Angst vor dem Blutbiß
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 166 von Jason Dark, erschienen am 31.01.1995, Titelbild: Mare...
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Angst vor dem Blutbiß
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 166 von Jason Dark, erschienen am 31.01.1995, Titelbild: Maren
Drei junge Männer jagten den Vampir und stellten ihn in einer finsteren Nacht auf einem alten Bergfriedhof. Sie stießen ihn in eine Schlucht überzeugt davon, den Untoten vernichtet zu haben. Mehr als dreißig Jahre später besuchten die Töchter dieser drei Männer das gleiche Internat in der Schweiz wie ihre Väter damals. Über den Vampir wußten sie nichts. Aber er wußte von ihnen, er existierte noch, und war bereit für den Blutbiß...
Damals Die drei jungen Männer glaubten nicht an Vampire, aber sie wußten, daß sie einen töten mußten. Sie glaubten nicht daran, doch es gab ihn! Sie hatten Spuren gesehen, sie hatten Schreie gehört, Schatten bei den alten Gräbern, und es waren zwei Mädchen aus dem Dorf verschwunden. Als man ihre Körper schließlich fand, waren sie blutleer gewesen, und sie hatten trotzdem noch gelebt. Die beiden Polizisten hatten sie dann genommen und in die Schlucht geworfen, durch die der Wildbach schäumte, und er hatte ihre zerschmetterten Körper mitgerissen, irgendwohin gespült, aber so zerstört durch scharfe Felsen und Kanten, daß von ihnen nur mehr klumpige Reste zurückgeblieben waren. Die Polizisten hatte man versetzt. Es ging auch die Legende um, daß sie in einer Heilanstalt in der Nähe von Genf dahinvegetierten, aber wer etwas Genaues wußte, der behielt dieses Wissen für sich, und andere wagten nicht, entsprechende Fragen zu stellen. So war es eben gewesen. Aber IHN gab es noch immer. Und die drei wußten es. Paul Carrigan war der Anführer. Mit seinen neunzehn Jahren gehörte er zu den besten Sportlern im Internat. Er war blond, er war voll da und gehörte zu denen, die ihre Ellenbogen einsetzten, denn auf diese Art und Weise kam er immer durch. Zur Gruppe zählte auch Claudio Melli, der Nudelprinz. Er wurde so genannt, weil sein Vater in Italien und auch in der italienischen Schweiz einige Pasta-Fabriken besaß. Melli war der große Weiberheld und brüstete sich damit, schon einige Mitschülerinnen vernascht zu haben. Nur die wenigsten nahmen es dem schwarzgelockten BilderbuchItaliener ab. Claudio kannte sich am besten aus. Er wußte, wie man an gewisse Dinge und Werkzeuge herankam, ohne großes Aufsehen zu erregen, und das wiederum hatte ihn unentbehrlich gemacht. Blieb der dritte, der Deutsche, der Fußballer, der auf den Namen Herbert Lagemann hörte. Ein knochentrockener Typ, kein Sprücheklopfer, sondern jemand, auf den man sich verlassen konnte, der immer genau abwog, was er tat. Wenn er schon zugestimmt hatte, mußte etwas dran sein. Sie trafen sich in einer dunklen Nacht. Die langen Sommerferien waren vorbei, das letzte Jahr für sie hatte längst begonnen, aber noch immer waren die Tage warm, und auch in den Nächten kühlte es sich nicht stark ab, obwohl das Internat auf einer Höhe von mehr als tausend Metern lag.
Ihr Treffpunkt war der alte Bauernhof. Ein Haus aus Steinen und Holz, das an einen Hang gebaut worden war. Herbert Lagemann, der Deutsche, machte seiner Pünktlichkeit wieder alle Ehre und traf als erster am Treffpunkt ein. Sie hatten ausgemacht, das Internat nicht zu dritt zu verlassen, denn das wäre unter Umständen aufgefallen. Sie wollten sich nach und nach versammeln und die Sache ganz locker angehen. Zum Haus gehörte ein Wasserspender. Frisches Wasser sprudelte in den Bottich, Tag und Nacht. Herbert setzte sich auf den Boden und lehnte sich gegen den Bottich. Dann streckte er die Beine aus. Das Zifferblatt seiner Uhr leuchtete grünlich. Er warf einen Blick darauf und dachte daran, daß Paul Carrigan als zweiter bei ihm auftauchen würde. Claudio Melli war sicherlich der letzte, das kannte man ja. Der Blick von diesem Flecken aus war herrlich. Zumindest am Tage. In der Dunkelheit aber konnte er nicht viel erkennen. Er sah die Berge als Schatten und die Einschnitte dazwischen. Jenseits der Berge ging es nur noch bergab. Da fiel die Welt einfach hinunter, als sollte die gesamte Natur in den Genfer See, den Lac Léman, hineinrutschen. Ein leises Lachen riß ihn aus seinen Gedanken. Wie er es sich schon ausgerechnet hatte, es war Paul Carrigan, der sich ihm fast lautlos näherte. »Setz dich!« »Keine Kuhscheiße?« »Nein. Oder siehst du welche?« »Nein.« Carrigan ließ sich nieder. Er zog die Beine an und spannte seine Hände über die Knie. Auf seinen Lippen lag ein hartes Lächeln. Der Blick seiner Augen war prüfend in die Ferne gerichtet, und er hatte auch seine Stirn in Falten gelegt. »Du wolltest sicherlich etwas sagen«, bemerkte der Deutsche. »Stimmt.« »Dann spuck es aus.« »Ich… ich…«, er schüttelte den Kopf. »Ich habe noch immer nicht begriffen, weshalb wir uns heute nacht hier an dieser einsamen Stelle treffen.« Lagemann deutete zum Himmel. »Schau da hin.« Paul tat es. »Na und?« »Siehst du den Mond?« »Klar.« »Er ist voll, mein Lieber. Und so etwas nennt man klassisches Vampirwetter.« »Mann, bist du schlau.«
»Nein, aber es ist so, das war so, und das wird auch so bleiben, denke ich.« »Wie du meinst.« Herbert war noch nicht fertig. »Ich sage dir, Paul, heute wird er aus seinem Versteck kriechen. Der Blutsauger kann gar nicht anders. Der Mond, das bleiche Licht, da kommt einiges bei ihm zusammen, das ihn locken wird. Ich schwöre es dir.« »Und wenn nicht?« »Werden wir morgen nacht wieder hier sein und übermorgen auch. Da scheint er noch immer.« Paul Carrigan hob einen kleinen Stein auf, warf ihn weg und lauschte dem Ticken. »Deutsche Gründlichkeit, wie?« »Quatsch. Ich habe nur nachgedacht. Laß doch die verdammten Vorurteile sausen. Schließlich liegt das Ende des Krieges lange zurück.« »Das sagst du.« »Stimmt doch auch.« »Bei uns vergißt man so leicht nichts. Es ist klar, daß auch wir Jungen so manches von den Alten übernommen haben, was einfach Scheiße ist.« »Ich würde mich freuen, wenn alle so denken würden.« Herbert meinte es ernst. Er lächelte verloren, denn er hatte nicht vergessen, daß ihn einige Mitschüler als Nazi tituliert hatten, wobei er nun wirklich nicht für diese schreckliche Zeit verantwortlich gemacht werden konnte. Paul schlug ihm auf die Schulter. »Nichts für ungut, es war nicht so gemeint.« »Schon vergessen.« Herbert streckte die Beine aus. »Verflucht noch mal, wo Claudio so lange bleibt! Typisch für einen Italiener, nie pünktlich, und…« Er bemerkte sofort, daß er ebenfalls ein Vorurteil nachplapperte. »Naaa…«, sagte Paul und grinste breit. »Mist.« »Vergiß es.« Melli kam, und Melli war wie eine Katze. Selbst vier Ohren hatten ihn nicht gehört. Er stand plötzlich vor den beiden anderen und lachte, in einer Hand die Riemen eines Rucksacks haltend, den er jetzt auf den Boden abstellte. »Bist du eine Katze?« fragte Paul. »Nein, aber ich habe geübt, wenn ich in der Nacht zu den zweibeinigen Kätzchen schleiche.« »Hau nicht so auf den Putz«, sagte Herbert. »Neidisch?« Der Deutsche schüttelte den Kopf. Er schaute zu, wie Melli den Rucksack öffnete. »Ich bin überhaupt nicht neidisch, wenn mir Lügner etwas unter die Weste schieben.« »Lügner?« knirschte Claudio und hob den Kopf.
Paul mischte sich ein. »Hört jetzt auf. Wir sind hier nicht zusammengekommen, um uns zu streiten. Hier wird es bald zur Sache gehen, aber richtig.« »Bene, vergessen«, sagte Melli. Seine beiden Hände tauchten in den Rucksack ein, und er sagte: »Dann wollen wir mal sehen, was der gute Claudio alles mitgebracht hat.« Er packte aus, aber keiner der beiden anderen erkannte, um was es sich dabei handelte. Claudio war raffiniert vorgegangen. Er hatte die Gegenstände mit Lappen umwickelt, damit sie bei einem schnelleren Gehen nicht gegeneinander klirrten. »Das ist wie Weihnachten«, murmelte Claudio, als er die >Werkzeuge< vorsichtig freilegte. Sie waren in der Tat außergewöhnlich, auch Herbert und Paul schauten hin, wie sie unter den geschickten Händen ihres Klassenkameraden befreit wurden. Zwei Pflöcke aus Eichenholz, vorn zugespitzt. Es waren noch die hellen Flecken zu erkennen, wo das Messer die Rinde weggeschabt hatte. Zwei Stangen aus Eisen, vorn ebenfalls spitz. Herbert nahm einen von ihnen hoch und wog ihn in der Hand. »Die sind nicht eben leicht.« Sein Kumpel Claudio grinste. »Dann kann sie ja unser Sportsmann in die Hand nehmen.« Er meinte Paul damit, der allerdings nichts sagte und nur zuschaute, was der Italiener noch alles auspackte. Ein Kreuz! Ziemlich groß, verschnörkelt, ebenfalls aus Metall bestehend. Es setzte sich aus mehreren dünnen Stäben zusammen. Wieder griff Claudio in seinen Rucksack. Als letztes Teil holte er ein silbrig schimmerndes Gefäß hervor. Es hatte die Form eines übergroßen Ostereis, war aber am Boden abgeflacht, so daß es normal stehen konnte. Die obere Seite war durch eine Metallklappe verschlossen. Durch eine Drehung löste Claudio die Kappe, und jetzt sahen die beiden anderen Jungen die Löcher innerhalb des Gefäßes. Claudio hob es an und schwenkte es. Im Innern war das Klatschen einer Flüssigkeit zu hören. »Was ist das?« fragte Paul. »Weihwasser.« »Ach.« »Davor fürchten sich Vampire.« Claudio deutete auch auf die anderen >Waffen<. »Und davor ebenfalls.« »Gut«, lobte ihn Herbert. »Man kennt sich eben aus.« »Und woher hast du die Dinger?« wollte Paul wissen. »Die gibt es doch reicht in irgendeinem Laden zu kaufen.« »Beziehungen, mein Freund. Ihr wißt doch, daß ich mich hin und wieder einmal umschaue, und da entdecke ich eben die Dinge. Ich behalte sie und denke mir dabei, daß man sie irgendwann einmal gebrauchen
könnte. Jetzt ist es soweit. Wir können sie gebrauchen, wenn wir Jagd auf den Blutsauger machen.« »Das ist schon super, Nudelprinz«, murmelte der deutsche Junge. »Und wie soll es jetzt weitergehen?« »Ganz einfach«, sagte Claudio. »Ich überlasse euch in meiner unendlichen Güte die Wahl. Was wollt ihr haben? Das Weihwasser, die Pflöcke aus Eisen, die aus Holz, das Kreuz…« Paul Carrigan griff nach den Eisenpflöcken. »Die werde ich nehmen.« Er steckte sie schräg an der Rückseite in seinen Hosengürtel. »Einverstanden?« »Die übrigen nehme ich«, sagte Herbert. »Nein, einen Pflock laß mir.« Sie sprachen flüsternd hin und her. Schließlich bekam der Deutsche das Kreuz und das Gefäß mit dem Weihwasser darin. Er hielt es hoch. »Kannst du mir sagen, Claudio, wo ich es hinstecken soll? In meine Hosentaschen bestimmt nicht.« Der Italiener lachte. »Da sind zwei Haken an der Außenseite.« Er griff in die Hosentasche und hielt etwas Schimmerndes hoch. »Und hier ist eine Kette. Hak sie in die Ösen, dann kannst du dir das Weihwasser-Ei an den Gürtel hängen.« Lagemann grinste. »Du hast wohl an alles gedacht, wie?« »Klar doch.« Ihr Gespräch versickerte. Sie merkten, daß es ernst wurde, und sie nahmen die Waffen an sich. Den Rucksack ließ Claudio neben dem Trog liegen, auch die Lappen. Lagemann schaute hoch zum Himmel. Der volle Mond glotzte auf sie nieder. Vampirwetter, dachte er. Verdammtes Vampirwetter… Eine Minute später waren sie unterwegs. *** Es war ein Friedhof, der von keinem Touristen besucht wurde, weil er eben so einsam und versteckt in den Bergen lag. Er sah aus wie ein kleines Kunstwerk, obwohl er schon so alt war. Die Menschen damals hatten es geschafft, dieses Gelände dem Berg abzutrotzen, aber es war nicht möglich gewesen, den Friedhof zu erweitern, das hatte einfach der felsige Boden nicht zugelassen, so war und blieb der Friedhof auf die wenigen Gräber beschränkt. Er lag im Schatten eines überhängenden Felsens. Er war gegen die Bergflanke gebaut worden, sein Gelände sackte schräg ab und war zur Schlucht hin durch eine Mauer gestützt. Auch sie hatte im Laufe der Jahre viel von ihrer ursprünglichen Stärke verloren. Sie war verwittert und an einigen Stellen an der Oberfläche sogar locker und rissig geworden.
Die Jungen kannten den Weg. Sie wußten auch, daß dieser Blutsauger in der unmittelbaren Nähe des Friedhofs gesehen worden war, und bei diesem herrlichen Vollmondwetter würde er wohl nicht in seinem Versteck liegenbleiben. Der Weg war schmal, steinig und nicht einfach zu begehen. Sie mußten hintereinander gehen, wobei der katzenhaft gewandte Claudio die Führung übernommen hatte und Herbert Lagemann den Schluß dieser Dreiergruppe bildete. Sie gingen und sprachen so gut wie nicht miteinander. Es gab nicht viel zu reden, denn jeder hing seinen Gedanken nach, und die drehten sich um die nahe Zukunft. Der Vampir hatte keinen Namen. Sie wußten nicht, wo er herstammte, wieso er sich überhaupt hatte bilden können, was seine Geschichte war, sie wußten nur, daß es ihn gab, daß er vernichtet werden mußte, und zu dritt trauten sie es sich zu, auch wenn jeder einzelne von ihnen ein komisches Gefühl im Magen hatte, denn so locker, wie sie sich gaben, waren sie nicht. Je näher sie ihrem Ziel kamen, um so unwohler wurde den dreien. Nervös schauten sie in einer Tour nach rechts und links. Sie hielten nach irgendwelchen Beobachtern Ausschau, sie wollten erkennen, ob der Vampir Helfer hatte und diese oder er selbst schon auf sie wartete. Nichts bekamen sie zu sehen, trotz des Vollmondes. Berge und Felsen wirkten in der Nacht bedrohlich. Manchmal schimmerte das graue Gestein auch, als wäre es mit einer Silberschicht überpinselt worden. Keine Tiere in der Nähe. Auch keine Menschen. Selbst Fledermäuse, nach denen sie Ausschau hielten, entdeckten sie nicht. Schließlich hatten sie gehört, daß sich Vampire in Fledermäuse verwandelten und der Vorgang auch umgekehrt ablaufen konnte. Alles war anders in dieser Nacht. Äußerlich nicht, aber die drei registrierten genau, daß um sie herum etwas in der Finsternis schwamm, das sie nicht erklären konnten. Es war wie eine Botschaft, eine Sendung, die allein sie betraf, nur auf sie gezielt war, und sie bemerkten die Veränderung so stark, daß sich ihr Atem nicht mehr normal anhörte. Er floß abgehackt und keuchend über die Lippen. Ihre Bewegungen wurden schwerer, und als sie einen hohen Punkt auf dem schmalen Weg erreicht hatten, blieben sie stehen. Vor ihnen senkte sich das Gelände. Und dort lag auch der Friedhof! Wie ein längst vergessener Hort des Schreckens. Ein nicht sehr großes Halbrund, an der Schluchtseite hin abgeschirmt durch eine hüfthohe, schon brüchige Mauer, ansonsten bedeckt und belegt mit den wenigen Gräbern, die sehr dicht zusammenstanden und auch bei diesen schlechten Lichtverhältnissen aussahen, als hätten sie die beste Zeit
bereits hinter sich. Das war auch so, denn kaum jemand ging zu diesem einsamen Bergfriedhof hin, um ein Grab zu pflegen. Hier lagen die Toten, die längst vergessen worden waren. Ein Friedhof der vergessenen Toten… Es standen keine Kreuze mehr auf dem Friedhof. Längst war das Holz verwittert, und auch die Grabsteine erinnerten mehr an Platten, als an kultische Beigaben einer christlichen Mythologie. Man konnte diesen Friedhof als neutral ansehen. Und er lag so, daß er auch tagsüber von Schatten überflutet wurde, die von den Felswänden herab nach unten fielen. Die drei jungen Männer standen über dem Gelände, schauten es sich an und schwiegen. Claudio unterbrach das Schweigen. »Wenn ihr wollt, wenn wir wollen, dann können wir wieder zurück.« »Du meinst kneifen?« fragte Paul. »Ja.« »Auf keinen Fall. Was sagst du, Herbert?« »Wir gehen.« »Das meine ich auch.« Der Nudelprinz drehte den Kopf und zeigte sein bestes Lächeln. »Was tun wir? Durchsuchen wir den Totenacker gemeinsam, oder trennen wir uns?« »Gibt es denn einen Hinweis, wo sich der Vampir versteckt hat?« »Nein.« »Der muß irgendwo hausen!« Lagemann blieb am Ball. »Wenn die Sonne scheint, wird er nicht umhergeistern, die würde ihn zu Staub verbrennen, denke ich.« »Herbert hat recht«, sagte auch Paul. Claudio fragte: »Ihr meint also, daß wir nach einem Versteck suchen sollen?« »Ja.« »Gut, Herbert – wo?« »Gibt es hier nicht eine Höhle in der Nähe?« Melli schnippte mit den Fingern. »Stimmt, das Eisloch. So ist die genannt worden, weil sie im Winter hin und wieder einfriert, denn in die Höhle läuft Wasser.« »Sie müßte jetzt trocken sein.« »Sollen wir gehen?« Der deutsche Junge nickte. »Sofort. Oder habt ihr einen anderen Vorschlag?« Den hatten weder Paul noch Claudio, und sie überließen dem Deutschen die Führung. Herbert Lagemann hatte sich im Laufe der Jahre die Umgebung angesehen. Auf langen, einsamen Spaziergängen hatte er sie erkundet und kannte sich deshalb gut aus. Er war schon zweimal in der Höhle
gewesen, aber nie sehr tief drinnen, weil er schon nach wenigen Schritten das Gefühl bekommen hatte, daß in diesem kalten Dunkel etwas unsagbar Böses lauerte. Er hatte darüber nie mit seinen Mitschülern gesprochen, aus Furcht, von ihnen ausgelacht zu werden. In dieser Nacht aber würden sie es versuchen, das mußten sie einfach tun. Von Herbert stammte der Vorschlag, und Herbert hatte auch die Führung übernommen. Sie mußten wieder in den Fels hineinklettern, denn die Höhle lag über dem Friedhof. Minuten später hatten die Jungen sie gefunden und blieben vor dem Eingang stehen. »Das ist sie also«, murmelte Paul und hakte seine Taschenlampe los, was auch die anderen beiden taten. Noch keiner leuchtete hinein, sie standen da und warteten ab, was ihnen wohl aus dieser Finsternis entgegenströmen könnte. Es war nichts zu hören. Wenn es so etwas wie eine absolute Stille gab, dann war sie um sie herum, aber sie empfanden sie auch als gefährlich, ohne darüber gesprochen zu haben. Es war einfach ihren Gesichtern anzusehen. Schließlich bückte sich Claudio, hob mit der linken Hand einen Stein auf und schleuderte ihn in das Dunkel hinein. Sie hörten zu, wie der Stein mehrmals auftickte, ihnen Echos zuschickte und es dann wieder still wurde. Keine Reaktion. »Wenn er da ist, muß er auch etwas gehört haben«, sagte Claudio mit seiner Flüsterstimme. Die anderen gaben ihm durch ihr Nicken recht. Herbert übernahm die Führung. »Wir müssen hinein, es nutzt alles nichts. Wir sind nicht gekommen, um vor dem Ziel kehrtzumachen. Zumindest ich nicht. Haltet eure Waffen bereit, um so schnell wie möglich handeln zu können.« Das taten sie. Obwohl das Kreuz schwer war, hatte es sich der Italiener vor die Brust gehängt. Als Kette diente ein Band aus geflochtenem Hanf. Herbert Lagemann schaltete als erster seine Lampe ein. Der helle Strahl war nicht sehr breit, man konnte ihn mit der Breite eines Arms vergleichen, aber er riß einen hellen Tunnel in die Düsternis und glitt über einen steinigen Boden hinweg, auf dem das blanke Geröll lag und im Licht schimmerte wie Eis. »Wir gehen.« Und wieder blieben sie hintereinander. Diesmal allerdings etwas versetzt, denn die Höhle war breit genug. Jeder von ihnen dachte über seine Gefühle nach. Wahrscheinlich waren sie bei jedem anders, aber eines traf sie gemeinsam. Sie glaubten, die normale Welt verlassen zu haben und hineinzutauchen in eine andere, neue und auch gefährliche, die sich mit all ihren Schrecken in dieser
Höhle manifestiert hatte, aber noch im Unsichtbaren lag und darauf wartete, hervorgeholt zu werden. Manchmal kollerte ein Stein weg, dann wiederum knirschten unter den Sohlen kleinere Steine. Die Strahlen der Lampen tanzten in den Bewegungen ihrer Hände, huschten über den Boden hinweg, glitten an den Wänden entlang und auch mal über die alte Stollendecke, deren Form nicht glatt war, sondern wellig und so aussah, als könnte sie jeden Moment einstürzen und die drei Jungen unter sich begraben. Es tat sich nichts. Sie hörten weder ein verräterisches Knacken noch irgendein Knirschen, das auf eine Gefahr hingedeutet hätte. Nur sie selbst waren zu hören. Die Luft veränderte sich, je tiefer sie in den Stollen gingen. Sie wurde kühler, klammer, war dann auch schlechter zu atmen. Es mochte zum Teil daran liegen, daß sich die Decke senkte und sie bald die Köpfe würden einziehen müssen, wenn es so weiterging. Dazu kam es nicht mehr. Drei Lichtstrahlen erwischten ein Ziel. Sofort blieben die Jungen stehen. Sprachlos, mit Klößen in den Hälsen. Ein jeder von ihnen spürte, wie das Grauen in ihm hochkroch, denn was sich da im Licht ihrer Lampen abzeichnete, mußte so etwas wie das Lager eines Vampirs sein. Aus den alten Hammer-Filmen wußten sie, daß die Blutsauger eigentlich in Särgen schliefen, wo sie ihre Ruhe hatten. In der Nacht verließen sie die Särge, die dann leer zurückblieben. Hier nicht. Dieses Vampirlager bestand nicht aus einem oder mehreren Totenkisten. Es war einfach eine Mulde im Boden, und darin lagen alte Lumpen. Sie bewegten sich nicht. Und auch in ihrer Umgebung tat sich nichts. Es dauerte eine Weile, bis die Freunde ihre Sprachlosigkeit überwunden hatten, und wieder war es Herbert Lagemann, der eine so treffende Bemerkung machte. »Wir haben seine Wohnung oder sein Lager gefunden, das steht fest. Aber wo finden wir ihn?« »Keine Ahnung!« flüsterte Claudio. »Bist du dir denn sicher, daß es das Lager eines Vampirs ist?« fragte Paul. »Kann es nicht auch das Versteck irgendeines Einsiedlers sein? Wäre doch auch möglich.« »Nein!« widersprach Herbert. »Wenn es so wäre, dann hätten wir etwas erfahren. So einsam kann niemand leben, als daß es sich nicht herumsprechen würde. Da wäre diese Höhle schon längst zu einem Wallfahrtsort geworden.« Da mußten die beiden anderen ihrem Mitschüler recht geben. Es blieb nur die eine Lösung.
»Jedenfalls ist er weg«, sagte Claudio. Aus seiner Stimme klang auch Erleichterung mit. »Wir müssen ihn woanders suchen.« Herbert ließ nicht locker. »Ich glaube nicht, daß er sich aus dem Staub gemacht hat, nur weil wir in seiner Nähe erschienen. Ich glaube eher daran, daß wir Ärger kriegen. Daß er uns schon längst entdeckt hat und nur darauf wartet, unser Blut trinken zu können.« Während sich Claudio an den Hals faßte, als wollte er dort nach Bißwunden suchen, mußte der Junge aus England grinsen. Ihn amüsierte es, daß sich sein Kumpel fürchtete. »Wir gehen!« entschied Herbert. Keiner war dagegen. Und sie konnten die Höhle verlassen, ohne daß etwas passiert war. Draußen atmeten sie die herrliche Nachtluft ein. Auch die Lampen schalteten sie aus, und sogar eine gewisse Zufriedenheit zeichnete ihre Gesichter. »Noch mal zum Friedhof zurück?« fragte Melli. Paul nickte. »Und ob – oder, Herbert?« »Wir gehen. Er hat sein Lager verlassen, er muß hier irgendwo lauern. Er wird auch Durst haben, und was das bedeutet, brauche ich euch nicht extra zu sagen.« »Durst auf Blut«, murmelte Melli. »Das ist es.« »Unser Blut?« »Wessen sonst?« »Schmeckt dir Blut?« flüsterte Claudio. Sie waren bereits unterwegs, als er die Frage stellte. »Ich habe es noch nie getrunken«, erwiderte Herbert. »Aber du hast dir doch schon mal auf die Lippe gebissen…« »Klar.« »Ich mag kein Blut«, sagte Claudio. »Du bist ja auch kein Vampir«, meldete sich Paul. Claudio drehte kurz den Kopf. »Und ich will auch keiner werden, verstehst du?« »Wer will das schon…?« Ihre geflüsterte Unterhaltung versickerte, weil sie sich stark auf den Weg konzentrieren mußten. Sie gaben acht, nicht auf zu glatte Felsstücke zu treten, um nicht Gefahr zu laufen, abzurutschen. Sie näherten sich dem alten Friedhof von der Rückseite, und als sie ihn wie ein Schattengebilde unter sich in der Dunkelheit liegen sahen, da hatte sich dort noch immer nichts verändert. Keine Bewegung entdeckten sie zwischen den Grabsteinen. Claudio Melli sagte: »Allmählich mache ich mich mit dem Gedanken vertraut, daß wir hier einem Hirngespinst nachlaufen. Und es würde mich nicht mal stören.«
»Laß uns trotzdem den Friedhof noch einmal untersuchen«, schlug Herbert vor. »Was ist, wenn wir da nichts finden? Willst du dich vor den Eingang der Höhle hocken und darauf warten, daß unser Vampir erscheint? Das glaube ich nicht.« »Du kannst ja ins Internat zurückgehen.« Melli schwieg beleidigt. Er schloß sich den beiden aber an, die den krummen Pfad hinab zum Friedhof gingen. Sie konnten über die Mauer hinwegschauen, aber nicht hinein in die Schlucht, die tief unter der Mauer lag und die besonders in der Dunkelheit zu hören war, denn in dieser Schlucht schoß ein schäumendes Gewässer talwärts, das von den tauenden Flanken der gewaltigen Gletscherriesen gespeist wurde. Als erster betrat der Deutsche den kleinen Bergfriedhof. Nach wenigen Schritten schon war er zwischen den Schatten der Grabsteine verschwunden. Bisher hatte er seinen Pflock noch nicht aus dem Gürtel gezogen, das tat er zum erstenmal, und als er das harte Eichenholz zwischen seinen Fingern spürte, da war ihm, als stünde er selbst in einem Film, denn so etwas hatte er noch nicht erlebt. Er stand auch nicht hier auf einer Bühne. Es gab keinen Regisseur, keinen Vorhang, der sich öffnete, er war auf sich allein gestellt und mußte ein Drama fortspielen, dessen Text noch nicht geschrieben war. Wo konnte er sich aufhalten? Herbert schaute sich um. Von seinen beiden Schulkollegen sah er nichts. Er hörte sie nur, doch er konnte nicht feststellen, aus welcher Richtung diese Laute seine Ohren erreichten. Der Friedhof war für ihn ein autonomes Gebiet, auf dem andere Gesetze herrschten als in der übrigen Welt. Er hörte sich atmen. Nicht gerade leise. Wenn ein Blutsauger feine Ohren hatte, mußte er ihn hören. Wo hielt er sich auf, wenn überhaupt? Herbert Lagemann wechselte die Richtung und wandte sich der Grenze des Totenackers, der Mauer, zu. Sein Weg führte ihn vorbei an Gräbern, die uralt waren, deren Steine große Spuren von Verwitterung trugen, die sich auch im Laufe der Zeit verändert hatten, denn ihre Lage war sehr schief und krumm geworden, und es glich schon einem kleinen Wunder, daß die Steine noch hielten. Er duckte sich. Jeder Schritt brachte ihn näher an die Mauer heran. Einmal drehte er sich um und sah seine beiden Freunde in der entgegengesetzten Richtung suchen. Sogar eine Taschenlampe hatten sie eingeschaltet. Wer sie hielt, konnte er nicht erkennen. Nur der Lichtstrahl huschte hin und wieder wie der bleiche Schwanz eines Kometen durch die Finsternis, bis er wieder verschwand.
