Doris Eicke
Angst war ihr Gefährte Inhaltsangabe Doris Eicke gehört zu den beliebten deutschen Schriftstellerinnen, d...
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Doris Eicke
Angst war ihr Gefährte Inhaltsangabe Doris Eicke gehört zu den beliebten deutschen Schriftstellerinnen, die auf einen festen Leserkreis stolz sein dürfen. Es sind Menschen, die gute, spannende Unterhaltung suchen und zu schätzen wissen und außerdem lebensnahen Themen den Vorzug geben. Solche Themen voller dramati scher Akzente immer wieder aufzuspüren, ist die besondere Stärke der Autorin, die ihre Lese rinnen und Leser bis zur letzten Zeile zu fesseln weiß. Bob Montero, von der jungen DeutschAmerikanerin Mildred Simons geschieden, steht kurz vor seiner Entlassung aus dem Zuchthaus. Seitdem lebt Mildred in Angst. Angst als Dauerzustand, denn Bob hat ihr Rache geschworen, weil sie vor Gericht nicht zu seinen Gunsten gelogen hatte. Sie flieht nach Deutschland, wo sie in dem eingefleischten Junggesellen und Arbeitskollegen Christopher einen verlässlichen Freund findet. Aber Bob hat die Fährte nicht verloren. Eines Ta ges, als sie nach Hause kommt, sitzt er in ihrer Wohnung. Er will Mildred nicht umbringen, er will sie erpressen, denn er hat erfahren, daß ihr todkranker Vater, der sie wegen ihm enterbt hatte, nun nach der Scheidung sein Testament ändern will. Das heißt, daß ihr ein großes Vermögen ins Haus steht. Bob ist fest entschlossen, vor nichts zurückzuschrecken und mit allen Mitteln an ihr Geld zu kommen. Er verlangt zunächst 200.000 Dollar. Er hat Mildred in seine Gewalt gebracht und droht ihr, sie mit Vitriol zu entstellen. Hat sie in diesem ungleichen Kampf noch eine Chance?
© Copyright Engel Verlag GmbH
Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin
Gesamtherstellung: Engel Verlag GmbH, München
Printed in W.-Germany
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I
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s war der Letzte des Monats und Gehaltszahlung für die Ange stellten des Textilia-Konzerns. Wie meist an solchen Tagen saß Christopher Witt, der stellvertretende Personalchef, mit einer Arbeit beschäftigt im Lohnbüro, um bei aufkommenden Unstimmigkeiten zur Stelle zu sein. Viele junge Mädchen, hübsche und hässliche, arbei teten in den Büros, in der Fabrikation und dem so genannten Dekor saal der Textilia. Er war an ihren Anblick gewöhnt und wäre auch auf die Neue nicht aufmerksam geworden, wenn sie ihren Namen nicht englisch ausgesprochen und dadurch den Unwillen des Buchhalters herausgefordert hätte. Christopher Witt war in Amerika aufgewach sen, wo sein Vater bei dem Zweigunternehmen Textilia New York ei nen höheren Posten bekleidet hatte. Er besaß aber den deutschen Paß. »Seimens? Kenne ich nicht. Arbeitet hier nicht«, sagte der Buchhalter barsch, nachdem er seine Liste überflogen hatte. Er sah sie an, als hät te er eine Hochstaplerin in flagranti ertappt. Das junge Mädchen nestelte hastig die Personalkarte aus ihrer Kit teltasche und hielt sie ihm hin. »Aha, Simons. Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« »In Amerika spricht man meinen Namen so aus«, erklärte sie schüch tern. »Habe keine Zeit für solche Mätzchen. Sie sind jetzt in Deutschland und heißen Simons, damit basta, verstanden?« »Ja«, sagte sie leise und folgte mit den Augen seinen Fingern, die mit der Routine vieler Jahre die ihr zustehenden Scheine vor sie hinblät terten, bevor er sie in den Umschlag, der ihren Namen trug, zurück steckte. »Danke.« Christopher konnte nur noch einen Blick auf ihren Rücken werfen. 1
Selbst von hinten wirkte sie ängstlich. Nichts von dem kecken Selbst bewußtsein der heutigen Generation haftete ihr an. Außer ihrer Grö ße, sie maß wohl einen Meter sechsundsiebzig, war nichts Bemerkens wertes an ihr. Er vergaß sie sofort wieder, zumal sie nie wie die ande ren Angestellten in der Fabrikkantine ihr Mittagessen einnahm, das zu einem günstigen Preis abgegeben wurde. Er sah sie erst am näch sten Zahltag wieder. Diesmal legte sie dem Buchhalter nur stumm ihre Angestelltenkarte vor, aber das war ihm auch wieder nicht recht. »Können Sie Ihren Namen nicht nennen?« fuhr er sie an. »Ich habe keine Zeit für Lektüre. Immer müssen Sie auffallen.« Witt runzelte die Stirn. Was hatte Weißgerber gegen dieses Mäd chen? Er beantwortete sich die Frage gleich selbst. Der Buchhalter ge hörte zu dem weit verbreiteten Typ, der die Schwachen kujonierte und vor den Großen buckelte. Witt mochte ihn nicht. Obschon sie nun be reits zwei Monate hier arbeitete, machte das Mädchen nicht den Ein druck, sich hier eingelebt zu haben. Sie war auch als einzige allein er schienen, während ihre Kolleginnen sich immer in Trüppchen zusam mentaten und leise miteinander schwatzten, wenn sie warten mußten. Während der kurzen Zeit, die sie am Schalter stand, versuchte Chri stopher herauszufinden, warum sie hier offenbar wenig Sympathien erweckte, obschon so gar nichts Herausforderndes an ihr war. Sie hat te unwahrscheinlich helles Haar, das mit seinen sanften Wellen schön gewesen wäre, hätte sie es gepflegt, was offensichtlich nicht der Fall war. Ihre Augenbrauen und Wimpern waren ebenso hell wie das Haar, nicht einmal den Lippen hatte sie ein wenig Farbe gegönnt. So wie sie dort stand, wirkte ihr Gesicht mit der sehr weißen Haut ausgesprochen fad, zumal er die Farbe ihrer Augen nicht sehen konnte. Es missfiel ihm, daß ein junges Mädchen so gar nichts tat, um ihr Aussehen zu beleben, es war unnatürlich. Wahrscheinlich reizte sie dadurch ihre Geschlechtsgenossinnen, die in diesem unbegreiflichen Verzicht eine stumme Kritik vermuteten. Er wartete, bis die letzten abgefertigt waren, und trat dann zu dem Buchhalter. »Warum sind Sie eigentlich so unfreundlich zu der Neuen, dieser Si 2
mons?« Unwillkürlich sprach er den Namen englisch aus. »Sie wirkt so verängstigt, sicher könnte sie ein freundliches Wort der Ermutigung brauchen.« »Ach – die«, sagte Weißgerber verächtlich. »Macht mir ganz den Eindruck, als ob sie zu einer frommen Sekte gehörte. Ich kann solche Duckmäuser nicht ausstehen.« »Wenn sie wirklich zu einer Sekte gehörte, wäre das ihr verfassungs mäßiges Recht. Ich habe aber eher den Eindruck, daß sie Angst hat.« »Wovor? Hier tut ihr keiner etwas.« Ausgerechnet du mußt das sagen mit deiner schroffen Manien, dach te Witt. Laut sagte er: »Vielleicht hat sie Schweres erlebt.« Weißgerber hatte nicht viel Respekt vor dem jungen Personalchef. Schließlich war er nur der Vize und außerdem halb so alt wie er. »Wenn Sie mich fragen, haben Sie zuviel Phantasie. Wo kämen wir hin, wenn wir uns über das Leben unserer Angestellten Gedanken ma chen wollten?« »Vielleicht ist es gerade das, was wir tun sollten. Ich werde mir die Personalakte dieses Mädchens einmal vornehmen.« Weißgerber starrte ihn verdutzt an. Es war doch wohl undenkbar, daß Witt bei diesem unscheinbaren Ding Feuer gefangen hatte. Kopf schüttelnd räumte er seine Papiere zusammen. Es war Mittag, und Marie, seine Frau, wurde ungenießbar, wenn er sie mit dem Essen war ten ließ. Sie erlaubte auch nicht, daß er in der Kantine aß, was ihm bei der Kürze der Mittagszeit die tägliche Hetze erspart hätte. Obschon die Entfernung nicht groß war, kam er nie ausgeruht wie seine Kolle gen an die Arbeit zurück, was seine gallige Laune noch zusätzlich ver schlechterte. Am Nachmittag holte Witt sich eigenhändig die Akte Simons aus der Registratur und las sie an Ort und Stelle. Sie brachte ihm einige Überraschungen. Mildred, wie sie mit Vornamen hieß, war Deutsch amerikanerin, 27 Jahre alt, geschieden. Sie war in das Land ihrer Vor fahren zurückgekehrt, weil sie hier ein kleines Haus geerbt hatte. Be schäftigt war sie im Dekorsaal als Hilfszeichnerin. Auch wenn sie frei wohnte, war das kein üppiges Brot. Vielleicht hatte sie sogar noch Hy 3
pothekenzinsen oder eine an ihren Verhältnissen gemessen beträcht liche Erbschaftssteuer aufzubringen. Der Zwang zum Sparen moch te schuld daran sein, daß sie sich nie ein warmes Mittagessen gönnte. Wahrscheinlich war sie in Amerika verheiratet gewesen, und ihr ehe maliger Ehemann tat nicht viel für sie. ›Was geht mich das eigentlich an?‹ fragte er sich ärgerlich. Der Um stand, daß sie wie er in Amerika aufgewachsen war, rechtfertigte nicht, daß er sich Gedanken über sie machte. Wenn sie ihn noch als Frau angezogen hätte, wäre es begreiflicher, aber das war absolut nicht der Fall. Es war der Mensch in ihr, der ihn interessierte, dieser Hauch von Verlassenheit, der unverkennbar über ihr lag. Er stellte sich vor, daß sie, veranlasst durch diese Erbschaft, in das Ursprungsland der Familie zurückgekommen war, ohne hier eine Menschenseele zu kennen. Da sie offensichtlich kontaktarm war, konnte es sehr wohl geschehen, daß sie auch in einem so gastfreundlichen Land wie diesem einsam blieb. Hoffentlich besaß dieses Haus, das sie geerbt hatte, auch noch Platz für andere Parteien, so daß sie da wenigstens nicht ganz allein war. Witt schüttelte verwundert über sich selbst den Kopf. Er hatte doch nicht mehr an sie denken wollen. Als er noch sehr jung gewesen, hatte er ge legentlich eine Schwäche für hilflose junge Mädchen gehabt, die ihm dankbar dafür waren, daß er sich um sie kümmerte. Aber über die ses Stadium war er längst hinaus. Eigentlich war es ein Widerspruch in sich, daß ein so großes Mädchen so wehrlos scheinen konnte. Ob schon sie verheiratet gewesen, vermochte er in ihr keine Frau zu sehen. Sie wirkte unbedingt wie ein Mädchen auf ihn. Als er am nächsten Tag in der Kantine hinter seinem Teller saß, frag te er sich unwillkürlich, wo sie wohl ihre freie Mittagsstunde zu ver bringen pflegte. Es gab außerhalb des Fabrikhofes ein paar Bäume mit einigen Bänken. Dort pflegten die jungen Mädchen aus den Büros und dem Dekorsaal nach dem Essen Luft zu schnappen, aber auch dort sah er sie nicht. Blieb sie etwa an ihrer Arbeitsstätte? Aber warum, um Himmels willen? Plötzlich fiel ihm die kleine Terrasse im ersten Stock ein. Sie war dem Büro Weilers, des Chefs der Entwurfsabteilung, vor gelagert. Aber würde ein so scheues Wesen es wagen, dort einzudrin 4
gen? Er konnte sich das nicht vorstellen, beschloß aber doch während der paar Minuten, die ihm bis zum Arbeitsbeginn noch blieben, nach zusehen. Und wirklich fand er sie dort, über ein Buch gebeugt, wäh rend sie das Butterbrot, das sie in Händen hielt, verzehrte. Er sah sie jetzt zum ersten Mal im Profil und war überrascht, wie fein es gezeich net war. Ohne es zu wollen, hatte er wohl ein Geräusch verursacht, denn sie zuckte plötzlich zusammen und sah auf. »Störe ich Sie?« fragte er lächelnd in ihrer gemeinsamen Mutterspra che. Die Wirkung war unerwartet. Sie sprang auf die Füße, warf ihm einen Blick unverkennbaren Entsetzens zu und machte Miene, an ihm vorbei davonzulaufen, als er sie aus einem Reflex heraus festhielt. »Was erschreckt Sie bloß so an den paar Worten?« fragte er, zugleich verwundert und ärgerlich. »Niemand tut Ihnen hier etwas. Wovor ha ben Sie Angst?« »Sie sind Amerikaner!« stammelte sie in einem Ton, als ob das etwas Fürchterliches wäre. »Gewiß, Deutschamerikaner, ebenso wie Sie selbst. Was ist daran so Erschreckendes?« War ihr zuerst die Röte ins Gesicht gestiegen, wurde sie jetzt sehr blaß. »Bitte, lassen Sie mich gehen, und sprechen Sie nie mehr mit mir.« »Sie sind ein sonderbares Mädchen. Glauben Sie im Ernst, ich hätte irgendwelche finstere Absichten?« Sie schaute einen Augenblick prüfend in sein offenes, intelligentes Gesicht und schüttelte dann zögernd den Kopf. »Sie vielleicht nicht, aber die anderen. Sie können mich durch Sie fin den. Ich flehe Sie an, verraten Sie mich nicht, sonst muß ich meine Stel le aufgeben.« »Haben Sie denn etwas Böses getan?« fragte er ungläubig. »Nein, nein, aber sie –« Die Werksglocke unterbrach dieses sonderbare Gespräch, und er mußte sie fortlassen, ohne auch nur im geringsten Aufschluss über das Geheimnis erhalten zu haben, das sie offensichtlich umgab. Als er in sein Büro zurückging, stieß er zufällig auf Weiler. 5
»Haben Sie dieser Mildred Simons erlaubt, über Mittag auf Ihrer Ter rasse zu sitzen?« fragte er neugierig. »Ja, warum nicht?« »Sie hat Sie also darum gebeten?« »Nicht direkt. Ich sah nur zufällig, daß sie über Mittag an ihrem Zei chentisch sitzen blieb. Da sie offenbar nicht zu den anderen wollte, bot ich ihr diese Lösung an, damit sie wenigstens frische Luft hatte. Sie ist ein scheuer Vogel, aber hochbegabt.« »Nach der Personalakte ist sie doch nur Hilfszeichnerin«, sagte Witt verwundert. »Das war sie keine zwei Wochen. Sie müßten einmal sehen, was für Entwürfe sie macht, alles für teure Modellstoffe. Sie kann nicht nur zeichnen, sie hat einen genialen Farbensinn. Die müssen wir uns warm halten. Da wir gerade von ihr sprechen, sorgen Sie bitte dafür, daß sie in eine höhere Gehaltsklasse versetzt wird. Sie hat zwar nicht darum gebeten, aber ich möchte nicht, daß sie von der Konkurrenz durch ein höheres Angebot weggeschnappt wird. Bei einer so großen Belegschaft weiß man nie, ob nicht einer darunter ist, der im Zeichen der Perso nalknappheit ein bißchen für die anderen spioniert.« »Ich werde das veranlassen«, sagte Witt und war plötzlich vergnügt. Er freute sich, daß Mildred Simons keine unbedeutende Zeichnerin war. Sie hatte also die Möglichkeit, Karriere zu machen, was ihrem mangelnden Selbstbewußtsein nur zuträglich sein konnte. Gelegent lich wollte er sich einmal ihre Entwürfe ansehen, aber erst in einigen Tagen. Sein Interesse für sie durfte nicht offensichtlich sein. Christopher Witt war sich klar darüber, daß sein Auftauchen im De korsaal auffallen mußte. Er hatte, genau genommen, hier nichts zu su chen. Um seine Absicht zu tarnen, blieb er da und dort an einem Zei chentisch stehen. Aber Weiler, der ihn von seinem Büro aus durch die Glaswand gesehen hatte, kam heraus und machte seine Vorsicht zu nichte. »Sie möchten sicher die Entwürfe der Simons sehen?« fragte er gera dezu. »Hat der Chef Schwierigkeiten wegen der Gehaltserhöhung ge macht?« 6
»Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen. Sie haben recht, ich möch te zuerst sehen, was das Mädchen fertig bringt, um die Erhöhung dem Chef schmackhaft zu machen.« Mildred hatte ihn bereits erspäht, fühlte sich aber erleichtert, als er an anderen Tischen stehen blieb. Er war also nicht ihretwegen gekom men. Sie wurde aber sofort wieder nervös, als Weiler ihn zu ihrem Ar beitsplatz führte. »Herr Witt möchte sich von Ihren Leistungen überzeugen«, sagte er freundlich. »Wir haben eine Gehaltserhöhung für Sie in Erwägung ge zogen. Zeigen Sie ihm Ihre letzten Entwürfe.« Mildred arbeitete gerade an einer Skizze, die Christopher sofort fes selte. Es handelte sich um ein stilisiertes Mohnblumenmuster auf ei nem satten Blau, unterbrochen von hellbraunen, anmutigen Arabes ken. Die Wirkung war unleugbar. Dieser Entwurf, auf einen Stoff übertragen, mußte das Herz jeder Frau höher schlagen lassen. Als er es ihr sagte, lächelte sie ein wenig. Unwillkürlich glitt sein Blick über das schlichte graue Kleid, das sie immer trug. Er fragte sich, was ei nen Menschen, der einen so ausgeprägten Sinn für leuchtende Farben hatte, veranlassen mochte, sich derart zu kleiden. Mildred war seinem Blick gefolgt; sie spürte genau, was er dachte. Unwillkürlich, fast unbe wußt, antwortete sie darauf. »Es ist unauffällig, darauf allein kommt es an«, murmelte sie. Christopher empfand fast so etwas wie Dankbarkeit, weil sie ihn die ser Erklärung gewürdigt hatte. Immerhin war es ein Zeichen, daß sie ein wenig Zutrauen zu ihm gefaßt hatte. Während Weiler sich in sein Büro zurückzog, zeigte Mildred ihm noch drei andere Entwürfe, an die sie ihrer Meinung nach noch die letzte Hand legen mußte. Er fand sie alle verblüffend originell. Weiler hatte recht, dieses Mädchen war eine Könnerin. Da er sich von den anderen Tischen her beobachtet fühlte, konnte er nicht viel sagen. Sie merkte trotzdem, daß er beein druckt war, und empfand einen bescheidenen Stolz. Ihr Talent war ihr einziger Schatz, und sie war darauf angewiesen, daß man es anerkann te. Anschließend an diesen Besuch im Dekorsaal brach Christopher 7
eine Lanze für dieses begabte Mädchen und drückte dann auch wirk lich die beabsichtigte Gehaltsverbesserung für sie durch, nachdem der Personalchef bei Weiler rückgefragt hatte. »Es wird Eifersüchteleien geben«, meinte er, »aber wenn sie für uns so wichtig ist, müssen wir sie mit allen Mitteln halten. Die Leute sind neuerdings zurückhaltender beim Kaufen. Man muß ihnen schon et was Besonderes bieten, um sie zu verlocken. Wer hat sie eigentlich der Firma empfohlen? Ich erinnere mich nicht daran. Moser scheint sie eingestellt zu haben, als ich in Schweden war.« »Keine Ahnung. Ich habe ihr Bewerbungsschreiben gelesen, aber sie bezog sich auf keinerlei Referenzen. Vielleicht kannte sie die Firma von Amerika her und machte lediglich einen Versuch, hier unterzukom men. Anscheinend ist es ihre erste Stelle, jedenfalls erwähnt sie keine andere. Sie hat aber in Washington eine renommierte Kunstgewerbe schule absolviert. Wahrscheinlich ist es reiner Zufall, daß man sie hier angenommen hat, wenn auch nur als Hilfszeichnerin. Sie soll aber sehr schnell bewiesen haben, daß sie in eine andere Kategorie gehört.« »Sie setzen sich ja tüchtig für sie ein. Haben Sie ein persönliches In teresse an ihr?« »Keineswegs.« »Vielleicht«, meinte der Personalchef mit einem Augenzwinkern, »weil sie auch aus Amerika kommt?« »Nicht einmal das«, log Christopher und versuchte, seine Verlegen heit zu verbergen. »Außerdem ist sie reizlos.« Überraschend wurde ihm widersprochen. »Das finde ich nicht. Sie ist weder schön noch ausgesprochen hübsch, zugegeben. Dafür hat sie ein richtiges Menschengesicht. Nach all die sen einheitlich angestrichenen Larven ist das eine Wohltat.« »Haben Sie denn mit ihr gesprochen?« fragte Christopher über rascht. »An dem Tag, an dem sie eintrat, wurde sie zu mir geschickt. Sie schien mir verkrampft, und ich wollte sie mit ein paar freundlichen Worten auflockern, aber sie ging nicht darauf ein. Dann rief ich Wei ler an, und sie wurde geholt. Freut mich, daß sie so begabt ist. Irgend 8
etwas stimmt aber nicht bei diesem Mädchen. Sie ist zum mindesten sonderbar. Wissen Sie Näheres über sie?« »Nur, daß sie vor irgend etwas Angst zu haben scheint. Vor was, wer den wir bei ihrer Verschlossenheit vielleicht nie erfahren.« »Hoffentlich hat sie nichts auf dem Kerbholz?« fragte der Personal chef besorgt. »Aber eigentlich traue ich ihr nichts Schlechtes zu.« »Ich auch nicht«, stimmte ihm Witt eine Spur zu freudig bei. Der Chef galt als guter Menschenkenner. Er wollte ihm aber nicht sagen, daß Mildred sich vor irgendwelchen nebelhaften ›anderen‹ fürchtete. Niemand brauchte zu wissen, daß er mit ihr, wenn auch wenig, gespro chen hatte. Am Abend nahm Witt den Rapport mit nach Hause, den er für die Verwaltungsratssitzung vorzubereiten hatte. Er wollte heute damit fer tig werden, damit er die leidige Sache vom Hals hatte. Zuerst kochte er sich in seiner kleinen Küche Spaghetti und öffnete dazu eine Dose To matensauce. Da er sein Abendessen stets selbst zubereitete, war sein Speisezettel ziemlich einförmig, aber das störte ihn nicht. Er bewohn te ein Studio in einem Hochhaus, nicht allzu weit von der Textilia ent fernt, so daß er sie zu Fuß erreichen konnte. Seine Lebensgewohnhei ten waren ziemlich einfach. Trotzdem sein Vater sich einen höheren Lebensstandard hätte leisten können, war er gegen jeden Luxus ge wesen. Er hatte auf dem Standpunkt beharrt, an das Bessere gewöhne man sich leicht, darum sei es wichtiger, durch bescheidene Ansprüche gegen Schicksalsschläge gewappnet zu sein. In den Entwicklungsjah ren hatte Christopher diese Grundsätze nicht sehr geschätzt, und sein Verhältnis zum Vater war kühl gewesen. Erst später, als er selbst ein wenig Lebenserfahrung gesammelt hatte, war eine Annährung zwi schen ihnen zustande gekommen. Leider hatte sie sich durch den frü hen Tod seines Erzeugers nicht mehr auswirken können. Noch heute spürte er Reue, wenn er an die verpassten Gelegenheiten dachte. Chri stopher wollte sich gerade an den Schreibtisch setzen, als er unten ei nen Wagen vorfahren hörte, der sich mit einem kurzen Hupensignal anmeldete. Blitzschnell drehte er das Licht aus. Da er im dritten Stock wohnte, hatte Irma es, solange sie im Wagen saß, nicht sehen können. 9
Jetzt wunderte er sich über seine spontane Reaktion. Es war das erste Mal, daß er seine Gegenwart derart vor ihr verleugnete. Er hatte aber heute nicht die mindeste Lust, sich stören zu lassen. In Irmas Gegen wart zu arbeiten war undenkbar, sie redete unaufhörlich. Zuerst, als er in Deutschland noch nicht Fuß gefaßt hatte und wenige Menschen kannte, war das ganz kurzweilig gewesen, aber allmählich war es ihm lästig. Wäre er selbst redselig, hätte dieses Verhältnis nicht so lange dauern können. Irma brauchte einen mehr oder weniger geduldigen Zuhörer, und der war er zuerst bereitwillig gewesen. Obschon seine Natur einige Vorbedingungen für diese Rolle mitbrachte, war er ihrer nach und nach doch überdrüssig geworden. Verschlimmert hatte sich seine Ernüchterung durch die Entdeckung, daß Irma, entgegen ihren früheren Behauptungen, von ihm geheiratet werden wollte. Er konnte ihr diesen Wunsch zwar nicht verargen. Was ihn aber abstieß, war die hinterlistige Art, in der sie ihn vorher darüber getäuscht hatte, indem sie Ehefeindlichkeit vorgab. Das letzte, was sie täte, hatte sie stets ver kündet, wäre, einem Mann ihre Freiheit zu opfern. Er hatte sich dar um vor einem solchen Problem in Sicherheit geglaubt. An sich war er durchaus der Meinung, daß er nicht ewig Junggeselle bleiben konnte; aber Irma war keineswegs der Mensch, den er immer um sich ertragen hätte. Mit ihrem ewigen Redeschwall hätte sie ihn gereizt, und er wäre prompt ungerecht gegen sie geworden. Nein, dachte er, eine Frau muß te so beschaffen sein, daß sie die guten, nicht die schlechten Seiten sei nes Charakters ansprach. Er hatte schon mehrmals daran gedacht, seine Mutter zu bitten, her überzukommen und wie früher mit ihm zusammenzuleben. Sie war eine vernünftige, moderne Frau und besaß ein selten gütiges Herz. Mit ihr war leicht auszukommen. Vielleicht wäre sie seinem Ruf gefolgt, si cher aber nicht leichten Herzens. Sie hatte von ihren beiden Töchtern vier Enkelkinder, und sie waren, seit Christopher nach Europa gegan gen war, ihr ganzer Lebensinhalt. Ihr Heranwachsen nicht mehr ver folgen zu können, wäre ein bitterer Verzicht für sie gewesen. Sie hät te dadurch etwas verloren, das niemand und nichts ihr ersetzen konn te. Christopher fand es darum angebracht, sie gar nicht erst einem sol 10
chen Zwiespalt auszusetzen. Es gefiel ihr nicht, daß er allein hauste, und sie wünschte sehr, daß er heiratete. Im Enthusiasmus der ersten Liebe hatte er ihr von Irma erzählt, was er seither mehr als einmal be reut hatte. In jedem Brief fragte seine Mutter nach ihr und flocht gele gentlich die leise Mahnung ein, das Mädchen nicht so lange hinzuhal ten; das sei nicht anständig. Es machte ihn zwar nicht gefügig, führ te aber dazu, daß ihn seine abflauenden Gefühle für Irma mit einem Schuldgefühl belasteten. Da es nun für ihn feststand, daß er sie nicht heiraten werde, hätte er die Konsequenzen daraus ziehen und sich von ihr trennen müssen. Er schalt sich selbst einen Feigling, weil er das nicht übers Herz brachte. Inzwischen ging eine Woche nach der ande ren vorüber, und es wurde immer schwieriger, einen Trennungsstrich zu ziehen. Neuerdings versuchte sie, ihm eine neue, in ihren Augen verlockende Seite zu zeigen, indem sie, wenn sie kam, für ihn kochte, allerdings mit mehr gutem Willen als Talent. Ihm fiel es auf die Ner ven, sie so in seiner Wohnung schalten und walten zu sehen, als sei es die ihre. Bei sich beschuldigte er sie, an ihm zu kleben. Eine andere hätte längst gemerkt, daß sie ihm lästig fiel. Seit einiger Zeit vermied er auch jeden intimen Kontakt mit ihr, aber selbst das schien ihr nicht die Augen zu öffnen. Sie war anscheinend so fest entschlossen, ihr Ziel zu erreichen, daß sie für seine Gleichgültigkeit und die gelegentlichen Fluchtversuche blind war, oder sich doch so stellte. Während Christopher sich diesen Betrachtungen hingab, klingelte es ununterbrochen an seiner Tür. Irma schien nicht glauben zu wol len, daß er nicht hier sei, vielleicht hatte sie vom Hauswart gegenteili ge Auskunft bekommen. Er konnte sich allerdings nicht erinnern, von diesem bei seiner Rückkehr gesehen worden zu sein. Da er immer zu Fuß zum Konzern ging, hatte die Anwesenheit seines Wagens nichts Verräterisches. Das anhaltende Klingeln machte ihn zornig. ›Schließ lich habe ich doch wohl das Recht, einmal allein zu bleiben, wenn mir danach zumute ist‹, dachte er störrisch. Wäre Irma verständig, hätte er ihr erklären können, daß er heute arbeiten müsse; aber das hätte nur scheinbar Erfolg gehabt. »Ich störe dich bestimmt nicht«, hätte sie versprochen, sich aber kei 11
ne fünf Minuten ruhig verhalten. Stillzusitzen, zu schweigen, lag au ßerhalb ihrer Fähigkeiten. Nach einer Weile hätte sie gesiegt, indem er resignierte und die Arbeit beiseite schob; er kannte das. Nein, diesmal würde er hart bleiben. Sein Ärger vertiefte sich noch durch die Tatsa che, daß er kein Licht andrehen konnte. Wenn ihr Misstrauen geweckt war, würde sie bestimmt noch eine Weile vor dem Haus stehenbleiben und seine Fenster beobachten. Auch wenn er sie nicht einließ, wozu er fest entschlossen war, verhinderte sie doch indirekt seine Arbeit. Das Klingeln hatte jetzt aufgehört. Er legte das Ohr an die Tür und lauschte auf ihren sich entfernenden Schritt, wobei er sich unwürdig und lächerlich vorkam. Schließlich hatte er es satt, im Dunkeln zu sit zen. Es gab einen Hinterausgang; durch den konnte er entwischen, ohne von ihr bemerkt zu werden. Als er auf die Straße trat, wußte er nicht, was er anfangen sollte. Weder der Besuch eines Kinos noch ei nes Cafés reizte ihn. Schließlich kam er auf den Gedanken, sich Mild red Simons' Haus anzusehen. Die Adresse hatte er sich gemerkt. Zwar fand er die Idee ausgefallen, war aber doch froh, ein Ziel zu haben. Vielleicht klärte es ein wenig das verschwommene Bild, das er von ihr hatte, wenn er sich anschaute, wo und wie sie hauste. Er mußte einen tüchtigen Fußmarsch auf sich nehmen, da er den Wagen nicht benutzen konnte und sich mit den öffentlichen Verkehrs mitteln nicht auskannte. Im Grunde war ihm das aber nur lieb. Der Abend war ohnehin verpfuscht, und so brachte er wenigstens die Zeit bis zum Schlafengehen hin. Das Laufen tat ihm gut. Man müßte sich viel mehr Bewegung machen und nicht vom Schreibtischsessel hinter den Volant sitzen, wenn man für den Abend etwas vorhatte. Die höch stens zehn Minuten Weg bis zu seiner Arbeitsstätte fielen nicht ins Ge wicht. Er war jetzt in einer Vorstadt, in der viele kleine Einfamilienhäu ser neben häßlichen Mietskasernen standen. Zuerst suchte er vergeb lich Mildreds Nummer. Aber die Straße machte an ihrem Ende einen unvermuteten Bogen, und dort stand, abseits von den anderen, trüb selig beleuchtet von der letzten Laterne, ein nicht unschönes, aber al tes Häuschen, das die gesuchte Nummer trug. Es konnte nicht mehr 12
als vier Zimmer und Küche beherbergen. Im Augenblick wirkte es un bewohnt; die grüngestrichenen hölzernen Fensterläden waren aus nahmslos geschlossen; man sah nicht einmal einen Lichtschimmer. Christopher mußte zugeben, daß dieses Haus nicht schlecht zu Mild red Simons paßte; es wirkte genauso unzugänglich wie sie. Der Gar ten bestand in der Hauptsache aus einer Grasfläche und einigen Bäu men. Die Straße hörte hier auf und grenzte an magere Weiden, auf de nen zur Zeit kein Vieh graste. Er konnte darum leicht auf die Rück seite des Hauses gelangen. Dort führten ein paar Stufen zu einer Ve randa hinauf, auf der mehrere Kästen mit üppig blühenden Gerani en standen. Diese Entdeckung gab ihm wunderlicherweise ein Gefühl der Erleichterung. Sie hatte also doch etwas, das sie pflegte und an das sie ihr Herz gehängt hatte. Plötzlich fiel ihm ein, daß sie ihn vielleicht durch die Schlitze in den Läden sehen konnte. Wohl möglich, daß sie seine Schritte vernommen hatte. Der Gedanke war ihm peinlich. Was für einen Reim sollte sie sich auf sein Herkommen machen? Obschon kaum anzunehmen war, daß sie sich zeigte und ihn nach seinem Be gehren fragte, störte ihn der bloße Gedanke, hier überrascht zu wer den. Er beeilte sich darum, fortzukommen. Schließlich hatte er seine Neugier gestillt.
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M
ildred hatte Christophers Schritte tatsächlich gehört, und alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Gelähmt vor Angst, mit irrsinnig klopfendem Herzen kauerte sie in ihrem alten Sessel, unfä hig, sich auch nur dazu aufzuraffen, hinauszuspähen. Sie hätte dazu ei nen Laden öffnen müssen, denn alle Schlitze waren von innen abge dichtet. Ihr Haus war das letzte der Straße. Es gab hier normalerweise keine Passanten, es sei denn, daß an schönen Sommerabenden verein 13
zelte Liebespärchen über die Weiden zu dem nahen Gehölz pilgerten. Aber diese Schritte waren nicht vorübergegangen, sie hatten ihr Haus umrundet. Seine abgeschiedene Lage kam ihrem Bedürfnis nach Ab sonderung zwar entgegen, stellte aber eine zusätzliche Gefahr dar. Seit sie hier wohnte, hatte sie angstvoll darauf gewartet, daß sich eines Abends oder Nachts Schritte näherten und jemand Einlass begehrte oder ihn sich selbst verschaffte. War es jetzt soweit? Sie strengte ihr Ge hör aufs äußerste an, aber das Blut rauschte dermaßen in ihren Ohren, daß sie nichts mehr vernahm. Vielleicht stand der Fremde still und wartete ab, ob sie eine Unvorsichtigkeit beging. Bob würde sich seine Rache nicht entgehen lassen, dessen war sie sicher. Er konnte es selbst sein oder ein von ihm Beauftragter, das blieb sich gleich. Wer immer es war, er hatte die Absicht oder den Auftrag, sie zu vernichten. Sie war so weit geflohen, wie sie konnte, aber wenn er es wollte – und sie zweifel te nicht daran, daß er es tat –, würde er sein Ziel dennoch erreichen. Zwar hatte sie ihres Wissens die Großtante, die ihr dieses Haus ver machte, während ihrer Ehe nie erwähnt. Persönlich hatte sie sie nicht gekannt, aber als Kind und junges Mädchen hier und da einen Brief mit ihr gewechselt. Als ihre Familie dieser unglückseligen Heirat we gen mit ihr brach, hatte sie die Verbindung zu dieser Großtante ein schlafen lassen, sicher, daß sie von ihren Eltern gegen sie beeinflusst worden sei. Sie hatte darum kaum glauben können, daß die alte Frau anscheinend über Jahre hinweg an sie gedacht und ihr das wenige, das sie besaß, vermacht hatte. Das Testament war von einem Notar an ihr Elternhaus adressiert und von ihrem Vater ohne Kommentar an sie weitergeleitet worden. Sofort hatte sie begriffen, daß sich ihr hier viel leicht ein Ausweg aus ihrer gefährlichen Lage bot. Keiner Menschen seele hatte sie verraten, daß sie nach Deutschland auswandern wollte. Sie hatte ihre Wohnung in Richmond gekündigt und ihre Koffer zur Tarnung vorläufig nur nach New York geschickt. Alle Vorsichtsmaß nahmen, durch die sie ihre Spuren verwischen konnte, hatte sie gewis senhaft beachtet, die Reise über den Ozean auf einem kleinen Fracht dampfer zurückgelegt. Nicht einmal ihre Eltern hatten eine Ahnung, wo sie sich befand. Aber Bob verfügte über mehr als die gewöhnlichen 14
Mittel, sie aufzuspüren, und seit drei Monaten war er auf freiem Fuß. Daß sie seine Verhaftung nicht veranlasst hatte, würde er nie glauben. Es wäre vergebliche Mühe, ihn überzeugen zu wollen. Ein schlechter Mensch wie er konnte nur Schlechtes von anderen denken. Ein Schau der des Abscheus flog ihr über den Rücken, als sie daran dachte, daß sie ihn vor fünf Jahren noch geliebt und mit ihrer ganzen Familie ge brochen hatte, um zu ihm gehören zu können. Nie hatte sie damals auch nur der Gedanke gestreift, er könnte sie lediglich heiraten, um, und sei es auf dem Wege der Erpressung, an das Vermögen ihrer Eltern heranzukommen. Bob war ein ausgezeichneter Schauspieler und sie ein ahnungsloses Mädchen gewesen, behütet und nie zuvor mit einem Mann von Bobs Verführungskünsten in Berührung gekommen. Es war fast unvermeidlich, daß sie ihm verfiel. Der, wie sie damals glaub te, ungerechte Widerstand ihrer Eltern hatte sie nur noch in ihrem Willen bestärkt. Bob hatte ihr erfolgreich eingeredet, sie seien gegen ihn, weil er nicht reich war und sie für ihre Tochter eine standesgemä ßere Partie ins Auge gefaßt hätten. Da Mildred wußte, wieviel Geld ih nen bedeutete, hatte sie ihm geglaubt. Hätte sie doch auch nur einen Teil der Skepsis, mit der sie die Richtigkeit aller Warnungen ihrer El tern angezweifelt hatte, auf den verwandt, der sie verdient hätte! Er hatte sich genau so lange verliebt gezeigt, bis er einsehen mußte, daß aus ihren Eltern nichts herauszuholen war. Von seinen sicher zahlrei chen Versuchen in dieser Richtung hatte sie zunächst nichts gewußt. Jetzt, da ihr die Augen aufgegangen waren, konnte sie sich vorstellen, unter was für Vorwänden er sich immer wieder an sie herangemacht hatte. Sicher hatte er behauptet, sie sei krank oder habe nichts zu essen und ähnliches, von dem er hoffte, daß es das Herz der Eltern erwei chen würde. Da diese ihn aber richtig einschätzten, waren sie nicht darauf eingegangen, sicher, daß ihre Tochter von dem Geld nichts zu sehen bekommen würde. In dieser Meinung waren sie dadurch be stärkt worden, daß sie selbst sich nie an sie gewandt hatte; obschon Mildred sie zu einem gewissen Zeitpunkt gern hätte wissen lassen, daß sie die Richtigkeit ihrer Einwände inzwischen eingesehen habe. Ein solches Geständnis hätte sie erleichtert; sie versagte es sich, weil sie ent 15
schlossen war, ihre selbstverschuldete Verzweiflung ohne Hilfe durch zustehen. Draußen blieb es jetzt ruhig, und allmählich entkrampfte sie sich. Aber der Schreck saß doch so tief in ihr, daß sie bis zur Morgendäm merung wach lag und über ihr verpfuschtes Leben nachgrübelte. Zwar erkannte sie dankbar, daß ihr mit dieser kleinen Erbschaft eine gro ße Hilfe zuteil geworden war. Wäre sie nur auch ihrer Dauer sicher ge wesen! Sie wurde aber den Verdacht nicht los, daß ihre Flucht nach Deutschland nur ein Aufschub des unvermeidlichen Endes ihrer per sönlichen Tragödie war. Wirklich entrinnen würde sie Bob nicht. Am nächsten Morgen stieß sie zufällig mit Christopher Witt am Fa briktor zusammen. Er erschrak über ihr verhärmtes Aussehen. »Fehlt Ihnen etwas? Sie sehen krank aus«, fragte er besorgt. »Nur eine schlaflose Nacht. Es ist nicht die erste und wird nicht die letzte sein.« In der Mittagspause konnte er der Versuchung, sie auf der Terrasse aufzustöbern, nicht widerstehen. Er fand sie, wie das letzte Mal, in ein Buch vertieft; diesmal hatte er seine Schritte nicht gedämpft, um sie nicht wieder zu erschrecken. »Mildred«, sagte er, da er stets englisch mit ihr sprach, unwillkürlich in die amerikanische Gewohnheit verfallend, einander beim Vorna men zu nennen, »ich muß mit Ihnen sprechen. Sie leiden unter irgen deiner Drohung; ich wollte, ich könnte sagen, einer Wahnvorstellung. Aber Sie machen nicht den Eindruck, hysterisch zu sein. Also existiert diese Gefahr tatsächlich, und Sie leben in ständiger Angst. Ich möchte Ihnen so gern helfen, aber wie könnte ich das, solange ich im dunkeln tappe? Hatte es einen besonderen Grund, daß Sie heute nacht nicht schlafen konnten?« »Ja«, sagte sie und zog unter einem unwillkürlichen Schauder ihre Strickjacke enger um sich. »Er hat mich gefunden. Gestern abend ist er ums Haus geschlichen –« »Um Gottes willen!« rief Christopher entsetzt, »das wollte ich nicht. Wenn Sie Schritte gehört haben, waren es die meinen.« »Die Ihren?« fragte sie ungläubig. »Wie könnte das möglich sein?« 16
»Ganz einfach. Ich wußte mit dem gestrigen Abend nichts anzufan gen, da kam mir der Einfall, mir einmal anzusehen, wo und wie Sie wohnen. Jetzt, da ich weiß, was ich damit angerichtet habe, kann ich mir diese Neugier nicht verzeihen.« »Sie waren es wirklich?« vergewisserte sie sich noch einmal und tat einen tiefen Atemzug der Erlösung. »Ach, wie dumm war ich …« »Warum haben Sie denn nicht durch einen Spalt im Laden ge schaut?« »Es ist alles abgedichtet, damit man von außen kein Licht sieht. Ich hät te einen Laden öffnen müssen, und davor hatte ich viel zuviel Angst.« »Müssen Sie unbedingt in diesem abgelegenen Haus wohnen? Sie könnten es doch vermieten und sich eine Wohnung nehmen, wo man Ihnen helfen könnte, wenn tatsächlich etwas passierte.« »Ach nein, dazu könnte ich mich nicht entschließen. Ich bin etwas menschenscheu, Sie werden es schon bemerkt haben. Früher war ich nicht so, früher«, ergänzte sie mit einem bitteren Lächeln, »in einem anderen, besseren Leben.« »Sie sollten sich meinen Vorschlag doch überlegen. Ich mache mir Sorgen um Sie, wirklich. Man würde Sie nicht einmal hören, wenn Sie um Hilfe riefen.« »Dazu würde er mir auch kaum Gelegenheit geben. Er ist skrupellos, wissen Sie, und er glaubt, mit mir eine Rechnung begleichen zu müs sen.« Christopher begriff, daß dieser ›er‹ ihr gewesener Ehemann sein mußte. »Aber Sie sind doch rechtmäßig geschieden, nicht wahr? Dafür brauchten Sie doch sein Einverständnis?« »Nicht, wenn der Mann eines schweren Verbrechens wegen im Zuchthaus sitzt.« Nach ihrer bisherigen Verschwiegenheit wirkten die Worte brutal, und Christopher starrte sie offenen Mundes an. »Sie se hen, daß es gefährlich ist, sich mit mir einzulassen. Er wird jeden has sen, von dem er denkt, er könnte mir eine Stütze sein.« »Aber«, sagte Christopher, nachdem er sich mühsam gefaßt hatte, »wir leben schließlich in einem Rechtsstaat …« 17
Sie lächelte bitter. »Wenn Sie meinen, daß das Bob aufhalten würde, haben sie eine fal sche Vorstellung von ihm. Nein, es ist besser, wenn Sie sich nicht mehr um mich kümmern. Ich hatte Sie schon einmal darum gebeten, aber da kannten Sie die Stichhaltigkeit meiner Gründe noch nicht. Aber jetzt –« »Ich denke nicht daran, Mildred. Zwar weiß ich noch nicht, wie ich Sie beschützen soll; aber wenn es einen Weg gibt, werde ich ihn fin den.« »Sie sind ein guter Mensch, aber gerade darum möchte ich Sie nicht in Gefahr bringen. Ich würde mir nie verzeihen, wenn Ihnen zum Dank für Ihre gute Absicht etwas zustieße.« »Reden wir jetzt nicht von mir«, sagte er abwehrend. »Es ist nun ein mal so, daß mir Ihre Lage nicht aus dem Kopf geht. Da kann man nichts machen.« Mit einem Impuls, den er ihr nach seinen bisherigen Erfahrungen nicht zugetraut hätte, streckte sie ihm plötzlich ihre Hand entgegen. »Ich danke Ihnen. Und es ist gar nicht wahr, daß ich möchte, Sie küm merten sich nicht mehr um mich. Seit Sie das tun, ist wieder ein wenig Wärme in mein trostloses Leben gekommen.« Er lächelte gerührt. »Aber auch mir haben Sie zuerst misstraut. Als Sie hörten, daß ich ebenfalls aus Amerika komme, waren Sie furchtbar erschrocken.« »Das ist wahr, aber – wundert Sie das? Alles, was mit drüben zusam menhängt, flößt mir Angst ein, überall wittere ich eine mögliche Ver bindung mit ihm. Aber dieses Misstrauen habe ich Ihnen innerlich längst abgebeten. Da – die Mittagszeit ist zu Ende. Ich bin so froh, daß Sie mir wegen gestern abend die Wahrheit gesagt haben.«
Der Buchhalter Weißgerber war mit seinem Hund Brutus, einem bel gischen Schäfer, spazieren gewesen. Jetzt putzte er ihm sorgfältig die Pfoten ab, obschon es draußen trocken war. Er tat es nur, um dem 18
sonst unvermeidlichen Vorwurf Maries, der Hund verdrecke ihr die Wohnung, zuvorzukommen. Sie hatte das Tier nie gemocht, aber ganz schlimm war es damit erst geworden, seit ihr Mann an den Stamm sitz seiner Firma versetzt worden war. Vorher hatten sie einen Gar ten gehabt, und er hatte das Tier nur abends nach Feierabend herein genommen, so daß es sie weniger gestört hatte als hier auf der Etage. Der Hund wußte genau, daß er nicht in ihrer Gunst stand. Mit einge zogenem Schwanz schlich er an ihr vorbei in seine Ecke. Weißgerber, der ihm zusah, fragte sich, wie viele Fußtritte sie ihm wohl versetzte, während er im Büro war. Daß der Hund tunlichst einen Bogen um sie machte, war in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich. Er war das ein zige Wesen, für das er, Weißgerber, ein der Liebe verwandtes Gefühl aufbrachte. Seine Frau bedachte er mit dem Hass des angeschmiede ten Galeerensklaven. Was er an Gift herunterschlucken mußte, gab er jeweils an seine Untergebenen weiter. Er war deshalb in der Firma der am meisten verabscheute Vorgesetzte, eine Tatsache, die er als unwich tig übersah. Er wußte, was er für seine Chefs als Arbeitskraft wert war, und das allein zählte für ihn. Brutus ließ kein Auge von ihm. Er war hungrig, und sein Heil hing allein von seinem Herrn ab. In Gegenwart der Frau wagte er jedoch weder zu winseln noch zu betteln. Weißgerber verstand ihn auch so, wußte aber, daß er warten mußte, bis das Abendessen vorbei war. Er begriff nicht, warum Marie sitzen blieb, statt es vorzubereiten. »Essen wir noch nicht?« fragte er, mehr Brutus' als seinetwegen. »Geschieht dir recht, wenn du Hunger hast. Heute Mittag hast du nur im Essen herumgestochert –« »Weil es angebrannt war«, verteidigte er sich in einem Anfall von Mut. »Nicht der Rede wert. Wenn du deiner Lebtag solches Essen be kommst, bist du ein bevorzugter Mensch.« Weißgerber sagte kein Wort mehr, es nützte doch nichts. Er hat te heute Mittag schon im Treppenhaus gerochen, was passiert war. Nicht einmal dem Hund hatte er von dem verdorbenen Essen zu ge ben gewagt. Hätte er es verweigert, wäre Marie außer sich geraten 19
und hätte das Tier geschlagen, sobald er fortgegangen wäre. Sie woll te ihn schon lange dazu treiben, den Hund zu verkaufen. Obschon er seine einzige Freude war, gab es zuweilen Augenblicke, in denen auch er es für das beste hielt. Er konnte Brutus nicht schützen, er tat ihm leid, abgesehen von dem Ärger, den er selbst seinetwegen täglich zu schlucken bekam. Früher, als er den Hund angeschafft hatte, war sein schwarzes Fell wunderbar dicht und glänzend gewesen. Jetzt sah man ihm an, daß er nicht immer sein Recht bekam. Marie weigerte sich rundweg, bei den teuren Preisen Fleisch für ihn zu kaufen, seit dem feststand, daß er vom Pferdefleisch am ganzen Körper einen Ausschlag bekam. Obschon es für sein Gebiss wichtig gewesen wäre, mußte er sich mit den seltenen Knochen begnügen, die vom Fami lientisch abfielen, frische erhielt er nie. Es kam vor, daß Weißger ber ihm heimlich eine Wurst zusteckte, die das Tier mit Heißhunger verschlang. Er wußte aber, wenn er heimkam, nie, wo er sie verstek ken sollte, ohne daß Marie etwas merkte. Die Joppe zog er zum Es sen aus, und eine ausgebeulte Hosentasche wäre ihr sofort aufgefal len. Spazieren ging er mit dem Hund immer in die Parkanlagen, aber selbst dort war er nicht frei zu tun, was ihm beliebte. Das Haus, in dem er lebte, war von vielen alten Rentnern bewohnt, die die Bänke bevölkerten. Er, der zuletzt eingezogen war, wußte kaum von einem von ihnen, wer er war. Sie dagegen kannten ihn alle. In aller Harmlo sigkeit könnte es geschehen, daß einer Marie erzählte, er habe ihren Mann im Park gesehen, wie er seinen Hund fütterte. Mehr brauchte es nicht, und der Teufel wäre los gewesen. Sie hätte dann den Beweis gehabt, daß er heimlich etwas für Brutus kaufte. Für den Hund war er dazu imstande, aber ihr, seiner Frau, einmal etwas Obst oder Sü ßes mitzubringen, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Der Hund kam vor ihr, das war nur allzu klar. Brutus hatte sein, wie Weißgerber wohl wußte, unzureichendes Fut ter bekommen und verschlungen. Er bettelte mit den Augen um mehr, und Weißgerber konnte seinen Blick kaum ertragen. Hätte er ihm we nigstens erklären können, daß nicht er schuld an der mageren Ration war. Kürzlich hatte er zufällig den Tierarzt getroffen, der Brutus frü 20
her gegen Staupe behandelt hatte. Er war bei ihm stehen geblieben und hatte missbilligend auf das magere Tier geschaut. »Der Hund ist unterernährt, Herr Weißgerber. Er war doch ein so schönes Tier. Was haben Sie bloß mit ihm gemacht?« Der Buchhalter war vor Scham dunkelrot geworden. Er hätte für sein Leben gern gesagt, daß seine Frau daran schuld sei, aber das hätte dem anderen seine Ohnmacht enthüllt. Darum zog er es vor, zu lügen. Bru tus sei krank gewesen, er werde sich jetzt schon wieder erholen. »Wenn er so krank war, daß er nicht mehr gefressen hat, hätten Sie ihn zu mir bringen sollen. Ich hätte ihm geholfen und verhindert, daß er derart abmagerte. Wäre er ohne Fell, könnte man sicher seine Rip pen zählen.« Weißgerber hatte sich daraufhin vorgenommen, ein ernstes Wort mit Marie zu reden. Er hatte keine Lust, bei den Leuten ins Gerede zu kommen, weil sein Hund verhungert aussah. Aber sobald er Marie ge genüberstand, verließ ihn der Mut, und es blieb alles beim alten. Aber einige Abende später erlebte er mit unverhohlener Befriedigung, daß die Geduld fast jeder geplagten Kreatur ihre Grenzen hat. Als er nach Hause kam, fiel ihm auf, daß die zur Straße hinschau enden Fenster der Küche und des Wohnzimmers dunkel waren. Soll te Marie ausgegangen sein? Da sie ihre Besorgungen immer morgens machte und niemand kannte, der sie hätte einladen können, schien das wenig glaubhaft. Eine plötzliche Ahnung sagte ihm, daß etwas vorge fallen sei. Als er die Wohnungstür aufschloss, rief Marie, sobald sie ihn hörte, um Hilfe. Ihre Stimme kam aus dem Wohnzimmer. Gleichzei tig hörte er Brutus winseln, nicht freudig wie sonst, wenn sein Herr heimkam, sondern so, als fehlte ihm etwas. Es war ein unwiderlegba rer Beweis dafür, in welchem Maße er seine Frau verabscheute, daß diese Wahrnehmung ihm mehr Sorge bereitete als Maries Hilferufe. Sie waren auch nicht besonders laut, denn es gab keine Lebenslage, in der sie nicht zuerst an die Leute, in diesem Fall die Nachbarn, gedacht hätte, und den Eindruck, den sie von ihr empfingen. Als Weißgerber die Wohnzimmertür öffnete, lag das Zimmer tatsächlich im Dunkel. Alarmiert knipste er das Licht an. Brutus sprang ihm nicht wie sonst 21
entgegen. Er duckte sich, ein sicheres Zeichen, daß er etwas getan hat te, das sein Herr vielleicht missbilligte. Am anderen Ende des Zim mers saß Marie, vor Wut zitternd, auf der Kante eines Stuhles und hielt ihm anklagend ihren rechten Arm entgegen, der, ebenso wie die Hand, die Spur eines Bisses trug. Das Taschentuch, das sie zerknüllt in der anderen hielt, wies einige Blutflecken auf, aber nicht genug, um auf tiefgehende Verletzungen zu schließen. Vor ihr am Boden, aber weit genug entfernt, daß sie nicht hinlangen konnte, lag der alte, große Tep pichklopfer, mit dem sie Brutus zu züchtigen pflegte, wenn ihr Mann nicht da war. Weißgerber war nun doch erschrocken. »Wie konnte das geschehen?« »Das Vieh, das verdammte, hat mir den Braten aus der Küche ge stohlen. Ich habe ihn verhauen, wie er es verdiente, und plötzlich hat er mich angefallen. Ich mußte den Klopfer fallen lassen, und nach her konnte ich ihn nicht mehr aufnehmen, weil das Vieh vor mir ste hen blieb und mit den Zähnen fletschte, wenn ich auch nur die gering ste Bewegung machte. Jetzt reicht es mir aber, der Hund muß mor gen abgetan werden, das verlange ich. Wenn du es nicht freiwillig tust, melde ich ihn der Polizei als gemeingefährlich. Wir werden ja sehen, wer recht bekommt.« Weißgerber sagte zunächst kein Wort und wand te sich Brutus zu. Er war jämmerlich zugerichtet, sein eines Ohr und die Schnauze bluteten und er zog das rechte Hinterbein nach. Es war nicht schwer zu erkennen, daß Marie in rasender Wut auf das Tier los geschlagen hatte, zuerst von vorne, dann, als er weglaufen wollte, von hinten. Weißgerber beugte sich über den Hund und streichelte ihn, was Marie zu einem Aufschrei der Empörung veranlaßte. Dagegen wich der angstvolle Ausdruck aus den sprechenden Augen des Tieres. Es spürte, daß sein Herr es nicht strafen wollte, und leckte ihm dank bar die Hand, eine Blutspur auf der seinen zurücklassend. Als Weiß gerber aber sein Bein untersuchen wollte, winselte er zur Warnung. Marie war seinem Tun aufmerksam gefolgt und begann nun von neu em zu zetern. »Der Hund tut dir wohl mehr leid als ich? Was könnte man von dir 22
auch anderes erwarten! Du hättest längst nach einem Arzt Telefo nieren müssen, statt dazustehen und den Köter zu untersuchen. Ich brauche sofort eine Tetanusspritze, bevor es zu spät ist. Zu viel Zeit ist schon verloren gegangen, aber das Vieh hat mich ja nicht ans Telefon gelassen.« Weißgerber erwiderte noch immer nichts, aber er suchte im Register nach einem praktischen Arzt, der nicht zu weit weg wohnte. Nachdem er dessen Versprechen erhalten hatte, sofort mit dem Nötigen zu kom men, wählte er die Nummer des Tierarztes. »Herr Doktor, meine Frau hat Brutus heute so zugerichtet, daß er wahrscheinlich ein Bein gebrochen hat. Zuletzt scheint es ihm zuviel geworden zu sein, und er hat sie gebissen.« – »Ja, ich habe schon wegen einer Tetanusspritze angerufen.« – »Wie? Was der Hund getan hatte? Er hat den Braten aus der Küche gestohlen. Meine Frau wollte ja nie so viel für ihn hergeben, daß er satt wurde! Sie haben selbst gesehen, wie mager er ist.« – »Nein, er war nicht krank, das hatte ich nur gesagt, um meine Frau zu decken, aber damit ist jetzt Schluß. Werden Sie gleich kommen, Herr Doktor?« – »Erst in einer Stunde? Das ist spät. Ich brau che nämlich dringend Ihre Unterstützung. Meine Frau will absolut, daß der Hund wegen Gemeingefährlichkeit umgebracht wird. Sie ken nen das Tier, Herr Doktor, es ist lammfromm, wenn man es nicht zu schlimm quält. Das Fleisch hat er auch nur gestohlen, weil er Hunger leidet. Jeder andere Hund hätte das gleiche getan.« – »Ja, danke, Herr Doktor.« Marie hatte, während er telefonierte, gewagt, den Teppichklopfer wieder aufzunehmen, obwohl Brutus ein vernehmliches Knurren aus stieß, worauf sie ihre Absicht, durch ihren Mann gedeckt in die Küche zu gehen, sofort aufgab. »Das Vieh bringt mich noch um, und du nimmst es in Schutz und lädst alle Schuld auf mich. Ich werde dem Doktor einmal reinen Wein darüber einschenken, was für ein Ehemann du bist. Ein Wunder, daß ich es so lange mit dir ausgehalten habe –« »Du könntest mir keinen größeren Gefallen tun, als mich von deiner Gegenwart zu befreien. Ich ertrage sie kaum mehr. Du bist eine rich 23
tige Megäre und hast mich lange genug unter deiner Fuchtel gehalten. Ich kann zwar nicht beißen wie Brutus, aber dich hinauswerfen, das kann ich –« »Du – mich? Daß ich nicht lache! Umgekehrt wird es zugehen –« »Darin irrst du dich. Das ist meine Wohnung, ich habe den Vertrag unterschrieben –« »Aber die Möbel sind mein –« »Nur teilweise. Ich hindere dich sicher nicht, deinen Kram mitzu nehmen. Du hast ja deine Cousine Emma, die ein eigenes Haus hat und allein lebt; zu der kannst du gehen, wenn sie dich aufnimmt.« Weißgerber war maßlos erstaunt, als Marie plötzlich zu schluch zen begann. So etwas hatte er bei dieser harten Person noch nie er lebt. Anscheinend war das die Sprache, die man ihr gegenüber anwen den mußte. »Dreißig Jahre sind wir jetzt verheiratet, immer habe ich für dich ge sorgt und bin sparsam und fleißig gewesen. Und jetzt willst du mich zum Dank auf meine alten Tage hin hinauswerfen – und alles nur we gen dieses Viehs. Du hast kein Herz.« »Das mußt gerade du mir vorwerfen. Was meinst du, was geschieht, wenn es dem Tierarzt einfällt, dich beim Tierschutzverein zu verkla gen? Mach dir lieber gleich klar, daß das passieren könnte. Dr. Hess kennt in solchen Fällen keinen Spaß. Das Gericht würde dich bestra fen, und du hättest auch nichts anderes verdient. Brutus hat einen ver träglichen Charakter, er muß oft und seit langem von dir misshan delt worden sein, bis er es wagte, sich zu wehren. Jede Kreatur hat das Recht, sich gegen seinen Peiniger aufzulehnen; niemand kann es ihm verargen.« Die Wohnungsklingel unterbrach das unerfreuliche Gespräch. Marie wagte nicht, selbst aufzumachen, obschon sie viel darum gegeben hät te, dem Doktor erst einige nützliche Hinweise zuflüstern zu können. Aber Brutus ließ sie nicht aus den Augen. Mit dem hatte sie es anschei nend für immer verdorben. Ein Grund mehr, ihn abzutun. Es wäre doch gelacht, wenn sie das nicht erreichte. Schlimmstenfalls konnte sie ihm Mäusegift in sein Fressen tun. Eingehen mußte er, das stand fest. 24
Der Arzt untersuchte die Bisse, aber Marie kam nicht dazu, ihm ihre Version des Vorfalls aufzutischen. Weißgerber, der so lange geschwie gen hatte, schien jetzt eine förmliche Sucht zu haben, sich Luft zu ma chen. Er zeigte dem Arzt den misshandelten Hund und machte ihn auf seine Magerkeit aufmerksam. »Sie ist selbst schuld. Sie hat ihn so lange gequält, bis er es nicht mehr aushielt. Der Hund ist lammfromm. Ich kaufte ihn von einer Familie mit mehreren Kindern, die auswandern wollte. Er war ihr Spielgefähr te und hat nie jemandem etwas zuleide getan. Wenn er das Fleisch ge stohlen hat, dann nur aus übermäßigem Hunger. Sie hat ihm ja nichts gegönnt.« Mit verkniffenen Lippen mußte Marie sich diese Verdammung an hören. Es sah nicht aus, als neigte der Doktor zu ihrer Seite. »Ich habe selbst einen Hund, an dem ich hänge«, war sein einziger Kommentar, und der genügte. Er reinigte die Wunden, schloß sie mit einem strammsitzenden Pflaster, machte zum Schutz noch einen Ver band und gab Marie die Tetanusspritze. Das alles tat er schweigend, wo mit er sie derart einschüchterte, daß sie nichts zu sagen wagte. ›Män ner halten immer zusammen‹, dachte sie erbittert. Sie hatte jetzt rich tig Angst vor der Ankunft des Tierarztes. Von dem würde sie etwas zu hören bekommen, das stand jetzt schon fest. Sie hatte gehofft, wenig stens vom Arzt Unterstützung zu bekommen, aber es sah nicht danach aus. Beim Veterinär wäre jeder derartige Versuch von vornherein hoff nungslos. Er würde auf den ersten Blick sehen, daß sie den Hund hatte hungern lassen. ›Und wenn schon!‹ dachte sie aufsässig. ›Bin ich etwa verpflichtet, mein Haushaltungsgeld für so ein Vieh auszugeben? Er hat mich nie leiden können, und das war gegenseitig.‹ Die beiden Ärzte gaben sich die Türklinke in die Hand. Dr. Hess schien beachtlich wütend. Er hielt es anscheinend nicht mehr für nö tig, Rücksicht auf den anwesenden Weißgerber zu nehmen, der den Arzt zur Tür begleitet hatte. »Hoffentlich hat er ordentlich zugebissen«, sagte er grimmig. »Es würde mich freuen, wenn sie ein paar Tage Schmerzen hätte.« Der Arzt mußte unwillkürlich lachen über diesen Rachedurst. 25
»Leider muß ich Sie enttäuschen, Herr Kollege. Die Bisse sind nur oberflächlich. Schon das allein zeigt, daß der Hund kein Wüterich ist. Es war nur eine Lektion – vorläufig. Misshandelt sie ihn wieder, könn te es anders für sie ablaufen.« »Dafür, daß das nicht mehr geschieht, werde ich sorgen, verlassen Sie sich darauf.« Weißgerber war dem Gespräch mit unverhohlener Befriedigung ge folgt. Er nahm Dr. Hess Mantel und Hut ab und führte ihn ins Wohn zimmer. Brutus erkannte ihn am Geruch und wedelte schwach. Der Arzt beugte sich über ihn und streichelte seinen schönen Kopf. Von Maries Anwesenheit nahm er zunächst überhaupt keine Notiz. Dieser Mann konnte trotz seines weichen Herzens sackgroß werden, wenn je mand Tiere misshandelte. »Völlig gebrochen ist das Bein wahrscheinlich nicht, aber ange knackst. Ich muß ihn mitnehmen, um ihn zu röntgen.« Das Tier hatte, obschon ihm die Untersuchung weh tun mußte, keinen Ton von sich gegeben. Es schien zu fühlen, daß man ihm helfen wollte. Außerdem roch dieser Mann so gut nach Hunden. Plötzlich drehte sich Dr. Hess nach Marie um. Sie hatte vergessen, daß sie den Teppichklopfer in Händen hielt und versuchte jetzt zu spät, ihn zu verstecken. Mit ein paar raschen Schritten war er bei ihr und entriss ihn ihr unsanft. Mit einer wütenden Kraftanstrengung zer brach er ihn über seinem Knie. Es war nicht leicht, aber er schaffte es schließlich. »So, der hat zum letztenmal als Folterinstrument gedient. Merken Sie sich gut, was ich jetzt sage. Ich stelle noch heute ein Attest dar über aus, daß der Hund schwer misshandelt worden war, bevor er Sie biss, und das viel gnädiger, als Sie verdienten. Außerdem werde ich vermerken, daß Sie das Tier so hungern ließen, daß es völlig unterer nährt ist. Dieses Attest bleibt bei mir, damit Sie nicht drankommen können. Tun Sie diesem Hund auch nur noch einmal das geringste zu leide, oder geben Sie ihm kein ausreichendes Futter, wird dieses Attest mit einem Begleitschreiben von mir, das sich gewaschen hat, an den Tierschutzverein geschickt. Ihr Mann ist ein Schlappschwanz, daß er 26
sich bis jetzt nicht besser für seinen Hund eingesetzt hat. Tut mir leid, das sagen zu müssen. Aber ich warne Sie, mich nicht mit ihm zu ver wechseln. Ich drohe nur einmal, dann handle ich, und zwar gründlich. Sie tun gut daran, mir aufs Wort zu glauben.« Und zu Weißgerber ge wandt: »Wenn meine Frau oder unsere Hausgehilfin es wagen würden, meinen Hund derart zu quälen, hätten sie unter meinem Dach nichts mehr zu suchen. Sie kennen jetzt meine Meinung.« Weißgerber nahm ihm diese Grobheit nicht übel, er hatte sie ver dient. Die Hauptsache war, daß er in ihm eine Stütze für Brutus hat te. Jetzt würde es Marie wohl vergehen, dem armen Tier nach dem Le ben zu trachten. Marie blieb vernichtet in ihrer Ecke sitzen. Daß Dr. Hess ihr in sei ner unverblümten Art den Marsch blasen würde, hatte sie erwartet, aber nicht, daß er ihren Mann auch noch in seiner Absicht, sie zu ver stoßen, unterstützte. Dabei ging es doch nur um einen Hund …
III
I
n der Nähe der Textilia gab es eine alte, kleine Gastwirtschaft, in der Witt zuweilen nach der Arbeit ein Bier trank. Sie hatte bei aller Einfachheit etwas Anheimelndes und war immer peinlich sauber. Hier riskierte man nicht, zwischen eine Bande lärmender junger Burschen zu geraten, die jede Gemütlichkeit verscheuchten. Schon das Fehlen ei ner Musikbox hielt sie fern. Witt hatte auch eine Schwäche für den al ten Wirt und seine rundliche Frau. Es waren brave Leute, die mit ihrer bescheidenen Existenz zufrieden waren und nicht mehr verlangten. Christopher hatte bisher noch nie jemanden von der Textilia, den er kannte, hier getroffen. Die Wirtschaft lag auch ziemlich versteckt, man mußte sie kennen, um sie zu finden. Aber heute sah er zu seiner nicht gerade angenehmen Überraschung Weißgerber eintreten, beglei 27
tet von einem großen, schwarzen Hund, der sein verbundenes rechtes Hinterbein beim Laufen schonte. Das Lokal war klein und Witts Hoff nung, er würde nicht entdeckt, gering. Und tatsächlich hatte Weißger ber ihn nicht nur erspäht, er kam sogar geradewegs auf ihn zu. »Guten Abend, Herr Witt. Hätte nicht gedacht, daß diese Kneipe Ih nen gut genug sei. Habe Sie noch nie hier gesehen.« »Wahrscheinlich suchen wir sie zu verschiedenen Zeiten auf. Was fehlt denn dem Hund? Unter ein Auto geraten?« Während er diese Fra ge stellte, streichelte er den Kopf des Tieres und kraulte es hinter den Ohren. Weißgerbers bisher düsterer Blick hellte sich dabei auf. »Wie ich sehe, mögen Sie Hunde.« »Und wie! Ich würde mir zu gern einen halten, aber für jemanden, der den ganzen Tag abwesend ist, wäre das nicht angebracht.« »Kann ich mich zu Ihnen setzen, oder störe ich?« »Durchaus nicht«, log Witt und nahm sich gleichzeitig vor, sein Bier bald auszutrinken und sich davonzumachen. »Der Hund«, nahm Weißgerber, nachdem er bestellt hatte, Witts Fra ge wieder auf, »ist geschlagen worden.« »So brutal? Man sollte nicht denken, daß es so gemeine Menschen gibt.« »Nicht wahr?« pflichtete ihm Weißgerber erfreut zu. »Ein schönes Tier, nur etwas mager.« »Das bessert sich jetzt von Tag zu Tag. Sie hätten ihn vor einer Wo che sehen sollen; alle Rippen standen heraus.« »War er denn herrenlos? Streunte er herum?« »Keine Rede. Aber sie gönnte ihm sein Fressen nicht.« »Wen meinen Sie mit ›sie‹?« »Meine Alte, natürlich. Sie hat ihn auch so zugerichtet, mit einem Teppichklopfer. Er hatte ihr den Braten gestohlen, weil er es wahr scheinlich vor Hunger nicht mehr aushielt. Da ist sie außer sich gera ten.« Witt war etwas verlegen. Er stand mit Weißgerber weiß Gott nicht so, daß solche Vertraulichkeiten am Platze waren. Das Tier hatte jetzt zutraulich den Kopf auf sein Knie gelegt, und er fuhr fort, es zu strei 28
cheln. Weißgerber sah es mit Wohlgefallen, und plötzlich war ihm der Vize, wie er Witt stets bei sich nannte, sympathisch. »Er hat sie gebis sen«, fügte er mit sichtlicher Genugtuung hinzu. »Es ist ihr recht ge schehen.« »Das hätte ich diesem Hund nicht zugetraut. Er hat so gute Augen.« »Es ist ihm eben diesmal zuviel geworden. Hätte er es nur früher ge tan, dann hätte sie ihn in Ruhe gelassen. Sie hat jetzt Angst vor ihm, und er knurrt sie auch bei jeder Gelegenheit an. Den Teppichklopfer hat der Tierarzt entzweigebrochen, obschon es ein hartes Stück Arbeit für ihn war. Er wollte aber sicher sein, daß sie Brutus nicht mehr da mit schlug. Es wäre nicht nötig gewesen, denn sie traut sich jetzt nicht mehr an ihn heran. Und sie sagt auch nichts mehr, wenn ich Fleisch und Knochen für ihn kaufe. Ich habe ihr gedroht, sie fortzujagen. Das hat ihr einen gehörigen Schrecken versetzt.« Witts Verlegenheit wuchs, aber Weißgerber merkte es nicht. Anschei nend war Güte seinem Hund gegenüber der einzige Zugang zu seinem Herzen. Hinzu kam vielleicht noch, daß er zu lange hatte schweigen müssen. Jetzt machte ihn die Gewissheit, endlich obenauf zu schwin gen, ungewohnt redselig. »In Reutlingen, wo wir früher wohnten, hatten wir eine ParterreWohnung mit Garten. Da konnte der Hund draußen herumlaufen, und die Frau hatte keinen solchen Hass auf ihn wie jetzt. In einer Woh nung hinterlässt er eben Spuren, da kann ich ihm lang die Pfoten ab wischen. Wenn ich eine andere mit Garten fände, zöge ich schon mor gen um.« Witt hielt es für seine Pflicht, Interesse zu heucheln. Weißgerber tat ihm nun doch ein wenig leid. »Wie groß sollte sie denn sein? Nur für den Fall, daß ich zufällig ein mal etwas hörte.« »Jetzt haben wir drei Zimmer, genug für Leute ohne Kinder. Viel leicht wäre sie keine solche Megäre geworden, wenn wir welche hätten. Kann aber auch sein, daß sie sie kujoniert hätte wie mich. In Reutlin gen war sie mit allen Nachbarn verfeindet. Ich war darum froh, als ich hierher versetzt wurde. Daß ich dabei mit einer Bewerbung nachge 29
holfen hatte, weiß sie natürlich nicht. Leider bin ich aber vom Regen in die Traufe gekommen. Da sie jetzt mit ihr fremden Leuten im gleichen Haus wohnen muß, ist es mit den Zänkereien noch schlimmer gewor den. Es ist ein Kreuz mit einer solchen Frau!« Witt hatte sein Bier ausgetrunken und stand auf. »Wollen Sie schon gehen? Schade. Ich habe nämlich sonst nieman den, mit dem ich über alles reden kann. Hab' selbst nicht gewußt, wie mir das fehlt. Vielleicht trifft man sich wieder einmal hier?« »Wohl möglich«, sagte Witt höflich und nahm sich vor, vorläufig nicht mehr hier einzukehren. Als er aber auf dem Heimweg über Weiß gerber nachdachte, kam er zum Schluß, daß dessen mürrisches Wesen seine guten Gründe zu haben schien. Er dachte es sich schrecklich, an ein so zänkisches Weib gebunden zu sein. Dabei verging wohl dem Besten die gute Laune, und Weißgerber zählte sicher nicht zu ihnen. Witt stellte sich dieses Zusammenleben vor, und ein Schauder lief ihm über den Rücken. Unwillkürlich wurde er daran erinnert, wie Weiß gerber Mildred damals angefahren, und wie verschüchtert sie ausgese hen hatte. In den letzten Tagen waren sie einander nicht mehr begeg net, und er wagte nicht, sie öfters auf der Terrasse aufzusuchen. In ei nem Betrieb wie dem seinen würde das nicht lange verborgen bleiben. Die bösen Zungen hätten sicher nichts Eiligeres zu tun als zu behaup ten, Mildred ziehe sich dorthin zurück, damit er sie ungestört spre chen könne. Er hatte noch nie in irgendeiner noch so losen Beziehung zu einer Angestellten der Textilia gestanden. Aber bei Mildred war es etwas anderes. Sein Interesse für sie hatte mit Verliebtsein nichts ge mein, darum war sein Gewissen auch rein. Trotzdem war es ihretwe gen angebracht, Gerede zu vermeiden. Den ganzen Abend hatte Christopher das Gefühl, etwas in seinem Unterbewusstsein herumzutragen, ohne darauf zu kommen, was es war.
