Anreuth, Zelle 211
Nach Tatsachen frei gestaltet von
ER. GREULICH
VERLAO NEUES LEBEN BERLIN 1963
itten in seinen ...
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Anreuth, Zelle 211
Nach Tatsachen frei gestaltet von
ER. GREULICH
VERLAO NEUES LEBEN BERLIN 1963
itten in seinen Freiübungen hielt Veit Treuffert inne und lauschte. Die Schritte kannte er, das Knarren jener Stiefel. Die Gefan genen sagten: Kohlrausch kauft sich extra Schuhzeug, das laut ist. Kohlrausch gehörte nicht zu den Wachtmeistern, die auf Gummisoh len durch die Gänge schleichen und heimlich durch die Spione spähen. Jetzt klirrte ein Schlüsselbund. Er wartungsvoll stellte sich der Häft ling unter das Fenster. Kohlrausch trat in die Zelle 211, schnelle Blicke seiner verschmitz ten Äuglein wanderten durch das Gelaß. „Die Kette des Wandbetts ist mit dem ersten Glied einzuhaken, verstanden?" schnauzte er laut. Einen Augenblick wollte der Häftling aufbegehren, denn die Kette war vorschriftsmäßig einge hakt. Dann sah er das Grin sen Kohlrauschs und trompetete ebensolaut: „Jawohl, Herr Ober wachtmeister!" In verändertem Tonfall, beinah gemütlich, fragte Kohlrausch: „Alles in Ordnung, Treuffert?" „Alles", erwiderte der Gefangene, innerlich gespannt, was Kohl rauschs Erscheinen bedeuten solle. „Dann wollen wir mal gehen", sagte Kohlrausch und ließ ihn aus der Zelle treten. Während Treuffert vor dem Oberwachtmeister her trabte, überlegte er: Ein neues Ver fahren, um die Haft endlos auszu dehnen? Vernehmung als Zeuge in einem Neben verfahren? Für die Politischen hielt der Verfassungs schutz gern etwas in petto.
Es war den Gefangenen verboten, die Bewachenden anzusprechen, und kein alter Hase war so dumm, dies in den Zuchthausgängen zu versuchen. Aber als sie über den Hof gingen, murmelte Treuffert: „Was werden sie nun wieder aus geheckt haben?" Ebenso gedämpft entgegnete Kohl rausch: „Ihre Braut ist da." Treuffert unterdrückte einen Freu denlaut. Ehe er einen Dank mur meln konnte, fuhr Kohlrausch fort: „Höckler hat die Aufsicht." Das Gesicht des Gefangenen ver finsterte sich. Höckler war als einer der jüngsten des Wachpersonal» bereits Hauptwachtmeister, und dies nicht zufällig. Gegen ihn war Kohlrausch ein Fossil — ein Fossil mit Herz. Hoffentlich ist Sabina dem Höckler gewachsen, dachte Veit Treuffert Sie gingen durch den kühlen, halbdunklen Gang mit den blank gebohnerten Fliesen. Kohlrausch schlug leicht mit dem Schlüssel bund gegen die Tür des Ganges, öffnete sie und schaute hinein. Er ließ Treuffert eintreten, machte eine kurze Bemerkung und ver schwand. Veit war einen Augenblick wie benommen. Dort stand Sabina. Da3 Licht des Fensters fiel auf sie, und er dachte: Herrgott, ist sie schön. Mit einem Freudenruf stürzte sie auf ihn zu und beugte sich weit über-den Tisch, der zwischen ihnen stand. Instinktiv machte er es eben so, und während sie ihn heftig an sich zog und küßte, flüsterte sie: 3
„Zwischen den Spiegel schauen." „Nö, nö, Herrschaften, was den ken Sie, wozu der Tisch da steht", rief Höckler. „Nach den Bestim mungen der Strafvollzugsordnung muß ich Sie jetzt nach Hause schik ken", fuhr er Sabina an. Ihre großen Augen nahmen ihn fest in den Blick. „Verzeihen Sie. Aber wenn man sich so lange nicht gesehen h a t . . . Kurz vor unserer Hochzeit wurde mein Verlobter verhaftet." Höckler zog den Stuhl ein Stück vom Tisch ab. „Hier haben Sie zu sitzen. Und versuchen Sie nicht am Schluß den gleichen Trick." Sein Ton wurde einen Grad schärfer, als er zu Veit sagte: „Sie hätten alle Ur Bache, sich zusammenzunehmen. Ob ich Meldung mache, hängt von Ihrem weiteren Verhalten ab." „Jawohl, Herr Hauptwachtmei ster", schnarrte Veit beflissen. Sa bina sollte Höcklers Rang wissen, treiwillig „Lebenslängliche" fühlen
sich durch die Anrede „Wärter" be leidigt. Sabina ließ keine peinliche Pause aufkommen. Sie erzählte Belang losigkeiten und Wichtiges schein bar wirr durcheinander. Sie gab sich unbefangen, tat ein wenig naiv. Veit fand es bezaubernd und glaubhaft. Ein Blick auf Höckler bestätigte es. Der kaschierte sein Interesse mit neutraler Zurückhal tung. Lässig entnahm er einer Pak kung „Golddollar" eines der schlan ken Stäbchen und stieß süßlich duftende Wolken in den Raum. Jetzt verstößt e r gegen die Vor schriften, dachte Veit, und möchte mich zu der Frage provozieren, ob ich nicht auch rauchen darf. Höck ler betrachtete Sabina verstohlen. Beinahe Mannequin-Figur, taxierte er, wie mag sie zu dem Kommu nisten gekommen sein? Ihr Nylon mantel letzte Mode, unauffällig elegant. Die Frisur wie zu ihrem Gesicht entworfen, endlich mal
kein Jungenkopp wie die mit dem ewig beknabberten Schnittlauch. Sabinas Plaudern gab Veit Ge legenheit, sich zu sammeln. Wo es ihr angebracht schien, suchte sie Höckler mit ins Gespräch zu zie hen. „Du siehst blaß aus, Veit. Kommt denn nicht ein bißchen Sonne in die Zellen, Herr Haupt wachtmeister?" Höckler grinste, halb geschmei chelt, halb hämisch, ,,'nen Swim mingpool haben wir hier nicht. Hat Treuffert Pech gehabt, daß er nicht in einer modernen Haftanstalt ein sitzt." Sabina berichtete, daß die Ver wandtschaft erschüttert sei über die hohe Strafe, über die Ablehnung der Revision. Alle seien der Mei nung, das letzte Wort wäre noch nicht gesprochen. Auf keinen Fall werde Veit die dreieinhalb Jahre abmachen. Höcklers aufbegehrende Geste erstickte sie mit den Worten: „Ich weiß, Herr Hauptwachtmei ster, über den Prozeß darf mit dem Gefangenen nicht gesprochen wer den. Ich habe ja auch nur gesagt, was die Verwandtschaft denkt, nicht wahr?" Wenn Sabina „Verwandtschaft" sagte, meinte sie die Genossen. Trotz des kühlen Raumes verbrei tete sich wohltuende Wärme in Veit. Er war stolz auf Sabina. Immer war ein Schatten auf ihrer Liebe gewesen; sie hatte von sei nem Kampf nichts wissen wollen. Ihr erster Brief nach seiner Ver haftung war so verzweifelt, daß er befürchten mußte, sie werde nicht durchhalten. Dann, nach seiner Verurteilung, schwang ein neuer Ton in ihren Zeilen, der sich in weiteren Briefen verstärkt und eine Wandlung Sabinas angekündigt hatte. In ihrem vorletzten Brief stand, daß sie um eine Sprech erlaubnis nachgesucht hätte. Doch Veit hatte an den Erfolg nicht ge glaubt. Jetzt machte es ihn um so glücklicher, da die Familie längst mit ihm gebrochen hatte und Sa
bina die einzige Verbindung zur Außenwelt bedeutete. Die Kumpel mußten sie sorgfältig instruiert ha ben. Steffen, der Wagehals, der einige Haftanstalten der Bundes republik von innen kannte; Timm und Mumme, die Umsichtigen; sicher alle, die ihn nicht vergessen hatten. Das löste ihn aus der Ver krampfung und ließ ihn selbst Fra gen stellen. Je kitzliger sie waren, desto harmloser formulierte er sie. Höckler legte seine Armbanduhr vor sich auf den Tisch. Wie er mit seiner teuren „Automatic" protzt, dachte Veit, wäre dieser Höcklel älter, er hätte KZ-Bewacher sein können wie der ehemalige SSMann Hauptwachtmeister Schrimpf aus dem B-Flügel, der sich zurück haltender gab, aber von den Gefan genen ebenso gehaßt wurde wia Höckler. „Die zwanzig Minuten sind gleich um", verkündete Höckler. „Um Gottes willen", sagte Sabina mit gespieltem Erschrecken, „ich habe noch so viel auf dem Herzen, geht Ihre Uhr auch nicht vor, Herr Hauptwachtmeister?" Höckler wurde dienstlich. „Bitte, verabschieden Sie sich. Aber mit Abstand, sonst..." Veit stand auf und trat absicht lich einen Schritt zurück. Seine Blicke saugten sich an Sabinas Ge sicht fest. Er hob seine Hand, ein Winken andeutend, und die Bewe gung erstarb in einer hilflosen Geste. Sabinas Augen füllten sich mit Tränen. Sie strich sich über das Gesicht und lächelte tapfer. Plötzlich erstarrte sie in einem echten Schreck. „O Gott, ich hab ja die ganze Handtasche voll schö ner Sachen. Bekommen Sie die erst, oder kann ich sie meinem Verlob ten gleich geben?" Sie stand vor Höckler, in der einen Hand eine große Banane, in der anderen ein Päckchen. „Tabak mit Zigaretten papier." Höckler zupfte seine Mütze forsch zurecht und sah die Bittende 5
nicht an. „Geben Sie es vorn ab. Darüber entscheidet der Direktor." Nun hielt Sabina schon etwas an deres in der Hand. „Und dieser Ra sierspiegel, muß der auch e r s t . . . ? Mein Verlobter hat ihn ordnungs gemäß im letzten Brief angefor dert." „Das weiß doch der Hauptwacht meister." Veit tat vorwurfsvoll und hatte damit richtig gezielt. Höekler nahm den Spiegel und besah ihn. „Teures Stück. Viel zu schade für — für Anreuth." Gnädig reichte er Veit den Spiegel über den Tisch. „Wenn Kohlrausch fragt, ich hab's erlaubt." Dann wies er Sabina mit einer beinah höflichen Handbewe gung zur Tür. Kohlrausch nahm Veit wieder in Empfang. Er kniff ein Auge zu und sagte: „Na?" „Es war die schönste Überra schung, Herr Oberwachtmeister." „Glaub ich." Kohlrausch kniff das andere Auge zu. „Ich gönn' sie Ihnen." Schweigend gingen sie durch die Zellengänge, und der jüngere hätte Jetzt um keinen Preis mit dem älteren getauscht. Sabina trat aus dem trostlosen Raum und tupfte sich die Tränen vom Gesicht. Ein anderer Wacht meister nahm sie in Empfang. „Donnerwetter, hat's der Haupt wachtmeister genau genommen. Nicht eine Minute über die Zeit." Dankbar lächelte Sabina. „Ich muß noch zur Direktion, einiges ab geben." „Na, dann kommen Sie, das machen wir schon." Nebeneinander gingen sie über den Hof. Unauffällig sah sich Sa bina um, verglich alles mit der Schilderung des alten Genossen. Überall peinliche, graue Sauber keit. Unter dieser glattgeleckten Oberfläche so viel schmutziges Un recht. Es schüttelte sie innerlich. Als sie ins Direktorenhaus traten, wieder der Geruch nach Staub, 6
Bohnerwachs und abgestandenem Essen. Muff verlorener Jahrzehnte. Der Wachtmeister brachte Sabina Ins Zimmer des „Zuständigen". „Das Fräulein möchte was für Treuffert abgeben." Der Schreibende hob gleichgültig den Blick. „Um was handelt es sich?" Sabina legte alles auf die Bar riere. „Wird es Herr Treuffert noch heute bekommen?" Nun schon ein wenig ungnädig, schaute der Mann abermals von seiner Schreibarbeit auf. „Wann und ob, darüber entscheidet der Herr Direktor, meine Dame." „Darf ich bitte den Direktor spre chen?" „Ab drei Uhr. Ist eine Aufstel lung dabei?" Sabina trennte eine Seite aus ihrem Notizbüchlein und schrieb alles auf. Dabei hatte sie Gelegen heit zu überlegen. Sie beschloß sich die Möglichkeit offenzuhalten. Wäh rend sie die, Aufstellung übergab, sagte sie: „Ich werde mich erkun digen, ob ich da noch einen Zug bekomme. Dann müßte man sich um drei wieder in diesem Zimmer melden?" Der Mann überlas die Aufstel lung und nickte nur. Dann be quemte er sich zu dem Satz: „Es ist möglich, daß Sie nur den Stellver treter des Direktors sprechen kön nen." Sabina ärgerte sich und grüßte trotzdem höflich. Es ging um Veit, nicht um ihren Ärger. Der Wacht meister brachte sie ans Tor. „Wenn Sie nicht mehr kommen, Fräulein chen, wir werden schon schauen, daß Herr Treuffert die Sachen kriegt. Bomben oder heimliche Briefe werden Ja nicht dabeisein." Sabina mußte lächeln und dachte: Das für euch Gefährliche hat er be reits. Sie war angenehm berührt. „Ich danke Ihnen. Wenn es nach mir ginge, säßen Sie im Büro, und der dort müßte Ihren Dienst tun." Der Beamte wurde verlegen. „Der sieht nicht so viel wie unsereins.
