo Sie schlafen werden?« »Ja.« »Schön, dann packe ich Ihre Koffer aus. Reinholen müssen Sie Ihr Gepäck aber schon selbst. Sie sind schließlich ein strammer Bursche, wenn auch nicht besonders groß.« Ich hole zuerst mein Gepäck ins Haus. Dann die Fiberglaskoffer. Sie sind abgeschlossen, und ich sage Mary, sie solle die Finger davon lassen. Sie packt schnell und effizient meine Kleider aus. »Sieh sich einer so was an«, sagt sie, als sie die Waffen entdeckt. »Sind wir hier am Strand von Kalifornien oder in irgendeiner kleinen Seitenstraße in Belfast?« »Kommen Sie von dort?« »Nein«, sagt sie, »aus Roscommon mitten auf dem Land. Nicht so gefährlich, aber genauso arm.« Als wir wieder nach unten gehen, telefoniert Maggie. Sie sitzt auf dem Sofa und hat die Beine untergeschlagen. Ich warte. Als sie fertig ist, sage ich: »Ich möchte jetzt das Terrain inspizieren.« Ich lächle. Sie lächelt ebenfalls. Unser erster privater Scherz.
»Ich muß arbeiten«, sagt sie. »Das heißt, ich muß telefonieren und so tun, als würde ich nur belangloses Zeug reden, während ich mir zusammenreime, wer gerade welchen Film macht und wer wen aus welchem Deal herausdrängt. Soll ich Ihnen den ganzen scharfen Hollywood-Klatsch erzählen?« »Ist schon in Ordnung«, sage ich. »Lassen Sie sich von Mary herumführen oder schauen Sie sich doch einfach auf eigene Faust um.« 56 »Haben Sie heute schon etwas vor? Außer den Anrufen.« »Dinner im Morton's - Himmel, wünschen Sie sich nicht auch, daß >In< - Lokale gleichbedeutend mit gutem Essen wären?« »Ich habe noch nie im Morton's gegessen«, sage ich. »Nur damit wir beide wissen, mit wem Sie es hier zu tun haben: Meine Vorstellung von Essengehen ist ein mexikanischer Schuppen, der so billig ist, daß es sich sogar Mexikaner leisten können.« »Tut mir leid, Joe«, sagt sie. »Ich wollte Sie nicht -« »- daran erinnern, daß Sie reich sind, und ich nicht. Daß Sie« - ich schau mich in dem sieben Meter hohen Wohnzimmer mit dem unverbauten Meerblick und dem eingebauten Wasserfall um - »ein Filmstar sind, und ich einfach nur ein normaler Mensch. Kein Problem für mich. Meistens weiß ich, wer ich bin. Ich will nicht, daß Sie das vergessen.« »Es gibt...«, sagt sie und kichert. Ein mädchenhaftes, bezauberndes Kichern. Es ist durchaus möglich, daß alles an ihr perfekt ist. Wahrscheinlicher allerdings ist, daß ich mich in diesem von Hormonen vernebelten Geisteszustand befinde, der meine Wahrnehmung in einen goldenen Schimmer taucht. Lassen Sie uns erst zwanzig Jahre Zusammensein, und ich bin überzeugt, ich werde anfangen, ihre Fehler zu sehen, und ihr warmes, überschwengliches Lachen wird mir allmählich auf die Nerven gehen. Das muß zwangsläufig so kommen. »Es gibt...?« »Es gibt Filme über haargenau diese Situation. Die reiche Frau und ihr Chauffeur. Falls man sich Filme als Vorbild nehmen will.« Ich befinde mich hier auf unsicherem Boden. Absolut. Ich will es nicht anders. »Und das wollen Sie? Eine Szene spielen?« »Sie sind ein ernsthafter Bursche, Joe. Ein echter Kerl. Des57 halb habe ich Sie hier haben wollen. Das sollte ich nicht vergessen«, sagt sie. »Okay«, sage ich. Was auch immer das alles bedeuten sollte. »Ich muß jetzt telefonieren«, sagt sie entschuldigend. »Halten Sie mich einfach über Ihren Terminplan auf dem laufenden. Ich werde mich nach Ihnen richten. Dafür bin ich da, dafür haben Sie mich engagiert.« Und sie hatte mich engagiert. Sie hatte für meine Dienste mit der Firma einen Vertrag abgeschlossen und unsere Preisliste erhalten. Es handelt sich dabei um einen Vertrag, bei dem sich der Klient bewußt sein soll, daß alles, was wir zusätzlich an Ausrüstung und Arbeitskräften liefern, extra berechnet wird und aufgrund der vorherigen Bekanntgabe der Tarife rechtsgültig ist. »Heute möchte ich das Gelände inspizieren und meine Vorschläge ausarbeiten. Heute abend fahre ich Sie zu Ihrem Dinner und wieder nach Hause. Es sei denn, Sie haben andere Wünsche. Dazwischen werde ich einige Stunden Zeit haben, die ich gern privat nutzen möchte. Ich laufe und mache einige andere Dinge, um in Form zu bleiben. Obwohl ich mir durchaus bewußt bin, daß man mir das nicht direkt ansieht.« »Sie wollen zwei Stunden vor Morton's herumsitzen, während wir essen? Aber natürlich. Irgendwie... Ich hatte noch nie... ich hatte noch nie einen Privatchauffeur. Natürlich bin ich schon oft und viel gefahren worden. Die Studios schicken immer Limousinen. Aber selbst wenn ich freundlich bin und mit den Fahrern rede, mich nach ihren Namen erkundige und denen ihrer Kinder, mir Mühe gebe, charmant und menschlich zu sein, sind die Fahrer eigentlich keine... Natürlich sind sie Menschen. Aber für mich sind sie in erster Linie Chauffeure und danach erst Menschen. Das ist verwirrend. Sie dagegen sind für mich in erster Linie Mensch.« »Nett, daß Sie das gesagt haben«, sage ich. Ich bin darüber er58 staunt - es ist die Wahrheit. Ich habe früher schon mit Stars gearbeitet. Stars sind Leute, die sich von ihren allerbesten Freunden herumkutschieren und die Autos wienern lassen und sich überhaupt nichts dabei denken, wenn ihre allerbesten Freunde zwei oder vier oder sechs Stunden vor einem Restaurant warten und nichts anderes tun, als dahinzuvegetieren. Sie finden, daß die allerbesten Freunde ihrer Kindheit und Jugend dankbar sein sollten, überhaupt einen Job zu haben, geschweige denn einen, der es ihnen ermöglicht, am Leben der High Society teilzunehmen und die Krümel unter den Tischen der oberen Zehntausend aufzulesen. Vergessen Sie nicht, Star heißt Stern, auch die Sonne ist ein Star, und die Sonne glaubt, die Planeten existierten allein zu einem einzigen Zweck, nämlich sich auf
Kreisbahnen um sie herumzubewegen. Mrs. Mulligan weiß nur wenig mehr über das Anwesen als ich. Sie ist erst ein paar Tage hier. Das ganze Haus ist auf allen Seiten, einschließlich der Strandseite, von einer Mauer eingefaßt. Wohnzimmer und Terrasse liegen hoch genug, daß man über die Mauer hinwegschaut, ohne sie überhaupt wahrzunehmen. Das Eingangstor besteht aus Eisenstäben. Die Tür zum Strand ist eine angemessen massive Holztür. Beide sind mit der Alarmanlage und der Videoüberwachung verbunden. Beide Systeme, registriere ich automatisch, wurden von einer anderen Firma als der unseren erworben und gewartet. Es gibt kein System, daß die Mauer selbst sichert. Ich könnte in Sekunden drüberklettern. Genau wie jeder andere Eindringling. Wir haben Formblätter und Checklisten, die uns bei solchen Inspektionen behilflich sind. Diese Informationen können anschließend zur weiteren Analyse in einen Computer gefüttert werden. Das ist eigentlich eine Verkaufshilfe, wie gründlich die Analyse ausfällt, hängt davon ab, wie bedroht 59 sich der Klient fühlt und welche finanziellen Möglichkeiten er hat. Die ausgeklügelten Sicherheitsanlagen habe ich Mitte der achtziger Jahre installiert, als ich für sechs Monate an unser Büro in Miami ausgeliehen wurde. Das war zu der Zeit, als dort unten alles auf einmal passierte: Drogen und Waffen und Geld, Marielitos9 und Kolumbianer und Jamaikaner, alle sahen Miami Vice und wollten Krieg spielen. Dank uns verwandelten sich nicht wenige Wohnungen in elektronisch gesicherte Privatfestungen mit voller Systemredundanz. Natürlich hatten diese Leute sowohl das Bedürfnis als auch den Willen zum Töten. Anders die Menschen in Maggies Leben - ich habe begriffen, daß deren Vorstellung von Mord ein intriganter Telefonanruf ist, mit dem der nächste Filmvertrag des Opfers gekillt wird. Klar, es gibt unter den Reichen und Berühmten auch jene, die auf Drogentrips durchdrehen oder einer De-LuxeVersion von Wahnsinn anheimfallen und dann gewalttätig werden. Aber solche Leute klettern nicht über Mauern. Sie befinden sich bereits hinter dem Tor. Das hier ist nicht Miami, und auch nicht Vietnam. Hier muß ich nicht damit rechnen, in einen Schußwechsel zu geraten. Mich eingraben, während die Granatwerfer über die Mauer ballern. Luftunterstützung anfordern. Das eigene Artilleriefeuer im Auge behalten, das ungemütlich nahe kommt. Am Ende meiner Inspektion bin ich jedenfalls ziemlich schmutzig und verschwitzt. Ich gehe auf mein Zimmer und ziehe Shorts und T-Shirt an. Als ich durchs Wohnzimmer wieder nach draußen gehe, ist Maggie immer noch mit Telefonieren beschäftigt. Sie hat kaum ein Nicken für mich übrig. Ich gehe auf die Terrasse, dann die Außentreppe runter und durch die hintere Tür zum Strand. Zu Hause muß ich in meinen Wagen steigen und zu einem 60 der Parks oder rauf zum Mulholland Drive oder sonstwohin fahren. Anschließend muß ich völlig durchgeschwitzt wieder nach Hause fahren, und wenn ich in einem Stau steckenbleibe, verbringe ich am Ende mehr Zeit im Auto als auf den Beinen. Entweder das oder aber auf den Straßen laufen und Auspuffgase einatmen. In den Canyons, wo es rauf und runter geht, laufe ich ungefähr sechs Meilen. Hier, wo es flach ist, nehme ich mir acht bis zehn Meilen vor. Wenn es sein muß, schaffe ich auch mehr. Ich werfe einen Blick zurück. Da ist Maggie. Sie steht auf der Terrasse. Sie telefoniert immer noch, beobachtet mich aber. Ich laufe schnell, versuche, ihr Bild aus dem Kopf zu bekommen. Auf meiner inneren Leinwand taucht sie immer wieder auf, und wir agieren gemeinsam in verschiedenen Szenen. Manchmal geht's dabei um Sex, manchmal um kompliziertere Dinge. Endlich, endlich verbanne ich sie aus meinen Gedanken, und alles wird leer. Dann kommt der Krieg, was normalerweise immer passiert, wenn ich laufe. Das ist schon okay. Weil es nur Bilder sind. Kein Ton. Keine Gerüche. Verstehen Sie, es ist nicht wie ein Traum, der einem schreckliche Angst einjagt, kalten Schweiß hervorruft und einen schreiend aufwachen läßt, Schreie in den Ohren, und die Nase voll von diesen eigentümlichen Gerüchen nach Ausrottung. Verbrannte Körper, die Eingeweide von Körpern, die aus ihren Hautsäcken herausquellen. Nein, es ist einfach nur eine Abfolge von Bildern. Nur Bilder. Ein Spielplan. Manchmal, wenn ich mich richtig hineinsteigere, verwandelt er sich in eine Art Landkarte, wie bei einem Videospiel, auf der ich den Weg sehen kann, den ich nehmen muß, um lebend rauszukommen. Der Weg, den ich gegangen bin. Der Mine ausweichen, bloß weg von dieser Sprengfalle, hinter den Baum da, raus aus der Schußlinie. Ich versuche, auch anderen den Weg zu zeigen, aber es geht nicht. Überleben ist eine sehr persönliche Angelegenheit. 61
Als ich zurückkomme, fließt der Schweiß in Strömen, und die Bilder sind verschwunden. Es gibt nur noch den Strand und die nebeneinander aufgereihten Häuser reicher Leute. Maggie steht auf der Terrasse und beobachtet mich. Als ich dort oben ankomme, ist sie fort. Was mir angenehm ist. Ich mache, was ich sowieso gemacht hätte - zweihundert Sit-ups und hundert Liegestütze. Ich kann mehr. Aber wozu? Ich bin nicht mal völlig sicher, wieso ich das alles überhaupt mache. Warum ich fit bleiben will. Es ist ja nicht so, daß mich die Marines für einen anderen Krieg wieder einberufen werden. Sie ist wieder da, als ich fertig bin. Sie lächelt mich an. »Ich muß duschen«, sage ich. Das Bad ist so groß wie ein Kinderzimmer. Und das ist nur das Gästebad, nicht mal das richtige. Ich steige unter die Dusche und drehe den heißen Strahl voll auf. Der Raum füllt sich mit Dampf. Das Wasser klatscht mir auf den Rücken. Ich wasche mich. Ich warte darauf, daß Maggie die Tür öffnet und durch den Nebel eintritt. Ich warte vergebens. Ich bin abgetrocknet und angezogen, als Ray Matusow kommt. Er ist da, um das Haus nach Wanzen abzusuchen. Ich könnte das auch selbst erledigen, aber es macht mehr her und ist teurer, Ray kommen zu lassen. Außerdem kann er das besser. Er ist einer der Besten in der Branche. Ich habe es Maggie gegenüber nicht erwähnt, denn falls jemand zuhört - was durchaus möglich ist, auch wenn ich es eigentlich nicht erwarte -, wieso die Typen warnen? Manche Abhöreinrichtungen können passiv geschaltet werden und lassen sich im deaktivierten Zustand unter Umständen nicht aufspüren. Im wesentlichen gibt es zwei Methoden, Abhörgeräte zu finden. Die eine ist der Impedanztest. Ist da mehr Widerstand auf einer Leitung, als sein sollte? Die andere ist ein Sendetest. Man macht irgendein Geräusch; benutzt einen oder mehrere Empfän62 ger; gleichzeitig sucht man schnell alle entsprechenden Frequenzen ab und prüft, ob die Geräusche übertragen werden. Ray ist gründlich. Er überprüft sämtliche Telefone. Besonderes Augenmerk richtet er auf all die Stellen, an denen wir normalerweise eine Wanze verstecken würden: Steckdosen, Stereoanlage, Lampen und andere elektronische Geräte. Er überprüft die Autos. Alles in allem braucht er vier Stunden. »Sauber«, sagt er. »Gute Arbeit. Danke, Ray«, sage ich. Eine Sache weniger, um die Maggie sich Sorgen machen muß. Außerdem haben wir so das Privileg des Unbeobachtet seins, falls sich tatsächlich das ereignet, was mich so ungeheuer beschäftigt. Sie zieht sich fürs Dinner um. Stylt ihre Haare und legt Makeup auf. »Haben Sie das alles gemacht, um jemanden zu beeindrucken?« frage ich sie. »Ich will alle beeindrucken. In unserer Branche beobachtet jeder jeden.« »Es funktioniert«, sage ich. »Danke, Joe.« In der Garage stehen drei Wagen. Ihr Porsche, der Seville und mein alter Ford. Wir nehmen den Porsche. Bei Morton's angekommen, fängt sie wieder an, sich zu entschuldigen, daß ich warten muß. »So ist's nun mal«, sage ich. »Sie sollten mit mir hineingehen«, sagt sie und steigt aus. Als sie außer Hörweite ist, sage ich: »Verdammt wahr.« Nach dem Dinner ist ihre Stimmung gedrückt. Wir unterhalten uns nicht. Sie lächelt mich an. Sie schaltet das Radio ein. Wir haben Glück. Es ist Patsy Cline. Mary Mulligan scheint wegen uns nicht aufgeblieben zu sein. 63 Das ist gut. Wir fühlen uns in diesem großen, leeren Haus allein. Über dem Wasser steht sogar der Mond, eine gebrochene silberne Linie, weiße Gischt. Wenn ich diesen Film schreiben würde, wäre ich groß und schlank und elegant. Ich wäre Fred Astaire, und ich würde sie in die Arme nehmen und mit ihr auf die Terrasse hinaustanzen, und wir würden nur für uns tanzen. Aber ich bin klein, und ich bin massig. Massig wie eine Ziegelwand. Sie küßt mich flüchtig auf den Mund. Ein »Entschuldigung«-Kuß. Ein »Tut mir leid«-Kuß. Ein »Du bist süß, aber ich werde dich heute nacht nicht bumsen«-Kuß. Wir alle haben mit diesem Kuß schon sehr früh Erfahrung gemacht. Es ist nicht mein Lieblingskuß. Aber ganz sicher erkenne ich ihn. Sie geht nach oben. Ich sehe ihr nach. Dann folge ich. Trotz meiner Lauferei, den Sit-ups und den Liegestützen lastet jedes einzelne meiner Jahre schwer wie Blei auf meinen Knöcheln, und das Treppensteigen ist eine Anstrengung, von der ich ganz außer Atem bin. Ich ziehe mich aus und frage mich, was für ein Narr ich eigentlich bin. Ich kann nicht einschlafen. Ich lasse noch einmal die Ereignisse des vergangenen Tages Revue passieren. Ich gehe alles durch. Vom Packen und den Gedanken, die von meinem Unterleib aufgestiegen sind und von meinem Kopf Besitz ergriffen haben,
über die Fahrt durch die schlechte Luft von L. A., bis zum Anblick dieses Hauses. Das Hausmädchen. Die Autos. Der frisch gepreßte Orangensaft. Wort für Wort die Unterhaltung mit Maggie. Das Laufen. Ray, der alles kontrolliert. Maggie Krebs, angezogen fürs Dinner, verwandelt sich in Magdalena Lazlo, Filmstar. Ray, der alles kontrolliert. Irgend etwas ist mit Ray, der alles kontrolliert. Ich weiß nicht, was es ist. Ich spule zurück, lasse es noch mal abspielen. Inzwischen ist es mindestens vier Uhr morgens. Ich habe die 64 Laken zerwühlt und die Bettdecke weggetreten und versucht, in Stellungen einzuschlafen, von denen ich genau weiß, daß es nicht funktionieren wird, und die Tatsache, daß Maggie nur ein paar Meter entfernt von mir schläft, schlägt genauso auf mein Bewußtsein wie die Wellen auf den Strand. Also sage ich, zum Teufel damit. Ich öffne den Koffer mit dem Kit 2 und nehme mein CMS-3 heraus. Ich werde alles, was Ray gemacht hat, noch mal machen, die ganze Situation noch einmal durchgehen, mal sehen, ob ich dann dahinterkomme, was mir keine Ruhe läßt. Mal sehen, ob ich die Träume von Maggie nicht vertreiben kann, indem ich mich mit etwas beschäftige. Ich ziehe Jeans und ein T-Shirt an und gehe barfuß nach unten. Als erstes nehme ich mir die Telefone vor. Das ist am einfachsten. Mein CMS-3 an> daß das Telefon angezapft wird. 65 KAPITEL SECHS In der Präsidentenkabine der Air Force One gibt es zwei Betten. Wenn Barbara Bush nicht mit ihrem Mann reist, dann übernimmt Jim Baker die zweite Koje.10 »Bushie«", sagte Jim und lehnte sich in die Kissen zurück, die an die Wandseite des Betts gelehnt waren, »ich war die Tage in Houston unten .. .« Beide liebten es, texanisch zu sprechen. Das war so eine Macho-Sache zwischen ihnen, bezeichnend für ihre Männerfreundschaft. »... und dieser alte Bursche, der kommt also zu mir, und er sagt...« Es war der Beginn einer zotigen Geschichte. Beide mochten sie Zoten. Aber Himmel, sie mußten achtgeben, wo sie sie erzählten. Wenn irgend so ein Pressefritze jemals mitbekam, wie George Herbert Walker Bush sagte: »Frage: Weißt du, warum der Herrgott den Frauen Mösen gegeben hat? ... Antwort: Damit die Männer mit ihnen reden«, dann würde jeder schlapp schwänzige liberale Kommentator Bushs Pimmel durch den Fleischwolf drehen und rumjammern von wegen politisch inkorrektem Denken, Frauenfeindlichkeit, Sexismus, Sandra Day O'Connor und weiß der Henker was nicht noch alles. »Weißt du was«, sagte Bush, »das hat was mit dieser Vision zu tun. Sag mir die Wahrheit... du warst doch... du weißt schon, bei ihm, und jetzt bist du ...« Er meinte »bei mir«, sagte es aber nicht. Baker verstand. Bush machte das andauernd. Unvollständige Sätze. Halbe Gedanken. Unverknüpfte Ideenstränge. Ihm war Ronald Reagan. Bakers politische Karriere hatte mit George Bush begonnen. 66 Er managte Bushs Wahlkampagne, als er gegen Ronald Reagan antrat, um 1980 republikanischer Präsidentschaftskandidat zu werden. Baker, der ahnte, aus welcher Richtung der Wind wehen würde, und der es auf die Vizepräsidentschaftskandidatur für seinen Schützling abgesehen hatte, redete Bush aus, seinen Rivalen allzu heftig zu attackieren, und brachte ihn dann dazu, sich früher zurückzuziehen, als er es sonst getan hätte. Die Reagan-Leute waren so von Bushs Manager beeindruckt, daß sie ihn baten, Reagans Stabschef zu werden. Er akzeptierte. Genauso, wie Bush den Posten als Vize akzeptierte. Im Weißen Haus unter Reagan war Baker eine einflußreichere Gestalt gewesen als Vizepräsident Bush. »Schau dir die Umfragen an«, sagte Bush. Was heißen sollte: Schau dir mal an, wie ich in den Umfragen abfalle, aber Reagan ist immer noch beliebt, dabei tue ich exakt das, was er getan hat, wieso habe ich also ein Problem? »Also, Bushie, alter Kumpel«, sagte Baker und zog sich die Cowboystiefel aus - elegante, achthundert Dollar teure Cowboystiefel, passend zum Nadelstreifenanzug, aber immer noch Texas, wenn Sie verstehen, was ich meine -, »der Kerl konnte einen größeren Scheiß verzapfen als irgendwer vor oder nach ihm. Also, wenn du dir einen Bullen vorstellen kannst, der soviel Scheiß produzieren kann, dann hast du den Bullen, der Texas geschissen hat.« Er zog den zweiten Stiefel aus und wackelte mit den Zehen. Cowboystiefel sind Zehenquetscher, da besteht kein Zweifel, selbst wenn sie maßgefertigt sind. »Wann ist Showtime?« fragte Bush Baker. »In fünf Stunden«, sagte Baker. Bush seufzte. Es ist schwer, Präsident zu sein. Offengestanden ist es schwerer, als Schauspieler zu sein. Weil Schauspieler gar nicht so oft arbeiten und sich niemand drum schert,
6? wie beschissen sie drauf sind. Solange die Kasse stimmt. Der Präsident hat den ganzen Tag Unterredungen. Dann fliegt ihn sein Hubschrauber raus zur Air Force One. Obwohl er ein ganzes Flugzeug als privates Hotelzimmer hat und ein zuvorkommendes Team, das jeden seiner Wünsche erfüllt, wird er in zwei oder sechs oder acht Stunden wieder aussteigen müssen, nachdem er einen Teil davon oder die ganze Zeit in der Luft verbracht hat, und aufmerksam, tatkräftig und gesund erscheinen müssen, so als habe er genug Schlaf bekommen, als habe er keinen Jetlag und als freue er sich, da zu sein - wo immer da ist. Schlaf zu finden, wann immer er konnte, unabhängig von seiner inneren Uhr und seinem biologischen Rhythmus, war noch viel wichtiger, als geschminkt zu sein, wenn er vor den Kameras stand. »Zeit«, sagte Bush, »für die blaue Bombe.«12 Er holte das Halcion aus der Tasche. Beide nahmen es. Auf Rezept und auf Empfehlung ihrer Ärzte natürlich. Es handelt sich um ein Hypnotikum, einen chemischen Verwandten von Valium und Librium. Sein Vorteil besteht darin, daß es nicht im Körper verbleibt, und deshalb ist der Einnehmende angeblich am Morgen oder Nachmittag oder wann immer danach weniger groggy. Baker goß ihnen je ein Glas Chivas ein, um die Pille herunterzuspülen. Bush war immer noch aufgeregt. Es ist schwer, sich einen Präsidenten vorzustellen, der nicht aufgeregt ist. Selbst wenn es etwas gibt, worüber er jubeln kann - Haushaltskürzungen, die Russen schlagen, den demokratischen Kongreß austricksen, in den Umfragen zulegen, die Roten in Mittelamerika zurückdrängen -, fängt sofort irgendwer da draußen an zu nörgeln, zu klagen und zu jammern, und versucht, diesen Erfolg zu vermiesen. In der Zwischenzeit wird von den Medien irgendein neues verdammtes Problem aus68 gemacht, das die nächste Krise darstellt, bei der der Präsident, und nur der Präsident, seine Führerschaft einbringen muß. »Ananasgesicht«, sagte er. »Ich verstehe deine Enttäuschung«, sagte Baker. Er wußte, daß Bush sich über den Prozeß gegen Noriega beklagte. Bush hatte Truppen entsandt, um diesen Drogenhändler von Diktator aus Panama rauszuholen. Er hatte einen Krieg deswegen angefangen. Er persönlich hatte den Namen des Projekts gutgeheißen: Operation Gerechte Sache. Ein toller Name, der alles sagte. Sie hatten den Hurensohn nach Miami geschafft. Ein gutes Umfeld, um gegen Drogen vorzugehen, sollte man meinen. Aber der verdammte Prozeß kam einfach nicht vom Fleck. Es gab Anträge und Einsprüche und was nicht alles, bevor das verdammte Verfahren überhaupt begonnen hatte. Je länger es dauerte, um so peinlicher wurde es. »Der Ankläger ist einer von uns«, versicherte Baker seinem Boß. »Ich hab mich mit dem Justizministerium kurzgeschlossen, es gibt keinen besseren. Keinen. Es wird so lange dauern, wie es nun mal dauert, aber unser Junge wird die Sache schon schaukeln.« Bush stand auf, um sich seinen Pyjama anzuziehen. Barbara hatte ihn als besonderes Geschenk zur Amtseinführung schneidern lassen. Er war aus weißem Flanell, bedruckt mit Seehunden, die kleine Präsidenten auf der Nase balancierten. »Willst du die Geschichte hören, die man mir unten in Houston erzählt hat?« fragte Baker. Keine Antwort. Baker goß ihnen noch einen Whisky ein. Bush nahm sein Glas. Die 747 zog majestätisch und ruhig durch den nächtlichen Himmel, ohne weiteres in der Lage, den Führenden Kopf der Freien Welt in Sicherheit zu wiegen. Aber nun, da das Reich des Bösen zerfiel, verlor 69 »Führender Kopf der Freien Welt« immer mehr an Klang. Er mußte sich etwas Neues ausdenken, wie er genannt werden wollte. Führer der...? Sollten sich die Redenschreiber drum kümmern. Die kannten sich mit Wörtern aus. »Scheiße«, sagte Bush. »Ich werde ihn vermissen.« Atwater war gestorben, noch keine 48 Stunden zuvor. Die Ärzte hatten ihm radioaktive Kügelchen ins Gehirn gepflanzt. Tatsächlich hatten sie gewirkt. Sie schafften es, den Tumor und zudem eine unbekannte Menge an gesunder Hirnmasse zu zerstören. Aber fast im selben Augenblick sproß an anderer Stelle ein neuer Tumor. Die Ärzte entschieden, daß Atwater nicht noch eine Dosis Radioaktivität vertragen würde. Von da an ging es schnell bergab. Baker hob sein Glas. »Auf Lee.« »Als er noch lebte«, sagte Bush, »war es egal, was ich machte. Lee konnte jeden vernichten. Das war ein guter, alter Bursche von der übelsten Sorte.« Langsam wurde deutlich, daß die Äußerungen des Präsidenten ein gemeinsames Thema oder zumindest einen Subtext hatten. Er fühlte sich unsicher, wie das bei Präsidenten nun mal so ist. Es war
nichts fürchterlich schief gelaufen, aber es gab eine ziemlich große Anzahl von Dingen, die nicht fürchterlich gut liefen. Die Wirtschaft, der Schlamassel mit den Sparkassenpleiten, die Beteiligung seines Sohnes an dem Schlamassel mit den Sparkassenpleiten, der scheinbare Niedergang des Landes im Vergleich mit Japan und Deutschland, die wachsende Arbeitslosigkeit, und meistens erwies man ihm einfach nicht genügend Respekt. Wer weiß, was passieren konnte, wenn das alles in die Hände des richtigen Gegenspielers geriet. Nicht, daß die Demokraten so schlau waren, den richtigen Gegenspieler zu nominieren, aber was, wenn sie einen Fehler machten und aus Versehen mit einem Gewinner daherkämen? Baker ging auf, daß es wohl Atwa70 ters Tod war, der diese vage Angst ausgelöst hatte. Das war so, als verliere man eine besondere Waffe oder als zöge man in den Krieg mit der Regel, daß man nur so viele Gewehre wie der Feind haben darf. »Zum Schluß fand er zum Glauben zurück, und darüber bin ich froh«, sagte Bush, als rezitiere er die Strophe eines alten Countrysongs. Vielleicht lag es am Halcion. Vielleicht auch am Chivas. Baker fühlte sich entspannt, aber dennoch kraftvoll und auf der Höhe. Selbst seine Zehen taten nicht mehr weh, und auch diese innere Anspannung war aus seinem Bauch gewichen. »George«, sagte er, »ich muß dir was sagen.« »Was denn, Jimbo«, fragte Bush und kuschelte sich unter seine Präsidentendecke mit dem großen Wappen in der Mitte. »Kurz bevor er starb«, sagte Baker, »hat er mich zu sich gerufen. Irgendwas von wegen einer Botschaft.« »Was hatte er denn zu sagen?« »Nun, er war bis zum Schluß ein übler alter Bursche.« »Du meinst, er ist nicht auf den Knien rumgerutscht und hat um Vergebung gebeten, daß er George Dukakis mit Willie Horton'3 reingelegt hat?« »Bushie, er hat mir was gegeben. Seinen letzten Wahlkampftrick. Seinen ultimativen Wahlkampftrick.« »Hat das irgendwas mit dem demokratischen Kandidaten zu tun?« »Es hat mit uns zu tun. Ich muß dir sagen, als ich es las, war meine erste Reaktion, das ist krank. Es muß vernichtet werden. Aber ich habe die Papiere behalten. Es steckt eine gewisse merkwürdige, zwingende Logik dahinter. Es ist einfach so. Aber es handelt sich um eine Option, zu der nur ein Wahnsinniger greifen würde. Vielleicht.« »Hast du sie bei dir?« fragte der Präsident. 7i Baker stand von Barbaras Bett auf und ging an seine Aktentasche. Er öffnete das Zahlenschloß und nahm die zusammengefalteten, eselsohrigen Papiere heraus. Einen Augenblick lang wünschte er sich, er hätte sie nie erwähnt, und sagte: »Niemand außer dir und mir hat das zu Gesicht bekommen.« Dann reichte er George Herbert Walker Bush die Papiere, der das Licht über seinem Bett anknipste, seine Lesebrille aufsetzte und den letzten großen Coup des Lee Atwater zu lesen begann.14 72 KAPITEL SIEBEN Ist es Ihnen schon mal passiert, daß alles auf den Kopf gestellt wurde? Daß die Welt von einer Sekunde zur nächsten ganz anders aussieht? Lassen Sie mich erklären, was ich meine. Was das für ein Gefühl ist. 1967. Vietnam. Ein ganzer Haufen von uns, frisch von Parris Island. Marines auf dem Weg zum I Corps. Das ist das Gebiet am Nordende von Südvietnam, es umfaßt fünf Provinzen von Quang Tri bis rauf zur entmilitarisierten Zone. Die alte kaiserliche Hauptstadt Hue und Khe Sanh liegen im I Corps. Wie ausgehungerte Straßenköter brennen wir auf Action, Macho pur und ohne einen Funken Verstand. Wir sind ein JohnWayne-Film: Die Marines sind gelandet, und wir sind hier, um denen mal kräftig in den Arsch zu treten. Als erstes hängen wir natürlich eine Woche in Danang fest, während sie uns auschecken. Tun nichts. Langweilen uns, lassen uns vollaufen, geraten in Schlägereien, holen uns den Tripper, sehen zu, wie Leichensäcke abtransportiert werden, vermuten, daß die Typen darin wahrscheinlich unvorsichtig waren. Wahrscheinlich keine Marines. Schließlich erhalten wir unseren Marschbefehl. Wir werden nach Norden geschickt, nach Khe Sanh, einem kleinen Feldflugplatz in der nordwestlichen Ecke des Landes. Es handelt sich nicht um das, was später »die Belagerung von Khe Sanh« genannt wird. Die passiert erst im Januar 68. Wir werden auf Patrouille geschickt. Normalerweise für einen Tag. Manchmal auch zwei oder drei Tage. Es ist naß. Regen und Nebel. Das Land ist ein Regenwald, dreifaches 73
Blätterdach. Steile Berge. Unmengen Schluchten. Das einzige, was passiert, ist, daß es bei vier Typen zu tropfen anfängt und sie Penizillinspritzen brauchen, und bei allen beginnen die Füße zu faulen, aber keiner weiß, was man dagegen tun kann. Ich bin sechzehn, die meisten der Jungs sind achtzehn oder neunzehn, der LT'5 ist schon zwei- oder dreiundzwanzig. Wir alle sind vollgepumpt mitTestosteron.Machismo, wie auch immer man es nennen will, und das hier ist blöder und langweiliger, als an einem Dienstagabend zu Hause pleite zu sein. Unsere dritte Woche auf Patrouillendienst. Inzwischen lassen sie auch neue Typen die Vorhut übernehmen. Am dritten Tag bin ich dran. Eine kitzlige Sache. Aber passieren tut nichts. Nur daß es regnet. Alles wird naß. Wir klettern rauf und steigen runter. Wir rutschen und schliddern, und während es mit jedem Tag beschwerlicher wird, lassen Angst und Wachsamkeit nach. Aber wir kehren zur Basis zurück. Lebend.Jetzt weiß ich, daß ich unsterblich bin. Naß und gelangweilt, die Zehen jucken, und zwischen den Beinen juckts auch, aber unsterblich. Am vierten Tag bin ich der zweite Mann und gehe, oh, vielleicht ein oder zwei Meter hinter der Vorhut. Den ganzen Morgen die gleiche Scheiße. Es nieselt ununterbrochen. Wenn wir aus dem Dschungel raus wären, könnte die Sicht bei etwa zehn Meter liegen. Im Wald sind es nur drei oder vier Meter. Ich bin also ein, zwei Meter hinter der Vorhut. Plötzlich sehe ich direkt vor seinem Fuß... einen Stolperdraht. Der Augenblick gefriert. Ich weiß, daß der Draht mit einer Granate verbunden ist. Ich weiß auch, daß die Granate mit einer NVA-Patrouille verbunden ist, Killer genau wie wir, und die sind wiederum mit einer Armee verbunden, und wir alle stecken in dieser Sache, die ein Eigenleben besitzt, wie eine riesige Bestie namens Krieg. Von diesem Augenblick an ist für immer alles anders. 74 Die Wanze im Telefon ist so ähnlich. Es ist nur ein kleines Stück Draht, eines, das ich nicht sehen, aber mit Hilfe eines Geräts aufspüren kann, und dieser Draht ist, das weiß ich, mit einem Lauscher verbunden, der wiederum mit einer Organisation verbunden ist, vielleicht ist es Universal Security, die wiederum mit etwas anderem verbunden sind, etwas Größerem wahrscheinlich, denn U.Sec. macht nichts von sich aus, wird immer engagiert, ist Agent einer anderen Organisation. Dort draußen ist eine Macht, eine große Bestie, und beobachtet. Ich habe gerade eben einen flüchtigen Blick auf ihre Existenz erhalten. 75 KAPITEL ACHT Die Air Force One stieg bis über die Turbulenzen. Unten gab es alle möglichen Stürme. Hier oben lag eine Art Himmel. Ein stählerner Kokon, den Sternen nah. Ausgezeichneter Whisky. Exzellentes Essen. Pflichtbewußte Bedienung. James Baker sah zu, wie der Präsident Lee Atwaters Memo las. Als er damit fertig war, sagte George Bush: »Ach du heilige Scheiße«, das gleiche, was sein Außenminister gesagt hatte. Sie stimmten in vielen Bereichen überein. »Das kannst du laut sagen«, bestätigte der Außenminister. »Hat irgend jemand das hier gesehen?« »Du und ich«, sagte Baker. »Soviel zum Thema Klartext und den Brei aus dem Sack lassen. Wenn Lee Atwater einem einen Paß zuspielt, dann ist das ein harter Ball.16 Ich sag dir, das ist dann entweder der totale Hammer, oder man ist erledigt.« »Stimmt«, sagte Baker. »Ergibt das irgendeinen Sinn, oder ist das direkt aus Wolkenkuckucksheim?« »Bushie, ich muß dir sagen, ich weiß es nicht. Die Lage müßte schon ziemlich extrem sein, bevor wir solche Überlegungen anstellen.« »Extremismus bei der Verteidigung hoher Werte ist keine Untugend.« »Ich sag dir was, niemand außer uns beiden sollte dieses Memo zu Gesicht bekommen.« »Du hast recht«, sagte der Präsident. »Ich möchte es noch mal lesen. Dann kann es in den Reißwolf.« 76 Das Memo war nicht sehr lang. Es war gut durchdacht. Es war kurz und kam auf den Punkt. Das ist die einzige Möglichkeit, ein Memo zu schreiben, wenn man Präsidenten wirklich beeinflussen will. Sie haben an zu vieles zu denken, um sich auch noch mit komplexen Ideen herumzuschlagen. Bush las es erneut. Er sagte laut drei Dinge: »Hollywood?!« »In den Reißwolf.« »Ach du heilige Scheiße.« An irgendeiner Stelle erwischte ihn das Halcion. Er schlief mit dem Memo in der Hand ein. Baker war schon weg. Die Angehörigen der Crew hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, an der Präsidentenkabine zu lauschen. Nicht aus irgendwelchen bösen Absichten heraus. Einfach nur, damit sie besser dienen konnten, damit sie mit einem Drink oder einem Essen erscheinen konnten, bevor noch danach gerufen worden war. Um zu Diensten zu stehen, wenn gerade erst der Gedanke gefaßt war. Sie übten sich
darin, nicht wirklich die Worte zu hören, die nicht für ihre Ohren bestimmt waren, so wie Bühnenarbeiter höflich die Brüste übersehen, wenn sie die Garderoben der Frauen betreten müssen. Als Stan, der Chefsteward, das zweifache Schnarchen hörte, wußte er, daß seine beiden Passagiere schliefen. Er trat leise ein, um die schmutzigen Gläser und Teller abzuräumen und um die beiden Männer zuzudecken, falls sie auf ihren Bettdecken eingeschlafen waren. Er fand den Präsidenten mit dem Kopf auf den Kissen vor, Lesebrille auf der Nase und Lee Atwaters Memo in der Hand. Stan hob die Brille von der Nase des Präsidenten. Bush, eingelullt vom Halcion und eingeschläfert vom Scotch, bemerkte nichts. Dann nahm Stan das Memo aus der Hand des Präsidenten. 77 Er warf einen Blick darauf. Gerade genug, um zu sehen, wo es hingehörte. MEMO VON: L. A. AN:J. B. III/YEO KRIEG war schon seit jeher eine mögliche politische Option, in allen Gesellschaften, zu allen Zeiten. Wir, die wir im Süden aufgewachsen sind, wissen um die Verehrung unserer... Was Stan bemerkte, war die Abkürzung YEO. Er hatte schon Akten mit den Aufschriften Geheim, Streng Geheim, Streng Geheim mit Verteilerschlüssel, Strengstens Geheim gesehen, aber es war das erste Mal, daß er ein Your Eyes Only sah. Er war so beeindruckt, daß er den Vermerk J. B. III übersah. In allerbester Absicht faltete er das Memo an den Knickstellen zusammen und legte es in die Aktentasche des Präsidenten. Als der Präsident und der Außenminister am nächsten Morgen aufwachten und das Atwater-Memo nicht vorfanden, nahmen sie beide an, daß der jeweils andere es in den Reißwolf gestopft hatte. Das Memo, bei dem sie sich einig waren, niemand dürfe es zu Gesicht bekommen. 78 KAPITEL NEUN Frank Sheehan flog aus Chicago ein. Sheehan war einer der acht geschäftsführenden Vizepräsidenten von Universal Security. Fünf von ihnen verantworteten Ressorts mit eindeutigen Bezeichnungen: Buchhaltung und Finanzen, Verkauf, Management und Training, Regierungskontakte, Ausland. Die drei anderen arbeiteten für eine Abteilung, die Sonderangelegenheiten betitelt war. Das war Sheehans Abteilung. Er war ein großer Mann, der in der Highschool und eine Saison lang für Notre Dame Football gespielt hatte. Er hielt viel von Sport, weil das den Charakter bilde. Er brachte zehn Kilo mehr auf die Waage als während seiner Spielerzeit, aber seiner Meinung nach konnte seine ein Meter neunzig große Statur das locker vertragen. Frank hatte mal das Priesterseminar ins Auge gefaßt. Aber er war »zu maskulin«. Das sagten alle. Im Rückblick war er eigentlich recht froh, daß er darauf gehört hatte. Statt dessen war er zur CIA gegangen. Die CIA befriedigte viele der Bedürfnisse, die die Kirche befriedigt hätte, aber es gab Zeiten, da schien die Agentur so zerrissen und derart mit Mängeln behaftet, daß sein Glaube schwer geprüft wurde. Aber er begriff, vor allem nach einem kurzen Abstecher als stellvertretender Leiter der Außenstelle in Rom, daß er genau dieselbe geistige Krise hätte durchmachen müssen, wenn er für die katholische Kirche tätig gewesen wäre. Die großen Vorteile der CIA, vom Sex mal abgesehen, hatten darin bestanden, daß der Job besser bezahlt wurde und ihm Kenntnisse vermittelte, die später in der Privatindustrie eingesetzt werden konnten und dort noch besser bezahlt wurden. 79 Sheehan war vom nahezu legendären Carter Hamilton Bunker17, dem Gründer und Geschäftsführer von Universal Security, von der FIRMA zur Firma abgeworben worden. C. H. persönlich hatte Sheehan nach L. A. geschickt, um Mei Taylor über die Schulter zu schauen und ihn wissen zu lassen, wie wichtig dieser Fall war. »Flagge zeigen, mein Junge, Flagge zeigen«, hatte er gesagt. Es war irgendwas in seiner Ausdrucksweise und Haltung, das Sheehan das Gefühl vermittelte, mit Gott zu sprechen - nicht dem katholischen Gott, was blasphemisch gewesen wäre, sondern mit Gott, gespielt von John Huston. Sheehan war ohne Vorankündigung eingetroffen. Mel Taylor war nicht durch Vernachlässigung des Papierkrams so weit nach oben gekommen. Die Akte in dem Fall war auf dem neuesten Stand und gut organisiert. Es war zwar nicht alles unter Kontrolle, aber die wichtigsten Positionen schienen gesichert. »Sie wissen, daß wir niemals den Mann vor Ort in Frage stellen«, sagte Sheehan zu Taylor. »Sie sind hier der Chef. Ich will nur den Boß auf dem laufenden halten.« Taylor interpretierte das so: Wenn irgendwas schiefgeht, dann geht's um deinen Arsch. Und zwar nur um seinen. »Kein Problem«, sagte er. »Eigentlich bin ich sehr froh, daß Sie hier sind. Und in diesem Fall ist mir Ihre Meinung und Einschätzung sehr wichtig.« Was heißen sollte: Jetzt, wo du in die Akte
reingeschaut hast, ist das genausogut, als stünde deine Unterschrift drunter, und dein Arsch ist genauso gefährdet wie meiner. Frank zog den 97 Dollar teuren silbernen Füllfederhalter hervor, den ihm seine Frau zur Silberhochzeit geschenkt hatte, und das geprägte, lederne Taschenetui mit einem kleinen Notizblock darin, das sie ihm zum dreiundzwanzigsten Hochzeitstag geschenkt hatte. Er legte beides säuberlich und mit einem Anstrich von Formalität vor sich. »Das einzige, was wirklich auffallt, ist diese Geschichte mit Joseph Broz und Magdalena Lazlo. So wie ich das verstanden habe, kam sie 80 her, lud ihn auf einen Kaffee ein und bat ihn, als ihr Leibwächter zu arbeiten. Sie haben beschlossen, ihm nicht mitzuteilen, daß wir sie unter Beobachtung haben?« »Das war meine Entscheidung«, sagte Taylor. Es hatte keinen Sinn, es zu leugnen oder Drumherum zu reden. Es stand ja in der Akte, die er selber angelegt hatte. »Warum ?«sagte Sheehan sanft. Obwohl er so groß war, sah er sanftmütig aus. Wie so viele CIA- und Ex-CIA-Typen. Mit größerem Bauch- als Brustumfang, in den Hüften breiter als in den Schultern. Frischgeschnittene Haare. Trug gern karierte Hemden, wenn er an Sommersonntagen grillte. Sanft und durchschnittlich. Was nicht hieß, daß er nicht in der Lage gewesen wäre, den Befehl zu geben, jemanden zu feuern oder -in anderen Situationen - liquidieren zu lassen. Beides hatte er schon getan. Es handelte sich hier um eine Entscheidung, die Taylors Karriere zerstören konnte. Sie verletzte mehrere wichtige Firmengrundsätze. Und zwar keineswegs irgendwelche Mickey-Maus-Regeln, sondern Vorschriften, die wirklich Sinn ergaben. Aber Regeln waren dazu da, gebrochen zu werden, wenn die Gründe gut genug waren und die Ergebnisse das rechtfertigten. »Lassen Sie mich ganz offen sein«, sagte Taylor. »Wir haben gewisse Beschränkungen in diesem Fall. Das größte Hindernis ist, daß mir niemand sagen will, worum es überhaupt geht. Wenn sich irgend jemand zu sehr dafür interessiert, woran John Lincoln Beagle arbeitet, dann sollen wir das an Ihr Büro und an den Kunden weitergeben. Nicht an seine Sekretärin. Nicht an seinen Assistenten. Nur direkt an ihn. Wenn ich wüßte, was da geheimzuhalten ist, dann könnte ich die Spreu vom Weizen trennen. Ich weiß es aber nicht. Sollte sich herausstellen, daß Sie es mir sagen wollen, dann würde ich das sehr begrüßen, aber wir werden so oder so unser 81 Bestes geben.« Taylor meinte: Wenn irgendwas schiefläuft, weil wir nicht wissen, worauf wir zu achten haben, dann ist das dein Fehler. »Der zweite Punkt ist der, daß der ganze Job vertraulich ist.« Wenn es auch nicht die normale Vorgehensweise bei U.Sec. war, so wurde doch ein gewisser Teil der Arbeit auf vertraulicher Basis geleistet, und man erwartete von den Mitarbeitern, daß sie selbst mit anderen Angestellten nicht über solche Fälle sprachen. Management und Training fanden, daß dies gut für den Corpsgeist sei, und der Verkauf meinte, diese Praxis sei gut für das Firmenimage. »Ich gehe also davon aus, daß Diskretion bei diesem Job absolute Priorität hat.« »Ich habe mir Joes Akte nicht angeschaut«, sagte Sheehan, »aber wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, dann ist er schon lange bei uns. Das heißt doch was. Können wir seine Akte kommen lassen? Wenn es einen Grund gibt, ihm etwas vorzuwerfen oder ihm zu mißtrauen, dann wäre er doch wohl kaum noch bei uns. Mir scheint, daß Sie ihn sogar als Doppelagenten hätten einsetzen können.« »Frank, ich muß Ihnen sagen, alles an diesem Fall schreit geradezu nach maximaler Diskretion.« Mel rief Ms. Sligo, seine Sekretärin, über die Sprechanlage. Ms. Sligo, eine sehr effiziente Frau mit eisengrau durchwirktem Haar, war, nachdem sie alle Arbeit auf ihrem Schreibtisch erledigt hatte, intensiv ins Premiere-Magazin vertieft. »Brozjoseph, Personalakte, umgehend«, befahl Mel. »Und als erstes reichte er den Antrag ein, das Haus auf Wanzen untersuchen zu lassen?« »Ja«, sagte Taylor. »Glücklicherweise bat er um denselben Mann, der die Sachen eingebaut hat. Wir hatten also Glück, er war schon eingeweiht.« »Was für ein Zufall.« »Überhaupt nicht. Ich habe Ray ausgewählt, die Installation vorzunehmen, weil er unser bester Mann ist. Und Broz weiß das ebenfalls.« 82 »Was, wenn Broz irgendwie draufkommt, daß Matusow ihn reingelegt hat?« »Was soll dann schon sein?« sagte Taylor. »Er kann herkommen und sagen, Ray hat Mist gebaut. Okay. Dann gehen wir hin und holen ein paar Mikros raus.« Es klopfte an der Tür. Taylor öffnete. Es handelte sich um Ms. Sligo, Personalakte in der Hand. Taylor nahm sie, schloß die Tür und reichte Sheehan die Akte. Sheehan sagte: »Wollen Sie andeuten, daß Sie damit rechnen, Joe könnte auf Abwege kommen? Ist es
das?« »Sie ist sehr schön«, sagte Taylor entschieden. »Schöne Frauen bringen Männer zu allem Möglichen. Was ist mit dem ersten Gespräch? Wo ist das Band? Diese Geschichte von den leeren Batterien - die ist doch ziemlich dünn, finden Sie nicht?« Das erste, was sich Sheehan ansah, war Joes Kriegsvergangenheit. »Der Alte« - C. H. Bunker, Nachkömmling der Bunker Hill Bunkers und entfernter Cousin von Ellsworth Bunker, der während des Krieges Botschafter in Vietnam gewesen war - »mag Kriegshelden. Vor allen Dingen Kriegshelden von den Marines. Damit liegt er Rob Bloch dauernd in den Ohren.« Bloch war der geschäftsführende Vizepräsident in der Verkaufsabteilung. »>Sag ihnen, wir haben mehr Kriegshelden vorzuweisen als Wackenhut oder Pinkerton. Sag ihnen, wir haben mehr Kriegshelden vorzuweisen als sonstwer, mit Ausnahme des Nationalfriedhofs in Arlington. Sag ihnen, wir werden einen Mann auf den Job ansetzen, der für seine Verdienste ums Vaterland mit dem Silver Star ausgezeichnet worden ist. Wenn sie nicht unterschreiben, sag ihnen, du wirst einen einsetzen, der die Ehrenmedaille des Kongresses bekommen hat. Wenn sie dann nicht unterschreiben, sind sie unamerikanisch, und wir wollen nichts mit ihnen zu tun haben.« Ich glaube, das habe ich hundertmal 83 und öfter gehört. Und das ist nur der Anfang, Mel. Außerdem ist Broz länger bei der Firma als Sie.« »Auch wenn ich damit meinen Hals in die Schlinge lege«, sagte Taylor - was er eigentlich meinte, war: Er steckt schon drin, also kann ich es ruhig zugeben - »aber ich habe meine Zweifel, was Joe Broz' Loyalität angeht.« Taylor fragte sich, ob er diesmal sein Urteilsvermögen von Wunschdenken hatte leiten lassen. Wunschdenken hatte das so an sich. Hatte er zugelassen, daß sein privates Ziel, Broz gerade so viel Leine zu lassen, daß er sich daran aufhängen konnte, die Vorgaben des Jobs verdrängte? Wenn es nach den Vorschriften ging, dann ja. Sheehan las weiter. Er sah, was Broz nach seiner Militärzeit gemacht hatte, und runzelte die Stirn. Er blätterte weiter, Überflog joes Akte bei U.Sec. und fand, was er erwartet hatte. Er blickte auf. »Als ich seinen Namen sah, dachte ich mir doch, daß dies der Typ ist, von dem wir reden. Er hat mal für meine Abteilung gearbeitet.« Eine Menge Jobs fielen in die Zuständigkeit von Sheehans Abteilung für Sonderangelegenheiten, aus dem einfachen Grund, weil sie zu weit oder zu eng gefaßt oder zu anders waren, um säuberlich in die Kategorien der regulären Abteilungen zu passen. Nur weil ein Job zu den Sonderangelegenheiten zählte, hieß das noch lange nicht, daß er politische Dimensionen besaß oder rechtliche Probleme aufwarf, daß er äußerste Diskretion erforderte oder eine gewisse Gefahr in sich barg. Es konnte aber so sein. »Selbst wenn Sie dem oberen Management angehören und Broz nur ein Mitarbeiter ist, könnte Sie ein Irrtum teuer zu stehen kommen.« »Ich weiß, seine Akte sieht gut aus, aber mein Gefühl sagt was anderes«, meinte Taylor. »Interessant.« »Also ist das vielleicht ein kleiner Test für ihn. Eine kleine Falle. Schauen Sie, Frank, ich habe das früher so gesehen und se84 he das heute noch so, wir können dabei gar nicht verlieren. Wenn sie ihn darum bittet, hinter Beagle herzuschnüffeln, dann muß er das melden. Formular JV:C-i18, in dreifacher Ausfertigung - eine fürs Büro, eine für den Kunden, eine für den Agenten. Meldet er es nicht, kriegen wir es garantiert heraus, so wie das Haus verkabelt ist. Falls ich aus irgendeinem verdammten Grund das Gefühl habe, daß das Tonmaterial nicht ausreicht und uns was entgeht, habe ich einen Plan in der Hinterhand, um die beiden gegen zu checken. Wenn Broz sich als loyal erweist, dann ist ja alles bestens. Wenn nicht, dann schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe.« »Nun«, sagte Frank. »Das ist Ihre Show. Ich wollte Sie nur wissen lassen, daß dieser Job C. H. viel bedeutet. Sie sollten alles Nötige unternehmen.« »Soll ich noch ein paar Mann extra auf ihn ansetzen? Auf beide? Soll ich sie beobachten lassen?« »Mel, ich spreche als Freund zu Ihnen. Bei diesem Job sollte besser nichts schiefgehen. Wenn Sie ihn als den wichtigsten Job in Ihrem ganzen Leben betrachten, dann liegen Sie richtig. Wenn irgendwas schiefläuft, dann stecken Sie tief in der Scheiße. Das sage ich als Freund.« Was hieß: Ich bin überhaupt nicht dein Freund. Wenn du Scheiße baust, dann wer dich dafür sorgen, daß du den Kopf dafür hinhalten mußt, so rette ich hoffentlich wenigstens meinen Arsch. Taylor verstand ganz genau, was Sheehan ungesagt ließ. »Ich werde sie doppelt überwachen lassen. Es wird nichts schiefgehen.« Und wenn sich Broz als Verräter entpuppt, dachte er, dann werde ich ihn fertigmachen. Zu diesem Zeitpunkt meinte Taylor nur Broz' Karriere. Er wollte ihn feuern. Ihn um seine Firmenrente bringen. Trotz der geradezu manischen Geheimnistuerei, die diesen Job umgab, hatte Taylor keinen Grund anzunehmen, daß sie an einem Tisch mit höheren Einsätzen spielten. Noch nicht.
85 KAPITEL ZEHN Nachdem ich die Wanze im Telefon entdeckt habe, finde ich auch noch alle anderen Mikrophone. Dann gehe ich mit Maggie raus auf den Strand, runter ans Wasser, wo ich ihr davon berichten kann. Ihre erste Reaktion ist, U.Sec. anzurufen und ihr Geld zurückzuverlangen. »Das können wir nicht machen«, sage ich. »Der Mann ist unfähig«, sagt sie. »Er ist nicht unfähig. Genau das ist es ja. Wenn er nur ein Mikro übersieht, dann ist das ein Fehler, der auch Ray Matusow unterlaufen kann. Wenigstens acht Wanzen zu übersehen, ist allerdings schon kein Fehler mehr. Das ist Absicht. Das sagt uns, daß er einer von ihnen ist. Wer auch immer Sie überwachen läßt, Ray arbeitet für sie. Ich kenne Ray. Die letzten acht Jahre haben wir immer mal wieder zusammengearbeitet. Er war früher beim FBI. Er ist Witwer mit drei Kindern, von denen eins noch auf dem College ist, und er hat eine Frau mit zwei Kids geheiratet, die beide noch auf die Grundschule gehen. Er hat ein Haus mit einem kleinen Vorgarten und einem Rasensprenger. Er besitzt ein Sommerhaus an einem See in den Sierras. Ergibt nicht mehr aus, als er sich leisten kann, er rechnet mit seinen Prämien für lange Firmenzugehörigkeit und ist auf seine Rente angewiesen. Er ist der Firma gegenüber absolut loyal. Er hat das nicht gemacht, wenn es ihm nicht ausdrücklich gesagt worden ist, und zwar von der Firma. Von U.Sec.« »Dann sagen wir eben U.Sec, sie sollen sich zum Teufel sche86 ren«, sagt Maggie. »Wir feuern sie und holen uns unser Geld zurück, und falls sie's nicht rausrücken wollen, können sie sich mit meinen Anwälten zusammensetzen.« »Denken Sie einen Schritt weiter«, sage ich. »Hier passiert etwas sehr Ungewöhnliches. Das hier ist ein Interessenkonflikt für U.Sec. Einerseits erklären sie sich einverstanden, für Sie zu arbeiten, während sie andererseits gleichzeitig mit Ihrer Überwachung weitermachen.« »Natürlich ist das ein Interessenkonflikt«, sagt sie. »So etwas machen wir nicht«, sage ich. »Seien Sie nicht so naiv. Sie arbeiten für eine Firma - die tun doch, wofür man sie bezahlt, und nicht, was moralisch richtig wäre.« »Ich sage nicht, daß so etwas ausgeschlossen ist. Ich sage, es ist sehr schlecht fürs Geschäft. Wenn herauskommt, daß wir die eigenen Klienten bespitzeln, vertrauen unsere Klienten uns nicht mehr. Dann verlieren wir Aufträge. Es muß schon einen sehr guten Grund geben, es dennoch zu tun. Ray Matusow und mich gegeneinander arbeiten zu lassen und ihn dazu zu bringen, mich zu belügen, ist ebenfalls sehr schlecht fürs Geschäft. Wir erwarten von unserer Rückendeckung, daß sie uns den Rücken deckt. Wir erwarten, daß unser Team auf unserer Seite steht. Wenn herauskommt, daß einer der Jungs, die mit dir zusammenarbeiten, möglicherweise gegen dich arbeitet, dann macht das etwas kaputt. Also tun wir so was nicht. Es sei denn, es gibt dafür einen sehr guten Grund. Außerdem bin ich schon sehr lange ein loyaler Mitarbeiter. Ich habe für sie Dinge erledigt, über die man nicht sprechen kann, und ich habe nie auch nur ein Wort darüber verloren. Wenn man mich nicht ins Vertrauen zieht, dann muß es dafür einen wirklich sehr guten Grund geben.« 87 »Ich habe Ihnen doch gleich gesagt, daß die Sache ernst ist«, sagt sie. »Ja, das haben Sie.« »Aber Sie haben mir nicht wirklich geglaubt. Sie mußten warten und sich selbst überzeugen.« »Das gehört zu meinem Job.« »Ihr Job«, sagt sie, »besteht darin, daß Sie für mich arbeiten. Und ich denke, es ist an der Zeit, daß wir das noch mal klarstellen.« Das trifft mich unvorbereitet. »Ja, Ms. Lazlo, ich arbeite für Sie. Allerdings bin ich Profi. Und falls überhaupt, dann werde ich diese Sache professionell anpacken. Wenn Sie zu Ihrem Anwalt gehen und ihn bitten, eine Klage einzureichen, die Sie mit Sicherheit verlieren werden und die Ihrer Karriere schweren Schaden zufügen würde, dann hätte er absolut recht, wenn er sich weigert, es zu tun.« »Und ich würde ihn unverzüglich feuern.« »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wenn Sie zu Ihrem PorscheHändler gehen und die Mechaniker bitten, Ihre Bremsen auszubauen, weil Sie einen bremsenfreien Fahrstil entwickeln wollen, dann wären die Leute verpflichtet, Ihren Wunsch abzulehnen. Wenn Sie zu Ihrem Arzt gingen und ihn um Morphium bäten, weil Sie nur damit glücklich werden können, würde er sich weigern.« Das klingt, als wäre ich schlagfertig und würde tatsächlich die Dinge aussprechen, die einem nie einfallen, von denen man sich aber nachher wünscht, sie gesagt zu haben. Die Wahrheit ist, daß Klienten uns häufig bitten, Dinge zu tun, die gefährlich, illegal oder einfach nur dumm sind. Es kommt so oft vor, daß das Management ein breites Spektrum an Antworten ausgearbeitet hat, die
uns in Seminaren über den richtigen Umgang mit Klienten beigebracht werden. Was ich sage, habe ich mehr oder weniger wörtlich aus vorgelochten Informations88 blättern, die in Loseblattordnern abgeheftet werden können. Sie schweigt und sieht mich an. Ernst, aber nicht kleinlaut sagt sie: »Entschuldigen Sie, Joe. Das war« - sie sucht nach dem richtigen Wort - »unverschämt. Sie wie einen Hausangestellten zu behandeln.« Ich bin gerade so schön in Fahrt, also mache ich weiter. »Sie müssen eines begreifen: Wenn ich über Ray Matusow und Prämien für lange Firmenzugehörigkeit und Rentenfonds rede, dann rede ich auch über mich selbst. Der Grund, warum ich glaube, daß er nichts gegen die Firma unternehmen würde, ist ganz einfach der, daß ich weiß, wie schwer es mir selbst fällt. Ich habe eine Menge zu verlieren, wenn ich mich gegen die Firma stelle und zu Ihnen halte.« »Ja, das haben Sie vermutlich. Das hätte ich mir wohl früher überlegen sollen. Aber ich dachte, Sie sind ein Mann, ein erwachsener Mensch, und Sie könnten Ihre eigenen Entscheidungen treffen. Ich habe sie nicht angebettelt und zu nichts gezwungen.« »Das ist noch was, das Sie verstehen müssen«, sage ich. »U.Sec. steht im Ruf, sehr nachtragend zu sein. Sie lassen Verräter nicht einfach so gehen.« »Verräter - übertreiben Sie da nicht ein bißchen?« »Maggie, sehen Sie mich an.« Und jetzt bin ich an der Reihe. Ich lege meine Hände auf ihre Schultern und sehe ihr direkt in die Augen. »Sie begreifen nicht, wer wir sind. Wir tragen billige Anzüge, wir treten bescheiden auf, und jeder, der ein paar Riesen übrig hat, kann uns engagieren. Aber praktisch jeder in der Firma kommt vom FBI oder CIA, einige waren bei der Polizei oder Militärpolizei. Fast alle waren wir beim Militär. Wer in einem gewissen Alter ist, war auch in Vietnam. Wir waren Teil des Fleischwolfs. Wir waren mit M-16-Gewehren und Handgranaten ausgerüstet und haben Splitter89 minen gelegt. Wir haben gesehen, wie Freunde starben oder zum Krüppel wurden. Unterschätzen Sie uns nicht. Menschen, die es ernst meinen, sehen fast nie wie Sylvester Stallone oder Arnold Schwarzenegger aus.« »Soll das heißen, Sie steigen aus? Wollen Sie mir das damit sagen?« »Nein. Ich will damit sagen, daß wir es beide verdammt ernst nehmen müssen, wenn wir weitermachen. Hören Sie, vielleicht irre ich mich ja, vielleicht geht es ja nur um irgend so eine Scheiße - daß Sie nicht mit jemandem geschlafen haben, der eine Menge Einfluß geltend machen kann, oder daß die Frau von irgendwem glaubt, Sie hätten ihr den Mann ausgespannt, vielleicht ist es ja nur so was. Aber das glaube ich nicht. Ich habe so ein Gefühl, daß ich hier zumindest meinen Job für Sie aufs Spiel setze, und das ist noch das Wenigste. Das kommt Ihnen vielleicht nicht sehr viel vor, bei eins Komma drei Millionen pro Film, aber ich habe schon sehr viele Jahre in diesen Job investiert, und damit verdiene ich meine Brötchen. Für mich steht also eine ganze Menge auf dem Spiel. So sehe ich das wenigstens.« »Was wollen Sie, Joe? Na los, sagen Sie schon, was Sie wollen.« Sie atmet inzwischen genauso schwer wie ich. Der Wind pfeift, und die feine, salzige Gischt sollte uns eigentlich abkühlen, aber wir sind beide ziemlich erhitzt. Vielleicht sollte ich den Mumm aufbringen und es einfach sagen, ihr sagen, ich will mit dir ins Bett, ich will in dich eindringen, Händchen haltend mit dir Spazierengehen, damit es Gott und die Welt sehen kann. Statt dessen sage ich: »Ich möchte, daß Sie diese Sache ernst nehmen. Und mich auch. Wir stecken da gemeinsam drin. Andernfalls können Sie sich jemand anderen suchen, dann kehre ich wieder zu meiner Arbeit zurück und untersuche irgendeinen Aktienschwindel oder eine Unterschlagung oder beschatte einen betrügerischen Ehemann.« 90 »Das kann ich akzeptieren«, sagt sie. Ich halte sie immer noch an den Schultern. Unser Blickkontakt ist wie ein elektrischer Strom und scheint durch nichts zu unterbrechen zu sein. »Ja, ich kann Sie ernst nehmen. Das habe ich schon immer getan.« Wir starren uns an. Sie stößt die Tür noch ein bißchen weiter auf: »Ist das alles?« fragt sie. »Nein. Natürlich ist das nicht alles«, sage ich. Ich ziehe sie an mich. Langsam. Unsere Blicke schwanken nicht. Sie sagt weder ja noch nein. Ich spüre die Hitze ihres Körpers, noch bevor sie mich berührt. Der Wind fährt in ihr Haar, wirbelt es herum, und als nächstes spüre ich es auf meinem Gesicht. Es hat schon Frauen gegeben, die ich leidenschaftlich geküßt habe, ohne dabei auch nur halb soviel zu empfinden wie jetzt bei dieser flüchtigen Berührung durch Maggies windzerzauste Haare. Meine Hände liegen immer noch auf ihren Schultern, ziehen uns langsam aufeinander zu - ich muß Ihnen jetzt sagen: Wenn ich als Kind ins Kino gegangen bin, in Western oder Kriegsfilme, und dann gab's diese Knutschszenen, das hab ich immer gehaßt. Bitte, können wir nicht vielleicht mit der Schießerei weitermachen? Selbst als Erwachsener hat mich dieser Liebeskram auf
der Leinwand immer kaltgelassen, auch die Sexszenen. Und ich habe gedacht, daß ich mich nach dieser Geschichte ändern würde, weil die Sache mit Maggie so romantisch ist, so Hollywood mäßig, daß es mich endlich doch noch packen würde, wenn ich so ein verträumtes Gesicht auf der Leinwand sähe. Aber wenn ich heute ins Kino gehe, läßt mich das immer noch kalt. Wenn man richtig scharf ist, dann gibt es kein größeres Drama auf der Welt, das kommt gleich nach dem Sterben, aber es ist kein Publikumssport. Da sind wir also, Trancas, der Pazifik, Wellen, Wind, tolles Licht und eine wunderschöne Frau. Meine Hände auf ihren Schultern, unsere Lippen sind so nah, daß wir die Entladungen unserer Körper spüren 9i können. Subatomare Teilchen, Elektronen, Aura, was immer. Da ist nur noch diese hauchdünne Distanz zu überbrücken. Und wir tun es. Ihre Lippen liegen auf meinen. Dies ist der zweite Kuß. Das erste Mal, daß ich mutig genug bin, sie tatsächlich zu küssen. Ich bin über vierzig, und ich zähle die Küsse, wie damals mit vierzehn. Die Körper folgen den Lippen. Berühren sich. Ich spüre, wie ihre Brustwarzen sich verhärten und ihre Hüften nachgiebig werden. Sie drückt sich an mich, ich bekomme eine Erektion, und ich spüre, daß sie es spürt. Ihr Mund öffnet sich, gerade weit genug und vollkommen sanft. Dann tritt sie plötzlich einen Schritt zurück. Nicht schroff, aber doch sehr entschieden. »Nein. Tut mir leid. Nein. Ich kann nicht.« »Warum nicht?« Meine Stimme ist ein kehliges Knurren. Am liebsten will ich mich wie ein Teenager verhalten und sie beschimpfen, wie wir früher Mädchen beschimpft haben, die so was machten, die uns einen flüchtigen Blick auf das werfen ließen, was wir wollten, und uns dann hechelnd und mitleiderregend im Regen stehen ließen. »Ich weiß nicht. Wir müssen ...« »Wir müssen was?« »Herausfinden, was los ist joe. Solange diese Sache noch ungeklärt über meinem Kopf schwebt.. . will ich nichts entscheiden.« »Was hast du vor? Dein ganzes Leben so lange anhalten?« »Du löst irgendwas in mir aus joe. Das tust du wirklich. Du hast irgendwas an dir. Etwas sehr Reales. Aber ich gehe nicht mit jedem ins Bett, der mich anmacht. Ich mache so was einfach nicht. Und ich nehme dich ernst, Joe. Sehr ernst, und wenn wir zusammen ins Bett gehen, dann wird's noch ernster. Du bist kein Mann von der Sorte, der kurz vor Tagesan92 bruch wach wird, seine Hose anzieht und das Haus verläßt, während ich so tue, als würde ich noch schlafen, und dann kommst du nie mehr zurück.« Und ob ich einer von der Sorte bin, bin es zumindest gewesen. Nicht selten war ich sogar einer von der Sorte, der noch nicht mal so lange gewartet hat, um sich lautlos aus dem Haus zu stehlen. Bei vielen Frauen, die ich in meinem Leben kannte, habe ich einfach mein Geld hingelegt und bin gegangen. Alle Beteiligten hatten die Augen offen, und alles passierte deutlich sichtbar. Aber was Maggie betrifft, da hat sie schon recht, bei ihr wäre ich nicht so. Ich werde alles dafür tun, ewig bei ihr zu sein - oder zumindest so lange, wie es in meiner Macht steht. Ich spiele die Rolle des Chauffeurs und Leibwächters. Es ist eine Rolle, die ich auch früher schon gespielt habe. Wenn wir irgendwo hingehen, rede ich mit den anderen Dienstboten und halte Augen und Ohren offen. Maggie ist unglücklich. Zu wissen, daß jemand immer alles mithört, was wir tun - nicht nur Gespräche, sondern auch, wenn wir essen und kacken, pissen und schnarchen, grunzen oder furzen oder unter der Dusche singen -, ist eine Belastung. Sie scheint ihre Anspannung durch erhöhte Geschäftigkeit abzureagieren. Sie läßt sich Drehbücher schicken und liest. Sie geht zu Mittagessen und Abendessen und auf ein paar Drinks aus. Sie bespricht sich mit ihren Anwälten und Steuerberatern, mit Produzenten und Anlageberatern. Was schon in Ordnung ist, da praktisch jeder Trip für mich eine Gelegenheit ist, jemand neuen kennenzulernen. Die meisten Leute in L. A. fahren selbst, aber wenn es keine anderen Chauffeure gibt, mache ich eben die Bekanntschaft des Oberkellners oder auch eines der Kids vom Parkservice. Wenn wir zu jemandem nach Hause fahren, rede ich mit dem Haus93 mädchen oder dem Koch oder dem Gärtner. Alle sind stolz auf ihre Stars oder einflußreichen Arbeitgeber; alle haben Geschichten zu erzählen und behaupten, Insider-Wissen zu besitzen. Ein Kellner bei Morton's, der draußen einen Joint raucht, erzählt mir, daß Brian de Palma seiner Freundin den Laufpaß gegeben hat. Ich frage, ob er Beagle kennt. Er sagt: »Klar, Beagle kommt dauernd vorbei. Ist früher ständig reingekommen. Aber er ist krank.« Ich frage, was hat er denn? Der
Kellner nimmt einen tiefen, traurigen Zug und sagt: »Was glaubst du, Mann, was glaubst du wohl?« Maggie schickt mich los, für sie Kleider bei Simonette's abzuholen, die sie sich bereits ausgesucht hat. Eine Verkäuferin namens Tama erzählt mir, daß Vanessa Swallow'9, der Popstar, eine Lesbe sei, die umschnallbare Dildos bevorzuge. Tama schwört, sie habe mit eigenen Augen gesehen, wie Vanessa sich im Hinterzimmer einen umgeschnallt hat, damit die Näherin bei ihr Maß nehmen und einen ganzen Satz Unterwäsche abändern konnte, um genügend Platz für den Apparat zu schaffen. Ich frage Tama, ob Beagle schon mal dort gekauft hätte. Sie verneint. Dann sagt sie, ich könne ihr einen Gefallen tun. Ich frage, was? Sie sagt, sie habe einen Freund, eigentlich sei er eher so was wie ein bester Freund, sie liebe ihn mehr als sonst jemanden auf der ganzen weiten Welt, aber es sei auch wieder keine ausschließliche Sache, sexuell, falls ich verstehe, was sie meine, er besitze wirklich richtiges Talent, sei smart und habe ein Drehbuch geschrieben, das wie maßgeschneidert sei für Magdalena, einfach perfekt, wenn ich es Ms. Lazlo einfach mal zeigen könnte, es einfach auf dem Sitz im Auto liegenließe, also das wäre für sie beide wirklich unheimlich gut, denn wenn es Magdalena erst mal gelesen hätte, dann würde sie froh sein, es entdeckt zu haben. 94 Wenn wir uns unterhalten wollen, gehen Maggie und ich entweder runter zum Strand oder legen laute Musik auf. Wenn ich die Wahl habe, ist es Country. Wir flüstern vor den Lautsprechern. Sie sagt, Hank Williams würde ihr zunehmend besser gefallen. Hank Junior kotze sie an, weil er mal große Klasse, mal ausgesprochen blöd sei. Sie mag Willie Nelson, aber der habe ihr andererseits auch schon gefallen, bevor sie mich kannte. Aber meistens ist sie ungeduldig. Die Warterei geht ihr auf die Nerven. Über Nick Jackson und die Wüstenspringmaus höre ich wenigstens einmal pro Tag, und jeder, der mir die Geschichte erzählt, behauptet, sie persönlich entweder von dem Arzt gehört zu haben, der die Maus aus seinem berühmten Rektum entfernte, oder von einem Arzt, der sehr gut mit dem Arzt befreundet sei, der die Mausektomie durchgeführt hat20. Aaron Spelling gibt eine kleine Soiree. Kenneth Branaghs Fahrer geht mit einem Mädchen, das Hausangestellte ist und, wie er sagt, wiederum die beste Freundin von Melanie Griffiths Hausangestellter ist. Er erzählt mir, daß Melanie während ihrer Schwangerschaft besondere Übungen gemacht habe, damit sie unmittelbar nach der Geburt wieder mit Don Johnson schlafen konnte. Sie habe einfach nicht die Vorstellung ertragen, es nicht tun zu können, nicht einmal direkt am nächsten Tag.21 Ich frage ihn, ob er Beagle kennt. Er bejaht, er habe ihn einmal gefahren. Ich frage, wann. Erst vor ein paar Wochen. Ich frage, wie er ausgesehen habe, ob er vielleicht krank wirkte? »Ich hab gehört, daß er krank war«, sagt der Typ, »aber er hat nicht krank ausgesehen. Blaß, ja, aber nicht krank. Er und seine Frau hatten einen mordsmäßigen Streit.« Wegen was? »Es ging um ihren Sohn. Beagle hat ihm Kriegsspielzeug geschenkt. Gl-JoePuppen oder so was, und seine Frau war fuchsteufelswild. Der Junge wollte sie haben, sagt Beagle. Ist mir egal, sagt seine Frau. Echt, richtig gekeift hat 95 die. Ich würde sie als Miststück bezeichnen. Wenn eine Frau so mit ihrem Mann redet, dann stimmt an ihrer Einstellung was nicht, falls Sie wissen, was ich meine. Aber mich geht's ja nichts an. Ich fahre die nur, ich kritisiere sie nicht.« Maggie kommt in Begleitung von Kenneth Branagh raus. Sie bleiben stehen und unterhalten sich eine Weile - außer Hörweite, aber es wirkt irgendwie sehr herzlich und vertraulich. Sie berührt seinen Arm. Sie lacht dieses wunderbare Lachen. Er drückt ihr einen Kuß von der CiaoSorte auf die Wange; ihr Körper drückt sich gegen seinen und verharrt lange genug dort, daß er auch wirklich fühlt, es ist ein Körper. Ich sollte cool sein. Ich versuche, cool zu bleiben. Ich halte ihr die Tür auf und sage nichts. Als wir den Sunset hinunterfahren, schiebt sie eine CD in den Player. Kein Country. Was Klassisches. Sie dreht die Lautstärke hoch. Dann sagt sie: »Sieh mich nicht so an.« »Wie soll ich dich nicht ansehen?« »Als wärst du mein Vater oder Ehemann.« »Ich bin weder das eine noch das andere«, sage ich. »Stimmt, bist du nicht.« »Du bist eine unabhängige, erwachsene Frau, die mich ab und zu auf dem Strand küßt...« »Zweimal.« »Ja«, sage ich. »Zweimal.« »Wir müssen damit Schluß machen joe. Es muß sein. Es geht nicht, daß du wie ein Hündchen hinter mir herdackelst. Branagh ist brillant. Und zufällig hat er eine Frau, die er liebt...« »Die haben doch alle Frauen, die sie lieben. Verdammt, was glaubst du eigentlich, mit wem du hier redest? Willst du Bänder mit glücklichen Ehemännern hören? Ich habe Bänder mit glücklichen Ehemännern, auf denen sie sagen: »Ich liebe meine Frau, aber sie bläst lange nicht so gut wie du, Baby.< Einmal habe ich die Frau des Generaldirektors von MacGre-
96 gor Defense Industries aufgenommen. Sie hat mit dem Tennislehrer ihrer Tochter geredet. Sie hat gesagt: >Ich liebe meinen Mann, das tue ich wirklich. Aber sein Ding ist einfach kleiner als deins.< Seine Frau zu lieben bedeutet einen Scheißdreck ...« »Es geht doch darum«, sagt Maggie, »wenn Branagh das nächste Mal einen Film macht - und er wird weitere Filme machen -, dann ist es wichtig, daß er Magdalena Lazlo im Kopf hat. Selbst wenn er nur über einen Film spricht und nebenbei erwähnt, es könnte ganz gut sein, mit Magdalena Lazlo zusammenzuarbeiten. So läuft das hier. Und wenn ich meine Titten an ihn drücken muß, um diesen Eindruck zu hinterlassen, dann mache ich genau das. Sei nicht kindisch.« »Hast du das auch mit mir so gemacht, Maggie?« »Ach, fahr zur Hölle. Bring mich einfach nach Hause.« Am nächsten Morgen fährt sie allein fort. Gegen Mittag kommt sie zurück. Ich sitze in der Küche und versuche ein Sandwich zu essen, auf das ich keinen Hunger habe. Sie gibt mir ein Päckchen. Sie hat mir einen CDPlayer und vierzehn CDs von Willie Nelson gekauft. Während ich mir die Aufnahmen ansehe, geht sie ins Wohnzimmer. Ich höre, wie sie das Stardust-Album auflegt. Es ist zwar kein Country, aber es ist von Willie. Er singt alte romantische Klassiker. Ich bin nicht an CDs gewöhnt, deshalb denke ich auch nicht daran, daß man CD-Spieler programmieren kann. Als ich ins Wohnzimmer gehe, drückt sie auf ein paar Knöpfe, und das Gerät springt vom ersten zum letzten Song des Albums, zu Someone to Watch Over Me. Wie Maggie schon sagte, die Situation ist schon Thema einer Menge Filme gewesen. Aber das hier ist das wirkliche Leben, und es scheint weder automatisch noch unvermeidlich zu sein, daß sich das reiche Mädchen in den Chauffeur verliebt. 97 KAPITEL ELF In seinem Doonesbury-Comicstrip hatte Gary Trudeau sich über den bruchstückhaften Satzbau des Präsidenten mokiert und den Eindruck vermittelt, als brächte der Präsident allein keinen einzigen Satz zustande. Das stimmte zwar meist dann, wenn Bush frei reden sollte, aber wenn er sich vorbereitete, konnte er es. Um dies zu beweisen - nicht Trudeau, der nicht anwesend sein würde, aber sich selbst und denen, die ihn umgaben -, hatte der Präsident beschlossen, seine Rede vor einer Gruppe von Republikanern aus Orange County und Los Angeles selbst zu verfassen. Er hatte sich Notizen gemacht. Er wollte auf verschiedene Punkte zu sprechen kommen. Er bat seine Sekretärin, die Notizen aus seiner Aktentasche zu holen. Die feste Sekretärin des Präsidenten war krank. Ihre feste Aushilfe war im Urlaub. Die feste zweite Aushilfe war bereits mit einer bestimmten Angelegenheit betraut worden. Blieb nur noch Carol Boomsliter, eine Frau aus dem Schreibpool des Weißen Hauses, die noch nie zuvor für den Präsidenten gearbeitet hatte. Sie tat ihr Bestes und folgte ihrer eigenen Regel: doppelt genäht hält besser. Bushs Notizen waren kaum mehr als ein Gekritzel auf der Rückseite eines Briefumschlags. Ms. Boomsliter, die ihre anale Phase nie überwunden hatte und daher manisch übergenau war, konnte nicht glauben, daß das alles war, selbst für eine unbedeutende Rede, selbst wenn sie in jeder Hinsicht identisch war mit den zwanzig Reden, die zuvor gehalten worden waren. Sie durchsuchte die Aktentasche recht 98 gründlich, und zum ersten Mal seit vier Monaten tauchte das Atwater-Memo wieder auf. Ein kurzer Blick genügte, um ihr einen Schrecken einzujagen. Nicht wegen des Inhalts. Wie so viele Leute in der Regierung war sie an den Punkt gelangt - vielleicht war sie mit dieser Geisteshaltung auch schon nach Washington gekommen -, wo ihr Inhalte vollkommen gleichgültig waren. Wie Stan, der Steward, war auch sie befugt, Unterlagen der Kategorien Streng Geheim mit Verteilerschlüssel, Strengstens Geheim und technisch gesehen sogar YEO zu bearbeiten, aber sie wollte auf gar keinen Fall mit einer vertraulichen Unterlage erwischt werden, die ihr nicht von einer äußerst autorisierten Person ausgehändigt worden war. Jetzt, da sie das Memo in der Hand hielt und ihre Fingerabdrücke darauf hinterließ, mußte sie eine Entscheidung fällen. Und anders als Stan bemerkte sie, daß es nicht an Bush, sondern an J. B. III adressiert war. Natürlich wußte sie, wer das war. Sie hegte keinen Zweifel daran, daß der Präsident dazu autorisiert war, dieses Memo zu sehen, aber sie konnte sich gut vorstellen, daß J. B. III es vermissen, danach suchen und eine Untersuchung anordnen würde, wenn es gefunden worden war, auch wenn es in der Aktentasche des Präsidenten gelegen hatte. Das FBI würde kommen, nach Fingerabdrücken suchen - ihr ging auf, daß sie nicht wußte, wie man Fingerabdrücke von Papier abwischte, und selbst wenn sie es gewußt hätte, war ihr dennoch klar, daß Verbrecher stets einen
Fehler machen und eine Spur hinterlassen. Sie beschloß, mit der Wahrheit herauszurücken. Sie reichte George Bush den Umschlag mit den Kritzeleien und dann das säuberlich zusammengefaltete Memo von Lee Atwater. Sie entschuldigte sich, daß sie es gesehen hatte, und sie schwor, daß sie nicht weiter als bis zu den Buchstaben YEO gelesen hatte. Wenn die feste Sekretärin des Präsidenten anwesend gewe99 sen wäre, dann hätte er ihr das Memo aus Reflex rübergereicht und gesagt, es entweder abzuheften oder zu vernichten. Wenn der Außenminister, an den es adressiert war, anwesend gewesen wäre, dann hätte Bush es vielleicht an ihn weitergegeben. Aber ohne diese Möglichkeiten und angesichts so vieler Amtsgeschäfte, an die er zu denken hatte, wurde daraus das zweitausendeinhundertvierunddreißigste Detail, das sein Verstand nicht verarbeiten konnte, ähnlich der Frage, ob die schwarzen Socken rechts oder links von den blauen Socken in der Sockenschublade kommen, ob »Mc« nach »Mac« oder nach »Max« in der Spenderkartei eingeordnet wird, oder was eigentlich mit Gesetzesvorlagen zu gesehen habe, wenn er sein Veto dagegen eingelegt hatte.22 Weil niemand da war, der ihm das Papier sofort aus der Hand nehmen konnte, und weil er sich nicht entscheiden konnte, ob er es vernichtet wissen oder noch einmal durchlesen wollte, und weil er keine Ahnung hatte, wie er es ablegen sollte, steckte George Bush Lee Atwaters Memo vom Totenbett ein. Wo es zerknittert wurde, die Tasche ausbeulte und den Träger daran erinnerte, daß es da war. Es war da, als der Präsident in seinen Hubschrauber stieg. Auch noch, als der ihn zur Air Force One brachte. Dies war ein Arbeitsflug. Mehrere Mitglieder seines mittelmäßigen Kabinetts waren an Bord. Jeder einzelne mit wichtigen Fragen, um die man sich kümmern mußte. Des weiteren waren anwesend sein Pressesekretär, der Meinungsforscher des Präsidenten, Kenny Moran, der vom Gallup-Institut ausgeliehen und offiziell vom Landwirtschaftsministerium angestellt worden war23, und der führende Kopf der Republikanischen Partei, der das Spendendinner an der Westküste arrangiert hatte, zu dem sie alle unterwegs waren. Der fünfstündige Flug war schnell vorüber. Es gab viel zu 100 tun. Keine der Neuigkeiten waren umwälzend oder katastrophal. Aber keine davon war gut. Noriegas Anwälte kämpften darum, seine Konten aufzutauen. Das zögerte den Prozeß hinaus, und bis zum Prozeßende und zur Verurteilung Noriegas schwebte die Invasion Panamas am Rand eines Abgrunds namens Farce. Die Wirtschaft war das stärkste Depressivum. Sie stagnierte einfach. Der Sparkassenskandal weitete sich immer mehr aus und produzierte Verluste, die von Milliarden zu zig Milliarden zu Hunderten von Milliarden anwuchsen. Bushs Sohn - woher kam es, daß die Söhne großer Männer, er natürlich ausgenommen, solche Enttäuschungen waren? - war in einen dieser Skandale verwickelt. Jeder, der blöd genug war, in eine Bank zu investieren, die nach Silverado, einem Ballerwestern, benannt war, sollte doch gewillt sein, seine Verluste wegzustecken und sich nicht zu beschweren. Glücklicherweise wurden die Missetaten des Sohnes nicht dem Vater angelastet. Damit rechnete er auch nicht. Schließlich hatte Jimmy Carter Billy Carter überlebt und Reagan sowohl einen Sohn, der »Ballettänzer« war, als auch eine Tochter, die ihre Familie bei jeder Gelegenheit anschwärzte. Aber das konnte sich ja ändern. Genau wie das, was ein erwachsener Mann mit seinem eigenen Penis tat, plötzlich zu einer Frage von öffentlichem Interesse geworden war und unter der Überschrift »Charakter« lief - ein Mann trägt die Last der Welt auf seinen Schultern, und es wird ihm noch nicht einmal ein kleiner, diskreter Spannungsabbau zugestanden -, so konnten auch all die Familienschwächen plötzlich zum Maßstab werden, mit dem sich ein Politiker messen lassen mußte. Die Außenhandelsbilanz rutschte immer tiefer in die roten Zahlen. Das Defizit nahm weiter zu. Nach etwa vier Stunden dieser lähmenden Nachrichten hatte er langsam das Gefühl, unter einem Vorbau stehend darIOI auf zu warten, daß sich der Regen verzog, aber mit einer kleinen undichten Stelle über sich, von der die Tropfen stets genau den Spalt zwischen seinem Nacken und Kragen fanden -und außerdem mußte er mal pinkeln. Was er auch tat. Während er fort war, traf das Fax, auf das sie gewartet hatten, endlich über das abhörsichere Kommunikationssystem ein. Als er herauskam und den Reißverschluß an seiner Hose zuzog, sah er als erstes, wie die Daten ausgedruckt wurden. Moran hatte den Platz neben der Maschine eingenommen und verfolgte die neuen Zahlen besitzergreifend. »Wie sieht's aus, Kenny?« fragte der Präsident. »Tut mir leid, Sir, aber es geht einen viertel Punkt nach unten.« »Ich? Ich persönlich?« »Ja, Sir. Aber es ist nur ein viertel Punkt.« »Aber der Trend. Darauf kommt's
doch an. Das erzählt ihr Jungs mir doch andauernd. Ich soll den Trend im Auge behalten, stimmt das nicht?« »Ja, Sir. Ich bin nur der Überbringer.« »Sie sind mehr als das. Sie sind der Zauberer, der aus den Eingeweiden liest.« »Bitte?« Der Präsident ließ sich in seinen Sessel sinken. »Raus. Alle raus. Ich muß darüber nachdenken.« Seine Mitarbeiter wußten, daß er es nicht wörtlich meinte. Sie befanden sich in fünfeinhalbtausend Metern Höhe. Ein paar Minuten später zog er sich in die Schlafkabine zurück, um sich ein frisches Hemd und einen anderen Anzug für das Spendendinner anzuziehen. Als er den Inhalt seiner Hosentaschen hervorholte, stieß er auf das Memo. Unter anderem, weil er nicht wieder hinausgehen und sich noch mehr Neuigkeiten anhören wollte, die weder gut noch 102 schlecht, sondern einfach nur trostlos waren, schlug er es auf und las es erneut. Vielleicht weil es inzwischen ein wenig vertraut war, schien es diesmal gar nicht so irrsinnig. Und der tote Lee Atwater versprach etwas, wozu keine lebende Person in der Lage schien - er bot eine Möglichkeit an, diesen ganzen aufreibenden Scheißdreck, dieses ganze nervende Klein-Klein, das ihn in den Umfragen in unerbittlichen Zuwächsen von halben und viertel Punkten nach unten zog, hinter sich zu lassen; er bot eine Möglichkeit an, all dies auf einen Schlag zu ändern. Das Memo verwies auf eine bestimmte Person, der eine Schlüsselrolle bei der Durchführung des Plans zufiel. Wenn es eine Konferenz über diese Angelegenheit gegeben hätte, dann wäre vielleicht entschieden worden, daß »jemand von dieser Sorte« wichtig wäre, nicht ein bestimmtes Individuum und nur dieses. Es handelte sich um einen Mann, den Atwater kannte, dem Bush aber nie begegnet war. Noch nicht. Zufälligerweise würde Bush ihn bei dem Spendendinner kennenlernen, in etwa - der Präsident sah auf die Uhr, als er spürte, wie die 747 ihren Sinkflug begann - zwanzig, fünfundzwanzig Minuten. Es ist durchaus möglich, davon auszugehen, daß nichts von alledem wirklich eine Rolle spielte. Daß die Kraft in der Idee lag. Und diese Idee zwangsläufig zum Vorschein gekommen wäre, ganz unabhängig davon, ob das physische Stück Papier, auf das sie geschrieben worden war, vernichtet, verloren oder vergessen wurde. Das Papier und die Schrift bedeuteten nichts - die Kraft lag in der Idee. 103 KAPITEL ZWÖLF Maggie will Action. Das verstehe ich. Ich will auch Action. Aber das ist die einzige Option, die wir nicht haben. Zumindest glaube ich das. Solange wir scheinbar nichts tun, werden sie uns in Ruhe lassen. Sobald wir uns scheinbar bewegen, werden sie reagieren. Eine Möglichkeit, wie ich mit meiner Anspannung fertig zu werden versuche, besteht darin, mein Training zu intensivieren. Zusätzlich zum Laufen und den einfachen gymnastischen Übungen nehme ich mein Training im Dojo wieder auf. Ich gehe zu einem Laden in Koreatown. Er befindet sich in einem dieser typischen zweistöckigen Mini-Einkaufszentren: Discount-Haushaltswaren, Ansichtskarten und Tabak, Maniküre und Pediküre, ein Fischgeschäft. Das Dojo hat einen Namen, aber die Stammkunden nennen es einfach Sergeant Kim's. In Vietnam kannte ich Kim noch nicht. Es gibt Geschichten über ihn, von denen viele wahr sein können. Er kann mit einer Berührung töten. Wir alle können mit unseren Händen töten. Ich meine, eine Menge Leute, die Kampfsportarten lernen oder eine Ausbildung in Nahkampftechniken erhalten Green Berets, Seals oder die Delta Force -, selbst in der Standardausbildung bei den Marines, überall werden einem tödliche Schläge beigebracht. Kim war in einer Aufklärungseinheit. Sie schnappten sich ein paar potentielle Vietcong. Dann kam Kim. Er brauchte niemanden aus einem Huey24 zu werfen, um die anderen zum Reden zu bringen. Er mußte keinen erschießen. Er tat es einfach mit seinen Händen. 104 Sie ließen die Gefangenen antreten. Sie sahen diesen harten, kleinen Koreaner, nicht größer als sie selbst, nur kräftiger. Er ging zum ersten Gefangenen. Berührte ihn. Tötete ihn. Die anderen fingen an zu reden. Schon bald wurde er zu einer Legende und mußte nicht immer töten, brauchte einfach nur der Sergeant zu sein, der den Tod in den Fingerspitzen trug. An dieser Stelle möchte ich etwas erklären. Ich weiß nicht, wie man so was in einem Film darstellen könnte, denn es hat mit Ideen zu tun. Auch möchte ich nicht, daß Sie eine falsche Vorstellung von Kim bekommen. Daß er ein brutaler oder bösartiger Mann ist. Das ist er nicht. Die meisten Menschen haben sich wegen Vietnam geschämt. Also haben sie einfach weggesehen. Ich bin voller Begeisterung
rübergegangen. Auch als ich da war, änderte sich das nicht. Ich hatte gute Zeiten dort. Ich habe Vietnam geliebt. In mehr als nur einer Hinsicht. Den Kampf eingeschlossen. Es hat mir gefallen, ein Held werden zu wollen. Vielleicht habe ich deshalb nicht weggesehen. Ich habe eine Menge Zeit darauf verwendet, zu beobachten, was um mich herum passierte, und dann darüber nachzudenken. Ich fürchte, wir haben Vietnam auf exakt dieselbe Art nicht verstanden, wie die Leute einen Mann wie Kim nicht verstehen werden. General Westmoreland gab immer Äußerungen von sich wie: »Für den Asiaten ist das Leben nicht so wertvoll wie für den Abendländer«, »Leben ist im Überfluß vorhanden, Leben ist billig in Asien« oder: »Wie die Philosophie Asiens es ausdrückt: Leben ist nicht wichtig.«25 Das waren ausgesprochen dumme Äußerungen. Vielleicht haben wir deshalb den Krieg verloren. Wenn Kim von Angesicht zu Angesicht tötet, wenn er dem Mann direkt in die Augen sieht, der sterben wird, dann heißt das nicht, ein Leben sei billig für Kim. Es bedeutet vielmehr, 105 daß Kim schonungslos ehrlich ist. Westmoreland26 beurteilte den Krieg anhand von »body counts«, der bloßen Zahl der Toten. Er schuf sogenannte »Freefirezones«, das heißt: alles, was sich in diesen Gebieten bewegte - ob nun Mann, Frau, Kind oder Wasserbüffel -, galt automatisch als Feind, und wir sollten es töten; er war es auch, der die Entlaubung der Wälder und massive Bombardierungen aus großen Höhen anordnete. Das bedeutet, Leben ist billig, Leben ist nicht wichtig. Ich behaupte nicht, daß wir diese Dinge nicht hätten tun sollen. Wir waren Soldaten. Wir waren dort, um Feinde zu töten. Wir haben so viele wie möglich getötet. Aber wir sollten nicht diejenigen verwechseln, die das Leben für billig halten und die, die es respektieren. Das Erdgeschoß des Dojo ist für alle. Dort wird Taekwondo unterrichtet, außerdem bieten sie inzwischen recht erfolgreich spezielle Selbstverteidigungskurse für Frauen an. Vom Umkleideraum gelangt man über eine Treppe in den ersten Stock. Dort hängt ein Schild mit der Aufschrift: ROK - NUR FÜR MITGLIEDER. In diesem Zusammenhang gibt es einen kleinen Scherz, auf den ich später noch kommen werde. Es ist so was wie ein Privatclub, der nicht auf eine bestimmte Disziplin beschränkt und kampforientiert ist. Als ich mich dort zum dritten Mal in einer Woche wiederfinde, wird mir klar, daß ich daran denke, Kim um Rat zu bitten. Ich ziehe meinen Gi an und gehe nach oben. Als ich Kim gegenüberstehe, verbeuge ich mich. Ich bitte darum, mit ihm sprechen zu dürfen. Ich erkläre, daß ich den Job für Maggie übernommen habe und warum ich es so ernst nehme, daß Ray mich angelogen hat, was die Abhörgeräte betrifft. Kim hat eines dieser stoischen, knallharten koreanischen Gesichter. Ich kann nicht ablesen, was er denkt. Um ihm also klarzumachen, was ich empfinde, greife ich auf ge106 meinsame Erfahrungen zurück: »Du erinnerst dich, wie im Dschungel die Vögel zu singen aufhörten. Genau das höre ich jetzt - das große Schweigen.« »Warum kommst du zu mir?« »Bei praktisch jedem, den ich kenne und von dem ich weiß, daß er mir helfen könnte, muß ich davon ausgehen, daß seine Loyalität der anderen Seite gehört. Das Telefon kann ich nicht benutzen. Ich kann niemanden engagieren, der mir helfen soll. Ich kann sie nicht abhören. Ich kann mich nicht bewegen. Ich komme nicht weiter.« »Ahhhh«, sagt er sehr asiatisch, »du bist wegen Sensei-Scheiß zu mir gekommen. Okay, kannst du haben. Du bist Hirsch, der Tiger sieht. Hirsch kann sich nicht bewegen, denn Bewegung wird Aufmerksamkeit von Tiger erregen, Tiger wird zuschlagen. Hirsch kann aber auch nicht stillstehen, denn früher oder später wird Tiger zuschlagen. Oh, Glasshopperjoe, verstehst du Lektion? Lektion ist, es verdammt hart, Hirsch in Dschungel zu sein. Besser, wenn du Tiger. Wie findest du diesen SenseiScheiß? Wenn du willst, ich dir auf Hinterkopf schlagen.« Er lacht. Er amüsiert sich bestens. »Amerikaner. Sehen Kung Fu und Karate Kid Eins, Zwei, Drei, glauben, Kampfsporttrainer sein Führer fürs Leben und Dojo sein Therapie. Hejoe, weißt du, was ich Leuten beibringe? Ich bringe Leuten bei, sich gegenseitig zu schlagen, das ist alles. Du bist ein guter Kerl, Joe. Hast du Lust auf einen Drink? Wir gehen, trinken zusammen ein Bier und essen frischen Fisch in Lokal von meinem Neffen. Sehr frisch, sehr gut.« »Nein, danke, ist schon okay.« »Ich merke, daß ich in letzter Zeit schon früher am Tag trinke. Natürlich nur Bier.« »Ich muß dir was sagen, Kim ...« »Komm, wir gehen in Büro.« 107 Ich folge ihm. Ich sage: »Ich komme mir vor, als wäre ich in einen Hinterhalt geraten. Und das macht mir eine Scheißangst. Ich hätte es wissen müssen. Als ich in Vietnam war, habe ich den Punkt erreicht, wo ich es immer, immer wußte. Verstehst du das?«
Er deutet auf einen Stuhl, während er zu einem kleinen Kühlschrank geht und zwei Flaschen Harp Lager herausnimmt. »Die Iren. Machen gutes Bier. Trink mit mir, und ich dir geben einen guten Rat.« Er öffnet die Flaschen und gibt mir eine. Er wartet und beobachtet mich, bis ich die Flasche zum Mund führe und schlucke. »Okay. Ich erzählen dir so was wie Zen-Geschichte.« Er nimmt einen großen Schluck und seufzt zufrieden. »Die Iren, bestes Bier. Einmal bin ich gegangen, um bei japanischem Meister des Kampfsports zu lernen. Sehr großer Meister, sehr berühmt. Er erzählen Samurai-Geschichte. Eines Nachts Samurai geht trinken. Wird sehr glücklich. Auf dem Weg nach Hause, er wird in kleiner Gasse von einem Haufen Banditen überfallen. Es sind acht oder zehn. Samurai sehr großer Kämpfer. Er reagiert. Er wehrt sich. Tötet sieben, die anderen laufen weg. Am nächsten Tag geht er zu Lehrer und prahlt über seine Tat, wie viele er getötet. Lehrer sagt: >Du bist dumm. Ein echter Samurai hätte von Hinterhalt gewußt und wäre die nächste Gasse nach Hause gegangen.1 Ich habe darüber nachgedacht«, sagt Kim. »Ich hasse Zen-Geschichten. Zu japanisch. Wenn ich dieser Samurai wäre, hätte ich gesagt: >Leck mich, Sensei. Ich bin Samurai. Ich kämpfe gern. Ich habe meinen Spaß gehabt. Und ich bin nicht dumm, denn kämpfen und gegen eine Übermacht von acht zu eins siegen, Baby, genau das ist es doch.-« Er trinkt noch einen Schluck Bier. Mit großem Behagen. Er starrt mich an, bis ich auch wieder trinke. Dann sagt er: »Du froh sein, daß ich nicht Japaner bin.« 108 »Warum?« »Wenn ich Japaner, ich dir sagen, geh zu deiner Firma zurück. Gesteh deinen Fehler und werde wieder loyal.« Kim lacht, sehr rauh. »Ich liebe die Japaner. Hai Ich Toyota-Mann. Ich lasse mir ToyotaSchaltknüppel in Arsch schieben, wenn dadurch Autos besser werden. Ich Hitachi-Mann. Teste großen Vibrator und summe Firmenhymne. Scheiß auf die Japaner. Koreaner sind besser. Sogar Amerikaner sind besser. Jeder ist sich selbst der nächste. Sehr interessant.« Ich seufze. Das ist nicht das Gespräch, das ich erhofft habe. Kim rülpst. Er lächelt mich an. Auf seinem Schreibtisch türmen sich Papiere. Er schiebt einige zur Seite und legt ein Taschenbuch frei. The ArtofStrategy: ANew Translation ofSun Tzu's Classic, The Art ofWaf1. Er drückt es mir in die Hand. »Geschenk. Ich dir geben«, sagt er. »Neue Übersetzung. Sehr schön. Ideogramme auf einer Seite. Wenn du Rat von asiatischer Philosophie suchst, dann Sun Tzu sehr gut. Der Beste. Chinese. Wohin du auch schaust, überall ist ein Anfang. Hier ...« Er schlägt das Buch scheinbar willkürlich auf und legt, ohne hinzusehen, seinen Finger auf die Seite. Die Zeile, auf die er zeigt, lautet: Wollen wir nicht kämpfen, dann können wir verhindern, daß der Feind uns in einen Kampfverwickelt, auch wenn unser Lager nur von einer Linie auf dem Boden umgeben ist; alles, was wir dazu tun müssen, ist, ihm etwas Seltsames, Unerklärliches in den Weg zu legen.2* Er sagt wieder: »Nimm es.« »Danke«, sage ich, kann das Geschenk nicht zurückweisen, obwohl ich bereits andere Ausgaben des gleichen Buches besitze. Er leert sein Bier mit einem langen Schluck. Er starrt mich an, als wäre ich ein respektloser Gast, bis auch ich meine Flasche ausgetrunken habe. Er nimmt sie mir ab und stellt dann beide weg, um später das Pfand zu kassieren. Als das erledigt ist, kehren wir ins Dojo zurück. 109 Kim klatscht in die Hände. Alle drehen sich um und sehen ihn an. Er deutet auf einen großen, dünnen Schwarzen mit rasiertem Schädel. Ich kenne ihn flüchtig. Er nennt sich Hawk. Genau wie die Fernsehserie. Tatsächlich behauptet er, daß er das reale Vorbild für diese Figur ist. Was ich ihm nicht abnehme. »Hawk. Kämpf mit Joe. Nur Leichtkontakt«, sagt Kim. Hawk wirft mir einen »gemeinen« Blick zu. Ich drehe mich um zu Kim. Darauf bin ich nicht vorbereitet. Mein Bauch ist voll Bier. »Yo, was is nu?« sagt Hawk. »Fangen wir endlich an, oder muß ich dir erst eine langen?« Ich drehe mich um. Wir finden einen Platz auf der Matte. Die anderen machen uns automatisch Platz. Wir verbeugen uns voreinander. Das Bier schwappt in meinem Bauch. Wir nehmen unsere Positionen ein. Wir fangen an. Hawk schlägt als erster zu. Sofort ist klar, daß er mir überlegen ist. Er ist schneller, stärker und technisch besser. Beim Taekwondo spielen Tritte eine wesentliche Rolle, und es gibt spezielle Techniken, um erhebliche Kraft in die Tritte legen zu können. Wenn man sie richtig ausführen will, ist große Gelenkigkeit erforderlich. Allein schon von der Statur her ist er mir voraus. Schon bald schlägt er nach Lust und Laune zu. Ich blocke, so gut ich kann, lasse ihn meine Unterarme, Schultern und Oberschenkel treffen, versuche aber gleichzeitig, meine verwundbaren Punkte zu schützen: Augen, Kehle, Unterleib, Knie. Ein
