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Scan by: der_leser K: tigger Februar 2003
FREEWARE Nicht für den Verkauf bestimmt
Das Buch Helen Lang, eine nette englische Lady amerikanischer Abstammung, betrauert den Tod ihres einzigen Sohnes Peter, der durch eine Autobombe der IRA ums Leben gekommen sein soll. Doch dann bittet Tony Emsworth, ein sterbenskranker Freund, Lady Helen zu sich und offenbart ihr die wahren Umstände von Peters Tod: In einer geheimen Mission als britischer Undercoveragent wurde er in Folge eines Verrats von einer nationalistischen irischen Gruppe, den ›Söhnen Erins‹, zu Tode gefoltert und in einer Betonmischmaschine beseitigt. Emsworth händigt Lady Helen eine Liste der ›Söhne Erins‹ aus, die an dem brutalen Attentat beteiligt waren. Doch auch der britische sowie der amerikanische Geheimdienst scheinen tiefer in die Geschehnisse verwickelt zu sein. Während vertrauliche Informationen von London nach Washington gelangen, lichtet ein unbekannter Mörder die Reihen der ›Söhne Erins‹. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt. Der Autor Jack Higgins, dessen eigentlicher Name Harry Patterson lautet, wurde 1929 geboren. Seine Jugend verbrachte er in Belfast, später in Leeds. Mit seinem packenden Thriller Der Adler ist gelandet eroberte Higgins die Weltbestsellerlisten. Der Autor lebt heute mit seiner Frau auf einer der Kanalinseln. Im Wilhelm Heyne Verlag sind erschienen: Der Flug der Adler (01/13318), Die Tochter des Präsidenten (01/13002), Goldspur des Todes (01/13073), Stunde der Angst (01/13447 und 36/11), Tag der Rache (01/13222).
JACK HIGGINS
AN HÖCHSTER STELLE Roman Aus dem Englischen von Hans Schuld
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/12365
Titel der Originalausgabe THE WHITE HOUSE CONNECTION
Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt
Taschenbuchausgabe 3/2002 Copyright © 1999 by Harry Patterson Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2000 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 2002 Umschlagillustration: The Image Bank/Pete Turner Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Druck und Bindung: Ebner, Ulm ISBN: 3-453-19769-0 http://www.heyne.de
Für meine Schwiegermutter Sally Palmer, der ich die Idee zu diesem Buch verdanke.
Prolog
New York
Manhattan wirkte so abweisend und trostlos wie die meisten Großstädte nach Mitternacht, besonders im März. Ein Ostwind trieb Schneeregen über die Park Avenue, gelegentlich fuhr eine Limousine vorüber, hin und wieder ein Taxi; ansonsten herrschte kaum Verkehr, was zu dieser Zeit und bei einem solchen Wetter kein Wunder war. Im dunklen Torbogen eines Gebäudes, in dem sich Büros und Wohnungen befanden, wartete eine Frau, die einen breitkrempigen Hut und einen Trenchcoat mit hochgeschlagenem Kragen trug. An ihrem linken Arm hing ein Regenschirm; sonst hatte sie nichts dabei, weder eine Handtasche noch eine Schultertasche. Dafür steckte in ihrem Mantel eine Coltpistole Kaliber .25, eine ungewöhnliche, relativ kleine Waffe, aber mit ihren acht Schuss und dem aufgeschraubten Schalldämpfer keineswegs ein harmloses Damenspielzeug. Sie überzeugte sich, dass sie durchgeladen war, schob sie wieder in ihre Manteltasche und schaute sich um. Schräg gegenüber auf der anderen Seite der Park Avenue erhob sich ein prächtiges Haus, das Senator Michael Cohan gehörte. Er besuchte an diesem Abend eine Wohltätigkeitsveranstaltung im Pierre, die um Mitternacht enden sollte. Und sie stand hier in der Dunkelheit, um ihn, wenn nichts dazwischenkam, bei seiner Heimkehr zu erschießen. Von irgendwoher erklangen Stimmen, und gleich darauf trotteten zwei offenbar betrunkene junge Männer um die Ecke. Beide trugen Hüte, Seemannsjacken und Jeans und prosteten sich mit Bierdosen zu. Der eine war groß, hatte einen Vollbart und platschte grinsend durch den wassergefüllten Rinnstein; der andere zog seine Jacke fester um sich, da der Regen immer stärker wurde. Als er den Eingang zu einer überdachten Gasse entdeckte, kippte er den Rest seines Biers hinunter und warf die Dose weg.
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»Komm, hier rein, Mann.« »Mist!«, sagte die Frau leise. Die Gasse lag direkt neben Cohans Haus. Die beiden Männer hatten inzwischen Unterschlupf gefunden und redeten lachend miteinander. Ungeduldig wartete sie darauf, dass sie endlich weitergingen, als eine zierliche junge Frau um die gleiche Ecke kam wie vorhin die Männer. Sie hatte zwar einen Schirm dabei, war aber ansonsten mit ihren hochhackigen Schuhen und einem schwarzen Kostüm für solches Wetter eher unpassend angezogen. Sie hörte das grölende Gelächter, zögerte kurz und hastete mit raschen Schritten vorbei. »Na, Baby, wohin denn so eilig?« Die beiden Männer kamen aus der Gasse; der Bärtige lief hinter ihr her und hielt sie fest. Das Mädchen ließ den Regenschirm fallen, um sich besser wehren zu können, doch er grinste nur und schlug ihr ins Gesicht. »Wehr dich ruhig, Süße. Das hab ich gern.« Sein Freund packte ihren Arm. »Komm schon, vorwärts.« Das Mädchen begann zu schreien, und der Bärtige versetzte ihr eine zweite Ohrfeige. »Brav sein, klar?« Sie zerrten sie in die Gasse. Die ältere Frau zögerte, doch als sie einen verzweifelten Hilferuf hörte, lief sie hinaus in den Regen und überquerte die Straße. Nur eine Laterne auf dem Bürgersteig erhellte ein wenig die Dunkelheit. Das Mädchen versuchte, sich gegen den Mann zu wehren, der sie von hinten festhielt, aber der Bärtige hatte plötzlich ein Messer in der rechten Hand und ritzte ihr die Wange auf, die zu bluten begann. Sie schrie laut auf vor Schmerz und Entsetzen. »Ich hab doch gesagt, du sollst brav sein.« Er griff nach dem Saum ihres Rocks und zerschnitt ihn mit der scharfen Klinge. »Los, Freddy, du hast den Vortritt.« »Das habt ihr euch so gedacht«, sagte eine ruhige Stimme.
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Freddy schaute an seinem Freund vorbei und stutzte sichtlich verblüfft. »O Gott!« Der Bärtige wandte sich um und sah im Eingang der Gasse eine Frau stehen. Sie schien über sechzig zu sein, aber ihr Gesicht war im Dunkeln kaum zu erkennen. In der rechten Hand hatte sie einen Hut, und ihr silbergraues Haar glänzte im Licht der Straßenlampe. »Verflucht, was soll das?« »Lasst sie gehen.« »Ich hab zwar keine Ahnung, was die Alte will«, sagte der Bärtige zu seinem Freund, »aber ich weiß, was sie kriegen wird – das Gleiche wie diese Schlampe. Lust auf ein bisschen Spaß heute Nacht, Oma?« Grinsend ging er auf sie zu. Die Frau feuerte durch ihren Hut hindurch; er wurde gegen die Mauer geschleudert und sank tödlich getroffen zu Boden. Das Mädchen war so verängstigt, dass sie nicht einmal schreien konnte. »Um Himmels willen!«, rief Freddy, der sie noch immer festhielt. Aus seiner Tasche zog er ein Messer und ließ die Klinge aufspringen. »Ich schneide ihr die Kehle durch«, drohte er. »Ich schwör’s.« Die Frau hatte ihre rechte Hand mit der Pistole wieder gesenkt. »Solche Typen wie ihr lernen es wohl nie«, meinte sie mit ruhiger, beherrschter Stimme. Blitzschnell riss sie die Waffe hoch. Der Schuss traf ihn zwischen die Augen und er kippte lautlos nach hinten. Zitternd lehnte sich das Mädchen gegen die Mauer. Die Frau streifte ihren leichten Wollschal ab und reichte ihn dem Mädchen, das ihn an ihr blutendes Gesicht presste, während die Frau sich vorbeugte und die beiden Toten musterte. »Von diesen Herren hier wird jedenfalls niemand mehr belästigt.« »Dreckskerle!«, schrie das Mädchen und versetzte dem Bär-
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tigen einen Tritt. »Wenn Sie nicht zufällig vorbeigekommen wären…« Sie erschauderte. »Ich hoffe, sie schmoren in der Hölle.« »Sehr gut möglich. Wohnen Sie hier in der Nähe?« »Ungefähr zwanzig Block weiter. Ich war zum Abendessen in einem Lokal um die Ecke, hatte Krach mit meinem Freund und bin einfach losgelaufen in der Hoffnung, ein Taxi zu finden.« »Wenn es regnet, findet man nie eins. Lassen Sie mich mal Ihr Gesicht sehen.« Sie zog das Mädchen mit sich zum Eingang. »Ich glaube, das müsste mit ein paar Stichen genäht werden. Zwei Blocks in diese Richtung liegt das St. Mary Krankenhaus. Sagen Sie einfach dort in der Notaufnahme, Sie seien ausgerutscht, hätten sich an der Wange verletzt und den Rock zerrissen.« »Ob man mir das glaubt?« »Was spielt das für eine Rolle? Aber es liegt an Ihnen. Sie können auch zur Polizei gehen.« »Guter Gott, nein!«, wehrte das Mädchen fast entsetzt ab. »Das ist das Letzte, was ich will.« Die Frau hob den Regenschirm und die Handtasche auf, die das Mädchen fallen gelassen hatte. »Hier, nehmen Sie, und dann gehen Sie, Kind, und vergessen Sie die ganze Geschichte am besten, als sei gar nichts passiert.« »Aber Sie werde ich nie vergessen!« »Eigentlich wäre mir lieber, wenn Sie es täten.« »Ach so… ich verstehe, was Sie meinen«, lächelte das Mädchen etwas mühsam und eilte davon. Die Frau schaute ihr nach, musterte kurz das Loch, das die Kugel in ihren Hut gerissen hatte, setzte ihn wieder auf, öffnete ihren Regenschirm und wandte sich in die entgegengesetzte Richtung. Zwei Blocks weiter nördlich parkte am Bürgersteig ein Lin-
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coln. Der Fahrer, ein großer Farbiger in einer grauen Chauffeursuniform, war ausgestiegen und schaute ihr entgegen. »Alles okay?«, fragte er. »Mir ist nichts passiert, wie Sie sehen.« Sie setzte sich auf den Beifahrersitz und schnallte sich an, während er die Tür schloss, um den Wagen herumging und hinter das Lenkrad glitt. »Wo ist dieser Flachmann mit Bushmills-Whiskey, den Sie immer dabeihaben, Hedley?« Er nahm eine silberne Flasche aus dem Handschuhfach, schraubte die Kappe ab und reichte sie ihr. Sie trank einen Schluck, dann noch einen zweiten und seufzte zufrieden. »Wunderbar.« Aus einem Silberetui zog sie eine Zigarette, entzündete sie mit dem Autofeuerzeug und stieß genüsslich den Rauch aus. »Die schlechten Angewohnheiten sind alle so herrlich angenehm.« »Sie sollten das wirklich lassen. Es ist nicht gut für Sie.« »Spielt das eine Rolle?« »Reden Sie nicht so«, erwiderte er aufgebracht. »Haben Sie den Kerl erwischt?« »Cohan? Nein, es ist etwas dazwischengekommen. Fahren wir zurück ins Plaza; ich erzähle es Ihnen unterwegs.« Er war entsetzt, als er ihre Geschichte hörte. »Mein Gott, was haben Sie denn bloß vor? Wollen Sie jetzt alles Gesindel der Welt aus dem Weg räumen?« »Ja. Hätte ich dastehen und warten sollen, bis diese beiden Tiere das Mädchen vergewaltigen und ihr anschließend die Kehle durchschneiden?« »Okay, okay!«, seufzte er. »Was ist mit Senator Cohan?« »Wir fliegen morgen zurück. Ich erledige ihn in London. Er kommt in ein paar Tagen dorthin, angeblich im Auftrag des Präsidenten, wie er behauptet.« »Und was dann? Wie soll das enden?« Hedley hielt vor dem
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Plaza. »Mir kommt das alles wie ein böser Traum vor.« Sie lächelte spitzbübisch wie ein Kind. »Ich bin eine ziemliche Plage für Sie, Hedley, das weiß ich, aber was sollte ich ohne Sie anfangen? Bis morgen früh.« Er ging um den Wagen herum, öffnete ihr die Tür und schaute ihr nach. »Und was sollte ich ohne Sie anfangen?«, fragte er leise, ehe er sich wieder hinter das Steuer setzte und davonfuhr. Oben an der Treppe stand der Nachtportier. »Lady Helen!«, strahlte er. »Wie schön, Sie zu sehen. Ich habe schon gehört, dass Sie hier wohnen.« »Ich freue mich auch, George.« Sie küsste ihn auf die Wange. »Wie geht es Ihrer kleinen Tochter?« »Bestens, einfach großartig.« »Ich fliege morgen früh zurück nach London. Wir sehen uns aber sicher bald wieder.« »Gute Nacht, Lady Helen.« Nachdem sie im Hotel verschwunden war, fragte ein Mann in einem Regenmantel, der auf ein Taxi gewartet hatte. »Wer war denn das?« »Lady Helen Lang. Sie kommt schon seit Jahren hierher.« »Lady…? Sie klang gar nicht wie eine Engländerin.« »Sie stammt ja auch aus Boston. Hat vor Jahren einen englischen Lord geheiratet. Man sagt, sie wäre etliche Millionen schwer.« »Ehrlich…? Na, scheint jedenfalls eine beeindruckende Persönlichkeit zu sein.« »Das können Sie laut sagen. Ist der netteste Mensch, den man sich denken kann.«
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Der Beginn
London New York
Eins Helen Darcy wurde 1933 in Boston geboren als Tochter eines der wohlhabendsten Männer der Stadt. Da ihre Mutter bei der Geburt gestorben war, wuchs sie ohne Geschwister auf. Glücklicherweise liebte ihr Vater sie aus ganzem Herzen und sie vergötterte ihn ebenso. Obwohl er ein vielfältiges Firmenimperium leitete, mit Stahl, Schiffbau und Öl sein Geld verdiente, nahm er sich stets Zeit für sie, überschüttete sie mit Geschenken und freute sich über ihre Intelligenz. Sie besuchte die besten Privatschulen und ging später nach Vassar, wo sie entdeckte, dass sie ein besonderes Talent für Fremdsprachen besaß. Da für ihren Vater nur das Beste gut genug war und er als junger Mann selbst ein Rhodes-Stipendiat in Oxford gewesen war, schickte er sie nach England, wo sie ihr Studium am St. Hugh’s College beenden sollte. Die Geschäftsfreunde ihres Vaters luden sie nur allzu gern ein, und bald war sie in der Londoner Gesellschaft bekannt und beliebt. Mit vierundzwanzig lernte Helen dann Sir Roger Lang kennen, einen Baronet und ehemaligen Oberstleutnant der Scots Guards, der Präsident einer Handelsbank war, die enge Geschäftsbeziehungen mit ihrem Vater unterhielt. Sie verliebte sich auf den ersten Blick in ihn und ihm erging es nicht anders. Allerdings gab es einen kleinen Wermutstropfen: Sir Roger war zwar unverheiratet, doch fünfzehn Jahre älter, und dieser Unterschied erschien ihr damals einfach zu groß. Verwirrt und ziemlich ratlos, auch hinsichtlich ihrer beruflichen Zukunft, kehrte sie nach Amerika zurück. Das Geschäftsleben fand sie wenig anziehend, und vom akademischen Getriebe hatte sie genug. Natürlich gab es unzählige junge Män14
ner, die ihr den Hof machten, schon allein wegen des enormen Reichtums ihres Vaters, aber keiner gefiel ihr; dagegen blieb sie mit Roger Lang, den sie einfach nicht vergessen kannte, weiterhin in Verbindung und telefonierte jede Woche mit ihm. Eines Tages, als sie und ihr Vater das Wochenende in ihrem Strandhaus in Cape Cod verbrachten, sagte sie beim Frühstück: »Daddy, sei mir nicht böse, aber ich denke daran, nach England zurückzugehen… und zu heiraten.« Er schaute lächelnd von seiner Zeitung auf. »Was meint denn Roger Lang dazu?« »Verdammt, du hast es gewusst!« »Schon seit du aus Oxford zurückgekommen bist. Ich habe mich bloß gefragt, wann du endlich zur Besinnung kommst.« Sie schenkte Tee ein, wie sie es sich in England angewöhnt hatte, und gestand. »Er weiß es noch gar nicht.« »Dann schlage ich vor, du fliegst nach London und erzählst es ihm«, entgegnete er trocken, ehe er sich wieder in seine New York Times vertiefte. Und so begann für Helen Darcy ein neues Leben als Lady Helen Lang, abwechselnd in einem Haus in der South Audley Street und Compton Place, dem Landsitz am Meer im nördlichen Norfolk. Nur eines trübte ihr Glück: Sie wünschte sich sehnlichst ein Kind. Als sie nach mehreren Fehlgeburten endlich im Alter von dreiunddreißig Jahren ihren Sohn Peter zur Welt brachte, erschien es ihr wie ein Wunder. Peter bedeutete für sie eine weitere große Freude in ihrem Leben und sie kümmerte sich um ihn genauso intensiv wie ihr Vater damals um sie. Ihr Ehemann willigte ein, dass Peter zunächst für ein paar Jahre ein amerikanisches College besuchte, doch als Erbe des Titels musste er danach traditionsgemäß seine Ausbildung in Eton und an der Militärakademie von Sandhurst beenden. Peter war das sehr recht gewesen, denn er hatte immer nur den einen Wunsch gehabt – Soldat zu werden, wie 15
alle seine Vorfahren. Nach Sandhurst trat er in die Scots Guards ein, das alte Regiment seines Vaters, und da er das Talent seiner Mutter für Sprachen geerbt hatte, wechselte er ein paar Jahre später zum SAS, dem Special Air Service, eine auf Geheimoperationen spezialisierte Einheit. Er tat Dienst in Bosnien und im Golfkrieg, wo er wegen eines geheimen Einsatzes hinter den irakischen Linien mit dem Militärverdienstkreuz ausgezeichnet wurde; und in Irland, dem ständigen Unruheherd, wurde er natürlich ebenfalls eingesetzt. Neben seiner Sprachbegabung hatte er ein besonderes Gespür für Dialekte. Er sprach nicht mit einem gekünstelten irischen Akzent, sondern genau so, als stamme er aus Dublin, Belfast oder South Armagh, wodurch er besonders geeignet war für verdeckte Einsätze im Kampf gegen die IRA. Da sein Leben sehr aufreibend war, spielten Frauen darin nur eine untergeordnete Rolle. Hin und wieder gab es mal eine Freundin, doch zu mehr hatte er einfach nicht die Zeit. Helen hatte beständig Angst um ihn, aber sie ertrug diese Belastung, wie es sich für die Frau und Mutter eines Soldaten gehörte – bis zu diesem schrecklichen Sonntag im März 1996, als das Telefon in der South Audley Street läutete. Ihr Ehemann hob ab, legte nach wenigen Worten langsam den Hörer wieder auf und wandte sich mit aschfahlem Gesicht um. »Er ist tot«, sagte er einfach. »Peter ist tot.« Dann sank er in einen Sessel und weinte hemmungslos, während sie seine Hand hielt und stumm ins Leere starrte. Wenn es einen Menschen gab, der an diesem regnerischen Tag auf dem Friedhof der Dorfkirche von Compton Lady Helens Leid verstand, dann war es ihr Chauffeur Hedley Jackson, der in seiner makellosen grauen Uniform hinter ihr stand und einen großen Regenschirm über sie und Sir Roger hielt. 16
Hedley war ein Meter zweiundneunzig groß und kam ursprünglich aus Harlem. Im Alter von achtzehn Jahren war er ins Marine Corps eingetreten und nach Vietnam gegangen, hatte zweimal das Verwundetenabzeichen erhalten, war mit einem Silver Star ausgezeichnet und nach Kriegsende zur Wachmannschaft der amerikanischen Botschaft in London versetzt worden. Dort lernte er ein Mädchen aus Brixton kennen, das bei den Längs in der South Audley Street als Haushälterin arbeitete. Bald waren sie verheiratet. Hedley hatte seinen Abschied vom Militär genommen und war bei den Längs als Chauffeur angestellt worden. Gemeinsam mit ihrem kleinen Sohn hatten sie in der geräumigen Souterrainwohnung ein zufriedenes Leben geführt, bis das Unglück geschah: Jacksons Frau und sein Sohn gerieten auf der North Circular Road bei Nebel in einen Auffahrunfall und waren sofort tot. Lady Helen hatte im Krematorium seine Hand gehalten, und als Hedley aus der South Audley Street verschwand, hatte sie sämtliche Bars in Brixton nach ihm abgesucht, bis sie ihn aufgestöbert hatte, sinnlos betrunken und kurz davor, Selbstmord zu begehen. Sie hatte ihn nach Compton Place gebracht und ihm langsam und geduldig geholfen, wieder ins Leben zurückzufinden. Zu sagen, dass er ihr treu ergeben war, reichte kaum aus; es brach ihm selbst fast das Herz, als er die grauenhafte Wahrheit über Peters Tod erfuhr. Die Autobombe der IRA, die ihn getötet hatte, war von einer solchen Sprengkraft gewesen, dass man nicht einmal eine Leiche hatte bergen können. Nichts weiter als sein eingravierter Name im Familienmausoleum war von ihm übrig geblieben. MAJOR PETER LANG, M.C., SCOTS GUARDS, SPECIAL AlR SERVICE REGIMENT 1966-1996 RUHE IN FRIEDEN 17
Helen konnte nicht einmal weinen. Sie hielt die Hand ihres Ehemanns, der immer so lebhaft und voller Energie gewesen war, doch in den vergangen Tagen war Roger derart gealtert, dass man ihn kaum noch wieder erkannte. Ruhe in Frieden, dachte sie bitter. Frieden, genau darum geht es ja angeblich bei solchen Einsätzen – um Frieden in Irland, und diese Mörder haben ihn regelrecht vernichtet, so spurlos, als habe es ihn nie gegeben. Das kann doch nicht richtig sein. Aber es gibt keine Gerechtigkeit in einer Welt, die verrückt geworden ist, nicht einen Funken Gerechtigkeit. »Ich bin die Auferstehung und das Leben, spricht der Herr«, ertönte die Stimme des Priesters. Helen schüttelte unwillkürlich den Kopf. Nein, sagte sie sich, das glaube ich nicht, das kann ich nicht mehr glauben, nicht, wenn das Böse ungestraft auf der Welt herrscht. Sie wandte sich um und ging mit ihrem Ehemann an den erstaunten Trauergästen vorbei. Hedley folgte ihnen und hielt weiter schützend den Regenschirm über sie. Helens Vater, der wegen einer Erkrankung nicht an der Trauerfeier hatte teilnehmen können, starb ein paar Monate später und hinterließ ihr ein Erbe, das sie zur mehrfachen Millionärin machte. Die Geschäftsführer der verschiedenen Unternehmen waren absolut vertrauenswürdig, und ihr Cousin, mit dem sie sich immer bestens verstanden hatte, übernahm den Vorsitz, so dass alles in der Familie blieb. Helen widmete sich ganz ihrem Ehemann, der völlig gebrochen war und ein Jahr nach seinem Sohn starb. Sie selbst arbeitete in einigen Wohltätigkeitsorganisationen mit und verbrachte einen Großteil ihrer Zeit in Compton Place. Compton Place, das eine Meile von der Nordseeküste entfernt lag, war in gewisser Weise ihre Rettung. Dieser Teil Norfolks war noch eine der ländlichsten Gegenden in ganz England, mit schmalen gewundenen Straßen und Orten, die Cley18
next-the-Sea, Stiffkey und Blakeney hießen; kleine Dörfer, auf die man unerwartet stieß und die man später vielleicht nur durch Zufall wieder fand. Die ganze Region wirkte beinahe so, als sei hier die Zeit stehen geblieben. Schon als Roger sie zum ersten Mal dorthin mitgenommen hatte, war sie verzaubert gewesen von den weiten Salzwiesen, über die von See her der Nebel trieb, den Kiesstränden, Sanddünen und dem faszinierenden Wechsel von Ebbe und Flut. Seit ihren Kindertagen in Cape Cod liebte sie das Meer und die Vögel, von denen es in dieser Gegend so viele gab: Ringelgänse aus Sibirien, Brachvögel, Rotschenkel und alle möglichen Möwenarten. Die Deiche, die alle mindestens 1,80 m hoch waren und durch die großen Schilfbänke führten, eigneten sich wunderbar für Spaziergänge oder Radfahrten, und wenn sie die salzige Seeluft einatmete oder den Regen auf ihrem Gesicht spürte, erfüllte sie jedes Mal neue Energie. Das Haus war ursprünglich in der Tudor-Zeit erbaut worden, aber hauptsächlich im georgianischen Stil gehalten, abgesehen von einigen späteren Anbauten. Die Wände des Esszimmers, der Eingangshalle, der Bibliothek und des riesigen Wohnzimmers waren mit Eichenholz getäfelt. Die große Küche stammte aus der Nachkriegszeit und war liebevoll dem Landhausstil angepasst worden. Es gab jetzt nur noch sechs Schlafzimmer, die anderen hatte man nach und nach zu Bädern oder Ankleidezimmern umgebaut. Den Großteil der tausend Morgen Land, die zu dem Besitz gehörten, hatte sie an verschiedene Farmer verpachtet und nur sechs Morgen rings um das Haus behalten, hauptsächlich Wald, dazu zwei große Rasenflächen und ein Spielfeld für Krocket. Ein pensionierter Farmer kam von Zeit zu Zeit, um alles in Ordnung zu halten, und wenn sie hier wohnten, setzte sich Hedley selbst auf den Traktor und mähte das Gras. Mrs. Smedley aus dem Dorf führte tagsüber den Haushalt,
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eine zweite Frau half ihr beim Putzen, falls es nötig war; mehr Angestellte brauchte sie nicht. Es war dieses ruhige, geordnete Leben und die Dorfbewohner, die ihr halfen, die Schicksalsschläge zu überwinden. Nach den strengen Gesetzen der britischen Aristokratie hieß sie als Roger Langs Ehefrau jetzt offiziell Lady Lang, da nur den Töchtern des höheren Adels gestattet war, ihre Vornamen zu verwenden. Doch die Menschen in diesem Teil Norfolks waren ein eigenes, halsstarriges Volk. Für sie war sie Lady Helen, und damit hatte es sich. Interessanterweise hielt man es in der Londoner Gesellschaft genauso. Jedem, der irgendwelche Hilfe brauchte, stand sie zur Seite; sie ging jeden Sonntag zur Kirche, begleitet von Hedley in seiner korrekten Chauffeursuniform, der stets auf einer der hinteren Bänke Platz nahm; und sie war nicht darüber erhaben, abends einen Drink im Pub des Dorfs zu nehmen. Auch dorthin begleitete Hedley sie immer; spätestens seit seinem beherzten Eingreifen in einer Notsituation vor einigen Jahren war er voll und ganz von diesen wortkargen Menschen akzeptiert worden. Durch eine ungewöhnlich hohe Flut und wolkenbruchartige Regenfälle war damals das Wasser in dem schmalen Kanal, der von einer alten Mühle aus durch das Dorf führte, beängstigend angestiegen, überflutete schließlich die Straßen und drohte, das Dorf von der Außenwelt abzuschneiden. Alle Versuche, das Schleusentor zu öffnen, an dem sich das Wasser staute, schlugen fehl, bis zuletzt Hedley mit einer Brechstange in das brusttiefe Wasser sprang, wieder und immer wieder untertauchte und es endlich schaffte, die uralten Bolzen zu lösen und das Tor aufzusprengen. Seit diesem Tag brauchte er im Pub nie mehr für einen Drink zu bezahlen. Trotz aller Tragik, die ihr Leben überschattete, hätte es also schlimmer sein können – doch dann erhielt Lady Helen unerwartet einen Anruf, der letztlich ebenso katastrophale Folgen
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haben sollte wie der Anruf vor zwei Jahren, wo sie vom Tod ihres Sohnes erfahren hatte. »Helen, bist du das?« Die Stimme klang schwach, doch irgendwie vertraut. »Ja, wer spricht da?« »Tony Emsworth.« Sie erinnerte sich gut an diesen Mann, der vor Jahren als Offizier unter ihrem Ehemann gedient hatte und später Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt gewesen war. Er musste inzwischen um die siebzig sein. Sie hatte ihn seit längerer Zeit nicht mehr gesehen – merkwürdigerweise auch nicht bei Peters Trauerfeier oder der Beerdigung ihres Mannes, wie ihr plötzlich einfiel. Damals hatte sie das nicht weiter bemerkt. »Ja, Tony«, sagte sie. »Wo bist du denn?« »In meinem Haus in Stukeley, einem kleinen Dorf in Kent, nur vierzig Meilen von London entfernt.« »Wie geht es Martha?« »Ist vor zwei Jahren gestorben. Ich rufe aus einem bestimmten Grund an, Helen, ich muss dich nämlich unbedingt sehen. Es ist eine Sache von Leben und Tod.« Ein Hustenanfall schüttelte ihn. »Ja, so kann man tatsächlich sagen. Mit mir geht’s zu Ende. Lungenkrebs.« »Tony, das tut mir ehrlich Leid.« »Mir auch«, versuchte er zu scherzen. »Helen, meine Liebe, du musst unbedingt kommen«, bat er mit eindringlicher Stimme. »Ich muss mir etwas von der Seele reden, etwas, das du wissen musst.« Er hustete erneut. Sie wartete, bis der Anfall vorbei war. »Gut, Tony, reg dich nicht auf. Ich fahre heute Nachmittag nach London, bleibe über Nacht dort und bin am nächsten Morgen bei dir. Ist das in Ordnung?« »Wunderbar. Bis dann.« Sie hatte den Anruf in der Bibliothek entgegengenommen.
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Verwirrt und etwas beunruhigt kramte sie eine Zigarette aus ihrem silbernen Etui und entzündete sie mit einem Feuerzeug, das aus einer deutschen Granate gefertigt worden war. Roger hatte es ihr einmal geschenkt. Tony Emsworth, dachte sie erschüttert. Die schwache Stimme und dieses Husten… Dabei hatte sie ihn noch gut in Erinnerung als schneidigen Hauptmann der Garde, Frauenheld und draufgängerischen Reiter bei Fuchsjagden. Ihn jetzt so hinfällig zu erleben, war wie eine bedrückende Mahnung an die eigene Sterblichkeit. Der Tod lag beständig auf der Lauer, das hatte sie zur Genüge erfahren – und erlebte es gerade am eigenen Leib. Nicht einmal Hedley wusste davon, dass sie seit längerer Zeit schon an sonderbaren Schmerzen in der Brust und im Arm litt und deswegen kürzlich bei einem Besuch in London einen der besten Ärzte in der Harley Street konsultiert hatte; anschließend war sie zu gründlichen Untersuchungen in der London Clinic gewesen. Sie dachte an eine Bemerkung, die Scott Fitzgerald einmal über seine Gesundheit gemacht hatte: Ich war in der Sprechstunde eines großen Arztes und kam todkrank wieder heraus. So ungefähr lautete das Zitat. Bei ihr war es nicht ganz so schlimm. »Ein Herzleiden, Angina pectoris, kein Grund zur Sorge«, hatte der Professor versichert. »Sie werden noch jahrelang leben. Nehmen Sie einfach diese Tabletten und schonen Sie sich. Schluss mit Fuchsjagden und dergleichen.« »Und hiermit auch«, sagte sie leise und drückte entschlossen ihre Zigarette aus, obwohl sie über sich selbst lächeln musste, da sie sich schon seit Monaten immer wieder ermahnte. Stukeley war ein recht hübsches Dorf mit einer schmalen Straße, gesäumt von kleinen Häusern; es gab einen Pub, einen Laden, und gegenüber der Kirche fanden sie Emsworth’ Haus, Rose Cottage. Lady Helen hatte ihn angerufen, ehe sie aus 22
London abgefahren waren, und er erwartete sie schon an der Tür. Der hoch gewachsene Mann wirkte erschreckend hager, fast zerbrechlich, und sein Gesicht erinnerte an einen Totenkopf. Sie küsste ihn auf die Wange. »Tony, du siehst nicht gut aus.« »Stimmt«, erwiderte er mit einem gezwungenen Grinsen. »Soll ich im Wagen warten?«, fragte Hedley. »Nett, Sie wieder zu sehen, Hedley. Ich habe vor einer Stunde meine Haushaltshilfe weggeschickt. Sie hat in der Küche Sandwiches, Kuchen und so weiter bereitgestellt. Könnten Sie uns vielleicht Tee machen…?« »Aber gern«, erwiderte Hedley und folgte ihnen ins Haus. Im Wohnzimmer knisterte ein Feuer in einem großen offenen Kamin, freiliegende Balken stützten die niedrige Decke, und auf dem steinernen Boden lagen indische Teppiche. Emsworth setzte sich in einen bequemen Ohrensessel und legte seinen Gehstock auf den Boden. Auf dem Beistelltisch neben ihm lag ein Aktenordner. »Da drüben ist ein Bild von deinem Mann und mir aus der Zeit, als ich noch Oberleutnant war.« Helen Lang ging zur Anrichte und betrachtete das Foto in einem Silberrahmen. »Ihr seht beide sehr stattlich aus.« »Ich war nicht auf Peters Trauerfeier«, sagte er. »Auch nicht auf Rogers Beerdigung.« »Ich habe es bemerkt.« Sie setzte sich ihm gegenüber. »Hab mich zu sehr geschämt, um dort aufzukreuzen, weißt du.« Aus irgendeinem Grund, den sie selbst nicht verstand, überkam sie bei seinen Worten eine sonderbare Vorahnung. Sie fröstelte. Hedley brachte den Tee herein und stellte das Tablett auf einen kleinen Tisch. »Ich denke, mit dem Essen warten wir bis
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später«, sagte Lady Helen. »Aber dort auf dem Sideboard steht eine Karaffe mit Whiskey. Seien Sie so gut, gießen Sie mir einen großen ein«, bat Emsworth. »Und für Lady Helen auch einen.« »Meinst du, ich werde ihn nötig haben?« »Ich glaube schon.« Hedley brachte ihnen die gefüllten Gläser. »Ich bin dann in der Küche, falls Sie mich brauchen.« »Danke. Das könnte gut möglich sein.« Mit besorgtem Gesicht verschwand Hedley wieder in der Küche, wo er nach kurzem Überlegen leise die beiden Türen der Durchreiche einen Spaltbreit öffnete. Es war zwar ungehörig, aber ihm ging es einzig und allein um das Wohl seiner Lady. Er setzte sich auf einen Hocker und lauschte. »Seit Jahren lebe ich mit einer Lüge«, sagte Emsworth. »Keiner meiner Freunde kennt die Wahrheit, selbst Martha, meine Frau, hat sie nicht gekannt. Ihr habt alle gedacht, ich sei im Auswärtigen Amt. Doch das stimmt nicht. Ich habe jahrelang für den Geheimdienst gearbeitet. Oh, nicht im aktiven Dienst. Ich war einer von denen, die hinterm Schreibtisch sitzen und tapfere Männer losschicken, um die schmutzige Arbeit zu tun – Männer, die dabei oft ihr Leben verlieren. Einer von ihnen war Major Peter Lang.« Wieder überlief sie diese bedrückende Vorahnung. »Ich verstehe.« »Lass es mich erklären. Mein Büro war verantwortlich für verdeckte Operationen in Irland. Wir waren nicht nur hinter Leuten der IRA her, sondern auch hinter paramilitärischen Gruppen der Loyalisten, die sich ihrer gerechten Bestrafung entzogen, weil sie Zeugen bedrohten und einschüchterten.« »Und wie sah deine Lösung aus?« »Wir hatten Undercoveragenten, hauptsächlich Männer vom SAS, die sie beseitigten.«
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»Ermordeten, meinst du?« »Nein, das Wort kann ich nicht akzeptieren. Wir befinden uns seit zu vielen Jahren mit diesen Leuten im Krieg.« Sie ließ ihre Teetasse sinken und griff nach dem Whiskey. »Verstehe ich recht, dass mein Sohn solche Arbeit getan hat?« »Ja, er war einer unserer besten Leute. Peters Fähigkeit, jeden nur denkbaren irischen Dialekt zu sprechen, war für uns unschätzbar. Wenn er wollte, konnte er wie ein Bauarbeiter aus Derry reden. Er gehörte zu einer Gruppe von fünf Leuten. Vier Männer und eine Frau.« »Und?« »Sie alle sind innerhalb einer einzigen Woche ums Leben gekommen, genauer gesagt, erschossen worden…« »Und Peters Auto wurde in die Luft gesprengt?« Emsworth antwortete nicht gleich. Er trank seinen Whiskey aus, stand auf, schlurfte zur Anrichte und schenkte sich mit zitternder Hand nach. »Ehrlich gesagt, nein. Das hat man euch bloß erzählt.« Er kippte den Whiskey so rasch hinunter, dass ihm einiges übers Kinn rann. Helen leerte ihr Glas und zog aus ihrem Silberetui eine Zigarette. »Sag mir, wie’s war.« Emsworth sank wieder in seinen Sessel. Er deutete mit einem Kopfnicken auf den Ordner. »Da drin findest du alles. Alles, was du wissen musst. Ich breche damit zwar das Gesetz über Landesverrat, aber was soll mich das noch kümmern? Vielleicht bin ich morgen schon tot.« »Sag mir, wie es war!«, wiederholte sie mit energischer Stimme. »Ich will es von dir hören.« Er holte tief Atem. »Gut. Wie du weißt, gibt es in der irischen Politik viele Splittergruppen, sowohl auf katholischer wie auf protestantischer Seite. Eine der schlimmsten ist eine nationalistische Truppe, die sich ›Söhne Erins‹ nennt. Früher
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wurden sie von einem Mann namens Frank Barry geleitet, einem wirklich ganz üblen Gesellen – der zudem ein protestantischer Republikaner war, was ziemlich ungewöhnlich ist. Er wurde schließlich getötet, aber er hatte einen Neffen namens Jack, dessen Mutter Amerikanerin war. Jack Barry ist in New York geboren, ging 1970 mit achtzehn nach Vietnam, wurde dort zum Offizier befördert, aber dann gab es irgendeinen Skandal – offenbar hat er etliche gefangene Vietcong erschossen, weshalb man ihn ohne großes Aufhebens entlassen hat.« »Und dann ist er der IRA beigetreten?« »So ungefähr. Er ist ein eiskalter Psychopath und macht als Nachfolger seines Onkels jetzt schon seit Jahren sein eigenes Ding. Ach ja, noch etwas ist recht ungewöhnlich. Jacks Großonkel Lord Barry. Er hatte ein Haus in Ulster an der Küste von Down namens Spanish Head. Es gehört jetzt zum National Trust. Sein Vater ist gestorben, als er noch ein Kind war, und Frank Barry wurde getötet, kurz bevor sein alter Onkel starb.« »Wodurch Jack den Titel geerbt hat?« Emsworth nickte. »Aber er hat nie versucht, Anspruch darauf zu erheben. Sonst könnte man ihn leicht wegen Landesverrats belangen.« »Na, ich glaube, es finden schon seit etlichen Jahren keine Hinrichtungen mehr auf dem Tower Hill statt. Aber Tony, bitte, komm zur Sache.« Er schloss für einen Moment seufzend die Augen, ehe er weiterredete. »Ein Mann namens Doolin, der häufig für Barry den Fahrer machte, landete im Gefängnis von Maze, wo wir einen unserer Leute mit einem beachtlichen Vorrat Kokain zu ihm in die Zelle gesteckt haben. Er brachte Doolin schließlich dazu, ihm seine komplette Lebensgeschichte, vom Tag der Geburt an, zu erzählen.« »Mein Gott.« Helen war entsetzt. »So läuft das nun einmal in diesem Gewerbe, meine Liebe.
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Doolin war während der fraglichen Zeit zwar nicht bei Barry gewesen, aber er hat erzählt, dass Barry, als er ihn nach Stramore in den Norden gefahren habe, ziemlich überdreht gewesen sei, voller Pillen und Whiskey. Er hat sich damit gebrüstet, er habe gerade eine komplette Undercovergruppe der Briten ausgelöscht, dank des New Yorker Zweigs der Söhne Erins und mit Hilfe eines mysteriösen Verbindungsmanns. Doolin fragte, wer das sei, worauf Barry erwiderte, das wisse kein Mensch, aber er sei Amerikaner, und dann fing er an, von den guten alten Zeiten zu reden, als Detectives von Dublin Castle aus Mick Collins mit Informationen versorgten.« »Um anzudeuten, dass dieser Verbindungsmann jemand von ganz oben ist, der direkt an der Quelle sitzt? Aber wo? Und wie ist das möglich?« »Der britische Geheimdienst unterhält seit Jahren enge Verbindungen mit dem Weißen Haus, vor allem wegen der Entwicklung des Friedensprozesses. Natürlich wurden auch Informationen weitergeleitet, von denen wir meinten, dass unsere Freunde sie wissen sollten.« »Einschließlich Informationen über die Gruppe meines Sohns?« »Ja. Ich persönlich fand zwar, das ginge zu weit, aber wichtigere Leute als ich, wie beispielsweise Simon Carter, der stellvertretende Direktor der Sicherheitsdienste, überstimmten mich. Und dann wurde Doolin erhängt in seiner Zelle aufgefunden.« Lady Helen stand auf und schenkte sich einen weiteren Whiskey ein. »Das alles hört sich an, als lebten wir zu Zeiten der Borgias. Und da ich, abgesehen von deiner Bemerkung, Peter sei nicht bei einer Explosion ums Leben gekommen, immer noch nicht weiß, wie er getötet wurde, denke ich, den hier werde ich brauchen.« Sie trank das Glas zur Hälfte leer. »Weiter, Tony.«
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»Nun ja, die Söhne Erins versorgten Kontaktleute in Dublin und London mit Informationen, die sie von diesem Verbindungsmann erhalten hatten.« Es fiel ihm sichtlich schwer, weiterzureden. »Das alles steht in der Akte, die Namen der Beteiligten, ihre Fotos, alles. Ich habe streng geheime Unterlagen kopiert und…« »Erzähl mir von Peter.« »Barry und seine Männer haben ihn sich geschnappt, als er aus einem Pub in South Armagh kam. Sie haben ihn gefoltert, und da er nicht reden wollte, zu Tode geprügelt. In der Nähe wurde gerade eine neue Umgehungsstraße gebaut, runter in die Irische Republik. In eine dieser riesigen Betonmischmaschinen, die die ganze Nacht liefen, hat man seine Leiche hineingeworfen.« Helen starrte ihn regungslos an, ehe sie abrupt den Rest des Whiskeys hinunterkippte. Man merkte Emsworth an, dass er inzwischen ein wenig betrunken war. »Sie haben sein Auto mit einer gewaltigen Ladung in die Luft gejagt, damit es so aussehen sollte, als sei er auf diese Weise umgekommen. Schließlich mussten sie uns wissen lassen, dass er weg war, aber sie konnten uns die genauen Umstände ja nicht per Postkarte mitteilen.« Mit einem unterdrückten Aufschrei presste Lady Helen eine Hand vor den Mund und rannte zur Tür. Sie schaffte es bis zur Toilette, wo sie sich wieder und wieder erbrach. Als sie herauskam, wartete Hedley auf sie. »Sie haben es gehört?« »Leider ja. Sind Sie okay?« »Es ging mir schon mal besser. Tee, Hedley, heiß und stark.« Sie kehrte zurück ins Wohnzimmer und setzte sich. »Was ist passiert? Warum wurde nichts unternommen?« »Man entschied, es geheim zu halten, und aus diesem Grund hat man euch nicht die Wahrheit gesagt. Wir ließen von Mitar-
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beitern in New York und Washington die republikanischen Sympathisanten dort überprüfen und entdeckten, dass es in New York tatsächlich einen Stammtisch gab, dessen Mitglieder sich ›Söhne Erins‹ nannten. Die Namen findest du alle in diesem Ordner, samt ihren Fotos. Es sind prominente Geschäftsleute, einer ist sogar ein US-Senator. Es passt alles zusammen. Beispiele dafür, dass vertrauliche Informationen, die von London nach Washington weitergeleitet wurden, in den Händen der IRA landeten, hatte es in der Vergangenheit genug gegeben.« »Aber warum wurde denn nichts unternommen?« Emsworth zuckte die Schultern. »Politik. Weder der Präsident noch der Premierminister hatten Interesse an unnötigem Wirbel. Du hast sicher keine Ahnung, wie Geheimdienste arbeiten. Falls du etwa meinst, der CIA und das FBI informierten den Präsidenten immer über alles, hast du dich verdammt getäuscht.« »Und?« »Ganz genauso ist es hier bei uns. MI5 und MI6 haben ebenfalls ihre Geheimnisse; zum einen hassen sie sich gegenseitig, zum anderen hassen sie die Anti-Terror-Einheit von Scotland Yard und den militärischen Geheimdienst. In dem Ordner findest du als Beleg dafür zwei interessante Eintragungen.« »Worum geht es dabei?« »Es gibt im Weißen Haus einen Mann namens Blake Johnson; um die fünfzig, Vietnamveteran, Anwalt, ehemaliger Angehöriger des FBI, der das General Affairs Department leitet. Weil es im Untergeschoss des Weißen Hauses liegt, ist es als ›der Keller‹ bekannt und eines der am strengsten gehüteten Geheimnisse der Regierung, in das der jeweilige Präsident nur seinen Nachfolger einweiht. Es ist vollkommen unabhängig vom FBI, dem CIA, dem Secret Service und allein dem Präsidenten unterstellt. Die Gerüchte darüber sind so spärlich, dass
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manche Leute nicht einmal an die Existenz dieser Abteilung glauben.« »Aber es gibt sie?« »O ja, und der britische Premierminister hat eine ganz ähnliche Einrichtung, wie du selbst nachlesen kannst. Geleitet wird sie von Brigadier Charles Ferguson.« »Charles Ferguson? Den kenne ich doch seit Jahren.« »Nun, ich weiß nicht, was du geglaubt hast, welche Position er hat, aber seine Truppe ist im Gewerbe bekannt als die Privatarmee des Premierministers. Er macht der IRA schon seit Jahren das Leben ganz schön schwer. Ferguson leitet eine ziemlich große Abteilung im Verteidigungsministerium und ist allein dem Premierminister gegenüber verantwortlich; aus diesem Grund hassen ihn die anderen Geheimdienststellen. Seine rechte Hand ist ein ehemaliger IRA-Kämpfer namens Scan Dillon, seine linke ein Detective Chief Inspector namens Hannah Bernstein – übrigens die Enkelin eines Rabbis, was man kaum glauben möchte. Eine bunte Truppe, nicht wahr?« »Aber was hat das mit der ganzen Geschichte zu tun?« »Nun, der Secret Intelligence Service wollte Ferguson und seine Leute nicht in die Sache einbeziehen, weil Ferguson es womöglich dem Premierminister erzählt hätte; außerdem hatte der SIS privaten Kontakt zu Blake Johnson, durch den vermutlich der Präsident informiert worden wäre, und das konnten sie nicht zulassen.« »Was hat man getan?« »Der SIS fing an, dem Weißen Haus unbedeutende und nutzlose Informationen oder Falschmeldungen zu schicken. Auf gar keinen Fall sollten die Mitglieder der Söhne Erins irgendwie mit der Sache in Zusammenhang gebracht werden. Und dann gingen die Akten verloren.« Er deutete auf den Ordner. »Bis auf meine Kopie. Ich weiß nicht, warum ich das damals gemacht habe. Ekel vor mir selbst, nehme ich an. Und ich denke,
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jetzt solltest du sie haben.« Er begann zu husten. Helen reichte ihm eine Serviette und sah, dass er Blut spuckte. »Soll ich den Arzt rufen?« »Er kommt nachher sowieso vorbei. Obwohl das auch keine Rolle mehr spielt«, entgegnete er mit einem fast gespenstischen Grinsen. »Das wär’s also, nun weißt du Bescheid. Ich lege mich jetzt besser hin.« Emsworth stand auf, griff nach dem Stock, und sie begleitete ihn hinaus in den Flur. »Es tut mir Leid, Helen, wirklich unendlich Leid.« »Es ist nicht deine Schuld, Tony.« Sie schaute ihm hinterher, als er mühsam die Treppe hinaufstieg. Hedley kam zu ihr und reichte ihr den Ordner. »Ich dachte mir, dass Sie den hier gern hätten.« »Allerdings. Fahren wir heim, Hedley. Hier haust der Tod.« Unterwegs las Helen den Ordner gründlich durch und betrachtete jedes einzelne Foto. Merkwürdigerweise verweilte sie bei Sean Dillon länger als bei jedem anderen; sie musterte diesen blonden, etwas verschlossenen wirkenden Mann sehr genau. Er wirkte souverän und sah aus, als habe er entdeckt, dass das Leben eher ein schlechter Scherz sei. Sie klappte den Ordner zu und lehnte sich zurück. »Ist alles in Ordnung, Lady Helen?«, fragte Hedley. »Ja, ja. Sie können diese Unterlagen selbst lesen, wenn wir daheim sind.« Sie spürte ihren unregelmäßigen Herzschlag, öffnete ihre Handtasche, schüttete zwei Tabletten in ihre Hand und schluckte sie. »Whiskey, bitte, Hedley.« Er reichte ihr den silbernen Flachmann. »Was ist los? Geht’s Ihnen wirklich gut?« »Das sind bloß ein paar Tabletten, die mir der Arzt gegeben hat.« Helen lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Keine große Sache. Bringen Sie mich nur in die South Audley 31
Street.« Aber Hedley glaubte ihr nicht eine Sekunde lang.
