Das Buch zum Film mit Tom Hanks, Bill Paxton, Kevin Bacon, Gary Sinise und Ed Harris
Deutsch von Karl Georg
GOLDMANN ...
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Das Buch zum Film mit Tom Hanks, Bill Paxton, Kevin Bacon, Gary Sinise und Ed Harris
Deutsch von Karl Georg
GOLDMANN VERLAG
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel »Lost Moon« bei Houghton & Mifflin, New York Deutsche Erstausgabe Oktober 1995 Copyright © 1994 by Jim Lovell und Jeffrey Kluger All rights reserved
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1995 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung: Design Team München Cover art photography © Universal Pictures Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: Elsnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 42998 Redaktion: Ute Thiemann T. T. • Herstellung: Ludwig Weidenbeck Made in Germany ISBN 3-442-42998-6
Houston, Texas. 11. April 1970. Um exakt 13 Uhr 13 zünden die Triebwerke des Raumschiffs Apollo 13. Zwei Tage später steuert es plangemäß die Mondumlaufbahn an, als plötzlich eine heftige Explosion das Schiff erschüttert. Sehr schnell fällt die Bordenergie aus. Während der Sauerstoff in der Kapsel immer knapper wird, suchen Captain Jim Lovell und seine zweiköpfige Crew fieberhaft nach einem Ausweg. Schließlich unternehmen sie den scheinbar aussichtslosen Versuch, mit Hilfe der kleinen Mondfähre heil zur Erde zurückzukehren. Doch der Sauerstoffvorrat reicht nur 48 Stunden – und dann muß die Fähre das Eintauchen in die Erdatmosphäre überstehen. Die dramatischsten vier Tage in der Geschichte der amerikanischen Raumfahrt brechen an…
Diese wahre Abenteuergeschichte ist den erdgebundenen Astronauten gewidmet: meiner Frau Marilyn und meinen Kindern Barbara, Jay, Susan und Jeffrey, die in jenen vier Tagen im April 1970 meine Ängste und Sorgen teilten. JIM LOVELL
In Liebe für meine Familie – im engsten und im weiteren Sinn, einst und jetzt –, die dafür sorgte, daß ich immer auf einer festen Umlaufbahn blieb. JEFFREY KLUGER
Prolog
Montag, 13. April 22:00 Uhr, Ortszeit Houston Niemand wußte, wie die Geschichten über die Giftkapseln entstanden waren. Die meisten Menschen hatten davon gehört, und die Mehrzahl glaubte sie sogar. Die Presse und die breite Öffentlichkeit mit Sicherheit, aber sogar ein paar Leute bei der Raumfahrtbehörde. Ein neuer Mann trat an seinem ersten Arbeitstag bei der NASA an, begegnete zum ersten Mal einem Besatzungsmitglied, und sobald er wieder an seinem Schreibtisch saß, wandte er sich an den Mann neben ihm und wollte wissen: Haben Sie schon von diesen Giftkapseln gehört? Jim Lovell mußte bei diesen Giftkapselgeschichten immer lachen. Giftkapseln! Vergiß es! Es gab einfach keine Situation, in der man jemals ernsthaft einen, nun ja, vorzeitigen Abgang in Erwägung zog. Und selbst wenn es eine gäbe, hatte man allerhand Möglichkeiten, es leichter hinter sich zu bringen als durch Gift. Schließlich gab es in der Kommandokapsel eine Vorrichtung zum Abblasen des Sauerstoffs. Ein Handgriff, und der angenehme Innendruck von fünf Pfund pro Quadratzoll (pounds per square inch = psi) würde augenblicklich auf Null abfallen. Die Atmosphäre in der Kapsel würde ins Vakuum entweichen, den Astronauten würde schlagartig die Luft aus der Lunge gerissen, ihr Blut würde auf der Stelle – und buchstäblich – ins Kochen geraten, während Gehirn und Körper verzweifelt nach Sauerstoff verlangten, und der gesamte Organismus würde unter diesem Schock schlicht und einfach zusammenbrechen. In ein paar Sekunden wäre alles
vorbei – rasch und schmerzlos. Der Tod würde keineswegs langsamer eintreten als durch irgendeine lächerliche Giftkapsel, und es wäre auf jeden Fall ein weitaus ehrenvollerer Tod. Natürlich mußte weder Lovell noch jemand anders auch nur eine Sekunde darüber nachdenken, was diese Abblasvorrichtung bewirken konnte. Keiner der Astronauten in einer der zuvor gestarteten zweiundzwanzig Raumkapseln war jemals in eine Situation geraten, in der er diesen letzten Ausweg hätte in Erwägung ziehen müssen. Lovell selbst war in drei dieser Kapseln mitgeflogen, und er hatte die Atemluft immer nur zum vorgesehenen Zeitpunkt ablassen müssen: Nach Beendigung des Fluges, wenn das Raumfahrzeug im Meer schwamm und die Fallschirme auf dem Wasser trieben, wenn die Froschmänner sich der Farbmarkierung näherten und der Rettungskäfig vom Hubschrauber heruntergelassen wurde, wenn die Kapelle auf dem Flugzeugträger die Instrumente stimmte und er die kleine Rede probte, die er halten mußte, bevor er sich zur medizinischen Untersuchung, zu einer abschließenden Einsatzbesprechung und dann unter die Dusche begab. Bis heute hatte es so ausgesehen, als verliefe dieser Flug ebenso routinemäßig wie alle anderen. Tatsächlich war es auch so gewesen, bis heute abend, laut Ortszeit in Houston – obgleich es hier draußen, 320000 Kilometer von zu Hause entfernt und nach fünf Sechsteln der Strecke zum Mond, keine Rolle spielte, welche Zeit man in Südtexas schrieb. Aber egal, welcher Zeitpunkt – dieser Flug ins Weltall steckte mit einem Mal in Schwierigkeiten. Im Augenblick ging im Inneren der Kapsel fast zuviel auf einmal vor sich, als daß Lovell und seine beiden Astronautenkollegen noch den Überblick behalten konnten, aber ihr Hauptaugenmerk galt dem Sauerstoff, der beinahe zu Ende war, der Energie, die beinahe aufgebraucht
war, und dem Haupttriebwerk, das wahrscheinlich – auch wenn sich dies nicht mit Bestimmtheit feststellen ließ – ausgefallen war. Es war eine denkbar schlechte Lage, genau die Lage, die sich die Presse, die Öffentlichkeit und die Neulinge bei der Weltraumbehörde ausmalten, wenn sie nach den Giftkapseln fragten. Lovell und seine Kameraden indes dachten nicht an Gift, Abblasen oder dergleichen. Sie überlegten vielmehr, wie sie die Energieversorgung, die Sauerstoffzufuhr und alle anderen Schäden an ihrem Raumfahrzeug wieder in Ordnung bringen könnten. Ob sie es tatsächlich konnten, war fraglich. Noch nie war ein Raumschiff so weit von zu Hause entfernt in eine derart mißliche Lage geraten. Den Leuten in Houston war gar nicht wohl zumute, und dies teilten sie per Funk auch mit. »Apollo 13, bei uns arbeiten jede Menge Leute daran«, meldete sich eine Stimme aus der Mission Control, der Bodenkontrolle in Houston. »Wir werden euch Bescheid geben, sobald wir etwas haben. Ihr werdet es als erste erfahren.« »Oh«, erwiderte Lovell, und seine Stimme klang gereizter als beabsichtigt. »Vielen Dank.« Lovell war deswegen so ungehalten, weil Houston aufgrund ihrer Berechnungen nur eine Stunde und vierundfünfzig Minuten Zeit hatte, sich etwas einfallen zu lassen. Länger reichten nämlich die Sauerstofftanks in der Kapsel nicht. Danach würde sich die Kapsel, deren Innenraum etwa den Ausmaßen eines großen Autos entsprach, allmählich mit dem Kohlendioxid ihrer verbrauchten Atemluft füllen, und die Besatzung würde keuchend, schwitzend und mit weit aufgerissenen Augen langsam ersticken. Sollte dies geschehen, dann würde die führerlose Kapsel weiter in Richtung Mond fliegen, seine Rückseite umrunden und mit einer
Geschwindigkeit von bis zu 40000 Kilometern pro Stunde wieder auf die Erde zusteuern. Leider würde sie nicht genau auf die Erde zufliegen, sondern den Heimatplaneten um rund 64000 Kilometer verfehlen und in eine weite, elliptische Umlaufbahn eintreten, auf der sie 384000 Kilometer weit ins Weltall hinausgetragen werden würde, dann zurück in Richtung Erde und wieder hinaus ins All, und so weiter und so fort – ein grausig sinnloser, nie endender Kreislauf, der leicht diejenigen überdauern konnte, die ihn in Gang gesetzt hatten. Jahrtausendelang würde die Menschheit die dahinsausende Kapsel mit Lovell und seinen Astronautenkollegen sehen können, konserviert für alle Ewigkeit, ein blinkendes, höhnisches Mahnmal an die Technologie des zwanzigsten Jahrhunderts. Das reichte, damit die Menschen auf die Giftkapseln zu sprechen kamen.
Montag, 13. April, 23:30 Uhr, Ostküstenzeit Jules Bergman knöpfte seinen grauen Blazer zu, zog die blauschwarze Krawatte zurecht und schaute in die Kamera, während der Countdown lief. Noch zehn Sekunden bis Sendebeginn. Das Stimmengewirr um ihn herum wurde leiser, wie immer kurz vor einer Sendung. Bergman würde nur etwa eine Minute Zeit für seinen Live-Bericht haben, und er wußte, daß er, wie bei allen derartigen Sondermeldungen, in der kurzen Zeitspanne möglichst viele Informationen unterbringen mußte. Seit Bergmans Eintreffen herrschte eine angespannte Atmosphäre im Studio. Keiner der mit Raumfahrt befaßten Mitarbeiter hatte damit gerechnet, so spätabends noch hier zu sein, aber als die Nachrichten der Presseagenturen aus Houston
eintrafen und die ABC-Korrespondenten ihre zusammenhanglosen Notizen durchgaben, schienen die Menschen von überall herbeizuströmen. Ein Anfänger wäre vielleicht von der Schnelligkeit beeindruckt gewesen, mit der die gigantische Nachrichtenmaschinerie des Senders in Schwung kam, aber Bergman war kein Anfänger. Für ihn war es lediglich ein Rätsel, wieso ein großer Nachrichtensender auch nur daran denken konnte, die Kameras abzuschalten und Feierabend zu machen, wenn ein Raumfahrzeug mit Astronauten an Bord 320000 Kilometer fern der Heimat war. Bergman berichtete seit Alan Shepards kurzem suborbitalen Flug im Jahre 1961 über bemannte Weltraumfahrt, und er hatte seither die Erfahrung gemacht, daß es einen garantiert den Kopf kostete, wenn man in diesem Geschäft davon ausging, daß ein ruhiger Flug auch weiterhin ruhig bleiben würde. Bergman hatte sich wie kein anderer Journalist vor ihm die Aufgabe gesetzt, alles über Weltraumflüge zu lernen; er hatte sich in Zentrifugen herumwirbeln lassen, war in Flugzeugen aufgestiegen, in denen Schwerelosigkeit simuliert wurde, hatte sich in abgeworfenen Rettungsflößen aussetzen lassen, und all das nur, um besser zu verstehen und den zahlenden Zuschauern besser erklären zu können, welch schmalen Grat die Piloten beschatten. Der Haken war nur, daß die Zuschauer derzeit anscheinend keine Erklärungen wollten. Das hier war nicht Shepards Mercury 3 oder Glenns Mercury 6, und mit Sicherheit war es nicht Apollo 11 mit Neil Armstrong, Michael Collins und Buzz Aldrin an Bord – jener großartige Flug, bei dem vor knapp neun Monaten zum erstenmal Menschen auf dem Mond gelandet waren. Das hier war Apollo 13, die dritte geplante Mondlandung, und im Frühling des Jahres 1970 langweilte man sich sowohl im Sender als auch im ganzen Land über solche Berichte.
Statt der allerneuesten Nachrichten vom Mond strahlte man bei ABC die Dick Cavett Show aus. Cavett würde mit Susannah York, James Whitmore und ein paar Mitgliedern der New York Mets reden, der Weltmeistermannschaft, aber in den ersten Minuten der heutigen Abendsendung stimmte er die Zuschauer wenigstens in Gedanken auf den Mondflug ein. »Ist ein großartiger Tag heute in New York«, flachste Cavett mit seiner Band und dem Publikum, bevor seine Gäste vorgestellt wurden. »Ein Wetter zum Mädchenangucken. Apropos Mädchenangucken. Haben Sie gewußt, daß unser erster lediger Astronaut unterwegs zum Mond ist? Swigert heißt er, stimmt’s? Ein Typ, der angeblich in jedem Städtchen ein Mädchen sitzen hat. Nun, das mag schon sein, aber ich halte es bei allem Optimismus doch für etwas naiv, Nylonstrümpfe und Pralinen zum Mond mitzunehmen.« Das Publikum lachte artig. »Und haben Sie gelesen, daß diesen Raketenstart drei Millionen Zuschauer weniger verfolgt haben als den letzten? Colonel Borman war neulich hier, und er gab zu, daß die Raketenstarts irgendwie ihren Reiz verlieren. Aber um fair zu sein: Es mag auch daran gelegen haben, daß es ein schöner Tag war und viele Leute draußen waren, und viele Leute haben vielleicht auch gedacht, der Start wäre bloß eine Wiederholung vom letzten Sommer.« Wieder lachte das Publikum artig. Während Cavett redete, beendete Jules Bergmans Regisseur im Nachrichtenstudio der ABC den Countdown von zehn bis eins, und auf einmal erschienen auf dem Bildschirm statt des Talkmasters in roten Buchstaben die Worte »Apollo 13« und in Hellblau »Sonderbericht«. Eine Sekunde später war statt des Textes Bergmans Gesicht zu sehen. »Im Raumschiff Apollo 13 hat sich ein folgenschweres Versagen der Elektronik ereignet«, begann er, »durch das die Astronauten sich zwar nicht in unmittelbarer Gefahr befinden,
das aber eine Mondlandung nicht mehr zuläßt. Sekunden nach einer Inspektion der Raumfähre ›Aquarius‹ krochen Jim Lovell und Fred Haise zurück in die Kommandokapsel und berichteten dann, sie hätten einen lauten Knall gehört, gefolgt von einem Druckabfall in zwei von drei Brennstoffzellen. Ferner meldeten sie, sie könnten sehen, daß Treibstoff, offenbar Sauerstoff und Stickstoff, aus dem Raumschiff entweicht, und die Meßgeräte für diese Gase stünden auf Null. Mission Control hat den Astronauten befohlen, die Energieversorgung des Raumschiffes herunterzufahren und die Stromversorgung abzuschalten, während Spezialisten nach einer Lösung dieser Probleme suchen. Ohne diese drei Brennstoffzellen wird es problematisch werden, genügend Energie für die Zündung des Haupttriebwerks zu beziehen, das sie zurück zur Erde bringen soll. Ein weiteres Problem, dessen Ausmaß erst noch ermittelt werden muß, stellt der offensichtliche Sauerstoffverlust in der Kommandokapsel dar. Mission Control bestätigte, daß es sich um ernsthafte Probleme handelt, wiederholte aber, die Astronauten an Bord von Apollo 13 seien nicht unmittelbar gefährdet. Allerdings bestehe die Gefahr, daß der Flug abgebrochen werden müsse.« So rasch, wie er aufgetaucht war, verschwand Bergman vom Bildschirm, und an seiner Statt erschien abermals der fröhliche Dick Cavett. Das Stimmengewirr im Studio erhob sich wieder, kaum daß die Kamera abgeschaltet war. Die in Sachen Raumfahrt erfahrenen Mitarbeiter waren alles andere als zufrieden mit den Nachrichten, die sie gerade ausgestrahlt hatten. Die Astronauten waren also »nicht unmittelbar gefährdet«? War das die offizielle Darstellung der NASA? Wie man nicht unmittelbar gefährdet sein konnte, wenn man fast eine halbe Million Kilometer entfernt war und kaum noch Sauerstoff zum Atmen hatte, war unklar, aber höchstwahrscheinlich würde die Raumfahrtbehörde bald schon
mit anderen Prognosen aufwarten. Die Sprecher der NASA sträubten sich immer, das Wort »Notfall« auszusprechen, und beließen es lieber bei einer »Panne«, aber wenn sie sich mit einer ausgewachsenen Krise konfrontiert sahen, gaben sie es normalerweise auch zu. Das Studio in New York war bereits telefonisch mit David Snell, dem Korrespondenten in Houston, verbunden, um die neuesten Verlautbarungen der Raumfahrtbehörde zu erhalten. Berater von North American Rockwell (vormals North American Aviation), der Firma, die das Raumschiff gebaut hatte, wurden bereits ins Studio gebeten, um die aufgetretenen Schwierigkeiten zu erklären. Auf der anderen Seite des Studios ratterten die neuesten Berichte der Presseagenturen aus Houston über die Fernschreiber, und die Nachrichtenredakteure eilten hin, rissen sie ab und reichten sie Bergman. Nur Minuten nach Ausstrahlung seines verhalten optimistischen Berichtes mußte der Journalist feststellen, daß sich die Prognosen in der Tat geändert hatten – und keineswegs zum Guten. Die Kommandokapsel von Apollo 13, so wurde nun in den neuesten Verlautbarungen der NASA eingeräumt, war ohne jede Luft- und Energieversorgung; die Astronauten mußten, so wie es jetzt aussah, ihr Schiff verlassen und sich in die Mondfähre begeben; und sie befanden sich, wie die Raumfahrtbehörde nun zugab, tatsächlich in Lebensgefahr. Inzwischen bereitete der Regisseur die Kameramänner auf eine weitere Sondersendung vor. Heute abend würde es bestimmt keinen Dick Cavett mehr geben.
1
27. Januar 1967 Jim Lovell weilte zum Dinner im Weißen Haus, als sein Freund Ed White verbrannte. Eigentlich gab es gar kein richtiges Dinner, lediglich Sandwiches, Orangensaft und einen mittelmäßigen Wein, die auf gedeckten Tischen im Green Room aufgetragen wurden. Doch da die Sonne eben untergegangen war und Lovell an diesem Tag keine andere Verabredung zum Essen hatte, kam es einem Dinner ziemlich nahe. Eigentlich verbrannte Ed White auch nicht. Der Qualm tötete ihn, nicht die Flammen. Es dauerte schätzungsweise nur fünfzehn Sekunden, bis er – zusammen mit Gus Grissom, dem Kommandanten, und Roger Chaffee, dem rangniedrigsten Besatzungsmitglied – an den giftigen Dämpfen erstickte, die sie einatmeten. Letzten Endes war es so vermutlich besser. Niemand wußte genau, wie heiß es im Cockpit geworden war, aber wenn man bedenkt, daß die Kapsel mit reinem, hochentzündlichem Sauerstoff gefüllt war, dürfte das Thermometer auf über 750 Grad gestiegen sein. Bei einer derartigen Temperatur gerät Kupfer ins Glühen, schmilzt Aluminium, und Zink geht in Flammen auf. Gus Grissom, Ed White und Roger Chaffee – empfindliche Wesen aus Haut und Haaren, Fleisch und Knochen – hatten nicht den Hauch einer Chance. Jim Lovell konnte nicht wissen, was den drei Männern zugestoßen war. Im Augenblick konzentrierte sich Lovell auf seine Aufgabe, und die bestand darin, daß er die Runde
machte, den Leuten die Hand schüttelte und ein paar Worte mit ihnen plauderte. Etliche Würdenträger hatten sich versammelt, um die Happen und Getränke des Weißen Hauses zu verdrücken, und Lovell hatte die Aufgabe, so viele wie möglich zu begrüßen. Die Einladungskarte, die man Lovell per Post zugesandt hatte, war in bezug auf diesen Teil seiner Aufgabe eindeutig gewesen: »Green und Blue Room für Fotoaufnahmen mit Botschaftern und Händeschütteln«, stand darauf. Derartige Abendempfänge waren für Lovell natürlich nichts Ungewohntes, und die Offenheit bei der Einladung überraschte ihn nicht. Es handelte sich einfach mal wieder um das übliche »Herumreichen«, wie er und die anderen Mitglieder des Astronautenkorps so etwas nannten. Anlässe, bei denen irgendein Gouverneur oder Handelskammerpräsident zum Abrunden eines Empfangs einen Raumfahrer zum Vorzeigen brauchte, worauf die NASA einen oder zwei Besatzungsmitglieder für eine Party abstellte, damit sie sich mit dem Gastgeber fotografieren ließen und für gute Laune sorgten. Auf diese Tour verstanden sich alle Astronauten, besonders aber Lovell. Mit einer Größe von einem Meter achtzig, einem Gewicht von 77 Kilogramm und dem typischen Aussehen eines Mannes aus dem Mittleren Westen war er geradezu ein Bilderbuchastronaut – ideal für einen Prominenten, der genau das richtige Foto für die Wand in seinem Büro brauchte. An diesem Abend indessen würde es weniger Gelegenheiten für derartige Fotos geben als sonst. Laut Einladungskarte sollte der Empfang pünktlich um 17:14 Uhr – da stand tatsächlich 17:14 – beginnen und spätestens um 18:45 Uhr enden. Unklar war, was man sich im Weißen Haus von den zusätzlichen 60 Sekunden am Anfang erhoffte, aber Lovell und die anderen vier Astronauten hatten nichts weiter zu tun, als 91 Minuten lang zur Verfügung zu stehen und die
Gäste abzuklappern. Danach stand es ihnen frei, loszuziehen und Washington zu genießen. Wenn Lovell sich schon anderthalb Stunden lang irgendwo herumreichen lassen mußte, dann gab es, ehrlich gesagt, Schlimmeres als das Weiße Haus. Lyndon Johnson, der bei derartigen Stehempfängen immer zu Bestform auflief, war anwesend, und Lovell freute sich darauf, den Präsidenten begrüßen zu können. Die beiden waren sich etwa einen Monat vorher zum ersten Mal begegnet, als Lovell und sein Copilot Buzz Aldrin zu einer Ansprache mit anschließender Ordensverleihung auf Johnsons Ranch eingeladen worden waren. Das war kurz nach der Landung ihrer Gemini-12Kapsel im Atlantik gewesen, dem letzten einer ungemein erfolgreichen Reihe von zehn Flügen in diesem winzigen Raumfahrzeug. Insgeheim hatte Lovell das Gefühl gehabt, er habe den Orden eigentlich gar nicht verdient. Nicht daß der Flug kein Riesenerfolg gewesen wäre; nicht daß sie die bei dieser Mission vorgesehenen Aufgaben nicht erfüllt hätten. Aber bei den neun vorausgegangenen Flügen waren ebenfalls fast alle Aufgaben erfüllt worden, und ohne die bei Gemini 3 bis 11 gesammelten Erfahrungen wäre Gemini 12 gar nicht möglich gewesen. Johnson jedoch liebte große Gesten, und im Verlaufe dieses letzten Gemini-Fluges – als Lovell seine Zweimannkapsel so mühelos an eine unbemannte AgenaRakete ankoppelte, als rangiere er einen Pontiac in eine Parklücke; als Buzz ausstieg und auf der Agena mitflog wie ein Kuhreiher auf dem Rücken eines Rhinozeros – wurde der Präsident immer zufriedener mit seinem Milliarden Dollar teuren Raumfahrtprogramm. Kaum waren Lovell und Aldrin im Meer niedergegangen, als Johnson auch schon Fotografen und Redenschreiber bestellen ließ und die Helden zu einer kleinen Feierstunde ins gastfreundliche Südtexas einlud.
Hinterher hatte Lovell eine Schwäche für den Präsidenten und zählte sich zu Johnsons größten Bewunderern. Aber selbst wenn heute kein hoher Regierungsvertreter dagewesen wäre, hätte sich die Teilnahme an dem Empfang gelohnt. An diesem Abend ging es darum, die Unterzeichnung einer vieldiskutierten und nüchtern als ›Vertrag über die Prinzipien der Tätigkeit der Staaten auf dem Gebiet der Erforschung und Nutzung des Weltraums‹ bezeichneten Vereinbarung zu feiern. Lovell wußte, daß es sich um keinen weltbewegenden Vertrag handelte; es war kein zweites Versailles, kein Appomattox, und es handelte sich auch nicht um eine Übereinkunft zum Verzicht auf Kernwaffenversuche. Es handelte sich vielmehr um einen typischen Vertrag, wie er geschlossen wird, weil, wie die Diplomaten sagen, »etwas zu Papier gebracht werden sollte«. Dieses Etwas hatte mit dem Weltraum zu tun – genauer gesagt mit den Grenzen, die den Weltraum definieren. Seit die erste Proto-Nation erstmals ihr Revier auf dem Boden der ersten besiedelten Savanne absteckte, hatten Staaten ihre Grenzen ständig ausgedehnt. Es begann mit einem Kreis um das Lagerfeuer, und schließlich kann eine Dreimeilenzone im Meer vor der Küste hinzu. In den letzten zehn Jahren, seit dem Beginn des Raumfahrtzeitalters, waren aus den drei Meilen zweihundert Meilen geworden, und aus der Expansion nach außen war eine Expansion nach oben geworden, und die Völker der Welt hatten darüber debattiert, ob und wie künftig die Grenzen dieser höchst exotischen neuen Gebiete abgesteckt werden könnten. Das Abkommen, das heute von über sechzig Nationen unterzeichnet wurde, sollte dafür sorgen, daß es keinerlei Grenzen gab. Unter anderem enthielt es Garantien dafür, daß der Weltraum niemals militärisch genutzt werden würde, daß kein Land einen Teil des Orbits zu seinem Eigentum erklären
dürfte, und daß es keinerlei territoriale Ansprüche auf dem Mond, dem Mars oder irgendeinem anderen Planeten geben sollte, zu denen die Menschheit eines Tages fliegen könnte. Für Lovell und die anderen an diesem Abend anwesenden Astronauten war jedoch Artikel 5 des Dokuments wichtiger – eine Sicherheitsklausel betreffs der Rückkehr von Raumfahrern. Dieser Bestandteil des Vertrages garantierte, daß kein Astronaut oder Kosmonaut, der vom Kurs abkam und auf feindlichem Gebiet niedergehen mußte, sei es zu Lande oder zu Wasser, gefangengenommen und von den Sicherheitskräften des betroffenen Landes abtransportiert werden durfte. Vielmehr sollten sie als »Repräsentanten der Menschheit« behandelt und »sicher und unverzüglich in das Land zurückgeführt werden, in dem ihr Raumfahrzeug registriert ist«. Beim Zusammenstellen der Astronautendelegation heute abend hatte die NASA eine sorgfältige Wahl getroffen. Neben Lovell, der zweimal im Rahmen des Gemini-Programms geflogen war, war Neil Armstrong anwesend, ein erfahrener Testpilot der NASA, dessen einziger Gemini-Flug – zehn Monate zuvor mit Gemini 8 – um ein Haar unglücklich geendet hätte, als plötzlich seine Manövrierraketen versagt hatten, worauf die Kapsel mit haarsträubenden 500 Umdrehungen pro Minute ins Rollen und Gieren geraten war, so daß die Flugkontrolle sich gezwungen gesehen hatte, den Einsatz abzubrechen und ihn im erstbesten Ozean – notfalls auch in einem Ententeich – herunterzubringen. Außerdem war Scott Carpenter zugegen, dessen Mercury-Flug vor fünf Jahren beinahe ebenso schiefgegangen wäre, als er auf der letzten Umlaufbahn zuviel Zeit mit astronomischen Experimenten verschwendete, das Fluglage-Steuersystem nicht richtig bediente und 400 Kilometer von den Bergungstrupps entfernt im Atlantik niederging. Während die Navy in aller Eile
hindampfte, hockte der zweite Amerikaner, der die Erde umkreist hatte, in seinem Rettungsfloß, verzehrte seine Notration und suchte den Horizont nach einem Schiff ab, das, wie er verzweifelt hoffte, das Sternenbanner gehißt hatte. Sowohl Armstrong als auch Carpenter hätten bei ihren Flügen die durch den jetzigen Vertrag gewährten Garantien gut gebrauchen könnten, und das war zweifellos einer der Gründe, weshalb die NASA sie heute abend hergeschickt hatte. Die Anwesenheit der beiden anderen Mitglieder der Delegation, Gordon Cooper und Dick Gordon, war schwerer zu erklären, aber wahrscheinlich hatte die NASA einfach gelost und die ersten beiden Namen genommen. Lovell wurde gleich zu Beginn des Empfangs von Johnson begrüßt – nur ein kurzes Hallo, nicht vergleichbar mit dem Katzbuckeln des Präsidenten nur einen Monat zuvor – und schlenderte dann zum Büffet, um sich ein Sandwich zu organisieren und die herumstehenden Würdenträger zu begutachten. Ihm stand allerhand Arbeit bevor. Kurt Waldheim aus Österreich war anwesend; Patrick Dean, der britische Botschafter, war gekommen; Anatoly Dobrynin von der sowjetischen Botschaft hatte sich eingefunden; Dean Rusk, Averell Harrimen und Arthur Goldberg vertraten die Vereinigten Staaten. Die Anwesenheit so vieler geopolitischer Größen hatte auch etliche Volksvertreter vom Capitol Hill angelockt, darunter Everett Dirksen, den Oppositionsführer im Senat, Senator Albert Gore senior aus Tennessee sowie die Senatoren Eugene McCarthy und Walter Mondale aus Minnesota. Andere Washingtoner Prominenz hatte sich ebenfalls eine Einladung verschafft. Lovell mischte sich unter die Menge, grüßte hier, plauderte dort, bis er schließlich Hubert Humphrey entdeckte, der mit Carpenter und Gordon ins Gespräch vertieft war. Als er sich ihnen näherte, hörte er, wie der Vizepräsident in seinem
typisch näselnden Tonfall wie immer eindringlich auf die beiden einredete. »Das ist ein wegweisender Vertrag, einfach wegweisend«, sagte Humphrey gerade, als Lovell zu ihnen stieß. »Jeder profitiert davon, sogar die Länder, die kein eigenes Raumfahrtprogramm haben, weil die Supermächte die außerirdischen Gefilde nicht militärisch nutzen werden.« »Die Astronauten haben das immer unbedingt befürwortet«, sagte Carpenter, der damit die Grundeinstellung der NASA wiedergab, eine Einstellung, an die er von ganzem Herzen glaubte. »Zwischen den amerikanischen und den russischen Besatzungen herrscht schon lange ein kameradschaftliches Verhältnis. Wir waren immer der Meinung, daß die friedliche Erforschung eine zu große Aufgabe für ein einzelnes Land ist.« »Viel zu groß«, pflichtete Humphrey bei. »Worüber sich die Astronauten die meisten Sorgen machen«, sagte Lovell, nachdem er sich vorgestellt hatte, »ist die Frage der Sicherheit. Wäre schön zu wissen, daß wir jedes Land überfliegen können, sogar ein feindliches, und im Falle einer Notlandung jederzeit herzlich empfangen werden.« »Das ist eine der wichtigsten Zielsetzungen dieses Vertrages«, antwortete der Vizepräsident. »Die Sicherheit der Astronauten.« Die Astronauten plauderten noch etwa ein, zwei Minuten mit Humphrey Gerade lange genug, damit die Regierung merkte, daß die von der NASA abgestellten Botschafter des guten Willens ihre Aufgabe ernst nahmen, aber so kurz, daß auch andere Gäste beim Vizepräsidenten zum Zuge kamen. Die drei Männer wollten sich gerade trennen, um weitere Gäste zu begrüßen, als Lovell plötzlich unruhig wurde. Bei der Anspielung auf die Sicherheit der Astronauten war ihm wieder etwas eingefallen, um das er sich Sorgen machte.