wuchtiger Tritt kommt durch und erwischt mich im Magen. Ich mache einen Schritt zurück, als das Bier hochkommt. Leichtkontakt ist so leicht nicht. Kampfsporttrainer glauben an Schmerz als Lehrmeister. Genau wie Ausbilder bei den Marines. Und viele Eltern. Ich muß zugeben, daß ich konzentrierter und aufmerksamer werde, während ich diese Prügel einstecke. Ich beginne, Hawk klarer zu sehen. Ich bin sicher, daß er früher oder später, wenn er glaubt, einen sauberen Tritt landen zu können, einen seiner vernichtenden Schläge mit voller Kraft durchziehen wird. In ihm lodert eine diffuse Wut. Außerdem ist er arrogant. Ich versuche einen Angriff. Er blockt ab und kontert blitzschnell mit einem linkshändigen Schlag gegen meinen Hals. Ich blocke nicht richtig ab. Sein Stoß hat mehr Pfeffer als nötig. Ich weiche zurück, es tut weh. Er setzt mit einem Tritt auf meinen Unterleib nach. Auf diesen Augenblick hat er gewartet. Jetzt schlägt er mit voller Wucht. Ich bringe meinen Schenkel dazwischen. Es ist ein mächtiger Stoß, der einen Augenblick betäubt. Er weiß es. Jetzt bin ich sogar noch langsamer als zu Anfang. Er setzt sofort nach. Eine Variation dergleichen Sequenz. Ein Stoß mit der Hand, diesmal auf meine Augen, damit ich zurückweiche und in die richtige Position für den folgenden Tritt komme. Dieses Mal bin ich mir absolut sicher, daß er es auf mein Knie abgesehen hat - diese Gedanken laufen allerdings nicht verbal ab. Bis sich die Worte gebildet hätten, wäre die Handlung längst gelaufen. Es sind unmittelbare Gedanken, plastisch und klar, auch wenn ich nicht sagen kann, was genau sie sind, wenn keine Worte. Wenn er mein Knie erwischt, wird er mich verletzen. Vielleicht geringfügig, vielleicht schwer. Damit ist der Kampf beendet. Nachher wird er sich förmlich, aber unaufrichtig bei mir entschuldigen. Statt zurückzuweichen, um meine Augen zu schützen, mache ich einen Schritt in den Handstoß hinein mit der Absicht, den Schlag mit der Stirn abzufangen. Das ist für uns beide gefährlich. Wenn mein Timing nicht stimmt oder wenn er sich zu gut auf diese Reaktion einstellt, wird er meine Augen erwischen. Gleichzeitig aber ist der Schädel ein sehr harter Knochen, der sehr dicht unter der Haut liegt. Es ist ausgesprochen gefährlich, jemanden mit der Faust oder der Hand auf den Kopf zu schlagen. Wenn er mit voller Kraft zuschlägt und sich nicht auf mein Manöver einstellt, wird er sich höchstwahrscheinlich etwas brechen. Er reagiert richtig. Aber nicht schnell genug. Seine versteiften Finger treffen den Schädelknochen unmittelbar über dem Auge. Meine Augenbraue platzt auf. Blut fließt. Es sieht dramatisch aus, hat aber nichts weiter zu bedeuten. Kim bricht den Kampf nicht ab. Tatsächlich höre ich ihn sogar leise lachen. Obwohl ich viel zu konzentriert bin, um das mit Sicherheit sagen zu können. Hawk hat sich die Hand verletzt. Sein Rhythmus ist durcheinandergekommen. Und er ist mir auf den Leim gegangen. Womit sich sein Vorteil in meinen Vorteil verwandelt. Doch das versteht er im Moment noch nicht. Vielleicht ist er durch das knallige Rot meines Blutes abgelenkt. Weil er es nicht versteht, setzt er das fort, was er geplant hat: den Tritt auf mein Knie. Aber ich bin ihm bereits viel zu nah und bewege mich weiter auf ihn zu. Bevor sein Fuß mein Knie erwischt, ziehe ich mein Knie hoch, so daß es sein Knie trifft. Ich drehe mich, füge der Kraft seiner Bewegung meine eigene hinzu. Ich lasse mich fallen, gehe auf die Matte, und werfe ihn über mich weg. Ich folge ihm so schnell ich kann. Mit beiden Knien krache ich auf ihn. Mit der zur Tigerkralle geformten Hand schlage ich nach seinem Gesicht und berühre seine Augenlider mit den Fingern. Kim klatscht in die Hände und beendet den Kampf. Wir stehen auf. Wir verbeugen uns. Ich blute. Hawks Hand 112 beginnt zu schmerzen. Kim geht. Er hat andere Dinge zu tun. Aus dieser Sache soll ich irgend etwas gelernt haben. Oder aus dem Buch. Oder aus seiner Geschichte. Oder aus allem zusammen. Wenn nicht, ist es allein die Schuld des Schülers, nicht die des Lehrers, und der Lehrer hat, mit Recht, nichts mehr zu sagen. Vielleicht war er einfach auch nur sauer auf mich, weil ich blöde Fragen gestellt habe, und die Lektion lautete, daß ich in Zukunft den Mund halten und ihn nicht belästigen soll. Alles ist möglich. »Du hältst dich wohl für oberschlau, Arschloch?« sagt Hawk. »Schlau genug«, sage ich. »Du bist lange nicht so schlau wie ich«, sagt er. »Wenn ich meine Finger in deinen Augen gehabt hätte, dann hättest du den Hawk gespürt, bevor du wieder aufgestanden wärst.« »Schon möglich«, sage ich. Plötzlich grinst er. Er hat einen breiten Mund und große Zähne. Was sein Lächeln sehr groß und freundlich wirken läßt. »Scheiße, Joe, du bist in Ordnung«, sagt er und fängt mit so einem
altmodischen Soulbrother-Handschlag an: Fäuste antippen, auf die Ellbogen schlagen, die Unterarme gegen einander stemmen und die Daumen einhaken. Ich war in Vietnam. Das haben alle Brothers gemacht. Meine Version ist veraltet, aber Hawks vermutlich auch. Heute werden nur noch Fingergesten gemacht, Gang-Zeichen. Sie wissen schon, Sie kennen das aus dem Kino. Ich fahre zu dem Haus zurück. Maggie macht sich gerade für eine Party von Hollywood-VI Ps fertig. Gastgeber ist jon Peters29. Der erst kürzlich als Chef von Columbia Pictures von Sony engagiert worden ist. Sein Gehalt liegt angeblich bei 2,7 Millionen Dollar, plus Gewinnbeteili113 gung plus die üblichen Hollywood-Nebenleistungen. In Hollywood gibt es Tausende Leute, die »Nein« sagen können. Es gibt mehrere Hundert, die »Ich bin dabei« oder »Genehmigt« sagen können und damit die Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens eines Films erhöhen. Aber es gibt nur eine Handvoll, die wirklich »Los« sagen können und auf deren Wort hin zwanzig oder dreißig oder vierzig Millionen Dollar aufgetrieben und ausgeben werden und der Film tatsächlich gemacht wird. Vielleicht sind es fünf oder zehn oder fünfzehn. Wie viele auch immer, die meisten werden heute abend dort sein. Maggie hat ihren Friseur kommen lassen. Er heißt Fredo. Ich schaue ihm ein paar Minuten bei der Arbeit zu. Keiner von den beiden nimmt mich wahr. Fredo plappert über das Sexleben der Stars. Er erwähnt tatsächlich die Geschichte mit der Wüstenspringmaus. Er schwört, sein Freund würde dem Arzt die Haare schneiden, der die Bestie entfernt hat. »Fredo, halt einfach den Mund und mach mich schön«, pfeift Maggie ihn an. Als wäre sie's noch nicht, und das mache ihr plötzlich Angst. Ich beobachte sie, wie sie sich ihrer Angst im Spiegel stellt, dann verlasse ich den Raum. Später kommt Maggie runter. Sie ist überwältigend. Frisur, Make-up, Kleider, Schuhe - das ganze Pipapo. Ich verstehe nichts von Kleidern, aber ich erkenne, daß dieses Kleid sehr teuer, der Stoff etwas ganz Besonderes ist und für sie maßgeschneidert wurde. Wer auch immer es gemacht hat, ist ausgesprochen clever, denn obwohl es schlicht aussieht, schmiegt es sich perfekt an und verändert sich bei jeder ihrer Bewegungen. Erst wird meine Aufmerksamkeit auf ihre Brüste gelenkt, dann bemerke ich ihre langen Beine, dann starre ich auf die sanfte Wölbung ihres Venushügels. Dann ist es auch schon wieder fort. 114 Ich dagegen sehe nicht besonders gut aus. Ich habe ein Pflaster auf der Augenbraue, mein Auge ist verfärbt, und ich hinke. Als sie mich sieht, ist sie besorgt. Aus Angst, sich danach zu erkundigen, während die Lauscher lauschen, schaltet sie den CD-Spieler an. Sie fragt, ob mit mir alles in Ordnung sei. Ich sage, ja. Ich versuche nicht mal zu erklären, was im Dojo passiert ist. Ich bin immer noch nicht ganz schlau daraus geworden, ob Kim langsam zum Alkoholiker wird oder ob etwas geschehen ist. Wollen wir nicht kämpfen, dann können wir verhindern, daß der Feind uns in einen Kampfverwickelt, auch wenn unser Lager nur von einer Linie auf dem Boden umgeben ist; alles, was wir dazu tun müssen, ist, ihm etwas Seltsames, Unerklärliches in den Weg zu legen. Was bedeutet das? »Ich wünschte, du würdest etwas präsentabler aussehen«, sagt sie. »He, ich bin dein Leibwächter. Und für einen Leibwächter sehe ich genau richtig aus.« »Das ist nicht komisch, Joe.« »Und ob.« »Ich könnte etwas Make-up drauf tun. Es überschminken.« »Maggie, du bist die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Du siehst toll aus.« »Sehe ich aus wie eine Göttin?« fragt sie. »Denn darum geht's. Schön ist nicht genug. Ich erinnere mich noch gut an den ersten Casting Director, der das zu mir gesagt hat. >Schön ist nicht genug, Babe. Schön ist Dutzendware. He, paß auf«, hat er gesagt, 'du hast einen guten Body, und ich kann dir ein paar Nacktjobs besorgen.« Ich habe gesagt: >Danke, aber nein, danke.« Er hat gesagt: >Sei nicht so hochnäsig, Babe. Es war gut genug für Marilyn, es war gut genug für die Basinger vertrau mir, es ist mehr als gut genug für dich.« Dann hat er gesagt: >Du kommst wieder. In sechs Monaten, in einem Jahr oder in zwei, und dann wirst du dich ausziehen. Wir sehen «5 uns.< Ist das nicht unglaublich? So plump, wie aus einem Kitschroman.« »Bist du zurückgegangen?« »Nein. Und das werde ich auch nie, das schwöre ich.« »Warum solltest du?« »Sehe ich aus, als wollten Millionen Menschen für das Privileg bezahlen, einen verstohlenen Blick auf mich werfen zu dürfen? Sich die Form meiner Titten anzusehen? Die bislang noch nicht chirurgisch verändert worden sind, was bedeutet, daß sie mit denen von Melanie Griffith nicht konkurrieren
können. Sehe ich wie jemand aus, in den du ein paar Millionen Dollar investieren willst? Sehe ich so scharf aus?« »Oh«, sage ich. »Darum geht's. Das hätte ich wissen müssen.« »Arschloch«, sagt sie, lächelt aber dabei. Es ist wie in Das Haus am Eaton Place. Wir, die Chauffeure, befinden uns in einem für Bedienstete auf Besuch reservierten Trakt. Es wird viel getratscht. Das ist mein Job. Da es seine Party und er die neue große Nummer in der Stadt ist, will jeder über Peters reden. Zum größten Teil ist es alter Klatsch. Daß er als Vorbild für die Rolle diente, die Warren Beatty in Shampoo gespielt hat, der heterosexuelle Friseur, der mit jedem in L. A. geschlafen hat, einschließlich Nancy Reagan50. Mehrere Chauffeure sind Frauen. Eine von ihnen sagt: »Die arme Lesley Ann Warren, die tut mir wirklich leid. Schlimm genug, mit so einem Schwein verheiratet gewesen zu sein, das alles vögelt, was zwei Beine hat, aber als sie einen Film daraus machen, bekommt sie da wenigstens die Chance, sich selbst zu spielen? Denkste. Goldie Hawn bekommt die Rolle der Warren.« Danach spinnen sie die Legende fort, daß Peters sich nach oben gebumst und dann die Streisand getroffen hat, die ihn zuerst zu ihrem Schallplatten- und dann zu ihrem Filmproduzenten machte.31 116 Ich versuche, die Unterhaltung auf den geheimnisvollen Mr. Beagle zu lenken. Ich höre verschiedene Gerüchte, einschließlich zweier, die ich bislang noch nicht kannte. Eines besagt, daß er an einer Dickdarmerkrankung leidet und Gerüche aus seinem Körper entweichen, derentwegen er sich nicht in die Öffentlichkeit begeben will. Das andere lautet, daß er an einem streng geheimen Projekt für die Japaner arbeitet und japanische Fernsehshows entwickelt, die amerikanischen Shows Konkurrenz machen werden, daß der Kauf von Columbia durch Sony nichts als ein ausgeklügeltes Ablenkungsmanöver war, damit wir nicht merken, was die Japaner wirklich vorhaben. Außerdem höre ich Geschichten, die ich bereits kenne: das AIDS-Gerücht und daß er für die Japaner an der Produktionstechnologie für das HDTV arbeitet, das alle nichtelektronischen Produktionen binnen ein oder zwei Jahren vorsintflutlich erscheinen lassen wird. Die Party findet im Haus und im Freien statt. Von dort, wo wir untergebracht sind, können wir einen Teil dessen mitbekommen, was im Garten hinter dem Haus passiert. Dann und wann erhasche ich einen Blick auf Maggie. Aus der Entfernung wirkt sie sowohl sehr verführerisch als auch kokett. Ich glaube, wenn ich einer der Männer wäre, mit denen sie spricht, würde ich denken, sie macht mich an. Mehrere Male sehe ich, wie sie von Männern berührt wird. Damals auf der Junior High School haben wir so was Betatschen genannt. Das macht mich stinksauer. Aber ihr bereitet das natürlich keine Probleme. Einer der Chauffeure kommt zu mir rübergeschlendert. »Sie interessieren sich für Lincoln Beagle«, zischt er aus einem Mundwinkel, wie ein altmodischer Knacki aus einem Cagney-Gefängnisfilm oder wie ein niederträchtiger Spion aus einem frühen Hitchcock. »Ich bin nur ein Fan«, sage ich. »Ich finde toll, was er macht.« »Hm-hmh«, sagt der Bursche. »Wissen Sie, was er vorhat?« »Ich kenne ihn.« Er zwinkert mir zu. »Was, wenn ich Ihnen erzählen würde«, sagt er, »daß Lincoln Beagle daran arbeitet... Sind Sie bereit für das, was jetzt kommt?... Sind Sie's?« »Ich denke schon.« »Glaube ich nicht. Aber ich erzähl's Ihnen trotzdem. Weil es nämlich so unglaublich ist. Er arbeitet an der Reinkarnation von John Wayne.« »Klingt doch ganz vernünftig«, sage ich. »Wir könnten ihn gebrauchen.« »Sie müssen wissen«, sagt er, »das Zeitalter des Wassermanns ist vorbei.« »Ja, das habe ich schon bemerkt«, sage ich. »Das war das Zeitalter der Spiritualität. Jetzt befinden wir uns im Zeitalter der Neo-Wissenschaft. Neue Wissenschaft, die über Wissenschaft hinausgeht. Wo Kunst, Spiritualität, Technologie und Gentechnologie in einer neuen Synthese miteinander verschmelzen. Dieses Gerede über HDTV - das ist doch heiße Luft. Reden wir lieber über virtuelle Realität. Das ist wirklich was. Lebendig gewordene Träume, in die man sich einklinken kann, die einem antworten und einen berühren. Hollywood hat schon immer ganz gewöhnliche Menschen genommen und Stars aus ihnen gemacht. Mit Hilfe von Training, Publicity, plastischer Chirurgie, Haarstylisten und Make-up. Aber das ist so schrecklich willkürlich. Sehr unwirtschaftlich Jetzt gehen sie direkt an die Quelle. Sie nehmen die sterblichen Überreste der besten alten Stars und werden sie mit Hilfe von Gentechnik und Mikrowissenschaften wiedererschaffen. Und genau das ist es, woran Beagle arbeitet - an der Reinkarnation von John Wayne. Alles andere -Ablenkungsmanöver.« 118 KAPITEL DREIZEHN
Präsident Bush ist nur selten als Rassist oder Antisemit bezeichnet worden. Aber es wäre nur fair zu sagen, daß er zumindest ethnozentrisch denkt und selber eine recht eng begrenzte Gruppe von Menschen bevorzugt. Wenn man sich kleiner werdende, konzentrische Kreise vorstellt - wie Illustrationen zu den Ringen der Hölle aus Dantes Inferno -, dann bildeten die WASPs, die weißen, von angelsächsischen Vorfahren abstammenden Protestanten, den äußersten Ring. Weiter nach innen würden die Ringe bestehen aus: Männern, die Schlips und Kragen tragen, viel Geld haben, Golf spielen, in der Wirtschaft sind, von altem Geld abstammen, zum Establishment der Ostküste gehören, auf einer der acht Universitäten der Ivy League waren, sportlich sind, Yale absolviert haben, auf Privatschulen gingen, Mitglieder von Skull and Bones32 sind und deren Väter ebenfalls Yaleabsolventen waren. Aus diesem Grunde freute er sich auf ein Spendendinner in Orange County, jener Gegend südlich von Los Angeles, die eine Bastion jener Leute darstellt, die genau wie Bob Hope wären, wenn er nicht Witze machen würde und eine gerade Nase hätte. Anders ausgedrückt, sie liebten die Republikanische Partei beinahe ebenso, wie sie Golf liebten, sie lebten für Martinis, hielten nichts von Sex, fanden aber ein hübsches Mädchen ganz zuträglich, sie tanzten immer noch zur Musik von Lawrence Welk, wußten, daß wir Vietnam verloren hatten wegen der Medien, und China wegen der Verräter im Außenministerium. Sie wußten, daß man den 119 Kommunisten nicht trauen kann, nicht mal 1990, und es war ihnen klar, daß Gorbatschows Reformen nur ein Trick waren, um uns zur Abrüstung zu verleiten. Disneyland liegt in Orange County. Eine Beziehung zwischen Bush und Hartman - eine, die dem Präsidenten eine ungeheure Menge an Vertrauen und Zuversicht abverlangte - war keine, die sich einfach aus einem glücklichen Zufall heraus entwickeln würde, und das tat sie auch tatsächlich nicht. Sie wurde von Hartman gesucht und mit habsüchtigem Vorbedacht eingefädelt. Obwohl das, was er sich von dieser Beziehung versprach, nicht im geringsten mit dem in Verbindung stand, was sich tatsächlich daraus entwickelte. Das war bereits vom Genie, oder der wahnsinnigen Verzweiflung, Lee Atwaters vorbestimmt worden. Um David Hartman zu verstehen, ist es notwendig, auf Lew Wasserman von MCA, Inc. zu verweisen. Lew Wasserman ist für Agenten das, was Henry Ford für Automobile ist, nicht notwendigerweise der Beste, aber der erste, der ein Geschäft, das im Grunde ein persönlicher Service mit all den darin innewohnenden Beschränkungen war, in einen großen Multimilliarden- Dollar-Konzern verwandelte.33 Damit Hartman das Gefühl haben konnte, der größte Agent in der Weltgeschichte zu sein, mußte er Wasserman überflügeln. Wie nahezu jeder, der in Amerika große Wirtschaftserfolge vorzuweisen hat, mischte auch Wasserman kräftig in der Politik mit. Er pflegte Kontakte und verteilte großzügige Spenden an beide Seiten. Diskret und geheimnistuerisch, wie es seiner Art entsprach, war sein Einfluß entweder viel geringer oder viel größer, als es den Anschein hatte. Auf jeden Fall 120 nahm er legendäre Formen an, und das trug Früchte. Zwar gewann MCA nicht jede Schlacht, die von der Regierung entschieden wurde, aber sie gewannen doch eine Menge der großen. Ihre Geschäftspraktiken ließen Verstöße gegen AntiTrust-Gesetze vermuten. MCA unterhielt Beziehungen zu Gewerkschaften, die derart vorteilhaft waren, daß es schwerfällt zu glauben, sie seien ohne illegale Formen von geheimen Absprachen zustande gekommen. Gegen MCA wurde häufig ermittelt, doch sei es, daß sie grundsätzlich ehrlich handelten, oder sei es, daß sie tatsächlich soviel Einfluß besaßen wie vermutet, sie wurden nie verurteilt und mußten sich nur gelegentlich einem Vergleich beugen. Hartman hatte sich bisher in der Politik kaum profiliert. Er war noch nie auf den Einfluß der politischen Elite angewiesen gewesen. Aber es wurde Zeit, den nächsten Schritt zu tun, vom einfachen Agenten hin zu jemandem, der riesige materielle Vermögenswerte besaß und kontrollierte. Er zog verschiedene Möglichkeiten in Erwägung. Einige von ihnen setzten große Investitionen aus Japan voraus, andere mögliche Verletzungen der Anti-Trust-Gesetze. Es wäre gut zu wissen, daß der Hörer abgenommen werden würde, wenn er eine Nummer in Washington anrief. Nicht, daß er jemals damit rechnete, einen Präsidenten in der Tasche zu haben. Das wäre wohl doch zu anmaßend, zu übertrieben und plump. Alles, was man brauchte, war ein offenes Ohr, und wenn man wußte, wie man es anstellte, reichte das ja auch. 1988, als Reagan aus dem Rennen und Wasserman eine der Hauptfiguren war, die Spenden für Dukakis - für den Verlierer - auftrieben, wurde Hartman ein größeres Vakuum bewußt. Obwohl es mehrere Hollywoodstars mit ausgeprägt konservativem Image gab, hatte sich doch kein
machtbewußter Potentat aus der Unterhaltungsindustrie in die nationale Machtstruktur der Republikaner eingeklinkt. Hartman 121 hatte nicht vor, Bush oder seiner Partei einfach Geld in den Rachen zu stopfen. Wenn er das tat, dann würden sie ihn behandeln, wie eine Hure einen Freier behandelt. Hartman wollte eine Beziehung. Er wollte, daß der innere Kreis seinen Namen kannte, wollte als die Person angesehen werden, zu der man geht, wenn Washington irgendwas von Hollywood brauchte. Für Hartman war Lee Atwater derjenige gewesen, der die zwei Welten verbinden konnte, und 1988 arrangierte er ein Treffen mit dem politischen Berater. Als die Kritik an Lee auf dem Höhepunkt war, hatte David ihn angerufen, ihn zum Essen eingeladen und seine Kreativität gerühmt. Er hörte sich Lees Ideen an und versicherte ihm, daß er auf die gleiche Weise ein Genie der Politik sei, wie Hitchcock für den Film und Elvis für die Musik: Alle drei hatten Formen benutzt, die nicht mal als Kunst angesehen worden waren, und sie auf derart hohe Ebenen kultureller Bedeutung gehoben, daß sie nicht länger ignoriert werden konnten. Er wußte, daß Atwaters drei Lieblingsbücher Die Kunst des Krieges, Über den Krieg und IIprincipe waren, also erzählte er ihm, daß seine Taktiken ihn an Sun Tzu erinnerten und daß seit Machiavelli niemand mehr die Politik mit weniger Scheinheiligkeit betrachtet hätte. Nach den Wahlen arrangierte Hartman ein paar Vorlesungen, die Lee eine Menge Selbstbestätigung und pro Rede etwa 10 000 Dollar plus Spesen einbrachten. Nicht übel für ein, zwei Stunden Quasselei. Die Beziehung war hergestellt. Hartman hatte seinen Zugang zum Weißen Haus. Doch dann kam der Gehirntumor. Nachdem der Kontakt über Lee abgerissen war, verlief die naheliegendste Verbindung von L. A. zu Bush über Ronald Reagan. Doch selbst wenn Hartman gute Kontakte zur Reagan-Meute gehabt hätte, war er sich nicht sicher, ob der Weg über Reagan der beste gewesen wäre, um an den neuen Prä122 sidenten heranzukommen. Schließlich hatte Reagan bei den republikanischen Vorwahlen von 1980 Bush vernichtend geschlagen. Und dann hatte Bush als Vizepräsident acht Jahre damit zugebracht, Reagans Scheiße zu fressen. Hartman war früher Vizepräsident bei Ross-Mogul gewesen, zur damaligen Zeit die drittgrößte Agentur der Branche. Der Kopf der Agentur, Allen Ross, erkannte Davids Talent. Er verhalf Hartman zu einem schnellen Aufstieg und zu einer Menge Geld. Was nicht bedeutete, daß David jemals Allen Ross verzeihen würde, sein Boß gewesen zu sein. Jeder Star, den RepCo von Ross-Mogul abwerben konnte, bereitete Hartman tiefe innere Genugtuung, und der Tag, an dem RepCo schließlich mehr umsetzte als Ross-Mogul, war der glücklichste Tag im Leben David Hartmans gewesen. Also versuchte er, über Arnold Schwarzenegger an Bush heranzukommen. Schwarzenegger, ein cleverer und ehrgeiziger Mann, der durch eine raffinierte Mischung von eisernem Willen, Hantelstemmen und Steroiden34 weiter gekommen war, als man sich überhaupt hätte träumen können, hatte eigene politische Ambitionen und verstand die Bedeutung von persönlichen Kontakten sehr gut. Arnold ließ Davids Namen im Weißen Haus mehrmals fallen. Er schlug vor, daß Bush ihn kennenlernte, daß Hartman die Art von Dreh- und Angelpunkt in Geldfragen sein könnte, der Wasserman gewesen war. Irgendwann nachdem Arnold von ihm gesprochen hatte, aber noch bevor der Vorschlag in die Tat umgesetzt werden konnte, las der Präsident Lee Atwaters Plan. Falls sich Hartman, der eine Schlüsselrolle darin zu spielen schien, als einer dieser lauten, drängenden, offensiven Typen erweisen sollte, dann wäre dies eine gute Gelegenheit für den Präsidenten, die ganze Sache fallenzulassen. Und zumindest ein Teil von ihm wollte vergessen, daß er jemals dieses bizarre, aber verlockende Konzept gelesen 123 hatte. Also bestimmte der Präsident den Ort des Treffens. Der Kontrast zu den Leuten aus Orange County, so hoffte er, würde ihm dabei helfen, den Agenten nicht zu mögen. Hartman studierte die Leute, mit denen er zu tun haben wollte, und stellte Nachforschungen über sie an. Er hatte nicht vor, den Präsidenten zu unterschätzen. Er war geneigt, den Präsidenten für gerissen, intrigant und rachsüchtig zu halten, so wie er selber war. Er hatte seinen besten Leser35 darauf angesetzt, eine Synopsis der verschiedenen Bush-Biographien zusammenzustellen. Es war nicht schwer für ihn gewesen, herauszufinden, daß er sich wie ein Bankier von der Ostküste kleiden mußte, der einen entscheidenden Einschnitt in seine Einkünfte hingenommen hat, um in Staatsdienste zu treten. Und daß er auch so reden mußte. Er hatte eine Liste angelegt, über welche Themen man sprechen konnte und über welche nicht. Er würde zum Beispiel nicht über die kommende Bar-Mizwa-Feier seines Sohnes und über die unglaublich verschwenderischen Pläne dafür reden. Obwohl er Golf zutiefst
verabscheute, war er darauf vorbereitet, über Greens und Bogeys und Birdies zu reden. Er würde sein Kendotraining herunterspielen und sein Jogging herauskehren. Die Air Force One landete um 18 Uhr kalifornischer Zeit, 21 Uhr Ostküstenzeit, auf dem John Wayne Airport in Orange County. Die Limousine wartete, ebenso wie verschiedene Eskorten der Polizei und des Geheimdienstes. Die Route war freigegeben worden. Der Präsident wurde innerhalb von achtzehn Minuten zum Dinner gefahren. Er stieg aus, stand hochgewachsen da, lächelte, sah durchtrainiert und energisch aus. Er winkte den Kameras zu, sagte: »Hallo, Kalifornien! Es ist toll, hier zu sein. Ich wünschte, ich könnte auf eine Partie Golf bleiben. Aber vielleicht kann Dan36 für mich 124 einspringen.« Er reckte seinen Daumen nach oben. Dann ging er hinein. Er hatte fünf Personen zu begrüßen. Vier von ihnen waren Großspender von früheren Kampagnen. Zwei hatten mit Finanzen und Banken zu tun, die anderen beiden repräsentierten die Waffenindustrie und die Luftfahrt. Der fünfte war David Hartman. Bush war angenehm überrascht, daß er Hartman aus dieser Gruppe weder als Agenten noch als Juden herausgepickt hätte, wenn es sich um eine polizeiliche Gegenüberstellung gehandelt hätte. Tatsächlich ähnelte Hartman eher Brent Scowcroft: schütteres Haar, ernst, aber zu onkelhaftem, gutem Humor fähig, mit einer in viele Falten gelegten Stirn. Er trug einen einfachen grauen Anzug, ein einfaches weißes Hemd, einen Schlips in gedeckten Farben und, abgesehen von einem einfachen goldenen Ehering und einer der weniger auffälligen Patek-Philippe-Uhren, keinen Schmuck. Als er sprach, wurde dieser Eindruck nicht zerstört. Er klang wie einer von Bushs eigenen Leuten. Kein Slang, kein Gequassel, kein Jiddisch, keiner dieser komischen Akzente. Bush berührte das Memo in seiner Jackentasche. Er hatte Hartman nicht beleidigend genug gefunden, um die Sache abzublasen. Aber angesichts des ungeheuren Risikos hatte er noch nicht entschieden, die Angelegenheit weiter zu verfolgen. Also kümmerte er sich wieder um das, was es zu tun gab. Eine Menge Hände schütteln, grinsen und zwinkern und seine berühmte Geste mit dem nach oben gereckten Daumen machen. Jeder in dem Raum hatte mindestens 5 000 Dollar gespendet, die meisten 10 000 und mehr. Sie hatten Anspruch darauf, die Hand gedrückt zu bekommen, und sie wollten mit einem guten Gefühl nach Hause gehen. Er hielt seine Rede - er entschloß sich doch zu der Version des 125 Redenschreibers, sie unterschied sich von dem, was er selber sagen wollte, nur wenig - mit der nötigen Leidenschaft. Das Dinner war um 20 Uhr kalifornischer Zeit, 23 Uhr Ostküstenzeit, beendet. Die Air Force One sollte um 21 Uhr kalifornischer Zeit vom John Wayne Airport abheben, Mitternacht auf der biologischen Uhr des Präsidenten. Um 9 Uhr Ostküstenzeit hatte er einen Termin mit dem Direktor der CIA im Weißen Haus, um 9 Uhr 15 mit dem nicht-mehr-sowjetischen Botschafter, dann mit dem dienstältesten Oppositionsmitglied des Rechtsausschusses des Senats, wobei es um die Frage der Auswahl von Kandidaten für den Bundesgerichtshof ging. Diese Art von Terminplan war nur zu überleben, wenn er so schnell wie möglich einschlief, sobald er sich ins Bett des Präsidenten in der 747 gelegt hatte, ganz egal, wie turbulent es war, auch bei der Landung, und nicht aufzuwachen, bis der Steward um 8 Uhr Ostküstenzeit, wieder auf dem Boden in Washington, hereinkam. Der menschliche Körper verhält sich nicht von allein so. Aus diesem Grund warf der Präsident zum Dessert, Creme Brülee, eine Halcion ein und überschlug, daß sie etwa dann wirken würde, wenn er an Bord ging. Als er beim Aufbruch die letzten Hände schüttelte, sagte der Vorsitzende des Spendensammelkomitees der kalifornischen Republikanischen Partei zu ihm, daß Hartman gerade 100 000 Dollar gespendet hatte. Bush war beeindruckt. Nicht über die Summe, sondern darüber, daß Hartman nicht mit dem Geld vor seinem Gesicht herumgewedelt oder es ihm direkt gegeben hatte. Der Impuls, der den halben Tag an ihm genagt hatte, brach schließlich durch. Er lud Hartman ein, mit ihm zur Air Force One zurückzufahren. Hartman hatte zwölf bis achtzehn Minuten, um einen Freund zu gewinnen. Das hatte er schon häufiger viel schneller geschafft. Das erste, was er sagte, war: »Ich möchte Ihnen 126 etwas gestehen, Mr. Präsident. Mein Übertritt zur Republikanischen Partei war erst kürzlich.« Das war eine alte Geschichte. Reagan, Heston, Sinatra und viele andere waren Ex- Demokraten. Bush war nicht beeindruckt.»Den Großteil meines Lebens habe ich mich für einen unpolitischen Menschen gehalten, dessen wahre Loyalität der Wirtschaft und der Kreativität des ökonomischen Impulses gehörte.« Noch mehr Unsinn. »Tatsächlich war ich noch bis 1988 unentschieden.« Jetzt hörte der Präsident zu. Es gab
viele sogenannte Reagan-Demokraten. Niemand, so fiel ihm gerade auf, sprach je von BushDemokraten. David Hartman hatte sich gerade als der erste beliebt gemacht. »Ich war von Mr. Reagan nicht sonderlich beeindruckt. Aber Sie beeindrucken mich zutiefst.« Musik in den Ohren des Präsidenten. So viele sprachen über Bush als den blassen Abklatsch seines Vorgängers, wo es doch Reagan war, der den Großteil seiner zwei Amtszeiten verschlafen hatte, nie las oder Unterlagen studierte, einfach auftauchte, wenn die Kameras liefen und wieder in Schlaf versank, sobald der Saft abgedreht wurde. »Ich möchte Sie nicht in Verlegenheit bringen, aber ich sage Ihnen, warum. Es springt einem nicht gleich ins Auge, daß Sie wahrscheinlich die besten Qualifikationen von allen vorweisen können, die jemals dieses Amt innehatten. Für mich sind Sie der Richtige, weil Sie ein Kriegsheld sind.« Der Präsident setzte sein »Ach-Quatsch«-Gesicht auf. »Für mich«, fuhr Hartman fort, »waren die großen Präsidenten Ike und Jack Kennedy. Mit Johnson, Carter und Reagan konnte ich nichts anfangen. Ich habe das nicht weiter analysiert, bis Sie auftauchten. Was unterschied Sie von Reagan oder Dukakis? Ich werd's Ihnen sagen. George Herbert Walker Bush, Dwight David Eisenhower, John Fitzgerald Kennedy, sie alle waren an der Front. Seien wir doch mal ehrlich, wo war Ronald Reagan, als die Welt im Krieg lag? Er war in 127 Hollywood, saubere Laken und hübsche Mädchen, und seine Uniformen wurden jeden Tag von den Reinigungen in Santa Monica aufgebügelt. Sie waren da draußen. Der jüngste Pilot der Navy. Sie haben Ihr Leben riskiert. Sie wissen, was das heißt.« »Das waren große Zeiten«, sagte der Präsident und fragte dann, was Hartman von ihm erwartete: »Haben Sie gedient?« »Ja, Sir«, sagte Hartman und bereitete den nächsten Zug vor. »Nun, Sie sind ein wenig jung für den großen Krieg, wann waren Sie dabei? In welcher Waffengattung?« »Ich war bei den Marines, Sir. In Korea.« Bush war angenehm überrascht. »Nun, einige Leute bei der Navy halten nicht allzuviel von der Army« - dies war eine humorige, männliche Bemerkung - »aber bei Gott, gegen die United States Marines gibt es nichts zu sagen. Erzählen Sie mir von Ihrer Militärzeit, Dave. Und lassen Sie den Sir und den Mr.-Präsident-Scheiß weg. Nennen Sie mich George.« »Ich muß Ihnen sagen, Sir, es fällt mir schwer, den Oberbefehlshaber der Streitkräfte George zu nennen. Dafür bin ich einfach immer noch zu sehr ein Marine.« »Entspannen Sie sich, Dave. Was haben Sie beim Militär gemacht?« Hartman sah, wie die Karten lagen, genau, wie er es erwartet hatte, also machte er weiter und spielte sein As aus. »Um die Wahrheit zu sagen, Sir, ich war Flieger. Kampfflieger.« »Hol mich der Teufel«, sagte der Präsident. Es war ihm nie aufgegangen, daß ein jüdischer Hollywoodagent Kampfflieger der Marines in Korea gewesen sein könnte. »Wie viele Einsätze sind Sie geflogen? Wie viele Abschüsse?« »Ich bin nur fünf Kampfeinsätze geflogen.« 128 »Wie kam das?« fragte der Präsident. »Ich mußte notwassern. Ich bin nicht abgeschossen worden. Ich hatte einen Aussetzer in der Benzinzufuhr, dann fing der Motor an zu brennen. Ich bin abgesprungen. Und das war gut so. Auf dem Weg nach unten sah ich, wie meine Kiste explodierte. Gott sei gedankt für die Jungs von der Seerettung. Ein Hubschrauber von einem Flugzeugträger hat mich rausgefischt. Sie wissen ja selber am besten, wie es ist, in einem eisigen Ozean zu sitzen und sich zu fragen, ob dies der erste Tag vom Rest deines Lebens ist. Oder der letzte.37 Jedenfalls habe ich mir den Rücken verletzt, als ich aufs Wasser aufschlug, und als sie ihn nicht wieder richten konnten, bin ich entlassen worden.« »Ich nehme also an, Sie begreifen, wie wichtig es ist«, sagte der Präsident, »für ein starkes Amerika zu sorgen?« »Das Wichtigste auf der Welt«, sagte Hartman. »Nicht nur für Amerika, für die ganze Menschheit.« Wieder einmal ist es möglich, über die Rolle des Zufalls nachzudenken: daß Hartman eine Möglichkeit gewählt hatte, das Vertrauen des Präsidenten zu gewinnen, die direkt die Dinge ansprach, die der Präsident mit ihm besprechen wollte. Aber es ist eher wahrscheinlich, daß alle drei - der dritte wäre Lee Atwater, obgleich schon tot - auf die gleiche Weise über grundsätzliche Themen dachten. Vielleicht wäre der Präsident auch dann fortgefahren, wenn Hartman über das Bankwesen gesprochen hätte oder über Familienwerte und weshalb berühmte Leute sich dafür stark machen mußten oder über sein Engagement für den freien Handel. »Ich habe da ein Projekt«, sagte der Präsident. »Sie erinnern sich an Lee Atwater?« »Sehr gut sogar. Ich habe ihn bewundert.« »Er hat ein Memo geschrieben. Er war ein guter Freund«, sagte Bush. »Ein guter alte Bursche von der übelsten Sorte. Ich
129 hatte eine Menge Spaß mit Lee. Er hat große Stücke auf Sie gehalten. Wußten Sie, daß er Bluesgitarre spielte?« »Er war ein ausgezeichneter Mensch.« »Es handelt sich hier um ein Konzept. Bevor er starb, sagte er, Sie seien der Richtige, wenn man sich das heutige Hollywood anschaut. Wenn ein Freund auf dem Totenbett ein Memo schreibt, dann muß man tun, was man tun muß. Ich muß Sie auf Verschwiegenheit vereidigen.« »Sie haben meinen Eid. Als Amerikaner. Als Marine.«'8 »Das Wort eines United States Marine. Mehr kann man nicht verlangen«, sagte der Präsident. Mag sein, daß an diesem Punkt das Halcion einzusetzen begann. Nach den Berechnungen des Präsidenten hätte es das sicherlich tun sollen.39 Der Präsident saß schweigend da und versuchte herauszufinden, wie er in Worte fassen konnte, was Atwater vorgeschlagen hatte. Dann fragte er sich plötzlich, ob ihr Gespräch aufgezeichnet wurde. Nicht von irgendeinem fremden Spion, sondern von den eigenen Leuten. Man denke nur an das, was mit Nixon geschehen war. Gespräche waren nie mehr sicher. Obwohl er und Baker entschieden hatten, das Memo niemals jemandem zu zeigen, schien das irgendwie - besser. Klarer, leichter und sicherer. Er griff in die Tasche. »Ich möchte, daß Sie sich das ansehen«, sagte der Präsident und gab Hartman das Memo. Die Limousine bog durchs Tor und fuhr auf den Flughafen. Während sie übers Flugfeld zur Air Force One rollte, las Hartman. Er hatte bewundert, wie Atwater Dukakis vernichtet hatte. Lee hatte vorausgesehen, daß das Amerika von '88 für eine wehende Fahne und gegen gewalttätige, sexuell bedrohliche schwarze Männer stimmen würde. Zufälligerweise leitete er eine Präsidentschaftswahl, also war das die Alternative, die 130 er der Öffentlichkeit anbot. Was hätte er denn sonst tun können? dachte Hartman. Die meisten Menschen konnten entweder nicht denken oder waren einfach zu faul, diese Fähigkeit einzusetzen. Sie benebeln sich mit spießiger Moral und setzen abgewichste Sentimentalitäten anstelle von durchdachten Reaktionen. Lee hatte sich geweigert, solch ein Krüppel zu sein. Gut für ihn. Aber dieses Memo versetzte Atwater in eine völlig andere Klasse. Das hier war jenseits intellektueller Strenge und unsentimentaler Ehrlichkeit - dies hier verlangte wirklich Waghalsigkeit, dies hier war echte Klarheit. Atwater hatte sich als wahrhaft guter Schüler von Sun Tzu, Clausewitz und Machiavelli erwiesen. Wenn er hier gewesen wäre, dann hätte sich Hartman in einer formellen Geste des Respekts verneigt, so wie man es im Fernen Osten einem Lehrer gegenüber tut, jemandem, von dem man etwas lernen und dem man nacheifern will. Aber Atwater war ein für allemal tot. Hartman glaubte nicht an Geister, wenigstens nicht an Geister, die einem zuhören. Sein Tribut, den er Atwater zollte, bestand darin, der erste zu sein, der das Memo las, und nicht: »Ach du heilige Scheiße. Atwater ist komplett übergeschnappt« zu sagen. Er wandte sich an den Präsidenten. Er dachte an hunderterlei Dinge, die er sagen konnte. Am liebsten hätte er gesagt: George, ich weiß nicht, ob du schon jemals einen Agenten hattest. Wir kriegen zehn Prozent. Von allem. Aber das sagte er nicht. Er dachte an Oliver North, setzte sich so gerade hin, wie es der Sitz in der Limousine erlaubte, den Rücken zu einer recht guten Imitation einer militärischen Haltung durchgedrückt. »Sir«, sagte er, hob die rechte Hand und berührte mit den Fingerspitzen seine Augenbraue zum Salut, »Sie erweisen mir eine große Ehre mit dieser Gelegenheit, Ihnen und meinem Land zu dienen. Danke, Sir.« 131 KAPITEL VIERZEHN Das große Ereignis der Saison ist die Bar-Mizwa-Feier von David Hartman, Jr.,40 Sohn von David Hartman, Chef von RepCo, dem mächtigsten, skrupellosesten und wichtigsten Agenten in ganz Hollywood. Eine handverlesene Liste von 250 Gästen ist eingeladen. Zwanzig davon sind Freunde des dreizehnjährigen Jungen. Der Rest sind Leute aus der Filmindustrie. Es handelt sich um die begehrteste Einladung überhaupt, sie bestimmt, wer wer ist, sie ist die ultimative Topliste, die Creme de la creme. Die Kosten für Speisen und Getränke liegen laut Pressemitteilung deutlich über 100 000 Dollar. Die
Gesamtkosten der Party sind schwer zu kalkulieren. Zum Unterhaltungsprogramm gehören angeblich Auftritte von Michael Jackson und Bobby und verschiedener anderer Leute, von denen ich noch nie etwas gehört habe. Diese Leute nehmen kein Honorar und sorgen, sofern erforderlich, als Teil ihrer Hommage selbst für Musiker, Roadies, Tontechniker, Leute für Spezialeffekte und Licht- und Lasershows. Eines der Mottos der Party - zumindest für die Kids - lautet Ninja. Es wird getratscht, daß dies geschmacklos egoistisch sei. Hartman ist Schüler des Kendo, der japanischen Kunst des Schwertkampfs. Sein Sensei, oder Lehrer, ist ein japanischer Schwertkämpfer namens Sakuro Juzo. Es ist ein weitverbreitetes Gerücht, daß Hartmans Hingabe an Kendo Teil seiner Rivalität zu Michael Ovitz ist. Ovitz ist eifriger Anhänger des Aikido, einer Kampfsportart, die in den vierziger Jahren ebenfalls in Japan erfunden wurde. Bei jeder Diskussion 132 über Kampfsportarten weist Hartman darauf hin, daß Kendo, der Weg des Schwertes, die echten Lehren des Bushido, des Weges der Samurai, beinhaltet und daß alle Bewegungen des Aikido tatsächlich auf Bewegungsabläufen basieren und damit von ihnen abgeleitet sind, die für das Schwert entwickelt wurden. Hartman ist der eigentliche Macher hinter einem Film mit dem Titel American Fighter. Sakuro Juzo spielt die Hauptrolle des japanischen Ninja-Meisters einer Gruppe jugendlicher amerikanischer Schüler, die im Dienste der Wahrheit, Gerechtigkeit und des American Way fast übernatürliche Heldentaten vollbringen. Hartman persönlich verkaufte David Geffen das Projekt als eine Mischung aus Batman und Twen-Police für die Neunziger, in dem die geistigen und wettbewerbsbetonten Werte enthalten sind, die wir von Asien lernen sollten. Was wieder zum Teil auf die Rivalität zu Mike Ovitz41 zurückgeführt wird, der seinen Sensei, den Aikido-Ausbilder Steven Seagal, zum Filmstar gemacht haben soll. Japanhasser und Paranoide haben Hartman vorgeworfen, finsterere Motive zu verfolgen als nur den Wettbewerb mit einem konkurrierenden Agenten. Daß er nämlich tatsächlich im Dienst japanischer Herren stehe, die eine neue Mythologie erschaffen wollen, eine Illusion japanisch-amerikanischer Zusammenarbeit, aber mit einem Japaner als dem Sensei der Amerikaner, die jetzt zu den Schülern werden. Für die Japaner, in deren Kultur sämtliche Beziehungen hierarchisch organisiert sind, enthält diese Aussage Dynamit. Hartmans Motive sollen dabei natürlich finanzieller Art sein. Dieser Film und seine Protektion von Sakuro Juzo wird ihm den Ruf eines Freundes der Japaner einbringen, und daher werden sie ihn als Strohmann, Berater und Einfädler von Geschäften benutzen, während sie Amerika aufkaufen - eine dermaßen 133 lukrative Position, daß Filmpackaging im Vergleich dazu wie Kinderkram erscheint. Sakuro und seine besten Schüler, von denen einige aus Japan eingeflogen worden sind, werden eine Demonstration von Kendo zeigen. Alle Stuntmen aus dem Film werden dabeisein. Kinder jeden Alters erhalten Unterricht darin, wie man sich unsichtbar macht, in asiatische Burgen eindringt, absolut lautlos tötet und andere Dinge mehr, die dreizehnjährige Jungs begeistern. Das Essen wird sowohl amerikanisch als auch japanisch sein. Aus Japan sind Sushi-Köche eingeflogen worden. Sie haben sich auf lebendes Sushi spezialisiert, derzeit der schärfste Trend in der Tokioter Küche. Auf der Speisekarte findet sich auch Kugelfisch, ebenfalls lebend eingeflogen, der bei nicht sachgerechter Zubereitung zu Lähmung und Tod führt. Ihn in Amerika zu servieren ist verboten. Die Party wird mit sieben Kameras auf 35-mm-Film festgehalten. Marty Scorcese übernimmt die Regie. Vilmos Zsigmond wird als Kameramann dabeisein. Der Film ist ernst gemeint, gilt aber auch als Insider-Scherz, denn es heißt, Hartman habe seine ersten Erfahrungen mit den Medien bei der Produktion von Bar-Mizwa-Filmen gesammelt. Es ist das erste Mal, daß Maggie Hartman begegnen wird, seit sie sich zu jenem bewußten Mittagessen getroffen haben. Außerdem ist es ein wichtiges Sehen-und-gesehen-werden-Ereignis, worauf Maggie angemessen reagiert. Die Vorbereitungen erstrecken sich über mehrere Tage. Auswahl der Garderobe. Sie schneidern oder ändern lassen. Es sich dann wieder anders überlegen. Zusätzliche Trainingsstunden, um den Körper zu straffen und die ohnehin perfekte Figur noch schlanker zu machen. Länger schlafen, um strahlend und ausgeruht auszusehen. Sie erhält die Gästeliste und geht sie Name für Name durch. 134 Dann hängt sie sich ans Telefon. Sie überprüft und kontrolliert, wer noch verheiratet und wer frisch geschieden ist, wen sie nach den Kindern fragen kann und von wessen Kindern man besser schweigt.
Es gibt einige Namen, die sie nicht kennt, zum größten Teil Japaner von Sony, Matsushita und Musashi. Sie stellt Nachforschungen über sie an. Ob sie aus Osaka oder Tokio oder vom Land stammen, ob sie Frauen und Kinder mitbringen oder allein kommen, ob sie Golf oder Tennis spielen. Sie hat ein unglaubliches Gedächtnis, trotzdem notiert sie die Informationen auf Karteikarten. Angesichts all dieser Aktivitäten werde ich weiter in den Hintergrund gedrängt. Ich werde sie nicht einmal zu dieser Party fahren. Die großen Studios stellen einen Limousinen-Service zur Verfügung. Die Party soll am frühen Abend beginnen. Ich könnte mir wie Mrs. Mulligan den Abend frei nehmen und allein etwas unternehmen. Ein Teil von mir will sich eine Nutte suchen, die in etwa aussieht wie Maggie, die gleiche Haarfarbe oder die gleiche Frisur könnten genügen, zur Not ein Körper mit etwa der gleichen Figur und Größe. Aber ich tu's nicht. Ich bleibe zu Hause. Ich knacke eine Flasche Bourbon. Ich mach's mir bequem und lese die Ausgabe von Sun Tzu, die Kim mir gegeben hat. Tatsächlich lese ich Die Kunst des Krieges immer wieder mal, seit Preston Griffith mir 1970 in Saigon ein Exemplar geschenkt hat. Griff war bei der CIA und hat Opium geraucht. Er sagte, er habe viele Leute umbringen lassen. Sun Tzu zu lesen ließe ihn verzweifeln. Aber er meinte, jemandem wie mir würde es Kraft geben. Geschrieben wurde es irgendwann zwischen 480 und 221 vor Christus. Es ist sehr asiatisch, und wenn man es zum ersten Mal liest, ist es ein wenig so, als wollte man den Orakelspruch eines Fortune Cookie ernst nehmen. "Himmel bedeutet Nacht und Tag, Kälte und Hitze, Tageszeit und Jahreszeit. «Oder: »Du 135 kannst sicher sein, mit deinem Angriff Erfolg zu haben, wenn du nur Orte angreifst, die unverteidigt sind."^ Dazu kommt, daß jede Übersetzung, die man liest, anders ist. Daher fragt man sich, was er wirklich gesagt hat. Falls er überhaupt etwas gesagt hat. Aber wir waren in Vietnam. Wo wir die Feuerkraft, die Logistik, die Organisation und das Geld hatten. Auf dem Papier besaßen wir sogar die zahlenmäßige Überlegenheit. Und wir verloren - gegen General Giap, der Sun Tzu las. Und China haben wir an Mao Tse-tung verloren, der Sun Tzu las. In Korea haben wir von anderen Generälen, die Sun Tzu lasen, Tritte in den Arsch bekommen - zumindest für eine Weile. Also, selbst wenn er sich wie Chop Suey Wu anhört, muß ich mir klarmachen, daß das Problem in meinem Zuhören und nicht in seinem Sprechen liegt. Nachdem ich Sergeant wurde und einen eigenen Trupp erhielt, versuchte ich, so gut ich konnte, umzusetzen, was er sagte. Es hat funktioniert. Es hat mir geholfen, das Leben meiner Leute zu retten und den Feind zu töten. Als wir einen Captain hatten, der hartnäckig darauf bestand, gegen die Prinzipien Sun Tzus zu verstoßen, gerieten wir in große Schwierigkeiten, und viele von uns starben. Zuerst gefällt mir diese Übersetzung nicht. Genaugenommen ärgere ich mich über sie. Sun Tzu schrieb über den Krieg. Echten Krieg. Dieses Buch übersetzt Krieg mit Strategie und nennt sich selbst das »weltweit meistgelesene Handbuch über geschicktes Verhandeln und dauerhaften Einfluß«. Es wendet sich an jene Geschäftsleute, die sich gern einreden, wirtschaftlicher Wettbewerb sei Krieg, Anwälte, Wirtschaftsprüfer und Agenten quasi Soldaten auf dem Schlachtfeld, Geld gleich Blut und ein neurotischer Tic das Pendant zu einem Leben im Rollstuhl in einem Veteranenkrankenhaus, wo man jemanden braucht, der einem den Arsch abputzt und den Urinschlauch wechselt, der einem aus dem Schwanz 136 kommt. Aber wenn ich mich wegen meiner Vorurteile taub stelle für das, was gesagt wird, dann bin ich so töricht wie die Männer, die uns in Vietnam geführt haben. Also versuche ich wie ein Unwissender einem Weisen zuzuhören. Der Satz, auf den Kim gezeigt hat, lautet: Wollen wir nicht kämpfen, dann können wir verhindern, daß der Feind uns in einen Kampf verwickelt, auch wenn unser Lager nur von einer Linie auf dem Boden umgeben ist; alles, was wir dazu tun müssen, ist, ihm etwas Seltsames, Unerklärliches in den Weg zu legen. Er steht in Kapitel 6, das in dieser Übersetzung »Illusionen und Realität (Über die Tarnung)« genannt wird. Die Standardübersetzung lautet »Schwächen und Stärken.« Der Übersetzer merkt dazu an: »Die Idee, Illusionen zu erschaffen, um die Realität zu verschleiern, ist ein spezielles taktisches Manöver, dazu bestimmt, den Gegner konstant im Nachteil zu halten.« Ohne Maggie ist das Haus sehr leer. Ich versuche, nüchtern zu bleiben, und fast gelingt es mir auch. Ich gehe in den Vorführraum und sehe mir Maggies Filme auf Video an. Die Flasche begleitet mich. Irgendwann döse ich ein. Gegen drei Uhr morgens werde ich wach. Ich muß pinkeln und habe einen fürchterlichen Geschmack im Mund. Das Haus ist immer noch leer. Kurz danach fährt ein Auto vor. Nicht die Limousine. Maggie kommt nach Hause. Ist mitgenommen
worden oder bringt jemanden mit. Es steht mir nicht zu, wegen ihr aufzubleiben und auf sie aufzupassen. So zu tun, wäre - schlechte Strategie. Ich gehe rauf in mein Zimmer. Ich lasse die Tür einen Spalt offen, damit ich hören kann, durchquere das Zimmer und werfe einen Blick aus dem Fenster, um mir den Wagen anzusehen, mit dem sie gekommen sind. Es ist ein weißer Ferrari 348 mit offenem Verdeck. Ich höre die Haustür. Ich höre Schritte. Dann weht Lachen herauf zu meinem Zimmer. Sie klingt high. Ich kann nicht 137 anders, gehe zur Tür und werfe einen Blick nach unten. Sie sieht irgendwie zerzaust aus. Ich bin wie ein bejahrter, eifersüchtiger Ehemann, der seine junge, lebenslustige Frau betrachtet. Ihre Brustwarzen sind groß. Steif und deutlich sichtbar. Wegen der Kühle der Nacht und der Fahrt in dem offenen Wagen? Oder liegt es an dem Mann, der bei ihr ist: Jack Cushing, der junge Piloten und Soldaten und Revolverhelden spielt und die meiste Zeit ohne Hemd auf der Leinwand rumläuft. Seine Muskeln sind wie mit dem Zirkel gezogen. Auf seine Art sieht er vermutlich genauso gut aus wie sie. Seine Augen sind strahlend blau, und Fredo kümmert sich auch um seine Frisur. Sie unterhalten sich darüber, wer was gesagt und wer was getan hat, und hecheln die Party noch einmal durch. Aber zwischen den Zeilen steht, was immer dazwischen steht. Er will sie, und sie ist sich nicht ganz sicher. Er will es so schnell wie möglich. Bevor sie nachgibt, will sie jedes bißchen Bewunderung, jede Streicheleinheit fürs Ego soweit wie möglich in die Länge ziehen. Für den Hollywood-Klatsch steht Maggie allem Anschein nach immer noch auf der Liste der bevorzugten Prominenten. Auf der Party wurde sie von der berühmten Ex-Filmschauspielerin-jetzt-Regisseurin so deutlich angemacht, daß deren aktuelle Freundin sich schon recht früh verabschiedete. Jemand, ich kriege nicht genau mit, wer, sagte zu Maggie -in Gegenwart von Melanie Griffith -, daß sie mit Abstand die tollste Figur der Branche habe. Melanie wurde fuchsteufelswild und hielt wem immer dieser Fauxpas unterlaufen war, ihre Titten vors Gesicht. Während Maggie die Geschichte erzählt, parodiert sie Melanie vernichtend genau. »Sind die wirklich echt?« fragt Jack. »Und ob«, sagt Maggie. »Hundertprozent biodynamischer Eigenanbau ohne Konservierungsstoffe.« »Glaube ich nicht. Die sind einfach zu perfekt. Laß mich den 138 Fühltest machen«, sagt er. »Weißt du, diese Finger sind unfehlbar. Die erkennen so was immer.« »Ich brauche frische Luft.« Sie läßt ihn stehen und rauscht hinaus auf die Terrasse. Jetzt kann ich sie nicht mehr hören. Ich trete aus dem Schatten meines Zimmers auf die Galerie, damit ich sie besser sehen kann. Der vom Meer wehende Wind spielt in ihren Haaren. Ich bin in einem verdammten Alptraum von einem Film. Er schlendert zu ihr. Er berührt ihr Haar. Sie reagiert bereitwillig. Er legt die andere Hand auf ihren Rücken, läßt sie über die Hüfte nach unten wandern. Sie weicht zurück. Aber nicht sehr weit. Jetzt stehen sie nebeneinander. Er dreht sich zu ihr. Sie schaut immer noch aufs Meer hinaus. Er legt eine Hand auf ihre Schulter, dreht sie sanft zu sich herum, so daß sie sich ansehen. Sie vermeidet direkten Blickkontakt. Mit der Hand hebt er ihr Kinn. Sie sehen sich in die Augen. Scheiße. Das ist es. Ab diesem Punkt kann man entweder nur noch ausblenden oder gleich einen Schnitt zum Hardcore machen. Ja, er senkt seinen Mund auf ihre Lippen, und sie läßt sich von ihm küssen. Habe ich nicht erst kürzlich diese Szene mit ihr gespielt? Verdammt. Dann gleiten seine Arme um sie, und sie läßt sich von ihm ranziehen. Ihre Brüste an seiner Brust. Er spürt ihre harten Nippel. Ihr Bauch an seinem modellierten Jeden-Tag-mit-dem-Privattrainer-imStudio-Torso. Der untere Teil ihres Bauches, der weiche, gerundete Teil spürt seinen Schwanz, steif oder nicht. Ihr Hügel an seinem Oberschenkel, den er sanft zwischen ihren Beinen bewegt. Seine Hand findet die Rundung ihres Hinterns. Er dreht und windet sich in sie. Sie drückt sich gegen ihn. Mein Mund ist knochentrocken, mein Herz hämmert wie verrückt. Ich sollte verschwinden. Mir einen Ort suchen, der 139 weit, weit fort ist. Ich kann nicht mal einen einzigen Schritt nach hinten machen und mich in meinem Zimmer verstecken. Wie gebannt schaue ich zu. Er hebt ihr Kleid. Die Haut ihrer Beine schimmert glatt und hell im Mondschein. Sein Mund zuerst auf ihrem Nacken und dann auf ihren Schultern. Sie schiebt ihn fort. Atmet schwer. Ihre Augen glänzen, ihre Lippen sind geschwollen und feucht. Sie kehrt ins Haus zurück. Er folgt ihr. Sie lassen die Terrassentür offen, damit die Nacht hereinkommen, ihre fiebrige Erregung kühlen kann. Jetzt fangen sie wieder an. Langsamer, aber genauso intensiv. Sie
sind auf einem Sextrip. Ich sehe einen Porno mit zwei Hollywood-Topstars, und ich kann verdammt froh sein, jetzt keine Kanone in der Hand zu haben. Er hakt ihr Kleid auf. Es rutscht von ihren Schultern. Wunderschöne, makellose Haut. Sein Mund wandert von ihrem Nacken zum Schlüsselbein. Seine Hände schieben das Kleid weiter runter. Sie läßt es ihn bis zur Taille runterziehen. Sie bedeckt ihre Brüste mit den Händen. Halbnackt, halb abwehrend. Jetzt geht er vor ihr auf die Knie. Er zieht das Kleid das restliche Stück runter. Seine Hände kommen hinter ihr wieder hoch, streicheln sie dabei von den Knöcheln zu den Pobacken. Sein Kopf bewegt sich vor, und er küßt ihren Bauch. Sie stöhnt vor Lust. Dieses Miststück. Seine Lippen finden den Weg nach unten, auf die feine Linie von Spitze zu, die ihren Hügel bedeckt. Seine Zunge schlängelt sich zwischen Stoff und Haut. Ihre Hände auf seinem Kopf. In Erwartung des angenehmen Gefühls, das gleich kommen wird, neigt sie den Kopf zurück. Ihre Augen sind geschlossen. Dann öffnen sie sich, und sie sieht mir direkt in die Augen. Die sie von der Galerie aus beobachten. Der Himmel allein weiß, was sie darin sieht. »Hör auf«, sagt sie zu Jack. 140 Er gibt ein kehliges Geräusch von sich und schiebt seinen Mund weiter nach unten. »Hör auf«, sagt sie wieder. Er hört nicht auf. Sie will sich befreien. Er hält sie fest. Sie legt eine Hand auf sein Gesicht und schiebt ihn weg. »Was zum Geier hast du denn?« sagt er unwirsch. »Hör auf«, sagt sie. »Magdalena, Baby«, sagt er mit seiner erotischsten Stimme. Er schaut sie an. Er entdeckt, daß sie nicht ihn ansieht, sondern nach oben. Also blickt auch er auf. Er sieht mich. »Wer zum Teufel ist das denn?« »Mein ...« »... Chauffeur und Leibwächter«, sage ich. Sie steht da, mit steifen Brustwarzen, nackt bis auf den Slip; sein Speichel trocknet auf dem unteren Teil ihres Bauches. »Sieh zu, daß er verschwindet«, sagt er. »Ja, Joe. Du solltest gehen.« »Nein«, sage ich. Zu meiner großen Überraschung. So hatte ich es nicht geplant. »Himmel, schmeiß das Arschloch raus«, sagt Jack. »Das kann ich nicht«, sagt Maggie. »Natürlich kannst du«, sagt Jack. »Joe«, sagt sie. »Du solltest jetzt gehen. Das solltest du wirklich.« »Ich wünschte bei Gott, ich könnte.« »Hör zu, die Lady hat gesagt: Geh. Also geh. Andernfalls sorge ich dafür, daß du gehst.« Langsam gehe ich die Treppe hinunter. Ja, ich sollte gehen. Maggie gehört mir nicht. Sie hat mir weder die Erlaubnis noch eine Einladung gegeben. Maggies Körper war erhitzt gewesen. Hatte leicht transpiriert. Jetzt läßt die Brise die Feuchtigkeit verdunsten. Jetzt hat sie eine Gänsehaut. Ich habe noch nie soviel Leben in einer Frau gesehen. 141 »Verpiß dich, Freundchen«, sagt Jack. Ich kann nicht anders und sage nein. Jeder in Hollywood macht irgendeine Kampfsportart. Jack macht Taijutsu. Das ist eine Technik, die im Ninja gelehrt wird, der schicksten Kampfsportschule von L. A., die von Sakuro Juzo geleitet wird. Ich bin kleiner als Jack. Fünfzehn, zwanzig Jahre älter. Mein gedrungener Körper sieht nach Fettleibigkeit aus. Außerdem hat an diesem Punkt jeder seinen Verstand im Schwanz. Er glaubt, er könnte mich mit einem Ninja-Angriff außer Gefecht setzen, den er seit sechs Monaten lernt. Er geht in Stellung. Will die Sache schnell hinter sich bringen. Maggie brüllt: »Nein.« Ich blocke ab. Ich trete in seinen Angriff hinein. Ich bin ein Typ, der gern auf kurze Distanz kämpft. Ich treffe ihn hart, ein gerader Schlag auf den Solarplexus. Und es ist vorbei. Jack liegt auf dem Boden und schnappt nach Luft. Ich hebe ihn hoch. Werfe ihn mit einem Feuerwehrgriff über meine Schulter. Er ringt verzweifelt um Atem. Wie es eben so ist, wenn man einen harten Schlag auf den Solarplexus bekommt, es preßt einem einfach die Luft raus, die Lungen kollabieren unter einem Vakuumeffekt, und man schafft es einfach nicht, sie wieder zu öffnen. Nicht sofort. Bis es wieder geht, ist es entsetzlich. Selbst wenn man es vorher schon einmal erlebt hat. Was ich bei Jack allerdings bezweifle. »Hör auf damit«, sagt Maggie. »Er ist verletzt, Joe. Er ist wirklich verletzt.« »Nein«, sage ich. Denn das ist er nicht. Und ich weiß es. Ich trage ihn zum Wagen hinaus. Maggie folgt mir, nackt, und wenn ich mich nicht irre, genießt sie die Szene. Ich tue es jedenfalls - jetzt. Ich lade den Filmstar neben seinem Ferrari ab. Allmählich kommt er wieder zu Atem. Seine Erektion ist definitiv verschwunden. 142 »Hast du deine Autoschlüssel?« frage ich.
»Leck mich. Ich leg dich um. Ich verklage dich. Du bist tot, Mann, in dieser Stadt bist du tot... bescheuerte Irre...«, sagt er vom Boden. »Du wirst dich erkälten«, sage ich zu Maggie und bringe sie wieder ins Haus. 143 KAPITEL FÜNFZEHN Es war Dienstag, 17 Uhr. Mel Taylor fuhr nach Little Saigon. Die beiden Frauen warteten auf ihn, schnatterten und lachten auf diese entzückend feminine vietnamesische Art. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, warum amerikanische Frauen nicht so sein konnten - exotisch, erotisch, einfallsreich, stets liebreizend und adrett, gewillt, einem Mann wirklich zu gefallen - kurz gesagt, unterwürfig und auch noch gut darin. Die meisten Leute fluchten und jammerten über den Krieg. Und jedesmal, wenn man einen Kriegsveteran im Fernsehen oder im Kino oder in den Nachrichten sah, dann war er heruntergekommen und fertig. Mel nicht. Er hatte, wie sich die Briten ausgedrückt hätten, »einen guten Krieg« gehabt. Die Jahre in Saigon waren in vielerlei Hinsicht »die besten Jahre seines Leben« gewesen. Ohne Frage. Die Frauen, das Essen, das angenehme Leben. In Vietnam war er ein reicher Mann gewesen. Er hatte Bedienstete gehabt: Koch, Putzfrau, einen Boy für die Wäsche. Er war ein einflußreicher Mann gewesen, mit einer ihn bewundernden Geliebten, und er mußte nur für ihren Unterhalt aufkommen, er mußte ihr keine Fragen beantworten oder ihr treu sein. Und was hatte er in Amerika? Einen Mikrowellenherd, einen Staubsauger, eine Waschmaschine und eine Frau. Mel war eigentlich etwas früh dran. Nicht mehr als drei oder vier Minuten. Aber sicherlich zu früh. Und er hatte einen Steifen in der Hose, als er hereinkam. Das war ungewöhnlich. Keine zarten kleinen Schmetterlingsberührungen, um das Blut herunterzulocken und die schwammartigen Zellen des 144 Penis zum Anschwellen zu bringen, damit er Millimeter um Millimeter größer und steif wurde. Kein warmes Bad in einem hübschen Mund, wo er den eigenen Zuwachs an Zunge, Zähnen, Wangen und Kehle spüren konnte. Letzteres ein Maßstab seiner Größe und Potenz, denn selbst die erfahrene Mama-san mußte sich zurückziehen, wenn Taylor zu voller Größe anschwoll. Taylor hatte sich das Band angehört. Immer und immer wieder, tagelang. Das Band von der Nacht, als Magdalena Lazlo mit Jack Cushing nach Hause kam und Joe Broz ihn k. o. geschlagen hatte. Die Nacht, in der die Mikrophone die Geräusche Magdalena Lazlos, die sich der Lust und der Leidenschaft Joe Broz' hingab, auffingen und die daran angeschlossenen Bandgeräte sie aufzeichneten. Die beiden hatten stundenlang rumgemacht. Lustvolles Stöhnen, ekstatische Schreie, sanfte, feuchte Geräusche, eine Vielzahl von Koseworten, endlose Lobeshymnen über die Körperteile des anderen, Ermunterung und Befriedigung. Ein neuer Tag, ein neues Band. Sie schickten Mary Mulligan fort und legten von neuem los. Am ersten Tag hatten sie hart und schnell begonnen und sinnlich und langsam, mit schläfrigen Koseworten geendet. Am zweiten Tag fingen sie langsam und zärtlich an, aber es entglitt ihnen bald, und sie wurden zu Tieren, grunzend und - Taylor hätte schwören können, das aus dem Band herauszuhören - schwitzend. Irgendwo in der Mitte - Taylor wußte nicht, warum er sich daran erinnerte, warum er so fixiert darauf war -, vielleicht, weil es inmitten all des Stöhnens und Seufzens so unerwartet war. Etwas Einprägsames, wie das grellbunte Plastikspielzeug eines Kindes inmitten einer fleischfarbenen Landschaft. Irgendwo mittendrin sagte Maggie kichernd: »Weißt du, was das Beste daran sein wird, mit dir zusammenzusein, Joe? Weißt du was?« M5 »Nein. Was denn?« »Wenn ich dich einkleide.« »Ach, komm schon.« »Mit deinen Tennissocken fangen wir an. Keine weiße Socken mehr, nur noch zum Laufen. Dann werden wir dir Unterwäsche und Schlipse und Hemden und Hosen und Schuhe besorgen, und ich werde Fredo dazu bringen, daß er irgendwas mit deinen Haaren macht.« Und damit waren sie nun beschäftigt. Taylor wußte das. Nach zwei Tagen hinter verschlossenen Türen, abgesehen von einem Lauf am Strand und einem Bad im Meer, hatten sie schließlich das Haus verlassen. Er hatte ein Zwei-Mann-Team auf sie angesetzt. Sie hatten sich das letzte Mal gemeldet, als Maggie um 14 Uhr mit Joe einen exklusiven Herrenausstatter auf dem Rodeo Drive betrat. Taylor zog sich aus. Er warf seine Sachen auf den Stuhl in der Ecke. Die Mama-san faltete sie säuberlich zusammen. Die Tochter-san starrte mit respektvoller Ehrfurcht auf sein Organ. Er ging zum Massagetisch. Bei jedem Schritt wippte seine Erektion hoch und fiel seitwärts, beschrieb ein exzentrisches Oval, das
sich nach rechts neigte und unten weiter war als oben. Er hüpfte auf den Massagetisch. Mama-san beeilte sich, ihm seinen Brandy zu reichen. Er goß ihn hinunter, spürte die Hitze und legte den Kopf aufs Kissen. Das Laken unter ihm war sauber und frisch und hatte in etwa Körpertemperatur. »Oh, Sie sind sehr stark heute, Captain Taylor. Sehr mächtig«, sagte die Tochter. Er war im Ausbildungscorps für Reserveoffiziere gewesen und als Lieutnant in die Armee gegangen, wo er in Vietnam bis zum Captain aufstieg »O ja. Sie sind ein Riese«, sagte die Mutter. »Ich habe Angst, ihn zu berühren«, sagte die Tochter. Es han146 delte sich offensichtlich um aufgesetztes Hurengequatsche. Aber darum ging's nicht, oder? Es ging darum, ob eine Frau wollte, daß ein Mann sich gut fühlte, stark und männlich. Respektiert und mächtig. »Hab keine Angst«, sagte die Mutter. »Komm, ich zeige es dir.« Sie nahm die Hand ihrer Tochter und legte sie auf den steifen Penis. Zur Überraschung aller drei, begann er schon bei der ersten Berührung zu ejakulieren. Bisher hatte es stets eine ganze Stunde gedauert. Und dann spritzte er in einem hohen, makellosen Bogen, wie der Strahl eines windellosen männlichen Babys, das auf dem Rücken liegt, bis auf Taylors Brustkorb, manchmal bis zu seinem Kopf. Eine Ejakulation voll Macht und Erhabenheit. Aber das hier. Das floß einfach über. Es floß über die Spitze und tropfte herab und floß weiter in kleinen, kraftlosen Pulsen, bis er leer war. Es war ein Getröpfel. Es fühlte sich nicht mal wie ein Orgasmus an. Ganz anders als die großen Ejakulationen. Sie waren zeitlose, wortlose Schreie der Ekstase. Das hier war gar nichts. Er hatte schon von einem ganz gewöhnlichen Pissen mehr gehabt und mehr Entspannung verspürt als davon. Taylor war wütend. Er fühlte sich betrogen. »Ihr habt's versaut«, knurrte er die Frauen an. »Ihr habt's versaut.« Sie sagten etwas auf vietnamesisch. Und kicherten. Taylor fand das Gekicher in dieser Situation ohne jeden Charme. Tatsächlich machte ihn das Lachen rasend. Sie lachten ihn aus. Lachten einen Amerikaner aus. Er sprang vom Tisch und baute sich vor ihnen auf. »Ihr verdammten Huren, ihr habt's versaut.« Die Mama-san begann sich zu entschuldigen, aber Taylor sagte: »Wenn ihr glaubt, ich werde dafür bezahlen, dann habt ihr euren verdammten Verstand verloren.« Das löste einen Streit darüber aus, ob er pro Stunde oder pro Ejakulation bezahlte. Das Recht lag auf beiden Seiten, und ein außenstehender Vermittler hätte die Angelegenheit schnell und sogar zu aller Zufriedenheit beilegen können: »Mädchen, macht's ihm noch mal, und Mel, gib ihnen fünfzig extra als Trinkgeld.« Aber ihr Gekicher und seine Drohung, nicht zu bezahlen, hatten bei allen Angst und Wut ausgelöst. Sofort ging es um noch etwas ganz anderes. Die Fronten verliefen nicht mehr zwischen Mel und den Mädchen, es war zu einem Konflikt Kunde gegen Hure, männlich gegen weiblich, weiß gegen asiatisch, Amerika gegen Vietnam geworden. Es wurde sehr schnell laut und drohte, ebenso schnell in Gewalt umzuschlagen. Doch dann trat ein schlanker, junger Vietnamese zur Tür herein. Er hatte eine große, dramatische Narbe im Gesicht und ein Nunchaku in der Hand. Ob Gangster, Lude, Schläger, Ehemann oder Bruder, konnte Taylor nicht sagen. Aber das war nicht wichtig. Wichtig war, zu bezahlen und leise zu verschwinden. Normalerweise bezahlte Taylor mit seiner Visa Card, und auf seiner monatlichen Abrechnung tauchte eine respektabel aussehende Restaurantrechnung auf. In seinem Haus bezahlte der Mann die Rechnungen, also gab es keinen Grund für seine Frau, ihn zu fragen, warum er jede Woche zweihundert Dollar in demselben vietnamesischen Restaurant ausgab. Aber sollte sie es jemals tun, dann hatte sich Mel eine Antwort zurechtgelegt. Er würde sagen, daß er und ein Haufen von alten Armeekumpeln sich einmal die Woche trafen und über alte Zeiten plauderten, daß alle ihr Geld zusammenwarfen und Mel mit Karte bezahlte. Dann würde er erklären, daß er auf diese Weise dreißig Tage Zinsen für das Geld spare, er würde seinen Taschenrechner hervorziehen und Silvia mit blendendem Zahlenwerk verwirren. Taylor hatte nicht vor, dazustehen und darauf zu warten, daß 148 der Samen auf seinem Schamhaar kalt wurde und eintrocknete, während irgendein narbengesichtiger vietnamesischer Straßenräuber seine Wells Fargo Visa Card durch die Maschine und durchs Magnetkartentelefon zog, um so die elektronische Freigabe zu erhalten und die Zahlung zu registrieren. Und er würde auch nicht die ganze Summe bezahlen, wenn er es verhindern konnte. Also stieg er in seine Sachen und griff nach dem Bargeld. Er zerknüllte ein paar Zwanziger, warf sie auf den Boden und machte sich in Richtung Tür davon. Die jüngere Frau hob sie schneller auf als eine Schlange, glättete und zählte sie. Der Gangsterbursche versperrte die Tür. Es waren nur achtzig Dollar.
Alle schrien ihn an. Er zog mehr Geld aus der Tasche. Die Mama-san riß es ihm aus der Hand, bevor er es zerknüllen und auf den Boden werfen konnte. Es handelte sich um weitere vier Zwanziger, alles, was er hatte außer fünf Dollarnoten und ein wenig Kleingeld. Offenbar war das genug, denn sie traten beiseite und ließen ihn gehen. 149 KAPITEL SECHZEHN Es schien für den Präsidenten schlicht das Einfachste, ihm das Memo zu geben. Wenn Hartman Notizen gemacht hatte, dann hätte man sich bereits um zwei Dokumente Sorgen machen müssen. Er hätte es sich wahrscheinlich im Kopf merken können, aber das Gedächtnis ist ein Schwindler und Verräter. Außerdem war die Air forte One startbereit. Ehrlich gesagt, war George Bush froh, das Memo los zu sein. Es war wie ein böser Kobold, eine Märchenfigur, die allergrößtes Unheil anrichten konnte, die sich ständig Ins Bewußtsein des Präsidenten drängte und bettelte, herausgelassen zu werden. Okay, jetzt«™ es frei und fiel jemand anderem zur Last. Hartman konnte es entweder bändigen und zu etwas Nützlichem einsetzen, oder Bush konnte einfach vergessen, daß es jemals existiert hatte. Es gab nur dieses eine Stück Papier. Niemand konnte beweisen, daß Bush es jemals gesehen hatte. Oder d«& Lee Atwater es tatsächlich geschrieben hatte. Hartman wußte, daß dies die größte Chance seines Lebens war. Er nahm sich einen ganzen Tag frei. Keine Termine. Keine Anrufe. Keine Konferenzen- Keine Briefe. Keine Verträge. Keine Störungen. Keine Anwälte. Nichts zu lesen. Gar nichts. Was diese Geste bedeutete, lä* sich vielleicht nur ermessen, wenn man sagt, daß er nicht vorhatte, einen ganzen Tag für seinen eigenen Tod frei zunehmen. Wenn er eine Frau gewesen wäre, hätte er keinen ganzen Tag freigenommen, um ein Kind auf die Welt zu bringen15° Er begann den Tag damit, daß er bei Sonnenaufgang ins Do-jo ging. Dort praktizierte er Kendo, zuerst in der Frühklasse, dann allein mit dem Sensei, Sakuro Juzo, um seinen Körper zu beruhigen und seinen Verstand zu leeren. Äußerste physische Konzentration und Anstrengung war schmerzhaft. Hartman liebte diesen Schmerz. Erst nachdem er alles außer diesem Schmerz vergessen, diesen Schmerz durchschritten und ihn transzendiert hatte, kehrte er in sein Büro zurück, nahm das Memo zum ersten Mal seit dem Abend, als er es erhalten hatte, aus dem Safe, las es und dachte darüber nach, was er zu tun hatte. Er wußte, daß dieser Deal noch nicht unter Dach und Fach war. Weit davon entfernt. Der nachte Schritt war, zum Präsidenten zu gehen und zu sagen: »So könnte es klappen.« Das Letzte, wovor Hartman auf der Welt Angst hatte, waren Verkaufsgespräche. Und um mehr handelte es sich ja auch nicht. Außer, daß er in den meisten Fällen zu MCA gehen konnte, wenn Columbia nicht zuschlug, und wenn die es nicht mochten, dann zu Paramount oder MGM oder Disney. Diesmal gab es nur einen möglichen Kunden. Aber vielleicht gab es doch noch andere Kunden. Er legte diesen Gedanken in eine Schachtel, drückte den Deckel fest zu, verschloß sie und tat sie in einen Schrank, den er sich links hinten im oberen Quadranten seines Hirns vorstellte. Er grübelte, notierte sich Ideen auf Zettel - die er in den Reißwolf stecken würde, bevor er das Büro verließ -, er meditierte über die Natur des Krieges. Wie Atwater und Sakuro Juzo war er Anhänger Sun Tzus. Der Satz, der ihm eingefallen war, lautete: »Jede Kriegsführung gründet auf Täuschung«43, und darüber mußte er leise lachen. Er fand, daß es vier Bereiche gab, in denen er zu handeln hatte. Alle vier überschnitten sich und hingen zusammen: 151 Die Wahl des Regisseurs, die Wahrung der Geheimhaltung, der Umgang mit den Medien, die Geldbeschaffung. Einen Regisseur auszuwählen war der einfachste der vier Bereiche. Vorzugsweise einen Regisseur, der auch Drehbücher schrieb. Das wäre schon mal eine Person weniger, die eingeweiht werden mußte. Der Regisseur müßte einen Entwurf, ein Szenario entwickeln, vorerst als Treatment44, das Hartman dann dem Präsidenten präsentieren konnte. Er mußte einen Plan entwickeln, wie die Geheimhaltung zu gewährleisten war. Unter normalen Umständen stellte Hartman ein Team zusammen, wenn er es mit etwas Größerem zu tun hatte. Sie stellten Gedankenspiele an. Kritisierten die Ideen der anderen. Machten ein Brainstorming. Schätzten die möglichen Konsequenzen ab. Aber Hartman fand, Geheimhaltung sei in dieser Angelegenheit derart wichtig, daß die erste Regel dieses Unternehmens darin bestehen mußte, niemanden mehr wissen zu lassen, als er unbedingt wissen mußte. Sobald eine andere Person davon wußte, mußten Sicherheitsmaßnahmen greifen. Diese Person mußte
beobachtet und überwacht werden. Seine oder ihre Partner, Freunde, Liebhaber und Familie ebenfalls. Je mehr davon wußten, desto mehr Beobachter wurden gebraucht. Hartman hatte schon in der Vergangenheit Leute ausspioniert, natürlich auch seinen eigenen Stab. All die großen Agenturen, und selbst die kleinen, waren dadurch entstanden, daß Agenten sich selbständig machten und ihre Klienten mitnahmen. Soll heißen stahlen. Hartman, der RepCo auf exakt dieselbe Weise gegründet hatte, war entschlossen, daß ihm dies nie passieren würde. Wann immer ein Agent so viel Erfolg hatte, daß er möglicherweise auf dumme Gedanken kam, wurden seine Anrufe abgehört und jede seiner Bewegungen kontrolliert. Wenn die Überwachung ergab, daß der Agent Verrat im 152 Schilde führte, wurde eine Regelung getroffen. Manchmal im guten - eine Beförderung, ein neuer Wagen, ein Bonus, irgendwelche Zeichen der Anerkennung für Loyalität. Manchmal im bösen fristlose Entlassung verbunden mit dem nötigen Hinweis an mögliche Klienten, daß der Verräter entlassen worden sei, weil er auf die eine oder andere Weise in fremde Taschen gegriffen habe, sowie der unmißverständlichen Klarstellung, daß sie, wenn sie mit ihm gingen, niemals an einem Projekt beteiligt würden, auf das RepCo Einfluß hatte. Hartman besaß also eine sehr gute Vorstellung davon, was Überwachung und Sicherheit kosteten -eine Menge. Hartman hatte eine Regel: Stecke niemals Geld in einen Film. Das gehörte zu den expliziten Grundsätzen der Firmenphilosophie von RepCo: Wenn ein Agent sich sagen hört: »Ich bin so felsenfest davon überzeugt, daß ich den Film selber finanzieren werde«, dann sollte das besser eine Lüge sein. Sobald es sich um eigenes Geld handelte - egal, ob Gewinne oder Verluste erwirtschaftet wurden -, kamen Furcht und Gier, Zweifel und Selbsttäuschung ins Spiel, und Objektivität und Ausgewogenheit waren beim Teufel. Aber vielleicht war es Zeit für eine Veränderung. Um den nächsten Schritt zu tun, war dies möglicherweise unumgänglich. Der Krieger bemühte sich, tief im Innern ruhig zu bleiben, aber was kostete diese Gelassenheit schon, wenn man die Schlacht von der Tribüne aus verfolgte? Wie schwierig war es, die Nerven zu behalten, wenn man seine zehn Prozent kassierte, egal, wie es ausging? Wie sollte man wissen, ob man überhaupt ein Krieger war - dieser Inbegriff der Männlichkeit -, wenn man nicht in der Arena geprüft wurde? Bei genauerer Überlegung entschied er jedoch, daß die eigentliche Prüfung seiner Kreativität - der Beweis, daß er 153 besser war als andere -, darin bestand, das Ganze mit dem Geld anderer Leute zu machen.45 Er brauchte - eine Menge. Eine Million hier, ein paar Millionen dort - Himmelhergott, er konnte sich Situationen vorstellen, in denen er Milliarden brauchte. Dies würde der größte je gedrehte Film werden. Wenn er überhaupt gedreht wurde. Es würden wahrscheinlich mehrere hundert Milliarden dabei draufgehen. Konnte die Regierung das bezahlen? Wahrscheinlich nicht, dachte er, die konnten mit Geld einfach nicht umgehen. Der nächste Schritt würde sein, für sie auszuklügeln, wie sie ihren Teil leisten konnten. Traue niemals einem Klienten Kompetenz zu. Deep Throat sagte: »Folgt dem Geld.«46 Hartman war entschlossen, dies nicht zu einem zweiten Watergate werden zu lassen. Niemand durfte dem Geldfluß folgen können. Die Politiker hatten dazugelernt. Das hatten sie in der Iran-Contra-Affäre bewiesen, die zeigte, daß man mit ein wenig Nebel und vielen Dementis sehr weit kam. Noch immer fragten die Leute: »Was hat der Präsident gewußt und zu welchem Zeitpunkt?« Dabei lag die Antwort auf der Hand und war unstrittig: Er wußte so viel, wie er wissen wollte, und zwar wann immer er wollte. Soll heißen, möglicherweise wußte er alles, und zwar in dem Moment, als er aus seinem Mittagsschlaf erwacht war. Andererseits hielt Vizepräsident Bush keinen Mittagsschlaf, also wußte der es wahrscheinlich früher. Sie waren zwar damit durchgekommen, aber sie hatten keine weißen Westen behalten. Was Hartman in seinem Grundgedanken bestärkte - er konnte besser als die Regierung eine Möglichkeit austüfteln, wie man heimlich Milliarden aus dem Staatshaushalt abzieht und dafür sorgt, daß die Medien niemals Wind davon bekommen. Hartman hatte zudem so ein Gefühl im Bauch, daß der 154 Umgang mit den Medien kein so großes Problem darstellen würde. Aber er wußte auch, daß es genau dieser Punkt war, vor dem der Präsident und seine Leute die größte Angst hätten. Offensichtlich verfügten sie über unterschiedliche Erfahrungen. In seiner Branche galten die Medien als zahnlose Tiger. Niemand hatte vor dem Fernsehen oder der Presse Angst. Wenn ein Reporter sich nicht anständig benahm, wurde er einfach ausgeschlossen. Wenn er wirklich Anstoß erregte, wurde er gefeuert.47 Und dennoch hielten die Politiker die Presse für Fleischfresser: Schakale
und Hyänen, die, wenn sie im Rudel jagten, in der Lage waren, Rentiere und Elche und sogar Elefanten zu töten. Wenn er nur begreifen konnte, warum die Filmbranche die Medien so anders einschätzte als die Politiker, dann konnte er einen Plan entwickeln, um mit den Medien fertig zu werden. Was, wenn man einen Presseagenten aus Hollywood nach Washington versetzte? So was wie in Ausgerechnet Alaska. Wie Doc Hollywood oder Auf die harte Tour4*, so eine Geschichte vom Fuchs im fremden Revier. Und warum auch nicht? Entwickle es wie einen Kinofilm. Die kreativsten Köpfe der Welt saßen in Hollywood, weil hier das meiste Geld war. Hartman hatte am folgenden Tag eine Verabredung zum Mittagessen mit Mike Medavoy, Präsident von Tri-Star. Wenn er erwähnte, daß das vielleicht ein guter Film sei für - Val Kilmer? Nein. Michael J. Fox? Ja. Natürlich, Medavoy würde einen Film für Michael Fox haben wollen. Sie würden mit ein paar Namen von Drehbuchschreibern herumspielen, und bis der mit Walnußöl und Oregon-Brombeeressig angemachte Salat wieder abgeräumt war, wäre die Story in Entwicklung.49 Auf Tri-Stars Kosten. So mußte das laufen. 155 Mach dasselbe nun mit »ein Presseagent aus Hollywood geht nach Vietnam«, ein zeitgeschichtlicher Historienschinken. Für Oliver Stone? Nein. Stone würde nicht noch einen Vietnamfilm machen, er schied also schon mal aus. Für Alec Baldwin - als Drama, nicht als Komödie, stell es Columbia vor, versprich ihnen jemand Junges, Schönes und Heißes für die weibliche Hauptrolle. Jemand, der Peters reizen könnte. Der springende Punkt in beiden Fällen war, intellektuelle Drehbuchautoren dafür zu gewinnen. Diese öden Typen, die sich andauernd für Probleme engagierten, für ernsthafte Ideen und richtigen Stoff unter der Zuckerglasur. Hartman war in Fahrt. Schon hatte er die Lösung für das Geldproblem - die Lösung hieß Ed Pandar. Pandar war ein besessener und brillanter Faktensammler, der furchtbare Drehbücher schrieb. Wenn Hartman Zeit hatte, was selten vorkam, dann las er gern Drehbücher von Pandar. Sie handelten stets von Dingen, über die noch nie jemand nachgedacht hatte, und sie waren stets absolut, vollkommen hundertprozentig wahr. Deshalb waren sie ja so furchtbar. Sie waren in einem Morast aus Realität gefangen. Keine noch so gute Geschichte konnte sich gegen diesen glibberigen, zähflüssigen Faktensumpf durchsetzen; kein Dialog kam gegen die notwendige endlose Exposition an. Hartman beschloß, einen Klienten zu suchen, der Pandar anheuern sollte, Ideen für ein Drehbuch zu entwickeln, das davon handeln sollte, wie man den Staat um - sagen wir mal -zehn Milliarden Dollar bescheißen kann. Im Glauben, einen Film über den ultimativen Coup zu entwickeln, würde Pandar sich eine, nein, mehrere Methoden ausdenken, wie Milliarden von Dollar aus dem amerikanischen Bundeshaushalt in private Hände gelangen konnten. Weil es sich um Pandar handelte - der geisteskrank, aber zwanghaft realistisch war -, würde der Betrug auch in der richtigen Welt durchführbar sein. 156 Pandar würde nie erfahren, an welchem Szenario er eigentlich arbeitete. Keiner dieser Leute brauchte zu wissen - oder würde auch nur ahnen -, woran sie eigentlich arbeiteten. Hartman bewunderte seine eigene Genialität. Er war sehr glücklich. Das brachte ihn wieder zu der Frage nach dem Regisseur. War es möglich, daß auch der Regisseur nichts davon zu wissen brauchte? Er kannte Regisseure. Kannte sie alle. Ihre Stärken und Schwächen, ihre Tugenden und Laster, ihre Stile und ihre Möglichkeiten. Er erwog unter anderem: Lumet, Demme, Coppola, Spielberg, Lucas, Stone, Pollack, Pakula, Scott (Ridley), Scott (Tony), Lean (David, verstorben), Michael Mann, Stephen Frears und Robert Redford, Er brauchte einen Regisseur, der ein Genie an Intuition war, seine Entscheidungen aber strikt nach seinem Sinn fürs Verwertbare traf. Er mußte innovativ sein, in der Lage, gigantische Mengen von Statisten und Ausrüstung zu kontrollieren, sehr systematisch, aber improvisationsbereit. Doch letztlich würde die Entscheidung weniger von seinem Talent abhängen als vielmehr von seinem Temperament und Charakter. Im Grunde würde der Regisseur den größten Film drehen, den die Welt je gesehen hatte - und niemals Anerkennung dafür erfahren. Dinge würden zerstört werden, Menschen würden für diese Produktion ihr Leben lassen. Gesucht wurde ein amoralischer Größenwahnsinniger, der bereit war, sein Licht unter den Scheffel zu stellen. Kaum hatte er es so formuliert, kam nur noch einer in Betracht. John Lincoln Beagle. Der große, schlaksige Filmemacher, der einmal als Filmstudent einen Ferienjob in Disney World hatte, wo er als Goofy auftrat. John Lincoln Beagle war der nächste, der das Memo zu Gesicht bekommen sollte. 157
KAPITEL SIEBZEHN Die Büros von Universal Security in Los Angeles befinden sich in einem sechsundvierzigstöckigen Glasturm im zentralen Geschäftsviertel, diesem kleinen Teil von L. A., der tatsächlich wie eine Stadt wirkt. Der Großteil der angemieteten Räume liegt im dritten, vierten und fünften Stock. Joe Broz hat sein Büro zum Beispiel im vierten Stock in der Nähe des Konferenzraums 2 und des Ausbildungscenters. Der Empfang ist im dritten Stock, die Kantine im fünften. Die Büros der leitenden Angestellten aber sind im dreiundvierzigsten Stock, und die Fenster gehen nach Westen. In dieser Höhe ist man meist über dem Smog und hat einen Blick aufs Meer. Nach Einbruch der Dunkelheit bietet sich eine Aussicht auf die Lichter, dieses streng geometrische Muster, das zum Markenzeichen von in Los Angeles spielenden Filme wurde, so wie die Skyline des Südzipfels von Manhattan in keinem New Yorker Film fehlen darf. Die einzigen krummen Linien sind die Freeways und die Küste. Im Inneren, näher der Gebäudemitte, befindet sich ein Raum ohne Fenster, »der Würfel« genannt. Es handelt sich um einen Raum, der in einem Raum steckt, nach denselben Maßstäben gebaut wie abhörsichere Räume in US-Botschaften. Im Gegensatz zu seinem Spitznamen handelt es sich eigentlich um ein Rechteck, das länger als breit und breiter als hoch ist. Die Wände sind absolut schalldicht. Der Spalt zwischen den beiden Räumen ist groß genug, um alle sechs Seiten einer Sichtkontrolle zu unterziehen, vor allen Dingen die Ober- und Unterseite. Diese Zwi158 schenräume, allgemein »der Spalt« genannt, werden von Videokameras überwacht. Die Wände des Würfels enthalten zudem Verdrahtungen, die eine Vielzahl von Störsignalen aussenden und in dem Spalt ein Hintergrundrauschen erzeugen. Es würde Alarm auslösen, falls irgendein Versuch unternommen würde, Aufzeichnungs- oder Sendeeinrichtungen in den Würfel mitzubringen. In dem Raum befindet sich ein BZX-7000. Er erzeugt eine sich ständig verändernde Abfolge elektronischer und akustischer Signale, die jeden Versuch einer Aufzeichnung unterbinden. Als weitere Sicherung wird jede Aufnahme von einem kraftvollen Magnetfeld gelöscht, das die einzige Tür umgibt. Dies ist die einzige Vorrichtung, die auf Wunsch an- und abgeschaltet werden kann, denn der Würfel wird häufig dazu benutzt, Aufnahmen abzuhören. Aus diesem Grunde sind in dem Raum eine Vielzahl von Abspielgeräten installiert. Ein Teil der technischen Anlagen unterliegt Beschränkungen und darf nicht ohne besondere Genehmigung ausgeführt werden. Aber die Existenz des Raumes und seine Funktionen sind nicht geheim. Universal Security macht mit diesem Nonplusultra an Abhörsicherheit sogar Werbung. Man kann den Würfel für 2 000 Dollar die Stunde mieten. Das scheint viel zu sein für ein Zimmer, das klein und heiß ist und eigentümlich klaustrophobisch wirkt. Doch alle Kunden, die ihn benutzen, äußern sich samt und sonders höchst zufrieden über den Gegenwert, den sie erhalten haben, und kommen nicht selten wieder. Ein RollsRoyce oder ein Lear-jet, selbst teuer erkaufter Sex können den Leuten nur ein Gefühl von Reichtum vermitteln. Der Würfel vermittelt ihnen ein viel selteneres und außerordentlicheres Gefühl -das der eigenen Wichtigkeit. Die Tür zum Würfel selber liegt einundneunzig Zentimeter über dem Boden. Die Benutzer des Würfels werden von einer 159 Wache mit einer Trittleiter in den Spalt begleitet. Nachdem der Kunde den Spalt betreten und die Tür geschlossen hat, entfernt die Wache die Leiter, nimmt sie mit und kehrt an ihren Posten im äußeren Zimmer zurück. Es war ein Samstag. Die beiden Männer, die im Würfel saßen, waren lässig, aber sehr teuer gekleidet. David Hartman war von einem Geschäft in L. A. namens Down-East eingekleidet worden, das Sachen verkaufte, in denen die Träger aussahen wie Leute aus New England, Menschen aus Familien, die so viel Geld hatten, daß sie nicht darüber sprechen mußten, und was noch viel wichtiger war, in der die letzte Person, die tatsächlich Geld verdient hatte, lange vor der Erfindung des Kinos verstorben war. John Lincoln Beagle war Regisseur. Sein Stil war erheblich bohemienhafter: Jeans, Hemd im Südweststaatenstil, Navajogürtel mit Türkisschnalle und Wüstenstiefel, alles in allem etwa 2 500 Dollar. Darin waren allerdings 800 Dollar für die Stiefel enthalten, die nach eigenem Leisten handgenäht waren, absolut kein Luxus, da Beagle empfindliche Füße hatte und ihm Konfektionsschuhe, ganz gleich wie teuer oder wie sorgfältig angepaßt, weh taten. Und die Gürtelschnalle hatte 960 Dollar gekostet. Lee Atwaters Memo steckte in der Innentasche von David Hartmans 1 800-Dollar-Jacke von Whittier & Winthrop. Er suchte nach einer Möglichkeit, es nicht herzeigen zu müssen. Die Tür zum Würfel wurde geschlossen. »Wow, tierisch«, sagte John Lincoln
Beagle. »Das gefällt mir. Das würde ich gern als Kulisse benutzen. Aber was zum Teufel hast du mir zu sagen, das derart viel Sicherheit verlangt? Was ist los, kaufst du Columbia auf? Oder Sony?« David Hartman griff in die Tasche. Er nahm Lee Atwaters Memo heraus. Er entfaltete es. Strich es auf dem Tisch glatt. Von dem Augenblick an, wenn sie dieses Zimmer verließen, würde Beagle von Angestellten von Universal Security beob160 achtet und abgehört werden. Sein Haus und sein Büro würden voller Wanzen sein. Seine Freunde und seine Familie würden überwacht werden. Hartman schob Beagle das Memo zu. Darin stand: MEMO VON L.A. AN:J. B. III/YEO KRIEG war schon seit jeher eine mögliche politische Option, in allen Gesellschaften, zu allen Zeiten. Wir, die wir im Süden aufgewachsen sind, wissen um die Verehrung unserer Kämpfer und Kriegshelden. Selbst jener, die verloren haben! Solange sie heldenhaft und tapfer gekämpft haben. Sie und ich sind mit den Legenden um Lee und Jackson und Beauregard aufgewachsen. Mein erster Präsident war Eisenhower, General Eisenhower. Kennedy war ein Kriegsheld. George Bush war ein Kriegsheld. George Washington war General Washington. Andrew Jackson war General Jackson. Die beiden großen Namen in der britischen Geschichte sind Nelson und Wellington. Die Helden Frankreichs sind Karl der Große, Napoleon und de Gaulle. Nach Vietnam und im Schatten der atomaren Bedrohung galt Krieg nicht länger als politische Option. Er wurde als politischer Selbstmord betrachtet, und das wäre es wohl auch gewesen, die Option eines Krieges zu verfolgen. Dann zeigte uns Maggie Thatcher den Weg. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, daß Thatchers politische Karriere faktisch vorbei zu sein schien. Daß sie in den Umfragen auf dem Tiefpunkt angelangt war. Daß die meisten Prognosen davon ausgingen, daß sie und die Konservative Partei die Wiederwahl nicht schaffen würden. 161 Dann hatte sie ihren Falklandkrieg. Sie rüttelte ihr Land auf. Sie gewann. Für sie war der Krieg keine Bürde - er war die politische Rettung. Sie wurde zur Nationalheldin. Sie gewann die Wiederwahl. Kein britischer Premierminister der Neuzeit war länger im Amt als sie. Offensichtlich bin ich nicht der einzige, der dieses Ereignis und seine Folgen bemerkt hat. Es hat unser aller Einstellung geändert. Vor allen Dingen die Mr. Reagans. Er hatte sein Abenteuer in Libyen; diese recht zögerliche Geschichte im Libanon - schnell beendet, und das zu Recht; er hatte seine Invasion in Grenada. Diese militärischen Einsätze haben dem Ansehen der Verantwortlichen im Inland keinen Schaden zugefügt. Was eindeutig beweist, daß ein amerikanischer Präsident in den Krieg ziehen und politisch überleben kann. Krieg ist eine Option. Aber sollte man von dieser Option Gebrauch machen? Noch haben wir nichts vorzuweisen, was dem Erfolg der Eisernen Lady mit ihrem »prächtigen kleinen Krieg« nahe käme. Libyen, Libanon, Grenada und Panama haben zwar keinen Schaden angerichtet, aber auch wenig Gutes gebracht. Warum nicht? Weil wir uns der Tatsache, daß der moderne Krieg ein Medienereignis ist, noch nicht völlig bewußt sind. Weite Kreise räumen den Medien im Krieg eine gewisse Rolle ein, allen voran das amerikanische Militär in der Zeit nach dem Vietnamkrieg. Es ist heute allgemein üblich zu sagen, daß wir wegen der Medien in Vietnam verloren haben. Wenn wir einmal davon absehen, daß dieser Glaube auch deshalb so weit verbreitet sein könnte, weil er die Funktion hat, all diejenigen von jeglicher Verantwortung freizusprechen, die logischerweise die Verantwortung für 162 die Niederlage übernehmen müßten, dann läßt sich daraus ein naheliegender, klarer und folgerichtiger Schluß ableiten: Die neue Schlachtordnung besagt, daß wir im Fernsehen (und den kleineren Medien) ebenso gewinnen müssen wie auf dem Schlachtfeld selbst. Dies gilt heute unter Militärs als unbestreitbar. »Wissen Sie«, sagte der amerikanische Colonel, »auf dem Schlachtfeld haben Sie uns nie besiegt.« Der nordvietnamesische Colonel dachte eine Weile über diese Bemerkung nach. »Das mag schon sein«, erwiderte er, »aber es ist unwichtig.«(H. G. Summers, On Strategy: A CriticalAnalysis ofthe Vietnam War) Die Vietnamesen haben jede Schlacht verloren. Unseren Militärs zufolge haben die Amerikaner und die südvietnamesische Armee sogar die Tet-Offensive gewonnen. Und doch ist es zweifellos diese Schlacht, in der die Kommunisten den Krieg gewonnen haben. Das Militär hat nur die Hälfte der Idee verstanden. Dabei springt einem das gesamte Konzept direkt ins Auge: Es ist nicht nötig, den Krieg auf dem Schlachtfeld und in den Medien zu gewinnen, man muß ihn nur in den Medien gewinnen. Es
ist möglich, auf dem Schlachtfeld zu verlieren, im Fernsehen zu gewinnen - und zu gewinnen. Krieg ist kein zeitweiliges Medienereignis. Er ist ein reines Medienereignis. Wenn der Präsident sich für die Thatcher-Option entscheidet, um so Popularität zu erzielen oder zurückzuerlangen - die Wiederwahl zu gewinnen, indem er in den Krieg zieht -, dann muß er erkennen, daß dieser Krieg als Medienereignis behandelt werden muß. Sowohl er als auch Mr. Reagan haben zum Mittel des Krieges gegriffen. 163 Sie waren so vernünftig, die Logistik und die Kriegsführung den professionellen Streitkräften zu überlassen. Die Streitkräfte haben das, was sie tun, mit einigem Erfolg getan. Soll heißen, sie sind diszipliniert hineingegangen, haben mit minimalen Peinlichkeiten ihre Aufgabe durchgeführt, haben den Kampf gewonnen, es gab nur wenige Verluste, und sie haben dafür gesorgt, daß keine Leichensäcke ins Visier der Kameras gerieten. Der Libanon war natürlich eine Ausnahme. Nur den Medienkrieg überließen sie nicht den Profis. (Besonders erstaunlich im Falle von Mr. Reagan, dessen Gespür ihn hätte besser beraten müssen. Es ist möglich, etwas an seinem Intellekt und seiner Arbeitsweise auszusetzen, an seinem Gespür jedoch? Niemals!) Was bedeutet Krieg? Für Sie? Für mich? Für das amerikanische Volk? Krieg ist John Wayne, Randolph Scott und Victory at Sea. Krieg ist Rambo, Krieg der Sterne, Apocalypse Now, Leichensäcke auf CBS. Krieg ist Combat, The Rat Patrol, Patton. Das Antlitz des Krieges ist nicht die Wirklichkeit. Es ist Fernsehen und Kino. Selbst für diejenigen, die im Krieg gewesen sind. Welche Erinnerungen sie auch hatten, sie sind ersetzt worden durch das, was sie im nachhinein im Fernsehen gesehen haben. Selbst wenn sie Vietnam »desillusioniert« hat, kamen diese Illusionen doch aus dem Kino. Wie Mr. Reagan bewiesen hat, ziehen die Menschen der trügerischen, komplexen Wahrheit eine gute, solide Geschichte vor. Der Krieg muß von Profis geführt werden. Wenn Sieg oder Niederlage auf dem Fernsehschirm errungen werden, dann sind die Generäle nicht die Profis. Auch nicht die Politiker. Der Krieg sollte von einem Film- oder Fernsehregisseur geleitet werden. Das klingt 164 im ersten Augenblick wie Unfug. Das ist es aber nicht. Es ist sehr ernst gemeint. Die Generäle und Politiker - selbst der medienerfahrene Mr. Reagan - haben bewiesen, daß sie einen Sieg auf dem Schlachtfeld erringen können, ohne auch dort zu siegen, wo es darauf ankommt: in den Herzen und Köpfen und im Wahlverhalten des amerikanischen Volkes. Unfug ist, eine Methode zu wiederholen, von der wir wissen, daß sie versagt. Wer also soll diesen Krieg führen? David Hartman, Chef von RepCo, der einflußreichsten Agentur in Hollywood. Wenn irgend jemand austüfteln kann, wie man einen Krieg packagen muß und wer der Regisseur sein soll, dann Hartman. Wenn irgend jemand den richtigen Riecher dafür hat, dann er. Denken Sie daran, daß es Lew Wasserman, Mr. Reagans Agent, und MCA waren, die die Karriere dieses Präsidenten unterstützten, begleiteten und teilweise erst möglich machten. Hartman und RepCo sind Wasserman und MCA der Neunziger. Wenn alles verloren zu sein scheint und es keine anderen Optionen mehr gibt, zieh in den Krieg. Das ist die klassische Antwort auf unlösbare Probleme im Inland. Es ist das genaue Gegenteil des Geiseldramas, von dem Carter so vollständig vernichtet wurde - ebenfalls ein Medienereignis. Überlassen Sie die Auswirkungen nicht dem Zufall. Suchen Sie sich jemanden, der den Instinkt, den Stil und die künstlerische Fähigkeit besitzt, einen Krieg zu erschaffen, den Amerika lieben kann - im Fernsehen. Dann werden Sie siegen. »Wow. Cool«, sagte John Lincoln Beagle. Er konnte tolle Dialoge schreiben, sprach sie aber selber nicht. 165 KAPITEL ACHTZEHN Beagle hatte eine Loge für das Baseballspiel. Er wollte nicht dort sein. Dafür gab es zwei Gründe. Zum einen mußte er erst noch der Lösung des Problems näherkommen, denn das waren Filme für Beagle, Probleme. Es war merkwürdig - wenn er ein Projekt übertragen bekam, erfaßte ihn eine aufgeregte, fröhliche Stimmung. Die Fröhlichkeit löste sich bald in nichts auf. An ihre Stelle trat ein langwieriger Prozeß, während dessen er herauszufinden versuchte, wie das Rohmaterial behandelt, geformt, verändert oder beibehalten werden konnte, um einen erfolgreichen Film daraus zu machen. Außer bei seinem allerersten Film als Student, den er wie von selbst gemacht hatte, gab es immer eine Phase, während der er intensive Recherchen anstellte. Stets dachte er voller Gewißheit, daß dies absolut notwendig war - hier wurde die eigentliche Arbeit geleistet. Manchmal kam ihm jedoch der