Die Mauer ragte vor ihm hoch. Ihre Oberfläche endete dicht unter Herberts Hüfte. Er war noch zwei Schritte von ihr entfernt und stand vor einem breiten Grab, das nicht einmal einen Grabstein als Schmuck aufwies, sondern wie plattgewalzt wirkte, als er den Eindruck hatte, nicht mehr allein zu sein. Das hatte mit seinen beiden Freunden nichts zu tun, sie waren auch nicht näher gekommen. Was sich in seiner Umgebung bewegte, konnte er nicht fassen und auch nicht erklären. Es war etwas Schauriges, etwas nie Erlebtes, Grauenhaftes. Das Böse… Der Vampir? Ein kalter Schauer kroch über den Rücken des Schülers. Vor ihm bewegte sich nichts, da stand nur die Mauer und warf ihren kurzen Schatten auf den Boden. Links neben ihm lag das Grab, eingebettet in einer völligen Ruhe. Auch von dort drohte ihm keine Gefahr. Einige Schritte weiter befand sich der seitliche Rand des Friedhofs, und dort stieg das Gelände an, als hätte die Natur eine natürliche Sprungschanze gebaut, auf der sie aber vergessen hatte, das Geröll fortzuräumen. Von dort löste sich ein Stein! Er kollerte herab, der Junge sah ihn springen, was ihn alarmierte. Hatte sich der Stein von allein gelöst? Dem Stein folgte der Schatten. Und das war er, der Vampir! *** Was Herbert Lagemann in den nächsten Sekunden dachte, wußte er nicht. Es war nicht nachvollziehbar für ihn, und er fragte sich, ob er überhaupt etwas dachte. Wahrscheinlich nicht, denn diese Situation war neu für ihn, sie war einfach zu irreal, nicht mehr nachvollziehbar, denn er mußte sich mit dem Gedanken vertraut machen, daß die Person, die da auf ihn zuflog, kein Mensch war, obwohl sie aussah wie ein Mensch. Sie glich einem Schatten mit einem hellen Fleck an seinem oberen Ende – dem Gesicht. Eine bleiche Fratze! Sie kam näher, und diese wenigen Sekunden dehnten sich für den Jungen zu einer kleinen Ewigkeit, so daß er auch in der Lage war, das Gesicht zu sehen. Bleich, alt und gleichzeitig alterslos. Wie geschminkt für einen Maskenball und verirrt auf einen Friedhof. Leider war es kein Irrtum. Er kam. Und Herbert konnte nicht mal schreien. Er spürte den Aufprall eines harten Körpers und merkte auch, wie sich Zangenfinger in Brusthöhe in
den Stoff seiner Kleidung bohrten. Er bekam den harten Schlag. Es war unmöglich für ihn, sich auf den Beinen zu halten. Er kippte zurück, und während Herbert fiel, riß der Vorhang vor seinen Augen weg, der ihn bisher geschützt hatte. Die Realität hatte ihn wieder. Und sie besagte, daß er jetzt um sein Leben kämpfen mußte. Er spürte den Aufprall. Es war schlimm, als er mit dem Rücken auf den harten Fels schlug, aber er hatte instinktiv das Richtige getan und den Kopf während des Falls etwas angehoben, so daß er mit ihm nur leicht auftickte, als ihn die Gegenbewegung erwischte. Er hörte über sich ein Geräusch, das er nicht identifizieren konnte. Mit einer gespreizten Hand wurde er festgehalten und zu Boden gedrückt. Die andere schwebte plötzlich über seinem Gesicht, ebenfalls gespreizt, und sie war für ihn wie die Klaue eines Monsters, die seine gesamte Haut aufreißen wollte. Er schrie und stieß den rechten Arm etwas nach oben. Ihm war eingefallen, daß er darin seinen Eichenpflock hielt. Er hörte etwas Ratschen, der spitze Pflock krallte sich in einem Stoff fest, und wie aus weiter Ferne vernahm er die Stimmen seiner Freunde, konnte aber nicht verstehen, was sie ihm zuriefen. Dafür der Vampir. Plötzlich war er sich seines Opfers nicht mehr so sicher. Es lag vor ihm auf dem Boden, er kniete auch mit einem Bein auf ihm, aber er würde nicht die Ruhe bekommen, um das Blut seines Opfers zu saugen und zu genießen. Zwei andere waren zu schnell. Zwei Menschen! Der Untote drehte den Kopf nach links, um zu sehen, wie weit die beiden schon gekommen waren. Sehr nahe. Ihm blieb keine Zeit, aber er wußte auch, daß in ihren Körpern ebenfalls Blut steckte. Er vertraute auf seine Kraft. Wenn es ihm gelang, alle drei auszuschalten, dann würde er mehr als satt, sogar übersatt sein, und konnte noch einen Menschen in die Höhle schleppen als Reserve. Katzenhaft schnell kam er hoch. Claudio Melli hatte die Führung übernommen und war den kürzesten Weg gelaufen. Mit geschmeidigen Bewegungen huschte er an den Grabsteinen vorbei, auch er hatte Angst, schreckliche Angst sogar, aber er kompensierte sie, indem er den Mund weit aufgerissen hatte und laut schrie. Er würde es packen, die Bestie sollte nicht… Seine Gedanken brachen ab, als sich die unheimliche Gestalt ausgerechnet ihm zuwandte. Sie wollte von ihm das Blut, aber Melli ließ diesen Gedanken gar nicht erst aufkommen. Er vertraute auf sein Kreuz
und auf das Weihwasser, denn nach dem Verlassen der Höhle hatte ihm Herbert Lagemann das Gefäß gegeben. Es hing nicht mehr an seinem Gürtel. Er hatte die schmale Kette um seine rechte Hand gewickelt, den Deckel des Eis längst aufgeschraubt und schwang das Gefäß wie ein Diskuswerfer seine Scheibe, während er auf den Blutsauger zurannte. Die Löcher waren groß genug, um die Tropfen entlassen zu können. Sie schimmerten wie glänzende Perlen und wischten in einer breiten Front auf den Blutsauger zu. Er bemerkte zu spät, was sich ihm da näherte. Plötzlich schrie er auf. Erste Tropfen hatten die Haut in seinem Gesicht erwischt. Was bei einem Menschen kühlte und eine Wohltat war, das bewirkte bei ihm genau das Gegenteil. Die Tropfen brannten wie Säure. Er hatte auch das Zischen gehört, als sie gegen seine Haut geprallt waren, die Schmerzen gefielen ihm überhaupt nicht. Er drehte sich ab, tat dies mit einer sehr weiten Bewegung, wobei er sich zusätzlich noch duckte, um nicht von weiteren Tropfen erwischt zu werden. In Claudio Melli war es hochgeschossen wie eine Flamme. Nicht wie ein Feuer, das ihn verbrannt hätte, sondern wie eines, daß einen Motor in Gang setzte. So war es bei ihm. Er würde gewinnen. Er würde es schaffen. Er würde diesen Blutsauger durch ein Kreuz und auch mit dem Weihwasser schwächen, das alles stand wie ein plastisches Bild vor ihm, und die Furcht war vergangen. Er befand sich auf der Siegerstraße, er würde irgendwie in die Geschichte eingehen, kein Nudelprinz mehr sein, sondern als Vampirkiller ein Denkmal gesetzt bekommen. Melli wunderte sich, was ihm da alles durch den Kopf schoß und ihn in Euphorie versetzte. Es war ein Fehler. Ein Friedhof ist keine Rennstrecke, das merkte er sehr schnell. Es gab keinen glatten Asphalt, der Boden war nicht nur schräg, er war auch mit Steinen bedeckt. Über einen Stein stolperte er. Ein heulender Schrei löste sich aus Claudios Mund. Er sah alles zusammenbrechen, er schrie wie verrückt, er flog durch die Luft auf den Blutsauger zu, den Arm mit dem Gefäß vorgestreckt, als sollte es seinen Gegner wie eine Bolakugel erwischen. Aber er traf nicht. Claudio schlug hart auf. Die Schmerzen in seinem Gesicht waren wie ein böses Reißen. Aus irgendwelchen Wunden strömte Blut, er dachte daran, daß er jetzt wehrlos war, und er hatte zudem den Eindruck, auf einem schwankenden Boot zu liegen.
Nur einer von ihnen war noch einsatzbereit – Paul Carrigan. Er jagte ebenfalls auf den Blutsauger zu. Allerdings hatte er es geschickter angestellt als Claudio und einen kleinen Bogen geschlagen. So würde er ihn von der Seite her erwischen. Die Taschenlampe hatte er weggeschleudert, um die Hände frei zu haben. Und er freute sich auch darüber, daß sich Herbert wieder bewegte und dabei war, sich aufzurichten. In seiner irren Wut schleuderte er eine der beiden Eisenstangen. Wie eine Lanze flog sie auf den Blutsauger zu, der damit nicht gerechnet hatte. Die Eisenstange erwischte ihn. Wuchtig drang sie in seinen Körper ein, aber es geschah nichts. Sie bestand nicht aus Eiche, war nicht geweiht und nichts anderes als eine simple Waffe. Der Blutsauger ließ sie in seinem Körper stecken, aber er wich bis zur Mauer zurück, denn er hatte gesehen, daß sich Herbert Lagemann wieder aufgerafft hatte. Er besaß die beiden zugespitzten Eichenpflöcke, und auch Claudio raffte sich wieder hoch, wobei das schwere Kreuz noch immer vor seiner Brust hing. Der Blutsauger befand sich in der Falle. Er suchte einen Ausweg. Er wollte weg. Es gab nur den Weg zur Friedhofsmauer, und auf sie huschte er zu, wobei seine dunkle Kleidung flatterte. Mit einem Sprung hatte er die breite Mauerkante erreicht, und dort malte er sich sekundenlang im bleichen Schein des Mondes ab, wie eine schaurige Gestalt aus einem Bilderbuch der Horror-Literatur. »Daaa…!« brüllte Paul Carrigan und schleuderte die zweite Eisenstange auf den Untoten zu. Der zuckte zusammen, als er erwischt wurde. Der Aufprall war hart, er trat nach hinten, aber da war nichts, und die bewegungslos gewesene Figur verwandelte sich plötzlich in ein torkelndes Gespenst, das keinen Halt mehr finden konnte und einsehen mußte, daß die Luft tatsächlich keine Balken hatte. Er kippte nicht nur zurück, er fiel auch. Unter ihm befand sich die Schlucht. Sie war wie ein Saugrohr, das den Blutsauger aufnahm, als hätte es nur auf ihn gewartet. Seine Kleidung flatterte, als er der Tiefe und dem Grund der Schlucht entgegenraste, durch die sich ein breiter Silberstreifen zog, von dem ein leises Rauschen in die Höhe drang. Paul Carrigan prallte gegen die Mauer, weil er nicht so schnell hatte stoppen können. Auch er fiel nach vorn, er bekam Angst, aber die Hände
seines deutschen Klassenkameraden zerrten ihn zurück, und er fiel gegen die Gestalt des Jungen, der ihn festhielt. »Es ist okay.« Paul atmete schwer. »Und der Blutsauger?« »Du hast es geschafft. Du hast ihn erwischt und in die verdammte Schlucht befördert.« »Ist er tot?« »Er war schon tot.« »Vernichtet dann?« »Die Felsen zerstückeln ihn, Paul. Der wird sich sämtliche Knochen auf einmal gebrochen haben. Er wird es jedenfalls nicht schaffen, sich normal zu erheben, um weiterhin auf Blutjagd zu gehen. Wir haben ihn geschafft. Man kann uns ein Denkmal setzen.« Carrigan schwieg. Er schaute zurück. Claudio Melli stand wieder auf den Beinen, eine Hand gegen sein Gesicht gepreßt. In den Räumen zwischen seinen Fingern schimmerte der weiße Stoff eines Taschentuchs, das er auf seine Wunden gedrückt hatte. Schwankend näherte er sich seinen Kameraden und blieb neben ihnen stehen. »Er ist weg, nicht?« Seine Stimme klang ebenso so seltsam wie die Worte, denn er hatte Mühe, sie über seine blutigen und aufgerissenen Lippen zu bringen. Paul deutete über die Brüstung. »Dort unten.« »Kann er wieder hoch?« »Das glaube ich nicht. Ich habe ihn zweimal erwischt. Auch wenn er noch leben würde, er wäre trotzdem nicht mehr so wie früher, denn die Felsen zerschmettern auch einen Vampirkörper.« »Hoffentlich.« Melli beugte sich über die Mauer und schaute in die dunkle Tiefe, wobei er mit dem Tuch immer wieder gegen seine Nase und gegen die Lippe tupfte. Er sah die silbrige Wand, er sah den Fels, aber er sah auch zuwenig von ihm, denn sehr bald schon bedeckten ihn die tiefen Schatten der Dunkelheit. »Mehr konnten wir den Verhältnissen entsprechend nicht tun«, sagte Paul Carrigan. Es war ihm anzusehen, daß auch er sich nicht besonders glücklich fühlte. »Wir waren trotzdem gut«, flüsterte Herbert. Auch er hatte einige Schrammen abbekommen, aber nicht so viele wie Melli, dessen Lippen sicherlich genäht werden mußten. Sie schauten sich an. Plötzlich spürten sie auch den Nachtwind, der ziemlich kühl war und über ihre erhitzten Gesichter strich. Sie standen sich gegenüber, jeder konnte den anderen sehen. Sie wollten sich etwas sagen, sicherlich hatten sie auch die gleichen Gedanken, aber es war zunächst niemand da, der den Anfang machen wollte. Bis Paul Carrigan sagte: »Also eines weiß ich. So etwas schweißt zusammen.«
»Wieso?« »Was wir erlebt haben, Herbert.« »Das stimmt.« »Es sollte unser Geheimnis bleiben.« Er lachte. »Jetzt rede ich schon wie ein Mädchen.« »Mein Wort hast du.« Claudio, der nicht sprechen wollte, nickte. Damit gab er sein Einverständnis. »Machen wir es wie die Musketiere?« fragte Paul. »Reichen wir uns die Hände?« Sie schauten sich an, sie nickten, dann reichten sie sich die Hände, und sie sagten auch den Spruch auf. »Einer für alle, alle für einen.« In dieser Nacht schworen sich die drei jungen Männer, daß sie sich, wenn es nötig war, immer gegenseitig helfen würden, und sie würden auch den Kontakt nicht abbrechen lassen. Sie würden ihren Weg machen, davon waren sie überzeugt. In verschiedenen Ländern zwar, aber die Vision eines vereinten Europas zeichnete sich bereits am Himmel ab. Da spielte es dann kaum noch eine Rolle, zu welcher Nationalität der Geschäftspartner gehörte. Der Kreis ihrer Hände löste sich auf. Gemeinsam traten sie an die Mauer und schauten in die Tiefe. Sie sahen nichts, bis auf das schmale Wasserband. Sie hörten den Wind, der sie umwehte, und sie hatten den Eindruck, durch ihn eine Botschaft zu bekommen. »Ist er vernichtet?« fragte Herbert. Die anderen beiden hoben die Schultern. »Wir werden abwarten.« Man war einverstanden. Und man ging wieder zurück zum Internat. Auf dem Weg sprachen sie kaum ein Wort miteinander. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, die trotz des Sieges nicht freundlich waren, weil sie ja nur einen halben Sieg errungen hatten. Die Unsicherheit blieb bestehen… *** Er war auf die Mauer geklettert, und er war gefallen. Diese Szene lief selbst im Gedächtnis des Blutsaugers wie ein Film ab, der immer wieder kurz unterbrochen wurde, als sollte sich die Gestalt die einzelnen Bilder genau einprägen. Dann hatte ihn die zweite Waffe getroffen. Nicht vernichtend, nicht tödlich, aber sie hatte ihn von der Mauer geschleudert, und der Vampir war in den freien Fall übergegangen. Er raste nach unten.
Dicht an der Felswand vorbei, an diesem Etwas, das aussah wie erstarrte Steinwellen, manchmal mit scharfen Kanten, dann wieder weich und abgerundet. Unten lauerte das Wasser – fließendes Wasser. Für einen Vampir tödlich! Zweien seiner Opfer war es so ergangen. Sie waren in die Schlucht gefallen oder hineingeworfen worden, und nun gab es sie nicht mehr. Ihm sollte das gleiche Schicksal nicht widerfahren, und in seiner schlimmen Panik schlug er mit den Händen um sich. Da war kein Halt. Wohin er auch griff, er faßte ins Leere. Nur hin und wieder klatschten seine Hände gegen die glatten Innenseiten der Felsen, doch einen Halt fand er nicht. Es ging abwärts. Der Vampir schrie. Leise, wimmernde, aber auch wütende Laute drangen aus seinem Mund. Er spürte den Wind, der sich bei seinem Fall nach unten in Strömungen aufgeteilt hatte, die ihn packten, mit ihm spielten, in sein verletztes Gesicht mit den >Säurewunden< hineingriffen und ihn plötzlich gegen die Wand schleuderten. Vielleicht war er auch nur gegen einen Vorsprung gefallen. Der Blutsauger hatte es nicht erkennen können. Jedenfalls schlug er wieder um sich, und plötzlich hatte er Glück. Seine Hände kriegten etwas zu fassen. Gesträuch! Hart und rissig, aber es gab ihm genau den Halt, den er benötigte. Und er hielt sich eisern daran fest. Zuerst mit einer Hand, dann mit der anderen. Er stellte fest, daß das an der Felswand wachsende Strauchwerk nachgab, nur brach es nicht ab. Es war sehr zäh, und es federte auch nach. Daran hing der Vampir! Es dauerte eine Weile, bis er überriß, was mit ihm geschehen war. Er war zwar gefallen, aber nicht auf den Grund der Schlucht und auch nicht ins fließende Wasser. Er hing fest. Auf halber Höhe oder so… Allmählich kam ihm zu Bewußtsein, was das bedeutete. Er war nicht vernichtet, das Schicksal hatte es gut mit ihm gemeint. Er existierte noch, und er würde sich auch weiterhin Blut verschaffen können, wenn er hier wegkam. Die drei Männer hatten es nicht geschafft, aber er. Und er hatte Zeit. Er würde seine Rache genießen. Er würde sie nicht aus den Augen lassen, und irgendwann – es konnte Jahre dauern – würde er zuschlagen. Brutal und endgültig!
*** Ein Vorzimmer! Aber was für eines. So groß wie die meisten Zimmer eines Chefs. Perfekt eingerichtet von einem Innenarchitekten. Es herrschten die warmen Brauntöne vor, und das kostbare Eibenholz zeigte einen leichten Glanz. Ein weicher, leicht grünlicher Teppichboden paßte sich hervorragend an, wie auch die beiden Frauen, denen dieses Zimmer als Arbeitsplatz diente. Auch sie waren perfekt gestylt. Sie konnten es sich leisten, auch bei diesem sommerlichen Klima in Business-Kleidung zu erscheinen, dazu gehörten eben die Kostüme und das andere perfekte Outfit, da saß jeder Lid- und Lippenstrich. Eine Klimaanlage sorgte zwar dafür, daß ich nicht mehr schwitzte, aber der auf der Haut sitzende Schweiß hatte sich in kaltes Fett verwandelt, und ich war froh, daß mein Duschgel so gut vorsorgte und den Körpergeruch zurückhielt. Ich stand vor einem der beiden Schreibtische. In der Nähe spuckte ein Fax lange Papierstreifen aus, um die sich die zweite Sekretärin kümmerte, die, wenn sich unsere Blicke trafen, anfing zu lächeln, rein geschäftsmäßig versteht sich. Auch die zweite lächelte. Sie saß hinter ihrem Schreibtisch und mußte zu mir hochschauen. Die Fenster befanden sich an der rechten Seite des großen Zimmers. Ihre Scheiben waren nicht zu sehen, denn dünne Gardinen nahmen mir die Sicht auf das Glas. Dahinter lag die Außenwelt, da war die City von London, aber man hörte nichts in diesem Raum, der einer anderen Welt glich, die sich mitten in die normale hineingeschoben hatte. Ich kam mir ziemlich falsch vor in meiner dünnen Sommerhose, dem lachsfarbenen Hemd und der dünnen Jacke, die ich mir trotz der Wärme draußen übergestreift hatte, denn niemand sollte unbedingt meine Beretta zu Gesicht bekommen. Das lächelnde Gesicht blieb. Hinter den Gläsern der Brille schauten mich die Augen kühl an. »Sie sind Mr. Sinclair?« »Ja, Lady, seit meiner Geburt.« Über den Scherz konnte sie nicht lachen, ich aber auch nicht über sie, denn diese Vorzimmerperlen, die mir immer vorkamen, als würden sie auf den Fotografen eines Modemagazins warten, lagen mir nicht. Das waren für mich künstliche Geschöpfe. »Sie können noch einen Moment Platz nehmen. Mr. Carrigan wird noch beschäftigt sein.« »Ich war um elf Uhr verabredet, Madam«, sagte ich. »Sie können es sich aussuchen, entweder gehe ich jetzt zu Ihrem Chef hinein, oder ich
mache auf dem Absatz kehrt, und dann müßte Ihnen eine Erklärung einfallen, die sich verdammt gut anhört. Haben wir beide uns verstanden?« Das hatten wir. Die Frau saß da und kriegte den Mund nicht zu. Ihre Kollegin hatte mich ebenfalls gehört und erinnerte mich an eine Figur aus Eis. Die zweite Tür ging auf. Ich hörte ein Lachen, dann erschien ein Mann, der mir wesentlich sympathischer war als die beiden Zimmerlinden, denn er war mit einem kurzärmeligen Hemd bekleidet und einer locker fallenden Sommerhose. Auf eine Krawatte hatte er verzichtet. Die Sekretärin bekam einen roten Kopf, als sie die Worte ihres Chefs hörte. »Mal endlich einer, der vor Ihnen keinen Kniefall macht, Sandra.« »Ich meine…« »Hören Sie auf. Kommen Sie, Mr. Sinclair! Ich freue mich auf die Unterhaltung.« Bevor ich ging, zwinkerte ich Sandra zu, bei der die Röte unter der perfekten Schminke noch nicht gewichen war. Carrigan hielt mir die Tür auf und bat mich in sein Allerheiligstes, das ebenfalls klimatisiert war, und dabei mehr einer Bibliothek als einem Büro glich, in dem hart gearbeitet wurde. Ich ließ mich in einem Ledersessel nieder. Kalte Getränke aus der Kühlbox standen vor mir. Ich bediente mich mit Bitter Lemon, und auch mein Gegenüber trank es. Carrigan war ungefähr fünfzig, hatte blondes Haar und machte auf mich den Eindruck eines Selfmademan. Seine grauen Augen hatten sich der Farbe des Haars angeglichen oder umgekehrt. Sie wirkten forschend, aber nicht kalt oder unfreundlich. Paul Carrigan! Ein Name, der in bestimmten Kreisen Gewicht hatte, denn Carrigan war einer der besten Industrie-Anwälte, die der Großraum London zu bieten hatte. Wer ihn nicht kannte oder ihm nicht schon mal begegnet war, der hat etwas versäumt, so zumindest hieß es. Ich hatte es bisher versäumt und saß ihm nur gegenüber, weil ich von meinem Chef, Sir James, geschickt worden war. Unser Gespräch begann locker, und Carrigan stellte beinahe bewundernd fest, daß ich also zu denjenigen gehörte, die für seinen Freund Sir James die Kastanien aus dem Feuer holten. »Nicht unbedingt nur für ihn«, widersprach ich leicht. »Ich tue es auch für die Menschen.« »Klar, das versteht sich.« »Und jetzt sind Sie an der Reihe, wie ich mal denke.« Er hob die Augenbrauen, seine Stirn erhielt dadurch ein anderes Aussehen, er beugte sich nach vorn und starrte zu Boden, wobei er die
Hände faltete und nickte. »Ja, jetzt bin ich an der Reihe, und ich wundere mich, daß es zum erstenmal in meinem Leben ein Problem gibt, das ich nicht lösen kann.« »Worum geht es?« Er blickte mich wieder an. Ich sah ein Lächeln auf seinen Lippen, nur wirkte es nicht echt. »Das will ich Ihnen sagen.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, anders, ich will es nicht so locker sagen, weil Sie mich eventuell nicht ernst nehmen.« »Bleiben Sie bei der ersten Alternative.« Ich wollte nicht, daß sich Carrigan drehte und wendete. »Also gut. Es geht um einen Vampir!« Ich erwiderte nichts. Er sah mir ins Gesicht und schien darauf zu warten, daß ich nun anfing zu lachen, das aber tat ich nicht. Ich blieb wie immer. »Haben Sie verstanden, Mr. Sinclair?« »Natürlich, Sie meinen einen Vampir.« »Erschreckt Sie das denn nicht? Oder halten Sie mich für einen Spinner?« »Nein, warum sollte ich? Sie haben sich an Sir James gewendet. Sie hätten wissen müssen, womit er sich beschäftigt und um was ich mich infolgedessen auch kümmern muß. Es geht um einen Vampir, haben Sie gesagt. Okay, ich nehme es zur Kenntnis.« »Dann kann ich mehr erzählen?« »Gern.« »Auch wenn ich in der Geschichte um dreißig Jahre zurückgehe, denn zu der Zeit begann alles.« »Sie können von mir aus dreihundert Jahre zurückgehen. Ich bin hier, um Ihnen zuzuhören. Das ist mein Job.« »Ja«, murmelte er. »Es ist Ihr Job.« Er wischte über seine Stirn. »Kaum vorstellbar.« »Bitte, Mr. Carrigan.« »Drei Namen sollten Sie sich erst einmal merken. Meinen, den Sie ja schon kennen, hinzu kommen ein gewisser Claudio Melli und ein Herbert Lagemann. Und jetzt stellen Sie sich all diese Personen um dreißig Jahre jünger vor.« »Gut, das mache ich.« »Wir waren Schüler in einem exklusiven Schweizer Internat, hoch über dem Genfer See…« In den folgender Minuten berichtete Carrigan, was ihm und seinen Freunden vor dreißig Jahren widerfahren war. Er konnte sich noch sehr gut an die Geschehnisse damals erinnern, denn er sparte nicht mit Einzelheiten, und ich hörte immer gespannter zu, was drei Schüler, die kurz vor dem Abitur oder der Matura standen, erlebt hatten. Paul Carrigan endete mit einer Bemerkung, die gleichzeitig auch eine Frage war. »Und jetzt ist der Vampir tot, denke ich – oder?«
Er wartete auf meine Antwort. Sie kam nicht spontan, ich umging das Thema etwas. »Sie erzählten, daß er in eine Schlucht gestoßen wurde, über deren Grund ein Wildwasser schäumte.« »Das stimmt.« »Gut, gehen wir noch einen Schritt weiter, der sie vielleicht beruhigen wird. Normalerweise ist es unmöglich, daß dieser Blutsauger überlebt hat, denn schnell fließendes Wasser ist für einen Untoten absolut vernichtend. Wenn er hineingefallen ist, und davon muß man ja ausgehen, brauchen Sie sich wirklich keine Sorgen zu machen. Er kann nicht überlebt haben. Sein Körper wird zerschmettert worden sein, und den anschließenden Rest hat dann das fließende Wasser besorgt. Da können Sie ganz beruhigt sein, Mr. Carrigan. Ich sage das aus Erfahrung.« Er war noch skeptisch. »Meinen Sie wirklich?« »Ja.« »Gut, dann hören Sie sich bitte den zweiten Teil meiner Geschichte an, der in der Gegenwart spielt.« Aha, dachte ich, das ist der Haken. Das dicke Ende, das eigentlich immer nachkommt. Es hätte mich auch gewundert, daß mich ein Mann wie Carrigan, erfolgsverwöhnt und knallhart, wegen einer derartig lang zurückliegenden Sache herbemüht hätte. Als ich ihn nun anblickte, da geschah es mit anderen Augen, und ich sah auch etwas, denn in seinen Blick hatte sich eine nicht zu übersehende Furcht gestohlen. Dieser Mann stand unter Druck, Angst, Streß, wie auch immer. »Möchten Sie auch einen Whisky, Mr. Sinclair?« »Das ist nett, aber nicht so früh am Morgen.« »Ich brauche einen.« Er stand auf, goß sich einen Doppelten ein und kehrte mit dem Glas in der Hand zurück, nahm wieder seinen Platz ein und begann mit dem zweiten Teil seiner Erklärung, fing aber mit einem Ereignis aus der Vergangenheit an, das er noch einmal wiederholte. »Ich hatte Ihnen von unserem Musketier-Schwur berichtet, nicht wahr?« »Ich habe es nicht vergessen.« »So seltsam es klingen mag, aber wir haben den Schwur eingehalten, auch über die langen Jahre hinweg. Wir sind in der betreffenden Nacht zu echten Freunden zusammengewachsen. Wir haben uns immer gegenseitig besucht, wir haben uns geschrieben, wir haben uns getroffen und gefeiert, und wie es der Zufall wollte, haben wir auch im selben Jahr geheiratet und sind zur gleichen Zeit Väter geworden.« »Das ist wirklich ungewöhnlich.« »Ja, wie ich es Ihnen sage.« Er trank von seinem Whisky. »Claudio Melli, den wir den Nudelprinz nannten, ist seinem Beruf treu geblieben. Er sitzt in Mailand und ist inzwischen zu einem Nudelkönig geworden, denn er hat das Erbe seines Vaters übernommen und expandiert.
Herbert Lagemann, der Deutsche, hat ebenfalls Karriere gemacht. Er war schon immer der beste Naturwissenschaftler von uns. Er hat eine Firma gegründet, die sich auf Steuerungssysteme spezialisiert hat, und er beliefert die halbe Welt, bis hin zur NASA. Meinen Weg kennen Sie ja, und es brauchte keiner dem anderen finanziell unter die Arme zu greifen, das stand schon mal fest.« Er stellte sein leeres Glas ab. »Die Zeiten in diesem Internat sind uns unvergeßlich geblieben, und erinnern Sie sich bitte daran, daß ich von den Kindern sprach, die unsere Frauen bekommen hatten. Es sind drei Töchter gewesen, Töchter im gleichen Alter. Da gibt es eine Marisa Melli, da gibt es eine Katja Lagemann, und da gibt es eine Susan Carrigan. Von ihren anderen jüngeren Geschwistern brauchen wir jetzt nicht zu reden, konzentrieren wir uns lieber auf die drei Töchter, die sich wunderbar verstehen und in ihrer kleinen Welt Europa zu dem gemacht haben, was sich fortschrittliche Politiker eigentlich als Ziel setzten. Und sie verstehen sich deshalb so gut, weil sie in eine Klasse gehen, diese jetzt fast zwanzigjährigen jungen Damen.« »In das Schweizer Internat.« »Ja, Mr. Sinclair, genau dort. Wo auch ihre Väter waren und noch härtere Regeln herrschten. Es ist noch nicht beendet.« »Ich dachte es mir, denn im zweiten Teil Ihrer Erklärungen vermißte ich den Vampir.« Er verzog säuerlich den Mund. »Das stimmt, und nun komme ich endlich zu dem Grund, weshalb ich Sir James angerufen habe. Ich bin mir nämlich nicht mehr sicher, daß der Vampir durch uns damals vernichtet worden ist.« »Eine Frage zuvor.« »Bitte.« »Kennen die drei Mädchen die Sache, die Ihnen widerfahren ist, Mr. Carrigan?« »Nein, darüber haben wir nie gesprochen.« »Gut, dann sprechen Sie weiter, bitte.« »Es gibt ihn noch«, sagte Paul Carrigan mit einer Stimme, in der Verzweiflung mitschwang. »Den Vampir.« »Ja.« Er hob die Schultern. »Sie sind Polizist, Mr. Sinclair, ich bin es nicht, aber ich weiß genau, daß Polizisten immer nach Beweisen verlangen, und diese konkreten Beweise kann ich Ihnen nicht liefern. Ich muß mich da schon auf die Aussagen verlassen, die mir zu Ohren gekommen sind.« »Reden Sie.« »Man hat ihn gesehen. Er ist nicht tot. Er trieb sich in der Nacht am Internat herum, nicht weit vom Zimmer unserer Töchter entfernt, denn die drei verstehen sich so gut, daß sie gemeinsam in einem Zimmer
leben. Eines Nachts tauchte er auf, und er drückte sein Gesicht an der Scheibe platt. Hätte nur Susan ihn gesehen, nun ja, dann hätte ich keinen Wirbel gemacht, aber die anderen beiden haben ihn ebenfalls entdeckt, und das bereitet uns Vätern Sorge, vor allen deshalb, weil wir ja wissen, was vor dreißig Jahren geschehen ist. Wir haben es nicht geschafft, so muß man es sagen.« »Die anderen wissen demnach auch Bescheid.« »Ja, ich habe meine Freunde informiert und meinen Plan auch absegnen lassen.« »Plan?« Ich lächelte. Der Anwalt kriegte einen roten Kopf. »Nun ja, Mr. Sinclair. Sie gestatten mir, daß ich Sie bereits mit in den Plan einbezogen habe. Wenn Sie nicht wollen, was ich auch verstehen kann, wenn Sie sagen, daß dies Hirngespinste sind, die Sie von mir hörten, dann vergessen wir das Ganze am besten, und es bleibt mir dann nur mehr übrig, mich für Ihr Interesse zu bedanken.« Ich ließ ihn bewußt etwas schmoren, bevor ich antwortete. »Ich denke, das werde ich nicht.« »Sie glauben mir also. Mir und den Mädchen?« »Bis jetzt schon. Zumindest Sie schätze ich als einen Menschen ein, der genau weiß, was er will, und Ihre beiden Freunde denken sicherlich ähnlich.« »Und ob sie so denken.« »Gut, ich habe jetzt zugestimmt. Dabei nehme ich an, daß Sie sich auch Gedanken über meinen Einsatz gemacht haben.« »Stimmt, in der Tat. Sie sind jemand, der mitdenkt. Eine etwas indiskrete Frage habe ich. Sind Sie verheiratet?« »Das bin ich nicht.« »Schade.« »Man kann es sehen, wie man will…« Er winkte heftig ab. »So allgemein meine ich das nicht, ich sehe es mehr speziell, und ich möchte es Ihnen auch sagen. In den letzten dreißig Jahren hat sich in der Umgebung des Internats einiges verändert – der alte Friedhof und die Höhle sind natürlich geblieben – , aber das ganze Drumherum hat doch ein anderes Gesicht bekommen. Es ist einiges gebaut worden, unter anderem auch kleine Hotels und Ferienhäuser. Dann habe ich mir gedacht, wie man Sie auftreten lassen könnte. Bestimmt nicht als Lehrer in einem Internat, so etwas wird kaum möglich sein und riecht auch zu sehr nach Kino. Ich dachte eher daran, daß Sie sich in einem der neuen Hotels einquartieren, möglicherweise mit einer vorhandenen Ehefrau, was noch weniger auffällig wäre.« »Da haben Sie recht.« »Da Sie nicht…«
»Ich werde eine Frau mitnehmen können, Mr. Carrigan. Eine sehr gute Freundin von mir, die zudem noch Privatdetektivin ist und sich auch gegen Vampire zu helfen weiß. Sie und ich wären schon eine gute Mischung, Mr. Carrigan.« Plötzlich strahlten seine Augen. Die Furcht war aus ihnen verschwunden, wie wegradiert. »Das ist ja super«, sagte er, »das wird auch meine Freunde freuen und unsere Töchter…« »Warten Sie noch.« »Wie meinen Sie?« »Weihen Sie die jungen Damen noch nicht ein. Das könnten Sie uns überlassen.« »Gern, Mr. Sinclair, wie Sie wollen, schließlich sind Sie der Fachmann.« »Die Adresse haben Sie sicherlich auch.« Er nickte heftig. »Die beiden Tickets nach Genf ebenfalls. Dort ist auch ein Wagen für Sie reserviert, und ich habe sicherheitshalber ein Doppelzimmer im Hotel >Des Alpes< bestellt.« »Toll, gut organisiert.« »Wenigstens das kann ich, wenn es mir schon nicht gelingt, einen Vampir zu killen.« »Man muß nicht alles können.« »Dabei wäre es so wichtig gewesen.« Ich stand auf und lächelte ihm zu. »Sollte es diesen Vampir tatsächlich geben, woran ich eigentlich nicht zweifele, wird es mir auch gelingen, ihn zu stellen.« Er schaute mir fest in die Augen. »Wissen Sie was, Mr. Sinclair, ich glaube Ihnen sogar.« »Das ehrt mich.« »Unsinn. Sie glauben gar nicht, wie froh ich bin.« Er atmete tief aus. »Jetzt kann ich meinen Freunden sagen, daß ich etwas unternommen habe. Das tut gut.« Er stand neben mir und hob die Schultern. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich dabei. Er wirkte plötzlich deprimiert. »Wissen Sie, Mr. Sinclair, ich habe nur die eine Tochter, und ich möchte nicht, daß ihr irgend etwas zustößt. Wenn das sein sollte«, er hob die Schultern, »hat das Leben für mich keinen Sinn mehr. Dann ist alles vorbei, einfach vorbei…« »Ich bitte Sie…« »Ja, Mr. Sinclair. Ich mache mir die schwersten Vorwürfe, daß ich dabeigewesen war, als wir den verdammten Vampir jagten. Hätte ich es doch nicht getan. Es ist einfach nicht mehr rückgängig zu machen, wir waren damit überfordert, aber wir waren jung, uns gehörte die Welt, und wir wollten ihn vernichten. Hätte ich gedacht, daß dieser Blutsauger uns Jahre später noch diesen Ärger bringen würde, dann hätte ich nichts, aber auch gar nichts getan.«
»Das sollten Sie heute nicht so sehen. Die Zeit ist eine andere geworden. Sie haben damals richtig gehandelt und werden es auch heute tun, davon bin ich überzeugt.« »Meinen Sie?« »Ja. Sie haben einen Anfang gemacht. Sie sind zu Sir James Powell gegangen und haben sich mit ihm in Verbindung gesetzt. Er hat versucht, eine Lösung des Problems zu finden, und damit bin ich in das Spiel gekommen.« Ich fing seinen Blick auf. Er war fragend. »Können Sie mir eine ehrliche Antwort geben, Mr. Sinclair?« »Ich werde es zumindest versuchen.« »Wie denken Sie über den Fall? Werden Sie es packen?« »Davon gehe ich immer aus.« »Gut, wenn man so denkt.« »Aber ich möchte Sie noch etwas anderes fragen, Mr. Carrigan.« »Bitte.« »Können Sie sich noch an den Namen des Vampirs erinnern? Hatte er überhaupt einen? Gab es bei ihm auch einen Background? Er muß ja irgendwoher gekommen sein.« »Das weiß ich nicht.« Die Antwort klang ehrlich. »Ich kenne den Namen nicht, und wenn ich mich recht erinnere, hat er auch niemals einen gehabt. Ich meine, für uns nicht.« »Also können wir ihn einfach nur als einen Vampir ansehen, denke ich mal.« »Richtig.« Carrigan starrte zu Boden. »Jetzt, wo Sie es erwähnt haben, gehe ich auch davon aus, daß dieser Untote eine Geschichte gehabt haben muß. Von nichts kommt nichts, heißt es, und das wird sich auch auf Vampire übertragen haben. Selbst der König aller Blutsauger, Dracula, hatte einen Background.« »So weit wollen wir nicht gehen, Mr. Carrigan. Aber im Prinzip haben Sie schon recht.« Er lächelte und holte aus dem Schreibtisch die Unterlagen. Als er sie mir reichte, sagte er: »Die drei Mädchen werden keinen Bescheid bekommen. Sie sollen sich so unbelastet bewegen können, wie Sie unbelastet an den Fall herangehen. Können wir uns darauf einigen?« »Das setze ich voraus.« Er brachte mich zurück in das Vorzimmer, wo die beiden Eleganten einen roten Kopf bekamen, als sie mich sahen. Ihre Selbstsicherheit war plötzlich verschwunden. Ich zwinkerte meiner hochnäsigen > Freundin < zu und verließ das Büro des Anwalts. Draußen packte mich der Sonnenschein. Es würde bald Ferien geben, noch eine Woche mußten die Schüler lernen. Auch in einem Schweizer Internat, das hatte mir Carrigan beim Hinausgehen noch gesagt.