»Wann hat heute der Countdown am Cape angefangen?« fragte Lovell beim Weggehen Gordon. »Am frühen Nachmittag«, antwortete Gordon. Lovell schaute auf seine Uhr. Es war kurz nach sechs. »Dann sollten sie bald fertig sein«, sagte er. »Gut.« Der Test, um den es ging, war keine Kleinigkeit. Heute hatte die NASA eine umfassende Generalprobe für den Countdown zum ersten Einsatz eines Apollo-Raumfahrzeuges angesetzt, der in drei Wochen beginnen sollte. Falls alles gelaufen war wie geplant, müßte in diesem Augenblick die Einstiegluke der Kommandokapsel geschlossen werden, so daß sich die dreiköpfige Besatzung in einer geschlossenen Atmosphäre aus reinem Sauerstoff bei einem Druck von 16 Pfund pro Quadratzoll (psi) befand. Lovell selbst hatte unzählige solcher Tests mitgemacht. Von Natur aus bestand bei einem Countdown-Test keinerlei Gefahr, aber bei der Raumfahrtbehörde bekam man auf Anfrage immer wieder zu hören, sie könnten es kaum abwarten, bis dieser hier vorbei sei. Es war natürlich nicht die Besatzung, die Anlaß zur Sorge gab. Gus Grissom, der Kommandant, war sowohl im Mercuryals auch im Gemini-Programm geflogen; Ed White, der Pilot, war ebenfalls mit der Gemini-Kapsel geflogen. Selbst Roger Chaffee, der Co-Pilot, der noch nicht im Weltraum gewesen war, war durch die harte Schule der Flugerprobung gegangen. Nein, es war vielmehr das Raumfahrzeug, das Anlaß zur Sorge gab. Die Apollo-Kapsel erwies sich selbst bei wohlwollendster Einschätzung immer mehr als eine Art Ford Edsel des Raumfahrtzeitalters. Genaugenommen hielt man sie in Astronautenkreisen für schlimmer als einen Edsel. Ein Edsel war eine Fehlkonstruktion, aber im Grunde genommen eine harmlose Fehlkonstruktion. Die Apollo-Kapsel indes war geradezu gefährlich. In der Frühphase der Entwicklung und
Erprobung des Raumfahrzeugs war die Düse des riesigen Haupttriebwerks, das fehlerfrei funktionieren mußte, um das Schiff in die Mondumlaufbahn und hinterher auf den Rückweg zur Erde zu bringen, zersprungen wie eine Teetasse, als die Ingenieure es zünden wollten. Bei einem Landetest im Erprobungsbecken der Herstellerfirma war der Hitzeschild gerissen, so daß die Kommandokapsel wie ein 35 Millionen Dollar teurer Stein zu Boden gesunken war. Das Kontrollsystem für die lebenserhaltenden Einrichtungen hatte bereits 200 einzelne Mängel aufgezeichnet, und am gesamten Raumschiff belief sich die Zahl auf etwa 20000. Bei einer Erprobung in Downey hatte Gus Grissom die Kommandokapsel angewidert stehenlassen, nachdem er eine Zitrone daraufgelegt hatte. Gestern nachmittag, so munkelte man, war schließlich der absolute Höhepunkt erreicht worden. Den Großteil des Tages über hatte Wally Schirra – ein erfahrener Astronaut des Mercury- und Gemini-Programms und der Kommandant der Ersatzcrew – mit seinen Kollegen Walt Cunningham und Donn Eisele einen identischen Countdown-Test absolviert. Als das Trio nach sechs langen Stunden verschmitzt und müde aus dem Schiff geklettert war, hatte Schirra keinen Hehl daraus gemacht, daß er überhaupt nicht zufrieden mit dem war, was er erlebt hatte. »Ich weiß nicht, Gus«, sagte Schirra, als er sich später mit Grissom und Joe Shea, dem Direktor des Apollo-Programms, im Mannschaftsquartier in Cape Kennedy traf, »diesem Schiff fehlt nichts, auf das ich den Finger legen könnte, aber mir ist dabei einfach unwohl zumute. Irgendwas daran klingt nicht richtig.« Die Feststellung, daß irgendeine Maschine »nicht klingt«, ist mit das Beunruhigendste, was ein Testpilot einem anderen melden kann. Der Begriff bezieht sich auf eine Glocke mit
einem feinen Riß, die äußerlich mehr oder weniger intakt wirkt, aber statt eines tönenden Gongs nur ein hohles Scheppern von sich gibt, wenn man den Klöppel anschlägt. Dann sollte die Maschine lieber zu Bruch gehen, sobald man sie zu fliegen versuchte – wenn beispielsweise die Düsen abfielen oder die Triebwerke wegbrechen, dann wußte man wenigstens, woran man arbeiten mußte. Aber ein Raumschiff, das »nicht richtig klingt«, konnte einem tausenderlei Schwierigkeiten bereiten. »Falls du irgendein Problem hast«, erklärte Schirra seinem Kollegen, »würde ich an deiner Stelle aussteigen.« Grissom war durch diese Aussage mit Sicherheit beunruhigt, aber er reagierte erstaunlich locker auf Schirras Warnung. »Ich werd’s im Auge behalten«, sagte er. Gus fieberte dem Einsatz entgegen; er brannte darauf, dieses Raumfahrzeug zu fliegen. Sicher hatte das Schiff seine Macken, aber schließlich waren Testpiloten dazu da, diese Macken zu finden und sie zu beheben. Und selbst wenn es ein Problem mit dem Schiff geben sollte, würde es nicht so leicht sein, einfach auszusteigen, wie Schirra geraten hatte. Die aus drei Schichten in Sandwichbauweise gefertigte Luke war weniger für ein leichtes Aussteigen konstruiert, sondern diente in erster Linie der Stabilität der Apollo-Kapsel. Die Innenverkleidung war mit einem abgedeckten Drehmechanismus, einem Drehrad und sechs Bolzen versehen, die in die Kapselwand griffen. Die nächste Schicht war noch komplizierter: Winkelhebel, Rollenlager, eine Arretierung oben und zweiundzwanzig Bolzen. Vor dem Lift-off, dem Abheben beim Start, wurde das gesamte Raumschiff zudem mit einer Panzerung zum Schutz vor aerodynamischen Spannungen umgeben. Diese Schicht sollte abplatzen, lange bevor das Raumfahrzeug in die Erdumlaufbahn eintrat, aber bis dahin stellte sie ein weiteres Hindernis zwischen der
Besatzung im Inneren der Kapsel und dem Rettungsteam außen dar. Wenn die Zusammenarbeit zwischen Astronauten und Rettungsteam bestens funktionierte, ließ sich die dreischichtige Luke in etwa neunzig Sekunden entfernen. Unter ungünstigen Umständen konnte es weitaus länger dauern. Lovell, der im Green Room des Weißen Hauses stand, sah auf seine Uhr. In etwa einer halben Stunde müßte der Testlauf vorbei sein. Er würde erst aufatmen, wenn er hörte, daß seine Freunde die Kapsel verlassen hatten. Der Countdown in Cape Kennedy, rund 1500 Kilometer weiter südlich an der Atlantikküste von Florida gelegen, verlief nicht gut. Von dem Zeitpunkt an, als die Besatzung angeschnallt wurde, bis etwa ein Uhr nachmittags hatte die Apollo-Kapsel die schlimmsten Erwartungen ihrer Kritiker erfüllt. Schon als Grissom den Schlauch seines Anzugs mit der Sauerstoffversorgung der Kapsel verband, meldete er einen »säuerlichen Geruch«. Der Gestank verschwand bald, und das Kontrollteam für die lebenserhaltenden Systeme der Kapsel versprach, sich darum zu kümmern. Kurz darauf stellten die Astronauten zu ihrem Unmut fest, daß es auch Verständigungsprobleme gab. »Wie stellt ihr euch denn vor, daß wir vom Mond aus mit euch reden sollen«, blaffte der Kommandant über das Rauschen hinweg, »wenn wir uns nicht einmal zwischen Startrampe und Blockhaus verständigen können?« Die Techniker versprachen, sich auch darum zu kümmern. Um 18:20 Uhr Florida-Ortszeit, bei T minus 10 Minuten, wurde der Countdown vorübergehend unterbrochen, und die Techniker befaßten sich mit den Verständigungsschwierigkeiten und einigen anderen Mängeln. Wie üblich wurde dieser Probestart sowohl in Cape Kennedy als auch im Manned Spacecraft Center in Houston, Texas,
überwacht. Laut Protokoll lag die Gesamtleitung während des Countdowns und des Lift-offs bis zu dem Augenblick, da sich die Antriebsdüsen der Trägerrakete vom Startturm lösten, beim Team in Florida. Danach übernahm Houston. Bei dem Testlauf in Florida waren Chuck Gay, der für die Erprobung der Raumfahrzeuge zuständige Chief Spacecraft Test Conductor, und Deke Slayton zugegen, einer der ersten sieben Astronauten des Mercury-Programms. Slayton war, bevor er ins All fliegen konnte, wegen Herzrhythmusstörungen für fluguntauglich erklärt worden, hatte aber das Beste aus der Situation gemacht und war zum Direktor für den Einsatz der Flugmannschaften ernannt worden – im Grunde genommen also zum Chefastronauten –, während er still, aber beharrlich darauf hinarbeitete, wieder fliegen zu dürfen. Slayton war ein derart leidenschaftlicher Astronaut, daß er ein paar Stunden zuvor, als der Funkverkehr mit der Kapsel zusammengebrochen war, angeboten hatte, mit in das Raumfahrzeug zu steigen, sich einen Platz zwischen den weniger wichtigen Geräten zu Füßen der Astronauten zu suchen und zuzusehen, ob er das Rauschen nicht selbst beheben könnte. Die Verantwortlichen für den Test hatten die Idee verworfen, und so saß Slayton nun an der Konsole neben Stu Roosa, dem für die Verbindung mit der Kapsel zuständigen Capsule Communicator oder CAPCOM. Die Oberaufsicht in Houston hatte an diesem Tag Chris Kraft, der stellvertretende Direktor des Manned Spacecraft Center, der bei sämtlichen sechs Mercury- und allen zehn Gemini-Flügen als Flugdirektor mitgewirkt hatte. Kraft, Slayton, Roosa und Gay wollten die Übung rasch hinter sich bringen. Über einen halben Tag lang lag die Crew unter ihrem eigenen Körpergewicht und den unförmigen Druckanzügen flach auf dem Rücken, und dies auf Sitzen, die für die Schwerelosigkeit im All entwickelt worden waren,
nicht aber für irdische Schwerkraftverhältnisse. In ein paar Minuten würden sie den Countdown weiterlaufen lassen, den simulierten Start beenden können und danach die Männer herausholen. Doch es sollte anders kommen. Wenige Augenblicke, bevor die Uhr wieder eingeschaltet werden sollte, um 18:31 Uhr, gab es den ersten Hinweis darauf, daß etwas nicht stimmte, als die Techniker, die den Videomonitor für die Kommandokapsel überwachten, eine jähe Bewegung durch das Lukenfenster wahrnahmen, eine Art Schatten, der rasch über den Bildschirm zog. Die Controller, an die beherrschten Bewegungen der gutausgebildeten Besatzung bei einem wohlbekannten Countdown gewöhnt, starrten auf den Schirm. Einen Augenblick später meldete sich knisternd eine Stimme von der Spitze der Rakete. »Feuer im Cockpit!« Es war Roger Chaffee, der Neuling in der Crew. James Gleaves, ein Techniker, der vom Startturm aus per Kopfhörer den Funkverkehr überwachte, drehte sich unverzüglich um und rannte auf den White Room zu, der von der obersten Ebene des Turms zu der Raumkapsel führte. Gary Propst, ein Kommunikationskontrolltechniker im Blockhaus, blickte sofort auf seinen obersten linken Monitor, der mit einer Kamera im White Room verbunden war, und meinte – meinte –, durch das Guckloch in der Einstiegsluke einen hellen Schein zu sehen. Deke Slayton und Stu Roosa, die an der CAPCOMKonsole saßen und Flugpläne besprachen, blickten auf ihren Monitor und glaubten, züngelnde Flammen um die Einstiegluke zu sehen. Der stellvertretende Testleiter William Schick, der an einer Konsole nebenan saß und über jedes wichtige Vorkommnis im Verlauf des Countdowns Protokoll führen mußte, schaute
augenblicklich auf seine Uhr und notierte dann pflichtgemäß: »18:31 Feuer im Cockpit.« Genau dieselben Worte erschallten über Funk aus der Raumkapsel. »Feuer im Cockpit!« schrie Ed White in sein gestörtes Funkgerät. Der Flugarzt blickte auf seine Konsole und sah, daß Whites Puls dramatisch gestiegen war. Die Anzeigen der Bewegungsmelder für das Innere der Kapsel vollführten einen Veitstanz. Gleaves hörte auf der Rampe ein plötzliches Wunsch, das aus der Kommandokapsel drang, so als habe Grissom die O2Abblasvorrichtung geöffnet, um die Atmosphäre aus dem Schiff zu pressen – genau das würde man tun, um einen Brand zu ersticken. Systemtechniker Bruce Davis, der in der Nähe stand, sah Flammen seitlich aus dem Schiff schießen, unmittelbar neben dem Versorgungskabel, das das Raumfahrzeug mit dem Boden verband; im nächsten Moment züngelten Flammen um diese Nabelschnur. Propst konnte an seinem Monitor im Blockhaus Flammen hinter dem Guckloch erkennen; durch sie hindurch sah er zwei Arme – der Lage nach mußten es Whites sein –, die nach irgend etwas zu greifen versuchten. »Wir sind in Brand geraten! Holt uns hier raus!« schrie Chaffee, dessen Stimme über den einen ungestörten Funkkanal der Kapsel deutlich zu hören war. Auf der linken Seite von Propsts Schirm tauchte ein zweites Paar Arme in der Luke auf – es mußten Grissoms sein. Donald Babbitt, der Rampenchef, dessen Arbeitsplatz auf der obersten Ebene – Level 8 – des Startturms keine fünf Meter von der Kapsel entfernt war, schrie Gleaves zu: »Holt sie da raus!« Als Gleaves auf die Luke zustürmte, drehte sich Babbitt um und griff zu seiner Funkverbindung mit dem Blockhaus. In diesem Augenblick schoß eine mächtige Qualmwolke seitlich aus der Kapsel, und
Flammenzungen schlugen aus einer darunterliegenden Kühlleitung. Mit beherrschtem Tonfall rief Gay, der Testleiter, den Astronauten zu: »Besatzung aussteigen.« Er erhielt keine Antwort. »Besatzung, könnt ihr jetzt aussteigen?« »Sprengt die Luke!« schrie Propst. »Warum sprengen sie die Luke nicht auf?« Durch den Qualm auf der Rampe schrie jemand: »Sie fliegt in die Luft!« »Räumt die Ebene«, befahl jemand anders. Davis drehte sich um und rannte zur Tür des Startturms. Creed Journey, ein weiterer Techniker, warf sich zu Boden. Gleaves zog sich vorsichtig von der Kapsel zurück. Babbitt, der das Blockhaus alarmieren wollte, blieb an seinem Arbeitsplatz. Auf der Konsole zur Überwachung der lebenserhaltenden Systeme wurde ein Kabinendruck von 29 psi verzeichnet, doppelt so hoch wie auf Meereshöhe. Die Temperatur war nicht mehr meßbar. In diesem Moment gab die Raumkapsel Apollo 1 unter dem Inferno in ihrem Inneren nach. Sie platzte mit einem donnernden Krachen, und ein fürchterlicher Hitzeschwall wurde freigesetzt. Vierzehn Sekunden waren seit Chaffees erstem Notruf vergangen. Donald Babbitt, der knapp fünf Meter von der Apollo-Kapsel entfernt war, bekam die volle Wucht der Explosion zu spüren. Die Druckwelle warf ihn zurück, und der Hitzeschwall fühlte sich an, als habe jemand eine Hochofentür aufgerissen. Klebrige, geschmolzene Klümpchen schossen aus dem Schiff, flogen auf seinen weißen Laborkittel und brannten sich durch das darunterliegende Hemd. Die Papiere auf seinem Schreibtisch ringelten sich ein und verkohlten. Gleaves, der sich in der Nähe befand, wurde rückwärts an die Notausgangstür geschleudert – eine Tür, die, wie er erst jetzt entdeckte, nur nach innen aufging. Davis, der sich von der
Kapsel abwandte, spürte einen sengenden Hitzeschwall am Rücken. An der CAPCOM-Station im Blockhaus versuchte Stu Roosa fieberhaft, über Funk die Besatzung zu rufen, während Deke Slayton die Blockhaussanitäter zusammentrommelte. »Geht raus zur Startrampe«, befahl er ihnen. »Die werden euch brauchen.« In Houston mußte Chris Kraft hilflos das Chaos auf der Rampe mit ansehen. »Warum können die sie nicht da rausholen?« rief er seinen Controllern und Technikern zu. »Warum kommt niemand an sie heran?« Schick schrieb in sein Logbuch: »18:32: Rampenleiter befahl, der Crew beim Ausstieg zu helfen.« Auf Rampenlevel 8 sprang Babbitt von seinem Schreibtisch auf, rannte zum Aufzug und schnappte sich einen Kommunikationstechniker. »Sagen Sie dem Testleiter, daß wir einen Brand haben!« schrie er. »Ich brauche Feuerwehrmänner, Rettungswagen und Gerät.« Dann rannte Babbitt wieder nach innen und schnappte sich Gleaves und die Systemtechniker Jerry Hawkins und Stephen Clemmons. Es gab nur eine Möglichkeit, an die Männer heranzukommen. »Wir montieren die Luke ab«, schrie der Rampenleiter seinen Mitarbeitern zu. »Wir müssen sie da rausholen.« Die vier Männer besorgten sich Feuerlöscher und drangen in die schwarze Wolke vor, die aus der Raumkapsel quoll. Ohne etwas erkennen zu können, betätigten sie die Feuerlöscher und drängten die Flammen etwas zurück, doch der tintenschwarze Qualm und die dichte Wolke aus giftigen Dämpfen erwies sich als mörderisch, und die Männer zogen sich rasch zurück. In einer Ausrüstungsstation weiter hinten fand Systemtechniker L. D. Reece etliche Gasmasken und reichte sie der hustenden Rampencrew. Gleaves versuchte, den Streifen Klebeband abzureißen, mit dem die Maske einsatzbereit gemacht wurde,
und stellte fest, daß das Klebeband dieselbe Farbe wie die Maske hatte, so daß es bei dem Qualm fast nicht zu sehen war. (Denke daran, das für das nächste Mal zu melden. Ja, du mußt daran denken, das zu melden.) Babbitt schaffte es schließlich dennoch, die Maske einsatzbereit aufzusetzen, mußte aber feststellen, daß sie ein Vakuum um sein Gesicht bildete, so daß das Gummi zu eng anlag und er nicht atmen konnte. Er riß die Maske herunter und probierte eine andere, die jedoch kaum besser funktionierte. Die Rampencrew drang wieder in den Qualm vor und kämpfte so lange mit den Verschlußbolzen an der Luke, wie es die Hitze, die Dämpfe und ihre defekten Gasmasken zuließen. Dann torkelten sie keuchend und hustend hinaus an die geringfügig reinere Luft, bis sie wieder soweit bei Atem waren, daß sie einen weiteren Versuch unternehmen konnten. Auf Level 6 hörte Techniker William Schneider die Schreie von oben und rannte zur Treppe. Auf dem Weg nach oben sah er, daß das Feuer mittlerweile bis zu den Leveln 6 und 7 herabzüngelte und auf den Versorgungsteil des Raumfahrzeugs übergriff. Er ergriff einen Feuerlöscher und unternahm den sinnlosen Versuch, Kohlendioxid in die Klappen zu sprühen, die zu den Düsen des Moduls führten. Unten auf Level 4 hörte Techniker William Medcalf die Alarmrufe, sprang in einen Aufzug und fuhr hinauf zu Level 8. Als er die Tür des White Rooms aufriß, sah er vor sich eine Wand aus Hitze und Feuer und einen Trupp hustender Männer. Er rannte über die Treppe hinab auf eine tiefere Ebene und kehrte mit einer Handvoll Gasmasken zurück. Als er eintraf, empfing ihn der aufgeregte, rußverschmierte Babbitt und schrie: »Sofort zwei Feuerwehrmänner! Die Besatzung ist da drin, und ich will sie da raushaben!« Medcalf setzte sich über Funk mit der Feuerwache auf Cape Kennedy in Verbindung und teilte mit, an Startkomplex 34
würden Löschwagen benötigt; er erfuhr, daß bereits drei Züge ausgerückt waren. Als Medcalf wieder in den White Room kam, wäre er beinahe über die Männer der Rampencrew gestolpert, die inzwischen ihre defekten, undichten Masken abgenommen hatten und auf allen vieren durch den dichten Qualm zur Raumkapsel krochen, wo sie an den Verschlußbolzen der Luke arbeiteten, bis sie nicht mehr konnten. Gleaves war halb bewußtlos, und Babbitt befahl ihm, sich von der Kommandokapsel zu entfernen. Hawkins und Clemmons ging es kaum besser. Babbitt warf einen Blick zurück in den Raum, entdeckte zwei andere, noch frischere Techniker und schickte sie in den Qualm. Es dauerte noch etliche Minuten, bis die Luke zumindest teilweise geöffnet war, und auch dann klaffte nur ein etwa fünfzehn Zentimeter breiter Spalt an der Oberseite. Breit genug jedoch, um einen letzten Schwall Hitze und Qualm aus dem Inneren der Raumkapsel entweichen zu lassen und festzustellen, daß das Feuer erloschen war. Babbitt drückte und schraubte weiter, bis es ihm gelang, die Luke loszustemmen und sie ins Cockpit zu stoßen. Dann zog er sich erschöpft von der Kapsel zurück. Systemtechniker Reece war der erste, der ins Innere der ausgebrannten Apollo-Kapsel spähte. Nervös steckte er den Kopf durch die Luke und sah ein paar blinkende Warnlichter am Armaturenbrett und einen schwachen Strahler am Platz des Kommandanten. Ansonsten sah er gar nichts – auch nicht die Besatzung. Aber er hörte etwas. Reece wußte genau, daß er etwas hörte. Er beugte sich hinein und tastete auf der mittleren Couch herum, wo Ed White hätte sein müssen, aber er spürte nur verbranntes Material. Er nahm die Gasmaske ab und schrie in die Kapsel: »Ist da jemand?« Keine Antwort. »Ist jemand da drin?«
Clemmons, Hawkins und Medcalf erschienen mit Taschenlampen und schoben Reece beiseite. Die drei Männer leuchteten in das Cockpit, aber mit ihren vom Qualm gereizten Augen konnten sie lediglich eine Ascheschicht auf den Astronautencouchen erkennen. Medcalf zog sich von der Kapsel zurück und stieß mit Babbitt zusammen. Er würgte. »Da drin ist nichts übriggeblieben«, berichtete er dem Rampenleiter. Babbitt stürmte zu dem Raumfahrzeug. Weitere Menschen versammelten sich um die Kapsel, und weitere Lampen wurden ins Innere gerichtet. Babbitt, dessen Augen sich langsam erholten, war der festen Überzeugung, etwas zu sehen. Direkt vor ihm war Ed White – er lag auf dem Rücken, hatte die Arme über dem Kopf ausgestreckt und langte dorthin, wo einst die Luke gewesen war. Links war Grissom zu erkennen, der sich leicht zu White umgedreht hatte und zwischen den Armen seines Kollegen hindurch ebenfalls nach der Luke griff. Roger Chaffee war in der Dunkelheit nirgendwo zu sehen, aber Babbitt vermutete, daß er wahrscheinlich noch auf seiner Couch angeschnallt war. Die Regel für den Ernstfall sah vor, daß bei einem Notausstieg der Kommandant und der Pilot die Luke bedienten, während das dritte Besatzungsmitglied an seinem Platz blieb. Zweifellos war Chaffee dort und wartete geduldig – und jetzt auf ewig –, bis seine Kollegen ihr Werk vollbracht hatten. James Burch von der Feuerwache auf Cape Kennedy bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge zum Raumfahrzeug. Burch hatte derlei schon gesehen, die anderen Männer hier aber nicht. Respektvoll machten die Techniker, deren Aufgabe es war, die beste Technologie zu warten, die menschliches Wissen erdenken konnte, dem Mann Platz, der immer dann zuständig war, wenn es durch ein Versagen eben dieser Technologie zu einem verheerenden Unglück kam.