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Die Textilia hatte beschlossen, zwecks Entdeckung unbekannter Ta lente einen Wettbewerb auszuschreiben. Bei der Vorstandssitzung hat te es einen ziemlich lebhaften Disput darüber gegeben, ob sich die An gestellten der Firma ebenfalls daran beteiligen dürften. Einige der Her ren hatten gefunden, das widerspräche dem Sinn des Unternehmens. Was die eigenen Entwerfer leisteten, wußte man ohnehin, da gab es nichts mehr zu entdecken. Die Jüngeren unter ihnen waren dagegen fast durchweg der Meinung gewesen, man dürfe sie nicht von dieser Chance ausschließen. Es sei immerhin möglich, daß der eine oder an dere auf den Wettbewerb hin eine große Anstrengung mache und so auch für die Firma etwas dabei herauskomme. Die eifrigsten Befür worter dieser Meinung waren Weiler, der Chef der Entwurfsabteilung, und Witt gewesen. »Finden Sie es nicht etwas beleidigend für unsere Leute, die das gan ze Jahr für uns arbeiten, daß man sie dort ausschließen will, wo ein besonderer Lohn winkt? Das würde sicher böses Blut machen, und das können wir uns nicht leisten.« Dieses Argument Weilers hatte den Ausschlag gegeben. Er war für einen guten Kontakt mit seinen Un tergebenen bekannt. Man konnte als sicher annehmen, daß er ihre Stimmung richtig einschätzte. Witt hatte in der Hauptsache im Hin blick auf Mildred eine Lanze in gleicher Richtung gebrochen. Er konn te kaum die Mittagszeit abwarten, um ihr den Beschluss mitzuteilen. Zwar sollte er noch nicht bekannt werden, doch lief er bei ihr keine Ge fahr, daß sie ihn ausplauderte. Er aß so schnell, daß er sich die Zunge verbrannte, und lief dann gleich nach oben auf die Terrasse, wo ihn das gewohnte Bild empfing. Mildred spürte, daß er in guter Stimmung war und schaute ihm er wartungsvoll entgegen. Freudig berichtete er ihr, daß ein Wettbewerb für Entwürfe stattfinden sollte und es sehr beachtliche Preise für die drei ersten geben werde. »Ich wette, daß Sie einen bekommen werden«, sagte er zuversicht lich. »Der erste Preis ist ein vierzehntägiger Aufenthalt in der Schweiz, einschließlich Reisekosten. Ich hoffe sehr, daß Sie ihn gewinnen. Es würde Ihnen gut tun, einmal aus der gewohnten Tretmühle heraus 31
zukommen.« Zu seiner Enttäuschung schien seine Ankündigung auf Mildred keinen Eindruck zu machen. »Es würde mich schon locken, mitzumachen«, sagte sie zögernd, »aber es geht natürlich aus den bekannten Gründen nicht.« »Wieso? Das verstehe ich nicht. Was sollte Ihnen dabei gefährlich werden?« »Es wird doch sicher bei der Preisverleihung eine Feier geben? Neh men wir an, ich bekäme einen, wie denken Sie sich das Weitere? Die Presse wird wahrscheinlich eingeladen, und eine Aufnahme der Preis träger kommt in die Zeitung. Eine solche Publizität kann ich mir weiß Gott nicht leisten.« »Ich bin sicher, daß Sie die Gefahr überschätzen. Dieser Bob, den Sie so zu fürchten scheinen, lebt doch in Amerika, wenn ich nicht irre? Es wäre ein merkwürdiger Zufall, wenn er eine solche Zeitung in die Hän de bekäme. Weiß er denn überhaupt, daß Sie in Deutschland sind?« »Nein, das heißt, wenn er es nicht selbst herausgebracht hat. Ich habe mit keiner Menschenseele darüber gesprochen. Nicht einmal meine Eltern –« Sie stockte und biss sich auf die Lippen, als hätte sie schon zuviel gesagt. ›Sie hat also noch Eltern‹, dachte Christopher und fragte sich, wie die wohl beschaffen waren, daß sie ihr Kind so verlassen einer doch an scheinend existierenden Gefahr aussetzten. »Herr Weiler wäre bitter enttäuscht, wenn Sie nicht mitmachten. Er hat sich besonders dafür eingesetzt, daß auch die Angestellten an dem Wettbewerb teilnehmen dürfen. Ich bin sicher, daß er hofft, Ehre mit Ihnen einzulegen. Er hält große Stücke auf Sie, das haben Sie schon an der freiwilligen Gehaltsaufbesserung nach so kurzer Tätigkeit feststel len können.« »Ja, er ermutigt mich immer.« »Haben Sie das nötig, bei Ihrem Talent?« »Oh, was das betrifft«, sagte sie und lächelte traurig, »habe ich jedes gute Wort nötiger, als Sie sich vorstellen können.« Das Mitleid mit ihr riß ihn beinahe dazu hin, die Hand nach ihr aus zustrecken. Er wäre ihr gern einmal zärtlich, sozusagen väterlich, über 32
die wie immer unordentlichen Locken gefahren. Natürlich konnte er das nicht wagen, schon gar nicht hier. Und was die väterliche Note be traf, war er entschieden noch zu jung dafür, und niemand würde ihm eine solche Behauptung abnehmen. »Wollen Sie es sich nicht mir zuliebe noch einmal überlegen – mit dem Wettbewerb?« »Es fehlt mir ja nicht an gutem Willen«, beteuerte sie kummervoll, weil sie ihn enttäuschen mußte. »Ich bin ganz einfach in einer Zwangs lage.« »Schade. Es hätte eine besondere Chance für Sie werden können.« »Es tut mir ja auch leid; glauben Sie mir, bitte.« »Schon gut. Reden wir nicht mehr darüber.« Sie schaute ihm traurig nach, als er fortging, ohne das Ende der Mit tagspause abgewartet zu haben. Ob er ihr wohl zürnte? Sie verwünsch te diesen Wettbewerb, der vielleicht einen Schatten zwischen ihnen zu rückgelassen hatte. Wie gern hätte sie ihm alles mögliche zuliebe ge tan, statt dessen mußte sie ihn enttäuschen. Er wußte zu wenig von ihr, um sie wirklich verstehen zu können. Eines Tages würde sie ihm alles erzählen müssen. Es war nicht fair, ihm zu verschweigen, mit wem er sich eingelassen hatte. Wäre es nur nicht so furchtbar schwer, ein so schreckliches Bekenntnis über die Lippen zu bringen! Da er sich aber vielleicht selbst in Gefahr brachte, indem er sich um sie kümmerte, war sie ihm die Wahrheit schuldig.
Einige Tage später klingelte bei Christopher das Telefon. Er war erst vor einer halben Stunde von seiner Arbeit nach Hause gekommen und wartete darauf, daß seine ewigen Spaghetti gar wurden. Der An ruf mußte geschäftlicher Natur sein; er hatte wenig Bekannte in dieser Stadt. Es war schon fast ein Ereignis, wenn jemand bei ihm anrief. Als er sich meldete, hörte er zuerst nur heftiges, stoßweises Atmen, als sei jemand sehr schnell gelaufen oder in hohem Grade erregt. »Wer ist denn dort?« fragte er alarmiert. 33
»Mildred. Verzeihen Sie, daß ich Sie störe, aber ich weiß mir keinen Rat –« »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Was ist passiert?« »Als ich bei mir um die Straßenbiegung kam, sah ich einen fremden Mann auf meiner Gartenbank sitzen …« »Und? Was wollte er?« »Das weiß ich nicht. Ich bin gleich fortgerannt. Es ist sicher ein Ab gesandter von Bob. Ich habe solche Angst.« »Vielleicht gibt es eine harmlose Erklärung für sein Dortsein. Wenn es wirklich ein Spießgeselle von diesem Bob ist, werden Sie ihm auf die Dauer nicht ausweichen können, falls er Ihre Adresse festgestellt hat. Klüger wäre es gewesen, ihn direkt zu fragen; dann wüssten Sie jetzt wenigstens, ob Ihre Vermutung zutrifft.« »Ihn fragen?« wiederholte sie entsetzt und gleichzeitig schmerzlich enttäuscht über seine Verständnislosigkeit. »Er würde mir gar keine Zeit dazu lassen, mir einfach den Schlüssel entreißen, aufschließen und sich hineindrängen. Ich kenne doch diese Typen. Lange genug habe ich unter ihnen gelitten.« »Wenn es so einer wäre, hätte er sich bereits Eingang verschafft, ohne Sie um Erlaubnis zu fragen.« »Ja, das ist wahr, daran habe ich nicht gedacht«, gab sie zu, und er merkte an ihrer Stimme, daß sie nicht mehr ganz so in Panik war. »Aber ich getraue mich doch nicht, es darauf ankommen zu lassen.« »Sie können aber doch heute nacht nicht auf der Straße bleiben?« »Auch daran habe ich noch nicht gedacht«, gestand sie kleinlaut. »Möchten Sie, daß ich Sie begleite und mit dem Mann spreche?« »Wenn er Ihnen aber etwas zuleide täte? Das könnte ich mir nie ver zeihen.« »Seien Sie doch ein bißchen logisch«, sagte er mit einem Anflug von Un geduld. »Sie haben mich doch sicher nicht angerufen, um mich aus der Sa che herauszuhalten? Sie haben gehofft, daß ich Ihnen helfe, nicht wahr?« »Ich weiß selbst nicht, was ich erwartet habe«, sagte sie mit einer ganz kleinen Stimme. »Als ich den Mann sah, hatte ich nur einen Ge danken: es Ihnen zu sagen. Ich habe doch sonst niemanden.« 34
»Wo sind Sie jetzt?« »Zwei Straßen von meinem Haus entfernt, in einer Telefonkabine.« »Wie heißt die Straße?« »Bucheck.« »Gut, ich fahre gleich los. In zehn Minuten bin ich bei Ihnen.« Er wartete ihren Dank nicht ab und legte den Hörer auf. Diese Panik angesichts der einfachen Tatsache, daß ein Fremder sich die Freiheit ge nommen hatte, auf ihrer Gartenbank zu sitzen, schien ihm lächerlich übertrieben. Er war, wenn er sich die Wahrheit eingestand, dieser ewi gen Angst überdrüssig. Diese Sache roch allmählich zu sehr nach einem kitschigen Kriminalroman. Wären sie in Amerika, würde er die Berech tigung ihrer Angst eher anerkennen. Aber man war hier im Herzen von Westdeutschland und nicht in einer Gangsterstadt wie Chicago. Mit einem Seufzer stellte er seine Spaghetti ab. Als er merkte, daß sie gar waren, schüttete er sie in ein Sieb, um sie später aufzubraten. Hof fentlich wurde er nicht zu lange aufgehalten. Er hatte sich zwei neue Schallplatten gekauft und sich darauf gefreut, sie nach dem Abendes sen in aller Ruhe anzuhören. Daraus wurde nun vermutlich nichts. Als er den Wagen aufschloss, holte er nach kurzem Besinnen einen eng lischen Schlüssel aus dem Kofferraum. Während er ihn auf den Sitz neben sich legte, verspottete er sich selbst. Es fehlte noch, daß er sich von Mildred anstecken ließe! Aber es war doch beruhigend, ein wenn auch behelfsmäßiges Instrument der Selbstverteidigung in Reichweite zu haben. Für alle Fälle beschloß er, zuerst zu Mildreds Haus zu fah ren und sich diesen Typ anzusehen. Da es dort einen kleinen Platz zum Wenden der Wagen gab, weil die Straße nicht durchgehend war, konn te er so tun, als hätte er diese Absicht. Der Mann, der Mildred eine solche Angst eingejagt hatte, mochte gut und gern fünfzig sein. Er war nachlässig gekleidet, so wie er wahr scheinlich zu Hause aussah, und trug Pantoffeln. Christopher sah ne ben ihm einen ziemlich großen Käfig stehen, was ihn veranlaßte, mit ihm ein Gespräch anzuknüpfen. »Warten Sie auf jemand?« fragte er, indem er den Kopf aus dem Sei tenfenster streckte. 35
»Ja, auf das Fräulein. Mein Papagei ist mir davongeflogen und dort oben in die kleine Dachluke geschlüpft. Ich habe vergeblich nach ihm gerufen. Falls die Türe offen ist, strolcht er vielleicht bereits im Innern des Hauses herum. Wenn er bloß keinen Unsinn treibt! Aber am mei sten Angst habe ich davor, daß die Katze zurückkommt. Die Luke ist nämlich ihr Einschlupf, sie ist immer für sie offen. Wenn sie meinen Papagei erwischt, dann gute Nacht! Es würde einen Kampf auf Le ben und Tod geben, und vielleicht würden sie beide drauf gehen. Dar um warte ich ja auch hier. Wenn die Katze sich zeigt, hoffe ich, sie ver scheuchen zu können, sie ist sowieso halbwild. Ich glaube nicht, daß sie sich von jemandem anfassen läßt. Darum begreife ich auch nicht, daß das Fräulein sie sich hält. Man will doch etwas Zuneigung von sei nen Haustieren spüren, sonst macht es keinen Spaß. Mein Lorchen ist zwar nicht gerade zärtlich, aber sie hat ihre guten Tage. Außerdem ist sie schön, Sie müßten Sie einmal anschauen kommen. Ich heiße Ro pers und wohne in dem Mietshaus Nummer sieben, ganz nah.« »Das wird sich vielleicht machen lassen, wenn Sie ihn wieder einfan gen. Ich gehe jetzt das Fräulein holen. Sie wird Ihnen sicher erlauben, im Innern des Hauses nach dem Vogel zu suchen. Zuerst müßte man wahrscheinlich den Ausschlupf schließen, sonst fliegt er Ihnen wieder davon, und dann würden Sie vielleicht nicht so schnell herausfinden, wo er sich niedergelassen hat. Bis gleich!« Bevor Christopher einstieg, legte er den englischen Schlüssel wie der an seinen Platz im Kofferraum zurück. Dieser Papageibesitzer war so inoffensiv wie möglich. Witt hatte darum im Sinn, Mildred tüchtig auszulachen. Nur schade, daß er seinen schönen Abend für einen sol chen Unsinn hatte opfern müssen. Mildred erwartete ihn vor der Telefonkabine. Die Zeit mußte ihr lang erschienen sein, denn die angekündigten zehn Minuten hatte er erheblich überschritten. Sie sagte aber kein Wort darüber. Als er ihr das Ergebnis seiner ›Voruntersuchung‹ lachend erzählte, schaute sie ihn zweifelnd an. »Meinen Sie wirklich, daß das die Wahrheit ist?« fragte sie, fast unfä hig, ihr Glück zu glauben. »Er kann Ihnen etwas vorgemacht haben.« 36
»Können Sie nicht ein einziges Mal Ihr ewiges Misstrauen über winden?« fragte er unwillig. »Sie dürften mir immerhin zutrauen, ei nen Gangster von einem Spießbürger zu unterscheiden. Der Mann wohnt in der gleichen Straße, in einem dieser häßlichen Mietshäuser. Da er mich der Kurve wegen nicht beobachten konnte, habe ich mir die Mühe genommen, auszusteigen und seine Angaben nachzuprüfen. Sind Sie beruhigt? Steigen Sie ein, wir müssen uns beeilen, damit Ihre Katze uns nicht zuvorkommt.« »Oh, sie wird sich nicht sehen lassen, solange ein Fremder im Gar ten ist. Sie ist ebenso menschenscheu wie ich, darum passen wir auch gut zueinander.« »Aber eine halbwilde Katze ist nichts fürs Herz«, wandte er ein. »Wer so einsam lebt wie Sie, sollte ein Tier haben, das Ihnen Anhänglich keit bezeugt.« »Einen Hund, nicht wahr?« sagte sie. Der Ton ihrer Stimme verriet, wie sehr sie sich das wünschte. »Aber was würde ich mit ihm anfangen in all den Stunden, in denen ich abwesend bin?« »Sie könnten sich eine Hundehütte anschaffen und ihm eine so lan ge Kette geben, daß er einen gewissen Auslauf hätte. Der Buchhal ter Weißgerber hat einen, den er vielleicht abgeben würde, weil seine Frau das Tier quält. Sie könnten aber etwas noch Radikaleres tun und ihm Ihr Haus vermieten. Er sucht etwas mit einem Garten, eben die ses Hundes wegen.« »Herr Weißgerber? Ich glaube nicht, daß ich den in meinem Haus haben möchte.« Sie waren angekommen, und der Wartende sprang sofort auf, als er ›das Fräulein‹ erkannte. Zögernd ging sie auf ihn zu und über zeugte sich vorher, daß Witt ihr folgte. Ropers machte Miene, ihr die ganze Geschichte noch einmal zu erzählen, aber Witt verhin derte das. ›Das Fräulein‹ – merkwürdig, daß sie überall so genannt wurde, auch in der Textilia – »ist bereits im Bilde. Sie wird Ihnen aufschließen, und Sie können Ihren Papagei suchen.« »Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte der Mann erleichtert. 37
»Aber zuerst müßten wir wohl die Luke schließen, damit er uns nicht wieder entwischen kann.« »Ich werde das erledigen«, sagte Mildred, während sie aufschloss. »Aber fassen Sie ihn nicht an, wenn er noch dort in der Dachkam mer sein sollte. Er ist vielleicht etwas verstört und könnte Sie beißen.« »Am besten kommen Sie mit.« Da er nicht aufgefordert wurde, ihnen zu folgen, blieb Christopher in der kleinen Diele zurück und schaute sich um. Die Tür zur Wohnstu be stand weit offen, und er konnte leicht hineinsehen. Die Möbel wa ren alle alt und hatten wahrscheinlich einen gewissen Wert. Er frag te sich, ob Mildred die Einrichtung gleich mitgeerbt hatte, und fand das wahrscheinlich. Ein großer, weißer Kachelofen verbreitete ein we nig Wärme, gerade genug, damit die Temperatur etwas verschlagen war, denn die Abende wurden schon kühler. Es war, alles in allem, ein altmodisches, aber gemütliches Nest, in das Mildred allabendlich zu rückkehrte; er freute sich darüber. Diese Großtante mußte eine Frau mit Bildung gewesen sein, man sah es ihren Möbeln und Bildern an. Kein Stück war kitschig und tanzte aus der Reihe, alles erzeugte zu sammen eine wohltuende Harmonie. Oben hörte er, wie die Luke zu gemacht wurde. Er wunderte sich, daß Mildred es bei ihrem ewigen Misstrauen überhaupt wagte, sie offenzulassen. Wahrscheinlich war sie aber für einen Menschen zu klein. Damit hatte er, wie er sich spä ter überzeugte, recht. In kurzer Zeit erschienen die beiden wieder auf der Treppe. Ropers streckte Christopher triumphierend seinen Käfig hin. »Es war ganz leicht, ihn einzufangen. Er hatte anscheinend bereits genug von dem Abenteuer. Darum hat er auch den erstbesten Durch schlupf benutzt, um wieder unter Dach zu kommen. Jedenfalls hat er sich nicht gewehrt, als ich ihn packte. Jetzt ist er wieder auf Nummer Sicher. Ich werde mich in Zukunft hüten, das Türchen offenzulassen. Meist kommt er aber nur heraus und setzt sich auf meine Schulter. Diesmal muß er am Luftzug gemerkt haben, daß nebenan das Fenster offen war, und husch war er draußen. Glücklicherweise ist er nur von einem Garten in den anderen geflogen, so daß ich ihn im Augen behal 38
ten konnte. Er ist das Fliegen nicht gewohnt und muß jetzt sehr müde sein. Aber schön ist er, nicht wahr?« Unter wortreichen Dankesbeteuerungen entfernte er sich mit seinem großen Vogelbauer. Christopher konnte nicht mehr an sich halten und brach in ein schallendes Gelächter aus. »Lachen Sie mit, Mildred! Ich möchte das einmal sehen. Wir beide waren sozusagen auf Gangsterjagd – ich hatte sogar einen englischen Schlüssel als Waffe bereitgelegt –, und alles was es zu jagen gab, war ein Papagei!« Diesmal konnte selbst Mildreds umschattetes Gemüt die Komik der Situation nicht übersehen. Aber ihr Lachen war doch etwas gezwun gen, denn sie schämte sich des falschen Alarms. »Hören Sie, Mildred, Sie müssen aus diesem Haus ausziehen. Es ist wie geschaffen, um Ihre Ängste anzuheizen. Ich glaube doch, daß un ser Oberbuchhalter Weißgerber ein geeigneter Mieter für Sie wäre. Er sucht zwar eine Wohnung mit Garten, aber er würde sicher auch ein Haus nehmen, wenn es ihm die gewünschten Möglichkeiten böte. Wollen Sie es sich nicht doch überlegen?« »Nein«, sagte sie hastig und ohne erst richtig nachzudenken. »Die sen Weißgerber hier in meinem Haus? Ich glaube, das könnte ich nicht ertragen.« »Ich gebe zu, daß er nicht gerade freundlich zu Ihnen war. Auch ich habe ihn deswegen verurteilt. Inzwischen habe ich aber erfahren, daß er eine sehr böse Frau hat, unter der er sicher erheblich leidet. Man muß sich das vorstellen: Wenn wir von der Arbeit nach Hause kom men, haben wir unsere Ruhe und tun, was uns gefällt. Er dagegen wird von dieser Megäre empfangen, und sie läßt bestimmt keinen guten Fa den an allem, was er unternimmt. Wenn man sich das vor Augen hält, muß man seinem mürrischen Wesen mildernde Umstände zubilli gen. Er hat einen schönen belgischen Schäferhund, an dem er hängt, und der wahrscheinlich seine einzige Freude ist; aber die Frau mag ihn nicht. Darum möchte er für ihn einen Garten haben, damit sie ihn nicht mehr im Hause zu dulden braucht.« »Woher wissen Sie das alles?« 39
»Er hat es mir neulich in einer schwachen Stunde erklärt, als er dem Bedürfnis, sich auszusprechen, nicht mehr widerstehen konnte. Ich habe ihn vorher nie gemocht, aber jetzt tut er mir leid. Und daß er so an dem Hund hängt, ist immerhin ein sympathischer Zug. Ich mag Hunde gern; trotzdem finde ich es schlimm, wenn ein Mensch nie manden mehr hat als einen Hund.« Mildreds Augen waren, während er sprach, unverwandt auf ihn ge richtet. Er sah sie jetzt zum ersten Mal richtig. Sie waren von einem ins Grünliche spielenden Blaugrau, sehr schöne Augen, fand er. »Sie sind ein guter Advokat«, sagte sie jetzt. »Vielleicht sollte ich doch nicht so ablehnend sein. Am Ende«, fügte sie mit unverkennbarer Bit terkeit hinzu, »ist dieser Mann genau so ein armer Teufel wie ich.« »Immerhin haben Sie mich«, sagte er warm, »und ich möchte in aller Bescheidenheit bemerken, daß ich doch noch ein bißchen mehr zähle als ein Hund. Oder wollen Sie mir das streitig machen?« »Nein, gewiß nicht, Herr Witt.« »Ich heiße Christopher.« »Aber doch nicht für mich?« »Warum nicht, du lieber Himmel? Probieren Sie es doch einmal!« »Christopher«, sagte sie leise und errötete beängstigend. Ohne Zwei fel war ihr keineswegs bewußt, mit welcher Innigkeit sie den Namen ausgesprochen hatte. Witt war es jedoch nicht entgangen, und er er schrak. Es fehlte noch, daß sie sich in ihn verliebte! Sie mußte doch verstehen, daß er ihr nichts anderes bot als seine Freundschaft. Er war jetzt tatsächlich unsicher geworden, ob er sich richtig verhielt. Deshalb verabschiedete er sich etwas plötzlich. Im üb rigen hatte ihm Mildred, wie ihm erst jetzt bewußt wurde, nicht ein mal einen Stuhl angeboten. Es war schwer, aus ihr klug zu werden. Hatte sie damit andeuten wollen, daß er nicht bleiben sollte, oder war es nur aus Gedankenlosigkeit unterblieben? Jedenfalls drängte sich in Zukunft eine gewisse Distanz auf.
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IV
H
astig verriegelte Mildred hinter Christopher die Tür. Sie tat es nicht, um ihn auszuschließen, sondern um gewohnheitsmäßig das wenige vorzukehren, das sie zu ihrem Schutz tun konnte. Sie war nach seinem Fortgang niedergeschlagen, glaubte sie doch bemerkt zu haben, daß Christopher immer weniger an eine ihr drohende Gefahr glaubte. Einmal, am Anfang, hatte er gesagt, er halte sie nicht für hy sterisch. Sie war beinahe sicher, daß er das ehrlicherweise heute nicht mehr behaupten würde. War sie es? Mildred schüttelte wild den Kopf, als müsse sie sich selbst überzeugen. Hysterie bedeutete, sich in Ein bildungen hineinzusteigern, aber das traf bei ihr nicht zu. Als sie bei der Gerichtsverhandlung befragt worden war, ob sie ihren Mann nie verdächtigt hätte, war sie der Wahrheit nicht ausgewichen. »Doch«, hatte sie gesagt, »von Anfang an, aber sein Alibi hat mich irregeführt.« Worauf Bob aufgefahren war und ihr angesichts des ganzen Gerichts hofes zugeschrien hatte, das werde ihr noch leid tun. Er wisse sie zu finden, wo immer sie sich verstecke. Der Präsident hatte ihn scharf zur Ordnung gerufen, aber die verhängnisvollen Worte waren nun einmal gefallen. Sie würden bis ans Ende ihrer Tage in ihren Ohren gellen, ebenso wie die von Hass triefende Stimme, die sie hinausge schrien. Seither hatte sie dem Tag entgegengezittert, an dem er wieder freiwerden würde. Nein, ihre Ängste hatten mit Einbildung nichts zu tun. Daß Christopher das glaubte, war auch ein wenig ihre eigene Schuld. Noch immer hatte sie sich nicht entschließen können, ihm ihre Vergangenheit aufzudecken. Der Grund war nicht Mangel an Vertrauen, wie er ziemlich sicher glaubte, es war die Angst, ihn zu verlieren. Sicher war er nie mit jener Welt in Berührung gekommen, in die Bob sie hinabgezogen hatte. Obschon sie im juristischen Sinn 41
unschuldig war, würde er vielleicht vor ihr zurückschrecken, wenn er alles wußte. Anders schien es ihr kaum möglich, wenn sie sich mit seinen Augen betrachtete. Er war weniger geduldig, als sie am Anfang geglaubt hatte, jedenfalls jetzt nicht mehr. Sie durfte sich auch keines wegs darüber wundern, hatte sie ihm doch alles abgeschlagen, was er ihr angeraten hatte: die Teilnahme am Wettbewerb, die Aufgabe des abseits liegenden Hauses, Weißgerber als möglichen Mieter. Jedes Mal hatte er ihr helfen wollen, und sie hatte sich geweigert. Er war, das er kannte sie deutlich, im Begriff, ihrer müde zu werden. Es mußte ent mutigend sein, sich ständig für jemand einzusetzen, der diese Hilfe eigensinnig ablehnte. War es nicht an sich schon verwunderlich ge nug, daß er sich für eine Frau interessierte, die nichts besaß, um ihn als Mann anzuziehen? Darin verriet sich sein gütiges Herz, und Güte hatte sie seit Jahren nicht mehr erfahren. Wenn sie an ihn dachte, wurde sie zwischen ihrem unbändigen Verlangen, er möchte sich wei terhin um sie kümmern, und der Angst, er könnte dadurch eines Ta ges in eine schlimme Lage geraten, hin- und hergerissen. Eifersüchtig war Bob nie gewesen. Es war die moralische Unterstützung, die sie durch Christopher empfing, die ihm seinen Hass zuziehen könnte. Bob, der im Glauben war, sie für immer zu seiner Kreatur gemacht zu haben, hatte damals im Gerichtssaal sein blaues Wunder erlebt. Kaum seinen Klauen entronnen, hatte sie zu sich selbst zurückgefunden und alles ihrer Natur Fremde, Aufgezwungene abgestoßen. Die Verirrung, die sie in seine Arme geführt, war wie ein wüster Traum von ihr ge wichen, aber nicht ohne grausame Spuren zu hinterlassen. Sie war ge zeichnet und es war wohl möglich, daß sie manchmal nicht wie ein normaler Mensch reagierte. Warum hatte sie eigentlich eine so ent setzliche Angst um dieses bißchen graue Leben, das sie sich aufgebaut hatte? Ja, einförmig und aller Freuden bar war es, und doch hing sie an ihm. Sie hatte ja noch gar nicht wirklich gelebt, jedenfalls nicht so, wie sie es ersehnt hatte. Genau fünf Wochen hatte ihr vermeintliches Glück gedauert, um das sie so hart gekämpft und so vieles geopfert hatte. Bob hatte nicht lange gezaudert, die rosarote Brille ihrer Illusi on nach und nach zu zertrümmern. Sicher war ihm ihre naive Gläu 42
bigkeit schon lange auf die Nerven gefallen. Jetzt brauchte er sich nicht mehr zu verstellen. Er hatte das kostbare Pfand an sich gebracht, durch das er Zugang zu den Simonsschen Millionen zu finden erhoffte. Aber auch seine Illu sionen waren im Verlauf vieler fruchtloser Versuche genau so zerschla gen worden, wie er die ihren vernichtet hatte. Ohne Genaues zu wis sen, hatte sie doch alle Phasen seiner Enttäuschung miterleiden müs sen, wehrlos, ahnungslos, um was es ging. Was ihn so verschwiegen ge macht hatte, war die Sorge gewesen, sie könnte seine Absichten durch kreuzen und ihre Eltern warnen. Er konnte es einfach nicht glauben, daß diese ihre einzige Tochter verleugneten, als hätte sie nie existiert. Einmal, hatte er geglaubt, müsse auch diese Festung sturmreif sein, wenn er nur genügend Ausdauer aufbringe, sie zu berennen. Mildred wurde durch ein jämmerliches Miauen aus ihren quälenden Gedanken gerissen. Die Katze! Um diese Zeit pflegte sie sich ihr zu sätzliches Futter zu holen, aber heute war ihr Einschlupf verschlossen. Eilig holte Mildred ein Krüglein Milch und eilte die Treppe hinauf, um aufzuriegeln. Die Katze war mit einem Satz in der Kammer und war tete in einiger Entfernung von ihr, bis sie die Milch in das vorhande ne Tellerchen gegossen hatte. Gierig trank das Tier. Während Mildred sie betrachtete, wozu ihr die Katze bei ihrer Menschenscheu selten Ge legenheit gab, fiel ihr auf, daß sie nicht mehr so schlank war sie sonst. Augenscheinlich war sie trächtig. Darum hatte sie, eine ausgezeichne te Mäusefängerin, jetzt wohl immer solchen Hunger. Mildred kehrte in die Küche zurück und ließ die Tür hinter sich of fen. Sobald es die Milch aufgeschlabbert hatte, folgte ihr das Tier. Es hatte auch in der Küche ein Näpfchen, ging aber für gewöhnlich nur hinein, wenn Mildred abwesend oder im Wohnzimmer war. Der Papa geienfänger hatte diese Gewohnheit gestört, und jetzt war der Hunger größer als ihre Scheu. Die Katze schleckte alles auf, was sich in ihrem Näpfchen befand und miaute unzufrieden. Mildred nahm die Büch se mit Katzenfutter aus dem Schrank, und sofort war das Tier mit ei nem Satz auf dem Tisch, wo sie es einfüllte. So nah war es ihr noch nie gekommen. Mildred bewegte sich sehr vorsichtig, um es nicht zu er 43
schrecken. Vielleicht gewöhnte es sich doch langsam an sie. Als die Katze satt war, tat sie etwas, was Mildred noch nie erlebt hatte: Sie strich an ihren Beinen entlang und schnurrte. Wahrscheinlich trieb der Instinkt der Mutterschaft sie näher als gewöhnlich zu dem einzi gen menschlichen Wesen hin, das sich um sie kümmerte. Dieses Be nehmen war so ungewöhnlich, daß Mildred sich fragte, ob es vielleicht schon soweit sei. Die Nächte wurden kalt, und die Katze suchte viel leicht einen geschützten Ort. Mildred hatte noch nie eine besessen und kannte sich in ihren Gewohnheiten nicht aus. Für alle Fälle suchte sie ein rundes Körbchen heraus und legte die Decke hinein, die das Tier sich von Anfang an selbstherrlich als Ruheplatz auserkoren hatte. Es umkreiste das Körbchen mehrere Male und beschnupperte es, dann war es mit einem Satz darin, dehnte sich wohlig, riß das Mäulchen zu einem Gähnen auf und zeigte Mildred unmissverständlich an, daß es hier für heute nacht vor Anker gehen wollte. Mildred betrachtete es et was ängstlich. Sie hatte keine Ahnung, was sie mit einem Wurf junger Kätzchen anfangen sollte. Es wäre jedoch grausam, das Tier zu ver scheuchen, nachdem es zum ersten Mal einen Anflug von Zuneigung und Vertrauen zeigte. Bisher hatte es derart Distanz gehalten, daß sie ihm nicht einmal einen Namen gegeben hatte. Es war einfach ›the cat‹. Heute fügte er ihr durch seinen Zustand einen Schmerz zu, den sie seit langem mit ganzer Kraft von sich ferngehalten hatte. Es rief ihre eige ne schwere Stunde in ihr wach, die Geburt ihres kleinen Sohnes, der schön wie ein Engel gewesen, dessen Geist jedoch nicht erwachen woll te. Unvermittelt begann sie bitterlich zu weinen. Auf einmal fehlte ihr die Kraft, sich gegen die furchtbaren Erinnerungen, die auf sie ein drangen, zu wehren. Ihre ganze Verzweiflung war ihr wieder gegen wärtig, als sie nach und nach hatte begreifen müssen, daß ihr kleiner Junge nicht normal war, es vielleicht nie sein würde. Das Geld, das sie, dem Willen ihres Vaters gehorchend, als Kind zusammengespart und dann mitgenommen hatte, als die Trennung von den Eltern unver meidlich geworden, gab sie nun den Ärzten mit der flehentlichen Bit te, ihrem kleinen Jungen zu helfen. Wie viele vergebliche Hoffnungen, wie viele Enttäuschungen hatte sie durchlitten! Und Bob, weit entfernt 44
davon, ihr eine Stütze zu sein, hatte alles noch schlimmer, ja unerträg lich gemacht. Für ihn war es ein seinem männlichen Stolz zugefügter Schimpf, daß sein Kind nicht normal war. Er hatte es von Anfang an nicht haben wollen, doch hatte sie nicht zugelassen, daß etwas dagegen unternommen wurde. Hundertmal hatte er ihr danach voller Hohn vorgehalten, was dabei herausgekommen war, ein Idiot, wie er es in seiner kalten Grausamkeit zu nennen pflegte. Sie durfte das Kind nicht einmal ausfahren, damit niemand es sah. Darum konnte sie auch nur diejenigen Ärzte konsultieren, die bereit waren, ins Haus zu kommen. Damit das Kind frische Luft bekam, mußte sie sein Bettchen unter das offene Fenster stellen, wo das bedauernswerte Geschöpfchen mit lee ren Augen vor sich hinstarrte, ohne je den Blick auf irgend etwas, ge schweige denn auf sie, zu heften. Es lächelte nie, kannte sie nicht, so hingebend sie es auch pflegte. Körperlich entwickelte es sich gut, aber es war nur eine hübsche leere Hülle. Das Grübeln über die Ursache dieses entsetzlichen Schicksalsschlages hatte Mildred schier wahnsin nig gemacht, zumal sie keinen vertrauten Menschen besaß, dem sie ihr Herz hätte ausschütten können. Bob isolierte sie gänzlich von der Um welt und schaffte sogar die Lebensmittel selbst herbei. Sie setzte ihm keinen Widerstand entgegen. Das furchtbare Unglück ihres Kindes ließ ihr keinen Raum für irgendwelche Wünsche, die über seine Ge nesung hinausgegangen wären. Trotz ärztlicher Gutachten hoffte sie immer noch auf ein Wunder. Sie bemühte sich, ihre Auflehnung ge gen Gott niederzuhalten und mit ihm um dieses Wunder zu feilschen. Jeden Morgen, wenn sie aufstand, hoffte sie heißen Herzens, das Kind möchte sie wenigstens ansehen, wenn sie an sein Bettchen trat. Das wäre schon ein großes Geschenk gewesen. Der Kleine war ein ruhiges Kind, er weinte nie. Einesteils war sie froh darüber, weil es dadurch Bob nicht reizte, andererseits wäre ihr das Gegenteil als Zeichen einer Gemütsregung hochwillkommen gewesen. Bob hasste dieses stumme Kind, wie sehr, sollte sie zu ihrem Entsetzen eines Tages erfahren.
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Eine und noch eine Woche waren vergangen, ohne daß Mildred Chri stopher zu Gesicht bekommen hätte. Er schien ihren Stammsitz auf der Terrasse vergessen zu haben. Nun setzte sie ihre ganze Hoffnung auf den Tag der Lohnauszahlung. Sie wurde jedoch wieder enttäuscht. Während er sonst immer zugegen gewesen, vertrat ihn jetzt ein jün gerer Angestellter, der sich Weißgerber gegenüber nicht durchsetzen konnte. Mildred überlegte erschrocken, ob dieser Wechsel etwas mit ihr zu tun haben könnte? Aber so wichtig war sie doch nicht. Erst an derntags erfuhr sie zufällig, daß Witt im Ausland war, um Fachkräfte anzuwerben. Obschon ihr ein Stein vom Herzen fiel, hatte sie doch von diesem Augenblick an das Gefühl, die Stadt, zu der sie Zuneigung ge faßt, sei verödet. Sie hatte sie bisher mit Christopher identifiziert; ohne ihn bedeutete sie ihr nichts. Die beiden Mädchen, deren Gespräch sie zufällig gehört hatte, schienen den Termin von Witts Rückkehr nicht zu wissen. Dagegen war für Mildred offensichtlich, daß sie in ihn ver liebt waren. Wahrscheinlich besaß er noch mehr stille Verehrerinnen, die, meinte Mildred, samt und sonders reizvoller waren als sie. Des wei teren waren sie fröhlich und unbeschwert und mußten schon dadurch Gefallen erwecken. War es wirklich nötig, daß sie ihnen alle Vortei le überließ, sich, wie sie es nannte, in Sack und Asche kleidete und auf das bescheidenste Make-up verzichtete? Ihr Verlangen, sich hübsch zu machen, wurde, angestachelt durch die Sehnsucht nach Christopher, so groß, daß die bisherigen Gegengründe nicht mehr stichhaltig schie nen. An diesem Abend erwartete sie zu Hause eine Überraschung. Als sie in die Dachkammer hinaufging, um das Tellerchen mit Milch zu fül len, hatte sich auf dem Feldbett eine ganze Katzenfamilie, mit Aus nahme des Vaters, niedergelassen. Das Muttertier fauchte wie ein Ti ger, als sie sich näherte, es duldete kaum, daß sie die Milch eingoss. Sie ging nach unten, um das vorbereitete Körbchen zu holen, aber die Katze hatte es anscheinend anders beschlossen. Sie schaute es nicht einmal an. Schließlich mußte Mildred rohe Gewalt anwenden, um sie vom Bett herunterzubringen, wobei sie einige schmerzhafte Krat zer abbekam. Sie wollte jedoch verhindern, daß das Bett verunreinigt 46
wurde und vielleicht einen üblen Geruch annahm. Darum holte sie eine Gummiunterlage, breitete die Katzendecke darüber und instal lierte die Kätzchen wieder darauf. Es waren deren vier, hilflose Ge schöpfchen, die noch nicht sehen konnten, zwei schwarzweiße, wie die Mutter, ein getigertes und ein rotes. Die Katze, die mit hohem Buckel und wild schlagendem Schweif dabeistand, war sofort wieder bei ih ren Jungen, als Mildred fortging, um nun auch die feste Nahrung nach oben zu schaffen. »Sie verteidigt ihre Jungen. Ich habe das seinerzeit nicht fertig ge bracht«, dachte sie mit bitterem Selbstvorwurf. An diesem Abend hatte sie keinen Mut mehr, den bescheidenen Ver schönerungsversuch vorzunehmen, den sie im Sinn gehabt hatte. Die se Katze, die sie einst aus Barmherzigkeit angefangen hatte zu füttern, schien es darauf anzulegen, quälende Erinnerungen in ihr wachzu rufen. Sie hatte jedoch keinen Grund, für ihre Jungen zu fürchten. Ir gendwie würde Mildred es einrichten, sie behalten zu können, es sei denn, jemand in der Textilia nähme ihr das eine oder andere ab. Um das zu erreichen, wäre sie gezwungen, mit den Kolleginnen mehr als bisher zu sprechen. Eigentlich war sie ganz froh über diesen Vorwand. Seit einiger Zeit spürte sie das Verlangen, ein wenig aus ihrer selbstver schuldeten Isolierung herauszutreten, hatte aber bisher nicht gewußt, wie das anzufangen wäre. Im Dekorsaal waren sie nur zu drei Frauen, alle anderen waren Männer. Ihre beiden Kolleginnen verfügten nur über ein durchschnittliches Können, wohl möglich, daß sie neidisch waren und darum für ihre verspätete Annährung unzugänglich. Ver suchen wollte sie es trotzdem. Die eine, Heli Weiß, zeichnete sehr gut, aber ihr Farbsinn war wenig entwickelt, während die andere so wilde Muster entwarf, daß sie nur für ganz junge Menschen in Frage kamen. Da den Jungen aber heutzutage das Geld locker saß, fanden auch die se Stoffe ihre Abnehmer. Mildred nahm sich vor, Heli Weiß einmal im Vorbeigehen einen Rat zu geben, wenn diese mit ihrer Farbkombinati on Schwierigkeiten hatte. Sie mußte allerdings vorsichtig sein, um sie nicht zu beleidigen, auf alle Fälle abwarten, bis sie der Kätzchen wegen eine Annäherung hergestellt hatte. 47
Christopher war noch immer nicht zurück. Sie sehnte sich jetzt so sehr nach ihm, daß sie bereits erwog, sich doch am Wettbewerb zu be teiligen, nur um ihm Freude zu machen. Etwas mußte sie tun, um das Eis zu brechen. Diese rätselhafte Entfremdung nach einem so viel ver sprechenden Anfang hielt sie einfach nicht aus. Die Annäherung an Heli Weiß machte sich fast von selbst. Es genüg te, daß Mildred ihr im Vorbeigehen schüchtern zulächelte, um diese zu ermutigen, sie festzuhalten. »Ich möchte gern Ihre Meinung über diesen Entwurf wissen«, sagte sie so hastig, als befürchte sie, eine nicht wiederkehrende Ge legenheit zu versäumen. »Ist dieses Beige als Grundfarbe nicht et was fad?« Mildred blieb stehen und musterte den Entwurf eingehend. »Er gefällt mir, würde aber mit einem kleinen, grasgrünen Tupfer hier und dort noch gewinnen.« »Ah, das ist die Lösung, nach der ich suchte! Glauben Sie, daß es Herrn Weiler gefallen wird?« »Unbedingt. Sie dachten an reine Seide, nicht wahr? Man könnte dieses dekorative Muster auch noch in anderen Farben herausbringen. Ich würde das an Ihrer Stelle vorschlagen.« »Auf schwarzem Grund, vielleicht?« »Eher marineblau, rot und weiß, die französischen Farben. Das den ke ich mir sehr hübsch.« »Eine gute Idee. Ich wollte, ich hätte Ihre Phantasie.« »Sie zeichnen aber vielleicht besser.« Heli Weiß wurde rot vor Freude über dieses Kompliment. »Ich freue mich, daß es endlich zu einem Gespräch zwischen uns ge kommen ist. Sie waren bisher so – unnahbar, ich traute mich gar nicht an Sie heran, und Mona Schneider auch nicht.« »Ich habe lange allein gelebt und ein bißchen den Kontakt mit Men schen verloren«, sagte Mildred wahrheitsgetreu. »Ich wollte nicht un freundlich sein …« »Mona und ich essen immer mittags in der Kantine. Wollen Sie sich nicht einmal zu uns setzen?« 48
»Später, wenn es kälter wird, gern. Vorläufig bleibe ich immer auf der Terrasse im ersten Stock, Herr Weiler hat es mir erlaubt.« »Dann essen Sie belegte Brote? Mir würde das nicht genügen.« »In Amerika und England ist der Lunch nur eine kleine Mahlzeit. Richtig isst man abends. Ich habe das vorläufig so beibehalten. – Aber ich wollte Sie eigentlich etwas fragen: Mögen Sie zufällig Katzen? Die meine hat Junge geworfen, und alle behalten wird mir ein bißchen zu viel; es sind vier.« »Ich hätte schon Lust. Kätzchen sind so reizend. Aber ich müßte zu erst mit Mutter sprechen, sie hat ja schließlich die Arbeit damit. Ich kann aber auch bei unseren Büroangestellten und Arbeiterinnen her umfragen. Es sollte möglich sein, die Tierchen unterzubringen.« »Vorläufig sind sie noch zu klein. In etwa fünf Wochen könnte man sie sicher von der Mutter wegnehmen. Es ist sehr freundlich von Ih nen, daß Sie sich dafür einsetzen wollen. Herzlichen Dank!« »Die Neue ist gar nicht so hochnäsig, wie wir geglaubt haben, eher schüchtern«, unterrichtete Heli später ihre Kollegin. »Ich hatte den Eindruck, daß sie über den angeknüpften Kontakt froh war. Und sie hat mich ganz selbstlos bei meinem Entwurf beraten. Anscheinend ist sie seit langem allein. Sie deutete so etwas an.« Anderntags sah Mildred, als sie aus dem Bus stieg, gerade noch, wie Christopher im Fabriktor verschwand. Ihr Herz klopfte freudig. Er war also endlich zurückgekehrt. Wenn sie sich nicht geschämt hätte, wäre sie ihm nachgerannt. Das hätte jedoch Aufsehen und vielleicht sogar seinen Unwillen erregt. Sie dachte so viel an ihn, daß sie immer wie der vergaß, wie wenig sie ihm bedeutete. Nein, sie durfte von sich aus nichts unternehmen, um sich ihm zu nähern. Sie mußte warten, so hart es sie auch ankam, bis er sich wieder einmal ihrer erinnerte; schlimm stenfalls bis zur nächsten Gehaltszahlung. Das wäre allerdings eine kaum erträgliche Geduldsprobe. Inzwischen konnte sie sich auf dieses ersehnte Wiedersehen vorbereiten, indem sie sich ein wenig verschö nerte. Am Abend suchte sie ihr kleines Schminkköfferchen heraus und bügelte ein Kleid auf, das noch vom Umzug her in einem ihrer Kof fer gelegen hatte und sehr zerdrückt war. Sie probierte es an und kam 49
sich ganz fremd darin vor nach dem tristen Grau, das sie während der letzten Monate getragen hatte. Das Kleid war grün, eine ideale Farbe zu ihrem silberhellen Haar. Auch dieses verlangte dringend nach Pfle ge, und sie schämte sich ein bißchen, daß sie sich so hatte gehen lassen. Nachdem sie es gewaschen, färbte sie noch Augenbrauen und Wimpern braun. Danach betrachtete sie sich verblüfft im Spiegel. Sie hatte in dem Zustand der Gleichgültigkeit, in dem sie seit langem dahindämmerte, vergessen, wie jung sie noch war. Jetzt sah sie es wieder und fand ein gewisses Wohlgefallen an ihrer Erscheinung. Zum ersten Mal, seit sie hier lebte, trällerte sie ein wenig vor sich hin, ein schüchternes Zeichen wiedererwachender Lebensfreude. Sie war jetzt sicher, daß Christopher die Veränderung bemerken werde. Diese war so auffällig, daß sie sich ein wenig genierte, morgen vor ihren Kolleginnen und Herrn Weiler so aufzukreuzen. Sicher rätselten sie an der Ursache herum. Heli und Mona würden nie daraufkommen, aber bei Herrn Weiler war sie nicht so sicher. Er betrachtete sie anscheinend als Witts Schützling. Wenn er auch bestimmt nicht annahm, dieser sei in sie verliebt, so konnte er es vielleicht bei ihr vermuten. Merkwürdigerweise war ihr der Gedanke nicht ausgesprochen unangenehm. Unbewußt tat es ihr wohl, ihre Per son mit Christopher in Verbindung gebracht zu wissen. An diesem Abend hätte sie beinahe ihre vierbeinigen Pfleglinge ver gessen. Die Katzenmutter fauchte jetzt nicht mehr, wenn sie sich nä herte. Sie hatte anscheinend begriffen, daß ihrer Brut von ihr keine Ge fahr drohte. Das änderte sich allerdings bei Mildreds erstem vorsichti gen Versuch, eines der Kätzchen aufzunehmen. Es trug ihr eine lange blutige Schramme über den Handrücken ein, eine deutliche Warnung: Anschauen kannst du meine Kinder, aber anfassen nicht. Sie merkte es sich. Die Kleinen fingen schon an herumzukrabbeln; eines nicht all zu fernen Tages machten sie sich selbständig, und dann würde es ihr schon gelingen, sie zu streicheln. Als sie am nächsten Morgen vor dem Fortgehen die Milch hinauf brachte, war das Katzennest leer. Bestürzt schaute sie sich um. Nir gends eine Spur der kleinen Familie. Anscheinend hatte die Alte ihre Jungen weggetragen, weil der Versuch, eines aufzunehmen, das alte 50
Misstrauen in ihr geweckt hatte. Jetzt blieb keine Zeit mehr, nach ih nen zu suchen. Sie ließ für alle Fälle die Milch am gewohnten Platz, dann mußte sie laufen, um ihren Bus nicht zu verfehlen. Die Flucht der Katze hatte sie von der Peinlichkeit, so verändert aufzutreten, wohltä tig abgelenkt. Sie dachte erst wieder daran, als sie die Textilia betrat. Die Schicht der Arbeiter strömte eine Stunde früher durch dieses Tor, die Angestellten fingen erst um acht Uhr an. Mildred gesellte sich zu einem Trüppchen und grüßte befangen. Sie merkte sofort, daß sie Auf sehen erregte. Aus der grauen Puppe war ein Schmetterling geschlüpft, und man nahm es zur Kenntnis. Mildred wurde von so starken Hem mungen befallen, daß sie ihre ganze Natürlichkeit verlor und wie auf Stelzen ging. In diesem Augenblick hätte sie keineswegs gewünscht, Christopher zu begegnen. Sie mußte sich, genau wie die anderen, zu erst an ihr verändertes Aussehen gewöhnen. »Ich bin einfach baff!« rief Heli aus, als sie Mildreds gewahr wurde. »Sie sind ja richtig hübsch! Warum haben Sie das nur bisher so sorg fältig verborgen?« »Ach«, murmelte Mildred, zugleich verlegen und erfreut, »ich dach te, es lohne die Mühe nicht.« »Du«, wisperte Heli später ihren anderen Kolleginnen zu, »die Neue hat sich verliebt, das sieht ein Blinder. Sie will jemandem gefallen, aber wem? Kennen wir ihn? Was meinst du?« »Keine Ahnung. Wenn wir die Augen offen halten, werden wir es vielleicht herausfinden. Aber da sieht man wieder einmal, was so ein bißchen Schönheitspflege ausmacht. Ich wollte, meine Mutter könn te sich das ansehen. Die zetert doch immer, wenn ich mal ein bißchen grüne Schminke auf die Lider lege. Neulich hat sie gefragt, ob es mir nichts ausmache, auszusehen wie eine Hure. Hast du Worte?« Heli lachte, aber es klang etwas gekünstelt. Da Mona bei ihren Ent würfen immer in so wilden Farben schwelgte, hatte sie entschieden ein bißchen das Maß für ihren eigenen ›Anstrich‹ verloren. Fein sah sie nicht aus, und Heli hätte nie gewagt, sie einmal nach Hause mitzuneh men. Die Gedanken ihrer Mutter wären von denen der Frau Schneider nicht sehr verschieden gewesen. 51
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ildred war froh, als dieser Tag vorbei war. Es dauerte sicher eine geraume Zeit, bis sie sich daran gewöhnt hatte, angestarrt zu werden. Zu lange war sie unbeachtet geblieben. Sie machte sich noch nachträglich klar, was für ein Schutz ihr verblichenes Aussehen gewe sen war. Konnte sie es verantworten, ihn leichtsinnig aufs Spiel zu set zen, nur um einem Mann aufzufallen, der offensichtlich in ihr keine Frau sah? Aller Vernunft zum Trotz konnte sie sich jedoch nicht mehr zu einer Rückkehr zu diesem Mimikry entschließen. Es hob doch ihr geknicktes Selbstbewußtsein erheblich, daß sie jetzt so viel hübscher aussah. Da sie es gerne bleiben wollte, machte sie sich auch sogleich vor, die Gefahr könnte vielleicht vorüber sein und Bob sich in der lan gen Zeit seiner Haft beruhigt haben. Sie waren jetzt seit langem ge schieden, und sie ging ihn nichts mehr an, zumal sie keine Ansprüche auf Unterhalt stellte. Immerhin war er schon seit Monaten frei und hatte sich noch nicht gemeldet. Sicher war es nicht leicht, ohne jeden Anhaltspunkt ihre Spur zu finden. Es müßte doch möglich sein, daß sie nach einer so langen Pechserie auch einmal Glück hätte. So und ähnlich suchte sie sich zu beruhigen und merkte nicht, wie stark Chri stopher an diesen neuen Gedankengängen beteiligt war. Sie wollte ihm mit ihren Ängsten nicht länger auf die Nerven fallen. Daß sie sich ganz davon befreite, schien ihr zwar unmöglich, aber sie waren doch nicht mehr so hautnah, sondern von einer schüchternen Hoffnung gemil dert. Außerdem war sie nicht mehr ganz verlassen. Als sie neulich in ihrer Angst Christopher gerufen hatte, war er sofort gekommen. Viel leicht könnte sie zu ihrer größeren Sicherheit noch ein übriges tun und sich eine Telefonleitung legen lassen. Der Gedanke war Verführerin. Wenn sie es Christopher beiläufig wissen ließe, würde er sie vielleicht 52
einmal anrufen. Ohne diese vielleicht unbegründete Hoffnung wäre es eine geradezu verrückte Ausgabe. Niemandem sonst würde es einfal len, sie anzurufen, noch ihr, mit jemandem zu Telefonieren. Mit wem auch? Vielleicht entzog man ihr das Abonnement wieder, wenn man merkte, daß die Linie nicht benutzt wurde. Aber dagegen ließe sich et was tun. Sie konnte fremde Nummern anrufen, sich mit einem Irrtum entschuldigen und auf diese Weise einen Gebrauch des Telefons vor täuschen. Die Idee schien ihr so verlockend, daß sie am nächsten Tag nach der Arbeit zur Hauptpost ging und einen entsprechenden Antrag stellte. Sie müsse ziemlich lange warten, wurde ihr gesagt. Bisher hatte sie nie an ein Telefon gedacht, jetzt schien ihr diese angekündigte War tezeit plötzlich enttäuschend. Die Vorstellung, daß es eines Tages klin geln könnte und Christophers Stimme ihr antworten würde, versetzte sie in einen Rausch der Glückseligkeit. Sicher würde sie ungehemmter mit ihm sprechen können, als wenn sie einander gegenüberstünden. Mit solchen Vorstellungen suchte Mildred ihr freudloses Leben aus zuschmücken. Daß sie sich ihnen hingeben konnte, war schon allein ein bescheidenes Glück. Sie war ja nicht verwöhnt, es brauchte nur we nig, um ihr Auftrieb zu geben. Die Phase, in der sie sich selbstquäle risch in ihr Unglück verbissen und als unabwendbar hingenommen hatte, daß nie mehr etwas Gutes nachkommen könnte, schien abge schlossen. Christopher hatte ihr dazu verholfen. Zuerst hatte es sie ge kränkt, daß er nicht an eine Gefahr glaubte, dann hatte sein Zweifel nach und nach auf sie abgefärbt. Nicht daß er ihr die Angst völlig ge nommen hätte, aber sie war doch nicht mehr so völlig sicher, daß die Katastrophe eines Tages unvermeidlich über sie hereinbrechen werde. Damit hatte sich der furchtbare seelische Druck doch etwas gelockert. Die Katzen hatte Mildred schließlich unter dem Biedermeiersofa in Tante Friedas geheiligter guter Stube gefunden. Die Kleinen hatten sich durch ihr leises Miauen verraten. Mildred benutzte dieses Zim mer nie, ließ aber die Türe stets offen, um den muffigen Geruch ei nes unbewohnten Raumes zu vermeiden. Es gelang ihr, die hungri ge Mutter mit einem Stückchen Fleisch in die Küche zu locken und dort einzusperren, während sie die Kleinen wieder in ihr ursprüngli 53
ches Bett in der Bodenkammer zurücktrug. Sie beeilte sich sehr, denn die Alte warf sich wie von Sinnen gegen die verschlossene Tür. Irgend wie mußte sie ahnen, daß mit ihren Jungen etwas vor sich ging. Frei gelassen schoß sie wie ein Blitz an Mildred vorbei, war aber klug ge nug, die Kleinen am früheren Ort zu suchen, als sie sie nicht mehr un ter dem Sofa fand. Diesmal schloß Mildred vorbeugend die Kammer tür. Am liebsten hätte sie auch noch die Luke dicht gemacht, aber die Katze würde ja wohl nicht so weit gehen, ihre Kleinen über das Dach ins Freie zu tragen. Allmählich mußte sie doch begreifen, daß man es gut mir ihr meinte. Zum Beweis stellte Mildred eine besonders gro ße Portion Katzenfutter neben das Bett, sicher, daß das ausgehunger te Tier darüber herfallen werde, sobald sie den Rücken gedreht hatte. Heli Weiß war auf die Katzenfrage nicht mehr zurückgekommen. Ent weder hatte sie es vergessen oder mochte Mildred nicht sagen, daß ihre Mutter sich einem vierbeinigen Hausbewohner widersetzte. Am dritten Tag nach seiner Rückkehr erschien Christopher plötzlich wieder auf der Terrasse. Er begrüßte sie munter und legte eine kleine jugoslawische Handarbeit auf ihre Knie. »Das habe ich Ihnen mitgebracht. Frauen mögen ja solche Dinge. Gefällt es Ihnen?« Das Deckchen war kein Kunstwerk, aber selbst wenn es völlig häs slich gewesen wäre, hätte Mildred das nicht einmal vor sich selbst wahrhaben wollen. Dieser Beweis, daß Christopher auf seiner Reise an sie gedacht hatte, verschlug ihr den Atem. Freude und Überraschung machten ihren Dank unbeholfen, aber ihre Augen sprachen deutlicher als ihr Mund. Plötzlich stutzte Christopher. »Was ist denn mit Ihnen vorgegangen? Sie sehen ja auf einmal ganz anders aus?« fragte er in naivem Erstaunen. »Oh, nichts Besonderes«, wehrte sie verlegen ab. »Ich habe mich nur ein wenig zurechtgemacht. Und das ewige graue Kleid konnte ich schon nicht mehr sehen.« »Das war eine glänzende Idee. Man soll sein Licht nicht unnötig unter den Scheffel stellen. Was Ihnen bisher fehlte, um gut auszuse hen, war ein bißchen Farbe, nur das. Hätten Sie übrigens Lust, heu 54
te nach der Arbeit mit mir im ›Minerva‹ Tee zu trinken? Ich erzäh le Ihnen dann, wenn Sie mögen, von meinen Reisestationen, der Tür kei, Griechenland, Jugoslawien und Spanien. Es war wirklich sehr in teressant.« »Aber Sie fuhren doch für das Geschäft? Wenigstens hat man mir das gesagt.« »Halb und halb. Ich suchte ein paar qualifizierte Färber und mach te gleichzeitig Ferien, die die Firma mitfinanzieren half. Es war eine glückliche Verbindung, jedenfalls für mein Portemonnaie. Kennen Sie das ›Minerva‹?« »Nein, natürlich nicht, ich war hier noch nie in einem Lokal.« »Höchste Zeit, daß sich das ändert. Es ist nicht weit bis dorthin. Wir können zu Fuß gehen. Wenn Sie es einrichten, als letzte herauszukom men, würde ich drüben bei den Bänken auf Sie warten oder Sie auf mich. Es ist nicht nötig, daß es Gerede gibt. Ich bin noch nie mit einer Kollegin ausgegangen.« »Ich freue mich, vielen Dank!« Witt wartete das Ende der Mittagspause nicht ab und ging. Er war nicht ganz zufrieden mit sich und dieser überstürzten Einladung, die er keineswegs im Sinn gehabt hatte. Wie vertrug sich das mit seiner ur sprünglichen Absicht, künftig mehr Distanz zu halten? Während seiner Ferien hatte er sich mehrmals dabei ertappt, mit schlechtem Gewissen an Mildred zu denken, weil er sich nicht von ihr verabschiedet hatte. Gewiß war er dazu keineswegs verpflichtet gewe sen. Aber vielleicht hatte sie es erwartet, sie war doch so mutterseelen allein. Es war grausam, sie zu enttäuschen. Als er heute morgen aufwachte, hatte er sich vorgenommen, sie wie der einmal auf der Terrasse aufzusuchen, keineswegs aber, sie einzu laden. Sicher war die Veränderung, die mit ihr vorgegangen, schuld an die sem plötzlichen Entschluß. Eigentlich hatte er noch nie in Ruhe mit ihr geplaudert. Es gelüstete ihn, einmal wirklich hinter ihre Geheimnisse zu kommen. Auch konnte sich, so wie sie jetzt aussah, jeder Mann mit ihr sehen lassen. Noch nachträglich ärgerte er sich darüber, daß sie 55
ihre Reize so lange verborgen hatte. Es war ein durch und durch un weiblicher Zug und schwer zu verstehen. Aber bei ihr war es ja wohl so, daß die Angst, in der sie lebte, ob sie nun berechtigt oder nur ein gebildet war, vieles an ihr verfälschte. Seiner Meinung nach wurde sie von ihr so stark beherrscht, daß ihr eigentliches Wesen darin unter ging. Sie tat ihm wieder leid, und er bedauerte, daß er in letzter Zeit so wenig Geduld mit ihr aufgebracht hatte.