Ich geriet wieder ins Schwitzen. Meinen Rover hatte ich auf dem Parkplatz abgestellt, der Firmenmitgliedern vorbehalten war. Ich rangierte ihn aus der Lücke und fädelte mich wenig später in einen Verkehrsstrom ein, den ich nicht mochte. Trotzdem lächelte ich, weil ich an Jane Collins dachte und an ihr Gesicht, wenn ich ihr von unserem Trip berichtete. Wie ich sie einschätzte, würde sie bestimmt zustimmen… *** Nicht Jane Collins öffnete auf mein Klingeln hin, sondern die Frau, bei der sie lebte, Sarah Goldwyn. Und sie blickte mich gar nicht fröhlich an. Sie sagte nur: »Wir kaufen nichts, und wer sind Sie denn?« Ich machte das Spiel mit. »Mein Name ist John Sinclair.« »Aha. Weiter.« »Ich hätte gern mit einer Lady gesprochen, die ebenfalls in diesem Haus wohnt.« Sarah Goldwyns Gesicht zeigte einen mißtrauischen Ausdruck, obwohl in ihren Augen ein Funkeln zu sehen war. »Sie sehen aus wie ein Bulle, junger Mann.« »Bulle?« wiederholte ich. »Ja, so sehen Sie aus.« »Was sind das denn für Ausdrücke!« beschwerte ich mich. »Und die noch von einer Lady.« »Spielt keine Rolle, junger Mann. Aber ich habe heute meinen großzügigen Tag. Kommen Sie bitte herein.« »Danke.« Als sie die Tür zugedrückt hatte, wirbelte sie herum und lachte. »John, du lebst also noch?« »Sogar recht gut.« Sie küßte mich auf beide Wangen, als ich mich zu ihr hinabbeugte. »Das finde ich toll, das finde ich wirklich toll, daß du den Weg zu uns gefunden hast.« Sie räusperte sich. »Soweit die eine Seite. Nun die andere. Wie ich dich kenne, bist du nicht in der Mittagszeit gekommen, um mit uns zu essen, sage ich mal.« »Du hast recht wie immer, obwohl ich auch Hunger spüre.« »Dann werde ich noch ein Gedeck mehr auf den Tisch stellen.« »Das ist nett.« Da ich aus der Küche das Klappern von Geschirr gehört hatte, wußte ich, wo sich Jane Collins aufhielt. Ich betrat den Raum so vorsichtig, wie ich auch vorsichtig um die Ecke geschaut hatte. Jane, mit einem kurzen, tief ausgeschnittenen Sommerkleid bekleidet, sah aus, als wollte sie mir das Brotmesser jeden Augenblick durch den Hals jagen, das sie in ihrer
rechten Hand hielt. Ich hob erst einmal die Hände und erklärte sofort, daß ich mich ergeben würde. »Das ist auch nötig.« »Begrüßt man so jemand, der hier als Glücksbringer in das Haus gekommen ist?« »Glücksbringer?« »Ja.« »Du?« »Siehst du noch jemand, außer mir?« »Nein, aber auch keinen Glücksbringer.« Für diese Antwort kriegte sie einen leichten Kuß auf den Mund. Ich zog mein Jackett endlich aus und ließ mich am Küchentisch nieder. »Ruhe, nette Menschen, Essen…« »Magst du überhaupt Pizza?« »Klar.« Lady Sarah kam und setzte sich mir gegenüber. Sie hatte eine Flasche Rotwein mitgebracht. Ich bekam sie und auch einen Korkenzieher, um mich sofort an die Arbeit zu machen. Ich zog den Korken, nahm eine Geruchsprobe, was Jane zu der Bemerkung veranlaßte. »Jetzt tut er, als hätte er Ahnung«, dann schenkte ich den Wein ein und schaute zu, wie er in die Gläser rann. Ich schenkte mir weniger ein, denn ich dachte daran, daß ich noch fahren wollte. Die Flasche stellte ich zur Seite, wir prosteten uns zu, und Lady Sarah murmelte etwas von einem verlorenen Sohn, der zurückgefunden hatte. Sollte sie, mir war es egal. Jane holte die Pizzen aus dem Ofen. Es waren nur zwei, doch aus ihnen machten wir durch geschicktes Teilen drei. Da wurde dann jeder satt. Sie schmeckte gut. Ich aß auch noch etwas von dem frischen Tomatensalat, den die Horror-Oma zubereitet hatte. Natürlich hatte ich durch meinen Besuch Spannung erzeugt, und diese Spannung hatte sich auf die beiden Frauen übertragen, aber ich hielt mich noch zurück, aß, trank, lobte die Pizza und den Wein und tat so, als wäre nichts geschehen. Nachdem Jane Collins ihren Teller zur Seite geschoben hatte, sagte sie: »So, jetzt hast du gegessen und getrunken. Du bist satt – satter geht es nicht mehr, und nun wollen wir wissen, weshalb du uns mit deinem Besuch beglückt hast.« »Ich möchte mit dir verreisen, Jane.« »O wie schön. Wann denn?« »Morgen.« »Ach – so spät? Geht es nicht heute? Und wohin soll die Reise gehen?« »In die Schweiz. In eine Gegend oberhalb des Genfer Sees, wo es kein Dorf gibt und nur einige kleine Hotels und Pensionen stehen, wie man mir sagte.«
Jane beugte sich vor. »Wer sagte dir das denn?« Ich tupfte ihr eine Schweißperle von der Stirn. »Ein gewisser Paul Carrigan.« Sie zuckte zurück und nahm meinem Finger die Chance, eine zweite Schweißperle von der Stirn zu zupfen. »Der Carrigan?« »Wen meinst du?« »Den Anwalt natürlich.« »So ist es.« Jane pfiff ein wenig undamenhaft durch die Zähne. »Wenn das so ist, dann sieht das mir weniger nach einem Urlaub aus, sondern nach einer Dienstreise.« »Kann hinkommen.« »Also doch!« stellte sie fest. »Darf ich fragen, um was es genau geht? Wen sollen wir jagen oder massakrieren?« »Einen Vampir.« Pause. Dann: »Mehr nicht?« »Nein.« »Doch nicht etwa Mallmann alias Dracula II.« »Keine Sorge, der ist außen vor.« Die Horror-Oma sagte: »Wäre es nicht günstiger für uns alle, wenn du von Beginn an erzählst, John?« »Das wollte ich ja, aber Jane läßt mich nicht.« »Ach nein, jetzt bin ich es wieder, wie?« »Einer muß es ja sein.« Mit diesem Satz war die Flachserei vorläufig beendet, und ich wurde ernst. Ich berichtete das, was ich von Carrigan erfahren hatte, und die Fröhlichkeit aus den Gesichtern der beiden Frauen verschwand. Jetzt wußten sie, daß es sich um eine ernste Sache handelte, und Lady Sarah war sofort dafür, daß ich zusammen mit Jane in das Hotel >Des Alpes< fuhr. »Wenn dort tatsächlich ein Blutsauger umherstreunt, dann hat er reichlich Beute. Ich weiß ja nicht, wie viele Personen sich in diesem Internat aufhalten, ich weiß nur, daß es zu viele sind. Da kann ein Biß schon ein Grauen ohne Ende auslösen.« Ich gab ihr recht. Jane ebenfalls, denn sie nickte. »Willst du denn überhaupt mit?« erkundigte ich mich vorsichtig. »Und ob. Was hast du denn gedacht? Denkst du denn, daß ich dich mit derart vielen jungen Damen allein lasse? Das kommt überhaupt nicht in Frage.« »Wunderbar.« »Wann starten wir denn?« Ich holte die Unterlagen aus der Innentasche der Jacke. Carrigan hatte sogar Flüge für die erste Klasse gebucht, und die Maschine startete in den Morgenstunden.
»Also nur wir beide«, sagte Jane. »So ist es.« Sie hatte Lady Sarah einen schiefen Blick zugeworfen, doch die HorrorOma winkte ab. »Keine Sorge, ihr beiden, ich bleibe hier im Haus. Das verspreche ich hoch und heilig.« »So sollte es auch sein.« Ich trank den letzten Schluck Wein, schaute auf die Uhr und erklärte, daß ich fahren müßte. »Ins Büro?« fragte Sarah Goldwyn. »Wohin sonst?« »Und was willst du da, wenn ich fragen darf?« »Glenda Perkins sagen, daß ich mit Jane in die Berge fahre. Die wird sich freuen…« Jane Collins verdrehte nur die Augen. »Ich habe Angst«, sagte Marisa Melli und spielte nervös mit einigen Karten, die sie auf dem Tisch hin- und herschob. Katja Lagemann schaute sie an. »Ich auch.« Die Mädchen schwiegen. Aus dem Bad hörten sie das Rauschen der Dusche. Dort fühlte sich Susan Carrigan unter den Strahlen wohl. Sie war diejenige, die immer am längsten unter der Dusche stand, als würde es ihr ein besonderes Vergnügen bereiten, was sicherlich auch so war. »Hast du Angst vor demselben wie ich?« erkundigte sich Marisa, die nicht länger schweigen wollte. »Was ist es denn?« Katja war vorsichtig. »ER!« Marisa wagte nicht, das Wort auszusprechen, aber sie behielt Katja im Blick. Die hatte ihre Augen gesenkt und ließ die Blicke über die Karten schweifen. Sie wußte genau, daß sie jetzt etwas sagen mußte, aber sie wußte nicht, wie sie gewisse Dinge in Worte fassen sollte. Es war einfach zu schlimm, zu irreal, zu unwahrscheinlich, und doch war es eine verdammte Realität. Sie hatte Angst vor IHM. Alle hatten Angst vor IHM. ER war das Unheimliche, ER verkörperte das Böse. ER hielt sie unter Kontrolle, und ER hatte sie besucht. Kurz nur, aber heftig. Mitten in der Nacht war ER wie ein Gespenst erschienen und hatte ihnen klar gemacht, daß noch nicht alles zu Ende war. Daß es weitergehen würde, und daß ER die Rechnung offengehalten hatte. Dann war ER verschwunden, und ER hatte einen Hauch von Moder und Verwesung hinterlassen, den die drei Mädchen sogar noch am Morgen in ihrem Zimmer gerochen hatten. Katja verteilte die Karten. Sie hatte sie mit den Rückseiten nach oben gelegt und schaute auf das filigrane Muster, das aussah wie eine Tapete. »Was tust du da, Katja?« Die Angesprochene hob die Schultern. »Welche Karte soll ich aufdecken?« fragte sie. »Ist mir egal.«
Katja lächelte schmal. Sie war sehr schlank und auch die kleinste unter ihnen. Ihr Haar schimmerte. Sie hatte es halblang geschnitten, und ihre Augen strahlten eine menschliche Wärme ab, wie man sie selten fand. Zudem zeigten sie eine haselnußbraune Farbe. Sie trug eine rote Radlerhose und ein schwarzes T-Shirt. »Welche Karte?« wiederholte sie. »Nimm irgendeine.« »Und wenn es eine schlimme ist?« »Daran kann ich auch nichts ändern.« »Wie du meinst.« Katja bewegte ihre Finger. Sie tippte mehrere Karten an, zeigte sich etwas unentschlossen und drehte plötzlich eine um. Beide Schülerinnen starrten auf das Bild, und beide Schülerinnen verloren ihre Gesichtsfarbe und wurden blaß. »Kreuz-As!« flüsterte Marisa. »Nicht gut?« »Richtig.« »Und?« Katja drehte die Karte schnell wieder um. »Manche Leute sprechen davon, daß diese Karte den Tod bedeutet, daß sie ihn bringt, den verfluchten Sensenmann.« Sie lächelte. »Aber das ist Aberglaube.« Marisa Melli schüttelte den Kopf. Sie saß steif auf ihrem Stuhl und schluckte. »Nein«, murmelte sie. »Das ist bei uns kein Aberglaube. Das hängt mit ihm zusammen, verstehst du? Einzig und allein mit ihm, verdammt!« »Wir haben unseren Vätern Bescheid gegeben. Unsere Eltern wollen etwas unternehmen. Man wird einen Polizisten schicken, der herkommt und sich umschaut.« »Was soll der denn gegen IHN ausrichten. Wir haben IHN kurz gesehen und erkannt, wie schlimm er aussah. Er ist kein Mensch.« Marisa schüttelte sich. »Wir haben unseren Eltern alles erzählt. Wir haben ihnen den Unheimlichen beschrieben, und wir haben erleben können, wie unsere Väter reagierten. Keiner hat gelacht, sie waren stumm, dann entsetzt, und sie kamen uns vor, als wüßten sie Bescheid, als hätten sie denselben Mann gesehen, als sie hier noch Schüler waren.« »Mann ist gut.« »Meinetwegen auch Gestalt, grauenhaftes Etwas oder wie auch immer.« Marisa schüttelte den Kopf und strich durch ihre wilde Mähne. Sie war wirklich eine typische Italienerin. Eine pechschwarze, wilde, lockige Mähne, die sich kaum bändigen ließ. Sie hatte ihre Mühe damit, und sie hatte das Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengedreht und dort eine Schleife hineingebunden. Ihr Gesicht war nicht sehr fein geschnitten, sie war wirklich nicht perfekt, keine Laufsteg-Schönheit, dafür war sie ein Mensch mit allen Vor- und Nachteilen. Obwohl sie sich immer über ihre etwas zu groß geratene Nase ärgerte, war sie auf
irgendeine Art und Weise interessant, was auch eine Menge ihrer Mitschüler gefunden hatten, die aber waren abgeblitzt. Marisa wollte in der Schule keine Techtelmechtel beginnen, das gab nur Ärger. Sie schlug die Beine übereinander. Die hellrote Hose saß ziemlich eng, sie ließ die Beine aussehen, als steckten sie in Etuis aus Blut, die in Höhe der Waden endeten. »Mehr sagst du nicht dazu?« Marisa grinste breit. »Was soll ich dazu sagen? Wir haben ihn kurz gesehen. Erst war er draußen, dann war er drinnen. Ich weiß es nicht. Ich kenne nicht einmal seinen Namen.« »Aber er kennt uns.« »Si.« »Er hat uns Bräute genannt.« »Stimmtauch.« »Und er hat von unserem köstlichen Blut gesprochen«, flüsterte Katja und bekam einen Schauer. Marisa saß still. Sie überlegte. Die Stirn zeigte ein Muster aus Falten. Hin und wieder fuhr die Zungenspitze über ihre Lippen hinweg. Dann räusperte sie sich, meinte: »Hast du dich da nicht verhört, Katja?« »Nein. Und ich habe auch gesehen, wie er grinste und dabei uns etwas zeigte. Zwei lange Zähne, die aus dem Oberkiefer wuchsen. Furchtbar waren sie, grauenhaft…« »Ein Vampir.« »Richtig, Marisa.« »Aber es gibt keine Vampire. Da hat sich jemand einen Scherz erlaubt. Er hat sich verkleidet. Er hat sich wirklich an uns… na ja, du weißt schon, was.« »Trotzdem haben wir unsere Väter angerufen«, sagte Katja. »Warum? Wir hätten ja auch die Schulleitung alarmieren können, aber das haben wir nicht getan. Wir riefen unsere Väter an. Wir taten dies praktisch unabhängig voneinander, ohne daß wir uns großartig abgesprochen hätten. Wie auf ein Kommando hin, erhielten wir drei den geistigen Befehl. Und das macht mich nachdenklich. Das ist nicht normal, Marisa, da komme ich nicht mehr mit. Da versagt mir die Logik. Wir hätten eigentlich über das Erscheinen dieser Figur lachen sollen, aber was taten wir statt dessen? Wir bekamen es mit der Angst zu tun. Wir lachten nicht. Es war vorbei, wir konnten es nicht, wir… wir…« »Suchst du eine Erklärung, Katja?« Es war die helle Stimme einer gewissen Susan Carrigan, die das deutsche Mädchen unterbrach. Sie hatte die Dusche verlassen und war unbeobachtet von ihren Mitschülerinnen in das Zimmer getreten. Ein Badetuch hielt sie um ihren Körper geschlungen, die Haare waren noch naß. Sie umrahmten das Gesicht mit der kleinen Nase und den vollen Lippen wie lange Federlocken.
»Wir suchen sie.« Susan setzte sich. Sie schaute auf die Karten. Eine war herumgedreht. Das Kreuz-As. »Bedeutet nichts Gutes, wie?« »Das kann man so oder so sehen«, meinte Marisa. Susan hob die Schultern. »Ich sage euch nur, daß da etwas ist, meine Lieben. Davon bin ich fest überzeugt.« »Das wissen wir auch.« »Aber ich gehe noch einen Schritt weiter. Es ist etwas da, über das wir uns Sorgen machen müßten. Es hat uns besucht, wir haben es gesehen, und keiner von uns wagt es, dieses Etwas mit Namen auszusprechen. Warum geben wir nicht zu, daß uns ein Vampir besucht hat und wir Furcht vor der nächsten Nacht haben?« Katja und Marisa schwiegen. »Keine Antwort?« »Wir können es nicht zugeben«, sagte Marisa. »Man würde uns im Internat auslachen.« »Nein, würde man nicht. Man würde uns für verrückt halten, das ist viel schlimmer. Das hat auch mein Vater. Er hat sich mit euren Vätern kurzgeschlossen. Die drei wollen Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um gewisse Dinge wieder zu bereinigen. Ich habe ihm ja direkt gesagt, daß wir einen Vampir gesehen haben, und ich habe ihn stumm erlebt. Er hat mich nicht ausgelacht, er war entsetzt. Er hat auch den Vorschlag gemacht, daß wir sofort diesen Ort hier verlassen sollen…« »Das sagte meiner auch«, meldete sich Marisa. Katja nickte nur. »Aber wir sind nicht gegangen«, fuhr Marisa Melli fort. »Wir sind geblieben. Wir stehen dicht vor dem Abschluß, das haben wir unseren Vätern auch klarmachen können. Es stimmt alles, es ist alles so wunderbar. Es kommt vieles zusammen, wir können es drehen und wenden, wie wir wollen, wir müssen aber den Tatsachen ins Auge sehen. Es gibt ihn, Mädchen!« erklärte Susan Carrigan burschikos, obwohl sie eine Gänsehaut bekommen hatte. »Und unsere Väter wissen es.« »Wobei sie nicht mit uns darüber gesprochen haben«, sagte Katja Lagemann leise. »Hättest du das an ihrer Stelle getan?« »Wahrscheinlich nicht.« »Eben.« »Es klingt auch zu unglaubwürdig«, flüsterte Marisa und beobachtete durch das Fenster die Dämmerung. »Es stimmt aber«, sagte Susan. »Dazu kenne ich meinen Vater einfach zu gut. Würde es nicht stimmen, hätte ich etwas gemerkt. Dann hätte er ganz anders reagiert.« »Sie wollen Hilfe schicken«, sagte Marisa. »Experten«, stimmte Katja zu.
Susan nickte und erhob sich. Drei kleine Schränke standen im Raum, dazu drei Betten, es gab den Tisch, es gab Stühle, es gab auch noch kleine Schreibtische, an denen die Mädchen arbeiten konnten. Susan ging zu ihrem Schrank und zog die Tür auf. Sie ließ das Badetuch fallen, so daß ihre Freundinnen auf ihren nackten Körper schauen konnten. Sie beneideten Susan um ihre Figur. Sie war toll gewachsen, und die Jungen drehten sich häufig nach ihr um. Aber auch Susan wußte genau, was sie wollte. Nur nicht binden, nur keinem Typen Hoffnungen machen. Nein, nein, lieber solo bleiben, hin und wieder spielen und ansonsten erst einmal an die Zeit nach der Schule denken, an das Studium. Sie streifte einen dünnen Slip über und ein T-Shirt, das ihr bis zu den Hüften reichte. Auf der Vorderseite trug es als Aufdruck einige Figuren der Flintstones, die seit kurzem wegen des Films in aller Munde waren. Susan setzte sich wieder zu den anderen an den Tisch. »Was machen wir?« fragte sie. »Ich hole erst mal was zu trinken«, sagte Marisa. Sie stand auf. Die Flasche Rotwein holte sie unter dem Bett hervor, den Weißwein entnahm sie dem Kühlschrank. Die Flaschen waren noch halbvoll, und es glich schon einer Zeremonie, daß Marisa den Roten trank und ihren beiden Freundinnen den Weißen überließ. Gläser hatte sie auch besorgt, sie schenkte selbst ein und fragte dann: »Worauf sollen wir trinken?« Marisa und Katja schauten sich an. »Fällt euch nichts ein?« »Im Moment nicht.« »Dann trinken wir doch auf die nächste Nacht und darauf, daß sie störungsfrei abläuft.« »Gute Idee«, lobte Marisa. Auch Katja hob ihr Glas. Über die Ränder hinweg schauten sich die drei Schülerinnen und Freundinnen an, aber keine von ihnen konnte richtig lächeln. »Nein«, sagte Marisa Melli plötzlich, »nein, dieser Trinkspruch gefällt mir nicht.« »Hast du einen besseren?« Sie nickte Susan zu. »Den habe ich tatsächlich. Wir trinken einfach auf unsere Väter. Ist das gut? Ist das okay?« Plötzlich konnte auch Katja lachen. »Das ist eine tolle Idee. Auf die Väter.« »Auf die Väter.« »Jawohl.« Die Gläser klangen gegeneinander, und der helle Ton schwang durch das Zimmer. Es sah so aus, als wäre er für sie genau das richtige Zeichen gewesen, denn die drei Schülerinnen lächelten, und dieses Lächeln sah echt aus.
Sie tranken, sie stellten die Gläser ab, sie unterhielten sich, tranken wieder und warfen hin und wieder scheue Blicke nach draußen, als wäre hinter der Scheibe jemand aufgetaucht, der sie heimlich beobachtete und nur darauf wartete, daß sie einen Fehler begingen. Die Mädchen verhielten sich normal. Sie kümmerten sich auch nicht um das, was außerhalb des Zimmers vor sich ging. Sie hörten wieder Stimmen auf dem Flur, hin und wieder das Zuschlagen einer Tür, auch Autos, die vom Parkplatz des Internats fuhren, eben die normale Kulisse, die man erwarten konnte. »Keiner unserer Väter hat gesagt, was unternommen werden soll«, murmelte Katja, »das finde ich schon seltsam.« Sie schaute in ihr Glas, als könnte ihr der Wein die Lösung präsentieren. »Das sehe ich lockerer«, meldete sich Susan. Sie wippte mit dem Stuhl. »Wenn mein alter Herr etwas in die Hände nimmt, dann klappt das. Und bei euren ist das auch so. Die waren früher hier ein berüchtigtes Trio, und da muß etwas gewesen sein, daß sie zusammengeschweißt hat. Irgendein Ereignis, ein Vorgang. Ich habe es gemerkt, ich habe meinen Vater auch danach gefragt, aber er hat nie konkret geantwortet. Er hat statt dessen immer von einer Männerfreundschaft gesprochen. Erst als ich die Sache mit dem Unbekannten erzählte, da war er wie elektrisiert. Den Rest kennt ihr ja.« Die beiden anderen Mädchen nickten. »Wann wird denn die Hilfe hier erscheinen?« fragte Katja. »Morgen, denke ich.« »Das weißt du?« »Ja«, gab Katja zu, »ich hätte nur gern gewußt, wie diese Hilfe aussieht. Ich habe schon daran gedacht, daß unsere Väter persönlich hier auftauchen werden.« »Nein«, sagte Susan, »das auf keinen Fall. Dann hätten sie auch etwas sagen können, aber mein Vater hat sich zurückgehalten. Er muß diesem Helfer voll vertrauen.« Die anderen nickten. Die Zeit verging, die Spannung wuchs. Längst war es finster geworden, aber keines der Mädchen traute sich, aufzustehen und ans Fenster zu treten. »Wißt ihr, wie ich mir vorkomme?« fragte Susan schließlich. »Wie denn?« »Eine Puppe kann nicht anders sein.« Da gaben ihr die beiden recht. Sie waren Puppen. Ihr Menschsein war zerstört worden. Sie hatten das Pech gehabt, in eine Zange hineinzugeraten, aus der sie nicht mehr herauskamen. Es fiel ihnen schwer, zu denken, und mit Schrecken dachten sie daran, daß noch eine Arbeit vor den Ferien geschrieben wurde. Ein harter Sprachentest, viel Grammatik, was nicht allen Schülern lag.
Auch spürten sie die Müdigkeit, wobei der Wein nicht ganz schuldlos war. Susan erhob sich als erste und reckte sich. »Ich werde wohl schlafen gehen.« »Jetzt schon?« wunderte sich Marisa. »Ja.« Zum Bett ging Susan noch nicht. Sie näherte sich dem Fenster und überwand sich selbst, als sie vor der Scheibe stehenblieb und nach draußen schaute. Dann öffnete sie es. Die beiden anderen Mädchen erschraken, sagten aber nichts. Sie waren nur froh über die kühle Luft, die plötzlich hereinströmte und etwas die Hitze des Tages vertrieb. Es tat ihnen gut, die Mädchen hielten ihre Gesichter gegen die kühle Luft, und als sie die Lippen bewegten, sah es aus, als wollten sie den Wind trinken. Susans Blick wanderte in die Ferne. Weit, weit hinein oder hinaus in das Land, über dem die Schatten der Nacht wie gewaltige, dunkle Fahnen hingen. Sie klammerten sich an den Flanken und den Gipfeln der Berge fest, sie wollten einfach nicht loslassen, sie waren starr, und nur das Licht der Gestirne sickerte in sie hinein. Und natürlich der bleiche Schein des Mondes. Wie ein gelbes Auge stand er über dem Land und bewachte es. Tief unten im Tal lag der große See, von dem sie bei klarem Wetter einen Ausschnitt sehen konnten. In dieser Nacht natürlich nicht. Susan drehte sich wieder um. Sie sah die gespannten Gesichter ihrer Freundinnen auf sich gerichtet. »Hast du was gesehen?« fragte Marisa. »Was sollte ich gesehen haben?« »Na ja, alles. Die Nacht, die Berge, vielleicht den See und… und…« »Was und?« »Du weißt schon«, flüsterte die Italienerin. »Nein, das habe ich nicht. Ich habe IHN nicht gesehen, und ich hoffe, daß wir IHN uns auch nur eingebildet haben.« Nach diesen Worten schloß Susan das Fenster und zog den Vorhang davor. Es hatte ausgesehen wie eine endgültige Geste, die besagt, daß eine gewisse Susan Carrigan mit diesem Fall abgeschlossen hatte. Marisa Melli sagte nichts. Katja sprach auch nicht, aber sie war dabei, die Karten einzusammeln und sie in das Etui zu stecken. Die beiden Weinflaschen waren bis auf den letzten Tropfen geleert worden. Marisa nahm sie in ihren Schrank, während sich Katja schon auszog. Geduscht hatten sie und Marisa, aber die Mädchen bewegten sich wie Statisten in einem Film, die es noch nicht gelernt hatten, auch
die kleinste Rolle auszufüllen. Sie sahen so aus, als gingen sie jeweils neben sich her. Da war nichts Natürliches mehr in ihren Bewegungen, alles wirkte aufgesetzt und roboterhaft. Wenn sie sich zufällig anschauten, huschte jeweils ein knappes, unechtes Lächeln über ihre Lippen. Sie vermieden es tunlichst, über ein gewisses Thema zu sprechen und hielten sich zurück. Katja lag als erste im Bett. Auch Marisa legte sich nieder. Den Hinterkopf legte sie auf ihre verschränkten Hände und schaute zur Decke, als könnte sie dort die Lösung ihrer Probleme ablesen. Als letzte legte sich Susan nieder. Nur ihre Nachttischleuchte gab noch Licht ab. »Soll ich das Licht anlassen?« fragte sie. »Wegen mir nicht«, erwiderte Marisa. »Ich brauche es auch nicht«, sagte Katja. »Dann können wir ja schlafen.« »Gut.« »Hoffen wir, daß es eine gute Nacht wird«, flüsterte das Mädchen aus Italien. »Warum sollte es das nicht werden?« fragte Susan. Marisa zog ein Bein an. »Das weißt du genau. Früher hatte ich mal ein wunderschönes Kreuz, jetzt besitze ich es nicht mehr. Das ärgert mich. Ich komme mir so schutzlos vor…« Ihre Stimme versickerte. Dann hörten die anderen beiden ihr Weinen. Katja hätte die Freundin gern getröstet, allein, sie fand nicht die richtigen Worte. Ihre Hände lagen gefaltet auf der Decke. Sie sprach ein >stummes< Gebet. Alles war so schlimm. Und alles würde noch schlimmer werden… *** Nacht – Vollmond! Ein Himmel wie ein dunkler See, über den einige Reflexe huschten oder an verschiedenen Stellen Sterne funkelten, wie erstarrte Lichtblitze. Eine Nacht, die von einem kühlen Wind durchweht wurde. Schatten wie dicke Tücher, kein Gelände für Menschen, weil es einfach zu finster war. Aber ein Gelände für Wesen, die aus einer anderen Welt kamen. Für schaurige Botschafter, für grauenvolle Wiedergänger, eben für Vampire, die nach Blut lechzten. Einer war unterwegs… Er war aus seiner Höhle hervorgekrochen. Er hatte lange, lange Jahre überlebt und sich erst zu sehr später Zeit wieder hervorgetraut und das Blut der Menschen getrunken.
