Seewölfe 240 1
John Roscoe Craig 1.
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Seewölfe 240 1
John Roscoe Craig 1.
Die Rufe der Männer, das Hämmern und Klopfen der Äxte und Dechseln und das schrille Quietschen der Lenzpumpe übertönten sogar den scharfen Nordwester, der über die Bucht der kleinen Felseninsel pfiff. Die Bucht, in der der Seewolf die „Isabella VIII.“ hatte kielholen lassen, war zwar gegen Norden vor dem Wind geschützt, aber das rauhe Meer bereitete den Männern, die vom vertäuten Floß aus die Arbeit von Ferris Tucker unterstützten, ziemliche Schwierigkeiten. Am gestrigen Abend hatten sie mit den Vorbereitungen zur Ausbesserung der Galeone begonnen, und jetzt, nachdem fast vierundzwanzig Stunden vergangen waren, hatten sie die gröbste Arbeit fast beendet. Der Seewolf stand auf der felsigen Erhebung, die das Schiff vor Sicht von der größeren Insel, die nur drei Seemeilen von ihnen entfernt war, abschirmte. Er blickte hinunter in die kleine Bucht mit dem schmalen Kiesstrand, der schon nach wenigen Yards steil ins Meer fiel. Er war froh, daß sie gezwungen gewesen waren, dieses kleine Felseneiland anzulaufen. Es hatte sich als ideal erwiesen, das Leck der „Isabella“ auszubessern und abzudichten. Es gab zwar außer ein paar verkrüppelten Büschen, die dem scharfen Seewind trotzten und ihre Wurzeln in Felsspalten verkrallten, keine Vegetation, aber Ferris Tucker hatte genügend Material an Bord, um die Reparatur ausführen zu können. Da sie am Morgen schon Trinkwasser an Bord genommen hatten, brauchte Hasard nicht die Jolle zur größeren Insel hinüberzuschicken. Er hoffte, daß sie hier unentdeckt blieben, bis sie ihre Arbeit am Rumpf der Galeone beendet hatten. Der Seewolf dachte an den Morgen des gestrigen Tages zurück, als sie die breite Flußmündung der kleinen Jungferninsel fluchtartig hatten verlassen müssen, weil eine Piraten-Karacke auf sie zugehalten hatte.
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Fast wäre sein, Hasards, Zögern ihnen zum Verhängnis geworden. Sie hatten der Karacke im letzten Augenblick den Großund Besanmast zerschießen können, aber selbst dieses große Loch unter der Wasserlinie eingefangen. Sie hatten nicht zurück zur Insel gekonnt, um die Männer wieder an Bord zu nehmen, die noch an Land gewesen waren, um nach eßbarem Wild zu jagen. Hasard preßte die Lippen aufeinander. Die Zwillinge waren bei Matt Davies, Stenmark, Blacky, Batuti und dem Kutscher gewesen. Sie hatten ihn wieder einmal so lange gequält, bis er ihnen die Erlaubnis gegeben hatte, mit den anderen an Land zu gehen. Und jetzt saßen sie allein auf der Insel, in deren Flußmündung wahrscheinlich die havarierte Piratenkaracke vor Anker gegangen war, um ihre Schäden in der Takelage auszubessern. Der Seewolf wußte, daß ihm keine andere Wahl geblieben war, als davonzusegeln, wein er die „Isabella“ und die Mannschaft nicht in eine tödliche Gefahr bringen wollte. Sie hatten alle gesehen, daß mehr als hundert Mann auf der Karacke gewesen waren, und einen Kampf an Land hätte kein Mann der „Isabella“ überlebt. Er hoffte, daß Matt Davies und die anderen klug genug, waren, sich vor den Piraten zu verbergen, bis die „Isabella“ wieder vor der Flußmündung auftauchte. Der Seewolf schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken, wie es seinen Zwillingen und den Männern ergangen war. Sie mußten ihr Leck abdichten und so schnell wie möglich zurücksegeln. Mit einem intakten Schiff brauchten sie sich vor den Piraten nicht zu verstecken. Er blickte hinunter in die kleine Bucht. Noch am vergangenen Abend, als sie das Felseneiland erreicht hatten, war Ferris Tucker an Land gegangen und hatte die Punkte bestimmt, an denen er das Marsfall des Groß- und des Vormastes verankern wollte. Bei Einbruch der Dunkelheit hatte Hasard die Arbeit einstellen lassen, da er kein Feuer anzünden wollte, durch das
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vielleicht irgendjemand von der drei Seemeilen entfernten größeren Insel angelockt werden könnte. Sie hatten kaum schlafen können, denn halbstündlich hatten sie sich an den Lenzpumpen abwechseln müssen. Beim ersten Lichtschimmer hatten sie die „Isabella“ gekrängt. Ferris Tucker hatte ein Dutzend Langhölzer, die er für Masten und Spieren mitführte, vor den Kiesstrand gelegt, damit die Steuerbordseite der Galeone nicht beschädigt wurde. Dann hatten sie die Marsfallen durch die Taljen gezogen und die tiefgehende „Isabella“ auf die Seite gezogen, bis das Leck an Backbord über der Wasseroberfläche lag. An den Fußpunkten der Marsfallen am Ufer hatte Ferris Tucker auch die Taue mit zwei Taljen befestigt, die von Backbord unter dem Rumpf der Galeone hindurch liefen. Damit wollte er verhindern, daß die Galeone durch einen heftigen Windstoß oder zu starke Brandung auf die Seite kippte. Al Conroy und Sam Roskill hatten zwei Ablaufmulden hergestellt, durch die das herausgepumpte Wasser an den Kiesstrand lief. Als Floß diente die Gräting über der Frachtluke, die Ferris Tucker mit Brettern belegen und mit Rundhölzern an den Seiten verstärken ließ. Als er mit Carberry, Ben Brighton und Hasard das Floß an seinen Platz brachte, stöhnte er unterdrückt und fluchte dann lauthals. Das Loch in der Bordwand war groß wie ein Stalltor. Auch Hasard war entsetzt gewesen, aber nachdem Ferris Tucker den Schaden genauer in Augenschein genommen hatte, schien alles nicht mehr so schlimm zu sein. Sie hatten Glück im Unglück gehabt. Von den Spanten der Galeone war nur eine angeknackt. Der Schaden daran würde sich so beheben lassen, daß es mindestens ein Jahr hielt, wenn die „Isabella“ nicht inzwischen in zehn Wirbelstürme geriet. In dem kleinen Frachtraum im Vorderschiff sah es wüst aus. Aber das konnte in Ordnung gebracht werden. Jetzt ging es nur darum, das Leck so weit
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abzudichten, daß die „Isabella“ wieder seeund gefechtstüchtig war. Ferris Tucker begann zu messen, und Hasard notierte die Zahlen, die ihm der Schiffszimmermann aufgab. Dann war Ferris Tucker nicht mehr zu halten. Er ließ die Mannschaft an Land antreten, bis auf Al Conroy und Sam Roskill, die für die Pumpen zuständig waren, und teilte die Männer mit seiner dröhnenden Stimme ein. Vielleicht hätte so mancher gemeutert, doch jeder wußte, daß sie sich keine Zeit lassen durften, wenn sie die Zwillinge, Matt Davies und die anderen lebend wiedersehen wollten. An diesem Abend waren sie kaputt wie lange nicht mehr. Da sie auch jetzt kein Feuer, außerhalb des Schiffes anzünden wollten, konnten die meisten Männer sich ausruhen. Nur Ferris Tucker, der Seewolf und Carberry gönnten sich keine Ruhe. Sie arbeiteten im Schiff und legten letzte Hand an, um die Planken von innen an die Spanten zu schlagen und die äußeren Planken zurechtzuschneiden. Erst weit nach Mitternacht legten auch sie sich zur Ruhe. Der Seewolf wußte, daß sie mit ihren Kräften haushalten mußten. Vielleicht wartete auf der kleinen Insel, auf der sie ihre Leute hatten zurücklassen müssen, ein harter Kampf auf sie. Hasard war am Morgen als erster wieder auf den Beinen. Er weckte Carberry und Ben Brighton und erklärte ihnen, daß er noch an diesem Abend wieder in See gehen wolle. Wenn sie Glück hatten und der Wind seine Richtung beibehielt, konnten sie in der Nacht bis kurz vor die Insel segeln. Sie ließen Ferris Tucker noch schlafen. Jeder wußte, was er zu tun hatte. Zu viert waren Jeff Bowie, Bob Grey, Bill und Big Old Shane auf dem Floß und begannen damit, die innere Beplankung von außen zu kalfatern. Auf dem Floß stand ein großer Topf, in der eine Mischung aus Pech und Werg kochte, das die Männer in die Nähte und auf die Planken brachten und dann in Brand setzten, damit es sich mit den Planken verband.
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Sie grinsten, als sie am Strand plötzlich die fluchende Stimme von Ferris Tucker vernahmen. Die helle Stimme von Dan O’Flynn hallte zu ihnen herüber. „Na, gut geschlafen, Ferris?“ Holz .polterte an Deck. Arwenack, der Schimpanse, begann wild zu keckern, und Dan lachte. „Du solltest dich noch ein bisschen aufs Ohr hauen, Ferris!“ rief er. „So früh am Morgen kannst du noch nicht richtig zielen.“ Die Stimme des Seewolfs unterbrach ihn. Die Männer auf dem Floß hämmerten weiter das Werg in die Fugen zwischen den Planken und die Mischung aus Pech und Werg darauf. Mit Kalfatereisen und Pechhammer klopften sie es glatt. Ferris Tucker tauchte mit hochrotem Kopf am Backbordschanzkleid über ihnen auf und ließ sich an einem Tampen zu ihnen herunter. Er besah sich die Arbeit der Männer und nickte grimmig. Big Old Shane klopfte ihm auf die Schulter. „Reg dich doch über den Bengel nicht auf, Ferris“, sagte er. „Er meint es nicht so. Jeder weiß, daß du bis in die Nacht geschuftet hast. Wir haben dir den Schlaf gegönnt.“ Ferris Tucker knurrte etwas vor sich hin, das sich wie „mit den Ohren an den Bugspriet nageln, bis ihm der Wind die Flausen aus dem Kopf geblasen hat“ anhörte. Smoky und Carberry pullten das Boot um den Rumpf der Galeone und brachten die Planken heran, die Ferris Tucker in der Nacht mit Hasard zurechtgeschnitten hatte. Als die Männer mit dem Kalfatern der inneren Planken fertig waren, begann Ferris damit, die äußeren Planken aufzunageln. Schon gestern hatte er das Leck sauber ausgeschnitten und das Hängeknie des Unterdecks an der beschädigten Spante ausgewechselt. Im Vorschiff hinter dem Leck rumorte es. Sie hörten das Fluchen Dan O’Flynns, und jetzt grinste Ferris Tucker. „Was sucht der denn da unten?“ fragte Bill.
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„Er hat Befehl vom Seewolf, den Laderaum aufzuklaren“, sägte Ferris Tucker. „Dabei kann er gleich unsere Ratten zählen und sich im Bilgenwasser die dreckigen Füße waschen.“ „Das kann ihm nicht schaden“, meinte Big Old Shane und hämmerte wieder auf das Werg ein, als ob es darum ginge, den Rumpf der „Isabella“ für alle Zeiten abzudichten. Eineinhalb Tage hatte der Seewolf Ferris Tucker gegeben, um das Leck auszubessern, und er schaffte es tatsächlich. Kurz nach dem Mittag des zweiten Tages waren die Männer mit dem Kalfatern der äußeren Planken fertig. Sie zogen das Floß an den Kiesstrand und bauten es auseinander. Alle anderen Männer wurden von Carberry an die Taue befohlen, mit denen die „Isabella“ wieder in ihre alte Lage zurückgebracht wurde. Die Taljen der Marsfallen knarrten und quietschten. Die Männer standen schon mit den Beinen im Wasser, aber die auflaufende Flut war günstig für sie. Nachdem sie die Taljen aus ihren Verankerungen gelöst hatten, klarten sie den Strand auf, daß kaum eine Spur zurückblieb. Der Seewolf stand schon auf dem Achterdeck, als Bill als letzter Mann über das Schanzkleid kletterte. Ben Brightons Gesicht sah sorgenvoll aus. Er hatte wie Hasard bemerkt, daß der Wind allmählich drehte. Es sah so aus, als würden sie wesentlich mehr Zeit brauchen, zur kleinen Insel zu segeln, auf der sie die anderen zurückgelassen hatten, als auf der Herfahrt. „Es nutzt nichts“, sagte der Seewolf gepreßt. „Wir können nur hoffen. Vielleicht haben die Piraten es nicht eilig gehabt. Dann liegen sie noch in der Flußmündung, wenn wir dort aufkreuzen.“ „Mal nicht den Teufel an die Wand“, erwiderte Ben Brighton. 2. An Bord der „L’Executeur“ herrschte Stille. Alles wartete darauf, daß sich die
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Sonne über den flachen Hügel schob, dessen Hänge sanft ins Meer glitten. In der Kuhl standen acht Männer nebeneinander, die Hände auf dem Rücken gefesselt, die Gesichter verzerrt vor Angst oder Trotz. Matt Davies, Stenmark, Blacky und Batuti hielten sich abseits von den Männern Le Requins, die grinsend auf die acht Gefesselten starrten und nur auf das Wort ihres Anführers warteten, um mit ihrem schaurigen Werk zu beginnen. Matt Davies starrte zum Quarterdeck hinauf, aber vom Kutscher war ebenso wenig zu sehen wie vom Kapitän des Piratenschiffes, der seit gestern Le Requin hieß. Der ehemalige Bootsmann hatte mit einer bis ins Letzte durchdachten Aktion die weit in der Überzahl gewesenen Anhänger des Comte de Fauvenoir überrumpelt und ausgeschaltet. Dann hatte er eigenhändig den verrückten Comte getötet. Es war ein Akt der Notwehr gewesen, denn der Comte hatte in den letzten Jahren immer wieder andere Piraten an die Spanier verraten und sich damit seine eigene Sicherheit erkauft. Irgendwie war etwas durchgesickert, und mehr als ein Dutzend Kapitäne anderer Piratenschiffe hatten sich zusammengetan, um den Comte zur Hölle zu jagen. Le Requin, der als Bootsmann auf der „L’Executeur“ nichts vom Verrat des Comte gewußt hatte, erhielt von den anderen Piraten eine Gnadenfrist. Er sollte durch eine Meuterei das Schiff in seine Gewalt bringen und den Comte und dessen Gefolgsleute töten. Wenn ihm das nicht gelang, würde er mit allen anderen zusammen sterben. Le Requin hatte ein blutiges Gemetzel veranstaltet, um nicht selbst auf der Strecke zu bleiben. Von der Mannschaft, deren Stärke über hundert Mann betragen hatte, war nicht einmal die Hälfte übriggeblieben. Die letzten acht Anhänger des Comte, die in der Nacht versucht hatten, das Blatt noch einmal zu wenden, standen jetzt auf
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der Kuhl und warteten darauf, daß das über sie verhängte Urteil vollstreckt wurde. Le Requin hatte die Mannschaft das Urteil sprechen lassen, und um niemanden in seiner Entscheidung zu beeinflussen, war die Entscheidung jedes einzelnen geheim geblieben. Le Requin hatte sie einzeln in eine Kammer gehen lassen. Dort mußten sie an einem Rundholz eine Kerbe mit einem Messer anbringen, wenn sie für den Tod der Anführer stimmten. Von den zweiundfünfzig Männern, die sich an Bord der „L’Executeur“ befanden, hatten sechsundvierzig mit einer Kerbe für den Tod der Gefangenen gestimmt. Matt Davies wußte, daß die Männer von der „Isabella“ keine Kerbe in das Holz geschnitzt hatten. Auch der Schotte, der von Le Requin zum neuen Profos bestimmt worden war, wußte es. Er akzeptierte die Entscheidung der Neuen, die einen großen Anteil daran hatten, daß die Pläne Le Requins so reibungslos abgelaufen waren. Ein Pirat, der nicht älter als sechzehn Jahre war, trat mit einer armlangen Fanfare vor und blies hinein. Klar hallten die Töne durch die kühle Morgenluft. Der letzte Ton war noch nicht verklungen, als die ersten Sonnenstrahlen über den Hügeln im Osten zuckten und die acht Männer auf der Kuhl blendeten. Die Piraten begannen begeistert zu brüllen, als Le Requin an die Balustrade des Quarterdecks trat und das Zeichen gab, daß die Hinrichtung beginnen könne. Batuti, der neben Stenmark am Steuerbordschanzkleid lehnte, sah, wie sich die Brettertür zum Verschlag unter dem Quarterdeck langsam öffnete. Ein schwarzer Haarschopf tauchte in mittlerer Höhe der Tür auf. Mit ein paar Schritten war der GambiaNeger am Verschlag, seine mächtige Pranke zuckte vor und kriegte ein kleines Ohr zu fassen. „Du verdammter Bengel nix zugucken“, sagte er grollend und drehte das Ohr etwas. Hasard begann zu jaulen. „Laß los, du Affe!“ brüllte er. „Du reißt mir das Ohr ab!“
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„Du versprechen, nix öffnen Tür?“ fragte Batuti. „Ja, verdammt!“ „Gut!“ Batuti ließ los und gab dem Jungen einen Stoß, daß er zurück in den Raum taumelte. Dann knallte er die Brettertür zu und stellte sich breitbeinig davor. Er sah, wie die acht Delinquenten zum Quarterdeck hinaufgeführt wurden. Er konnte nicht sehen, was dort vor sich ging, aber er wußte, daß die Piraten ihren ehemaligen Kumpanen dort die Schlingen um die Hälse legen würden, die von der Großrah herabbaumelten. Dann würden sie sie auf die Balustrade stellen und hinunter auf die Kuhl stürzen. Batuti hatte kein Verlangen danach, den Tod der Männer mitzuerleben. Er war ein Naturkind, dem Leben, Sterben und auch Töten nichts Neues war, aber diese Art von Sterben hatte er erst bei den Weißen kennengelernt, und sie war ihm immer widerwärtig geblieben, ganz gleich, ob die Leidtragenden den Tod verdient hatten oder nicht. Es war entwürdigend für einen Menschen, auf diese Weise zu sterben. Er hörte das Schreien, das ihm in den Ohren weh tat. Dann war es für einen Augenblick still, bis die Piraten in der Kuhl begeistert zu brüllen begannen. Batuti sah ein paar nackte Füße hin und her schwingen, als er einen kurzen Blick nach oben warf. Er hoffte, daß Le Requin befehlen würde, die Erhängten sofort abzunehmen und sie nicht, wie es bei den Piraten oftmals üblich war, noch ein paar Stunden oder sogar Tage hängen zu lassen. Nach ein paar Minuten war alles vorbei. Der Schotte scheuchte die Männer wieder an die Arbeit. Großstenge und Großbramstenge waren fertig und brauchten nur noch montiert zu werden. Batuti mischte sich unter die Männer, die die Großstenge aufrichteten. Er sah, wie zwei Männer das Gangspill bedienten und die Großrah abfierten, an dem die Hingerichteten hingen. Die Toten wurden abgenommen und in ein Boot verfrachtet, das an der Backbordseite der Karacke lag.
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Dann pullten vier Männer ans Ufer und schleppten die Leichname ihrer ehemaligen Kumpane an Land. Wahrscheinlich hatten die Männer den Befehl, die Toten zu begraben. Le Requin rief den Schotten zu sich aufs Quarterdeck. Batuti wunderte sich ein wenig, denn der Profos war im Moment der wichtigste Mann auf der Kuhl. Der Gambia-Neger kriegte große Augen, als der Schotte auf ihn zutrat und sagte: „Du vertrittst mich, bis ich wieder zurück bin. Wenn einer die Schnauze aufreißt, hau ihm eins drauf. Ich will, daß bis zum Mittag alles erledigt ist und wir auslaufen können.“ „Aye, aye!“ sagte Batuti. Er blieb wie erstarrt stehen, bis der Schotte die Stufen zum Quarterdeck hinaufgegangen und unter der Poop verschwunden war. Das meckernde Lachen eines Piraten brachte ihn wieder zur Besinnung. Er drehte sich um und blickte den krummbeinigen kleinen Mann an, der ihm grinsend entgegenblickte. „Du was auf Schnauze?“ fragte Batuti mit rollenden Augen und hob seine mächtige Faust. Der Pirat wandte grinsend den Kopf zu seinen Kumpanen, aber als er sah, daß er von ihnen keine Hilfe zu erwarten hatte, preßte er die Lippen aufeinander und zog den Kopf zwischen die Schultern. Matt Davies, Stenmark und Blacky grinsten sich an. Sie hatten es schon weit gebracht bei den Piraten. Erst wurde der Kutscher zum Aufklarer des Kapitäns befördert, und jetzt war einer von ihnen der Vertreter des Profos. Daß der Schotte Batuti die Aufgabe übertragen hatte, hing wohl damit zusammen, daß der Neger ihm schon ein paarmal während der beiden letzten Tage das Leben gerettet hatte. Matt nahm sich vor, Batuti bei seiner Aufgabe den Rücken freizuhalten. Er wußte, wie schwer es ein Mann hatte, der erst kurz auf einem Schiff war, sich gegen die alte Besatzung durchzusetzen, aber nachdem Matt sah, wie Batuti die Piraten scheuchte und mit klaren Anweisungen an den richtigen Stellen einsetzte, pfiff er leise
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durch die Zähne. Wieder einmal bewahrheitete sich der alte Spruch, daß ein Mann mit seinen Aufgaben wuchs. „He, Matt, nix träumen!“ brüllte Batuti. „Du gehen mit Stenmark und Blacky auf Saling und kümmern dich um Untereselshaupt!“ „Aye, aye, Profos!“ erwiderte Matt zackig und enterte blitzschnell die Großwanten. „Wenn der so weitermacht, ist er bald Kapitän“, murmelte Blacky, der hinter Matt auf die Saling kletterte. „Laß ihn das nicht hören“, sagte Stenmark grinsend, als er neben den beiden anderen stand, „sonst du kriegen was auf Schnauze:’ Sie grinsten sich an, doch dann blieb ihnen keine Zeit mehr, sich über Batutis Energie zu wundern. Sie wuchteten mit den anderen Piraten die Großstenge in die Mastbakken und waren in Schweiß gebadet, als sie endlich das Untereselshaupt, das die Großstenge hielt, auf den Großmast gebolzt hatten. * Der Kutscher hatte sich nicht schlecht gewundert, daß Le Requin an diesem Morgen mit dem Bootsmann Nicolas Colter und dem Schotten eine Besprechung abhielt. Anscheinend hatte der Kapitän der „L’Executeur“ nicht vor, sich an das zu halten, was er mit den anderen Piratenkapitänen vereinbart hatte. Er hatte damit gerechnet, daß Le Requin ihn hinausschicken würde, wenn die Besprechung begann, aber der Riese schien sich zu denken, daß ja sowieso niemand an Bord der „L’Executeur“ eine Möglichkeit haben würde, irgendetwas an irgend jemanden zu verraten. „Wir haben noch zwei Wochen Zeit, um bei den Abrojos aufzukreuzen“, sagte er zu Nicolas Colter und dem Schotten. „Ich bin mir darüber im klaren, daß wir nach dem Angriff auf die Silberschiffe der Dons nicht mehr nach Port Cache zurückkehren können, weil die Spanier unsere Siedlung sofort angreifen werden, nachdem sie
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wissen, daß die Informationen des Comte falsch gewesen waren.“ „Du meinst, der Comte hatte sie schon benachrichtigt?“ fragte der Schotte. „Aber niemand hatte die Siedlung verlassen, bevor wir ausgelaufen sind.“ „Das war immer so“, erwiderte Le Requin, „dennoch wußten die Spanier Bescheid. Der Comte muß einen Mittelsmann in Port Cache haben, der die Spanier benachrichtigt, wenn wir ausgelaufen sind.“ „Wir alle haben noch eine Menge Sachen in Port Cache, an denen wir hängen“, murmelte Nicolas Colter. „Und was wird aus unseren Weibern?“ Le Requin nickte. „Das ist der Grund, warum ich euch hergerufen habe“, sagte er. „Wir segeln nicht von hier aus zu den Turks-Inseln, sondern nach Port Cache.“ Einen Augenblick blieb es still, dann sprangen Nicolas Colter und der Schotte mit strahlenden Gesichtern auf. „Wenn ich den Männern das erzähle, stehen sie wie ein Mann hinter dir, Le Requin“, sagte der Schotte. „Sie haben schon geglaubt, sie müßten alles aufgeben, was sie in Port Cache zurückgelassen haben.“ Der Kutscher schenkte den dreien die Gläser mit Wein voll, damit sie sich zuprosten konnten, dann verließ er mit der leeren Karaffe die Kapitänskammer. Keiner der drei nahm von ihm Notiz. Die Gedanken des Kutschers jagten sich. Was war, wenn die „Isabella“ erst Stunden oder sogar Tage später hier eintraf, um sie wieder an Bord zu nehmen? Ihnen würde keine andere Wahl bleiben, als sich auf eigene Faust bis zur Schlangen-Insel durchzuschlagen. Aber das war leichter gesagt als getan. Mit fünf Mann und den Zwillingen konnten sie sich schlecht eine Galeone oder auch ein kleineres Schiff unter den Nagel reißen. Der Kutscher huschte in seine Kammer, die gleichzeitig als Kombüse diente, und entwickelte eine fieberhafte Tätigkeit. Er wollte ein Zeichen für die zurückkehrende „Isabella“ hinterlassen. Vielleicht würde
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der Seewolf es finden. Dann wußte er wenigstens, daß seine Zwillinge und die fünf Männer noch am Leben waren. Mit einem Stück Holzkohle malte der Kutscher seine Zeichen und Buchstaben auf ein Stück Leinen. Er wußte nur, daß Port Cache, die Siedlung der Piraten, im Süden Espanolas lag, aber für den Seewolf war erst einmal die Richtung wichtig, die das Piratenschiff nahm. Dann schrieb er noch auf, was die Piraten südlich der Turks-Inseln bei den Abrojos - oder dem Mouchoir carre, wie die Flibustier die Untiefen nannten - planten. Der Kutscher hoffte, daß sie am Angriff auf die Silberflotte nicht mehr teilzunehmen brauchten, denn nach seiner Ansicht war es aussichtslos. Er wußte, daß die Flotte von schwer bestückten Kriegsgaleonen eskortiert wurde, die die kleinen Piratenschiffe auf den Grund des Meeres bohren würden. Der Kutscher rollte das Stück Leinen zusammen und verbarg es unter seinem Hemd. Die Frage war jetzt, wo er es deponieren konnte. Er mußte noch einmal an Land. Aber wie? Entschlossen verließ er seine Kammer. Auf dem Gang verschwand gerade der Schotte am Niedergang zum Quarterdeck. Le Requin und Nicolas Colter befanden sich noch in der Kapitänskammer, deren Tür offenstand. Der Kutscher trat ein und blieb neben dem Tisch stehen. Le Requin drehte den Kopf zu ihm um. „Was ist?“ fragte er. „Ich wollte nur wissen, wann wir auslaufen“, sagte er. „Der Mast wird in vier Stunden fertig sein“, sagte Nicolas Colter. „In der Zeit könnte ich noch mit ein paar Männern auf Jagd gehen“, sagte der Kutscher. „Es gibt eine Menge Bergschafe auf der Insel, und auf der Fahrt nach Port Cache hätten wir für die Mannschaft Frischfleisch.“ Le Requin nickte. „Drei Stunden“, sagte er und starrte den Kutscher an. „Wie heißt du eigentlich?“
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„Meine Leute nennen mich Kutscher“, sagte der Kutscher. „Das kommt daher, weil ...“ Le Requin winkte ab. „Ein blöder Name“, sagte er. „Ich werde dich Jacques nennen. Der Bootsmann wird dir drei Männer zuteilen.“ Damit war die Sache für Le Requin erledigt. Er ging zu dem kleinen Kartentisch unter den Heckfenstern hinüber und holte eine Rolle aus dem Ständer an der Wand. Nicolas Colter zog den Kutscher aus der Kapitänskammer und schloß die Tür. An Deck rief er drei Männer zu sich und befahl ihnen, den Kutscher auf der Jagd zu begleiten. „Für jede Minute, die ihr länger als drei Stunden braucht, kassiert jeder einen Peitschenhieb, verstanden?“ Die drei Piraten starrten den Kutscher grollend an, aber der zuckte nur mit den Schultern. 3. Der Wind hatte gedreht, und die Karacke lief mit Backbordhalsen hart am Wind. Die Piraten waren guter Dinge, seit sie wußten, daß der Kapitän Kurs West befohlen hatte. Viele von ihnen hatten einen Großteil ihres Vermögens in Port Cache, das sie nur ungern gegen die Ungewißheit getauscht hätten, beim Angriff auf die Silberschiffe eine fette Beute aufzutun. Der Kutscher stand in seiner kleinen Kammer und starrte auf den kleinen Lederbeutel, den er in der Hand trug. Ein Grinsen huschte über seine Züge. Dieser Hasard war doch ein Teufelsbraten! Trotzdem fühlte sich der Kutscher in seiner Haut nicht wohl. Hasard hatte ihm zwar erzählt, daß der Koch gesagt hätte, die Männer würden nach dem Gift nur drei Tage schlafen, aber er war sich dessen nicht sicher. Wenn sie nun alle Piraten vergifteten? Ach was, dachte der Kutscher. Er hatte Ratatouille, den buckligen, zwergenhaften Koch gesehen. Der konnte keiner Fliege was zuleide tun.
