Nr. 8 http://www.GroschenStory.de GroschenStory ist ein Gemeinschaftsprojekt von: Böhnhardt Verlag Augsburg MovieCom Köln © 2001 Böhnhardt Verlag Augsburg Coverzeichnung: Daniel Kießler, Thomas Schukalla Nightfall Studios, Düsseldorf http://www.nightfall-studios.de Heftgestaltung: MovieCom, Köln http://www.MovieCom.de Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten. Das Werk wird in elektronischer Form zum freien Download angeboten und darf nur vollständig und ohne jegliche Änderung ausgedruckt, vervielfältigt und verbreitet werden.
Amoklauf Armin Rößler
Ich bin jetzt geheilt, daran gibt es keinen Zweifel. Sagen zumindest die Ärzte und die sollten es wissen. Ob ich Angst habe, wieder in diesen Zustand versetzt zu werden? Natürlich, ich spüre diese Furcht fast permanent, kann mich nur schwer von ihr lösen. Ich schlafe nachts kaum und wenn, dann sehe ich immer wieder diese schrecklichen Bilder vor mir, die einfach nicht verschwinden wollen. Dann fühle ich tief in mir die Abscheu, die Verachtung meiner selbst. Die Ärzte haben selbstverständlich versucht, mir diese schrecklichen Erinnerungen zu nehmen, aber es wollte nicht gelingen. Keine der bekannten Methoden schlug an und so werde ich wohl bis zu meinem gnädigen Tod damit leben müssen, alles immer wieder zu erleben. Vielleicht hilft es ein wenig, wenn ich mir das entsetzliche Geschehen von der Seele schreibe, wobei ich eher befürchte, dass dadurch die grässliche Erinnerung noch lebendiger in mir wird. Dennoch wage ich diesen Versuch, denn auch wenn man mir bescheinigt, jetzt völlig gesund zu sein - und damit
auch wieder ein vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft -, so habe ich doch meine Zweifel, die ständig an mir nagen, ob ich jemals wieder vernünftig mit anderen Menschen werde umgehen können. Es erscheint mir sinnvoll vorauszuschicken, dass ich mich nicht an alle hier geschilderten Ereignisse wirklich hundertprozentig erinnern kann. Oft sind es nur verschwommene Bilder, die ich heute noch sehe, Gesprächsfetzen oder schrille Schreie, die mein Innerstes durchzucken. Es wurde aber vieles rekonstruiert, anhand der Überreste, die gefunden wurden, der Toten, der zerstörten Gebäude. Ich musste helfen, die Geschehnisse in ein verständlicheres Bild zu rücken, wogegen ich mich natürlich gewehrt habe, was man aber unerbittlich von mir verlangte. Auch dadurch sind viele der Narben möglicherweise tiefer geworden. An die Zeit zwischen den Sternen habe ich keine bewusste Erinnerung. Die menschliche Fracht, zu der auch ich gehörte, lag im Tiefschlaf, während die Mannschaft das große Schiff sicher zu der neuen Welt leitete. Erst als wir dort gelandet waren, weckte man uns und zeigte uns die neue Heimat. Der noch fremde Planet trug den Namen seines Entdeckers: Morrison. Das Schiff war am Rand eines größeren Talkessels gelandet, in dessen
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Zentrum ein großer See lag. Vom See führte ein Fluss aus dem Tal heraus, der, wie man uns einführend erklärt hatte, viele, viele Kilometer entfernt auf eines der vier Meere dieser Welt traf. Ein weiter, relativ ebener Platz am Ufer des Sees schien der ideale Ort für eine erste Kolonie. Schon mit dem nächsten Schiff sollten weitere Siedler folgen, die an anderen geeigneten Stellen ebenfalls Städte errichten würden. Dazu kam es aber nicht. Die Vegetation im Tal war recht