Burch kroch durch die offene Luke ins Cockpit und blieb, ohne es zu wissen, über White stehen. Er ließ den Strahl seiner Lampe über das verkohlte Armaturenbrett und die herunterbaumelnden, verkohlten Drähte schweifen. Unmittelbar unter sich bemerkte er einen Stiefel. Da er nicht wußte, ob die Besatzung noch lebte, und nicht die Zeit für eine vorsichtige Erkundung hatte, ergriff er den Stiefel und zog heftig daran. Die noch immer heiße Masse aus geschmolzenem Gummi und Stoff löste sich in seiner Hand, und Whites Fuß kam zum Vorschein. Burch tastete mit der Hand höher und spürte Knöchel, Wade und Knie. Die Uniform war teilweise verbrannt, doch die darunterliegende Haut war nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Burch zog an der Haut, um festzustellen, ob sie sich vom Fleisch lösen ließ – eine häufige Folge bei Brandverletzungen, wie er wußte. Diese Haut war jedoch intakt und allem Anschein nach auch der Körper. Das Feuer war zwar außerordentlich heiß gewesen, hatte aber nur kurz gebrannt. Es waren die giftigen Dämpfe gewesen, die das Leben dieses Mannes gefordert hatten, nicht die Flammen. Der Feuerwehrmann zog sich bis zur Luke zurück, ließ den Blick ein weiteres Mal durch das grausig ausgebrannte Cockpit schweifen und entdeckte zwei weitere Leichen. Sie lagen links und rechts von der mittleren und waren im gleichen Zustand wie Whites. Burch stieg aus der Raumkapsel. »Sie sind alle tot«, sagte Burch leise. »Das Feuer ist erloschen.« Im Laufe der nächsten Stunden trafen Fotografen und Techniker ein, die für die peinlich genaue Untersuchung des Unglücks, die mit Sicherheit folgen würde, vor Ort alles aufzeichneten, darunter auch die Stellung eines jeden Schalters und Hebels im Cockpit. Es sollte bis weit nach zwei Uhr morgens dauern, mehr als dreizehn Stunden nach Beginn des verhängnisvollen Probe-Countdowns, bis die Besatzung von Apollo 1 aus ihrer Raumkapsel geborgen wurde.
Die anläßlich der Unterzeichnung des Weltraumabkommens angesetzte Feier im Weißen Haus endete, wie vorgesehen, genau um 18:45 Uhr. Sie klang, wie alle Veranstaltungen im Weißen Haus, beinahe unmerklich aus. Der Präsident empfahl sich ohne große Ankündigung. Auch das Essen und die Getränke auf den Tischen verschwanden auf ähnliche Weise. Danach strömten die Menschen langsam, einmütig und ohne eigens dazu aufgefordert werden zu müssen, dem Ausgang zu, so als würden sie von einem unsichtbaren Luftstrom dorthin gezogen. Kurz vor 19 Uhr standen die fünf Astronauten, die an diesem Abend hierherbestellt worden waren, auf der Pennsylvania Avenue und rangelten mit den Touristen um die wenigen Taxis, die zu dieser Tageszeit die Prachtstraße befuhren. Scott Carpenter nahm das erste Taxi in Beschlag und fuhr zum Flughafen, um einer Verpflichtung in einer anderen Stadt nachzukommen. Lovell, Armstrong, Cooper und Gordon, die alle mit einer Maschine der NASA hergekommen waren und erst morgen wieder in Houston zurückerwartet wurden, hatten bereits Zimmer im Georgetown Inn an der Wisconsin Avenue reserviert. Seit 1962, als Wally Schirra in die Stadt gekommen war, um sich nach seinem gelungenen neunstündigen Weltraumflug einen Orden und einen Handschlag bei Präsident Kennedy abzuholen, diente das Inn vielen Würdenträgern der NASA bei ihren Besuchen in der Hauptstadt als inoffizielle Herberge. Das Haus war so weit abgelegen, daß es genau die notwendige Privatsphäre bot, nach der sich die Weltraumpioniere sehnten, war zugleich aber auch so neu und vornehm, daß sie den Aufenthalt genießen konnten. Noch bevor Lovell, Armstrong, Cooper und Gordon an diesem Abend zurückkehrten, wußte Collins Bird, der Besitzer des Hotels, daß es Ärger gegeben hatte. Bob Gilruth, der
Direktor des Manned Spacecraft Center und an diesem Abend ebenfalls zu Gast im Weißen Haus, war abgespannt und mit versteinerter Miene an die Rezeption gekommen. Er hatte bereits mit Houston telefoniert und erfahren, was an Startrampe 23 vorgefallen war. »Ist etwas nicht in Ordnung, Mr. Gilruth?« fragte Bird. »Wir haben Ärger, Collins«, antwortete Gilruth tonlos. »Richtigen Ärger.« »Können wir irgend etwas dagegen tun?« Gilruth ging weiter, ohne etwas zu sagen. Als die Astronauten eintrafen und sich auf ihre Zimmer begaben, verkündeten die blinkenden roten Lämpchen an ihren Telefonen, daß eine Nachricht für sie vorlag. Lovell rief bei der Rezeption an und erfuhr lediglich, daß er sich sofort mit dem Manned Spacecraft Center in Verbindung setzen sollte. Er rief unter der Nummer an, die man ihm genannt hatte. Eine unbekannte Stimme meldete sich, vermutlich irgendein Angestellter bei der Verwaltung oder der Presseabteilung des Apollo-Programms. Im Hintergrund konnte Lovell klingelnde Telefone und lautes Stimmengewirr hören. »Die Einzelheiten sind noch unklar«, berichtete ihm der Mann am Telefon, »aber heute abend gab es ein Feuer auf Rampe 34. Ein schlimmes Feuer. Wahrscheinlich hat die Besatzung nicht überlebt.« »Was meinen Sie mit ›wahrscheinlich‹?« fragte Lovell. »Haben sie überlebt, oder haben sie nicht überlebt?« Der Mann schwieg kurz. »Wahrscheinlich hat die Besatzung nicht überlebt.« Lovell schloß die Augen. »Weiß schon jemand Bescheid?« »Diejenigen, die Bescheid wissen müssen. Dürfte nicht lange dauern, bis die Medien davon erfahren. Wenn es soweit ist, werden sie jeden bestürmen, der mit der Raumfahrtbehörde zu
schaffen hat. Man rät Ihnen dringend, sich bis auf weiteres bedeckt zu halten.« »Was verstehen Sie unter ›bedeckt halten‹?« »Verlassen Sie heute abend nicht das Hotel. Genaugenommen sollten Sie auch Ihr Zimmer nicht verlassen. Rufen Sie bei der Rezeption an, wenn Sie etwas wollen. Rufen Sie den Zimmerservice an, wenn Sie etwas essen wollen. Wir möchten nicht, daß irgendwelche nicht abgestimmten Verlautbarungen abgegeben werden.« Benommen legte Lovell auf. Er kannte Grissom, White und Chaffee seit Jahren und war mit allen befreundet, vor allem aber White kannte er sehr gut. Fünfzehn Jahre zuvor hatte Lovell, der als junger Fähnrich zur See die Marineakademie in Annapolis besuchte, an einem Wettkampf zwischen Navy und Army in Philadelphia teilgenommen und bei einer gutbesuchten Hotelparty einen sympathischen Kadetten aus West Point kennengelernt, dessen Namen er nicht ganz verstanden hatte. Wie es die Tradition gebot, tauschten die Teilnehmer improvisierte Geschenke aus, die an den Wettkampf und die anschließende Feierstunde erinnern sollten. Da er nichts anderes zur Hand hatte, nahm Lovell einen seiner Navy-Manschettenknöpfe ab und gab ihn dem West Pointer; der West Pointer revanchierte sich mit einem ArmyManschettenknopf, und die beiden jungen Männer gingen wieder ihrer Wege. Als Lovell über ein Jahrzehnt später ins Astronautenkorps aufgenommen wurde, erzählte er seinem Kollegen Ed White die Geschichte. White schaute ihn mit offenem Mund an. Er war der West Pointer gewesen, und genau wie Lovell hatte auch er die Geschichte im Laufe der Jahre unzählige Male erzählt, und ebenso wie Lovell hatte auch er den Manschettenknopf noch. Rasch freundeten sich die beiden Astronauten an. Mit Grissom war Lovell nicht so eng
verbunden gewesen, aber der erfahrene Mercury-Pilot wurde im ganzen Astronautenkorps geschätzt. Wie alle, die Grissom kannten, hatte auch Lovell große Hochachtung vor den Leistungen des Mannes und bewunderte sein fliegerisches Können. Chaffee war eine unbekannte Größe. Als Angehöriger der dritten Astronautengeneration hatte der junge Pilot wenig Gelegenheit zur Zusammenarbeit mit den Männern gehabt, die im Zuge des Gemini-Programmes geflogen waren. Die NASA indessen hatte Chaffee für den ersten Apollo-Flug ausersehen, und das besagte eine Menge. Was noch wichtiger war: Grissom hatte sein jüngstes Besatzungsmitglied einmal als »richtig tollen Burschen« bezeichnet. Und das wollte noch mehr heißen. Geistesabwesend trat Lovell auf den Gang, als auch die anderen Astronauten gerade aus ihren Zimmern kamen. Gordon und Armstrong hatten ebenfalls mit Houston gesprochen. Cooper, der Ranghöchste der Gruppe und einer der sieben ersten Mercury-Piloten, hatte einen Anruf des Abgeordneten Jerry Ford erhalten, dem einflußreichen republikanischen Mitglied des Raumfahrtausschusses im Kongreß. »Schon gehört?« fragte Lovell. Die anderen drei nickten. »Was, zum Teufel, ist da vorgefallen?« »Was vorgefallen ist?« sagte Gordon. »Diese Raumkapsel ist vorgefallen, das reicht. Die hätten die Kiste längst verschrotten sollen.« »Wissen die Frauen schon Bescheid?« fragte Lovell. »Bislang hat keiner etwas gesagt«, antwortete Cooper. »Wer könnte ihnen Bescheid sagen?« fragte Armstrong. »Mike Collins ist da«, sagte Lovell. »Pete Conrad und Al Bean sollten ebenfalls da sein. Deke ist am Cape, aber seine
Frau ist daheim, ganz in der Nähe von Gus’ Haus.« Er stockte. »Kommt es wirklich darauf an, wer es ihnen sagt?« Collins Bird, der noch immer unten im Foyer war, hatte zu guter Letzt doch aus Houston von dem Unglück erfahren. Der Hausherr der inoffiziellen NASA-Herberge wußte, was die Astronauten im vierten Stock in dieser Nacht brauchten, und er wies sein Personal an, Zimmer 503 aufzuschließen, eine Suite mit einem Wohnzimmer, wo die Astronauten ungestört beisammensitzen und miteinander reden konnten. Lovell und die anderen verzogen sich in das Zimmer, riefen in der Küche an und bestellten sich etwas zu essen und, was noch wichtiger war, eine Ration Scotch. Morgen mußten sie zur Untersuchung der Todesursache ihrer Kollegen und anderen dringenden Besprechungen nach Houston fliegen. Der heutige Abend jedoch gehörte ihnen, und sie würden genau das tun, was alle Piloten tun, wenn ein Mitglied ihrer kleinen, verschworenen Gemeinschaft stirbt. Sie würden darüber reden, wie und warum es passiert war, und sie würden sich dabei betrinken. Die Unterhaltung zog sich bis in die frühen Morgenstunden hin. Die Astronauten sorgten sich um die Zukunft des Raumfahrtprogramms, diskutierten darüber, ob es noch möglich sein werde, bis zum Ende des Jahrzehnts zum Mond zu fliegen, grollten der NASA, die wegen dieser Terminplanung soviel Druck ausgeübt hatte, und redeten sich schließlich in Rage, weil die NASA so eine Schrottkiste von Raumschiff gebaut und sich geweigert hatte, auf die Beschwerden der Astronauten zu hören. Als der Alkohol zur Neige ging und die Sonne hervorkam, wandte sich das Gespräch, wie nicht anders zu erwarten, dem Tod zu. Stillschweigend waren sich die Astronauten einig, daß Grissom, White und Chaffee zwar den Heldentod gestorben seien, aber niemand auf diese Weise, durch ein Feuer in einer verankerten, antriebslosen Kapsel, enden wollte. Wenn man
schon abtreten mußte, dann lieber in einer außer Kontrolle geratenen Rakete auf dem Weg in die Stratosphäre oder in einer der Erde entgegenstürzenden Raumkapsel; lieber wollten sie’ auf dem Mond stranden oder mit ausgefallenen Bremsraketen für immer in der Erdumlaufbahn kreisen. Vielleicht war es respektlos, so etwas zuzugeben, in dieser Nacht zumal, aber den Astronauten war nur zu bewußt, daß ein gewaltsamer Tod zwar niemals erstrebenswert war, zuallerletzt aber ein Tod auf der Erde. Gus Grissom, Ed White und Roger Chaffee wurden vier Tage später, am 31. Januar beerdigt. Grissom und Chaffee wurden mit allen militärischen Ehren auf dem Arlington National Cemetery bestattet. White wurde auf eigenen Wunsch in West Point begraben, dort, wo einst auch sein Vater zur letzten Ruhe gebettet werden sollte. Neben zahlreichen Würdenträgern, darunter auch Lyndon Johnson, nahmen die verbliebenen Angehörigen von Grissoms erster und Chaffees dritter Astronautengeneration an der Feierstunde in Arlington teil. Jim Lovell und die anderen Astronauten der zweiten Generation sowie Lady Bird Johnson und Hubert Humphrey begaben sich nach West Point. Die Trauerfeier für White war eindeutig die bescheidenere von beiden. Etwa neunhundert Besucher nahmen an dem Gottesdienst in der Old Cadet Chapel teil. Anschließend trugen Lovell, Borman, Armstrong, Conrad, Aldrin und Tom Stafford den Sarg hinauf zu einem Kliff über dem zugefrorenen Hudson River, wo ein paar weitere Worte gesprochen wurden, bevor man Whites sterbliche Hülle in den betonharten Boden bettete. In Arlington ging es nicht annähernd so bescheiden zu. Im Beisein des Präsidenten und mit Phantom-Düsenjägern, die im Formationsflug über das Grab hinwegzogen, mit Trompetern, Schützenabteilungen und Ehrengarden wurden Grissom und Chaffee wie verstorbene Staatsoberhäupter zur letzten Ruhe
geleitet. Schirra, Slayton, Cooper, Carpenter, Alan Shepard und John Glenn trugen den Sarg ihres alten Mercury-Kollegen Grissom. Chaffee wurde von Männern der Navy und Astronauten aus seiner Generation zu Grabe getragen. Präsident Johnson drückte den trauernden Hinterbliebenen sein Mitgefühl aus. Als einer der Verantwortlichen für das atemlose (rücksichtslose?) Tempo, mit dem das Raumfahrtprogramm in den letzten Jahren vorangetrieben worden war, mußte er jedoch feststellen, daß seine Beileidsbezeugungen eher kühl aufgenommen wurden. Chaffees Vater schenkte dem Präsidenten kaum Beachtung, als sie sich am Grabe begegneten. Grissoms Eltern würdigten den Texaner keines Blickes.
2
21. Dezember 1968 Am Sonnabend vor Weihnachten wurden Frank Borman, Jim Lovell und Bill Anders kurz nach drei Uhr morgens im Besatzungsquartier des Kennedy Space Center geweckt. Es war noch mehrere Stunden bis Sonnenaufgang, aber das unter der Tür hindurchdringende Neonlicht erhellte den Raum soweit, daß den Astronauten sofort klar wurde, wo sie sich befanden. Für eine Kaserne waren die Quartiere gar nicht schlecht. Bei der Unterbringung der Männer, die sie ins Weltall zu schießen gedachte, sparte die NASA kaum an Kosten. Die Schlafräume waren mit neuen Teppichböden und erstaunlich eleganten Möbeln ausgestattet, und an den Wänden hingen Kunstdrucke in teuren Rahmen. Darüber hinaus verfügte der Komplex über ein Konferenzzimmer, eine Sauna und eine voll ausgestattete Küche mit eigenem Koch. Dieser Luxus war weniger ein Zeichen von Verschwendung auf Seiten der Raumfahrtbehörde, als vielmehr eine wohlbedachte Vorsichtsmaßnahme. Die Leute im Planungsstab wußten sehr wohl, daß man eine Crew in den letzten Tagen vor einem Start isolieren mußte, damit sie sich voll und ganz auf den Einsatz konzentrieren konnte und zugleich vor Erkrankungen wie Grippe oder einer Erkältung geschützt war, die das ganze Unternehmen gefährden konnten. Aber sie wußten auch, daß Männer, die man in Quarantäne hielt, alles andere als glücklich waren, und unglückliche Männer waren keine guten Piloten.
Lovell hörte, wie es an der Tür klopfte, schlug ein Auge auf und sah, daß Deke Slayton vom Gang hereinschaute. Er begrüßte den Chef der Astronauten mit einem Brummen und einem schwachen Winken und wünschte sich insgeheim, er möge wieder verschwinden. Lovell war besser als seine beiden Kollegen mit dem morgendlichen Ritual vor einem Start vertraut. Zunächst würden sie lange und heiß duschen – zum letzten Mal für acht Tage –, dann stand die letzte medizinische Untersuchung an, und hinterher gab es das traditionelle Steakfrühstück mit Ei, an dem Slayton und die Ersatzcrew teilnahmen. Danach würden sie die sperrigen, aufblasbaren Druckanzüge anlegen, den Helm aufsetzen und unbeholfen, aber lachend und winkend zum klimatisierten Bus gehen, der sie zur Startrampe bringen würde, wo sie mit dem ratternden Aufzug am Startturm nach oben fahren und mühsam ins Cockpit steigen würden. Zu guter Letzt würde dann die Luke der Kapsel zugeklappt und luftdicht verschlossen werden. Lovell hatte all dies schon zweimal über sich ergehen lassen, und die NASA hatte dieses Ritual insgesamt schon siebzehnmal zelebriert. Folglich gab es keinerlei Grund zu der Annahme, daß es heute anders verlaufen würde. Tatsächlich aber war es an diesem Tag ganz anders. Zum ersten Mal sollte eine Besatzung nach dem traditionellen Duschen, Ankleiden und Frühstücken nicht in die Erdumlaufbahn geschossen werden. Diesmal wollte die NASA Apollo 8 starten, und das Ziel war der Mond. Es war noch keine zwei Jahre her, seit Gus Grissom, Ed White und Roger Chaffee durch ein Feuer im Cockpit ums Leben gekommen waren, und erst jetzt verblaßte die Erinnerung an dieses Unglück allmählich. Borman, Lovell und Anders waren nicht die ersten Amerikaner, die in den seither verstrichenen dreiundzwanzig Monaten ins Weltall flogen; das waren vor knapp acht Wochen Wally Schirra, Donn Eisele und
Walt Cunningham gewesen, und an jenem Tag war die Erinnerung an die verlorene Besatzung allgegenwärtig gewesen. Obwohl Schirra, Eisele und Cunningham die ersten waren, die jemals eine Apollo-Raumkapsel steuerten, wurde ihr Einsatz offiziell als Apollo 7 bezeichnet. Zuvor hatte es fünf unbemannte Apollo-Flüge gegeben, die als Apollo 2 bis 6 geführt wurden. Vor dem Brand hatten Grissom, White und Chaffee die Ehre für sich in Anspruch genommen, mit Apollo 1 zu fliegen, aber die Verantwortlichen bei der NASA hatten ihre Zustimmung noch nicht gegeben, da vor dem verhängnisvollen Probe-Countdown bereits zwei unbemannte Flüge stattgefunden hatten. Die toten Astronauten hätten folglich allenfalls auf die Bezeichnung Apollo 3 hoffen können. Nach dem Feuer änderte man bei der NASA jedoch seine Meinung und beschloß, dem Wunsch der Astronauten posthum stattzugeben und die Todeskapsel als Apollo 1 zu bezeichnen. Zu der bedrückten Stimmung während des dem Start vorausgehenden Rituals vor acht Wochen hatte auch der Umstand beigetragen, daß Wally Schirra der Kapsel, in der er als Kommandant fliegen sollte, noch immer nicht ganz traute und keinen Hehl aus seiner Einstellung machte. In den Tagen und Stunden nach dem Brand von Apollo 1 verhielt sich die NASA wie jede andere Regierungsbehörde, die unverhofft mit unangenehmen Vorfällen konfrontiert wird: Sie ernannte eine Kommission, die herausfinden sollte, was schiefgegangen war und wie man alles wieder ins Lot bringen könnte. Dem siebenköpfigen Ausschuß gehörten hochrangige Vertreter der NASA, der Raumfahrtindustrie und Frank Borman als einziger Astronaut an. Borman und seine Kollegen waren sich bewußt, daß sie nicht sämtliche Systeme und Komponenten der Kapsel allein analysieren konnten, und so setzten sie wiederum einundzwanzig untergeordnete Kommissionen ein, die jeweils
einen anderen Teil der Apollo-Kapsel untersuchen sollten, bis die Ursache des Feuers gefunden und behoben war. Von den einundzwanzig Unterausschüssen hatte Ausschuß Nummer 20, der die Maßnahmen bei einem Notfall während des Fluges untersuchen sollte, den klarsten Auftrag. Ihm gehörten unter anderem die noch unerfahrenen Astronauten Ron Evans und Jack Swigert sowie Jim Lovell an, mit zwei Starts in die Erdumlaufbahn der Veteran im Team. Während sich die Medien auf Borman und die NASA-Bosse stürzten, die die Ursache des Brandes ermitteln sollten, fand die Arbeit von Lovell, Swigert, Evans und der Männer in den anderen Ausschüssen so gut wie keine Beachtung. Dies wurmte einige Männer im Astronautenkorps. Warum, zum Teufel, stellte man ausgerechnet diesen Borman so dar, als sei er der einzige Astronaut, der der Raumfahrtbehörde in ihrer dunkelsten Stunde helfen konnte? Lovell jedoch war diese Arbeit in aller Stille nur recht. Eine Nachuntersuchung über einen Einsatz durchzuführen, der Menschenleben gefordert hatte, konnte eine grausige Angelegenheit sein, und so etwas machte man nicht gern ein zweites Mal, wenn man es einmal erlebt hatte. Zumal dies nicht der erste tragische Unglücksfall war, von dem das Astronautenkorps der NASA heimgesucht worden war. Bereits vor zwei Jahren hatte sich ein derartiger Zwischenfall ereignet, und damals war es Lovells Aufgabe gewesen, die Angelegenheit aufzuklären. Bei einer derartigen Untersuchung ging es im Grunde genommen um Totengräberarbeit, und Lovell hegte daher keinerlei Groll, daß Borman dazu auserkoren worden war, die Ursache des verhängnisvollen Unglücks herauszufinden, bei dem Grissom, White und Chaffee ums Leben gekommen waren. Wie sich herausstellte, war diese Untersuchung noch grausiger, als man sich zunächst vorgestellt hatte. Während die Untersuchungskommission in ihrem Konferenzzimmer
zusammensaß und die Mitglieder der einundzwanzig Unterausschüsse sich in Schreibstuben und Büros rund um Houston und Cape Kennedy einrichteten, führte der Kongreß in gereizter Atmosphäre ebenfalls Anhörungen durch und durchkämmte die Organisationslisten der NASA, um festzustellen, wessen Aufgabe es gewesen wäre, derartige Unfälle zu verhindern, und wie es zu einem solchen Pfusch hatte kommen können. Bald schon wurde allen klar, daß umfassende Verbesserungen an der Kommandokapsel nötig sein würden, und daß sämtliche Meckereien der Astronauten wie auch der NASA-Ingenieure in den vorausgegangenen Jahren berechtigt gewesen waren. George Low, einer der stellvertretenden Chefs der Raumfahrtbehörde, berief eigens eine Kommission für Veränderungen an der Kommandokapsel ein, von der er sich einerseits mehr Übersicht und Ordnung beim Umbau versprach, die andererseits aber auch als Ansprechpartner für die Astronauten dienen sollte, damit diese in aller Offenheit ihre Änderungswünsche vortragen konnten. Auch die Herstellerfirmen öffneten den Apollo-Piloten sämtliche Türen – teils aus Schuldgefühl, teils aus heller Panik vor einem weiteren Unglück, hauptsächlich aber aus dem Wunsch heraus, der NASA, wie versprochen, ein weltraumtaugliches Fluggerät zu liefern. Wally Schirra, Donn Eisele und Walt Cunningham, die drei Männer also, die das unmittelbarste Interesse an der Zuverlässigkeit der nächsten Apollo-Kapsel hatten, nutzten dieses Angebot voll aus. Wie ein Erkundungstrupp streiften sie durch die Fabrik in Downey, Kalifornien, und überprüften noch während des Zusammenbaus die zahlreichen Bestandteile des Raumfahrzeugs. »Falls jemand von euch Schwierigkeiten hat, etwas zu kapieren, dann sagt mir Bescheid, und wir finden eine
Lösung«, sagte Schirra etwas großspurig zu Cunningham und Eisele. Borman, der offizielle, wenn auch weniger großspurige Abgesandte der NASA bei North American, regte sich schließlich über die Einmischung durch Schirra und seinen Untergebenen auf, rief die Bosse bei der Raumfahrtbehörde an und verlangte, seine Astronautenkollegen härter an die Kandare zu nehmen. Das Feuer, so meinte Borman, sei zumindest teilweise durch das Chaos und widersprüchliche technische Übermittlung innerhalb der NASA verursacht worden. Das Letzte, was die mit dem Umbau betrauten Männer jetzt gebrauchen könnten, seien zig Vorschläge für Veränderungen an einer aus Millionen von Teilen bestehenden Raumkapsel. Die NASA pflichtete ihm bei, Schirra gab nach, und die Verbesserungen der Apollo-Kapsel wurden von nun an mit mehr System vorgenommen. Borman fungierte fortan als Sprecher, der auf die stillschweigende Unterstützung der anderen Piloten bauen konnte, und gemeinsam setzten sie fast alle Forderungen der Astronauten nach einem neuen, sichereren Raumfahrzeug durch. So verlangten sie zum Beispiel eine per Gasdruck betriebene Einstiegluke, die sich innerhalb von sieben Sekunden öffnen lassen müsse. Sie verlangten zuverlässigere, feuersichere Kabel in der ganzen Kapsel. Sie verlangten, daß die Raumanzüge und sämtliche Textilien aus unbrennbaren Beta-Stoffen hergestellt werden sollten. Vor allem aber verlangten sie, daß die leicht entzündbare, aus 100 Prozent Sauerstoff bestehende Atemluft in der Kapsel durch eine weitaus weniger gefährliche Mischung aus 60 Prozent Sauerstoff und 40 Prozent Stickstoff ersetzt werden sollte. All ihre Wünsche wurden erfüllt. Als man Schirra später darauf hinwies, daß Bormans Zurückhaltung offenbar richtig gewesen war und die
Verbesserungen, die die Piloten gefordert hatten, auf diese Weise ebenso durchgesetzt worden waren, und zwar ohne Zank und Streiterei, reagierte dieser ungerührt. »Wir alle haben ein Jahr lang wegen drei guten Männern schwarze Armbinden getragen«, pflegte er zu sagen. »Aber verdammt will ich sein, wenn nächstes Jahr jemand wegen mir eine trägt.« Die Umbauten an der Apollo-Raumkapsel waren nicht die einzigen Veränderungen, die die NASA im Anschluß an das Feuer ausprobierte. Darüber hinaus wurden auch die Einsätze, zu denen diese Raumfahrzeuge starten sollten, einer Überprüfung unterzogen. Obwohl John E Kennedy seit 1963 tot war, überschattete nach wie vor sein großes Versprechen – oder sein verdammtes Versprechen, je nachdem, wie man es betrachtete –, wonach die Amerikaner noch vor dem Jahre 1970 auf dem Mond landen würden, die Arbeit bei der Raumfahrtbehörde. Unter den Verantwortlichen bei der NASA galt es als schweres Vergehen, sich dieser Herausforderung nicht zu stellen, aber noch schwerer wog die Angst davor, eine weitere Astronautencrew zu verlieren. Dementsprechend gingen die nachdenklicher gewordenen NASA-Bosse dazu über, öffentlich wie auch privat klarzumachen, daß Amerika zwar nach wie vor versuchen werde, noch vor dem Ende des Jahrzehnts den Mond zu erreichen, aber statt des atemlosen Tempos der vergangenen Jahre werde nun eine etwas gemächlichere Gangart eingeschlagen. Aufgrund der vorläufigen Missionsplanung sollte Schirra mit Apollo 7 zum ersten bemannten Apollo-Flug starten, der zunächst nur in die nähere Erdumlaufbahn führen und vor allem zur Erprobung der nach wie vor als unzuverlässig geltenden Kommandokapsel dienen sollte. Danach wäre dann Apollo 8 an der Reihe, eine Mission, in deren Verlauf McDivitt, Dave Scott und Rusty Schweickart ins erdnahe Weltall vordringen und sowohl die Kommandokapsel als auch