Verdacht, es könnte auch ein Vorwand, eine Ausrede oder Verzögerungstaktik sein, um jenen unwiderruflichen Augenblick zu vermeiden, wenn die Kamera geladen dastand, die Schauspieler bereit waren und hundert Leute darauf warteten, daß er »Action« sagte, während ihm weitere hundert so kam es ihm jedenfalls vor - über die Schulter sahen, ängstlich besorgt, wie ihre Millionen ausgegeben würden, und er wissen mußte, was jeder Einzelne zu tun hatte, und daß alles richtig aussah, richtig klang, richtig geschnitten war und sich richtig verkaufen würde, wenn er fertig war. Er betrachtete seinen Verstand als Wurstmaschine. Ein großer, offener Trichter oben. Da kam alles rein. Dann drehte 166 man an der Kurbel. Vermahlte alles miteinander. Irgendwas passierte in der Maschine. Unten kamen Würstchen raus. Dieses Bild legte natürlich ein anderes nahe. Ein riesiges Maul, das schmatzend und schlürfend und rülpsend Massenware fraß, sie in sich hineinschlang und sich einverleibte, den Schlund hinab in einen unförmigen, wabbligen Bauch, der, weil er alles vermengte, nichts anderes produzierte als Scheiße - stinkende, dampfende, Fliegen anlockende, würstchenförmige Scheiße. Irgendwann würde ihm das mal passieren. Bei diesem Gedanken konnte er sich - sollte er diesen Witz reißen; ja, aber nicht in der Öffentlichkeit - in die Hosen scheißen. Er liebte seine Angst, bewunderte seine Panik, hoffte, daß er wegen ihr sauber bleiben würde, eine reine und geruchslose Wurstmaschine. Aber ihm war klar, daß das nicht klappen würde. Ein Scheitern war immer möglich. Bei Spielberg war es 1941. Bei Coppola Der Goldene Regenbogen. John Huston drehte Victory. John Ford This is Korea. Er spürte sie - die Gewißheit, daß er scheiterte - jedesmal. Jedes einzelne Mal. Er fragte sich, ob dieses Gefühl des Scheiterns anders sein würde, wenn er tatsächlich scheiterte. Er begriff, daß das erste Prinzip aller guten Kunst das Plagiieren und das erste Prinzip aller kommerziellen Kunst der Diebstahl ist. Kein Künstler, Handwerker oder Dieb arbeitet im luftleeren Raum. Jeder Künstler ist ein Jazzmusiker und läßt neue Riffs über alte Melodien laufen, weil die alten Melodien Ikonen, Verweise, kulturelle Übereinkünfte sind - sie bilden die Sprache der Menschen dieser Welt. Von dem Augenblick an, als er das Memo sah, hatte Beagle sich einen Kriegsfilm nach dem anderen angesehen: Dokumentarfilme, Features, ausländische Filme, Kurzfilme, Lehr- und Propagandafilme, Zeichentrickfilme, unbearbeitetes Material, Nachrichtenfilme. 167 Das Problem war nur: Er war noch nicht soweit. Wenn er jetzt an der Kurbel drehte, das wußte er, dann würde am anderen Ende nur Scheiße rauskommen, er würde scheitern, und davor hatte er Angst. Er mußte weiter alles in sich hineinfressen, bis auf irgendeine Weise ein katalytischer Bestandteil, ein Enzym vielleicht, zu der dampfenden Masse in ihm dazukam und den Prozeß auslöste, der dafür sorgte, daß etwas herauskam, das nicht stank. Oder vielleicht wartete er darauf, so vollgestopft zu sein, daß der innere Druck das kreative Organ, welches das auch sein mochte, endlich dazu zwang, zu funktionieren und irgend etwas mit Form und Struktur und Farbe und Licht und Bedeutung zu schaffen. Also wäre er im Augenblick lieber in seinem Studio gewesen und hätte sich Bilder angeschaut und sie auf seinen zehn HDTV-Bildschirmen mit ihren dreißig möglichen Abspielgeräten geordnet, die mit einem virtuellen Supercomputer verbunden waren, der sie steuerte, während er jedes Bild, das vorbeikam, in digitale Form umwandelte und sie so speicherte. Der andere Grund war, daß Beagle eine massive Gleichgültigkeit gegenüber Baseball hegte. Er begriff dessen Stellenwert als Fabel und Parabel im Kanon der amerikanischen Mythologie und hatte sogar in einigen seiner Filme Baseballszenen eingebaut, aber das lethargische Tempo dieses Sports und die arhythmische Struktur der dürftigen Handlung, die noch darin steckte, hatten ihn verwirrt. Jacqueline Conroy50, seine Frau, und ihr Sohn, der zwanzig Monate alte Dylan Kennedy51 Beagle, waren bei ihm. Es war Jacquelines Idee gewesen. Sie fand, daß Beagle seine Familie vernachlässigte - was stimmte - und daß sie eine gesunde Familiensache unternehmen sollten, damit Dylan lernte, seinen Vater zu erkennen. Beagle rief Hartman an, der die Disney-Loge für sie organi168 sierte. Ihr Koch hatte ihnen eine »uramerikanische Mahlzeit« eingepackt: Sandwiches mit aufgeschnittenem Truthahn und Ziegenkäse, sonnengetrockneten Tomatenstücken und hausgemachter Mayonnaise auf Sauerteigweißbrot aus Sacramento; Knabbereien aus Krustenspeck und Trockenrindfleisch; Kartoffelsalat mit gerösteten Knoblauchstückchen; Mineralwasser aus Idaho; und vier Flaschen Coca-Cola aus St. Louis.52 Dylan mochte Baseball auch nicht. Nicht daß er auf irgendeine besondere Art eine aktive Abneigung gegen das Spiel hegte. Die Vorstellung, daß da Leute waren, die nicht deshalb existierten, um mit ihm
zu spielen, sondern für ihn, war eine noch unfaßbare Abstraktion. Was schlimmer war, das Ganze verlangte auch noch stillzusitzen, obwohl man wach war. Beagle hatte gehofft, daß Fernando Valenzuela werfen würde, weil er den Namen erkannt hätte. Aber Valenzuela machte eine Formkrise durch, war alt geworden oder hatte sich vielleicht verletzt, eines von diesen Dingen, wodurch Baseballspieler verschwinden. Die Dodgers spielten gegen Cincinnati. Beagle war froh, daß Cincinnati noch existierte. Er setzte Dylan neben sich. Er war sich bewußt, daß seine Frau beobachtete, wie er mit seinem Sohn umging, damit sie ihm sagen konnte, wie es richtig war. Er verstand wirklich nicht, ob es an den mütterlichen Instinkten lag, mit denen zu leben schwierig und mühsam sein mochte, oder ob seine Frau einfach von Natur aus ein Miststück war und es keine Rolle spielte, ob sie ein Kind hatte oder noch Jungfrau war. Er begann seinem Sohn das Spiel zu erklären. Dylan sagte etwas, das sein Vater als »habm will« verstand, streckte dann die Hand aus und griff sich einen Stift aus der Tasche seines Vaters. Es handelte sich um einen mit Monogramm versehenen Platinfüllfederhalter jener Marke, die damit Werbung macht, wie dekadent und überteuert ihre Produkte sind. Irgendein 169 Studioboß hatte Beagle den Füller geschenkt. Beagle konnte sich nicht an den Namen erinnern, also wußte er auch nicht, ob der Kerl schon gefeuert worden war. Er erinnerte sich nur daran, daß der Typ zu der Sorte Mensch gehörte, die bei Geschenken nachhakt. Eine furchtbare Angewohnheit und für den Empfänger recht lästig. Beagle versuchte, den Füller wiederzubekommen. Er bekam die Kappe. Dylan behielt den Rest. Dylan besaß ein sehr maskulines Verhältnis zu Gegenständen. Das schien im Erbgut zu liegen. Niemand mußte ihm zeigen, was ein Hammer war oder daß viele, viele Gegenstände zum Hämmern verwendet werden konnten. Als er das erste Mal einen Stock in der Hand hielt, erfand er das Schwert. Als er ein wenig älter wurde, laufen und einen größeren Stock festhalten konnte, kam er auf die Idee des Speers. Er war sehr süß, wie er so durch den Garten lief, den Stock hoch über den Kopf hielt und damit nach Sachen schlug. Er hatte Schwertgefechte mit Büschen. Drosch mit einem Zweig auf sie ein. Die Büsche gewannen häufig, hielten den Stock fest und brachten ihren jungen Gegner aus der Balance. Aber er erhob sich jedesmal von seiner Windel, zog seinen Stock aus dem Wirrwarr und griff erneut an, so tapfer und schön wie Errol Flynn in seinen besten Zeiten. Papa Beagle war sehr stolz. Er hätte also nicht überrascht sein oder es persönlich nehmen dürfen, als sein Sohn mit dem Stift nach ihm schlug. Und ihn auch traf. Nicht nur, daß die Feder ihm beinah die Haut aufgeschlitzt hätte - und Beagle war gegenüber körperlicher Gewalt sehr empfindlich, selbst von sehr kleinen Menschen -, der Stift verspritzte auch noch Tinte über sein Hemd. Das Hemd war aus einem dieser etwas teureren geheimnisumwitterten Stoffe in einer dieser sanften, aber dennoch strahlenden Wüstenfarben des Südwestens, die er in letzter 170 Zeit so mochte. Es war nicht das Geld. Was kümmerten John Lincoln Beagle schon 480 Dollar? Was war es dann? Die Schönheit des Gegenstandes? Daß er den ganzen Tag mit Tintenflecken herumlaufen mußte, wo er vor kurzem doch noch Inbegriff männlichen Stils gewesen war? Einkaufen zu müssen, um das Hemd zu ersetzen? Es ging darum, daß Kinder Einfach Lernen Müssen. Das Naheliegendste war, dem Kind eine Ohrfeige zu verpassen. Nicht böswillig, aber so, wie Papa Bär Baby Bär ab und zu einen Klaps verpaßt, um ihn daran zu erinnern, wer Papa und wer Baby Bär war. Das war eine Szene aus einem Zeichentrickfilm, den Beagle kurz nach der Geburt von Dylan gedreht hatte, eine Adaption von Goldlöckchen aus Sicht der Bären. John Lincoln war sich sicher gewesen, daß die Vaterschaft seinem Talent jene Dimension verleihen würde, für die Kinder Amerikas das zu tun, was Walt Disney für sie getan hatte - natürlich ohne dadurch sein Gespür für das Erwachsenenkino zu verlieren. Er und Belinda Faith, die Zeichnerin, mit der er damals arbeitete, hatten mehrere Sequenzen im Storyboard entwickelt. In einer davon hatte Baby Bär Papa Bär geärgert, als der sein Verdauungspfeifchen schmauchte, und Papa Bär hatte ihm einen Schlag versetzt, der ihn durchs ganze Zimmer wirbeln ließ. Baby Bär rollte durch die Küche, die Wand hinauf und zum Fenster hinaus. Es war sehr witzig, und Baby Bär machte es überhaupt nichts aus. Um sie herum saßen eine Menge Leute. Die moderne Pädagogik, das wußte er, mißbilligte es, Kindern in der Öffentlichkeit einen Klaps zu versetzen. Selbst wenn man das im Zeichentrickfilm so machte. Außerdem schaute seine Frau zu. Das würde sie ihm doch zu gern vorhalten. Und schließlich, und das war die Wahrheit, schlug Beagle seinen Sohn nicht, weil er mit jenem Teil seines Verstandes, der fest in der 171
Realität wurzelte, wußte, daß sein Sohn keine Zeichentrickfigur war und daß es nicht nett war, Kinder zu schlagen. Es gab wirklich nur eine Möglichkeit, wie er die Wut und Verärgerung abreagieren konnte, die in ihm aufgestiegen war. Er richtete sie gegen seine Frau. »Himmel, Jackie! Könntest du ihn wohl verdammt noch mal eine Minute halten.« »Könntest du ihn eine Minute halten, das ist es doch«, sagte Jackie. Ihre Stimme war äußerst ruhig und ob ihrer Gelassenheit um so schneidender. »Du hast ein echtes Problem, wenn du nicht mal hundertzwanzig Sekunden ohne Hilfe mit deinem Kind zurechtkommst.« Dylan war immer noch im Angriff, der Stift ein winziger Säbel. Beagle hätte seiner Frau einen Blick zugeworfen, glitzernde Dolche des Hasses, aber er war gezwungen, auf seinen Sohn zu achten, der zu diesem Zeitpunkt als bewaffnet und gefährlich gelten mußte. John Lincoln griff nach dem Stift. Dylan war zu schnell für ihn und schaffte es, die cremefarbene Sommerhose seines Vaters mit schwarzen Flecken und Spritzern zu verunstalten. »Verdammt, Jackie, ist das auswaschbare Tinte?« »Woher soll ich das wissen? Es ist dein Füller.« Die Tatsache, daß sie absolut und unwiderlegbar recht hatte, brachte ihn zu dem Entschluß, sich von ihr scheiden zu lassen, sobald er eine Woche frei hatte. Er war schon einmal geschieden worden und wußte, daß sich das nicht an einem Tag erledigen ließ. Nicht daß er auch nur einen freien Tag hatte. Was er hatte, war das größte Projekt seines Lebens. Er stand unter Druck. Und diese Scheiße hier brauchte er nicht. Er eroberte den Füller. Dabei spritzte Tinte auf seine Handfläche und Manschette. Jetzt konnte er die Kappe nicht finden. Seine Frau lächelte. Freundlich. Natürlich tat sie das. Sie war froh, ihn in einem Zustand der Inkompetenz und Fru172 stration zu sehen. Das bewies etwas. Er wußte nicht was. Aber es gefiel ihm nicht. »Wo ist die Kappe, wo ist die Kappe von dem Füller?« »Ich weiß es bestimmt nicht«, sagte Jackie. Noch ruhiger als zuvor. »Warum suchst du nicht danach.« »Treffer«, sagte er zu ihr. »Du hattest die Chance, einen Treffer zu landen. Schön für dich.« Beagle hatte auch etwas von einem zerstreuten Professor an sich. Den Großteil seines Lebens lebte er in den Filmen in seinem Kopf, nicht im neurotischen oder psychotischen Sinne, sondern auf die gedankenverlorene Art eines kreativen Menschen. Er wußte häufig nicht, wo irgendwas war, es sei denn natürlich, er brauchte es, um einen Film zu drehen. Dann konnte er auf tausenderlei Dinge achten. Im täglichen Leben allerdings nahm er einen Gegenstand um so weniger wahr, je alltäglicher er war. Zu Beginn einer Romanze mit ihm hatten Frauen häufig den Eindruck, sie seien mit der Figur aus einem alten Film zusammen, wahrscheinlich einem englischen Film, und seine Verschrobenheit verlieh ihm einen gewissen verstaubten, aber extravaganten Charme. Am Ende trieb sie diese Verschrobenheit in den Wahnsinn. Vor der Fahrt zum Stadion hatte Beagle seine Frau nach den Autoschlüsseln gefragt, dann nach den Eintrittskarten, der Fahrtroute, seinen Lieblingsschuhen (sie hatte gesagt: »Lern, dich selber anzuziehen, Liebster«), dem Lunchkorb und schließlich nach ein paar Büronotizen, die er beim Zuschauen lesen wollte. »Ich will keine Treffer landen«, sagte Jacqueline. Eine kleine Lüge, aber so unglaublich plump, daß die Vorstellung schwerfiel, seine Frau erkenne sie nicht als völlige Unwahrheit. Doch genau das tat sie. »Ich versuche, dir zu helfen.« Auch das glaubte sie. »Du mußt einfach aufmerksamer sein.« »Ich muß nicht aufmerksamer sein. Ich muß nicht hier sein. Ich muß nicht mit dir Zusammensein.« 173 Dylan hatte den Lunchkorb geschnappt und ihn umgeworfen. Es fiel alles heraus, und das machte ihn sehr glücklich. Jetzt konnte er mit den Sandwiches und Flaschen und Gläsern spielen - ihr Koch hatte Kristallgläser eingepackt; wer will schon eine Coca-Cola, vor allen Dinge eine in St. Louis abgefüllte, aus einem Pappbecher trinken. Jackie saß Dylans kleinen Desastern teilnahmslos gegenüber: Ihr Mann war dran, mal ein richtiger Mensch zu sein, nicht nur Regisseur. Er war an der Reihe, sich um das Kind zu kümmern. Um seinen Sohn. Den sie für ihn unter Schmerzen geboren hatte. Beagle wollte darauf etwas erwidern, aber er hatte einen tropfenden Füller ohne Kappe in der Hand. Es handelte sich um ein Geschenk von irgendeinem verdammten Studioboß, der von ihm erwartete, daß er beim nächsten Mal, wenn er einen Film mit diesem gottverdammten Studioboß machte, falls er bis dahin überhaupt noch einen Job hatte, den Vertrag mit dem Scheiß-Füllfederhalter unterzeichnete und irgendwas Schwachsinniges sagte wie: »Sie haben mir diesen Füller geschenkt. Das ist mein Lieblingsfüller, und ich möchte, daß Sie wissen, ich habe ihn für einen Augenblick wie diesen aufgehoben.« Schwachsinnig, völlig schwachsinnig. Aber wichtig. Das wußte er von seiner Mutter. Zudem wußte er, ebenfalls von seiner Mutter, aber auch aus Erfahrung, daß der Füller, ganz gleich, wo
er ihn hintat, wegrollen, auf den Boden fallen, weiterrollen, in einem Spalt verschwinden und bis in die Eingeweide der Erde fallen würde, wo dann irgendein Hausmeister einen unglaublich überteuerten und dekadenten Füller finden würde. Ohne Kappe. Beagle konnte den Füller nicht in die Tasche stecken, weil er keine Kappe hatte und die Tinte einfach auslaufen und einen wachsenden schwarzen Fleck verbreiten würde, der sich ausbreitete wie Slime. Er wußte immer noch nicht, ob es sich um auswaschbare Tinte handelte. 174 Er sah seine Frau mit stummem Flehen an. Er sah ihr Gesicht und all das, was sie dachte. Warum hatte er einen Filmstar geheiratet? Auch wenn der Hintern von Jacqueline in der Welt der Poster so viel bedeutete wie früher mal Farrah Fawcetts Haar? Warum nicht irgendeine sanftmütige, anspruchslose Kreatur, die sich um seine Bedürfnisse kümmerte. Die nichts lieber wollte, als ein Heim zu schaffen, sich um das Kind zu kümmern, ihren Mann zu lieben und mit ihm zu schlafen, wann und wie er wollte. Dylan hatte eine Hand auf einem Sandwich und zerrte an dem Wachspapier. Der Koch war unerbittlich darin, niemals Plastikfolie zu verwenden. Jamais. Die andere Pfote hatte er um eine der teuren Cokes gelegt. Es handelte sich um eine dieser altmodischen Flaschen mit der kurvigen, femininen Form und den erhabenen Buchstaben auf dem Glas, eine echte Ikone unter den Amerikana. Mach mal Pause! Beagle hatte nur eine Hand frei. Er tat, was er konnte. Ergriff mit der Linken um die Taille seines Sohnes und hob ihn aus dem Durcheinander, das er angerichtet hatte. Dylan hielt das Wachspapier fest in der Hand, das sich zu entfalten begann. Als er hochgehoben wurde, wickelte sich das Papier vollends auf, und das Sandwich purzelte heraus. Manchmal fällt Brot mit der Butterseite nach oben, manchmal nicht. Diesmal nicht. Truthahn, Ziegenkäse, sonnengetrocknete Tomatenstückchen, hausgemachte Mayonnaise, all dies ging eine innige Verbindung mit dem schmierigen, bakterienverseuchten, klebrigen Boden der Loge ein, die im Dodger Stadion für Disney reserviert war. Dylan wollte das Sandwich. Er fing an zu heulen. Gut, dachte Jackie, daß ihr Mann wenigstens ab und zu durchmachen mußte, was sie die ganze Zeit zu ertragen hatte. Also, eigentlich nicht die ganze Zeit. Nur in den Zeiten, wenn sie das eine Kindermädchen entlassen und das neue noch nicht 175 eingestellt hatte. Was nicht allzu selten vorkam, weil sie nur das Beste für ihr Kind wollte. Und manchmal dauerte es bis zu einer Woche, ein neues Kindermädchen zu finden. Dylan hatte einen ausgeprägten Sinn für Proportionen. Eine Colaflasche hatte nicht die richtige Form für ein Schwert oder einen Speer. Zu dick. Zu klobig. Definitiv nicht zur Klasse des Hauens und Stechens gehörig. Sie gehörte, wie Hämmer, Prügel und Tassen, zur Klasse des Schlagens. Während er über sein hingefallenes Essen heulte, zielte er nicht ohne Begeisterung mit der Flasche nach dem Kopf seines Vaters. Er verfehlte ihn. Zu seiner größten Enttäuschung. Beagle versuchte, ihm die Flasche zu entwinden, ohne den Füller fallenzulassen. Jackie besah sich angeekelt das Essen auf dem Boden und fragte sich, ob ihr Mann wohl soviel Aufmerksamkeit aufbringen würde, es aufzuheben, bevor Dylan es aß. Sie wettete in Gedanken um ein 7 800-Dollar-Kleid dagegen. Wenn er es aufhob, bevor sie es erwähnte, dann würde sie das Kleid selber bezahlen. Oder darauf verzichten. Dylan, der wirklich sauer war, daß er nicht getroffen hatte, schleuderte die Flasche nach seinem Vater. Der sich duckte. Was schwierig war, da er ja Dylan und den Füller festhielt. Er trat auf das Sandwich und rutschte aus. Er liebte das Kind genug, daß seine tieferen Instinkte schließlich die Oberhand behielten und er den Füller fallen ließ, so daß er Dylan festhalten und alles tun konnte, um so zu fallen, daß er der einzige war, der sich dabei weh tat. Und das tat er auch. Nichts Ernstes. Aber schmerzhaft und peinlich. Die Flasche fiel aus der Loge aufs Feld und verfehlte nur knapp einen Balljungen, der aus Gründen durchs Aus lief, die vielleicht die Baseballfans verstanden, aber nicht Beagle. Der Balljunge sah sich um, wollte wissen, woher das gefähr176 liehe Projektil gekommen war. Mehrere von Beagles Nachbarn deuteten auf die Disneyloge, gerade als der wieder auf die Füße kam. »Du blödes, schwanzlutschendes Arschloch! Du gehörst genau zu dieser Sorte reicher, blöder Wichser, die man von der Erde verbannen sollte. Ich hasse Typen wie dich. Typen wie du sollten aussterben und sich den beschissenen Brontosauriern anschließen. Ich sollte diese beschissene Flasche
nehmen, da raufkommen und sie dir in deinen wundgefickten Arsch stecken, du Wichsgesicht«, sagte der Balljunge in jener blumige Ausdrucksweise, die wir mit dem amerikanischen Nationalsport in Verbindung bringen. Er drohte mit der Flasche. Dann bemerkte er es. »Wow!« sagte er. »St. Louis! Irre! Cool, Mann. Du mußt ja echt gut drauf sein. Und meine besten Grüße an dein Baby, Alter. Ich hab deine Cola, und die behalte ich.« Beagle wandte sich an seine Frau. »Du ...«- Beagle versuchte sein Bestes, nicht vor dem Kind zu fluchen; er biß sich auf die Lippen - »das ist deine Schuld«, sagte er. »Du kannst dich nicht eine Minute lang ohne Hilfe um deinen Sohn kümmern, und es ist meine Schuld. Du solltest besser mal in den Spiegel schauen.« Sie nickte auf ihre aufreizende Art. Zu anderen Zeiten, primitiveren und ehrlicheren Zeiten, hätte er sie umgebracht. »Das ist deine Idee von einem Familienausflug. Vielen Dank. Wir haben Riesenspaß«, sagte er mit der häßlichen, spottenden Stimme eines kleinen Jungen. »Oh, Mann. Ich nehme mir einen Tag frei, um meinen Sohn zu etwas mitzunehmen, von dem er keine Ahnung hat und das ich nicht mag. Und wieder eine tolle Idee von Mommy.« »Ich habe versucht, dir zu helfen«, sagte sie. »Damit du etwas Männliches tun und eine feste Bindung mit deinem Sohn eingehen kannst. Der eine sehr männliche Person ist. Du un177 ternimmst nicht genug mit ihm. Wenn dir nicht gefallt, was ich vorschlage, warum läßt du dir dann nicht selbst was einfallen? Du solltest einfach mehr Zeit mit deiner Familie verbringen.« Die ganze Zeit über zappelte Dylan, der immer noch von seinem Vater festgehalten wurde und runter wollte. »Okay«, sagte Beagle und setzte ihn ab. Jackie sah zu, wie Dylan sich sofort auf die Überreste des Sandwichs stürzte, die nun nicht einfach nur auf den Boden gefallen, sondern auch im Dreck festgetreten worden waren, als ihr Mann draufgetreten war. »Das machst du mit Absicht«, sagte Beagle. »Du hast das mit Absicht so gedreht, damit es eine Katastrophe gibt.« »Ich mache überhaupt nichts mit Absicht«, sagte Jackie. Natürlich nicht. Sie tat nur, was das Beste war für alle. Ihrem Mann mußte mal eine Lektion in puncto Aufmerksamkeit beigebracht werden. Wenn er eine Lektion erteilt bekam, dann war das offensichtlich seine eigene Schuld und konnte ihm nur guttun. »Dir ist verdammt noch mal überhaupt nicht klar -« »Achte auf dein Mundwerk vor dem ...« »Dem ...«, äffte er sie nach. »Du hast einen fiesen Zug an dir«, sagte sie. Dylan klaubte etwas Truthahn vom Boden. Er hatte sich mit dem zähen schwarzen Schmier verbunden, zu dem alte Limonade häufig wird. Stücke und Krümel von undefinierbaren Substanzen in verschiedenen Braun- und Grautönen hatten sich ebenfalls angehängt. Dazu kam ein leichtes Aroma von Putzmitteln. Er führte den Bissen mit großer Erwartung zum Mund. »Ich wußte es«, sagte Jackie und schnappte den Schmutz vom Mund ihres Sohnes. »Ich wußte, du würdest nicht mal auf die Idee kommen, das aufzuheben.« 178 »Aufzuheben?« »Ja. Das Sandwich. Bin ich deine Sklavin? Wer hebt das auf?« Beagle, der das Gefühl hatte, seinen Sturz und den Zusammenstoß mit dem Balljungen nur knapp überlebt zu haben, hatte noch keinen Gedanken an das zermatschte Sandwich verschwendet. »Ich ... ahm ...«, sagte er. »Weil ich eine Frau bin und du ein Mann. Ich verdiene mein eigenes Geld, ich muß nicht die kleine Hausfrau für dich spielen.« »Was ist eigentlich los?« sagte er. »Ich sag dir, was los ist. Dein Sohn ißt dreckigen alten Scheiß, Scheiß vom Fußboden eines Stadions. Selbst eine öffentliche Toilette könnte nicht dreckiger sein, und du besitzt noch nicht mal genug Aufmerksamkeit, irgend etwas deswegen zu unternehmen.« »Jackie«, sagte er, »halts Maul.« »Ich denke gar nicht dran.« »Natürlich nicht. Du weißt nicht mal, wie das geht.« »Warum hältst du nicht das ...« Und nachdem das Ganze zum allgemeinen Geplänkel zwischen Ehemann und Gattin verkommen war, ging es noch ein paar Minuten so weiter, und ihre Häßlichkeiten unterschieden sich nur wenig von dem üblichen Groll und Haß jener, die weder ihren Ruhm noch ihren Reichtum genossen. Schließlich schnappte sich Jackie ihren Sohn und die Autoschlüssel, marschierte davon und ließ Beagle, der nicht den Wunsch hegte, dort zu sein, dort zurück. Er war über ihren Abgang so erleichtert, daß er beschloß zu bleiben, statt irgendwo hinzugehen, wo sie sich vielleicht zufällig begegneten. Ein Baseballspiel sollte ja auch therapeutische Wirkung haben, zum Teufel. Oder so ähnlich. Hatte es aber nicht. Es war
völlig unverständlich. Er packte 179 ein Sandwich aus, das Dylan nicht fallen gelassen hatte. Es schmeckte komisch, aber gut. Er blickte sich um. Tausende sahen zu, unterschiedlich aufmerksam, aber jedenfalls blieben sie und nahmen teil. Der Typ in der Loge neben ihm schien -Beagle suchte nach einem passenden Wort - glücklich. Genau das war’s. Der Typ rauchte eine große Zigarre. Und er machte keinerlei Hehl daraus, daß er den Tabak auch genoß. Obwohl er hier beim Spiel anwesend war, hörte er es sich zudem im Radio an. Er hieß Tubby Bayless. Er war ehemaliger DEA-Agent, der sich Geld dazu verdient hatte, indem er mit konfiszierten Drogen dealte und sichergestellte Drogengelder einsteckte. Er hatte recht blindlings, aber mit viel Glück, in hawaiianische Zuckerrohrfelder investiert. Ein japanischer Investor hatte für das Land einen Top-Preis bezahlt, denn es handelte sich um das vierzehnte, fünfzehnte, sechzehnte und einen Teil des siebzehnten Lochs eines Golfplatzes. »Darf ich Sie mal was fragen?« sagte Beagle. »Immer los, Kumpel«, sagte Tubby. Wonach Beagle ihn eigentlich fragen wollte, war das Geheimnis des Glücks. Das tat er aber nicht. Statt dessen fragte er: »Wieso mögen die Leute Baseball? Was ist denn da bloß dran? Ich bin Regisseur. Und ich verwende sehr viel Mühe darauf, daß meine Filme sich von einem Höhepunkt zum nächsten hangeln und ständig Spannung aufbauen. Verstehen Sie? Mit Tempo, mit Rhythmus. Und dann das hier...«Er deutete aufs Spielfeld. »Ich kapier das nicht.« Tubby blies ein paar dicke Ringe. Er sah philosophisch und nachdenklich drein, ein fleischgewordener Buddha. Vielleicht hierher gesandt, um Beagle eine Botschaft zu übermitteln. »Aah, Baseball«, sagte er. »Baseball ist kein Actionspiel. Es ist ein Spiel des Potentials und der Möglichkeiten. Ich war mal Polizist. So was Ähnliches. Wenn du Polizist bist, ver180 bringst du eine Menge Zeit damit, zuzuschauen und zu warten. Winzigste Bewegungen, in der Hoffnung, daß deine Beute endlich in Schußposition kommt. Gehen Sie eigentlich auf die Jagd?« »Nein«, sagte Beagle. »Nun, Sie sehen auch nicht wie ein Jäger aus. Aber man kann ja nie wissen.« Tubby zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls, in dem Augenblick, wo du zuschlägst, ob nun bei der Jagd nach Wild oder wenn du mit gezogener Waffe bei irgendeinem Puertoricaner die Tür einschlägst, gibt es einen Adrenalinstoß. Aber darum geht es nicht. So wie es beim Lieben nicht darum geht, zu kommen. Ich bin ein richtiger Philosoph, stimmt's? Möchten Sie eine Zigarre?« »Oh, klar«, sagte Begale. Er rauchte nicht, aber er dachte, vielleicht sei Tabak das Geheimnis des Glücks, wenn der Buddha ihn schon mochte und die Indianer auch. Tubby zog eine Zigarre aus der Tasche und reichte sie Beagle über die Balustrade. »Es geht um die Möglichkeit. Die Möglichkeit zu handeln. Wird sie mit dir ausgehen, wird sie ein wenig betrunken oder high, oder was immer sie bevorzugt. Sie bewegen sich, die Frau bewegt sich ...« Er gestikulierte mit den Händen, sie umkreisten einander, zwei plumpe Raubvögel beim Tanz. Beagle machte das Cellophan von der Zigarre. Sie war fürchterlich phallisch. Er bewunderte sie. Er hatte kein Feuer. Tubby zog ein großes Küchenstreichholz mit einer rotweißen Spitze aus der Tasche. »Ich hasse Butan.« Er zündete es mit einem Fingernagel an. Es flammte auf und roch nach Schwefel, dem guten altmodischen Teufel Schwefel. Er beugte sich herüber und gab Beagle Feuer. »Deshalb schlafen die Leute nicht mehr mit den Leuten, mit denen sie verheiratet sind«, sagte er. »Weil der Orgasmus nichts damit zu tun hat. Es hat nichts mit dem plötzlichen Ausbruch zu tun. Es hat 181 mit Möglichkeit zu tun. Mit der Vorfreude. Baseball ist ein Spiel über Potential und Vorfreude.« Beagle nahm einen Zug. Der Rauch war aromatisch und leicht widerlich zugleich. Aber es war die Geste - die Zigarre halten, den Rauch einsaugen, ausatmen, ihn davonschweben sehen -, reich an Leinwanderinnerungen, die wirklich befriedigend war. Er begann sich zu entspannen und spürte einen Anflug von männlicher Kameraderie. »Dieser Bursche ist gut«, sagte Tubby über den Sportkommentator und stellte das Radio lauter. »Hören Sie.« Auf dem zweiten Mal stand ein Spieler in aussichtsreicher Position zum Punkten - der Spieler am Schlagmal war – das könnte der Ausgleich werden! - die Würfe standen zwei Foul, ein Strike - bei dem Schlagmann sollte er besser nicht in Rückstand geraten, wenn er jetzt vor dem Schlagmann bleibt, dann hat er ihn, das kennt man von ihm. Tubby blies einen Rauchring. »Kapiert?« Beagle, dem jetzt ein wenig schwindlig wurde vom Tabak, versuchte sich ebenfalls an einem Rauchring. Es klappte nicht ganz. »Nein«, sagte er. »Wenn es bei den Würfen bei zwei Strike und ein Foul steht, dann kann er werfen, was er will, und der
Schlagmann muß den Ball auf jeden Fall treffen. Er hat das Potential umgekehrt. Wenn der Werfer einen Ball wirft, der getroffen wird, dann liegt er zurück. Dann kann sich der Schlagmann Zeit lassen ein wenig zumindest - und wählen. Und der Werfer muß einen anständigen Wurf hinlegen oder riskieren, daß der Schlagmann zum ersten Mal weiterlaufen darf. Er hat die Möglichkeiten verändert, kapiert?« »Ja«, sagte Beagle. »Kapiert.« Und das hatte er. Er nickte und begann die Handlung in der NichtHandlung zu sehen. Er zog noch einmal, das Schwindelgefühl wurde noch stärker, und plötzlich begriff er etwas sehr Grundsätzliches über die Regie von Realität. Er erinnerte sich daran, daß er in New 182 York gewesen war, als die Mets in den Play-offs gegen die Houston Astros spielten. Es gab ein sehr langes Spiel, das ewig dauerte. Es ging so lange weiter, daß es den Tagesabläufen und Erwartungen des normalen Lebens widersprach, mit dem Ergebnis, daß die New Yorker, die plötzlich alle Fans geworden waren, sich dabei ertappten, wie sie das Spiel Stückchen weise verfolgten, während sie ihrem Leben nachgingen -sie sahen das Spiel auf den Fernsehern in einem Schaufenster oder durch die Scheibe einer Limousine mit einem winzigen Fernseher auf dem Rücksitz, sie fragten die Arbeiter in Lastenaufzügen - die haben immer ein Radio - oder völlig Fremde: »Wie stehts? Was ist los?« Es war wie im Krieg. »Was gibts Neues ? Was gibts Neues ? Haben Sie schon das Neueste gehört?« Die Wirklichkeit war ein Rhythmus, so langsam wie Baseball. Selbst Bewegungslosigkeit war Action. Vor allen Dingen Bewegungslosigkeit. Weil Warten das Ansammeln von Macht oder deren Vergeudung bedeutete. »Haben Sie noch eine von diesen St.-Louis-Colas?« fragte Tubby. 183 KAPITEL NEUNZEHN Es ist wie in Pretty Woman. Nur daß ich Julia Roberts spiele, und Maggie die Rolle von Richard Gere. Wir fangen um zehn Uhr morgens an. Gegen Mittag bin ich bereit aufzuhören. Sie ist viel fröhlicher, als ich sie bisher erlebt habe, ist mädchenhaft und völlig unbekümmert. Sie erzählt jedem Verkäufer, daß ich ihre eigene kleine Gl-Joe-Puppe bin. Nur daß ich eine spezielle Ausgabe für Mädchen bin, weil man mich schick anziehen kann. Und dabei, das schwöre ich, bekomme ich einen roten Kopf. Ich protestiere, aber Maggie zieht diese Nummer ab, von wegen ich sei so männlich, ich könne mich in meiner Männlichkeit sicher fühlen, und ich solle nachsichtig mit ihr sein, da sie im Grunde ihres Herzens ein kleines Mädchen sei. Was Quatsch sein kann oder auch nicht. Aber es ist auf jeden Fall erheblich netter und erträglicher, als wenn sie sagen würde, es sei ihr Geld, und wenn ich mich mit ihr sehen lassen wolle, dann solle ich gefälligst anständig aussehen. Das sagt sie nicht. Daher ist es schon okay, und ich lasse sie Kleider aussuchen und eine Abfolge merkwürdiger Verkäufer, die praktisch alle einen Akzent von Orten besitzen, die es eigentlich nicht wirklich gibt, Maß nehmen und mich beäugen. Sie lassen ihre Phantasie spielen, um herauszufinden, was vorteilhaft für mich wäre und mir stehen könnte. Ein Kampfanzug und eine M-16. Ein blauer Anzug von Sears, der zehn Jahre hält, mit weißem Hemd und Polizistenschuhen. Ein Trainingsanzug, locker geschnitten und bequem, um den ganzen Tag in einem Ford zu sitzen und jemanden zu beobachten, der nichts tut. So was steht mir. 184 Tatsache ist, ich murre, weil ich glaube, das wird von mir erwartet. Tatsache ist, ich fühle mich geschmeichelt. Mittags gehen wir auf einen Happen in einen dieser Läden, in denen man zwei, drei Monate im voraus einen Tisch reservieren muß. Es sei denn, man heißt Magdalena Lazlo oder Gena Rowlands oder David Hartman. Dann geht man einfach rein, und irgendwie haben sie einfach gewußt, daß man kommt, und ein Tisch wartet bereits. Ich nehme ein Sandwich. Ich identifiziere es als Thunfisch auf Weißbrot mit Mayo, Salat und Tomate, obwohl jede dieser Zutaten einen anderen und erheblich teurer klingenden Namen hat. Zum Lunch trinken wir eine Acht-Dollar-Flasche Wasser. Nach dem Essen geht Maggie mit mir zu Yamato'sfor Men auf dem Rodeo. Sie überläßt mich Ito, einem großen, schlanken und modischen japanischen Verkäufer-Künstler. Er hat einige der Stücke gemacht, die an der Wand hängen, und außerdem viele der Jacken entworfen. Yamato of Tokyo hat eine Philosophie: »Wir sind Kunst. Jeder einzelne von uns. Die passende Kleidung für einen Menschen zu finden ist für mich ein schöpferischer Akt, der genauso ergreifend und manchmal wichtiger ist, als Farbe auf Leinwand aufzutragen.« Alle Verkäufer von Yamato müssen in der Psychologie der Farben und Stoffe geschult sein und Kunst produziert haben, die es wert ist,
ausgestellt zu werden. Preise werden nicht ausgezeichnet. Ito plaziert mich in die Nähe einer Auswahl Sakkos. Viele sind aus Materialien, von denen ich noch nie gehört habe. Er hat einen Satz Farbkarten, und er möchte, daß ich sie nach meinem Geschmack in eine Reihenfolge bringe. Ich drehe mich um. Da ist Jack Cushing. Er ist mit Tom Berenger hier. Auch sie sehen sich Sakkos an. Zwei Verkäufer schwirren um sie herum. Hiro und Nikio. Hiro töpfert. Nikio macht Plastik-Skulpturen. Ito behauptet, Plastik sei ein sehr bedrohliches Medium. 185 Jack und ich bemerken uns gleichzeitig. Seit ich ihn niedergeschlagen und auf den Asphalt neben seinem Wagen abgeladen habe, sind etwa sechzig Stunden vergangen. Wir sehen uns an. Ein Herzschlag. Zwei. Er lächelt. Breit. Und kommt zu mir. Mit ausgestreckter Hand. Ich ergreife sie. Ich schüttle sie. »Sorry, alter Knabe«, sagt er. »Wegen neulich abend - ich wußte ja nicht. Das mit Ihnen und Maggie.« »Schon okay«, sage ich gnädig. »Wir wußten es auch noch nicht. Nicht bis zu diesem Augenblick.« »So läuft's eben manchmal, stimmt's? Manchmal ist es so am besten.« »Wenn's einen erwischt, dann erwischt's einen gleich richtig«, sage ich. »Genau wie Sie«, sagt er. Und wir lächeln beide. Wirklich erstaunlich ist, daß er völlig aufrichtig wirkt. »He, kennen Sie Tom?« Natürlich nicht persönlich. Er ruft Tom und winkt ihn rüber. »Ich möchte dir jemanden vorstellen«, sagt er zu Berenger. »Das hier ist Joe Broz - spreche ich es richtig aus?« »Ja.« »Joe und Magdalena Lazlo sind ...« Er sucht nach dem richtigen Wort. »Verliebt«, sage ich. »Das habe ich auch gehört«, sagt Jack. »Aber ich hasse es, Klatsch weiterzutragen. Joe ist in der Sicherheitsbranche«, sagt er zu Berenger. »Nett, Sie kennenzulernen«, meint Berenger, als könnte ihm nichts gleichgültiger sein. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sage ich, und wie der letzte Hinterwäldler füge ich hinzu: »In Platoon fand ich Sie ganz toll.«53 Das war ganz klar sein bester Film. Meiner Meinung nach. Ob man ihn nun mag oder nicht, Oliver Stone kitzelt Spitzenleistung aus seinen Schauspielern. 186 »Danke«, sagt er geistesabwesend. Dann sieht er mich an. Registriert mein Alter. Und wahrscheinlich meinen Haarschnitt. »Sie waren dabei. Stimmt's?« »Ja«, sage ich. »Ich war dabei.« »Und wurden ausgezeichnet. Richtig?« Es ist wirklich erstaunlich. Ich bin neu in dieser Welt, daher bin ich es noch nicht gewöhnt. Zwei Tage, nachdem die Sache mit Maggie und mir anfängt, wissen diese Leute schon, wer ich bin, in welcher Branche ich arbeite, daß ich Vietnam-Veteran bin und mir Orden an die Brust stecken kann, wenn mir danach ist. In meiner Welt, im Büro, läßt sich ein Typ scheiden, und es kann Jahre dauern, bis jemand was davon mitkriegt. »Kennen Sie Stone? Sie müssen Stone unbedingt kennenlernen«, sagt Berenger. »Er fährt immer noch auf diese Vietnam-Scheiße ab. Dann fanden Sie mich in Platoon also gut?« »Ich fand Sie sagenhaft.« »Sie waren da. Dann fanden Sie es also realistisch? Detailgetreu? Mann, ich hab verdammt hart dran gearbeitet, es richtig hinzukriegen. Aber natürlich habe ich mein gesamtes Wissen nur aus zweiter Hand, daher mußte ich mich auf andere Leute verlassen, die mir davon erzählten.« »Ja, ich fand, Sie haben es ziemlich gut rübergebracht. Jeder hat Vietnam anders erlebt.« »Ich spiele gern aggressive Rollen«, sagt er. »Das hat mehr Biß. Durchgeknallter, wissen Sie.« »He«, sage ich und bastle an meiner eigenen Legende, »ich fand gar nicht, daß die Rolle, die Sie gespielt haben, durchgeknallt war. Überhaupt nicht.« »Nein?« »Nein. Sie waten der Bursche, mit dem ich mich identifiziert habe.« »Ah«, sagt Ito. »Ich hab's! Das hier« - er hält eine Jacke hoch 187 »ist ein Mischgewebe: sechzig Prozent Seide, dreiunddreißig Prozent Viscose, sieben Prozent Wolle.« Das Auto voller Kartons und Schachteln kehren wir nach Hause zurück. Das meiste ist für mich: Socken, Boxer-Shorts und Tanga-Slips, Krawatten, Taschentücher, sechs Paar Schuhe, Hüte, Gürtel, Smokinghemden, T-Shirts und Sweatshirts. Vom Änderungsschneider kommt noch mehr. CDs, darunter K. D. Lang, Ray Charles und Bob Dylans Nashville Skyline - Country Music für Leute, die Country nicht mögen. Glücklich wie eine Vierjährige auf einer Geburtstagsparty wühlt Maggie in den Paketen, als wären es ihre. In fünf Minuten ist das Wohnzimmer übersät mit Tüten, Schachteln, Verpackungsmaterial, Designer-Seidenpapier und Stoffen und Leder im Wert von mehreren tausend Dollar. »Laß mal sehen, wie dir das hier steht joe .. Jetzt diese Krawatte mit dem Hemd da... Die Krawatte hier zu dem Gürtel und dem Hemd. Halt dir die Krawatte einfach vor und zieh den Gürtel an,
ohne ihn durch die Schlaufen zu ziehen ... Oh, du siehst so - männlich und grimmig aus. Komm schon, lächle. Das ist doch ein Mordsspaß ... Ich will dich in den Tanga-Slips sehen. In den seidenen. Werd nicht gleich rot. Und bitte, keine homophoben Statements! Es gibt viele heterosexuelle Männer, die Seidenunterwäsche tragen ... Okay, wenn du dich nicht in Schale werfen willst, dann mach ich's eben.« Sie fängt an, ihre Bluse aufzuknöpfen. »Mach die Augen zu. Du linst!« Das tue ich. Sie schlängelt sich aus der Jeans. »Dreh dich um.« Ich gehorche. Sie summt leise. »Okay«, sagt sie, »du darfst dich umdrehen.« Ich gehorche wieder. Sie ist wie ein kleines Mädchen, daß mit Daddys Sachen Verkleiden spielt. Boxershorts, Smokinghemd, Krawatte, Gürtel, die Haare unter einem Borsalino versteckt und an den Füßen Smokingschuhe von Bally. Natürlich ist sie kein 188 kleines Mädchen, und während manches süß und komisch wirkt, zum Beispiel die viel zu großen Schuhe und die ausgebeulten Shorts, ist es außerdem sexy wie nur was. Sie geht zum Spiegel und malt sich einen Schnurrbart aufs Gesicht. Einen bleistiftdünnen Schnurrbart. »Was glaubst du, was die Leute sagen, Joe?« »Wenn du mir weiter alles mögliche kaufst, werden sie sagen, ich nutze dich aus. Du kannst mir nicht weiter Sachen kaufen.« »Wenn du das Geld hättest, würdest du mir den ganzen Tag Sachen kaufen. Würdest du doch, oder? Du würdest mich in Diamanten ersticken, mit Nerzen überschütten, mich mit Diamanten überschütten, in Nerzen ersticken.«54 »Das ist was andres, und das weißt du auch verdammt gut.« »Ist es das joe? Was ist Geld? Ein Zeichen von Tugend? Von Männlichkeit? Von Cleverneß?« »Wo ich herkomme ...« »Joe, wo du herkommst, das existiert nicht mehr. Geld kommt zufällig. Wie Zusammenstöße auf der Autobahn. Warum sind wir deiner Meinung nach alle so fiebrig? Weil wir wissen, daß alles nichts als Zufall ist. Das Gesicht, der Körper, so wie ich vor der Kamera wirke - alles Zufälle. Oh, ich arbeite dran. Schauspielunterricht, Schauspiellehrer, Übungen, Hautpflege, dieser Friseur, jene Maskenbildnerin, ich versuche es besser zu machen, versuche, es zu behalten. Aber fünfzehn plastische Chirurgen, die sich an der chirurgischen Version des Originals versuchen, könnten nicht eine Magdalena Lazlo zusammenbasteln. Man kann in die Klinik gehen und sich Barbara Hersheys Lippen machen lassen, eine von Lee Grants Nasen, Melanies Titten, Chers Arsch, und wenn man wieder rauskommt, ist man immer noch nichts. All diese verzweifelten Möchtegerne in all den verzweifelten Schauspielkursen können nicht lernen, wie man das macht, was immer es ist, von dem die Leute glauben, die mir 189 eine Million plus pro Film zahlen, ich könnte es. Es ist ein gottverdammter Zufall. Wie im Lotto zu gewinnen oder von einem Bus angefahren zu werden und die Stadt zu verklagen. Also, wenn ich mein zufällig erworbenes Geld ausgeben will, um dich auszustaffieren, weil es Spaß macht, dann tue ich das auch.« »Es gibt einen Namen für Männer, die von Frauen Geld nehmen«, sage ich. »Es gibt auch einen Namen für Frauen, die von Männern Geld nehmen«, sagt sie. »Das ist was anderes.« »He, Joe, hast du zwanzig Dollar in der Tasche?« »Ich hab ungefähr hundert oder so«, sage ich. »Gib mir nur einen Zwanziger«, sagt sie. Ich greife in meine Brieftasche. Ich gebe ihr einen Zwanziger. Sie schiebt ihre Hand durch den Hosenschlitz der Boxershorts, die sie trägt. Unter meiner hat sie noch ihre eigene Unterwäsche an. Sie faltet den Schein zusammen und klemmt ihn unter den elastischen Bund. »Wie nennt man Frauen, die von Männern Geld nehmen, Joe?« »Ich habe Probleme mit einigen deiner Spielchen, Maggie.« »Wie nennt man sie, Joe?« »Nutten, Maggie. Man nennt sie Nutten. Ist es das, was ich sagen soll?« »Das ist es, was du sagen sollst. Ich habe dein Geld genommen, jetzt kann ich also behaupten, ich bin deine Nutte.« Ich weiß nicht, wie sie das macht. Ob es nun irgendwas an ihrem Gesicht und ihrer Pose ist, ein subtiler Schauspieltrick oder ob es mit ihrer Seele zu tun hat, aber trotz ihres komischen Aufzugs - der Männerhut und die viel zu großen Schuhe, die Boxershorts mit Herzchen drauf, die handgemalte Hopalong-Cassidy-Krawatte von 1952 und der Augenbrauenstift-Schnurrbart - jedenfalls wechselt sie von süß und mädchenhaft zu schlüpfrig und nuttig. 190 Sie stolziert zu ihrer Handtasche. Sie nimmt einen Zwanzig-Dollar-Schein heraus. »Nimm das«, sagt sie. Ich nehme den Schein. »Jetzt bist du mein Callboy«, sagt sie. Sie kichert. »Das ist so ein komisches Wort.« Also sagt sie mit rauchiger Stimme, wobei sie versucht, nicht zu lachen: »Du bist mein Gigolo. Ich bin deine Hure, und
du bist mein Gigolo. Findest du nicht auch, daß die Namen für Frauen, die Geld von Männern nehmen, erheblich schlimmer sind. Stimmt doch, oder? Also joe, hör auf mit dem Quatsch von wegen dem Geld, okay?« »Ich werd's versuchen. Aber wenn ich das erste Mal höre, wie jemand sagt, ich würde dich ausnutzen ...« »Schlägst du ihn k. o. und beweist, wie knallhart du bist«, zieht sie mich auf. »Joe, ich brauche jemanden. Mein Instinkt sagt mir, du bist smart. Und du bist loyal. Leg Someoneto Watch Over Me auf, und tanz mit mir.« »Maggie, ich mach das alles nicht, um irgendwas zu erreichen.« »Wovor hast du Angst? Daß jemand sagt, du fickst dich an die Spitze hoch? In dieser Stadt ist das ein Kompliment. Sollte es auch sein, denn jeder fickt, aber nur verdammt wenige tun's gut genug, um auch ganz nach oben zu gelangen.« »Bist du wirklich sicher?« »Joe, wenn du nicht Someone to Watch Over Me auflegen willst, dann eben Lay, Lady, Lay.« »Zu schnulzig.« »Ja«, sagt sie, »aber es ist Country.« Ich lege die Musik auf. Weil das unsere Art ist zu sagen, daß wir reden wollen, persönlich, nicht für die Lauscher. Um was sie gebeten hat - Bob Dylan. Vielleicht ist es Country. Er singt davon, eine Lady auf ein großes Messingbett zu legen. »Ach, was soll's«, sage ich, den Hals trocken wie Schmirgelpapier, »tanz mit mir.« 191 KAPITEL ZWANZIG »Er hat recht. Zu schnulzig«, sagte David Hartman. Das Band auf dem Tisch vor ihm lief weiter. Musik setzte ein. Hartman stand nicht besonders auf Dylan. Obwohl er einmal so getan hatte, als er Jack Nicholson einem anderen Agenten hatte ausspannen wollen. Und er hatte Spiele der Lakers über sich ergehen lassen. Und zugesehen, wie hünenhafte Schwarze übermäßig schwitzten, während sie andere hünenhafte Schwarze umstießen. Das stimulierte seinen latenten Rassismus. Den er weit genug überwunden hatte, um mehrere von ihnen unter Vertrag zu nehmen. Die Basketballspieler verdienten Vermögen mit kommerziellen Nebenverträgen und ausgewählten persönlichen Auftritten. Sie waren das halbe Jahr angestellt und trainierten den Rest der Zeit; deshalb hatten sie weniger Zeit, unnötige Aufmerksamkeit zu verlangen, und im Verhältnis von Dollars pro Agentenstunde schlugen sie Filmstars bei weitem. Also war Hartman immer noch in der Lage, Begeisterung für Sportereignisse zu mimen, sah aber keine Veranlassung, dies auch in Dylans Fall zu tun. »Dieses Band«, sagte Sheehan, um seinen Klienten zu beeindrucken, »ist noch keine Stunde alt.« Sheehan sah zerknautschter aus, als ihm lieb war. Zu viele Menschen glaubten, Sicherheit sei ein billiges Geschäft, bei dem es um nicht viel mehr ging, als des Lesens unkundige Alkoholiker als Sicherheitspersonal an Supermärkte zu vermitteln und Warenhausangestellte mit Lügendetektoren einzuschüchtern, um ihnen das Geständnis abzupressen, daß sie Pralinen geges192 sen hatten, ohne dafür zu bezahlen. Sheehan achtete aus diesem Grund darauf, 1800 Dollar teure Anzüge zu tragen. Er nannte sie seine Bankeruniformen, so gediegen waren sie. Leider hatten gegen zehn Uhr drei, gerade als Maggie ihren ersten öffentlichen Auftritt mit Joe Broz absolvierte, ein halbes Dutzend Personen miteinander darum gewetteifert, der erste zu sein, der David Hartman die Gerüchte übermittelte. Obwohl er in einer Besprechung war, keine Anrufe entgegennahm und nicht unterbrochen wurde, schien er offensichtlich davon zu wissen, als er gegen zehn Uhr vierzig auftauchte. Zu diesem Zeitpunkt rief er Mel Taylor an und sagte, daß er vollständig informiert zu werden wünsche. Er übergab Taylor Fiona, seiner Sekretärin, die den erstmöglichen freien Termin heraussuchte - 20 Uhr am selben Abend. Taylor rief Chicago an, wie es ihm aufgetragen worden war, falls irgend etwas in der Angelegenheit Beagle passierte. Der Anruf wurde direkt zu C. H. Bunker durchgestellt. Bunker rief Sheehan in sein Büro und sagte: »Fliegen Sie nach Los Angeles. Seien Sie bei dem Treffen dabei. Sorgen Sie dafür, daß der Klient sehr zufrieden ist. Danke.« Verdammt, C. H.s Stimme gab ihm jedesmal das Gefühl, auf die Knie sinken zu müssen. Das einzige, was ihr halbwegs nahe kam, war James Earl Jones im Kostüm von Darth Vader. Sheehan rief Taylor an. Er sagte: »Ich will eine astreine Show. Ich will piekfeine Klamotten. Sauber. Namensschilder. Gedruckt oder erstklassige Handschrift. Organisiert. Ich will alles Material zur Hand haben. Aber nichts Überflüssiges.« Sheehan war von Nonnen erzogen worden. Er brachte seine anderen Aufgaben in Ordnung und rief persönlich seine Frau an, um zu sagen, daß er zum Abendessen nicht zu Hause sein würde. Der erste erreichbare Flug war um 17 Uhr - geschätzte Ankunftszeit 19 Uhr 17. Der einzige noch freie Platz war in der Touristenklasse. Eng für einen
193 großen Mann und die Hölle für die Kleidung. Es gab nicht genug Platz, um sein Jackett aufzuhängen. Er faltete es säuberlich zusammen und legte es sorgfältig auf die anderen Sachen in dem Stauraum über den Sitzen. Aber irgendwas verschob sich oder fiel um, und eine Kiste Bücher drückte das Jackett 1200 Meilen lang gegen eine Papiertüte Obst. An der Schulter fanden sich Traubenflecken, und jedesmal, wenn er den Arm bewegte, stieg der Duft von Bananen aus dem Ärmel. Der Flug kam pünktlich auf dem Los Angeles Airport an, aber obwohl er nur Handgepäck hatte, schaffte er es nicht vor 19 Uhr 38 zum Taxistand. Er hatte keine Zeit mehr, die Kleidung zu wechseln. Es war ein heißer und versmogter Tag. Das Taxi hatte keine Klimaanlage. Er kam pünktlich, aber zerknittert an. Die Hose seines 1800-Dollar-Anzugs hatte so viele Falten um den Schoß wie ein preisgekrönter Shar-Pei im Gesicht. Außerdem kostete Hartmans Anzug 3 600 Dollar. »Hört sich so an, als würde zwischen Maggie und Joe was laufen«, sagte Hartman. »Wie ist es dazu gekommen?« Mel Taylor hatte eine schriftliche Zusammenfassung, einen kurzen Text mit den dazugehörigen Bandlaufnummern am Rand der beschriebenen Handlungen. »Ms. Lazlo kam frühmorgens nach der Bar-Mizwa nach Hause. Sie wurde von Jack Cushing heimgefahren.« Hartman nickte. Cushing war ein Klient von RepCo. Taylor hielt Band 1 hoch und schob es in den Kassettenspieler. Das Band war bis zu der interessanten Stelle vorgespult worden. »Sie begannen intim zu werden«, sagte Taylor und drückte auf PLAY. Der Klang war erstaunlich gut, Beweis für die Qualität der eingesetzten Mikrophone. Man konnte nicht nur Wörter, sondern auch Schnaufen und das Schmatzen leidenschaftlicher Küsse hören. »Joseph Broz befand sich bereits im Hause. Er tauchte von irgendwoher auf. Sie sa194 hen ihn.« Mel spulte das Band schnell vor. Hielt es an. »Sie beide forderten Broz auf zu gehen. Er weigerte sich. Es gab einen Kampf. Broz gewann.« Mel drückte auf PLAY. Sie hörten Schlurfen und Grunzen. »Dann gibt es eine Lücke«, sagte Mel, zog Band 1 heraus und legte Band 2 ein. »Eigentlich zwei Lücken. Sie gingen vors Haus. Sie kamen wieder herein. Und dann gingen sie an den Strand, nehmen wir an. Wenn Sie hinhören, werden Sie verschiedene ... Geräusche hören. Die Analytiker haben mir erzählt, daß der dumpfe Schlag die Vordertür ist und das hellere Klappen die Hintertür. Die Strandtür.« Er warf Band 2 aus und legte 3 ein. »Sie kamen wieder ins Haus und wurden intim.« Alle drei taten ihr bestes, völlig unbeeindruckt zu bleiben bei den Geräuschen der Leidenschaft. Taylor bekam eine Erektion. Er saß, also blieb sie unbemerkt, aber dennoch verwirrte sie ihn und machte ihn wütend. Er fragte sich, ob er Voyeur geworden war. Ein Perverser. Er hatte das Gefühl, daß Broz nicht nur die Schlampe bumste, sondern sich dadurch auch seiner Kontrolle entzog, als verleihe ihm das Eintauchen in die goldene Muschi eine Art gesellschaftliche Unverwundbarkeit, so wie Achilles durch das Eintauchen in den Styx körperlich unverwundbar geworden war. Sheehan, der sehr hellhäutig war, wurde rot. Nachdem das Band lang genug gelaufen war, daß alle ganz genau wußten, was vor sich ging, schaltete Taylor ab, damit es nicht den Eindruck erweckte, als wolle er übertreiben. Er übersprang Band 4. »Noch mehr davon«, sagte er. Er legte 5 ein: »Dies wurde in der Küche aufgezeichnet. Am Morgen schickten sie Mary Mulligan, das Hausmädchen, fort.« Die drei Männer hörten zu, wie Mrs. Mulligan frei bekam. »Danach fuhren sie fort... Intimitäten auszutauschen.« Taylor nahm die Bänder 6 bis 11, spielte sie aber nicht. Seine Gestik deutete an, worum es sich handelte. 195 Hartman nahm Band 6 und machte eine Stichprobe. Die Erotik mischte sich mit dem alltäglichen häuslichen Kleinkram. Allerdings gab es erheblich mehr Sex als Kleinkram. Dann spielte er willkürlich Passagen von Band 9. Auch das war sehr stimulierend. Sheehan, der eine Menge Zeit unterwegs verbrachte, war ein Fan der Telefonsexnummern geworden. Das hier schnitt vergleichsweise gut ab, und das Wissen, daß eine der beteiligten Personen ein echter Filmstar war, verstärkte noch den Effekt. Obwohl die Frauen, die er am anderen Ende der Leitungen hörte, saftige Stimmen hatten, hegte er immer den Verdacht, daß die rauhen und schlüpfrigen Geräusche von alten Schlampen getürkt wurden, Frauen die in Wirklichkeit wie Margaret Hamilton55, Roseanne Barr, oder noch schlimmer, wie seine Frau aussahen. Er beschloß, sich Kopien von den Magdalena-LazloBändern zu besorgen, für seine persönlichen Unterlagen in diesem Fall. Hartman hielt das Band an und sammelte die Kassetten ein. »Sind das die einzigen Kopien?« fragte er. »Ja«, log Taylor. Er hatte
sich selbst Kopien gezogen. Ray Matusow ebenfalls, was Taylor allerdings nicht wußte. Andere Techniker vermutlich ebenfalls. »Es wäre mir äußerst unangenehm, Aufnahmen von Magdalena Lazlo beim Sex in der ganzen Stadt zu finden. Sorgen Sie dafür, daß dies die einzigen Kopien bleiben«, sagte Hartman. Er wußte, daß es weitere Kopien gab. Genauso wie er wußte, daß die Techniker in den Filmentwicklungsateliers sich persönliche Kopien von den besseren Titten- und Mösenaufnahmen zogen, die ihnen unter die Finger kamen, vor allen Dingen, wenn es sich um hochkarätige Titten und Mösen handelte. Das war nicht zu verhindern. Es war ihm auch ziemlich egal, nur wenn die Bänder auftauchten, dann gab ihm das U.Sec. gegenüber einen Vorteil. Hartman sammelte Vorteile. Er sah sich die letzte Kassette an, so als erwartete er Joes Ge196 sieht auf der Hülle, wie auf einer Plattenhülle. »Dieser Broz, passiert ihm das häufig?« »Nein.« »Kann er sich normalerweise nicht vor Frauen retten?« »Ich glaube nicht«, sagte Taylor. »Das war nie ein Problem. Auf so was war ich nicht gekommen.« »Ich möchte Ihnen einen Überblick geben«, sagte Frank Sheehan. »Einen sehr positiven. Unsere Sicherheit rund um Lincoln Beagle ist intakt und ungebrochen.« »Er ist Ihr Mann«, sagte Hartman und bezog sich dabei auf Broz. »Haben Sie eine Akte über ihn?« Taylor gab ihm Joes Personalakte. Hartman schlug sie auf. »Interessant«, sagte er laut. »Marines. Vier Dienstzeiten in Vietnam. Zwei Purple Hearts mit Eichenlaub. Zum Silver Star vorgeschlagen... und warum hat er ihn nicht gekriegt? Zwei Bronze Stars. Dann ist er als Zivilist zurück nach Vietnam gegangen ...« »Darf ich mal sehen?« sagte Sheehan. Er streckte die Hand über den Konferenztisch aus und schnappte sich die Unterlagen. Es gab gewisse Dinge in der Akte, die Außenstehende nicht sehen sollten. Taylor, dachte er, hatte völlig versagt. Er hätte Taylor schon beim letzten Mal, als sie sich trafen, feuern sollen. Sheehan überflog schnell die Seite. Nein, Taylor hatte nichts versaut; die Akte war gesäubert worden. »Ah, ich sehe schon«, sagte Sheehan zutiefst erleichtert. Er deutete auf einen Namen auf der Seite. »Offenbar hat er dort drüben für eine Baufirma gearbeitet. Oceania-Americana war eine Baufirma.« Um seine Erleichterung zu überdecken, fuhr er fort. »Peutetre le mal jaune. So haben die Franzosen das genannt. Gelbfieber. Die Kombination von westlichem Geld und les femmes indochinoises war sehr verlockend. Oder vielleicht war da drüben für einen Typen wie ihn einfach nur mehr Geld zu machen als hier.« »Nun, so wie ich das sehe, haben sie entschieden, diesem Joe 197 Broz nichts davon zu erzählen, daß Maggies Haus verdrahtet ist«, sagte Hartman. »Scheint mir eine gute Entscheidung.« Taylor sah zu Sheehan hinüber. Der Klient hatte gerade, wissentlich oder nicht, die eine Entscheidung gutgeheißen, die Taylor entgegen den Vorschriften getroffen hatte. Hartman war recht zufrieden. Er war in der Lage gewesen, jeden, der mehr als oberflächliche Nachforschungen angestellt hatte, abzulenken, abzubringen oder zu entmutigen. Und die Bänder sagten ihm, daß Magdalena jetzt einen neuen Schwanz hatte, um Körper und Geist beschäftigt zu halten. »Schauspielerinnen«, seufzte er. Jetzt handelte es sich nur noch um die üblichen, einfachen, beschissenen Probleme. »Jedesmal, wenn es einen neuen Mann oder Liebhaber gibt, haben sie eine neue Frisur, ändern die Garderobe und bitten um andere Rollen. Die halten sich alle für john Derek'6. Oder noch schlimmer, für den neuen Jon Peters. Denken Sie dran. Sie werden sehen.« Es wäre äußerst falsch anzunehmen, daß Mel Taylor ein Clown war, nur weil sein Sexualleben lächerliche Momente aufwies. Ganz im Gegenteil. Taylor war schlau, und als Agent seines Landes, oder seiner Firma, war er so skrupellos und gefährlich, wie es von ihm verlangt wurde. »Sie wollen doch nicht andeuten, daß wir die Beobachtung einstellen, nur weil sie miteinander ins Bett gehopst sind, oder?« fragte Taylor. Er war von den Bändern so überzeugt wie die anderen. Der einzige Unterschied bestand darin, daß sie überzeugt werden wollten und er nicht. Er hatte noch ein As im Ärmel, und er suchte die Gelegenheit, es auszuspielen. Niemand konnte so detailliert derart viel Geficke und Geknutsche vortäuschen. Jedenfalls nicht, ohne dabei wahnsinnig zu werden. Aber, verdammt, Taylor wollte das überprüfen. »Es hört sich so an, als seien die beiden ziemlich beschäftigt«, sagte Hartman. »Aber Sie können genauso gut damit fortfahren.« 198 »Ist das eine Kostenfrage?« fragte Sheehan. »Nein«, erwiderte Hartman. »Tun Sie, was immer Sie tun müssen, um den Job zu erledigen.« So was konnte er leicht sagen. Er hatte schon dafür gesorgt, daß dies mit dem Geld anderer Leute bezahlt wurde. Gut. Taylors As im Ärmel war das Hausmädchen. Als er Maria losgeworden war - das war nicht leicht
gewesen, sie hatte seit sechs Jahren eine gültige Arbeitserlaubnis -, hatte er ein leises Wörtchen mit der Agentur gewechselt, damit eine Illegale eingestellt wurde. Ms. Mulligan arbeitete noch nicht für U.Sec. Aber bald. Wenn sie in Amerika bleiben wollte. »Was unternehmen wir, wenn Ms. Lazlo wieder anfängt, Fragen zu stellen?« wollte Taylor wissen. »Oder wenn Broz das für sie tut?« Hartman schwieg einen Moment. Er wollte sich möglichst deutlich ausdrücken. Schließlich sagte er: »Ich möchte Sie daran erinnern, daß Magdalena Lazlo eine Frau von großem Wert ist. Abgesehen von ihren Attributen als Mensch - sensibel, kreativ, in vielerlei Hinsicht liebenswert -, bringt sie einer Menge Leuten viel Geld ein. Das sollte nicht leichtfertig zerstört werden. Wir reden hier also von einer sorgfältigen und abgestuften Reaktion. Mr. Broz ist natürlich ganz und gar Ihr Problem. Letzten Endes geht es um Grundsätzliches: Womit Mr. Beagle beschäftigt ist, ist entscheidend viel wichtiger als einer der beiden. Es muß um jeden Preis geheim und geschützt bleiben. Ich sehe nicht, wie ich noch präziser und deutlicher werden kann.« Taylor sah Sheehan an. Sheehan fragte: »Wenn Sie sagen, »um jeden Preis«,... dann habe ich das nicht in, ahm... finanzieller Hinsicht zu verstehen.« »Tut mir leid, daß Sie es nicht zu verstehen scheinen«, sagte der Klient. »Reden wir von ...«Sheehan war verwirrt. C. H. Bunker hatte 199 ihm mehr oder weniger aufgetragen, alles zu tun, was der Klient wollte. Zudem erledigte U.Sec. die Art von Dingen, die sie selbst unter Strafandrohung leugnen würden. Aber Sheehan und auch Taylor hielten Hartman eher für ein Leichtgewicht, da er in einer nicht ernst zu nehmenden Branche tätig war, wie sie fanden. »Wenn wir hier von illegalen oder, ahm, . . . Zwangsmaßnahmen reden, dann weiß ich nicht, was ich sagen soll, wenn Sie andeuten wollen ...« Was genau das war, was Hartman andeuten wollte. Weil sie dem nächsten Schritt näher kamen und das mögliche Risiko entscheidend steigen würde. Aber er wollte verdammt sein, wenn er sich derart explizit festlegen ließ, nicht von diesen Clowns. »Es geht um Grundsätzliches«, wiederholte Hartman Wort für Wort, nur langsamer. Er wiederholte sich nicht gern. »Womit Mr. Beagle beschäftigt ist, ist entscheidend viel wichtiger. Es muß um jeden Preis geheim und geschützt bleiben.« Dann fügte er hinzu: »Wenn Sie Probleme damit haben, dann lassen Sie sich von dem Fall ablösen. Wenn Sie es nicht verstehen, reden Sie mit C. H. Bunker. Wenn Sie wissen müssen, daß Sie auf seiten der Wahrheit, Gerechtigkeit und des American Way sind, dann können Sie den Mann anrufen, für den Sie 1979 gearbeitet haben.« Taylor begriff das nicht. Aber Sheehan setzte sich aufrechter hin. Er hätte beinahe salutiert. »Ja, Sir«, sagte er. »Sonst noch was?« fragte der Klient. »Nein, Sir«, sagte Sheehan. Hartman nahm die Bänder und Joe Broz' Akte mit. Sheehan und Taylor begleiteten ihn zum Aufzug, wo Hartman, kurz bevor sich die Türen schlössen, zu Sheehan sagte: »Ach übrigens, er hat in höchsten Tönen von Ihnen gesprochen.« »Danke, Sir«, sagte Sheehan. Er wartete und lauschte den Kabeln, die im Fahrstuhlschacht surrten. Als er sicher war, daß Hartman mehrere Etagen weit weg war, sagte er zu Taylor: 200 »Das waren doch nicht wirklich die einzigen Kopien von den Bändern, oder?« »Ich ziehe Ihnen einen Satz«, sagte Taylor. »Was war das mit '79?« »1979 war ich noch bei der Company57«, sagte Sheehan. »1979 war George Bush unser Direktor.« 201 KAPITEL EINUNDZWANZIG Sie kommt ganz nah, nah genug, daß ich sie in die Arme nehmen kann. »Ich will«, sagt sie, »wenn du willst. Aber tu's nicht, wenn du nicht damit klarkommst, mich zu berühren.« »Ich komm schon damit klar.« Sie wirkt - wie? - bedauernd und kommt in meine Arme. Sie legt ihren Kopf sanft auf meine Schulter. Wir bewegen uns zur Musik. »Du mußt Geduld mit mir haben«, sagt sie. »Ja.« »Glaubst du, sie haben es gefressen?« »Ja«, sage ich. »Ich bin sicher. Ich kann's spüren.« Und ich kann es wirklich spüren. Auch wenn wir uns ständig daran erinnern müssen, daß wir mitgeschnitten werden, ist das Gefühl anders geworden. Ich bin nicht länger der Hirsch, der den Tiger sieht. Wollen wir nicht kämpfen, dann können wir verhindern, daß der Feind uns in einen Kampfverwickelt, auch wenn unser Lager nur von einer Linie auf dem Boden umgeben ist; alles, was wir dazu tun müssen, ist,
ihm etwas Seltsames, Unerklärliches in den Weg zu legen. Wenn der Tiger mich jetzt sieht, sieht er einen Artgenossen. Vielleicht keine andere Großkatze, aber wenigstens doch einen Schakal. Maggie fängt an zu kichern. Die Musik spielt immer noch. Wir flüstern leise. »Was?« »Mrs. Mulligan wird morgen zurückkommen.« »Ich weiß.« »Denk dran, was wir noch tun müssen.« »Oh, Scheiße.« 202 »Es war deine Idee. Als wir draußen auf dem Strand gesessen haben, nachdem du den armen lieben Jack Cushing k. o. geschlagen hast.« »Sag mal, wolltest du wirklich mit ihm ins Bett, oder hast du das alles nur gemacht, um mich zu provozieren?« »Ich halte es für besser, wenn es jeder allein in seinem Zimmer macht«, sagt sie. »Okay. Also los.« Ich gehe zur Treppe. Maggie geht neben mir. Die Musik ist immer noch laut genug, daß wir reden können. Wenn wir flüstern. Auf der Treppe hält sie mich fest. »Joe, es war deine Idee. Hör auf, dich zu quälen. Du hast zu mir gesagt, du brauchtest vor allen Dingen Bewegungsfreiheit, um Beagle und Hartman zu überprüfen und herauszufinden, was eigentlich los ist, und ich habe dich gefragt, ob du damit fertig wirst, so zu tun, als wärst du mein Geliebter, und du hast ja gesagt.« »Ich weiß. Aber ich dachte, wir würden einfach ein paar Ah-ah-ahs und Ohs und so weiter machen. Du weißt schon, ein paar Minuten. Ich habe nicht erwartet, daß wir diese langen, intensiven - ich weiß nicht, wie ich's nennen soll - Szenen spielen würden. Schlüpfrige Szenen.« »Ich hab dir doch gesagt, ich weigere mich, wie der Soundtrack zu einem drittklassigen Porno zu klingen.« »Niemand in der Weltgeschichte des Sex hat je so lange gebraucht wie du, einen Orgasmus vorzutäuschen. Das ist das Gute an unechten Orgasmen, sie kommen schnell.« »Wenn ich für einen Haufen heimlich lauschender Drecksäcke, David Hartman wahrscheinlich eingeschlossen, deine Geliebte spiele, dann sorge ich auch dafür, daß sie jede einzelne Sekunde bedauern. Ich will, daß sie weinen bei dem Wunsch, an deiner Stelle zu sein. Alle. Die arroganten Arschlöcher, mich einfach zu belauschen. Außerdem«, sagt sie, »sind es Liebesszenen. Keine schlüpfrigen Szenen.« 203 »Okay, okay, bringen wir's also hinter uns.« Die logische Argumentation ist völlig klar. Nachdem Mary Mulligan so lange fortgeschickt wurde, damit wir allein sein können, und bei all dem Klatsch und Getue und all den Einkäufen, was wird sie denken, wenn die Laken sauber sind? Die Laken müssen Flecken haben. Selbst wenn sie nicht für unsere Lauscher arbeitet, wird sich die Neuigkeit innerhalb weniger Stunden rumgesprochen haben. Maggie ist ein Star. Und genau das ist es, was die Hausmädchen und Chauffeure und Klempner und Elektriker und Ärzte tun - sie tratschen über die Stars. Vielleicht wird man sich dann erzählen, daß sie wahrscheinlich lesbisch ist und versucht, es zu vertuschen, oder vielleicht heißt es ja auch, es sei nur ein verzweifelter Trick, um Jack Cushing eifersüchtig zu machen, oder vielleicht wird es auch irgendwas mit Wüstenspringmäusen zu tun haben - was auch immer der angebliche Grund sein mag, unter dem Strich wird jedenfalls stehen, daß wir nur so tun als ob. Und das wird dann schnell genug bis zu U.Sec. und David Hartman vordringen. Sie geht in ihr Zimmer. Ich gehe weiter den Flur entlang zu meinem. Das ist es, was ich damals, '67, gelernt habe, als es um Leben und Tod ging. Damit meine ich nicht das Wichsen, ich meine, sich um die Details kümmern. Keine sichtbaren Spuren hinterlassen außer solchen, die man hinterlassen will. Sich vergewissern, daß alles, was da sein sollte, auch da zu sein scheint. Wenn man Hinterhalte legt oder in sie hineingerät, gibt genau das den Ausschlag. Der Vietcong und die reguläre NVA waren Meister darin, weil sie nicht die Feuerkraft besaßen, genau wie ich nicht die Feuerkraft besitze, sie hatten nur ihren Grips - Phantasie und ein Auge fürs Detail. Warum ist es mir peinlich? Es ist nicht das erste Mal in meinem Leben, das ich onaniert habe. Mit dreizehn oder vierzehn haben wir zu mehreren gewichst. Haben Wettbewerbe 204 gemacht, wer es am schnellsten konnte und am weitesten ejakulierte. Es sollte mir nichts ausmachen, sollte es wirklich nicht. Maggie macht mehr oder weniger genau das gleiche in ihrem Zimmer. Auch wenn die Flecken einer Frau erheblich weniger auffällig sind als die eines Mannes, gibt es immer noch die Gerüche. Das alles klingt vielleicht, als hätte ich sie nicht mehr alle, aber, verdammt, ich erinnere mich daran, daß sie uns und wir sie riechen konnten. Ich konnte einen Tag alten Reis riechen. Ich konnte ihre selbstgedrehten Zigaretten riechen, und ich merkte, wenn sie Marihuana geraucht hatten. Ich konnte ihre Körpergerüche riechen und den Unterschied zwischen einem amerikanischen und einem vietnamesischen Furz erkennen. Ich weiß nicht, ob Mary Mulligan einen Blick auf die Laken
werfen wird oder ob sie die Augen zumacht, wenn sie sie in die Wäsche wirft. Ich weiß nicht, ob sie an ihnen schnuppern wird, aber vielleicht fällt ihr das Fehlen von Gerüchen auf. So denke ich. Maggie und ich bearbeiten jeder das eigene Laken, und dann werden wir wechseln. Es macht mich wahnsinnig. Ich bin in sie verliebt. Ich will mit ihr schlafen, sie bumsen, Geschlechtsverkehr mit ihr haben, Koitus, intim werden, gottverdammt, wie auch immer man es nennen will, das ist es, was ich will. Wir haben uns in der Öffentlichkeit angefaßt und tief in die Augen gesehen. Wir führen jetzt seit zwei, drei Tagen unanständige Gespräche, erschaffen Szenen, die zu hören ich Geld bezahlen würde. Ich wohne jetzt seit Wochen hier. Da ist sie, ein paar Meter weiter den Flur entlang. Ich höre ihr leises Lachen, als wäre es auch ihr peinlich, dann andere Geräusche, als würde sie sich berühren und - es genießen. Ich bin so hart und drängend, wie's nur geht. Ich komme mir wie der letzte Idiot vor, wie ein Trottel, meine Faust zu benutzen, wo sie doch nur ein paar Meter von mir entfernt ist. 205 Ich werfe das verdammte Laken zurück, steige aus dem Bett und gehe den Flur entlang. Mit voller Erektion betrete ich Maggies Schlafzimmer. Wild entschlossen. Ich werde sie jetzt nehmen, und es wird ihr gefallen. Wie kann sie von diesem Spiel nicht so gefangen - oder doch wenigstens beinahe so gefangen - sein wie ich? Was stimmt nicht mit ihr? Wieso hält sie sich zurück? Ich steige aufs Bett und ziehe sie an mich. Sie wird schlaff. Ich küsse sie. Die Weibliche-Leiche-Nummer. »Was willst du?« flüstert sie. »Mich einmal bumsen, während ich tot spiele, und mich nie wiedersehen? Oder willst du Selbstbeherrschung üben und es darauf ankommen lassen, daß es wirklich passiert? Dann kannst du mich tausendmal bumsen, und ich mache mit. Was willst du, Joe?« »Leck mich, Maggie«, sage ich laut genug, daß sämtliche Mikrophone es mitbekommen. Wenn ich zwanzig wäre, hätte ich sie wahrscheinlich wirklich gebumst. Und geglaubt, es wäre das Richtige gewesen. Als Mann. Als Marine. Aber ich bin keine zwanzig mehr. Und sie ist die tollste Frau, der ich je begegnet bin. Außerhalb von Vietnam. In der Wand befindet sich ein DreiundachtzigZentimeter-Fernseher, den man vom Bett aus bedienen kann. Ich schalte das Ding ein. Laut. Einer dieser Film-Kanäle. John Wayne ist ein Cowboy. Ich sage: »Verdammt, Maggie, es ist peinlich.« »Nein. Ist es nicht«, sagt sie. »Es beweist Weisheit und Selbstbeherrschung. Es ist wahrscheinlich >der Weg des Kriegers«, sich nicht von seinem Schwanz beherrschen zu lassen.« 206 KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG SHERIE BEI DEN STARS Unsere allerliebste Maggie hat sich einen neuen Beau zugelegt. Es war eine lange, lange Trockenperiode. Glückwunsch, Mags! Diesmal kein Softie. Sie hat sich einen echten Mann gekrallt, und ich vermute, sie will es so. Bei mir wär's auch so. Er heißt Joe Broz und ist ein hochkarätiger Sicherheitsberater. Früher hat man wohl Dick gesagt, und ich werde mir alles verkneifen, was man als Wortspiel auslegen könnte. Das ist der einzige der diesjährigen guten Vorsätze zum Neuen Jahr, den ich bislang halten konnte. Wie wir hören, ist er ein hochdekorierter Veteran von der Sorte, der um seine Angebetete kämpfen wird. Also, Jungs, treibt euch lieber nicht zu sehr in ihrer Nähe herum; wir wollen doch nicht, daß jemand die Nase verbogen bekommt. Der Bursche meint es wirklich ernst. Und hier habt ihr es zuerst gehört... Taylor will mich warten lassen. Ich sehe aus dem Fenster. Der Smog ist besonders dick. Aus dem Fenster im zweiundvierzigsten Stock kann man darauf hinab schauen. Es ist ein sehr merkwürdiger Effekt. Es gibt ein paar Bürohäuser, die darüber hinausragen. Sie sehen aus wie von einem Computer entworfene Insel-Module, die aus einem graubraunen Meer 207 ragen. Flugzeuge fliegen über diesem Dreck, tauchen darin ein und verschwinden. Ich drehe mich um. Mels Sekretärin starrt mich verträumt an. Sie heißt Bambi Ann Sligo. Sie ähnelt ein wenig Maggie Thatcher, Haare wie ein Stahlhelm, und viel zu tough zum Bumsen. Jeder nennt sie Mrs. Sligo. Sogar Mel. Sie ist Ende Vierzig, aber das ist Cher auch. Sie verkörpert die andere Sorte der Endvierziger, die bereits mit neunundzwanzig in das mittlere Lebensalter eingetreten sind, stramm auf den Barbara-Bush-Look zumarschierten und ihr Ziel mit sechsunddreißig erreicht haben. Ich lächle sie an. »Oh, Mr. Broz«, seufzt sie. Ich nicke, man könnte sagen, herablassend. Als wäre ich ein Star und sie einer der kleinen Leute, die alles möglich werden lassen. Also sage ich: »Hi, Bambi, wie geht's denn heute so?« »Oh, Mr. Broz«, sagt sie. Als wäre ich einer ihrer Lieblings-Filmstars. »Ich habe Mr. Taylor gesagt, daß Sie hier sind.
Er hat gleich Zeit für Sie. Versprochen.« »Danke, Bambi.« Großes Lächeln. Sie errötet. Ich setze mich und schlage eine der Fachzeitschriften auf. Nicht Police & Security News den Hollywood Reporter. Bambi Ann tut so, als würde sie hinter ihrem Schreibtisch arbeiten, während sie mir immer wieder verstohlene Blicke zuwirft. Besitze ich allein durch meinen Umgang schon Charisma? Mrs. Sligo kennt mich nun seit etwa zwölf Jahren. Aber nicht ein einziges Mal hat sie sich so verhalten, als hätte ich einen Blip auf ihrem Radarschirm hinterlassen. Jetzt muß sie unbedingt wissen: Wie sieht jemand aus, dessen Penis in einem echten Filmstar gesteckt hat? Mr. Taylor wird es schließlich leid, so zu tun, als habe er wichtige Dinge zu erledigen, und läßt Mrs. Sligo über die Gegensprechanlage wissen, daß er jetzt zwei Minuten für Joe erübri208 gen kann. Sie sagt, ich könne direkt reingehen. Ich stehe auf. Sie beobachtet mich die ganze Zeit, als brenne sie darauf, mir eine Frage zu stellen. Also bleibe ich stehen, als ich an ihrem Schreibtisch vorbeikomme, und sage: »Was ist los, Bambi?« »Stimmt es?« sprudelt sie heraus. Unter irgendwelchen Akten auf ihrem Schreibtisch versteckt liegt Sheries Kolumne. Ich sehe ihr direkt in die Augen. Ich nehme ihre Hand. »Es stimmt. Alles ist wahr.« Es ist, als würde sie jeden Augenblick in Ohnmacht fallen. Aber sie will noch etwas wissen. »Nur zu«, sage ich nachgiebig. »Fragen Sie.« »Glauben Sie« - sie zögert, wendet ihren Blick ab, reißt sich zusammen und bringt es schließlich heraus - »an Scientology?« »Nein«, antworte ich. Aber ohne jede Geringschätzung. »Oh«, sagt sie, als hätte sie etwas sehr Wichtiges erfahren. Ich weiß, daß Mel mich haßt. Was, wenn man sämtliche Fakten kennt, ausgesprochen dumm ist. Wahrscheinlich habe ich ihm das Leben gerettet; ich habe es nicht ruiniert. Und habe ihm etwas über die Wirklichkeit beigebracht, wie sie in Kriegszeiten praktiziert wird. Er versucht es zu verbergen, oder tut zumindest, als würde er es verbergen, aber wir beide wissen Bescheid. Jetzt läuft es auf einer anderen Ebene ab. Ich kann an seinem Gesicht ablesen, daß er die Bänder von Maggie und mir kennt. Er haßt mich noch mehr, weil er glaubt, ich bekäme etwas, das er nicht bekommt. Er besitzt die Mentalität eines Offiziers. Er glaubt tatsächlich, Offiziere seien eine überlegene Art, die mehr Geld, bessere Verpflegung, schickere Clubs, teureren Alkohol und niveauvollere Muschis verdient, und daß der Daseinszweck der Rangniedrigeren darin besteht, den Rängen höheren zu versichern, daß sie besser sind als andere. »Ich möchte beurlaubt werden.« 209 »Wieso kündigen Sie nicht einfach. Ich meine, wo Sie doch jetzt eine große Nummer sind.« Ich will nicht einfach kündigen. Vielleicht will ich, daß Maggie und ich ineinander verliebt sind. Aber noch habe ich meinen Bezug zur Wirklichkeit nicht verloren. Ich weiß, daß ich nur ein Spiel spiele. Ich denke daran, daß die Tonbandaufnahmen fingiert sind. Ich rechne nicht wirklich damit, ihr Berater und ihr Producer zu werden, der neue Möchtegern-Jon-Peters. »Ich möchte beurlaubt werden, Mel.« »Das widerspricht der Firmenpolitik. Außer in Fällen von Krankheit oder Mutterschaft.« »Es ist jedoch Firmenpolitik, Urlaub nach Ermessen des Managements zu gewähren.« Normalerweise bewilligen sie ihn - ja bestehen sogar darauf -, denn es liegt im Interesse von U.Sec. Zum Beispiel wenn man einen Job erledigen soll, mit dem sie nicht in Verbindung gebracht werden wollen. So etwas habe ich selbst schon gemacht, und ich bin auch schon beurlaubt worden, daher glaube ich, jetzt Anspruch darauf zu haben, wenn ich aus persönlichen Gründen Urlaub haben will. »Nun joe, ich bin bereit, es in Erwägung zu ziehen. Warum reichen Sie Ihren Antrag nicht schriftlich ein. Ich werde mich mit Chicago kurzschließen und mich dann wieder bei Ihnen melden«, sagt er. Was er damit meint, ist, ich werde dich zappeln lassen, werde mich von dir fünf- oder sechsmal bitten lassen, werde dich mit irgendwelchen bescheuerten Ausreden hinhalten, und dann, wenn ich den passendsten Zeitpunkt für gekommen halte, werde ich nein sagen. »Ich würde das gern jetzt sofort klären, Mel. Ich habe einiges zu erledigen.« »Davon bin ich überzeugt«, sagt er. »Aber so läuft das hier nicht. Wir haben Dienstwege, die eingehalten werden müssen. Wir haben klare Verfahrensweisen.« 210 »Mel, wollen Sie sich deswegen mit mir auf eine Machtprobe einlassen, jetzt sofort?«
»Ich will nur, daß Sie es auf die richtige Art und Weise tun. Über den Dienstweg. Und, gottverdammt, solange ich dieses Büro leite, wird es auch genau so gemacht.« Ich habe gewisse Asse im Ärmel, die ich auf den Tisch knallen und mit denen ich wahrscheinlich alles überbieten kann, was er auf der Hand hat. Wenn wir gegeneinander Krieg führen, gewinne vielleicht ich, vielleicht verlieren wir aber auch beide. Aber wie würde ein Möchtegern-Jon-Peters, ein Lover-Producer, ein rauher, aber herzlicher Lackaffe diese Sache anpacken ? »Ich sag Ihnen was, Mel, Baby. Ich weiß, wo Sie stehen, und dafür respektiere ich Sie. Wirklich. Eine Firma muß auf geordnete Weise geführt werden. Genau wie eine Armee. Glauben Sie mir, das letzte auf der Welt, das ich will, ist Ihnen Probleme machen. Ich habe da eine Idee. Im Eifer des Gefechts habe ich glatt vergessen, daß ich noch einen Haufen regulären Urlaub habe. Einen ganzen Haufen. Es müssen mindestens acht, neun . . . zehn Wochen sein. Allein aus den letzten drei Jahren. Vielleicht sogar noch mehr. Außerdem stehen mir mindestens drei Monate Krankheitsurlaub zu.« »Das hier ist ein Privatunternehmen«, schnauzt Mel. »Für uns ist Krankheit kein Pseudo-Urlaub. Man wird freigestellt, wenn man krank oder verletzt ist, das ist nicht für Faulenzer. Soviel zu unserer Firmenpolitik.« »Mel, ich versuche hier nur, die Dinge für alle Beteiligten problemlos und friedlich zu regeln. Ich werde mein Urlaubsgesuch schriftlich einreichen, wie Sie mich gebeten haben. Und ich mache jede Wette, Sie können dafür sorgen, daß der Antrag innerhalb einer Woche, im äußersten Fall zehn Tagen genehmigt wird. Lange bevor mein Urlaub vorbei ist...« »Wer zum Teufel hat gesagt, Sie könnten jetzt Urlaub nehmen?« 211 »Ich habe einen Anspruch darauf. Ich nehme ihn«, sage ich sehr ruhig. »Sie arbeiten an einem Auftrag. Sie bleiben bei diesem Auftrag.« »Ich habe diesen Auftrag erledigt. Danke, Mel.« »Es ist mir scheißegal, ob Magdalena Lazlo Ihren Schwanz lutscht. Für mich sind Sie deshalb nichts Besonderes. Vergessen Sie nicht, ich weiß über Sie Bescheid. Ich kenne Ihr wahres Gesicht.« »Mel, das war sehr unhöflich.« Ich bleibe immer noch ruhig. Dies ist ein Spiel, nicht die Straße. »Sie haben die Frau beleidigt, die ich liebe. Sie haben einen Klienten dieser Firma beleidigt. Ich möchte nicht, daß Sie das tun. Ich möchte nicht, daß aus diesem Gespräch ein Schlagabtausch an Beleidigungen oder unflätigen Bemerkungen über uns oder andere wird. Ich möchte nicht, daß diese Sache zu einer körperlichen Auseinandersetzung eskaliert.« Was nicht stimmt. Nichts wäre mir lieber. Aber möglicherweise laufen die Tonbandgeräte der Firma mit, und ich weiß, daß der Recorder in meiner Tasche mit Sicherheit eingeschaltet ist. »Ich schlage also vor, daß Sie meinen Urlaubsantrag nicht ablehnen. In der Zwischenzeit werde ich meinen Urlaubsantrag schriftlich einreichen. Genau, wie Sie mich gebeten haben.« »Wo liegt das Problem, Lover?«, sagt er. »Haben Sie Angst, daß sie Sie in ein paar Wochen für einen sausen läßt, der besser bumst?« »Entschuldigen Sie, Mel. Versuchen Sie hier, mich zu einer Gewalttätigkeit zu provozieren? Diese Primitivität ist nicht akzeptabel. Wenn ich unser Gespräch aufzeichnen würde, wäre Ihr Job wahrscheinlich stark gefährdet.« Natürlich ist ihm klar, daß ich die Unterhaltung aufzeichne. »Sie waren schon in Vietnam ein Problem. Und hier sind Sie auch ein Problem. Sie glauben, alles auf Ihre Art tun zu können. Aber nicht, solange ich das Sagen habe. Nicht mehr.« 212 »Mel, ich biete Ihnen eine vernünftige Möglichkeit, die Sache zu regeln.« »Sehen Sie einfach zu, daß Sie hier rauskommen«, sagt er. Ich stehe auf. Ich stütze mich auf seinen Schreibtisch. Ich schaue auf ihn herab. »Mel. Sie tanzen aus der Reihe.« »Sie suhlen sich in der Scheiße und duften anschließend nach Rosen. Ich hab Sie durchschaut, Broz.« »Sie werden persönlich«, sage ich. Komm schon, Mel, sag's mir auf Band. »Ich kann genauso cool sein wie Sie.« »Schön. Dann tun Sie's auch.« »Und jetzt raus. Ich habe noch einen Job.« »Sorgen Sie dafür, daß der Papierkram schnell erledigt ist, Mel.«
Als ich hinausgehe, sagt Bambi, die bis zu diesem Tag außer »Guten Morgen - ziemlicher Smog heute, was?« nie ein persönliches Wort an mich gerichtet hat: »Tut mir schrecklich leid. Er sollte nicht so unverschämt zu Ihnen sein.« Ich gehe wieder nach unten. Ich melde meinen Urlaub an. Ich fahre rüber zum Sunset Boulevard. Dort liegt mein neues Büro. Ich habe den Mietvertrag von einem Produzenten übernommen, der schließlich keine Projekte mehr zu entwickeln hatte und seine Miete schon drei Monate nicht mehr bezahlen konnte. Die Zeiten sind hart für Unabhängige. Maggie konnte den Laden vom ersten Augenblick an nicht leiden. Aber nachdem ich ihr versprochen hatte, daß sie alles renovieren dürfe, war es in Ordnung. Ich mag das Büro, denn auch wenn es ein kleines Gebäude ist, gibt es vier mögliche Ausgänge. Schwer zu überwachen. Ich brauche einen Raum außerhalb von Maggies Haus. Wir müssen uns immer noch den Anschein geben, als würden wir in ihrem Haus keine Abhörvorrichtungen vermuten. Bei einem neuen Laden muß ich Matusow nicht kommen lassen. Ich kann die Räumlich213 keiten selbst abchecken. Ich mache mich nicht als P. I. selbständig, ich mache mich selbständig als wie soll ich es nennen? Maggies Berater? Lover? Producer? Wir werden ihre eigenen Projekte durchziehen. Bücher finden, die genau richtig für sie sind. Dazu den geeigneten Regisseur, Drehbuchautor und Co-Star suchen. Genau darum geht's letzten Endes - Packaging. Wir werden mit Hartman zu Mittag essen, der damit dann zu den Studios gehen kann. Wer auch immer alles finanziert, kriegt als erster zu sehen, was wir gerade ausarbeiten. Wenn niemand die geeignete Organisation anbietet, ziehen wir es eben allein durch. Das ist der Rat, den ich ihr gegeben habe. Man kann sich in dieser Branche nicht bequem zurücklehnen und darauf warten, daß sie zu einem kommen. Denn die werden nur anbieten, was gut für sie ist. Das ist klar wie Kloßbrühe. Kein Mensch interessiert sich wirklich für Maggie oder das, was gut für sie ist. Außer ihr selbst und - ich. Das habe ich ihr gesagt, und es deckte sich weitgehend mit ihren eigenen Überlegungen. Ich weiß, wie schnell sich in dieser Stadt etwas herumspricht. Und wie sehr sich jeder ins Zeug legt. Daher bin ich nicht weiter überrascht, als das Telefon klingelt. Obwohl es keinerlei Ankündigung gegeben hat, nichts Offizielles, und ich das Büro noch nicht mal eröffnet habe. Obwohl es kein Mobiliar gibt und das Telefon auf dem Boden steht. Ich vermute, es ist jemand, der uns ein Drehbuch verhökern will, einen Deal für Maggie vorschlägt oder einen Job als Leser sucht, irgendwas in der Richtung. Was mich überrascht, ist, daß der erste Anruf, den ich in meinem neuen Büro erhalte, in gewisser Hinsicht aus Vietnam kommt. 214 KAPITEL DREIUNDZWANZIG Beagle saß allein im Dunkeln. Vor ihm befand sich ein Touchscreen-Monitor. Mit dessen Hilfe konnte er auf jedem einzelnen oder allen zehn Musashi-G-4-HDTV-Bildschirmen zugleich, die in die gekrümmte Vorderwand seines Videoraums eingelassen waren, Bilder aufrufen oder ganze Filme laufen lassen. Die Bildschirme waren in zwei Reihen zu je fünf Geräten angeordnet. Es handelte sich um Flachbildschirme, die plan auf der Wand angebracht waren. Sie wiesen ein Ausschnittverhältnis von 2,4 zu 1 auf, breit genug, um das Gesamtbild all der Filme aufzunehmen, die in den glorreichen Tagen der Breitwandformate wie Todd-AO, Ultra-Panavision 70 und Cinemascope gedreht worden waren. Zeigten sie ein Bild mit geringerer Breite, dann erzeugten sie automatisch ein stumpfes Mattschwarz auf den leeren Bildschirmflächen. Die Wände waren in genau diesem Schwarz gestrichen. Der mittlere Bildschirm in der oberen Reihe war größer als die anderen. Nachdem er Tausende von Stunden Film und Video durchgeschaut hatte, hatte Beagle eine Auswahl getroffen, die, wie er fand, irgendwie das Wesentliche von Amerikas Selbstgefühl im Krieg repräsentierte. Aus den ausgewählten Bildern hatte er etwas zusammengestellt, das sich zwischen Geschichte und Mythologie bewegte. Eine High-Tech-Version einer amerikanischen Mas auf zehn Bildschirmen, Nun wollte er diese Geschichte vor einem Ein-Mann-Publikum, sich selbst, ablaufen lassen, in der Hoffnung, daß er mit ihrer Hilfe 215 verstehen würde, bei welcher Art von Krieg er Regie führen mußte, um sein Land glücklich zu machen. Mittlerer Bildschirm. Das Einholen der spanischen Flagge. Nur ein Bild. Ein Leitmotiv. Ein Trompetenschall aus einer weit zurückliegenden Stille, um die Epoche einzuläuten. Ein Flaggenmast, der sich vor dem Himmel abzeichnet. Ein Paar Hände kommen ins Bild. Sie holen die spanische
Flagge ein. Sie ziehen die Flagge der Vereinigten Staaten auf. Das war schon alles, aufgenommen 1898, als Amerika Spanien den Krieg erklärte.58 Das war der erste kommerzielle Kriegsfilm. Dann erschien oben links auf dem Bildschirm 1 Leni Riefenstahls berühmte Dokumentation von 1934, Triumph des Willens. Hunderttausende von uniformierten Angehörigen der Herrenrasse marschierten, machten kehrt, salutierten, standen stramm, sangen, riefen Heil! Hitler tobt. Das deutsche Volk verkündet damit, daß es sich in die Maschine verwandelt hat, die die Welt beherrschen wird. Sie werden annektieren, terrorisieren, einmarschieren, erobern, auslöschen, verbrennen - und dies ist das Selbstbild, in dem sie es tun werden. Ein Volk, ein Wille. Das ist das Bild, das sie der Welt verkaufen werden und an das die Welt noch glauben wird, lange nachdem Hitler tot und der Krieg verloren ist.59 Auf Bildschirm 5 oben rechts der andere Handlungsfaden: Dezember jth. Das stille, schöne Hawaii. Formationen japanischer Flugzeuge tauchen auf und brummen durch den stillen Himmel. Der heimliche Angriff. Die Japaner erwischen die amerikanischen Schiffe, die im Hafen von Honolulu vor Anker liegen. Die Kette der Schlachtschiffe, Stolz der amerikanischen Flotte, verwandelt sich unter stinkendem schwarzem Qualm 216 in eine Reihe von Wracks. Die amerikanischen Flugzeuge stehen alle am Boden. Schön säuberlich aufgereiht. Perfekte Ziele. Hilflos und ohne Verteidigung werden sie zerstört. Torpedos. Brennende Schiffe. Explodierende Flugzeuge. Flammen. Rennende Seeleute. Zwei Seeleute mit einem Maschinengewehr, die zurückschlagen und in den Himmel schießen. Einer fällt. Der andere feuert weiter. Hinter der Bühne, sozusagen, auf der anderen Seite der Bildschirme, in einem Raum voller Industrieregale, Stahlgerüste, gebündelter Kabel, einem Spaghettiland an Verdrahtung, einer unverkleideten Ansammlung von Monitoren und Bandmaschinen, sah Teddy Brody ebenfalls zu. Teddy war der Videothekar, der durch die Regale eilte, wenn Beagle einen Film wollte, der noch nicht in den Fujitsu geladen und digitalisiert worden war, um ihn zu finden, auf Film, Band oder Disk, und ihn in einen Projektor, Videorekorder oder CD-Spieler zu laden. Er mochte die Reihenfolge, die Beagle zusammengestellt hatte. Die Schlußfolgerungen waren intellektuell derart beziehungsreich, daß Teddy seine fürchterliche Frustration vergessen konnte - hier als Videothekar festzusitzen und mit seinem Wunsch, Regisseur zu werden, nicht weiterzukommen, nicht bis zu einem Posten hochzukommen, daß er sich seinen Eltern zuwenden und sagen konnte: »Heh, ihr Arschlöcher, schaut mal, ich hab's geschafft, ich brauche eure Liebe nicht mehr, nie, nie wieder.« Am meisten gefiel ihm, daß die Basis der Pyramide, das Fundament, die drei Ecksteine, samt und sonders Fälschungen waren. Das Einholen der spanischen Flagge war gar nicht in Manila oder Havanna gedreht worden. Es war auf einem Dach in der Innenstadt von Manhattan entstanden.60 Der Film war ein unglaublicher kommerzieller Erfolg. Die 217 Produzenten Blackton und Smith kamen danach mit der kunstvolleren Schlacht in der Santiago Bay heraus, dem Triumph der amerikanischen Flotte über die der Spanier in Kuba. Der Film war in der Badewanne gedreht worden. Die Schlachtschiffe waren aus Pappe, und der Qualm der Geschütze stammte von einer Zigarette, den Mrs. Blackton über die Kameralinse gepustet hatte. Der ungeheure Aufmarsch, den der Triumph des Willens der Welt zeigte, hat wirklich stattgefunden. Er war allerdings für die Kamera inszeniert worden.61 Das mag heute, wo alles Leben - Intimes, Sport, Politik - sich um die Hauptsendezeit dreht, nicht mehr allzu bemerkenswert klingen. Aber in den Dreißigern wurde Realität noch als real angesehen, und Fotografien logen nicht, und noch nie hatte jemand ein Ereignis mit Hunderttausenden von Menschen inszeniert, nur damit die Kamera das aufzeichnen konnte. December jth gewann einen Oscar als beste Kurzdokumentation.62 Die darin festgehaltenen Bilder wurden zur Vorlage für künftige Filme. Ausschnitte davon tauchten in anderen Dokumentarfilmen auf. Wenn Spielfilme gedreht wurden, in denen der Angriff auf Pearl Harbor vorkam, dann gaben sich die Regisseure große Mühe, sich an diese Vorlage zu halten. Aber alle Kampfszenen in Decemberjth waren getürkt. Die getroffenen Schiffe waren Miniaturmodelle. Sie fingen in einem Wasserbecken, einer größeren, besseren Version der Badewanne aus der Schlacht in der Santiago Bay, Feuer und stießen Rauch aus. Die Seeleute, die durch den Qualm rannten und zurückschössen, rannten über eine Bühne. Der Rauch stammte aus einer Rauchmaschine. Das Wasserbecken und die Bühne befanden sich in Hollywood, Kalifornien, einem Ort, der niemals bombardiert, torpediert oder im Tiefflug angegriffen worden ist.