üppig, bedingt durch das reichlich vorhandene Wasser und das angenehm warme, aber nicht zu heiße Klima, das sich wegen der vergleichsweise niedrigen Achsneigung des Planeten auch nur unwesentlich im Verlauf eines Jahres verändern würde. Die aus dem Schiff ausgeladenen Bauteile ließen bald die ersten Gebäude entstehen, vollrobotisch, nur wenig eigener Einsatz war notwendig. Wir Menschen kümmerten uns darum, erste landwirtschaftliche Anbaugebiete festzulegen, die unsere Ernährung sichern sollten. Industrie sollte in dieser Gegend vermieden werden, dafür waren andere ertragreichere Standorte ausgesucht worden. Dementsprechend war auch die Zusammensetzung unserer kleinen Gruppe sehr homogen. Viele waren Farmer oder fühlten sich dazu berufen, einige jagten aus Lei-
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denschaft. Gefährliche Tiere gab es im Talkessel wie auf der ganzen Welt Morrison nach den Angaben, die wir erhielten, nicht, wohl aber Fleischlieferanten der verschiedensten Arten in Hülle und Fülle. Die ersten Jagdtrupps waren bald nach der Landung unterwegs, um uns Siedlern möglichst schnell andere Nahrung zu liefern, als an Bord mitgeführt worden war. Ich selbst hatte einen der Verwaltungsjobs, die auch in einer kleineren, eher ländlichen Gemeinde notwendig sind, selbst im Zeitalter der alles umfassenden Technisierung. Der Chef dieser ersten 20.000 Kolonisten war noch auf der Erde bestimmt worden, ein sympathischer Mann namens Al Mosley, der über das nötige Geschick verfügte, viele Belange unter einen Hut zu bringen, ohne dass dabei einer der Betroffenen das Gefühl hatte, seinen Wünschen sei nicht Rechnung getragen worden. Ihm arbeitete ich direkt zu, ohne zwischengeschaltete Beamte, wollten wir doch die Verwaltung unserer kleinen Siedlung so einfach und übersichtlich wie möglich handhaben. In den ersten Tagen war ich viel unterwegs, meist mit einem der beiden Schweber, die uns auf der Erde zugestanden worden waren, um das Fortschreiten der Arbeiten zu überblicken, mit den Leuten zu
Amoklauf
Armin Rößler
reden und ihre Sorgen und Nöte für Al zu sammeln oder, wenn es praktikabel war, diese gleich vor Ort zu zerstreuen. Dann wurden beide Schweber für die Jagdtrupps benötigt, die sich auf die entgegengesetzte Seite des Sees begeben sollten, wo einige Herden weideten. Zwar hatten wir vorab einiges an Informationen bekommen, das schmackhafteste Fleisch mussten wir aber schon selbst herausfinden. Also sollten die jeweils vier Jäger der Trupps eine möglichst große Auswahl mitbringen, um uns genügend Möglichkeiten der Variation für künftige Speisezettel zu geben. Da ich ohne
Schweber quasi beschäftigungslos war, begleitete ich den einen Trupp. Wir hatten auftragsgemäß das andere Ufer angesteuert und waren dort gelandet. Jensen, ein unscheinbarer, schweigsamer Mann, blieb beim Schweber, eine reine Vorsichtsmaßnahme, von der keiner wirklich glaubte, dass sie überhaupt einen Sinn hatte. Wir anderen machten uns auf den Weg. Fredericks war ein großgewachsener Jäger mit einem dichten schwarzen Vollbart und düsterem Blick. Mir war er sofort unsympathisch, wohl hauptsächlich wegen seiner großspurigen Art. Yasmin Semben dagegen schien in Ordnung zu sein, eine noch relativ