das Lunar Excursion Module, kurz LEM genannt – die Mondfähre also –, erproben sollten. Danach sollten Frank Borman, Jim Lovell und Bill Anders zu einer ähnlichen Mission mit zwei Raumfahrzeugen starten, bis in die schwindelerregende Höhe von sechseinhalbtausend Kilometern fliegen und bei hoher Geschwindigkeit die riskanten Manöver zum Wiedereintritt in die Erdatmosphäre üben, die für eine sichere Rückkehr vom Mond notwendig waren. Danach war noch alles offen. Laut Planung sollte das Programm bis zu Apollo 20 fortgesetzt werden, und ab Apollo 10 war bei jedem Flug mit einer Landung der ersten beiden Menschen auf dem Mond zu rechnen. Aber bei welchem Einsatz dies geschehen und um welche Männer es sich handeln würde, war noch völlig unklar. Bei der NASA war man entschlossen, nichts zu überstürzen. Selbst wenn es bis Apollo 15 dauern sollte, bis das technische Gerät erprobt war und eine Landung einigermaßen sicher erscheinen sollte, müßte man sich eben solange gedulden. Im Sommer 1968, zwei Monate vor dem geplanten Start von Apollo 7, wurde diese vorsichtige Zeitplanung aufgrund von Ereignissen im sowjetischen Kasachstan und in Bethpage, Long Island – nordöstlich von Levittown gelegen –, über den Haufen geworfen. Im August traf die erste Mondfähre vom Herstellerwerk, der Grumman Aerospace in Bethpage, in Cape Kennedy ein – eine einzige Katastrophe, selbst nach Einschätzung der wohlmeinendsten Techniker. Bei den ersten Erprobungen des fragilen, folienbespannten Raumfahrzeuges sah es so aus, als weise jede entscheidende Komponente schwere, nicht behebbare Mängel auf. Die einzelnen Teile der Mondfähre, die zerlegt zum Cape transportiert wurde und dort zusammengebaut werden sollte, wollten anscheinend nicht zusammenpassen. Elektrizität und Installation funktionierten
nicht so wie angegeben, überall fanden sich unsaubere Schweißnähte, klaffende Anschlußstellen und leckende Dichtungen. Einige Mängel waren natürlich zu erwarten gewesen. Zwar hatte man zehn Jahre lang schnittige, geschoßförmige Raumkapseln gebaut, die durch die Atmosphäre in die Erdumlaufbahn fliegen konnten, aber noch niemand hatte bislang versucht, ein bemanntes Raumfahrzeug zu konstruieren, das ausschließlich im Vakuum des Weltalls oder in Mondnähe zum Einsatz kommen sollte, wo nur ein Sechstel der irdischen Schwerkraft herrschte. Aber die Anzahl der Mängel an diesem Vehikel übertraf selbst die Vorstellungskraft der größten Pessimisten bei der NASA. Zur gleichen Zeit, da das LEM derartige Kopfschmerzen bereitete, schnappten Auslandsagenten der CIA noch weitaus beunruhigendere Neuigkeiten auf. Laut Gerüchten aus dem Kosmodrom Baikonur in Kasachstan, südöstlich von Moskau gelegen, plante man in der Sowjetunion, noch vor Jahresende ein Raumschiff vom Typ Zond um den Mond herum fliegen zu lassen. Niemand wußte, ob es sich um einen bemannten Flug handeln sollte, doch der Zond-Typ konnte mit Sicherheit eine Besatzung aufnehmen, und das Jahrzehnt, in dem die Sowjets den Amerikanern im Weltall ein ums andere Mal eins ausgewischt hatten, hatte eines gezeigt: Wenn man in Moskau auch nur die geringste Chance sah, einen Coup im Weltraum zu landen, würde man es garantiert versuchen. Bei der NASA war man zunächst ratlos. Mit dem LEM zu fliegen, bevor es gebrauchsfähig war, war ein Ding der Unmöglichkeit, aber Apollo 7 loszuschicken und dann monatelang keinen weiteren Start zu wagen, während die Russen auf dem Mond herumspazierten, kam auch nicht in Frage. Anfang August 1968 wurden Chris Kraft, der stellvertretende Direktor des Manned Spacecraft Center, und
Deke Slayton in Bob Gilruths Büro zitiert. Wie gerüchteweise zu vernehmen war, hatte Gilruth, dem die Gesamtleitung des Centers oblag, den ganzen Morgen über mit George Low, dem Direktor des Apollo-Raumfahrzeugprogramms, konferiert, um festzustellen, ob es für die NASA eine Möglichkeit gäbe, ihr Gesicht zu wahren, ohne den Verlust einer weiteren Astronautencrew zu riskieren. Als Slayton und Kraft in Gilruths Büro eintrafen, kamen er und Low sofort zur Sache. »Chris, wir haben ein ernsthaftes Problem mit unseren nächsten Flügen«, sagte Low unverblümt. »Da sind einerseits die Russen und zum andern das LEM, und beide wollen nicht so, wie wir es uns wünschen.« »Vor allem das LEM nicht«, erwiderte Kraft. »Wir haben damit jeden nur erdenklichen Ärger.« »Dann kann es bis Dezember also nicht fertig werden?« fragte Low. »Nie und nimmer«, erklärte Kraft. »Wenn wir Apollo 8 plangemäß starten wollen, was könnten wir alleine mit Kommandokapsel und Versorgungsteil machen, damit es trotzdem einen weiteren Fortschritt in unserem Programm darstellt?« »In der Erdumlaufbahn nicht viel«, sagte Kraft zögernd. »Das meiste, was in unseren Möglichkeiten steht, haben wir bereits für Apollo 7 eingeplant.« »Stimmt genau«, sagte Low zögernd. »Aber nehmen wir einmal an, Apollo 8 ist nicht einfach nur eine Wiederholung des Fluges von Apollo 7. Falls wir bis Dezember kein einsatzbereites LEM haben sollten, könnten wir dann mit dem Kommando- und Versorgungsteil etwas anderes machen?« Low hielt einen Moment inne. »Zum Beispiel den Mond umrunden?«
Kraft blickte weg, schwieg eine Zeitlang und dachte über Lows Frage nach. Dann schaute er seinen Chef wieder an und schüttelte langsam den Kopf. »George«, sagte er, »das ist eine ziemlich komplizierte Vorgabe. Wir haben alle Hände voll zu tun, damit die Computerprogramme für einen Flug in die Erdumlaufbahn rechtzeitig fertig sind. Und Sie wollen wissen, was ich von einem Mondflug innerhalb der nächsten vier Monate halte? Ich glaube nicht, daß wir das schaffen.« Low wirkte seltsam ungerührt. Er wandte sich an Slayton. »Was ist mit den Astronauten, Deke? Falls wir von der Technik her für einen Mondflug bereit wären, hätten Sie dann eine Crew, die den Einsatz übernehmen könnte?« »Die Crew ist nicht das Problem«, antwortete Slayton. »Die könnte rechtzeitig zur Verfügung stehen.« Low hakte nach. »Wen möchten Sie losschicken? McDivitt, Scott und Schweickart sind als nächste dran?« »Denen würde ich das nicht überlassen«, sagte Slayton. »Die üben schon seit langem mit dem LEM, und McDivitt hat klar und deutlich gesagt, daß er mit der Fähre fliegen will. Bormans Crew hat sich noch nicht so lange damit beschäftigt. Außerdem machen die sich bereits Gedanken darüber, wie man nach einem Flug im Weltall wieder in die Erdatmosphäre eintreten kann, und genau darauf kommt es bei diesem Einsatz an. Ich würde es Borman, Lovell und Anders überlassen.« Slaytons Antwort ermutigte Low, und auch Kraft, der sich vom Enthusiasmus der anderen Männer anstecken ließ, gab allmählich nach. Er bat Low, ihm etwas Zeit zu lassen, damit er mit den Technikern sprechen und sich erkundigen könnte, ob sich die Probleme mit der Software würden lösen lassen. Low war einverstanden, und Kraft und Slayton brachen auf und versprachen, ihm in ein paar Tagen Bescheid zu geben.
Sobald er wieder in seinem Büro war, trommelte Kraft in aller Eile sein Team zusammen. »Ich werde euch jetzt eine Frage stellen, und ich möchte binnen zweiundsiebzig Stunden eine Antwort hören«, sagte er. »Können wir unsere Computerprobleme soweit in den Griff bekommen, daß wir bis Dezember zum Mond fliegen können?« Krafts Team verzog sich, kehrte aber nicht erst zweiundsiebzig Stunden später zurück, sondern bereits nach vierundzwanzig. Die Antwort war einmütig: Ja, sagten sie, die Aufgabe ließ sich schaffen. Kraft meldete sich telefonisch bei Low. »Wir glauben, daß es möglich ist«, erklärte er dem Direktor des ApolloRaumfahrzeugprogramms. »Vorausgesetzt, mit Apollo 7 geht nichts schief, dann sollten wir unserer Ansicht nach Apollo 8 über Weihnachten zum Mond schicken.« Am 11. Oktober 1968 umrundeten Wally Schirra, Donn Eisele und Walt Cunningham mit Apollo 7 die Erde und landeten elf Tage später im Atlantischen Ozean. Die Medien waren begeistert, der Präsident übermittelte der Besatzung telefonisch seine Glückwünsche, und die NASA verkündete, der Flug habe sein Soll zu »101 Prozent« erfüllt. Der Einsatzplanungsstab bei der Raumfahrtbehörde nahm sich nun vor, Frank Borman, Jim Lovell und Bill Anders nur sechzig Tage später zum Mond zu schicken.
Die Vorbereitungen für den Start von Apollo 8 wurden von der NASA überaus geschickt in Szene gesetzt. Nur zwei Tage, bevor die 68 Meter hohe Saturn-1-B-Rakete mit Apollo 7 gestartet wurde, ließ die Raumfahrtbehörde die Saturn 5 aus der Halle rollen, eine gigantische, 110 Meter hohe Trägerrakete, die benötigt wurde, um die Raumkapsel aus der
Erdatmosphäre in Richtung Mond zu schießen. Die NASA versuchte das Ereignis herunterzuspielen – aber die meisten Leute nahmen sehr wohl wahr, daß die Rakete gerade zu dem Zeitpunkt herausgerollt wurde, als Kameraleute aus aller Welt wegen des Starts von Apollo 7 zugegen waren. Die Presse geriet in helle Aufregung. »USA bereiten Mondflug für Dezember vor«, verkündete die New York Times. »Apollo 8 bereit für Mondumrundung«, verhieß der Washington Star und fügte in kleineren Buchstaben hinzu, daß der Flug »offiziell noch immer als zweiter Start in die Erdumlaufbahn bezeichnet wird«. Bei der NASA hingegen zierte man sich nach wie vor und räumte lediglich ein, daß ein Mondflug von Apollo 8 möglich sei, mehr aber nicht. Bevor Apollo 7 sicher gewassert sei, werde keine diesbezügliche Entscheidung gefällt. Borman, Lovell und Anders wußten natürlich seit langem, daß der Flug zum Mond beschlossene Sache war, und Lovell war über diese Entwicklung begeistert. Obwohl es einiges gab, das für die Erprobung der Mondfähre in der äußeren Erdumlaufbahn sprach, befürchtete Lovell, daß dieser Einsatz etwas öder ausfallen könnte, als ihm recht war. Als Pilot der Kommandokapsel müßte er im Apollo-Mutterschiff bleiben, während Borman und Anders die vorgeschriebenen Tests mit dem LEM durchführten. Wenn nun statt dessen ein Flug ohne LEM in die Mondumlaufbahn stattfinden sollte, würden die Aufgaben der drei Besatzungsmitglieder völlig neu verteilt werden. Und da Lovell offiziell als Navigator bei dieser ersten translunaren Mission vorgesehen war, könnte ihm die interessanteste Aufgabe zufallen. Die Reaktion von Borman, dem Kommandanten bei diesem Flug, war etwas zurückhaltender. Borman, bekannt für seine blitzschnellen Reflexe und seine Entscheidungsfähigkeit, galt
als einer der besten Piloten der NASA. Aber er neigte auch zur Vorsicht. Der Colonel der Air Force und Gemini-7-Veteran wurde von seinen Astronautenkollegen immer wieder wegen der vorsichtigen Route aufgezogen, auf der er mit seiner T-38 von Houston nach Cape Kennedy flog. Aufgrund einer strengen Sicherheitsvorschrift waren die Piloten angehalten, immer über dem Festland zu bleiben und niemals über den Golf von Mexiko zu fliegen. Doch die meisten Männer – die von Berufs wegen ihr Leben in unerprobten Flugzeugen aufs Spiel setzten – kümmerten sich nicht um diese ihrer Ansicht nach übertriebene Vorsichtsmaßnahme und riskierten lieber eine Abkürzung über den Golf, wenn sie Zeit sparen wollten. Borman indessen hielt sich im allgemeinen an die Regel und wählte die trockenere, wenn auch umständlichere Route entlang der Küste von Texas, Louisiana, Mississippi, Alabama und schließlich Florida. Niemand verlor je ein Wort darüber, daß dieser Umweg auf mangelnden Mut hindeuten könnte, und darum ging es auch nicht. Man fand sich vielmehr damit ab, daß der Mann, der so vehement um Aufnahme ins Astronautenkorps ersucht und gemeinsam mit Jim Lovell 206mal die Erde umkreist hatte, keinerlei Grund sah, ein Risiko einzugehen, wenn man sicher genauso zum Ziel kam, Bill Anders, das unerfahrenste Mitglied im Team, reagierte auf die Ankündigung, daß sie zum Mond fliegen sollten, mit ähnlich gemischten Gefühlen wie Borman, wenn auch aus anderen Gründen. Als Pilot der Mondfähre hatte sich Anders darauf gefreut, den Großteil der Testmanöver mit dem noch in der Erprobung stehenden Raumfahrzeug zu überwachen und dafür zu sorgen, daß die Fähre einsatzfähig würde. Nun, da die Fähre am Boden bleiben sollte, hatte er erheblich weniger zu tun und mußte lediglich auf das Haupttriebwerk des Versorgungsteils und den Zustand der
Kommunikationssysteme und der Elektrik an Bord achten. Auch diese Arbeit war wichtig, aber sie ließ sich nicht annähernd mit dem Steuern der Mondfähre in einer Höhe von sechseinhalbtausend Kilometern vergleichen. Nun blieb den Astronauten nur noch die heikle Aufgabe, es ihren Frauen zu sagen. Valerie Anders und Marilyn Lovell reagierten mit verhaltener Zustimmung auf die Neuigkeit. Nicht so jedoch Susan Borman. Susans Ansicht nach – so jedenfalls gingen die Gerüchte – war ein Flug mit Apollo 8 ein unwägbares Risiko, und sie legte auch keinen Wert darauf, daß ihr Gatte als Kommandant auserkoren war. Zwar hatten die Frauen der Astronauten so gut wie keinen Einfluß auf die Einsatzplanung, aber innerhalb der engen Gemeinschaft der NASA konnten sie ihren Mißmut deutlich zum Ausdruck bringen. Susan, so hieß es, habe sich vor allem auf Chris Kraft eingeschossen und ihm klargemacht, daß er kein freundliches Wort mehr von ihr zu erwarten habe, selbst wenn Frank diesen aberwitzigen Flug überleben sollte.
Als Apollo 8 am Morgen des 21. Dezember startete, waren zumindest nach außen hin aller Zank und Zweifel vergessen. Kurz nach 5 Uhr morgens wurde die Kapsel mit Borman, Lovell und Anders geschlossen. Der Start sollte um 7:51 Uhr erfolgen. Um 7 Uhr begannen die Fernsehübertragungen, und viele Menschen im Lande waren wach, um das Ereignis live mitzuerleben. Aber auch in Europa und Asien verfolgte ein Millionenpublikum das Geschehen. Von dem Augenblick an, als die gewaltige Saturn-5Trägerrakete gezündet wurde, war allen Fernsehzuschauern klar, daß es sich um einen Start handelte, wie er in der Geschichte der Menschheit noch nie dagewesen war. Noch klarer war dies den Männern in der Raumkapsel – einer von
ihnen war noch nie im Weltall gewesen, und die beiden anderen waren zuvor nur mit der vergleichsweise mickrigen, 34 Meter hohen Titan-Rakete in der Gemini-Kapsel geflogen. Die Titan war ursprünglich als Interkontinentalrakete entwickelt worden, und wenn man in der Kapsel an ihrer Spitze festgeschnallt war, wo ursprünglich die Atomsprengköpfe sitzen sollten, konnte man ganz genau spüren, um welch unbändiges Projektil es sich handelte. Die leichtgewichtige Rakete hob anstandslos von der Rampe ab, und in atemberaubend kurzer Zeit nahmen Geschwindigkeit und Druckbelastung zu. Wenn die zweite der beiden Stufen ausbrannte, war die Titan so schnell, daß ein Druck von acht g auf der Besatzung lastete – die im Durchschnitt 77 Kilogramm schweren Astronauten hatten mit einem Mal das Gefühl, 616 Kilogramm zu wiegen. Ebenso beunruhigend wie das Tempo und die Druckbelastung war der Kurs, den die Rakete einschlug. Das Steuerleitsystem der Titan war so konstruiert, daß die Navigation in der Seitenlage erfolgte. Daher rollte die Rakete während des Anstiegs 90 Grad nach rechts, so daß die Astronauten den Horizont durch die Fenster senkrecht sahen – ein schwindelerregendes Gefühl. Noch beunruhigender waren die ballistischen Flugbahnen, die in den Steuerungscomputer der Titan eingespeist waren. So wurde die Rakete unter den Horizont ausgerichtet, wenn sie ein militärisches Ziel anpeilte, und oberhalb des Horizonts, wenn sie in Richtung Weltraum flog. Während die Rakete an Höhe gewann, suchte der Computer fortwährend nach dem richtigen Kurs, so daß die Spitze der Rakete sich ständig nach oben und nach unten, nach links und nach rechts bewegte, wie die Schnauze eines Spürhundes, der sein Ziel sucht, sei es Moskau, Minsk oder die Erdumlaufbahn, je nachdem, ob die Rakete Atomsprengköpfe oder Raumfahrer beförderte.
Die Saturn 5 sollte angeblich ganz anders sein. Obwohl sie die atemberaubende Schubkraft von rund 3500 Tonnen entwickelte – fast neunzehnmal soviel wie die Titan – versprachen die Ingenieure, daß es sich mit dieser Rakete weitaus angenehmer fliegen lasse. Die Druckbelastung sollte angeblich nicht über vier g steigen und aufgrund der sanften Beschleunigung und der ungewöhnlichen Flugbahn zeitweise sogar unter ein g sinken. Die Astronauten, von denen viele auf die Vierzig zugingen, hatten der Saturn 5 deshalb bereits den Spitznamen »Altherren-Rakete« verliehen. Da die Saturn aber noch nie Astronauten ins Weltall befördert hatte, stand das angeblich so ruhige Flugverhalten bislang nur auf dem Papier. Doch schon während der ersten Minuten ihres Fluges mit Apollo 8 stellten Borman, Lovell und Anders fest, daß die Gerüchte über die angeblich »schmerzlose« Rakete tatsächlich zutrafen. »Die erste Stufe war sehr ruhig, und die hier ist noch ruhiger!« jubelte Borman beim Aufsteigen, als die mächtigen F-1-Triebwerke ausgebrannt waren und die kleineren J-2Triebwerke zugeschaltet wurden. »Roger, ruhig und ruhiger«, antwortete der CAPCOM. Keine zehn Minuten später war die sanfte Trägerrakete ausgebrannt, nachdem sie die Astronauten in eine feste Umlaufbahn etwa 160 Kilometer über der Erde befördert hatte, und die beiden Stufen fielen ins Meer. Aufgrund der Einsatzvorschriften muß ein Raumschiff, das zum Mond fliegen soll, zunächst drei Stunden lang in einem sogenannten »Parkorbit« die Erde umkreisen. In dieser Zeit verstaut die Besatzung Ausrüstungsgegenstände, stellt die Instrumente ein, bestimmt ihren Standort und sorgt dafür, daß die Kapsel bereit für die lange Reise ist. Erst wenn alles überprüft ist, erhält sie die Erlaubnis, das Triebwerk der dritten
Raketenstufe der Saturn 5 zu zünden und das Gravitationsfeld der Erde zu verlassen. Frank Borman, Jim Lovell und Bill Anders wußten, daß sie sich sofort an die Arbeit machen mußten, sobald ihr Schiff in der Umlaufbahn war, und drei Stunden lang alle Hände voll zu tun haben würden. Lovell schnallte sich als erster los, aber sobald er die Sitzgurte gelöst hatte und nach vorne trieb, wurde ihm gewaltig übel. Man hatte die Astronauten von den ersten Anfängen des Raumfahrtprogramms an vor dieser möglichen Übelkeit aufgrund der Schwerelosigkeit im All gewarnt, aber in den winzigen Mercury- und Gemini-Kapseln, in denen man sofort mit dem Kopf an die Einstiegluke stieß, sobald man aus dem Sitz schwebte, war dieses Unwohlsein kein Problem gewesen. In der Apollo-Kapsel jedoch gab es mehr Bewegungsraum, und Lovell mußte feststellen, daß ihm das schwer auf den Magen schlug. »Herrje«, sagte er mehr zu sich selbst, als an seine Kollegen gewandt. »Bloß nicht zu schnell bewegen.« Sachte schwebte er vorwärts und entdeckte – wie Generationen reumütiger Trinker, denen sich der Kopf dreht, sobald sie im Bett liegen –, daß er seine aufgewühlten Eingeweide in den Griff bekam, wenn er den Blick auf eine Stelle richtete und sich ganz langsam bewegte. Vorsichtig entfernte sich Lovell von seinem Sitzplatz, übersah aber, daß sich ein kleiner Metallknebelkopf vorne an seinem Raumanzug an einer der Metallstreben der Couch verhakt hatte. Als er sich weiterbewegte, hallten ein lautes Ploppen und ein Zischen durch die Raumkapsel. Der Astronaut schaute nach unten und bemerkte, daß sich die leuchtend gelbe Schwimmweste, die aus Sicherheitsgründen beim Start über dem Meer getragen wurde, vollständig aufgeblasen hatte. »Ach, verflucht«, murmelte Lovell, senkte den Kopf und schob sich wieder auf seinen Platz.
»Was ist passiert?« fragte Anders verblüfft und blickte von seiner Couch rechts neben Lovell auf. »Wie sieht’s denn aus?« sagte Lovell, der sich mehr über sich als über seinen Untergebenen ärgerte. »Ich glaube, ich habe mich irgendwo mit meiner Weste verhakt.« »Tja, dann hak’ sie doch los«, sagte Borman. »Wir müssen die Luft aus dem Ding rauslassen und es verstauen.« »Ich weiß«, sagte Lovell. »Aber wie?« Borman begriff, worauf Lovell hinauswollte. Die Schwimmwesten wurden durch kleine, unter Druck stehende Flaschen voller Kohlendioxid aufgeblasen, und wenn man das Ablaßventil öffnete, entströmte das CO2 in die Umgebung. Auf dem Meer war das kein Problem, aber in der engen ApolloKapsel konnte das etwas kitzlig werden. Das Cockpit war mit Behältern voller Lithiumhydroxid-Granulat ausgerüstet, die das CO2 aus der Luft filtern sollten. Wenn diese Behälter aber einen bestimmten Sättigungsgrad erreicht hatten, konnten sie nichts mehr absorbieren. Obwohl Ersatzbehälter an Bord waren, wollte Lovell den ersten Filter nicht aufs Spiel setzen, indem er einen kräftigen Schwall Kohlendioxid in die kleine Kabine abließ. Borman und Anders schauten Lovell an, und alle drei Männer zuckten hilflos die Achsel. »Apollo 8, Houston. Versteht ihr uns?« meldete sich der CAPCOM, der sich offenbar Sorgen machte, weil er so lange nichts von der Besatzung gehört hatte. »Roger«, antwortete Borman. »Wir hatten einen kleinen Zwischenfall. Jim hat aus Versehen eine Schwimmweste aufgeblasen, so daß er jetzt um die Brust herum ein bißchen üppig ist.« »Roger«, erwiderte der CAPCOM, der anscheinend auch keine Lösung anzubieten hatte. »Haben verstanden.« Unterdessen verstrichen langsam die Minuten in der Erdumlaufbahn, und die Crew durfte nicht noch mehr Zeit mit
einer lächerlichen Schwimmweste vergeuden. Plötzlich fanden Lovell und Bormann eine Lösung: das System zur Urinbeseitigung. Im Stauraum zu Füßen der Couch war ein langer Schlauch, der über ein kleines Ventil aus der Kapsel hinausführte. Am anderen Ende des Schlauches befand sich ein zylindrisches Anschlußstück. Die gesamte Vorrichtung wurde in Astronautenkreisen als »relief tube«, als Erleichterungsrohr bezeichnet. Ein Raumfahrer, der sich erleichtern mußte, konnte den Zylinder an seinem Raumanzug anschließen, das Ventil nach draußen öffnen und in aller Ruhe aus einem viele Millionen Dollar teuren Raumschiff, das mit 40000 Kilometer pro Stunde dahinraste, in die Schwärze des Weltalls hinauspinkeln. Lovell hatte schon unzählige Male von dem Erleichterungsrohr Gebrauch gemacht, aber nur aus dem Grund, zu dem es vorgesehen war. Nun mußte er improvisieren. Er zerrte die Schwimmweste herunter, drückte sie an die Urinschleuse, und nach einigem Hin und Her gelang es ihm, den Ablaßstutzen in den Schlauch zu zwängen. Es funktionierte. Lovell winkte Borman mit erhobenem Daumen zu, und Borman nickte. Und während der Kommandant und der Pilot des LEM die Checkliste für den Mondflug durchgingen, preßte Lovell geduldig das Kohlendioxid aus der Schwimmweste und bügelte den ersten Fehler wieder aus, der ihm nach 430 Stunden im Weltraum unterlaufen war. Die Zündung der Rakete, die Apollo 8 aus der Erdumlaufbahn beförderte, verlief ebenso problemlos wie der Start. Als der Antrieb gezündet wurde, beschleunigte das Raumfahrzeug langsam von 27200 Kilometer pro Stunde auf 40000 Kilometer pro Stunde, wobei es die Kreisbahn um die Erde verließ und geradeaus in Richtung Mond flog. Ab jetzt, so wußten die Astronauten, würde es eher gemächlich zugehen. Doch das Schiff würde immer noch unter dem
Einfluß der Erdanziehungskraft stehen, während es sich immer weiter von dem Planeten entfernte. Zwei Tage lang würde die Geschwindigkeit des Raumfahrzeugs stetig sinken, erst auf 32000 Kilometer pro Stunde, dann auf 16000 Kilometer pro Stunde, und schließlich, nach etwa fünf Sechsteln der Strecke, bis auf 3200 Kilometer pro Stunde. An diesem Punkt würde die Anziehungskraft des Erdtrabanten stärker werden als die des Heimatplaneten, und das Schiff würde wieder beschleunigen. Bis dahin aber konnte es in einem Raumfahrzeug auf dem Weg zum Mond sehr ruhig zugehen, und die Astronauten wie auch die Männer am Boden mußten sich gegenseitig wach halten. Am Morgen nach dem Start von Apollo 8 meldete sich Houston, um der Besatzung in der Kapsel etwas die Zeit zu vertreiben. »Sagt mir Bescheid, wenn’s Zeit fürs Frühstück ist«, sagte der CAPCOM am ersten vollen Tag des Fluges kurz nach 9 Uhr. »Ich möchte euch etwas aus der Zeitung vorlesen.« »Gute Idee«, antwortete Borman. »Wir haben noch keine Nachrichten gehört.« »Ihr seid die Nachrichten«, sagte der CAPCOM lachend. »Nun mach mal halblang«, sagte Borman. »Ernsthaft«, beharrte Houston. »Der Flug zum Mond nimmt sowohl bei den Zeitungen als auch im Fernsehen einen Sonderplatz ein. Es ist die Nachricht schlechthin. Die Schlagzeile der Post lautet: ›Mond, jetzt kommen sie‹. Außerdem wurde berichtet, daß elf GIs, die fünf Monate lang in Kambodscha festgehalten wurden, gestern freigekommen sind und bis Weihnachten zu Hause sein werden. Im Entführungsfall in Miami wurde ein Verdächtiger festgenommen, und David Eisenhower und Julie Nixon haben gestern in New York geheiratet. Er wurde als ›nervös‹ geschildert.« »Klar«, sagte Anders.