Den ganzen Nachmittag hatte Mildred dieser Teestunde, die ihr als unverhofftes Geschenk bevorstand, entgegengefiebert, und nun war sie schon wieder vorbei. Anderthalb Stunden … Sie waren ihr vergangen wie ein Augenblick. Sie hätte ewig so sitzen und ihm lauschen mögen. Auch Christopher hatte sich von seinen Erlebnissen hinreißen lassen. Erst als er einer anderen Verabredung wegen aufbrechen mußte, wur de ihm bewußt, daß er ständig erzählt und seine ursprüngliche Ab sicht, Mildred zum Reden zu bringen, dadurch selbst durchkreuzt hat te. Als sie auf die Straße traten, regnete es in Strömen, und Mildred hatte keinen Schirm. »Stehen Sie hier einen Augenblick unter, ich hole meinen Wagen. Bei diesem Wetter kann ich Sie nicht im Stich lassen. Es ist nicht schlimm, wenn ich etwas zu spät komme. Ich fahre Sie noch schnell nach Hau se.« »Auf keinen Fall! Ich bin doch nicht aus Zucker und werde mich nicht auflösen«, wehrte sie ab. Es war das erstemal, daß sie so scherz haft antwortete, und er konnte daraus schließen, in was für einer ge hobenen Stimmung sie war. Er nahm ihren Protest nicht an, schlug den Kragen seines Mantels hoch und trabte zu seiner nahe gelegenen Wohnung, vor der sein Opel Kadett stand. ›Wie wenig braucht es doch, um sie glücklich zu machen‹, dachte er mit einer gewissen Rührung. Sie stach dadurch vorteilhaft von manchen jungen Mädchen seiner Bekanntschaft ab, die ständig erwarteten, möglichst schick und kost spielig ausgeführt zu werden. Christopher war kein Großverdiener. Er 56
hatte ein anständiges Gehalt und konnte sich innerhalb vernünftiger Grenzen etwas leisten. Er gehörte aber zu den Menschen, die sich ohne eine Reserve unbehaglich fühlten. Darum hätte er nie sein ganzes Ge halt ausgegeben. Man hatte in seinem Elternhaus ohne Sorgen gelebt, aber auch nie im Luxus. Er war weder an ihn gewöhnt, noch begehrte er ihn. Es genügte ihm, genug Geld zu besitzen, um seine kulturellen Bedürfnisse zu befriedigen, sich dezent anzuziehen und anständig zu wohnen. Darum gefiel ihm Mildreds Genügsamkeit. Christopher wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß ihm je mand folgen könnte, darum drehte er sich auch nicht um. Auch Mild red, die seit Monaten so wachsam und vorsichtig gewesen, hatte nicht bemerkt, daß im ›Minerva‹ ein Mann saß, der sie nicht aus den Au gen ließ. Er war kurz nach ihnen hereingekommen und hatte sich an den Nebentisch gesetzt. Da Christopher im Eifer des Erzählens oft die Stimme hob, konnte er Bruchstücke der englischen Unterhaltung auf schnappen. Sie befriedigten ihn allerdings nicht. Ein Liebespaar, wie er geglaubt hatte, war das auf keinen Fall, dazu war das Gespräch, wenn man es bei der Schweigsamkeit des Mädchens überhaupt so nennen konnte, viel zu unpersönlich. Daß aber wenigstens von ihrer Seite Lie be im Spiel war, sah er ihr unschwer an. Als sie aufbrachen, ging auch er. Er folgte Christopher bis zu seinem Wohnhaus, in dem dieser sich einen wasserdichten Mantel holte. Es gelang dem Verfolger, gleichzei tig mit ihm in den Lift zu kommen; er verließ ihn auch auf der glei chen Etage. In diesem Haus gab es nur Studiowohnungen, also viele Mietparteien im gleichen Stockwerk. Der Fremde tat, als suche er ei nen bestimmten Namen, was ihm erlaubte, festzustellen, hinter wel cher Wohnungstür der Mann, der ihn interessierte, verschwand. Ein Blick auf den angebrachten Namen, und er wußte für heute, was er er fahren wollte. Christopher hatte es jetzt eilig und konzentrierte sich völlig auf das Fahren. Sie sprachen keine zehn Worte miteinander. Mildred störte dieses Schweigen nicht. Ihr genügte es, in seiner Nähe zu sein. Christo phers Fürsorglichkeit, sie nicht ohne Schutz im Regen nach Hause zu lassen, berührte sie tief. Erst beim Abschied sprach er wieder. 57
»Morgen wird die Jury zusammentreten, um über die Preisvertei lung zu beratschlagen. Es tut mir nach wie vor leid, daß Sie an dem Wettbewerb nicht teilgenommen haben. Weiler denkt wie ich, Sie hät ten eine reelle Chance gehabt. Leider kann man niemanden zu seinem Glück zwingen; Sie sind nun einmal ein unverbesserlicher Dickkopf.« Er milderte den Ausdruck mit seinem warmen Lächeln, und sie war keineswegs gekränkt. Ohne abzuwarten, bis sie den Vorgarten durch quert hatte, wendete er den Wagen und fuhr nach einem freundlichen Winken ungesäumt wieder der Stadt zu. »Lieber, lieber Christopher«, sagte sie leise vor sich hin, »hoffentlich behältst du recht.«
Am gleichen Spätnachmittag stapfte auch Weißgerber durch den Re gen. Wie jeden Tag hatte er in der Mittagspause zwischen Suppe und Fleisch die Zeitung nach einer ihn interessierenden Annonce durch flogen. Obschon die Angebote von Wohnungen mit Garten rar wa ren, ließ er es sich nicht verdrießen, weiterzusuchen. Er hatte sich ge lobt, nicht eher nachzulassen, als bis er etwas Passendes gefunden hat te. Mit Marie sprach er nicht darüber, aber sie war ja nicht blind. Die Tatsache, daß er in der Zeitung immer zuerst die Seite der angebote nen Immobilien und Wohnungen aufschlug, gab ihr den gewünsch ten Aufschluss. Er wollte anscheinend umziehen. Das wäre weit weni ger beunruhigend, wenn sie gleichzeitig gewußt hätte, ob er etwa für sich allein eine Bleibe suchte oder für sie beide. Seit er ihr gesagt hatte, wie überdrüssig er ihrer war, hatte sie in dieser Hinsicht keine ruhige Stunde mehr. All die Jahre hatte sie geglaubt, ihn zu beherrschen und meistenteils war es auch der Fall gewesen. Darum hatte es wie ein Blitz aus heiterem Himmel gewirkt, als er ihr plötzlich die Grenzen seiner Duldsamkeit gezeigt und seinen ganzen aufgespeicherten Hass ins Ge sicht geschrien hatte. Seither zitterte sie innerlich vor Angst, er könnte sie aus der gemeinsamen Wohnung jagen oder für sich selbst eine an dere suchen. Wenn sie ihm auch kaum je ein gutes Wort gegönnt hat 58
te, war er doch dagewesen und hatte ihr Leben, wenn auch nur den äu ßeren Rahmen, geteilt. Die Vorstellung im Alter alleinbleiben zu müs sen, war schrecklich. Es gab so viele Witwen, und es war ihr immer eine Genugtuung gewesen, daß ihr dieses Schicksal bis jetzt erspart geblieben war. Aber nun konnte es sie noch viel schlimmer treffen, in dem er sie bei Lebzeiten verließ. Sie dachte an die vielen Menschen in Reutlingen und hier, mit denen sie in Streit geraten war. Sie gönn ten ihr nichts Gutes. Was für eine Schadenfreude würden sie empfin den, wenn ruchbar würde, daß sie verlassen worden war! Keine Men schenseele, dessen war sie sicher, würde ihrem Mann die Schuld geben. Wer könnte auch glauben, daß ein Hund, ein elendes Vieh, den Kon flikt ausgelöst hatte? Es war grotesk und zeigte deutlich, daß ihr Mann entweder nicht normal war oder bereits an Verkalkung litt. Und dann gab es sogar noch Menschen wie diesen verdammten Tierarzt, der ihm gegen sie die Stange hielt, alles dieses elenden Hundes wegen. Inner lich fraß die Wut an ihr, daß sie diesem nichts mehr antun durfte. Ihn krepieren zu sehen wäre eine ungeheure Erleichterung für sie gewe sen. Danach, stellte sie sich vor, würde ihr Mann auch wieder zur Ver nunft kommen. Er hatte dann wieder nur sie wie früher. Und schließ lich hielt sie ihm die Wohnung rein, flickte seine Sachen und kochte für ihn. Wenn er wirklich daran dachte, allein zu hausen, würde er in dieser Hinsicht noch sein blaues Wunder erleben. Vielleicht lernte er sie dann noch schätzen, wenn es zu spät war. Nur, daß sie dann selbst nichts mehr davon hätte. Der einzige, der in dieser vergifteten Atmosphäre prächtig gedieh, war Brutus. Sein Fell war wieder glänzend und dicht. Wenn Weißger ber mit ihm in den Park ging, wurde er oft auf die Schönheit des Hun des angesprochen; das war Balsam für seine verkümmerte Seele. Ein Vater hätte nicht stolzer auf seinen Sprössling sein können als er auf Brutus. Hinzu kam, daß das Tier die einzige Kreatur auf Erden war, die ihn liebte. Und da selbst der kälteste Mensch nicht ganz ohne Liebe sein kann, war der Hund für ihn unentbehrlich. Kein Wunder, daß er sich solche Mühe gab, seine Lebensbedingungen im Rahmen des Mög lichen zu bessern. Seit Brutus seine Feindschaft gegen Marie so offen 59
an den Tag legte, war er ihm noch teurer geworden. Auch gemeinsa mer Hass kann verbinden …
Nach den Vorschriften des Wettbewerbs war den Entwürfen ein ver schlossenes Couvert beizufügen, auf dem ein mit dem Entwurf korre spondierendes Kennwort angebracht war, Name und Adresse des Ein senders jedoch nur im Innern. Auf diese Weise waren alle Entwürfe vorläufig anonym und das Verdikt der Jury von keiner Parteinahme beeinflusst. Diese bestand aus fünf Personen; die Verleihung der Preise wurde mit einfacher Mehrheit entschieden. Über den besten Entwurf herrschte Einstimmigkeit. Er war für ein Abendkleid gedacht und kam hauptsächlich für Damen in Frage, die mindestens mittelgroß waren. Der Grund war schwarz. Darauf befand sich ein aus feinen weißen Linien gezeichnetes Gitterwerk, dessen etwas längliche Vierecke auf der Spitze standen. An diesem rankten sich Winden empor, deren Blü tenblätter pastellfarbig waren, das Innere der Kelche enzianblau, pur purn oder violett. Die Neugier war allgemein, wem dieser zauberhaf te Entwurf gelungen war. Auf dem Umschlag stand als Kennwort ›Ge ranium‹. Die Enttäuschung war groß, als sich im Couvert kein Name befand, nur ein Zettel mit den maschinengeschriebenen Worten ›An onymer Entwurf, der Textilia zur Verwendung überlassen‹. Die Herren der Jury schauten sich verblüfft an. Was hatte das zu bedeuten? So et was war noch nie dagewesen. Hätte sich jemand mit einer fragwürdi gen Arbeit diesen Scherz geleistet, weil er genau wußte, daß ihm ohne hin kein Preis winkte, hätte man es sich wenigstens erklären können. Aber ausgerechnet der als erster Preisträger Erkorene verzichtete offi ziell auf die sich ihm bietende Belohnung. Das schien ihnen schlecht hin unglaublich. Schließlich beschlossen die Herren, den ersten Preis ausfallen zu lassen und nur den zweiten und dritten zur Verteilung zu bringen. Vielleicht erfasste diesen geheimnisvollen Bescheidenen nachträgliche Reue über sein sonderbares Verhalten, und er meldete sich noch. 60
Als Christopher den bezaubernden Entwurf und das Kennwort sah, brauchte er nicht erst lange zu raten. Mildred war die einzige, die ein wahrscheinlich falsch verstandenes Interesse daran hatte, ihren Na men geheim zu halten. Statt einen Preis zu empfangen, hatte sie der Textilia mit diesem außergewöhnlichen Entwurf ein großzügiges Ge schenk gemacht. Auch das Kennwort deutete auf sie hin. Er hatte auf ihrer Veranda hinter dem Hause Geranien gesehen, die einzigen Blu men, die sie anscheinend zog. Fern davon zu ahnen, daß sie sich nur beteiligt hatte, um sich seinem Rat nicht zu widersetzen, ärgerte er sich darüber, daß sie die gebotenen Vorteile durch diese Anonymität ver fallen ließ. Sie war und blieb ein seltsames Geschöpf. Welche andere Frau hätte auf eine so ehrenvolle Anerkennung ihres Talents verzich tet? Weiler hatte, wie er bald merkte, den gleichen Verdacht. Er such te Christopher auf und fragte ihn geradezu, ob Fräulein Simons hin ter dieser Mystifikation steckte. So gern er es getan hätte, fühlte Chri stopher sich nicht befugt, Mildreds Geheimnis ohne ihre Einwilligung preiszugeben. So begnügte er sich mit der Gegenfrage, ob Herr Weiler besondere Gründe für seine Vermutung habe. »Nur, daß die Simons einen gewissen Stil entwickelt hat, den ich in diesem Entwurf wieder zu finden glaube. Wenn ich einen Sinn darin sehen könnte, daß sie es nicht zugibt, würde ich unbedingt auf sie tip pen. Aber eben … wo wäre hier ein Motiv? Sie ist bei uns angestellt, sie hatte wie alle anderen das Recht, sich am Wettbewerb zu beteiligen. Was um Himmels willen könnte sie dazu bewegen, sich zu verbergen? Sagen Sie mir die Antwort, wenn es eine gibt!« »Das kann ich genau so wenig wie Sie, Herr Weiler. Wir wissen aber beide, daß Fräulein Simons etwas sonderbar ist und wahrscheinlich nicht ohne Gründe. Einer davon könnte auch hier im Spiel sein.« »Der einzige Grund, den ich mir für ein solches Verhalten vorstellen könnte, wäre eine unrechtmäßige Kopie, ein Diebstahl fremder Ideen. Aber das käme bei Fräulein Simons nicht in Frage, die hat selbst mehr im Kopf als Zeit, sie zu verwirklichen. Andererseits wäre es doch son derbar, wenn eine firmenfremde Person der Textilia diesen Entwurf 61
schenkte. Was für einen Anlass hätte sie dazu? Sie könnte ihn uns für gutes Geld verkaufen.« Als Christopher Mildred an diesem Mittag aufsuchte, entdeckte er sofort einen gewissen Schalk in ihren sonst so ernsten Augen. Nun war er seiner Sache sicher. »Sie kleiner Schafskopf, wie konnten Sie das tun!« schalt er sie. »Ei nen solchen Entwurf fertigbringen und sich dann selbst um den wohl verdienten Lohn bringen, das ist doch hirnverbrannt.« »Woher sind Sie so sicher, daß der Entwurf von mir stammt?« »Halten Sie mich nicht auch noch zum Narren. Warum haben Sie sich überhaupt beteiligt, wenn Sie nicht genannt sein wollen?« »Ich habe es getan, weil Sie es wünschten. Der Rest kommt für mich, wie Sie wissen, nicht in Frage.« »Weil ich es wünschte?« wiederholte er verblüfft. »Ist es nicht so? Noch vor ein paar Tagen, als Sie mir sagten, die Jury trete morgen zusammen, haben Sie es wiederholt.« »Das ist wahr, aber doch nicht um meinetwillen. Was habe ich denn schon davon?« Der freudige Glanz in Mildreds Augen erlosch. »Ich hatte gedacht, es würde Ihnen ein wenig Freude machen. Sie waren so gut zu mir, und ich wünschte so sehr, auch etwas zu tun, was Ihnen gefallen könnte. So kam ich auf diesen Gedanken. Es war sicher dumm von mir …« »Nein, nein, wenn Sie es so ansehen«, widersprach er hastig. »Natür lich freut es mich, daß Sie einen so wunderschönen Entwurf gemacht haben, das müssen Sie mir glauben.« »Ja«, sagte Mildred leise, aber alle Freude war nun auch aus ihrer Stimme gewichen. »Sie Kind«, sagte er bedrängt, »Sie dürfen das, was ich für Sie tun konn te, nicht überschätzen. Es ist fast nichts. Noch weniger dürfen Sie sich in irgendeiner Weise von meiner Meinung abhängig machen. Das würde Ih nen nur Enttäuschungen bringen.« Mildred dachte an seine neuliche Ver abredung. Sicher hatte er sich mit einer Frau getroffen. Sein Herz war ver geben, und darum war er jetzt in Sorge, sie könnte sich an ihn hängen. 62
»Ich erwarte doch nichts weiter, als hier und da ein paar Worte mit Ihnen zu wechseln. Und vielleicht noch, mich im Notfall um Rat an Sie wenden zu dürfen. Ist das zuviel?« »Nein, natürlich nicht. Wenn Sie mich brauchen, können Sie immer auf mich zählen.«
VI
A
ls Christopher an diesem Spätnachmittag nach Hause kam, sah er sofort etwas Weißes in seinem Briefkasten stecken. Es war der Wochentag, an dem er öfters Nachricht von seinen Eltern oder seinen Schwestern erhielt. Er schloß darum voll freudiger Erwartung auf, aber der Brief, der ihm entgegenfiel, trug eine deutsche Briefmarke. Ver wundert sah er, daß die Adresse aus einzelnen, anscheinend aus einer Zeitung ausgeschnittenen Buchstaben zusammengesetzt war. Ein un behagliches Gefühl beschlich ihn, noch bevor er den Umschlag aufge rissen hatte. Der Brief enthielt nur wenige, ebenfalls aus Druckbuch staben zusammengesetzte englische Worte und trug keine Unter schrift. Sein Inhalt lautete ins Deutsche übersetzt: »Geben Sie sofort den Verkehr mit der Frau, die sich jetzt Simons nennt, auf. Sie ist eine Zuchthäuslerin und kein Umgang für Sie.« Obschon Christopher immer die Meinung verfochten hatte, anony men Briefen sei kein Gewicht beizumessen, sie gehörten in den Pa pierkorb, spürte er jetzt doch einen Schrecken, dessen Berechtigung er gleichzeitig bezweifelte. Irgendein feiger Lump versuchte, Mildred an zuschwärzen. Das beeindruckte ihn an sich weniger als die Tatsache, daß diese Zeilen das Vorhandensein Übelwollender und dadurch eine Gefahr für Mildred tatsächlich bestätigten. Sie hatte also doch recht, sogar mit ihrer Sorge, er könnte in das, was ihr drohte, hineingezogen werden. Die Anschuldigung, die dieser Wisch enthielt, schien ihm gro 63
tesk. Mildred – eine Zuchthäuslerin? Etwas Unsinnigeres hatte er noch nie gehört. Die Frau war so inoffensiv wie möglich, nie würde er glau ben, daß sie wem immer etwas Ernsthaftes zuleide getan hätte. Keinen Augenblick hatte er im Sinn, sich von dieser Verleumdung beeinflus sen zu lassen. Dagegen fragte er sich, ob es nicht seine Pflicht sei, Mild red zu warnen. Zwar war er sich darüber klar, daß er sie damit aufs neue den schlimmsten Ängsten auslieferte. Das hätte aber gleichzei tig zur Folge, daß sie ihre Vorsicht verdoppelte, was ihm nun ebenfalls notwendig schien. Wenn er auch kein Wort dieser infamen Beschuldi gung glaubte, war ihm doch die Vorstellung unangenehm, daß sie ir gendwann einmal mit einem solchen Gesindel in Berührung gekom men war. Eines schien ihm sicher: Freiwillig konnte es nicht gesche hen sein. Irgendwelche widrige Umstände hatten sie in etwas hinein gezogen, das, wenn er seiner Menschenkenntnis trauen konnte, nicht zu ihrer Art paßte. Auch eine Frau, die Angst hatte, konnte, wenn sie leichtfertig oder gar schlecht war, nicht über viele Monate hinweg ihre Natur verleugnen und wie eine Eremitin leben. Er hätte gern mit Si cherheit gewußt, ob der ominöse Bob selbst hinter der Sache steckte, oder einer seiner Helfershelfer. Ein Deutscher war es jedenfalls nicht, sonst hätte er sich seiner Sprache bedient, zumal auf der Hand lag, daß Christopher sie verstand. Er kam also aus Amerika, und von dort hat te Mildred all diese Zeit eine Gefahr erwartet. Es war unrecht von ihm gewesen, das nicht ernst zu nehmen. Plötzlich durchzuckte ihn eine Erinnerung, die ihn einen Augenblick vereiste. Wie war das doch da mals gewesen, als er aus einem Grund, den er vergessen, gesagt hatte, sie müsse sich doch mit Bob über die Scheidung geeinigt haben? Wenn er sich nicht irrte, hatte sie geantwortet, das sei nicht nötig, wenn ein Teil eines schweren Verbrechens wegen im Zuchthaus sitze. Hatte sie wirklich nur gesagt ein Teil oder ein Partner und nicht klar und deut lich Bob? Sie konnte sich doch wohl nicht selbst gemeint haben? Es erschreckte ihn noch zusätzlich, daß für den Bruchteil eines Augen blicks ein solcher Zweifel ihn überhaupt hatte berühren können. Das würde er ihr abbitten müssen. Als er am nächsten Tag zur Arbeit ging, steckte der ominöse Brief 64
in seiner Tasche. Je mehr man sich jedoch der Mittagspause näherte, desto unschlüssiger wurde er. Mußte er ihn ihr wirklich zeigen, oder konnte er sich damit begnügen, ihr anzudeuten, daß jemand Verleum dungen über sie ausstreute? Gewiß wäre auch das nicht angenehm für sie, aber doch nicht so hart wie die gemeine Anschuldigung in diesem Brief. Als die Zeit herangerückt war, konnte er sich nicht entschließen, Mildred aufzusuchen. Er brachte es einfach nicht fertig, sie derart zu erschrecken. Wäre er selbst bedroht worden, hätte er zur Polizei ge hen können. Er spürte aber instinktiv, daß das nicht in Mildreds Sinn wäre. Wenn er bloß wüsste, ob ihr Feind sich mit solchen Verleum dungen begnügte, oder auch einen tätlichen Angriff plante? Mildred schien das anzunehmen. Wie nur könnte er sie beschützen? Er mußte seinen ganzen Einfluß aufbieten, um sie aus diesem abgelegenen Haus wegzubringen. Leicht würde es wohl nicht zu vermieten sein, wenn sie Weißgerber ablehnte. Es besaß keine Garage, und ein etwaiger Inter essent würde sich kaum ohne Wagen hier niederlassen. Zu Fuß waren es gut sieben Minuten bis zur Bushaltestelle. Diese Strecke war es, auf der Mildred seiner Meinung nach am meisten gefährdet war. Es wurde jetzt früh dunkel, und die öffentliche Beleuchtung war in jenem Win kel kaum nennenswert. Daß es jemandem gelingen könnte, sich un bemerkt von hinten an sie heranzuschleichen, hielt er allerdings für ausgeschlossen, dafür war sie viel zu sehr auf ihrer Hut. Armes Ding! Jetzt, in der dunklen Jahreszeit, legte sie diesen Heimweg sicher im mer in Angst zurück. Es hätte ihm nicht viel ausgemacht, sie eine Zeit lang abends nach Hause zu fahren, aber das konnte bei dem vielen Per sonal der Textilia nicht unbemerkt bleiben. Niemand würde glauben, daß ihre Beziehungen harmlos waren, man würde sie ohne weiteres miteinander verkuppeln. Als stellvertretender Personalchef konnte er sich das nicht leisten, und auch für Mildred wäre es unangenehm. Al les wünschte er sich eher für sie, als sie ins Gerede zu bringen. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit machte er Punkt fünf Schluß und eilte zum Lift. Zu seinem Ärger wurde er dann aber von seinem Vorgesetzten aufgehalten, der ihn für einige Minuten in sein Büro bat. Als er sich freigemacht hatte, sah er Mildred bereits an der Bushalte 65
stelle warten. Sie unterhielt sich mit einer ihrer Kolleginnen vom De korsaal. Christopher konnte deswegen nicht an sie herantreten, aber das war nicht schlimm. Im Bus konnte ihr nichts Böses geschehen. Es genügte, sie an ihrer Haltestelle zu erwarten und während des an schließenden Fußmarsches ein Auge auf sie zu halten. Er nahm den geraden Weg, der ihn direkter als der Bus zu seinem Ziel führte. Dort stellte er den Wagen mit abgeblendeten Lichtern in den Schatten eines Hauses und steckte sich eine Zigarette an. Obwohl er fast eine Viertelstunde warten mußte, war er über das, was er tun wollte, noch immer nicht im klaren, als sie ausstieg. Es war eine verteufelte Situation. Sein Zögern hatte zur Folge, daß sie den Heimweg eingeschlagen hatte, bevor er sie noch aufhalten konnte. Sie rannte beinahe, woraus er den Grad ihrer Furcht ersehen konnte. Da der Augenblick nun verpasst war, fuhr er, einen gewissen Abstand wahrend, langsam hinter ihr her. Zweimal drehte sie sich um. Dieser schleichende Wagen war ihr offenbar nicht geheuer, denn jedes Mal nahm sie einen Anlauf und rannte noch schneller. Als er um die Kur ve bog, durchquerte sie gerade ihren kleinen Vorgarten. Er seufzte er leichtert auf, als sie hinter ihrer Haustür verschwunden war. Jetzt wür de sie die beiden schweren Riegel vorschieben, von denen er wußte, daß sie sie hatte anbringen lassen. Von diesem Augenblick an war ihre Tür gesichert. Anders verhielt es sich mit den Fensterläden. Ein guter Axthieb konnte sie spalten, dann bot die Fensterscheibe kein Hinder nis mehr. Die schwere Sorge, die ihn seit Erhalt des Briefes plagte, gab Christopher einen Begriff davon, was sie hier seit Monaten durchge macht hatte. Der Vorwurf der Überängstlichkeit, deren er sie geziehen, war fehl am Platz gewesen. In Wirklichkeit war sie unglaublich tapfer. Es gehörte Mut dazu, in sicherer Erwartung einer Gefahr muttersee lenallein in diesem abgelegenen Haus auszuharren. Aber wem nützte dieser Mut? War es nicht heller Wahnsinn, einem eventuellen Angrei fer die Sache derart leichtzumachen? Wahrscheinlich war bei ihr auch eine gewisse Resignation im Spiel, etwa der Gedanke, daß sie ihm oh nehin nirgends entgehen würde, wenn er sogar diesen Schlupfwinkel ausgespäht hätte. Tatsächlich war ihm das gelungen, wie der Brief be 66
wies. Einen Augenblick erwog er, ihr seinen Revolver zu leihen. Aber würde sie damit umgehen können? Wenn sie im entscheidenden Au genblick unsicher war oder aus einem falsch verstandenen Mitleid zö gerte, konnte sich die Sache gegen sie wenden. Ein von weniger Skru peln Belasteter konnte sie daraufhin niederschießen und behaupten, in Notwehr gehandelt zu haben. Es war zum Verrücktwerden, daß es im Grunde keinen wirksamen Schutz für sie gab. Er bezweifelte stark, daß die Polizei auf eine vage Vermutung hin etwas unternehmen wür de, es sei denn, Mildred erhielte irgendwelche Drohbriefe, so daß man wenigstens etwas vorweisen könnte. Aber diese Blöße würde sich die ser Mensch, wer immer er war, wohl kaum geben. Am nächsten Tag hielt Christopher es nicht mehr aus, er mußte mit Mildred sprechen. In der Mittagspause suchte er sie kurz auf der Ter rasse auf und bat sie, im ›Minerva‹ nach Arbeitsschluss auf ihn zu war ten. Er müsse sie dringend sprechen. Mildred sah ihm an, daß es sich um etwas Ernstes handelte. Sogar seine Stimme, die sich sonst immer bemühte, sie aufzuheitern, klang anders. Obschon sie eine unbestimm te Sorge beschlich, vermochte diese doch die Freude, daß Christopher sich erneut mit ihr treffen wollte, weder zu dämpfen noch gar zu über tönen. Sie war froh, daß sie sich gestern das Haar gewaschen hatte. Da es sich natürlich lockte, brauchte sie keinen Haarkünstler zu bemühen. Während sie ihr Äußeres sonst nicht hoch einschätzte, wußte sie ge nau, daß ihr Haar sehr schön war, wenigstens das. Christopher machte keine großen Umwege, als er ihr gegenüber saß. Da er diese Warnung nicht vermeiden konnte, wollte er sie lieber gleich hinter sich haben. »Mildred, es gibt jemanden, der Verleumdungen über Sie verbrei tet. Es ist mit Sicherheit ein Amerikaner. Glauben Sie, daß es Bob sein könnte?« Sein Herz krampfte sich vor Mitleid zusammen, als er sah, wie sie er blich. Ihr bei seiner Ankunft vor Freude gerötetes Gesicht wirkte plötz lich wie eingefallen. »Woher wissen Sie es?« fragte sie flüsternd, als könnte der Feind mit hören. 67
»Ich bekam einen anonymen Brief.« »Nun ist es also so weit, daß Sie mit hineingezogen werden. Ich habe das, wie Sie wissen, immer gefürchtet. Was hat er geschrieben?« »Daß Sie kein Umgang für mich seien.« »Nur das? Das wäre ja keine Verleumdung. Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit, damit ich mich wenigstens Ihnen gegenüber verteidigen kann.« »Aber ich glaube kein Wort von dieser Behauptung.« »Was stand in dem Brief?« bohrte sie unerbittlich weiter. Er sah, daß ihre Lippen bebten, dagegen konnte sie wahrscheinlich nichts tun. Aber sonst hielt sie sich bemerkenswert. Sie hatte so lange vor dieser Entdeckung gezittert, daß sich in ihre Angst vielleicht so etwas wie eine makabre Erleichterung mischte, daß das, was sie ohnehin für un vermeidlich gehalten, eingetroffen war. Aus den vagen Ängsten schäl ten sich nun Fakten heraus. »Er schrieb von Ihnen als der Person, die sich jetzt Simons nenne –« »Mit vollem Recht. Es ist mein Mädchenname. Selbstverständlich wollte ich nicht länger Montero heißen.« »Ist das Bobs Familienname? Er klingt italienisch.« »Seine Großeltern waren aus Sizilien eingewandert.« »Das erklärt einiges.« »Ja, sehen Sie, Sie haben das sofort begriffen wie meine Eltern. Zu meinem Verderben glaubte ich ihnen nicht.« »Es gibt natürlich auch viele ehrliche Sizilianer. Man darf da nicht verallgemeinern. Obschon die Maffia sich ganz schön bei uns einge schlichen hat.« Seine Hoffnung, sie durch dieses Gespräch von dem Brief abzulen ken, erfüllte sich nicht. »Sie haben mir noch nicht gesagt, was für Verleumdungen in dem Brief standen.« »Da ich nicht daran glaube, hat es keinen Zweck, Sie damit zu quä len.« »O doch. Auch wenn man sich gegen Verleumdungen immun glaubt, bleibt doch immer ein klein bißchen Unsicherheit davon hängen. Ich 68
weiß das aus eigener Erfahrung. Bitte sprechen Sie, schonen Sie mich nicht.« »Wenn es denn gesagt sein muß: Er nannte Sie eine Zuchthäusle rin.« Er hatte als selbstverständlich angenommen, daß sie jetzt empört auffahren würde; aber sie tat es nicht. »In gewissem Sinne ist es wahr«, gestand sie mit bleichen Lippen. »Ich hätte Ihnen das längst sagen sollen. Nun bin ich für meine Feig heit bestraft. Sie haben es von anderer Seite verzerrt erfahren.« »Aber es kann doch nicht sein, daß Sie im Zuchthaus waren?« fragte er und konnte sein Entsetzen nicht verbergen. »Ich nehme an, daß es in jedem Land Justizirrtümer gibt. Eines ihrer unglücklichen Opfer war ich.« »Was hatte man Ihnen denn vorgeworfen?« »Mord an meinem Kind.« »Mildred, daß Sie dazu fähig gewesen wären, glaube ich nie und nimmer.« »Danke, Christopher. Ich wurde auch nach einem Jahr rehabilitiert, weil sich der wahre Täter im Rausch verraten hatte. – Man hat mich sofort entlassen und mir eine nicht unerhebliche Summe als Scha denersatz ausbezahlt. Als ob man mit Geld etwas Derartiges gutma chen könnte! Auch das Hundertfache der Summe würde nicht verhin dern, daß man von einem solch himmelschreienden Unrecht gezeich net bleibt.« Sie starrte eine Weile düster vor sich hin. Christopher war tete, bis sie sich gefaßt hatte, bevor er die Frage stellte, die auf seinen Lippen brannte. »War es Bob?« »Eine seiner Kreaturen, die er dafür bezahlt hatte. Er verriet sich im Trunk, gab aber, um seinen Hals zu retten, den Anstifter preis, so daß dieser ebenfalls verurteilt wurde.« »Was für eine furchtbare Geschichte. Arme Mildred! Was haben Sie durchmachen müssen … Hat Bob denn nicht wenigstens versucht, vor Gericht für Sie einzutreten?« »Im Gegenteil. Auf die Frage, ob ich das Kind gehasst hätte –« 69
»Warum diese unsinnige Frage? Welche normale Mutter hasst schon ihr Kind?« »Mein kleiner Junge war schwachsinnig, aber glauben Sie mir, ich habe ihn darum nur um so mehr geliebt. Ich wußte, daß er im Le ben auf niemanden zählen konnte als auf mich. Es war Bob, der ihn hasste. Seine Eitelkeit war schwer durch dieses anormale Kind getrof fen. Nachdem er mir dauernd die Schuld daran gab, habe ich Nachfor schungen angestellt. Es war der zweite Fall von Schwachsinn in seiner Familie, wahrscheinlich weil sie zu oft in die nächste Verwandtschaft hinein geheiratet hatten.« »Sie wollten mir erzählen, was Bob auf die Frage des Richters ant wortete.« »Er sagte, ich hätte schwer unter dem Schwachsinn des Kindes gelit ten und öfters gesagt, ich könnte es nicht mehr um mich ertragen.« »Das stimmte natürlich nicht?« »Er legte mir die Worte in den Mund, die er selbst immer wieder ge braucht hatte. Sie hätten hören sollen, wie geschickt der Staatsanwalt sich ihrer bediente, um das Motiv für meine angebliche Tat herauszu streichen.« »Was bezweckte Bob, dieser Unmensch, damit?« »Die Spur von sich abzulenken und mich gleichzeitig billig loszu werden. Nachdem er hatte einsehen müssen, daß er aus meinen Eltern kein Geld erpressen konnte, war ich für ihn wertlos geworden.« »Wie kam es, daß der Verdacht auf Sie fiel?« »Unsere Wohnungstür hatte ein ziemlich kompliziertes, einbruchsi cheres Schloß, das Bob kurz vorher hatte anbringen lassen. Es war si cher bereits ein Teil seines Planes. Dieses Schloß war unversehrt, die Tür verschlossen. An keinem der Fenster ließen sich Spuren eines Ein stiegs feststellen. Bob hatte bei seinen Eltern übernachtet, ich war also allem Anschein nach mit dem Kind allein gewesen. Nachher hat der wahre Täter gestanden, daß Bob ihm seinen Schlüssel geliehen hatte.« »Hatten Sie denn nichts gehört?« »Absolut nichts. Bob betonte natürlich ausdrücklich, daß ich ei nen sehr leichten Schlaf hätte, und meine Eltern, die vorgeladen wa 70
ren, mußten es bestätigen. Es ist auch wahr. Aber wahrscheinlich hat te er mir beim Abendessen etwas in meinen Wein oder in den Kaffee getan. Jedenfalls erwachte ich am Morgen zwei Stunden später als ge wöhnlich und mit einem benommenen Kopf. Infolgedessen entdeck te ich den Tod des Kindes erst verhältnismäßig spät. Auch das wurde zu meinen Ungunsten ausgelegt. Der Staatsanwalt behauptete, ich hät te die Entdeckung hinauszögern wollen.« »Waren Sie noch immer allein, als Sie das Kind fanden?« »Ja, aber Bob kam kurz danach. Er war es, der die Polizei benach richtigte. Ich war wie von Sinnen und unfähig, etwas zu unternehmen. Auch darin sah der Staatsanwalt einen Beweis für meine Schuld. Hät te ich das Kind geliebt, wäre meine erste Reaktion bei der Feststellung seines Todes gewesen, die Polizei auf die Spur des Täters zu hetzen. Da ich selbst schuldig sei, hätte ich das natürlich nicht tun können. Der Kleine war mit einem meiner Strümpfe erwürgt worden. Alles war sehr geschickt so arrangiert, daß ich in der Falle saß. Als ich Bobs Aus sage hörte, bestätigte sich der bisher vage Verdacht in mir, er könnte, trotz seines Alibis, der Täter oder wenigstens der Anstifter sein. Aber ich hatte keine Beweise, und wer hätte mir geglaubt?« »Wie lautete das Urteil?« Die Knöchel von Mildreds Händen, die die Ecken des Tischchens umkrampft hielten, stachen weiß hervor. »Schuldig des Mordes an meinem Kind, seines Schwachsinns we gen, unter Zubilligung mildernder Umstände. Fünf Jahre Zuchthaus. Schon am nächsten Tag wurde ich im Frauengefängnis des Staates Virginia, der State Farm of Women, zwanzig Meilen von Richmond entfernt, eingeliefert. Ich war fast genau ein Jahr dort, als die Wahr heit an den Tag kam. Meine körperliche und seelische Verfassung war sehr schlecht, zu allem anderen vertrug ich das Klima nicht. Es ist dort feucht und heiß.« Auch Christopher war blaß geworden. Diese entsetzlichen Eröffnun gen zerschmetterten ihn. Er hätte mit tausend Zungen reden mögen, um Mildred zu trösten, aber zunächst fand er kein einziges Wort. Was sollte man angesichts einer solchen Tragödie sagen? Nichts machte die 71
furchtbare Unbill, die sie erlitten, wieder gut. Alles, was ihm zuweilen an ihr sonderbar erschienen, verstand er nun. Sie hatte recht, sie war gezeichnet. Und dennoch mußte er sie bewundern. Sie hatte es nach diesem grausamen Unrecht fertig gebracht, sich ein neues Leben auf zubauen, indem sie auf ihr Talent zurückgegriffen hatte. Daß sie et was menschenscheu geworden, wer wollte ihr das verdenken? Schließ lich hatte sie ständig davor zittern müssen, daß ihre Vergangenheit be kannt würde. Aber das war es nicht allein. »Aus welchem Grund glauben Sie, daß Bob danach trachtet, Ihnen Schaden zuzufügen, da er doch Ihrer Meinung nach froh war, Sie los zusein?« »Ich wurde bei seinem Prozess als Zeugin vorgeladen. Als ich gefragt wurde, ob ich nie einen Verdacht auf meinen Mann gehabt hätte, sag te ich wahrheitsgetreu: Doch. Daraufhin ist Bob aufgesprungen und hat mir vor dem versammelten Gericht ins Gesicht geschrien, das wür de ich büßen müssen. Er werde mich finden, wo immer ich mich ver steckt hielte. Und er hat, wie Sie sehen, Wort gehalten. An der Hart näckigkeit, mit der er mich suchte, können Sie den Grad seines Has ses erkennen.« »Aber eigentlich hätten Sie mehr Grund dazu als er. Er hat mitgehol fen, Sie in voller Kenntnis Ihrer Unschuld, ins Gefängnis zu bringen, während das Eingeständnis Ihres Verdachtes, angesichts der Aussage seines Komplizen, nicht schwer wog. In diesem Gehirn muß eine schö ne Verwirrung herrschen.« »Hass macht noch blinder als Liebe«, sagte sie leise. »Ich war für ihn eine fürchterliche Enttäuschung. Statt durch mich Geld von meinen Eltern erpressen zu können, mußte er das Kind und mich erhalten.« »Das ist die normale Pflicht eines Ehemannes. Außerdem konnten Sie nichts dafür, daß Ihre Eltern – und das wohlweislich – unzugäng lich blieben.« »Seiner Meinung nach hätten sie aber nachgegeben, wenn ich selbst geschrieben oder sie aufgesucht hätte; aber dazu konnte er mich nicht bringen. Ich hatte ihre nur zu begründeten Warnungen in den Wind geschlagen und wollte nun auch ohne ihre Hilfe auslöffeln, was ich mir 72
eingebrockt hatte. Ich glaubte auch nicht, daß sie sich durch mich hät ten erweichen lassen. Obschon sie mich genügend hätten kennen müs sen, um meiner Unschuld sicher zu sein, haben sie mich nie im Zucht haus besucht oder mir geschrieben, nicht einmal nach meiner Rehabi litierung, die von allen Zeitungen gebracht wurde. Ich war von den In sassinnen die einzige, die niemals Post oder Besuch bekam. Verlasse ner und ohne jeden Kontakt mit der Außenwelt konnte niemand sein. Und all das habe ich im vollen Bewußtsein meiner Unschuld erleiden müssen.« »Was haben Sie danach getan?« »Die ersten vierzehn Tage war ich vollkommen teilnahmslos. Ich wartete darauf, daß jemand käme und mir einen Weg weisen würde, meine Eltern oder mein Bruder. Aber niemand kam. Da begriff ich, daß ich mir selbst helfen mußte. Als ich Bob kennen lernte, hatte ich bereits ein Jahr Studium auf der Kunstakademie, Abteilung Kunstge werbe, hinter mir. Das Sühnegeld, das ich erhalten hatte, erlaubte mir, mich wieder einzuschreiben. Ich lechzte nach Arbeit, es war das einzi ge, was mir helfen konnte. Nach zwei weiteren Jahren bekam ich mein Diplom. Die ganze Zeit lebte ich ebenso einsam wie hier. Nachdem ich Bob geheiratet hatte, war mein Freundeskreis von mir abgerückt. Auch nach meiner Rehabilitierung blieb ich für sie die Frau eines Kri minellen und war darum nicht mehr gesellschaftsfähig. Ich hätte auch wirklich nicht mehr zu ihnen gepaßt. Auf ihren endlosen Parties hät te ich ihnen nur die Stimmung verdorben. Die haben mir auch ge wiß nicht gefehlt. Was ich gebraucht hätte, wäre ein wenig menschli che Wärme und Anteilnahme gewesen, aber ich mußte lernen, ohne sie auszukommen.« »Mildred, welcher Art sind eigentlich Ihre Befürchtungen? Sie glau ben doch nicht im Ernst, daß Bob Ihnen nach dem Leben trachtet? Er wird sich doch nicht der Gefahr aussetzen, erneut ins Zuchthaus zu müssen oder gar zum Tod verurteilt zu werden?« Sie zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht, aber er ist zu allem fähig. Er wird sich kaum die Mühe gemacht haben, mich aufzuspüren, nur um Verleumdungen über mich auszustreuen. Außerdem hält er sich 73
für zu schlau, um ertappt zu werden. Wer sollte ihn auch anschuldi gen, wenn ich nicht mehr lebte? Er hatte allerdings nicht damit gerech net, daß ich bei meiner Menschenscheu einen Freund haben könnte. So gesehen, sind Sie allein durch Ihre Existenz ein Hindernis für ihn.« »Um so besser, daß ich doch zu etwas gut bin. Sie müssen so schnell wie möglich aus diesem Haus heraus.« »Was würde das nützen? Er fände mich doch. Außerdem bin ich nicht ganz wehrlos. Meine Pistole liegt immer auf dem Nachttisch bereit.« »Wissen Sie damit umzugehen?« fragte er verwundert. »Ziemlich gut. Ich lernte schießen, als ich aus dem Gefängnis entlas sen wurde, und ich habe zu Hause mit einem Schalldämpfer und blin den Patronen trainiert. Jetzt aber ist die Waffe scharf geladen.« »Hätten Sie denn den Mut, im Notfall zu schießen?« Sie schaute ihn seltsam an. »Zweifeln Sie daran, nach allem, was man mir angetan hat?« »Nein, Sie haben recht. Ich begreife trotzdem nicht, daß Sie sich dar auf versteifen, in diesem Haus zu bleiben. Wenn es noch einen senti mentalen Wert für Sie hätte, könnte ich es zur Not verstehen. Aber Sie sagten mir, Sie hatten Ihre Tante überhaupt nicht gekannt.« »Ich habe dort Türriegel und feste Fensterläden –« »Die einer gutgeschliffenen Axt nicht standhalten würden.« »Das ginge aber nicht ohne Lärm ab. Ich hätte Zeit, meine Pistole an mich zu nehmen.« »Es gibt noch andere Orte, an denen Sie gefährdet sind. Auf Ihrem Heimweg vom Bus zum Beispiel.« »Ja, gestern ist mir ein Wagen nachgefahren –« »Das war ich. Anscheinend habe ich ein besonderes Talent, Sie zu er schrecken, auch wenn ich Ihnen nur helfen möchte.« »Warum haben Sie sich nicht zu erkennen gegeben?« »Ich hatte in der Nähe der Haltestelle im Wagen auf Sie gewartet. Aber bevor ich noch ausgestiegen war, rannten Sie bereits los.« »Sie hätten hupen können –« »Ich glaube kaum, daß Ihnen das Vertrauen eingeflößt hätte. Meinen Wagen haben Sie natürlich nicht erkannt?« 74
»Nein, ich verstehe nichts von Autos. Bob besaß zwar eines, aber er hat mich so gut wie nie mitgenommen. Nach unserer Verheiratung hatte sich unser Verhältnis schnell verschlechtert. Außerdem konnte er bei den dunklen Machenschaften, von denen er vermutlich lebte, keine Zuschauer brauchen.« »Was fange ich nun mit Ihnen an?« Sie lächelte trübe. »Das klügste wäre, aus der Tatsache, daß ich wirklich kein Umgang für Sie bin, die Konsequenzen zu ziehen.« »Der Mensch tut nicht immer das klügste.« »Aber Sie müssen einsehen, daß Sie sich in Gefahr bringen.« »So weit sind wir noch nicht. Ein Rat ist keine Drohung.« »Wenn Sie ihn nicht befolgen, wird sie nicht auf sich warten lassen.« »Wir wollen jetzt nicht von mir reden. Ernstlich, Mildred, ich bin sehr in Sorge um Sie. Dabei wäre es für Sie ein leichtes, mich von die sem Zustand wenigstens einigermaßen zu befreien. Ich kann nicht je den Abend hinter Ihnen herfahren, obschon ich auch das schon erwo gen habe. Aber es gibt immerhin Tage, an denen ich etwas vorhabe. Es ist nicht fair von Ihnen, mich dieser Angst zu überlassen. Passiert Ih nen etwas, würde ich mich schuldig fühlen.« »Ganz ohne Grund, Christopher.« »Ich sehe das anders an. Wollen Sie mir nicht doch erlauben, mit Weißgerber zu sprechen?« »Erst, wenn ich reiflich darüber nachgedacht habe. So etwas geht nicht von heute auf morgen. Ich müßte zuerst eine Wohnung suchen.« »Würde Ihnen ein Studio genügen?« fragte er eifrig und überaus froh, daß sie nicht wieder kategorisch ablehnte. »Gewiß. Ein großes Wohnschlafzimmer mit Bad und eine kleine Küche. Mehr brauche ich nicht.« »Demnach das gleiche, was ich auch habe. Von dieser Art Wohnun gen gibt es eine Menge in meinem Hochhaus. Ich werde noch heute abend mit dem Hauswart sprechen, ob eine frei ist oder wird. Das wäre eine ideale Lösung. Ich hätte Sie dann gewissermaßen unter Kontrolle. Jede Wohnung hat ein Haustelefon und, wenn gewünscht, eine öffent 75
liche Linie. Dadurch wären Sie jederzeit mit der Außenwelt verbunden und könnten Hilfe herbeirufen, zum Beispiel mich.« Mildreds niedergeschlagene Miene hatte sich etwas aufgehellt. »Damit täten Sie das Gegenteil dessen, was man Ihnen geraten hat.« »Ich bin schon als Kind für meinen Widerspruchsgeist bestraft wor den.« »In Gottes Namen. Versuchen Sie Ihr Heil. Wenn wirklich in Ihrem Haus eine Wohnung frei wird, will ich das als Wink des Schicksals an sehen.« »Braves Kind!« sagte er erleichtert und streckte ihr über den Tisch die Hand entgegen.
VII
A
m nächsten Morgen ließ Heli Weiß sich bei Christopher melden. Während sie ihn sonst meist hemmungslos anstrahlte, war sie diesmal düsterer Laune. Er machte sich darum auf eine Beschwerde ir gendwelcher Art, jedenfalls auf etwas Unangenehmes, gefaßt. Aber ihr Anliegen war ganz anderer Art. »Herr Witt, man sagte mir, daß Sie jetzt für Ferien zuständig seien?« »Stimmt. Wollen Sie zwischen Weihnachten und Neujahr ins Gebir ge?« »Nur zu gern, aber es geht nicht wegen meiner Eltern. Ich möchte ab nächsten Montag meinen diesjährigen Urlaub nehmen.« »So spät im Jahr? Hatten Sie denn noch keinen?« »Nein«, sagte sie wütend und schob die Unterlippe vor, was ihr das Aussehen eines trotzigen Kindes gab. »Das ist es ja eben. Den ganzen Sommer habe ich gewartet, und immer ging es nicht.« »Wieso? Ist Ihnen der Urlaub verweigert worden? Davon weiß ich nichts.« 76
»Ich habe ihn gar nicht beantragt. Die Sache ist die, daß ich mit – mit jemandem zusammen Ferien machen wollte. Und das klappte eben immer nicht.« »Ach so«, sagte Christopher verständnisvoll. »Nun habe ich es satt zu warten. Schließlich will ich nicht, daß mei ne diesjährigen Ferien in die Binsen gehen. Natürlich ärgert es mich zu fahren, wenn der Winter schon fast angefangen hat und die Tage so kurz geworden sind. Aber was soll ich machen? Glauben Sie, daß es ge hen wird mit Montag?« »Haben Sie schon mit Herrn Weiler darüber gesprochen? Als Ihr Ab teilungschef weiß er besser darüber Bescheid als ich, ob Sie gerade jetzt entbehrlich sind.« »Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Ich kenne mich ja aus und würde ihn nicht in Ungelegenheiten bringen. Die Früh jahrskollektion ist bereit, wir haben schon mit der Zwischenkollekti on für nächsten Sommer angefangen. Aber die ist noch nicht eilig. Für uns im Dekorsaal ist es jetzt mehr oder weniger tote Zeit.« »Gut, wenn es so ist, notiere ich Sie ab Montag. Wollen Sie Ihre drei Wochen nacheinander nehmen?« »Da das Jahr schon fast um ist, bleibt mir keine Wahl.« »Sprechen Sie aber doch noch mit Herrn Weiler darüber. Es ist mehr eine Formsache, aber es wäre nicht anständig, ihn zu übergehen.« »Selbstverständlich. Danke, Herr Witt.« »Amüsieren Sie sich gut.« »Mopsen werd' ich mich so allein«, erwiderte sie in ihrer saloppen Ausdrucksweise. »Es sei denn, ich lachte mir im Zug einen an. Geschä he ihm recht, dem anderen.« Die Mittagspause ersparte Christopher weitere Konfidenzen. Offen bar hatte das Mädchen eine Enttäuschung hinter sich, und der Mund floß ihr vor Zorn über. Als sie die Kantine betrat, sah sie zu ihrer Über raschung Mildred neben Mona sitzen. »Oha! Hoher Besuch …« »Ja, es ist jetzt doch zu kalt auf der Terrasse, obschon sie ja sehr ge schützt ist und mittags in der Sonne liegt.« 77
»Wenn sie scheint«, präzisierte Mona, die den Dingen immer auf den Grund ging. »Auf jeden Fall sind Sie der reinste Kälteprotz, daß Sie es dort so lan ge ausgehalten haben.« »Ich gehöre zu den Leuten, die Hitze schlechter ertragen als Kälte. Im Sommer ist es fürchterlich heiß bei uns, ich meine in den Staaten.« »Sind Sie darum herübergekommen?« »Nein. Ich habe hier ein kleines Haus geerbt.« »Oh, dann sind Sie ja eine Kapitalistin!« »Eine sehr winzige«, ging Mildred lächelnd auf den Scherz ein. »Trotzdem sind Sie zu beneiden. Bei uns zu Hause ist es sehr eng, aber meine Mutter ist konservativ und will sich nicht von der Woh nung trennen, obschon wir uns, da ich mitverdiene, eine größere lei sten könnten. Übrigens, Mona, fahre ich am Montag in Urlaub.« »Jetzt, im Oktober? Du bist nicht bei Trost.« »Soll ich etwa noch länger warten?« »Ist er –« sie unterbrach sich mit einem Blick auf Mildred. »Du brauchst gar nicht so diskret zu tun. Mit dreiundzwanzig hat man ja wohl das Recht, einen Freund zu haben. Die Sache ist die«, wandte sie sich an Mildred, »daß er mich den ganzen Sommer hinge halten hat. Immer konnte er angeblich nicht fort, und so ist die gute Jahreszeit verstrichen, und ich habe ewig in dieser Bude gehockt. Jetzt ist es mir zu dumm geworden, und ich fahre allein.« »Wohin denn?« »In die Schweiz, in sein Ferienhaus. Was bleibt mir anderes übrig? Da mir die Alten so viel von meinem Verdienst abzwacken, reicht es nicht für ein anständiges Hotel. Er muß am Montag geschäftlich nach Freiburg und nimmt mich bis dorthin mit, dadurch wird die Reise bil liger. Verpflegen muß ich mich dort allerdings selbst. Er hat mir einge schärft, nichts von den Vorräten anzurühren. Seine Frau würde es so fort merken, meinte er.« »Ist er denn verheiratet?« fragte Mildred ein wenig betroffen. »Ja, das ist eben das Leiden. Seit Jahren verspricht er mir die Schei dung, denkt aber in Wirklichkeit nicht daran. Jetzt, da Sie wissen, daß 78
ich eine Ehebrecherin bin, wollen Sie wohl nichts mehr mit mir zu tun haben?« »Das ist Ihre Sache und geht mich nichts an«, erwiderte Mildred er rötend. Dabei dachte sie: ›Wenn du wüsstest …‹ »Sie sind also tolerant. Ich war dessen nicht ganz sicher. Meine Eltern haben keine Ahnung von diesem Verhältnis. Sie zwingen mich durch ihre Spießbürgerlichkeit, ihnen einen Sack Lügen aufzutischen. Nie kann ich über Nacht wegbleiben, was natürlich auch für Kurt schwie rig wäre. Wenn ich hier von der Bude weg könnte, nähme er mich manchmal auf Geschäftsreise mit; aber auch das geht nicht.« »Du brauchst ja nicht zu arbeiten«, warf Mona ein. »Er ist reich ge nug, um dir eine kleine Wohnung zu halten und für den Rest aufzu kommen.« »Mich aushalten lassen wäre das letzte, was ich täte«, wies Heli sie entrüstet zurecht. »Hier und da ein kleines Geschenk, mehr will ich gar nicht. Außerdem könnte ich so etwas meinen Eltern nicht antun. Sie sind noch so ehrpusselig, daß sie an der Schande ersticken würden; und schließlich hab' ich sie gern.« »Wo ist denn dieses Ferienhaus?« »In Kandersteg. Das soll im Berner Oberland sein. Schöne Gegend, sagt Kurt, liegt ziemlich hoch in den Bergen.« »Na, wenigstens das. Sonst kann ich mir nicht vorstellen, daß es für dich sehr lustig sein wird, so allein.« »Du könntest mitkommen, wenn du wolltest.« »Täte ich vielleicht, wenn ich noch Ferien zugute hätte, obschon ich mehr für die See als für Berge bin. Klettern ist nicht meine Speziali tät. Außerdem hätte ich an deiner Stelle Angst, daß Kurts Frau es her auskriegen könnte. Es gibt doch sicher Nachbarn, die es ihr erzählen werden.« »So dumm sind wir nicht. Kurt hat vorgesorgt. Er erzählt ihr, er habe das Haus seiner Cousine für einige Zeit zur Verfügung gestellt. Da die bei den Frauen miteinander verfeindet sind, wird es keine Rückfrage geben.« »Was tust du bloß dort den ganzen Tag? Schließlich kannst du nicht von morgens bis abends die Berge ansehen.« 79
»So schlimm ist es nicht. Es gibt ein Radio und sogar einen kleinen Fernseher, nicht zu vergessen das Telefon. Kurt wird mich jeden Tag anrufen. Trotzdem graust mir vor dem Alleinsein, noch dazu in ei nem fremden Land, wo sie einen Dialekt reden, der für uns Deutsche unverständlich sein soll.« Etwas zögernd wandte sie sich Mildred zu. »Waren Sie schon einmal in der Schweiz?« »Nein, ich kenne nur einen kleinen Teil von Amerika und von Deutschland nur gerade diese Ecke.« »Sie hätten wahrscheinlich keine Lust, mit mir zu fahren?« »Ich?« fragte Mildred überrascht. »Ist das Ihr Ernst?« »Warum sollte ich Sie sonst fragen?« »Ich weiß nicht, vielleicht meinten Sie, ich sei gekränkt, daß Sie es nur Mona angeboten haben …« »Für so zart besaitet halte ich Sie nicht. Aber wie steht es mit Ihren Ferien? Mehr als zehn Tage wird man Ihnen nicht geben, dafür sind Sie noch nicht lange genug in der Firma; aber für Sie wie für mich wäre das besser als nichts. Wie ist es, würde es Sie locken, oder empfinden Sie es als Zumutung, daß ich überhaupt an so etwas denke? Dort oben mag es schon kalt sein.« »Das würde mich nicht stören. Halten Sie es denn für möglich, daß Herr Weiler uns beide gleichzeitig freigäbe?« »Der Zeitpunkt ist für ihn ungewöhnlich günstig, während er für uns ausgesprochen mies ist. Sie scheinen nicht von vornherein ableh nen zu wollen? Das ist mehr, als ich zu hoffen wagte. Wenn das, was ich Ihnen bieten kann, auch nicht gerade ein Gottesgeschenk ist, so täte es Ihnen vielleicht doch gut, einmal ein bißchen reine Bergluft zu schnuppern.« »Das glaube ich auch. Ich muß es mir aber doch noch überlegen; sa gen wir bis morgen Mittag?« »In Ordnung. Die Hauptsache ist, daß ich Kurt rechtzeitig verstän digen kann. Er soll Sie nämlich auch mitnehmen bis Freiburg. An sich tut er das sicher gern. Wenn er zögern sollte, wäre es wegen der Gefahr einer Indiskretion.« »Deswegen hätte er nichts zu befürchten. Mit Ausnahme der paar 80
Leutchen in der Textilia kenne ich hier keinen Menschen. Außerdem bin ich nicht schwatzhaft.« »Nein, das kann man Ihnen wahrhaftig nicht vorwerfen. Ich wäre froh, wenn Sie mitkämen. Übrigens habe ich schon Abnehmer für zwei Ihrer Katzen. Mutti habe ich noch nicht herumgekriegt, aber das wird auch noch klappen.« »Bliebe immer noch eine. Was mache ich mit ihr, wenn ich fortfah re?« frage Mildred bedenklich. »Sie sind doch jetzt groß genug, um von der Alten fortgenommen zu werden?« »Ja, sie ist ihrer anscheinend selbst bereits überdrüssig. Manchmal wenn ich heimkomme, ist sie gar nicht da. Ich lasse ihr immer eine Dachluke offen. Wahrscheinlich geht sie wieder auf Mäusejagd. Es ist ihr jetzt auch ganz gleichgültig, wenn ich die Kleinen anfasse, wäh rend sie sich zuerst wie eine Tigerin aufführte.« »Ja«, sagte Heli weise, »die Tiere machen es sich leichter als wir. Sie hegen ihre Jungen, solange sie sich nicht selbst helfen können, aber nachher ist Schluß. Wenn Sie mitkommen wollen, könnten Sie mir morgen drei Kätzchen in einem Korb herbringen, ich verteile sie dann und nehme das dritte einfach mit heim. Wenn meine Mutter erst sieht, wie niedlich es ist, wird sie nicht länger nein sagen. Aber für das vier te müssen Sie schleunigst jemanden suchen, es ist ja nur noch ein paar Tage bis zur Abfahrt.« Mildred fühlte sich etwas überrumpelt als sie aufstand, um noch ein bißchen nach draußen zu gehen. Nicht im Traum hatte sie bisher an Ferien oder gar eine Reise gedacht. Aber locken würde es sie schon. Wenn sie nur wüsste, wie sie Christopher erwischen könnte. Es kam ihr gar nicht in den Sinn zu denken, daß die Entscheidung allein bei ihr liege. Sie wollte nur fahren, wenn er es für richtig hielt. Er hatte sie, als er in die Kantine zum Essen kam, gesehen und mit den Augen ge grüßt. Wie sollte sie es nur anfangen, ihn zu verständigen, wenn sie sich bereits morgen entschließen mußte? Sie hatte es kaum gedacht, als sie seinen Schritt, den sie genau kannte, hinter sich hörte und sich er freut umdrehte. 81
»Ich dachte gerade an Sie, Christopher«, sagte sie halblaut. »Heli Weiß hat mich eingeladen, mit ihr in die Schweiz in die Ferien zu fah ren, wenigstens für die paar Tage, die mir zustehen. Was meinen Sie dazu? Soll ich zusagen? Ich muß mich bis morgen entschließen.« Ein Schwarm Angestellter und Arbeiter kam aus der Kantine, sie konnte nicht weitersprechen. Er murmelte nur noch etwas, das sich anhörte wie: »Ich komme«, aber sie war nicht sicher. Hatte sie aber richtig verstanden, was meinte er damit? Wollte er ins ›Minerva‹ ge hen oder sie bei der Bushaltestelle erwarten? Die Ungewissheit quälte sie den ganzen Nachmittag. Es wäre gräßlich, wenn er sie am falschen Ort erwartete. Wie konnte sie das verhindern? Schließlich fand sie ei nen Ausweg: Sie wollte wie immer nach Hause fahren, wenn er nicht an der Haltestelle war, und von der nahen Telefonkabine aus im ›Mi nerva‹ anrufen. Seine Meinung über das aufgetauchte Projekt konnte er ihr ebensogut am Telefon sagen. Wenn sie doch nur bald ein eigenes hätte! Die Wartezeit schien ihr endlos.
Das Rätsel löste sich, indem Mildred Christopher schon vom Bus aus an der Haltestelle warten sah. ›Er ist mir unentbehrlich geworden‹, dachte sie. ›Was finge ich an, ohne ihn?‹ Ihr schauderte, als sie sich den Grad ihrer früheren Verlassenheit vergegenwärtigte. In den letz ten Jahren war sie von einer nicht abreißenden Pechsträhne verfolgt worden. Das einzige Glück, das ihr zugefallen war, war das Erbe Tan te Friedas, und ihm verdankte sie es letzten Endes, daß sie Christopher kennen gelernt hatte. Sonst aber kündigte sich jetzt ein neues Glied in der Kette ihrer Prüfungen an. Darum wäre sie gern mit Heli fortge fahren, um wenigstens einige Tage lang mit keiner Gefahr rechnen zu müssen. Freilich bedeutete das auch, Christopher so lange nicht sehen zu können. Das war der Preis, den sie für ein bißchen freies Atmen be zahlen mußte. Nachdem ihm Mildred alles erzählt hatte, war Christopher nicht sehr eingenommen für ihren Plan. 82
»Ich hatte mir schon selbst überlegt, wie man Sie für einige Zeit ver schwinden lassen könnte, am besten so, daß es aussähe, als seien Sie überhaupt weggezogen oder doch für länger verreist. Das Angebot von Fräulein Weiß wäre eine kurzfristige Lösung in dieser Richtung, aber sonst ziemlich bedenklich. Sie setzt sich ohne Wissen seiner Frau in das Ferienhaus eines Mannes, dessen Verhältnis sie ist. Keine sehr sau bere Sache. Ich wüsste Sie nur ungern darein verwickelt.« »Aber Heli scheint ein anständiges Mädchen zu sein. Ich hörte sie zu Mona Schneider sagen, daß es für sie nie in Frage käme, sich aushalten zu lassen. Sie nehme nur bescheidene Geschenke an, das genüge ihr. Daß sie den Mann liebt, ist wahrscheinlich ihr Verhängnis, denn die se Liebe hat wohl kaum eine Zukunft. Sie tut mir darum eher leid, als daß ich sie verurteilen möchte.« »Sie haben recht, man kann seinen Gefühlen nicht befehlen. Dage gen müßte sie die Kraft haben zu verzichten, wenn der Mann schon ei ner anderen Frau gehört.« »Vielleicht ist er unglücklich in seiner Ehe …« »Das sagen die meisten Männer, wenn sie eine Untreue begehen. Die Tatsache, daß er ihr verspricht, sich scheiden zu lassen, und es nicht hält, beweist ziemlich klar, daß es mit der Ehe nicht so schlecht steht, wie er sie glauben machen will.« »Sie raten mir also, die Einladung abzulehnen?« fragte Mildred ent täuscht. »So weit möchte ich nicht gehen. Ich will Sie nur warnen, daß Sie un ter Umständen in Unannehmlichkeiten verwickelt werden könnten.« »Ich bin aber doch eigentlich unbeteiligt.« »Nicht ganz, da Sie die Lage kennen.« »Die würde sich aber in nichts dadurch ändern, daß ich nicht mit ginge.« »Richtig. Ich merke, daß Sie gern fahren möchten.« »Ja. Ich stelle mir vor, was für eine Wohltat es für mich wäre, mich ein paar Nächte ohne Angst ins Bett legen zu können.« »Das ist nur zu begreiflich. Übrigens ist in meinem Haus leider keine Studiowohnung frei, aber der Hauswart hat Sie vorgemerkt. Er hat mir 83
bestätigt, daß diese Wohnungen öfters gewechselt werden. Ich kann Ih nen nicht sagen, wie froh ich wäre, wenn Sie nicht mehr hier wohnten.« »Würden Sie es mir übel nehmen, wenn ich mit Heli führe?« Er schaute sie überrascht an. »Wie könnte ich? Ich habe doch nicht das mindeste Recht, Ihnen vor zuschreiben, was Sie tun sollen.« »Wenn ich Ihnen dieses Recht aber freiwillig einräume …« »Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß Sie sich nicht so von mir abhängig machen dürfen.« »Ja«, gab sie kleinlaut zu. »Aber es geht mir wie Heli: Ich kann nicht anders.« Das Haus war erreicht, und Christopher war froh, sich verabschie den zu können. »Was machen Sie so lange mit den Katzen?« fragte er im letzten Augenblick. »Heli hat mir drei untergebracht. Ich bringe sie ihr morgen. Für das vierte habe ich noch niemanden. Die Alte hat sich früher auch selbst ernährt und müßte es vorübergehend wieder tun. Ich kann ihr auch etwas Vorrat zurücklassen.« »In Gottes Namen!« sagte Christopher mit einem drolligen Seufzer. »Dann werde ich wohl in den sauren Apfel beißen und den kleinen Pensionär zu mir nehmen müssen. Nimmt er schon etwas anderes zu sich als Milch?« »Es gibt Spezialfutter in Büchsen, ich könnte Ihnen eine mitgeben. Es ist schrecklich nett von Ihnen, daß Sie sich mit dem Tierchen bela sten wollen.« »An sich macht mir das nichts aus, nur ist das Kätzchen sicher noch nicht stubenrein?« »Bei mir haben sie ein Kistchen, aber meine Erziehungsversuche ha ben noch wenig Erfolg gehabt. Ich hatte eigentlich gehofft, wenn man sie von so klein an daran gewöhne, würden sie es kapieren.« »Ich könnte versuchen, die Erziehung fortzusetzen. Auf jeden Fall hole ich Kistchen und Katze am Sonntagabend ab. Paßt Ihnen das?« »Da ich nie ausgehe, ist mir jede Zeit recht. Klingeln Sie bitte drei mal, damit ich weiß, daß Sie es sind.« 84
Sie gaben einander die Hand, und Mildred stürzte sofort hinauf in ihr Schlafzimmer, von dessen Fenster aus sie noch einen Blick auf ihn zu erhaschen hoffte. Die schlechte Beleuchtung war allerdings ihrer Absicht nicht hold. Als sie sich vom Fenster umdrehte, fuhr ihr ein ei siger Schreck durchs Herz: Die Pistole, die immer auf ihrem Nacht tisch gelegen, war verschwunden! »O Gott!« hauchte sie vernichtet. »Jemand ist im Haus gewesen!« Sie hatte weder den Mut noch die Kraft nachzusehen, ob der Ein dringling noch da war. Der einzige Gedanke, der sie beherrschte, war, Christopher zu Hilfe zu rufen. Sie ließ die Haustür sperran gelweit offen und rannte wie eine von Furien Gehetzte hinter ihm her. Er ging schnell und war schon fast bei seinem Wagen ange kommen, als ihr verzweifelter Ruf ihn erreichte. Bestürzt drehte er sich um. »Um Himmels willen, was ist geschehen?« Sie strauchelte, halb von Sinnen vor Angst; er fing sie auf. Sie zitterte zum Erbarmen. »M-meine Pistole – i-ist w-weg!« stotterte sie und klammerte sich, ohne sich über ihr Tun Rechenschaft abzulegen, an ihn. »Sind Sie sicher? Vielleicht haben Sie sie anderswo hingelegt?« »Ausgeschlossen«, sagte sie, und ihr keuchender Atem beruhigte sich ein wenig. »Seit ich hier wohne, lag sie immer am gleichen Ort. Ich nehme sie nur in die Hand, wenn ich Staub wische, und lege sie immer wieder an ihren Platz zurück. Heute morgen, als ich aufstand, sah ich sie noch dort.« »Steigen Sie in den Wagen, wir fahren zurück. Vor allem müssen wir das Haus durchsuchen. Gibt es dort Winkel, wo sich jemand verstek ken könnte?« Sie zitterte noch immer vor Angst. »Auf dem Estrich, vielleicht.« »Wir werden das gleich feststellen. Allerdings haben wir von vorn herein schlechte Karten, wenn er Ihre Pistole hat. Vielleicht kriege ich ihn aber zu fassen. Seit ich Sie kenne, habe ich Unterricht in Judo ge nommen.« Er grinste ein wenig. »Da Sie ständig von Gefahr redeten, sagte ich mir, es sei vielleicht angebracht, es zu lernen.« Als er die of 85
fene Haustür sah, schüttelte er missbilligend den Kopf. »Sie machen es den Unholden aber leicht!« »Ich hatte Angst, Sie könnten schon fortgefahren sein. An etwas an deres konnte ich nicht denken.« In der Diele stand auf einer Kommode eine kleine Bronzestatue des Ikarus. Er wog sie in der Hand. »Nicht schlecht als Waffe. Die wollen wir zur Vorsicht mitnehmen.« Sie durchsuchten das Haus vom Giebel bis zum Keller, fanden aber niemanden. »Er ist gegangen und hat wieder zugeschlossen. In Schlössern scheint er Spezialist zu sein. Es wäre vielleicht richtig nachzusehen, ob er et was gestohlen hat. Verwahren Sie Geld im Haus?« »Ja, ein wenig in meinem Nachttisch, aber ich habe vorhin die Schub lade aufgezogen, es ist noch da.« »Dann schlage ich vor, daß wir uns erst einmal setzen und berat schlagen, was zu unternehmen ist.« Mildred führte ihn in das Biedermeierzimmer, für dessen altväteri schen Charme er sofort ein paar lobende Worte fand. Er konnte sich allerdings in dieser gruftartigen Atmosphäre der ewig geschlossenen Fensterläden nicht voll entfalten. Mildred war nicht in der Lage, sich über Christophers anerkennende Worte zu freuen. Er fand, daß sie er schreckend blaß war, und fragte, ob sie zufällig etwas Alkoholisches im Haus habe. Sie verneinte es und entschuldigte sich. »Ich wollte es nicht für mich, aber Sie sehen aus, als brauchten Sie eine Aufmunterung.« »Oh, solange Sie hier sind, geht es mir einigermaßen. Nachher aber … Es wird eine lange, böse Nacht werden.« »Jedenfalls nicht hier. Sie werden sich doch nicht einbilden, daß ich Sie jetzt hier lasse?« »Wo – wo sollte ich denn sonst hin?« »Das eben wollen wir uns überlegen. Es ist nun klar, daß Sie mit Heli fahren müssen. Wir sollten etwas inszenieren, das ihn glauben macht, Sie hätten sich vertreiben lassen. Allerdings müßten Sie dann alle Ihre persönlichen Sachen mitnehmen, damit er, wenn er inspizie 86
ren kommt, die Schränke leer findet. Am besten fangen Sie gleich mit Packen an.« »Das wird schnell getan sein. Die beiden Überseekoffer, mit denen ich hier angekommen bin, sind noch fast unangetastet, und für Kan dersteg genügt mir ein kleinerer.« »Verschließen Sie sie. Wenn Sie mir einen Hausschlüssel geben, könnte ich sie morgen abholen und einlagern lassen, bis Sie eine neue Wohnung gefunden haben. Nach diesem Schrecken haben Sie wohl eingesehen, daß Sie eine andere Bleibe brauchen?« »Ja, aber wo soll ich inzwischen hin?« »In eine Pension – vorläufig. Es sind ja nur noch drei Tage bis zu Ih rer Abreise. Haben Sie genug Geld?« »Fürs erste ja. Dann kann ich etwas von der Bank abheben.« »Wenn ich hier nur besser Bescheid wüsste!« »Ich mache Ihnen so viele Scherereien. Haben Sie auch an die Katzen gedacht? Die könnte ich doch nicht in eine Pension mitnehmen.« »Schwerlich. Aber sie können bis morgen bei mir bleiben. Bevor ich in die Textilia gehe, verstaue ich die drei in Frage kommenden in mei nem Wagen, hier haben Sie den Reserveschlüssel. Sie können sie dann in der Mittagspause abholen. Ich zeige Ihnen nachher meinen Park platz. Meine Autonummer ist 49.507, können Sie das behalten? Milch habe ich zu Hause, aber Katzenfutter nicht. Sie wollten mir doch etwas mitgeben? Mir ist wahrhaftig, als hätte ich plötzlich eine Familie, für die ich sorgen müßte. Ziemlich aufregend für einen Junggesellen.« Sie merkte, daß er sie aufheitern wollte, und lächelte ihm etwas müh sam zu, bevor sie das Verlangte holen ging. »Ich habe leider nicht einmal eine neue Zeitung, mit der Sie sich die Zeit vertreiben könnten, während ich packe. Nachher müssen Sie mir aber erlauben, ein kleines Abendessen für uns zuzubereiten. Ich habe noch einige Eier, die gebraucht werden müssen, Tee, genügend Brot und etwas Käse. Sie müssen eben vorlieb nehmen. Ich lebe sehr ein fach.« »Daher die tadellose Linie«, scherzte er, und sie errötete unter sei nem anerkennenden Blick. Ihres Wissens war es das erste Mal, daß er 87
sie ansah, wie ein Mann eine Frau ansieht, für die er einiges Interesse empfindet. Sie machte aber nicht den Fehler, das zu überschätzen. ›Im Grunde‹, dachte sie, ›geht es mir nicht viel besser als Heli. Meine Liebe zu ihm ist ohne Hoffnung. Sobald ich mich auch nur mit einem Wort verrate, wechselt er das Thema oder sieht zu, daß er fortkommt. Ich muß mich eisern beherrschen, um ihm nicht lästig zu fallen.‹ Als sie später in der Wohnstube am gedeckten Tisch saßen und Chri stopher es sich schmecken ließ, während Mildred kaum etwas hinun terbrachte, fiel ihm, der bisher nachdenklich geschwiegen hatte, plötz lich etwas ein. »Jetzt weiß ich, bei wem ich mich nach einer Bleibe für Sie erkundi gen kann, Mildred. Es gibt eine kleine Kneipe, nicht sehr weit von der Textilia, aber ziemlich versteckt in einer engen Gasse. Dort war ich bis vor kurzem so etwas wie Stammgast, besonders im Sommer, wenn ich Durst hatte. Ich fühlte mich dort wohl und mochte den alten Wirt und seine Frau gut leiden. In letzter Zeit bin ich nicht mehr hingegan gen, weil ich einmal auf Weißgerber gestoßen war. Hoffentlich haben mir die alten Leutchen mein Wegbleiben nicht übel genommen. Wenn wir hier fertig sind, fahren wir dorthin. Ich bin sicher, daß sie etwas Passendes für Sie wissen. Durch die Wirtschaft müssen sie eine Men ge Leute kennen.« Mildred wusch noch das Geschirr ab und stellte es an seinen Platz zurück. Bevor sie das Haus verließen, vergewisserten sie sich, daß es, musterhaft aufgeräumt, unbewohnt wirkte. Christopher trug das Kat zenkörbchen mit dem anderen Zubehör zum Wagen. Es erleichterte den Abtransport, daß die Katzenmutter wieder einmal auf Jagd ge gangen war. »Ob sie ihre Jungen wohl vermisst?« fragte Mildred besorgt. »Hoffentlich ist sie nicht zu unglücklich.« Christopher erwiderte nichts. Er warf forschende Blicke in die näch ste Umgebung und tat, nachdem er die Tierchen verfrachtet hatte, noch ein übriges: Er nahm eine starke Stablampe aus dem Wagen und leuchtete die Straße, ein Stück der Weide und Mildreds Garten damit ab. Soviel er sehen konnte, trieb sich niemand in der Nähe herum. 88
»Die Luft ist rein«, stellte er befriedigt fest. Mildred war dessen nicht so sicher, wollte es ihm aber nicht sagen. Sie bezweifelte stark, daß sich ihr Verfolger von ihrem vorübergehenden Auszug täuschen ließ. Da Christopher, der noch nie mit dieser Sorte Menschen zu tun gehabt hat te, es jedoch zu glauben schien, wollte sie ihn nicht entmutigen. Es war noch früh genug, wenn er selbst merkte, daß derart harmlose Tricks ei nen mit allen Wassern gewaschenen Gangster nicht irreführen konn ten. Für die nächste Zeit wenigstens war sie in Sicherheit, ein herrlicher Gedanke! Sie hatte schon vergessen, wie es war, ohne Angst zu leben. Christopher, mit Mildred im Schlepptau, wurde von den alten Wirts leuten freudig begrüßt. »Lange nicht mehr dagewesen, Herr Witt. Meine Frau und ich fürch teten schon, Sie seien uns untreu geworden.« »Ja«, stimmte diese zu, »und noch jemand hat Sie vermisst und mehr mals nach Ihnen gefragt: Ein älterer Herr mit einem schönen schwar zen Hund. Das letzte Mal, als Sie hier waren, hatten Sie mit ihm zu sammengesessen.« »Kommt er jetzt öfters hierher?« »In letzter Zeit nicht mehr. Die Lust war ihm wohl vergangen, weil Sie nie da waren.« »Gerade seinetwegen bin ich weggeblieben. Er ist Buchhalter in der gleichen Firma. Ich mag ihn nicht besonders.« »Scheint sich vereinsamt zu fühlen«, sagte die Wirtin, die ein mitlei diges Herz hatte. »Und wie gut er zu dem Hund ist! Immer bekommt er eine Wurst, wenn wir nicht zufällig ein paar Knochen für ihn ha ben.« Christopher bestellte sich ein Bier und Mildred eine Zitronenlimo nade. Als der Wirt wieder einmal an ihren Tisch kam, trug Christo pher ihm ihr Anliegen vor. »Ein Zimmer für drei Tage? Da muß ich Mutter fragen, die weiß viel leicht etwas. Es sei denn – aber ich will mir nicht zu früh den Mund verbrennen.« Er verschwand durch die Tür hinter der Theke, die in die Küche führte. Wenig später kam er mit seiner Ehehälfte wieder zum Vorschein. 89
»Wenn das Fräulein vorlieb nehmen würde, hätte ich schon eine Kammer für sie. Ich vermiete sie sonst nicht, aber wenn es nur für drei Tage wäre und wir Herrn Witt einen Gefallen tun könnten …« Mildred lächelte ihr dankbar zu, sah aber gerade noch, wie der Wirt Christopher verständnisinnig zuzwinkerte. ›Er hält mich für sein Mädchen‹, dachte sie und wurde über und über rot. Sie stieg hinter der Wirtin eine steile Treppe hinauf und besichtigte ihre neue Residenz. Es roch ein wenig muffig hier drinnen, war aber sonst ein freundliches, sauberes Kämmerchen mit einer altmodischen Rosentapete und weiß gestrichenen Möbeln. »Hier hat unsere Tochter vor ihrer Heirat gewohnt. Sie konnte die Sa chen nicht mitnehmen, weil sie in Johannesburg leben. Hart für eine Mutter, ihr Kind so weit weg zu wissen, zumal sie unsere Einzige ist. Aber was will man! Wo die Liebe hinfällt … Jedenfalls hat sie einen guten Mann und zwei reizende Kinder. Ich zeige Ihnen dieser Tage einmal ihre Bilder.« Nachdem Mildred ihre Nachtsachen ausgepackt hatte, ließ sie die für ihren augenblicklichen Zustand zu geschwätzige Wirtin allein das Bett überziehen und ging wieder hinunter. Christopher hatte sich eine Zei tung genommen und las darin. »Nun«, fragte er aufblickend, »alles in Ordnung?« »Ja, es ist ein sehr nettes Zimmerchen. Ich werde mich dort wohl fühlen –« »Und bestens betreut werden, dessen bin ich sicher. Sehen Sie, nun hat sich nach dem Schrecken alles in Wohlgefallen aufgelöst.« »Ja, vorläufig«, sagte Mildred pessimistisch. »Aber nach einer kurzen Zeitspanne werde ich doch wieder dorthin zurück müssen, das bleibt mir nicht erspart.« »Vielleicht hat er bis dahin die Geduld verloren –« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Sie kennen ihn nicht, und hoffentlich bleibt Ihnen das auch er spart.« »Machen Sie mir jetzt nicht den Kummer, den Kopf hängen zu las sen, nachdem wir uns bisher ganz gut aus der Affäre zogen.« 90
»Sie haben recht. Denken Sie ja nicht, daß ich undankbar sei. Ich kann nichts dafür, daß die Vergangenheit wie ein Bleigewicht an mir hängt.« »Glauben Sie, daß Sie heute nacht schlafen können?« fragte er ablen kend. »Ich weiß nicht – der Schreck ist noch zu frisch, aber ich werde mir Mühe geben.«
VIII
E
s kostete Christopher einen gewissen Kampf mit Weiler, bis er Mildred freibekam. »Ist im Dekorsaal eine Ferienepidemie ausgebrochen?« fragte dieser grollend. »Die Simons ist erst fünf Monate hier.« »Trotzdem hat sie auch in diesem Jahr schon Anrecht auf einige Tage Ferien.« »Acht höchstens und nicht gleichzeitig mit der Weiß.« Christopher sah ein, daß er nicht darum herum kam, Weiler teilwei se ins Vertrauen zu ziehen. »Es ist keine Laune von ihr. Die Sache ist die, daß ihr ehemaliger Ehe mann sie aufgespürt hat und sich für die Scheidung an ihr rächen will. Er ist kürzlich während ihrer Abwesenheit in ihr Haus eingedrungen und hat ihr die Pistole weggenommen, die sie zu ihrer Verteidigung besaß. Das läßt darauf schließen, daß er sie wehrlos machen wollte.« »Teufel noch mal! Das hört sich ja hochdramatisch an. Sind Sie si cher, daß die Simons Ihnen die Wahrheit sagt?« »Ganz sicher. Sie werden jetzt verstehen, daß sie gern ein paar Tage von hier verschwinden möchte. Es ist zwar nur eine schwache Hoff nung, aber vielleicht gibt er das Rennen auf, wenn er denken müßte, sie sei ausgerissen. Auf jeden Fall hätte er Zeit, sich etwas abzukühlen.« 91
»Sie hatte ihn wohl betrogen? Offen gestanden, hätte ich ihr das nicht zugetraut. Sie sieht aus, als könnte sie kein Wässerchen trüben.« »Die Dinge liegen nicht so einfach. Ein anderer Mann war nicht im Spiel. Es handelt sich eher um Geld, das ihm entgangen ist, und wofür er sich rächen will.« »Nun weiß ich auch, warum sie in der ersten Zeit so bedrückt war und kaum mit jemandem sprach. Letzthin schien sie etwas aufzule ben. Sie hatte wohl gehofft, die Gefahr sei vorüber. Ist der Kerl denn so rabiat, daß er ihr etwas antun könnte?« »Sie scheint es zu fürchten. Er ist schon einmal für eine Gewalt tat verurteilt worden, darum konnte sie ohne seine Einwilligung die Scheidung erwirken.« »Da scheint sie sich etwas Schönes eingebrockt zu haben.« »Sie war erst neunzehn und sehr unerfahren, als sie ihn heiratete.« »Nun, unter diesen Umständen werde ich wohl nachgeben müssen. Acht Tage, ab sofort, denke ich?« »Nein, erst ab Montag, dann kann sie am Sonntag abreisen. Sie fährt mit Fräulein Weiß. Aber ich denke, zehn Tage könnte man ihr zubil ligen?« »Ausgeschlossen. Damit würde man einen Präzedenzfall schaffen.« »Wenn sie den Preis angenommen hätte, der ihr zustände, müßten Sie sogar vierzehn Tage ohne sie auskommen.« »Was?! Soll das heißen –« »Ja, der Entwurf ›Geranium‹ stammt von ihr. Sie hat ihn anonym eingereicht, weil sie in ihrer Situation jede Publizität vermeiden muß te. Sie waren also auf der richtigen Spur.« »Als ich Sie damals fragte, wußten Sie es noch nicht, oder?« »Nein, ich vermutete es, genau wie Sie.« »Sie hat der Textilia diesen großartigen Entwurf geschenkt und da durch zumindest einen moralischen Anspruch auf Gegenleistung. Sa gen wir: zwei Wochen. Ich zähle auf Sie, daß Sie das dem Personalchef schmackhaft machen.« »Keine Sorge. Seit einigen Monaten fallen die Ferien in meine Kom petenz.« 92
»Um so besser.« »Ich freue mich, daß Sie eingelenkt haben. Immer klüger, einen Prä zedenzfall zu schaffen, als eine so wertvolle Kraft zu verlieren.« »Hätte sie denn sonst gekündigt?« fragte Weiler ehrlich erschrok ken. »Ich befürchte es«, sagte Christopher diplomatisch. »Aber fühlt sie sich denn nicht wohl bei uns?« »Doch, aber fliehen ist ein natürlicher Reflex bei einem bedrohten Menschen.« »Verlieren dürfen wir sie auf keinen Fall. Um das zu verhindern, wäre ich noch zu ganz anderen Konzessionen bereit.« »Sagen wir – zu drei Wochen?« »Sie sind ein Erpresser, Witt.« »Ich bin eben vielseitig«, lachte Christopher. »Nein, im Ernst: Bedeutet die Simons Ihnen so viel?« »Sagen wir, ich nehme starken Anteil an ihrem ungewöhnlichen Schicksal.« »Eine Scheidung ist heutzutage nicht mehr ungewöhnlich –« »Wohl aber, daß eine Frau noch jahrelang deswegen verfolgt wird.« »Das war es also, das sie so sonderbar machte.« »Sie lebte und lebt noch in ständiger Furcht. Sie können mir glauben, daß das kein beneidenswerter Zustand ist.« »Gewiß nicht. Aber – wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Lassen Sie sich nicht von Ihrem Mitleid zu Unbesonnenheiten hinreißen. Sie könnten den Zorn dieses Ex-Ehemanns sonst auch noch auf sich zie hen. Das wäre keine gute Voraussetzung für eine glückliche Ehe.« »Aber ich bitte Sie! Von einer Heirat kann überhaupt keine Rede sein.« »Das wollte ich hören. Es beruhigt mich.«
Wenn diese Unterredung nach Lage der Dinge eine Notwendigkeit dargestellt hatte, war das bei der zweiten, die er anderntags ohne Wis 93
sen Mildreds unternahm, nur in seinen Augen der Fall. Er suchte Weißgerber in seinem Büro auf. Dieser empfing ihn mit seiner übli chen Unfreundlichkeit; die Zeit der Konfidenzen schien endgültig vor bei. Wahrscheinlich, mutmaßte Christopher, hatte er auch begriffen, warum er jenes Lokal die ganze Zeit gemieden hatte. »Was gibt's? Beeilen Sie sich, ich habe zu tun.« »Eine private Frage: Haben Sie inzwischen eine Wohnung mit Gar ten gefunden?« Sofort änderte sich Weißgerbers mürrisch-gelangweilter Ausdruck. »Nein. Wüssten Sie eine?« »Besser noch: Ein kleines Haus, mit einem Garten von schätzungs weise 130 Quadratmetern. Würde Sie das interessieren?« »Und ob! Das heißt, wenn die Miete erschwinglich wäre.« »Ich glaube, Ihnen versichern zu können, daß Sie sich darüber eini gen würden. Das Haus steht aber in einem Außenquartier, jedoch mit guter Busverbindung in etwa sieben Minuten Entfernung. Wäre das für Sie ein Hindernis?« »So bequem wie bei meiner jetzigen Wohnung würde es nicht sein. Das nähme ich aber des Gartens wegen in Kauf. Schließlich kann ich dann in der Kantine essen. Ich habe einsehen müssen, daß es weder im Zentrum noch in der Nähe eine Möglichkeit gibt, zu einem Garten zu kommen. Wie viele Zimmer hat das Haus?« »Vier und eine Dachkammer.« »So groß sollte es eigentlich nicht sein. Meine Frau wird zetern we gen der Mehrarbeit. Warum will der Besitzer es denn vermieten? Oder wohnt er jetzt nicht darin?« »Es handelt sich um eine allein stehende Person, der das Haus zu groß ist. Augenblicklich ist sie abwesend, aber ich habe den Schlüssel. Möchten Sie es einmal besichtigen? Sagen wir am Sonntagmorgen, so gegen zehn Uhr?« »Das würde ich gern tun«, versicherte Weißgerber und zauberte ein gewisses Strahlen auf sein großflächiges Gesicht. Es veränderte ihn derart, daß man den mürrischen Kauz fast nicht wieder erkannte. »Sie wissen, wo ich wohne. Es ist nicht weit von Ihnen. Holen Sie 94
mich bitte um zehn Uhr ab. Wir können dann mit meinem Wagen hinfahren.« »Ich hätte gar nicht gedacht, daß Sie das für mich täten. Es ist lange her, daß wir über meine Wohnungsnöte gesprochen haben. Eigentlich nahm ich an, Ihr damaliges Angebot, für mich herumzuhören, sei nur eine Redensart gewesen. Ich muß Ihnen das abbitten.« »Schon gut. Wie geht es Brutus?« »Donnerwetter! Haben Sie ein Gedächtnis. Ich wußte nicht einmal, daß ich Ihnen seinen Namen gesagt hatte. Es geht ihm soweit gut. Er hat sich wieder etwas gerundet. Wenn er weiter so wenig Auslauf hat, wird er vielleicht mit der Zeit zu dick werden wie sein Herr.« Weißger ber lachte. Es klang irgendwie misstönend, als seien seine Stimmbän der eingerostet. »Nun, vielleicht gibt es nun bald Abhilfe für ihn. Auf Sonntag also!« »Abgemacht und – danke.« »Warten Sie damit, bis Sie das Haus gesehen haben.«
Seit er sie bei den Wirtsleuten einquartiert hatte, war kein Abend ver gangen, ohne daß Christopher Mildred kurz besucht hätte. Der Ge fahr wenigstens momentan entrückt, schien sie aufzuleben. Er hatte sie noch nie so hübsch gesehen. Zwar war er nicht sehr sachverstän dig, aber er hatte den Eindruck, daß die Farbe auf ihren Wangen nicht von kosmetischer Nachhilfe stammte. Ihre Augen, die er immer schön gefunden, strahlten ihn an, aber immer nur einen Augenblick. Dann senkte sie die Lider, als sei ihr bewußt, wie verräterisch ihr Ausdruck war. Christopher hegte über ihre Gefühle für ihn keinen Zweifel mehr. Die Vernunft hätte verlangt, daß er jedes Zusammensein mit ihr mied, um die unerwünschte Flamme nicht auch noch zu schüren. Seltsamer weise brachte er das nicht über sich. Gewisse Ansätze dazu hatte er nicht durchgehalten. Es war, er mußte sich das eingestehen, nicht nur sein starkes und ehrliches Mitleid, das ihn zu ihr zog, er fühlte sich auch wohl in ihrer Gegenwart. Sie hatte erstaunlich vielseitige Inter 95
essen und ihre Einsamkeit dazu benutzt, sehr viel und recht gute Bü cher zu lesen. In ihrem Wohnzimmer befanden sich mindestens zwei Dutzend verlagsneue Bände, die sie sich anscheinend in letzter Zeit an geschafft hatte. Auf seine Frage hatte sie ihm einmal geantwortet, daß sie die Buchkritiken in der Zeitung aufmerksam verfolge. Manchmal stießen sie im Gespräch auf ein Werk, das sie beide gelesen hatten, und es entspann sich eine Debatte darüber. Mildred war alles andere als dumm. Es war ungerecht, daß ein Geschöpf mit so vielen Vorzügen so hartnäckig vom Schicksal verfolgt wurde.