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junge, aber bestimmt auftretende Frau, die wusste, was sie wollte. Unser Ziel war eine der Herden, die wir näher in Augenschein nehmen wollten. Es handelte sich um vierbeinige Tiere, die ganz entfernt irdischen Rindern glichen. Natürlich nicht haargenau, das verhinderte schon das dichte blaue Fell und das eine riesige Auge, das jedes dieser Tiere hatte. Sie verfügten immerhin über genug äußere Ähnlichkeit, dass die Biologen sie für essbar hielten. Wir schossen jeder eines der völlig arglosen Tiere und schleppten die Beute zum Schweber zurück, wo Jensen auf uns wartete, der die Tiere in Empfang nehmen und verladen würde. Auf dem Rückweg machten wir die Bekanntschaft mit dem nächsten Vertreter der Fauna dieser Welt. Das Tier von Morrison sah völlig harmlos aus, schien auf den ersten Blick eine Art kleiner Affe zu sein. Es war vielleicht 60 Zentimeter groß, am ganzen Körper und im Gesicht stark behaart, wobei das Fell, von einigen Flecken abgesehen, schneeweiß war, hatte eine vorstehende Schnauze, einen mageren Körper und kurzen Schwanz. Es saß mitten auf dem Weg und rührte sich nicht. Fredericks bestätigte die schlechte Meinung, die ich spontan von ihm gehabt hatte. Er richtete seine Waffe auf das Tier, doch Yasmin
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hielt ihn davon ab zu schießen. „Willst du den Affen etwa auch noch mit dir schleppen?”, sagte sie mit verletzendem Spott. Sie konnte den großspurigen Fredericks offensichtlich auch nicht sonderlich leiden und außerdem waren wir alle drei schon ziemlich schwer beladen. „Nein”, sagte Fredericks, „aber der dämliche Affe sitzt mitten im Weg. Soll ich etwa außenrum laufen?” Dann feuerte er unvermittelt ein Projektil aus seiner Waffe ab. Fredericks galt eigentlich als guter Schütze, doch der Affe bewegte sich unerwartet schnell. Wir hatten erwartet, das Tier tot am Boden liegen zu sehen, mit zerschmettertem Schädel. Aber der Affe war beiseite gehuscht, just in dem Moment, als Fredericks seine Waffe betätigt hatte. Dieser fluchte, zielte erneut auf das Tier und gab einen weiteren Schuss ab. Auch der zweite Schuss ging daneben, ebenso der dritte. Dann fing Fredericks an, wild auf das Tier zu ballern, das sich nicht einmal mehr die Mühe machen musste, den Projektilen auszuweichen, sondern sich behäbig in die Büsche schlagen konnte. Bevor es endgültig verschwand, drehte es sich noch einmal um und warf uns einen seltsamen Blick zu. In diesem Moment kam mir erstmals der Gedanke, es sei intelligent. Es schaute, soweit ich die fremdartigen Gesichtszüge beurteilen
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konnte, wissend, als habe es verstanden, was geschehen war. Und noch mehr lag in diesem Blick: Die Augen des Tiers leuchteten kurz in unheimlicher Manier auf, die ich in diesem Moment nur als bedrohlich empfinden konnte. Ich schauderte. Was hatte ich tatsächlich gesehen? Hatten mir meine überreizten Sinne einen Streich gespielt oder war da wirklich eine Drohung gewesen? Diese spontane Idee schien mir damals natürlich noch völliger Unsinn zu sein. Abwegig und verrückt, daher behielt ich meine Gedanken auch für mich. Fredericks dagegen schäumte vor Wut, noch lange nachdem das Tier verschwunden war. „Blödes Mistvieh”, fluchte er immer wieder, bis wir bei Jensen und dem Schweber ankamen. Dort beruhigte er sich dann langsam. Wir jagten anschließend noch weiter, ehe wir uns an Ort und Stelle zur Nachtruhe begaben. Diese fand ein dramatisches Ende: Am nächsten Morgen, Morrisons noch namenlose Sonne war gerade aufgegangen, lag Fredericks direkt neben dem ausgeglühten Feuer, das wir am Abend entzündet hatten, inmitten einer großen Blutlache. Er war tot, anscheinend gestorben durch mehrere Bisse in den Hals und keiner von uns hatte auch nur das Geringste bemerkt. Niemand hatte ihn leiden können, dennoch waren