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Er dachte zurück. Vor zwei Stunden war er mit den drei Piraten an Bord zurückgekehrt. Sie hatten tatsächlich zwei Bergschafe erwischt. Die Mannschaft, die früher mit den Arbeiten am Großmast fertig geworden war als erwartet, hatte gejubelt. Die Aussicht auf ein saftiges Stück Fleisch hob ihre sowieso schon gute Stimmung noch mehr. Der Kutscher hatte beide Schafe dem kleinen Koch gegeben. Er selbst hatte sich für die Piraten vom Achterdeck nur ein paar gute Stücke ausbedungen. Als Ratatouille das Schlachten der Schafe in der Kuhl beaufsichtigte, hatten Hasard und Philip den Kutscher zur Seite gezogen und in den Verschlag geführt, dessen Gestank den Kutscher fast aus den Stiefeln gehoben hätte. „Wie kann man es hier drin nur aushalten!“ hatte er gesagt. „Man gewöhnt sich an alles“, war Hasards lakonische Antwort gewesen. Dann hatte er eine Schachtel von einem Wandbord geholt und dem Kutscher entgegengehalten. „Dies ist ein Gift“, hatte er geflüstert, „wenn man es ins Essen mischt, schlafen die, die es zu sich genommen haben, mindestens drei Tage.“ „Woher weißt du das?“ hatte der Kutscher stirnrunzelnd gefragt. „Der Koch hat es uns erzählt. Er wollte schon mal die ganze Mannschaft in einen Tiefschlaf versetzen und dann abhauen, damit sie ihn nicht mehr quälen können.“ „Und was sollen wir damit?“ „Mann!“ hatte Hasard hervorgestoßen. „Wenn wir die Mannschaft einschläfern, können wir die Karacke übernehmen und auf Dad warten.“ Mehr hatte der Kutscher nicht erfahren. Ratatouille war aufgetaucht. Er hatte dem Kutscher das Fleisch übergeben und gemeint, daß es Zeit wäre, das Essen vorzubereiten. Er hatte den Kutscher aus dem Verschlag geschoben und die Zwillinge angetrieben, alles zurechtzulegen, was sie zum Kochen brauchten.
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Der Kutscher hatte plötzlich vor dem Verschlag gestanden und gespürt, daß er etwas in der Hand hielt. Es war ein kleiner Lederbeutel, den Hasard ihm zugesteckt hatte, und er wußte genau, was sich darin befand. Er war zu Matt Davies hinübergegangen und hatte ihm alles berichtet. Matt war begeistert gewesen. Er war überzeugt, daß die „Isabella“ noch an diesem Tag wieder vor der kleinen Insel auftauchen würde. Sie brauchten also nur hier zu warten. Ein Tag würde ihnen auf jeden Fall genügen. Jetzt stand der Kutscher vor dem Feuer und starrte auf den Lederbeutel. Langsam öffnete er ihn. Weißes Pulver befand sich darin. Er wußte nicht, wie groß die Dosis für die zwölf Männer sein mußte, für die er kochte. Er hatte den Inhalt der Schachtel nicht gesehen und wußte nicht, wie viel von dem Gift Hasard abgefüllt hatte. Er packte den Lederbeutel mit der Rechten und wollte alles in die Soße kippen, als er den Ruf an Deck hörte. „Schiff Backbord voraus in Sicht!“ Voraus? Das konnte nicht die „Isabella“ sein. Der Kutscher zog den Lederbeutel wieder zu und hörte im selben Moment, wie Türen auf dem Gang geöffnet wurden. Schritte polterten über die Planken. Die Stimme Le Requins hallte über das Quarterdeck, und der Ausguck antwortete aus dem Mars. Der Kutscher konnte allerdings nicht verstehen, was er rief. Dann ging es wie ein Schrei über Deck. „Spanier!“ Der Kutscher fluchte. Er nahm den Ledereimer mit Wasser, der neben dem Feuer stand, und kippte ihn in die Esse. Zischend stieg Dampf auf und füllte die kleine Kammer. Das Essen würde ausfallen, daran gab es keinen Zweifel, denn wenn sich der Spanier näherte, brauchte Le Requin jede Hand, um ihm entweder davon zu segeln oder aber zu bekämpfen. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß das Feuer verlöscht war, verließ er die Kammer und eilte aufs Quarterdeck. Der Bootsmann und der Schotte jagten die
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Leute in die Wanten. Es sah so aus, als wolle Le Requin einem Kampf ausweichen. Die Galeone war schon mit bloßem Auge gut zu erkennen. Der Ausguck schrie hinunter, daß es sich um einen Zweidecker handele, der mindestens dreißig Kanonen mit sich führe. Der Kutscher wurde blaß. Es war ein spanisches Kriegsschiff, das wahrscheinlich hier vor den Jungferninseln patrouillieren und die Bewegungen der Piraten beobachten sollte. „Schiff klar zum Gefecht!“ brüllte Le Requin. Für einen Moment war es still auf dem Schiff. Alle starrten den Kapitän an, als ob sie ihn nicht richtig verstanden hätten. Als dann die Befehle zur Kursänderung auf den Spanier zu über Deck hallten, wußte jeder, was die Stunde geschlagen hatte. In den Augen des Bootsmanns las der Kutscher, daß dieser annahm, Le Requin sei schon genauso verrückt wie der Comte de Fauvenoir, der die „L’Executeur“ noch bis gestern geführt hatte. „Es bleibt uns keine andere Wahl, Nicolas“, sagte Le Requin. „Wenn die. Spanier feststellen, daß sich in dieser Gegend kein einziger Pirat aufhält, werden sie mißtrauisch. Wir müssen die Galeone versenken, damit die Spanier keine Möglichkeit haben, ihre Beobachtung irgendjemand mitzuteilen.“ „Haben wir eine Chance?“ fragte der Bootsmann heiser. Le Requin verzog sein narbiges Gesicht zu einem harten Grinsen. „Man hat immer eine Chance, wenn man an sein Glück glaubt und auf seine Kraft und seinen Mut vertraut.“ Der Kutscher schaute den Vorbereitungen zu, die Le Requin befohlen hatte. Statt unter vollem Zeug weiterzusegeln, ließ er die Fock und das Großsegel bergen. Alle Männer, bis auf die paar, die die Segel zu bedienen hatten, wurden unter Deck befohlen oder hatten sich so zu verbergen, daß sie von dem anderen Schiff aus nicht gesehen werden konnten.
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Der Kutscher starrte gebannt auf die heranrauschende Galeone. Die Stückpforten waren geöffnet, die Kanonenrohre ragten daraus schußbereit hervor. Hoffentlich hat sich Le Requin nicht verrechnet, dachte der Kutscher, und die Spanier schossen die Karacke erst einmal in Fetzen, bevor sie fragten, wer sich auf dem Schiff befand. Schließlich rechneten sie damit, daß sich in dieser Gegend Piraten aufhielten. Der Kutscher hatte sich, als der Befehl Le Requins über Deck hallte, daß sich jeder zu verbergen habe, in die Kuhl verdrückt und war zu dem Verschlag hinübergelaufen, wo auch Ratatouille das Feuer bereits gelöscht hatte. Flüsternd fragte der Kutscher Hasard, ob er schon... Hasard schüttelte heftig den Kopf, als ob er sagen wolle, daß er doch nicht blöd sei. Der Kutscher befahl ihnen, sich unter Deck zu begeben, und da auch Ratatouille den Verschlag verließ, widersprachen sie nicht. * Die Spanier verhielten sich im Bewußtsein ihrer unüberwindlichen Stärke wie Dummköpfe. Sie ließen die Karacke, an deren Großmast jetzt die Flagge Kataloniens wehte, ungehindert an sich heran. Sie reagierten auch noch nicht, als die erste Breitseite der Karacke in ihr Backbordschanzkleid schlug und die Batterie im oberen Deck fast vollständig zerstörte. Erst als die Karacke eine Halse fuhr, um ihrerseits ihre Backbordkanonen zum Einsatz zu bringen, schienen die Spanier zu bemerken, daß der Feind gefährlicher war, als sie vermutet hatten. Doch die ersten Treffer hatten sie so aus dem Gleichgewicht gebracht, daß sie keine Chance mehr gegen die Piraten hatten. An Deck der Karacke wimmelte es plötzlich von Piraten, und die meisten Spanier schlossen bereits mit ihrem Leben ab. Le Requin hatte allerdings nicht vor, die Galeone entern zu lassen. Er wollte sie versenken.
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Die nächste Breitseite bohrte sich mit ohrenbetäubendem Krachen in den Rumpf der Galeone. Fast augenblicklich hatte das Schiff Schlagseite. Entsetzte Schreie übertönten das Bersten des Großmastes. Die Piraten begannen zu jubeln. Sie hatten die Galeone tödlich getroffen, ohne selbst auch nur eine Kugel hinnehmen zu müssen. Le Requin ließ abdrehen. Er wollte aus sicherer Entfernung abwarten, was geschah. Boote wurden zu Wasser gelassen. Einige von ihnen kenterten, bevor ein Mann sie bestiegen hatte. Dann schlug die Galeone um. Es hörte sich an, als rülpse die See. Männer wurden durch die Luft geschleudert und klatschten ins Wasser. Für einen Moment ragte der Vormast der Galeone noch aus dem Wasser, dann verschwand auch er. Nur ein heiles Boot war zurückgeblieben. Männer schwammen darauf zu und versuchten, sich am Dollbord hochzuziehen. Andere, die bereits im Boot saßen, schlugen ihnen Mit den Riemen auf die Finger. Fast wäre das Boot gekentert. Le Requin gab den Befehl, das Boot zu versenken. Er konnte es sich nicht erlauben, einen der Spanier an Land gelangen zu lassen. Zu leicht war es möglich, daß die Spanier noch vor dem Angriff auf die Silberflotte gewarnt wurden. Die erste Kugel lag etwas zu kurz. Mit zusammengepreßten Lippen sah der Kutscher, wie die Spanier aus dem Boot hechteten. Sie hatten offensichtlich erkannt, daß die Piraten es sich als Ziel ausgesucht hatten. Die zweite Kugel zerfetzte es in tausend Stücke. Le Requin befahl, auf den alten Kurs zurückzugehen. Das Großsegel und die Fock wurden wieder geheißt, und die Karacke nahm Fahrt auf. Der Kutscher, der neben Matt Davies und Stenmark auf der Kuhl stand, wollte gerade mit ihnen besprechen, ob sie doch noch das Gift ins Essen mischen sollten, als der Ausguck im Mars schon wieder Schiffe
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meldete. Eins Steuerbord voraus, ein anderes weit im Osten vor den Inseln, die sie hinter sich gelassen hatten. Matt Davies schüttelte den Kopf. „Warte mit dem Gift“, flüsterte er. „Wenn die Piraten ausgeschaltet sind und wir laufen einem Spanier vor die Kanonen, sind wir geliefert.“ „Hoffentlich findet Hasard deine Mütze“, murmelte Stenmark. „Hast du sie auch nicht so versteckt, daß niemand sie findet?“ „Für wie blöd hältst du mich?“ fragte der Kutscher wütend. „Ihr könnt froh sein, daß ich bei euch bin, sonst hätten euch die Piraten schon an Land abgemurkst.“ „Ich hab dich jede Nacht in mein Gebet eingeschlossen“, erwiderte Stenmark grinsend. * Der Schock war ziemlich groß, als sie in. die Flußmündung einliefen und niemanden am Ufer entdecken konnten. Hasard wußte, daß niemand mehr auf dieser Insel war, jedenfalls nicht lebend. Denn sonst hätten sie die „Isabella“ längst entdecken müssen und sich am Ufer eingefunden. Trotzdem schickte er ein Boot ans Ufer, um nach Spuren zu suchen. Vielleicht hatten die Piraten die Männer und die Zwillinge aufgestöbert und getötet. Bill hatte sofort den Steinhaufen entdeckt, der ein paar Yards vor der Waldschneise aufgestapelt war. Als er dann die Mütze des Kutschers fand und darin das beschriftete Stück Leinen, brach er in Jubel aus. Er lief mit den anderen, die ihn an Land begleitet hatten, zum Boot zurück, und sie pullten zur „Isabella“ hinüber. Alle waren froh, daß die Zwillinge, Matt Davies, Stenmark, Blacky, Batuti und der Kutscher noch am Leben waren. Sie liefen sofort wieder aus, da sie wußten, daß der Vorsprung der Karacke kaum mehr als fünf Stunden betragen konnte. „Wir waren zu lange unterwegs“, sagte Ben Brighton, als die „Isabella“ hart am Wind auf westlichen Kurs ging. „Ich hab
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noch nie was von diesem Port Cache gehört.“ „Es wird eine kleine, unbekannte Bucht sein“, sagte Hasard. „Wenn wir die Karacke vorher nicht einholen sollten, werden wir ganz schön suchen müssen. Vielleicht wird uns nichts anderes übrigbleiben, als in der Mona Passage zu kreuzen und zu warten, bis die Karacke Kurs auf die Turks-Inseln nimmt.“ „Mal nicht den Teufel an die Wand“, sagte Ben. „Auch wenn die Karacke schnell ist, bis wir Espanola erreicht haben, haben wir sie längst erwischt.“ „Du vergißt, daß wir sie nicht angreifen können“, warf Hasard ein. „Oder willst du riskieren, daß einer von unseren Leuten dabei draufgeht?“ Ben Brighton fluchte unterdrückt und starrte zum Mars hinauf, wo Arwenack herumturnte. „Noch keine Mastspitze in Sicht?“ brüllte er hinauf. Dan O’Flynns Gesicht erschien über der Segeltuchverkleidung. Er schüttelte den Kopf. „Ich werde mir die Karten von Espanola ansehen“, sagte Hasard und wandte sich uni. „Vielleicht finde ich irgendeinen Hinweis.“ Ben Brighton nickte, obwohl er wie Hasard wußte, daß die Zeichen des Kutschers nicht ausreichten, auch nur den ungefähren Standort von Port Cache zu bestimmen. 4. Der Kutscher starrte auf die mächtigen Felsen, die wie drohende Schatten aus der Dunkelheit ragten. Kein Stern war am Himmel zu sehen. Schon den ganzen Tag über war der Himmel von bleiernen Wolken bedeckt gewesen, und kein noch so leiser Wind hatte die See bewegt. Drei Tage waren sie nun schon von der Jungferninsel aus unterwegs. Immer wieder hatten sich der Kutscher und die anderen Männer von der „Isabella“ heimlich umgedreht und zurückgeschaut, ob nicht an der Kimm die Masten der „Isabella“ auftauchten. Ein paarmal hatten
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sie beraten, ob sie es wagen konnten, die Piraten mit dem Gift auszuschalten, aber immer wieder waren spanische Schiffe in ihrer Nähe aufgetaucht, so daß es zu gefährlich geworden wäre. Le Requin hatte es geschafft, allen spanischen Galeonen auszuweichen. Jetzt lagen sie vor der Bucht, in der sich die Siedlung Port Cache befand, wie ihnen der Schotte erzählt hatte. Die Einfahrt zur Bucht war für den Kutscher nicht erkennbar. Er hielt den Atem an, als die Karacke auf die Felsen zuhielt, die steil ins Meer fielen. Es sah aus, als wollten die Piraten ihr Schiff an den Felsen zerschellen lassen. Doch kurz vor den Felsen öffnete sich plötzlich die steile Wand. Ein Durchbruch von mehr als hundert Yards Breite tat sich auf, und der Kutscher sah kleine, zuckende Lichter weit im Landesinneren. Dann erst erkannte er, daß sie in eine Bucht segelten. Er schüttelte sich bei dem Gedanken daran, daß es der Seewolf wagen würde, diese Bucht bei Nacht anzulaufen. Nur wer sich hier genau auskannte, konnte sein Schiff heil in die Bucht manövrieren. Ein Pirat auf dem Vorschiff schleuderte zwei Pechfackeln ins Meer, wahrscheinlich ein Zeichen für die Männer an Land, daß es sich um kein fremdes Schiff handelte. Die auflaufende Flut ließ das Wasser im Durchbruch gurgeln. Die Karacke nahm plötzlich Fahrt auf, obwohl ihre Segel schlaff an den Rahen hingen. Die laute Stimme von Nicolas Colter hallte über Deck, und die Piraten bereiteten alles vor, um in der Bucht vor Anker zu gehen. Die Lichter an Land waren jetzt deutlicher zu sehen. Es wurden immer Mehr. Männer mit Fackeln tauchten am Strand auf, an dem kleine Boote lagen, die wahrscheinlich zum Fischfang benutzt wurden. Klatschend schlug der Anker ins Wasser. Schreie aus Männerkehlen stiegen sowohl an Deck der Karacke als auch am Strand in den Nachthimmel. Der Kutscher war gespannt, wie die Zurückgebliebenen reagieren würden,
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wenn sie erfuhren, daß Le Requin den Comte getötet und selbst das Kommando der „L’Executeur“ übernommen hatte. Der Schotte hatte ihnen zwar erzählt, daß sie von den wenigen Männern, die in Port Cache zurückgeblieben waren, nichts zu befürchten hätten, aber die Menge, die am Strand stand und zur Karacke hinüberwinkte, war nicht klein. Das Boot der Karacke wurde zu Wasser gelassen. Le Requin, der Bootsmann Nicolas Colter, der Schotte und acht der stärksten Piraten pullten als erste an Land. Der Kutscher starrte zum Strand hinüber. Die Rufe der Leute waren verstummt. Nur bruchstückweise waren Worte zu verstehen, als das Boot über den Sandstrand schabte und Le Requin an Land sprang. Er baute sich vor den Leuten auf und sprach auf sie ein. Einer der Männer an Land trat einen Schritt auf Le Requin zu und schrie ihm etwas auf Französisch ins Gesicht. Le Requins Antwort darauf war kurz und gnadenlos. Er holte seine Pistole aus dem Gürtel, zielte auf den Mann und drückte ab, ehe dieser begriff, was überhaupt vor sich ging. Der Mann wankte einen Moment, dann schlug er lang in den Sand. Die anderen Männer und Frauen wichen zurück. Kein Laut der Begeisterung klang auf. Offensichtlich hatte der Schotte die Situation falsch eingeschätzt. Von den Zurückgebliebenen schien nicht einer davon begeistert zu sein, daß der Comte tot war. Nach und nach verließen die Piraten die Karacke. Fast als letzte gingen die Männer der „Isabella“ mit den Zwillingen von Bord. Der Schotte hatte sich auf Befehl Le Requins um sie zu kümmern. Niemand von ihnen durfte sich in der kleinen Siedlung frei bewegen. Nach dem Zwischenfall am Strand fürchtete Le Requin, daß es vielleicht auch hier in Port Cache zu einem Aufstand gegen ihn kommen könne. Als sie durch das flache Wasser an Land wateten, sah der Kutscher, daß die bizarren Formen des kleinen Felskegels, der die Hütten oberhalb des Strandes überragte, nicht natürlich waren.