Bürodienst macht blind. Überhaupt, wenn einer schon vor fünfundvier zig den Sessel gedrückt hat." Höf lich grüßte er und schloß die kleina eiserne Seitentür. Voll bitterer Gedanken ging Sa bina die schattige Allee hinunter. Interessant, wieviel Altgediente wia viele Sessel drückten. Die einen sprachen Recht, die anderen paß ten auf, daß dieses eigenartige Recht zu seinem Recht kam. Des halb war es hundertmal richtig, Veit herauszuholen. Der Gedanke brachte sie wieder auf den Auftrag der Freunde, soviel wie möglich von den ' Ortsumständen auszu kundschaften. Sie blieb stehen und sah sich um. Der frühe Augustvor mittag war noch angenehm kühl unter den schattigen Kastanien, roch nach Tau, Gras und Erde. Viel deutlicher kam ihr nach dem Be such zum Bewußtsein, wie schön die Welt war. Jedes Stück Welt, wenn es nicht durch Gitterstäbe zerteilt wird. Der Blick zurück ver tiefte diese Empfindung. Die dunk len Ziegelbauten, das große Haupt tor mit den kleinen Nebentüren, alle aus schwerem Eisen, erinner ten an eine uneinnehmbare Fe stung. Sabina seufzte. Da heute nachmittag noch einmal hinein? Dann schämte sie sich dieser An wandlung. Veit lebte dort. Es ging weniger um die paar Apfelsinen und Bananen als um einen Vor wand, sich länger in Anreuth auf zuhalten. Entschlossen öffnete Sa bina ihr Handtäschchen, zog die Mundiinien nach und lächelte sich im Taschenspiegel Mut zu. Rasch irgendwo einen kleinen Imbiß, und dann eine Wanderung rund um das Zuchthaus. Das kleine Cafe" war behaglich modern und um diese Zeit fast leer. Kaum hatte Sabina bei der Servie rerin ein Frühstück bestellt, als ein flotter Mann, Ende zwanzig, ins Lokal trat und auf ihren Tisch zu steuerte. „Darf man?" Sabina lächelte spöttisch. „Wenn
Sie meine Gegenwart nicht stört Immerhin gibt es hier viel unbe setzte Tische." „Ich sitze lieber In Gesellschaft Überhaupt in so angenehmer und bekannter." Ohne Hemmungen lachte er sie an. Sabina betrachtete ihn aufmerk sam. „Fast möchte ich sagen, der alte Trick. Aber um ehrlich zu sein, Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor." „Alfred Wellmann", sagte er, „Abteilungssportwart bei BlauWeiß. Meine Bekannten nennen mich zeitgemäß Freddy." „Setzen Sie sich, Freddy." Kon taktarm ist der nicht, dachte Sabina und erinnerte sich an die Warnun gen der Freunde. Um so unbefan gener bemühte sie sich um spötti sche Wehmut. „Wo sind sie hin, die schönen Tenniszeiten. Damals war man noch ein argloser Backfisch." Wellmann bestellte etwas und betrachtete Sabina wohlgefällig. „Jetzt sind Sie eine junge Dame und noch schöner geworden." Reichlich unverfroren, dachte Sa bina ärgeiiich-amüsiert und sagte: „Stecken Sie einen Groschen in die Music-Box, die Platten dort sind auch nicht flacher." Er spielte Zerknirschung. „Ver zeihung, Sabina, ich werde mich um mehr Niveau bemühen. Aber Sie sind wirklich schöner geworden —• und Ihre Zunge noch' spitzer." „Die braucht man — bei Männern wie Sie." Auf seine Antwort ge spannt, fragte Sabina: „Welcher Zu fall hat Sie übrigens hierhergewir belt?" „Zufall?" Wellmann tat entrüstet, und der fromm-komische Augen aufschlag gelang ihm. „Fügung des Schicksals. Wenn Sie es genauer wissen wollen, ich stieg eben aus meinem fahrbaren Untersatz, als Sie hier eintraten. Da zog's mich mit Gewalt. Sie gefielen mir noch besser als damals im Tennisklub." „Daß man das nie bemerkt hat", spöttelte Sabina. 7
„Als Sportwart kann man jun gen Mädchen gegenüber nicht kor rekt genug sein", verteidigte sich Wellmann. Sabina lachte. „Absolution erteilt." Das Gespräch war erholsam nach dem düsteren Erlebnis im Zucht haus, Wellmanns Offenheit sympa thisch; Nach kurzer Zeit wußte Sa bina, daß sein Wagen erst später sein Wagen sein würde, wenn er ihn überhaupt je von dem Vertre tergehalt bei seiner Firma abstot tern könne, die ihn mit diesem An gebot fest an der Strippe habe. Als ehemaliger technischer Zeich ner und jetziger Vertreter für Bau maschinen suche er mit äußerem Anstand, innerem Zynismus und leidlichem Glück über jene Runden zu kommen, die man pathetisch das Leben nenne. Alles klang plausibel. Hätten Steffen und die Freunde sie nicht auf Mißtrauen trainiert, ihr wäre nie der Gedanke gekommen, Weli mann zu verdächtigen. „Ich kenne nun Ihr halbes Le ben", Sabina ließ offen, ob sie es ironisch meinte, „Sie sind sehr frei mütig." Er seufzte übertrieben. „Was soll ich tun? Sie haben mir verboten, Süßholz zu raspeln. Sie sind — hm, um uns ist viel Oberflächlichkeit. Mit wem kann man schon über Pro bleme sprechen?" Wenn er mich beschatten soll, macht er's geschickt, dachte Sabina, und die Worte Timms kamen ihr in den Sinn: Der Gegaer ist nicht blöd. Und was liegt näher als die Überlegung der Banditen, daß, wenn diese sogenannte Braut des Treuffert Sprecherlaubnis bean tragt, die Kommunisten dahinter stecken. Beschatten wir die Braut, so kriegen wir die Kommunisten. WTellmann hatte schon mehrmals verstohlen auf seine Armbanduhr geschaut. Um elf müsse er eine ge schäftliche Verabredung wahrneh men. Ob man sich nicht wieder sehen könne?
Sabina überlegte konzentriert. War er ein Schatten, würde sie ihn hier schwieriger abschütteln kön nen als in Düsseldorf. Gerade hier mußte sie ihn von den Fersen be kommen, was am besten durch eine Zusage für den Nachmittag zu er reichen war. Scheinbar zögernd sagte sie: „Ich habe hier ebenfalls noch zu tun, muß aber heute nach mittag zurückfahren." „Darf man erfahren, wohin?" Er sah sie beinah bittend an. „Nach Düsseldorf." „Großartig. Ich will heute abend wieder in Neuß sein. Da bringe ich Sie die paar Kilometer weiter. Wenn's sein muß, ohne Benzin beteiligung. Wie bin ich zu Ihnen?" „Wie ein Gönner", sagte sie iro nisch und fügte lachend hinzu: „Sagen wir hier wieder zwischen vier und fünf?" „Sie sehen mich glücklich, teuer ste Sabina." Er karikierte sich selbst und drückte den feschen Hut auf den Kopf. Durch den Gitter tüll vor den großen Scheiben sah Sabina, wie er schräg über den Damm zu seinem Wagen ging und kurz darauf davonpreschte. Auf alle Fälle war sie ihn für jetzt los. Sabina bezahlte und zog sich auf der Toilette die bequemen Sport schuhe an, die Hochhackigen in der Reisetasche verstauend, die sie der Serviererin in Verwahrung gab. Leichtfüßig verließ sie das Cafe und schlug den Weg ein, den sie vom Plan her kannte. Bei ihrer Wanderung bewunderte sie Steffen, Timm und Mumme noch mehr als damals, nachdem die drei anschließend an ihre Erkun dungsfahrt den Plan ausgearbeitet hatten. Sabinas Aufgabe war es heute nachzuprüfen, ob die Freunde irgend etwas übersehen hatten. Sie war guter Dinge in dem Gefühl, jetzt etwas für Veit zu tun. Wer immer sie anhalten mochte, sie konnte wahrheitsgemäß erklären, daß sie auf die Sprechstunde am Nachmittag warte. Sie wurde nicht
angehalten und war beinah er staunt darüber, da sie in geringer Entfernung von der riesigen Ring mauer entlangwanderte, die jene grauen Wabenbauten hermetisch gegen die Außenwelt absicherte. Über drei Meter hoch war die Mauer, und sie war ohne fremde Hilfe nicht zu bezwingen. Sie schenkte den Verantwortlichen einen ruhigen Schlaf, und das ergab eine beinahe laxe Durchführung des Hofwacht dienstes. Jener ältere Genosse kannte aus eigener Erfahrung den inneren Mechanismus des Zucht hauses Anreuth, von ihm wußten sie, wie es hinter der Mauer aus sah. Sabina verglich alles mit dem, was sie fest im Kopf hatte, und notierte sich im Gedächtnis kleine Verbesserungstips. Irgendwelche Veränderungen waren nidit festzu stellen. Befriedigt fand sie noch Zeit zu einem Mittagessen in einem kleinen Gasthof. um fünfzehn Uhr stand sie wie der vor jenem Bürokraten. Der lächelte hämisch, als er sagte: „Es tut mir leid, meine Dame, aber der Herr Direktor mußte überraschend nach Karlsruhe, und sein Stellver treter ist heute ebenfalls nicht an wesend. Wenn es Sie beruhigt, das v von Ihnen Mitgebrachte ist Herrn Treuffert bereits ausgehändigt wor den." „Ich danke Ihnen für Ihre prä zise Auskunft heute vormittag." Sa bina sagte es kühl und ging. Mit solchen Schikanen suchten sie auch die Angehörigen der Kommunisten zu treffen. In diesem Fall wußten sie nicht, daß sie Sabina trotzdem geholfen hatten. Ohne das Alibi der Sprechstunde hätte sie ihre Wande rung nicht so ruhig antreten kön nen. Das war tröstlich und schenkte das Gefühl berechtigter Schaden freude. Gemächlich schlenderte Sabina dem Städtchen zu. Sie hatte Zeit, sich in Gedanken mit Wellmann zu beschäftigen. Geneigt, ihn als den
zu nehmen, als den er sich gab, ver gaß sie keinen Augenblick, was man ihr eingehämmert hatte: Wer gegen die Praktiken dieses Staates anging, mußte jenen sechsten Sinn entwickeln, der Mißtrauen hieß. Trotzdem stand nichts dagegen, mit Wellmann zurückzufahren. Je un gezwungener sie sich gab, desto weniger Verdacht konnte er schöp fen, falls er ein Spitzel war. Es kam nur darauf an, nichts zu sagen, womit er etwas anfangen konnte. Es war noch nicht vier Uhr, doch Wellmann saß schon am alten Platz. Sichtlich erfreut begrüßte er Sabina. Der Kaffee wurde gebracht, und Sabina ließ sich ihre. Reise tasche von der Serviererin holen. Unauffällig prüfte sie und war sicher, niemand hatte die Tasche durchschnüffelt. Auch diese Vor sichtsmaßnahme hatte sie von Stef fen gelernt. Als sie aufbrachen, wollte Wellmann alles bezahlen. Lachend, aber bestimmt wies ihn Sabina zurecht und bezahlte das ihre. Auch dieses Wortgefecht be stritt Wellmann schlagfertig, doch Sabina spürte, wie ihm ihre reso lute Haltung imponierte. Er fuhr sicher und nicht über schnell. Sie sagte es ihm, und er freut behauptete er, bisher keinen so dankbaren Passagier befördert zu haben. Wieder kam er auf seine Einsamkeit zu sprechen. Nichts sei so schwer, wie Menschen zu fin den, wirkliche Menschen. Selbst verständlich gäbe es genug, aber alle trügen Masken. Und die besten ließen sich am wenigsten hinter die Masken schauen. Es ließe sich leichter ertragen, wenn man wenig stens einen guten Kameraden fände, eine Frau mit Herz und Verstand. Um abzulenken, fragte Sabina, ob seine Geschäftsfahrt Erfolg gehabt habe. Vielleicht, erklärte er, und dieses ewige Vielleicht sei so zer mürbend. Nie dürfe man eher jubilieren, als bis man den Vertrag in der Tasche