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Zwei In der South Audley Street zog Lady Helen sich ins Arbeitszimmer zurück und ging erneut gründlich den Aktenordner durch, prägte sich die Fotos ein und las den Text. Die Zusammensetzung der Söhne Erins war interessant. Die Gruppe bestand aus Senator Michael Cohan, fünfzig Jahre alt, Spross einer Familie, die ein Vermögen mit Supermärkten und Einkaufszentren verdient hatte; Martin Brady, zweiundfünfzig, ein wichtiger Funktionär in der Gewerkschaft der LKWFahrer; Patrick Kelly, achtundvierzig, ein millionenschwerer Bauunternehmer; und Thomas Cassidy, fünfundvierzig, der mit einer Kette von Pubs im irischen Stil reich geworden war. Alle waren Amerikaner irischer Abstammung, doch überraschenderweise gehörte auch ein stadtbekannter Londoner Gangster namens Tim Pat Ryan dazu. Sie brachte Hedley den Ordner in die Küche, machte sich eine Kanne Tee, kehrte ins Arbeitszimmer zurück und setzte sich an ihren Computer, den sie kürzlich erworben hatte. Dank der Hilfe eines erstklassigen Experten hatte sie erstaunlich gut damit umzugehen gelernt. Lady Helen hatte sich an das Londoner Büro ihres Unternehmens gewandt, dessen Computerabteilung ihr bereitwillig den besten Mitarbeiter geschickt hatte. Die Grundlagen hatte sie rasch gemeistert, aber bald genügte ihr das nicht mehr, und sie hatte sich noch einmal an die Firma gewandt. Daraufhin war ein seltsamer junger Mann in einem hochmodernen elektrischen Rollstuhl in der South Audley Street erschienen. Sie hatte ihn aus dem Fenster des Wohnzimmers gesehen, aber als sie in die Eingangshalle kam, war Hedley bereits an der Tür gewesen. Der junge Mann auf dem Bürgersteig hatte schulterlanges 33
Haar, helle blaue Augen und hohle Wangen. Schwere Vernarbungen, die offenbar von einer Verbrennung herrührten, zeichneten sein ganzes Gesicht. »Lady Helen?«, grinste er fröhlich. »Mein Name ist Roper. Man hat mir gesagt, Sie würden gern Ihrem Computer ein paar hübsche Tricks beibringen, ihn ein wenig dressieren. Seien Sie doch so gut«, bat er Hedley, »und ziehen Sie mich rückwärts die zwei Stufen hinauf. Das ist das Einzige, was dieses Wunderding nicht kann.« In der Halle drehte Hedley den Rollstuhl herum und fuhr ihn ins Arbeitszimmer. Roper musterte den Computer. »Aha, ein PK 800, hervorragend.« Er blickte zu Hedley auf. »Ich darf nichts zu Mittag essen, aber ich hätte rasend gern eine Kanne Tee, um meine Tabletten runterzuspülen, Sergeant Major.« Hedley lächelte. »Und ich muss ›Sir‹ zu Ihnen sagen?« »Nun, ich hab’s tatsächlich zum Captain bei der Pioniertruppe der britischen Armee gebracht. War Experte für die Räumung von Bomben.« Er streckte seine Hände aus, die ebenfalls schwer vernarbt waren. Hedley nickte und verließ das Zimmer. »IRA?«, fragte Helen. »Tja, wie es so geht. Alle möglichen Bomben habe ich fachmännisch beseitigt, und dann übertölpelt mich so ein kleines Ding in einem Auto in Belfast.« Roper schüttelte den Kopf. »War etwas zu leichtsinnig. Die Folge war, dass ich zwar nicht mehr Vater werden kann, aber immerhin einen neuen Beruf gefunden habe.« Er fuhr mit seinem Rollstuhl zum Computer. »Ich bin richtig vernarrt in diese Dinger, sie können alles, wenn man genau weiß, was man will.« Er wandte sich zu ihr um. »Ist es das, was sie möchten, Lady Helen? Dass dieser Kasten wirklich alles kann?« »Ich denke schon.«
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»Gut. Geben Sie mir eine Zigarette, und dann zeigen Sie mir mal, was Sie wissen – anschließend sehen wir, was ich Ihnen beibringen kann.« Und er brachte ihr wirklich jeden nur denkbaren Trick bei. Nach seiner Schulung war sie in der Lage, sogar in die Computer des Verteidigungsministeriums einzudringen. Sie blieb seine gelehrige Schülerin bis zu jenem Morgen, als sie wiederum einen Telefonanruf erhielt – das war Nummer drei, dachte sie; solche Ereignisse häufen sich anscheinend immer. Man teilte ihr mit, dass Roper mit Nierenversagen ins Krankenhaus gekommen war. Es war den Ärzten gelungen, ihn zu retten, aber er hatte sich in eine Klinik in der Schweiz fliegen lassen, um sich dort auszukurieren. Sie hatte nie wieder von ihm gehört. Aus dem Gedächtnis tippte Lady Helen einige der Namen ein, von denen manche mühelos aufzufinden waren. Andere dagegen, wie beispielsweise Ferguson, Dillon, Hannah Bernstein oder Blake Johnson fand sie nirgends verzeichnet. Dafür entdeckte sie auf der Fahndungsliste von Scotland Yard Jack Barry, samt einem Polizeifoto. »Man hat dich also wenigstens einmal erwischt, du Dreckskerl«, flüsterte sie. »Vielleicht schaffen wir es diesmal wieder.« Hedley kam herein und legte den Ordner auf den Schreibtisch. »Die neuen Barbaren.« »Ach Gott, eigentlich ist es eine ganz alte Geschichte«, erwiderte Helen, »bis auf die Tatsache, dass wir früher einiges dagegen unternommen haben.« »Soll ich Ihnen noch irgendwas bringen?« »Nein. Gehen Sie zu Bett, Hedley. Ich brauche nichts.« Zögernd verließ er das Zimmer. Lady Helen schenkte sich noch einen Whiskey ein. Etwas Whiskey half ihr über jeden Tiefpunkt hinweg. Dann öffnete sie auf der Suche nach einem Notizblock die unterste Schublade des Schreibtischs und sah 35
die .25er Coltpistole, die Peter ihr aus Bosnien mitgebracht hatte; daneben lag eine Schachtel Munition und ein Schalldämpfer. Es war ein reichlich gesetzwidriges Geschenk gewesen, aber Peter hatte gewusst, dass sie gern schoss und oft mit Pistolen oder auch Gewehren auf dem improvisierten Schießstand in der Scheune von Compton Place übte. Beinah geistesabwesend griff sie nach der Waffe, öffnete die Schachtel mit Munition, lud das Magazin und schraubte den Schalldämpfer auf. Eine Weile hielt sie die Pistole in der Hand, ehe sie die Waffe auf den Schreibtisch legte und sich wieder mit dem Aktenordner beschäftigte. Irgendwie war es schon sonderbar, dass sie Ferguson seit so vielen Jahren kannte und ihn eigentlich doch nicht kannte. Und diese Bernstein – wie ruhig und beherrscht sie mit ihrer Hornbrille wirkte; dabei hatte sie bereits vier Menschen getötet, wie es in der Akte hieß, einmal sogar eine andere Frau, eine protestantische Terroristin, die es verdient hatte, zu sterben. Dann Sean Dillon – geboren in Ulster, aufgewachsen bei seinem verwitweten Vater in London; von Beruf Schauspieler, Absolvent der Royal Academy of Dramatic Arts. Als er neunzehn gewesen war, hatte sich sein Vater zu einem Besuch in Belfast aufgehalten und war unglücklicherweise bei einem Feuergefecht von englischen Soldaten getötet worden. Dillon war nach Hause zurückgekehrt und der IRA beigetreten. »Wie es jeder hitzköpfige Neunzehnjährige machen würde«, sagte Helen leise. Dillon war der gefürchtetste Kämpfer geworden, den die IRA je gehabt hatte. Wie viele er getötet hatte, wusste wohl nur er selbst. Der Mann mit den tausend Gesichtern – so hatten die Geheimdienste ihn genannt. Das Einzige, was zu seinen Gunsten sprach, war die Tatsache, dass er es immer abgelehnt hatte, Bomben zu legen oder Unschuldige abzuschlachten. Er war nie verhaftet worden, bis er eines Tages in einem serbischen
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Gefängnis gelandet war, weil er Medikamente für Kinder eingeflogen hatte (obwohl darunter offenbar auch ein paar Stinger-Missiles gewesen waren). Ferguson hatte ihn damals vor einem Erschießungskommando gerettet und Dillon durch eine kleine Erpressung dazu gebracht, für ihn zu arbeiten. Lady Helen beschäftigte sich wieder mit den Söhnen Erins und kam schließlich zu Tim Pat Ryan. Sein Sündenregister war wirklich übel – Drogen, Prostitution, Schutzgelderpressung; dazu stand er unter Verdacht, IRA-Aktivisten in London mit Waffen und Sprengstoff zu beliefern, obwohl man ihm nie etwas hatte nachweisen können. Am China Wharf in Wapping besaß er einen Pub namens ›The Sailor‹. Sie holte einen Stadtplan von London und suchte darauf diese Gegend an der Themse, ehe sie zur Couch ging und sich hinlegte. Der Gedanke an das, was mit ihrem Sohn geschehen war, ließ sie einfach nicht mehr los. Dieser Ryan war eine Bestie, genau wie Barry und die anderen – und alle trugen zumindest eine Mitschuld an Peters grauenhaftem Tod. Der große Psychologe C. G. Jung wies einmal darauf hin, dass manche tief greifende Ereignisse, zwischen denen scheinbar kein Zusammenhang besteht, zur selben Zeit stattfinden, was möglicherweise kein bloßer Zufall sei, sondern eine verborgene Bedeutung habe – und vielleicht hatte er Recht. Denn während Lady Helen sich mit Jack Barry und den Söhnen Erins beschäftigte, fand in Charles Fergusons eleganter Wohnung am Cavendish Square eine Besprechung statt, in der ebenfalls diese Namen fielen. Der Brigadier saß neben dem Kamin, ihm gegenüber Chief Inspector Hannah Bernstein, die einen offenen Aktenordner auf den Knien balancierte; Dillon stand an der Anrichte und schenkte sich einen Whiskey ein. Er trug eine schwarze Lederjacke und um den Hals einen weißen Schal. »Bedienen Sie sich nur ungeniert von meinem Whiskey«, sagte Ferguson. 37
»Mache ich doch jedes Mal«, grinste Dillon. »Ich will Sie ja schließlich nicht enttäuschen, Brigadier.« Hannah Bernstein schloss den Ordner. »Das wär’s dann, Sir. Es operieren zur Zeit keine Aktivisten der IRA in London.« »Ich will es mal glauben, auch wenn es mir schwer fällt«, erwiderte er. »Unsere Herren Politiker wollen natürlich sowieso, dass wir alles herunterspielen.« Er seufzte. »Manchmal sehne ich mich direkt nach den alten Zeiten zurück, ehe dieser verdammte Friedensprozess die Dinge so kompliziert machte.« Hannah runzelte die Stirn, und er lächelte. »Ja, meine Liebe, ich weiß, dass Sie das für unmoralisch halten. Na, ich werde jedenfalls den Premierminister über Ihren Bericht in Kenntnis setzen: Keine aktiven Gruppen in London.« Dillon schenkte sich einen weiteren Bushmills ein. »Nicht, soweit wir wissen.« »Sind Sie anderer Ansicht?« »Nur weil wir sie nicht sehen können, heißt das nicht, dass es keine gibt. Auf Unionistenseite haben wir die paramilitärischen Gruppen wie die UVF oder die LVF, die für so viele Anschläge und Ermordungen verantwortlich gewesen sind…« »Skrupellose Kriminelle«, warf Hannah ein. »Ansichtssache. Sie selbst betrachten sich als tapfere Freiheitskämpfer, genau wie die Stern-Truppe in Jerusalem im Jahr achtundvierzig«, erwiderte Dillon. »Und auf republikanischer Seite haben wir die INLA und Jack Barrys Söhne Erins.« »Wieder mal dieser Bastard«, knurrte Ferguson. »Ich gäbe meine Pension dafür her, wenn ich ihn in die Finger kriegen könnte.« »Jedenfalls gibt’s Splittergruppen auf beiden Seiten. Gott weiß, wie viele insgesamt«, sagte Dillon. »Und wir können im Moment kaum etwas dagegen tun«, seufzte Hannah Bernstein. »Wie der Brigadier schon sagte, der Befehl von oben lautet: Finger weg.«
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Dillon ging zur Balkontür und spähte hinaus. Es regnete heftig. »Das mag sein, wie es will, aber trotz allem gibt’s da draußen jede Menge Ganoven, die bloß darauf warten, ein verfluchtes Chaos anzurichten. Tim Pat Ryan zum Beispiel.« »Dieser Kerl hat die besten Anwälte Londons«, erinnerte ihn Hannah. »Wie oft haben wir ihn uns schon vorgenommen! Selbst wenn wir ihn mit Sprengstoff in der Hand erwischten, hätten wir Schwierigkeiten, ihn vor Gericht zu bringen.« »Ist mir klar«, nickte Dillon. »Aber er hat in der Vergangenheit ganz eindeutig aktive Gruppen mit Material beliefert, das wissen wir.« »Nur können wir es nicht beweisen.« »Sie möchten gern mal wieder ein bisschen aufräumen, nicht wahr?«, fragte Ferguson. Dillon zuckte die Schultern. »Kein Mensch würde ihn vermissen, im Gegenteil. Bei Scotland Yard ließe man Champagnerkorken knallen.« »Vergessen Sie es.« Ferguson stand auf. »Ich glaube, ich mache heute mal früher Feierabend. Raus mit Ihnen. Mein Fahrer wartet auf Sie, Chief Inspector. Gute Nacht.« Da es immer noch in Strömen regnete, nahm Dillon von der Garderobe im Flur einen Regenschirm und brachte Hannah zum Daimler. Sie stieg auf den Rücksitz und kurbelte das Fenster herunter. »Ich mache mir Ihretwegen richtig Sorgen, wenn alles so ruhig ist. Dann sind Sie am allergefährlichsten.« »Ach, fahren Sie schon«, grinste er, »ehe ich noch anfange zu glauben, dass Ihnen was an mir liegt. Wir sehen uns morgen früh im Büro.« Dillon behielt den Regenschirm und ging mit raschen Schritten in Richtung Stable Mews davon. Es waren nur fünf Minuten bis zu seinem kleinen Haus, das sehr viktorianisch wirkte mit den orientalischen Teppichen, den polierten Holzböden und einem Kamin, über dem ein Ölgemälde von Atkinson Grims-
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haw hing, dem großen viktorianischen Künstler, denn Dillon war keineswegs unvermögend. Seine mehr oder weniger windigen Aktionen im Verlauf der Jahre hatten ihm einiges eingebracht. Er fühlte sich merkwürdig ruhelos und schenkte sich einen weiteren Bushmills ein. Während er den Grimshaw betrachtete, dachte er an Tim Pat Ryan und blickte auf seine Uhr. Halb zwölf. Um schlafen zu können, war er viel zu nervös. Kurz entschlossen ging er zur Anrichte, nahm den Stöpsel aus der Karaffe und goss den Whiskey zurück. Aus einem Bücherregal in einem Alkoven zog er drei Bände heraus und öffnete dahinter eine Klappe. Dort lag eine Walther PPK, auf die bereits ein Schalldämpfer aufgeschraubt war. Dillon überprüfte die Waffe, steckte sie hinten in den Bund seiner Jeans und stellte die Bücher zurück. Es regnete noch immer erbarmungslos. Dillon griff nach Fergusons Schirm und eilte zur Garage, wo ein alter grüner Mini Cooper stand – das perfekte Stadtauto, klein und wendig, und trotzdem schaffte es notfalls über hundert Meilen die Stunde. Dillon stieg ein und zündete sich eine Zigarette an. »So, du Dreckskerl, dann wollen wir mal sehen, wie’s dir so geht«, sagte er und fuhr los. Im gleichen Moment schreckte Helen Lang hoch, die auf der Couch eingenickt war. Sie hatte Tim Pat Ryans Gesicht vor sich gesehen, dessen Foto ihr als letztes in der Akte besonders gut in Erinnerung geblieben war. In ihrem Traum hatte er sie gequält und zynisch dabei gelacht. Verwirrt stand sie auf, ging zum Schreibtisch und betrachtete dieses Gesicht, das ihr aus dem offenen Ordner entgegenschaute. Wie von selbst griff sie nach ihrer Pistole. Irgendwie schien es jetzt nur noch einen Weg zu geben. Sie ging in den Korridor, streifte einen Trenchcoat über, setzte ihren Hut auf und kramte aus der Schultertasche, die an der Garderobe hing, etwas 40
Kleingeld. Die Pistole steckte sie in ihren Mantel, nahm dann den Regenschirm und verließ das Haus. Beim Dorchester, das ganz in der Nähe lag, gab es immer Taxen, aber als sie die South Audley Street entlangeilte, kam zufälligerweise gerade eines auf der anderen Straßenseite vorbei. Helen winkte und lief rasch hinüber. »Wapping High Street. Sie können mich am George absetzen.« Angespannt und etwas atemlos lehnte sie sich zurück. Hedley hatte keine Ruhe finden können aus lauter Sorge um Lady Helen. Er hatte im Dunkeln in einem Sessel in seiner Souterrainwohnung gesessen, als er ihre Schritte oben in der Eingangshalle hörte; sofort war er aufgestanden und hatte an der Treppe gewartet. Nachdem sie das Haus verlassen hatte, streifte er sein Jackett über, ging nach oben und öffnete die Eingangstür. Er sah Lady Helen unter ihrem Regenschirm die Straße entlanglaufen und ein Taxi anhalten. Rasch schloss er die Tür hinter sich, stieg in den Mercedes, der noch am Bürgersteig parkte, startete den Motor und folgte dem Taxi. Dillon passierte den Tower von London und kam über den St. Katherine’s Way in die Wapping High Street; dann fuhr er am George Hotel vorbei, bog in das Labyrinth der Nebenstraßen ein und parkte schließlich in einer Sackgasse. Er verschloss die Tür und ging mit zügigen Schritten zwischen den großen, allmählich verfallenden Lagerhäusern hindurch bis zum China Wharf, wo einige schon lange nicht mehr benutzte Kräne in den Himmel ragten und nur noch ein paar alte Barkassen lagen. Am Ende des alten Kais fand er den ›Sailor‹. Dillon schaute auf seine Uhr. Mitternacht, Sperrstunde war also schon längst vorbei. Plötzlich öffnete sich die Küchentür, und Tim Pat Ryan ließ eine Frau hinaus, die er mit einem Kuss auf die Wange verabschiedete. »Bis morgen dann, Rosie.« 41
Die Frau machte sich auf den Heimweg, wobei sie an Dillon vorbeikam, der sich in den Schatten eines Gebäudes drückte. Nachdem sie verschwunden war, ging er zum nächsten Fenster und spähte hinein. Ryan saß ganz allein bei einem Glas Bier an der Theke und las eine Zeitung. Vorsichtig öffnete Dillon die Küchentür. Der Schankraum war sehr altmodisch eingerichtet mit einer Theke aus Mahagoni und einem großen Spiegel, der zu beiden Seiten mit vergoldeten Engeln geziert war. Auf Glasregalen standen aufgereihte Flaschen, und die Bierpumpen hatten Griffe aus Elfenbein, denn der ›Sailor‹ stammte noch aus viktorianischer Zeit, als Tag für Tag Dutzende Segelschiffe die Themse heraufgekommen waren, um am Kai anzulegen und ihre Ladung zu löschen. Ryan war stolz darauf und hielt alles in mustergültiger Ordnung. Er war nachts hier gern allein, wenn alles still war und er in Ruhe The Standard lesen konnte. Beim leisen Quietschen der Türangel wandte er sich um. »Gottes Segen für das rechtschaffene Handwerk«, sagte Dillon fröhlich. »Ich sehe, Sie können wahrhaftig lesen. Dann gibt es ja noch Hoffnung für die Welt.« Ryan schaute ihn finster an. »Was wollen Sie, Dillon?« »›Gott segne euch ebenfalls‹ wäre die richtige Antwort darauf. Sie sind doch selbst Ire und müssten das wissen.« »Lassen Sie mich in Frieden. Ich bin sauber.« »An Märchen glaub ich schon lange nicht mehr.« Ryan stand auf und öffnete sein Jackett. »Durchsuchen Sie mich. Ich bin nicht bewaffnet.« »Weiß ich, dafür sind Sie zu clever.« »Sie haben kein Recht, hier zu sein. Sie gehören ja nicht mal zu Scotland Yard.« »Zugegeben, aber ich bin viel schlimmer – ich bin Ihr ganz persönlicher Alptraum.« »Verschwinden Sie jetzt.«
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»Ehe Sie mich rausschmeißen? Das würden Sie nie machen.« Dillon ging hinter die Theke, griff nach einer Flasche Bushmills und schenkte sich ein Glas ein. »Ich möchte nicht mit einem Schwein wie Ihnen trinken, aber ich genehmige mir trotzdem einen. Es ist kalt draußen.« Ryan blieb völlig ruhig. »Ich könnte die Polizei rufen.« »Wozu? Ich bin ebenfalls nicht bewaffnet«, log Dillon ungerührt. »Wissen Sie, alter Knabe, heutzutage sind andere Zeiten. In Belfast stecken der Staatssekretär für Nordirland, die Sinn Fein und die Unionisten ihre Köpfen zusammen und basteln eifrig am Friedensprozess. Wer braucht da noch Waffen? Meinem Boss würde das jedenfalls nicht gefallen.« »Und was wollen Sie? Weshalb können Sie mich nicht in Ruhe lassen? Seit Jahren triezen Sie mich jetzt schon.« »Ich mache bloß meine Runde«, erwiderte Dillon. »Nur damit Sie wissen, dass ich nach wie vor an Ihnen dran bin. Das Semtex, das Sie den Aktivisten in Birmingham und London geliefert haben – für wie viele Bombenanschläge wurde es benutzt? Für drei? In diesem Einkaufszentrum in Birmingham sind vier Hausfrauen ums Leben gekommen. Wir wissen, dass Sie es waren, wir können es bloß nicht beweisen. Noch nicht.« »Sie haben es nötig. Wie viele Menschen haben Sie denn getötet? Fast zwanzig Jahre lang waren Sie doch selbst ein Kämpfer für die glorreiche Sache, Dillon, bis Sie zum Verräter wurden.« »Aber ich habe nie Drogen verkauft oder junge Mädchen zur Prostitution gezwungen. Das ist schon ein Unterschied.« Dillon kippte den Rest des Bushmills hinunter. »Es ist kalt draußen und dunkel, und irgendwo im Dunkeln lauere ich auf Sie. Denken Sie an das alte IRA-Sprichwort: Mein Tag wird kommen.« Damit wandte er sich um und ging zur Küchentür. »Ich scheiß drauf, Dillon«, explodierte Ryan. »Sie können mich mal! Schließlich bin ich nicht irgendwer – ich bin Tim
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Pat Ryan, mich können Sie nicht so behandeln!« Dillon verließ wortlos die Küche. Außer sich vor Wut sprang Ryan hinter die Theke, öffnete die altmodische Registrierkasse, riss die 38er Smith & Wesson aus der Schublade, die er dort aufbewahrte, und rannte ihm hinterher. Lady Helen Lang stieg in der Wapping High Street vor dem George Hotel aus dem Taxi und überquerte die Straße. Hedley, der an einer roten Ampel zwischen zwei Autos festsaß, sah sie in eine schmale Gasse einbiegen und fluchte leise. Als es grün wurde, gab er Gas und bog ebenfalls in diese Gasse ein, doch nirgends war mehr eine Spur von ihr zu entdecken. Im Licht der Scheinwerfer sah er die verfallenden Lagerhäuser und ein Labyrinth aus schmalen, sich kreuzenden Straßen. Was, zum Teufel, trieb sie hier an einem solchen Ort? Beunruhigt machte er sich daran, langsam eine Straße nach der anderen abzufahren. Lady Helen fand trotz des strömenden Regens ohne Schwierigkeiten zum China Wharf. Im Fenster des Pubs brannte Licht und eine altmodische Gaslampe an der Wand beleuchtete das Schild mit der Aufschrift ›The Sailor‹. In ihrem trüben Licht konnte man den Kai und ein Stück des dunklen Flusses erkennen. Neben dem Eingang des Pubs parkte ein großer Range Rover, vermutlich Ryans Wagen. Plötzlich öffnete sich die Küchentür, und ein Mann kam heraus. Sie erkannte in ihm sofort Dillon, dessen Foto in der Akte sie sich eingeprägt hatte, und wich überrascht zurück. Nach einigen Schritten blieb er stehen und zündete sich eine Zigarette an. Aus der Küchentür stürzte Tim Pat Ryan, den sie ebenfalls erkannte. »Dillon, du Dreckskerl!«, rief er, und sie sah den Revolver in seiner Hand. »Ich mach dich fertig!« 44
Dillon lachte. »Sie treffen doch nicht mal ein Scheunentor, das haben Sie noch nie gekonnt. So was musste doch immer jemand anderer für Sie erledigen.« Da Ryan zu feuern begann, riss Dillon seine Walther aus dem Hosenbund und duckte sich, glitt dabei jedoch in einer Ölpfütze aus und stürzte zu Boden. Die Walther schlitterte davon. Ryan lachte triumphierend. »Jetzt hab ich dich.« Dillon rollte über den Kai und ließ sich in den dunklen Fluss fallen. Das Wasser war bitterkalt, und als er auftauchte, sah er über sich Ryans Gesicht. Grinsend hob er die Smith & Wesson, doch plötzlich rief jemand seinen Namen. »Mr. Ryan!« Ryan wandte sich um. Dillon hörte ein trockenes Husten, unverkennbar der Schuss aus einer schallgedämpften Pistole, dann stürzte Ryan rückwärts über den Rand des Kais, versank neben ihm im Wasser und tauchte mit einem Loch zwischen den Augen wieder auf. Dillon stieß ihn zur Seite und griff nach einem Eisenring. Auf dem Kai klackten Schritte. »Alles in Ordnung, Mr. Dillon?«, fragte eine Stimme mit irischem Akzent. »Bin putzmunter, Ma’am, aber wer in Gottes Namen sind Sie?« »Ihr Schutzengel. Passen Sie auf sich auf, mein Freund.« Dillon hörte sie davongehen, während er zu einer hölzernen Leiter schwamm und hinaufkletterte. Als er über den Rand des Kais schauen konnte, sah er noch flüchtig eine dunkle Gestalt unter einem Regenschirm, die im nächsten Moment verschwunden war. Er stemmte sich hoch und stand triefnass auf dem Kai. Direkt neben Ryans Waffe lag seine Walther. Er schob sie in seinen Hosenbund und schaute hinab auf Ryans im Wasser treibende Leiche, dann warf er dessen Smith & Wesson weit hin-
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aus in den Fluss. »Das war’s dann, du Dreckskerl«, sagte er grimmig. Im Handschuhfach seines Mini Cooper lag ein Handy. Er wählte die Nummer von Fergusons Wohnung am Cavendish Square. »Wer ist da?« »Ich bin’s, Dillon.« »Guter Gott, wissen Sie, wie spät es ist?«, knurrte Ferguson. »Ich liege längst im Bett. Kann das nicht bis morgen warten?« »Glaub ich nicht. Ein alter Freund von uns hat gerade das Zeitliche gesegnet.« Jetzt war Ferguson hellwach. »Was ist passiert?« »Erzähle ich Ihnen gleich.« »Kommen Sie auf der Stelle her.« »Ich muss erst nach Hause.« »Wozu, um Himmels willen?« »Weil ich in der Themse schwimmen war.« Dillon schaltete ab und fuhr los. Ferguson rief Hannah Bernstein an, die sich sofort meldete. »Habe ich Sie geweckt?« »Nein, ich lese noch. Konnte nicht einschlafen. Sie kennen ja sicher solche Nächte.« »Telefonieren Sie nach einem Wagen der Fahrbereitschaft und kommen Sie her. Es scheint, dass unser Sean irgendwelche Dummheiten angestellt hat.« »Ach, du liebe Güte… Schlimm?« »Mit tödlichem Ausgang offenbar. Bis gleich.« Ferguson legte den Hörer auf, stieg aus dem Bett und streifte einen Bademantel über, ehe er telefonisch Kim, seinen Ghurka-Diener, weckte und Tee bestellte. Hedley hatte fast die Hoffnung aufgegeben, Lady Helen zu finden, als er sie in einiger Entfernung entdeckte. Während er 46
langsam auf sie zufuhr, kamen drei Jugendliche in Bomberjakken und Jeans um die Ecke, junge Typen von der Sorte, wie man sie überall auf der Welt, von New York bis London findet. Hedley hörte ihr brutales Lachen, ehe sie auf die Frau zuliefen und einer ihr die Handtasche entriss. Er bremste abrupt und sprang aus dem Wagen. »Lasst das!« Alle drehten sich um. »Halt dich da raus, Nigger«, sagte der Junge mit der Handtasche, »das geht dich nichts an.« Langsam kamen sie auf ihn zu, und plötzlich überkam ihn die Erinnerung an Vietnam, an das Delta, an sämtliche schmutzige Tricks, die er je gelernt hatte. Er packte den ersten am Handgelenk und verpasste ihm einen Schlag auf den Arm, dass der Knochen brach. Sein rechter Ellbogen landete mit voller Wucht im Gesicht des Burschen, der sich hinter ihn geschlichen hatte, und sein linker Fuß prallte gegen das Bein des dritten und renkte ihm die Kniescheibe aus. Alle drei lagen auf dem Bürgersteig und schrien vor Schmerzen. Hedley hob die Handtasche auf und nahm Lady Helens Arm. »Können wir jetzt gehen?« »Mein Gott, Hedley, Sie machen aber keine halben Sachen.« »Warum auch?« »Wie kommen Sie hierher?« »Ich habe Sie aus dem Haus gehen gehört und bin Ihnen gefolgt. Dann verlor ich Sie aus den Augen, als Sie zu Fuß weitergingen.« Er hielt ihr die Tür auf, sie stieg ein, und Hedley setzte sich hinter das Lenkrad. Ein wenig atemlos öffnete sie ihre Handtasche und nahm ein paar Tabletten aus einem Fläschchen. »Den Whiskey, Hedley.« »Lady Helen, das sollten Sie lieber nicht tun.« »Den Whiskey«, wiederholte sie energisch. Zögernd reichte er ihr die Flasche. Helen spülte die Pillen hinunter, und ein
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warmes Glühen breitete sich in ihr aus. »Jetzt zurück in die South Audley Street, und morgen fahren wir nach Compton Place.« »Geht es Ihnen wirklich gut?« »Mir ging’s nie besser. Wissen Sie, ich habe gerade Tim Pat Ryan erledigt.« Hedley verriss vor Verblüffung das Steuer, hatte aber den Wagen gleich wieder unter Kontrolle. »Sie wollen mich zum Narren halten?« »Ganz und gar nicht. Ich erzähle es Ihnen.« Kim öffnete Dillon die Tür und führte ihn ins Wohnzimmer, wo Hannah Bernstein und Ferguson ihn erwarteten. Hannah trug nur einen Trainingsanzug und Ferguson hatte sich einen Bademantel über seinen Pyjama gestreift. »Gott grüße alle Versammelten.« »Lassen Sie dieses irische Getue, Dillon, und reden Sie endlich«, sagte Ferguson müde. Dillon erstattete in ein paar kurzen Sätzen Bericht, ehe er sich einen Bushmills einschenkte. »Um Himmels willen, was soll ich bloß mit Ihnen anfangen?«, seufzte Ferguson. »Sie kennen doch die derzeitige politische Situation. Hände weg, keinen Wirbel machen – das ist die Parole. Und Sie gehen einfach aus irgendeiner abartigen Laune heraus los und provozieren neue Probleme.« »Ich hatte bloß vor, diesen Dreckskerl ein bisschen unter Druck zu setzen.« »Es ist kein großer Verlust, Sir«, meinte Hannah Bernstein. »Ryan war ein echtes Scheusal.« »Gut, ich gestehe, dass ich eine gewisse Befriedigung empfinde«, erwiderte der Brigadier. »Aber verraten Sie mir mal, wie wir uns jetzt verhalten sollen. Schließlich sind Sie von der Special Branch und haben einen geschulten Verstand.« »Wir machen einfach gar nichts, Sir. Irgendwer wird Ryan 48
über kurz oder lang dort unten am Kai finden. Natürlich wird Scotland Yard sich der Sache annehmen und eine Untersuchungskommission einsetzen… aber seien wir doch ehrlich – ein Schwein wie Ryan hatte mehr Feinde als ein Hund Flöhe. Es ist nicht unser Problem, Sir.« »Da gebe ich Ihnen Recht.« Dillon schüttelte den Kopf. »Herrgott, was sind Sie für eine Frau! Was ist bloß mit dem netten jüdischen Mädchen passiert, in das ich mich verliebt hatte?« »Das kommt von der Zusammenarbeit mit Ihnen«, entgegnete Hannah schlagfertig, ehe sie sich wieder an Ferguson wandte. »Wir sollten uns mit etwas ganz anderem beschäftigen, Sir. Diese Frau mit dem irischen Akzent hat uns zwar möglicherweise einen Gefallen getan, aber ich möchte doch gern wissen, wer sie ist. Mit Ihrer Erlaubnis werde ich mich über den Computer des Verteidigungsministeriums in sämtliche Dateien einklinken und sehen, was ich herausfinden kann.« »Nur zu, Chief Inspector. Vielleicht besteht irgendeine Verbindung zu den Loyalisten.« »Das glaube ich nicht«, sagte Dillon. »Die meisten haben wie ich den Akzent der Provinz Ulster. Ihrer war anders.« »Egal.« Ferguson stand auf. »Sie können in einem der Gästezimmer schlafen, Chief Inspector. Ich will Sie um diese Zeit und im Regen nicht noch mal vor die Tür schicken.« »Danke, Sir.« »Sie sollten natürlich heimgehen, Dillon. Die Iren sind ja an Regen gewöhnt, nicht wahr?« »Gott schütze Euer Ehren, Sie sind die Güte selbst. Ich werde draußen vor Ihrer Tür meine Schuhe ausziehen, sie mir um den Hals binden und barfuß nach Stable Mews laufen, um das Leder zu schonen.« Ferguson lachte laut auf. »Verschwinden Sie schon, Sie Schurke, los.«
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Hedley brachte ein Tablett mit Tee ins Arbeitszimmer, wo Lady Helen am Schreibtisch über dem Aktenordner saß. Er stellte es ab und schenkte ein. Sie goss Milch hinzu und kostete. »Sehr gut.« Nachdenklich betrachtete sie den Ordner. »Eigentlich sonderbar. Tim Pat Ryan war der Letzte auf der Liste, aber der Erste, den es erwischt hat.« »Lady Helen, das kann auf keinen Fall so weitergehen.« »O doch, das kann es sehr wohl. Was nützt mir mein ganzes Geld, Hedley? Kann ich mir davon irgendetwas kaufen, das wirklich zählt? Diese Schweine waren alle miteinander dafür verantwortlich, dass mein Sohn bestialisch ermordet wurde. Als Folge davon starb mein Mann viel zu früh… und ich will Ihnen noch etwas sagen – ich selbst habe auch nicht mehr allzu viel Zeit. Diese Tabletten, die ich nehme… ich habe ein Herzleiden.« Hedley war tief betroffen. »Das wusste ich nicht.« »Aber jetzt wissen Sie es, und deshalb frage ich Sie – sind Sie für mich oder gegen mich? Sie könnten Dr. Ingram anrufen und ihm sagen, ich sei übergeschnappt, oder Scotland Yard, dann würde man mich wegen Mordes verhaften. Es liegt an Ihnen, nicht wahr?« »Mir gefällt die Sache wahrhaftig nicht«, seufzte er. »Aber Sie sind immer so gut zu mir gewesen, netter als irgendjemand sonst in meinem Leben. Und eines ist sicher – Sie brauchen jemanden, auf den Sie zählen können. Deshalb bin ich für Sie da, genau wie Sie für mich da waren.« »Danke, Hedley. Schlafen Sie noch etwas, und morgen früh fahren wir dann nach Compton Place.« Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, legte Helen sich auf die Couch und zog eine Decke über sich. Im Einschlafen dachte sie an Dillon und wie es ihm wohl ging.
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London Washington Ulster London
Drei Hannah Bernstein hatte sich umsonst bemüht, irgendetwas herauszufinden. Sie hatte sich vom Verteidigungsministerium aus sogar in die Computer in Dublin und dem Hauptquartier der britischen Armee im nordirischen Lisburn eingeklinkt, aber ebenfalls ohne Ergebnis. Ryans Tod machte kaum Schlagzeilen; die Zeitungen schrieben von Auseinandersetzungen zwischen Banden aus dem Hast End und anderen Vierteln Londons; niemand bei Scotland Yard vergoß darüber Tränen, Nachforschungen in der Unterwelt erwiesen sich als fruchtlos, und die Sache wurde als einer von vielen ungeklärten Fällen ad acta gelegt. Lady Helen genoss das gute Essen in Compton Place, machte lange Spaziergänge an der frischen Luft und übte zudem regelmäßig auf dem Schießstand in der alten Scheune, wobei ihr Hedley widerwillig half. Sie hatte keine Ahnung gehabt, wie gut er war, bis er eines Nachmittags nach einer Browning griff – eine von vielen Waffen, die ihr Ehemann im Lauf der Jahre gesammelt hatte – und sie lud. Am anderen Ende der Scheune waren sieben Zielscheiben in Form von angreifenden chinesischen Soldaten aufgestellt – ein Überbleibsel der alten Kolonialzeit und des Koreakriegs. »Schauen Sie zu.« Er riss die Hand hoch, feuerte aus ungefähr neun Metern Entfernung und traf jede Pappfigur in den Kopf. »Unglaublich«, staunte Helen, nachdem der Lärm verhallt war. »Ich bin schließlich ausgebildeter Soldat. Sie können wirklich gut schießen, aber Handfeuerwaffen sind unzuverlässig, wenn man nicht nahe genug rangeht.« 52
»Wie nahe?« Hedley schob ein neues Magazin in den Griff der Browning, führte Lady Helen zur mittleren Zielscheibe, die etwas größer war, und reichte ihr die Waffe. »Zielen Sie auf sein Herz und drücken Sie ab. Jetzt wissen Sie’s – so nahe.« »Von Ryan war ich knapp vier Meter entfernt.« »Aber Sie hätten ihn genauso gut verfehlen können, und dann hätte er womöglich Sie erwischt.« »Ich möchte es trotzdem aus größerer Entfernung versuchen.« »Nur zu.« Das Handy, das auf dem Tisch lag, läutete, und er reichte es ihr. »Helen Lang«, meldete sie sich und nickte nach einer Weile. »Vielen Dank. Das tut mir wirklich Leid.« Sie schaltete das Gerät ab. »Tony Emsworth ist gerade gestorben.« »Ein Jammer. Wann ist die Beerdigung?« »Am Mittwoch.« »Fahren wir hin?« »Natürlich.« Sie wirkte ganz ruhig, aber Hedley sah den Schmerz in ihren Augen. »Ich glaube, für heute ist es genug. Ich gehe wieder ins Haus.« Das Begräbnis fand an einem schönen sonnigen Morgen statt. Da Stukeley nur rund eine Stunde von London entfernt lag, war die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt. Helen Lang fand es beinahe amüsant, dass sie auch Ferguson, Hannah Bernstein und Dillon unter den Trauergästen entdeckte. Nach dem Gottesdienst sprach sie Tony Emsworth’ Neffen und seiner Frau, die alles organisiert hatten, ihr Beileid aus. »Wirklich nett von Ihnen zu kommen, Lady Helen. Im Country Hotel, das kurz vor dem Dorf liegt, gibt es nachher einen kleinen Empfang. Wir würden uns freuen, wenn Sie dabei wären.« Die Hotelhalle war bereits überfüllt, als Helen eintraf. Sie 53
nahm ein Glas eines mittelmäßigen Champagners und schaute sich um. Charles Ferguson hatte sie gesehen und drängte sich durch die Menge. »Meine liebe Helen.« Er küsste sie auf die Wangen. »Sie sehen immer noch aus wie fünfzig, selbst an einem so schlimmen Tag. Wie machen Sie das nur?« »Charles, Sie alter Charmeur, und Sie waren schon immer ein Schmeichler. Seien Sie vor ihm auf der Hut, meine Liebe«, sagte sie zu Hannah, die neben ihm stand. »Ich erinnere mich noch gut daran, wie er eine Affäre mit der Frau des Botschafters von Uruguay hatte und ihr Mann ihn zum Duell forderte.« »Aber Helen, was denken Sie denn? Dieses prachtvolle Geschöpf ist meine Assistentin, Detective Chief Inspector Hannah Bernstein, und dieser irische Gauner ist Sean Dillon, der Tony ziemlich gut gekannt hat. Darf ich vorstellen – Lady Helen Lang.« Helen Lang mochte Dillon, der einen gut sitzenden dunkelblauen Anzug von Armani trug, auf den ersten Blick und schüttelte ihm die Hand, während Ferguson, der einen Bekannten entdeckt hatte, sich entschuldigte. Dillon und Hannah gesellten sich zu ihm, nachdem er wieder allein war. »Wer ist diese Lady Lang?«, fragte Dillon. »Oh, ich war als Soldat mit ihrem Ehemann in Korea. Ihr Sohn, Major Peter Lang, war bei den Scots Guards und der SAS. Einer unserer besten Undercoveragenten in… Sie wissen schon. Die IRA hat ihn letztes Jahr erwischt und mit einer Autobombe in die Luft gejagt.« Helen Lang beobachtete Hannah Bernstein, die mit einem anderen Gast ins Gespräch vertieft war, und Ferguson, der erneut von einem Bekannten begrüßt wurde. Plötzlich war ihr jedoch dieser ganze Trubel zu viel, hastig ging sie hinaus auf die Terrasse, um in der Februarsonne etwas frische Luft zu schöpfen. Dillon sah, wie sie den Raum verließ. Er wusste
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selbst nicht, was es war, aber irgendetwas an ihr beunruhigte ihn, und so folgte er ihr. Sie stand am Geländer und schluckte ein paar Tabletten. »Kann ich Ihnen ein Glas Champagner holen?«, fragte er. »Ehrlich gesagt, lieber einen Whiskey.« »Na, da bin ich ganz Ihrer Meinung. Ist irischer recht?« »Warum nicht?« Dillon kehrte kurz darauf mit zwei Gläsern zurück, und sie bot ihm eine Zigarette aus ihrem Silberetui an. »Möchten Sie auch eine?« »Ach, Sie sind ja eine wunderbare Frau.« Er gab ihr Feuer mit seinem alten Zippo-Feuerzeug. »Dürfte ich etwas fragen, Mr. Dillon? Sie tragen eine Krawatte des Garderegiments.« »Na ja, ich mache dem guten Ferguson gern mal eine Freude.« Helen beschloss, einen kleinen Vorstoß zu wagen. »Ich sollte vielleicht erwähnen, dass ich über Sie Bescheid weiß, Mr. Dillon. Mein alter Freund Tony Emsworth hat mir viel erzählt – und zwar aus einem ganz bestimmten Grund.« »Ihr Sohn, Lady Helen.« Dillon nickte. »Es wundert mich, dass Sie überhaupt mit mir reden.« »Ich finde, in einem Krieg sollten in jedem Fall gewisse Regeln gelten, und wie ich von Tony weiß, waren Sie vielleicht – wenn ich das so sagen darf – irregeleitet, aber trotz all Ihrer Untaten ein Ehrenmann.« »Sie beschämen mich.« Er senkte in gespielter Zerknirschung den Kopf. »Sie Schuft«, lachte Lady Helen. »Jetzt können Sie mir einen Champagner holen, nur sorgen Sie dafür, dass man eine anständige Flasche aufmacht.« »Zu Befehl.« An der Bar traf er Ferguson. »Diese Lady Helen ist schon ei-
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ne bemerkenswerte Frau.« »Allerdings.« Der Barkeeper schenkte zwei Gläser Champagner ein. »Irgendwas spüre ich bei ihr, irgendwas Besonderes, aber ich kann nicht sagen, was es ist.« »Versuchen Sie es gar nicht, Dillon«, erwiderte Ferguson. »Sie ist mehr als eine Klasse zu hoch für Sie.« Eine Woche später flog Lady Helen in einem der Gulfstreams ihrer Firma nach New York. Da sie in all den Jahren, die sie mit den Gulfstreams geflogen war, noch nicht einmal auf den Flughäfen kontrolliert worden war, hatte sie ohne Bedenken ihren Colt mitgenommen. Wie üblich stieg sie im Plaza ab. Mittlerweile kannte sie den Aktenordner in- und auswendig, war über jeden, der darin erwähnt wurde, bestens im Bild und hatte sämtliche Möglichkeiten ausgeschöpft, mit Hilfe der Firmencomputer noch mehr herauszufinden. So wusste sie zum Beispiel, dass Martin Brady, der Gewerkschaftsfunktionär, dreimal pro Woche ein Fitnessstudio der Gewerkschaft in der Nähe der New Yorker Docks besuchte, das er gewöhnlich gegen zehn Uhr abends wieder verließ. Hedley fuhr sie dorthin und hielt einen Block entfernt, während sie zu Fuß weiterging. Brady besaß einen auffälligen roten Mercedes. Helen wartete in einer Gasse direkt daneben und schlüpfte erst heraus, als er sich vorbeugte, um den Wagen auf zuschließen. Sie schoss ihn ins Genick. Das war Hedleys Vorschlag gewesen. Er hatte gehört, dass organisierte Kriminelle auf solche Weise unliebsame Personen aus dem Weg räumten, gewöhnlich mit einer Pistole des Kalibers .22, aber auch bei einer Waffe mit Kaliber .25 würde die Polizei glauben, dass es sich um eine Abrechnung zwischen irgendeinem Verbrechersyndikat und einem Gewerkschafter handelte. 56
Thomas Cassidy, der ein Vermögen mit Pubs im irischen Stil verdient hatte, war ebenfalls kein Problem. Er hatte kürzlich eine neue Kneipe in der Bronx eröffnet und parkte immer in einer Gasse hinter dem Lokal. Zwei Nächte lang beobachtete sie ihn und erwischte ihn in der dritten, als er um ein Uhr morgens seinen Wagen aufschloss. Wie die New York Times schrieb, hatte es in der Gegend schon öfter Schutzgelderpressungen gegeben, und so hielt die Polizei Cassidy für das Opfer eines Bandenkriegs. Dank ihres Computers hatte Lady Helen das alles gewusst und auch seine Anzeigenprotokolle bei der Polizei gekannt. Bei Patrick Kelly, dem Bauunternehmer, war es sogar noch leichter. Er besaß ein einsam gelegenes Haus auf dem Land in Ossining und hatte die Gewohnheit, morgens um sechs Uhr fünf Meilen zu joggen. Sie fand seine übliche Route heraus und erwischte ihn am dritten Tag. Er trug einen Trainingsanzug mit Kapuze, um sich gegen den heftigen Regen zu schützen. Sie lauerte ihm hinter einem Baum auf, schoss ihn zweimal ins Herz und löste dann die goldene Rolex von seinem Handgelenk und die Kette um seinen Hals, was ebenfalls Hedley vorgeschlagen hatte, damit es wie ein simpler Raubüberfall aussah. Es funktionierte alles perfekt. Sie hatte nur selten ihre Tabletten gebraucht, und Hedley hatte sich, trotz seiner Bedenken, als zuverlässiger Helfer erwiesen. Manchmal kamen ihr Zweifel, ob ihr Vorgehen nicht doch unmoralisch und verwerflich war, aber dann erinnerte sie sich, dass sie einmal gelesen hatte, nach jüdischer Lehre sei es oft nicht Jehova selbst, der belohnte und bestrafte; er beauftragte damit Engel, beispielsweise einen Engel des Todes. Ob sie solch ein Todesengel war? Im Grunde ging es nur um Gerechtigkeit, und dafür wollte sie sorgen; deswegen konnte sie sich auch kein Mitleid leisten. So machte sie also weiter bis zu jener regnerischen Nacht in Manhattan, als sie darauf warte-
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te, dass Senator Michael Cohan vom Pierre nach Hause kam. Zur gleichen Zeit, als Helen Lang auf dem Rückweg ins Plaza war und sich mit dem Gedanken tröstete, dass sie Cohan in London erwischen würde, geschah dort einiges, was letztlich nicht nur für sie tief greifende Folgen haben sollte. Einige Stunden nachdem Lady Helen in New York zu Bett gegangen war, kamen Hannah Bernstein und Dillon in Charles Fergusons Büro im Verteidigungsministerium. »Entschuldigen Sie die Störung, Sir, aber wir haben eine interessante Neuigkeit.« »Wirklich? Erzählen Sie.« »Ein alter Kumpel von mir«, berichtete Dillon, »namens Tommy McGuire, ein Amerikaner irischer Abstammung, der seit Jahren im Waffenhandel tätig ist, wurde letzte Nacht in Kilburn mit einem defekten Bremslicht erwischt, und eine übereifrige junge Nachwuchspolizistin bestand darauf, den Kofferraum seines Autos zu überprüfen.« »Stellen Sie sich vor«, lächelte Hannah Bernstein, »man fand darin fünfzig Pfund Semtex und zwei AK 47.« »Ausgezeichnet«, erwiderte Ferguson. »Bei dem Vorstrafenregister, das er zweifellos hat, dürfte er dafür zehn Jahre kriegen.« »Da wäre nur eines zu bedenken«, wandte Hannah ein. »Er möchte einen Handel abschließen.« »Ach ja?« »Er behauptet, er kann uns Jack Barry liefern«, sagte Dillon. Ferguson horchte auf. »Wo steckt dieser McGuire jetzt?« »In Wandsworth«, erwiderte Hannah. »Dann fahren wir mal hin und sehen, was er uns zu sagen hat.« Das Gefängnis von Wandsworth war als eines der strengsten im ganzen Land bekannt. Ferguson präsentierte dem Direktor, der dabei regelrecht Haltung annahm, eine Vollmacht, die be58
sagte, dass außer Personen, die von Ferguson dazu ermächtigt worden seien, niemand McGuire sprechen dürfe, nicht einmal die Anti-Terror-Abteilung von Scotland Yard und erst recht nicht Angehörige irgendeines militärischen Geheimdienstes in Nordirland oder der Royal Ulster Constabulary. Eine Missachtung dieser Anweisung könne aufgrund des Gesetzes über Landesverrat und Gefährdung der inneren Sicherheit den Direktor selbst ins Gefängnis bringen. Ferguson, Hannah Bernstein und Dillon warteten in einem Sprechzimmer, bis ein Wächter McGuire hereinbrachte und sich auf einen Wink Fergusons zurückzog. McGuire fielen fast die Augen aus dem Kopf, als er Dillon sah. »Herrgott, Sean, bist du das!« »Höchstpersönlich.« Dillon bot ihm eine Zigarette an und erklärte den anderen: »Tommy und ich kennen uns schon seit ewigen Zeiten – aus Beirut, Sizilien, Paris…« »Und aus der IRA natürlich«, sagte Ferguson. »Nicht direkt. Irgendwelche persönlichen Einsätze waren nie Tommys Sache, aber falls ein paar Pfund dabei zu verdienen waren, konnte er einem alles beschaffen – automatische Waffen, Semtex, Raketenwerfer und so weiter. Probleme hat er so gut wie nie gehabt wegen seines amerikanischen Passes und weil er immer als Vertreter ausländischer Firmen auftrat, deutsche oder französische.« Er gab McGuire Feuer. »Machst immer noch den Strohmann für den alten Jobert aus Marseille? Na ja, ist verständlich. Er steht unter dem Schutz der Korsischen Union. Schlimmer als die Mafia, diese ganze Bande«, meinte er zu Hannah. »Ich weiß Bescheid, Dillon.« Sie musterte McGuire beinah angewidert. »Zwei Ak 47 und fünfzig Pfund Semtex sind gestern Nacht in Ihrem Wagen gefunden worden. Musterexemplare, nehme ich an? Wen wollten Sie treffen?« »Nein, Sie verstehen das völlig falsch«, erwiderte McGuire.
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»Ich hatte doch keine Ahnung davon. Mir wurde gesagt, bei der Landung in Heathrow stünde ein Wagen für mich bereit, der Schlüssel liege unter der Matte. Es muss eine Falle gewesen sein.« »Wir gehen«, sagte Ferguson kühl. »Okay, okay!«, rief McGuire. »Sie hatten Recht damit, dass das Zeug im Auto Muster von Jobert für Tim Pat Ryan waren. Nach meiner Landung habe ich angerufen, um ein Treffen auszumachen, und erfahren, dass er tot ist.« »Das ist er allerdings«, sagte Ferguson. »Aber haben Sie nicht auch Jack Barry erwähnt?« McGuire zögerte. »Tim Pat Ryan war Barrys Strohmann in London, der für ihn alles arrangierte. Ich kann Ihnen den Kerl liefern, ich schwör’s. Hören Sie mich bloß an.« »Dann mal los.« »Sie kennen also Jack Barry?«, fragte Hannah. »Nein, ich habe ihn noch nie getroffen.« »Warum verschwenden wir dann unsere Zeit mit Ihnen?« »Lassen Sie mich mal.« Dillon bot McGuire eine zweite Zigarette an. »Du hast Jack Barry nie getroffen? Das ist gut, denn ich kenne ihn nämlich und er würde dir, ohne mit der Wimper zu zucken, die Eier abschneiden, wenn du ihn verärgerst. Lass mich mal spekulieren. Jack hat die Söhne Erins von dem guten alten Frank Barry geerbt, der leider nicht mehr länger unter uns weilt. Die Söhne Erins würden den Papst ermorden, was kaum verwundert, da unser Jack einer der wenigen Protestanten in der IRA ist. Wie auch immer, jedenfalls passt ihm der ganze Friedensprozess nicht, und er hat sich mit allen zerstritten. Wahrscheinlich meint er, die anderen seien eine Bande alter Weiber.« »So sagt man.« »Dann lass mich noch weiter spekulieren. Aus Dublin erhält er keine Waffen mehr, aber er besitzt ja selbst genug Geld, er
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hat schließlich das Familienvermögen geerbt; also verhandelt er direkt mit Jobert wegen Semtex, im Hinblick auf Waffen oder was auch immer, und du bist der Mittelsmann. Normalerweise wäre das Geschäft über Ryan gelaufen, nur gibt’s den Guten leider nicht mehr.« »Das stimmt«, erwiderte McGuire eifrig. »Ich soll Barry in drei Tagen in Belfast treffen.« »Wirklich?«, fragte Ferguson. »Wo genau?« »Ich soll mir ein Zimmer im Europa-Hotel nehmen und warten. Er will mich holen lassen, wenn er so weit ist.« »Wohin holen lassen?« »Keine Ahnung. Ich habe doch schon gesagt, dass ich den Kerl noch nie getroffen habe.« Alle schwiegen, bis Ferguson fragte. »Ist das wirklich die Wahrheit?« »Natürlich.« Ferguson stand auf. »Geben Sie dem Direktor unsere Vollmacht, Chief Inspector, und lassen Sie den Gefangenen in unser Haus am Holland Park bringen.« Sie klingelte nach dem Gefängniswärter. »Bringen Sie ihn zurück in die Zelle. Er soll seine Sachen zusammenpacken.« »Dann sind wir uns einig?«, fragte McGuire, aber der Wärter zerrte ihn bereits nach draußen. »Denken Sie dasselbe wie ich?«, grinste Dillon. »Sie müssen zugeben, es wäre ein wunderbarer Coup«, meinte der Brigadier. »Wenn jemand anderer in die Rolle McGuires schlüpfen würde, kämen wir möglicherweise an Barry heran… und was gäbe ich darum, diesen Kerl in die Finger zu kriegen.« »Aber McGuire ist Amerikaner, Sir«, wandte Hannah Bernstein ein, »und einen falschen amerikanischen Akzent hört man leicht heraus. Wer soll seine Rolle spielen? Wir brauchen jemanden, der erstens als Amerikaner durchgeht und zweitens
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allein zurechtkommt.« »Das ist wahr. Mir scheint, die Amerikaner sollten sowieso über diese ganze Sache Bescheid wissen. Der Präsident wäre sicher nicht besonders glücklich, wenn er mitten in den irischen Friedensverhandlungen herausfindet, dass ein amerikanischer Staatsbürger versucht, einem der schlimmsten Terroristen im Land Waffen zu verkaufen.« Dillon hatte wie üblich mit seiner schnellen Auffassungsgabe sofort kapiert. »Dann rede ich am besten mal mit Blake Johnson.« »Ja«, nickte Hannah, »genau dazu ist der Keller schließlich da, Sir.« »Und vielleicht hat Blake ja gerade Lust auf einen Urlaub in Irland«, meinte Dillon. »Wer könnte einen Amerikaner besser spielen als ein Amerikaner – besonders einer, der eine Fliege auf zwanzig Schritt Entfernung abschießt?« »Manchmal sind Sie wirklich ganz schön auf Zack, Dillon.« Ferguson lächelte. »Und jetzt wollen wir aus diesem elenden Loch verschwinden.« Blake Johnson war immer noch ein gut aussehender Mann, dem man seine fünfzig Jahre keineswegs anmerkte. Mit neunzehn war er bei der Marine gewesen, hatte Vietnam mit einem Silver Star, einem vietnamesischen Cross of Valor und zwei Verwundetenabzeichen verlassen und war nach einem Jurastudium an der Universität von Georgia ins FBI eingetreten. Als Präsident Jake Cazalet noch Senator gewesen war und Rechtsextremisten auf ihn einen Anschlag verüben wollten, hatte Blake es im Alleingang geschafft, das Attentat zu verhindern, hatte zwei Männer erschossen und dabei selbst eine Kugel abbekommen. Dieses Erlebnis hatte zu einer besonderen Beziehung zwischen ihm und Cazalet geführt, der ihn, nachdem er Präsident geworden war, zum Direktor des General Affairs Department 62
im Weißen Haus ernannt hatte. Hinter dieser Umschreibung verbarg sich die private Ermittlungsgruppe des Präsidenten, der so genannte ›Keller‹. Johnson hatte bereits mehrmals im Verlauf dieser Amtszeit seinen Wert unter Beweis gestellt und eine Reihe von geheimen Operationen durchgeführt, an denen manchmal auch Ferguson und Dillon beteiligt gewesen waren. Es war ein heißer Nachmittag, als Blake ins Oval Office kam, wo der Präsident einige Papiere unterzeichnete. Sein Stabschef Henry Thornton war bei ihm. Blake mochte Thornton, was ganz gut war, weil Thornton praktisch das Weiße Haus leitete. Seine Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass alles reibungslos lief, dass die Programme des Präsidenten im Kongress vorankamen und sein Image keinen Schaden nahm. Die Bezahlung war nicht besonders üppig, aber es war ein Job mit ungeheurem Prestige. Außerdem besaß Thornton genug Geld, da er die Anwaltskanzlei seiner Familie in New York geleitet hatte, ehe er in den Dienst des Präsidenten in Washington getreten war. Thornton war einer der wenigen Männer, die den wahren Zweck des Kellers kannten. »Hallo, Blake«, grüßte er, »Sie sehen aus, als hätten Sie Sorgen.« »Hab ich auch.« Cazalet lehnte sich zurück. »Schlimm?« »Sagen wir mal, heikel. Ich hatte eben ein interessantes Gespräch mit Charles Ferguson.« »Okay, Blake«, seufzte der Präsident, »raus mit der Sprache.« Der Präsident und Thornton schauten ihn ungläubig an, nachdem sie ihm zugehört hatten. »Wollen Sie etwa im Ernst nach Belfast gehen, sich als McGuire ausgeben und versuchen, diesen Barry zu übertölpeln?«, fragte Cazalet. Blake lächelte. »Ich hab schon eine ganze Weile keinen Urlaub mehr gehabt, Mr. President, und es wäre schön, Dillon
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gelegentlich wieder zu sehen.« »Sicher, Blake, sicher; niemand bewundert Dillon mehr als ich. Welchen Dienst Sie beide mir geleistet haben, als sie meine Tochter aus der Hand dieser Terroristen befreiten, werde ich nie vergessen. Aber bei dieser Sache begeben Sie sich mitten ins Kriegsgebiet.« »Überlegen Sie es sich, Blake«, sagte Thornton. »Ist es wirklich nötig, sich einer solchen Gefahr auszusetzen?« »Meine Herrn«, erklärte Blake, »wir haben uns wie irrsinnig um Frieden in Nordirland bemüht. Sinn Fein hat es versucht, die Unionisten waren so weit, aber immer wieder sind es diese terroristischen Splittergruppen auf beiden Seiten, die nicht aufgeben, sondern weitermachen wollen. Dieser Jack Barry ist ein ganz übler Patron. Ich muss Sie daran erinnern, Mr. President, dass er zudem amerikanischer Staatsbürger ist, als Offizier in Vietnam gedient hat und wegen Vergehen entlassen wurde, die man nur als Mord bezeichnen kann. Er ist seit Jahren ein Schlächter und wir haben ebenso die Pflicht, sich um ihn zu kümmern, wie die Engländer. Das finde ich jedenfalls.« Jake Cazalet lächelte. »Offensichtlich liegt Ihnen viel an dieser Sache, Blake.« »Allerdings, Mr. President.« »Dann versuchen Sie, heil und gesund zurückzukommen. Es wäre mir äußerst unangenehm, Sie zu verlieren.« »Aber das würde ich Ihnen doch nie antun, Sir.« Ferguson legte in seinem Büro im Londoner Verteidigungsministerium den Hörer des roten lauschgesicherten Telefons auf und drückte auf einen Knopf der Sprechanlage. »Kommen Sie rein.« Kurz darauf betraten Dillon und Hannah Bernstein das Zimmer. »Ich habe gerade mit Blake Johnson gesprochen. Er hält sich ab übermorgen als Tommy McGuire im Europa-Hotel auf. Ich
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möchte, dass Sie beide zu ihm fliegen.« »Haben wir irgendwelche Unterstützung, Sir?«, fragte Hannah. »Sie sind ganz auf sich gestellt, Chief Inspector. Ich will weder die RUC noch den militärischen Geheimdienst in Lisburn in diese Geschichte hineinziehen. Überall gibt es undichte Stellen; selbst den Putzfrauen dort ist nicht zu trauen. Sie, Dillon, und Blake Johnson müssen allein zurechtkommen. Sie brauchen nur ein paar Handschellen für Barry.« »Betrachten Sie es als erledigt, Brigadier«, erwiderte Dillon. »Können Sie das garantieren?« »So sicher wie das Amen in der Kirche.«
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Vier Wie so oft in Belfast trieb ein kalter Nordwind Regen über die Stadt, wühlte das Wasser der Irischen See auf und rüttelte an den Fenstern von Dillons Zimmer im ›Europa‹, einem Hotel, das so häufig wie kein anderes auf der Welt bombardiert worden war. Er schaute nach draußen über den Bahnhof und dachte daran, welche wichtige Rolle diese Stadt in seinem Leben gespielt hatte – hier war sein Vater vor vielen Jahren gestorben; hier hatte er Bomben und Gewalt kennen gelernt. Nun versuchten die verantwortlichen Politiker, dem allen ein Ende zu machen. Er griff nach dem Telefon und wählte die Nummer von Hannah Bernsteins Zimmer. »Ich bin’s. Sind Sie präsentabel?« »Nein, ich komme grade aus der Dusche.« »Dann bin ich sofort bei Ihnen.« »Lassen Sie diese Albernheiten, Dillon. Was wollen Sie?« »Ich habe am Flughafen angerufen. Die Maschine aus London hat eine Stunde Verspätung. Ich glaube, ich gehe runter an die Bar. Hätten Sie Lust auf ein kleines Mittagessen?« »Mir reichen ein paar Sandwiches.« »Dann treffen wir uns dort.« Es war kurz nach Mittag, und in der Library Bar waren nur noch wenige Gäste. Er bestellte Tee – Barry’s Tee, die liebste Marke der Iren – und setzte sich in eine Ecke, um in Ruhe den Belfast Telegraph zu lesen. Hannah erschien zwanzig Minuten später. Sie trug einen braunen Hosenanzug und hatte ihr rotes Haar zurückgebunden. »Sehr hübsch«, nickte Dillon anerkennend. »Sie sehen aus als seien Sie hier, um über die neueste Modenschau zu berichten.« »Tee?«, fragte sie. »Sean Dillon trinkt Tee, und dabei ist die 66
Bar doch geöffnet. Dass ich diesen Tag noch erlebe!« Grinsend winkte er dem Barkeeper. »Schinkensandwiches für mich, wie es sich in Irland gehört. Was möchten Sie?« »Ein gemischter Salat wäre schön, dazu Tee.« Dillon gab die Bestellung weiter und faltete seine Zeitung zusammen. »Da wären wir also hier und machen uns wieder mal auf, das irische Problem lösen zu helfen.« »Und Sie glauben nicht, dass wir das können?« »Siebenhundert Jahre, Hannah. Egal, welche Lösung es gibt, es hat jedenfalls sehr lange gedauert.« »Sie scheinen ein wenig niedergeschlagen.« Dillon zündete sich eine Zigarette an. »Ach, das ist bloß die typische Belfast-Stimmung. Sobald ich hier bin und mir der Geruch dieser Stadt in die Nase steigt, überkommt mich dieses Gefühl. Für mich wird das immer Kriegsgebiet bleiben, voller Erinnerungen an die schlechten alten Zeiten. Ich sollte das Grab meines Vaters besuchen, aber das mache ich nie.« »Gibt es dafür einen Grund, was glauben Sie?« »Weiß der Himmel. Ich hatte ein geregeltes Leben; nach der Royal Academy kam das Engagement am National Theater… Sie kennen das ja alles. Und ich war erst neunzehn.« »Ja, ich weiß, der künftige Laurence Olivier.« »Dann fährt mein alter Herr nach Hause und wird von englischen Soldaten umgelegt.« »Durch einen unglücklichen Zufall.« »Sicher, das weiß ich alles, aber mit neunzehn sieht man die Dinge anders.« »Also sind Sie der IRA beigetreten und haben für die glorreiche Sache gekämpft.« »Ist lange her. Und viele Männer sind dabei auf der Strecke geblieben.« Eine junge Kellnerin servierte ihnen ihr Essen. »Und wenn Sie zurückschauen«, sagte Hannah, als sie wieder allein waren,
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»überkommt Sie die Reue, nicht wahr?« »Ach, wer weiß? Ich könnte heute ein Star der Royal Shakespeare Company sein und schon fünfzehn Filme gedreht haben.« Er verspeiste ein Schinkensandwich und griff nach einem zweiten. »Ich könnte längst berühmt sein! Hat Marlon Brando nicht etwas in der Art gesagt?« »Zumindest sind Sie berüchtigt. Begnügen Sie sich damit.« »Und es gibt keine Frau in meinem Leben. Sie haben mich ja bislang erbarmungslos abgewiesen.« »Sie armer Mann.« »Weder Freunde noch Verwandte… Na ja, ich hab jede Menge Cousins in County Down, allerdings würden sie meilenweit rennen, wenn ich bloß am Horizont auftauchte.« »Das glaube ich Ihnen aufs Wort. Aber jetzt genug mit diesem trübsinnigen Gerede. Ich möchte gern mehr über Barry wissen.« »Seinen Onkel Frank Barry habe ich besser gekannt. Er hat mir in meiner ersten Zeit eine Menge beigebracht, bis wir uns zerstritten. Jack war immer schon ein übler Gesell. Vietnam war sozusagen sein Versuchsgelände. Die Armee hat ihn wegen der Ermordung gefangener Vietcong rausgeschmissen. Im Verlauf dieser Jahre in Irland ist er immer schlimmer geworden. Dazu war er, wie Sie in seiner Akte gelesen haben, noch oft für verschiedene Organisationen auf der ganzen Welt als gedungener Killer tätig.« »War das nicht Ihr Fach, Dillon?« »Touché«, lächelte er. »Was sind Sie doch für eine harte Frau.« In diesem Moment betrat Blake Johnson die Library Bar. Er trug schwarze Raybans, ein dunkelblaues Hemd, dunkle Hosen und ein graues Tweedjackett. Sein schwarzes, leicht grau meliertes Haar war zerzaust. Ohne sich anmerken zu lassen, dass er die beiden kannte, ging er zur Theke.
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»Armer Kerl. Er sieht aus, als habe er eine weite Reise hinter sich«, grinste Dillon. »Ich habe es schon oft gesagt und wiederhole es noch mal, Dillon – Sie sind gelegentlich ein richtiges Ekel.« Hannah stand auf. »Warten wir oben auf ihn.« Dillon nickte. »Setzen Sie alles auf die Rechnung von Zimmer zweiundfünfzig!«, rief er dem Barkeeper zu, ehe er ihr folgte. Unaufhörlich prasselte der Regen gegen das Fenster. Dillon holte eine halbe Flasche Champagner aus dem Kühlschrank und öffnete sie. »Das übliche Belfaster Wetter, aber was kann man im März schon anderes erwarten?« Er füllte drei Gläser. »Schön, dich zu sehen, Blake.« »Ich freue mich auch, mein irischer Freund. Und Sie, Chief Inspector, sind schöner als je zuvor.« Blake trank ihnen zu. »He, he, solche Bemerkungen überlass mal besser mir«, protestierte Dillon. »Kommen wir lieber zur Sache.« »Ich habe den Ordner über Barry gelesen«, sagte Blake. »Ein übler Bursche. Aber ich möchte gern deine Version hören, Sean.« »Ich kannte zuerst seinen Onkel Frank Barry, der die Söhne Erins gegründet hat, von Anfang an eine ziemlich radikale Splittergruppe. Er ist vor ein paar Jahren umgelegt worden, aber das ist eine andere Geschichte. Seither hat Jack das Kommando.« »Und du kennst ihn?« »Wir hatten im Verlauf der Jahre diverse Begegnungen, die manchmal nicht ohne Schusswechsel abgingen. Ich bin nicht gerade sein bester Freund, sagen wir es mal so.« »Und es ist sicher, dass er McGuire nie getroffen hat?« »Das behauptet jedenfalls McGuire«, erwiderte Hannah. »Und warum sollte er lügen? Er will schließlich raus.« »Gut. Ich habe dieses ganze Zeug auswendig gelernt, das Sie 69
mir per Computer geschickt haben – über McGuires Vergangenheit, über diese französische Firma, für die er arbeitet, und diesen Tim Pat Ryan, der dich in London fast erledigt hätte, Sean. Interessant, diese Sache – eine Frau als Killer. Aber was Barry angeht, möchte ich gern noch mal von dir persönlich alles über ihn hören, selbst wenn es in den Akten steht.« Dillon nickte und gab ihm einen ausführlichen Bericht. »Na, dann weiß ich ja Bescheid«, erwiderte Blake schließlich. »Ich muss bei so einem Kerl also zusehen, dass ich meine fünf Sinne beisammenhabe.« »Da ist noch eine Sache, die du über die Barrys wissen solltest. Erstens stammt er aus einer alten protestantischen Familie.« »Ein Protestant?«, fragte Blake ungläubig. »Das ist gar nicht so ungewöhnlich. Es gibt etliche protestantische Nationalisten in der irischen Geschichte – Wolfe Tone, zum Beispiel. Aber zweitens war sein Großonkel auch noch Lord Barry und dessen Erbe Frank Barry, und der ist jetzt tot, wie du weißt.« »Willst du damit etwa sagen, dass Jack Barry der rechtmäßige Erbe ist?« »Sein Vater war Franks jüngerer Bruder, aber er ist vor ein paar Jahren gestorben, womit nur Jack übrig bleibt.« »Also Lord Barry?« »Frank hat den Titel nicht beansprucht, und Jack schon gar nicht. Das würde der Königin und dem Geheimen Staatsrat sonst auch einiges Kopfzerbrechen bereiten«, meinte Hannah. »Darauf will ich wetten«, nickte Blake. »Für Jack ist das allerdings keineswegs ohne Bedeutung«, erklärte Dillon. »Die Barrys sind eine alte Familie, die durchaus eine Rolle in der Geschichte gespielt hat. Es gibt einen Familienbesitz und ein Schloss, Spanish Head, das ungefähr dreißig Meilen nördlich von Belfast an der Küste liegt und jetzt
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zum National Trust gehört. Jack hat damals immer davon geschwärmt. Du siehst – unser Jack ist ein vielschichtiger Mann. Aber kommen wir zur Sache. McGuire soll zwischen sechs und sieben in der Bar auf die Nachricht warten, dass sein Taxi bereitsteht.« »Ziel unbekannt?« »Natürlich. Ich denke mir, er wird sich einen Platz ausgesucht haben, wo es für den Notfall gute Fluchtmöglichkeiten gibt, zum Beispiel die Hafengegend.« »Und du folgst uns?« »So ist es geplant. In einem grünen Landrover.« Dillon reichte ihm ein Stück Papier. »Das ist die Nummer.« »Und was ist, wenn du mich verlierst?« »Das ist nicht möglich.« Hannah Bernstein öffnete eine Aktentasche, in der sich ein schwarzes Kästchen mit einem Bildschirm befand. »Hier drin ist ein Peilsender.« »Das neueste Modell«, sagte Dillon. »Wir folgen dir also überallhin.« »Schauen Sie mal.« Hannah drückte einen Knopf und ein Straßenabschnitt wurde auf dem Schirm sichtbar. »Es zeigt sämtliche Verkehrswege in ganz Nordirland an.« »Sehr beeindruckend«, nickte Blake. »Aber den hier müssen Sie sich anstecken.« Sie reichte ihm einen goldenen Siegelring. »Ich hoffe, er passt. Falls nicht, habe ich noch eine andere Wanze, die Sie überall, wo Sie wollen, befestigen können.« Blake probierte den Ring an seiner linken Hand und nickte. »Ja, sitzt gut.« »Keine Waffen«, sagte Dillon. »Bei Barrys Leuten dürfen wir in dieser Hinsicht nichts riskieren.« »Dann sieh aber besser zu, dass du direkt hinter mir bist.« »Keine Sorge, das sind wir, und zwar bis an die Zähne bewaffnet.«
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»Geplant ist also bloß, dass ich dich zu Barry führe und du ihn dir schnappst? Keine Polizei, keine sonstige Unterstützung?« »Das ist eine streng geheime Sache, Blake. Wir greifen uns den Kerl, verpassen ihm eine kleine Spritze und schaffen ihn zum Flughafen, wo ein Lear-Jet bereitsteht, der uns nach Farley Field bringt.« »Und dann?« »Geht’s in unsere bewachte Unterkunft am Holland Park in London, wo der Brigadier ihn sich vorknöpft«, warf Hannah ein. »Heutzutage gibt es tolle Drogen«, meinte Dillon. »Ehe er es selbst recht begriffen hat, wird er schon dabei sein, alles zu erzählen, obwohl Frau Chief Inspector ein solches Vorgehen gar nicht mag.« »Halten Sie die Klappe, Dillon«, sagte Hannah wütend. Blake nickte. »Kein Grund, zu streiten, ihr beiden. Ich bin froh, hier zu sein, und der Präsident ebenfalls. Ich bin ganz auf euch angewiesen und ich vertraue euch.« Die Library Bar war ein beliebter Treffpunkt für Geschäftsleute, die gern noch einen Drink nahmen, ehe sie nach Hause fuhren, und es herrschte ziemlicher Betrieb, als Blake kurz nach sechs hereinkam. Er setzte sich an die Theke, bestellte einen Whiskey mit Soda und zündete sich eine Zigarette an. Zwar fühlte er sich etwas angespannt, aber Sorgen machte er sich keine, denn er wusste, dass er sich auf Dillon verlassen konnte. Es wurde halb sieben. Er bestellte noch einen kleinen Whiskey. In diesem Moment erschien ein Hausdiener mit einem Schild, auf dem ›McGuire‹ stand. »Das bin ich«, meldete sich Blake. Es regnete stark, als er die Hoteltreppe hinunterging. Am Straßenrand wartete ein rotes Taxi. Er stieg ein und bemerkte zu seinem Erstaunen, dass der Fahrer eine grauhaarige Frau 72
war. »Einen guten Abend, Sir«, grüßte sie mit dem typischen Belfaster Akzent. »Lehnen Sie sich einfach zurück, ich weiß schon, wohin es geht.« Dillon und Hannah, die den Landrover in der Nähe geparkt hatten, folgten dem Wagen. Die Frau fuhr hinunter zu den Docks, in eine ziemlich einsame Gegend mit verfallenden Lagerhäusern, und hielt neben einem alten Ford Transit. »Da wären wir, Sir.« Nachdem Blake ausgestiegen war, fuhr sie sofort weiter. Die Hintertür des Transits öffnete sich, und zwei bewaffnete Männer sprangen heraus. Einer trug eine Bomberjacke, der andere hatte einen Vollbart und war mit einem australischen Schäfermantel bekleidet, der ihm bis zu den Knöcheln reichte. »Mr. McGuire?«, fragte der Bärtige. »Ich bin Daley, und das ist Bell – Daley und Bell; klingt zwar wie eine Kabarettnummer, aber Spaße machen wir nicht. Eine falsche Bewegung, wie es immer im Fernsehen heißt, und Sie sind tot. Umdrehen und Hände aufs Dach.« Blake legte seine Hände auf den Transit und wurde gründlich durchsucht. »Hinten einsteigen«, befahl Daley. Er setzte sich ihm gegenüber auf eine Bank, Bell verschloss die Tür und klemmte sich hinter das Steuer. »Was soll das?«, fragte Blake. »Ich bin gutgläubig hierher gekommen, um Mr. Barry zu treffen und…« »Und er kann’s kaum erwarten, Sie zu sehen«, sagte Daley, »aber es dauert noch ein Weilchen. Rauchen Sie inzwischen eine Zigarette und genießen Sie die Fahrt.« Dillon war in eine Seitenstraße eingebogen, nachdem das Taxi angehalten hatte, war ausgestiegen und näher herangeschlichen. Rasch lief er zurück zum Landrover und setzte sich hinter das Steuer.