wir tief erschüttert und lange unfähig, etwas Sinnvolles zu tun. Dann packten wir aber den toten Fredericks zur bisherigen Jagdbeute auf die Ladefläche des Schwebers und flogen sofort zurück. Zwar hatten wir hastig noch nach Spuren des Mörders gesucht, aber nichts gefunden. Es blieb nur die Vermutung, dass ein wildes Tier über ihn hergefallen war, während wir geschlafen hatten. Auch Yasmin stellte an ihrem linken Arm dann einen harmlosen Kratzer fest, von dem sie bald überzeugt war, dass er ebenfalls während der Nacht entstanden sein musste. Jensen rieb sich den Nacken - auch dort war etwas zu sehen, das durchaus eine Bisswunde, verursacht durch kleine, aber spitze Zähne, sein konnte. Was es damit auf sich hatte, warum ich verschont geblieben war und wir alle überhaupt nichts von Fredericks’ Tod bemerkt hatten, konnten wir uns nicht erklären. Yasmin Semben war die erste aus dem Jagdtrupp, an der etwas Ungewöhnliches festzustellen war. Es war nur kurz nach der Rückkehr, als sie einfach ohne jegliche Ankündigung umkippte. Sie schien in ein tiefes Koma gefallen zu sein, diagnostizierte der hilflose Arzt unserer Gemeinschaft. Er legte sie im provisorisch eingerichteten Krankenhaus in ein
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Bett, untersuchte sie zwar ausführlich, konnte ihr aber nicht helfen. Ich besuchte am nächsten Morgen Yasmin. Sie machte einen sehr friedlichen Eindruck, wie sie da in ihrem Krankenbett lag und nur zu schlafen schien. Ihre Gesichtszüge wirkten entspannt, sie sah keineswegs so aus, wie man sich eine Kranke vorstellt. Ich dachte noch, sie müsse eigentlich jeden Moment aufwachen, vielleicht etwas verwirrt um sich blicken, dann aber wieder aufstehen können und völlig gesund sein. Tatsächlich wachte sie auch auf. Ich hatte mich gerade der Tür zugewandt, wollte zu Mosley gehen und ihm mei-
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nen Bericht erstatten, der in meiner momentanen Hilflosigkeit arg dünn ausfallen würde. Da hörte ich ein Geräusch und drehte mich instinktiv um: Yasmin, eben noch regungslos im Bett liegend, war nicht nur aufgewacht, sie war auch aufgesprungen, hatte das Bett verlassen und stand direkt vor mir. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich völlig gewandelt: Zuvor noch friedlich und wie erlöst, hatte sich ihre Miene jetzt zu einer teuflischen Fratze verzerrt, aus der in den großen, weit aufgerissenen Augen der Wahnsinn leuchtete. Sie sprang mich an und warf mich, überrascht und überrumpelt wie ich war, zu Boden. Dort biss sie mich in den