habe. Ob es aufdringlich sei, nach ihrem Beruf zu fragen? Sabina sagte die Wahrheit in groben Um rissen; daß sie sich als Kunstge werblerin über Wasser halte. Von ihrer Ausbildung als Stenotypistin sprach sie nicht, von der ständig die Freundesgruppe profitierte. Viel zu schnell für Wellmann waren sie in Düsseldorf. In der Nähe ihrer Wohnung ließ ihn Sabina halten. Wellmann drängte auf ein Wiedersehen. „Geben Sie mir Ihre Karte", sagte Sabina, „sollte meine Sehnsucht übermächtig werden, rufe ich Sie an." Weltmann tat es mit dem Seuf zer, ob sie ihm nicht wenigstens ihre Adresse sagen möchte. Sabina antwortete mit einem Zi tat. „Nur wer dem Zögernden die Entscheidung überläßt, gewährt ihm Freiheit." Lachend warf sie die Wagentür zu und entfernte sich freundlich winkend. Traurig schaute Wellmann ihr nach, und sie sah aufatmend, daß er davonfuhr. Die Freunde werden es heraus bekommen, dachte sie, ist er ehr lich, dann lohnt es, ihn für die gute Sache zu gewinnen. Veit Treuffert lag mit offenen Augen. Verbotswidrig, mitten am Tag, hatte er die Arbeit hingewor fen und das Wandbett herunterge lassen. Jutezupfen in Einzelhaft, diese triste Beschäftigung, gedacht als Strafverschärfung, war im Augenblick vergessen. Er kostete die zwanzig Minuten nach. Zum drittenmal in seinem schweren Le ben fühlte er sich als Glückspilz. Das erstemal, als er, achtzehnjährig, aus der Enge der kleinbürgerlichen Beamtenfamilie in die Weite der Jugendbewegung fand. Ihre Ideale und klaren Ziele hatten ihn begei stert, die wachsenden Anforderun gen der Freien Deutschen Jugend geformt. Vier Jahre war er dabei und bereits erfahrener Funktionär, als er die „Friedenskarawane" 1952 10
in Essen mit vorbereiten half. We nige Meter von ihm entfernt färbta Philipp Müllers Blut das Pflaster. Unter den peitschenden Schüssen der Polizei hatte er ein gestürztes Mädchen in die Deckung eines Sandkastens gerissen. Sabina war aus Neugier gekommen, hatte sei nen Mut bewundert und seinen Haß verabscheut. Grund genug zu hitzigem Streitgespräch, sich zu verabreden, sich öfter zu treffen. Zum Mitkämpfen gewann er sia nicht, aber als sie an jenem Som mertag endgültig zusammenfanden, glaubte er abermals, einer der Glücklichsten unter der Sonne zu sein, hoffend, sie würden auch in der Gesinnung bald eins. Bis zu sei ner Verhaftung hatte diese Hoff nung getrogen. Vorhin nun hatta er erlebt, daß auch das eingetroffen war. Drei Geschenke, sann er lächelnd vor sich hin, wie im Mär chen. Er wurde noch froher, als er daran dachte, was der Spiegel ent halten würde. Dann stand die Schüssel mit der Bohnensuppe vor ihm, doch er be zwang seinen Heißhunger. Mit einer Rasierklinge schraubte er das win zige Schräubchen des kreisrunden Blechrahmens heraus, der Ring öff nete sich, gab die zwei Spiegelschei ben frei. Aus den beiden innen ab federnden Pappstücken klirrte ein halbes Dutzend kleiner Flachfeilen auf den Tisch. Überrascht, beinahe erschrocken betrachtete er den griffigen grauen Stahl der Werk zeuge. Dann erst entdeckte er das gefaltete Blatt, bedeckt mit einer Skizze, winzig-akkuraten Zeichen und Zeilen. Erregt machte er sich an die Entzifferung. Als er alles begriffen hatte, nickte er anerken nend. Das war Präzisionsarbeit von Steffen. Der gelernte Maurer hatta sich das Architekturstudium er trotzt, das dann durch die Haft jäh unterbrochen wurde. Ob er es je mals würde absehließen können? Bei Steffens Schwäche für alte Stadt- und Burgenpläne hatte es
ihm bestimmt Vergnügen bereitet, den Plan des Zuchthauses Anreuth aufzustöbern, einem Bau aus dem neunzehnten Jahrhundert, ehrwür diges Erbstück der Kaiserzeit. Die Weimarer Republik hatte beschei den herummodernisiert, die Nazis hatten. Höchstzahlen an Gefange nen, aber keinen Pfennig hineinge steckt, und die Bundesrepublik tat es ihren braunen Vorgängern nach. Der Gefangene von Zelle 211 korri gierte" seine Überlegung. Daß man ihn gerade hier eingesperrt hatte, war der vierte Glücksfall. Das Wunderland besaß auch glänzende Zuchthäuser; aus Beton, Stahl und Glas, mit fließendem Wasser, ge kachelten Duschanlagen und grü nen Sportplätzen. Es war Hohn ge wesen, als Höekler von einem Swimmingpool gesprochen hatte, aber keine Lüge. Doch Veit war sich klar, daß aus solch einem „Märchenbau" zehnmal schwieriger zu entkommen sei als aus diesem mittelalterlichen Kasten. Er begann die Einzelheiten des Fluchtplanes zu durchdenken. Für den Fall, daß er ihn für durchführ bar hielt, sollte er seinen nächsten Monatsbrief schließen mit dem Satz: Sowie ich frei bin, Sabina, heiraten wir. Den Termin der Flucht müsse er bestimmen, indem er Sabina an den Tag ihrer angeb lichen Verlobung erinnere. Jenes von Veit genannte Datum wäre das Datum der Flucht, abends um elf Uhr. Von einem bestimmten hohen Baum, hundert Meter von der Zuchthausmauer entfernt, wollten die Freunde ein Blinksignal geben. Dann hatte Veit elfeinhalb Minu ten Zeit bis zur nächsten Posten runde: Seilfahrt aws seinem Zellen fenster im zweiten Stock, den Gra ben durchschwimmen, ein verwil dertes Parkstück queren; über das ödgelände robben, Durchlaß durch den Drahtzaun schneiden und die Mauer übersteigen. Das waren nicht wenige Hürden. Mehrmals verglich er die angegebenen Meter- und
Sekundenzahlen mit seiner eigenen Schätzung. Theoretisch war es in neun Minuten zu bewältigen. Die Freunde rechneten zehn, wenn alles glattging. Aber in der Wirklichkeit ging niemals alles glatt. Also ab sagen? Energisch boxte er das zweite, das ängstliche kleine Ich nieder. Er war auf Hürden trai niert. Es würden nicht die letzten sein. Die höchste Hürde, Sabinas Widerstand gegen seine Überzeu gungsversuche, hatte sich heute als besiegt erwiesen. Dieses Wissen schenkte ihm Mut. Zielstrebig begann er mit den Vorbereitungen, prägte sich alles ein, bis er beruhigt den Kassiber vernichten konnte. Als sie das Abendessen ausgaben und die charakteristischen Geräusche in den Gängen widerhallten, machte Veit den ersten Versuch, kurz nachdem er versorgt worden war. Jahr zehntealter Rost hatte den Gitter stäben einiges von der ursprüng lichen Stärke genommen. Er kam auf das gesunde Eisen und freute sich, wie sich die Feile hineinfraß. Selbst wenn er jeden Tag nur we nige Minuten feilen konnte, wäre es zu schaffen. Er hatte etwa zwei Monate Zeit. Auf seinen Brief mußte er den Sabinas abwarten, in welchem durch ein bestimmtes Wort die Zustimmung der Freunde ausgedrückt sein würde. Jetzt war August. Doch später als im Oktober einen fünfzehn Meter breiten Gra ben durchschwimmen zu müssen, war keine angenehme Aussicht. Ungeborene Sorgen laß ungeboren, sonst zernagen sie dir die Tat. Mit diesem Einmannbeschluß ent schlummerte Veit Treuffert und schlief fest bis zum Wecken. Sie saßen bei Mumme. Seine Be sessenheit für heiße Musik war manchmal lästig. Er war zuletzt da zugekommen und für die Polizei ein unbeschriebenes Blatt. Als älte ster Sohn der kinderreichen Fami lie und ihr bester Verdiener ge
hörte Ihm das kleine Zimmer. Da fiel es nicht auf, wenn er sich hin und wieder Schallplatten-Fans ein lud. Heute waren es Steffen und Timm. Jetzt warteten sie auf Sa bina. Während die Blues und Dixie lands dudelten, konnten 'sie unauf fällig ihre Angelegenheiten bespre chen. Ihre Sitzungen dauerten sel ten länger als ein Repertoire der Zehn-Platten-Schatulle. Hatten sie dann noch Lust, erfreute Mumme sie mit einigen „Leckerbissen":
Songs aus der Dreigroschenoper, Eisler-Musik und Ernst-Busch-Lie dern. Wohl zum zehntenmal schaute Timm auf seine Armbanduhr. „Wenn sie um halb nicht hier ist, muß man zu ihr hin und ..." „Den Deibel wirst du", polterte Steffen, „Vadder hat's verboten und er hat recht. Oder kannst du garan tieren, daß sie Sabina jetzt nicht näher unter die Lupe nehmen?" Vadder war der Gruppenleiter und jener ältere Genosse, der bereits in Anreuth gesessen hatte. Bald nach der Verurteilung Veits hatte er die drei mit dem Auftrag betraut. Die erste Etappe, Sabina für die ge meinsame Sache zu gewinnen, hat ten sie zu seiner Zufriedenheit be wältigt. Sie betrachteten Sabina bereits als Kampfgefährten ihrer Untergruppe, obwohl nie ein Wort über Eintritt in die Partei gefallen war. „Wenn Sabina zu spät kommt, hat sie einen Grund", knurrte Stef
fen Timm an, „und kommt sie gar nicht, gibt es bessere Möglichkeiten, mit ihr in Verbindung zu treten." „Was Sabina tut — tut — tut, ist wohlgetan", sang Mumme zum Takt des hämmernden Klavier solos. Der Anlaß ihres Streits stand plötzlich heftig atmend im Zimmer. Vom schnellen Gehen waren Sabi nas braune Wangen einen Ton dunkler gefärbt. „Entschuldigt. Mir war, als hätte ich jemanden hinter mir. Vorsichtshalber bin ich noch mal um den Block gegangen." „Hauptsache, du hast ihn abge hängt", sagte Timm. „Ich glaube, es war ein Irrtum. Man sieht schon überall Gespen ster." „Lieber eins mehr sehen als leicht sinnig sein", meinte Steffen. Timm wurde ungeduldig. „Er zähle, Sabina." Sie berichtete — nicht ohne Hu mor. Auf diese wachen Burschen hätte das Ausmalen ihrer düsteren Stimmungen im Zuchthaus kaum Eindruck gemacht. Als sie alles mit Veit Zusammenhängende erzählt hatte, erntete sie Lob. Ohne Vor behalt berichtete sie von Wellmann und legte dessen Geschäftskarte auf den Tisch. Grübelnd starrten alle drei darauf. Endlich sagte Steffen: „Gratuliere. Bei aller Beachtung der Regeln vergißt sie nicht, an die Möglichkeit eines neuen Mitkämp fers zu denken." „Und genau darauf spekuliert der Bandit", stieß Mumme hervor. Timm unterstützte ihn. „Das ist doch alles zu schön, um wahr zu sein." „Ihr meint", gab Sabina zu be denken, „dann hätte er mir so ohne weiteres die Karte . . . ? " „Das ist nun wirklich kein über zeugendes Alibi", sagte Steffen, „ihre Gefährlichsten sind die,- die sie in irgendeinen normalen Bröt chenerwerb eingebaut haben — aber die Sache hat für sie auch einen Haken."