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»Sie haben ihn in einen weißen Ford Transit verladen.« Während er dem Lieferwagen durch den Abendverkehr folgte, wurde es allmählich dunkler, und der Regen nahm immer mehr zu. Bald stellten sie fest, dass sie die Stadt verließen. »Also ist es nicht Belfast«, meinte Hannah. »Scheint so.« »Verdammt!«, schimpfte sie, als Dillon an einer Ampel halten musste. Infolge von Straßenarbeiten war der Verkehr auf eine Spur reduziert worden. »Sie haben doch Ihren Zauberkasten, Mädchen. Wird schon alles klappen.« Hannah hatte den Aktenkoffer auf den Knien, öffnete den Deckel und machte sich an die Arbeit. Die Karte auf dem leuchtenden Display war in der Dunkelheit deutlich zu sehen und sie konnten dem Transit mühelos weiter folgen. »Wo zur Hölle fahren wir bloß hin?«, fragte Hannah. »Weiß der Himmel«, erwiderte Dillon. »Aber ich habe da so eine Ahnung.« »Ach ja?« »Wir fahren nordwärts, und die Küste von Antrim ist ganz in der Nähe. Wie wäre es mit Spanish Head?« »Aber das ist verrückt. Sie haben doch gesagt, dass es dem National Trust gehört.« »Ja, bloß sind diese Gebäude seit Ostern für das Publikum geöffnet.« »Das kann nicht Ihr Ernst sein.« »Schauen Sie weiter brav auf diesen Bildschirm, dann werden wir ja sehen.« Durchs Fenster sah Blake, dass sie eine Küstenstraße entlangfuhren. Vorübergehend hatte der Regen aufgehört, und zwischen den dunklen Wolken tauchte ein trüber Halbmond auf. Schließlich bogen sie auf eine Nebenstraße ein und hielten vor einem Tor. Daneben war ein Schild angebracht mit der 74
Aufschrift: ›Spanish Head – National Trust.‹ Auf der anderen Seite des Tors stand ein kleines Häuschen, in dem Licht brannte. Bell hupte, und ein alter Mann spähte heraus. »Los, Harker, lass uns schon rein!«, rief Bell. Das Tor funktionierte offensichtlich elektronisch. Der alte Mann öffnete ein Kästchen neben der Tür, drückte einen Knopf, und das Tor glitt zurück. Über steilen Klippen erhob sich das Schloss, das mit seinen Türmen und Zinnen einen wirklich beeindruckenden Anblick bot. Erst im Näherkommen erkannte Blake, dass es eigentlich nur ein großes Landhaus war, erbaut im gotischen Stil des 19. Jahrhunderts. Der Transit hielt in einem Hof, Bell stieg aus und öffnete Blake und Daley die Tür. »Hier lang, Mr. McGuire.« Eine massive Haustür aus Eiche führte in eine riesige Eingangshalle mit steingefliestem Boden. Über einem offenen Kamin waren Fahnenstangen angebracht. Blake entdeckte die Trikolore der Irischen Republik, die britische Nationalflagge und zu seiner Überraschung eine alte Flagge der Konföderierten Staaten von Amerika. »Hier entlang.« Sie steigen die breite Treppe hinauf und gingen weiter durch einen Korridor, in dem unzählige Ahnenbilder hingen, bis Daley schließlich eine große Mahagonitür öffnete, die in eine Bibliothek führte. An den Wänden sah man weitere Gemälde, in einem großen Kamin brannte ein Feuer, ringsum waren Bücherregale, und an der offenen Balkontür stand ein hoch gewachsener, dunkelhaariger Mann mit breiten Schultern, der Jeans und einen schwarzen Pullover trug. Er wirkte etwas in sich gekehrt und strahlte, obwohl er recht gut aussah, eine gewisse Härte aus. »Mr. McGuire? Ich bin Jack Barry.« Blake fiel auf, dass seine Sprechweise immer noch ein wenig
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amerikanisch gefärbt war. »Freut mich«, erwiderte er und gab sich etwas verunsichert. »Mir war schon ein bisschen mulmig.« »Ach, lassen Sie doch dieses Spielchen, Mr. Johnson. Ich weiß sehr gut, wer Sie sind – Blake Johnson, der persönliche Gorilla von Präsident Jake Cazalet, Leiter des so genannten Kellers. Hier, trinken Sie ein Glas Sancerre.« Er nahm eine Flasche aus einem Eiskübel und schenkte ein Glas ein. »Bitte sehr. Ich weiß aus bester Quelle, dass der echte McGuire in den Händen von Brigadier Charles Ferguson und Sean Dillon ist. Und dass mein anderer Lieferant in London, Tim Pat Ryan, das Zeitliche gesegnet hat.« Blake kostete einen Schluck Wein. »Sechsundachtzig, vielleicht achtundachtzig?« »Siebenundachtzig«, sagte Barry. »Sie kennen also meinen alten Freund Sean Dillon?« »Freund?« »Ein kleiner Scherz. Aber kommen wir zur Sache. Ich habe zwar hervorragende Informanten, trotzdem gibt es einiges, was Sie mir erzählen könnten, beispielsweise nähere Einzelheiten über die Operationen dieses alten Schweinehunds Charles Ferguson.« »Wissen Sie was? Sie können mich mal«, entgegnete Blake. Barry schenkte sich ein weiteres Glas Sancerre ein. »Ich dachte mir, dass Sie so reagieren würden.« Er nickte Daley zu. »Bring ihn in unsere Badewanne, Bobby. Es ist kalt da draußen, und es hat wieder angefangen zu regnen. Probieren wir’s mal eine Stunde lang. Vielleicht bringt uns das schon weiter.« Daley und Bell, der mit einer Lampe den Weg beleuchtete, führten Blake hinunter zu den Klippen. Tief unten tobten die Wellen ans Ufer, und Blitze zuckten über das Wasser. »Da wären wir.« Mit einem dumpfen Brüllen schoss aus einem Loch im Fels weiße Gischt empor. Daley schob Blake vorwärts. »Rein mit 76
Ihnen. Drei Meter weiter unten gibt es einen Sims. Keine Sorge – weil’s so kalt ist, dürfen Sie Ihre Kleider anbehalten.« Blake kletterte zögernd hinab. Er ertastete irgendwelche Stufen, dann eine kleine Plattform. Die aufspritzende Gischt war derart eisig, dass es ihm den Atem verschlug. Herrgott, wie sollte er das aushalten! »Pass auf ihn auf«, sagte Daley zu Bell. »Ich komme gleich wieder. Muss noch mal hoch ins Schloss.« »Ich hatte also Recht«, sagte Dillon, als er und Hannah sich dem Schloss näherten. »Es ist tatsächlich Spanish Head.« Vor dem Tor hielt er an, ohne den Motor abzustellen. Hannah stieg aus und versuchte, das Tor zu öffnen. »Zwecklos, wahrscheinlich funktioniert es elektronisch. Einen Moment.« Sie hatte an einer Seite einen kleinen Zauntritt entdeckt und kletterte hinüber. In der Tür des Häuschens erschien ein alter Mann. »He, das geht nicht! Das hier ist Privatbesitz.« »Nicht mehr.« Hannah zog ihre Walther aus dem Schulterhalfter und hielt sie ihm unters Kinn. »Öffnen Sie das Tor, aber rasch.« Sichtlich eingeschüchtert gehorchte er und drückte den entsprechenden Knopf. Dillon fuhr hinein, bog auf einen Parkplatz und stieg aus. »Dann wollen wir uns mal ein bisschen miteinander unterhalten, mein Alter. Sie müssen der Hausmeister sein. Ist sonst noch jemand da?« »Ich bin Witwer.« »Und Ihr Name?« »Harker, John Harker.« »Nun, ich finde, Sie sind ein recht ungezogener Junge, Mr. Harker. Von September bis Ostern ist doch hier geschlossen und Sie lassen zu, dass sich unbefugte Gäste einquartieren wie mein alter Freund Jack Barry.« 77
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.« Der alte Mann zitterte. Dillon zog seine Walther. »Vielleicht hilft es Ihrem Gedächtnis etwas auf die Sprünge, wenn ich damit auf Ihre rechte Kniescheibe ziele und abdrücke.« Harker gab sofort nach. »Seine Lordschaft ist zu Hause, das stimmt, aber was kann ich alter Mann denn dagegen tun?« »Seine Lordschaft, ja?«, lachte Dillon. »Wie oft ist er hier?« »Immer mal wieder in den Wintermonaten, das wissen alle im Dorf, jedenfalls die, die hier oben arbeiten.« »Und schön ihren Mund halten, wie ich mir denken kann«, sagte Hannah. »Was sollen wir sonst schon tun? Es sind schlimme Zeiten, und niemand traut sich, seine Lordschaft zu verärgern.« »Andernfalls hat er eine Kugel im Kopf, ja?«, fragte Dillon. »Nicht nötig. Falls jemand aufmuckt, genügt die Badewanne. Tim Leary ist letztes Jahr drin gestorben.« »Und was ist das für eine Badewanne?« »So ein Felsloch auf den Klippen, wo das Meerwasser hochschießt. Seine Lordschaft steckt dort Leute rein, um ihnen eine Lektion zu erteilen.« »Guter Gott!«, flüsterte Hannah. »Ich könnte mir denken, dass der weniger damit zu tun hat«, meinte Dillon. »Zur Sache. Vorhin ist ein weißer Ford Transit angekommen, stimmt’s?« Harker nickte. »Der Wagen ist heute Nachmittag nach Belfast gefahren und kam vor ungefähr vierzig Minuten zurück.« »Wer saß drin?« »Beim Wegfahren hab ich Bobby Daley und Scan Bell drin gesehen, zwei Männer seiner Lordschaft, vorhin saß nur Bell am Steuer.« »Und da waren Sie neugierig und sind hinterher, um zu schauen, was los war.« Harker erschrak. »Woher wissen Sie das?«
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»Ich weiß alles. Was ist passiert?« »Ich hab bloß von weitem gesehen, wie Bell die Hintertür geöffnet hat und Bobby Daley mit einem anderen Mann ausgestiegen ist. Dann sind alle drei reingegangen.« »Und da Sie so neugierig waren, sind Sie näher ran und haben hinter einem Baum oder sonst wo versteckt gewartet.« »Woher wissen Sie das alles?« »Weil ich Ire bin, Sie Blödmann. Ich komme aus County Down und hab das zweite Gesicht. Außerdem sehe ich, dass Sie nass sind, weil Sie im Regen gestanden haben. Also, wer ist da oben bei Barry im Schloss?« »Nur Daley und Bell.« »So ist’s brav. Dann wollen wir jetzt mal dorthin. Sie kennen bestimmt irgendeinen Schleichweg, auf dem uns niemand bemerkt.« »Ich tu alles, was Sie sagen, Sir.« Hier und da waren auf dem Grundstück Lampen installiert, die etwas Licht spendeten, als sie einen schmalen Pfad entlanggingen, der sich durch Gesträuch und ein dichtes Waldstück schlängelte, hinter dem die Zinnen des Schlosses aufragten. Plötzlich blieb Harker stehen. »Ich glaube, da kommt jemand.« Sie huschten zwischen die Bäume, und kurz darauf sahen sie Daley, der in Richtung Schloss weiterging. »Das ist er«, flüsterte Harker. »Das ist Bobby.« »Wo ist er hergekommen?« »Da unten sind nur die Klippen und die Badewanne.« Dillon wandte sich an Hannah. »Warum wollte Barry sich nicht in Belfast mit Blake treffen und macht sich stattdessen die Mühe, ihn hierher zu schaffen? Das ergibt keinen Sinn.« »Die Sache stinkt.« »Das denke ich auch.« Dillon wandte sich an Harker. »Zur Badewanne, und ganz leise.« 79
Sean Bell hatte unter einem Baum Schutz gesucht und die Lampe zu seinen Füßen auf den Boden gestellt. Er fühlte sich mehr als unbehaglich, war bereits völlig durchnässt und konnte bei dem strömenden Regen nicht mal rauchen, da die Zigaretten sich innerhalb von Sekunden auflösten. Mit einem dumpfen Brüllen, das wie der Schrei eines schmerzgequälten Dinosauriers klang, schoss Wasser aus dem Felsloch in die Luft. Er fragte sich, wie es dem Amerikaner wohl ging. Er würde es nicht lange aushalten in einer solchen Nacht. Ein leises Klicken ertönte, und etwas Kaltes berührte sein rechtes Ohr. »Ich könnte Ihnen mit dieser Walther glatt das Hirn wegblasen, Mr. Bell, also seien Sie besser brav.« »Zum Teufel, wer sind Sie?«, keuchte Bell, während Dillon ihn abtastete und einen Revolver fand. »Ein .38er Webley. Lange schon nicht mehr im Handel. Ihr Burschen müsst ganz schön knapp dran sein«, grinste er und steckte die Waffe in eine Tasche seiner Bomberjacke. »Dillon ist mein Name.« »O Gott!« »Ja, es läuft heute nicht so besonders gut für Sie, was? Ich vermute, Sie haben irgendwo hier in der Nähe einen amerikanischen Freund von mir versteckt.« Dillon drückte die Walther fester gegen Beils Kopf, der erschrocken aufschrie. »Er ist in der Badewanne, gleich da drüben, ein Stück den Weg runter.« »Und warum ist er dort?« »Barry wusste, dass er nicht der war, für den er sich ausgab. Wir haben ihn erwartet.« »Ehrlich? Na, dann zeigen Sie uns mal diese Wanne.« Bell hob die Lampe auf und ging voraus zu einer Stelle, wo weiße Gischt aus dem Felsboden schoss. »Passen Sie auf ihn auf«, sagte Dillon zu Hannah und trat an den Rand. Ein paar Stufen führten nach unten. »Bist du noch
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da drin, Blake? Hier ist Dillon.« Blake, der auf der schmalen Plattform stand und sich an einen rostigen Eisenbolzen klammerte, war so durchfroren wie noch nie im Leben. »Was hat dich denn so lange aufgehalten?« »Komm hoch!«, rief Dillon. Ein paar Minuten später tauchte Blake aus dem Loch auf. »Herrgott, Dillon, das war grauenvoll. Ich kam mir vor wie damals in Vietnam, als ich mal sechs Stunden in einem Sumpf gehockt habe.« »Was ist passiert?« »Barry wusste alles. Er kannte meinen Namen, sogar den Keller, und hat sich mit seinen ausgezeichneten Informationen gebrüstet. Von mir wollte er allerdings sämtliche Einzelheiten über dich und Ferguson wissen.« »Dann gehen wir rauf ins Schloss und tun ihm den Gefallen.« »Mit Vergnügen. Nur eine Sekunde noch. Das ist für dich, du Dreckskerl«, sagte er zu Bell und versetzte ihm einen so kräftigen Schlag, dass er mit einem Aufschrei rückwärts in das Felsloch stürzte. Kurz darauf brandete erneut tosende Gischt auf. »Können wir jetzt?« »Nur zu.« Blake ging voraus in den Hof und blieb an der massiven Eingangstür stehen. »Zurück zum Tor, Opa«, sagte Dillon zu Harker, »und halten Sie den Mund. Wenn Sie hübsch brav sind, erschieße ich Sie auch nicht. Ist das ein Angebot?« Der alte Mann schlurfte hastig davon. »Hat einer von euch noch eine überzählige Pistole für mich?«, fragte Blake. Dillon zog die Webley hervor. »Eigentlich gehört so ein Ding ins Museum, aber sie wird’s wohl tun.« »Dann los.« Blake öffnete die Tür.
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Daley legte in der Bibliothek einen neuen Holzklotz aufs Feuer, während Barry an der Balkontür stand und hinaus in den Regen schaute. »Eine üble Nacht, Bobby. Wie es Mr. Johnson wohl geht?« »Besser als Sie meinen«, sagte Blake, der als Erster eintrat. Einen Moment standen alle wie erstarrt, bis Barry den Kopf zurückwarf und lachte. »Guter Gott, du bist das, Sean.« »Höchstpersönlich, Jack, und ich bin nur gekommen, um dich zu holen. Charles Ferguson will mit dir reden, und nach allem, was ich von meinem Freund hier gehört habe, wird er jetzt noch mehr darauf brennen. Eine interne Informationsquelle? Das kann nur im Weißen Haus sein. Du bist wirklich ein ganz böser Junge.« »War ich schon immer, Sean, das weißt du ja. Ich vermute, Bell hat das Zeitliche gesegnet?« »Allerdings.« »Ja, ja, so geht es uns allen mal. Schenk Mr. Johnson einen Brandy ein, Bobby, einen großen. Ich kann mir denken, dass er einen braucht.« Er hob sein Glas und trank Blake zu. »Ein alter Vietnamveteran grüßt seinen Kameraden.« »Kein Bedarf. Ich habe zwar getötet, aber deshalb stehe ich noch lange nicht auf einer Stufe mit Ihnen.« Blake nahm den Brandy und betrachtete die Gemälde an den Wänden. »Ist das dort etwa eine Konföderierten-Uniform?« »Ja«, nickte Barry. »Dieser beleibte Gentleman war Francis der Erste. Hat sein Geld im achtzehnten Jahrhundert auf Barbados mit Zucker und Sklaven gemacht, ist dann zurückgekommen und hat sich einen Titel gekauft. Seine Nachkommen wurden alle Francis genannt. Daher kommt der Name Frank.« »Und Sie?« »Jack ist die Abwandlung von John. Mein Namensgeber war der, der für die Konföderierten kämpfte und dabei fiel. In einem Brief nach Hause schrieb er, er habe sich für diese Seite
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entschieden, weil die Farbe der grauen Uniform zu seinen Augen passe.« »Wenn er Ihnen ähnlich war, glaube ich das sofort«, entgegnete Blake. »Aber zur Sache. Sie wussten, dass ich anstelle von McGuire kommen würde.« »Was ist mit ihm passiert?« »Wie Sie sehr gut wissen, ist er in einer sicheren Unterkunft in London und singt«, erwiderte Hannah. »Dieser Hund.« »Ja«, nickte Dillon, »so sind sie gewöhnlich. Also, es scheint, du wusstest alles?« »Du weißt doch, dass ich anderen schon immer einen Schritt voraus war. Das macht meinen Erfolg aus.« »Und wie wir gehört haben, wollten Sie Informationen über Brigadier Ferguson«, sagte Hannah. »Stimmt. War immer ein alter Fuchs, dieser Kerl.« »Du wirst ihn schon sehr bald persönlich kennen lernen«, sagte Dillon. »Ich bin sicher, ihr werdet euch angeregt unterhalten.« »Mag sein.« Barry schenkte sich einen weiteren Sancerre ein. »Gib Mr. Johnson noch einen Brandy, Bobby. Er kann ihn bestimmt gebrauchen.« Daley ging zur Anrichte und griff nach der Karaffe. Blitzschnell riss er dabei eine Schublade auf und wandte sich um. In der Hand hielt er eine Waffe. »So, und jetzt hat sich das Blatt gewendet«, lachte Barry. Aber Dillon hatte sofort reagiert. Ein dumpfes Husten aus seiner Walther, und Daley, der immer noch die Karaffe umklammerte, fiel gegen die Anrichte und stürzte tödlich getroffen zu Boden. Hannah rief irgendeine Warnung und Dillon wandte sich hastig um. Ein Teil der Holztäfelung neben dem Kamin stand offen, und er sah gerade noch Barry darin verschwinden. Dil-
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lon rannte durch das Zimmer, doch die Täfelung schloss sich mit einem Klicken und ließ sich nicht mehr bewegen. »Verfluchter Mistkerl!«, schimpfte Blake. »Ich hätte es wissen müssen«, sagte Dillon. »Er hätte sich nie diesen Ort ausgesucht, wenn es hier nicht Fluchtwege gäbe wie in einem Kaninchenbau. Jetzt werden wir ihn nicht mehr erwischen.« »Was machen wir mit diesem Daley?«, fragte Hannah. »Sollen wir die RUC rufen?« »Polizei ist das Letzte, was wir brauchen.« Dillon rollte die Leiche in einen indischen Teppich, der auf dem Boden lag. »Pack mal mit an.« Blake half ihm, sich die Last auf die Schulter zu laden. »Und jetzt?« »Nichts wie weg hier. Ich schaffe ihn runter in die Badewanne, da kann er Bell Gesellschaft leisten.« Regen stob ihnen entgegen, als Blake in der Halle die schwere Eingangstür öffnete. »Genau die richtige Nacht für solche Drecksarbeit«, meinte Dillon. »Ich treffe euch am Tor.« Im Häuschen des alten Wächters brannte noch Licht, doch von Harker war keine Spur zu sehen. Hannah und Blake warteten im Landrover, bis Dillon einige Minuten später erschien. »Alles erledigt. Die Wege der Bösen führen stets zu einem bösen Ende.« Er trat gegen die Tür und Harker spähte zaghaft heraus. »Sie sind uns entwischt«, sagte Dillon. »Seine Lordschaft und Daley sind durch irgendeinen Geheimgang entkommen.« »Ja, davon gibt’s da oben ein paar.« »Aha. Ich denke mir jedenfalls, es wäre Ihnen nicht recht, wenn Barry erfährt, dass Sie uns geholfen haben. Halten Sie den Mund, dann brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Die ganze Sache ist nie passiert.« »Und ob ich den Mund halte! Ich mache Ihnen das Tor auf.« 84
Dillon setzte sich hinter das Lenkrad des Landrovers und bog auf die Küstenstraße ein. »Was nun?«, fragte Hannah. »Rufen Sie an, dass uns der Lear-Jet morgen abholen soll. Ferguson erfährt schlechte Neuigkeiten gern so schnell wie möglich, das wissen Sie doch.« Er schaute über seine Schulter zu Blake. »Was ist mir dir? Geht’s jetzt zurück nach Washington?« »Nein, ich denke, ich komme mit nach London und stehe euch bei, wenn Ferguson einen Wutanfall kriegt.« »Gut, dann wollen wir zurück ins Europa, wo es wenigstens einen anständigen Zimmerservice gibt.«
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Fünf Die beiden Flight Lieutenants Lacey und Parry waren um Mitternacht mit dem Lear-Jet herübergeflogen und standen um sieben Uhr zum Abflug bereit. »Nett, Sie wieder zu sehen, Mr. Johnson«, grüßte Lacey. »Geht es wieder zu einem Einsatz, Mr. Dillon?« »Na, sagen wir mal so: Ich würde im Moment keinen Urlaub in Marbella buchen.« Nachdem sie die Flughöhe von dreißigtausend Fuß erreicht hatten und über der Irischen See waren, öffnete Hannah die Thermosflaschen mit Tee und Kaffee, und Dillon holte drei Tassen. »Ferguson erwartet uns wie gestern im Verteidigungsministerium? « »Das hat er gesagt.« »Wie klang er denn?« »Neutral.« Dillon schenkte sich einen Tee ein. »Oje, dann ist er am allerschlimmsten.« Zu ihrer großen Überraschung erwartete Ferguson sie jedoch schon auf dem Flugplatz von Farley Field. Da es in Strömen regnete, begleitete Lacey sie mit einem großen Golfschirm zur Limousine. »Steigen Sie ein, um Himmels willen, damit wir endlich weiterkommen. Nett, Sie zu sehen, Blake. Setzen Sie sich neben mich.« Hannah und Dillon nahmen auf den Klappsitzen Platz. »Also, raus mit der Geschichte«, befahl Ferguson. »Sie reden, Dillon, das können die Iren ja besonders gut.« »Man würde niemals glauben, dass seine Mutter, Gott hab sie selig, aus Kerry stammte«, meinte Dillon zu Blake, »aber 86
gut, dann will ich mal erzählen.« Ferguson hörte mit ernstem Gesicht zu, während Dillon berichtete, was in Belfast und Spanish Head geschehen war. »Was für ein Mist. Er wusste tatsächlich, dass Sie nicht McGuire waren? Dabei hatten wir doch erst vor ein paar Tagen vereinbart, dass Sie in diese Rolle schlüpfen.« »Mehr noch, Brigadier. Er kennt sogar den Keller und hat sich mit seinem internen Informanten gebrüstet.« »Wie ist das möglich?« »Es muss jemand im Weißen Haus sein. Dort sind unzählige Leute in allen möglichen Bereichen beschäftigt.« »Aber der Keller ist doch angeblich kaum jemandem bekannt.« »Genau wie Ihre Abteilung, Brigadier, aber wie viele wissen doch davon? Die ganzen Computer sind ein weiteres Problem. Wir haben sogar schon mit Hackern zu tun gehabt, die noch halbe Kinder waren.« »Wir auch«, stimmte Ferguson zu. »Und wir beschaffen uns auf diese Weise ja ebenfalls Informationen«, sagte Hannah. »In Paris, in Moskau…« »Sogar in Washington«, ergänzte Dillon. »Sie haben also keinerlei Anhaltspunkte?«, fragte Ferguson. Blake schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Ich musste mich ans Reisebüro wenden – so nennen wir unsere Abteilung für Dokumentenfälschung –, weil ich einen Pass auf den Namen Tommy McGuire haben wollte für den Fall, dass Barry ihn zu sehen verlangte. Dann wurden der Flug gebucht und das Zimmer im Europa – alles auf den Namen McGuire.« »Und alles lief über Computer«, sagte Hannah. »Jedenfalls bleibt es eine unbestreitbare Tatsache, dass er wusste, wer Sie waren. Das gefällt mir gar nicht.« Fergusons Augen funkelten wütend. »Und Sie können darauf wetten, dass es dem Präsidenten auch nicht gefallen wird.«
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»Da haben Sie Recht«, meinte Blake. »Also, was fangen wir an?« »Ich habe über McGuire nachgedacht«, meldete sich Dillon zu Wort. »Es könnte sein, dass er mehr weiß, als er uns erzählt hat.« »Wie kommen Sie darauf?«, fragte Hannah. »Das ist immer so bei Leuten wie ihm. Sie sind doch schon lange genug im Geschäft, um das selbst zu wissen. Ich würde ihn mir gern mal vorknöpfen.« »Meinen Sie damit, Sie wollen es aus ihm herausprügeln?« »Nein. Ihm bloß etwas Gottesfurcht einjagen.« Ferguson nickte. »Nur zu.« »Gut«, erwiderte Dillon. »Also, wir machen Folgendes…« Das Haus am Holland Park war eine völlig harmlos aussehende Villa aus viktorianischer Zeit, die hinter hohen Mauern lag und auf jede nur denkbare Weise gesichert war. McGuire war überrascht gewesen über den Komfort. Er hatte ein eigenes Zimmer mit Fernseher, ein Bad für sich allein, und das Essen war hervorragend. Allerdings wusste er nicht, dass er sogar von Kameras überwacht wurde, wenn er zur Toilette ging. Gelegentlich brachte man ihn hinunter in ein Wohnzimmer mit einem offenen Kamin und einem noch größeren Fernseher, wo man ihm eine wirklich ausgezeichnete Mahlzeit servierte, zu der es sogar eine Flasche Chablis gab. Der Wächter, Mr. Fox, passte in diese freundliche Umgebung; er trug keine Uniform, sondern nur einen dunkelblauen Anzug und verhielt sich ihm gegenüber immer sehr anständig. Natürlich ahnte McGuire nicht, dass Fox eine .38er Smith & Wesson Magnum in einem Halfter unter seinem Jackett trug, oder dass der große goldgerahmte Spiegel kein Spiegel war, sondern jedem, der im Nebenzimmer stand, erlaubte, ihn ungehindert zu beobachten – wie es in diesem Moment gerade Ferguson, Blake und Hannah Bernstein taten. 88
Sie schauten zu, wie McGuire seine Mahlzeit beendete, während Fox an der Tür Wache stand. Es klopfte, Fox schloss auf, und Dillon kam herein. »Na, dir scheint’s ja gut zu gehen, Tommy.« »Du bist das. Was willst du?« »Oh, dich nur kurz darüber ins Bild setzen, was in Ulster passiert ist.« Er zündete sich eine Zigarette an, nahm die halbe Flasche Wein aus dem Kübel, schenkte McGuires leeres Glas voll und probierte. »Nicht schlecht. Ja, Jack Barry ist uns leider entwischt, aber wir haben zwei seiner Männer erledigt, Daley und Bell. Sagen die Namen dir was?« »Nie gehört.« »Merkwürdig war nur, dass Barry meinen amerikanischen Freund Blake, der sich für dich ausgab, bereits erwartete. Er wusste alles über ihn, sogar dass er für den Präsidenten arbeitet, und hat behauptet, er habe Informanten im Geheimdienst.« »Schau, das alles hat nichts mit mir zu tun«, entgegnete McGuire, »absolut nichts. Ich habe euch alles erzählt, was ich über Barry weiß. Wenn er euch durch die Lappen gegangen ist, ist das euer Problem.« »Ein Problem ist es sicherlich, mein Alter, aber deins, nicht meins. Ich glaube nämlich, dass du ein gewaltiger Lügner bist und sehr viel mehr weißt, als du uns gesagt hast.« »Blödsinn. Ich habe euch alles erzählt.« »Ehrlich? Gut, dann lassen wir dich wohl besser gehen.« »Wie – einfach so?« McGuire war verblüfft. »Du hast uns schließlich ermöglicht, an Barry ranzukommen. Dass wir ihn nicht schnappen konnten, ist ja nicht deine Schuld, und machen wir uns doch nichts vor – wer möchte schon gern, dass so eine Sache bei einer Gerichtsverhandlung in aller Öffentlichkeit rausposaunt wird.« Er nickte Fox zu. »Holen Sie Chief Inspector Bernstein rein.« »Jawohl, Sir.«
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Fox öffnete die Tür und rief nach Hannah, die mit einem offiziell aussehenden Dokument in der Hand erschien. »Packen Sie die Sachen des Gefangenen zusammen und bringen Sie ihn zum Flughafen Heathrow«, befahl sie ihm, ehe sie sich an McGuire wandte. »Thomas McGuire, ich habe hier einen Ausweisungsbeschluss. Den Akten zufolge sind Sie mit einem Flug von Paris aus auf illegale Weise ins Land gekommen und werden als unerwünschter Ausländer dorthin zurückgebracht. Ich habe keine Ahnung, was die französischen Behörden mit Ihnen machen werden.« »Also, hören Sie mal…«, begann McGuire, aber Dillon ließ ihn gar nicht ausreden. »Viel Glück, Tommy. Wirst es brauchen.« »Was meinst du damit?« »Jack Barry hat eine Menge Freunde in ganz Europa und dem Mittleren Osten – die PLO, die Libyer… na, du kennst ja diese Sorte. Er hat im Lauf der Jahre sogar schon mit der Mafia Geschäfte gemacht.« »Was hat das mit mir zu tun?« »Na ja, da mein Freund Blake Johnson an deiner Stelle zu ihm gekommen ist, möchte er bestimmt gern wissen, was du da ausgeheckt hattest. Besonders gut ist er auf dich wahrscheinlich nicht zu sprechen, Tommy. Also – viel Glück.« »Um Himmels willen«, rief McGuire, »der ist ein Sadist, dieser Kerl! Ich weiß, dass er in Irland sogar mal einen Typen in einen Betonmischer geworfen hat.« Alle schwiegen für einen Moment. »Ist das eine Tatsache, Mr. McGuire?«, fragte Hannah. McGuire schaute von einem zum anderen und setzte sich wieder. »Ich rühre mich nicht von der Stelle.« »Dann rede«, befahl Dillon. Die Tür öffnete sich, und Ferguson kam mit Blake ins Zimmer. »Na los, Mann, machen Sie den Mund auf.«
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»Ich brauch erst eine Zigarette.« Dillon hielt ihm sein altes Silberetui hin und gab ihm Feuer. »Spuck alles aus, Tommy. Dann fühlst du dich gleich viel besser.« »Wie schon gesagt, ich habe Barry persönlich nie getroffen, aber er hat mit Jobert in Marseille Geschäfte gemacht, für den ich tätig war. Deshalb habe ich öfter mit Leuten geredet, die Barry aus Irland rübergeschickt hat, um Waffen zu kaufen. Mit einem von ihnen, einem Mann namens Doolin, Patrick Doolin, hatte ich in Paris zu tun.« »Ich kenne den Namen«, warf Dillon ein. »Wurde erhängt in seiner Zelle im Gefängnis von Maze gefunden.« »Genau das ist er«, nickte McGuire. »Wir sind eines Abends in Paris zusammen zum Essen in einem dieser schwimmenden Restaurants gewesen, die auf der Seine fahren – ein prima Essen und dazu reichlich Alkohol. Er wurde sinnlos betrunken und fing an, über Barry zu quatschen und was für eine Bestie er sei.« McGuire schluckte. Alle warteten gespannt, bis er weiterredete. »Doolin hat erzählt, er sei immer Barrys Chauffeur gewesen. Ich glaube, es war vor drei Jahren, als er ihn nachts irgendwo hinfuhr und Barry nicht bloß betrunken war, sondern auch sonst noch was intus hatte. Ich meine, er war wirklich high und hat sich damit gebrüstet, dass er gerade fünf Undercoveragenten der Briten ausgeschaltet habe, vier Männer und eine Frau. Einen davon habe er durch einen Betonmischer gejagt. Ich glaube, die anderen sind erschossen worden. Ich kann mich nicht mehr erinnern.« »Mein Gott«, flüsterte Hannah. »Was noch?« Dillon war unnachgiebig. »Du weißt, dass er die Söhne Erins leitet? Er hat gesagt, das ganze Unternehmen sei dank der New Yorker Abteilung möglich gewesen – und mit Hilfe seines Verbindungsmanns.«
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»Seines Verbindungsmanns?«, fragte Ferguson. »Ja, einer, der direkt an der Quelle sitzt. Er hat Doolin erzählt, es sei genau wie in den alten Zeiten, als es im Dublin Castle Detectives gab, die für Mick Collins arbeiteten.« »Es scheint, er hat Doolin eine Menge erzählt«, meinte Hannah. »Passen Sie auf ihn auf, Mr. Fox«, befahl Ferguson. »Sie können sich auf mich verlassen, Brigadier.« »Gut, gehen wir.« Blake leistete Ferguson in seinem Büro Gesellschaft, bis Hannah und Dillon eine Stunde später hereinkamen. »Ich habe etwas gefunden, Sir«, meldete Hannah. »Vor drei Jahren wurde eine Gruppe von Undercoveragenten in Ulster getötet, vier Männer und eine Frau. Der Leiter, Major Peter Lang, fiel einer Autobombe zum Opfer, die so stark war, dass keine Überreste von ihm gefunden wurden. Hier sind die Einzelheiten über die anderen vier. Das muss die Geschichte sein, die Barry gemeint hat.« »Guter Gott – Peter Lang, der Sohn meines alten Freundes Roger«, sagte Ferguson. »Seine Mutter, Lady Helen Lang, haben Sie ja bei Tony Emsworth’ Beerdigung kennen gelernt.« »Die nette Dame auf der Terrasse«, nickte Dillon. »Angesichts dieser Beweise würde ich sagen, dass wir es hier nicht mit irgendeiner Spinnerei zu tun haben. Was machen wir jetzt?« »Ich glaube, ich sollte mit dem Präsidenten reden«, sagte Blake. Ferguson schüttelte den Kopf. »Noch nicht, Blake. Ich weiß, ich kann Ihnen keine Befehle erteilen, aber lassen Sie mich bitte erst noch einige Dinge erledigen.« Er wandte sich an Hannah. »Irgendwelche weiteren Informationen, vielleicht irgendeine Verbindung zu Barry?« »Nein, Sir, und ich habe mich sowohl in die Computer des 92
MI5 wie des MI6 eingeklinkt.« Er überlegte. »Rufen Sie Simon Carter an, ihn persönlich. Fragen Sie ihn, was er über Jack Barry und die Söhne Erins weiß und über eine undichte Stelle, möglicherweise im Weißen Haus.« »Sofort, Sir.« Ferguson stand auf. »Wir haben hier eine gute Kantine, Blake. Besorgen wir uns ein Sandwich und warten ab, was passiert.« Hannah erschien eine halbe Stunde später und setzte sich zu ihnen. »Er war mal wieder ziemlich gereizt, Sir, wie üblich. Fast wie üblich, jedenfalls.« »Wie meinen Sie das?« »Er schien beinah etwas schockiert. Ich hatte ein wenig das Gefühl, als wisse er schon alles, aber das ist ja unmöglich.« »Dieser verschlagene Mistkerl brächte es sogar fertig, den Allmächtigen zu belügen«, meinte Dillon. »Jedenfalls hat er sich rasch wieder gefangen und hat mir die bekannten Fakten über Jack Barry erzählt, die uns ja nichts bringen.« »Und kein Wort über Washington oder die Söhne Erins?«, fragte Blake. »Ist Carter immer noch stellvertretender Direktor der Sicherheitsdienste?« »Und ob.« »Also, wenn er nichts weiß…« »Rufen Sie ihn doch mal an«, sagte Ferguson zu Hannah, die ihm das Handy reichte, nachdem sie Carter angewählt hatte. »Simon, ich muss mit Ihnen sprechen. In dreißig Minuten auf der Terrasse von Westminster.« »Na, hören Sie mal, Ferguson…« »Bin gerade dabei, einen Bericht für den Premierminister abzuschließen und hätte dazu gern Ihre Meinung gehört.« Ohne auf seine Antwort zu warten, schaltete Ferguson ab und über93
legte kurz. »Ich nehme Sie mit, Blake«, sagte er schließlich, »als Repräsentant des Präsidenten. Das wird ihn beeindrucken. Und Sie, Dillon, kommen ebenfalls mit, weil Sie ihn immer aus der Fassung bringen.« »Falls mich je ein Mann gehasst hat, dann der gute alte Carter.« »Eben. Und ich möchte ihn gern so weit kriegen, dass er außer Fassung gerät.« Ferguson stand auf. »Sie, meine liebe Hannah, sind unter uns das Computergenie. Überprüfen Sie alles, was möglicherweise irgendeine Bedeutung haben könnte. Gehen wir, meine Herrn.« Das House of Commons und das House of Lords haben nicht nur als Sitz der Regierung des Vereinigten Königreichs eine außergewöhnliche Geschichte, sondern auch eine einzigartige Lage an der Themse. Ebenso außergewöhnlich ist, dass die Parlamentarier sich in sechsundzwanzig Restaurants und Bars stärken können, und zwar zu so günstigen Preisen wie kaum sonst wo in London. Selbst jemand mit Fergusons Einfluss musste sich in die Warteschlange einreihen, die nur zentimeterweise vorwärts rückte, während jeder Einzelne gründlich von den kräftigsten Polizisten Londons überprüft wurde. Endlich kamen sie in die zentrale Vorhalle, durchquerten ein Labyrinth von Gängen und fanden den Eingang zur Terrasse, die auf die Themse hinausging. Es war ein kühler Märztag, aber doch so sonnig, dass sich viele Abgeordnete dort aufhielten, dazu zahlreiche Besucher und alle möglichen Gäste. »Gott sei Dank, dass Sie ein Jackett tragen, Dillon. Wenigstens sehen Sie anständig aus.« Dillon winkte einen Kellner heran, der mit einem Tablett Champagnergläser vorbeiging. »Gehören Sie zur japanischen Delegation, Sir?«, fragte der 94
Bedienstete. »Was sonst?« Er reichte Blake und Ferguson ein Glas und bediente sich selbst. »Wie gut sind die Sicherheitsvorkehrungen?«, fragte Blake, der über die Brüstung hinab auf die Themse schaute. »Die Strömung da unten ist fünf Knoten stark. Selbst ein Kampfschwimmer der Marine hätte damit Probleme.« »Aber nicht dieser kleine Teufel«, berichtete Ferguson. »Letztes Jahr, als Ihr Präsident sich mit den Parlamentsabgeordneten traf, ist er hierher geschwommen, bloß um Carter zu beweisen, dass die Sicherheitsvorkehrungen nichts taugten. Ist als Kellner aufgekreuzt und hat den Gästen Kanapees serviert.« Blake brach in lautes Lachen aus. »Carter war nicht besonders amüsiert«, meinte Dillon. »Kein Wunder.« In diesem Moment erschien Carter auf der Terrasse und zog bei Dillons Anblick eine Grimasse. »Mein Gott, Ferguson, muss dieser Kerl dabei sein?« »Gott schütze Euer Ehren«, grinste Dillon. »Sehr freundlich von einem so großen Mann wie Ihnen, mich überhaupt zu beachten.« »Dillon ist hier, weil ich ihn brauche, und damit basta. Das ist Blake Johnson, der persönliche Sicherheitsberater von Präsident Jake Cazalet.« »Ja, ich kenne Mr. Johnson, zumindest dem Namen nach.« Carter schüttelte allen widerstrebend die Hand. »Zur Sache«, sagte Ferguson. »Chief Inspector Bernstein hat Sie um sachdienliche Informationen bezüglich Jack Barry und den Söhnen Erins gebeten.« »Ich habe ihr alles erzählt, was ich weiß. Vermutlich hat sie sich zudem in unsere Computer eingeklinkt und es selbst überprüft. Mir ist bekannt, dass Sie so etwas machen.« »Sie doch auch. Sie wissen also nichts von einer amerikani-
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schen Verbindung, über die Barry verfügt, möglicherweise im Weißen Haus?« »Dann hätte ich es Ihnen gesagt.« Ferguson wandte sich an Blake. »Sie sind dran. Erzählen Sie ihm die Geschichte.« Carter blieb auffällig ruhig, nachdem er alles gehört hatte. »Vieles davon könnte auch Unsinn sein. Warum sollte man diesem McGuire glauben? Oder Doolins Gerede für bare Münze nehmen?« »Weil Barry beispielsweise zu Blake gesagt hat, er habe ausgezeichnete Quellen«, bemerkte Dillon. »Was zweifellos stimmt«, warf Blake ein, »weil er mich schon erwartete und wusste, dass ich nicht McGuire war.« Carter gab keine Antwort. Ferguson winkte den Kellner mit dem Champagner heran. »Trinken wir noch ein Glas, meine Herrn. Sie könnten sicher auch einen Schluck gebrauchen, Carter.« »Wenn Sie meinen…« »Ein weiterer Punkt ist diese Undercovergruppe, die vor drei Jahren von Jack Barry ausgelöscht wurde – Major Peter Lang und seine Leute. Sie haben Chief Inspector Bernstein gegenüber nichts davon erwähnt.« »Weil sie mich nicht danach gefragt hat. Die Fakten stehen in den Computerdateien, wo sie jeder abrufen kann. Allerdings hat es nie irgendeinen Hinweis darauf gegeben, dass Barry und die Söhne Erins etwas mit dieser Sache zu tun hatten. Sie können suchen, so viel Sie wollen, Ferguson, eine solche Akte gibt es nicht. Also, sonst noch etwas? Ich habe wirklich wenig Zeit.« »Eigentlich nicht. Ich werde dem Premierminister sagen, dass Sie so kooperativ wie üblich gewesen sind.« Carter runzelte die Stirn. »Weshalb wollen Sie ihn denn in diese Sache hineinziehen?«
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»Sie kennen doch besser als jeder andere meine Position. Die Privatarmee des Premierministers, so bezeichnen Sie meine Abteilung, nicht wahr?« Mit einem wütenden Fluch wandte Carter sich auf dem Absatz um. »Da geht er hin«, grinste Dillon. »Was jetzt?« »Ich habe bereits für heute Nachmittag ein Treffen mit dem Premierminister vereinbart«, sagte Ferguson. »Sie begleiten mich, Blake, damit er Ihre Einschätzung der Lage hört. Sie, Dillon, warten wie üblich im Wagen.« Dillon lächelte. »Schon klar. Ich kenne schließlich meinen Platz.« Als sie ins Verteidigungsministerium zurückkehrten, fanden sie Hannah Bernstein noch immer vor dem Computer. »Irgendwas zu melden?«, fragte Ferguson. »Eine interessante Sache habe ich tatsächlich entdeckt, Sir. Wie es aussieht, sind die Sicherheitsdienste im Lauf der vergangenen zwei Jahre ziemlich knausrig gewesen, wenn es darum ging, unsere amerikanischen Freunde mit vertraulichen Informationen über Maßnahmen und Einsätze in Irland zu versorgen. Es hieß, solches Material gerate offenbar regelmäßig in die Hände von Sinn Fein.« »Und was hat man gemacht?«, fragte Ferguson. »Nun ja, es wurden zwar weiterhin Informationen übermittelt, aber es scheint, dass die Qualität des Materials sehr zu wünschen übrig ließ. Ehrlich gesagt, es ist nur solches Zeug, wie man es auch in jeder besseren Tageszeitung lesen kann, gelegentlich vermischt mit ein paar Kleinigkeiten…« »Aber keine weiteren Einzelheiten mehr über verdeckte Einsätze«, warf Dillon ein. »Scheint so.« »Hätten Sie denn nicht Bescheid wissen müssen«, fragte Blake, »falls das die offizielle Politik des SIS war?« 97
»Ich bin der Letzte, dem man so was erzählen würde«, schnaubte Ferguson. »Sie haben mir immer meine privilegierte Position verübelt. Man legt mir, wo es nur geht. Steine in den Weg und ist so wenig kooperativ wie nur eben möglich.« »Das kenne ich«, nickte Blake. »Ich habe ganz ähnliche Probleme mit dem CIA und dem FBI.« »Wir gehen also davon aus, dass Carter und seine Leute über das, was vor drei Jahren passiert ist, Bescheid wussten«, sagte Dillon. »Vielleicht nicht von Anfang an, aber zu irgendeinem Zeitpunkt haben sie davon erfahren.« »Ganz bestimmt.« Ferguson wandte sich an Hannah. »Sie haben in Cambridge das Denken gelernt, Chief Inspector. Was meinen Sie dazu?« »Nun, zwei Tatsachen sind sicher, Sir. Es gab irgendeinen Grund, weshalb sie gegenüber unseren amerikanischen Freunden so viel Misstrauen entwickelten, dass sie ihnen nur noch harmloses Material und Fehlinformationen zukommen ließen. Ich würde sagen, vermutlich haben sie ziemlich früh davon gehört, was passiert ist, kamen aber zu dem Schluss, dass es schlicht nicht zu beweisen sei.« »Und die zweite Tatsache?« »Dass es keine Akte darüber gibt, zumindest nicht mehr. Wenn Carter das sagt, glaube ich ihm.« »Wirklich?«, fragte Blake. »O ja. Sie spielen nämlich ihr eigenes Spiel«, entgegnete Ferguson. »Der Friedensprozess ist so wichtig, dass sie verständlicherweise lieber beschlossen haben, dem Premierminister nicht mit einer solchen Sache zu kommen, weil dadurch der Präsident mit hineingezogen worden wäre – und wir beide ebenfalls.« »Diese Dreckskerle«, knurrte Blake. »Ja, der Trick, den anderen nutzlose Informationen zukommen zu lassen, ist ein alter Hut«, sagte Ferguson. »Wir haben
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es mit den Nazis während des Zweiten Weltkriegs genauso gehalten und ihre Abwehr total reingelegt.« »Man fragt sich wirklich, wer das Land eigentlich regiert«, meinte Dillon. Hannah nickte. »Was haben Sie vor?« »Mich mit dem Premierminister zu treffen. Ich habe keine Wahl, genau wie Blake. Präsident Cazalet erwartet einen Bericht über die Barry-Affäre und ich kann mir nicht denken, dass Blake ihm weniger als die ganze Wahrheit erzählt.« »Stimmt genau«, erwiderte Blake. »Und was ist mit der Beteiligung des SIS an der Sache, Sir?«, fragte Hannah. »Gibt es ja nicht. Es existiert keine Akte, und niemand weiß etwas; man äußert seine Verwunderung über McGuires Geschichte und deutet dezent an, dass alles Unsinn sei.« »Und dabei wollen Sie es belassen?«, fragte Hannah. »Ganz und gar nicht. Ich werde den Premierminister auf den neuesten Stand bringen und von jetzt an diese ganze Angelegenheit auf meine Weise angehen.« »Gott helfe Simon Carter«, grinste Dillon. Der Daimler passierte die bewachten Tore zum Amtssitz des Premierministers in der Downing Street. »Ich glaube nicht, dass es lange dauert«, meinte Ferguson. »Klar. Ich bin das Warten gewohnt, wenn wir hierher kommen.« Dillon grinste. »Wenn man einen Mann fürs Grobe braucht, bin ich ganz nützlich, aber trotzdem eine Peinlichkeit für den hohen Herrn dort drin.« »Ich würde an Ihrer Stelle die Times lesen. Das ist immer sehr lehrreich.« Ferguson und Blake stiegen aus. Der Polizist vor der Tür salutierte, und ein Referent begrüßte sie lächelnd. »Brigadier, Mr. Johnson – der Premierminister erwartet Sie.« Er führte die beiden Männer die Treppe hinauf, vorbei an 99
den Porträts aller vorherigen Premierminister, und einen Korridor entlang. Dann klopfte er kurz an die Tür des Arbeitszimmers. Der Premierminister saß hinter seinem Schreibtisch und stand auf, um Ferguson die Hand zu schütteln. »Brigadier.« »Premierminister – als Sie Ihr Amt antraten, haben wir auch über meine besondere Position gesprochen. Erinnern Sie sich, dass ich erwähnt habe, im Weißen Haus gebe es eine ähnliche Einrichtung?« »Der Keller?« »Ja, und das ist Blake Johnson, der ihn leitet.« Der Premierminister begrüßte Blake mit einem Händedruck. »Nehmen Sie Platz, meine Herren. Sie haben nicht erwähnt, dass es sich um eine so schwerwiegende Sache handelt.« »Leider ist es so«, sagte Ferguson. »Dann erzählen Sie.« Als Ferguson fertig war, schüttelte der Premierminister den Kopf. »Eine unglaubliche Geschichte. Was passiert als Nächstes?« »Mr. Johnson wird dem Präsidenten Bericht erstatten müssen. Ich würde vorschlagen, er spricht am besten gleich nachher von meinem Büro aus mit ihm.« »Einverstanden. Zufälligerweise muss ich heute Abend selbst noch mit dem Präsidenten einige Aspekte des Friedensprozesses in Irland erörtern. Ich werde diese Angelegenheit mit ihm diskutieren und dabei auch betonen, dass ich völliges Vertrauen in Sie und Mr. Johnson habe.« »Und was ist mit dem stellvertretenden Direktor der Sicherheitsdienste?« »Was hat er damit zu tun?«, erwiderte der Premierminister ruhig. »Er weiß schließlich von nichts, das hat Simon Carter Ihnen doch versichert, und eine Akte existiert seinen Worten zufolge angeblich auch nicht. Diese Angelegenheit scheint mir
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genau so eine Aufgabe zu sein, um die Sie sich auf Wunsch meiner Vorgänger und mir selbst kümmern sollten, Brigadier – also kümmern Sie sich darum.« »Sie haben mein Wort, Premierminister.« Leider hatte Blake kein Glück bei seinem Versuch, mit dem Präsidenten zu sprechen. Man verband ihn schließlich mit der Sekretärin des Stabschefs, die ihm mitteilte, der Präsident sei in Boston, wo er eine Rede halte, anschließend fahre er für einen dreitägigen Kurzurlaub in sein Haus auf Nantucket. Als Nächstes sprach Blake mit seiner Sekretärin Alice Quarmby. Er benutzte dazu die abhörsichere Leitung, um ganz offen reden zu können. »Ich habe mir schon Sorgen um Sie gemacht«, sagte Alice. »Mit Recht. Dieser Barry ist entkommen, aber mich hätte es fast erwischt. Zu seiner Truppe, den Söhnen Erins, sollen auch einige Leute in New York gehören. Überprüfen Sie das mal, vielleicht finden Sie irgendwas raus.« »Sofort.« »Ich muss rasch wieder zurück. Erkundigen Sie sich, ob es irgendeine Militärmaschine gibt, die heute noch England verlässt.« »Ich sage Ihnen gleich Bescheid.« Bei der abschließenden Besprechung in Fergusons Büro meinte Hannah schließlich: »Es scheint, dass wir hier bei uns nichts mehr tun können.« »Ja, es ist jetzt an dir, mein Alter«, sagte Dillon. »Der New Yorker Ableger der Söhne Erins.« Er lachte. »Klingt wie einer dieser Pubs im irischen Stil.« »Weißt du, das ist gar kein übler Gedanke«, erwiderte Blake. »Womit immer noch die Geheimnisse des Weißen Hauses bleiben«, sagte Hannah. »Und das klingt wie ein Krimi von Agatha Christie.« 101
»Nur sind diese Krimis gewöhnlich sehr einfach gestrickt«, bemerkte Ferguson. »Es war immer der Butler«, grinste Dillon. »Das nicht, aber es gibt üblicherweise nicht mehr als ein Dutzend Leute, die sich ein Wochenende lang in einem Landhaus aufhalten, und einer von ihnen muss es gewesen sein.« Das Telefon läutete. Ferguson hob ab und nickte. »Einen Moment… Blake, Ihre Sekretärin hat sich bei unserem Flugdienst erkundigt. Eine Gulfstream der Royal Air Force fliegt heute Abend in die Staaten. Man könnte in Farley Field zwischenlanden und Sie dort abholen.« »Bestens.« Ferguson gab Alice Bescheid und legte den Hörer auf. »Dann mal zu, Alter.« Dillon schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Wir werden mit angehaltenem Atem warten, was du rausfindest.«
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Washington Nantucket New York
Sechs Blake war froh, wieder in seinem Büro im Weißen Haus zu sein. Er hatte im Flugzeug geschlafen und später gefrühstückt, auch wenn es ihm wegen der Zeitverschiebung etwas seltsam vorgekommen war; jetzt musste er dringend duschen und sich umziehen, was er gleich als Erstes tat. Da er oft in seinem Büro übernachtete, lag immer frische Kleidung bereit. Als er danach frisch rasiert und geduscht war und sich in einem korrekten blauen Flanellanzug an seinen Schreibtisch setzte, reichte Alice ihm mit beifälligem Nicken einen Kaffee. »Sie sehen gleich um zehn Jahre jünger aus.« »Schauen Sie sich bloß mal meine Ablage für Eingänge an.« »Ich habe mein Bestes getan. Erzählen Sie, was passiert ist.« Blake hatte nur eine feste Mitarbeiterin, und das war Alice. Für besondere Aufgaben griff er jedes Mal auf eine geheime Liste zurück, auf der neben Freunden aus seiner Zeit beim FBI, die entweder pensioniert oder wegen Dienstuntauglichkeit entlassen worden waren, Experten für alle möglichen Fachgebiete standen, von Universitätsprofessoren bis zu alten Kameraden aus Vietnam; je nachdem, wen oder was er gerade benötigte. Es war fast wie bei den marxistischen Gruppen; niemand wusste etwas von den anderen außer Alice, die fassungslos war über seine Geschichte. »Ich kann nicht glauben, dass es im Weißen Haus einen Spion geben soll.« »Warum nicht? Es hat schon überall Spione gegeben – im Pentagon, dem CIA, dem FBI…« »Das stimmt.« Sie schenkte ihm noch einen Kaffee ein. »Heutzutage steckt eben viel zu viel in diesen Computern, das ist das große Problem, und trotz aller Vorsichtsmaßnahmen ist es sehr leicht, in diese Dinger reinzukommen.« 104
»Ja, es ist schon ein Jammer«, seufzte Blake. »Haben Sie übrigens irgendwas hinsichtlich der Söhne Erins erreicht?« »Nicht viel. Über Jack Barry gibt es Akten beim CIA und beim FBI, darin werden auch die Söhne Erins erwähnt, sonst allerdings nirgends.« Blake überlegte und runzelte die Stirn. »Aber er hat eindeutig von einer New Yorker Gruppe geredet.« Plötzlich lachte er. »Mir ist gerade eingefallen, was Dillon gesagt hat – dass ›Söhne Erins‹ wie der Name eines irischen Pubs klingt. Das bringt mich auf einen Gedanken.« »Ich denke das Gleiche.« »Okay, probieren wir es. Pubs, Restaurants, Clubs – sehen Sie mal, ob Sie was ausfindig machen können.« »Ich eile und gehorche, o Herr und Meister.« Alice verließ sein Büro, und Blake machte sich über den angesammelten Papierkram her. Kaum eine Stunde später kehrte Alice mit einem Blatt Papier in der Hand zurück. »Mein Gott, es war kinderleicht, nachdem ich wusste, wo ich suchen musste. ›Söhne Erins‹ nennt sich ein irischer Stammtisch. Sie treffen sich in Murphys Bar, zu der auch ein Restaurant gehört, in der Bronx.« Blake blickte auf seine Uhr. »Ich schaffe gerade noch den Flug nach New York. Reservieren Sie mir telefonisch einen Platz, besorgen Sie mir einen Wagen und buchen Sie mir eine Suite auf Regierungskosten – wie es meiner Würde entspricht.« Lauthals lachend verließ Alice das Zimmer. Kurz nach drei hielt Blakes Wagen in der Haley Street vor Murphys Bar. Im Gegensatz zu den zahlreichen neuen Pubs im irischen Stil, die in typischem Grün gehalten und mit goldenen Harfen geschmückt waren, schien es ein älteres und eher schlichtes Lokal zu sein. »Warten Sie hier, George«, befahl er seinem Fahrer und stieg aus. 105
In der altmodischen Schankstube, die ganz mit Mahagoni getäfelt war und daher ziemlich dunkel wirkte, beendeten einige Gäste in einer Nische gerade ein verspätetes Mittagessen, aber der größte Ansturm war längst vorbei. Der Barmann war mindestens fünfundsiebzig, hatte die Ärmel hochgerollt, eine Brille auf der Nasenspitze und las die Sportseiten der New York Times. »Hallo«, grüßte Blake. »Ich hätte gern einen BushmillsWhiskey mit Wasser.« »Aha, Sie wissen Bescheid.« »Wenn man wie ich Dooley heißt«, erwiderte Blake, »sollte das auch so sein. Ein Freund von mir hat mir gesagt, ich solle mal hier reinschauen. Ein Kerl namens Barry.« Der alte Mann schob ihm den Drink zu. »Kann mich nicht an ihn erinnern.« »Genehmigen Sie sich auch einen.« Der Alte goss sich einen doppelten Whiskey ein und kippte ihn gleich hinunter. »Er hat mir erzählt, er sei hier immer bei einem Stammtisch gewesen, den Söhnen Erins.« »Ach so, aber das waren bloß eine Hand voll Kerle, vier oder fünf. Nichts Besonderes, bis auf den Senator.« »Ein Senator?« »Klar, Senator Michael Cohan. Ein wirklich netter Typ.« »Das ist ja interessant. Wer waren denn die anderen?« »Warten Sie mal – das waren Patrick Kelly, der hat hier in der Nähe eine Menge gebaut; und Tom Cassidy, dem gehört eine Kette von irischen Pubs… Wer war sonst noch dabei?« Er überlegte stirnrunzelnd. »Noch einen Drink?« »Ja, wenn’s recht ist, danke.« Er schenkte sich ein, trank das Glas zur Hälfte leer und nickte. »Genau – Brady, Martin Brady. Ein Kerl von der Gewerkschaft. Übrigens hab ich gehört, dass es ihn letzte Woche erwischt hat.«
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»Was meinen Sie damit?« »Na ja, irgendjemand hat ihn umgelegt, als er eines Abends aus dem Fitnesscenter kam.« Der Alte beugte sich näher zu Blake. »Es heißt, er soll Schwierigkeiten mit der Mafia oder so gehabt haben, Sie verstehen?« »Ja, klar… Aber sagen Sie doch mal, wann treffen sich denn die Söhne Erins? Ich meine, an welchem Abend?« »Ach, eigentlich nicht regelmäßig, bloß hin und wieder mal. Sie sind schon seit Monaten nicht mehr hier gewesen.« »Wirklich?« Blake schob einen Zwanziger über die Theke. »Da habe ich wohl meine Chance verpasst, wie es scheint. War nett, mit Ihnen zu reden. Behalten Sie den Rest.« »Danke sehr.« Als er wieder im Wagen saß, rief er über sein Handy Alice an. »Notieren Sie…« Er nannte ihr die Namen der Mitglieder des Stammtischs. »Schauen Sie im Computer der Polizei von New York nach, ob es genauere Informationen über den Mord an Brady gibt. Ich bin jetzt auf dem Weg ins Pierre. In einer Stunde melde ich mich wieder bei Ihnen.« »Warum komme eigentlich ich nie ins Pierre? Warum nur Sie?« »Weil ich ein äußerst wichtiger Mann bin, Alice.« »Ja, und gerade Ihr übersteigertes Ego macht Sie so attraktiv.« Blake saß bei einem Kaffee und Sandwiches in seinem Zimmer, als Alice ihn zurückrief. »Sitzen Sie?« »So schlimm?« »Das kann man wohl sagen. Ich sollte doch den Mord an Brady überprüfen?« »Ja, genau.« »Nun, ich habe beschlossen, auf alle Fälle mal nachzuschauen, ob vielleicht auch die anderen Namen im Computer des 107
New York Police Department zu finden sind. Es könnte ja sein, dass diese Söhne Erins wirklich irgendwas mit der anderen Geschichte zu tun haben.« »Und?« »Die Gruppe an sich ist zwar nicht erwähnt, aber Brady, Kelly und Cassidy stehen drin.« »Weiter.« »Sie sind alle erschossen worden, Blake. Zuerst Brady bei irgendeinem Straßenraub; drei Abende später Cassidy, angeblich gab’s da eine Schutzgelderpressung; und wieder drei Tage danach Kelly bei einem Raubüberfall, während er in der Nähe seines Hauses in Ossining eine Joggingrunde drehte.« »Mein Gott«, sagte Blake verblüfft, »das gibt’s doch nicht.« »Die Zeitungen haben natürlich darüber berichtet, aber kein Mensch hat diese Fälle miteinander in Verbindung gebracht. Wenn man nichts von den Söhnen Erins weiß, kommt man ja nicht auf den Gedanken, dass etwas anderes dahinter stecken könnte.« »Das ist wahr.« »Werden Sie es der Polizei melden?« »Ich bin nicht sicher. Was ist mit Senator Cohan?« »Sein Name steht nicht im Computer des NYPD, aber schließlich lebt er ja auch noch. Er war gestern Abend im Fernsehen.« »Weswegen?« »Ach, der Frieden in Irland, wie üblich. Davon redet doch im Moment jeder. Er fliegt nach London, um sich ein bisschen wichtig zu machen und bei seinen irisch-amerikanischen Wählern Pluspunkte zu sammeln. Was soll ich als Nächstes tun?« »Sie kennen doch diese Vollmachten, die wir im Büro haben, die Blankoformulare mit dem Siegel und der Unterschrift des Präsidenten. Füllen Sie mir eine aus und setzen Sie den Namen Captain Harry Parker ein. Faxen Sie mir eine Kopie
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hierher.« Blake nannte ihr die Faxnummer seines Zimmers. »Wer ist dieser Parker?« »Ein Verfechter der Null-Toleranz-Politik auf den Straßen des guten alten New York. Er leitet eine spezielle Mordkommission mit Spitzen-Detectives und hochmodernen Computern. Ich kenne ihn aus meiner Zeit beim FBI.« »Er schuldet Ihnen also was?« »Spielt keine Rolle. Wenn ich ihm erst einmal dieses Formular vorzeige, kann er nicht Nein sagen. Ich melde mich wieder.« Als Nächstes rief er Ferguson im Verteidigungsministerium an. Da es in London acht Uhr abends war, stellte man ihn zu dessen Wohnung am Cavendish Square durch. »Gute Neuigkeiten habe ich leider nicht«, sagte Blake und berichtete ihm, was er über die Söhne Erins herausgefunden hatte. »Scheint so, als meinte es einer ernst«, erwiderte Ferguson. »Allerdings. Ich habe über den Mord an Ryan nachgedacht. Schließlich stand er ebenfalls mit Barry in Verbindung. Könnten Sie von Scotland Yard nähere Einzelheiten bekommen? Dillon meint ja, der Killer sei eine Frau gewesen, aber es wäre interessant zu erfahren, mit welcher Waffe er getötet worden ist.« »Sofort. Ich melde mich in einer halben Stunde wieder bei Ihnen.« Ferguson telefonierte mit Scotland Yard und anschließend mit Dillon. »Sie kommen besser mal schleunigst her.« Dillon läutete zehn Minuten später; Kim öffnete ihm die Tür und als er die Treppe hochkam, spuckte Fergusons Faxgerät gerade zwei Blätter aus. »Was ist los?« Ferguson überflog die Seiten und reichte sie ihm. »Der Bericht über Ryan. Er ist mit einer ziemlich ungewöhnlichen
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Waffe getötet worden. Schauen Sie selbst.« Dillon nickte. »Eine .25er Coltpistole, eine Waffe für eine Frau, aber kein harmloses Spielzeug, wenn man sie mit der richtigen Munition lädt.« Er reichte ihm das Fax zurück. »Und?« »Ich habe vorhin mit Blake in New York gesprochen. Er hat die Söhne Erins gefunden, Dillon – und die meisten von ihnen sind tot. Drei sind innerhalb eines Zeitraums von sieben Tagen erschossen worden, und zwar erst vor ein paar Wochen.« Dillon stieß einen Pfiff aus. »Der Einzige, der noch übrig ist, soweit wir wissen, ist Senator Michael Cohan aus New York… Herrgott! Und er kommt demnächst hierher zu irgendeinem Forum über den Frieden in Irland, das im Dorchester stattfindet. Das fehlt uns gerade noch, dass ein amerikanischer Senator in London umgelegt wird. Der Premierminister gibt uns garantiert den Auftrag, auf ihn aufzupassen.« »Und was jetzt?« »Ich informiere erst mal Blake.« Blake hörte aufmerksam zu und erwiderte: »Wenn es klappt, treffe ich mich noch heute Abend mit einem hervorragenden Ermittler der Mordkommission. Hier ist die Faxnummer meines Zimmers im Pierre. Schicken Sie mir das Material und ich lasse Sie wissen, was ich rausfinde. Ist Dillon bei Ihnen?« »Ich gebe ihm den Hörer.« »Und was sagt dir deine Nase bei dieser Geschichte, mein irischer Freund?« »Du kennst doch das alte Sprichwort: Einmal ist keinmal, zweimal ein Zufall, aber bei dreimal steckt wer dahinter – und hier sind’s schon vier.« »Du glaubst wirklich, dass es sich um die gleiche Person handelt? Eine Frau?« »Eines weiß ich jedenfalls. Irgendjemand wollte die Söhne 110
Erins auslöschen, und vier von fünf ist beachtlich. Falls ich dieser Senator Michael Cohan wäre, hätte ich Todesangst.« »Ich auch. Wir bleiben in Verbindung.« Dillon legte auf. »Melden Sie die Sache dem Premierminister?«, fragte er Ferguson. »Noch nicht.« »Und Carter?« »Der kann mich mal. Jetzt trinken Sie einen schönen Schlummertrunk mit mir, und dann machen Sie sich auf die Socken.« Harry Parker hatte einen harten Tag hinter sich – drei Schießereien im Zusammenhang mit Drogen, sechs anstrengende Verhöre und dazu ein ganzer Berg von Papierkram. Er überlegte gerade, ob er nach Hause gehen oder zur Entspannung noch einen kurzen Abstecher in seine Lieblingsbar machen sollte, als das Telefon klingelte. »Harry, bist du das?« »Wer ist da?« »Blake Johnson.« »Ach nein, du alter Fuchs. Ich habe dich seit den Ermittlungen im Fall Delaney nicht mehr gesehen – und das ist zwei oder drei Jahre her, glaube ich. Wie ich hörte, hast du das FBI verlassen?« »Ich bin die Leiter rauf geklettert. Ich erzähl’s dir, wenn wir uns treffen.« »Und wann wäre das?« »Ach, ich schätze, in ungefähr fünfzehn Minuten.« »Aber ich wollte gerade Schluss machen.« »Harry, was würdest du sagen, wenn ich im Namen des Präsidenten zu dir komme?« »Dass du ein Spinner bist.« Es kam keine Antwort. »Das war doch ein Witz, oder nicht?«, fragte Parker. »Gib’s schon zu, Blake.« Und dann schlugen seine Instinkte, die er im Lauf von 111
über fünfundzwanzig Berufsjahren geschult hatte, Alarm. »Herrgott, in was für eine Sache willst du mich da reinziehen?« »Eine faszinierende, das versichere ich dir. Sorg schon mal für frischen Kaffee.« Harry Parker legte nachdenklich den Hörer auf. Er war achtundvierzig Jahre alt, ein 224 Pfund schwerer Farbiger aus Harlem, der mit einem Stipendium an der Universität von Columbia studiert hatte und gleich danach bei der Polizei eingetreten war. Polizist war schon immer sein Traumberuf gewesen; es hatte ihm nie etwas ausgemacht, Nachtschichten zu schieben und siebzig Stunden pro Woche zu schuften. Seine Frau hatte das allerdings anders gesehen. Sie hatte ihn vor zehn Jahren verlassen und einen Baptistenprediger aus Georgia geheiratet, aber Harry hatte immer noch seinen Sohn, der Arzt geworden war, und eine Tochter, die als Nachwuchsreporterin beim lokalen CBS-Sender arbeitete und ihm vor zwei Jahren eine Enkeltochter geschenkt hatte, die sie allein großzog. Er griff nach dem Telefon und rief den Feinkostladen auf der anderen Straßenseite an. »Hallo, Myra, hier Captain Parker. Ich muss noch arbeiten. Schicken Sie mir doch zwei Portionen überbackene Käsesandwiches, Pommes und Kaffee rüber.« Zögernd nahm er aus einer Schublade ein Päckchen Zigaretten heraus und zündete sich dann doch eine an. Er hätte längst mit der Qualmerei aufhören sollen, aber es würde wahrscheinlich eine lange Nacht werden. Er stand auf, ging zum Fenster und schaute hinaus in den Regen, als das Telefon läutete. »Captain Parker, hier ist ein Mr. Johnson, der Sie sprechen will.« »Schicken Sie ihn hoch.« Einen Augenblick später klopfte es an der Tür, aber als sie sich öffnete, war es ein Botenjunge aus dem Feinkostladen. »Stell es da drüben auf den Tisch«, sagte Parker.