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Hals, ehe ich es schaffte, sie von mir zu werfen. Dieser Biss, das weiß ich heute, hat mir das Leben gerettet, auch wenn das sicher nicht Yasmins Absicht war - falls man in diesem Moment überhaupt noch von der Person Yasmin Semben sprechen konnte. Etwas Anderes, Fremdes hatte von ihr Besitz ergriffen. Ich schrie überrascht auf, denn die junge Frau entwickelte immense Kräfte, die ich ihrem schlanken Körper nicht zugetraut hatte. Es gelang mir nicht, mich aus ihrer Umklammerung zu befreien, immerhin konnte ich sie jedoch mühsam davon abhalten, mich erneut zu beißen. Sie versuchte es aber unentwegt, kratzte auch mit ihren spitzen Fingernägeln und fügte mir so einige letztlich harmlose Wunden an den Armen und im Gesicht zu. Einige weitere Schreie, die ich teils aus Schmerz, teils aus Wut ausstieß, lockten dann Menschen in das Krankenzimmer, den schmächtigen Arzt, der mir ebenfalls keine große Hilfe war, aber in seinem Gefolge drei Patienten hatte. Die drei kräftigen Farmer schafften es dann schließlich auch, Yasmin Semben von mir herunter zu zerren, ohne zunächst selbst gebissen zu werden. Die Frau tobte, war völlig von Sinnen, schlug ihre Fingernägel in alles, was in ihre Reichweite kam. Bald hatte sie Schaum vor dem Mund. Eine Spritze,
die ihr der Arzt gab, während die drei Männer sie immer noch festhielten, zeigte nicht die geringste Wirkung. Plötzlich gelang es ihr, einen Arm zu befreien, und sie riss einem der überraschten Männer ein Messer aus dem Gürtel, mit dem sie dann auf den anderen losging, der noch ihren zweiten Arm umklammerte. Sie stach ihm zunächst in den Arm, dann, als er sie ebenfalls losgelassen hatte, warf sie sich nach vorne, direkt auf ihn zu und rammte ihm das Messer schnell zweimal mitten in den Bauch und dann in die Brustgegend. Sie sprang zurück und attackierte den nächsten, während der erste vor Schmerz aufstöhnend zu Boden gegangen war. Der zweite Farmer war noch viel zu verblüfft, um reagieren zu können, als die Klinge auch in seinen Leib trat und Yasmin ihm gleichzeitig in den ungeschützten Arm biss. Er schrie auf, erwachte aus seiner anfänglichen Starre und hob die Fäuste, um die offensichtlich verrückt gewordene Frau abzuwehren. Das brachte ihm einen weiteren tiefen Stich in den Arm ein, ehe er und der dritte Mann sich gemeinsam auf die tobende Yasmin stürzten, der es noch gelang, auch diesen mit dem Messer zu ritzen und ebenfalls zu beißen. Der Arzt und ich standen bleich daneben und beobachteten das Geschehen hilflos, bis Yasmin Semben erneut überwältigt war.
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„Diese Teufelin”, stieß einer der Männer aus. Der Arzt sah nach dem zu Boden Gegangenen, aus dessen Bauch mittlerweile zwar kein Blut mehr spritzte, der aber in einer tiefen Lache roter Flüssigkeit lag. Schlimmer war die Wunde in der Brust, denn die tobende Frau hatte wohl direkt in sein Herz getroffen und es hatte genug Kraft hinter ihrem Stich gesteckt, um den Mann zu töten. Der Arzt stellte dies fest, wurde noch um eine Nuance bleicher und alarmierte einige seiner Helfer im Krankenhaus. Der von Yasmin gebissene Mann sah kopfschüttelnd auf die Wunde an seinem Arm, die sich bereits dunkelblau verfärbt hatte. Ich blickte in einen Spiegel und sah, dass auch meine Halswunde bläulich wurde, ein großer Fleck, der schmerzhaft zu pulsieren begann. „Gift”, stieß der andere hervor. „Diese Hexe hat uns vergiftet.” „Der Arzt wird ein Gegenmittel finden”, versuchte ich ihn zu beruhigen, ahnte zu diesem Zeitpunkt aber nicht, was inzwischen geschehen war. Unser Toter im Krankenhaus war nämlich nicht das erste Opfer des Planeten Morrison, selbst wenn man den mysteriös ums Leben gekommenen Fredericks ausklammerte. Noch in der Nacht hatte sich bereits weit Schrecklicheres abgespielt.