Am Sonntagmorgen fand Weißgerber sich, in Begleitung von Bru tus, auf die Minute pünktlich bei Christopher ein, der gerade von dem Treffpunkt zurückkam, an dem Mildred und Heli von deren Freund abgeholt wurden. Er hatte sich in einiger Entfernung von ihr verab schiedet, um den Mann nicht nervös zu machen. Wer ein Doppelle ben führte, mußte wohl auf der Hut sein. Brutus hatte sofort die klei ne Katze erschnuppert, aber er stieß sie nur mit der Nase ein wenig an, ohne ihr weh zu tun. Da sie noch so klein war, nahm er sie wohl nicht für voll. »Sie überraschen mich, Herr Witt. Ich hätte nie gedacht, daß Sie sich eine Katze halten, eher schon einen Hund.« »Sie ist nur zu Besuch bei mir, während eine Bekannte verreist ist. Si cher aber ist sie leichter in einer Wohnung zu halten als ein Hund. Man muß sie nicht spazieren führen –« »Aber sie ist nicht anhänglich«, sagte Weißgerber prompt, »man hat nichts davon.« Stolz schaute er auf seinen Brutus, der kein Auge von ihm ließ. Unterwegs gab sich der Buchhalter sehr aufgeräumt. Er tat, als habe er das Haus schon in der Tasche, während Christopher mit schlechtem Gewissen und dem Bewußtsein, seine Kompetenzen zu überschreiten, neben ihm saß. Immerhin war Mildred jetzt reif für einen endgülti gen Szenenwechsel. Er traute sich zu, ihre Abneigung, Weißgerber als 96
Mieter anzunehmen, zu besiegen. Als sie an Ort und Stelle waren, ging dieser zuerst um das Haus herum, um die Größe des Gartens festzu stellen. Er schien ihm wichtiger als das Objekt selbst. »Wie gefällt Ihnen das Haus – von außen?« »Es hat gut und gern seine fünfzig Jahre auf dem Buckel, scheint aber leidlich instand gehalten zu sein. Mit den geschlossenen Läden wirkt es etwas streng. Ich bin gespannt, wie es im Innern aussieht. Wenn es nicht schlimmer ist als das Äußere, nehme ich es – vorausgesetzt, daß ich die Miete erschwingen kann.« »Ich werde mich darüber orientieren, sobald die Besitzerin zurück gekehrt ist. Angenommen, natürlich, daß das Haus für Sie in Frage kommt.« Jedes Haus und jede Wohnung hat ihren spezifischen Geruch, mag er noch so schwach sein. Ein Mensch mit einem gut entwickelten Riech vermögen wird ihn immer wahrnehmen. Kaum hatte Christopher mit Weißgerber die kleine Diele betreten, stieg ihm ein unangenehmer Ge ruch nach menschlichem Schweiß und Alkohol in die Nase, der vor her nicht vorhanden gewesen. Hier mußte sich ein Fremder aufgehal ten haben, und nicht nur vorübergehend. Im gleichen Augenblick hör te er oben ein Geräusch, als ob jemand leise eine Tür geschlossen hät te. Auch Weißgerber hatte es gehört. »Da ist doch jemand im Haus«, sagte er. »Die Besitzerin scheint zu rückgekommen zu sein. Hoffentlich nimmt sie es mir nicht übel, daß ich hier eingedrungen bin?« »Da Sie in meiner Begleitung gekommen sind, ist es in Ordnung. Üb rigens ist die Besitzerin erst heute morgen abgereist, kann daher un möglich schon zurückgekehrt sein. Wahrscheinlich war das, was wir gehört haben, eine Tür, die sich durch den bei unserem Eintritt entstan denen Luftzug geschlossen hat.« Christopher bemühte sich, selbst an eine solche Erklärung zu glauben, bis er mit Weißgerber die Küche be trat. Als Mildred und er sie verlassen hatten, war sie tadellos aufgeräumt gewesen. Jetzt stand gebrauchtes Geschirr neben einem angeschnitte nen Brot auf dem Tisch. Danach konnte er nicht länger daran zweifeln, daß sich tatsächlich jemand nach dem Fortzug Mildreds hier eingeni 97
stet hatte, wahrscheinlich der Dieb der Pistole. Christopher hatte Mühe, Fassung zu bewahren, zumal er keine Ahnung hatte, was der Feind jetzt im Schilde führte. Vielleicht hielt er sich in Anbetracht dessen, daß er es mit zwei Gegnern aufzunehmen hätte, versteckt. Zweifellos hatte er ih ren Rundgang durch den Garten beobachtet. Christopher glaubte sich jetzt auch zu erinnern, daß im ersten Stock ein Fensterladen nur ange lehnt gewesen war. Zu welchem Zimmer er gehörte, wußte er dagegen nicht. Wenn der Eindringling sie beobachtet hatte, mochte ihn Weiß gerbers kräftige Statur, vor allem aber der Hund gewarnt haben. Trug er jedoch die Pistole auf sich, spielte es keine ausschlaggebende Rolle, wie zahlreich die Widersacher waren. Weißgerber lief völlig ungezwungen überall herum. Der Glückliche! Er ahnte noch nicht, was ihnen mögli cherweise bevorstand. Christopher legte unbedingt Wert darauf, als er ster die Treppe hinaufzusteigen, was um so natürlicher wirkte, als ihm die Führung zustand. Weißgerbers laute Stimme schien durchs ganze Haus zu dröhnen. Das konnte aber, falls der Eindringling horchte, sei ne gute Seite haben. Da von der Vermietung des Hauses die Rede war, würde es ihn hoffentlich im Glauben bestärken, daß Mildred fortzie hen wollte. Sehr optimistisch war Christopher allerdings nicht mehr. Nachdem der Fremde so schnell erfahren hatte, daß sie nicht mehr hier wohnte, wäre das kaum realistisch. Er hatte es offenbar mit einem Mann zu tun, der mit allen Wassern gewaschen war. Oben erwartete Christopher eine neue Überraschung. Das Wasch becken im Badezimmer war schmutzig und das Bett zerwühlt. Ausge schlossen, daß Mildred diesen Zustand hinterlassen hatte. Während Weißgerber ihm den Rücken drehte, tastete er das Kissen ab: Es war noch warm. Er war nun sicher, daß sie den Kerl aufgescheucht hat ten. Eine kalte Wut bohrte in Christopher, weil dieser es gewagt hatte, Mildreds Bett zu benutzen. Einesteils lechzte er danach, sich mit ihm anzulegen, andererseits fürchtete er, den Mieter zu vergrämen. Er sah ihm ohnehin an, daß ihn die herrschende Unordnung, wenn sie auch nicht beträchtlich war, vor den Kopf stieß. »Meine Frau hat viele schlechte Seiten«, erklärte er, »aber wenn sie verreist, bleibt die Wohnung immer tadellos zurück.« 98
»Nun, sauber ist es hier«, sagte Christopher entschuldigend. »Es sieht so aus, als ob die Besitzerin verschlafen hätte, und dann alles im Stich lassen mußte, um ihren Zug noch zu erreichen.« »Ja«, räumte Weißgerber ein, »das wäre eine Erklärung. Die bei den Zimmer sind, wie ich gedacht hatte, genau wie die unteren, und das Bad liegt über der Küche. Das Haus wirkt auch gar nicht so groß. Könnten wir einmal die Läden aufstoßen, damit ich sehen kann, was für einen Blick man von hier aus hat?« Christopher willfahrte ihm und schickte ein Stoßgebet zum Him mel, daß Weißgerber die Dachkammer nicht zu besichtigen wünsch te. Dort oder im Estrich müßten sie unweigerlich auf den Eindringling stoßen. Der Schweiß brach ihm aus, als Brutus unbedingt die Boden treppe hinauf wollte und winselnd an der Leine zog. Sein Herr warf ei nen Blick auf die steile, unbequeme Treppe und zog ihn zurück. »Die Kammer werden wir doch nur als Abstellraum benützen, die interessiert mich nicht weiter. Wie steht es aber mit dem Keller? Ich habe einen ziemlichen Weinvorrat. Darum sollte er kühl und gut zu lüften sein.« Christopher hatte keine Ahnung, pries aber innerlich das Interes se seines Kollegen für diesen Teil des Hauses. Während sie die Treppe wieder hinuntergingen, fragte Weißgerber, ob er gegebenenfalls bald einziehen könnte. Er habe die Absicht, selbst einen Ersatzmieter für seine Wohnung zu suchen. Da sie im Zentrum liege, biete das wahr scheinlich keine Schwierigkeiten. Wenn er gewußt hätte, daß er be lauscht wurde, hätte er seine Sache nicht besser machen können. Der Keller wurde nicht gerade als ideal, aber als annehmbar befun den. »Die Heizung scheint erst nachträglich angebracht worden zu sein«, mutmaßte Weißgerber. »Sie ist verhältnismäßig modern, höchstens zehn Jahre alt. – Ja, Herr Witt, was mich betrifft, wäre ich einverstan den. Wann kann ich die Besitzerin treffen?« Sie standen unter der Haustür, bereit, fortzugehen, als Weißgerber diese Frage stellte. »Es ist ganz ungewiss, ob sie überhaupt zurückkommt. Ich werde mir 99
eine Vollmacht geben lassen und selbst mit Ihnen abschließen.« Weiß gerber schaute Christopher befremdet an, weil er plötzlich so schrie. »Was haben Sie denn? Ich bin doch nicht schwerhörig.« Er war aber so mit seinem Mietprojekt beschäftigt, daß er keine weiteren Fragen stellte. »Schließen Sie gut ab. Wenn Sie etwas vorhaben sollten, genieren Sie sich nicht. Fahren Sie mich nur bis zum Bus, das wäre mir sogar lieber. Ich könnte dann abstoppen, wieviel Zeit ich für den Weg brau che.« Als Weißgerber nach einer zuletzt etwas mühsam gewordenen Unter haltung umgestiegen war, fuhr Christopher auf dem schnellsten Weg zum Polizeipräsidium. Er dachte in seiner Aufregung nicht daran, daß es Sonntag war und sein guter Bekannter, Inspektor Heuß, dienstfrei sein könnte. Seine Enttäuschung war groß, als er ihn nicht vorfand. Man erlaubte ihm aber, in dessen Wohnung anzurufen, und er war sofort bereit, Christopher anzuhören, bevor er zum Fischen wegfuhr. Der dadurch entstehende Zeitverlust machte Witt erheblich nervös; doch wollte er sich keinem anderen Beamten anvertrauen. Er handel te ohnehin auf eigene Faust, hatte aber keine Möglichkeit, Mildred um Erlaubnis zu fragen. Nachdem die Dinge diese Wendung genommen hatten, befand er sich in einer gewissen Panikstimmung, weil er sich Mildreds Adresse nicht hatte geben lassen. Eine Korrespondenz zwi schen ihnen hatte ihm nicht wünschenswert geschienen. Jetzt stellte er sich aber mit Grauen vor, was geschehen könnte, wenn Mildred vor zeitig zurückkäme und sich plötzlich dem gefürchteten Widersacher gegenübersähe. Sie hatte sich bezüglich der Dauer ihrer Abwesenheit nicht festgelegt. Zuerst wollte sie sehen, wie es ihr in diesem kleinen Bergdorf gefiel, vor allem aber, wie sich das Zusammenleben mit Heli gestalten würde. Da sie einander im Grunde nicht wirklich kannten, war es ein gewagtes Experiment. Christopher bezweifelte stark, daß eine nur mit dem Ortsnamen versehene Botschaft sie erreichen wür de. Hätte er wenigstens gewußt, wie der Name von Helis Freund laute te, dann wäre ein Versuch schon aussichtsreicher gewesen. So konnte er nur hoffen, daß die Polizei jetzt einschreiten, den Kerl wegen Haus 100
friedensbruch verhaften und ihm die Lust zu gleichen Unverschämt heiten nehmen würde. Es blieb Christopher nichts anderes übrig, als Inspektor Heuß Mild reds Leidensgeschichte, soweit er sie kannte, zu erzählen. Er fand einen aufmerksamen Zuhörer. Auf amerikanische Gangster war man hier allergisch. Zu Christophers Genugtuung telefonierte Heuß sofort mit der Zentrale und gab Anweisung, das Haus zu durchsuchen. »Seid vorsichtig, der Kerl ist bewaffnet, und gebt acht, keine Spuren zu verwischen. Wenn ihr ihn habt, fordert die Spurensicherung an. Wenn es sich um den Mann handelt, den ich vermute, hat er bereits in Amerika, im Staat Virginia, im Zuchthaus gesessen. Hat er falsche Papiere, können wir ihn anhand seiner Fingerabdrücke identifizieren. Ihr könnt euch von Herrn Witt, der die Anzeige erstattet, den Haus schlüssel geben lassen. Er erwartet euch in der Nähe des Hauses. In nen an der Tür sollen sich zwei Riegel befinden. Sind sie vorgeschoben, kommt ihr dort nicht hinein; ihr müßt es dann durch ein Fenster ver suchen, auch wenn ein Holzladen dabei beschädigt wird. Beeilt euch, daß er uns nicht durch die Lappen geht.« Christopher hatte kurz einen Blick auf das Haus geworfen und fest gestellt, daß der Holzladen im ersten Stock jetzt richtig verschlossen war. Dann entfernte er sich wieder und wartete am Anfang der Stra ße auf die Polizei, um den Vogel nicht durch ein Verbleiben mißtrau isch zu machen. Ungeduldig trat er von einem Fuß auf den anderen. Dabei kam es ihm vor, als ob die Beamten die Ermahnung ihres Vor gesetzten, sich zu beeilen, nicht allzu wörtlich genommen hätten. Ein Blick auf die Uhr überzeugte ihn jedoch, daß viel weniger Zeit verstri chen war, als ihm geschienen hatte. Im gleichen Augenblick hörte er auch schon von ferne die Sirene der Polizei und ärgerte sich darüber. Seiner Meinung nach hätte man so leise wie möglich an das Haus her anfahren müssen. Er stoppte das Fahrzeug, übergab einem der Polizi sten den Hausschlüssel und fuhr hinterher. Als er ankam, hatten sie bereits die Haustür geöffnet. Es gab keinen Widerstand, die Riegel waren zurückgeschoben. Das machte Christo pher sofort stutzig. Nach seinem heutigen Besuch mit Weißgerber hät 101
te es für den Eindringling, wenn er noch da war, nahe gelegen, sich vor neuen Überraschungen zu sichern. Seine Ahnung bewahrheitete sich. Obschon die Beamten das Haus vom Keller bis zum Dachboden gründlich durchsuchten, fanden sie es leer. Das Brot war aus der Küche ebenso verschwunden wie die Sachen, die im Bad herumgelegen hat ten. Der Kerl hatte also Lunte gerochen und sich schleunigst davonge macht, bevor sich die Polizei in sein unbefugtes Eindringen mischen konnte. Christopher war tief enttäuscht. Er fühlte beinahe das Bedürf nis, sich bei den Beamten wegen der vergeblichen Mühe zu entschul digen. »Vor einer halben Stunde war er noch da. Mein Begleiter und ich ha ben ihn oben auf dem Boden gehört. Außerdem war das Haus, als ich vor einigen Tagen die Besitzerin abholte, in tadelloser Ordnung. Jetzt steht schmutziges Geschirr in der Küche, und das Bett ist zerwühlt.« »Wir haben eben Pech. Ich werde noch die Spurensicherung anfor dern. Er hat wohl kaum Zeit gehabt, alle seine Fingerabdrücke zu ent fernen, wenn er sich so fluchtartig absetzen mußte. Kann sein, daß sich ein interessantes Resultat ergibt.« »Hier werden Sie aber schwerlich Vergleichsmaterial von ihm besit zen. Es handelt sich ja ziemlich sicher um einen Amerikaner.« »Macht nichts, wir senden die vorgefundenen Fingerabdrücke durch Funk an die Federal Police in New York. Bei dieser Zentrale befinden sich die Fingerabdrücke aller Personen, die jemals in das Getriebe des amerikanischen Strafvollzugs geraten sind. Das Resultat können wir im günstigsten Fall noch heute nacht, sonst morgen auf alle Fälle ha ben. Dann werden wir wissen, mit wem wir es zu tun haben.« »Ich bin ziemlich sicher, daß er Bob Montero heißt. Vielleicht kann dieser Hinweis die Nachforschungen erleichtern.« Christopher ließ den Leuten den Schlüssel und machte sich bedrückt auf den Heimweg.
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elis Freund hielt es nicht für nötig, sich Mildred vorzustellen, was ihr sofort missfiel. Anscheinend hatte auch Heli Befehl, es zu un terlassen. Sichtlich war er nicht erbaut, sie mitnehmen zu müssen, und wollte es sie spüren lassen. Er blieb bei der Begrüßung am Steuer sitzen und überließ es Heli, für Mildred die hintere Tür zu öffnen, bevor sie selbst sich neben ihn setzte. »Mach den Sicherheitsgurt fest«, ermahnte er sie ziemlich barsch. »Ich kann mir keinen Unfall mit dir im Wagen leisten.« ›Was für ein Flegel‹, dachte Mildred und wäre am liebsten sofort wieder ausgestiegen. Vielleicht wäre es geschehen, wenn sie sich in ihr Haus zurückgetraut hätte. Jedenfalls fing die Reise schlecht an. Ob schon sie durch Bob in dieser Hinsicht nicht gerade verwöhnt wor den war, blieb sie als Folge ihrer sorgfältigen Erziehung allergisch ge gen schlechte Manieren. Anscheinend hielt dieser Kurt, wie Heli ihn nannte, sie für eine bessere Sorte Fabrikmädchen. Aufgrund seines Geldes glaubte er, sich ihnen gegenüber ein ruppiges Benehmen lei sten zu können. Mildred hatte erst diese wenigen Worte von ihm ge hört, und schon fragte sie sich, wie Heli es mit ihm aushielt. Aller dings korrigierte sie sich sofort selbst: Bob, der zwar höflich sein konn te, wenn er wollte, war dafür innerlich bis ins Mark schlecht gewesen, und doch hatte sie sich von ihm bezaubern lassen. Das lag aber so weit zurück und war von so vielem überschattet worden, daß sie es kaum mehr für möglich hielt; und doch war es zu ihrem unendlichen Scha den geschehen. Als sie aus dem Verkehr hinaus waren, begannen die beiden vorne, sich bruchstückweise zu unterhalten. Erst als man in die Autobahn einfuhr, verstummte der Mann wieder. Heli drehte sich von Zeit zu 103
Zeit um und lächelte Mildred zu, die diese Sympathiekundgebung et was gezwungen erwiderte. »Toller Wagen, was?« schrie sie ihr einmal zu, »schafft hundertfünf zig, und man merkt es kaum.« Bevor Mildred noch antworten konnte, wurde Heli von ihrem Begleiter zurechtgewiesen. »Dreh dich doch nicht dauernd um, das macht mich nervös«, schnauzte er sie an. »Wenn du unbedingt Unterhaltung brauchst, kannst du dich da hinten hinsetzen.« »Aber nein, Kurt«, sagte Heli demütig, »ich sehe dich so selten, da muß ich doch die Gelegenheit wahrnehmen, bei dir zu sein.« Mildreds Abneigung gegen Kurt wurde immer stärker, aber auch ihre Vorbehalte gegen Heli. Sie war kein neunzehnjähriges, unerfahrenes Ding mehr, wie sie, Mildred, es seinerzeit gewesen, sondern fast schon Mitte der Zwanzig. Wie konnte sie sich so behandeln lassen von einem Mann, der seine Versprechungen nicht eingehalten hatte und ihr keine Zukunft bieten konnte? Während ihrer besten Jahre blockierte er sie gewissenlos für jede andere Möglichkeit. Mildred war nicht sicher, den Mund halten zu können, falls Heli nachher während ihres Aufenthalts von ihrem Kurt schwärmen sollte. Er war zwar ein großer, stattlicher Mann, aber er hatte, das war ihr sofort aufgefallen, ein hartes Gesicht mit einer brutalen Kinnpartie. Zuerst beobachtete sie ihn im Spiegel, bis er es merkte und ihn verschob. Sie genierte sich ein bißchen, daß sie bei ihrem heimlichen Tun ertappt worden war. Für diesen Kurt war es sicher ein erhebliches Opfer gewesen, diese Unbekannte mitzuneh men. Daher seine schlechte Laune. Natürlich erhöhte jeder Mitwisser für ihn die Gefahr, daß seine Frau etwas von seinem Verhältnis erfuhr. Soweit konnte sie ihn verstehen und zur Not auch, daß er Heli für die ses ihm auferzwungene Opfer büßen ließ. Wie hatte sie es wohl ange fangen, ihn herumzukriegen? Das mußte nicht einfach gewesen sein. Anscheinend besaß sie aber doch mehr Einfluß auf ihn, als nach sei nem bisherigen Verhalten vermutet werden konnte. Vielleicht gab er sich auch ihrer, Mildreds, wegen absichtlich so brüsk, um dem Ver dacht, sie seien ein Liebespaar, von vornherein den Boden zu entzie hen. Sicher hatte er Heli so oft Diskretion gepredigt, daß er auch jetzt 104
nicht annahm, daß sie Mildred reinen Wein eingeschenkt hätte. Wenn es ihn beruhigte, konnte sie die Ahnungslose spielen; darauf kam es ihr nicht an. In Freiburg nahmen sie ein verspätetes Mittagessen ein. Kurt hat te dafür ein sehr einfaches Lokal ausgesucht, wahrscheinlich immer in Sorge, Bekannte zu treffen. Wie demütigend war das alles für Heli! Hatte sie denn gar kein Empfinden dafür? Oder war es das Schuldbe wusstsein der legitimen Frau gegenüber, das sie so bescheiden mach te? Mildred wurde nicht klug aus ihr. Wenn sie diesen Kurt wirklich so liebte, daß sie ihm alle ihre Zukunftshoffnungen opferte, mußte sie doch wegen des Vorhandenseins einer anderen Frau in seinem Leben grausam leiden. Zu der anderen kehrte er jeden Abend zurück, wäh rend sie nur gelegentlich Anspruch auf ein verstohlenes Stelldichein erheben durfte. Was für ein kümmerlicher Zustand für eine lieben de Frau! Beim Essen wurde Kurt etwas gesprächiger, obschon es alles ande re als kunstvoll zubereitet war. Mildred hatte den Verdacht, daß er jetzt ein wenig auftaute, weil er sicher sein konnte, sie bald loszuwer den. Er stellte ihr eine Reihe recht indiskreter Fragen, die sie mit größ ter Zurückhaltung beantwortete. Es rundete das Bild, das sie sich von ihm gemacht hatte, in bezeichnender Weise ab, daß er durchaus wis sen wollte, ob sie einen Freund habe. Als sie es verneinte, glaubte er ihr nicht. »Heli hat mir erzählt, daß Sie ein eigenes Haus haben und allein dar in wohnen. Sie werden mir doch nicht vormachen wollen, daß Sie eine so ideale Gelegenheit, einzulassen, wen Sie wollen, verpassen? Für so naiv müssen Sie mich nicht halten.« Heli war rot geworden. Im Gegensatz zu Kurt konnte sie sich sehr gut vorstellen, daß Mildred nicht im Traum daran dachte, solche Gele genheiten auszunützen. Diese war, wie Mona und sie schon wiederholt festgestellt hatten, die geborene Einsiedlerin. Da sie aber wußte, daß Kurt ihr doch nicht glauben würde, unterließ sie ebenso wie Mildred den Versuch, seine Meinung zu ändern. Als er auch noch genau wissen wollte, wo dieses Haus lag, erwachte der Verdacht in Heli, daß hinter 105
dieser Neugier eine bestimmte Absicht liegen könnte. Bildete er sich etwa ein, sich selbst für eine solche ›Gelegenheit‹ empfehlen zu kön nen? Heli ärgerte sich, aber nicht über Mildred, die ihm wie die perso nifizierte Ablehnung gegenübersaß. Bei der, dachte Heli, würde Kurt auf Granit beißen. Sie war noch zusätzlich enttäuscht, weil er einen so schlechten Eindruck machte, während sie doch mit ihm hatte ange ben wollen. Es war nicht schwer, Mildreds gänzliches Unverständnis für ihre Gefühle zu spüren; sie konnte es ihr nicht einmal verdenken. In letzter Zeit war Kurt schon mehrmals so ruppig zu ihr gewesen, daß sie viel Geduld hatte aufbringen müssen, um danach seine Zärtlich keiten zu dulden. Er war ein sehr egoistischer Liebhaber und dachte nur an seinen eigenen Genuss. Aber Heli, die sich vor ihm noch kei nem Mann hingegeben hatte, wußte nicht, daß es nicht so hätte zu sein brauchen. Sie besaß keine Vergleichsmöglichkeiten. Das Zusammensein war so unerfreulich gewesen, daß die beiden Frauen aufatmeten, als sie ihren Zug besteigen konnten. Unglückli cherweise versuchte Heli aber sogleich, Kurts Benehmen zu verteidi gen. Er habe sicher schon seine wichtigen Geschäfte im Kopf gehabt. Mildred hörte schweigend zu. Sie wollte Helis nur zu begreifliche Ent täuschung nicht auch noch vertiefen. Sicher war diese zu Beginn der Reise stolz gewesen, Mildred ihren dekorativen Freund vorzustel len, und so jämmerlich war es nun herausgekommen. Um ihr beizu pflichten oder auch nur so zu tun, war sie zu ehrlich, so daß sich bald auch zwischen den beiden jungen Frauen eine leise Verstimmung ein schlich. Mildreds Wunsch, den nächsten Gegenzug zu besteigen und zurückzufahren, wurde immer stärker. Was würde Christopher aber dazu sagen? Er fände sie sicher unduldsam. Statt für die Einladung dankbar zu sein, kritisierte sie am Besitzer des Ferienhauses und ihrer Kollegin, der sie sie verdankte, herum. Mildred sah ein, daß das nicht sehr nett von ihr war. Es war später Abend, als sie in Kandersteg eintrafen, kalt und reg nerisch, was ihre Stimmung noch verschlechterte. Kurt hatte Heli eine Skizze von der Lage des Hauses gemacht, damit sie niemanden zu fra gen brauchte. Es befand sich ganz am Anfang des Dorfes, wo das Tal 106
noch breit und sonnig war, der Bahnhof dagegen so ziemlich an sei nem Ende. Sie wußten darum, daß sie ihre Koffer eine gute Strecke schleppen mußten. Hinzu kam, daß sie, mit Ausnahme einer Schin kensemmel im Zug, seit Mittag nichts gegessen hatten und hungrig waren. Da sie die im Ferienhaus vorhandenen Vorräte nicht antasten durften, bedeutete das, ohne Abendessen zu Bett gehen zu müssen. »Vielleicht ist etwas da, das wir morgen wieder ersetzen könnten«, meinte Mildred, »Zwiebäcke, zum Beispiel. Und wenn wir uns eine Tasse Tee aufbrühen, wird sie es schwerlich merken; schließlich kann sie die Blätter nicht gezählt haben. Wir wollen sie nicht berauben, aber auch nicht mehr leiden als nötig ist.« Heli fand diesen Vorschlag beherzigenswert. Stumm stapften sie nun unter ihren Regenschirmen dem Dorf zu. Die Straße war menschen leer. Selbst wenn sie es nötig gehabt hätten, wäre es unmöglich gewe sen, jemanden nach dem Weg zu fragen. Wahrscheinlich ging man hier frühzeitig zu Bett, denn es gab kaum noch beleuchtete Fenster. Dagegen stießen sie am Ende der Bahnhofstraße unerwartet auf eine Café-Konditorei. Sie verständigten sich mit einem Blick und traten ein. Hier gab es immerhin noch einige Gäste. Ihr Einzug wurde gebüh rend bestaunt. Erleichtert entledigten sie sich ihrer Überkleider. Nach dem sie zwei Portionen starken Tee bestellt hatten, nahmen sie das Ku chen-Buffet in Augenschein. Es war nicht mehr gerade reichhaltig; an scheinend hatten die Kandersteger an diesem Regennachmittag gehö rig mit den Vorräten aufgeräumt. Immerhin reichte es noch für die beiden hungrigen Ankömmlinge. Es dauerte nicht lange, so gesellte sich die Kellnerin zu ihnen und begann ungeniert Fragen zu stellen. Das war nicht gerade, was sie sich wünschten. Mildred löste das Pro blem, indem sie englisch zu reden begann, worauf Heli mit so grotes ken Fehlern antwortete, daß Mildred sich das Lachen verbeißen muß te. Der Zweck wurde aber erreicht. Achselzuckend entfernte sich das Mädchen, um die Befriedigung ihrer Neugier betrogen. Eine gute halbe Stunde später waren sie angelangt. Das Chalet war keineswegs so, wie man sich das Ferienhaus eines reichen Mannes vor stellte. Es gab noch mehr als ein halbes Dutzend genau gleiche auf ei 107
nem Nebenweg, der zur Kander führte. Im Innern war das Haus aber recht hübsch, nur lag alles unter einer dicken Staubschicht. Mildred versuchte, ihr zu Leibe zu gehen, während Heli sich um den Ölofen kümmerte und sich Kurts Vorschriften ins Gedächtnis zurückzurufen suchte. Nach einigen Fehlschlägen brachte sie ihn in Gang. Die Aus sicht, es bald warm zu haben, belebte sie beide. Heli hatte zuvor vom Zähler genau den Stand des Öls abgelesen, denn was sie verbrauchten, mußten sie vor ihrer Abreise ersetzen. Vorläufig war es noch kalt und ungemütlich, als Heli sich daran machte, die Betten mit der mitge brachten Wäsche zu beziehen. Zu ihrer Enttäuschung wollte Mildred von einem gemeinsamen Schlafzimmer nichts wissen. Sie lebe schon so lange allein, daß eine Zimmergenossin sie stören würde, behauptete sie. Heli, die für ihr Leben gern abends im Bett schwatzte, wie sie es zu Hause mit ihrer Schwester tat, ließ ihr brummend den Willen; Schlaf zimmer gab es hier genug.
Am nächsten Tag schliefen die beiden Frauen bis tief in den Vormit tag hinein. Mildred raffte sich als erste auf. Als Heli aus dem Dusch raum (ein Badezimmer hatte dieser reiche Mann nicht für nötig ge halten) herauskam, hatte Mildred bereits Kaffee, Milch, Butter, Zucker und Brötchen besorgt. »Sie sind ja tüchtig«, staunte Heli. »Schon gestern abend beim Sau bermachen habe ich gemerkt, daß Sie der Arbeit nicht aus dem Weg gehen.« »Schließlich muß ich mein Haus auch in Ordnung halten.« »Aber da sieht es doch niemand«, meinte Heli naiv. Mildred lachte. »Aber ich sehe es. Und ich brauche keine Brille aufzusetzen, um den Staub zu entdecken.« »Da habe ich es besser. Wenn ich nach Hause komme, ist alles aufge räumt. Manchmal trockne ich das Geschirr nach dem Abendessen ab, das ist alles. Mutti läßt mich nicht einmal mein Bett machen. Sie sagt, 108
es müsse erst auslüften. Ich gebe ihr natürlich recht, weil es mir so gut in den Kram paßt.« »Ihre Mutter ist wohl noch verhältnismäßig jung?« »O nein. Die Sechzig hat sie überschritten.« »Und sie macht alles allein?« »Natürlich. Sie hat doch sonst nichts zu tun.« »Wieviel Personen seid ihr denn?« »Sechs. Die Eltern, meine Schwester, mein Bruder und«, fügte sie zö gernd hinzu, »natürlich auch Putzi.« »Wer ist denn das?« »Das Kind meines Bruders – unehelich, um die Wahrheit zu sagen.« »Das ist aber großzügig von Ihren Eltern, es aufzunehmen. Hat es denn seine Mutter ohne weiteres hergegeben?« »Die war nur zu froh. Sie ist nämlich berufstätig. Wären meine Schwester oder ich mit einem Kind dahergekommen, hätten wir et was erleben können. Aber einem Mann nimmt man so etwas nicht übel. Mutti hat sogar gesagt, es sei einfacher mit den Alimenten, wenn der Junge bei uns aufwachse. Wie einfach es für ihren Sohn war, hat sie erst gemerkt, als er anfing, ihr das Monatsgeld schuldig zu blei ben. Aber da haben meine Schwester und ich rebelliert und gedroht, auszuziehen. Wir müssen nämlich beide ein tüchtiges Stück Geld abgeben. Manchmal haben wir darüber gemurrt, aber uns schließ lich damit abgefunden, unter der Bedingung, daß auch Alfred für sich und Putzi berappt. Jetzt wahrt er wenigstens den Schein, aber wir sind sicher, daß Mutti dem ›armen Jungen‹ heimlich wieder ei nen Teil zurückgibt. Er ist nun einmal ihr Liebling. Und schließlich möchte keiner von uns Putzi wieder hergeben, obschon er derart ver wöhnt ist, daß sich einem vernünftigen Menschen die Haare sträu ben könnten.« »Wenigstens einmal ein uneheliches Kind, das restlos glücklich ist.« »Ich hatte gedacht, Sie würden mich jetzt fragen, warum Alfred die Mutter nicht geheiratet hat. Taktvoll sind Sie, das muß man Ihnen las sen.« »Ich nehme an, daß er schwerwiegende Gründe dafür hatte.« Es war 109
keine Frage, und Heli hätte nicht zu antworten brauchen, wenn sie es nicht gewollt hätte. »Alfred ist nämlich nicht einmal sicher, daß es sein Kind ist. Die Mutter ist ein Flittchen. Vielleicht hat sie es ihm nur angedreht.« Mildred sagte nichts zu dieser Mutmaßung. Wenn dieser Alfred sei ner Mutter das Geld für das Kind schuldig blieb, war er sicher nicht so großzügig, es anzuerkennen, wenn über seine Vaterschaft Zweifel be standen hätten. Das könnte man schlecht zusammenreimen; Mildred zog darum vor, sich der Stellungnahme zu enthalten. Heli war sehr re delustig und merkte es kaum, wenn eine Antwort ausblieb. Beim Früh stück zeigte sie sich beunruhigt, weil Kurt noch nicht angerufen hat te. »Wäre es möglich, daß wir das Klingeln überhört hätten? Er sagte doch, daß er um neun eine Sitzung habe und kurz vorher anrufen wer de, um zu wissen, ob wir gut angekommen seien.« »Über Ihren Schlaf kann ich mir kein Urteil erlauben. Was mich be trifft, ist er so leicht, daß mich das Heranschwirren einer Stechmücke weckt. Es ist ausgeschlossen, daß ich das Klingeln überhört hätte.« »Er wird doch nicht böse auf mich sein?« fragte Heli, nun doppelt be unruhigt. »Sie waren ja immer dabei. Sehen Sie einen Grund, warum er mir zürnen könnte?« »Absolut nicht. Heben Sie doch einmal den Hörer ab. Vielleicht ist der Anschluss abgemeldet, solange das Haus leersteht?« Heli tat es, und es kam kein Zeichen vom Amt. »Darauf wäre ich nie gekommen. Was machen wir jetzt? Von mir wird das Amt keinen Auftrag annehmen, das müßte wohl Kurt selbst besorgen.« »Tut er sicher auch. Das Amt wird ihn verständigen, wenn er ver sucht, anzurufen und nicht durchkommt.« »Hoffentlich. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre jetzt allein hier und hätte nicht einmal das Telefon zum Trost … das wäre ja zum Heulen. Was essen wir übrigens heute Mittag?« »Nichts. Wir haben um elf erst gefrühstückt, das sollte doch wohl reichen?« 110
»Wenn Sie meinen, ich sei ein Asket, täuschen Sie sich. Im Gegensatz zu Ihnen brauche ich am Mittag etwas Solides in den Magen.« »Dann könnten wir vielleicht Rindfleisch kochen und hätten für ei nige Tage abends einen Teller Suppe.« »Gut und schön, aber Rindfleisch braucht eine Ewigkeit, bis es gar ist. So lange kann ich nicht warten. Wir können es für morgen kaufen und früh aufsetzen. Aber jetzt bin ich für ein gutes Beefsteak mit Kar toffeln und Gemüse.« »Einverstanden. Aber ich esse meinen Teil erst am Abend.« Heli betrachtete sie stirnrunzelnd. »Sie müssen eine Menge Geld sparen, wenn Sie so bescheiden sind.« »Oh, ich führe keineswegs ein Hungerleben, nur ist mir Essen nicht so überaus wichtig.« »Das werden Sie sich abgewöhnen müssen, wenn Sie einmal heiraten sollten. Bei den Männern –« »Geht die Liebe durch den Magen, ich weiß«, nahm Mildred den Ge meinplatz vorweg, der jetzt unweigerlich fällig gewesen wäre. »Ich wer de nicht wieder heiraten, deshalb stellt sich mir das Problem nicht.« »Wieder?« fragte die andere. »Waren Sie denn schon einmal –« »Ich bin geschieden«, sagte Mildred kurz und ärgerte sich darüber, daß ihr dieses verräterische ›wieder‹ entschlüpft war. »Das ist das Neueste!« schrie Heli begeistert, und es war unschwer zu merken, daß diese sensationelle Eröffnung ihre Lebensgeister wieder ungemein ankurbelte. »Davon weiß aber in der Textilia kein Mensch etwas.« »Es stand im Lebenslauf meiner Bewerbung.« »War es in Amerika?« »Ja.« »Das müssen Sie mir erzählen. Hat er Sie betrogen?« »So einfach war es nicht. Ich spreche nicht gern über jene Zeit, Heli, und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie keine Fragen stellten.« »Schade«, brummte die andere enttäuscht. »Da hätten wir doch end lich ein ausgiebiges Gesprächsthema gehabt.« ›Und wie ausgiebig! Wenn du wüsstest …‹ dachte Mildred, blieb aber 111
hart. Sie war sicher, daß Heli den Mund nicht hätte halten können, wenn sie auch nur eine Ahnung von den dramatischen Lebensumstän den ihrer Kollegin gehabt hätte. Sie war ein netter, warmherziger Kerl, aber Geheimnisse konnte man ihr sicher nicht anvertrauen. Diesmal ging Heli einkaufen, während Mildred sich an die Hausar beit machte. Sie hatten eine Kasse mit je hundert Franken dotiert, dar aus sollten die gemeinsamen Spesen – so weit es reichte – bezahlt wer den. Heli war vielleicht eine Viertelstunde fort, als das Telefon klingel te. Mildred fuhr ordentlich zusammen. Einen Augenblick war sie im Zweifel, ob sie abnehmen sollte, denn dieses Gespräch, das doch ei gentlich nur von Kurt sein konnte, wurde sinnlos durch Helis Abwe senheit. Der Anrufer erwies sich aber als so hartnäckig, daß sie zuletzt doch nachgab. »Ja«, sagte sie nur, um sich, falls es doch jemand anderes wäre, nicht die Zunge zu verbrennen. »Warum, zum Teufel, antwortet ihr denn nicht?« Das war unverkennbar Kurts Höflichkeit. »Heli ist nicht da, deshalb dachte ich, Ihnen die Spesen zu ersparen, wenn ich nicht abnähme.« »So, dachten Sie? Rührend, daß Sie sich so um mein Portemonnaie sorgen. Halten Sie mich für so arm?« »Keineswegs, aber ich bin an Sparsamkeit gewöhnt.« »Das ist unbedingt eine Tugend. Haben Sie noch andere?« »Heli ist einkaufen gegangen. Soll ich ihr etwas ausrichten?« »Haben Sie es so eilig, mich loszuwerden? Wahrscheinlich wieder Ihre berühmte Sparsamkeit?« Mildred antwortete nicht. Sie hätte gern aufgelegt, wenn sie dadurch Heli nicht verstimmt hätte. Außerdem fiel ihr noch rechtzeitig ein, daß dieser unsympathische Mensch der Besitzer des Hauses war, das ihr vorübergehend Obdach geboten. »Haben Sie die Sprache verloren? Sie sind ein merkwürdiges Ge schöpf. Ich möchte wohl wissen, was hinter Ihrer Reserviertheit steckt. Wenn Sie so tugendhaft sind, ist es vielleicht Rücksicht auf Heli? Sie wollen ihr bei mir nicht ins Gehege kommen?« 112
»Ich bin von Natur zurückhaltend –« »Besonders wenn es um eine Freundin geht, nehme ich an.« »Heli ist nicht meine Freundin. Dafür kennen wir uns viel zu we nig.« »Warum hat sie Sie dann mitgenommen?« »Um nicht allein zu sein. Ich bin einfach ein Lückenbüßer, nichts an deres.« »Ich werde vielleicht heute einmal hinausfahren und mir Ihr Haus ansehen. Nur für den Fall, daß Sie mich einmal einladen würden, so zusagen als Revanche für die Gastfreundschaft, die ich Ihnen in Kan dersteg biete.« »Ich lade nie jemanden ein. Wenn Sie glauben, daß ich Ihnen das schuldig sei, wäre es gescheiter, ich zöge noch heute hier aus.« »Wo wollten Sie dann wohl bleiben?« »Im Hotel, natürlich.« »Können Sie sich das denn leisten?« »Ich würde es nicht tun, wenn ich es nicht bezahlen könnte.« »Ach so, ich habe vergessen, daß Sie ja sogar ein Haus besitzen, also immerhin über einige Mittel verfügen. Daher kommt wohl Ihre auf reizende Selbstsicherheit?« »Ich glaube kaum. Geld hat mich noch nie beeindruckt, weder bei anderen noch bei mir selbst.« »Dann sind Sie ein weißer Rabe.« »Es muß auch solche geben. Gerade kommt Heli zurück, ich rufe sie.« Ohne sich zu verabschieden, öffnete sie Heli die Tür, während die se noch nach dem Schlüssel in ihrer Tasche suchte. »Ihr Freund ist am Telefon –« »Oh!« schrie Heli erlöst und stürzte sich auf den Apparat. »Kurt, Liebling, wie klug du bist! Hast schon gemerkt, daß das Telefon ge sperrt war. Hast du schon heute morgen versucht anzurufen?« »Nein, ich hatte verschlafen. Hör mal, Mädchen, nenne mich nicht Liebling, wenn es jemand hört.« »Mildred ist schon nach oben gegangen. Sie ist sehr diskret, weißt 113
du. Die kann ein Geheimnis hüten, sage ich dir. Jetzt arbeite ich fünf Monate mit ihr im gleichen Saal, und erst heute morgen habe ich er fahren, daß sie eine geschiedene Frau ist. Hast du Worte?« »Interessant. Daher ist sie wohl ein bißchen männerfeindlich?« »Das kann ich nicht beurteilen. Wahrscheinlich ist es eine traurige Geschichte, denn sie wollte nicht darüber sprechen.« »O weh! Hast du das überlebt? Ich meine, du mußt doch immer al les wissen.« »Zieh mich nicht auf! Reden wir lieber von uns. Wann rufst du wie der an?« »Gelegentlich.« »Ich will es ja nur wissen, damit ich nicht wieder fort bin.« »Dann spreche ich eben mit Mildred.« »Das wird nicht sehr ergiebig sein«, sagte Heli und kicherte. »Unter uns, ich habe den Eindruck, daß sie dich nicht mag.« »Das kann sich ändern. Jede Frau ist zu haben, wenn man es richtig anfängt.« »Kurt, sei nicht so arrogant! Ich bin froh, daß Mildred das nicht ge hört hat.« »Und wenn, was würde das schon ausmachen?« »Nur die Kleinigkeit, daß du dann bei ihr ganz untendurch wärst.« »Ich glaube, das könnte ich verschmerzen. Aber ich muß jetzt aufhö ren, Heli. Macht euch eine gute Zeit dort oben, ihr beiden. Kann sein, daß ich euch nach drei Wochen abhole. Es hängt davon ab, ob ich zu Hause freikommen kann. Ist Frau Zopfi übrigens schon bei euch auf getaucht?« »Woher sollte sie wissen, daß wir hier sind?« »In einem Dorf bleibt nichts verborgen. Halte dich an die Abma chung: Du bist meine Cousine aus Frankfurt, und Mildred ist eine Nichte deines Mannes. Das schluckt sie ohne weiteres. Auf Wiederhö ren, Heli!« Heli war jetzt so vergnügt, daß sie zu singen anfing. Der Wohlklang ihres hellen Soprans überraschte Mildred, die das mitgebrachte Ge müse zu putzen begann. Heli schaute ihr zu und steckte sich dabei eine 114
Zigarette an. Als sie mit dem Schälen der Kartoffeln anfangen wollte, besann sich Mildred eines Besseren. Es hätte ihr nichts ausgemacht, auch das zu tun, dagegen hatte sie Heli im Verdacht, ihr nach und nach alle Arbeit zu überlassen, wenn sie nicht aufpasste. »So, jetzt sind Sie an der Reihe«, sagte sie, während sie sich die Hän de wusch. Es war ihr nicht bewußt, daß es etwas unfreundlich geklun gen hatte, aber Heli schaute sie verwundert an. »Sind Sie schlechter Laune, Mildred?« »Nur, weil etwas Unvorhergesehenes passiert ist.« »Wann? Während ich weg war? Doch nicht etwa mit – Kurt?« »Doch. Ich sage es Ihnen nur ungern, weil es Sie vielleicht schmerzen könnte, aber er machte eine Andeutung, daß er für die Gastfreund schaft, die er mir hier bietet, eine gewisse Gegenleistung von mir er warte, eine Einladung zu mir, um es offen zu sagen.« »O dieses Biest! Bei dem muß doch alles etwas einbringen. Ich ahn te schon, daß ihn Ihre Zurückhaltung reizen würde. Sie haben natür lich abgelehnt?« »Selbstverständlich. Ich habe gesagt, wenn er etwas Derartiges von mir erwarte, zöge ich es vor, noch heute in ein Hotel zu ziehen.« »Mildred, das können Sie mir nicht antun!« schrie Heli außer sich. »Ich habe mein Leben lang meine Schulden bezahlt. Wenn Ihr Kurt meint, ich sei jetzt seine Schuldnerin, auf die er Ansprüche erheben dürfe, bleibt mir nichts anderes als auszuziehen. Das müssen Sie ein sehen, Heli.« »Oh, ich könnte den Kerl umbringen!« Heli begann zu weinen und wollte keinen Trost annehmen. Mildred wunderte sich darüber, daß sie keinerlei Eifersucht zeigte, was sie ohne weiteres erwartet hatte. Nein, Helis ganzer Kummer galt dem drohenden Verlust der Gefähr tin. Es befremdete Mildred so sehr, daß sie eine Frage nicht unterdrük ken konnte. »Ich hätte gedacht, Sie würden jetzt eine Abneigung gegen mich fas sen. Das, was Ihr Kurt möchte, wäre doch eine Untreue gegen Sie. Macht Ihnen das denn gar nichts aus?« »Nicht bei Ihnen. Ich habe eine zu gute Meinung von Ihnen, als daß 115
ich befürchten würde, Sie könnten mich hintergehen. Außerdem spüre ich, daß Sie Kurt nicht mögen. Das stimmt doch, nicht wahr?« Mildred mochte nicht lügen. Sie begnügte sich mit einem Nicken. »Ich habe es ihm vorhin am Telefon gesagt, ohne zu ahnen, daß er be reits etwas versucht hatte.« »Dafür bin ich Ihnen dankbar. Was hat er darauf geantwortet?« Heli war jetzt so wütend auf Kurt, daß sie es Mildred verriet, aber auch, daß sie ihn arrogant gescholten habe. »Das macht ihn mir noch widerwärtiger. Sie sind viel zu gut für ihn, Heli. Ich begreife nicht, wie Sie ihn ertragen und sogar lieben kön nen.« »Ach, manchmal begreife ich es ja selbst nicht«, gab die andere kläg lich zu. »Ich habe mich einfach an ihn gewöhnt und mir eingeredet, ich könnte ohne ihn nicht mehr sein. Wahrscheinlich war das falsch.« »Bestimmt. Machen Sie sich denn nicht klar, daß dieser Mensch Ihre ganze Zukunft blockiert? Sie sind noch jung und über den Durch schnitt hübsch, Sie könnten ganz sicher noch heiraten, Kinder haben und glücklich werden, wenn Sie Kurt aufgäben.« »Dazu hätte ich nie den Mut. Er ist ja so eingebildet, das haben Sie auch bereits bemerkt. Er würde es einfach nicht fassen, daß ich oder überhaupt jemand ihm den Laufpass geben könnte.« »Ja«, gab Mildred zu, »ein bißchen Mut würde es wahrscheinlich schon brauchen, aber er würde sich auszahlen. Was haben Sie denn jetzt von ihm? Er ist nicht einmal nett zu Ihnen.« »Ihnen ist das wahrscheinlich mehr aufgefallen als mir. Er hat mich daran gewöhnt, wenig von ihm zu erwarten –« »Und viel zu geben, nicht wahr? Ein kalter Egoist … Man sieht es sei nem harten Gesicht an.« »Oh«, sagte Heli schockiert, »ist das Ihr Eindruck? Er ist doch ein sehr gut aussehender Mann. Mir gefällt er jedenfalls.« Mildred war nun entschlossen, jede Schonung fallenzulassen. Sie war davon überzeugt, Heli einen guten Dienst zu erweisen, wenn sie ihr die Augen öffnete. »Ein Mensch kann gut aussehen und trotzdem nicht sympathisch 116
sein. Schönheit bei Mann oder Frau hat nur Wert, wenn sie Geist oder doch wenigstens Seele verrät. Kurt hat einen so kalten Blick, daß ich ihn mir unmöglich als guten Menschen vorstellen kann. Und nie, hö ren Sie, Heli, nie, darf ein Mädchen sich in die Hände eines Mannes ge ben, der ohne Herzensgüte ist. Glauben Sie mir, ich habe diese Wahr heit am eigenen Leibe erfahren.« »Sie haben wahrscheinlich recht. Aber wenn ich ihn aufgäbe, hätte ich ja niemand mehr. Ich könnte ewig zu Hause sitzen –« »Aber Heli, das ist doch kein Argument. Sie werden nicht immer al lein bleiben, es wäre nur ein Übergang.« »Aber ich wüsste niemanden, der sich für mich interessierte.« »Weil Sie eben blockiert sind. Vielleicht hätte sich schon oft ein Mann näher mit Ihnen bekannt machen wollen, wenn Sie ihn überhaupt be merkt hätten. Für Sie existierte nur Kurt; aber wie verhält es sich mit der Gegenseite? Sie mußten sich schon damit abfinden, daß er verhei ratet ist, scheinen aber außerdem damit zu rechnen, daß Sie nicht sei ne einzige Untreue sind. Stimmt's?« »Ja, ein paar Mal bin ich ihm auf etwas gekommen. Aber als ich ihm Vorwürfe machte, hat er mich nur ausgelacht. Er fühle sich frei, sagte er. Wir seien ja nicht verheiratet. Was sollte ich darauf sagen? Ihn dar an erinnern, daß er sich durch eine Heirat anscheinend auch nicht ge bunden fühle?« »Denken Sie nicht auch manchmal an das Unrecht, das Sie seiner Frau zufügen? Sie ist sicher nicht um diesen Mann zu beneiden. Ich, an Ihrer Stelle, würde nicht auch noch von mir aus etwas zu ihrem Unglück bei tragen. Daß sie unglücklich ist, nehme ich mit Sicherheit an.« »Er wahrscheinlich auch. Jedenfalls sagt er das.« »Ich habe gehört, daß viele Männer ihre Untreue auf diese Weise motivieren. Meist ist so etwas nicht nachzuprüfen. Es sagt sich, auch wenn es eine Lüge ist, ungestraft.« »Mildred, ich glaube, Sie hat der Himmel mir geschickt. Sie bestä tigen mir alles, was ich zuweilen gedacht, aber stets von mir gewiesen hatte. In letzter Zeit hat Kurt sich außerdem auffallend von mir zu rückgezogen. Er hat nur noch selten Zeit für mich und dann nichts an 117
deres im Kopf, als mit mir ins Bett zu gehen. Nie kommt es mehr zu einem richtigen Gespräch. Das hat mich schon oft gedemütigt. Trotz dem habe ich immer davor gezittert, er könnte mich verlassen, und darum alles hingenommen, was er mir zumutete.« »Sehen Sie, Heli, das sind doch deutliche Anzeichen, daß Sie ihm nur wenig oder nichts mehr bedeuten. Sie sollten wirklich den Stolz auf bringen, ihn fallenzulassen, bevor er Ihnen das gleiche antut.« »Wenn ich oft mit Ihnen zusammen sein könnte, würde ich daraus Kraft schöpfen, das merke ich. Mildred, ich flehe Sie an, ziehen Sie nicht aus! Ich brauche Sie einfach. Wenn mir nicht jemand den Rük ken stärkt, lasse ich es weiterhin zu, daß er auf mir herumtrampelt. Er hat mir sogar einmal im Zorn, als ich ihm zu widersprechen wagte, ge sagt, ich müsse froh sein, daß er sich mit mir abgebe, weil ich doch nur die Tochter eines Straßenbahnschaffners sei.« »Schade, daß ich nicht dabei war. Ich hätte ihm entgegengehalten, daß Sie ihm menschlich haushoch überlegen seien.« »Ach«, sagte Heli betrübt, »das hätte er doch nie geglaubt. Es war immer sinnlos, sich zu verteidigen, er erkennt nur seine eigene Mei nung an. Aber Sie haben mir noch nicht geantwortet: Werden Sie blei ben, Mildred? Sie bringen es doch nicht ernstlich übers Herz, mich mit meinem Kummer allein zu lassen?« »Nun«, sagte Mildred zögernd, »es gäbe vielleicht einen Weg. Haben Sie eine Ahnung, ob er das Haus schon einmal an Feriengäste vermie tet hat?« »Ich glaube schon.« »Dann müßte man herausbekommen, wieviel er dabei eingenom men hat. Ich könnte Ihnen dann, wenn ich nach Hause zurückfahre, den auf mich entfallenden Mietanteil in einem Couvert für ihn dalas sen. Damit wäre ich aller Verpflichtungen ledig und könnte mich ein fach als zahlender Gast fühlen. Was meinen Sie dazu?« »Es wäre eine kluge Idee, nur würden Sie diese Ferien dann einiges kosten. Ich glaube nicht, daß Kurt billig ist.« »Es wird mich nicht bankrott machen. Ich werde mir einfach noch etwas Geld von der Bank schicken lassen.« 118
Heli seufzte erleichtert. »Beneidenswert, wie unabhängig Sie sind. Ich lebe dagegen von der Hand in den Mund und habe überhaupt kei ne Reserven.« »Dann lassen Sie mich die Spesen für unser Essen tragen, sobald un ser kleiner Fonds aufgebraucht ist. Lange wird er bei den hiesigen Prei sen ohnehin nicht vorhalten.« »Und bei meinem Appetit, nicht wahr? Ich danke Ihnen für alles, Mildred, vor allem aber dafür, daß Sie bleiben wollen. Sie ahnen ja gar nicht, was das für mich bedeutet. Zuerst wollte ich Sie nur mithaben, um nicht allein bleiben zu müssen, aber jetzt habe ich begriffen, was Sie in Wirklichkeit für mich wert sind.«
X
A
m Montagnachmittag wurde Christopher von Inspektor Heuß angerufen. »Sie haben recht gehabt, Witt. Es handelt sich um den Mann, den Sie im Auge hatten. Die Amerikaner waren sehr interessiert. Sie haben ihn im Verdacht, vor einem Monat an einem Hold up beteiligt gewesen zu sein. Vorläufig können sie ihm noch nichts beweisen, aber sie beschat ten einen seiner Freunde und Helfershelfer und hoffen, daß er singt, wenn sie ihn festnehmen. Die Tatsache, daß Montero sich nach Eur opa abgesetzt hat, ist ein weiteres Indiz dafür, daß ihm der Boden zu heiß geworden ist.« »Sehr interessant. Wissen Sie, ob die Beute groß war?« »Nein. Sie wurden gestört, bevor sie den Coup ausnützen konnten. Aber für die Reise nach Europa hat es auf jeden Fall gelangt. Jetzt ist er wahrscheinlich schon bald wieder knapp bei Kasse. Das dürfte der Grund gewesen sein, warum er sich ein kostenloses Quartier zugelegt hatte.« 119
»Lassen Sie das Haus beobachten?« »Vorläufig ja, aber auf die Dauer wird sich das nicht rechtfertigen lassen. Er hat zwar einen Hausfriedensbruch begangen, aber keinerlei Zerstörungen angerichtet; ein Bagatellfall, würde ich sagen, zumal es sich bei Frau Simons um seine frühere Frau handelt.« »Muß es denn erst zu einer Katastrophe kommen, bevor ihr ein schreitet?« »Mein Lieber, wenn wir alle Leute gleich einbuchten wollten, die sich eine Kleinigkeit zuschulden kommen lassen, müßten wir unseren Per sonalbestand verdoppeln und die Gefängnisse vergrößern. Selbst der unbedeutendste Anwalt würde ihn herauskriegen. Anders verhielte es sich, wenn die Amerikaner stichhaltige Beweise für seine Teilnahme an dem Hold up herbeischaffen und einen internationalen Haftbefehl gegen ihn erwirken könnten. Vorläufig sind wir leider noch nicht so weit.« »Nun, meine Bekannte ist ja gottlob für eine Weile außerhalb sei ner Reichweite. Ich werde sie für alle Fälle benachrichtigen, wenn sie zurückkommt. Außerdem habe ich einen Interessenten, der ihr Haus mieten möchte. Ich hoffe, sie ist jetzt verschreckt genug, um einzuwil ligen; in ihrer Lage darf sie einfach nicht mehr so einsam wohnen.« »Da bin ich ganz Ihrer Ansicht.«
Am Dienstagabend bei bereits eingetretener Dunkelheit bog ein Wa gen langsam in die Straße ein, in der Mildred wohnte. Die Beleuch tung war jedoch so schlecht, daß der Fahrer die Hausnummern vom Wagen aus nicht erkennen konnte. Er stieg darum aus und ging zu Fuß auf die Suche. Warum Kurt Börner dieses Haus unbedingt sehen woll te, hätte er selbst nicht klar zu definieren gewußt. Die unmissverständ liche Ablehnung seiner Person durch diese junge Frau saß ihm wie ein Stachel im Fleisch. Nicht, daß sie ihm sonderlich gefallen hätte. Heli war viel hübscher, allerdings von der etwas puppenhaften Schönheit, die ihn zuerst angezogen, ihm aber jetzt verleidet war. Die andere be 120
saß viel mehr Persönlichkeit, und er hätte gern mehr über sie gewußt. Mit einiger Genugtuung sah er, daß die Gebäude in dieser Straße alles typische Mittelstandshäuser waren. Viel konnte sich die Simons dar auf nicht einbilden. Er hatte schon fast aufgegeben, die Hausnummer zu finden, als er, um die Kurve kommend, rechts noch ein einzelnes Haus stehen sah. Es war eine Kleinigkeit größer als die anderen und hatte im Gegensatz zu ihnen einen ausgebauten Dachstock. Versuchs weise legte er die Hand auf die Klinke der Gartentür. Sie gab nach, und er trat ein. Langsam ging er um das Haus herum und betrachte te es von allen Seiten. Daß er dabei hier und dort die Hand an einen der Holzläden legte, geschah ohne bestimmte Absicht, wie man zu weilen halb unbewußt etwas Sinnloses tut. Aber für den Polizeibeam ten in Zivil, der ihn beobachtete, sah es ganz nach einem bestimmten Zweck aus. In seinen Augen probierte dieser Mensch, ob irgendwo ein Laden nicht festsaß. Wenn ihn das interessierte, konnte es nur bedeu ten, daß er gern eingestiegen wäre. Der Beamte hatte Weisung, jeden vorzuführen, der sich irgendwie an diesem Haus zu schaffen machte. Lieber wäre es ihm gewesen, der Fremde hätte versucht, die Türe zu öffnen, dann hätte man wenigstens einen einwandfreien Tatbestand. Aber auch so – Befehl war Befehl. Kurt Börner zuckte zusammen wie das personifizierte schlechte Ge wissen, als sich ihm plötzlich eine Hand von hinten auf die Schulter legte. »Detektiv-Sergeant Funk. Ich möchte gern wissen, was Sie hier su chen?« »Nichts. Was geht Sie das überhaupt an?« »Das Haus wird polizeilich überwacht.« »Was Sie nicht sagen! Hat die Simons denn etwas ausgefressen?« »Sie nicht.« »Überhaupt ist sie gar nicht hier. Ich wollte nur einmal nach dem Rechten sehen.« »Sind Sie dazu beauftragt?« »Natürlich. Ich kenne sie gut.« »Nun, das können Sie Inspektor Heuß erzählen. Mein Auftrag lau 121
tet, jeden, der sich an diesem Haus irgendwie zu schaffen macht, vor zuführen.« »Sie sind wohl verrückt? Ich bin nur durch den Garten gegangen –« »Und haben dabei kontrolliert, ob irgendwo ein Laden nicht festge macht sei.« »Das ist nicht wahr! Mann, ich warne Sie, solche Lügen über mich zu erzählen. Ich habe gute Beziehungen, das könnte Ihnen schlecht be kommen.« »So etwas höre ich nicht zum ersten Mal«, sagte der Beamte unbeein druckt. »Daß Sie die Läden kontrolliert haben, kann ich jederzeit be zeugen. Ich habe es gesehen. Mein Wagen steht gleich hinter der Kur ve. Machen Sie keine Mätzchen und kommen Sie mit. Wenn Sie nichts zu verbergen haben, ist es Sache einer halben Stunde.« »Ich weigere mich ganz entschieden, mit Ihnen zu fahren. Mein eige ner Wagen steht am Eingang der Straße. Wenn es denn sein muß, fah re ich hinter Ihnen her, aber vorführen lasse ich mich nicht. Das wäre ja noch schöner.« »In diesem Fall begleite ich Sie bis zu Ihrem Auto und nehme Ihre Wagenpapiere an mich, bis Inspektor Heuß mit Ihnen gesprochen hat. Reine Formsache«, fügte er begütigend hinzu, »wäre nicht nötig, wenn Sie gleich mit mir führen.« Börner knirschte vor Wut mit den Zähnen. Wie sollte er der Poli zei erklären, was er hier gesucht hatte? Es war ein absolut idiotisches Vorgehen gewesen, hauptsächlich aus Neugier. Daß er die Eigentüme rin kannte, hatte er wohl oder übel zugeben müssen, sonst wäre seine Anwesenheit dort vollends unverständlich gewesen. Er mußte aber in seinen Aussagen vorsichtig sein, er war schließlich verheiratet. Es war geradezu grotesk, daß er bei dieser harmlosen Erkundung der Polizei aufgefallen war. Was hatte diese Beobachtung des Hauses überhaupt zu bedeuten? Wußte sie etwas davon? Sie wurde ihm immer rätselhaf ter, aber auch interessanter. Das war etwas anderes als Heli, die hüb sche kleine Null. Finster reichte er dem Polizeibeamten seine Wagen papiere und den Führerschein. Dabei konnte er es nicht lassen, noch ein paar Drohungen auszustoßen. Der junge Beamte war vielleicht et 122
was beeindruckt von dem großen Wagen, zeigte es aber nicht. Ihm konnte nichts passieren, er folgte nur seiner Instruktion. Laut vor sich hinfluchend, setzte sich Kurt Börner hinter das Steuer. Im Präsidium mußte er einige Zeit warten, bis er zu Inspektor Heuß durchdringen konnte. Es besserte seine Laune nicht. Er saß in einem Korridor, in dem ein Polizist patrouillierte und dauernd irgendwel che Leute, zum Teil angestellte Beamte, aber auch Fremde, vorbeigin gen und ihn neugierig musterten. Es war das reinste Fegefeuer für sein überspitztes Selbstbewußtsein; außerdem hätte jeden Augenblick je mand vorbeikommen können, der ihn kannte. Schließlich kamen nicht nur Verdächtige hierher, sondern auch solche, die Klagen vor brachten oder um Auskünfte ersuchten. Obschon es in diesem Korri dor eher zugig und kühl war, hatte er dauernd das Taschentuch in der Hand, um sich den Schweiß abzuwischen. Während er wartete, telefonierte der Inspektor mit Christopher, nachdem er die Wagenpapiere und den Führerausweis Börners über prüft hatte. »Witt, wir haben da einen Vogel aufgegriffen, der auffällig um Frau Simons' Haus herumgestrichen ist, einen gewissen Kurt Börner. Ha ben Sie diesen Namen schon im Zusammenhang mit ihr gehört?« »Nie.« »Er behauptete meinem Beamten gegenüber, von ihr beauftragt wor den zu sein, sich in ihrer Abwesenheit um ihr Haus zu kümmern. Ei nen Schlüssel hat er aber anscheinend nicht, denn er untersuchte, ob die Fensterläden verriegelt seien. Er erschien erst, als es bereits dunkel war, ging in den Garten und umkreiste das Haus. Können Sie sich ei nen Vers darauf machen?« »Absolut nicht. Auf gar keinen Fall hat er von Frau Simons einen derartigen Auftrag, da sie die Schlüssel ja mir übergeben hat. Meines Wissens kennt sie außer den Leuten von der hiesigen Textilia über haupt keinen Menschen. Sie hat mir selbst gesagt, daß sie ihre Nach barn – sie sind ja alle ein Stück weit von ihr entfernt – zwar grüßt, aber nur mit einem einzigen gesprochen hat, dessen Papagei ihr zugeflogen war. Dieser Mann lügt.« 123
»Ziemlich sicher. In seinem Führerschein steht als Beruf Fabrikant und eine recht feudale Adresse. Das Ganze ist ziemlich undurchsich tig.« »Könnte er von dem anderen geschickt worden sein?« »Ich glaube nicht, daß da ein Zusammenhang besteht, aber ich wer de ihn mir jetzt vorknöpfen. Wenn etwas dabei herausschaut, das Sie interessieren könnte, rufe ich Sie wieder an. Bleiben Sie zu Hause? Ich mache hier auch bald Schluß.« »Ja, ich bin gerade im Begriff, mir etwas zu kochen.« »Guten Appetit!« »Danke, auch für den Anruf.«
»Setzen Sie sich bitte, Herr Börner«, sagte Heuß mit gemessener Freundlichkeit, als der Wartende endlich hereingeholt worden war. »Wenn Sie rauchen wollen, tun Sie sich keinen Zwang an. Ich sehe, Sie sind beachtlich nervös.« »Ich bin vor allem empört, daß sich die Polizei solche Übergriffe er laubt. Das sind reine Gestapomethoden, und ich bin nicht gewillt, sie mir gefallen zu lassen.« »Ihr Vergleich ist so unangebracht, daß ich Sie wegen Beleidigung der Polizei belangen könnte. Mäßigen Sie sich in Ihren Ausdrücken, ich rate Ihnen das in Ihrem eigenen Interesse. Tatsache ist, daß Sie sich bei hereingebrochener Dunkelheit Einlass in ein fremdes Grundstück verschafft haben.« »Jedenfalls nicht mit Gewalt. Die Gartentür war unverschlossen.« »Sei es. Immerhin ist es nicht üblich, daß man fremde Gärten betritt, noch dazu, wenn man genau weiß, daß die Eigentümerin nicht anwe send ist.« »Sie hat mich beauftragt, zum Rechten zu sehen –« »Diese Behauptung würden Sie, mit ihr konfrontiert, nicht auf rechterhalten können. Ich glaube nicht einmal, daß Frau Simons Sie kennt.« 124
»Lächerlich! Ich war noch letzten Sonntag mit ihr zusammen.« »Wo, wenn ich fragen darf?« Heuß' Stimme triefte vor Ironie, da er wußte, daß Mildred an diesem Tag früh abgereist war. »Spielt das eine Rolle?« fragte Kurt nervös. »Sie können nicht von uns erwarten, daß wir Ihnen ohne Nachprü fung glauben. Sie sagen darum besser die Wahrheit, sie kommt doch heraus.« »Gibt es eigentlich in diesem Land keine Privatsphäre mehr? Habe ich nicht das Recht, mit jeder beliebigen Person zusammenzutreffen, wo es mir paßt, ohne daß die Polizei die Nase hineinsteckt?« »Solange Sie nichts Verdächtiges tun, ist Ihnen das unbenommen. Da Sie nun aber einmal aufgefallen sind, werden Sie sich schon beque men müssen, zu antworten.« Kurt schwitzte wieder beträchtlich. Er fühlte sich in die Enge getrie ben und wußte nicht mehr, wie er diesen präzisen Fragen entschlüp fen könnte. »Es handelt sich um etwas, das ich nicht an die große Glocke hän gen möchte«, sagte er schließlich. »Ich bin verheiratet und auf Diskre tion angewiesen.« »Sie wollen damit doch nicht andeuten, daß Sie mit Frau Simons ein Liebesverhältnis unterhalten?« »Keineswegs. Es ist nur – ich habe sie am Sonntag in meinem Wa gen mitgenommen. Ich hatte eine Geschäftsreise vor, und sie wollte in die Schweiz.« »Ach!« Der Inspektor beugte sich interessiert vor. »Dann sind Sie demnach dieser Freund von Fräulein Weiß?« »Ich bin niemandes Freund –« »War Fräulein Weiß nicht ebenfalls im Wagen?« »Doch.« »Na also. Wir kommen der Sache schon näher. Sie unterhalten mit Fräulein Weiß ein Liebesverhältnis. Sie hat das selbst Frau Simons er zählt.« »Diese Gans! Kann das Schnattern nicht lassen –« »Soviel ich weiß, hat Fräulein Weiß Sie veranlasst, auch Frau Simons 125
mitzunehmen. Sie hatten den beiden Ihr Ferienhaus in Kandersteg zur Verfügung gestellt. Sie sehen, ich bin unterrichtet. Bei dieser Ge legenheit haben Sie wahrscheinlich Frau Simons erst kennen gelernt; stimmt's?« »Ja«, gab Börner, in die Enge getrieben, zu. »Und da wollen Sie mir vormachen, sie hätte Sie gleich damit beauf tragt, ihr Haus zu überwachen, obschon sie bereits eine andere, be freundete Person, einen Kollegen, unter Aushändigung eines Haus schlüssels darum gebeten hatte? Das reimt sich nicht zusammen.« »Was bilden Sie sich eigentlich ein? Glauben Sie, ich hätte es nötig, einzubrechen, ausgerechnet ich, in meinen guten Verhältnissen? Das ist doch absurd!« »Ausnahmsweise bin ich der gleichen Meinung. Also heraus mit der Sprache: Was wollten Sie dort?« »Wenn es denn gesagt sein muß: Ich war einfach neugierig wie das Haus aussieht, das Frau Simons gehört.« »Aha. Und warum waren Sie es?« »Weil die Frau mich interessiert, zum Teufel!« »Ich sehe da keinen Zusammenhang. Mußten Sie unbedingt das Haus sehen, um dieses Interesse zu rechtfertigen?« »Natürlich nicht. Es ist nur … diese Person ist so aufreizend selbstsi cher. Ich wollte darum untersuchen, ob das mit gewissen Vermögenswerten zusammenhängt. Es war reine Neugier, ich wiederhole es.« »Selbstsicher? Mir wurde sie eher als schüchtern beschrieben.« »Nun, sie ist – sie gibt sich – wie eine Dame, möchte ich sagen, was absolut nicht zu ihrem Stand paßt. Es reizte mich ganz einfach, die sem Widerspruch auf die Spur zu kommen. Herrgott, Mann, verste hen Sie doch endlich, daß nichts dahintersteckt, was die Polizei inter essieren könnte!« »Mag sein«, gab der Inspektor zu. »Sie haben Ihre ›Entdeckungsfahrt‹ nur leider gerade in einem Moment unternommen, in dem wir allen Grund haben, uns jeden, der sich an dem Haus zu schaffen macht, nä her anzusehen. Ihr Pech. Warum mußten Sie sich auch dadurch ver dächtig machen, daß Sie die Fensterläden kontrollierten?« 126
»Das hat sich Ihr Mann aus den Fingern gesogen«, brauste Kurt auf, der schon Oberwasser gewittert hatte. »Was nützt es, leugnen zu wollen, was der Beamte mit eigenen Au gen gesehen hat?« »Er kann es nicht gesehen haben, weil es nicht stimmt.« »Sehen Sie, Herr Börner, dieses sinnlose Leugnen einer Tatsache macht mich nun wieder Ihren anderen Aussagen gegenüber miß trauisch. Sie kennen doch das alte Sprichwort: ›Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht‹? Ich kann mir zwar nicht erklären, wie ein Mann Ihrer Stellung etwas so Gesetzwidriges wie einen Hausfriedensbruch, um einen milden Ausdruck zu gebrauchen, vorgehabt haben könnte. Es gibt aber scheinbar nach außen hin sehr respektable Bürger, die ein Doppelleben führen –« »Ich verbitte mir –« »Da gibt es nichts zu verbitten. Schließlich ist Ihr Verhältnis mit Fräulein Weiß, das sich im geheimen abspielt, ja auch nichts anderes.« »Aber es ist kein Verbrechen. Die meisten Männer in meiner Vermö genslage halten sich eine Geliebte, wenn es denn unbedingt ausgespro chen werden muß.« »Das halte ich für eine grobe Übertreibung. So korrupt ist unsere Gesellschaft nun doch nicht. Aber das ist Ihre Sache. Ich begnüge mich vorläufig mit Ihren Erklärungen. Nach Rückkehr von Frau Simons werde ich wahrscheinlich eine Konfrontation vornehmen.« »Sie scheinen der Sache aber doch nicht viel Wert beizumessen, da Sie kein Protokoll schreiben ließen«, konstatierte Kurt mit Erleichterung. »Nicht nötig. Wir haben Ihre Aussage auf Band aufgenommen.« »Was!? Das ist ja unerhört!« »Wir müssen uns sichern, das ist selbstverständlich. Jeder könnte sonst nachher einfach behaupten, er habe das niemals gesagt.« Kurt sah ein, daß er sich mit den Tatsachen abfinden mußte. Schon fast an der Tür, drehte er sich noch einmal um. »Warum wird denn dieses Haus eigentlich überwacht?« »Ich bin nicht befugt, Ihnen darüber Auskunft zu geben. Hier sind wir es nun einmal, die Fragen stellen.« 127
Kaum war Börner unter Mitnahme seiner Papiere gegangen, versuch te Heuß, Christopher noch einmal zu erreichen. Er erzählte ihm, was er ermittelt hatte. »Ach so! Daher kennt sie diesen Menschen. Da konnte sie mir frei lich vorher nichts von ihm erzählen. Aber die Sache, ich meine, dieses Interesse für das Haus, ist doch merkwürdig.« »Ja, wenn der Kerl nicht schon gebunden wäre, würde ich darauf tip pen, daß er sie heiraten und sich von der Höhe der Mitgift überzeu gen wollte.« »Das soll ja wohl ein Witz sein, wie? Mildred ist gar nicht der Typ, der auf einen Menschen, wie Sie ihn schildern, Eindruck machen könnte.« »Er behauptete, sie sei so selbstsicher, und er hätte gern gewußt, wor auf sich das gründet. Wahrscheinlich hatte er gedacht, sie besitze eine wertvolle Villa.« »Mildred und selbstsicher? Dieses verängstigte Wesen?« »Vielleicht ist sie es dieser Sorte Mann gegenüber tatsächlich. Auch der Igel, der sonst inoffensiv ist, zeigt seine Stacheln, wenn man ihm zu nahe tritt.« Nach diesem Gespräch aß Christopher seine Spaghetti, die dreimal in der Woche auf dem Magenfahrplan standen, ohne überhaupt zu merken, was er in den Mund schob. Er war sehr nachdenklich und – wenn er sich auch selbst darüber ärgerte – auf eine neue Art beunru higt. Nur ungern gab er vor sich zu, daß er einen Stich Eifersucht spür te. Mildred war bisher so etwas wie sein unbestrittenes ›Privateigen tum‹ gewesen. Es gefiel ihm gar nicht, daß ein anderer Mann anschei nend versuchte, sich in ihr Leben zu drängen.