218 Teddy Brody gefiel das. Er mochte Leni Riefenstahljohn Ford, Blackton und Smith, und auch Mrs. Blackton. Ihm gefielen ihre Unverfrorenheit. Es gab nicht genug Realität, also schufen sie sich eine neue. Teddy hatte viel Zeit in akademischen Kreisen verbracht - er hatte einen B. A. von der Yale Drama School und einen M. F. A. von UCLA -, wo Fakten geprüft wurden und Leute wegen Ungenauigkeit durchfielen und wegen Plagiaten rausgeworfen wurden, also fühlte er sich sehr stark besonderen und reinen Wahrheiten verpflichtet und wußte nicht, wie er dem entkommen sollte. Zudem war sein Vater ein derartiger Lügner gewesen - so unerbittlich und gewalttätig beim Bestreiten seiner Lügen -, daß es für Teddy sehr wichtig geworden war, sich ganz genau zu merken, wer exakt was und wann sagte, wann sie es änderten und wie sie darüber logen. Der Mittelbildschirm wurde schwarz. Neben dem Triumph des Willens erschien Der Sieg im Westen. Hitlers Armeen donnerten auf Bildschirm 2 durch Belgien und Holland nach Frankreich. Hitler glaubte an die Macht des Films. Er zerstörte ganze Städte, nur um Bilder zu erzeugen.63 Beim Vormarsch der Wehrmacht, die Welt zu erobern, hatte jede Kompanie einen Kameramann, und jedes Regiment verfügte über eine eigene PK, eine Propagandakompanie.64 Hitler eroberte Kontinentaleuropa sehr schnell und mit sehr geringem Widerstand. Ein Grund dafür war, daß er seine Feinde davon überzeugte, daß das Tausendjährige Reich unbesiegbar sei. Er kämpfte mit der Macht des Verstands. Als die französischen Truppen den Nazis gegenüberstanden, hatten sie bereits den Massenaufmarsch in Nürnberg gesehen, sie hatten das Ergebnis des Blitzkriegs in Polen gesehen. Sie hatten es auf denselben Leinwänden gesehen, auf denen sie Charlie Chaplin und Maurice Chevalier und die Nachrichten gesehen 219 hatten, die ihnen die Ergebnisse der Fahrradrennen übermittelten.65 Beagle ließ auf einem Bildschirm nach dem anderen Bilder des triumphierenden Feindes ablaufen. Links marschierten die Nazis in Paris ein, eroberten Jugoslawien und Griechenland, Nordafrika, die Ukraine und das Baltikum. Die Gestapo trieb Verdächtige zusammen und karrte Juden weg. Die Deutschen bombardierten unschuldige Zivilisten in London. Wake Island, der Fall Singapurs und der Philippinen erschienen auf den Bildschirmen 4,5,8 und 10, während Japan (feige) vorwärts marschierte und die Amerikaner (heldenhaft) zurückwichen. John Wayne sah dem Todesmarsch von Ba-taan zu. Die Sieger sperrten die Besiegten in brutale Gefangenenlager, wo sie dahinsiechten und starben. Auf dem Mittelbildschirm erschien Casablanca.6b Beagle fand, dieser Film hatte etwas. Im Rhythmus der Geschichte, die er kreierte, zusammenwebte, in Bilder umsetzte, verdiente dieser Film es, aus dem Dunkel aufzutauchen und auf dem Mittelbildschirm zu erscheinen. Das war der Moment der Entscheidung - genau dieser Augenblick, als wir unsere selbstsüchtige Verdrängung aufgaben und unsere Verpflichtung akzeptierten. Alle waren sie in Rick's Cafe Americain erschienen; die Flüchtlinge -Tschechen, Deutsche,Juden, Rumänen und viele andere - loyale Franzosen, Vichy-Franzosen, ein Russe und die Nazis. Und jedermanns Schicksal hing davon ab, was Rick tun würde. Sobald sich Rick entschieden hatte, änderten sich alle Bilder. 220 Bildi Der Bild 2 Mittelbild Bild 4 Bild 5 Wüstenfu Luftschla Das Die chs cht um Reich der Brücke England Sonne am River Kwai Bild 6 Bild 7 Bild 8 Bild 9 Bild 10 The Nazis Divide Sie Bataan Strike & nannten Conquer ihn King wurde zu Bildi Bild 2 Mittelbild Bild 4 Bild 5 Tobruk
Sahara
CASABL Destinatio Dreißig ANCA n Tokyo Sekunden über Tokio
Bild 6 The Rat
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Die letzte Stage Stilwell Unterneh Door Road men Patrol Fahrt der Canteen Tigerspru Bismarck ng Gegen Ende von Sahara hatten Bogart und seine sechs Jungs, darunter ein Franzose, ein Brite und ein schwarzer Sudanese, eine ganze Kompanie der vormals unbesiegbaren Nazis gefangengenommen . Rechts begannen die Vereinigten Staaten, im Pazifik zurückzuschlagen. Danach war Amerika auf dem Vormarsch. Nichts konnte es aufhalten. Das Ganze war halb real, halb Mythos, und beides war schamlos vermengt. Das Militär bot Hollywood Filmaufnahmen, Berater, Ausrüstung, Soldaten, Transport und Kooperation. Im Gegenzug erzählten die Filmemacher nur zu gern die Story, die Washington und seine Soldaten erzählt haben wollten, und zwar genau so, wie sie sie erzählt haben wollten. Mittelbildschirm - Die Schlacht von San Pietro. Der Einleitungs221 text auf dem Bildschirm: »Alle Szenen in diesem Film wurden in Reichweite der feindlichen Gewehre oder des Artilleriefeuers gedreht.« Merkwürdigerweise stimmte das sogar. Während um den Mittelbildschirm herum die Männer in den Kampf rannten, sprangen, stürmten und stürzten, gingen die amerikanischen Soldaten, die sich die Wirbelsäule Italiens hinaufkämpften, hinein. Beagle fragte sich, ob der Film ihn deswegen so berührte, weil dort sein Vater gekämpft hatte. Vielleicht nicht in San Pietro, aber in Italien. Wo er verwundet worden war. Jedesmal, wenn er sich die Aufnahmen anschaute und sah, wie die Männer weggetragen wurden oder auf den Tragbahren liegend warteten, schaute er hin, ob er nicht das Gesicht seines Vaters entdeckte. Das gelang ihm nie, selbst im Standbild und in digitaler Vergrößerung nicht. Aber er war sicher, daß das Gesicht seines Vaters wie eines der Gesichter in dem Film ausgesehen haben mußte. So außergewöhnlich gewöhnlich. Unrasiert. Zigarette rauchend. Nach einer Tasse Kaffee gierend. Sich nur ein einziges frisches Gemüse wünschend, ein Stück Zwiebel, ein Bad. Sein Vater war tot. Er konnte ihn nicht fragen: »Dad, warst du in San Pietro? Hast du da dein Purple Heart gewonnen? Hast du mehr für dein Land empfunden als ich? Und kann ich da auch irgendwie hinkommen? War es damals besser? War es so gut, wie sie es in den Filmen darstellen?« Die Männer gingen in den Kampf. Der Film war ohne Ton gedreht worden. Major John Huston, der Regisseur, sprach den Text: »Sie trafen auf ein Sperrfeuer aus automatischen Waffen und Mörser. Freiwilligenpatrouillen unternahmen verzweifelte Anstrengungen, die feindlichen Linien zu erreichen und die starken Stellungen zu schwächen. Keine einzige dieser Patrouillen kam jemals lebend zurück.« 222 Von all den Hunderten von Kriegsfilmen, die Beagle gesehen hatte, hielt er diesen für den Besten. Er begann mit Bildern von kahlen Feldern und Bäumen ohne Früchten. Er beschrieb die Schlacht einfach und klar. Er zeigte den Kampf. Er erläuterte, was geschah. »Sechzehn Panzer rollten die Straße entlang. Drei erreichten den Stadtrand. Davon wurden zwei zerstört, einer blieb vermißt.« Er sprach von den Verwundeten. »Es war eine verheerende Schlacht. Danach brauchte allein das 143. Infanterieregiment elfhundert Mann Ersatz.« Aber schließlich wurde die Schlacht gewonnen. Die Deutschen zogen sich zurück. Die Italiener, Dörfler und Kleinbauern, kamen aus den Höhlen, in denen sie sich versteckt hatten. Huston zeigte die Gesichter der Kinder und alten Frauen. Er sagte: »Die neugewonnene Erde bei San Pietro wurde gepflügt und eingesät und sollte dieses Jahr eine gute Ernte tragen. Und die Menschen beten zu ihrem Schutzheiligen, bei Gott im Namen derer vorzusprechen, die kamen und sie befreiten und mit der vorüberziehenden Schlacht nach Norden zogen.« Beagle ließ alle Bildschirme schwarz werden, damit er diesen Schluß hören konnte. Bang! Und wieder füllten sich die Bildschirme. Die Flugzeuge flogen über Deutschland und gegen die Japaner. Originalaufnahmen wie Memphis Belle. Getürkte wie Memphis Belle, der Kinofilm, der fünfzig Jahre später über den Dokumentarfilm gedreht worden war. Kommandeur. Victory Through Air Power (in dem sich Walt Disney für die Bombardements auf zivile Ziele stark machte), Stählerne Schwingen Qohn Wayne). Ohne Rücksicht auf Verluste, der zeigte, daß wir keine moralischen Skrupel haben mußten, Städte zu bombardieren - obwohl das eines der Verbrechen der Nazis war -, weil unsere Bombardements präzise waren. Wie präzise? Einer von der Besatzung sagt: »Schmeiß eine in den Schornstein.« Unten 223
stehen drei davon. Bombenschütze: »In welchen?« Besatzung: »Den in der Mitte.« Bombenschütze: »Das ist einfach.« Der mittlere Bildschirm wird wieder dunkel. Doch darunter auf Bildschirm 8, singt Donald Duck, »Heil, Heil, right in the Führer's face«. Bugs Bunny und Daffy Duck kämpfen im Krieg. Bing Crosby preist in einem Lied Kriegsanleihen an. Fred Astaire geht tanzend zur Armee. Gene Kelly zieht tanzend in den Krieg. Benny Goodman, Peggy Lee, Glenn Millerjoe E. Brown, Bob Hope und eine Menge Mädchen mit Brüsten und Beinen, deren Namen in Vergessenheit gerieten, Bette Midier in Forthe Boys - Tage des Ruhms, sie alle singen und tanzen und machen aus diesem Krieg, der ein gerechter Krieg war, einen heiteren, vergnüglichen Krieg. Eine Welle von Seegefechten schwappt über die Bildschirme. Jede Menge Ausschnitte aus Victory at Sea, der Fernsehdokumentarserie, die aus echten Aufnahmen, die während des Krieges gedreht worden waren, zusammengestellt wurde. Aber dann laufen Charlton Heston und Henry Fonda direkt ins Bild.67 Mittelbildschirm. Der nächste große Handlungshöhepunkt68 -Der Längste Tag - D-Day. Jetzt kommt Action auf die Bildschirme. Viel mehr Farbe, weniger Schwarzweiß. Mehr Spaß, weniger Verbissenheit. Das Dreckige Dutzend, Stoßtrupp Gold, Kennwort »Schweres Wasser«, Die letzte Schlacht, Die Brücke von Remagen, Unternehmen Petticoat, Stalag TJ, Gesprengte Ketten, War andRemembrance, Die Kanonen von Navarone, b Paris BurningP, Die Hölle sind wir, Zu spät für Helden, Unternehmen Pferdeschwanz. Jede Menge Stars, als wäre eines der Geheimnisse des Krieges, daß sie alle dabeigewesen waren und sich unter die einfachen Soldaten gemischt hatten. Wieder ließ Beagle alle anderen Bildschirme dunkel werden und kehrte zum Mittelbildschirm zurück. 224 Wieder war Teddy von Ehrfurcht ergriffen, wie perfekt die Auswahl getroffen war. Die Befreiung von Paris. Echt. Nicht nachgestellt. Spontan, nicht geplant. Ein unglaublicher Augenblick, voller Blumen und Freudentränen, voller Siegesstolz und voller Frauen, die die siegreichen Truppen küssen. Das waren Bilder, die all die Mühen des Krieges wert waren, so wie das Lächeln eines Babys plötzlich den Schmerz begräbt, den eine Mutter bei der Geburt erlitten hat. Das war das Paris unserer Träume, das Amerika ihrer Hoffnungen. AUSBLENDEN. Pause. Ruhe. Korea. Diese erbärmlichen kahlen Hügel. Der Schnee. GIs in schweren Übermänteln, die Mützen unter den Stahlhelmen tief herabgezogen. Unrasiert. Irrer, starrender Blick. Geschlagene Amerikaner. Amerikaner auf dem Rückzug. Tatsächlich gibt es darüber nicht allzu viele Filme. Jenseits der Hölle. Mit Blut geschrieben. Und der Herr sei uns gnädig. Hinter feindlichen Linien. Dokumentaraufnahmen. Ausschnitte aus MacArthur. Nichts auf dem Mittelbildschirm. All die Bilder waren klein. SCHNITT ZU: Vietnam. Nachrichten. Im Zweiten Weltkrieg waren die meisten Dokumentaraufnahmen von den Streitkräften gedreht worden. Das hieß, sie gehörten ihnen, und sie kontrollierten sie. In Vietnam wurden sie von Zivilisten gedreht. Sie waren jederzeit greifbar und unzensiert. Beagle füllte alle Bildschirme mit dem Rohmaterial des Krieges. Ton von Bildschirm 2. Das Bild eines sehr durchschnittlich aussehenden Typen. »Das erste Mal, als ich wußte, daß ich jemanden getötet hatte, das war ein unglaubliches Gefühl von Macht«, sagt er. »Das waren Schlitzaugen, die waren nicht wie du und ich. Das waren Gegenstände.« Es handelte sich um einen Dokumentarfilm, Frank: A Vietnam Veteran. 225 »Wenn du zu Sonnenaufgang losziehst... und du suchst dir eine Stellung, und du bist ganz leise, und du wartest, dann bist du der Jäger, du bist der Jäger. Da ist dieses unglaubliche ich meine unglaubliche Gefühl von Macht, wenn man fünf Menschen tötet... das kann ich nur mit einem Samenerguß vergleichen. Dieses ungeheure Gefühl von Befreiung: dieses »Ich hab das gemacht«. Ich war sehr mächtig. Wohin ich auch ging, ich hatte eine Waffe... Ich erinnere mich daran, ich lag im Bett, irgendeine Frau auf mir, und ich schoß Löcher in die Zimmerdecke. Ich mein, da ging mir echt einer ab. Wo sonst, wo sonst auf der Welt hattest du diese Art von Freiheit... Ich war nicht Frank Barber, ich war John Wayne, ich war Steve McQueen, ich war Clint Eastwood.« Erkenntnis. Niemand erträgt so viel Realität. SCHNITT ZU: Fiktion. Geboren am 4. Juli, 84 Charlie MoPic, Der steinerne Garten, Go Tellthe Spartans - Die letzte Schlacht, Hamburger Hill, Platoon, Stoßtrupp durch die Grüne Hölle, FüllMetaljacket, Die Verdammten des Krieges. Er ließ den Mittelbildschirm, die große Leinwand, dunkel. Ein flaches schwarzes Loch. Er ließ die Bilder über sich fluten. Das waren ein paar verdammt gute Regisseure. Stone, Kubrick, De Palma, Coppola, Scorcese, Cimino, die Besten. Er überließ sich dem Gefühl. Das war nicht gut. Beinlose Krüppel. Lügen und Unwahrheiten. Brennende Kinder. Er
suhlte sich darin. Drogen. Drogensüchtige, verrückte Veteranen mit Gewehren. Die Fiktion war greller als die Nachrichten, aber die Story war dieselbe. Vergewaltigungen. Double veterans.69 Hinterhalte, Todesfallen, abgeschossene Genitalien. Brennende Hütten. War es wirklich so schlimm gewesen? Hatten all die Ideale sich in Wahnsinn und Trauer verwandelt? Waren die Amerikaner die Nazis geworden? Besetzen ein fremdes Land. Üben Rache an der Zivilbevölkerung. Aus Lidice70 wurde My Lai. Es muß wohl die deutsche Luftwaffe gewesen sein, die 226 diese B-52-Bomber flog und mit Hanoi das gleiche tat, was sie mit Rotterdam und London getan hatte. Kein Fortschritt, nur Morast. Keine Eroberung, nur Verzweiflung. Truppen widersetzten sich ihren Vorgesetzten, töteten sie. Und ihre Vorgesetzten, gefühllose Monster, offensichtlich ohne irgendeine Vorstellung davon, wie dieser Krieg gewonnen werden konnte. Größere Bomben und geringere Resultate. Beagle schaltete plötzlich alles aus. Es gab noch mehr. Aber Beagle war noch nicht soweit, sich das anzuschauen. Vielleicht weil es unweigerlich zu einem Schluß führte? Das Signal zum Handeln gab? Eine Entscheidung forderte, nach der er sein Zimmer verlassen und sich der Welt stellen mußte, um herauszufinden, ob er diesmal -endlich - gescheitert war? Auf der anderen Seite der Wand lehnte sich Teddy Brody zurück, ausgelaugt. Er hatte sich diesen Kriegsscheiß nun seit Monaten angeschaut, und er hätte immun dagegen sein müssen. Jedenfalls hätte er den Schock der Vietnamaufnahmen längst überwunden haben müssen. Er war nach Vietnam großgeworden, und sein bewußtes Leben hatte in der Periode des Revisionismus begonnen, die so kurze Zeit danach einsetzte. Als er zwanzig war, schien es, als seien nur die ausgeflippten, die verrückten, zugedröhnten, langhaarigen, Rock'n Roll hörenden Jointwichser gegen den Krieg gewesen. In einer Verschwörung mit den Fernsehleuten, um die noblen Kämpfer zu verraten. Ein kurzer Trip zurück in die Wirklichkeit war zuviel Realität. Wie waren die Amerikaner von John Wayne nur bis dahin gekommen? 227 KAPITEL VIERUNDZWANZIG Die Stimme in der Leitung, als ich den Hörer abnehme, gehört Steve Weston. Er sagt, er hätte über mich in der Zeitung gelesen. Ich wußte nicht, daß so viele Leute »Sherie« lesen. Ich vermute, das ist wahrscheinlich so ähnlich wie in der Nase zu bohren. Man macht es nur dann in Gegenwart anderer Leute, wenn sie ohnehin wissen, daß man's macht. Im Hintergrund höre ich eine Musikbox und typische Kneipengeräusche. Es ist ein Wochentag, daher überrascht mich das. Wenn man Steve sieht, aber auch schon dann, wenn man ihn nur hört, fällt einem als erstes auf, daß er schwarz ist. Aber das heißt nicht, man würde automatisch erwarten, daß er am hellichten Tag aus einer Kneipe anruft. Steve kam mit der Einstellung aus Vietnam zurück: »Ich bin froh, daß es vorbei ist. Ich bin lebend und wohlbehalten da rausgekommen, und den Rest meines Lebens werde ich völlig normal und friedlich verbringen.« Eine Menge Leute sind nicht so zurückgekommen. Eine Menge Leute sind zurückgekommen und haben gedacht, die Welt ist ein Klo, und ich werde reinscheißen. Schnapp dir, was du kannst und so schnell du kannst, und nach mir die Sintflut. Oder: Ich bin losgezogen und habe für euch gekämpft, und jetzt schuldet ihr mir das Leben eines Helden und das Einkommen eines Helden, und wenn ich's nicht kriege, zieh ich mich in den Schmollwinkel zurück. Ich habe Glück. Ich wußte schon immer, daß die Welt ein verdammt harter und schmutziger Ort ist. Daß sich kein Mensch für Helden interessiert. Es heißt immer: »Aber was 229 hast du in letzter Zeit für mich getan?« Das hat mein Daddy mir mitgegeben. Er hat dafür gesorgt, daß ich keine Illusionen zu verlieren hatte. Als Steve dann also zurückkam, hat er sich, wie er es nannte, eine gute Frau gesucht. Eine Frau, die regelmäßig in die Kirche geht. Die normale Babys wollte, dick werden, das Haus sauberhalten und Essen auf den Tisch bringen. Er suchte sich einen festen Job. Zuerst in einer Autowaschanlage oder so was, für das sich eine Menge Leute zu gut vorkamen. Er machte noch einige andere Jobs, versuchte dabei aber immer, bei GM unten in Van Nuys ans Band zu kommen. Er brauchte dafür einige Jahre. Schließlich schaffte er es. Man muß in der Gewerkschaft sein, ungelernte Arbeiter kommen auf einen Spitzenverdienst, inzwischen 17 Dollar oder mehr die Stunde. Das bedeutet einen Grundlohn von 35000 Dollar im Jahr, Ferien, Urlaub, Krankengeld plus Krankenversicherung, Rente und das alles. Jeder, der will, kann mit Überstunden leicht auf 45000 Dollar, ja sogar 70000 Dollar kommen. »Ich hab das gesehen, und da hab ich mich doch gleich gefragt, gibt's mehr als einen Joe Broz? Aber ich
sag mir, nein, das muß er sein, denn der Typ, den ich kenne, der hat mehr in den Eiern als im Kopf. Und deshalb liebt sie ihn so, stimmt's nicht, Joe?« Vier Kinder, eine fette Frau, vier Autos, ausnahmslos Chevies, was zum Teufel hat er an einem Mittwoch vor dem Mittagessen in einer Kneipe zu suchen und dabei gleichzeitig viel zu vergnügt und trotzdem traurig zu klingen? »Was ist los, Steve?« »Bei mir ist alles bestens. Alles bestens. Ich hab das gesehn, und da mußt ich einfach anrufen. Ich hab im Büro angerufen, und die sagen, du wärst weg. Für immer. Die haben mir dann eine Nummer gegeben, und da hat sich eine wirklich nette Lady gemeldet. Ich frag mich, ist das Magdalena Lazlo, mit 230 der ich rede? Also frag ich, ob sie's ist? Und sie ist's. Ich sag, ich bin ein alter Freund von dir, du weißt schon, aus Vietnam. Und sie sagt, du würdest dich ganz bestimmt freuen, von mir zu hören, weil nämlich Vietnam eine wesentliche Erfahrung in deinem Leben gewesen sei, und dann gibt sie mir diese Nummer. Wo bist du?« »In meinem neuen Büro. Was ist los, Steve?« »Nichts ist los, verdammt. Ich bin okay. Du bist okay. Semper gottverdammt fidelis. Marinesforever. Ich hab nur gesehen, daß dir was echt Gutes passiert ist, und deshalb wollte ich nur mal kurz anrufen.« »Wie geht's deiner Frau?« »Der geht's prächtig, der geht's prächtig. Sie ist zwar nicht so prächtig wie deine, aber ihr geht's prächtig.« »Die Kinder? Wie geht's den Kindern?« »Den Kids geht's prächtig. Manchmal machen sie einem Probleme, aber dafür sind sie ja da. Die halten einen mit ihren Problemen auf Trab, damit man nicht soviel an seine eigenen denkt. Aber sie machen auch nicht mehr Probleme als alle anderen Kids.« »Wo steckst du?« »Guter Laden, das hier. Er heißt Ray's Sweetwater. Direkt hier unten, wo ich wohne.« »In Baidwin Hills? Bleibst du noch eine Weile da?« »Ja, schätze schon. Ich schätze schon.« »Wieso komm ich dann nicht vorbei, und wir trinken ein paar zusammen?« »Komm ruhig vorbei, aber besser war's, wenn du für einen Mulatten durchgehst«, sagt er. Er findet das ziemlich komisch, und ich höre ihn glucksen, als er auflegt. Ich betrete Ray's Sweetwater. Den Laden würde man eher in Watts als in Baidwin Hills vermuten. Es ist kühl und dunkel, 231 besonders wenn man aus der hoch am Himmel stehenden sengenden Sonne Südkaliforniens hereinkommt. Man kennt die Szene aus dem Kino. Meistens aus Western. Ein Fremder betritt eine Bar. Plötzlich absolute Stille. Tödliche Blicke. Schnitt auf den härtesten hombre im Raum. Schnitt, als der Barkeeper und verschiedene Speichellecker ihn ansehen und auf ihr Stichwort warten. Wird er den Fremden jetzt sofort umlegen, oder spielt er erst noch mit ihm? Sie wissen natürlich nicht, daß ich kein echtes Schlitzauge bin, ich bin David Carradine, ein Shaolin-Mönch, und ich kann schneller zutreten, als ein normaler Mann schießen kann. Ich bin Alan Ladd, aber die Leute nennen mich einfach Shane. Plötzlich eine Stimme von ganz weit hinten aus dem Raum, von einer Nische hinter dem Pool-Tisch. »He, Leute, laßt ihn gottverdammt in Ruhe. Er ist ein Nigger wie wir. Das ist nur ein fleischfarbenes Pflaster auf seinem Gesicht.« So ziemlich alle lachen. Manche scheinen den Witz komischer zu finden, als er es verdient hat, aber es ist alles freundlich. Die Spannung in der Kneipe schwindet. Jemand hat sich für mich verbürgt. Ich gehe als Schwarzer durch. Ich gehe nach hinten. Die Musik ist nicht übel. Altmodisch, eher R&B als Rap. Sie kommt aus einer CD-Musikbox. Steve sitzt mit vier anderen Typen an einem Tisch. Drei von ihnen sind Ende Vierzig, Anfang Fünfzig, der vierte Bursche ist älter, mindestens sechzig, das Haar schon fast ganz grau. Alle trinken Bier zu ihren Snacks. Erdnüsse und Krustenspeck. Ich setze mich. Die Unterhaltung verstummt. Es ist nicht feindselig, sondern einfach nur still. Eine junge Kellnerin in Lycra-Top und -Unterteil, Pink und Lila, kommt rübergeschlendert und schiebt ihre üppige Hüfte vor. Der alte Knabe mit den grauen Haaren tätschelt sie liebevoll. Sie sagt ihm, er sei zu alt. Er sagt, das Problem war nicht, daß er zu alt ist, er sei zu groß. Ich bestelle eine Flasche Bud und für jeden 232 noch mal dasselbe. Ich halte ihr einen Zwanziger hin, den sie mir aus der Hand reißt. »Gib dem Mann Wechselgeld raus«, sagt Steve. »Mach hier keine Spielchen.« »Er ist ein Weißer«, sagt der alte Mann zu einem der jüngeren. »Wieso fragen wir ihn nicht?«
»Tja, das heißt aber nicht, daß er die Wahrheit kennt. Könnte ja auch gut sein, daß er keine Ahnung hat.« »Ich sage, wir fragen ihn.« »Ich sage, du bist voller Scheiße.« »Der hier, der mit den grauen Haaren und dem großen Mund, das ist Marlon Mapes«, sagt Steve. »Das da sind Red und Kenny und Shavers.« »Wir haben hier gerade eine Diskussion. Und diese Idioten, die können die Wahrheit einfach nicht erkennen«, sagt Red. »Bist du bereit für die Wahrheit, weißer Mann?« »Er ist ein Freund von mir.« »Er ist ein weißer Freund von dir«, sagt Kenny. »Und das ist die Wahrheit.« »Es gibt Orte und Zeiten, da spielt weiß oder schwarz keine Rolle«, sagt Steve. »Spielt immer eine Rolle«, sagt Red. »Immer«, sagt Shavers. »Und wann, bitte schön, spielt's keine Rolle?« will Marlon wissen. »Es spielt immer eine Rolle«, sagt Red. »Das ist doch der springende Punkt.« »Absolut. Schwarz, weiß. Springender Punkt. Du hast recht, du hast recht.« "Okay, Steve, wann spielt's keine Rolle?« Er kann nicht einfach sagen: »Vietnam - in Vietnam hat's keine Rolle gespielt.« Denn das hat es. Es hat beim Urlaub eine Rolle gespielt. Es hat in der Basis eine Rolle gespielt. Es hat eine 233 Rolle gespielt, wenn eine Platte aufgelegt, Alkohol besorgt oder Dope genommen werden sollte, Beförderungen anstanden und Befehle befolgt werden mußten. Es hat die ganze Zeit und jeden einzelnen Tag eine Rolle gespielt. Wir beide wußten das. Aber manchmal hat's eben keine Rolle gespielt. Es hat auf Patrouille keine Rolle gespielt. Wenigstens nicht für Steve und mich. Bei einem Feuergefecht hat's keine Rolle gespielt. Es hat keine Rolle gespielt, wenn der Vietcong und die NVA verkündeten, ihnen ginge es um etwas, das über Rassen hinausging»Es hat keine Rolle gespielt, als ich da im Sterben lag«, sagt Steve. Er muß ziemlich betrunken sein, daß er das sagt, denke ich. Er steht auf. Er zieht sein Hemd aus der Hose. Er ist fett geworden. Hier steht kein magerer Marine frisch von Parris Island, dem der nackte Bauch jetzt über den Gürtel hängt und dessen Narben zwanzigjahre alt sind. »Getragen hat er mich, als ich verblutete. Aus einem Hinterhalt und auf seinem Rücken.« »'scheinlich hat er deinen fetten Wanst als Schild gegen die Kugeln gebraucht«, sagt Red. Das sind gefährliche Worte, denn hier handelt es sich um eine heilige Erinnerung. Das kriegt jeder mit, und die anderen sagen, er solle den Mund halten. Kenny schiebt sich zwischen Red und Steve. Das LycraMäuschen taucht mit den Bieren und einem Gin Tonic auf. »Ich war nicht in Vietnam«, sagt Red. »Ich und Muhammad Ali. Auf mich hat nie ein Vietcong geschossen. Weiße Männer benutzen schwarze Männer, um ihren Krieg zu kämpfen. Wir sind Kanonenfutter.« »Leck mich, Red«, sagt Kenny. »Du bist blöd. Ich war in Vietnam. Wenn du nicht endlich die Schnauze hältst, kriegst du von mir eine rein.« »Ihr müßt einfach kapieren«, sagt Steve, »wie's damals war.« 234 »Die müssen das nicht hören. Das ist eine alte Geschichte«, sage ich. Ich schenke das Bier in mein Glas. Es sieht nicht so golden aus wie im Fernsehen. Es sieht gelb aus, wie Pisse. Muß am Licht liegen. »Was der Vietcong gern getan hat, die haben dafür gesorgt, daß in einer Vernichtungszone ein Mann schwer verletzt wurde. Er mußte schreien. Es funktioniert besser, wenn er schreit. Dann versuchen seine Kumpels, ihn da rauszuholen. Du hast zwei Möglichkeiten. Du sitzt einfach da, hörst dir an, wie
dein Kumpel schreit, und tust gar nichts, und du fühlst dich wie ein Stück Scheiße, weil nämlich dein Kumpel schreit und weil du nichts unternimmst. Oder du gehst los und versuchst, ihn rauszuholen. Und dann, wißt ihr, was dann passiert? Nicht nur, daß du abkratzt, du kommst dir beim Abkratzen auch noch wie das letzte Arschloch vor.« »Und man will sich ja nicht wie ein Arschloch vorkommen, wenn man stirbt«, sagt Marlon. »Das macht das Ganze ja nur noch schlimmer. Hm-hmmmh.« »Genau so war's damals«, sagt Steve. »Das müßt ihr verstehen. Ich hab geschrien, und dieser Mann hier... dieser Mann, der ist gekommen und hat mich geholt, er hat mich rausgetragen.« Das stopft allen den Mund. Wenigstens für den Augenblick. Die Klimaanlage summt. Kondenswasser auf den Flaschen. Aaron Neville in der Musikbox. »Hör mal zujoejoe, so heißt du doch? Richtig? Hör mal zu«, sagt Red. »Ich will, daß du all den Leuten hier, die jetzt an diesem Tisch sitzen, die Wahrheit sagst. Der weiße Mann hat Angst vor dem schwarzen Mann. Das ist doch eine Tatsache, richtig?« »Hör dir die Scheiße gar nicht erst an.« »Na los, antworte dem Mann.« »Eine Menge Weiße haben Angst vor Schwarzen«, sage ich. 235 »Vor schwarzen Männern«, korrigiert Red. »Der weiße Mann hat Angst vor dem schwarzen Mann. Die schwarze Frau ist ihm egal. Ab und zu hat er nichts gegen dunkles Fleisch, das ist doch mal eine Tatsache.« »Vor der schwarzen Frau hat überhaupt keiner Angst«, sagt Kenny. »Außer dir. Du hast Angst vor deiner Mama und vor deiner Frau, die schwärzesten Frauen, die ich je gesehen hab. Und die haben dir den Arsch versohlt.« »Ich stell hier eine ernste Sache klar«, sagt Red. »Also halt dein dummes Quatschmaul. Das ist wieder mal typisch, Marlon. Irgendwer sagt irgendwas, und du gibst deinen blödsinnigen Senf dazu, weil du einfach nicht die Konzentration hast, dich mit Problemen auseinanderzusetzen. Verstehst du, was ich sage? Keine Konzentration.« »Willst du jetzt was klarstellen oder nicht?« »Will ich. Halt einfach mal deinen Mund und warte ab. Der weiße Mann wird alles tun, um den schwarzen Mann fertigzumachen. Das ist doch eine unbestreitbare philosophische Wahrheit. Oder?« »Amen.« »Hm-hmmmh.« »Ist die Wahrheit«, sagt Marlon. Alle sehen mich an. Ich sage: »Will noch einer eine Runde?« »Laß dich von denen nicht fertigmachen«, sagt Steve. »Ich hab kein Problem damit, ich bin Biertrinker.« »Absolut richtig,Mann«, sagt Marlon. Er macht der Kellnerin ein Zeichen. Bei der Aussicht auf einen weiteren Gratis-Drink schlürft er den Gin Tonic, der augenblicklich vor ihm steht, etwas schneller als zuvor. »Worauf ich hinaus will, ist AIDS.« »Oh, Lord, schütze meinen Schwanz«, sagt Marlon. »Habt ihr's schon mal mit Safer Sex probiert?« sagt Shavers. »Scheiiiiße, genausogut kann man sich's selbst machen. Und 236 Gummis, da bist du besser dran, wenn du's dir selbst machst.« »Bei den Schlampen, mit denen du's getrieben hast, brauchst du sowieso ein Ganzkörperkondom«, sagt Marlon. »Du bist so alt, wenn du ihn überhaupt noch hochkriegst, stirbst du wahrscheinlich eher vor Glück und Überraschung, bevor du an AIDS abkratzt«, sagt Shavers. »Das Problem mit euch Männern ist, ihr quatscht so viel Scheiße und Müll, da vergeßt ihr glatt, daß hier eine politische Sache abgeht.« »Kein Mensch vergißt, daß hier eine politische Sache abgeht«, sagt Steve. »Und auch eine wirtschaftliche. Wir wollen's einfach nur vergessen.« »In den Sechzigern war der schwarze Mann auf dem Weg nach oben«, sagt Red. »Und das konnte der weiße Mann einfach nicht ertragen. Amerika konnte's nicht ertragen. Also hat sich Whitey überlegt, wie er den schwarzen Mann aufhalten könnte. Die CIA hatte damals das Sagen. Das ist jetzt mal eine allgemein bekannte und belegte Tatsache. Selbst die verlogenen, dauernd rumlavierenden, von Juden geleiteten weißen Medien geben diese Tatsache zu. Die da lautet, daß die CIA unter dem Namen Air America zum größten Heroin-Schmuggler des ganzen Planeten wurde. Die haben das Opium aus dem Goldenen Dreieck geschmuggelt, und die haben sich mit der italienischen und jüdischen Mafia abgesprochen, ausschließlich im schwarzen Ghetto zu verkaufen. Um den schwarzen Mann zu vernichten.« »Das ist die Wahrheit.« »Ich hab's gelesen.« »Amen.« "In Ordnung«, sagt Red. »Weißer Mann, willst du das vielleicht bestreiten?« "Bist du bei der CIA?« fragt Shavers aus heiterem Himmel. 237 Alle starren mich an, als wäre ich vielleicht wirklich ein CIA-Agent und Shavers einer wichtigen
Sache auf der Spur. »Mein Mann hier und bei der CIA?« sagt Steve. Er legt eine Hand auf meine Schulter. Wie betrunken ist er? Was wird er sagen? Es gibt Dinge, die er weiß und die diese Leute nicht erfahren sollten. »Ihr habt ja keine Ahnung, ihr könnt euch nicht mal die Hälfte von dem vorstellen, was dieser Mann hier getan hat. Aber laßt euch von mir was sagen. Ihr könnt einen Menschen nicht nach seinem Äußeren beurteilen. Er sieht vielleicht aus wie ein Redneck, wie ein beschissener Pollack, aber er ist ein echter Lover. Genau das ist er. Mein Mann hier, zu dem ihr so ausgesprochen unhöflich seid, mein Mann hier ist die große Liebe von Magdalena Lazlo.« Dazu muß natürlich jeder einen Kommentar abgeben. Keiner davon ist beleidigend, die meisten sind beeindruckt. Bis auf Red. »Weißt du, ich bin gerade dabei, meine philosophische Sache klarzustellen, und ich möchte damit wieder fortfahren, wenn ihr endlich damit fertig seid zu bewundern, was für eine tolle...«Er sieht mich an und beschließt, nicht >Muschi< zu sagen. An diesem Zögern, das nicht aus Höflichkeit erfolgt, sondern das Akzeptieren einer Grenze ist, erkenne ich, daß die Situation nicht gefährlich ist. Es sind einfach nur fünf alte Männer, wenn auch nicht notwendigerweise mit mehr Jahren auf dem Buckel als ich, aber sie sind alt. Sie werden sich ganz sicher nicht in ihrem schwarzen Bewußtsein erheben und einen Zwischenfall provozieren, um diesen speziellen Weißen zu vernichten. Fünf Männer, die nichts Besseres zu tun haben, als sich tagsüber im hinteren Teil einer Kneipe zu treffen, die Zeit totzuschlagen, sich an billigem Bier festzuhalten, über Zeugs zu reden, das kein Handeln nach sich zieht, einfach nur zu reden, um die Zeit totzuschlagen, weil sie nicht wissen, was sie sonst machen sollen. Sie haben keine Aufgabe. Keine Funktion. Keinen Job. 238 Keinen Job. Genau das ist mit Steve passiert. »Aber das hat noch nicht gereicht. Also beschließt die CIA, die größte Stärke des schwarzen Mannes anzugreifen. Deshalb haben sie eine Krankheit erfunden, die man sich mit dem Schwanz holt. Acquired Immune Deftciency Syndrome. Und den Feldversuch haben sie in Afrika gestartet. Und dann haben sie es nach Amerika gebracht. Wißt ihr, der schwarze Mann hat mehr Spaß am Sex als der weiße Mann, außerdem hat er einen größeren, mächtigeren Schwanz als der weiße Mann, und er benutzt ihn auch öfter! Na, stimmt das nicht? Ist das nicht die Wahrheit, weißer Mann?« »Keine Ahnung«, sage ich. »Ich hatte noch nie den Schwanz von einem schwarzen Mann. Woher weißt du überhaupt soviel über die Schwänze von weißen Männern?« »Oh-oh! Er hat dich.« »Und ob er dich hat.« »Amen.« Sie lachen und wiederholen die Pointe. »Steve«, sage ich leise, »können wir beide mal reden ? Unter vier Augen. Ich muß mit dir was besprechen.« Er schaut sich um, entdeckt eine leere Ecke auf der anderen Seite des Billard-Tisches. Er schnappt sich sein Bier am Flaschenhals und wuchtet sich hoch. Ich kralle mir meine Flasche und folge ihm. Wie es scheint, muß er weder etwas erklären noch sich entschuldigen. Als wir uns entfernen, höre ich Red immer noch reden. »Okay. Er hat eine witzige Bemerkung gemacht. Aber ich rede hier von der Wirklichkeit, und ihr stellt euch wissentlich blöd. Die CIA hat AIDS gemacht. Es war das Establishment, der weiße, verklemmte Gegenangriff des GeldsackEstablishments auf die Freiheit und den Spaß. Lest doch die Statistiken, verdammte Scheiße. Vergeßt die Schwulen, das ist alles nur ein Ablenkungsmanöver. Ein Ablenkungsmanöver, 239 um das eigentliche Ziel zu verschleiern. Das eigentliche Ziel seid nämlich ihr.« Steve und ich setzen uns. Er besitzt eine Menge Stolz, und ich merke, daß er im Moment unwahrscheinlich gekränkt ist. Ich vermute zwar nur, daß er seinen Job verloren hat, bin mir aber ziemlich sicher, daß ich recht habe. Als er diese Geschichte erzählt hat, wie ich ihn rausgetragen habe, hat er sich nicht die Mühe gemacht zu erwähnen, daß er den Gefallen erwidert hat. Steve ist ein Mensch mit einem gewissen Stolz. Er weint nicht, und er bettelt um nichts. Selbst als er dort draußen lag, in der Vernichtungszone, hat er vielleicht wie der Teufel geflucht, aber geweint hat er nicht, und gebettelt hat er auch nicht. Wenn er mir nicht erzählen will, daß er ein Mann mit einer Frau und vier Kindern ist und keine Ahnung hat, womit er sich seine Brötchen verdienen soll, dann werde ich ihn auch nicht danach fragen. Ich verstehe diese Art von Stolz. Also überlege ich mir was, wie ich ihm helfen kann, während ich gleichzeitig so tue, als würde ich's nicht tun. Was, wie sich herausstellt, eine Idee ist, auf die ich so oder so hätte kommen sollen. »Ich hoffe«, sage ich, »daß du dich eine Weile von deinem Job freimachen kannst. Ich brauche Hilfe. Es gibt nur zwei Menschen auf der Welt, denen ich vertraue. Und joey ist tot.« Steve kannte Joey. Er weiß, wie joey gestorben ist. Er war dabei. Joey ist in Vietnam gefallen. »Also, wenn du von deinem beschissenen Fließband wegkommen kannst, hab ich einen Job für dich. Ich kann dir keine siebzehn
irgendwas die Stunde bezahlen, aber fünfzehn sind schon drin, falls dir das reicht.« »Tja, Mann, du hast Glück.« »Freut mich zu hören.« »Die Schweinebande von General Motors macht den beschissenen Laden dicht. Natürlich bauen sie nicht die Stellen 240 des Direktors und der Manager ab, nein, sie endassen die Nigger und die Rednecks am Band. Wie viele Jahre hab ich jetzt Chevrolets gebaut? Wie viele Jahre hab ich amerikanische Autos gebaut und gekauft? Wie viele Jahre joe? Scheiße.« »Tut mir leid, das zu hören.« »Du hast's dir doch gedacht, oder? Daß ich eine Pechsträhne hab. Du bist mein Freund. Was nicht leicht ist, von einem weißen Mann zu sagen, aber scheiß drauf joe. Ich brauch keine Almosen. Nein, brauch ich nicht und will ich auch nicht.« »Scheiße, Steve. Setz dich. Ich brauche Hilfe. Setz dich, ich erklärt dir.« 241 KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG Beagle machte sich wieder an die vorprogrammierte Montage. Was nun kommen würde, war unausweichlich. Es hatte eine zweite Welle von Vietnamfilmen gegeben. Diese hatten inzwischen eine revidierte Erinnerung an das Geschehen erschaffen und auch etabliert. Und genau an den Ort, wo diese Filme spielten, so nahm Beagle an, mußte er Amerika in Wirklichkeit führen. Beagle rief den Mittelbildschirm auf. Die Hölle auf Erden erschien. Vorbei waren Platoon, Verdammt, verkommen, verloren, Der steinerne Garten, Stoßtrupp durch die grüne Hölle, Füll Metaljacket, all die hochgestochenen, morbiden und septischen Studien in Selbsthaß. Beagle füllte einen Bildschirm nach dem anderen: Bildi Bild 2 Mittelbild Bild 4 Bild 5 Missing American DIE Operation Jungle in Comman HÖLLE Nam Assault Action dos AUF ERDEN Bild 6 Bild 7 Bild 8 Bild 9 Bild io RAMBOI Cobra RAMBO Delta Hanoi I-First Force First Force Hilton Blood 11 Blood Vorbei war die moralische Verwirrung. Vorbei der Defätismus. In den neuen Filmen waren die Vietnamesen die Bösen, so grausam wie die Nazis, so hinterhältig und verlogen wie die Japse. Die amerikanischen Invasoren waren zu unschuldi242 gen Opfern geworden. Die Antwort auf Rambos unsterbliche Frage: »Werden wir dieses Mal gewinnen?« war ein schallendes: »Ja!« Das wars. Das mußte es sein. Schwarz, alles wurde wieder dunkel. Stille. Alle Bildschirme aus. »Hab ich's?« fragte sich Beagle. »Habe ich hier einen beschissenen Film? Oder nicht?« Da ist es. Der zentrale Mythos. Amerika, das Unbesiegbare. Amerika, das Gute. Fällt schließlich, und scheitert schließlich. Auf den Knien, und seitdem schaut es nicht mehr so gut aus. Nun, vielleicht war es an der Zeit, zurückzukehren. Beagle hatte MIA; or, Mythmaking in America gelesen. Er fand es recht überzeugend. Er war ziemlich sicher, daß es keine Vermißten oder Kriegsgefangenen in geheimen Lagern gab. Er wußte auch, daß Die Hölle auf Erden eine Fiktion war, die auf wahren Begebenheiten basierte, obwohl die wahren Begebenheiten auf Fiktionen beruhten und mehrere größere Hollywoodschauspieler daran beteiligt waren. James >Bo< Gritz, Special Forces Colonel der Reserve, organisierte 1982 tatsächlich zwei Rettungsaktionen. Er wurde unterstützt von William Captain Kirk< Shatner, der 10 000 Dollar für die Filmrechte hinlegte, und Clint Eastwood, der 30 000 Dollar beisteuerte. Clint traf sich mit dem Ex-Schauspieler und damaligen Präsidenten Ronald Reagan, um ihm den Plan zu erläutern. Folgendes Telegramm wurde an Gritz in Thailand geschickt: CLINT UND ICH TRAFEN PRÄSIDENTEN AM 27. PRÄSIDENT SAGTE ZITAT WENN SIE EINEN US-KRIEGSGEFANGENEN HEIMBRINGEN BEGINNE ICH DEN DRITTEN WELTKRIEG UND HOLE DEN REST RAUS ZITAT ENDE. 243
Bei beiden Versuchen jedoch scheiterte Gritz dabei, auch nur einen einzigen amerikanischen Kriegsgefangenen zu finden. Ebenso wie die CIA in Jahren geheimer Suche. Es wäre sehr einfach, dachte sich Beagle, ein paar Kriegsgefangene nach Vietnam oder Laos oder sonstwohin zu schleusen. Solche Scheiße kam doch die ganze Zeit vor. Hatte Hitler nicht ein paar tote Polen in deutsche Uniformen gesteckt und die Polen beschuldigt, die deutschen Soldaten getötet zu haben, um zu beweisen, daß er Polen aus reiner Selbstverteidigung besetzt hatte? Und gefilmt hatte er sie auch. War der Zwischenfall im Golf von Tonkin, der die rechtliche Grundlage dafür bildete, daß die Vereinigten Staaten eine halbe Million Mann nach Vietnam entsandten, etwa nicht getürkt worden? Wenn es schnell genug ging - sie finden, in den Krieg ziehen, den Krieg gewinnen, sie rausholen und fertig -, dann hätte niemand die Zeit, lange Diskussionen darüber zu führen. Das schien die Antwort zu sein. Bring irgendwelche Kriegsgefangene nach Vietnam. Geh nicht mit irgendeinem halbherzigen Chuck-Norris-Kommandounternehmen oder einer Rambo-Ein-Mann-Aktion rein, sondern mit der gesamten Armee der Vereinigten Staaten, Air Force, Marine und Navy. Kein Klein-Klein. Keine Eskalation. Alle gemeinsam - größer als D-Day, besser als die Landung bei Inchon - marschier durch bis Hanoi, greif dir ein paar Kommunisten, stell sie wegen Kriegsverbrechen vor Gericht, erschieß sie, verkünde den Sieg, und veranstalte eine Parade. Das würde funktionieren. Freude. Delirium. Tage des Triumphes, Kronen des Ruhms. Warum war Beagle nicht glücklich damit? Was war daran falsch? Katherine Przyszewski war achtunddreißig. Sie war geschieden und eine alleinstehende Mutter. Ihre Tochter war sech244 zehn, ihr Sohn zehn. Außerhalb der Filmbranche, weg von Hollywood, weit weg, irgendwo in der Realität wie Erie, Pennsylvania, oder Fort Smith, Arkansas, oder Eau Ciaire, Wisconsin, hätte man sie für eine sehr attraktive Frau gehalten. Sie hatte echtes rotes Haar, helle Haut und blaue Augen. Aber zwischen Arbeit und den Kindern hatte sie nicht die Zeit, jeden Tag in den Fitneßclub zu gehen. Während ihr job bei CineMutt als Beagles persönliche Sekretärin nach ihren Maßstäben gutes Geld einbrachte, sahen ihre Maßstäben nicht mal im Traum vor, dreimal die Woche Fitneßstunden bei ihrem persönlichen Trainer in ihrem eigenen Heim zu nehmen. Sie hatte daher weder einen Waschbrettbauch noch einen stählernen Hintern. Sie hatte nichts chirurgisch verschönern oder implantieren lassen, deshalb hatte sie Lachfältchen um die Augen, und ihre gerade mal durchschnittlichen Brüste, die nur aus Fleisch bestanden, sanken herab, wenn sie stand, und wurden flach, wenn sie auf dem Rücken lag. Beagle mochte sie. Sie war kompetent, im Büro sehr ruhig und hatte keinerlei Ambitionen, Schauspielerin zu werden. Oder Produzentin oder Regisseurin oder sonst irgendwas in der Filmbranche. Sie hielt es nicht für widerlich, unmoralisch und herabwürdigend sexistisch, Kaffee zu kochen, Restaurantreservierungen vorzunehmen, seine Sachen in die Reinigung zu schicken, seinen Wagen in die Inspektion zu bringen oder Geschenke für seine Frau zu kaufen. Sie hatten ab und an miteinander geschlafen. Sie wußte nicht, ob sie enttäuscht war darüber, daß sich keine Liebe und Heirat daraus entwickelt hatte, oder auch nur eine wirklich leidenschaftliche Affäre. Es konnte sein, daß ihre Kinder und der Versuch, einfach nur das Leben sauber, ordentlich, gesund und schuldenfrei zu leben, so viel Energie kosteten, daß sie kein großes Verlangen nach Sex und Romantik hatte, aber vielleicht war das auch nur ihre Art. Wenn sich tatsächlich 245 jemand deswegen Gedanken machte, dann wahrscheinlich Beagle. Er glaubte, daß nette, sensible, gerechte und liebevolle Menschen in Verpackungen kamen, die wie Kitty aussahen, und daß eine Verpackung wie die von Jackie nahezu unausweichlich einen Kern von Narzißmus, Konkurrenz und besessener Selbstbezogenheit verbarg. Er fand es ärgerlich und ein wenig pervers, daß er sich nicht für Kitty interessierte, daß er - leider - jemanden brauchte, der mehr »Hollywood« ausstrahlte, wenn der Moment des Bedürfnisses vorüber und der Puls der Lust befriedigt war. Sexier, jazziger, besser aussehend, jemanden - und das war wirklich erschreckend - wie seine Frau. Kitty kam sehr gut mit ihrem Sohn aus. Er schien sich mit dem Lernen und der Schule leicht zu tun und hatte eine Neigung zu den Naturwissenschaften, die seine Mutter freute. Er nahm keine Drogen und schien den ganzen »Just Say No«-Kram, inklusive Tabak und Alkohol, zu glauben, der heutzutage in den Schulen gepredigt wurde. Gott allein wußte, ob sich diese positive Grundhaltung über die Pubertät hinaus halten würde. Das hatte sie bei ihrer Tochter Agnes sicherlich nicht, einem weinerlichen Mädchen, das trotz allem,
was ihre Mutter ihr beizubringen versucht hatte, glaubte, in einer Barbie-Puppen-Welt zu leben, in der früher oder später ein Ken auftaucht und ihr eine pinkfarbene Corvette schenkt, ihr einfach schenkt, nur weil sie einen makellosen Plastikkörper und eine tolle Frisur hatte und weiße, hochhackige Lederimitatstiefeletten trug. Agnes schwänzte die Schule, ging mit der Sorte Jungs aus, die Mütter krank vor Sorgen machen, rauchte Pot und wollte Schauspielerin werden. Kitty kämpfte dagegen an, schaffte es aber, damit zu leben, und sagte sich, das sei alles nur eine Phase und daß in einer Welt, in der es AIDS, schwangere Teenies, 246 Crack und Drive-By-Schießereien gab, Agnes' Benehmen noch recht gemäßigt war. Doch dann war ihre Tochter mit größeren Brüsten nach Hause gekommen. Zuerst hatte Kitty geglaubt, sie bilde sich das nur ein. Dann dachte sie, Agnes hätte vielleicht einen Wachstumssprung durchgemacht. Dann spürte sie die krankmachende Angst, ihre Tochter könnte schwanger sein. Sie versuchte, mit Agnes darüber zu reden. Agnes reagierte so, wie Teenager am liebsten reagieren - sie leugnete und leugnete und leugnete. Kitty trat ins Bad, als ihre Tochter unter der Dusche stand. Kitty schwor, daß es keine Absicht gewesen sei. Sie glaubte das vielleicht sogar selber. Sie sah die Stiche, den ach so diskreten Einschnitt, wo Agnes ein Brustimplantat eingesetzt worden war. Daraus entwickelte sich eine ausgewachsene Mutter-Tochter-Schlacht. Agnes gestand, es getan zu haben, um Karriere als Schauspielerin zu machen. Ihr Brustumfang, da war sie sicher, war das einzige, was zwischen ihr und einer Reihe von Hauptrollen in Film und Fernsehen stand. Sie rasselte die Namen von Schauspielerinnen herunter, die eine Schönheitsoperation hinter sich hatten, und welche Körperteile dabei geändert worden waren. Sie weigerte sich, ihrer Mutter zu sagen, womit sie die Operation bezahlt hatte, und das erschreckte Kitty am meisten. Woher hatte eine Sechzehnjährige das Geld für eine Brustoperation ? Kosteten die nicht zwischen tausend und dreitausend Dollar pro Busen? Welcher irre Arzt hatte das einem Kind angetan, ohne elterliche Einwilligung? Verängstigter als jetzt war Kitty als Mutter noch nie gewesen. Ihre Tochter hatte sich ihrer Kontrolle entzogen, und sie wußte nicht, wie sie das rückgängig machen konnte. Sie schlagen? Ihr mit Hausarrest drohen? All das würde Agnes nur 247 noch schneller aus dem Haus jagen und sie dazu bringen, noch mehr von dem zu tun, was sie getan hatte, um für die Operation zu bezahlen. Worauf basierte eigentlich elterliche Autorität? Früher mochte sie einer Kultur entsprungen sein, die verlangte, daß das Kind die Eltern respektierte. Das Fernsehen oder Rock'n'Roll oder die antiautoritäre Erziehung oder irgendwas hatten dies alles obsolet gemacht. Das einzige, was noch übrigblieb, war Gewalt und Abhängigkeit. Wie konnte sie Agnes abhängig machen? Das einzige, was ihr einfiel, war, der vielversprechendste Draht des Mädchens zu einer Schauspielkarriere zu werden. Und sie war in der Position dazu. In der perfekten Position. Kitty war schließlich die Privatsekretärin eines der erfolgreichsten und mächtigsten Regisseure der Branche. Mehr als das, sie hatte seine Lippen auf ihren gespürt, ihre nackte Haut gegen seine gedrückt, er war in sie eingedrungen. Sie hatte das Recht zu fragen. Er würde ihr helfen. Er mußte einfach, um ihr Kind zu retten. Andererseits war sie sich ziemlich sicher, daß John verärgert sein würde - das war er meistens -, wenn ihm irgendwer aus seinem Stab aus persönlichen Gründen einen Schauspieler oder ein Skript oder irgend etwas in der Richtung aufdrängen wollte. Also zögerte sie, ihn damit zu belästigen. Sie wartete auf den richtigen Augenblick. Und je länger sie mit ihrem Anliegen hinter dem Berg hielt, desto wütender und aufgebrachter wurde sie. Es war kurz nach elf Uhr morgens - Kitty warf einen Blick auf die Uhr auf ihrem Schreibtisch -, als John Lincoln aus seinem Videoraum kam. Er hatte es, aber er hatte es auch wieder nicht. Es war logisch. Es schrie geradezu danach, gedreht zu werden. Geh nach Viet248 nam zurück und gewinn diesmal. Was stimmte daran nicht? Er hätte gerne jemanden gehabt, mit dem er darüber reden konnte. Tatsächlich hatte er den Videoraum verlassen, um einfach nur ein menschliches Gesicht auf einem menschlichen Wesen zu sehen und - irgendwas. »Schauen Sie sich eigentlich Kriegsfilme an?« fragte er Kitty. Kitty wollte nicht über Kriegsfilme reden. Sie wollte über nichts reden, worüber Beagle reden wollte.
Diesmal, nur dieses eine Mal, wollte sie ihm ihre Nöte darlegen. Sie wußte nicht, wie sie das anstellen sollte. Sie war so durchschnittlich, fand Beagle. Eine der durchschnittlichsten Amerikanerinnen, die er kannte. »Was haben Sie vom Vietnamkrieg gehalten?« fragte er. »John. Mr. Beagle ...« Er sah sie fragend und voller Verwirrung an. Sie konnte nicht anders, als einfach damit herauszuplatzen: »Ich möchte, daß Sie meine Tochter in Ihrem nächsten Film unterbringen.« Es klang wie ein Befehl, eine Anordnung. So wie eine Mutter ihrer Tochter befiehlt, ihr Zimmer aufzuräumen, nicht so wie eine Sekretärin mit ihrem Boß spricht. »Häh?« »Es muß keine große Rolle sein. Nur eine Rolle.« »Kitty, ahm ...« Ihr Mund zitterte. Sie hatte Angst, gleich zu weinen. Wenn sie sagte: »Ich habe ein Problem und brauche Ihre Hilfe«, vielleicht hätte er gesagt: »Sicher, mal sehen, was wir da tun können.« Aber sie war es nicht gewohnt, um einen Gefallen zu bitten, und wußte nicht, wie. Außerdem schämte sie sich, daß sie mit ihrer Tochter nicht fertig wurde, und das wollte sie für sich behalten, als Familiengeheimnis. Was also herauskam, klang wütend und fordernd. »Ich möchte eine Rolle für meine Tochter in Ihrem nächsten Film.« »Hören Sie mal, ich weiß nicht, was mit Ihnen los ist -« 249 »Werden Sie das für mich tun oder nicht?« »Es gibt keine Rollen in meinem nächsten Film«, sagte er, was die reine Wahrheit war. »Das ist doch...« Sie konnte sich nicht dazu überwinden, die Worte auszusprechen, die sich hinter ihren Lippen formten -»gequirlte Scheiße« -, aber ihr Schweigen drückte annähernd das gleiche aus. »Ich wußte nicht mal, daß Ihre Tochter Schauspielerin ist.« »Das ist sie. Und eine sehr gute«, sagte Kitty, obwohl sie keine Ahnung hatte, was eine gute Schauspielerin ausmachte, und eigentlich damit rechnete, weil sie eine sehr geringe Meinung von ihrer Tochter hatte, daß Agnes eine furchtbare Schauspielerin war. »Ich dachte, Sie hätten gesagt, sie wollte Zahntechnikerin werden.« »Nein. Sie ist Schauspielerin, und ich möchte, daß Sie ihr eine Rolle geben.« »Ich arbeite nicht mit Schauspielerinnen oder Schauspielern«, sagte er. »Nur mit realen Personen.« »Nun, dann setzen Sie Agnes eben als reale Person ein.« Beagle, der sich dem blanken Realismus des Augenblicks nicht entziehen konnte, fiel nichts anderes zu sagen ein als: »Nein.« »Sie sind ein ... ein ... ein gedankenloser Mistkerl. Ich hasse Sie.« »Was ist denn mit Ihnen los, Himmel, Arsch -« »Kommen Sie mir nicht mit Arsch. Sie haben mit mir geschlafen, oder nicht, und ich habe Sie bis zu diesem Augenblick nie, nicht ein einziges Mal um etwas gebeten, und Sie hören mir nicht mal richtig zu. Sie sind ein selbstsüchtiges Stück Dreck. Wenn Sie meiner Tochter keine Rolle geben - einen Auftritt, eine Statistenrolle, einen Kameratest, nur einen verdammten Kameratest...« 250 »Ahm ...« »Wenn nicht, dann kündige ich.« »Es gibt keine Rolle, die ich ihr geben könnte, Sie dumme Nuß«, sagte Beagle. »Haben Sie mir nicht zugehört?« »Dann kündige ich.« »Dann kündigen Sie eben. Tschüs.« Beagle, der ein wenig überrascht war, mal ganz abgesehen von seiner Wut darüber, so aus heiterem Himmel überfallen zu werden, fiel nur ein, daß er vielleicht doch nicht recht hatte mit seiner Unterscheidung zwischen unauffällig verpackten Frauen und den Blenderinnen, daß Durchschnittlichkeit eine Frau keinen Deut besser macht. Ein trister und deprimierender Gedanke. 251 KAPITEL SECHSUNDZWANZIG Ray Matusow holte die neuesten Bänder ab, die das Familienleben von Katherine Przyszewski und ihrer kleinen Brut protokollierten. Ray begann seine Tour morgens im Büro und bewegte sich dann spiralförmig durch Los Angeles. Die Przyszewskis waren Nummer vier auf seiner Liste von sieben Adressen. Wie Taylor und Sheehan kannte er bislang noch nicht den Zweck seiner Arbeit, nur die Namen der Leute, für die er zuständig war. Mit Ausnahme von Joe und Maggie arbeiteten alle direkt für john Lincoln Beagle. Teddy Brody, Video thekar der Tagesschicht. Luke Przyszewski, Videothekar der Nachtschicht, nicht mit Kitty verwandt, auch wenn Beagle geglaubt hatte, er müsse des Namens wegen mit ihr verwandt sein, und um ihr eine Freude zu machen, hatte er ihn eingestellt. Bis zu diesem verwirrenden Augenblick hatte
Beagle große Stücke auf Kitty gehalten. Carmine Cassella, Filmvorführer. Seth Sime-on, festangestellter Bühnenbildner. Maxwell Nurmberg und Morris Rosenblum, die Elektrotechniker, Computer-Asse, Technik-Freaks und erfinderischen Video-Experten, die die aus zehn Bildschirmen bestehende Anlage in Beagles Studio konstruiert hatten. Ein anderer, Ray wußte nicht, wer, kümmerte sich um Beagle selbst, einschließlich seiner Büros, seines Hauses, seines Kindes und seiner Frau Jacqueline Conroy. Vielleicht gab es sogar noch einen dritten, der die übrigen Angestellten von Cine-Mutt, Beagles Studio und Forschungsfirma im Auge behielt. Als er alle Bänder eingesammelt hatte, fuhr er nach Hause. 252 Das machte er immer so. Er kontrollierte die Bänder stichprobenweise, katalogisierte sie und fertigte dann auf einer Hochgeschwindigkeitskopiermaschine Duplikate an. Ray hielt viel von Redundanz. Er hatte schon erlebt, daß Vorgesetzte Material verlegten oder Klienten Aufnahmen ruinierten, und anschließend kamen sie zu ihm und taten so, als wäre es allein seine Schuld. Morgen würde er die Originale ins Büro bringen, sie katalogisieren und wieder von vorn anfangen. Er war verärgert, als er feststellte, daß das letzte Band von der Przyszewski anscheinend mitten in einer Unterhaltung voll gewesen war. Er wußte in etwa, wieviel sie täglich redeten, und er hatte genug Maschinen und Bänder einkalkuliert, um dreimal so viel aufzunehmen. Er spulte die Bänder zurück und hörte lange genug zu, um zu erfahren, daß Kitty ihren Job gekündigt hatte und den ganzen Tag über zu Hause gewesen war. Außerdem hatte sie verdammt lange mit ihrer Tochter geredet. Kitty erklärte Agnes, daß sie sich einen neuen Job suchen wolle, in dem sie Agnes bei ihrer Karriere wirklich den Weg ebnen könne, daß ihre Mutter ihr helfen könne und helfen werde, mehr als jeder andere auf der Welt. Unmöglich für Ray, so was vorauszusehen. Am nächsten Tag würde er weitere Geräte installieren. Inzwischen würde er einen Bericht schreiben, der erklärte, was passiert war. Als Ray am folgenden Morgen mit den Bändern des Vortages und seinem Bericht ins Büro fuhr, bemerkte er nicht, daß jemand ihm folgte. Genau wie er es auch am Tag zuvor nicht bemerkt hatte. 253 KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG Alle Kriegsfilme haben denselben Plot: der Zuschauer überlebt. Jay Hyams, War Movia Die Rückkehr, so lautete Beagles Titel für das Vietnam-Szenario. Es war aber immer noch nicht ganz ausgereift. Apocalypse Red WM ein Schlachtplan: einmarschieren und die Reste der UdSSR zerschlagen. Nach seinen Vorstellungen war das Kino par excellence. Stoff für ein richtiges David-LeanBreitwandepos. Doktor Schiwago und Reds. Ganze Armeen zogen über die flachen, vollkommen weißen Steppen. Panzer, Raketen, der Himmel voller Kampfflugzeuge, Gewehrfeuer, grelle Farbexplosionen auf einer Palette von Schnee. Wenn Coppolas Filme wie italienische Opern waren, dann würde das hier eine russische Oper werden. Größer, aufwendiger und unendlich profunder. Allerdings auch sehr problematisch. So unorganisiert die Russen auch waren, noch hatten sie Atomwaffen. Beagles Frau und alle ihre Freunde machten sich große Sorgen um die Ökologie und die Verbreitung von Atomwaffen. Beagle wollte sich nicht in Dr. Seltsam verwandeln, einen Irren, der bereit war, den ersten nuklearen Winter auszulösen oder die Untergangsmaschinerie in Gang zu setzen. Er wandte sich den Bildschirmen zu. Schwarz auf schwarz. Vielleicht waren Terroristen die Lösung. Wenn die Videothekare ihre Arbeit getan hatten, und sie waren wirklich gut darin, dann konnte er Material über Stichwörter aufrufen. Er 254 begann mit Nachrichten. Ließ sie auf irgendeinem freien Bildschirm laufen, sah sie sich willkürlich an, verschaffte sich einen Eindruck. Die Terroristen waren meistens Araber. Beagle sah sich die CBSRekonstruktion des Bombenattentats auf den Pan-Am-Jet über Lockerbie an. Bilder von der Achille Lauro. Ein Flugzeug am Boden in Ägypten, Terroristen und Geiseln an Bord. Unschuldige Passanten tot in einem Flughafen. Filme: Gegenangriffe durch Delta Force, Navy Seals, durch Eingreiftruppen, das FBI, Chuck Norris, Interpol, Vietnamveteranen, Bruce Willis, bionische Sexbomben.7' Im Hinterzimmer fragte sich Teddy Brody, was zum Teufel Line vorhatte. Es hatte sich bisher um Kriegsfilme gehandelt, Kriegsfilme und Dokumentarfilme über den Krieg. Und jetzt das. Teddy hatte sich Notizen gemacht und die Filme in Tabellen eingetragen. Und er hatte Recherchen angestellt. Von den etwa fünfzig Büchern, die er gelesen hatte, hatte ihn Jeanine Basingers The World War II Combat Film: Anatomy
ofa Genre am meisten fasziniert, weil sich darin eine Formel für solche Filme fand. Vielleicht konnte er ein Skript schreiben, wenn er dieser Formel folgte. Vielleicht genau das Skript, wonach Beagle suchte. Darum ging es schließlich bei diesem verdammten Job. Einen Weg nach oben zu finden. Aber jetzt Terroristen? Das konnte klappen mit der Basinger-Formel. Der Kriegsfilm behandelte stets die Story eines kleinen Trupps unterschiedlichster Personen - in denen sich das Diktat der politischen Korrektheit der damaligen Zeit widerspiegelt -, die es schaffen, ihre Differenzen zu überwinden, um zusammen für ein gemeinsames - natürlich patriotisches - Ziel zu arbeiten.72 Natürlich konnte das mit einer Eliteeinheit gegen die Terroristen klappen. Das lag auf der Hand. Brody wußte nicht, warum er deswegen überhaupt gezögert hatte. 255 Beagle notierte etwas auf einem gelben Blatt: »Szenario: Der Präsident wird von Terroristen gekidnappt. «73 Das hatte einen gewissen Reiz. Beagle hatte gelernt, seiner Phantasie keine Fesseln durch Kosten oder Praktikabilität anlegen zu lassen. Dennoch stellte er es sich wegen dieser Realitätsscheiße recht schwer vor, die Kooperation eines anderen Landes zu erhalten, das sich auf einen Krieg mit den Vereinigten Staaten einlassen mußte, den die Vereinigten Staaten laut Drehbuch zu gewinnen hatten. Aber den Präsidenten dazu zu überreden, bei seiner eigenen Entführung mitzumachen, oder diese vielmehr zu fingieren, das wäre doch ein leichtes. Wie konnte er nein sagen? Es war doch alles nur zum Wohle seiner Wiederwahl. Dann das Warten. Das Drama, im dunklen zu tappen. Das Land zur Hysterie aufpeitschen. Schließlich die Lösegeldforderungen. Beugen wir uns den Forderungen? Beharren wir aufs Prinzip? Millionen für die Verteidigung, keinen Cent an Tribut! Die Verhandlungen. Die absichtlich verzögert werden. Während insgeheim die Delta Force (oder die Navy Seals oder die Vegas-Sexbomben oder sogar das FBI) einen Überraschungsangriff planen, und sie retten Bush in einer perfekt getimten und exekutierten ... Was für ein Gedanke! Sollen die Terroristen doch Bush exekutieren! Dann wird Dan Quayle Präsident und erklärt dem Terrorismus den Krieg. Nicht wie bei diesem Krieg-den-Drogen-Quatsch. Richtiger Krieg, wo wir einmarschieren und ganze Städte ausradieren. Eine Taktik der verbrannten Erde. Wenn sie sich in Libyen verstecken wollen, marschieren wir in Libyen ein. Syrien. Wo immer sie sich verstecken! Offensichtlich würde der Kunde da nicht mitmachen. Bush mußte überleben. Aber das war's, was er brauchte - ein Ereignis, das die ganze Sache einen Gang schneller laufen ließ. Wenn die Delta Force den Präsidenten befreite, was dann? 256 Dann wurde es zu einer Polizeiaufgabe. Angemessener Kräfteeinsatz. Untersuchungen, Warten, Verhaftungen, und Jahre später - lange nachdem Bush seine Wiederwahl gewonnen oder verloren hatte - eine Gerichtsverhandlung. Wahrscheinlich in Italien, wo die Terroristen sowieso nur zehn Jahre kriegen und nach achtzehn Monaten für eine Schiffsladung Öl und Stützung der italienischen Lira an Libyen verschachert würden. Oder wäre die amerikanische Öffentlichkeit aufgebracht genug - anders gesagt, könnte die amerikanische Öffentlichkeit zu einer ausreichend großen Hysterie aufgepeitscht werden -, daß sie bereit wäre, in den Krieg zu ziehen? Was, wenn die Terroristen Bush und Quayle entführten? Delta Force befreit Bush, aber die Terroristen töten Quayle. Das war ein machbares Konzept. Bush, wütend und trauernd, führt die Nation - die Nationen, Plural, des Westens - in einem Heiligen Kreuzzug gegen den Terrorismus an. Damit keine Frau sich mehr so grämen muß wie Madilyn ? (Marilyn ? Er machte sich eine Notiz, das nachzuprüfen). Damit kein Kind (er war sicher, daß Quayle Kinder hatte) jemals wieder vaterlos würde. Bild: Waise, klein, auf sich allein gestellt, nach Hilfe suchend. Nein. Wie wär's mit: Kleines Mädchen, lockiges Haar, süßes Gesicht, weint sich des Nachts in den Schlaf - wartet auf den Daddy, der niemals zurückkehren wird. Ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet. Die Terroristen wären Moslems. Die reaktionären Kräfte des Aberglaubens und der Unterdrückung des Ostens gegen den rationalen, moralischen, nach vorn schauenden Westen. Das sprach den atavistischen Haß an. Christen gegen Moslems! Voilä - der Projekttitel - Die Kreuzzüge. Aufgeregt rief er Kitty über die Gegensprechanlage. Er benutzte dazu die Freisprecheinrichtung. Er haßte es, sich einen Telefonhörer ans Ohr zu drücken. Er kam sich dann vor wie ein Spinner mit einem halben Ohrenschützer. 257 »Kitty«, rief er. »Ich bin nicht Kitty«, entgegnete eine weibliche Stimme. In diesem Moment fiel es ihm wieder ein.
Kitty hatte gekündigt. Die hier war neu. Hatte sie einen Namen? »Ja, Mr. Beagle«, sagte sie in die Stille hinein. Hatte sie einen Namen? Warum hatte er sie angerufen? Es fiel ihm wieder ein. »Bei uns arbeitet so ein Bursche... kluges Kerlchen. Ahm, Yale-Absolvent. Schwul. Wie heißt der?« »Ich könnte in den Personalakten nachsehen.« Dumme Ziege. Oder wurden die Personalakten etwa nach sexuellen Präferenzen sortiert? »Sind die Akten danach sortiert?« »Wonach?« Beagle legte auf. Aber da war noch was, das Kitty erledigen sollte. Er rief die Neue noch mal an. »Würden Sie meiner Frau bitte ein Kleid besorgen«, sagte er. »Häh?« »Ein Kleid. Sie wissen schon, was Frauen so tragen. Auf ihren Körpern.« »Ich weiß, was ein Kleid ist.« »Gut.« »Aber welche Art von Kleid ...« »Woher zum Teufel soll ich das wissen?« »Welche Größe?« »Kitty weiß das alles«, sagte Beagle. Er kannte die Maße seiner Frau nicht. Natürlich war ihm klar, Sachen kaufen war kein Ersatz dafür, bei der Familie zu sein. Aber zumindest bewies es, daß er an sie dachte. Und ganz gleich, was seine Frau sagte, es war tatsächlich leichter mit ihr auszukommen, wenn er ihr irgendwas kaufte. »Haben Sie Kinder?« fragte er die falsche Kitty. »Nein.« »Kennen Sie sich mit ihnen aus?« 258 »Ein wenig. Ich habe Neffen und Nichten.« »Gut. Besorgen Sie ein Geschenk für einen zwanzig Monate alten Jungen.« »Was soll ich denn besorgen?« »Vergessen Sie es«, sagte er so höflich, wie er konnte. Wenn er sich recht erinnerte, war der Bursche von Yale ein Videothekar. Es gab an seinem Telefon einen Knopf, auf dem FILMARCHIV stand. Den drückte er. Teddy hörte das Telefon klingeln. Ein echter Anruf. Eine menschliche Stimme würde mit ihm sprechen. Das war ein seltenes Ereignis während der Arbeit, und um die Enttäuschung hinauszuzögern - denn er war sicher, daß der Anruf, ganz gleich, worum es sich handelte, irgendwie weniger sein würde als das, was er sich davon erhoffte -, ließ Teddy den Apparat dreimal klingeln, bevor er mit einem fröhlichen »Hallo, Filmarchiv«, abnahm. »Hallo, Beagle am Apparat.« »Ja, Sir.« »Sind Sie der Typ aus Yale?« Teddy fragte sich, was daran wohl falsch sein mochte, aber er sagte: »Ja.« Er fügte hinzu: »Außerdem UCLA-Filmschule.« »Sie müssen sehr gescheit sein. Gut, daß Sie hier arbeiten. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit...« O Gott, was will er? Er spricht mit mir. Das ist die Gelegenheit. »Ich sage Ihnen, was ich brauche. Ich brauche eine Seite über Propaganda.« »Was über Propaganda? Geschichte der? Unsere? Deren? Definitionen? Kontroversen? Gute Beispiele? Heißer Krieg? Kalter Krieg?« »Ich möchte eine Seite über das Wesen der Propaganda. Das, was Propaganda ausmacht. Wenn ich die Seite gelesen habe, möchte ich ein Genie in Propaganda sein. Das Zen der Pro259 paganda. Später können Sie mir mehr über den restlichen Scheiß erzählen. Verstanden?« »Verstanden«, sagte Teddy, obwohl er es nicht verstanden hatte. »Gut. Bis morgen abend. Nein, lassen Sie sich Zeit. Zwei Tage, okay?« »Alles klar«. Natürlich war ihm nichts klar. Was tat er da? Sollte er nicht widersprechen und sagen, bei so einer Aufgabe dauert allein die Literaturrecherche zwei Tage, dann zwei Wochen oder einen Monat, um das Zeug zu lesen, rund um die Uhr, und dann, wenn Sie wirklich etwas Durchdachtes und gut Geschriebenes wollen - vor allen Dingen, wenn es kurz sein soll, kurz ist schwerer als lang -, dann brauchte ich dafür noch mindestens eine Woche. Niemand mag Leute, die mehr versprechen, als sie halten können. Chefs mögen Angestellte, die ihnen ehrlich sagen, was machbar ist und was nicht. Ach Quatsch. Chefs hassen das. Sie wollen Leute, die das Unmögliche wahr machen, und zwar ohne Widerspruch. Das beeindruckt sie. Also halt lieber den Mund. Tu, was du kannst. Sekt oder Selters alles war möglich. »Und sie brauchen Ihre normale Arbeit nicht weitermachen. Sagen Sie Kitty, jemand soll für Sie
einspringen.« »Ahm, Kitty ist nicht mehr bei uns.« »Stimmt«, sagte Beagle. »Ahm, danke, Mr. Beagle.« Aber der hatte schon aufgelegt. Er war da auf etwas gestoßen, und er wußte es. Die Kreuzzüge waren aufregend, weil sie zumindest eine Lösung für das Problem anboten, wer denn gewillt sein könnte, einen Krieg anzufangen. Angeblich war das ja nicht sein Problem. Sein Job bestand darin, sich ein Skript auszudenken, mit jedem Feind, den er wollte, Hauptsache, das Ergebnis stimmte. Dann lag es an Hartman, dem Packager, oder an George Bush, genaugenommen dem Produzenten, mit dem Gegner einen Deal 260 auszuhandeln. Wenn sie nicht den Feind bekamen, den er haben wollte, dann würde er eben umschreiben. Solche Scheiße kam doch andauernd vor. War Nur 48 Stunden nicht ursprünglich ein auf Stallone zugeschnittener Film gewesen? Dann wurde er mit Eddie Murphy besetzt, und man nahm die entsprechenden Änderungen vor. Ein guter Regisseur formte sein Material nach seinen Stars. Und in einem Krieg mußte der Feind Nummer eins als Star angesehen werden. Dennoch, da er ja mit derart viel Realität zu tun hatte, wäre es gut, wenn er die Entwicklung des Konzepts auch von der Realität beeinflussen ließ. Er würde im Grunde genommen mit der Realität in einen Dialog treten müssen, denn sie lieferte das Rohmaterial, das er zu verändern hatte. Sich also mit Fragen zu beschäftigen wie, wer würde kämpfen, wer würde bereit sein zu sterben, um George Bushs Wiederwahl zu sichern, war in diesem Prozeß wichtig. Die Araber besaßen eine lange Tradition des Heiligen Krieges, Dschihad. Wenn sie wirklich daran glaubten, daß die, die als heilige Märtyrer starben, in irgendeinen Haschisch-, Hu-ka- und Huri-Himmel kamen, dann waren sie vielleicht bereit - vielleicht sogar froh -, einen Krieg zu führen, den sie vereinbarungsgemäß verlieren würden. Die Vorstellung vom Paradies, dem persischen Garten, der im Islam als Leben nach dem Tode versprochen wird, faszinierte Beagle, und er notierte sie sich als mögliches Thema - vielleicht als Setting - für einen Film. Sie glich sehr dem, was sich die Menschen von L. A. erträumten. Groß, knallbunte berauschende Getränke, heiße Bäder, exotische Pflanzen, jede Menge Drogen, vor allen Dingen Liebes- und Sexdrogen, eine Vielzahl von schönen und willigen Frauen. Was, wenn sich die Realität des Paradieses als die Realität von L. A. herausstellte, wenn man erst mal da war - Luftverschmutzung, Haß, Verbrechen, zuviel im Auto verbrachte Zeit, bei der man 261 Abgase einatmet, ewig gereizte, fordernde Frauen. Am Ende entkommt der Held, kriegt die Chance eines zweiten Lebens, eilt zurück zum Schlachtfeld und sagt: »Sei kein Märtyrer, das Paradies ist genau wie daheim.« Beagle lebte nicht in irgendeinem Wolkenkuckucksheim. Er begriff, daß es sich hier um einen echten Krieg handelte, den er sich ausdenken sollte. Menschen würden dabei sterben. Die Vorstellung erfüllte ihn mit einem Gefühl von Macht, wie er es noch nie zuvor verspürt hatte. Nicht mal auf einem Set mit der ganzen Crew und Tausenden von Statisten und Spezialeffekten und Helikoptern, die alle auf sein Kommando warteten. Das hier ging tiefer. War intensiver. Beagle sah auf die schwarze Wand. Er ließ Terroristenfilme laufen. Schwarzer Sonntag. Python Wolf. Terror Squad, Phantomkommando, Helden, Viper, Omega Syndrome, Invasion Force. Die Filmsprache war klar. Araber waren Terroristen. Terroristen waren schlecht. Es gab keine andere Sichtweise.74 Das war nützlich und wichtig. Das sorgte für eine gewisse Ökonomie bei der Exposition. Genau wie bei den Nazis; nimm einen Typen mit Monokel und etwas Leder, laß ihn den Arm zum Gruß ausstrecken und ein verächtliches Grinsen aufsetzen, und schon weiß das Publikum, daß dies ein Erzschurke ist, und der Regisseur kann sofort einen Schnitt zur Verfolgungsjagd machen. Doch als er die Ausschnitte sah, war Beagle enttäuscht. Trotz des simplen Schwarzweißdenkens gab der Terrorismus nichts her für einen guten Film. Nicht wie der Zweite Weltkrieg oder sogar Vietnam. 98 Prozent davon waren noch unter dem Niveau der Chuck-Norris-Scheiße. Die Stunde der Patrioten war schon die Spitze. Das sprach nicht gerade für das Potential des Genres. 262 KAPITEL ACHTUNDZWANZIG Die Aufgabe des Präsidenten existierte jenseits von Logik und Verstand. Sie gehörte wahrhaftig ins Reich der Magie. War der Mann gesegnet, dreifach gesegnet, dann waren alle Handlungen gut. Zeichen und Wunder regierten das Reich. War der Mann verflucht, wahrhaft verflucht, dann brachten die Himmel unerwünschten Regen, und nichts zeitigte Gewinn. Rückblickend schien es, als ob das Phänomen mit Camelot begonnen hatte.75 Man stelle sich vor, der Spitzname war bedeutungsvoller, als man überhaupt ahnen konnte. Hinter dem arroganten Gehabe -
daß dies ein neues und strahlendes Zeitalter sei, daß dies die neuen Ritter seien, ihren Vorgängern vielfach überlegen - verbarg sich eine Wahrheit, die so bizarr war, daß kein Mensch sie auch nur einen Moment lang für bare Münze nahm. Der Mythos um Artus besagt, daß er König war und dermaleinst wieder sein wird. Daß er zurückkehren wird. Man stelle sich vor, er sei zurückgekehrt und habe das Königreich, das der Träumerei, Großzügigkeit und Ehre geweiht ist, neu erschaffen. Irgend jemand war Merlin. Aber wer? Nicht so wichtig. Wichtig war, daß der König erneut sterben muß, erneut umgebracht wird. Der Leichnam webte - wie in einer allegorischen Fabel - aus dem eigenen Leichentuch einen Wandteppich voller Illusionen. Jeder Betrachter sah eine andere Geschichte darin. Jeder Betrachter schwor, daß all die anderen Geschichten - über Artus' Tod, über Artus' Mörder - falsch waren. 263 Und Artus belegte die Krone mit einem Fluch. Sein Tod stellte alles auf den Kopf. Vielleicht hatte auch Merlin, göttlicher Schwarzkünstler, den Thron mit einem Zauberbann belegt. Wie sonst soll man sich den tragischen Macbeth - Macbird nannte man ihn satirisch - erklären, der Artus folgte? Wie den Fall des Richard Nixon, Meister der Intrige und der Ränke, brillant und verschlagen - wie konnte die Inkompetenz von ein paar Narren, die in ein Hotel einbrachen, ihn scheinbar unaufhaltsam Schritt für Schritt tiefer sinken lassen als je einen Präsidenten vor ihm? Danach Gerald Ford, ein offenbar anständiger, kompetenter Mann, der sich nichts zuschulden kommen ließ, außer daß er sich den Kopf anschlug, doch man hielt ihn des Präsidentenamtes für unfähig, weil er vor der Kamera so tollpatschig war. Dann Carter, der hart arbeitete, der Güte studierte wie ein Theologe, gestürzt durch das zermürbende Geiselcountdrama, das sich Tag für Tag im Fernsehen hinzog. Und Fernsehen, so heißt natürlich der Zauber, den uns John F. Kennedy brachte, was immer er war, und der Fluch, den er hinterließ. Beweis dafür ist der einzige Mann, der jemals diesen Fluch besiegte der Fernsehmann Ronald Reagan. Er arbeitete nicht schwer, er hatte nicht allzu viel Ahnung von all den Dingen, die ein Präsident wissen sollte - Wirtschaft, Außenpolitik, Recht, Geschichte, selbst Kunst. Er tat das Gegenteil von dem, was er sagte, schien unfähig, die Wirklichkeit von Late-NightTV zu unterscheiden, und hätte sich eigentlich für einen Großteil der Menschen, die er um sich scharte, schämen müssen. Dennoch ließ er das Weiße Haus erneut wie einen Palast und wie die Kapitale eines glitzernden Imperiums erscheinen. Glück und Segen lagen auf allen seinen Unternehmungen, und großer Glanz ging von ihm aus. 264 Ein Fluch ? Bush, der sein ganzes Leben dem Ziel untergeordnet hatte, der seine Entscheidungen stets nach Umfragen richtete, was ein Präsident sein, tun, denken, fühlen sollte, Bush kam es oft vor, als ob er, nachdem er sein Ziel erreicht hatte, über den Rand der bekannten Welt hinaus getreten sei. Nichts von dem, was er tat, zeitigte die gewünschten Resultate. All die Höflinge und Berater und Kabinettsmitglieder und Experten, die sehr geschäftig und in großer Eile durchs Weiße Haus huschten, die jede Menge Papiere schleppten, die nach oben gingen, nach unten gingen, seitwärts gingen, die Telefonkonferenzen anberaumten, Memos schickten, schrien, um gehört zu werden, die davon überzeugt waren, recht zu haben, die Limousinen und besondere Menüs verlangten, waren ein Haufen von Märzhasen und verrückten Hutmachern, und all ihre Energie änderte nicht einen Deut an dem, was wirklich wichtig war: sein Stand beim amerikanischen Volk und ob er die Wiederwahl gewann oder nicht. Bush befand sich in der Air Force One. Baker war bei ihm. Sie waren zu einem Treffen mit der Pacific Rim Business Association in San Francisco gewesen. Die meisten Mitglieder waren Amerikaner, darunter auch die Mehrheit der Direktoren, aber im Kern handelte es sich dabei um eine Fassade für japanische Konzerninteressen. Ihre Masche war der freie Handel, der auch Teil des republikanischen Wahlprogramms war und den der Präsident aus tiefstem Herzen befürwortete. Dagegen sprach allerdings, daß die Japaner die Rhetorik des freien Handels einsetzten und damit Praktiken verschleierten, die tatsächlich sowohl restriktiv als auch räuberisch waren. Bill Magnoli, Präsident von America's Exporters, Inc., hatte um ein paar Minuten gebeten, dem Präsidenten sein Anliegen vorzutragen. Eine Million Stimmen schreien, um gehört zu werden. Der König möchte nur überleben. Und dennoch muß er 265 Entscheidungen treffen, er muß sich nach links oder rechts wenden, vorwärts oder zurück. Auf welcher Grundlage kann er denn entscheiden? Der Präsident - der keine Zeit hat, selber Recherchen
anzustellen, der nicht die Kraft hat, um jedes einzelne der Tausenden von Problemen zu durchschauen - hört auf die paar Stimmen, die es schaffen, ihre Sicht der Dinge darzulegen. Deshalb ist der Zugang zu ihm so begehrt. America's Exporters war früher mal tatsächlich eine Firma, die Amerikanern gehörte. Nun gehörte sie zur Musashi Trading Company, der Schlüsselfirma in einem keiretsu, wie man es in Japan nennt. Wie jeder Leser der Wirtschaftsseiten oder japanfeindlicher Thriller weiß, ist ein keiretsu16 so etwas wie ein Mischkonzern, nur größer, engmaschiger, räuberischer und unendlich furchterregender. Musashi hatte America's Exporters seines Namens und seines Präsidenten wegen gekauft. Bill Magnoli war der amerikanischste Typ, den die japanischen Firmensucher je gesehen hatten. Bill war rund um die Uhr ein Ausbund an Klischees. Er fuhr einen Mustang, aß Steaks vom Grill und riesige Desserts, schaute sich Football an, redete über Football, spielte Golf, bumste seine Sekretärin zweimal die Woche, seine Frau einmal die Woche, mochte Strickjacken und Willard Scott, spielte Lotto und fand Las Vegas wirklich, wirklich toll. Er hatte zwei Kinder, eines im College, das andere auf Entzug, und trug ihre Fotos in der Brieftasche. Er war ein Typ, der alles mitmachte, ein wahrer Förderer dessen, was ihm Brot auf seinen recht großen Tisch und Benzin in die Tanks seiner vier Autos brachte. Wenn Bill Magnoli aufstand und im Namen von America's Exporters sprach, kostete es wirklich Mühe, sich daran zu erinnern, daß er in Wirklichkeit ein Sprecher für Hiroshi Takagawa war, dessen Titel bei Musashi stets mit »Vizepräsident 266 für die Verbesserung der japanisch-amerikanischen Beziehungen« übersetzt wurde, auf kanji, der Begriffszeichenschrift des Japanischen, aber als »Mitglied des Generalstabs, Strategische Planung für den Sieg in Amerika« gelesen werden konnte. Der Titel wurde niemals so übersetzt, und es galt als unhöflich, dies in der Nähe von gaijin auch nur zu erwähnen. Zur Debatte standen Militäraufträge, eine der Möglichkeiten, wie Amerika traditionell die Privatindustrie subventioniert. Die Privatindustrie wiederum unterstützt das Militär. Irgendein Chiphersteller mit einem Politiker in der Tasche - anders ausgedrückt, einem Kongreßmitglied, das sich um seine Wähler kümmerte, von denen viele mit Silizium ihr Geld verdienen; anders ausgedrückt, einem patriotischen Amerikaner, der sich um die Unabhängigkeit seines Landes im High-TechSektor im Falle eines Krieges Sorgen machte - hatte eine Gesetzesvorlage eingebracht, die vom Pentagon verlangte, nur in Amerika produzierte Chips zu kaufen. Der Kongreßabgeordnete würde sein Gesetz durchbringen, aber es sollte dem Pentagon bestimmte Ausnahmen erlauben, falls ... Gegenwärtig gab es eine Debatte darüber, ob der Satz mit den Worten »es sich um eine Frage von dringender Notwendigkeit für die nationale Verteidigung handelt, für eine Zeitdauer von nicht länger als einem Jahr« oder »es keine vernünftige Alternative gibt« zu Ende gehen sollte. Offensichtlich hing die Bedeutung des Gesetzes, wenn es denn eine haben sollte, nun davon ab, welche Klausel gewählt und wie sie durchgesetzt wurde. Magnoli sprach überzeugend, anschaulich, bündig. Und das war auch zu erwarten, schließlich hatte Hiroshi Takagawa eine Menge Geld an eine amerikanische PR-Agentur bezahlt, den Vortrag vorzubereiten und dafür zu recherchieren, ebenso an einen Schauspieltrainer, der Magnoli drillte. 267 Die Frage war nicht, ob Magnoli recht hatte oder nicht, ob er ein einflußreicher Agent einer fremden Macht war, oder gar, ob der Präsident diese Meinungen hätte direkt hören sollen. Die Frage war, warum besaß Bill Magnoli Zugang? »Bushie, wie kommt's, daß du mit diesem Burschen Magnoli gesprochen hast?« fragte James Baker den Präsidenten. »Neil«, sagte der Präsident und redete von dem, um den er sich Sorgen machte, seinem Sohn. »Gibt es einen Indikator für den Ausgang des Verfahrens?« Sollte heißen: Wußte Baker, ob sein Sohn unter Anklage gestellt würde oder nicht P »Das ist schon geregelt.« »Wenn er nicht mein Sohn wäre...«Bush wedelte mit einem Finger. Was nicht heißen sollte: Wenn er nicht mein Sohn wäre, dann würde ich dafür sorgen, daß man ein Exempel an ihm statuiert, sondern: Wenn er nicht mein Sohn wäre, würde sich niemand drum scheren. »Kein publicitygeiler Vielschwätzer.« Ich hoffe, der Staatsanwalt, dem gesagt wurde, er solle die ganze Angelegenheit unter den Teppich kehren, fällt nicht um und erzählt aller Welt, daß man ihm gesagt hat, die Angelegenheit unter den Teppich zu kehren.1* »Dieses Rumgehacke, Rumgehacke auf nichts. Die werden schon sehen.« »Du weißt, daß er für die Japse spricht«, sagte Baker. Zurück zu Magnoli.
»Natürlich weiß ich das - wofür hältst du mich?« sagte Bush. »Darauf will ich keine Antwort«, witzelte er schnell.79 »Seine Firma gehört zu hundert Prozent Musashi.« »Ich hab dir gesagt, das weiß ich«, sagte Bush. »Willst du wissen, woher ich das weiß?« »Klar«, sagte Baker. »Weil meine Freunde bei Musashi mir behilflich sind, wer sonst schon? Sie haben mich gebeten, Magnoli ein paar Minuten meiner Zeit zu widmen. Zwei und zwei, das sollte mir doch nicht entgehen«, sagte Bush, erfreut, wie das zuweilen 268 der Fall war, wenn er etwas tat, wovon nicht mal Baker etwas wußte. »Die sind dir behilflich?« »Mit dem Memo. Oje, hab ich dir das nicht erzählt?« »Nein«, sagte Baker. »Hast du nicht. Nicht, daß du das müßtest. Ich bin nur gern auf dem laufenden, weil ich mir dann wichtig vorkomme, das weißt du, Bushie, und wer zum Teufel steht mehr hinter dir als ich.« »Erinnerst du dich noch an das Memo?« »Das Memo?« »Atwaters Memo«, sagte Bush und setzte sein berühmtes schiefes Lächeln auf. »Ach, das Memo.« »Genau.« »Da stand drin, ich soll es Hartman zeigen.« »Das stand da nicht drin«, sagte Baker. »Da stand drin, du sollst es niemandem zeigen, höchstens daß es vielleicht ein Job für Hartman sei, falls überhaupt wer den Job machen soll.« Der Präsident streckte einen Finger wie einen Revolverlauf aus, zielte auf Baker und sagte: »Es ist in Entwicklung.« »In Entwicklung?« »So nennen die in L. A. das. »In Entwicklung/ Und sie setzen ihren absoluten Topmann dran. Jonathan Lincoln Beagle. Erinnerst du dich an Riders of the West? Das war ein toller Film. Diese Szene, wo Clint Eastwood diese üblen Kerle nur scharf anguckt, dieser Blick ...« Der Präsident guckte wie Clint. »Ich dachte, du hättest das Memo vernichtet.« »Ich hab's gefunden. Und zufällig am gleichen Tag, als ich Hartman in Orange Country traf.« »Du hattest das Memo? Du hast es nicht vernichtet?« »Es steckte hier in meiner Tasche.« »Wie kam es denn in deine Tasche?« 269 »Eine der Sekretärinnen hat es in meiner Aktentasche gefunden?« »Und wie ist es in deine Aktentasche gekommen?« »Mir gefällt das, Jimbo. Weißt du, wie ich mir vorkomme? Wie Maverick, Burt Maverick. Auf dem Tisch liegt ein Riesenpott, und ich fächere meine Karten auf, ganz nah vor der Brust, und ich schaue ganz lässig, weil es völlig egal ist, was ich auf der Hand habe, ich hab ja noch ein As im Ärmel.« Baker sagte ihm nicht, daß die Helden der Fernsehserie Bret und Bart Maverick gewesen waren. Er sagte: »Also hast du Hartman kennengelernt und ihm das Memo gegeben.« »Und er hat veranlaßt, daß es in Entwicklung geht. Du weißt, was Entwicklung ist?« »Ja. Wer bezahlt Beagle? Bezahlt irgendwer Beagle? Wer weiß sonst noch davon? Wie viele Leute sind eingeweiht?« »Das ist das Schöne daran. Niemand. Außer Hartman und mir und Beagle und jetzt du. Aber du warst ja irgendwie immer eingeweiht.« »Beagle weiß es?« »Nun, wie soll er Regie in einem Krieg führen, wenn er nicht weiß, daß es ein Krieg ist? Ich könnte das nicht. Du etwa?« »Also arbeiten sie umsonst?« »Nein. Sehr schlau. Hartman, er hat das alles arrangiert. Juden sind gut im Arrangieren. Musashi bezahlt. Aber sie wissen von nichts.« »Das ist ja toll«, sagte Baker und suchte nach einer Möglichkeit, nicht allzu inquisitorisch zu klingen. »Wie hat er das gemacht?« »Siehst du, da gibt's Geschäftskosten und Löhne. Darum geht's doch im Geschäft. Man schafft Arbeitsplätze. Angestellte und all das. Und das Leben in L. A. Du weißt, daß die Lebenshaltungskosten dort sehr hoch sind. Also hat er Musashi einfach mitgeteilt, daß der Präsident, das bin ich, sehr 270 dankbar wäre, wenn sie einen Entwicklungsdeal mit Beagle abschlössen. Ich bin so dankbar, daß ich mir sieben Minuten lang einen Typen anhöre. Ich bin recht dankbar. Wirklich.« »Und sie wollen nicht wissen, warum du wohl dankbar sein solltest, wenn sie einem Hollywoodregisseur ein paar Millionen Dollar geben? Ich nehme doch an, es sind ein paar Millionen - da draußen kostet alles ein paar Millionen.« »Ich kenne die Höhe der Summe nicht. War nicht nötig.« »Und dieser Hollywoodagent und dieser Hollywoodregisseur, die reden nicht auf Partys oder vor ihren Freundinnen darüber, um sie zu beeindrucken oder so was?« fragte Baker und überspielte eine aufkeimende Panik. »Machst du dir wegen der Sicherheit Sorgen?« »Nun, ein wenig«, sagte Baker. Er wünschte sich, Flugangst zu haben.
Das hätte bedeutet, daß das Gefühl in seinem Magen daher rührte, daß er in 6 700 Metern Höhe in einem röhrenförmigen Aluminiumsarg steckte, und nicht daher, daß Bush etwas angefangen hatte, das sich als eine Mischung aus Watergate und Jimmy Carters Kampf mit dem Kaninchen entpuppen konnte. Filmregisseure planen den nächsten Krieg! Diese Geschichte roch förmlich nach einem Desaster. Was zum Teufel ging hier eigentlich vor? Hatte Hartman irgendein attraktives Mäuschen besorgt, um Georgie einen ä la Hollywood zu blasen? War er deshalb so verwirrt und aufgekratzt? Baker hatte gesehen, was mit alternden Männern, vor allen Dingen WASPs, geschah, wenn sie oralen Sex entdeckten. »Wir verfugen über absolute Sicherheit. Überwachung rund um die Uhr. Abhörgeräte, alles.« »CIA?« fragte Baker. Da war dieser saure Geschmack, der ihm in die Kehle stieg. Im nächsten Augenblick würde er an seinem Gaumen angelangt sein. Baker war sicher. Irgendein beschissener liberaler, linker demokratischer Kongreßabge271 ordneter oder Senator würde irgendeinen vor Angst in die Hosen scheißenden Schlappschwanz aus der Company unter Eid stellen lassen, und der würde all die Geheimnisse vor der Presse ausplappern. Das war schon mal geschehen; es würde wieder geschehen. »Nein«, sagte Bush, der mit sich zufrieden war. »Ich habe dafür gesorgt, daß Gates es an die Privaten weitergibt.«80 »Ach so«, sagte Baker zutiefst erleichtert. »Du hast vergessen, ich war in Langley. Ich hab Langley geleitet. Ich kenne alle Tricks. Die meisten wenigstens. Ich war nicht im Außeneinsatz. Aber ich habe mir ein paar dieser Außenagenten kommen lassen, die aus dem Nähkästchen plauderten und mir erzählt haben, wie was funktioniert.« »Gates ist ein guter Mann«, sagte Baker. Und das stimmte. Robert Gates war ein loyaler Bursche, anders ausgedrückt, er würde dem Kongreß nichts sagen, nur weil das Gesetz es von ihm verlangte, und es wäre ihm nicht peinlich, wenn später die Wahrheit ans Licht käme. Er hatte die Sowjets studiert, war Kopf aller CIA-Analytiker, leitender Assistent des CIA-Direktors William Casey, und danach Caseys Stellvertreter. Reagan benannte Gates als Caseys Nachfolger, aber seine Nominierung wurde zurückgezogen, als herauskam, daß Gates es entgegen den gesetzlichen Vorschriften versäumt hatte, den Kongreß über Oliver Norths Umleitung der Gewinne aus den Iran-Waffenverkäufen an die Contras zu informieren. Er besaß auch langjährige Erfahrung darin, Daten so zu manipulieren, daß sie politische Ziele reflektierten und nicht die Realität. »Da kannst du drauf wetten«, sagte Bush. »Wie kommt das Geld zu Bunker?« »Darüber weiß ich nichts«, sagte Bush. »George, ich finde, das hättest du mir wirklich sagen müssen. Ich bin Außenminister.« 272 »Nun, wie die Dinge liefen, war es die Gelegenheit.« »Ich meine, wenn wir schon gegen irgendwen in den Krieg ziehen« - Baker bemühte sich um ein Lächeln - »dann sollte ich davon wissen.« Als er das Memo gelesen hatte, war es ihm auf merkwürdige Weise unwiderstehlich vorgekommen. Nun schien es einfach nur merkwürdig. »Sei doch nicht so ein Schlappschwanzjimbo. Du hältst dich vielleicht für klüger als mich, ich weiß, daß du das tust. Aber unterschätz mich nicht, wie so viele von denen. Ich bin im Kongreß gewesen, war Vorsitzender der republikanischen Partei, war Chef der CIA, Botschafter in China und bei der UNO. Nun, wie viele Leute kennst du, die auch nur einen dieser Posten innehatten, geschweige denn zwei, ohne daß sie ihren Hintern in ernste Schwierigkeiten gebracht hätten? Hmm?« »Tut mir leid, Mr. Präsident. Sie haben recht. Sie verfügen über exzellente Kenntnisse darin, Ihren Hintern nicht in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen.« »Oder meine Eier in eine Schraubzwinge. Oder meine Titten in den Fleischwolf. Oder sonst irgendwas in dieser Richtung.« »Darf ich Ihnen einen Drink anbieten, Mr. Präsident?« »Vielen Dank, Mr. Secretary. Und, Mr. Secretary, ich möchte, daß Sie wissen, daß ich alles fest im Griff habe. Ich werde keine Dummheiten anstellen. Ich werde nicht als dummer Präsident in die Geschichte eingehen. Aber ich werde alles tun, um zu gewinnen. Also, sind Sie dabei, oder wollen Sie von Bord?« »Wir sind in sechseinhalbtausend Metern Höhe, ich werde nicht von Bord gehen«, sagte Baker. Er reichte seinem Präsidenten einen Chivas und goß sich dann ebenfalls einen ein. Er beschloß, diesen Wahnsinn zu unterbinden. Und sei es nur aus dem Grunde, daß der Präsident ihn so ausgetrickst 273 hatte. Nicht, daß Bush das nicht von Zeit zu Zeit tat, nur um zu beweisen, wer der Boß war. Das war okay. Normalerweise. Aber nicht, wenn es um so etwas Wichtiges ging.
»Ich habe ein As im Ärmel«, kicherte der Präsident. »Ich liebe es. Genau wie Burt Maverick.« Baker erhob sein Glas zum Salut. Er sagte nichts wegen Bret oder Bart. Der Präsident stieß mit seinem Glas dagegen. »Auf den Krieg«, sagte Bush. »Auf einen guten Krieg.« »Eins möchte ich noch gern wissen«, sagte Baker und wartete noch mit dem Trinken. »Gegen wen ziehen wir in den Krieg?« »Ich weiß nicht. Das ist noch in Entwicklung.« 274 KAPITEL NEUNUNDZWANZIG Nach Eröffnung des Büros rechne ich damit, daß die Leute mich mit einem gewissen Maß an Geringschätzung betrachten. Hinter meinem Rücken kichern, so was in der Richtung. Tun sie aber nicht. Das ist das Tolle an L.A.: Es spielt überhaupt keine Rolle, woher man's hat, es interessiert keinen Menschen, wie man's kriegt, es zählt einzig und allein, daß man's kriegt. Oder eben nicht. Ich trage meine neue Garderobe. Wenn ich jetzt hinter dem Lenkrad sitze, dann als Maggies Freund, nicht mehr als Chauffeur. Ich fange an, mich in der Öffentlichkeit mit Maggie sehen zu lassen, begleite sie zu den Mittagessen - die immer rein geschäftlich sind -, den Parties - die immer rein geschäftlich sind und den Besprechungen - die fast ausnahmslos privat sind. Das wichtigste Mittagessen ist natürlich das mit David Hartman. Er stimmt zu, daß Maggie den nächsten Schritt tun und ihre eigene Produktionsfirma gründen sollte. Wofür natürlich jemand anderer zahlen soll. Wir besprechen, woher das Geld kommen könnte. Es werden JVC/Victor und Musashi erwähnt, möglicherweise MGM, weil dort zur Zeit über mehr »Frauenfilme« geredet wird. Vielleicht schlägt er das Projekt auch Paramount vor. Was natürlich nicht der eigentliche Anlaß der Besprechung ist. In Wahrheit geht es darum, daß er und ich uns beschnuppern. Uns gegenseitig taxieren. Er gibt sich ganz sympathisch. Das ist gut. Er läßt den einen oder anderen Marines-Spruch fallen. 275 Maggie schiebt ihre Hand über meine. Schnitt auf ihre Hand, wie sie sich über meine schiebt, Besitz ergreift, Verbindung herstellt, sagt: »Das ist mein Mann.« Dabei NAHAUFNAHME MAGGIES Gesicht. NAHAUFNAHME HARTMAN, als er das registriert. NAHAUFNAHME JOE, der meint, Maggies Hand schütze ihn wie Supermans Cape. Man sieht es seinem Gesicht an. »Joe sagt nichts, das ich vorher nicht auch gedacht oder gemeint habe«, sagt Maggie. »Aber mit ihm zusammen fühle ich mich einfach stärker.« Schnitt zurück auf Hartman: Er scheint es zu glauben. Schon gut, daß ich nicht mit ihr schlafe. Der Irrsinn der Enthaltsamkeit ist das einzige, was mich noch zurechnungsfähig hält. Wenn wir zusammen im Bett gewesen wären, hätte ich größenwahnsinnige Phantasien und würde glauben, ich sei ihr Manager, zukünftiger Producer, Parasit und Profiteur. Wie auch immer, ich sehe sie an, als wäre sie für mich der große Filmstar, der sie ja auch ist, und ich ein liebeskranker Narr, der ich ja auch tatsächlich bin. Aber das, was sie tut - und ich verstehe nicht ganz, worin diese Magie besteht -, läßt die Szene wie die Realität wirken statt wie einen einzigen großen Bluff. Maggie strahlt, als wäre sie befriedigt und voller Liebeshormone. Beinahe hätte sie auch mich getäuscht, und dabei weiß ich ganz sicher, dem Licht und den Geräuschen nach, daß ihre Nächte genauso ruhelos und unbefriedigt sind wie meine. Die Frau kann schauspielern. Daran besteht überhaupt kein Zweifel. »Ich will für Maggie nur das Beste«, sagt ihr Agent. »Ich auch.« »Das sehe ich.« Der Kellner kommt mit einer Flasche Wein. In einem Spirituosengeschäft kostet sie über hundert Dollar, auf der Weinkarte des Restaurants mehr als das doppelte. 276 Wenn mir als Teenager auf der Straße ein Typ entgegenkam, dachte ich automatisch: Ist er größer? Härter? Kann ich ihn fertigmachen? Später, mit zunehmendem Alter, als ich nach Vietnam ging, und auch danach, ist es anders. Ich sehe einen Burschen an und stelle nur die Frage: Kann er töten? Hat er getötet? Wird er es wieder tun? Darauf kommt es mir heute an. Ich sehe Hartman an. Ich glaube nicht, daß er schon getötet hat. Nicht mal im Krieg, nicht mal auf Entfernung. Ich weiß nicht, warum ich darüber nachdenke, ich tu's jedenfalls. Später, als ich seine Armeeunterlagen überprüfe, bestätigt sich, daß er nicht im aktiven Kampfeinsatz gestanden hat. Kann
er töten? Wird er töten? Ich glaube, er würde es gern tun. Nicht wegen des Sterbens - es gibt Typen, die das Sterben lieben -, sondern nur für sein Selbstwertgefühl. Agenten haben den Ruf, skrupellos, erbarmungslos und herzlos zu sein, richtige »Killer«81. Aber ein Killer-Agent zu sein, ist das gleiche, wie ein knallharter Badminton-Spieler zu sein. Irgendwas fehlt. Das Blut. Selbst in einer Umgebung wie L. A., wo man sich herzlich wenig um die Wirklichkeit schert, kennt man den Unterschied. Hartman würde sich gern im Spiegel ansehen und das geheime Wissen haben, daß er ein Killer ist. Ein echter Killer. Das würde ihm gefallen. Hartman prostet uns zu. »Auf die junge Liebe«, sagt er. Maggies Pressefrau verschickt Verlautbarungen über das neue Büro. Ich werde telefonisch von Variety interviewt. Der Hollywood Reporter schickt einen Burschen vorbei. Vom Enquirer kommen ein Journalist und ein Fotograf, jemand von Entertainment Tonight ruft an. Ich bin einverstanden, mir Zeit für sie zu nehmen. Dazu kommt es allerdings nie. Außerdem rufen mich Hunderte von Leuten an, so kommt es mir jedenfalls vor. Drehbücher trudeln im Büro ein. Briefe. 277 Lebensläufe. Ich spreche mit einigen Leuten. Ich werde einen Leser brauchen, eine Sekretärin, vielleicht noch jemanden. Ein paar Blocks vom Büro entfernt gibt es ein Restaurant mit akzeptablen Preisen. Es hat zwei separate Hinterausgänge, einen leichten durch die Küchentür und einen etwas schwereren durch das Toilettenfenster. Dorthin gehe ich, wenn ich einfach nur etwas essen will. Ich sitze allein dort, als Bambi Ann Sligo, Mel Taylors Sekretärin, hereinkommt. Es liegt ein bißchen weit ab vom Büro der U.Sec. Durchaus möglich, daß sie rein zufällig dort ist. Manche Leute in dieser Branche bestehen darauf, daß es keine Zufälle gibt. Ich begrüße sie, und sie setzt sich zu mir in meine Nische. Sie bestellt sich einen Hamburger und eine Tasse schwarzen Kaffee. Ich bestelle mir auch einen Burger. Ich sage ihr, daß Maggie das nicht gut findet. Bambi - der Eisernen Lady wie aus dem Gesicht geschnitten - lächelt geziert und sagt: »Sie sollten auf Maggie hören. Sie ist ein Star.« Ich lächle. »In Ordnung, das werde ich.« Ich erkundige mich nach ihrem Job und wie es so ist, für Mel Taylor zu arbeiten. Ich glaube, daß sie mir etwas sagen will, aber es kommt nichts. Wir reden über andere Leute aus dem Büro, die uns nicht weiter interessieren. Als sie ihren Burger gegessen hat, steckt sie sich eine Zigarette an. Ich bestelle ihr noch einen Kaffee und dazu ein Stück Pfirsichtorte. Bambi meint, auf die Torte sollte sie lieber verzichten. Zuviel Kalorien. Ich versichere ihr, daß sie schlank genug sei, um die Torte bedenkenlos essen zu können. Die Uhr läuft, und Taylor gehört zu der strengen Sorte, was die Mittagspause seiner Sekretärin betrifft. Sie nimmt ihre Handtasche, fummelt nervös daran herum, um sich endlich durchzuringen. Ihre Zeit ist abgelaufen, und jetzt muß sie etwas sagen. »Mr. Broz, Ms. Lazlo kennt doch all die anderen großen Stars, richtig?« 278 Ich habe inzwischen gelernt, daß Berühmtheit eine kleine, sehr kleine Welt ist. »Ja. Mehr oder weniger.« »Kennt sie auch -« Bambi schaut auf ihr Gedeck; sie wischt ein paar Krümel zur Seite; sie faltet die Serviette zusammen, streicht sie glatt - »John Travolta? Und Tom Cruise?« Ich weiß nicht genau, ob Maggie sie kennt, bin mir aber ziemlich sicher. »Ja.« »Ich habe gehört« - sie nimmt die Papierserviette und tupft den verschütteten Kaffee in der Mitte ihrer Untertasse auf; sie wischt die Zinken ihrer Gabel ab - »daß Scientology... ää-äh...«- sie legt die Gabel fort; sie versucht, mich anzusehen, was ihr allerdings Probleme bereitet - »Homosexualität heilen soll. Daß Scientology es kurieren kann. Stimmt das?«82 »Ich weiß nicht.« »Das ist mir klar. Aber weiß Maggie es vielleicht? Könnten Sie sie bitten, die beiden zu fragen? Ist es okay, wenn ich sie Maggie nenne?« »Ja, ist schon in Ordnung«, sage ich. »Ich werde sie fragen.« So langsam beginne ich den Reiz dieses Lebens zu verstehen. Abgesehen davon, Geld zu haben. Man verbringt seine Zeit damit, mit Leuten zu reden, Sport zu treiben, damit man gut aussieht - ich gehe oft ins Dojo -, sich in Schale zu werfen, damit man gut aussieht, und, falls man niemanden hat, der es einem abnehmen kann, viel zu lesen. Vieles davon ist Tarnung, Teil meiner Maskerade als Maggies Lover und Producer, aber außerdem gehört es zum nächsten Schritt unseres Plans. Wenn U.Sec. eine Ermittlung wegen Industriespionage übernimmt, suchen wir als erstes nach einem unzufriedenen Exmitarbeiter oder einem verstimmten Noch-Angestellten. Ich mache hier nichts anderes, als eine Briefkastenfirma aufzubauen. Falls irgendwer aus Beagles Laden eine alte Rechnung mit seinem Chef zu beglei279 chen hat, dann gebe ich ihm eine Möglichkeit, wo er das tun kann.