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Jensen hatte nach seiner Rückkehr von der Jagd wieder sein bisheriges Quartier bezogen, eine von mehreren Gemeinschaftsunterkünften, in denen all jene lebten, deren eigene Häuser oder Farmen noch nicht errichtet worden waren. Er hatte keinerlei Symptome wie Yasmin Semben gezeigt, war normal gewesen wie immer. Das änderte sich in der Nacht, als er sich plötzlich von seinem Bett erhob und völlig ausrastete. Acht Männer schliefen in dem Raum und nur David Shamour entkam dem Amoklauf. Er wurde ähnlich wie ich gebissen, was ihn zunächst überleben ließ. Jensen hatte seine Jagdflinte noch bei sich und ballerte ohne Vorwarnung wild durch den Raum. Er muss von den völlig überraschten Männern zwei oder drei sofort erwischt haben. Dann zog er eine Machete und griff den ihm Nächststehenden an, der sich während der Schüsse zu Boden hatte fallen lassen und dort wehrlos lag. Erbarmungslos fuhr ihm die Klinge in den Leib. Danach attackierte er Shamour, einen Bullen von einem Mann, der sich erfolgreich seiner Haut erwehren konnte, aber trotzdem gebissen wurde. Shamour schüttelte Jensen ab, warf ihn zu Boden und floh aus dem Raum. Er rannte kopflos in den Wald hinaus, wo er sich vor dem Amokläufer in Sicherheit brachte. Wäre er sofort in die Siedlung gekommen und hätte mich oder
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Armin Rößler
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Bürgermeister Mosley aufgesucht, wäre es vielleicht noch nicht zu spät gewesen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. So aber kam Shamour erst zu mir, als ich gerade mit ansah, wie Yasmin Semben aus dem Krankenzimmer geschleppt wurde, in dem immer noch der Tote lag. Eine vierfache Dosis des Beruhigungsmittels hatte sie endlich friedlich werden lassen und zwei der Pfleger schafften sie jetzt fort, um Untersuchungen vorzubereiten, mittels derer wir feststellen konnten, warum sie sich derart verrückt verhielt. Shamour kam abgehetzt in das Zimmer, begleitet von einer Schwester, die
ihn hereinführte. Er sah schrecklich aus: Die Bisswunde an seinem Oberarm leuchtete mir als erstes ins Gesicht, auch sie war blau angeschwollen, in einem fortgeschritteneren Stadium als die meinige, das sah ich sofort. Sein Hemd war zerrissen und hing ihm in Fetzen vom Leib, sein Oberkörper zeigte mit vielen Kratzern und kleinen Wunden, dass er sich einen Weg durch den an vielen Stellen unzugänglichen Wald geschlagen hatte. Er erstattete mir Bericht, was in der Gemeinschaftsunterkunft geschehen war, ich übergab ihn dem Arzt, damit sich dieser um ihn kümmerte, und machte mich auf den
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Weg zu Mosley, um gegen die bedrohliche Ausmaße annehmende Entwicklung erste Gegenschritte einleiten zu können. Dafür war es natürlich längst viel zu spät: Jensen zog bereits seine blutige Spur durch die Siedlung, bis ich bei Mosley angekommen war, lief auch Shamour im Krankenhaus schon Amok und dann erwischte es mich selbst. Es lässt sich im Nachhinein nicht mehr feststellen, wer den Arzt, seine Mitarbeiter, die bewusstlose Yasmin Semben und all die Menschen, die gerade im Krankenhaus waren, getötet hat. Es kann Shamour gewesen sein, genauso gut mag es aber der Mann gewesen sein, der von Yasmin gebissen wurde. Vielleicht war es auch sie selbst, die aus der Bewusstlosigkeit erwachte und dieses Blutbad anrichtete. Jedenfalls fand man später in den Trümmern, die der verheerende Brand zurückgelassen hatte, viele, viele Leichen und keinen einzigen Überlebenden. Ich kümmerte mich darum nicht mehr, denn längst hatte das fremde Gift, das durch Yasmins Biss in mein Blut gelangt war, von mir Besitz ergriffen. Gerade als ich bei Mosley eintraf, spürte ich, wie sich meine Sinne trübten, sich meine Perspektive verschob und ich plötzlich ein völlig anderes Ziel hatte. Ich wollte der kleinen