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XI
A
m Nachmittag des Dienstags riß die bisher tief herunterhängende Wolkendecke auseinander, und Mildred sah sich zum ersten Mal dem Giganten Blümlisalp gegenüber. Da Föhnstimmung herrschte, schien der riesige Berg so nah, daß man glaubte, ihn in einem kurzen Marsch erreichen zu können. Mildred fand ihn überwältigend und konnte sich nicht satt daran sehen. Sie beneidete all die Menschen, die tagtäglich diese einzigartige Bergwelt genießen konnten. Die Luft war für eine Städterin von unvorstellbarer Reinheit, allerdings für die Jah reszeit bereits kalt, so daß man sich warm einmummeln und im Haus tüchtig heizen mußte. So unscheinbar es von außen wirkte, so reizend war es im Innern. Der einzige, mittelgroße Wohnraum reichte bis ans Dach. Oben lag an zwei Seiten eine kleine Galerie, von der die Türen zu kleinen Schlafzimmern abgingen. Zwei weitere befanden sich im Erdgeschoß. Mildred bedauerte nur, daß die Einrichtung dem Stil des Hauses so gar nicht angepasst war. Billige städtische Allerweltsmöbel, die nicht zueinander passten, verdarben den Eindruck und gaben be sonders dem Wohnzimmer eine primitive Note. Mildred konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß allerhand in einem Estrich abge stellt Gewesenes hier noch Verwendung gefunden hatte. Ein einziges Einbettzimmer zeigte eine gewisse persönliche und angenehm frauli che Note. Sicher war es der Schlafraum der Hausfrau. Sonst fand Kurt anscheinend alles noch gut genug für ein Haus, das er selten bewohn te und dazwischen an Fremde vermietete. Wie es sich bei den anderen gleichartigen Chalets verhielt, konnte Mildred nicht erfahren, wohl aber, was an Miete entsprechend den Jahreszeiten ungefähr verlangt wurde. In der jetzigen Periode war keines vergeben, es war tote Sai son. 129
Von der Reisemüdigkeit und dem Regen gleicherweise befreit, fin gen die beiden jungen Frauen an, sich umzusehen. Sie durchforschten das Dorf, besichtigten den Blausee und begannen, Pläne für verschie dene Ausflüge zu machen. Über die Verteilung der Hausarbeit hatten sie sich geeinigt. Sie kamen recht gut miteinander aus. Mildred war bei weitem die Klügere und Gebildetere, aber Heli machte ihre geringeren geistigen Fähigkeiten durch Gutmütigkeit und eine gewisse herzliche Wärme wett. Sie erkannte Mildreds Überlegenheit ohne jeden Vor behalt an und hätte liebend gern ihre Freundin sein mögen, vermute te aber ganz richtig, daß ihre Gefährtin zu den Menschen gehörte, bei denen ein solches Gefühl nur langsam wuchs und mehr beinhalten mußte, als sie vielleicht zu geben vermochte. Der kleine Fonds war fast aufgebraucht, und Mildred plante einen Großeinkauf, um ihre Versorgung für mindestens eine Woche sicher zustellen. Heli begleitete sie, falls sie allein nicht alles tragen konnte, zumal Behältnisse wie Körbe oder Netze fehlten. Der Konsumladen war auf Selbstbedienung eingerichtet. Sie stöberten herum, um unter den ihnen größtenteils unbekannten Verpackungen das Gewünschte zu finden. Mit sich selbst beschäftigt, merkten sie nicht gleich, daß ih nen ständig eine Frau folgte, ohne indes selbst etwas einzukaufen. Sie beobachtete mit Argusaugen alles, was sie aussuchten, und stand auch hinter ihnen an der Kasse, als Mildred bezahlte. Da sie selbst nichts zu begleichen hatte, konnte sie direkt hinter den beiden jungen Frau en hinausschlüpfen und sich wiederum an ihre Fersen heften. Mild red, der es zur Gewohnheit geworden war, auf ihre Umgebung zu ach ten, merkte es sofort. »Was mag das für eine Person sein, die uns überall beobachtet? Jetzt ist sie schon wieder hinter uns.« Heli drehte sich um und musterte die Verfolgerin ungeniert. Diese erwiderte ihren Blick, ohne auszuweichen. Heli faßte einen Entschluß und blieb stehen, bis die andere herangekommen war. »Sind Sie vielleicht Frau Zopfi?« fragte sie geradezu. »Es fällt uns auf, daß Sie sich so auffallend für uns interessieren.« Die Frau mochte etwa fünfzig Jahre alt sein, sah mager, aber zäh aus. 130
Ihr Gesicht war verschlossen, wie das bei den Berglern oft der Fall ist, aber die Augen hatten einen offenen, geraden Blick. Unter Helis plötz lichem Vorstoß färbten sich ihre wettergegerbten Wangen mit leich tem Rot. »Die bin ich. Eigentlich hatte ich Sie fragen wollen, ob Sie mich nicht brauchen, dann sagte ich mir aber, Sie hätten mir sicher Bescheid ge sagt. Ich mache nämlich sonst immer die Hausarbeit, wenn das Chalet vermietet oder von Börners bewohnt ist.« »Da wir zu zweien sind, kommen wir ganz gut allein zurecht.« »Frau Börner hat mir sonst immer geschrieben, wenn sie vermie tet hat. Darum war ich erstaunt und auch ein bißchen unruhig, als ich sah, daß jemand im Chalet wohnt, ohne daß ich es weiß.« »Ich bin eine Cousine von Herrn Börner, und dies ist eine Verwandte von mir. Machen Sie sich keine Sorgen, es ist alles in Ordnung.« »Aber nach Ihrer Abreise saubermachen muß ich doch, nicht wahr? Auch die Bettwäsche muß gewaschen werden.« »Die haben wir uns selbst mitgebracht. Wir werden schon alles in guter Ordnung hinterlassen.« »Wie lange bleiben Sie denn?« »Das hängt ganz vom Wetter ab«, sagte Heli ausweichend. Frau Zop fi war nicht dumm. Sie hatte begriffen, daß diese beiden jungen Frauen nicht bereit waren, ihr mehr als die nötigsten Auskünfte zu geben. Ent täuscht verabschiedete sie sich. Sie hatte schon auf einen in dieser Jah reszeit sonst nicht anfallenden Verdienst gehofft. Da die beiden aber alles selbst machen wollten, war damit nicht zu rechnen. Mehrere Tage später wurde Frau Zopfi, wie immer ungern und un ter spitzen Bemerkungen über die Störung, zum Nachbarn ans Telefon gerufen. Sie erkannte sofort die Stimme von Frau Börner, zumal sie als einzige Hochdeutsch sprach. »Wie geht's, Frau Zopfi?« fragte sie in ihrer leutseligen Art. »Macht das Rheuma Ihnen wieder zu schaffen, da es bald Winter wird?« »Danke, es geht. Jetzt ist ja stille Zeit, da kann man sich pflegen.« »Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß wir über Weihnachten nicht kommen werden, aber vermietet haben. Es kam eine Anfrage vom 131
Verkehrsverein, und ich habe soeben zugesagt. Es handelt sich um Pa riser, ein Ehepaar mit einem kleinen Kind und einer Hausangestell ten. Sie werden also keine Bedienung brauchen, das Haus müßte nur vorher instand gesetzt werden. Sie bekommen von ihnen direkt Nach richt, an welchem Datum sie eintreffen. Sie bleiben vierzehn Tage.« »Ist recht, Frau Börner. Ich hatte mich schon gewundert, daß Sie mir die jetzigen Mieter nicht gemeldet haben. Es hätte doch etwas nicht in Ordnung sein können.« »Welche Mieter?« fragte Frau Börner erstaunt. »Die Cousine Ihres Mannes – ihren Namen hat sie mir nicht gesagt – und eine Verwandte von ihr.« »Seit wann sind sie denn im Chalet?« »Morgen wird es eine Woche sein. Warum? Wußten Sie nichts da von?« »Nein. Mein Mann wird das angeordnet haben. Weil ich mit seiner Cousine nicht gut Freund bin, hat er es mir nicht gesagt.« »Aha! Jetzt verstehe ich es. Die Arbeit machen die beiden selbst, und Bettwäsche haben sie auch mitgebracht.« »Das können sie halten, wie sie wollen. Alles Gute, Frau Zopfi. Wir sehen uns dann wohl im Februar, wenn man Ski laufen kann.« Frau Adele Börner hatte vor Frau Zopfi nicht zeigen mögen, wie ver stimmt sie darüber war, daß ihr Mann diese Einquartierung hinter ih rem Rücken arrangiert hatte. Seit geraumer Zeit stieß sie auf Schritt und Tritt auf solche Heimlichkeiten. Entweder hatte er sie früher bes ser verborgen, oder sie war nach den ersten üblen Erfahrungen hell höriger geworden. Nachdem er den letzten Kredit an Vertrauen aufge braucht hatte, war sie bereits vor einigen Wochen zu Dr. Carstens, dem alten Rechtsberater ihres verstorbenen Vaters, gegangen und hatte ihm ihre Enttäuschung geschildert. »Daß mein Mann mich seit Jahren betrügt, genau gesagt, seit dem Tod meines Vaters, unterliegt keinem Zweifel. Ich will die Lage nicht dramatisieren und behaupten, ich litte sehr darunter. Wo keine Liebe mehr ist, zählt eine Untreue mehr oder weniger nicht mehr viel. Au ßerdem bin ich nie eine eifersüchtige Natur gewesen; vielleicht habe 132
ich dadurch seinen Seitensprüngen unbewußt Vorschub geleistet. Nach und nach denke ich aber doch öfter daran, diese leer gewordene Ehe zu beenden.« »Haben Sie Beweise für die Untreue Ihres Mannes, liebe Adele?« »Nein. Ich hielt es immer für unter meiner Würde, ihm nachzuspio nieren!« »Diese Einstellung ehrt Sie, ist aber im vorliegenden Fall unreali stisch. Das Gericht stellt sein Verdikt auf stichhaltige Beweise ab, nicht auf unklare Gefühle. Sie werden nicht darum herumkommen, Ihren Mann beobachten zu lassen, und zwar sofort.« »Warum solche Eile?« »Ich halte Sie nicht für eine gute Schauspielerin, Adele. Sobald er Verdacht fasst, daß Sie sich scheiden lassen wollen, wird er sofort alle Spuren verwischen. Bedenken Sie, was für ihn auf dem Spiel steht! Die Weisheit Ihres Vaters und ein gewisses Misstrauen Börner gegenüber haben dafür gesorgt, daß Sie aus einem solchen Fall im Gegensatz zu ihm ohne Schaden herauskämen. Erinnern Sie sich noch, wie Sie sich seinerzeit gegen die Gütertrennung gewehrt hatten?« Sie lächelte trübe. »Ja, und auch, daß Vater seine Einwilligung von dieser Bedingung abhängig machte, so daß mir keine Wahl blieb.« »Die zweite nützliche Maßnahme, an der ich nicht unbeteiligt war, bestand in dem Kodizill des Testaments, daß die Generaldirektion der Werke in den Händen von Dr. Rychner zu bleiben habe. Ihr Vater hatte nicht lange gebraucht, um einzusehen, daß Börner keinerlei Fähigkei ten für diesen Posten besaß. Mit Recht wollte er verhindern, daß sein Lebenswerk nachträglich gefährdet werde.« »Gut, daß wir das erst nach seinem Tode erfuhren, sonst hätte sich unsere Ehe schon früher verschlechtert. Für mich war es zwar eine große Erleichterung, für meinen Mann aber eine grausame Enttäu schung. Sobald er erfahren hatte, daß sein Schwiegervater an Krebs litt, hat er angefangen, sich als der zukünftige Herr aufzuspielen. Dr. Rychner hatte einen schweren Stand mit ihm. Ein anderer mit seinen Fähigkeiten hätte aus Protest aufgegeben. Ich habe ihn damals bewun 133
dern gelernt. Er hatte sich den Werken, aber auch unserer Familie ver schrieben, als ob sie ihm gehörten. In dieser Treue ließ er sich nicht be irren.« »Er kannte das Kodizill des Testaments. Ich selbst war von Ihrem Vater beauftragt worden, es ihm vorzulesen. Aus diesem Grunde hat er der Zeit, da sein Chef nicht mehr die Hand über ihn halten konn te, mit Ruhe entgegensehen können. Als Ihr Vater starb, hatte Rychner mit seiner Hilfe bereits 30 Prozent der Aktien im Besitz. 60 Prozent fie len auf Sie und nur zehn auf Kurt Börner. Damit war dieser als Macht faktor weitgehend ausgeschaltet, es sei denn, Sie hätten ihm die Vertre tung Ihrer Aktien zugestanden. Glücklicherweise taten Sie das nicht.« »Auf leisen Druck Ihrerseits hin«, bekannte Adele lächelnd. »Damals hatte ich zwar noch keinen Verdacht auf Untreue meines Mannes, aber doch Zeit genug gehabt, um zu beobachten, daß er ziemlich arbeits scheu ist. Das Beispiel meines Vaters vor Augen, der so lange in den Sielen ausharrte, wie er sich überhaupt noch aufrecht halten konnte, gefiel mir das nicht. Es war leicht, sich vorzustellen, was unter Kur ts Leitung aus den Werken würde. Die Pflicht war in unserer Familie immer großgeschrieben worden. In dieser Tradition hatte man mich erzogen. Ich konnte und kann seine Gewohnheit, die halben Näch te aufzubleiben und morgens nicht aus dem Bett zu finden, nicht billi gen. Es macht einen schlechten Eindruck auf die Arbeiter, wenn nicht sogar böses Blut. Die Werke waren für ihn nur ein Mittel zum Wohl leben, ein Gegenstand des Prestiges, nie eine Verpflichtung. In dieser verschiedenen Grundhaltung lag bereits der Keim für das unabwend bare Scheitern unserer Ehe.« »Ermächtigen Sie mich also, eine Beobachtung in die Wege zu leiten?« »Wenn Sie es wirklich für nötig halten?« »Er wird nie in eine Scheidung einwilligen, wenn unser Beweismate rial ihn nicht dazu zwingt.« »Das sehe ich ein. Aber – was wird dann aus ihm werden?« »Rychner wird ihm zweifellos kündigen, wenn er nicht mehr Ihr Ehemann ist. Sein Gehalt belastet das Unkostenkonto ohne entspre chende Gegenleistung.« 134
»O weh! Das wird schmerzlich für ihn sein. Anderswo wird er wie der arbeiten müssen.« »Das ist vielleicht die beste Medizin für ihn. Das Wohlleben hat ihn verweichlicht, vielleicht wird der Existenzkampf ihn aufrütteln. Mit zehn Prozent Ihrer Aktien ist er immerhin kein armer Mann. Wenn er auch keineswegs davon leben kann, so bedeuten sie doch eine Beisteu er. Ich vermute aber eher, daß er sie zu Geld machen wird. Wenn sich eine solche Absicht herausstellt, wäre der Augenblick gekommen, ihm ein großzügiges Angebot zu machen, das eine Art Abfindung beinhal ten würde. Da er sie Ihnen sicher nur ungern überließe, müßte es ihm schmackhaft gemacht werden. Letzten Endes wird das für ihn vorteil haftere Angebot ausschlaggebend sein. Sollte ich mich aber täuschen, wäre es noch kein großes Unglück, wenn seine Aktien in fremde Hän de kämen, dafür sind es zu wenige.« Zehn Tage nach dieser Unterredung erfuhr Adele von Kurts Ver hältnis mit Heli Weiß, das durch seine unvermutet lange Dauer fast ei ner zweiten Ehe gleichkam. Es schien sich jetzt aber langsam auszu pendeln, denn verschiedene neue Bekanntschaften waren aufgetaucht, von denen zwei bereits ein intimes Stadium erreicht hatten. Diese Aus künfte, die Dr. Carstens ihr schonend beigebracht hatte, waren demü tigend, aber gleichzeitig auch heilsam. Das Mitleid, das sie mit Kurts Lage nach einer Scheidung bisher empfunden hatte, verminderte sich, wenn es auch noch nicht ganz schwand. Dr. Carstens wartete nun auf den Auftrag, die Scheidung einzuleiten, aber sie zögerte noch immer. Unklar wünschte sie, daß etwas passierte, das ihr den zornigen Im puls, den sie für einen solchen Schritt brauchte, geben würde. Wenn sie ihrem Mann bei den Mahlzeiten gegenübersaß, wobei die Kinder für Gesprächsthemen, die ihnen sonst gefehlt hätten, sorgten, fand sie es unvorstellbar, die wenn auch nur fingierte Friedlichkeit der Atmo sphäre durch eine solche Bombe zu zerstören. Kurt war immer ein starker Esser gewesen. Es hatte Augenblicke gegeben, da ihr das ani malische Behagen, mit dem seine starken Zähne die Speisen zerkau ten, auf die Nerven gefallen war, wie überhaupt seine ganze aufreizen de Selbstsicherheit. Er hatte sich nie die Mühe gemacht, darüber nach 135
zudenken, was in ihr vorging. Wahrscheinlich nahm er das ständig fortschreitende Erkalten ihrer Beziehungen für die natürliche Abnüt zung einer Ehe. Nie, dessen war sie sicher, hatte ihn auch nur ein Ge danke gestreift, sie könnte eines Tages genug von ihm haben. Es wäre klüger von ihm gewesen, hätte er ihren Besitz nicht für so sicher ge halten, sondern sich einige Mühe um sie gegeben. Ob es genügt hätte, um die fundamentale Verschiedenheit ihrer Lebensanschauungen zu überbrücken, war allerdings zweifelhaft. An diesem Mittag hatte Ade le beschlossen, das Thema Kandersteg anzuschneiden. Sie war neugie rig, wie er reagieren werde. »Der Verkehrsverein Kandersteg hat uns einen Mieter für die Weihnachts- und Neujahrstage zugehalten. Er bietet 1.200 Franken für zwei Wochen. Ich habe heute mit der Morgenpost seinen Brief erhalten und sofort zugesagt.« Während sie sprach, schaute sie ihren Mann unver wandt an. Es entging ihr nicht, daß er unter ihrem prüfenden Blick unruhig wurde. »Um wen handelt es sich bei dem Mieter?« »Um einen Pariser Rechtsanwalt mit Frau, Kleinkind und Hausmäd chen.« »Hat er Referenzen angegeben?« »Nein. Wir haben auch sonst keine verlangt«, sagte sie erstaunt. »Wenn er nicht bezahlt, kannst du es aus deiner Privatschatulle aus gleichen.« Jetzt hatte Adele begriffen, daß er sich an ihr reiben wollte. Ablen kung oder schlechtes Gewissen? Vorläufig wußte sie es nicht. Sie fuhr fort zu essen und schwieg. »Ich werde Frau Zopfi heute nachmittag vom Geschäft aus anrufen, dann brauchst du nicht zu schreiben«, sagte er nach einer Weile fried licher. »Nicht nötig. Ich habe schon mit ihr gesprochen.« »Was?! Von hier aus, wo es unsere Telefonrechnung belastet?« fuhr er auf, aber sie wußte genau, daß das nicht der Grund seines Ärgers war. »Ich wollte es eben gleich erledigen, bevor es vergessen wird.« Er beobachtete sie mißtrauisch. Wußte sie etwas? 136
»Bei dieser Gelegenheit habe ich erfahren, daß du Susanne im Cha let einquartiert hast, sie und eine Verwandte von ihr.« »Na – und? Hätte ich dich vorher um Erlaubnis bitten sollen? Du ver mietest ja auch ohne mein Einverständnis an wildfremde Leute, ohne dich nach ihnen zu erkundigen.« »Darf ich dich daran erinnern, daß du mich mit der Vermietung des Chalets ausdrücklich beauftragt hast? Bis heute hast du dich noch nie eingeschaltet, warum auf einmal jetzt?« Börner verstand sie mit Absicht falsch. »Susanne ist keine zahlende Mieterin, das versteht sich von selbst.« »Ich sprach nicht von ihr, sondern von den Weihnachtsmietern, die dir anscheinend ein Dorn im Auge sind. Kürzlich hast du gesagt, wir würden über die Festtage nicht hinfahren. Darum wäre es erfreulich, wenn wir vermieten könnten. Nun ist es geschehen, und es ist dir auch wieder nicht recht. Hattest du etwa im Sinn, über die Feiertage noch je manden aus deiner Verwandtschaft einzuladen?« »Tu nur nicht so, als begünstigte ich sie dauernd. Meines Wissens ist es das erste Mal, daß ich jemand von ihnen ins Chalet lasse. Und überhaupt – wie kommst du mir vor? Ich stehe nicht unter deiner Vor mundschaft.« »Nein, das könnte man wirklich nicht sagen«, gab sie ihm mit deutli cher Ironie recht. »Wie habt ihr denn das vereinbart? Läßt du dir neu erdings die Post ins Geschäft schicken?« »Und wenn? Wäre etwas dabei?« erwiderte er, mehr und mehr ge reizt. »Nein, wir haben uns telefonisch verständigt. Sie fragte mich, ob das Chalet frei wäre. Ich konnte nicht gut das Gegenteil behaupten. Je der weiß, daß um diese Jahreszeit kein Mensch in die Berge fährt. Sie hätte mir einfach nicht geglaubt.« »Der Plan ging also von ihr aus? Merkwürdig. Susanne muß sich sehr geändert haben. Bis jetzt hätte sie nie den kleinsten Gefallen von uns angenommen, geschweige denn erbeten.« »Von dir – willst du sagen.« »Von uns. Sie hat uns gleicherweise gemieden, weil sie es nicht ver tragen konnte, daß es uns besser ging als ihr.« 137
»Inzwischen hat sie wahrscheinlich eingesehen, daß es unklug war, sich einen gewissen Zugang zu unserem Wohlstand durch ihren Trotz selbst zu verbauen. Ich wollte nicht nachtragend sein, und schließlich tut es dem Chalet nicht weh, wenn es bewohnt wird, im Gegenteil. Es wird dann beheizt.« »Ist die Verwandte, die sie mitgenommen hat, ihre Schwester?« »Nein, ich glaube eine Freundin«, sagte Kurt, nie um eine Antwort verlegen. Susannes Schwester war gehbehindert. Man hätte nicht so leicht eine andere dafür unterschieben können. »Ich kann verstehen, daß sie keine Lust hatte, allein zu sein.« »Gewiß.« Kurt wandte sich, ruhiger geworden, da er jede Gefahr gebannt glaubte, mit einer Frage an die Kinder. An dem weiteren Gespräch, das sich nun entwickelte, nahm Adele nicht teil. Von dem vorange gangenen Geplänkel mit ihrem Mann war ein gewisses Unbehagen in ihr zurückgeblieben. Sie hatte im Lauf der Jahre einen sechsten Sinn dafür entwickelt, wenn er sie belog. Auch jetzt spürte sie, daß etwas nicht stimmte, nur ahnte sie nicht, was das sein könnte. Während des ganzen Nachmittags konnte sie ihre Gedanken nicht davon losrei ßen. Diese angebliche Bitte Susannes fand sie je länger desto unwahr scheinlicher. Es paßte einfach nicht zu ihr und der Tatsache, daß sie einander seit Jahren nicht mehr gesehen hatten. Außerdem fand Ade le es merkwürdig, daß Susanne, wenn sie Gesellschaft brauchte, nicht ihre Schwester, mit der sie zusammen lebte, mitgenommen hatte. Die se führte durch ihr Gebrechen und ihre relative Mittellosigkeit sicher ein ziemlich freudloses Dasein. Um so sonderbarer war es, daß Susan ne sie an diesen billigen Ferien nicht teilnehmen ließ und jemand an ders mitgenommen hatte. Man konnte dieser Cousine vieles nachsa gen, aber an ihrer Schwester hing sie mit seltener Treue. Sie in dieser Weise zu übergehen hätte Adele nicht von ihr erwartet. Schließlich war sie so unsicher geworden, daß sie Dr. Carstens anrief und ihm die Sa che erzählte. »Könnte es sein, daß da etwas dahintersteckte? Oder glauben Sie, daß ich Gespenster sehe?« 138
»Das ist von mir aus schlecht zu beurteilen. Jedenfalls würde es nichts schaden, dieser Sache, um klar zu sehen, auf den Grund zu gehen.« »Ja, aber wie?« »Lassen Sie mich nachdenken. Hat das Chalet einen Telefonan schluß?« »Ja, er wird nur jeweils abgemeldet, wenn es leersteht. Wir bezahlen dann einfach nur das Abonnement.« »Dann rufen Sie doch an. Es ist die einfachste Art, Gewissheit zu er langen.« »Wie sollte ich das denn motivieren, nachdem wir schon jahrelang nicht mehr miteinander verkehren?« »Nun, das ist doch nicht schwer. Sie sagen einfach, Sie hätten gehört, daß Kurt sie im Chalet einquartiert hätte, und wollten ihr einen schö nen Aufenthalt wünschen.« »Normalerweise würde ich das natürlich nicht tun. Aber wenn Su sanne sich herbeigelassen hat, um das Chalet zu bitten, was mir nach wie vor sonderbar scheint, wäre auch von meiner Seite eine gewisse versöhnliche Geste nicht so abwegig.« »Das ist die richtige Art, die Dinge zu sehen«, lobte er sie. »Tun Sie es am besten gleich, bevor Ihnen wieder Bedenken kommen. Gegebenen falls rufen Sie mich nachher noch einmal an.« Adele suchte die Nummer des Chalets heraus und wählte. Ihr Herz klopfte unvernünftig, und sie ärgerte sich darüber. Es war ihr so neu zu kontrollieren, ob Kurt ihr die Wahrheit gesagt hatte. Sicher war es eine unangebrachte Anständigkeit von ihr, er hatte diese ja auch bis her weidlich ausgenutzt. Sie ließ es lange klingeln, aber niemand mel dete sich. Schließlich war sie fast erleichtert, als sie den Hörer aufleg te. Aber dieses Gefühl hielt nicht an. Die Abwesenheit der beiden hatte ihr eine momentane Verlegenheit erspart, aber nichts zur Klärung bei getragen. Plötzlich überfiel sie ein Gedanke, als hätte er schon lange im Hinterhalt gelegen. War es nicht vielleicht eher seine Freundin, die Kurt im Chalet einquartiert hatte? Das wäre dann wirklich ein Grund zu diesem Heimlichtun. Er hätte das ziemlich gefahrlos riskieren können. Frau Zopfi kannte Susanne nicht, jede Beliebige hätte sich für sie ausge 139
ben können. Die Vorstellung machte ihr heiß. Es wäre fast so schlimm, wie wenn Kurt in ihrem eigenen Heim Ehebruch begangen hätte. ›Rege dich doch nicht so auf, noch ist es unbewiesen‹, redete sie sich zu. ›Au ßerdem – ob dort oder anderswo, ist das wirklich so wichtig? Es fügt nur noch ein wenig zu seiner Unbedenklichkeit hinzu. Eines Tages wird er meine Abwesenheit benutzen und sie in unser Haus kommen lassen. Nach und nach werden alle Hemmungen von ihm abfallen, und er wird mich sogar vor den Dienstboten lächerlich machen.‹ Erregt ging sie im Zimmer auf und ab. Dabei wurde ihr klar, daß das der letzte Tropfen wäre, der das Gefäß überfließen ließe, das Ende ihres feigen Zögerns. Sie fieberte jetzt danach, sich Gewissheit zu verschaffen. Schließlich überwand sie die letzte Hemmung und ließ sich von der Auskunft Su sannes Frankfurter Nummer geben. Wenn sie ohne ihre Schwester ge fahren war, hatte sie, Adele, alle Chancen, wenigstens diese anzutreffen. Von ihr würde sie dann erfahren, was sie wissen mußte. »Christen.« Adele erschrak maßlos. Es war unverkennbar Susannes immer et was raue Stimme. »Wer spricht denn dort?« fragte sie jetzt ungeduldig. Adele legte den Hörer mit zitternder Hand auf und setzte sich in den nächsten Sessel. Ihr Gefühl hatte sie demnach nicht betrogen. Susanne war in ihrem Frankfurter Heim, also hatte sich eine Fremde, von Kurt instruiert, in Kandersteg für sie ausgegeben. Wie erwartet hatte Frau Zopfi ihr ge glaubt, zumal sie einen Schlüssel gehabt haben mußte. Kurt hatte das Ganze so eingefädelt, daß es eigentlich klappen mußte, und ohne diese unerwartete Vermietung für Weihnachten wäre es auch gelungen. Als sie etwas ruhiger geworden war, rief sie noch einmal Dr. Carstens an. »Was raten Sie mir jetzt zu tun?« »Es gibt nur eines: Nach Kandersteg fahren und diese falsche Susan ne stellen. Ich bin, offen gestanden, nicht böse über diese Entwicklung. Sie brauchten etwas, das Ihnen zu einem Entschluß verhalf.« »Damit haben Sie recht. Aber finden Sie es wirklich nötig, daß ich die beiden sozusagen in flagranti erwische? Ich hasse Szenen, und es wird bestimmt eine geben.« 140
»Sie brauchen sich auf keine Diskussion einzulassen. Sie konstatieren einfach den Tatbestand. Die Namen der Frauen, mit denen Ihr Mann verkehrt, sind Ihnen jetzt bekannt, allen voran dieses Fräulein Heli Weiß, mit dem er ein langjähriges Verhältnis hat. Ich tippe auf sie und würde es ihr an Ihrer Stelle auf den Kopf zusagen. Natürlich müßten Sie Frau Zopfi mitnehmen, als neutrale Zeugin.« »Wie überaus peinlich …« »Weniger für Sie als für die anderen, Adele. Ich kenne Sie gut genug, um zu wissen, daß Sie auch diese Mission mit Ihrem üblichen Takt meistern werden. Haben Sie jetzt nur ein bißchen Mut. Bald liegt all dieses Widerwärtige hinter Ihnen, und Sie können mit Ihren Kindern ein neues Leben beginnen.« »Das sagt sich leicht. Für sie wird es auf alle Fälle ein Schock sein.« »Sie werden ihnen helfen, ihn zu überwinden. Melden Sie sich sofort, wenn Sie zurückkommen. Ich werde inzwischen alles vorbereiten.«
XII
A
n der Endstation der Buslinie, die am Schnittpunkt dreier Stra ßen lag, von denen eine zu Mildreds Haus führte, befand sich eine überdachte Bank, die im Sommer fleißig benutzt wurde, im Winter je doch aus begreiflichen Gründen nicht. Anscheinend gab es aber, dach ten die Busbenützer, Leute, die gegen Kälte unempfindlich waren. Seit einigen Tagen sahen sie morgens, wenn sie auf ihr Vehikel warteten, dort einen Mann sitzen, der einen Packen Zeitungen und so etwas wie einen Proviantsack neben sich hatte. Einzelne, die über scharfe Augen verfügten, wollten erspäht haben, daß es sich um englische oder ame rikanische Zeitungen handelte. Diejenigen, die mittags zurückkamen, sahen ihn noch immer dort sitzen, andere wieder berichteten, daß er sich mit Hin- und Herlaufen Bewegung verschaffe. Da die Buspassa 141
giere, die an der Endstation ein- oder ausstiegen, sich weitgehend kann ten, die einen näher, die anderen nur vom Sehen, fiel dieser Fremde und sein sonderbares Tun auf. Er hatte noch nie ein Wort zu jeman dem gesprochen, grüßte ihn aber einer, nickte er freundlich. Trotzdem er ein ansehnlicher Mann im Alter zwischen dreißig und vierzig war, fand ihn niemand sympathisch. Die einen behaupteten, er hätte etwas Lauerndes und zugleich Verstecktes an sich, die anderen hielten ihn für arbeitsscheu, da er seine Tage auf diese Weise vertrödelte. Er hatte sich gegen die eingetretene Herbstkühle mit einem kurzen Gehpelz ausstaffiert, den er zuweilen gegen Mittag auszog, wenn die Sonne her vorkam. Dann sah man, daß er nicht sehr gepflegt, sogar eher unsau ber war. Sein Hemdkragen war schmutzig, der Schlips glich mehr ei nem Strick, von einer Bügelfalte in der Hose konnte keine Rede sein. Tadellos war dagegen immer seine Rasur. Er trug an den Händen dik ke goldene Ringe, mit denen er gern spielte. Den vielen Zeitungen zum Trotz, hatte ihn noch niemand lesen sehen. Er spähte unablässig auf die Straße, als erwarte er jemanden. Die Leute hätten gern gewußt, um wen es sich handelte; aber in den Stoßzeiten, wenn sie unterwegs wa ren, wurde ihre Neugier nie befriedigt. Der Mann, dachten sie, mußte sich sträflich langweilen. Niemand konnte sich vorstellen, wie ein Mensch so viel Geduld aufzubringen vermochte. Morgens, mittags und abends, immer ungefähr um die gleiche Zeit, fuhr ein unauffälliger grauer Wagen durch die Straße, an deren Ende Mildreds Haus stand, und verschwand um die Kurve. Neben dem Fah rer befand sich stets eine Begleitperson. Wenn der Wagen zurückkehr te, war es aber nicht mehr dieselbe. Das Kennzeichen, das er trug, ge hörte zu der Kriminalpolizei. Bob hatte das herausgefunden, kurz be vor er sich entschloß, diesen Beobachtungsposten zu beziehen. Daß Mildred tatsächlich fort war, hatte sich inzwischen bewahrheitet. Bob war sicher, daß es der Polizei bald zu dumm werden würde, ein Haus zu bewachen, in dem sich nichts abspielte, und er behielt recht. Drei Tage hatte die Wachablösung stattgefunden, dann blieb der graue Wa gen aus. Bob gab noch einen Tag zu, dann fand er es gefahrlos, selbst dort wieder unterzuschlüpfen. Die Deutschen waren unangenehm 142
gründlich; immer sollte man sich eintragen und sogar den Paß vor weisen, selbst wenn man nur ein möbliertes Zimmer mietete. Bis jetzt hatte er sich dieser lästigen Kontrolle entzogen, indem er sich für jede Nacht woanders einquartierte und jeweils angab, sein Gepäck werde morgen nachkommen. Statt dessen verschwand er anderntags, ohne zu bezahlen, auf Nimmerwiedersehen. Er sah aber nicht ein, warum er dieses lästige Versteckspiel weiter fortsetzen sollte, wenn er doch einen Ort wußte, wo er unbehelligt und kostenlos kampieren konnte. Durch die letzte Erfahrung gewitzigt, hinterließ er nun aber nie mehr irgend welche Unordnung. Er schlief oben in der Kammer, nachdem er eine Katze, welche gewagt hatte, durch die Luke einzusteigen, totgeschla gen und zu später Nachtstunde im Garten verscharrt hatte. Noch ein mal hatte Mildreds Freund mit dem dicken Alten und anscheinend dessen Frau das Haus gründlich besichtigt. Das hatte sich aber abge spielt, während Bob noch auf seiner Bank Wache hielt. Diese Leute wollten, wie er damals erlauscht hatte, das Haus mieten. Er mußte da her weiterhin auf der Hut sein, um nicht eines Morgens vom Vorfah ren eines Möbelwagens überrascht zu werden. Aber selbst dann trau te er sich zu, sich mit einem errafften Gegenstand unter die Umzugs männer mischen und so das Weite suchen zu können. Irgendwie muß te das Haus ja ausgeräumt werden, bevor die Mieter einziehen konn ten. Von den damit Beauftragten war vielleicht zu erfahren, wohin die Reise ging, sofern es ihm möglich war, sich mit seinen paar Brocken Deutsch mit ihnen zu verständigen. Hatte er Mildred hier aufgespürt, würde es ihm auch weiterhin gelingen. Nur schnell mußte es gehen, denn bald waren seine Taschen leer. Vielleicht hatte die eine oder an dere der geprellten Vermieterinnen Anzeige gegen ihn erstattet. Da aber niemand seinen wahren Namen kannte, brauchte er keine Folgen zu befürchten. Die Polizei hatte anderes zu tun, als einer solchen Lap palie nachzugehen. Er lebte spartanisch, obwohl ihm das gar nicht lag. Zur Zeit hatte er jedoch keine andere Wahl. Er war aber voller Zuver sicht, daß die Dinge sich binnen kurzem ändern würden.
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Als die zehn ersten Tage ihres Fortseins verstrichen waren, schrieb Christopher Mildred einen Brief. Da er nun den Namen von Heli Weiß' Freund kannte, war er ziemlich sicher, daß sie unter der Adresse ›Ferienhaus Börner‹ erreicht werden konnte. Er bat sie, ihm mitzutei len, wann sie zurückkäme, und die Ankunftszeit, wenn möglich, so zu legen, daß er sie abholen könne. Tagsüber wäre das vielleicht schwie rig. Fürsorglich versprach er ihr, etwas Essbares einzukaufen, damit sie nicht ohne Lebensmittel sei. Nach dieser Einleitung, von der er wußte, daß sie sich darüber freuen würde, gestand er ihr, daß er Weißgerber zuerst allein, dann mit seiner Frau das Haus gezeigt habe, und sie nur ja zu sagen und die Miete festzusetzen brauche, um diese für sie unan gebracht einsame Behausung auf gute Art loszuwerden. Sie möge auch ein bißchen seinetwegen einwilligen, denn solange er sie dort gefähr det wisse, fände er nachts keine Ruhe. Inzwischen suche er nach einer Bleibe für sie. Von Bob stand nichts in diesem Brief. Wozu sie vorzei tig beunruhigen? Als er so weit gekommen war, hielt er inne. Sollte er ihr schreiben, daß sie ihm fehle? Es wäre die Wahrheit gewesen, konnte sie aber zu voreiligen Hoffnungen verleiten. Es war doch zu ärgerlich, daß hinter der Freundschaft eines Mannes mit einer Frau immer gleich etwas zu Weitgehendes gesucht wurde. Zu einem Verhältnis, wie es zwischen diesem Börner und Heli Weiß bestand, würde Mildred sich nie her geben, dessen war er gewiß. Er hätte nicht gewagt, es ihr vorzuschla gen, außerdem bestand keine Veranlassung dazu, da er sie nicht be gehrte. Seine frühere Freundin, Irma Redlich, hatte er nach und nach abgehängt, ohne sich bewußt zu werden, daß Mildred ihm ahnungs los zu diesem Entschluß verholfen hatte. Sie war ihm in gewisser Wei se zu einem Maßstab geworden, dem Irma nicht standhielt. Da sie sei ne ewigen Ausflüchte ebenso satt hatte wie er sie, hatten sie sich im Einvernehmen getrennt. Sicher hatte sich das Mädchen inzwischen ei nen neuen, ergiebigeren Flirt zugelegt, während er ein frauenloses Da sein führte, sich aber keineswegs vereinsamt vorkam. Immer würde dieser Zustand zwar nicht dauern können, aber vorläufig fand er die se gänzliche Unabhängigkeit ganz reizvoll. Kaum gedacht, berichtigte 144
er sich. Eigentlich war er das doch nicht, da er mit der Sorge um Mild red, wenn auch freiwillig, belastet war. Wer hätte ahnen können, als er sie das erste Mal auf der Terrasse in der Textilia aufgesucht hatte, daß daraus ein so kompliziertes Verhältnis entstehen werde? Es hatte Tage gegeben, an denen es ihm lästig gewesen war, seit er aber einen Beweis für die guten Gründe ihrer Angst hatte, war das nicht mehr der Fall. Irgendwie gehörte sie jetzt zu ihm, obschon er nicht begreifen konn te, wie es dazu gekommen war. Der Gedanke an sie und ihr schweres Schicksal rührte ihn immer wieder, und so beschloß er, sie doch mit dem Geständnis zu erfreuen, daß er sie vermisse. Sie brauchte, fand er, hin und wieder eine kleine Freude, um aus dem Jammertal ihres bis herigen Lebens herauszufinden. Nachdem er den Brief beendet hatte, las er ihn aufmerksam durch. Er versuchte, es mit Mildreds Augen zu tun, und war zufrieden mit sich. Das Schreiben hielt sich genau an die Grenze, die er sich gesetzt hatte, war aber herzlich und freundschaft lich, wie er es geplant hatte. Dieser Brief sollte nie in die Hände derer gelangen, für die er be stimmt war.
Trotz der intensiven Beeinflussung von Seiten Mildreds hatte Heli sehnsüchtig auf einen Telefonanruf Kurts gewartet. Sie konnte sich sein Schweigen nicht erklären und verbrachte, statt sich zu erholen, ihre Tage mit diesem fruchtlosen Warten, das ihre Nerven in ständi ger Anspannung hielt. Kaum daß sie noch wenigstens einmal täglich auf Mildreds Drängen mit ihr an die frische Luft ging. Statt erholt aus zusehen, war sie blaß, während ihre Gefährtin aufblühte wie seit Jah ren nicht mehr. Mildred konnte nicht begreifen, warum Heli jetzt so litt, hatte es doch geschienen, als mache sie sich keine Illusionen mehr über Kurt. Vor einigen Tagen hatte sie sich noch mit einem gewissen Triumphgefühl vorgestellt, wie sie ihm den Laufpass geben werde. Da von war jetzt, da er sie anscheinend abgeschrieben hatte, nichts mehr zu merken. Es hätte ihr die Trennung, deren Notwendigkeit ihr Mild 145
red immer wieder klargemacht hatte, sehr erleichtert, wenn sie von ihr ausgegangen wäre. Jetzt kam auch noch eine Demütigung dazu. Mildred vertrat die Meinung, unter diesen Umständen wäre es wohl das einzig Richtige, das Chalet zu verlassen und Kurt kommentarlos den Schlüssel an seine Geschäftsadresse zu senden. Aber so viel Stolz brachte Heli nicht auf. Sie weigerte sich, vor Ablauf ihrer Ferien von hier fortzugehen, dem einzigen Ort, an dem sie für Kurt zur Zeit er reichbar war. Einmal mußte das Telefon doch klingeln! Dieses hart näckige Schweigen war einfach nicht zu begreifen. Sie hatten ihm doch nichts getan. Bei seinem ersten und einzigen Anruf hatte er ihr sogar versprochen, sie und Mildred wenn möglich abzuholen. Was konnte inzwischen, unabhängig von ihrer Person, geschehen sein? »Es wird sich um eine andere Frau handeln. Und da sie für ihn den Reiz der Neuheit hat, vergisst er dich in der ersten Euphorie.« »Was ist das?« fragte Heli mißtrauisch. »Du kannst es mit Begeisterung übersetzen.« »Das wäre aber doch schrecklich! Mildred, ich bin so unglück lich …« »Aber, Heli, reiß dich doch zusammen! Kurt ist diesen Jammer nicht wert, und im Grunde weißt du das ganz gut.« Seit einigen Tagen duzten sich die beiden jungen Frauen. Der Vor schlag war von Heli gekommen, und Mildred hatte nicht das Herz ge habt, ihn abzulehnen, obschon sie selbst kein Verlangen nach solcher Vertraulichkeit empfand. Ohne ihr Wollen war sie in die Rolle eines Beichtvaters gedrängt worden und hatte sich in diesen Tagen mehr anhören müssen, als sie im Grunde vertragen konnte. Heli hatte ihr zuerst ehrlich leid getan. Aber dieses Gefühl verflüchtigte sich jetzt stündlich. Sie fand ihr Verhalten im höchsten Grade unlogisch, und das war es auch. Aber Heli, die anfangs wacker über Kurt hergezogen war, vertrug jetzt kein kritisches Wort mehr über ihn. Er war wieder zu dem Geliebten geworden, ohne den sie nicht leben konnte, der ein zige Mann, der für sie in Frage kam. Mildred hätte sie schütteln mö gen, aber was hätte das genützt? Eines Tages klingelte es wirklich, aber nicht das Telefon. Mildred 146
hatte Heli zum Bahnhof geschickt, um sich nach Zügen für ihre Heim reise zu erkundigen. Auf diese Weise konnte sie wenigstens sicher sein, daß diese Trauerweide eine halbe Stunde, wenn auch ohne eigenes Be dürfnis, Nutzen aus der frischen Bergluft zog und hoffentlich wieder etwas Farbe bekam. Nachdem Mildred sich vergewissert hatte, daß das Klingeln nicht vom Telefon herrührte, wollte sie die Tür öffnen gehen, als diese sich bereits auftat. Eine ihr unbekannte Dame, den Schlüssel, dessen sie sich bedient hatte, noch in der Hand, trat ein, ohne im ge ringsten um Erlaubnis zu fragen. Mildred war solchen Situationen ge genüber nicht sehr gewandt. »Sie wünschen?« fragte sie und hätte viel darum gegeben, wenn Heli zur Stelle gewesen wäre. Noch immer haftete ihr Fremden gegenüber etwas von der Menschenscheu an, unter der sie so lange gelitten hat te. Die Dame musterte sie kalt. Auf ihrer schönen Stirn stand eine stei le Falte. Mildred sah ihr unschwer an, daß sie nicht in freundlicher Absicht hier eingedrungen war. Beunruhigt sah sie zu, wie die ande re ihre Handschuhe auszog und neben ihre Tasche auf den Tisch legte. Dann schaute sie sich prüfend um, alles, ohne ein Wort zu sprechen. Als sie nun auch ihr Pelzhütchen abnahm und sich ungebeten hinsetz te, wußte Mildred nicht mehr, wie sie sich verhalten sollte. »Ich nehme an, daß Sie Fräulein Weiß sind?« fragte die Fremde end lich. »Nein«, erwiderte Mildred knapp. »Dann also ihre Freundin?« Nun wurde es Mildred zuviel. »Bevor ich Ihnen antworte, haben Sie vielleicht die Güte, sich vorzu stellen?« »Ach so. Ja, das vergaß ich, entschuldigen Sie. Ich dachte, Sie hätten es erraten, da ich ja einen Schlüssel zum Chalet besitze. Ich bin Frau Börner.« »Oh!« Mildred hauchte es entsetzt. Wie ein Blitz durchzuckte sie die Erinnerung an Christophers Warnung. Hätte sie doch nur auf ihn ge hört, dann stünde sie jetzt nicht in so tödlicher Verlegenheit da! »Nun?« fragte Adele Börner und weidete sich an ihrer Verlegenheit. Immerhin war sie gerecht genug, ihren Zorn, soweit noch etwas davon 147
übrig geblieben war, nicht an der Falschen auszulassen. Dieses Mäd chen machte einen überraschend wehrlosen Eindruck. Sie war ganz anders, als sich Adele die Freundin einer Heli Weiß vorgestellt hatte. »Wollen Sie mir Ihren Namen nicht auch sagen?« »Mildred Simons.« »Ich bin doch richtig informiert, daß Sie hier mit Fräulein Weiß Ihre Ferien verbringen, nicht wahr?« »Heli hatte mich eingeladen. Sie wollte nicht allein sein.« »Begreiflich. Mein Mann hat das gebilligt, nehme ich an?« »Ja.« »Sie kennen ihn also?« »Flüchtig.« »Haben Sie gewußt, daß diese Einquartierung hinter meinem Rük ken geschah?« »Ich nahm es an.« »Aber Sie finden nichts dabei, Hauptsache, daß Sie zu billigen Feri en kamen?« »Ich habe im Sinn, Herrn Börner Miete zu bezahlen. Zu diesem Zweck habe ich mich bereits erkundigt, was er erwarten kann.« »Ist Ihnen diese Idee nicht etwa erst in diesem Augenblick gekom men?« »Nein, aber ich kann verstehen, daß Sie mir nicht glauben.« »Nehmen wir an, es sei wahr, was hat Sie dazu bewogen?« »Ich habe meine Gründe, möchte sie Ihnen aber nicht sagen.« »Warum nicht?« »Weil sie Sie verletzen könnten.« »Auf einmal so feinfühlig? Geben Sie zu, daß das unwahrscheinlich klingt.« »Ich kann es nicht ändern.« »Sind Sie mit Fräulein Weiß intim befreundet?« »Keineswegs. Als wir hier ankamen, sagten wir noch Sie zueinan der.« »Und trotzdem nahmen Sie die Einladung an?« »Das lag an meinen besonderen Lebensumständen.« 148
»Fräulein Weiß hat seit drei Jahren ein Liebesverhältnis mit meinem Mann. Ist Ihnen das bekannt?« »Sie hat es mir gesagt, aber nicht, seit wann es dauert.« »Und Sie finden nichts dabei, daß Ihre Freundin mich mit meinem Mann betrügt?« »Doch. Ich habe es Heli in der letzten Zeit Tag für Tag gesagt.« »Aber sie will natürlich nicht auf Sie hören. Mein Mann ermöglicht ihr sicher ein sorgenfreies Leben.« »Darin irren Sie sich. Heli arbeitet, sie läßt sich nicht aushalten.« »Ich nehme an, daß Sie das nicht so sicher wissen –« »Doch. Heli liebt ihn, darin sieht sie ihre Rechtfertigung. Außerdem hatte er ihr gesagt, er sei unglücklich in seiner Ehe.« »Das Übliche«, meinte Adele Börner trocken. »Es ist erstaunlich, wie leicht Frauen auf so etwas hereinfallen.« »Frau Börner, ich begreife voll und ganz, daß Sie schlecht auf Heli zu sprechen sind; aber Sie beurteilen sie wahrscheinlich doch falsch.« »Inwiefern? Ich denke, die Lage ist eindeutig?« »Sehen Sie, Heli ist ein bißchen dumm, sie läßt sich leicht beschwat zen, sonst aber ist sie ein herzensgutes Mädchen. Ich bin sicher, daß sie nie eine Frau betrügen würde, die sie kennt.« »Nun, das werden wir ja erleben. Wo ist Ihre Freundin zur Zeit?« »Bitte, nennen Sie sie nicht immer meine Freundin«, sagte Mildred peinlich berührt. »Ich habe sie zum Bahnhof geschickt, um sich Züge für meine Rückkehr herauszuschreiben. Sie muß jetzt jeden Augen blick zurück sein. Übrigens hat Ihr Mann sie außer am ersten Tag nie mehr angerufen, und sie ist sehr unglücklich darüber. Ich habe den Eindruck, daß dieses Verhältnis sich auflöst, auch wenn Sie nicht da zwischengekommen wären.« »Hoffentlich sagen Sie das nicht nur, um mich zu besänftigen. In Wirklichkeit bin ich nicht sehr zornig, es lohnt sich nicht.« »Das finde ich auch!« entfuhr es Mildred. »Wollen Sie damit sagen, daß ich Ihrer – Fräulein Weiß verzeihen solle?« »Nein, ich meinte etwas anderes.« 149
Adele schaute sie einen Augenblick nachdenklich an. »Sie wollten mir also beipflichten, daß es sich nicht lohnt?« fragte sie mit einem winzigen traurigen Lächeln. »Wenn Sie mich schon danach fragen: Ja, das meinte ich.« »Und worauf gründen Sie diese Ansicht, da Sie ihn doch nach Ihren eigenen Angaben nur flüchtig kennen?« »Ich finde, daß er nicht nur Ihnen, sondern auch Heli großes Un recht zufügt. Sie ist dazu geschaffen, zu heiraten, einen Mann glück lich zu machen und ihm Kinder zu schenken. Das hat Herr Börner nun schon während der ganzen Dauer dieses Verhältnisses verhindert. In meinen Augen ist sie unbedingt der gebende Teil.« »Wenn das stimmt, sieht manches anders aus, als ich es mir vorge stellt hatte. Es war vielleicht ganz gut, daß ich Sie allein angetroffen habe.« »Zuerst hat mich Ihr Auftauchen erschreckt, aber jetzt neige ich eher zu dem Glauben, daß es für Heli heilsam sein werde. Es wird sie hof fentlich von dem Wahn befreien, daß sie ohne Ihren Mann nicht leben könne. Ich hatte schon geglaubt, sie davon geheilt zu haben, aber es war ein Irrtum. Seit er nicht mehr anruft, ist sie rückfällig geworden.« »Eine Frage: Wären Sie bereit, vor Gericht zu bezeugen, daß mein Mann Fräulein Weiß das Ferienhaus zur Verfügung gestellt hat? Mein Anwalt hat mir geraten, Frau Zopfi als Zeugin mitzunehmen, aber dazu konnte ich mich zunächst nicht entschließen. Mir wäre es lieber, wenn Sie diese Rolle übernehmen würden.« »Als Zeugin – vor Gericht? Wie soll ich das verstehen?« »Ich habe die Absicht, mich scheiden zu lassen.« »Oh … Wegen Heli?« »Unter anderem.« »Bitte erwarten Sie nicht von mir, daß ich gegen sie aussage.« »Es handelt sich nur um die Bestätigung dieses Ferienangebots. Über das Verhältnis an sich werden Sie ohnehin nicht aussagen können. Sie wissen ja nichts aus eigener Anschauung, nehme ich an?« »Absolut nichts. In meiner Gegenwart war Herr Börner so unfreund lich zu Heli, daß ich ihn, offen gestanden, nicht ausstehen konnte.« 150
»Das war wahrscheinlich Tarnung.« »Eine unnötige. Er konnte nicht im Ernst annehmen, daß ich die bei den nur für flüchtige Bekannte hielt. Außerdem mußte er wissen, daß Heli sehr schwatzhaft ist; sie hätte die Wahrheit nie bei sich behalten können.« »Werden Sie also aussagen?« »Nicht, wenn ich es vermeiden kann.« »Dann muß ich Sie vorladen lassen. Das hat für Sie den Vorteil, daß kein Verdacht aufkommen kann, Sie hätten sich absichtlich gegen Fräulein Weiß gestellt.« Mildred dachte unwillkürlich an ihren eigenen Prozess und schau derte zusammen. Sie hatte so sehr gehofft, nie mehr mit einem Ge richt zu tun zu haben. Jetzt war sie auf so dumme Art in etwas hin eingeschlittert, das sie, wenn auch zwangsweise, zu einer Zeugin ma chen mußte. ›Hätte ich doch auf Christopher gehört!‹ dachte sie un ablässig. »Nun, nun«, sagte Frau Börner freundlich zuredend, »Sie sind ja ganz blaß geworden. Den Kopf wird es bestimmt nicht kosten.« Mildred konnte nun nicht mehr schweigen. Es war stärker als sie. »Ich bin in Amerika wegen Kindesmord verurteilt worden und war ein Jahr im Zuchthaus, bevor meine Unschuld sich herausstellte. Begrei fen Sie jetzt, daß es in mir entsetzliche Erinnerungen aufwühlen wür de, wenn ich wieder vor Gericht erscheinen müßte?« »So verhält sich das?« sagte Frau Börner erschüttert. Ihre Stimme klang warm und teilnahmsvoll. »Was für ein schweres Schicksal wur de Ihnen auferlegt. Sind das Ihre besonderen Lebensumstände, derent wegen Sie die Einladung annahmen? Offen gestanden sehe ich da kei nen Zusammenhang.« »Es gibt aber einen«, sagte Mildred, und ihre Stimme klang plötzlich grenzenlos müde. »Mein geschiedener Mann, der den wirklichen Tä ter angestiftet hatte, stellte mir in böswilliger Absicht nach. Für mich bedeutet dieser Aufenthalt hier ein paar Wochen Befreiung von mei ner ständigen Angst.« »Jetzt verstehe ich es. Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen. Unter die 151
sen Umständen werde ich versuchen, ohne Ihre Zeugenaussage auszu kommen, das verspreche ich Ihnen.« »Heli weiß nichts von all diesen Dingen. Bitte erwähnen Sie sie nicht in ihrer Gegenwart. Ich möchte mein Unglück nicht an die große Glok ke gehängt sehen.« »Begreiflich.« Mildred hatte von Zeit zu Zeit einen Blick auf das Fenster geworfen. Jetzt richtete sie sich auf. »Ich sehe Heli kommen. Sie wünschen sicher, mit ihr allein zu blei ben? In diesem Falle werde ich einen Spaziergang machen.« »Tun Sie das nicht. Ich hätte gern, daß Sie dabei wären. Wenn Fräu lein Weiß ausfallend werden sollte, werden Sie sie sicher zur Mäßigung überreden.« »Diese Sorge ist unbegründet. Ich sagte Ihnen ja schon, daß Sie sie falsch sehen. Denken Sie bitte daran, daß sie nicht sehr intelligent und außerdem noch unglücklich ist. Das Übergewicht ist in jeder Hinsicht auf Ihrer Seite.« Als das Chalet vor ihr auftauchte, fing Heli an zu rennen. Sie war plötzlich überzeugt, daß Kurt inzwischen angerufen hätte. Mildred deutete ihre Eile richtig. Das Herz tat ihr weh vor Mitleid. Gerne wäre sie hinausgegangen und hätte die Ahnungslose auf die böse Überra schung, die ihrer harrte, vorbereitet, aber das war in Frau Börners Ge genwart unmöglich. Heli suchte anscheinend nach ihrem Schlüssel, da sie übereingekommen waren, das Chalet nie offenzulassen. Als sie ge merkt hatte, daß die Tür offen war, stürzte sie ins Zimmer wie die Feu erwehr. »Hat Kurt –« Das Wort blieb ihr im Halse stecken. Mit weit aufgeris senen Augen starrte sie die Fremde an. »Nein, er hat nicht angerufen, falls Sie das meinten, Fräulein Weiß. Ich bin Frau Börner, aber ich war es nicht, die ihn daran gehindert hat. Es muß andere Gründe geben, die nicht mit mir zusammenhängen.« Mildred war froh, daß sie die Besucherin auf Helis geringen Intel ligenzgrad vorbereitet hatte, denn jetzt sah diese vor Verblüffung ge radezu töricht aus. Ihre erste Reaktion war, sich wieder bis zur Haus 152
tür zurückzuziehen, und dort, die Hand auf der Klinke, fluchtbereit zu stehen, als erwarte sie einen tätlichen Angriff. Ihr Benehmen war so peinlich, daß Mildred zu ihr hinging und behutsam versuchte, sie zum Tisch hinzuführen, an dem die Besucherin saß. »Es hat keinen Zweck, davonzulaufen, Heli. Du mußt dich jetzt mit Frau Börner aussprechen.« Das Mädchen wehrte sich störrisch. »Was wird sie mir antun?« flüsterte sie angsterfüllt. »Fräulein Weiß scheint zu meinen, ich sei hier als eine Art Racheen gel aufgetaucht«, schaltete sich Frau Börner kopfschüttelnd ein. »Was hätte es für einen Zweck, ihr eine Szene zu machen? Der Ehebruch ist nun einmal geschehen.« »Was wollen Sie denn von mir?« stieß Heli kläglich hervor. »Ich sehe ja ein, daß Sie Grund haben, wütend auf mich zu sein. Aber ich hatte immer gedacht, ich nähme Ihnen nichts weg. Kurt ließ mich im Glau ben, Sie – Sie wohnten nur noch zum äußeren Schein beieinander.« »Daran ist etwas Wahres«, gab Adele Börner ehrlich zu. »Aber wir haben zwei Kinder. Wußten Sie das nicht?« »Doch. Aber die wissen doch sicher nichts von mir?« »Natürlich nicht. Ich habe es ja selbst erst kürzlich erfahren. Daß mein Mann mich betrügt, habe ich dagegen schon lange geahnt. Aber jetzt muß ich Material sammeln für meine Scheidungsklage.« »Sie – Sie wollen sich scheiden lassen?« stotterte Heli überwältigt. »Kurt sagte immer, Sie hätten es abgelehnt.« »Das war für ihn ebenso bequem wie objektiv falsch, da wir nie über eine solche Möglichkeit gesprochen haben. Ich werde Ihnen nicht er sparen können, Ihr illegales Verhältnis mit meinem Mann vor Gericht zuzugeben. Sie sind nun einmal die hauptsächliche Partnerin des Ehe bruchs, und dieser fällt mehr als alles andere ins Gewicht, weil er seit Jahren andauert. Ein Beauftragter meines Anwalts hat festgestellt, wo sich das Zimmer befindet, das mein Mann vor drei Jahren für Ihre Be gegnungen gemietet hatte. Der Hauswart wird Sie erkennen. In letzter Zeit scheint mein Mann auch noch andere Frauen dorthin gebracht zu haben. Wir wissen auch ihre Namen, aber die wichtigste sind Sie.« 153
»Oh!« murmelte Heli blutübergossen, »diese Schande! Was werden meine Eltern dazu sagen? Sie wissen doch von nichts. Ich wohne bei ihnen, aber sicher nicht mehr lange, wenn diese Geschichte heraus kommt. Sie werden mich verstoßen.« »Nun, eine gewisse Strafe haben Sie verdient, das sehen Sie hoffent lich ein?« »Hätte ich Sie vorher gekannt … Ich dachte immer, Sie seien ein Dra che, mit dem man nicht auskommen könne.« »Mein Mann«, sagte Adele Börner wider Willen belustigt, »scheint ein schönes Bild von mir entworfen zu haben.« »Es stimmt aber nicht, das sehe ich jetzt. Sie hätten das Recht, auf mich loszugehen, statt dessen sprechen Sie ganz ruhig mit mir. Das würde eine andere an Ihrer Stelle nicht fertigbringen. Was soll ich jetzt tun, ich meine, wie kann ich es wiedergutmachen?« »Das wird wohl nicht möglich sein. Machen Sie sich Hoffnungen, daß mein Mann Sie heiratet, wenn er frei ist?« »Bis vor kurzem hätte ich es geglaubt, aber jetzt nicht mehr. Vielleicht ruft er darum nicht mehr an, weil er eine solche Erwartung fürchtet. Halten Sie das für möglich?« »Eigentlich nicht. Er weiß nämlich noch gar nicht, daß ich mich von ihm trennen will. Mein Anwalt wird es ihm dieser Tage mitteilen.« »Dann kann das also nicht der Grund für sein Schweigen sein.« »Nein. Meiner Ansicht nach wird er, wenn er wieder heiratet, nur eine Frau mit viel Geld nehmen. Das trifft sicher für Sie nicht zu?« »Absolut nicht. Ich bin eigentlich, um die Wahrheit zu sagen, arm. Von meinem Verdienst mußte ich immer die Hälfte zu Hause ablie fern. Der Rest reichte gerade knapp für Kleidung und tägliche Ausga ben. Übrig blieb nichts.« »Mein Mann war demnach nicht sehr freigebig zu Ihnen?« »Ich habe keine Vorteile gesucht. Ich – ich liebe ihn nämlich, oder wenigstens glaubte ich das bisher.« »Armes Kind! Ich kann mir nicht vorstellen, daß er Ihnen viel Gutes getan hat, wenn Sie es nicht darauf anlegten. Freiwillig zu schenken ist nicht seine Art. Zuerst kommt immer er, dann lange nichts mehr und 154
wieder er. Wo er Sie in seinem kargen Gefühlsleben eingereiht hat, ent zieht sich meiner Kenntnis.« Heli begann zu weinen. »Zuerst habe ich geglaubt, er liebe mich auch. Sonst hätte ich nie – er war nämlich der erste Mann in meinem Leben. Unsere Eltern haben meine Schwester und mich sehr streng gehalten. Ich habe ihnen des wegen immer gezürnt, aber jetzt merke ich, daß sie ihre guten Gründe hatten. Wie schrecklich ist das alles! Ich habe mich immer für ein an ständiges Mädchen gehalten, aber jetzt … Wenn sie das in der Textilia erfahren, verliere ich meine Stelle.« »Nicht doch, Heli. Dein Privatleben geht die Firma nichts an, wenn du daneben deine Pflicht tust.« »Aber wenn ich vor Gericht muß, wird es in die Zeitung kom men –« »Unsinn«, beruhigte sie Adele. »Was mich betrifft, lasse ich Sie in Frieden, bis auf diese unumgängliche Zeugenaussage, zu der Sie mein Anwalt namhaft machen wird. Leider sind Scheidungen wegen Ehe bruchs heutzutage an der Tagesordnung; der Fall wird über die aller nächste Umgebung hinaus kein Aufsehen erregen.« »Glauben Sie?« fragte Heli mit schüchterner Hoffnung. »Ich finde Sie großartig, Sie trösten mich ja geradezu, während ich etwas ande res verdient hätte.« »Frau Börner«, mischte sich Mildred nun ins Gespräch, »darf ich Ih nen gleich meinen Anteil an der Miete geben? Man sagte mir, jetzt, in der toten Saison, seien dreihundert Franken pro Person angemessen. Sind Sie damit einverstanden?« »Ach, lassen Sie das doch sein. Sie waren eingeladen und haben mit dieser Ausgabe nicht gerechnet.« »Sie wirft mich nicht um«, sagte Mildred fest. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, gehe ich packen. Das Geld hinterlasse ich ir gendwo an sichtbarer Stelle, wenn Sie es jetzt nicht nehmen wollen.« »Das hat aber doch keine Eile.« »Doch. Was Heli tun will, muß ich ihr überlassen, aber ich ziehe je denfalls noch heute aus.« 155
»Ich auch«, pflichtete ihr Heli, wenn auch ziemlich lauwarm, zu. »Hätt' ich nur auf Mildred gehört! Als Kurt nicht mehr anrief, hat sie mir sofort gesagt, wir seien es unserem Stolz schuldig, auszuziehen. Aber ich«, fügte sie leise und sehr beschämt hinzu, »habe anscheinend keinen.« Mildred merkte mit Genugtuung, daß Frau Börner die Sache genau so auffasste, wie sie es gewünscht hatte. Heli war einfach kein Mensch, über den sich ein flammender Zorn ergießen konnte. Sie hatte so gar nichts von einer Intrigantin oder sogar einem Bösewicht. »In diesem Fall«, meinte Frau Börner nach kurzem Nachdenken, »könnte ich ja heute nacht hier bleiben. Ich wäre nach der langen Fahrt und den Aufregungen zu müde, jetzt gleich zurückzufahren. Für alle Fälle habe ich Nachtsachen mitgebracht, sie sind draußen im Wagen. Wenn Sie aber lieber noch bis morgen bleiben möchten, kann ich auch ins Hotel gehen. Sie werden verstehen, daß es etwas grotesk wäre, wenn ich hier in trautem Verein mit Ihnen übernachten würde.« »Das kommt natürlich nicht in Frage«, sagte Mildred energisch. »Du hast dich doch nach Zügen erkundigt, Heli? Haben wir heute abend noch einen passenden?« »Erst gegen halb zehn.« »In diesem Fall suche ich jetzt noch Frau Zopfi auf und unterrich te sie, soweit das nötig ist«, schlug Frau Adele vor. »Anschließend gehe ich irgendwo essen. Es bleibt also Zeit genug für Sie, vor der Reise noch etwas zu kochen, ein bißchen aufzuräumen und die Koffer zu packen. Frau Zopfi wird mich sicher eine Zeitlang festhalten, und auch im Re staurant werde ich warten müssen. Sie haben gut zwei Stunden Zeit.« »Wir werden uns beeilen«, versprach Mildred. »Essen können wir auch anderswo.« »Auf keinen Fall. Sie haben sich sicher schon etwas besorgt. Treiben Sie den Stolz nun auch nicht auf die Spitze. Ich beraube Sie schon Ihrer Ferienunterkunft, mit der Sie gerechnet hatten, aber ich habe wirklich nicht im Sinn, Sie Knall auf Fall wegzujagen. Auf später!« Sie war noch nicht unter der Tür, als das Telefon klingelte. Heli woll te hinstürzen, aber Frau Börner hielt sie mit einer Geste zurück. 156
»Es ist, sicher für mich«, sagte sie mit einem etwas boshaften Lä cheln. »Hallo?« »Sind Sie es, Mildred?« fragte Börner etwas unsicher, da es nicht He lis Stimme zu sein schien. »Nein, ich bin es, Adele.« »W-was? Dann muß ich falsch verbunden sein –« »Keineswegs. Du bist mit unserem Chalet in Kandersteg verbunden. Das wolltest du doch, nicht wahr?« »Aber w-wie kommst du denn auf einmal dorthin? Elise sagte mir zwar, du seist fortgefahren, wußte aber nicht, wohin.« »Ich hatte, wie du dir denken kannst, Sehnsucht nach unserer Cou sine Susanne. Sie hat sich inzwischen sehr verändert.« »Adele, bitte! Ich werde dir alles erklären, aber nicht jetzt – am Te lefon.« »Es gibt nichts zu erklären, die Lage ist eindeutig. Mein Anwalt wird dir übermorgen mitteilen, daß er die Scheidungsklage eingereicht hat.« »Adele!! Das kannst du mir nicht antun! Denke an die Kinder!« »Du meinst das Geschäft, das ist dir sicher wichtiger aus nahe liegen den Gründen. Aber daran hättest du früher denken sollen. Nun sind die Dinge, wie sie nun einmal sind, du wirst dich damit abfinden müs sen. Nimm es nicht zu tragisch, ich tue es auch nicht.« Mit diesen Wor ten legte sie den Hörer auf, nahm ihre Handtasche und nickte den bei den freundlich zu, bevor sie das Chalet verließ. Heli fand erst die Sprache wieder, als Frau Börner schon den Zu fahrtsweg hinter sich hatte. »Mildred, die ist aber großartig! Und so eine Frau hat Kurt mit mir betrogen, ausgerechnet mit mir, die ich ihr nicht das Wasser reichen kann … Ich schäme mich wie ein Pudel …« »Das kann dir nur heilsam sein«, erwiderte Mildred, die keine Lust hatte, sie zu schonen.
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XIII
D
ie Lage schien sich völlig beruhigt zu haben. Nachdem mehrere Tage verstrichen waren, ohne daß sich etwas rührte, riskierte es Bob, auch tagsüber in Mildreds Haus zu bleiben. Er ließ jedoch stets die hintere Terrassentür offen, um gegebenenfalls einen Fluchtweg zu haben. Da seine Mittel aufgebraucht waren und er sich, ohne zu arbei ten, keine neuen besorgen konnte, hatte er den ihm ohnehin näher lie genden Ausweg beschritten, sich mit Gewalt welche zu beschaffen. Al lerdings waren ihm, wie er es verächtlich nannte, nur kleine Fische ins Garn gegangen, Frauen, die spät abends allein vom Kino nach Hause gingen und deren Handtaschen er an sich reißen konnte. Für einen größeren Coup fehlten ihm die Informationen. Aber eines Tages muß te Mildred ja wieder auftauchen, und dann würde er sie schon kirre machen. Zwischen der Drohung, ihr einen physischen Schaden zuzu fügen, und der Vorspiegelung, für immer aus ihrem Leben zu ver schwinden, blieb ihr nur die Wahl nachzugeben und ihm zu über schreiben, was sie geerbt hatte. Wieviel es war, wußte er nicht. Wenn die Summe ihn befriedigte, konnte sie das Haus behalten, sonst würde er es zu seinen Gunsten verkaufen lassen. Mildred hatte sich nie etwas aus Geld gemacht, die dumme Ziege. Als ob das nicht die Hauptsache im Leben wäre! Diese ihre Einstellung berechtigte ihn zu den schön sten Hoffnungen, daß sie jedes Opfer bringen würde, um von ihm und der Gefahr, die er für sie bedeutete, befreit zu werden. Allerdings dach te er keinen Augenblick daran, Wort zu halten. Mildred behielt ihren Wert für ihn als Reserve, wenn er wieder einmal auf dem trockenen saß. Schade, dachte er zynisch, daß er sie nicht auf die Straße schicken konnte, das brächte mehr ein als ihre Arbeit. Aber sie würde sich eher umbringen, als das zu tun. Wenn er sie erst so gründlich wie möglich 158
ausgenommen hatte, wollte er nach Amerika zurückkehren, wo er we nigstens mit den Leuten reden konnte. Allerdings mußte er auch dort untertauchen, bis er sicher wußte, daß die Polente ihn nicht mit jenem Hold up in Verbindung brachte. Aber Amerika war groß, es gab genug Möglichkeiten für einen Tapetenwechsel, das war seine geringste Sor ge. Hier, wo die Verhältnisse weit übersichtlicher waren, mußte er auf passen, um nicht aufzufallen. Am vierten Morgen, nachdem er im Haus geschlafen hatte, sah er zufällig, als er durch die Spalte des Fensterladens nach dem Wetter schaute, den Briefträger etwas Längliches, Weißes in den am Garten zaun angebrachten Kasten stecken. Sofort stach ihn die Neugier, von wem Mildred Briefe bekam. Vielleicht konnte ihm das einen wichtigen Hinweis geben, allerdings nur, wenn das Schreiben in Englisch abge fasst war. Da man zu dieser Jahreszeit hinter der Kurve keine Passan ten zu befürchten hatte, höchstens einmal einen Wagen, der dort wen den wollte, wagte er sich aus dem Haus und holte den Brief. Er stamm te von einem Notar namens Schenk, Seevogelstraße 7, eine Straße im Zentrum, in der er schon gewesen war. Was hatte Mildred mit einem notary zu tun? Dieser Sache mußte er auf den Grund gehen. Ohne Skrupel öffnete er das Schreiben. Schenk, Tante Friedas Testaments vollstrecker, hatte der in Amerika lebenden Erbin von vornherein in Englisch geschrieben, da er nicht ahnen konnte, daß sie die deutsche Sprache beherrschte. Dabei war es geblieben. Er hatte zwei Semester in England studiert und war stolz auf seine Sprachkenntnisse. Um sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, benutzte er sie bei jeder Gele genheit. Bob hatte darum Glück. Das Schreiben hatte folgenden Wort laut: »Sehr geehrte Frau Simons! Auf Umwegen hat mich ein Schreiben Ihres Vaters erreicht, der erfahren hatte, daß ich Testamentsvollstrecker Ihrer Tante war. Er bittet mich, wenn irgend möglich, mit Ihnen in Verbindung zu treten, Sie wissen zu lassen, daß er schwer krank sei und nur höchstens noch zwei Monate zu leben habe. Vor seinem Tod möchte 159
er Sie noch einmal sehen. Er liegt im Sanatorium ›Of Promise‹ in Washington und bittet Sie, sich sofort auf die Reise zu begeben. Einen Gutschein für den Flug fügt er bei. Falls seine Frau oder sein Sohn die Zusammenkunft zu verhindern suchten, müßten Sie sich unbedingt durchsetzen, schlimmstenfalls mit Hilfe der Polizei. Auf alle Fälle sei es besser, Ihre Ankunft nicht anzukündigen. Es handle sich, wie Sie sich denken könnten, um eine eventuelle Testamentsänderung zu Ihren Gunsten. Darum sei es von kapitaler Wichtigkeit, daß Sie eintreffen, solange er noch im vollen Besitz seiner Geisteskräfte sei.« Bob stieß einen langen, schrillen Pfiff der Überraschung aus, als er diesen Brief gelesen hatte. Sofort begann sein erfindungsreiches Hirn eine neue Taktik auszuhecken. Mit diesem Brief rückte das Simons sche Vermögen oder wenigstens Mildreds Anteil, an den er nie heran gekommen war, unter Umständen in seine Reichweite. In diesem Fall würde er sich hüten, Mildred zu bedrohen. Die Rache, zu der er sich aufgrund ihrer Aussage im Gerichtssaal berechtigt fühlte, konnte für später auf Eis gelegt werden. Auf ein Jahr mehr oder weniger kam es jetzt nicht mehr an. Im Zuchthaus hatte er sich viele schlaflose Stun den mit wilden Phantasien vertrieben, wie er Mildred martern wer de, ohne sie umzubringen und den elektrischen Stuhl zu riskieren. Die schlimmsten körperlichen Schmerzen, die er ersinnen konnte, sollte sie ertragen müssen. Als er aber nach seiner Freilassung erfuhr, daß sie inzwischen eine Erbschaft gemacht hatte, war der Entschluß, sie zuerst um dieses Geld zu bringen, sofort in ihm gereift. Wenn er die Vortei le, die sich ihm boten, ausgenutzt hatte, war immer noch Zeit für die Rache. Dieser Brief veranlaßte ihn noch weiterzudenken. Einmal war es ihm gelungen, Mildred zu umgarnen, warum nicht auch ein zweites Mal? Er kannte seine Wirkung auf Frauen und hatte oft seinen Vorteil daraus gezogen. Falls er Mildred dazu bringen könnte, sich wieder mit ihm zu verheiraten, wäre es der einfachste Weg, ihr väterliches Erbe in die Hände zu bekommen. Wenn er nur gewußt hätte, wie er sie errei chen konnte! Es wäre doch eine verfluchte Gemeinheit, wenn der Alte 160
stürbe, bevor sie seine Versöhnungsbereitschaft erfahren hätte und zu ihm eilen konnte. Aus dem Wortlaut des Briefes war es ein leich tes, sich zusammenzureimen, daß dieser seine unbotmäßige Tochter enterbt hatte, das aber jetzt rückgängig zu machen wünschte. Daher auch seine Sorge, Frau und Sohn könnten Mildred nicht zu ihm las sen. Auch der Notar war anscheinend ahnungslos, wo sie sich zur Zeit aufhielt, sonst hätte er für eine so wichtige Angelegenheit nicht diese Adresse benützt. Bobs einzige Hoffnung, Mildreds Aufenthalt zu er fahren, war jetzt ihre Arbeitsstätte, vorausgesetzt, daß sie nur im Ur laub war und ihre Stelle weder aufgegeben hatte noch selbst gekündigt worden war. Immer besorgt, sich im Hintergrund zu halten und nie mandem Gelegenheit zu geben, sich sein Gesicht allzu gut einzuprä gen, beschloß er, zu Telefonieren. Die Leute an der Bushaltestelle hat ten zwar mehr, als ihm lieb war, diese Möglichkeit gehabt, doch be trachtete er sie insofern nicht als eine Gefahr, als niemand von ihnen ihn mit Mildred in Verbindung hätte bringen können. Im vorliegen den Fall war das jedoch unvermeidlich. »Hier Textilia-Konzern, wer spricht?« »Es handelt sich um eine kleine Information, Fräulein. Ich bin ein al ter Freund von Mildred Simons. Sie verstehen doch Englisch?« unter brach er sich, denn in Deutsch hätte er seine Frage nur unter Schwie rigkeiten formulieren können. Die Telefonistin beruhigte ihn. »Ich wollte sie aufsuchen«, fuhr er fort, »weil ich ihr Nachricht von ihren Eltern zu überbringen habe. Leider ist sie nicht in ihrem Haus. Können Sie mir sagen, wo sie sich derzeit aufhält?« »Meines Wissens hat sie gerade Urlaub, aber wie lange er dauert und wo sie ihn verbringt, könnte ich Ihnen beim besten Willen nicht sa gen.« »Wissen Sie auch nicht, wie lange sie wegbleibt?« »Nein, aber das könnte Ihnen unser stellvertretender Personalchef, Herr Witt, sagen, er hat die Ferieneinteilung unter sich. Soll ich Sie ver binden?« »Ich bitte darum. Vielen Dank, Fräulein.« Als er diesen höheren Angestellten am Apparat hatte, wiederholte er 161
sein Sprüchlein. Für Christopher war sein amerikanischer Akzent un verkennbar. Er witterte sofort Unheil. »Sagen Sie mir zunächst einmal Ihren Namen«, herrschte er den un sichtbaren Gesprächspartner an. »Ich heiße Smith, Bob Smith.« »Nicht etwa zufällig Montero?« fragte Christopher mit einigem Sar kasmus. »Wie kommen Sie darauf?« Bob war so überrascht, daß er seine Stim me nicht ganz in der Gewalt hatte. »Weil Ihre Angaben falsch sind. Frau Simons Eltern würden ihr kei ne Nachricht schicken, am wenigsten durch Sie. Niemand in Ameri ka kennt ihre hiesige Adresse. Sie sind der einzige, der sie hier aufge spürt hat, unrechtmäßig in ihr Haus eingedrungen ist und ihr ihre Pi stole gestohlen hat. Ich warne Sie! Die Polizei wird binnen fünf Minu ten über dieses Gespräch unterrichtet sein.« »Ich habe nichts zu fürchten. Mildreds Haus betrete ich nicht mehr. Für einen Mann wie mich, der den Frauen gefällt, ist es leicht, ein Gra tisquartier zu finden, wo keine polizeiliche Anmeldung erstattet wird. Aber im Ernst, Sie erweisen Mildred einen schlechten Dienst, wenn Sie mir nicht sagen, wo sie sich befindet. Ihr Vater liegt im Sterben und möchte sich mit ihr versöhnen. Wollen Sie die Verantwortung dafür übernehmen, daß sie nicht rechtzeitig dort eintreffen kann?« »Ich glaube Ihnen kein Wort.« »Wenn Sie Mildred erreichen können, teilen Sie ihr mit, daß sie sich sofort mit dem Notar Schenk, Seevogelstraße 7, in Verbindung setzen soll. Er wird ihr die Nachricht aus Washington bestätigen.« Christopher hängte ab, ohne sich zu verabschieden. Er beschloß je doch, sich zu erkundigen. Leider war morgen Samstag, und die Kanz lei des Notars mußte jetzt, nach siebzehn Uhr, bereits geschlossen sein. Er versuchte es trotzdem, bekam aber nur von einem Apparat die Aus kunft, daß Notar Schenk am Montag ab acht Uhr wieder zu erreichen sei. Er versuchte es noch mit dessen Privatnummer, aber auch dort er hielt er keine direkte Antwort. Später erfuhr er, daß Schenk Witwer war. Während seiner Abwesenheit befand sich niemand in seiner Wohnung. 162
Bob fluchte lästerlich über seinen Misserfolg. Bei längerem Nachden ken stellte er sich die Frage, wie dieser Mann dazu komme, zu wis sen, daß Mildred mit ihren Eltern entzweit war, und obendrein noch seinen Namen zu kennen, was für ihn peinliche Folgen haben konn te. Er war bei seinen bisherigen Aktionen immer davon ausgegan gen, daß sein Name der deutschen Polizei unbekannt sei. Hatte dieser Mensch ihn nur über Mildred erfahren, oder war er mit dem bewus sten Hold up in Zusammenhang gebracht worden und international ausgeschrieben? Diese höchst bedrohliche Möglichkeit trieb ihm den Schweiß aus allen Poren. Es sah Mildred nicht ähnlich, einen Vorge setzten bis zu derartigen Einzelheiten ins Vertrauen zu ziehen, folglich mußte noch etwas anderes dahinterstecken. Plötzlich durchfuhr ihn ein noch unbestimmter Schrecken. Wie hatte sich dieser Mann doch am Telefon gemeldet? Es war ein kurzer Name gewesen, und irgend wie war er ihm bekannt vorgekommen. Könnte es sein, daß es Uitt ge wesen war, nur in deutscher Aussprache: Witt? Diesen Namen hat te er doch schon einmal mit Druckbuchstaben zusammengesetzt und auf den Umschlag eines anonymen Briefes geklebt. ›Ich Idiot!‹ dach te er, erschüttert über seine Dummheit. Es hatte ihm damals nicht ge paßt, daß Mildred zuweilen mit einem Wagen heimgefahren wurde, dessen Besitzer, wie er nach dem Nummernschild feststellen konnte, Witt geheißen hatte. Er selbst hatte Mildred durch diese Warnung, in der er sie als Zuchthäuslerin bezeichnet hatte, gezwungen, sich zu ver teidigen und diesem Witt die Wahrheit zu enthüllen. Etwas Hirnver brannteres hätte er nicht tun können, denn dieser Mensch war, statt sich wie beabsichtigt abgestoßen zu fühlen, schnell mit der Polizei bei der Hand gewesen. Sicher war die Überwachung des Hauses auch auf seine Initiative zurückgegangen. »Verdammter Mist!« murmelte Bob wütend, »jetzt heißt es ausziehen. Schluß mit der angenehmen Unter kunft.« Mißmutig schaute er aus der Telefonkabine in den rinnenden Regen hinaus. Es war gleich fünf und schon dunkel. Er hatte nicht die geringste Lust, sich jetzt noch nach einer neuen Bleibe umzusehen. So schnell würde die Polizei nicht reagieren, es sei denn, sie habe einen Wink aus Amerika bekommen und wußte nun, daß er mehr auf dem 163
Kerbholz hatte als einen harmlosen Hausfriedensbruch ohne Scha den. Er überlegte, ob er das Risiko auf sich nehmen konnte, noch eine Nacht zu bleiben, um dann morgen bei Tageslicht die nötigen Schritte zu unternehmen. In Amerika hätte er es nicht gewagt, aber die deut sche Polizei hielt er für schwerfällig und ungeschickt, ein ziemlich lah mer Betrieb. Das hatte sie bewiesen, indem sie die damalige Überwa chung des Hauses so kurzfristig eingestellt und sich inzwischen nie vergewissert hatte, ob er nicht zurückgekommen sei. Andererseits ließ das beruhigende Schlüsse zu. Hätten sie mehr von ihm gewußt, wären sie wohl gründlicher gewesen. Wenn Mildred nicht ausgesagt hatte – und er glaubte zu wissen, daß sie nicht sehr aussagefreudig war – lau tete die damalige Anzeige auf Hausfriedensbruch gegen Unbekannt. Fingerabdrücke hatte er das erste Mal sicher hinterlassen, da sie aber in Deutschland nirgends registriert waren, würde ihm daraus nichts Bedrohliches erwachsen. Die Polizei konnte, zumindest damals, noch nicht wissen, daß er Amerikaner war. Wegen einer solchen Lappa lie wurden kaum Anstrengungen gemacht, die Fingerabdrücke etwa bei der Interpol identifizieren zu lassen. Aufgrund dieser Überlegun gen kam er zu dem Ergebnis, daß für unüberlegte Schritte kein Grund vorlag. Bis morgen früh hatte er Zeit, sich sein weiteres Vorgehen zu überlegen. Daß er Mildreds Rückkehr nicht verpassen durfte, war klar. Woher hätte sie sonst erfahren sollen, daß sie nach Amerika fliegen mußte, in ihren Augen, um sich mit ihrem Vater zu versöhnen, in sei nen, um ein Vermögen zu kassieren oder doch den Weg dafür freizu machen? Daß es ihm gelingen würde, dieses Geld an sich zu bringen, war für ihn keine Frage. Er hatte es bei Mildred mit einem in Geld sachen völlig unerfahrenen Menschen zu tun. Da sie sich wenig dar aus machte, würde sie nicht schwer zu betrügen sein. Lieber wäre ihm allerdings der legale Weg einer Heirat. Montero, der immer von sich auf andere schloß, gaukelte sich schmunzelnd vor, daß Mildred um so leichter herumzukriegen sein werde, als sie vermutlich enthaltsam gelebt hatte. Mit diesem Witt, der sich um sie kümmerte, hatte sie je denfalls nie geschlafen, es sei denn, das habe sich abgespielt, als sie so plötzlich verschwunden war. Er hielt es aber für unwahrscheinlich. Als 164
ihre Ehe sich verschlechterte, und es hatte bis dahin nicht lange gedau ert, war Mildred für ihn absolut unzugänglich geworden. Zuerst hat te er in ihrer Schwangerschaft den Grund gesehen. Nach der Geburt des anormalen Kindes, an dessen Zustand er ihr die Schuld gab, war es überhaupt nie mehr zu intimen Beziehungen zwischen ihnen gekom men. Jedenfalls hatte sie damals bewiesen, daß sie gut ohne Mann le ben konnte; sie gehörte allerdings zu den Frauen, die unter Liebe et was völlig anderes verstanden als er. Eine neue Ehe mit ihr würde dar um kein großes Vergnügen sein, aber der Einsatz lohnte sich, und das war die Hauptsache.