„Sherlock Holmes orakelt", spot tete Timm, „aber wir sind keine Be rufskombinierer wie Watson. Sprich deutlicher." „Stell doch mal das Geplärr 'n bißchen leiser", ranzte Steffen Mumme an und war dabei, sich die Karte Wellmanns abzuschreiben. „Das geben wir Vadder. Erkundung über unsre Gewerkschaftsverbin dungen. Der Betrieb ist nicht unbe kannt. Bald werden wir wissen, welche Rolle dieser Wellmann dort spielt." „Und wenn er sie dort ebensogut spielt wie vor Sabina?" Mumme ge hörte zu den Vorsichtigen, die lie ber eine Chance verpassen, als daß sie das kleinste Risiko eingehen. Ihm gegenüber fühlte sich Stef fen wie ein ergrauter Streiter. Ohne die Wachsamkeit zu vernach lässigen, wußte er längst, daß ille gale Arbeit immer mit einem ge wissen Risiko verbunden ist. „Nir gends kannst du einen Menschen so erkennen wie bei der Arbeit." Das leuchtete Timm ein. „Sich auf die Dauer verstellen ist viel schwerer als in ein paar netten Stunden mit einer netten Dame. Wie lange meinst du, Sabina, ist Wellmann schon dort in der Bude?" Sabina überlegte. „Mit Tag und Datum hat er's mir nicht gesagt, aber seinem Erzählen nach so an die zwei, vielleicht auch drei Jahre." „Schon der erste Punkt", trium phierte Steffen, „gibt's da eine Differenz zu dem, was unsre Ge werkschaftsleute wissen, dann heißt es, Holzauge, sei wachsam." „Der ganze. Zinnober gefällt mir nicht", murrte Mumme, „dieser verflixte Wellmann stellt unsre Aktion in Frage, denn . . . " „Gut gepfiffen, kluges Kind", un terbrach Steffen, „leider beschert dir der liebe Gott nicht immer die Situationen, wie du sie dir gerade wünschst." „Laß doch 'n Menschen auch mal was sagen", erregte sich Mumme, 13
„wenn Sabina richtig gehandelt hat, dann muß sie jetzt weiter die Harmlose spielen. Also in den näch sten Tagen anrufen, und . . . " „Umgekehrt wird 'n Schuh draus", fiel Steffen ein, „gerade wenn er ein Judas ist, darf Sabina sich vor erst nicht melden. Hat er den Auf trag, über sie an uns heranzukom men, kriegt er eins reingewürgt, daß er sich ohne ihre Adresse hat abfrühstücken lassen. Man wird ihn drängen, dann ist er gezwun gen, mit einer Ausrede bei ihr auf zutauchen. Wieder 'n Punkt, der uns warnen würde." „Falls er sich meldet, was dann?" Mit solch einer Frage zwang Mumme die Freunde nicht zum erstenmal, die Dinge bis zu Ende zu durchdenken. „Dann wird's ernst", gestand Stef fen, „dann müssen wir Sabina erst mal abhängen." • Sie sah mit großen Augen von einem zum andern und bemühte sich Ihren Schreck zu verbergen. Zu genau war sie sich dessen be wußt, daß diese Jungen ihr neuen Mut gegeben hatten. Keinen .mehr sehen zu können, ihre Sorgen nicht zu teilen, Ihnen nicht mehr helfen zu können, war eine bestürzende Vorstellung. Sie spürten es. Nichts haßten sie so wie Phrasen. Darum fand kei ner einen billigen Trost. . Steffen raffte sich zuerst auf. „Es Ist keine angenehme Aussicht, Sa bina. Aber wenn die Aktion glückt, wirst du mit Veit drüben sein. Auch nicht schön für uns, aber geteiltes Leid war schon immer halbes Leid." „So ein prima Kumpel wie du, Sabina", -murmelte Timm weh mütig, „wenn man bedenkt, daß du einmal nichts von uns hast wissen wollen . . . Und jetzt bist du unsere Beste." Er drückte aus, was sie alle dachten. Jeder mochte Sabina auf seine Art, und sie hätten für sie jederzeit gewagt, was sie für Veit taten. 14
Trotzdem fand es Steffen zu bru tal. „Erstens ist es noch nicht so weit. Zweitens heißt abhängen nicht, ohne Kontakt sein. Mümrne wird ihn dann mit dir halten, Sa bina, natürlich nur auf Treffs, nie in deiner Wohnung." Sie verabredeten den nächsten Schallplattenabend in einer Woche. In der Zeit sollte sich Sabina von der Gruppe fernhalten, um so auf merksamer aber auf eventuelle Schatten achten. Jetzt hoffte Sabina erst recht, Wellmann möge kein Spitzel sein. Sie hatte Angst vor dem alten faden Leben. Es war nur farbig gewesen durch Veit. Sie wußte es, seitdem er fort war. So genau wie sie wußte, daß die Zusammenarbeit mit den Jungen ständige Gefahr bedeutete. Dennoch hätte sie nie wieder zu rückfallen mögen in jenen blinden Trott, von dem die meisten Bun desbürger glaubten, er sei das ein zig richtige. Ihr nächstes Zusammentreffen sah vor allem Sabina. hoffnungsvol ler. Wellmann hatte sich bisher nicht gemeldet. Von einer Beschat tung habe sie nichts bemerken können. Steffen konnte von Vadder mitteilen, daß Wellmann bereits eindreiviertel Jahr in jenem Be trieb war. In die Gewerkschaft ein zutreten, habe er bislang abgelehnt. „Aha", sagte Mumme. „Das spricht für ihn", fand Stef fen, „gerade wenn er für den Ver fassungsschutz arbeitet, hätte er Weisung, in die Gewerkschaft ein zutreten." „Er muß nicht unbedingt den Auftrag haben, dort im Betrieb zu arbeiten", überlegte Timm halb laut, „dann könnte es ihnen egal sein, ob er in der Gewerkschaft ist oder nicht." „Durchaus drin", meinte Mumme. „Seine Begründung ist inter essant", sagte Steffen, „für die Ar beiter täten die Bonzen doch nichts, er sähe nicht ein, warum er sie mästen solle."
„Radikalismus, die älteste Agen tenmasche", meinte Timm. „Da ist doch ein Widerspruch", entgegnete Sabina, „entweder er hat Aufträge für den Betrieb, dann tritt er in die Gewerkschaft ein und sucht mit Radikalismus die Kolle gen zu tauschen. Wenn er aber nicht eintritt und trotzdem solche Töne lesläßt, ist er harmlos. Es paßt zu ihm, er macht in Weltschmerz und Überklugheit." „Kann sein, kann nicht sein." Mumme blieb skeptisch. „Wir werden sehen, ob er sich in der kommenden Woche wieder nicht meldet", entschied Steffen. „Für unsere Freunde wird's jetzt schwierig: herauskriegen, ob er vorher "wirklich als technischer Zeichner gearbeitet hat, und warum er von dort weggegangen ist." „Was solch I'diet uns für Kopf schmerzen macht", stöhnte Timm, „wenn das so weitergeht, vergessen wir noch Veit herauszuholen." Sie lachten über den Stoßseufzer und ergingen sich in Vermutungen, was" in Veits sehnlich erwartetem Brief stehen würde. Den Abend, an dem Sabina ihn dann vorlas, vergaß keiner. Erst jetzt spürten sie die Beklemmung, unter der sie gelebt hatten. Würde Veit auch nur um Aufschub gebeten haben, hätte es beinah ein weiteres Jahr Spannung bedeutet. Denn in der kalten Jahreszeit war die Ak tion wegen des Wassergrabens kaum möglich, sie wußten es ge nauso wie der Eingekerkerte. Veits Zusage wurde mit einer Flasche Wein und einigen „Leckerbissen" Mummes gefeiert. Die Zeit schien jetzt auf den ver einbarten Termin zuzurasen. Stef fen brachte eine neue Information von Vadder: Weltmann hatte tat sächlich vorher als technischer Zeichner in einem Zweigbetrieb von Mannesmann gearbeitet. Der Arbeitsdirektor dort war als Arbei terfeind gehaßt. Da sich Wellmann noch immer nicht gemeldet hatte,
schien seine Einstellung welter auf gehellt. Endgültig wurde er vom Verdacht gereinigt, als Steffen mit der Nachricht kam, der Verfas sungsschutz erkundige sich spora disch nach dem politischen Verhal ten Wellmanns in seinem jetzigen Betrieb. Eine Sympathisierende, die als Sekretärin in Wellmanns Be trieb arbeitete, verbürgte sich für diese Tatsache. Die drei waren sprachlos über die Eröffnung. Sabina sagte kopfschüt telnd: „Wir haben ihn als Schatten verdächtigt, dabei wird er selbst bespitzelt." „Beinah möchte man ...", Steffen ging aufgeregt hin und her. „Wenn man bedenkt, daß er 'nen eigenen Wagen hat." „Laß ihn besser aus dem Spiel." Mumme fauchte aufgebracht, „Timm besorgt den Mietwagen, und 'nen besseren Fahrer können wir nicht finden. Je mehr von solcher Sache wissen, desto gefährlicher für alle." Es war ein hartes Argument, und Steffen beschwichtigte ihn: „Hast ja recht. Ich hab' bloß an die schö nen Kullerchen gedacht, die 'n Mietwagen kostet, allein schon für die Inspektionsfahrt." „Und wenn ich's allein bezahlen müßte", beharrte Mumme gereizt. Der Schallplattenklub „Jazz Heil", wie sie sich scherzhafterweise nann ten, machte am letzten Sonntag vor dem „Befreiungstag" eine Fahrt ins herbstbunte Land. Ohne Sabina. Mumme hatte darauf bestanden. Ihre Anwesenheit ohne triftigen Grund in der Nähe des Zuchthauses trüge unnötige Komplikationen in sich. Er, habe genug gelesen über illegale Arbeit im Tausendjährigen Reich, wie durch läppische Unacht samkeiten wichtige Aktionen ge platzt seien. Schweren Herzens beugte sich Sabina der Einsicht und war schon getröstet, als sie nach ihrer Rückkehr berichteten, alles sei beim alten, Veränderungen seien nicht zu bemerken gewesen. 15
Zwei Tage vor dem Termin er wartete Steffen Sabina nach Feier abend In der Nähe des Kunst gewerbeladens. Wie verabredet für derartige Treffs, stiegen sie, ohne sich zu grüßen, in den gleichen Bus. Als Steffen ausstieg, fuhr Sabina eine Haltestelle weiter. In der Mitte dieser Strecke trafen sie sich, Steffen schwenkte In eine men schenleere Seitenstraße ein, und erst hier drückten sie sich die Hand. „Ist etwas mit Veit?" fragte Sabina angstvoll. „Nee, aber mit Timm", knurrte Steffen, „Arbeltsunfall. Fußquet gchung, liegt im Krankenhaus." „Und kein anderer kann fahren?" „Ich. Aber jetzt rächt es sich, daß man nie Zeit und Geld aufgebracht hat zu 'nem Führerschein." „Ohne den möchtest du es nicht wagen?" „Wäre zu leichtsinnig. Außerdem bin ich kein Motorenfachmann für so'n Mietvehikel. Timm kriegt noch 'n Wagen ohne Motor zum Laufen." „Was schlägst du vor?" „Samuel hilf, genauer, Well mann." „Ich soll.. ." „Du mußt. Es geht um Veit. Ehe ich über Vadder was mobilisiere, ist es zu spät." „Wenn Wellmann nun gerade auf Tour ist?" „Ruf ihn sofort an." Sie gingen In die nächste Telefonzelle, Sabina nestelte Wellmanns Karte aus dem Handtäschchen. Eine weibliche Stimme meldete sich und erklärte, Herr Wellmann sei noch nicht zu Hause, wahrscheinlich im Betrieb. Nach mehreren Hin- und Herver bindungen im Betrieb sagte dort je mand, Herr Wellmann sei vor kur zem gegangen. „Los, 'ne Taxe, vielleicht können wir ihn noch abfangen", hastete Steffen hervor. Er versprach dem Taxifahrer eine Mark mehr, und der fuhr wie der Satan. „Ich bin um zehn vor deinem Haus", raunte Steffen Sabina ins Ui