»Die Browns haben Dallas gestern mit 31 zu 20 niedergemacht«, fuhr Houston fort. »Und wir sind ein bißchen neugierig: Wen wollt ihr heute, Baltimore oder Minnesota?« »Baltimore«, sagte Lovell. »Außerdem gibt’s noch eine richtig große Nachricht: Erst vor ein paar Minuten verkündete das State Department, daß die Besatzung der ›Pueblo‹ heute abend um 9 Uhr freigelassen wird.« »Klingt gut«, sagte Lovell. Dann bot er mit einem Blick auf die Instrumente eine weitere Nachricht, die für die an dem Gespräch beteiligten Männer noch bedeutsamer war. »Die Berechnungen an Bord zeigen an, daß Apollo nach 25 Stunden Flug 166400 Kilometer von zu Hause entfernt ist.« »Ja«, sagte Houston. »Unser Flugplan weist eine ähnliche Zahl auf.« »Herrliche Aussicht von hier draußen«, sagte Borman. Den Großteil ihrer Reise über hatten die Astronauten von Apollo 8 ihr Ziel im Blick, den Mond, der vor ihnen immer größer wurde. Nach dem Verlassen der Erdumlaufbahn warfen sie ein paar begeisterte Blicke auf den langsam zurückfallenden Planeten, dann drehten sie ihr Raumfahrzeug herum und flogen mit der Nase nach vorn, wie es sich gehörte. Genaugenommen war dies im Weltall nicht notwendig, wo ein Transportmittel aufgrund der Newtonschen Gesetze immer die gleiche Richtung beibehält, egal, wohin sein Bug gerichtet ist. Aber aus alter Gewohnheit und weil für Piloten alles seine Ordnung haben muß, mußte ein Raumfahrzeug nach vorne ausgerichtet sein, und genau so flogen die Astronauten. Wenn sich das Schiff nach dem zweiten vollen Tag jedoch dem Mond näherte, würde die Besatzung es erneut umdrehen müssen. Wenn Apollo 8 seine Spitzengeschwindigkeit von bis zu 8000 Kilometern pro Stunde erreichte, würde das Schiff sich
zu schnell bewegen, um von der relativ schwachen Anziehungskraft des Mondes erfaßt zu werden. Überließe man es sich selbst, würde es sich dem Mond nähern, seine Rückseite umfliegen und dann wieder auf einen Kurs in Richtung Erde einschwenken, wie ein mit einer Wurf schlinge geschleuderter Stein. Dieses Phänomen, gemeinhin freie Rückkehrbahn genannt, war zwar nützlich für die Astronauten, wenn sie bei einem Triebwerksausfall möglichst rasch wieder zur Erde zurückfliegen wollten, aber wenn eine Besatzung nicht nur an der Rückseite des Mondes vorbeifliegen, sondern in eine Umlaufbahn einschwenken wollte, war es ein Nachteil. Um diese Wurfschlingenbahn verlassen zu können, mußte das Raumfahrzeug um 180 Grad gedreht werden, so daß es mit dem Hinterteil voran flog, worauf dann das Haupttriebwerk des Mutterschiffes mit seinen 9 Tonnen Schubkraft gezündet wurde, bis Apollo soweit abgebremst war, daß es vom Gravitationsfeld des Mondes eingefangen werden konnte. Dieses Manöver, als Lunar Orbit Insertion (Eintritt in die Mondumlaufbahn) oder kurz LOI bezeichnet, war einfach, barg aber gewisse Risiken. War die Brenndauer des Triebwerks zu kurz, dann würde das Schiff in eine unkalkulierbare – und unkontrollierbare – elliptische Umlaufbahn geraten, in der es hoch über die eine Hälfte des Mondes hinwegfliegen würde, um dann tief auf die andere herabzusinken. Wenn das Triebwerk zu lange brannte, würde das Schiff zu langsam werden und nicht in die Umlaufbahn eintreten, sondern auf den Mond stürzen. Zusätzlich erschwert wurde dies, weil die Zündung des Motors auf der Mondrückseite stattfinden mußte, wodurch eine Verständigung zwischen Kapsel und Bodenstation unmöglich war. Houston mußte daher die bestmöglichen Koordinaten für den Zündzeitpunkt erarbeiten, die Daten an die Crew weiterleiten und dann darauf vertrauen, daß diese das Manöver auf eigene
Faust durchführte. Die Bodenkontrolle wußte genau, wann das Raumfahrzeug bei plangemäß erfolgter Brennphase aus dem mächtigen Mondschatten hervortreten würde, und erst, wenn man wieder das Funksignal von Apollo 8 empfinge, würde man wissen, ob die LOI wie vorgesehen funktioniert hatte. Apollo 8 war zwei Tage, 20 Stunden und vier Minuten unterwegs – das Raumfahrzeug war nur mehr ein paar tausend Kilometer vom Mond und über 320 000 Kilometer von der Erde entfernt –, als der CAPCOM, in diesem Fall Jerry Carr, der Besatzung über Funk die Erlaubnis gab, mit dem Eintritt in die Mondumlaufbahn zu beginnen. An der Ostküste war es kurz nach vier Uhr morgens am Heiligabend, in Houston kurz vor drei, und selbst die fanatischsten Mondfans auf der westlichen Erdhälfte lagen noch in tiefem Schlaf. »Apollo 8, hier ist Houston«, sagte Carr. »Ihr habt GO für LOI um 68:04.« »O.K.«, antwortete Borman ruhig. »Apollo 8 hat GO.« »Ihr seid auf dem bestmöglichen Weg außen herum«, sagte Carr, der um einen ermutigenden Tonfall bemüht war. »Roger«, sagte Borman. »Ein guter Weg.« Carr gab die Daten für die Motorzündung an die Kapsel durch, und Lovell tippte sie in den Bordcomputer ein. Etwa eine halbe Stunde blieb noch, bis das Raumfahrzeug in den Funkschatten hinter dem Mond eintreten würde, und wie in derartigen Momenten üblich, ließ die NASA die Minuten weitgehend in Stille verstreichen. Die Astronauten, die sämtliche Handgriffe vor dem Zünden des Haupttriebwerks gut eingeübt hatten, nahmen wortlos auf den Couchs Platz und schnallten sich an. Natürlich könnte ihnen kein Sitzgurt irgendeinen Schutz bieten, falls es beim Eintreten in die Mondumlaufbahn zu einem Unglück kommen sollte. Nichtsdestotrotz verlangte das Einsatzprotokoll, daß die Besatzung Gurte anlegte, und daran hielten sie sich.
»Apollo 8, Houston«, meldete sich Carr nach einer langen Pause. »Wir haben unsere Mondkarten vor uns liegen und sind bereit.« »Roger«, antwortete Borman. »Apollo 8«, sagte Carr etwas später, »euer Treibstoff bleibt konstant.« »Roger«, sagte Lovell. »Apollo 8, ihr habt noch 9 Minuten und 30 Sekunden bis zum Abreißen des Signals.« »Roger.« Als Carr sich das nächste Mal meldete, waren es noch fünf Minuten bis zum Abreißen der Funkverbindung, dann zwei Minuten, dann eine Minute und schließlich noch zehn Sekunden. Zu genau dem von der Flugplanung vor Monaten errechneten Zeitpunkt schwenkte das Raumfahrzeug in die Umlaufbahn hinter dem Mond ein, und die Stimmen von CAPCOM und Besatzung wurden zunehmend von Knistern und Knacken überlagert. »Gute Reise, Jungs«, rief Carr, der sich trotz der zusammenbrechenden Funkverbindung verständlich machen konnte. »Besten Dank, Jungs«, rief Anders zurück. »Wir sehen uns auf der anderen Seite«, sagte Lovell. »Ihr habt jetzt endgültig GO«, sagte Carr. Dann riß die Verbindung ab. In der unwirklichen Stille sahen die Astronauten einander an. Lovell wußte, daß sie irgendwelche, nun ja, tiefschürfenden Gefühle haben müßten – aber allem Anschein nach gab es nicht viel Tiefschürfendes zu empfinden. Klar, der CAPCOM, die Computer und das Rauschen in den Kopfhörern verrieten ihm, daß er sich auf die Rückseite des Mondes zubewegte, aber sinnlich wahrnehmen konnte er dieses gewaltige Ereignis nicht, das da vonstatten ging. Er war vor einigen Augenblicken
schwerelos gewesen, und schwerelos war er auch jetzt. Vor einigen Augenblicken war vor dem Fenster tiefe Schwärze gewesen, und die gleiche tiefe Schwärze war auch jetzt noch da. Da unten war also irgendwo der Mond? Nun ja, dann würde er es eben einfach mal glauben. Borman wandte sich nach rechts, um sich mit der Crew zu beraten. »Und? Wollen wir die Sache angehen?« Lovell und Anders warfen noch einmal einen prüfenden Blick auf ihre Instrumente. »Von mir aus können wir loslegen«, sagte Lovell zu Borman. »Von mir aus auch GO«, stimmte Anders zu. Lovell, der auf der mittleren Couch lag, tippte die letzten Befehle in den Computer ein. Etwa fünf Sekunden vor dem geplanten Zündzeitpunkt blinkte auf einem Bildschirm ein kleines »99:40« auf. Die kryptische Zahl war eine der letzten Sicherheitsvorkehrungen des Raumfahrzeuges gegen einen Pilotenfehler. Es war der Code, mit dem der Computer noch einmal nachfragte: »Seid ihr sicher«, sein »Letzte Chance«Code, der Code, mit dem er nachhakte: »Überzeugt euch, daß ihr wißt, was ihr tut, denn jetzt geht’s auf eine Höllentour.« Unter den blinkenden Ziffern befand sich ein kleiner Knopf mit der Aufschrift »Proceed« – weitermachen. Lovell starrte auf die 99:40, dann auf den Proceed-Knopf, dann wieder auf die 99:40, dann wieder auf den Knopf. Und kurz vor Ablauf der fünf Sekunden legte er den Zeigefinger auf den Knopf und drückte zu. Einen Moment lang bemerkten die Astronauten gar nichts; dann hörten sie mit einem Mal ein Grollen hinter sich. Ein paar Meter hinter ihnen öffneten sich die Ventile in den riesigen Tanks des Raumfahrzeuges, und aus drei Düsen strömten drei verschiedene flüssige Chemikalien in die Brennkammer. Diese Chemikalien – Hydrazin, Dimethylhydrazin und Stickstofftetraoxid – wurden Hypergole genannt und
zeichneten sich dadurch aus, daß sie sich selbst entzündeten, sobald man sie miteinander in Verbindung brachte. Anders als Benzin, Diesel oder flüssiger Wasserstoff, die allesamt einen Zündfunken brauchen, damit die molekular gebundene Energie freigesetzt wird, reagieren Hypergole wie Katalysatoren. Man vermenge zwei Hypergole, und sie reagieren aufeinander wie zwei Kampfhähne; läßt man sie lange genug in einem begrenzten Raum beisammen, setzen sie eine erstaunliche Menge an Energie frei. Genau diese explosive chemische Reaktion fand jetzt unmittelbar hinter Lovell, Anders und Borman statt. Als diese Chemikalien sich in der Brennkammer entzündeten, schoß ein glühend heißer Strahl aus der glockenförmigen Düse des Haupttriebwerks am Heck des Raumfahrzeugs, und Apollo 8 wurde immer langsamer. Borman, Lovell und Anders spürten, wie sie rückwärts auf ihre Couchs gepreßt wurden. Statt der Schwerelosigkeit, an die sie sich gewöhnt hatten, herrschte nun zumindest eine leichte Schwerkraft, so daß sich das Körpergewicht der Astronauten von null auf einige Kilogramm erhöhte. Lovell blickte zu Borman und hob den Daumen; Borman lächelte grimmig zurück. Viereinhalb Minuten lang dauerte die Brennphase des Triebwerks, dann erlosch das Feuer in seinem Inneren. Lovell warf einen Blick auf das Armaturenbrett. Er suchte die mit »Delta V« gekennzeichnete Angabe. Das »V« stand für »Velocity«, die Geschwindigkeit, und »Delta« bedeutete Veränderung – »Delta V« gab folglich an, inwieweit sich die Geschwindigkeit des Schiffes durch das Bremsmanöver mit dem Haupttriebwerk verringert hatte. Lovell entdeckte die Zahl und wollte am liebsten die Faust hochreißen – 2800! Bestens: 2800 Fuß (850 Meter) pro Sekunde war nicht gerade eine Vollbremsung, wenn man mit 7500 Sachen dahinschoß, aber es war genau der gewünschte Wert, wenn man die Umlaufbahn
verlassen und die Anziehungskraft des Mondes auf sich einwirken lassen wollte. Neben dem Delta V leuchteten nun zwei Zahlen auf: 60,5 und 169,1. Es waren die Angaben für den Pericynthion und den Apocynthion – der niedrigste und der höchste Punkt in der Umlaufbahn um den Mond. Jeder Gegenstand, der am Mond vorbeiflog, hatte ein Pericynthion, aber ein Pericynthion und ein Apocynthion bekam man nur, wenn man nicht einfach vorbeiflog, sondern den Himmelskörper tatsächlich umrundete. Die Raumkapsel mit Frank Borman, Jim Lovell und Bill Anders, das zeigten diese Zahlen an, war nun ein Satellit des Mondes und umkreiste ihn in einer elliptischen Flugbahn, deren höchster Punkt 169,1 Meilen (310 Kilometer) und deren tiefster 60,5 Meilen (111 Kilometer) über der Mondoberfläche lag. »Wir haben’s geschafft!« jubelte Lovell. »Auf den Punkt genau«, sagte Anders. Bormann stimmte ihnen zu. »Umlaufbahn erreicht. Wollen wir hoffen, daß die Zündung morgen klappt, damit wir wieder nach Hause kommen.« Das Einschwenken in die Umlaufbahn war ebenso wie das Verschwinden hinter dem Mond eine eher akademische Erfahrung für die Astronauten. Sobald das Triebwerk abgeschaltet hatte und die Besatzung wieder schwerelos war, bestätigten lediglich die Daten auf den Instrumenten, was sie geschafft hatten. Der Mond war knapp hundert Kilometer unter ihnen, aber weil die Fenster oben an der Kapsel angebracht waren, konnten ihn die Astronauten nicht sehen. Borman, Lovell und Anders kamen sich vor wie Besucher in einer Kunstausstellung, die sich noch nicht nach den Bildern umgedreht hatten. Allerdings konnten sie jetzt – und zwar ungestört, da sie erst in zwanzig Minuten wieder Kontakt mit der Bodenstation bekommen würden – eine erste
Untersuchung des Festkörpers vornehmen, dessen Anziehungskraft sie hielt. Borman griff zur Handsteuerung rechts von seinem Platz und betätigte kurz die außen am Raumfahrzeug angebrachten Raketen zum Rollen. Das Schiff geriet in Bewegung und drehte sich langsam entgegen dem Uhrzeigersinn. Bei der ersten Drehung um 90 Grad wurden die Astronauten auf die Seite gekippt. Nach weiteren 90 Grad standen sie auf dem Kopf, so daß der Mond, der zuvor unter ihnen gewesen war, nun scheinbar über ihnen hing. Hinter dem Fenster links von Borman tauchte die hellgraue, gipsartige Mondoberfläche zum erstenmal auf, und Borman war es denn auch, der als erster große Augen bekam. Danach sah ihn Lovell durch das Fenster in der Mitte und schließlich auch Anders. Den beiden Astronauten blieb ebenso die Luft weg wie ihrem Kommandanten. »Großartig«, flüsterte jemand. »Phantastisch«, antwortete jemand. Unter ihnen glitt eine zerklüftete und zerrissene Landschaft vorbei, die bislang noch kein menschliches Auge je erblickt hatte – nur die Kameras der Robotsonden. Nach allen Richtungen erstreckte sich eine endlose, ebenso reizvolle wie häßliche Ebene mit Hunderten – nein, Tausenden, nein, Zehntausenden – von Kratern, Löchern und Trichtern, die Hunderte – nein Tausende, nein Millionen – von Jahren alt waren. Es gab Krater, die nebeneinander lagen, Krater, die sich überlappten, Krater, die andere Krater umgaben. Es gab Krater, so groß wie ein Fußballplatz, Krater, so groß wie ganze Inseln, Krater, so groß wie kleine Länder. Viele dieser uralten Krater waren von Astronomen, die die von den Raumsonden zur Erde gefunkten Bilder ausgewertet hatten, katalogisiert und mit Namen versehen worden, und nach monatelangem Studium kannten die Astronauten sie
ebensogut wie markante Punkte auf der Erde. Dort waren die Krater Daedalos und Ikaros, Korolew und Gagarin, Pasteur, Einstein und Tsiolkowsky. Rundum aber lagen zig weitere Krater, die bislang weder ein Mensch noch ein Roboter zu sehen bekommen hatte. Die Astronauten waren wie benommen. Sie drückten ihre Gesichter an die fünf winzigen Fenster, versuchten, soviel wie möglich mitzubekommen, und verschwendeten einen Moment lang keinen Gedanken auf ihren Flugplan, ihren Auftrag oder die Hunderte von Menschen in Houston, die darauf warteten, daß sie sich wieder meldeten. Über dem näherkommenden Horizont tauchte etwas Zartes, Schimmerndes auf. Es war weiß, pastellblau und hellbraun, und es schien geradewegs aus der grauen Landmasse vor ihnen aufzusteigen. Die drei Astronauten wußten, was sie vor sich sahen, aber Borman nannte es trotzdem beim Namen. »Erdaufgang«, sagte der Kommandant leise. »Hol die Kameras«, sagte Lovell rasch zu Anders. »Bist du dir sicher?« fragte Anders, der für Fotos und Kartierung zuständig war. »Sollten wir nicht die vorgesehenen Fotozeiten abwarten?« Lovell starrte auf den schimmernden Planeten, der über dem pockennarbigen Mond schwebte, dann blickte er seinen Untergebenen an. »Hol die Kameras«, wiederholte er.
Am Heiligabend erfuhren die Amerikaner in den Morgennachrichten, daß drei ihrer Landsleute in einer Umlaufbahn um den Mond kreisten. Vor den Häusern von Borman, Lovell und Anders in Houston herrschte ein Gedränge, wie man es seit dem Mercury-Programm nicht mehr erlebt hatte. Reporter blockierten die Gehsteige und zertrampelten die Vorgärten.
Doch erst tags darauf, am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages, passierte etwas Interessantes, als ein Rolls-Royce vom Neiman-Marcus-Kaufhaus in die Auffahrt von Lovells Haus einbog. Ein Mitarbeiter der NASA ging zu dem Wagen, wechselte ein paar Worte mit dem Fahrer und geleitete ihn zur Überraschung wie auch zur Verärgerung der Reporter, die vom Haus ferngehalten wurden, zur Tür, wo er Marilyn Lovell eine große Schachtel überreichte. Die Schachtel war in königsblaues Geschenkpapier eingepackt und mit zwei Styroporkugeln verziert, die eine meerblau, die andere mondfarben und gesprenkelt. Um die Mondkugel kreiste ein winziges weißes Raumfahrzeug aus Plastik. Marilyn riß die Verpackung auf und schlug das mit Sternen übersäte Pergamentpapier in der Schachtel beiseite. Darunter befanden sich eine Nerzjacke und eine Geschenkkarte mit den Worten: »Frohe Weihnachten und alles Liebe vom Mann im Mond.« Den ganzen Morgen erledigte Marilyn Lovell ihre Hausarbeit in der Nerzjacke, die sie über ihrem Hausanzug trug. Als sie mit den Kindern später zur Christmette ging, zog sie ein ordentliches Ausgehkleid für die Kirche an, doch die Nerzjacke behielt sie an. Erst als sie das Haus verließ, sahen die Reporter, die bei knapp 27 Grad Celsius draußen warteten, was der Mann in dem Rolls-Royce gebracht hatte. Doch am Heiligabend galt das Hauptaugenmerk der Presse dem Geschehen, das sich rund 400000 Kilometer weiter weg abspielte, wo der Mann, der einige Wochen zuvor die Jacke gekauft und für die rechtzeitige Zustellung gesorgt hatte, in einer nunmehr kreisrunden Umlaufbahn in knapp hundert Kilometern Höhe den Mond umflog. Die Besatzung mußte zehn noch nie dagewesene Aufgaben erfüllen, wozu unter anderem eingehendes Fotografieren von Mond und Erde, Messungen im Gravitationsfeld des Mondes und
kartographisches Erfassen möglicher Landestellen und ihrer Topographie zählten. Als sie das Mare Tranquillitatis betrachteten, das Meer der Ruhe, eine uralte, knochentrockene Lavaebene, auf der die erste geplante Mondlandung stattfinden sollte, bemerkten Borman, Lovell und Anders eine geschwungene Bergkette knapp südwestlich des Kraters Secchi. Dieses Gebirge war von Astronomen auf der Erde längst kartiert worden, doch die einzelnen Berge waren viel zu klein, als daß man sie per Teleskop hätte sehen können. Genau solche Oberflächendetails aber benötigten die Astronauten zum Navigieren, wenn sie aus der Umlaufbahn hinab zum Mond fliegen wollten. Am Rande der zerklüfteten Gebirgskette, die das Meer der Ruhe eingrenzte, entdeckte Lovell einen kleinen, dreieckigen Berg, den seines Dafürhaltens noch nie jemand erfaßt hatte, der aber so unverwechselbar war, daß er von künftigen Besatzungen jederzeit wiedererkannt werden konnte. »Hast du den Berg da schon mal gesehen?« fragte Lovell Borman und deutete auf die Formation. »Nicht, daß ich wüßte.« »Wie sieht’s mit dir aus?« fragte er Anders, der bei allen topographischen Fragen das letzte Wort hatte. »Nee«, sagte Anders. »An die Form würde ich mich erinnern.« »Dann habe ich ihn entdeckt«, sagte Lovell lächelnd, »und ich werde ihm einen Namen geben. Was haltet ihr von ›Mount Marilyn‹?« Für die Verantwortlichen bei der NASA waren die wissenschaftlichen Aufgaben, die die Astronauten von Apollo 8 erfüllten, ebenso wichtig wie die Öffentlichkeitsarbeit. Die Raumfahrtbehörde plante zwei Fernsehsendungen live aus der Mondumlaufbahn, eine am frühen Morgen des Heiligabend und eine längere zur besten Sendezeit noch am gleichen
Abend. Die morgendliche Sendung erzielte eindrucksvolle Zuschauerzahlen, brach jedoch keine Rekorde, da viele Menschen im Lande mit letzten Vorbereitungen für das Weihnachtsfest beschäftigt waren. Bei der Abendsendung indessen, die von hundert Millionen Haushalten empfangen wurde, sah es ganz anders aus. Alle drei Sender nahmen sie in ihr Programm auf, da sie der Ansicht waren, daß die Mehrzahl der Zuschauer sich entweder die Bilder vom Mond ansehen werde oder gar nichts. Die Übertragung begann um 21:30 Uhr, und ganz Amerika, aber auch viele Menschen rund um den Erdball, ließen alles stehen und liegen, um sie zu verfolgen. »Ein herzliches Willkommen vom Mond.« Mit diesen Worten wandte sich Jim Lovell an die Leute bei der NASA und die Menschen auf der Welt. Und als er zu reden begann, flimmerte eine weiße Kugel vor einem farblosen Hintergrund über den Bildschirm. Darunter, knapp über dem unteren Bildschirmrand war ein sanft nach unten geschwungener Bogen zu erkennen. »Was Sie hier sehen«, sagte Anders, während er die Kamera ausrichtete und seinen schwerelosen Körper an der Kapselwand stabilisierte, »ist die Erde über dem Mondhorizont. Wir werden ihr eine Zeitlang folgen und uns dann umdrehen und Ihnen Bilder von dem weiten, dunklen Terrain zeigen.« »Wir befinden uns seit sechzehn Stunden in einer elliptischen Umlaufbahn von 111 bis 310 Kilometern Höhe«, sagte Borman, während Anders das Objektiv nach unten, auf die Mondoberfläche richtete, »führen Experimente durch, nehmen Bilder auf und zünden ab und zu das Triebwerk unseres Raumfahrzeugs, um zu manövrieren. Und im Laufe dieser Stunden hat jeder von uns eine andere Einstellung zum Mond bekommen. Mein persönlicher Eindruck ist, daß es sich um eine riesige, einsame, furchterregende leere Ebene handelt, die
aussieht wie Wolken und Aberwolken aus Bimsstein. Es dürfte gewiß kein einladender Ort zum Leben oder zum Arbeiten sein.« »Frank, ich denke darüber ähnlich«, sagte Lovell. »Die Einsamkeit hier oben ist ehrfurchtgebietend. Es wird einem dabei klar, was man auf der Erde hat. Von hier aus gesehen, ist die Erde eine Oase in der Endlosigkeit des Weltalls.« »Was mich am meisten beeindruckt hat«, schaltete sich Anders ein, »waren die lunaren Sonnenauf- und -untergänge. Der Himmel ist pechschwarz, der Mond ist ganz hell, und zwischen den beiden ist eine leuchtende Linie.« »Am besten läßt sich das Ganze hier als ein riesiges Gebiet aus Schwarz- und Weißtönen beschreiben«, fügte Lovell hinzu. »Ohne jede Farbe.« Laut Flugplan sollte die Übertragung vierundzwanzig Minuten dauern, während das Schiff über den Mondäquator dahinglitt und 72 Grad der 360 Grad umfassenden Umlaufbahn zurücklegte. Die Astronauten sollten in dieser Zeit Erklärungen und Beschreibungen, Hinweise und Anmerkungen abgeben und dabei versuchen, mittels Worten und körnigem Bildmaterial zu vermitteln, was sie sahen. Sie gaben sich dazu jede erdenkliche Mühe. »Diese Gegend ist nicht so stark mit Kratern übersät, sie muß also ziemlich neu sein«, sagte einer von ihnen. »Das hier ist ein Krater mit Delta-Rand…« »Hier drüben ist ein dunkler Bereich, möglicherweise ein alter Lavastrom… Jetzt kommen einige interessante alte Doppelringkrater ins Bild. Am Rand dieses Berges verläuft eine Rinne, die ein paarmal nach rechts abknickt.« Die Astronauten fuhren fort, und das Publikum zu Hause betrachtete die neuen Bilder und hörte die neuen Worte und nahm soviel wie irgend möglich davon auf. Schließlich waren die letzten Sendeminuten angebrochen. Schon Wochen vor
dem Flug hatten sich die Astronauten darüber unterhalten, wie sie am Vorabend des höchsten Festtages im christlichen Kalender eine Übertragung von einer Welt zur anderen beenden sollten. Kurz vor dem Start waren sie zu einem Entschluß gekommen, und nun war am Rücken des Flughandbuches ein Blatt Papier (feuerfest natürlich, wie inzwischen alles) mit ein paar kurzen getippten Sätzen befestigt. Anders, der mit einer Hand die Kamera aus dem Fenster richtete und mit der anderen das Blatt hielt, sagte: »Wir nähern uns jetzt dem Sonnenaufgang auf dem Mond, und die Besatzung von Apollo 8 möchte allen Menschen daheim auf der Erde eine Botschaft zukommen lassen.« »Am Anfang«, so hob er an, »schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe.« Langsam las Anders vier Zeilen, dann reichte er Lovell das Blatt. »Und Gott schied das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.« Lovell übergab Borman das Blatt. »Und Gott sprach: Es sammle sich das Wasser unter dem Himmel an besondere Orte, daß man das Trockene sehe.« Borman fuhr fort bis zum Ende des Abschnitts und endete mit den Worten: »Und Gott sah, daß es gut war.« Als er die letzte Zeile gelesen hatte, legte Borman das Blatt weg. »Und wir, die Besatzung von Apollo 8«, drang seine Stimme knackend aus 385000 Kilometer Entfernung durch das Weltall, »wünschen Ihnen zum Schluß eine gute Nacht, alles Gute, ein frohes Weihnachtsfest und möge Gott euch schützen, euch alle auf der guten Erde.« Auf den Fernsehgeräten verschwand jäh das Bild von der Mondoberfläche. Statt dessen sah man Farbstreifen, dann statisches Flimmern und schließlich Nachrichtensprecher, die schwärmerisch rekapitulierten, was sie und alle übrige Welt
gerade gesehen hatten. Im Raumfahrzeug jedoch ging es erheblich weniger andächtig zu. Sobald die Sendung vorüber war, wandten sich Frank Borman und seine Besatzung wieder ihren Aufgaben zu und setzten sich per Funk mit Houston in Verbindung. »Sind wir nicht mehr auf Sendung?« fragte Borman den CAPCOM Ken Mattingly. »Wird bestätigt, Apollo 8«, antwortete Mattingly. »Habt ihr alles verstanden, was wir zu sagen hatten?« »Laut und deutlich. Danke für die wunderbare Sendung.« »O.K«, sagte Borman. »Und jetzt, Ken, hätten wir gern, daß alles für den transirdischen Einschuß klargemacht wird. Können Sie uns wie versprochen ein paar gute Worte geben?« »Ja, Sir. Ich habe eure Manöver, und dann führen wir eine kurze Systemeinweisung durch.« Mattingly gab die Daten und Koordinaten für die Zündung zum Rückschuß zur Erde (kurz TEI, Trans-Earth Injection) durch. Sobald die Zahlen in den Computer eingegeben waren, schnallten sich die Astronauten auf ihren Couchs an, und Houston schwieg, während alle erforderlichen Vorbereitungen getroffen wurden und die Minuten bis zum Abreißen des Funksignals verstrichen. Im Gegensatz zur LOI-Zündung mußte das Raumfahrzeug bei der TEI-Zündung mit dem Bug nach vorn ausgerichtet werden und wieder Geschwindigkeit aufnehmen. Auch gab es diesmal keine Wurfschlingenbahn, auf der das Schiff automatisch zurück zur Erde fliegen würde, falls das Haupttriebwerk nicht zünden sollte. Sollte die Zündung nicht funktionieren, würde Apollo 8 ein ständiger Satellit des Erdtrabanten werden, und Frank Borman, Jim Lovell und Bill Anders würden innerhalb etwa einer Woche an Sauerstoffmangel zugrunde gehen, während ihr Raumfahrzeug Jahrhunderte – nein, Jahrtausende, nein, Jahrmillionen – lang alle zwei Stunden den Mond umrundete.