Es ist eine langsame und unsichere Methode und erfordert eine Menge Geduld. Während U.Sec. mich beobachtet, wird Ray Matusow von Steve beschattet. Ray folgt einem starren Schema. Er hat acht feste Anlaufstellen. Aber nur seine Anlaufstellen zu kennen verrät uns noch nicht, wen er tatsächlich abhört. Eine dieser Anlaufstellen ist ein Apartmenthaus, wo er seine Abhöreinrichtungen offenbar im Keller installiert hat. Zwei weitere sind Wohnanlagen mit eigenem Sicherheitsdienst, was bedeutet, daß Steve ihm nicht folgen kann, um herauszufinden, in welchem von mehreren Gebäude die Zielpersonen leben. Danach fährt Ray zu einem Lagerhaus an der Flower Street. Dieses scheint ein Loft zu besitzen, das einem Maxwell Nurmberg gehört. Ich finde heraus, daß jemand mit diesem Namen bei CineMutt beschäftigt ist, daher nehme ich an, er ist derjenige, der dort abgehört wird. Die anderen drei sind VDs, vehkle dropfi. Von denen einer, vermute ich, wegen der Nähe, für mich und Maggie bestimmt ist. Interessant dabei ist, daß er die Tour bei U.Sec. beginnt und bei sich zu Hause aufhört. Und er nimmt über Nacht alles mit in seine Wohnung. Ich vergewissere mich, daß mir niemand folgt, und mache an einem normalen Arbeitstag einen Überraschungsbesuch bei Ray. Ich bemerke die Schlösser. Ich klopfe an. Es gibt zwar eine Videokamera, aber er schaut durch den Spion. Er öffnet die Tür. »Joe, was machst du denn hier?« »Ich wollte mit dir über eine private Sache reden.« »Privat?« 280 »Es ist profitabel.« Ich lächle. »Für dich und für mich.« »Oh, ja, klar, sicher.« Er tritt zur Seite, um mich hereinzulassen. Myrna, seine Frau, ist im Wohnzimmer. Sie ist ausgesprochen hübsch, selbst nach den zwei Kindern und allem. Wir sind uns schon bei Firmenfesten begegnet. »Schönes Haus«, sage ich zu ihr. »Danke«, sagt sie, ist offenbar aufrichtig erfreut. »Haben Sie das alles selbst gemacht?« frage ich. »Na ja...«, sagt sie und bekommt beinahe einen roten Kopf. Sie ist eine ruhige Frau. War sie schon immer. Ray ist darüber sehr glücklich. Seine erste Frau war anders. »Sie haben ein gutes Auge für Farben und so weiter. Ich bin kein Fachmann, aber das sehe ich«, sage ich. »Möchten Sie mehr sehen?« »Klar«, sage ich. »Joe ist nur auf einen Sprung vorbeigekommen. Geschäftlich«, sagt Ray. »Oh. Natürlich«, sagt Myrna und ist wieder still. »Würde ich wirklich gern«, sage ich. »Ihr Haus strahlt Wärme aus. Ich muß Ihnen etwas sagen. Maggies Haus ist...«Myrna ist ganz Ohr - ich werde ihr Geheimnisse von einem Star verraten! Insiderinformationen ihres Privatlebens. Eine echte Szene aus dem Leben der Reichen und Berühmten!»... natürlich sensationell. Aber es ist, als hätte es jemand für einen Film entworfen. Es ist nicht... wie soll ich sagen, so warm und gemütlich wie Ihres.« Myrna wird rot. Sogar Ray freut sich. Ist stolz auf sie. Daß jemand den Geschmack seiner Frau mit dem eines Stars vergleicht. Und jetzt muß er sie einfach ihr Haus vorführen lassen. Sie erzählt mir, daß sie die Farben für den Anstrich hat mischen lassen. Ich bemerke, daß alle Fenster an die Alarmanlage angeschlossen sind, und es gibt auch Bewegungsmelder. Das System ist mehr wert als das, was es schützt. Ich bin 281 sicher, daß es einen stummen Alarm gibt, der mit der andren«-Nummer bei U.Sec. verbunden ist.84 Möglicherweise gibt es auch eine Sirene. Die beiden kleinen Mädchen teilen sich ein Zimmer, sehr mädchenhaft, viele Rüschen und ganz in Pink. Das Schlafzimmer ist einfach ein Schlafzimmer, die Küche eine Küche, im Eßbereich steht ein Tisch. Das für mich Interessanteste ist der Keller, Rays Arbeitszimmer. »Hier hat totales Chaos geherrscht«, sagt sie. »Alles hat völlig durcheinander einfach überall herumgestanden ...« »Ich habe immer genau gewußt, wo alles war«, sagt Ray. »Ja, stimmt, es war auch nicht direkt unordentlich, aber es war ... so improvisiert. Ich habe dieses Wand- und Ablagesystem gefunden, das man nach eigenem Geschmack zusammenstellen und jederzeit erweitern kann. Und alles paßt immer zusammen.« »Wunderbare Arbeit«, sage ich. Wir gehen wieder nach oben. Ray schließt hinter uns den Keller ab. »Muß dafür sorgen, daß die Kids nicht da runterkommen«, erklärt er. Wir setzen uns an den Tisch in der Eßecke. Myrna läßt uns allein. »Was gibt's denn?« Ich erzähle ihm, daß ich durch Maggie in der Lage sei, jede Menge neue Geschäfte aufzutun, weil ich aber beurlaubt sei, könne ich natürlich keine Provisionen kassieren. Ray ist ein ausgezeichneter Techniker, aber kein guter Geschäftsmann. Er ist scharf darauf. Die meisten Typen im technischen Bereich kriegen nur ihr Gehalt und haben keine Chance auf ein paar fette Brocken nebenbei. »Wieviel würde für mich dabei rausspringen?« fragt er. Ich lasse mir eine Weile Zeit mit meiner
Antwort. Schließlich sage ich: »Fifty-fifty.« »Das ist fair«, sagt Ray ziemlich erleichtert. Ich hätte neunzigzehn, ja oder nein sagen können, und er wäre auch damit einverstanden gewesen. »Wirklich fair.« 282 »Es wird eine Weile dauern, die Sache in Gang zu bringen, aber wahrscheinlich geht es in ein paar Wochen, spätestens in einem Monat los.« »Danke, Joe. Danke. Mit den Kids und allem. Ich komme schon zurecht, klar, aber 'n bißchen mehr Geld würde sicher manches erleichtern. Du verstehst.« »Ich verstehe.« Wir schütteln uns die Hand. Ray begleitet mich zur Tür. Die Alarmanlage wird nicht über ein Tastenfeld, sondern mit einem Schlüssel ausgeschaltet. Ich vermute, daß er die Anlage vor ungefähr zehn Jahren installiert hat, als schnellere Toncode-Knacker auf den Markt kamen und Zahlenfeldsysteme nicht mehr sicher waren. Als Ray am nächsten Tag das Loft- Gebäude betritt, halten Steve und ich in einem Miet-Lastwagen, einem Zehn-Meter-Transporter, ein Stück weiter am Straßenrand. Wir parken so, daß die Tür von der Straße aus nicht eingesehen werden kann. Steve wartet im Führerhaus. Er trägt eine Sonnenbrille und einen falschen Fu-Manchu-Bart. Als Ray wieder aus dem Haus kommt, sieht er den Transporter. Er versperrt ihm den Weg. Ich steige hinten aus und ziehe ihm mit einem altmodischen Totschläger eins über. Ich nehme ihm Uhr, Brieftasche und Schlüssel ab. Ich schleife ihn hinter eine Mülltonne. Dann stehle ich Rays Wagen, räume den Kofferraum aus und fahre die Karre in eine Werkstatt, wo sie sofort zerlegt und in Einzelteilen weiterverkauft wird. Mit einem Klempner-Lieferwagen, den ich mir bei einer Firma für Filmrequisiten gemietet habe, fahre ich zu Rays Haus. Aus Versehen oder als zusätzlicher Service gehören auch Werkzeugkisten zu dem Wagen. Ich benutze sie, um darin ein HochgeschwindigkeitsKopiergerät und eine Ladung Cassetten zu transportieren. Die Kinder sind in der Schule. Myrna ist bei ihrem Teilzeit283 job. Ich schätze, daß ich etwa zwei Stunden habe. Mit Rays Schlüssel öffne ich die Haustür. Ich schalte die Alarmanlage aus, schließe die Kellertür auf und gehe hinunter, um seine Schatzhöhle zu erkunden. Er ist ein sehr gründlicher Mann. Zu nett von ihm. Steve bleibt zurück. Ich will, daß er Ray noch mal eins überzieht, falls er zu früh aufwacht. Aber dabei macht Steve nicht mit. »Ich bin dankbar und brauche den Job. Ich mache fast alles. Leute beschatten und so. Ich muß meine Familie ernähren, also mache ich fast alles, aber ich hab ein echtes Problem, jemandem weh zu tun. Ich hab meinen Teil davon getan und will heute nichts mehr damit zu tun haben.« Also sage ich ihm, er soll Ray einfach nur im Auge behalten, und wenn Ray aufwacht und nach Hause fährt, dann soll er Rays Wohnung anrufen. Wählen, einmal klingeln lassen, auflegen. Wählen, zweimal klingeln lassen, auflegen. »Joe«, sagt er, »ich will, daß du etwas verstehst. Ich hab Schwierigkeiten mit meinem Jungen. Ich sorge dafür, daß mein Junge zur Schule geht und hart arbeitet, und seine Mama, die behält ihn auch scharf im Auge. Aber er hat angefangen, sich mit Typen aus Gangs rumzutreiben. Er sagt: >Ich brauch eine Kanone, muß ein Mann sein.« Ich sage: >Quatsch mit Soße.< Ich will ihm keine frommen Reden halten und selbst genau das Gegenteil tun, verstehst du.« »Schon klar«, sage ich. »Vergiß nicht anzurufen.« Die Observierung von Magdalena Lazlo wird als Operation Hundegebell geführt. Es gibt Querverweise zu sieben weiteren Observierungen: Katherine Przyszewski, Luke Przyszewski, Maxwell Nurmberg, Morris Rosenblum, Theodore Brody, Carmine Cassella und Seth Simeon. Allein schon diese Namen mitsamt Telefonnummern und Adressen sind Gold wert. Wenn das die Leute sind, die überwacht werden müssen, dann heißt das umgekehrt, dies sind die Leute, die ich ins Visier nehmen sollte. 284 Als ich feststelle, daß er Kopien aller Observierungsbänder besitzt - was ich zwar gehofft, nicht aber erwartet habe -, ist es, als wäre ich auf eine Goldader gestoßen. Hier ist ein lückenloser Bericht darüber, wer glücklich ist und wer nachts weint, wer gebumst wird und wer Drogen nimmt, wer ehrgeizig ist, dumm, verärgert oder ängstlich. Ray besitzt sogar selbst eine Hochgeschwindigkeitskopiermaschine. Ich baue meine eigene auf und ziehe auf beiden Geräten Kopien. Sorgen muß ich mir nur darüber machen, ob er möglicherweise zur Sicherheit eine zweite Alarmanlage installiert hat, die ich übersehen habe. Oder ob es einen neugierigen Nachbarn gibt. Oder
daß Myrna früher nach Hause kommt. Myrna, die mich wiedererkennen würde, etwas anzutun, um den Einbruch zu vertuschen, wäre eine höchst bedauerliche Sache. Oder den Kids. 285 KAPITEL DREISSIG Taylor wollte sich im Würfel treffen. Obwohl das erste Treffen recht witzig gewesen war, hielt Hartman den Würfel für eine Affektiertheit. Sie trafen sich bei RepCo. Mike Ovitz und die Creative Artists Agency hatten die Moderne entdeckt die Agenten trugen graue Anzüge, und das Gebäude war von I. M. Pei -, was im wesentlichen den Eindruck vermittelte: »Wir sind Geschäftsleute, die ein Unternehmen führen, keine schnellredenden Comic-Strip-Juden mit Goldkettchen wie Sib Kibitz in Doonsbury.« Hartman fand, daß er Ovitz mit seiner dramatischen Neuschöpfung des Harvard Club, einer Neogeorgianischen Kathedrale des Kapitalismus, inklusive der historischen dreistöckigen Eingangshalle mit ihren riesigen Fenstern und mannshohen Kaminen, übertroffen hatte. Klimaanlagen hielten die Halle und die anderen Räume, die Kamine besaßen, kühl genug, daß man selbst in den Sommern von Los Angeles bezaubernde und aromatische Feuer - Eiche und Mesquite - brennen lassen konnte. »Vor einer Woche hat Katherine Przyszewski, Beagles persönliche Sekretärin, gekündigt, wie Sie wissen«, sagte Taylor. »Vorgestern wurde Ray Matusow, der die Abhöreinrichtungen in der Przyszewski-Wohnung installiert hat und wartet, überfallen, als er seine Runde drehte. Heute ruft Katherine Przyszewski Joe Broz an und fragt nach einem Job.« »Gibt es da eine Verbindung?« fragte Hartman. »Genau das ist die Frage«, sagte Taylor. »Gibt es da eine Verbindung?« 286 »Was soll das heißen?« fragte Hartman. »Es gibt keine Zufälle«, sagte Taylor. »Wieviel weiß sie?« fragte Hartman. Sheehan sagte: »Sie scheint nicht allzu viel zu wissen.« Shee-han wollte den Kunden beruhigen. »Schwer zu sagen, wieviel sie weiß«, sagte Taylor. Er wollte sichergehen, daß der Fall heiß blieb und daß er die Gelegenheit, Joe Broz festzunageln, nicht verpaßte, wenn es eine gab. »Wir sind die Bänder aus ihrer Wohnung und dem Büro durchgegangen«, sagte Sheehan. »Und es scheint ziemlich deutlich zu sein, daß sie nicht viel weiß. Über das Projekt.« »Sie könnte mehr wissen, als ihr selber bewußt ist«, sagte Taylor. »Was zum Beispiel?« fragte Hartman. »Ich habe nichts gehört«, sagte Sheehan, »das mir irgendwas verraten hätte.« »Diese Bemerkung über reale Personen«, sagte Taylor, obwohl er eigentlich nicht wußte, ob diese Bemerkung irgendeine Bedeutung hatte. Es hätte auch etwas sein können, das sich der Regisseur als Ausrede zurechtgelegt hatte, um diesem Mädchen keine Rolle geben zu müssen. »Daraus könnte irgendwer etwas entnehmen, falls er es mit etwas anderem verknüpft.« Hartman behielt sein Pokerface und ließ seine Stimme unbeteiligt klingen. »Welche Bemerkung über reale Personen?« »Beagle sagte, er setze nur reale Personen in seinem nächsten Film ein«, sagte Taylor. »Das ist alles?« fragte Hartman. »Es gibt keine Zufälle«, sagte Taylor. »Matusow ist verantwortlich für die Überwachung von neun Personen. Zwei Tage nach dem Überfall auf ihn ruft eine dieser Personen, eine der drei oder vier Personen, die Beagle am nächsten stehen, plötzlich den Kerl an, den ich für den Unruhestifter Nummer eins in diesem Spiel halte. So sehe ich das.« 287 »Wo war Broz zum Zeitpunkt des Überfalls?« fragte Hartman. Keine Frage, die Taylor hören wollte. Weil er es nicht wußte. Nicht genau. Der Detektiv, der Broz beschattete, hatte ihn verloren. Allerdings hatte sich Mel entschieden, auf diese Frage eine Antwort zu geben, die eher ein weiteres Beweisstück war, als zuzugeben, daß er versagt hatte. »Broz entzog sich an dem Morgen der Überwachung.« »Sorgen Sie dafür, daß die Angelegenheit nicht noch komplizierter wird«, sagte Hartman. »Sorgen Sie dafür, daß sie sich nicht mit Broz trifft.« 288 PROPAGANDA Propaganda, die wie Propaganda aussieht, ist drittklassige Propaganda. WIR SIE sind unschuldig.
sind schuldig.
sagen die Wahrheit, informieren. verteidigen uns.
lügen, benutzen Propaganda. sind Aggressoren.
respektieren das Gesetz.
sind Kriminelle und Gesetzlose. sind Lügner, Betrüger, Diebe und Opportunisten, die Verträge brechen.
respektieren unsere Abkommen und Verträge und halten uns an internationales Recht. sind Friedensbewahrer. Unser Einsatz von Gewalt ist eine Polizeiaktion zum Schute von Recht und Ordnung stehen für Recht und Bürgerrechte.
sind brutal, Gangster, eine kriminelle Bande.
brutalisieren, unterdrücken, tyrannisieren ihre eigenen Mitmenschen und ihre Nachbarn. Unsere Führer regieren Ihre Führer sind mit Zustimmung des Usurpatoren ohne Volkes. jede Unterstützung aus dem Volk, die früher oder später gestürzt werden. Der Feind begeht Folterungen, Grausamkeiten und Morde, weil er ein Sadist ist, der sich am Töten ergötzt. 289 Wir setzen punktuelle und strategische Gewalt nur ein, weil wir vom Feind dazu gezwungen werden. Tötungen sind so lange gerechtfertigt, wie man kein Vergnügen daraus zieht und sie auf saubere Art durchführt -vorzugsweise aus antiseptischer Entfernung. Die Flächenbombardements und die Free-fire-Zonen in Vietnam waren legitim, die Schlächterei von Angesicht zu Angesicht in My Lai war ein Kriegsverbrechen. Wenn es darum geht, leidenschaftliche Reaktionen im Volk hervorzurufen, legt die Erfahrung nahe, daß es nichts Besseres als Geschichten über Greueltaten gibt. Dieser Krieg ist in meinen Augen ein Krieg gegen die Barbarei... Wir kämpfen gegen eine Nation, die im Stile einer seit Jahrhunderten vergangenen Zeit die Bewohner der eroberten Länder in die Sklaverei treibt; die Frauen und Mädchen zu noch schlimmerem Zwecke verschleppt; die in ihrem wahnsinnigen Verlangen, die Menschheit zu besiegen und sie mit Füßen zu treten, vor keiner Untat zurückgeschreckt ist und keinen Vertrag respektiert hat... Was wir vor allen Dingen durch diesen Sieg erreichen wollen, den zu erringen wir helfen werden, ist den Weltfrieden zu sichern, basierend auf Freiheit und Demokratie ... Senator Henry Cabot Lodge vor dem amerikanischen Senat, 4. April 1917 Die Propaganda in Amerika ist bei weitem erfolgreicher, als man glaubt. Ihre Erfolge zeigen sich in dem, was nicht gesagt, worüber nicht gesprochen, was nicht einmal gedacht wird. Selbst ihre Unsichtbarkeit ist Stärke; es ist 290 unmöglich, etwas zu bekämpfen, das nicht stattfindet. Soll der eigene Krieg gerecht erscheinen, ist das zuverlässigste Mittel die These von der Selbstverteidigung.
Ganz allgemein sollte man scheinbar das beweisen, was die Menschen sowieso glauben wollen, und das rechtfertigen, was sie sowieso tun wollen. 291 KAPITEL EINUNDDREISSIG Das Material aufzutreiben, war für Teddy Brody nicht das Problem. Die ganze Nacht aufbleiben, querlesen, Passagen markieren, sich Notizen machen, war auch nicht so furchtbar anstrengend. Auch daß er seine Verabredung mit Sam aus Anaheim absagen mußte, der im Sommer Fitneßlehrer bei Best Bods war und im Winter Skilehrer in Steamboat Springs, machte Teddy keine allzu großen Sorgen. Zwar war er durchaus empfänglich für körperliche Schönheit - ein heißer Body ist schließlich ein heißer Body -, aber das war es nicht, wonach er suchte. Was nützte der schönste Körper im Zeitalter von AIDS, Genitalwarzen, Herpes, Kondomen, Handarbeit und gegenseitigem Masturbieren? Wieviel besser war er im Vergleich zu einem Video oder einem Traum? Teddy hatte angenommen, daß das Zusammenkürzen des Materials am schwierigsten sein würde. Eine Seite war erstaunlich kurz für jemanden, der das College mit Prädikat abgeschlossen hatte. Von einem Yale-Absolventen ganz zu schweigen. Das hieß mehr als nur auswählen. Es hieß, keine Bemerkungen zu seiner Auswahl zu machen: einfach Dinge zu sagen und sie dort unerklärt, unerläutert stehen zu lassen, ohne sie zu beweisen oder sich über ihre Bedeutungen auszulassen, und dem Leser zuzutrauen, daß er sie alle selber verstand. Das hatte einen geradezu Kierkegaardschen Glaubenssprung verlangt. Aber sobald der einmal getan worden war, stellte es sich als gar nicht so schwierig heraus. Das wirklich Schwierige - was ihn für Stunden lähmte, ihm 292 Lampenfieber machte, ihn so tief berührte wie die Angst, in aller Öffentlichkeit in die Hosen zu scheißen - war das Zitieren ohne Quellenangabe.85 Mein Gott! Im alten akademischen Leben galt das als Plagiat! Universitätskanzler wurden gefeuert, wenn sie so etwas vor zwanzigjahren auch nur ein einziges Mal getan hatten. Ein Präsidentschaftskandidat - anders ausgedrückt, jemand, von dem man annimmt, daß er ein professioneller Lügner ist - mußte seine Wahlkampagne deswegen abbrechen. Und dennoch wußte Teddy, daß Beagle keine Fußnoten wollte. Es war ihm egal, woher die Ideen stammten. Bei CineMutt spielte das keine Rolle. Das war nur Ballast. Intellektueller Müll. Das LodgeZitat und das Datum bildeten eine Ausnahme, denn genau darum ging es ja: daß wir dieselben Themen nun schon drei oder vier Kriege lang verwenden und sie jedesmal zu funktionieren schienen. Als er seine Arbeit ablieferte - nackt, jedes Wort ohne Quellenangabe von jemand anderem genommen, ruchlos, mit zynischer Hemmungslosigkeit -, hatte er ein Gefühl wie bei einer Abschlußprüfung. Er brauchte nicht mal auf seine Note zu warten. Beagle hatte ihm, einfach nur durch die Bitte, etwas Wichtiges und Bedeutendes beigebracht und ihn zu einem besseren Menschen gemacht. Jetzt hatte Brody das Potential, in Hollywood erfolgreich zu werden. Wenigstens kann ich klauen, dachte er. Dieses Gefühl war so stark, daß Teddy in der Minute, als er die Propagandaseite abgab, einen Einfall für ein Drehbuch hatte. Er wußte genau, wo er den Plot, die Struktur und die Figuren klauen und wie er sie neu erfinden mußte, um seine Version frisch und originell erscheinen zu lassen.86 Kaum war er zu Hause, setzte er sich hin, um ein Treatment zu schreiben. Die Erstfassung war nur eine Frage von ein paar Stunden. Bis zum Morgen hatte er sie überarbeitet, sie durchs Rechtschreibprogramm laufen lassen, durchgelesen, die 293 Korrekturen neu getippt und ausgedruckt. Er brachte sie mit zur Arbeit. Beagle hatte die eine Seite - prägnant und rätselhaft wie die Strategie von Sun Tzu oder die Prophezeiungen des I Ging - über Nacht mitgenommen. Teddy Brody wartete am Morgen ungeduldig auf Beagles Eintreffen, auf seinen Segen oder seinen Fluch. Und wenn - falls - Beagle ihn lobte, dann wäre sein großer Moment gekommen. Der Moment, um zu sagen: »Ich habe ein Treatment - würden Sie es lesen?« Beagle hatte um fünf Uhr früh senkrecht im Bett gesessen. Draußen war es dunkel, nicht einmal ein vordämmriges Grau, sondern immer noch vollkommen dunkel, mit Sternen. Er war hellwach. Er hielt es für Inspiration, wenn das geschah, aber es war seine Leber. Was nicht heißen soll, daß er nicht in den frühen Morgenstunden Einsichten und neue Ideen hatte, aber es war die Schwerfälligkeit seiner Leber, die ihn weckte. Die Neue - Beagle ermahnte sich, endlich ihren Namen zu behalten - hatte wieder einen dummen Fehler gemacht. Die Art von Fehler, die Kitty nie machen würde. Ohne zu wissen, was sie damit
anrichtete, war sie in einem Anfall von Übereifer losgezogen und hatte ein Geschenk für John Lincoln gekauft, das er Dylan geben konnte. Sie hatte einen kleinen Football und einen kleinen Helm gekauft. Beagle fand das süß. Kitty hätte es besser gewußt. Jackie ging die Wände hoch, als sie das sah. Sie machte John die Hölle heiß. All die Sünden der männlichen Rasse hatten offenbar mit Football zu tun. Football war für Kriege verantwortlich, für Morde, Gewalt gegen Frauen, Biersaufen, Rülpsen und den landesweit übermäßigen Verzehr von Junkfood. Was er zumindest begriff, als er im Dunkeln aufwachte, war, daß Football sein Modell war, nicht Baseball und nicht 294 Filme. In gewisser Hinsicht hätte ihm das früher einfallen müssen, lautete doch einer der Standardsprüche im dummen Geschwätz der Volksweisheiten: Football ist der Sport, der Kriegam nächsten kommt. Wenn man Beagle vor diesem besonderen Morgen, als ihn ein Mangel an Gallenflüssigkeit weckte, gefragt hätte, dann hätte er gesagt: »Football ist der Sport, der Rollschuhlaufen am nächsten kommt. Man könnte es auch mit Proficatchen vergleichen, nur haben die Akteure mehr Klamotten an. Golfist der Sport, der Krieg am nächsten kommt.« Aber ein Teil von Beagles Genie bestand in der Fähigkeit, seine Intelligenz und Arroganz zu überwinden und schamlos für einen kleineren gemeinsamen Nenner zu arbeiten. Den kleinsten, wenn möglich.87 Wenn Football das war, was Amerika für Krieg hielt, dann würde ein von Beagle gedrehter Film ein verdammter Super Bowl werden. Anders als Baseball, das Erwartung anstelle der Action im Spiel einsetzte, benötigte Football nicht mal mehr das Spiel. Die Spieler brauchten nichts zu tun. Die Fans taten alles selber. Der Super Bowl war die übertriebenste Version dieses Effekts: zwei Wochen voller Überdrehtheit, Hysterie, Wettfieber, Aufregung, Mediengeilheit und Getue - ohne einen einzigen Block, Tackle oder Strafstoß, ohne daß ein einziger Ball geworfen, gekickt oder getragen wurde. Das Spiel selbst - dieser finale Saisonabschluß, die ultimative Meisterschaftskonfrontation - war meistens ein Reinfall. Ein Rohrkrepierer, früh entschieden, kaum des Sehens wert für die paar Verrückten, die zuschauten, um tatsächlich zu sehen, was im eigentlichen Spielabschnitt des Geschehens passierte. Und dennoch war es nie enttäuschend. Kein Spiel war je so schlecht, daß es die Hysterie des folgenden Super Bowl mildern konnte. Das, so wußte Beagle jetzt, war das Tempo und die Form des Krieges, den Amerika lieben würde. 295 Helden und Schurken. Der Held war vorgegeben: George Herbert Walker Bush. Er würde seine CoStars bekommen. Und zwar ... aber nein, das hatte Zeit bis später. Das erste, was Beagle tat, als er bei CineMutt eintraf, war, sich Filmausschnitte mit Schurken anzuschauen. Hitler, Josef Stalin, Ho Chi Minh, Kaiser Wilhelm, Jack Palance, Erich von Stroheim. Es gab nur ein Wort, eine Definition für »Schurke« - Hitler. Ändere das Gesicht, ändere die Sprache, ändere das Gegeifere, aber nenn die Figur Hitler. Aber das wirklich Interessante daran war, daß am Ende die Bedeutung, die man der Rolle des Schurken beimaß, illusorisch war. Bush hatte sein Hitlerspielchen mit Noriega getrieben, und es kam nicht rüber. Maggie Thatcher hatte den Falklandkrieg ohne Schurken inszeniert, und ihr prächtiger kleiner Krieg war ganz prächtig gelaufen. Was hatte sie? Sie hatte Pearl Harbor! Es war nicht der Bösewicht, es war die ruchlose Tat, die ihren perfekten Ausdruck im Überraschungsangriff fand. Der ja ebenfalls Kernstück des amerikanischen Mythos von sich selbst war: Mr. Netter Kerl kriegt eins aufs Maul. Mr. Netter Kerl steht auf, stellt sich Mr. Überraschungsangriff von Mann zu Mann. Mr. Netter Kerl entpuppt sich als John Wayne, Clark Kent, als Supermacht - Mr. Überraschungsangriff wünscht sich, er wäre nie geboren worden. Was Amerika - oder Bush - oder Beagle brauchte, war jemand, der Amerika angriff. Das war ein Problem. Ein Riesenproblem. Wer griff die USA an? Mexiko? Kanada? Lachhaft. Die Reste der UdSSR? Die würden Atomwaffen einsetzen, wir würden Atomwaffen einsetzen, und das wäre das Ende Hollywoods.Japan ? Würde Japan einwilligen, uns erneut anzugreifen? Könnte man diese Wirtschaftsgeschichte aussehen lassen wie einen Angriff? 296 Nein. Ein Wirtschaftskrieg war nicht das Richtige für diesen Job. Zu kompliziert fürs Fernsehen, außerdem gab es bei so was überhaupt keine Bilder. Er wandte sich wieder dem Vietnam-Szenario zu. Er hatte noch nicht verstanden, warum er das Gefühl hatte, Die Rückkehr sei falsch, und das mußte er, bevor er seinen Weg zu einem Krieg fand, der ästhetisch bestehen konnte. Er ließ Vietnam-Ausschnitte laufen. In weniger als einer Minute war es klar: Dschungel. Das war wichtig: Amerikaner mochten den Dschungelkrieg nicht. Zu naß. Zu heiß. Heiß und naß, das bedeutete Krankheit und Sex. Amerikaner mochten es, gegen die Nazis zu kämpfen.
Amerikaner mochten die deutsche Kriegsführung. Mechanisiert. Zivilisiert. Sauber und trocken. Aber gegen die Japaner hatten die Amerikaner im Dschungel gekämpft. Und das war gut gewesen .Eine Menge guter Filme hatte es darüber gegeben. John Wayne hatte sich meist im Pazifik aufgehalten. Da war er wieder, auf Bildschirm 8, in dem einzigen Pro-Vietnamkriegsfilm, der je gedreht worden war, Die grünen Teufel, ein alter, fetter John Wayne, der herumstolzierte, als handele es sich immer noch um den Zweiten Weltkrieg. Und dabei kam Beagle eine wichtige Erkenntnis. Das wirklich fundamentale Problem, das strukturelle Problem bestand darin, daß Vietnam gar nicht Vietnam war. Es war nie beabsichtigt gewesen, daß es nur Vietnam sein sollte. Nach Vietnam zurückzugehen wäre ein Mißverständnis. Es kam darauf an, das zu liefern, was Vietnam von Anfang an hätte sein sollen - ein Remake, nicht fürs Kino, sondern fürs Fernsehen - von 1942-1945: Der Zweite Weltkrieg - Das Video. Er hörte die hervorgehobenen Worte in seinem Kopf. Das wars. Das war der Kern. Er erinnerte sich an einen Anthologiefilm - Going Hollywood: 297 The War Years. Darin kam etwas Bedeutendes vor. Er suchte danach und brachte ihn auf den Bildschirm: »Ein Krieg, bei dem es keinen Zweifel daran gab, wer ihn angefangen hatte oder für wen wir kämpften oder wer die Guten und wer die Bösen waren. Mit anderen Worten, dies war ein Krieg, der von Hollywood hätte geschrieben sein können.« Das war gut, traf den Nagel genau auf den Kopf, war aber noch nicht die Aussage, nach der er suchte - da: »Vorbei war es mit den Filmen der Dreißiger mit ihren verschrobenen reichen Leuten, ihren schlagfertigen Heldinnen, ihren klugen Sprüchen über Banken, Regierung und Arbeitslosigkeit. Der Krieg unterband alle Kritik. Eine neue und allumfassende Gesundheit durchzog Hollywoods Amerika. Es wurde entschieden, daß der wahre Charakter der Nation einfach nur - nett war. Es gab keine Demonstrationen, keine Klagen im netten Amerika.« Darum ging es doch eigentlich. Das war es, was der Kunde wollte. Der Krieg war doch nur ein Mittel zum Zweck. Der Zweite Weltkrieg war der Krieg, der den richtigen Schluß beisteuerte. Das war das Amerika, das Bush wollte - in dem die reichen Leute respektiert wurden, die Banken gute Kumpel waren, niemand herumkrittelte, sich selbst die Dunkelhäutigen als nett herausstellten und Frauen ihr verdammtes Maul hielten. John Lincoln Beagle hatte entschieden, welchen Film Amerika als nächstes drehen würde: Der Zweite Weltkrieg - Das Video. 298 KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG 1967 richtete die CIA in Vietnam ein Programm mit dem Namen Phönix ein. Der Name ist eine grobe Übersetzung von PhungHoang, ebenfalls ein mythologischer Vogel.88 Das Programm wurde von William Colby geleitet, der später CIA-Chef wurde. Eines der Zitate, die Teddy Brody für seine Seite mit Kernsätzen über Propaganda aus Sam Keens Gesichter des Bösen zog, das in der endgültigen Fassung aber nicht auftauchte, lautete: »Man beachte den Unterton bei aller selbstrechtfertigenden Propaganda; es ist die weinerliche Stimme des Kindes: >Er hat angefangen - ich habe mich doch nur gewehrt.«« Sie haben angefangen ist die Grundlage der Operation Phönix. Zufälligerweise ist es sogar die Wahrheit. Sie haben angefangen. Der Vietcong hatte ein umfangreiches und sehr effektives Terrorprogramm. Es war gegen jeden gerichtet, dessen Arbeit die Routinefunktionen der Regierung unterstützte - Bürgermeister, Steuerbeamte, Polizisten, Postboten und Lehrer. Die Guerilla-Kriegsführung ist alles andere als human, und sich gegen die Staatsmacht zu stellen, ist immer schwer. Dennoch kann man wohl mit einigem Recht sagen, daß sich ihre Taten lediglich durch das Motiv von den rücksichtslosesten Formen des Verbrechertums unterschieden, wie politisch korrekt der Vietcong sonst auch immer gewesen sein mag. Sie setzten ihre Untergrundherrschaft auf sehr ähnliche Weise durch wie die Mafia auf Sizilien oder die Drogenkartelle in Kolumbien.89 Es gibt eine Vielzahl guter Geschichten über Greueltaten des Vietcong - gut im Sinne von »Wenn es dar299 um geht, leidenschaftliche Reaktionen im Volk hervorzurufen, legt die Erfahrung nahe, daß es nichts Besseres als Geschichten über Greueltaten gibt.«90 Dazu zählen kleine Jungen und Dorfälteste, die dort auf Pfählen aufgespießt wurden, wo sie der Rest des Dorfes zwangsläufig sehen mußte, und schwangere Frauen, denen die Bäuche aufgeschlitzt und die Föten herausgeschnitten wurden, um zur öffentlichen Zurschaustellung auf dem Boden liegen gelassen zu werden. Die südvietnamesische Regierung, die CIA und die anderen amerikanischen Organisationen hatten schon vor Phönix versucht,
diese Taktik nachzuahmen. Die CIA stellte mehrere sogenannte Counterterrorist-Teams auf, die aus Vietnamesen und manchmal Chinesen bestanden, Söldnern, denn sie wurden bezahlt, gehörten aber nicht zur regulären Armee. Einige dieser Teams setzten sich aus verurteilten Mördern, Vergewaltigern und anderen Kriminellen zusammen, die in vietnamesischen Gefängnissen rekrutiert wurden, echte Versionen von Das Dreckige Dutzend. Die Special Operations Group (SOG), die das Project Delta und Project 24 durchführte, Navy Seals, Such- und Vernichtungsteams, und ganz besonders die Provincial Reconnaissance Units (PRU)91 waren alle an Antiterror- Operationen beteiligt. Die Operation Phönix faßte alle südvietnamesischen Nachrichtendienste unter amerikanischer Aufsicht zusammen und nahm systematisch ins Visier, was damals VCI - Vietcong-Infrastruktur, also die Kader der geheimen Vietcong-Verwaltung - genannt wurde. Die Amerikaner und Südvietnamesen besaßen tatsächlich eine Menge Informationen darüber, wer zum Vietcong gehörte oder mit ihm sympathisierte. Bei Phönix lief das alles zusammen. Die Phönix-Leute erließen Steckbriefe und setzten Belohnungen aus. Sie richteten Verhörzentren ein. Sie schickten Teams los, die Verdächtige festnehmen und ermorden sollten. 300 Was über Phönix bekannt wurde, löste sofort Kontroversen aus.92 Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Vietnamesen, die bei Phönix als Vietcong oder Sympathisanten des Vietcong denunziert wurden, waren nicht unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen war. Attentate warteten nicht bis zu einem ordentlichen Gerichtsverfahren. Verdächtige wurden allein aufgrund anonymer Anklagen ohne Prozeß in Haft genommen. Im Gefängnis wurden sie häufig geschlagen und gefoltert. Südvietnamesische Geheimdienstoffiziere in den Bezirken wurden reich durch Erpressung - indem sie drohten, Leute auf die Liste zu setzen, sofern sie nicht bezahlten -und indem sie echten Vietcong die Möglichkeit gaben, sich freizukaufen. Für einige Leute war Phönix ein Mordsspaß. Es war wie Lawrence von Arabien in den Tropen. Sich kleiden wie die Einheimischen, lokale Küche essen, Hinterhalte legen, nachts in Dörfer schleichen, um lautlos zu töten, bizarre und geheimnisvolle Rituale wie den Opfern speziell angefertigte Visitenkarten an die Stirn zu nageln oder ihnen die Leber herauszuschneiden, denn ohne Leber kommt man nicht in den buddhistischen Himmel. Genaugenommen war es sogar noch besser als bei Lawrence, besonders für die Heterosexuellen - statt verschleierter, in mehrere Lagen Kleider gehüllter Frauen gab es die entgegenkommenden Mädchen Indochinas in ihren bao dais; statt mit den Fingern Ziegenfleisch und Reis essen zu müssen, bekamen diese verkleideten Krieger des Westens Steak und Eiscreme aus den Staaten oder vietnamesische Küche, die, weil sie die Traditionen Frankreichs und Südostasiens verbindet, zu den verführerischsten der Welt gehört; es existierte keinerlei Alkoholverbot; die Drogen waren von ausgezeichneter Qualität; Amerikaner zu sein bedeutete, sehr reich zu sein.93 Angesichts all dessen - den Cowboys, der Geldmacherei, der 301 moralischen Korruption durch Beteiligung an Folter und Attentaten - ist es wirklich bemerkenswert, daß Phönix tatsächlich funktionierte. Es hat dem Vietcong sehr geschadet. Zusammen mit den Verlusten während der Tet-Offensive hat es ihm in einem Ausmaß geschadet, von dem er sich nie mehr richtig erholte.94 Taylor schaltete zwei Männer ein, die Kitty abfangen sollten. Sie warteten vor ihrem Haus. Ihnen war bekannt, wann sie sich mit Joe Broz treffen sollte und wie lange die Fahrt dauern würde, daher wußten sie in etwa, wann mit ihrem Aufbruch zu rechnen war. Zur Identifikation besaßen sie Fotos von ihr. Auf den Fotos sah sie sehr attraktiv aus, lächelte, hatte strahlende Augen und war üppig gebaut. Beide Beobachter waren an der Operation Phönix beteiligt gewesen. Ihre Namen waren Charles »Chaz« Otis und Christian »Bo« Perkins. Es gibt viele Möglichkeiten, die beiden zu beschreiben, aber am einfachsten könnte man sagen: Bo war ein Sadist und Chaz ein Vergewaltiger. 302 KAPITEL DREIUNDDREISSIG WKII-2-V, schrieb Beagle hin. Er konnte es lesen, aber jeder andere hätte es für Kritzel-HV gehalten. Das war kein Titel für den Kino-Aushang - nur ein Arbeitstitel, ein Projektname. Andere Titel kamen ihm in den Sinn: Morgens in America American Century
American Storm Pax Americana Die Hoffnung der Welt American Hero John Waynes Reinkarnation Die Sieben Reinkarnationen des John Wayne Er notierte sie unter Gekritzel-II V~, aber noch während er es tat, wurde ihm klar, daß er den wirklich passenden Titel erst finden würde, wenn er entschieden hatte, gegen wen wir Krieg führen würden. Wo? Welchen Krieg? An Kriegen rund um die Welt gab es keinen Mangel. Kriege fanden überall und jederzeit statt. Sollte er sich an einen bereits bestehenden Krieg anhängen? Oder einen neuen beginnen? Er wußte, irgendwo gab es eine Liste. Er drehte sich in seinem Stuhl zu der Workstation in der Ecke. Auch damit 303 konnte er sich in den Fujitsu einklinken, und wenn es um schriftliche Informationen ging, war es schneller. Er tippte »Kriege, aktuelle« ein. Auf dem Bildschirm erschien eine alphabetische Liste. Äthiopisch-Eriträischer Krieg Afghanischer Widerstandskampf Angola Guerilla-Bürgerkrieg Bangladesh Guerillakrieg Bolivianischer Drogenkrieg Burma- Guerillakrieg Konflikt in Chile Ekuador El Salvador - Bürgerkrieg Guatemala - Guerillakrieg Heiliger Krieg - Dschihad Indien - Sikh-Hindu-Krieg Indisch-Pakistanischer Krieg Iranisch-Irakischer Krieg Kambodscha - Vietnams Krieg gegen die Guerilla Kolumbien - Guerillakrieg Kurdischer Unabhängigkeitskampf Libanon Liberia - Bürgerkrieg Marokko-Polisario-Krieg Mittelamerika Mosambik - Guerillakrieg Nicaragua-Kontra-Krieg Nord-Irland - Terrorismus Ost-Timor - Widerstandskampf Perus »Leuchtender Pfad« Philippinischer »Krieg gegen die Kommunisten« Sudan - Bürgerkrieg 304 Sri Lanka - Bürgerkrieg Togo Krieg im Tschad Zulu-ANC-Krieg95 Er hatte die Videos nicht ausgeschaltet. Als er aufblickte, war da, Schicksal oder Zufall, aber offensichtlich falsch eingeordnet, Rommel, Amerikas Lieblingsnazi. Warum mochten wir ihn so? Wüstenkrieg? Es war heiß, aber heiß und trocken ist in Ordnung. Das Feuchte mit dem Heißen sorgte für Sex und Krankheiten. Panzer? Maschinen übernehmen das Töten, und das Ziel ist, Maschinen zu töten. Es war an der Zeit, mal das Paralleluniversum zu checken: Realität. Die Realität erhob keine Einwände. Die Wüste war der beste Ort für Panzerschlachten, und sie war der einzige Ort, an dem die Luftstreitkräfte wirklich entscheidend waren. Die Dokumentarserie The World at War hatte sich darüber recht deutlich ausgedrückt.
Das war es also. WKII-2-V würde ein Wüstenkrieg sein -heiß und trocken, Luftstreitkräfte und Panzer. Wir setzen punktuelle und strategische Gewalt nur ein, weil wir vom Feind dazu gezwungen werden. Tötungen sind so lange gerechtfertigt, wie man kein Vergnügen daraus zieht und sie auf saubere Art durchführt - vorzugsweise aus antiseptischer Entfernung ... Ah! Er hatte es! Was für ein Gedanke! Was für ein Bild. Er fing an, auf der Computertastatur herumzutippen - er wußte den Titel - Ohne Rücksicht auf Verluste. Es ist 1943. Pat O'Brien versucht zu zeigen, warum die Amerikaner die Leute aus großer Höhe bombardieren sollen. Im Gegensatz zu Tiefflugangriffen. Um seine These zu beweisen, organisiert er einen 305 Demonstrationsversuch und wirft aus zwanzigtausend Fuß eine Bombe buchstäblich in ein Faß. Später bekommt einer der angehenden Bombenschützen im Ausbildungszentrum beim Anflug auf das Ziel Skrupel. »Wenn ich mir das Ziel ansehe, sehe ich Menschen. Frauen und Kinder. Diese Briefe ...« Sie sind von seiner Ma. »Sie sagt, ich mache mich zum Mörder.« Aber der Kaplan (nicht Pat O'Brien diesmal spielt er den Ausbilder der Bombenschützen) erklärt: »Die Ziele des Feindes sind überall. Aber deine Ziele sind klar und begrenzt. Keine Frauen und Kinder . . . Deshalb werden amerikanische Bombenschützen so ausgebildet, daß sie das Ziel treffen.« Der Junge glaubt ihm. Sein Gewissen ist rein. Er kann weiter Bomben abwerfen. Was er tut. Der Höhepunkt des Films ist ihr Anflug auf eine japanische Munitionsfabrik. BESATZUNGSMITGLIED: Wirf eine in den Schornstein. BOMBENSCHÜTZE: In welchen? BESATZUNGSMITGLIED: Den in der Mitte. BOMBENSCHÜTZE: Das ist einfach. Beagle wußte, daß er das einbauen würde. Er wußte nicht, wo er in der Wüste einen Schornstein finden sollte, aber diese Szene würde er verwenden. Unser Krieg würde so punktuell und präzise sein, daß wir unsere Bomben dem Feind direkt in den Schornstein werfen würden. Und keiner Frau, keinem Kind oder sonst irgendeinem Unbeteiligten auch nur ein Härchen krümmen. Das brachte ihn wieder aufsein größtes Problem. Wer sollte Amerika angreifen? Oder auch nur einen amerikanischen Vorposten. Hatten wir nicht auch so etwas wie die Falklandinseln? Puerto Rico? Die Virgin Islands? Guam? Eine der Inseln im Pazifik? Es war einfach jämmerlich. Niemand würde Amerika angreifen. Aber vielleicht war das auch gar nicht nötig. Es sollte doch 306 ein Remake des Zweiten Weltkriegs sein. Soviel wußte er. Was, wenn - was, wenn wir uns Hitler früher entgegengestellt hätten, statt ihn zu beschwichtigen. Hitler marschiert in Polen ein. Vielleicht haben wir aus dem Zweiten Weltkrieg gelernt und machen es diesmal besser. Wir stellen uns ihm, wenn er in Polen einmarschiert. Das war toll. Niemand mußte die Vereinigten Staaten angreifen. Wir mußten nur einen Hitler finden und dafür sorgen, daß er in Polen einmarschiert. War das machbar? Ja. Er fand schon. Es gab viele Hitler und viele Polen. War das genug? War es das? Ja. Beagle stand auf und streckte sich. Er verließ den Kontrollraum und war zutiefst zufrieden mit sich. Ohne sich dessen bewußt zu sein, stolzierte er - ein Gang, der jedem vertraut war, der sich klassische Western ansah -, er stolzierte genau wie der große John Wayne. Agnes Przyszewski umarmte ihre Mutter. Obwohl Agnes mit dem Fernsehen großgeworden war, wo jemand, der seinen Job verlor oder kündigte, innerhalb der dreißig Serienminuten stets einen neuen und besseren Job fand, dämmerte ihr langsam, daß das, was ihre Mutter getan hatte, eine bemerkenswerte Geste der Unterstützung war. Sie brachte Mutter und Tochter enger zusammen, als sie es seit Jahren gewesen waren. Gemeinsam suchten sie die Kleidung aus für Kittys Vorstellungsgespräch bei Joe Broz. »Ich werde die Stelle nicht nehmen«, sagte Kitty, »wenn ich dort nichts für dich tun kann.« Als Kitty vor dem Badezimmerspiegel stand und begann, sich das Haar zu frisieren, bot Agnes an, ihr es zu bürsten, was sie als kleines Mädchen gern getan hatte, aber nicht mehr, seit sie sieben war. Kitty hatte alle Mühe, nicht zu weinen. 307 Chaz und Bo waren etwa einen halben Block entfernt. Das Auto, in dem sie saßen, war gestohlen, ebenso die Nummernschilder, beide getrennt voneinander auf dem Langzeitparkplatz am Flughafen von Los Angeles besorgt. Sie hatten beschlossen, diese Przyszewski gleich zu greifen, wenn sie zu ihrem Wagen ging, der draußen auf der Straße stand. Das war die schnellste und sauberste Möglichkeit. Sitzt eine Person erst im Wagen, kann es sehr kompliziert werden, sie zu stoppen, und wenn sie gestoppt ist, kann es sehr schwer sein, sie aus dem Auto zu bekommen. So was hatten sie schon mal gemacht. Aber sie sprachen es trotzdem noch mal durch. Sie würden in
Aktion treten, Chaz am Steuer, sobald Kitty die Wohnungstür öffnete, und im Schrittempo auf sie zufahren. Dann würde Bo, der eine nette Stimme hatte und ein bißchen täppisch wirkte, sagen: »Entschuldigen Sie, Miss, können Sie mir helfen? Ich glaube, wir haben uns verfahren.« Sie würde stehenbleiben. Er würde mit einer Karte aus dem Wagen steigen. Bis sie die Waffe sah, würde er ganz nah bei ihr sein. Chaz, der schon bei dem Gedanken an sie einen Steifen hatte, würde die hintere Tür aufmachen. Bo würde sie reinschubsen. Sie würde noch leben, wenn sie mit ihr fertig waren. Es würde kein dauerhaft sichtbarer Schaden an ihrem Körper zurückbleiben. Aber sie würde wahrscheinlich sehr, sehr lange mit niemandem sprechen. Als aus dem Kontrollraum keine Anforderungen mehr kamen, wurde Teddy Brody unruhig. Er hoffte inständig, daß Beagle etwas sagen würde, irgendwas über sein Ein-Seiten-Propagandapapier. Eigentlich erwartete er nicht, daß Beagle »etwas« sagen würde - »irgend etwas«, er erwartete, daß Beagle ihn loben würde, ihm Anerkennung zollte und ihm so die Möglichkeit eröffnete zu sagen: »Bitte, Sir, würden Sie mein Treatment lesen.« 308 Teddy drückte sich zwischen zwei Monitore und linste durch einen Spalt. Der Kontrollraum war leer. Die Videomonitore liefen, niemand sah zu. Dort, in einer Ecke der Konsole lag ein einzelnes, vergessenes Blatt Papier, das vielleicht sein Aufsatz über Propaganda war. Der Mut verließ ihn. Er beschloß, in den Kontrollraum zu gehen. Das hatte er noch nie getan, außer an seinem ersten Arbeitstag, als man ihn auf eine Tour durch CineMutt führte, damit er sah, wie seine bescheidenen Bemühungen im Hinterzimmer vorn im Regieraum Früchte trugen. Was das anging, hatte er noch nie unaufgefordert ein Zimmer betreten, seit er sechs war. Oder war er sieben gewesen? Oder acht? Oder fünf? Er hatte es verdrängt. Was hatte er verdrängt? Irgend etwas überkam ihn, als er seine Hand auf den Knauf der Verbindungstür legte. Eine furchtbare Angst, die er in seinen Eingeweiden spürte. Um präziser zu sein, in seinem Schließmuskel. Er wußte, daß das, was er gesehen hatte, seine Eltern waren, die miteinander geschlafen hatten. Nicht weiter ungewöhnlich, daß ein Kind so etwas zufällig mitbekommt. Warum war das so traumatisch ? Was war denn an den Tränen, daß sie ihn so verwirrten? Tränen. Es hatte Tränen und Wut gegeben. Er drehte den Knauf. Die Tür schwang vollkommen geräuschlos auf. Drinnen wartete nichts auf ihn - keine Vision - kein Tyrann -keine Wut keine Tränen. Nur ein leerer Raum voller stumm laufender Videobildschirme, flackernde Farben in der Luft, wo sie schnell verblaßten, weil sie keine reflektierenden Oberflächen fanden. Er war drin. Und er wußte tief in seinem Herzen, daß er das Recht hatte, einzutreten. Er war ein guter Junge. Zu gut. Dies war keine Welt, in der Anstand und Höflichkeit, pedantische Ehrlichkeit und tiefer Respekt die Mittel waren, um Erfolg zu haben - falls es eine solche Welt je gegeben hatte. Irgendwo. Jemals. Dies war ein Ort, wo Wissen Macht bedeutete, selbst 309 gestohlenes Wissen, vor allen Dingen gestohlenes Wissen. Wo man den Menschen erzählte, was sie hören wollten - nicht die Wahrheit -, denn wer will schon die Wahrheit hören? Wahrheit war etwas für die intimen Augenblicke mit sich selbst, wenn man Spiegel mochte, die gemein und häßlich waren. Wo eine gestohlene Erwähnung im Abspann immer noch besser war als gar keine Erwähnung, und die einzige Regel des Plagiierens lautete, bessere Anwälte und trickreichere Buchhalter zu haben als derjenige, von dem man geklaut hat. Verdammt, es war an der Zeit für ihn, erwachsen zu werden oder zu verschwinden. Geh - nicht nach Hause - dorthin niemals -, aber in irgendein Übergangsheim für Verlierer, eine Universität zum Beispiel. Er ging auf leisen Sohlen auf einem leisen Teppich zum Terminal. Dort sah er seine Abhandlung. Ohne eine Zensur. Er hatte eine erwartet. Blöder Reflex. Er sah Beagles spärliche Notizen - die Filmtitel. In der CineMutt-Küche fand sich eine Flasche Sekt. Beagle dachte, daß er sich ein Gläschen Champagner verdient hatte. Er rief zu Hause an, um mit seiner Frau zu sprechen. Aber sie war nicht da. Er ging zum Empfang und ... nun, da war eine Fremde. Kitty war so toll. Früher, bevor sie ausgeflippt war. Wenigstens hätte er mit ihr feiern können, und sie hätte sich mitgefreut, obwohl er ihr nicht hätte sagen können, worauf genau sie eigentlich anstießen. Der erste, den er anrufen mußte, war natürlich David Hartman. Schließlich war David Hartman die einzige andere Person auf der Welt, die Bescheid wußte. Hartman nahm den Anruf entgegen. »Ich stehe hier mit einem Glas Schampus in der Hand. Und das sollten Sie ebenfalls. Ich habe gefunden, was wir brauchen«, sagte Beagle. 310
Am anderen Ende der Leitung lehnte sich Hartman zurück, schloß die Augen und seufzte erleichtert. Das war die Hölle bei dem Job. Darauf zu warten, daß das verdammte Genie tat, was immer es denn war, was es tat. Es dauerte stets so lange, wie es dauerte. »Ich werde hier eine Flasche köpfen«, sagte Hartman, »und ich werde Ihnen übers Telefon zuprosten.« Beagle wartete, während Hartman wegging. Als er zurückkam, stießen sie mit ihren Gläsern an ihre jeweiligen Telefonhörer. Während Hartman in seinen Terminkalender schaute, um nachzusehen, wem er absagen mußte, um Beagle noch am selben Tag, spätestens am nächsten Morgen zu treffen, fiel ihm ein, daß ihn diese Geschichte mit der Sekretärin nervte. »Line, diese Przyszewski, Ihre Sekretärin, war sie gut?« Hartman hatte die Idee, sie irgendwo sicher unterzubringen, wo er sie im Auge behalten konnte, damit U.Sec. nicht das tat, was immer sie taten. »Sie war toll.« »Wirklich?« »Kitty, ja. Bis sie ausflippte.« »Was ist passiert?« »Sie hat mich gebeten, ihrer Tochter in meinem nächsten Film eine Rolle zu geben. Das hat mich aufgebracht, hätte es jedenfalls üblicherweise, aber es gibt ja sowieso keine Rollen. Was ich ihr auch gesagt habe, und dann ist sie ausgerastet.« »Würden Sie sie gern zurückhaben?« »Sicher. Liebend gern. Wenn sie wieder normal ist, natürlich.« »Warum machen Sie nicht folgendes«, sagte Hartman. »Rufen Sie sie an. Sagen Sie ihr, Sie hätten mich angerufen, und ich hätte gesagt, RepCo würde ihre Tochter vertreten. Wir werden dem Kind einen Agenten besorgen. Kitty wird glücklich sein, Sie werden glücklich sein, und wir können alle weiter unseren Geschäften nachgehen.« 311 »Geritzt«, sagte Beagle. Dann besprachen sie, wann sie sich treffen konnten. Chaz sah, wie sich Kittys Tür öffnete. Er lächelte und legte eine Hand in den Schoß. Er war dick und pulsierte voller Erwartung. Bo, der die Geste bemerkte, lachte. Chaz' Spielchen war nicht unbedingt das, was Bo getan hätte, wenn er allein gewesen wäre, aber die Sache mit der Angst und dem Schmerz machte ihn an. Kitty trat heraus. Chaz setzte den Wagen in Bewegung. Drinnen klingelte das Telefon. Agnes hob ab. »Hi, ist Kitty da?« »Wer spricht da?« »Ich bin's, Line.« »Ich glaube nicht, daß sie mit Ihnen sprechen will«, sagte Agnes grob und rechtschaffen und spielte es so, wie sie es in den Seifenopern zur besten Sendezeit gesehen hatte. »Nun, ich hatte gehofft, ich könnte sie überreden, die Stelle wieder anzunehmen.« »Zu dumm«, sagte Agnes, »ich glaube nicht, daß sie zurückkommen will.« Als Kitty auf ihren Wagen zuging, hielten Chaz und Bo draußen etwa an der Stelle, die sie für den Zugriff vorgesehen hatten. »Sind Sie es, Agnes?« fragte Beagle. »Kennen Sie RepCo?« Natürlich kannte sie RepCo. Sie war schließlich aus L. A. »Natürlich kenne ich RepCo«, sagte Agnes. Bo hielt sich die Straßenkarte vors Gesicht und setzte eine verwirrte und hilflose Miene auf. »Nun, ich bin gut mit David Hartman befreundet, dem Chef von RepCo, und, ahm, nun, ich habe mit ihm über Siegespro312 chen, und er sagte, RepCo würde sich glücklich schätzen, Sie zu vertreten, wenn Sie es versuchen wollen.« Bo kurbelte das Fenster runter. »Oh, entschuldigen Sie, Miss«, rief er Kitty zu. »Wir haben uns anscheinend verfahren.« Kitty sah auf die Uhr. Sie hatte eine Minute Zeit, einem Verirrten zu helfen und trotzdem pünktlich zum Vorstellungsgespräch zu erscheinen. »Wo wollen Sie denn hin?« fragte sie. Laß sie einen Schritt näher kommen, dann würde Bo aus dem Wagen steigen, mit der Karte und einem Stück Papier in der Hand. »Ich zeig Ihnen die Adresse«, sagte er. Die Karte würde die Waffe verbergen. Der Trick bestand darin, die Leute nahe genug an den Wagen zu locken. Sie würden die Waffe sehen, geschockt und im Wagen sein, bevor sie eine Chance hatten, zu schreien oder wegzulaufen oder zu kämpfen. Und das war's. »Mom, Mom, komm schnell«, rief Agnes aus der Tür. Kitty zögerte. »Beeil dich, Mom, schnell.« »Entschuldigen Sie«, sagte Kitty zu dem Fremden, rannte in dem Glauben, ihre Tochter hätte irgendwelche Schwierigkeiten, der Dringlichkeit in ihrer Stimme nach zu schließen, zurück zum Haus und ließ Chaz und Bo stehen. Nachdem Beagle mit Kitty gesprochen hatte, rief sie Mr. Broz an und sagte ab. Falls Mr. Broz enttäuscht war, so verbarg er es gut. Sie wußte natürlich nicht, wie tief enttäuscht Chaz und Bo waren. Sie dachten, sie hätten noch einen weiteren Versuch. Aber nachdem
Beagle mit Hartman sprach und Hartman anschließend Taylor anrief, wurden sie von dem Job abgezogen. Chaz brach es regelrecht das Herz, jetzt, wo er Kitty gesehen hatte. 313 KAPITEL VIERUNDDREISSIG »Mein Vater war ein Dreckskerl«, sage ich zu Maggie. »Was spielt das schon für eine Rolle?« »Wir unterhalten uns nur«, sagt sie. »Sich einfach unterhalten - das bedeutet darüber zu reden, was ohne Magic aus den Lakers wird, ohne Pat Riley, ohne Kareem. So was ist >sich einfach unterhalten<. Wie war dein Vater? Wann bist du das erste Mal gebumst worden?« »Du bist wütend«, sagt sie. »Unter dieser.. .Maske, die du zur Schau trägst, bist du ein wütender Mann.« »Ich bin ein ganz normaler Bursche, das ist alles«, sage ich. »Da draußen gibt es Unmengen Väter... früher wenigstens -in den schmutzigen Industrieregionen, sie arbeiten hart, trinken viel, lehren ihre Söhne: Das Leben ist hart.« »Schon gutjoe«, sagt sie. »Erzähl mir nichts über deinen Vater. Wie war deine Mutter?« Ich habe Schuhe und Hemd schon ausgezogen. »Ich muß mich umziehen«, sage ich. »Wenn ich noch laufen will, bevor wir auf die Party gehen.« Ich lasse sie stehen und gehe nach oben. Ich erreiche mein Zimmer - ich habe immer noch ein eigenes Zimmer, in dem ich meine Kleider aufbewahre und schlafe. Was das Schlafen betrifft, tue ich so als ob, nicht aber, was die Kleider betrifft. Es ist eine Sache für eine Frau, in ihrem Bett Platz für einen Mann zu machen, aber eine ganz andere, Platz in ihren Schränken herzugeben. Ich gehe also in mein Zimmer, öffne diesen verdammten DreihundertDol-lar-Gürtel - ich komme nicht dahinter, wodurch das Ding dreihundert Dollar wert wird, ich kann's einfach nicht, werde 314 es nie können -, mach den Knopf auf, den Reißverschluß, lasse die Hose fallen. Als ich mich umdrehe, steht sie da. Sie sieht mich an. »So viele Narben«, sagt sie. »Was willst du von mir?« »Wirst du laufen?« »Ich werde laufen«, sage ich. Ich greife in die Kommode und hole schnell eine Turnhose raus. Wieso sollte sie sehen, wie ich eine Erektion bekomme? Sie weiß sowieso schon, welche Macht sie auf mich ausübt. Aber sie starrt mich an. Mustert mich. Sieht die Erregung. Ich weiß es. »Wenn du nicht sofort verschwindest«, sage ich, »werde ich ...«Ich sage nicht: Dich bumsen. Ich werde dich bumsen. Und wenn's erst mal anfängt, wird's nie mehr aufhören, es sei denn, alles ist aus. Die Mikros hören mit. »Vielleicht laufe ich mit dir«, sagt sie, dreht sich um und verschwindet in ihrem Zimmer. Ich ziehe ein T-Shirt über, verlasse dann das Haus. Ich denke gar nicht daran, auf sie zu warten. Ich will einfach nur so schnell wie möglich dort weg. Die Ermittlung führt zu nichts. Ich dachte, wir hätten eine Chance mit Kitty Przyszewski, aber sie ist uns durch die Lappen gegangen. Es ist ohnehin ein saublöder Fall. Wen interessiert schon, was John Lincoln Beagle vorhat? Es ist nur ein weiterer gottverdammter Film. Seine Frau und sein Kind hassen ihn. Das erzählt man sich inzwischen überall. Mann und Frau warten nur auf einen für sie günstigen Zeitpunkt, um die Scheidung einzureichen. Wenn ich diese Idiotie mit Maggie heute abblase und zu U.Sec. zurückgehe, wohin ich gehöre, werde ich morgen wahrscheinlich schon wieder bei Beagle landen, diesmal allerdings im Auftrag seiner Frau. Oder andersherum, ich arbeite für ihn gegen sie. Über Jacqueline Conroy erzählt man sich zur Zeit in der Stadt: »Das Miststück kennt die goldene Regel Hollywoods - immer mit den Leuten bumsen, die wichtig sind.« 315 Sicher, jeder Name, mit dem sie in Verbindung gebracht wird - Patrick Swayze, Kevin Costner und Madonna96 - deutet auf eine streng aufwärts gerichtete Mobilität. Maggie und ich und Mrs. Mulligan, jeder einzelne von uns hat unabhängig voneinander gehört, daß John Lincoln es mit seiner Sekretärin getrieben hat und es auch mit deren Tochter treiben wollte. Die Mutter sei darüber dermaßen empört gewesen, daß sie kündigte. Aber Beagle hat sie angerufen und versprochen, ihrer Tochter eine Rolle in seinem nächsten Film zu verschaffen, also ist sie zu ihm zurückgekehrt. So detailliert und weit verbreitet sind die Gerüchte über ihr Liebesleben, zutreffend oder nicht. Dennoch weiß kein Mensch, was für ein Film dies wohl sein könnte. Maggie hat die Tür aufstehen lassen. Ich schaue bewußt nicht hin. Als ich vorbeikomme, streichelt ihre Stimme meinen Rücken. »Warte auf mich. Bitte.« Ich will nicht. Wirklich, ich will nicht. Aber ich bleibe stehen. Ich will mich nicht umdrehen und hinsehen. Ich will zur Salzsäule erstarren, wenn ich mich umdrehe und hinsehe. Soll einer von uns für immer in der Hölle schmoren, wenn ich hinsehe. Ich muß sie nicht näher beschreiben. Sie haben sie schon auf der Leinwand gesehen. Wenn nicht, leihen Sie sich ein Video aus. Die dynamische Ausstrahlung, sagt man, kommt im Film rüber - der Schwung ihres Rückens, wie lang ihre Beine sind - erinnern Sie sich
nur an diesen langen Schwenk ihre Beine rauf, der eine Ewigkeit zu dauern scheint, als sie in diesem Burt-Reynolds-Film ein Callgirl spielte - die Form ihrer Brüste, ja sogar die Beschaffenheit ihrer Brustwarzen, wenn sie aufgerichtet sind, in White Lady gab es eine leinwandfüllende Nahaufnahme von einer ihrer Brustwarzen, das war wirklich Maggie, sie hat kein Titten-Double benutzt - genau das ist es, was ich jetzt sehe. Sie hat ihre Shorts an. Aber kein Oberteil. Sie steht lange genug still, daß ich sie ansehen kann, 316 dann dreht sie mir den Rücken zu, schlüpft in ihren Sport-BH und zieht ein Shirt drüber. Als wir gehen, bin ich mürrisch und schweigsam. Wir fangen an. Ich denke gar nicht daran, es ihr leicht zu machen. Sie ist schnell. Ich kann sie nicht einfach abhängen. Sie ist leicht und geschmeidig, ich dagegen ein Truck. Aber ich denke, auf Distanz gesehen kann ich sie schon zermürben und noch weiter laufen, wenn sie bereits ermüdet. Nach einer Meile fange ich an zu schwitzen. Nach zwei fühlt es sich langsam richtig gut an. Ich blende Maggie einfach aus. Die Bilder kommen. Sie dürfen nicht vergessen, daß Vietnam nicht einfach nur ein Krieg war. Es war Asien. Wie in den Filmen, die ich als Kind gesehen habe. Exotisch. Besonders für einen Jungen aus dem Ohio Valley, der kaum etwas anderes kannte als Slawen und Ungarn und Polen, die in den Kohlebergwerken schufteten, in der Fabrik, die schwarz vor Ruß waren und eine Menge billiges Bier tranken. Die besoffen nach Hause kamen und ihre Familien verprügelten. Mit Schmerzen aufwachten. Sie und ihre Familien. Kater. Die Knochen taten weh - vom Heben, Beladen, Drehen, Schaufeln, Schieben, Schleppen, Schuften, Halten, Tragen, Schütten, Schlagen, Graben - davon, ein Mann zu sein. Einfache Holzhäuser, Schindeln aus Teerpappe, oben auf dem Berg. Es gab ein paar hübsche Mädchen. Aber nicht wie die Mädchen, die wir im Kino sahen. Wenn wir das Geld hatten, mit ihnen auszugehen, wohin zum Teufel sollten wir mit ihnen schon groß gehen? Auf ein Bier in den VFW-Saal97 oder in die Eckkneipe. Nein. Auf den Rücksitz des Wagens, wo wir versuchten, Hüfthalter und die Angst vor Schwangerschaft zu überwinden. Rülpser, die nach Bier und billigem Whisky schmeckten. Mit dreizehn nimmt mich mein Vater mit zu einer Hure. Vielleicht war ich auch erst zwölf. Alt genug jedenfalls, es zu tun. Jung genug, daß ich sie ziemlich häßlich 317 fand. Sie arbeitete über einer Kneipe, die SwatSullivan's hieß. Mein Vater ist unten und säuft, während ich dort oben bin. Er hat gute Laune. Spendiert seinen Kumpeln eine Runde, damit sie auf seinen Sohn trinken, der gerade oben seine erste Hure bumst. Aber beides kann er sich nicht leisten, die Hure und die Runde. Als sie dann mit mir runterkommt, um ihr Geld zu holen, ist längst alles beim Barkeeper gelandet. Sie haben einen Riesenstreit. Die Marines waren eine echte Erholung. Verglichen mit zu Hause waren die Marines die reinsten Optimisten. In Vietnam konnte man sich wenigstens mit Ruhm bekleckern, dachten wir. Mit vollem Marschgepäck laufen. Fünfzig Pfund. Kampfstiefel. Mit einem M-16. Laufen, bis es nicht mehr weh tut. Laufen, bis man benommen ist. Die Blasen platzen auf. Hitzepickel auf dem Kreuz. Der Rucksack scheuert Schultern und Rücken wund. Durch das Gewehr tun einem die Arme so weh, als könnten sie jeden Augenblick abfallen. Und alles war ein so gottverdammt gutes Gefühl. Wir waren Hengste. Junge Hengste. Härter als hart. Zäher als Leder. Laufen, laufen, laufen. Vietnam war herrlich. Exotisch. Schöne Frauen. So schön wie die Frauen, die wir damals im Ohio Valley auf der Leinwand gesehen hatten. Wir nannten sie slopes, zippers, gooks und slants98, kauften sie, hurten mit ihnen, vergewaltigten sie, töteten sie. Sie töteten uns. Aber wenn man aufhörte, wenn man aufhörte, Teil dieser Sache zu sein, und einfach die Augen aufmachte - dann gab es wunderschöne Frauen. Preston Griffith, er hat mir geholfen, nicht mehr so blöd zu sein wie ein blöder Maulesel. Zwischen dem Rauch, den Lektionen in Krieg und dem nächtlichen Töten sagte er: »Es sind Menschen, Joe. Du glaubst, irgendein blondes Kullerauge wird besser sein als die Frau, die du jetzt hast? Du bist ein dummes 318 Arschloch, Joe. Wach auf und sieh, was du hast.« Griff liebte das Essen, er liebte es. Zitronengras. Das ist der Geschmack von Vietnam. Beim Essen rauchte er Marihuana. Opium, um zu schlafen und zu leben. Die Straßen waren voller Soldaten und Krüppel und Huren. »Kannst du dir vorstellen«, sagt Preston, während er im Cafe Gascon saß, innen ein Wandgemälde von DArtagnan, gemalt von einem Vietnamesen, wahrscheinlich nach einem Bild aus einem Märchenbuch, und cafe'filtre trank, »kannst du dir das alles ohne den Krieg vorstellen, der alles versaut? Laß uns nach Bangkok gehen, oder nach Rangun. Die werden uns nie finden.« Natürlich würden sie uns finden.
»Es ist nicht der Krieg, der alles versaut, Griff«, sage ich, ganz der junge Marines-Hengst, zu dem ich ausgebildet wurde. »Erst durch den Krieg wird's ein Spaß. Erst das Sterben klärt den Blick fürs Leben.« »Warst du schon mal verliebt?« fragt Maggie, deren Stimme von irgendwo hereinbricht. Aus der Gegenwart. Vom Strand. Ich antworte nicht. Ich laufe einen Tick schneller. Sie bleibt auf gleicher Höhe. »Warst du?« Mehr kriegt sie nicht heraus, so schwer atmet sie. »Außer in dich?« »Liebst du mich?« Ich laufe. Was soll ich darauf antworten? Natürlich. Es liegt doch auf der Hand. Keine Frage. Sie hat mich. »Leck mich, Miststück.« »Tut mir leid«, sagt sie. Sie gerät ein wenig ins Stocken. Wird langsamer. Ich nicht. Ich laufe mit gleicher Power weiter. Wenn sie nicht mithalten kann, dann kann sie eben nicht mithalten. Ich gehe zurück. Ich und Griff, wir sitzen wie zwei Franzosen im Cafe, beobachten la vie de la ville. Bewaffnet, natürlich. Cafeftltre, baguettes. 3i9 »Was ist mit Joey?« fragt er. Joe und Joey. Wir sind zusammen zu den Marines gegangen. Ich war sechzehn. Joey siebzehn. Fast schon achtzehn. Wir haben gelogen. Sie haben's nicht nachgeprüft. Er ist gestorben. Ich habe überlebt. »Leck mich, Griff.« »Wo liegt das Problem, Freund des Krieges?« »Du tanzt aus der Reihe.« »Nein, tue ich nicht. Ich hab ihn nicht ermordet.« »Ich gehe«, sage ich. »Geh nicht, Joe.« »Red nicht über Joey.« »Warum nicht?« »Er gehört zur Familie.« »Scheiße. Ich habe deine Akte gesehen. Du hast keine Familie, Joseph Broz. Auch deshalb mögen wir dich so. So sehr.« »Du wirst langsam zum Dope-Freak, Griff. Du wirst ein Dope-Freak.« »Komm, gehen wir zu Madame Thieu. Sie hat ein paar neue Mädchen. Süße und glückliche Mädchen aus Kambodscha.« »Wieso zum Teufel sollte jemand aus Kambodscha ausgerechnet nach Vietnam kommen?« »Wieso zum Teufel sollte jemand kambodschanische Mädchen verkaufen, wo doch so viele vietnamesische Mädchen angeboten werden? Es ist ja nicht so, daß es einen deutlichen Unterschied zwischen ihnen gibt. Es ist nicht so, als hätte Madame Thieu ein paar blonde Kulleraugen. Aber es gibt einen Unterschied joe. Doch um das zu merken, muß man natürlich Kenner sein.« »Ich dachte, du hättest eine Freundin. Diese Journalistin.« »Weißt du, ich glaube nicht, daß ich jemals wieder zu westlichen Frauen zurückkehren kann. Bei denen heißt es immer nur nehmen. Nur kämpfen. Asiatische Frauen, die sind kon320 fuzianisch, die stellen einen Mann über sich. Eine westliche Frau würde jetzt natürlich sagen, das sei falsch. Aber wenn ein Mann die Wahl hat zwischen einer Frau, die zu ihm aufschaut als Herrn und Meister, und einer Frau, die immer versucht an ihm hochzuklettern, nur damit sie anschließend auf ihn herabschauen kann, muß er doch verrückt sein, wenn er die Frau nimmt, die immer versucht, auf ihn herabzuschauen. Allerdings bin ich froh, daß meine Schwester in Boston geboren wurde und nach Redcliffe gegangen ist, statt in Danang geboren zu sein und bei Madame Thieu zu landen. Und wenn es ihrem Mann nichts ausmacht, daß sie sofort aus dem Bett springt, nachdem sie miteinander geschlafen haben, um zu duschen, so als müßte es sofort weggewaschen werden, dann ist das allein seine Sache, mich geht's nichts an. Gott möge die zwei schützen.« »Wir verlieren, stimmt's?« »Scheiße, ja. Wir verlieren, gottverdammt. Das weißt du doch ganz genau, oder? Das hast du schon gewußt, als du noch ein blutiger Anfänger warst. Und, was willst du dagegen tun, willst du losziehen und trotzdem noch mehr Leute umbringen?« »Das ist mein Job«, sage ich. »Wenn du einen anderen Job hast, nehme ich vielleicht den.« »Ist der Krieg ein guter Job, Joe?« »Ja, der beste, Griff.« Er wirft Notgeld auf den Tisch. Der Kellner hatte auf echtes Geld gehofft. Egal, welches, nur kein Notgeld und keine vietnamesische Währung. Aber er sagt nichts. »Komm jetzt, Madame Thieu wartet. Neue kambodschanische Mädchen. Die haben kein Zuhause mehr. Ihr Zuhause ist ein Bombenkrater. Die sind für jede Arbeit dankbar. Wir nehmen zwei gleichzeitig. Wir nehmen vier und tauschen sie. Komm schon, Kumpel.« 321 Ich denke drüber nach. Aber ich sage: »Nein.« »Willst du zu Dao?« »Ja«, sage ich.
»Du verpaßt deine Chancen joe. Wenn du in die Staaten zurückkehrst, und du wirst in die Staaten zurückkehren, falls du dann noch lebst, denn wir verlieren, und sie werden uns den Arsch hier aufreißen, unsere beschissenen, jämmerlichen, weißen Arsche, wenn du dann losziehst zu irgendeiner Nutte, dann wird deine Lady ein Messerchen ziehen oder ihren Anwalt anrufen. Nicht so vietnamesische Frauen. Sie verstehen das, ein Mann ist ein Mann und so weiter.« »Ich weiß nicht, Griff. Ich glaube, es würde Dao weh tun, wenn ich zu Madame Thieu gehe, statt nach Hause zu kommen.« »Nach Hause joe, nach Hause? Du fängst schon an, etwas in Vietnam Zuhause zu nennen? Fängst du schon an, dich hier heimisch zu fühlen Joe? Ein weißer Mann muß sich davor in acht nehmen, heimisch zu werden.« Beim Laufen schalte ich nach ungefähr drei Meilen auf Auto-Pilot. Jetzt befinde ich mich unterhalb des Kliffs, das sechs Meilen markiert. Ich mache kehrt. Nach etwa einer halben Meile sehe ich Maggie, die immer noch läuft. Gut für sie. Als wir uns treffen, gebe ich ihr zu verstehen, daß sie kehrtmachen und bei mir bleiben soll. Sie überlegt kurz, ob sie sich stur stellen soll, aber trotzdem sind es immer noch ungefähr fünf Meilen mehr, als sie normalerweise gewöhnt ist. Sie macht kehrt. Ich verringere das Tempo so weit, daß sie neben mir laufen kann. Ich bin nicht mehr wütend. Hab's ausgeschwitzt. Wir laufen schweigend. Keine Fragen mehr. Der Ort, an dem wir existieren - wo Lust und Verlangen und was auch immer noch passiert -, ist unter Kontrolle gebracht und baut sich mit dem gleichmäßigen Rhythmus innerlich wieder auf. Maggie bekommt Schmerzen. Ich sage nichts, versuche ein322 fach, sie mit meinem Laufen zu stützen. Als wären wir im selben Zug. Es funktioniert. Sie läßt den Schmerz hinter sich und betritt die Zone. Vielleicht lernt sie ja etwas. Vielleicht weiß sie es auch schon. Maggie ist mir ein Rätsel. Ich stelle ihr nicht viele Fragen, weil es keine Fakten gibt. Ich weiß nichts über sie, außer daß sie existiert. Das Haus kommt in Sicht. Mit dem Ziel vor Augen, verläßt sie die Zone. Der Gedanke, stehenzubleiben, sich auszuruhen, die Müdigkeit und der Schmerz fallen über sie her, und das hat Konsequenzen für ihr Laufen. »Es gibt kein Ende«, sage ich zu ihr. »Wir werden nicht beim Haus aufhören.« »Okay«, sagt sie und findet ihren Rhythmus wieder. Während wir näher und näher kommen, beginnt sie zu hoffen, daß ich lüge. Daß wir anhalten werden. Sie pendelt hin und her. Wenn sie glaubt, wir hätten das Ziel erreicht, läuft sie ungleichmäßig, wenn sie glaubt, es gibt kein Ende, läuft sie ruhig. Als wir dann stehenbleiben, direkt vor dem Haus, ist sie in Hochstimmung. Sie nimmt meinen Arm und stützt sich ab, als könnte sie nicht mehr gehen. Und morgen wird sie das wahrscheinlich auch nicht mehr können. »Sag es mir«, sagt sie. »Ich will, daß du es mir sagst.« »Ja.« »Wer war sie?« »Sie hieß Dao Thi Thai.« »Hieß?« »Hieß.« »Tut mir leid, Joe.« Ich zucke mit den Achseln. »Was ist passiert, Joe? Was ist mit ihr passiert?« »Freundliches Feuer.« »Freundliches Feuer?« »Feindliches Feuer.« 323 »Feindliches? Von welchem Feind?« »Genau. Von welchem Feind?« »Sei nicht so kryptisch.« »Kryptisch?« »Sprich nicht in ... Erzähl's mir einfach so, daß ich es verstehen kann. Erzähl es mir einmal. Ich werde nicht wieder danach fragen.« »Sie wurde erschossen. In Hue. In unserer Wohnung. In der wir zusammen gelebt haben.« »Wer? Wer hat sie erschossen?« »Freund oder Feind, ich weiß es nicht. Es spielt auch keine Rolle, oder? Freundliches Feuer, feindliches Feuer. Am Ende war alles gleich. Ihre Leute waren meine Feinde. Meine Leute waren ihre Feinde. Ist der Feind meines Freundes mein Feind? Vielleicht war die Kugel sogar nicht mal für sie bestimmt. Wir waren da, um zu töten. Sie waren da, um zu töten.« »Hast du sie sehr geliebt, Joe?« Ich gehe durch das Tor und weiter die Treppe hinauf zum Haus. Um zu duschen. Wir müssen uns für diese Party fertigmachen. »Ach, Maggie«, sage ich, es muß wohl gesagt werden, um die Geschichte abzuschließen, »ach, Maggie ... sie war schwanger.« Die Party ist eine typische Hollywood-Party. Viel Geld wird für Getränke und Essen ausgegeben. Vor dem Haus ein Parkservice, innen fünf Barkeeper, und fünf Kellner machen die Runde. Der Parkservice, die Barkeeper und die Kellner sehen ausnahmslos besser aus als ich, sehen besser aus als 99,9 Prozent der Leute, die im wirklichen Leben existieren. Alle haben perfekte Zähne. Sie sehen
besser aus als die meisten Gäste, besitzen aber nicht das gleiche Kaliber wie die bestaussehenden Gäste. Wie Maggiejulia Roberts und Michelle Pfeiffer. 324 Jean-Claude Van Damme ist da. Er läßt für Maggie - ich glaube, er macht es für Maggie, nicht für mich - die Muskeln spielen und posiert, als wir uns vorgestellt werden. Sie behandelt Van Damme, als sähe er aus wie Tip O'Neill. Wie ich schon sagte, Maggie hat etwas sehr Rücksichtsvolles und Höfliches, auch wenn man dabei das Gefühl hat, das ganze Leben sei ein Film. John Travolta ist da. Wie man mir sagt, ist es eines der wenigen Male, daß er sich in der Öffentlichkeit zeigt. Seine Frau ist zu Hause bei ihrem gemeinsamen Kind. Er begrüßt Maggie mit einer aufrichtigen Herzlichkeit. Ich frage ihn, ob es ihm etwas ausmacht, über Scientology zu reden. Er antwortet, liebend gern. »Ich muß Sie etwas fragen«, sage ich. »Kann Scientology Homosexualität kurieren?« Die Frage ist anscheinend ein echter Gesprächs-Killer. John starrt mich an. Maggie wirft mir einen Blick zu, als hätte ich einen schweren Fauxpas begangen. »Ich will damit nicht sagen, daß es eine Krankheit ist oder so«, sage ich. »Ich meine, wenn jemand, der homosexuell ist, es nicht sein will, könnte Seientologie ihm dann helfen, es nicht mehr zu sein ? He, Leute, ich frage nur, weil Bambi Ann Sligo es wissen will.« Zum Teufel auch, wenn ich dieses Leben hinter mir habe und wieder in meinem alten Leben bin, kann's nicht schaden, ein paar Punkte bei Mel Taylors Sekretärin zu machen, denn Mel wird nicht besonders glücklich sein, mich zu sehen. Travolta antwortet, Scientology helfe, rein zu werden. Wenn man erst einmal rein sei, passierten eine Menge psychologische und emotionale Dinge, praktisch alles, was man wolle, und dann nehme man sein Leben in die Hand, denn man sei rein. Ich vermute, ich kann Bambi Ann sagen, was sie wissen will. David Hartman kommt in Begleitung von Sakuro Juzo und zwei anderen japanischen Typen, die nach Kampfsport ausse325 hen. Jemand sagt mir, es seien seine Leibwächter, daß er ohne sie nirgendwo mehr hingeht. Ein anderer erzählt mir, daß sie durch bloße Berührung töten könnten. Ich sehe, wie Van Damme Juzo vorgestellt wird. Das ist ein Kampf, den zu sehen ich etwas zahlen würde. Hartman begrüßt mich überschwenglich. Aber andererseits glaube ich, daß er auch nicht anders wäre, selbst wenn er mich von Sakuro enthaupten lassen wollte. Ich lächle. Er erkundigt sich, wie's läuft und ob ich schon etwas für Maggie gefunden habe. »Ein paar interessante Dinge«, sage ich. »Was?« »Ich weiß nicht, ob ich der Richtige für diese Branche bin«, sage ich. »Jetzt, wo Sie mich fragen, merke ich, daß ich daran zweifle. Das hier ist mein erstes Verkaufsgespräch, richtig?« Hartman lacht. Maggie hört ihn und kommt zu uns. »Über was lachst du?« »Weißt du, er ist gar nicht mal so schlecht, wie ich gedacht habe. Seine Masche ist nicht übel«, sagt er zu Maggie. »Na los. Das ist eine kostenlose Übungsstunde für Sie. Wenn mir das Material gefällt, helfe ich Ihnen, es zu verkaufen. Versprochen.« »Okay. Los geht's. Nummer eins. Großer Film. Historisch. Ich weiß, daß heutzutage kein Mensch mehr Kostümfilme mag. Aber - Katharina die Große. Nein, hören Sie mir zu. Es gibt eine neue Biographie über sie. Wie man mir sagt, wirkt sie sehr modern, im Stil des zwanzigsten Jahrhunderts. Außerdem, stellen Sie sich eine russisch-amerikanische Koproduktion vor. Die sind doch scharf wie nur was auf harte Währung. Was meinen Sie, wieviel kostet es, für ein paar Tage die Rote Armee zu mieten? Die haben Crews und Ausrüstung, und sie sind ziemlich gut. Deshalb kann ich mir eine 326 hochwertige Produktion bei akzeptablen Kosten vorstellen. Zweitens, gerade erst habe ich ein Buch über eine arbeitslose Schauspielerin reinbekommen, die einen Job als Detektiv bekommt. Teilzeit. Statt Autos zu parken oder als Kellnerin arbeiten zu müssen. Ein New York-Film. Das Buch ist zu haben. Nett geschrieben.« »Ein Action-Film?« »Nein«, sage ich. »Ein Charakterstück. Es geht mehr darum, wie es ist, Schauspielerin zu sein. Es ist weniger eine Detektivgeschichte. Außerdem kommt der Zusammenprall von Kulturen vor, so was wie eine Mischung aus Tootsie und Some-oneto Watch Over Me.« »Was ist mit einer Kriegsgeschichte? Haben Sie daran schon mal gedacht?« »Bislang habe ich noch keine Kriegsgeschichte gesehen, die für eine Frau was bringt.« Hartman läßt seinen Blick durch den Raum schweifen, winkt jemandem zu und fuhrt uns in die Nähe der Bar. »Barry, Maggie kennst du ja, aber Joe, Joe Broz, hast du noch nicht kennengelernt. Wir bringen Joe gerade bei, wie er was verkaufen muß. Üben Sie an Barry. Maggie und ich schauen zu und
kritisieren.« Jetzt scheint Maggie zufrieden mit mir zu sein, aber es ist sinnlos. Es ist eine Nummer, die nicht viel länger gespielt werden kann. Ich schalte auf Auto-Pilot. Vielleicht ist das der Grund, warum Barry meine Masche gefällt - ich klinge nicht, als wäre es mir wichtig. Ich verspreche, eine Kopie des Drehbuchs und die Kalkulation am nächsten Morgen vorbeizuschicken.99 Ich trinke Bourbon. Langsam und konstant. Es scheint so oder so keine Rolle zu spielen. Unser Gastgeber hat einen elfjährigen Jungen. Er trägt eine schwarze Krawatte. Reizend. Die Barkeeper bedienen ihn nicht. Deshalb schnappt er sich die Drinks anderer Leute, wenn diese ihre 327 Gläser abstellen, und kippt sie in seine Coca-Cola. Je betrunkener er wird, desto mehr starrt er den Frauen auf die Brüste. Gegen Mitternacht marschiert er mit ausgesprochen glasigem Blick zu Michelle Pfeiffer und sagt mit einer Stimme, die erst noch in den Stimmbruch kommen muß: »Laß mich mal anfassen. Laß sie mich nur einmal anfassen.« Clint Eastwood kommt ihr zu Hilfe und bringt den Jungen weg. Er sagt: »Komm, mein Sohn. Jungs in deinem Alter sollten mit Kanonen spielen.« Maggie sieht Clint nach. »Ich hasse ihn«, sagt sie. »Warum?« »Glaubst du, ich bin noch gefragt, wenn ich in seinem Alter bin?« 328 KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG Nach der Party ging Hartman wieder in sein Büro. Sakuro Juzo und die beiden anderen Japaner postierten sich vor der Tür. Es war drei Uhr früh. Dennoch griff er zum Telefon und rief Mel Taylor zu Hause an. Taylor schlief. »Ist das ein Notfall?« fragte Taylor. »Was ich hören will, ist die Wahrheit über Joe Broz.« »Sie haben die Akte. Haben Sie die Akte nicht?« »Halten Sie mich vielleicht wirklich für ein solches Arschloch ? Diese fehlenden Jahre und der Ziviljob in Vietnam, was steckt in Wahrheit dahinter?« »Ich werde es Ihnen raussuchen«, sagte Taylor. »Gleich morgen früh. Ist das okay?« »Sicher«, sagte Hartman. Er legte auf. Er mochte Joe. Mochte es, daß er mit Maggie zusammen war. Andererseits mochte er auch Seidenkrawatten, ein paarmal im Jahr die Küche der chinesischen Provinz Hunan, die Pazifikküste von Costa Rica und Londoner Schneider. Er mochte es, wenn die RepCo-Agenten schwarze Socken trugen, aber er hatte bis jetzt noch keinen gefeuert, wenn er marineblaue trug. »Mögen« bedeutete nicht viel. 329 KAPITEL SECHSUNDDREISSIG »Ich will noch nicht nach Hause«, sagt Maggie, als die Party sich dem Ende nähert. »Gut, nimm den Wagen, ich rufe mir ein Taxi«, sage ich. »He, Joe, hast du 25 Cents für mich übrig?« »Maggie, fang bitte nicht...« »Lad mich auf eine Tasse Kaffee ein joe. Komm schon Joe.« Für L. A. ist die Nacht recht frisch. Maggies Kleid ist ein wenig knapp. Ich gebe ihr meine Jacke. Ich fahre. Maggie schaltet das Radio ein. Pirates of the Mississippi, K. D. Lang, Patsy Cline. »Wer ist Bambi Ann Sligo?« fragt sie. Ich sage es ihr. Maggie rutscht näher, legt den Kopf auf meine Schulter. »Willst du mir nicht ein bißchen von dir erzählen«, sagt sie. Das Verdeck ist unten. Einmal bin ich nach Hause gefahren. Auf Urlaub, nach meiner ersten Dienstzeit drüben in Vietnam.Joeys Dad sagte joey habe seine Pflicht getan, es sei an der Zeit, nach Hause zurückzukehren. Joey sagte, er würde sich wieder verpflichten. Genau wie ich. Mit mir. Sein Dad, Pasquale, besitzt ein Lebensmittelgeschäft, hat vier Kinder, drei Mädchen und Joey, und deshalb, Sie wissen, wie das ist, sein Sohn war ihm das Wichtigste. Jedenfalls, er hat ein bißchen Geld. Sagt Joey, wenn er nach Hause kommt und zu Hause bleibt, dann kauft er ihm ein Kabrio. Wir sind zum Chevy-Händler, sind eins probegefahren, das Verdeck runter, ich und er und seine Schwester Annette. Pasquale kommt zu mir und sagt: »Sag Joey, er soll zu Hause bleiben. Auf dich hört er, Joe.« Ich schuldete ihm was, ich schuldete ihm eine ganze Menge. Also hätte ich's tun sollen. Habe ich aber nicht. 33° »Du kriegst, was du siehst. Ich bin, was ich bin«, sage ich. »Wo fahren wir hin?« »Venice«, sagt sie. »Dort gibt es ein Restaurant auf dem Pico, das die ganze Nacht geöffnet hat. Ich habe Hunger.« »Du hast Hunger?« Auf der Party hatte es jede Menge zu essen gegeben, Nouvelle Cuisine des Südwestens. Das ist die Hollywood-Version von mexikanischer Küche, weniger Fett und furzfreie Bohnen, denn es gibt nichts Schlimmeres als ein ganzer Raum voller Filmstars, die sich gestreßt bei dem Versuch verrenken, keinen Wind abzulassen. »Ich kann auf Partys nie essen. Ich habe
Angst, jemand könnte mich dabei beobachten. Und wenn die einen erst mal essen sehen, suchen sie auch sofort nach ersten Anzeichen von Fett. Dann beschließen sie, nicht mal mehr anzurufen, weil sie einem nicht ins Gesicht sagen wollen, daß du vor Drehbeginn erst vier Pfund abnehmen mußt, da sie andernfalls keine Rückversicherung auf die Fertigstellung des Films kriegen.« »Das ist doch verrückt.« »Natürlich ist es das. Aber genau so läuft's. Daher esse ich bei diesen Anlässen nichts. Sollen sie doch denken, ich lebe von Luft.« Als wir das Restaurant erreichen, verschwindet Maggie sofort auf der Toilette. Ich suche uns eine Nische. Es ist einer dieser Läden, wie es sie nur in L. A. geben kann: Man ahmt ein Lokal nach, das genau so ist, wie Amerika angeblich früher mal war, irgendwann damals zwischen Buddy Holly und Vietnam. Maggie wäscht sich das Gesicht, schminkt sich ab und bindet ihr Haar zu einem Pferdeschwanz. Unsere Kellnerin erkennt sie trotzdem. Aber sie macht deswegen kein großes Theater. Vielleicht kann sie so was ganz gut, diese Sache mit Berühmtheiten, oder sie ist einfach nur müde. 331 Maggie bestellt sich einen Stapel Pancakes, ein paar Würstchen - die sie bei jeder anderen Gelegenheit indigniert zurückweisen würde - und Kaffee. Ich bekomme zwei Eier und Toast. Im hinteren Teil des Lokals sitzt eine Truppe Musiker. Alle in Schwarz, und jede Menge Leder. »Er war ein Säufer«, erzähle ich ihr. Wieso sollte sie nichts über meinen Vater erfahren. »Wenn er sich vollaufen ließ, hat er mich verdroschen. Nicht wie im Fernsehen, wo er mir die Rippen brechen, mich ins Krankenhaus schicken würde und so weiter. Er hat mich einfach verprügelt.« »Das tut mir leid, Joe«, sagt sie voller Mitgefühl. »Vergiß es. Wenn du weiter so eine Scheiße redest, erzähle ich nichts mehr.« »Tut mir leid. Daß es mir leid getan hat.« »Ich erzähl dir jetzt eine Geschichte. Wie ich mich durchgesetzt habe. Zuerst mußt du verstehen, wenn du so einen alten Herrn hast, dann lernst du einzustecken, es macht dich hart.« Sie sieht mich immer noch mitfühlend an. Was mich wütend macht. »Du kapierst nicht.« Sie kapiert wirklich nicht. »Okay, erzähl's mir.« »Die Kids haben damit geprahlt, wie übel ihr alter Herr sie verdroschen hat.« »Männer sind solche Arschlöcher«, sagt sie. »Ja, Männer sind Arschlöcher. Gar keine Frage. Wieso besorgst du dir nicht ein Mädchen. Vielleicht ist es das, was du tun solltest. Vielleicht ist es das, was du wirklich willst.« »Wie hart war dein alter Herr?« »Er hat den größten Teil seines Lebens in einer Gießerei gearbeitet. Bist du schon mal in einer Gießerei gewesen?« »Nein.« »Die stellen Gußformen her. Sie gießen geschmolzenes Metall in die Formen. Die meisten Formen sind aus Sand. Schlichter, einfacher, feuchter Sand. So wie am Strand. Also 332 verbringt der Mann sein Leben damit, Kisten voll nassem Sand und Eimer voll flüssigem Metall durch die Gegend zu schleppen. Hundert Pfund, zweihundert Pfund, fünfhundert, was weiß ich. Den ganzen Tag. Und es ist heiß. Das Metall spritzt. Es findet jede noch so kleine Stelle ungeschützte Haut, die du an dir hast. Weil du gerade damit beschäftigt bist, einen hundert Pfund schweren Eimer mit flüssigem Aluminium zu schleppen, kannst du das Ding nicht einfach fallen lassen. Das Zeug ist heiß und so flüssig wie dein Frühstückskaffee. Also, so hart war mein alter Herr.« »Ganz schön hart.« »Ganz schön hart. Männerarbeit. Gute Arbeit für einen Mann. Jedenfalls, das Problem, also sein Problem war, daß er trank. Deshalb haben wir nicht besonders gut gelebt, weil er immer wieder blau machte und sein Geld in der Bar versoffen hat. Meistens wurde er aggressiv, wenn er sich vollaufen ließ, und dann hat er mir die Scheiße aus dem Leib geprügelt oder doch wenigstens versucht, mir ein paar Ohrfeigen zu geben. Für mich war's einfach eine Frage des Überlebens, bis er genug hatte oder eingeschlafen war. Ich beklage mich nicht. So ist's nun mal, bis ein Junge erwachsen genug ist und loszieht und sich einen eigenen Platz im Leben schafft, oder bis er erwachsen genug ist, seinen Mann zu stehen und zu sagen: »Schluß jetzt.« So ist es in der Natur, du weißt es selbst.« »Wenn du einen Sohn hättest, würdest du ihn dann so erziehen?« »Was meinst du damit?« »Ich meine, würdest du ihn verprügeln, bis er groß genug ist, zurückzuschlagen?« Darüber muß ich einen Augenblick nachdenken. Komisch, man sollte doch meinen, ich hätte schon mehr als einmal darüber nachgedacht. Aber so einfach und klar habe ich mir diese Frage nie gestellt, und auch niemand anderer. Ich bin nicht 333 wie die meisten Kids mit dem Gedanken aufgewachsen: Wenn ich groß bin, werde ich meine Kinder
nie so behandeln. Bei mir werden sie immer lange aufbleiben dürfen und Süßigkeiten essen oder was immer Kinder glauben, daß ihre Eltern falsch machen. Ach ja, und ich werde immer fair sein und sie nie zu Unrecht bestrafen. Solches Zeug eben. »Ich habe immer gesagt, ich würde nie so ein Säufer werden wie mein alter Herr. Und ich bin es auch nie geworden. Ich vermute, wahrscheinlich wollte ich, daß eine Frau bei uns wohnte. Eine Mutter. Es ist schwer für einen Mann, allein ein Kind großzuziehen. Besonders, wenn keine anderen Frauen, keine Großmütter oder Tanten da sind. Das Schicksal hat's, leider, so gewollt, daß meine Mutter niemanden hinterlassen hat, der ihren Platz einnehmen konnte. Also, nein, ich vermute, nicht. Nicht, wenn eine Frau da ist. So müßte es nicht sein. Es gibt andere Möglichkeiten, wie aus einem Jungen ein Mann werden kann. Er muß nicht die ganze Zeit verdroschen werden. Vielleicht ist es nicht so effektiv«, sage ich scherzhaft, »aber es gibt andere Möglichkeiten. Natürlich gibt es die.« »Du wolltest mir von diesem letzten Mal erzählen. Wie du ihn dazu gebracht hast, mit dem Prügeln aufzuhören.« »Ich war damals ungefähr fünfzehn. Oder fast fünfzehn. Er kommt nach Hause, ist wieder betrunken. Was bedeutet, daß wir wieder kein Geld haben. Wir streiten. Ich müßte es besser wissen, aber ich tu's nicht. Denn selbst sturzbesoffen ist er noch verdammt viel größer und stärker als ich. Verdammt viel stärker. Er fängt an, mich zu schlagen. Ich sage: >Hör auf. Jetzt ist Schluß.« Er holt nach mir aus. Ich ducke mich weg. Was ihn nur noch wütender macht. Dann geht er wirklich richtig auf mich los, mit seiner großen rechten, zur Faust geballten Hand. Ich laufe nicht weg. Ich verstecke mich nicht. Ich mache einen Schritt auf ihn zu und steck's ein, genau hier« - ich zeige auf meine Stirn. »Er bricht sich die Hand. So be334 trunken er auch ist, er spürt es. Er setzt sich einfach hin und starrt seine Hand an. Er hält sie und drückt sie an sich, und es tut ihm viel zu weh, um mich noch weiter zu schlagen. Ich habe ihn nicht geschlagen, aber ich habe ihn trotzdem geschlagen. Dann bin ich gegangen. Ich bin nie mehr zurückgekehrt.« Die Kellnerin steht hinter der Theke und raucht. Sie sieht, wie Maggie ihren Kaffee austrinkt, kommt mit der Kanne rüber und schenkt uns nach. »Entschuldigen Sie, haben Sie vielleicht eine Zigarette?« fragt Maggie. »Klar, Schätzchen«, sagt sie. Sie gibt Maggie eine. Reicht mir die Streichhölzer. Auf dem Heftchen ist die Silhouette eines Mädchens mit einem Pferdeschwanz abgebildet. Darunter steht: »Können Sie das malen? Wenn nicht, schreiben Sie uns ...« Ich gebe Maggie Feuer. Der Kellnerin gebe ich die Streichhölzer zurück, und sie geht. Maggie sieht mich durch den Rauch an. Sie spielt irgendeine Rolle, vermute ich. Das ist schon okay. Wie es Frauen oder Schauspielerinnen eben so tun. »Liebst du mich, Joe?« »Ja, ich glaube schon«, sage ich. »Dann solltest du mich jetzt besser nach Hause bringen joe«, sagt sie, »und mit mir schlafen.« 335 KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG In einem Punkt hatte ich recht: Wenn es einmal anfängt, hört es nicht mehr auf. Mrs. Mulligan erscheint um sieben, nur wenige Stunden, nachdem wir nach Hause gekommen sind. Wir haben immer noch nicht geschlafen. Sie macht sich an ihre Arbeit. Ich gebe mir für den Tag frei. Um elf oder zwölf Uhr gehen Maggie und ich hungrig und durstig nach unten. Mrs. Mulligan macht uns Orangensaft, Tee und Brötchen. Sieht sie uns den Unterschied an? Ja. Wer nicht? Ich ahnte nicht, daß es so sein könnte. Wir trinken den Saft, aber Tee und Brötchen schaffen wir schon nicht mehr. Wir brauchen uns. Wieder. Wir wollen zurück nach oben. Oder auf die Couch. Oder auf die Terrasse. Wir sollten wirklich allein sein. »Mary«, sagt Maggie. »Ja, Ms. Lazlo, was kann ich für Sie tun?« »Wieso nehmen Sie sich nicht einfach ein paar Tage frei?« »Ihr zwei«, sagt sie, »seid wie Kinder. Amerikanische Kinder, nicht irische Kinder. Kein Ire, nicht mal ein Teenager, würde sich so aufführen. Irgendwas ist im irischen Wasser, das den Ausstoß der menschlichen Drüsen auf einem vernünftigen Niveau hält. Hier in Kalifornien fehlt das völlig. Vielleicht wird das irgendwo auf dem weiten Weg rausgespült, den euer Wasser aus dem Norden macht. In Irland kriegen wir unser Wasser direkt vom Himmel, mit allem, wie Gott es vorgesehen hat.« »Bei voller Bezahlung«, sagt Maggie. 336 »Natürlich bei voller Bezahlung. Soll ich Ihnen noch ein kleines Dinner vorbereiten, bevor ich gehe? Einen Salat, den Sie sich aus dem Kühlschrank holen können, oder etwas, das sie nur noch in den Ofen schieben müssen?« »Ist schon okay.«
»Wissen Sie«, sagt Mrs. Mulligan, »so jung ist er auch nicht mehr. Er wird eine gute anständige Mahlzeit brauchen, um bei Kräften zu bleiben.« »Ich liebe ihn, Mary.« »Oh. Oh, ja. Ich verstehe. Dann gehe ich wohl jetzt besser.« »Tratschen Sie nicht zuviel über uns, in Ordnung?« »Oh, nein, Miss. Ich würde niemals über Sie tratschen. Also. Ich hole dann wohl jetzt besser meinen Kram und gehe.« Sie geht, holt Handtasche und Mantel, den sie zwar nie anzieht, weil es viel zu warm ist, aber dennoch immer bei sich hat. Sie geht zur Haustür. Dann dreht sie sich um und kommt noch einmal zurück. »Ms. Lazlo, da ist noch etwas, das ich Ihnen erzählen muß. Da sind diese Leute zu mir gekommen. Sie behaupten, Sie wären von der Einwanderungsbehörde, aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich glaube es eigentlich nicht. Ich bin nicht legal hier, wissen Sie. Ich weiß nicht, ob Sie das wissen - ich bin nicht legal hier. Sie haben gesagt, sie würden mich anzeigen und ausweisen. Was glauben Sie wohl, wieviel Geld ich verdiene, wenn ich im County Cork Fußböden schrubbe? Zum Teufel mit dem irischen Wasser, immer nur Regen, und dauernd ist es feucht, einfach fürchterlich für den Rheumatismus. Das reicht nicht, um Leib und Seele zusammenzuhalten und ein trockenes Dach über dem Kopf zu haben. Sie wollen, daß ich ihnen Sachen über Sie erzähle. Über Sie und ihn da drinnen. Ob Sie wirklich was miteinander hätten oder ob Sie irgendwas im Schilde fuhren. Ich habe Angst vor denen. Die Einwanderungsbehörde, die behandelt einen wie den letzten Dreck, und man kann sich an nirgendwen wenden, nicht 337 wahr? Aber ich bin kein Spitzel. Niemand von meinem Volk ist je ein Spitzel gewesen. Und wird es auch nie sein.« »Wenn Sie wieder zu Ihnen kommen, sagen Sie es mir«, sagt Maggie. »Wenn Sie einen Anwalt brauchen, werde ich Ihnen einen besorgen. In der Zwischenzeit, sagen Sie denen... was Sie sehen.« »Daß Sie in diesen Klotz von einem Mann verliebt sind?« »Richtig.« »Das werde ich tun. Mit Ihrer Erlaubnis, Ma'am.« »Ja, Mary. Tun Sie das.« Sie geht, und es spielt keine Rolle, daß Mel Taylor und U.Sec. uns immer noch überwachen. Es ist einfach scheißegal. Wir sind jetzt in einer anderen Welt. Wir lieben uns. Wir reden. Ein paarmal gehen wir raus auf den Strand, aber wir müssen uns dauernd berühren, und das wollen wir bestimmt nicht in der Öffentlichkeit tun. Wir bleiben etwa drei Tage zu Hause -nehmen keine Anrufe entgegen - gehen nicht aus. Wir reden davon, vielleicht Filme zusammen zu machen. Wirklich. Ich sage, daß mein Quatsch Quatsch ist. Maggie meint, das sei bei allen so. Das Buch, das ich gefunden habe, ist gut, sagt sie, wir müssen sehen, ob man daraus ein gutes Drehbuch machen kann. Wenn und falls ich aus dem Bett und ins Büro komme, werde ich den Agenten ausfindig machen und uns das Vorkaufsrecht sichern. Die Sache mit Katharina der Großen ist schon etwas problematischer. Das ist ein größeres Projekt und gegen jede Vernunft. Daher verlangt es einen renommierten Drehbuchautor. Der aus diesem Grund auch gleich wieder teurer wird. Und der deshalb mit dem GELD ANDERER LEUTE bezahlt werden sollte, durch den Entwicklungs-Deal, den wir noch nicht haben. Ich erzähle ihr ein bißchen mehr von mir. Wie mich Pasquale, der Vater von Joey, bei sich aufgenommen hat, als ich allein, mit fast fünfzehn Jahren, von zu Hause abgehauen bin. Wie er mir ein 338 neues Zuhause gegeben hatte, für ein Jahr, anderthalb Jahre, bis ich und sein Sohn zu den Marines gingen. Joey war älter als ich. Maggie fragt mich natürlich weiter nach Annette - ob ich es mit Joeys Schwester gemacht hätte? Nun, wir haben ziemlich viel rumgeschmust. Damals wurde erwartet, daß sie noch Jungfrau war, wenn sie heiratete. Das war alles praktisch noch vor der Pille. Jeder, der's tut, so sah es wenigstens aus, stand am Ende mit einem Kind da. Bei jeder Hochzeit, so sah es wenigstens aus, strahlt die Braut und ist eher etwas rundlich, während der Bräutigam schrecklich verlegen wirkt und sich zu wünschen scheint, am liebsten ganz woanders zu sein. Und außerdem ist sie Joeys Schwester, daher wird Joey garantiert sauer auf mich, wenn ich sie bumse, und wir werden uns unweigerlich in die Haare kriegen. Das will ich nicht. Ich liebe Joey wie einen Bruder. Und Pasquale wie einen Vater. Weil er für mich mehr wie ein Vater ist als das Arschloch, das sich die Hand an meiner Stirn gebrochen hat. »Und, was habt ihr getan?« will Maggie wissen. Es ist mir unangenehm, weil sie natürlich recht hat. Ich sage einfach: »Wir haben rumgeschmust.« Sie besteht darauf, daß ich mich genauer ausdrücke. Mit der Hand? Ja. In ihrem Mund? Also, ja, einmal. Wie war das? Warum nur einmal? »Es hat nicht so besonders funktioniert, deshalb.« Was ist mit mir? Habe ich es ihr mit dem Mund gemacht? »Ich war fünfzehn, davon hatte ich noch nie was gehört«, antwortete ich Maggie. Was sie ausgesprochen komisch findet. Sie nimmt mich in den Arm, küßt mich und sagt: »Ich liebe dich joe Broz.« Das zu hören, versetzt mich in eine andere Dimension. Aber Maggie macht schon
wieder weiter. »Komm schon, hast du ihn nicht ein einziges Mal reingesteckt? Hast du's nicht mal versucht?« »Hm-hmh, ich hab's dir doch schon gesagt, sie war Joeys Schwester, sie hatte Angst, schwanger zu werden, Pasquale hätte mich sofort rausgeschmissen, und wohin zum Teufel 339 hätte ich dann gehen sollen?« »Ich glaube dir nicht«, sagt sie. »Sie war ein anständiges, katholisches Mädchen und wollte Jungfrau bleiben«, erwidere ich. »Ohoh«, sagt Maggie, »du hast's von hinten gemacht.« Sie kichert leise. »Nein«, sage ich. »Lüg mich nicht an, Joe Broz, ich liebe dich, du kannst mir nichts vormachen.« »Okay, ja, ich geb's zu.« Wieso ist mir das peinlich? Weil ich es in meinem ganzen Leben noch nie jemandem erzählt habe? Ich liebe sie. Vielleicht gibt es für uns beide eine Zukunft. Vielleicht ist aus Maskerade Wirklichkeit geworden. Aus Illusion Realität. Vielleicht ist Magdalena Lazlos nächste Rolle Katharina die Große, und meine die des Potjomkin100. Als ich mich schließlich aus ihrem Bett erhebe, lasse ich mich von meiner Kaiserin als ihren Produzenten kleiden. Werden wir John Lincoln Beagle und unsere Suche nach seinem Geheimnis vergessen ? Ich glaube, wir wissen es selbst nicht. Ich glaube, wir sind viel zu sehr mit uns und unseren Möglichkeiten beschäftigt, um es wissen zu wollen. Ich will Ihnen etwas zu unserem Liebesspiel sagen. Als wir das erste Mal ins Bett gehen, greife ich in die Schublade neben dem Bett, von der ich weiß, daß sich dort Kondome befinden. Ich bin das ganze Haus durchgegangen. Ich kenne alles in diesem Haus. Sie legt ihre Hand auf meine und hält mich zurück. Keiner von uns hat HIV, AIDS oder Bluttests erwähnt. Außerdem bin ich ziemlich sicher, daß sie keine andere Art der Empfängnisverhütung benutzt, wenigstens keine Pillen oder ein Diaphragma. Wenn wir uns daher ohne Kondome lieben, wird es vielleicht ein neues Leben geben, vielleicht wird auch jemand sterben. »Liebst du mich, Joe?« fragt sie. »Ja.« »Vielleicht wird es ein neues Leben geben«, sagt sie, »vielleicht wird auch jemand sterben.« 340 Das ist alles, was ich Ihnen über unser Intimleben sage. Als ich schließlich wieder ins Büro gehe, erwarten mich dort jede Menge Nachrichten, die Post stapelt sich, und ich werde wirklich Leute brauchen, die mir helfen. Ich habe die Post noch nicht vom Boden aufgehoben, als das Telefon klingelt. Dieser Junge, eigentlich kein Junge mehr, er ist fünfundzwanzig, siebenundzwanzig, er sagt: »Hi. Mein Name ist Teddy Brody. Ich habe von einem Freund gehört, daß Sie jemanden suchen. Der Beschreibung nach jemanden wie mich. Ich habe in Yale und auf der UCLA Film und Theaterwissenschaften studiert. Und zur Zeit bin ich mit Projektentwicklung und Recherchen für John Lincoln Beagle beschäftigt.« »Ja, Teddy«, sage ich, »ich würde gern mal mit Ihnen reden.« 34i KAPITEL ACHTUNDDREISSIG Das Merkwürdige an Atwaters Vorschlag war, wie unwiderstehlich er in einem Augenblick schien und wie abstoßend im nächsten. Er besaß die Zwiespältigkeit eines Verhältnisses mit jemandem, der ein As im Bett, aber eine Niete im Leben ist: Man kann sich einfach nicht vorstellen, mit ihm zusammenzusein, aber man gibt ihm nach, sobald er vor der Tür steht. Hatte der Präsident nichts mit dem Memo zu tun, erwartete er eigentlich, daß es verschwand. Er war überrascht, daß es nach dem Treffen mit Hartman noch existierte. Tatsächlich assoziierte er mit mit der Präsentation der Ideen eines Filmregisseurs über einen Krieg so etwas wie eine Hure, die sich für einen Ball einkleidete, indem sie sich einfach ein rotes Kleid anzog, was nur dazu führen konnte, sie noch viel auffälliger wirken zu lassen, als sie eh schon war - schrill und dirnenhaft. James Addison Baker III war dagegen. Obwohl er den Vorschlag doch dem Präsidenten nahegebracht hatte. Das hätte Bush Warnung genug sein müssen. Baker hatte ein Talent dafür, sich von Desastern fernzuhalten, ein wahres Genie eigentlich. Bushs Haltung dem »kleinen Bruder« Baker gegenüber war: »Warum hat Jimmy immer recht?«101 Baker war mehr als nur sein Schlafgenosse an Bord der Air Force One. Die Achtung des Präsidenten für Baker war so hoch, daß er glaubte, die ganze Welt denke, ein Problem sei gelöst, wenn er einfach verkündete, daß er Baker damit beauftragt hatte.102 Obwohl Baker auf zurückhaltende Weise deutlich gemacht hatte, daß er gegen das Projekt war, hatte er bis jetzt noch keine Attacke gestartet. Er glaubte noch mehr als der Präsident, 342 daß diese Metze von Idee keine Galatea war und daß weder Hartman noch Beagle der Pygmalion waren, der sie zum Leben erwecken konnte. Baker war reich geboren und in dem Wissen erzogen worden, daß man kein Kapital verplempert, weder finanziell noch personell, um sinnlose Schlachten zu schlagen. Und selbst Baker mußte vorsichtig sein, Bushie zu widersprechen, der, wenn er sich erst
mal entschieden hatte, dazu neigte, seine Opponenten mit der vernichtenden Bemerkung abzukanzeln: »Wenn Sie so klug sind, warum bin ich dann Präsident und nicht Sie?« Hartman und Beagle hegten keinerlei Zweifel. Sie wollten die Idee in die Tat umsetzen. Beagles Motivation war die des Künstlers, der sein Werk realisiert wissen will, egal, wie hoch die Kosten an Geld oder Leben auch waren. Hartmans Antrieb bestand darin, den größten Filmdeal der Geschichte an Land zu ziehen. Vielleicht den größten, der je ausgehandelt werden würde. Und doch war es mehr als das, mehr als Ruhm oder Stolz - er war auch durch eine unwiderstehliche Lust auf Macht und Reichtum motiviert. Beagle wußte, daß er einen ausgezeichneten Krieg inszenieren konnte. Was einen großen Regisseur unter anderem ausmacht, ist die Fähigkeit, zehn oder zwanzig oder sechzig Millionen Dollar vom Geld anderer Leute auszugeben, nur um eine Geschichte zu erzählen - über einen Mann, der seine Frau betrügt oder sich wie eine Fledermaus kleidet, der Sprechunterricht gibt oder eine alte Dame chauffiert. Das Problem bestand darin, die Geschichte zu verkaufen. Er hatte schon viele, viele Verkaufsgespräche miterlebt, an beiden Seiten des Schreibtisches. Er wußte, daß Erfolg und Niederlage nicht von Details abhingen. Details konnte man immer verändern, korrigieren, darüber lügen. Es hing nicht vom »Deal« ab. Es lag nicht mal am Konzept. Obwohl es eine weitverbreitete Illusion war, daß das Konzept der Schlüssel sei. Selbst Leute, 343 die beim Verkauf an der Angel hingen, glaubten häufig, sich in ein bestimmtes Konzept eingekauft zu haben. Aber ein guter Verkäufer ähnelte eher Luke Skywalker beim Bombardieren des Todessterns, man mußte diese verborgene und geheime Route aufspüren, ganz gleich, welche Drehungen und Wendungen dafür nötig waren, die zu einer ungedeckten Öffnung führte, damit man eine Bombe direkt in ihr Hirn abwerfen konnte. Hartman war darin einer Meinung mit ihm. Er war beruhigt, daß Beagle gute Arbeit geleistet hatte. Zugegeben, das Ganze befand sich noch in der Treatment-Phase, aber dennoch, er hatte einen tollen Krieg entworfen, einen perfekten Krieg, der wirklich auf dem neuesten Stand des Publikumsgeschmacks und dessen Erwartungen war. Er würde sogar unter sogenannter Echtkampfanalyse durch echte Militärs bestehen. Und Hartman fand, daß sie auch die meisten anderen Punkte geklärt hatten: Sicherheit, Geld, die Presse. Aber die Leute tun ja nicht etwas, nur weil die Argumente dafür gut sind; sie finden die Argumente dafür gut, weil diese Argumente etwas bestätigen, das sie sowieso tun wollen. Als Beagle seinen Krieg bis zum Verkaufsmoment vorbereitet hatte, setzte sich Hartman mit dem Präsidenten in Verbindung. Es ist erstaunlich schwer für den Präsidenten der Vereinigten Staaten, irgend etwas privat, geschweige denn insgeheim, zu tun. Die Terminpläne, das Protokoll, die Horden von Bediensteten und Höflingen, die Palastwache, die jeden seiner Schritte bewacht, ihre Ausrüstung und seine Ausrüstung, alles ist so kompliziert und unausweichlich wie die Exzesse des Sonnenkönigs und das strenge Zeremoniell am Hofe des Ming-Kaisers. Wo einst Höflinge die Gerüchte von Mund zu Mund weitertrugen, taten sie es heute per Mikrowellenübertragung und Satellit und überbrachten der ganzen Welt, was Seine Hoheit der Präsident zum Frühstück hatte, 344 mit wem er sprach, worüber und wie lange; sie machten nicht nur seine Darmperistaltik zur Nachricht, sondern auch seinen Darm selbst. Natürlich geben die offiziellen Protokolle und die täglichen Bulletins nicht unbedingt das wieder, was tatsächlich gesagt worden ist. Das ist der Schlüssel, wenn der Präsident etwas verheimlichen möchte; wie bei dem entwendeten Brief müssen auch die Handlungen des Präsidenten in aller Öffentlichkeit verborgen sein. Es gab keine Möglichkeit, so zu tun, als träfe sich der Präsident nicht mit David Hartman und John Lincoln Beagle. Der Trick war, das Treffen ganz ungezwungen und nebensächlich erscheinen zu lassen, aber dennoch für ausreichend Zeit und Raum zu sorgen, um zu reden und nachzudenken. Der Ort, auf den sie sich einigten, war Bob Hopes Haus in Palm Springs. Die Reise selbst wurde als Golfausflug deklariert. Aber Hartman hatte noch nicht die Raumfliegerroute in George Bushs Hirn gefunden, diesen todsicheren Weg, den Deal unter Dach und Fach zu bringen. Er suchte Rat bei Sun Tzu. Manchmal waren dessen Aphorismen Scheinwerfer, die das Schlachtfeld erhellten, manchmal Kryptogramme auf der Jagd nach dem verborgenen Sinn. Noch immer unsicher, ging Hartman mit einer Miniaturausgabe der Kunst des Krieges, die fünfmal siebeneinhalb Zentimeter maß, in der Tasche zu dem Treffen, ein Talisman, dessen magische Worte ihn osmotisch oder ätherisch erreichen mußten. Bush kam glücklich von seiner Golfpartie zurück. Bush spielte gern und hielt sich gern im Freien auf. Das war gut für Hartman und Beagle. Aber es war noch früh am Tag.