Ohr, „werde hören, wie es ausge gangen ist. Wenn Wellmann ja sagt, soll er sich möglichst ein Alibi be schaffen für die Nachtfahrt. Alles ; ndere weißt du, kennst ja den Plan," S^ie rasten durch die Hauptstraße vop Neuß. Der Taxifahrer kannta die* Stadt so gut wie Düsseldorf. „Ist doch hian bloß 'n lumpiger Vo.r ort Von uns", brummte er, „bringt aber lohnende Fuhren." Als sie in jene Straße einbogen und die Haus nummern zu erfassen trachteten, sah Sabina, wie Wellmann eben aus seinem Wagen stieg. Kurz dahinter ließ sie halten. Wellmann war schon im Haus flur. Sabina rief seinen Namen. Wie ein aus dem Traum gerissener Schlafwandler kam er die Stufen wieder hinab. „Sabina, Sie?" „Ich muß Sie unbedingt sprechen, Freddy. Hoffentlich ..." „Sie glauben doch nicht, daß ich für Sie jemals keine Zeit haben könnte." Er hatte seine Überra schung überwunden und war wie der der schlagfertige Wellmann. „Ich wollte nur ein paar Unterlagen holen. Sie setzen sich mit in den Wagen, ich erledige ganz schnell die geschäftliche Verabredung, und an schließend haben wir Zeit für eine Wiedersehensfeier in einem netten Lokal. Einverstanden?" „Einverstanden." Langsam ging Sabina zur Haustür... Wellmann stürmte übermütig pfeifend die Treppen hinauf. Bald war er zurück, und sie fuhren nach Düsseldorf. Wellmann sprudelte über vor Freude, sprühte Vorwürfe wegen ihres langen Schweigens, in bur schikose Komplimente verpackt. Er beeilte sich wirklich bei jener Be sprechung und war nach einer knap pen Viertelstunde wieder im Wagen. „Bitte, fahren Sie zu irgendeiner stillen Ecke", sagte Sabina. Wellmann forschte in ihrem Ge sicht, wie das gemeint sein könne. Er stoppte auf einem baumumstan denen Parkplatz, dessen Einsam-
keit von einem einzigen parkenden Wagen noch unterstrichen wurde. Er schaltete alle Lichter aus, sah Sabina erwartungsvoll an. Sie schaute ihm ins Gesicht. „Würden Sie für mich etwas wagen können?" „Die Frage ist eigentlich eine Be leidigung, Sabina." Falsch begonnen, dachte sie, er muß es aus Überzeugung tun, nicht mir zum Gefallen. „Ich muß anders fragen. Sie sprachen neulich von Menschen, die so schwer zu finden sind. Liegt Ihnen noch immer dar an?" „Selbstverständlich. Besonders Sie..." „Lassen Sie mich einmal aus dem Spiel. Wären Sie bereit, eine Ge fahr auf sich zu nehmen, um die Freundschaft solcher Menschen zu gewinnen?" Wellmann begehrte auf. „Sie sind die reizvollste und seltsamste Frau, die mir unter die Augen gekom men ist. Sollen das Testfragen sein, ob es mit mir lohnt?" „Mehr noch. Angenommen, eine Gruppe solcher Menschen bäte um Hilfe, beispielsweise mit Ihrem Wagen?" Vor Enttäuschung sank Well mann zusammen. Monoton erwi derte er: „Ich begreife. Sie suchen einen Genossen für eine kitzlige Sache und hoffen, der dumme Well mann ..." „Einen Genossen macht man nicht in fünf Minuten. Ich bin selbst keiner." „Und wenn ich gar kein Genosse werden will?" sagte Wellmann. „Ich habe Ihnen keinen Auf nahmeschein vorgelegt. Ich habe Sie gefragt, ob Sie helfen wollen. Es wäre schade, wenn Sie neulich alles nur gesagt hätten, um mir zu impo nieren." „Eigentlich habe ich mir die Ab zahlung für den Wagen nicht auf geholzt, um damit einen Knast ein zuhandeln." Wellmann verbarg seine Enttäuschung nicht.
„Sollte man nicht aus Erkennt nissen auch Konsequenzen ziehen? 8 „Sie haben mir das alles ge glaubt?" Sabina sah ihm wieder offen in« Gesicht. „Ja. Würde ich sonst mit dieser heiklen Sache zu Ihnen kommen? Ich weiß, daß ich mich damit in Ihre Hand gebe. Wer macht so etwas ohne Vertrauen?" Wellmann war aufgewühlt. „Ich danke Ihnen. Obwohl ich jetzt zu wissen glaube, daß S i e . . . Sie sind verheiratet, Sabina?" „Ja. In wenigen Wochen, wenn — wenn alles gut geht." „Es hängt auch mit meiner Hilfe zusammen?" „Es wäre unehrlich, Ihnen das zu verheimlichen." „Hm". Wellmann grübelte vor sich hin. Dann reckte er sich wider borstig. „Sie werden zugeben, daß man Genaueres wissen müßte." „Sie werden zugeben, daß man erst eine prinzipielle Zustimmung haben muß. Einzelheiten ohne Zu sage würden Sie nur belasten." Wieder versank Wellmann in Grübeln. Sabina ließ ihm Zeit, doch befürchtete sie, daß ihre Mission mißlungen war. Wie hätten sich andere Frauen an ihrer Stelle ver halten? Wohin hatten Frauen nicht schon Männer geführt. Mit Zärt lichkeiten, Lächeln, halben Ver sprechungen. Sabina zitterte vor Wellmanns Antwort, aber sie konnte nicht girren und heucheln. Wellmann räusperte sich. „Wis sen Sie, Sabina, das mit der Ein samkeit und Suche nach Menschen war keine Schwafelei. Aber mit meinem Wagen in irgendeine heiße Angelegenheit verwickelt zu wer den — der Preis ist mir zu hoch. Er wäre es nicht, wenn Sie noch nicht..." Sie saß sehr steif. „Schade", sagte sie tonlos. Und nach einer Weile leise, „nicht nur unsertwegen — auch Ihretwegen hatte ich gehofft, daß ..." Sie gab ihm die Hand. „Le ben Sie wohl, Alfred Wellmann." 17
Er suchte Ihre Hand zu halten. „Jetzt denken Sie, ich bin feige." Traurig schüttelte sie den Kopf und entzog ihm ihre Hand. „Sie sind nicht feige, Sie sind — nicht mutig genug." Flink war sie aus dem Wagen, schlug die Tür zu, ging allein über den einsamen Platz. Im Ungewissen Licht ferner Laternen sah er sie kleiner werden. Es war ein Anblick, der ihm die Kehle zuschnürte. Das schmale, schöne Mädchen in der ungeheuren Ein samkeit. Alfred Wellmann drehte den Starterschlüssel und trat aufs Gaspedal, daß der Motor auf jaulte. Er hatte plötzlich Angst, Sabina könne verschwunden sein, und er würde sie nie wieder sehen. Als er auf den dritten Gang schaltete, hatte er sie eingeholt. Hart bremste er am Straßenrand. . „Steigen Sie ein, Sabina." ..Danke, ich finde allein nach Haus." 38
„Teufel eins. Wäre Ich Ihnen nachgefahren, wenn ich mich nicht anders besonnen hätte?" Schnell schlüpfte sie auf den Platz neben ihm. Er kurvte und fuhr zurück zum gleichen Ort. Die Wagenlichter gingen aus. Sie drückte die Stirn gegen die Scheibe. Wellmann versuchte einen Scherz. „Anstatt Sie mir vor Freude um den Hals fallen ..." Sie riß sich zusammen. „Ver zeihen Sie. Manchmal muß man vor Freude weinen." Impulsiv faßte sie seine Hand, drückte sie mit ihren kleinen Händen. Daß vor mir schon ein anderer da war, bemitleidete er sich. Daß sich ein Mensch so über die Ent scheidung eines andern freuen kann. So habe ich es noch nicht er lebt. „Ich bin kein Siegfried. Aber als mein Nein heraus war, hat es mir auch schon leid getan." Er sagte es langsam, wie zu sich selbst,
eine Art, die sie nicht an ihm kannte. „Weil ich daran geglaubt habe, hatte ich den Mut, Sie zu bitten." Diesmal gelang es ihm besser, seine Traurigkeit mit einem Scherz fortzuwischen. „Das hat man da von, wenn man plaudert." „Sie sollen mir sagen, daß Sie es nicht bereuen." „Vielleicht ist es besser, daß ein anderer Sie heiratet. Ich wäre Ihnen sowieso nicht gewachsen." Sie stubste ihn freundschaftlich. „Schließen wir Frieden. Und dann zum Technischen." Sabina entwik kelte ihren Plan in all den Teilen, die der Fahrer des Wagens wissen mußte. Zum Schluß schärfte sie ihm ein, daß er unbedingt ein Alibi für die Nachtfahrt haben müsse. Alfred Wellmann hatte aufmerk sam zugehört. Er reckte sich. „Zu Ihren anderen Vorzügen haben Sie auch noch Courage, Sabina. Um bringen könnte ich den andern." Sie lachte ein wenig geschmei chelt. „Das hat unser famoser Rechtsstaat schon vergeblich ver sucht. — Bis übermorgen abend also an verabredeter Stelle. Ich laufe, habe es nicht sehr weit." Schnell beugte sie sich zu ihm, und ihre Lippen berührten seine Stirn. „Tschüß." Schon war sie aus dem Wagen, und ihr Gang über den Platz war ein völlig anderer als vorhin. Alfred Wellmann saß noch lange voller Gedanken, ehe er die Kupp lung trat und in seinem Volks wagen, der ihm nicht gehörte, nach Neuß zurückfuhr. Eine Wolldecke gab dreißig Strei fen. Jeder Streifen war fast zwei Meter lang. Immer drei zu einem Zopf geflochten machte zehn Stücke, die, gut geknotet, ein Seil von über fünfzehn Meter Länge er gaben. Sofort nach dem Abend einschluß um acht Uhr hatte Veit mit der Arbeit begonnen, hundert mal vorher an alten Putzlappen
probiert. Lange vor dem Licht löschen u m ' zehn war er fertig Seine Unruhe zu dämpfen, macht« er immer wieder Zerreißproben, überprüfte die Knoten. Oberwachtmeister Waldau, dei strenge, hatte heute Spätdienst Vorschriftsmäßig schaute er jedes mal durch den Spion, ehe er den Schalter an jeder Zelle umdrehte In 211 sah er einen bereits fried lich schlafenden Mann und ging routinemäßig weiter. Genau nach Vorschrift würde er pünktlich um Mitternacht seinen nächsten Rund gang machen. Es war nützlich, wenn er auch dann einen Schlafen den erblickte. Veit hatte es oft ge nug geübt, einen „Strohmann" ins Bett zu zaubern. Umsichtig ging er zu Werke und suchte seine leise zitternden Hände zur Ruhe zu brin gen mit der Mahnung, du hast ge nügend Zeit, öfter lauschte er an der Zellentür. Der riesige Bau schien in Totenstarre verfallen, nur draußen heulte der Wind. Leise stellte er den Schemel unter die Fensteröffnung und drehte die Schrauben aus dem Öffnungsgelenk des Klappfensters. Nun hing das Fenster an der Zellenwand her unter und störte nicht mehr. Er starrte hinaus. Der hohe Baum war jetzt im Dunkeln kaum zu erken nen. Es sah aus, als fahre der Vier telmond im Galopp über den Him mel, schnelle Wolken jagten an ihm vorbei. Bis auf einen winzigen Rest waren die vier Gitterstäbe an allen acht Ecken durchgefeilt. Veit zog und drückte mehrmals, dann hielt er das Gitter in den Händen und stellte es rechts von sich in den Fensterrahmen. An ein Seil band er den gefüllten Wasserkrug, ließ ihn links vom Zellenfenster hinab. Als das straff hängende Seil plötz lich nachgab, hatte der Krug den Grund des Grabens erreicht. Als Notanker hielt der Krug das Seil von den unter seiner Zelle liegen den Fenstern fern, verhinderte eine vorzeitige Entdeckung. Sorg 19
sam knüpfte Veit das SeH um die untere Reststrebe des Gitters, die obere war ein passabler Griff beim Ausstieg. Bleibt das Lichtsignal aus, dachte er, dann nimmst du we nigstens ein Extrabad im Burggra ben. Mit dieser Selbstironie suchte er seinen Zustand unterzukriegen, der an einen seltsamen Rausch er innerte, gemischt aus Erwartung und Angst, Vorfreude und Zweifel. Mindestens eine Stunde mußte seit Waldaus Rundgang vergangen sein, glaubte er. Dort hinten mußte das rettende Licht aufblitzen. Wann? — Wann? - Wann? Verzweifelt suchte er sich abzu lenken, sich auf den bevorstehen den Fluchtweg zu konzentrieren. Am meisten fürchtete er den Drahtzaun. Er hatte sich keine Zange beschaffen können und würde feilen müssen. Er klopfte auf die Hosentasche und fühlte das ins Taschentuch eingeschlagene Bündel der kleinen Helfer. Als er aufblickte, durchrann es ihn freu dig. Winzig, aber deutlich sah er: Kurz—kurz—kurz—lang. Behende schwang er sich in die Fensteröffnung, packte das Seil und ließ sich ein Stück hinab. Der erste Knoten war eine gute Fußstütze. Mit großer Anstrengung brachte er das Gitter in seine alte Lage und zog an der vorher befestigten Schnur das Klappfenster wieder hoch. So weit, daß der übliche Nachtspalt offenblieb. Er zwang sich, alles kurz zu überprüfen. Mehrere Stun den Vorsprung würden entschei den über das Gelingen. Hand über Hand hangelte er hin ab. Eine Windbö schüttete ihm Schauer ins Gesicht, der kalte Re gen biß in die Haut. Er fühlte das Wasser um seine Füße platschen. Tief holte er Luft und ließ sich gleiten, bis er Grund fühlte. Irrtum vom Amt, dachte er grimmig, als das Wasser über seinem Kopf zu sammenschlug. Er zog sich wieder ein Stück hoch, holte abermals tief Luft, stieß sich von der Mauer ab. 20