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Kurz darauf erschien Blake Johnson in der Tür. »Mann, das riecht aber gut. Ich hab den ganzen Tag kaum was gegessen.« »Und deshalb willst du dich jetzt bei mir schadlos halten.« Parker schickte den Jungen mit einer Handbewegung weg. »Dann nimm mal Platz.« Sie setzten sich zusammen an den niedrigen Tisch in der Ekke und Blake griff hungrig nach einem Sandwich. »Hervorragend.« »Bedien dich nur, ich kann ja verhungern. Du siehst übrigens ekelhaft gut aus. Und jetzt sag mal, was das alles soll.« Blake zog einen Umschlag aus seiner Tasche. »Lies das.« Er nahm ein zweites Sandwich. Parker öffnete den Umschlag und musterte das Fax. »Mensch, eine Vollmacht des Präsidenten.« »Nur die Faxkopie. Das echte ist per Boten auf dem Weg zu dir.« »Blake, ich habe so einen Wisch bisher noch nie zu Gesicht bekommen, nur davon gehört«, sagte Parker verblüfft. »Ich weiß, du bist nicht mehr beim FBI, aber wo bist du jetzt? Beim CIA oder dem Geheimdienst?« »Weder noch, Harry. Ich arbeite für den großen Boss persönlich.« »Das bedeutet?« »Meine Abteilung ist eine ganz spezielle und sehr geheim, Harry. Ich erstatte nur dem Präsidenten selbst Bericht, daher auch diese Vollmacht. In dieser Angelegenheit gilt nicht mehr dein Treueid gegenüber der Polizei und dem Bürgermeister von New York; du bist nur noch einer einzigen Person verpflichtet, nämlich dem Präsidenten der Vereinigten Staaten. Akzeptierst du das?« »Habe ich eine andere Wahl?« »Nein, denn es geht hier um eine Sache der nationalen Si-
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cherheit, und dafür brauche ich unbedingt deine berufliche Erfahrung.« Plötzlich fühlte Harry Parker sich großartig. Er griff nach einem Sandwich und lächelte. »Ich bin dein Mann, Blake. Nun rede schon.« Etwas später saß er vor seinem Computer und krempelte die Ärmel hoch. »Ich gebe erst mal dieses ganze Zeug aus London über Ryan ein.« Seine Finger glitten über die Tastatur. »Okay, jetzt fangen wir mit den Mitgliedern der Söhne Erins an. Nummer eins: Martin Brady, Gewerkschafter. Kam eines Abends aus dem Fitnesscenter der Gewerkschaft und wurde ins Genick geschossen, als er sich vorbeugte, um sein Auto aufzuschließen. Das ist ganz typisch für einen Killer der Mafia, und wir wissen, dass die ihn auf dem Kieker hatte.« »Mag sein«, erwiderte Blake, »aber gewöhnlich benutzen sie eine kleinkalibrige Waffe, eine .22er.« Parker drückte einige Tasten. »Das stimmt, aber in diesem Fall war es eine .25er Coltpistole.« Er stutzte. »Sekunde, ich gehe noch mal zurück zu den Angaben über Ryan. Da, schau – ebenfalls eine .25er Coltpistole.« »Könnte das ein Zufall sein?«, fragte Blake. »Garantiert nicht. Ich wette drauf, dass es ein und dieselbe Knarre ist. Das rieche ich förmlich.« »Schauen wir uns die anderen drei an.« Parker machte sich wieder an die Arbeit. »Drei Tage später kommt Cassidy um ein Uhr morgens aus seinem neuen Restaurant in der Bronx. Die Ermittlungen der Polizei haben ergeben, dass dort eine Bande von Schutzgelderpressern aktiv war, die man für die Täter hält.« Er tippte auf einige Tasten und schüttelte den Kopf. »Mann, das ist ja unglaublich. Die Tatwaffe war eine .25er Coltpistole.« »Bleibt noch einer«, sagte Blake. »Patrick Kelly, millionenschwerer Bauunternehmer, hatte 114
die Gewohnheit, morgens um sechs aufzustehen und fünf Meilen zu laufen. Wurde mit zwei Schüssen ins Herz in der Nähe seines Landhauses in Ossining gefunden. Trug immer eine goldene Armbanduhr im Wert von fünfzehntausend Dollar und eine Goldkette. Beides fehlte. Ist deshalb als bewaffneter Raubüberfall mit Todesfolge eingeordnet worden.« »Dann schau jetzt mal nach der Tatwaffe.« »Das gibt’s nicht… Die gleiche Waffe in London wie in New York. Was meinst du dazu?« »Ich glaube, der Killer war sehr gerissen, abgesehen von der Tatsache, dass er immer ein und dieselbe Waffe benutzt hat. Er hat geschickt dafür gesorgt, dass es für jeden Mord eine Erklärung gibt – bei Brady die Mafia; bei Cassidy eine Bande von Schutzgelderpressern; bei Kelly ein normaler Raubüberfall.« »Wirklich clever, und da keine offensichtliche Verbindung zwischen diesen Morden bestand, wäre diese Tatsache, dass alle mit derselben Waffe erschossen wurden, vielleicht nie aufgefallen, wenn du nicht gewesen wärst. Aber eins ist schon verwirrend.« »Dass der Täter in London, wie mein Kollege behauptet hat, eine Frau war?« »Nein, dass bei den drei Morden in New York exakt dieselbe Waffe benutzt wurde wie in London. Wer zur Hölle kommt denn heutzutage mit einer Waffe durch die Sicherheitskontrollen am Flughafen?« Blake nickte nachdenklich, doch dann hellte sich sein Gesicht auf. »Vielleicht Leute, die ein Privatflugzeug benutzen, Harry, wichtige Leute, reiche Leute, die einfach durchgewinkt werden.« »Um Himmels willen, worum geht es bei dieser Sache bloß?«, fragte Parker. »Kann ich dir nicht sagen, aber ich verspreche, dass du der Erste bist, der es erfährt, sobald ich etwas weiß.«
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»Na, besten Dank.« Blake stand auf. »Mehr kann ich dir wirklich nicht bieten, Harry. Und jetzt muss ich zum Präsidenten.« In London war es schon weit nach Mitternacht, aber Blake rief trotzdem noch bei Ferguson an. »Es wird immer geheimnisvoller, Brigadier.« Ferguson, der hellwach war, setzte sich im Bett auf. »Erzählen Sie.« Blake berichtete, was er erfahren hatte. »Meinen Sie, dahinter steckt irgendeine loyalistische Gruppe, die das Ziel hatte, die Söhne Erins zu beseitigen?« »Blake, mein lieber Junge, ich bin ein alter Fuchs in diesem Gewerbe und verlasse mich auf meinen Instinkt. Ein und dieselbe Waffe in London und New York – das bedeutet, es ist ein Killer. Darauf verwette ich mein Leben.« »Aber eine Frau? Das ist unglaublich.« »Ich bin alt genug, um zu wissen, dass nichts in diesem Leben unglaublich ist. Treffen Sie sich mit dem Präsidenten?« »Ja.« »Senator Michael Cohan wird in ein paar Tagen in London erwartet. Weisen Sie den Präsidenten bitte eindringlich darauf hin. Vielleicht sollte er besser zu Hause bleiben.« »Ob New York oder London.« Blake zuckte die Schultern. »Beides scheinen heutzutage ziemlich gefährliche Orte zu sein.« Zur gleichen Zeit saß Jack Barry in der Küche eines Hauses an der Küste von County Down in Ulster bei einem Drink, als sein Handy läutete. Es war der Verbindungsmann. »Wo zur Hölle haben Sie gesteckt?«, fragte Barry. »Ich bin ein viel beschäftigter Mann, mein Freund. Blake Johnson ist wieder in Washington, deshalb vermute ich, Sie sind auf der Flucht.« »Das kann man wohl sagen. Sean Dillon und irgendein weib116
licher Chief Inspector begleiteten ihn. Ich habe zwei Männer verloren, bin ihnen aber entwischt.« »Gut. Von unserem Arrangement haben Sie nichts erwähnt, denke ich?« »Natürlich nicht«, log Barry. »Bestens. Ich halte Sie auf dem Laufenden.« Er schaltete ab. Barry fluchte. Es ärgerte ihn maßlos, nicht zu wissen, mit wem er es zu tun hatte, aber das wusste keiner der Söhne Erins. Sie kannten sich nur untereinander. Er überlegte einen Moment und griff dann nach seinem Handy, um Senator Michael Cohan anzurufen. Sie hatten sich mehrmals in den Staaten getroffen und sich gut verstanden. Cohan hatte seinen Spaß an den haarsträubenden Geschichten über nächtliche Aktionen gehabt und fand alles einfach herrlich, wie ein prachtvolles Abenteuer. »Wer spricht da?« »Barry. Rufe ich zu einer ungünstigen Zeit an?« »Ja, hier ist gerade eine Party. Ich habe mich in mein Arbeitszimmer geflüchtet. Ich hatte selbst schon vor, dich anzurufen, bin aber gerade erst aus Mexiko zurückgekommen. Hab ein paar schlechte Neuigkeiten erfahren. Martin Brady ist auf offener Straße erschossen worden. Man nimmt an, die Mafia hat ihn umgelegt.« »Das ist aber ein merkwürdiger Zufall. Tim Pat Ryan ist es neulich genauso gegangen.« »Tatsächlich?«, fragte der Senator. »Na ja, das war auch ein echter Gangster, dieser Kerl.« »Was ist mit Kelly und Cassidy?« »Ich habe schon seit ein paar Monaten nicht mehr mit ihnen gesprochen. Vielleicht sollte ich…« Im Hintergrund wurde offenbar eine Tür aufgestoßen, und übermütiges Gelächter erklang. »Verdammt, hier kommt die ganze Meute. Ich melde mich wieder.« Er legte auf. Blake hatte für den folgenden Morgen ein Flugzeug der Air 117
Force angefordert. Es war wie meist im März etwas stürmisch, aber der junge Major der Flugbereitschaft war die Tüchtigkeit in Person. »Der Stabschef ist beim Präsidenten auf Nantucket, Sir. Er hat uns befohlen, Sie per Helikopter dorthin zu bringen.« »Landung am Strand?«, fragte Blake. »Genau, Sir.« »Mann, das kenne ich noch zur Genüge aus Vietnam.« »War vor meiner Zeit, Sir. Wenn Sie mir folgen wollen? Ich habe Sandwiches und Kaffee besorgt. Wir starten in dreißig Minuten.« Das alte, schindelgedeckte Haus auf Nantucket gehörte schon seit vielen Jahren der Familie Cazalet und beherbergte für den Präsidenten eine Vielzahl von Erinnerungen – nicht nur an seine Kindheit oder unbeschwerte Ferientage. Zweimal hatte er hier auch wieder Kräfte gesammelt nach Verwundungen in Vietnam – und hatte hier miterlebt, wie seine Frau langsam an Leukämie gestorben war, was zu den bittersten Erinnerungen gehörte. Die schlimmen Tage, als eine Terroristengruppe ihn zu erpressen versucht und seine Tochter entführt hatte — Comtesse Marie de Brissac, jetzt Kunstprofessorin an der Pariser Sorbonne –, waren ebenfalls in diesem Haus verstrichen. Er liebte das Meer bei jedem Wetter und ging auch heute mit Henry Thornton am Strand spazieren, gefolgt von Clancy Smith, einem Mann vom Geheimdienst, während Murchinson, der Retriever des Präsidenten, am Wasser entlanglief und immer wieder in die Wellen rannte. Es herrschte ein kräftiger Wind, der hohe Wellen vor sich hertrieb, und er fühlte sich herrlich lebendig. Washington schien weit, weit weg. Der Präsident blieb stehen und winkte zweimal. Clancy, der das Zeichen kannte, schüttelte eine Marlboro aus einem Päckchen, entzündete sie im Schutz seines Mantels und reichte sie ihm. 118
»Ich habe es Ihnen schon oft gesagt«, meinte Thornton. »Lassen Sie sich dabei mal von einer Fernsehkamera erwischen, und Sie sind jede Menge Stimmen los.« »Wir leben in einem freien Land, Henry. Es mag vielleicht nicht gesund sein, aber ich bin deswegen kein schlechter Mensch.« Cazalet beugte sich vor und kraulte Murchinsons Ohren. »Etwas anderes wäre es dagegen, wenn ich diesen wundervollen Hund prügelte.« »Hubschrauber landet, Mr. President!«, rief Clancy, der eine Meldung über seinen Kopfhörer erhalten hatte. »Es ist Blake Johnson.« Aus der Ferne hörte man bereits das Dröhnen der Rotoren. »Gut. Dann wollen wir mal sehen, was in Irland vor sich geht.« Jake Cazalet eilte über den Strand zurück zu seinem Haus. Blake saß dem Präsidenten gegenüber, während Thornton sich an den Kamin lehnte. »Wie Sie wissen, haben der Premierminister und ich über diese Angelegenheit gesprochen, aber das alles erscheint so unglaubwürdig. Dieser Barry, zum Beispiel.« »Aber leider ist es nur allzu wahr, Sir. Er hat sich sogar mit seinen Informanten gebrüstet, die im Weißen Haus sein müssen. Es gibt nichts daran zu deuteln – Barry wusste, wer ich war und dass ich für Sie arbeite.« »Scheint so. Nur – eine undichte Stelle hier im Weißen Haus? Das kann ich nicht glauben.« »So was kommt im Grunde ständig vor, Mr. President. Fragen Sie bloß mal irgendeinen Journalisten nach seinen Quellen«, sagte der Stabschef. »Wir haben keinen Grund uns einzubilden, wir seien davor sicher.« »Und viele Informationen sind kinderleicht erhältlich«, ergänzte Blake. »Wir haben zwar alle möglichen Sicherheitsvorkehrungen, aber ich kann mich jederzeit ins CIA in Langley 119
einschalten, wenn es sein muss; und ich bin sicher, dass die Leute vom CIA, wenn sie es wirklich ernstlich probierten, sich auch Zugang zu den Akten des Kellers verschaffen könnten. Heutzutage ist ja alles in Computern gespeichert. Selbst diese Unterhaltung wird aufgezeichnet.« »Ach Gott, das stimmt ja – dieses Ding, das Sie zur Sicherheit installieren mussten«, nickte der Präsident. »Genau, Sir, und es hat eine Direktleitung nach Washington.« »Abhörsicher, natürlich«, sagte der Stabschef ironisch. »Die Aufzeichnungen werden dann im Weißen Haus als vertraulich archiviert.« »In einem Computer«, ergänzte Thornton. »Und der Fluch des Systems ist, dass es überall eine Menge Leute gibt, die in jeden nur bekannten Computer reinkommen.« »Außerdem sind natürlich im Weißen Haus selbst viele Beschäftigte tätig«, nickte Cazalet. »Allerdings könnte man davon ausgehen, dass dieser Verbindungsmann irgendetwas mit Irland zu tun hat oder zumindest mit der IRA sympathisiert.« »Da kämen aber etliche in Frage, Mr. President«, sagte Thornton. »Meine eigene Mutter war Irin und stammt aus County Clare. Die Thorntons, die Familie meines Vaters, waren Engländer.« »Meine Großmutter mütterlicherseits kam aus Dublin«, lächelte Cazalet. »Wie ist es bei Ihnen, Blake?« »Mr. President, der Name Johnson ist schon sehr englisch, aber ich gebe dem Stabschef Recht. Es heißt, dass rund vierzig Millionen Menschen in diesem Land irischer Herkunft sind. Wenn Sie Leute wie sich selbst und den Stabschef dazurechnen, die irgendeinen irischen Verwandten in der Familie haben, dann mag der Himmel wissen, wie viele es sind.« »Jedenfalls eine beträchtliche Anzahl der Angestellten im Weißen Haus, schätze ich«, warf Thornton ein.
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»Das können Sie laut sagen. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass ich jeden Stein umdrehen werde. Allerdings habe ich mir die wirklich schlechten Neuigkeiten noch bis zuletzt aufgehoben.« »Sie meinen, es kommt noch schlimmer?« Der Präsident schüttelte den Kopf. »Dann mal besser raus damit, Blake.« Während Blake von den Morden an den Mitgliedern der Söhne Erins berichtete, lauschten der Präsident und der Stabschef entsetzt. »Das ist ja kaum zu glauben«, stöhnte Cazalet. »Kennt der Premierminister diese Fakten?« »Nicht alle, Mr. President. Brigadier Ferguson wollte warten, bis ich meine Untersuchung abgeschlossen habe.« Cazalet überlegte einen Moment schweigend, ehe er sich an Thornton wandte. »Ich denke, jetzt wäre ein Drink angebracht. Machen Sie mir einen Scotch mit Wasser, ohne Eis. Meine Herren, genehmigen Sie sich, was Sie möchten.« Er stand auf, öffnete die Verandatür und atmete tief die kühle Luft ein. Thornton reichte ihm den Scotch. »Darf ich etwas sagen?« »Nur zu.« »Ich glaube, wir dürfen Senator Cohan nicht außer Betracht lassen, nur weil er Senator ist.« »Was meinen Sie damit?« »Es scheint doch, als gäbe es irgendeinen geheimnisvollen Verbindungsmann, der gezielt Informationen über die Situation in Irland an die Söhne Erins weitergibt, deren Kontaktmann in London Tim Pat Ryan war.« »Und?« »Das waren Kriminelle, Mr. President, das steht außer Frage, wenn sie mit Jack Barry zu tun hatten. Und das bedeutet, dass Senator Cohan ebenfalls ein Krimineller ist.« »Ich hatte selbst schon daran gedacht«, nickte der Präsident.
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»Könnte er der Verbindungsmann sein?« »Das bezweifle ich«, meinte Blake. »Dann hätte er sich wohl kaum in aller Öffentlichkeit als Mitglied dieses Stammtischs gezeigt.« »Klingt logisch.« »Was machen wir jetzt?«, fragte Thornton. »Offiziell nichts«, erwiderte der Präsident. »Cohan wird jede Verwicklung in die Sache abstreiten, und es dürfte schwierig sein, ihm das Gegenteil zu beweisen.« »Können Sie ihm verbieten, nach London zu fliegen?« »Wozu auch? Falls man es auf ihn abgesehen hat, kann es ihn genauso in London wie in New York erwischen. Außerdem hält er sich in England nicht in meinem Auftrag auf, auch wenn er das in den Zeitungen behauptet, damit er vor den Wählern besser dasteht.« »Aber wie geht es nun weiter?«, fragte Thornton. Der Präsident wandte sich an Blake. »Zuerst richten Sie Ferguson bitte aus, er soll den Premierminister über die neueste Entwicklung informieren. Ich werde mit ihm zu geeigneter Zeit die Angelegenheit besprechen.« »Und Senator Cohan?« »Wie lautet dieser schöne Satz, den Dillon immer sagt? Mach ihm die Hölle heiß?« »Genau, Mr. President.« »Dann tun Sie das mal. Jagen Sie Senator Cohan ordentlich Angst ein und beobachten Sie jeden seiner Schritte. Mit etwas Glück kommt dabei vielleicht irgendwas raus.« »Wie Sie meinen, Mr. President. Dann mache ich mich besser gleich auf den Weg. Ich habe den Hubschrauber warten lassen.« »Der kann ruhig noch etwas länger warten. Zuerst gibt’s Mittagessen, meine Herrn, danach können Sie zurück in die böse Welt, Blake.«
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Drei Stunden später erhielt Senator Michael Cohan in seinem New Yorker Büro einen Anruf. »Ich bin’s«, sagte der Verbindungsmann. »Hab ein paar böse Neuigkeiten, Senator. Ich fürchte, für die Söhne Erins sind schlechte Zeiten angebrochen. Sie sind alle tot – Brady, Cassidy, Kelly und Ryan. Und besonders interessant ist, dass alle mit der gleichen Waffe erschossen wurden.« Cohan war fassungslos. »Das ist ja entsetzlich! Von Brady und Ryan hatte ich schon gehört – aber auch Kelly und Cassidy? Um Himmels willen, was geht da vor?« »Sie kennen doch den letzten Mohikaner?« Der Verbindungsmann lachte. »Nun, Sie sind der Letzte der Söhne Erins. Wann das Schicksal wohl das nächste Mal zuschlägt? Der Präsident weiß übrigens Bescheid, dass Sie auch dazugehören.« »Das streite ich ab. Ich streite alles ab. Woher wissen Sie das?« »Ich habe Ihnen doch schon oft gesagt, dass ich alles aus dem Weißen Haus erfahre.« »Wer sind Sie? Verdammt, ich wünschte, ich wäre nie in diese Sache hineingezogen worden.« »Sind Sie aber. Und was Ihre Frage angeht, wer ich bin, wird das eines der großen Geheimnisse Ihres Lebens bleiben. Ich könnte Ihr bester Freund sein oder eine Frau – schließlich könnte ich ja gerade einen Stimmenverzerrer benutzen. Übrigens glaubt man tatsächlich, dass es eine Frau war, die Ryan in London umgebracht hat.« »Ich verfluche Sie!« »Schon recht. Aber jetzt hören Sie gut zu. Der Präsident hat Blake Johnson beauftragt, mit Ihnen zu sprechen. Er soll Ihnen erzählen, was passiert ist, und Sie warnen, auf der Hut zu sein.« »Was soll ich tun? Ich werde in drei Tagen in London erwartet.«
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»Ja, ich weiß. Meiner Meinung nach sollten Sie fliegen. Ich glaube nicht, dass es dort für Sie gefährlicher ist als hier, und während Sie weg sind, sehe ich mal, was ich tun kann, um unser Problem zu bereinigen.« »Bestimmt?« »Natürlich. Wenn Johnson bei Ihnen aufkreuzt, stellen Sie sich einfach dumm. Sie haben sich ab und zu mal mit den anderen zum Essen getroffen, und ansonsten von nichts eine Ahnung.« »Aber wer steckt hinter dieser Sache? Die verfluchten Protestanten?« »Wahrscheinlich eher der britische Geheimdienst. Das bedeutet, dass Sie in London sicher sein werden.« »Woher wollen Sie das wissen?« »Das ist doch klar – schließlich sind Sie ein amerikanischer Senator, deshalb wird niemand wollen, dass es Sie in London erwischt.« »Ich hoffe, Sie haben Recht.« »Gut. Ich melde mich wieder und kümmere mich inzwischen um die Sache.« Henry Thornton legte den Hörer auf. Dieser Cohan war total in Panik, und wenn jemand in Panik geriet, war er unberechenbar. Mit ein bisschen Glück würde dieser geheimnisvolle Killer ihn erledigen. Wenn nicht… würde er vielleicht etwas nachhelfen müssen. Barry würde er noch für eine Weile in Ruhe lassen. Erst mal sehen, was mit Cohan passierte. Er ging zur Anrichte und schenkte sich einen Whiskey ein, natürlich einen irischen. Seine Mutter war tatsächlich in County Clare geboren worden, wie er es dem Präsidenten erzählt hatte. Verschwiegen hatte er allerdings, dass sie einen unehelichen Halbbruder gehabt hatte, der zusammen mit Michael Collins beim Osteraufstand 1916 in Dublin dabei gewesen und von
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den Briten hingerichtet worden war. Von Kind an hatte Thornton immer wieder die Geschichte dieses Mannes gehört. Doch etwas anderes war noch sehr viel gravierender gewesen. Während seiner Studentenzeit in Harvard hatte er im Jahr 1970 ein hinreißendes irisches Mädchen von der Queen’s University in Belfast kennen gelernt, eine Katholikin namens Rosaleen Fitzgerald. Sie war die große Liebe seines Lebens gewesen, eine Liebe, die nichts mit Sexualität zu tun hatte. Ein wundervolles Jahr war ihnen miteinander beschieden gewesen, dann war das Unglück geschehen. Sie war über die Sommerferien nach Hause geflogen, hatte sich in Belfast zufällig zur falschen Zeit in der falschen Straße aufgehalten, wo es zu einem Feuergefecht zwischen englischen Soldaten und der IRA gekommen war, und tot auf dem Bürgersteig liegen geblieben. Sein Hass auf alle Briten war seither bis ins Maßlose gewachsen. Weder Erfolg noch Geld hatten ihm noch etwas bedeutet – und dann war seine Chance gekommen, sich zu rächen. »Verflucht sollt ihr sein«, sagte er leise und kippte seinen Whiskey hinunter, »dafür werde ich sorgen.« Blake wurde am folgenden Tag überaus freundlich von Cohan in dessen Büro in Manhattan empfangen. Der Senator hörte ihm mit scheinbar ungläubigem Entsetzen zu und versprach, in London vorsichtig zu sein, aber er müsse nun einmal dorthin. Schließlich handle es sich um eine sehr wichtige Angelegenheit, und er habe seine Teilnahme zugesichert. »Bitte, halten Sie mich auf dem Laufenden«, sagte er und schüttelte Johnson mit ernster Miene die Hand. Nach seinem Besuch sprach Blake kurz mit dem Präsidenten und rief anschließend Ferguson in London an. »Was wollen Sie machen?« »Ich treffe mich mit dem Premierminister, informiere ihn über die neuesten Fakten und warte auf das Resultat seiner Un125
terredung mit dem Präsidenten.« »Und Cohan?« »Da der Präsident ihm nicht verbieten kann, abzufliegen, wird er kommen. Ich habe die Aufgabe, ihn zu schützen.« »Und was glauben Sie, was passiert?« »Wie schon gesagt, ich bin ein alter Fuchs und lange in diesem Geschäft. Ich kann mich auf meinen Instinkt verlassen, und der sagt mir, dass er in London sterben wird.«
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London
Sieben Der Wind wehte von Holland her über die Nordsee und trieb hohe Wellen an den Strand. Im leichten Galopp ritt Lady Helen durch den Kiefernwald hinunter zu den Sanddünen, zügelte ihre Stute und genoss einen Moment die erfrischende Brise, vermischt mit Regen. »Na, komm, Dolly.« Sie klopfte dem Pferd auf den Hals. »Machen wir uns auf dem Heimweg.« Sie brauchte dem Pferd keine Sporen zu geben. Dolly reagierte auf den leisesten Schenkeldruck, galoppierte sofort los und setzte über ein Gatter, als sei sie beim Grand National. Durch den Kiefernwald ging es zurück zum Haus. Im Hof kam ihr Wood entgegen. Er war Pferdepfleger in einem nahe gelegenen Rennstall und schaute auch bei ihr nach dem Rechten, nicht so sehr wegen des Geldes, sondern hauptsächlich weil er wie jedermann Lady Helen mochte und ihr gern helfen wollte. Er hielt Dollys Zügel, während sie abstieg. »Ein schöner Ausritt, Mylady?« »Wunderbar.« »Ich reibe sie ab und gebe ihr dann etwas Hafer.« »Schön, vielen Dank.« Hedley öffnete die Küchentür. »Sie sind wieder galoppiert.« »Was soll ich Ihrer Meinung nach tun – mich hinlegen und sterben?« Sie lächelte. »Spielen Sie nicht die Gouvernante. Ich dusche mich jetzt, und dann können Sie mich zum Essen in den Pub fahren.« Hedley machte sich eine Tasse Kaffee, öffnete die Küchentür und schaute hinaus in den Regen. Alles, was geschehen war seit dieser Nacht in Wapping, als sie Ryan getötet hatte, kam ihm wie ein Traum vor. Und dann New York… Brady, Kelly, Cassidy… Ein Frösteln überlief ihn. Was hätte er tun können? 128
Zu Scotland Yard gehen, wie sie einmal vorgeschlagen hatte? Und was sollte er dort sagen? Lady Helen hat vier Männer umgebracht, die für den Mord an ihrem Sohn und vier anderen mitverantwortlich sind; außerdem hat sie auch noch zwei Strolche erschossen, die in Manhattan versucht haben, ein Mädchen zu vergewaltigen? Nein, so etwas war nicht einmal denkbar. Niemals würde er irgendetwas tun, das ihr schaden könnte. Sie bedeutete ihm einfach zu viel. Und wenn er ganz ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass er damals in Vietnam ja selbst Menschen getötet hatte, manche aus Notwehr, manche einfach, weil Krieg gewesen war, und eines wusste er mit absoluter Sicherheit: Wenn er jemals diesen mysteriösen Verbindungsmann vor sich hätte, würde er ihn eigenhändig ohne die geringsten Gewissensbisse umbringen. Nachdem sie geduscht und sich umgezogen hatte, ging Helen Lang in ihr Arbeitszimmer und setzte sich an den Computer. Sie war inzwischen eine richtige Expertin geworden und hatte bald die nötigen Angaben über Senator Cohans Reise auf ihrem Schirm, einschließlich seiner Ankunftszeit und der Nummer seiner Suite im Dorchester-Hotel. Offensichtlich ließ er sich immer dieselbe reservieren, wenn er in London war. Einen Moment überlegte sie, dann ging sie hinunter in die Küche. »Kommen Sie, Hedley, das Essen wartet.« Sie griff nach ihrer Schaffelljacke, die hinter der Tür hing, und lief über den Hof zum Mercedes, der in der offenen Scheune parkte. Im Pub war es ruhig, wie immer um diese Jahreszeit. Der typisch altenglische Schankraum hatte große steinerne Bodenfliesen und eine niedrige Decke mit frei liegenden Balken; im offenen Kamin brannte ein Holzfeuer, und hinter der langen Eichentheke mit den Zapfhähnen standen aufgereihte Flaschen. An der Theke saßen vier alte Männer aus dem Dorf, die meist hier zu finden waren und die sie und Hedley herzlich begrüß129
ten. Einer der Männer zog sogar seine Kappe. Die Kellnerin war eine Frau mittleren Alters namens Hetty Armsby, und der fünfundachtzigjährige Mann, der auf einem der Hocker saß und die London Times las, war ihr Vater Tom. »Die Times, aha?«, fragte Helen. »Ich bleibe gern auf dem Laufenden«, erwiderte er. »Hält mein Gehirn in Schwung. Aus der Times erfährt man die Fakten, zum Beispiel über die momentane Lage dieser ganzen irischen Sache, obwohl ich nie begreifen werde, warum man die Amis da mit reingezogen hat.« »Ein Bier für Hedley, eines für Ihren Vater, und für mich einen Gin mit Tonic«, bestellte Lady Helen. »Wollen Sie auch was essen?«, fragte Hetty. »Sheperd’s pie, dazu Ihr selbst gebackenes Brot.« Helen zog eine Zigarette aus ihrem Etui, und Hedley gab ihr Feuer. »Na, ich weiß nicht, Tom. Ich bin immerhin auch ein Ami, das wissen Sie doch.« »Ist ja nicht Ihre Schuld, Lady Helen«, kicherte er. »Sie altes Scheusal. Schauen Sie bloß mal an die Wand.« Dort hing eine Serie von gerahmten Schwarzweißfotos, auf denen einige Flugzeuge zu sehen waren, etliche deutsche Dorniers und zwei amerikanische B17-Bomber, von denen einer im Wasser der Bucht lag; der andere hatte eine Bruchlandung am Strand gemacht. Daneben stand lachend die Besatzung. »Stimmt schon«, nickte Tom. »Waren tolle Burschen. Wir haben sie hierher gebracht, wo sie drauf warteten, dass sie vom Stützpunkt abgeholt wurden. Bis die Laster kamen, waren alle sinnlos besoffen. Der eine oder andere ist im Lauf der Jahre immer mal wieder hergekommen. Aber mittlerweile leben die meisten wohl schon nicht mehr, denke ich mir.« Hetty erschien mit einem Tablett. »Setzen Sie sich dort drüben an den Kamin, Lady Helen.«
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Sie deckte den Tisch. Lady Helen und Hedley nahmen Platz und begannen zu essen. »Gut, Hedley?« »Das wissen Sie doch. Manchmal kann ich’s immer noch nicht recht begreifen. Ich war ein Junge in Harlem, der sich irgendwie durchs Leben schlug, dann kam Vietnam, und jetzt lebe ich in einer friedlichen Gegend Englands, sitze in einem Pub wie aus einem Roman von Jane Austen und esse einen Eintopf, der Sheperd’s pie heißt.« »Und es gefällt Ihnen.« »Ich find’s herrlich, Lady Helen, sogar diese verrückten Leute.« »Von denen jeder Sie gern hat. Also ist doch alles bestens.« Nachdem sie ihre Mahlzeit beendet hatten, bestellte sie eine Kanne englischen Frühstückstee. »Viel besser für Sie als Kaffee, Hedley, und ich möchte, dass Sie einen klaren Kopf haben.« »Warum?« »Senator Cohan trifft übermorgen im Dorchester ein.« Er holte tief Atem. »Sie wollen es also wirklich tun?« »Natürlich.« Helen öffnete ihre Tasche und holte einen Schlüssel heraus. »Erinnern Sie sich noch, als in der South Audley Street der neue Ofen in der Küche eingebaut wurde, was so einen Lärm machte, dass ich über Nacht ins Dorchester zog?« Sie lächelte. »Ich bin schließlich bloß eine schwache, verwöhnte Frau. Und das ist der Schlüssel zu der Suite.« »Ach ja?« »Sie haben sich oft damit gebrüstet, dass Sie alle möglichen Freunde haben, von denen manche recht fragwürdig sind. Als wir die Schlüssel für die alten Ställe verloren hatten, haben Sie einen aufgetrieben, mit dem sich alle Schlösser öffnen ließen, und haben gesagt, Sie hätten ihn von einem Freund aus London. Ich habe gefragt, ob er Schlosser sei, aber darauf wollten Sie mir nicht so recht antworten.«
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»Stimmt.« »Nun, wir fahren morgen zurück in die South Audley Street. Manchmal ist es ganz nützlich, wenn man zur englischen Aristokratie gehört und alle möglichen Einladungen erhält, wie es so üblich ist. Ich werde jedenfalls übermorgen im Ballsaal des Dorchester erwartet.« Hedley seufzte ergeben. »Was soll ich tun?« »Ihr Freund könnte sich mal diesen Schlüssel anschauen. Ich weiß, er ist per Computer entsprechend codiert, und man würde jetzt keine einzige Tür damit öffnen können, aber mir ist etwas eingefallen, das Roger mir mal erzählt hat – und falls Ihr Freund seine Sache versteht, wovon ich ausgehe, kann er bestimmt so etwas wie einen Hauptschlüssel fabrizieren.« »Wenn Sie meinen…« »Ja, das meine ich. Lassen Sie mich nicht im Stich. Jetzt trinken Sie Ihr Bier aus, und dann fahren wir.« Am folgenden Nachmittag stieg Hedley die Treppe der UBahn-Station Covent Garden hinauf, wo wie immer unglaublicher Betrieb herrschte. Er zwängte sich durch die Passanten und erreichte schließlich Crown Court, eine schmale Gasse mit vier oder fünf Läden. Über einer Tür hing ein Schild mit dem Schriftzug: ›Jacko – Schlosser.‹ Die Glocke bimmelte, als Hedley eintrat. Im Hintergrund des Ladens öffnete sich ein Vorhang und ein alter weißhaariger Farbiger schaute heraus. »Na, ich trau ja meinen Augen nicht! Du, Hedley?« »Höchstpersönlich, Jacko.« »Darauf wollen wir aber einen trinken.« Jacko zog unter der Theke eine Flasche Scotch hervor, dazu zwei Pappbecher, und schenkte ein. »Ist das Leben nicht total verrückt? Du und mein Bobby, ihr werdet hierher zur Wachmannschaft der Botschaft versetzt, er lässt mich rüberkommen, damit wir zusammen sind, wird dann in diesen verfluchten Golfkrieg geschickt und 132
umgebracht.« »Auf dich, Jacko.« Hedley trank ihm zu. »Hab immer geglaubt, du würdest wieder heimkehren.« »Wo ist schon daheim? Ich spiele immer noch erstklassig Posaune und in London gibt’s bessere Jazzclubs als in New York. Hat dein Besuch einen bestimmten Grund?« Hedley zog den Schlüssel hervor. »Kennst du dich mit solchen Dingern aus?« Jacko warf nur einen kurzen Blick darauf. »Ja, klar. Ist ein Hotelschlüssel. Was ist damit?« »Könntest du mir daraus einen Hauptschlüssel machen, mit dem ich sämtliche Türen aufkriege?« »Mein Freund, ich hab dich eigentlich nie für einen Hoteldieb gehalten, aber so einen kann ich dir machen, ja. Die Hotelleute denken zwar, diese Dinger seien absolut sicher, bloß haben die keine Ahnung. Ist weiter kein Problem. Kann ich in ungefähr fünf Minuten erledigen.« »Bestens. Ich bin übrigens kein Hoteldieb, aber die Sache ist wirklich wichtig.« »Geht klar.« Jacko öffnete die Flasche und schenkte ein. »Trink noch einen.« Er verschwand hinter dem Vorhang, während Hedley seinen Whiskey austrank, und kehrte einige Minuten später zurück. »Bitte sehr.« Der Schlüssel sah völlig unverändert aus. »Und das Ding funktioniert?«, fragte Hedley unsicher. »Kannst dich drauf verlassen, auch wenn ich bloß ein alter Posaunenspieler aus Harlem bin, Hedley. Ich kenne das Hotel nicht und will’s auch nicht wissen, aber eines ist sicher. Damit kriegst du jede Tür in dem verdammten Kasten auf.« »Was schulde ich dir?« »Wozu sind Freunde da? Viel Erfolg! Ich hoffe, dass alles klappt.«
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Wie jedermann flog Michael Cohan lieber mit der Concorde von New York nach London als mit dem Jumbo. Während des ruhigen Flugs von dreieinhalb Stunden gab es ein ausgezeichnetes Essen und kostenlosen Champagner; die Sitze waren zwar etwas klein, was bei der kürzeren Flugdauer jedoch unerheblich war, und dass es keinen Film an Bord gab, war das Letzte, was ihn kümmerte, denn die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, beschäftigten ihn mehr als es jeder Spielfilm getan hätte – wenn sie auch ganz und gar nicht unterhaltsam waren. Zweimal hatte er versucht, Barry über Handy anzurufen, ohne ihn zu erreichen. Aber vermutlich war er dauernd in Bewegung und hatte das Handy nicht ständig eingeschaltet. Diese ganze Entwicklung der Dinge war ein einziger Mist, eine wirklich blöde Sache. Seine amerikanischen Wähler irischer Abstammung waren immer entscheidend für ihn gewesen, und Brady hatte, dank seines Einflusses in der Gewerkschaft der LKW-Fahrer, stets dafür sorgen können, dass ihm ordentlich Spendengelder zuflossen. Er war es auch gewesen, der ihn mit Kelly und Cassidy bekannt gemacht hatte. Es war ihm ganz natürlich erschienen, dass er irgendwann auch Gelder für die IRA entgegengenommen und weitergeleitet hatte. Das machte schließlich jeder. Die meisten seiner irischamerikanischen Wähler fühlten sich sehr mit Irland verbunden und verfolgten aufmerksam die dortige Entwicklung. In ihren Augen waren die Aktivisten der IRA Helden – verklärte Helden. Er erinnerte sich an die ersten Treffen in Murphys Bar, wo sie in fröhlicher Runde Rebellenlieder gesungen hatten. Es war aufregend und romantisch gewesen, und dann hatte ihn Brady eines Abends mit Jack Barry bekannt gemacht, der im Auftrag seiner Organisation in New York gewesen war. Ein echter, lebender IRA-Kämpfer! Barry hatte tolle Geschichten erzählt von Schießereien mit
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englischen Soldaten und dem Leben auf der Flucht und hatte ihnen erklärt, wie sie helfen könnten. Brady, der für die Gewerkschaft in den Docks von New York arbeitete, war dabei der wichtigste Mann gewesen, da es mit seiner Hilfe möglich war, Waffen nach Irland zu schmuggeln. Cohan und Kelly hatten sich auf das Sammeln von Geld konzentriert und Cassidy auf den Kauf geeigneter Waffen. Cohan erinnerte sich an ihren ersten Coup: fünfzig Armalite-Gewehre, die mit einem portugiesischen Schiff nach Irland verfrachtet worden waren. Sie nannten sich damals bereits ›Söhne Erins‹, was auf einen Vorschlag Barrys zurückging, hatten den Stammtisch gegründet und trafen sich ganz frei und offen bei Murphy, immer in derselben Nische, an der sie sogar eine Tafel angebracht hatten, denn es gab ja keinen Grund, etwas geheim zu halten. Und dann war Barry wieder einmal im Auftrag der IRA nach New York gekommen und hatte von seinem mysteriösen Mentor erzählt, den er nur als Stimme am Telefon kannte. Er hatte ihn während seines Aufenthalts im vorigen Jahr angerufen und auf Barrys Frage, wer er sei, schlicht erwidert: »Nennen Sie mich den Verbindungsmann, denn genau das bin ich für Sie.« Erstaunlicherweise konnte er ihn über den Umweg Washington mit internen Informationen des britischen Geheimdienstes versorgen, die entscheidend für den Kampf in Irland waren. Dank Bradys Beziehungen im Hafen hatte man damals Männer der IRA, die auf der Flucht waren, aus Irland herausschmuggeln und nach New York bringen können, und der Waffentransport war ebenfalls weitergegangen. Wirklich ernst war es dann geworden, als dieser Verbindungsmann ihnen Einzelheiten über Operationen des britischen Geheimdienstes in New York und Boston mitgeteilt hatte, einschließlich der Namen von Agenten, denn der Untergrundkrieg zwischen den Briten und der IRA wurde nicht nur in Irland ausgefochten.
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In diesem Stadium hatten Brady, der Gewerkschafter, und Cassidy, der Bauunternehmer, eine entscheidende Rolle spielen können. Beide hatten Kontakte zur Mafia und manch einer war ihnen einen Gefallen schuldig. Es passierten einige Unfälle zur rechten Zeit, die Briten verloren einige Leute, konnten jedoch keinen Wirbel machen, denn schließlich hatten sie in den USA nichts zu suchen, obwohl solche Aktionen in den vergangenen Jahren schon oft gelaufen waren. Cohan hatte sich immer davor gehütet, mit irgendeiner Gewalttat in Verbindung zu kommen. Er war stets als Vermittler zur Stelle gewesen, wenn man ihn brauchte, und hatte sich bei Reisen nach London auch zweimal mit Tim Pat Ryan getroffen. Alles hatte bestens funktioniert – und jetzt war alles aus. Trotzdem, er stand nach wie vor mit sauberer Weste da, mochte Blake Johnson andeuten, was immer er wollte. Er war in Murphys Bar gewesen, na und? Was bewies das schon? Herrgott, warum hatte er sich überhaupt darauf eingelassen! Aber die ganze Sache hatte von Anfang an eine eigene Dynamik entwickelt, und nun war daran nichts mehr zu ändern. Der Verbindungsmann hatte versprochen, sich um die Angelegenheit zu kümmern, und das hatte er bislang immer bestens getan. Brady, Kelly, Cassidy und Ryan waren also tot. Cohan überlief ein Schauder. Er bestellte ein weiteres Glas Champagner, während er sich mit dem Gedanken zu beruhigen versuchte, dass er mit diesen Männern ja nicht auf einer Stufe stand. Schließlich war er ein Senator, und Senatoren der Vereinigten Staaten wurden doch nicht erschossen, oder? Ferguson hatte eine vertrauliche Unterredung mit dem Premierminister, der ihm aufmerksam zuhörte. »Wie der Präsident mir gegenüber bei unserem Gespräch betont hat, gibt es natürlich keinerlei Handhabe, irgendwie gegen Senator Cohan vorzugehen. Seine Mitgliedschaft bei den Söhnen Erins macht ihn in unseren Augen zwar zum Mittäter, doch
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nach außen hin kann er behaupten, wie er es offenbar auch tut, dass seine Besuche in Murphys Bar völlig harmlos gewesen seien.« »Stimmt schon«, nickte Ferguson. »Aber jetzt ist er hier, und damit stellt sich die Frage, was wir machen sollen.« »Natürlich mit allen Mitteln dafür sorgen, dass er am Leben bleibt. Ich verlasse mich da ganz auf Sie, Brigadier.« »Was ist mit Carter und den anderen Dienststellen?« »Sie haben die Verantwortung«, erklärte der Premierminister fest. »Mir ist inzwischen klar, dass einige Herren in der Vergangenheit nicht so mitteilsam gewesen sind, wie sie es hätten sein sollen, und das gefällt mir nicht.« Er lächelte. »Sie sind schon ziemlich lange in diesem Job, Brigadier, und ich glaube, ich weiß jetzt, warum einer meiner geschätzten Vorgänger Ihnen damals diese Position übertragen hat.« »Ich habe also Ihre Vollmacht?« »Absolut. Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich werde im Parlament erwartet. Übrigens«, fügte er hinzu, während Ferguson aufstand, »morgen Abend ist diese Veranstaltung im Dorchester, dieses Forum über den Frieden in Irland, das Cohan besuchen will. Ich schaue gegen zehn Uhr kurz vorbei. Sie werden natürlich dort sein?« Ferguson nickte. »Selbstverständlich, Premierminister.« Hannah Bernstein und Dillon warteten im Daimler, der sofort losfuhr, nachdem Ferguson eingestiegen war. »Genau wie ich’s mir gedacht habe – es ist unsere Sache. Carter bleibt außen vor.« »Womit wir tief in der… Sie wissen schon stecken, falls es mit dem Senator ein böses Ende nimmt«, meinte Dillon. »Mein lieber Junge, so war das schon immer. Wann soll er ankommen?« Hannah schaute auf ihre Uhr. »Sein Flieger ist erst vor vierzig Minuten gestartet, Sir.« 137
»Gut. Überprüfen Sie, wie sein Programm aussieht, wo er sich aufhalten wird, welche Fahrzeuge er benutzt, diese ganzen Sachen eben. Viel mehr können wir kaum tun, da es sich dabei nur um einen halb offiziellen Auftrag handelt. Wir können weder das Hotel alarmieren noch zusätzliche Wachen während seines Besuchs dort einquartieren.« »Für dieses Forum morgen Abend sind bestimmt die nötigen Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden«, sagte Hannah. »Natürlich«, nickte Ferguson finster, »aber ich habe trotzdem ein ungutes Gefühl – und wissen Sie, warum?« »Ich bin sicher, Sie werden es uns erzählen«, sagte Dillon. »Nun, seit sich herausgestellt hat, dass Ryan mit der gleichen Waffe erschossen wurde, die anschließend in New York benutzt wurde, ist mir ganz schön mulmig. Ich glaube nicht, dass es eine Verschwörung ist und dass irgendein Hinrichtungskommando dahinter steckt. Nein, da läuft ein Killer frei herum.« »Die irische Frau.« »Oder eine Frau mit irischem Akzent«, sagte Dillon. »So jemanden in London zu finden heißt, die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen zu suchen. Im Vereinigten Königreich gibt’s acht Millionen Iren; das ist eine ganze Menge.« »Ich habe unbegrenztes Vertrauen in Ihre Fähigkeiten. Fangen Sie einfach mit Kilburn an«, antwortete Ferguson. »Und Senator Cohan?«, fragte Hannah. »Ich rede mit ihm, wenn ich so weit bin. Und da dieser Ganove hier ausnahmsweise mal ein Jackett und eine Krawatte trägt, lade ich Sie zum Lunch ins Garrick ein.« Doch es bahnten sich bereits Ereignisse an, die einiges ändern sollten. Genau an diesem Morgen hatte Thornton über Cohan nachgedacht und je länger er überlegte, desto unzufriedener wurde er. Was für eine Garantie gab es, dass der mysteriöse Killer in London zuschlagen würde? Gar keine – aber 138
Cohan war ein Risiko geworden und musste unbedingt aus dem Weg geräumt werden. Es war vier Uhr morgens amerikanischer Zeit, als er Barry anrief. Der Ire hielt sich immer noch in seinem Unterschlupf in County Down auf. »Ich bin’s, und ich habe einige schlechte Neuigkeiten für Sie.« Thornton berichtete ihm die ganze Geschichte. »Es besteht sogar die Möglichkeit, dass der Täter eine Frau sein könnte.« »Tatsächlich? Ich wünschte bloß, ich könnte sie in die Finger kriegen. Sie würde ganz, ganz langsam sterben. Also ist Cohan der Einzige, der noch übrig ist?« »Genau, und er ist ziemlich in Panik. Seine Mitgliedschaft bei den Söhnen Erins ist nämlich aufgeflogen. Der Präsident weiß durch Blake Johnson davon und der Premierminister durch Ferguson. Er ist entbehrlich geworden.« »Sie wollen, dass er ausgeschaltet wird?« »Er kommt heute in London an, um morgen im Dorchester irgendeine Veranstaltung über den Frieden in Irland zu besuchen. In diesem Hotel wohnt er auch. Es wäre doch ganz angenehm für uns, wenn dieser unbekannte Mörder ihn erwischte, finden Sie nicht? Vielleicht könnte er – oder sie – dabei ein wenig Hilfe gebrauchen.« »Das heißt, ich soll das erledigen?« »Das wäre für uns alle am besten. Dann wären nur noch Sie und ich übrig. Ich glaube, der Flug von Belfast nach London dauert nur anderthalb Stunden.« »Ich habe eine bessere Möglichkeit«, sagte Barry. »Keine vierzig Minuten von hier liegt ein alter Flugplatz aus dem Zweiten Weltkrieg; von dort aus betreibt ein ehemaliger RAFPilot namens Docherty, ein gerissener Fuchs, heute ein Lufttaxiunternehmen. Ich benutze seine Maschinen schon seit Jahren, um rasch nach England zu kommen.« »Sie machen es also?«
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»Warum nicht? Dann habe ich wenigstens was zu tun. Hier regnet es bloß und ich langweile mich.« Barry legte auf und schaute aus dem Fenster. Es war nicht nötig, die Jungs herbeizurufen. Das war eine Aufgabe für einen einzelnen Mann, der zuschlug und sofort wieder verschwand. Aufgeregt griff er zum Telefon und rief Docherty in Doonreigh an. Eine Stunde später fuhr Barry auf den verlassenen Flugplatz und stieg aus seinem Wagen. Er trug Jeans, eine Tweedkappe, eine Bomberjacke aus braunem Leder und hatte in einer Hand eine altmodische Reisetasche. Es wurde bereits dunkel, und es regnete, aber er konnte die beiden alten Flugzeughangars erkennen, deren Tore offen standen. In einem war eine Cessna 310 untergebracht, im anderen eine Navajo Chieftain. Aus dem Schornstein einer Nissenhütte stieg Rauch; kurz darauf öffnete sich die Tür, und Docherty spähte heraus. Er war mit einem Fliegeroverall und Stiefeln bekleidet; etwa fünfzig Jahre alt, sah er mit seinem schütteren Haar und dem verwitterten Gesicht älter aus. »Komm rein, steh nicht im Regen rum.« Dank eines altmodischen Ofens war es in der Hütte angenehm warm. In einer Ecke stand ein Bett, es gab einige Schränke, einen Tisch, Stühle und einen Schreibtisch, auf dem etliche Karten lagen. »Sie haben dich also immer noch nicht erwischt, Jack?« »Nee, den Gefallen tu ich ihnen nicht. Ist das Tee dort auf dem Ofen?« »Hab auch echten irischen Whiskey, wenn du magst.« »Du kennst mich doch. Nicht bei der Arbeit. Also, ich will spätestens heute Abend um sechs in London sein.« »Und zurück?« »Nicht später als um Mitternacht. Kannst du das schaffen?« »Ich kann alles, das weißt du. Ich stelle nie Fragen, kümmere 140
mich um meine eigenen Angelegenheiten und ich habe dich nie im Stich gelassen.« »Stimmt.« »Na gut. Fünftausend, das ist mein Preis.« »Geld ist kein Problem«, sagte Barry. »Schön. In Kent gibt es so einen Platz wie diesen, ungefähr eine Stunde von London entfernt, Roundhay, ganz abgelegen draußen auf dem Land. Ich habe ihn schon früher manchmal benutzt. Mit dem Farmer, dem er gehört, habe ich bereits telefoniert. Einen Riesen für ihn, und er stellt ein Auto bereit, mit dem du nach London fahren kannst. Falsches Nummernschild und alles andere, was dazugehört.« »Noch so ein Ganove«, schnaubte Barry. »Sind wir das nicht alle? Bis auf dich, Jack. Du bist ein tapferer Freiheitskämpfer für die glorreiche Sache.« »Du kriegst gleich eins aufs Maul, Docherty.« »Nee, das lässt du schön bleiben, weil du nämlich kein Flugzeug fliegen kannst.« »Du bringst uns also dorthin, obwohl der Flugverkehr überwacht wird?« »Kein Problem. Jetzt lass uns voranmachen. Wir müssen übrigens die Chieftain nehmen. Die Cessna braucht ein paar Ersatzteile.« Er öffnete die Tür der Navajo, zog die Treppe heraus, und Barry folgte ihm in die Maschine. »Wir haben Rückenwind, brauchen also mit etwas Glück zwei Stunden. Es ist zwar das übliche verregnete Märzwetter, aber das ist eher gut. Mach dir nicht in die Hosen, wenn ich in den Tiefflug gehe. Das ist bloß wegen des Radars. Willst du bei mir sitzen?« »Nein, ich lese Zeitung.« Docherty schnallte sich an, startete die Motoren und lenkte die Navajo aus dem Hangar. Am Ende der Rollbahn wendete er und gab Gas. Problemlos hob die Maschine ab.
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Trotz des schlechten Wetters brauchten sie nach Roundhay nur fünf Minuten länger als zwei Stunden, wie Docherty geschätzt hatte. Eine kleine Landebahn war hell erleuchtet, und vor einer offen stehenden Scheune parkte ein alter Ford Escort. Docherty rollte hinein und stellte die Motoren ab. »Was ist mir dir?«, fragte Barry, während sie ausstiegen. »Schon in Ordnung. Ich gehe rauf zur Farm und zahle meine Schulden.« »Du meinst, du gibst ihm einen Tausender in bar?« »Er ist ein Mann, den man besser gleich zufrieden stellt. Ich weiß ja schließlich nicht, wann ich ihn vielleicht wieder mal brauche.« Er schlenderte über die Rollbahn davon und Barry stieg in den Escort. Die Schlüssel steckten im Zündschloss, aber ehe er den Motor startete, zog er eine Browning aus der Reisetasche, überprüfte das Magazin und schob die Waffe in seine Bomberjacke. Erst dann fuhr er los. Er kam gut voran, denn am Abend bewegte sich der Verkehrsstrom eher in die Gegenrichtung, da die meisten Fahrer aus London hinauswollten. Unterwegs dachte er über alles nach, zum Beispiel, wo er zuschlagen sollte. Jedenfalls im Dorchester, da es dort am einfachsten sein würde, an Cohan heranzukommen. Um nicht aufzufallen, brauchte er nur die richtige Kleidung, und das war kein Problem; damit war er bestens versorgt. Barry hatte schon seit einigen Jahren einen Unterschlupf in London, kein Apartment, sondern ein Boot, das bei St. James’s Stairs in Wapping auf der Themse ankerte. Dort hatte er immer Kleidung und Waffen vorrätig. Kein Mensch wusste davon, denn er hatte sich stets an das alte Sprichwort aus Ulster gehalten, das seine Großmutter oft zitiert hatte: »Merk dir gut, Jack, ein Geheimnis ist kein Geheimnis mehr, wenn auch nur ein einziger Mensch etwas davon weiß.« Sie war elend an Krebs
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gestorben, gerade zu der Zeit, als er damals aus Amerika zurückgekehrt war. Als er zu ihr wollte, obwohl er auf der Liste der meistgesuchten Terroristen stand, hatten die Jungs ihn für verrückt gehalten und es ihm auszureden versucht. Aber nichts hatte Barry davon abbringen können. Sie lag im Royal Victoria Hospital in Belfast, dem besten Krankenhaus der Welt für Schusswunden, was angesichts der Erfahrung, die man dort damit hatte sammeln können, kein Wunder war. Er hatte sich durch den Hintereingang hineingeschlichen, aus dem Aufenthaltsraum einen weißen Ärztekittel gestohlen und war auf diese Weise ungehindert in ihr Zimmer gekommen, wo er eine Weile bei ihr gesessen und ihre Hand gehalten hatte. Sie war nicht mehr in der Lage gewesen, viel reden zu können, sondern hatte nur gesagt: »Ich bin froh, dass du hier bist, Jack.« »Hier gehöre ich auch hin, Gran.« Plötzlich hatte sie seine Hand fester umklammert. »Pass auf dich auf, sei ein braver Junge«, und dann war es vorbei gewesen. In hilfloser Wut war er damals in Tränen ausgebrochen, hatte sich davongestohlen und war vier Tage später, gegen allen Rat, zu ihrer Beerdigung gegangen, wo er mit einer Browning in der Tasche im Regen gestanden und sich gewünscht hatte, jemand von den Sicherheitskräften würde versuchen, ihn zu stellen. Er hatte selbst nicht verstanden, warum ihm das so nahe ging, ihm, dem großen Jack Barry, Lord Barry, der in Vietnam mit etlichen Orden dekoriert worden war, der unzählige englische Soldaten getötet und bei keinem Attentat danach gefragt hatte, wie viele Unionisten durch die Bombe ihr Leben verloren, obwohl er selbst Protestant war. Beständig hatte er das Bild dieser alten Frau, die ihn rückhaltlos geliebt hatte, vor Augen gehabt. Selbst jetzt noch wurde
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ihm bei der Erinnerung die Kehle eng und zornige Tränen stiegen ihm in die Augen. Er erreichte London um fünf Uhr, fuhr weiter bis nach Kilburn und parkte vor einem Pub namens Michael Collins. Das Bild an der Hauswand – eine irische Trikolore und Collins mit kämpferisch erhobener Waffe — sprach für sich selbst. Er ging jedoch nicht in den Schankraum, sondern um das Haus herum in den Hinterhof und öffnete die Küchentür. Im Wohnzimmer saß ein kleiner grauhaariger Mann an einem Tisch, der eine Lesebrille auf der Nase hatte und einige Rechnungen kontrollierte. Doch Liam Moran war nicht nur Wirt, sondern betätigte sich nebenbei auch als Organisator für die Sinn Fein in London. »Herrgott, Jack«, keuchte er erschrocken, »du bist das.« »Höchstpersönlich.« Barry ging zur Anrichte, öffnete eine Flasche Whiskey und schenkte sich ein. »Viel los im Moment?« »Ach was, alles dreht sich nur noch um den Friedensprozess. Die Briten halten Ruhe, und die Jungs machen es genauso. Was zur Hölle treibst du hier, Jack?« »Keine Sorge, bin bloß auf der Durchreise«, log Barry. »Will nach Deutschland und hab gedacht, ich schaue mal kurz rein, um zu sehen, wie die allgemeine Lage so ist.« »Total ruhig, Jack, kannst mir glauben«, versicherte Moran, den dieser plötzliche Besuch mehr als nervös machte, hastig. »Frieden, Liam.« Barry kippte seinen Whiskey hinunter. »Wie langweilig. Wir bleiben in Verbindung.« Damit verschwand er wieder.
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Acht Im Londoner Kilburn District leben hauptsächlich Iren, Republikaner wie Unionisten, und manchmal könnte man glauben, in Belfast zu sein. Die protestantischen Pubs, geschmückt mit Bildern von William und Mary, sehen genauso aus wie die in der Shankhill Road, und die republikanischen Pubs gleichen denen in der Falls Road. Dillon, der eine schwarze Bomberjacke, einen Schal und Jeans trug, mischte sich unter die Gäste eines republikanischen Pubs. Dass ihn möglicherweise irgendjemand erkannte, ließ sich nicht vermeiden, aber darum machte er sich keine Gedanken. Immerhin war er der große Sean Dillon, die lebende Legende der IRA, und alles Übrige waren bestenfalls Gerüchte. Außerdem hatte er, sozusagen als Rückversicherung, seine Walther im Hosenbund. Er erfuhr jedoch nichts, was für ihn von irgendeinem besonderen Interesse gewesen wäre, bis er aus dem ›Green Tinker‹ kam und sich neben einem Zeitungskiosk eine Zigarette anzündete. Der alte Mann, der darin kauerte, hieß Tod Ahern. Er nahm gerade einen Schluck aus einer Flasche, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und starrte Dillon verblüfft an. »Herrgott, Sean, du bist das!« »Wer sonst?« Tod war schon ziemlich betrunken. »Ist da irgendwas Wichtiges im Gang? Ich habe vorhin Barry gesehen. Seid ihr beiden hier, um was auszuhecken?« Dillon lächelte freundlich. »Tod, über solche Sachen redet man nicht. Maulhalten heißt die Parole. Jack wäre ziemlich sauer, wenn er wüsste, dass du ihn gesehen hast. Wo war das denn?« 145
»Er ging hinten in den Hof vom ›Michael Collins‹. Ich dachte, er trifft sich vielleicht mit Liam Moran. Ich hatte gerade meinen Kiosk aufgemacht.« »Na, behalt’s für dich, Tod.« Dillon reichte ihm eine Fünfpfundnote. »Trink nachher einen auf mich.« Liam Moran saß noch immer am Tisch über seinen Rechnungen und schaute entgeistert auf, als Dillon die Tür öffnete und sich in aller Seelenruhe eine Zigarette anzündete. »Gott segne alle hier.« Moran hätte sich fast in die Hose gemacht. »Sean, du?« »Jawohl. Ich hab gehört, du hast vorhin Besuch gehabt – von Jack Barry?« Moran brachte ein gequältes Lächeln zustande. »Wer erzählt denn so einen Blödsinn?« Dillon seufzte. »Wir können uns nett miteinander unterhalten, Liam, aber es geht auch anders. Was hat er gewollt und wo ist er?« »Sean, das ist ein schlechter Scherz.« Mit einer blitzschnellen Bewegung riss Dillon die Walther aus seinem Hosenbund und einen Sekundenbruchteil später war Morans rechtes Ohrläppchen zerfetzt. Zitternd drückte der Wirt seine Hand an den Kopf, um das Blut zu stillen. »Als Nächstes kommt deine rechte Kniescheibe dran. Ich sorge dafür, dass du auf Krücken gehst, vielleicht für immer.« »Nein, Sean, bitte!«, jammerte Moran. »Er hat gesagt, er sei auf dem Weg nach Deutschland und wolle nur mal nachsehen, wie’s momentan hier in London steht.« »Das glaubt nicht mal meine Großmutter. Er hat hier ganz sicher irgendein Versteck. Wo könnte das sein?« »Woher soll ich das wissen, Sean?« »Schade, dann muss deine Kniescheibe wohl dran glauben.« Dillon hob die Hand. »Bei den St. James’s Stairs liegen ein paar Hausboote!«, 146
schrie Moran in panischer Angst. »Seines heißt Griselda.« »So ist’s brav.« Dillon steckte die Walther wieder ein. »Willst du, dass ich noch mal zurückkomme?« »Herrgott, nein.« »Dann halt den Mund. Ich bin sicher, du kennst jemanden, der dein Ohr versorgen kann.« Als er wieder in seinem Mini Cooper saß, rief er Ferguson an. »Ich habe möglicherweise einen Treffer gelandet.« »Erzählen Sie.« Dillon berichtete, was er erfahren hatte. »Dass er hier ist, scheint mir kein Zufall zu sein. Was soll ich tun? Ihn mir schnappen? Sie könnten auch die Anti-Terror-Einheit von Scotland Yard informieren, dann gäbe es aber so was wie den Dritten Weltkrieg.« »Das ist das Letzte, was wir brauchen. Wo sind Sie? Aha, weiß schon. Gut, wir treffen uns dort.« »Das ist doch ein Witz, oder?« »Dillon, mit neunzehn Jahren habe ich in einem Schützengraben in Korea gehockt und fünf Chinesen mit einer Browning erschossen. Können Sie sich nicht vorstellen, dass es mir manchmal ein bisschen zu langweilig ist, bloß meinen Schreibtischstuhl im Verteidigungsministerium zu polieren?« »Oje, was würde Kollegin Bernstein wohl dazu sagen?« »Bei allem Verständnis für die Emanzipation, Dillon, möchte ich sie nicht besonders gern mitten in der Nacht, bei Dunkelheit und strömendem Regen, an so einem gefährlichen Unternehmen beteiligen. Immerhin versuchen wir, einen der schlimmsten Gesellen dingfest zu machen, den die IRA im Angebot hat.« »Sie glauben also, er ist wegen Cohan hier?« »Dillon, vor ein paar Tagen war er in Ulster, jetzt ist er hier. Welchen Grund könnte es sonst dafür geben? Warten Sie auf mich an der Kreuzung der Wapping High Street mit der Chalk
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Lane.« Barry parkte den Escort in einer Nebenstraße am Ende der Chalk Lane und ging zu Fuß weiter bis zu einer alten Mole. Es war inzwischen dunkel; auf dem Fluss sah man vereinzelte Lichter; er kam an einigen alten Lastkähnen vorbei und erreichte schließlich ein Hafenbecken. Ein paar rostige Kräne ragten in den Himmel, dahinter lagen verlassene Lagerhäuser. Auf seiner Seite war nur ein Hausboot vertäut, die Griselda, die ein elektrisches Kabel und eine Wasserleitung mit dem Ufer verband; vier weitere ankerten auf der anderen Seite, in zweien brannte Licht; ein Zeichen, dass sie irgendwie bewohnt waren. Barry benutzte das Boot nun schon seit drei Jahren und war zum letzten Mal vor sechs Monaten hier gewesen. Jedes Mal, wenn er herkam, war er darauf gefasst, dass in der Zwischenzeit irgendwelche Vandalen eingebrochen waren und alles zerstört hatten, aber es war nie etwas passiert. Zum einen lag das Boot sehr versteckt; zum anderen kam kaum jemand in diese öde Gegend, wo nichts zu holen war. Er ging über die Laufplanke, kramte aus der Dachrinne der Kajüte den Schlüssel, öffnete die Stahltür und schaltete das Licht ein. Gleichzeitig flammten die Lichter an Deck auf, eines am Heck, eines am Bug. Die Kajüte war überraschend geräumig. Zu beiden Seiten waren Bullaugen, es gab Sitzbänke, einen Tisch und am anderen Ende eine Kochnische mit einem Elektroherd und einem Waschbecken. Barry füllte den Kessel und ging weiter ins Schlafzimmer. Er stellte die Reisetasche aufs Bett, nahm einen Kulturbeutel heraus und ein Päckchen Zigaretten, zündete sich eine an und öffnete den Schrank. Prüfend musterte er die Anzüge in Schutzfolie, die Schuhe, die noch verpackten Hemden, Unterwäsche, Socken – es war alles da, was er brauchte. Der Kessel 148
pfiff. Er ging in die Kajüte, schaltete den Herd ab, setzte sich an den Tisch und rief über sein Handy im Dorchester an. »Senator Cohan, bitte.« »Darf ich wissen, wer dort spricht, Sir?«, erkundigte sich die Dame am Empfang. »George Harrison, amerikanische Botschaft.« Einen Moment später meldete sich Cohan. »Mr. Harrison?« Barry lachte. »Ich bin’s, du blöder Idiot, Barry.« »Jack?« Cohan lachte ebenfalls. »Wo steckst du?« »Immer noch in Ulster«, log Barry. »Ich habe mit dem Verbindungsmann gesprochen und die ganzen schlechten Nachrichten erfahren. Obwohl es für die Beerdigungsunternehmer ja eher gute Nachrichten sind.« »Du treibst wirklich mit allem deine Späße.« »In Vietnam haben wir immer gesagt, wenn du nicht kapierst, was für ein Spaß das alles ist, hättest du dem Verein nicht beitreten sollen. Sieh die Sache mal ein bisschen positiv. Du genießt den Luxus im Dorchester, kriegst jeden Wunsch erfüllt und bist weit weg von New York.« »Der Verbindungsmann hat gesagt, er würde sich um alles kümmern. Kannst du dir vorstellen, dass eine Frau Ryan erledigt hat? Ist das nicht verrückt?« »Nun, ich habe auch noch gute Neuigkeiten: In einer Stunde breche ich nämlich selbst nach New York auf. Deshalb wollte ich dich auch noch mal kurz anrufen. Der Verbindungsmann möchte, dass ich ihm dort helfe, diese Scheiße aufzuräumen.« »Ehrlich?« »Klar. Ich fahre jetzt runter nach Shannon und nehme von dort aus das Flugzeug nach New York.« »Wollen wir hoffen, dass du die Sache bereinigen kannst.« »Wir bleiben in Verbindung. Ich lasse dich wissen, wo ich wohne. Wie lautet deine Zimmernummer?« Cohan nannte sie ihm. »Gut. Gehst du heute noch irgendwohin?«
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»Nein, ich ruhe mich aus. Morgen ist ein großer Abend.« »Hast Recht. Alles Gute.« Maßlos erleichtert legte Cohan den Hörer auf und öffnete die Flasche Champagner, die das Hotel ihm zur Ankunft ins Zimmer gestellt hatte. Falls irgendjemand dieses ganze Chaos in Ordnung bringen konnte, dann war es Barry. Barry legte einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine gestreifte Krawatte aufs Bett, kehrte zurück in die Kajüte, setzte noch mal den Kessel auf und machte sich einen Kaffee, nahm die Tasse mit hinauf an Deck und dachte über alles nach. Ins Dorchester hineinzukommen war kein Problem. Schließlich würde er tadellos gekleidet sein, und er kannte Cohans Zimmernummer. Er brauchte also nur anzuklopfen, ihn umzulegen und sich wieder aus dem Staub zu machen. Wenn er das Schild ›Bitte nicht stören‹ an die Tür hängte, würde man ihn erst Stunden später finden, möglicherweise erst am Morgen. Mit einem zufriedenen Nicken wandte Barry sich um und ging wieder nach unten. Er zog seine Bomberjacke aus, schob die Browning in den Hosenbund und wollte sich noch einen Kaffee machen, aber irgendwie war er auf einmal richtig guter Laune und beschloss, lieber einen Whiskey zu trinken. Er schaltete den Herd ab, nahm eine Flasche Scotch aus einem Schrank, goss sich einen Drink in einen Pappbecher und kehrte zurück an Deck. Es hatte inzwischen angefangen zu regnen. Barry stellte sich unter die etwas ramponierte Plane, betrachtete die Regentropfen, die im Licht der Decklampen wie winzige Silberfädchen schimmerten, und atmete den typischen Geruch hier am Fluss ein. Plötzlich überkam ihn irgendeine wehmütige Sehnsucht, ohne dass er sagen konnte, wonach er sich sehnte. Ein leises Husten riss ihn aus seiner Versunkenheit. Während er sich umdrehte, tastete er nach dem Griff der Browning. Am Ende der Laufplanke stand ein Mann unter einem Re150
genschirm. »Wir haben uns bislang noch nicht persönlich kennen gelernt, Mr. Barry. Mein Name ist Ferguson.« Dillon hatte in seinem Mini Cooper an der Kreuzung der Wapping High Street mit der Chalk Lane nach dem Daimler Ausschau gehalten und war ziemlich verblüfft gewesen, als ein schwarzes Taxi angehalten hatte und Ferguson ausgestiegen war. Ohne erst seinen Regenschirm aufzuspannen, eilte er über den Bürgersteig und stieg zu Dillon in den Wagen. »Elende Nacht.« »Sie in einem Taxi? Das kann ich gar nicht glauben. Ich nehme an, das Fahrgeld setzen Sie auf Ihre Spesenrechnung?« »Seien Sie nicht so frech, Dillon. Was haben Sie vor?« »Keine Ahnung. Sind Sie bewaffnet?« »Was denken Sie denn?« Ferguson zeigte auf eine alte Smith & Wesson Automatic. »Und die hier habe ich auch dabei.« Er zog aus seiner Tasche ein Paar Handschellen. »Sie sind offenbar ziemlich optimistisch.« »Warum nicht? Und nun los.« Ferguson stieg aus und spannte seinen Regenschirm auf. Seite an Seite gingen sie die Chalk Lane hinunter bis zum Hafenbecken. Im Eingang eines alten Lagerhauses blieben sie stehen. »Ein Hausboot auf dieser Seite, vier auf der anderen«, flüsterte Ferguson. »Hier brennt Licht, in zwei der anderen dort drüben auch. Welches ist das richtige?« »Vielleicht hilft uns eine Errungenschaft der modernen Technik weiter.« Dillon zog ein kleines Fernglas aus seiner Tasche. »Ein Nachtsichtgerät.« Er richtete es auf das erste Hausboot und reichte es an Ferguson weiter. »Schauen Sie mal.« Durch das Glas schien alles in einen grünlichen Schimmer getaucht, aber man konnte das Hausboot klar und deutlich erkennen, sogar den Namen Griselda am Bug. 151
»Hervorragend. So ein Ding hätte ich in den Schützengräben in Korea gebrauchen können. Was schlagen Sie vor, Dillon?« »Na ja, das Licht brennt, und ich vermute, dass Barry auf dem Boot ist.« »Und?« »Ich glaube nicht, dass wir irgendwas bezwecken, wenn wir einfach an Bord marschieren und den Niedergang runterbrüllen: ›Mit erhobenen Händen hochkommen‹. Aber dort am Heck ist eine Luke.« »Das Anheben dürfte etwas Lärm machen, Dillon. Außerdem könnte sie von innen versperrt sein.« »Brigadier, man muss immer positiv denken. Ich probier’s einfach mal und Sie warten hier auf mich.« »Ach, ich verstehe. Sie denken, ich bin ein alter Mann und soll mich aus so was raushalten, ja?« Dillon gab gar keine Antwort, sondern reichte ihm einfach das Nachtsichtglas und verschwand in der Dunkelheit. Ferguson beobachtete, wie er über die Reling glitt, die Luke anhob und verschwand. Plötzlich erschien Jack Barry im Niedergang. In der Hand hielt er einen Pappbecher, aus seinem Hosenbund ragte der Griff einer Browning. Ferguson dachte an Dillon, der gerade versuchte, sich unter Deck zurechtzufinden, und traf seine Entscheidung. Er steckte das Fernglas ein, zog die Smith & Wesson heraus, die er hinter seinem Rücken verbarg, und ging den Kai entlang. An der Laufplanke blieb er stehen. »Wir haben uns bislang noch nicht persönlich kennen gelernt, Mr. Barry. Mein Name ist Ferguson.« Ferguson ging über die Laufplanke, wobei Barry die Smith & Wesson in seiner linken Hand entdeckte. Wyatt Earp, der legendäre amerikanische Sheriff, hat einmal berichtet, seinen Ruf als Meisterschütze habe er sich erworben, als ein junger Cowboy bei dem Versuch gescheitert sei, ihn in 152
Dodge City in der Dunkelheit aus fünfzig Schritt Entfernung von hinten zu erschießen. Earp hatte sich aus einem Reflex heraus umgedreht und gefeuert, ohne eigentlich zu zielen. Trotzdem hatte er dem Jungen mit einem absoluten Glückstreffer die Waffe aus der Hand geschossen. Jack Barry handelte genauso. Er riss die schallgedämpfte Browning aus seinem Gürtel, feuerte beinah gleichzeitig und erwischte die Smith & Wesson in Fergusons Hand. Dillon hatte sich inzwischen durch die Luke über der Dusche gezwängt, hatte Fergusons Stimme gehört, seine Walther gezogen und war durch die Kajüte gerast. Er kam gerade den Niedergang hoch, als Ferguson rückwärts aufs Deck fiel. Dillon rammte Barry die Waffe in den Rücken. »Fallen lassen, Jack, oder ich zerschieße dir das Rückgrat.« Barry erstarrte. »Sean, bist du das?« Ferguson stand auf. »Alles okay?«, fragte Dillon. Der Brigadier begutachtete sein blutendes Handgelenk. »Nur ein Kratzer, sonst nichts.« Barry beugte sich vor und legte langsam die Browning aufs Deck, doch dann richtete er sich blitzschnell auf und rammte Dillon den rechten Ellbogen ins Gesicht, während er sich im gleichen Moment zur Seite drehte, so dass Dillons reflexartiger Schuss die Deckplanken traf. Dillon ließ die Walther fallen und stürzte sich auf ihn. Barry konnte ihn nicht abschütteln, obwohl er sich nach Kräften wehrte. Fest aneinander geklammert stürzten sie über die Reling. Das eisige Wasser war wie ein Schock, der ihnen den Atem verschlug. Dillon befreite sich mit einem Fußtritt von Barry, als er auftauchte, und spürte, wie er von der reißenden Strömung gegen das Heck getrieben wurde. Rasch packte er die Ankerkette. Als er sich umwandte, sah er, wie Barry davongetrieben wurde. »Fahr zur Hölle, Dillon!«, schrie er und war verschwunden.