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Stadt und ihren Bewohnern jetzt nicht mehr helfen, ich wollte nicht mehr verhindern, dass die Amokläufer sich ausbreiteten und überall leicht ihre Opfer fanden. Daran hatte ich kein Interesse mehr. Ich hasste die Menschen, die unberechtigt diese Welt in Besitz genommen hatten und sich dabei einen Dreck um die Lebewesen scherten, die schon immer hier existierten. Ich sah den kleinen weißen Affen vor mir, seinen merkwürdigen Blick, mit dem er sich von uns verabschiedet hatte. Diesen Wesen gehörte der Planet, nicht den Menschen. Durch den Biss Yasmins - das weiß ich heute - stand ich jetzt auf der anderen Seite. Das Gift hämmerte in mir, pulsierte in meinen Adern. Es ergriff schnell restlos Besitz von mir und nahm mir jeglichen freien Willen. Mosley kam auf mich zu, das Gesicht sorgenvoll verzogen, denn er musste in diesem Moment schon die ersten Berichte aus dem Krankenhaus oder von weiteren Opfern durch Jensen erhalten haben. Ich ließ ihm keine Zeit, mich zu begrüßen, sondern hieb ihm direkt die Faust unters Kinn. Hilflos lag er auf dem Boden, er hatte keine Gelegenheit gehabt, meinem überraschenden Hieb auszuweichen. Ich verpasste ihm noch einen Fußtritt, griff nach der Projektilwaffe, die man mir zugestanden hatte, und erschoss ihn ohne ein
Amoklauf
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weiteres Wort. Er war sofort tot. Aus dem Zimmer nebenan kam ein weiterer seiner Mitarbeiter, der mich mit der Waffe in der Hand dastehen sah, am Boden den toten Mosley und mich ungläubig anstarrte. „Was ist ...”, brachte er noch hervor, ehe ich auch sein Leben mit einem einzigen Schuss beendete. Nicht bei allen ging es so leicht, war doch nach einiger Zeit der Überraschungseffekt dahin. Auch in einer technisch nicht auf dem modernsten Standard stehenden Kolonie verbreiten sich Nachrichten, schlechte noch dazu, meist wie ein Lauffeuer. Da mittlerweile mindestens drei unterschiedliche Gruppen wüteten, konnte das Geschehen kaum noch jemandem entgehen. So traf ich auf zu allem entschlossene Siedler, die sich mit den unterschiedlichsten Waffen versorgt hatten und gedachten, sich ihrer Haut zu erwehren. Einer verpasste mir eine Kugel in den Oberschenkel, eine Wunde, die ich fast nicht gespürt habe, ein anderer einen Messerstich, der auch nicht mehr als ein Kratzer war. Als die Affenähnlichen kamen, hatte ich zwölf Menschen auf dem Gewissen. Gebissen habe ich niemanden, soweit ich mich erinnern kann, die Krankheit also nicht selbst weitergegeben. Plötzlich waren die Tiere da, Hunderte von ihnen. Eine ganze Her-
de raste durch unsere kleine Siedlung. Mich ließen sie ungeschoren. Anderen erging es weit schlimmer. Die vermeintlichen Tiere mussten von mehr als nur Instinkt getrieben sein: Sie schienen sich ihre Opfer gezielt und überlegt auszusuchen. Die noch nicht von dem Gift infizierten Menschen hatten ihnen wenig entgegen zu setzen, obwohl jetzt beinahe alle bewaffnet waren. Die Eingeborenen Morrisons huschten flink durch die Reihen ihrer Opfer, kaum einer der Affenähnlichen wurde tödlich getroffen. Stattdessen stürzten sie sich in Pulks auf die Menschen, töteten sie leidenschaftslos oder verpassten ihnen den giftigen Biss. Dieser