Viel zu früh für den Präsidenten, um schon eine Halcion genommen zu haben. Das würde es schwerer machen. Da war Baker, kalt wie Eis. Ein Blick verriet Hartman, daß Baker nicht neutral, sondern darauf vorbereitet war, eine Sachentscheidung zu treffen. Das war es, was Hartman brauchte jemanden, mit 345 dem er in Wettstreit treten, den er besiegen konnte. Der formlose Feind kann nicht besiegt werden.103 Aber sobald der Feind Position bezieht, können wir uns eine Strategie überlegen. Wie würde Bakers Angriff aussehen? Was war das Naheliegendste? Daß er und Beagle Hollywood repräsentierten. Frivole Filmleute waren. Die man nicht mit Staatsaufgaben betrauen konnte? Mit Realität? Hartman lächelte. Er hatte an sein Lieblingszitat aus Sun Tzu gedacht - Krieg ist nichts als Lägen. Konnte er sich Bakers Bedenken frontal stellen? Nur ein Dummkopf sucht die Konfrontation. Der intelligente Mann manövriert so, daß es keinen Grund zur Schlacht gibt. Man stelle sich vor, auf und ab zu hüpfen und zu beteuern: "Aber wir sind ernsthafte Leute - nehmen Sie uns ernst.« Sich gegen diesen Vorwurf zu wehren hieße, ihm Bedeutung beizumessen. Keine Verteidigung. Soll Baker doch ruhig dort angreifen und die Stellung leer vorfinden. Endlich fiel ihm das Zitat von Sun Tzu ein, das sich auf diese Situation bezog. Einmal verstanden, war es so offensichtlich, so lächerlich einfach, daß er eine Ohrfeige von einem Zenmeister verdient hätte; es handelte sich um den ersten Satz: Militärangelegenheiten sind von allergrößter Bedeutung für ein Land, denn Leben oder Tod, Überleben oder Zerstörung, hängen davon ab. »Mr. Präsident«, sagte David Hartman, »die großen Führer Amerikas - Dwight Eisenhower, Harry Truman,Jack Kennedy und Sie selber, Sir - wurden im Krieg geformt. Aber nun haben wir ein Problem. Woher sollen die Führer von morgen kommen?« »Passen Sie auf, Mr. Baker«, sagte Hartman bei sich, »ich nehme die erste Höhe.« »Aus der Vietnamgeneration? Ich möchte die Jungs nicht schlechtmachen, die dort gekämpft haben. Dort gestorben sind. Dort verwundet wurden. Glauben Sie mir, ich halte sie in Ehren. Aber was haben sie erfahren? Eine Niederlage. Sie haben eine Niederlage erfahren. Das hat verheerende Wirkung auf den Verstand. Wenn es zu einer 346 Konfrontation kommt, was werden sie sagen? Sie werden sagen: »Denkt an Vietnam. Wir können keinen Krieg führen. Wir werden verlieren. Wir ziehen uns besser zurück.« Das sagen sie. Die Hundesöhne im Kongreß haben es Ihnen anläßlich Grenadas, Panamas, Libyens und des Libanon gesagt. Das ist ein Chor, ein Chor der Verlierer. >Wir wollen nicht, daß ein zweites Vietnam daraus wird.< Ich würde niemals behaupten, daß diese Leute im Innersten Feiglinge sind. Sie reagieren auf das, was sie die Erfahrung gelehrt hat...« »Also, ich weiß nicht«, sagte Baker, »von wegen, daß Amerika die Führer ausgehen.« »Oh, Mr. Baker«, dachte Hartman, »ich habe gerade die Hügel rund um Ihre Flanken eingenommen, und Sie wußten nicht mal, daß sie überhaupt existierten.« Laut sagte er, sich dabei an beide wendend: »Sie sind aus Texas. Nun, wenn einer Ihrer Söhne vom Pferd fiele, was würden Sie ihm sagen, was er tun soll? Sie würden ihm sagen, er solle wieder in den Sattel steigen. Was, wenn er erwidert: >Nein, Dad, ich reite nicht mehr. Ich denke, ich lerne doch lieber Ballett.« Sie würden dafür Sorge tragen, daß der Junge wieder aufs Pferd steigt. Da bin ich mir sicher. Amerika braucht Sie, Mr. Präsident. Amerika braucht Ihre Hilfe, um wieder in den Sattel zu kommen. Um wieder stolz im Sattel zu sitzen und zu reiten.« Realitätsprüfung. Zu dick aufgetragen? Nein. Zu dick ging gar nicht. »Mr. Baker«, dachte Hartman, »jetzt kommt's. Ich werde Ihnen verraten, wo meine Artillerie steht.« »Ich habe Lees Memo gelesen, wir alle haben es gelesen. Ich möchte Ihnen etwas sagen - wenn es nur um eine Wahl ginge, dann würde ich es nicht tun. Punktum. Ich würde nicht für die Wiederwahl von irgendwem riskieren, auch nur einen amerikanischen Jungen auf fremdem Boden kämpfen zu lassen. Und ich wette, Mr. Präsident, das würde von Ihnen auch keiner tun. Ich 347 kenne Ihren Lebenslauf, Sie waren dabei, Sie wissen es besser, und Sie sind ein ehrenwerter Mann.« »Verdammt nochmal, dieser jüdische Halunke trägt aber dick auf«, sagte Baker bei sich.10'* »Aber darum geht es nicht«, fuhr Hartman fort. Falls er Bakers Gedanken lesen konnte, schien es ihm nichts auszumachen. »Amerika braucht einen Krieg, um sich daran zu erinnern, wie es ist zu siegen. Die nächste Generation von Führungspersönlichkeiten muß in der Schlacht geprüft werden, muß siegen und von dort aus weitermachen, mit Zuversicht und Stolz. Wenn Sie sich an den Pokertisch setzen, und jeder schäbige kleine Spieler in der Welt weiß, daß Sie Angst haben, bis zum Ende mitzuziehen, dann werden die Sie um einen Pott nach dem anderen bluffen und Sie bis auf die
Unterhose ausziehen. Die Männer, die sich der Sowjetunion, der gefährlichsten Militärmacht, die die Welt je gesehen hat, einer Atommacht, widersetzten, waren die Männer, die im Krieg siegreich waren. Was geschieht, wenn wir nach Ihnen einen weiteren Jimmy Carter kriegen? Ein Amerika, daß vor jedem und allem zurückweicht - vor einem Ayatollah, vor den südamerikanischen Drogendealern und Gangstern, vor einem Ghaddafi? Ich mache mir Sorgen, Mr. Präsident, daß wir in der Generation nach Ihnen die Rückkehr der Appeasementpolitik erleben werden. Sie müssen uns retten, Mr. Präsident.« »Glitschiger als Aal in Aspik«, sagte Baker. Ab und zu redete er gern Texanisch, er kam sich dann salopp vor. Aber eigentlich klang er respektvoll. Er wußte, dies war kein Vorschlag mehr, der sich noch groß zu verteidigen hatte - es sei denn Hartman und Beagle vergeigten den Rest der Präsentation völlig. Wieder einmal behauptete Lee Atwaters Hurenmemo sein Recht auf Leben. Handelte es sich um einen brillanten realpolitischen Schachzug, historisch noch weitblickender als es den Anschein hatte, oder war das Napoleon für Verrückte? 348 KAPITEL NEUNUNDREISSIG Zeit zum Geschichtenerzählen. Hartman gab an Beagle ab, der die Geschichte ganz simpel hielt, so wie er sie an einem Tisch im Spago einem Produzenten servieren würde, der zwischen den vier Ecken eines Produzentenlebens wankte: Valium, Kokain, der unnachgiebigen Gewißheit, daß er seinen Job verlieren würde, wenn er nicht bald eine Entscheidung traf, und diesem nagenden Gefühl, daß jede Entscheidung, die er traf, ihn seinen Job kosten würde. Die Geschichte ging folgendermaßen: »Wir fangen an mit der INVASION. Plötzlich. Unerwartet. Un-provoziert. Panzer rollen über eine ungeschützte Grenze. Es gibt keinerlei Begründung nach moralischen Begriffen oder internationalem Recht. Die Invasoren sind brutal. Sie verüben GREUELTATEN an Frauen, Kindern und Eigentum. Ihr Führer ist ein zweiter HITLER. Ein neuer Hitler. In den letzten Jahren sind mehrere Personen als Hitler bezeichnet worden. Die haben aber nur in ihren eigenen Ländern agiert. Dieser Typ ist anders, er ist auf EROBERUNG aus. Diese Invasion ist nur der Anfang. Vor langer, langer Zeit, da hätten wir eine Weile gebraucht, das zu begreifen, wir hätten gesagt: >Uns geht das nichts an.< Wir hätten uns zurückgelehnt und abgewartet - bis sie Pearl Harbor bombardierten. Aber diesmal nicht. Weil wir einen PRÄSIDENTEN haben, der aus der Geschichte gelernt hat. Wenn wir Hitler in der Tschechoslowakei und Japan in der Mandschurei gestoppt hätten, dann hätte es keinen Zweiten Weltkrieg gegeben. Also diesmal nicht, Kumpel. Diesmal: KEINE APPEASEMENT-POLITIK. 349 Wir trommeln die Alliierten zusammen. Da sind England und Frankreich und wir und Rußland wieder alle vereint. Zur Verteidigung der Demokratie und des Rechts und der Integrität nationaler Grenzen. Wir haben die Exilregierung des besetzten Landes. Diesmal stehen sogar die Deutschen und Japaner auf unserer Seite. Und all diese kleinen Länder. Die Vereinten Nationen. Es geht einem schier das Herz auf, wenn man all diese verschiedenen Flaggen wehen sieht, stolz, sich dem Tyrannen zu widersetzen. Sie sehen, die Welt begreift, daß das eroberte Land der Schwächere ist. Daß wir, ganz gleich um wie vieles wir größer sind als der Neue Hitler, für einen Schwächeren kämpfen. Wir kämpfen für den Schwächeren. Die nächste Phase ist das AUFWÄRMEN VOR DEM SPIEL. Wir sammeln unsere Kräfte. Und die der Alliierten. Haben Sie Geduld mit mir, aber ich bin der Überzeugung, daß es verdammt wenige Länder auf der Welt gibt, die sich uns länger widersetzen können als Panama oder Grenada. Ich möchte, daß Sie wissen, daß Sicherheit ganz oben auf unserer Liste steht. Wir wollen so geringe Verluste, daß mehr Menschen gestorben wären, wenn sie zu Hause geblieben und in ein Urlaubswochenende gefahren wären. Das letzte, was wir wollen - und wir werden das nicht zulassen - sind Woche für Woche Leichensäcke auf Amerikas Fernsehbildschirmen. Dem zum Trotz werden wir eine MEDIENSCHLACHT schlagen und deutlich machen, wie mächtig und gefährlich die anderen Kerle sind. Wie schwierig unsere Aufgabe ist. Wieviel Einsatz und Heldenmut es erfordert, um diesen fanatischen, abgebrühten, bestens ausgerüsteten, erfahrenen Killerfeind zu schlagen. Unser Vorbild für diesen Krieg ist der Super Bowl. Dem Super Bowl geht eine lange, lange Periode des Anheizens voraus. Die Play-offs nicht gerechnet, dauert das mindestens 350 zwei Wochen. Das sind 336 Stunden Anheizen - für ein Sechzig-Minuten-Spiel. Und es funktioniert. Jetzt kommt das Große Spiel, WIR GEHEN REIN: WIR SCHLAGEN SIE. Genau wie bei einem einstündigen
Footballspiel. WIR KEHREN HEIM. ES ist vorbei. Wir halten eine SIEGESPARADE ab.«105 Hartman, der zum nächsten Schritt überleiten wollte, fragte Beagle, als handele es sich um eine echte Frage: »Gehen wir doch mal einen Schritt zurück und reden über die reale Welt. Können wir die Elemente zusammenbringen: Hitler, Polen, Alliierte, sicherer Sieg?« Beagle sah dem Präsidenten direkt in die Augen. Er beeilte sich nicht, »Ja!« zu sagen. Es war wichtig rüberzubringen, daß es sich hier nicht um ein schlecht durchdachtes, überdrehtes und von Ollie-NorthEitelkeit strotzendes Klischee von Heldentum handelte. »Es gibt gewisse Punkte, die tatsächlich von Bedeutung sind. Die Vereinigten Staaten können, ohne politischen Schaden zu nehmen, einen Krieg führen. Das ist eine Tatsache. Wir können einen Krieg faktisch ohne amerikanische Verluste führen. Das ist ebenfalls eine Tatsache. Die Frage ist also nur, in welchen Rahmen wir das stellen. Wir reden hier über nichts Neues, nur davon, es noch effektiver umzusetzen. Sobald uns das klar ist, wird deutlich, daß meine Rolle keineswegs so radikal ist, wie sie scheint. In diesem Licht betrachtet, bin ich gewillt zu sagen, die Antwort lautet ja. Ein definitives Ja.« Das Schlachtfeld sollte im nahen Osten oder in Nordafrika sein, sagte Beagle und erläuterte wieso.106 Das vorausgesetzt, gab es eine recht anständige Auswahl an Hitlers: Muammar al Ghaddafi, Hafiz alAssad, Saddam Hussein, Rafsanjani oder - und das mußte man in Erwägung ziehen - ein neuer Ayatollah. Es gab jede Menge an potentiellen »Polen«. Libyen besetzt 35i erneut den Tschad, oder den Sudan, oder Algerien, oder sogar Ägypten. Algerien konnte Marokko besetzen. Irak konnte Saudi-Arabien, Kuwait oder Syrien angreifen. Iran konnte den Golf überqueren und die Vereinigten Arabischen Emirate, Oman, Kuwait oder gar Saudi-Arabien angreifen. Syrien besetzt Jordanien. »Wir betreten hier eine Arena«, sagte Hartman und wandte sich an den Präsidenten, »die nach einem Meister der Diplomatie verlangt. Nach jemandem, der die Staatsoberhäupter persönlich kennt.« »Maggie Thatcher wird uns beistehen«, dachte der Präsident laut nach. »Mit Mitterrand kann ich reden. Gorbie, um die Wahrheit zu sagen, ich denke, der braucht uns mehr als wir ihn. Es ist wirklich von Vorteil, daß ich bei der UNO gewesen bin.« »Ich wollte gerade fragen«, sagte Baker, »wie wollen Sie eines dieser Staatsoberhäupter dazu bringen, für Ihren Film den Hitler zu spielen? Was, wenn sie sich daran erinnern, daß Deutschland verloren hat und Hitler in einem Bunker starb? Für mich klingt das, als böten Sie ihnen ein Szenario an, in dem sie nicht gewinnen können, und das werden sie, bei Gott, auch merken.« »Wir betrachten Hitler als Schurken«, sagte Beagle. »Im Nahen Osten ist er für viele ein Held. Sie bewundern Stärke. Sie glauben an Märtyrer. Und dann ist da diese jüdische Geschichte. Zweitens: Dies ist eine Chance, groß herauszukommen, eine Hauptrolle auf der Weltbühne zu spielen. Drittens: Gegen die Vereinigten Staaten anzutreten, selbst wenn man dabei verliert, macht einen in der arabischen Welt automatisch zum Helden. Also, obwohl das von hier wie ein Szenario aussieht, das sie nicht gewinnen können, erscheint es von dort aus gesehen wie ein Vorschlag, bei dem sie gar nicht verlieren können. Auf jeden Fall kann man es so erscheinen lassen.« »Hier haben Sie Glück, mich als Ihren Präsidenten zu haben«, 352 sagte der Präsident. »Ich scherze nicht - wie viele Präsidenten hätten die Erfahrung und die Kontakte und das Urteilsvermögen, bei dieser Geschichte mitzumachen? Sie haben da eine komplizierte Sache geplant. Das ist ein Krieg wohl immer, nehme ich an. Aber dieser hier beinhaltet Alliierte und einen Feind, wahrscheinlich muß die CIA irgendwo einspringen, vielleicht sogar die UNO. Es gibt keinen anderen Präsidenten in Amerika, nicht einen, der von sich behaupten könnte, bei der UNO gewesen zu sein, der behaupten könnte, die UNO zu kennen. Oder China, was das betrifft. Sie verstehen, was ich meine.«Je mehr er hörte, desto mehr mochte Bush, was sich diese Hollywoodtypen ausgedacht hatten. Da konnte er etwas machen. Und George war ein Macher. Er liebte es, etwas zu machen. Es war schon komisch, daß er als Präsident nicht allzu viel machte, obwohl er doch ungeheuer viel herumrannte. Das hatte zum Teil damit zu tun, daß er sich sozusagen politisch festgelegt hatte, nicht allzu viel zu machen. Oder vielmehr dazu, die Politik Reagans fortzusetzen, die daraus bestand, Sachen rückgängig zu machen. Aber für ihn war das nicht dasselbe wie für seinen Vorgänger, aus mehreren Gründen: Das Rückgängigmachen war in vielen Fällen übertrieben worden, und jetzt zeigten sich die Konsequenzen, und es wurde deutlich, daß man vielleicht nicht länger nur Sachen rückgängig machen sollte eigentlich müßte man einiges neu machen, aber das konnte er nicht machen; er glaubte eigentlich nicht ans Rückgängigmachen; und schließlich hielt er nicht so oft wie Reagan ein Nickerchen, so daß
die Abwesenheit einer konstruktiven, ja selbst einer destruktiven Aktivität schwer auf ihm lastete. »Ich mache mir stets Freunde. Ich habe überall gute Freunde, weil Menschen doch nur Menschen sind, selbst Ausländer. Ich mag die Menschen wirklich. Ich möchte Ihnen mal was sagen, weil Leute das an mir nicht verstehen - ich mag Ron. 353 Er ist ein netter Kerl. Und einem besseren Geschichtenerzähler werden Sie Ihr Lebtag nicht begegnen. Eine Menge Leute fanden, daß nur schwer mit ihm zurechtzukommen war, aber das stimmt nicht, man mußte ihm nur Witze erzählen. Er mag Witze. Und Barbara mag Nancy. Wirklich. Immer noch. Wenn wir mal die Möglichkeit hätten, würden wir sie zum Essen einladen, das machen wir bestimmt noch. Aber der Punkt war doch - Freunde. Wir reden hier über einen Krieg im Nahen Osten, und ich habe Freunde dort, und das wird es uns leichter machen, sie zur Kooperation zu bewegen. Ich könnte mich auf der Stelle ans Telefon hängen, und Hosni Mubarak - er hat's nicht leicht im Moment, da drüben in Ägypten -, er würde ans Telefon gehen, ganz egal, wie spät es jetzt in Kairo ist. Hat irgendwer eine von diesen Uhren um, die die Zeit in sechs verschiedenen Zeitzonen angibt? Was ich sagen will, David, das hat nichts damit zu tun, daß ich der Präsident der Vereinigten Staaten bin, sondern weil er weiß, daß George Bush sein Freund ist. Barbara hat ihn auf unserer Weihnachtskartenliste. Ich weiß, er ist kein Christ, aber Weihnachten hat damit nichts zu tun. Weihnachten, das müßte man direkt in Betracht ziehen - es wäre eine gute Idee, wenn wir den Krieg über Weihnachten führen könnten. Es gibt immer eine Unmenge guter Geschichten über die Feiertage. Soldaten -und Soldatinnen, vergessen wir nicht die Frauen im Dienst, sie leisten gute Arbeit -, weit weg von daheim, bekommen Briefe. Kinder sitzen am Tisch, ein leerer Stuhl dort, wo Dad - oder Mom - normalerweise sitzt. Jemand erklärt, warum Dad tun muß, was Dad tun muß, damit die Welt sicher ist, damit unsere Kinder nicht in den Krieg ziehen müssen.« »Hier könnte etwas Glorreiches passieren«, sagte Hartman. »Sie werden einem geschichtlichen Moment Ihren Stempel aufdrücken. Himmel, da draußen erzählen alle, das amerikanische Jahrhundert sei vorüber. Ich denke, wir werden den 354 Krittlern, ja der ganzen Welt klarmachen, daß das amerikanische Jahrhundert noch einen weiten, weiten Weg vor sich hat. Mein Gott, ich hab das Gefühl, wir haben gerade erst angefangen.« James Baker beobachtete, wie in George Bush der Entschluß reifte, einen Videokrieg zu führen. Wenn der Präsident mitzog, dann mußte sein Außenminister eine Entscheidung treffen - wollte er bei dem kommenden Krieg in vorderster Front oder weit, weit weg sein, in welchem Fall sein Hauptaugenmerk darauf liegen mußte, dafür zu sorgen, daß die Welt erfuhr, daß er damit so wenig zu tun hatte wie mit der Wahl Dan Quayles. »Was, wenn die Medien dasselbe mit uns veranstalten wie in Vietnam?« fragte er. »Der Schlüssel dazu ist ein kurzer Krieg«, sagte Hartman. »Ich habe mehrere Theorien über die Macht der Presse und den Umgang mit den Medien, aber grundsätzlich schreibt die Presse nur das, was ihr gesagt wird. Wenn also der Großteil dessen, was den Journalisten erzählt wird, das ist, was Sie von ihnen hören wollen, dann werden die das auch berichten. Das ist keine Frage der Zensur oder des unterbundenen Zugangs zu den Informationsquellen. Wenn Sie sich relativ schnell bewegen, sind Sie die einzige Quelle. Die schmerzliche Wahrheit ist«, fuhr Hartman fort, »wenn der Krieg in Vietnam einen Monat gedauert hätte, dann hätte die Regierung die volle Unterstützung der Medien gehabt. Ich möchte nicht absurd klingen, aber stellen Sie sich den Super Bowl vor. Nun stellen Sie sich vor, es gäbe kein letztes Viertel. Tatsächlich überhaupt kein Spielende. Keiner weiß, wann oder ob das Spiel zu Ende sein wird. Sie spielen den ganzen Tag. Dann die Nacht hindurch. Den nächsten Tag, die nächste Nacht, die ganze Woche. Mehr und mehr Spieler auf beiden Seiten werden verletzt. Eine Seite führt. Dann die andere. Es gibt keine zeitliche Begrenzung. Kein Ergebnis, bei 355 dem eine Mannschaft gewinnt. Sie schleppen sich einfach weiter durch den Schlamm. All die ursprünglichen Spieler sind längst draußen, kampfunfähig. Nun sind auch die Ersatzspieler kampfunfähig. Und deren Ersatzleute. Die Trainer greifen sich Leute von der Straße, Jungs, die nicht spielen wollen, und zwingen sie aufs Spielfeld. Jede Menge Matsch. Ziemlich bald wird Amerika genug haben vom Super Bowl. Selbst die Sportreporter, die ja bezahlte Cheerleader sind, werden ermüden, wenn sie so lange zuschauen, und aus reiner Langeweile werden sie Fragen erfinden: Sollten so viele Menschen verletzt werden? Sollte das Spiel beendet werden? Warum spielen wir? Vielleicht sollte das Spiel verboten werden? Sie meinen es nicht böse. Sie wissen nur mit ihrer Zeit nichts anderes anzustellen. Nicht die Kritiker haben Vietnam erledigt. Vietnam war ein lausiger Film. Er lief zu lang. Die Leute
sind aus dem Kino gegangen. Der Zweite Weltkrieg war ein toller Film, eine perfekte Story, gut gespielt, gutes Tempo, und alle wollten bis zum Ende dabeibleiben.« Jetzt war dem Präsidenten etwas eingefallen. Er stand auf; er fing an, beim Reden auf und ab zu gehen. »Ich werde euch Jungs mal ein Geheimnis verraten. Normalerweise tu ich das nicht. Ich würde dieses Geheimnis mit ins Grab nehmen. Aber ich denke, wir sind hier weit genug gegangen, wir vier, ich glaube nicht, daß sie uns einzeln hängen würden, sie würden uns zusammen hängen. Nicht daß sie uns überhaupt hängen würden, wenn sie wirklich unsere Motivation begreifen. Eine Gelegenheit zur Führerschaft. Eine Chance, Amerika endlich von der Malaise Vietnams zu befreien. Und der Welt zu zeigen, daß wir kein kampfunfähiger oder gefesselter Riese sind, wie immer Sie es nennen wollen, daß wir kein Papiertiger sind. 356 Haben Sie Geduld mit mir, aber der Typ, der Hitler spielen soll - Saddam Hussein. Er ist ein Freund von mir. Ich weiß, dies ist eine Besetzungsentscheidung«, sagte der Präsident schalkhaft, »und ich hoffe, Sie haben nicht das Gefühl, ich wolle Ihnen auf die Zehen tretenjohn. Ihre Freunde nennen Sie doch John? Oder Line?« »John ist gut, Mr. Präsident.« »Sie können mich George nennen, das ist schon in Ordnung. Wenn wir je zusammen auf Schürzenjagd gehen, können Sie mich Bushie nennen. Stimmst jimmy?« Wenn der Präsident sich vergnügte, dann kam sein Hang zum Witzeln zum Vorschein. Doch jetzt kam er wieder aufs Geschäft zurück. »Was ich sagen will, ist, ich habe mit all diesen Leuten zu tun gehabt. Mit wem man Geschäfte machen kann und mit wem nicht. Ich verfüge über die Erfahrung, um hier ein Urteil abzugeben. Es handelt sich um geheime Dinge, von denen ich Ihnen nichts erzählen kann, aber Saddam Hussein, drüben im Irak, er könnte sehr wohl der Mann sein, der mitmacht bei dieser Hitlersache.107 Was ich an Saddam so schätze, ist die Tatsache, daß er das Spiel so spielt, wie man es spielen soll. Er hat einen Deal gemacht und sich an seinen Teil gehalten. Und er hat nicht alles in der Presse ausgeplaudert. Nicht wie diese Bastarde im Iran. Sie haben es weitergegeben, und wir standen dann mit runtergelassenen Hosen da.108 Und als er herausfand, daß wir den Iran gegen ihn unterstützten, hat er sich da vielleicht in den Schmollwinkel gestellt? Nein. Er kam zu uns, und wissen Sie, was er gesagt hat? Er sagte: >Heh, Jungs, wenn ihr das macht, dann müssen wir noch mal über meinen Anteil reden. Gleicht das aus, ihr steht in meiner Schuld.« Sie verstehen, was ich sagen will - hier ist jemand, mit dem wir verhandeln können. Wir können zu Saddam Hussein sagen: >Wie wärs, wenn du irgendeine Gegend besetzt - du wirst in der arabi357 sehen Welt wie ein Held dastehen, sogar so groß wie Hitler.« Dann werden wir einen Krieg haben, und dann soll der Beste gewinnen. Er mag einen guten Kampf.« »Viele von den Bildern, die ich da sehe«, sagte Beagle, der enthusiastisch wurde und im Umgang mit dem Präsidenten jetzt so locker war, daß er mit ihm über seine Gefühle und sein Fachwissen sprach, »haben mit diesen wirklich billigen Videoaufnahmen von High-Tech-Operationen zu tun. Wie zum Beispiel Infrarotaufnahmen von nächtlichen Bombenangriffen. Da ist diese eine Sache, die für die gesamte Produktion zentral ist, bildlich gesprochen. Ich bin sicher, Sie wissen, daß ich Zugang zu Filmen und Videos des Pentagon hatte, sogar Top-Secret-Aufnahmen, und ich wollte mich dafür bedanken, das hat mir sehr geholfen die haben doch diese smarten Bomben, lasergeführt, computergesteuert, die können sie auf eine Münze fallen lassen, sagen sie - ich will eine Aufnahme mit einer dieser klugen Bomben, die direkt in Saddams Schornstein fliegt. Sie fällt direkt in den Schornstein, und dann dehnt sich dieses Gebäude irgendwie aus, und bumm\ Explodiert. Direkt in den Schornstein. Und dieses Bild wird Amerika sagen, dies hier ist saubere Chirurgie, kein Gemetzel. Daß dies Ziele sind, die wir treffen, militärische Ziele, nicht Frauen und Kinder. Das ist nicht Vietnam. Chirurgische Eingriffe. Und wir werden den Leuten auf jedem Fernseher im Land und über Satellit auf jedem Fernseher der Welt zeigen, daß dieser Krieg so präzise wie Chirurgie ist.« »Was ich hier sehe«, sagte Bush, »ich will einen heroischen Kampfpiloten sehen, Sie wissen, dazu habe ich einen Draht, ich hatte ja selber meine Momente, darüber muß ich Ihnen nichts erzählen, das ist ja bekannt. Ein Kampfbomber, der im Tiefflug näher kommt, unter dem feindlichen Radar. Wußten Sie, daß man Kameras in den Nasen der Kampfflugzeuge 358 montiert hat? Bei einem Bomber ist die Kamera natürlich unten im Rumpf, so wissen sie, daß man nicht mogelt, wenn es um die Trefferquote geht. Nicht daß man damit rechnet, daß ein junger Mann, der den Mumm und all das hat, das Zeug, einen unserer superschnellen, mit allen Schikanen
ausgestatteten Jets zu fliegen, man rechnet doch nicht damit, daß ein feiner Kerl wie der mogelt. Nein, das würden Sie nicht. Und das würde er auch nicht tun. Aber im Eifer des Gefechts kann man sich nicht jedesmal umdrehen, um zu sehen, wo die abgeworfenen Bomben landen, und wenn man nach vorn schaut, um zu sehen, was als nächstes kommt, ist es gut, Aufzeichnungen zu haben.« »Aber natürlich können wir das machen, George. Ich liebe die Aufnahmen von Kampfpiloten und von Kampfbombern. Das Zeug ist toll. Der Trick, damit es echt aussieht - daß es einem in die Magengrube fährt -, besteht in billiger Aufnahmetechnik. Sie wissen schon, wenn man sich die alten Filme aus dem Zweiten Weltkrieg anschaut, jedesmal, wenn sie diese zerkratzten, verdreckten Filme mit den Flecken dazwischenschneiden - dann weiß jeder, jeder kriegt es mit - das sind authentische Dokumentaraufnahmen aus der Schlacht.« Baker machte sich immer noch um eines Sorgen. Und zwar richtige Sorgen. Es handelte sich dabei um jenen Punkt, mit dem er das ganze Projekt hatte platzen lassen wollen. »Wie zum Teufel werden wir das finanzieren? Darum wird sich die Kritik drehen. Um die Finanzierung des Krieges.« »Mr. Secretary, Mr. Präsident«, sagte David Hartman. Auf diese Frage war er vorbereitet. »In diesem Fall sind die Vereinigten Staaten das Produktionsstudio. Wenn eines der großen Studios einen Film für, sagen wir, vierzig Millionen dreht, dann zückt es nicht die Brieftasche und zieht vierzig Millionen raus. Das wäre schwachsinnig. Sagen wir mal, wir drehen Catwoman, Batman Teil III. Erst mal gehen fünfzehn Prozent 359 zurück ans Studio für dessen Betriebskosten. Daneben gibt es vom ersten Tag an Zinsen auf die Gesamtsumme. Sehen Sie, ich brauche mir also nur um einunddreißig oder zweiunddreißig Millionen Sorgen machen. Wenn ich wollte, könnte ich das mit den Auslands-, Kabel- und Videokassettenverkäufen abdecken. Bevor ich noch zu drehen anfange. England zwei Millionen, Deutschland sechs Millionen, Frankreich drei Millionen, Italien zwei Millionen, Skandinavien noch eine Million, Spanien eine Million. Das macht fünfzehn. Ich brauche weitere sechzehn, siebzehn. Ich nehme drei Millionen in Südamerika ein, acht in Japan, und dann habe ich immer noch Afrika, Asien, Australien, HBO, Showtime, die großen Fernsehstationen. Sehen Sie, worauf ich hinauswill? Nur die Vereinigten Staaten können diesen Film wirklich produzieren. Wer bezahlt? Das hängt vom Krieg ab. Der Präsident sagt Saddam Hussein. Sagen wir mal, er marschiert in Saudi-Arabien ein. Sagen wir, der Krieg kostet fünfzig Milliarden Dollar. Davon ist ein Großteil Betriebskosten. Wir haben eine stehende Armee samt Reserve, Ausrüstung, die Generäle und ihre Stäbe, die Munition und die Panzer, Zeug für Milliarden von Dollar, die wir bezahlen müssen, ob wir sie nun einsetzen oder nicht. Okay, sagen wir, vorsichtig geschätzt, daß fünfzig Prozent der Kriegskosten Betriebsausgaben sind. Aus rechnerischen Gründen sagen wir mal, unsere Betriebskosten belaufen sich auf zwanzig Prozent, zehn Milliarden Dollar. Jetzt müssen wir noch vierzig Milliarden auftreiben. Wieviel, glauben Sie, würden die Saudis springen lassen, um ihr Land zurückzubekommen? Fünfzig Prozent der Öleinnahmen in den nächsten zehn Jahren? Soviel würden wir nicht mal verlangen. Wie wärs mit fünfzehn Milliarden. Plus Sprit. Für die Flugzeuge und Panzer und all die Schiffe auf See. Lassen Sie mich einen Augenblick vorgreifen. Denken Sie daran, wieviel Militäraus360 rüstung die nach diesem Krieg kaufen werden. >Heh! Wir wollen nicht wieder besetzt werden. Wir verdoppeln besser unsere Luftwaffe!« Flugzeuge. Ersatzteile. Ausbildung. Nun, dann kriegen wir je fünf Milliarden von Kuweit, den Emiraten, Qatar. Jetzt brauchen wir nur noch zehn Milliarden. In der Zwischenzeit marschiert Saddam in Riad ein, der Ölpreis steigt von dreieinhalb Dollar pro Barrel auf fünfundzwanzig Dollar? Fünfunddreißig Dollar? Fünfzig? Der Nikkei-Index fällt an einem Tag um zweitausend Punkte.109 Mr. Secretary Baker greift zum Telefon. Er sagt: >Herr Premierminister, was wird es Ihr Land kosten, wenn der Ölpreis bei über dreißig Dollar pro Barrel stehenbleibt? Meine Armee ist gewillt, dorthin zu gehen, die Sache zu erledigen, den Preis auf ein vernünftiges Maß zu senken, auf jeden Fall unter zehn Dollar. Was ist das Japan wert? Ist Ihnen das fünf Milliarden wert?« >Mr. Kohl, wie viele Menschen werden noch Mercedes und BMW fahren, wenn der Sprit an der Zapfsäule in Amerika bei vier Dollar pro Gallone liegt? In Europa bei fünfzehn Dollar? Was wird das für das deutsche Wirtschaftswunder bedeuten?« Ich meine«, schloß Hartman, »daß wir diesen Krieg hier finanziert haben, bevor noch ein Schuß gefallen ist.« »Korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre, aber ich glaube, ich habe das ganz gut verstanden«, sagte der Präsident. »John Lincolns Szenario zufolge - ist das der richtige Ausdruck? Szenario? -, seiner Idee zufolge entspricht das der Besetzung Polens, und in diesem Zusammenhang
käme Saudi-Arabien Frankreich gleich. Vielleicht Frankreich und England zusammen. Ich möchte nicht, daß die Dinge außer Kontrolle geraten, wenn Sie verstehen, was ich meine. Also, ich denke, unser Hitler sollte ein kleineres Land überfallen und Frankreich 361 nur bedrohen. Also Saudi-Arabien. Das wäre das nächste Land, wenn wir uns dem nicht widersetzen. Das funktioniert auch, selbst wenn sich herausstellt, daß Saddam nicht unser Mann ist, sondern, sagen wir, der Iran ist die Aggressornation. Gegen irgendeines der kleinen Länder dort - Qatar, Kuweit, die Emirate. Egal, welches, finden Sie nicht?« »Das ist brillant, Mr. Präsident. Genau das meine ich. Ganz genau das. Sagen wir, es handelt sich um den Irak. Sie besetzen Kuweit. Es sieht so aus, als sei SaudiArabien als nächstes fällig. Genau wie die Deutschen Polen besetzten und jeder wußte, einfach wußte, daß Frankreich als nächstes drankommen würde. In diesen Raum, in dieses Abwarten hinein bauen wir die ganze Geschichte. Perfekt, Sir, einfach perfekt.« Baker hatte den Mund gehalten, während der Präsident sprach. Aber die Idee, einen Krieg mit anderer Leute Geld zu führen, bewies schlicht Genialität. »Sie sind mir vielleicht ein smarter Hollywoodjude«, sagte er zu David Hartman. »Ihr könnt mich alle Bubba nennen.« 362 KAPITEL VIERZIG Observation ist selten umfassend. Vor allen Dingen, wenn es sich um eine passive Observation mit dünner Personaldecke handelt. Es ist also nicht überraschend und auch keine allzu große Schande, daß U.Sec. den ersten Anruf von Teddy Brody bei Joe Broz völlig verpaßte. Das war eine der Lücken. Joes Büro wurde nicht abgehört, aus vernünftigen Gründen, die bis an die oberste Kommandospitze weitergegeben worden waren. Alle nahmen an, daß die Überwachung den Kontakt vom anderen Ende her aufnehmen würde, wie schon bei der Przyszewski. Schließlich wurde Teddys Wohnung abgehört, ebenso wie die Büros bei CineMutt. Aus einem Gefühl von Etikette heraus rief Teddy während der Bürostunden an. Und aus Diskretion benutzte er ein Münztelefon außerhalb von CineMutt. Er ging ihnen einfach durch die Lappen. Teddy war angenehm überrascht, wie bereitwillig Mr. Broz ihn sehen wollte. Natürlich wußte er nicht, dachte nicht im Traum daran, daß er gerade den Köder geschluckt hatte, den Joe Broz ihm, Teddy Brody, wohlüberlegt ausgelegt hatte. Eigentlich war das schade, denn die Idee hätte ihm geschmeichelt. Teddy befand sich an einem Punkt in seinem Leben, wo er etwas Schmeichelei hätte brauchen können. Oder irgendwas. Deshalb hatte er angerufen. Er brauchte Veränderung. Irgendeine Veränderung. Er wollte nur zwei Dinge im Leben. Einen Film drehen und einen Liebhaber finden. Mit Liebhaber meinte er nicht einen, 363 in den er sich verknallte, mit dem er Händchen hielt, ins Kino ging, knutschte, ins Bett stieg oder gar zusammenlebte, koch und wusch und gemeinsame Kasse machte. Obwohl das der Sache schon recht nahe kam. Was er wollte, war jemand, der ihn so sehr liebte, daß sie sich gegenseitig Treue schworen, ins Krankenhaus oder zum Arzt miteinander gingen, sich beide testen ließen und, wenn sie sich gegenseitig beweisen konnten, daß sie beide HIV-negativ waren, nicht infiziert - sauber, rein -, sich dann einander ergeben würden, in völliger physischer und emotionaler Hingabe, Körperflüssigkeiten austauschen würden, so wie Sex sein sollte, ohne Gummi, ungeschützt, echt und natürlich und geschmackvoll und feucht und spaßig. Spaßig! Und verliebt! Der Gedanke daran, daß ihm das fehlte, quälte seine Nächte. Zitternde Träume und schreiende Stimmen ließen ihn senkrecht im Bett sitzen, den Tränen nahe, die Mundwinkel nach unten gezogen wie ein kleiner Junge, der »Mama, Mama« plärrte. Er war zu spät geboren. Zu früh. Zu irgendwas. Seit Jahrhunderten hatten Generationen von Menschen Sex ohne Tod gehabt. Er hatte einen durchgängigen Alptraum. Ein Gesicht, ein liebes, süßes, freundliches Gesicht, hübsche Augen, langes, blondes Haar, ein süßer Schmollmund, der es ihm machte. Und als er kam und in diesen Mund ejakulierte, kratzten die Zähne ihn und ritzten die Haut seines Penis gerade so stark, daß Speichel, Blut und Samen sich vermischten. Das Gesicht grinste, ließ ihn frei, blickte auf, und es war so grell und häßlich und tödlich wie ein Gespenst aus einem billigen Horrorfilm. Es war ein so billiges und abgeschmacktes Bild. Und dennoch konnte er es nicht verbannen. Alles, was er wollte, war eine wahre Liebe. Nicht für immer. Nur eine Zeitlang. Er schien auch einem eigenen Film kein Stück näher zu kommen. Der Job bei Beagle brachte ihn nicht weiter, was Kon364
takte, Karriere oder Zugang zu jemand, der sein Treatment las, betraf. Er war einfach nur in diesem verdammten Raum und rannte von einer Maschine zur anderen, von einem Regal zum nächsten. Dann rief ihn ein Kumpel an, Don Burkholtz, eigentlich kein Freund, nur ein flüchtiger Bekannter, aber einer aus der Yale-Bande und deshalb eine Connection. Burkholtz, der jetzt Agent bei ICM war, ein geleastes Lexus Cabrio fuhr und eine Wohnung fast in Malibu und eine in Aspen besaß, nicht weit von Dons und Melanies Haus entfernt, sagte: »Dieser Typ, Joe Broz, der gerade angefangen hat, Maggie Lazlo zu bumsen, und zwar heftig - manche Jungs haben vielleicht ein Glück -, scheint sich auch in den Job als Entwicklungsdirektor für Maggie Lazlos Filme gebumst zu haben. Ich hab gehört, er sucht einen AIlround-Assistenten, Leser, Entwickler, was immer. Will einen aus Yale. Einen geschliffenen Burschen. Weil er wohl offensichtlich grad mal die High School geschafft hat. Also ist er beeindruckt von unserer Art Scheiße. Kennt sich nicht mal im Film aus. Also sucht er jemanden mit einem enzyklopädischen Filmwissen. Klingt alles sehr nach dir. Also dachte ich, wenn dich der Job bei CineMutt langweilt, rufst du vielleicht mal bei diesem Typen an.« Natürlich klang das sehr nach Teddy - es handelte sich dabei um eine Selbstbeschreibung Teddys. Sie stammte aus einer Unterhaltung, bei der er sich am Telefon bei einem Freund über sein Schicksal beklagt hatte und die von Ray Matusow aufgezeichnet und von Joe Broz abgeschrieben worden war, der sich daraufhin jedesmal, wenn er einen Yaleabsolventen in den Kreisen traf, in denen er sich jetzt bewegte, anstrengte und eine Bewunderung für ihre Ausbildung zum Ausdruck brachte, die er nicht verspürte, und Teddys Charakteristika als die idealen Voraussetzungen für den Job seines Assistenten angab. Ein Job, der natürlich nicht existierte, weil die 365 ganze Story mit dem Freund, das ganze Entwicklungsgeschäft nur ein Trick war, um jemanden wie Teddy Brody anzulocken, der das Geheimnis von John Lincoln Beagle lüften konnte. Zumindestens war es das gewesen, als dieser Plan ausgeheckt wurde. Nun fingen die Schöpfer der Geschichte - wie der Mann in der Erzählung von Mark Twain, der das Gerücht verbreitet, es gäbe Gold in der Hölle, und dann allen anderen dorthin folgt, um es zu suchen -, im Zustand der Ehrfurcht und der Verwunderung, der ein neues erotisches Arrangement so oft begleitet, selber an, ihre Fiktion zu glauben. Anita Hesper Barrow, USAF-Sicherheitsanalytikerin, Oberstleutnant der Reserve, nun in der Abschriften- und Analyseabteilung bei U.Sec. beschäftigt, stieß auf eine spätere Unterhaltung zwischen Teddy und seinem Freund Sam, dem Fitneßtrainer von Best Bods, der im Winter Skilehrer in Steamboat war, während der sie über die Möglichkeiten sprachen, die Teddys anstehendes Gespräch mit Magdalena Lazlos Liebhaber bot. Sie schickte die Abschrift augenblicklich an den Abteilungsleiter, der sie an Mel Taylor weitergab. Taylor informierte Chicago, konnte aber David Hartman nicht erreichen. David Hartman traf sich mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten. Taylor beeindruckte das. Wenn er ein weniger militärischer Mann gewesen wäre, dann hätte es ihn frustriert. Aber er wußte, was zu tun war, wenn er den kommandierenden Vorgesetzten nicht erreichen konnte: alles nach Vorschrift, um den eigenen Hintern zu schützen. Was er auch tat. Er verstärkte die Überwachung Brodys, obwohl er ganz genau wußte, wann das Treffen stattfinden sollte, am Mittag des nächsten Tages. Das Büro war ausgedünnt, weil es Gerüchte über einen Streik der Writer's Guild gab und die Produzenten wollten, daß U.Sec. die Gewerkschaftsfunktionäre und deren Hal366 tung untersuchte. Wenn möglich, sollten sie herausfinden, was die wirklich unterste Grenze der Gewerkschaft war, im Gegensatz zu ihrer Verhandlungsposition; ob es irgendwelche internen Querelen im Verhandlungsteam der Gewerkschaft gab; und natürlich, wer in dieser Gruppe persönliche oder finanzielle Probleme hatte. Das bedeutete, Telefone mußten angezapft und Wohnungen verdrahtet, Freunde und Nachbarn interviewt, Kreditanfragen gestellt werden. Nahezu die beiden einzigen, die Taylor verfügbar hatte, waren Chaz Otis und Bo Perkins. Das war in Ordnung. Wenn jemand abgefangen werden sollte, und angesichts dessen, was mit der Przyszewski geschehen war, mußte er damit rechnen, dann hätte Taylor sowieso Otis und Perkins den Job übertragen. Aber wenn es um etwas Subtileres ging, waren sie nicht seine erste Wahl. Außerdem hatte er keine Rückendeckung für sie, eine Situation, die er grundsätzlich nicht mochte. Er reichte einen Antrag ein, mehr Männer zu bekommen, so daß er im Falle, daß irgend etwas schiefging, dem System die Schuld dafür geben konnte, nicht auf seine vorausschauende Empfehlung reagiert zu haben. Das Projekt hatte definitiv ein neues Stadium erreicht. Es hatte sogar einen Arbeitstitel - American Hero - und einen Decknamen - IVP, lnterservice Videoprojekt.
Beagle bestand darauf, die Generäle zu besetzen. Wenn dies WKII-2 - Das Video werden sollte, dann brauchte er Schauspieler, die rüberkamen wie George Marshall und Dwight David Eisenhower. Der Präsident war begeistert von der Idee, die Alliierten zusammenzutrommeln. Er wußte, daß er die Japaner auf ihre Seite bringen konnte. Und auch die Chinesen. Das war aufregend. Und die UNO. Das würde eine richtige »Das-kann-nur-George-Bush-allein-schaffen«-Sache werden. 367 Der Präsident wollte diesen Krieg wirklich. Er würde dem Land guttun. Beweisen, daß Amerika wieder da ist! Sowohl der Welt draußen, als auch den Amerikanern in Amerika. Er würde der Geschichte beweisen, daß George Bush dem Präsidentenamt Ehre gemacht hatte. Es gab nur ein Aber. Es war ein sehr Hollywoodsches Aber: Ohne den richtigen Star - in diesem Falle einen echten Hitlertyp mit einer eigenen Armee, die hinter ihm stand - konnten sie dem Film kein grünes Licht geben. Natürlich gab es eine kurze Diskussion über die Sicherheit. Bisher kannten nur sie vier die wahre Geschichte. Mit Deckname Hitler würden es fünf sein. Sonst noch jemand? Hoffentlich nicht. Denn wenn das rauskam und den falschen Dreh erhielt, dann würde Watergate dagegen wie ein Sturm im Wasserglas erscheinen. Als Hartman und Beagle gingen, griff der Präsident zum Telefon. Er verfügte über eine gesicherte Leitung und einen Zerhacket. Er rief den National Security Council an. Er sprach mit Robert Gates. »Könnten Sie mir einen Gefallen tun, Bob? Könnten Sie den alten C. H. Bunker anrufen und ihm sagen, daß der Job, an dem er mit diesem Hollywoodfritzen arbeitet, sagen Sie ihm, er soll das als Top Secret betrachten, als eine Sache von Nationaler Sicherheit. Eine Frage von Leben und Tod. Das ist es natürlich nicht, aber sagen Sie ihm das. Der Kerl spendiert der Partei eine Menge Geld. Und, Bob, fragen Sie C. H., wie es seiner Enkelin Martha110 geht. Sie hat Mumps, wissen Sie. Sagen Sie ihm, Barbara meint, er solle sich keine Sorgen machen, Mumps stärkt den Charakter so wie eine hinter die Löffel. Danke, Bob.« Eine Limousine holte Hartman und Beagle von Hopes Haus ab. Hartman war in Hochstimmung, und sein Regisseur hätte das auch sein sollen. Aber Beagle starrte zum Fenster hinaus in die Wüstennacht, und als der Agent ihn ansah, bemerkte 368 er eine Träne, die John Lincolns Wangen herunterlief. »Was ist los, John?« Beagle sah zu ihm hinüber. Augen so braun und traurig, wie sein Name ahnen ließ. Sie waren voller Salzwasser, und er hätte komisch ausgesehen - er war kurz davor -, dieser Kerl, der in Disney World den Goofy gespielt hatte und niemals eine andere Rolle bekommen hätte - nur, daß seine Traurigkeit so echt und tief war. »Was ist los, John?« »Jackie hat die Scheidung eingereicht.« Er hielt die Hand hoch, um zu sagen: Warte, das ist erst die Einleitung, nicht der Punkt. »Das ist schon in Ordnung, nehme ich an. Aber... ich meine, ach zum Teufel, ich meine, es war keine richtige Ehe, nicht? Sie war die Schöne, ich der Kluge, Trophäe, Trophäe. Sie wollte einen Film von mir. Aber... wunderschön, sie ist wunderschön, aber schauspielern? Sie ist ein Miststück. Hat nichts mit ihrem schauspielerischen Können oder Nichtkönnen zu tun, es gibt ja Miststücke, die spielen können. Kennt man ja. Verstehst du, was ich sagen will - worauf ich hinauswill? Verstehst du, David?« Er wischte sich die Tränen mit der Hand fort. Dabei nahm er unabsichtlich etwas Rotz von der Nase mit und schmierte ihn sich über die Wange. Er bemerkte es nicht. Und wenn, war es ihm völlig egal. Hartman gab ihm ein Taschentuch. Beagle nahm es, trocknete sich die Augen und hielt sich daran fest. »Sie wird den Jungen nehmen, David, sie wird mir meinen Jungen wegnehmen. Es wird beschissen. Meine Anwälte sind besser als ihre Anwälte oder umgekehrt, wir scheißen uns vor Gericht und im Fernsehen und in den beschissenen Zeitungen an. Scheißen uns gegenseitig an. Das kann doch nicht gut sein für den Jungen? Himmelherrgott noch mal. Liebt sie ihn? Ist sie gut für ihn? Liebe ich ihn mehr? Bin ich besser für ihn? Ich wünschte bei Gott, ich wünschte beim gottverdammten Gott, ich könnte ver369 dämmt noch mal sagen: Ja! Sie ist Dreck. Sie ist keine gute Mutter. Ich bin ein guter Vater.« Bis aufs Messer kämpfen, um ihn vor ihr zu retten. Ach, Scheiße. Ich werde ihn vermissen. Ich werde ihn vermissen. Ist doch alles Scheiße, David. Diese Ehesache. Familie. Woher zum Teufel soll man die Zeit für so was nehmen? Hier bin ich mit diesem verdammten Mega-Wirklichkeitsfilm, der total geheim ist, der Gipfel meiner Karriere, der meine ganze Zeit frißt, all meine Tage, weil, so soll das sein. Das ist doch der Punkt, die Verrücktheit, der Trick. So sollte es sein. Dafür bin ich geboren, dafür habe ich
gearbeitet. Das ist alles: der größte Dingsbums zu sein, der ich bin. Es wird mich meinen Sohn kosten.« »Weißt du, du hast den größten Teil deines Jobs erledigt. Jetzt gibt es eine Unterbrechung. Jedenfalls für dich, nehme ich an. Bis wir herausfinden, wie wir weitermachen. IVP, Interservice Videoprojekt, das gefällt mir. Du bist toll mit Titeln john. Wirklich gut. Du solltest mal 'ne Pause einlegen. Wenigstens eine Woche. Vielleicht kannst ja doch noch irgendwie alles deichseln. Wenn du willst.« »Ich weiß nicht, ob ich will. Ich hasse sie, David. Die Frage ist, hasse ich sie mehr, oder liebe ich ihn mehr?« »Das ist bei Scheidungen mit Kindern immer so«, sagte Hartman. »Jedesmal. Wie eine Gleichung. Kinder minus Gattin dividiert durch Besitz plus Einkommen gleich Schmerz mal x.« »Heh, das ist eine tolle Metapher, und das von dir, David.« »Soll das etwa heißen, Agenten können so etwas Kunstvolles wie eine Metapher nicht fertigbringen?« »Ich nehme die Woche frei. Gehe nicht ins Büro. Ich versuche.« »Gute Idee.« »Wenigstens kann ich dann zu mir sagen, ich hätte es versucht.« 370 »Gute Idee.« »Aber wenn ich eine Woche mit meiner Frau zusammen bin...« »Ja?« »Mit wem zum Teufel mach ich dann Sex?« Am nächsten Morgen stand Hartman früh auf. Er ging ins Dojo. Er trainierte knapp zwei Stunden lang. Um neun ging er in die Sauna und ließ sich massieren. Er fühlte sich sauber und leer. Er fühlte sich wie ein mythischer Krieger, so als wandele er auf DEM WEG, im Tao der Packaginggeschäfte. Dann ging er ins Büro und fand dort eine Nachricht von Mel Taylor vor, daß sich Theodore Brody, Videothekar bei CineMutt, gegen Mittag mit Joe Broz wegen eines Jobs treffen würde. In zwei Stunden. Er griff zum Telefon. »Was ist los?« Taylor wußte, worauf sich die Frage bezog. »Wir haben es gestern erst herausgefunden. Ich habe mich bei Ihnen gemeldet -« »Haben Sie gewußt, wo ich war?« »Ja, Sir, deshalb habe ich nicht stören wollen.« »Idiot.« Taylors Offiziersausbildung und Erfahrung zahlten sich aus. Er konnte sich alle möglichen Schimpfwörter an den Kopf werfen lassen und ruhig bleiben. Er fuhr einfach mit seinem Bericht fort. »Zwei Männer beobachten Brodys Wohnung. Wir werden alles Nötige tun.« »Zwei Männer beobachten Brodys Wohnung. Ist Brody in der Wohnung? Und überhaupt, wieviel weiß Brody ? Wie lange geht das schon? Treffen sie sich das erste Mal? Kommen Sie, Mann, weiter.« »Ja, Sir. Wir sahen, wie Brody das Haus betrat. Er ist nicht wieder herausgekommen. Ich habe vor kurzem mit meinen Männern gesprochen. Vor zwanzig, dreißig Minuten. Ich weiß 37i nicht, wieviel er weiß. Schwer zu sagen, weil ich nicht genug weiß, um das beurteilen zu können. Das soll kein Vorwurf sein. Das ist eine Tatsache. Es scheint recht offensichtlich, daß sie Kontakt hatten. Brody rief Broz an und bat um ein Vorstellungsgespräch. Broz sagte, sicher, kommen Sie vorbei. Wenn ich das sagen darf, wenn Broz hier nach etwas fischt, warum lassen wir ihn nicht den Fang machen, erwischen ihn dabei und beschäftigen uns dann mit beiden.« »Und wenn Broz mit irgend jemand sonst in der Zwischenzeit telefoniert? Mit Maggie zum Beispiel. Und sie ruft ihre Freundinnen an. Oder ihren Presseagenten. Das Risiko wächst exponentiell. Die Störung nimmt in immer größer werdenden Kreisen zu. Sorgen Sie dafür, daß es ruhig bleibt. Sorgen Sie dafür, daß es nicht passiert. Ahnen Sie im voraus und finden Sie die Position, die das verhindert. So lauten Ihre Befehle.« »Entschuldigen Sie bitte, Sir«, sagte Taylor. »Entschuldigen Sie, ich muß Sie bitten, einen Moment dranzubleiben -« »Wie bitte!« schrie Hartman. Niemand bat Hartman darum, in der Leitung zu warten. Hartman bat andere darum. Wer war dieser Trottel? Der Trottel hatte ein großes Problem. In der anderen Leitung war C. H. Bunker, der einzige Mensch auf der Welt, dessen Anrufe er annehmen mußte, sogar noch vor dem einflußreichsten Mann in Hollywood. Aber er war nicht glücklich darüber. Bunkers Anruf war über den Zerhackeranschluß gekommen. »Taylor«, sagte Bunker mit dieser rollenden, deutlich betonten, unendlich langsamen Stimme. »Taylor, mein Junge, ihre Aufgabe hat eine Schicht nach der an-deren. Di-men-sio-nen, von denen Sie nicht träumen . . . Ahm . . . Ahm ... Sie dürfen ... Sie dürfen, wenn die Not-wen-dig-keit es verlangen sollte, die Kettenhunde von der Leine 372 lassen. Habe ich mich ver-ständ-lich aus-gedrückt,Tay-lor.« »Ja, Sir, das haben Sie.« »Schlagen Sie
Alarm.« Bunker legte auf. Taylor sagte, »Himmelherrgott.« Er war nicht sicher, ob er glaubte, was er da gehört hatte, oder glaubte, was es bedeutete, 007 -Scheiß - er hatte gerade die Erlaubnis zum Töten bekommen. Innerhalb der Vereinigten Staaten. Nicht in Nicaragua oder Chile, wo man die eigentliche Arbeit von Einheimischen machen läßt. Nicht in Asien. Sondern hier, unter - wie sonst sollte man es nennen -Weißen. Wegen irgendeinem Hollywoodscheiß? Nicht, daß es ihm was ausmachte. Aber was zum Teufel ging hier eigentlich vor? Kaum hatte er aufgelegt, klingelte die andere Leitung, und die Sprechanlage blinkte. »Was zum Henker ist los, Bambi?« Von der Flucherei ein wenig eingeschüchtert, sagte sie: »Mr. Hartman ruft gerade zurück.« »Haben Sie ihn rausgeworfen?« »Nein, Sir. Ich glaube, er hat aufgelegt.« Taylor hob ab. »Ja, Sir, Entschuldigung, Sir. Wo waren wir stehengeblieben, Sir?« »Sind Sie sicher, daß er in der Wohnung ist?« »Ich werde es überprüfen, Sir. Auf der Stelle.« »Wissen Sie, wie man so was macht?« »Ja. Wir wissen, wie man so was macht.« »Wenn Sie das versauen, sind Sie gefeuert. Sie werden in dieser Stadt nie wieder arbeiten. Ich werde dafür sorgen, daß Sie auf der ganzen Welt nicht mehr arbeiten. Wissen Sie, wer ich bin?« »Ja, Sir, ich glaube schon«, sagte Taylor. Als ihm der aufgelegte Hörer am anderen Ende in die Ohren knallte, konnte er nicht anders, die Worte entfuhren ihm einfach wie Popcorn, das 373 bei Hitze explodiert: »Sie sind auch nur ein Hollywood-Arschloch, Sir.« Dennoch tat er das Naheliegende. Er griff nach dem Hörer und rief Teddy Brody an. Es war wohl eine recht korrekte Annahme, daß er ans Telefon gehen würde, wenn er zu Hause war. Das Telefon klingelte und klingelte und klingelte. Taylor betete, daß Brody unter der Dusche stand und sich rasierte, auf dem Klo saß, seinen Darm entleerte. All das, was man vor einem Einstellungsgespräch tut, jawohl! Es klingelte und klingelte, und Taylor rutschte das Herz in die Hose. Dann eine Antwort: »Hallo, hier spricht Teddy Brody.« Taylor seufzte zutiefst erleichtert und wollte schon wieder auflegen. Aber ein Reflex tief im Innersten ließ ihn erstarren. Er führte den Hörer wieder ans Ohr und hörte,»... nach dem Piepston eine Nachricht. Danke. Ich rufe dann sofort zurück.« Teddys Drucker hatte verrückt gespielt. Nicht daß Teddy alles bis zum letzten Moment aufgeschoben hatte. Hatte er nicht. Er hatte sein Material am Vorabend ausgedruckt. Alles schien perfekt zu laufen. Dann am Morgen, gleich nach der Dusche und der Rasur, machte er sich daran, das Material zusammenzulegen und in Aktenmappen zu stecken. Er nahm nahezu alles mit zu Joe Broz: seinen Lebenslauf, seinen Aufsatz und die Notizen über Kriegsfilme - er nahm an, daß er in der Zwischenzeit der führende Experte für Kriegsfilme und Kriegsberichterstattung auf der Welt geworden war -, seine eine Seite über Propaganda, seine Empfehlungsschreiben, sein Filmtreatment und eine besondere Überarbeitung davon, damit es eine Hauptrolle für Magdalena Lazlo darin gab. Er hatte die letzte Woche damit verbracht, das Treatment zu bearbeiten und zu polieren, und hatte es auf drei Seiten gekürzt. Tatsächlich hatte er es erst am Vortag fertiggekriegt, und das war der Grund, warum er so spät zum Ausdrucken 374 gekommen war. Es hätte genug Zeit sein müssen, aber als er die Seiten sortierte, sah er, daß alles nach der dritten Seite einen mäandernden leeren Fleck aufwies, ein Aussetzer des Druckers, der sich auf jeder Seite von oben nach unten durchzog. Er geriet nicht in Panik. Noch nicht. Er tauschte den Toner aus. Er warf den Computer an. Öffnete eine Datei, gab den Druckbefehl - nur eine Seite. Ein Test. Er sah zu, wie das Papier leise aus dem 1298,95 Dollar teuren Laserdrucker kam. Was immer jeder einzelne dieser vielen, vielen Dollar an Hardware, Software, herstellerischer Sorgfalt und ingenieurtechnischem Bemühen auch repräsentierte, unterm Strich hieß das, daß sie ihn jetzt im Stich ließen, wo er sie am dringendsten brauchte. Das Problem blieb bestehen, ein krummes, weißes, verächtliches Grinsen, quer durch seine gedankenvollen, mit Mühe beladenen Yale- und UCLA-trainierten Worte. Er steckte, wie der Dichter so schön sagt, tief in der Scheiße. Ergriff nach den Gelben Seiten und versuchte, nicht zu heulen, als er auf die Uhr sah. Es war ja möglich, daß er einen kommerziellen Druckservice finden würde, der seine Disketten ausdrucken konnte. Wenn er in der Nähe war und ihn sofort drannehmen konnte, und wenn ihr Drucker nicht auch noch kaputtging. Dann fiel ihm ein, daß Sam, der mit dem tollen Körper und der geplatzten Verabredung, der nur ein paar Blocks weiter wohnte, gesagt hatte, er hätte auch einen Computer und
einen Drucker. Vielleicht, wenn Sam zu Hause war und einen Mac hatte - Teddy betete um Kompatibilität - und einen Drucker... Teddy rief an. Ja. Sam war daheim. Sam würde sich freuen, wenn Teddy seinen Computer benutzen wollte. Jetzt. Jederzeit. Es handelte sich um einen LC II mit HP-Laserdrucker, kein neuer, aber was soll's, was konnte man sich noch mehr wünschen? 375 Er schnappte sich die Schachtel mit den Sicherungsdisketten, die Aktenmappen und alles und stopfte es in seinen Rucksack. Er nahm den Hinterausgang, den Lieferanteneingang, wo der Müll rausgetragen wurde, an den Mülltonnen vorbei, und war so einen Block näher zu Sam. Ohne also auch nur zu ahnen, daß zwei schwere Jungs den Vordereingang bewachten, war Teddy zur Hintertür hinausgeschlüpft. Überwachung ist selten fehlerfrei, und Newtons Erstes Bewegungsgesetz, auch als Trägheitsgesetz bezeichnet, das besagt, daß ein sich in Bewegung befindlicher Gegenstand dazu neigt, in Bewegung zu bleiben, scheint darauf hinzudeuten, daß eine Operation, die beschissen anfängt, auch so bleibt. 376 KAPITEL EINUNDVIERZIG Sam mußte feststellen, daß er sich in Teddy verliebt hatte. Er wußte nur nicht, wie er es ihm sagen sollte. Also, dachte er, vielleicht gab es da eine Möglichkeit. Aber soweit war es noch nicht. Doch bald würde es soweit sein. Aber selbst wenn er es ihm sagte, wie würde Teddy darauf reagieren? Sam hielt sich ein bißchen für ein Dummerchen, ein doofes Blondchen, etwas unterbelichtet, aber hübsch. Es war mangelnde Selbstachtung, das wußte er, ein echtes Problem in Kalifornien. Es hatte sogar einen staatlichen Untersuchungsausschuß dazu gegeben. Es war eines der unheimlichen Dinge, die sich wie ein Faden durch das ganze Leben zu ziehen schienen. Er kannte dumme, häßliche Menschen mit großem Selbstwertgefühl, und die landeten einfach einen Erfolg nach dem anderen. Liebhaber, für die sie eigentlich nicht gut genug aussahen, tolle Jobs, die haufenweise Geld einbrachten, selbst wenn sie nicht mal die Morgenzeitung lesen konnten. Er wünschte, er könnte mehr von sich halten. Aber Selbstachtung schien nicht so leicht kontrollierbar zu sein. Vielleicht war es ja auch gar nicht, was es zu sein schien. Vielleicht war mangelndes Selbstwertgefühl so was wie Vitaminmangel. Oder eine Krankheit, wie man schließlich auch entdeckt hatte, daß Alkoholismus eine war. Es könnte eine Krankheit sein - verdammt, jeder wußte doch, daß man mehr Selbstwertgefühl hatte, wenn man Drogen nahm. Wenn Drogen das Problem beheben konnten, dann war es auch eine Krankheit, das war praktisch so was wie eine Definition. Das Problem mit Teddy war, daß Teddy smart war. Diese 377 ganze Bildung. Die vielen Bücher. Im Fitneß-Center, auf dem Trainingsrad, in der Sauna, immer las er irgendwas. Sam wußte, daß er selbst mehr lesen sollte, aber was? Was sollte er lesen ? Premiere? Blueboy? Cosmopolitan? Den New Yorker? Er versuchte, die Los Angeles Sunday Times von vorne bis hinten zu lesen. Die kam einmal pro Woche, und er brauchte eine ganze Woche, das Ding durchzuackern. Eigentlich zwei Wochen. Also lag er immer im Rückstand, und wirklich, es war wie von einem anderen Planeten. Er meinte das wirklich so. Die Leute, die in dieser Zeitung schrieben, stammten von einem völlig anderen Planeten. Die Frage war nur, wo lag dieser Planet, und wieso war er, Sam, noch nie dort gewesen? Er mochte Spin. Und E. C. Rocker, die hier in LaLaLa schwer aufzutreiben waren. Hier war also Teddy mit dieser Schachtel Disketten, schaltete einfach den Computer ein, wußte sofort, was was war, ohne auch nur eine einzige Frage stellen zu müssen. Er warf einfach einen kurzen Blick drauf und wußte Bescheid. Was schon gut so war, denn wenn er fragte, hätte Sam ihm keine Antwort geben können. Der Computer, der Drucker, das ganze Zeug eben, war, Sie wissen schon, ein Freundschaftsgeschenk gewesen. Das wollte er allerdings nicht erklären, wenigstens nicht Teddy. Und wirklich, Dummerchen, unterbelichtet oder was auch immer, so war Sam nicht. Das war so eine Sache bei ihm. Manchmal passierte das einfach, in seinem Leben. Was soll man da machen? Sollte er vielleicht sagen: »Bitte keine Geschenke, das wird mich für die Ehe verderben?« Wie auch immer, er war keine Schlampe, und er war auch keine Tunte, er war keine Schwuchtel und auch kein warmer Bruder, er war einfach nur ein Typ, der andere Typen mochte, und was war damit nicht in Ordnung? Leicht war's ganz sicher nicht. Er fragte Teddy, ob er einen Kaffee wollte. Teddy bejahte, also 378 mahlte Sam ein paar Bohnen - nichts ausgefallenes oder verstiegenes - einfach nur 100 Prozent kolumbianischer Kaffee, mittelstark geröstet. Sie nahmen ihn beide mit Milch, ohne Zucker. Eine Gemeinsamkeit.
Inzwischen ratterte der Drucker. Teddy kontrollierte Seite um Seite und legte alles in diese tollen, kleinen Hefter ab, die er mitgebracht hatte. Sam wollte sagen: »Ruf mich an und laß mich wissen, wie das Vorstellungsgespräch gelaufen ist. Und komm nach der Arbeit rüber, egal, wie spät es dann ist.« Teddy war erleichtert und dankbar. Sam war einverstanden gewesen, mit ihm auszugehen, aber besonders verrückt schien er nicht daraufgewesen zu sein. Oder enttäuscht, als er absagte. Tatsächlich sah Sam so gut aus, hatte einen so phantastischen Body, daß es - nein, nicht einschüchternd war, es überzeugte Teddy einfach nur, daß Sam nicht sein Typ war. Er sah einfach zu gut aus. Immer waren irgendwelche Burschen hinter ihm her. Reiche, mächtige Typen aus der Branche. Todsicher würde er noch groß rauskommen - überall groß rauskommen -, und das war einfach zuviel Streß für Teddy. Nicht, was er wollte. Überhaupt nicht. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, daß er und Sam - einfach Freunde sein konnten. Nur Freunde. War irgendwer in dieser beschissenen Stadt, in dieser Branche einfach nur ein Freund? In diesem Leben? Vielleicht, wenn bei der Sache mit diesem Broz etwas herauskam, oder wenn er sonst einen Job fand, bei dem er die Chance bekam, seinen Film zu machen, und wenn er Filme machte und ein echter Jemand wurde, dann konnte es sein, daß eine Sache mit einem Typen wie Sam vielleicht doch funktionierte. Das Trägheitsgesetz, das sich von Murphys Gesetz unterscheidet - es ist präziser und zielgerichteter -, behielt seine 379 Wirkung bei. Otis' und Perkins' Autotelefon funktionierte nicht. Das einzig Gute war, daß sie es wußten. Daher hatten sie Anweisung, sich so bald wie möglich zu melden, wenn das Subjekt sich in Bewegung setzte, oder jede volle Stunde, damit sie nicht völlig unerreichbar waren. Laut ihrem letzten Anruf vor dreißig, fast vierzig Minuten, befand sich Brody in der Wohnung. Aber jetzt nicht mehr. Es gab zwei Möglichkeiten: Der Junge war gegangen, und Otis und Perkins folgten ihm, oder der Junge war gegangen, und Otis und Perkins hatten ihn verloren. Und Taylor hatte wenigstens die nächsten - er schaute auf seine Uhr, und die Zeiger hatten sich nicht weiterbewegt, wie konnten sie sich nicht bewegen, seine Besorgnis bewegte sich mit Vollgas, wieso war die Zeit wie eingefroren ? - zwanzig Minuten absolut keine Möglichkeit zu wissen, was davon nun zutraf. Während der Klient dort saß und darauf wartete, daß Taylor ihn sofort zurückrief. Selbst wenn alles in bester Ordnung war, würde jede einzelne Minute, die Hartman warten mußte - während Besorgnis seine Magensäfte aufwühlte -, Taylor zur Last gelegt werden. Zu der Sorte gehörte dieser Hartman. Er wollte nicht nur die richtige Antwort, er wollte die richtige Antwort sofort. In den Minuten, die sich so unendlich träge dahinzogen, wurde Taylor zunehmend sicherer, daß Brody seinen Aufpassern entkommen war. Die dummen Arschlöcher hatten die Zielperson entwischen lassen. Was machten sie? Kreuzworträtsel? Im Le Dome zu Mittag essen? Sich gegenseitig den Schwanz lutschen? Was zum Teufel hatten die Kerle gemacht? Und Taylor konnte den Hörer nicht abnehmen und sie anbrüllen. Er mußte warten, bis sie sich meldeten, um herauszufinden, wie sie die Sache vermasselt hatten. Okay, sagte sich Taylor, ich bin Offizier. Ich habe schon unter feindlichem Beschuß gestanden. Ich gerate nicht in Panik. 380 Ich plane. Ich passe mich an. Ich stelle mich ein. Er straffte die Schultern. Er nahm einen Notizblock. Er machte sich Notizen. Wo war Brody? Ungewiß. Überprüfen. Wie? Was war bekannt? Daß Brody um zwölf eine Verabredung mit Joe Broz hatte. Zeit und Ort bekannt. Wenn wir nicht wissen, woher er kommt, um dorthin zu gelangen, dann bleibt nur ein Abfangpunkt, nämlich unmittelbar vor dem Ziel. Jetzt hatte Taylor einen Plan. Drei Dinge. Erstens, die Wohnung überprüfen. Raufgehen. Anklopfen. Keine Reaktion - Taylor war sicher, daß niemand öffnen würde. Einbrechen. Sich vergewissern. Wenn er dort war, mußte es wie ein Raubüberfall aussehen. Wie auch immer, Rückmeldung erstatten. Sich nicht damit aufhalten, herausfinden zu wollen, wo er gewesen ist, denn sie hatten keinerlei Anhaltspunkte, keine Spuren, keine Idee. Das also vergessen. Gleichzeitig jemanden losschicken, um Brody am kritischen Punkt abzufangen. Er würde versuchen, zusätzliche Leute darauf anzusetzen. Aber er wußte, das würde nicht klappen. Es war niemand greifbar. Ganz sicher niemand, den er für einen Einbruch oder einen gewaltsamen Eingriff einsetzen konnte - bis auf Otis, Perkins und, wenn unbedingt erforderlich, ihn selbst. Und selbst das konnte er nicht in die Wege leiten, bis die zwei sich aus dem Feld meldeten. Da saß er, während seine Karriere so laut und beharrlich wie das Ticken der Uhr dahinschwand, während das Telefon einfach nicht klingelte. Und die dritte Sache. Die schwere Sache. Den Klienten anrufen. Ihm sagen, was lief.