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Dillon zog sich an der Kette entlang zur anderen Seite der Griselda und griff nach einem Eisenring an der Wand. »Dillon?«, rief Ferguson. »Hier.« Er tastete sich zu einer Leiter und kletterte auf den Kai. Das Wasser strömte an ihm herab. »Meinen Sie, er ist tot?«, fragte Ferguson. »Bestimmt nicht, Brigadier. Das glaube ich erst, wenn ich ihm aus nächster Nähe höchstpersönlich ein Loch zwischen die Augen verpasst habe, eher nicht.« »Was jetzt?« »Gehen wir an Bord. Ich bin total durchnässt und könnte ein paar trockene Sachen gebrauchen.« In der Dusche zog Dillon seine Kleidung aus, trocknete sich ab und streifte sich in dem kleinen Schlafzimmer Unterwäsche, Jeans und einen viel zu großen Pullover über, ehe er zu Ferguson in die Kajüte ging. »Hübsche Sachen, Brigadier.« Dillon deutete auf den schwarzen Anzug, das weiße Hemd und die Krawatte. »Vor allem, wenn man sich in einem großen Hotel wie dem Dorchester unter die Gäste mischen will. Damit wäre man wirklich passend angezogen.« »Sie glauben nicht, dass er auf dem Grund der Themse liegt?« »Nein, er ist vermutlich auf der anderen Seite gelandet, aber im Dorchester taucht er sicher nicht mehr auf. Wissen Sie, Jack ist kein Patriot, er ist ein Mann, der stets praktisch denkt, und in einem englischen Gefängnis einzusitzen ist das Letzte, was er möchte. Er hat’s versucht und nicht geschafft.« »Merkwürdig. Als Sie mir gesagt haben, dass er hier sei, war ich sicher, dass er es auf Cohan abgesehen hat. Ich konnte mir sonst keinen anderen Grund denken. Aber warum sollte er das letzte der New Yorker Mitglieder seiner Söhne Erins auslöschen wollen?«
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»Eben weil Cohan der Letzte ist. Er ist ein Problem für Sie, er ist ein Problem für den Präsidenten – und vielleicht auch für diesen Verbindungsmann.« Ferguson nickte. »Manchmal haben Sie die Fähigkeit, den Nagel direkt auf den Kopf zu treffen. Gehen wir.« »Und das Boot?«, fragte Dillon. »Weiß der Himmel, wohin er unterwegs ist, falls er noch auf dieser Welt weilt, aber hierher kommt er sicher nicht mehr zurück. Schalten Sie einfach die Lichter aus. Ich schicke morgen ein paar Leute von der Spurensicherung her, die sich den Kahn gründlich vornehmen sollen.« Aber Ferguson irrte sich. Barry war ein gutes Stück entfernt gegen die Kaimauer getrieben worden, eine Leiter hochgeklettert und hatte sich auf den Rückweg zum Hafenbecken gemacht. Auf dem Boot brannte noch immer Licht. Durchnässt und fröstelnd wartete er in der Dunkelheit. Nach einer Weile gingen unter Deck die Lichter aus, Ferguson und Dillon kamen den Niedergang herauf, schalteten das Licht an Deck aus, verließen das Boot und gingen davon. Als der Klang ihrer Stimmen verhallte, eilte er über die Laufplanke, ging nach unten und zog hastig seine Sachen aus. Er trocknete sich ab und zog frische Kleidung an. Dann streifte er die Bomberjacke über, in deren Tasche sein Handy steckte, kniete sich neben eine der Bänke und löste darunter ein Brett. In einer Höhlung lag ein Smith & Wesson Revolver, den er in die Tasche steckte, ehe er das Boot verließ. Irgendwie war er weder wütend noch deprimiert; er lachte vielmehr lauthals, während er durch den Regen zu seinem Wagen lief. Was für ein Teufelskerl Dillon doch war! Und dass er nach all diesen Jahren endlich mal wusste, wie Ferguson aussah, freute ihn direkt. Schließlich war alles ein Spiel. Er verstand das, Dillon und Ferguson ebenfalls, aber ob es auch der Verbindungsmann kapierte?
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Dillon hielt vor Fergusons Wohnung am Cavendish Square. »Ich vermute, um Cohan müssen wir uns für den Rest seines Aufenthalts keine Sorgen mehr machen.« »Wie können Sie da so sicher sein?«, fragte der Brigadier. »Der gute Jack ist kein Samurai und hat nicht die Absicht, Selbstmord zu begehen. Falls er wegen Cohan hier war, weiß er jetzt, dass wir hinter ihm her sind, und ist auf der Flucht.« »Aber ganz sicher sind Sie nicht?« »Warten wir erst mal ab.« »Und Ihr geheimnisvoller Attentäter – diese Frau?« »Ebenfalls – abwarten.« Ferguson nickte. »Neun Uhr. In meinem Büro.« Er stieg aus. »Charles?«, rief Dillon aus dem Fenster. »Ich hoffe doch, Sie spielen nicht den stoischen Helden, sondern gehen mit dieser Hand zum Arzt, ja?« Ferguson lächelte. »Keine Sorge, Scan, ich bin noch nicht senil. Und jetzt machen Sie, dass Sie heimkommen.« Es goss wie aus Kübeln, als Barry, immer noch in einer unerklärlichen Hochstimmung, London verließ. In einer Raststätte gönnte er sich ein echtes englisches Frühstück und kaufte eine halbe Flasche Scotch. Bis er nach Roundhay kam, hatte er sie zu einem Viertel geleert. Die kleine Rollbahn lag im Dunkeln, doch in der Scheune brannte Licht. Er fuhr hinein und hielt neben der Chieftain. Docherty saß auf einem Hocker und las eine Zeitung. »Ist alles gut gelaufen, Jack?«, fragte er. »Stell keine Fragen. Bring mich nur hier raus.« »Dann komm.« Zehn Minuten später hob die Chieftain von der kleinen Rollbahn ab und stieg in den dunklen Himmel. Barry lehnte sich behaglich zurück und nahm einen kräftigen Schluck aus der Whiskeyflasche.
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Neun Um zehn war Dillon im Büro und weckte mit seinem Telefonanruf Blake, der noch im Bett lag, da es in Washington erst fünf Uhr morgens war. »Herrgott, Sean, weißt du, wie spät es ist?« »Ich tue dir bloß einen Gefallen, Blake. Meine Geschichte ist besser als das langweilige Nachtprogramm im Fernsehen. Du wirst gleich quicklebendig in deinem Jogginganzug runter in die Küche gehen, frischen Orangensaft trinken und einen Morgenlauf von fünf Meilen machen.« »Den Teufel werde ich.« »Hör nur zu…« »Heiliger Gott«, stöhnte Blake, als Dillon fertig war, »das wird ja immer schlimmer.« »Brauchst du mir nicht zu sagen. Wir bleiben in Verbindung.« Um elf Uhr am folgenden Morgen joggte Lady Helen Lang durch den Hyde Park und setzte sich schließlich auf eine Bank am Teich, um sich auszuruhen. Sie hatte keine Probleme mit dem atmen und fühlte sich richtig gut. Wenn sie an den Abend im Dorchester dachte, empfand sie seltsamerweise fast so etwas wie Vorfreude. Sie war entschlossen, ihren Plan bis zum Ende durchzuführen. Cohan sollte es genauso ergehen wie den anderen Mitgliedern des Stammtischs. Sie war realistisch genug, um einzusehen, dass es eher unwahrscheinlich war, jemals Jack Barry oder diesem Verbindungsmann zu begegnen. Die anderen hatten allerdings ihre gerechte Strafe erhalten, und dieser Gedanke würde sie trösten, wenn sie das nächste Mal Blumen auf das Grab ihres Sohnes stellte.
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Jemand rief ihren Namen. Sie schaute auf und sah Hedley näher kommen. »Ich dachte, ich schaue mal nach, wie’s Ihnen geht.« »Das ist nett von Ihnen.« Helen wollte aufstehen und musste plötzlich um Atem ringen. Hastig kramte sie die Tabletten aus ihrer Tasche, doch das Fläschchen entglitt ihrer Hand. Hedley hob es auf und setzte sich neben sie. »Ist es schlimm?« »Nein, nein«, wehrte sie ab, »mir war nur einen Moment lang etwas schwindelig.« Er nahm zwei Pillen heraus und reichte sie ihr. »Ich mache mir wirklich Sorgen um Sie, Lady Helen.« Sie schluckte die Tabletten und lachte. »Eine schöne Tasse Tee, und ich fühle mich wie neugeboren. Kommen Sie, wir gehen dort drüben in das Café.« In seinem Büro im Verteidigungsministerium ging Ferguson mit Hannah Bernstein und Dillon die Ereignisse der letzten Nacht durch. »Unglaublich, dieses Machogehabe«, schimpfte Hannah. »Und das in Ihrem Alter, Brigadier!« »Ich gestehe mein Unrecht ein, Chief Inspector«, erwiderte Ferguson, der einen Verband um seine Hand trug. »Mein Gott, Mädchen, Sie sehen wirklich toll aus, wenn Sie wütend sind«, grinste Dillon. »Mit diesen blitzenden Augen und den leicht geröteten Wangen…« »Ach, gehen Sie doch zum Teufel. Das wäre ein Einsatz für eine Anti-Terror-Einheit gewesen, dann hätten wir ihn jetzt – einen der am meisten gesuchten irischen Terroristen.« »Außerdem wären wir auf den Titelseiten sämtlicher Boulevardblätter gewesen, und das wollte ich nicht«, sagte Ferguson. »Meine Entscheidung.« Das Telefon läutete, und seine Sekretärin meldete. »Ein Anruf aus Ulster. Ein Jack Barry.« 158
»Lassen Sie ihn zurückverfolgen.« »Unmöglich, Brigadier, er benutzt ein abhörsicheres Handy.« »Na gut, dann stellen Sie durch.« Ferguson drückte einen Knopf, so dass Dillon und Hannah das Gespräch mithören konnten. Barrys Stimme klang überraschend deutlich. »Sind Sie das, Ferguson?« »Wer sonst?« »Ich wollte Sie bloß wissen lassen, dass ich nicht in der Themse ertrunken, sondern wieder sicher zu Hause bin. Sie haben offenbar einen guten Schutzengel. Ich dachte, ich hätte Sie erwischt.« »Das haben Sie nicht, aber Sie haben mir die Waffe aus der Hand geschossen. Das war nicht schlecht.« »Ist Dillon bei Ihnen?« »Natürlich.« »Ich freue mich auf unser nächstes Treffen in der Hölle, Sean«, lachte Barry und beendete das Gespräch. »Was für ein Teufel«, sagte Hannah Bernstein. »Was bezweckt er mit so einem dummen Anruf? Jetzt haben wir die Gewissheit, dass er noch lebt. Vorher wussten wir das nicht.« »Für Jack ist das alles ein Spiel«, erklärte Dillon. »Manche sind auch der Ansicht, dass er komplett verrückt ist und nie das tut, was vernünftig wäre, sondern immer nur das Verrückteste.« »Das einzig Gute an der Sache ist vermutlich, dass wir uns um Senator Cohan keine Sorgen mehr machen müssen«, meinte Hannah Bernstein. »Glauben Sie?« Ferguson schüttelte den Kopf. »Es hat nie einen Hinweis darauf gegeben, dass Barry die anderen umgebracht hat. Falls er es wirklich auf Cohan abgesehen hatte, wäre die einzig logische Erklärung dafür, dass der Senator ein
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Risiko geworden ist. Von dieser Seite droht, zumindest vorübergehend, keine Gefahr. Aber unser mysteriöser Attentäter läuft immer noch frei herum.« Er hob das Telefon ab. »Verbinden Sie mich mit Senator Michael Cohan im Dorchester.« Einen Moment später meldete sich Cohan: »Michael Cohan. Wer spricht da?« »Charles Ferguson. Ich nehme an, Sie wissen, wer ich bin?« »Ja, allerdings, und ich möchte nicht mit Ihnen reden.« »Senator, glauben Sie mir, es geht mir allein um Ihre Sicherheit.« »Ich bin Senator der Vereinigten Staaten und im Auftrag des Präsidenten hier«, log Cohan. »Wenn Sie mich weiterhin belästigen, werde ich mich beim Premierminister beschweren.« Damit beendete er das Gespräch. »Ganz schön sauer, der Herr«, grinste Dillon. »Was machen wir jetzt?« »Was schon? Wir gehen zum Essen.« Giuliano, der Geschäftsführer der Piano Bar im Dorchester, begrüßte sie herzlich. Ferguson war schon seit über zwanzig Jahren Stammgast, Dillon noch nicht ganz so lange, aber dafür kam er ziemlich regelmäßig. Mit bewundernden Blicken musterte er Hannah Bernstein. Wie jeder Italiener schätzte Giuliano eine schöne Frau mit Verstand, und die Tatsache, dass sie zudem Detective Chief Inspector der Special Branch von Scotland Yard war, erhöhte noch ihren Reiz, ebenso wie die Tatsache, dass sie es offenbar verstand, mit einer Waffe umzugehen und notfalls auch davon Gebrauch zu machen. Giuliano erinnerte sich noch gut an die Geschichte, die vor ein paar Jahren in sämtlichen Zeitungen gestanden hatte. Hannah Bernstein hatte Dienst bei der amerikanischen Botschaft gehabt und war auf dem Weg dorthin gewesen, als am Grosvenor Square eine Frau auf die Straße gelaufen war und geschrien hatte, dass gerade ein bewaffneter Raubüberfall stattfinde. Hannah hatte die 160
Ganoven gestellt und einen davon, der mit einer abgesägten Flinte herumfuchtelte, erschossen. Giuliano küsste Hannah charmant auf beide Wangen und empfahl ihnen hausgemachte Cannelloni mit Mozzarella und Schinkenfüllung, anschließend Gnocchi di patate al pesto, Kartoffelklöße in Knoblauch-Kräutersoße. Dillon bestellte dazu Krug-Champagner. »Übrigens«, sagte Ferguson, »wie ich höre, hat Senator Michael Cohan für ein Uhr einen Tisch reserviert?« »Das stimmt«, erwiderte Giuliano etwas beunruhigt. »Nun, dann seien Sie doch so gut und setzen ihn an den Nachbartisch, ja?« Giuliano lächelte. »Immer dasselbe, Brigadier. Ich sollte wirklich mal ein Buch schreiben. So viele Jahre lang geht das jetzt schon so. Der kalte Krieg; Absolventen angesehener englischer Privatschulen, die im Grunde Kommunisten waren; und dann die Iren.« Er lächelte Dillon zu. »Verzeihen Sie, mein Freund…« »Ich weiß, ich bin ein schrecklicher Mensch«, nickte Dillon. »Der Amerikaner kriegt also den Nachbartisch«, sagte Giuliano. »Ich wünsche Ihnen viel Spaß.« Der Champagner wurde serviert, und Dillon bestand darauf, ihnen einzuschenken. »Woher wussten Sie, dass Cohan hier sein würde?« »Das Telefon, Dillon, ist eine wundervolle Erfindung«, meinte Ferguson spöttisch. »Sie sollten es gelegentlich mal ausprobieren.« »Wie gehen wir vor?«, fragte Hannah. »Ganz direkt, meine Liebe, ganz direkt.« Ferguson hob sein Glas. »Auf das Leben, die Liebe und das Glück.« »Wenn Sie noch hinzufügen, auf Frieden in Ulster, schließe ich mich an«, sagte Dillon. In diesem Moment erschien Cohan auf der Treppe.
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Giuliano begrüßte ihn, führte ihn an den Nachbartisch und nahm seine Bestellung entgegen. »Senator Michael Cohan?«, fragte Ferguson. »Brigadier Charles Ferguson.« Cohan war außer sich vor Entrüstung. »Das ist wirklich ungeheuerlich! Ich habe Sie gewarnt, dass ich mich beim Premierminister beschweren werde, und das mache ich auch, und zwar augenblicklich, verlassen Sie sich drauf.« Empört wollte er aufstehen, als ein Kellner mit dem trockenen Martini erschien, den er bestellt hatte. »Dass Sie ein Politiker sind, Senator, beeindruckt uns recht wenig«, erklärte Dillon. »Wir haben in Irland ein Sprichwort: Erzähl meiner Mutter nicht, dass ich Senator im Unterhaus bin – sie glaubt, ich spiele Klavier in einem Bordell.« »Was unterstehen Sie sich!« »Ach, halten Sie die Klappe, und seien Sie nicht so dumm, denn genau das sind Sie im Moment. Wenn Sie weiterleben wollen, hören Sie besser zu.« »Ja, genau, Senator. Reden wir mal über die Söhne Erins und ihre Verbindungen«, meinte Ferguson mit besonderer Betonung auf dem letzten Wort. Cohan hörte schweigend zu. »Das alles hat nichts mit mir zu tun«, flüsterte er betroffen. »Wissen Sie übrigens, dass Jack Barry gestern Abend hier in London war?«, fragte Dillon. »Warum wohl? Dreimal dürfen Sie raten – um Sie umzulegen.« Cohan wurde bleich, aber er versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. »Was reden Sie da?« »Die Söhne Erins sind alle tot, Senator. Nun könnte es ja sein, dass es jemand gibt, der einfach keine Stammtischbrüder mag«, sagte Dillon. »Aber unsere Theorie lautet, dass Jack Barry in aller Eile rüberkam, um aufzuräumen – oder, anders ausgedrückt, Sie kaltzumachen.«
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»Und selbst wenn er momentan keine Gefahr mehr ist«, warf Hannah ein, »irgendwo da draußen läuft immer noch jemand herum, der Ihre Freunde erledigt hat.« »Unsinn.« Cohan kippte hastig seinen Martini hinunter. »Das ist doch alles Blödsinn. Ich verlange, dass Sie mich jetzt zufrieden lassen!« »Sie wollen also nicht mit uns zusammenarbeiten«, nickte Ferguson. »Gut, Senator, wie Sie wünschen. Der Premierminister und der Präsident werden entsprechend unterrichtet. Allerdings lauten meine Anweisungen, Sie zu beschützen, solange Sie in London sind, deshalb werden wir heute Abend bei dem Forum über den Frieden in Irland dabei sein und unser Bestes tun, ob Sie das nun gern sehen oder nicht.« »Scheren Sie sich zur Hölle.« Cohan stand auf und verließ das Lokal. »Was jetzt, Sir?«, fragte Hannah. »Wir genießen dieses wunderbare Essen und versuchen, heute Abend dafür zu sorgen, dass dieser Bastard heil und gesund bleibt.« »Sie meinen, es könnte etwas passieren?« »Ich bin noch nie in meinem Leben so sicher gewesen.« Ferguson griff nach einer Gabel. »Übrigens, mein lieber Dillon, binden Sie sich eine schwarze Krawatte um, damit Sie einigermaßen anständig aussehen.« Da er sich an sonst niemand wenden konnte, rief Cohan die Handynummer des Verbindungsmanns an und sprudelte all seine Zweifel, all seine Ängste heraus. »Merken Sie denn nicht, was die mit Ihnen für ein Spiel treiben?«, wiegelte Thornton ab. »Ich hatte mit Barry vereinbart, dass er rüberfliegt, um Sie zu beschützen. Ferguson und seine Leute haben es rausgekriegt, und er ist ihnen gerade noch um Haaresbreite entwischt.« »Sie haben behauptet, ich hätte in London nichts zu befürch163
ten.« »Das stimmt ja auch. Ich wollte nur doppelt sichergehen und habe deshalb Barry hingeschickt. Es ist schon alles in Ordnung, nur keine Sorge.« »Sie haben gesagt, Barry würde sich um den Kerl kümmern, der hinter den Morden steckt, wer auch immer das ist.« »Glauben Sie mir, es tut sich eine ganze Menge, wovon Sie nichts wissen. Vertrauen Sie mir einfach.« »Immerhin bin ich es, dem es an den Kragen geht, falls irgendwas schief läuft.« »Aber Senator – es wird nichts schief gehen. Okay? Jetzt beruhigen Sie sich und genießen Sie ganz entspannt die Party. Ich melde mich wieder.« Thornton legte auf und rief sofort Barry an. »Ich hab gerade mit Cohan geredet, der ganz außer sich ist. Ferguson und Dillon sitzen ihm im Nacken. Warum haben Sie mich nicht angerufen? Offenbar ist alles schief gegangen!« »Weil es erst gestern Nacht passiert ist und ich meine liebe Not hatte, wieder mit heiler Haut aus England rauszukommen.« »Erzählen Sie.« Barry gab ihm einen kurzen Bericht, der in etwa der Wahrheit entsprach. »Manches funktioniert eben einfach nicht so wie geplant, das kommt vor. Wie Dillon mich gefunden hat, weiß ich nicht.« »Dieser Typ ist wirklich die reine Pest.« »Das hat die Armee zwanzig Jahre lang gesagt, und die IRA wiederholt es seitdem ständig. Was ist jetzt mit Cohan?« »Lassen wir ihn erst mal in Ruhe. Mir fällt schon etwas ein, wenn er wieder in den Staaten ist. Wir bleiben in Verbindung.« In ihrem Haus in der South Audley Street ging Lady Helen Lang ihre Garderobe durch und entschied sich schließlich für ein schlichtes Abendkleid aus schwarzem Crêpe. Es klopfte an der Tür, und Hedley brachte ihr eine Tasse Tee. 164
»Was meinen Sie dazu?« »Sieht gut aus«, nickte er. Lady Helen hängte das Kleid wieder in den Schrank. »Schön. Ich habe in fünfundvierzig Minuten einen Frisörtermin bei Daniel Galvin.« »Sie sehen doch ganz okay aus.« »Ach, Hedley. Die Veranstaltung heute Abend im Dorchester ist ein gesellschaftliches Ereignis.« »Und was ist mit Cohan?« Sie lächelte nur. »Ich muss jedenfalls so gut wie möglich aussehen. Jetzt lassen Sie mich allein. Ich bin in einer Viertelstunde bei Ihnen.« Im Ballsaal des Dorchester hatte sich alles, was Rang und Namen besaß, versammelt. Der Premierminister war zwar noch nicht eingetroffen, aber mehrere Kabinettsmitglieder waren bereits anwesend, und Dillon, der einen Abendanzug mit Revers aus Rohseide trug, schüttelte nur den Kopf darüber, dass jemand an solch einer Veranstaltung Vergnügen finden konnte. Seufzend nahm er sich vom Tablett eines vorbeigehenden Kellners ein Glas Champagner. »Entspannen Sie sich, Dillon«, lächelte Hannah. »Vor uns liegt eine lange Nacht.« »Sie sehen toll aus, Mädchen, in diesem dunkelroten Seidenanzug. Von Versace, stimmt’s? Man hält Sie bestimmt für ein Fotomodell.« »Mit solchen Schmeicheleien erreichen Sie gar nichts.« »Ich weiß, und das ist wirklich ein Jammer.« Ferguson kam zu ihnen. »Alles in Ordnung?« »Liebe Güte, Brigadier«, grinste Dillon. »Als ich ein kleiner Junge in Belfast war, hat mich meine Großmutter manchmal nachmittags in das alte Grand Central zum Tee mitgenommen. Sie liebte den Glanz und diese Pracht dort. Der Oberkellner trug genauso einen Frack wie Sie.« 165
»Vorsicht, Dillon, auch meine Geduld hat Grenzen.« Er schaute sich um. »Guter Gott, da ist ja Lady Helen Lang.« Helen kam auf ihn zu, und sie umarmten sich. »Wie nett, Sie zu sehen, Charles. Und das ist doch Mr. Dillon, nicht wahr?« Dillon nahm ihre Hand. »Es ist mir ein großes Vergnügen, Lady Helen.« »Ich konnte nicht widerstehen, zu kommen. Ich wohne in der South Audley Street, gleich um die Ecke. Das ist recht bequem. Jedes Mal, wenn mir nach einem Cocktail ist, mache ich einen kurzen Besuch in der Piano Bar.« Am Eingang gab es Gedränge und Stimmengewirr. »Der Premierminister, Brigadier«, meldete Hannah. »Tut mir wirklich Leid, Helen«, sagte Ferguson. »Dillon, besorgen Sie Lady Helen noch ein Glas Champagner, seien Sie so gut. Kommen Sie mit, Chief Inspector.« Dillon nahm zwei Gläser vom Tablett eines Kellners und reichte eines Lady Helen. »Bitte sehr. Ziemlich beeindruckende Gesellschaft hier«, meinte er. »Die Sie gründlich verachten.« Er hob sein Glas. »Auf Sie, Lady Helen, und auf mich – die beiden einzigen normalen Menschen in einer Welt, die verrückt geworden ist.« Lächelnd trank sie ihm zu, und aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht begriff, überlief ihn plötzlich ein unbehagliches Frösteln. »Forum für den Frieden in Irland – nach siebenhundert Jahren. Kommt für viele um etliches zu spät.« Erschrocken biss er sich auf die Lippen. »Ach Gott, verzeihen Sie.« »Sie denken an meinen Sohn«, erwiderte sie ruhig. »Wenn Sie für Charles arbeiten, dann wissen Sie Bescheid, aber ein großer Schriftsteller hat einmal gesagt, die Vergangenheit ist ein fremdes Land, Mr. Dillon. Wir sollten niemals nur in der Vergangenheit leben, sondern besser mutig die Gegenwart in
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Angriff nehmen.« »Ein schöner Gedanke«, nickte Dillon. »Doch kein großer Trost.« Eine ältere Dame kam auf sie zu. »Meine liebe Helen, wie nett, Sie zu sehen.« Sie begrüßten sich mit flüchtig gehauchten Wangenküssen. »Darf ich bekannt machen?«, sagte Lady Helen. »Die Herzogin von Stevely – Sean Dillon.« »Ist mir eine Ehre.« Dillon küsste ihr die Hand. »Oh, ich liebe die Iren«, seufzte die Herzogin. »Das sind solche Spitzbuben. Sind Sie auch einer, Mr. Dillon?« »Nun, er arbeitet für Charles Ferguson«, erwiderte Helen. »Na bitte!«, kicherte die Herzogin. »Meine Verehrung, die Damen, ich darf mich verabschieden.« Dillon schaute sich nach Ferguson um, der jedoch gerade mit einem Minister sprach. Hannah kam zu ihm. »Cohan ist eben eingetroffen. Er redet dort drüben in der Ekke mit dem amerikanischen Botschafter. Es ist schwierig, ihn in der Menge im Auge zu behalten.« »Liebes Mädchen, was auch immer passieren mag, hier bei einer solchen Veranstaltung brauchen wir nichts zu befürchten.« »Meinen Sie? Der Brigadier scheint anderer Ansicht.« »Er ist älter als Sie, das bedeutet, er hat öfter Recht. Aber hat er sich nicht auch schon oft genug geirrt?« »Auf alle Fälle wäre mir lieber, es würde nichts passieren, solange er hier ist.« Am Eingang entstand Gedränge, als der Premierminister mit einem kleinen Gefolge erschien. »Kommen Sie.« Hannah bahnte sich einen Weg zu Ferguson. Der Premierminister blieb hier und da stehen, um einigen die
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Hand zu schütteln oder mit jemand ein paar Worte zu wechseln, und kam schließlich auch zum amerikanischen Botschafter. Lächelnd begrüßte man sich, wobei Dillon auffiel, dass zum ersten Mal auch über Cohans Gesicht ein Lächeln zog. »Der Senator scheint ziemlich zufrieden«, sagte Ferguson. »Für den Augenblick, Sir«, meinte Hannah. »Nur für den Augenblick.« Der Zeremonienmeister, der seinen prachtvollen purpurroten Mantel trug, rief: »Ladys and Gentlemen, der Premierminister!« Alle Gespräche verstummten wie auf einen Schlag, während der Premierminister ans Mikrofon trat. »Euer Gnaden, My Lords, meine Damen und Herren, wir leben in aufregenden Zeiten. Der Frieden in Irland ist buchstäblich zum Greifen nahe, und ich möchte Ihnen Folgendes sagen…« Er beendete seine Ansprache unter allgemeinem Applaus und verschwand sofort wieder mit seinem Gefolge, nicht ohne auf dem Weg zur Tür nochmals unzählige Hände zu schütteln. »Und jetzt, Sir?«, fragte Hannah. »Da dieses Büfett wirklich ganz prachtvoll aussieht, würde ich sagen, wir essen etwas«, erwiderte Ferguson. »Was ist mit Cohan, Sir?« »Sie beide wechseln sich ab und bleiben ihm ständig auf den Fersen.« »Obwohl Sie der Meinung sind, dass hier nichts passieren wird?«, fragte Dillon. »Genau.« »Ich bin nicht so hungrig«, sagte Hannah. »Also übernehme ich die erste Schicht.« »Wie Sie möchten, meine Liebe. Ich sehe, er steht immer noch beim amerikanischen Botschafter.« Cohan hatte sich mit dem Botschafter und einigen anderen Gästen in eine Ecke zurückgezogen, wo sie trotz des Gedrän168
ges ein wenig für sich sein konnten. Er trank viel zu viel, schwitzte vor lauter Anspannung und fühlte sich schrecklich, denn in Wahrheit hatte er höllische Angst. Mit keinem Wort hatte er irgendjemandem von seiner derzeitigen Lage erzählt, schon gar nicht dem Botschafter. Natürlich hatte er Ferguson, Dillon und Hannah Bernstein bemerkt und in gewisser Weise machte ihre Anwesenheit alles noch schlimmer. Er griff nach einem weiteren Glas Champagner, als ein Kellner vorbeikam, und rempelte dabei eine freundliche ältere Dame an. »Tut mir schrecklich Leid.« »Schon in Ordnung«, sagte Helen Lang. Verärgert bemerkte Cohan, dass Hannah Bernstein näher kam, und hatte Mühe, sich zu beherrschen. Warum zum Teufel ließen sie ihn nicht in Frieden? Der Botschafter legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Alles in Ordnung, Michael? Sie sind ja ganz verschwitzt.« »Ja, ja, ich hab mir auf dem Flug wohl eine Erkältung eingefangen«, erwiderte Cohan und hatte plötzlich das Gefühl, zu ersticken. Er musste unbedingt wenigstens einmal kurz aus diesem überfüllten Saal raus. »Ich laufe nur mal eben hoch in meine Suite und nehme ein Aspirin.« Helen Lang, die nahe genug stand, um alles zu hören, bahnte sich augenblicklich ihren Weg zur Tür, wo sie sich rasch überzeugte, dass der Schlüssel, den Hedley ihr gegeben hatte, in ihrer Tasche steckte. Cohan trank seinen Champagner aus und eilte, nach einem wütenden Blick zu Hannah, die ganz in der Nähe an einer der Bars stand, durch die Menge. Am Eingang des Ballsaals schaute er sich um und merkte, dass sie ihm folgte. Kurz entschlossen verschwand er in der Herrentoilette, wo ziemlicher Andrang herrschte. Kritisch blickte er in den Spiegel und kühlte sich das verschwitzte Gesicht mit Wasser.
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Eine ganze Gruppe ziemlich ausgelassener Männer verließ die Toilette. Cohan schloss sich ihnen an. Hannah Bernstein schaute gerade in die andere Richtung, und er nutzte die Chance, hastig in die Lounge zu eilen. Ihm war zumute, als habe er einen Sieg errungen, einen kleinen vielleicht, aber immerhin. Zufrieden ging er ins Foyer und stieg in den Lift. Hannah wartete schon zehn Minuten lang, als Dillon zu ihr kam. »Ich habe nach Ihnen gesucht. Wo steckt denn unser Freund?« »Da drin.« Sie deutete mit einem Kopfnicken auf die Tür. »Ich habe ihn reingehen sehen, aber rausgekommen ist er noch nicht.« Dillon lächelte. »Manches kann eben, trotz aller Emanzipation, eine Polizistin immer noch nicht selbst machen. Überlassen Sie das mir.« Nach wenigen Minuten kehrte er zurück und zündete sich eine Zigarette an. »Keine Spur.« »Merkwürdig, er ist aber dort hineingegangen«, erwiderte sie beunruhigt. »Sehen wir mal, ob er schon wieder im Ballsaal ist.« Der Schlüssel funktionierte perfekt. Helen Lang konnte problemlos die Tür zu Cohans luxuriöser Suite öffnen, die aus einem prachtvollen Schlafzimmer mit angrenzendem Bad, einer Dusche und einem holzgetäfelten Wohnzimmer bestand. Sie huschte hinter die Gardinen, die ein Zimmermädchen bereits zugezogen hatte, und öffnete die Balkontür. Gegenüber lag der Hyde Park, unter ihr blinkten die Lichter der Stadt, und direkt vor dem Hotel verlief die Park Lane, auf der dichter Verkehr herrschte. Es regnete ein wenig und sie trat unter das Vordach, zündete sich eine Zigarette an und wartete. Cohan stieg aus dem Fahrstuhl und eilte den Korridor ent170
lang. Er merkte, wie sein Herz hämmerte. Herrgott, was ist bloß los mit mir, dachte er. Ich brauche unbedingt einen Drink. In seiner Suite öffnete er die Minibar und schenkte sich einen großen Scotch ein. Seine Hände zitterten. Hastig kippte er den Drink hinunter und genehmigte sich gleich noch einen. Was zur Hölle sollte er nur tun? Er hatte sich noch nie im Leben so hilflos und ohnmächtig gefühlt. Der einzige Mensch, der ihm möglicherweise einen Rat geben könnte, war Barry. Aus der Reisetasche im Schlafzimmer holte er sein Handy, kehrte ins Wohnzimmer zurück und wählte dessen Nummer. Barry, der sich immer noch in seinem Versteck in County Down aufhielt, meldete sich sofort: »Wer spricht da?« »Cohan. Um Himmels willen, was ist nur los?« »Was meinen Sie?« »Hören Sie, ich habe mit dem Verbindungsmann gesprochen. Ich weiß alles über Ihre Eskapade in London letzte Nacht. Brigadier Charles Ferguson und dieser Dillon, die mir dauernd im Nacken sitzen, haben es mir erzählt.« »Und was haben sie gesagt?« Cohan berichtete ihm jedes Wort, an das er sich erinnern konnte. »Der Verbindungsmann hat behauptet, Sie seien hier gewesen, um mich zu beschützen.« »Das war ich auch.« »Dillon hat gesagt, Sie hätten vorgehabt, mich umzulegen.« »Wem glauben Sie – Ihren Freunden oder diesem kleinen irischen Dreckschwein? Wir stecken gemeinsam in dieser Sache drin und bringen auch gemeinsam alles wieder in Ordnung. Wann fliegen Sie zurück nach New York?« »Morgen.« »Bestens. Es gehen nämlich momentan einige Dinge vor sich, von denen Sie nichts wissen«, log Barry mit seiner üblichen Zungenfertigkeit. »Aber Sie werden sehen, dass alle Ihre Zweifel völlig unbegründet sind, ich verspreche es.«
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»Okay, okay«, nickte Cohan. »Wir bleiben miteinander in Kontakt?« »Aber sicher.« Barry überlegte kurz und rief dann den Verbindungsmann an. »Ich hatte gerade Cohan in der Leitung.« »Und?« »Er dreht langsam durch. Sie müssen etwas unternehmen.« »Zum Beispiel?« »Könnten Sie es nicht arrangieren, dass er von einem Laster überfahren wird, wenn er nach New York zurückkommt?« »Ich denke darüber nach.« Cohan legte sein Handy zur Seite und griff nach seinem Glas. »Warum zur Hölle bin ich bloß in diese ganze Sache hineingeraten?«, flüsterte er. Er hob sein Glas an die Lippen und stockte, als sich plötzlich die Gardinen öffneten. Lady Helen Lang trat ins Zimmer. In der rechten Hand hielt sie die Coltpistole mit aufgeschraubtem Schalldämpfer.
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Zehn »Was soll das?« Entgeistert starrte Cohan diese Person an, die wie eine freundliche Großmutter aussah, aber eine Waffe in der Hand hielt. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor. »Rache, Senator, das fasst es so ungefähr zusammen.« »Also, hören Sie mal«, fuhr er auf, »Wenn Sie etwa Geld von mir wollen…« Helen lachte. »Nein, das nicht. Kennen Sie diese alten Filme, in denen die Wegelagerer immer fordern: Geld oder Leben? Ich nehme Ihr Leben. Geld habe ich genug.« Cohan war starr vor Entsetzen. »Wer sind Sie?« »Setzen Sie sich, dann erzähle ich es Ihnen.« Zitternd sank er auf eines der Sofas. »Ich glaube, in alten Gangsterfilmen im Fernsehen heißt es immer: Jetzt wird abgerechnet.« »Aber was habe ich denn getan?« »Oh, persönlich nichts. Ich bin sicher, Sie haben saubere Hände, wie es sich für einen typischen Politiker gehört, aber Sie haben, gemeinsam mit den übrigen Söhnen Erins, stillschweigend Verbrechen geduldet.« Cohan hatte noch nie im Leben solche Angst gehabt. »O mein Gott, Sie sind das! Aber warum? Warum?« Helen zog mit einer Hand ihr silbernes Etui heraus und zündete sich eine Zigarette an. »Ich hatte einen Sohn, Senator, einen tapferen, prachtvollen jungen Mann. Und ich will Ihnen erzählen, wie er sterben musste – und zwar wegen der lächerlichen Spielchen, die Sie und Ihre Freunde so herrlich abenteuerlich fanden.« Cohan hörte ihr regungslos zu. Sein Gesicht war wachsbleich. Helen schenkte einen Whiskey ein und reichte ihm das Glas. 173
»Es ist unglaublich«, stöhnte er. »Aber wahr, Senator, und nicht etwa ein Alptraum. Zuerst habe ich Tim Pat Ryan hier in London erschossen, und anschließend in New York Ihre Freunde Brady, Kelly und Cassidy.« Er kippte den Whiskey hinunter. »Was wollen Sie?« »Fangen wir mit einigen Fragen an. Dieser Verbindungsmann – wer ist das?« »Nur eine Stimme am Telefon, ich schwöre es.« »Aber sicher haben Sie doch irgendeine Ahnung?« »Nein! Er ist über alles Mögliche informiert, aber ich weiß nicht, woher er die Informationen bekommt! Er verrät nie ein Wort!« »Und Jack Barry? Wo könnte er sein?« »Irgendwo in Nordirland, das ist alles, was ich sagen kann.« »Sie haben vorhin mit ihm geredet, ich habe es gehört.« »Ein spezielles Telefon, ein abhörsicheres Handy. Über die Nummer lässt sich nicht rausfinden, wo er ist.«. »Wirklich?« Helen griff nach dem Handy. »Wie lautet die Nummer?« Als er zögerte, hob sie wortlos die Pistole. Cohan nannte ihr die Ziffern. Barry saß gerade beim Abendessen, als sein Handy läutete. »Wer spricht da?« »Niemand Besonderer, Mr. Barry«, sagte Helen Lang, »aber Sie können sich drauf verlassen, dass ich mich wieder melde.« Sie steckte das Handy in ihre Handtasche, ging zum Schreibtisch, notierte sich rasch die Nummer auf einem Notizblock und steckte den Zettel ebenfalls ein. Da sie beim Schreiben die Pistole in die linke Hand genommen hatte, witterte Cohan seine Chance. Er schleuderte sein Glas in ihre Richtung und stürzte hinaus auf den Balkon. Augenblicklich wurde ihm klar, was für eine Dummheit er damit begangen hatte – denn wohin sollte er jetzt? Hinter ei174
nem kleinen Springbrunnen mit einem Wasser speienden Fisch erhob sich bereits die Mauer. Er spähte über die Brüstung. Unten auf der Park Lane sah man die Lichter der vorbeifahrenden Autos, doch zu seiner Erleichterung entdeckte er auch eine Eisenleiter, die nach unten führte und offenbar für Wartungsarbeiten genutzt wurde. Rasch schwang er sich auf die Mauer und tastete mit einem Fuß nach den Sprossen. In diesem Moment betrat Helen Lang mit erhobener Pistole den Balkon. »Nein, um Himmels willen, nein!«, schrie Cohan voller Panik. Sein Fuß rutschte ab und er stürzte in die Tiefe. Helen schaute nach unten. Der Verkehr war plötzlich ins Stocken geraten, und ein Hupkonzert ertönte. Sie wandte sich um, durchquerte das Zimmer und verließ die Suite. Wenige Augenblicke später betrat sie wieder den Ballsaal, ließ sich von einem Kellner, der an der Tür stand, ein Glas Champagner geben und mischte sich unter die Gäste. Mit einem Gefühl der Genugtuung dachte sie an das, was soeben – ganz ohne ihr Eingreifen – geschehen war. Alles rächte sich, das war eines der Gesetze des Lebens. Sie hatte gar nicht selbst dafür zu sorgen brauchen; Cohan hatte nur den gerechten Preis zahlen müssen, das genügte. Sie bemerkte, dass ein kleiner Aufruhr an der Tür entstanden war, sah Ferguson und Dillon und spürte plötzlich einen Schmerz in der Brust. Rasch kramte sie nach ihren Tabletten, schluckte zwei mit etwas Champagner hinunter und ging zum Eingang des Ballsaals. »Vielleicht ist er hinauf in seine Suite«, meinte Dillon, nachdem sie den ganzen Saal durchsucht hatten. Von draußen hörte man plötzlich das lautstarke Hupen mehrerer Fahrzeuge. »Ich schaue mal nach, was los ist«, sagte Hannah. Der Verkehr war beinah ganz ins Stocken geraten. Sie sah, dass Passanten sich um einen leblosen Körper auf dem Bürgersteig drängten. Ein Polizist stand neben seinem Motorrad und gab eine Meldung durch. Hannah zeigte ihren Ausweis 175
vor. »Chief Inspector Bernstein, Special Branch. Was ist passiert?« »Ich kam zufällig gerade vorbei. Er ist von oben runtergefallen, fast auf ein Paar drauf, das hier durchging. Die Frau steht da drüben, hat einen Schock. Ich habe einen Krankenwagen und Unterstützung angefordert.« Hannah beugte sich vor und warf einen Blick auf Cohan. »Ich kenne den Mann, Constable, er ist Gast in diesem Hotel. Sie geben keinerlei Auskünfte, keine Antworten auf irgendwelche Fragen, weder der Presse noch sonst jemandem gegenüber. Ist das klar?« »Selbstverständlich, Chief.« »Ich muss noch mal rein, aber ich komme nachher wieder.« Ein sichtlich erschütterter Geschäftsführer begleitete Hannah, Dillon und Ferguson hinauf in Cohans Suite, die sie gründlich durchsuchten. »Nichts, keinerlei Anzeichen für einen Kampf«, sagte Hannah. »Stimmt schon, Chief Inspector«, nickte Ferguson. »Aber die entscheidende Frage lautet – ist er gefallen oder wurde er gestoßen? Was meinen Sie, Dillon?« »Na, kommen Sie, Brigadier, wer glaubt in unserem Gewerbe denn an solche Zufälle?« »Ja, da haben Sie Recht. Es muss sich um eine unglaubliche Frau handeln.« »Und ob.« »Sorgen Sie dafür, dass niemand diese Suite betritt«, befahl Ferguson dem Geschäftsführer. »Die Spurensicherung kommt gleich.« »Natürlich, Brigadier.« »Dillon, Sie informieren Blake, und durch ihn wird es ja auch der Präsident erfahren. Ich erstatte dem Premierminister Bericht.« 176
»Wirklich ein Jammer, dass es Euer Gnaden nun an den Kragen geht«, grinste Dillon. Ferguson lächelte. »Ich weiß Ihre Anteilnahme zu schätzen, Dillon.« Obwohl das Haus in der South Audley Street ganz in der Nähe lag, hatte Lady Helen dafür gesorgt, dass Hedley in der Park Lane mit dem Mercedes auf sie wartete. Sie drängte sich durch die neugierigen Zuschauer, die bei der Leiche von Senator Michael Cohan standen. Hedley sah sie kommen, sprang heraus und öffnete ihr die Tür. Sie stieg ein, er setzte sich rasch hinters Steuer und fuhr los. »Fahren Sie einfach ein bisschen herum, Hedley; es war ein anstrengender Abend.« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Was ist passiert?« Helen erzählte ihm alles. »Tja, Cohan ist also tot, und ich habe jetzt tatsächlich eine Verbindung zu Jack Barry.« Sie griff nach dem Handy. »Ich versuche es noch mal, soll ich?« Barry meldete sich sofort. »Wer ist da?« »Ich wollte Ihnen nur die interessante Neuigkeit mitteilen, dass Senator Michael Cohan aus dem siebenten Stock des Dorchester hinunter auf die Park Lane gestürzt ist. Ich benutze gerade sein Handy.« Jack Barry war starr vor Entsetzen. »Was sagen Sie da?« »Dass Senator Michael Cohan gerade auf dem Bürgersteig in der Park Lane vor dem Dorchester Hotel liegt. Es geht dort momentan fast so zu wie in einer bösen Samstagnacht in Belfast – Polizei, Krankenwagen, Gaffer… aber wie das so ist, wissen Sie ja am besten.« Merkwürdigerweise empfand Barry weder Wut noch Verbitterung; dagegen stieg tatsächlich so etwas wie Furcht in ihm auf. »Wer zur Hölle sind Sie?« »Brady, Kelly und Cassidy in New York; Tim Pat Ryan in London, und jetzt Senator Michael Cohan – das bin ich.« Helen 177
lachte. »Damit bleiben nur noch Sie und der Verbindungsmann.« Barry holte tief Atem. »Okay, wer sind Sie? Eine loyalistische Freiheitskämpferin? Red Hand of Ulster? Protestantischer Abschaum?« »Es überrascht Sie vielleicht, wenn ich Ihnen sage, dass ich Katholikin bin, Mr. Barry, aber meine Religionszugehörigkeit hat damit gar nichts zu tun. Außerdem bin ich recht erstaunt, dass Sie von protestantischem Abschaum reden. Sie sind doch selbst Protestant – wie ja übrigens auch Wolfe Tone, der die republikanische Staatsform in Irland einführen wollte; oder Parnell, dem es fast gelungen wäre, ein Vereinigtes Irland zu schaffen.« Beinahe machte ihr dieses Gespräch richtig Spaß. »Dann gab es noch Oscar Wilde, George Bernard Shaw, Sean O’Casey – lauter Protestanten.« »Was soll dieser Mist?«, warf er ein. »Ich brauche keine Lektion in Geschichte, verflucht noch mal. Wer zum Teufel sind Sie?« »Die Frau, die Sie hinrichten wird, genau wie ich die anderen hingerichtet habe. Gerechtigkeit, Mr. Barry, darum geht es mir, auch wenn das heutzutage eine seltene Ware geworden ist. Aber ich beabsichtige, dafür zu sorgen.« Er lauschte ungläubig dieser ruhigen, sanften Stimme, die ganz und gar nicht zu den entschlossenen Worten passte. »Sie sind verrückt.« »O nein. Sie haben vor drei Jahren meinen Sohn in Ulster abgeschlachtet und vier seiner Freunde hingerichtet, darunter eine Frau. Allerdings bin ich sicher, dass Sie sich daran nicht mehr erinnern werden, Mr. Barry, dafür klebt an ihren Händen viel zu viel Blut.« Helen merkte, dass sie ihm eigentlich mehr verriet, als klug war, aber das machte nichts, denn allmählich formte sich ein bestimmter Plan in ihrem Kopf. Barry ballte in ohnmächtiger Wut die Fäuste. »Hören Sie,
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Cohans Handy ist für Sie nutzlos. Kein Anruf lässt sich zurückverfolgen.« »Ja, aber ich kann zumindest mit Ihnen reden, wenn mir danach ist.« »Okay, und was wollen Sie?« »Ganz einfach. Wie ich schon sagte, Sie haben vor drei Jahren meinen Sohn in Ulster ermordet, und ich werde Sie dafür hinrichten.« Plötzlich überkam ihn wieder dieser Anflug von Angst. »Sie sind verrückt!« »Ich melde mich wieder. Dieses Handy ist sehr praktisch. Wir könnten ja demnächst ein Treffen vereinbaren.« »Jederzeit, Sie Hexe. Wenn Sie Zeit und Ort wissen, sagen Sie es nur.« Aber sie hatte bereits aufgelegt. »Geben Sie mir den Whiskey, Hedley«, sagte Lady Helen. Er reichte ihr die Flasche, und sie nahm einen Schluck. »Hervorragend. Ach, ich fühle mich großartig.« Aus ihrem silbernen Etui zog sie eine Zigarette, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug. »Wunderbar. Fahren Sie noch eine Weile herum… am Palast vorbei, über die Fall Mall.« Der Regen hatte wieder zugenommen, und Hedley fuhr entsprechend vorsichtig. »Ich fahre gern im Regen.« Versonnen betrachtete sie die rhythmischen Bewegungen der Scheibenwischer. »Man fühlt sich so sicher und geborgen. Es ist, als ob der Rest der Welt gar nicht mehr existierte. Mögen Sie den Regen, Hedley?« »Regen?« Er lachte laut auf. »Lady Helen, davon habe ich viel zu viel in Vietnam erlebt. War kein Vergnügen, in den Sümpfen des Mekongdeltas zu patrouillieren, während sich überall die Blutegel festsaugten und der Monsunregen auf einen herunterprasselte.« »Wenn ich nur davon höre, zittere ich schon. Schauen Sie mal, ob Sie irgendwo einen Pub entdecken. Ich glaube, ich
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könnte jetzt einen Drink vertragen.« Er hielt beim ›Grenadier‹ in der Nahe des St. James’s Place, wo sie schon früher manchmal eingekehrt waren. Der Wirt, Sam Hardaker, ein ehemaliger Sergeant der Grenadiergarde, kannte Hedley seit der Zeit, als er an der Botschaft stationiert gewesen war. »Was für eine Freude, Lady Helen!« »Nett, Sie zu sehen, Sam. Sie haben nicht zufällig eine Flasche Champagner?« »Doch, im Kühlschrank. Ist für einen Offizier der Grenadiergarde im Palast reserviert, aber er wird eben drauf verzichten müssen.« Sie setzte sich mit Hedley in eine Ecknische, Sam brachte den Champagner in einem Eiskübel und stellte zwei Gläser dazu, entkorkte die Flasche und schenkte ein. Lady Helen probierte. »Himmlisch. Es heißt, wenn man Champagner leid ist, ist man das Leben leid.« »Davon verstehe ich nichts.« Sam füllte ihre Gläser. »Ich halte mich lieber an Bier.« Nachdem er sie allein gelassen hatte, zündete sie sich eine neue Zigarette an. »Alles in Ordnung, Hedley?« »Bestens, Lady Helen.« Sie hob ihr Glas. »Dann trinken wir auf uns. Auf die Liebe, das Leben und das Streben nach Glück.« Er hob sein Glas und stieß mit ihr an. »Und auf das Ende von Jack Barry und seinem Verbindungsmann.« Hedley nahm einen Schluck und stellte das Glas ab. »Sie denken doch nicht im Ernst daran, diesen Dreckskerl zu treffen?« »Der einzige Weg, wie mir das gelingen könnte«, meinte sie nachdenklich, »wäre, ihn auf irgendeine Weise zu mir zu lokken.«
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»Okay, nehmen wir mal an, Sie erledigen ihn genau wie die anderen. Was dann? Es bleibt immer noch dieser Verbindungsmann, und Sie werden nie erfahren, wer das ist – keiner von den anderen wusste es.« »Schenken Sie mir noch ein Glas Champagner ein, und dann betrachten wir diese ganze Angelegenheit mal vom philosophischen Standpunkt aus.« Helen lehnte sich zurück. »Die Politik, Hedley, ist für so viele Übel verantwortlich. Nehmen Sie die Situation, in die wir persönlich verstrickt sind. Vergessen Sie die Söhne Erins und ihren Verbindungsmann. Der eigentliche Ausgangspunkt ist die Aufnahme von Gesprächen zwischen den Regierungen, genauer gesagt, zwischen der britischen und der amerikanischen Regierung. Ohne die vertraulichen Plaudereien über Telefon zwischen dem Premierminister und dem Präsidenten wäre das alles gar nicht geschehen.« »Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Hedley. »Das ist doch klar. Wenn sie sich nicht darauf geeinigt hätten, Informationen auszutauschen, wäre der Verbindungsmann nicht an diese brisanten Berichte der Geheimdienste herangekommen.« Sie griff nach der Flasche und schenkte sich ein weiteres Glas ein. »Wer ist also letztendlich verantwortlich?« »Keine Ahnung, was Sie meinen.« »Derjenige, der die Macht hat, Hedley, trägt letzten Endes auch die Verantwortung. Bei einer Beteiligung des Weißen Hauses wäre das demnach der Präsident.« Helen blickte auf ihre Uhr. »Oh, es ist schon spät. Lassen Sie uns gehen.« Hedley half ihr in den Mercedes und setzte sich hinter das Steuer. Ehe er losfuhr, fragte er beunruhigt: »Und was soll das heißen, dass der Präsident die Verantwortung hat?« »Ich habe eine Einladung zu Chad Luthers Party nächste Woche auf Long Island. Der Präsident ist dort Ehrengast.« Hedley verriss kurz das Steuer. »Mein Gott, das meinen Sie doch nicht im Ernst!«
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Helen schwieg einen Moment und lachte dann. »Gütiger Himmel, Hedley, glauben Sie etwa, ich hätte vor, ihn zu ermorden? Liebe Zeit, was müssen Sie bloß von mir denken!« Sie schüttelte den Kopf. »Noch bin ich bei Sinnen, Hedley. Nein, ich habe gemeint, dass ich alles mit ihm diskutieren könnte.« »Diskutieren? Wollen Sie ihm etwa geradeheraus sagen, was Sie getan haben? Er würde Sie auf der Stelle verhaften lassen!« »Sie verstehen nicht, was ich meine. Es ist sein Weißes Haus, also trägt er die Verantwortung. Er will genauso wenig wie ich, dass die Sache an die Öffentlichkeit kommt. Diese ganze Geschichte über einen Verbindungsmann im Weißen Haus wäre ein enormer Skandal, der ihm politisch beträchtlich schaden könnte. Und der Friedensprozess in Irland, für den er sich so stark engagiert hat, wäre ebenfalls in Gefahr. Er muss diesen Verbindungsmann entlarven.« Lady Helen zündete sich eine Zigarette an. »Wer weiß, was andernfalls vielleicht an die Presse durchsickert.« Hedley war sprachlos. »Sie meinen, Sie wollen den Präsidenten erpressen! Sie wären bereit, so weit zu gehen?« Er schüttelte den Kopf. »Sie haben die Kerle zur Strecke gebracht, Lady Helen. Lassen Sie es damit gut sein.« »Das kann ich nicht. Ich lebe nur noch auf geborgte Zeit, Hedley, und diese Sache ist zu wichtig. Es bleibt bei Long Island. Wenn Sie damit nicht einverstanden sind, kommen Sie eben nicht mit.« »He, das habe ich nicht verdient.« »Das weiß ich. Sie sind so zuverlässig wie ein Fels in der Brandung gewesen. Ein wahrer Freund – und mein einziger.« »Ich wollte damit nur sagen, Sie brauchen mich nicht zu beschwatzen, das ist alles.« »Sie kommen also mit?« Hedley seufzte. »Was denn sonst?« Er schaltete in einen an-
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deren Gang. »Haben Sie etwa immer noch diese Pistole in Ihrer Tasche?« »Natürlich«, erwiderte Helen lächelnd. »Wer weiß – vielleicht treffe ich ja diesen Verbindungsmann.« Nachdem Dillon ihm alles berichtet hatte, meinte Blake: »Erinnert mich an meine Zeit beim FBI und an die Liste mit den dringend gesuchten Verbrechern. Dabei handelte es sich auch immer um Killer, die regelrecht besessen waren.« »Du meinst also, bei Cohan steckte die gleiche Person dahinter wie bei den anderen?« »Natürlich. Ich glaube genauso wenig an Zufälle wie du.« »Das heißt also, eine Frau?«, fragte Dillon. »Ich vermute es.« »Wie passt das mit den Statistiken des FBI oder der CIA zusammen? Sicher, wir kennen aus der Vergangenheit Frauen, die in terroristischen Vereinigungen aktiv waren – in der Baader-Meinhof-Bande in Deutschland, bei der IRA, den Palästinensern –, aber das sind ganz seltene Ausnahmen.« »Und?« »Mal angenommen, es wäre tatsächlich so, dann bedeutet das, dass eine einzelne Frau für die Ermordung sämtlicher Söhne Erins verantwortlich ist. Sie hätte also fünf Leute getötet.« »Bist du etwa anderer Ansicht?« »Eigentlich nicht, aber ich finde, es wäre vielleicht ganz gut, wenn du noch mal deinem Freund bei der Polizei, Captain Parker, einen Besuch abstatten würdest.« »Weshalb?« »Na ja, es ist nur so ein Gefühl, aber wer weiß – ein typischer Bulle riecht oft Sachen, die andere Leute nicht riechen. Wenn er mal in der Vergangenheit des guten Senators herumschnüffelt, bekommen wir vielleicht ein paar nützliche Informationen.« 183
»Okay, mache ich.« Blake legte auf, dachte einen Moment nach und rief dann den Präsidenten an. »Sie haben von Cohan gehört?« »Das ließ sich kaum vermeiden«, entgegnete Cazalet. »Bei CNN bringen sie nichts anderes mehr.« »Kann ich Sie sprechen?« »Kommen Sie gleich zu mir.« Der Präsident saß in Hemdsärmeln an seinem Schreibtisch im Oval Office und unterzeichnete einige Papiere, die ihm sein Stabschef gebracht hatte. Thornton schaute auf und grinste. »Sie sehen ziemlich missgelaunt aus, Blake, aber das ist ja auch kein Wunder.« Cazalet lehnte sich zurück. »Wir machen später weiter. Also, was jetzt, Blake?« »Weiß der Himmel.« »Sie glauben, man hat ihn hinuntergestoßen?« »Natürlich wurde er gestoßen, oder er ist in Panik geraten und gesprungen. Sie kennen doch den Hintergrund, meine Herren, und wissen, was bisher passiert ist. Glauben Sie wirklich, das sei ein Unfall gewesen und Cohan habe sich einfach zu weit über die Balkonbrüstung gelehnt?« »Das heißt schlicht und einfach«, sagte Cazalet, »dass es irgendjemand gibt, der die fünf amerikanischen Mitglieder der Söhne Erins umgebracht hat.« »Ganz genau.« »Wer ist damit noch übrig?« »Jack Barry, der sich in Ulster versteckt, und dieser Verbindungsmann hier in Washington.« »Aber ist denn dieser Kerl im Hinblick auf das, was passiert ist, von irgendeiner Bedeutung?«, fragte Thornton. »Sagen wir mal so«, erwiderte Blake, »die Macht dieses Verbindungsmanns lag nicht allein darin, dass er in Lage war, geheime Informationen zu beschaffen. Diese Informationen 184
waren einzig deshalb von Nutzen, weil er Leute hatte, die damit etwas anfangen konnten.« »Und sie sind alle tot«, sagte Cazalet. »Barry nicht. Er ist nach wie vor putzmunter und gefährlicher als irgendeiner der anderen. Und solange der Verbindungsmann nicht enttarnt ist und Barry für ihn die Drecksarbeit erledigen kann, haben wir immer noch ein großes Problem.« »Was schlagen Sie vor?«, fragte der Präsident. »Ich dachte, ich überprüfe mal Cohans New Yorker Umfeld. Vielleicht entdeckt mein Freund Captain Parker irgendwas. Und ich glaube, es wäre Zeit für eine gründliche Untersuchung hier im Weißen Haus, Mr. President.« »Gut. Ich bin einverstanden«, erwiderte Cazalet. »Sie überprüfen Cohan, und Sie, Henry, sehen mal, was Sie hier entdekken können. Falls es eine undichte Stelle im Weißen Haus gibt, dann ist das ein Fall für den Stabschef.« »Ich kümmere mich sofort darum, Mr. President«, versicherte Thornton und verließ gemeinsam mit Blake das Office. »Was haben Sie vor?«, fragte Blake. »Weiß der Himmel. Wir müssen vor allem zusehen, dass solch ein politischer Sprengstoff nicht an die Öffentlichkeit dringt. Ich lasse jedenfalls das Umfeld jedes einzelnen Mitarbeiters überprüfen. Am besten setze ich den Secret Service dran.« »Wollen Sie ihnen sagen, worum es geht?« »Guter Gott, nein, zumindest nicht im Moment. Wir machen einfach nur eine diskrete Überprüfung. Falls nichts dabei rauskommt, überlegen wir uns was anderes. Wir bleiben in Verbindung.« Blake verabschiedete sich, und Thornton schaute ihm lächelnd hinterher. Er empfand nicht die geringste Angst, sondern merkwürdigerweise beinahe eine Art Hochstimmung. Blake berichtete Ferguson von seinem Gespräch, der darauf185
hin kurz mit dem Premierminister telefonierte. »Die Sache scheint wirklich etwas außer Kontrolle zu geraten, Brigadier.« »Ich übernehme natürlich die volle Verantwortung für das, was gestern Abend geschehen ist.« »Unsinn, Brigadier. Es war nicht Ihre Schuld, es war nicht meine Schuld, aber es wird Zeit, dass die Angelegenheit geklärt wird.« Ferguson beendete das Gespräch und nickte Hannah Bernstein und Dillon zu. »Wenigstens sucht er nicht nach einem Sündenbock.« »Und was nun, Sir?«, fragte Hannah. »Jetzt liegt alles bei Blake, würde ich sagen«, meinte Dillon. »Ja«, erwiderte Ferguson, »ich glaube, da könnten Sie Recht haben.« Thornton telefonierte unverzüglich mit Barry. »Cazalet, Thornton und Blake Johnson hatten gerade eine kleine Unterredung im Oval Office.« »Und? Reden Sie schon.« Nachdem er alles gehört hatte, meinte Barry: »Ach, das ist kein Grund zur Panik. Was könnte man denn über Cohan in New York herausfinden? Hat er’s mit kleinen Mädchen getrieben, hat er zu oft Herrentoiletten frequentiert? Kommen Sie!« »Stimmt, ich glaube nicht, dass wir uns deswegen Sorgen machen müssen.« »Wir?«, fragte Barry. »Wer ich bin, ist bekannt. Über Sie dagegen weiß man absolut gar nichts.« »Und so wird es auch bleiben. Also kommen Sie bloß nicht auf irgendwelche dummen Gedanken, Barry. Denken Sie dran, selbst wenn man Sie schnappt, kommt man dadurch noch lange nicht an mich heran.« »Dreckskerl«, sagte Barry, doch Thornton hatte bereits aufgelegt. 186
Barry zündete sich eine Zigarette an und trat ans Fenster, gegen das der Regen trommelte. Eines hatte er dem Verbindungsmann verschwiegen, und das war die Sache mit Cohans Handy, durch das diese mysteriöse Frau eine Verbindung zu ihm besaß. Es war beinahe wie eine Art Nabelschnur. Er wandte sich um und betrachtete sein Handy, das auf dem Tisch lag. Seltsamerweise wünschte er fast, es würde läuten und er könnte ihre Stimme hören. Lady Helen befand sich eben zu dieser Zeit auf der Rückfahrt nach Norfolk. Sie schaute hinaus in die Dunkelheit, die nur von den Scheinwerfern des Wagens durchbrochen wurde, und genoss wieder dieses Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. Leise Musik ertönte, gerade so, dass man sie noch hören konnte. Sie hatte Hedley gebeten, ein Band mit Aufnahmen von Al Bowlly einzulegen, den ihr Ehemann sehr gern gehabt hatte. Al Bowlly war zu seiner Zeit der populärste englische Schnulzensänger gewesen, weit populärer im England der dreißiger Jahre als Bing Crosby. »Dieses Stück, ›Moonlight on the Highway‹, mag ich sehr. Aber Ihr Geschmack ist das wohl nicht.« »Sie kennen meinen Geschmack, Lady Helen«, erwiderte Hedley. »Ich stehe total auf Ella Fitzgerald und Count Basie.« »Ein sonderbarer Mensch, dieser Al Bowlly.« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Offensichtlich stammte er aus Südafrika, manche behaupten allerdings auch, aus dem Mittleren Osten. In England machte er sich um zehn Jahre jünger und sang in einer Big Band. Die Frauen beteten ihn an. Er dinierte im Savoy mit Aristokraten und war mit den berüchtigsten Gangstern Londons befreundet.« »Interessanter Kerl.« »Er glaubte an Vorherbestimmung, besonders während der Bombenangriffe auf London im Jahr 1940, als die Nazis ver187
suchten, uns fertig zu machen. Eines Abends lief er gerade eine Straße entlang, als eine Bombe fiel. Die Druckwelle ging in die andere Richtung, und er blieb unverletzt.« »Das ist mir mehr als einmal in Vietnam passiert.« »Bowlly hat darin so etwas wie ein Zeichen des Himmels gesehen und geglaubt, er stünde unter einem besonderen Schutz.« »Und was ist passiert?« »Oh, ein paar Wochen später gab es Luftalarm. Alle aus dem Wohnblock sollten hinunter in den Keller gehen. Er blieb im Bett. Schließlich hatte er ja nichts zu befürchten, verstehen Sie?« »Und?« »Man hat ihn tot im Bett gefunden. Die Druckwelle der Bombe hatte seine Tür aus den Angeln gerissen.« »Die Bowlly erschlagen hatte?« »Genau.« Hedley fuhr eine Weile schweigend weiter, ehe er fragte: »Und was ist die Pointe dieser Geschichte?« »Ich denke mal, dass man seinem Schicksal nicht entrinnen kann. Man glaubt bei einer Gelegenheit, man sei dem Tod entkommen, und er holt dich bei einer anderen.« »Sicher, das ist mir klar, aber ich verstehe nicht, was das mit Ihnen zu tun hat.« »Ich schon, Hedley.« Sie lehnte sich zurück. »Die Geschichte verdeutlicht, dass manches eben unvermeidbar ist.« »Ach so, beispielsweise, dass Sie es mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten aufnehmen? Nein, Lady Helen, da bin ich absolut nicht Ihrer Meinung.« »Erinnern Sie sich an das Motto, das ein anderer Präsident auf seinem Schreibtisch stehen hatte? ›Die Verantwortung liegt letzten Endes allein bei mir.‹ Und damit hatte er Recht.« Sie spähte hinaus in die Dunkelheit. »Oh, schauen Sie, wo wir
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sind. Ich brauche jetzt unbedingt einen Tee und ein Sandwich.« Am Straßenrand stand ein altmodischer Imbisswagen, bei dem sie schon öfter gehalten hatten. Es war fast zwei Uhr morgens, und nur zwei Lastwagen parkten in der Nähe, deren Fahrer in den Kabinen ihre Mahlzeit verzehrten. Hedley bestellte Steaksandwiches auf Toast und dazu heißen Tee. Helen schaute der Frau, der dieser Imbiss gehörte, beim Braten der Steaks zu. »Riecht gut, Hedley.« »Wie immer, Lady Helen.« Mit herzhaftem Appetit biss sie in ihr Sandwich, dass der Saft ihr übers Kinn tröpfelte. Die Frau reichte ihr eine Papierserviette. »Bitte sehr, meine Liebe.« Obwohl es regnete, verspeisten sie unter der Markise in Ruhe ihre Sandwiches und tranken den kräftigen Tee. »Fahren wir weiter.« Helen setzte sich neben ihn auf den Beifahrersitz und meinte: »Bestimmt denken Sie, ich sei verrückt.« »Ich denke nur, dass Sie zu weit gehen, Lady Helen.« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Die meisten Menschen verhalten sich anders im Leben und lassen die Dinge vor lauter guten Manieren und Höflichkeit auf sich beruhen. Ich erinnere mich, wie ich einmal mit meinem Bilanzbuchhalter in einem Restaurant in London war. Neben uns saßen vier Frauen, eine davon in einem Rollstuhl, und alle rauchten. Mein Freund flüsterte, dass er den Rauch nicht vertragen könne und gehen müsse, worauf die Frau im Rollstuhl lautstark verkündete, es sei bedauerlich, dass manche Leute offenbar kein bisschen tolerant sein könnten.« »Und was ist passiert?« »Ich brachte ihn zu einem Taxi, ging dann zurück und sagte ihr, dass sie zwar im Rollstuhl sitze, aber wenigstens am Leben sei, während mein Freund Lungenkrebs und nur noch drei Wo-
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chen zu leben habe.« Sie runzelte die Stirn. »Warum erzähle ich Ihnen das eigentlich? Vielleicht, weil es das erste Mal war, dass ich wirklich Zivilcourage zeigte und etwas tat, statt schweigend darüber hinwegzugehen. Das konnte ich einfach nicht.« »Genauso konnten Sie nicht über die Söhne Erins hinwegsehen. Okay, das verstehe ich. Nur – der Präsident?« Hedley schüttelte den Kopf. »Sie verstehen gar nichts, Hedley. Sie sind ein wunderbarer Mensch, aber wie die meisten sehen Sie nur das, was Sie zu sehen glauben. Sie schauen mich an und denken, ich sei die gleiche Frau, die ich immer gewesen bin. Doch das ist nicht wahr. Ich bin eine Frau, der allmählich die Zeit knapp wird.« »Jetzt sagen Sie doch nicht so was.« »Es ist die Wahrheit, Hedley – ich werde sterben. Nicht heute Nacht und nicht morgen, aber bald, viel zu bald. Bis dahin habe ich noch einiges zu erledigen, und, bei Gott, das werde ich auch erledigen. Ich werde nach Long Island fliegen, um dem Präsidenten gegenüberzutreten, und ich habe jederzeit Barry am anderen Ende dieses Handys – wie einen Fisch an der Angel. Ich brauche nur noch die Leine einzuziehen.« Helen kramte ihre Tabletten heraus und schüttete zwei in die Handfläche. »Den Whiskey, bitte, und dann geben Sie Gas. Um drei könnten wir daheim sein.« Unterwegs wurde das Wetter immer schlimmer; es goss wie aus Kübeln, und als sie das Dorf erreichten, sahen sie, dass dort alles in Aufruhr war. Dreißig Zentimeter hoch stand das Wasser bereits in den Straßen, und die Männer kämpften mit dem Schleusentor. Hedley hielt vor dem Pub. Der alte Tom Armsby und Hetty stapelten Sandsäcke an der Tür. Lady Helen kurbelte das Fenster herunter. »Sieht schlimm aus.«
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»Das ist es auch, und so sieht’s überall aus, bis runter nach Parish Council. Diese verfluchten Politiker konnten angeblich nicht das Geld auftreiben, um nach dem letzten Mal, als Hedley uns gerettet hat, das Schleusentor in Ordnung bringen zu lassen. Jetzt fehlt nicht mehr viel und sämtliche Häuser im Dorf stehen unter Wasser.« »Das sind lauter einfache Leute«, flüsterte Lady Helen Hedley zu, »meistens Rentner. Sie wären völlig ruiniert.« »Ich weiß.« Hedley stieg aus dem Wagen, zog seine Jacke aus und rollte die Ärmel hoch. »Wie sagt man, wenn man das Gefühl hat, man habe etwas schon mal erlebt?« »Dejà vu. Das ist Französisch.« »Ja, genau.« Er ging zu den Männern am Schleusentor. In dem aufgewühlten Wasser stand ein junger Mann, der vor Erschöpfung fast halb tot war, trotzdem versuchte er erneut unterzutauchen, wurde von der Flut zurückgeworfen und schnappte krampfhaft nach Luft. »Holt ihn da raus«, befahl Hedley. Man zog den Jungen hinauf aufs Ufer. »Gebt mir mal eine Brechstange.« Ohne zu zögern, sprang Hedley ins Wasser, tauchte wieder auf, holte tief Atem, tauchte unter und tastete nach den Eisenhaken, die nach dem letzten Vorfall notdürftig ausgebessert worden waren. Er zwängte die Brechstange dazwischen, aber ehe er sie richtig ansetzen konnte, musste er wieder auftauchen und Atem schöpfen. Zweimal, dreimal tauchte er, und jedes Mal wurde es schwieriger, doch dann gab das Schleusentor nach, begann sich zu öffnen und wurde schließlich von der Gewalt des Wassers aufgerissen. Unter dem Jubel der Menge kam Hedley wieder an die Oberfläche. Man merkte bereits, dass der Wasserstand sank.