Zuvor war er sehr genügsam gewesen. Tierblut hatte ihn gereizt, und er hatte es geschlürft und geschluckt. Damit hatte er die Zeiten überbrücken können, denn in ihm saß der Stachel der Rache sehr tief, und er war immer tiefer eingedrungen. Er hatte sich ausgebreitet wie Säure, er war ein böses Etwas, er war einfach grauenhaft, und er war auch in der Lage, ihn zu zerreißen. Aber er hatte ihn unter Kontrolle bekommen. Warten – lange warten, bis sich die günstige Gelegenheit ergab. Er war zu stürmisch gewesen, er hatte es nicht aushalten können. Er hatte schon zwei Menschen angefallen und damit Spuren gelegt, aber er hatte Kraft gebraucht. Blut, nur köstliches Blut der Menschen, nicht das der Tiere. Aber die Spuren waren gelöscht. Die Menschen hatten nicht geglaubt, was man ihnen zeigte, und das war gut so. Es gab keine Vampire. Es durfte keine geben. Vampire paßten eben nicht in das Bild einer Welt, die für alles Platz gelassen hatte, nur nicht für Mythen, Legenden und Vorgänge, die einfach rätselhaft waren und nur akzeptiert werden mußten. Also gab es keine Vampire. Fertig – basta! Sollten sie doch damit leben, er aber wußte es besser, und er lächelte kalt, als er immer wieder daran dachte, und so blieb das Lächeln auf seinem Gesicht, dessen Haut von heller Asche bedeckt zu sein schien. Ebenso das Haar. Ein bleiches Gesicht mit Ringen unter den Augen, die so dunkel waren, daß es aussah, als wären die Augen von den Ringen verschluckt worden. Sein Haar war wild gewachsen, es verdiente diesen Namen schon nicht mehr. Man konnte es mehr als eine Mähne bezeichnen, bei der jeder Kamm versagte, so verfilzt war sie. Er bewegte sich durch die Nacht. Er war ein Schatten, er war schnell und trotzdem nicht zu hektisch. Manchmal balancierte er dicht an einem Abgrund entlang, dann glichen seine Bewegungen denen eines Tänzers. Er ging die großen Schritte, er setzte seine Füße behutsam auf, denn er wollte so lautlos wie möglich gehen. Es war ein reines Üben. Nur weiter… tiefer in die Nacht hineinstoßen, dessen Mondlicht für ihn der reine Balsam war. Ein voller Mond, ein blasser Kreis, dennoch kräftig und einen Schein abgebend, der für ihn eine Botschaft enthielt. Er wurde stark gemacht, das Warten hatte sich gelohnt. Die Jahre waren vorbei, er spürte wieder den Geruch des Blutes. Und es war Blut gewesen, das er kannte. Lange lag es zurück, als drei junge Männer versuchten, ihn zu töten. Sie dachten, daß es ihnen gelungen wäre, aber sie hatten sich geirrt.
Er war nahe an sie herangekommen. Er hatte ihr Blut riechen können, und er hatte diesen Geruch niemals vergessen. Auf dem langen Weg der Rache hatte er ihn stets begleitet. Einen besseren Helfer und Führer hätte er sich gar nicht wünschen können. Die Nacht war kühl. Er merkte es nicht. Der Wind drückte gegen sein Gesicht, auch das war ihm egal. Er nahm keine Gerüche auf, nicht den des Heus oder der Almenkräuter, sein Bestreben galt nur dem Geruch des Blutes. Wenn es sich ermöglichen ließ, würde er in dieser Nacht zuschlagen. Es war die erste, in der der Mond seinen vollen Kreis zeigte. Er würde noch einige Nächte so bleiben, aber aufschieben oder etwas immer weiter zurückdrücken, das wollte er nicht unbedingt. Sollte es sich ergeben, dann ja. Ansonsten würde er das Terrain sondieren und sich für die kommende Nacht vorbereiten. Dann aber kannte er kein Pardon mehr. Und er war bereits gesehen worden. Die ihm bekannte Blutspur, die er als Geruch wahrnahm, hatte ihn zu einem Fenster geführt, und er hatte drei junge Frauen gesehen. Jung, hübsch, voller Blut… Bekanntes Blut! Vor dreißig Jahren hatte er es schon einmal gerochen. Und jetzt wieder, aber etwas anders. Es bewegte seine Nasenflügel. Er suchte nach einer Beschreibung und mußte zugeben, daß es ähnlich, aber nicht gleich war. Es hatte etwas von dem alten Blut in sich, das ihm noch in Erinnerung geblieben war. Wieder unterwegs. Wieder Jäger sein. Wieder die Gier spüren. Das machte Spaß, das freute ihn, das putschte ihn hoch. Bald, sehr bald, vielleicht schon gleich. Zähne, die zielsicher einen Hals fanden, unter dessen dünner Haut sich eine Ader abzeichnete. Es war ein Traum, der nicht mehr lange ein Traum bleiben würde. Nein, nicht mehr. Er hatte die Umgebung des Abgrunds verlassen und war um eine vorspringende Felsnase geschritten. Vor ihm breitete sich ein Feld aus. Ein sich leicht senkender Hang, ein Plateau, bewachsen mit Gras, Blumen und Kräutern, aber auch bedeckt von Steinen, die in der Erde klebten und sich festgebacken hatten. Mondlicht schien herab. Es war ein breiter Schleier, der sich auf dem Plateau verlief. Er gab den Glanz ab, der sich auch weiter nach Westen hin verteilte, wo oberhalb des Kamms mit den Hotels und kleinen Pensionen ein Bau in die Höhe wuchs, der, zumindest in der Nacht, wie eine Festung aussah. Der Blutsauger blieb stehen.
Plötzlich lächelte er. Zwei Zähne schoben sich nach unten, ragten mit ihrer Spitze über die Unterlippe hinweg. Dünnes Licht sickerte aus einigen Fenstern. Alles sah so weit aus, als stünde dieses Bauwerk in einer fernen Galaxis. Aber es war nahe. Und der Blutsauger war es auch. Kontakt, er brauchte Kontakt zu den Personen, in denen das Blut floß. Er würde ihn bekommen. Der Vampir ging weiter. Schneller jetzt, und der Mond über ihm schien zu lächeln… *** Die drei Schülerinnen hätten das Fenster geöffnet lassen sollen, um die frische Luft hereinzulassen. Sie hatten sich aber nicht getraut, die Angst steckte zu tief in ihren Knochen, und sie begleitete sie auch noch im Schlaf. Die Mädchen schliefen unruhig. Es war kein gesunder Schlaf. Zwar waren sie nicht wach, aber sie befanden sich in einem ungewöhnlichen Zustand, in einer Phase zwischen Schlaf und Alptraum. In ihre Gehirne war es hineingesickert wie Teer. Es füllte sie aus, es war einfach wie Blei geworden, es war wie… Sie wälzten sich herum. Sie merkten nicht, was sich ihnen näherte, aber sie spürten, daß es jemand war. Etwas, das sie nicht fassen konnten, das in ihre Träume hineinstieg, als hätte ihr Unterbewußtsein es katapultiert. Die Angst war bei ihnen. Sie lag neben ihnen im Bett, die schlief mit ihnen, sie wartete nur darauf, daß sie zugreifen konnte, aber sie war noch nicht existent, sie schwebte nach wie vor in einer anderen Dimension und war nur durch das Unterbewußtsein greifbar. Marisa Melli murmelte im Schlaf. Katja Lagemann sprach ebenfalls hin und wieder unruhige Worte. Ein Zuhörer hätte sie kaum verstanden, weil die Worte, kaum daß sie ausgesprochen waren, einfach wegsackten. Flüstern, Murmeln… Stöhnen – Angst! Eine erwachte. Es war Susan Carrigan! Sie kroch aus ihrem Schlaf hervor wie ein Tier, das sich aus einem Kokon schälte. Sie kam in Intervallen, sie war anders, sie war ein Etwas, sie war kein Mensch mehr, sie war Schleim, der erst noch eine Hülle finden mußte.
Er hatte die Hülle gefunden. Der Körper war wieder existent, das Unterbewußtsein war zurückgedrängt worden, die Realität hatte Susan Carrigan eingeholt. Sie setzte sich hin. Teer in ihrem Gehirn. Teer und Blei gemischt. Beides füllte ihren Kopf aus und erschwerte das Denken. Sie öffnete den Mund. Luft – Himmel, sie brauchte Luft. Sie wollte tief einatmen, sie brauchte es einfach, um endlich leben zu können. Es war schlimm geworden, sie spürte die Bedrohung in ihrer Nähe, obwohl sie diese nicht sah, aber sie war vorhanden, und sie hatte den Eindruck, als könnte sie die Bedrohung greifen, wenn sie die Hand ausstreckte und dabei die Finger bewegte. Es ging, aber es klappte nicht. Dieser Vergleich fiel ihr ein, denn die Bewegung der Finger war anders. Da klappte es nicht so schnell, die Finger waren dick geworden, vielleicht auch deshalb, weil sich ihr Blut verdickt hatte. Träge! Ja, das war genau der richtige Ausdruck. Träge, mehr konnte sie nicht sagen. Sie war nicht nur träge, sie war einfach während des Schlafs träge gemacht worden. Das war ihr Problem! Aber durch wen? Sie wußte es nicht, sie konnte hingreifen, wohin sie wollte, sie faßte nur ins Leere hinein. Aber da war etwas, neben, vor und über ihr. Sie mußte es nur erkennen. Susan Carrigan stand auf. Während dieser Bewegung warf sie einen Blick auf die anderen beiden Betten, in denen ihre Freundinnen lagen und sich nicht rührten. Sie schliefen. Aber schliefen sie auch gut? Susan wollte es genau wissen. Es gelang ihr, den Atem anzuhalten, was ihr gar nicht gefiel, denn da schlug ihr Herz wieder schneller, oder sie hörte es nur so laut, weil eben die Stille unnatürlich war. Unruhe in den Betten. Das hörte sie. Es waren die schlimmen Geräusche des Atems, das leise Stöhnen, Seufzen, auch mal ein Röcheln. Alles Anzeichen, daß Marisa und Katja das gleiche erlebten wie sie auch, aber es wohl nicht schaffen würden, aus diesem geistigen Gefängnis zu erwachen. Susan sah es anders. Sie hatte sich auch wieder gefangen, ohne allerdings die Lähmung ganz abschütteln zu können. Sie ging den ersten Schritt und freute sich darüber, daß es so gut klappte und sich die Welt des kleinen Zimmers nicht um sie herum drehte. Das Fenster zog sie an.
Es war wie ein viereckiger Magnet. Tagsüber sah es anders aus als in der Dunkelheit. Jetzt malte es sich sehr deutlich ab, weil auch der Mond eine Stellung erreicht hatte, um seinen bleichen Schein gegen das Fenster fließen zu lassen. Die Scheibe war vorhanden. In der Mitte dunkel, und sie kam ihr sogar gewölbt vor. An den Rändern aber schimmerte sie, als wäre sie mit silbrigen Puderteilchen besprüht worden. Es war der normale Weg zum Fenster, nichts Besonderes für Susan Carrigan, aber in dieser Nacht war alles anders, und diese Nacht hielt auch keinen Vergleich zu der letzten und vorletzten aus, als ER sich gezeigt hatte. Er kam wieder. Und sie ging ihm entgegen. Durch die Nase blies Susan Carrigan die Luft aus. Plötzlich huschte über ihre Lippen ein Lächeln. Sehnsucht stahl sich in ihre Augen, und es war eine Sehnsucht, die sie in ihrem Leben bisher nicht gekannt hatte. Man konnte sie als vollendet bezeichnen, als einen Drang, der jetzt nicht mehr zu stoppen war. Als sie den Vorhang zur Seite schob, verschwand das silbrige Schimmern, und vor sich sah sie die Scheibe. Flach, ein Rechteck ohne Fensterkreuz. Aber es war anders. Das Fenster kam ihr vor wie eine große Tür oder ein Portal, das sie öffnen sollte, um ihre Welt zu verlassen, damit sie hineingehen konnte in die ihrer Sehnsucht. Der metallene Griff war kühl. Sie umklammerte ihn, reckte sich etwas, als sie ihn drehte. Dann zog sie das Fenster auf. Der Schwall erwischte sie. Es war so herrlich kalt, er war wie ein Vorhang, wie eine Fahne, in die sie sich einhüllen konnte. Es war einfach gut. Auch die Gardine wurde von diesem Windschwall erfaßt und bauschte sich dicht hinter ihr auf wie ein Gespenst. Wartete sie auf ein Gespenst? War die Sehnsucht tatsächlich ein Gespenst? Susan beugte sich aus dem Fenster. Sie trug nur die dünne Kleidung, ein Nachthemd, zweigeteilt, kurz das Oberteil, etwas länger das untere, das an den Waden endete. Die Zimmer befanden sich nicht in der ersten Etage, sondern im unteren Geschoß. Zwar fiel das Gelände leicht ab, aber die Höhe reichte für einen erwachsenen Menschen noch immer aus, um die Fensterbank mit einem Sprung zu erreichen. War jemand da? Susan Carrigan schaute nach rechts, sie sah auch nach links, sie suchte, sie wußte, daß jemand vorhanden war, aber sie war nicht in der Lage, ihn zu sehen.
Er war noch unterwegs. Sie öffnete weit den Mund, sehr weit sogar, und sie freute sich abermals über die kühle Luft, die ihren Körper ausfüllte. Der Schlaf war nur kurz gewesen, doch sehr erfrischend, sie fühlte sich gut, und sie merkte, daß sie sich noch besser fühlen würde, wenn es ihr gelang, endlich den Kontakt zu finden. Wo war es? Die Nacht war still. Es gab kaum noch Schüler oder Schülerinnen, die sich jetzt draußen herumtrieben, jedenfalls nicht in der Nähe des Internats. Da fuhr man hinab ins Tal, wo es so etwas wie eine Disco gab und wo manchmal Touristinnen aufgerissen werden konnten. Ein Blick in den Himmel. Der Mond glotzte sie an. Ein bleiches Auge, das seinen Strahl ganz allein auf sie schicken würde. Sie war gemeint – und ER! Auf einmal war er da! Der Atem stockte ihr auf dem Weg in die Kehle. Er wurde zu einem grauen Stück Eis, das sich in der Kehle festsetzte und sich einfach nicht mehr löste. Ein flattriges, graue Etwas stand in der Luft und grinste gegen das Fenster. Ihr Blick verschwamm, sie konnte diesen Fleck im ersten Moment nicht erkennen. Ihr war, als wäre ein Stück des Mondes abgesplittert. Welcher Vergleich ihr auch durch den Kopf schoß. Sie traf nie den richtigen, denn was sie da vor sich sah, das war kein glatt geschliffenes Stück Mondgestein, sondern ein Gesicht, und es gehörte zu einem Körper, der in eine schwarze Kleidung gewickelt war. Es war ER! Und ER war wegen ihr gekommen. Sie erwartete IHN! Sie streckte ihm die Arme entgegen… *** Noch zögerte der Blutsauger. Er wußte nicht, ob ihm eine Falle gestellt worden war, denn er hatte die Zeit vor ungefähr dreißig Jahren nicht vergessen, da war ihm die Falle auf dem Friedhof gestellt worden. Auch hier konnte sie aufgestellt worden sein, da brauchte er nur an den fast identischen Blutgeruch zu denken. Er sah im Dunkeln. Er sah auch das Mädchen im offenen Rechteck des Fensters stehen. Wie eine Zeichnung, die plötzlich lebendig geworden war. Ein Kopf, ein Körper, warmes Fleisch, noch wärmeres Blut darunter. Adern, die damit prall gefüllt waren und nur darauf warteten, von ihm leergesaugt zu werden. Er winkelte einen Arm an, hob ihn hoch und wischte damit
seinen Mund, die Stirn und das Kinn ab, vielleicht auch, um das leise Knurren zu dämpfen, das einfach heraus mußte. Sie wartete. Die Faszination des Bösen, des Unheimlichen, hatte auch sie nicht losgelassen. Schon immer war es so gewesen, daß sich gerade die Frauen von den Vampiren angezogen fühlten. Sie wollten in den starken Armen landen, von ihnen getragen werden und den wohligen Schauer der Lust erleben, wenn ihnen das Blut ausgesaugt wurde. Das hatte es bereits vor Jahrhunderten gegeben, das hatte sich bis heute nicht verändert, trotz emanzipatorischer Bewegungen und Umwälzungen in der Gesellschaft. Das Böse lockte noch immer, und es näherte sich in der Gestalt des Wiedergängers. Die am Fenster stehende Schülerin zitterte. Es war nicht die Kälte, es war auch nicht die Angst, es war die Freude vor dem Neuen. Er würde kommen, er würde nach ihr greifen und sie in seine unwahrscheinlich starken Arme nehmen. Vergleiche wie in den kitschigen Liebesschnulzen rasten durch ihre Gedankenwelt, aber sie waren für sie echt, sie lebte und fühlte ebenso, und sie bewegte sich, denn sie kletterte auf die Fensterbank. Dort blieb sie hocken. Keinen Blick zurück mehr. Marisa und Katja waren Vergangenheit, sie würden in ihrem neuen Leben keine Rolle mehr spielen, dort war nur noch Platz für sie und ihn. Sie strahlte den Unheimlichen an, der auf sie zuschritt. Schreiten, schleichen oder schweben? So genau konnte sie es nicht unterscheiden. Jedenfalls hörte sie so gut wie keinen Laut, er war eben ein Phänomen, er war allen über, auch ihrem Vater. Von der ungewöhnlichen Haltung fingen ihre Beine an zu schmerzen. Sie mußte von der Fensterbank weg, sich einfach hineinwerfen in die Dunkelheit, wo das neue Leben wartete. Sie tat es. Ich kann fliegen! Ich kann fliegen! Ich bin ein Vogel! Es ist so herrlich. Der Schwarze erschien vor ihr. Er griff zu. Seine ausgestreckten Arme waren das federnde Bett, in das sie hineinfiel. Wunderbar! Er hielt sie fest, und er drückte sie an sich. Schon jetzt durchströmte sie das Wohlgefühl als warmes Prickeln, als läge sie in einem mit besonderen Reizen angereichertem Bad. Er drückte sie an sich. Sie fiel nicht, er hatte dafür gesorgt, und sie war ihm dankbar dafür. Sie sah sein Gesicht vor sich. Zum erstenmal aus einer unmittelbaren Nähe. Die graue Haut störte sie nicht, auch nicht die Flecken im Gesicht, die bei genauerem Hinsehen keine waren, sondern nichts anderes als
Löcher. Sie hatten sich in die Haut hineingefressen, als wäre das Gesicht mit Säure besprüht worden. Darüber schimmerten die Augen. Sie blickten nicht, sie schimmerten. Sie strahlten eine Botschaft aus, sie waren einfach da und wirkten wie in dunkle Ringe hineingedrückt. Susan suchte nach dem Ausdruck, denn sie wollte mehr über einen Hinweis dessen erfahren, was der andere mit ihr vorhatte. Seine Augen verrieten nichts. Dann spürte sie den Ruck. Der leise Schrei wehte über ihre Lippen, als sie nach hinten kippte und plötzlich auf den Armen des Blutsaugers lag, ähnlich wie eine Braut in den Dracula-Filmen. Auch Susan war blond, auch Susan trug nur die Kleidung der Nacht. Mit einer schwungvollen Drehung wirbelte der andere herum, und noch aus der Bewegung heraus tat er den ersten Schritt. Das war der neue Weg! *** Der Druck verstärkte sich! Gewaltige Zangen warfen noch gewaltigere Schatten, die sich auf die Träumende senkten. Gehalten wurde die Zange von einer Person im Hintergrund. Sie war nur schwer zu erkennen, denn sie verschmolz mit der Dunkelheit, die ihr monströses Gesicht wie einen metallischen Schatten erscheinen ließ. Die Zange schnappte zu. Sie drehte sich in den Hals der Schlafenden, und Katja Lagemann erwachte. Sie schrie, sie brüllte. Zumindest in Gedanken, denn tatsächlich drang nur ein würgendes Geräusch aus ihrem Mund, weil sie einfach das Gefühl hatte, ihr Hals wäre noch immer vollkommen zugeschnürt. Eine fremde Macht hatte etwas darin mit brutaler Wucht hineingestopft und ihr den Atem genommen. Katja merkte auch, daß ihre Zunge nach hinten gerollt war. Möglicherweise bekam sie deshalb so schlecht Luft, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich mit der Lage abzufinden. Sie setzte sich hin. Bei dieser Bewegung rutschte das Laken von ihrem Körper, und zum erstenmal spürte sie den kalten Luftzug, der über die nackten Arme und auch über ihr Gesicht hinwegstreifte. Kälte? Der Blick zum Fenster! Es stand offen, weit offen… Und das mitten in der Nacht. Es war kaum zu verantworten, es war beinahe unmöglich. So etwas war ihr noch nie zuvor widerfahren, aber
jetzt stand es offen, und sie ging auch davon aus, daß es sich nicht von allein geöffnet hatte. Jemand hatte nachgeholfen. Der Blick zu den Betten. Marisa lag auf der Seite. Sie sah ihren Umriß, sie sah aber nicht sehr viel, nichts Genaues, aber sie konnte schon sagen, daß Marisa verkrampft in ihrem Bett lag. Alpträume – Zangen – Schatten, die ein schlafendes Wesen umklammerten. Gegen die man sich nicht wehren konnte, zumindest nicht, wenn man schlief. Das nächste Bett. Da lag Susan Carrigan. Nein, da lag sie nicht mehr. Es war leer. Katja wollte es nicht glauben. Sie schloß die Augen, sie glaubte an eine Täuschung oder wieder an einen bösen Traum. Das war doch nicht wahr, das mußte einfach anders sein. Wieder der Blick. Das Bett war leer. So verflucht leer! Und das Fenster stand offen! Katja brauchte nur zwei Komponenten zu addieren, was sie auch schaffte, wogegen sie sich allerdings wehrte, da sie sich allein so schrecklich verloren vorkam. Als sie aus dem Bett kletterte, kam sie sich vor wie eine Betrunkene. Sie schwankte durch die halbe Breite des Raumes auf das Bett der Marisa Melli zu und wurde von dessen Seitenkante gestoppt. Katja fiel nach unten. Sie erwischte Marisa an beiden Schultern, als sich das Mädchen gerade auf den Rücken drehen wollte, und diesmal waren ihre Finger wie Klammern, die Marisa gegen die Matratze drückten und sie gleichzeitig auch schüttelten. »Aufwachen! Los, wach auf!« Die Worte schnellten rauh und flüsternd gegen die Schlafende. Der Ruck der Augen. Ein Blick voller Angst, der sich in die Augen der Katja Lagemann bohrte. »Susan ist weg!« Marisa hatte die drei Worte gehört. Nur war sie nicht in der Lage, sie zu begreifen. In ihrem Kopf lag die Watte eines Tiefschlafs, die sich nur sehr langsam aufzulösen begann. »Was ist los?« »Susan ist weg!« »Wieso?« »Sie ist nicht mehr da!« keuchte Katja, das sonst so ruhige Mädchen. In diesem Fall hatte es die Nerven verloren. »Verflucht noch mal, sie ist weg, und das Fenster steht offen!« Da erst hatte Marisa Melli begriffen. Sie schnellte so heftig hoch, daß die Hände der anderen Schülerin von ihren Schultern abrutschten. Marisa
setzte sich hin. Katja war zur Seite gezuckt, damit die andere ihr ins Gesicht sehen konnte. »Was sagst du?« Katja wiederholte sich. Marisa blickte zum Fenster. »Warum? Warum ist sie plötzlich mitten in der Nacht verschwunden?« »Ich weiß es doch nicht. Es ist alles so schrecklich anders geworden, seit… seit ER aufgetaucht ist.« Marisa preßte die Hand gegen ihr Kinn. »ER? Glaubst du denn, daß ER etwas damit zu tun hat?« »Ja.« Marisa sackte zusammen. Sie starrte gegen das Laken. Sie spürte, wie sich der Speichel in ihrem Mund zusammenzog und zu einer Art von Säure wurde, die das Zahnfleisch ätzte. Katja Lagemann stand auf. Sie winkte der Freundin mit dem Kopf. »Komm mit.« »Wohin denn?« »Zum Fenster.« Marisa erschrak noch einmal. »Meinst du wirklich?« »Ja, das meine ich!« Wie eine Greisin quälte sich die Schülerin hoch. Sie blieb leicht zitternd vor dem Bett stehen, als könnte sie noch immer nicht fassen, was da geschehen war. Katja Lagemann aber ging zum Fenster. Sie bewegte sich, als säße ihr ein dicker Klumpen im Nacken. Auf der nach innen gerichteten Fensterbank stützte sie sich mit beiden Händen ab und schaute noch einmal zurück, weil sie sich vergewissern wollte, daß ihr Marisa auch folgte. Sie kehrte nicht um. Zitternd standen beide Mädchen an der Fensteröffnung und schauten hinaus. Sie hatten eine Gänsehaut bekommen. Nicht allein wegen der Kälte, es war einfach das Wissen, daß in diesem Zimmer etwas vorgefallen war, mit dem sie nicht zurechtkamen. Die Nacht umschlang das Haus. Sie war der Schatten, sie war das gewaltige dunkle Tuch, aber sie drang nicht in den Raum hinein, denn Marisa hatte ihre Nachttischleuchte eingeschaltet. Und die Nacht schwieg. Kein Geräusch, keine Spur von Susan. Keine sich rasch entfernenden Schrittgeräusche, nur diese verfluchte, bedrückende Stille, die trotz ihrer Schweigsamkeit mehr sagte, als es viele Worte ausdrücken konnten. Und die Schülerinnen verstanden diese Botschaft. Nur wagten sie nicht, darüber zu reden, aber es mußte heraus, besonders bei der impulsiven Italienerin. »Glaubst du es auch, Katja?«
»Was soll ich glauben?« »Daß ER Susan geholt hat?« Katja Lagemann ließ sich mit der Antwort Zeit. Sie runzelte die Stirn und spürte in den kleinen Senken zwischen den Falten die Kühle eines Angstschweißes. »Sag doch was!« Katja nickte. »Ja, Marisa, ja. Ich… ich… glaube daran, daß er Susan…« Beide schwiegen. Sekunden vergingen. Träge, langsam, als wäre jemand dabei, an der Zeit zu zerren. »Und die Hilfe?« hauchte Marisa Melli schließlich. Katja hob nur die Schultern… *** Er hatte sie. Er hatte das Blut, das ihm so herrlich bekannt vorkam. Die lange Zeit des Leidens, verfluchte Jahrzehnte, war vorbei – endlich. Sie federte in seinen Armen bei jedem Schritt. Er ging in einem bestimmten Rhythmus, er hatte dieses Gehen geübt. Wer genau hinschaute, dem mußte es wie ein Schweben vorkommen, wenn er mit raumgreifenden Schritten über den steinigen Boden huschte. Es war herrlich. Der Mond war auf seiner Seite. Sein feinfaseriges Licht streute gegen die Felsen, als wollte er sie zu den Spiegeln machen, in denen sich auch ein Vampir sehen konnte. Er hatte ein Ziel! Schon einmal hatte er dort Blut trinken wollen, und schon einmal war er dort in eine Falle geraten. In dieser Nacht nicht mehr. Den Friedhof gab es noch immer, und seine alten Grabsteine waren im Laufe der vergangenen Jahrzehnte noch rissiger und verwitterter geworden. Wärme und Hitze hatten an ihnen herumgearbeitet wie geisterhafte Handwerker. Noch tiefer zogen sich die Spalten und Risse durch das Gestein, noch mehr war herausgebrochen worden, und einige von ihnen hatten sich zu verschiedenen Seiten hin geneigt, als wollten sie mächtigen Geistern im Unsichtbaren ihre Reverenz erweisen. Das alles störte ihn nicht, auch die Kirche am Friedhof, die nur mehr eine Ruine war. Es gab dort nichts mehr, was ihn störte, nur noch Schutz vor einer Sicht, aber keine Kreuze oder andere Gegenstände, die ihm gefährlich werden konnten. Die waren von irgendwelchen Kirchenräubern längst weggeholt und verkauft worden. Alles lief gut für ihn. Das Schicksal hatte seine Arme gerade für ihn ausgebreitet. Er lachte.
Es klang nicht wie das normale Lachen eines Menschen. Über seine Lippen floß ein rauhes Geräusch, als läge tief in seiner Kehle ein dicker Klumpen feuchter Asche. Er freute sich. Er konnte triumphieren. Alle Menschen waren ihm unterlegen, er war das Absolute der Schöpfung, denn er hatte das ewige Leben, ein Wiedergänger, ein Blutfürst, der es kaum erwarten konnte, die frische Nahrung zu saugen, die direkt vor ihm auf seinen Armen lag. Ein herrliches Opfer. Er eilte weiter durch die Nacht. Ein Schatten auf zwei Beinen, mit einer Last quer über seinen Armen liegend, deren Haare hin und wieder von einer Windbö erwischt wurden und in die Höhe wehten wie ein Schleier. Ein herrliches Gefühl! Ja, auch er konnte fühlen. Es war wundersam, wie auf Flügeln dem Ziel entgegenzuschweben, begleitet von den Schatten der Bergflanken, die ihm immer wieder Deckung gaben. Rechts von ihm lauerte die Schlucht. Nichts hatte sich im Gegensatz zu früher verändert. Noch immer tobte das Wildwasser über den Grund, noch immer flog das Rauschen an den kahlen Wänden hoch wie der Gesang irgendwelcher Meereswesen, die es im Ozean nicht ausgehalten und in den Bergen Zuflucht gesucht hatten. Er ging. Er floh, und er hörte die Stimme seines Opfers, die Sätze stammelte, die er nicht verstand, obwohl er der Person eine Antwort gab. »Gleich sind wir am Ziel, meine Braut. Gleich sind wir da. Dann wirst du sehen können, wo sich auch dein Vater aufgehalten hat. Es dauert nicht mehr lange, nur noch einen Moment…« Susan hatte alles mitbekommen. Sie befand sich in einem Zustand zwischen Wachsein und Lethargie. Sie wußte auch, daß von ihrem Vater gesprochen worden war, aber sie schaffte es nicht, zwischen ihm, dem Blutsauger, und sich selbst einen Zusammenhang herzustellen. Das waren drei verschiedene Dinge, die sie einfach im Raum schweben ließ. Susan hörte auch die Tritte des anderen. Klangen sie weich und dumpf, bewegten sie sich über einen Grasboden hinweg. Klangen sie aber hart und waren zudem noch von einem Echo begleitet, dann wußte sie, daß sie über Steine hinwegliefen. Und dieses Geräusch blieb auch bis zum Ziel. Das harte Knirschen, manchmal die hell klingenden Echos, und der plötzliche Stopp. Anhalten. Abwarten… Sekunden später, das vorsichtige Gehen, die Schwenke nach links und rechts, wobei Susans nach unten gesunkener Kopf diese Bewegungen mitmachte und sie wegen ihrer weit geöffneten Augen zum erstenmal erkennen konnte, in welch einer Umgebung sie sich befanden. Steine, die mal gerade, mal schief aus dem Boden ragten. Sie waren zumeist flach und alle uralt. Manche wiesen Risse auf.
Sie hörte das Rauschen des Wassers sehr deutlich. Also bewegten sie sich nahe an der Schlucht entlang, und sie wußte plötzlich wieder, daß sich auch ein kleiner Bergfriedhof dort befand. Deshalb die Steine. Gräber… Sie waren auf dem Friedhof angelangt, und der Blutsauger drehte sich noch einmal scharf um, bevor er sie behutsam zu Boden sinken ließ. Sie mußte die Härte des Bodens unter sich spüren, aber er kam ihr vor wie der weichste Teppich. Es war einfach wunderbar, auch die Stütze im Rücken. Da hatte sich der Vampir für sie einen besonders günstig stehenden Grabstein ausgesucht. Es war okay, es war alles in bester Ordnung. Ich bin geborgen, ich stehe jetzt an der Schwelle zu meinem neuen Leben, und mit diesem Bewußtsein schlug sie die Augen auf. Da stand er vor ihr, und er sah in seiner dunklen Kleidung nicht viel anders aus als ein Grabstein, vielleicht höher, auch breiter. Hinzu kam das bleiche Gesicht, das von einer wahren Haarpracht umgeben war, die wie ein Besen wirkte. Er schaute auf sie nieder. Susan blickte zu ihm hoch. Zum erstenmal konnte sie direkt in seine Augen sehen, die in den dunklen Ringen oder Höhlen fast verschwunden waren. Aber da leuchtete noch etwas tief in ihnen. Es sah aus, als wäre dort ein geheimnisvolles, rötliches Licht angezündet worden, ein Stück aus der Hölle, das sich flackernd in die Augen des Blutsaugers verirrt hatte, um ihre Botschaft in die Welt zu strahlen. Er beugte sich herab. Auch seine Knie gaben dabei nach, und als er dabei die Arme ausstreckte, sah sie seine Hände wie alte Klauen, deren Finger aus staubbedeckten Astresten bestanden. Sie faßten zu und rückten den Körper in die Höhe, damit das Mädchen mehr in eine sitzende Stellung geriet. Er schaute sie an. Ein Blick wie Flammen, aber auch einer, der ihr den Weg in ein neues Leben öffnete. Ein Blick, der ihr ein Versprechen gab, der einiges verhieß, und sie hatte plötzlich das Gefühl, in einem Käfig zu hocken, den allein der Blick unsichtbar wie ein dichtes Menschennest um sie geschlungen hatte. Sein Lächeln war böse, aber es machte ihr keine Angst. Sie sah auch seine beiden Vampirzähne, deren Spitzen leuchteten, als wären sie gelb angestrichen worden. »Du bist es. Ich spüre es…« Noch immer stand Susan unter dem Einfluß dieser Kreatur. Sie wußte auch nicht, was er mit seinen Worten gemeint hatte und schaffte es, eine schüchterne Frage zu stellen.