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Er wies zum Kegel hinauf und fragte den Schotten: „Das Haus des Comte?“ „Gut, daß er das nicht mehr hören kann“, erwiderte der Schotte grinsend. „Er hätte dich sonst auspeitschen und köpf en lassen, weil du gewagt hast, sein Schloß als Haus zu bezeichnen.“ „Wohnte der Comte allein dort oben, oder warum ist es so dunkel in dem Gemäuer?“ „Es gibt keine Fenster zur See hin“, sagte der Schotte. „Das Licht wäre sonst vom Wasser her zu sehen.“ Der Schotte führte die Männer an ein paar Hütten vorbei. Die einzelnen Holzhäuser waren eng aneinander gebaut. Überall standen Männer, Frauen und sogar ein paar Kinder und starrten sie mißtrauisch an. Der Kutscher konnte diese Leute verstehen. Sie hatten sich hier eine Art neue Heimat aufgebaut, und jetzt, nachdem der Comte nicht mehr am Leben war und die Spanier sie nicht mehr in Ruhe lassen würden, mußten sie sich wieder einen anderen Ort suchen, an dem sie unbehelligt blieben. Der Schotte führte sie auf ein von Fackeln hell erleuchtetes Holzhaus zu, das anscheinend das größte hier unten am Rand des Strandes war. Laute Stimmen drangen heraus. „Unsere Taverne“, sagte der Schotte und bahnte sich einen Weg durch die finsteren Gestalten vor dem Eingang. Der Kutscher und die anderen, die die Zwillinge in ihre Mitte genommen hatten, folgten ihm. Aber außer ihnen böse Blicke zuzuwerfen, wagte niemand, sich an ihnen zu vergreifen. Der große, niedrige Raum war vom Rauch des Feuers und der Pechfackeln erfüllt. Der Kutscher kniff die Augen zusammen, die sofort zu tränen begannen. Er sah, daß fast alle Holztische besetzt waren. Der Schotte hatte offensichtlich untertrieben. Der Kutscher schätzte, daß die Männer, die an Land zurückgeblieben waren, in der Überzahl waren. Doch er sah viele Krüppel und ältere Männer. Das Geschrei verstummte, als der Schotte auftauchte. Er schien bei den Leuten nicht
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sehr beliebt zu sein. Die Blicke, die ihn trafen, waren alles andere als freundlich. Der Schotte trat an die lange Theke, die von zwei Planken gebildet wurde, die über ein paar Fässer gelegt worden waren. Ein kleiner schwarzhaariger Mann, dessen dunkle Augen wieselflink hin und her huschten, stand dahinter und hielt einen Becher mit Wein in der Hand, den er gerade aus einem Faß hinter sich vollgezapft hatte. „Hallo, Claude“, sagte der Schotte. „Schenk uns allen ein. Wir haben ein paar harte Tage hinter uns.“ Der kleine Mann hinter der Theke zögerte. Er nickte zu den Männern von der „Isabella“ hin und fragte: „Wer sind die Leute?“ „Freunde“, erwiderte der Schotte. „Sie sind auf einer Insel ausgesetzt worden. Wir haben Sie gefunden und an Bord genommen.“ „Und wo sind Vert-de-gris, Le Nez und Brisac?“ Der Kutscher spürte die Spannung, die plötzlich im Raum lag. War der Schotte vielleicht zu unvorsichtig gewesen, als er die Taverne allein mit ihnen betreten hatte? Er sah, wie Matt Davies, Stenmark, Blacky und Batuti die Hände an ihren Waffen hatten, und die Männer im Gastraum sahen es offensichtlich auch. So grimmig ihre Gesichter auch waren, sie wagten nicht, sich dem Schotten und seinen Begleitern zu nähern. „Sie sind dort, wo Verräter hingehören“, erwiderte der Schotte, als spräche er vom Wetter. „Ich nehme an, ihre Kadaver haben inzwischen die Haie gefressen.“ Ein breitschultriger Mann erhob sich. Er stand unsicher, und der Kutscher sah, daß er ein Holzbein hatte. Sein rechter Arm fehlte ihm ebenfalls bis zum Ellbogengelenk. „Du hast uns Franzosen nie gemocht, Ecossais“, sagte er in gebrochenem Englisch. „Aber ist das ein Grund, seine Kameraden abzuschlachten?“ Der Schotte zuckte mit den Schultern. „Warte, bis Le Requin euch erzählt, was geschehen ist“, gab er ruhig zurück. „Ihr
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werdet sehen, daß ihm keine andere Wahl geblieben ist. Ihr könnt euch freuen, daß wir noch nach Port Cache zurückgekehrt sind, um euch zu warnen, sonst hätten euch vielleicht schon morgen die Spanier massakriert.“ „Als der Comte noch lebte, brauchten wir von den Spaniern nichts zu befürchten“, sagte der Breitschultrige grollend. „Du bist ein Dummkopf, Marat“, erwiderte der Schotte. „Genauso, wie ich ein Dummkopf gewesen bin, der sich gefreut hat, von den Spaniern nicht gejagt zu werden. Haben wir uns jemals gefragt, warum wir Ruhe vor den Dons hatten?“ „Weil wir uns mit kleinen Schiffen begnügten“, stieß der Mann neben dem Breitschultrigen hervor. „Wir haben den Dons nicht voll vors Schienbein getreten wie die anderen.“ Der Schotte blickte den Mann mitleidig an. „Du bist noch dümmer, als du aussiehst, Jules“, sagte er. „Meinst du, die Spanier haben sich gefreut, daß wir nur kleine Schiffe geentert haben und ihre großen in Ruhe ließen?“‘ „Dann erklär uns endlich, warum wir Ruhe hatten“, sagte der Breitschultrige und stampfte mit seinem Holzbein auf. „Laß mich das tun, Marat“, sagte eine dunkle Stimme vom Eingang der Taverne her. Die Köpfe der Männer ruckten herum. Sie starrten Le Requin an, der mit seinem roten Kopftuch und den um die Brust geschlungenen Bandelieren aussah, als wäre er bereit, allein gegen alle Männer in diesem Raum zu kämpfen. Sein rechter Arm war blutverschmiert. „Die beiden Türken haben auf meine Erklärungen keinen Wert gelegt“, sagte er. „Ich mußte sie anders überzeugen. Ein paar von euch können sie nachher ins Meer werfen.“ Der Breitschultrige war blaß geworden. Er sagte nichts. „Nun, Marat?“ fragte Le Requin. „Willst du wissen, warum ich den Comte getötet habe, oder willst du ebenfalls kämpfen und versuchen, den Comte zu rächen?“
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„Ich werde mir erst deine Erklärung anhören und dann handeln“, sagte Marat mit belegter Stimme. „Der Comte hat sich unsere Sicherheit mit Verrat erkauft“, begann Le Requin. „Er gab den Spaniern Informationen über die Piratensiedlungen an der Nordküste von Espanola. Ihr wißt, wie oft wir uns gewundert haben, daß die Spanier immer gerade dann angriffen, wenn die meisten Männer auf See waren. Sie wußten es vom Comte.“ „Das ist nicht wahr!“ flüsterte Marat. „Es ist wahr!“ sagte Le Requin scharf. „Und ich hatte keine andere Wahl, als das zu tun, was ich getan habe. Red Beard, Cannonball, Hawk und die anderen hatten es herausgefunden. Zum Glück gab mir einer meiner Freunde aus Puerto Plata einen Wink, und ich konnte mich mit Hawk in Verbindung setzen. Er wollte mir zuerst nicht glauben, daß keiner von uns wußte, daß der Comte mit den Spaniern zusammenarbeitete. Aber ich überzeugte ihn. Wir stellten dem Comte eine Falle, und Red Beard ließ mir eine letzte Chance. Wenn ich es schaffte, den Comte und seine Anhänger auszuschalten, würde er nichts gegen die ,L’Executeur` und Port Cache unternehmen. Wenn es mir aber nicht gelang, sollten alle Männer des Comte sterben.“ Es war still in der Taverne. Nur das Knacken des Feuers und das leise Zischen der Pechfackeln waren zu hören. Der Breitschultrige schüttelte leicht den Kopf, als könne er das eben Gehörte nicht glauben. Er starrte Le Requin an, und schließlich sagte er mit gepreßter Stimme: „Wenn das stimmt, Le Requin ...“ „Hat mich je einer der Lüge bezichtigen können?“ fragte Le Requin scharf zurück. Marat schüttelte den Kopf. „Ich glaube dir“, sagte er leise. „Aber das bedeutet auch, daß wir Port Cache aufgeben müssen.“ „Wir werden nach Puerto Plata gehen“, sagte Le Requin. „Unter Red Beards Schutz können uns die Spanier nichts anhaben. Zusammen sind wir stark genug, jeden spanischen Angriff abzuwehren.“
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Niemand sagte etwas darauf. Den meisten Männern in der Taverne war anzusehen, daß sie Port Cache nur ungern verließen. Viele von ihnen hatten sich dem Comte angeschlossen, weil sie nicht mehr unter den englischen Piraten hatten leben und kämpfen wollen. Sie hatten sich wie Menschen zweiter Klasse gefühlt. Jetzt würde das alles von vom beginnen, es gab keine andere Wahl für sie. Le Requin sprach noch kurz mit dem Schotten, dann verließ er die Taverne. Der kleine schwarzhaarige Mann hinter der Theke hatte inzwischen ein paar Becher mit Wein gefüllt. Hasard hatte sich als erster eins genommen, aber nach einem drohenden Blick von Matt Davies stellte er es grinsend wieder auf die Planken. Der Schotte prostete den Männern zu. Nachdem sie getrunken hatten, wandte er sich an den Schwarzhaarigen. „Zeig unseren Freunden ihre Zimmer, Claude.“ Der Mann hinter der Theke nickte verkniffen. Der Kutscher spürte die Feindschaft der Leute. Es war offensichtlich, daß sie die Mitteilung vom Verrat des Comte ziemlich kalt hingenommen hatten. Es schien ihnen gleichgültig, ob andere Piraten von den Spaniern massakriert wurden, solange sie selbst unbehelligt blieben. Als der Schwarzhaarige sie durch einen nur von einer Fackel erleuchteten Gang in einen Raum führte, in dem acht Pritschen mit Strohlagern standen, hielt der Schotte Batuti zurück. Der Kutscher wollte fragen, was los sei, doch der Schotte winkte nur ab und zog den Schwarzen mit sich durch eine kleine Tür, die ins Freie führte. * Große dunkle Augen starrten Batuti an. Er sah die Angst darin, und ein Lächeln zog seine Lippen in die Breite. Die junge Mulattin wandte den Kopf und starrte an Batuti vorbei auf den Schotten. Ihre leicht aufgeworfenen Lippen zitterten ein wenig. „Sie ist scheu wie ein gefangener Vogel“, sagte der Schotte. „Vert-de-gris hat sie von
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seinem letzten Raubzug als Beute mitgebracht und sie hier eingesperrt wie ein Tier. Ich nehme an, sie weiß, wer der Mittelsmann zwischen dem Comte und den Spaniern war, aber sie wird es mir nicht verraten. Vielleicht hat sie Vertrauen zu dir, Batuti. Sag ihr, wie wichtig es für jeden einzelnen in Port Cache ist, den Verräter zu kennen, um ihn ausschalten zu können.“ Er nickte Batuti noch einmal zu und schloß dann die Tür hinter sich. Batuti wartete darauf, das Geräusch des außen an der Hütte angebrachten Riegels zu hören, aber der Schotte hatte offensichtlich nicht vor, ihn in seiner Bewegungsfreiheit zu beschränken. Die junge Mulattin blieb starr an ihrem Platz stehen. Sie war höchstens achtzehn Jahre alt, hatte eine grazile Figur und ein hübsches, ebenmäßiges Gesicht, das von den großen dunklen Augen beherrscht wurde. Sie trug einen dunkelroten Samtumhang, den sie über der Brust krampfhaft mit der rechten Hand zusammenhielt. In der Hütte war es sauber. Sie war nur spärlich möbliert. An dem kleinen Fenster, dessen Läden von außen geschlossen waren, hingen Gardinen aus Seide. In der hinteren Ecke brannte ein Feuer auf einer gemauerten Kochstelle, der Rauch zog durch eine hölzerne Haube ab, die schwarz vom Ruß war. Links von der Kochstelle standen ein kleiner Tisch und zwei Stühle, rechts davon ein breites Lager mit bunten Kissen und einem seidenen Tuch, auf das chinesische Vögel gestickt waren. „Ich nix sprechen französisch“, sagte Batuti leise. „Du mich verstehen?“ Sie hob die Lider und blickte Batuti an. Er sah die Zweifel in ihren Augen. Für sie war er nichts weiter als ein Pirat, der sich wahrscheinlich die Beute Vert-de-gris’ unter den Nagel reißen wollte, da dieser nicht mehr am Leben war. Ihre Lippen blieben geschlossen. Batuti trat einen Schritt auf sie zu. Sie rührte sich nicht und schloß die Augen.
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„Ich dir nix tun“, sagte Batuti sanft und legte seine große Hand auf ihren rechten Oberarm. Er spürte, wie sie zusammenzuckte. Ihre Hand öffnete sich, und der Umhang glitt auseinander. Batuti erschrak, als er sah, daß sie unter dem Umhang nackt war. Er wußte plötzlich: sie erwartete, daß er sie mit Gewalt nehmen würde. Der Schotte hatte ihm den Auftrag gegeben, sie auszufragen und sie zu einer Aussage zu zwingen. Was anderes also konnte sie erwarten? Batuti schloß den Umhang und führte ihre Hand wieder hinauf an die Stelle über der Brust, wo sie ihn zusammenhalten konnte. Erstaunt hob sie den Kopf und blickte ihn an. „Wo sind Kleider?“ fragte Batuti. „Du dich anziehen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Kleider“, sagte sie mit leiser, melodiöser Stimme. „Der Umhang ist das einzige, was Vert-de-gris mir zum Anziehen gegeben hat.“ „Auch für draußen?“ fragte Batuti ungläubig. „Ich durfte diese Hütte nie verlassen, seit er mich hierhergebracht hatte“, erwiderte sie. Tränen waren plötzlich in ihren Augen. Ihr Mißtrauen war von einem Augenblick zum anderen verschwunden. Es war, als wäre ein Damm gebrochen. Batuti führte sie sanft zum Tisch und drückte sie auf einen Stuhl. Dann setzte er sich neben sie. „Vert-de-gris ist tot“, sagte er, „du nix brauchen Angst mehr vor ihm zu haben.“ Sie nickte unter Tränen. „Wirst du mich beschützen?“ fragte sie. Batuti antwortete nicht gleich. Konnte er ihr versprechen, sie vor den anderen Piraten zu beschützen? Er wußte nicht einmal, ob sein Leben nicht auch bedroht war. Der Schotte schien ihm zwar zu vertrauen, aber das besagte nichts. Wenn einer der anderen Piraten seine Besitzansprüche auf die junge Mulattin anmelden würde, konnte Batuti nichts dagegen unternehmen.. Er entschloß ihr die Wahrheit zu sagen. Er erzählte ihr, Wie er und seine Kameraden
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an Bord der „L’Executeur“ gelangt waren und dass man sie doch als Fremde betrachtete. „Ich dir nix kann helfen, wenn Ecossais mir nix beistehen“, sagte er. „Aber wenn du ihm verraten, wer Nachricht an Spanier gibt, dann du stehen unter Schutz von Ecossais. Ich versprechen dir.“ Sie schaute ihn enttäuscht an, aber sie begriff, daß sie keine andere Wahl hatte, wenn sie am Leben bleiben wollte. Sie konnte ihr Los nicht ändern. Irgendeinem Mann würde sie immer gehören müssen, bis die Spanier sie vielleicht befreiten, aber selbst dann war es noch nicht sicher, ob sie zu ihren Leuten nach Cartagena zurückkehren konnte. „Er heißt Jules“, sagte sie leise. „Er war immer nur für Stunden fort, wenn er einen Auftrag von Vert-de-gris erhalten hatte. Ich weiß nicht, wie er die Nachrichten weitergegeben hat, aber einem anderen Mann hat Vert-de-gris nicht vertraut.“ Batuti erinnerte sich an den Mann neben dem Breitschultrigen in der Taverne, den der Schotte mit Jules angeredet hatte. Er beschrieb ihn, und die Mulattin nickte. „Das ist er“, sagte sie. „Du mußt vorsichtig sein. Er ist hinterhältig. Und er wird als erster versuchen, mich zu nehmen, nachdem Vert-de-gris nicht mehr lebt.“ „Ich werde aufpassen auf dich“, erwiderte Batuti grimmig. „Wenn er Spion, er nix mehr lange leben.“ Er erhob sich und strich dem Mädchen mit der Hand übers Haar. „Du warten auf mich. Ich mit Ecossais reden.“ Er sah, daß sie Angst hatte, aber er mußte sie jetzt allein lassen. Der Schotte mußte wissen, daß dieser Jules auf irgendeine Weise die Spanier benachrichtigte. Vielleicht würde es ihn nicht einmal interessieren, wie das geschah. Vielleicht würde er Jules töten und damit verhindern, dass die Spanier etwas von den geänderten Verhältnissen in Port Cache erfuhren. * Batuti fror. Ein scharfer Wind war aufgekommen und durchdrang seine dünne
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Kleidung. Er wäre lieber bei den anderen geblieben, die jetzt wahrscheinlich schon den Schlaf der Gerechten schliefen. Er dagegen hockte mit dem Schotten in einer kleinen Mulde, von der aus sie den Eingang der Taverne beobachten konnten. Der Schotte hatte die Nachricht, daß Jules der Verräter sein sollte, ziemlich skeptisch aufgenommen. Er kannte den kleinen, hinterhältigen Franzosen gut und hätte dem Feigling nie zugetraut, ein solches Risiko einzugehen. Es dauerte fast eine Stunde, bis Jules die Taverne verließ. Der kleine Mann ging nicht auf die Hütten zu, sondern schlenderte an der Taverne vorbei, als suche er einen Platz, an dem er Wasser lassen könne. Von einem Augenblick zum anderen war er verschwunden. Der Schotte sprang auf und gab Batuti einen Wink, ihm zu folgen. Sie liefen auf den Felsen zu, wo sie Jules zuletzt gesehen hatten. Nichts. Es war, als sei der Franzose vom Erdboden verschluckt worden. Hinter dem Felsen begann eine weite freie Fläche bis hin zum Wald. Jules hätte sie niemals überqueren können, ohne von dem Schotten oder Batuti bemerkt zu werden. Der Schotte fluchte unterdrückt. Er wußte, was es bedeutete, wenn es Jules gelang, die Spanier davon zu unterrichten, daß der Comte nicht mehr lebte. Batuti hörte ein leises Geräusch, das sich wie das Gurren von Tauben anhörte. Er stieß den Schotten an und wies zu einem kleinen Schuppen hinüber, der sich im Schatten des Felsens duckte. Der Schotte schlich sofort hinüber. Durch die Ritzen des Schuppens drang das flackernde Licht einer Fackel. Die Tür war nur angelehnt. Batuti starrte hindurch und sah, wie der kleine Franzose eine Taube in den Händen hielt und versuchte, etwas an ihrem einen Bein festzubinden. Batuti blickte den Schotten fragend an, aber auch der hatte keine Ahnung, was Jules dort tat. Entschlossen riß er die Tür zur Hütte auf und trat mit einem schnellen Schritt ein.
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Der kleine Franzose war herumgezuckt. Seine Augen waren weit aufgerissen. Im ersten Augenblick zuckte seine rechte Hand hinunter zur Hüfte, wo ein Entermesser in einer Scheide hing. Dann aber nahm er die Hand wieder zurück und begann zu grinsen. „Hola, Ecossais“, sagte er. „Was führt dich mitten in der Nacht zu meinen Tauben?“ Der Schotte gab ihm keine Antwort. Er wies mit der Pistole, die er in der rechten Hand hielt, auf die Taube in der linken Hand des kleinen Franzosen. „Was machst du da mit dem Vogel?“ „Er hat sich verletzt“, erwiderte Jules und wollte die Taube in ihren Käfig zurückstecken, aber da legte sich Batutis Pranke um sein Handgelenk. Der kleine Franzose schrie unterdrückt auf. Die Taube entglitt seiner Hand, begann mit den Flügeln zu schlagen und flog an dem Schotten vorbei zur Tür hinaus. Batuti öffnete gewaltsam die linke Hand des Franzosen und entnahm ihr eine kleine Röhre. Er reichte sie dem Schotten. „Das er wollen binden Vogel an Bein“, sagte er. Der Schotte betrachtete die Röhre, fummelte daran herum und öffnete sie schließlich. Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, als er den Zettel hervorzog und ihn auseinanderfaltete. „Sieh mal an!“ stieß er hervor, als er entziffert hatte, was auf dem Zettel stand. „Wer sollte diesen Wisch erhalten, he?“ Jules preßte die Lippen aufeinander. Für einen kurzen Moment schien er zu erschlaffen, als ob er resigniere. Batuti ließ sich von ihm täuschen. Als der Franzose sich plötzlich bückte, reagierte er zu spät. Jules riß sich frei, packte einen Käfig, in dem sich ein halbes Dutzend Tauben befanden, und schleuderte ihn gegen den Schotten, der dem Geschoß nicht mehr ausweichen konnte. Der Franzose war schnell wie der Blitz. Batuti. der zum zweitenmal nach ihm griff, faßte abermals ins Leere. Er brüllte, als Jules ihm einen Knüppel, den er gepackt hatte, gegen die Beine schlug. Eine Taube,
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die aus dem zerbrochenen Käfig entwichen war, begann im Raum herumzuflattern. Der Schotte hatte die Tür zugeschlagen und schrie: „Laß die Tauben nicht weg!“ Batuti wußte nicht, was der Schotte damit bezweckte. Er sprang dem Franzosen in den Weg, der sich die Pechfackel schnappen wollte, die in einer Halterung an der Wand steckte. Als Jules sah, daß er sie nicht mehr erreichen konnte, wirbelte er herum, riß sein Entermesser heraus und stürmte auf den Schotten zu, der sich vor der Tür aufgebaut hatte. „Aus dem Weg!“ schrie der kleine Franzose und hob das Messer, um es dem Schotten entgegenzuschleudern. An der Hüfte des Schotten blitzte plötzlich eine Flamme auf. Jules blieb stehen, als wäre er von einem Huf tritt getroffen worden. Langsam knickte er in den Knien ein und fiel nach vorn aufs Gesicht. Die Detonation des Schusses ließ die Bretterwände der Hütte erzittern. Pulverrauch schwebte in der Luft und brachte Batuti zum Husten. Er starrte den Schotten verständnislos an, der sich das Entermesser des Franzosen geholt hatte und damit begann, eine Taube nach der anderen abzuschlachten. Als er damit fertig war, warf er das Messer zu Boden und fluchte leise. Eine ist uns entwischt“, sagte er, „und das ist genau eine zuviel.“ Er sah Batutis fragenden Blick und fuhr fort: „Mit diesen Tauben hat der Comte die Verbindung zu den Spaniern aufrecht gehalten. Leider hab ich nie darüber nachgedacht, warum Jules seine Tauben zwar hat fliegen lassen, aber nie eine zurückgekehrt ist. Sie haben einen anderen Stall, zu dem sie immer wieder zurückkehren.“ Er hielt den Zettel hoch, den er aus der kleinen Röhre geholt hatte. „Diese Nachricht sollte die Taube zu den Spaniern bringen. Jetzt wird sie ohne Zettel dort eintreffen. Wir können nur hoffen, daß die Spanier denken, die Taube sei Jules davongeflogen. Vielleicht werden sie aber auch mißtrauisch und schicken ein paar Schiffe.“ „Dann wir sind längst weg“, sagte Batuti.