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Bereitwillige Hände zogen ihn aus dem Kanal; Hetty Armsby kam mit einer Decke herbeigerannt und legte sie ihm um die Schultern. »Ach, du bist ein wundervoller Kerl, komm mit in den Pub, und ihr anderen ebenfalls. Zur Hölle mit der Sperrstunde heute Nacht.« »Lassen Sie sich das bloß nicht zu Kopf steigen«, flüsterte Lady Helen ihm zu. »Ich will ja nicht so blasphemisch sein und etwa behaupten, Sie könnten auf dem Wasser wandeln, aber die Leute sind glatt imstande und ändern den Namen der Kirche in ›Sankt Hedley‹ um.« Das Wetter hatte sich über Nacht nicht geändert. Ein Ostwind trieb unaufhörlich Regen heran, und die Wellen donnerten über den flachen Sandstrand der Horseshoe Bay. Trotzdem galoppierte Helen mit ihrer Stute durch den Kiefernwald, wo man den Sturm nicht so stark spürte. Bei einer alten, verfallenen Kapelle hielt sie an und entzündete sich mit einiger Mühe im Schutz ihrer gewölbten Hände eine Zigarette. Gedankenverloren schaute sie hinaus auf die aufgewühlte See und erinnerte sich an einen Besuch vor einigen Jahren bei Freunden auf Long Island, nicht im Sommer, wie es Mode war, sondern spät im Winter. Man hatte ihr Chad Luthers Haus gezeigt, ein regelrechter Palast mit weiten Rasenflächen, die sich bis zum Rand des Sunds erstreckten, und da niemand dort wohnte, hatte sie sich alles anschauen können. Chad hatte sie schon oft eingeladen, hauptsächlich weil er sich gern mit reichen Leute umgab – und sie besaß mehr Geld als er. Sie hatte jedoch nie angenommen, da sie ihn einfach nicht mochte. Sie fand ihn ordinär, eitel und eingebildet. »Na, komm, meine Beste«, sagte Helen leise und schüttelte über ihre eigenen Gedanken den Kopf. »Wer bist du, um solche Urteile zu fällen? Irgendjemand muss ihn wohl lieben. Obwohl Gott allein weiß, wer das sein mag.«
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Sie griff nach den Zügeln und galoppierte weiter. Hedley war hinunter ins Dorf gefahren, um sich die Lage dort anzusehen. Es regnete nach wie vor, und der Wasserstand des Kanals war immer noch recht hoch, aber es bestand kein Grund zur Sorge mehr. Er schaute im Dorfladen vorbei, kaufte die nötigen Lebensmittel ein und fuhr nach Hause. Von Lady Helen war nirgends etwas zu sehen. Er ließ die Einkäufe in der Küche stehen, ging hinaus in den Hof und hörte aus der Scheune Pistolenschüsse. Wie er entdeckte, machte sie Schießübungen mit ihrem Colt. »Ich vermute, demnach fahren wir tatsächlich nach Long Island, und Sie werden wirklich die Pistole in Ihrer Handtasche haben?« »Übermorgen«, erwiderte Helen und lud nach, »mit einem der Gulfstreams der Firma. Wir können in Westhampton auf Long Island landen. Sehr bequem.« »Ich wünschte trotzdem, Sie würden die Waffe nicht mitnehmen.« »Wie ich schon gesagt habe, ich will auf alles vorbereitet sein, egal, welche Gelegenheiten sich auch immer ergeben. Sie brauchen nicht mitzukommen, wenn Ihnen nicht wohl dabei ist.« »Ich muss aber.« Er suchte sich eine Browning unter den Waffen aus, die auf dem Tisch lagen, und feuerte in rascher Folge auf die Zielscheiben. Vier der Pappfiguren traf er in den Kopf. »Wollen Sie ein bisschen angeben, Hedley?« »Nein, nur überprüfen, ob ich in Form bin, damit ich dafür sorgen kann, dass Sie in Form sind. Denn was ist, wenn Sie tatsächlich dem Verbindungsmann begegnen?« »Sie kommen also mit? Sie sind dabei?« »Und ob. Irgendjemand muss ja auf Sie aufpassen.« Hedley nahm ihr die Coltpistole ab, überprüfte sie und reichte sie ihr 193
zurück. »Okay, nehmen Sie die korrekte Haltung ein und erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen beigebracht habe.«
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New York Washington
Elf Blake saß in Parkers Büro, trank Kaffee und verspeiste hungrig ein Schinkensandwich. Draußen herrschte ein miserables Wetter, wie immer Ende März, mit Schneegriesel, der gegen das Fenster trieb. Die Tür öffnete sich, und Parker kam in Hemdsärmeln herein. »Man hat mir schon gesagt, dass du hier bist… Oh, wie ich sehe, hast du dich bereits selbst eingeladen. Guten Appetit.« »Ich komme gerade mit dem Flieger aus Washington. Das Wetter war so schlecht, dass kein Frühstück serviert werden konnte.« »Geschieht dir recht, was musst du auch durch die Gegend fliegen, als ob du zum Jet-set gehörtest.« Parker griff nach dem Telefon und bestellte weitere Sandwiches und Kaffee. »Steckst wohl tief in der Scheiße, mein Freund?« »Wie bitte?« »Komm schon – es betrifft Cohan. Sämtliche Zeitungen berichten von diesem bedauerlichen Unglücksfall, aber wir beide wissen es besser.« Ohne anzuklopfen, kam seine Assistentin, eine ältere Beamtin, herein und stellte Kaffee und Sandwiches auf den Tisch. »Nehmen Sie meine Portion. Ich habe bereits Nachschub bestellt, weil ich mir schon dachte, dass dieser Herr aus dem Weißen Haus Ihnen alles wegputzt.« »Was für ein Schätzchen«, grinste Blake, nachdem sie wieder gegangen war, »und was für einen gesunden Appetit du hast. Das ist viel zu viel für dich. Schließlich musst du auf dein Gewicht achten.« Damit nahm er sich noch ein Sandwich. »Du kannst mich mal«, entgegnete Parker und bediente sich ebenfalls. »Also, was gibt’s?« 196
»Ganz einfach. Die Söhne Erins sind alle miteinander an dem großen Stammtisch im Himmel versammelt. Cohan, Ryan, Kelly, Brady, Cassidy – das sind fünf.« Blake trank einen Schluck Kaffee. »Du bist ein erfahrener Bulle und schon etliche Jährchen in diesem Beruf. In wie vielen Mordfällen hast du ermittelt?« »Hundertsiebenundvierzig. Ich führe Buch.« »Und wie lautet dein Urteil? Du glaubst doch auch nicht, dass es um eine Sache zwischen Katholiken und Protestanten geht, oder?« »Quatsch.« Parker schluckte den Rest seines Sandwichs. »Das Motiv ist ganz klar Rache.« »An den Söhnen Erins, die für irgendwas verantwortlich gemacht werden.« »Würde ich sagen.« Blake nickte. »Ich auch. Aber das bringt uns noch immer nicht weiter. Ich habe über Cohan nachgedacht. Warum hat man ihn nicht in New York umgelegt wie die anderen? Es hat nicht zufällig irgendwelche versuchten Einbrüche in sein Haus gegeben oder so etwas?« »Schauen wir mal nach.« Parker setzte sich an seinen Computer. »Nein, keinerlei Berichte dieser Art. Aber Sekunde mal. Das ist interessant.« »Was?« »Letzte Woche wurden zwei Typen in einer Gasse neben Cohans Haus erschossen. Typische Straßengangster. Die Autopsie ergab, dass sie jede Menge Alkohol und Spuren von Kokain intus hatten. Beide waren polizeibekannte Straßendealer, einer von ihnen betätigte sich auch als Zuhälter.« Blake konnte kaum seine Aufregung zügeln. »Was für eine Waffe war es?« Parker rief den entsprechenden Bericht auf und lehnte sich zurück. »Guter Gott, eine .25er Coltpistole. Warte, ich probier
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mal was.« Er tippte hastig auf die Tasten. »Na bitte. Du hast geglaubt, nur die vier Mitglieder der Söhne Erins seien mit derselben Waffe erschossen worden. Hier hast du noch zwei weitere Opfer.« Blake war verblüfft. »Aber warum diese beiden?« Parker überlegte einen Moment. »Na ja, die Gegend, in der Cohan gewohnt hat, ist ziemlich exklusiv. Diese Kerle dagegen waren kleine Ganoven. Vielleicht kamen sie bloß gerade vorbei.« »Du meinst, sie waren schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort?« »Woher soll ich das wissen? Ich suche ja nur nach irgendeiner plausiblen Erklärung. Möglicherweise hat jemand auf Cohan gewartet, und da sind diese beiden zufällig aufgekreuzt.« Blake nickte. »Klar, Mann!« »Und was willst du jetzt machen?« »Ich schaue mir mal den Tatort an.« Er stand auf. »Danke, Harry, ich bin sicher, dass ich noch mal herkomme.« Lady Helen machte trotz des Regens einen Spaziergang. Im Schutz einiger Kiefern blieb sie stehen, betrachtete die aufgewühlte See und zog dann das Handy aus ihrer Tasche, um Barry anzurufen. »Ah, da sind Sie ja.« »Was wollen Sie?« »Nichts Besonderes. Ich dachte nur gerade, ich melde mich mal. Hier ist schreckliches Wetter. Es gießt in Strömen.« »Wo sind Sie?« »Oh, ein Fortschritt – es ist das erste Mal, dass Sie mich danach fragen. Ich will Ihnen einen kleinen Hinweis geben – die Ostküste Englands.« »Yorkshire – Norfolk?« »So viel möchte ich nun auch wieder nicht verraten.« 198
Es überraschte ihn, wie vernünftig sie klang. »Sagen Sie endlich, was Sie wollen.« »Sie, Mr. Barry, mehr nicht. Tot, natürlich.« Sie schaltete ab. Barry ging zum Schrank, nahm eine Flasche Paddy-Whiskey heraus, schenkte sich ein Glas ein und kippte es hinunter. Als er sich eine neue Zigarette anzündete, merkte er, dass seine Hand zitterte. Sie würde nicht lockerlassen, das war eindeutig, und er beschloss, den Verbindungsmann anzurufen. »Hören Sie, ich habe Ihnen bisher nicht alles erzählt.« »Dann tun Sie das jetzt mal besser«, entgegnete Thornton und hörte Barry schweigend zu. »Wiederholen Sie das noch mal, was sie über ihren Sohn gesagt hat.« Barry überlegte einen Moment. »Sie hat gesagt, ich hätte vor drei Jahren in Ulster ihren Sohn und seine vier Freunde ermordet, darunter eine Frau.« »Klingelt es da bei Ihnen?« »Herrgott, ich bin seit Jahren im Krieg. Wollen Sie wissen, wie viele Leute ich umgebracht habe?« »Okay, okay, überlassen Sie die Sache mir. Ich prüfe es nach; vielleicht finde ich etwas heraus.« Blake ließ sich in die Park Avenue fahren und betrachtete Cohans Haus auf der anderen Straßenseite. Laut Tatortbericht hatten die Morde nach Mitternacht stattgefunden, und durch einen starken Regen waren die Straßen wie leer gefegt gewesen. Er versuchte, sich die Szene vorzustellen. Zu einem Kampf konnte es nicht gekommen sein, denn laut Autopsiebericht waren beide sofort tot gewesen. Doch dann runzelte er die Stirn. Irgendetwas stimmte hier nicht. Hastig überflog er noch einmal den Bericht des Pathologen. Opfer eins – Blutgruppe Null, Opfer zwei – Blutgruppe A. Aber auf dem Hemd des zweiten Opfers hatten sich Blutspritzer der Gruppe B befunden. 199
Also musste es doch zu irgendeinem Kampf gekommen sein. Ob dabei der Killer verletzt worden war? Aus irgendeinem Grund glaubte er nicht daran. Die beiden Kerle waren auf eine so kaltblütige Art und Weise erschossen worden… Warum hätte es dabei einen Kampf geben sollen? Es sei denn, es war noch jemand dabei… Also vier Personen, nicht drei. Er beschloss, sich alles aus einem anderen Blickwinkel heraus anzusehen. »Fahren Sie zurück zum Polizeihauptquartier und warten Sie dort auf mich«, sagte er seinem Fahrer. »Ich nehme mir ein Taxi. Geben Sie mir nur den Schirm.« Der Fahrer fuhr davon, während Blake den Schirm öffnete. Also, es war Nacht, und sie wartete darauf, dass Cohan von irgendeiner Veranstaltung heimkam. Wo würde jemand warten? Sicher auf dieser Straßenseite, nicht auf der anderen, weil man hier das Haus deutlich im Blick hatte, und von dieser Stelle aus wäre auch ein halbwegs gezielter Schuss möglich. Blake wandte sich um. Es gab jede Menge Eingänge, in denen man sich in der Dunkelheit verbergen konnte. Was also war passiert? Was war schief gelaufen? Blake kramte ein Päckchen Marlboros aus seiner Tasche und zündete sich eine an. Zur Hölle, dachte er, das ist nicht die richtige Zeit, sich das Rauchen abzugewöhnen. Er nahm einen tiefen Zug und fluchte innerlich über den verdammten Märzregen. Möglicherweise hatten die beiden Opfer in der Gasse Schutz vor dem Regen gesucht. Niemand hatte damit rechnen können, dass dort jemand lauerte, nicht zu einer solchen Zeit und in einer solchen Gegend. Also, ich bin der Killer, dachte Blake, und warte hier auf Cohan. Nachdenklich schaute er hinüber zu Cohans Haus. In diesem Moment kam ein junges Paar, Arm in Arm unter einem Schirm, um die Ecke und bog in die Park Avenue ein. Blake schaute ihnen nach, wie sie an der Gasse vorbeigingen und um die nächste Ecke verschwanden. »Das ist es«, sagte er leise. »Genau wie ich dachte. Irgend-
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jemand ist rein zufällig in die Sache reingeraten – am falschen Ort zur falschen Zeit.« Die Person mit Blutgruppe B hatte also den Tatort verlassen, der Himmel mochte wissen, in welchem Zustand und wohin. Blake überquerte die Straße und schaute sich um. In welche Richtung würde jemand laufen, der nichts wie weg wollte? Nach rechts oder links? Kurzerhand wandte er sich nach links, auch wenn es dafür keinen anderen Grund gab als den, dass dieses junge Paar vorhin ebenfalls in diese Richtung gegangen war. Er bog um die Ecke und ging noch einen Block weiter, vorbei an Büros, gelegentlich einer Boutique, die alle nach Mitternacht geschlossen gewesen waren. »Aber da war nicht geschlossen«, murmelte er zufrieden. »Die haben immer offen.« Auf der anderen Seite der Kreuzung war ein privates Krankenhaus, das St. Mary’s Hospital, wie es auf dem Schild hieß, auf dem zu lesen war, dass auch ein Rettungsdienst, eine Unfallstation und eine Notaufnahme zu dieser Klinik gehörten. Wenn ich mitten in der Nacht hier blutend stünde, dachte er, wohin würde ich wohl gehen? Er trat in einen Eingang, zog sein Handy heraus und rief Harry Parker an. »Harry, ich brauche dich.« »Hast du was gefunden?« »Sagen wir mal, meine Nase juckt, und falls ich Recht habe, muss ich einen Polizisten dabeihaben.« »Wo bist du? Gut, ich bin gleich da.« Die Notaufnahme im St. Mary’s war erstaunlich luxuriös. Dicke Teppiche bedeckten den Boden, bequeme Sessel luden zum Sitzen ein, im Hintergrund erklang leise Musik. Die Dienst habende Schwester am Empfang sah aus, als sei sie von Armani eingekleidet worden, was vermutlich sogar stimmte. 201
»Meine Herren?« fragte sie ein wenig misstrauisch. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« Harry zeigte seine goldene Dienstmarke vor. »Captain Parker, New York Police Department. Ich brauche einige Auskünfte im Zuge meiner Ermittlungen in einem Mordfall.« »Dann hole ich besser unseren Verwaltungsdirektor, Mr. Schofield.« »Machen Sie das, Schätzchen.« Schofield trug einen blau gestreiften Anzug, war braun gebrannt und durchtrainiert. In seinem eindrucksvollen Büro berichtete Blake ihm das Nötigste – dass es in der Nähe einen Doppelmord gegeben habe und die Möglichkeit bestünde, dass eine dritte Person dabei mehr oder weniger schwer verletzt worden sei. »Klingt wichtig«, sagte Schofield. »Nun, mein Freund hier ist vom FBI; ich denke, das zeigt, wie wichtig es ist«, erwiderte Harry Parker. »Und was wollen Sie von mir?« Blake griff nach einem Notizblock und kritzelte ein Datum darauf. »Der frühe Morgen dieses Tages. Ist jemand irgendwann nach Mitternacht blutend in die Notaufnahme gekommen?« »Meine Herren, haben Sie schon mal etwas von ärztlicher Schweigepflicht gehört?« »Und haben Sie schon mal etwas von einer Vollmacht des Präsidenten gehört?« Blake zog das Dokument hervor und zeigte es ihm. »Heiliger Gott«, flüsterte Schofield. »Okay, schauen wir mal.« Er blätterte im Aufnahmeverzeichnis auf seinem Schreibtisch und nickte schließlich. »Hier ist um ein Uhr fünfzehn am fraglichen Tag eine Patientin, eine Jean Wiley, eingetragen. Ihr Gesicht war zerschnitten. Dr. Bryant, der Dienst habende Arzt,
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hat sie versorgt.« »Dr. Bryant hat heute Dienst, Mr. Schofield«, meldete die Schwester am Empfang. »Ich habe ihn vorhin in die Cafeteria gehen sehen.« »Schön«, sagte Parker. »Zeigen Sie uns doch bitte den Weg, Mr. Schofield.« Bryant war um die dreißig, ein wenig übergewichtig, hatte eine Brille, dunkles lockiges Haar und einen Bart. Er saß an einem Ecktisch und verspeiste eine Suppe mit französischem Weißbrot. »Schofield, mein Guter, was für ein Attentat haben Sie diesmal wieder auf mich vor?« »Diese Herren würden gern mit Ihnen reden. Dr. Bryant hat als Bester seines Jahrgangs in Harvard graduiert«, erklärte er Parker und Blake. »Wir sind glücklich, dass er bei uns ist. Bitte berücksichtigen Sie das, ja?« »Ach, Clarence«, seufzte Bryant, »hören Sie schon auf, mich zu belobigen. Also, um was geht’s?« Parker bat Schofield, sie allein zu lassen, stellte sich und Blake vor und erklärte ihm die Sache. »Ich bin sicher, Sie können uns weiterhelfen.« »Okay, ich denke darüber nach.« »Ich hole Ihnen einen Kaffee«, sagte Blake. »Tee, guter Mann, Tee. Ich habe drei Jahre im Guy’s Hospital in London verbracht und bin dort auf den Geschmack gekommen.« Blake holte den Tee und bot Bryant von seinen Marlboros an, da der junge Arzt nach Zigaretten kramte, aber nur eine leere Schachtel zutage förderte. »Ich dachte, Ärzte sind gegen das Rauchen?« »Jeder hat das Recht, sich zu ruinieren, wie’s ihm Spaß macht.« »Dann reden wir jetzt mal von dieser wirklich lausigen
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Nacht, als Sie Dienst hatten und eine gewisse Jean Wiley von der Straße hereinkam. Was war mit ihr los?« »Sie hatte einen Schnitt im Gesicht, nicht besonders schlimm, aber unverkennbar von einem Messer.« »Haben Sie nach Einzelheiten gefragt?« »Natürlich. Sie behauptete, sie sei in der Küche ausgerutscht und habe sich dabei im Gesicht verletzt.« »Sie meinen, das war Blödsinn?«, fragte Blake. »Und ob. Der Schnitt stammte eindeutig von einem Messer. Ich habe ihn fachmännisch genäht, sie hat uns ihre Versicherungsnummer genannt und ist wieder gegangen.« »Okay«, sagte Parker, »dann werden sich diese Angaben ja auch im Computer finden lassen, und wir erfahren auf diese Weise ihre Blutgruppe.« »Nicht nötig, daran erinnere ich mich.« Bei ihren verwunderten Blicken schien Bryant ein wenig zu erröten. »Ich habe sie ein paarmal getroffen, nur zum Mittagessen in Nicks Kaffeestube gleich um die Ecke. Sie ist… na ja, sie ist recht attraktiv.« Er zuckte die Schultern und grinste. »Jedenfalls hat sie Blutgruppe B.« Parker schaute auf seine Uhr. »Es ist gerade Mittagszeit.« Bryant zögerte. »Es gibt aber auch so was wie ärztliche Schweigepflicht.« »Es gibt aber auch so was wie einen Doppelmord, der bloß ein paar Meter die Straße rauf stattgefunden hat, kurz bevor sie in die Notaufnahme kam. Die Sache ist wichtig. Das NYPD schickt bestimmt nicht wegen irgendeiner Lappalie einen hochrangigen Polizisten los und erst recht nicht das FBI.« »Sie ist ja fast noch ein halbes Kind. Sie wollen doch nicht behaupten, dass sie jemanden umgebracht hat?« »Nein, das nicht«, erwiderte Blake. »Aber, um einen schönen alten Standardspruch der Polizei zu benutzen, im Zuge unserer Ermittlungen müssen wir ihr ein paar Routinefragen
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stellen.« »Okay«, seufzte Bryant. »Ich zeige Ihnen, wo sie ist. Aber seien Sie nett zu ihr, ja?« »Wir sind Polizisten der neuen Schule«, versicherte Parker, »und auf netten Umgang mit Zeugen trainiert. Jetzt lassen Sie uns gehen.« Nicks Kaffeestube war ein kleines Lokal, das versteckt in einer Seitenstraße lag. Hinter der Theke schwatzten drei junge Männer miteinander auf Griechisch, während sie die Bestellungen erledigten und einer von ihnen frische Sandwiches machte. Bryant spähte zu einem der beschlagenen Fenster hinein. »Ich kann sie nirgends sehen.« »Okay, dann bleiben wir hier stehen und warten«, entschied Parker und zog ihn mit in einen Ladeneingang. »Ich habe Patienten«, protestierte Bryant, doch dann stutzte er. »Ach, da kommt sie ja. Sie überquert gerade die Straße. Das kleine dunkelhaarige Mädchen im blauen Regenmantel mit dem schwarzen Schirm.« Jean Wiley schloss ihren Schirm und verschwand in Nicks Kaffeestube. »Hübsche Beine«, meinte Bryant. »Na, na, gehört sich das für einen Arzt seiner Patientin gegenüber?«, lächelte Parker. »Vielen Dank, Dr. Bryant. Sie können jetzt gehen.« »Falls Sie mich brauchen, wissen Sie ja, wo Sie mich finden.« Bryant schlug seinen Kragen hoch und lief die Straße entlang. Blake und Parker kehrten zur Kaffeestube zurück und spähten durch das Fenster. Das Mädchen hatte sich auf einem Tablett Kaffee und Sandwiches geholt und setzte sich damit in eine Nische. Zu dieser frühen Zeit war das Lokal noch fast leer. »Wie machen wir es?«, fragte Harry Parker. »Das Spielchen guter Bulle/böser Bulle dürfte eigentlich 205
nicht nötig sein«, meinte Blake. »Sagen wir einfach, du bist der nette, onkelhafte Polizist, der mit tiefem Bedauern seine Pflicht tut, und ich der gutmütige Typ vom FBI. Aber denk dran, alter Knabe, ich habe hier die Verantwortung und entscheide, was mit ihr passiert.« »Je mehr ich über diese Sache erfahre, desto froher bin ich«, erwiderte Parker. »Gehen wir rein.« Jean Wiley verspeiste ein Hühnchensandwich mit Salat und las dabei in einem Taschenbuch. Blake sah, dass es sich um Jane Austens Emma handelte. Etwas unwillig blickte sie auf. »Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?« »Mir scheint, hier gibt es überall noch reichlich Platz.« »Es ist besser, Sie gestatten es uns«, meinte Blake freundlich. Parker zeigte seine Dienstmarke vor. »New York Police Department, Captain Harry Parker. Mein Freund hier, Mr. Johnson, ist vom FBI.« »Wir glauben, dass Sie uns vielleicht helfen können«, sagte Blake. »Im Zusammenhang mit einem Doppelmord letzte Woche.« »O mein Gott.« Ihr erschrockenes Gesicht verriet ihnen genug. Sie wurde bleich und schien förmlich vor ihren Augen zusamenzusinken. »Ich muss zur Toilette.« »Klar«, nickte Harry Parker. »Nur versuchen Sie nicht, durch die Hintertür zu verschwinden. Ich weiß, wer Sie sind, und müsste Sie mit einem Streifenwagen abholen lassen, was Ihrem Chef sicher gar nicht gefallen würde.« Mit einem trockenen Schluchzen stand sie so hastig auf, dass sie ihre Kaffeetasse umstieß, und rannte durch das Lokal. Einer der Männer kam hinter der Theke hervor und baute sich vor ihnen auf. »Was ist hier los? Sie ist ein nettes Mädchen. Sie können hier nicht reinkommen und meine Gäste belästigen.« 206
»Ich kann sogar Ihren Laden dichtmachen, wenn ich das will.« Harry zückte erneut seine Dienstmarke. »Polizei.« »Die junge Dame war Augenzeugin eines Verbrechens«, erklärte Blake. »Sie soll uns nur ein paar Fragen beantworten.« Die Haltung des Mannes änderte sich vollkommen. »Ach so. Ich bin Nick, das ist mein Laden hier. Möchten Sie einen Kaffee?« »Prima«, erwiderte Parker. »Wie schön, wenn alle so hilfsbereit sind.« Das Mädchen kehrte einige Minuten später zurück, immer noch bleich, aber gefasst und eindeutig entschlossen, sich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Sie setzte sich und nippte an dem frischen Kaffee, den Nick gebracht hatte. »Also, was wollen Sie?« »Ein paar Auskünfte. Jean Wiley, stimmt das?«, fragte Parker. »Vierundzwanzig?« »Und?« »Sie haben dort auf Ihrer linken Wange eine ziemliche Narbe. Aber keine Sorge, mit der Zeit wird sie etwas verblassen und Ihnen sogar gut stehen. Dadurch wirken Sie noch interessanter.« Sie funkelte ihn nur wütend an. »Was machen Sie beruflich?«, fragte Blake. »Ich bin Anwältin bei Weingarten & Moore, direkt um die Ecke. Vor zwei Jahren habe ich mein Jurastudium an der Columbia abgeschlossen und kenne meine Rechte, damit Sie es nur wissen.« »Na, dann brauchen wir ja gar nicht weiter so nett zu sein«, meinte Parker zu Blake. »Wie kam Ihr Blut auf das Hemd des ermordeten Mannes?« Damit hatte das Mädchen nicht gerechnet. Sichtlich erschrocken schaute sie die beiden Männer an. »Hören Sie«, meinte Blake, »wozu diese Spielchen? Letzte
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Woche wurden irgendwann nach Mitternacht in einer Gasse ein paar Blocks von hier entfernt zwei Gangster erschossen.« »Nun ist es so, dass einer von ihnen Blutgruppe A und der andere Null hatte«, sagte Parker. »Bloß waren auch Spuren der Blutgruppe B auf seinem Hemd«, ergänzte Blake. »Das Blut stammte offenbar von dem Schnitt auf Ihrer Wange«, fuhr Parker fort. »Vermutlich hat er Sie festgehalten, und Sie haben sich gewehrt. Stimmt doch, nicht wahr? Diese beiden haben Sie gepackt, als Sie vorbeigingen.« »Dreckskerle«, murmelte Jean Wiley mit leiser Stimme. »Schmutzige, verkommene Dreckskerle.« Sie holte tief Atem und nahm einen Schluck Kaffee. Ihre Hand zitterte. »Eine hübsche Geschichte, Captain, aber ich kenne meine Rechte und sage nichts mehr.« »Na ja, eine DNA-Untersuchung würde uns schon verraten, was wir wissen möchten.« Blake sah nun genau vor sich, wie es gewesen sein musste – ganz ähnlich wie bei Dillon, der in Wapping Tim Pat Ryan und dem sicheren Tod ins Gesicht geblickt hatte und von der Frau gerettet worden war, der unbekannten Täterin, die einen nach dem anderen der Söhne Erins hingerichtet hatte. »Die Kerle wollten Sie vergewaltigen, vielleicht ermorden«, sagte er leise. »Sie haben sich gewehrt, wurden mit einem Messer bedroht. Ihr Gesicht wurde zerschnitten, und dann tauchte plötzlich eine Frau auf und hat die Männer erschossen.« Parker schaute ihn fragend an. »Was redest du da?« Das Mädchen hatte Mühe, die Fassung zu bewahren. »Woher wissen Sie das?« »Manchmal sind diese Sachen wie ein Puzzle. Erst kommt man einfach nicht weiter, doch dann passen auf einmal alle Stücke richtig zusammen, und man hat das komplette Bild vor
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sich.« »Erzählen Sie uns von ihr, Mädchen«, bat Parker. »Ich kann nicht. Lieber würde ich sterben, als daran schuld zu sein, dass dieser Frau was passiert.« Blake sah, dass sie zitterte. Er wandte sich um und rief Nick zu. »Bringen Sie uns einen Brandy? Und frischen Kaffee, dieses schwarze türkische Gebräu.« Jean Wiley öffnete ihre Handtasche, kramte ein Päckchen Zigaretten heraus und ließ es vor Aufregung zu Boden fallen. »Verdammt!«, schimpfte sie. »Ich wollte es mir längst abgewöhnen.« »Sie, ich und jeder andere, den ich kenne.« Blake zog seine Marlboros heraus, zündete eine an und reichte sie ihr. »Genau wie in New Voyager«, lachte sie nervös. »Ja, er ist wirklich ein ungemein romantischer Bursche.« Parker nahm Nick den Brandy ab und reichte ihr das Glas. »Kippen Sie den runter. Ist gut für die Nerven.« Jean gehorchte, hustete und griff nach dem Kaffee. »Und hier habe ich noch etwas, das Sie beruhigen dürfte«, sagte Blake. »Etwas, über das man vermutlich in den Juravorlesungen nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen hat.« Er reichte ihr die Bevollmächtigung des Präsidenten. Sie las das Dokument rasch durch und schaute ihn ehrfürchtig an. »Mein Gott!« »Es bedeutet, dass Sie Captain Parker sogar erzählen könnten, Sie hätten diese beiden Burschen eigenhändig getötet, und er würde absolut nichts gegen sie unternehmen.« »Er hat Recht, Kindchen«, versicherte Parker. Jean Wileys Blick ging ins Leere, als sie sich an diese Nacht erinnerte. »Sie sind Männer und haben keine Ahnung, wie das ist, wenn man als Frau in eine solche Situation gerät. Es ist das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. So schmutzig und widerlich… Einfach grauenvoll.«
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»Und dann erschien ein Schutzengel? Erzählen Sie uns davon.« »Ich hatte eine Verabredung, die aber anders lief als geplant, weil der Kerl mich belegen hatte. Wir waren nach einer Show in dieses italienische Restaurant ein paar Block weiter zu einem späten Abendessen gegangen. Er trank etwas zu viel, und da rutschte ihm raus, dass er daheim eine kleine Frau und ein paar Kinder habe. Es endete damit, dass ich ihn sitzen ließ und ging.« »Und dann konnten Sie kein Taxi finden?«, fragte Parker. »Mitternacht war schon vorbei, dazu regnete es wie verrückt, und wann kriegt man in Manhatten ein Taxi, wenn es regnet?« »Also sind Sie zu Fuß losgegangen?« »Ja, ich hatte bloß einen kleinen Schirm dabei und wurde ganz schön nass. Aber ich war so wütend, dass ich einfach drauflosgestürmt bin, bis ich an dieser Gasse vorbeikam, wo mir jemand etwas zurief. Dann wurde ich gepackt und hineingezerrt. Einer der Kerle hielt mich fest, der andere zerschnitt meine Wange mit einem dieser Springmesser.« Sie erschauderte. »Immer wieder haben sie gesagt, was sie mit mir machen wollten… Schon dieses widerliche Gerede war so entsetzlich.« »Und dann ist sie aufgetaucht?«, fragte Blake. Jean Wiley schien ganz in ihre Erinnerungen versunken. »Es war unglaublich. Ihre Stimme klang ganz sanft, als sie ihnen sagte, sie sollten mich loslassen. Ich konnte sie dort im Eingang der Gasse stehen sehen. Einer der beiden hielt mich von hinten fest, und der andere brüllte ihr Drohungen zu – ich kann mich an die genauen Worte nicht mehr erinnern. Dann ging er auf sie zu, glaube ich, und sie hob die Hand, in der sie einen Hut hielt, und schoss durch diesen Hut.« »Ein lauter Knall?«, fragte Parker. »Nein, eher dumpf.« »Ein Schalldämpfer«, nickte er. »Und der andere?«
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»Er hatte ebenfalls ein Messer und versuchte, mich als Schutzschild zu benutzen, aber sie schoss ihn über meine Schulter in den Kopf.« »Sie muss verdammt gut sein, um einen solchen Schuss zu riskieren. Und dann noch der Schalldämpfer… du hattest Recht, Blake. Ein ausgesprochener Profi. Hätte ich nicht gedacht.« »Was können Sie uns sonst noch von ihr erzählen?«, fragte Blake. »Das Merkwürdigste war, dass sie eine echte Dame zu sein schien. So um die Ende sechzig vielleicht. Sie trug einen Regenhut, einen Trenchcoat und hatte einen Regenschirm dabei. Ihr Haar war grau.« »Ihr Gesicht?« »Bitten Sie mich nicht, mir irgendwelche Fotos anzuschauen, das wäre Zeitverschwendung. Ich habe sie nicht deutlich genug gesehen, um sie identifizieren zu können, und selbst wenn, würde ich es nicht tun.« »Keine Sorge«, erwiderte Blake. »Ich verstehe schon. In dieser Sache geht es um Dinge, von denen Sie nie erfahren werden, um Fragen der nationalen Sicherheit. Das ist kein Fall, der jemals vor Gericht kommt. Die beiden Kerle, die sie erschossen hat, sind einfach nur zwei weitere Opfer auf der Liste von Morden in New York, die nie aufgeklärt wurden.« »Ich werde also nicht als Zeugin geladen oder so was?« »Sicher nicht.« Er wandte sich an Parker. »Bitte, bestätige das.« »Er hat das Kommando. Ich bin hier nur als seine Hilfskraft dabei und dieser Vollmacht des Präsidenten genauso verpflichtet wie Sie.« »Ich garantiere Ihnen, dass ich Ihre Identität niemandem gegenüber preisgebe«, sagte Blake. »Ich werde allein die Fakten registrieren und selbst dem Präsidenten nicht Ihren Namen ver-
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raten. Das verspreche ich Ihnen.« »Was ist mit ihm?« Sie deutete auf Parker. »Sag’s ihr, Harry.« »Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden, Schätzchen. Hab Sie noch nie gesehen.« Die beiden Männer standen auf. »Mit etwas Glück muss ich Sie nicht noch mal belästigen, Miss Wiley.« Blake wandte sich um und wollte gehen, als ihm ein Gedanke kam. »Nur noch eines. Wie hat sie geklungen?« »Oh, wie eine Dame, eine echte Dame, das sagte ich ja schon. Sie wissen doch, was ich meine? Fast wie eine Engländerin.« »Soll das heißen, sie könnte Engländerin sein?«, fragte Parker. »Nein, schon Amerikanerin, nur aus allerbestem Stall, so klang es jedenfalls.« »Sie meinen, sie hätten ihr auch bei Bergdorf Goodmann begegnen können?«, fragte Parker. »Oder bei Harrods in London.« Jean Wiley zuckte die Schultern. »Sie war eine echte Lady, was soll ich mehr sagen?« »Gut«, nickte Parker. »Vergessen Sie nicht, sich nächstes Mal gleich im Restaurant ein Taxi zu bestellen.« »Na, was meinst du?«, fragte Blake draußen vor dem Lokal. »Es ist das Verrückteste, was mir je vorgekommen ist. Da haben wir eine freundliche ältere Dame, vornehm wie die Mutter des Präsidenten, die zwei schäbige Vergewaltiger umlegt, als sei sie ein weiblicher Dirty Harry.« »Genau wie sie es mit Tim Pat Ryan in London gemacht hat.« »Und mit Brady, Kelly und Cassidy in New York und vermutlich auch mit Cohan in London. Wie schon gesagt, Blake, ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass hinter dieser Geschichte ein ganz persönliches Motiv steckt.«
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»Damit hattest du wohl Recht.« »Ich glaube, mit den Söhnen Erins hängt weit mehr zusammen, als dir klar ist, aber das ist nicht mein Problem, sondern deins. Für mich hat aufgrund deiner Vollmacht unser Treffen mit Miss Wiley nie stattgefunden.« Er blickte auf seine Uhr. »Ich muss los. Ich habe eine Besprechung mit dem Polizeipräsidenten, und – weißt du, was wirklich frustrierend ist? Ich kann ihm nicht mal sagen, was für eine tolle Arbeit ich geleistet habe, um dir in diesem Fall weiterzuhelfen.« Blake erwischte noch den Flieger zurück nach Washington und rief von unterwegs Alice Quarmby an, damit sie einen Termin beim Präsidenten vereinbarte. »Haben Sie irgendwas erreicht?« »Es ist eine äußerst ungewöhnliche Geschichte, Alice. Ich erzähle es Ihnen später.« Zum Glück war er allein und hatte keinen Sitznachbarn. Blake lehnte sich zurück, verstellte seine Lehne, schloss die Augen und begann, noch einmal sämtliche Ereignisse von Anfang an zu durchdenken. Allerdings entspannte er sich dabei so sehr, dass er einschlief und erst wieder aufwachte, als ihn kurz vor der Landung eine Hand an der Schulter berührte. Alice empfing ihn mit heißem starkem Kaffee, den er an seinem Schreibtisch trank, während er verdrossen die Ablage mit den Eingängen musterte. »Scheint sich einiges angesammelt zu haben, Alice.« »Das meiste kann ich erledigen; Sie brauchen bloß Ihre Unterschrift drunterzusetzen. Und jetzt erzählen Sie schon.« Er berichtete, was sich ereignet hatte, ohne jedoch Jean Wileys Namen zu verraten. »Ich glaube, Captain Parker hat Recht«, meinte sie. »Es gibt irgendein privates Motiv, das wir nicht kennen, aber es muss mit den Söhnen Erins zu tun haben, diesen Dreckskerlen.« »Na, na, Alice! Solche Ausdrücke in Ihrem Alter.« 213
»Seien Sie nicht albern.« Alice schaute auf ihre Uhr. »Falls es Sie interessiert, Sie haben noch sechs Minuten, um zum Präsidenten zu kommen. Versuchen Sie es zuerst am Pool.« »Vielen Dank.« Blake schob seinen Stuhl zurück und sprang auf. »Eines Tages revanchiere ich mich mal bei Ihnen, Alice.«
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Zwölf Jake Cazalet zog im Swimmingpool des Weißen Hauses seine Bahnen, aufmerksam beobachtet von zwei Marineoffizieren in makellos weißen Trainingsanzügen, die bereit waren, bei einem Notfall jederzeit einzugreifen. Er schwamm an den Rand und nickte Blake zu. »Irgendwas erreicht?« »Könnte man sagen, Mr. President.« »Okay, wir können jetzt nicht reden. Ich dusche rasch und ziehe mich um, dann treffen wir uns oben, aber viel Zeit habe ich nicht. Auf mich wartet haufenweise Arbeit.« Als Blake ins Oval Office kam, ordnete Henry Thornton einen Stapel Papiere auf dem Schreibtisch. »Wie lief es?« »Na, sagen wir mal, ich habe eine Menge erfahren, aber noch immer nicht genug.« »Warten wir lieber auf den großen Boss, ehe Sie was erzählen. Ich höre mir schlechte Nachrichten lieber mit anderen zusammen an. Dann hat man nicht so sehr das Gefühl, persönlich dafür verantwortlich zu sein.« »Sind Sie bei Ihren Überprüfungen der Angestellten irgendwie weitergekommen?« »Bislang nicht.« Mit energischen Schritten betrat der Präsident das Office. »Okay, Blake, raus mit dem Schlimmsten.« Beide hörten ihm mit ernsten Mienen zu. »Na ja«, sagte Thornton, »das ist schon eine verrückte Sache, Mr. President. Wenigstens wissen wir jetzt, dass diese mysteriöse Frau, die Dillon erwähnt hat, tatsächlich existiert.« »Wir wissen noch mehr«, erwiderte Blake. »Es scheint, als gingen wirklich sämtliche Morde auf ihr Konto, so unglaublich 215
das klingt. Aber das ist die einzige Erklärung.« »Und dieses Mädchen, dessen Namen Sie uns nicht nennen wollen«, fragte Thornton, »konnte sie Ihnen nicht irgendwie weiterhelfen?« »Wie ich schon sagte, sie hat die Frau so gut es ihr möglich war beschrieben.« »Aber was ist das für eine Beschreibung… Um die sechzig, grauhaarig, Akzent der Oberschicht. Das ist herzlich wenig! Konnten Sie denn nicht mehr aus ihr rauskriegen?« Cazalet hob eine Hand. »Nein, mehr als das, was Blake erfahren hat, gibt es eben nicht, und ich respektiere das Versprechen, das er dieser jungen Frau und Captain Parker gegeben hat.« »Gut, Mr. President«, sagte Thornton. »Nur heißt das, dass wir kein Stückchen weiter vorangekommen sind.« »Haben Sie etwas erreicht bei Ihren Untersuchungen?« »Leider nicht«, gestand Thornton. Cazalet nickte stirnrunzelnd. »Ich schlage vor, Sie reden mit Brigadier Ferguson, Blake. Informieren Sie ihn über alles. Gibt es sonst noch etwas, was Sie tun könnten?« »Ich habe mir überlegt, ob möglicherweise eine der Überwachungskameras an den Gebäuden in der Nähe der Gasse, wo die beiden erschossen wurden, etwas aufgenommen haben könnte.« »Vielleicht diese Frau?« »Vielleicht. Es ist nur eine Idee.« »Okay, kümmern Sie sich darum und bringen Sie, wie gesagt, Ferguson auf den neuesten Stand. Wäre es nicht sogar eine gute Idee, Dillon rüberzuholen?« »Wieso sollte uns das weiterhelfen, Mr. President?« fragte Thornton. »Nun, er hat schließlich diese geheimnisvolle Frau in Wapping gesehen, nachdem sie Tim Pat Ryan erschossen hatte.«
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»Nur ganz flüchtig.« »Ja, aber wenn er sie auf dem Videoband einer Überwachungskamera sieht, könnte er sie möglicherweise wieder erkennen. Was haben wir denn sonst schon?« »Nicht sehr viel, Mr. President.« »Also, dann kommen wir jetzt zu einem anderen Punkt. Diese Party von Chad Luther übermorgen in Quogue. Irgendwelche besonderen Probleme, Henry?« »Keine, Mr. President. Dem guten alten Chad verdanken wir unsere dicksten Spenden und alle Welt wird dort sein.« »Nehmen Sie die Air Force One, Sir?« »Nein. Ich fliege in einer der Gulfstreams runter. Setzen Sie Ihre Ermittlungen fort, aber ich möchte, dass Sie ebenfalls mit nach Long Island kommen. Nehmen Sie den Hubschrauber.« »Verzeihen Sie, Mr. President, aber bis dahin wäre dann Sean Dillon schon hier.« »Bringen Sie ihn auf jeden Fall mit. Ich würde mich freuen, ihn wieder zu sehen. Aber jetzt muss ich wirklich weitermachen; Henry spuckt sonst gleich Feuer.« Thornton lachte gutmütig, und Blake verabschiedete sich. Von seinem Büro aus rief er Harry Parker an und erkundigte sich nach eventuellen Aufnahmen von Überwachungskameras. »Das ist eine gute Idee«, sagte Parker. »Ist mir auch schon eingefallen, nachdem du weg warst. Ich werd das überprüfen.« »Bestens. Ich habe übrigens mit dem Präsidenten gesprochen und ihm alles erzählt. Er lässt dir für deine Hilfe danken, Harry.« »Ach komm, nimm mich nicht auf den Arm.« »Es ist die Wahrheit, Harry. Ich halte dich auf dem Laufenden.«
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Harry Parker dachte noch über Blakes Worte nach, als sein Telefon erneut läutete und eine Frauenstimme fragte. »Captain Parker?« »Wer spricht da?« »Ich verbinde Sie mit dem Präsidenten.« Vollkommen verblüfft umklammerte Parker den Telefonhörer. »Harry Parker? Hier Jake Cazalet.« »Mr. President?«, brachte Parker mühsam heraus. »Ich wollte Ihnen nur für Ihre Hilfe danken. Blake Johnson hat mich über alles informiert. Ich weiß, dass Sie durch die erforderliche Geheimhaltung, die er Ihnen abverlangte, in eine Zwickmühle gekommen sein müssen. Aber ich bin Ihnen sehr dankbar für die Hilfe, die Sie mir ohne Zögern in einer sehr ernsten und vertraulichen Angelegenheit geleistet haben.« »Mr. President, ich stehe Ihnen zu Diensten.« »Blake leitet eine spezielle Einheit für mich, Captain, und, offen gesagt, es gibt immer mehr für ihn zu tun. Ich weiß, dass es sehr viel verlangt ist, einen Captain des New York Police Department mit langjähriger Diensterfahrung zu bitten, noch einmal einen neuen Posten anzunehmen, aber ich frage mich, ob Sie Interesse hätten.« Parker schaffte es mit Mühe, die Ruhe zu bewahren. »Ich habe gesagt, ich stehe Ihnen zu Diensten, Mr. President, und das habe ich ernst gemeint.« »Hervorragend. Dann werden Sie demnächst von Blake hören.« Damit beendete er das Gespräch. Harry Parker starrte eine lange Zeit regungslos auf seinen Apparat, ehe er ebenfalls auflegte, zum Fenster ging und hinaus auf das verregnete New York schaute. Zu einer Zeit, da andere an ihre Pensionierung dachten, eröffnete sich ihm ein ganz neues Leben. Er ging zurück zu seinem Schreibtisch, öffnete die zweite Schublade und nahm eine hochgradig illegale kubanische Zi-
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garre der Marke Romeo y Julietta heraus, biss das Ende ab und zündete sie an. »Na ja.« Er grinste übers ganze Gesicht. In London war es bereits Abend, als Blake den Brigadier umfassend über alles, was geschehen war, informierte. »Wir haben also nur dann eine geringe Chance, unsere mysteriöse Frau aufzuspüren, wenn irgendein Videoband einer Überwachungskamera in der Park Avenue sie zeigt?«, fragte Ferguson. »Ja, aber ich habe bislang noch nichts von Parker gehört. Der Präsident meinte, es sei vielleicht gut, wenn Dillon herkäme. Er ist neben dieser Miss Wiley der Einzige, der die Frau je gesehen hat und könnte uns vielleicht sagen, ob es dieselbe wie in London ist.« »Das bezweifle ich, aber ich schicke ihn mit dem nächsten verfügbaren Flug rüber.« »Dafür wäre ich sehr dankbar, Sir.« »Gut, wir bleiben in Verbindung.« Ferguson rief unverzüglich die Flugbereitschaft des Verteidigungsministeriums an. »Hier Brigadier Ferguson. Was ist der schnellste Flug nach Washington?« »Die Concorde morgen früh, Sir.« »Aha, dann buchen Sie für Dillon einen Platz. Falls die Maschine voll ist, werfen Sie jemanden raus.« Als Nächstes rief er bei Dillon zu Hause an. Da niemand abhob, versuchte er es mit der Handynummer und hatte mehr Glück. Im Hintergrund hörte man Stimmen und Musik. »Wer stört da meinen wohlverdienten Feierabend?«, fragte Dillon. »Ich, Sie alberner Kerl. Wo stecken Sie?« »Im Mulligan’s.« Ferguson zögerte kurz, konnte dann aber doch nicht widerstehen. »Die Austern dort sind wirklich köstlich, sogar in Ihrer 219
Gesellschaft. Ich bin in zwanzig Minuten bei Ihnen.« Dillon saß in der oberen Bar von Mulligan’s Irish Restaurant in der Cork Street, ganz in der Nähe des Ritz-Hotels, und gönnte sich zu einer Flasche Cristal Champagner ein Dutzend Austern. Ferguson kam die Treppe herauf und schob sich durch die Menge. »Aha, hier stecken Sie.« Er nahm die Champagnerflasche aus dem Eiskübel und warf einen Blick auf das Etikett. »Seit wann trinken Sie etwas anderes als Krug?« Eine junge Kellnerin kam an ihren Tisch. »Gibt es ein Problem?«, fragte sie auf Irisch. »Ein anständiges Mädchen aus Cork, das mich versteht«, lächelte Dillon ihr zu und antwortete in der gleichen Sprache: »Stoßen Sie sich nicht an ihm, meine Schöne. Er sieht zwar aus wie ein typischer englischer Lord, der sich sogar zu fein ist, jemandem wie uns einen Tritt zu versetzen, aber seine Mutter, Gott hab sie selig, stammte aus Cork. Bringen Sie ihm ein Dutzend Austern und ein Glas Guiness.« Sie nickte fröhlich und verschwand in der Küche. »Ich habe zwar kein Wort verstanden«, meinte Ferguson, »aber ich kriege doch was zu essen?« »Natürlich. Also, was ist los?« »Sie stehen morgen früh bei Tagesanbruch auf, fahren nach Heathrow und nehmen die Concorde nach Washington.« Dillon verzog keine Miene. »Erzählen Sie.« Vierzig Minuten später verspeiste der Brigadier mit verzücktem Gesichtsausdruck seine letzte Auster. »Köstlich! Solche Austern kriegt man nur in einer irischen Bar. Also, Dillon, was meinen Sie?« »Zu Blakes bisherigen Ergebnissen? Fragen Sie mich was Leichteres. Ich wusste, dass wir es mit einer Frau zu tun haben, weil ich sie gesehen hatte. Jetzt bestätigt die Geschichte dieser Jean Wiley, was wir ja immer schon ahnten, nämlich dass nicht
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irgendeine Organisation hinter den Söhnen Erins her ist, sondern eine Einzelperson, die Rache nehmen will. Aber wofür?« »Vielleicht entdecken Sie drüben was.« »Ich bin stets optimistisch.« Dillon schenkte sich ein Glas Cristal ein. »Aber wissen Sie, eines ist wirklich auffällig.« »Das wäre?« »Wir wissen inzwischen so vieles über die Söhne Erins, doch der Geheimdienst weiß angeblich nichts. Bloß die altbekannten Fakten über Barry, aber sonst nichts, absolut gar nichts. Das riecht mir verdächtig danach, als wollten Simon Carter und seine Gesellen was vertuschen.« »Da könnten Sie Recht haben.« »Habe ich immer«, versicherte Dillon. Blake drückte den Summer auf seinem Schreibtisch, um Alice hereinzurufen, die ihn kritisch musterte. »Sie sehen aus, als hätten Sie ein Problem.« »Die undichte Stelle. Der Verräter im Weißen Haus. Es muss doch irgendwas geben, was wir deswegen unternehmen könnten.« »In die Bemühungen des Stabschefs haben Sie also nicht viel Vertrauen?« »Das ist es nicht. Ich habe nur das Gefühl, wir übersehen etwas. Mal angenommen, Sie sind dieser Verbindungsmann, Alice. Die Söhne Erins sind alle tot. Es gibt nur noch einen Menschen, mit dem du reden kannst – Jack Barry.« »Und?« »Erinnern Sie sich daran, wie wir vor ein paar Jahren diesen Spion im Pentagon aufgespürt haben? Diesen Patterson?« »Ah, jetzt verstehe ich, Sie denken an Synod?« »Genau. Warum lassen wir nicht mit diesem Programm einige Anrufe nachprüfen? Geben Sie mal den Namen Jack Barry ein. Dann sehen wir ja, ob dabei was rauskommt.« »Gespräche aus Nordirland?« 221
»Nein, ich vermute, dass dort abhörsichere Handys benutzt werden, das ist also zwecklos. Probieren Sie’s mit dem Weißen Haus und dann Washington.« »Das sind Millionen gespeicherter Anrufe, Mr. Blake.« »Aber der Computer wird uns verraten, woher irgendwelche Anrufe für jemanden namens Barry gekommen sind. Versuchen wir es, Alice. Was haben wir schon zu verlieren?« In Washington telefonierte Thornton mit Barry. »Ich habe wieder ein paar Neuigkeiten für Sie. Blake Johnson hat es geschafft, in New York eine junge Frau mit einer ziemlich spannenden Geschichte aufzustöbern.« »Reden Sie schon.« »Die alte Schlampe«, fluchte Barry, als er fertig war, »wenn ich die in die Finger kriege.« »Regen Sie sich nicht so auf. Sie wissen ja nicht einmal, wer sie ist.« »Sie auch nicht.« »Und Johnson, der Präsident oder Ihr alter Kumpel Dillon ebenfalls nicht. Übrigens wird Dillon demnächst hier eintreffen, weil man hofft, dass er die Frau auf den Videos der Überwachungskameras erkennt.« »Ich frage mich immer wieder, woher Sie das alles wissen.« »Das habe ich Ihnen doch schon gesagt – ich habe meine Quellen. Zerbrechen Sie sich nicht meinen Kopf; kümmern Sie sich lieber um Ihre Angelegenheiten.« »Gut. Also, was ist mit der Frau?« »Überlassen Sie das mir. Vielleicht kriege ich was raus.« Am Abend setzte Thornton sich an seinen Computer. Er konnte an die meisten Sachen herankommen, vermutlich sogar an alles, wenn er nur genügend Zeit hatte. Für den Anfang klickte er sich in die Akten des CIA über paramilitärische Gruppen protestantischer Loyalisten in Nordirland ein. Er schaute sich an, was es über Jack Barry gab, und überprüfte 222