Nach dem Training stellte Maggie fest, daß es nichts gab, was sie völlig, total, absolut, unausweichlich tun mußte, außer bei Joe vorbeizuschauen. Auf der Straße stand ein Junge mit einem Plastikeimer, der Sträuße frisch geschnittener Nelken und einzelne traurige Rosen für nicht mehr, als sie wert 381 waren, verkaufte. Sie kaufte ihrem Lover beides und brachte die Blumen mit. Sie liebte Joes Büro. Während ihrer Kindheit hatte es glückliche Augenblicke gegeben - nicht jedermanns Kindheit ist die permanente Hölle -, und eine ihrer größten Freuden war es, Zuhause zu spielen. Das hier war exakt das gleiche, aber nennen wir es Hollywood spielen. Sie liebte ihr Heim. Jetzt, nachdem Joe dort war. Liebte den Sex. Liebte Country and Western. Verdammt, sie liebte Joe. Er sah genau aus wie ein echter Producer, in dem Fierouggi-Anzug, den sie für ihn ausgesucht hatte mit dem Unger & Unger-Hemd und den Partigiano-Halbschuhen, dazu diese verdammten weißen Tennissocken, ein Touch, der funktionierte, sie mußte zugeben, daß sie es toll fand -, die Füße auf dem Schreibtisch, das Drehbuch in der Hand, während die Regale bereits mit Drehbüchern vollgepackt waren. Als sie hereinkam, legte er das Skript fort und sah sie genau so an, wie eine Frau angesehen werden will, wie sie träumt, angesehen zu werden, mit einem Blick, mit einem bewundernden, glühenden Blick von den Titelseiten alberner und kindischer Liebesromane. Sie gab ihm die Blumen. Er nahm sie in die Arme. Das Leben ist ein Film. Am Ende, es ergab sich einfach so, liebten sie sich auf dem Schreibtisch. Irgendwer hätte die Uhr im Auge behalten sollen, damit sie um zwölf fertig waren und nicht mit runtergelassenen Hosen erwischt wurden, wenn dieser Brody-Junge kam. Aber es schien sie einfach nicht weiter zu interessieren. Der Ausdruck war fertig, und dann folgte ein betretener Augenblick, nachdem Teddy sich wieder bei Sam bedankt hatte, bevor er tatsächlich ging. Es war eine dieser unheimlichen Sachen, wenn zwei Dinge einfach nicht synchron laufen wollen. Der Funke war da, aber wenn er sich in den 382 Augen des einen zeigte, schaute der andere gerade nicht hin. Beide wollten es, aber weil sie soviel wollten, nicht einfach nur einen Fick und ein Durchblasen der Pfeife, waren sie aus Angst vor einem Korb verlegen geworden. Dann ging Teddy. Er hatte alles sauber und ordentlich ausgedruckt und in schicken Heftern abgelegt. Als Chaz und Bo schließlich anriefen, schickte Taylor sofort Perkins, den Intelligenteren der beiden, zu Joe Broz' Büro. Seine Anweisungen lauteten: »Sorg dafür, daß Brody nicht reinkommt, um sich mit Broz zu treffen. Falls er irgendwelche Unterlagen bei sich hat, nimm sie ihm ab.« Otis überließ er den Einbruch in die Wohnung. Nachdem Taylor den Klienten angerufen hatte - er wußte, daß er zusammengeschissen werden würde; er konnte nur hoffen, daß es ein Anschiß von begrenzter Dauer war -, würde er sich selbst auf den Weg zu Broz' Büro machen. Genaugenommen war der Weg für ihn sogar kürzer als für Perkins. Sollte Brody vor Perkins eintreffen, würde Taylor ihn selbst abfangen. Hartman ließ Taylor ausreden. Hartman war nicht glücklich. Er wies darauf hin, daß niemand sagen konnte, was der Junge wußte oder nicht. Oder welche Absichten er verfolgte. Wenn U.Sec. Hartman einen Tag früher verständigt hätte, ja, nur zwei Stunden früher - es war keine Entschuldigung, daß er für niemanden zu sprechen war; U.Sec. hätte die Lage erheblich früher mitkriegen müssen -, dann wäre es die einfachste Sache der Welt gewesen, diesem Jungen einen anderen Job anzubieten, irgendwo, wo er sicher aufgehoben. war. Wahrscheinlich wollte er nichts anderes als eine Position, von der aus er ein bißchen schneller ein bißchen höher aufsteigen konnte. Er war doch nicht unterwegs, um John Lincoln Beagles Geheimnisse zu verscherbeln, oder? Zumindest sah es nicht danach aus. So, und was würden sie jetzt unternehmen? Gewalt anwenden? 383 Hartman machte sich an diesem Punkt nicht die Mühe zu erwähnen, was er letztlich wirklich von der Sache hielt, denn dann hätte er etwas sagen müssen wie: Tja, solange das Problem damit gelöst ist und keine weiteren Probleme verursacht, was soll's, denn dann wäre der Idiot einfach so davongekommen. Und das wollte er nicht. Also sagte er Taylor, was für ein ausgemachter Vollidiot er war. Womit Taylor ohnehin schon gerechnet hatte. Und er machte unmißverständlich klar, daß Taylor diese Sache nicht noch mehr verpfuschen sollte, als sie ohnehin schon war. Ebenfalls reine Routine. Andererseits hatte dieses Hollywood-Arschloch offensichtlich Einfluß auf den Präsidenten. Also sprang Taylor in seinen Wagen und raste zu Joe Broz' Büro. Wenn das Timing nur eine Idee anders gewesen wäre, hätten sich die anschließenden Ereignisse vielleicht ganz anders entwickelt. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht finden die Kräfte immer einen
Weg, wenn sie erst einmal in Bewegung gesetzt worden sind. Es spielt keine Rolle, welcher Kanal offen ist. Wenn der eine versperrt ist, dann fließen sie eben zum nächsten. Wenn alle versperrt sind, dann überfluten sie den Damm. Vielleicht gibt es ja so etwas wie Kismet, und das Schicksal findet immer einen Weg. Ursprünglich hatten Otis und Perkins so geparkt, daß sie sowohl den Eingang zu Brodys Haus als auch Brodys Wagen im Blick hatten. Deshalb waren sie auch so sicher gewesen, daß der junge immer noch drin war. Taylor, der sich durch die Besorgnis des Klienten und seine eigenen Sorgen unter Druck gesetzt fühlte, wollte keine Erklärungen, Geschichten, Ausreden. Also sagte er: -" Tut's. Tut es jetzt. Einer in die Wohnung, der andere zu Broz' Büro. Haltet ihn auf.« Es ist schwer zu sagen, ob dies ein Fehler war. Aber wenn Otis und Perkins gewartet hätten, dann hätten sie - von der 384 Stelle, wo sie geparkt und von wo aus sie beobachtet hatten -Teddy Brody den Bürgersteig zu seinem Subaru Justy hinuntergehen sehen. Wo er kurz stehenblieb und darüber nachdachte, ob er noch etwas oben in der Wohnung hatte, das er brauchte - wenn dies der Fall gewesen wäre, dann wäre er Chaz Otis direkt in die Arme gelaufen. Doch dann entschied er, daß dem nicht so war. Er stieg in seinen Wagen und fuhr gemächlich zu Joes Büro. Joes Büro war erfüllt von dem süßen Geruch der Befriedigung. Und dem Lachen zweier schläfriger Menschen. »Ich muß mal einen Blick aus dem Fenster werfen«, sagte Joe. »Warum?« »Ich muß wissen, wie viele Leute uns möglicherweise gerade zugesehen haben.« »Macht dir das was aus?« »Das sind dann soundso viel Leute weniger, die das Video kaufen.« »Welches Video?« »Jane Fonda hat ihre AerobicVideos. Ich dachte, wir könnten hiervon eins machen.« »Dachtest du, ja?« »Dachte ich, ja.« »Und das ist dein Ernst?« »Ja.« »Sollte ich mich jetzt beleidigt fühlen?« »Oh, nein, nein, nein. Es ist nur, weil du's so gut machst. Besser als jede andere.« »Als jede andere auf der Welt?« »Außerhalb von Südostasien.« »Südostasien?« »Ja, du hättest das eine oder andere von dem sehen sollen, was ich in Bangkok erlebt habe.« 385 »Wieso, damit ich's fürs Video nachmachen kann?« »Scheiße!« sagte Joe und schaute aus dem Fenster. »Was?« »Komm her.« Maggie trat ans Fenster. Joe streckte den Arm aus. Zeigte auf den Buick, der auf der anderen Straßenseite parkte, rechts von Joe. Ein getöntes Fenster war runtergekurbelt, das auf der Fahrerseite. Mel Taylors Gesicht war zu erkennen. »Wer ist das?« »Das ist Mel Taylor. Chef der Filiale von Universal Security in L. A. Er beobachtet persönlich unsere Haustür.« »Ist das ein schlechtes Zeichen?« »Ob es ein schlechtes Zeichen ist? Na schön, sie sehen Teddy Brody also hierherkommen. Was sagt ihnen das? Ich wüßte nicht, was. Keine Ahnung.« »Dann ist es also kein schlechtes Zeichen?« »Ein gutes jedenfalls nicht, aber so schlimm wird's nicht sein.« »Weißt du, was ich heute gemacht habe?« sagte Maggie, während sie über seine Schulter hinausschaute. »Ich habe John überredet, Bambi Ann Sligo anzurufen.« »Wen?« »Travolta.« »Damit er ihr sagt, Scientology würde Schwulsein kurieren?« »Hm-hmmmh.« »Das war sehr nett von dir.« »Ich hab's getan, weil ich ihren Namen so toll finde. Wirklich. Und weil ich mir genau ihr Gesicht vorstellen kann, wenn sie einen Anruf von John Travolta bekommt.« »Und John war damit einverstanden?« Er suchte die Straße ab. Es waren nicht besonders viele Leute zu Fuß unterwegs. »Was glaubst du, warum sie das wissen wollte?« 386 »Sohn oder Ehemann«, sagte Joe. »Einer von beiden hat eine Leiche im Keller. Und sie hat einfach einen Blick in den Kellergeworfen. Sie will den Keller ausmisten. Alles hübsch und ordentlich machen, so wie's sein soll, so wie's ihrer Meinung nach auch war. Bambi Ann ist eine sehr gepflegte und ordentliche Frau.« Links von Joe, auf der anderen Straßenseite und einen Block weiter unten auf der Straße, gab es einen Parkplatz. Dort sah er einen Burschen, ziemlich schlaksig, kurzes Haar, ernste Haltung, der auf sie zukam. Der Rucksack - den er wie eine Umhängetasche über einer Schulter trug, nicht über beiden wie ein Wanderer - schien zu dem Menschen zu passen, den er sich unter TeddyBrody vorstellte. Dann ließ er seinen Blick auf die andere Straßenseite wandern und sah, daß
Taylor den Jungen ebenfalls anstarrte. Was seine Vermutung bestätigte. Taylor unternahm nichts. Beobachtete einfach nur. Es war zu spät, etwas zu ändern. Maggie lehnte sich gegen Joe. Die Feuchtigkeit begann aus ihr herauszutropfen. Es fühlte sich gut an, eine Wiederholung der Erotik. Das lag daran, daß sie Frischverliebte waren. In einer reifen Beziehung ist es eher ein wenig abstoßend -erwachsene Menschen mögen es nicht, naß und klebrig zu sein -, und dann wird es - wenn es trocknet, verkrustet, spannt, Flecken hinterläßt - lästig und zu einem Reinigungsproblem. Etwas, um das man sich kümmern muß, wenn auch nicht ganz so schlimm wie Rotweinflecken. »Das ist der Junge«, sagte Joe. Als Brody die Straße überquert hatte, öffnete Joe das Fenster, um besser sehen und weiter alles verfolgen zu können. Maggie zog ihre Kleidung zurecht, bedeckte die Brüste. Und dann, gerade als Brody das Gebäude betreten wollte, bemerkte Joe aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung. Eine Wagentür wurde geöffnet. Sehen wird zu Bewegung. Er sah Bo Perkins auf den Bürger387 steig treten. Er ging schnell, direkt hinter Teddy Brody, folgte ihm in das Gebäude. »Bleib hier«, sagte er zu Maggie. »Mach niemandem außer mir auf.« Er rannte hinaus. Bo war unmittelbar hinter Teddy. Er hatte ihn sofort als Schwulen identifiziert. Das machte ihn glücklich. Schwulen tat er besonders gern weh. Mehr noch als normalen Menschen. Das hatte einfach irgendwas - es gab kein anderes Wort dafür - Befriedigendes. Toll, die Eingangshalle war leer. Eine Treppe links, der Fahrstuhl rechts. Hinten eine Tür. Wo sollte er ihn fertigmachen? Er haßte überstürzte Jobs. Das war riskant. Am besten - tu's sofort, mach's schnell, bring's hinter dich. Warum auch nicht? Dem Feigen kehrt das Glück den Rücken. Die alten Sprichwörter besaßen viel Wahres. Als Teddy die Hand nach dem Knopf des Fahrstuhls ausstreckte, schlug Bo ihm auf die Niere. Teddy berührte den Knopf niemals. Unter Schmerzen drehte er sich um. Er sah Perkins. Teils, weil er Teddy als Schwulen erkannt hatte, teils, weil es ihm ein Gefühl von Macht verlieh, riß Bo Teddy auf sich zu und zog ein Knie zwischen die Beine des Jungen hoch, zerschmetterte seine Hoden und seinen schwulen Schwanz. Der Freak würde verdammt lang einen komischen Gang drauf haben, falls er noch so lange lebte. Was aber - zum Teufel, er hatte Perkins gesehen, hatte ihn direkt angesehen, hatte sein unvergeßliches Gesicht gesehen, manchmal vergessen die Leute durch Schock, manchmal fixiert Todesangst aber auch die Erinnerung, warum also ein Risiko eingehen - nicht der Fall sein würde. Perkins trat einen Schritt zurück und brach sehr effizient mit einem einzigen Schlag Teddy Brody das Genick. 388 Alles war sehr schnell gegangen. Joe war zwar gerannt, aber als er endlich dort ankam, war Perkins längst verschwunden. Perkins saß wieder im Wagen, fuhr fort. Den Rucksack hatte er nicht vergessen. Joe untersuchte den auf dem Boden liegenden Körper. Tot. Er ging nach draußen. Taylor war noch da. Auf der anderen Straßenseite. Er und Joe sahen sich an. 389 KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG Niemand sonst ist in der Eingangshalle. Ich knie mich hin und durchsuche die Leiche. Ich nehme Teddys Brieftasche und finde seine Adresse. Ich stecke sie zurück. Ich gehe wieder nach oben. Ich sage Maggie, daß der Junge tot ist. »Du wußtest, daß irgendwas passiert.« »Ist das eine Frage?« »Ja.« »Ja.« Ich wußte es. »Warum? Woher wußtest du es?« Woher wußte ich, als ich Perkins sah, daß es kein Zufall ist, daß er nicht zu dem Zahnarzt unten will? Und daß sein Job nicht nur darin besteht, Brody zu folgen und herauszufinden, wohin er geht? »Ich wußte es. So wie du weißt, wie man eine Rolle zu spielen hat.« Ich rufe Steve an. Maggie ist voller Fragen. »Wer war das? Haben sie ihn erschossen? Wen hast du gesehen? Ich verstehe nicht.« Steve geht ran. Ich sage: »Wir müssen uns treffen. In Maggies Haus.« »Klar, Sarge«, sagt Steve. »Ich will, daß du sie beschützt«, sage ich. »Warum? Vor was?« fragt
Maggie. »Was meinst du damit?« will Steve wissen. »Es ist wirklich sehr unwahrscheinlich, weißt du. Ich glaube eigentlich nicht, daß jemand etwas gegen sie unternehmen wird, aber ...« 390 »Joe, sag mir, was hier los ist.« »Joe, was ist los?« »Steve, besitzt du eine Kanone?« »Ich hab's dir doch schon mal gesagt, ich tu, was ich tun muß, aber ich will keinen Menschen mehr verletzen. Kanonen sind Scheiße.« Inzwischen höre ich Sirenen Jemand hat Teddy Brody gefunden und eine Leiche gemeldet. »Steve ...« »Keine Angst, ich werde dasein. Ich sag dir was, hast du was dagegen, wenn ich meinen Sohn mitbringe?« »Nein. Ich habe nichts dagegen. Im Haus habe ich ein paar Kanonen.« »Er steht auf so Scheiße. Du wirst staunen, wenn du ihn siehst.« »Wieso?« »Ist so was wie Zurück in die Zukunft: Steck ihn in Tarnklamotten, und du siehst 1968 direkt ins Auge.« Maggie hat Fragen. Zu viele Fragen. Ich verspreche, sie ihr später zu beantworten. Im Augenblick will ich uns beide nur hier rausbringen, bevor die Polizei auftaucht und wir bleiben und Aussagen machen müssen. Jesus Christus, ich habe die Schnauze gestrichen voll, immer das Radio einschalten zu müssen, wenn ich mich mal unterhalten will. Ich fahre rechts ran. Wir müssen beide aussteigen, damit ich mich auf den Rücken legen und mich unter das Armaturenbrett zwängen kann. Ich weiß, wo das Ding ist. Ich lege mich rücklings auf die Fußmatten und reiße das Scheißding heraus. Ich lege es auf den Bürgersteig und trete mit dem Absatz drauf, wie auf eine häßliche Wanze. Dann brausen wir auf den Freeway, und ich bringe Maggie nach Hause. Wie kann ich ihr erklären, wer Bo Perkins ist und woher ich ihn kenne? 391 Es gibt immer noch so vieles, was wir nicht über den anderen wissen. Ich stelle ihr keine Fragen über ihre Vergangenheit. Es interessiert mich nicht. Manchmal fragt sie mich nach meiner. Ich glaube, ich gebe meine Zurückhaltung gerade so weit auf, um ihr zu beweisen, daß ich diesen neumodischen Kram mache, mich ihr öffnen, wenn sie es will. Kommuniziere. Ich lebe nicht viel in der Vergangenheit. Ich empfinde nicht das Bedürfnis, allen Leuten zu erzählen, ich habe dies und jenes getan, und als ich neun war, hat mich irgendeine beschissene Sache zum Weinen gebracht, und beim Abschlußball auf der High School habe ich ein Trauma erlitten, nur weil ich einen fahren gelassen habe, als die Ballkönigin mich zum Tanzen aufforderte. Es ist möglich, ein Soldat und Ehrenmann zu sein. Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Die gesamte Geschichte, alle Kulturen beweisen das. Die meisten Religionen sagen es. Ein »gerechter Krieg« ist eine fundamentale christliche Doktrin. In der Armee gibt es Kaplane aller Religionen. Wissen Sie, warum sich der Islam von Marokko bis nach Jakarta erstreckt? Dschihad. Die Upanischaden, die heiligen Bücher der Hindus, sind Kriegsepen. Die Ninjas sind Anhänger von Buddha. Zu töten bedeutet nicht automatisch, schlecht zu sein. Es gibt einen Unterschied beim Töten. Ohne Ethik oder Ehre zu töten heißt, ein degenerierter Mensch zu sein. Und genau das ist Perkins. Ein degenerierter Mensch. »Der Typ in dem Auto auf der anderen Straßenseite«, erkläre ich ihr. »Ich habe dir gesagt, wer er ist. Er hat nicht etwa beobachtet, weil er wissen wollte, ob der Junge auftaucht. Er hat beobachtet, um sich zu vergewissern, daß er abgefangen wird.« »Woher weißt du das? Woher weißt du, daß sie ihn umgebracht haben, damit er nicht... Das kann einfach nicht wahr sein. Denn wenn es wahr ist, bin ich dafür verantwortlich.« »Nein. Der Bursche, der ihn ermordet hat, ist verantwortlich.« 392 »Wer ist es? Wer ist es, Joe?« »Sein Name ist Bo Perkins. Der Bursche, der unmittelbar hinter Brody hereingekommen ist und der schon wieder fort war, als ich unten ankam und nur noch Teddys Leiche gefunden habe. Normalerweise arbeitet er mit einem Partner.« »Woher kennst du ihn?« »Er arbeitet für U.Sec. Wir haben... schon zusammen Jobs erledigt.« »Was waren das für Jobs joe? Woher hast du gewußt, daß er... tun würde, was er getan hat?« »Ich werde dich im Haus zurücklassen. Steve und sein Sohn passen auf dich auf. Er ist ein guter Mann. Über den Sohn kann ich dir nichts sagen. Vergewissere dich, daß die Alarmanlage funktioniert und alles abgeschlossen ist. Ich werde zu Teddy Brodys Wohnung fahren. Ich will sehen, ob ich dort etwas finde. Er hatte einen Rucksack, als er das Gebäude betrat. Der Rucksack war verschwunden, als ich ihn fand. Schlüssel und Brieftasche waren aber noch da. Also waren sie hinter etwas ganz Bestimmtem her.« Ich fühle mich besser, als ich sehe, daß Steve schon dort ist und uns erwartet. Er stellt mich seinem
Sohn vor. Er hat recht. Es ist, als würde ich ihn noch einmal so sehen, wie er damals ausgesehen hat. Damals, 1968. Ein achtzehnjähriger, dünner, hundsgemeiner Marine. Außerdem sehe ich all die Jahre, die Steve schon auf dem Buckel hat, und ich bin nicht so naiv zu glauben, mir würde man sie nicht auch ansehen. Als ich gehen will, hält Maggie mich fest. »Joe, haben sie ihn wirklich umgebracht, um ihn daran zu hindern, mit uns zu sprechen?« »Es wird schon wieder alles gut, Maggie.« »Ich verstehe nicht, ich verstehe das alles nicht«, sagt sie. »Es geht doch nur um Filme.« 393 Als ich Teddy Brodys Wohnung erreiche, brauche ich keinen Schlüssel. Die Schlösser sind aufgebrochen worden. Und nicht besonders subtil. Der Computer ist weg. Monitor, Tastatur und Drucker sind noch da. Ich vermute, daß Teddy Brody weiß, woran John Lincoln Beagle arbeitet. Er schreibt es auf. Er kommt damit zu mir. Zumindest glauben sie das. Und dafür bringen sie ihn um. Dann räumen sie die Wohnung aus. Ich muß zugeben, Mel Taylor ist mir anscheinend einen Schritt voraus. Wohin ich mich auch wende, er kommt mir zuvor. Außerdem ergibt das alles, an diesem Punkt, keinen Sinn. Ich sage mir: Worum zum Teufel geht es? Es ist doch nur ein Film, oder nicht? Ich sehe trotzdem nach, hoffe, daß sie etwas übersehen haben. Früher oder später wird die Polizei hier auftauchen. Ich habe keine Handschuhe, deshalb gehe ich in die Küche und hole mir ein paar Papiertücher. Damit fasse ich alles an. Ich suche nach Notizen, Ausdrucken, Entwürfen, die er weggeschmissen hat. Zuerst gehe ich den Schreibtisch durch, dann den Papierkorb. Taylors Jungs sind beides durchgegangen. In der Küche finde ich einen Stoß Papiere im Mülleimer. Einen Lebenslauf, ein Expose und anderes Zeug. Ich sehe, warum er es weggeworfen hat: ein Problem mit dem Drucker. Dann gehe ich zum Telefon. Zuerst versuche ich es mit der Wahlwiederholungstaste. Das verrät mir, mit wem er als letztes telefoniert hat. Es klingelt zweimal. »Guten Tag, hier Mr. Taylors Büro«, sagt Bambi Ann Sligo. Natürlich. Nicht Teddys letzter Anruf - Taylors Einbrecher-Truppe hat sich bei ihm gemeldet. Ungeschickt, sie hätten anschließend irgendeine andere Nummer wählen sollen. Mich juckt es zu sagen: »Hi, Bambi Ann. Haben Sie schon mit John Travolta gesprochen? Ach, übrigens, ist Bo Perkins in 394 der Nähe? Gehen Sie nicht mit ihm in den Fahrstuhl. Wie eine Frau mittleren Alters auszusehen ist kein Schutz vor ihm. Einmal hat er eine Mama-san vergewaltigt, die keine Zähne und nur noch ein Auge hatte. Und was ist mit seinem Kumpel, mit Chaz Otis?« Wenn ich die letzten paar Monate nicht in einer verwanzten Welt gelebt hätte, hätte ich wahrscheinlich etwas gesagt. Aber scheinbar bin ich mir rund um die Uhr bewußt, welches Telefon angezapft wird und welches Telefon sauber ist - schalte die Musik ein, flüstere im Wind. Mir ist klar, daß Brodys Wohnung eine heiße Zone ist, und alles, was ich am Telefon sage, wird am nächsten Morgen auf Taylors Schreibtisch liegen. Ein Geräusch hinter mir. Ich befinde mich in der Wohnung eines Toten, und die Schlösser sind aufgebrochen. Wer ist hinter mir? Taylors Jungs? Die Cops? Irgendein gottverdammter Zivilist, der sich mein Gesicht einprägen und eine Personenbeschreibung abgeben wird? Ich drehe mich um. Die Tür schwingt auf. Dort steht dieser wirklich gutaussehende Bursche. Jung. Blond. Wenn er seine Schwester wäre, hätte ich Herzklopfen. In der einen Hand hat er Blumen und in der anderen eine Schachtel, ungefähr zehn mal zehn mal siebzehn Zentimeter groß. »Was ist hier los ? Wer sind Sie ? Wo ist Teddy ? Was ist mit der Tür passiert?« Scheiß-Mikros. Was soll ich sagen? »LAPD.« Ich greife in die Tasche, zücke meine Brieftasche. Lasse sie aufschnippen. Wenn der Junge auf die Entfernung etwas lesen kann, wäre er besser ein weißköpfiger Seeadler, hundertfünfzig Meter in der Luft, in der Lage, eine Maus zu entdecken, die durchs Gras rennt. »Uns ist ein Einbruch gemeldet worden.« Ich gehe auf ihn zu, während ich die Brieftasche wieder einstecke. »Bleiben Sie bloß draußen, sonst versauen Sie mir den 395 Tatort.« Ich trete auf den Korridor, ziehe die Tür hinter mir zu. »Wer sind Sie?« frage ich. »Ich bin ein Freund«, sagt er. »Von wem?« »Von Teddy, Teddy Brody«, sagt er. »Er wohnt hier.« »Für wen sind die Blumen? Für ihn?« »Und was, wenn? Na und?« »Sohn, wir gehen besser irgendwohin, wo wir ungestört reden können.« »Warum?« »Ich will einfach mit Ihnen reden. Sie sind nicht in Schwierigkeiten. Ich werde Ihnen keine
Schwierigkeiten machen. Gibt es hier in der Nähe irgendwo ein Cafe?« »Ja, ein paar Blocks westlich.« »Kommen Sie. Wir nehmen meinen Wagen.« Er folgt mir zu dem Cadillac. »Schicke Karre für einen Cop«, sagt er. »Ich habe einen reichen Freund«, sage ich. Natürlich interpretiert er das als »männlichen Freund«. Er sieht mich sofort mit anderen Augen an, versucht, aus mir schlau zu werden. »Steigen Sie ein«, sage ich. Als er drin ist, die Türen zu und verriegelt, frage ich nach seinem Namen. »Sam Carmody«, sagt er. »Teddy hat Ihnen etwas bedeutet?« Da sind die Blumen in seiner Hand. Und eine Karte. »Ich hätte es gern gehabt.« »Hm-hmmmh. Hören Sie, ich habe schlechte Neuigkeiten für Sie. Wirklich schlechte Neuigkeiten.« »Was?« »Er ist tot.« »Oh. Oh, oh, Scheiße.« »Tut mir leid.« »Wie?« 396 »Ein Raubüberfall. Jemand hat zu fest zugeschlagen.« »Beschissenes L. A. Beschissenes L. A. Ich hasse dieses beschissene LaLaLa. La-de-da, LaLaLa.« Er schleudert die Blumen mitsamt der Karte auf den Boden. Er starrt die Schachtel an. »Was mache ich jetzt damit?« »Was ist es denn?« frage ich. »Teddys Disketten. Ich wollte sie ihm zurückbringen. Ich habe sie als Vorwand benutzt, um ihn zu besuchen. Er ist in meine Wohnung gekommen. Heute Morgen. Sein Drucker hat verrückt gespielt. Er wollte meinen benutzen. Ich habe ihn angesehen... Ich hatte... Ich dachte... Sie wissen schon, man sieht jemanden an ... und man denkt... gottverdammt vielleicht, gottverdammt vielleicht, richtig? Vielleicht hat man ja mal Glück bei... bei...« Teddy Brodys Disketten. Okay. Danke, o Herr, sage ich stumm. Laut sage ich: »Tut mir aufrichtig leid, Sam. Hören Sie, kann ich irgend etwas für Sie tun? Sie nach Hause fahren, zu Ihrem Wagen, irgendwas?« »Nein. Nein. Ich wollte ... Was kümmert's Sie? Ihnen ist es doch egal. Sie sind doch nur ...« »Tut mir leid.« »Scheiße«, sagt er und macht Anstalten auszusteigen. »Was mache ich jetzt damit?« Die Disketten. »Darum kümmere ich mich. Wenn es Verwandte oder so gibt, die sie haben wollen, weil's ja ihm gehört hat, dann werde ich dafür sorgen ... Sie wissen schon.« »Okay, sicher«, sagt er und steigt aus. Gutaussehender Junge. Wenn er seine Schwester war oder wenn man so gepolt war, dann würde man Herzklopfen kriegen. Ich denke nur an die Disketten. Ich denke keine Sekunde daran, die Karte aufzuheben, die auf dem Boden liegt. Maggie hebt sie später auf. Und tatsächlich hat sie nichts mit irgendwas von dem zu tun, was John Lincoln Beagle und David Hartman vorhaben. Es ist 397 ein kleines Gedicht, das Sam entweder selbst geschrieben hat, oder vielleicht ist es auch nur eines dieser Gay-Sachen, gehört zu ihrer Subkultur, überhaupt nicht originell, es lautet jedenfalls so: l'm HIV negative, just got the news. Isn't thatgrand, how aboutyou? Yd like to celebrate with someone likeyou, Ifsomeone likeyou would like to be true. m 398 KAPITEL DREIUNDVIERZIG Perkins war nicht sicher, ob er den Jungen ermordet hatte. »Ich denke, er ist erledigt. Aber garantieren kann ich das nicht. Vielleicht ist er am Boden, aber noch nicht ausgezählt. Könnte als schwanzloses Wunder mit einem steifen Nacken aufwachen.« Also dachte Taylor, daß er lieber sichergehen sollte, für den unwahrscheinlichen Fall, daß Brody überlebt hatte, denn dann müßte er Hartman nicht mitteilen, daß Brody - in solchen Fällen mochte niemand das Wort »ermordet« - getötet worden war. Eliminiert? Ausgelöscht? Aus dem Spiel genommen ? Liquidiert? Auf Null gestellt? Gekillt? Alle gemacht? Initialisiert? In die ewigen Jagdgründe geschickt? Dekonstruiert? Taylor mußte seine Nachforschungen diskret und auf Umwegen anstellen, damit die Fragen nicht auf U.Sec. zurückfielen. Deshalb war es fast ein Uhr nachmittags, bevor er die Liquidierung bestätigte. Dann informierte er den Kunden. Das war um ein Uhr. Hartman hörte zu und legte auf. Um ein Uhr eins rief Taylor C. H. Bunker in Chicago an. Früher mal hatte sich Bunker bemüht, ständig unterwegs zu sein. Er liebte es, ohne Vorwarnung auf Dienstreisen zu gehen, von einer schlanken Begleiterin in einem zerwühlten Bett mitten in der Nacht aufzuspringen und dorthin zu eilen, wo sich die Jagdbeute gerade aufhielt. Er hatte jahrzehntelang von dem Privatjet geträumt, den er schließlich besaß, und er hatte sich auf ein Leben gefreut, in dem er von
einem Schauplatz zum nächsten transportiert werden würde. Er hatte ein weltweites Imperium von Sicherheitsdiensten geschaffen, 399 zum Teil deswegen, damit er eben dies tun konnte. Aber er war alt geworden. So alt, daß sein Alter Geräusche von sich gab - Gelenke, die knirschten und knackten, Atem, der pfiff, kleine Grunzer und Stöhner, die so simple Handlungen begleiteten wie Schuhe anziehen oder auch nur ein Hemd. Jetzt mochte er das große alte Haus am Lake Michigan, mit seinem formellen Speisesaal und einer richtigen Bibliothek und einem Kinderzimmer voller Spielsachen für den Tag, wenn seine Enkel zu Besuch kamen, er mochte die Diener, die seine Wünsche, Eigenarten und Zeitabläufe kannten. Er mochte es nicht zu reisen. Nicht mehr, und in Eile schon gar nicht. Selbst wenn man die Geschwindigkeit relativiert, indem man darauf hinweist, daß er keinen Linienflug, sondern einen Firmenjet genommen hatte, der auf Abruf bereitstand und, wann immer er es wünschte, abheben konnte, und daß er zwei Stunden dadurch gewann, daß er westwärts flog, so signalisierte die Tatsache, daß der alte Mann um drei Uhr nachmittags in Los Angeles war, zwei Dinge laut und deutlich: David Hartman und die Operation Hundegebell waren von allergrößter Wichtigkeit - rote Flagge, ultra, Vollalarm -, und irgend jemandes Job stand auf der Abschußliste, weil er eine Situation heraufbeschworen hatte, wegen der Old Man Bunker Heim und Herd verlassen mußte. Sheehan reiste mit ihm. Taylor erwartete sie mit einer Stretchlimo. Sie besaß eine Bar und einen Fernseher. Der Fernseher blieb aus. Bunker nahm einen Scotch mit Soda, einen Single Malt, so verwässert, als ob allein schon der Geruch der Gerste ausreichte, daß seine Zellen seufzten und sich von den Schmerzen des Lebens befreiten. Er saß hinten. Taylor saß ihm gegenüber. Es gab ein Telefon im Jet, aber Bunker diskutierte nur ungern sensible Fragen über Telefon, selbst mit Zerhackern an beiden Enden der Leitung und obwohl ihm seine eigenen Experten versicherten, daß seine Unterhaltungen geschützt wa400 ren. Also informierte Taylor ihn auf der Fahrt in dem großen Wagen. Die Stretchlimo hatte kugelsichere Scheiben. Taylor hatte vorgeschlagen, sich im Würfel zu treffen. Die Kunden liebten den unkomfortablen Glamour und den hohen Preis dafür. Es verwirrte Taylor, daß Hartman ein Treffen dort abgelehnt hatte. Und es machte ihn unglücklich. Der Würfel war ein Profitcenter, und das Treffen dort abzuhalten wäre ein Punkt, vielleicht sogar anderthalb, zu seinen Gunsten gewesen - der Kunde ist vielleicht unzufrieden, aber wir machen Gewinn an ihm, sogar in dem Moment, in dem wir ihn umstimmen wollen -, und er hatte das bestimmte Gefühl, daß er jeden Punkt brauchen würde, den er kriegen konnte. »Ich will einfach nur die Fakten hören, Taylor. Keine Erklärungen. Keine Entschuldigungen.« Taylor setze ihn ohne offensichtliche Anmerkungen ins Bild, betonte aber seine Auffassung, daß Brody zu stoppen - sobald Taylor den Befehl erhalten hatte, das Treffen zu unterbinden - oberste Priorität besaß. Niemand hatte gesagt: »Unterbinden Sie das, aber nur, wenn sie es auf gewisse Weise mit gewissen Leuten machen können.« Er hatte die zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt und damit erreicht, was er für seine Aufgabe gehalten hatte. Bunker fragte, ob Joe Broz Perkins gesehen hatte. Taylor sagte, daß er das nicht glaube. Bunker fragte, ob Broz Taylor gesehen hatte. Taylor bestätigte das. »Mir haben die Aufnahmen von Joseph und Magdalena Lazlo sehr gut gefallen«, sagte der alte Mann. Er sprach langsam, wie immer, mit einer gewissen Formalität und einer klaren baritonhaften Sattheit. »Gibt es noch andere?« »Ja«, sagte Taylor. »Hmm. Vielleicht denken Sie mal an ... Video.« Er wechselte das Thema, ohne seine Aussprache zu verändern. »Es gab einen Rucksack mit Dokumenten?« 401 Taylor, der darauf vorbereitet war, hielt Bunker die Papiere hin. Bunker ignorierte die ausgestreckte Hand. Sheehan jedoch, der neben Bunker saß, nahm die Unterlagen. »Können Sie aus dem Material erkennen, woran John Lincoln Beagle arbeitet?« »Nein, das könnte ich nicht.« Sheehan ging das Material durch, als ob er etwas finden könnte, das Taylor nicht gefunden hatte. Bunker sagte nichts, bis Sheehan fertig war und den Kopf schüttelte. »Es gibt noch mehr«, sagte Taylor. Er hatte einen weiteren Stapel Papier, über vierhundert Seiten. »Alles, was in Brodys Computer steckte.« Wieder benahm sich Bunker, als habe er es nicht nötig, materielle Dinge in die Hand zu nehmen, und Sheehan nahm die Papiere an sich. »Haben Sie herausbekommen, worum es bei dem Projekt geht?« fragte Bunker.
»Nein, Sir«, sagte Taylor. »Aber ich hatte noch nicht die Gelegenheit, all das zu lesen.« »Hmm.« Sheehan hatte einen Kurs in Schnellesen belegt. Das hatte zu einem deutlichen Anstieg der Geschwindigkeit geführt, mit der er seinen Papierkram erledigen konnte. Taylor hatte die Unterlagen nicht in Wichtiges und Unwichtiges getrennt. Was er auch nicht hätte tun sollen. Irgend etwas Signifikantes mochte als Kurzgeschichte verkleidet, in einem Liebesbrief oder in einem Spiel versteckt auftauchen. Taylor sagte: »Nicht zu wissen, worum es bei dem Job geht, macht den Job schwierig, Sir.« Sheehan, der einen von Teddys persönlichen Briefen las, schnitt eine angewiderte Grimasse. »Tunte«, sagte er laut. »Ahm«, sagte Bunker in seinem berühmten Bariton zu Taylor oder Sheehan oder seinen eigenen wandernden Gedanken. Es war wirklich schade, daß John Huston vor Carter Hamil402 ton Bunker gestorben war. Niemand sonst konnte jemals den alten Mann mit der richtigen Mischung aus Sicherheit, Spitzbüberei, Falschheit, selbstzufriedener Gerissenheit und Autorität spielen. Nicholson vielleicht, wenn er älter war, wenn er statt alt und fett alt und schlank blieb, was unwahrscheinlich schien. Bunker hatte versprochen, gegen drei Uhr dreißig einzutreffen. Hartman wollte klarstellen, wer wer war - noch über die Tatsache hinaus, daß er den alten Mann zweieinhalbtausend Meilen hatte fliegen lassen -, und sein Mißfallen zum Ausdruck bringen. Er fand, eine dreißigminütige Wartezeit sei gerade angemessen. Hartman hatte eine halbe Trainingsstunde mit Sakuro Juzo für drei Uhr im an das Büro angrenzenden Übungsraum angesetzt. Das paßte ihm bestens. Er konnte dafür sorgen, daß Sakuro über das eigentliche Büro Wache hielt, wo er Bunker und seinem Team gegenüberstand und ihnen die ganze Zeit über diesen unerschrockenen Blick nach Art des Kriegers zuwarf, während sie warteten. Er drückte tiefstes ki"2 aus, und viele starke Kämpfer wurden unter diesem Blick weich wie Butter. Als die Gruppe von U.Sec. eintraf, stand Sakuro auf seinem Platz und sah tödlich und unergründlich aus. Frank Sheehan trat zu Fiona, Hartmans Sekretärin. Fiona, die behauptete, in demselben Zirkel von Sloane Rangers"3 aufgewachsen zu sein wie Fergie und Di, und auch den Akzent besaß, um dies zu beweisen, was sie zu einem der am höchsten bezahlten Sekretärinnen-Dummchen an der Westküste machte, sagte: »Bitte nehmen Sie Platz, Mr. Hartman wird bald kommen.« »Wie bald?« fragte Frank. »Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen«, meinte Fiona. »Mein liebes Mädchen«, sagte C.H.Bunker, »wären Sie wohl so freundlich und sagten mir, ob das Feuer im Kamin an ist?« 403 »Im Foyer? Meinen Sie den?« »Ja, im Foyer.« »Natürlich. Das Feuer im Foyer brennt immer.« »Dann teilen Sie doch bitte dem geschätzten Mr. Hartman mit, daß ich ihn dort erwarten werde. Wann immer er... ahm ... die Zeit findet.« Knirschend und pfeifend verließ er das Büro. Das Foyer war ein sehr angenehmer Raum, ein Seelenverwandter seiner eigenen Bibliothek. Natürlich war das Foyer entschieden größer und halböffentlich, dennoch besaß es denselben Touch von »Uns gehört die Welt, und das gefällt uns so«. Schließlich war das Original für Harvard-Leute in den plutokratischen Zwanzigern gebaut worden. Sheehan wußte, daß C. H. gern nah beim Feuer saß. Er zog einen der mit hohen Rückenlehnen versehenen Sessel nahe genug heran, daß der alte Mann die Wärme spüren konnte. Bunker setzte sich mit Vergnügen hin, und Sheehan reichte ihm eine Zigarre und eine ledergebundene Ausgabe von Bleakhaus. Bunker schien nichts bei sich zu tragen, Sheehan hatte beides in seiner Aktentasche mitgebracht. Ein Steward kam beim Anblick der Zigarre herbeigeeilt, um C. H. zu informieren, daß er sich in Kalifornien, einer Nichtraucherzone, befinde. Aber es war etwas so - so Gottgleiches, gespielt von John Huston, an ihm, daß der Steward statt dessen ein Streichholzheftchen aus der Jackentasche zog, eines davon anzündete und an die Spitze der Havanna hielt. »Nur etwas Soda, bitte«, sagte Bunker. »Danke.« Oben wußte Hartman, was er von dieser Situation zu halten hatte, war sich aber nicht sicher, was sein Instinkt ihm riet. Seine erste Reaktion war, daß hier alles versaut worden war. Andererseits - und dieses Gefühl hatte ihn in den Stunden beschlichen, während er auf Bunkers Ankunft wartete - lag 404 da etwas sehr Kraftvolles in dem, was geschehen war. Ein Mann war getötet worden, um sein - David Hartmans - Geheimnis zu wahren. Das war Macht. Auch wenn es eigentlich unnötig gewesen war, so hatte doch nichts von dem, was er jemals getan oder mit dem er zu tun gehabt hatte, die schiere Absolutheit dessen aufzuweisen. Fast war es berauschend. Nein - Berauschtsein hieß
Orientierungslosigkeit, Verwirrung, Verlust an Schärfe. Als er mit seinem Sensei Kendo geübt hatte, hatte er ganz im Gegenteil Klarheit und Zentriertheit erfahren. Er hatte zum ersten Mal wahrhaftig sein ki verspürt. Es hatte andere Momente gegeben, wo et glaubte, es gespürt zu haben, aber rückblickend, jetzt, wo er es wirklich spürte, waren die vorigen Male reines Wunschdenken gewesen. Es war das Gefühl, noch höher auf den Berg gehoben worden zu sein, in Regionen, wohin nur wenige kommen. Dieses Ereignis öffnete ihm eine Tür, und durch diese Tür erhaschte er einen kurzen Blick auf das, was er sein würde: ein Kriegsstifter, Former menschlicher Schicksale. Die Wege zur Macht winden sich durch merkwürdige Wälder - in seinem Fall durch das Hollywoodgestrüpp von Verträgen, Nebenrechten und zehn Prozent auf die Hand -, bevor sie über die Baumgrenze zu den zerklüfteten Bergspitzen über den Wolken führen, wo die Luft dünn und rein ist, einen Ort, den nur die Stärksten erreichen und von wo aus sie die Welt überblicken können. Eine mythische Erfahrung. Sagen wir es im Flüsterton: Wer den Aufstieg schafft, hat buchstäblich die Macht der Götter. Das eigenartige Resultat dieses Panoramablicks auf sein Leben war, daß er nicht länger wußte, was er eigentlich von dem Treffen erwartete. Das war wirklich merkwürdig. Hartman wußte stets, was er wollte. Das war einer der Schlüssel zu seinem Erfolg. Oh, irgendein Kopf mußte rollen, nur um klarzumachen, daß er Köpfe rollen ließ. Aber was wollte er? 405 Die Versicherung, daß es nie wieder einen Fehlergeben würde? Oder, nachdem er Blut geleckt hatte ...? Bunker wiederum wußte genau, was er wollte. Er wollte herausfinden, worum es bei diesem Projekt überhaupt ging. Gates vom National Security Council hatte ihm nicht den leisesten Hinweis gegeben. Er hatte nur dieser merkwürdigen Person - diesem Hollywoodagenten - Blankovollmacht erteilt. Bunker würde, da war er sicher, am Ende siegen. Das tat er fast immer. In der Zwischenzeit mochte er das unendlich detailreiche und gemächliche Erzähltempo Charles Dickens'. Dickens zu lesen gab Bunker das Gefühl, alle Zeit der Welt zu haben. Die er nicht hatte. Frank Sheehan wußte, was er wollte. Er war sich ziemlich sicher, daß irgend jemand gefeuert werden würde. Sein Ziel war Schadensbegrenzung auf eine Person und die Garantie, daß die eine Person nicht er selbst war. Das zu bewerkstelligen hielt er für nicht allzu schwierig. Er hatte sich vom Steward einen Martini mit einer Olive bringen lassen. Er begutachtete die Unterlagen, die aus Teddy Brodys Computer ausgedruckt worden waren. Mel würde Punkte dafür bekommen, ihn sofort sichergestellt und alles so schnell ausgedruckt zu haben, aber nicht genug, um ihm vom heißen Stuhl herunterzuhelfen. Zum Glück für Sheehan, der wußte, daß irgendwer dort sitzen mußte. Taylor wußte, was er wollte. Er wollte seinen Job behalten. Wieder ging alles auf Joe Broz zurück. Wenn er beweisen konnte, daß Broz eine Gefahr darstellte - schwierig für Taylor, weil er dieses verdammte Geheimnis nicht kannte -, dann wäre jede noch so extreme Maßnahme, etwa der Mord an Teddy Brody, gerechtfertigt. Wenn Broz für unschuldig gehalten wurde, dann hatte Taylor einen schwerwiegenden Fehler begangen. Das war keine Frage von Moral - heh, es war nicht nett, daß der Junge tot war, 406 aber die Menschen sterben nun mal im Verlauf der Dinge: im Krieg, im Straßenverkehr, beim Räuberund-Gendarm-Spielen, beim Sex, und auch durch Überfressen -, sondern eine Frage von Effizienz und Aufwand. Einen Mord zu vertuschen war teuer. Aber bei genauerer Überlegung war es schon komisch, Liquidierungen schlugen fast nie auf einen zurück. Es war der Kleinkram, der zu Rückschlägen führte, von Watergate bis zur Iran-Contra-Affäre: Einbrüche, Geldtransfers, Empfangsbescheinigungen, Meineide, Aufzeichnungen von Dingen, die nirgendwo hätten aufgezeichnet werden sollen, Leute, die ihre eigenen vertraulichen Gespräche mitschnitten und dann vergaßen, daß sie das getan hatten. Taylor saß da, Taylor schwitzte, Taylor schmiedete Pläne. Sheehan stieß auf mehrere Briefe, die Bezug nahmen auf das, was John Lincoln Beagle Brodys Meinung nach vorhatte. Er reichte sie C. H. Bunker, der darauf reagierte, als stellten sie eine Störung dar, sie dann aber doch zur Hand nahm und studierte. Als er fertig war, warf er sie ins Feuer. Der Windzug blies sie wieder in den Raum zurück. Taylor hob sie auf. Er las sie. Sie sprachen nur von Filmen und Fernseh-Mehrteilern. Es ergab keinen Sinn, daß ihm gesagt wurde, jemanden unter allen Umständen zu stoppen, nur auf den Verdacht hin, er könne dieses Geschwätz über Filme enthüllen. Fiona Alice Victoria Richmond, gebürtig aus Knightsbridge, bevor Papa alles verlor und Mama sich schändlich benahm, wußte von Geburt, daß Leute warten zu lassen nichts damit zu tun hatte, wieviel Zeit die Geschäfte in Anspruch nahmen, sondern mit Rang, Position und Haltung. Also informierte sie Hartman darüber, wie raffiniert Bunker diese Geste
unterlaufen hatte. Das Ergebnis davon war, daß der Steward C. H. Bunker 407 bereits nach fünfzehn Minuten mitteilte, »Mr. Hartman empfängt Sie jetzt«, statt nach den vorgesehenen dreißig Minuten. Bunker stand auf und reichte dem Jungen seine Zigarre, so als handle es sich um ein hohes Trinkgeld, was es, wenn eine halbe Zehn-Dollar-Zigarre noch fünf Dollar wert ist, auch war."4 KAPITEL VIERUNDVIERZIG Als ich nach Hause komme, will ich nur noch diese Disketten in den Computer schieben und lesen. Steve ist nicht besonders glücklich damit, Wache schieben zu müssen. Sein Sohn ist begeistert, eine Kanone in der Hand zu haben. Ich schicke die beiden in die Küche, damit Mrs. Mulligan ihnen etwas zu essen macht. Maggie will reden. Scheiß-Mikros. Sie will auch keine Country Music hören. Genausowenig wie Bartok oder Bach oder Dylan oder Guns n' Roses oder Miles Davis. Sie will über ihre Gefühle reden. Ich will den Computer füttern und herausfinden, was zum Teufel wir haben. Vielleicht endlich herausfinden, was hier eigentlich los ist. Maggie ist es nicht gewöhnt, daß Leute umgelegt werden. Wir gehen in ihr Büro. Ich schiebe die mit einer i gekennzeichnete Diskette ein. Es handelt sich um ein Backup-System namens Smart Set. Insgesamt sind es sechsundzwanzig Disketten. Ich fange an, sie nacheinander zu laden. Sie will reden. Ich stehe auf. Ich nehme sie in die Arme. »Keine Angst, Baby«, sage ich. »Ich werde dich beschützen. Ich werde mich um dich kümmern.« Sie wissen schon, die übliche Scheiße, die ein Mann sagen soll, wenn eine schwache Frau zittert und in seinen Armen weint. Aber ich muß mich wieder diesen Disketten widmen. Sie haben den Jungen wegen dem umgebracht, was darauf ist. Jetzt werde ich erfahren, was es ist. Wenn ich es weiß, dann habe ich erreicht, was ich wollte. Und damit - das hoffe ich wenigstens - haben wir Hartman und Beagle und können die weiteren Spielregeln bestimmen. 409 Es dauert etwa fünfzehn Minuten, alle Disketten einzulesen. Es gibt noch eine weitere Diskette. Als ich diese in das Laufwerk schiebe, erhalte ich eine Meldung auf dem Bildschirm, daß es keine AppleDiskette ist. Ich vermute, daß es sich dann wohl um eine DOS-Disk handelt. Also rufe ich das Konvertierungsprogramm auf. Aber selbst damit erkennt der Computer die Diskette nicht. Ich lege sie zur Seite. Obwohl ich natürlich sicher bin, daß genau dies die Diskette ist, auf der sich die magische Information, der Hinweis, die Wahrheit befindet, das, hinter dem alle her sind. Maggie erzählt mir später, daß Hitchcock die Diskette einen MacGuf-fin11'1 genannt hätte. Bis ich aus dem Ding schlau werde, sehe ich mir das an, was wir haben. Ich ziehe einen Stuhl rüber, damit Maggie sich neben mich setzen kann. So kann ich ihre Hand halten und bei ihr sein. »Was tust du da, Joe?« Brody hatte ein paar Spiele - was mich nicht interessiert. Eine Reihe Computerprogramme, die spezielle Funktionen erfüllen - den Datenzugriff beschleunigen, Dateien verwalten und vor unbefugten Zugriffen schützen. Er hat Prodigy und CompuServe. Sein Telefon- und Adreßbuch befindet sich dort - wie ich vermutet hatte. Er hat ein Buchführungsprogramm und eines, daß zur Vorbereitung der Steuererklärung dient. Dann gibt es Dokumente: Filmexposes, Kurzgeschichten, verschiedene Drehbücher und Briefe. Es wird Tage dauern, das alles zu lesen. »Was ist mit diesem Jungen? Sollten wir nicht irgendwas unternehmen? Zur Polizei gehen?« Ich beschließe, daß die Briefe noch der heißeste Tip sind. »Hab Geduld. Gib mir eine Chance, Baby. Ich werde schon einen Weg aus diesem Schlamassel finden.« Ich lade Brief um Brief. Ich bin kein besonders schneller Leser. Ich versuche, 410 die Texte zu überfliegen, Schlüsselworte zu finden, und tat sächlich springt mir dann auch ein »Geheim« mit drei Ausru fezeichen entgegen. Liebste Mutter, ... unsere Arbeit ist natürlich geheim!!! Ta-taaak\ Wir mußten alle schwören: Niemals einem Außenstehenden gegenüber ein Wort darüber zu verlieren, was wir tun. Eine merkwürdige Xenophobie, wie ich meine -Cine'Muttetiere gegen den Rest der Welt. Obwohl ich Dir sagen muß, Mutter, daß dies hier in Hollywood - das neue In-Wort ist LaLaLa - nicht weiter ungewöhnlich ist. CAA ist verrückt auf Geheimhaltung. Mehr CIA als CAA. RepCo achtet wie der Teufel darauf. Jeder, der über Interna der Agentur redet - oder sie ausplaudert -, wird ohne viel Federlesens gefeuert. Beim
High-noon auf dem Sunset Boulevard seines geleasten Porsche und Autotelefons beraubt. Was macht also jeder den ganzen Tag? Sie handeln mit Geheimnissen. Klatsch und Tratsch ist die Währung dieses Landes. Es bringt in jedem das Waschweib zum Vorschein, plapper, plapper, plapper. Und doch muß unsere kleine Truppe loyaler sein als die meisten, denn ich höre nichts, nichts, nichts von dem, was unser Beagle dreht. Oder richtiger, vorhat zu drehen. Denn seit ich dabei bin, dreht er nichts, nada, rien, null, zilch, zero, weder einen Meter Film noch ein Stück Videoband. Ich könnte heulen vor Frustration. Wenn er nicht schon vor langer, langer Zeit alle Tränen aus mir herausgeprügelt hätte. Er plant - ja, was plant er denn? Was plant er? Was bedeutet dieses endlose Sichten von Szenen des Krieges, 411 der Verwüstung, der Zerstörung, des Feuers, der Flammen, der Pyrotechnik des Todes? Ich glaube, nach der Art der le montage des montages zu schließen, die er zusammenstellt und umstellt und wieder umstellt - ich, demütiger Sklave in den Eingeweiden der elektronischen bibliotheque, der von VCR zu Laser Disc und zurück zu den Magazinen rennen darf, damit das alles überhaupt erst möglich wird -, plant er den größten Monumentalfilm aller Zeiten oder - wie es in unserer traurig reduzierten Zeit geschieht - die größte Mini-Serie aller Zeiten. Ich stelle hier nur Vermutungen an - absolut wilde Vermutungen -, aber ich denke, was er plant, ist das Video-Äquivalent eines dieser schrecklichen John-Jakes-Fortsetzungsepen, nur daß hier nicht nur ein einziger Krieg, sondern gleich alle Kriege abgehandelt werden. Oder alle amerikanischen Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts. Vielleicht mit allen Querverbindungen durch die Generationen, der Sohn des Sohnes des Sohnes des Sohnes des Hundes. Ich bin durch diese Hunde des Krieges ganz schön auf den Hund gekommen. Tut mir leid. Hätte ich das löschen sollen? Zu wortspielerisch? Ganz zufällig bin ich auf einen Zettel gestoßen. Das ist mein anderes Beweisstück. Quer oben drüber steht - ich muß üben, besser mit meinem GrafikProgramm umzugehen, um es richtig hinzukriegen, es war handschriftlich, sah aber ungefähr so aus: Gekritzel-II-2 V~, was ich nicht ganz verstehe. Aber darunter stand, wie ich glaube, eine Reihe möglicher Filmtitel: Morgens in Amerika American Century American Storm Vax Americana Die Hoffnung der Welt 412 American Hero John Waynes Reinkarnation Die Sieben Reinkarnationen des John Wayne Was meine beruflichen Aussichten betrifft - da tut sich immer noch nichts. Sag ihm das bitte nicht. Lüge für mich. Soll er doch denken, ich wäre glücklich und erfolgreich. Das wird ihm Alpträume verschaffen. Mache ich Witze? »Armer Junge«, sagt Maggie. »Armer, armer Junge.« »Verdammt«, sage ich. Ist es das? »Halt mich, Joe. Leg das weg. Halt mich.« Ich will nicht. Ich will meine Arbeit machen. Ich will alles durchgehen, was Teddy Brody aufgeschrieben hat. Ich will jemanden finden, der herausbekommen kann, was diese un-identifizierbare Diskette darstellt. Aber ich nehme Maggie in die Arme und halte sie. Sie vergräbt ihren Kopf an meiner Brust und weint. Maggie ist es nicht gewöhnt, daß Leute umgebracht werden. Wegen Filmen werden keine Leute umgebracht. »Ich glaube, ich werde noch hysterisch«, sagt sie. »Ist schon okay.« »Nein, wirklich. Es ist schrecklich. Die ganze Zeit geht mir so ein blöder Witz durch den Kopf. Ich versuche, die ganze Sache als Witz zu sehen.« »Was für ein Witz?« »Ein dummer Witz.« »Was?« »Für einen Film umgebracht zu werden, schön und gut. Aber für eine Mini-Serie?... Das ist nicht komisch.« »Nein.« »Nachdem ich's jetzt gesagt habe, finde ich es auch nicht mehr komisch. Es ist so traurig.« 413 Plötzlich ist alles ganz einfach. Für Filme wird niemand umgebracht. Auch nicht für Mini-Serien. Also ist es kein Film. Ich gehe von der falschen Seite an diese Sache heran. Liege total daneben. »Maggie, hör mir zu. Das hier ist außer Kontrolle geraten. Wir müssen ein paar Dinge klären. Ich will, daß du David Hartman anrufst.« »Warum? Wozu?« »Vertrau mir. Tu's einfach. Wir werden dieser Sache ein Ende bereiten. Auf der Stelle. Ruf ihn an, und verschaff uns so bald wie möglich einen Termin bei ihm.« Mikros hören mit. Wir werden beobachtet. Am kommenden Morgen wird Ray Ma-tusow die Aufzeichnung dessen abholen, was wir heute gemacht haben. Dann wird das Band zum Schreibdienst gehen. Nachmittags liegt es auf Mel Taylors
Schreibtisch. Hartman wird es irgendwann kurz danach vorliegen, falls es interessant genug ist. Oder erregend. Maggie wählt. Ich höre am zweiten Apparat mit. »Fi, ich bin's, Maggie. Ich muß David sprechen.« »Oh, meine Liebe, du kennst seinen Terminplan doch selbst.« »Es ist dringend. Bitte, Fi, du mußt eine Möglichkeit finden, daß ich noch heute mit ihm sprechen kann.« »Das ist schlicht und einfach unmöööglich.« »Wie ist's mit morgen?« »Er verläßt das Land für eine Woche. Es geht nicht.« »Wer ist gerade bei ihm?« sagt Maggie, wobei sie davon ausgeht, daß sie auf der Hollywood-Skala über den meisten anderen steht. »Komm schon, Fi, wen trifft er heute? Hilf mir, Fi, und ich erzähle dir auch, was Fergie auf dieser Party letzten Monat in New York wirklich gemacht hat.« »Ich versichere dir, Maggie, daß du zwar durchaus auch auf dieser Party gewesen sein magst, ich aber bereits alles gehört 414 habe, sogar das über die Farbe ihrer Unterwäsche, um nicht vulgär zu werden. Trotzdem werde ich es dir sagen, weil du ein Schatz bist und mir tatsächlich von Zeit zu Zeit gute Klatschgeschichten lieferst. Im Augenblick ist er mit Sakuro zusammen, und du weißt ja selbst, wie er sich mit seinem Kendo immer anstellt. Danach hat er eine Besprechung mit C. H. Bunker.« »Wer«, fragt Maggie, »ist denn C. H. Bunker?« »Keine Ahnung, aber er ist schrecklich wichtig.« Ich gebe Maggie zu verstehen, daß sie die Unterhaltung beenden soll. »Danke, Fi«, sagt sie. »Keine Ursache. Es tut mir wirklich leid, daß ich nicht mehr für dich tun konnte. In einer Woche ist er wieder zurück.« 415 KAPITEL FÜNFUNDVIERZIG Taylor begann Schritt für Schritt zu erläutern, was geschehen war. »Ich hatte gehofft, das nicht hören zu müssen«, sagte Hartman. »Ich hatte erwartet, daß Sie sagen, der verantwortliche Mann sei bereits entlassen worden, und Sie hätten es für nötig erachtet, ihn durch einen neuen zu ersetzen.« »Ich möchte Ihnen versichern«, sagte Sheehan, »daß ich die Vorkommnisse bereits analysiert habe. Ich kann Sie also beruhigen, daß es bei dem eigentlichen Ereignis keine Zeugen gegeben hat. Es gibt nichts, um die beteiligte Person« - es galt als Geste der Höflichkeit, den Kunden nicht mit dem Namen der Person zu belasten, die tatsächlich die Liquidierung herbeigeführt hatte - »mit dem Zwischenfall in Verbindung zu bringen. Es wird kein Nachspiel haben. Nichts, das wieder auf den Tisch kommt, sozusagen. Das können wir garantieren.« »Entschuldigen Sie«, sagte Hartman. »Sie zwingen mich dazu, das Ganze wie das Kindereinmaleins zu erklären. Erwarten Sie allen Ernstes, daß Joe Broz und des weiteren Maggie Lazlo eine Leiche auf ihrer Türschwelle übersehen? Ihr Leute unterschätzt Hollywood vollkommen. Ihr glaubt, eine Frau wie Maggie habe Glück gehabt. Ein hübsches Gesicht, das sich gut fotografieren läßt. Oder vielleicht eine Schlampe, die sich nach oben gevögelt hat. Sie können mir glauben, die, die es bis nach oben schaffen, sind klug,gerissen und wissen genau, was sie wollen. Selbst wenn sie jung, hübsch und weiblich sind. 416 Das bringt mich zu Mr. Broz. Ich habe seine Akte gelesen. Die echte. Vielen Dank. Das ist ein echter Kotzbrocken, oder nicht, Gentlemen ? Sie haben also kein Problem gelöst. Sie haben ein mindestens doppelt so großes geschaffen.« »Angesichts des Auftrags«, sagte Taylor, »der Ressourcen, der Situation -« Hartman ließ ihn nicht ausreden. »Ich bin in einer Branche«, sagte er, »in der Ressourcen oder Situationen einfach nicht zählen. Entweder läuft ein Film, oder er läuft nicht. Nach einem Flop sitzen alle herum, sie reden und analysieren, sie schreiben Bücher darüber, weshalb der Film zum Flop wurde. Ändert das was? Nein. Garantiert Ihnen das das nächste Mal einen Erfolg? Wenn es ein nächstes Mal gibt? Nein. Haben Sie jemals Kevin allein zu Haus gesehen? Wayne's World?. Haben Sie die letzten drei Eddie-Murphy-Filme gesehen? Es ist unmöglich, daß diese Filme erfolgreich waren. Aber sie waren es. Haben Sie kapiert? Geben Sie mir einen Kerl, der in die Scheiße tritt und nach Rosen duftend herauskommt. Ich will keinen, der die Rosen perfekt pflegt, aber nach Scheiße stinkend reinkommt.« Alle sahen Taylor an. Alle schauen immer den Verdammten an. »Guter Punkt«, sagte C. H. »Mir scheint, wenn ich die richtige Person auszuwählen habe, und wir
dafür sorgen wollen, daß keine weiteren Probleme auftauchen, dann gibt es noch einige Fragen, über die wir sprechen müssen. Unbedingt.« Bunker sah Taylor an und sagte sanft: »Mel« - er wies zur Tür »das betrifft Sie nicht.« Taylor stand auf. Ende der Karriere. Er ging zur Tür. »Einen Moment«, sagte er. »Mel...«, sagte Bunker und meinte: Leiser Abgang. Ihre Zeit ist gekommen. »Ich möchte, ich möchte bitte noch etwas sagen.« 417 »Taylor«, schnappte Sheehan und meinte: Halt den Mund, und schaff deinen Hintern raus hier. Mel war ein guter Soldat. Es fiel ihm also sehr schwer. Aber er tat es dennoch. »Sir, ich habe eine Erklärung abzugeben. Fangen wir mit folgendem an.John Lincoln Beagle dreht keinen Film. Wir lassen unsere Kettenhunde doch nicht wegen eines Films von der Leine. Universal Security handelt häufig zum Nutzen der Vereinigten Staaten. Ich hoffe, daß was heute früh geschehen ist, zum Schutze der vitalen Interessen unseres Landes beigetragen hat. Wenn nicht, dann hat derjenige, der mir den Befehl dazu gab, einen Fehler begangen. Dann folgendes. Eine irrige Annahme. Wenn Sie glauben, daß dieser Zwischenfall zu einem Problem mit Broz und Lazlo führen wird, dann ist das, entschuldigen Sie, eine irrige Annahme. Sie zäumen das Pferd am Schwanz auf, Sir. Wir observieren über zwanzig Personen. Wir haben sie seit Monaten unter Beobachtung. Da wir, wo immer es geht, rationalisieren und eine Menge Elektronik einsetzen, und weil Menschen gewisse Handlungsmuster entwickeln, konnten wir unseren Personalaufwand minimieren, aber es sind immer noch über dreißig Personen rund um die Uhr nur mit dieser einen Operation beschäftigt. Und trotzdem hat es bisher nur vier >Blips< auf dem Radar gegeben. Vier. Einer durch Maggie Lazlo, bevor sie sich mit Broz zusammentat. Die Geschichte mit ihrem Hausmädchen. Zwei, die direkt mit Broz verknüpft sind Kitty Przyszewski und Teddy Brody. Ein unbekannter - der Überfall auf Ray Matusow. Da ich die Einzelheiten dieser Operation nicht kenne, wobei es sich nicht um einen Film handelt, kann ich auch nicht sagen, wer der Gegner ist. Ich weiß nicht, ob es sich um die Sowjets, die Japaner oder den islamischen Heiligen Krieg handelt. Aber ich kann Ihnen sagen, daß Broz kein unschuldiger Zuschauer ist, dessen Neugier durch das geweckt wurde, was 418 wir getan haben. Ganz im Gegenteil, er mischt bei dieser Sache mit. Sie können mich heute feuern, Sie können irgend jemand anderes einstellen, aber selbst wenn Sie Brody wieder zum Leben erwecken, wird Joe Broz weiter mitmischen. Entschuldigen Sie meinen Ausdruck, Sir, aber er scheißt uns an. Statt mich zu feuern, sollten Sie sich überlegen, wann und wie wir ihn zum Schweigen bringen. Es geht nicht darum, ob Sie es tun müssen. Es geht darum, ob Sie es rechtzeitig tun.« Hartman war fasziniert. Zum Teil, weil die Möglichkeit bestand, daß Taylor recht hatte. Zum Teil, weil er nach dem ersten Mord - über viele Mittelsmänner und nicht dadurch, daß er seinen Willen direkt umgesetzt hatte -, weil er nach dem ersten Mord von der Idee fasziniert war, es wieder zu tun. Zudem waren Maggie Lazlo undjoe Broz auch viel schillernde und mächtigere Personen. Bunker war willens, Taylor fortfahren zu lassen. »Was würden Sie vorschlagen, Mel?« Taylor seufzte erleichtert. Er hatte sich gerettet.Jetzt lag es an ihm, die Karten richtig auszuspielen. Sollte er sich setzen oder stehenbleiben? Gebieterisch oder bescheiden? Den Ratgeber oder den Kommandanten spielen? »Sie wissen, was auf dem Spiel steht, und Sie kennen das Risiko«, sagte er zu Hartman. »Sie sind der einzige im Raum, der es wirklich kennt. Es gibt alle möglichen Optionen. Eine Möglichkeit wäre, die Überwachung und Abschirmung zu verstärken. Wir sind damit bisher tatsächlich recht gut gefahren. Broz weiß gar nichts. Wir hängen an ihm wie Läuse an einem Hund. Und Sie könnten sagen, macht weiter so. Aber ich muß zugeben, Überwachen ist eine Kunst. Keine Wissenschaft. Es gibt immer Spalten in einer Tür. Der KGB macht Fehler, die CIA macht Fehler. Also wollen Sie vielleicht etwas aktiver werden. Ich weiß nicht, aufweiche 419 Ressourcen die beiden zurückgreifen können, abgesehen von ihren eigenen, aber wenn Sie den Geldhahn zudrehen, können Sie eine Menge Schaden anrichten. Zudem gibt es eine Vielzahl von Tricks, die ihre Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen werden. Schließlich, wenn das Risiko einer undichten Stelle groß genug ist, rechtfertigt das jede Abwehrmaßnahme ...« Vor der Tür zu David Hartmans Büro funkelte Sakuro Juzo Maggie Lazlo und Joe Broz an. Fiona sagte zu Maggie: »Das ist absolut unmöööglich.« »Sag ihm doch bitte einfach nur, daß ich hier bin und daß es wirklich dringend ist.« »Maggie ...«
»Würden Sie bitte C. H. Bunker sagen«, sagte Joe, »daß Joseph Broz hier ist.« Das war etwas anderes. Während sie ihren Chef nicht stören durfte, konnte sie sehr wohl einem Besucher eine Nachricht zukommen lassen. »In Ordnung«, sagte Fiona. Sie nahm den Hörer ab und drückte auf einen Knopf. »Es ist für Mr. Bunker. Joe Broz ist hier.« »Bringen Sie ihn rein«, sagte C. H. Hartman versuchte, den Ausdruck auf dem Gesicht des alten Mannes zu charakterisieren. Er sah - was war es? - belustigt aus. »In Ordnung. Fiona, lassen Sie sie herein.« Joe Broz trat zusammen mit Maggie ein. Sie wirkte verzweifelt. Als hätte sie geweint. »C. H., danke«, sagte Joe. »Na so wasjoe. Schön, Sie zu sehen.« Bunker erhob sich von seinem Sessel. Für Maggie. Er deutete eine höfliche Verbeugung an. Was die anderen Männer ebenfalls nötigte aufzustehen, und weil es ihnen nicht in den Sinn gekommen war, bis er bereits stand, ließ es sie tölpelhaft und Bunker im Gegen420 satz noch höflicher wirken. »Und die wunderbare Ms. Lazlo. Mir bleiben nur noch ein paar Jahre, aber ich würde meine ganze mir noch verbleibende Zeit für nur einen einzigen Tag an Joes Stelle geben.« Er sagte das auf eine Weise, die nicht beleidigend war. »Einen Stuhl für Ms. Lazlo.« Maggie klammerte sich enger an Joe. »Ich bleibe stehen«, sagte sie. »Dann entschuldigen Sie bitte einen alten Mann«, sagte Bunker und ließ sich auf seinen Platz zurücksinken. Sheehan und Hartman setzten sich. Taylor stand immer noch. »C. H., Sie kennen mich, Sie wissen, daß ich Geheimnisse immer für mich behalten habe«, sagte Joe. »Ja, das haben Sie.« Joe nickte, als wäre damit irgend etwas geklärt. Er wandte sich an den Agenten. »Okay, Mr. Hartman, reden wir nicht lange um den heißen Brei. Es ist verdammt offensichtlich, daß John Lincoln Beagle an einer geheimen Sache arbeitet. Ich weiß es. Maggie weiß es. Sie wissen, daß wir es wissen. Sie wußten es schon damals, als Bennie ihr sagte, sie solle den Mund halten, und sie hat es nicht getan, und dann ist ihr Hausmädchen verschwunden und alles weitere. Der springende Punkt ist, es interessiert uns nicht. Wir sind verliebt. Sie hat eine große Karriere vor sich. Ich möglicherweise ebenfalls. Was zum Teufel sollte uns da an John Lincoln Beagle gelegen sein? Ich habe nicht genug Zeit, Maggie so oft zu küssen, wie ich es gern tun würde. Ganz zu schweigen davon, den Stapel Manuskripte in meinem Büro zu lesen. Ein Junge will mit mir sprechen. Es geht um einen Job. Ich will ihn sehen, weil er diese ausgezeichnete Ausbildung vor-zu weisen hat - Yale, UCLA -, und ich, ich bin mit vierzehn von der Schule abgegangen. In der neunten Klasse. Erst die Marines haben mich wieder auf den rechten Weg gebracht. Dann sehe ich aus dem Fenster . . .«Joe zeigte auf Taylor. 421 »Dieser Dreckskerl glotzt mich an. Dann taucht Bo Perkins auf...« Er wandte sich an Bunker. »C. H., es geht mich ja nichts an, aber für was zum Teufel setzen Sie Bo Perkins ein? Wer ist dieser Brody? Irgendein nicaraguanischer Guerilla? Ist er vom Leuchtenden Pfad? Oder vielleicht ein fanatischer Moslem-Attentäter? Bo bringt den Jungen um, direkt in meiner Eingangshalle. Leute, ich war selbst lange genug dabei. Eins plus eins ergibt großen Ärger. Sie müssen denken, daß ich hinter John Lincoln Beagles Geheimnis her bin. Ich bin hier, um Ihnen zu sagen, daß dem nicht so ist. Wovon auch immer ich Ihrer Meinung nach die Finger lassen soll, es ist schon passiert. Falls Ihnen morgen noch etwas anderes einfällt, von dem ich die Finger lassen soll, betrachten Sie es als bereits geschehen.« »Quatsch«, zischte Taylor. »Wie steht's damit, C. H.?« »Hmm«, machte Bunker. »Eines noch«, sagte Joe. »Vor einer Woche habe ich einen Teil meiner Ausrüstung aus meinem zu Maggies Haus gebracht -entschuldige bitte, Maggie, ich habe dir nichts davon erzählt, weil ich dich nicht aufregen wollte, und mir war auch noch nicht klar, was überhaupt gespielt wurde. Jedenfalls haben Sie Wanzen in ihrem Haus anbringen lassen.« »Die haben was?« schrie Maggie. Schockiert und beschämt und wütend. Fremde Männer belauschen die Geräusche ihrer Liebe. Belauschen, wie sie pinkelt und kackt und sich zurechtweist, wenn sie in den Spiegel blickt und Alter oder Ausschweifungen sieht. Sie lauschen den Geräuschen, die sie im Schlaf machte, die sie selbst nicht mal kannte. »Unser Haus ist was? Wer hat das getan? Wer hat das getan?« »Taylor da drüben«, sagte Joe. »Hartman. Ray Matusow hat wahrscheinlich die Installationen besorgt.« »Sie haben sich Bänder von mir angehört?« Ihr Gesicht war ein 422 Fenster, durch das sie jeden schmerzhaften und beschämten Gedanken sehen konnten. Sie funkelte alle an, konzentrierte sich dann aber auf Taylor. »Und? Hat's Spaß gemacht? Sie ... Perverser. Sie Abschaum.« Wütend ging sie auf ihn los. »Hat es Sie angeturnt? Haben Sie sich einen runtergeholt,
während Sie zuhörten, wie ich mit jemand geschlafen habe?« Maggie holte zu einer Ohrfeige aus. Taylor mußte ahnen, daß so etwas kam. Instinktiv packte er ihren Arm. Sie holte mit der anderen Hand aus. Taylor begann ihr den Arm zu verdrehen, wollte sie zurückdrängen. Joe zog die 9-mm-Automatik aus dem Gürtelhalfter, lud durch, trat einen halben Schritt vor und hielt Taylor die Waffe unter die Nase. Durch die Tür und trotz des Tumults und Gebrülls hörte Sa-kuro Juzo das Spannen einer Waffe. Er betrat den Raum, hatte ein shuriken in der Hand.Joe registrierte ihn, beachtete ihn jedoch nicht weiter. »Na, los, Taylor«, sagte Joe. »Tu ihr weh.« »Lieber nicht, Mel«, sagte Bunker gelassen, ruhig und langsam. »Immerhin, Sie haben's nicht anders verdient, wenn Sie die Privatsphäre einer solchen Lady verletzt haben. Sie ist weder irgendeine Schlampe noch ein betrügerisches Flittchen.« Taylor ließ Maggie los. Maggie gab ihm die Ohrfeige. Das Geräusch hallte laut durch den Raum. Der Schlag warf Taylors Kopf zurück. Es war schon eine gewaltige Willensanstrengung und das starrende Auge einer 9 mm vor seinem Gesicht nötig, um ihn davon abzuhalten zurückzuschlagen. »Broz, du bist ein toter Mann«, sagte Taylor. »Im Namen von« - Bunker machte eine vage Geste, die zwar alle Anwesenden einschloß, aber nichts eindeutig zugab -»entschuldige ich mich bei Ihnen.« 423 »Wer hat noch zugehört?« schrie Maggie voller Schmerz und verletztem Stolz. »David?« Sie sah Hartman an. Dann Shee-han, der einen roten Kopf hatte und schwitzte. »Sie haben es auch gehört, Sie verklemmter katholischer Schulknabe. Ich hoffe, Sie haben dabei etwas gelernt.« Sheehans Kopf wurde noch dunkler, als wäre es so gewesen. »Ich werde die Wanzen entfernen«, sagte Joe. »Sie haben Ms. Lazlos Privatsphäre verletzt. Betrachten Sie sie, nachdem wir jetzt über persönliche Dinge reden, als meine Frau. Sollte diese elektronische Scheiße wieder auftauchen, Taylor, werde ich es sehr persönlich nehmen. Und das gleiche gilt für Sie«, sagte er zu Hartman. Er wandte sich wieder an den alten Mann. »Haben Sie irgendein Problem damit, C. H.? Kommen Sie, C. H., Sie schulden mir was. Ich habe Griff rausgeholt. Habe ihn nach Hause gebracht, oder nicht?« »Ja, das haben Sie. Auch wenn es nicht lange gedauert hat. Aber das war nicht Ihre Schuld. Sie haben Ihr Bestes gegeben«, sagte Bunker mit einem Hauch von Traurigkeit. Dann höflich: »Sie haben da eine wunderbare Frau und großartige Aussichten. Bleiben Sie dabei, machen Sie das Beste draus. Das große Los ... zieht man nicht alle Tage.« »David?« sagte Joe. »Ich habe wirklich keinerlei Geheimnisse. John Lincoln besteht auf Geheimhaltung, aber ...« »Wie immer Sie es haben wollen, David«, sagte Broz mit Nachdruck, »so werde ich es machen. Abgemacht?« Der Agent trat hinter seinem Schreibtisch vor. In der Hand hielt er eine Akte. Er sah nachdenklich, ernst und freundlich aus. »Hier ist die Akte, die man mir über Sie gegeben hat.« Er sagte das zu Joe, gab sie aber Maggie. Dann sah er wieder Broz an. »Abgemacht«, sagte der Agent. 424 Joe nickte. Er steckte die Waffe wieder in das Holster. Er legte einen Arm um Maggie, und sie verließen den Raum. Am nächsten Morgen flog Hartman nach Tokio. Dort verbrachte er zwei Tage mit Besprechungen. Er setzte seine Reise nach Westen fort. Er legte einen Zwischenstopp in Neu-Delhi ein. Mehrere indische Filmproduzenten wollten mit ihm darüber sprechen, sich und ihre Arbeiten durch ihn in den USA vertreten zu lassen. Er setzte seine Reise nach Westen fort. Nach Bagdad. 425 KAPITEL SECHSUNDVIERZIG Line hatte mehr Spaß dabei, als er erwartet hatte. Jackie war süß. Als seien sie gar nicht verheiratet. Und sie half ihm mit Dylan. Sie spielte keine Spielchen, legte es auf Katastrophen an. Sie schien Verständnis zu haben und, was noch wichtiger war, zu akzeptieren, daß die Aufmerksamkeitsspanne und Toleranz eines Mannes für echten Infantilismus begrenzter als die einer Frau war. Mit anderen Worten, sie ließ ihn mit Dylan spielen, bis er müde oder gestreßt war, und dann löste sie ihn ab, damit er sich entspannen konnte. Am zweiten Tag beschloß Line zu kochen. Er versuchte, ein paar gute Rezepte zu finden. Ihre Landhausküche, für 42 950 Dollar gerade frisch renoviert, die hängenden Kupfertöpfe und die handgemalten Kacheln rund um den Kamin nicht mitgerechnet, wies eine ganze
Reihe von Regalen nur für Kochbücher auf. Tatsächlich gab es 148 davon. Auf den ersten Blick waren sie sehr aufregend. Eine Art von pornogra-pbie gourmandaise. Eine Fotoseite bunter als die andere, jede einzelne mit besonderen Zutaten und leicht unverständlichen Rezepten. Dann war da die Gewißheit, daß Jackie es verabscheuen würde, ganz gleich, was er kochte. Nicht nur verabscheuen, sondern auch eine Möglichkeit finden, es gegen ihn zu verwenden. Es begann ihn zu jucken. Seine Kopfhaut und dann seine Oberschenkel. Dann wanderte der Juckreiz. Es handelte sich um ein Symptom - da war er sich sicher - für KASS, das Kurze-Aufmerksamkeitsspanne-Syndrom, eine Krankheit, von der er erst letzten Monat gelesen hatte und von der er nun sicher war, daß sie seine Kindheit 426 beherrscht und sein Leben als Erwachsener bestimmt hatte. Es war KASS - möglicherweise elektrisch, vielleicht chemisch, es konnten die Drüsen sein, aber nicht psychologisch im Freudschen oder Jungschen Sinne der Neurose -, das es ihm erschwerte, sich mit widerspenstigen dinglichen Objekten zu befassen, mit Lehrern, die ihm Zeug beibringen wollten, das er längst kannte, oder Sachen, von denen sie genausowenig verstanden wie er, mit dem Aufräumen von Schränken, mit dem täglichen Notieren seiner Ausgaben, mit blöden Idioten, die über Football reden wollten, als ob das wichtig wäre. Er legte die Kochbücher schnell beiseite. Die meisten Männer kennen zwei bis sechs Rezepte"6, und abgesehen von der Ausnahmezeit des chemisch veränderten Zustands jungen Werbens, wenn sie gleich beim ersten Mal die Rezepte im Kochbuch lesen, verstehen und ausführen können, kommen sie immer wieder auf diese Standardgerichte zurück. Beagle konnte Mayonnaise mit Curry und Thunfisch aus der Dose vermengen, er konnte Omeletts backen und arme Ritter, er hatte kürzlich herausgefunden, wie man Reis kocht, er wußte, wie man Fleisch und, von dort ausgehend, Fisch grillt. Ach ja, er konnte einen Salat mit Fertigdressing anrichten und Pasta mit Fertigsauce kochen. Er fügte der Sauce noch ein paar Gewürze bei, damit sie nicht diesen total gekauften Geschmack besaß, und war stolz darauf. Er fragte Jackie, was sie von gegrilltem Fisch, Reis und Salat hielt. Es gab so viele Antworten, die Jackie hätte geben können: »Ich hab dir doch letzte Woche erst gesagt, daß ich auf einer reislosen Diät bin, wie konntest du das vergessen?« »Ich wette, du hast vergessen, daß dein Sohn allergisch ist gegen dieses fürchterliche Buttermilchdressing, das du immer 427. kaufst.« »Ich hab dir doch gesagt, daß wir heute abend mit Francis und seiner Frau essen, du hörst nie zu, wenn ich ich dir was sage.« »Ich hoffe, du verkokeist nicht wie üblich das Essen.« »Laß dir beim Fischverkäufer bloß nicht anmerken, wie wenig du vom Einkaufen verstehst, sonst dreht er dir das alte und stinkende Zeug an.« Aber sie sagte nichts von alledem. Oder irgend etwas Ähnliches. Sie reagierte darauf so, als hätte er etwas Vernünftiges gesagt und als sei Essen kochen eine vernünftige Tätigkeit. Sie korrigierte ihn überhaupt nicht. »Können wir zusammen einkaufen?« sagte sie. »Das wird bestimmt nett.« Beagle pflichtete ihr bei. Also stiegen sie in ihren Saab Turbo - ihr Auto fürs Land -, packten den Babyrucksack und den Kinderwagen ein, setzten Dylan in den Babysitz und fuhren gemeinsam zum Einkaufen. Sie kauften frische Sachen, frische Kräuter und Gewürze, Mahimahi - der früher Dolphin hieß, aber alle wurden es leid zu erklären, daß es sich nicht um Delphin handelte, und außerdem klang es exotischer und teurer -, einen kalifornischen Chardonnay, ein bißchen trocken, aber er machte sich langsam, und wenn man es ganz objektiv betrachtete, war er dem französischen überlegen. Niemand stritt sich. Dylan war so süß wie nur irgendwas. Ein bißchen wie Dennis aus dem Comic, aber wenn es das eigene Kind ist und man sich mag, und sei es nur einen Nachmittag lang, dann liebt man es dafür um so mehr. Was soll's, daß er ein paar Weinflaschen vom Regal fegte - sie zerbrachen nicht. Ergriffsich am Obststand einen Pfirsich und warf damit - er bekam nur eine Druckstelle, er zerplatzte nicht, und niemand wurde verletzt. Guter Wurfarm. Und er donnerte gegen das Hummeraquarium. Es ging nicht kaputt, und wenn sich die Hummer daran störten, würden sie sowieso nicht mehr lang genug leben, um ihrem Kongreßabgeordneten einen Brief zu schreiben. Als er quengelig 428 wurde, gaben sie ihm ein Fläschchen und steckten ihn in den Babyrucksack auf Beagles Rücken, wo er einschlief. Und war das nicht süß.Jackie ließ Beagle vor einem Spiegel anhalten, damit er sich seinen Sohn anschaute, den Kopf seitwärts abgeknickt, in einem Winkel, der bei Erwachsenen unmöglich wäre, völlig gelassen, völlig vertrauend, Rotz an der Nase, Spucke, die auf Daddys Schulter tropfte. Es war herzerweichend.
Als sie heimkamen, machte ihnen Maria, die Landköchin und Haushälterin, ein leichtes Mittagessen und räumte die Einkäufe weg, damit Beagle später mit ihnen kochen konnte. Sie hätte Dylan in der Küche gefuttert - sie war leichter zu putzen -, aber seine Eltern wollten ihren einzigen Sohn bei sich in der Frühstücksecke haben. Als John Lincoln daran verzweifelte, Dylan zu erklären, warum er nicht mit Essen nach Erwachsenen werfen sollte, übernahm Jackie und klärte die Situation. Am Nachmittag schlenderten sie durch die Weingärten und bewunderten all ihren Besitz. John Lincoln kochte das Essen. Er bereitete gesonderte Portionen für Dylan und sein Kindermädchen vor. Sie aßen in der Küche. Line war nicht gewillt, das Erlebnis vom Mittagessen so bald zu wiederholen. Morgen würde er es erneut versuchen. Zweimal am Tag mit dem Kind zu essen war doch wohl leicht übertrieben. Das Essen war ein voller Erfolg. Jackie schien es sogar wirklich zu schmecken, sie aß den Großteil ihrer Portion auf und beschwerte sich über nichts, nicht einmal über den Wein, den er ausgesucht hatte. Ein voller Mond ging auf, als die Sonne verschwand, und es wehte eine kühle Brise. Sie schlenderten gemeinsam und sagten kein Wort. Nicht zu reden war das Unverfänglichste, was sie sich gegenseitig sagen konnten. 429 Jackie hatte etwas Mauie-Wo-wie,sensimilla, ein wirklich feiner und exotischer Stoff mit blauen Ranken - irgendeine unglaublich kräftige Pflanzenmutation, 500 Dollar die Unze. Also zogen sie jeder ein- oder zweimal, und... jaah... sie schalteten das Licht aus... zündeten eine Kerze an... etwas sanfte Musik, und er... er streckte die Hand nach ihr aus ... er berührte sie... sie zuckte nicht zurück... oder erklärte ihm, warum sie nicht wollte, daß er sie berührte ... und John Lincoln Beagle pflegte den ehelichen Verkehr mit seiner Frau, kaum zu glauben. Es war zwar keine dieser tollen Vögeleien oder einfallsreichen Nummern a la Joy of Sex, mit Dr. Ruths Erdbeergel und eßbarer Unterwäsche, aber immerhin! Sie ließ sich sogar küssen. 430 KAPITEL SIEBENUNDVIERZIG Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was für ein Genuß es ist, sich ohne voll aufgedrehte Country Music zu lieben. Das Fenster auf und nichts als die Geräusche der Brandung und des anderen. Nach der Konfrontation mit Hartman fange ich an, die Wanzen aufzuspüren und herauszureißen. Am nächsten Tag lasse ich einen Typen von Fleischer's Audio Security kommen, um meine Arbeit gegenprüfen zu lassen, und tatsächlich findet er zwei Mikros, die ich übersehen habe. Außerdem investiere ich in ein Micron 28-40, das Störfrequenzen im Mikrowellen-und Funkbereich sendet. Das wird die Übertragung einer großen Zahl unterschiedlicher Wanzen an Lauschposten außerhalb des Grundstückes unterbinden, aber besorgen Sie sich so ein Ding nicht, wenn Sie einen leicht reizbaren Nachbarn mit Satellitenschüssel haben. In dieser Nacht sind wir zum ersten Mal, seit wir uns kennengelernt haben, wirklich allein. Das Gefühl der - ich vermute, es ist wohl Erleichterung, Entspannung oder so etwas - es ist, wie aus Vietnam herauszukommen, auf Urlaub nach Tokio, Bangkok, Sydney oder Oahu. Denn die Sache mit Vietnam war, daß es dort keine klaren Fronten gab, daher hörte es nie auf. Man war in einer Bar oder einem Bordell, und jemand wirft eine Bombe oder Granate. Im Feldlager, falls es im Feldlager Vietnamesen gab, Mamasans, die sich um die Wäsche kümmerten, oder Aushilfen im Kasino oder so, ja sogar Soldaten der ARVN, einige von ihnen waren immer einige von Denen. 43i Natürlich liest Maggie die Akte, die Hartman ihr gegeben hat. Sie will von mir wissen, ob es die Wahrheit ist. Nun, wieviel Wahrheit steht jemals auf einem Stück Papier? Wird sie mich jetzt nicht mehr lieben? Bedeutet der Bericht, daß es aus ist zwischen uns? Sie will einfach nur wissen, ob es wahr ist. Sicher, es ist wahr. Ich bin nach Vietnam gegangen, um Menschen zu töten. Feinde der Vereinigten Staaten von Amerika, meinem Land. Eine gegnerische Armee, die auf eine besondere Art und Weise kämpft. Zuerst bin ich in Uniform drüben. Es ist hart. Krieg soll auch hart sein. Es ist furchterregend, und es wird gegen die Zehn Gebote verstoßen, und man findet heraus, ob man ein Mann ist und von welcher Sorte. Es sind die Insekten und die Schlangen und die Nässe, der Hautpilz und der Gestank ungewaschener Körper. Der Gestank von Scheiße und Urin und Schweiß und Angst. Ich wurde zum Sergeant befördert, und es hat mir gefallen. Mehr als gefallen. Genau dafür war ich geboren. Die Wahrheit ist, es spielte im Grunde wirklich keine Rolle, daß es die Vereinigten Staaten von Amerika waren. Wenn ich für einen anderen Krieg geboren worden wäre, wäre auch das wahrscheinlich in Ordnung gewesen. Zu gewinnen wäre
gut gewesen. Den ganzen Krieg, meine ich. Die meisten meiner Schlachten habe ich gewonnen, und ich habe mehr von ihnen umgebracht als sie von uns, und ich habe mich bemüht, daß meinen Jungs, meinem Trupp, nichts passierte, soweit das möglich war und mein Lieutenant auf mich hörte, und ich sorgte dafür, daß der Feind uns fürchtete und respektierte. Dann kommt der Zeitpunkt, an dem alles außer Kontrolle gerät. Ich habe einen Streit mit einem Offizier, und der einfachste Weg, das Problem zu lösen, besteht darin, die Marines zu verlassen. Ich sehe die Marines als meinen Beruf an, 432 ich habe dort ein Zuhause gefunden. Also ist es schwer, aber unter den gegebenen Umständen ist es immer noch ein besseres Geschäft, als ich erwarten kann. Es ist Griff, Preston Griffith, der mir hilft, einen Ausweg zu finden. Wenn sie mich gehen lassen, hat er einen neuen Job für mich. Ich kann in Vietnam bleiben. Ich kann kämpfen. Es ist eine andere Art des Kämpfens. Eher so, wie es die Vietcong machen. Es hat den Namen PhungHoang, Phönix. Kleidung wie der Vietcong, essen wie der Vietcong. Man sagt, uns gehört der Tag, dem Vietcong die Nacht. Wir holen uns die Nacht vom Vietcong zurück. Wir sind Attentäter. Also sage ich Maggie, ja, was in der Akte steht, ist die Wahrheit. Sie verläßt mich nicht. Sie erschrickt nicht, wird nicht wütend und zieht sich nicht zurück. Sie drückt sich an mich. Der Mondschein fällt durch das Fenster, und sie schläft ein. Ich mache mich auf die Suche nach jemandem, der mir sagen kann, was es mit dieser geheimnisvollen Diskette auf sich hat. Wir teilen uns das Material zum Lesen. Alles, was Brody in seinen Briefen schreibt, deutet genau wie seine Notizen darauf hin, daß Beagle an einem Kriegsfilm oder irgendeiner Fernsehserie arbeitet. Das steht mehr oder weniger in Einklang mit dem, was jeder in der Stadt weiß. Nach zwei Tagen Lektüre entdecken wir nichts, das uns wesentlich mehr als der Brief an seine Mutter sagt, den ich bei der ersten Durchsicht gefunden habe. Bis auf die Tatsache, daß Teddy für Beagle einen Aufsatz über Propaganda verfaßt hat. Es gibt mehrere Versionen davon, eine kürzer als die andere. Was Teddy natürlich nicht wissen konnte, war, daß jemand ihn eher umbringen würde, als ihn mit mir oder vielleicht mit irgendeinem anderen Außenstehenden sprechen zu lassen. ' 433 Wir - Universal Security - haben auch früher schon Fälle übernommen, bei denen es um den Weggang von Angestellten ging, und wir gehen davon aus, daß ein Angestellter mit seinem neuen Arbeitgeber über das reden wird, was er an seiner letzten Arbeitsstelle gemacht hat, selbst - oder gerade besonders dann -wenn diese Dinge mit Betriebsgeheimnissen oder irgendeiner anderen Form von internen Firmeninformationen zu tun haben. Hätte Teddy seinen Angreifer gesehen, würde ihm das auch nicht gesagt haben, was es mir sagte. Bo Perkins war bei Phönix. Es gab Leute, die durch die Macht, die sie damals hatten, auf den Geschmack kamen. Ich will nicht sagen, daß es bei mir anders war. Daß ich rein oder irgendwas war. Aber es besteht ein wesendicher Unterschied, den Krieg zu lieben -den Wettbewerb, die Gefahr, das Risiko, den Adrenalinstoß, das Gefühl von Macht, das Hochgefühl -, oder Schmerz und Tod zu lieben. Bei Phönix war es möglich, aus reinem Vergnügen Menschen zu verletzen, zu foltern und zu töten. Es war möglich. Für manche ist das eine sehr große Versuchung. Die Du nkle Seite - ta-taaa - wie Darth Vader, es war einmal in einer Galaxis, vor langer, langer Zeit... Aber das ist ein Film und eine Kindergeschichte. Es sagt einem nicht das geringste darüber, wie dunkel die dunkle Seite wirklich ist. Bo ist zur dunklen Seite übergewechselt - war vielleicht schon immer dort -, und er ist nie mehr zurückgekehrt. Das andere, was Teddy natürlich nicht wissen konnte, was überhaupt nur sehr wenige Leute wissen, ist, daß U.Sec. für die Regierung arbeitet. Ich meine damit Geheimaufträge. Dinge, über die man jemanden informieren soll, zum Beispiel den Kongreß, wenn man für die CIA arbeitete. Und man sollte schon ein spezielles Memorandum oder einen Be434 fehl sehen, bevor man es tatsächlich tut. Ferner gibt es gewisse Dinge, Attentate etwa, die der CIA und anderen Geheimdiensten der Vereinigten Staaten, und davon gibt es eine ganze Menge, gesetzlich verboten sind. Es ist möglich, obwohl ich es nicht weiß, da es nicht die Ebene ist, auf der ich operiere, daß U.Sec. ein CIA-Unternehmen sein könnte oder es vielleicht einmal war."7 Unterm Strich steht, Maggie sagte es bereits - für einen Film bringt man niemanden um. Vor allen Dingen schickt man nicht Bo Perkins los, es sei denn, man ist auf höchster Ebene der unsichtbaren Regierung dazu autorisiert worden.
Die Sache ist die: Wenn wir die paar einfachen Dinge aufschreiben, die wir wissen, kommt dabei etwas wie eine Gleichung heraus. Sogar noch einfacher. Arithmetik. John Lincoln Beagle arbeitet an einem Kriegsfilm. — Niemand wird für einen Film ermordet. = John Lincoln Beagle arbeitet an einem Krieg. Zu diesem Zeitpunkt glaube ich nicht, daß die Antwort so einfach und kraß ist. Es erscheint, so wie es aussieht, verrückt. Beagle macht ausgezeichnete Filme, aber - das ist verrückt. Und doch bleibt die Gleichung. Addieren Sie die ganze Operation dazu. Der Umfang der Überwachung - Personal, Elektronik, Abschriften - jemand gibt einen enormen Haufen Geld aus. Was ich mir zu diesem Zeitpunkt zusammenreime, ist, daß Beagle an Kriegspropaganda arbeitet. Basierend auf dem Memo, das der Junge geschrieben hat. Warum sollte das ein so wichtiges Geheimnis sein? Keine große Sache. In Vietnam haben wir Fernsehsender aufgebaut, um Propaganda auszu435 strahlen. Als dann irgendwem klar wurde, daß die Vietnamesen keine Fernsehgeräte besaßen, haben wir ihnen Fernseher gegeben. Im Krieg macht man Propaganda. In allen möglichen Formen. Das ist schon okay, sofern Beagle nicht Propaganda für einen Krieg betreibt, von dem er weiß, daß es ihn geben wird, von dem aber niemand sonst schon etwas weiß. Das bedeutet, daß jemand bereits entschieden hat, daß wir einen Krieg führen werden, und man hat Beagle engagiert, der ihnen sagen soll, wie man das am besten verkauft. Damit es nicht wieder so verpfuscht wird wie in Vietnam. Gerade genug Informationen zu besitzen, um diese Schlußfolgerungen ziehen zu können, schadet uns mehr, als daß es nützt. Hartman und Bunker, die smarter sind als ich, können sich ausrechnen, daß ich es mir ausrechnen kann. Und früher oder später wird das untragbar sein. David Hartman versuchte Maggie zu sagen, sich aus dieser Geschichte herauszuhalten, ganz am Anfang. Ich weiß nicht, ob es eine Möglichkeit gibt, irgendeine Möglichkeit, sich da wieder herauszuma-növrieren. »Sag mir, warum, Maggie? Was willst du?« »Ein bißchen Macht«, sagt sie. »David könnte mit einem Schlag meine Karriere beenden. Oder, und das ist wahrscheinlicher, er wird sich einfach nicht mehr für mich einsetzen, wenn ich etwas älter werde und es leichter ist, jüngere Ware zu verkaufen. Niemand interessiert sich mehr für mich. Das war's. Es gibt keinen einzigen Menschen auf der Welt, der sich für mich und meine Karriere interessiert. Außer dir. Jetzt. Aber du bist nicht David Hartman oder Ray Stark oder Mike Ovitz oder Michael Eisner oder David Geffen. Das ist kein Selbstmitleid, das ist eine rein finanzielle Überlegung. Ich bin froh, dort zu sein, wo ich heute bin. Das verstehe ich. Aber ich verstehe ebenfalls, daß alles auch wieder verschwinden kann. Wenn ich etwas gegen David in der Hand habe, 436 das mir einen kleinen Vorteil verschafft, das zur Abwechslung mir Macht über ihn verschafft - dann will ich es haben. Das ist meine Wahrheit. So, wirst du mich deswegen jetzt nicht mehr lieben?« »Nein.« Die letzte Hoffnung auf einen leichten Ausweg ist die Diskette. Eine Dreieinhalb-Zoll-Floppy. Schwarzes Plastik. Nicht zu unterscheiden von jeder anderen Mac- oder DOS-Diskette. Kein Etikett. 437 KAPITEL ACHTUNDVIERZIG C. H. Bunker kam zu ungefähr demselben Schluß wie Joseph Broz. Seine Rechnung sah etwas anders aus. Aber das Ergebnis war dasselbe. John Lincoln Beagle arbeitet 14 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche an einem Kriegsfilm. - Gates setzt U.Sec. nicht wegen eines Films »uneingeschränkt« ein. = John Lincoln Beagle arbeitet an einem Krieg oder, da das einfach verrückt ist, an etwas Vergleichbarem. Er dachte eine ganze Weile daran, Mel Taylor zu feuern. Bunker gefiel David Hartmans Logik. In der Welt, wie Bunker sie sah, gab es Qualitäten, die erheblich rätselhafter waren als IQ und meßbare Ausbildung und ob Handlungen logisch korrekt waren. Manche Menschen gewannen, andere verloren. Eines Tages würden die Menschenmesser - die Psychologen, Soziologen, Testautoren - erkennen, daß sie das Falsche maßen. Sie würden neue hübsche Wörter für Gewinner und Verlierer erfinden, dann würden sie sich hübsche neue Meßlatten ausdenken, um sie zu beurteilen. Und es würde ihnen nicht
auffallen, daß die Meßlatten längst schon aufgelegt waren und daß alle, außer ihnen, wußten, worum es sich dabei handelte - Geld und Macht. Aber noch schwieriger, als die Gewinner und Verlierer von heute zu erkennen, war es, herauszufinden, wie sie sich mor438 gen schlagen würden. Anders gesagt, welche Gestalt das Morgen haben würde, weil die Welt sich ständig änderte, und genau die gleichen Dinge, die heute den Sieg für einen entschieden, einen in der neuen ^OCelt, in der man morgen früh aufwacht, zum Verlierer machten. Das war es letztlich, worauf er setzen wollte. Bunker wußte zufällig, warum Taylor Broz haßte. Griff hatte ihm alles darüber erzählt. Das war eine von Griffs Lieblingsgeschichten. Joe hatte bei C. H. einen Stein im Brett, weil er Griff nach Hause gebracht hatte. Wer hätte gedacht, daß Preston Grif-fith so schwach sein würde. Verwandelte sich in einen verdammten schnüffelnden Junkie. Das stimmte nicht ganz. Griff hatte sich in einen zynischen, charmanten, smarten Junkie verwandelt. Mit einer Menge Gepäck, zu wenig Illusionen und verstrickt in einer Verschwörung mit seinem Schmerz, sich mit Opium und dessen Derivaten zu betäuben. Verdammtes Vietnam. Den nächsten Krieg führten sie besser richtig. Niemand, der aus dem verdammten Land heimkam, hatte einen guten Krieg gehabt. Außer vielleicht Joe Broz. Aber nicht mal der.Joe würde es nie zugeben, aber nach seiner Rückkehr brauchte er ein paar Jahre, um damit zurechtzukommen. Aus C. H.s Krieg kamen sie als Helden zurück. Amerikanische Helden, Retter der Welt, bereit, die Welt zu ihrem eigenen Besten zu lenken, und sie hatten verdammt gute Arbeit dabei geleistet. Wenn Griff so zurückgekommen wäre, wie es alle von ihm erwartet hatten, dann wäre er ein verdammt guter Schwiegersohn gewesen. Der beste. Der gesetzliche Erbe. Hätte C. H. Enkelsöhne geschenkt. Verdammt, er wußte, der Junge trug guten Samen in sich. Samen genug, um Enkelsöhne zu pflanzen, das wußte C. H. einfach. Irgendwo lief ein kleiner Bastard herum, er hatte davon gehört, bevor Griff nach Vietnam gegangen war. Alle vertuschten es. C. H.s 439 Tochter weinte einen Monat lang deswegen. Was halt eben so im College passieren kann. Der Junge hatte sich ein wenig die Hörner abgestoßen. Sie hatten sich wieder zusammengerauft, seine Tochter und Griff, bevor er ging. Aber in was für einem Zustand er zurückgekommen war ... Den nächsten Krieg führten sie besser richtig. Aber er beließ Taylor auf seinem Posten. Er wußte, daß Taylor sich nicht ändern würde. Weder besser noch schlechter werden würde. Aber Bunker glaubte, daß dieses kleine Universum, jenes, das um dieses besondere Geheimnis kreiste, sich ändern würde, und wenn, dann würden sich die Dinge, aus denen sich Taylor zusammensetzte, als die richtigen erweisen, so wie sie gestern die falschen Dinge zu sein schienen. Taylor war verbissen und hartnäckig, und er haßte Joe Broz genug, daß Joe ihm nichts vormachen konnte. C. H. mochte Joe. War ihm einen Gefallen schuldig, was das betraf. Aber er hegte den Verdacht, daß Joe ihnen Sand in die Augen streute. Verdammt viel Mumm, da einfach so reinzu-platzen. Das war genau das, was ein Unschuldiger tun würde. Wenn er keinen Sand streute, dann besaß er mehr Kraft als gedacht, hoffentlich hatte er einen guten Ritt auf dieser geilen Frau mit ihren tollen Brüsten und langen Schenkeln. Absolute Spitzenqualität. C. H. übertrug Sheehan vorübergehend die Leitung des L.-A.-Büros und unterstellte ihm Taylor, ein ernsthafter Gesichtsverlust, damit Taylor den Schmerz spürte und das als Ansporn nahm. Zu Taylor sagte er: »Lassen Sie Broz weiter suchen, falls er schon nach was sucht. Er ist ein verdammt gutes Frettchen. Wenn es da was gibt, lassen Sie es ihn finden. Dann nehmen Sie es ihm weg. Dann schalten sie ihn aus.« 440 David Hartmans Paß zufolge gehörte er der Episkopalischen Kirche an. Es handelte sich nur um eine kleine Täuschung und beruhigte alle, als er den Irak betrat. Offensichtlich war keiner an der Paßkontrolle oder unter den Vertrauten des Staatsführers regelmäßiger Leser des Premiere-Magazins oder eines der vielen Blätter, die die Kolumnen von »Sherie« oder »Suzie« abdruckten, denn niemand sagte ihm: »Heh, ich hab von der riesigen Bar-Mizwa-Feier gelesen, die Sie Ihrem Sohn ausgerichtet haben. Wie kommt es, daß er eine Bar-Mizwa hatte, wenn Sie in der Episkopalischen Kirche sind? Hmm?« Wenn sich James Baker mit Hussein getroffen oder George Bush den Kontakt gesucht hätte, dann wäre das jemandem aufgefallen. Aber die »ernsthaften« Weltmedien kümmerten sich nicht darum, als
David Hartman in Bagdad eintraf. Hartman hatte ein Empfehlungschreiben des Präsidenten bei sich, das in angemessen blumigem Arabisch besagte, daß der Überbringer dieser Zeilen die Grüße des Präsidenten übermittle und in dessen Auftrag handele. Hartman vernichtete diesen Brief nach dem Treffen mit Hussein so schnell wie möglich. Anders als das Atwater-Memo, das immer noch in seinem Safe ruhte. Obwohl Saddam von Natur ein vorsichtiger und zutiefst mißtrauischer Mensch ist, schien ihn das Angebot weder zu schockieren noch sonderlich zu beunruhigen. Natürlich stellte er gewisse Bedingungen. Zudem gab es, weil einige seiner Bedürfnisse recht dringlich waren, einige Dinge, die er augenblicklich von den Vereinigten Staaten wünschte - als eine Art Geste, Zeichen des guten Willens, auch, so Allah wollte, als einen ersten Austausch in dem Handel, den sie bald abschließen wollten. Hartman sagte, daß dies angemessen klänge. Es wäre unhöflich gewesen, die Stadtrundfahrt durch Bag441 dad abzulehnen, die ihm sein Gastgeber angeboten hatte. Also blieb er über Nacht. Am nächsten Morgen flog er nach Rom, wo er sich mit mehreren alten Bekannten aus der Finanz- und Filmwelt traf. Sie gehörten zu jenem Labyrinth persönlicher Beziehungen, das Italien regiert. Hartman suchte, so sagte er, nach einer Bank, die große Summen mit äußerster Diskretion bewegen könne. Vorzugsweise eine mit einer amerikanischen Tochter oder Zweigstelle, denn wenn die Gelder - zumindestens auf dem Papier - aus den Staaten abflössen, dann würden die Vereinigten Staaten eine Bürg-, schaft dafür übernehmen. Seine Freunde kannten mehrere solche Banken. Hartman wäre gern noch geblieben. Rom war wundervoll. Es war die Mutter der Städte und hatte so viel von dem bestimmt, was Zivilisation war. Imperium. Reichtum. Korruption. Gelegenheiten. Wenn er dort war, sagten ihm die Steine der Jahrhunderte, die von Untergang und Glorie überzogen waren, wie in nur wenigen anderen Städten, daß Hollywood nichts Neues war. Die Stadt versicherte ihm, daß es derart viel Irrsinn in derart überschwenglicher Pracht schon anderswo gegeben hatte und nicht nach Minuten zerfallen war, wie es das hätte tun sollen, sondern über Generationen anhielt und immer noch bombastischer wurde. Von Rom fuhr er nach Genf. Noch eine Bankenkonferenz. Der Bankier schüttelte ihm die Hand, als sie fertig waren. »Hauptsache, Sie stellen nicht Fawn Hall"8 als Sekretärin ein«, sagte er, »dann wird alles gut.« Er schmunzelte. Schweizer Bankiers sind sich ihres Rufs bewußt und geben sich alle Mühe, ihm gerecht zu werden. Ein Schmunzeln galt daher nach den Maßstäben des Schweizer Bankwesens schon als ausgelassene Heiterkeit. 442 KAPITEL NEUNUNDVIERZIG Ziel eines Krieges ist ein besserer Friedenszustand. Also ist es von großer Bedeutung, den Krieg unter ständiger Beachtung des gewünschten Friedens zu führen. Sieg im eigentlichen Sinn impliziert, daß der Zustand des Friedens, und des eigenen Volkes, nach dem Krieg besser ist als zuvor. In diesem Sinn ist Sieg nur möglich, wenn ein schnelles Ergebnis erreicht werden kann oder wenn eine langandauernde Anstrengung in einem wirtschaftlich ausgewogenen Verhältnis zu den nationalen Ressourcen steht. Das Ziel muß den Mitteln angepaßt werden. - B. H. Liddell Hart, Stwtegy Wie sich herausstellt, ist die Diskette für UNIX formatiert. Sie enthält, wie man mir sagt, ein unglaublich komplexes und geniales Programm für den Filmschnitt auf mehreren Bildschirmen gleichzeitig. Wahrscheinlich auf zehn Bildschirmen. Es ähnelt EditDroid, dem Schnittsystem von Lucasfilm, ist aber noch erheblich leistungsfähiger. Genaugenommen enthält die Diskette nicht das eigentliche Programm; es ist vielmehr ein einfacher Text-Ausdruck der zur Verfügung stehenden Befehle. Für Filmleute ist es interessant, da es die Namen der Quellen bezeichnet, wo sich, über einen Zeitcode, im Film die einzelnen Clips befinden und wie lange sie dauern. Es scheint keinen besonderes Grund zu geben, warum Teddy diese Diskette besitzt. Oder nicht besitzen sollte. Es verrät nicht mehr, als daß jemand mit einem ausgeklügelten Schnittsystem eine Montage von Kriegsfilmen anfertigt. Wenn man all diese Filme zusammenbekäme, könnte man vielleicht herausfinden, wie die Montage ausgesehen hat. Zumindest ein paar Minuten. 443 Das bringt uns also nicht weiter. Womit ich wieder auf diesen Scherz über Sergeant Kims Dojo und ROK zurückkomme. Kim eröffnete den Laden unmittelbar nach Vietnam, und damals liefen eine Menge Irre durch die Gegend, die auf Kampfsport standen. Manche waren am Rand des Wahnsinns, andere hatten den Rand schon überschritten und waren außer Kontrolle. Da Kim nun mal ist, wie er ist
- er besitzt diesen Ruf aus seiner Militärzeit -, zieht es solche Typen zu seinem Dojo. Koreaner sind fleißige, wirtschaftlich orientierte Menschen. Sie überlegen, was die Kunden wollen, und geben es ihnen. Die meisten Zivilisten, die meisten normalen Menschen, die einen Kampfsport erlernen wollen, möchten nicht mit einem ausgerasteten Veteranen trainieren, der möglicherweise einen Flashback in eine Kampfsituation bekommt. Gleichzeitig möchte Kim aber auf keinen Teil des Marktes verzichten. Das merkt man sofort - er hat diesen Shop, in dem er Ausrüstung für Kampfsportarten verkauft, und er sagt seinen Schülern immer wieder, daß sie besser werden, wenn sie koreanische Küche essen. Dann schickt er sie nach nebenan in das Fischgeschäft und den koreanischen Lebensmittelladen seines Neffen. Immer, wenn er von einer neuen Sache hört, mit der ein anderes Dojo mehr Kunden anzieht, dann bietet Kim es auch an. Wie zum Beispiel Selbstverteidigungskurse für Frauen. Was Kim also macht, ist folgendes: Um die Verrückten zu halten, für die der Kampfsport eher waffenloser Nahkampf als zukünftige olympische Disziplin ist, und um sie gleichzeitig aus dem Weg zu bekommen, richtet er im ersten Stock einen speziellen Raum ein. Lassen Sie es mich so erklären. ROK ist eine Art Wortspiel. Man vermutet bei Sergeant Kim keinen besonders großen Sinn für Humor, aber er besitzt ihn. ROK steht für Republicof Killers.11'* Denn genau das muß man sein, wenn man Mitglied 444 werden will. Man muß schon jemanden getötet haben. Vorzugsweise im Nahkampf Mann gegen Mann. Es ist allerdings nicht so ernst, wie es sich anhört. Andererseits ernst genug. Jemanden im Krieg zu töten, das zählt. Dort haben es die meisten von uns getan. Im Kampf. Es ist ein Club von Killern, nicht von Mördern. Genau das ist es natürlich, was Kim mir sagen will, als er mich mit Hawk auf die Matte schickt. Hier sind Leute außerhalb von U.Sec. und RepCo, die zu allem bereit sind. Aus der ROK kann ich meine Verstärkung rekrutieren. Ich habe damit gerechnet, daß es einmal soweit kommen würde, und tatsächlich habe ich mir schon ein paar Burschen ausgesucht, von denen ich glaube, daß sie gut sind und mir helfen werden. Da ist Hawk, von dem ich Ihnen ja bereits erzählt habe. Paul Dresser ist Steuerberater und Ex-Green-Beret, der gerade an seiner Scheidung zu knacken hat, deshalb ist er voller Wut und hat das Bedürfnis, Gerechtigkeit walten zu lassen, und wenn das nicht möglich ist, dann tut's auch Ungerechtigkeit. Dennis O'Leary, einäugiger Chefelektriker beim Film, der weniger Arbeit bekommt, als er sollte, weil er sich einmal bei einer Vorführung um zwei Sitzplätze gestritten hatte, die für Gäste von David Geffen reserviert waren. Bruno, der Klempner, und Jorge, der Lebensmittelhändler. Vielleicht auch noch andere, je nachdem, wie sich alles entwickelt. Dann sind da noch Steve und sein Sohn. Außerdem glaube ich, daß auch Kim mitmacht, falls wir am Ende gegen Sakuro Juzo und seine Ninja antreten müssen. Hinter der Fassade des Geldverdienens, Trinkens und Meckerns steckt der beste Soldat, dem ich je begegnet bin. Einschließlich der besten Männer des Vietcong und der NVA. Steve und sein Sohn fahren mit uns. Hawk und O'Leary, der gerade einen Job bei einer freien Produktion hinter sich hat, 445 fahren getrennt und treffen sich mit uns in Maggies Haus in Napa. Nicht weit entfernt von John Lincoln Beagles Weingut, wo er, wie ganz Hollywood weiß, eine Aussöhnung mit Jacqueline Conroy versucht in der Hoffnung, ein normales Familienleben führen und seinen Sohn behalten zu können. Maggie besitzt hektarweise Land. Die langen Reihen der Weinstöcke ziehen sich über die Hügel und folgen den Konturen der Landschaft. Dabei wird mir erst ihr Reichtum und der Reichtum der Welt, die ich betreten habe, so richtig bewußt. Das Schlafzimmer im ersten Stock besitzt ein großes Fenster. Ein fetter weißer Mond wirft sein Licht in unser Zimmer. Mitten in der Nacht frage ich sie: »Hast du irgendwo noch einen Vater oder Bruder?« »Warum?« »Wenn wir weiterhin das machen, was wir machen, und vor allen Dingen, wie wir's machen, wirst du schon bald dick und rund werden. Und dann kommt fast zwangsläufig jemand wie ein Vater oder ein Bruder mit einer Schrotflinte angerannt und zwingt mich, dich zu heiraten.« »Das ist die einzige Möglichkeit, daß du mich heiraten würdest?« »Dann sieht es nicht so aus, als wollte ich dich nur wegen deines Geldes heiraten.« »Hmm, das ist nett«, sagt sie. Sie drückt sich an mich. Später schlängle ich mich aus ihren Armen und schlüpfe aus dem Bett. Ich gehe nach unten zum anderen Ende des Hauses, wo sich die Gästezimmer befinden. Hawk und O'Leary warten schon auf mich. Sie tragen Tarnanzüge. Wir schwärzen uns die Gesichter und verlassen das Haus.