Du hast das Wasser unterschätzt, dachte er, als er sich verbissen vor wärts arbeitete, es ist verdammt kalt, und die Schuhe behindern mehr, als man annehmen konnte. Mühsam zog er sich am Wurzel werk des steilen Ufers hinauf. Am Grabenrand blieb er erschöpft lie gen und pumpte Luft in die, beben den Lungen. Die Zeit ist zu kurz, du kommst zu spät. Wie ein ste chender Schmerz jagte der Ge danke ihn hoch. Mit eingezogenem Kopf rannte er hinein ins Strauch dunkel, umging Büsche, verfing sich in wucherndem Kraut. Tot lag die ödfläche im aufblinkenden Mondschein. An ihrem Rand hockte er sich hin, verschnaufte wie der. Ihm war siedendheiß, den noch schlugen seine Zähne aufein ander. Das Ödland war ehemaliger Waldboden, bestanden mit Wild stauden und Baumstümpfen, voller Löcher und Bodenwellen. Kurz vorm Drahtzaun ließ er sich in eine Kuhle gleiten. Auf einem etwa fünf Meter breiten Streifen entlang des Zauns war das Unkraut abgemäht. Veit kroch zum Zaun. Er feilte hastig und wünschte sich tausend Augen. Das dunkle Massiv der Mauer blieb tot und still, nirgends Anzeichen der nahen Freunde. Plötzlich rollte er sich ins erstbeste Loch und blieb wie tot liegen. Der Wind hatte ihm das Geräusch zu getragen, irgendein Metallklirren. Kurz darauf löste sich die Gestalt des Postens aus dem Dunkel, kam den Gang herauf. Von der anderen Seite ebenfalls einer. Etwa zehn Meter von Veit entfernt blieben sie stehen und sprachen miteinander, böige Wirbel rissen ihnen die Worte vom Mund. Hatten sie den Liegen den entdeckt? War seine Flucht schon bemerkt? Suchten sie ihn be reits? Veit hielt den Atem an, der hämmernde Herzschlag im Hals schien nach Blut zu schmecken. Sie trennten sich wieder, jeder ging in seiner Richtung weiter. Vielleicht zehn Sekunden hatten
sie gestanden, und es waren aehn höllische Ewigkeiten gewesen. Veit blieb noch eine Weile reglos liegen. Kein Geräusch mehr, nur der Wind heulte in den Baumkronen, schüt tete einen neuen Regenschauer über den Einsamen. Veit kroch wie der zum Zaun, begann weiterzu feilen. Aus dem Schatten der Mauer kam jemand gehuscht, beugte sich nieder und sagte: „Feile weg, so geht's schneller." Veit nahm den Ton auf und zischte: „Na endlich, alter Knochen!" — Schnell schaffte Steffens Zange einen Einschnitt. Veit schlüpfte hindurch, und Stef fen bog den Draht wieder so, daß der Defekt im Dunkeln nicht zu er kennen war. Von der Mauer hing eine Strickleiter. „Heute hast du den Vortritt, Alter", brummte Stef fen und hing sich mit seinem Kör pergewicht an das schwankende Ge
rät. Als Veit oben war, half er Steffen. Der wieder half ihm ab wärts. Unten wurde er von Well mann in Empfang genommen. Stef fen warf die Strickleiter hinab, kam nachgesprungen und riß die beiden im Fallen mit um. „Doll brägen!" fluchte Wellmann leise. Hintereinander, Veit in der Mitte, rannten sie los, schräg von der Mauer fort, über Wiesen und Stop peln, bis sie auf eine Asphalt chaussee kamen. Alle drei schnauf ten und marschierten jetzt im Schritt. Dabei stellte Steffen vor. „Das ist Freddy. Für Timm ein gesprungen, der liegt mit 'ner Quetschung im Krankenhaus. Wäre Freddy nicht, wärst du jetzt nicht hier."- Steffen haute Veit auf die Schulter und konnte sich kaum las sen vor Freude. Veit war nicht so sorglos zumute, deshalb fragte er: „Marschieren wir bis zur Grenze?"
„Gemach, Herr Graf", spottete Steffen, „die Pferde warten gesat telt." Ein Feldweg führte durch ein Ge hölz, das sich dicht neben der Land straße hinzog. Dort bogen sie ein, und kurz darauf sah Veit die Sil houette eines Volkswagens. Aus seinem Schatten löste sich eine Ge stalt und trat mit unterdrücktem Freudenlaut auf Veit zu. „Sabina", kam es Veit aus heise rer Kehle, und er drückte das Mäd chen, daß es ihr den Atem nahm. „Einstelgen bitte! Wiedersehen wird im Wagen gefeiert", gluckste Steffen und drückte vorsichtig den Schlag hinter den beiden zu. Well mann saß schon am Lenkrad. Leise summend, noch ohne Licht, tastete sich der Wagen zur Straße, dann schoß er auf dem Asphalt davon, immer in den grellen Lichtkegel hinein. „Mann, seid ihr feudal gewor den", raunte Veit dem vor ihm sit zenden Steffen zu, „ein eigener, ge braucht gekauft?" „Bete, Freundchen, daß Ihn unser Freund abbezahlt kriegt", mur melte Steffen, „Timm hätte einen vom Verleih geholt. Denn falls e t w a s . . . na ja, einen Geliehenen könnten sie nicht beschlagnahmen", witzelte er und fuhr fort: „Warum hättest du nicht auch mal in einem Leihwagen fahren sollen, Veit? Ich zum Beispiel schätze dich mehr als den ehrenwerten Herrn Kilb." „Uns schenkt man so was nicht", knurrte Wellmann, „schon gar nicht 'nen Mercedes." „Murre nicht, Vater", besänftigte ihn Steffen, „du solltest schon stolz sein, daß man dir zutraut, einen Volkswagen abzustottern." Wellmann nörgelte über die Ab zahlungslast und wie man zum Sklaven des Betriebes werde. Dabei raste er mit höchstzulässiger Ge schwindigkeit durch das nächtliche Land, öfter tauchten weit voraus zwei glühende Augen auf, wuchsen rasch zu blendender Helle. Jedes 22
mal veranlaßten sie Wellmann leise zu fluchen, bis der entgegen kommende Wagen vorbeigehuscht war; jedesmal erregten sie in Veit fiebrige Spannung, wenn das nur nicht... Es war nicht leicht für Veit, sich im Wagen umzuziehen, dafür wohl tuend. In sauberer Unterwäsche und saloppem Flanellanzug fühlte er sich wie neugeboren. Kopfschüt telnd betastete er den flauschigen Mantel und entdeckte in den Ta schen immer neue Dinge, sogar eine Börse mit Geld. Steffen wickelte die nasse Sträf lingskluft um einen Mauerstein. Genau nach Plan und Uhrzeit tauchte die Brücke über den Fluß auf, und in hohem Bogen sauste das Bündel in die Tiefe. Sabina und Veit hatten es nicht wahr genommen, sie küßten sich. Danach saßen sie schweigend und dicht beieinander. Wohlige Müdigkeit umfing Veit. Plötzlich schreckte ihn die Frage nach der nächsten Hürde hoch. Nervös riß er die Zigaretten packung auf, tat gierig den ersten Zug und erkundigte sich behutsam, ob es nicht leichtsinnig gewesen sei, Sabina mitzubringen. „Mitzubringen?" fragte Steffen gedehnt, „wegzubringen." Sabina bestätigte, daß sie auf der nächsten Station an der Haupt strecke in den Zug zur Grenze stei gen würde, abdampfen zu den Ver wandten in der Nähe Leipzigs. Dort würden sie sich treffen und dann weitersehen. Sie lehnte sich fester an ihn. „Hast du nicht geschrieben, sowie ich frei bin, Sabina, heiraten wir?" „Erpressung!" stöhnte Veit. „Wiederhole das", knurrte Well mann, „andere ließen sich gern er pressen." Lichter der Stadt tanzten ihnen entgegen. Die Nähe des Bahnhofs kündigte sich durch hektische Hel ligkeit an. Wellmann stoppte in einer dunkleren Nebenstraße. Schräg voraus ragte eine riesige
leuchtende Flasche in den Himmel, darunter animierte der unermüd lich aufflammende Slogan: „... und darauf einen Dujardin!" Tiefsinnig starrte Veit dorthin und versuchte seinen Trennungsschmerz fortzu scherzen: „Davon jetzt'nenSchluck— könnte einen aufrichten." „Verzeihung, hätte ich beinah verschwitzt." Steffen zog eine Ta schenflasche aus der Gesäßtasche und gab sie Veit, nachdem er den Kunststoffverschluß wie ein kleines Schnapsgläschen vollgeschenkt und Sabina gereicht hatte. „Chantre wird's auch tun, Hauptsache, Feuer wasser." Als ihm Veit die Flasche zurückgab, nahm Steffen selbst einen genüßlichen Zug, Wellmann von der Seite ansehend. „Du mußt ja leider brav sein." Sabina nahm einen beherzten Schluck, dann gab sie den beiden die Hand und stieg aus. Schwei gend zog Veit sie an sich. Ein letz ter Kuß. Sabina knüpfte das Kopf tuch fester, nahm ihr Köfferchen und stapfte davon: Der Wagen surrte zur Stadt hin aus, langsam verstummten die grel len Schreie der farbigen Reklamen hinter ihnen. Es ssi am besten so mit Sabina, meinte Steffen, die Spürhunde würden sich zuerst an sie halten. Nun erspare sie sich quälende Ver höre, womöglich langwierige Un tersuchungshaft. Wellmann sah öfter auf seine Uhr, gab dann schär fer Gas. Um eins müßten er und Veit ebenfalls umsteigen, verriet Steffen. „Der Fernlaster bringt uns bis in die Nähe der Grenze. Dort wartet Bastian auf uns. Wir ver schnaufen bei ihm einen Tag. Hof fentlich hat er alles zum Übertritt vorbereitet." In langgeschwungener Kurve jagte der Volkswagen die Auto bahnauffahrt hinauf, raste dann immer scharf am weißen Markie rungsstreifen entlang durch Sturm böen und Regenschwaden. Es war Viertel vor eins. „Ob sie es schon
entdeckt haben?" drängte sich die Frage über Veits Lippen. „Meinetwegen", Steffen gähnta, „Es nützt ihnen nichts mehr." „Du tust reichlich siegessicher." Steffen zeigte nach vorn. „Im Wald der erste Parkplatz rechts, dann haben wir's geschafft." „Und Freddy?" Steffen tippte sich an die Stirn. „Sind wir blöd! Er übernachtet in der Stadt, wo Sabina ausgestiegen ist. Morgen früh klappert er einige Kunden ab. Gutes Alibi, alles vor bereitet." Veit blieb hartnäckig. „Und du?" Steffen wurde krötig. „ Viellei cht fragst du auch noch nach dem Alibi meiner Großmutter. — Trink bei der Hochzeit lieber kräftig eins auf unser Wohl." Das Summen des Motors erstarb. Wellmann bog rechts ein, langsam rollte der Wagen aus. Dicht hinter einem Dreiachser mit Anhänger hielt er. Fahrer und Beifahrer waren sofort am Schlag. Veit drückten sie besonders kräftig die Hand. „Servus, Kumpel!" Dann wies der Beifahrer auf das Leucht zifferblatt an seinem Handgelenk und klopfte Wellmann auf die Schulter. „Alle Achtung, fünf Minu ten vor der Zeit." Der winkte bescheiden ab. Herz lich verabschiedete er sich, stieg wieder ein und fuhr ohne Licht über den grasbewachsenen Mittel streifen. Plötzlich bremste er scharf und kam zurückgerannt. „Dein Fell eisen, Veit!" Er drückte dem Ver dutzten eine pralle Sporttasche in die Hand, und kurz darauf waren die Schlußlichter seines Wagens von der Dunkelheit verschluckt. „Also", der Fahrer schob seine Schirmmütze ins Genick und legte den Zeigefinger auf die Nase, „ich halte bloß, wenn man uns zum An halten zwingt. Dann klappst du das Ding hoch und legst dich darunter." Er zeigte es Veit. Die Matratze in der Schlafkoje war wie ein Klapp sitz. Wer darunterlag, war nicht 23