Die Mannschaft flog in den Funkschatten ein, und die Controller am Boden saßen ruhig da und warteten. Irgendwo auf der Rückseite des Mondes müßte das gewaltige Haupttriebwerk des Versorgungsteils zünden, aber Houston würde erst in etwa vierzig Minuten wissen, ob es funktioniert hatte. In der Mission Control herrschte derweil Schweigen, und erst als die letzten Sekunden verstrichen, versuchte Ken Mattingly, das Schiff zu erreichen. »Apollo 8, hier Houston«, sagte er. Er erhielt keine Antwort. Acht Sekunden später: »Apollo 8, hier Houston.« Keine Antwort. Achtundzwanzig Sekunden später: »Apollo 8, hier Houston.« Achtundvierzig Sekunden später: »Apollo 8, hier Houston.« Weitere hundert Sekunden lang saßen die Männer der Bodenkontrolle schweigend da, dann hörten sie plötzlich Lovells Stimme über ihre Kopfhörer: »Houston, hier Apollo 8«, und schon seinem triumphierenden Tonfall konnten sie entnehmen, daß der Motor planmäßig gezündet hatte. »Laßt euch bitte eins gesagt sein: Den Weihnachtsmann gibt es.« »Wird bestätigt«, gab Mattingly zurück. »Ihr müßt es ja am besten wissen.« Am 27 Dezember um 10:51 Uhr Ortszeit Houston ging die Raumkapsel im Pazifischen Ozean nieder. Im Landegebiet etwa eintausendfünfhundert Kilometer südwestlich von Hawaii war es noch vor der Morgendämmerung, und die Besatzung mußte neunzig Minuten lang in dem heißen, schlingernden Raumfahrzeug warten, bis die Sonne aufging und das Bergungsteam sie aufnehmen konnte. Der Kommandoteil schlug auf dem Wasser auf und drehte sich dann mit der Oberseite nach unten in die »stabile Position 2«, wie es die NASA nannte (»stabile Position 1« war die aufrechte Lage). Borman drückte auf den Knopf, mit dem die Ballons am Oberteil des kegelförmigen Raumfahrzeugs aufgeblasen wurden, und langsam richtete sich die Kapsel auf. Von dem
Zeitpunkt an, als die Besatzung ausstieg und vor die Fernsehkameras trat, war klar, daß der Jubel, mit dem Amerika die Astronauten empfangen würde, selbst die in Sachen Öffentlichkeitsarbeit erfahrene NASA überraschen würde. Borman, Lovell und Anders waren über Nacht zu Helden geworden und wurden bei zahllosen feierlichen Diners mit Ruhm und Ehren überhäuft. Sie wurden vom Nachrichtenmagazin Time zu Männern des Jahres erklärt, hielten eine Ansprache vor dem Kongreß, zogen in einer Konfettiparade durch New York, trafen den aus dem Amt scheidenden Präsidenten Lyndon Johnson und wurden vom künftigen Präsidenten Richard Nixon empfangen. Sie hatten sich die Ehrungen verdient, aber schon nach überraschend kurzer Zeit war alles wieder vorbei. Als die Besatzung von Apollo 8 zurückkehrte, hatte Amerika bewiesen, daß man zum Mond fliegen konnte. Jetzt wollte man unbedingt auf den Mond fliegen. Im Anschluß an die triumphale Mission beschloß man bei der Raumfahrtbehörde, daß zwei weitere Probeflüge genügen sollten, um die Zuverlässigkeit von Ausrüstung und Flugplan zu erproben. Irgendwann im Juli sollte dann Apollo 11 – die glückliche Apollo 11 – starten und den Abstieg in den uralten Staub auf dem Mond wagen. Neil Armstrong, Michael Collins und Buzz Aldrin waren dafür vorgesehen, und im Augenblick sah es so aus, als werde Armstrong derjenige sein, der den historischen ersten Schritt unternehmen würde. Auf Apollo 11 sollten weitere Mondlandungen erfolgen, und Lovell, inzwischen der erfahrenste Mann im Astronautenkorps, rechnete sich gute Chancen auf den Posten des Kommandanten bei einem dieser Flüge aus. Als die Besatzungslisten für die künftigen Missionen ausgegeben wurden, stellte Lovell denn auch fest, daß er und zwei Neulinge, Ken Mattingly und Fred Haise, als Ersatzteam für Apollo 11 und als Besatzung für
Apollo 14 vorgesehen waren, die im Oktober 1970 auf dem Mond landen sollte. In nicht ganz zwei Jahren würde Lovell zu dem felsigen Himmelskörper zurückkehren, den er gerade verlassen hatte, und diesmal würde er den Spaziergang auf dem Mond unternehmen können, wegen dem er ursprünglich Astronaut geworden war. Danach wollte er in den Ruhestand gehen. Wie sich herausstellen sollte, gab es Schwierigkeiten bei der Verwirklichung dieser Pläne. Vor Lovell sollten Alan Shepard, Stuart Roosa und Edgar Mitchell mit Apollo 13 zum Mond fliegen. Shepard, der erste Amerikaner im Weltall, war am 5. Mai 1961 zum Nationalhelden geworden, als er mit seiner winzigen Mercury-Kapsel einen fünfzehn Minuten dauernden suborbitalen Flug unternommen hatte. Seither hatte er wegen hartnäckiger Schwierigkeiten im Innenohr, die seinen Gleichgewichtssinn beeinträchtigten, am Boden bleiben müssen. Shepard, der unbedingt wieder fliegen wollte, hatte unlängst eine neue Operationsmethode über sich ergehen lassen, von der er sich eine Behebung seines Leidens versprach, und setzte innerhalb der Raumfahrtbehörde alle Hebel in Bewegung, um für einen Flug zum Mond eingeteilt zu werden. Bald schon mußte er jedoch feststellen, daß er nach neunjähriger Pause mehr Zeit brauchte, um sich an die Belastung zu gewöhnen. Noch bevor die Besatzungslisten endgültig feststanden, suchte Deke Slayton Jim Lovell auf und fragte ihn, ob es ihm etwas ausmachen würde, seine Pläne zu ändern. Was hielte er davon, Shepard mit Apollo 14 fliegen zu lassen und statt dessen Apollo 13 zu übernehmen? Ihm sei viel daran gelegen, sagte Deke, und das Gelingen beider Einsätze würde dadurch weitestgehend gesichert. Lovell zuckte die Achseln. Klar, sagte er. Warum nicht? Freimütig gestand er Slayton, daß er sich darauf freue, wieder zum Mond zu fliegen, und nichts dagegen einzuwenden habe,
wenn er sechs Monate früher als erwartet an die Reihe käme. Im Grunde genommen sei eine Mondlandung wie die andere, und von der Zahl einmal abgesehen, könnte es kaum einen Unterschied geben, ob er mit Apollo 13 oder mit Apollo 14 fliege.
3
Frühjahr 1945 Als der Siebzehnjährige die Glas-und-Messing-Tür zum Empfangszimmer sah, wußte er, daß er hier falsch war. Oh, es gab noch andere Hinweise: Ein in einem Wolkenkratzer im Herzen des Geschäftsviertels an der Michigan Avenue ansässiges Geschäft handelte normalerweise nicht mit Chemikalien für den Hausgebrauch. Und ein kleiner Ladeninhaber hätte auch das Wort »Aktiengesellschaft« nicht so groß und breit im Firmennamen stehen. Nein, das hier sah ganz und gar nicht so aus wie der Hobbyladen für Freizeiterfinder, den der Junge hier anzutreffen gehofft hatte. Doch im Telefonbuch hatte »Chemikalien« gestanden, und Chemikalien waren genau das, was er heute brauchte. Da er eigens mit dem Zug vom Haus seiner Tante in Oak Park nach Chicago gefahren war, wäre er sich albern vorgekommen, wenn er jetzt unverrichteter Dinge wieder kehrtmachte. Als er die Tür aufstieß, befand er sich in einem riesigen, mit einem dicken Teppich ausgelegten Büro, an dessen anderem Ende ein beängstigend wuchtiger Mahagonischreibtisch stand. Die an dem Schreibtisch sitzende Frau, die aussah, als habe sie noch nie im Leben ein Reagenzglas gesehen, bemerkte den zögernd unter der Tür stehenden Jungen. »Kann ich Ihnen helfen, junger Mann?« fragte sie. »Äh, ich wollte ein paar Chemikalien kaufen«, sagte er. »Können Sie mir sagen, woher Sie kommen?«
»Aus Milwaukee«, antwortete er, während er zaghaft durch das Zimmer ging. »Ich bin gerade auf Familienbesuch in der Nähe von Chicago.« »Nein«, sagte sie mit einem leichten Lächeln. »Ich meine, ob Sie jemand geschickt hat?« »Na klar.« Er strahlte. »Jim Siddens und Joe Sinclair.« »Sind das Ihre Arbeitgeber?« »Das sind meine Freunde.« Wieder dieses knappe Lächeln. »Dürfte ich Ihren Namen erfahren?« »James Lovell.« »James Lovell«, sagte sie und schrieb den Namen auf. »Einen Augenblick bitte, James – äh, Mr. Lovell. Ich will mal nachsehen, ob jemand aus unserer Verkaufsabteilung Zeit für Sie hat.« Sie stand auf. »Für den Fall, daß ich jemanden finde – können Sie mir sagen, wofür Sie sich interessieren?« »Nichts Großes. Bloß ein bißchen Kaliumnitrat, Schwefel und Holzkohle. Allenfalls ein, zwei Pfund.« Die Frau verschwand hinter einer holzgetäfelten Tür und kehrte etwa eine Minute später wieder zurück. »Die meisten unserer Verkäufer sind leider beschäftigt«, sagte sie. »Aber Mr. Sawyer wird Sie empfangen.« Lovell wurde durch die Tür in ein weiteres Büro mit einem entschieden kleineren Schreibtisch geleitet, an dem besagter Mr. Sawyer saß. »Mein Sohn«, sagte Mr. Sawyer, als der Teenager in seinem Büro Platz nahm, »ich weiß nicht, woher du unseren Namen hast, aber weißt du, wir verkaufen unsere Chemikalien normalerweise nicht pfundweise, wir verkaufen ganze Eisenbahnwaggons voll.« »Äh, ja, Sir, das hatte ich schon befürchtet. Aber Sie haben hier doch bestimmt auch kleinere Mengen?« »Ich fürchte, nein. Wir liefern unsere Chemikalien ab Lager. Und selbst wenn wir welche hier hätten… Nun ja, weißt du,
was Kaliumnitrat, Schwefel und Holzkohle ergeben, wenn man sie im richtigen Verhältnis miteinander mischt?« »Raketentreibstoff?« »Schießpulver.« Das konnte nicht sein. Lovell war sich sicher, daß er die Zutaten richtig aufgeschrieben hatte. Als er, Siddens und Sinclair sich an ihren Chemielehrer gewandt hatten, hatten sie ihm genau dargelegt, daß sie eine Rakete bauen wollten, die richtig fliegen sollte. Zuerst wollten sie ein FlüssigtreibstoffModell bauen, genau wie Robert Goddard, Hermann Oberth und Wernher von Braun. Aber nachdem sie aus zersägten Eisenrohren Brennkammern gebastelt, Modellflugzeuge wegen der Zündkerzen ausgeschlachtet und Blechbüchsen als Treib Stofftanks ins Auge gefaßt hatten, war ihnen klargeworden, daß ihnen die Sache eine Nummer zu groß war. Ihr Chemielehrer hatte ihnen geraten, sie sollten statt dessen eine Kartonröhre nehmen, sie mit einer hölzernen Nase und Flossen versehen und unten Treibstoffpulver hineinpacken. Er hatte ihnen die Zutaten für den Treibstoff genannt, aber kein Wort davon gesagt, daß es sich um Schießpulver handelte. Mr. Sawyer jedoch versicherte Lovell, daß es sich um Schießpulver handelte, und geleitete den Teenager mit leeren Händen aus seinem Büro. Als er ein paar Tage später wieder in Milwaukee war, stellte Lovell seinen Lehrer zur Rede. »Natürlich ist mir klar, daß es sich um Schießpulver handelt«, sagte der Lehrer. »Das Zeug gibt es schon seit zweitausend Jahren. Da sollte man doch davon ausgehen, daß es sich allmählich herumgesprochen hat. Aber wenn man es mischt und nicht zu fest stopft, dann verbrennt es nur, ohne zu explodieren.« Unter Anleitung ihres Lehrers bauten Lovell, Siddens und Sinclair ihre Rakete – ein knapp einen Meter hohes Leichtgewicht –, stopften unten die, wie sie hofften, richtige
Menge Pulver hinein und versahen sie mit einer Zündschnur. Am darauffolgenden Sonnabend trugen sie die Rakete hinaus auf ein großes, freies Feld und richteten sie gen Himmel. Lovell, der eine Schweißermaske trug, hatte sich selbst zum Startchef ernannt, und während Siddens und Sinclair in vermeintlich sicherem Abstand warteten, steckte er die Zündschnur an – einen mit Schießpulver gefüllten Strohhalm. Dann rannte er, wie Generationen von »Startchefs« vor ihm, so schnell wie möglich weg. Trotz seiner Nervosität hatte Lovell seine Aufgabe einwandfrei erfüllt. Mit offenem Mund kauerte er neben seinen Freunden und sah zu, wie die Rakete, die er gerade gezündet hatte, einen Augenblick lang glimmte, dann verheißungsvoll zischte und schließlich zum Erstaunen der Jungen vom Boden abhob. Mit einer Rauchspur stieg sie etwa 25 Meter hoch, geriet dann gefährlich ins Schlingern, flog plötzlich eine scharfe Kurve und explodierte mit einem lauten Knall. Qualmende Raketentrümmer fielen vom Himmel und landeten im Umkreis von fünf Metern am Boden. Die Jungen rannten zum Startort, um ein paar der heruntertrudelnden Überreste aufzufangen, als könnten sie anhand der brennenden Stücke erkennen, was schiefgegangen war. Auf den ersten Blick erkannten sie gar nichts, aber offenbar hatten sie trotz der Anleitung des Chemielehrers das Pulver zu fest gestopft. Für Siddens und Sinclair, denen nach Abschluß der HighSchool eine erfolgreiche berufliche Laufbahn in der aufblühenden Nachkriegsindustrie offenstand, waren der Start und das unrühmliche Ende der Rakete wenig mehr als ein Jux. Für Lovell indessen war es etwas ganz anderes. Seit etlichen Jahren schon beschäftigte er sich mit Raketen, nachdem er per Zufall auf ein paar Bücher gestoßen war, die sich mit der weltweiten Entwicklung dieser Wissenschaft befaßten – hauptsächlich natürlich in den Vereinigten Staaten (wo
Goddard einer der Vorreiter der Raketentechnologie war), in der Sowjetunion (wo Konstantin Ziolkowski ähnliches geleistet hatte) und in Deutschland (wo Hermann Oberth und Wernher von Braun Pionierarbeit geleistet hatten). Schon als Junge hatte Lovell beschlossen, sein Leben der Raketentechnologie zu widmen. Doch auf der Schule wurde ihm klar, daß es so einfach nicht werden würde. Ein HighSchool-Abschluß in Milwaukee war nicht die beste Voraussetzung für einen derart ausgefallenen Beruf, und aufs College zu gehen, wo er die entsprechende Ausbildung hätte genießen können, kam nicht in Frage. Sein Vater war fünf Jahre vorher bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und seine Mutter hatte seither Schwerstarbeit leisten müssen, um Essen und Kleidung für die Familie zu beschaffen. Der Besuch einer weiterführenden Schule ließ sich damit nicht finanzieren. Als das letzte Jahr auf der High School anbrach, dachte Lovell über die letzte Chance nach, die sich ihm bot: das Militär. Sein Onkel hatte 1913 seinen Abschluß auf der Marineakademie in Annapolis gemacht, war während des Ersten Weltkriegs als einer der ersten Marinepiloten Einsätze gegen U-Boote geflogen, und seine Geschichten von Luftkämpfen in Doppeldeckern aus Holz und Leinwand hatten den Neffen immer wieder begeistert. Militärmaschinen zu fliegen war zwar nicht dasselbe wie Raketen zu bauen, aber es hatte immerhin etwas mit Luftfahrt zu tun. Und wenn in den Vereinigten Staaten überhaupt jemand planmäßig Raketenforschung betrieb, dann war es das Militär. Schon zu Beginn seines letzten Schuljahres bewarb Lovell sich an der Marineakademie, und ein paar Monate später teilte man ihm mit, daß er als dritter Ersatzmann ausgewählt worden war. Das war zwar schmeichelhaft, aber mehr auch nicht: Lovell würde nur dann in Annapolis angenommen werden, wenn die drei
Jungs, die vor ihm an der Reihe waren, von einem Mißgeschick ereilt würden. Als er sich bereits mehr oder minder damit abgefunden hatte, daß ihm keine große Zukunft bevorstand, wurde Lovell ausgerechnet von der Organisation gerettet, die ihn gerade abgelehnt hatte: der Navy. Wenige Wochen vor den Abschlußprüfungen auf der High School suchte ein Werber der Navy die Schulen in Milwaukee auf und berichtete vom sogenannten Holloway Plan. Das Militär, das nach dem Zweiten Weltkrieg dringend neue Flieger brauchte, initiierte ein Programm, bei dem High-School-Abgängern eine zweijährige Fachschulausbildung zum Ingenieur ermöglicht wurde, gefolgt von einer Pilotenausbildung und einer sechsmonatigen aktiven Dienstzeit im Range eines Fähnrichs zur See. Danach sollten die Teilnehmer als Berufsoffiziere von der Navy übernommen werden, aber zuvor durften sie ihre zwei verbliebenen Jahre auf dem College absolvieren und ihren Abschluß machen. Anschließend würden sie sofort ihren Dienst als Marineflieger antreten. Für Lovell klang dieses Angebot großartig, und er ergriff die Gelegenheit beim Schopf und meldete sich freiwillig. Ein paar Monate später schrieb er sich als Erstsemestler auf der University of Wisconsin ein. Von März 1946 bis März 1948 studierte er in Wisconsin Ingenieurswesen. In dieser Zeit stellte er zudem einen weiteren Antrag auf Aufnahme in die Marineakademie, diesmal auf Betreiben einer weitaus hartnäckigeren Person – seiner Mutter. Das Oberhaupt des Lovellschen Haushaltes freute sich darüber, daß ihr Sohn aufs College ging, aber daß er seine Ausbildung unterbrechen sollte, um mit der Ausbildung bei der Navy anzufangen, gefiel ihr ganz und gar nicht* Angenommen, der Ernstfall trat ein, bevor er seinen Abschluß hatte? Könnte es nicht passieren, daß er für die Dauer des Konflikts plötzlich
auf einem Schiff oder in einem Schützenloch festsaß, immer älter wurde und seine Ausbildung immer weiter hinausschieben mußte, während sich der Krieg oder die Krise in die Länge zogen? Ihr kam die ganze Angelegenheit zu riskant vor. Zu ihrer Besänftigung bewarb sich Lovell ein zweites Mal in Annapolis, doch er machte sich nur wenig Hoffnung. Die Aufnahme auf der Akademie, so vermutete er, war genauso vom Zufall abhängig wie vor zwei Jahren. Während er auf den Ablehnungsbescheid wartete, meldete er sich beim Marinefliegerstützpunkt in Pensacola, Florida, um mit der Flugausbildung zu beginnen. Noch bevor er die theoretische Flugausbildung beendet hatte, schlug der Zufall zu. Er war gerade auf dem Weg zum Unterricht, als er eines Tages von einem Unteroffizier in der Verwaltung abgefangen wurde, der ihm ein Schreiben aushändigte. Demnach sollte er sich umgehend auf der Marineakademie in Annapolis melden, um seinen Diensteid als Fähnrich zur See abzulegen. Genaugenommen handelte sich nicht einmal um einen Befehl: Lovell hatte das Recht, abzulehnen und seine Flugausbildung fortzusetzen. Aber er mußte sich auf der Stelle entscheiden. Die Fluglehrer auf der Schule in Florida, lauter junge Männer, die frisch aus dem Krieg zurück waren, hegten bezüglich seiner Wahl keinerlei Zweifel. »Schauen Sie, Lovell«, sagte ein Flieger zu ihm, »wozu wollen Sie das machen? Sie sind bereits Fähnrich, Sie haben schon die Hälfte der Ausbildung hinter sich, und was noch wichtiger ist: Sie werden bald fliegen. Wollen Sie das alles wegwerfen, mit Ihrer Ausbildung von vorne anfangen und riskieren, daß Sie zumindest in den nächsten vier Jahren nicht im Cockpit einer Maschine sitzen werden?«
»Aber angenommen, es kommt zu einem Krieg oder etwas ähnlichem«, sagte Lovell. »Angenommen, wir werden von hier verlegt und können jahrelang nicht mehr zur Schule gehen.« »Sie werden nicht verlegt werden. Ihnen kann allenfalls passieren, daß Sie nach Annapolis gehen und zwei Jahre später fertig werden als die anderen Jungs hier.« Der Einwand war nicht von der Hand zu weisen, und Lovell beschloß zu seinem eigenen Erstaunen, der Marineakademie einen Korb zu geben. Bevor er jedoch sein Schreiben absenden konnte, bestellte ihn Captain Jeter, der Leiter der theoretischen Flugausbildung, zu sich. Jeter legte Wert darauf, daß er genau wußte, was an seiner Schule vor sich ging. »Sie haben also von der Marineakademie Bescheid bekommen, Fähnrich Lovell«, sagte Jeter, als Lovell sich bei ihm meldete. »Ja, Sir.« »Und die wollen, daß Sie sich sofort entscheiden?« »Ja, Sir.« »Und wie ist im Augenblick Ihre Haltung dazu?« »Nun ja, Sir«, begann Lovell, der sich freute, seinem Kommandeur mitteilen zu können, daß er die Pilotenausbildung nicht abbrechen würde, daß er sich durch den Ruf von Annapolis nicht den Kopf hatte verdrehen lassen. »So wie ich das sehe, bin ich bereits Fähnrich und in der Flugausbildung, und ich war bereits zwei Jahre auf dem College. Meiner Ansicht nach bringt mich die Marineakademie kein Stück weiter, als ich jetzt schon bin.« Jeter schien ihm beizupflichten, aber offenbar kaute er eine ganze Weile daran. Dann sagte er: »Lovell, sind Sie bislang zufrieden mit der Navy?« »Ja, Sir.« »Sind Sie sicher, daß Sie bei der Navy Karriere machen wollen?«
»Ja, Sir.« »Dann gehen Sie auf die Marineakademie, mein Sohn«, sagte der Kommandeur streng, »und genießen Sie die bestmögliche Ausbildung, die Sie bekommen können, wenn man sie Ihnen bietet.« Innerhalb weniger Tage hatte Lovell, nachdem er ehrenvoll als Fähnrich nach dem Holloway Plan entlassen worden war, gepackt und war weg, um sich als Fähnrich in Annapolis vereidigen zu lassen – ein freiwilliger Abstieg vom Pilotenanwärter zum Fußvolk. Im gleichen Jahr noch wurde das vom Bürgerkrieg zerrissene Korea in die Demokratische Volksrepublik Nordkorea und die Republik Südkorea geteilt. Die zunehmenden Spannungen im Lande zwangen die Vereinigten Staaten, ihre Streitkräfte zu verstärken, wovon auch die Nachwuchspiloten betroffen waren, die sich unlängst im Rahmen des Holloway-Plans gemeldet hatten. Viele der jungen Flieger wurden sofort nach Übersee verlegt, und die meisten kämpften tapfer in dem Krieg, der schließlich ausbrach. Obwohl die Navy ihre Piloten reichlich auszeichnete, konnte der Großteil während der nächsten sieben Jahre die Ausbildung nicht fortsetzen.