wirkte jetzt weitaus schneller als bei Yasmin, Jensen oder mir. Schon nach wenigen Minuten standen den Affen weitere Amokläufer zur Seite. Wir wüteten gemeinsam wie rasend. Unerbittlich. Es war ein grausames Massaker mit ungleicher Chancenverteilung. So waren die Gegner bald rar, auch die Tiere schienen sich langsam aber sicher zurückzuziehen. Ich hatte aber noch nicht genug und schnell wurde mir klar, was die Stunde geschlagen hatte. Ausgerechnet Jensen ebnete mir den Weg. Ich sah ihn vielleicht 50 Meter von mir entfernt auftauchen. Plötzlich richtete er seine Waffe auf mich und schoss unvermittelt. Ich konnte mich
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gerade noch fallen lassen und entging so dem Projektil. Damit war die bisherige stille Übereinkunft, dass wir Amokläufer uns nicht untereinander bekämpften, erloschen. Jetzt ging es endgültig in den Kampf jeder gegen jeden. Es war furchtbar. Der erste Infizierte, den ich tötete, war Jensen. Nach seinem Schuss war ich wieder aufgesprungen und hatte sofort das Feuer erwidert. Schon das zweite Projektil traf ihn in den Hals und er lag tot am Boden. Ich muss dann weiter gewütet haben, gnädigerweise fehlt mir an die meisten dieser schrecklichen Szenen aber die Erinnerung. Was davon in meinem Gedächtnis geblieben ist, vermag ich nicht wiederzugeben. Nur so viel: An mir und den anderen Amokläufern war absolut nichts Menschliches mehr. Ich bin dankbar, dass ich den Großteil davon vergessen durfte. So weiß ich auch nicht, wie viele Menschen ich tatsächlich getötet habe, doch letztlich macht es auch keinen großen Unterschied. Schließlich kann ich mich an dreizehn Morde noch genau erinnern. Irgendwann muss mich dann ein Schuss erwischt haben, der mich zusammenbrechen ließ. Auch davon weiß ich nichts mehr. Die Rettungsteams fanden mich etwas außerhalb der Siedlung, neben mir lagen die Leichen zweier Männer. Wer die Schiffe
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von der Erde alarmiert hat, ist bis heute nicht ganz klar. Vermutlich war es einer von Mosleys Mitarbeitern, denn im Rathaus stand das einzige Funkgerät. Als die Retter eintrafen, kam dies für mich gerade noch rechtzeitig. Ich stand bereits am Rande des Todes. Oft wünsche ich mir, sie hätten mich übersehen oder einfach liegengelassen. Diese Gnade war mir aber nicht vergönnt. Sie brachten mich zurück zur Erde, wo die eigentliche Tortur erst begann. Das ist meine Geschichte. Jetzt bin ich geheilt, wieder völlig geistig gesund. Ob ich aber damit leben kann, weiß ich noch nicht.
Amoklauf
- Ende -
Armin Rößler
Der Ledertrichter von Arthur Conan Doyle erscheint am 16. November 2001 bei http://www.GroschenStory.de
Zwei Männer mit einem Hang zum Übernatürlichen wagen ein ungewöhnliches Experiment. Im Mittelpunkt ihres Interesses: ein unscheinbarer Ledertrichter... „ ... war das alles Einbildung, oder stand es tatsächlich für etwas, das in den schwarzen, grausamen Tagen der Geschichte dieser Welt geschehen war? Ich ließ meinen zuckenden Kopf auf meine zitternden Hände sinken. Und dann, plötzlich, schien mein Herz in der Brust stillzustehen, und ich konnte nicht einmal schreien, so groß war mein Entsetzen. Etwas bewegte sich in der Dunkelheit des Raumes auf mich zu. Was den Geist eines Menschen zu Grunde richtet, ist ein Schrecken, der auf einen Schrecken folgt. Ich konnte nicht nachdenken, ich konnte nicht beten, ich konnte nur dort sitzen wie ein eingefrorenes Bild, und die dunkle Gestalt anstarren, die durch den großen Raum kam ...“
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