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Der Schotte nickte. „Aber sie werden wissen, daß wir unsere Pläne geändert haben, und sehr vorsichtig sein.“ Vor der Hütte waren plötzlich laute Stimmen zu vernehmen. „Wer ist da drin?“ rief Nicolas Colter. Der Schotte meldete sich sofort und öffnete die Tür. Im Licht der Fackel tauchte das schweißglänzende Gesicht des Bootsmannes auf. Er wollte auf den Schotten einreden, doch der zog ihn in die Hütte und flüsterte ihm etwas zu. Der Bootsmann sah sich noch kurz in der Hütte um, dann trat er wieder hinaus und schickte die anderen Männer zurück. Der Schotte grinste Batuti an. „Jetzt kannst du auch schlafen gehen“, sagte er grinsend. „An deiner Stelle wüßte ich genau, wo ich schlafe.“ Batuti gab das Grinsen zurück, und er war entschlossen, genau das zu tun, was der Schotte von ihm erwartete. Wenn er bei der jungen Mulattin war, würde sie wenigstens von niemand anderem belästigt werden. Jeder der Piraten wußte, daß er, Batuti, unter dem besonderen Schutz des Schotten stand. Er sah, wie ihm neidische Blicke folgten, als er sich von den anderen absetzte und auf die Hütte des toten Vert-de-gris zuging. Es war ihm gleichgültig, was sie von ihm dachten. Er wollte nichts anderes, als sie vor den Piraten beschützen. Er hörte die leisen Stimmen schon, bevor er die Hütte ganz erreicht hatte, und beschleunigte seine Schritte. Zwei Männer mußten sich in dem Raum befinden. Sie sprachen französisch, und Batuti hörte, wie die junge Mulattin mit ängstlicher Stimme antwortete. Er stieß die Tür mit einem Krachen gegen die Wand. Die Mulattin stand vor dem breiten Lager. Einer der beiden Piraten, ein gedrungener, glatzköpfiger Mann, der nicht mit an Bord der „L’Executeur“ gewesen war, hatte seine Hand in den Umhang des Mädchens gekrallt und war offensichtlich im Begriff, ihn dem Mädchen vom Leib zu reißen. Jetzt drehte er den Kopf und starrte den
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großen schwarzen Mann an, der wie ein Rachegott in der Tür stand. . Der andere Pirat, ein Krüppel, dem der linke Arm samt der halben Schulter fehlte, duckte sich und huschte sofort zur Tür hinaus, als Batuti auf den Glatzkopf zutrat. „Du glauben, weil du auch Glatze wie Vert-de-gris hast, Mädchen gehören dir, wie?“ sagte Batuti grollend. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt, und mit weit aufgerissenen Augen starrte der Pirat darauf. „Finger weg!“ stieß Batuti hervor. Er spürte, wie der Zorn auf diesen Mann übermächtig in ihm wurde. Seine Faust zischte durch die Luft und wischte den Piraten weg, als wäre er nur ein Lumpen. Neben der Feuerstelle knallte der Kerl gegen die Wand und sackte stöhnend zu Boden. Batuti war mit ein paar Schritten bei ihm, seine mächtigen Pranken packten zu und hoben den Glatzkopf vom Boden. Mit einem gewaltigen Schwung segelte der Pirat durch die offene Tür nach draußen. Batuti stampfte hinter ihm her und baute sich breitbeinig vor der Tür auf. Der Krüppel wartete in einer Entfernung von zwanzig Yards und starrte auf den Glatzkopf, der sich taumelnd auf die Füße erhob. „Nächster, der meine Hütte betritt, ist toter Mann!“ sagte Batuti hart. Ohne sich um die beiden Figuren weiter zu kümmern, drehte er sich um und schlug die Tür hinter sich zu. Er lächelte dem Mädchen zu, das ihren Umhang wieder geschlossen hatte. Sie gab das Lächeln nicht zurück. Wieder las Batuti die Zweifel in ihren Augen. Er schüttelte den Kopf. „Du keine Angst“, sagte er leise. „Morgen ich werde schlagen Riegel von innen an Tür, dann du können öffnen oder zulassen Tür, wie du wollen.“ Er trat neben das Feuer, das nur noch schwach brannte, und setzte sich auf die Erde. Den Oberkörper lehnte er gegen die Bretterwand. „Du jetzt schlafen“, sagte er zu dem Mädchen, das immer noch steif neben dem
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breiten Lager stand. „Morgen alle werden gehen weg aus Port Cache.“ Allmählich begann sie zu begreifen, daß der große schwarze Mann wirklich nichts von ihr wollte. Sie ließ sich langsam auf das Lager nieder und deckte sich mit der Seidendecke zu. Ihre großen dunklen Augen waren unentwegt auf Batuti gerichtet. „Mein Name ist Jeannette“, sagte sie plötzlich. „Wie heißt du, mein Beschützer?“ Er lächelte. „Batuti“, erwiderte er. „Nun aber schlafen. Dein Beschützer auch brauchen Schlaf.“ 5. Die Stimmung an Bord war gedrückt. Selbst Carberry, der die Leute in solchen Situationen in Trab hielt, damit sie nicht zuviel nachdachten, schien seine Stimme verloren zu haben. Die Windstille und der bleierne Himmel lasteten wie ein schweres Gewicht auf der „Isabella“. Fast vier Tage segelten sie nun schon hinter der Piraten-Karacke her. Zweimal hatte Dan O’Flynn Mastspitzen voraus gesehen, aber bevor sie das Schiff einholen und identifizieren konnten, waren immer wieder Spanier aufgetaucht, und sie hatten ihren Kurs ändern müssen. . In der Mona Passage zwischen Puerto Rico und Espanola war der Wind dann gänzlich weggeblieben. Der Seewolf hatte sich mit Ben Brighton besprochen, die schmale Ostküste von Espanola nicht weiter als bis auf die Höhe der Isla Saona hinunterzusegeln. Falls sie bis dahin nichts von der Piraten-Karacke entdeckt hatten, wollten sie in der Mona Passage kreuzen und warten, bis die Karacke wieder auf nördlichen Kurs ging, um zu den TurksInseln zu segeln. Die Nacht über waren sie zwei Seemeilen von der Küste ferngeblieben, doch beim ersten Morgengrauen steuerte Ben Brighton die „Isabella“ wieder auf Land zu, um die kleinen Buchten erkennen zu können. Vielleicht hatten sie Glück und
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fanden dieses Port Cache, wo die Piraten ihre Siedlung hatten. „Zwei Galeonen Backbord voraus!“ brüllte Dan O’Flynn plötzlich aus dem Mars. In die Männer der „Isabella“ geriet Bewegung. Die Lethargie, die die Mannschaft erfaßt hatte, schien mit einemmal verflogen. Alle starrten zum Achterdeck hinauf, wo der Seewolf stand und durch das Spektiv die beiden Schiffe zu erkennen versuchte, deren Mastspitzen Dan gesehen hatte. Es waren zweifellos Spanier. Wer sonst hielt sich in diesen Gewässern auf? Wenn es stimmte, was der Kutscher auf seiner Mitteilung geschrieben hatte, befanden sich .sämtliche Piraten von Espanola bei den Turks-Inseln, um der Silberflotte der Spanier aufzulauern. „Geh unter Land, damit sie uns nicht entdecken“, sagte Hasard gepreßt zu Ben Brighton. „Wir können es uns nicht leisten, uns auf ein Gefecht mit zwei Galeonen einzulassen.“ Er blickte wieder durchs Spektiv und sah, daß die beiden Galeonen auf sie zuhielten. Ben Brighton stieß ihn an und wies zur Felsenküste hinüber. „Siehst du die kleine Bucht?“ fragte er. „Dort können wir uns verbergen.“ Der Seewolf nickte. „Laß aber die Tiefe loten“, sagte er. „Es könnte hier Riffe geben.“ Ben Brighton brüllte einen Befehl in die Kuhl, und Carberry schickte Sam Roskill und Bob Grey aufs Vorschiff. Hasards Befürchtungen schienen sich nicht zu bewahrheiten. Sie liefen die kleine Bucht an, ohne daß Sam oder Bob die Tiefe ausloten konnten. Offensichtlich stürzten die Felsen an dieser Küste fast senkrecht ins Meer. Die Bucht, in die sie einliefen, war ziemlich eng. Der Seewolf schätzte die Breite der Einfahrt auf knapp hundert Yards. Die Bucht selbst war vielleicht eine halbe Meile tief. Es war ein idyllischer Ort. Wenn sie nicht auf der Suche nach der Karacke und auf der Flucht vor spanischen Kriegsgaleonen
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gewesen wären, hätten sie hier gut ein paar Tage Ruhe einlegen können. Die Bucht hatte einen breiten Sandstrand, der von Palmenwäldern begrenzt wurde, die an den Hängen der steil aufragenden Berge in Laubwälder übergingen. Durch die schmale Einfahrt war ihnen der Blick aufs Meer verwehrt. Dem Seewolf war das nur recht. Dadurch waren sie vor der Entdeckung der Spanier sicher. Dan O’Flynn und Luke Morgan erhielten den Auftrag, an Land zu gehen und von den Felsen aus, die die Einfahrt der Bucht begrenzten, die beiden spanischen Galeonen im Auge zu behalten, bis sie an dieser Bucht vorbeigesegelt waren. Der Seewolf war sich durchaus des Risikos bewußt, das er eingegangen war, als er Ben befahl, diese Bucht anzulaufen. Entdeckten die Spanier sie hier, hatten sie kaum eine Chance, die Bucht heil wieder zu verlassen. Aber ihnen war keine andere Wahl geblieben. Es dauerte eine Viertelstunde, bis Dan und Luke Morgan ihre Position auf den Felsen eingenommen hatten. Sie gaben Zeichen, daß sich die Galeonen immer noch näherten. Es handelte sich um Kriegsgaleonen, einen Zweidecker und einen Dreidecker, die mit mehr als drei Dutzend Kanonen bestückt waren. Den Männern an Bord der „Isabella“ wurde mulmig zumute. Hatten die Spanier gesehen, wie sie in die Bucht eingelaufen waren? Hasard gab Befehl, das Schiff gefechtsklar zu machen, und Carberry scheuchte die Männer, daß ihnen keine Zeit mehr blieb, über die Gefahr, in der sie schwebten, nachzudenken. Der Seewolf hielt es nicht mehr an Bord aus. Er wollte selbst sehen, was die spanischen Kriegsgaleonen vorhatten. Er ließ sich von vier Männern an Land pullen und kletterte über Felsen zu dem Ausguck von Dan O’Flynn und Luke Morgan hinauf, nachdem er den Palmengürtel durchquert hatte. „Ich glaube nicht, daß sie es auf uns abgesehen haben“, sagte Dan, als Hasard den Felsausguck erreicht hatte.
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Der Seewolf starrte durch den grauen Morgen, der durch die tiefhängenden Wolken noch düsterer wirkte, auf die beiden Galeonen, die etwa eine Seemeile weiter westlich auf Land zuhielten. Er schüttelte den Kopf. „Auf der Karte ist nicht verzeichnet, daß sich dort ein Hafen befindet“, murmelte er. „Vielleicht wollen sie sich mit Wasser und Proviant versorgen“, meinte Luke Morgan. Die Galeonen verschwanden aus ihrem Blickfeld. Ein vorspringendes Kap verbarg sie. Sie konnten nicht einmal mehr die Masten der Schiffe sehen. Luke Morgan wollte etwas sagen, als Dan O’Flynn plötzlich den rechten Arm ausstreckte und zum Kap hinüberwies. Der Seewolf hatte es im selben Augenblick gesehen wie Dan. Eine weiße Rauchwolke schwebte über dem Kap, und kurz darauf hörten sie das leise Rollen eines Donners. „Sie schießen!“ stieß Dan hervor. „Verdammt, was hat das zu bedeuten?“ Weder der Seewolf noch Luke Morgan konnten ihm darauf eine Antwort geben. Hasard spürte die Unruhe in sich, die ihn immer überfiel, wenn etwas Entscheidendes bevorstand. „Luke“, sagte er hastig, „du bleibst hier auf dem Ausguck und gibst sofort Zeichen zur ‚Isabella’ hinunter, wenn die Spanier sich nähern.“ Er drehte sich um und starrte zu den Bergen hinüber, die sich jenseits des Kaps über Land hinzogen. Sie waren nicht so unwegsam, daß sie nicht überquert werden konnten. „Dan“, sagte er. „Wir werden mit ein paar Männern über Land gehen und nachsehen, warum die Dons dort ein Schießen veranstalten.“ Wieder stiegen Rauchwolken auf. Diesmal hallte der Kanonendonner mehrere Minuten zu ihnen herüber. Hasard und Dan waren schon wieder auf dem Weg zurück zum Schiff. Sie brauchten kaum die Hälfte der Zeit, die sie benötigt hatten, um zum Ausguck zu gelangen. Hasard erklärte Ben Brighton, was er vorhatte, und befahl Sam Roskill, Jeff Bowie und Smoky, sich für den
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Landgang mit Musketen und Pistolen auszurüsten. „Du glaubst, daß dort drüben dieses Port Cache ist?“ fragte Ben Brighton zweifelnd. „Was ist, wenn du dich täuschst? Was ist, wenn die Spanier uns hier aufstöbern? Ohne euch sind wir nur noch elf Mann an Bord! Wir würden es gerade noch schaffen, ein paar Segel zu setzen, vom Schießen ganz zu schweigen.“ Hasard winkte ab. Er hatte sich das alles selbst schon gesagt, aber sie waren in einer Notsituation, in der sie alles auf eine Karte setzen mußten. „Willst du Matt, Blacky, Stenmark, den Kutscher und Batuti abschreiben?“ fragte er hart zurück. Ben Brighton schüttelte den Kopf. „Du weißt, daß ich. genauso an sie und die Zwillinge denke wie du“, erwiderte er. „Dann denke auch an sie und nicht an uns“, sagte Hasard und drehte sich um. Die anderen warteten schon im Boot auf ihn. Sie wurden an Land gepullt und marschierten auf dem Weg, den Hasard sich bei der Rückkehr vom Felsenausguck gemerkt hatte, in die Berge. Hasard schätzte, daß sie etwa eine halbe Stunde brauchten, um die Stelle zu erreichen, an der das Gefecht stattfand. Es sei denn, sie stießen unterwegs auf unüberwindbare Schluchten. 6. Den ganzen Tag über hatten die Piraten versucht, ihre gesamte Habe an Bord der „L’Executeur“ zu bringen, doch Le Requin hatte Nicolas Colter den Auftrag gegeben, darauf zu achten, daß jeder nur so viele Sachen an Bord brachte, daß die Größe eines Seesacks nicht überschritten wurde. Mit den Männern, Frauen und Kindern, die am Gefecht gegen die Silberschiffe nicht teilnehmen wollten oder konnten, hatte Le Requin gar nicht erst diskutiert. Sie hatten von ihm verlangt, daß er sie erst nach Puerto Plata brachte, bevor er weiter zu den Turks-Inseln segelte. Er hatte rundweg abgelehnt. Der tagelange Marsch durch die
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Berge würde niemanden umbringen, hatte er kalt erklärt. Die Stimmung in Port Cache war daher alles andere als gut. Matt Davies, Stenmark, Blacky, Batuti und der Kutscher befanden sich mit den Zwillingen oben auf der Festung des Comte. Sie sollten den Leuten von dort oben helfen, ihre Sachen zusammenzustellen, die sie mit auf ihren Marsch durch die Cordillera de Cibao nehmen wollten. Die Festung, die von außen wie ein verfallenes Gemäuer aussah, war innen prächtig ausgeschmückt. Wertvolle Gobelins bedeckten die Wände, reichgeschnitzte Möbel und wertvolle Teppiche füllten die Räume aus. Die Männer, die dem Comte gedient hatten, waren wie orientalische Haremswächter gekleidet. Die beiden Türken, die sich der Comte als Leibwächter gehalten hatte, waren von Le Requin kurzerhand getötet worden, als sie gegen ihn vorgingen. Außer drei weiblichen Dienstboten hielten sich noch zwei Frauen auf der Festung auf, die dem Comte die Zeit, die er in Port Cache verbracht hatte, versüßten. Sie waren mit fliegenden Fahnen zu Le Requin übergeschwenkt, und von einem der Haremswächter erfuhr der Kutscher, daß es in der vergangenen Nacht im Boudoir des Comte hoch hergegangen war. Matt Davies hatte sich um die Zwillinge gekümmert und sich mit ihnen die Festung angeschaut. Von den Zinnen aus hatten sie einen guten Überblick über die ganze Bucht. Die beiden Felszungen, die die Einfahrt zur Bucht begrenzten, waren mit je einer mächtigen Kanone bestückt. Für einen Angreifer war es sicher nicht leicht, unbeschadet an diesen Kanonen vorbeizusegeln. Gegen Abend rief Le Requin seine wichtigsten Leute noch einmal zusammen und besprach mit ihnen, daß sie im Morgengrauen des nächsten Tages auslaufen wollten. Ihr Ziel war Corail Blanc, eine der kleinen Koralleninseln südlich von Grand Turk, die unbewohnt
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war. Die Spanier wagten sich mit ihren großen Galeonen selten in dieses Gebiet, da sie die Untiefen und Korallenbänke fürchteten. Batuti hatte den Schotten nach der Besprechung abgefangen und wollte mit ihm über Jeannette, die Mulattin, sprechen, aber der Schotte hatte nur abgewinkt. „Wenn ein Mann anfängt, sich um ein Weib zu kümmern, dann ist es bald mit ihm vorbei“, hatte er verächtlich gesagt. Der Kutscher war auf der Festung geblieben, als die anderen wieder zurück zu den Hütten gingen. Der Schotte hatte sein Quartier wie die Männer von der „Isabella“ in der Taverne bezogen. In der letzten Nacht hatte er sich nach dem Zwischenfall mit dem Verräter Jules so mit Wein vollaufen lassen, daß Colter ihn auf sein Zimmer hatte tragen müssen. Dennoch war er am nächsten Tag als einer der ersten wieder auf den Beinen gewesen. Batuti schleppte ein großes Bündel den schmalen Pfad hinunter, der von der Festung zu den Hütten führte. Die Weiber hatten zwar lamentiert, als er ihnen einen Haufen Kleider und Unterwäsche stahl, aber er hatte sich nicht darum gekümmert. Sie hatten genug davon, und Jeannette konnte einiges davon für ihren Weg nach Puerto Plata gebrauchen. Matt Davies schüttelte den Kopf und murmelte etwas, als Batuti sich von ihnen trennte und zu der Hütte hinüberging, in der die Mulattin wohnte. „Er gefällt mir nicht“, sagte er zu Stenmark. „Es sieht fast aus, als ob er sich in das Mädchen verknallt hätte.“ „Meinst du, daß die sich in der Hütte küssen?“ fragte Hasard interessiert. „Das geht dich gar nichts an, Kerl“, sagte Matt wütend. „Für so was bist du noch zu klein.“ Hasard zog einen Flunsch. Er schwieg, weil er sah, daß Matt Davies in keiner guten Stimmung war. Dabei war doch gar nichts dabei, wenn Batuti ein Mädchen küßte, oder? Davon wurde man doch nicht krank! Manchmal benahmen sich die Erwachsenen wirklich blöd. Hasard hatte
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aber schon begriffen, daß man sie dann in Ruhe lassen mußte, sonst fing man sich nur eine Maulschelle ein. Also ging er mit Philip stumm neben den anderen her zur Taverne und protestierte auch nicht, als Matt sie ins Bett schickte, als die Sonne gerade unterging. * Jeannettes gelöste Stimmung verflog, als Batuti ihr sagte, daß sie morgen mit den anderen den Weg nach Puerto Plata gehen müsse – ohne ihn. Ihre großen dunklen Augen füllten sich mit Tränen. „Nix weinen“, sagte Batuti leise. „Ich muß auf Schiff mit meinen Kameraden, und Le Requin hat verboten, daß Frauen mitfahren.“ „Sie werden sich um mich schlagen“, sagte sie mit erstickter Stimme, „oder sie werden alle über mich herfallen ...“ Batuti legte die Hand auf ihren Arm. „Auf der Festung sind noch mehr Frauen. Zwei von ihnen waren Frauen von Comte. Auch sie haben nix Beschützer mehr. Wenn ihr zusammenbleiben, niemand wird euch was tun.“ Er spürte, wie ihre Schultern zitterten. Sie drängte sich an ihn und flüsterte: „Laß mich nicht allein, Batuti. Ich werde sterben, wenn mich noch ein anderer Mann berührt. Bisher habe ich alles ertragen, aber jetzt ist meine Kraft erschöpft. Ich kann nicht mehr.“ „Du müssen tapfer sein“, erwiderte er lahm. Es tat ihm in der Seele weh, daß er ihr nicht helfen konnte, aber es gab keine Möglichkeit für ihn. „Morgen früh ich werde sprechen mit Mann, der Marat heißt“, sagte er. „Er sein gut. Vielleicht er wird aufpassen auf dich.“ Sie wandte sich von ihm ab und ging zum Lager hinüber. Ohne ihn anzusehen, ließ sie sich nieder und zog die seidene Decke über sich. Ihr leises Weinen erfüllte die Hütte, und Batuti fühlte sich unglücklich wie lange nicht mehr. Er ließ sich wieder neben der Feuerstelle nieder und starrte zum Lager hinüber, wo Jean-nette ihren Kummer in das Kissen weinte. Obwohl es
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durch das Feuer sehr warm in der Hütte war, fror ihn. Seine Gedanken glitten zur „Isabella“ zurück. Er wußte, daß er sich nicht nur wegen Jeannette unglücklich fühlte. Die gewohnte Umgebung, die seine Heimat war, fehlte ihm. Er brauchte sie wahrscheinlich mehr als jeder andere der Seewölfe. * Er war wie ein Hornissenangriff auf einen Bienenstock. Das erste Grau des frühen Tages hatte eben den von jagenden Wolken bedeckten Himmel der Dunkelheit entrissen, als die schmetternden. Töne der Fanfare von der rechten Felszunge der Buchteinfahrt zur Festung herüberwehten. Für einen Augenblick waren die Männer und Frauen und Kinder von Port Cache wie erstarrt. Die meisten von ihnen hatten an den Fanfarentönen sofort gehört, daß zwei spanische Kriegsgaleonen Kurs auf Port Cache nahmen. Le Requin, der sich noch auf der Festung aufgehalten hatte, lief sofort hinunter zum Strand und ließ sich zur „L’Executeur“ übersetzen. Alle Mannschaftsmitglieder hatten Befehl, sich umgehend an Bord einzufinden und die Karacke gefechtsklar zu machen. Batuti war schon wach gewesen und hatte für Jeannette zusammengepackt, was sie auf ihrem Weg durch die Berge mitnehmen wollte. Darunter befand sich auch eine Schatulle mit wertvollem Schmuck, die Vert-de-gris gehört hatte. Jean-nette hatte ihn nicht haben wollen, aber Batuti hatte ihr erklärt, daß sie sich damit vielleicht eines Tages ihre Freiheit würde zurückkaufen können. Die Fanfarenstöße hatten Batuti aus der Hütte getrieben. Der Schotte und die anderen Männer von der „Isabella“ liefen auf ihn zu. „Los, an Bord!“ rief der Schotte. Er wollte weiterlaufen, als er sah, wie der Neger zögerte. Er wußte sofort Bescheid. „In Ordnung, Batuti“, sagte er hastig, „Du hilfst Marat, die Flucht der anderen zu
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organisieren. Dann nimmst du mit Fanfan das letzte Boot. Eine halbe Stunde hast du!“ Er lief weiter. Matt Davies schickte Stenmark; Blacky und den Kutscher, der im Morgengrauen die Sachen des Kapitäns bereits an Bord gebracht und danach die Taverne aufgesucht hatte, mit den Zwillingen hinter dem Schotten her. Dann wandte er sich an Batuti. „Bist du verrückt? Willst du wegen des Mädchens deine Freunde verlassen?“ Batuti schüttelte den Kopf. „Ich kommen an Bord“, erwiderte er heiser, „aber erst helfen Jeannette.“ „Sie wird sich selbst zu helfen wissen“, sagte Matt eindringlich. „Wenn die Spanier angreifen, wirst du keine Möglichkeit mehr haben, an Bord zu gelangen. Dann kannst du mit den anderen gegen die Übermacht der Spanier kämpfen!“ „Ich kommen an Bord“, sagte Batuti stur. Für einen Moment war Matt versucht, dem sturen Krauskopf den Eisenhaken an das Kinn zu setzen und den Büffel am Kragen zum Strand zu schleifen. Doch dann zuckte er mit den Schultern und lief hinter den anderen her. Batuti verschwand wieder in der Hütte. Er sah, daß Jeannette eine derbe Leinenbluse und eine Hose angezogen hatte, die Batuti auf der Festung in die Hände gefallen war. Sie wollte auch ihre Kleider einpacken, doch Batuti nahm sie ihr aus den Händen. „Nix gut viel tragen“, sagte er. „Du nehmen nur Schmuck mit und Essen. Alles andere du kannst kaufen in Puerto Plata.“ Sie warf noch einen sehnsüchtigen Blick auf die Kleider, die Batuti ihr erst gestern mitgebracht hatte, doch dann nickte sie. Sie verließen die Hütte. In einer Entfernung von vielleicht fünfzig Yards lehnten der Glatzkopf und der Einarmige an einer Hütte und starrten zu ihnen herüber. Batuti preßte die Lippen zusammen. Ich hätte sie töten sollen, als ich sie in der Hütte überraschte, dachte er. Dann hätte Jeannette nichts mehr von ihnen zu befürchten. Er wußte nicht, ob sie es nur auf Jeannettes Körper abgesehen hatten,
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wahrscheinlich aber ahnten sie, daß in der Hütte des ehemaligen Profos noch einiges an Schätzen zu finden war. Batuti hatte den Schmuck in ein festes Tuch verknotet, das sich zwischen der Verpflegung in einem kleinen Bündel befand, das Jeannette gut tragen konnte. Grimmig marschierte Batuti auf die beiden Halunken zu, die sich sofort abwandten und zwischen den Hütten verschwanden. Sie schienen zu wissen, daß ihre Zeit erst da war, wenn der Neger an Bord der „L’Executeur“ ging. Batuti zog Jeannette hinter sich her. Blicke folgten ihnen. Die meisten Männer und Frauen von Port Cache schienen das Mulattenmädchen noch nie gesehen zu haben. Batuti suchte den Breitschultrigen mit dem Holzbein aus der Taverne, den der Schotte Marat genannt hatte. Er fand ihn zwischen den Hütten am Strand, wo er eine große Menge um sich versammelt hatte und den Leuten auf Französisch etwas erklärte. Batuti wartete, bis der Mann fertig war und die Leute mit Anweisungen fortschickte. Dann ging er auf ihn zu. Marat hatte ihn schon gesehen und fragte: „Warum bist du noch nicht an Bord?“ Batuti zog Jeannette näher und stellte sie vor sich. „Sie hat Vert-de-gris gehört“, sagte er. Marat nickte. „Ich weiß.“ „Sie muß über Berge gehen wie ihr“, fuhr Batuti fort, „aber sie sein ohne Schutz. Glatzköpfiger Mann und Mann ohne Arm und Schulter haben sie überfallen in Hütte und wollen nehmen sie mit Gewalt.“ Marat zuckte mit den Schultern. „Sie gehört niemandem mehr“, sagte er. „Jeder, der will, kann sie sich nehmen. Das sind nun mal unsere Gesetze.“ „Sie mir gehören“, sagte Batuti mit belegter Stimme, „aber ich müssen an Bord und nix kann aufpassen auf sie.“ „Dein Pech“; sagte Marat. Zorn stieg in Batuti auf. Mit einem Schritt war er bei dem Breitschultrigen, packte ihn am Kragen seines zerschlissenen Leinenhemdes und zog ihn zu sich heran, daß ihre Nasen nur noch Inches
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voneinander entfernt waren. Marat hob den rechten Armstummel, der nur noch bis zum Ellbogengelenk reichte, aber er wagte nicht, mit dem Stumpf zuzustoßen. Er wußte, daß er dem Schwarzen nicht gewachsen war. „Sie mir gehören!“ stieß Batuti noch einmal hervor. „Und du wirst aufpassen auf sie. Wenn wir kehren zurück nach Puerto Plata, und ich werden hören, daß du nix gut aufgepaßt auf Jeannette, ich dich werden töten, Marat!“ Der Breitschultrige kriegte keine Luft mehr. Sein Gesicht lief blau an. Mit der Linken versuchte er, den eisernen Griff des Negers zu lockern. „Du verstanden?“ fragte Batuti scharf. Marat nickte mühsam. Keuchend sog er die Luft in seine Lungen, als Batuti ihn losließ und von sich stieß. Er starrte Batuti an, doch in seinen Augen waren weder Haß noch Zorn. „In Ordnung“, sagte er gequetscht, „ich passe auf sie auf.“ „Du auch nix anfassen Mädchen“, sagte Batuti drohend. Marat schüttelte hastig den Kopf und reckte seine linke Hand vor, als Batuti seine Pranken wieder hob. „Niemand wird sie berühren, solange ich lebe“, sagte er. „Ich schwöre es dir!“ „Gut“, sagte Batuti und schlug dem Mann auf die Schulter, daß er fast mit seinem Holzbein ins Stolpern geraten wäre. „Du kein schlechter Mensch. Ich dir vertrauen.“ Er wandte sich an Jeannette, in deren Augen Tränen standen. Der Anblick traf Batuti ins Herz, und er wußte, daß er sie nicht länger anschauen durfte, wenn er nicht schwach werden und bei ihr bleiben wollte. „Wir uns in Puerto Plata sehen“, sagte er leise, obwohl er wußte, daß sie sich wahrscheinlich nie im Leben wiedersehen würden. „Wenn möglich, du gehen zurück zu deinen Leuten nach Cartagena. Du nix auf mich warten.“ Sie barg ihr Gesicht an seiner Schulter. „Die ,L’Executeur` geht ankerauf!“ rief Marat, und Batuti zuckte herum.