Die beiden jungen Frauen saßen in düsterer Stimmung ihre Wartezeit im Bahnhof von Kandersteg ab. Hier und da trat jemand ein, der einen Lokalzug benutzen wollte, und streifte sie mit neugierigen Blicken. War es ein einigermaßen ansehnlicher Mann, versuchte Heli nicht einmal ein Augenspiel, sicherer Beweis dafür, daß sie stimmungsmäßig ganz am Boden war. Die Zukunft versprach düster zu werden. Zwar hatte sie Kurt in letzter Zeit nicht sehr oft gesehen, aber schon die Hoffnung, daß er anrufen könnte, hatte sie belebt. Jetzt mußte dieses Kapitel be graben bleiben. Heli nahm an, daß er zunächst strikt auf den Pfad der Tugend zurückkehren werde, um seiner anscheinend zur Scheidung entschlossenen Frau keine neuen Argumente zu geben. »Ich glaube nicht, daß sie ihn liebt«, sagte Heli aus diesen Gedanken heraus. »Sonst wäre sie wie eine Furie auf mich losgegangen.« »Ich bezweifle, daß sie der Typ dafür ist. Aber ich habe auch den Ein druck, daß Kurt bei ihr vollständig abgewirtschaftet hat. Ein solcher Zustand kommt nicht von heute auf morgen. Du bist wahrscheinlich nur das letzte Glied in einer langen Kette von Enttäuschungen.« »Pech, daß gerade ich es sein muß. Kurt wird wütend auf mich sein. Er gibt immer den anderen schuld, außerdem hat er diesmal sogar recht. Ich war es, die ihm diesen Plan mit Kandersteg eingeblasen hat. Da ich ihn nie dazu bringen konnte, mich wenigstens einen Blick in 165
seine Villa werfen zu lassen, wenn niemand zu Hause war, dachte ich, ein Aufenthalt im Chalet würde mich dafür entschädigen. Ich könnte mich hier beinahe als seine Frau fühlen –« »Danke Gott, daß du es nicht bist.« »Jetzt übertreibst du.« »Ist es menschenmöglich, daß du auch jetzt noch solche Träume hegst? Arme Heli! Er würde dich zerzausen, daß keine Feder mehr heil an dir bliebe.« Mildred sagte es nicht entrüstet, sondern eher mitlei dig, denn Helis Verranntheit hatte eine fatale Ähnlichkeit mit ihrem eigenen früheren Zustand, als sie noch in Bob verliebt gewesen war. Es spielte dabei anscheinend keine Rolle, ob man nur ein kleines oder ein etwas besser entwickeltes Gehirn besaß. Ausschlaggebend waren hier ganz andere, vom Verstand wenig beeinflussbare Faktoren. Mildred war nicht sehr stolz darauf, daß auch sie ihnen hatte verfallen können. Eine solche Liebe zu einem ungeeigneten Partner war wie eine selbst zerstörerische Krankheit, nur daß der Patient das zu seinem Schaden zu spät begriff. So war es ihr ergangen, und Heli war noch fern vom Genesungsprozess. Mildred zählte aber auf ihr Anstandsgefühl. Jetzt, da sie Kurts Frau kennen gelernt hatte, würde es ihr helfen, standhaft zu bleiben. »Ich habe Hunger«, erklärte ihre Gefährtin plötzlich. »Schon wieder?« »Ich kann mir nicht helfen, wenn ich aufgeregt bin, muß ich etwas essen, das beruhigt mich. Es gibt doch nebenan eine Restauration. Kommst du mit?« »Nein.« »Warum denn nicht? Du könntest dir wenigstens einen Kaffee be stellen.« »Wahrscheinlich wäre es eine dünne Brühe, und ich habe keine Lust darauf. Geh nur, du brauchst dich nicht zu beeilen. Ich langweile mich schon nicht.« Alleingeblieben, versank Mildred wieder in ihre Gedanken. Sie hatte eine Demütigung erlitten, und die Einsicht, daß sie eine gewisse Schuld daran trug, machte sie nicht erträglicher. Nun mußte sie wieder in die 166
ses Haus zurück, das nie ein Heim für sie geworden war. Um so unlo gischer war es, daß sie sich dennoch daran festkrallte, einfach, weil es ihr die Entscheidung abnahm, sich etwas anderes suchen zu müssen. In Kandersteg hatte es Tag und Nacht keine geschlossenen Fensterlä den gegeben, keine Angst vor sich nähernden Schritten oder sonst ir gendeiner Bedrohung. Damit verglichen war ihr Haus, in dem sie stets bei künstlichem Licht lebte, eine Art Sarg. Sie bezweifelte, ob sie darin je würde froh werden können, selbst wenn Bob von ihr ablassen soll te, was kaum zu erhoffen war. Zuviel Angst und heimliches Entsetzen bei jeder Annäherung hatte sich in diesem Haus aufgespeichert, die Luft war davon durchtränkt. Zu Tante Friedas Lebzeiten war es wahr scheinlich ein friedliches, gutes Heim gewesen, erst sie hatte den Un frieden, die Angstschauer vor einem Unglück, hineingetragen. Chri stopher hatte ja so recht, daß er sie von dort herausholen wollte. Allein hätte sie nie die Kraft, eine solche Änderung herbeizuführen. Von Na tur war sie zwar eher willensstark gewesen, aber das furchtbare Un recht, das man ihr angetan, und die Furcht vor einem neuen hatten ihre Energie gebrochen und sie wehrlos gemacht. In diesem Zusam menhang dachte sie auch an ihr Kind, dieses engelsschöne Geschöpf chen mit den leeren blauen Augen. Hätte sie ein so hilfloses Wesen be schützen können vor der Härte des Lebens, da sie es nicht einmal für sich selbst fertig gebracht hatte? Widerstrebend gab sie zu, daß ihm dort, wo es jetzt war, allen Leiden und Lieblosigkeiten entrückt, der bessere Teil zugefallen war. Sie hatte das lange nicht wahrhaben wol len, weil es seinem Mörder und dessen Anstifter indirekt einen Schein von Berechtigung zuspielen wollte. Aber die Gefühle, die Bob zu sei ner Tat veranlasst hatten, waren himmelweit verschieden von den ih ren. Er war fern von jedem Mitleid gewesen, als er sich von dieser Last befreien wollte, vor allem aber von der Schande, daß er, Bob Monte ro, ein schwachsinniges Kind gezeugt haben sollte. Mildred fragte sich zum hundertsten Mal, ob sie noch rechtzeitig zur Vernunft gekom men wäre, wenn sie erfahren hätte, daß es solche Fälle in seiner Fa milie gab. Wahrscheinlich nicht. Die Vererbung war für sie bis dahin ein Buch mit sieben Siegeln gewesen. Erst als sie ihr Unglück begriffen 167
und sich verzweifelt nach den Gründen gefragt hatte, war sie auf den Gedanken gekommen, sich darüber Aufklärung zu verschaffen. Aber Bob hatte sie nie überzeugen können, dafür war er zu stur. Seine Nich te, der nächst zurückliegende Fall, war nach seiner Lesart als kleines Kind gestürzt und auf den Kopf gefallen, das konnte nicht vererbt wer den. Dabei blieb er oder begann sogar, ihre eigene Familie zu verdäch tigen. Sie hatte es bald aufgegeben, ihn aufzuklären, und in der Folge seine immer ungerechteren Vorwürfe stumm ertragen. Ein junges Paar trat in den Wartesaal und riß sie aus ihren trauri gen Gedanken. Es hatte ja auch gar keinen Sinn, immer wieder die se Qual durchzuerleben, einmal mußte sie doch endgültig Vergangen heit für sie sein. Sie wollte lieber an Christopher denken, den sie mor gen abend vielleicht sehen würde. Wie schön könnten sie es haben, wenn sie nicht ein Mensch mit solchen Bleigewichten wäre und außer dem ein bißchen hübscher, um ihm gefallen zu können. Über ihr Äu ßeres machte sie sich keine Illusionen. Ihre Mutter hatte sie frühzeitig daran gewöhnt, sich, wenn nicht geradezu für hässlich, so doch für un scheinbar zu halten. Sie selbst, eine schöne Frau, empfand es gerade zu als ein ihr angetanes Unrecht, daß ihre Tochter es nicht war. Dar um hatte ihre Liebe von jeher ihrem Sohn gegolten, lange bevor Mild red sich mit ihrer Heirat unmöglich gemacht hatte. Kein Wunder, daß auch Christopher in ihr, Mildred, nur einen hilfsbedürftigen Kamera den sah, nichts anderes. Sie war dessen so sicher, daß sie ihren Gefüh len nicht einmal freien Lauf ließ, wenn sie allein war. Sie hatte Angst, von ihnen überrannt zu werden, Angst, durch sie noch schlimmer zu leiden, denn von Helis Optimismus besaß sie keine Spur. Auch der war ihr beizeiten ausgetrieben worden. Manchmal packte sie eine unsin nige Sehnsucht danach, wieder die Mildred Simons von einst zu sein, eines Tages aufzuwachen mit der Gewissheit, daß alles nur ein wü ster Traum gewesen war. Aber solche Wunder gab es natürlich nicht. Trotzdem ließ sie sich zu der sinnlosen Frage verleiten, ob Christopher in einem solchen Fall …? Heli kam zurück, sichtlich belebt von der Nahrungsaufnahme. In ih rem Fahrwasser erschien ein Herr mittleren Alters, der seine Enttäu 168
schung nicht verhehlen konnte, als er sie in Gesellschaft fand. Heli ver biss ein selbstgefälliges Lächeln und bestärkte Mildred dadurch in der Annahme, daß sie sich in kurzer Zeit trösten werde. Einesteils gefiel ihr diese Leichtlebigkeit nicht, andererseits beneidete sie Heli ein we nig um die Fähigkeit, sich wie ein Schilfhalm im Sturm zu ducken und nachher unversehrt wieder aufzurichten. Die Nacht war lang und unbequem, da sie zweiter Klasse fuhren und die Mitreisenden öfter wechselten, so daß sie nicht zur Ruhe kamen. Nachdem sie jenseits der Grenze waren, wurde es etwas besser, da die D-Zug-Stationen weiter auseinander lagen. Trotzdem waren sie ziem lich zerschlagen, als sie in ihrer Stadt ankamen. Es war kurz vor der Morgendämmerung. Diesmal ließ Mildred sich dazu überreden, am Bahnhofbuffet zu frühstücken, da sie nichts im Haus hatte und die Lä den erst später öffneten. Danach trennten sie sich; Mildred äußerte die Absicht, ein Taxi zu nehmen, während Heli bis zur elterlichen Woh nung nicht weit hatte. »Ich gehe morgen wieder zur Arbeit«, erklärte sie. »Das ist die beste Medizin gegen Liebeskummer. Die Ferientage, die mir noch zustehen, lasse ich mir gutschreiben. Und du?« »Ich fange morgen auch wieder an, obschon ich keinen Liebeskum mer zu betäuben habe. Was soll ich allein zu Hause anfangen? Es graut mir ohnehin vor der Rückkehr.« »Du bist komisch. Wenn ich ein Haus hätte, wäre ich stolz.« »Möchtest du allein darin wohnen?« Heli kicherte. »Natürlich nicht. Aber als Hausbesitzerin fände ich schnell jeman den, der mich heiraten würde.« Mildred sagte nichts dazu. Vielleicht war es gut, daß Heli kein eige nes Haus besaß.
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XIV
A
m Bahnhof fand sich kein Taxi. Während sie gefrühstückt hatten, mußten mehrere Fernzüge angekommen sein, deren Passagiere sich vermutlich um sie gerissen hatten. Das Wetter war sehr schlecht, und ein dumpfes Donnergrollen kündigte das Nahen eines jener selte nen Spätherbstgewitter an, die so viel unheimlicher wirken als die sommerlichen, an die man gewöhnt ist. Nachdem Mildred eine Zeit lang vergeblich gewartet hatte, entsann sie sich eines nicht allzu ent fernt liegenden Taxistandes und machte sich mit ihrem Koffer dorthin auf den Weg. Beinahe wäre sie nicht lebend dort angekommen. Wäh rend sie am Straßenrand wartete, bis sie überqueren konnte, lief plötz lich vor ihren Augen eine alte Frau, ohne nach rechts oder links zu schauen, auf die Fahrbahn, auf der sich ein großer Amerikanerwagen in sehr schnellem Tempo näherte. Der Zusammenstoß schien unver meidlich. Mildred ließ ihren Koffer fallen und rannte der Frau nach. Es gelang ihr, sie im letzten Augenblick zurückzureißen, so daß sie nur noch gestreift und beide von oben bis unten mit Kot bespritzt wurden. Das Ganze hatte sich so schnell abgespielt, daß die alte Frau schon in Sicherheit war, als sie begriff, in welcher Gefahr sie geschwebt hatte. Sie zitterte in Mildreds Armen, als diese sie behutsam am Straßenrand abstellte. Das sympathische, von feinen Runzeln durchzogene Gesicht war das eines erschrockenen Kindes, das Schelte erwartete. Einen Au genblick mußte Mildred an ihre Mutter denken. Sie hatte sie seit Jah ren nicht gesehen, war aber sicher, daß sie sich noch immer standhaft gegen das Alter wehrte. Die notwendigen Mittel dafür standen ihr zu Gebote. Nie hätte Mildred gewagt, sie in den Armen zu halten wie die se Fremde, dazu war ihr nie Gelegenheit geboten worden. ›Hätte mei ne Mutter mich geliebt und sich um mich gekümmert, wäre es Bob 170
vielleicht nicht so leicht geworden, sich in mein Leben zu schleichen‹, dachte sie bitter. Von Dienstboten war sie aufgezogen worden, und ihre Mutter hatte die Pflicht, sie in die Gesellschaft einzuführen, von Jahr zu Jahr hinausgezögert. Eine voll erwachsene Tochter – sie war das äl tere der Simonsschen Kinder – hätte zu leicht erlaubt, das Alter der Mutter nachzurechnen. Mildred hatte, eingeschüchtert wie sie war, nicht um ihr Recht gekämpft, zumal ihre Mutter, vielleicht unbewußt oder zumindest gedankenlos, alles getan hatte, um einen Minderwer tigkeitskomplex in ihr zu züchten. Jedenfalls hatte sie keine Gelegen heit gehabt, junge Männer ihrer eigenen Gesellschaftsklasse kennen zu lernen. Die Freunde ihres Bruders waren zu jung, noch halbe Kinder. Dadurch waren alle Voraussetzungen dafür erfüllt gewesen, daß ein geborener Verführer wie Bob zum Ziel kommen konnte. Der Amerikanerwagen hatte in der Nähe gehalten. Jetzt kam der Fahrer zurück, um sich davon zu überzeugen, daß der alten Frau nichts Ernstliches passiert war. »Sie sind mir ja direkt vor den Wagen gelaufen, und das auch noch bei dieser schlechten Sicht«, sagte er vorwurfsvoll. »Ich war aber doch auf dem Fußgängerstreifen«, wandte sie klein laut ein. »Auch den dürfen Sie nicht betreten, wenn ein Wagen in voller Fahrt schon in nächster Nähe ist. Sie sind Zeugin«, wandte er sich an Mild red, »daß mich kein Verschulden trifft.« Sie nickte. »Ich glaube nicht, daß die alte Dame etwas gegen Sie unternehmen wird, nicht wahr? Die Schuld liegt eindeutig bei ihr. Tut mir leid, daß ich das sagen muß.« »Wenn Sie nicht so geistesgegenwärtig eingegriffen hätten, wäre ein Unglück unvermeidlich gewesen. Ich bin Ihnen sehr dankbar, denn ob schuldig oder nichtschuldig, hätte es auf jeden Fall mein Gewissen be lastet. Ihnen«, wandte er sich an die alte Frau, »hat das Fräulein viel leicht das Leben gerettet, wobei sie selbst leicht hätte zu Schaden kom men können. Ich werde Sie jetzt beide nach Hause fahren, und für die chemische Reinigung Ihrer Kleider komme ich in jedem Fall auf. Sie 171
gehören wohl nicht zusammen?« fügte er mit einem Blick auf Mildreds Koffer hinzu. Es war ein teures Stück und stammte noch aus der Zeit, da sie die Tochter reicher Eltern gewesen war. Er nahm ihn auf und wischte mit seinem Taschentuch darüber, denn er war umgekippt, als Mildred losgerannt war. Dann bat er die beiden, ihm zu seinem Wa gen zu folgen. Keine erhob Einspruch, denn jetzt hatte der Gewitter sturm eingesetzt und zerrte an ihren Kleidern. Die Hoffnung, bei die sem Wetter ein Taxi zu ergattern, war gering. Es setzte Mildred in Ver legenheit, daß sie in genau entgegengesetzten Vororten wohnten; aber den Besitzer des feudalen Wagens schien das nicht zu stören. Er rauch te unablässig; Mildred nahm das als Beweis, daß auch er einen gewis sen Schock erlitten hatte. Sie brachten zuerst die alte Frau nach Hause; er schrieb sich ihren Namen und ihre Adresse auf. »In einigen Tagen werde ich bei Ihnen vorsprechen und mich erkun digen, ob Sie sich von dem Schrecken erholt haben«, sagte er freund lich und gab ihr, ebenso wie Mildred, seine Visitenkarte. In den letz ten Minuten der Fahrt hatte die alte Frau still in sich hineingeweint und sich dabei an Mildreds Schulter gelehnt, die den Arm um sie ge legt hatte. Anscheinend kam ihr erst nachträglich voll zum Bewußt sein, daß sie jetzt ebensogut tot sein könnte und durch ihre Unvor sichtigkeit auch noch diese junge Frau ums Leben hätte bringen kön nen. Mildred geleitete sie noch bis zur Haustür und schloß für sie auf. Sie bewohnte ebenfalls ein kleines Haus, allerdings nicht viel mehr als halb so groß wie das von Mildred. »Wohnen Sie hier allein?« erkundigte sie sich. »Ja, seit mein Mann tot ist und meine Tochter geheiratet hat.« »Dürfte ich Sie einmal besuchen?« fragte Mildred impulsiv. »Ich wohne auch allein in einem Haus und weiß, was das bedeutet.« »Sie könnten mir keine größere Freude machen. Ich heiße Marie Lutz, und die Adresse kennen Sie ja jetzt.« Mildred wußte nicht, was sie ankam. Sie tat etwas, das sie selbst erstaunte, als sie sich bückte und die alte Frau auf die Wange küßte. »Sie scheinen ein liebevolles Gemüt zu haben«, sagte der Autobesit zer, der sie beobachtet hatte. Mildred hätte gern gesagt, daß sie nie Ge 172
legenheit habe, es zu äußern, fürchtete aber, er könnte das irgendwie missdeuten. Er fragte sie während der Fahrt, ob sie in den Ferien ge wesen sei, so spät im Jahr. Sie erzählte ihm von dem reizenden Dorf im Berner Oberland, das sie trotz des betrüblichen Abschlusses nie ver gessen werde. Er trug ihr den Koffer bis vor die Haustür und schärfte ihr nochmals ein, ihm die Rechnung der Reinigungsfirma auf jeden Fall zuzustel len. Mildred sah ihn mit Bedauern wegfahren. Innerhalb einer klei nen Stunde hatte sie zwei sympathische Menschen kennen gelernt. Die Freude, die sie darob erfüllte, bewies ihr, wie sehr sie nach menschli cher Wärme hungerte. Sie empfand auch eine hohe Befriedigung dar über, daß es ihr gelungen war, die alte Frau vor Schaden zu bewahren. ›Es ist schön zu spüren, daß man doch noch zu etwas nütze ist‹, dach te sie zufrieden. Mit solch tröstlichen Gedanken betrat sie das Haus. Sie halfen ihr ein wenig über die erste resignierte Feststellung hinweg, daß hier alles war wie immer: düster und bedrückend. Sie nahm ihr Pelzkäppchen ab, schüttelte das Haar locker und hängte ihren Man tel an die Garderobe. Im Augenblick, da sie die Hand zurückzog, hat te sie plötzlich das unabweisbare Gefühl, nicht allein zu sein. Ein ei siger Schreck durchfuhr sie bis in die Fußspitzen. Bevor sie aber noch den Mut gefunden hatte, sich umzudrehen, packten sie zwei Hände mit eisernem Griff. Sie stieß einen gellenden Schrei aus und wehrte sich verzweifelt, obschon es bei der Stärke ihres Angreifers von vorn herein hoffnungslos war, ihn abschütteln zu wollen. Einen Augenblick stieg die alte Rachelust in Bob auf, und er zerdrückte ihr fast die Rip pen. Dann fiel ihm aber das Geld ein, und er lockerte seinen mörderi schen Griff. »Na, na, was ist denn, Baby? Du brauchst doch vor deinem alten Bob keine Angst zu haben. Komm, lass dich anschauen! Du bist hübscher geworden. Kein Wunder, daß dich Männer mit Chevrolets nach Hau se fahren. Aber spröde scheinst du noch immer zu sein. Ich habe ge hört, daß er ›Sie‹ zu dir sagte.« Er hatte sie zu sich herumgedreht, ohne sie jedoch loszulassen. Sie hatte aufgehört zu schreien, im Bewußtsein, daß sie doch niemand hören konnte. Ihr Atem ging keuchend, und sie 173
drehte angewidert den Kopf zur Seite, als er sie an sich drückte. »Willst du nicht ein bißchen nett zu mir sein?« fragte er mit jener einschmei chelnden Stimme, die sie einmal betört hatte. Als er versuchte, sie zu küssen, preßte sie die Lippen zu einem dünnen Strich aufeinander und bog den Kopf so weit zurück, daß sie das Gleichgewicht verloren hät te, wäre das bei seinem Griff möglich gewesen. Verächtliche, Hasser füllte Worte lagen ihr auf der Zunge und konnten sich doch nicht her vorwagen, weil sie den Mund nicht öffnen durfte. Er hätte es sich sonst sofort zunutze gemacht, und gegen Beschimpfungen war er ohnehin immun. Wer kein Ehrgefühl besaß, konnte auch nicht beleidigt wer den. Während er auf sie einredete, hetzten sich ihre Gedanken. Hun derte von Malen hatte sie sich das Wiedersehen mit diesem zutiefst Verhaßten ausgemalt, aber nie auch nur im Traum für möglich gehal ten, daß Bob auf diese Weise an sie heranzukommen suchte. Sie wuß te genau, daß er sie ebenfalls hasste und ihr Rache geschworen hat te. Er war bestimmt nicht der Mann, darauf zu verzichten. Was hatte dann aber dieses widerliche Werben zu bedeuten? Jedenfalls alles, nur nicht Liebe. Ihr ekelte unsäglich vor seiner Nähe, vor dem Geruch sei nes Atems. Sie war sich verzweifelt bewußt, daß sie ihm hier ganz al lein ausgeliefert war. Was hatte er mit ihr vor? Sie blieb nicht lange im Zweifel darüber, als er versuchte, sein Knie zwischen ihre Schenkel zu pressen. »Sei doch nicht so störrisch, Baby, und versuch nicht, mir vorzuma chen, daß du nicht ganz gern wieder einmal einen Mann bei dir hät test. Du bist doch keine Nonne. Vielleicht möchtest du auch wieder ein Kind? Du magst sie doch so gern …« Das war zuviel für Mildred. »Schweig!« schrie sie auf. »Nimm dieses Wort nicht mehr in den Mund, du Mörder, du ekelhaftes Tier! Sag mir, was du bezweckst, und lass mich dann in Ruhe. Bist du aber gekommen, um mich umzu bringen, wozu diese Umwege? Mach schnell, dann habe ich es hinter mir.« »Aber Baby, wie kommst du mir vor? Ich bin hier in der besten Ab sicht hergekommen, um dir zu sagen, daß ich bereue und gutmachen 174
will. Wir sind noch jung, wir können noch einmal von vorne anfan gen. Du hättest nicht so voreilig sein und dich scheiden lassen sollen. Nun, ich verzeihe es dir. Auch du hast etwas gutzumachen. Ich hätte mehr Grund gehabt, dich zu verklagen, weil du deine ehelichen Pflich ten nicht mehr erfüllt hast. Das ist ein vollwertiger Scheidungsgrund. Ich habe ihn nicht benutzt und Geduld mit dir gehabt, du dagegen hast mir mit deiner Scheidungsklage das Messer in den Rücken gestoßen.« Mildred sah mit Entsetzen, daß er sich mit diesen Anklagen langsam in eine gefährliche Wut hineinsteigerte. Unversehens kam das Raub tier in ihm wieder zum Vorschein. Er zerriss ihre Bluse und warf sie brutal auf das Liegesofa. Sie begann wieder zu schreien, und als er ihr den Mund zuhielt, biss sie ihn tief in den Handballen. Fluchend zuck te er zurück und besah sich den Schaden. Er blutete ziemlich stark und suchte nach einem Taschentuch. Da er sie aber mit seinem Körper fest hielt, konnte sie auch jetzt nicht entweichen. Seine Absicht war leicht zu durchschauen. Er wollte sie vergewaltigen und bildete sich allen Ernstes ein, sie würde ihm dann nach der langen Enthaltsamkeit wie der hörig werden. »Wenn du mir antust, was du jetzt vorhast, bringe ich mich um«, zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Aber vorher schreibe ich der Polizei einen Brief, und du kannst dich darauf verlas sen, daß sie ihn bekommt.« Bob zog mit den Zähnen den Knoten an seinem provisorischen Ver band fest. »Quatsch!« sagte er höhnisch, »du solltest wissen, daß man mir nicht drohen kann. Zuerst nehme ich dich, und wenn du vor Wut krepierst. Nachher werden wir weitersehen. Vielleicht nimmst du dann Vernunft an und begreifst, daß du mir doch nicht entgehst und es das einfachste wäre, mich wieder zu heiraten.« »Dich?« fragte sie mit einer so abgrundtiefen Verachtung, daß ihm die Hand ausrutschte und er ihr einen schmerzhaften Schlag ins Ge sicht versetzte. »Ich hab' es auf die sanfte Tour mit dir versucht, aber bilde dir nicht ein, daß ich mir auch nur das geringste von dir gefallen lasse, so weit heruntergekommen bin ich nicht. Ich war noch immer 175
der Patron, und du hast zu kuschen, ob du willst oder nicht. Und jetzt gib diesen blödsinnigen Widerstand auf. Ich habe Mittel und Wege, dich so herzurichten, daß du um Gnade winselst, Verlass dich darauf. Willst du es soweit kommen lassen, du dumme Gans?« Er riß ihr die Bluse auseinander, und Mildred schrie wieder, so laut sie konnte. Es war ihr nicht bewußt, daß es Christophers Name war, obschon er sie nicht hören konnte. In diesem Augenblick, in dem sie schon fast verlo ren war, klingelte es plötzlich an der Tür. Montero richtete sich fluchend auf und brachte seinen Pyjama in Ordnung. Er war seine einzige Bekleidung, da Mildreds Ankunft ihn im Bett überrascht hatte. Wer konnte das sein, und was sollte er jetzt tun? Mildred benutzte seine Verwirrung, um wieder gellend um Hilfe zu rufen. Zu spät schloß er ihr den Mund. Es war ausgeschlossen, daß sie nicht gehört worden war. Schon begann der Einlaßbegehrende an der Tür zu rütteln. »Aufmachen! Was geht hier vor?« rief eine energische Männerstim me. Montero verhielt sich ruhig, immer die Hand auf Mildreds Mund. Jedenfalls war es nicht die Polizei, die hätte sich anders gemeldet. Nach dem noch mehrmals geklingelt worden war, schien es ihm, als ob sich die Schritte entfernten, aber er irrte sich. Mildred, die die Geräusche in und um dieses Haus besser kannte, begriff, daß der oder die Einlaß begehrenden an die Rückfront des Hauses gingen. Und tatsächlich öff nete sich im nächsten Augenblick die Terrassentür, die Bob als Flucht weg stets offengelassen hatte. Zwei einfach gekleidete Männer, der eine mit einem Handwerkskasten, der andere mit einer Rolle elektrischer Schnur und einem Telefonapparat, standen unter der Tür und schau ten erschrocken auf das Bild, das sich ihnen bot. Mildred benützte die Verblüffung Monteros, um seine Hand abzuschütteln. »Befreien Sie mich von diesem Tier!« schrie sie außer sich. »Wer im mer Sie auch sind, nehmen Sie mich mit, lassen Sie mich nicht mehr allein mit ihm.« »Meine Frau übertreibt –« »Ich bin nicht seine Frau, seit Jahren sind wir geschieden.« Bob war klar, daß seine Aktien schlecht standen. 176
»Ich wollte ihr nur einen kleinen Freundschaftsbesuch abstatten«, versuchte er es mit Englisch, »aber sie wurde sofort hysterisch.« Er be griff jedoch bald, daß sie ihn überhaupt nicht verstanden. »Sind Sie Frau Simons?« wandte sich der Ältere an Mildred, die auf gestanden war und ihre zerrissene Bluse zusammenhielt. »Ja, die bin ich.« »Sie haben doch das Telefon beantragt? Wir sind gekommen, um im Haus den Anschluss zu vollziehen. Es ist Ihnen geschrieben worden. Können wir anfangen? Zuerst müßten wir die Läden öffnen, und dann zeigen Sie uns bitte, wo Sie den Apparat haben wollen.« Mildred tat es und beobachtete zugleich aus dem Augenwinkel, wie Bob sich nach oben begab. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar ich Ih nen bin, daß Sie gekommen sind. Es war der letzte Augenblick, sonst …« Sie brach ab und lehnte sich, zu Tode erschöpft, an den Türrahmen. »In einer halben Stunde spätestens können Sie bereits mit der Polizei Telefonieren, wenn Sie wollen. Vielleicht«, der Mann zeigte mit dem Kopf gegen die Treppe, »geht er dann von selbst.« »Falls er noch da ist, wenn Sie fertig sind, bitte ich Sie inständig, mich mitzunehmen. Ich –« Plötzlich war es mit ihrer Beherrschung vorbei, und sie begann hemmungslos zu weinen. Die Männer schauten sie verlegen an und wußten nicht, was sie sagen sollten. »Er wird einfach oben bleiben, bis Sie fort sind«, schluchzte Mild red. »Er hat nicht begriffen, wozu Sie gekommen sind, er versteht kein Deutsch.« »Um so besser, dann schöpft er auch keinen Verdacht, wenn Sie Tele fonieren. Auf jeden Fall bleiben wir hier, bis Ihnen Hilfe zugesagt wor den ist. Aber jetzt an die Arbeit!« Es lag Mildred auf den Lippen zu sagen, daß Montero sehr wahr scheinlich bewaffnet war, aber sie verschwieg die Warnung aus Angst, sie könnten es sonst für ratsam halten, ihre Haut nicht für eine frem de Frau zu Markte zu tragen. Sie brachte ihren Koffer in Tante Friedas ›gute Stube‹, schloß sich dort ein und wechselte mit zitternden Hän den ihre Kleidung. Als sie wieder zum Vorschein kam, musterte sie der Jüngere der Arbeiter mitleidig. 177
»Sie sollten etwas trinken, Sie sehen aus wie –« »Der Tod«, ergänzte sie. »Dem war ich ja auch begegnet.« »Teufel noch mal«, sagte der Mann entsetzt, »wollte er Sie umbrin gen?« Sie zuckte nur die Schultern und wandte sich ab. Sollte er sich den ken, was ihm beliebte. Dabei fiel ihr Blick auf einen Briefumschlag, der auf dem Tisch lag. Er trug ihre Adresse und Notar Dr. Schenk als Ab sender. Bob mußte den Brief aufgemacht haben. Sie nahm ihn an sich, ließ ihn aber in ihrem Ausschnitt verschwinden, als sie oben eine Tür gehen hörte. Gleich darauf erschien Montero auf der Treppe. Mildreds angstgeschärfter Blick erkannte sofort, daß seine rechte Hosentasche unnatürlich ausgebeult war. Eine Jacke trug er nicht. Instinktiv begriff sie, was er dort verbarg: eine Pistole, vielleicht sogar die ihre. Es hat te nur dieser Feststellung bedurft, um sie vollständig die Nerven ver lieren zu lassen. »Achtung! Er ist bewaffnet«, schrie sie und hatte im nächsten Augen blick die Klinke der Haustür in der Hand. So wie sie war, ohne Man tel, rannte sie in den Regen hinaus. Bob fluchte und wollte ihr folgen, aber die beiden anderen waren schnell von Entschluß und hielten ihn fest. Die Warnung noch im Ohr, fiel ihnen die prall abstehende Hosen tasche ebenfalls auf. Der Jüngere hatte sich mit einem Griff der Waffe bemächtigt, bevor Bob auch nur den Versuch machen konnte, sich aus ihren Händen zu befreien. »Abhauen kannst du, aber erst, wenn sie in Sicherheit ist«, sagte der eine Elektriker grob. »Und jetzt geh schön wieder hinauf, wir können dich hier nicht brauchen.« Bob überfiel ihn mit einem Schwall wütender Flüche, da sie aber kein Wort davon verstanden, lachten sie nur. Einer von ihnen gab ihm ei nen unsanften Stoß zur Treppe hin. Wohl oder übel folgte er der Auf forderung und verschwand. »Das ist ja der reinste Gangster«, meinte der Jüngere. »Wenn wir das den Kollegen erzählen, werden sie es nicht glauben.« »Was machen wir mit ihm, wenn wir fertig sind? Wir können ihn doch nicht hier lassen, wo er der Frau auflauern kann.« 178
»Sobald wir Verbindung haben, sagen wir dem Chef Bescheid, er soll das Überfallkommando schicken. Bis sie da sind, müssen wir eben war ten. Wir wollen uns lieber beeilen, mir ist die Sache hier nicht geheuer!« Von da an unterhielten sie sich nicht mehr, es sei denn über ihre Ar beit. Der elektrische Bohrer surrte laut durch das stille Haus. Sobald eine Verbindung möglich war, riefen sie die Zentrale an. Das Fräulein, dem sie den vorgenommenen Anschluss vorschriftsmäßig meldeten, glaubte zuerst an einen Jux, als sie den Chef verlangten, damit er das Überfallkommando bestelle. Sie hätten einen ausgewachsenen Gang ster abzuliefern, einen Amerikaner. Der Jüngere, der telefonierte, blin zelte dem anderen zu. Es machte Spaß, sich ein bißchen wichtig zu ma chen. Nachdem er dem Chef das Nötigste mitgeteilt hatte, versprach dieser, alles Weitere zu veranlassen. »Bleiben Sie auf jeden Fall dort, bis die Polizei anrückt.« »Wir hätten aber heute morgen noch zwei Anschlüsse zu legen –« »Das hat Zeit bis zum Nachmittag. Unter Umständen haben Sie ei nen wichtigen Fang gemacht. Wir werden ja sehen, was dabei heraus kommt.«
XV
M
ildred war nicht weit gekommen. Vielleicht war es der Anblick einer Frau, die vom Briefträger ihre Post in Empfang nahm, der sie im Gefühl, jetzt in Sicherheit zu sein, unbewußt aufgeben ließ. Je denfalls sackten die Beine unter ihr weg, und sie fiel in sich zusammen. Die Frau auf der gegenüberliegenden Straßenseite stieß einen Schrek kensruf aus und eilte mit dem Briefträger zu ihr. »Es ist die junge Frau, die im letzten Haus wohnt. Kennen Sie sie?« »Nur vom Sehen. In letzter Zeit habe ich zweimal Post für sie gehabt, früher nie. Simons heißt sie.« 179
»Wir können sie hier nicht liegen lassen. Bitte helfen Sie mir, sie in mein Haus zu tragen. Sie ist ohnmächtig, was mag ihr wohl zugesto ßen sein?« »Das wird sie Ihnen wohl sagen, wenn sie aufwacht.« »Sie hat nicht einmal einen Mantel an …« »Sieht aus, als sei sie vor etwas geflohen.« Sie trugen Mildred mit vereinten Kräften über die Straße und be trachteten sie mitleidig. Gleichzeitig war aber auch eine kleine Befrie digung in ihren Blicken, daß sie etwas so Aufregendes erlebten, ausge rechnet in ihrer Straße, in der sonst nie etwas passierte. Nachdem sie die Ohnmächtige auf eine Liege gebettet hatten, verab schiedete sich der Briefträger, wenn auch ungern. Hätte er einen Brief für Nummer 36 gehabt, wäre seine Neugier vielleicht gestillt worden. So aber hatte er keine Veranlassung, hinter die Kurve zu schauen, so daß er seine Tour fortsetzte, wie es seine Pflicht war. Inzwischen hatte die Frau Salmiak aus der Küche geholt und hielt ihn Mildred unter die Nase. Nach einer Weile begann sie zu niesen und kam zu sich. Einen Augenblick schaute sie verständnislos in das fremde Gesicht, das sich über sie beugte, dann war plötzlich die Erinnerung wieder da. Mit ei nem Schrei fuhr sie hoch und warf die Decke, die vorsorglich über sie gebreitet worden war, zurück. »Wo bin ich? Er wird mich einholen … Ich muß weiter –« »Bleiben Sie schön ruhig liegen, hier findet Sie keiner. Ich bin Fräu lein Gehring von Nummer 23. Sie sind gerade gegenüber von meinem Haus ohnmächtig geworden. Der Briefträger hat mir geholfen, Sie zu mir hineinzutragen.« »Hat er es gesehen?« fragte sie angstvoll. »Die Straße war leer. Wer verfolgt Sie denn?« Mildred schauderte, hatte aber jetzt nicht die Kraft, ihr Geheimnis zu wahren. »Mein geschiedener Mann. Er ist mir aus Amerika gefolgt und wird mich überall finden, wo ich mich auch verstecke. Ich flehe Sie an, schließen Sie die Haustür ab. Sollte er herausbekommen, daß ich hier bin, wird er ohne weiteres eindringen. Ich kenne ihn.« 180
Das Fräulein richtete sich resolut auf. »Das werden wir doch noch sehen. Wir sind hier nicht im Wilden Westen.« »Aber er ist bewaffnet und ganz ohne Skrupel.« »Beruhigen Sie sich. Diesmal sind Sie ihm gottlob entkommen –« »Ja, weil die Telefonarbeiter kamen. Sie haben mich schreien hören. Es waren zwei, da hat er nicht gewagt, sie anzugreifen. Er ist dann aber nach oben gegangen und hat die Pistole geholt. Als ich das sah, habe ich sie gewarnt und bin fortgerannt. Ich dachte, er sei hinter mir her, aber er ist vielleicht von den Männern festgehalten worden.« »Wir müssen so schnell wie möglich die Polizei verständigen. Leider habe ich kein Telefon, aber in der nächsten Straße ist eine Kabine.« Als sie das hörte, klammerte sich Mildred angstvoll an ihre Gastge berin. »Lassen Sie mich um Gottes willen nicht allein! Wenn er mich noch einmal überfällt – ich könnte das nicht überleben.« »Die Straße ist ziemlich lang, und er kann nicht wissen, wo Sie unter geschlüpft sind. Legen Sie sich jetzt wieder hin. Ich gebe Ihnen ein gutes Mittel zum Schlafen, das ist es, was Sie nun brauchen. Wenn Sie danach aufwachen, wird Ihnen alles nur halb so schlimm vorkommen.« Mildred hatte nicht mehr die Kraft, Widerstand zu leisten. Die Vor stellung, in tiefen Schlaf zu versinken und alles zu vergessen, war au ßerdem allzu verlockend. Dieses Zimmer war so freundlich, eine wah re Oase des Friedens. Bei dem Grad ihrer Erschöpfung wirkte das Mit tel schnell. »Christopher«, murmelte sie noch im Einschlafen, und Fräulein Gehring merkte sich diesen in Deutschland ungebräuchli chen Namen für den Fall, daß sie später – was sie sehr hoffte – von der Polizei vernommen würde. Vielleicht gab er denen einen Fingerzeig. Sie räumte noch die Küche auf, bis sie sicher sein konnte, daß die jun ge Frau tief genug schlief, um ihr Fortgehen nicht zu merken. Dann machte sie sich, durchdrungen von der Wichtigkeit ihrer Mission, zum Ausgehen fertig. Sie kam aber nicht weit, da hörte sie auch schon die Sirene des Polizeiwagens und sah ihn in die Finkenstraße einbiegen. Als er hinter der Kurve verschwand, kombinierte sie sofort einen Zu sammenhang mit den Telefonarbeitern, von denen ihr Gast gespro 181
chen hatte. Enttäuscht nahm sie zur Kenntnis, daß jemand ihr zuvor gekommen war, und drehte kurz entschlossen um. Sie mußte der Poli zei doch wenigstens sagen, wo sich Frau Simons befand. In der Finkenstraße wurde es jetzt lebendig. Die Bewohner öffneten Fenster und Türen, um festzustellen, was die Polizei in ihrer ehrbaren Straße zu suchen habe. Aber Fräulein Gehring hatte einen Vorsprung, sie war als erste zur Stelle. Am Gartentor stand ein Polizist und hielt sie an, als sie passieren wollte. »Hier können Sie im Augenblick nicht hinein.« »Aber ich habe eine wichtige Mitteilung für die Polizei.« »Das könnte jeder behaupten«, meinte er mißtrauisch. »Was ist es denn?« »Das kann ich nur Ihrem Vorgesetzten sagen. Es betrifft Frau Si mons, die hier wohnt, und muß geheim bleiben.« Der Mann war unschlüssig. Aus Erfahrung wußte er, daß es binnen weniger Minuten hier von Neugierigen nur so wimmeln würde und er darum seinen Posten nicht verlassen durfte. Immerhin sah die Frau se riös aus. »Ich lasse Sie passieren«, sagte er mürrisch. »Aber wehe Ihnen, wenn Sie gar keine Aussage zu machen haben! Dann ist mir eine kalte Abrei bung sicher, weil ich Sie hineinließ.« Fräulein Gehring würdigte ihn keines Blickes mehr. Ihrer Wichtig keit bewußt, stolzierte sie auf das Haus zu, nicht ohne missbilligen de Blicke auf den reichlich verunkrauteten Garten zu werfen. Sie be trat eine kleine Diele, die durch eine offen stehende Tür vom Wohn zimmer her Licht empfing. Ein Mann saß dort an einem Tisch und schrieb, die beiden Telefonarbeiter, von denen Frau Simons gesprochen hatte, links und rechts von ihm. Im oberen Stock hörte man Leute ru moren. Der Schreibende hob den Kopf und schaute mit ärgerlich ge runzelter Stirn in ihre Richtung. »Was wollen Sie denn hier?« fragte er schroff. »Wenn Sie der Vorgesetzte sind, hätte ich eine Aussage zu machen.« »Um was handelt es sich?« fragte er etwas zugänglicher. »Das kann ich Ihnen nur unter vier Augen sagen.« 182
»In diesem Fall setzen Sie sich. Wir sind in fünf Minuten fertig.« Fräulein Gehring konnte nicht an sich halten. »Haben Sie ihn verhaftet?« fragte sie, fiebernd vor Neugier. »Von wem sprechen Sie?« »Von ihm doch … Haben Sie ihn?« Jetzt wurde diese Frau für Inspektor Heuß interessant. Offenbar wußte sie wirklich etwas über den Fall. »Gedulden Sie sich bitte noch ein paar Minuten«, sagte er beruhi gend. »Inzwischen können Sie meinem Assistenten Ihre Personalien angeben, er ist nebenan. Wir verlieren dann nicht unnötig Zeit.« »Das möchte ich eigentlich nur Ihnen sagen. Wenn Sie alles wissen, werden Sie das verstehen.« Inspektor Heuß zuckte die Schultern und wandte sich wieder den beiden Arbeitern zu. »Wie erklären Sie es sich, daß keiner von Ihnen etwas von seiner Flucht gemerkt hat?« »Der elektrische Bohrer war schuld daran, Herr Inspektor. Der macht einen solchen Krach, daß man sonst nichts mehr hört. Wir haben na türlich auch nicht weiter auf Geräusche geachtet. Wir glaubten doch, er sei oben auf Nummer Sicher.« »Er ist Ihnen also entwischt?« schaltete sich Fräulein Gehring tief enttäuscht ein. »Das wage ich Frau Simons kaum zu sagen!« Sie brach ab, während sie gesprochen hatte, war hinter ihr ein kalter Luftzug entstanden. Als sie sich umdrehte, sah sie sich einem jüngeren, gut gekleideten Herrn gegenüber, der förmlich auf sie zustürzte. »Wissen Sie denn, wo sie ist?« fragte er, unverkennbar aufgeregt. »Deswegen bin ich hier«, sagte Fräulein Gehring würdevoll. »Wir sind noch nicht so weit, Christopher. Gehen Sie doch erst mal hinaus und schauen Sie sich die Geschichte auf der Hinterfront an. Er hat sich mit seinen Leintüchern abgeseilt.« »Jetzt sind wir wieder so klug wie zuvor«, sagte Witt verbissen. Von Monteros Flucht war er vom Inspektor bereits telefonisch verständigt worden. »Christopher? Habe ich richtig gehört? Heißen Sie so?« fragte Fräu lein Gehring wie elektrisiert. 183
»Ja, warum?« »Diesen Namen hat sie doch genannt –« Er blieb mit einem Ruck stehen. »Wer?« »Frau Simons.« »So kommen wir nicht weiter«, schaltete sich der Inspektor energisch ein. »Einer nach dem andern! Laßt mich jetzt endlich hier fertig wer den.« Er deutete auf eine Pistole, die auf dem Tisch lag. »Sie habt ihr ihm also abgenommen, und dabei natürlich die Fingerabdrücke ver wischt.« »Daran haben wir nicht gedacht. Da der Kerl nach oben gegangen war, um sie zu holen, und Frau Simons uns gewarnt hat, bevor sie fort rannte, dachten wir, es sei besser, ihm das Schießeisen abzunehmen. Als wir ihn daran hinderten, ihr nachzulaufen, sah er ganz danach aus, als ob er es benutzen wollte. Während ich ihn festhielt, hat es ihm mein Kollege abgenommen. War daran etwas falsch?« »Von Ihrem Standpunkt aus gesehen nicht. Was hat Frau Simons ge nau gesagt?« »Geschrien, meinen Sie? Sie war ja halb verrückt vor Angst. ›Ach tung, er ist bewaffnet‹, warf sie uns hin, bevor sie die Haustür hinter sich zuschlug. Meier hat gleich gesehen, daß eine seiner Hosentaschen jetzt prall abstand, und hat zugegriffen. Dann haben wir ihn gezwun gen, wieder hinaufzugehen. Wir hatten es eilig, mit der Leitung fertig zu werden, um die Polizei herbeirufen zu können. Das ist alles.« »Gut. Ihre Personalien habe ich. Kommen Sie morgen um neun Uhr auf meine Dienststelle, Rathausgasse 7, Zimmer 3. Wir müssen ein ord nungsgemäßes Protokoll Ihrer Aussage aufnehmen. Einstweilen dan ke ich Ihnen. Sie können gehen.« Die Männer verabschiedeten sich, blieben aber noch einen Augen blick bei Fräulein Gehring stehen. »Unsereins möchte auch gern wissen, ob sie in Sicherheit ist«, sagte der Ältere. »Es wäre doch eine Beruhigung nach dem, was man zu se hen bekommen hat.« »Sie brauchen sich keine Sorgen um sie zu machen, jedenfalls im Au 184
genblick nicht«, sagte Fräulein Gehring freundlich. »Und für das, was Sie für sie getan haben, danke ich Ihnen in ihrem Namen.« »Na, da sind wir aber froh. Grüßen Sie sie schön von uns, und es täte uns leid, daß wir den Kerl hätten entwischen lassen. Aber wer hätte denn an so etwas gedacht?« »Ich schon«, sagte Fräulein Gehring selbstbewusst. »Schauen Sie sich denn nie einen Kriminalfilm im Fernsehen an? Dabei kann man aller hand lernen.« Der Inspektor verbiss sich ein Lachen, als er aufstand und seiner Be sucherin den Stuhl neben sich zuschob. Christopher war zu aufgeregt, um seine Belustigung zu teilen. Als Fräulein Gehring sah, daß er sich dazusetzen wollte, erhob sie Einspruch. »Ich habe doch gesagt, daß ich meine Aussage nur unter vier Augen mache.« »Christopher Witt ist Frau Simons' bester Freund. Von ihm haben Sie bestimmt nichts zu befürchten.« Sie musterte ihn mit einem nicht unbedingt freundlichen Blick. »Wenn das stimmt, sollten Sie besser auf sie aufpassen«, sagte sie streng. »Sie war verreist, und ich wußte nicht einmal, daß sie zurückgekom men ist.« »Dann verstehe ich es schon besser. Also, Herr Inspektor, Frau Si mons ist bei mir. Sie wurde gegenüber von meinem Haus ohnmächtig; da hat mir der Briefträger geholfen, sie zu mir hineinzutragen.« »Gottlob!« sagte Christopher aus Herzensgrund, »wenigstens eine gute Nachricht.« Der Inspektor verwies ihm mit einem Blick die Unterbrechung. »Sagen Sie mir bitte zuerst, wer Sie sind.« »Hermine Gehring, pensionierte Lehrerin, unverheiratet. Ich be wohne das Haus Nummer 23 in dieser Straße, nicht weit von der Kur ve, auf der anderen Seite.« Der Inspektor stand auf. »Sie haben doch nichts dagegen, wenn wir Sie begleiten?« »Warum?« fragte sie erschrocken, »bin ich denn in Gefahr?« 185
»Auf keinen Fall; aber ich muß Frau Simons sofort vernehmen –« »Das geht nicht, Herr Inspektor. Ich habe ihr ein starkes Schlafmit tel gegeben. Sie würden sie jetzt nicht wachkriegen und noch weniger vernehmen können. Wenn Sie gesehen hätten, in welchem Zustand sie war, würden Sie begreifen, daß ich ihr mit dem Pulver eine Wohltat er wies. Sie stand unter einem Schock, und der wird sich hoffentlich jetzt lösen.« Der Inspektor und Witt wechselten einen enttäuschten Blick. »Ich glaube nicht, daß ich darauf Rücksicht nehmen kann«, sagte der Kriminalbeamte, immerhin etwas unschlüssig geworden. »Die Spur ist jetzt noch heiß. Man darf dem Kerl nicht zuviel Zeit lassen. Hat sie Ihnen gesagt, ob es ihr geschiedener Mann war?« »Ja, und auch, daß er ohne weiteres bei mir eindringen würde, wenn er wüsste, daß sie bei mir sei. Sie bat mich inständig, die Haustür zu verriegeln und sie nicht allein zu lassen. Darum habe ich gewartet, bis sie so tief schlief, daß sie mein Fortgehen nicht merkte.« »Vielleicht hat Fräulein Gehring recht, und man sollte sie erst mal schlafen lassen«, mischte sich Christopher ein. »Wahrscheinlich ist sie die ganze Nacht gefahren. Bei diesem Verhör wird doch alles wieder in ihr aufgewühlt. Es wäre besser, man gäbe ihr vorher ein wenig Zeit, sich zu erholen.« »Hm. Wie lange schätzen Sie, wird das Mittel wirken?« »Ein paar Stunden.« »So lange? Das ist verdammt unangenehm. Haben Sie Telefon?« »Nein.« »Würden Sie Frau Simons zum Präsidium begleiten, nachdem sie aufgewacht ist?« »Selbstverständlich. Ich werde ihr einen starken Kaffee kochen, da mit sie richtig munter wird, und ihr etwas zu essen geben. Dann ma chen wir uns gleich auf den Weg.« »Gut, in diesem Fall werde ich mich gedulden, wenn auch ungern. Übrigens sollte man Frau Simons ihren Koffer, ihren Mantel und ihre Handtasche zustellen, falls sie etwas braucht. Ich gebe Ihnen einen meiner Männer mit –« 186
»Auf keinen Fall, das wäre zu verräterisch. Das schaffe ich ganz allein.« »Um so besser. Dort in der Diele finden Sie die Sachen. Zufrieden, Christopher?« »Sehr. Bedenken Sie, was sie durchgemacht hat. Am liebsten würde ich sie in meinen Wagen packen und irgendwo hinfahren, wo sie über ihr böses Erlebnis hinwegkommen könnte. Seit Jahren hat sie in Angst gelebt. Das hält doch auf die Dauer kein Mensch aus. Jedenfalls danke ich Ihnen herzlich, Fräulein Gehring, daß Sie so gut für sie sorgten.« »Er hat sie gern, das freut mich für sie«, dachte sie zufrieden, als sie hocherhobenen Hauptes durch den Vorgarten auf die weniger begün stigten Straßenbewohner zuging, die sich dort drängten. Sofort erhob sich ein Schwall von Fragen, wie es komme, daß sie hineindürfe und die anderen nicht, und was die Polizei eigentlich in dem Haus wol le? Ob man die junge Frau ermordet habe? Sie selbst, sagte ein junges Mädchen, hätten keine zehn Pferde dazu gebracht, in einem so abseits gelegenen Haus zu wohnen. Fräulein Gehring setzte eine geheimnis volle Miene auf und beantwortete die vielen Fragen nur durch ein viel sagendes Heben ihrer Schultern. Sie sonnte sich im Glanz ihres Wis sens und ahnte nicht, in welchem Maße sie sich die Sympathie der An wohner dadurch verscherzte. »Sie war schon immer eine hochnäsige Pute«, faßte eine der Frau en die allgemeine Meinung zusammen. »Wie eben alte Lehrerinnen so sind. Sie glauben immer noch, auf einem Pult zu sitzen und auf ande re herabschauen zu können.« Mildred hörte ihre Gastgeberin nicht zurückkommen, obschon die se bei ihr eintrat. Sie lag in tiefem Schlaf, die Wange kindlich auf eine Handfläche gelegt. Ihr Gesicht war jetzt entspannt und wirkte viel jün ger als vor einer guten Stunde. Fräulein Gehring betrachtete sie kopf schüttelnd. Wenn man diesem Christopher – vorgestellt hatte er sich übrigens nicht, dachte sie missbilligend – glauben konnte, hatte dieses junge Geschöpf seit langem in Angst vor einem solchen Überfall ge lebt, allein, in einem abseits stehenden Haus. Jetzt begriff sie auch, daß dessen Fensterläden Tag und Nacht geschlossen waren, worüber in der Finkenstraße nicht wenig geklatscht und Vermutungen ausgetauscht 187
worden waren. Keine hatte sich der Wahrheit genähert. Nichts Verbo tenes wurde hinter diesen Fensterläden getrieben, sie dienten nur einer armen, verängstigten Seele als primitiver Schutz.
XVI
D
er Morgen war schon weit fortgeschritten, und Mildred rührte sich immer noch nicht. Fräulein Gehring wurde etwas unruhig, weil sie nichts Rechtes zu essen im Haus hatte, gerade nur einen Rest von gestern, der kaum für sie allein gereicht hätte. Sie mußte unbe dingt etwas einkaufen gehen. Zu dumm, daß sie nicht daran gedacht hatte, als sie von der Unterredung mit dem Inspektor zurückgekom men war und noch sicher hätte sein können, daß Frau Simons nicht aufwachte. Aber das, was da in ihr stilles, bisher ziemlich ereignisloses Leben hereingebrochen war, hatte sie eben doch etwas durcheinander gebracht. Frau Simons schlief jetzt schon fast drei Stunden. Vielleicht blieb ihr noch Zeit, einen Sprung zum Metzger und zum Gemüse händler zu machen, obschon beide sich leider nicht in der Finkenstra ße befanden. Aber weit war es bis dorthin nicht. Neben dem ersteren wohnte ihre beste Freundin. Zu gern hätte sie einmal zu ihr hineinge schaut und ihr, der sie vertrauen konnte, erzählt, was sie erlebt hatte. Wenn sie einen Zettel an gut sichtbarer Stelle auf den Tisch legte, daß sie gleich zurückkomme, konnte sie den notwendigen Einkauf viel leicht wagen. Frau Simons war jetzt sicher genügend ausgeruht, um nicht gleich in Panik zu geraten, wenn sie sich vorübergehend allein wußte. Leise traf Fräulein Gehring ihre Vorbereitungen. Eigentlich war sie sicher, ihren Gast bei ihrer Rückkehr so vorzufinden, wie sie ihn verlassen hatte. Das Mittagessen konnte sie schnell zubereiten, sie würde das praktisch einrichten. Vor zwei war der Inspektor wahr scheinlich doch nicht auf seinem Büro. 188
Zufrieden machte sie sich auf den Weg. Es regnete nicht mehr. Die Straße war jetzt so gut wie leer. Die neugierigen Hausfrauen waren wohl zu ihren Pflichten zurückgekehrt, zumal die Ehemänner bald hungrig erscheinen würden. Da hatte sie, Hermine Gehring, es bes ser. Sie konnte essen, wann und was sie wollte, daheimbleiben oder ausgehen, ganz wie es ihr beliebte. Es hatte entschieden seine Vorteile, Junggesellin zu sein, sie litt jedenfalls nicht darunter. Zuerst, nach dem Tode ihrer Mutter, hatte sie sich etwas einsam gefühlt und erwogen, ob sie ein Zimmer vermieten und sich so eine Hausgenossin verschaffen sollte. Bei näherem Überlegen hatte sie jedoch davon abgesehen. Bes ser allein bleiben als sich unangenehmen Überraschungen aussetzen. Jemanden wie Frau Simons hätte man finden sollen, seriös und dank bar für Freundlichkeit. Aber die besaß ja selbst ein Haus – leider. Ihre Einkäufe gingen so flott vonstatten, daß sie es verantworten konnte, noch bei Grete hineinzuschauen. Sie lechzte förmlich danach, einer mitfühlenden Seele zu erzählen, was dieser Tag ihr an Überra schungen beschert hatte. Bei der ersten Andeutung rannte Grete in die Küche; sie gehörte zu den Frauen, die bei jeder Gemütserregung zu nächst einmal einen starken Kaffee brauchten. Hermine Gehring war nicht abgeneigt, mitzuhalten. Sie setzte sich an den Küchentisch und erzählte, während Grete auf das Kochen des Wassers wartete. Über mangelnde Aufmerksamkeit hatte sie sich nicht zu beklagen. Die ver schiedenen Ausrufe des Schreckens und der Verwunderung befriedig ten sie tief. Während die beiden Frauen genüßlich den starken Kaf fee tranken, ergingen sie sich in allen möglichen Mutmaßungen, was dem Unhold blühen werde, wenn er gefangen wurde. Grete war als alte Frauenrechtlerin besonders blutrünstig und auf Männer, die ihre Frauen misshandelten, sehr schlecht zu sprechen. Fräulein Gehring, von Natur weniger kämpferisch veranlagt, ließ sich willig aufputschen. Bald wandte sich ihre Entrüstung gegen die unfähige Polizei, obschon sie noch gar nicht ahnen konnten, ob der Übeltäter inzwischen doch festgenommen war oder nicht. »Es ist einfach ein Skandal!« erklärte Grete. »Monatelang hat diese arme Person gezittert, und niemand hat sie geschützt. Immer muß zu 189
erst ein Unglück passieren, bevor die Polizei geruht, einzugreifen. Und auch dann hat sie es nicht eilig. Ihr tut es ja nicht weh, wenn eine ver lassene Frau beinahe umgebracht wird. Was hat er ihr eigentlich ge tan?« »Das weiß ich nicht, aber sie hat Spuren von Schlägen im Gesicht.« »Vielleicht hat er sogar versucht, sie zu vergewaltigen! Sicher wollte er sich an ihr rächen, weil sie sich scheiden ließ. Er muß ja schon et was Übles getan haben, daß sie das fertig brachte. Vielleicht ist er über haupt ein Gangster. Aus Amerika ist noch nie etwas Gutes zu uns ge kommen.« »Das kann man nun auch nicht so ohne weiteres behaupten«, wandte Fräulein Gehring, deren Gerechtigkeitssinn durch diese radikale Ab lehnung verletzt wurde, ein. »Was wären wir heute ohne den Marshall plan –« »Ach, das ist doch kalter Kaffee«, tat Grete den berechtigten Ein wand ohne weiteres ab. Diese überspitzte Einstellung riß das alte Fräu lein aus dem Behagen der Stunde. Sie besann sich endlich darauf, daß sie nicht zu lange fortbleiben durfte. Ein Blick auf die Uhr ließ sie er schrocken aufstehen. »Jetzt habe ich mich richtig verplappert. Inzwischen kann das arme Ding aufgewacht sein und sich ängstigen.« »Ach, bleib doch noch ein bißchen! Du hast die Haustür doch sicher zugeschlossen?« »Ja, doppelt.« »Also, dann kann ihr ja nichts passieren. Trink noch eine Tasse. Ge rade fällt mir ein, daß ich noch ein paar gute Kekse in einer Büchse habe, die mit Schokolade gefüllten, die du so gern magst.« Zögernd und mit schlechtem Gewissen ließ Fräulein Gehring sich noch einmal nieder, aber sie fand so recht keine Ruhe mehr. Frau Si mons hatte gesagt, ihr gewesener Mann dringe ohne Skrupel überall ein. Am Ende besaß er sogar einen Dietrich … Sie blieb nicht mehr lange und machte sich dann mit fast unziemlicher Hast auf den Heim weg, nicht ohne eine leise Gänsehaut auf dem Rücken. Sie fühlte sich nicht sehr mutig, als sie die Tür aufschloss, obschon diese noch war, 190
wie sie sie verlassen hatte. Anscheinend hatte sich niemand am Schloß zu schaffen gemacht. Eigentlich hätte sie erwartet, daß Frau Simons ihr sofort entgegenkäme, aber nichts rührte sich. Um so besser. In die sem Fall konnte sie ungehindert an die Zubereitung des Mittagessens gehen. Wenn sie alles aufgesetzt hatte, war noch immer Zeit, nach ih rem Gast zu sehen. Langsam, fand sie, könnte der seine Lebensgeister sammeln und zu sich kommen. Als das Gemüse kochte und die Schnitzel eingesalzen und gepfef fert auf das Braten warteten, band Fräulein Gehring ihre Schürze ab und nahm ein Tablett mit Geschirr, Gläsern und Besteck auf, um im Wohnzimmer den Tisch zu decken. Sie hätte es beinahe fallen lassen, als ihr Blick zufällig auf die Stelle fiel, an der sie den Koffer, mit der Handtasche obenauf, hingestellt hatte: Sie war leer. Verstört irrte ihr Blick zur Garderobe, wo sie den ihr ausgehändigten Mantel von Frau Simons aufgehängt hatte. Auch er war nicht mehr dort. Die Knie wur den ihr weich, als sie mit dem Ellbogen die Wohnzimmertür aufklink te. Sie war nun schon nicht mehr verwundert, daß sich niemand dort befand. Frau Simons hatte nicht einmal die Decke, die sie über sie ge breitet hatte, zusammengefaltet, was ihrem Ordnungssinn missfiel. Ihr eigener Zettel lag noch auf dem Tisch, aber nichts war dazugeschrie ben worden. Fräulein Gehring setzte sich erschüttert auf den nächsten Stuhl. Hatte sie das verdient, nachdem sie so selbstlos geholfen und so viel ehrliches Mitgefühl für diese Frau aufgebracht hatte? Ohne Dank war sie fortgestürzt, oder war sie vielleicht dazu gezwungen worden? Ihr Blick irrte zur hinteren Terrassentür. Tatsächlich war sie nur an gelehnt, während sie sie fest geschlossen hatte, schon, um die Kälte auszusperren. Diese Häuser waren alle über den gleichen Leisten ge baut, der Unterschied bestand nur in der Größe. Frau Simons' Bedro her wußte wahrscheinlich von diesem rückwärtigen Ausgang. Aber müßte nicht die Scheibe der Tür zertrümmert sein, wenn der Kerl sich gewaltsam Einlass verschafft hätte? Oder hatte er Frau Simons auf ir gendeine Weise gezwungen, ihm zu öffnen? Etwas hatte sich hier abge spielt, während sie ahnungslos mit Grete Kaffee getrunken und kost bare Zeit vertrödelt hatte. Nun konnte sie ihr Versprechen nicht halten, 191
Frau Simons zum Inspektor zu führen, und nicht einmal mit gutem Gewissen behaupten, daß sie keine Schuld traf. Aber das war vielleicht weniger wichtig als die Frage, was mit der jungen Frau geschehen war. Einen neuerlichen Überfall könnte sie nicht überleben, hatte sie heute früh gesagt. War es zu einem solchen gekommen? Dem alten Fräulein wurde abwechselnd heiß und kalt. Sie sehnte Grete herbei, die immer so resolut war. Schließlich kam sie auf den Gedanken, hinter der Kur ve nachzuschauen, ob sich dort noch jemand aufhielt. Zu ihrer großen Erleichterung sah sie einen uniformierten Polizisten vor dem Garten tor stehen. Beflügelt eilte sie auf ihn zu. Sie erkannte ihn sofort, als sie bei ihm anlangte: Es war derselbe, der sie heute morgen zuerst nicht hatte passieren lassen. »Was wollen Sie jetzt schon wieder?« fragte er mürrisch, obschon die kalte Abreibung, die er befürchtet hatte, ausgeblieben war. Fräulein Gehring rang zuerst nach Atem. Ein solches Tempo bekam ihrem Alter nicht. »Ist der Inspektor noch hier?« fragte sie keuchend. »Was bilden Sie sich ein? Der hat noch anderes zu tun als hier her umzusitzen«, sagte er grob. »Aber ich muß ihn sofort sprechen!« »Ich weiß, Sie haben es immer eilig, und Ihre Aussagen sind allesamt wichtig –« »Das sind sie auch«, zischte sie empört. »Wie reden Sie eigentlich mit mir? Ich werde mich beim Inspektor über Sie beschweren.« »Nur zu. Wir sind Kummer gewöhnt«, versetzte er unbeeindruckt. Fräulein Gehring begriff, daß sie etwas mehr sagen mußte, wenn sie ihn aus seiner aufreizenden Gemütsruhe scheuchen wollte. Außerdem hatte die Geheimhaltung vom Augenblick an ihren Sinn verloren, da ihr Gast sie auf rätselhafte Weise verlassen hatte. »Frau Simons ist verschwunden.« »Das ist, soviel ich weiß, keine Neuigkeit. Sie wird ja schon gesucht.« »Nicht mehr, seit ich dem Inspektor gesagt habe, daß ich sie bei mir aufgenommen hatte.« Diesmal wurde Fräulein Gehring die Genugtu ung zuteil, daß er die Ohren spitzte. 192
»War es das, was Sie dem Inspektor heute morgen sagen wollten?« »Genau das.« »Und jetzt ist sie wieder verschwunden?« »Ja, während ich meine Besorgungen machte. Ich hatte das Haus zu geschlossen, aber sie ist durch die Hintertür fortgegangen, ob freiwil lig oder gezwungen, weiß ich nicht. Ich glaube aber eher letzteres, denn sie hatte solche Angst, die Straße zu betreten, daß sie es kaum freiwil lig getan hätte.« »Das müßte der Inspektor natürlich wissen –« »Darum wollte ich ihn ja sprechen. Aber statt mir behilflich zu sein, haben Sie mich lächerlich gemacht.« »Entschuldigen Sie, ich konnte nicht wissen, um was es sich han delte«, sagte er verlegen. »Ich darf meinen Posten nicht verlassen, ob schon ich keinen Sinn darin sehe, hier auf dem Präsentierteller ausge stellt aufzupassen, daß nichts geschieht. Aber bewachen müssen wir jetzt anscheinend dieses verflixte Haus, und es gibt keine Möglichkeit, das diskreter zu tun. Kein einziges Plätzchen, wo man sich verstecken könnte.« »Ja, ja«, unterbrach sie ungeduldig seine Betrachtungen, »aber haben Sie nicht zufällig die Schlüssel zum Haus?« »Doch, warum?« »Frau Simons hat mir erzählt, daß ihr Telefon heute morgen instal liert worden sei. Dann könnten wir doch den Inspektor anrufen?« »Sie haben recht. Ich schließe Ihnen auf, gebe Ihnen die Nummer, dann muß ich aber auf meinen Posten zurück. Verlangen Sie Inspek tor Heuß, er bearbeitet den Fall. Sie kennen ihn ja bereits.« Fräulein Gehring konnte ohne Schwierigkeiten bis zu ihm durch dringen. Sie zwang sich zur Ruhe und erzählte ihm, was sie bei ihrer Rückkehr vorgefunden oder vielmehr nicht mehr vorgefunden hat te. Der Inspektor fluchte leise vor sich hin. »Das ist ja eine schöne Bescherung, und Sie sind nicht unschuldig daran. Hätten Sie mich heute morgen zu ihr gelassen, wären wir jetzt klüger. Das kommt davon, wenn man sich zu einer Rücksicht überre 193
den läßt, die man im Grunde nicht verantworten kann. Warum, um Himmels willen, sind Sie fortgegangen?« »Ich hatte nichts zu essen im Haus.« »Wie lange sind Sie denn schätzungsweise fortgeblieben?« Hermine Gehring schluckte einmal, dann bekannte sie tapfer die Wahrheit. »Auch das noch«, schnaubte er. »Sie wußten doch, daß Frau Simons gefährdet war.« »Sie glauben also auch, daß man sie gezwungen hat, fortzugehen?« fragte sie kleinlaut. »Es sieht jedenfalls so aus. Bleiben Sie bitte daheim. Ich bin in einer Viertelstunde bei Ihnen. Und lassen Sie alles so, wie es ist.« »Aber«, wandte sie ein, »die Terrassentür muß ich doch zumachen, es wird sonst zu kalt.« »Benutzen Sie ein Taschentuch.« »Zu spät«, dachte sie mit schlechtem Gewissen, denn natürlich war das erste, das sie nach ihrer Entdeckung getan hatte, die Türe zu schlie ßen. Anscheinend war sie durch das Fernsehen doch nicht so gründ lich kriminalistisch vorgeschult, wie sie es sich eingebildet hatte. Heuß versuchte sofort, Christopher zu erreichen, doch war er, wie man ihm sagte, mitten in einer Sitzung. Er hinterließ, daß Herr Witt so bald wie möglich seine Dienststelle anrufen solle. »Das wird ein neu er Schock für ihn sein«, dachte er mitleidig. Er durchschaute das Ver hältnis zwischen dieser Frau und seinem Freund absolut nicht. Chri stopher hatte seine gelegentliche Neckerei, er sei verliebt in Frau Si mons, rundweg abgewehrt. Heuß hatte keine Veranlassung, ihm nicht zu glauben, nur – war man bei einer solchen Beziehung seiner Sache immer selbst sicher? Tatsache war, daß Witt, wenn es sich nur um eine platonische Freundschaft handelte, einen ungewöhnlich starken An teil am Schicksal dieser Frau nahm. Er hatte die beiden bis jetzt noch nie zusammen gesehen, konnte also nicht beurteilen, welche Gefühle die Gegenseite beherrschten. Christopher Witt war ein sehr gut ausse hender und sympathischer Mann. Er bezweifelte ernstlich, daß Mild red Simons seiner Anziehungskraft nicht erlegen sei. 194
Kurz darauf stellte er einwandfrei fest, daß sie die Terrassentür als Ausgang benutzt hatte und dabei zweifellos allein gewesen war. Da es kurz vorher geregnet hatte, waren die Eindrücke ihrer Stiefel in der weichen Erde deutlich bis zu den Steinplatten vor der Gartentür zu verfolgen. Eine zweite frische Spur gab es nicht. Die Sache war ihm ein Rätsel, besonders, nachdem Fräulein Gehring ihm versichert hat te, Frau Simons habe sich sogar in der relativen Sicherheit ihres Hau ses gefürchtet. Um wieviel mehr brachte sie sich in Gefahr, wenn sie es verließ! Fräulein Gehring hatte keine Schwäche für die Polizei. Trotzdem be dauerte sie es tief, daß der Inspektor sie nach kurzem wieder verließ. Sie sehnte sich nach Gesellschaft, vor allem nach der eines Mannes, der sie beschützen konnte. Bis jetzt hatte sie sich, allein in ihrem Haus, noch nie gefürchtet, zumal sie links und rechts Nachbarn in Rufweite hatte. Aber jetzt war ihr dieses wohltuende Gefühl, hinter ihrer Haus tür in Sicherheit zu sein, abhanden gekommen. Christopher war ganz verstört, als er die neue Hiobsbotschaft erfuhr. Abgesehen davon, daß er nicht schon wieder während der Geschäfts zeit forteilen konnte, hätte es auch keinen Sinn gehabt, Fräulein Geh ring aufzusuchen. Mehr als Heuß hätte er doch nicht erfahren. Mild reds Handlungsweise war nicht nur gefährlich, solange Montero nicht dingfest gemacht worden war, sondern auch sinnlos. Soviel er wußte, besaß sie keine andere Unterkunft. Sollte dieses sicher bedenkliche Er lebnis, über das er nicht einmal Genaues wußte, ihren Verstand ver wirrt haben? Wenn nicht, war er sicher, daß sie ihn jetzt jeden Augen blick anrufen könnte oder spätestens nach Geschäftsschluss in seiner Wohnung. An wen hätte sie sich auch sonst wenden sollen? Er hätte gern gewußt, warum sie ihren Aufenthalt in Kandersteg vorzeitig ab gebrochen hatte. Ein Blick in den Dekorsaal überzeugte ihn davon, daß Heli Weiß' Arbeitsplatz noch verwaist war. Hatten sich die bei den Frauen gestritten? Er hatte zwar von Mildred den Eindruck, daß sie eher kompromissbereit als zanksüchtig war. Andererseits lag auf der Hand, daß sie und Heli grundverschieden waren. Im Vergleich zu Mildred war die andere unverkennbar ein leichtes Vögelchen, hinter 195
dem man keine seelischen Tiefen vermuten durfte. Sein Brief konn te erst heute morgen in Kandersteg angekommen sein, er hatte seine Adressatin demnach nicht mehr erreicht. Das erklärte auch, warum sie zurückgekehrt war, ohne ihn zu benachrichtigen. Höchstwahrschein lich war sie bei ihrer Ankunft in ihrem Haus sofort auf Montero ge stoßen, der demnach die Unverschämtheit besessen hatte, sich erneut dort einzuquartieren. Was er Mildred angetan oder womit er sie be droht hatte, konnte er nur vermuten. Umsonst hatte sie sicher nicht so verzweifelt um Hilfe geschrien, wie die Telefonarbeiter angegeben hat ten. Anscheinend besaß sie aber doch einen Schutzengel. Daß die Lei tung gerade an diesem Morgen gelegt werden sollte, war ein fast un wahrscheinlicher Zufall. Er wagte nicht, sich auszumalen, was ohne diese Hilfe mit ihr geschehen wäre. Welch schreckliche Angst muß te sie ausgestanden haben, da sie diesen Glücksfall nicht voraussehen konnte! Den Brief der Elektrofirma, der ihr Tag und Stunde der ge planten Installation ankündigte, hatte Heuß noch im Briefkasten ge funden. Stunde um Stunde verging, ohne daß ein Anruf von Mildred durch kam. Nach Geschäftsschluss rannte er förmlich nach Hause, in der Hoffnung, sie vielleicht vor seiner Tür zu finden. Aber auch das war nicht der Fall. Er durchsuchte den Briefkasten, der, wie immer, wenn es der Festzeit entgegenging, voll unerwünschter Drucksachen steckte, aber kein Zettel von Mildred fand sich dazwischen. Während des gan zen Abends blieb er zu Hause, um ja nicht ihren Anruf zu verpassen. Die Sache wurde ihm immer rätselhafter. Sie wußte doch, daß sie sich jederzeit um Hilfe an ihn wenden konnte, jedenfalls bildete er sich das ein. Da war aber ein Gedanke, der, je unruhiger er wurde, desto stär ker in ihm bohrte. Konnte es sein, daß Mildred von ihm enttäuscht war? Wenn sie ihn liebte, und vieles sprach dafür, hatte er ihr im Aus tausch dafür zweifellos zu wenig gegeben, da er stets strikt innerhalb der Grenzen einer Freundschaft geblieben war. Bis jetzt hatte er das als sein gutes Recht, ja als seine Pflicht angesehen, um das Erwecken fal scher Hoffnungen zu vermeiden. Er war überzeugt gewesen, daß das, was er für sie empfand, nicht Liebe war. Jetzt war er dessen nicht mehr 196
ganz sicher. Sie hatte ihm während ihrer Abwesenheit zweifellos ge fehlt, und was er jetzt an Angst und Sorgen durchmachte, war mit ein facher Kameradschaft nicht hinreichend erklärt. Er schien doch stär ker mit ihr verbunden zu sein, als ihm bewußt geworden war. Aber Liebe? Das war doch etwas anderes. Seinen Gefühlen für Mildred fehl te etwas Unerlässliches: das körperliche Begehren. In dieser Hinsicht hatte noch nie von ihm zu ihr ein Funke gezündet. Früher war er dar über froh gewesen, jetzt bedauerte er es beinahe. Er hätte dieses vom Schicksal verfolgte Menschenkind so gern einmal wirklich glücklich und sorglos gesehen. Aber um das zu erreichen, mußte er wohl mehr von sich selbst zu geben bereit sein. Allerdings – und da saß der Ha ken – nützte aller gute Wille nichts, wenn das Eigentliche fehlte. Christopher verbrachte eine unruhige Nacht. Gegen den Morgen zu hatte er jedoch die Genugtuung, daß seine bohrenden Gedanken ihm eine mögliche Erklärung für Mildreds Untertauchen einflüsterten. Er hatte damals am Montag nach Monteros Anruf aus reiner Gewissen haftigkeit und ohne an die Wahrheit seiner Mitteilung zu glauben, beim Notar Schenk angerufen, um sich zu vergewissern, ob tatsächlich eine Nachricht von Mildreds Eltern vorliege. Leider war es ihm nicht gelungen, eine Auskunft zu bekommen. Der Notar war sogar ziemlich grob geworden. Da könnte, hatte er gesagt, jeder einfach anrufen und Indiskretionen über die Angelegenheiten seiner Klienten verlangen. Wie er sich das eigentlich vorstelle? Christopher hatte einsehen müs sen, daß sein Ansinnen ohne die geringste Legitimation seines Ver hältnisses zu Mildred fehl am Platze gewesen war. Jetzt aber kehrten seine Gedanken wieder zurück in diese Richtung. Hatte Mildred tat sächlich etwas über ihre Eltern erfahren, was sie vielleicht veranlasst hatte, Hals über Kopf nach Amerika zurückzukehren? Wäre das nicht die einzig logische Erklärung für ihr Verhalten? In diesem Fall bestän de zwischen dem Überfall Monteros und ihrem Verschwinden viel leicht kein ursächlicher Zusammenhang. Wie aber konnte sie etwas er fahren haben, wenn nicht durch ihn? Dem Notar war ihre Abwesen heit kaum bekannt gewesen. Hatte er ihr tatsächlich etwas mitzutei len gehabt, war sicher an ihre Wohnadresse geschrieben worden. Da 197
die Benachrichtigung der Elektrofirma noch im Kasten steckte, hätte sich dann logischerweise auch ein allfälliger Brief des Notars dort be finden müssen. Am nächsten Morgen ging er sofort in den Dekorsaal, wo er Heli Weiß diesmal an ihrem Platz vorfand. Ohne Rücksicht auf ein allfäl lig entstehendes Geschwätz fragte er sie zunächst, ob sie schöne Feri en gehabt hätte und danach, warum Frau Simons nicht auch zurück gekommen sei. »Aber sie ist es«, erwiderte Heli, sichtlich verlegen, weil sie eine Fra ge nach dem Grund des vorzeitigen Abbruchs ihrer Ferien befürchte te. »Sie wollte heute ebenfalls die Arbeit wieder aufnehmen. Aber wie Sie sehen, ist sie nicht gekommen. Ich begreife das nicht.« Etwa eine Viertelstunde nachdem Christopher in sein Büro zurückge kehrt war, wurde er von Weiler, dem Chef des Dekorsaals, angerufen. »Was ist denn mit Ihrem Schützling, Frau Simons, los? Ich bekomme soeben einen Brief aus Frankfurt von ihr, in dem sie behauptet, plötz lich nach Amerika fliegen zu müssen, da ihr Vater im Sterben liege. Wissen Sie Näheres darüber?« »Nein, nur daß sie gestern mit Fräulein Weiß aus Kandersteg zurück gekommen war und dann plötzlich von der Bildfläche verschwand. Das war also der Grund …« »Sie glauben demnach, daß sie die Wahrheit schreibt?« »Unbedingt. Im Vertrauen gesagt, ihre Eltern hatten sie ihrer be denklichen Heirat wegen verstoßen. Wenn ihr Vater jetzt im Sterben liegt, hat er vielleicht den Wunsch, noch etwas an ihr gutzumachen. Schreibt sie etwas darüber, wann sie zurückkommen wird?« »Nein, nur daß sie sich, wenn sie den Termin ihrer Rückkehr beur teilen könne, die Anfrage erlauben werde, ob man sie bei der Textilia noch weiter beschäftigen wolle, oder ob ihr Posten inzwischen ander weitig besetzt worden sei.« »Wie haben Sie entschieden? Wollen Sie ihr den Platz freihalten?« »Wenn es nicht zu lange dauert, bestimmt. Ich sagte Ihnen schon, daß sie eine Kraft ist, auf die ich nur ungern verzichten möchte, eine wirkliche Könnerin.« 198
»Ich danke Ihnen für Ihre Information«, sagte Christopher sehr er leichtert. Er nahm jetzt an, daß daheim in seinem Briefkasten eine ähnliche Erklärung stecken werde. Wahrscheinlich hatte Mildred noch vom Flugplatz aus geschrieben. Jedenfalls mußte er Heuß sofort verständigen. »Diese Frau ist wahrhaftig schnell von Entschluß«, meinte der In spektor. »Und wie hat sie denn wohl ihr Flugbillett bezahlt? Es ist doch wohl kaum anzunehmen, daß eine Angestellte solche Beträge mit sich führt.« »Sie hatte geerbt und sicher ein Bankkonto. Wahrscheinlich hat sie auf dem Weg zum Bahnhof etwas abgehoben.« »Wie soll sie aber erfahren haben, daß ihr Vater im Sterben liegt? Bei ihrer Rückkehr muß sie doch noch ahnungslos gewesen sein, da sie versprochen hatte, heute wieder zur Arbeit zu gehen.« »Die Frage habe ich mir auch schon gestellt. Erkundigen Sie sich doch einmal bei Notar Schenk, er verwaltet anscheinend ihren klei nen Besitz. Montero hatte mir doch damals am Telefon gesagt, ich soll te dort rückfragen, wenn ich ihm nicht glaubte. Begreiflicherweise hat Schenk mir die Auskunft verweigert, aber Ihnen gegenüber wird er wahrscheinlich weniger zugeknöpft sein. Probieren Sie es doch einmal, und sagen Sie mir nachher Bescheid. Es wäre doch immerhin beruhi gend zu wissen, daß es sich nicht um eine Mystifikation dieses üblen Subjekts handelt, sonst wäre er jetzt bereits auf ihren Fersen.« »Vorausgesetzt, daß er das Flugbillett ebenfalls erschwingen kann. Die Tatsache, daß er sich immer wieder in Frau Simons' Haus eingeni stet hat, spricht nicht gerade von geldlichem Überfluss.« »Da haben Sie recht.« Wenig später wußte Christopher von Heuß, daß Mildreds Kommen tatsächlich von ihrem Vater dringlich verlangt worden war. Blieb im mer noch die Frage offen, wie das zu ihrer Kenntnis gekommen war. Es wäre unlogisch anzunehmen, daß sie den einen Brief aus dem Ka sten genommen und den anderen darin gelassen hätte, zumal letzterer sicher mindestens am Vortag, wenn nicht früher, angekommen war, damit sie sich auf die Installation vorbereiten konnte. Immerhin fühlte 199
sich Christopher jetzt erleichtert. In der Mittagspause wollte er schnell nach Hause laufen und nachsehen, ob eine Nachricht für ihn da war.