zu sehen. Veit verschluckte die Frage, was aber, wenn . . . Die beiden kletterten mit Steffen ins Fahrerhaus, fast mannshohe Räder auf fünf Achsen donnerten über grauen Beton dem Osten ent gegen. Von der Bremswucht an die Wand gedrückt, fuhr er aus tiefem Schlaf. Mehr instinktiv als bewußt verschwand Veit unter der Ma tratze. Von draußen war nur Ge murmel zu vernehmen. Die Tür zur Koje wurde geöffnet — der Beifah rer begann laut zu lachen. „Rasch geschaltet, Kumpel.. Aber du bist da, wo du hinwolltest." Er half Veit aus dem Versteck. Bastian stand draußen und be grüßte Veit. Im spärlichen Licht des Fahrerhauses sah er eher aus wie ein pfiffiger Waldläufer als wie ein biederer Bauer. Keiner der fünf Männer machte große Worte. Es hatte aufgehört zu regnen, mit dem Wind war der Mond schlafen ge gangen, die Bäume tropften. Steffen reichte den Fahrern die Hand. „Dank, Freunde, und heute abend um acht hier an gleicher Stelle." Veits Rechte drückten beide wieder herzlich und machten das Zeichen des Daumenhaltens. „Hais und Beinbruch, Jung'!" Mit schep perndem Echo klagte die Stille, als sie vom Aufheulen des schweren Diesels zerrissen wurde. Der Jagenweg führte im rechten Winkel von der Autobahn fort. Bastian ging in der Mitte und schwieg. Auf die Frage Steffens „Klappt alles?" hatte er sich ge räuspert und die grauen Kinnstop peln gerieben. Nun räusperte er sich abermals und berichtete. Vorige Woche habe er seine Frau ins Krankenhaus bringen müssen. Notgedrungen mußte er sich nach einer Hilfe umtun. Gestern nach mittag war sie gekommen. Damit war der schöne Plan in die Binsen gegangen, Veit bis zum Grenzüber tritt zu beherbergen. 24
Veit fröstelte es plötzlich, aber er zeigte es nicht. „Da hätten wir also eine neue prächtige Hürde." Steffen winkte gelassen ab. „Es wohnen ja noch ein paar mehr im Dorf." Bastian nickte. „Aber keiner kann. Bin doch den ganzen Abend unterwegs gewesen. Ferdinand schlachtet, hat den Metzger im Haus. Bei Thomas ist die Cousine zu Besuch. Hermann ist mitten im Umbau für Fremdenzimmer." „Und der Förster?" fragte Stef fen. Bastians wettergegerbtes Ge sicht verfinsterte sich. „Ist gestor ben." Wie in nachträglicher Ver ehrung holte Bastian eine Jäger pfeife hervor und steckte den Ta bak in Brand. Sie hatten den Waldrand er reicht. In der Senke voraus blinzel ten einzelne Lichter. Die ersten Bauern begannen zu füttern. „Was schlägst du vor?" fragte Steffen fast böse. „Gesinnung kann man auffri schen — gegen Umstände bist du machtlos", murrte Bastian. „Was schlägst du vor?" beharrte Steffen. „Wir gehen zum Pfarrer." Steffen wurde ärgerlich. „In sol chen Situationen helfen Witze nur, wenn sie einen Sinn haben." „Pfarrer Pohlmann ist in Ord nung." „Dann können wir Veit auch gleich zur Ortspolizei bringen." „Kennst du den Pfarrer?" erkun digte sich Veit. „Die Pfaffen sind unser Unglück", zischte Steffen, „der Oberpfaffe heißt Adenauer." „Er kennt unsern Herrn Pfarrer nicht", sagte Bastian. Wie er das aussprach, drückte es Hochachtung aus. „Hat dein Herr Pfarrer sechsund fünfzig gegen die Wehrpflicht pro testiert? Gegen den Atomwahn sinn?" Bastian schüttelte den Kopf. „Aber er ist ein Mensch."
„Strauß ist auch ein Mensch", fauchte Steffen. „Nein", sagte Bastian, „der ist 'n Vieh." „Und euer Pfarrer ist ein Lakai von ihm", schrie Steffen. Bastian blieb stehen. Er sah Stef fen an, eher traurig als beleidigt. „So solltest du nicht mal mit mir schreien, wenn ich in der Partei war. Bei solchem Ton hätte ich kei nen Bundesgenossen im Dorf." ,,'tschuldige", murmelte Steffen,' „hab zuviel von den Schwarzröcken einstecken müssen. Das kommt manchmal hoch und kocht über." „Wenn's danach geht, könnt ich dauernd überkochen", sagte Bastian mürrisdi, „aber damit schaden wir uns nur selbst." Veit preßte sich die Fingernägel in die Handballen, beherrschte sich mühsam. Steffen, der mutige Steffen, benahm sich wie ein blind wütiger Stier. Wie konnte man es ihm beibringen, ohne ihn zu ver letzen? „Ist Niemöller auch ein Lakai von Strauß?" fragte Veit. „Komm mir nicht mit den paar Ausnahmen", knurrte Steffen. „Gerade Ausnahmen sind wert voll. Deshalb möchte ich Bastian bitten, mit dem Pfarrer zu spre dien." Bastian schritt schneller aus. Ein Stück weiter wies er auf ein größe res Haus, undeutlich neben der Kirche zu erkennen. „Wir gehen von hinten rein, da trifft uns kei ner." Jetzt blieb Steffen stehen. „Ist das euer Ernst?" „Und die Zweidrittelmehrheit", sagte Veit. „Ich bin für dich verantwortlich bis an die Grenze." Veit packte den Freund bei den Schultern. „Steffen, alter Rabauke. Wir können doch hier keinen Schu lungskurs machen. Hast du Le nins .Kinderkrankheiten' verges sen? — Komm. Wenn schon nicht aus Überzeugung, dann aus alter Freundschaft."
In Steffens Gesicht arbeitete es. Er machte eine resignierende Geste. „Meinetwegen. Wer nicht hören will, muß fühlen." In einer Geißblattlaube des park artigen Gartens hieß Bastian die Freunde warten, ging die niedrige Freitreppe hinauf und drückte den Klingelknopf. Nach einer Weile öff nete sidi im ersten Stock ein Fen ster. „Was ist?" fragte der Pfarrer mürrisdi. Sein Gesicht war schlaf verquollen, die silbergrauen Haare standen iglig. „Was Ernstes, Herr Pfarrer", rief Bastian gedämpft, „möcht' Sie gern sprechen." Bastian winkte den beiden, kurze Zeit später ließ der Pfarrer alle drei in den Flur treten. Er gähnte verstohlen. In seiner kargen Art brachte Bastian ihr Anliegen vor. Währenddessen wurde das Gesicht des Pfarrers immer unmutiger. „Das ist nicht gut, Maulner, nein, das ist nicht gut. — Wie stellen Sie sich das vor? Ich bin nicht irgend eine Privatperson, die tun und las sen kann, was sie will. Kommt so etwas heraus, belastet das nicht nur mich, sondern die ganze Ge meinde. — Nein, das wäre nicht gut." Er sagte es mit milder Stimme und sah keinem dabei in die Augen. Veit spürte, daß dem die Ableh nung nicht leichtfiel. Bei einiger Beharrlichkeit hätte man ihn wo möglich umstimmen können. Doch nichts fiel Veit schwerer, als für sich selbst zu bitten. Auf Steffens Gesicht standen Hohn und Triumph. Bastian hob hilflos die Schultern. „Tscha, hm, also dann entschuldi gen Sie man, Herr Pfarrer." Er wandte sich um und ging grußlos durch die Tür. Noch auf der Frei treppe höhnte Steffen: „Da habt ihr euren Diener Jesu. Kleide die Nack ten, speise die Hungrigen, bette die Müden." „Halt schon dein Maul", knurrte Bastian und ging wieder zurück durch den Garten. An der mor schen Pforte packte er Veit beim 25
Arm. „Sollst dich trotzdem nicht sorgen. Wir gehen zu meiner Feld scheune. Nicht gemütlich, aber sicher. Heute abend bin ich mit zwei Rädern da. In der kommen den Nacht gehst du über die Grenze, so wahr ich Bastian heiße." „Schmerzhafte Lektion, die euch der Seelenhirte verpaßt hat", sagte Steffen. Sie führten die Unterhaltung im Flüsterton, Bastian wollte eben er regt antworten, als Veit zischte: „Still!" Der Pfarrer. Er hatte einen Man tel übergeworfen, seine Füße steck ten in Gummistiefeln. Kurzatmig stieß er hervor: „Verzeihung — äh — es war falsch — ich habe Ihre Worte auf der Treppe gehört", er wies auf Steffen. „Sie haben recht. Wenn sich ein Pfarrer für den Staat gegen Jesu entscheidet, wie will er da den Worten des Herrn Gehör verschaffen? Bitte, kommen Sie, seien Sie für einen Tag meine Gäste." Wohl zum. erstenmal im Leben sah Veit Steffen völlig verblüfft. Bastian drückte dem Pfarrer die Hand. „Vielen Dank. Heute abend nach dem Dunkelwerden hole ich den Freund. Und wenn Sie m a l . . . Herr P f a r r e r . . . auf mich können Sie zählen." Eilig verschwand Ba stian in der Dämmerung, das Vieh wartete. Dia fahlen Streifen am Horizont vergrößerten sich, das Licht, von den Wolken verdeckt, begann die Nacht zu verdrängen. Der Pfarrer ging voraus und bat sie freundlich ins Haus. Aromatischer Duft frisch gebrüh ten Kaffees war in der Studier stube. Eine schweigsame Haus hälterin trug lautlos auf. Herzlich bat der Gastgeber zuzugreifen. „Sie haben ein Recht, Herr Pfarrer, zu wissen, wen Sie beherbergen", be gann Veit und skizzierte kurz ihrer beider Leben. Ohne auf Einzelhei ten seiner Befreiung einzugehen, schloß er, auf Steffen weisend: 2G
„Gäbe es in unserer Partei Tapfer keitsmedaillen, so bekäme er eine. Daß ich jetzt hier sitze und nicht im Zuchthaus, verdanke ich ihm." Steffen wehrte brummig das Lob ab. Der Pfarrer betrachtete ihn wohlgefällig und sagte: „Ihr Freund ist ein Draufgänger, deshalb mag er Pfarrer nicht." „Ich achte mutige Pfarrer und hasse die Pfaffen", sagte Steffen und nahm ohne Scheu die Ziga rette, die ihm der Pfarrer anbot und mit Feuer versorgte. Veit lachte erlöst. „Seit vorhin hat er sich großartig revidiert. Da waren noch alle Pfarrer Pfaffen, und die Ausnahmen zählten nicht." „Ich kann ihn begreifen", vertei digte Pfarrer Pohlmann Steffen, „zu oft, dünkt mich, überziehen Über eifrige unsres Glaubens das Konto der Gutgläubigkeit. Ich bin nicht blind. Man muß manches schluk ken und tut es. Auch Sie werden drüben Dinge finden, die nicht zur Theorie passen. Das Leben ist oft anders. Doch es gibt eine Grenze. Wenn ich daran denke, was man nur aus unsren Zeitungen über den Herrn Verteidigungsminister er fährt. Ich will mich gar nicht auf Rundfunk und Fernsehen der andern Seite berufen." „Sie gefallen mir immer besser", sagte Steffen. Augenzwinkernd winkte Pohl mann ab. „Aber was würden Sie zu einem DDR-Pastor sagen, der einen entflohenen Sträfling auf nähme?" Die beiden Freunde wollten zu gleich antworten. Steffen nickte Veit zu und sagte: „Du hast noch immer Vortritt, Alter." „Dieser Vergleich hinkt auf bei den Beinen", erwiderte Veit. „Sie hätten weder einen Kriminellen aufgenommen noch einen Verbre cher gegen die Menschlichkeit." „Immerhin sind Sie auf Grund von Delikten verurteilt worden, die meines Wissens in allen zivilisier ten Staaten unter Strafe stehen."