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Ein Boot wurde vom Strand abgestoßen. und Batuti sah, wie der kleine Fanfan mit seiner Fanfare zwischen den Männern saß, die jetzt die Riemen ins Wasser tauchten. , Sanft strich er Jeannette noch einmal übers Haar, dann wandte er sich abrupt ab und lief schreiend und winkend auf das Boot zu, das ihn mit an Bord der „L’Executeur“ nehmen sollte. Er sah, daß die Karacke unter vollen Segeln stand. Der Anker tauchte aus dem Wasser auf, und das Schiff drehte sich, bis es mit der Breitseite zur Buchteinfahrt lag. Wie die Schatten von riesigen Vögeln glitten plötzlich die beiden spanischen Galeonen vor die Einfahrt zur Bucht, und Batuti blieb der Schrei im Halse stecken. Von einem Augenblick zum anderen schien sich die Hölle aufzutun. Brüllend entluden sich die beiden Kanonen auf den Felsenzungen, die die Einfahrt säumten. Batuti sah, wie die Kettenkugeln sich teilten und taumelnd in die Takelage der Kriegsgaleonen schlugen. Spieren und Stengen wurden zerfetzt und wirbelten durch die Luft. Und dann feuerte die „L’Executeur“ ihre Breitseite ab. Die Spanier hatten gleichzeitig gefeuert, aber sie hatten nicht den Hauch einer Chance gegen das überraschende, vernichtende Feuer, das ihnen aus der Bucht entgegenschlug. Batuti, der durch das aufspritzende flache Wasser auf das Boot zulief, wurde plötzlich von einer unsichtbaren Faust gepackt und durch die Luft gewirbelt. Klatschend schlug er aufs Wasser und schluckte eine ganze Ladung. Im ersten Moment wußte er nicht, wo er war. Prustend rappelte er sich hoch und wurde von einer Welle wieder umgerissen. Ein zersplittertes Brett wirbelte haarscharf an ihm vorbei. Wieder richtete er sich auf und stemmte sich mit den Füßen in den weichen, nachgebenden Sand. Er suchte nach dem Boot, mit dem er die „L’Executeur“ noch erreichen wollte. Es war nicht mehr da. Überall um ihn herum schwammen die Trümmer des Bootes. Ein
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blutüberströmter Mann taumelte an ihm vorbei auf den Strand zu. Das Grollen einer dumpfen Explosion rollte über die Bucht. Auf einer der beiden spanischen Galeonen stieg plötzlich eine Feuersäule in den Himmel. Ein gewaltiger Rauchpilz breitete sich aus und schien das Schiff zu verschlingen. Batuti nahm das alles nur am Rande wahr. Er starrte zur „L’Executeur“ hinüber, die ihren Bugspriet auf die Buchteinfahrt zu drehte und langsam Fahrt aufnahm. „Halt!“ brüllte Batuti. Mit rudernden Armen stampfte er durchs Wasser, das ihm bald bis zur Brust reichte. Verzweifelt winkte er. Er sah die Gesichter seiner Freunde an Steuerbord der Kuhl, aber sie konnten ihm auch nicht mehr helfen. Keuchend hielt er inne. Tränen der Wut stiegen ihm in die Augen. Für einen Moment dachte er, er müßte sterben. Mit der „L’Executeur“ verschwand das letzte Bindeglied zwischen ihm und der „Isabella VIII.“, die zu seiner zweiten Heimat geworden war. Die Detonationen der beiden Kanonen auf den Landzungen, die immer wieder auf die spanischen Kriegsgaleonen abgefeuert wurden, hörte er kaum. Mit großen, tränenfeuchten Augen starrte er hinter der Karacke her, die ihn von allem, was ihm in seinem Leben etwas bedeutete, trennte. Er spürte eine Bewegung an seinem Arm und erwachte aus der Erstarrung. Er wandte den Kopf und sah ein blutverschmiertes Gesicht. Der Mann sagte: „Komm mit an Land. Le Requin wird nicht zurückkehren. Wir werden uns mit den anderen nach Puerto Plata durchschlagen müssen.“ Der Druck der Hand verstärkte sich, aber Batuti riß sich los. Der Mann zuckte mit den Schultern und watete an den Strand, wo die Zurückgebliebenen der „L’Executeur“ nachblickten, die sich feuerspeiend einen Weg an den beiden zusammengeschossenen Galeonen vorbei bahnte. Eine zweite, noch viel lautere Explosion zerriß die eine Galeone. Mehrere hundert
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Yards hoch fetzten brennende Spieren in den Himmel. Innerhalb weniger Sekunden war das Schiff von der Wasseroberfläche verschwunden. Dann war von der „L’Executeur“ nichts mehr zu sehen. Die eine Felszunge verbarg sie vor den Augen der Menschen in der Bucht. Die zweite, schwer angeschlagene Galeone trieb auf die Bucht zu. Noch einmal brüllte eine Kanone auf der Felszunge auf, aber die Kugel konnte die Galeone nicht aufhalten. Jetzt erst erwachte Batuti aus seiner Erstarrung. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf die herantreibende Galeone. Es wimmelte an Deck von Menschen. Er sah Eisen im Schein des Feuers blinken, das sich auch auf diesem Schiff in Windeseile ausbreitete. Brustwehre klirrten gegeneinander, Lanzen ragten in die Luft. Soldaten! Die Galeonen hatten Hunderte von Soldaten an Bord gehabt, also waren sie auf dem Weg gewesen, Port Cache dem Erdboden gleichzumachen. Batuti warf sich herum und hetzte auf den Strand zu. Er sah die anderen Männer auf die Hütten zu flüchten, und von den Felszungen liefen die Männer heran, die die Kanonen bedient hatten. Marats dröhnende Stimme rief die Männer und Frauen zur Vernunft. Innerhalb weniger Minuten hatten sie sich hinter der Taverne versammelt und marschierten auf den Palmenwald zu. Batuti hatte sich gehetzt nach Jeannette umgesehen. Bei Marat war sie nicht gewesen. Er lief auf die Menge zu und fragte eine Frau, doch die verstand offensichtlich kein Englisch. Dann hatte er Marat erreicht. Er riß den Breitschultrigen herum und schrie ihn an: „Wo sein Jeannette?“ Marat befreite sich wütend. „Verdammt!“ brüllte er zurück. „Ich kann mich jetzt nicht um sie kümmern! Wir müssen weg hier! Hast du die Soldaten nicht gesehen?“ Batuti ließ von dem Breitschultrigen ab, der Mühe hatte, den anderen mit seinem
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Holzbein zu folgen. Gehetzt blickte er sich um. Er war sicher, daß Jeannette nicht bei den anderen Frauen gewesen war. Wo aber konnte sie sein? Batuti rannte zurück zur Taverne. Seine Augen wurden groß, als er in die Bucht blickte. Die brennende Galeone war auf Grund gelaufen. Menschen stiegen in Boote oder sprangen einfach über Bord. Soldaten über Soldaten! Es war, als spucke die havarierte Galeone ganze Kompanien aus. Batuti hatte die Taverne noch nicht ganz erreicht, als die Tür von innen aufgerissen wurde. Der kleine, hagere Pirat, dem der linke Arm mit der halben Schulter fehlte, stand auf der Schwelle und starrte Batuti an, als sei er der Leibhaftige. Mit ein paar Sätzen war Batuti heran. Bevor der kleine Pirat einen Warnruf ausstoßen konnte, wurde er von einer schwarzen Faust gegen den Türstock geschleudert und sackte mit einem Seufzer zusammen. Batuti stürzte in den Raum. Im Schein einer Fackel, die hinter der Plankentheke in einer Wandhalterung steckte, sah er den Glatzkopf. Der Pirat hielt ein breites Messer in der rechten Hand, dessen Schneide rot vom Blut war. Ein Schrei entrang sich Batutis Kehle. Ohne auf das Messer in der Hand des Piraten zu achten, stürmte er auf den Glatzkopf los. Seine Pranke traf den Mann an der Brust. Der Glatzkopf wollte die rechte Hand mit dem Messer hochreißen, doch eine kurze Bewegung Batutis genügte, ihm die Waffe aus der Hand zu prellen. „Vorsicht, Batuti!“ Er zuckte zusammen, als hätte ihn ein Peitschenhieb getroffen, als er die helle Stimme vernahm. Jeannette! War sie nicht ...? Das blutige Messer! Batuti drehte den Kopf. Eine Feuerzunge schien auf ihn zuzulecken, doch die Kugel zischte an ihm vorbei. Er hörte ein leises Stöhnen, und aus den Augenwinkeln sah er die heftige Bewegung, mit der der Glatzkopf sich auf ihn stürzen wollte.
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Er sprang zur Seite und glitt auf einem Gegenstand aus. Schwer stürzte er zu Boden. Für einen Moment war er benommen. Seine Hand schnitt sich an etwas, als er sich abstützen wollte. Dann spürte er den Knauf eines Messers, und seine Hand packte zu. Der Glatzkopf schrie triumphierend auf, als er sah, daß der Neger gestürzt war und am Boden lag. Er hielt ein anderes Messer in der Faust und warf sich auf Batuti, der sich mit einer kurzen Drehung herumwälzte, mit der linken Hand die Messerhand des Glatzkopfes aus der Richtung brachte und die Rechte mit dem Messer anhob. Der Schrei des Glatzkopfes erstarb. Ihm schien die Luft wegzubleiben. Er versuchte noch, das Messer, das er in die Bohlen des Fußbodens getrieben hatte, herauszuzerren, doch dann löste sich seine Hand von dem Knauf und tastete sich an seiner Seite hinauf bis zur Brust, in der sein eigenes Messer steckte. Batuti wälzte sich unter dem Glatzkopf hervor. Er warf einen kurzen Blick zur Tür, wo verkrümmt der kleine Krüppel lag. Er hatte immer noch eine Pistole in der Hand. Im hinteren Teil des Raumes stand Jeannette. Als Batuti sich aufrichtete, ließ sie eine Pistole fallen und lief schluchzend auf ihn zu. Er fing sie auf und umarmte sie. Ein Gefühl unendlicher Erleichterung durchströmte ihn. Als er das blutige Messer in der Faust des Glatzkopfes gesehen hatte, war es ihm wie ein Schock durch das Herz gefahren. „Sie haben den Wirt ermordet und wollten ihm sein Geld stehlen“, sagte Jeannette schluchzend. Batuti nahm sie an die Hand und zerrte sie zum Ausgang. Von den Piraten war nichts mehr zu sehen. Sie waren im Palmenwald untergetaucht. Batuti bückte sich und nahm die Pistole des kleinen Krüppels an sich, der durch die Kugel gestorben war, die Jeannette abgefeuert hatte. Noch waren die Soldaten nicht heran, aber Batuti sah, daß sie sich formierten.
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„Wir müssen laufen in Palmenwald“, stieß er hastig hervor. „Du kennen den Weg, den Marat und andere nehmen?“ Jeannette schüttelte den Kopf. „Ich weiß nur, daß es weiter landeinwärts eine schmale Schlucht gibt, durch die man fliehen muß“, sagte sie. „Es ist der einzige Weg ins Landesinnere. Der Comte hat sie mit Pulverladungen verminen lassen. Wenn die Schlucht gesprengt wird, kann niemand mehr hindurch.“ „Wie weit?“ fragte Batuti. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“ Batuti nahm sie bei der Hand und begann zu laufen. Sie mußten eine weite, freie Strecke überqueren, und er war sich bewußt, daß sie es niemals unbemerkt schaffen konnten. Sie hatten schon die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als der erste Schuß aus einer Muskete abgefeuert wurde. Dicht neben Batuti stieg eine Sandfontäne hoch, und er begann, Haken zu schlagen, damit er kein ruhiges Ziel bot. Jeannette keuchte schon nach wenigen Schritten. Durch die lange Zeit ihrer Gefangenschaft in der Hütte des Profos Vert-de-gris hatte sie sich kaum bewegen können. Sie war schon völlig außer Atem, bevor sie den Palmengürtel erreichten. „Ich kann nicht mehr!“ stieß sie keuchend hervor. „Lauf, Batuti! Bring dich in Sicherheit! Mir wird wahrscheinlich nichts geschehen!“ Er wußte so gut wie sie selbst, daß sie log. Die Spanier würden sie nicht fragen, woher sie stammte. Sie würden sich ihrer bedienen und sie als Piratenhure hinrichten, wenn sie ihrer überdrüssig waren. Nachdem sie die ersten Palmen hinter sich hatten, nahm Batuti Jeannette auf die Arme und trug sie. Sie versuchte, sich dagegen zu sträuben, aber sie hatte seinen starken Armen nichts entgegenzusetzen. Batuti sah die Spuren, die die Piraten hinterlassen hatten. Er folgte dem breiten Trampelpfad. Er sah, daß Jeannette der Beutel mit den Lebensmitteln und dem Schmuck aus den Händen glitt, aber er
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hielt nicht an, um ihn aufzuheben. Er wußte; daß sie jede Sekunde brauchten, um die anderen einzuholen. Sie saßen in einer tödlichen Falle, wenn es ihnen nicht gelang. Marat würde die Schlucht sprengen, und dann gab es keinen Fluchtweg mehr für sie. Batutis Lungen arbeiteten wie Blasebälge. Das Blut begann in seinen Ohren zu singen. Er hörte, daß Jeannette etwas sagte, aber er verstand ihre Worte nicht. Erst als sie an ihm zu zerren begann, begriff er, was sie wollte. Er ließ sie auf den Boden nieder, und nebeneinander hetzten sie weiter. Manchmal war es Batuti, als könne er die vor ihnen flüchtenden Piraten schon hören, doch es waren immer nur die eigenen Geräusche, die er selbst und Jeannette verursachten. Das dumpfe Platschen, mit dem eine Kugel dicht neben ihnen in den Stamm einer Palme schlug und Splitter um ihre Ohren spritzte, ließ sie für einen Moment erstarren. Dann riß Batuti Jeannette wieder mit sich. Er wußte plötzlich, daß sie den Spaniern nicht entgehen konnten, wenn sie weiter auf dem breiten Pfad blieben, den die Piraten hinterlassen hatten. Mit Jeannette war er zu langsam. Auch wenn er sie trug. Batuti zögerte einen Augenblick, dann zog er Jeannette vom breiten Pfad weg zwischen zwei Palmen hindurch und bahnte sich einen Weg durch das dichte Unterholz des beginnenden Regenwaldes. Deutlich waren die Stimmen der Spanier zu hören, die ihnen im Eilschritt folgten. Eisen schlug gegeneinander. Batuti stolperte über eine Wurzel und schlug der Länge nach zu Boden. Er hatte Jeannette losgelassen, und für einen Moment war er nicht mehr für sie zu sehen. Sie erschrak, als eine schwarze Hand aus dem Gebüsch hervorzuckte und sie zu sich herunterriß. Er preßte ihr seine große Hand auf den Mund. „Still“, flüsterte er. „Vielleicht sie laufen vorbei und finden uns nix.“
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Er versuchte, die Luft anzuhalten, aber das Blut sang ihm wieder in den Ohren. Er hörte neben sich den fliegenden Atem Jeannettes, und er meinte, es müßte auf zwanzig Yards zu hören sein. Schwere Schritte stampften in einiger Entfernung an ihnen vorbei. Laute Stimmen hallten zu ihnen herüber. Immer wieder dachte Batuti, daß die Reihe der Soldaten einmal. abreißen müsse. Es mußten Hunderte sein. Er wußte nicht, wie viel Zeit vergangen war. Ihr Atem hatte sich beruhigt, und auch auf dem Trampelpfad war nichts mehr zu hören. Nur aus der Ferne drang ab und zu ein Ruf zu ihnen herüber. Bisher waren noch keine Schüsse gefallen. Batuti erhob sich langsam und zog Jeannette aus dem Graben. Sie schaute ihn aus ihren großen, dunklen Augen an. „Was sollen wir tun?“ fragte sie leise. „Wenn Marat die Schlucht sprengt, sind wir verloren. Selbst wenn die Spanier uns nicht finden, wir werden diese Bucht niemals verlassen können.“ Batuti schüttelte den Kopf. „Wichtig sein, daß wir leben“, erwiderte er. „Es immer geben einen Weg. Ich kann bauen ein Floß oder ein Boot. Vielleicht es geben doch einen Weg über Berge.“ Er wies im weiten Umkreis. „Ich nix glauben, daß nur Weg durch die Schlucht ist gut. Bestimmt es geben anderen Weg.“ „Vielleicht sollten wir uns den Spaniern stellen“, sagte sie. „Sie müssen uns glauben, daß wir beide Gefangene der Piraten gewesen sind.“ „Du sein Gefangene. Sie denken werden, Batuti Pirat.“ „Nicht, wenn ich für dich spreche.“ „Du wollen gehen zu Spanier?“ fragte Batuti. „Ich dir sein nix böse, wenn du gehen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nicht allein“, sagte sie heftig. „Wenn ich gehe, dann nur mit dir.“ „Spanier nix gut“, erwiderte Batuti. „Sie werden töten schwarzen Mann. Schwarzer Mann entweder Sklave oder Pirat. Und
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dunkles Mädchen entweder Sklave oder Hure.“ Er sah in ihren großen dunklen Augen, daß sie ihm recht gab. Sein Arm legte sich um ihre Schultern, als sie dicht an ihn herantrat und ihren Kopf gegen seine Brust lehnte. „Ich bleibe bei dir, Batuti“, sagte sie fest. „Ganz gleich, wie du dich entscheidest, ich werde an deiner Seite sein.“ Er wollte ihr etwas antworten, als er spürte, wie der Boden unter ihm zu zittern begann. Im selben Augenblick drang das Geräusch dumpfer Detonationen an seine Ohren. Ein Rauschen umgab sie plötzlich, und als dicht neben ihnen ein faustgroßer Stein auf den Boden schlug, wußte er, was das Rauschen bedeutete. Tausende von Steinen waren in die Luft geschleudert worden und prasselten jetzt durch das Blätterdach des Waldes. Das Schreien der Soldaten war wieder deutlicher zu hören. Die ersten Soldaten kehrten zurück. Spanische Rufe drangen an ihre Ohren, und Batuti schaute Jeannette fragend an. Sie verstand Spanisch. „Marat ist es gelungen, die Schlucht zu durchqueren und hinter sich zu sprengen“, flüsterte sie. „Die Soldaten waren dichtauf. Mindestens zwanzig von ihnen befanden sich in der Schlucht, als das Pulver explodierte. Eine Menge anderer wurden durch die herabfallenden Steine getötet ...“ Sie sprach nicht weiter. Wie Batuti hatte sie die Geräusche gehört, die von schweren Haumessern herrührten, die sich einen Weg durch Buschwerk bahnten. Batuti zog Jeannette am Arm mit sich. Die Stimmen, die vom Pfad zu ihnen herüberklangen, wurden lauter. „Was sie rufen?“ fragte Batuti hastig. Er sah, daß sie mit der Antwort zögerte. In ihren großen Augen las er Angst. „Du sagen!“ „Sie suchen uns!“ stieß sie hervor. „Sie haben gesehen, daß wir nicht durch die Schlucht gelaufen sind. Sie wissen, daß wir den Pfad verlassen haben und in die Büsche geflohen sind!“ Batuti begann zu laufen. Er hielt Jeannettes Arm fest umklammert, und jedesmal, wenn
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sie strauchelte, zog er sie mit einem Ruck wieder auf die Beine. Er wußte, daß es jetzt um ihr Leben ging. Die Spanier hatten mit ansehen müssen, wie fast drei Dutzend ihrer Kameraden durch die Sprengung in der Schlucht ums Leben gekommen waren. Sie würden keine Gnade kennen, wenn ihnen jemand von den Piraten in die Hände fiel. Sie würden gar nicht erst fragen, wer sie waren. Das Gelände stieg an. Batuti fühlte, wie der Boden unter ihm härter wurde. Die Bäume standen weiter auseinander, und zwischen ihnen wuchsen kaum noch Büsche. Er drehte sich gehetzt um. Man konnte schon mehr als fünfzig Yards weit sehen, und da das Gelände immer steiler wurde, würden die Spanier aufholen. Sie hatten Musketen und Pistolen bei sich. Instinktiv legte Batuti die linke Hand auf den Griff der Pistole, die er dem kleinen Krüppel abgenommen hatte. Aber was konnte er mit einer Kugel gegen die Soldaten ausrichten? Er preßte die Lippen aufeinander. Er wußte, daß er bis zum letzten Atemzug kämpfen würde. Sein Blick ging wieder nach vorn. Eine Wand von porösem vulkanischen Fels stieg vor ihm auf wie eine Mauer. Aus, dachte er. Wir sitzen in eine riesigen Falle, aus der es kein Entrinnen gibt. Trotzdem lief er weiter. Er sah, daß Jeannette noch nicht bemerkt hatte, daß ihr Weg gleich zu Ende war. Sie hatte genug damit zu tun, vor sich auf den Boden zu starren, um nicht zu stolpern. Dann standen sie plötzlich vor der Wand. Jeannettes dunkle Augen weiteten sich vor Entsetzen, während Batuti die steile Felswand mit seinen Blicken abtastete, ob es nicht doch noch einen Ausweg für sie gab. Er sah auf halber Höhe der Wand eine Art Felskanzel. Aber wie konnten er und Jeannette sie erreichen? Und half es ihnen, wenn sie sich dort hinauf retten konnten? Batuti wußte es nicht, aber er versuchte es trotzdem. Zwanzig Yards rechts von sich sah er ein schmales Felsband, über das er