jeden Aktivisten der IRA und der Sinn Fein, von Gerry Adams bis zu Martin McGuinness. Jack Barry hatte sich lange im Mittleren Osten aufgehalten, und es war bekannt, dass er in dieser fraglichen Zeit unter drei verschiedenen Falschnamen in den Vereinigten Staaten gewesen war – aber nirgends fand sich irgendeine Erklärung dafür, warum jemand zielstrebig einen der Söhne Erins nach dem anderen – von Tim Pat Ryan bis zu Senator Cohan – umgebracht hatte. Offenkundig war das Motiv Rache, aber Rache wofür? Thornton dachte über die ganze Geschichte nach, und das Einzige, das einen Sinn ergab, war der Satz, den diese Frau zu Barry gesagt hatte: Sie haben vor drei Jahren in Ulster meinen Sohn und seine vier Freunde ermordet, darunter eine Frau. Während er im Computer nach Informationen suchte, die vor drei Jahren vom englischen Geheimdienst ans Weiße Haus weitergeleitet worden waren, erinnerte er sich ganz plötzlich wieder – sein erster großer Coup! Die Undercovergruppe in Ulster. Damals waren die Briten von ihrer eigenen Regierung dazu angehalten worden, das Weiße Haus rückhaltlos über alles zu informieren. Die Mitteilungen waren nur so hereingeströmt, und er hatte sie an Barry weitergegeben. Thornton tippte auf die Tastatur und rief die betreffenden Angaben auf. Jason, ein Lieutenant der Marine – erschossen in Londonderry; Archer, ein Lieutenant der Militärpolizei – durch eine Autobombe in Omagh getötet; ein weiblicher Lieutenant, ebenfalls von der Royal Military Police – auf offener Straße in Belfast erschossen; ein junger Unteroffizier, den man offensichtlich ausgewählt hatte, weil seine Mutter aus Ulster stammte. Damit blieb noch einer übrig. Thornton gab den Namen des fünften ein, der gleichzeitig der Leiter der Gruppe gewesen war: Major Peter Lang, Angehöriger der Scots Guards und des SAS, getötet in South Armagh von einer Autobombe, die eine
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so verheerende Sprengkraft gehabt hatte, dass keine Leiche geborgen werden konnte. Thornton wusste, dass er eine Spur gefunden hatte. Er griff nach dem Telefon und wählte die Nummer von Barrys Handy. Barry, der geschlafen hatte, meldete sich mürrisch. »Wer ist da?« »Es geht um die Gruppe von britischen Offizieren, die Sie vor drei Jahren erledigt haben…« »Was ist damit?« »Die Frau hat gesagt, Sie hätten ihren Sohn und vier weitere Agenten umgebracht, darunter eine Frau. Ich habe mich gerade daran erinnert. Die Informationen hatte ich Ihnen in den guten alten Tagen geschickt, als die Briten uns noch vertrauten.« Barry setzte sich auf. »Ach ja, jetzt erinnere ich mich.« »Der Anführer war ein Major Peter Lang. Den Akten zufolge wurde er von einer Autobombe getötet, die so stark war, dass nicht einmal Überreste von ihm gefunden werden konnten.« Barry griff nach einer Zigarette. »Er ist nicht durch eine Autobombe gestorben. Wir haben sein Auto bloß mit einer ordentlichen Sprengladung in die Luft gejagt, um unsere Gegner in die Irre zu führen.« »Was haben Sie stattdessen mit ihm gemacht?« »Wieso wollen Sie das jetzt wissen? Sie haben doch noch nie nach Einzelheiten gefragt.« »Es ist wichtig. Erzählen Sie.« »Er war ein typischer Bursche der englischen Oberschicht, ein zäher Dreckskerl. Hab ihn erwischt, als er aus einem Pub kam. Einer meiner Jungs hatte bei den Scots Guards gedient und erkannte ihn wieder.« »Was haben Sie getan?« »Ihm natürlich die Daumenschrauben angelegt. Ich weiß es jetzt wieder. Er sprach genau wie jemand aus South Armagh. Ich meine, das alles stank gewaltig zum Himmel.«
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»Also haben Sie ihn gefoltert?« »Klar. Was ist so Besonderes an diesem Kerl?« »Und warum haben Sie seinen Wagen in die Luft gejagt?« Barry lachte. »Die Jungs hatten ihn unglaublich zugerichtet. Wir haben ihn in diesen großen Betonmischer gesteckt, den wir an einer Umgehungsstraße gefunden haben, die gerade in dieser Gegend gebaut wurde.« Die Vorstellung war so monströs, dass es sogar Thornton den Atem verschlug. »Weshalb ist das so wichtig?«, fragte Barry. »Ich habe vielleicht eine Spur entdeckt. Ich rufe Sie wieder an.« Thornton schaute sich noch einmal die Angaben über Peter Lang an: Angehöriger der Scots Guards und des SAS, hatte für besondere Verdienste das Military Cross erhalten; sein Vater war Sir Roger Lang, ein ehemaliger Oberst der Scots Guards – und dann verschlug es ihm den Atem: Seine Mutter war Lady Helen Lang, eine aus Boston gebürtige Amerikanerin. Die restlichen Angaben rollten über den Computerschirm – ihre Firmen, ihr ungeheurer Wohlstand, ihre Adressen in London und Norfolk. Es gab sogar eine Notiz über ihren Chauffeur, einen Vietnamveteranen. Nachdenklich stand Thornton auf und schenkte sich einen großen Drink aus einer Flasche Southern Comfort ein, ging damit zum Fenster und schaute hinaus in den Schneeregen. Eines war sicher: Er hatte die mysteriöse Frau gefunden. Barry war aufgestanden, hatte sich seinen Bademantel übergestreift und in der Küche einen Tee gekocht. Er las gerade den Belfast Telegraph vom Vortag, als das Telefon erneut läutete. »Seien Sie ruhig und hören Sie nur zu«, sagte Thornton. »Sie haben Major Peter Lang getötet, einen Angehörigen der Scots Guards und des SAS. Sein Vater war Sir Roger Lang, und dessen Ehefrau – jetzt kommt’s – ist Lady Helen Lang. Ich glaube,
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sie ist die Frau, die mit Ihnen gesprochen hat. Sie hat doch gesagt, Sie hätten ihren Sohn umgebracht. Die Zeit passt jedenfalls, und die Identität der anderen vier auch.« »Diese Hexe!«, fluchte Barry. »Was ich mit ihrem Sohn gemacht habe, ist nichts gegen das, was ich mit ihr anstellen werde.« »Okay, gehen Sie nicht durch die Decke. Was haben Sie vor?« »Wo wohnt sie?« »In London und Norfolk.« Thornton nannte ihm die Adressen. »Ich prüfe nach, wo sie ist«, sagte Barry. »Ich habe Freunde in London, die sich darum kümmern werden.« »Und?« »Dann fliege ich mit einigen der Jungs rüber und nehme sie mir vor.« »Gut. Machen Sie klar Schiff, sozusagen.« »Darauf können Sie sich verlassen.« Thornton legte den Hörer auf. Aus irgendeinem Grund verspürte er immer noch ein merkwürdiges Unbehagen, ohne dass er hätte sagen können, warum. Am folgenden Morgen bestieg Dillon in Heathrow die Concorde nach Washington. Er ließ sich ein Glas Champagner servieren und nutzte den Flug, um über alles nachzudenken. Es war seltsam, aber irgendwie empfand er eine sonderbare Verbundenheit mit dieser mysteriösen Frau. Das Ganze war unglaublich faszinierend und immer noch ein einziges Rätsel. Warum all diese Morde? Was für ein Motiv steckte dahinter? Im Grunde waren sie bislang keinen Schritt weitergekommen. Jean Wiley hatte lediglich die Existenz dieser Frau bestätigt und dass sie tatsächlich fähig war, jemanden zu töten. Aber warum, warum, warum? Er fand einfach keine Antwort darauf. 226
Ungefähr um die Zeit, als Dillon Washington erreichte, war Thornton damit beschäftigt, Helen Langs Aufenthaltsort ausfindig zu machen, und entdeckte zu seiner Verblüffung, dass ihr privater Gulfstream für den kommenden Nachmittag zur Landung auf dem Flughafen von Westhampton auf Long Island angemeldet war. Er überlegte und kam zu dem Schluss, dass es dafür nur einen Grund geben konnte – Chad Luthers Party. Er rief die entsprechende Datei im Computer auf, um in Luthers Gästeliste nachzuschauen. Jawohl, da stand ihr Name. Thornton griff zum Telefon, um noch einmal Barry anzurufen. »Lady Helen Lang besucht morgen Abend mit lauter Geldsäcken eine große Party auf Long Island, also brauchen Sie nicht daheim nach ihr zu suchen.« »Ich kann warten«, entgegnete Barry. »Keine Sorge. Sie ist schon so gut wie tot.« Nach der Rückkehr in die South Audley Street brühte Lady Helen in der Küche Tee auf, während Hedley das Gepäck auslud, ehe er zu ihr kam. »Kann ich sonst noch irgendwas tun?« »Eigentlich nicht. Wir fliegen morgen früh von Gatwick ab, landen am Nachmittag auf Long Island und fahren direkt zu Chad Luthers Haus.« »Bleiben wir über Nacht?« »Es könnte sein, dass ich in aller Eile wegmuss.« Hedley zeigte keine Reaktion. »In Ordnung, Lady Helen«, nickte er nur. Ferguson rief Hannah Bernstein in sein Büro. »Wie kommen Sie mit Ihren Nachforschungen voran?« »Ich durchstöbere immer noch sämtliche Computerdateien, Sir. Mir ist einfach unverständlich, dass wir ziemlich viel über die Söhne Erins wissen und was sie so getrieben haben, aber nirgends gibt es irgendeine Information, die auch nur halbwegs 227
erklären würde, warum diese Frau einen privaten Rachefeldzug gegen sie führt.« »Darin sind Sie also mit Johnson und Parker einer Meinung?« »O ja, Sir. Wenn man jahrelang Berufserfahrung hat, Sir, und ein abscheuliches Verbrechen nach dem anderen untersucht…« »Bekommt man eine Nase dafür, meinen Sie?« »Genau, Sir. Anders als in einem Roman von Agatha Christie kann ich in den meisten Fällen, wenn ich mir den Tatort anschaue und die beteiligten Personen, den Täter fast sofort rauspicken.« Ferguson lächelte. »Das verstehe ich nur zu gut, Chief Inspector. Und was sagt Ihnen Ihr geschulter Verstand in diesem Fall?« »Dass die zentrale Person Jack Barry ist, aber das Einzige, was sich im Computer findet, ist sein altbekanntes Strafregister. Seine Verbindung zu den Söhnen Erins wird nirgends erwähnt, ja nicht einmal die Söhne Erins, und das kommt mir etwas verdächtig vor, Sir.« »Und Ihre Schlussfolgerung?« »Es existiert nichts darüber, weil irgendjemand das nicht wollte.« »Der Geheimdienst?« »Ich fürchte, ja.« Ferguson lächelte. »Wissen Sie, Sie sind wirklich sehr gut, meine Liebe. Es ist Zeit, dass die Special Branch Sie zum Detective Superintendent befördert. Ich muss mal mit dem Chef von Scotland Yard sprechen.« »Eine Beförderung ist derzeit meine geringste Sorge, Bridadier. Viel mehr beschäftigt mich dieses Rätsel. Was sollen wir tun?« »Was schlagen Sie vor?«
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»Ich glaube, Sie sollten sich mal mit dem stellvertretenden Direktor der Sicherheitsdienste unterhalten, Sir, oder besser gesagt, ihn sich mal gründlich vorknöpfen, wie unsere amerikanischen Kollegen es ausdrücken würden.« »Oje, das wird Simon Carter gar nicht gefallen, aber Sie haben vollkommen Recht. Rufen Sie ihn an und sagen Sie ihm, er soll sich exakt in einer Stunde, also um halb drei, mit uns im Gray Fox treffen.« »Mit uns, Sir?« »Ich möchte Ihnen doch nicht das Vergnügen nehmen, ihn unter diesen hochhackigen Schuhen zu zermalmen, Chief Inspector.« Hannah lächelte. »Nett von Ihnen, Sir.« Der Gray Fox war einer von mehreren luxuriösen Pubs in der Nähe des St. James’s Palasts. Das Lokal war fast leer, da der übliche Ansturm um die Mittagszeit längst vorüber war. Ferguson und Hannah nahmen in einer der Nischen Platz. »Gin und Tonic, Chief Inspector?« »Mineralwasser, Sir.« »Wie schade. Ich persönlich genehmige mir einen.« Die Kellnerin brachte ihre Getränke, und gleich darauf kam Simon Carter herein. Missmutig schüttelte er seinen Schirm aus; man sah ihm an, dass er nicht gerade bester Laune war. »Was zur Hölle soll das, Ferguson? Chief Inspector Bernstein hat mir regelrecht gedroht, mir, dem stellvertretenden Direktor der Sicherheitsdienste!« »Erst als Sie sagten, Sie seien zu beschäftigt, um zu kommen, Sir«, erwiderte Hannah. Carter streifte seinen nassen Mantel ab, bestellte einen Whiskey mit Soda und setzte sich. »Jedenfalls lasse ich mir das nicht bieten, Ferguson, ich nicht!« »Mein lieber Carter, Sie mögen mich nicht, und falls ich überhaupt einmal über Sie nachdenken würde, käme ich ver229
mutlich zu dem Schluss, dass ich Sie ebenfalls nicht mag, aber wir haben es hier mit einer ernsten Sache zu tun, also hören Sie Chief Inspector Bernstein zu.« Ferguson trank seinen Gin aus, bestellte mit einer Handbewegung einen neuen und lehnte sich zurück. Hannah berichtete von Jack Barry, den Morden an Tim Pat Ryan und den anderen Söhnen Erins und fasste kurz Jean Wileys Aussage zusammen. Carter war sprachlos. »Ich habe noch nie einen solchen Unsinn gehört«, murmelte er. Ferguson zuckte die Schultern. »Gut, das war’s dann. Um wie viel Uhr sind wir mit dem Premierminister verabredet, Chief Inspector?« »Um fünf, Sir«, log Hannah ohne ein Wimpernzucken, »obwohl er nicht viel Zeit hat. Er wird heute Abend noch im Parlament erwartet.« Ferguson wollte aufstehen. »Nein, eine Sekunde«, sagte Carter hastig. »Wozu? Sind Sie etwa doch in der Lage, uns bei unseren Ermittlungen zu helfen?« »Ach, kommen Sie mir jetzt nicht mit diesem Polizeigefasel.« Carter bestellte sich einen weiteren Scotch, ehe er erklärte: »Ich habe offiziell kein Wort zu Ihnen gesagt, ist das klar? Ich werde es immer abstreiten.« »Natürlich«, nickte Ferguson. »Und Chief Inspector Bernstein muss mir ebenfalls zusichern, dass diese Sache unter uns bleibt. Wenn sie das nicht garantieren kann, geht sie besser.« Hannah nickte. »Mein Wort darauf, Brigadier.« »Gut, dann fangen Sie an«, sagte Ferguson. »Wir sind beruflich nie miteinander ausgekommen, Ferguson. Ihre Organisation ist mir viel zu unabhängig.« Er schüttelte den Kopf. »Die Privatarmee des Premierministers! Hat mir
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nie gefallen, vor allem, weil Sie dauernd tun, was Ihnen gerade passt.« »Sie etwa nicht, Sir?«, fragte Hannah ruhig. Carter nippte an seinem Scotch. »Es gibt Dinge, die wir Ihnen nie erzählt haben, Ferguson, weil wir Ihnen nicht vertrauen konnten, genauso wie es Dinge gibt, die Sie uns nie erzählt haben.« Ferguson nickte Hannah zu, die an seiner Stelle antwortete. »Sie kennen die Fakten, Sir. Ich bin Polizeibeamtin, meine Aufgabe ist es, Verbrechen aufzuklären, und hier haben wir es mit einem Einzeltäter zu tun, auf dessen Konto sämtliche Opfer gehen, wofür es zweifellos einen Grund gibt. Irgendetwas sehr Schlimmes muss passiert sein, und ich glaube, Sie wissen nicht nur, was es war, sondern haben zudem die entsprechenden Angaben im Computer löschen lassen und die Akten beseitigt.« »Das ist eine unverschämte…« »Hinter allem muss Barry stecken«, unterbrach Ferguson. »Nun erzählen Sie es uns schon.« Carter holte tief Atem. »Na gut. Als der Friedensprozess begann, wurden wir angewiesen, nett zu unseren amerikanischen Brüdern zu sein und sämtliche nützliche Informationen über die Vorgänge in Irland an sie weiterzugeben.« »Ich weiß«, nickte Ferguson. »Allmählich wurde uns jedoch klar, dass das Zeug, das wir ans Weiße Haus übermittelten, stets in den Händen der IRA landete. Der Höhepunkt war eine wirklich Grauen erregende Sache, für die Jack Barry und seine Bande verantwortlich waren, wie wir später herausfanden. Eine komplette Undercovergruppe, zu der einige unserer besten Offiziere gehörten, wurde ausgelöscht.« »Um wen handelte es sich dabei?« »Es war ein Team von fünf Leuten, drei Männer und eine Frau, angeführt von einem Major Peter Lang, einem ehemali-
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gen Angehörigen der Scots Guard und des SAS.« »Ja, ich erinnere mich an Peter Langs Tod«, sagte Ferguson. »Sein Eltern waren gute Freunde von mir. Er wurde durch eine Autobombe von solcher Sprengkraft getötet, dass nicht einmal seine Leiche geborgen werden konnte.« »Stimmt nicht. Wir haben später durch einen Informanten herausgefunden, dass Peter Lang gefoltert, ermordet und dann an einer Autobahnbaustelle in einen Betonmischer geworfen wurde.« »Mein Gott!«, flüsterte Hannah. »Dieser Informant war es auch, der uns von den Söhnen Erins, von Jack Barry und diesem Verbindungsmann erzählte.« »Und was haben Sie getan?« »Der Friedensprozess befand sich in einem heiklen Stadium, wir wollten ihn nicht aus dem Gleichgewicht bringen.« »Sie haben es also nicht dem Premierminister berichtet?« »Wenn wir das getan hätten, hätten nicht nur Sie davon erfahren, sondern auch Ferguson, Blake Johnson, der Keller, der Präsident und Gott weiß wer sonst noch alles. Wir entschieden, dass es einen besseren Weg gab.« »Lassen Sie mich spekulieren, Sir«, sagte Hannah. »Sie begannen, Fehlinformationen weiterzugeben, vermischt mit dem üblichen, nicht besonders wichtigen Zeug, was man in jeder besseren Zeitung lesen kann.« »So etwas in der Art«, erwiderte Carter verdrossen. »Nun, da haben wir’s.« Ferguson stand auf. »Danke für Ihre Hilfe.« »Ich habe kein Wort gesagt.« Carter zog seinen Regenmantel über und griff nach dem Schirm. »Das war’s dann?« »Ich glaube schon.« »Was meinen Sie, Sir?«, fragte Hannah, nachdem er gegangen war. »Ich will Ihnen eine Frage stellen, Chief Inspector. Ange-
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nommen, Sie hätten einen geliebten Sohn in Ulster verloren durch eine Autobombe, die ihn derart zerfetzte, dass nicht einmal seine Leiche gefunden werden konnte; außerdem hätte der Schock Ihrem Ehemann das Leben gekostet. Und angenommen, Sie wären dann dahinter gekommen, dass Ihr Sohn gefoltert, ermordet und in einen Zementmischer gesteckt worden ist.« »Wie könnte sie das herausgefunden haben, Sir?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Das sind alles Spekulationen. Aber um fünf Männer zu töten, braucht man schon einen sehr guten Grund und eine enorme Entschlossenheit und ich glaube, dass keiner der fünf Undercoveragenten auf so schreckliche Weise umgekommen ist wie Peter Lang.« »Dann müsste die Täterin also genau Bescheid wissen, Sir.« »Natürlich. Wobei eines auffällig ist: Es begann erst drei Jahre später. Das bedeutet, dass die Wahrheit, auf welche Weise auch immer, erst kürzlich herausgekommen ist.« »Was wollen Sie damit andeuten, Brigadier?« »Ganz einfach. Die Frau, die Tim Pat Ryan, Brady, Kelly, Cassidy und den zwielichtigen Senator Cohan getötet hat, ist meine liebe alte Freundin Lady Helen Lang.«
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Long Island Norfolk
Dreizehn Dillon trank in Blakes Büro eine Tasse Tee und verspeiste das Käsesandwich, das Alice Quarmby ihm serviert hatte. »Du siehst gut aus, mein irischer Freund«, sagte Blake. »Ja, mit der Concorde ist so ein Flug ein reines Vergnügen. Mir gefällt’s, mal wie die Reichen zu reisen.« »Sean, du bist reich, das wissen wir alle.« »Das verstehst du nicht«, entgegnete Dillon. »Am schönsten war dieser Flug, weil ich ihn nicht selbst bezahlen musste. Na ja, und weshalb wolltest du, dass ich herkomme?« »Harry Parker überprüft gerade die Videos der Überwachungskameras an den Gebäuden gegenüber von Cohans Haus und der Gasse, in der die Morde stattfanden. Wir meinten, dass womöglich die Frau auf einem der Bänder drauf ist und wenn dem so wäre, könntest du sie vielleicht erkennen.« »Mag sein, aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich auch weiß, wer sie ist.« »Sicher, aber was sonst haben wir schon, das uns weiterbringen könnte?« Alice Quarmby schaute herein. »Ich habe Harry Parker am Telefon.« Blake griff nach dem Hörer. »Harry? Wie sieht’s aus?« »Ganz schlecht, Blake. Ich habe die Videos überprüft. Es gab in der Gegend nur drei Kameras, und alle Bänder sind schon wieder überspielt worden. Also absolute Fehlanzeige.« »Ein Jammer«, seufzte Blake. »Trotzdem danke, Harry. Falls dir noch irgendwas anderes einfällt, lass es mich bitte wissen. Ich melde mich bald wieder.« Blake legte auf. »Wieder eine Sackgasse?«, fragte Dillon. »Leider ja.« »Demnach hatte ich nur zu meinem Privatvergnügen einen 235
Freiflug mit der Concorde.« »Sieht so aus. Tut mir Leid, Sean. Aber wenigstens können wir dir etwas bieten, wenn du schon mal hier bist. Chad Luther, ein sehr einflussreicher Anhänger des Präsidenten, der ihn tatkräftig mit Spenden unterstützt, gibt heute Abend auf Long Island die Party aller Partys. Du kennst doch Fitzgeralds Roman Der Große Gatsby? Das ist Luthers Vorbild, und wie Gatsby hat er eine Villa mit Rasenflächen bis hinunter ans Meer. Falls du überhaupt jemand bist, stehst du heute auf der Gästeliste.« »Aha, weiß schon«, nickte Dillon. »Und falls du niemand bist, aber einen Ring durch die Nase trägst und leidlich Gitarre spielst, bist du ebenfalls auf der Gästeliste.« »Du hast es, wie üblich, genau erfasst, mein Freund, und die Sache bereitet dem Secret Service ziemliche Kopfschmerzen.« Blake griff nach einem Aktenordner. »Ich musste persönlich die Gästeliste durchgehen.« »Auf der Suche nach was? Arabern in weißen Gewändern?« »Mach keine Witze. Der Präsident fliegt in einer der Gulfstreams runter. Die Sicherheitsleute werden per Hubschrauber hin- und zurückgebracht. Dazu zählen auch wir beide.« »Ich fühle mich geehrt.« Es klopfte an der Tür und Alice schaute herein. »Frischer Kaffee? Tee?« »Nein, wir sind noch versorgt. Was ist mit… worüber wir vorhin geredet haben?« »Läuft noch.« »Was läuft noch?«, fragte Dillon. Johnson zögerte einen Moment. »Ach, was soll’s, ich bin sicher, Hannah weiß sowieso ebenfalls darüber Bescheid. Es ist ein spezielles Computerprogramm, genannt Synod, das Tausende von Gesprächen, Millionen von Worten speichert. Man braucht zum Beispiel nur einen Namen einzugeben, und statt
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das ganze Zeug mühselig durchzugehen, sucht der Computer dir das jeweilige Gespräch raus, und du kannst es dir anhören.« »Meine Güte, und das funktioniert?« »Erinnerst du dich an Patterson? Auf diese Weise haben wir ihn damals gefasst.« »Und welchen Namen hast du jetzt eingegeben?« »Jack Barry.« »Du bist hinter dem Verbindungsmann her.« »Genau.« »Vor lauter Wissenschaft und Technik«, seufzte Dillon, »sind Leute wie du und ich bald überflüssig.« Das Telefon läutete, und Blake hob ab. »Brigadier! Wie geht’s Ihnen? Natürlich, er ist hier bei mir.« Er reichte Dillon den Hörer. »Ferguson – für dich.« »Brigadier?« »Ich habe einige ziemlich erstaunliche Neuigkeiten für Sie…« Ein paar Minuten später legte Dillon langsam den Hörer auf. »Schlechte Nachrichten?«, fragte Blake. »Er hat mir gerade gesagt, wer seiner Meinung nach die mysteriöse Frau ist.« Blake horchte gespannt auf. »Und?« Fassungslos schüttelte er den Kopf, als er den Namen erfuhr. »Ich habe sie ja selbst kennen gelernt; eine wunderbare Frau. Aber die Fakten sind wohl eindeutig. Ich meine, diese Horrorgeschichte in Ulster hat doch stattgefunden?« »Scheint so.« Dillon schlug mit der geballten Faust auf den Tisch. »Dieser verfluchte Jack Barry soll in der Hölle schmoren!« »Lady Helen Lang.« Blake runzelte die Stirn. »Sekunde mal.« Er griff nach der Gästeliste und blätterte sie durch. »Dachte ich’s mir doch. Sie ist ebenfalls heute Abend auf Chad Luthers Party.«
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»Und?« »Nun, wir wollten ja sowieso hin.« »Sagen wir es dem Präsidenten?« »Ich weiß nicht«, meinte Blake unsicher. »Was soll ich tun? Falls der Brigadier Recht hat, hat sie mehrere Menschen getötet.« »Und mir ist gerade etwas eingefallen. An dem Abend, als Cohan im Dorchester von seinem Balkon gesegelt ist, fand in diesem Hotel doch dieses Forum für den Frieden in Irland statt.« »Ja, und?« »Helen Lang war ebenfalls dort. Ich habe mich noch mit ihr unterhalten. Eine fabelhafte Frau, Blake. Ich wusste, dass ihr Sohn in Ulster umgekommen war, aber nicht, auf welche Art und Weise.« »Sie dagegen wusste Bescheid, wie es aussieht.« »Es würde vieles erklären.« Dillon stand auf, zündete sich eine Zigarette an und lief im Zimmer hin und her. »Schon bei unserer ersten Begegnung auf der Beerdigung hatte ich das Gefühl, dass irgendwas mit ihr ist. Versteh mich nicht falsch, ich mochte sie von Anfang an, aber ich hatte in ihrer Gegenwart immer so ein komisches Unbehagen.« Blake nickte. »Ich rede besser mal mit dem Präsidenten.« Er griff nach dem Telefon und wählte die Nummer des Oval Office. »Blake Johnson für den Präsidenten. Ach so, ich verstehe.« Er legte den Hörer auf. »Er ist bereits nach Long Island abgeflogen. Na ja, wir haben noch Zeit. Ich sage es ihm dort. Das möchte ich nämlich lieber persönlich machen.« Die Tür öffnete sich und Alice kam herein. »Volltreffer!«, rief sie aufgeregt. »Aber es ist kaum zu fassen. Der Computer hat noch in den letzten Tagen Gespräche mit Jack Barry registriert. Sie kommen besser mal mit ins Tonstudio.«
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In dem kleinen schallisolierten Raum drehten sich langsam die großen Tonbänder, während sie dem letzten Gespräch zwischen dem Verbindungsmann und Barry lauschten. »Lady Helen Lang besucht morgen Abend mit lauter anderen Geldsäcken eine große Party auf Long Island, also brauchen Sie nicht daheim nach ihr zu suchen.« »Ich kann warten«, sagte Barry. »Keine Sorge. Sie ist schon so gut wie tot.« Der Computer schaltete ab. »Mein Gott, wer hätte das gedacht?«, flüsterte Alice. »Wissen Sie etwa, wer es ist?«, fragte Dillon. »O ja«, nickte Blake. »Diese Stimme würde ich jederzeit erkennen. Das ist der Stabschef des Präsidenten, Henry Thornton.« Dillon brauchte einen Moment, um diese Mitteilung zu verdauen. »Den Präsidenten trifft der Schlag, wenn er erfährt, was dieses Schwein getan hat.« »Das kannst du laut sagen.« Blake wandte sich an Alice. »Durchleuchten Sie ihn gründlich und sehen Sie mal, ob Sie irgendein Motiv finden können.« Er blickte auf seine Uhr. »Ich muss mich noch um einige Sachen kümmern, aber buchen Sie Dillon und mich in zwei Stunden auf den Hubschrauber nach Long Island.« »Mache ich sofort.« »Ein starkes Stück, Blake, aber wirklich«, sagte Dillon. »Ich bin ganz schön wütend, das kannst du mir glauben, mein Freund. Für mich gibt’s nichts Schlimmeres als Verrat.« »Was ist mit Ferguson?« Blake überlegte einen Augenblick. »Ich vertraue dir, Sean, und ich vertraue Ferguson. Aber er soll es für sich behalten und nicht dem Premierminister berichten. Die Regelung dieser Angelegenheit ist Sache des Präsidenten.« In seinem Büro im Verteidigungsministerium hörte sich Fer-
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guson mit ernstem Gesicht an, was Dillon berichtete. »Ja, das müssen wir wirklich Blake und dem Präsidenten überlassen. Ich bin froh, dass Sie dort sind. Es ist ungeheuerlich. Am liebsten würde ich diesen Verräter am Kragen packen und höchstpersönlich erschießen. Andererseits… ich will ganz offen sein, Sean. Wir kennen uns ja nun schon einige Zeit.« Er zögerte einen Moment. »Lady Helen Lang ist eine gute Freundin von mir.« »Sie brauchen nicht weiterzureden, Brigadier. Ich werde tun, was ich kann.« »Danke, Sean.« Lady Helen und Hedley konnten nach der Landung der Gulfstream ohne nennenswerte Kontrolle den Flughafen Westhampton verlassen. Sie hatte sich im Flugzeug umgezogen und trug ein Abendkleid aus schwarzer Seide; Hedley wie üblich seine graue Uniform. »Cocktails um sechs«, sagte sie, »also in knapp einer Stunde, ist die Limousine bereit?« »Natürlich.« »Sagen Sie Captain Frank, ich möchte spätestens um zehn Uhr wieder zurück nach England starten.« »Sind Sie sicher?« »Absolut. Kümmern Sie sich gleich darum.« Nachdem Hedley gegangen war, nahm sie das Handy aus ihrer Tasche. »Hallo, Mr. Barry, ich bin’s.« »Ja, und ich weiß inzwischen, wer Sie sind, Sie Hexe. Ich weiß sogar, wo Sie sind – auf Long Island.« »Meine Güte, Sie sind aber bestens informiert.« »Jawohl, und jetzt geht’s Ihnen an den Kragen, Lady Helen Lang. Ich kenne Ihre Londoner Adresse und Ihr Haus in Norfolk. Was ich mit Ihrem Sohn gemacht habe, ist nichts im Vergleich dazu, was ich mit Ihnen machen werde.« 240
»Aber Mr. Barry, Sie sind ja ganz aufgeregt. Das ist gar nicht gut für Ihr Herz«, sagte Helen und schaltete ab. Chad Luther war in Charlesville, Texas, als drittes von sechs Kindern eines Farmers geboren worden, der von jeher ein Versager gewesen war. Nachdem fünf der Kinder gestorben waren, hatte er nur noch getrunken und war in völlige Apathie versunken. Chad war nach Vietnam eingezogen worden, wo er zwei Jahre verbrachte hatte und entdeckte, dass er kämpfen konnte. Bei seiner Rückkehr nach Hause lebte sein Vater nicht mehr, seine Mutter lag im Sterben, und er hatte sämtliche vierhundertachtundzwanzig Morgen Land geerbt, unfruchtbar und nutzlos – bis gleich nebenan Öl entdeckt wurde. Die Ölgesellschaften hatten ihm förmlich die Tür eingerannt, und Chad hatte den Preis auf zehn Millionen hoch getrieben. Das war der Anfang seines Imperiums gewesen, das aus Ölfirmen, Bauunternehmen und Freizeitparks bestand; aus den zehn Millionen waren inzwischen achthundert geworden und Luther verkehrte in der Gesellschaft der Reichen, Schönen und Mächtigen, wozu auch Politiker wie der Präsident zählten. Sein Besitz in Quogue war sein besonderer Stolz. Die prachtvolle Villa umgaben Rasenflächen, die bis hinunter ans Meer reichten, wo sich in einer kleinen Bucht ein Pier für seine Jacht und etliche Motorboote befand. Allmählich senkte sich die Dunkelheit herab, das Haus erstrahlte in festlicher Beleuchtung, Musik drang aus den Fenstern, und alles, was Rang und Namen hatte, war zu Gast – selbst wenn man niemand war, wie Dillon boshaft behauptet hatte. Luther, der einen Abendanzug aus blauen Samt und ein gerüschtes Hemd trug, begrüßte den Präsidenten und Henry Thornton. »Ist mir eine besondere Ehre, Mr. President.« »Ich freue mich, hier zu sein, Chad.« »Wir haben im Erdgeschoss ein Apartment für Sie vorbereitet.« Luther ging mit dem Präsidenten voraus; Thornton und 241
Clancy Smith folgten ihnen. In einem holzgetäfelten Wohnzimmer brannte ein Feuer im Kamin; die Verandatüren standen offen und boten freien Blick auf das Meer. Bis zum Strand waren es nur einige Meter. »Sehr schön«, lächelte Cazalet. »Ich freue mich darauf, Sie später beim Abendessen zu sehen, Mr. President.« »Ist mir ein Vergnügen.« Luther verabschiedete sich, und Jake Cazalet flüsterte seinem Stabschef zu. »Was mache ich nicht alles für Amerika.« Zur gleichen Zeit, als der Hubschrauber mit Blake und Dillon auf dem Flughafen Westhampton landete, wo eine Limousine auf sie wartete, hielt Hedley vor der Villa. Lady Helen stieg aus dem Lincoln und strich ihren Rock glatt. »Wie sehe ich aus?« »Prachtvoll, wie immer.« Hedley steckte sich die Plastikkarte an, die man ihnen geschickt hatte, um sich auszuweisen. »Wir sehen uns später.« Sie ging die Eingangstreppe hinauf und sah sich zwei Männern vom Secret Service gegenüber. »Ihre Einladung, bitte.« Bereitwillig öffnete Lady Helen ihre Handtasche, um die Karte herauszuholen. Ein eisiger Schreck überlief sie, als sie dabei die Pistole berührte. Gott, wie hatte sie nur so dumm sein und erwarten können, die Waffe an den Sicherheitsleuten vorbeizuschmuggeln? Sicher würde man ihre Tasche durchsuchen – und dann? Sie war wie erstarrt, die Zeit schien stillzustehen, doch in Wirklichkeit waren nur ein paar Sekunden vergangen, da drängte sich Chad Luther eilig durch die Menge. »Seien Sie nicht albern, diese Frau braucht doch keine Einladung vorzuzeigen. Mein liebes Mädchen«, er küsste sie auf die Wange, »du siehst fabelhaft aus. Beim Dinner sitzt du mit mir und dem Präsidenten am Kopf der Tafel.« »Du warst immer schon ein Schatz, Chad.« »Das von dir zu 242
hören, ist ein reines Vergnügen. Und jetzt komm, ich möchte dir gern jemanden vorstellen.« Die Männer vom Secret Service wollten protestieren, aber ehe sie noch etwas sagen konnten, hatte Luther sie schon ins Haus gezogen. Lächelnd nahm sie ein Glas Champagner, das ein Kellner ihr reichte, und mischte sich unter die Gäste. Dillon und Blake erschienen wenige Minuten später und machten sich auf die Suche nach dem Präsidenten, der jedoch förmlich umlagert wurde. »Keine Chance, im Moment an ihn heranzukommen.« »Wir haben Zeit.« Dillon betrachtete den Sitzplan des Esszimmers, der an der Tür hing. »Was für ein Jammer, für uns ist kein Platz reserviert.« »So ist das Leben«, entgegnete Blake. »Ich muss noch einiges abklären. Behalte unseren Hauptdarsteller im Auge.« Dillon zündete sich eine Zigarette an und besorgte sich ein Glas Champagner, ehe er nach draußen auf die Terrasse schlenderte. Es war kalt und ein wenig feucht, trotzdem vertraten sich einige Gäste im Garten die Füße. Helen Lang kam die Stufen herauf. »Ja, so was«, lächelte sie. »Mr. Dillon, Sie hier?« »Anscheinend treffen wir uns neuerdings öfter. Kann ich Ihnen irgendwas besorgen?« »Eine Zigarette wäre schön.« Er zog sein altes Silberetui heraus. »Bitte sehr.« »Und was bringt Sie hierher, Mr. Dillon?« Er beschloss, einen Vorstoß zu riskieren. »Oh, vielleicht das Gleiche wie Sie, Lady Helen. Wir haben etwas gemeinsam, glaube ich. Eine bestimme Verbindung zum Weißen Haus?« Sie zeigte keine Reaktion. »Wie interessant.« »Es ist vorbei«, sagte er eindringlich. »Ich weiß nicht, was Sie vorhaben, aber es ist alles vorbei…« 243
Helen lächelte so, dass es ihm durch und durch ging. »Nichts ist vorbei, mein Freund, bis ich beschließe, dass es so weit ist.« Einen Moment lang schaute sie ihn fast versonnen an. »Mein lieber Dillon, Sie können, ohne zu zögern, jemanden töten, und trotzdem sind Sie so ein guter Mensch.« Damit wandte sie sich um und ging davon. Chad Luther drängte sich durch die Menge, die Cazalet umringte. »Der Präsident braucht eine kleine Verschnaufpause vor dem Essen, meine Damen und Herren. Bitte.« »Vielen Dank, Chad«, flüsterte Cazalet. Luther brachte ihn in die Wohnung im Erdgeschoss. »Das Bad ist dort hinten, Mr. President und falls Sie einen Drink brauchen, finden Sie, glaube ich, alles hier drinnen.« Er öffnete eine Täfelung in der Wand, hinter der sich eine verspiegelte Bar verbarg. »Chad, Sie sind wie immer der perfekte Gastgeber.« »Dann lasse ich Sie jetzt allein.« Clancy Smith hatte sich unterdessen im Arbeitszimmer umgeschaut, überprüfte danach das Bad und warf einen Blick auf die Terrasse. »Clancy, Sie schnüffeln hier herum wie ein Jagdhund«, sagte Cazalet. »Dafür werde ich schließlich bezahlt, Mr. President. Im Garten sind Männer vom Secret Service. Ich halte mich im Flur auf.« Er ging hinaus in den Korridor und schloss die Tür. Cazalet überlegte, ob er sich wirklich einen Drink genehmigen sollte. Er nahm eine Flasche Scotch aus einem Regal, änderte dann jedoch seine Meinung und stellte sie zurück. Besser nicht. Es würde schließlich eine lange Nacht werden. Stattdessen kramte er ein Päckchen Marlboros aus seiner Tasche, zündete sich eine Zigarette an und öffnete die Terrassentür. Der Regen hatte aufgehört, und am Himmel war die Sichel des Halbmonds zu sehen. Eine mit Kiefern bestandene Rasen244
fläche erstreckte sich bis zum Strand der schmalen Bucht. Neben einem Bootshaus war ein hölzerner Anleger, an dem ein prachtvolles Rennboot vertäut lag. Hin und wieder schlenderte ein Paar vorbei. Cazalet genoss die friedliche Stimmung und atmete tief durch, als eine ruhige Stimme sagte: »Dürfte ich fragen, ob Sie mir wohl Feuer geben könnten?« Er wandte sich um. Unten an der Treppe stand Helen Lang. Lady Helen war durch den Garten geschlendert und hatte das merkwürdige Gefühl gehabt, an einem Endpunkt angelangt zu sein. Ein Anfall von Atemnot hatte sie gezwungen, sich auf eine bequeme Bank zu setzen. Sie hatte zwei Tabletten geschluckt und gewartet, bis sie sich besser fühlte. Dabei hatte sie über Cazalet nachgedacht. Sie musste jetzt handeln, denn später am Abend hatte sie vielleicht keine Gelegenheit mehr, doch irgendwie fühlte sie sich plötzlich unsicher. Cazalet war ein guter Mann, ein Kriegsteilnehmer aus reicher und mächtiger Familie, der sich ohne weiteres vor der Einberufung hätte drücken können; trotzdem hatte er sich für den Dienst in Vietnam entschieden und war etliche Male ausgezeichnet worden. Er war ein besonnener, fortschrittlicher Präsident geworden und nicht der Arroganz der Macht erlegen. Jahrelang hatte er seiner Frau beigestanden, die an Leukämie gelitten hatte. Ein guter Mensch war er sicher, aber das war auch Peter gewesen. Und die Zeit war so knapp. Helen stand auf und ging einen Pfad entlang zurück zum Haus. Dabei sah sie, wie die Terrassentür geöffnet wurde und Cazalet heraustrat. Nach einem kurzen Zögern öffnete sie ihre Handtasche, um ihr silbernes Zigarettenetui zu suchen, wobei ihre Finger die Pistole streiften. »Dürfte ich fragen, ob Sie mir wohl Feuer geben könnten?« »Aber natürlich.« Cazalet kam die Treppe herunter. Sie umfasste sein Handgelenk, während er sein Feuerzeug 245
aufflammen ließ. »Das ist aber wirklich ungewöhnlich. Eine alte Lee-Enfield-Patrone.« »Ein Souvenir aus Vietnam, aber warum kennen Sie sich damit aus?« »Mein Mann war Oberst in der englischen Armee; er hatte ein ganz ähnliches. Sie werden sich nicht an mich erinnern. Wir sind uns nur einmal flüchtig bei einer Veranstaltung in Boston begegnet. Ich bin Lady Helen Lang.« Cazalet lächelte herzlich. »Aber natürlich. Mein Vater und Ihr Vater haben damals in den alten Tagen in Boston Geschäfte miteinander gemacht. Soviel ich weiß, haben Sie einen englischen Baronet geheiratet.« »Sir Roger Lang.« »Ist er ebenfalls hier?« »O nein, er ist vor zwei Jahren gestorben. Unser Sohn wurde getötet, als er in Nordirland Dienst tat, und mein Mann war alt und gebrechlich. Der Schock war zu groß für ihn.« »Das tut mir aufrichtig Leid.« »Ja, das glaube ich.« Impulsiv griff er nach ihrer Hand, doch ehe sie weiterreden konnte, klopfte es an der Tür des Arbeitszimmers. »Entschuldigen Sie mich«, sagte Cazalet und eilte die Treppe hinauf. Auf der Terrasse zögerte er und schaute sich noch einmal um, aber sie war spurlos verschwunden. Dillon und Blake standen in einer Ecke des überfüllten Ballsaals, als Blakes Handy anschlug. Es war Alice Quarmby. »Ich habe Thorntons Umfeld überprüft, Chef, und was glauben Sie, was ich entdeckt habe! Hören Sie sich das mal an…« Blake lauschte einige Minuten lang mit ausdruckslosem Gesicht. »Danke, Alice«, sagte er schließlich, »Sie sind ein Engel.« »Irgendwas Wichtiges?«, fragte Dillon. »Das kann man wohl sagen. Thornton ist unser Mann, so viel
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steht fest, und jetzt weiß ich auch, warum. Ich erkläre es dir später. Jetzt suchen wir besser erst mal nach dem Präsidenten.« »Er scheint nicht hier zu sein.« »Dort drüben ist Luther. Er weiß sicher, wo er steckt.« Im Näherkommen sahen sie, dass Luther sich angeregt mit Henry Thornton unterhielt. Beide hatten ein Glas Champagner in der Hand und schienen bester Laune. »Na, Sie trinken ja gar nichts«, tadelte Luther, an Blake gewandt. »Die Pflicht ruft, Chad. Das ist Mr. Dillon, ein Kollege von mir aus London. Der Präsident wollte ihn sprechen, wenn er ankommt.« »Er ruht sich gerade aus.« Der Stabschef reichte ihm die Hand. »Mr. Dillon, ist mir ein Vergnügen. Ihr Ruf eilt Ihnen voraus, Sir.« »Das ist gut zu wissen.« Thornton stellte sein Glas ab. »Ich weiß, wo der Präsident ist, und bringe Sie hin. Kommen Sie mit, meine Herren.« Clancy Smith saß im Flur auf einem Stuhl neben der Tür. »Alles okay, Clancy?« »Bestens, Mr. Thornton.« Der Stabschef klopfte, öffnete die Tür und ging hinein. Cazalet stand draußen auf der Terrasse. »Irgendwas los, Mr. President?«, fragte Thornton. »Nein, ich habe nur gerade mit einer sehr ungewöhnlichen Frau geredet, aber sie ist offenbar verschwunden. Ja, Mr. Dillon«, lächelte er und drückte ihm herzlich die Hand. »Ist mir eine Freude, Sie zu sehen.« »Diesmal nur leider kein erfreulicher Anlass, Mr. President. Ich glaube, Sie würden lieber den Boten umbringen, als zu hören, was Blake und ich zu sagen haben.« »So schlimm?« Cazalet lehnte sich gegen die Balustrade. »Dann stecke ich mir besser erst eine Zigarette an.« Er nahm eine Marlboro heraus und Dillon gab ihm mit seinem Zippo
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Feuer. »Okay, meine Herren, lassen Sie hören.« Unten im Garten stand, hinter einigen Sträuchern versteckt, Helen Lang. »Sie wissen ja Bescheid über die Söhne Erins, Mr. President«, sagte Blake. »Wir hatten immer das Gefühl, dass die Morde auf das Konto einer Person gehen und dass es für diese Taten ein handfestes Motiv geben müsse.« Cazalet nickte. »Rache für irgendeine schreckliche Tat.« »Ja, und jetzt wissen wir, dass tatsächlich eine furchtbare Tragödie dahinter steckt.« Er wandte sich zu Dillon um. »Sean?« »Jahrelang hat unser Verbindungsmann im Weißen Haus Informationen des englischen Geheimdiensts an Jack Barry und die Söhne Erins weitergegeben. Aufgrund solcher Informationen konnten Barry und seine Männer vor drei Jahren die Mitglieder einer Undercovergruppe der britischen Armee umbringen. Der Anführer war ein Major Peter Lang. Er wurde gefoltert, ermordet und in einen Betonmischer geworfen.« »Ein wirklich abscheuliches Verbrechen«, sagte Blake. »Moment, habe ich das richtig verstanden?«, fragte Cazalet. »Major Peter Lang?« »Genau.« »Ich habe gerade eben mit einer Lady Helen Lang geredet, die mir erzählt hat, ihr Sohn sei in Irland getötet worden.« »Ja, Sir«, nickte Dillon. »Sie ist seine Mutter.« »Und sie ist diejenige, die für die Ermordung der Söhne Erins verantwortlich ist«, ergänzte Blake. Der Präsident war sprachlos, aber Thornton erwiderte: »Ach, das gibt’s doch nicht. Eine einzelne Frau? Eine alte Dame? Das kann ich nicht glauben.« »Ich fürchte, es ist leider kaum daran zu zweifeln«, entgegnete Blake. »Ja, sie hat ihre Sache ziemlich gut gemacht, wenn man es
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sich recht überlegt«, sagte Dillon. »Nur Jack Barry und der Verbindungsmann sind noch übrig.« »Was passiert jetzt?«, wollte Thornton wissen. »Ich meine, falls diese Geschichte stimmt, warum ist diese Frau dann noch nicht verhaftet worden?« »Blake?«, fragte der Präsident. »Ich sagte, es bestehen wenig Zweifel daran, aber ich fürchte auch, dass es keinen handfesten Beweis gibt, Mr. President. Aus offensichtlichen Gründen wäre es besser, diese Angelegenheit in aller Stille zu bereinigen. Und da ist noch etwas, Sir.« »Was denn noch?« »Nun, ein entscheidender Punkt bei dieser ganzen Sache ist der Verbindungsmann selbst – der Verräter im Weißen Haus.« »Ja«, sagte der Stabschef, »aber niemand weiß, wer das ist.« »Wir schon«, erwiderte Dillon. »Wir wussten, dass Ihre Untersuchungen ergebnislos bleiben würden, Mr. Thornton, deshalb hat Blake eigene Nachforschungen angestellt.« Blake nahm einen kleinen Kassettenrekorder aus seiner Tasche. »Ich habe per Computer Telefonanrufe heraussuchen lassen, die aus dem Weißen Haus und von Washington aus mit einem Teilnehmer namens Jack Barry geführt wurden. Alle Gespräche, die der Computer entdeckte, konnten wir uns sofort anhören.« »So was funktioniert?«, fragte Cazalet. »Wir haben Aufzeichnungen von etlichen Anrufen, Mr. President, aber ein Einziger wird genügen.« Er stellte den Kassettenrekorder auf die Balustrade und schaltete ihn ein. Die Stimme war deutlich zu hören. »Lady Helen Lang besucht morgen Abend mit lauter anderen Geldsäcken eine große Party auf Long Island, also brauchen Sie nicht daheim nach ihr zu suchen.« »Ich kann warten«, sagte Barry. »Keine Sorge. Sie ist schon
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so gut wie tot.« Blake schaltete den Rekorder ab und Cazalet wandte sich entsetzt zu seinem Stabschef um. »Mein Gott, Henry, das ist ja Ihre Stimme!« Thornton schien förmlich zusammenzusacken und lehnte sich mit gesenktem Kopf gegen die Balustrade. Er verharrte einen Moment und atmete tief durch, doch als er aufschaute, funkelten seine Augen vor Zorn. »Warum, Henry, warum?«, fragte Jake Cazalet. »Ich glaube, diese Frage kann ich Ihnen beantworten«, sagte Blake. »Korrigieren Sie mich, Thornton, wenn ich mich irre. Ihr Großvater hatte einen unehelichen Sohn, der in Dublin geboren wurde. Dieser Halbbruder Ihrer Mutter war als Freiwilliger mit Michael Collins beim Osteraufstand 1916 dabei und wurde von den Briten hingerichtet.« »Gehetzt wie ein Hund und gnadenlos mit sieben Kugeln durchlöchert!«, rief Thornton. »Meine Mutter hat das nie vergessen, und ich genauso wenig.« »Und als Sie in Harvard studierten, verliebten Sie sich in ein Mädchen aus Nordirland namens Rosaleen Fitzgerald, die bei einem Feuergefecht in Belfast ums Leben kam«, sagte Blake. »Nein«, erwiderte Thornton grimmig, »Sie wurde ermordet – von englischen Soldaten, diesen Schweinen!« »Jahre später«, warf Dillon ein, »waren Sie dann Stabschef im Weißen Haus, und als diese ganzen brisanten Informationen vom britischen Geheimdienst hereinströmten, sahen Sie Ihre Chance, Rache zu nehmen.« »Wie sind Sie mit den Söhnen Erins und Jack Barry in Verbindung gekommen?«, fragte Blake. »Durch Cohan. Ich war als Gast zu einer Veranstaltung der Sinn Fein in New York eingeladen; er hatte ganz schön getrunken und fing an, über diesen Stammtisch und ihren Einsatz für die glorreiche Sache zu schwafeln.«
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»Und Barry?« »Er hielt sich in New York auf, um Waffen für die IRA zu beschaffen. Brady, der Gewerkschafter, kannte ihn und stellte ihn der Gruppe vor. Von dieser Zeit an nannten sie sich auch ›Söhne Erins‹. Cohan brüstete sich maßlos damit, einen echten IRA-Kämpfer zu kennen.« »Wie sind Sie mit Barry in Kontakt gekommen?« »Er war in der Anfangszeit des Friedensprozesses in New York, ganz legal, und wohnte unter seinem eigenen Namen im Mayfair. Seine Anwesenheit wurde in der New York Times erwähnt. Es war ganz einfach. Ich bot ihm anonym Informationen an. Für ihn blieb ich immer nur eine Stimme am Telefon.« »Und dann erwischte es einen nach dem anderen.« Thornton lächelte. »Ist das nicht das Verrückteste, das man je gehört hat? Ich meine, eine Frau wie sie? Wer hätte das gedacht?« Cazalet wandte sich an Blake. »Eine verteufelte Geschichte. Was sollen wir nur anfangen?« In diesem Moment stützte sich Thornton mit einer Hand auf die Balustrade und sprang hinüber. Er landete auf Händen und Knien, rappelte sich auf und stürmte davon, ohne zu wissen, dass Helen Lang im Schutz der Büsche gestanden und alles gehört hatte. »Das hat doch keinen Sinn, Henry!«, rief Cazalet und folgte Blake und Dillon die Treppe hinunter. Clancy Smith, der ihn rufen gehört hatte, stieß die Tür des Arbeitszimmers auf. »Mr. President?« »Kommen Sie, Clancy. Hier lang!« Cazalet rannte Dillon und Blake hinterher. Clancy alarmierte sofort sämtliche Männer vom Secret Service, ehe er sich ihnen anschloss. Helen Lang wartete, bis sie weit genug entfernt waren, und folgte ihnen dann.