XVII
D
ie Maschine der Transatlantic-Line der Lufthansa hatte vom Bo den abgehoben. Mildred entledigte sich ihrer Gurte und versuch te, sich zu entspannen. So unwahrscheinlich das schien, so war sie doch jetzt unterwegs in ihre wirkliche Heimat, von der sie gedacht hat te, sie freiwillig nie wieder zu betreten. Die fieberhafte Hast der letzten Stunden zog an ihrem Geiste vorüber. Sie sah sich aufwachen in dem fremden Zimmer, zuerst ein wenig verloren, bis die Erinnerung an die Geschehnisse und damit die alte Angst sie wieder ansprangen. Vergeb lich hatte sie nach ihrer Gastgeberin gerufen und, als keine Antwort kam, die drei Zimmer des Hauses und die Küche durchforscht. Man hatte sie alleingelassen, und hier gab es keine Riegel, keine geschlosse nen Fensterläden. Niemand war da, um Bob zu hindern, sie aufzuspü ren. Sie setzte sich in eine Ecke, die von den Fenstern aus nicht einzu sehen war, und preßte die Hände auf ihr wildpochendes Herz. In die sem Augenblick spürte sie den Brief, den sie in den Ausschnitt ihres Kleides gesteckt hatte, als Bob auf der Treppe erschienen war. Sie nahm ihn hervor und las ihn mit weit aufgerissenen Augen. War es möglich, daß ihr Vater, sterbend, sie noch einmal zu sehen wünschte? Nie hätte sie gedacht, daß sie das noch erleben würde. Mit ihrer Kindheit und dem Land, in dem sie diese verbracht, hatte sie, wie sie glaubte, endgül tig abgeschlossen, als sie den Weg in die Fremde antrat, in dieses ferne Deutschland, aus dem ihre Familie stammte und wo ein alter, einsa mer Mensch in Güte an sie gedacht und ihr eine Zuflucht geboten hat te. Daß es dann doch keine geworden war, daran trug Tante Frieda keine Schuld. Sie selbst hatte es ja auch erst begriffen, als ihr bewußt 200
wurde, daß sie ihre Angst mitgeschleppt hatte wie die Kette eines Sträf lings. Die abseitige Lage des ererbten Hauses hatte sie noch begünstigt. Wer würde sie hier schützen, wenn Bob … Und er würde Wort halten, sie suchen und strafen, dessen war sie die ganze Zeit sicher gewesen. Sie hatte auf den entsetzlichen Augenblick, da er auftauchen werde, ge wartet, wie nur je ein Mensch angstgeschüttelt seinem unabwendbaren Schicksal entgegensah. Monate, fast ein Jahr waren vergangen in die ser furchtbaren Gewissheit. Sie hatte ihre Persönlichkeit an der Wurzel zerstört und sie davon überzeugt, daß sie nie mehr werden konnte, wie sie früher war, ein gläubiges, unschuldiges Geschöpf, das den Men schen vertraute. Als sie floh, war Bob noch im Zuchthaus gewesen. Sie hatte aber nicht daran gezweifelt, daß er aufgrund guter Führung, de ren er sich in seinem eigenen Interesse bestimmt befleißigte, frühzeitig entlassen wurde. Anstiftung zum Mord hatte sein Verbrechen gehei ßen, und dieser zu allem fähige Mensch hatte es auf sie abgesehen. Manchmal, an besonders schlimmen Abenden, hatte sich zu ihrer Angst so etwas wie ein perverser Wunsch gesellt, daß es endlich ge schehen möchte, nur weil sie den unsäglichen Druck auf ihr Gemüt nicht länger ertragen zu können glaubte. Und dann war es plötzlich so weit gewesen, aber wie anders, als sie es sich in hundert langen Näch ten ausgemalt, hatte es sich abgespielt! Nicht als Rächer, als Verführer war Bob aufgetreten und ihr dadurch nur noch widerlicher gewesen. Ihr geschärftes Ohr hatte die falschen Töne nur zu deutlich vernom men. Unwillkürlich schüttelte sie sich vor unsäglichem Widerwillen bei der Vorstellung, er könnte, wenn auch nur durch Zwang, durchge setzt haben, was er sich vorgenommen. Wie sie danach hätte weiterle ben sollen, war nicht auszudenken; wahrscheinlich hätte sie dann die sem verpfuschten Dasein ein Ende gesetzt. Einmal war sie ihm noch wie durch ein Wunder entronnen. In ihre heiße Dankbarkeit darüber mischte sich jedoch das sichere Wissen, daß Wunder sich nicht zu wie derholen pflegten. Über das alles konnte sie jetzt nachdenken, aber in jenem Augen blick, da sie den Brief gelesen, hatte sie nur noch der eine Gedanke beherrscht, zu ihrem Vater zu eilen. Nach dem Datum zu schließen, 201
mußte das Schreiben schon einige Tage im Kasten gelegen haben. Jetzt packte sie die Sorge, es könnte sie zu spät erreicht haben. Sie mußte fort, sofort, sie konnte nicht auf Fräulein Gehrings Rückkehr warten, von der sie nicht wußte, wann sie stattfinden würde. Bei der Garderobe hatte sie ihren Mantel, Handtasche und Koffer entdeckt. Obschon sie sich nicht vorstellen konnte, wie die Sachen hierher gekommen waren, betrachtete sie sie doch wie ein Geschenk des Himmels. Damit hat te sie alles, was sie für die Reise brauchte, außer Geld, und das konn te sie sich beschaffen, indem sie eine größere Summe von ihrem Kon to abhob. Der Gedanke, daß sie schnell, sehr schnell handeln mußte, um nicht zu spät zu kommen, erlaubte ihr nicht, Fräulein Gehring eine Nachricht zu hinterlassen, da sie weder Stift noch Papier zur Hand hat te. Beides befand sich in ihrem Koffer, aber es herauszusuchen hatte sie keine Zeit. Durch die verschlossene Vordertür konnte sie das Haus nicht verlassen, so tat sie es über die Terrasse. Noch heute früh hatte sie sich vor dem Wagnis gefürchtet, sich auf der Straße sehen zu lassen, jetzt trug sie der Gedanke an ihren wartenden Vater darüber hinweg. Sie handelte rasch und sicher. Nachdem sie sich mit den nötigen Mit teln versehen, ließ sie sich von einem Reisebüro einen Platz in der am Abend von Frankfurt startenden Maschine der Lufthansa reservieren. »Hin und zurück?« hatte der Angestellte gefragt. Sie war zuerst um eine Antwort verlegen gewesen. So weit hatte sie noch nicht gedacht. Aber dann erschien es ihr doch unmöglich, nicht zu Christopher zu rückzukehren, auch wenn sie keine Hoffnung haben konnte, daß er sie jemals lieben würde. Sie mußte sich mit dem kleineren Glück begnü gen, ihn lieben zu dürfen und sich an seiner Freundschaft zu erfreuen. Das war im Grunde schon viel mehr, als sie jemals noch für sich erhofft hatte. Auch zu ihrer Arbeit wäre sie gerne zurückgekehrt. Es war ange nehm, anerkannt zu werden und eine geschätzte Kraft zu sein, es gab dem Leben Sinn und Inhalt. Wenn ihr Vater wirklich im Sterben lag – wie sehr hoffte sie, daß die Ärzte sich hierin irrten! – hatte sie in Rich mond nichts mehr zu suchen. Ihr Vater war ihr immer näher gestan den als die Mutter, hatte sich aber nie gegen diese durchsetzen kön nen, nicht einmal in ihrer, Mildreds, schwerster Notzeit. Wenn er es 202
offen nicht wagte, hätte er sie doch heimlich im Zuchthaus besuchen oder ihr wenigstens schreiben können. Gott allein wußte, wie sie da nach verlangt hatte. Aber an dieses sein Versagen wollte sie jetzt nicht denken. Er war krank, schwerkrank, und er wollte sie sehen, das allein zählte. Sie war von Herzen bereit, ihm zu verzeihen, denn dieser Ruf in letzter Stunde konnte nichts anderes bedeuten, als daß er seine bisheri ge Härte, die eher die Härte der anderen gewesen, bereute. So weit war Mildred mit ihren Gedanken gekommen, als sie ein Schrei neben sich zusammenzucken ließ. Er kam von ihrem Nach barn, einem dunkelhaarigen, ziemlich finster wirkenden Mann, der bisher geschlafen und diesen Schrei wohl in einem Alptraum ausge stoßen hatte. Jetzt schaute er sie verwirrt aus unerwartet blauen Augen an und wurde sichtlich verlegen. Die Zunächstsitzenden hatten sich alle nach ihm umgedreht, und eine Stewardeß stürzte herbei, bereit, Hilfe zu leisten, falls sie notwendig wäre. »Es ist nichts, ich habe schlecht geträumt«, entschuldigte er sich. »Ich hätte nicht einschlafen dürfen, ich weiß doch, daß so etwas geschehen könnte. Aber ich war so müde.« Die Stewardeß schlug vor, etwas Alko holisches zu trinken, einen Whisky oder Cognac, was er dankbar an nahm. Nachdem er ihn zu sich genommen, schien er sich gefaßt zu ha ben. Um eine Erklärung bemüht, wandte er sich an Mildred. »Ich habe zu lange in Angst gelebt. Jetzt kann ich sie nicht mehr ab schütteln. Kaum habe ich die Augen geschlossen, ist sie da und packt mich. Sie haben es ja nun selbst erlebt. Glauben Sie mir, es ist etwas Furchtbares, in ständiger Furcht zu leben. Sie degradiert den Men schen zu einem Jämmerling und frisst ihm das Mark aus den Kno chen.« Mildred war erschüttert. Es gab also noch andere, die diesen Seelen zustand kannten, sie war nicht die einzige. Sofort fühlte sie sich dem Fremden wesensverwandt, und es verlangte sie, mehr über ihn zu er fahren. Obschon Neugier nicht in ihrer Natur lag, konnte sie die Fra ge, die sich ihr aufdrängte, nicht unterdrücken. »Wovor haben Sie denn Angst?« Er dämpfte seine Stimme und schaute sich zuerst vorsichtig um, be 203
vor er antwortete: »Ich komme von drüben, wissen Sie, von der ande ren Seite des Eisernen Vorhangs, wo die Menschen nur durch Angst niedergehalten werden, Angst vor dem Nachbarn, vor dem nächsten Tag, vor der Nacht, in der man abgeholt werden könnte, ja oft vor dem eigenen Kind. Sie können sich das nicht vorstellen, aber glauben Sie mir, für einen sensiblen Menschen ist es entsetzlich. Ich bin Künstler, ich habe eine durchlässige Haut.« »Wie sind Sie ihnen entkommen?« fragte sie ebenso leise. »Ich wurde für ein Festival engagiert und bin nicht mehr zurückge kehrt. Durch Vermittlung eines einflussreichen Verwandten in New York bekam ich ein Besuchsvisum für vier Wochen. Nachher werden wir weitersehen.« »Welcher Nationalität sind Sie?« »Das möchte ich Ihnen lieber nicht sagen.« »Aber Sie sprechen gut deutsch, wenn auch mit einem harten Akzent.« »Ich gehöre in meiner Heimat zu einer sprachlichen Minderheit. Das allein kann unter Umständen schon ein Todesurteil bedeuten.« »Wie kommt es dann, daß man Sie herausgelassen hat?« »Aus Prestigegründen. Meine Musik ist international bekannt. Ei nesteils sind sie stolz auf mich, andernteils halten sie mich unter der Knute. Ich konnte einfach nicht mehr so weiterleben.« »Aber jetzt müßten Sie doch glücklich sein? Sie haben es ge schafft –« »Meinen Sie? Das ist noch lange nicht sicher. Wird Amerika mir Asyl gewähren, und wenn, wie wird man in meiner Heimat darauf reagie ren? Ich bin doch ein Abtrünniger, und meine Frau und meine Kinder sind Angehörige eines Verräters.« »Oh!« hauchte sie entsetzt, »haben Sie sie zurücklassen müssen?« »Es gab keine Möglichkeit, sie mitzunehmen. Ich kann nur hoffen, daß man mir eines Tages erlauben wird, sie nachkommen zu lassen; aber das ist höchst ungewiss.« »Wußte Ihre Frau, daß –« »Nein. Ich hatte viel zuviel Angst, daß sie mich verraten könnte, nicht bewußt, aber aus Mangel an Vorsicht.« 204
»Aber glauben Sie, daß sie Ihren Schritt verstehen wird?« »Das weiß ich nicht. Wohl kaum.« »Aber sie muß doch diese Angst auch kennen?« »Sie hat sich daran gewöhnt und ist ja auch damit aufgewachsen. Sie kennt es nicht anders. Ich bin fünfzehn Jahre älter als sie. Ich weiß von meinen Eltern her noch, wie es früher war, obschon ich es selbst nicht mehr erlebt habe. Aber die Auflehnung gegen diesen lähmenden Zwang liegt mir im Blut, ich kann mich einfach nicht damit abfinden. Darum war ich ihnen verdächtig – schon lange. Sie können sich nicht vorstellen, was das bedeutet.« »Vielleicht doch. Jedenfalls weiß ich, wie es ist, wenn man immer in Angst lebt, jeden Tag, jede Nacht, genau wie Sie.« »Aber«, fragte er ungläubig, »wie ist das möglich? Sie leben doch im Westen, wo es eine Bedrohung, wie ich sie erleiden mußte, nicht gibt.« »Auch im Westen sind nicht alle Menschen gut. Es gibt schlechte, sehr schlechte, und wehe dem, der ihnen in die Fänge gerät.« Sie sah ihm an, daß er sie nicht verstand, wahrscheinlich machte er dazu auch keine Anstrengung. Er hatte seine festen Glaubenssätze: Im Westen war alles gut, im Osten schlecht. Die Zwischenstufen würde er noch kennenlernen. Sie hatte kein Verlangen, noch länger mit ihm zu spre chen, seine Einseitigkeit lag plötzlich wie eine Wand zwischen ihnen. Er schien tatsächlich feinfühlig zu sein, denn er erkannte ihre Abkehr sofort. »Ich hätte mich Ihnen nicht anvertrauen sollen«, sagte er, plötz lich wieder finster. »Ich weiß nicht, was mich angekommen ist. Kann ich denn sicher sein, daß Sie mich nicht nur aushorchen wollten …« »Das braucht Sie nicht zu beunruhigen. Kein Mensch wird je etwas von diesem Gespräch erfahren.« »Wenn ich nur wüsste, ob ich Ihnen glauben darf –« »Sie können es. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.« Er seufzte erleichtert und lehnte sich zurück. Seine Lider schlossen sich wieder über den blauen Augen. Zuweilen riß er sie auf und kämpf te sichtlich gegen den Schlaf an, der ihn wiederum zu übermannen drohte. Er schien sehr erschöpft zu sein. Mildred wunderte sich nicht darüber. Er mußte zuerst die Angst aus sich herausschlafen, wie sie 205
es in Kandersteg versucht hatte. Nur daß sie wieder hatte zurückge hen müssen und direkt in Bobs gierige Hände gefallen war. Sie wuß te jetzt auch, warum er sie plötzlich wieder hätte heiraten wollen. Aus dem Brief, den er geöffnet hatte, war ihm klar geworden, daß sie wahr scheinlich bald im Besitz eines erheblichen Vermögens sein werde, falls ihr Vater die Enterbung rückgängig machte. Aus diesem Grunde hatte er sie wohl in erster Linie gerufen und vor einem Versuch ihrer Mutter und ihres Bruders, dieses Zusammentreffen zu vereiteln, ge warnt. Sie selbst hatte bisher nicht viel an diese Möglichkeit gedacht. Bob aber, dem Geld sehr viel, wenn nicht alles bedeutete, hatte das so fort begriffen. Vergeblich hatte er jahrelang versucht, einen Teil des Si monsschen Reichtums mit allen nur erdenklichen Listen in die Hän de zu bekommen. Jetzt eröffnete sich ihm plötzlich eine solche Chan ce, wenn es ihm nur gelang, sie aufs neue zu umgarnen. Sie war für ihn jetzt nicht mehr in erster Linie ein Objekt der Rache, sondern auf ganz neue Weise begehrenswert geworden. Er hatte sich die Sache schlau ausgedacht. Als primitives Tier, das er war, hatte er gehofft, sie sich wieder zu Willen und wenn möglich schwanger zu machen; dann hät ten sie und ihr Geld ihm, so glaubte er, nicht mehr so leicht entschlüp fen können. Was er vorgehabt hatte, war so unausdenkbar schreck lich, daß sie schleunigst zu anderen Gedankengängen flüchtete. Mor gen früh würde Christopher ihren Brief in Händen haben. Sie hatte, in Frankfurt angekommen, zwei Stunden auf den Abflug ihrer Maschine warten müssen und die Zeit benutzt, um drei Briefe zu schreiben, auch an die Textilia und Fräulein Gehring, der sie eine Erklärung und eine Bitte um Verzeihung schuldig war. Sicher war sie von ihrem Verhalten bitter enttäuscht, und mit gutem Recht. Sie mußte den Eindruck ge wonnen haben, daß ihre Hilfsbereitschaft schlecht gelohnt worden sei. Was würde wohl Christopher dazu sagen, daß sie in der gleichen Stadt gewesen war, ohne sich zu melden? Sie hatte ihn in ihrem Brief gebe ten, nachzusehen, ob ihr Haus noch immer offen stand, da die Tele fonarbeiter doch keine Möglichkeit gehabt hatten, es abzuschließen. Es befanden sich zwar keine Kostbarkeiten darin, aber doch vielleicht das eine oder andere, das einen Dieb reizen könnte, wenn man es ihm zu 206
leicht machte. Sie fragte sich auch, was aus Bob geworden war. Die Tat sache, daß er sie nicht verfolgt hatte, ließ darauf schließen, daß er dar an gehindert worden war. Hatten die Arbeiter an ihrer Stelle die Poli zei verständigt, wie sie es ihr nahegelegt, und war Bob inzwischen fest genommen worden? Aber wessen konnte man ihn anklagen, das eine solche Maßnahme gerechtfertigt hätte? Daß er sie hatte vergewaltigen wollen, wußte niemand außer ihr. Die Arbeiter konnten zwar aussa gen, daß sie um Hilfe geschrien hatte, und sicher waren auch die Spu ren seiner Schläge in ihrem Gesicht bemerkt worden. Hätte das ge nügt? Sie dachte mit Abscheu an das Haus, das er, abgesehen von al lem anderen, durch seine Gegenwart besudelt hatte. Christopher wuß te nun aus ihrem Brief, daß er Weißgerber in ihrem Namen eine end gültige Zusage geben konnte, das Haus zu mieten. Den Preis festzuset zen hatte sie ihm überlassen, sie sei mit allem einverstanden. Sobald sie wisse, wann sie zurückkommen könne, um das Haus auszuräumen, würde sie es ihm mitteilen. Dann bestehe für die Weißgerbers kein Hindernis mehr, einzuziehen, wann sie wollten. Damit, fand sie, war ein wichtiger Schritt vorwärts getan. Warum nur hatte sie sich so lan ge gegen eine solche Lösung gesperrt? Vieles wäre ihr vielleicht erspart geblieben, wenn sie entschlussfreudiger gewesen wäre. Die Stewardessen servierten einen kleinen Imbiss, den sie gedanken los zu sich nahm, ohne groß darauf zu achten, was sie in den Mund schob. Danach wurde das Licht in der Maschine abgeschirmt, weil die meisten schlafen wollten. Der Zeitdifferenz wegen, der man entgegen flog, würde die Dunkelheit ohnehin nicht lange anhalten. Auch Mild red schloß die Augen. Schlaf war Vergessen, jedenfalls für sie. Wäh rend ihr Nachbar jetzt wach war und sie zuweilen mißtrauisch, seiner Sache immer noch nicht sicher, von der Seite betrachtete, schlummer te sie ein. Ihre Tasche mit dem Geld und dem Paß hielt sie fest in Hän den.
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Mildred hatte mehrere Stunden tief geschlafen, als ihr Nachbar sie ohne jede Rücksicht weckte. Erstaunt schaute sie in sein blasses, von Unruhe gezeichnetes Gesicht. »Was gibt es?« fragte sie nicht eben freundlich. »In einer Stunde sind wir in New York. Kann ich auch sicher sein, daß Sie der Passkontrolle nicht verraten, daß ich um Asyl bitten wer de? Wenn sie das von vornherein wüssten, ließen sie mich vielleicht nicht herein.« Mildred begriff, daß er die ganze Zeit über diese Gefahr nachgegrü belt hatte. Es war, als schaffe irgend etwas in ihm, vielleicht wider sei nen Willen, eine neue Angst anstelle der alten. Er tat ihr nun wirklich leid. »Aber warum sollte ich das tun?« fragte sie aus der Überzeugung her aus, daß er ihr so eher glauben werde. »Welchen Nutzen hätte ich da von? Überhaupt keinen. Es wäre eine ganz sinnlose Gemeinheit, nichts anderes. Hören Sie doch auf, sich zu beunruhigen. Bei mir haben Sie das wahrhaftig nicht nötig.« Es war peinlich zu sehen, wie schwer er sich überzeugen ließ. Offenbar hatte er jeden Glauben an uneigennüt zige Gesinnung verloren und quälte sich jetzt selbst damit. Dort, wo er herkam, mochte es einträglich sein, einen Abtrünnigen zu verraten. Wieviel Bitterkeit mußte sich in ihm angestaut haben, daß er am An fang überhaupt mit ihr gesprochen, sich ihr gewissermaßen – von sei ner Lage aus gesehen – ausgeliefert hatte! Wahrscheinlich war er ei nem unwiderstehlichen Impuls gefolgt, den er jetzt bitter bereute. Als Mildred merkte, daß er sich dauernd nach ihr umschaute, hielt sie sich bei der Passkontrolle ein gutes Stück hinter ihm. »Wenn er bloß durchkommt und nichts Unvorhergesehenes geschieht«, dachte sie be sorgt. Er hätte ihr sonst sicher die Schuld daran gegeben. Sie war dar um froh, als er anstandslos passierte. Danach drehte er sich noch ein mal nach ihr um, und zum ersten Mal sah sie ihn lächeln. Endlich hat te er begriffen, daß ihm von ihr keine Gefahr drohte. Als sie den Flughafenbus suchte, der die Passagiere, die weiter ins Innere fliegen wollten, zum Airport La Guardia brachte, sah sie ihren Reisegefährten noch einmal. Ein hochgewachsener, imposant wirken 208
der Mann ging neben ihm und hatte einen Arm um seine Schulter ge legt. Er führte ihn zu einem dieser Straßenkreuzer, die in Amerika als Standardsymbol so zahlreich sind. Mildred lächelte zufrieden in sich hinein. Wer immer dieser Verwandte sein mochte, arm war er jeden falls nicht, so daß für den Ankömmling sicher hinreichend gesorgt wurde. Diese Begegnung hatte sie ein wenig von ihren eigenen Proble men abgelenkt. Sie mochte New York nicht und hatte Eile, hinauszu kommen. An diese Steinwüste mußte man gewöhnt sein, um sich in ihr wohl fühlen zu können. In Deutschland hatte sie die aufgelocker te Bauweise mit entsprechenden Grünflächen, wie man sie auch in ge wissen amerikanischen Kleinstädten findet, schätzen gelernt. Die hie sigen Straßen, breiten Betonschächten gleich, hatten etwas Unmensch liches. Früher, wenn sie zuweilen mit ihren Eltern zu Einkäufen und Theaterbesuchen hierher gefahren war, hatte sie das weniger empfun den. Daß sie wirklich nur zur Hälfte Amerikanerin war, wurde ihr jetzt stärker bewußt. Damals war es nur die einwandfreie Kenntnis der deutschen Sprache gewesen, die in ihrem Elternhaus vornehmlich ge sprochen wurde, was sie von ihren College-Freundinnen unterschie den hatte; jetzt war es viel mehr. Eigentlich war sie betrübt darüber, daß sie keine echten Heimkehrgefühle empfand. Vielleicht änderte sich das aber, wenn sie später nach Richmond fuhr, falls sie überhaupt dorthingelangte und nicht in Washington bei ihrem Vater blieb. Aber Christopher würde ohnehin nirgends in erreichbarer Nähe sein. Seuf zend machte sie sich klar, daß kein Ort, wäre er noch so schön oder auch nur vertraut, ihr zusagen konnte, wenn der Mann, den sie lieb te, in weiter Ferne war. Die Vorstellung, daß nun plötzlich der riesige Ozean zwischen ihnen lag, war bestürzend. Sie hatte ihm nicht einmal eine Adresse angeben können, da sie keine Ahnung hatte, wie sich das Wiedersehen mit ihrem Vater und ihr weiteres Verbleiben auf ameri kanischem Boden gestalten würden. Sie erreichte ihre Anschlußmaschine nach Washington D.C. ohne jede Wartezeit. Fast ging es ihr jetzt zu schnell. Sie hatte auf einmal das Gefühl, auf das kommende schicksalhafte Zusammentreffen zu wenig vorbereitet zu sein. Das letzte Mal, als sie die Eltern gesehen, waren sie 209
im Gerichtssaal über ihre Kindheit und ihre charakterlichen Eigen schaften befragt worden. Ihr Vater hatte wohlwollend, ihre Mutter da gegen eher feindselig geantwortet. Es war nur zu offensichtlich gewe sen, daß sie sich ihrer Tochter bitter schämte und sich zu keinem Wort entschließen konnte, das die Geschworenen für sie günstig gestimmt hätte. Nachdem sie Schande über die Familie gebracht und ihren per sönlichen Stolz schwer verletzt hatte, sollte Mildred nun auch ange messen bestraft werden. Keinen Augenblick hatte sie den Eindruck er weckt, ihre Tochter für unschuldig zu halten. Das hatte begreiflicher weise die Geschworenen äußerst negativ beeinflusst. Wenn nicht ein mal die eigene Mutter sie für außerstande hielt, eine so verwerfliche Tat zu begehen, wer sollte dann ihren Unschuldsbeteuerungen Glau ben schenken? Nachdem ihre Mutter abgetreten war, hatte Mildred ge wußt, daß nichts sie mehr vor einem Justizirrtum bewahren konnte. Ihrer Meinung nach glaubte nicht einmal mehr ihr Anwalt an ihre Un schuld. Sein hölzernes, wenig überzeugendes Plädoyer bewies es zur Genüge. Alle hatten sie fallenlassen, alle … Wie immer, wenn sie daran zurückdachte, bedeckte sich ihr Gesicht mit feinen Schweißperlen. Sie spürte wieder die damalige entsetzliche Gewissheit, daß ihr eigentliches Leben nun zu Ende war, irgendwo in einem schwarzen, unergründlichen Loch versickerte. Mit ihrem Ein tritt ins Zuchthaus war sie wirklich so gut wie ausgelöscht unter den Lebenden, Freien, Unbefleckten. Sie war davon so überzeugt gewesen, daß sie sich von nun an auch selbst aufgegeben hatte. Widerstandslos nahm sie alles hin, was über sie verhängt wurde. Ein Jahrzehnt frü her hätte sie wahrscheinlich auf dem elektrischen Stuhl geendet. Im Zeitpunkt ihres Prozesses war der Strafvollzug bereits so weit huma nisiert, daß in einem Fall wie dem ihren weitgehend mildernde Um stände zugebilligt wurden. Sie war jedoch nicht in der Lage gewesen, sie als Wohltat zu empfinden. Sie war unschuldig, und keine Seele in diesem Gerichtssaal glaubte es ihr, außer Bob natürlich, der nur zu genau darüber Bescheid wußte. Da ihre Verurteilung aber in seinem Interesse lag, hatte er nicht gezögert, wider besseres Wissen das Sei ne dazu beizutragen. Siedendheiß schoß der alte Hass wieder in ihr 210
hoch. Bis jetzt hatte sie sich durch Angst vor ihm lähmen lassen. Wie ein von einer Schlange hypnotisiertes Kaninchen hatte sie stillgehalten und gewartet, daß er zuschlüge. Statt mit der Polizei zusammenzuar beiten, der doch schließlich der Schutz des Bürgers oblag, hatte sie je den Kontakt mit ihr gemieden. Sie mußte, möglichst noch heute, nach Deutschland schreiben, Bob der versuchten Vergewaltigung beschul digen und gleichzeitig ein möglichst genaues Signalement von ihm lie fern. Damit gab sie der Polizei endlich eine Handhabe, um ihn zu ja gen, wie er es verdiente. In solche Gedanken versunken, hatte sie das weitläufige Flughafen gebäude durchschritten und schaute sich nach einem Taxi um. Der Chauffeur, der vorfuhr, war ein Neger. Er grinste freundlich und griff nach ihrem Koffer. »Wohin soll es gehen, Miss?« »Ins Sanatorium of Promise, bitte.« »Wohin?« fragte er überrascht. Sie wiederholte den Namen, aber sei ne Miene blieb verständnislos. »Keine Ahnung, wo das ist, Miss. Nie gehört, auf Ehre.« »Es muß ein vornehmes Krankenhaus sein, jedenfalls nehme ich das an.« »Sorry. Ich kenne alle vornehmen Spitäler in Washington, aber eines dieses Namens gibt es nicht.« Er erklärte es mit solcher Bestimmtheit, daß ihre Sicherheit erschüttert wurde. Die Vorstellung, man könnte sie unter Vorspiegelung falscher Tatsachen übers Meer gejagt haben, machte ihr heiß und kalt. Daß Schenk guten Glaubens gewesen war, als er ihr schrieb, stand außer Zweifel. Wer aber hätte ein Interesse an einer solchen Mystifikation? Und wie ging es in Wirklichkeit ihrem Vater? Verwirrt ließ sie sich den Koffer wiedergeben und wandte sich zum Flughafen zurück. Sie fragte an mehreren Schaltern, aber nie mand konnte ihr Auskunft geben. Schließlich suchte sie, immer rat loser geworden, den Polizeiposten des Flughafens auf. Dort hatte sie endlich Glück. Ein mit Schreiben beschäftigter Beamter, der ihre Fra ge an seinen Kollegen gehört hatte, sah auf und unterbrach dessen ne gative Antwort. 211
»Es gibt tatsächlich ein Methodisten-Krankenhaus dieses Namens, aber es liegt nicht mehr in Washington, sondern bereits jenseits der Grenze in Maryland. In einer guten Stunde können Sie es von hier aus mit dem Auto erreichen. Es gibt zwar auch eine Busverbindung, aber dafür müßten Sie erst ins Zentrum fahren. Das kostet fast ebensoviel Zeit, wie ein Taxi von hier aus direkt braucht.« »Ich hatte bereits eines herbeigewinkt, aber der Chauffeur wußte nichts von einem solchen Sanatorium.« »Ich gehe mit Ihnen und erkläre es ihm«, sagte der freundliche Be amte und stand auf. Mildred sah sofort, daß der Neger inzwischen noch keinen Passagier bekommen hatte. Wahrscheinlich war in der kurzen Zwischenzeit keine Maschine gelandet. Sie steuerte auf ihn zu, und er ließ sich den Weg von dem Polizisten genau erklären. »Kapiert?« »Yes, Sir.« Mildred bedankte sich und stieg ein. Auf dem richtigen Weg war sie nun zwar, aber die Schwierigkeit, das Sanatorium festzustellen, warf beunruhigende Fragen auf. Wenn es einen guten Ruf besäße und von den gehobenen Schichten der Bevölkerung besucht würde, hätte der Taxifahrer von ihm gehört haben müssen. Wie kam es, daß man ih ren Vater in eine offensichtlich unbekannte Klinik gelegt hatte? Das entsprach weder seinen Vermögensverhältnissen noch den Anschau ungen ihrer stets auf Prestige bedachten Mutter. Hier gab es ein Rät sel, und je mehr sie darüber nachgrübelte, desto banger wurde ihr zu mute. Der Chauffeur verfuhr sich zweimal, mußte fragen und umkeh ren, aber sie machte sich nichts daraus. Plötzlich hatte sie es gar nicht mehr so eilig, ans Ziel zu kommen. Zu sehr war sie jetzt von der Ah nung beherrscht, daß irgend etwas nicht stimmte. Was sollte sie tun, wenn sie in Schwierigkeiten geriete, von deren Natur sie sich allerdings keine Vorstellung machen konnte. Sie besaß nicht einmal eine größe re Summe in amerikanischem Geld, sondern nur das, was sie am Ken nedy-Flughafen in New York gewechselt hatte. Das konnte unter Um ständen ihre Bewegungsfreiheit einengen. Ohne weiter darüber nach zudenken, hatte sie angenommen, daß ihr Vater sie in einem Hotel in 212
seiner Nähe einquartieren werde. Das schied nun aus, wenn dieses Sa natorium sich auf dem Lande befand. Was, um Gottes willen, konnte ihren Vater veranlasst haben, sich förmlich zu verstecken? Es war doch keine Schande, krank zu sein. Sie konnte sich einfach keinen Vers auf diese Ungereimtheiten machen. »Das da vorne muß es sein«, sagte der Chauffeur in diesem Augen blick. Mildred sah ein großes, weitläufiges Haus mit etlichen Nebengebäu den in einem schon beinahe winterlich kahlen Park. Als sie näher ka men, erkannte sie, daß es alt und nicht sehr gut instand gehalten war. Es mochte um die Jahrhundertwende gebaut worden sein und wirkte eher wie ein etwas heruntergekommenes, großes Farmerhaus, ein Ein druck, der durch die Nebengebäude noch verstärkt wurde. Rechts und links führte eine Freitreppe von wenigen Stufen zur Eingangstür hin auf. Der Name: ›Sanatorium of Promise‹ stand in großen Lettern dar über. Kein Zweifel, sie war hier am richtigen Ort. Mit Bedauern ent lohnte sie ihren Chauffeur, nahm ihren Koffer und stieg zur Haustüre hinauf. Auf ihr Klingeln wurde sofort geöffnet, als sei darauf gewartet worden. Eine etwa sechzigjährige grauhaarige Frau in einem weißen Kittel, aber ohne Haube, begrüßte sie kühl. »Sie wünschen?« »Ich bin Mildred Simons und möchte meinen Vater besuchen.« »Oh – soviel ich weiß, sind keine Besuche gestattet.« »Geht es ihm so schlecht?« fragte Mildred bestürzt. »Er hat mir doch geschrieben, ich sollte ihn aufsuchen, er erwartet mich.« Die Frau zögerte. »Woher kommen Sie?« »Aus Europa. Bitte lassen Sie mich eintreten, ich bin müde von der weiten Reise.« Sie gab den Weg frei und zeigte auf eine einfache Sitzgruppe, die sich einem Schalter gegenüber in einem breiten Korridor befand. »Sie kön nen hier warten, ich werde mich erkundigen.« Mildreds Bangigkeit stieg ins Unerträgliche. Dieses Sanatorium machte einen mehr als bescheidenen Eindruck. Sie konnte sich ihren verwöhnten, weltmännischen Vater hier einfach nicht vorstellen. Wäh 213
rend sie wartete, zog sie den Brief des Notars hervor und begann, ihn zum soundsovielten Mal durchzulesen. Ihre Blicke hafteten vornehm lich an der Stelle, die ihr einschärfte, sich weder von ihrer Mutter noch von ihrem Bruder daran hindern zu lassen, bis zu ihrem Vater vor zustoßen. War es diese Barriere, vor der sie sich jetzt bereits befand? Wenn es so war, durfte sie sich auf keinen Fall einschüchtern lassen. Dieser Brief war ihre Legitimation, schlimmstenfalls mußte sie sich seiner bedienen, obwohl der Passus, ihre Familie betreffend, eher ver trauliche Behandlung erheischte. Auf jeden Fall lebte ihr Vater noch, das war im Grunde das wichtigste. Sie brauchte nicht mehr zu befürch ten, zu spät gekommen zu sein. In diesem Augenblick tauchte die Pförtnerin, falls dieses ihre Funkti on war, in Gesellschaft einer gleichfalls älteren Schwester auf, die nicht weniger streng und unzugänglich aussah. Es war genau diese Feststel lung, die es noch brauchte, um Mildreds Entschluß, durchzuhalten, koste es, was es wolle, zu festigen. Noch bevor die Neuangekommene den Mund geöffnet hatte, wußte Mildred, daß sie abgewiesen werden sollte. Etwas von dem Eigensinn, mit dem sie früher oft ihre Schüch ternheit kompensiert hatte, erwachte in ihr. »Ich bin Oberschwester Daves. Leider kann ich Sie ohne Einwilli gung von Mrs. Simons nicht zu Ihrem Vater lassen. Sie hat angeordnet, daß alle etwaigen Besucher abzuweisen seien, ohne Ausnahme.« Mildred stieg die Zornröte ins Gesicht. »Darauf hat mich mein Vater in seinem Brief vorbereitet. Die Anord nungen von Mrs. Simons interessieren mich nicht. Ich bin mündig und nicht auf ihre Genehmigung angewiesen. Darum bestehe ich darauf, meinen Vater zu besuchen.« »Wir sind nicht berechtigt –« »Ich bin seine Tochter und eigens aus Europa gekommen, um seiner ausdrücklichen Bitte Folge zu leisten. Wenn Sie mich weiter behindern sollten, wünsche ich den Chefarzt zu sprechen.« »Bedaure, Herr Professor ist jetzt beschäftigt.« »Was würden Sie davon halten, wenn ich mit polizeilicher Unterstüt zung zurückkäme und außerdem ein paar Reportern erzählte, was hier 214
gespielt wird?« Mildred war in diesem Augenblick durchaus das, was man im Französischen ›la brebis enragée‹ nennt, das wütende Lamm. Es brauchte ziemlich viel, um sie in diesem Grad zornig zu machen, aber wenn es soweit war, verstand sie es sehr gut, sich ihrer geistigen Waffen zu bedienen. Mit Genugtuung sah sie, daß die beiden Frauen erschrocken waren. »Aber, aber«, murmelte die Oberschwester und schaute sich besorgt um. »Sprechen Sie doch nicht so laut. Sie sind hier in einem Sanatori um.« »Ich spreche genauso laut, wie es nötig ist, um Ihnen verständlich zu machen, daß ich mich unter gar keinen Umständen abweisen las se. Mrs. Simons hat nicht das geringste Recht, mich von meinem Vater fernzuhalten. Da er mir schrieb, oder vielmehr meinem Anwalt, ist er auch körperlich imstande, mich zu empfangen.« »Nehmen Sie doch Vernunft an, Miss Simons.« Diesmal klang die Stimme der Oberschwester fast flehend. »Wir haben vor einer Woche einen Besucher für Ihren Vater angenommen. Danach hat uns Ihre Mutter eine Szene gemacht und gedroht, den Ruf unseres Sanatoriums überall zu untergraben, wenn sich das noch einmal wiederhole. Be greifen Sie doch, daß uns die Hände gebunden sind.« »Beantworten Sie mir eine Frage: Ist mein Vater entmündigt?« »Um Gottes willen, nein.« »In diesem Fall ist es eindeutig an ihm selbst zu bestimmen, ob und wen er zu empfangen wünscht. Ich gehe wohl nicht fehl«, fügte sie hart hinzu, »anzunehmen, daß meine Mutter sich Ihre Unterstützung et was kosten läßt. Und jetzt führen Sie mich zu Ihrem Chefarzt, oder ich suche ihn selbst.« »Ich werde ihn verständigen«, gab die Oberschwester, deutlich nie dergeschlagen, nach. Mildred war sicher, daß ihre Ankunft binnen we niger Minuten in Richmond gemeldet wurde. Professor Kirschbaum erwies sich als ein aus Deutschland emigrier ter Jude. Er las den Brief des Notars aufmerksam durch und ließ sich von ihr erzählen, in welcher Weise sie hier abgefertigt worden war. Missbilligend schüttelte er den Kopf. 215
»Besteht vom medizinischen Standpunkt aus ein Grund, daß ich meinen Vater nicht sehen könnte?« fragte sie, um sicherzugehen. »Nein. Ich will Ihnen zwar nicht verhehlen, daß er schwerkrank ist. Sie müssen sich auf eine Änderung gefaßt machen und das bald. Wir lindern zwar seine Schmerzen, aber helfen können wir ihm leider nicht mehr. Nach diesem Brief zu urteilen, weiß er das auch. Zeitweise ist er von den Medikamenten etwas benommen, sonst aber geistig durch aus klar. Ich wußte bisher nichts von dieser Anordnung Ihrer Mutter. Glauben Sie, daß sie sich gegen Sie richtete?« »Kaum. Sie weiß sicher nicht, daß ich gerufen worden bin. Was sie zu dieser Besuchssperre veranlasst hat, ahne ich nicht.« Mildred sagte nicht ganz die Wahrheit. Wenn sie sich einen Grund vorstellen konnte, so war es der, daß es im vornehmen Bekanntenkreis ihrer Mutter ein schlechtes Licht auf sie werfen würde, wenn sich herumspräche, wo sie ihren Mann untergebracht hatte. »Letzte Woche soll er aber doch einen Besucher gehabt haben. Ah nen Sie, wer das war?« »Ich bin orientiert. Mr. Simons wollte ein neues Testament anferti gen lassen, was auch geschah. Es gab keinen Grund, ihm das zu ver weigern oder auch zur zu erschweren. Ich selbst habe als einer der Zeu gen fungiert, der andere war ein Schwiegersohn.« »Wenn meine Mutter das erfahren hat, begreife ich, daß sie den Schwestern eine solche Szene gemacht hat.« »Ich glaube nicht, daß ihr jemand etwas über die Identität des Besu chers sagen konnte. Mr. Simons hatte mich ausdrücklich um Diskre tion gebeten.« »Wenn sie es nicht direkt weiß, so ahnt sie es doch. Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis, Herr Professor.« »Würden Sie mir jetzt bitte sagen, wo ich meinen Vater finde?« Dr. Kirschbaum klingelte und gab der eintretenden Schwester den Auftrag, die Dame zu Mr. Simons zu führen. Mildred sah, wie diese den Mund zu einem Widerspruch öffnete. Offenbar war auch sie über die Besuchsblockade orientiert. Der Arzt kam ihr zuvor. »Tun Sie, was ich befohlen habe«, sagte er scharf, worauf die jun 216
ge Schwester verständnislos die Schultern zuckte. Im nächsten Augen blick stand Mildred vor der richtigen Tür. »Danke«, sagte sie, zu der Schwester gewandt, »ich brauche Sie jetzt nicht mehr.« Mildred klopfte und öffnete, als keine Antwort erfolgte. Sie sah nun, daß es sich um eine Doppeltür handelte. Ihr Herz klopfte stür misch, als sie den nicht unfreundlichen, überraschend großen Raum be trat und ihren Vater, oder vielmehr den Schatten dessen, was er einmal gewesen, in dem einzigen Bett liegen sah. Sie stellte den Koffer an der Tür ab und eilte mit ausgestreckten Händen auf den Kranken zu. »Vater! Lieber Vater!« rief sie erschüttert. »Du bist also doch noch gekommen, Mildred. Ich hatte schon nicht mehr zu hoffen gewagt, daß dieser Notar dich gefunden hätte.« Sei ne Stimme war nicht viel mehr als ein Flüstern, und Mildred sah mit Schrecken, daß seine Augen sich mit Tränen füllten. Seine Hand, die sie mit ihren beiden umklammert hielt, zitterte, ebenso seine Lippen. »Deine Botschaft hat mich erst mit Verspätung erreicht, aber dann habe ich das nächste Flugzeug benutzt. Wie steht es mit deiner Ge sundheit, Vater? Wie fühlst du dich?« »Nicht allzu schlecht bei all diesen Spritzen. Aber ich mache mir kei ne Illusionen. Bei Krebs gibt es keine Gnade. Reden wir lieber von dir. Du hast sicher Mühe gehabt, mich zu finden, weil ich als Ort Was hington angegeben hatte. Beim Transport ging es mir sehr schlecht, und ich war mir gar nicht bewußt geworden, daß wir Washington ver lassen hatten. Solche Fehler können einem Kranken unterlaufen. Du mußt das entschuldigen.« »Ich bitte dich, Vater! Ich wollte zuerst nur nicht glauben, daß du hier auf dem Lande untergebracht seist, zudem in einem so einfachen Haus. Hast du finanzielle Verluste gehabt, konntest du dir ein besseres Sanatorium nicht leisten?« »Keineswegs. Übrigens bin ich hier nicht so schlecht untergebracht, wenn es auch zuerst ein Schock für mich war. Aber ich tat ihnen nicht den Gefallen, es zu zeigen, und sterben kann man schließlich überall. Wozu dafür noch ein kostspieliges Sanatorium in Washington bezah len? Deine Mutter denkt eben praktisch.« 217
»Aber – wenn ich es richtig verstanden habe, hat sie dich hier voll ständig isoliert?« Er lächelte traurig und schadenfroh zugleich. »Ich habe das durchkreuzt. Mit Geld läßt sich alles machen. Sie hat zwar mein Scheckheft mit der Begründung an sich genommen, ich brauche es hier nicht, aber ich habe mir von der Bank in Richmond ein neues schicken lassen. So einfach war das. Als ich fürchten muß te, du kämst nicht mehr, habe ich gehandelt und ein neues Testament gemacht, solange mir ärztlicherseits noch volle Zurechnungsfähigkeit bescheinigt werden konnte. Das entsprechende Attest ist – für alle Fäl le – dem Testament angeheftet. Das alte habe ich für ungültig erklärt. Damit sind meine Angelegenheiten geordnet. Jetzt bleibt mir nur noch die Freude, dich wieder zu sehen. Erzähle mir von deinem Leben dort drüben!« »Strengt es dich auch nicht zu sehr an?« fragte sie besorgt. »Du meinst, weil ich nicht laut sprechen kann? Der Kehlkopf ist eben bereits in Mitleidenschaft gezogen. Ich danke Gott, daß du gekom men bist, solange ich überhaupt noch sprechen kann. Notiere dir die Firma, die als Testamentsvollstrecker fungieren wird: Miller, Pearson and Pearson, Fillmore Street 16, Richmond. Ich rate dir, ihr auch dein Vermögen anzuvertrauen. Die Leute sind ehrlich und vorsichtig. Mein neues Testament ist bereits bei ihnen deponiert.« »Mein –« Mildred stockte. »Sprechen wir doch bitte nicht davon, Va ter. Es tut mir weh.« »Du mußt es aber wissen. Deine Mutter erbt die Villa, dein Bruder die Firma, aber alles andere kommt auf dich!« Seine dünne Stimme hatte zuletzt einen triumphierenden Klang angenommen. »Deine Mutter wird rasen. Es gibt aber ein Kodizill, das bestimmt, daß sie auch das Haus verliert, falls sie das Testament anficht. Es war die einzige Möglichkeit, dich zu schützen. Im übrigen habe ich meinen Entschluß hinreichend begründet und juristisch untermauern lassen. Wenn sie gut beraten ist, wird sie einsehen müssen, daß sie ihm nicht beikommen kann.« »Aber sie ist doch so verwöhnt! Wie soll sie leben ohne Geld?« frag te Mildred verstört. 218
»Sie hat noch ihre Mitgift, die unangetastet ist. Im übrigen soll dein Bruder aus den Einnahmen der Firma für sie sorgen. Die beiden haben doch immer gegen mich zusammengehalten.« Er kicherte und muß te husten. Gut fünf Minuten schwieg er erschöpft, aber das, was er zu sagen hatte, ließ ihm anscheinend keine Ruhe. »Du wirst erleben, wie schnell sich ihr Verhältnis verschlechtert, wenn sie anfängt, ihre An sprüche zu stellen. Nehmen konnte Archie immer gut, aber geben? Das ist eine andere Sache. Es wird keine sechs Monate dauern, bis sie entzweit sind.« »Wenn du das weißt, wäre es dann nicht besser –« »Nein.« Die Unterbrechung kam kurz und verhältnismäßig klar. »Sie hat mir die Hölle bereitet, mich von dir getrennt und läßt mich hier verrotten, wo Füchse und Hasen sich gute Nacht sagen. Willst du etwa behaupten, es treffe sie unverdient?« »Nein, gewiß nicht, Vater. Aber ich brauche doch nicht soviel Geld. Ich habe Tante Friedas Haus geerbt und eine nette Summe in bar. Im Grunde fehlt mir nichts, ich habe keine Nahrungssorgen, zumal ich arbeite.« »Geld kann man immer brauchen. Was arbeitest du denn?« »Ich zeichne und male Entwürfe für Kleiderstoffe im größten deut schen Textilkonzern.« »Nun, das hast du jetzt bald nicht mehr nötig.« »Aber es macht mir Freude, Vater.« »Ich hatte eigentlich gehofft, daß du inzwischen verheiratet seist mit einem Mann, der deiner würdig wäre. Aber ich sehe, du trägst keinen Ring.« »Nein. Ein gebranntes Kind scheut das Feuer, weißt du.« »Ja, das kann ich verstehen.« Bevor sie weitersprechen konnten, trat die Oberschwester ein, mit einem Telefonapparat in der Hand, den sie in der Nähe des Bettes einstöpselte. »Mrs. Simons wünscht Sie zu sprechen«, sagte sie so mürrisch, daß Mildred und vielleicht auch ihr Vater unschwer erraten konnten, was sie zu hören bekommen hatte. Sie reichte dem Kranken den Hörer, aber er wies ihn zurück. 219
»Ich bin für Mrs. Simons nicht zu sprechen, Schwester, weder tele fonisch noch persönlich. Sagen Sie ihr das mit aller wünschenswerten Deutlichkeit.« »Aber ich kann doch nicht –« »Sie können es ebenso gut, wie Sie meine Frau von der Ankunft un serer Tochter in Kenntnis gesetzt haben. Wenn es Ihnen peinlich ist, vor uns zu sprechen, nehmen Sie den Apparat wieder mit hinaus.« Mildred sah, daß zwei hektische rote Flecken auf den Wangen ihres Vaters erschienen waren. »Ich glaube, ich muß jetzt gehen, es wird dir zuviel«, sagte sie be sorgt. Zu ihrer Erleichterung widersprach er nicht. »Wann kommst du wieder?« »Morgen, wenn es dir recht ist. Ich bin jetzt etwas müde von der Rei se.« »Und wo gedenkst du zu wohnen?« »Das ahne ich noch nicht.« »Weißt du was? Ich werde Kirschbaum fragen, ob du hier ein Zim mer bekommen kannst. Sicher ist die alte Bude nicht voll belegt.« »Das wäre das einfachste. Aber was würde es kosten?« »Das ist meine Sache. Glaubst du, ich hätte mir für nichts ein Scheck heft besorgt? Wenn sie das erfährt, wird sie platzen vor Wut, aber noch mehr, weil du zu mir gekommen bist. Das muß ein Schlag für sie ge wesen sein! Ich möchte wohl wissen, in welchem Zustand sie jetzt ist, nachdem die Oberschwester es ihr gesagt hat. Sie hat sicher sofort be griffen, was das bedeutet, nämlich eine Gefahr für das einzige, was für sie zählt. Ich bin dankbar, daß das Schicksal mir wenigstens noch die Möglichkeit gelassen hat, diese offenen Rechnungen zu begleichen, ihre und deine.« Mildred erhielt ihr Zimmer, ob es der Oberschwester paßte oder nicht. Dieses Sanatorium war wohl nicht gerade eine Goldgrube. Si cher konnte es sich nicht leisten, einen gut zahlenden Gast abzulehnen, ob er nun krank war oder nicht. Allein geblieben, ließ Mildred das ganze Gespräch mit ihrem Vater im Geist an sich vorüberziehen. Sie wurde das enttäuschende Gefühl 220
nicht los, daß er sie weniger gerufen hatte, um sich mit ihr zu versöh nen, als um sich an seiner Frau zu rächen. Viel Interesse für ihr der zeitiges Leben hatte er nicht gezeigt und auch weniger Wärme, als sie erhofft hatte. Vielleicht konnte man das aber von einem Schwerkran ken nicht erwarten. Er hatte wohl nicht mehr die Kraft, sich mit an deren Schicksalen zu befassen. Für ihn zählte jetzt hauptsächlich, daß erreicht worden war, wonach er mit der Besessenheit eines lebenslang Unterdrückten verlangt hatte: Sich vor seinem Tode noch mit der ein zig wirksamen Waffe zu rächen, die ihm zu Gebote stand.