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höher in die Wand gelangen konnte. Der Fels war rauh, und überall boten Risse und Löcher seinen Händen und Füßen Halt. Er traute es sich zu, die Wand zu erklettern, aber was war mit Jean-nette? Er würde sie nicht allein lassen. Sie war das einzige, das ihn noch am Leben hielt. Er hatte alles verloren, was ihm in seinem Leben etwas bedeutete. Er würde die „Isabella“ und seine Freunde nie wiedersehen. Ja, wenn Jeannette nicht bei ihm gewesen wäre, hätte er sich längst den Spaniern entgegengeworfen, um den Tod zu finden. Die Rüfe hinter ihnen wurden immer deutlicher. Äste knackten, und immer wieder kollerten Steine den steilen Hang hinunter. Batuti zog Jeannette dicht an die Felswand heran und sagte hastig: „Wir hinaufklettern. Du nie nach unten sehen. Immer nur auf Felsen achten, wo Batuti hintreten.“ Sie schaute hoch, und Batuti spürte, wie ein Schauer über ihre Haut lief. „Das schaffe ich nie!“ flüsterte sie. Er gab ihr keine Antwort, sondern zerrte sie aufs Felsband, das ihnen die ersten Yards genügend Raum für ihre Füße ließ, so daß sie schnell höher klettern konnten. Doch dann war das Felsband zu Ende, und sie mußten einen Abschnitt überwinden, der von unten wie eine glatte Wand ausgesehen hatte. Batuti sah jedoch, daß es überall Ritzen und vorspringende Felsnasen gab, an denen er sich festklammern konnte. „Nix nach unten sehen!“ stieß er scharf hervor, als Jeannette den Kopf wandte. „Hier legen deine Hand hin.“ Er führte ihre linke Hand in einen Felsspalt und zeigte ihr, wo sie ihren Fuß hinsetzen mußte. Es ging besser, als er gedacht hatte. Seine große Hand tastete nach einer Kante, und mit dem linken Fuß stand er schon auf der Felskanzel, als der Schuß aufbrüllte. Die Felswand schien vor seinen Augen zu explodieren. Splitter sausten ihm um die Ohren und trafen sein Gesicht. Er verkrampfte seine Hände in den Felsen und schrie: „Festhalten! Nix loslassen!“
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Voller Panik spürte er, wie sich das Gewicht an der rechten Hand, mit der er Jeannette hielt, verstärkte, und er riß die Augen auf. Jeannette hatte den Kopf gedreht und starrte aus weit aufgerissenen Augen zum Fuß der Felswand hinunter, wo ein Spanier stand, der seine Muskete nachlud. Batuti sah, wie der Soldat schon wieder die Lunte anblies und sie zwischen den Hahnlippen einklemmte. Dann kippte er den Lauf der Muskete auf der Gabel nach oben und visierte sie an. „Schnell!“ stieß Batuti keuchend hervor. Er sah, daß Jeannette wie gelähmt war. Blitzschnell ließ er ihre Hand los, packte sie um die Hüfte und riß sie zu sich heran. Nur noch einen Schritt, und sie hatten die Felskanzel erreicht! Wieder die ohrenbetäubende Detonation des Schusses. Jeannette bewegte sich heftig, aber diesmal war die Kugel nicht in die Felswand eingeschlagen. Batuti schob sich noch ein Stück vor, hob Jeannette an und warf sich dann mit ihr vor. Sie hatten es geschafft! Hier auf der Felskanzel waren sie fürs erste vor den Schüssen der Soldaten sicher. Wenn sie flach liegen blieben, konnten ihnen höchstens noch Querschläger aus der Felswand etwas anhaben. Batuti drehte den Kopf, um Jeannette aufzumuntern. Er blickte in ihre großen dunklen Augen, die seltsam leer waren. Eine kalte Hand griff nach seinem Herzen. Plötzlich spürte er, wie sein rechter Arm, den er immer noch um Jeannettes Körper geschlungen hatte, feucht wurde. Langsam nahm er den Arm fort und ließ sie zu Boden gleiten. Ungläubig starrte er auf seinen Arm, der blutüberströmt war. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, daß es nicht sein Blut war. Wie in Trance drehte er Jeannettes Körper herum und starrte auf die große Wunde in ihrem Rücken, aus der unaufhörlich Blut floß. Irgendetwas zerriß in Batuti. Er fühlte sich von einer roten Welle hinweggetragen. Ohne sich bewußt zu werden, was er tat, sprang er auf und holte die Pistole aus seinem Gürtel. Er sah, wie ein halbes
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Dutzend Soldaten unter den Bäumen hervortrat, die dicht bis an die Felswand reichten, aber er kümmerte sich nicht um sie. Breitbeinig stand er auf der Felskanzel, für die Soldaten gut sichtbar und ein nicht zu verfehlendes Ziel. Langsam hob er die Hand mit der Pistole und legte auf den Soldaten an, der seine Muskete abermals geladen hatte, die Asche von der Lunte blies und sie wieder aufglühen ließ. Als er die Lunte zwischen den Hahnlippen eingeklemmt hatte und die Felskanzel anvisierte, wo der große Neger wie ein Denkmal stand, drückte Batuti ab. Die Kugel riß den Soldaten um seine Achse. Die schwere Muskete krachte zu Boden und entlud sich donnernd, als das Luntenende in das Zündkraut auf der Pfanne tippte. Batuti sah, wie der verwundete Soldat zu Boden ging und hastig unter die Bäume kroch, um nicht noch von einer zweiten Kugel getroffen zu werden. Tränen standen plötzlich in Batutis Augen, ohne daß er sich dessen bewußt gewesen wäre. Er stand da, als wäre er ein Teil der Felsen, die nichts verrücken konnte. Im Unterbewußtsein sah er, wie die anderen Soldaten in Stellung gingen und ihre Musketen auf die Gabeln legten. Sein Blick glitt hinab zu seinen Füßen, wo Jeannette lag. Er hatte sie nicht beschützen können. Zum erstenmal in seinem Leben hatte er versagt. Er hörte das Klicken eines kleinen Steins in der Felswand, der nur Sekundenbruchteile neben ihm auf der Felskanzel aufprallte, aber er kümmerte sich nicht darum. Er starrte wieder hinunter zu den Soldaten, die seltsam unruhig geworden waren. Zwei von ihnen ließen ihre Musketen fallen und hetzten zurück unter die Bäume. Batuti war es egal. Er war bereit, an dieser Stelle zu sterben. 7. Von einer kleinen Anhöhe aus konnten sie das Drama, das sich unter ihnen in der Bucht abspielte, deutlich beobachten. Eine
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der beiden spanischen Kriegsgaleonen war schnell verloren, als die Kanonen auf der Landzunge ihre Pulverkammer getroffen und zur Detonation gebracht hatten. „Verdammt, sie läuft aus!“ schrie Dan und deutete zur „L’Executeur“ hinunter, die mit vollen Segeln auf die Einfahrt zur Bucht zuhielt und einen Durchbruchsversuch unternahm. Da die andere Galeone ebenfalls hart angeschlagen war, mußte es ihr gelingen. Immer wieder donnerten die Kanonen der Schiffe und die beiden Geschütze auf den Felszungen auf. „Wir laufen zurück zur ‚Isabella’ und nehmen die Verfolgung der Karacke auf“, sagte Hasard gepreßt, als er sah, wie die schwer angeschlagene und brennende zweite Galeone der Spanier in die Bucht segelte. „Wir können den Leuten da unten doch nicht mehr helfen. Das sind mindestens hundert Soldaten, die sich dort an Bord befinden.“ Jeff Bowie nickte und wollte sich abwenden, als Dan O’Flynn ihn am Arm festhielt und mit der anderen Hand hinunter an den Strand der Bucht wies. „Da!“ stieß er hervor. „Was ist da?“ fragte Jeff zurück. „Ich seh nur, daß es dort unten wie von Ameisen wimmelt.“ „Batuti!“ Dan schrie den Namen fast. „Ich glaube, ich habe Batuti gesehen!“ Der Seewolf, der schon wieder von der Anhöhe hinunterklettern wollte, drehte sich abrupt um. „Hast du dich nicht getäuscht?“ fragte er hastig. „Und was ist mit den anderen?“ Dan schüttelte den Kopf. „Ich habe nur Batuti gesehen“, erwiderte er, als ob er selbst an seiner Aussage zweifele. „Er lief auf die Hütten zu, wo die anderen sich versammelt haben. Da! Jetzt setzen sie sich in Bewegung und marschieren auf den Palmengürtel zu!“ Die anderen sahen es auch, aber so sehr sie auch ihre Augen anstrengten, keiner von ihnen konnte Batuti unter den Leuten entdecken.
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„Dan“, sagte der Seewolf leise, „du weißt, wie sehr wir alle wünschen, daß Batuti und die anderen ...“ „Ich habe ihn gesehen!“ unterbrach Dan ihn mit fester Stimme. „Ich weiß, was du sagen willst. Es gibt noch mehr Neger als Batuti. Aber ihn würde ich auch auf diese Entfernung unter Hunderten herausfinden.“ „Und wo ist er jetzt?“ Dan hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. Sein Blick glitt kurz zur brennenden Galeone hin, die auf Grund gelaufen war. Soldaten und Seeleute sprangen einfach über Bord, um sich vor den Flammen in Sicherheit zu bringen. Ein Offizier scheuchte seine Leute mit gestikulierenden Gesten zusammen, und dann marschierten sie los, hinter den flüchtenden Bewohnern der kleinen Siedlung her. „Da!“ schrie Dan wieder. Aber diesmal hatten sie es alle gesehen. Ein dunkelhäutiger Mann, der eine Frau hinter sich herzerrte, hastete über die freie Fläche zwischen den Hütten und dem Palmengürtel. Er hatte noch nicht die Hälfte hinter sich gebracht, als die Soldaten ihn entdeckten. Einer von ihnen schoß seine Muskete ab, aber er traf nicht. Die Kugel wirbelte neben den Flüchtenden eine Sandfontäne auf. Der Neger, in dem sie jetzt alle Batuti erkannt hatten, begann, Haken zu schlagen. Dabei zerrte er die Frau immer mit sich, obwohl sie mehrfach stolperte und ihn nur zu behindern schien. Dann tauchten sie zwischen den Palmen unter. Die Soldaten formierten sich, und in Dreierreihen begannen sie, hinter den Flüchtenden herzumarschieren. Fast die Hälfte von ihnen blieb jedoch zurück. Sie begannen, die Hütten zu durchsuchen, während ein anderes Dutzend den Weg zur Festung hinaufmarschierte. Der Seewolf blickte hinunter auf die Stelle, wo Batuti mit der Frau unter den Palmen verschwunden war. „Du hast nichts von Matt und den anderen oder von den Zwillingen gesehen?“ fragte er Dan.
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Der schüttelte den Kopf. „Es sah aus, als wollte Batuti das Boot erreichen, das von einer Kanonenkugel getroffen worden ist. Wahrscheinlich hat er es als einziger nicht mehr geschafft, an Bord zu gelangen.“ „Ich frage mich, wohin die Leute fliehen“, warf Jeff Bowie ein. Er ließ seinen Blick über die felsigen Erhebungen rund um die Bucht gleiten. „Ich sehe nirgends ein Tal oder etwas Ähnliches, durch das sie das Innere des Landes erreichen könnten.“ „Es wird einen Weg geben“, erwiderte Hasard. „Sonst wären sie nicht geflohen.“ „Wir müssen zurück zur ‚Isabella’, damit wir die Verfolgung der Piraten aufnehmen können“, sagte Smoky. „Erst, wenn wir Batuti bei uns haben.“ Der Seewolf erhob sich. „Dan, welche Richtung werden sie einschlagen?“ Dan zuckte mit den Schultern. Die Bäume ließen keinen Schluß auf den Weg der Leute zu. Sie konnten die Richtung ändern, ohne von ihnen bemerkt zu werden. Aber warum sollten sie Umwege auf sich nehmen? Wenn sie vor den Spaniern flüchteten, würden sie den kürzesten und damit den geraden Weg nehmen. Dan sagte es zu den anderen, und der Seewolf gab ihm recht. Er wies zu einer Felsenkante hinüber und sagte: „Dort müssen wir hin. Wenn wir die Felsen erreicht haben, können wir vielleicht hinunter in die Bucht.“ Sie hatten keine andere Wahl. Jeder von ihnen würde alles daransetzen, Batuti zurück auf die „Isabella“ zu holen. Es wäre nicht auszudenken, wenn sie einen der seit Tagen Verschollenen wiedersehen würden. Dann endlich erfuhren sie, was in der Zwischenzeit alles mit ihnen geschehen war. Am Fuße des Hügels liefen sie in Richtung der Felswand, die Hasard von der Höhe aus bestimmt hatte. Die schweren Musketen behinderten sie, doch sie wußten, daß sie die Waffen brauchten, wenn sie die Spanier zurückschlagen wollten. Auf der Hälfte der Strecke vernahmen sie eine dumpfe Explosion, und über dem Felskamm, den sie erklimmen wollten,
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stieg eine Wolke von Staub und Sand in den Himmel, an dem sich die drohenden Wolken immer mehr verdichteten. Sie spürten, wie Wind aufkam. Niemand sprach ein Wort. Jeder für sich stellte Vermutungen über die Explosion an, und jeder sagte sich, daß sie nicht schnell genug zur „Isabella“ zurückkehren mußten, wenn sie den Anschluß an die PiratenKaracke nicht verlieren wollten. Sie hatten riesiges Glück gehabt, daß sie das Schiff der Piraten hier an der Südostküste Espanolas wiedergefunden hatten. Noch einmal würde ihnen dieses Glück sicher nicht beschieden sein. Sam Roskill hatte als erster den Pfad entdeckt, der zum Felskamm hinaufführte. Es sah aus, als würde er sonst nur von Bergschafen benutzt. Überall lag der Kot der Tiere. Der Anstieg war nicht allzu steil. Wenn es nicht schwieriger war, auf der anderen Seite des Kammes hinunterzuklettern, mußten sie in einer Viertelstunde den Wald erreicht haben, durch den die Bewohner der kleinen Siedlung geflüchtet waren. Der Seewolf mußte immer wieder an die dumpfe Explosion denken. Was hatte sie zu bedeuten? Hatten die Piraten vielleicht Vorsorge getroffen und eine Falle vorbereitet, wenn sie von See aus angegriffen wurden? Er sah, wie Sam Roskill, der den Kamm schon fast erreicht hatte, plötzlich verharrte. Im selben Augenblick klang das Krachen eines Musketenschusses an ihre Ohren. Kurz darauf schrie jemand: „Festhalten! Nix loslassen!“ „Batuti!“ flüsterte Dan neben Hasard. Die Erstarrung fiel von ihnen ab. Hastig kletterten sie weiter und erreichten den Kamm. Der erste Eindruck versetzte ihnen einen Schock. Die Felswand fiel fast senkrecht in die Tiefe. Ein zweiter Schuß ließ sie zusammenzucken. Der Seewolf kroch weiter vor, in der rechten Hand die schußfertige Muskete, deren Lunte bereits schwelte. Er sah den
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Soldaten am Fuße der Felswand, etwa zweihundert Fuß unter sich. Der Mann legte gerade wieder auf ein Ziel in der Felswand an. Hasard schob den Lauf der Muskete vor. Er wußte, wie schwierig es war, etwas zu treffen, wenn man nach unten schießen mußte. Er wollte gerade abdrücken, als schräg unter ihm ein Schuß auf peitschte und der Soldat sich um seine Achse drehte und die Muskete fallen ließ, die sich entlud, als sie auf den Boden krachte. Hasard beugte sich weiter vor, und dann sah er Batuti auf der kleinen Felskanzel stehen, die sich auf halber Höhe der Felswand befand. Gleichzeitig mit den anderen sah er aber auch die Soldaten, die unter den Bäumen hervortraten und sich aufbauten, um den Mann aus der Felswand zu schießen. Dan warf einen kleinen Stein zu Batuti hinunter, um ihn auf sie aufmerksam zu machen, aber Batuti rührte sich nicht. Breitbeinig stand er da und wartete darauf, von den spanischen Soldaten getötet zu werden. Zwei der Soldaten hatten nach oben geblickt zum Rand des Kammes und die Männer mit den Musketen entdeckt. Sie ließen ihre schweren Waffen fällen und brachten sich unter den Bäumen in Deckung. „Feuer!“ sagte Hasard, und gleichzeitig schossen sie ihre fünf Musketen ab. Obwohl nur zwei Spanier getroffen wurden, war die Wirkung der Salve ungeheuer. Die Soldaten mußten an einen Hinterhalt denken, in den sie der Schwarze geführt hatte, und sie nahmen ihre Beine in die Hand und rannten davon. „Batuti! Hier oben!“ brüllte Hasard hinunter. Er sah, wie der große Neger zusammenzuckte. Wahrscheinlich nahm er an, eine Stimme aus dem Jenseits gehört zu haben. „Wir sind hier oben! Der Seewolf, Jeff, Sam, Smoky und ich!“ schrie Dan O’Flynn, der sich ebenfalls weit über den Kamm gebeugt und Batuti entdeckt hatte.
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Endlich drehte sich Batuti um und hob den Kopf. Ungläubiges Erstaunen malte sich in seinem Gesicht. „Er hat noch die Frau bei sich!“ stieß Dan überrascht hervor. „Sie liegt neben ihm auf den Felsen!“ „Wir müssen sie hochholen, bevor die Spanier zurückkehren“, mahnte Jeff Bowie. Hasard starrte die steile Felswand hinunter. Mit einem Seil wäre es ein leichtes gewesen, Batuti und die Frau heraufzuziehen, aber daran hatte niemand gedacht, daß sie in steilen Felsen herumklettern würden. „Ich versuche, zu ihm hinunterzuklettern“, sagte Dan und schwang sich schon über den Kamm. Geschickt wie Arwenack turnte er über die rissige Wand hinunter, als entere er an Wanten ab. Batuti war bleich. Seine schwarze Haut hatte eine graue Färbung angenommen. Im ersten Augenblick dachte Dan, daß der Neger ihn für einen Geist hielt, doch dann fiel sein Blick auf die dunkelhäutige Frau zu Batutis Füßen. Er sah den großen roten Fleck auf ihrem Leinenhemd und wußte plötzlich, warum der verzweifelte Ausdruck in Batutis Zügen nicht verschwand, nachdem seine Retter aufgetaucht waren. „O Lord!“ flüsterte er. „Haben die Spanier sie getötet, Batuti?“ Batuti nickte. Tränen standen in seinen Augen. „Ich hielt sie in den Armen und dachte, wir seien gerettet, aber da hatte die Kugel sie schon getroffen.“ Seine Stimme war ein heiseres Flüstern, und Dan mußte sich anstrengen, seine Worte zu verstehen. „Wir müssen die Wand hinaufklettern, bevor die Spanier wieder auftauchen und auf uns schießen“, sagte Dan eindringlich. „Du kannst ihr nicht mehr helfen, Batuti. Sie ist tot.“ Der Neger schaute durch Dan hindurch. „Ich werde ihr ein Grab geben“, flüsterte er. „Das bin ich ihr schuldig.“ Dan schwieg. Er wußte, daß Batuti sich durch nichts davon abhalten lassen würde, das töte Mädchen mitzuschleppen, selbst
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wenn die Gefahr bestand, daß die Spanier auch ihn aus der Wand schossen. Er legte die Hand auf Batutis Schulter und sagte: „Du weißt, wie gut ich klettern kann. Laß mich für dich diesen Freundesdienst tun und sie nach oben tragen.“ Batuti schwieg einen Augenblick und starrte Jeannette an. In ihren großen dunklen Augen war auch jetzt noch die Angst zu lesen, die sie ausgestanden hatte, als Batuti mit ihr durch die Wand geklettert war. Langsam nickte er. „Danke, Dan“, sagte er. Dan schnallte seihen Gürtel ab und nahm auch den von Batuti entgegen. Daraus fertigte er einen Tragegurt an, mit dem er das tote Mädchen auf dem Rücken transportieren konnte. Ein Schauer lief ihm die Wirbelsäule hinunter, als er das Blut des Mädchens an seinen Händen spürte, doch dann begann er zu klettern, und nach wenigen Minuten hatte er den Kamm erreicht. Jeff Bowie und Sam Roskill nahmen ihm das tote Mädchen ab, während Hasard und Smoky dem Neger ein Stück entgegenkletterten und ihm halfen, die letzten Yards zu überwinden. Sie schwangen sich gerade über den Kamm, als sie laute Schreie vernahmen und Schüsse aufpeitschten. Kugeln schlugen gegen die Felsen oder jaulten über sie weg in den Himmel. Batuti riß eine der Musketen an sich, die der Seewolf und Smoky gegen die Felsen gelegt hatten. Ohne darauf zu achten, ob sie geladen war, drehte er sich um und wollte auf den Kamm steigen. Hasard riß ihn zurück. „Sie können uns nicht verfolgen, Batuti“, sagte er leise. „Bevor sie die Wand erklettert haben, sind wir längst weg. Und es hilft weder dir noch dem Mädchen, wenn du noch einen von ihnen tötest.“ Batuti wollte sich aus dem harten Griff befreien, doch dann hielt er in seinen Bewegungen inne. Ein Fieberschauer schien seinen Körper zu schütteln. Hasard spürte es deutlich. Mit einer kurzen Kopfbewegung wies er die anderen an, alles zum Aufbruch vorzubereiten. Sie
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mußten so schnell wie möglich zur „Isabella“ zurück. „Wo sind die anderen und die Zwillinge?“ fragte Hasard leise. Batuti starrte ihn an. „Auf der ,L’Executeur’. Sie waren schon an Bord, aber ich habe es nicht mehr geschafft.“ Batuti sagte es so unbeteiligt, als wüßte er nicht, was er sprach. Sein Blick war auf das tote Mädchen gerichtet. Dan wollte sich gerade bücken, um sie aufzunehmen, als Batuti scharf sagte: „Rühr sie nicht an! Ich werde sie selber tragen.“ Sie warteten, bis er das Mädchen auf die Arme genommen hatte, dann marschierte Sam Roskill als erster los. Hasard sprach leise mit Jeff Bowie, der auf Batuti zugehen wollte. „Laß ihn, Jeff“, sagte er. „Das Mädchen muß ihm viel bedeutet haben. Warten wir ab, bis er ein Grab für sie gefunden hat, dann wird er sich fangen und uns alles berichten, was Wir wissen wollen. Wir können nur hoffen, daß er informiert ist, welchen Kurs die Piraten nehmen.“ „Sicher werden sie zu den Turks-Inseln segeln, wie der Kutscher es auf seiner Nachricht geschrieben hat“, sagte Jeff. Der Seewolf hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. Er warf einen kurzen Blick zum Himmel hinauf. Die dunklen Wolken jagten immer schneller dahin. Es würde Sturm geben. Die Fahrt durch die Mona Passage würde bei dem Wetter nicht ungefährlich werden. Nach einer Viertelstunde hatten sie den Waldgürtel erreicht, und Batuti hielt plötzlich an. Er ging auf eine kleine Erhebung zu, auf der keine Bäume wuchsen. Man konnte bis aufs Meer schauen. Schweigend ließ er das tote Mädchen zu Boden gleiten und sah sich nach etwas um, mit dem er eine Grube ausheben konnte. Sie halfen ihm alle dabei, bis auf Dan, den Hasard auf ihrer Fährte zurückgeschickt hatte, um sie zu warnen, falls doch ein paar Spanier es gewagt hatten, die Felswand zu erklettern und sie zu verfolgen.