»Wer bin ich?« »Ein Stück Vater…« Die Antwort ging über ihr Begriffsvermögen. »Wieso ein Stück Vater? Ja, ich habe einen Vater…« »Ich rieche sein Blut…« »Wieso?« »Es fließt in dir.« Plötzlich war es für Susan ganz einfach. Alles reduzierte sich auf den Vampir und sie. Selbst die Umgebung wurde kleiner, sie rückte enger zusammen, und so konnte sie eigentlich nur einen bestimmten Ausschnitt erkennen, denn alles, was dahinter lag, verschwamm in einem braungrauen Halbdunkel. »Hast du meinen Vater gekannt?« Er kicherte. »Und wie ich ihn gekannt habe. Hier war er, hier war er als Schüler und…« Sie hörte ihn sprechen, aber sie verstand ihn nicht. Ihre Gedanken waren weit, so schrecklich weit fort. Sie tobten durch ihren Kopf, aber sie gingen auch hinaus. Sie waren so fern, und sie kehrten wieder zurück. Susan sah das Bild ihres Vaters vor sich. Seinen lächelnden Mund. Manchmal den Spott in seinen Augen. Sie sah, wie sie Eis essen gingen, wie er mit ihr im Schwimmbad war, und das Gesicht des Vaters verschwamm plötzlich, als wären es Stücke, die jemand interwallweise wegzog. Es machte einem anderen Platz. Einem real existierenden. Der Vampir glotzte sie an. Offen stand sein Mund, die Zähne schimmerten, er gab ein schlürfend klingendes Geräusch von sich, als er dabei flüsternd eine einzige Frage stellte. »Hast du begriffen?« Ja, sie hatte es. Jetzt hatte Susan es begriffen. Auf einmal war alles anders geworden. Der Bann war gebrochen, dieser Vampir war für sie… war für sie… sie haßte ihn. Sie hatte Angst! Weit öffnete Susan den Mund. Der Schrei drang nur für den Bruchteil einer Sekunde hervor, dann erstickte ihn eine kalte, nach Moder riechende und nach Staub schmeckende Totenhand. Mit dem Hinterkopf prallte sie gegen den harten Grabstein. Unter der würgenden Hand hörte sich Susannes Geräusch wie ein grunzendes Würgen an. Die andere Hand packte zu. Finger krallten sich in ihr blondes Haar. Der Griff war für den Vampir ideal. Er zog ihren Kopf vor. Dann stieß er ihn wieder zurück.
Mit dem Hinterkopf prallte Susan gegen den Grabstein. Sie verlor sekundenlang die Besinnung, war aber schnell wieder klar, nur konnte sie sich nicht mehr wehren. Der Vampir hatte sich bereits nach vorn gebeugt. Er flüsterte mit knarrender Stimme: »Das Blut deines Vaters… das Blut deines Vaters… auf Umwegen gelangen Teile zu mir. Ich bekomme sie. Ich kriege auch das andere Blut in meinen Körper. Ich hole alles nach… alles…« Susan Carrigan hatte schreckliche Angst vor dem Blutbiß. Aber niemand war da, der ihr diese Angst nahm und sie von dem Vampir befreite. Er biß zu! Zwei Zahnspitzen schlugen in Susans Hals, aber der Schmerz war nur einmal spürbar. Ein hartes Zucken, als wäre sie von einem besonders widerlichen Insekt gestochen worden. Noch war die Haut warm, noch lebte sie. Und nie zuvor hatte Susan derartig kalte Lippen an ihrer Haut gespürt. Lippen, die sich festsaugten, die ruckten. Zähne, die sich noch tiefer bohrten und dabei zielsicher ihre Ader erwischt hatten. Das Blut sprudelte. Der Vampir grunzte auf. Es tat ihm so gut, aber es war nicht nur die Tatsache an sich, daß er das Blut trank. Er stellte sich vor, daß jemand anderer unter ihm lag. Ein Mann namens Carrigan, einer seiner drei Todfeinde, die auch noch an die Reihe kommen würden. Sie würden erfahren, was mit ihren Töchtern geschehen war. Und während er trank, malte er sich aus, wie die Männer reagieren würden, wenn sie plötzlich mit ihren Töchtern und seinen Bräuten konfrontiert wurden… *** Hier sollte ein Vampir leben? Nein, niemals. Das war gar nicht möglich, das war einfach nicht wahr, nicht in dieser herrlichen Alpengegend, dessen Panorama mir zwar nicht gerade den Atem verschlug, aber ich mußte einfach in die Runde schauen, als ich neben dem Leihwagen stand, der ebenso wie ich seinen Platz vor dem Hotel >Des Alpes < gefunden hatte. Eine Landschaft zum Verlieben. Im Osten und Süden das Hochgebirge. In der Ferne schimmerten bei diesem klaren Licht die Eisgletscher des Mont Blanc Massivs. Im Norden sah ich einen Teil des Genfer Sees, der wie ein grünschwarzes Auge wirkte. Ich sah auch zahlreiche Orte, die sich am Ufer des Sees ausbreiteten. Namen schwirrten mir durch den Kopf. Genf. Lausanne, Montreux.
Ich aber stand oberhalb, umgeben von einer herrlich klaren Bergluft und natürlich auch umweht von einem frischen Wind. Ich sah Bäume, die noch nichts von einem sauren Regen gehört zu haben schienen. Das Gras auf den Almen schien mir noch saftiger zu sein als in anderen Teilen der Alpen, und dementsprechend glücklich sahen auch die Kühe aus. »Träumst du?« Janes Stimme hatte mich aus meinen Gedanken gerissen. Ich wollte nicht lügen und nickte. »Ja und nein. Ich überlege, ob diese Landschaft ein Traum ist.« »Keinesfalls, sie ist real.« »Wunderbar.« »Und sie hält einen Vampir für uns bereit.« Ich atmete seufzend ein. »Daß du auch alles zerstören mußt. Jede Illusion.« Jane lächelte mich an und spielte mit ihrem Stirnband, das dieselbe Farbe hatte wie die Jeans, hellblau. »Es ist nun mal meine Art, Träumer zurück in die Wirklichkeit zu holen.« »Das habe ich gemerkt.« »Darf ich mich um Ihr Gepäck kümmern?« Ein junger Mann mit schwarzer Hose und grüner Schürze stand vor uns. Die Koffer hatte ich schon ausgeladen. Es waren drei. Einer gehörte mir, die anderen beiden nahm Jane Collins in Beschlag, zusätzlich zu einer Reisetasche. Ich deutete auf die Gepäckstücke, und wir ließen den Mann vor uns hergehen, auf ein Hotel zu, das sich seiner Bauweise nicht zu schämen brauchte, denn es war perfekt in die es umgebende Landschaft integriert worden. Über dem Eingang breiteten sich Balkone aus. Jedes Zimmer hatte einen, und die oberen, die näher an das Dach heranreichten, waren mit kleinen Terrassen bestückt. Prachtvolle Geranien schickten ihre bunten Grüße von den Außenrändern der Balkone dem ankommenden Gast entgegen. Wir gingen in das Hotel und erlebten die freundlichen Menschen vom Empfangsbereich. Mir gefiel, was ich sah. Das Hotel war nicht zu rustikal, aber auch nicht zu elegant eingerichtet. Es lag in der Mitte, und vor allen Dingen konnte Licht durch die Halle fließen, dafür sorgten allein die großen Scheiben. Jane schaute sich um, während ich mich um die Anmeldung kümmerte. »Gefällt es dir hier?« »Sicher.« »Wie schön.« »Eines ist nur schade.« »Was denn?« »Daß wir dienstlich hier sind.«
Ich grinste. »Der Aufenthalt läßt sich bestimmt verlängern, denke ich mal.« Die Anmeldung für Jane hatte ich gleich mit ausgefüllt. Sie brauchte nur mehr zu unterschreiben. »Sind Sie mit einem Zimmer im zweiten Stock einverstanden?«, wurden wir gefragt. »Wenn nicht, Sie können auch in die oberen Etagen. Viele Gäste lieben diese kleinen Apartments wegen der Aussicht.« »Wir werden mal schauen.« Die blonde Frau hinter der Anmeldung lächelte uns an. »Gut, Sie können ja Bescheid geben, wenn Sie wechseln wollen.« »Ja, danke.« Man wünschte uns noch einen angenehmen Aufenthalt, dann gingen wir zu einem der beiden Aufzüge. Durch eine große Glasscheibe an der rechten Seite schauten wir in einen Garten, wo das Wasser eines Pools blau schimmerte. Liegestühle umrahmten das Becken, einige Laubbäume warfen Schatten. In der zweiten Etage warfen wir einen Blick in unser Zimmer und waren zufrieden. Groß genug, mit einem kleinen Vorraum, dann einer Ecke, wo eine Sitzgruppe stand, und einem breiten Doppelbett. Jane ging bis zum Balkon vor. Sie zog dort die Gardinen zur Seite. Ich sah, wie sie lächelte und nickte. »Sagen Sie der Dame an der Anmeldung, daß wir mit dem Zimmer zufrieden sind.« »Gern, Monsieur.« Ich gab dem Boy ein Trinkgeld und betrat ebenfalls den Balkon. Obwohl wir nicht gerade sehr hoch wohnten, war der Ausblick schon atemberaubend. Eine prachtvolle Almenlandschaft breitete sich aus, durchzogen von schmalen Wegen, die wie graue Bänder wirkten, und wir entdeckten oberhalb des Hotels einen Bau, der auf den ersten Blick aussah wie ein kleines düsteres Schloß oder wie eine Burg. Das war das Internat, das mußte es einfach sein. Eine Straße führte hoch, über die Autos fuhren, und auch Jane hatte sich auf dieses Ziel konzentriert. »Wann wollen wir hin?« »So früh wie möglich.« »Dann packe ich eben aus.« »Gut.« Sie verschwand im Zimmer, ich blieb noch stehen und hörte sie rufen: »Willst du deinen Koffer selbst auspacken?« »Ja, ich komme.« Nur widerwillig löste ich mich von diesem prächtigen Anblick. Ich hatte auch die sommerliche Bläue des Himmels bewundert, der wie ein flaches seidenes Kissen über uns lag, kaum von einer Wolke verziert. »Keine Vampirgegend«, wiederholte ich.
Jane hatte ein Sommerkleid in den Schrank gehängt und drehte sich zu mir um. »Dann warte mal, bis es dunkel geworden ist.« »Und der Vollmond am Himmel steht.« »Genau.« »Sie werden aus den Gräbern kommen. Sie werden sich dein Blut holen wollen…« Ich hatte meiner Stimme einen tiefen Klang gegeben. »Und sie werden keinerlei Rücksicht kennen. Sie sind Draculas Brüder und Schwestern. Sie haben sich zusammengefunden, um das Grauen in die Welt zu bringen, auch in diese Welt.« »Du solltest es mal auf der Bühne versuchen. Vielleicht brauchen sie noch einen Statisten, der Geräusche macht.« »Ja, nicht schlecht.« Ich hatte meine wenigen Klamotten ebenfalls verstaut und wartete auf Jane. Aus der Minibar holte ich mir eine kleine Flasche Bitter Lemon. Jane wollte nichts trinken. Ich leerte die Flasche mit zwei Zügen und blickte immer wieder durch die Scheibe auf den Balkon hinaus, dort über die Brüstung hinweg bis hin zu den Bergen. Die Gegend übte auf mich eine Beruhigung aus. Es war einfach wunderbar, sie genießen zu können. Ich dachte an keine Vampire, auch an keine Dämonen, ich genoß einfach die gute Luft und die hervorragende Aussicht. »Wir können«, sagte Jane. Ich schaute auf die Uhr. Es war Nachmittag. Der Unterricht war vorbei, und ich hoffte, daß ich zumindest eine der drei Töchter sprechen konnte. Wahrscheinlich waren sie alle drei da, denn ihre Väter oder Eltern hatten ihnen Bescheid gegeben. Ich hatte mich darauf versteift, nach Susan Carrigan zu fragen. Geleitet wurde das Internat von zwei Personen. Von einer Rektorin und von einem Rektor. Sie waren gleichgestellt. Ich hoffte, daß wir an beiden vorbeikamen, denn ich wollte jedes Aufsehen vermeiden und zunächst mit den betroffenen Mädchen oder Schülerinnen sprechen. Ich ging noch einmal in das Bad und machte mich frisch. Jane wartete vor der Tür. Sie warf mir den Schlüssel zu. »Gib du ihn ab.« »Wie hast du dich entschieden?« »Was meinst du?« Ich trat auf den Gang. »Willst du jetzt endgültig in diesem Zimmer bleiben?« »Natürlich.« »Ich auch.« Meine erste Müdigkeit, die mich im Hotel überkommen hatte, war verflogen. Ich war in eine etwas bedrückende Stimmung hineingeraten, in ein Tiefdruckgebiet, das dieses Hoch abgelöst hatte. Die Gegend hatte sich bestimmt nicht verändert, und trotzdem kam sie mir anders vor. Sie war irgendwie düster geworden, ein Schatten schien
über ihr zu liegen, was natürlich Unsinn war, aber es konnten durchaus meine Vorahnungen sein, die mich so denken ließen. Wir erklärten der Dame an der Rezeption, daß wir mit unserem Zimmer zufrieden wären, sie lächelte nur, dann verließen wir das Haus und stiegen in den Wagen. Urlaubsgäste kehrten von Wanderungen zurück. Die Leute waren zünftig angezogen. Kniebundhosen, derbe Schuhe, also richtige Wanderkleidung, in der sie sich bewegten. Wir fuhren an. Ich hatte mich nicht extra nach dem Weg zum Internat erkundigt. Ich wußte, wie ich zu fahren hatte. Vom Balkon aus hatte ich den Weg gesehen, der sich als graue Schlange dem Internat entgegenwand. Durch die geöffneten Fenster drang der herrliche Geruch frischer Almenwiesen. Das Blau des Himmels war reif für eine Postkarte. Ein lauer Wind wehte nur, und die Natur sorgte dafür, daß der Mensch hier den Streß des Alltags vergessen konnte. Die Autos paßten weniger dazu. Sie waren existent und konnten nicht verschwinden. Sie gehörten nun einmal zur Zivilisation, auch mir machte es keinen Spaß, mit einem Wagen zum Internat zu fahren, ich wäre gern gelaufen, aber wir waren nicht hier, um uns zu erholen. Wir mußten einen Fall lösen, so seltam sich das auch anhören mochte in dieser Urlaubsstimmung, es war nun mal so. Vampire? »Woran denkst du?« fragte Jane. Ich sagte es ihr. »Und was denkst du? Dein Gesicht macht nicht eben einen optimistischen…« Sie unterbrach mich. »Ich weiß nicht… das heißt, ich hoffe, daß wir nicht zu spät kommen und noch alles so ist, wie wir es uns eigentlich wünschen sollten.« »Das klingt, als würdest du nicht so recht daran glauben.« »So ist es, John.« Ich runzelte die Stirn. Janes Pessimismus war auch für mich ansteckend. Die herrliche Umgebung hatte plötzlich einen Schatten bekommen, der alles bedeckte. Ich sah ebenfalls nicht mehr so optimistisch in die Zukunft und gab Jane recht. Keiner gab uns die Garantie, daß wir früh genug eintrafen, um noch etwas zu reißen. Die Mauern des Alpen-Internats rückten näher. Hin und wieder gelang uns ein Blick auf die unmittelbare Umgebung des Baus. Da sahen die Tennisplätze, der Pool und die anderen Sportanlagen nicht so düster aus wie das Haus selbst. Schüler und Schülerinnen vergnügten sich auf den Plätzen oder benutzten den Pool. Andere lagen in der Sonne und ließen sich bräunen.
Die hellen Stimmen drangen bis zu uns. Nichts wirkte verkehrt oder anders, und trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, daß es den Schatten gab. Auch der Druck in meinem Magen erzählte davon. Ich sah Janes Profil. Die Lippen zeigten kein Lächeln. Sie saß relativ angespannt auf dem Beifahrersitz und schaute sich die Umgebung an, allerdings nicht mit den Augen eines Touristen. Sie sah aus wie jemand, der etwas suchte. Ich fragte sie danach. »Hat Carrigan dir nichts von einem Friedhof oder einer Höhle gesagt?« »Hat er.« »Den Friedhof suche ich.« Ich winkte ab. »Der wird weiter wegliegen und irgendwo versteckt sein. Einsame Bergfriedhöfe können manchmal sehr reizvoll sein.« »Aber auch gefährlich.« »Das schließe ich nicht aus.« Noch eine große Kurve, dann hatten wir es geschafft. Schüler auf Mountain Bikes kamen uns entgegen. Sie sahen aus wie Rennfahrer und jagten ihre Räder von der Straße quer ins Gelände hinein. Die Straße führte nach der Kurve direkt auf einen Parkplatz zu, wo wir den Leihwagen abstellen konnten. Auch andere Fahrzeuge standen dort, umgeben von einer Hecke, die den Parkplatz als Areal ziemlich umschloß, als sollten die Schüler nicht unbedingt sehen, daß es in dieser Welt noch andere Dinge gab als ihr Internat. Hohe Mauern, sehr dick und gebaut wie die Hospize, die man an Paßstraßen und Paßhöhen noch fand. Die Fenster waren relativ klein, und an der Vorderseite hielten sich kaum Schüler auf. Auf einer Bank saßen mehrere Mädchen zusammen. Sie kicherten, als sie uns sahen. Wir strebten auf direktem Weg dem Eingang entgegen, der auf irgendeine Art und Weise schon einem Kirchenportal glich, vielleicht deshalb, weil die Tür nach oben hin spitz zulief. Eine Hälfte stand offen. Unser Blick fiel zurück in die Anfänge dieses Jahrhunderts. Es war ein Jugendstilbau. Dazu trug die gewölbte Decke bei, die von mächtigen, grauen Säulen gestützt wurde. Eine breite Treppe führte in die oberen Etagen, und sehr breite Flure verliefen sich vom Bereich des Eingangs her in das Innere der Schule. »Hier bekommt man wirklich das Gefühl, in einer Schule zu sein«, sagte Jane. »Meinst du?« »Klar.« »Würdest du gern noch mal lernen?« »Nein, nicht mehr.« Ich suchte jemand, der uns Bescheid geben konnte, wo wir eines der drei Mädchen fanden. Einen Hausmeister, einen Lehrer oder…
Wir sahen einen Hausmeister. Zumindest sah der Mann in seinem blauen Kittel so aus. Er trug zwei Kartons und schaute unwillig über sie hinweg, als wir uns ihm in den Weg stellten. »Ja…?« »Können wir Sie mal etwas fragen?« erkundigte sich Jane, wobei sie sehr nett lächelte. Das machte den Mann mit dem schütteren Braunhaar freundlicher. Er stellte seine Kartons ab. »Um was geht es denn? Sie sind Besucher, wenn ich das mal so sagen darf.« »Richtig.« »Auch Eltern?« »Nein, nein.« »Hätte mich auch gewundert, denn ich habe Sie hier noch nie gesehen. Die meisten Eltern kenne ich vom Anblick her. Gut, was kann ich für Sie tun?« »Es geht uns um drei Schülerinnen.« Jane zählte die Namen auf und wollte wissen, wo sie zu finden sind. Der Hausmeister rieb über seine Nase. »Das weiß ich auch nicht. Die größeren halten sich oft in ihren Räumen auf, wenn sie arbeiten müssen und kurz vor der Prüfung stehen. Aber bei diesem Wetter…« Er schüttelte den Kopf. »Nein, warten Sie mal. Ich habe zwei von ihnen gesehen.« »Wann?« »Vor einigen Minuten noch.« »Und wo?« »Nicht draußen, hier im Haus.« Als er Schritte hörte, drehte er sich um. Aus einem Flur, der zu den Verwaltungsräumen der Schule führte, hatten sich zwei Schülerinnen gelöst. Sie waren in Gedanken versunken, sprachen flüsternd miteinander, und nur ihre Tritte hallten durch den Bau. »Das sind zwei von ihnen«, sagte der Hausmeister. »Wer denn?« »Katja Lagemann und Marisa Melli.« »Danke«, sagten wir wie aus einem Munde. »O bitte.« Er nahm seine beiden Kartons wieder hoch und ging in einer anderen Richtung davon. Wir aber bewegten uns direkt auf die beiden Mädchen zu. Sie nahmen uns nicht wahr und schraken zusammen, als wir ihnen den Weg versperrten. Im letzten Augenblick stoppten sie, sonst wären sie gegen uns gelaufen. Erschreckte Gesichter schauten uns an. Ich wußte, daß das Mädchen mit den schwarzen Haaren Marisa Melli war, sie sah wirklich aus wie eine Bilderbuch-Italienerin, und neben ihr stand Katja Lagemann. Jane sprach sie an.
»Ja«, sagte Katja, »aber wieso…?« »Wir kommen aus London.« Die beiden schauten sich an. Das Verstehen leuchtete in ihren Augen auf, aber trotzdem kamen sie mir vor, als hätten sie Mühe, ein Weinen zu unterdrücken. Sie bewegten ihre Münder, ihre Wangen, und es sah aus, als würde das Fleisch zucken. »Susans Vater?« fragte Marisa. »Ja.« Sie schaute sich um. »Nicht hier«, flüsterte sie. »Lassen Sie uns nach draußen gehen.« Damit waren wir einverstanden. Wir nahmen die beiden Schülerinnen in die Mitte. Sie hatten uns nichts Konkretes mitgeteilt, aber ich wußte, daß nicht alles geklappt hatte. Es fehlte die dritte im Bunde, was auch nichts besagen mußte, in diesem Fall allerdings sah ich es anders, und die Wolken in meinem Kopf verdichteten sich. Ich glaubte daran, daß eine Gefahr lauerte. Sie hatte sich in diese außerordentliche Welt hineingeschoben. Sie war unsichtbar, die meisten spürten sie nicht, aber Jane und ich wußten Bescheid. Die Schülerinnen waren locker und sommerlich gekleidet. Zu ihren Radlerhosen trugen sie lange Shirts und an den Füßen Sandalen, die bei jedem Auftreten geklappert hatten. Die Bänke vor dem Haus standen teilweise im Schatten der Bäume. Marisa und Katja suchten sich eine aus, die weit von der ersten wegstand und von mächtigen Zweigen beschattet wurde. Das Holz hatte noch den feuchten Film des Vormittags. Wir ließen uns nieder und stellten uns vor. »Wo finden wir denn Susan Carrigan?« fragte ich. »Sie ist seit gestern nacht verschwunden!« erklärte Katja Lagemann. Wir schwiegen. Die beiden Schülerinnen atmeten laut und schauten zu Boden. Marisa sprach weiter. »Wir haben sie gesucht, wir waren auch bei der Rektorin, aber Madame sagte uns, daß es nicht so tragisch wäre. Es käme öfter vor, daß die eine oder andere Schülerin über Nacht mal wegbleibt.« »Ist sie weggeblieben?« fragte Jane. »Nein. Wir leben in einem Zimmer. Wir gingen zu Bett, und als wir erwachten, stand das Fenster offen, und Susan war fort.« »Wäre es nicht besser, wenn ihr von Beginn an berichtet?« schlug ich den beiden indirekt vor. Sie waren einverstanden. Bei ihrem Bericht wechselten sie sich gegenseitig ab. Wir hörten genau hin, und wenn ich mir alles durch den Kopf gehen ließ, dann mußte ich einfach zu dem Entschluß kommen, daß Susan Carrigan so etwas erlebt hatte, das mich an eine klassische
Dracula-Filmszene erinnerte, wo der Vampir auch in der Nacht erschienen war, das Fenster offen fand und sich seine Beute holte. »Sie ist nicht zurückgekommen«, flüsterte Katja. Marisa nickte dazu. »Habt ihr eine Erklärung?« fragte ich. Die Schülerinnen schauten sich an. Sie gruben ihre Zähne in die Unterlippen, sie runzelten die Stirnen, dann sagte Marisa flüsternd: »ER hat sie geholt.« »Wer ist dieser ER?« »Wir wollen seinen Namen nicht aussprechen…« »Der Vampir«, sagte ich. Beide nickten. Sie hatten sich dabei verkrampft. Sie schauten zu Boden. Keine wollte etwas sagen. »Wir glauben euch«, sagte Jane leise. »Wir sind letztendlich auch wegen ihm gekommen.« »Ja«, flüsterte Katja, »Susan hat gedrängt. Als sie ihrem Vater erzählte, was wir in einer Nacht erlebt haben, da war er völlig außer sich. Er war besorgt, er hat mehrmals angerufen und immer wieder erklärt, daß er Hilfe schicken würde. Nun sind Sie da. Aber was haben unsere Väter damit zu tun? Meiner hat ähnlich reagiert und Marisas Vater auch.« »Das ist eine alte Geschichte«, sagte ich. Die Italienerin strich durch ihr Haar. »Sie kennen sich da aus, Monsieur Sinclair?« »Paul Carrigan erzählte sie mir.« »Was ist denn geschehen? Unsere Väter waren ebenfalls in diesem Internat, das wissen wir. Da müssen sie etwas erlebt haben, das ihre Freundschaft prägte.« »Ich werde es Ihnen sagen.« »Gut.« In den nächsten Minuten hörten sie mir zu, und sie wurden immer blasser. Die Furcht stand sichtbar auf ihren Gesichtern, aber sie waren in der Lage, einen Schluß aus dem Erzählten zu ziehen. »Dann… dann… haben unsere Väter bereits gegen diesen Vampir gekämpft«, flüsterte Marisa. »So sieht es aus.« »Und sie haben gedacht, daß er vernichtet war.« »Ja.« »In Wirklichkeit hat er überlebt«, sagte Jane, »und er hat sehr lange auf seine Rache gewartet. Für ihn spielt die Zeit nicht die Rolle wie für uns normale Menschen. Die Blutsauger können warten, um dann blitzartig zuzuschlagen.« Katja brachte die Dinge auf den Punkt. »Dann können wir davon ausgehen, daß er Susan geholt hat.«
Wir nickten. Die Mädchen erbleichten. Sie wurden unruhig. Sie schauten sich um, als suchten sie nach einem Versteck in der Nähe, wo sich der Blutsauger aufhielt. Da war nichts, wir blieben allein, es gab keine Lauscher oder Zuhörer. »Ist sie… ist sie… auch zu einem Vampir geworden?« fragte Marisa. »So sind doch die Regeln, denke ich. Das liest man immer. Das haben wir auch gelesen, aber wir haben niemals gedacht, daß es so etwas auch in der Wirklichkeit geben wird.« »Manchmal schon.« »Haben Sie noch Hoffnung für Susan?« Ich schwieg. Auch Jane sagte nichts, und die Schülerinnen hatten verstanden. Zuerst stand Marisa auf, dann erhob sich Katja. »Es ist plötzlich so kalt geworden«, flüsterte die junge Deutsche, »als gäbe es die Sonne nicht mehr.« »Ich habe Angst«, murmelte Marisa. Katja nickte. Auch Jane und ich waren aufgestanden. »Daß ihr Furcht habt, ist nur zu gut verständlich«, sagte ich. »Trotzdem brauchen wir eure Hilfe, und wir möchten, daß ihr euch noch einmal zusammenreißt.« Ihre Blicke, mit denen sie uns anschauten, waren skeptisch. »Was sollen wir denn tun?« »Einiges«, stellte ich klar. »Sie müssen uns zunächst den Weg zu diesem Bergfriedhof erklären. Dann möchte ich, daß Sie beide nach Anbruch der Dunkelheit das Haus nicht mehr verlassen. Sie werden in Ihrem Zimmer bleiben und vor allen Dingen das Fenster verschlossen halten. Öffnen Sie es nicht. Denken Sie daran, daß wir ebenfalls in der Nähe sind und die Augen offenhalten.« »Ich denke, Sie wollten zum Friedhof«, flüsterte Katja. »Nicht in der Nacht. Wenn der Vampir Blut will, wird er sein Versteck verlassen und zu euch kommen. Und wir werden ihn hier erwarten, das verspreche ich.« »Wo denn?« »Am Haus. Wir bleiben draußen und halten Wache. Nicht mehr und nicht weniger.« »Das wird nicht klappen«, sagte Katja. »Das Gelände ist groß. Zudem ist es dunkel. Sie können nicht alles unter Kontrolle halten. Das ist einfach unmöglich.« Ich nickte. »Normalerweise würde ich euch recht geben, aber wir haben es in diesem Fall nicht mit einem normalen Menschen zu tun, sondern mit einer Blutbestie. Das genau ist das Problem oder die Lösung. Wenn sich der Vampir an das Haus heranschleicht, wird er uns wittern. Er wird wissen, daß in seiner Nähe Menschen stehen, deren Blut darauf wartet, von ihm getrunken zu werden. Er wird, so hoffe ich, uns angreifen. Das ist unsere Chance.«
»Und das klappt?« fragte Marisa. »Wir können es nur hoffen.« »Sie haben ja Erfahrung, nicht?« »Stimmt.« Allmählich waren sie überzeugt, aber sie wollten noch wissen, wer alles eingeweiht werden sollte. »Niemand«, sagte Jane. »Keine Vorgesetzten, keine Lehrer, was weiß ich nicht alles.« »Sie würden uns nichts glauben.« »Richtig, Katja.« »Dann stehen wir allein.« Ich lächelte ihnen zu. »Wenn Sie alles tun, was wir Ihnen gesagt haben, braucht nichts schiefzugehen. Dann werden wir den Blutsauger auch vernichten und zuschauen, wie er allmählich zu Staub zerfällt. Ist das nicht ein Weg?« »Ja, das denke ich«, sagte die Italienerin. Und auch die deutsche Schülerin nickte. Wir ließen uns von draußen ihr Fenster zeigen, dann erklärten sie uns den Weg zum Friedhof, zu dem wir über einen schmalen Weg gelangten, der allerdings steinig war, deshalb rieten sie uns, den Wagen vor Erreichen des alten Totenackers stehenzulassen. »Gut, machen wir.« »Und wann kommen Sie zurück?« fragte Katja. »Das steht noch in den Sternen. Wir kehren auf jeden Fall zurück. Ich verspreche es Ihnen.« Jane wollte noch wissen, ob sie ein Kreuz oder einen anderen geweihten Talisman besaßen. Beide hatten ein Kreuz. »Es ist nur so klein«, sagte Katja. »Hängen Sie es trotzdem um – sicherheitshalber.« Sie versprachen es. Dann trennten wir uns. Die beiden Schülerinnen betraten das Internat. Wir schauten zu, wie sie im Halbdämmer des unteren Flurs eintauchten, als wären sie von einer Wolke verschluckt worden. »Und?« fragte Jane. »Was meinst du damit?« »Hast du noch Hoffnung für Susan Carrigan?« »Nein.« »Ich auch nicht.« Wir schwiegen beide, als wir zum Wagen gingen. Bevor Jane einstieg, fragte sie: »Wolltest du nicht Susans Vater anrufen?« Ich hob die Schultern. »Das hatte ich eigentlich vor. Jetzt möchte ich es nicht mehr. Er würde unweigerlich aus meiner Stimme heraushören, daß etwas nicht stimmt, und ich bin einfach nicht in der Lage, ihm die Wahrheit zu sagen.«
»Das verstehe ich.« Jane stieg ein, schloß die Tür. Ich setzte mich hinter das Lenkrad und sah, wie die Detektivin den Kopf schüttelte. »Es ist nicht zu fassen«, flüsterte sie. »Da fährt man in eine Gegend, die aussieht wie aus dem Bilderbuch, und was erlebt man dort? Das Grauen, Dämonie, untote Wesen.« Ich spielte mit dem Zündschlüssel. »War es denn bei uns je anders, wenn du ehrlich bist?« »Nein, eigentlich nicht.« »Eben.« Ich startete und fuhr den BMW rückwärts. Jane hielt die Augen geschlossen, aber sie war beileibe nicht entspannt, das verdeutlichten auch ihre Worte. »Es ist eine verfluchte Welt, John, in der sich die Menschen am besten selbst ihre Inseln schaffen, auf die sie sich zurückziehen können. Sonst gehen zu viele kaputt…« *** Der einsame Bergfriedhof lag im Licht der Sonne und bot ein Bild wie eine extra für uns hergestellte Kulisse, wobei wir noch das Rauschen des Wassers aus der Tiefe einer unergründlich erscheinenden Schlucht vernahmen. Es war ein Gelände, auf dem niemand mehr begraben wurde. Auch damals, als noch die Gräber geschaufelt wurden, hatte man mit dem harten Boden sicherlich seine Schwierigkeiten gehabt. Es hatte auch mal eine Kirche gegeben und eine Mauer in deren Nähe, aber nur mehr Fragmente waren zu sehen. Trümmer, Ruinen, der Bau war eingestürzt, aber Brandmauern standen trotzdem noch, und dahinter konnte sich auch jemand verbergen. Ein leerer Friedhof. Keine Lebewesen bewegten sich zwischen den alten Grabsteinen, nicht einmal ein Murmeltier sahen wir, und selbst durch die Luft segelten keine Vögel. Der Wind war mäßig bis lau. Er streifte unsere Gesichter, brachte zahlreiche Gerüche mit, aber keinen, der uns einen Hinweis auf den Blutsauger hätte geben können. Es roch nicht nach Moder, nicht nach Verwesung oder altem Blut. Wir hatten den Wagen gute zweihundert Meter entfernt stehenlassen und waren den Rest zu Fuß gegangen, immer begleitet vom Rauschen des Wildwassers, das in der Schlucht tobte. Hin und wieder hatten wir einen Blick riskiert und den hellen Schaumstreifen entdeckt, der aus der Höhe aussah wie ein zittriges Band. Aus dieser Entfernung war die Kraft nur mehr zu ahnen. Wir betraten den Friedhof. Jane hob die Schultern. »Durchsuchen wir ihn, um unser Gewissen zu beruhigen.« Ich lachte leise. »Sonst tut dir nichts weh?«
»Nein, denn ich glaube nicht, daß wir auf unseren Freund, den Blutsauger, stoßen werden.« »Damit rechne ich auch.« »Und womit rechnest du noch?« »Ich hoffe auf Spuren.« »Von ihm?« »Von beiden, Jane.« Sie hob die Schultern und trennte sich von mir. Während ich mir die rechte Seite vornahm, kümmerte sich Jane Collins um die linke, wo auch die Ruine der Kirche stand. Ich bewegte mich dicht an der Mauer entlang. Sie schloß praktisch mit der Schlucht ab, und ich dachte daran, daß vor einigen Jahrzehnten hier drei junge Männer gegen den Blutsauger gekämpft und ihn in die Tiefe geschleudert hatten. Aber er war zurückgekehrt, trotz des tosenden Wassers, das ihn eigentlich hätte auflösen müssen. Wie hatte er das geschafft? Hatte er sich vielleicht während des Flugs in eine Fledermaus verwandelt, um im Dunkel der Schlucht zu verschwinden? Das wäre möglich gewesen, ergab aber in diesem Fall keinen Sinn. Hätte der Vampir diese Gabe besessen, dann hätte er mit seiner Rache nicht so lange zu warten brauchen. Nein, er mußte auf einem anderen Weg entkommen sein. Er war in die Schlucht gefallen. Ich stand an der Brüstung und schaute ebenfalls hinein. Unten toste das Wasser. Das interessierte mich im Moment nicht. Ich beugte mich noch weiter vor, um den Rand der Schlucht mit den Blicken abtasten zu können. Die Wand war nicht glatt. Sie zeigte Buckel, es gab Mulden, sie hatte Risse bekommen, aber es hatten sich im Laufe der Zeit auch Büsche und knorriges Gestrüpp, das ziemlich stabil aussah, dort angesiedelt. Auch für einen Vampir, der nach unten fiel. War das die Lösung? Hatte er sich während des Falls an einem der von der Wand wegwachsenden Sträucher festhalten können? Ja, das mußte ich zumindest in Erwägung ziehen. Es war überhaupt nicht abwegig. »John…« Jane hatte nicht laut gesprochen. Ich drehte mich um. Zuerst sah ich sie nicht, dann entdeckte ich ihren winkenden Arm. Sie kniete auf dem Boden und meldete sich auf diese Art und Weise. Ich ging zu ihr. Die Detektivin hockte vor einem Grabstein, der wie eine Stuhllehne schräg aus dem Boden ragte. Einen Arm hatte sie ausgestreckt, und sie deutete auf den hellen Stein. »Schau ihn dir genauer an, dann wirst du das sehen, was auch ich entdeckt habe.«
Ich untersuchte ihn. Sehr schnell fielen mir die dunklen Flecken auf, und ich wußte auch, was es war. Bestimmt keine Farbe, sondern Menschenblut. Jane hatte davon etwas abgekratzt und präsentierte mir ihre rote Fingerkuppe. »Willst du raten, von wem das Blut stammt?« »Nein, ich kann es mir denken. Susan Carrigan.« »Das glaube ich auch.« Ich strich durch mein Gesicht und stellte mich wieder normal hin. »Blut«, murmelte ich. »Nur hier?« »Sieht so aus. Ich habe zwar die Umgebung abgesucht, aber nichts mehr gefunden.« »Dann kann er sie zum Vampir gemacht haben.« »Richtig.« »Und wo stecken die beiden jetzt?« Auf diese Frage wußte ich keine Antwort. Zumindest fiel sie mir sehr schwer, und ich dachte daran, daß Paul Carrigan etwas von einer Höhle erzählt hatte, die ebenfalls in der Nähe des alten Friedhofs lag. Er hatte sie uns zwar beschreiben können, aber nicht, wie sie dorthin gelangten. »Es wäre ein Versteck«, meinte auch Jane. »Dann laß sie uns suchen.« Zunächst informierten wir uns zwischen den alten Ruinenteilen der kleinen Kirche. Sie war mehr eine Kapelle gewesen. Spuren, die uns weiter gebracht hätten, sahen wir dort nicht. Es war überhaupt nichts zurückgelassen worden. Weder ein Taufbecken, noch eine der alten Holzbänke. Der Blutsauger mochte hiergewesen sein, aber er hatte uns keine Nachricht hinterlassen. Blieb die Höhle. Wenn überhaupt, dann konnte sie nur jenseits der Kirche liegen, wo das Gelände wieder anstieg. Da präsentierte es sich beinahe menschenfeindlich, denn die gewaltigen Felsklötze auf dem Hang mußten umgangen werden. Eine graue Wand lag vor uns. Und da entdeckten wir auch den Eingang. Es war mehr Zufall, er war durch Gestrüpp verdeckt. Jane atmete tief aus, als wir davor standen. »Wenn sich der Vampir in der Höhle befindet, können wir uns gratulieren. Da holen wir ihn auch raus.« Jane zog ihre Waffe, in der geweihte Silberkugeln steckten, wie auch in meiner Beretta. Ich leuchtete in die Höhle hinein, hellte einen Teil der Dunkelheit auf und erlebte deshalb ein Spiel aus Licht und Schatten, das durch den Tunnel tanzte wie ein Film, der immer wieder in einer Szene aufflackerte und dann abtauchte. Wenn sich der Vampir in dieser Höhle aufhielt, hatte er es schlau angestellt. Er ließ sich nicht aus der Reserve locken, und in dem Tunnel bewegte sich nur mein Lichtstrahl. Wenig später auch wir, denn da hatten wir die Höhle betreten.