XVIII
N
achdem Mildred zwei Stunden geschlafen hatte, ging sie in den Park, um nach der Krankenhaus-Atmosphäre noch ein wenig fri sche Luft zu atmen, bevor es dunkel wurde. Es gab hier einen kleinen Teich mit Enten. Sie setzte sich auf eine Bank und schaute ihnen nach. Nach einer Weile sah sie einen Mann den Weg heraufkommen. Da er die weiße Bluse der Krankenpfleger trug, achtete sie nicht weiter auf ihn. Er blieb jedoch bei ihr stehen. »Mrs. Montero, wenn ich nicht irre?« Mildred fuhr herum und erschrak dermaßen, daß es ihm nicht ent gangen sein konnte. »Bill Vinetti!« rief sie entsetzt aus. »Wie kommen Sie hierher?« »Ich bekleide hier seit kurzem einen bescheidenen Posten, wenn auch nur vorübergehend.« Mildred atmete schwer. Sie begriff sofort, daß Vinetti von Bob als Spion eingesetzt war, beauftragt, ihn unverzüglich vom Ableben ihres Vaters zu unterrichten. Das bedeutete, daß Bob noch immer in Frei heit war. Sie sagte Vinetti ihren Verdacht auf den Kopf zu. Er machte gar keinen Versuch zu leugnen. 221
»Ich konnte Ihrem Vater bereits eine Gefälligkeit erweisen und einen Anwalt einschleusen. Zu welchem Zweck, werden Sie inzwischen er fahren haben. Da ich von Bob unterrichtet war, habe ich es selbst vorge schlagen. Der Anwalt hielt sich auf Abruf bereit, ich hatte alles gut ein gefädelt. Ihr Vater war dann auch nicht kleinlich. Ich hoffe, Sie werden es ebenfalls nicht sein, da Sie bestimmt den Nutzen davon haben.« »Was war das für ein Anwalt?« fragte sie scharf. »Wehe Ihnen, wenn Sie meinen todkranken Vater betrogen haben und eines Ihrer Subjek te mit gefälschter Legitimation zu ihm führten.« Vinetti spielte den Gekränkten. »Sie tun mir unrecht. Und wenn Sie ein bißchen nachdenken wür den, müßten Sie einsehen, daß ich damit Bobs Interessen zuwiderge handelt hätte.« »Was hat Bob damit zu tun? Wir sind geschieden.« »Ach, solche Kleinigkeiten machen ihm doch nichts aus. Eine Schei dung kann rückgängig gemacht oder wegen eines Formfehlers für il legal erklärt werden. In dieser Hinsicht kann man Bob vertrauen. Er wird schon einen Weg finden.« Mildred hielt eine solche Machination für so unwahrscheinlich, daß sie gar nicht auf Vinettis Reden einging. Etwas anderes mußte sie je doch wissen. »Wie hieß der Anwalt, den Sie eingeführt haben?« »Das können Sie ebensogut Ihren Vater fragen, da Sie mir nicht zu glauben scheinen.« »Ich traue niemandem, der Bobs Freund ist. Auf jeden Fall werde ich mich sofort vergewissern, ob das neue Testament hinterlegt worden ist, wie mein Vater es bestimmt hat.« »Ich habe alles Verständnis dafür, daß Sie um Ihre Beute besorgt sind«, sagte er zynisch. »Halten Sie den Mund! Mich interessiert einzig und allein, ob mein Vater nicht noch in seinen letzten Lebenstagen betrogen worden ist. Wenn Ihr Anwalt zu der gleichen Gang gehört wie Bob und Sie, wird er das Testament vielleicht nicht weitergeleitet und meiner Mutter zum Kauf angeboten haben.« 222
Vinetti lachte belustigt. »Sie scheinen doch etwas von Bob gelernt zu haben.« »Nehmen Sie sich in acht! Wenn Sie ein falsches Spiel getrieben ha ben, werde ich Sie anzeigen, das schwöre ich Ihnen.« Mildred sah einen anderen Krankenwärter herankommen, der ei nen Patienten im Rollstuhl vor sich herschob. Sie benutzte sein Dazwi schenkommen, um diese bestürzende Begegnung abzubrechen. Ihre Rückkehr ins Sanatorium glich einer Flucht. Sie war völlig außer sich und von den schlimmsten Zweifeln bedrängt. Ihrem Vater konnte sie nichts von diesem Verdacht sagen. Die Aufregung hätte seinen Tod be schleunigen können. Aber vielleicht Kirschbaum? Da er als Zeuge un terschrieben hatte, interessierte er sich sicher dafür, ob dieses Testa ment manipuliert worden war. Sie fragte eine Schwester nach ihm und bekam den Bescheid, der Chef halte sich in seiner Privatwohnung auf. Nachdem Mildred ihr versichert hatte, es handle sich um etwas Wich tiges, fragte sie telefonisch an, ob er Miss Simons in einer dringenden Angelegenheit empfangen könne. Zu Mildreds Erleichterung bekam sie eine Zusage. Dr. Kirschbaum, dem ihre Aufregung nicht entging, schenkte ihr ei nen Porto ein. Das war gerade das, was sie brauchte. Während seine klugen Augen aufmerksam auf sie gerichtet waren, wußte sie zuerst nicht, mit was sie anfangen sollte. Bevor sie die Begegnung mit Vinet ti schilderte, mußte sie ihm über Bob reinen Wein einschenken und in der Folge auch über das Schicksal, das er ihr und ihrem Kind bereitet hatte. Sie erzählte ihm auch von seinem Überfall in Deutschland und seinem Versuch, sie wieder in seine Gewalt zu bekommen, nachdem er den Brief von Notar Schenk widerrechtlich geöffnet und so über Wunsch und Zustand ihres Vaters unterrichtet war. »Nun hat mich vorhin im Park eines seiner Subjekte, ein gewisser Vi netti, angesprochen und behauptet, er hätte meinem Vater einen An walt zugeführt. Er wollte mir damit klarmachen, daß er auch von mir eine Belohnung erwarte, weil ich den Nutzen von seiner Vermittlung hätte. Mich quält nun die Angst, es könnte gar kein wirklicher Anwalt gewesen sein und Vinettis Gang das Testament meiner Mutter gegen 223
eine runde Summe angeboten haben, damit es verschwinde, statt es beim Vollstrecker zu hinterlegen. Ein solches Doppelspiel sähe ihnen ähnlich, solange Bob nicht hier ist, um es im eigenen Interesse zu ver hindern. Es ist doch seltsam, daß mein Vater nicht seine eigene An waltsfirma zuzog. Das spricht dafür, daß etwas nicht stimmt.« »Vergessen Sie nicht, daß er schwerkrank ist. Ein neues Testament abzufassen, war schon eine erhebliche Anstrengung für ihn. Da mag er, als Vinetti ihm einen Anwalt vorschlug, allein der Einfachheit hal ber darauf eingegangen sein. Für ihn lag kein Grund zu Misstrauen vor, und zur Abfassung eines Testaments ist auch der unbedeutendste Anwalt fähig, wenn man ihm genaue Richtlinien gibt. Es könnte so gar sein, daß er bei seinen eigenen Anwälten gewisse Einwände hätte überwinden müssen, was bei einem fremden nicht zu befürchten war. Jetzt möchte ich vor allen Dingen wissen, wie dieser Vinetti hierher ge kommen ist.« »Er hat sich anscheinend als Krankenwärter oder etwas Ähnliches engagieren lassen.« »Ach so, der ist es. Er verlangte einen so kleinen Lohn, daß wir auf die üblichen Referenzen verzichteten. Wir sind zu äußerster Sparsamkeit gezwungen. Er hat sich also sofort an Ihren Vater herangemacht?« »Das behauptet er wenigstens. Natürlich steckt mein früherer Mann dahinter. Er hofft immer noch, das Geld in die Hände zu bekommen. Wie er das allerdings bewerkstelligen will, ist mir ein Rätsel. Vinetti sagte etwas davon, daß unsere Scheidung wegen eines Formfehlers an nulliert werden könnte.« »Ich kenne den Namen des Anwalts. Er heißt Samuel Dobson und kam aus Washington. Warten Sie hier einen Augenblick, ich will ver suchen, ihn ausfindig zu machen.« Mildred war sehr blaß und verkrampfte die Hände im Schoß. Abge sehen von dem Fall an sich hatte es sie aus dem Gleichgewicht gewor fen, daß sie auch hier in Reichweite von Bobs Beobachtungen war. Es dauerte über zehn Minuten, bis Dr. Kirschbaum zurückkam. Er hat te inzwischen mit der Washingtoner Anwaltskammer telefoniert und behauptet, er brauche für einen Prozess, für den das dortige Gericht 224
zuständig sei, einen zuverlässigen Anwalt. Ob man ihm Dobson emp fehlen könne? Nachdem er mit verschiedenen Stellen weiterverbunden worden war, lautete die Antwort, Dobson sei nicht gerade ein Staran walt, aber verlässlich und gründlich. Mildred atmete auf, als sie das hörte. »Wir haben gerade noch zehn Minuten vor Büroschluss Zeit, die Fir ma in Richmond anzurufen, bei der das Testament hinterlegt werden sollte. Am besten erkundigen Sie sich sofort bei Ihrem Vater danach.« »Nicht nötig, ich kenne sie: Miller, Pearson und Pearson, Fillmore Street 16.« »Gut. Hoffentlich haben wir Glück und erreichen noch einen der Chefs. Am besten sprechen Sie selbst. Als Tochter sind Sie zu einer sol chen Frage berechtigt.« Zehn Minuten später war der Alpdruck vorüber. Das Testament war ordnungsgemäß abgeliefert worden und befand sich bereits in einem Banksafe der Firma. »Ich schäme mich, Sie unnötig belästigt zu haben«, sagte Mildred mit abbittendem Lächeln. »Meine Phantasie ist anscheinend mit mir durchgegangen. Man wird argwöhnisch, wenn man mit solchen Leu ten zu tun hat. Das, was sie mir angetan haben, schüttelt man nicht aus den Kleidern.« »Ich begreife Sie vollkommen und freue mich für Sie, daß Sie sich diesmal getäuscht haben. Vinetti entlasse ich sofort. Er wird vorher keine Gelegenheit mehr haben, jemand anders zu bestechen und für seine Zwecke zu gewinnen. Ich werde auch Weisung geben, daß et waige Anfragen nach dem Befinden von Mr. Simons nicht beantwor tet werden. Im allgemeinen geben wir nur den nächsten Verwandten Auskunft, aber Unbefugte können immer versuchen, sich als solche auszugeben. Was Vinetti am meisten interessiert, wird er eines Tages in der Zeitung lesen. Wenn ich die Sache richtig beurteilen, hat er den Hauptteil seines Auftrags erfüllt, indem er Ihrem Vater einen Anwalt zuspielte. Es ist unglaublich, mit was für raffinierten Methoden diese Gangster arbeiten. Ich fürchte, Sie werden noch allerhand auszustehen haben, wenn Sie erst im Besitz Ihres Erbes sind. Typen wie Ihr frühe 225
rer Mann lassen nicht so leicht locker, wenn sie etwas in die Hände be kommen wollen.« Mildred schauderte in sich zusammen. »Seit Jahren lebe ich in Angst vor ihm«, sagte sie leise. »Wird das denn nie ein Ende nehmen?« »Haben Sie die Absicht, nach Deutschland zurückzukehren?« »Nicht, solange mein Vater lebt.« »Im allerletzten Stadium, das allerdings bald eintreten wird, ist Ihr Vater nicht mehr in der Lage, Sie zu erkennen. Er hat aber ein starkes Herz. Das verlängert sein Leben, jedoch auch seine Leiden.« »Ich habe mich entschlossen, den letzten Überfall meines geschie denen Mannes zur Kenntnis der deutschen Polizei zu bringen. Dieser Brief müßte eingeschrieben werden. Wüssten Sie eine zuverlässige Per son, der ich ihn zur Aufgabe anvertrauen könnte?« »Ich erwarte heute abend meine Tochter und meinen Schwiegersohn zu Besuch. Sie werden das gern für Sie erledigen.« »Wie soll ich Ihnen für alles danken, was Sie für mich tun –« »Das ist doch selbstverständlich, da wir so etwas wie Landsleute sind.«
Nachdem Vinetti verschwunden war, verlebte Mildred im Sanatori um die friedlichste Zeit, seit sie erwachsen war. Sie blühte äußerlich auf, ihre Wangen wurden frisch und rosig, die etwas eckige Mager keit verlor sich. Mit schlechtem Gewissen konstatierte sie diese Ver änderung, die sie, am Krankenbett ihres Vaters, geradezu unpassend fand. Aber ihr Körper gab damit nur ihrer Befreiung von der gewohn ten Angst auf seine Weise Ausdruck und kümmerte sich nicht um ihre Hemmungen. Sie verbrachte, je nach Befinden ihres Vaters, morgens und nachmittags ein oder zwei Stunden bei ihm. Selbst ihr Laienauge konnte erkennen, daß sich sein Zustand unaufhaltsam verschlechterte. Kirschbaum hielt es für möglich, daß er durchgehalten hatte, bis sein Wunsch, seine Tochter wieder zu sehen, in Erfüllung gegangen war. 226
Ihr Verhältnis war trotz seiner zunehmenden Schwäche immer herz licher geworden. Mildred begriff jetzt, daß ihn bei ihrer ersten Begeg nung die Sorge gequält hatte, sie könnte ihm seines früheren Versa gens wegen Vorwürfe machen. Da sie aber niemals auf die Vergangen heit anspielte, fühlte er sich nun beruhigt. Er rechnete ihr diese Groß mut hoch an und war sich bewußt, daß er sie nicht verdiente. Wenn er allein war und nicht vom Schlaf übermannt wurde, verwandte er sei ne Zeit darauf, immer Neues auszudenken, womit er Mildred erfreu en könnte. Zum Beispiel fand er, daß sie viel zu einfach gekleidet sei. Als sie ihm auf eine entsprechende Frage heiter gestand, daß sie keinen Pelzmantel besitze, war er geradezu schockiert. »Deine Mutter hat ein halbes Dutzend. Ich erinnere mich aus meiner Jugend, daß das Klima in Deutschland kalt ist. Du mußt unbedingt et was Warmes haben, um dich davor zu schützen.« »Ich bin abgehärtet, Vater, und eigentlich nie krank.« »Ich wünsche, daß du dir einen Pelzmantel kaufst, Mildred«, beharr te er eigensinnig. »Du bist merkwürdig wenig eitel für eine Frau.« »Für das Leben, das ich führe, reicht meine Garderobe vollauf. Ich besitze auch nicht so wenig, wie die glaubst. Als ich Hals über Kopf ab reiste, kam ich von einem kurzen Ferienaufenthalt in den Schweizer Bergen zurück und nahm meinen Koffer so mit, wie ich ihn dafür ge packt hatte.« »Um so mehr Grund, nach Washington zu fahren und dich einzu kleiden. Schmuck hast du anscheinend auch keinen?« »Sagen wir, nicht viel. Aber mir genügt er. Meine Aufmachung muß doch auch zu dem Rahmen passen, in dem ich lebe. Ich gehe nie aus, kenne fast niemanden, was würden mir elegante Kleider nützen, die nur im Schrank hingen?« »Was du da sagst, gefällt mir nicht«, sagte er ärgerlich. »Du bist zu vernünftig für dein Alter. Wie willst du es erreichen, daß ein Mann aus unseren Kreisen auf dich aufmerksam wird, wenn du dich so un scheinbar anziehst?« »Sei mir nicht böse, Vater, aber das ist nicht mein Ehrgeiz.« »Unsinn! Das Leben liegt noch vor dir.« 227
»Jeder hat vom Glück eine andere Vorstellung.« »Deine war jedenfalls gründlich falsch«, erinnerte er sie, indem er zum ersten Mal auf die Vergangenheit anspielte. »Das ist wahr, aber ich bin inzwischen durch eine harte Schule ge gangen.« »Ist es denn menschenmöglich, daß du keinen Mann kennst, der dir gefällt?« Mildred errötete und schwieg. »Also doch. Was ist er von Beruf?« »Stellvertretender Personalchef im Hauptwerk der Textilia.« »Nun, das ist schon etwas, vorausgesetzt, daß er noch jung genug ist, um weiter aufzusteigen.« »Das scheint mir sicher.« »Warum heiratet ihr dann nicht, zum Kuckuck?« »Dazu fehlt eine Kleinigkeit«, sagte Mildred traurig, »er liebt mich nicht.« Ihr Vater schwieg eine gute Weile. Anscheinend mußte er dieses stichhaltige Argument zuerst verdauen. »Er soll nach Amerika kommen«, sagte er mit plötzlicher Energie. »Wenn er dich heiratet und tüchtig ist, steht ihm eine große Karriere in unserer Firma offen.« »Aber sicher nicht, wenn Archie ihr Chef ist«, erinnerte sie ihn. »Da hast du allerdings recht«, gab er mit Bedauern zu. »Ich werde darüber nachdenken. Vielleicht kann ich Vorsorge treffen –« »Bitte nicht, lieber Vater. Christopher ist Deutschamerikaner wie wir und hat hier sicher auch seine Verbindungen. Außerdem habe ich nicht im Sinn, ihn zu – kaufen, nicht einmal, es zu versuchen.« »Du bist zu empfindlich. Es ist keineswegs ehrenrührig, durch eine gute Heirat zu Geld und Ansehen zu kommen.« »So wie ich Christopher kenne, wird er seine beruflichen Erfolge lie ber sich selbst verdanken.« »Solche Einstellungen ändern sich manchmal mit den Umständen. Nach meinem Tod bist du wohlhabend, um nur ein bescheidenes Wort zu gebrauchen. Glaubst du im Ernst, daß ihm das nicht imponiert?« 228
»Er wird es nicht erfahren, wenn ich es verhindern kann.« »Was?! Nimm es mir nicht übel, aber das halte ich für verschroben.« »Ich habe die Absicht, das, was du mir vermacht hast, hier in Ameri ka zu lassen und weiterhin von dem zu leben, was ich in Deutschland habe und verdiene. Allerdings werde ich mir dann mehr gönnen als bisher, das verspreche ich dir. Die Notwendigkeit, Reserven für Krank heit oder Arbeitslosigkeit zu schaffen, fällt nun dahin. Zum Beispiel werde ich Tante Friedas einsam gelegenes Haus aufgeben und mir eine hübsche Wohnung mieten, vielleicht sogar kaufen. Sorge dich nicht um mich. Es wird mir an nichts fehlen.«
Einige Tage später sah Mildred zufällig ihre Mutter aus Dr. Kirsch baums Sprechzimmer herauskommen. Sie standen einander plötzlich auf zwei Meter Entfernung gegenüber. Es wäre schwer gewesen zu er raten, welche von ihnen am meisten erschrocken war. »Guten Tag, Mutter!« sagte Mildred befangen. Mrs. Simons erwiderte diesen Gruß nicht. »Jetzt betätigst du dich zu allem anderen auch noch als Erbschleiche rin«, sagte sie feindselig. »Aber darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.« Mildred machte keinen Versuch, sich zu verteidigen. Zwischen die ser Frau, die sie geboren hatte, und ihr klafften Abgründe, und das würde sich nie ändern. Sie hatte jedoch nicht im Sinn, sich beleidigen zu lassen und wandte sich stumm zum Gehen. »Mildred, warte! Wir müssen miteinander reden –« »Wozu?« fragte die Jüngere knapp. »Man könnte sich vielleicht gütlich einigen …« »Das glaube ich nicht. Als sich damals herausstellte, daß ich unschul dig verurteilt worden war, hättest du eine ideale Gelegenheit für einen solchen Versuch gehabt. Du hast ihn nicht nur unterlassen, sondern auch Vater dazu veranlasst, um nicht zu sagen gezwungen. Ich habe ein gutes Gedächtnis –« 229
»Bei deinem Vater läßt es dich aber anscheinend im Stich.« »Du weißt, daß er schwerkrank ist. Mit einem Sterbenden rechtet man nicht.« »Besonders, wenn er deinen Gedächtnisverlust mit harten Dollars belohnt.« »Ich weiß, daß du jeden Menschen für käuflich hältst. Was für eine traurige Meinung hast du von den Menschen!« »Genau die, die sie verdienen.« »Und du? Welche verdienst denn du?« »Ich?« fragte Mrs. Simons ehrlich entrüstet, »habe ich nicht ein un tadeliges Leben geführt? Den Schatten auf unserem Namen verdan ken wir dir.« »Ich könnte dich um deine Selbstgerechtigkeit beneiden, bin aber nicht sicher, ob eine höhere Macht dich dereinst nicht mit anderen Maßstäben misst.« »Oh, solltest du fromm geworden sein?« fragte sie mit unverkennba rem Hohn. Mildred erwiderte nichts mehr und entfernte sich rasch. Sie war be unruhigt, ob ihre Mutter es trotz des erlassenen Verbots wagen wür de, das Krankenzimmer ihres Mannes zu betreten. Er hatte heute oh nehin einen schlechten Tag. Dr. Kirschbaum hatte ihre Mutter hoffent lich um entsprechende Rücksicht gebeten. Als Mildred ihren Vater eine Stunde später besuchte, fand sie ihn zwar müde, aber ohne Spuren einer erlittenen Aufregung. Sie schloß daraus, daß er keinen Besuch gehabt hatte. »Mildred«, sagte er und zeigte plötzlich wieder das verschmitzte Lä cheln früherer Tage, »ich habe dir einen Scheck ausgestellt. Fahre nach Washington und kleide dich ein. Du wirst vielleicht finden, daß es ein bißchen viel ist, aber ich denke vor allem an die Erbschaftssteuer. Al les, was ich dir vorher geben kann, fällt nicht darunter. Der Scheck lau tet auf 20.000 Dollar.« Die beleidigenden Worte ihrer Mutter noch im Ohr, war sie sofort entschlossen, ihn zurückzuweisen. »Vater, ich habe dir doch gesagt, daß ich nichts brauche. Du bezahlst 230
meinen hiesigen Aufenthalt, das genügt vollauf. Was sollte ich wohl mit einer so riesigen Summe anfangen?« »Du schlägst aber auch gar nicht nach deiner Mutter – gottlob, in diesem Fall. Ich habe noch nie erlebt, daß sie einen Scheck, den ich ihr ausstellte, zu hoch fand, im Gegenteil. Und du machst dir vielleicht keinen richtigen Begriff von den Preisen. Ein Nerzmantel, zum Bei spiel –« »Aber Vater, was für eine Idee! Ein Nerz würde überhaupt nicht zu mir passen. Du mußt dich damit abfinden, daß ich eine einfache jun ge Frau und beinahe etwas kleinbürgerlich geworden bin. Das ist die Haut, in die ich geschlüpft bin. Zuerst war es nur eine Art Mimikry, ich will das nicht leugnen; aber jetzt fühle ich mich ganz wohl darin. Ich habe weder Talent noch Lust, eine Mondäne zu spielen.« Sie sah, daß er sich ärgerte, und hielt ein. Auf seinen mageren Wan gen erschienen wieder die roten Flecken, die ankündigten, daß er un zufrieden war. »Könntest du deinem alten Vater nicht einmal etwas zu Gefallen tun?« fragte er beinahe bitter. »Ich werde dich aller Voraussicht nach nicht mehr oft sehen. Begreifst du denn nicht, daß ich wenigstens diese letzten Male Freude an deinem Anblick haben möchte? Diese Aschen brödel-Aufmachung ist ein ewiger Stachel für mein Gewissen.« Mildred war einen Augenblick sprachlos. Von dieser Seite hatte sie die Sache noch nie betrachtet. Wenn sie ihm damit einen Wunsch er füllte, konnte sie nicht gut ablehnen. Sie hoffte nur, daß ihre Mutter nichts von dieser Schenkung erfahren werde. Immer noch zögernd, streckte sie die Hand nach dem Scheck aus. »Wie soll ich dir danken, Vater?« »Indem du es mir nicht so verdammt schwer machst, dich zu be schenken. Du bist verflixt stolz, meine Tochter!« »Ich glaube eher, daß es Bedürfnislosigkeit ist.« »Dazu bist du nicht geboren«, versetzte er entschieden. Mildreds Vater starb sechs Wochen nach ihrer Ankunft. Die letzten drei Tage war er allerdings ohne Bewußtsein und erkannte sie nicht mehr. Sie hielt trotzdem bei ihm aus in der Hoffnung, er werde viel 231
leicht noch einmal zu sich kommen. Kirschbaum hielt das zwar für unwahrscheinlich, aber sie ließ sich nicht beirren und betete darum. Sie hatte in den letzten Wochen viele Stunden bei ihm verbracht, und doch schien es ihr jetzt, als sei nicht alles gesagt worden. Hätte sie ihm nicht erzählen müssen, was er in ihrer Kindheit für sie bedeutet hatte? Gegen ihre Mutter war er zwar nie angekommen, aber allein seine Ge genwart war tröstlich gewesen, weil sie gespürt hatte, daß er sie lieb te. Wenn er sie später im Stich gelassen hatte, so mußte sie sich etwas Ähnliches vorwerfen: Nachdem sie sich in Bob verliebt hatte, war al les Vorhergegangene, selbst ihr Vater, wie ausgelöscht gewesen. Es ge nügte, daß er ihre Wahl missbilligte, um ihn als einen, wenn auch sei ner Natur nach passiven Feind zu betrachten. Gott im Himmel, wie verblendet war sie doch gewesen! Nur zwei Dinge konnte sie zu ih rer Rechtfertigung anführen: ihre gänzliche Unerfahrenheit und Bobs außergewöhnliches schauspielerisches Talent, mit dem er ihr Gefüh le vorgegaukelt hatte, die er nicht empfand. Wie hätte sie auch nur im mindesten ahnen können, was sich hinter dieser verführerischen Fas sade verbarg? Bob hatte damals eine Stellung als Verkaufsleiter in ei nem kleinen Warenhaus bekleidet und konnte darum nachweisen, daß er eine Frau zu erhalten imstande war. In Wirklichkeit hatte er nie mals diese Absicht gehabt, seine Vorstellungen waren genau gegentei lig gewesen. Er hatte geglaubt, von den Zuwendungen ihrer Eltern be quem und ohne Arbeit leben zu können, abgesehen von den unrecht mäßigen Einkünften, die er sich nebenbei verschaffte. Seine bürgerli che Stellung war nur eine Tarnung gewesen, um Mildreds Eltern Sand in die Augen zu streuen. Als er merkte, daß die Wirkung ausblieb, hat te er sie aufgegeben und war einer Gang beigetreten, durch die er end gültig zum Gesetzesbrecher geworden war. Er hatte ihr diesen Zusam menhang oft genug vorgeworfen und ihr die Schuld daran gegeben. Sie kannte ihn aber bald gut genug, um zu wissen, daß seine verbrecheri schen Instinkte nur eines Anstoßes bedurft hatten, um die Oberhand zu gewinnen. In den letzten Wochen war es Mildred gelungen, diese Vergangen heit zu verdrängen. Jetzt aber, am Sterbebett ihres Vaters, stand sie 232
wieder gegen sie auf, als hätte sie nur auf den Augenblick gewartet, da der Schmerz ihre Seele wehrlos gemacht hatte. Immerhin hatte sie Jah re ohne ihren Vater gelebt und bei ihrem Kommen gewußt, daß er ver urteilt war. Jetzt, da die alte Liebe zu ihm wieder erwacht war, hätte sie beinahe gewünscht, sie wäre nicht gerufen worden. Vielleicht hät te sie, da sie in seinem ursprünglichen Testament, das ihre Mutter mit Sicherheit mitredigiert hatte, nicht erwähnt war, seinen Tod überhaupt nicht erfahren. Diese hätte kaum die Mühe auf sich genommen, sie ausfindig zu machen, nur zu froh über die Tatsache, daß sie verschol len war. Mildred sah nun auch ihren Bruder wieder, Archie, zwei Jahre jün ger als sie, den sie als Kind vergöttert hatte, so sehr, daß sie eine Bevor zugung durch ihre Mutter verständlich gefunden hatte. Als Archie vor den aufgebahrten Toten trat, war sein Gesicht unbeweglich. Schmerz lich berührt, suchte Mildred umsonst ein Zeichen dafür, daß ihm die ser Verlust nahe ging. Seine Gleichgültigkeit erklärte ihr nun auch, wa rum er seinen Vater während ihres Hierseins nie besucht hatte. Und doch war ihm von diesem viel Güte erwiesen worden. Sicher hätte er das anerkannt, wäre er nicht so ganz unter den Einfluß seiner Mutter geraten. Je älter er geworden war, desto mehr hatte sich gezeigt, daß die beiden aus dem gleichen Stoff gemacht waren. Mildred erkannte es jetzt klarer als je zuvor und konnte daran ermessen, wie furchtbar ein sam ihr Vater gewesen war. Sie verstand nun auch besser, daß er dieser Frau gegenüber, die ständig gegen ihn gearbeitet, ihm das eine Kind entfremdet, das andere genommen hatte, keinerlei Verpflichtung mehr anerkennen wollte. Sie hätte es nicht verdient, für den Rest ihres Le bens weiter in dem Luxus zu leben, für den sie ihm während ihrer Ehe nie Dank gewußt hatte. Es war die späte Rache eines Mannes, dessen Mut nie dafür ausgereicht hatte, sich ihrer Herrschsucht zu entziehen. Mildred setzte sich in der Kirche nicht zu ihren Angehörigen, noch stellte sie sich am Grab zu ihnen. Es gab nur wenige, die sie erkannten, und von diesen nur zwei, die ihr die Hand gaben und kondolierten. Das bewies zur Genüge, daß ihre Rehabilitierung in diesen Kreisen nicht als ausreichend angesehen wurde. Sie hatte einen Skandal ohne 233
gleichen entfesselt; man verzieh ihr das nicht und bedauerte ihre Mut ter dieser Tochter wegen. Mildred schloß aus diesem Verhalten, daß sie gut daran getan, sich der Familie nicht anzuschließen. In Wahr heit besaß sie nach dem Tod ihres Vaters keine mehr. Sie sah sie nur noch ein einziges Mal in ihrem Leben: bei der Testamentseröffnung durch die Anwälte Miller, Pearson and Pearson. Ihre Mutter und Ar chie bewahrten zwar mit äußerster Anstrengung ihre Haltung, aber beide waren grünblaß vor Wut; in ihren Augen stand blanker Hass. »Wenn sie zu der Unterwelt Beziehungen hätten, würden sie jetzt einen Mörder dingen«, dachte Mildred schaudernd. »Da ich nicht verheiratet bin, wären sie meine legalen Erben.« Das Gefühl ihrer Vereinsamung durchkältete sie bis ins Mark. Einzig die Gewissheit, daß es Christo pher gab, rettete sie vor einer Krise der Verzweiflung. Ja, Gott sei Dank existierte er und war ihr ein verlässlicher Freund. Aber es gab außer dem auch noch Bob … Sie war, noch kurz bevor ihr Vater starb, von einem Detektiv-Inspek tor der Federal Police aufgesucht worden, der ihr mitteilte, daß ihr ge wesener Mann nun von der Interpol ausgeschrieben sei. Diese Maß nahme war nicht in erster Linie auf ihre Anzeige zurückzuführen, ob schon sie den Tatbestand verschärft hatte. Einer von Bobs Helfershel fern hatte gegen das Versprechen einer Hafterleichterung ›gesungen‹, wie es im Verbrecherjargon hieß, und Bob schwer belastet. Der Beam te wollte aber von ihr doch noch einige Einzelheiten über den Überfall hören, zumal sie ihre Anzeige so kurz wie möglich abgefasst hatte. Da sie von Deutschland abwesend war, wurde sie jetzt hier vernommen und mußte jedes Wort, das Bob gesprochen, wiederholen. Der Beamte äußerte die Hoffnung, daß dessen Mittellosigkeit dazu führen werde, seiner in Kürze habhaft zu werden, es sei denn, er verschaffe sich Geld durch weitere Delikte, was bei seiner Mentalität nicht unwahrschein lich war. Ein sehr großes Handicap mußte für ihn die mangelhafte Beherrschung der deutschen Sprache sein. Vielleicht hatte er das in zwischen eingesehen und sich nach Italien abgesetzt. Da seine Familie aus Sizilien stammte, verstand und sprach er Italienisch, vielleicht aber auch nur den sizilianischen Dialekt. Jedenfalls wurden die Recherchen 234
in jener Gegend besonders intensiv betrieben. Mildred erzählte dem Beamten auch ihre Begegnung mit Vinetti und gab ihm sein Signale ment. Wahrscheinlich existierte bereits eine Akte über ihn. Wenn man ihn fand und beschattete, konnte er die Polizei vielleicht auf die Spur von Montero führen, mit dem er anscheinend in schriftlicher oder te lefonischer Verbindung stand. Mildred war bis zum Ende ihres amerikanischen Aufenthalts im Sa natorium geblieben, nicht nur, weil sie in Kirschbaum und seiner Frau verständnisvolle, gütige Menschen kennen gelernt hatte. Unter dieser Adresse konnte Christopher sie erreichen. Er hatte ihr mehrmals ge schrieben und auch bereits eine Wohnung für sie gemietet. In seinem letzten Brief wollte er wissen, wann sie zurückkehren werde, um ihr Haus auszuräumen. Weißgerber dränge darauf, bald einzuziehen. Der Brief war zwei Tage vor ihres Vaters Tod geschrieben worden. Christo pher hatte darum auf dieses traurige Ereignis keinen Bezug nehmen können. Inzwischen mußte er die Todesanzeige bekommen haben. Sie hätte hier gern noch seine Antwort abgewartet. Sicher hatte er begrif fen, daß ihrer Rückkehr, falls sie diese wirklich vorhatte, jetzt nichts mehr im Wege stand. Dem Wunsch ihres Vaters nachgebend, hatte Mildred sich sofort nach jener Unterredung in Washington neu eingekleidet. Eigentlich war es ihr unverständlich, daß ein auf den Tod Kranker sich über sol che Äußerlichkeiten noch so freuen konnte. Er beobachtete jeden, der sein Zimmer betrat, daraufhin, ob ihm Mildreds veränderte Aufma chung auffiel, insbesondere Kirschbaum und die Assistenzärzte. Die Vermutung, daß er stolz auf sie sein wollte, schien ihr rührend, aber auch etwas kindlich, traf jedoch anscheinend zu. Während ihrer Ein käufe hatte aber auch sie sich von ihrer natürlichen Freude an schönen Dingen mitreißen lassen. Sie war so lange gleichgültig gegen ihr Äu ßeres gewesen, daß es jetzt etwas Neues und – sie mußte es zugeben – Beglückendes war, sich nach ihrem Geschmack einkleiden zu können, ohne nach dem Preis fragen zu müssen. Noch nie war ihr die Wahr heit des Sprichworts, daß Kleider Leute machten, so aufgegangen wie jetzt. Wenn sie sich vor den großen, immer schmeichelnden Spiegeln 235
der Modegeschäfte drehte, mußte sie zugeben, daß aus der etwas un scheinbaren Puppe ein Schmetterling ausgeschlüpft war. Sie hätte kei ne Frau sein müssen, wenn sie das nicht mit Freude erfüllt hätte. Vor allem dachte sie dabei an Christopher, und wie sie ihm in den neuen Hüllen gefallen werde. Es war ihr noch gut erinnerlich, wie er ihr grau es, kittelähnliches Kleid, das sie am Anfang ihrer Bekanntschaft stets getragen, verabscheut hatte, und sicher mit Recht. Auch der Nerz war erstanden worden, braun, da sie das schöne hel le Grau, das sie bevorzugt hätte, zu blaß erscheinen ließ. Sie verstand nicht viel von Pelzen und redete sich ein, daß man den Mantel ebenso gut für Bisamratte halten konnte, die weniger kostbar war. Dieser gar nicht so fern liegende Gedanke nahm ihr ein wenig ihre Hemmun gen. Da sie über soviel Geld verfügte, erstand sie auch noch einen Ring und eine goldene Halskette. Das gehörte nun einfach dazu, um ihren neuen Besitz zu ergänzen. Das Geld war trotzdem noch längst nicht aufgebraucht. Sie hatte die Gültigkeit ihres Flugbilletts verlängern las sen und das verlangte Aufgeld dafür bezahlt. Wenn erst auch noch die Rechnung für die letzten Tage im Sanatorium beglichen war, woll te sie den Restbetrag an das Zuchthaus für Frauen des Staates Virgi nia überweisen, in dem sie einst inhaftiert gewesen. Es mochte einigen aus der Haft Entlassenen den Übergang in das freie Leben erleichtern. Mildred hatte nicht viel weniger als eine Million Dollar geerbt und war nun reich. Zunächst sollte das Geld in Verwahrung von Miller, Pear son and Pearson bleiben und irgendwie angelegt werden. Später, wenn sie in Ruhe alles überlegt hatte, würde sie sicher karitative Organisatio nen ausfindig machen, denen sie zumindest die Zinsen zuhalten konn te. Das hatte noch Zeit.
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XIX
C
hristophers Brief erreichte Mildred am Freitag, einen Tag vor der nun endgültig festgesetzten Abreise. Sie hatte schon gefürchtet, ihn zu verfehlen, wäre aber, wenn auch mit Bedauern, trotzdem abge flogen, weil sie sich zu sehr nach ihm sehnte, um die Rückkehr noch länger hinauszuschieben. Wenn man die Zeit in Kandersteg dazurech nete, hatte sie ihn neun Wochen nicht mehr gesehen, eine kleine Ewig keit. Die Worte, die er für ihren Verlust fand, waren einfach und herz lich, wie sie es erwartet hatte. Aber die Freude darüber, daß ihrer ›Heimkehr‹, wie er es nannte, nun nichts mehr im Wege stand, war doch deutlich spürbar. Er machte sich von diesem Vater wohl auch kei ne deutliche Vorstellung und sah in ihm in erster Linie den Mann, der seine Tochter in ihrer schlimmsten Notzeit verleugnet hatte. Daß Chri stopher sich so ehrlich auf ihre Ankunft freute, war Balsam auf ihre Wunden. Wenn er sie auch nicht liebte, so konnte sie doch auf seine Freundschaft bauen. Sie war nicht mehr ganz allein und würde es nie mehr sein, so wenigstens glaubte sie. Während ihr Gepäck auf dem Flugplatz gewogen und Übergewicht festgestellt wurde, stieß sie jemand aus Versehen an und entschuldig te sich. Als sie sich nach ihm umdrehte, glaubte sie plötzlich innerhalb einer Ansammlung von Fluggästen ganz in der Nähe Vinettis Galgen vogelgesicht zu erkennen. Sie konnte nur einen einzigen Blick auf ihn erhaschen, dann war er bereits in der Menge untergetaucht. Obschon sie ihrer Sache nicht sicher war, erschrak Mildred. Hatte sie richtig ge sehen? Da sie überhaupt nicht mehr an ihn gedacht hatte, konnte ihre Phantasie ihr schwerlich etwas vorgegaukelt haben. Viel eher mußte sie damit rechnen, daß er die Reservation ihres Platzes herausgebracht hatte und sich jetzt vergewissern wollte, ob sie die Maschine tatsäch 237
lich benutzte. Das zerstörte jede Hoffnung in ihr, daß Bob inzwischen verhaftet worden war. Es zeigte ihr aber auch, welche Wichtigkeit ihr jetzt als einer reichen Erbin beigemessen wurde. Vinetti war sicher ein Anteil an der Beute versprochen worden, sonst hätte er sich inzwi schen bestimmt lukrativeren Objekten zugewandt; es sei denn, er habe das Verfolgen ihrer Spur als viel versprechende Nebenbeschäftigung betrieben. Einer Sache konnte Mildred jedoch nach dem, was der Po lizeibeamte ihr gesagt hatte, sicher sein: Bob würde niemals wagen, sie am Flugplatz in Frankfurt oder dem Bahnhof ihres Wohnortes zu er warten. An diesen öffentlichen Stätten gab es überall Polizei. Er hätte erkannt werden können; zumindest mußte er befürchten, daß sie die Polizei auf ihn aufmerksam machte. Es war eigentlich nicht anzuneh men, daß er sich noch immer in Deutschland herumtrieb, der Boden mußte ihm inzwischen zu heiß geworden sein. Innerhalb der amerika nischen Unterwelt blieb es kaum verborgen, wenn einer ihrer Männer von der Interpol gesucht wurde. Vinetti hatte es Bob bestimmt wissen lassen. Fürs erste war sie hoffentlich vor ihm sicher, doch glaubte sie keinen Augenblick, daß er aufgeben würde. Christopher hatte ihr ge schrieben, Fräulein Gehring habe sie für eine Woche eingeladen, bis sie ihre neue Wohnung beziehen konnte. Das war insofern vorteilhaft, als sie nicht in ihrem Haus zu wohnen brauchte, gleichzeitig aber nahe genug war, um den Umzug vorbereiten zu können. Als sie in New York die Maschine der Lufthansa bestieg, dachte sie unwillkürlich an ihren Nachbarn beim Herflug. Hoffentlich hatte er inzwischen eine bejahende Antwort auf sein Asylbegehren bekommen und war endlich von der Angst befreit, dorthin zurückkehren zu müs sen, wo er hergekommen war. Sie wünschte es ihm von Herzen.
Mildred hatte mit Vorbedacht einen Samstag als Ankunftstag gewählt, damit sie Christopher, der sie abholen wollte, keine Ungelegenheiten bereitete. Ihr Telegramm mußte schon gestern abend in seinen Hän den gewesen sein. Sie hätte ihm gern zugeschaut, als er es las, war sie 238
doch nie ganz im klaren über seine Empfindungen. Christopher war sehr zurückhaltend, ob nur ihr gegenüber aus Angst, falsche Hoffnun gen zu erwecken, oder überhaupt, hatte sie nie herausbekommen. Ob schon sie, wie jedes liebende Herz vor einer totalen Ungewissheit, nicht selten gelitten hatte, war ihr doch seine diskrete Art unendlich sym pathisch. Sie stach so wohltuend gegen alles ab, was einen Blender wie Bob auf negative Weise auszeichnete. Daß sie bei ihrer Ankunft in Frankfurt nicht gleich zu Christopher hineilen konnte, war eine harte Geduldsprobe. Während sie beim Zoll warten mußte, bis sie an die Reihe kam, verrenkte sie sich den Hals nach ihm. Er war, dessen konnte sie sicher sein, dort irgendwo jenseits dieser Türen, die sie trennten, aber hinter welcher? Als sie endlich die Vorhalle betreten konnte, sah sie ihn dort rauchend auf und ab gehen. Einen Augenblick wandte er ihr dabei noch den Rücken zu. Sie wäre gern stehen geblieben, um ihn ungestört betrachten zu können, aber die hinter ihr Kommenden stießen sie vorwärts. Sie trug in jeder Hand einen Koffer und war darum behindert. Jetzt hatte auch er sie erspäht. Sie sah deutlich, wie er stutzte; warum nur? Es waren nur ein paar Se kunden, doch schienen sie ihr lang, bis er auf sie zugestürzt kam. »Mildred, wie schön, daß Sie wieder da sind! Die Reise scheint Ihnen gut bekommen zu sein. Sie sehen frisch aus …« Sie hörte mit feinem Ohr etwas Gezwungenes in seiner Stimme und war enttäuscht. Was hatte er nur? Sie wäre nie darauf gekommen, daß es der Nerz war, der seine Freude jäh verdunkelte, der kostbare Pelz, den sie gar nicht hatte haben wollen. Er machte Christopher mit ei nem Schlage klar, daß sie seit ihrer Trennung eine reiche Frau gewor den war. Zwischen dem unscheinbaren Geschöpf, als das er sie kennen gelernt, und dieser eleganten Dame lag ein so großer Unterschied, daß er ihn lähmte und seinen bisherigen, halb unbewußten Anspruch, daß sie ›seine Mildred‹ war, plötzlich in Frage stellte. So wie sie jetzt aus sah und mit dem goldenen Hintergrund, würde sie um Freunde nicht verlegen sein, er wurde dann nur einer von vielen. Diese Vorstellung schmerzte ihn. Hatte man Montero erst gefaßt, und seiner Meinung nach war das nur eine Frage von Tagen, höchstens Wochen, bedurf 239
te sie auch seines Schutzes nicht mehr. Alles war anders geworden; er hatte sich das, als er auf sie wartete, noch nicht in seiner ganzen Trag weite klargemacht. Während diese Gedanken durch seinen Kopf schossen, hatte er ihr die Koffer abgenommen und dirigierte sie in die Richtung, in der er seinen Wagen abgestellt hatte. »Das ist auch bald nichts mehr, was ich ihr bieten kann«, dachte er, mehr und mehr niedergeschlagen. »Sie wird sich einen rassigen Wagen kaufen, gegen den meine alte Kiste nur ein Schrotthaufen ist.« Mildred betrachtete ihn prüfend von der Seite. Das Herz wurde ihr schwer. Was war bloß mit ihm geschehen? Sie hat te nicht gerade einen überschwänglichen Empfang erwartet, das hät te nicht zu Christopher, so wie er sich ihr bisher gezeigt, gepaßt, aber auch nicht diesen Mann, der deutlich von etwas gehemmt wurde, das sie sich nicht erklären konnte. »Wir sind uns fremd geworden«, dach te sie entsetzt. »Seine Freundschaft hat diese neun Wochen Trennung nicht unbeschadet überlebt.« Warum hatte er ihr dann aber so herzlich geschrieben? Sie hatte Mühe, Tränen der Enttäuschung zurückzuhal ten. Immer hatte sie sich ihm gegenüber Bescheidenheit, Ergebung in die ihr auferlegte Beschränkung gepredigt, und doch hatte sie sich an scheinend noch Illusionen gemacht. »Ich danke Ihnen, daß Sie bis Frankfurt gekommen sind, mich abzu holen«, sagte sie, plötzlich wieder verschüchtert. »Ich hatte es Ihnen doch versprochen. Oder haben Sie meinen letzten Brief nicht mehr bekommen?« »Doch, gestern. Aber es ist doch ziemlich weit bis hierher und im Winter, bei den teilweise vereisten Straßen, nicht ungefährlich.« In diesem Stil machten sie eine gute Weile Konversation miteinan der und fühlten sich unglücklich dabei. Frankfurt lag schon weit hin ter ihnen; sie rasten auf der Autobahn ihrem Ziel entgegen, als Mild red es nicht mehr aushielt. »Haben Sie etwas gegen mich, Christopher?« fragte sie zaghaft und legte ihre Hand scheu auf seinen Ärmel. »Ich? Was sollte ich wohl gegen Sie haben?« »Das weiß ich auch nicht, und doch spüre ich, daß etwas zwischen 240
uns getreten ist. Wäre es nicht besser, sich offen auszusprechen, als weiter so unnützes Zeug zu reden?« »Ich habe mich nicht verändert, wenn Sie das meinen.« Er betonte das ›ich‹ so auffällig, daß sie stutzig wurde. »Sie meinen also, es läge an mir?« fragte sie ratlos. »Aber ich bin doch die alte Mildred, die ich immer war, nur in etwas kostspieliger Aufma chung. Ich hatte gehofft, sie würde Ihnen gefallen.« »Der Pelz ist sehr schön und hat wohl eine Menge gekostet. Aber Sie können es sich jetzt sicher leisten.« Mildred schwieg verletzt. Er merkte zu spät, daß er taktlos gewe sen war, und fand die Worte nicht, es wieder gutzumachen. Sie hatte ihm nicht geschrieben, wie groß ihr Erbe war, und doch empfand er unsinnigerweise eine gewisse Bitterkeit, wenn er daran dachte. Die ses Geld hatte ihm Mildred genommen, oder, wenn es noch nicht soweit war, würde es unfehlbar dazu kommen. Die Minderwertig keitsgefühle, die ihn plötzlich ihr gegenüber befallen hatten, mach ten ihn wütend, weil sie ihre bisher so harmonische Beziehung ver fälschten. Er war ein Idiot gewesen, sich diese Gefahr nicht klarzu machen. Mildred stammte aus einer vornehmen, begüterten Fami lie und war jetzt in ihren Schoß zurückgekehrt. Sein Vater dagegen war nur ein Angestellter, wenn auch in leitender Stellung gewesen, ein weitherum geachteter Mann, aber gemessen an den Simons doch beinahe ein Kleinbürger. Warum, zum Teufel, hatte es so kommen müssen, daß er sich jetzt erst dieses Unterschieds so schmerzlich be wußt wurde? »Könnten wir nicht zuerst meine neue Wohnung anschauen?« fragte sie nach langem, schwerem Schweigen. »Ich bin so neugierig auf sie.« »Wir wollen es versuchen. Sie wird ja erst gegen Ende dieser Woche frei, aber wenn die jetzige Inhaberin zu Hause ist, hat sie sicher nichts dagegen. Hoffentlich gefällt sie Ihnen.« »Sie haben mir nicht geschrieben, wo sie liegt. War das Absicht?« »Ja«, gab er zu, »ich wollte Sie überraschen. Aber vielleicht ist es Ih nen gar nicht so angenehm … sie liegt nämlich fast über der meinen, nur hat sie ein Zimmer mehr.« 241
»O Christopher, das ist ja herrlich!« jubelte sie und vergaß für einen Augenblick ihre Bedrückung. Er wandte rasch den Kopf und begegnete ihrem strahlenden Blick. Er hatte ihre schönen, ausdrucksvollen Augen immer bewundert, ohne sich richtig darüber klarzusein. »Himmel«, dachte er, »bin ich eigent lich bisher blind gewesen? Sie ist ja beinahe schön.« Er dachte im Au genblick nicht daran, daß sie viele friedliche Wochen ohne Bedrohung hinter sich hatte, während er sie bisher nur gezeichnet von schlaflosen Nächten und ewiger Furcht gekannt hatte. Es stimmte nicht, daß sie noch die gleiche war, nicht einmal äußerlich. Seine Antwort war trok ken vor lauter Verwirrung. »Haben Sie sich nicht daran erinnert, daß ich damals, als ich an fing, Ihnen einen Wohnungswechsel vorzuschlagen, unseren Portier gefragt hatte, ob bei uns etwas frei würde?« »Daran habe ich nach dem damaligen abschlägigen Bescheid wirk lich nicht mehr gedacht. Ich hätte auch nie zu hoffen gewagt«, füg te sie, um die Stimmung etwas aufzulockern, hinzu, »daß ich meinen Schutzengel einmal so in der Nähe haben würde. Schöner könnte ich es mir gar nicht vorstellen.« Ihre Freude tat ihm wohl. Noch galt er etwas bei ihr, aber wie lan ge noch? »Ihre Arbeit werden sie jetzt wohl nicht mehr aufnehmen?« fragte er, einer negativen Antwort gewiß. »Warum nicht, falls mich die Textilia noch will?« »Aber Sie brauchen doch jetzt sicher nicht mehr zu arbeiten?« »Ich habe im Sinn, genauso weiterzuleben wie bisher, mit Ausnahme der Wohnung. Jenes Geld kann in Richmond bleiben. Ich habe hier, wenn ich arbeite, genug zum Leben.« Er starrte sie fassungslos an. Beinahe wären sie dabei auf die Über holspur geraten, die gerade ein hinter ihnen fahrender Wagen bean spruchte. Christopher konnte das Steuerrad im letzten Augenblick noch herumreißen. Mildred hatte in dieser gefährlichen Lage keinen Ton von sich gegeben. Er rechnete ihr das hoch an. »Das hätte schief gehen können. Entschuldigen Sie!« »Es war mein Fehler. Ich hatte Sie abgelenkt.« 242
»Deswegen hätte ich Sie nicht anzuschauen brauchen, statt auf die Fahrbahn zu achten. Ich mußte mich aber vergewissern, ob es Ihnen ernst sei mit dem, was Sie sagten.« Mildred lachte leise. »Finden Sie es so verwunderlich?« »Offen gestanden, ja.« Eine Last war ihm plötzlich von der Seele ge fallen. »Ich habe noch nie einen Menschen gekannt, vor allem einen jungen, der, wenn er plötzlich zu Geld kam, darauf verzichtet hätte, ein seiner neuen Lage angepasstes Leben zu führen. Sind Sie ganz sicher, daß Sie das nicht doch eines Tages auch möchten?« »Die Erklärung, falls Sie nach einer suchen, ist ganz einfach: Ich ma che mir sehr wenig aus Geld. Das war schon immer so. Insofern hätte mein Vater besser daran getan, es Archie, meinem Bruder, oder sogar meiner Mutter zu lassen. Sie hätten es wenigstens genossen. Ich konn te ihn aber nicht dazu bringen. Die beiden hatten ihm viel Böses ange tan; es war letzten Endes begreiflich, daß er sie dafür nicht auch noch belohnen wollte.« »Mildred, Sie sind ein erstaunliches Mädchen. Jetzt ist mir wieder wohler. Um die Wahrheit zu beichten, hatte ich Angst, Ihr Geld wür de uns entfremden.« »Waren Sie darum so sonderbar?« »Ich hatte früher nicht darüber nachgedacht. Aber als ich Sie in die ser luxuriösen Aufmachung sah, war ich plötzlich in Sorge, es könnte zwischen uns nicht mehr stimmen.« Mildred grub die Nägel in ihre Handballen, um nicht loszuheulen vor lauter Glück. Zum ersten Mal hatte sie einen echten Beweis da für, daß sie ihm wirklich etwas bedeutete. Der Nerz hatte es fertig ge bracht, ihm sein bisher wohlbehütetes Geheimnis zu entreißen! »Sie müssen wissen«, erklärte sie ihm, nachdem sie die Fassung wie dergewonnen hatte, »daß ich all die schönen Sachen, die Sie nach und nach zu sehen bekommen werden, nur meinem Vater zuliebe gekauft habe. Er hat mir bald nach meiner Ankunft erklärt, bei meiner Aschen brödel-Aufmachung schlage ihm das Gewissen. Er möchte mich gern gut angezogen sehen, und ich könnte ihm wohl diese Freude machen. 243
Vergebens habe ich versucht, es ihm auszureden mit der Begründung, ich könnte kostbare Kleider bei meinem einfachen Lebensstil nicht brauchen. Als ich dann nachgab und einkaufen ging, hat es mir aber doch Spaß gemacht. Und er freute sich so kindlich darüber. Aber der Scheck, den er mir gegeben hatte, angeblich um die Erbschaftssteu er zu umgehen, wollte nicht alle werden. Schließlich habe ich den Rest an das Zuchthaus geschickt, in dem ich einmal eingekerkert gewesen war.« »Denken Sie nicht mehr daran, Mildred!« Er tastete flüchtig nach ih rer Hand. »Versuchen Sie, es einfach aus Ihrem Gedächtnis auszulö schen.« »Ich bezweifle, daß ich das fertig bringe. Bob ist wohl noch immer in Freiheit?« »Ein Polizist hat geglaubt, ihn kürzlich in Frankfurt gesehen zu ha ben. Er hat ihn aber gleich wieder im Gedränge aus den Augen verlo ren. Die Straßen waren überfüllt.« »Dann ist er also doch noch in Deutschland?« fragte sie erschrok ken. »Noch oder wieder, das weiß man nicht.« Mildred erzählte ihm von Vinetti und der Wahrnehmung, die sie in Washington gemacht zu haben glaubte. Christopher schien nur das eine gehört zu haben. »Ihre Scheidung annullieren – so etwas Lächerliches! Wie lange ist es schon her, daß Sie geschieden sind?« »Vier Jahre.« »So ungefähr hatte ich auch geschätzt. Dieser angebliche Formfehler ist ihm etwas spät eingefallen.« »Ich nehme an, erst, nachdem er erfahren hatte, daß Tante Frieda mir ihr kleines Vermögen hinterließ. Diese Nachricht war wichtig ge nug, um seine Rache zurückzustellen und den Versuch zu unterneh men, mich mit seinem falschen Charme wieder einzufangen.« »Heuß gab mir Ihre Anzeige zu lesen. Was müssen Sie durchgemacht haben! Ist es nicht wie ein Wunder, daß man gerade an diesem Morgen das Telefon anschließen wollte?« 244
»Das war es, bei Gott. Es klingt so unwahrscheinlich, daß man kaum Glauben fände, wenn man es erzählte.« »Dieses verfluchte Haus!« knirschte er zwischen zusammengebisse nen Zähnen. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ich es hasse.« »Nicht doch, Christopher! Das wollen wir Tante Frieda doch nicht antun. Sie hat es so gut mit mir gemeint. Und es wäre ja auch für mich eine Zuflucht geworden, wenn Bob nicht existierte. Dafür kann das Haus nichts.« »Es hat durch seine Lage allem Unheil Vorschub geleistet.« »Wie steht es eigentlich mit Weißgerber? Ahnt er, was für eine Be wandtnis es damit hat?« »Es wäre unredlich gewesen, es ihm zu verschweigen.« »Und trotzdem will er es beziehen?« »Logischerweise braucht er sich vor Bob nicht zu fürchten. Sie ken nen einander nicht. Außerdem gibt es Brutus, seinen großen Hund. Ich bezweifle, daß er sanft mit einem umginge, der seinen Herrn an greifen würde.« »Einen Hund kann man vergiften, wenn er stört.« »Was für ein Motiv hätte Montero dafür? Brutus bewacht ja nicht Sie, sondern ihm völlig Unbekannte. Als Unterschlupf ist das Haus für ihn ohnehin wertlos geworden, es wäre viel zu gefährlich. Ihm kann es gleichgültig sein, wer darin wohnt, wenn Sie es nicht sind.« »Falls er irgendwie herausbekommt, daß ich mein Erbe nicht nach Deutschland überweisen lasse, wird das eine große Enttäuschung für ihn sein. Er müßte sich etwas ganz Originelles einfallen lassen, um es dort in die Hand zu bekommen.« »Mir wäre lieber, wenn Sie überhaupt nicht geerbt hätten, nicht ein mal von Tante Frieda. Damit fiele jeder Grund weg, warum Montero Ihnen nachstellen sollte.« »Sie vergessen, daß wir uns überhaupt nicht kennen würden, wenn Tante Frieda nicht an mich gedacht hätte. Was für einen Grund sollte es sonst für mich gehabt haben, nach Deutschland auszuwandern und in der Textilia zu arbeiten? Keinen. Nein, ich verdanke ihr viel.« »Wenn man es so ansieht, haben Sie recht.« 245
Sie waren inzwischen an ihrem Ziel angekommen. Christopher ver mittelte die Bekanntschaft zwischen Mildred und dem Portier. Leider erfuhren sie durch ihn, daß die augenblickliche Wohnungsinhaberin fürs Wochenende fortgefahren sei. Es war also nichts mit der Besich tigung. »Das bleibt uns noch immer. Wie wäre es, wenn wir uns jetzt ein we nig stärkten? Ich habe ziemlichen Hunger, Sie nicht?« »Es geht. Wir sind im Flugzeug ganz schön gefüttert worden. Aber einen Happen könnte ich wohl auch vertragen. Danach müssen wir aber unbedingt zu Fräulein Gehring fahren; wir dürfen ihre Freund lichkeit nicht dadurch belohnen, daß wir sie über Gebühr warten las sen. Nach meinem damaligen sang- und klanglosen Abschied habe ich an ihr etwas gutzumachen. Eigentlich hätte ich ihre jetzige Einladung gar nicht verdient.« »Sie mag Sie eben gut leiden. Wer täte das nicht?« »Oho! Jetzt übertreiben Sie aber gehörig, Christopher …«
XX
S
amstag war anscheinend ein begehrter Umzugstag. Es war Mild red nicht gelungen, dafür noch eine Abmachung zu treffen. So mußte sie ihren Wohnungswechsel einen Tag vorverlegen, was sie Christophers Hilfe beraubte. Sie hatte aber doch fast eine Woche Zeit, ihn vorzubereiten. Es war ziemlich viel Arbeit, da sie in Zukunft nur zwei Zimmer haben würde. Weißgerbers, die bisher in der Küche ge gessen hatten, kauften ihr die Eßzimmermöbel ab; die konnten also an Ort und Stelle bleiben. Was Mildred an Hausrat nicht mehr brauchte, schenkte sie der Heilsarmee. Auf dem Estrich befand sich eine große Menge während Jahrzehn ten angehäuftes Gerümpel, das sie sortieren mußte. Zum Vorschein 246
kam zwischen vielem Wertlosen, von dem sie nicht begriff, warum es aufgehoben worden war, auch allerlei Altes, das heutzutage geschätzt und teuer bezahlt wurde: eine wunderschöne Petroleumlampe, kup ferne Kerzenhalter, ein Bügeleisen, das noch mit Kohle gefüllt werden mußte, und vieles andere, das zum Teil noch aus dem Haushalt von Tante Friedas Mutter stammte. Fräulein Gehring, die Mildred täglich half, beschwor sie, diese Sachen nicht wegzugeben, sondern in eine Ki ste zu verpacken und, nach eingeholter Erlaubnis des neuen Mieters, dort stehenzulassen für den Fall, daß sie sie eines Tages noch selbst brauchen oder gewinnbringend verkaufen wollte. Im Augenblick blieb dafür keine Zeit. Jedenfalls war dieser Estrich nicht nur eine Last, son dern auch eine Fundgrube, und Fräulein Gehring genoß es mehr als Mildred, darin herumzustöbern. Tante Frieda hatte auch einige hun dert Bücher besessen, darunter eine vollständige Dickens-Ausgabe mit alten Stichen, die Fräulein Gehring derart entzückte, daß Mild red sie ihr schenkte, froh, ihre Gastfreundschaft vergelten zu können. Mit fleißiger Arbeit flogen die Tage nur so dahin. Abends pflegte Mild red mit Christopher in dem kleinen Lokal zu essen, wo sie damals, vor ihrer Abfahrt nach Kandersteg, vorübergehend ein Zimmer und Zu flucht gefunden hatte. Bei aller Geschäftigkeit nahm sie sich aber doch Zeit, einmal in der Textilia bei ihrem alten Chef, Herrn Weiler, vorzusprechen. Sie wuß te zwar schon durch Christopher, daß sie ihre Stelle wieder antreten konnte, fand es aber höflicher, sich auch noch persönlich zurückzu melden. Sie hoffte, ihre neue Bleibe übers Wochenende einrichten und am Montag die Arbeit in der Textilia wieder aufnehmen zu können. Weiler war sehr erfreut, daß sie ihr beachtliches Talent dem Konzern aufs neue zur Verfügung stellte, und behandelte Mildred entsprechend. Diese begrüßte anschließend Heli und Mona, wobei erstere vorschlug, miteinander in der Kantine zu Mittag zu essen. Mildred pflegte sich jetzt mittags stets auswärts zu verpflegen, um dem alten Fräulein fi nanziell nicht zu sehr zur Last zu fallen. Christopher grüßte sie im Vorbeigehen, als er seinen Teller vom Büffet abholte. Niemand hätte aus dem Verhalten der beiden geschlossen, wie nah sie einander stan 247
den. Heli schnatterte wie gewöhnlich fast ununterbrochen. Sie hatte ei nen neuen Freund, einen schicken Typ, wie sie sich ausdrückte. »Er möchte dich gern kennenlernen, Mildred. Wir könnten uns ei nen Abend treffen.« »Das wollen wir doch lieber bleibenlassen«, wehrte diese ab. »Ich wüsste wirklich nicht, warum sich dein Freund für mich interessie ren sollte.« »Ich hatte ihm von Kandersteg erzählt. Seither hat er mir dauernd Fragen über dich gestellt, und mich sogar gebeten, durch Herrn Wei ler zu erfahren, wann du zur Arbeit zurückkämst. Ich wäre fast eifer süchtig geworden und habe ihn gefragt, was ihn das angehe. Jetzt, da du so prima aussiehst, ist es vielleicht doch besser, ich stelle ihn dir nicht vor. Ich möchte ihn nämlich gern behalten. Aber vielleicht wärst du etwas für seinen Freund, einen Engländer. Er spricht nur ganz we nig Deutsch; das muß mächtig langweilig für ihn sein. Du tätest am Ende ein gutes Werk –« »In dieser Beziehung bin ich hartherzig. Außerdem mag ich keine Fremden kennenlernen.« »Schade. Ist es wahr, daß du aus deinem Haus ausziehst?« »Ja, am Freitag. Wer hat dir das gesagt?« »Das weiß ich nicht mehr. Es heißt, der Buchhalter Weißgerber habe es gemietet. Stimmt das?« »Ja, aber ich begreife nicht, wie das bekannt geworden ist.« »Wahrscheinlich hat er es selbst erzählt, warum auch nicht? Woll test du ein Geheimnis daraus machen? Das sähe dir ähnlich. Du bist immer eine Heimliche gewesen. Zuerst hat man nicht einmal gewußt, daß du geschieden bist. Du ließest dich seelenruhig mit Fräulein an reden.« »Ich habe das nicht für wichtig gehalten«, erklärte Mildred abweh rend. »War es schön in Amerika?« fragte Mona. »Herr Weiler hat uns er zählt, daß Sie dorthin geflogen sind. Geht es Ihrem Vater besser?« »Nein. Er ist gestorben.« »Oh! Aber Sie tragen ja gar keine Trauer?« 248
»Er hätte das nicht gewollt.« »Aber es ist doch Sitte bei einem so nahen Verwandten. Wenn mein Vater stürbe, wäre es mir ein Bedürfnis, Schwarz zu tragen«, erklärte Heli, deutlich schockiert. »Das ist doch nur eine Äußerlichkeit und sagt gar nichts darüber aus, ob man aufrichtig trauert oder nicht.« »Ansichtssache. Darf man fragen, ob du geerbt hast?« »Nein, das darf man nicht.« »Dann ist es entweder nichts oder so viel, daß du nicht darüber spre chen magst. Jedenfalls trägst du noch immer deinen alten Mantel.« »Warum auch nicht? Er ist warm.« Heli verzog geringschätzig den Mund. »Aber nicht mehr modern. Wenn ich nach Amerika fliegen dürfte, würde ich mir jedenfalls einen anderen besorgen.« »Lass sie doch in Ruhe, Heli«, schaltete sich Mona wieder ein. »Es ist ihre Sache, was für einen Mantel sie trägt. Du mußt dich immer in al les einmischen –« »Ich interessiere mich eben dafür. Da ist doch nichts dabei.« »Hat euer Magen noch Platz für ein Stück Torte? Ich lade euch ein, aber dann muß ich gehen. Die Zeit ist knapp für die viele Arbeit, die auf mich wartet.« »Wo ziehst du denn hin?« wollte Heli wissen. »Das sage ich euch, wenn ich in meiner neuen Wohnung bin. Ihr könnt mich dann einmal besuchen.« »Fein. Und am Freitag ziehst du also schon aus?« »Ja, um zwei Uhr. Für morgens früh habe ich keinen Camion mehr bekommen.« »Bist du froh, das Haus loszuwerden, wenn es wirklich so einsam liegt, wie du mir in Kandersteg erzählt hast?« »Sehr. Während dieser letzten Tage wohne ich bei einem Fräulein Geh ring, in der gleichen Straße. Sie hat mich eingeladen und hilft mir auch.« Mildred war im allgemeinen nicht sehr offenherzig mit Dingen, die sie betrafen. Wie hätte sie ahnen können, daß ihre sonst übliche Vor sicht gerade diesmal am Platze gewesen wäre? 249
Es war Freitag. Fräulein Gehring und Mildred hatten zusammen die letzten Sachen gepackt und nur draußen gelassen, was sie für einen frugalen Imbiss und eine Tasse Kaffee brauchten. Nach einem kleinen Abschiedsschwatz war Fräulein Gehring gegangen, um ihren Mittags schlaf zu halten, während Mildred das letzte Geschirr abgewaschen und verstaut hatte. Sie schaute gerade auf ihre Uhr: Es war halb zwei, als sie hörte, wie ein Schlüssel an der Haustür gedreht wurde. Freu dig eilte sie in die Diele. Sie glaubte nichts anderes, als daß Christo pher sich doch freigemacht hätte. Im nächsten Augenblick erstarrte sie vor Schreck: Bob Montero stand vor ihr. Er hatte sich sichtlich feinge macht, war sorgfältig rasiert und hatte sogar das Haar schneiden las sen. Er begrüßte sie mit einem breiten Grinsen. »Bist überrascht, was, Baby?« Mildred ermannte sich. Wenn der Möbelwagen pünktlich kam, wür de sie dieses hassenswerte Zusammensein nicht lange ertragen müs sen. Sie beschloß, ihn nicht unnötig zu reizen, allerdings auch, keine Bedingungen, die er ihr sicher stellen würde, anzunehmen. Mit Geld hätte sie ihn zwar nur zu gern abgespeist, aber sie wußte genau, daß sie ihn damit nicht loswurde. Jedes Mal, wenn es aufgebraucht war, und das ging bei Bob ziemlich schnell, würde er sie von neuem erpressen. Nein, das wäre keine dauerhafte Lösung. »Du bist ziemlich kühn, dich hier zu zeigen. Die Interpol sucht dich.« »Du bist ja gut unterrichtet.« »Ich erwarte jede Minute die Möbelträger. Es wäre gefährlich für dich, wenn sie dich sähen.« »Sie werden so schnell nicht hier sein«, sagte er mit selbstgefälligem Lachen. »Ein guter Freund von mir hat ihnen zwei Pneus durchge schnitten, und es ist der letzte Camion, der verfügbar ist. Wir haben also reichlich Zeit für unsere kleine Unterhaltung.« In Mildreds Hirn dämmerte die Wahrheit. »Ist dieser gute Freund etwa Heli Weiß' Liebhaber?« »Du merkst auch alles. Er ist meine Auskunftsstelle. Du warst so freundlich, dem Mädchen die Einzelheiten, die ich brauchte, zu erzäh len.« 250
»Pneus sind schnell gewechselt, wenn man sich darauf versteht«, ent gegnete Mildred und bemühte sich, ihm ihren Schrecken zu verbergen. »Ich habe den maßgebenden Mann dafür bezahlt, daß er nicht zu schnell arbeitet. Trotzdem wollen wir jetzt unsere Zeit nicht mit un nützem Reden vergeuden. Ich habe dir einen Vorschlag zu machen.« »Ich höre.« »Wie mein Gewährsmann in Amerika –« »Vinetti.« »Stimmt – mir telegraphiert hat, beträgt deine Erbschaft nach Ab zug der Steuern fast 800.000 Dollar. Es ist nur recht und billig, mir ein Viertel davon zu überlassen. Du siehst, ich bin bescheiden.« »Jetzt ein Viertel und dann noch dreimal eins, nicht wahr?« »Irrtum. Ich würde dich, wenn du mir dieses Geld überlässt, für im mer in Ruhe lassen.« »Ehrenwort, nehme ich an«, fand Mildred den Mut zu spotten. »Genau. Ich habe die Schenkungsurkunde vorbereitet, sie ist be reits von zwei Zeugen unterschrieben. Es fehlt nur noch deine Unter schrift.« Mildred schwieg. Sie mußte zuerst die Versuchung in sich nieder kämpfen, ihm nachzugeben, nur um sich von seiner verhaßten Gegen wart zu befreien. »Los, Baby, mach eine kleine Anstrengung. Du wirst mir nicht weis machen wollen, daß dir auf einmal viel an diesem Geld liegt.« Wie gut er sie doch kannte! Trotzdem war es für sie ausgeschlossen, seiner Forderung nachzugeben, die nur eine von vielen sein konnte. »Oder möchtest du jetzt vielleicht doch lieber, daß wir wieder heira ten?« fragte er, unentwegt freundlich. »Du brauchst nur einen Ton zu sagen, und die Sache ist perfekt. Natürlich mit Gütergemeinschaft, das versteht sich von selbst.« »Hast du noch immer nicht gemerkt, wie widerwärtig du mir bist?« fauchte sie angeekelt. »Schade. Es hätte die Dinge vereinfacht. Aber so, wie es jetzt um mich steht, bleibt mir keine Zeit zu warten, bis du deine Meinung ge ändert hast. Zweihunderttausend Dollar, und du bist mich los!« 251
»Rechne nicht damit!« sagte sie und schaute heimlich auf die Uhr. Bob sah es und kontrollierte nun auch die seine. »Genug Zeit verloren«, sagte er darauf energisch. »Unterschreibe!« »Nie unter Zwang. Du kannst ja meine Unterschrift fälschen, es wäre nicht das erstemal. Ich fürchte nur, daß meine Anwälte sie durch einen anerkannten Experten prüfen ließen.« Er erwiderte zunächst nichts, packte sie aber und schleppte sie zu einem Stuhl am Tisch. Er legte die vorbereitete Schenkungsurkunde vor sie hin und drückte ihr einen Stylo in die widerstrebende Hand. Mildred fiel auf, daß sogar die Stempelmarken schon aufgeklebt und entwertet waren. Er hatte nichts vergessen. Unvermittelt sah sie rot in einem Grad, der sie gleichgültig machte für das, was ihr geschehen konnte. »Du irrst dich, wenn du meinst, ich sei noch das willensschwache Geschöpf, das du einmal manipuliert hast. Ich unterschreibe diesen Wisch nicht!« Bobs Augen verengten sich zu Schlitzen, und eine starke Röte über flutete sein Gesicht. Mildred kannte diese Anzeichen. »Das werden wir sehen.« Mit einem Ruck riß er aus seiner Brustta sche eine starke Schnur. Während sie einen Augenblick vor Furcht ge lähmt war, hatte er die vorbereitete Schlinge schon über sie geworfen. »Willst du mich erwürgen?« fragte sie heiser. »Nein, nur fesseln. Erwürgt nützt du mir nichts mehr.« Mildred glaubte ihm nicht. Als sie ihn reizte, hatte sie damit gerech net, daß er sie erschießen könnte. Bei einer seiner schnellen Bewegun gen hatte sie deutlich gemerkt, daß er seine Pistole in einem Halfter unter der Jacke trug. Oft genug hatte sie in der Vergangenheit mit an sehen müssen, wie er ihn umschnallte. Ein einziger Schuß, aus solcher Nähe abgegeben, würde genügen, sie auf der Stelle zu töten. Dann hätte sie Ruhe. Aber erwürgt wollte sie um keinen Preis werden. Ihre Arme waren mit in der Schlinge, eng an ihren Körper gepresst, doch sprang sie auf und begann, sich mit Fußtritten zu wehren. Einmal krümmte er sich vor Schmerz, dann hatte er sie wieder im Griff und fesselte sie trotz ihres verzweifelten Widerstandes an den Stuhl, so daß sie nicht 252
mehr aufstehen konnte. Er war stark und tat diese Schmutzarbeit nicht das erstemal. Sie war in jeder Hinsicht die Unterlegene. »Ich rate dir gut, nimm Vernunft an! Du hast überhaupt keine Chan ce, gegen mich anzukommen.« »Nimm doch deine Pistole heraus und erschieße mich!« schrie sie außer sich. »Hauptsache, ich habe meinen Frieden – für immer …« »Das könnte dir passen. Ich sehne mich nicht nach dem elektrischen Stuhl. Meine Methoden sind bedeutend raffinierter, aber nicht weniger wirksam, Verlass dich darauf!« Mildred hob den Kopf. Sie hatte draußen einen Wagen gehört, und Bob ebenfalls. Er ging zu der bisher offen stehenden Tür zur Diele und lehnte sie an. Dahinter blieb er stehen und lauschte, die Hand an der Pistole. Mildreds jähe Hoffnung erlosch, und sie betete innerlich, es möge auf keinen Fall Christopher sein. Im nächsten Augenblick ent fernte sich das Motorengeräusch jedoch in Richtung Stadt. Es war nur jemand gewesen, der seinen Wagen auf dem kleinen Rondell gedreht hatte. »Hast dich zu früh gefreut, Baby«, sagte er mit einem teuflischen Grinsen. »Immerhin ist jetzt keine Zeit mehr zu verlieren. Ich will dir genau erklären, was mit dir passiert, wenn du nicht unterschreibst. Siehst du diese Flasche hier? Ich habe Vitriol hineingefüllt. Wenn ich dir das ins Gesicht werfe, wirst du nicht nur große Schmerzen aus halten müssen, sondern auch für dein Leben entstellt sein. Außerdem verlierst du wahrscheinlich das Augenlicht. Und das alles für lumpi ge 200.000 Dollar, die du gar nicht brauchst. Wie gefällt dir eine sol che Aussicht?« Mildred zitterte jetzt vor Angst. Wie hypnotisiert starrte sie auf das Fläschchen in Monteros Hand. »Du bist ein Teufel! Wärst du wirklich einer so grässlichen Gemein heit fähig? Ja«, beantwortete sie sich gleich selbst die Frage, »du wärst es.« »Gut, daß du es einsiehst. Ich lege aber keinen gesteigerten Wert auf diese Behandlung. Du brauchst bloß zu unterschreiben, dann kannst du vergessen, was ich dir angedroht habe.« 253
»Du wärst imstande, es doch noch zu tun, auch wenn ich unter schrieben hätte«, schrie sie hasserfüllt. »Ich traue dir nicht.« »Ich gebe dir mein Ehrenwort –« »Das eines Verbrechers!« »Wenn es dir wohl tut, mich so zu nennen, nur zu! Ich bin nicht empfindlich. Aber jetzt mußt du dich entschließen. Ich gebe dir« – er sah wieder auf seine Uhr – »noch fünf Minuten Zeit zu überlegen. Än derst du bis dahin deine Haltung nicht, bist du selbst schuld an dem, was dann geschieht.« Er angelte sich mit einem Fuß einen Stuhl her an und ließ sich darauf nieder, fast durch die ganze Länge des schma len Zimmers von ihr getrennt. Entspannt lehnte er sich zurück und be gann zu pfeifen. Mildred wäre in diesem Augenblick zu einem Mord fähig gewesen. »Warum«, dachte sie verzweifelt, »habe ich nicht ver sucht, seine Pistole zu fassen, solange meine Hände noch frei waren? Bestimmt hätte ich dann eine Chance gehabt.« Die fünf Minuten verstrichen. Bob stand auf und entkorkte das Fläschchen. Mildred schrie wie noch nie in ihrem Leben. Er weidete sich an ihrem Entsetzen, und seine ganze angeborene Grausamkeit lag in seinem Blick. »Nun, Baby, unterschreibst du?« fragte er und machte ein paar Schritte auf sie zu. Mildreds Widerstandskraft brach zusammen. »Ja«, flüsterte sie. Es war nur noch ein Hauch, dann verlor sie für wenige Minuten das Bewußtsein. Sie kam wieder zu sich, weil die Luft erfüllt war von einem tierhaften Schmerzgebrüll. Am Boden wand sich, nicht weit von ihr, Bob, und hinter ihm stand mit ge fletschten Zähnen ein großer, schwarzer Hund. Unter der Tür sah sie Weißgerber, den Buchhalter. Sie hatte sich noch nicht klarma chen können, was geschehen war, als Montero seine Pistole heraus riss und damit zu schießen begann, vor allem in die Richtung, in der er Mildred glaubte. Anscheinend war er aber nicht imstande, sie zu sehen, denn er hielt die Augen fest geschlossen und fuhr fort zu brüllen. Seine Hände zitterten so stark, daß er die Waffe kaum hal ten konnte. Für Weißgerber war es ein leichtes, sie dem nahezu Blin den zu entreißen. 254
»Was geht hier eigentlich vor?« fragte er entgeistert. »War es dieser Kerl, der Sie gefesselt hat?« Mildred schluchzte haltlos. »Er wollte mir Vitriol ins Gesicht spritzen –« »Dann muß es in der Flasche gewesen sein, die er in der Hand hielt, als Brutus ihn von hinten ansprang und zu Fall brachte. Sie ist zerbro chen, und er scheint mit dem Gesicht in die Lache und die Scherben gestürzt zu sein. Kein Wunder, daß er so schreit.« Montero hörte unvermittelt auf zu brüllen. »Wasser!« röchelte er, »abwaschen und dann Öl. Schnell doch, zum Teufel, ich werde vor Schmerzen fast verrückt.« »Trauen Sie ihm nicht!« warnte Mildred. »Sobald er wieder sehen kann, wird er Sie fertigmachen.« »Dazu gehören zwei«, brummte Weißgerber. »Da ist ja auch noch Brutus. Daß der mir bloß nicht in das Zeug hineintritt! Ich schnei de jetzt Ihre Schnüre durch, dann können Sie Wasser holen. Ich bleibe hier und bewache ihn.« »Glauben Sie, er hätte auch nur das geringste für mich getan?« frag te Mildred hart. »Nie im Leben. Das, was er jetzt leidet, hatte er mir zugedacht. Er kann wahrhaftig kein Mitleid von mir erwarten.« Und, nachdem ihre Fesselung gefallen war: »Wie kommen Sie bloß hierher, Herr Weißgerber?« »Oh«, sagte er ein wenig verlegen, »ich war neugierig, wie die Zim mer ausgeräumt aussehen. Da ich mir frei genommen hatte und Bru tus ohnehin einen Auslauf schuldig war, außerdem dachte, es sei um diese Zeit schon das meiste verladen, bin ich eben hergekommen. Als ich keinen Möbelwagen sah, glaubte ich, er sei schon fort, es ist ja halb drei, und es war nicht viel auszuräumen. So habe ich aufgeschlossen, Herr Witt hatte mir seinen Schlüssel gegeben.« »Verdammter Hundsfott!« knirschte Montero, »das zahle ich dir heim!« »Dafür werden Sie vorläufig keine Gelegenheit haben«, sagte Weiß gerber so ungerührt, daß Mildred ihn bewunderte. Er drückte Bob, der herumzutappen begann, um selbst die Küchentür und den Zugang 255
zum Wasser zu finden, in einer Ecke auf einen Stuhl und befahl Bru tus, auf ihn aufzupassen. »Mit was könnte ich das Zeug aufwischen, Frau Simons? Ich möchte nicht, daß der Hund Schaden nimmt.« »Sie dürfen es auf keinen Fall berühren«, warnte Mildred und frag te sich, wie sie Abhilfe schaffen könnte. Dann fiel ihr plötzlich das Kat zenkistchen in der Dachkammer ein. Sie holte es und streute das Säge mehl über die Flüssigkeit, die bereits die Fransen ihres Teppichs ange fressen hatte, und einen häßlichen Flecken in das Parkett brannte. »So, jetzt können wir es mit einer Schaufel wegtragen.« Montero hatte die ganze Zeit entweder gewimmert oder die unflä tigsten Flüche ausgestoßen. Er hörte, was vor sich ging, und konnte es nicht fassen, daß Mildred sich, unempfindlich für seine Schmerzen, um den Boden kümmerte, statt um ihn. »Holst du jetzt endlich Was ser, du gottverdammtes Weibsstück«, schrie er in die Richtung, aus der ihre Stimme ihn erreicht hatte. Mildred hantierte mit Schaufel und Be sen, ohne sich um ihn zu kümmern. Sie war keineswegs grausam von Natur, aber mit diesem Verbrecher konnte sie einfach kein Mitleid ha ben. »Zuerst muß ich Telefonieren. Herr Weißgerber, lassen Sie ihn ja nicht aus den Augen. Am besten nehmen Sie die Pistole in die Hand, aber fassen Sie sie mit einem Tuch an, falls Vitriolspritzer darauf haf ten sollten.« »Ja, es ist auch besser wegen der Fingerabdrücke«, gab Weißgerber ihr recht. »Sie wollen wohl die Polizei anrufen?« »Zuerst Christopher Witt. Er wird dann das Nötige veranlassen.« In der Diele taumelte sie, am Ende ihrer Kräfte, gegen die Wand. Jeder einzelne Finger schien sich dagegen zu sträuben, die Nummer einzustellen. Als Christophers Stimme sich meldete, verließ sie ihre krampfhafte Beherrschung von neuem. Aus ihrem wilden Schluchzen konnte er nichts entnehmen, wußte aber sofort, wer am Apparat war. Sie hatte ihm alles erzählen wollen, war aber unfähig dazu. Das ganze Entsetzen fiel wieder über sie her, und ihre Zähne klapperten wie im Schüttelfrost. »Bob – Vitriol – Polizei«, stammelte sie unzusammenhängend. Chri 256
stopher erschrak dermaßen, daß er, einem Reflex gehorchend, der ihn drängte, keine Zeit zu verlieren, den Hörer auflegte. Er war aschfahl und mußte sich anstrengen, um einigermaßen verständlich zu spre chen, als er seiner Sekretärin die nötigen Anweisungen gab. »Telefonieren Sie sofort ins Polizeipräsidium und verlangen Sie In spektor Heuß oder seinen Stellvertreter. Das Überfallkommando soll sofort in die Finkenstraße 36 ausrücken, zu Frau Simons' Haus, ein Arzt muß unbedingt mitfahren. Wenn man Sie nach Einzelheiten fragte, sagen Sie, ich wisse auch noch nichts Genaues, aber es müsse etwas Schreckliches geschehen sein. Ich fahre jetzt sofort hin. Schnell, rufen Sie an, verlieren Sie keine Minute, sie – sie könnte in Lebensge fahr sein …« Bevor das erschrockene Mädchen eine Frage stellen konnte, war er draußen. Es rächte sich nun, daß er immer zu Fuß in die Textilia kam. Aber einen Wagen mußte er haben. Ohne Skrupel schaute er nach, an welchem der Zündschlüssel steckte, und startete unverzüglich. Für Er klärungen war jetzt keine Zeit. Trotz seiner fieberhaften Eile machte er einen kleinen Umweg, um die meisten Verkehrslichter zu vermeiden. Er überschritt bei weitem die erlaubte Geschwindigkeit, aber das war ihm jetzt gleichgültig. Nach einer Viertelstunde schoß er um die Kurve der Finkenstraße und wäre beinahe mit dem Möbelwagen zusammengestoßen, der dort auf dem Rondell stand. Das aufgestellte Pannendreieck hatte er übersehen. Mit einem Satz war er draußen. Jetzt hörte er auch bereits das Sirenenge heul des Überfallwagens, der sich rasch näherte. Er ließ sich nicht Zeit, seine Ankunft abzuwarten, sondern stürzte ins Haus. Alle Türen stan den offen. Zusammengesunken in einem Stuhl sah er einen wimmern den Mann, der sich den Kopf hielt, wahrscheinlich Montero. Jemand hatte ihn anscheinend außer Gefecht gesetzt. Vor ihm saß Brutus. Er drehte nur einmal kurz den Kopf nach dem Ankömmling, wedelte mit dem Schwanz, verließ aber seinen Posten nicht. Jetzt kam Weißgerber aus der Küche, eine Schaufel in der Hand. »Hier geht es zu wie in einem Wildwest-Film«, brummte er. Christo pher hätte ihm ansehen können, wie stolz er auf seine Rolle war, wenn 257
er jetzt für anderes Sinn gehabt hätte als für Mildred. Er sah sie nir gends. »Wo ist sie, um Gottes willen? Was ist ihr geschehen?« schrie er Weißgerber an. »Nichts im Vergleich zu dem, was ihr ohne mein Dazwischenkom men geblüht hätte. Ich habe ihr geraten, sich einen Augenblick oben hinzulegen, bis ihr das Bett weggenommen wird. Sie wäre mir sonst zusammengeklappt. Gehen Sie hinauf, sie wird Ihnen alles erzählen.« Das Polizeiauto war nun herangekommen und stellte sich parallel zum Möbelwagen. Heuß sprang mit drei uniformierten Beamten her aus, etwas gemächlicher folgte der Polizeiarzt mit seinem Köfferchen. Christopher hätte warten und erklären müssen, aber dazu war er nicht imstande. Sie sollten sich an Weißgerber wenden, der ohnehin besser informiert war. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte er die Treppe hinauf. »Mildred, wo bist du?« schrie er, obschon er hier Bescheid wußte. Er mußte aber um jeden Preis ihre Stimme hören, um sicher zu sein, daß sie lebte. »Hier, Christopher!« Bei seinem stürmischen Eintritt richtete sie sich auf. Ihr Gesicht war vom Weinen verquollen. Sie stand noch deutlich unter dem erlittenen Schock. Er nahm ihren zitternden Körper in seine Arme und preßte ihn an sich. »Daß du lebst! … Ich hatte solche Angst … bist du unverletzt?« »Ja, Christopher. Gott hat mich noch einmal behütet. Er muß doch ein besonderes Auge auf mich haben –« »Er schützt dich, weil du ein guter Mensch bist.« »Vorhin war ich es nicht. Brutus hat Bob angesprungen, und er ist in das Vitriol gefallen, das er mir zugedacht hatte. Er schrie nach Wasser, aber ich habe mich geweigert, es zu holen. Er leidet jetzt die schreckli chen Schmerzen, die er mir zugedacht hatte. Ich konnte mich einfach nicht überwinden, ihm zu helfen. Verstehst du das, Christopher?« »Wenn du das über dich gebracht hättest nach allem, was er dir ange tan hat, wärst du ein Engel und kein Mensch, Mildred, ich –« 258
Er wurde von einem Mann unterbrochen, der die Tür aufstieß, um nachzuschauen, was hier wegzutragen war. Wütend schloß Christo pher sie ihm vor der Nase zu. »In fünf Minuten, nicht eher!« Dann wandte er sich wieder Mildred zu. Zart, als sei sie zerbrechlich, küßte er sie auf den Mund. »Ich liebe dich, Mildred, vielleicht schon lange, ich habe es mir nur als eingefleischter Junggeselle nicht eingestehen wollen. Aber jetzt habe ich das überwunden. In drei Wochen können wir von mir aus aufs Standesamt, wenn du einverstanden bist?« Sie nickte strahlend. »Der plötzliche Übergang von der Hölle zum Paradies läßt mich ja kaum zu Atem kommen …« »Hauptsache, es bleibt noch genug, um dort ›ja‹ zu sagen – in drei Wochen …«
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