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Als das Grab geschlossen war und Batuti am Kopfende ein aus Ästen zusammengebundenes Kreuz gesteckt hatte, ließen die anderen ihn für eine Weile allein. Dan O’Flynn kehrte zurück und schüttelte den Kopf. Er hatte keinen Verfolger entdeckt. Hasard schätzte, daß sie für den Weg zurück zur „Isabella“ noch etwa eine halbe Stunde brauchen würden. Wieder einmal blickte er zum Himmel, als der erste Regentropfen auf seiner Nase zerplatzte. Es war noch so dunkel wie im Morgengrauen, ob- wohl es kurz vor Mittag sein mußte. Batuti erhob sich abrupt von dem Grab, an dem er gekniet hatte. Sein Gesicht war grau wie der Himmel.. Schweigend nahmen die anderen ihn in die Mitte, als sie die kleine Erhebung mit dem Grab verließen und im Wald untertauchten. * Der Seewolf hatte die Bescherung schon gesehen, als er den Strand erreichte und auf die schmale Ausfahrt der Bucht schaute. Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepreßt. Er stöhnte unterdrückt auf, als er daran dachte, was mit dem Rumpf der „Isabella“ geschehen wäre, wenn sie nicht das Glück gehabt hätten, genau die schmale Rinne zu treffen, die wie ein Loch in dem hellen Riff aussah; das knapp über die Wasseroberfläche ragte. Carberry, der es sich nicht hatte nehmen lassen, mit an Land zu pullen, um den Seewolf und die fünf Männer an Bord zu holen, zog Hasard zur Seite, nachdem er Batuti gebührend begrüßt hatte. „Hast du das verdammte Riff gesehen?“ fragte er, als er von Hasard nicht erfahren konnte, wo sie Batuti aufgetrieben hatten. Hasard hatte ihn auf später verwiesen, wenn sie zurück an Bord der „Isabella“ waren. Hasard nickte. „Die Rinne muß ziemlich tief sein, wenn Sam und Bob keine Tiefe hatten loten können. Was sagt Ben?
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Können wir es bei diesem niedrigen Wasserstand wagen?“ Carberry schüttelte den Kopf. „Ben ist dafür, daß wir die Flut abwarten“, sagte er. „Er meint, daß wir wesentlich mehr Zeit verlieren, wenn wir uns ein Loch in den Rumpf reißen.“ Hasard wußte, daß Ben recht hatte, aber es schmeckte ihm überhaupt nicht, noch länger in dieser Bucht festzusitzen. Die Karacke der Piraten segelte mit Matt Davies, Stenmark, Blacky, dem Kutscher und den Zwillingen inzwischen auf und davon. Und daß sie nicht viel langsamer als die „Isabella“ war, hatten sie inzwischen zur Genüge feststellen müssen. Die Umgebung an Bord der „Isabella“ riß Batuti aus seiner Erstarrung, in die er seit dem Tod des Mädchens verfallen war. Die strahlenden Gesichter seiner Kameraden, ihre aufmunternden Worte und das Gefühl, wieder an Bord zu sein, linderte den großen Schmerz, den ihm der Tod Jeannettes zugefügt hatte. Hasard ließ ihm noch Zeit, bis er mit Ben Brighton besprochen hatte, wann sie auslaufen wollten. Dann setzten sie sich alle auf der Kuhl unter dem Achterdeck zusammen. „Wir wissen von der Nachricht des Kutschers einiges“, sagte Hasard. „Stimmt es, daß die Karacke unterwegs zu den Turks-Inseln ist, um dort zusammen mit anderen Piraten die Silberflotte der Dons anzugreifen?“ Batuti nickte. „Sie uns nix alles erzählen“, erwiderte er, „aber Kutscher viel hören. Er wissen auch Insel, wo Karacke warten, bis Silberflotte erscheint. Heißen Corail Blanc.“ Der Seewolf stieß zischend die Luft aus. Damit hatte er nicht gerechnet. Wenn sie das genaue Ziel der Piraten kannten, würden sie Matt und die anderen bald befreit haben. Batuti begann zu erzählen, was er mit den anderen alles erlebt hatte, seit sie den Piraten in die Hände gefallen waren. Er berichtete von der Meuterei Le Requins gegen den Comte und dessen Männer. Er berichtete von den Massakern, die der
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Schotte an Land begangen hatte, und von dem Eintreffen der anderen Piratenkapitäne und der Ermordung des Comte. „Hast du Namen gehört?“ fragte Hasard. „Wer waren die anderen Piraten.“ „Ich nur wissen Red Beard, Hawk und Cannonball“, sagte Batuti. Von Red Beard und Hawk hatte Hasard schon einiges gehört, aber sie waren zu lange von der Karibik fort gewesen. Inzwischen konnten sich die Machtverhältnisse von damals entscheidend verändert haben. Batuti erzählte weiter von den vielen Spaniern, die auf dem Weg nach Port Cache immer wieder ihren Kurs gekreuzt hatten. Deshalb war auch der Plan der Zwillinge und des Kutschers, die Mannschaft mit dem Gift des Kochs einzuschläfern, bisher nicht in die Tat umgesetzt worden. Die Männer begannen zu grinsen, als sie das hörten. Nur der Seewolf blickte grimmig drein. Er würde sich die beiden Burschen doch mal richtig vorknöpfen müssen, wenn sie erst wieder zurück an Bord der „Isabella“ waren. Beim Bericht von den Geschehnissen in Port Cache wurde Batutis Stimme leise, und die Gesichter der Männer wurden ernst. Sie wußten inzwischen von Dan O’Flynn, Jeff Bowie, Sam Roskill und Smoky, wie nahe der Tod des Mulattenmädchens Batuti gegangen war. Sie saßen noch eine Weile zusammen, während der Seewolf und Ben Brighton in die Kapitänskammer gingen, um auf den Karten nach der Koralleninsel zu suchen, die von den Piraten angelaufen werden sollte. Dann war es endlich soweit, daß das Wasser das bleiche Riff überspülte. Carberry scheuchte die Männer in die Wanten und brüllte herum, als ob ein Gefecht mit zehn Galeonen bevorstünde. Auf dem Vorschiff loteten vier Männer die Tiefe aus, aber Ben Brighton hätte das Loch im Riff auch mitverbundenen Augen gefunden, nachdem er es sich bei Ebbe ein paar Stunden hatte anschauen können.
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Sie hatten Mühe, die See zu gewinnen, und segelten schließlich hart am Wind mit Steuerbordhalsen ostwärts auf die Mona Passage zu. 8. Breitbeinig stand Le Requin an der Balustrade des Quarterdecks und brüllte seine Befehle. Pulverrauch, der von den Kanonen zu ihm hinaufwehte, hüllte ihn immer wieder ein. Matt Davies und Stenmark hantierten an einem Steuerbordgeschütz, das sie eben abgefeuert hatten. Stenmark säuberte mit dem Wischer, dessen Schwamm mit Seewasser getränkt war, das Rohr und kühlte es ab, während Matt mit dem Zündlochbohrer den Zündkanal auskratzte. Der einäugige Orbite hielt schon die Ladeschaufel mit dem Pulver bereit. Stenmark nahm sie ihm ab und führte sie in das Rohr. Als er Widerstand spürte, drehte er die halbzylindrische Schaufel vorsichtig, um das Pulver in die Kammer des Stückes zu entleeren. Jetzt war Orbite an der Reihe. Er rammte Werg und altes Tauwerk mit dem Ansetzer auf das Pulver. Matt Davies hatte inzwischen seinen Daumen auf das Zündloch gepreßt, damit das grobe Pulver nicht in den Zündkanal geriet und ihn verstopfte. Stenmark hob eine Kugel aus dem Grummet und reichte sie Orbite, der sie langsam ins Rohr rollen ließ. Dann stopfte er wieder Dämmmaterial nach und rammte es mit dem Ansetzer fest. Matt Davies schaute sich immer wieder um. Er sah, wie Hasard und Philip, die beiden Zwillinge, Pulver in kleinen Ledereimern an Deck schleppten. Ihre Gesichter waren vor Erregung und Kampfeseifer gerötet. Matt preßte die Lippen aufeinander. Er hätte es lieber gesehen, wenn die beiden während des Gefechtes unter Deck geblieben wären, aber der Schotte hatte befohlen, daß sie mit Ratatouille das Pulver an Deck schleppen sollten, und gegen den Befehl waren die Männer der
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„Isabella“ machtlos gewesen. „Ruder hart Steuerbord!“ brüllte Le Requin. „Feuer!“ Wieder erzitterte das Schiff in allen Fugen, als zehn Steuerbordgeschütze auf einmal abgefeuert wurden. Im Donner der Detonationen ging das Jaulen der Kettenkugel unter, die krachend den Besanmast auf halber Höhe abrasierte. Holzsplitter zischten durch die Luft. Ein Stag schlug wie eine Peitsche über das Quarterdeck und fegte einen Mann, der dicht neben Le Requin stand, von Bord. Matt und Stenmark begannen die Prozedur des Ladens von neuem. Sie sahen, wie die spanische Galeone aus dem Ruder lief und fast gekentert wäre, als ein Brecher sie überrollte. Le Requin spielte ein gewagtes Spiel. Auf ihrem Weg zu den Turks-Inseln hatten sie einen Sturm abreiten müssen, der drei Tage gedauert hatte und dessen Ausläufer die See auch jetzt noch aufwühlten. Im Morgengrauen hatte der Ausguck die Masten mehrerer Schiffe an der Kimm zu sehen geglaubt, und dann war ihnen diese spanische Galeone vor den Bug gelaufen. Le Requin hatte befürchtet, daß die Silberflotte früher als geplant aufgebrochen war, und hatte sich entschlossen, die sich ihm bietende Gelegenheit zu nutzen. Er war sicher, daß die Galeone zu den Silberschiffen gehörte. Wahrscheinlich war sie im Sturm von den übrigen Schiffen aus dem Konvoi gesprengt worden. Jetzt hatten sie die Galeone manövrierunfähig geschossen. Mit lauter Stimme wies Le Requin seine Männer an, sich vorzubereiten, um die Galeone zu entern. Es war nicht einfach bei diesem Wellengang, sich dem Schiff zu nähern, das hilflos dem Spiel der Wellen ausgeliefert war. Matt Davies lief unter das Quarterdeck, wo er den kleinen, buckligen Koch und die beiden Zwillinge sah. „Hasard, Philip“, sagte er hastig, „ab mit euch unter Deck! Ihr habt prächtig geholfen, doch nun könnt ihr nichts mehr tun. Hier oben fangt ihr zu leicht eine
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Kugel ein.“ Er wandte sich an Ratatouille. „Nimm die beiden mit nach unten, Ratatouille, und paß ein bißchen auf sie auf.“ Hasard schwieg. Sonst hätte er sicher eine Erwiderung auf der Zunge gehabt, aber seit sie aus Port Cache ausgelaufen waren, hatte er kaum mehr etwas gesagt. Die Tatsache, daß sie Batuti wahrscheinlich niemals mehr wiedersehen würden, berührte ihn tief. Matt blickte in die pulvergeschwärzten Gesichter der Jungen und nickte ihnen aufmunternd zu. „Es wird schon alles wieder gut werden“, meinte er. Dann wandte er sich ab. Auf dem Quarterdeck brüllte eine der Drehbassen auf und schleuderte ihre Ladung aus Eisenstücken zur Galeone hinüber, die jetzt nur noch einen halben Steinwurf von ihnen entfernt war. Das Feuer wurde kaum erwidert. Nur ab und zu peitschte drüben eine Muskete auf. Das Schreien der Getroffenen gellte herüber. Die auf Deck gekrachte Großrah hatte mehrere Männer erschlagen, und ein Teil der Geschützmannschaften war von der Drehbassenladung getötet worden. Matt Davies, der jetzt wieder neben Stenmark und Blacky am Steuerbordschanzkleid stand, sah, wie die Spanier sich mit allem bewaffneten, was sie in die Finger kriegen konnten. Sie wußten, was ihnen bevorstand. Wenn sie den Kampf gegen die Piraten verloren, würde niemand von ihnen am Leben bleiben. Der Schotte tauchte neben ihm auf. Er legte Matt die Hand auf die Schulter und sagte: „Ihr werdet nicht mit entern. Ihr bleibt auf der ,L’Executeur`. Achtet darauf, daß die Spanier nicht im Gegenangriff versuchen, unser Schiff zu entern. Der Bootsmann will euch oben auf dem Quarterdeck haben.“ Er wandte sich wieder ab, um sich um die anderen Männer zu kümmern. Matt lief mit Stenmark und Blacky zum Aufgang des Quarterdecks. und meldete sich bei Nicolas Colter.
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Der Kutscher tauchte hinter Le Requin aus der Tür zum Niedergang auf, der zu den Kammern im Achterdeck führte. Matt sah ihm an, daß er förmlich aufatmete. Le Requin hatte sein rotes Kopftuch umgebunden. Trotz des kalten Windes war sein Oberkörper bloß. In den gekreuzten Bandelieren hatte er mehrere Pistolen und Messer stecken. In der rechten Hand hielt er seinen Krummsäbel. Offensichtlich wollte er seine Männer bei der Enterung der Galeone anführen. Ein Brecher drückte die Galeone nah an die Karacke heran. Die Männer auf beiden Schiffen brüllten. Nicolas Colter schrie seine Befehle an die Männer, die die Segel bedienten, zur Kuhl hinunter. Orbite, der die Drehbasse auf dem Quarterdeck wieder geladen hatte, feuerte dicht über das Achterdeck der Galeone weg. Das Eisen richtete verheerende Schäden an. Das Stag des Besanmastes wurde abgesägt, und mit einem peitschenden Knall knickte der Mast nach achtern weg. Eines der beiden Geschütze auf dem Quarterdeck der Galeone hatte sich aus seinen Brooktauen gerissen und rollte auf seiner Lafette über Deck. Schreiend versuchten sich die Spanier, die sich vor den Eisenstücken aus der Drehbasse des Piratenschiffes hinter dem Schanzkleid in Sicherheit gebracht hatten, aus dem Weg der schweren Kanone zu werfen. Zwei schafften es nicht. Sie starben, als das Geschütz krachend gegen das Schanzkleid prallte, es splitternd durchbrach und in die schwere See stürzte. Le Requin hatte in das Geschehen hinein einen. Befehl gebrüllt. Enterhaken flogen an langen Leinen durch die Luft. Es war ein riskantes Unterfangen bei der unruhigen See, und als die beiden Schiffe gegeneinander prallten, ging eine schwere Erschütterung durch die Karacke. Mit Gebrüll stürzten sich die Piraten an Tauen schwingend zur Galeone hinüber. Einige wagten den Sprung von Schanzkleid zu Schanzkleid, und zwei Piraten wurden dabei zwischen den Rümpfen der Schiffe getötet.
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Der Bootsmann hatte die Segel einholen lassen. Auf den Rahen hockten die Männer und schossen aus Pistolen auf die Spanier, die sich an Bord der Galeone zur Abwehr bereitstellten. Sie hatten gegen den wilden Haufen der Piraten kaum eine Chance. Matt Davies sah, wie Le Requin und die Männer, die ihm mit Gebrüll folgten, eine blutige Gasse in die Reihen der Spanier schlugen. Ein erbitterter Kampf begann, in dem niemand Gnade kannte. Matt Davies schaute mit zusammengepreßten Lippen hinüber. Wie oft hatten der Seewolf und sie schon gegen andere Schiffsbesatzungen kämpfen müssen, aber diese Brutalität hatte er selten erlebt. Die Spanier in der Kuhl waren bald zusammengetrieben. Sie zogen sich zum Aufgang des Quarterdecks zurück, um ihn zu verteidigen. Le Requins Krummsäbel zischte durch die Luft und mähte alles nieder, was sich ihm in den Weg stellte. Noch hatte er den Aufgang zum Quarterdeck nicht erreicht, wo sich ein paar Männer der „L’Executeur“ vergebens gegen die Übermacht der Spanier zu behaupten versuchten. Orbite hatte seine Drehbasse wieder geladen und richtete sie auf das Quarterdeck der Galeone. Matt Davies fiel ihm in den Arm. „Verdammt, du willst doch nicht deine eigenen Leute über den Haufen schießen!“ brüllte er durch den Lärm. Orbite riß sich los. „Sie werden sowieso von den Dons abgemurkst!“ schrie er wütend zurück. Mitleidlos richtete er die Mündung der Drehbasse auf das Quarterdeck, wo ein halbes Dutzend Piraten mit dem Rücken zum Schanzkleid verzweifelt gegen die anrennenden Spanier kämpften. Orbite, der gerade die Lunte ans Zündloch bringen wollte, blieb plötzlich stocksteif stehen. Matt sah das große Loch in seiner linken Brustseite. Er hatte den Schuß nicht gehört. Er hob den Kopf und sah einen
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Spanier auf der Fockrah der Galeone, der gerade eine zweite Pistole hervorzerrte. Bevor Orbite aufs Deck krachte, konnte Matt ihm die Pistole aus der Hüftschärpe ziehen. Er überprüfte sie kurz, visierte den Spanier auf der Fockrah an und drückte ab. Mit einem Schrei stürzte der Mann ins Meer. Stenmark hatte Orbite die Lunte abgenommen. Er drehte die Mündung der Drehbasse etwas aus der Richtung und drückte die Lunte in das Zündkraut. Donnernd entlud sich die kleine Kanone und schickte ihr gehacktes Eisen hinüber zur Galeone. Die Ladung war dicht an den verzweifelt kämpfenden Piraten vorbeigegangen Und hatte den Niedergang zu den Kammern zu Kleinholz verarbeitet. Der Schreck der Spanier verschaffte den Piraten für einen Moment Luft. Zwei von ihnen gelang es, über die Brüstung des Quarterdecks hinunter auf die Kuhl zu springen, die schon in der Hand der Piraten war. Drei Piraten gelang es, zurück auf die „L’Executeur“ zu springen, doch der letzte wurde vom Degen eines Spaniers durchbohrt. Die Spanier hatten gesehen, daß die Leute auf der Kuhl den Aufgang zum Quarterdeck nicht länger halten konnten. Ein paar von ihnen liefen hinüber, um zu helfen, doch ein großer, schwarzhaariger Mann, der einen blutigen Säbel über dem Kopf schwang, gab scharfe Befehle. Matt ahnte, was der Spanier vorhatte. „Stenmark, Blacky, aufgepaßt!“ brüllte er. „Sie wollen unser Schiff entern! Bootsmann, Vorsicht!“ Nicolas Colter war noch damit beschäftigt gewesen, seine Männer zu befehligen, die die Segel bargen. Auf Matts Warnschrei wirbelte er herum. Ein Spanier warf ein Messer nach ihm, das haarscharf an seinem Kopf vorbeiflog. Dann waren plötzlich vier Spanier bei Colter und drangen mit ihren Säbeln und Degen auf ihn ein. Stenmark warf sich einem halben Dutzend Männern entgegen, und drei von ihnen konnte er mit einem gewaltigen Hieb eines
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Belegnagels, den er zwischen die Finger gekriegt hatte, ins Wasser befördern. Er konnte einem Messerstoß gerade noch ausweichen, packte den Arm eines Spaniers und riß ihn zu sich heran. Mit seinen gewaltigen Kräften hob er den Mann an und warf ihn den anderen entgegen, die schreiend zu Boden gingen. Matt Davies und Blacky sprangen dem Bootsmann entgegen, der plötzlich von mehreren Spaniern umgeben war. Colter wehrte sich verzweifelt, aber gegen die Übermacht hatte er keine Chance. Er blutete schon aus mehreren Wunden. Der große, schwarzhaarige Spanier, der den Befehl zum Entern des Piratenschiffes gegeben hatte, holte mit seinem Säbel aus, um ihn Colter über den Schädel zu schlagen. Da waren Matt und Blacky heran. Matts Arm mit dem Eisenhaken zuckte vor und traf den Großen im Nacken. Sofort verhakte sich die Spitze im weißen Spitzenkragen des Dons. Mit einem Ruck riß Matt den Mann zurück, der gar nicht zu wissen schien, was mit ihm geschah. Blacky hatte zwei andere Spanier gepackt und ihre Köpfe zusammengestoßen, so daß sie bewußtlos zu Boden gingen. Dadurch hatte der Bootsmann plötzlich Luft. Die blutenden Wunden schienen ihn nicht. zu behindern. Wie ein Berserker ging er auf die restlichen Spanier zu und kämpfte sie nieder. Matt hatte Mühe mit dem Großen. Der Mann war geschmeidig wie eine Raubkatze. Als er bemerkt hatte, wer ihn da am Kragen zurückriß, wirbelte er herum und hieb blitz- schnell mit dem Säbel zu. Matt blockte den Schlag mit seinem Haken ab. Es gab ein klirrendes Geräusch, und ehe der Spanier sich von seiner Überraschung erholt hatte, war Matt über ihm und schlug ihn mit dem Eisenhaken bewußtlos. Der Widerstand der Spanier brach in sich zusammen wie ein Strohfeuer. Als die Männer auf der Kuhl der Galeone sahen, wie sich die Offiziere an Bord der Karacke schwangen und damit das Quarterdeck kampflos räumten, schwand ihr
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Kampfeswille. Sie ließen die Waffen fallen und ergaben sich. Ein paar Piraten töteten weiter, aber Le Requin gebot ihnen Einhalt. Er rief seine Männer zusammen und befahl ihnen, die Spanier zusammenzutreiben und in einem Laderaum einzusperren, nachdem sie diesen geräumt hatten. Nicolas Colter warf die an Deck der Karacke liegenden toten Spanier über Bord. Er wollte auch den bewußtlosen Mann, den Matt Davies niedergestreckt hatte, mit einem Entermesser töten, aber Matt fiel ihm in den Arm. „Ich glaube, das ist der Kapitän der Karacke“, sagte er hastig. „Vielleicht kann Le Requin aus ihm Informationen über die Silberflotte herauspressen.“ Colter zögerte einen Augenblick mit gerunzelten Augenbrauen, doch dann schien er daran zu denken, daß Matt ihm das Leben gerettet hatte, und er nickte. „Fessle den Kerl, damit er uns nicht in den Rücken fallen kann“, sagte er und wandte sich ab. Drüben auf der Galeone erschienen die ersten Männer wieder an Deck, die in die Laderäume hinuntergestiegen waren. Jubelnd hielten sie Barren hoch und brüllten: „Silber! Das ganze verdammte Schiff ist voller Silber!“ * Sie hatten eine dicke Beute an Land gezogen, wie es wohl keiner von ihnen erwartet hatte. Es herrschte Hochstimmung an Bord. Viele der Männer waren dafür, sofort nach Espanola zurückzukehren, aber Le Requin rief sie zur Ordnung. „Denkt daran, daß wir nicht allein die Silberflotte überfallen wollten“, sagte er. „Red Beard, Hawk, Cannonball und die anderen würden uns jagen wie den Verräter Fauvenoir, wenn wir einfach davonsegeln. Ich möchte euch nicht eure Freude verderben, aber wenn wir die einzigen sind, die ein Schiff von der verfrühten Flotte gekapert haben, wird uns vielleicht nichts anderes übrigbleiben, als die Beute mit den anderen zu teilen.“