Veit seufzte. „Wegen meiner Ge sinnung wurde ich verurteilt. Das widerspricht dem Grundgesetz, und soweit mir bekannt, allen Verfas sungen aller sogenannten Rechts staaten." Pohlmann war ehrlich erstaunt. „Ich entsinne mich Ihres Prozesses. Damals las ich eine ganze Liste von Beweisen." „Was von den Beweisen blieb, war gefälscht", sagte Veit sachlich. „Nach der Prozeßordnung müssen alle Beweisstücke fortlaufend pagi niert werden. Der Verfassungs schutz war so ungeschickt, seine Fabrikate mit einer andern Pagi niermaschine- und ohne Rücksicht auf die fortlaufende Bezifferung zu numerieren. Mein Rechtsanwalt bewies es, darauf ließ man diese sogenannten .Dokumente' sangund klanglos fallen." „Und als es zur Frage der Waffen kam", setzte Steffen fort, „mußte der Belastungs zeuge gestehen, daß ihn jene Gruppe fortgejagt hatte, der er die Pistole anbrachte, und man hatte ihn gefragt, welchem Provokateur er da auf den Leim gekrochen sei." „Befragt, warum er das nicht zu Protokoll gegeben habe", ergänzte Veit, „erklärte er, das habe der Verfassungsschutz gar nicht wissen wollen." Pohlmann verbarg nicht, wie ihn diese Methoden anwiderten. „Einen Hauptwitz leistete sich unser abendländischer Rechts staat", Steffen sprach die beiden letzten Wörter spöttisch akzentu iert, „bei der Verhaftung von Veit. Begründung: Präsident Lübke habe die vierjährige Bewährungsfrist rückwirkend aufgehoben." „Es war über drei Monate nach der Zeit", bestätigte Veit, „aber in den ganzen vier Jahren habe ich kein Sterbenswörtchen vernommen, daß ich die Vorschriften der Be währungsfrist verletzt hätte." Erregt wedelte Pfarrer Pohl mann das Feuer des Streichholzes
aus, mit dem er die Zigarre ent zündet hatte. „Können Sie sich nun vorstellen, mit welcher Begeisterung wir ihn herausgeholt haben?" Steffen sah den Pfarrer erwartungsvoll an. Der wischte mit der Hand durch den Zigarrenrauch und blinzelte. „Ich kann. Trotzdem werde ich nie Kommunist sein. Aber man darf nicht zögern, auf der Seite der An ständigen gegen die Unanständig keit 2U stehen." Er entschuldigte sich, die Pflicht rufe. Wenn es ihnen recht wäre, sollten die beiden Freunde in der Mansarde bis zum Mittag schlafen. Erfreut nahmen sie den Vorschlag an und glaubten eben erst eingeschlafen zu sein, als Pfarrer Pohlmann sie weckte und zu Tisch bat. Anschließend an den gemein samen Nachmittagskaffee hatte der Pfarrer wieder das „Bedürfnis zu streiten", wie er mit einem sym pathischen Blinzeln erklärte. Unter teils heftigen Disputen, teils heite ren Gesprächen spürten sie kaum, wie die Zeit verging, und waren erstaunt, als die Dunkelheit da war und Bastian erschien. Pfarrer Pohlmann war bewegt, als er die beiden. Freunde verab schiedete. „Ihre Bekanntschaft war mir ein Gewinn. Wir wissen zu wenig voneinander. Eine bessere Welt braucht das bessere Kennen lernen. Fahren Sie wohl. Ich wünsche Ihnen, Veit, ungehinderte Ankunft in ihrer neuen Heimat." Bastian stand stolz dabei und zwinkerte Steffen zu. An der Pforte sahen sich die bei den Freunde an. Steffen würde nun seinen Weg allein zur Autobahn gehen. Wann würden sie sich wie dersehen? „Ich habe ein schlechtes Gewis sen, Steffen. Du bleibst hier, und ich gehe hinüber." „Auch auf dich warten keine Piüschsofas, Veit." „Grüß die Genossen und mach's gut." 27
„Du auch. Und einen Kuß für Sabina. Auf dem Standesamt." „Wenn's nur erst soweit wäre." „Die letzte Hürde nehmt ihr auch. Dafür steht Bastian." „Ich denk schon." Ungeduldig wartete Bastian, das eine Bein be reits über dem Fahrradsattel. Sie reichten sich die Hände, Veit und Bastian fuhren in die Dunkelheit. 28
Steffen stand noch, als nichts mehr von ihnen zu sehen war. Er schluckte, der Kloß im Hals gefiel ihm nicht. Energisch wandte er sich um und pfiff leise, als er los marschierte. Veit spürte die ungewohnte Be wegung auf dem Rad bald in den Waden. Der weit ältere schien mü helos vor ihm herzugleiten. Nach
etwa einer Stunde hielt Bastian an. In einem Weidengestrüpp ver barg er die Räder, man hätte sie auch am Tage nicht gesehen. „Jetzt Augen und Ohren auf." Veit hatte seine Last vom Ge päckständer geschnallt, hakte die Riemen in die praktische Tasche und hing sie sich auf den Rücken. Sie gingen wortlos nebeneinan der. Sie gingen ohne Verabredung auf den Außenkanten ihrer Sohlen wie jemand, der meint, man müsse seine Schritte nicht unbedingt hören. Was mag er jetzt denken? Mit dieser Überlegung suchte sich Veit von der eigenen Beklemmung abzulenken. Es ging sanft bergan. Rechter Hand, den Hang hinauf, zog sich Hochwald hin, links fiel heideartiges Brachland ab, mit Strauchgruppen bestanden. Wie gestern nacht war der bleiche Mondrest öfter von Wolken ver deckt, aber wenigstens regnete es nicht. Gestern hatte Veit in jeder Sekunde gehandelt. Jetzt machte er einen Spaziergang. Trotzdem waren seine Nerven zum Zerspringen gespannt. Geräusche, Schatten. Wäre es gestern schiefgegangen, man hätte es tragen müssen mit dem lakonischen Wort mißglückt. Heute ging es ums Leben. An der Grenze stand es hart auf hart. Zuviel hatte er in den letzten vierundzwanzig Stunden erlebt. Gefahr, Freundestreue, Bemühun gen ihm völlig fremder Menschen und — das Wiedersehen mit Sabina. Veit stellte sich vor, wie sie bei den Verwandten wartete, Woche um Woche, während er längst ver scharrt war: Bei illegalem Grenz übertritt erschossen! Er ärgerte sich des Schweißausbruchs und fuhr unwirsch mit dem Ärmel über das Gesicht. Schmal schlängelte sich der Pfad neben den Wagenspuren, und sie gingen jetzt hintereinander. Es war Veit ganz recht. So konnte er öfter rückwärts schauen, ohne Bastian nervös zu machen.
Sicher stapfte der Alte voran. Der dunkle Rücken vor Veits Ge sicht war breit und leicht gebeugt. Was hätte er ohne Bastian getan? Hätte er ihn allein gewagt, diesen leisen Gang mit dem lauten Häm mern in den Schläfen, dem starken Klopfen in der Halsschlagader? Am liebsten hätte Veit den Alten herzlich geknufft und gesagt, der Knast scheint mir nur noch halb so schlimm, weil ich dich kennen gelernt habe. Plötzlich stand der Mann mit dem ruhigen Gehabe still wie ein Baum. Veit verhielt neben ihm, atemlos. „Runter!" zischte Bastian. Sie ließen sich fallen, rollten sich ins Farnkraut unter den Hochstäm men. Liegend lauschten sie. Bastian hatte unhörbar ein Büschel vor sich niedergedrückt, die Silhouette sei nes vorgestreckten Kopfes war wie ein Sinnbild angestrengten Schau ens. Veit hatte nichts anderes ge hört als das Raunen und Knacken der Bäume. Er starrte in die Blick richtung Bastians und konnte nichts ausmachen. Bauern sind dichter an der Erde dran, suchte er sich zu entschuldigen, sie hören und sehen besser. Dieses Starren war qualvoll und beruhigend zu gleich: Solange du hier liegst, ge schieht dir nichts. Endlich flüsterte Bastian, und sein Körper schien sich zu entspannen: „Zwei vom Grenzschutz. Da dauert's ein biß chen, bis sie ihre Tour zurück ma chen." Als sie sich wieder erhoben hatten, hasteten beide, Bastian vor an, in der Schwärze des Waldsau mes vorwärts. Hinter einem Baum blieb Bastian stehen und blickte zum Himmel. Als die Wolken die Mondsichel freigaben, wies er nach unten. „Dort, diese Senke, da verläuft der geeggte Streifen." „Da kann ich ja hier immer am Hochwald..." „Nein", zischte Bastian, „so kommst du vom Streifen weg, aber dort drüben macht er die tiefste 29
Ausbuchtung auf unserer Seite. Du mußt jetzt von Busch zu Busch. Flink, aber nicht wie ein Irrer. Immer lauschen und Augen auf. Dann mit Carocho über den Strei fen und ein Stück weiter, daß dich kein Schuß mehr erreichen kann. Von da gibst du ein Blinkzeichen, kurz-kurz. Das heißt: geschafft." Beim Wort Schuß war es Veit kalt über den Rücken gelaufen. Man durfte nicht daran denken. Nach all dem und so kurz vor dem Ziel. Bastians Gesicht war dicht vor dem seinen. Sie gaben sich die Hand, sahen sich in die Augen.
Seine Bewegung zu verbergen, flüsterte Bastian: „Du schaffst es. Dort schräg hinunter, und den Mond im Rücken behalten." Veit huschte davon. Bastian stand unbeweglich am Baum und starrte ihm nach. Manchmal noch war es wie ein Schatten dort unten zwischen den Büschen. Dann mußte er lange warten, und er wußte, daß es nur Sekunden waren, die nicht zerrinnen wollten. Endlich sah er es drüben zweimal kurz auf blitzen. „Na also", sagte der alte Bauer, wandte sich lautlos lachend um und ging den schweren Weg zurück.
A. u, B. Slrugazki
Ein Roboter bricht aus Der Roboter Urm verspürte Langeweile. Er kannte alles ringsum genau bis ins kleinste. Seitdem er existierte, kannte er diesen großen quadra tischen Raum mit den grauen rauhen Wänden, der niedrigen Decke und der Eisentür. Es roch hier stets nach erwärmtem Metall und Maschinenöl. Von oben drang ein vages tiefes Brummen hierher, das die Menschen ohne Spezialgeräte nicht vernehmen konnten, Urm aber hatte ein vor treffliches Gehör. Die Tageslichtlampen an der Decke brannten nicht, doch Urm sah alles im Raum dank seiner Infralichtanlage und den Im pulsspeichern. Urm empfand also Langeweile und beschloß, sich auf die Suche nach neuen Eindrücken zu machen. Er tat einen wuchtigen Schritt vorwärts und bewegte sich auf die Tür zu . . .
Abenteuer, Reisen, Geschichten aus Vergangenheit und Gegenwart von deutschen und ausländischen Autoren in der
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Asteroidenjäger Utopischer Roman BAND 37 D i e N a c h t auf d e m W a l f i s c h Seeabenteuer BAND 46 • WOLFGANG BATOR
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