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Unter den zahlreichen Gästen, die durch den Garten schlenderten, war auch Hedley, der jedoch nicht die frische Luft oder den Blick auf das Meer genießen wollte, sondern sich Sorgen um Lady Helen gemacht hatte und im Garten nach ihr suchte. Als er auf die Rückseite des Hauses kam, wurde er von Männern des Secret Service angehalten und überprüft, doch da er sich mit seinem Namensschild ausweisen konnte, gab es keine Probleme, zumal er nicht der Einzige war, der sich im Garten aufhielt. Rein zufällig entdeckte er Lady Helen gerade in dem Moment, als Präsident Cazalet hinaus auf die Terrasse trat. Sie ging die Treppe hinauf und sprach ihn an. Hedley sah, wie Thornton, Blake und Dillon erschienen und Lady Helen sich im Gebüsch versteckte, hatte jedoch keine Ahnung, was dort oben vor sich ging. Nur ihre halblauten Stimmen drangen in den Garten und dann sprang Thornton plötzlich über die Balustrade. Der Präsident und die anderen folgten ihm. Lady Helen konnte er nirgends entdecken. Beunruhigt lief Hedley in die Richtung, in die sie gegangen sein musste. Thornton zwängte sich in ein dichtes Gesträuch und tastete nach der Pistole, die er in seinen Hosenbund gesteckt hatte. Er hatte geplant, damit heute Abend Helen Lang zu erschießen, aber jetzt würde die Waffe einem anderen Zweck dienen. Inzwischen war eine gewisse Panik entstanden. Die Männer vom Secret Service, die Clancy alarmiert hatte, schwärmten durch den Garten und versetzten die bereits durch die lauten Rufe verstörten Gäste in noch größere Unruhe. Lady Helen war Thornton sofort gefolgt, als er über die Balustrade gesprungen war und sich ins Gebüsch geduckt hatte, um die anderen an sich vorbeilaufen zu lassen. Dass Hedley dicht hinter ihr war, ahnte sie nicht. Nachdem die Stimmen der Männer leiser geworden waren, sah sie Thornton wenige Schritte entfernt aus dem Gebüsch herauskommen 252
und geduckt hinunter zum Strand laufen. Er erreichte das Bootshaus und stürmte mit dröhnenden Schritten über den hölzernen Anleger zum Rennboot. Hastig begann er, dessen Vertäuung zu lösen. »Mr. Thornton!« Thornton hielt inne und drehte sich langsam um. In seiner Hand hatte er eine Smith & Wesson. Er wusste sofort, wer diese Frau war, die dort im diffusen Licht am Ufer stand. »Sie sind das – Sie alte Hexe!« »Ja, Mr. Thornton, so ist es. Alles rächt sich. Ich glaube, Sie wissen, was mit meinem Sohn geschehen ist. Und jetzt werden Sie dafür zahlen.« »Der Teufel soll Sie holen!« Thornton hob seine Smith & Wesson. Helen Lang zog die Pistole aus ihrer Tasche. Hedley, der sich unbemerkt herangeschlichen hatte, schwang sich in der Dunkelheit über die Reling des Boots und stürzte sich auf Thornton, der sich umdrehte und die Waffe auf ihn richtete. Doch ehe er abdrücken konnte, traf Helen ihn in den Hinterkopf. Thornton sank in die Knie und fiel aufs Gesicht. »Warten Sie auf dem Parkplatz auf mich«, befahl Hedley. »Ich mache das hier schon. Gehen Sie.« Sie wandte sich um und eilte davon. Das Londoner Büro ihrer Firma hatte Lady Helen eine genaue Beschreibung von Chad Luthers Anwesen geschickt, die Hedley sich eingeprägt hatte. Daher wusste er, dass die Bucht von einem Riff begrenzt wurde, das nur bei Flut passierbar war. Jetzt war Ebbe. Er ging ins Steuerhaus und startete den Motor, sprang auf den Pier und löste die Vertäuung. Das Boot raste los und prallte mit einer solchen Wucht auf das Riff am Eingang der Bucht, dass es in die Luft geschleudert wurde und in einem Feuerball explodierte. Aus dem Garten hörte man die bestürzten Schreie der Gäste
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und die Rufe der Männer vom Secret Service, die sich miteinander verständigten. Hedley versteckte sich im Gebüsch, als der Präsident mit Blake und Dillon am Strand erschienen. »O mein Gott!« Cazalet starrte auf die Flammen draußen auf dem Riff. Rasch machte Hedley sich auf den Rückweg und hörte plötzlich eine Frauenstimme – Lady Helen. »Lassen Sie mich!« »Tut mir Leid, aber ich muss in Ihre Handtasche schauen.« Im sanften Licht einer Gartenlampe erkannte er Clancy Smith, der sie am Arm festhielt. Hedley sprang auf ihn zu und riss ihn zur Seite. »Lass sie los, verstanden!« »Secret Service, Leibwächter des Präsidenten«, sagte Clancy. »Ich mache nur meinen Job.« »Nicht bei dieser Dame, klar?« Clancy, ein Golfkriegsveteran, wusste, wann es ernst wurde, und riss seine Beretta aus dem Schulterhalfter. Hedley reagierte ganz automatisch. Blitzschnell schlug er die schallgedämpfte Waffe zur Seite, aus der sich ein dumpfer Schuss löste, und verdrehte ihm den Arm. »Du warst bei den Special Forces, was?« »Leck mich.« Clancy hatte so etwas noch nie erlebt. Dieser Kerl besaß ja Bärenkräfte. »Mach keinen Blödsinn, Junge. Ich hab nämlich drei Dienstzeiten bei den Marines in Vietnam absolviert und es bis zum Sergeant Major gebracht. Der Golfkrieg war dagegen ein vergnüglicher Ausflug. Jetzt lass deine Knarre los.« Clancy Smith war sicher kein Feigling, aber diesem Gegner war er nicht gewachsen. Er ließ seine Beretta fallen. Hedley tastete nach den Handschellen, die er bei sich trug, fesselte ihm die Arme auf dem Rücken und stieß ihn zu Boden. »Nimm es nicht persönlich. Ich habe mehr Leute getötet, als
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du dir vorstellen kannst. Gehen wir«, nickte er Helen zu. Sie eilten den Pfad entlang, während Clancy sich mühsam auf die Füße rappelte. Kurz darauf fanden ihn zwei seiner Kollegen. Hedley half ihr in die Limousine, warf sich hinter das Lenkrad und startete den Motor. »Alles okay?« Lady Helen war etwas außer Atem. »Bestens. Zurück zum Flughafen, Hedley. Rufen Sie dort an, dass alles zum sofortigen Abflug nach London bereit ist.« Er griff nach dem Telefon. »Sie haben mit dem Präsidenten gesprochen?« »Ja. Ein guter Mann, Hedley. Und ein glücklicher.« Ohne etwas auf ihre Bemerkung zu erwidern, erledigte er den Anruf, ehe er fragte: »Also, was war da eben los? Wer war dieser Kerl?« »Der Verbindungsmann, der sein gerechtes Ende gefunden hat – ein gewisser Henry Thornton, Stabschef im Weißen Haus.« »Guter Gott! Das ist wirklich nicht zu fassen.« »Und noch etwas sollte ich Ihnen erzählen. Sie wissen über mich Bescheid – der Präsident, Blake Johnson, Dillon, Ferguson. Es ist vorbei.« Hedley war entsetzt. »Was wollen Sie jetzt machen?« Lady Helen zündete sich eine Zigarette an. »Fahren Sie, Hedley, fahren Sie. Später in Compton besprechen wir die ganze Situation.« Sie griff nach dem Handy und rief Barry an. »Ich bin’s wieder. Ich wollte Sie nur auf den neuesten Stand bringen.« Barry, der noch im Bett lag, setzte sich auf und angelte eine Zigarette vom Nachttisch. Es gelang ihm erstaunlicherweise, völlig ruhig zu bleiben. »Gute oder schlechte Neuigkeiten?« »Ganz schlechte, fürchte ich. Es hat sich herausgestellt, dass 255
Ihr Verbindungsmann ein gewisser Thornton war, der Stabschef des Weißen Hauses. Er hatte seinen Spaß daran, den Freiheitskämpfer zu spielen, weil ein Onkel von ihm beim Osteraufstand von den Engländern erschossen wurde und eine Freundin, die einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war, bei einem Feuergefecht mit britischen Truppen in Belfast ums Leben kam.« »Und woher wollen Sie das alles wissen?« »Oh, Sean Dillon und Blake Johnson haben ihn enttarnt. Auf der Party, die auch der Präsident besuchte, kam es dann zur Konfrontation. Zufälligerweise war ich im richtigen Moment im Garten und habe alles mit angehört.« »Und Thornton?« »Ich habe ihn erschossen. Danach ist er bei einer ziemlich heftigen Explosion in Stücke gerissen worden. Klingt irgendwie vertraut, nicht wahr?« Barry schwieg eine ganze Zeit lang. »Na ja«, meinte er dann, »ich schätze, damit bleiben nur noch Sie und ich. Wo sind Sie jetzt?« »Noch auf Long Island. Ich fliege jetzt gleich nach Gatwick und bin anschließend daheim in Norfolk.« »Compton Place, ich weiß.« »Demnach darf ich Ihren Besuch erwarten?« »Darauf können Sie sich verlassen.« »Das freut mich außerordentlich.« Lady Helen schaltete das Handy ab. »Sie fordern das Unglück ja geradezu heraus«, schimpfte Hedley. »Außerdem scheinen Sie zu vergessen, dass andere ebenfalls nach Ihnen suchen könnten, beispielsweise Brigadier Ferguson.« »Solange Barry als Erster kommt, ist mir das vollkommen egal, Hedley. Reichen Sie mir doch mal den Whiskey.« Helen schüttete zwei Tabletten in ihre Handfläche und spülte sie hin-
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unter. »Gut. Jetzt rasch zum Flughafen.« Clancy stand mit dem Präsidenten, Blake und Dillon auf der Terrasse und erstattete ihm Bericht. »Okay«, sagte Blake. »Er war groß, ein Farbiger und hat gesagt, er habe in Vietnam gedient?« »Genau.« »Das muss Hedley Johnson sein. Der letzte Beweis, würde ich sagen.« »Lassen Sie die Männer vom Secret Service alles absuchen«, befahl Blake. »Es sind mehr als fünfhundert Leute hier«, wandte Clancy ein. »Tun Sie’s trotzdem.« Clancy verschwand. »Was ist mit Thornton passiert?«, fragte Cazalet. »Ein bedauerlicher Unglücksfall zur rechten Zeit, oder?« »Wenn Sie es sagen, Mr. President«, meinte Dillon. »Sie glauben nicht an Unfälle?« »Hab ich noch nie getan, Mr. President. Bei dieser Lady schon gar nicht.«
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Vierzehn Etwa zur gleichen Zeit als Helen Lang mit Barry sprach, rief Dillon bei Ferguson an. »Jetzt muss ich Sie schon wieder zu früher Morgenstunde wecken, um Ihnen schlechte Neuigkeiten mitzuteilen.« »Reden Sie.« Ferguson hörte ihm schweigend zu. »Was für eine Geschichte«, seufzte er dann. »Der Stabschef? Wer hätte so etwas für möglich gehalten.« »Braucht uns jetzt nicht mehr zu kümmern«, entgegnete Dillon. »Von dem ist nichts übrig geblieben, und mir tut’s wahrhaftig nicht Leid. Wer weiß, für wie viele Morde er verantwortlich war, nicht nur für so grausame wie an Peter Lang. Heinrich Himmler wäre stolz auf ihn gewesen.« »Wo ist Helen Lang jetzt?« »Blake überprüft es gerade. Ich halte Sie auf dem Laufenden. Hier ist sie sicherlich nicht mehr.« Ferguson legte den Hörer auf, dachte einen Moment über alles nach und rief dann Hannah Bernstein an. Sie klang erstaunlich munter, doch nach vierzehn Jahren bei der Polizei war das wenig verwunderlich. »Hannah? Ich bin’s. Hören Sie zu, was für eine Geschichte ich Ihnen zu erzählen habe. Auf Long Island hat sich so was wie die moderne Version einer griechischen Tragödie abgespielt. Tut mir Leid, Chief Inspector, aber ich muss Sie bitten, gleich aufzustehen.« »Natürlich, Sir.« »Übrigens gibt es noch etwas. Der Chef von Scotland Yard hat mich gestern Abend angerufen.« »Probleme, Sir?« »Für andere vielleicht. Sie sind ab jetzt Detective Superin258
tendent der Special Branch.« »Ach, du lieber Gott«, sagte Hannah. »Das wird den Jungs in der Kantine gar nicht gefallen.« »Vergessen Sie mal Ihren Magister in Psychologie, den Sie in Cambridge gemacht haben. Darf ich so unverblümt sein und Sie daran erinnern, dass Sie meines Wissens nach viermal im Dienst getötet haben?« »Worauf ich nicht gerade stolz bin, Sir.« »Aber ich. Solche Skrupel sind wirklich nicht angebracht, Superintendent. Sie haben schließlich dabei selbst ihr Leben eingesetzt, und diese Leute hatten es alle nicht anders verdient. Ja, ich bin verdammt stolz, dass Sie für mich arbeiten. Und nun kann Kim schon mal anfangen, Rühreier zu machen. Wir warten dann zusammen auf weitere schlechte Neuigkeiten von Dillon. Ich erzähle ihnen alles genauer, wenn Sie hier sind.« Blake kam ins Arbeitszimmer, wo Dillon sich mit dem Präsidenten am Kamin unterhielt. »Gibt’s was Neues?«, fragte Cazalet. »Über Lady Helen Lang, Mr. President? Ja. Sie ist von Gatwick aus in einem der Gulfstreams ihrer Firma herübergeflogen und in Westhampton gelandet.« »Und?« »Bis ich das alles rausgefunden hatte, war sie schon wieder gestartet, kurz vor zehn.« »Ziel?« »Gatwick. Was sollen wir tun, Mr. President?« »Wegen Lady Helen?« Cazalet überlegte kurz. »Wenn man die einzelnen Gesichtspunkte abwägt, ist es wohl am besten, wir entscheiden uns für eine Version, die politisch am wenigsten Schaden anrichtet. Falls diese leidige Geschichte herauskommt, könnte der ganze Friedensprozess zunichte gemacht werden. Thorntons Tod kann als bedauerlicher Unglücksfall dargestellt werden. Ein Mann hat versucht, mich anzugreifen, 259
Thornton hat ihn verfolgt, und dabei sind beide umgekommen. Für den Tod von Brady, Kelly und Cassidy gibt es bereits plausible Erklärungen, und Tim Pat Ryan in London…« »War ein Gangster«, sagte Dillon, »dem jeder andere Gangster in London ans Leder wollte.« »Genau. Was Cohan angeht…« Cazalet zuckte die Schultern. »Ich weine diesem Dreckskerl keine Träne nach. Er hatte einfach zu viel getrunken und ist vom Balkon seines Hotelzimmers gefallen.« »Die ganze Geschichte ist also nie passiert, Mr. President?«, fragte Blake. »Die Angelegenheit ist nicht nur für das Weiße Haus, sondern auch für die britische Regierung äußerst heikel. Wir sind alle für den Frieden, doch eine solche Affäre…« »Könnte alles verderben«, nickte Blake. »Es gibt aber immer noch Jack Barry.« Dillon zündete sich eine Zigarette an. »Der letzte Überlebende. Wenn er noch verschwinden würde…« »Könnte man tatsächlich so tun, als ob die ganze Sache nie passiert wäre«, warf Blake ein. Cazalet nickte nach einer kleinen Pause. »Damit bleibt noch Lady Helen. Sie hat, soweit wir wissen, sechs Menschen getötet.« »Sie meinen also, sie muss dafür zahlen, dass sie eine Bande widerlicher Schweine, die unmittelbar verantwortlich waren für unzählige Morde und den entsetzlichen Tod ihres Sohnes, ins Jenseits befördert hat?«, fragte Dillon. »Im Sinne des Gesetzes ist sie schuldig und es handelt sich immerhin nicht um irgendwelche Kavaliersdelikte.« »Ich habe zu meiner Zeit weit mehr Menschen getötet; manchmal aus viel nichtigeren Gründen«, sagte Dillon. »Und wie ich weiß, haben Sie sich damals in Vietnam ein paar Orden verdient, Mr. President, und Blake ebenfalls. Wie viele Tote
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gingen dabei auf Ihr Konto?« »Verdammt, Dillon«, seufzte Cazalet, »Sie haben ja Recht. Trotzdem bleibt die Frage: Was machen wir mit ihr?« »Sie ist inzwischen nicht mehr im Land; damit liegt das nicht mehr im Bereich unserer Zuständigkeit«, meinte Blake. »Aber zumindest teilweise trage ich die Verantwortung.« Cazalet zögerte. »Okay, verbinden Sie mich mit Brigadier Ferguson.« Einen Moment später war Ferguson am Apparat. »Mr. President?« »Dillon hat mir, gesagt, dass Sie Bescheid wissen. Allerdings wissen Sie noch nicht, dass Lady Helen Lang in einem Gulfstream zurück nach Gatwick geflogen ist. Es ist ein einziges Schlamassel, Brigadier. Ich möchte Ihnen von dem Gespräch berichten, das ich gerade mit Dillon und Blake Johnson führte…« »Also, die Sache ist nie passiert, Mr. President«, fasste Ferguson zusammen. »Gut, ich glaube, das kriege ich hier drüben hin. Aber was ist mit Lady Helen?« »Ich hoffe, Ihnen fällt etwas ein. Sie könnten mit dem Premierminister sprechen, wenn Sie möchten. Ich rede später selbst noch mit ihm, aber wir brauchen dringend irgendeine Lösung. Am besten schicke ich Dillon und Blake zu Ihnen nach London. Ich habe hier ein Flugzeug, das sie nehmen können.« »Einverstanden. Vertrauen Sie mir«, sagte Ferguson. »Im Moment bin ich zwar eher ratlos, aber mir wird schon was einfallen.« Cazalet wandte sich an Blake und Dillon. »Sie haben ja alles mitgehört. Ich denke also, wir können dafür sorgen, dass nichts von dem, was hier geschehen ist, an die Öffentlichkeit dringt.« »Ich bleibe mit Ihnen in Verbindung«, sagte Blake. »Möglichst ständig.« Der Präsident lächelte. »Und jetzt auf 261
den Weg mit Ihnen, meine Herren.« Die Gulfstream stieg auf fünfzigtausend Fuß und begann ihren Flug über den Atlantik. Lady Helen Lang, die noch aus der Dienstzeit ihres Ehemanns die einzelnen Nummern im Kopf hatte, rief im Verteidigungsministerium an und bat, mit Brigadier Charles Ferguson zu sprechen. Es klappte überraschend problemlos. Man stellte sie ohne weitere Fragen zu Fergusons Wohnung am Cavendish Square durch. »Wer spricht da?«, meldete sich Hannah Bernstein. »Lady Helen Lang.« Helen lächelte. »Ach, ich weiß, wer Sie sind – diese ausgesprochen nette Polizeibeamtin.« Hannah stellte den Apparat auf Lautsprecher und machte Ferguson aufgeregt ein Zeichen. »Sind Sie dran, Charles?« »Sie haben sich in eine schlimme Lage gebracht, meine Liebe«, sagte Ferguson. »Charles, obwohl Sie unausstehlich sind, habe ich Sie immer gemocht, aber hören Sie mir ausnahmsweise einmal zu. Alle haben den gerechten Preis gezahlt; der Stabschef war ein Bonus. Ich wusste nicht, dass er der Verbindungsmann war. Er hat versucht, mich zu erschießen, doch ich war schneller. Nicht, dass es eine Rolle spielt. Er ist am Ende bei einer ziemlich heftigen Explosion in Stücke gerissen worden. Ihr Mr. Dillon war sehr freundlich. Er hat mir gesagt, es sei alles vorbei, und er hat versucht, mir zu helfen. Ein wirklich liebenswerter Mann.« »Falls er nicht gerade andere Leute umbringt.« »Ach, Charles, genau dasselbe machen Sie doch schon seit Jahren.« »Helen, sagen Sie mir eines: Woher wussten Sie es?« »Durch den armen Tony Emsworth, der kurz vor seinem Tod von Schuldgefühlen gequält wurde. Er besaß eine illegale Kopie aus dem SIS, in der die ganze Geschichte aufgezeichnet war. Darin fand ich alle Namen verzeichnet – Ihren, den Mr. Dillons, den Ihrer netten Assistentin, den von Barry und den
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anderen Söhnen Erins.« »Ich verstehe. Und jetzt?« »Geht’s zurück nach Compton Place. Ich erwarte Gäste – Mr. Jack Barry und seine Freunde. Er konnte meiner Einladung nicht widerstehen und hat versprochen, schnellstens zu kommen.« Ferguson war sprachlos. »Das können Sie nicht machen, Helen!« »O doch. Er ist der Letzte, und er ist derjenige, der meinen Sohn tatsächlich umgebracht hat. Falls Sie sich zu uns gesellen möchten, Charles, sind Sie herzlich willkommen, aber selbst wenn es das Letzte ist, was mir auf Erden beschieden ist, will ich ihm vor meinem Ende begegnen.« Ferguson überlief ein Schauder. »Warum sagen Sie so etwas?« »Mein Herz, Charles, ist nicht mehr das beste, aber mit Whiskey und Tabletten kann man erstaunlich gut durchhalten. Doch das ist ein anderes Thema. Auf jeden Fall bin ich sicher, wenn ich ihn nicht erwische, dann erledigt das Mr. Dillon.« »Um Himmels willen, Helen!« »Mir zuliebe, Charles.« Damit unterbrach sie die Verbindung. »Was meinen Sie, Sir?«, fragte Hannah. »Was schon? Es gibt nicht einen handfesten Beweis, nicht einmal für den Mord an Tim Pat Ryan, so dass wir sie wenigstens wegen Mordverdachts verhaften könnten.« »Und?« »Wir werden sie am Flughafen erwarten. Dann sehen wir weiter.« Docherty saß in Doonreigh gerade beim Frühstück, als sein Telefon läutete. »Ich brauche einen Flug nach Compton, das ist ein Dorf an der Nordküste von Norfolk«, sagte Barry. »Und gleich wieder zurück. Es springt einiges dabei für dich raus.« 263
»Wie viele seid ihr?« »Vier, vielleicht fünf. Heute Nachmittag.« Docherty zögerte. »Ich weiß nicht. Im nördlichen Norfolk ist Militär stationiert.« »Hör zu, du Scheißer. Du kriegst zehntausend Pfund bar auf die Hand. Entscheide dich.« »Lass mir etwas Zeit, Jack. Ich will mir nur rasch die Karten anschauen. Ich melde mich wieder.« »Wann?« »In einer Stunde.« Barry knallte den Hörer hin und hätte sich am liebsten einen Drink eingeschenkt, entschied sich aber für eine Tasse Tee. Dann zündete er sich eine Zigarette an, ging zum Fenster und starrte hinaus in den Regen. Eine fast erwartungsfrohe Spannung hatte ihn gepackt. Was für eine Frau! Wie immer bewunderte Dillon den Luxus im Flugzeug des Präsidenten mit den riesigen Clubsesseln und den Tischen aus Ahornholz. Sergeant Paul, der Flugbegleiter der Air Force, brachte Kaffee für Blake, einen Bushmills für Dillon und reichte ihm das Telefon. »Für Sie, Mr. Dillon. Ein Brigadier Ferguson.« »Schon so früh auf den Beinen, Brigadier?« »Halten Sie die Klappe und hören Sie zu«, entgegnete Ferguson. »Ich habe mit ihr telefoniert.« »Und?« »Sie hat durch Tony Emsworth von der ganzen Sache erfahren. Er hatte sich illegal eine Akte kopiert, die er ihr vor seinem Tod gegeben hat. Dort drin standen alle unsere Namen, Ihrer auch, sowie die ganzen verfluchten Einzelheiten über den Tod ihres Sohnes, die der Geheimdienst unter Verschluss gehalten hatte. Sie hat mir erzählt, sie habe Thornton vor der Explosion erschossen, und Barry hat sie gesagt, sie halte sich in Compton 264
Place auf. Sie will ihn zu sich locken.« Dillon nickte. »Ja, das sieht ihr ähnlich. Er ist der Letzte, verstehen Sie? Thornton war ein Bonus. Meint sie es ernst?« »Sie hat ein Herzleiden. Mit Tabletten und Whiskey hielte sie durch, hat sie gesagt. Sie will diese Sache unbedingt zu Ende bringen, Dillon. Herrgott, so eine wunderbare Frau – und will es mit diesem Schwein aufnehmen.« »Na, na, immer mit der Ruhe.« »Wissen Sie, was sie gesagt hat? ›Wenn ich ihn nicht erwische, dann erledigt das Mr. Dillon.‹« »Ehrlich?« »Weiß der Himmel, was ich auf dem Flughafen tun soll.« »Das kann ich Ihnen sagen – gar nichts, weil sie überhaupt nicht in Gatwick landen wird. Geben Sie mir mal den Chief Inspector.« »Von nun an Superintendent.« »Sie haben es also endlich geschafft«, sagte Dillon zu Hannah. »Aber ich verkneife mir respektvolle Glückwünsche, sonst meinen Sie nur, ich sei gönnerhaft.« »Reden Sie schon, Dillon.« »Ich habe mich beim Wetterdienst erkundigt, ehe wir abgeflogen sind. Für Großbritannien sah es miserabel aus – eine dicke Nebelfront zieht über das ganze Land. Deshalb habe ich gerade unserem Boss gesagt, dass Lady Helen gar nicht in Gatwick ankommen wird, aber ich glaube, sie hatte von Anfang an überhaupt nicht diese Absicht. Sie möchte woanders landen.« »Gut, ich überprüfe das.« »Bestens. Wir sprechen uns später wieder.« Docherty rief, wie versprochen, nach einiger Zeit zurück. »Okay, ich mach’s. Wieder mit der Chieftain. In Norfolk habe ich auch so einen Kerl wie den beim letzten Mal an der Hand. Er heißt Clarke und hatte eine Fliegerschule in Shankley Down 265
auf einem alten Flugplatz aus dem Zweiten Weltkrieg. Nachdem er damit Pleite gegangen ist, hat er sich auf illegale Flüge nach Holland mit einer Cessna 310 verlegt.« »Mir egal, und wenn er zum Mars fliegt. Ist er dabei?« »Ja, ich hab schon mit ihm gesprochen. Von Shankley Down ist es höchstens eine Stunde nach Compton Place.« »Gut, alles klar. Ich bin in zwei Stunden bei dir.« Barry drückte auf die Gabel und wählte eine neue Nummer. »Quinn«, meldete sich eine Männerstimme. »Barry. Hast du Lust auf eine heiße Sache? Ein rascher Flug nach Norfolk und sofort wieder zurück?« »Um Himmels willen, Jack – nach Norfolk?« »Was machst du gerade? Liegst du wie ein Gorilla in deiner eigenen Scheiße, weil die große Zeit vorbei ist? Ein zweistündiger Flug, Landung auf einem verlassenen Rollfeld und zwei Stunden Rückflug.« »Und dazwischen?« »Tun wir das, was wir am besten können.« »Wie viele?«, fragte Quinn aufgeregt. »Du, ich, Dolan, Mullen, McGee. Bist du dabei?« »Aber allemal!« »Wir treffen uns in zwei Stunden bei Docherty. Falls die Jungs nicht können, machen wir zwei es allein. Bringt die nötige Ausrüstung mit.« »Wir sind zur Stelle, Jack, wir alle, das schwöre ich. Es lebe die Sache der Söhne Erins!« Barry legte auf. »Ja, und wie«, sagte er verdrießlich und schenkte sich dann doch einen Whiskey ein. Der Copilot der Gulfstream informierte Helen Lang über die Wetterbedingungen in Großbritannien. »Also, nicht gut«, meinte sie. »Wir kämen in Gatwick schon irgendwie runter, Lady Helen. Es liegt ziemlicher Nebel über dem ganzen Land, aber wir 266
könnten es schaffen.« »Was ist mit dem Flughafen East Midlands? Sieht es dort besser aus?« »Wesentlich besser.« »Dann landen wir dort«, lächelte sie, ohne sich anmerken zu lassen, dass sie dies von Anfang an im Sinn gehabt hatte. »Ich fahre sowieso nach Norfolk, das wäre also ganz bequem für mich.« »Wie Sie wünschen.« »Bestellen Sie über Funk eine Limousine. Einen Fahrer brauchen wir nicht. Hedley ist ja bei mir.« »Sie hatten das von Anfang an geplant«, sagte Hedley, nachdem der Pilot gegangen war. »Natürlich.« Lady Helen nahm sich eine Zigarette und lehnte sich zurück. »Ich bedauere nur eines – ich lasse Ihnen keine andere Wahl.« »Hab sowieso keine Wahl mehr gehabt seit dem Tag, als ich Ihnen begegnet bin«, lächelte er. Quinn und die anderen erwarteten Barry bereits in Doonreigh. Sie hatten sich im Büro des ziemlich bedrückt wirkenden Docherty versammelt und überprüften die Waffen. Aufgeregt begrüßte man Barry und klopfte ihm lachend auf die Schultern. »Worum geht’s eigentlich, Jack?«, fragte Quinn. Barry wusste aus Erfahrung ganz genau, wie er seine Leute anpacken musste. Er hatte es mit einer Gruppe von Männern zu tun, die selbst der Mafia keine Schande gemacht hätten, aber wie bei so vielen Terroristen in Irland auf beiden Seiten brauchten sie die Überzeugung, edle Freiheitskämpfer zu sein. »Kameraden, wir haben Seite an Seite für unser Ideal, ein freies Irland, gekämpft. Viele von uns sind dafür gefallen, und oft steckte dahinter Ehrlosigkeit und Verrat. Ihr habt davon nichts gewusst, aber ich leitete eine Gruppe von Söhnen Erins in New York und mit einem weiteren Mitglied in London. Vier 267
davon sind erschossen worden. Dafür verantwortlich war eine Frau, und genau dieser Frau statten wir in Norfolk einen Besuch ab, um Vergeltung zu üben. Danach fliegen wir sofort wieder zurück. Jeder, der aussteigen will, soll es jetzt sagen.« »Wir sind dabei, Jack«, erwiderte Quinn für alle, »das weißt du doch.« Barry klopfte ihm auf die Schulter. »Gut, Leute. Dann lasst uns gehen.« Die Nebelfront breitete sich allmählich über ganz England aus. Ferguson und Hannah warteten in Gatwick in einem eigens für sie reservierten Raum. Ferguson blickte aus dem Fenster. »Es ist ziemlich still geworden.« »Ich schaue mal nach.« Hannah kehrte ein paar Minuten später zurück. »Der gesamte Flugbetrieb ruht im Moment, Sir.« »Verdammt. Ist noch irgendwo offen?« »O ja. Manchester und East Midlands.« »Erkundigen Sie sich mal, ob sie vielleicht dort landen will.« Kurz nachdem Hannah verschwunden war, läutete das Telefon. »Ein Anruf für Sie, Brigadier«, meldete die Telefonistin der Zentrale. Helen Langs Stimme war klar und deutlich. »Lieber Charles, es tut mir Leid, dass wir uns verpassen. Ekliges Wetter. Wir hatten Glück, dass wir es noch geschafft haben, auf dem Flughafen East Midlands zu landen. Jetzt bin ich auf dem Weg nach Norfolk. Hier herrscht nur vereinzelt Nebel und Hedley ist ein guter Fahrer.« »Das ist Irrsinn, Helen. Hören Sie, Dillon und Blake Johnson sind zu Ihnen unterwegs. Überlassen Sie die Sache uns.« »Gott schütze Sie, Charles.« Damit legte sie auf. »Was passiert jetzt?«,fragte Hedley. »Das hängt von Mr. Barry ab.« 268
»Bei einem solchen Wetter wird er nicht mal in die Nähe von Norfolk kommen.« »Darauf würde ich mich nicht verlassen. Er ist ein gerissener Mann, der gewiss immer Mittel und Wege findet.« Sie schüttete ein paar Tabletten in ihre Hand. »Den Whiskey, bitte.« Hedley reichte ihr die Flasche. »Sie bringen sich noch um.« »Wenn ich zuerst Barry töte, ist mir das egal.« Es war später Nachmittag, als die Chieftain sich im Tiefflug der englischen Küste näherte. Es herrschte Nebel, zudem regnete es stark, aber um nicht vorn Radar erfasst zu werden, musste Docherty unterhalb der Wolkendecke bleiben. »Schaffen wir es?«, fragte Barry. »Ein Mistwetter – besser wäre, wir kehren um.« »Das schlag dir aus dem Kopf, sonst bist du bei der Landung ein toter Mann. Dieses Treffen, zu dem ich will, ist nämlich das wichtigste in meinem Leben.« Docherty war entsetzt. »Herrgott, Jack, wird schon alles klappen. Gib mir bloß eine Chance.« Verbissen konzentrierte er sich auf seine Instrumente. Sergeant Paul kam mit einem tragbaren Funkgerät in den Warteraum. »Brigadier Ferguson, Mr. Dillon.« »Da bin ich«, meldete sich Dillon. »Schlechtes Wetter, Nebel. Sie ist in East Midlands gelandet und jetzt mit dem Auto auf dem Weg nach Norfolk.« »Und?« »Sie hat mir gesagt, dass sie Barry erwartet. Ich vermute, er wird auf irgendeinem illegalen Weg direkt nach Norfolk kommen.« »Sie meinen, dass sie dann ganz allein in Compton Place ist.« »Wahrscheinlich.« »Sie könnten ja den Polizeipräsidenten von Norfolk anrufen und…« 269
»Seien Sie kein Idiot, Dillon. Vergessen Sie ein einziges Mal diesen irischen Hang zu Galgenhumor und bleiben Sie ernst.« »Jedenfalls braucht sie Unterstützung. Der gute alte Hedley ist zwar bei ihr, und er hat in Vietnam einiges gelernt, aber das ist schon Jahre her. Falls Barry tatsächlich auftaucht, wird er nicht allein kommen. Dafür kenne ich ihn lange genug.« »Dillon, der Norden Norfolks ist eine der letzten wirklich ländlichen Gegenden Englands. Wir brauchten Stunden, um mit dem Auto dorthin zu kommen, und sie ist entschlossen, diese Sache durchzuziehen. Was sollen wir tun?« »Zuerst einmal überprüfen Sie, ob wir in Farley Field landen können. Dann benachrichtigen Sie die Flight Lieutenants Lacey und Parry und sagen ihnen, dass es in die Schlacht geht.« »Was meinen Sie damit?« »Ich kenne die Nordküste von Norfolk ein wenig. Dort gibt es breite Strande, besonders bei Ebbe. Die beiden können mich hinfliegen und ich springe per Fallschirm ab. Wir haben das schon früher gemacht. Lacey kennt sich aus.« »Um Himmels willen, Dillon.« »Nur keine Panik. Ich sage Blake, dass er unseren Piloten anweisen soll, Farley anzufliegen, und rufe Sie zurück.« Damit schaltete er ab. »Farley?«, fragte Blake. »Das ist ein Versuchsgelände der Royal Air Force außerhalb von London, das kennst du doch, Blake. Wir haben dort einen Lear-Jet stehen, den die beiden Lieutenants Lacey und Parry fliegen. Wir hatten zusammen schon einige interessante Erlebnisse. Ja, und jetzt haben wir wieder mal ein Problem.« »Und das wäre?« »Lady Helen Lang will den letzten Schuldigen treffen, der in dieser ganzen verfluchten Geschichte noch übrig ist – Jack Barry. Sie hat ihn zu sich eingeladen, und er kommt bestimmt, wodurch sie in eine böse Situation geraten könnte. Compton
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Place liegt irgendwo weitab auf dem Land. Deshalb landen wir in Farley. Dort gibt es einen Waffentechniker und alles, was wir brauchen. Ich erklär’s dir gleich genauer.« Nachdem er seinen Plan mit Blake besprochen hatte, rief er noch einmal Ferguson an. »Sagen Sie Lacey, er soll einen geeigneten Strand in der Nähe von Compton Place ausmachen, wo ich per Fallschirm abspringen kann. Dann ist Lady Helen wenigstens nicht ganz allein. Sorgen Sie dafür, dass die notwendige Ausrüstung und Waffen für uns bereit sind.« Blake griff nach dem Hörer. »Entschuldigung, aber bitte alles für zwei Personen.« Dillon lachte. »Haben Sie gehört, Chief? Dieser durchgeknallte Amerikaner mittleren Alters hat beschlossen, mir beim Absprung Gesellschaft zu leisten. Er ist so eine Art Kriegsberichterstatter für den Präsidenten.« »Sie sind verrückt, alle beide!«, rief Ferguson. »Natürlich sind wir das, aber das macht weiter nichts.« Die Chieftain setzte auf der alten durchlöcherten Rollbahn von Shankley Down auf und hielt schließlich bei den heruntergekommenen Hangars, wo eine Cessna 310 stand. Neben einer Nissenhütte mit rauchendem Schornstein parkte ein alter Ford Transit, aus dem ein Mann in einer Fliegerjacke stieg. »Hallo, Clarke«, grüßte Docherty, »du siehst gut aus.« »Wo ist mein Geld?« Docherty zog einen dicken Umschlag hervor. »Zwei Riesen in bar.« Clarke betastete misstrauisch das Kuvert. »Okay?«, fragte Barry schroff. Clarke musterte den Iren und seine Freunde und wusste, dass es besser war, keine überflüssigen Fragen zu stellen. »Alles klar. Der Schlüssel steckt.« Barry tätschelte ihm das Gesicht. »So ist’s brav. Wir sind bald wieder da.« 271
Er nickte seinen Männern zu, die in den Transit stiegen. Quinn übernahm das Steuer. Dillon und Blake wurden bei der Landung in Farley Field von Ferguson und Hannah erwartet; auch Lacey und Parry waren zur Stelle. »Alles organisiert?«, fragte Dillon. »Gehen wir rein und besprechen die Sache«, sagte Ferguson. In einem leeren Raum lagen auf einem Tisch zwei Fallschirme, zwei AK-47-Sturmgewehre und zwei Brownings mit Schalldämpfern. »Ich sehe, Sie wissen, was ich am liebsten habe«, nickte Dillon und wandte sich an Lacey. »Wie sieht’s aus?« »Ich zeige es Ihnen auf der Karte, Sir.« Lacey trat an den Tisch. »Hier liegt Compton Place, fast direkt am Meer, genauer gesagt, an der Horseshoe Bay. Ein sehr breiter Strand, wenn Ebbe ist, und das ist heute Abend der Fall. Wir könnten warten, bis sie wirklich den Höchststand erreicht, aber…« »Unmöglich. Wenn wir jetzt starten, wie lange brauchen wir?« »Vierzig Minuten.« »Wir fliegen am besten mit Ihnen«, erklärte Ferguson. »Nachdem Sie abgesprungen sind, könnten wir auf dem RAFStützpunkt Bramley landen, das sind nur zwanzig Minuten Flugzeit entfernt. Wir kommen dann mit dem Auto nach.« »Überaus liebenswürdig von Ihnen.« Dillon betrachtete noch einmal die Karte und nickte. »Gut, dann probieren wir’s mit Horseshoe Bay.« Anschließend ging der Waffentechniker mit ihm und Blake die Ausrüstung durch. Sie nahmen jeder nur einen Fallschirm ohne Reserveschirm, ein AK und eine Browning. »Blake«, meinte Dillon, »es ist lange her, dass du in Vietnam warst.« »Klappe, Dillon, okay?« 272
»He, ich mein’s ja nur gut.« Sie streiften die Overalls über, legten die Schulterhalfter für die Brownings an und überprüften die AKs. Ferguson und Hannah, die sich nach der Wetterlage erkundigt hatten, kehrten zurück. »Es herrscht immer noch vereinzelt Nebel. Bei Bramley sieht es allerdings nicht so schlecht aus wie über der Horseshoe Bay.« »Na, da haben Sie ja Glück, Brigadier.« Dillon grinste Blake zu. »Los geht’s.« »Ich bin dabei.« Blake griff nach seinem Fallschirm und folgte ihm.
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Norfolk Ulster
Fünfzehn Im Transit herrschte eine beinahe übermütige Stimmung. Barry, der neben Quinn auf dem Beifahrersitz saß, informierte die Männer über das Nötigste. »Die Frau, der wir einen Besuch abstatten, heißt Lady Helen Lang, eine gebürtige Amerikanerin, aber lasst euch bloß nicht vom Augenschein täuschen. Sie hat eigenhändig mehrere Männer umgelegt – und aufpassen müssen wir auch auf ihren Chauffeur, einen riesigen Farbigen namens Hedley.« »Bloß ein Nigger.« Dolan klopfte auf seine Armalite. »Den erledige ich schon.« »Mach nur keine Dummheiten, das kann dich leicht das Leben kosten«, sagte Barry. »Wie ihr alle wisst, bin ich ein alter Vietnamveteran, und das ist auch Hedley Jackson. Er war bei den Marines, den Special Forces und hat sich einige Orden verdient. Mit dem ist nicht zu spaßen.« »Dann ist er also ein übler Nigger«, lachte Dolan. »Es ist deine Beerdigung, Kamerad.« Barry reichte den Männern auf dem Rücksitz eine großformatige Karte. »Direkt am Meer findet ihr darauf Compton Place. Es gibt auch ein Dorf namens Compton, aber das liegt fünf Meilen entfernt. Ist so ein typisches Kaff, in dem nur ungefähr fünfzig scheintote Rentner leben. Kein Problem.« »Ein Kinderspiel, Jack«, entgegnete Mullen, ein großer, bösartig aussehender Bursche mit rasiertem Schädel. »Das hättest du auch ganz allein erledigen können. Warum hast du uns bloß alle mitgenommen?« »Na ja, die Dame hat mich ausdrücklich eingeladen. Ich habe vor drei Jahren ihren Sohn getötet, einen Offizier, der als verdeckter Spitzel arbeitete. Aus diesem Grund hat sie Tim Pat Ryan in London und meine Freunde in New York umgelegt, 275
und jetzt soll ich drankommen. Es ist fast wie in einem dieser alten Western, in denen es immer heißt: Wir treffen uns im Morgengrauen auf der Straße.« »Sie muss total beknackt sein.« »Bei fünf toten Männern würde ich sagen, dass sie ihre Sache versteht. Eines Abends hat sie sogar zwei Ganoven auf der Park Avenue abgeknallt, die versuchten, irgendein Mädchen zu vergewaltigen.« »Wir putzen sie schon weg«, erwiderte Quinn. »Sie und den Schwarzen.« »Will ich auch stark hoffen. Ich hab keine Lust, sie für den Rest meines Lebens auf dem Hals zu haben, und genau das wäre der Fall, wenn sie nicht kaltgemacht wird.« Absurderweise empfand er bei seinen Worten fast so etwas wie Bedauern, was er sich selbst nicht erklären konnte. »Ist eine Kleinigkeit, Jack«, versicherte Quinn. »Ehe du es richtig begriffen hast, sind wir schon wieder auf dem Rückweg.« »Wollen wir’s hoffen. Schaut euch die Karte an und prägt euch alles ein.« Es herrschte Nebel und es regnete, als sie am späten Nachmittag das Dorf durchquerten und der schmalen Straße folgten, die sich durch die friedliche Landschaft schlängelte, bis sie Compton Place erreichten. Hedley bog in den Hof ein und stellte den Motor ab. Lady Helen war bereits ausgestiegen und schloss die Küchentür auf. Er lud das Gepäck aus und folgte ihr. »Was jetzt?« »Ich gehe mich umziehen, dann machen wir uns bereit.« »Bereit für was, Lady Helen?« »Für Jack Barry. Ja, ich weiß, was Sie sagen wollen, aber er kommt sicher, Hedley, er wird nicht widerstehen können. Andererseits könnten Charles Ferguson, Mr. Dillon und Blake Johnson…« 276
»Zuerst hier sein, und das hoffe ich.« Helen schaute hinaus in den Nebel. »Seien Sie nicht albern. In dieser Erbsensuppe brauchten sie Stunden von Gatwick aus bis hierher. Wir sehen uns in fünfzehn Minuten.« In ihrem Schlafzimmer zog sie sich aus, holte einen einteiligen Overall aus ihrem Kleiderschrank und streifte ihn über, schlüpfte in ein Paar Stiefel und nahm dann die Coltpistole aus ihrer Handtasche. Sie überprüfte das Magazin, schraubte den Schalldämpfer auf und setzte danach das Magazin wieder ein. In einer Schublade hatte sie vier Magazine verwahrt, die sie sich in die Taschen steckte. Da sie spürte, dass ihr das Atmen schwer fiel, füllte sie sich im Bad ein Glas mit Wasser, schluckte zwei Tabletten und nahm nach kurzem Zögern noch zwei weitere. »Was soll’s«, murmelte sie. »Ob es zuviele sind, spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Am Ende ist sowieso alles egal.« Sie ging die Treppe hinunter in die Küche, wo Hedley Tee aufgebrüht hatte und ihr eine Tasse reichte. »Bereit für die Schlacht, Hedley?«, fragte sie, da er sich ebenfalls umgezogen hatte und jetzt einen dunklen Trainingsanzug trug. »Es ist lange her.« »Ich glaube, manche Dinge verlernt man nie.« Helen lächelte. »Sie sind mir ein guter Freund gewesen.« »Das ist bei Ihnen keine Kunst.« Er nippte an seinem Tee. »Ich trinke Ihnen zuliebe sogar dieses verfluchte Zeug statt anständigen Kaffee. Aber wenn Sie immer noch vorhaben, diese Sache durchzuziehen, gehen wir jetzt besser in die Scheune. Zum Üben« Hedley winkte ab, als sie die Pistole, die sie in einem kleinen Halfter an der Hüfte trug, nehmen wollte, und gab ihr stattdessen eine 9-mm-Browning mit Schalldämpfer, in deren Griff er ein Magazin mit zwanzig Schuss geschoben hatte. »Damit fühle ich mich wirklich, als ginge ich in den Krieg«,
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sagte Helen. »Glauben Sie mir, das tun Sie auch. Beine spreizen, mit beiden Händen zupacken.« Helen nahm sich eine Zielscheibe nach der anderen vor und zerfetzte sie förmlich. »O lieber Gott. Und was jetzt, Hedley?« »Ganz einfach. Wir warten ab, wer zuerst hier ist.« Der Transit hielt in einem Kiefernwäldchen oberhalb von Compton Place. Gelegentlich zerriss eine Windbö den dichten Nebel, so dass sie kurz das Haus, das Grundstück und das Meer sehen konnten, ehe der Nebel wieder alles verdeckte. »Lassen wir den Transit hier stehen«, sagte Barry. »Wir gehen zu Fuß. Legt den Schlüssel unter die Matte.« »Alles klar, Jack«, nickte Quinn. »Gut. Du übernimmst die Führung.« Es begann zu regnen, als sie die Anhöhe hinuntergingen und sich dem Hof näherten. Hedley stand mit einem schallgedämpften AK 47 oben an der Scheunentreppe, die zum Boden hinaufführte. Da die Waffe mit einem Infrarotfernrohr ausgerüstet war, hatte er Quinn deutlich im Visier und drückte ab. Zufällig wandte Quinn sich exakt in diesem Moment zu Barry um; die Kugel verfehlte sein Herz und traf nur den Lauf seiner Armalite. »Heiliger Gott!« Er torkelte zurück. »Runter!«, rief Barry und kroch zu ihm. »Bist du okay?« »Ich glaub schon.« »Ein schallgedämpftes AK; ich hab den Klang erkannt. Von diesen Dingern hab ich genug in Vietnam gehört. Sie erwartet uns also. Los jetzt, ausschwärmen«, flüsterte er den anderen zu. »Bewegt euch.« Der Lear-Jet ging tiefer und tiefer und stieß bei eintausend Fuß durch den Nebel, danach hatten sie klare Sicht. In der einsetzenden Abenddämmerung sahen sie die schaumgekrönten 278
Wellen, die in die Horseshoe Bay brandeten. »Sieht nicht so gut aus«, meldete Flight Lieutenant Lacey über die Sprechanlage. »Im Moment ist der Gezeitenwechsel noch in vollem Gang. Wir brechen besser ab.« Dillon und Blake schauten zu Ferguson und Hannah Bernstein hinüber. »Ihre Entscheidung, meine Herrn«, sagte der Brigadier. »Zur Hölle, was soll’s.« Dillon griff nach dem Hebel und öffnete die Tür. »Wer will schon ewig leben?« Er grinste Blake zu. »Du bist älter und darfst zuerst.« »Sehr freundlich von dir.« Blake wartete, bis Lacey auf achthundert Fuß hinunterging, und sprang. Dillon folgte ihm. Nebelschwaden trieben durch die Luft, das Licht wurde langsam schwächer; sie wurden durch den Flugstrom des Lears gewirbelt, der steil in die Höhe stieg, und zogen beide die Reißleinen. Blake landete gerade noch auf dem Strand, doch Dillon, der ein Stück hinter ihm war, tauchte in fast zwei Meter tiefes, sehr salziges Wasser, kam wieder an die Oberfläche und kämpfte sich mit Mühe voran, da ihn der bleischwere Fallschirm behinderte. Schließlich löste er den Gurt, streifte ihn ab und watete ans Ufer. Blake kam zu ihm. »Alles okay?« Dillon nickte. »Los, weiter.« Im Schutz einiger Kiefern blieben sie kurz stehen, um einen Blick auf das Haus zu werfen. Plötzlich ertönte eine Explosion, und Rauch stieg auf. »Eine Rauchgranate«, meinte Dillon. »Los!« Sie liefen die Anhöhe hinunter. Irgendein Instinkt warnte Barry, der ein Stück zurückblieb. Quinn führte die anderen weiter zur Scheune. Hedley legte auf Mullen an, schoss ihn durch den Kopf und schleuderte eine Rauchgranate. Die Männer warfen sich zu Boden und feuerten 279
auf die Scheune. Mit eingezogenem Kopf lag Hedley auf der Treppe. Eine Kugel hatte seine rechte Schulter gestreift. Lady Helen kauerte sich neben ihn. »Sind Sie in Ordnung?« »Nur ein Kratzer, keine Sorge.« »Vorwärts, Quinn«, befahl Barry. Quinn stand auf und lief los, doch er kam nicht weit, denn Lady Helen erwischte ihn mit einem Schuss aus der Browning. Die Männer zogen sich zurück. »Kommen Sie, wir müssen rein«, drängte sie Hedley. Dolan und McGee krochen zu Barry. »Auf, Jungs, in die Scheune. Sie können uns nicht entkommen.« »Herrgott, Jack, das sagt sich so leicht«, protestierte Dolan. »Wer da zur Tür reinmarschiert, kriegt den Kopf weggeblasen.« Barry zog seine Beretta. »Du gehst entweder rein, verdammt noch mal, oder ich blase dir selbst den Kopf weg. Vorwärts, die Treppe hoch!« Dolan stand erschrocken auf, doch im gleichen Moment erschien Blake im Hof und feuerte mit seiner AK auf ihn. Dolan stürzte zu Boden. Barry kroch zu McGee. »Keine Sorge, wir schaffen das schon.« »Wo versteckst du dich, Jack?«, rief Dillon, der auf der anderen Seite des Hofs Deckung gesucht hatte. »Du bist das also, Sean. Wie immer zu spät dran!« Blake feuerte in die Richtung, aus der Barrys Stimme gekommen war, und die Männer schossen zurück. Ein brennender Schmerz durchzuckte Blakes linken Arm, doch Dillon hatte McGee ins Visier bekommen und ihn mitten ins Gesicht getroffen. Ganz plötzlich herrschte Stille. Barry kroch weiter zur Scheune, drückte leise die untere Tür auf und schlüpfte hinein. Vom Boden wehte Heu herunter. Er schaute auf und sah Lady
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Helen, die versuchte, Hedley in Sicherheit zu bringen. »Hier bin ich!«, rief er. Sie wandte sich um und zog sofort die Pistole, doch Barry hatte bereits auf sie angelegt und drückte ab. Nichts geschah. Seine Beretta blockierte, und Helen nahm sich Zeit, sorgfältig zu zielen. Doch dann schien sie plötzlich nach Atem zu ringen, sie taumelte zurück und sank auf die Knie. Barry riss das Magazin heraus, stieß ein anderes hinein und wollte gerade schießen, als Dillon zur Scheunentür hereinstürmte. »Stopp!«, schrie er und feuerte. Seine Kugel streifte Barrys Gesicht, der mit einem Schrei zurücksprang, sich jedoch rasch wieder fing und zurückschoss. Während Dillon in Deckung ging, konnte er durch die Hintertür verschwinden. In der Scheune herrschte lautlose Stille. Dillon stand auf und stieg die Treppe hinauf. Hedley, der an der Schulter blutete, lag auf dem Boden; neben ihm war Lady Helen zusammengesunken. Ihr Gesicht war fahl. Dillon kniete sich neben sie. »Was ist?« »Mein Herz, Mr. Dillon. Ich lebe schon seit einer Weile nur noch auf geborgte Zeit. Haben wir sie erwischt?« Dillon zögerte. »Die Wahrheit!« »Seine Bande schon, wie es aussieht, aber Barry nicht.« »Was für ein Jammer.« Sie schloss die Augen. Kurz darauf fuhr ein Landrover der Royal Air Force mit Charles Ferguson und Hannah Bernstein in den Hof. Dillon ging von einer Leiche zur anderen. Quinn, der mehrere Schüsse abbekommen hatte, war noch am Leben. »Herrgott, Quinn«, sagte er zu ihm, »ich habe dich seit Jahren nicht mehr gesehen.« »Dillon, bist du’s?« »Deine Kumpel hat’s erwischt.«
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»Und Jack?« »Der Teufel sorgt schon für die Seinen. Er ist davongekommen, wie üblich.« »Dreckskerl.« »Wo könnte er hin sein?« Quinn brachte ein gespenstisches Lächeln zustande. »Kostet dich eine Zigarette.« Dillon zog sein Silberetui heraus. Die Zigaretten waren trotz seiner Landung im Meer trocken geblieben. Er zündete eine an und gab sie Quinn. »Wir sind mit Docherty von Doonreigh aus in einer Chieftain rübergeflogen«, sagte Quinn. »Erinnerst du dich an ihn? Du hast ihn ja in den alten Zeiten auch gekannt.« »Klar.« »Sind auf einem Rollfeld nicht weit von hier gelandet. Shankley Down, gehört einem Mann namens Clarke. Docherty wartet dort auf uns. Ein Dreckskerl, dieser Jack. Hat immer bloß an sich gedacht. Er fliegt zurück nach Ulster, und wir anderen können zur Hölle gehen.« Seine Stimme wurde immer schwächer. »Zurück nach Spanish Head. Schon ewig sein Unterschlupf gewesen.« Die Kräfte verließen ihn. »Halt durch, Quinn«, sagte Dillon, »ich erwische ihn vielleicht noch. Weißt du nicht mehr, dass ich alles fliegen kann, was Flügel hat? Gab’s dort in Shankley Down noch ein anderes Flugzeug?« Quinn nickte. »Ein kleines, aber zwei Motoren. So eins, wo man über die Tragflächen einsteigt.« »Eine Cessna 310.« »Hol ihn dir, Dillon, mach den Dreckskerl fertig.« Die Zigarette fiel Quinn aus den Fingern, und sein Kopf rollte zur Seite. Dillon ging zu Ferguson, der telefoniert hatte und gerade sein Handy abschaltete. »Ich habe ein paar Leute angefordert. Ich glaube nicht, dass sie es bei diesem Wetter in weniger als
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vier Stunden schaffen. Was ist mit ihm?« Er deutete auf Quinn. »Tot, alle vier tot.« »Irgendjemand, den ich kenne?« »O ja, Sie können vier Namen von Ihrer Liste der dringend gesuchten Terroristen streichen.« Hannah Bernstein hatte den Erste-Hilfe-Koffer aus dem Landrover geholt und Blake einen Notverband um den Arm angelegt. Hedley, der neben Lady Helen kauerte, erhielt ebenfalls einen Verband um seine Schulter. Dillon kniete sich zu ihr. Helen lächelte ihn an. »Er ist also entkommen, Mr. Dillon. Was für ein Jammer.« Dillon nahm ihre Hand. »Das meint er nur. Ich erledige ihn für Sie, das schwöre ich.« Er half ihr auf die Füße. »Bringen Sie die Lady ins Haus.« Hannah legte einen Arm um sie. Blake hatte offensichtlich beträchtliche Schmerzen, und Hedley sah nicht besonders gut aus. »Ein schreckliches Durcheinander, Charles«, sagte Lady Helen. »Ich werde in den Zeitungen wohl nicht besonders gut wegkommen.« »Es wird nichts in den Zeitungen stehen«, versicherte Ferguson. »Meine Leute werden diesen Abschaum nach London schaffen, wo sie in einem bestimmten Krematorium eingeäschert werden. Bis morgen früh sind sie nur noch ein paar Pfund grauer Asche, und was mich betrifft, kann man sie dann in die Themse kippen.« »Und Sie haben so viel Einfluss, das anordnen zu können, Charles?« Er nahm ihre Hand. »Das kann ich.« »Kümmern Sie sich um alles Weitere«, sagte Dillon. »Ich nehme den Landrover und bin dann weg.« »Was soll das?«, fragte Ferguson.
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»Quinn hat mir erzählt, dass sie mit einem alten Bekannten von mir namens Docherty in dessen Chieftain zu einem Ort namens Shankley Down geflogen sind. Ich könnte mir vorstellen, dass Jack gerade in diesen Minuten startet, falls er nicht bereits in der Luft ist.« »Aber was können wir tun?« »Auf dem Flugplatz in Shankley Down steht noch eine Cessna 310. Ich werde Jack Barry bis in die Hölle jagen. Die 310 ist zwar ein bisschen langsamer als eine Chieftain, aber ich denke, das schaffe ich schon. Ich weiß nämlich, wohin er will.« »Spanish Head?«, warf Blake ein. »Volltreffer.« »Das wäre doch verrückt von ihm, ausgerechnet dort unterzukriechen.« »Der Kerl ist auch verrückt.« »Aber wo kannst du landen, Sean?« »Ich kenne die Gegend noch gut von früher her. Da gibt’s bei Ebbe breite Strände.« »Bei einem solchen Wetter wie heute?«, meinte Ferguson. »Sie sind übergeschnappt.« »War ich schon immer, Brigadier.« »Unter diesen Umständen, Sir, begleite ich ihn besser«, schlug Hannah Bernstein vor. »Den Teufel werden Sie«, protestierte Dillon. »Ich will Ihnen mal etwas sagen, Dillon – um mit dem Landrover wegzufahren, brauchen Sie die Schlüssel, und die habe ich. Zweitens haben Sie allein gar keine rechtliche Handhabe, etwas zu unternehmen; mit mir als Detective Superintendent der Special Branch dagegen schon, da Nordirland Teil des Vereinigten Königreichs ist.« »Herrgott, sind Sie eine harte Frau!« »Ich dachte, das wüssten Sie inzwischen längst«, lachte Ferguson. »Bleiben Sie auf jeden Fall mit mir in Verbindung.«
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Als Barry nach Shankley Down kam, standen Docherty und Clarke in einem der beiden Hangars und rauchten. Er bremste und stieg aus dem Transit. »Also, los geht’s.« »Was ist mit den anderen?«, fragte Docherty. »Sind alle tot.« »Sekunde mal«, sagte Clarke. »Was läuft denn hier für ein Ding?« Barry zog seine Beretta und schoss ihn wortlos zwischen die Augen, dann beugte er sich über ihn und zog den Umschlag mit den zweitausend Pfund aus seiner Jacke. Docherty schaute ihm nervös zu. »Jack?« »Es ist schief gegangen. Eine einzige Scheiße. Jetzt los.« Er schob Docherty aus dem Hangar. Einen Moment später rollte die Chieftain mit dröhnenden Motoren die Rollbahn hinunter und hob ab. Vierzig Minuten später bremste Dillon neben Clarkes Leiche. Hannah und er stiegen aus. »Der ist mausetot«, meinte Dillon. »Rufen Sie Ferguson über Handy an und sagen Sie ihm, dass es hier noch einen Kandidaten fürs Krematorium gibt.« Er ging in den zweiten Hangar, kletterte über die Tragfläche der Cessna auf den linken Sitz und überprüfte die Instrumente. Hannah stieg kurz darauf zu ihm in die Maschine. »Alles okay?« »Die Tanks sind voll, falls Sie das meinen. Hören Sie, Barry ist schon unterwegs, und die Chieftain ist sehr viel schneller als diese Kiste. Von Doonreigh aus sind es ungefähr vierzig Meilen bis Spanish Head, aber ich werde ihn trotzdem einholen, weil ich am Strand unterhalb der Klippen landen will.« »Ist Ebbe oder Flut?« »Das werden wir unterwegs überprüfen. Falls Ihnen nicht 285
ganz wohl bei der Sache ist, brauchen Sie nicht mitzukommen.« »Sie können mich mal, Dillon.« Hannah schloss die Kabinentür, legte ihren Sitzgurt an und griff nach dem zweiten Kopfhörer. »Drehen Sie die Skala einfach auf fünf. Da hören Sie das Wetter für Großbritannien und dann suchen Sie nach dem Bericht für Ulster.« Dillon setzte ebenfalls seine Kopfhörer auf, startete nacheinander die beiden Motoren und rollte hinaus zum Ende der Piste. »Wie lange?«, fragte Hannah über ihr Mikrofon. »Anderthalb Stunden mit Rückenwind, zwei bei Gegenwind. Warum?« »Laut Wetterbericht ist an dieser Küste genau in einer Stunde Gezeitenwechsel. Der Nebel klärt sich auf, Halbmond.« »Klingt interessant.« Dillon lächelte ihr zu, gab Gas und raste die Rollbahn hinunter. Obwohl es mittlerweile dunkel war, landete die Chieftain sicher in Doonreigh. Barry hatte sich unterwegs an Dochertys Bordbar bedient, mit etwas Whiskey die blutende Schusswunde in seinem Gesicht gesäubert und anschließend die halbe Flasche geleert. Als die Chieftain ausrollte und vor den Hangars stehen blieb, öffnete er die Tür und stieg aus. Der Nebel war verschwunden, aber es regnete stark. »Da wären wir wieder auf Heimatboden.« Docherty kletterte ebenfalls aus der Maschine. »Und du hattest mir zehntausend Pfund in bar versprochen, Jack.« »Ach je, wie konnte ich das vergessen? So was!« Barry zog seine Beretta und schoss ihn zweimal ins Herz. Einige Augenblicke später fuhr er davon.
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Es wurde immer dunkler, während sie über die Irische See flogen, doch der Himmel klarte auf, und der Mond spendete etwas Licht. »Ob wir es schaffen, Sean?«, fragte Hannah. »Ach, immer positiv denken, Mädchen.« Eine merkwürdige Nähe war plötzlich zwischen ihnen entstanden. Dillon flog inzwischen sehr tief, knapp fünfzehnhundert Fuß hoch. Man konnte bereits die Küste und die Kliffs von Nordirland erkennen. Prüfend betrachtete er die Karten auf seinen Knien, korrigierte ein wenig den Kurs und ging auf sechshundert Fuß hinunter. »So stimmt’s. Jetzt nur noch geradeaus. Gibt bloß ein Problem. Die Flut kommt ziemlich rasch.« Dillon überflog die Kliffs und das Schloss. »Ist es das?«, fragte Hannah. »Jawohl, Spanish Head in seiner ganzen Pracht.« Er wendete, nahm wieder Kurs hinaus auf See, ging in eine Kurve und fuhr das Fahrwerk aus. »Los geht’s. Versuchen Sie zu beten. Vielleicht hilft’s.« Schaumgekrönte Wellen donnerten auf den Strand, von dem nur noch ein schmaler Streifen übrig war. Dillon flog in knapp fünfzehn Meter Höhe über das Wasser. Haarscharf hinter den Wellen gruben sich die Räder in den nassen Sand, die Cessna schoss noch ein Stück vorwärts und kam endlich zum Stehen. Dillon schaltete die Motoren ab, und plötzlich herrschte tiefe Stille. Die See sah im Mondlicht ruhig und friedlich aus. Er lächelte. »Hübscher Anblick, was?« »Machen Sie das nicht noch mal mit mir«, flüsterte Hannah. »Nie wieder! Können wir jetzt aussteigen?« »Wäre angebracht. In ein paar Minuten kriegen Sie nämlich nasse Füße.« Sie entdeckten einen Pfad, der durch die Klippen nach oben führte. Ganz in der Nähe sahen sie das Schloss.
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»Was jetzt?«, fragte Hannah. »Ist doch klar. Wir gehen erst mal zum Pförtnerhaus.« Der alte John Harker hatte in der Küche des Häuschens gerade seinen Wasserkessel aufgesetzt, als er einen Luftzug im Nacken spürte. Er drehte sich um und sah Dillon und Hannah in der offenen Tür stehen. »Erinnern Sie sich an mich?«, fragte Dillon. »Mein Gott!« »Ist seine Lordschaft aufgetaucht?« »Vor zehn Minuten. Woher wussten Sie das?« »Ich weiß alles. Nehmen Sie Ihre Laterne, und dann bringen Sie uns hübsch brav durch den Garten. Ich entscheide, was wir tun, wenn wir am Schloss sind.« »Wie Sie wollen«, Harker zögerte. »Ist es jetzt mit ihm aus?« »Wenn es nach mir geht, ja.« »Dann danke ich Gott dafür.« Harker nahm eine große Taschenlampe von einem Haken. »Dieser Geheimgang hinter der Wandtäfelung in der Bibliothek führt runter in die Eingangshalle. Gehen wir.« Barry hatte sich zuerst im Arbeitszimmer, das im Erdgeschoss lag, einen großen Whiskey eingeschenkt und war dann die Treppe hinauf in die Bibliothek gegangen. Während er den Whiskey trank, betrachtete er die Porträts seiner Vorfahren. Alle hießen Francis, nur er war nach dem Ahnen benannt worden, der die Uniform der Konföderierten getragen hatte und irgendwie amüsiert zu lächeln schien. »Bastard«, sagte Barry und trank dem Porträt zu. »Arroganter Bastard, aber warst ein guter Soldat.« Hinter ihm öffnete sich die Tür. Dillon und Hannah traten ins Zimmer. Dillon war unbewaffnet, doch Hannah hielt eine Walther in der linken Hand. 288
»Sean, ist der Teufel auf deiner Seite?« »Nur manchmal.« Barry lächelte. »Weiß der Himmel, wie du hierher gekommen bist.« »Genau wie du, bloß bin ich am Strand gelandet.« »Und wie sieht’s in Compton Place aus?« »Deine Leute sind alle tot; Blake und Hedley Jackson haben ein bisschen was abgekriegt, das ist alles.« »Und Lady Helen?« Dillon zuckte die Schultern. »Sie ist doch in Ordnung, oder?«, fragte Barry mit einem merkwürdig drängenden Unterton. »Das Herz macht ihr etwas zu schaffen. Sie hatte einen Anfall.« »Herrgott.« Barry schüttelte den Kopf. »Sie hatte mich schon so gut wie erledigt, weil meine Waffe versagte, und dann kippte sie einfach um.« »Ich bin Detective Superintendent Hannah Bernstein von der Special Branch Scotland Yards«, erklärte Hannah, »und muss Ihnen sagen, dass…« Barry schleuderte sein Glas in ihre Richtung, duckte sich, als sie feuerte, und verschwand hinter der Holztäfelung. »Los!« Dillon rannte zur Tür. In der Halle sahen sie, dass die Eingangstür offen stand. Harker wartete draußen mit der Taschenlampe. »Er ist an mir vorbeigelaufen und den Pfad runter zum Kliff.« Dillon sprintete los. Halb geduckt rannte Barry zwischen den Bäumen hindurch, ohne eigentlich zu wissen, wohin er wollte. In der Ferne grollte Donner und Blitze zuckten über den dunklen Himmel. Seltsamerweise musste er immer wieder an Helen Lang denken; sie ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Dabei hatte er 289
weiß Gott andere Sorgen. Dillon war ihm auf den Fersen, gefolgt von dieser Hannah Bernstein und dem alten Harker mit seiner Taschenlampe. Barry stolperte weiter und kam zur Badewanne, aus der mit einem hohlen Brüllen weiße Gischt schoss. Er schaute sich um und hob die Beretta, als er Dillon entdeckte, der geduckt auf ihn zugerannt kam. Mit einem Satz war Dillon bei ihm, stieß seinen Arm zur Seite und packte mit eisernem Griff sein rechtes Handgelenk. »Jetzt hast du alle Zeit der Ewigkeit, du Hund!«, rief er und stieß ihn kopfüber hinunter. Ein verzweifelter Schrei ertönte, dann schoss erneut Meerwasser aus dem Felsloch in die Höhe. »Gott steh mir bei«, flüsterte der alte Harker, der seine Taschenlampe hoch hielt. »Was sind Sie bloß für ein Mann?« »Das frage ich mich manchmal auch.« Dillon wandte sich zu Hannah um. »Rufen Sie Ferguson an. Er soll zusehen, dass Lacey und Parry uns mit dem Lear-Jet abholen kommen.« Besorgt legte sie eine Hand auf seine Schulter. »Ist auch alles in Ordnung, Dillon?« »Mir ging’s nie besser.« Donnernd stob erneut eine Wasserfontäne aus dem Loch. »Er war ein übler Dreckskerl, und jetzt hat die See ihn sich geholt; damit ist die Geschichte zu Ende.« Am folgenden Nachmittag saßen Dillon, Hannah und Ferguson im Flur der London Clinic. Hedley, der den Arm in einer Schlinge trug, kam aus einem Zimmer. »Wie geht es ihr?«, fragte Ferguson. »Nicht gut. Sie möchte Mr. Dillon sprechen.« Dillon stand auf und ging nach kurzem Zögern hinein. Lady Helen hatte am linken Arm einen Infusionsschlauch und war durch etliche Kabel mit irgendwelchen elektronischen Apparaturen verbunden. Eine Schwester saß neben ihrem Bett. Dillon trat näher. »Lady Helen?« Sie öffnete die Augen. »Sie haben ihn erwischt, wie ich höre. Charles hat es mir erzählt.« 290
»Stimmt.« »Damit haben die Söhne Erins also alle ihr gerechtes Ende gefunden, sogar der Verbindungsmann – und wissen Sie was?« Sie schloss kurz die Augen. »Es hat mir Peter nicht zurückgebracht.« Dillon nahm ihre Hand. »Ich weiß, was Sie meinen.« Lächelnd schaute sie ihn an. »Mr. Dillon, Sie halten sich für einen ziemlich schlechten Menschen, aber ich glaube, Sie sind einer der anständigsten Männer, die ich je gekannt habe. Bleiben Sie so, wie Sie sind.« Ihre Augen schlossen sich, ihre Hand entglitt ihm, und das Piepen der Apparate ging in einen merkwürdigen Dauerton über. Hastig drängte die Schwester ihn zur Seite. Ferguson und Hannah standen auf, als Dillon aus dem Zimmer kam. »Sie ist tot?«, fragte der Brigadier. »Aber nicht vergessen«, erwiderte Dillon. »Keiner von uns wird sie je vergessen.« Er legte Hedley eine Hand auf die Schulter. »Machen wir einen Spaziergang im Garten. Ich könnte jetzt eine Zigarette gebrauchen.«
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Epilog Eine Woche später fuhren Ferguson, Hannah und Dillon nach Compton. Das Wetter war schrecklich und es regnete in Strömen. »Was hat der Premierminister übrigens zum Ausgang der Geschichte gesagt?«, erkundigte sich Dillon. »Es hat ihm sehr Leid getan um Lady Helen.« »Das gilt wohl für uns alle.« »Aber ansonsten war er zufrieden. Immerhin hätte daraus politisch gesehen eine ziemliche Katastrophe werden können.« »Stattdessen ist nun gar nichts passiert, Sir, so lautet doch die offizielle Version?«, meinte Hannah Bernstein ironisch und etwas bitter. »Nun ja, Superintendent, manchmal ist man eben einfach im Interesse der Sache zu so etwas gezwungen.« »Genau das sagt auch die IRA«, bemerkte Dillon. »Hat man mir damals mit neunzehn ständig eingetrichtert.« Er zündete sich eine Zigarette an und kurbelte das Fenster herunter. »Entschuldigung, meine Liebe«, sagte er zu Hannah. »Nur zu, Sean«, lächelte sie. »Der Premierminister und der Präsident stoßen also einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus und danken Gott dafür, dass ihre Fußtruppen alles geregelt haben. Ich durfte wie üblich die Drecksarbeit für sie erledigen, nur hatten diesmal auch Hannah und Blake ihren Anteil daran.« »So funktioniert das Spiel nun mal«, erwiderte Ferguson. Dillon wandte sich an Hannah. »Fragen Sie sich eigentlich jemals, ob das alles überhaupt einen Sinn hat? Ich schon.« Sie erreichten das Dorf und sahen, dass der Parkplatz vor der Kirche St. Mary and All the Saints fast voll war; selbst entlang der Dorfstraße parkten die Autos. 292
»Meine Güte, das wird aber wahrhaftig ein Abschied«, meinte Ferguson. »Verständlich. Ich habe genug über sie erfahren, um zu wissen, dass sie bei allen mehr als beliebt war.« Dillon schaute auf seine Uhr. »Noch vierzig Minuten bis zum Gottesdienst. Ich weiß nicht, wie es mit Ihnen ist, aber ich brauche einen Drink. Halten Sie am Pub. Wenn Sie mir keine Gesellschaft leisten wollen, treffen wir uns später an der Kirche.« »Nein, ein Drink wäre ganz recht«, erwiderte Ferguson. »Falls Sie einverstanden sind, Superintendent.« »Natürlich, Sir.« Der Daimler setzte sie vor dem Eingang des Pubs ab und fuhr weiter. Im Lokal drängten sich nicht nur zahlreiche Dorfbewohner in ihrem besten Sonntagsstaat, sondern auch viele Besucher. Unterstützt von zwei Dorfmädchen bediente Hetty Armsby in einem schwarzen Kostüm an der Theke. Der alte Armsby saß in einem schwarzen Anzug mit steifem Kragen auf seinem Stammplatz. »Guter Gott«, sagte Ferguson. »Zwei Earls, eine Herzogin, und ich will verdammt sein, wenn die beiden dort drüben nicht der Kommandeur der Scots Guards und der Kommandeur der Königlichen Leibgarde sind. Ich sage besser mal hallo.« »Das gute alte britische Klassensystem«, grinste Dillon. »Ich kämpfe mich mal an die Theke durch, Hannah. Warten Sie hier auf mich.« Er nickte Hetty zu. »Hätten Sie wohl zufälligerweise auch Champagner in Ihrem Eisschrank?« »Da könnte noch eine halbe Flasche drin sein. Aber Champagner?«, fragte sie zweifelnd. »Bei einer Beerdigung, meinen Sie?« Dillon zündete sich eine Zigarette an. »Ich will ein Glas auf die vermutlich großartigste Lady trinken, die ich je gekannt habe.« Impulsiv beugte Hetty sich über die Theke und küsste ihn
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auf die Wange. In ihren Augen standen Tränen. »Das war sie wahrhaftig.« Sie holte den Champagner und füllte ein Glas. »Zwei Gläser, bitte«, sagte Dillon. »Besser drei.« Dillon wandte sich um und sah Blake Johnson, der den linken Arm in einer Schlinge trug. »Ja, wo zum Teufel kommst du denn her?« »Hier in Crockley gibt es immer noch einen amerikanischen Luftwaffenstützpunkt. Es war eine spontane Entscheidung des Präsidenten, mich rüberzuschicken, um seinen Kranz zu überbringen.« Mit den gefüllten Champagnergläsern kehrten sie zu Hannah zurück. Blake küsste sie auf die Wange. »Superintendent, es ist mir wie immer ein ganz besonderes Vergnügen, Sie zu sehen.« »Ich freue mich ebenfalls, auch wenn der Anlass, weshalb wir hier sind, weniger erfreulich ist. Auf Helen Lang, die ein großartiger Mensch war.« Hannah hob ihr Glas, und sie stießen miteinander an. Aus dem Hintergrund sagte Charles Ferguson: »Und wir alle schließen uns diesem Trinkspruch an.« Vor der Kirche drängten sich die Trauergäste, die in einer Schlange darauf warten mussten, Einlass zu finden. Neben einem Mann in den Vierzigern und einer etwa gleichaltrigen Frau stand Hedley Jackson, der ihnen etwas zuflüsterte. Beide blickten sich um, und der Mann blieb zurück. »Brigadier Ferguson? Ich bin Robert Harrison, Lady Helens Neffe.« »Ach ja, ich habe schon von Ihnen gehört. Sie übernahmen die Leitung der Firmen, die Lady Helen gehörten, nicht wahr?« Harrison schossen Tränen in die Augen. »Sie war eine wunderbare Frau, einfach großartig. Wir haben sie alle geliebt.« »Darf ich Ihnen meine Kollegen vorstellen – Superintendent 294
Bernstein, Sean Dillon und Blake Johnson vom Weißen Haus.« Harrison starrte ihn ungläubig an. »Vom Weißen Haus?« »Ich bin im Auftrag des Präsidenten gekommen, um persönlich seinen Kranz zu überbringen.« »Mein Gott, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Harrison griff nach seinem Taschentuch. »Ich denke, ich gehe besser zurück zu meiner Frau.« Dillon war nicht besonders religiös. Er erinnerte sich an die katholische Kirche in County Down, die er als Junge besucht hatte, an den Weihrauch, die Kerzen und das Weihwasser, an seinen Onkel, der Priester gewesen war und viel zu gut für diese Welt – aber als er hinten in dieser alten englischen Kirche stand, erschien ihm der Gottesdienst mit den vertrauten Gesängen und der Orgelmusik und selbst die Ansprache des Priesters, der Helen Langs Leben würdigte, eher wie ein leeres Ritual. Merkwürdigerweise war Lady Helen ebenfalls Katholikin gewesen, im Gegensatz zur Familie Lang. Aber was für einen Unterschied machte das am Ende schon? Er war froh, wieder nach draußen zu kommen, und zündete sich am Rand des Weges eine Zigarette an. Für den Augenblick hatte er die anderen aus den Augen verloren. Hedley erschien mit einem großen schwarzen Schirm. »Noch so ein Klischee, Hedley«, sagte Dillon. »Bei einem Begräbnis muss es natürlich in Strömen regnen.« »Sie klingen, als seien Sie wütend, Mr. Dillon.« »Ich habe bloß das Gefühl, sie hätte was Besseres verdient.« »Sie haben dieses Schwein für sie erledigt.« »Das ist auch das einzig Gute.« Die Träger brachten den Sarg aus der Kirche und trugen ihn über den Friedhof zum Mausoleum der Familie Lang. »Eine verteufelte Frau«, seufzte Hedley. »Wissen Sie, was sie für mich getan hat?« »Erzählen Sie.« 295
»Ihr Anwalt hat mich diese Woche angerufen. Eine Million Pfund hat sie mir in ihrem Testament hinterlassen – und das Haus in der South Audley Street.« Dillon versuchte, die richtigen Worte zu finden. »Sie hat Sie gern gehabt, Hedley, und wollte, dass Sie versorgt sind.« »Es ist bloß Geld, Mr. Dillon.« In Hedleys Augen standen Tränen. »Bloß Geld, und was ist das im Grunde schon?« Dillon klopfte ihm auf die Schulter, ehe sie sich in die Menge einreihten und dem Sarg folgten. Als er sich umschaute, sah er auch Ferguson, Hannah Bernstein und Blake. Der Sarg wurde ins Mausoleum getragen, der Priester sprach die üblichen Worte, und die bronzenen Türen wurden geschlossen. Unter der Tafel mit der Aufschrift ›Major Peter Lang, M.C., Scots Guards, Special Air Service Regiment 19661996. Ruhe in Frieden‹ war bereits eine neue angebracht worden. Auf ihr stand lediglich: ›Helen Lang. Von allen geliebt. Gestorben 1999.‹ »Das habe ich vorgeschlagen«, sagte Hedley, »weil ich wusste, dass sie was gegen große Sprüche gehabt hätte.« »Schon bemerkenswert«, nickte Ferguson. »Ein Kranz vom britischen Premierminister und vom Präsidenten der Vereinigten Staaten. Das sieht man nicht alle Tage.« Die Menge begann sich zu zerstreuen, und sie kehrten ebenfalls zum Parkplatz der Kirche zurück, wo auch eine Limousine der amerikanischen Air Force stand, an deren Steuer ein uniformierter Sergeant saß. »Geht’s gleich wieder heim, Blake?«, fragte Dillon. »Es wartet Arbeit auf mich, mein irischer Freund; du weißt ja, wie es ist.« »Und ob.« »Auf Wiedersehen, Brigadier.« Blake schüttelte ihm die Hand, küsste Hannah auf die Wange und stieg in den Wagen, der sofort losfuhr.
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Nach und nach verließen auch die anderen Fahrzeuge den Parkplatz. »Das war’s dann«, seufzte Ferguson. Sie stiegen in den Daimler, Dillon nahm auf einem Klappsitz gegenüber Hannah und Ferguson Platz und schloss die gläserne Trennscheibe zum Fahrer. »Fühlen Sie sich manchmal auch so müde?«, fragte er Hannah. »So richtig müde?« »Ich weiß, was Sie meinen, Sean, ich weiß.« »Und was nun?« »Es gibt immer noch Probleme, Dillon«, erwiderte Ferguson. »Im Mittleren Osten, in Afrika, Bosnien…« Er zuckte die Schultern. »Nur in Irland hat sich die Lage seit dem Friedensprozess inzwischen verändert.« »Brigadier, wenn Sie das glauben, dann glauben Sie wahrhaftig alles.« Dillon lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und schloss die Augen.
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