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Lauter Protest brandete auf. „Wir haben unseren Kopf dafür hingehalten!“ schrie einer. „Viele von uns sind tot! Sie können nichts von uns verlangen, nur weil sie geschlafen oder kein Glück gehabt haben!“ „Wir, brauchen die anderen“, beschwichtigte Le Requin den Mann. „Es sind Umwälzungen auf Espanola und den umliegenden Inseln im Gange. Die Zeit ist vorbei, in der wir allein fischen konnten. Die meisten Piraten haben sich schon zu Bruderschaften zusammengeschlossen. Nur so haben wir eine Chance, gegen die Spanier zu bestehen.“ Er sprach noch lange, und Matt, Stenmark, Blacky und der Kutscher hörten aufmerksam zu. Sie waren lange nicht in der Karibik gewesen, und es war gut, über die Strömungen Bescheid zu wissen, um nicht in einen Sog zu geraten. „Wir werden Corail Blanc anlaufen“, sagte Le Requin. „Wir müssen unser Schiff wieder in Ordnung bringen und mit den anderen Kapitänen reden.“ Es gab keinen Widerspruch mehr. Die Männer sahen ein, daß Le Requin recht hatte. Seit sie Port Cache verloren hatten, waren sie ohne sicheren Hafen, in den sie zurückkehren konnten. Sie waren auf die Gnade der anderen angewiesen. Matt Davies, Stenmark, Blacky und der Kutscher saßen in der Nacht noch Stunden zusammen. Sie waren ziemlich niedergeschlagen. Keiner von ihnen rechnete im Grunde noch damit, daß die Männer der „Isabella“ die Nachricht des Kutschers auf der kleinen Jungferninsel gefunden hatten. Sicher hätten sie sonst irgendwo in der Mona Passage etwas von ihnen sehen müssen. Le Requin war doch nicht so human gewesen, wie Matt Davies vermutet hatte, nachdem er den Befehl gegeben hatte, die Spanier nicht mehr zu töten. Er hatte die Galeone in die Luft sprengen lassen, nachdem die Silberladung auf die Karacke gemannt worden war. Der große, schwarzhaarige Spanier war tatsächlich der Kapitän der Galeone gewesen. Le Requin hatte versucht, ihn
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auszufragen, aber als der Mann verstockt geschwiegen hatte, war Le Requin wütend geworden und hatte seinen Männern befohlen, den Mann lebendigen Leibes über Bord zu werfen. „Uns bleibt nichts anderes übrig, als die Sache mit dem Gift zu versuchen“, sagte der Kutscher leise. „Ich bin dafür, daß wir auf Corail Blanc zuschlagen, wenn das Wetter sich beruhigt hat und die Leute mit der Reparatur fertig sind.“ „Und die anderen Piraten?“ fragte Matt. „Was glaubst du, werden die mit uns anstellen, wenn sie uns erwischen? Sie werden uns über Bord werfen, wie Le Requin es mit dem Spanier getan hat, und sich das Silber unter den Nagel reißen.“ „Weißt du was Besseres?“ fragte der Kutscher grimmig. Matt schüttelte den Kopf. „Verdammt noch mal, nein!“ „Also gut“, sagte der Kutscher. „Es bleibt dabei. Hoffentlich beruhigt sich das Wetter endlich. Ich hatte immer in Erinnerung, daß es um diese Zeit in Westindien nur Sonnenschein gibt.“ „Sprichst du mit den Zwillingen?“ fragte Stenmark. Der Kutscher nickte. „Hasard und Philip wissen schon Bescheid“, sagte er. „Hasard ist in den letzten Tagen wie gewandelt. Es nimmt ihn ziemlich mit, daß Batuti in Port Cache zurückgeblieben ist.“ „Hoffentlich ist er den Soldaten entwischt“, murmelte Blacky, aber seiner Stimme war anzuhören, daß er selbst nicht daran glaubte. 9. Matt Davies war skeptisch gewesen, aber der volle Erfolg hatte auch ihn überrascht. Leise ging er mit Stenmark auf der Kuhl von Mann zu Mann, aber sie sahen keinen, der nicht fest schlief. Sie hatten bis zum Abend gewartet. Le Requin hatte seine Männer gescheucht, daß sie den Besan reparierten, dann hatte er zwei Fässer Rum für die Mannschaft ausgegeben. Sie hatten sich auf den Rum
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gestürzt, als hätten sie monatelang nichts mehr zu trinken gehabt. Der Kutscher war im Zweifel gewesen, ob es etwas nutzte, wenn sie das Gift Ratatouilles ins Essen mischten, das erst abends gekocht wurde, aber Matt Davies, Stenmark, Blacky und auch die Zwillinge hatten gemeint, daß die Gelegenheit gerade günstig sei, weil die Männer mit ihren besoffenen Köpfen nichts merken würden. Sie hatten aufmerksam beobachtet, ob jeder etwas von dem vergifteten Zeug aß. Einigen, die schon zu betrunken gewesen waren, um noch etwas hinunterzukriegen, hatten die Zwillinge etwas von dem Pulver in den Rum geschüttet. Blacky tauchte aus dem Verschlag unter dem Quarterdeck auf, in dem Ratatouille, der kleine, bucklige Zwerg mit den Zwillingen gehaust hatte. Er schleppte den lallenden Koch über der Schulter. Die Zwillinge folgten dichtauf. „Er hat wahrscheinlich nichts von dem Zeug abgekriegt“, flüsterte Blacky. „Der war vor dem Essen schon voll Rum, daß er weder was essen noch was trinken konnte.“ „Und wer hat das Zeug gekocht?“ fragte Matt verwundert. Hasard und Philip traten vor. „Wir“, sagte Hasard stolz, „und es hätte den Kerlen bestimmt auch geschmeckt, wenn sie nüchtern gewesen wären.“ Matt Davies hielt sich den Kopf. Was hier auf der Piraten-Karacke geschah, konnte man niemandem erzählen, ohne als Lügner beschimpft zu werden. Mehr als sechzig bewußtlose Piraten hatten sie auf dem Schiff, die Männer auf dem Achterdeck noch nicht mitgezählt. Matt blickte auf den Aufgang zum Quarterdeck. Der Kutscher hatte sich noch nicht sehen lassen. War dort vielleicht etwas schiefgegangen? Stenmark hatte den Blick von Matt gesehen. „Glaubst du, daß er es nicht geschafft hat?“ fragte er leise. „Wie viele Männer hat Le Requin eigentlich auf dem Achterdeck“ „Es sind nicht viele“, gab Matt flüsternd zurück, „aber es sind die gefährlichsten. Wenn der Kutscher das Essen nicht
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vergiften konnte, wird es einen harten Kampf geben. Oder wir müssen uns ebenfalls bewußtlos stellen und tun, als ob wir von nichts wüßten. Dann können wir immer noch behaupten, es hätte am Rum gelegen.“ „Laßt uns nachsehen“, sagte Blacky. „Es ist besser, wir überraschen sie, als umgekehrt.“ Matt Davies nickte. Er befahl Hasard und Philip, auf Ratatouille aufzupassen. „Legt ihm am besten Fesseln an und knebelt ihn, damit er mit seinem Gestöhne niemanden warnen kann“, sagte er. Hasard und Philip nickten. Auf diesen Abend hatten sie lange gewartet. Schließlich waren sie Seewölfe, die sich auch vor hundert Piraten nicht zu fürchten brauchten. Matt ging voraus. Langsam schob er sich den Aufgang zum Quarterdeck hinauf. Er überschlug noch mal im Geist, wie viele Männer bei Le Requin gewesen waren, als das Essen in der Kuhl begann. Neben dem Bootsmann Nicolas Colter und dem Profos, der von allen nur der Schotte genannt wurde, hatte Matt noch den Riesen mit dem schwarzen Kopftuch gesehen, der sich im Kampf gegen die Spanier besonders hervorgetan hatte. Die Männer nannten ihn Tuareg. Es war ein stiller Mann, der sich immer im Hintergrund gehalten hatte, aber den anderen an Kraft weit überlegen war. Dann war da noch ein weiterer Mann, dessen Namen Matt nicht einmal kannte. Er hatte die Stelle von Orbite eingenommen, der beim Angriff auf die Galeone getötet worden war. Das waren fünf Männer, mit denen sie rechnen mußten, wenn es dem Kutscher nicht gelungen war, sie einzuschläfern. Und es waren die gefürchtetsten Kämpfer an Bord der „L’Executeur“. Auf dem Quarterdeck war niemand zu sehen. Matt wurde unruhig. Seine Hand glitt zum Griff seines Entermessers hinunter und zog es heraus. Es mußte etwas schiefgegangen sein, denn sonst hätte sich der Kutscher längst zeigen müssen. Das Gift konnte bei
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den Männern auf dem Achterdeck keine andere Wirkung haben als bei denen in der Kuhl. Geduckt huschte Matt über das Achterdeck, wartete einen Augenblick vor dem Niedergang zur Kapitänskammer, schaute sich um und winkte dann den anderen, ihm zu folgen. „Einer von uns muß hier am Niedergang bleiben“, flüsterte Matt. „Es könnte sein, daß jemand. auf der Kuhl auf wacht und sich umschaut, was das alles zu bedeuten hat. Ich werde mich mit Blacky unten umsehen. Stenmark, du bleibst hier und folgst uns erst, wenn du Kampfgeräusche hörst.“ Stenmark und Blacky nickten. Sie wußten, daß sie alles auf eine Karte setzen mußten, wenn sie dieses Abenteuer lebend überstehen wollten. Hatten sie nicht alles hinter sich gebracht, was sie geplant hatten, bevor die Piraten wieder aus ihrem totenähnlichen Schlaf erwachten, war es um sie geschehen. Matt schlich den Niedergang hinunter. Im Gang war es dunkel, doch am hinteren Ende schimmerte unter einer Türritze Licht hervor. Das mußte die Kapitänskammer sein. Matt zuckte zusammen, als er leise Geräusche hörte. Es war wie das Schnaufen eines Walrosses. Blacky stieß gegen ihn. Er hatte das Geräusch ebenfalls gehört und flüsterte: „So schnarcht nur der Kutscher!“ „Unsinn“, sagte Matt leise. „Der wird sich doch nicht selbst was von dem Zeug eingetrichtert haben.“ „Das können wir nur feststellen, wenn wir nachsehen“, gab Blacky grinsend zurück. Matt Davies knurrte. Blacky hatte recht. Warum sollten sie nicht in die Kapitänskammer eindringen? Bisher war ihr Plan in allen Punkten aufgegangen. Nur der Kutscher war nicht an Deck aufgetaucht, um die Erfolgsmeldung vom Achterdeck zu überbringen. Blacky schob sich an Matt Davies vorbei, als dieser noch immer zögerte, und drückte die Tür zur Kapitänskammer einfach auf.
Angriff auf die Silberflotte
Helles Licht fiel in den Flur. Nebeneinander standen Blacky und Matt in dem schmalen Flur und starrten auf die Szene, die sich ihren Augen bot. Sie waren alle da: Le Requin, der Kapitän, Nicolas Colter, der Schotte, der Riese, der Tuareg genannt wurde, und der Mann, der Orbite ersetzt hatte - und der Kutscher. Während die Piraten von ihren Stühlen gerutscht waren und auf dem Boden lagen, hatte der Kutscher die Arme auf der Tischplatte verschränkt und den Kopf darauf gebettet. Seine Backen und Lippen zitterten, wenn er die halb schnaufenden, halb schnarchenden Laute ausstieß. Blacky war mit zwei Schritten bei ihm. Er packte den Kutscher bei den Haaren und riß seinen Kopf hoch. Nach einem kurzen Blick in sein Gesicht drehte er sich nach Matt um. „Mann, der Kerl ist total voll!“ stieß er hervor und ließ den Kopf des Kutschers wieder los, der auf die verschränkten Arme zurückfiel. Das Schnaufen brach abrupt ab. -Der Kopf des Kutschers ruckte hoch. „Es le-le-lebe Le Requin!“ stammelte er. Seine rechte Hand griff nach einem Becher, der neben ihm auf dem Tisch stand. Fast die Hälfte verschüttete er, bevor er den Becher an den Lippen hatte. Blacky nahm ihm den Becher weg und roch daran, bevor er den Inhalt hinuntergurgelte. Dann leckte er sich die Lippen und sagte: „Rum! Der verdammte Kerl wußte genau, was auf dem Spiel Stand - und besäuft sich hier mit den Piraten, daß er seine Freunde nicht mal wiedererkennt!“ Matt hatte sich inzwischen in der Kammer umgesehen. Die Piraten waren alle weggetreten. Ihr Atem ging genauso flach wie bei den Männern auf der Kuhl. Die Ohnmacht mußte sie ziemlich plötzlich überfallen haben, denn der Schotte hatte seinen Teller noch vom Tisch gerissen. Er lag jetzt umgestülpt auf ihm drauf. „Sag Stenmark und den Zwillingen Bescheid“, sagte Matt. „Wir müssen uns beeilen. Wer weiß, wie lange das Gift vorhält.“
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Blacky nickte und lud sich den Riesen mit dem schwarzen Kopftuch auf die Schultern, während sich Matt Davies Le Requin auflud. Sie schleppten die Männer durch den Gang aufs Quarterdeck, wo Stenmark auf sie wartete. „Alles in Ordnung?“ fragte der Schwede. Blacky nickte. „Wenn du es in Ordnung nennst, daß der Kutscher sich besäuft und immer ,Es lebe Le Requin!` ruft, dann ist alles in Ordnung“, sagte er grimmig. Stenmark riß die Augen auf, doch als Matt hinter Blacky erschien und Le Requin herausschleppte, geriet er in Bewegung. „Ich werde mit den Zwillingen das Boot abfieren“, sagte er hastig. „Mit zwei Fahrten müßten wir sie an Land bringen.“ Er drehte sich um und war wenig später auf der Kuhl verschwunden. Matt schaute zum Ufer der kleinen Koralleninsel hinüber, auf der außer ein paar Palmen kaum etwas wuchs. Er hoffte, daß es dort eine Quelle gab, aus der die Piraten trinken konnten, wenn sie erwachten. Wenn nicht, mußten sie eben ein paar Tage dursten, bis sich Hawk oder einer der anderen Piratenkapitäne bei ihnen sehen ließ. Mit Blacky ging er zurück und holte die beiden letzten Männer aus der Kapitänskammer. Anschließend durchsuchten sie das Achterdeck, aber es hielt sich niemand mehr dort auf. Sie löschten das Licht in der Kapitänskammer und ließen den schnarchenden Kutscher allein zurück. Stenmark und die Zwillinge hatten inzwischen das Boot zu Wasser gebracht und warteten darauf, daß Matt und Blacky ihnen dabei halfen, die Piraten hinunter ins Boot zu hieven. Es würde eine Heidenarbeit werden, und sie hofften, damit fertig zu sein, bevor einer von ihnen aus seiner Ohnmacht erwachte. 10. Der Seewolf blickte besorgt zum Himmel. Der Sturm, der sie viel zu weit nach Westen abgetrieben hatte, schien sich nur
Angriff auf die Silberflotte
für ein paar Glasen ausruhen zu wollen. Die dichte Wolkendecke war zwar an ein paar Stellen aufgerissen und hatte Fetzen eines blauen Himmels gezeigt, doch dann waren von Süden neue schwarzgraue Wolkenfelder herangejagt und kündigten einen weiteren Sturm an. Die Nacht über war es noch ruhig geblieben, doch jetzt, im Morgengrauen, sahen es alle an Bord der „Isabella“, daß ihnen das Schlimmste noch bevorstand. Nach Hasards Berechnungen konnten sie nicht mehr weit von den südlichen Koralleninseln vor den Turks-Inseln entfernt sein. Er wußte, daß sie die Piraten-Karacke in den nächsten beiden Tagen finden mußten, wenn die Mannschaft nicht den Mut verlieren sollte. Hasard selbst hatte bisher keine Sekunde daran gezweifelt, daß sie die Zwillinge, Matt Davies, Blacky, den Kutscher und Stenmark bald wieder an Bord haben würden. Seit sie Batuti gefunden hatten, war seine Überzeugung eher noch größer geworden. Das einzige, was der Seewolf fürchtete, war, zwischen die Fronten der Spanier und der Piraten zu geraten. Er konnte nur hoffen, daß der Sturm verhindert hatte, daß die Schiffe der Piraten auf die Silberflotte gestoßen waren. Vielleicht hatte die Flotte ihr Auslaufen wegen des Sturmes auch verzögert oder hatte in irgendeiner Bucht Schutz vor dem Sturm gesucht. Der Ruf Dan O’Flynns aus dem Mars riß ihn aus seinen Gedanken. „Schiff Backbord voraus!“ Der Seewolf lief zum Backbordschanzkleid, als Dan wieder etwas rief. Seine Stimme überschlug sich dabei fast. „Die Karacke! Ich glaube, es ist die ,L’Executeur’!“ Eine Weile war es auf der „Isabella“ totenstill, dann stieg ein Schrei der Begeisterung in den verhangenen Himmel. Ben Brighton brüllte seine Befehle in die Kuhl, und Carberry jagte die Männer los, um die Segel so zu trimmen, daß die Galeone Kurs auf die Karacke nahm.
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Al Conroy erhielt den Befehl, die Kanonen gefechtsklar zu machen. Niemand konnte wissen, ob die Piraten angreifen würden. „Sie segelt nur mit der Fock!“ brüllte Dan aus dem Mars. Dann überschlug sich seine Stimme wieder. „Ein zweites Schiff! Es verfolgt die Karacke!“ „Ein Spanier?“ schrie Hasard zum Mars hinauf. Es dauerte eine Weile, bis Dan Antwort gab. Er konnte es auch aus dem Mars noch nicht genau erkennen. Doch wenig später rief er, daß es sich offensichtlich ebenfalls um ein Piratenschiff handele. Der Seewolf konnte sich nicht erklären, was dort geschah. Wenn die Karacke auf der Flucht vor einem anderen Schiff war, warum fuhr sie dann nur mit einem Segel? Innerhalb kürzester Zeit meldeten Carberry und Al Conroy die „Isabella“ gefechtsklar. Der Seewolf gab Ben Brighton den Befehl, die Galeone so zu steuern, daß sie zwischen der Karacke und der sie verfolgenden Galeone hindurchfuhr. „Und wenn es eine Falle ist, Hasard?“ fragte Ben besorgt. „Dann kriegen wir Feuer von zwei Seiten.“ Der Seewolf schüttelte den Kopf. „Ich hab das Gefühl, daß wir eine Überraschung erleben werden, wenn wir die Karacke erreicht haben“, sagte er in Gedanken. Ben Brighton hob die Augenbrauen. „Du meinst, daß sie es geschafft haben, das Gift ...“ Er sprach nicht weiter, aber der Seewolf sah ihm an, daß er seine Vermutung für absurd hielt. „Warten wir’s ab“, sagte der Seewolf lächelnd. * Al Conroy und Big Old Shane feuerten ihre Geschütze als erste ab. Donnernd und fauchend entluden sich die Culverinen. Die hölzernen Lafetten rumpelten zurück über die Bordplanken und erschütterten das ganze Schiff. Die starken Brooktaue ächzten, als sie die Siebzehnpfünder auffangen mußten.
Angriff auf die Silberflotte
Durch den Pulverqualm, der sich auf der Kuhl ausbreitete, brüllte Ferris Tucker: „Feuer!“ Vier weitere Culverinen wurden abgeschossen, und die Kugeln jaulten hinüber zur Piratengaleone, auf deren Achterdeck ein riesiger Mann mit roten Haaren und rotem Bart gestikulierend seine Leute antrieb. Auch auf der Piratengaleone wurden Kanonen abgefeuert, aber die Kugeln lagen so kurz, daß sie zwischen den beiden Schiffen hohe Wasserfontänen hochschleuderten. Die Gesichter der Männer auf der „Isabella“ strahlten. Sie wußten inzwischen, warum die Karacke nur ein Segel gesetzt hatte. Sie waren dicht an ihr vorbeigesegelt und hatten deutlich gesehen, daß außer Matt Davies, Stenmark, Blacky und den Zwillingen niemand an Bord war. Den Kutscher hatte keiner entdecken können. Dann hatten sie sich um die Piratengaleone kümmern müssend die jetzt ihre ersten schweren Treffer hinnehmen mußte. Der Vormast des Schiffes war abgeknickt wie ein Kienspan und trieb an Steuerbord wie ein Treibanker. Die Fockrah hatte das Vorschiff in einen Haufen Kleinholz verwandelt, und aus dem Segeltuch schlugen plötzlich kleine Flammen, die rasch um sich griffen. Zwei Stichflammen zuckten hoch, und die Schreie von Männern waren bis zur „Isabella“ zu hören. Offensichtlich hatte das Feuer zwei Pulverbehälter erfaßt. Auf dem Vorschiff der Piratengaleone wimmelte es plötzlich von Männern. Sie hieben mit allem, was sie an Messern und Beilen bei sich trugen, auf die Wanten und Stagen ein, um den Vormast loszuwerden, der sie manövrierunfähig treiben ließ. Die Männer auf der „Isabella“ feuerten ihre dritte Ladung. Diesmal war es eine volle Breitseite. Acht Culverinen erschütterten die Galeone bis ins letzte Brett. Der Lärm war ohrenbetäubend. Auf dem Achterdeck konnten Hasard und Ben Brighton im dichten Pulverqualm nichts mehr erkennen.
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„Weg von der Galeone!“ schrie Hasard. „Fahr eine Halse, Ben!“ Sofort hallten Ben Brightons Befehle auf die Kuhl hinunter, und Carberry gab sie an die Männer weiter. Die treibende Piratengaleone blieb achterlich zurück. Jetzt erst konnte Hasard erkennen, wie schwer das Piratenschiff getroffen worden war. Es hatte nur noch den Besanmast, an dem ein zerfetztes Lateinersegel hing. Der Rumpf schwamm gekrängt nach Backbord. Massenweise verließen die Piraten die Galeone und begaben sich in die beiden Boote, die sie zu Wasser gelassen hatten. Niemand von den Piraten kümmerte sich noch um den Angreifer, der sich mit einer Halse abgesetzt hatte und auf die Karacke zulief, die auch die Fock geborgen hatte. Schüsse peitschten auf, und die Männer auf der „Isabella“ sahen, wie sich die Piraten gegenseitig umbrachten, um einen Platz in einem der beiden Boote zu ergattern. Der Seewolf blickte nicht mehr zu der sinkenden Piratengaleone hinüber. Die Kerle hatten genug Platz in den beiden Booten, und in dieser Gegend gab es genügend Inseln, die sie in wenigen Stunden erreichen konnten. Seine Augen leuchteten, als er die kleinen Gesichter an der Reling des Quarterdeckes auf der Karacke sah. Eine schwere Last war ihm von der Seele genommen. Die Zwillinge lebten, und ebenso die Männer, die mit ihnen auf der kleinen Jungferninsel zurückgeblieben waren, als sie vor der Piraten-Karacke hatten fliehen müssen. Der Jubel an Bord der „Isabella“ war unbeschreiblich, als Carberry mit fünf Männern zur Karacke hinüberpullte und die Zwillinge und die Männer abholte. Als sie wieder an die „Isabella“ anlegten, rief Dan O’Flynn lachend zum Boot hinunter: „Was habt ihr denn mit dem Kutscher angestellt?“ „Der Wüstling ist besoffen wie tausend Schweden!“ rief Stenmark zum Schanzkleid hinauf, und die Mannschaft brüllte vor Vergnügen.
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Jeder wollte helfen, die Verschollenen an Bord zu heben, und fast wäre der eine oder andere dabei noch ins Meer gestürzt. Der Seewolf war auf dem Achterdeck stehengeblieben und wartete, bis die Zwillinge vor ihm standen. „Wir melden uns an Bord zurück, Sir!“ sagte Hasard, und ein schelmisches Grinsen spielte in seinen Mundwinkeln. „Wir haben ein Piratenschiff aufgebracht, das eine dicke Beute von Silberbarren an Bord hat.“ Ben Brighton, der neben dem Seewolf gestanden hatte, glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu dürfen, doch Matt Davies, der grinsend den Aufgang zum Achterdeck hinaufstieg, bestätigte die Aussage von Hasard junior. Der Seewolf legte die Arme um die Schultern der Zwillinge und drückte sie kurz an sich. „Ab in eure Kammer“, sagte er dann. „Ruht euch erst mal aus. Wenn ich mir eure Ringe unter den Augen betrachte, habt ihr mindestens eine Woche nicht geschlafen.“ „Darauf kannst du Gift nehmen, Dad“, sagte Hasard. Einen Moment war es still, dann erschütterte das brüllende Gelächter der Männer die „Isabella“ genauso wie vorher die acht Steuerbordculverinen. Während Hasard mit den Zwillingen unter Deck verschwand, nahm Carberry, der übers ganze Gesicht strahlte und so freundlich zu seinen Männern war wie lange nicht mehr, die Verladung der Silberbarren aus den Frachträumen der Karacke in Angriff. Ben Brighton manövrierte die „Isabella“ an die Karacke heran, die steuerlos trieb, und ging längsseits. Sie brauchten mehr als zwei Stunden zum Umladen, dann legte Carberry Feuer in der Kapitänskammer, nachdem Luke Morgan und Sam Roskill die Truhe mit den Edelsteinen des Comte hinausgeschleppt hatten. Der Sturm nahm wieder zu, als sie von der Karacke ablegten. Der Seewolf, der wieder auf dem Achterdeck stand, hoffte, daß er
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sie nicht zu sehr beuteln würde, doch er
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sollte sich mächtig irren...
ENDE