Lovell blühte in Annapolis auf, behielt aber stets auch die Entwicklung auf dem Gebiet der Raketentechnologie im Auge. Inzwischen war Wernher von Braun, der Erfinder der V-2, von Peenemünde an der deutschen Ostseeküste ins amerikanische New Mexico umgesiedelt worden, wo er unter dem Codenamen »Operation Bumper« mit Erfolg einen zweistufigen Flugkörper gestartet hatte, der eine Rekordhöhe von 400 Kilometer erreichte und mit Bildern zurückkehrte, die deutlich die Erdkrümmung zeigten. Für sämtliche Raketenbegeisterte im ganzen Land war das eine Sensation.
Als noch grüner Fähnrich zur See konnte Jim Lovell diese Entwicklung am Rande mitverfolgen. Vor ihm lagen vier unvorstellbar schwere Jahre, und für Flausen wie die Weltraumfahrt hatte er währenddessen keine Zeit. Auf der Marineakademie konnte man jederzeit scheitern, aber die höchste Aussteigerquote gab es im ersten Jahr. Brachte man das hinter sich, ohne den Verstand zu verlieren, dann standen die Aussichten, daß man bis zum Ende durchhielt, ziemlich gut. Glücklicherweise mußte Lovell die Schinderei während der ersten zwölf Monate – beziehungsweise der verbleibenden sechsunddreißig – nicht allein durchstehen. Wie die meisten anderen Fähnriche hatte er, als er nach Annapolis ging, zu Hause eine Freundin. Heiraten durften die Studenten in Annapolis nicht, weil man davon ausging, daß angehende Seeleute, die sich an ein Leben beim Militär gewöhnen sollten, keine Zeit für eine Familie hätten. Ebensowenig aber wollte man, daß jemand die ganzen vier Jahre ohne jede zwischenmenschliche Beziehung hinter sich brachte. Verlangt man von einem durchschnittlichen Neunzehnjährigen, daß er die auf der Marineakademie übliche Arbeitsfülle bewältigt, ohne ab und zu seiner Freundin schreiben oder ihr Bild betrachten zu dürfen, wenn die Schinderei unerträglich wird, dann riskiert man, daß der hoffnungsvolle Offiziersanwärter eher einen Nervenzusammenbruch erleidet, als eine militärische Führungsposition einzunehmen. Eine Freundin zu Hause, aber nicht in der Nähe, das war genau nach dem Geschmack der Vorgesetzten auf der Akademie. Die Freundinnen der Offiziersanwärter wurden seit jeher als »Anhang« bezeichnet, was aber nicht bedeutete, daß man sie als unwillkommene Belastung betrachtete – sie galten vielmehr als schmuckes Beiwerk. Der »Anhang« durfte die Marineakademie nur zu vorab geplanten Ereignissen besuchen,
zum beaufsichtigten Tanztee beispielsweise oder zum Ball. Ansonsten aber blieben die Mädchen grüppchenweise in Unterkünften wie Ma Chestnuts Pension, gleich außerhalb des Akademiegeländes. Die Offiziersanwärter verabredeten sich mit ihnen und machten sich fein, durften aber nur nach Abschluß der Abendveranstaltungen, wenn sie sie zu ihren Pensionen zurückbegleiteten, außerhalb des Akademiegeländes mit ihnen allein sein. Lediglich fünfundvierzig Minuten Zeit bekamen sie dafür, und das reichte gerade mal für einen langsamen Spaziergang und ein zärtliches Abschiednehmen, für mehr aber nicht. Die Offiziersanwärter kosteten diese erlaubte Dreiviertelstunde bis zum letzten Augenblick aus, trieben sich bei Ma Chestnut oder den anderen Häusern gerade solange herum, wie es ihre Furcht vor disziplinarischen Maßnahmen zuließ, und kamen dann atemlos wieder durchs Tor gerannt, just als die fünfundvierzigste Minute anbrach. Lovells »Anhang« während seiner Studienzeit auf der Akademie war Marilyn Gerlach, eine Pädagogikstudentin aus Milwaukee, die er auf der High-School kennengelernt hatte, als er in die vorletzte und sie in die unterste Klasse ging. Die beiden waren durch scheue Blickkontakte in der Schulcafeteria aufeinander aufmerksam geworden, wo Lovell für ein freies Mittagessen hinter der Theke arbeitete, während sie davor anstand. Lovell hatte nur ein beiläufiges Interesse für die kichernde Dreizehnjährige, bis die Klassenabschlußfeier vor der Tür stand und er keine Partnerin hatte. Lovell beugte sich über Linseneintopf und Hackbraten, schrie über den Lärm der schlangestehenden Schüler hinweg und fragte das viel jüngere Mädchen, ob es Lust habe, mit zum Tanz der Älteren zu kommen.
»Ich kann doch überhaupt nicht tanzen«, rief sie wahrheitsgemäß zurück – hoffte allerdings, kokett und unglaubwürdig zu klingen. »Macht nichts«, sagte er. »Ich bring’s dir bei.« Aber er hatte keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Die Verabredung verlief bestens, ihre Beziehung reifte, und die beiden blieben zusammen, als Lovell auf die nicht weit entfernte University of Wisconsin und später nach Annapolis ging. Ein Jahr nach seinem Eintreffen auf der Marineakademie schrieb Lovell Marilyn einen Brief, in dem er ihr erklärte, daß viele andere Offiziersanwärter verlobt seien und nach ihrem Abschluß heiraten wollten. Das Komische dabei sei allerdings, daß sie anscheinend alle mit Mädchen aus dem Osten verlobt seien. Irgendwie, deutete er vage an, müsse es etwas mit der geographischen Nähe zu tun haben, daß die Beziehungen besser funktionierten. Natürlich teilte er ihr das ohne besondere Absicht mit; er dachte nur, es könnte sie interessieren. Wie sich herausstellte, interessierte es Marilyn Gerlach sehr, und binnen zwei Monaten hatte sie ihre Koffer gepackt und zog nach Washington, D. C. wo sie ihre Ausbildung auf der George Washington University fortsetzte und sich eine Teilzeitarbeit im Kaufhaus Garfinckel besorgte. Drei Jahre später saß sie in der Dahlgren Hall auf dem Gelände der Marineakademie Annapolis, als Fähnrich zur See Lovell und seine Kameraden vom Abschlußjahrgang 1952 zur Feier des Tages jubelten, sich gegenseitig umarmten und ihre Mützen in die Luft warfen. Dreieinhalb Stunden später standen der frischgebackene Offizier und das Mädchen aus seiner Heimatstadt in der St. Anne’s Episcopal Cathedral im historischen Zentrum von Annapolis und wurden Mr. und Mrs. James A. Lovell jr.
Nur 50 der 783 Studenten aus der Abschlußklasse des Jahres 1952 wurden sofort für die Marinefliegerei ausgewählt. Lovell, der diese Stunde der Wahrheit nie aus dem Blick verlor, hatte seine Vorliebe für die Luftfahrt während der vierjährigen Ausbildungszeit so deutlich wie möglich zum Ausdruck gebracht und sogar seine Abschlußarbeit über ein noch nie dagewesenes Thema geschrieben: Mit Flüssigtreibstoff fliegende Raketen. Eine Arbeit übrigens, die Marilyn pflichtschuldig abtippte, obwohl sie sich ständig darüber ausließ, daß ihr angehender Ehemann sich und seinem Notendurchschnitt einen besseren Dienst erwiese, wenn er ein herkömmlicheres Thema, Militärgeschichte zum Beispiel, gewählt hätte. Nichtsdestotrotz erwarb sich Lovell mit dieser Arbeit sowohl eine erstklassige Note als auch einen exzellenten Ruf, und als das halbe Hundert Anwärter für die Flugschule auserwählt wurde, befand er sich unter den Glücklichen. Die Pilotenausbildung dauerte vierzehn Monate, und nachdem sie vorbei war, wurden die Absolventen von der Navy gefragt, wo sie stationiert werden möchten. Lovell, der sich an der Ostküste niederlassen wollte, meldete sich für den Marinestützpunkt Quonset Point in der Nähe von Newport, Rhode Island. In seiner Naivität hatte er angenommen, seine Wahl würde eine Auswirkung auf seinen künftigen Standort haben. Doch bei der Navy ging man anders vor, und nachdem man sein Gesuch bearbeitet und seinen Wunsch zur Kenntnis genommen hatte, wurde er prompt nach Mofett Field in der Nähe von San Francisco versetzt. Als der grüne Jungoffizier mit Frau und frisch verliehenen Schwingen an der Uniform an der Westküste eintraf, wurde er der Composite Squadron Three zugeteilt, einer Einheit, deren Spezialität hochriskante nächtliche Landungen auf Flugzeugträgern waren. Einen Düsenjäger vom Deck eines
schwankenden Flugzeugträgers zu starten und ihn sicher wieder auf einem aus der Höhe dann anscheinend zu Dominosteingröße geschrumpften Schiff zu landen, ist eine der schwersten Aufgaben für einen Marinepiloten. Das gleiche Manöver bei Nacht zu fliegen, oftmals unter ungünstigen Witterungsverhältnissen und bei Kriegsbedingungen – bei verdunkeltem Schiff also –, hieß, Schwierigkeiten geradezu herauszufordern. In den frühen fünfziger Jahren steckte die Nachtfliegerei von Trägern aus noch in den Kinderschuhen; nur die Pechvögel unter den Piloten wurden zu derartigen Einsätzen abgestellt und mußten sich mit dem Katapult in die Dunkelheit schleudern lassen, während ihre Kameraden sich unter Deck gemeinsam einen Film anschauten. Jim Lovell lernte die Kunst des Nachteinsatzes vor der kalifornischen Küste, aber sechs Monate später, an einem eisigen Februarabend vor der Küste des noch immer besetzten Japan, unternahm er seinen ersten Nachtflug über einem fremden Meer. Die Flugbedingungen waren alles andere als ideal. Kein Mond stand am Himmel, und da die Sterne hinter einer leichten Wolkendecke lagen, war auch kein Horizont zu erkennen. Glücklicherweise war das Manöver, das der Skipper in dieser Nacht von seinen Piloten verlangte, relativ unkompliziert. Laut Flugplan sollten die vier F2H-Banshees zu einem Patrouillenflug unter Kampfbedingungen vom Träger, der USS »Shangri-La«, starten. Zu den Nachtkampfübungen gehörten normalerweise ein Sammeln der Maschinen nach dem Start in einer Höhe von 1500 Fuß (450 Meter) und danach ein Überfliegen der Trägergruppe in 30000 Fuß (9000 Meter) Höhe. Anschließend sollten die Piloten wieder zur Landung einschweben. Zwar würde keinerlei Licht an Bord des Trägers den Piloten den Rückweg weisen, doch das Schiff würde an
die Banshees ein Funksignal auf 518 Kilohertz ausstrahlen, auf das die Nadeln der Richtungssuchgeräte (Automatic Direction Finder, kurz ADF) wie eine Wünschelrute reagierten, so daß die Männer lediglich der angegebenen Richtung folgen mußten, um direkt auf den Träger zuzusteuern. Es war eine einfache, alltägliche Übung, und mit etwas Glück könnten die Piloten wieder an Bord sein, bevor die zweite Spule des Abendfilms eingelegt wurde. Doch dann gab es fast vom Start weg nichts als Ärger. Lovell war als erster der vier Piloten in der Luft, gefolgt von seinen Kameraden Bill Knutson und Daren Hillery. Wie bei derartigen Übungen üblich, sollte Dane Klinger, der Führer des Schwarms, zuletzt vom Flugdeck starten. Doch Klinger wollte gerade vollen Schub geben, als sich die Wolkendecke, die schon die ganze Zeit drohend am Himmel gehangen hatte, senkte und so dicht wurde, daß fast nichts mehr zu erkennen war. Klinger bekam den Befehl, die Turbinen abzustellen und an Bord zu bleiben, und über Funk nahm man Kontakt zu Lovell, Knutson und Hillery auf, die gerade mit dem Sammeln begonnen hatten. »November Papas«, meldete sich das Schiff mit dem Rufzeichen des Schwarms, »die Übung wurde wegen schlechten Wetters abgesagt. Sammeln und dann dreißig Minuten lang auf 1500 Fuß über dem Schiff kreisen. Wir holen euch runter, sobald ihr ein bißchen Treibstoff verbraucht habt.« Lovell saß in seinem Cockpit und mußte wider besseren Wissens lächeln. Für ihn wäre es Einführungsritual und Erleichterung zugleich, wenn er seinen ersten Nachtflug erfolgreich hinter sich bringen könnte. Aber angesichts der Gefahren wäre er auch erleichtert, wenn ihm die ganze scheußliche Angelegenheit erspart bliebe, und sei es auch nur für einen Abend.
Wie vorgeschrieben; flog Lovell vom Schiff aus zwei oder drei Minuten geradeaus, zog dann eine 180-Grad-Kurve und flog zurück, damit sich seine Kameraden an ihn hängen konnten. Aber als er die Stelle erreichte, wo die Maschinen und der Träger sein sollten, waren sie nirgendwo zu sehen. Er warf einen Blick auf den Höhenmesser: 1500 Fuß. Er warf einen Blick auf sein ADF: Träger direkt vor ihm. Doch Lovell sah rundum nichts als Dunkelheit. »November Papa One, hier spricht Two«, meldete sich plötzlich Knutson in seinem Kopfhörer. »Wir sehen dich nicht. Kannst du uns sagen, wo du bist?« »Habe Home Plate noch nicht erreicht«, antwortete Lovell. »Nun, Three hat zu mir aufgeschlossen«, sagte Knutson. »Wir kreisen in 1500 Fuß über Home Plate und warten auf dich.« Lovell war verwirrt. Wieder blickte er auf Höhenmesser und ADF; alles schien in Ordnung zu sein. Er schaute auf den Einstellknopf des ADF: das Gerät war tatsächlich auf den Empfang von 518 Kilohertz eingestellt. Er tippte auf das Glas über dem Instrument. Die Nadel zeigte weiterhin alles richtig an. Was Lovell nicht wußte – nicht wissen konnte –, war, daß eine Funkleitstation an der japanischen Küste ebenfalls auf 518 Kilohertz sendete. Seine Begleiter hatten Glück gehabt und rechtzeitig den Funkstrahl des Schiffes angepeilt, bevor sie von der Küstenstation angepeilt worden waren. Wie es der Zufall wollte, empfing Lovells Richtungsanzeiger indessen das Signal von der Küste, das ihn nun stetig und beharrlich vom Schiff weg – und in die Nacht hineinlotste, die immer schwärzer und unfreundlicher wurde. »Home Plate«, rief er den Träger in der Hoffnung, daß man ihn zumindest auf dem Radar des Schiffes sehen müßte. »Könnt ihr mich erkennen?« »Negativ«, meldete die »Shangri-La«.
Mit einem Mal war Lovell überhaupt nicht mehr ruhig. Unter der heißen, luftundurchlässigen Fliegerkombination lief ihm der Schweiß über Brust, Bauch und Beine. »Home Plate«, sagte er, »ich habe anscheinend irgendwo meine Begleiter verloren. Ich werde auf Gegenkurs gehen und sehen, ob ich wieder auf sie stoße.« »Roger, November Papa One. Suchen Sie in aller Ruhe.« Lovell drehte die Maschine um 180 Grad, und der ADF reagierte und deutete nun zum Heck der Maschine, um anzuzeigen, daß der unsichtbare Träger und die beiden unsichtbaren Piloten jetzt hinter ihm wären. Lovell fluchte. Der ADF irrte sich nie. Aber vielleicht, dachte er, war die Frequenz des Zielfunkgerätes geändert worden, ohne daß man ihm Bescheid gesagt hatte. An seinem Bein war ein sogenanntes »Kniebrett« mit einer Aufstellung der neuesten Funkfrequenzen festgeschnallt, die man den Piloten vor dem Besteigen der Flugzeuge ausgehändigt hatte. Sämtliche Piloten trugen solche Kniebretter, wenn sie aufstiegen, aber Lovells war etwas anders als die meisten. Der frischgebackene Pilot hatte immer Schwierigkeiten gehabt, im Dämmerlicht unter dem Armaturenbrett die winzigen Zahlen auf den Flugplänen zu erkennen, und so hatte er in den Mußestunden während der langen Reise nach Fernost Ersatzteile aus dem Lagerraum zusammengetragen und eine raffinierte kleine Lampe erfunden, die er an seinem Kniebrett befestigen konnte. Man stecke das Kabel der Lampe in den Stromanschluß der Maschine, drücke auf ein Knöpfchen, und das Kniebrett war erleuchtet. Lovell war stolz auf seine Erfindung, und jetzt hatte er zum erstenmal Gelegenheit, sie auszuprobieren. Er griff zum Kabel, schob es in die Anschlußbuchse und legte den Schalter um. Kaum hatte er das jedoch getan, als es ein helles Flackern gab – ein unmißverständlicher Hinweis auf einen Kurzschluß
aufgrund einer Überlastung der Bordelektrik – und sämtliche Lämpchen am Armaturenbrett ausgingen. Lovells Herz pochte heftig. Sein Mund wurde trocken. Er blickte sich um und sah gar nichts. Auf einmal war es in der Maschine ebenso dunkel wie draußen. Er riß die Sauerstoffmaske ab, atmete ein oder zwei Züge Kabinenluft ein und schob sich eine Stiftlampe in den Mund, um die Instrumente anzuleuchten. Der dollargroße Strahl der winzigen Taschenlampe tanzte über die Armaturen und warf einen fahlen Lichtschein auf jeweils ein Instrument. Lovell las die Anzeigen, so gut er konnte, ließ sich dann zurücksinken und überlegte, wie er sich nun verhalten sollte. Wenn ein Pilot in einer derartigen Klemme steckte, hatte er zwei Möglichkeiten – verlockend war keine davon. Er konnte erklären, daß er in eine Notlage geraten sei, und darum bitten, daß der Träger die Beleuchtung einschaltete. Der Skipper würde wahrscheinlich einwilligen, aber es wäre über alle Maßen peinlich. Angenommen, dies wäre ein richtiger Nachteinsatz in einem richtigen Krieg? Entschuldigung, liebe Feindschiffe, würdet ihr bitte kehrtmachen, damit wir unser Licht einschalten können? Die Alternative war kaum besser: Er könnte gleichfalls erklären, er sei in eine Notlage geraten, sich dann aber in Gegenrichtung halten und versuchen, einen Landeplatz in Japan zu finden. Zumindest wäre er dann über Land, und nicht über dem eisigen, tintenschwarzen Meer. Aber mit dem unzuverlässigen ADF und ohne Cockpit-Beleuchtung würde er wahrscheinlich nie und nimmer eine Rollbahn finden. Die Maschine wäre verloren, und er müßte per Fallschirm landen. Lovell nahm die Stiftlampe aus dem Mund, schaltete sie ab und starrte in die Dunkelheit. Schräg unter sich, etwa bei zwei Uhr, meinte er ein schwaches grünliches Schimmern im schwarzen Wasser zu erkennen. Die unheimliche Strahlung
war kaum sichtbar und wäre Lovell vermutlich auch nicht aufgefallen, wenn seine Augen aufgrund der Schwärze im Cockpit nicht an die Dunkelheit gewöhnt gewesen wären. Doch bei dem Anblick machte sein Herz einen Satz. Er wußte genau, worum es sich bei dem seltsamen Schimmern handelte: eine Wolke aus phosphoreszierenden Algen, die durch die Schraubenbewegung des Trägers zum Leuchten gebracht worden waren. Als Pilot wußte man, daß eine sich drehende Schiffsschraube Wasserorganismen zum Leuchten brachte und man auf diese Weise ein gesuchtes Schiff finden konnte. Es war eine der unzuverlässigsten und verzweifeltsten Methoden, ein verirrtes Flugzeug sicher zurückzubringen, aber wenn alles andere versagte, mußte man auf einen solchen Trick zurückgreifen. Lovell sagte sich, daß alles andere versagt hatte, und mit einem fatalistischen Achselzucken hängte er sich an den schwachen grünen Streifen im Wasser. Knapp vor dem Lichtfleck im Wasser ging er auf eine Höhe von 1500 Fuß und stieß auf seine beiden Begleitmaschinen, die dort auf ihn warteten. Er war außer sich vor Freude, als er die beiden kreisenden Flugzeuge sah, aber er wußte, daß er sich seine Erleichterung nicht anmerken lassen durfte. »Wir wollten dich schon aufgeben«, meldete sich Hillery per Funk bei Lovell. »Freut uns, daß du dich uns anschließen willst.« »Hatte ein paar Probleme mit den Instrumenten«, funkte der unsichtbare Pilot aus seinem dunklen Cockpit zurück. »Nichts Weltbewegendes.« Obwohl sich der Schwarm nun gesammelt hatte, waren Lovells Schwierigkeiten noch nicht annähernd überstanden: Erst mußte er die unbeleuchtete Maschine wieder auf dem Flugdeck des Trägers landen. Eine sichere Landung aber war nur möglich, wenn er ständig Höhenmesser und Fluggeschwindigkeitsanzeiger im Auge behielt, doch mit
Lovells schwacher Stiftlampe ließen sich nicht beide Instrumente zugleich anleuchten. Da er den Träger zuletzt erreicht hatte, flog Lovell nun die dritte Maschine der Dreierformation, was wiederum hieß, daß er das Landedeck zuletzt ansteuern mußte. Die drei Maschinen flogen das Schiff von Steuerbord aus an, und Lovell sah zu, wie erst der eine und dann der andere Begleiter nach Lee abkippte. Er hörte, wie Snapper Control, der Mann, der dem für das Landesignal zuständigen Offizier half, die beiden anderen Piloten rief, als sie sich querab vom Heck des Schiffes befanden, und ihnen mitteilte, sie sollten mit dem Landeanflug beginnen. Sie gingen bis auf 150 Fuß (45 Meter) herunter, hängten sich hinter das Schiff und flogen dann stetig immer tiefer, bis sie über dem Deck waren und ohne Zwischenfall aufsetzten. Lovell konnte sie nur ob der geglückten Landung beneiden. Während er die Stiftlampe mit den Zähnen festhielt, hörte er, wie er von Snapper Control zum Landeanflug eingewiesen wurde. Mit einem Auge auf den näherkommenden Hecküberhang des Trägers zu achten und mit dem anderen die Instrumente im Blick zu behalten, war nicht einfach, aber Lovell hatte das Gefühl, daß er es schaffen könnte. Rasch näherte er sich in einer Höhe von 250 Fuß (75 Meter) – dies hatte ihm ein letzter Blick auf den Höhenmesser bestätigt – dem Schiff, als er plötzlich von der Kanzel aus unmittelbar unter seinem linken Flügel ein rotes Licht bemerkte. Er hatte keine Ahnung, was das sein könnte. Mit Sicherheit befand sich zwischen ihm und dem Wasser kein weiteres Flugzeug, und um ein kleines Boot oder eine Leuchtboje hinter dem Träger konnte es sich auch nicht handeln. Erschrocken begriff Lovell, was er da sah. Das Licht war eine Spiegelung der Positionslampe an seiner eigenen Flügelspitze auf dem wogenden Wasser, das, wie er nun feststellte, keineswegs sichere 250 Fuß, sondern knapp 20 Fuß (6 Meter) unter ihm
lag. Ein rascher Blick auf den Höhenmesser bestätigte dies. Lovell befand sich praktisch auf Höhe der Wellen, und sein Fahrwerk streifte fast das Meer, so daß er demnächst entweder auf dem Wasser aufschlagen oder das breite Heck des gigantischen Trägers rammen würde. »Hochziehen, November Papa One, hochziehen!« schrie ihm Snapper Control zu. »Sie sind viel zu tief!« Lovell riß den Steuerknüppel zurück, schob die Gashebel nach vorne, und heulend schoß die Banshee auf eine Höhe von 500 Fuß (150 Meter). Wieder überflog er den Träger, drehte einmal mehr bei und steuerte erneut die Anflugschneise an. Diesmal war er 500 Fuß hoch. »Sie sind zu hoch, November Papa One, viel zu hoch«, brüllte ihm der Flugleitoffizier zu. »Sie können aus dieser Höhe nicht anfliegen!« Lovell jedoch wußte, daß diese Höhe genau richtig für ihn war. Wenn er an die im Schein seiner Taschenlampe flackernden Instrumente und das wie eine schwarze Wand vor ihm aufragende Heck des riesigen Trägers dachte, dann wollte er lieber zu hoch zur Landung auf dem Schiff ansetzen, als von hinten zu tief darauf zuzufliegen. Als das Flugdeck immer näher kam, ließ Lovell die Maschine wie einen Stein von 500 auf bloße 150 Fuß durchsacken. Dann ging er buchstäblich im freien Fall herunter, bis er mit einem markerschütternden Schlag, bei dem zwei Reifen platzten, auf das flache Deck knallte und nach vorne schlitterte. Abrupt kam er zum Stehen, nachdem der Haken am Heck seiner Maschine die letzte quer über das Deck gespannte Fangleine erwischte. Lovell stellte die Triebwerke ab und ließ den Kopf in die Hände sinken. Der Einweiser kam zum Düsenjäger gerannt, und der blaß gewordene Pilot löste die Sitzgurte, kletterte aus dem Cockpit und stieg mit wackligen Beinen hinunter aufs Deck.