Ein nicht sehr langer Gang verbreitete sich an seinem Ende eben zu dieser Höhle. Es war nicht eben einfach, durch ihn zu gehen. Auf dem Boden lag das Geröll oft kniehoch, und einige feuchte Flächen sorgten auch für Glätte. Mal huschte der Lichtstrahl über den Boden, mal über die Wände, dann wieder flirrte er an der Decke entlang. Kein Untoter wurde durch den Lichtstrahl aufgeschreckt, und ein wenig sauer blieben wir letztendlich in der Höhle stehen. Wir entdeckten Zeichen. Lumpen lagen auf dem Boden. Es roch nach Moder. Wir hatten auch den Eindruck, daß ein leichter Blutgeruch die Luft schwängerte. Hier kam einiges zusammen, hier hatte der Vampir sein Versteck gehabt, aber er wußte auch, daß es nicht sicher war, und er hatte deshalb die Konsequenzen gezogen. Jane warf ein altes Hemd mit einer Geste des Abscheus weg. »Er war hier, aber er ist nicht mehr hier.« »Du schaust mich an, als wüßte ich mehr oder müßte mehr wissen. Dem ist nicht so, liebe Jane.« »Das meine ich auch nicht. Ich denke die ganze Zeit darüber nach, wo er sich verborgen haben könnte.« »Hör auf damit, es bringt nichts. Mag sein, daß es noch andere Verstecke oder Höhlen gibt, aber finden werden wir ihn so leicht nicht, falls er es nicht will.« »Und seine Braut?« »Susan Carrigan?« Ich hob die Schultern. »Die ist sicherlich bei ihm. Die gehorcht ihm doch. Sie tut, was er sagt. Sie hat keinen eigenen Willen. Oft genug, Jane, haben wir gegen Blutsauger gekämpft. Am Tage haben wir selten einen Erfolg errungen.« »Noch nie, denke ich.« »Eben.« »Das heißt, wir sollen bis zur Nacht warten.« Ich schüttelte den Kopf. »Nicht bis zur Nacht. Bis zum Einbruch der Dämmerung.« »Wo?« »Im Hotel. Ich möchte in der Schule nicht auffallen.« »Ja, du hast recht.« »Dann laß uns verschwinden.« Ein letztes Rundumleuchten brachte ebenfalls nichts. Der Blutsauger blieb verschwunden. Nicht einmal eine Haarspitze sahen wir von ihm. Paul Carrigan hatte ihn mir ja beschrieben. Wenn er noch so aussah, mußte er wirklich ein wilder Geselle gewesen sein, zumindest vom Äußeren. Wir liefen den Weg langsamer zurück, wobei wir uns hin und wieder umschauten und ich auch nach hinten leuchtete. Eine Bewegung aber sah ich nicht.
Die Luft schmeckte alt. Sie roch auch so komisch. Es war der Geschmack nach Metall und Stein, und es lag auch ein Hauch von Moder in ihr. Zumindest hatte ich den Eindruck. Als ich mit Jane darüber sprach, war sie derselben Ansicht. »Ja, er hat etwas hinterlassen.« Erst als wir ins Freie traten, konnten wir normal aufatmen. Die klare Bergluft war etwas Wunderbares, ebenso wie die strahlende Sonne am azurblauen Himmel. Auch von dieser Stelle aus fiel das Licht tief hinab in das Tal um den Genfer See. Wir sahen wieder den tiefgrünen Ausschnitt, auf dem sich winzige, farbige Punkte bewegten. So jedenfalls sahen die Segel der Boote oder Surfbretter aus. Ich ließ mich von einer derartigen Kulisse immer wieder beeindrucken, und Jane eigentlich auch. Heute aber stand sie da und schaute mürrisch und mißtrauisch in die Welt. »Ist was mit dir?« Sie hob die Schultern. »Du kannst mich auslachen oder es auch lassen. Ich komme mir jedenfalls vor wie jemand, der aus einer sicheren Entfernung beobachtet wird. Hast du nicht auch das Gefühl?« »Kann ich nicht sagen. Aber du könntest recht haben. Unmöglich ist nichts, wenn es mir auch nicht paßt, denn das würde bedeuten, daß unser Freund Bescheid weiß.« »Laß uns fahren.« Da auch ich wegwollte, tat ich ihr den Gefallen. Im Wagen sitzend streckte Jane die Beine aus. »Weißt du, John, ich mache mir noch mehr Sorgen um die beiden Mädchen.« »Weshalb, sie sind relativ sicher.« »Eben, wie du schon sagtest – relativ. Sie sind eben nicht absolut sicher.« »Das ist niemand auf der Welt. Aber wenn die beiden Blutsauger in das Internat eindringen wollen, werden wir sie abfangen.« Jane nickte nur. Überzeugend sah das aber nicht aus. Marisa und Katja saßen sich auf ihren Betten gegenüber und schwiegen sich an. Im Zimmer war es warm. Jede von ihnen schwitzte. Hin und wieder tupften sie mit einem Taschentuch den Schweiß aus ihren Gesichtern, und ihre Köpfe drehten sich auch dem Fenster zu, als könnten sie durch die Scheibe einen Blick in die nahe Zukunft werfen. Vom Flur her drangen hin und wieder helle Stimmen an ihre Ohren, aber sie ignorierten sie. Es rann einfach an ihnen vorbei, die normale Welt war nicht mehr so existent wie noch vor einigen Tagen. Sie hatte sich einfach reduziert auf wenige entscheidende Dinge. Ganz einfach auf die Angst vor der Zukunft, auf diese Bedrohung, die sie zwar nicht unmittelbar anging, die sie aber spürten. Sie hatten nicht darüber gesprochen, ihre Blicke sagten genug, denn in den Augen stand die Furcht wie ein Bild. Schließlich stand Marisa auf.
»Wo willst du hin?« »Ins Bad.« »Okay. Aber laß bitte die Tür offen.« Marisa Melli nickte. Sie kam nicht einmal auf die Idee, darüber spöttisch zu lächeln. Für sie war eine Dusche wichtig. Sie wollte sich den Schweiß vom Körper spülen, und sie hoffte auch, daß zumindest ein Teil der Angst verging. Diese Hoffnung trog. Immer wieder mußte sie an den Vampir denken und natürlich auch an Susan, deren Platz bei ihnen im Zimmer war, das ihr nun so schrecklich leer vorkam. Es war einfach anders als sonst, wenn Susan mal für zwei, drei Stunden weggegangen war. Diesmal war sie verschwunden und würde nicht wie ein Wirbelwind in das Zimmer stürmen, um den Freundinnen von ihren Erlebnissen zu berichten. Alles war anders geworden, aber nicht besser. Sie trocknete sich ab, zog andere Kleidung an und ließ die Tür offen, als sich Katja duschte. Beide Mädchen hatten sich zum Abendessen abgemeldet. Sie würden es einfach nicht fertigbringen, zwischen den anderen zu sitzen und sich deren lustige Geschichten oder Erlebnisse anzuhören. Auf ihnen lastete ein großer Druck, der sich immer mehr verstärkte, je weiter die Zeit fortschritt und der Nachmittag verging. Noch schien die Sonne. Noch war der Himmel so herrlich blau, aber er würde bald seine Farbe verlieren und erst rot werden, wenn die Sonne im Westen sank, um dann die Farbe der Nacht anzunehmen. Dunkelheit, Nacht – Zeit der Blutsauger. Katja schüttelte sich bei dem Gedanken. Sie stand unter der Dusche, das Wasser prasselte gegen ihren Körper, und sie bildete sich ein, als bestünde jeder Tropfen aus Blut. Auf einmal wollte sie nicht mehr unter dem Wasser stehen. Nur weg, sich etwas anderes anziehen und… »Katja…« Sie stellte die Dusche ab. »Was ist denn?« »Kannst du mal kommen?« »Moment noch.« Katja wickelte sich in das flauschige Badetuch ein, das die Initialen einer Modeschöpferin trug. Katja ging in das Zimmer und sah Marisas Blick auf sich gerichtet. »Was ist denn los?« »Ich weiß es nicht genau.« »Du hast mich doch gerufen.« Katja setzte sich auf ihr Bett und frottierte sich die Haare. »Es stimmt schon.« Marisa überlegte und nagte auf ihrer Unterlippe. »Ich habe inzwischen das Gefühl, als hätten wir etwas vergessen. Etwas Entscheidendes sogar.« »Was denn?«
»Das kann ich dir auch nicht sagen. Aber ich bin beinahe davon überzeugt.« »Bringt uns das weiter?« fragte Katja. Sie hob die Schultern. »Nein, es macht uns nur noch nervöser.« »Du hast recht.« Marisa nickte. Sie wechselten das Thema. »Ob Susans Eltern schon Bescheid wissen, was mit ihrer Tochter geschehen ist?« »Was ist denn mit ihr geschehen?« »Na, du weißt doch.« »Nein, ich weiß nichts. Wir nehmen an, daß etwas Bestimmtes geschehen ist, aber beweisen können wir es nicht. Oder liege ich da falsch?« »Überhaupt nicht.« »Eben. Bevor ich nicht mit eigenen Augen gesehen habe, was mit Susan geschehen ist, habe ich immer noch Hoffnung.« Sie stand auf und holte frische Wäsche aus dem Schrank. Sie zog sich wieder an. Dann trank sie einen Schluck Wasser aus der Flasche. »Ich vertraue Sinclair und dieser Jane Collins.« »Warum?« »Sie machen auf mich irgendwie einen souveränen Eindruck.« »Kann sein.« »Überzeugend klang das nicht.« Marisa schüttelte den Kopf. »Es war auch nicht überzeugend, Katja. Sie können meinetwegen souverän sein, aber es sind Menschen wie wir. Und die anderen, das sind Blutsauger, dämonische Kreaturen, was weiß ich. Da muß ein Mensch doch unterliegen.« »Im Normalfall ja.« »Was ist bei den beiden unnormal?« Katja Lagemann lächelte. »Das ist vielleicht falsch ausgedrückt. Meinst du nicht auch, daß sich Susans Vater genau umgehört hat, bevor er den beiden Bescheid gab?« »Davon können wir ausgehen.« »Dann sind die beiden auch gut!« Katja nickte. »Ich habe Vertrauen zu ihnen.« »Ich ja auch, aber…« »Was hast du?« »Das kann ich dir nicht genau sagen, Katja. Ich muß immer wieder daran denken, daß wir etwas übersehen haben. Das Gefühl will einfach nicht weichen.« »Dann hilf mir auf die Sprünge.« »Ja, ich werde es versuchen, auch wenn du mich für verrückt hältst. Aber ich fange von vorn an.« »Bitte, wir haben Zeit.« Obwohl die beiden allein waren und sich vor ungebetenen Zuhörern nicht zu fürchten brauchten, senkte die junge Italienerin die Stimme.
»John Sinclair und Jane Collins sind losgezogen. Sie werden den Friedhof inzwischen erreicht und auch durchsucht haben. Vielleicht ist es ihnen sogar gelungen, die Höhle zu finden. Kann ja alles sein, denke ich mir.« »Weiter«, sagte Katja, als Marisa Melli eine Pause einlegte. »Ja, so ein Vampir ist bestimmt schlau. Der kann doch etwas bemerkt haben. Und weil er eben so schlau ist, da hat er sich einfach zurückgezogen.« »Was meinst du damit?« »Er ist weder auf dem Friedhof noch in der Höhle. Das trifft eventuell auch auf Susan zu.« Katja schwieg. Diese Nachricht mußte sie erst einmal verdauen. Sie überlegte, räusperte sich, holte durch die Nase Luft und fragte mit leiser Stimme: »Meinst du?« »Immer.« »Und was soll das bedeuten? Ich meine, was sehließt du daraus?« »Kann ich dir auch nicht sagen, aber es ist der Grund meines bedrückenden Gefühls. Ich glaube nämlich nicht, daß es so einfach ist, hinzugehen, die Brut zu stellen, peng-peng zu machen, und die Sache ist erledigt.« »Was denkst du dann?« Marisa schaute Katja besorgt an. »Willst du das wirklich wissen?« »Ja, jetzt hast du schon so viel gesagt, dann laß auch noch den Rest heraus.« »Ich glaube, daß wir alles falsch gemacht haben und daß unsere Feinde raffinierter sind als wir. Ich denke nicht, daß sich der Vampir oder auch Susan am Friedhof oder in der Höhle verkrochen haben. Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.« »Wo sollten sie dann sein?« »Hier.« »Bitte?« »Sie sind hier, Katja. Nicht hier im Zimmer, aber wir alle sind lange genug im Internat, um zu wissen, daß es einen Keller gibt, der früher in den Fels des Bergs geschlagen wurde. Und dieser Keller ist dunkel, er bietet Verstecke. Das weiß auch Susan.« Sie wischte über ihre Wangen. »Ist dir nun klar, auf was ich hinaus will?« Katja atmete erst tief ein und dann wieder aus. »Ja, es ist mir mittlerweile klargeworden.« »Eben.« Die Deutsche schloß für eine Weile die Augen. Sie dachte über die Worte nach. Nein, nein, sie wollte es sich nicht vorstellen. Wenn sie das tat, wurde sie noch verrückt. Sie wollte, daß alles so blieb. So und nicht anders. Um Himmels willen nicht auffallen, nicht daran denken, daß sie sich eine dämonische Laus in den Pelz gesetzt hatten. Das wäre fatal,
das würde die Angst noch steigern – aber hatte Marisa denn so unrecht? Standen die Chancen nicht fünfzig zu fünfzig? Ja, so mußte es sein. So und nicht anders. Es gab keine Möglichkeit, es war einfach zu verrückt, zu… »Du sagst ja nichts.« »Mir hat es auch die Sprache verschlagen.« »Das kann ich mir denken.« »Aber du könntest recht haben«, flüsterte Katja. »Und wenn du recht hättest, wären wir allein. Vielleicht haben wir deshalb auch dieses verdammte Gefühl bekommen, mit dem wir nicht zurechtkommen. Das ist ja alles möglich.« »So sehe ich es auch.« Katja wühlte ihre Haare durch. »Meine Güte, im Keller.« Sie lachte plötzlich. »In diesem verdammten Keller, der so groß ist und vor dem einige Angst haben, ihn zu betreten. Und wir können nicht einmal etwas sagen, man würde uns nicht glauben. Die würden uns auslachen. Wer denkt schon an Vampire?« »Eben.« »Was tun wir dann?« »Warten«, flüsterte Marisa. »John Sinclair und Jane Collins anrufen.« Katja stand auf und ging zum Fenster. Mit der Spitze des Zeigefingers tippte sie gegen die Scheibe. »Wie wir von Susan erfahren haben, wohnen sie im Hotel >Des Alpes<.« »Falls sie dort sind.« »Das läßt sich feststellen.« Sie überlegten; sie redeten hin und her, sie schauten nach draußen, wo alles normal war, aber zu einem Ergebnis, das beide befriedigte, kamen sie nicht. Zunächst einmal riefen sie nicht an. Es würde nicht mehr zu lange dauern, bis sich die Dämmerung senkte. Sobald sie kam, wollten auch Jane Collins und John Sinclair erscheinen. Sie wußten, zu welchem Fenster das Zimmer gehörte. Dann konnten sie mit ihnen reden. Darauf einigten sie sich schließlich. »Weißt du, was ich mir wünsche?« flüsterte Marisa. »Wie sollte ich?« »Daß die nächste Nacht schon vorbei und Susan heil und gesund wieder bei uns wäre.« Katja lächelte. »Das wünsche ich mir auch, aber ich glaube nicht, daß wir dieses Glück haben werden…« *** Der Keller!
Kein normaler Keller, sondern ein aus dem Stein hervorgehauenes Gewölbe mit grauen Decken, grauen Wänden, zahlreichen Gängen und auch vielen Räumen, die als Lager und Abstellkammern ebenso dienten wie als Archive, wo die Unterlagen all der Schüler lagen, die das Internat einmal besucht hatten. Eine düstere Welt, vor der sich die jüngeren Schüler fürchteten, auch deshalb, weil ihnen die älteren immer Angst einjagten und von den menschenfressenden Schatten erzählten, die in den Wänden des Kellers lauern sollten. Das steigerte die Furcht der Kids natürlich. Später ließ sie dann nach, und die gleichen Geschichten wurden an die neuen Kleinen weitergegeben, so daß der Kreislauf immer blieb. Dem Hausmeister war es recht. So lief er kaum Gefahr, daß er in seinem Reich, wo er sich auch eine Werkstatt eingerichtet hatte, ungestört blieb. Zu tun gab es immer etwas. Das fing bei einem klemmenden Fenster an, ging weiter bis zum Leck in der Wasserleitung und zerbrochene Stühle bis hin zu einem neuen Anstrich. Und wenn etwas repariert werden mußte, dann tat Peter Würz das lieber in seiner Kellerwerkstatt, die er sich so hatte einrichten können, wie es ihm in den Kram paßte, und er fühlte sich ungewöhnlich wohl dort. Sogar schweißen konnte er in seinem Bereich, das aber war nur selten nötig. Es waren vielmehr die kleinen Dinge, um die er sich kümmerte, und so hatte er sich in den letzten Tagen vorgenommen, gewisse Holzarbeiten zu beenden. Es gab da viele Nachtkonsolen, an denen der Zahn der Zeit schon zu stark genagt hatte. Der Hausmeister arbeitete die Stücke auf und gab ihnen auch einen hellblauen Anstrich. Zehn Kommoden wollte er überholen und restaurieren. Acht hatte er fertig, die beiden anderen würde er auch noch vor dem großen Run in die Ferien schaffen. Er war zufrieden mit seiner Arbeit und auch mit seinem Arbeitsplatz im Keller. Das aber sollte sich ändern… *** Susan erinnerte sich an die Nacht! Sie war herrlich gewesen. Der Biß der Zähne, das Schlürfen des Vampirs, als er ihr Blut trank, und anschließend dieses wunderbare Gefühl, das über sie gekommen war. Diese einmalige Leere, das Gefühl fliegen zu können, einfach wegzutreiben, hinein in die Unendlichkeit, um dann irgendwann wieder zu erwachen. Einfach so. Lebend und doch tot… Anders eben!
Sie war auch erwacht. Nur nicht wie sonst. In ihr steckte etwas völlig Neues, was sie nicht kannte und auch nicht einstufen konnte, denn es war kein Gefühl, sondern ein Drang. Der Drang nach Menschen und mehr. Der Drang nach Blut! Sie hatte erwartet, auf dem Friedhof zu erwachen, aber das war nicht der Fall gewesen. Sie war in der Dunkelheit wieder zu sich gekommen, in einer grauen, tiefen Finsternis, in der sie sich ungemein wohl fühlte, denn Licht wollte sie nicht. Und sie fühlte sich stark. Es war eine andere Stärke, als die, die sie kannte. Die Stärke einer Untoten und gleichzeitig verbunden mit dem Wissen, daß ihr normale Waffen nichts mehr anhaben konnten. Sie stand jetzt darüber. Sie würde Kugeln ebenso schlucken wie Messerstiche. Sie war zu allem bereit. Sie würde sich jedem Feind stellen, jeden Gegner locker auflaufen lassen und ihn vernichten können. Dieses Wissen machte sie stark. Und trotzdem fühlte sie sich schwach. Ihr fehlte einfach Blut. Nicht irgendeines, sondern frisches, sprudelndes Menschenblut, das ihr aus der Ader direkt in den Mund schoß. Und sie würde das Blut bekommen, denn sie war mit ungewöhnlichen Sinnen ausgerüstet, die ihr sagten, daß sich Menschen nicht zu weit entfernt befanden. Zwar nicht in der direkten Nähe, trotzdem war sie in der Lage, sie zu spüren. Diese Menschen bewegten sich eigentlich in ihrem Umfeld, auch wenn sie diese nicht sehen konnte. Freiwillig würden sie nicht zu ihr kommen, also mußte sie zu ihnen gehen. Noch hockte sie auf einem kalten Steinboden, und sie hob die Hand, um nach ihren Zähnen zu tasten. Zwei waren gewachsen. Wie Messerspitzen stachen sie aus ihrem Oberkiefer hervor nach unten, bereit, in das Fleisch der Opfer Wunden zu reißen. Ja, es würde ihr guttun. Es war alles okay. Es würde so laufen, damit sie zu ihrem Recht kam. Sie stand auf. Mit zuviel Schwung, denn sie torkelte vor, sah die Wand nicht und prallte mit dem Kopf dagegen. Sie hörte das dumpfe Geräusch, aber einen Schmerz verspürte sie nicht. Statt dessen knurrte sie. Es war ein Laut der Gier und der Wut, der ihre Kehle verlassen hatte. Sie war jetzt vorsichtiger, bewegte sich an der Wand entlang und tastete sie dabei ab. Stein… Stein… Stein – Holz! Eine Tür!
Einmal noch klatschte sie mit beiden Händen gegen das Material, dann hatte sie die Klinke gefunden, stemmte sich darauf und schaffte es, die Tür nach außen zu drücken. Das quietschende Geräusch störte sie zwar, doch sie konnte es nicht ändern. Sie ging in einen Gang oder Flur, und sie merkte, daß die Dunkelheit gewichen war. Von der rechten Seite her erreichte sie ein Lichtschimmer, der aber noch weit entfernt war, ihre sensiblen Sinne stellten augenblicklich jede Veränderung sehr genau fest. Susan drehte den Kopf. Das Licht verlosch nicht. Jemand mußte eine Lampe eingeschaltet haben, um sich in ihrem Licht zu orientieren. Es war nichts zu hören, abgesehen von ihren eigenen Schritten, die schwer über den Boden schleiften, was ihr auch nicht gefiel, denn sie hatte das unbestimmte Gefühl, nicht gehört werden zu wollen, und deshalb bemühte sich die Blutsaugerin, so leise wie möglich zu gehen, was. ihr nicht leicht fiel, denn sie hatte einen bestimmten Geruch in die Nase bekommen. Die Ausstrahlung eines Menschen. Ein Mensch? Das bedeutete Blut! Eine graue Zunge drängte sich durch den Mund und umtanzte kreisend die Lippen. Vorfreude… Bald würde es sprudeln, hellrot, wunderbar und sättigend. Dann konnte sie trinken und Kraft tanken. Mit jedem Meter, den die Untote zurücklegte, fühlte sie sich sicherer. Sie merkte, daß sie über den anderen stand, daß ihr niemand etwas anhaben konnte, und sie drückte einmal ihren Kopf zurück in den Nacken, um zur Decke zu schauen. Über ihr waren sie. Über ihr lebten sie. Menschen – Nachschub in jeder Menge. Blut, frisches, herrliches Blut, das in den Adern von Schülern und Schülerinnen floß. Inzwischen wußte Susan, wo sie sich befand. Trotz des dämmerigen Lichts kannte sie sich aus. Sie bewegte sich in einer Umgebung, die sie beim besten Willen nicht als fremd ansehen konnte. Hier ging alles glatt, hier waren die Räume, die Keller, die Verstecke. Auch für sie. Der Vampir hatte es gut, sogar sehr gut mit ihr gemeint. Für sie war er ein übergroßer Ziehvater, sie war ihm so unendlich dankbar, denn sie hatte ihm den Schritt in diese neue Welt zu verdanken. Und doch, trotz aller Euphorie, hatte sie den Eindruck, völlig trocken zu sein. Keine Flüssigkeit im Körper. Alles war ausgedörrt. Jede Bewegung schabte und knisterte.
Wo war das Blut? Sie knurrte. Die Gier steigerte sich, sie ging schneller, und sie näherte sich dem Licht. Nach wie vor brannte es ruhig. Und es war wichtig für denjenigen, der in ihm arbeitete. Der Mensch… Das Opfer… Sie knurrte leise. Die Arme schwangen bei jedem Schritt an den Seiten mit. Sie schloß die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Diesen Rhythmus behielt sie bei. Weifer. Immer weiter. Dem Licht zu, dem Menschen, dem Opfer entgegen, und den Blick dabei nach vorn gerichtet. Zu stark nach vorn, nicht zu Boden. An der Wand lehnte die Eisenstange. Gegen sie trat Susan mit dem rechten Fuß. Die Stange kippte und landete mit einem klirrenden Geräusch auf den Steinboden… *** Peter Würz war zufrieden. Noch immer zufrieden. Die zweitletzte Konsole hatte er sich vorgenommen und ihre Aufarbeitung bereits geschafft. Es fehlte nur mehr der himmelblaue Anstrich, der dem Möbelstück eine wirklich freundliche Note gab. Er hatte eine neue Dose Farbe geöffnet. Mit einem Holzscheit rührte er sie um. Er tat es wie in Gedanken verloren. Dabei überlegte er, ob er nicht das Radio einschalten sollte, aber der Empfang hier unten war nicht so gut, und auf kratzende Begleitgeräusche konnte er verzichten. Also blieb das Radio aus, dafür griff er nach dem Pinsel und tauchte ihn in die fertig gerührte Farbe. Die Masse lief schlierenartig zusammen. Während Peter Würz rührte, schaute er auf die neben ihm stehende Kommode. Er dachte daran, daß sie zu einem Schlafzimmer gehörte, und diese Farbe erinnerte ihn auch wieder an sein Schlafzimmer, das er einmal mit Germaine, seiner Ehefrau, geteilt hatte. Mein Gott, wie lange war das her? Zehn Jahre, zwölf? Peter wußte es nicht einmal genau. Er hatte die Zeit aus seinem Gedächtnis verbannt. Germaine war eines Tages verschwunden, einfach so. Im nachhinein hatte er erfahren müssen, daß es ein Liebhaber aus Marseille gewesen war, dem sie sich angeschlossen hatte. Seit dieser Zeit hatte er nichts mehr von ihr gehört. Und er war aus der Stadt Bern in die Berge gegangen und war froh gewesen, den Job als Hausmeister gefunden zu haben. Heiraten – wieder heiraten.