446 KAPITEL FÜNFZIG Am Straßenrand saßen zwei Männer in einem Lieferwagen. Der eine schenkte eine Tasse Kaffee aus einer Thermosflasche ein, packte dann ein in Plastikfolie gewickeltes Schinken-Sandwich aus. Das Ding war mit Grey-Poupon-Senf bestrichen, weil seine Frau die Sachen glaubte, die sie im Fernsehen sah. Der andere Mann stieg aus dem Wagen, um in den Büschen zu pinkeln. Sie gehörten zur Sacramento-Filiale von Universal Security. Zu blöd, daß jemand sämtliche Wanzen in Magdalena Lazlos Haus gefunden und herausgerissen oder neutralisiert hatte. Sie hatten nicht die geringste Ahnung, was in dem Haus vor sich ging. Sie stellten obszöne Vermutungen an, wo sie doch zusammen mit weißen und schwarzen Männern da drin war, aber sie glaubten selbst nicht, was sie unterstellten, sie vertrieben sich einfach nur die Zeit. Sie hatten die Schicht von Mitternacht bis morgens um acht; die Zeit schleppte sich gähnend langsam dahin. Sie konnten die Zufahrt und in beiden Richtungen die Straße einsehen. Auf diesem Weg würde niemand das Haus betreten oder verlassen, ohne von ihnen gesehen zu werden. Sie hatten Nachtsichtgeräte. Die sie aber nicht benötigten. Der Mond stand fett und hell am Himmel. Am Straßenrand saßen ein Mann und eine Frau in einem Wagen. Ihre jeweiligen Ehegatten waren überzeugt, daß sie ein Verhältnis hatten. Jedesmal, wenn sie mit einem Mann, mit irgendeinem Kollegen, auf Observation ging, war dessen Ehefrau immer sicher, daß sie es miteinander trieben. Sie taten es nicht. 447 Sie hatten John Lincoln Beagles Haus im Blick. Sie waren mit Nachtsichtgeräten ausgerüstet, die sie aber nicht benötigten. Es stand ein Mond am Himmel, der so hell strahlte, daß er Schatten warf und man sogar die Farben der Dinge erkennen konnte. Ein drittes Fahrzeug patrouillierte unablässig auf den neun Meilen zwischen diesen beiden. Teils, um die beiden zu kontrollieren. Teils, weil Mel Taylor überzeugt war, daß Broz etwas unternehmen würde, und dann wollte er dabeisein. Er wußte von Hawk, Steve Weston und Steves Sohn, außerdem war da noch ein weißer Bursche. Den Namen des Weißen kannte er noch nicht. Aber das würde sich noch ändern. Schon bald. Er wußte nicht, was genau sie vorhatten, aber er vermutete, auch das würde er schon sehr bald wissen. Für den Fall, daß Broz irgendwie etwas abzog, hatte Taylor einige Gegenmaßnahmen vorbereitet. 448 KAPITEL EINUNDFUNFZIG Der Grundstein des Weißen Hauses wurde am 13. Oktober 1792 gelegt. Es wurde 1800 fertiggestellt und war das erste öffentliche Gebäude in der neuen Hauptsadt des neuen Landes. Es wurde gebaut, um den Geist des großen Experiments widerzuspiegeln, auf das sich das Land einließ. Die führenden Köpfe dieser Neuschöpfung waren eisern bemüht, die kleinsten Insignien der Monarchie zu vermeiden, also sollte es mit Sicherheit kein Palast werden. Dennoch wollten sie etwas Feines und Nobles, das ihre Ideale zum Ausdruck brachte. Trotz Zeit und Wetter, Feuer und Rauch, Anbauten und Renovierungen, trotz der Fehler und menschlichen Schwächen seiner Bewohner ist das Weiße Haus eleganter Ausdruck der Hoffnungen geblieben, die das Zeitalter der Revolution und des Rationalismus bestimmten. Von dem Taxi aus, das David Hartman unauffällig vom Dul-les International Airport chauffierte, boten sich dem Fahrgast eine Reihe von Aussichten auf das Weiße Haus, bevor es ihn zum Eingangstor brachte. Er hatte sie alle schon gesehen, wie wir alle, unzählige Male, in Filmen und im Fernsehen, in den Nachrichten, in Zeitschriften, in Zeichentrickfilmen und Comics. Und dennoch zeigte es Wirkung. Hartman wußte nicht, ob das an irgendeiner Ästhetik lag, die den Ort beherrschte, oder ob es daher kam, daß er den Hauptsitz des Reiches als Akteur betreten sollte. Es war einer jener Tage, an denen der Präsident eine ganze Reihe von Meetings hatte. Nichts Weltbewegendes oder 449 von besonderem Nachrichtenwert, aber er hatte viel zu tun. Man schob David kurz vor neun Uhr morgens dazwischen. Im Terminkalender des Präsidenten stand: »Handelsmin. & D. Hartman«. Es würde Memos geben, daß es sich bei dem Thema, das besprochen worden war, um die Bedeutung der Unterhaltungsindustrie als zweitwichtigstes Exportprodukt der Nation, gleich nach der Luftfahrt, gehandelt habe. Nichts in den Memos deutete daraufhin, daß der Handelsminister fast augenblicklich den Raum verließ und Hartman blieb. Als er allein mit dem Präsidenten war, erläuterte Hartman, was
Saddam Hussein wollte. Er wollte Zugang zu westlichen Waffen und Waffentechnologie. Er wollte Geld. Auf den Tisch, sogar noch vor Vertragsabschluß. Keines von beiden, so schlug Hartman vor, sollte ein Hinderungsgrund sein. Es handelte sich um nicht allzu große Summen. Zumindestens jetzt noch nicht. Ein paar Milliarden Dollar. Und sie brauchten nicht im Haushalt zu erscheinen. Bush war darüber erleichtert. Diese ganze Haushaltsphantasie war völlig außer Kontrolle geraten. Es handelte sich um eine Pseudofiktion oder Pseudotatsache, von der zehnfachen Größe eines Ballons bei der Thanksgiving-Parade von Macy's. Nichts, was irgend jemand darüber sagte, schien irgendwie mit der Wirklichkeit zu tun zu haben, aber jedesmal, wenn es Zeit für das alljährliche Ritual war, veranstalteten alle ein Heidenspektakel. Das Geld sollte als Darlehen an Saddam gehen. »Wir brauchen das Darlehen noch nicht mal selber aufzunehmen«, sagte Hartman. Er hatte bereits mehrere schweizerische und italienische Bankiers zusammen, die das gern übernehmen würden. »Wir müssen nur die Bürgschaften stellen.« David würde von beiden Seiten einige Prozente abbekommen. Bankgeschäfte waren eine aufregende neue Sache. »Ich würde das Landwirtschaftsministerium dafür vorschlagen«, sagte 450 Hartman. Er zitierte hier geradezu Pandars Drehbuch. »Bürgen Sie für die Anleihen zugunsten landwirtschaftlicher Kredite. Das sieht dann so aus, als ginge das Geld an die Bauern -was es ja auch vielleicht wirklich tut -, der Irak muß sowohl Butter als auch Gewehre kaufen. Das Ganze ist geheim und nützlich zugleich.« Dann kam er zu den Hauptpunkten. Ganz gleich ob Sieg, Niederlage oder Patt: Saddam verlangte eine Garantie für sein persönliches Überleben, für die Integrität seines Landes, zumindestens in den derzeitigen Grenzen, für den Erhalt seiner Streitkräfte auf einem Niveau, das zum Schutz dieser Grenzen und zur Unterdrückung jedes Versuchs eines Staatsstreichs oder einer Rebellion durch abweichlerische Minderheiten ausreichte. Tatsächlich hatte Saddam einen Vergleich gemacht zwischen seinen Streitkräften, die er brauchte, um die Kurden im Zaum zu halten, und Amerikas Streitkräften, mit denen die Schwarzen im Zaum gehalten würden. Er hatte es in der Art eines Kumpels gesagt, eine Bemerkung, die für Kameraderie sorgen sollte, so von einem überlasteten Staatsmann zum andern. Das war ein unglücklicher, aber verständlicher Vergleich, da ein Iraki die Polizei, die Armee, die nationale Polizei und die Nationalgarde als Facetten einer einzigen Macht betrachtete, nicht als unabhängige Einheiten, wie das Amerikaner tun. Dennoch fand Hartman nicht, daß diese Einsicht hilfreich war, und erzählte es nicht weiter. Schließlich gab es noch ein paar kleinere Punkte. Erstens -der Ölpreis sollte weltweit steigen. Das mußte nicht abrupt geschehen, aber es mußte sicher sein. Zweitens - Saddam wollte direkten Zugang zu den Medien - Weltmedien hieß amerikanische Medien -, den ganzen Krieg über. Er wollte in der Lage sein, zur besten Sendezeit im Fernsehen zu erscheinen und seine Botschaft an das amerikanische Volk, an die arabische Welt, an die ganze Welt zu richten. 45i Hartman hatte sich über den zweiten Punkt per verschlüsselter Telefonleitung aus dem U.-Sec.-Büro in Rom bereits mit Beagle verständigt. Beagle war begeistert von der Idee. »Das ist richtig capraesk«, sagte Beagle. Frank Capra hatte während des Zweiten Weltkriegs die Aufgabe gehabt, Amerikas Propagandafilme zu produzieren. Seine Quellen für die Filmausschnitte, mit denen er ein Bild von den Japanern und Deutschen als Bestien zeichnete, waren ihre eigenen Filme gewesen. Beide Völker waren stolz auf ihre Blitzkriege und schnellen Eroberungen, auf ihr Gefühl von Nationalstolz und rassischer Reinheit gewesen. Vor allem die Deutschen bemühten sich sehr und mit großem Erfolg darum, diese Gefühle auf Film zu bannen. Capra war begeistert von der Idee, ihre eigenen Mittel gegen sie zu verwenden.120 »Geben Sie ihm Zugang zu den Medien«, sagte Hartman zum Präsidenten. »Saddam versteht vom Fernsehen noch weniger als Michael Dukakis. Er kommt aus einem anderen Jahrhundert. Vertrauen Sie mir. Je stärker er das Fernsehen einsetzt, um so mehr wird er sich selbst schaden. Beagle findet es toll. Er stellt sich vor, wie Saddam mit seinen Elitetruppen durch die brennenden Ruinen eines eroberten Landes stolziert.« Kurz vor Tagesanbruch wachte Magdalena Lazlo in den Bergen Kaliforniens auf. Der Himmel hellte sich gerade erst auf, und das Bett neben ihr war leer. Sie streckte eine Hand aus, wußte, daß er nicht da war, und legte die Hand auf das Kissen, wo zuvor sein Kopf gelegen hatte. Eine sentimentale Geste. Es war ein gutes Gefühl, einen Mann zu haben, den man vermissen konnte. Sie versuchte diese Stimmung festzuhalten und verschränkte die Arme so vor der Brust, als würde sie
das Gefühl fest an sich drücken. Dann zog sie einen Morgenmantel über und 452 ging hinunter in die Küche. Auf dem Weg nach unten hörte sie Geräusche. Ein Frösteln jagte ihr über den Rücken, und das Gefühl - die Vorstellung, einen Beschützer und Geliebten zu umarmen verschwand so schnell wie ein Geist bei Tageslicht. Aber dann, einen Herzschlag, einen Augenblick später, stieg ihr das Aroma frisch aufgebrühten Kaffees in die Nase. Und andere Düfte. Speck in einer Pfanne, Brot im Toaster. Dann die leise gesprochenen Worte und das Lachen eines Schwarzen. Sie bewegte sich laudos, so daß sie unbemerkt beobachten und lauschen konnte. Zuerst wußte sie nicht, was sie dazu veranlaßt hatte. Dann wurde ihr klar, daß sie einen Vater mit seinem Sohn sehen wollte. Sie dachte an sich selbst und berührte ihren Bauch. Seit der Pubertät hatte sie hin und wieder empfängnisverhütende Mittel benutzt. Aber nicht immer. Sie wurde nicht leicht schwanger. Andernfalls hätte es inzwischen schon mehr als nur einen Unfall gegeben. Hatte es aber nicht. Nicht mal mit ihrem Ehemann. Kam ihr deshalb so leicht das »Ja, komm rein« über die Lippen, weil sie nicht wirklich Angst davor hatte, wenigstens nicht vor einer Schwangerschaft und deren Konsequenzen - der unterbrochenen Karriere, den Schwangerschaftsstreifen, den erschlaffenden Brüsten und dem Bauch, dem Breiterwerden der Hüften, dem dickeren Hintern und der Verantwortung? Und natürlich war da noch dieser Begleiter, der sich dann für zwanzig oder dreißig Jahre an einen klammert. Sie hätte Angst haben sollen - mit den Fingern strich sie ihre Haare zurück es war der reinste Wahnsinn, keine Angst vor der anderen Sache zu haben. Der Krankheit. War das schiere Verdrängung? Oder war es dieser andere Zug in ihr, der, der es tatsächlich so meinte, wenn sie sagte: »Entweder ist es Leben oder Tod«, es kam ihr richtig vor, denn anders schien es nicht wert, es überhaupt zu tun. 453 Sie hatte einen Namen für diesen Aspekt ihres Selbst. Aus den gleichen Gründen, wie manche Männer Kosenamen für ihren Penis haben. Denn der Teil führte oft genug das Ganze, und der Mensch war stolz darauf, wo dieser Teil ihn hinführte, selbst wenn es dumm oder gefährlich war. Maria Magdalena war ihr naheliegender, aber geheimer Name für diese Seite ihres Selbst, und Maggie ließ Maria gern vor der Kamera heraus, die heilige Hure, frech, niederträchtig, verletzlich, gefährlich. Vor allen Dingen gefährlich für sich selbst. Es war diese Qualität, dieses Gefühl, ohne Netz zu arbeiten, das für ihre schauspielerische Magie verantwortlich war. Nicht das Handwerk, nicht die Wangenknochen, nicht die Titten. Sondern den Mut zu haben, häßlich zu sein, ordinär, pathetisch, dumm, verängstigt, dominant, bösartig, ein Miststück, eine Fotze, eine eiskalte, selbstbeherrschte Frau, eine Heilige; zu wagen, das Drahtseil in der Luft zu finden, auf dem man nicht gehen konnte, und doch darauf zu gehen. Martin Joseph Weston, achtzehn Jahre, schaute zur Tür und sah sie dort stehen: den Morgenmantel mit einem Gürtel in der Taille zugebunden, die Haare noch zerzaust vom Schlaf, nur einmal mit den Fingern gekämmt, barfuß. Er konnte sich gerade noch bremsen, anerkennend zu pfeifen und Dinge zu sagen, die auf den Straßen von L. A. gut klangen, von denen er aber genau wußte, daß sie sich hier, in dieser taufrischen Welt, völlig falsch anhören würden. Dann lächelte sie ihn an. Es war ein schüchternes Lächeln, als würde sie in ihr eigenes Haus eindringen und sich nun fragen, was sie wohl von ihr denken mochten. Und er verliebte sich in sie, war auf der Stelle hin und weg. Sein Vater hätte am liebsten laut gelacht, als er den Ausdruck auf dem Gesicht seines Sohnes sah. Aber er wußte, wie dumm und empfindlich der Stolz eines Jungen in der Pubertät war, besonders in Gegenwart seines Vaters und einer Göt454 tin. Daher sagte Steve nur: »Morgen, Miss Lazlo, wie möchten Sie Ihre Eier?« Sie begrüßte Steve und Martin, sagte, sie sollten sie Maggie nennen. Sie wollte weder Eier noch Speck, aber wenn noch genug Kaffee da sei, würde sie gern einen haben, und vielleicht auch eine Scheibe Toast von dem Sauerteigbrot. Steve schenkte ihr den Kaffee ein. Sie trank ihn schwarz, wie die meisten Frauen, deren Kapital ihre Figur ist. Er steckte eine dicke Scheibe Brot in den Toaster. Maggie setzte sich neben Martin an den Tisch. Vor ihm stand bereits ein Teller mit Rührei, einem dicken Stück kanadischen Frühstücksspeck und Toast. Doch als sie jetzt so dicht neben ihm saß, hatte er das unangenehme Gefühl, nicht mehr zu wissen, wie er richtig essen sollte, ohne dabei wie ein gieriger Hund zu wirken. »So haben Sie also ausgesehen, als Sie zu den Marines gegangen sind«, sagte Maggie zu Steve. »Wie aus dem Gesicht geschnitten.« »Sie waren ein gutaussehender Junge.« »Worauf Sie sich verlassen können. Die Mädchen sind mir durch ganz Macon nachgelaufen. Damals
war's noch anders. Wenn ein Mädchen schwanger wurde, haben die Leute von einem erwartet, daß man das Mädchen heiratet. Das machte einen vorsichtig. Ein bißchen. Und diese AIDS-Sache gab's noch nicht.« »Dadl« Steve ließ seine Eier aus der Pfanne auf den Teller neben den Speck rutschen. Er nahm den Toast, Maggies und seinen eigenen, aus dem Toaster, holte ihr einen Teller und bestrich beide mit Butter. Im Kühlschrank war ihm ein Glas Ingwer-Marmelade aufgefallen. Er holte es heraus und setzte sich mit den beiden Tellern, dem Besteck und seiner Tasse Kaffee an den Tisch. »Sie waren in Vietnam mit Joe zusammen.« »Hm-hmmmh.« 455 »Erzählen Sie mir davon?« »Was wollen Sie wissen?« »Da ist dieser Mann, dieser Taylor. Er haßt Joe. Wissen Sie, warum?« »Joe hat es Ihnen nicht gesagt?« »Ich habe ihn nicht gefragt.« »Tja, wenn er's Ihnen nicht erzählt hat...« »Ich habe einfach nur nicht danach gefragt. Steve« - sie warf ihm einen Blick zu, der ihn auf eine ganz besondere Weise um Hilfe bat - »ich liebe Joe. Bitte.« In der frühen Morgendämmerung saßen zwei Männer der Sacramento-Filiale von Universal Security in einem Lieferwagen. Der eine schenkte sich aus einer Thermosflasche einen Becher Kaffee ein. Der andere stieg aus, um im Gebüsch zu pinkeln. Die ganze Nacht über war nichts passiert. Es ist schwer, nichts zu beobachten. Aber es ist immer noch leichter, als Gräben auszuheben. In der frühen Morgendämmerung beobachteten Joe, Dennis und Hawk aus drei verschiedenen Positionen das Haus. Joe im Osten und Dennis im Norden wurden von den Weinstöcken verborgen. Hawk, im Süden, wartete im Schatten einiger Aprikosenbäume. Dylan, der normalerweise bei Tagesanbruch aufwachte, stand in seinem Kinderbett und schrie nach Aufmerksamkeit. Das Kindermädchen kam und nahm ihn in die Arme. Von seinem Standort aus konnte Joe sehen, wann sie das Licht einschaltete, und dann sah er ihre Silhouette hinter dem Fenster, den Jungen auf dem Arm. Sie waren als erste auf. Das Kindermädchen machte Dylan seine Flasche. Dann ließ sie die Hunde raus. *** 456 »Nachdem Joe zum Sergeant befördert wurde, konnte er den Laden schmeißen«, sagte Steve. »Und seitdem er den Laden schmeißt, wird alles besser. Die Leute sterben nicht mehr. Wir verlieren keine Jungs mehr durch versteckte Bomben und all das. Oder durch Hinterhalte. Kein Mensch legt Sergeant Joe Broz einen Hinterhalt. Ist fast so, als hätte er so was wie 'nen sechsten Sinn oder irgendwelche Zauberkräfte. Hat er aber nicht. Er hat's mir mal erklärt. Wie er's macht. Und auch Joey. Joey war sein bester Freund, von da, wo er herkommt. So sind sie, Joe und Joey. Er hatte einen ganzen Haufen Regeln, was Hinterhalte betraf: das Terrain, die Erwartungen des Feindes und solche Sachen. Und es hat funktioniert. Man mußte einfach hart arbeiten. Den langen Weg nehmen, sich einen Weg durchs Unterholz bahnen und die ausgetretenen Pfade meiden. Immer den Helm und die kugelsichere Weste tragen, egal, wie heiß es wurde. Tief graben, wenn man sich eingrub. Nie die Tarnung vergessen. Steck dir ein paar verdammte Blätter an den Helm, und mal dein Gesicht an, was ganz besonders für weiße Burschen gilt.121 Kennen Sie den Film Die Hunde des Krieges} Chris Walkens Motto lautet: Jeder kommt wieder nach Hause.' Tja, ganz so gut waren wir nicht. Aber wir waren gut. Und nach einer Weile wird Joe Broz, also, da wird er so was wie ein Star. Fast. Er war stolz. Richtig stolz. Auf seine Jungs aufzupassen, Sie wissen, wie das ist. Er sorgt dafür, daß man sich um seine Füße kümmert, besorgt einem Klamotten, sorgt dafür, daß man alles tut, was man eben tun mußte, außer Mama nach Hause einen Brief schreiben. Dann kriegen wir diesen neuen Lieutenant namens Gelb. Ein Judenjunge aus Atlanta. Ich erinnere mich dran, weil ich selbst aus Georgia stamme. Jedenfalls, der war in Ordnung. Er merkt, daß Joe alles fest im Griff hat und daß das Beste, was er tun kann, für sich und alle Beteiligten, ist, alles so zu lassen, wie's ist. 457
Wir sind oben beim I Corps, das ist oben im Norden, in der Nähe der EMZ122, viel Bergland, wissen Sie. Diese Offiziere, die kommen zu uns. Bis zum heutigen Tag weiß ich nicht, wer die Leute sind oder wieso sie da waren. Einer von denen, er ist ein Captain der Marines. Captain TartabuU. Und dieser Army Captain. Captain Taylor, er ist als Beobachter dabei. Die Marines zeigen der Army mal so richtig, wie man so was zu erledigen hat. Irgend so eine Scheiße. Wir haben keine Ahnung, wer dieser TartabuU ist. Kein Mensch hat den Kerl vorher schon mal gesehen. Aber er führt sich auf, als war er der Chef und als unser Kommandant Tag und Nacht und kreuz und quer draußen im Busch immer dabei. Von wegen Chef, ein ausgemachtes Arschloch ist er. Er hat's geschafft, daß wir alle doch noch in der Scheiße gelandet sind. Mit den drei Offizieren sind wir siebenundzwanzig Mann. Wir fliegen mit zwei CH-46ern in die LZ die Landezone. Okay. Alles ist bestens. Die LZ ist kalt. Wir haben die Chop-per verlassen. Springen auf festen Boden und verschwinden sofort in den Wald, wie's Joe von seinen Jungs verlangt. Bilden eine weit auseinandergezogene Kette. Ein, zwei, drei Typen draußen an den Flanken. Die beiden Captains, TartabuU und Taylor, die schlendern aus den Choppern, wissen Sie, die Arschlöcher versuchen tatsächlich, sich gegenseitig an Coolness zu überbieten. Nach dem Motto: »Sieh mich an, ich hab keine Angst vor der NVA.< Und dann sagt dieser TartabuU, wir gehen jetzt in dieses Tal hier, das liegt direkt vor uns, und dann weiter ins nächste Tal, um Charlie aufzustöbern, denn wir holen uns heute ein paar Schlitzaugen. Jawohl, Sir, wir werden heute Leichen zählen und ein paar Ohren mit nach Hause nehmen. Sie ahnen schon, was als nächstes passiert, richtig? Wir sehen es alle kommen.Joe Broz, der Sergeant, sagt: >Nichts für un458 gut, Captain. Aber das da hinten ist ein ideales Gelände für einen Hinterhalt. Marschieren Sie nicht in diese Richtung.« Der Captain sagt: >Genau da gehen wir hin. So lauten unsere Befehle/ >Sir, das ist aber ein Fehler, Sir. Wenn wir vielleicht rüber auf die linke Flanke gehen ... von links vorstoßen -< >Sergeant! Haben Sie vielleicht Angst, in das Tal da zu gehen?« Ja, Sir. Denn genau das erwartet Charlie von uns - die warten nur auf jemanden, der dumm genug ist, das zu tun.« >Sergeant, ich enthebe Sie Ihres Postens.« Dann ruft er den Lieutenant. >Führen Sie Ihre Männer, Lieutenant.« Der LT nimmt den Captain zur Seite, spricht unter vier Augen mit ihm, aber jeder kriegt mit, daß er versucht, etwas über Joe und seine Erfahrung und so Scheiß zu sagen. TartabuU ist auf hundertachtzig und stinksauer, weil sie vor diesem Army Captain sein Urteilsvermögen in Frage stellen. Nur weil er sich irrt und uns alle umbringen wird, läßt der sich doch nicht aufhalten.« Joe hatte mit Hunden gerechnet. Das war immer so auf dem Land. Er hatte Duftspuren gelegt, die die Köter von den Männern wegführen soUten. Eine läufige Hündin, was für Rüden das Beste ist, und Fuchs, falls es Hündinnen sind. Es war schwer für die Männer, die die Aromen nicht wahrnehmen konnten, Vertrauen in das Zeug zu haben - und wenn, dann hätten sie es wahrscheinlich nicht so geschätzt wie Hunde. Daher erstarrten sie, als die Hunde rausgelassen wurden. Die Hunde, zwei Beagle namens Ford und Nixon, stürmten aus dem Haus und waren ganz offensichdich von den aufregenden neuen Düften begeistert. Sie rannten im Kreis, versuchten die Witterung aufzunehmen, um ihr dann zu folgen. 459 Für sich genommen schienen die Hunde nicht gefährlich zu sein, aber ihre Entdeckung war es mit Sicherheit. Die drei Männer waren bewaffnet und befanden sich auf dem Grundstück einer sehr reichen und berühmten Persönlichkeit. Jeder von ihnen konnte sich das Eintreffen der örtlichen und staatlichen Polizei vorstellen, die Autos, die Bluthunde und Hubschrauber, die alles sofort in einen durchgeknallten John-Landis-Film verwandelt hätten - wie The Blues Brothers, Streifenwagen in rekordverdächtiger Anzahl donnerten durch ganz Kalifornien, um auf dem protzigen Beagle-Weingut zusammenzuströmen. Oder sie machten Rambo daraus, verrückt gewordene Schweine gegen irre Veteranen, live um fünf, MAZ um elf. Plötzlich senkten Ford und Nixon ihre zuckenden schwarzen Nasen dicht auf den Boden. Mit gebeugten Köpfen und erhobenen Schwänzen rasten sie los wie kleine Verrückte und folgten einer unsichtbaren Linie. Die sie genau zwischen Joe und Hawk und weit von ihnen fort führte. Beide Witterungen, Fuchs und Hündin, führten zu einem Haufen Knochen, an denen sich noch etwas Fleisch befand, was die Hunde lange genug beschäftigen würde, wenn sie es erst mal müde waren, Gerüchen nachzujagen, die nirgendwohin führten. Das Fleisch enthielt eine kleine Dosis Beruhigungsmittel der Sorte, wie man es Hunden gibt, damit sie während eines Fluges in ihren Transportkäfigen
schlafen. Joe wartete, daß auch der Rest des Haushaltes aufwachte. Taylor meldete sich bei den beiden, die von ihrem Aussichtspunkt auf der Straße Beagles Haus beobachteten. Er erkundigte sich, ob sie irgend etwas gesehen hätten. Sie verneinten. *** 460 »Klar war es ein Hinterhalt. In der ersten Minute, nicht mal in einer Minute, haben wir fünf Männer verloren. Die hatten sich eingegraben. Wir saßen fest. Die in Bunkern, mit Maschinengewehren und Granatwerfern. Die Bunker hatten sie getarnt. Nicht mal B-52-Bomber hätten diese Wichser aus ihren Löchern jagen können. Wir saßen richtig fest. Die hatten das schon seit langem vorbereitet, und jede Nacht sagten sie dieses Gebet auf, Herr, schick uns ein paar Marines, die blöd genug sind, durch das Tal des Todes zu latschen. Der Captain - dieser Tartabull - versucht, Luftunterstützung anzufordern. Irgendwas, Chopper, Puffthe Magic Dragon, auch beschissene B-52er, falls er sie kriegen kann. Aber er kriegt keine. Nicht verfügbar. So wie's ist, liegen wir in einem Halbkreis. Da ist dieser steile Bergrücken, was mal unsere rechte Flanke war, aber jetzt ist's so was wie unsere Nachhut. Was mal unsere Vorhut war, ist jetzt die rechte Flanke. Wir haben vier Typen dajoe mitjoey und noch zwei andere, beides Schwarze. Ich liege mit drei anderen Plattfüßen und Taylor genau im Zentrum. Taylor hat Mumm, gar keine Frage. Der Mann ist bestimmt kein Feigling. Und er versucht sein Bestes. Der LT, der ist links von uns, was vorher mal unsere Nachhut war, der Weg raus aus der Scheiße, falls es den überhaupt gibt. Tartabull, der liegt hinter einem umgestürzten Baum und ein paar Felsbrocken, in der Nähe von dem steilen Abschnitt. Wir haben bereits fünfzehn oder sechzehn von den Jungs verloren. Die sind vielleicht zu fünfzig, sechzig Mann da draußen. Wenn nicht verdammt schnell irgendwas passiert, werden wir einfach überrannt, dann sind wir nur noch totes Fleisch. Sie waren nie im Kampfeinsatz. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen 461 beschreiben soll, wie das ist. Keine Ahnung. Es ist laut, es ist, als würde man in einem Faß voller Lärm stecken, voller Schreie und Explosionen und Schüssen. Lärm, Lärm, Lärm. TartabuU brüllt ins Funkgerät, und schließlich kommt er durch, und sie werden ihm was schicken. Ich weiß nicht, wie Joe überhaupt mitkriegen konnte, was TartabuU da macht. Aber er weiß einfach, daß der Captain Scheiße baut. Der Cap-tain gibt den fliegenden Jungs die falschen Koordinaten durch. Der Captain gibt ihnen das weiß ich zu dem Zeitpunkt noch nicht, aber Joe erzählt's mir später -, der Captain gibt die falschen Koordinaten durch. Der Captain bestellt einen Luftschlag genau auf unsere Köpfe.« Das Kindermädchen ging mit Dylan nach draußen. Sie riefen nach den Hunden, die allerdings nicht kamen. Dylan war enttäuscht. Das Kindermädchen war viel zu sehr damit beschäftigt, den Jungen zu beschäftigen, um sich zu fragen, wohin die Hunde verschwunden waren. Kurze Zeit später wachten Beagle und Jackie auf. Sie winkten Dylan aus dem Fenster zu. Er hob seine kleine Hand, öffnete und schloß sie, was seine Art des Winkens war. Es war bezaubernd, und seine Eltern gurrten. Dann erspähte er einen richtig großen Stein, mußte ihn unbedingt aufheben und mit ihm nach dem Kindermädchen werfen. Hawk hatte den besten Blick auf die Vorderseite des Hauses und die Straße. Es war Hawk, der den Firmenwagen von U.Sec. die Zufahrt hochkommen sah. Er flüsterte die Neuigkeit in das Mikrofon, das er an seinem Handgelenk trug, die beiden anderen hörten es in ihren Kopfhörern. Obwohl es von einem anderen Hersteller stammte, war es im wesentlichen das gleiche Kommunikationssystem, das auch der Secret Service benutzt. *** 462 »Joe kriecht zum Captain rüber. Und die ganze Zeit über brüllt er: >Das ist falsch, das ist falsch.« Der Captain beachtet ihn nicht. Brüllt immer und immer wieder irgendwelche Koordinaten ins Funkgerät. Verwundete schreien, was sie immer schreien. Sie schreien nach einem Sanitäter, nach Morphium, ihren Mamas. Sie schreien und schießen. Schließlich erreicht Joe TartabuU. Brüllt ihm ins Gesicht. Die falschen Koordinaten. Gib mir das Funkgerät. Beschimpft ihn. All diese Scheiße eben, alles, was ihm einfällt. TartabuU schreit zurück. Dann nimmt Joe sein M-16 und richtet es auf den Captain. Das ist echt unheimlich, denn trotz all dem Geschreie und der ganzen Scheiße starrt plötzlich jeder zu
Joe und dem Captain rüber. Ich und Taylor eingeschlossen, der praktisch direkt neben mir liegt. Joe hält das Gewehr. Der Captain das Funkgerät. Umklammert es. Der LT, er ist auch drüben bei ihnen. Der Captain hat eine .45er. Er richtet sie auf Joe. Irgendwas kommt über Funk rein. Die NVA hat nicht aufgehört, die machen immer noch weiter. Plötzlich wirdJoey getroffen. Joe sieht zu der Stelle rüber. Dreht den Kopf wieder zurück, sagt irgendwas zum Captain. Der Captain antwortet irgendwas. Joe schießt auf ihn. Einmal.« Der Mann von U.Sec. blieb höchstens zehn Minuten. Joe nahm an, daß er Beagle sagte, er wolle das Haus nach Wanzen absuchen, in Wirklichkeit aber gekommen war, um die Tonbänder des letzten Tages abzuholen. Die drei Beobachter warteten geduldig. Gegen neun Uhr gingen Jackie und Beagle zum Stall runter. Es war offensichtlich, daß Jackie gut reiten konnte und außerdem glaubte, dabei gut auszusehen. Beagle konnte sich kaum auf dem Pferd halten. Er hatte einfach den Bogen nicht raus, sich den Bewe463 gungen des Pferdes anzupassen. Vielmehr bewegte er sich bei jedem Schritt dagegen und sorgte so dafür, daß sein Hintern bei jedem zweiten Schritt des Pferdes hart auf den Sattel klatschte. Sie hielten auf den Aprikosenhain zu. Hawk machte sich durch Willensanstrengung unsichtbar. Die Pferde witterten ihn und wieherten. Aber ihre Reiter nahmen an, bei den Lauten handele es sich um irgendwelche Pferdeangelegenheiten, rissen an den Zügeln und ritten vorbei. Als nächster verließ der Koch das Haus und fuhr zum Markt. Etwa eine halbe Stunde später setzte das Kindermädchen Dylan in einen Buggy und machte sich auf den Weg die Straße hinauf. Sofern es nicht noch jemanden gab, von dem sie nichts wußten, war das Haus jetzt leer. »Joe hängt sich ans Funkgerät. Ergibt brüllend die neuen Koordinaten durch. Taylor schreit ihn an. Der LT wird verwundet. Das dumme Arschloch hat die Deckung verlassen. Joe legt Rauchgranaten, rote, vielleicht auch gelbe, ich weiß es nicht mehr. Keine zwei, drei Minuten später, so kommt's uns wenigstens vor, stürzen die F4 kreischend aus dem Himmel. Und sie legen einen Napalm-Teppich. Nur ein-, zweihundert Meter von uns entfernt. Wir können die Hitze deutlich spüren. Da ist diese Feuerwand. Nur ein paar hundert Meter weiter zurück, und wir wären gebratene Marines gewesen. Gegrillt. Schön knusprig. Wir nutzen das aus, das ist unsere Deckung, um unsere Ärsche so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen. Joe trägt Joey. Ich hole zu ihm auf. Joey ist tot. Ich sag's ihm. Dann werde ich plötzlich getroffen.Joe weint. Ich hab noch nie erlebt, daß Joe sich irgendwas hat anmerken lassen. Er 464 weint. Ich bin auf den Knien, irgendwas stimmt nicht. Mir wird schwarz vor Augen. Dann legt Joe die Leiche von seinem Kumpel auf die Erde, hebt mich hoch und trägt mich da raus. Ich weiß nicht besonders viel von dem, was anschließend passiert ist, nicht aus eigener Erfahrung. Aber soweit ich es mitgekriegt habe, ist folgendes passiert - wir haben zehn Männer rausgekriegt. Zehn von ursprünglich siebenundzwanzig. Auch den LT schafften wir raus. Ich glaube, Joe ist noch mal zurück, um ihn zu holen, das hat mir wenigstens irgendwer erzählt. Außerdem hat man mir erzählt, er würde nie wieder gehen können. Nie wieder. Vielleicht stimmt das. Ich weiß es nicht. Taylor ist auch rausgekommen.« Wieder in seinem Motel, schloß Taylor den Zerhacker ans Telefon an und wartete auf David Hartmans Anruf aus dem Washingtoner Büro. In der Zwischenzeit dachte er an Vietnam zurück, was er nicht gern tat. Nichts war so gelaufen, wie es hätte laufen sollen, ganz und gar nicht. Er hatte zur besseren Hälfte seines Abschlußjahrgangs gehört. Jedenfalls gut genug. Klassenbester zu sein bedeutete beim Militär nie besonders viel. Aus Klassenbesten wurden meistens nur bewaffnete Nervensägen, Schreibtischhengste, Planer, Denkfabrik-Typen, die es niemals weiter als bis zum Colonel brachten. Außerdem hatte Taylor jede Menge Sport vorzuweisen - Football, Boxen, Golf. Golf zu spielen war schwierig gewesen: Die halbe Zeit waren seine Hände geschwollen, und die Arme taten ihm weh vom Abblocken der Schläge beim Boxen, die restliche Zeit brummte ihm der Schädel wie von einer leichten Gehirnerschütterung, wenn sein Kopf volles Rohr auf das Football-Feld gekracht war. Aber Generationen von Taylors waren beim Militär gewesen. Ausnahmslos als Offiziere. Die noch am Leben waren hatten 465 ihm gesagt, Boxen und Football sei gut für den Respekt, das brachte einem einen Posten. Allerdings wird kein General mit dir in den Ring steigen oder sich auf dem Spielfeld von dir umrennen lassen.
Wenn man gesellschaftlichen Umgang mit älteren Männern wollte, die einem die Leiter hinaufhelfen konnten, dann spielte man Golf und lernte, Alkohol zu vertragen. Die gute Neuigkeit war, daß gerade ein Krieg lief. Es war allerdings so was wie ein Krieg für Memmen. Gegen ein albernes kleines Land. Es hieß nicht NATO gegen Warschauer Pakt, war kein Krieg knapp unter der nuklearen Schwelle - Millionen Männer, Panzer, der Himmel voller Jäger und Bomber, über das Flachland Mitteleuropas -, von dem die Militärs aller Seiten schon so lange träumten. Aber es war ein Krieg. Das Militär, das immer auf seine Leute einging und Verständnis für den Wunsch jedes ehrgeizigen Offiziers hatte, Kampferfahrung zu sammeln - bei weitem die wichtigste Auszeichnung im Lebenslauf eines Offiziers -, hatte ein schnelles Rotationssystem entwickelt.Jeder würde seine Chance bekommen, das geeignete Kampfabzeichen an der Uniform tragen können, und dazu wahrscheinlich noch den einen oder anderen Orden. Es war eine bürokratische Lösung. Die Bedürfnisse der Mitglieder der Organisation traten an die Stelle des angeblichen Auftrages der Organisation. Die Militärorganisation zog niemals wirklich die Konsequenzen in Betracht für den Fall, daß sie den Krieg verlieren würden; oder daß mehr Männer sterben würden, weil sie immer von unerfahrenen Offizieren geführt wurden. Man berücksichtigte nicht mal die Konsequenzen für das Militär selbst: Weil er Verantwortung nur für seine eigene kurze Dienstzeit trug, statt für die gesamte Kriegsdauer, setzte jeder vernünftige Offizier praktisch immer den Anschein des kurzfristigen Erfolges über die unan466 genehmen Fakten, was wirklich benötigt wurde, um letztlich zu siegen. Taylor hatte gute Verbindungen. Sein Vater war in Korea im Kampf gefallen. Er hatte einen Onkel, der als Colonel immer noch im aktiven Dienst stand. Umgehend wurde er zu einem Stabsposten nach Saigon abkommandiert. Für einen jungen Offizier war das der Himmel auf Erden, eine Genugtuung für alle Sinne und das Selbstwertgefühl. Er war intelligent, aufmerksam, gesellig, achtete darauf, daß seine Uniform immer tadellos gebügelt war, und sehr schnell bekam er seine Cap-tain-Streifen. Ehrgeiz und Männlichkeit schrien förmlich nach einem Kampfeinsatz. Also drängte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit darauf, an die Front zu kommen. Was seine Vorgesetzten nicht störte. Jeder junge Offizier sollte sich nach einem Kampfeinsatz drängen. Das gehörte einfach dazu. Schließlich erhielt er seinen Kampfeinsatz. Zwar nur als Beobachter, aber mitten im Getümmel. Es war ein komischer Krieg. Kein Mensch hatte sich die Mühe gemacht herauszubekommen, was Siegen bedeutete. Da gab es keine Typen in komischen grünen Uniformen und Helmen, keine Regimenter und Bataillone, die über die Anstoßlinie zurückgeworfen werden konnten. Auch würden wir nicht in die feindliche Hauptstadt einmarschieren, die Bösen verhaften, die Guten finden und ihnen Demokratie beibringen können. Wir würden nicht mal einen Aufstand niederschlagen. Aber wenn Leute für einen arbeiten, dann muß man ihnen Bewährungsmöglichkeiten geben und sie einstufen. Also sind sie auf die Idee mit dem Leichenzählen und den Tötungsquotienten gekommen. Was einen gewissen Sinn zu ergeben schien, da Westmoreland auf der Grundlage seiner Theorie des Zermürbungskrieges operierte. Taylors General, der oben im I Corps gewesen war, wo im 467 großen und ganzen nur Marines stationiert waren, war zufällig auf einige Einheiten mit sagenhaften Tötungsquotienten gestoßen. Einfach sagenhaft. Besser als nahezu jede Army-Einheit von vergleichbarer Größe und Ausrüstung. Da war Taylor also und brüllte unentwegt Kampfeinsatz, Kampfeinsatz, Kampfeinsatz. Also sagte sein General: »Hier hast du deinen Kampfeinsatz. Dein Auftrag besteht darin herauszufinden, warum die ihre Sache so gut machen.« Dann ein Nicken und Zwinkern. »Natürlich nur, wenn es wirklich stimmt.« Das Gegenstück des Generals beim Marine Corps war alles andere als unwissend, was die Mittel und Wege interner bürokratischer Machtkämpfe und Intrigen betraf. Er setzte seinen eigenen Captain auf die Sache an, der ebenfalls dauernd Kampfeinsatz, Kampfeinsatz, Kampfeinsatz brüllte. Und sagte: »Sorg dafür, daß er jede Menge Leichen bekommt.« Ein Bursche namens Tartabull. Eine totale Niete. Taylor durchlebte diesen Tag wieder und wieder und immer wieder. Es war die große Was-hätte-ichtun-sollen-Frage. Ich hätte ruhig zu Tartabull gehen und ihn auf den Fehler in seinem Verhalten aufmerksam machen sollen. Aber natürlich, entschuldigte Taylor sich dann selbst, hätte Tartabull ihm nicht zugehört. Nun, ich war in der Box-Mannschaft. Einen rechten Cross. Er geht zu Boden, ist k. o. Ich rette zwei Korporalschaften. Und dann komme ich vors Kriegsgericht. Ich hätte diesen verdammten Sergeantjoe Broz zurückhalten sollen. Hätte ihm eine Kugel genau zwischen die Augen
geben sollen. Dann hätte ich Tartabull sagen sollen, daß er durchgedreht war, aber daß ich ihm helfen würde. »Taylor, er hat gesehen, wie Joe den Captain getötet hat. Als erstes will er sofort Anklage erheben. Einen Captain umlegen ist eine verdammt ernste Sache. Selbst in Vietnam. 468 In der Zwischenzeit schlägt der LT, Gelb war sein Name, Lieutenant Nathan Gelb, Joe für einen Orden vor. Verschweigt dabei, daß Joe den Captain beseitigt hat. Vergißt aber nicht zu erwähnen, daß Joe noch die richtigen Koordinaten durchgegeben und das Kommando übernommen hat, nachdem der Captain gefallen und der Lieutenant verwundet worden war. Männer aus dem Hinterhalt rausgetragen hat. Zurückgegangen ist und auch noch Joeys Leiche geholt hat. Heute weiß ich, daß er das nicht gemacht hat, weil er dachte, Joey wäre noch am Leben. So was kommt vor, daß Typen einen Toten raustragen und es nicht wissen. Aber ich weißJoe wußte, daß Joey tot war, denn er hat ihn abgeladen, um mich aufzuheben. Sie verstehen, was ich meine.« Es war das irrwitzigste beschissene Chaos aller Zeiten. Taylor lieferte seinen Bericht ab. Woher zum Teufel sollte er denn wissen, daß Gelb ebenfalls einen Bericht einreichen würde? Daß er Broz für einen Orden vorschlug. Gerüchten zufolge war dieser jämmerliche Mistkerl so dankbar, daß ihm das Leben gerettet worden war, daß er ursprünglich sogar die Congressional Medal of Honor beantragen wollte. So was von Hohn! Er schlug Broz für einen Silver Star vor. Gelbs Bericht erwähnte mit keiner Silbe, daß Broz Tartabull erschossen hatte. Später, als Taylor ins Krankenhaus gegangen war, um Gelb deswegen zur Rede zu stellen, sagte Gelb, es spiele keine Rolle, ob Joe den Captain erschossen hatte, Tartabull hätte sich fünf Minuten später sowieso sein eigenes Napalm-Grab gegraben. Taylor hätte sich durchsetzen müssen. Er besaß den Rang, er gehörte zur regulären Army, erging sonntags, nicht samstags, in die Kirche. Aber über all dem stand das Prinzip: Das Militär konnte nicht billigen, wenn Offiziere erschossen wurden. 469 Wie sehr sie sich auch immer irren. Das ist wesentlich für die Existenz und das Überleben einer Armee. Er hatte aber nicht mit den Medien gerechnet. Die gottverdammten Medien. Sein General hatte es ihm erklärt. Man würde Sergeant Joe Broz vors Kriegsgericht stellen müssen, den Helden, der zehn Männer davor bewahrt hatte, von den eigenen Fliegern mit Napalm getötet zu werden. Sein eigener Lieutenant würde im Rollstuhl in den Zeugenstand rollen, in Uniform, Auszeichnungen auf der Brust, seine Mutter, extra eingeflogen aus Atlanta, saß da und weinte, erzählte den Fernsehzuschauern in ganz Amerika, daß Joe Broz das Richtige getan hatte, ihren Jungen lebend zurückbrachte, und auch die neun anderen Jungs lebend zu deren Müttern nach Hause schickte. Einschließlich seines Anklägers. »Sehen Sie, Amerika mag diesen Krieg nicht, mein Sohn, und diesen speziellen Prozeß vor dem Kriegsgericht können wir uns nicht leisten.« Taylor war sich seiner eigenen Rechtschaffenheit sicher. Außerdem stand sein Name auf einem Bericht, der besagte, er habe gesehen, wie ein gemeiner Soldat einen Offizier umgebracht hatte. Wenn dieser gemeine Soldat nicht strafrechtlich verfolgt wurde, dann bedeutete das automatisch, daß mit Mel Taylors Bericht etwas nicht stimmen konnte. Sein erster Kampfeinsatz. Also drängte er auf einen Prozeß vor dem Kriegsgericht. Sie fanden einen Ort, wo sie Broz untertauchen ließen. Irgendein Freund von ihm bei der CIA wollte ihn. Also ließ das Marine Corps ihn gehen. Er wurde nicht mal unehrenhaft endassen. Er wurde einfach überstellt oder so. Jetzt wollte die Army ihren Teil der Peinlichkeit ebenfalls gern verstecken, und dieser Teil war Mel Taylor. Er bekam nie sein Kampfkommando. Er kam nie wieder auf die Überholspur. Nicht mal auf die normale Karriereleiter. Er brauchte 470 eine Weile, bis er dahinterkam. Niemand stellte ihn jemals zur Rede oder verlor auch nur ein einziges trauriges Wort darüber. Es war einfach so. Dann wußte er, daß er niemals General werden würde. Dann kam er dahinter, daß er es nicht mal bis zum Colonel schaffen würde. Major war für ihn das Ende der Fahnenstange. Und dafür trug allein Joe Broz die Verantwortung, der gegen das grundlegendste Gesetz des Militärs und der Menschheit verstoßen hatte und damit ungeschoren durchgekommen war. Das Telefon klingelte. Es war Hartman in Washington. Taylor schaltete den Zerhacker ein. Er berichtete, was er wußte: daß in Beagles Haus alles ruhig war. Daß die Bänder jeden Tag mit einem Shuttle-Flug von Sacramento nach L. A. gebracht und dort abgeschrieben wurden. Broz hatte einige Leute bei sich. Er war nicht sicher, was das zu bedeuten hatte. Es gab keine akustische Observierung.
Aber alle Zufahrtsstraßen wurden überwacht. »Und«, sagte Taylor, »ich habe noch ein As im Ärmel.« »Und das wäre?« fragte Hartman. »Das Pik-As«, sagte Taylor. »Ich verrat Ihnen was Komisches«, sagte Steve zu Maggie. »Joe sagt, Taylor hätte recht gehabt. Er sagt, man kann keine Armee haben, in der die Offiziere umgelegt werden. Das ist das Ende der Armee. Natürlich ist es Aufgabe der höheren Offiziere, dafür zu sorgen, daß die niedrigeren Ränge kompetent sind und die Arschlöcher entfernt werden. Aber es spielt keine Rolle, wenn sie's doch nicht tun - wenn ein Mann seinen vorgesetzten Offizier kalt macht, dann sollte ihm der Arsch gegrillt werden. Das sagt Joe.« Steve lachte, als er das sagte. Ein großes Lachen von der Sorte, bei dem man sich auf die Schenkel schlägt. 47i Sein Sohn verzog das Gesicht. Er war ihm immer unangenehm, wenn er mit seinem Vater zusammen war. Der Mann gab sich ja die größte Mühe, aber er war und blieb ein hoffnungsloser Bauer. Zwanzigjahre in L. A. hatten ihn überhaupt nicht weitergebracht. Er hätte auf seinen Baumwollfeldern bleiben sollen. Eine andere Sache, die er an seinem Vater nicht ausstehen konnte, waren seine zwanzigjahre am Fließband bei GM. Er war in der Gewerkschaft. Und was hatte das gebracht? Als GM den Laden dichtmachte, wurde sein Vater zu einem absoluten Schlappschwanz. Aber gleichzeitig beneidete er seinen Vater um den Krieg. Eine Gang mit M-i6ern! Beschissene weiße Offiziere kaltmachen. Im Dschungel kämpfen. Das war Männlichkeit. Wenn man das hinter sich hatte, machte einen kein Wichser mehr an, nicht wenn man ein M-i6er in den Händen hielt und vielleicht noch ein paar Handgranaten als Souvenir mitgebracht hatte. Auf dem Land waren die Leute nachlässig. Ein Fenster im Erdgeschoß stand offen. Joe hob seine Ausrüstung hinein, kletterte dann ins Haus. Hawk und Dennis blieben draußen, warteten, beobachteten, waren bereit, Joe sofort zu verständigen, falls jemand auftauchte. Im Haus blieb Joe zunächst bewegungslos stehen. Er wartete und lauschte. Er nahm ein Richtmikro aus der Tasche. Er schloß es an einen Verstärker an, von dem ein Kabel zu einem Kopfhörer führte eine sehr kostspielige High-Tech-Version eines Walkman. Damit konnte er Geräusche bis zu einem Zwanzigstel der Lautstärke auffangen, die für das menschliche Ohr wahrnehmbar war. Er schwenkte das Mi-kro in einem weiten Bogen, lauschte auf Hinweise der Anwe472 senheit eines Menschen. Er hörte nichts außer leisem, huschendem Getrippel. Mäuse in der Wand oder Eichhörnchen auf dem Dach. Der Raum, in dem er sich befand, war eine Bibliothek. Sehr feminin eingerichtet, mit einem Erker, vielen Büchern und Zeitschriften. Er nahm ein CMS-3 aus einem der Koffer. In der Deckenlampe war ein Mikrofon. Die Bibliothek grenzte an das Wohnzimmer. Auch hier Wanzen. Gut. Dies bedeutete, daß Joe keine Mikros installieren mußte, er konnte schmarotzen, mußte nur die Stelle finden, wo U.Sec. die Aufnahmen machte, und sich dann vorher oder nachher einklinken. Die Frage lautete also: Wo? Gut genug versteckt, daß niemand zufällig darüber stolperte, aber andererseits auch wieder leicht genug zugänglich, um die Bänder ohne großen Aufwand zu wechseln und die Geräte zu warten. Meistens kam dafür nur der Dachboden oder der Keller in Frage. 473 KAPITEL ZWEIUNDFÜNFZIG Während ich noch dabei bin, meinen Kram anzuschließen, kommt das Kindermädchen mit Beagles Sohn zurück. Zuerst warnt mich Hawk und dann Dennis - ein Geflüster in meinem Ohr. Ich beschließe zu bleiben und zu erledigen, weswegen ich gekommen bin. In Vietnam bin ich schon mitten in der Nacht in Hütten marschiert, habe jeden darin getötet und bin wieder rausspaziert, ohne eine Menschenseele aufzuwecken. Es sind insgesamt fünf Aufnahmegeräte. Glücklicherweise sind sie etikettiert. Schlafzimmer, Wohnzimmer, Eßzimmer, Bibliothek, Schlafzimmer 2. Während ich dort bin, schaltet sich eines kurz ein. Das Wohnzimmer. Das Kindermädchen geht mit Dylan durch das Zimmer. Sie erzählt ihm, daß er jetzt ein schönes Fläschchen kriegt und dann ein schönes kleines Nickerchen machen wird, ja, das wird er. Sie klingt, als wüßte sie, was sie tut. Ich klinke mich in drei der Kabel ein. Ich installiere die Sender. Maggies Haus ist nahe genug für einen Lauschposten. Als ich fertig bin, benutze ich wieder das Richtmikro. Ich höre, wie Dylan an seiner Flasche nuckelt und das Kindermädchen beruhigend auf ihn einredet. Schließlich wird ihr Atmen schwerer, und ich glaube, sie ist ebenfalls eingeschlafen. Ich komme problemlos wieder raus.
Dann machen wir drei uns auf den Rückweg. Luftlinie sind es sechs Meilen, neun Meilen über die Straße, ungefähr genauso weit, wenn man nicht gesehen werden will und sich querfeldein schlägt. Wir überqueren die Straße auf Maggies Grundstück unterhalb 474 einer Kurve, die uns vor den Beobachtern von U.Sec. verbirgt. Ich schicke Dennis zurück nach L. A. Er hat dort etwas zu erledigen. Ich brauche ihn im Moment nicht. Hawk, Steve und Martin behalte ich da. Ich werde meine Zeit mit den Kopfhörern auf den Ohren verbringen. Diese Aufgabe möchte ich an niemanden außer Maggie delegieren. Ich erzähle den dreien noch nicht mal, was ich mache oder was ich vorhabe. Wenn sie es erraten können, ist das in Ordnung. Wenn nicht, ist das auch gut. Ihr Job besteht darin, an der Grundstücksgrenze zu patrouillieren. Sie sollen sicherstellen, daß Taylors Leute nicht unerkannt reinkommen. Maggie beschützen. Wir haben ausreichende Feuerkraft für praktisch jede nichtmilitärische Situation. Nicht daß ich wirklich mit einem Zwischenfall rechne. So wie ich die Sache sehe, bin ich jetzt am Zug. 475 KAPITEL DREIUNDFÜNFZIG Andere Menschen zu belauschen ist die meiste Zeit langweilig. Observierungen sind langweilig. In einem Hinterhalt zu liegen und zu warten ist langweilig. Mir macht es nichts aus. Ich kann ganz gut nichts tun, kann ertragen, daß nichts passiert. Das macht mich zu einem guten Soldaten und einem guten P. I. Jedesmal, wenn ich eine Pause brauche, löst Maggie mich ab. John Lincoln Beagle und Jacqueline Conroy scheinen es tatsächlich miteinander zu versuchen. Sie verhält sich wirklich reizend. Ich erwähne Maggie gegenüber, daß all der Klatsch, den wir in L. A. gehört haben, nicht zu stimmen scheint. Maggie lacht mich aus. »Sie tut nur so«, sagt Maggie. »Das glaube ich nicht«, sage ich. »Sie ist eine fürchterliche Schauspielerin. Wenn ich jemals eine fürchterliche Schauspielerin spielen muß, werde ich genau das tun, was Jacqueline Conroy macht.« Ich finde, Maggie ist ein bißchen gehässig. Ich bin sicher, daß ich in dieser Nacht recht habe, als ich höre, wie sie miteinander schlafen. Maggie will auch zuhören. Ich stöpsle einen zweiten Kopfhörer ein. Wir liegen im Bett und hören zu. Sie lieben sich sogar zweimal. Maggie ist überzeugt, daß sie recht hat. Martin ist von Hawk tief beeindruckt. Ich sehe, wie er Hawk mit seinem Vater vergleicht. Die schicken Klamotten, seine Einstellung, alles eben. Außerdem imponieren ihm Maggie und die Welt dieser reichen Weißen. Ich denke die meiste 476 Zeit nicht über diese Scheiße nach, aber er ist Steves Sohn, und wenn ich an meinen Fingern die Leute abzähle, denen ich auf dieser Welt vertraue, dann kommen nach Steve nicht mehr besonders viele. Am nächsten Tag nörgeln Jackie und Line ein bißchen aneinander herum. Er spielt mit dem Jungen, zeigt ihm Sachen und hat Spaß dabei. In kleinen Dosen, mit Hilfe des Kindermädchens. Ich verstehe nichts von Kindererziehung. Ich finde, das ist Frauensache. Sie haben Geduld und eine andere Art von Liebe. Ich weiß, daß ich so was nicht denken sollte, aber ich wurde von meinem Vater großgezogen, und das war Scheiße. Es war nicht so, daß er es nicht besser wußte, sondern vielmehr, daß sein Charakter nichts Besseres zuließ, selbst wenn er es besser machen wollte. Er hatte einfach nicht das Zeug dazu. Die Geduld oder was immer es ist, das Frauen haben. Line ist überrascht, wie geschickt das Kind seine Bewegungen koordinieren und wie gut der Junge sich schon verständlich machen kann, obwohl er nichts anderes sagt als »ham« und »tata« und so laut kreischt, daß beinahe ein Mikro über den Jordan geht, als er nicht bekommt, was er haben will. Es ist eine angenehme Überraschung. Man könnte den Mann in einem Werbespot den Daddy spielen lassen. Aber Jackie schlachtet seine Überraschung aus, um ihm Vorwürfe zu machen. Daß er nicht so überrascht wäre, wenn er mehr Zeit zu Hause verbringen würde. Wenn er mehr Zeit mit seinem einzigen Sohn verbrächte. Mit seiner Frau. Dies ist eine weitverbreitete Litanei, die Frauen über Männer anstimmen. Vielleicht hat sie recht. Ich weiß nicht, wieviel Zeit ein Mann zu Hause verbringen soll. Wenn Maggie schwanger wird und wir ein Kind bekommen, bekomme ich diese Litanei dann auch zu hören? 477 Aber dann geht das vorbei, und sie klingen wieder, als kämen sie richtig gut miteinander aus. Nicht wie Frischverliebte, aber auch nicht so, als würden sie sich morgen scheiden lassen. Beim Abendessen sagt Line zu Jackie, er sei glücklich, daß sie es noch mal versuchen und daß es klappt, und er bedankt sich bei ihr. »Ich liebe meinen Sohn«, sagt er. »Und ich habe dich geliebt. Irgendwie sind wir von unserem gemeinsamen Weg abgekommen. Das tut mir leid. Zum Teil ist es
sicher meine Schuld, das weiß ich. Aber wir können auf unseren Weg zurückfinden. Uns lieben. Ich fühle es schon wieder.« »Danke, daß du das gesagt hast«, erwidert Jackie. »Es ist mir auch wichtig. Wie sich zwischen uns alles entwickelt, ist sehr wichtig.« Dann herrscht für eine Weile Stille. Ich höre leise Geräusche. Ich komme nicht genau dahinter, was sie tun, dann wird mir klar, daß sie Marihuana rauchen. Jackie kichert. Line gibt selbstgefällige Laute von sich. Sie verlassen den Raum. Im Schlafzimmer habe ich sie wieder. Jackie drängt ihn, noch einen Zug zu nehmen. »Ich sorge dafür, daß es für dich was ganz Besonderes wird. Ich werde dich in schwindelerregende Höhen fuhren.« Etwas später sagt sie: »Niemand kennt dich so gut wie ich,John Lincoln, und niemand kann dich lieben wie ich.« Ich habe nur Audio, kein Video, aber ich glaube, sie fesselt ihn und fängt dann an, ihn zu necken und seinen Körper mit Ölen einzureiben. Sie kündigt an, daß sie sich sehr lange Zeit lassen wird, also bitte ich Maggie zu übernehmen, gehe nach unten und setze uns frischen Kaffee auf. Als er fertig ist, gehe ich mit zwei Bechern und Brandy wieder rauf. »Das ist schon komisch«, sagt Maggie, »sie so zu belauschen, wie man uns belauscht hat.« »Findest du?« »Ja, wir haben ein paar Fehler gemacht.« 478 »Haben wir?« »Wir waren uns der Mikros zu bewußt. Das hier ist viel... unzusammenhängender. Und langweiliger. Die Bänder, die wir gemacht haben, sind erregend. Ich mache jede Wette, dafür gibt's einen richtigen Schwarzmarkt.« »Beunruhigt dich das?« »Wenn es echt wäre, dann vielleicht.« »Es macht dir wirklich nichts aus?« »Das ist mein Beruf. Ich zeige Teile meines Körpers. Ich mache Orgasmus-Gesichter und OrgasmusGeräusche. Das ist Teil der Rolle. Der Trick ist...« »Was?« »Ich weiß nicht. Ich habe verschiedene Dinge zu verschiedenen Zeiten gemacht. Ich wollte schon immer mal diese Jane-Fonda-Szene spielen. Aus Klute. In der sie über die Schulter des Burschen auf ihre Uhr sieht.« »Warum? Ist das die Wahrheit?« »Wenn es so wäre, würde dich das verwirren?« »Ja.« Jackie zieht bei John Lincoln also die Art von Nummer ab, wie man sich einen Besuch in einem guten Bordell in Bangkok vorstellt, mit Perlenketten und allem. Und als er soweit ist, schreit Beagle. Es ist ein richtiges Aufheulen. Ziemlich beeindruckend. Dann folgt lange Zeit nur Stille. Er schwebt irgendwo weit draußen im Weltraum und treibt dahin. Als er wieder zu sich kommt, sagt er das auch, wie erstaunlich es sei. Dann fragt er: »Was ist das?« »Hiermit sind Sie offiziell unterrichtet worden, John Lincoln Beagle«, sagt Jackie. Was man sagen soll, wenn man jemandem eine gerichtliche Vorladung zugestellt hat. Wir nehmen an, daß sie genau das gerade getan hat. Es wäre eine komische Szene, wenn wir sie sehen könnten. 479 »Häh?« Maggie prustet los. Sie muß nicht erst sagen: »Ich hab's dir ja gleich gesagt.« »Ich lasse mich von dir scheiden.« »Was?« »Muß ich's dir erst noch buchstabieren?« »Wa.. .Warum?... Ich dachte... Dylan... Was... du.. .gerade getan hast.« »Ich wollte sichergehen, daß du weißt, was dir entgehen wird.« »Jackie -« »Geh zur Hölle, John Lincoln.« »Was hab ich denn falsch gemacht?« »Was du falsch gemacht hast? Was du falsch gemacht hast? Wo zum Teufel bist du die letzten sechs Monate gewesen? Häh?« »Ich habe gearbeitet.« »An was?« »An einem Film.« »Was für einem Film?« »Du weißt doch, daß ich dir das nicht sagen kann.« »Schön, und du weißt, daß ich mit dir nicht länger verheiratet sein kann, und du weißt auch, daß du deinen Sohn nicht sehen kannst.« »Können wir nicht in aller Ruhe morgen darüber reden?« »Morgen kannst du mit dir selber reden. Ich werde nicht mehr hier sein. Genausowenig wie dein Sohn. Und falls du versuchen solltest, uns zurückzuhalten oder Theater zu machen, werde ich dich wegen Körperverletzung festnehmen lassen.« »Komm schon, komm schon, ich werde dir schon nichts tun.« »Tschüs.« 480 »Warte.« »Was?« »Was kann ich tun, um die Sache wieder in Ordnung zu bringen?« »Ich weiß nicht, an was zum Teufel du gearbeitet hast, aber gibt es darin eine Rolle für mich?« »Also, nein, aber -« »Natürlich nicht -« »Jackie -«
»Ist schon okay, du mußt mich nicht in deinem geheimnisvollen Film unterbringen. Aber hast du schon mal an irgend jemand anderen als immer nur an dich selbst gedacht? Hast du schon ein einziges Mal den Hörer abgenommen, deinen Freund Hartman angerufen und ihn erinnert, daß eine Hand die andere wäscht? Wenn du irgendeine andere Schlampe in deinem Film haben willst, soll mir das recht sein - du kannst bei Frauen nicht besonders gut Regie führen, stimmt's? Aber vielleicht könnte der Mann oder der Vater oder was weiß ich wer von dieser anderen Tussi eine Rolle für mich finden.« »Woran ich gearbeitet habe -« »Also scher dich zum Teufel.« »Wenn du wüßtest -« »Vergiß nicht, wenn du deinen Sohn sehen willst -« »- was ich wirklich mache -« »- solltest du besser sehr, sehr nett sein -« »- die Wirklichkeit ist. Ich plane eine echte -« »- und sehr großzügig.« »- Sache. Eine echte Sache.« »Eine echte Sache. Toll«, sagt Jackie. »Stimmt aber. Einen Krieg. Einen echten Krieg.« »Genau wie eine Scheidung.« Beagle nimmt den Hörer ab und wählt. »Ich werde es dir beweisen.« 481 »Hallo?« »Kitty«, sagt Beagie. »Wissen Sie, wie spät es ist?« »Ich will, daß du nicht vergißt...«, sagt Jackie. »Ich weiß nicht«, sagt Beagie. »Sie müssen ins Büro.« »Jetzt?« »Jetzt«, sagt Beagie. »Ich will, daß du nicht vergißt, was dir entgehen wird.« »Es ist schon nach elf«, sagt Kitty. »Es ist halb zwölf.« »Sie müssen sofort los. In meinem Schreibtisch ...« »Und vergiß nicht, daß das, was dir entgeht, der nächste beste bekommt.« »Warte«, sagt Beagie. »Ich werde es dir beweisen. Ich habe ein geheimes Memorandum. Warte bitte ... Kitty?« »Ja?« »Good-bye«, sagt Jackie. »In meinem Schreibtisch. In meiner persönlichen Schublade.« »Ihre persönliche Schublade ...« »Ja. Bei der Korrespondenz. Unter den Briefen meiner Mom.« »Briefe Ihrer Mom?« »Ja. Sie werden dort ein Memo finden. Es steht >YEO< oben drauf. Ich will, daß Sie ins Büro gehen und es mir rüberfaxen.« »Jetzt?« »Ja, jetzt.« »Jawohl, Sir.« Sie legt auf. Beagie ruft nachjackie. Ergeht durch das Haus und ruft nach Jackie. Ich schalte durch die Kanäle. Ich verliere ihn, dann finde ich ihn wieder. Schließlich kehrt er ins Schlafzimmer zurück. Er wählt wieder. 482 »Hallo?« Es ist Kitty. »Sie ist fort.« »Wer?« »Jackie.« »Oh.« »Sie hatte den Wagen schon gepackt. Ineke und Dylan saßen schon im Wagen. Vermute ich. Und sie sind weggefahren.« »Ineke?« »Das Kindermädchen.« »Oh.« »Also vergessen Sie das mit dem Fax.«
»Mach ich.« 483 KAPITEL VIERUNDFÜNFZIG Katherine Przyszewski wollte schreien, als der Mann mit der Gummimaske über dem Gesicht die Waffe auf sie richtete. Aber dann sagte er: »Bitte, schreien Sie nicht. Wir wollen Ihnen wirklich nichts tun.« Die Stimme war definitiv die Stimme eines Weißen, und das beruhigte sie. »Es ist nur ein Film«, sagte er, und er schien hinter seiner Ronald-Reagan-Maske zu lächeln. Dann bemerkte sie, daß er gut gekleidet war - eine saubere Jacke, ordenüich gebügelte Hose und sehr gepflegt. Sogar seine Fingernägel waren sauber. Sie waren zu dritt. Zwei der Masken aus einem Kramladen stellten Präsidenten dar. Der dritte war Dan Quayle. Auf der Uhr auf ihrem Schreibtisch war es II:II morgens. »Zeigen Sie mir Beagles Schreibtisch«, sagte er. »Bitte.« Sie kam sich schrecklich illoyal vor, als sie es tat, aber er hatte die Kanone, und sie mußte für ihre Kinder sorgen, also tat sie es. Einer der anderen begleitete sie. Er öffnete die Schubladen und fand die Korrespondenzakte. Er blätterte zum »M« und fand »Mom.« Kitty bemerkte, daß er Handschuhe trug. Er nahm ein einzelnes Blatt Papier heraus und gab es dem Mann mit den sauberen Fingernägeln. »Danke«, sagte er. Sie führten sie in ihr Büro zurück. »Niemand ist verletzt worden«, sagte der mit den sauberen Fingernägeln. »Stellen Sie sich vor, es war so was wie ein Video für Verstehen Sie Spaß? gewesen. Wenn Sie wollen, können Sie die Polizei verständigen. Aber bitte schreien Sie nicht. Das könnte zu einem Problem führen.« 484 »In Ordnung«, sagte sie. Nachdem sie weg waren, rief sie die Polizei an. Doch als sie das Verbrechen meldete, schien es, als gäbe es gar kein besonders großartiges Verbrechen zu melden. Ein Blatt Papier aus einer Akte mit der Aufschrift »Mom« war verschwunden. Trotzdem kam ein Detective vorbei, da es immerhin um CineMutt ging und die Polizei immer ganz begeistert war, etwas zu tun, das sie in Kontakt mit der Unterhaltungsindustrie brachte. Es war ein älterer Mann in den Fünfzigern, und er schien sehr nett zu sein. Sie sagte, die Akte könne vielleicht wichtig sein, denn Beagle habe sie erst am vorangegangenen Abend angerufen und danach gefragt. Irgendwie waren sie sich gleich sympathisch. Entweder weil er sie attraktiv fand oder weil er verstand, daß sie einen Schock erlitten hatte, fragte er sie, ob sie nicht mit ihm eine schöne heiße Suppe oder so essen gehen wolle. Es war Mittagszeit, und sie hatte noch keine Verabredung fürs Mittagessen, also war sie einverstanden. Es war ein bescheidenes Lokal. Passend für einen kleinen Polizeibeamten. In seinen Augen lag Weisheit und Toleranz, daher beschloß sie, ihm etwas zu erzählen, das sie schon eine ganze Weile beschäftigte. »Jedesmal, wenn ich auf die Uhr schaue, jedesmal, wenn irgendwas passiert... Ich weiß, es klingt albern. Ich meine, was sollte es schon bedeuten, aber jedenfalls ist es so, daß es immer elf Uhr elf ist. Eins, eins, eins, eins. Es ist, als sollte mir das irgendwas sagen.« »Das sollte es auch«, sagte der Detective. »Ja?« »Aber sind Sie auch bereit, es zu hören?« »Sicher. Denke schon.« »Es wird sehr merkwürdig klingen«, sagte er. »Ist schon in Ordnung.« »Es hat mit Außerirdischen zu tun ...« 485 »Mit Außerirdischen?« »Ja. Sie haben die Pyramiden gebaut. Und diese seltsamen Zeichen in Peru geschaffen, die man nur aus sehr großer Höhe sehen kann. Es gibt viele Beweise.« »Ja. Das habe ich schon mal gesehen. Im Fernsehen.« »Es gibt viele Beweise. Dinge, die nicht einfach so wegerklärt werden können.« »Das haben die auch gesagt.« »Ich könnte Ihnen Bücher zu lesen geben. Wenn Sie wollen. Streitwagen der Götter? Und dann ist da noch Wir sind nicht die Ersten.« »Wenn Sie mir einfach die Titel sagen, könnte ich sie mir selbst besorgen. Über das Büro. Wir kriegen eine Menge Material. Bücher und Videos, für Recherchen.« »Einige von ihnen sind zurückgelassen worden, einige der Außerirdischen, als die anderen abreisten. Und sie bekamen Kinder.« »Glauben Sie das wirklich?« »Ja. Ja, das glaube ich«, sagte der Polizeibeamte. »Was ... was ist aus ihnen geworden?« »Um zu überleben, mußten sie sich mit den Menschen mischen, und schließlich vergaßen sie das meiste, praktisch alles von ihrem Wissen über die Sterne. Aber sie waren dennoch anders. Sind anders. Es mußte eine subtile Möglichkeit - ein Zeichen -geben, damit die Kinder sich gegenseitig erkennen konnten. Und sogar sich selbst.« »Und was ist das für ein Zeichen?« »Das Zeichen ist II:II.« »Sie auch? Ihnen passiert das auch?« »Elf-elf«, sagte der Detective. Kitty sagte sich, das sei wieder nur eine der vielen Verschrobenheiten von L. A. oder irgend so ein
New-Age-Un-sinn. Also bitte - Außerirdische? Sie war ein vernünftiger 486 Mensch. Von Natur aus sehr pragmatisch. Und doch füllte die Vorstellung eine Leere. Sie kam sich dadurch wie jemand Besonderes vor. Es erklärte so viele Dinge, warum sie besser war als die meisten Menschen. Der Detective erzählte ihr, sie hätten eine Gruppe, eine ganze Organisation mit einem eigenen Treffpunkt, wie eine Kirche, aber doch anders. Ergab ihr seine Karte und sagte, sie könne ihn anrufen, er würde sie dann zur nächsten Versammlung mitnehmen. Der Klang dieses Wortes gefiel ihr: Versammlung. Glücklich rief sie Beagle an und berichtete, was passiert war, der Überfall, nicht das mit Elf-elf. Sie war überrascht, wie sehr ihn die Nachricht erschütterte. Sogar als sie ihm erzählt hatte, daß der Räuber sagte, sie solle es sich wie Verstehen Sie Spaß? vorstellen. Ein weniger arroganter Mann als Beagle hätte jetzt vielleicht versucht, die Tatsache zu verheimlichen, daß er eine Kopie des Memos behalten hatte, was er nicht hätte tun dürfen, und daß es gestohlen worden war, und hätte gehofft, daß der Sturm niemals losbrach. Aber als großer Regisseur - und das gilt vielleicht für alle Regisseure von Großproduktionen -, braucht man die Fähigkeit, große Fehler machen zu können, Fehler in Größenordnungen von mehreren hunderttausend Dollar, einer Million oder zwei, ja man muß sogar die ganzen vierzig Millionen in den Sand setzen und dann noch sagen können: »Ja, und? Was kommt als nächstes?« Beagle rief sofort Hartman an. Hartman verschwendete keine Zeit damit, sauer auf Beagle zu sein. John Lincoln war sein Regisseur, und er würde ihn noch brauchen. Hartman rief Sheehan an. Sheehan, der erheblich ruhiger und geschliffener war als Taylor, meinte mit großer Gelassenheit: »Das ist eine gute Nachricht, Sir. Jetzt 487 haben wir eine Schwachstelle entdeckt und einen Feind entlarvt. Die Operation ist zwar noch nicht beendet, aber es scheint alles erfolgreich zu laufen.« »Sie wußten, daß so etwas passiert?« »Wir machen unsere Arbeit sehr gut, Sir«, sagte Sheehan und bluffte, was das Zeug hielt. »Sogar Mel Taylor, auch wenn er im Umgang mit Klienten etwas mehr Schliff vertragen könnte.« 488 KAPITEL FÜNFUNDFÜNFZIG Ich kann nicht hellsehen. Ich wußte nicht vorher, was ich erfahren würde, wenn ich Beagle belauschte. Aber es schien nur vernünftig, davon auszugehen, daß ich zurück nach L. A. mußte. Nachdem ich erst einmal sicher war, daß Taylor aufzeichnete, während ich live dabei war, rechnete ich mir aus, daß ich damit einen Vorsprung von zwölf bis vierundzwanzig Stunden auf ihn bekam. Besonders, wenn ich an seinen Aufpassern vorbeikommen konnte. Schnelligkeit ist eine wesentliche Eigenschaft im Krieg: Nutze sie zu deinem Vorteil, wenn der Feind nicht bereit ist, gehe über unerwartete Straßen und greife unbewachte Orte an, - Sun TzuI2i Ich lasse Steve, Martin und Hawk als Schutz für Maggie zurück. Mit einem Mountainbike fahre ich querfeldein über Maggies Grundstück, weiter über das Grundstück des Nachbarn und dann raus auf die Landstraße, die mehr oder weniger parallel zu derjenigen verläuft, die zu unserer Zufahrt führt. So umgehe ich die beiden Typen im Lieferwagen, die unsere Zufahrt im Auge behalten, und muß mir auch keine Gedanken um den Wagen machen, der zwischen ihnen und den Beobachtern in der Nähe von Beagles Grundstück pendelt. Nachdem ich auf der Straße bin, habe ich bis zu einem kleinen örtlichen Flughafen noch eine Strecke von zehn Meilen vor mir. Dort gibt es eine Telefonzelle. Von dort rufe ich Dennis an und gebe ihm meine ungefähre Ankunftszeit durch. Er 489 verständigt dann die beiden anderen, Paul Dressler und Kim Tae Woo, ein Cousin von Sergeant Kim. Dennis holt mich am Flughafen ab. Er hat die Masken undjacken dabei, die wir tragen werden. Um ii :io Uhr morgens sind wir bei CineMutt. Tae Woo geht zu dem Sicherheitsmann und spricht ihn auf koreanisch an. Der Mann ist verwirrt. Dann marschiert Dressler rein und fängt an, auf den Wachmann einzureden. Der Mann sagt Woo, er solle einen Moment warten, und dreht sich zu Paul um. Paul erkundigt sich nach Kittys Büro. Der Wachmann sagt ihm, wo es ist. Tae Woo tritt hinter den Wachmann, legt die Hände um seinen Hals und drückt zu, bis der Wachmann ohnmächtig wird. Er macht das sehr geschickt und schnell. Sie schieben den Wachmann unter seinen Schreibtisch. Tae Woo setzt die Schirmmütze des Wachmannes auf und setzt sich an dessen Platz. Jetzt betreten auch Dennis und ich das Gebäude. Außer Tae Woo setzen wir anderen die Masken auf. Wir gehen in Kittys
Büro. Es läuft wie am Schnürchen. Um 11:20 Uhr ist alles vorbei. Gegen Mittag erreichen wir den Flughafen. Ich bin sicher, daß ich es geschafft habe, bevor Taylor die Chance hat zu reagieren. Aber er wird reagieren. Also nehme ich die Männer mit. Mit den drei Jungs, die ich bereits habe, sind wir dann sieben gegen wieviel auch immer Taylor schicken wird - Otis und Perkins oder Hartmans Ninjas. Ich denke, es wird genügen. Um 16:30 Uhr sind wir fünfhundert Meilen weit fort. Wieder in Napa. Kein Grund, unsere Rückkehr zu verbergen. Mit einem Taxi fahren wir zum Haus. Als wir hineingehen, finde ich Steve auf dem Boden in der Küche. Mit dem Gesicht nach unten. Da ist Blut auf dem Boden, und in seinem Rücken hat er eine Verletzung, die wie ein Einschußloch aussieht. Martin und Hawk sind verschwunden. Maggie ist verschwunden. 490 KAPITEL SECHSUNDFÜNFZIG Steve ist tot. Als Martin zurückkommt, läßt er die Tüten mit Lebensmitteln fallen. Sie platzen auf und alles fällt heraus. Dennis hebt es wieder auf. Gemüse und geräuchertes Schweinefleisch, Batate, Rippchen und ein Haufen anderes Zeug. Steve wollte Soulfood für alle kochen. Martin hat er losgeschickt, um die Einkäufe zu erledigen. Was Martin schrecklich peinlich war. Während Steve über schwarze Erbsen und Maisbrot redete, verglich Hawk kalifornische Weine mit französischen, redete von Nouvelle cuisine und über die besseren Köche der Westcoast. Martin will nicht glauben, daß Hawk es gewesen ist. Er will glauben, einer von uns hätte es getan, die Weißen oder der Koreaner. Aber da Maggie ebenfalls verschwunden ist, klärt sich das Problem von allein. »Ich bringe ihn um«, sagt der Junge. »In Ordnung«, sage ich. »Wissen Sie, was er gesagt hat?« »Wer? Hawk?« »Nein. Mein Vater. Ist er wirklich tot?« »Ja. Ungefähr seit einer halben Stunde, glaube ich.« »Sind Sie Experte?« »Kein Arzt... aber, ja, ich denke schon.« »Das da nennt man die Eintrittswunde?« »Ja. Im Rücken. Wenn wir ihn umdrehen, siehst du die Austrittswunde, die größer sein wird.« »Hab ich Ihnen schon gesagt, was er gesagt hat?« fragt Martin. »Nein.« 491 »Vertrau nie einem Nigger, der sich Hawk nennt und anzieht wie ein Zuhälter.« Das Telefon klingelt. Ich gehe ran. Es ist eine Frau. Sie möchte Maggie sprechen. Als ich sage, Maggie sei nicht da, will sie wissen, ob ich Joe Broz sei. Ich sage, ja. Sie stellt sich als Barbara Streisands Sekretärin vor und fragt, ob Maggie schon die Vorabkopie von Herr der Gezeiten erhalten habe. »Der Film wird in mehreren Kategorien für einen Oscar in Erwägung gezogen«, sagt sie. »Auf gewisse Weise ist eine Stimme für den Film auch eine Stimme für eine Frau in der Branche. Ich weiß, daß dies für Maggie wichtig ist.« Ich stimme ihr zu, sage, daß wir unsere Kopie erhalten hätten, und lege auf. »Werden Sie mir helfen?« sagt Martin. »Was?« »Das Arschloch kaltzumachen. Helfen Sie mir, oder helfen Sie mir nicht? Er war doch Ihr Freund? Oder zählt so was bei euch nicht?« »Du willst ihn wirklich haben?« »Gottverdammt ja.« »Aber kannst du es auch? Ich meine, wenn die Zeit gekommen ist, wirst du's dann auch tun können?« »Lassen Sie's ruhig drauf ankommen. Ich werde das Arschloch kaltmachen, das Arschloch wird sterben.« Das Telefon klingelt. Ich schnappe mir den Jungen. »Paß auf, Martin. Du gehst ran. Ich bin nicht hier.« »Was?« Das Telefon klingelt. »Hör zu, und hör mir gut zu. Ich bin nicht hier. Falls es ein Mann namens Taylor ist, sagst du, daß ich noch nicht zurück bin. Du weißt nicht, wo ich bin. Du kannst ihn fragen, wo Hawk ist. Sag ihm, daß du Hawk umbringen wirst und -« Das Telefon klingelt. 492 »- finde heraus, wo er ist. Wenn du kannst. Verstanden?« Er nickt und nimmt den Hörer ab. Ich gehe ins Nebenzimmer an den anderen Apparat. Als ich abgenommen habe, höre ich Taylors Stimme: »Ich weiß, daß er da ist. Sag ihm, daß meine Leute gesehen haben, wie er zurückgekommen ist.« »Leck mich. Ich will Hawk. Sag mir, wo er ist!« »Gib mir Broz!« »Ich hab's doch schon mal gesagt, Arschloch, er ist nicht hier.«
»Sag ihm, er soll sofort rangehen, andernfalls übergebe ich Maggie Lazlo an Bo Perkins und Chaz Otis, und dann machen sie eine kleine Party, von der sie sich nie mehr erholen wird.« Natürlich will ich rangehen und ihm sagen, daß ich ihn töten werde, falls er das macht. Aber es ist sinnlos. Das weiß er. Der springende Punkt ist, er kann seine Karten nicht ausspielen, solange ich nicht bereit bin, mich an den Tisch zu setzen. Da er ein verdammt gutes Blatt auf der Hand hat, das einzige Blatt, will ich mich nicht hinsetzen. Klar, er wird einen Handel vorschlagen, das Memo gegen Maggie. Und dann geht jeder seiner Wege, und alle kehren glücklich nach Hause zurück. Martin denkt nach. Er muß nicht wissen, wer Bo und Chaz sind, um zu verstehen. Er ist in sie verknallt, und es juckt ihn, auf diese Drohung zu reagieren. Aber erstaunlicherweise bleibt er smart und sagt einfach: »Ich würde, wenn ich könnte, aber ich kann nicht. Der Mann ist nicht hier.« »Wer zum Henker ist dann mit dem Wagen gekommen?« »Ein paar andere Typen.« »Welche andere Typen?« »Keine Ahnung. Einer heißt Dennis. Die beiden anderen kenne ich nicht.« »Wo ist Broz?« 493 »Wer bist du?« »Sag Broz, er hat eine Stunde, um zurückzurufen.« »Wo?« Taylor gibt Martin eine Nummer. Martin schreibt sie auf. »Was, wenn ich ihn bis dahin nicht sehe oder was von ihm höre?« »Eine Stunde, oder wir machen Hackfleisch aus ihr. Wie aus dieser Schlampe in Hue. Dao Thi Thai. Nur daß wir mit der hier vorher noch ein bißchen spielen werden.« »Das solltest du dir lieber zweimal überlegen, Mann«, sagt Martin. »Was ist, wenn ich ihn innerhalb der nächsten Stunde nicht erreiche? Und du bringst sie dann um. Womit willst du dann noch spielen, Wichser? Dann hast du Joe Broz auf dem Hals, der dich umbringen wird, genau wie ich Hawk umlegen werde. Du bist ganz schön bescheuert, Mann.« »Halt's MaxA, Junge. Nenn mich nicht bescheuert,/««^. Was dich und Hawk betrifft, Junge, na los, versuch's doch. Du machst genau das, was ich dir sage.« »Einen Scheißdreck mach ich. Wo kommst du her, Mann, daß du dir einbildest, die Leute würden tun, was du ihnen sagst? Sag Hawk, Martin Joseph Weston hat's auf ihn abgesehen. Und er wird sterben.« »Du kannst mich mal, Kleiner, gib mir jetzt Broz.« »Bist du blöd oder taub? Er ist nicht hier.« Taylor knallt den Hörer auf die Gabel. Ich überprüfe die Telefonnummer. Ich kenne sie. Er ist in John Lincoln Beagles Haus. »Es ist wichtig, daß du genau das tust, was ich dir jetzt sage, Martin. Wenn du's auf meine Art machst, erwischst du ihn. Wenn du etwas überstürzt, wenn du ihn zu früh angreifst, bist du fällig.« »Ich komme schon allein klar. Ich brauche Sie nicht, um -« »Hast du eine Kanone? Geld? Rückendeckung? Einen Plan? 494 Was machst du mit deinem Vater? Wenn du die Polizei verständigst, wirst du denen erklären müssen, wer hier war, wo du warst, das alles eben. Und wenn du dann Jagd auf Hawk machst, werden sie wissen, daß du es bist. Du brauchst uns, wir brauchen dich. Ich brauche dich, um Maggie zu retten. Ich brauche dich, damit du dich um Hawk kümmerst, wenn die Zeit gekommen ist.« »In Ordnung«, sagt er. Wir haben fünf 9-mm-Handfeuerwaffen, ein Gewehr und eine Schrotflinte. »Dressler, ich will, daß du uns noch ein Gewehr kaufst. Die richtige Waffe für einen Scharfschützen. Dazu ein Zielfernrohr. Ein Hochleistungsgerät, mit Nachtsichteinrichtung, falls du hier so was auftreiben kannst. Dann noch eine
Schrotflinte. Eine Pump-ac-tion, irgendwas, das wir absägen können. Falls du eine Spritzpistole kriegen kannst, eine Mac-10 oder Uzi, irgendwas in der Richtung, dann bring sie mit. Wir brauchen vier kugelsichere Westen. Dennis, du warst schon bei Beagle, also übernimmst du das. Kundschafte Haus und Gelände aus. Nimm Tae Woo und Martin mit. Sieh zu, ob du herausfinden kannst, wie viele Männer Taylor hat, wo sie sich aufhalten und wie sie bewaffnet sind. Bring in Erfahrung, wo sie Maggie haben. Martin, unternimm noch nichts. Sammle nur Informationen. Tu einfach so, als wärst du bei den Marines und Dennis war dein Unteroffizier. Taylor will nur eins: Wir sollen reingehen. Das ist ein Hinterhalt.« Das Telefon klingelt. Ich zeige auf Martin. Ergeht ans Telefon. Ich gehe zum anderen Apparat und stelle mich so, daß wir uns sehen können. Auf mein Zeichen heben wir gleichzeitig ab. Er sagt: »Hallo.« »Gib ihn mir, Junge«, sagt Taylor. »Ich hab dir doch gesagt, er ist nicht hier«, sagt Martin. 495 »Zu schade«, sagt Taylor. »Da er nicht da ist, wird er das jetzt leider nicht hören können.« Es folgt eine Pause. Dann -Maggies Schrei. Ich gebe Martin ein Zeichen, daß er auflegen soll. Er starrt mich an. Ich gestikuliere wieder. Legauf. Er tut es, und ich mache es gleichzeitig. Er sieht mich an, als wäre ich kein Mensch. Er sagt: »Sie sind wie Eis. Irgendwas in Ihnen ist tot.« Vielleicht hat er recht. Vielleicht bin ich nur schon mal an diesem Punkt gewesen. Steve würde es verstehen. »Wir müssen deinen Vater noch vierundzwanzig oder achtundvierzig Stunden behalten. Wirst du damit fertig, Martin?« »Er ist tot«, sagt Martin tapfer. »Für ihn spielt es keine besonders große Rolle mehr.« »Nein.« Das Telefon klingelt wieder. Ich will es einfach klingeln lassen. Oder es aus der Wand reißen. Aber das wird Taylor verraten, daß ich hier bin und daß ich es nicht aushalte. Dann kann er sagen, daß er ihr einen Finger abschneidet oder ihre Brust, ihr ein Auge blendet, und ich sollte mich lieber beeilen. Was immer nötig ist, um mich davon zu überzeugen, daß ich es versuchen sollte. Dann sterben wir beide. Ich gebe Martin wieder ein Zeichen. Er schüttelt den Kopf. Also sage ich: »Ich dachte, du hättest Mumm?« Wir heben gleichzeitig ab. Martin sagt: »Hallo.« Diesmal ist es eine Frauenstimme. Sie flüstert: »IstJoe da?Joe Broz?« Martin sagt: »Nein.« Sie sagt: »Oh, mein Gott«, als wolle sie wieder auflegen. »Warten Sie«, sage ich in den Hörer. »Bambi Ann?« »Joe?« »Ja.« »Gehen Sie nichtjoe. Die bringen Sie um. Und Maggie bringen sie auch um. Ich weiß nicht, was Sie getan haben, und es ist mir auch egal.« 496 »Wo sind Sie jetzt?« »In einer Telefonzelle in der Nähe des Büros.« »Okay. Ich will nicht, daß Sie Schwierigkeiten kriegen.« »Lassen Sie nicht zu, daß sie ihr weh tun, Joe.« »Ich werd's versuchen, Bambi Ann.« »Sie wissen, was sie für mich getan hat, oder?« »Ja.« »Sie hat John Travolta gesagt, daß er mich anrufen soll. Mich, persönlich. Um mir etwas über Scientology zu erzählen.« »Woher wissen Sie, daß sie Maggie umbringen werden?« »Ich habe gelauscht. Das mache ich immer. Ich höre über die Gegensprechanlage mit. Das wirkt dann so, als wäre ich ungeheuer tüchtig. So wie Radar O'Reilly in M*A*S*H.« »Oh.« »Wirklich. Das ist so. Ich tauche mit Sachen auf, bevor sie darum bitten. Die finden, ich sei wunderbar.« »Und das sind Sie auch.« »Aber nicht so, wie sie meinen.« »Noch viel besser.« »Finden Sie wirklich?« »Klar. Sie schlagen sie mit ihren eigenen Mitteln.« »Daraufwäre ich nicht gekommen.« »Sagen Sie mir, was Sie wissen«, bringe ich sie auf den Punkt zurück. »Ich habe noch nie gegen die Firma gearbeitet.« »Ich weiß. Sie sind ein loyaler Mensch.« »Das bin ich.«
»Und das ist gut so.« »Ich mache das jetzt nur für sie. Für Maggie.« »Ich verstehe.« »Taylor wird Sie umbringen ... Sie beide umbringen. Glaube 497 ich. Er und dieser Mr. Hartman, die haben sich darüber gestritten. Es geht um das Memo. Sie hätten das Memo nicht nehmen dürfen, Joe.« »Sie hat es so gewollt. Maggie. Ich habe es nur für Maggie getan.« »Oh.« »Fahren Sie fort.« »Mehr weiß ich nicht.« »Wo haben sie sich gestritten?« »Am Telefon. Mit Mr. Sheehan.« »Konferenzschaltung?« »Ja.« »Verschlüsselt?« »Ich bediene den Zerhacker.« »Wo war Hartman?« »Er war in seinem Büro, glaube ich.« »Wird er dort bleiben ? Oder will er dabeisein, wenn's soweit ist?« »Er will dabeisein. Er besteht darauf.« »Okay. Werden Sie mir noch ein bißchen helfen?« »Wenn ich kann.« »Um Maggies Leben zu retten.« »Ja.« »Wenn ich Sie brauche, werde ich Sie im Büro anrufen und mich als Ihr Onkel melden ... Sie haben doch einen Onkel?« »Arnold.« »Onkel Arnold. Sie haben keine Zeit zum Reden, und Sie werden mich zurückrufen. Okay?« »Okay.« »Darf ich Sie zu Hause anrufen?« »Ja.« »Danke.« »Da ist noch etwas«, sagt Bambi Ann. »Mr. Bunker hat... hat deswegen auch angerufen.« 498 »Was wollte er?« »Er hat gesagt, er wolle unbedingt eine Kopie des Memos haben.« »Zu wem hat er das gesagt?« »Zu Mr. Sheehan, der es Mr.Taylor sagen soll. Ach, ja, deshalb will auch Mr. Hartman dabeisein. Um sicherzugehen, daß er das Memo bekommt.« »Wissen sie - Taylor, Sheehan, Bunker - wissen sie, was in dem Memo steht?« »Es hat sich nicht so angehört.« »Danke, Bambi Ann, vielen Dank.« »Viel Glück. Retten Sie sie.« 499 KAPITEL SIEBENUNDFÜNFZIG Ich warte vor dem Dojo auf Sergeant Kim. Es ist jetzt offensichtlich, daß ich nicht so clever bin, wie ich dachte. Taylor hat mich überwachen lassen und mitgekriegt, daß ich Hawk rekrutiert habe. Und wenn Hawk schon die ganze Zeit für Taylor arbeitet, dann weiß Taylor auch über die ROK Bescheid. Kim fährt einen Lincoln Town Car. Ich folge ihm. Er wohnt zwanzig Autominuten entfernt in einem Stadtteil, der im Lauf der letzten zehn Jahre praktisch völlig asiatisch geworden ist. Er biegt in seine Zufahrt ein, steigt aus, tritt an den Bordstein und wartet auf mich. Er lädt mich in sein Haus ein. Ich bin noch nie dort gewesen. Ich weiß, daß seine Frau tot ist. Eine junge, etwa zwanzigjährige Frau begrüßt uns auf die korrekte, unterwürfig konfuzianische Weise an der Tür. Sie und Kim wechseln ein paar Worte auf koreanisch. Er stellt mich nicht vor. Wir setzen uns ins Wohnzimmer, und sie bringt eine Flasche guten Scotch. Wieder verliert er kein Wort über sie, ob sie seine Tochter, eine
Verwandte, ein Hausmädchen oder eine Frau ist, die er sich per Katalog aus Korea bestellt hat. Ich erzähle ihm, was passiert ist. Sie bringt uns Cheeseburger. Sie sind ausgezeichnet, dick und saftig, mit würzigem Cheddar und dazu fein geschnittenen Pickles. »Ich hasse kimcbee«, sagt Kim. »Magst du kimchee? Ich habe was da. Kannst du haben.« »Schon in Ordnung«, sage ich. »Feinschmecker-Cheeseburger«, sagt er. »Willst du Rezept?« »Nein, ist schon okay.« »Hartman, hat er immer noch Sakuro Juzo bei sich?« 500 »Normalerweise.« »Ahhh ... Du willst Bier? Limonade?« »Das gleiche wie du.« »Hartman der Kaiser. Juzo der Drache. Taylor der feindliche General. Magdalena ist der Schatz. Das Memo ist der MacGuffin. So hat Hitchcock das genannt. Magst du Thriller? Hitchcock sein mein Lieblingsregisseur. Ist wie ein Spiel.« »Genau«, sage ich. Nur daß ich sie liebe. »Genau«, sagt er. »Ein Spiel.« 501 KAPITEL ACHTUNDFÜNFZIG Um zwölf Uhr am folgenden Tage bringt ein vietnamesischer Botenjunge Blumen für Bambi Ann Sligo. In den Blumen steckt eine Nachricht für Frank Sheehan. Lieber Frank, Maggie gegen das Memo. In ihrem Haus. 2:00 Uhr morgens. Nur Taylor und sie. Bambi Ann macht heute später Mittagspause, um sich mit ihrem Onkel Arnold zu treffen - mit offizieller Erlaubnis. Sie mag ihren Onkel Arnold nicht, hofft aber, nach seinem Tod etwas von ihm zu erben. Ich frage, warum sie ihn nicht mag. Sie sagt, das ginge mich nichts an. Sie erzählt, es wäre mehrfach hin- und hertelefoniert worden. Hartman fliegt sofort von Napa nach L. A. zurück. Wie ich gehofft hatte. Maggie werden sie erst am späten Abend bringen, weil sie sie dann nicht zweimal transportieren und ein neues Versteck für sie finden müssen. »Die sind sehr sauer auf Sie. Daß sie sich nicht mit Ihnen in Verbindung setzen können.« »Wie geht's ihr?« »Ich glaube, sie ist okay.« »Gut« ist alles, was ich sagen kann. »Sie ist eine wunderbare Frau.« »Eines müssen Sie noch für mich tun. Kümmert sich U.Sec. 502 auch um die Sicherheitsvorkehrungen bei RepCo? Und um Hartmans Privatwohnung?« »Ich denke schon.« »Können Sie die Unterlagen darüber für mich kopieren? An diesem Abend treffe ich mich mit Dennis, Kim Tae Woo und Martin um halb zwölf in Maggies Haus. Ich bringe meine gesamte Ausrüstung mit. Sie beginnen mit Vorbereitungen, so als würden sie sich auf eine Belagerung einrichten, überprüfen tote Winkel, Aussichtspunkte und Blickfelder. Ich bitte Mrs. Mulligan, eine Kanne Kaffee aufzusetzen und Sandwiches zu machen. Sobald ich sicher bin, daß sie U.Sec. angerufen und ihnen gesagt hat, wie viele wir sind und wie wir bewaffnet sind, schicke ich sie fort und stelle die Telefone ab. Ich frage mich, auf welcher Seite des Doppelspiels Mrs. Mulligan wirklich steht. Sobald sie fort ist, verlassen Kim Tae Woo und ich das Haus. Ich denke, daß ich zwei Mann zurücklassen muß. Taylor wird jemanden vorbeischicken, der das Haus überwacht. Ich jedenfalls würde es tun.Jeder würde es tun. Man muß im Haus geschäftiges Treiben sehen. Martin lasse ich zurück, weil er am schlechtesten ausgebildet ist. Der andere muß ein Weißer sein, um jemandem, der zufällig einen Blick durch ein Fenster erhascht, wenigstens den Eindruck zu vermitteln, als wäre ich es. Die Zeitung kündigte einen bedeckten Himmel an. Was stimmt - die Wolkendecke ist gut, die Nacht ist dunkel, und wir bewegen uns schnell und problemlos den Strand entlang. Wir müssen eine Meile zurücklegen. Als wir am Pacific Coast Highway rauskommen, steht ein Wagen am Straßenrand. Der Fahrer wechselt einen Reifen. Es ist ein Freund von Sergeant Kim, und er hat uns schon erwartet. Er beendet seine Arbeit schnell. Wir brechen auf.
503 Die Namen, Anschriften und Telefonnummern des regulären Sicherheitspersonals befinden sich in dem Material, das Bambi Ann mir besorgt hat. Sie hat uns damit die Arbeit erheblich erleichtert. Ohne ihre Hilfe hätten wir wahrscheinlich einen Wagen abfangen oder etwas anderes tun müssen, wodurch wir gezwungen gewesen wären, auf offener Straße zu handeln. Paul Dressler erwischte den Burschen, der die Schicht von Mitternacht bis acht Uhr hat, bevor er zur Arbeit kam. Als wir RepCo erreichen, sitzt Paul bereits hinter dem Schreibtisch des Wachmannes, beobachtet die Videomonitore und kontrolliert den Vordereingang. Er läßt uns rein. »Ist Hartman noch hier?« »Ja.« »Ist sonst noch jemand hier?« »Kim ist schon da.« Ich schaue mich um. Kim, ganz in Schwarz gekleidet, taucht aus den Schatten auf. »Und noch ein anderer Agent«, sagt Paul. »Ich glaube, er spricht gerade mit Japan. Das Lämpchen seines Telefons ist schon den ganzen Abend an. Und Hartman hat seine Leibwächter bei sich.« »Wie viele?« »Juzo und zwei weitere. Glaube ich. Genau läßt sich das unmöglich sagen.« »Bleib hier«, sage ich. Damit sind wir dann drei gegen vier. Aber wir haben das Überraschungsmoment auf unserer Seite. Lautlos gehen wir den Korridor zum Fahrstuhl hinunter. Es gibt mehrere Möglichkeiten. Wir können hochfahren und damit möglicherweise verraten, daß wir kommen; wir können das Treppenhaus nehmen, obwohl es dann möglich ist, daß sie gleichzeitig mit dem Fahrstuhl herunterkommen; oder wir können warten und unseren Hinterhalt genau hier zuschnappen lassen. Ich gebe den beiden anderen ein Zei504 chen, daß sie sich nicht bewegen sollen. Ich will lauschen und mein Gefühl befragen. Sergeant Kim kann ich nicht sehen, er zieht wieder seine Mit-der-Dunkelheit-verschmelzen-Num-mer ab. Es ist beinahe Zauberei. Mit der 9-mm in der Hand steht Kim Tae Woo absolut reglos und still auf der mir gegenüberliegenden Seite des Fahrstuhls. Ich kann nicht sagen, ob er atmet oder nicht. Der Fahrstuhl macht ein Geräusch. Er wird benutzt. Oben. Ich grinse Tae Woo an. Damit ist alles erheblich einfacher geworden. Wir stehen auf beiden Seiten des Fahrstuhls und warten darauf, daß David Hartman und wie viele Ninjas auch immer direkt vor unsere Kanonen laufen. An den Geräuschen ist leicht zu erkennen, wie weit der Fahrstuhl inzwischen ist. Er kommt näher. Mit einem Quietschen hält er an. Die Tür beginnt sich zu öffnen. Plötzlich spüre ich eine Kanone im Rücken. Eine Hand greift nach vorn und nimmt mir die Waffe ab. Hinter Tae Woo steht auch ein Ninja, in schwarzer Kluft und allem. »Waffe weg«, zischt er. Die Fahrstuhltür gleitet auf. »Gutgemacht«, sagt David Hartman. Neben ihm steht Sakuro Juzo. Er hat ein Schwert. »Taylor ist ein Idiot. Aber Sakuro hat gesagt, Sie würden herkommen. Der Verstand eines Strategen. Er sagt, Sie hätten Sun Tzu gelesen. Nur daß Sie ihn wie ein Abendländer verstehen. Ich hoffe, Sie haben das Memorandum mitgebracht.« »Nein«, sage ich. »Habe ich nicht.« Er seufzt. Er und Sakuro treten aus dem Fahrstuhl. Er steht jetzt unmittelbar vor mir. In meinem Rücken ist eine Kanone. Wir verlassen den schmalen Korridor und betreten die Haupthalle. Die Decken verschwinden irgendwo in der Dunkelheit, so hoch sind sie. Wie immer brennt im offenen Kamin ein Feuer. Ein Eiskübel mit Champagner steht bereit. »Das ist eine Fünfhundert-Dollar-Flasche Champagner«, 5°5 sagt Hartman. »Ich habe mit Sakuro gewettet, daß Sie nicht hier aufkreuzen. Nicht daß ich ihm nicht geglaubt hätte, aber ich halte es für respektlos, sie ihm nur als Belohnung zu geben. Oder als Trinkgeld. Der Mann ist ein Genie.« Sowohl Sakuro als auch Hartman scheinen sehr mit sich zufrieden zu sein. »Ich will das Memo. Andernfalls verspreche ich Ihnen, daß... Nun, ich habe Sie und Maggie. Einer von ihnen wird zusammenbrechen, wie Sakuro mir versichert, um dem anderen weitere Schmerzen und Erniedrigungen zu ersparen.« Plötzlich ein Schrei aus der Dunkelheit. In einer Sprache, die ich zwar nicht verstehe, aber für asiatisch halte. Es ist Sergeant Kim. Ich weiß nicht, was er sagt, aber ich höre, daß es voller Hohn und Spott ist. Es ist ein hohes Maß an Selbstbeherrschung erforderlich, um bei einem Kampfsport an die Spitze zu gelangen. Daher müssen es schon drastische Worte sein, um SakuroJuzo eine sichtbare Reaktion zu entlocken. Sakuro antwortet. Dann wieder Kim. Dann Sakuro. Dann sagt Sakuro etwas zu seinen beiden Nin-jas, und plötzlich stehen wir alle vor dem
Kamin. Sakuro wendet sich an Hartman. »Ich werde einen persönlichen Kampf führen. Ich werde siegen. Es wird keinen Einfluß auf das hier haben.« »Sicher«, sagt Hartman. »Räumt das weg«, befiehlt Sakuro Tae Woo und mir. Da er uns besiegt hat, sind wir geringer als er und sollten gehorchen. Wir tun, was er verlangt, und ziehen Sessel und Tische vom Kamin fort. Als genügend Platz ist, treten wir zurück. Sergeant Kim taucht auf, wo auch immer er herkommt. Dem äußeren Anschein nach ist dies ein Kampf, den Kim verlieren wird. Er sieht aus wie das, was er ist ein alter Soldat, der die letzten zwanzigjahre mehr an Geld als an Kämp506 fen gedacht hat - und der mehr trinkt, als gut für ihn ist. Dann wird mir bewußt, daß es tatsächlich sogar noch schlimmer ist. Erheblich schlimmer. Sofern Kim nicht einen Zaubertrick im Ärmel hat, muß er verrückt sein. Er will mit Händen und Füßen gegen Sakuro kämpfen. Sakuro wird das Schwert benutzen. Dies ist eine Samurai-Waffe, und Sakuro ist einer der wenigen lebenden Meister des Samuraischwerts. Vergessen Sie den Mystizismus, das Ki und das alles. Denken Sie einfach nur an Profisport. Stellen Sie sich vor, mit einem ernsthaften Mittelgewichtskämpfer in den Ring zu steigen. Stellen Sie sich vor, auf einem Football-Feld gegen die Detroit Lions anzutreten. Oder vielleicht auf einem Tenniscourt gegen einen der fünf weitbesten Spieler. Dinge werden mit einer Geschwindigkeit und einer Kraft passieren, die Ihre Fähigkeiten weit übersteigen. Mit Tricks und in Kombinationen, die Sie sich nicht vorstellen können. Sie treten sich gegenüber. Kim lacht. Sakuro lächelt spöttisch und nur ganz leicht. Sie bewegen sich nicht, und doch manövrieren sie. Ich sehe nichts, aber ich weiß, daß sie kämpfen. Plötzlich springt Kim zur Seite, schlägt ein Rad und taucht rechts neben Sakuro auf. Sakuro hat sich bereits gedreht, ist dem Schlag bereits ausgewichen, bevor er gemacht wurde. Alle starren sie an. Ich bewege mich kaum merkbar, um festzustellen, ob mein Ninja vielleicht nicht mehr ganz so konzentriert auf mich achtet. Nein. Er hat mich nicht vergessen. Und ich bin ein Narr, ihn auf die Probe zu stellen und zu versagen, wodurch ich seine Wachsamkeit und Aufmerksamkeit nur noch gesteigert habe. Der Hoffnungsschimmer erlischt. Mit einer Bewegung, die so schnell ist, daß ich sie nicht bemerkt hätte, wenn das Feuer nicht auf der Klinge glitzerte und eine Reflexion durch den Raum schleuderte, schlägt Sakuro zu und trennt Kims Hand ab. 507 Die Zeit steht still. Sakuro erstarrt und betrachtet sein Werk. Die Hand, die von dem Mann abfällt. Blut spritzt aus Kims Armstumpf. Er bewegt sich vorwärts, hält den Arm auf Gesichthöhe, blendet Sakuro Juzo mit dem spritzenden Blut. Kim hält den Arm hoch, so daß der Blutregen weiter auf Juzos Gesicht gerichtet ist, und läßt sich nach vorn fallen. Dann kommt er mit seiner unversehrten Hand hoch, landet einen fürchterlichen Schlag auf Sakuros ungeschützten Hals und tötet ihn. Ich ziehe die Kanone aus dem Knöchelhalfter und erschieße den Ninja neben mir. Mit gezogener Waffe betritt Paul den Raum und richtet sie auf den anderen Ninja. Kim stößt seinen Arm in den Kamin und brennt den Stumpf an einem lodernden Scheit aus. Er muß unter Schock stehen, denn er schreit nicht. Ich drehe mich mit gezogener Waffe zu Hartman. Kim wendet sich vom Feuer ab, geht zu dem Champagnerkühler, nimmt die Flasche heraus, wirft sie Tae Woo zu und stößt dann sein verbranntes Fleisch in das Eis. Dann wird er sehr, sehr blaß und sinkt unter Schock langsam zu Boden. David Hartman fällt auf die Knie und übergibt sich. »Ist er tot? Tot?« Ich gehe zu Sakuro und untersuche ihn schnell. Er ist tot. Paul befiehlt dem lebenden Ninja, sich auf den Bauch zu legen und alle viere von sich zu strecken. Selbst besiegt sind sie gefährlich. Dennoch habe ich nicht den Wunsch, ihn zu töten. »Sie haben Sakuro Juzo umgebracht. Sie sind verrückt, verrückt«, sagt Hartman. »Sie haben gerade eine Zwölf-, eine Zwanzig-Millionen-Dollar-Investition getötet. Er sollte... Er sollte... Er wäre ein, ein, ein Goldesel geworden. Ein Goldesel. Clubs. Spielzeuge. Filme. Kleidung. Eine ganze Kollek508 tion. Alles. In zwei Wochen dreht er seinen ersten Film. In zwei Wochen. Sie sind verrückt, Broz. Verrückt.« Ich verpasse ihm eine Ohrfeige. Die Hysterie läßt nach. »Er ist einfach nur tot. Er versteht das.« Tae Woo hebt vorsichtig die Hand seines Onkels auf. Er schaut sich nach einem sauberen Tuch um - er sieht eine Serviette auf einem der Tische - und wickelt sie sorgfältig ein. Dann öffnet er den Champagner. Er hält den Kopf seines Onkels und läßt ihn trinken, um ihm aus dem Schock zu helfen.
»Kommen Sie, David«, sage ich. »Wir werden Sie jetzt gegen Maggie austauschen. Anschließend werde ich Ihnen das Memo geben. Meine einzige Kopie. Dann werden wir so tun, als wäre das alles nie passiert. Nichts davon. U.Sec. wird sich um die Leichen kümmern. Die können so was. Wir werden Freunde sein. Sie werden Maggie bei ihrer weiteren Karriere helfen. Ich werde Ihre Geheimnisse für mich behalten. Für immer. Falls Sie unsere Abmachung brechen, werde ich lange genug leben und Sie töten. Denn das ist mein Beruf. Ich töte.« 509 VERSCHWORUNG Naturwissenschaftliches Denken ist das Kriterium und der Unterbau für nahezu alle modernen Ideen geworden, selbst für die beiläufige Art des Denkens des nicht sonderlich gebildeten Mannes von der Straße. Diese Denkweise hat deshalb alles durchdrungen, weil sie grundsätzlich funktioniert. Und wir können sehen, daß sie funktioniert. Eine berühmte Hellseherin hat mal zu mir gesagt, daß es nicht ausreiche, Gedanken in ihre Richtung zu senden - »Wenn Sie sicher sein wollen, daß Sie mich erreichen, dann versuchen Sie es per Telephon.« Die naturwissenschaftliche Methode beginnt mit der objektiven Beobachtung von Phänomenen. Nicht, was hätte passieren sollen, oder was wir hoffen, das passiert, oder was passieren könnte, sondern das, was tatsächlich passiert ist, soweit es uns möglich ist, das zu beobachten und zu verifizieren. Dann entwickeln wir eine Hypothese, um zu erklären, warum und wie es passierte. Wir können viele Erklärungen für ein Phänomen erfinden. Wie entscheiden wir uns also, welche wir verwenden wollen? Nebenbei gesagt, und das ist ein feiner Unterschied, teilt uns die Wissenschaft nicht mit, welche Theorie die richtige ist; die Wissenschaft verrät uns nur, welche Theorie so verwendet werden kann, als sei sie die richtige, weil sie in dem Zusammenhang, in dem man sie einsetzt, funktionieren wird. Vorzugsweise veranstaltet man ein kontrolliertes Experiment, das dann wiederholt werden kann. Dies läßt sich recht 510 häufig mit menschlichen und historischen Ereignissen nicht durchführen. Aber es gibt andere Maßstäbe. Wenn es zwei Theorien oder mehr gibt, welche erklärt dann am besten alle bekannten Tatsachen? Welche paßt am besten auf all die anderen Dinge, die wir über das Universum wissen, und kann diese beweisen? Und welche Theorie ist die einfachste? Das berühmte Beispiel ist die Frage, dreht sich die Sonne um die Erde oder die Erde um die Sonne? Es ist möglich -oder war möglich, heute vielleicht nicht mehr -, ein Modell des Universums zu konstruieren, in dem die Sonne sich um die Erde dreht, so wie es ja von dort, wo wir leben, den Anschein hat, aber nur, wenn wir die Vorstellung akzeptieren, daß die Erde rund ist. Das Problem dabei ist, vor allem, je mehr Phänomene wir beobachten, zum Beispiel die Jupitermonde, daß dieses Modell schnell sehr, sehr kompliziert und schwerfällig bis zur Unbrauchbarkeit wird. Und dann fängt es an, anderen Vorstellungen zu widersprechen, die sich als nützlich erwiesen haben, der Schwerkraft und der Trägheit und so weiter. Es ist ein beobachtbares Phänomen, daß Hussein in Kuweit einmarschiert ist und es eroberte. Daß die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten dann Truppen und Waffen schickten und einen Krieg austrugen, um Hussein aus Kuweit zu vertreiben. Und so weiter. Aber es ist durchaus legitim, die offizielle Geschichte, warum und wie dies geschah, als Hypothese zu betrachten, als unbewiesene Theorie, so wie viele, viele Menschen die offizielle Geschichte der Ermordung John F. Kennedys als fehlerhaft betrachten. Die offizielle Geschichte - daß Saddam einfach beschloß, Kuweit zu annektieren, und wir einfach beschlossen, daß sich ihm nicht zu widersetzen bedeutete, ein zweites Münchener Abkommen zu schließen, eine Appeasement-politik, deren Konsequenzen eine weltweite Katastrophe 5« nach sich ziehen würden - hinterläßt eine ganze Menge Jupitermonde, die erklärungsbedürftig sind. Im folgenden eine Liste von mindestens neununddreißig Ungereimtheiten. Es gibt noch viele, viele mehr. Freunde von Verschwörungstheorien sollten diese Liste ganz genau lesen. Wenn Sie aber, wie ich, in Oliver Stones JFK eingeschlafen sind, dann sollten sie diesen Abschnitt auslassen und einfach akzeptieren, daß dieser Krieg, so wie er dargestellt worden ist, keinen Sinn ergibt.