Peter Würz hatte einige Male mit dem Gedanken gespielt, mußte sich aber ehrlich eingestehen, daß auch er in den ehelosen Jahren zu einem Eigenbrötler geworden war und es eine Frau nicht leicht mit ihm haben würde. Eine nochmalige Niederlage wollte er nicht erleben, so war er dann Junggeselle geblieben. Die Farbe war gut durchgerührt. Er konnte mit dem Anstrich beginnen. Um den Topf bequem erreichen zu können, stellte Würz ihn auf einen Schemel. Dann brauchte er sich nicht zu bücken. Da hörte er das Klirren! Mitten in der Bewegung erstarrte der Hausmeister. Nicht etwa wegen dieses Geräusches, es war einfach so plötzlich gekommen, völlig unerwartet für ihn, und er merkte sehr bald, wie er sich innerlich verkrampfte, dann aufstand, um nachzusehen, wieso dieser Laut im Gang überhaupt hatte entstehen können. Wenn ihn jemand besuchen wollte, dann meldete er sich normal an und nicht durch ein Klirren. Er war mißtrauisch geworden. Als er aufstand, glitt seine Hand nach rechts. Dort hatte er sich Eisenregale hingebaut, in denen Werkzeug lag, und mit der Rechten griff er nach einem langen Schraubenschlüssel. Er hielt ihn auch umfaßt, als er die Holztür von seiner Werkstatt aufstieß. *** Für einen Moment nur hatte Susan Carrigan gezögert, als die Stange umgefallen war. Auch sie hatte den Laut gehört, sie ärgerte sich darüber, aber sie dachte auch, daß es keinen Sinn hatte, sich weiterhin zu verstecken. Sie wollte ja das Blut, und so würde sie es vielleicht früher bekommen, denn die Person war sicherlich gewarnt. Susan wußte auch, mit wem sie es zu tun bekommen würde. Genau dort, wo das Licht brannte, da hatte der Hausmeister seine Werkstatt. Dort hockte er und arbeitete, da hatte er seine Ruhe. Nicht mehr lange. Sie kicherte, als sie daran dachte, ging noch schneller und sah bereits den Umriß der Lattentür, durch deren Zwischenräume das Licht in den Gang geflossen war. Jemand stieß die Tür auf. Es war Peter Würz. Susan Carrigan ging noch zwei Schritte weiter. Dann stand sie dem Mann gegenüber. Beide starrten sich an! ***
Die Unruhe blieb! Draußen wanderte die Sonne. Hin und wieder hatten Marisa und Katja das Fenster geöffnet und nach draußen geschaut. Es war nur noch wenig los außerhalb der Mauern. Man aß zu Abend, die meisten Schüler saßen in der Kantine, wie der Eßsaal immer genannt wurde. Einige ältere hatten sich abgemeldet. Sie hatten sich fertig gemacht, um in den Ort zu fahren. Nicht wenige besaßen ein Auto. Wer da fuhr, nahm noch andere mit, und man freute sich auf den Abend und den Teil der Nacht, den man in irgendwelchen Discos unten am See verbringen würde. Nicht so Katja und Marisa. Ihre Angst wurde noch größer. Sie sprachen kaum darüber, aber es war ihnen anzusehen. Sie hatten auch im Hotel >Des Alpes< angerufen, doch weder John Sinclair noch Jane Collins an den Apparat bekommen. Die beiden waren ausgegangen, hatte es geheißen. Im Internat waren sie noch nicht erschienen, auch nicht am Fenster, das eine der beiden immer bewachte. Katja schüttelte den Kopf. »Du kannst ja sagen, was du willst, Marisa, aber ich glaube, daß er schon in der Nähe ist.« »Der Vampir?« Sie nickte und hatte sich dabei verkrampft. »Ich weiß nicht«, flüsterte Katja, »das kann er doch nicht wagen, wo es noch hell ist.« »Vergiß nicht, daß er eine gute Führerin gehabt hat. Susan wird ihm alles zeigen können.« »Das stimmt auch wieder.« In jedem Zimmer gab es einen kleinen Lautsprecher für irgendwelche wichtige Durchsagen. Bevor eine dieser Durchsagen begann, erklang immer ein leises Kratzen. So auch jetzt. Beide Mädchen blickten hoch. Dieses Geräusch kannten sie im Schlaf. Jemand wollte etwas von ihnen, und plötzlich steigerte sich ihre Angst noch mehr. »Telefon für Katja Lagemann, bitte. Im Sekretariat…« »Für mich?« flüsterte Katja. »Ja, geh.« »Wer kann das sein?« »Das wirst du schon hören.« Katja schlich zur Tür. Ihr Herz klopfte sehr schnell. »Geh schon, Katja.« »Willst du nicht mit?« »Nein, ich muß bleiben. Ich muß auch das Fenster im Auge behalten, wenn die beiden kommen.«
»Ja, gut«, flüsterte Katja, »dann gehe ich jetzt.« Sie zerrte die Tür auf und war verschwunden. Die Schülerin hatte nicht weit zu laufen. Das Sekretariat lag auf derselben Etage. Es war bis in die späten Abendstunden besetzt. Zwei Mitarbeiterinnen teilten sich den Job. Es waren nicht verheiratete Frauen, ziemlich schrullig, wie alte Fräuleins eben sind, aber mit den Schülern und Schülerinnen kamen sie gut zurecht. Der Weg kam Katja lang vor. Nicht nur die Beine, auch die Arme und der übrige Körper waren mit Blei gefüllt. Es hing schwer an ihren Gliedern und hatte sich im Nagel jedes Fingers gesammelt. Im Flur brannte nicht eben das hellste Licht. Es gab viele Schatten, die sich auf den Wänden festgesetzt hatten, und sie kamen dem jungen Mädchen vor wie zweidimensionale, erstarrte Monster. Sie wußte nicht, wer sie angerufen hatte, rechnete insgeheim aber mit ihrem Vater. Sie öffnete die Tür des Sekretariats. Auch diese simple Tat und Bewegung kam ihr ungemein schwer vor. Sie hatte das Gefühl, die alte Welt zu verlassen und eine neue zu betreten. Die Frau mit dem grauen Kleid und dem Knoten im Haar hieß Margot Ledonne. Sie saß vor einem Bildschirm, wo sie Zahlenreihen kontrollierte. Der Hörer lag neben dem Telefon. »Es ist dein Vater, Katja.« Margot Ledonne drehte sich um, nahm den Hörer und reichte ihn der Schülerin, die blaß geworden war. »He, stimmt was nicht?« Katja biß auf ihre Unterlippe. »Was ist los? Du schwitzt ja plötzlich. Willst du nicht mit deinem Vater sprechen?« Sie hatte leise geredet, damit der Mann am anderen Ende nichts hörte. »Doch, ich will.« »Dann bitte.« Katja hob die Schultern. »Es ist nur… nun ja, es ist so plötzlich gekommen.« Sie griff endlich nach dem Hörer und sah tatsächlich die Schweißperlen auf ihrem Handrücken. »Hi, Katja…« Herzklopfen, als sie die Stimme des Vaters hörte, die so optimistisch klang und genau das Gegenteil von Katjas Stimmung widerspiegelte. »Hat aber lange gedauert.« »Ja, ich war draußen.« »Und?« »Was und?« »Sind die beiden Helfer schon eingetroffen? Paul Carrigan wollte ja dafür gesorgt haben.« »Sie sind da. Eine Frau und ein Mann.« »Seid ihr froh?« »Sicher.«
Herbert Lagemann räusperte sich. »Deine Stimme, gefällt mir überhaupt nicht, Katja. Sie klingt so matt. Was ist denn los? Ist schon etwas passiert?« »Ich hoffe nicht, Vati.« »Was heißt das?« »Susan ist verschwunden.« Sie hatte es nicht sagen wollen, aber jetzt war es herausgeplatzt. »Wie bitte?« »Susan ist weg.« »Und?« »Wir wissen nicht, wo sie ist. Es war in der Nacht, da hat sie das Zimmer verlassen.« Es sprudelte jetzt aus ihr hervor. Sie war froh, daß die Sekretärin den Raum verlassen hatte, das tat sie immer, wenn die Schülerinnen private Gespräche führten. Katja konnte frei reden, und sie war froh, es sagen zu können. Sie berichtete ihrem Vater alles, der damit nicht gerechnet hatte und ebenfalls ziemlich geschockt war, denn er war zunächst nicht in der Lage, eine Antwort zu geben. »Was… was… sagst du dazu, Vater?« »Das ist ein Hammer!« »Ich weiß.« »Und eure beiden Helfer?« »Haben daran nichts ändern können, sie waren ja noch nicht eingetroffen.« »Klar, da hast du recht. Weißt du denn, wie es jetzt weitergeht?« »Nein. Oder doch. Sinclair und Jane Collins wollen das Haus und auch unser Zimmer beobachten. Sie glauben daran, daß eine Gefahr besteht.« »Das ist schon gut.« »Ich habe Angst, Vater!« Herbert Lagemann war für einen Moment still. »Was soll ich dir darauf erwidern, Kind? Ich kann dir nur sagen, daß ich dafür vollstes Verständnis aufbringe. Ja, ich weiß, wie schlimm es ist, wenn man Angst hat. Uns ist es damals kaum anders ergangen. Wir haben es nicht geschafft, Tochter. Wir dachten, es geschafft zu haben, doch wir irrten uns. Er hat gewartet, er hat sich alles genau ausgerechnet, und sein Plan ist, verdammt noch mal, aufgegangen.« »Du hast mir nie etwas davon gesagt.« »Das war auch nicht nötig, Katja. Außerdem wollten Paul, Claudio und ich euch nicht Angst machen. Ihr müßt euch auf John Sinclair und diese Jane Collins verlassen. Das sind Profis. Ich habe vor kurzem noch mit Paul gesprochen. Er hat wirklich all seine Beziehungen spielen lassen und dafür gesorgt, daß die Besten kamen. Ihr braucht also keine Furcht zu haben.« »Was sollen wir denn jetzt tun?« Katjas Stimme klang verzweifelt. Sie fühlte sich so leer und gleichzeitig so, als würde sie allmählich auslaufen.
»Zusammenbleiben. Das Zimmer nicht verlassen. Meinetwegen auch das Fenster schließen. Wenn ihr diese Nacht überstanden habt, wird alles anders aussehen.« »Schlechter?« »Bestimmt nicht.« »Gut, Vater, ich muß zurück.« Sie atmete schwer aus. »Bestelle Mutti bitte einen Gruß.« »Das werde ich machen. Alles Gute, mein Kind!« »Danke.« Katja legte auf. Sie wollte mit der Sekretärin kein Wort reden. Überhastet verließ sie den Raum. Im Flur lehnte sie sich gegen die kühle Wand und mußte zunächst tief Luft holen. Schwindelgefühl packte sie. Sie hatte den Eindruck, auf den schwankenden Planken eines Bootes zu stehen, das auf den hohen Kämmen einer Welle dahinschoß. Ihr war leicht übel geworden. Sie preßte die Hände gegen ihren Magen, und erst als sie hastige Schritte und Stimmen hörte, schaute sie auf. Es waren Schülerinnen aus den unteren Klassen, die durch den Flur jagten und ihren Spaß hatten. Katja ging wieder zurück. Jeder Schritt wurde zur Qual. Sie hatte den Eindruck, sich ihrer eigenen Gruft zu nähern, und in ihrem Kopf steckte eine Nadel, die sich immer wieder pieksend bewegte. Jeder Stich kam ihr vor wie ein Vorbote des Todes. Irgendwann, irgendwann in dieser Nacht würde er kommen… Es war Susan Carrigan, aber sie war es trotzdem nicht! Peter Würz hatte den Faden verloren. Er stand auf dem Kellergang, das Licht aus seiner Werkstatt reichte aus, um die nähere Umgebung zu erhellen, und er hatte für einen Moment das Gefühl, in einen tiefen, schwarzen Abgrund zu stürzen. Sie war es – oder? Sie sah aus wie immer und trotzdem so verdammt anders. Es mochte daran liegen, daß ihr Gesicht von einem Schattenflor bedeckt war, aber nur ein Teil davon. Die linke Hälfte lag frei, und er sah, daß sie gar nicht mehr lebte. Da war alles starr. Sie glotzte, ihr Auge bewegte sich nicht. Auch der Mund zeigte ein Bild, das aussah wie zwei starre, blasse Schläuche, auf die sich eine dünne Eiskruste gelegt hatte. Zudem war er schrecklich verzogen, und vor allen Dingen hatte sie die Oberlippe in die Höhe geschoben, so daß die Zahnreihe dort freilag und einen schimmernden Glanz abgab. Er konnte ihn deutlich sehen, aber er sah auch noch mehr, denn zwei Zähne hatten sich verändert. Sie wuchsen weiter vor, sie waren leicht gebogen, und ihre gekrümmten Spitzen sahen aus, als würden sie auf etwas zielen.
Es waren nur Sekunden vergangen, aber Würz kam es vor, als hätte sich die Zeit zu Minuten gedehnt. In der rechten Hand hielt er nach wie vor den langen Schraubenschlüssel. Zwischen dem Metall und seiner Haut hatte sich ein Film aus Schweiß gebildet. Susan Carrigan hatte bisher kein Wort mit ihm gesprochen, nicht mal den Versuch gestartet. Dennoch spürte er genau die Feindschaft, die ihm entgegenschlug. Es war wie ein Eishauch, der mit einer Melodie des Todes gefüllt war, und er tat etwas, das er normalerweise nie getan hätte. Würz hob seinen rechten Arm an. Der Schraubenschlüssel kam ihm sehr schwer vor, aber er gab nicht auf. Er wollte und mußte es tun. Er stellte sich auf eine Abwehr ein oder auf einen Angriff. Würz wollte auch nicht darüber nachdenken, was da geschehen sein könnte. Er akzeptierte die Veränderung zum Negativen hin. Hier hatte die normale Welt einen Riß bekommen, da klaffte ein langer Spalt, und aus dieser Lücke war etwas anderes hervorgekrochen. Endlich bewegte sie sich. Aber es war nicht sie, die den Schritt nach vorn tat, nein, diese Person sah nur so aus wie Susan, tatsächlich aber bewegte sich nur eine Schablone auf den Hausmeister zu. Das Gesicht geriet in den Lichtschein, er sah den Mund ganz und wußte nun, daß die beiden Zähne oben keine Täuschung waren. So sah ein Vampir aus. Susan war ein Vampir! Der Hausmeister glaubte nicht an eine Verkleidung. Sie hatte sich bestimmt keine künstlichen Vampirzähne in den Mund geschoben, das hier war echt. Er konnte es einfach nicht fassen, es ging über seine Kräfte, aber er sah sich gezwungen, die Tatsachen zu akzeptieren. Sie atmete auch nicht! Es war das letzte Glied, das ihm in seiner Beweiskette noch gefehlt hatte. Kein Atem. Sie würde auch kein Spiegelbild abgeben. Der Hausmeister hatte einiges über Vampire gelesen, und in den Büchern waren sie so beschrieben worden, wie er diese verfluchte Schülerin jetzt vor sich sah. Schrecklich… Sie wollte ihn, sie war stark, und er mußte stärker sein. Peter Würz konzentrierte sich voll und ganz auf die Abwehr. Mit einer heftigen Bewegung riß er den rechten Arm in die Höhe. Der lange Schraubenschlüssel machte die Bewegung mit, und einen Moment später schlug er zu. Er hatte vorgehabt, auf das Gesicht und den Kopf zu zielen, im letzten Moment bekam er Skrupel und änderte die Richtung des Schlags. Dafür erwischte er die Schulter der Schülerin. Es war die rechte, und an der rechten Seite sackte Susan Carrigan zusammen, wobei sie gegen die Wand schlug, dort entlang nach unten
rutschte, auf den Boden sackte und von dem Hausmeister beobachtet wurde. Er hatte etwas knirschen und knacken gehört, aber er konnte sich nicht freuen, denn katzenhaft schnell griff die linke Hand der Blutsaugerin zu und bekam den Knöchel des Mannes zu fassen. Sie klammerte sich daran fest, die Finger waren wie Draht, ein Ruck reichte, um den Hausmeister von den Beinen zu holen. Er kippte mit einer drehenden Bewegung zurück. Noch in der Schräglage dachte er daran, auf keinen Fall mit dem Kopf aufzuschlagen. Wenn das passierte, war alles vorbei, dann konnte er sich leicht den Schädel einschlagen und… Der Aufprall wurde bei ihm zu einer Explosion. Sein Kopf schien auseinanderzufliegen. Schmerzwellen durchzuckten die Stirn und die Schädelplatte. Sie erinnerten ihn an grelle Blitze, die er allerdings nicht sah. Er stöhnte. Nicht bewußtlos! Ich bin nicht bewußtlos! Ich bin hier und kriege alles mit. Auch das Schaben. Da kam jemand. Sie kam… Susan hatte sich nicht aufgerafft. Sie war in einer kniedenden Haltung geblieben, und so rutschte sie auf ihr erstes Opfer zu. Sie wollte es haben, sie brauchte das Blut, um stark zu werden. Sie fühlte sich so trocken und leer, viel zu schwach, um die anderen Dinge in Angriff zu nehmen. Kein Atemstoß verließ ihren verzerrten Mund. Was dem liegenden Hausmeister entgegenschwang, war ein drohendes Knurren, das ihn mehr an das eines angriffbereiten Hundes erinnerte. Er wollte sich nicht ergeben. Es lag an diesem verdammten Knurren, das ihn so unwahrscheinlich aufputschte und er es sogar trotz der Schmerzen schaffte, auf die Beine zu kommen. Das sah auch die Untote. Wieder griff sie zu. Diesmal war sie zu langsam. Da rutschten ihre Fingerkuppen nur am Stoff der Hosenbeine entlang, mehr geschah nicht, und der Hausmeister taumelte zur Seite. Er hatte noch nicht gesehen, daß sein Haar an einer bestimmten Stelle des Kopfes blutverschmiert war. Der verdammte Gang vor ihm war zu eng. Er würde nicht ungeschoren an dieser verfluchten Bestie vorbeikommen. Deshalb gab es nur eine Lösung. Zurück in seine Werkstatt. Noch stand die Tür offen. Und der Hausmeister katapultierte sich mit einem gewaltigen Sprung hinein. Er holte alles aus sich heraus, er fiel hin, aber er schaffte es auch, die Tür zuzurammen und den Riegel von innen vorzuschieben. Von außen war die Tür mit einem Schloß versehen, innen aber reichte der Riegel. Auch gegen die Bestie, die einmal eine Schülerin gewesen war?
Sie stand wieder auf den Beinen. Mit ihrer rechten Schulter schien etwas nicht in Ordnung, sie hing nach unten weg. Trotzdem war sie tödlich. Die Bestie wuchtete sich mit ihrem gesamten Gewicht gegen die aus Latten bestehende Tür. Der Hausmeister war zwei Schritte zurückgetreten. Er betete, er zitterte und hoffte nur, daß die Latten stark genug waren, dem Druck standzuhalten. Der erste Versuch war ein Fehlschlag. Die Gegenreaktion schleuderte die Untote zurück. Sie prallte dabei mit dem Rücken gegen die Wand, tickte wieder nach vorn, gab sich noch einmal Schwung und wuchtete ihren Körper wieder gegen die Latten. Sie zitterten, aber sie hielten. Dem Hausmeister fiel ein, daß er noch immer den langen Schraubenschlüssel festhielt. Er kam ihm vor wie ein rettender Strohhalm, aber er überlegte auch, welche anderen Waffen man gegen Vampire einsetzen konnte. Eichenpflock… Salz… Seine Gedanken brachen ab. Jede Konzentration sorgte in seinem Kopf für einen neuen Schmerzschub. Hinter der Tür bewegte sich Susan. Würz sah sie nur verschwommen, und das wiederum lag nicht nur an den schmalen Lücken des Gitters. Es hatte mit ihm zu tun, mit seiner Kopfverletzung. Er hätte normalerweise nicht mal mehr stehen dürfen. Er hätte sich hinsetzen oder legen müssen. Wieder prallte die Blutsaugerin gegen die Latten. Und wieder beugten sie sich ihm entgegen, aber sie brachen nicht und federten wieder zurück. Ihn überkam der Schwindel. Ihm wurde zudem übel. Anzeichen einer Gehirnerschütterung. Er würde sich nicht mehr lange auf den Beinen halten können, das stand für ihn fest. Irgendwann würde der Punkt kommen, wo es dann vorbei war. Er wartete auf den nächsten Versuch. Die Untote würde nicht aufgeben, die brauchte Blut, und die Tür würde auch nicht immer und ewig halten. Drei, vier Stöße noch, dann… War es ein Trugbild, oder stimmte alles? Susan ging! Sie unternahm keinen neuen Versuch. Sie lief nicht mehr, sie stützte sich auch nicht von der Wand ab, um einen erneuten Anlauf zu starten. Sie zeigte noch einmal ihr Gesicht, und sie präsentierte auch ihre Wut und ihren Haß. Das Fauchen hätte auch ein Raubtier ausstoßen können. Es drang in die Werkstatt ein wie ein böser Windstoß, und es ließ den Hausmeister zurückzucken.
Gleichzeitig war es ein Abschluß, denn Susan drehte sich auf der Stelle um. Peter Würz konnte es kaum glauben, aber die Schülerin tappte tatsächlich davon. Sie hatte kein Interesse mehr an seinem Blut. Es gab genügend andere Menschen in diesem Haus, die sie leersaugen konnte. Schülerinnen und Schüler, zum Teil noch Kinder, wenn sie den unteren Klassen angehörten. Leichte Beute! Das wußte der Hausmeister genau. Er mußte sie oben warnen. Warnen… warnen… warnen… Es schrie in seinem Kopf. Und der Schrei explodierte. Er brach zusammen. Die Spannung hatte sich gelöst. Mit beiden Händen gelang es ihm noch, die Latten der Tür zu umfassen. An ihnen rutschte er entlang, und sein Sturz auf den Boden schwächte sie ab. Dennoch fiel er hinein in das Trauma der Bewußtlosigkeit. *** Wir hatten etwas essen wollen und auch schon in einem der beiden Restaurants unsere Plätze eingenommen, aber beide waren wir nicht so recht in Stimmung gewesen. Jane legte die Speisekarte zur Seite und schüttelte den Kopf. »Nein, John, nicht jetzt.« »Du auch nicht?« »Eben.« »Ich werde auch nur etwas trinken.« Wir bestellten Wasser. Die Bedienung nahm die beiden Speisekarten wieder mit. Das Wasser erfrischte uns, und wir merkten beide, daß wir immer nervöser wurden. Auch daran zu erkennen, daß wir oft genug durch das Fenster zum Himmel schauten, der nun allmählich eine andere Färbung annahm. Vielleicht war es falsch, hier zu sitzen, aber was hätten wir tun sollen? Auf dem Friedhof warten und darauf hoffen, daß sich der Blutsauger zeigte? Das hätte ebensogut ein Schlag ins Wasser werden können, denn ein Vampir würde sich dort aufhalten, wo er seine Opfer fand, und das war die Nähe des Internats. »Wie hoch schätzt du Susans Chancen ein?« fragte mich Jane. »Bitte eine ehrliche Antwort.« »Nicht sehr hoch.« »Gut.« Sie nickte. »Ich auch nicht. Er muß sie gelockt und sie sich dann geholt haben.« »Sie wird zurückkehren.« »Wohin?«
Ich war etwas irritiert wegen der Frage. »Zum Internat natürlich. Oder was denkst du?« »So habe ich das nicht gemeint. Ich kann mir vorstellen, daß sie an einen ihr bekannten Platz zurückkehrt, und das ist nun mal das Zimmer, das sie sich mit den beiden anderen Mädchen geteilt hat.« »Das befürchte ich auch.« Jane spielte mit ihrem Glas. »Also müssen wir schneller sein.« Ich schaute wieder nach draußen. Der Himmel war dunkler geworden. Er zeigte nicht mehr die helle Bläue. Die Sonne neigte sich bereits in Richtung Westen, um sich wieder einmal zu verabschieden. Zurück ließ sie einen letzten blutigen Gruß, mit dem sie den Himmel und die ersten Wolken anmalte. Das Restaurant füllte sich allmählich mit Gästen, die zum Abendessen reserviert hatten. »Ich glaube, wir sollten uns auf den Weg machen.« Ich trank mein Glas leer, schob den Stuhl zurück und legte ein Trinkgeld auf den Tisch. Auch Jane Collins hatte sich erhoben. Sie machte einen nachdenklichen Eindruck, der auch dann nicht verschwunden war, als wir in unserem Leihwagen saßen. »Was ist mit dir, Jane?« Sie schnallte sich an. »Tja, was ist mit mir? Halte mich für dumm oder überspannt, aber irgendwo habe ich den Eindruck, daß wir alles falsch gemacht haben.« »Wie kommst du darauf?« »Ich weiß es nicht. Es ist auch nicht die reine Logik. Ich gehe einfach meinem Gefühl nach. Wir hätten vielleicht in der Schule bleiben sollen, um dort zu…« »Aufzufallen«, sagte ich. »Denk mal nach, Jane. Wir wären dort aufgefallen, denn wir sind fremd. Man hätte uns entsprechende Fragen gestellt, und wie hätten wir die beantworten sollen?« »So gesehen hast du recht, John.« »Danke.« »Bitte, laß den Spott.« Wir waren unterwegs. Der Serpentinenweg lag vor uns wie eine tote Riesenschlange, die sich höher und höher schob, bis sie vor dem Gemäuer endete. Schon aus einer gewissen Entfernung war für uns zu erkennen, daß da oben bei der Schule Aufbruchstimmung herrschte. Bei diesem herrlichen Wetter wollten viele der älteren Schüler nicht im Bau bleiben. Wer einen Wagen hatte, packte ihn mit Freunden voll und dampfte ab. Aber es fuhren auch Vespas und kleinere Motorräder. Manche Fahrer kannten keine Verkehrsregeln. Oft genug mußten wir dicht an den Rand der Straße heran, um ihnen auszuweichen. Auf dem
uns bekannten Parkplatz stellten wir den BMW zum zweitenmal an diesem Tag ab und schauten uns um. Der Himmel zeigte die ersten Schatten. Das Rot der versinkenden Sonne war noch intensiver geworden, hatte sich dabei aber auch mehr zurückgezogen. Jetzt brannte der Himmel in einem unnatürlichen Feuer, das allerdings keine Flammenzungen aufwies, sondern auf einer breiten Fläche starr loderte. »Wohin?« fragte Jane. Ich schloß den Wagen ab. »Zu den Mädchen.« »Von außen oder von innen?« »Außen.« »Gut.« Es war nicht weit bis zum Fenster, dessen Lage wir uns glücklicherweise gemerkt hatten, denn die Fenster selbst sahen doch alle ziemlich gleich aus. Ich schaute mich um, ob wir nicht doch beobachtet wurden. Für uns interessierte sich niemand. Wer uns sah, schaute vorbei, weil er mit seinen eigenen Problemen beschäftigt war, denn noch immer starteten die Schüler zu ihren Ausflügen. Man sah uns sofort. Hinter der Scheibe schimmerte das Gesicht der Marisa Melli. Kaum waren wir stehengeblieben, als sie das Fenster öffnete und sich nach draußen beugte. Auch ihre Freundin Katja Lagemann trat zu ihr. Ich brauchte nur in ihre Gesichter zu schauen, um erkennen zu können, daß es nicht Neues gegeben hatte. Sicherheitshalber fragte ich nach und erntete nicht mehr als ein Kopfschütteln. »Könnte Susan denn noch kommen?« fragte Jane. »Wir haben kaum noch Hoffnung, daß sie normal aussieht. Wenn sie… wenn sie kommt… dann nur als Vampir…« Jane lächelte. »Noch ist es nicht sicher.« »Mein Vater hat angerufen«, meldete sich Katja. »Und?« »Ich habe ihm nichts gesagt, Miss Collins. Nein, ich habe es nicht getan, wirklich nicht. Wenigstens nicht das echte.« Sie war durcheinander. »Ich habe dann schon von Susans Verschwinden erzählt, aber er hat mir gesagt, daß Sie beide ja hier sind und es schon schaffen werden. Das war seine Meinung.« »Wir packen es auch«, erwiderte Jane, wobei sie lächelte und zusätzlich noch nickte. »Wir machen das.« »Ist es auch nicht zu spät?« »Nein, das glaube ich nicht.« »Und wenn doch?«
»Abwarten.« »Was sollen wir denn tun?« fragte Marisa. »Im Zimmer bleiben, was auch geschieht«, machte Jane ihnen klar. »Ihr dürft euch auf keinen Fall herauslocken lassen oder ins Freie gehen. Ihr werdet das Fenster auch geschlossen halten. Wenn etwas sein sollte, wir halten uns in der Nähe auf. Ein Ruf reicht. Versprecht ihr uns das?« Jane mußte mit den jungen Damen reden, als wären sie Kinder. Beide nickten. »Eine von euch kann immer nahe des Fensters bleiben. Hin und wieder werden wir uns auch zeigen.« »Ja«, flüsterte Katja, »laufen Sie bitte nicht mehr weg.« »Keine Sorge, das werden wir nicht.« Sie schlossen das Fenster. Erst als wir uns abwandten, verschwand unser Lächeln. »Nun?« Ich hob die Schultern, denn ich wußte, was Jane mit diesem einen Wort gemeint hatte. »Stellen wir uns darauf ein, daß wir es mit einem weiblichen und einem männlichen Blutsauger zu tun haben…« »Das meine ich auch.« *** Sie hatte das Blut nicht bekommen, und die Gier kochte in ihr. So nahe war sie an ihrem Opfer dran gewesen, sie hatte es beinahe schon gehabt, sie hatte es auf dem Boden gehabt, dann aber war einfach alles anders geworden. Susan Carrigan fluchte! Die Worte drangen zischend über ihre Lippen. Sie murmelte auch zwischendurch die Flüche, aber das hatte zusätzlich noch einen anderen Grund. Der Schlag mit dem Schraubenschlüssel hatte ihren Arm verletzt. Die Schulter war getroffen worden, und dort war auch etwas zu Bruch gegangen. Brutal zu Bruch, sie hatte das häßliche Geräusch gehört, und das Knochengebilde dort oben war zersplittert worden. Als Mensch hätte sie schreien müssen vor Schmerzen. Als Vampir spürte sie nichts. Da ging alles glatt, normal, da empfand sie keine Schmerzen, aber sie war in ihrer Bewegungsfreiheit eingeengt, und darüber ärgerte sie sich. Der Arm schlenkerte bei jeder Bewegung vor und zurück. Er hing einfach nur an ihr. Er gehorchte ihr nicht mehr, seine Biomechanik war an einer bestimmten Stelle zerstört. Dennoch machte sie weiter. Sie mußte weitermachen. Sie brauchte Blut, die Nacht würde kommen, dann wollte sie trinken, trinken, trinken…
Noch schlurfte sie durch den Keller. Keine Schreie gelten hinter ihr auf, keine Alarmsignale, denn diesem Hausmeister mußte trotz allem noch etwas passiert sein. Er hätte sich eigentlich melden müssen, er hatte es nicht getan, und sie fing an zu überlegen. War er vernichtet? Ihre Gedanken rissen. Etwas hatte sie erwischt. Ein Strahl, der wie eine Botschaft in ihren Kopf eingedrungen war. Jemand hatte versucht, mit ihr Kontakt aufzunehmen, und dieser Jemand war derjenige, den sie als Meister anerkannte. >Ich bin da. Ich bin im Haus. Ich habe es geschafft…< »Wo?« flüsterte sie. »Wo…?« Der Blutsauger blieb die Antwort schuldig. Über ihren Kopf senkte sich wieder die dumpfe Dunkelheit. Warten, hoffen, Blut. So frisch, so schäumend, von einer herrlich roten Farbe. Mit diesem Gedanken, der sich regelrecht in ihr Gehirn hineingebohrt hatte, erreichte sie die Kellertreppe. Für einen Moment blieb sie vor der untersten Stufe stehen und schaute die Stufen hoch. Es gab mehrere Treppen, die in den Keller führten. Sie hatte sich diese bewußt ausgesucht, weil sie am einsamsten lag und nur von den wenigsten Schülern benutzt wurde. Oben sah es anders aus. Da würde sie zupacken. Mit diesem Vorsatz ging Susan die Stufen hoch. Sie schwankte bei jeder Bewegung der Beine, aber sie fiel nicht um, sie kippte nicht weg, es sah alles nur so aus. Tatsächlich steckte die Kraft in ihr. Und sie würde sie einsetzen. Susan erreichte die Tür. Sie war bei ihrer Herkunft nicht abgeschlossen gewesen und würde es jetzt sicherlich auch nicht sein. Ein Druck gegen die Metallklinke. Freie Bahn… Und Susan verließ die Unterwelt des Internats. Ihre Blutgier kannte keine Grenzen… *** »Jetzt sind sie wieder weg!« flüsterte Katja und konnte den kalten Schauder nicht unterdrücken, so daß sie sich einfach schütteln mußte. »Aber sie kommen wieder, Katja.« Marisa Melli war die stärkere der beiden Freundinnen, obwohl auch sie Angst hatte, diese aber besser kontrollieren konnte. »Sie?« »Ja.« »Und Susan auch.«
Marisa schwieg. Sie dachte ebenso wie Katja, aber sie wollte sich nicht artikulieren. Nichts mehr sagen, nur nicht zu intensiv daran denken, sonst lief man in Gefahr, daß irgend etwas riß. Daß die Bezüge zur Realität verlorengingen. »Wir trinken etwas.« »Was denn?« »Wein«, sagte Marisa. »Einen Schluck Wein. Er wird uns wirklich guttun, glaube mir.« »Ich weiß nicht…« »Komm.« Katja gab nach. Sie setzte sich an den Tisch. Ihr Blick fiel dabei auf die Tür. Marisa, die eine Flasche geöffnet und zwei Gläser besorgt hatte, konnte von ihrem Platz aus das Fenster unter Kontrolle halten, was sehr wichtig war. John Sinclair und Jane Collins würden dort erscheinen, mal hin und wieder hineinschauen oder, was noch besser gewesen wäre, den Vampir vernichten und sein erstes Opfer gleich mit. Marisa erschrak über ihre eigenen Gedanken, was sich durch ein Zittern bemerkbar machte. Beinahe hätte sie Wein über den Glasrand gegossen. Sie hielt sich im letzten Augenblick zurück. Es war Katja Lagemann trotzdem aufgefallen. »Was hast du?« »Nichts.« »Doch.« »Ich bin eben etwas nervös.« Katja stellte die Weinflasche auf einen Untersatz. Beide Mädchen hoben die Gläser an und prosteten sich zu. »Auf wen oder was sollen wir denn trinken?« fragte Katja. »Auf uns.« »Auch auf die Zukunft?« Marisa lächelte. »Sicher. Darauf trinke ich besonders.« Sie beugte sich vor. »Es wird für uns eine Zukunft geben, das verspreche ich dir. Es wird sie geben, meine Liebe.« »Aber wie?« »Normal.« Katja nahm das Glas. Der Wein hatte eine tiefrote Farbe, und das Mädchen stellte sich vor, daß es Blut wäre, aber sie schaffte es, den Gedanken wieder von sich zu drücken. Die Freundinnen tranken gemeinsam, und sie schmeckten die wunderbare Fülle und Weiche des Getränks. Als sie die Gläser abstellten, nickte Marisa. »Ein Wein aus Sizilien. Wunderbar.« »Finde ich auch.« Marisa blickte durch das Fenster. »Es wird immer dunkler«, murmelte sie. »Warum sagst du das?« »Ganz einfach. Weil damit unsere Chancen steigen.« »Wieso denn?«
»Dann haben Jane und John die Möglichkeit, unsere Feinde zu stellen, die sich erst bei Dunkelheit aus dem Versteck trauen.« »Glaubst du das wirklich?« Katja, die Sensible, hatte so ihre Zweifel. »Ja, wenn ich es dir sage.« »Na ja.« Sie trank wieder, stellte das Glas weg und erstarrte in ihrer Haltung. Sekundenlang geschah nichts. Nur ein Tropfen Rotwein löste sich von Katjas linkem Mundwinkel und rann am Kinn entlang dem schmalen Hals entgegen. Marisa Melli hielt es nicht mehr aus. »Was hast du denn? Was ist mit dir los, Katja.« »An der Tür…« »Wie meinst du?« »Da ist jemand an der Tür. Ich habe…«, sie schluckte und fing wieder von vorn an. »Ich habe da etwas gehört. Ein Geräusch und Schritte, glaube ich.« »Tut mir leid, ich habe nichts…« Es war jemand dort, denn die Tür öffnete sich mit einem Ruck. Sie wurde nach innen gestoßen. Katja, die den besseren Blick besaß, saß unbeweglich, nicht fähig, auch nur ein Wort hervorzustoßen oder auch nur einen Gedanken zu fassen. Auch Marisa drehte den Kopf. Sie wurde aschfahl. Auf der Schwelle stand Susan Carrigan! *** Er lachte, denn er hatte es geschafft. Es war ein leises, widerliches Lachen, aber es war für ihn befreiend, denn wieder einmal hatte der Vampir über den Menschen gesiegt. Er wußte, daß sie ihn suchten, aber er hatte sich dem entgegengestemmt und sich einen perfekten Plan zurechtgelegt. Sollten sie ihn suchen, wo sie wollten, in seinem Versteck würden sie ihn nie entdecken. Er befand sich längst in der Schule. Er war auf das Dach geklettert und hatte dort oben eines der schrägen Fenster eingeschlagen. Dann war er in einen Raum hineingehuscht, der seit Jahren von keinem Menschen mehr betreten worden war, denn Staub und Spinnweben hatten sich ausbreiten können und bildeten eine regelrechte Kulisse. Um sich vor dem einfallenden Sonnenlicht zu schützen, hatte er sich in einen kleinen Verschlag hineingequetscht, wo er die langen Stunden des Tages abwartete und darauf lauerte, daß endlich die Nacht mit ihrer herrlichen Dunkelheit hereinbrach.
Er war nicht unterwegs, aber eine andere Person. Seine neue Dienerin hatte das Versteck verlassen und bewegte sich bereits durch die Schule. Er stand mit ihr in einer sehr intensiven Verbindung, als gäbe es dort ein Band, das sie zusammenhielt. Einige Male hatte er Kontakt mit ihr aufgenommen, und er hatte ihr den richtigen Weg gewiesen. Das Ziel war wichtig. Am Ziel stand die Kraft, dort wartete Blut, viel Blut… Die Stunden rannen dahin. Menschen hätten in dem Verlies kaum atmen können, für einen Blutsauger war es genau das richtige Versteck. Zudem konnte er sich Zeit nehmen, viel Zeit, denn nichts lief ihm weg, gar nichts… Er existierte, er fühlte sich zwar schwach, aber das würde sich ändern. In seiner Nähe wartete das Blut. Unermeßlich viel Blut. Körper, für die das Blut der Schmierstoff war, und es bald für ihn sein sollte. Er freute sich. Die Zeit verging. Die Sonne wanderte. Nichts konnte ihren Lauf unterbrechen. Ein Weg, den sie seit Millionen von Jahren eingeschlagen hatte, und den sie auch immer weiterwandern würde. Was war schon die Zeit? Der Blutsauger hockte da. Er existierte, er wußte nicht einmal, woher er kam. Er kannte sein eigenes Schicksal nicht, er war ein Blutsauger, und damit fand er sich ab. Er konnte sich nicht daran erinnern, zu einem Blutsauger gemacht worden zu sein. Irgend jemand mußte ihn mal gebissen haben, das aber war in einer für ihn grauen Vorzeit geschehen. Jetzt existierte er, und er war froh darüber. Aber die Leere in seinem >Leben< würde sich trotzdem ändern, denn es gab da jemand, der ihn gerufen hatte. Einen mächtigen, sehr, sehr mächtigen Vampir. Ein Blutfürst, der ihm über war, der in einer eigenen Vampirwelt herrschte, die er für seine >Brüder und Schwestern< geschaffen hatte. Auch der Namenlose sollte in diese Welt einsteigen, doch er wollte noch nicht. Erst wenn seine Rache vollendet war, würde er sich wieder mit dem mächtigen Blutfürst in Verbindung setzen. Dracula II nannte er sich. Ein Abkömmling des Urvampirs aus Rumänien, den sie alle so liebten. Dracula II – war das seine Zukunft? Möglich. Er würde sich nach seiner Rache darauf verlassen. Und er würde eine Heimat und vielleicht auch einen Namen bekommen und sich nicht mehr fühlen wie ein Staubkorn in der Wüste. Zeit sickerte dahin… Der Namenlose verließ das Versteck. Ein Blick durch das Dachfenster zum Himmel zeigte ihm, wie stark die Veränderung bereits fortgeschritten war.
Der Himmel war rot wie Blut, und seine dunklen Schatten wuchsen immer mehr. Die Nacht kam… Die herrliche wunderbare Nacht, in der sich der Mond als blasser Kreis auf dem Himmel abmalte und dafür sorgte, daß er die nötige Kraft bekam. Er streckte sich. Seine alte Kleidung war mit einem Puder aus Staub bedeckt. Staub lag auch auf seinem Gesicht und bedeckte die wirr vom Kopf abstehenden Haare. Staubig war auch sein Gesicht, aber wesentlich bleicher als die Kleidung. Helle Asche, dunkle Augen, die sich in die schwarzen Ränder eingeätzt hatten. Rote Funken tanzten in den Pupillen wie Glutstücke. Sie waren der Motor und Kraftspender in ihm. Sie sorgten dafür, daß er es schaffte, daß er den Menschen keine Chance ließ. Er schritt durch das Dämmer. Er fand die Tür. Er zog sie auf. Als das häßliche Quietschen und Knarren der alten, rostigen Angeln verstummt war, stand er bereits vor der Treppe. Er schaute nach unten, dann lachte er. Triumph schoß in ihm hoch. Die Schule gehörte ihm, die Menschen gehörten ihm ebenfalls, und damit auch ihr Blut… *** Susan stand nicht lange auf dem Fleck. Bevor sich ihre beiden Freundinnen von dem Anblick erholen konnten, betrat sie das Zimmer und schloß die Tür. Es brannte kein Licht. Graue Dämmerung sickerte durch das Fenster, weichte die Einrichtung des Zimmers auf, machte sie fließend, und auch die Umrisse der anwesenden Personen schienen zu einem Teil dieser Dämmerung geworden zu sein. Was war Susan Carrigan? War sie ein Schatten, hatte sie ihren Körper verlassen und war als Seele gekommen? Sie sah so aus, sie war dunkel geworden und düster. Es strahlte etwas von ihr ab, das den beiden anderen Mädchen ein grauenhaftes Gefühl einflößte. Kalte Spinnenbeine liefen über ihre Rücken. Die Gänsehaut war überall vorhanden, sogar auf dem Kopf und zwischen den Haaren hatte sie sich festgesetzt. »Nicht schreien…« Es war Susans Stimme. Trotzdem hatte sie anders geklungen. Sie war rauher geworden, und sie schien nicht aus der normalen Kehle zu
stammen, sondern irgendwo in der Tiefe ihres Körpers geboren zu sein. Es hatte sich angehört, als würde sie üben. »Nicht schreien…« Noch einmal hatte sie den Befehl wiederholt, und sie ging dabei einen Schritt nach vorn. Katja sah sie vor sich. Das Mädchen wußte nicht, was es denken sollte. Sie war erstarrt, einfach nicht mehr fähig, auch nur einen Finger zu rühren, und es würde sich auch nicht wehren können. Es war vereist, alles, was sie einmal zu einem Menschen hatte werden lassen, existierte bei ihr nicht mehr und war aus dem Körper geronnen. Sie würde… sie würde… sie hörte sich selbst stöhnen, und sie sah, wie ihre Freundin Susan den Kopf senkte, wobei sie den linken Arm ausstreckte, während der rechte an ihrem Körper herabhing, als gehörte er nicht mehr zu ihr. »Du zuerst, Katja…« Das Gesicht schwebte näher, und Katja hatte sich dabei ertappt, daß sie nickte. Susans Gesicht! Eine Fratze, bei der sich die Haut verändert hatte und so bleich geworden war. Auch das einst so schöne blonde Haar war verdreckt und verfilzt, nur der Mund stand offen, damit sie das zeigen konnte, was sie zu einem Vampir gemacht hatte. Zwei spitze Zähne! Susan roch nicht nur, sie stank. Sie zitterte auch. Die Gier nach Blut konnte sie nicht mehr zähmen, und sie griff nach der entsetzensstarren Katja Lagemann. Da handelte Marisa Melli. Sie wußte selbst nicht, woher sie den Mut genommen hatte. Es war wohl ihr angeborener Instinkt gewesen, der reine Wille zum Überleben, und sie hatte das Gefühl, daß sich ihre Hand selbständig gemacht hatte, denn die Finger umklammerten plötzlich den Hals der Rotweinflasche. Marisa riß die Flasche hoch, schwenkte sie und den Arm und drosch sie auf den Kopf der Blutsaugerin, als deren Gesicht sich hautnah vom Gesicht der Freundin entfernt befand. Die Flasche erwischte den Schädel der Untoten. Gleichzeitig rann der Wein aus der Öffnung und ergoß sich wie ein Blutstrom über den Tisch, ein Zeichen wie bestellt, aber nicht für die Blutsaugerin, denn deren Kopf wurde durch die Wucht des Treffers nach unten gedrückt, und sie hämmerte mit dem Gesicht auf die Tischplatte. Jetzt erst schrie Marisa. Katja saß noch immer starr. Angst schnitt durch ihren Körper. Die Furcht war der große Wahnsinn, sie… sie… Susan war nicht erledigt. Nicht einmal angeschlagen. Noch mit dem Gesicht auf dem Tisch liegend, stieß sie einen Knurrlaut aus und drückte den Kopf dann in die Höhe.
Der Rotwein hatte sich in ihrem Gesicht verteilt und zahlreiche Flecken hinterlassen. Sie sah aus wie ein blutender Vampir, eine wirklich seltene Gattung. Aber die blutete nicht. Sie haßte. Wieder schlug Marisa zu. Diesmal schrie sie, und die Flasche erwischte den Kopf der Untoten erneut. Diesmal noch härter und auch von der Seite her, so daß die Blutbestie vom Tisch weg quer durch den Raum flog und dabei auf einen der beiden Betten landete. Dort blieb sie liegen. Erstarrt, wie entsetzt darüber, daß es ihr nicht gelungen war, an das Blut der Menschen zu gelangen. Sofort federte sie wieder hoch. Sie ließ den beiden Mädchen erst gar nicht die Chance zur Flucht. Marisa wehrte sich trotzdem. Wieder nahm sie die Flasche. Wieder schlug sie zu. Es floß kaum noch Wein aus der Öffnung, und der letzte Rest verteilte sich auf ihrem Gesicht. Diesmal paßte Susan auf. Mit einer schnellen Bewegung entwischte sie dem Treffer und ging selbst zum Angriff über. Ihre linke Hand fand die Kehle der Italienerin, rutschte dabei aber ab und riß einiges der dünnen Haut in Fetzen. Blut quoll aus den Wunden. Es machte Susan fast irre. Jetzt erst recht. Beide rissen den Tisch um. Katja Lagemann erwachte jetzt wie aus einem tiefen Schlaf. Sie sah den Tisch fallen und auch die beiden Gegnerinnen, die sich ineinander verkrallt hatten und über den Boden wälzten. Susan wollte das Blut. Marisa würde sich wehren. Sie spürte, wie ihr die Kette am Hals kurzerhand zerrissen wurde. Dieses Kreuz machte Susan nichts aus. Es war zu simpel, zu billig, und es war nicht geweiht. »Katja…!« Es hatte ein Schrei werden sollen, aber nur ein Krächzen drang aus dem Mund der Italienerin. Auch wenn sie gewollt hätte, Katja hätte es nicht geschafft. Sie war keine große Hilfe. Sie hatte einfach nur Angst, sie stand sich dabei selbst im Weg. Da zersplitterte die Fensterscheibe! ***
Jane und ich hatten freie Bahn! Es war auf unserer zweiten Runde gewesen, und wir hatten uns in der Nähe des Fensters getroffen. Es war ziemlich dunkel geworden, hinter der Scheibe brannte kein Licht, und so hatten wir unsere Schwierigkeiten gehabt, überhaupt etwas erkennen zu können, denn hinter der Scheibe bewegten sich nur die Schatten so unkrontrolliert und zuckend, als würden sie von Windstößen erwischt. Aber es waren keine Schatten. Es waren die beiden Mädchen. Jane reichte mir den Stein. Ich schleuderte ihn. Die Scheibe zerbrach, ich schlug mit meiner Beretta Splitter weg, ich bekam die Fensterbank zu fassen, spürte die Hände der Detektivin an meinen Hüften, denn Jane half mir dabei, in die Höhe zu kommen, um in den Raum zu klettern. So schnell wir auch waren, es verging trotzdem Zeit, und ich konnte nur hoffen, daß wir nicht zu spät kamen. »Jetzt!« Es war Jane, die gesprochen und mir gleichzeitig Schwung gegeben hatte. Kopfüber wurde ich in das Zimmer der beiden Schülerinnen katapultiert. Den Aufprall verlängerte ich in eine Rolle. Über die rechte Schulter drehte ich mich zur Seite und war Sekundenbruchteile später auf den Beinen. Ich sah Katja nicht. Ich sah nur Marisa und Susan. Letztere lag auf der Italienerin, den Mund weit geöffnet, damit sie mit ihren beiden spitzen Hauern zuhacken konnte. Noch bewegte sich Marisa, auch wenn sie jammerte, aber ihr Kopf blieb nicht ruhig, und die Blutsaugerin kämpfte nur mit einer Hand. Die andere setzte sie nicht ein. Ich griff in ihre Kleidung am Rücken. Die Untote mußte sich fühlen, als würde sie an einem Seil hängen, so wuchtig zerrte ich sie hoch. Ich stand hinter ihr und hielt sie fest. Susan hatte sich in ein schreiendes, zappelndes Bündel verwandelt, das ich nicht mehr lange hielt. Zusammen mit ihr drehte ich mich und wuchtete sie dicht neben dem Tisch zu Boden. Jane kletterte in den Raum. Sie hatte ihre Waffe gezogen, wie auch ich, aber ich wollte mir die Kugel sparen. Das Kreuz schimmerte wie flüssiges Silber plötzlich auf meiner Handfläche, wobei ich die Kette um das Gelenk gedreht hatte. Zum erstenmal seit ihrer Verwandlung wurde Susan Carrigan mit dieser Waffe konfrontriert. Sie starrte sie an, und beim ersten Blickkontakt schon zog
sie sich zusammen, als wollte sie wieder zurück in ihre embryonale Haltung vor der Geburt. »Es muß sein«, sagte ich. Jane kümmerte sich um die Mädchen, während ich das Kreuz senkte. Der Kontakt kam zustande, das Gesicht der Untoten zeigte zuvor ein namenloses Entsetzen. Dann war es vorbei! Das geweihte Silberkreuz brannte sich in ihre Haut. Es hinterließ einen deutlichen Abdruck, der von einem nach verbrannter Haut stinkenden Qualm umweht war. Ein letztes Zucken in den Augen. Dann lag sie still. Ich kniete mich. Der schreckliche Blick war aus den Augen des jungen Mädchens verschwunden. Jetzt, wo sie endgültig tot war, da wirkte sie plötzlich so friedlich wie eine Schlafende. Ich hatte es geschafft, ich hatte sie vernichtet, aber ich war, verdammt noch mal, nicht glücklich darüber. Ein viel zu junger Mensch war gestorben, und der Kloß saß unerbittlich in meinem Nacken. Jane hatte sich zu den beiden Mädchen auf das Bett gesetzt. Beide konnten nicht oft hinschauen, wo Susan Carrigan lag. Sie hatten die Gesichter abgewandt und sie zusätzlich noch mit ihren eigenen Händen geschützt. »Eine haben wir«, sagte ich zu Jane. »Und wo ist er?« Ich hob die Schultern. »Glaubst du, daß er sich in dieser Schule aufhält?« »Davon bin ich beinahe überzeugt. Und deshalb werde ich ihn mir auch holen.« »Irrtum, John.« »Wieso?« »Wir beide werden ihn holen.« »Und die Mädchen?« »Bleiben hier.« Damit war ich nicht einverstanden. »Sie werden die Anwesenheit ihrer toten Freundin nicht verkraften können.« »Leg Susan in die Dusche.« Gegen diesen Vorschlag konnte ich nichts haben. Ich setzte Janes Vorschlag in die Tat um. Als ich zurückkehrte, war sie dabei, mit Katja und Marisa zu sprechen. Die beiden hörten zwar zu, aber sie machten den Eindruck, als würden sie nichts verstehen. Dann sprach Katja Lagemann plötzlich. Ihre Stimme klang wie die eines kleinen Kindes. »Sind wir wirklich gerettet?« »Ja, das seid ihr…«
*** Ihm gehörte die Schule. Ihm gehörten die Menschen. Ihm gehörte all ihr Blut. Der Namenlose konnte sich kaum beruhigen. Er war der große Sieger. Er würde sich alles, aber auch alles holen. Diese Nacht sollte zu seinem Blutfest werden, und er würde sich am Entsetzen seiner Opfer ergötzen, die Angst vor dem Blutbiß hatten. Er ging weiter. Die Treppe lag vor ihm. Er mußte noch einige andere überwinden, um in der Halle zu erscheinen. Genau dieses Ziel hatte er sich als erstes ausgesucht. Dort würde er sich umschauen, er wußte, daß die Schüler und Schülerinnen sich oft genug in der Halle aufhielten. Wenn sie ihn sahen, würden sie flüchten, aber nicht alle würden ins Freie entkommen. Viele würden in ihrer Angst in die Zimmer laufen, und dort saßen sie dann fest wie in einer Zelle. Er lächelte. Er fletschte die Zähne, er freute sich über das Blut. Für ihn sollte es in Strömen fließen. Die nächste Treppe lag vor ihm. Sie war ihm vertrauter, denn man hatte sie aus Stein gebaut. Die bis unter das Dach führende Treppe hatte Holzstiegen. Ab jetzt nicht mehr. Er ging. Die erste Stufe, die zweite, die dritte, er ging auch schneller, und auf der sechsten Stufe erwischte es ihn. Plötzlich verkrampfte sich sein Körper. Sein rechter Arm schnellte in einem zuckenden Reflex hoch, senkte sich wieder, und so konnte die Hand das Geländer umfassen. Es war der reine Wahnsinn. Etwas hatte ihn erwischt wie ein Stich mit der Laserkanone. Dieses Etwas hatte sich durch seinen Körper gebohrt und einen glühenden Schmerz hinterlassen. Er konnte plötzlich fühlen und hatte im ersten Augenblick den Eindruck, daß dieser Schmerz der Vorbote des Todes gewesen war. Der Vampir stand auf der Treppe. Er schwankte. Jetzt mußte er sich festklammern, um nicht zu fallen. Etwas rieselte durch seinen Körper, und er merkte, daß er zitterte. Bleich war er geworden, noch bleicher. Was war das nur? Was war das? Während dieser Gedanken glitt er in die Knie. Die gesamte Umgebung drehte sich vor seinen Augen. Etwas, das er nie für möglich gehalten hatte. Es bereitete ihm Sorgen, daß er plötzlich wie ein Mensch reagierte, dabei war er gar nicht angegriffen worden. Er nicht, nein, aber eine andere Person. Susan!
Der Name war wie ein Schrei, der durch sein Gehirn hallte. Susan war angegriffen worden, und nicht nur das, jemand hatte es geschafft, sie zu vernichten. Es gab sie nicht mehr. Der namenlose Blutsauger produzierte schreckliche Geräusche. Er hockte auch jetzt auf der Treppenstufe wie ein ängstliches Kind, das auf seine Strafe wartete. Es ging vorbei. Es mußte einfach an ihm vorbeigehen, denn er existierte noch. Er wollte einkehren in die Vampirwelt des Dracula II. Er, der Heimatlose, wollte endlich eine Heimat finden und bei den anderen sein. Aber erst mußte er seine Rache durchziehen, auch wenn ihm ein Teil nicht so gelungen war, wie er es sich vorgestellt hatte. Susan war vernichtet – endgültig, es gab sie nicht mehr. Aber wer hatte sie getötet? Die beiden Mädchen? Nein, nicht die. Das konnte er einfach nicht glauben. Es gab da noch jemand anderen. Häscher waren ihm auf der Spur. Er hatte sie nicht gesehen, er hatte sie nur gefühlt. Sie mußten in der Schule sein, die doch ihm gehörte, verflucht. Er erhob sich. Seine Bewegungen waren wieder geschmeidiger geworden. Die letzten Minuten hatten ihm die Zeit gegeben, sich zu erholen. Weitergehen, hinein in die Halle. Die Schule gehört mir! Er dachte nicht mehr so, denn von nun an kam ihm der Gedanke als blanker Hohn vor. Er würde, er mußte vorsichtiger sein… *** Und vorsichtig waren auch Jane Collins und ich. Dieser Blutsauger konnte überall lauern. Es gab zahlreiche Verstecke. Er konnte sich in jede dunkle Türnische hineingedrückt haben, er konnte auch eine Waffe tragen, alles war möglich. Wo sollten wir anfangen? Vampire lieben Dunkelheit, und dunkel war es im Keller. Aber draußen lauerte bereits die Nacht, und sie hatte ihre Finsternis durch die Fenster in die Zimmer und Flure geschickt, so daß auch innerhalb der Schule das Licht nicht eben strahlend war, obwohl die Deckenleuchten eingeschaltet worden waren. Es waren helle Kugellampen, die an langen, starren Stäben nach unten hingen. Sie schwebten in den hohen Fluren wie bleiche Vollmonde über dem Steinboden, wo ihr Licht einen glänzenden, lackartigen Schimmer hinterließ.
Auf irgendeine Art und Weise hatten wir Glück gehabt, denn das Zerbrechen der Scheibe war nicht aufgefallen. In der Schule herrschte zwar keine unbedingte Ruhe, aber die stillen Phasen überwogen. Hin und wieder hörten wir Stimmen, auch mal Musik, doch durch die Gänge tobten keine Schüler mehr. Sie saßen in den Zimmern, vielleicht waren sie auch draußen auf den Wiesen. Jane ging neben mir. Sie blickte oft genug zur Decke, sie schaute auch an den Wänden entlang und ließ die Türnischen ebenfalls nicht außer acht. So näherten wir uns allmählich dem Mittelpunkt der Schule, einer recht großen Zentralhalle. Sie wirkte auf einen Fremden wie ein Tempel. So empfanden wir ebenfalls, als wir gegen die hohe gewölbte Decke schauten, unter der in verschiedenen Abständen die künstlichen Monde schwebten. Die Stangen sahen dabei aus wie Silberfäden. Wir konnten auch einen Blick auf die Treppe werfen, die sich in einem sehr breiten Anstieg in die Höhe schwang. Dort, wo das Licht die Stufen nicht mehr erreichte und sie im Dunkeln blieb, erinnerte sie mich an eine Rennbahn, die in den Himmel führte. Nichts. Wir blieben stehen. Die Eingangstür lag in unserem Blickbereich. Hoch und wuchtig sah sie aus und hätte eher zu einem Dom gepaßt. »Verhalten wir uns richtig, John?« Es gelang mir nicht mehr, eine Antwort zu geben, denn die Tür öffnete sich von außen. Jemand drückte sie auf, allerdings nicht so vorsichtig, wie es ein Fremder – unser Vampir – getan hätte. Es sah so aus, als käme jemand, der es gewohnt war, die Schule zu betreten, und wir entspannten uns wieder, als wir eine etwas korpulente Frau in einem Sommerkostüm entdeckten, die so aussah, als wollte sie weg, es sich aber überlegt hatte, weil sie noch etwas vergessen hatte. Sie blieb stehen. Hinter ihr schwappte die Tür wieder zu. Dann schaute sie uns an. »Wer sind Sie denn?« »Besucher.« »Ach ja? Eltern…?« Sie kam näher. »Nein, das nicht.« »Was wollen Sie hier. Oder haben Sie etwas mit der eingeschlagenen Scheibe zu tun?« »Das ist gut möglich«, sagte ich, »denn wir haben…« »Pssst, John!« Der scharfe Zischlaut und mein von Jane ausgesprochener Name warnten mich.
Die Detektivin war zwei Schritte zur Seite gegangen. Die Frau und ich schauten zu, wie Jane ihre Pistole zog und sich dabei auf die Treppe zubewegte. »Was soll das denn?« Die Person holte tief Luft. »Sind Sie wahnsinnig geworden?« Jane ging weiter. Von der Treppe kam jemand. Er schritt die Stufen herab. Nicht sehr sicher, das erkannten wir sofort. Jane hob die Waffe. »Das ist er, John!« In diesem Augenblick stieß sich der Blutsauger ab und sprang auf Jane Collins zu… *** Die Detektivin hatte geschossen, und sie hätte auch getroffen, wäre das Ziel ein senkrechtes gewesen. So aber war es plötzlich flach geworden, und das geweihte Silber jagte über den Körper hinweg. Wo das Geschoß einschlug, war nicht mehr zu sehen, dafür hechtete der Vampir wie ein langes Geschoß über die Stufen hinweg – und erwischte Jane. Zu einem zweiten Schuß war sie nicht gekommen. Sie wurde umgerissen, der Vampir hielt sie auch noch am Boden liegend fest, aber Jane gab nicht auf. Neben mir fing die Frau an zu schreien. Sie hieß Ledonne, wie ich später erfuhr, das war mir im Moment egal, weil ich Jane zu Hilfe eilen mußte. Das wußte auch der Blutsauger. Er sprang plötzlich in die Höhe. Mit welch einer spielerischen Leichtigkeit er sich bewegen konnte, bewies er in den folgenden Augenblicken, denn er zerrte Jane ebenfalls mit hoch, und bevor ich meine Waffe senken konnte, hatte er sie wie einen Schutzschirm vor seinen Körper gepreßt. Ich sah das bleiche Gesicht mit dem verzerrten aufgerissenen Mund und der rechten Halsseite der Detektivin, die Zähne waren bereit zum Biß, aber da spielte Jane nicht mit. Wuchtig drehte sie ihren Kopf. Er und die Zähne oder das Maul des Vampirs stießen zusammen. Der Blutsauger schaffte es auch nicht mehr, Janes Waffenarm zur Seite zu drücken, er war aus dem Konzept geraten, und die blonde Frau schaffte es, sich mit einer geschmeidigen Bewegung aus dem Griff zu befreien. »Laß ihn mir, John!« »Okay!« Ich hatte Susan gehabt, ich konnte mich auf Jane Collins verlassen, das wußte ich. Sie war von dem Blutsauger weggewichen, der ebenfalls nicht stehenblieb, aber gegen Janes Waffe starrte, als er sich bewegte. »Silberkugeln«, sagte sie und feuerte.
Die Kugel traf. Sie erwischte den Blutsauger in der Brustmitte. Wir konnten den Einschlag verfolgen. Wir sahen auch, wie es plötzlich dort aufstaubte, wo sich das Loch befand, als hätte Jane gegen altes Papier geschossen. Der Vampir torkelte zurück. Die Ledonne heulte nicht mehr. Sie hatte sich weggedreht und die Hände vor das Gesicht geschlagen. Es war auch besser so, wenn sie nicht zuschaute. Der Untote war bis zur Treppe gekommen. Er wollte hoch, doch in seiner Brust wütete das geweihte Silber der Kugel. Es schwächte ihn, er würde es nicht schaffen. Der Meinung waren wir beide, doch nur Jane ging auf ihn zu, die Waffe im Anschlag. Mit der Hacke stieß er gegen die unterste Stufe. Das stoppte seine Bewegung. Er sah aus, als könnte er sich noch einmal fangen, aber der Halt war nicht mehr da. Rückwärts schlug er auf die Treppenstufen. Über ihm hing die Lampe. Es war wie ein Symbol. Der künstliche Mond strahlte auf ihn herab. Bleiches Licht umfloß seinen alten Körper, in dem das Silber seine Wirkung nicht verfehlte. Der Vampir hatte den Kopf noch mehr zurückgebogen. Es sah so aus, als starrte er einzig und allein nur gegen den Mond, um sich von ihm Hilfe zu erhoffen. Aber dieses Auge erneuerte seine Kraft nicht. Es war das falsche Licht, es leuchtete ihn nur an und demonstrierte, wie er starb. Auf vampirtypische Art und Weise verlor er seine untote Existenz. Er schlug einige Male mit den Armen um sich, bis er es schaffte, die Hände gegen die Brust zu drücken, genau an der Stelle, wo ihn die Kugel getroffen hatte. Es gab nicht mehr den üblichen Widerstand. Wir hörten es knacken und knirschen, als die alten Knochen zerbröselten und in der Luft ein großes Loch entstand. Staub rieselte hinein. Seine Kleidung bestand ebenfalls nur mehr aus Fetzen. Er schrie, es hörte sich an, als hätte jemand eine dünne Metallsäge mit einem anderen Metall bearbeitet. Und dann zerknackte sein Kopf. Gleichzeitig wurde die Haut spröde. Sie bekam Risse. Sie sah aus wie schmutziges Porzellan, das kein Mensch mehr in seinen Besitz haben wollte. Die Augen trockneten aus, fielen als Staub nach innen, als hätte sie ein Hohlraum im Schädel geschluckt. Das Haar hielt ebenfalls nicht mehr. Büschelweise fiel es aus seinem Kopf und verteilte sich auf der Treppe wie dürres Gras. Er war am Ende. Er verging, und wir wußten nicht mal seinen Namen. Jane konnte es nicht lassen.
Zweimal trat sie auf seinen Körper. Und zweimal brachen auch die letzten Knochen. Als sie den Fuß wieder zurückzog, da quoll eine alte Staubwolke in die Höhe wie ein letzter schauriger Gruß. Der aber machte eine Susan Carrigan auch nicht mehr lebendig. Als wir uns umdrehten, sahen wir die Zuschauer. Ja, die Zuschauer. Sie hielten sich in einer gewissen Entfernung auf. Es waren die Schüler, die, aus welchen Gründen auch immer, sich in der Halle zusammengefunden hatten. »Geht in eure Zimmer«, sagte ich ihnen. »Es gibt hier nichts mehr zu sehen. Es gab hier auch nie etwas zu sehen.« Dann wandte ich mich an Madame Ledonne, um sie wenigstens in groben Zügen einzuweihen. *** Auch der Hausmeister wurde gefunden. Als er aus seiner Bewußtlosigkeit erwacht war, hatte er an das Telefon gedacht, das sich in seiner Werkstatt befand. Er hatte Alarm geschlagen und war dann aus seiner Werkstatt hervorgeholt worden, denn allein hätte er es kaum geschafft, dieTreppen hochzusteigen. Vor mir lag eine schlimme Aufgabe. Ich telefonierte noch in der Nacht mit Paul Carrigan. Es wurde ein sehr langes Gespräch, und Paul, der seinen Schmerz unterdrückte, machte mir keinen Vorwurf. Eher sich selbst, daß sie damals, dreißig Jahre zuvor, nicht besser reagiert hatten. Marisa und Katja gab es noch. Sie hielten sich in Madame Ledonnes Büro auf, als die Leiche ihrer Freundin abgeholt wurde. Alles in dieser Nacht, da war auch der Arzt erschienen, der sich um die Verletzung des Hausmeisters kümmerte. Irgendwann hatte ich dann etwas Ruhe und sprach mit Jane Collins. »Was meinst du? Sollen wir noch drei Tage bleiben? Vor uns liegt ein Wochenende.« Sie lächelte. »Ich kann ja mal anrufen.« »Wo?« »Im Hotel natürlich. Schließlich müssen wir das Zimmer ja noch länger reservieren…«
ENDE