»Schön, daß Sie sich entschieden haben, wieder an Bord zu kommen«, sagte der Einweiser. »Schön, wieder hier zu sein«, bekam er heiser zur Antwort. Als er unter Deck ging, bereitete sich Lovell auf die Einsatzbesprechung mit seinem Schwarmführer vor, doch er wurde vom Bordarzt abgefangen, der eine kleine Flasche Brandy bei sich hatte. »Sie sehen nicht besonders gut aus«, sagte der Arzt. »Nehmen Sie einen Schluck Medizin. Geht auf mich.« Lovell ergriff die Flasche und leerte sie mit einem Zug. Als sich Lieutenant Junior Grade Lovell mit Lieutenant Commander Klinger traf, schilderte er nach besten Kräften, welche Schwierigkeiten er mit dem ADF und bei der Einschätzung der Höhe während des Landeanflugs gehabt habe, und zögernd erwähnte er auch die kleine Erfindung, die den Stromausfall in seinem Cockpit verursacht hatte. Der Skipper hörte sich das Ganze anscheinend voller Mitgefühl an, nickte scheinbar verständnisvoll und zog dann, als Lovell fertig war, den Einsatzplan für die Nachtflüge tags darauf hervor. Schwungvoll und mit einem Lächeln schrieb er ganz vorne auf die Liste »Lovell«. »Sie sind vom Pferd gefallen«, sagte der Skipper. »Und jetzt müssen Sie wieder rauf.« Wie befohlen flog Lovell gleich am nächsten Abend wieder hinaus in die Dunkelheit. Diesmal fand der ADF das Schiff problemlos, diesmal schwebte er tadellos ein, und diesmal gelang ihm eine einwandfreie Landung. Aber diesmal nahm er auch sein phantastisches, beleuchtetes Kniebrett nicht mit. Jim Lovell gewöhnte sich schließlich an dieses hochriskante Leben als Trägerpilot; er brachte es auf insgesamt 107 Nachtlandungen und wurde zuletzt Ausbilder auf einer ganzen Reihe neuer Flugzeuge, darunter die FJ-4 Fury, die F8U Crusader und die F3H Demon. Um 1957 aber verloren die Patrouillenflüge über dem friedlichen Pazifik und die
Übungseinsätze für Luftkämpfe, die allem Anschein nach nie stattfinden würden, allmählich ihren Reiz. Als sich Ende des Jahres die Gelegenheit zu einer Versetzung bot, bewarb sich Lovell – der inzwischen auf die Dreißig zuging und eine dreijährige Tochter sowie einen zweijährigen Sohn hatte – für einen der gefährlichsten Posten, den das Militär zu bieten hatte: Das U.S. Navy Aircraft Test Center in Patuxent River, Maryland. Lovell war gespannt auf die neue Aufgabe. Es gehörte schon ein beträchtliches Geschick dazu, einen Kampfjet zu fliegen, der bereits für einsatztauglich befunden worden war. Aber derjenige zu sein, der vorher über diese Tauglichkeit zu befinden hatte, dazu gehörte noch viel mehr. Mit unerprobten Flugzeugen in den Himmel über dem südlichen Maryland aufzusteigen, das, so dachte sich Lovell, müßte ungefähr das Schärfste sein, was es in der Fliegerei gab, und als sein Antrag bewilligt wurde, packte er rasch seine Familie zusammen und bereitete sich auf den Umzug nach Osten vor. Aber noch bevor er aus Kalifornien aufbrach, bekam diese scharfe neue Laufbahn einen kleinen Dämpfer ab. Am 4. Oktober 1957 verblüffte die Sowjetunion Washington und die ganze westliche Welt mit der Nachricht, daß es ihr gelungen sei, eine Robotkugel namens »Sputnik« in eine 900 Kilometer hohe Umlaufbahn um die Erde zu schießen. Die Kugel wog nur 84 Kilogramm, die höchstmögliche Last, die Moskaus alte R-7-Rakete tragen konnte. Nur einen Monat später starteten die sowjetischen Ingenieure eine weitaus stärkere Rakete und einen viel größeren Sputnik, der diesmal über 500 Kilogramm wog. Die Vereinigten Staaten waren blamiert; sie mußten sich rasch etwas einfallen lassen. Einen Monat darauf schoben amerikanische Ingenieure eine kleine, schmale VanguardRakete hinaus auf die Startrampe, setzten einen niedlichen,
etwa 15 Zentimeter großen Satelliten obenauf, zündeten sie und hofften das Beste. Die Vanguard stand ein paar Sekunden lang verheißungsvoll rauchend auf der Rampe, stieg ein paar Zentimeter weit hoch und flog dann in tausend Fetzen. Der orangengroße Satellit fiel zu Boden, rollte weg und blieb dann am Rand der asphaltierten Startrampe liegen, von wo aus er sein albernes Piepzeichen an die gedemütigten Flugleiter im Blockhaus funkte. Die ganze Welt lachte über das Debakel des Westens, allen voran die amerikanischen Zeitungen, die sich tagelang über diesen Geniestreich und den großartigen neuen »Kaputtnik« ausließen. Lovell verfolgte diese Vorgänge und fand die Scherze nicht besonders spaßig. Hatten die Vereinigten Staaten nicht all diese tollen Deutschen draußen in White Sands sitzen? Hatten die Vereinigten Staaten nicht schon vor einem Jahrzehnt »Operation Bumper« durchgeführt? Warum ließen sie sich dann jetzt so vorführen? Es war eine leidige Angelegenheit, aber ein Marineflieger wie Lovell konnte sich über so etwas nicht endlos den Kopf zerbrechen. Er wollte demnächst Flugzeuge testen – und davon baute man in Amerika wahrlich nicht die schlechtesten. Er hatte keine Lust, sich mit Quatsch über Raketen zu belasten. Außerdem flogen diejenigen, die ihm am meisten am Herzen lagen, anscheinend immer in Stücke.
4
April 1970 Sy Liebergot war Datensalat gewöhnt. Er mochte ihn nicht – keiner mochte so etwas. Aber er war daran gewöhnt. Liebergot hing wie alle Controller auf Gedeih und Verderb von den Daten auf seinem Bildschirm ab. Für den ungeübten Betrachter ergaben die Leuchtsymbole nicht den geringsten Sinn. Einem Controller aber verrieten die Zahlen auf dem Monitor, daß mit der kleinen Kapsel, in der mit seiner Hilfe 400000 Kilometer entfernt Menschen durchs All flogen, alles in bester Ordnung war, und das war sehr gut, oder aber, daß etwas nicht in Ordnung war, und das war sehr schlecht. Wenn etwas nicht in Ordnung war, so hieß das, daß die Menschen in der Kapsel möglicherweise nie mehr aus den himmlischen Sphären zurückkehrten, denen sie lediglich einen Besuch hatten abstatten wollen, und die Leute am Boden wollten dann wissen, ob es vielleicht an den Leuchtsymbolen lag, die plötzlich Sperenzchen machten, und ob es einem vielleicht eher hätte auffallen müssen. Deshalb wurden Liebergot und alle anderen nervös, als die Daten auf den Bildschirmen plötzlich verrückt spielten. Nicht daß jemand gewußt hätte, worauf dieser gelegentliche Datensalat zurückzuführen war. Genaugenommen konnte man so etwas nicht einmal voraussagen. Es war schon vorgekommen, wenn eine Apollo-Kapsel auf der Umlaufbahn hinter dem Mond verschwand. Es war bereits vorgekommen, wenn sich eine in der Erdumlaufbahn fliegende Gemini-Kapsel zwischen zwei Bodenstationen befand. Es war schon
vorgekommen, wenn eine Mercury-Kapsel die Umlaufbahn verließ und mit einer Geschwindigkeit von 27000 Kilometern pro Stunde in die Erdatmosphäre eintrat, so daß sie inmitten einer Wolke aus heißer, ionisierter Luft flog, die jeden Funkverkehr lahmlegte. In all diesen Fällen konnte es passieren, daß die von der Kapsel übermittelten Daten weitestgehend unbrauchbar waren, aber bevor sie gänzlich verschwanden, spielten sie, nun ja, verrückt. Manchmal teilten einem die Leuchtzeichen am Bildschirm mit, der Kabinendruck sei auf Null abgefallen; manchmal teilten sie einem mit, ein Sauerstofftank sei explodiert, habe ein Schott zerstört und einen Teil des Raumfahrzeugs beschädigt, oder zwei Brennstoffzellen seien ausgefallen, oder der Hitzeschild habe sich gelöst und die Steuerraketen funktionierten nicht. Meistens war es nicht so, meistens handelte es sich nur um Datensalat – aber wenn es zutraf, dann steckte die Kapsel in ernsten Schwierigkeiten. Das Problem dabei war, daß man nie genau wußte, worum es sich handelte, bevor die Gemini Kontakt mit der nächsten Bodenstation aufnahm, die Mercury wieder aus dem Ionensturm herausflog oder die Apollo wieder auf der hellen Seite des Mondes auftauchte. Liebergot war zuständig für die Kommandokonsole für Elektrik und Lebenserhaltungssysteme – Electrical and Environmental Command Console, kurz EECOM. Die Bezeichnung EECOM stammte von der NASA, aber Liebergot und seine Kollegen nannten sich insgeheim lieber Männer fürs leibliche Wohl. Sie waren diejenigen, die die inneren Organe des Schiffes überwachten, die dafür sorgten, daß alle lebensnotwendigen Flüssigkeiten und Gase zur Verfügung standen, und die letztendlich für das Überleben dieses mechanischen Organismus’ in einer lebensfeindlichen Umwelt verantwortlich waren.
Während der ersten anderthalb Jahre des bemannten ApolloProgramms hatten die Männer, die an den Konsolen der Mission Control arbeiteten, Bemerkenswertes zustandegebracht. Nach einiger Zeit kannten sie die Strecke zum Mond ebensogut wie einst die Schiffskapitäne die alten Handelsrouten. Viermal schon hatten sie Astronauten zum Mond geschickt – zweimal, bei Apollo 11 und 12, hatten sie sie sogar auf den Mond gelotst –, und viermal hatten sie sie sicher wieder zurückgebracht. Liebergot hatte wie der Großteil der Männer in diesem Raum an all diesen Flügen mitgewirkt, und allmählich hatte er das Gefühl, daß es wenig gab, was er und seine Kollegen nicht voraussagen konnten, sei es während des Starts, beim Mondspaziergang oder bei der abschließenden Landung im Wasser, und kaum etwas, was sie nicht im Griff hatten. Als die Raumfahrtbehörde im Winter und Frühling mit der Planung für Jim Lovells, Ken Mattinglys und Fred Haises Flug mit Apollo 13 befaßt war, wußten die Controller, daß sie ihre ganze Erfahrung brauchen würden. Nach Vorstellung der NASA-Oberen sollte es eine lange, strapaziöse Mission werden. Die ersten beiden Mondlandungen, Apollo 11 und 12, waren an zwei eher problemlosen Stellen auf dem Mond erfolgt, dem Meer der Ruhe und dem Ozean der Stürme. Derart flache, wüstenartige Gegenden eigneten sich zwar bestens zur Landung, für Geologen aber waren sie eher langweilig – kilometerweit nichts als Staub und Steine, alle etwa gleich alt und gleich beschaffen. Wenn man etwas wirklich Interessantes wollte, mußte man in die Mondberge vordringen. Die höher gelegenen Landschaften auf dem Mond unterschieden sich geologisch derart vom Tiefland, daß sie sogar das Sonnenlicht heller reflektierten und auf den irdischen Betrachter wie ein lockendes Leuchtzeichen wirkten. Mit Apollo 13 gedachte die NASA diesem Lockruf zu
folgen. Als Zielort für die dritte Mondlandung war die sogenannte Fra-Mauro-Region vorgesehen, ein zerklüfteter Gebirgszug etwa 17Q Kilometer östlich der Landestelle von Apollo 12. Von Fra Mauro erwartete man zum einen interessante Bodenproben, andererseits aber sollten bei der Erkundung der Gegend und der Suche nach einem geeigneten Landeplatz das Können der Astronauten und die Manövrierfähigkeit der Mondfähre auf eine ernste Probe gestellt werden. Noch riskanter als der Bestimmungsort von Apollo 13 war die Flugroute, die man einzuschlagen gedachte. Bei allen vorherigen Missionen zum Mond waren die Besatzungen auf der sogenannten freien Rückkehrbahn geflogen, auf der sie automatisch wieder nach Hause kommen würden, falls das Haupttriebwerk des Versorgungsteils ausfallen sollte. Bei Apollo 13 würde dies nicht möglich sein. Schon vom Terrain her war der Landeort in der Fra-Mauro-Region gefährlich, aber noch gefährlicher waren die Lichtverhältnisse, die zur vorgesehenen Ankunftszeit herrschen würden. Nach dem derzeitigen Flugplan würde das Schiff den Mond zu einem Zeitpunkt erreichen, zu dem die Sonne so ungünstig stand, daß die Schatten, die die Fra-Mauro-Berge normalerweise warfen, verschwunden wären. Ohne diese Schatten aber würden die Piloten eventuelle Hindernisse viel schwerer erkennen können. Es war ein Leichtes, die Flugbahn des Schiffes so zu verändern, daß die Schatten bei der Ankunft der Astronauten länger waren – dazu wäre nur ein kurzes Zünden des Haupttriebwerks beim Anflug auf den Mond erforderlich. Sobald aber das Triebwerk gezündet wurde, wäre die Freiflugbahn dahin. Falls es Apollo 13 nicht gelingen sollte, in eine Umlaufbahn um den Mond einzutreten, würde die Kapsel zwar ebenfalls wieder in Richtung Erde fliegen,
aber sie würde ihr Ziel um ungefähr 60000 Kilometer verfehlen. Die Astronauten und die Mission Control, die sie unterstützen sollte, arbeiteten bei der Vorbereitung dieses riskanten Unternehmens so viele Stunden wie nie zuvor. Um die an den Konsolen der Mission Control sitzenden Männer auf ihre Aufgabe einzustimmen, führte man vorzugsweise Flugsimulationen durch. Bei einer typischen Simulation ging es im Kontrollraum genauso geschäftig zu wie während eines echten Fluges – die Konsolen waren voll besetzt, die Bildschirme voller Daten, über Kopfhörer gingen Gespräche ein, und auf den Projektionswänden an der Stirnseite des Raumes blinkten allerlei Zeichen und Symbole. Der einzige Unterschied war, daß die eingehenden Informationen nicht aus dem Weltall, sondern von einer Doppelreihe Konsolen hinter einer Glaswand auf der rechten Seite des Hauptraumes stammten. Dort saßen die Simulationskontrolleure (Simulation Supervisors), kurz Simsups genannt. Ihre Aufgabe war es, diese Übungsflüge zu leiten und die Männer an den Kontrollkonsolen mit simulierten Problemen zu konfrontieren, um festzustellen, wie rasch sie eine Lösung fanden. Das Verhalten eines Controllers bei derartigen Simulationen konnte ausschlaggebend für seine künftige Laufbahn bei der Raumfahrtbehörde sein. Ein paar Wochen vor dem Start von Apollo 13 saßen Liebergot und die anderen Controller eines Nachmittags an ihren Konsolen und überwachten die üblichen Daten während einer Routinephase einer bislang ganz normal verlaufenden Flugsimulation. Es handelte sich um eine sogenannte voll integrierte Simulation, das heißt, daß man ohne das tatsächliche Raumfahrzeug, aber mit den Astronauten am Boden übte. Gleich nebenan befand sich auf dem Gelände des Johnson Space Center das Trainingsgebäude für die Besatzung,
wo Attrappen der Kommandokapsel und der Mondfähre standen. Dort befanden sich an diesem Tag Lovell, der Kommandant des geplanten Fluges, Mattingly, der Pilot der Kommandokapsel, und Haise, der Pilot der Mondfähre. Wie bei allen Simulationen – und auch beim richtigen Flug – konnten die Controller den Funkverkehr zwischen Astronauten und CAPCOM hören, aber sie konnten sich nicht in die Gespräche einschalten. Sie konnten auf einer separaten Funkverbindung mit dem Flugdirektor in der Mission Control oder mit einem der zahlreichen, aus drei oder vier Mann bestehenden Unterstützungsteams sprechen. Die Controller und die Besatzung spielten gerade eine Flugphase etwa hundert Stunden nach dem Start durch, ein Zeitpunkt, zu dem Lovell und Haise in dem zerbrechlichen, spartanischen LEM unten auf dem Mond sein würden, während Mattingly die Stellung in der relativ geräumigen Kapsel rund 100 Kilometer über ihnen hielt. In diesen Phasen war die Belastung der Männer am EECOM normalerweise am geringsten, denn das Mutterschiff hatte nicht viel zu tun, und außerdem riß jedesmal das Funksignal ab, wenn es hinter dem Mond verschwand. Solange das Raumfahrzeug reibungslos funktionierte, bevor es verschwand, konnte man sich während der vierzigminütigen Funkstille ein wenig strecken, den Blick vom Bildschirm wenden und alle bevorstehenden Manöver planen. Als eine der für diesen Tag vorgesehenen Funkunterbrechungen eintrat, musterte Liebergot gerade seinen Bildschirm und bemerkte etwas Komisches: ein kaum wahrnehmbares Absinken des Kabinendrucks. Diese Unregelmäßigkeit – nicht mehr als eine leichte Abweichung der Druckwerte – tauchte kurz vor dem Verschwinden des Schiffes hinter dem Mond auf, und danach war eine weitere
Datenübermittlung nicht mehr möglich. Liebergot und sein Unterstützungsteam nahmen sofort Kontakt miteinander auf. »Haben Sie den Kabinendruck gesehen?« fragte das Unterstützungsteam. »Gesehen«, sagte Liebergot. »Wie weit ist er heruntergegangen?« »Etwa ein Zehntel psi, nicht mehr.« »Nicht viel«, erwiderte das Unterstützungsteam. »Was halten Sie davon?« »Wahrscheinlich ist es gar nichts«, antwortete Liebergot. »Datensalat?« »Bestimmt. Kurz vor dem Abreißen des Signals. Was sollte es denn sonst sein?« Liebergot und sein Unterstützungsteam entspannten sich, da sie überzeugt waren, daß Datensalat die richtige Erklärung für das Phänomen war. Bei einem tatsächlichen Flug wäre es auch die richtige Erklärung gewesen, doch bei dieser Simulation hatten sich die Simsups dafür entschieden, daß Datensalat die falsche Erklärung sein sollte. Während der vierzigminütigen Funkstille ergriffen Liebergot und sein Unterstützungsteam keinerlei Maßnahmen wegen der Anomalie bei der Sauerstoff Versorgung, da sie davon ausgingen, daß es sich lediglich um eine harmlose Fehlinformation handelte. Dann tauchte das Schiff wieder aus dem Funkschatten auf, und Ken Mattingly meldete sich. »Wir hatten einen plötzlichen Druckabfall, Houston«, sagte er. »Kabinendruck ist runter auf Null, und im Augenblick bin ich auf Anzugdruck. Ich nehme an, wir haben ein Leck, aber ich weiß es nicht genau.« Liebergot erstarrte. Der Druckverlust war echt gewesen. Mit diesem Test sollte die Tüchtigkeit der EECOM geprüft werden, und er hatte versagt. Die Simsups – die verfluchten Simsups – hatten ihn gewaltig ausgetrickst. Lovell, Mattingly
und Haise hatten damit nichts zu tun. Man hatte Mattingly plötzlich mit einer Komplikation konfrontiert – natürlich nicht mit einem echten Druckabfall im Simulator; nur die Nadel des Kabinendruckmesser war auf Null gefallen –, und er hatte das einzig Richtige getan: Seinen Anzug angelegt, ihn geschlossen und die Wiederaufnahme des Funksignals abgewartet. Nur Liebergot und seinem Unterstützungsteam hatte man eine Warnung zukommen lassen… und sie hatten nicht das geringste unternommen. Liebergot wartete auf eine Reaktion des Flugdirektors. Wenn Chris Kraft noch Direktor gewesen wäre, der Mann, der beim Mercury- und Gemini-Programm die Aufsicht über die Mission Control innehatte, dann, so dachte sich Liebergot, wäre er wahrscheinlich erledigt, gefeuert. Kraft verstand keinen Spaß. Wenn man ein Schiff verlor, auch wenn es sich nur um eine Attrappe handelte, dann konnte einen das den Kopf kosten. In diesem Fall hatte Liebergot zwar kein Schiff verloren, aber kostbare vierzig Minuten, in denen er und sein Unterstützungsteam eine Lösung hätten finden können, bevor es zu der vorher absehbaren Katastrophe kommen konnte. Kraft hatte zugunsten seines weiteren Aufstiegs im NASAManagement vor einiger Zeit seine Position als Flugdirektor aufgegeben. Seine Stelle hatte Gene Kranz übernommen, ein vierschrötiger Mann mit Bürstenschnitt, der als Kampfflieger am Koreakrieg teilgenommen hatte und noch vor dem Mercury-Programm zur NASA gestoßen war, wo er langsam, aber stetig Karriere machte. Die Männer im Kontrollraum wußten immer noch nicht recht, was sie von Kranz halten sollten. Er leitete die Mission Control von seinem einzeln stehenden Pult aus wie ein alter Soldat. Seine Anweisungen waren knapp und präzise, sein Ton duldete keinen Widerspruch.
Im gesamten Kontrollraum hatte man gehört, wie Mattingly über Funk von seinen Schwierigkeiten berichtet hatte; im gesamten Kontrollraum hatte man gehört, wie der CAPCOM sein »Roger« durchgegeben hatte. Und jetzt wartete der gesamte Kontrollraum darauf, wie Kranz reagieren würde. »In Ordnung«, sagte der Flugdirektor nach einer schier endlos scheinenden Pause. »Nehmen wir uns das Problem vor.« Liebergot atmete auf. Das, so wußte er, hieß bei Kranz soviel wie: »Ich lasse Sie diesmal ungeschoren davonkommen.« Erleichtert und dankbar zugleich stürzte er sich mit Feuereifer in die Arbeit. Liebergot und die anderen Controller beschlossen, einen bislang nur wenig erprobten Notfallplan auszuprobieren, bei dem die Mondfähre vom Mutterschiff abgekoppelt wurde, um sofort wieder anzudocken und dann mit ihm verbunden zu bleiben. Auf diese Weise konnte das LEM als eine Art Rettungsboot dienen, in dem sich die Astronauten bis zum Anflug auf die Erde aufhielten, um dann vor dem Eintritt in die Atmosphäre zurück in die Kommandokapsel zu kriechen und die Mondfähre abzutrennen. Seit Beginn des ApolloProgramms im Jahr 1964 beschäftigte man sich mit der Möglichkeit, das LEM als Rettungsboot zu verwenden, und Anfang 1969, als die Astronauten von Apollo 9 erstmals mit der Mondfähre in die Erdumlaufbahn geflogen waren, hatte man dieses Manöver sogar ein paarmal geprobt. Doch niemand glaubte ernsthaft daran, daß man jemals darauf zurückgreifen müßte. Kranz ließ diese Rettungsboot-Übung ein paar Stunden lang laufen, bis er überzeugt war, daß die Astronauten die Überlebensvorschriften begriffen und Liebergot seine Lektion gelernt hatte. Aber zu guter Letzt bliesen sie diese Simulation ab und wandten sich einer anderen, weniger raffinierten zu.
Das war natürlich sinnvoll. Bis zum Start blieben ihnen nur mehr ein paar Wochen, und sie mußten noch allerhand Zwischenfälle durchspielen, die weitaus wahrscheinlicher waren als eine nicht funktionsfähige Kommandokapsel und ein als Rettungsboot dienendes LEM.
Trotz der vielversprechenden Zielsetzung nahm man im Land nur wenig Anteil am bevorstehenden Flug von Apollo 13. Vom Unterhaltungswert her gab es im Frühjahr 1970 viele Dinge, die spannender waren als die Abenteuer des – wie viele waren es inzwischen? – fünften und sechsten Mannes, die auf dem Mond spazierengingen. Am 9. April, zwei Tage vor dem geplanten Start, erwähnte die New York Times den Flug mit keinem Wort. Auf der Titelseite wurde statt dessen von der überraschenden Ablehnung von Judge G. Harrold Carswell, Präsident Nixons letztem Kandidaten für den obersten Gerichtshof, durch den Senat berichtet. Auch in den Nachrichten standen in dieser Woche andere Themen im Mittelpunkt: Die Bekanntgabe, daß es in Südostasien die höchsten Verluste seit elf Monaten gegeben hatte; ein Beschluß des Obersten Gerichtshofes von Massachusetts, die Freigabe der Untersuchungsergebnisse zum Tod von Mary Jo Kopechne aufzuschieben; eine Erklärung von Paul McCartney, daß er »persönliche Differenzen« mit den anderen drei Beatles habe und die Band verlassen werde; und die Eröffnung der neuen Baseballsaison. In der Times vom 10. April, einen Tag vor dem Flug, erschien in dieser Woche die erste größere Meldung über Apollo 13 – auf Seite 78, wo auch der Wetterbericht stand. Wenn das Unternehmen überhaupt auf Interesse stieß, dann vor allem wegen der morbiden Faszination, die die Flugnummer dieser Apollo-Mission ausübte. Bei sämtlichen
Mercury-Flügen hatte man zu Ehren der sieben ersten Astronauten jedesmal die Ziffer 7 an den Namen angehängt: Faith 7, Friendship 7, Sigma 7 Die bemannten Gemini Flüge hatten mit Gemini 3 begonnen, aber nach zehn Einsätzen mit Gemini 12 aufgehört. Das bemannte Apollo-Programm hatte mit Apollo 7 angefangen, und da man bei der NASA vierzehn Flüge plante, wußte man, daß sich Apollo 13 letztendlich nicht vermeiden ließe. Einem uralten Aberglauben in Zusammenhang mit einem der größten wissenschaftlichen Unternehmen der Menschheit zu frönen, übte einen nahezu unwiderstehlichen Reiz aus, und die meisten Menschen applaudierten angesichts dieser Anmaßung, dieser geradezu herausfordernden Arroganz der NASA, die den Flug trotzdem unternehmen wollte und zudem auch noch eine große, schreiende »XIII« auf die Embleme an den Anzügen sticken ließ, die die Astronauten während ihres Fluges tragen sollten. In den Wochen vor dem Start stürzten sich Presse und Öffentlichkeit wie die Aasgeier auf die Zahl 13, und man suchte nach immer neuen Hinweisen auf einen verhängnisvollen Ausgang dieser Mission. (Der Flug sollte am 11. April 1970 beginnen, also 4/11/70 nach der amerikanischen Schreibweise – wenn man die Ziffern addiert, kommt immer 13 heraus. Der Start sollte um 13:13 Uhr Ortszeit Houston erfolgen. Wenn alles planmäßig verlief, würde das Raumfahrzeug am 13. April ins Gravitationsfeld des Mondes eintreten.) Bei der NASA fand man diesen Hokuspokus äußerst lächerlich, und Lovell ging es genauso. Für den Kommandanten der Raumkapsel war dieser Flug in die FraMauro-Region eine wissenschaftliche Expedition, nicht mehr und nicht weniger. Er hatte keine Zeit, sich um abergläubisches Geschwätz zu kümmern, und das Motto, das er für das offizielle Emblem dieser Mission aussuchte,
spiegelte diese Ansicht wider. Lovell besann sich auf seine Zeit in Annapolis und griff auf das alte Navy-Motto Ex tridens scientia (»Durch das Meer Wissen erlangen«) zurück, das er zu Ex luna scientia veränderte. Das Erlangen von Wissen schien Lovell ein hinlänglich guter Grund für einen Flug zum Mond zu sein. Die Vorbereitungen für den Start von Apollo 13 verliefen ohne Zwischenfälle – soviel zum Thema Pech, wie Jim Lovell gern feststellte –, bis Charlie Duke sieben Tage vor dem Flug krank wurde. Duke war der Pilot der Mondfähre bei der Ersatzcrew, der außerdem John Young als Kommandant und Jack Swigert als Pilot der Kommandokapsel angehörten. Duke hatte sich bei seinen Kindern mit Röteln angesteckt und unwissentlich auch Young, Swigert, Lovell, Mattingly und Haise gefährdet. Bei Blutuntersuchungen stellte man fest, daß Lovell und Haise, aber auch die übrige Ersatzcrew Antikörper im Blut hatten. Mattingly hingegen war nicht dagegen immun, so daß die Gefahr bestand, daß er daran erkranken könnte. In derartigen Fällen hielt man sich bei der NASA an eine simple Regel: Einem von Krankheit bedrohten Besatzungsmitglied durfte man das Steuer eines Raumfahrzeugs nicht anvertrauen. Folglich wurde Mattingly vom Flugplan gestrichen. Lovell, der fast ein Jahr lang mit dieser Crew trainiert hatte, ging an die Decke. Jetzt? Ihr wollt jetzt, eine Woche vor dem Start, die Crew umstellen, weil sich möglicherweise jemand irgend etwas eingefangen hat? Bei der Einsatzbesprechung in Houston, auf der die Entscheidung bekanntgegeben wurde, legte sich Lovell für seinen Kapselpiloten ins Zeug. »Wie lange dauert bei so etwas die Inkubationszeit?« fragte der Kommandant den Mannschaftsarzt. »Etwa zehn Tage bis zwei Wochen«, antwortete der Doktor. »Dann wäre er also beim Start gesund?« sagte Lovell.
»Ja.« »Und gesund, wenn wir zum Mond kommen?« »Ja.« »Und woran hapert’s dann?« sagte Lovell. »Wenn er Fieber bekommt, während Fred und ich unten auf dem Mond sind, hat er genug Zeit zum Auskurieren. Und wenn es ihm bis dahin nicht besser geht, kann er’s auf dem Rückflug ausschwitzen. Wenn man die Röteln hat, gibt’s doch gar nichts besseres als ein gemütliches Raumschiff.« Der Mannschaftsarzt starrte Lovell ungläubig an, wartete, bis er ausgeredet hatte, und strich dann Mattingly aus der Besatzungsliste. Obwohl Lovell sich energisch für seinen Kapselpiloten einsetzte, war auch sein neues Besatzungsmitglied nicht zu verachten. Der achtunddreißigjährige Jack Swigert war bislang vor allem deswegen bekannt, weil er der einzige nicht verheiratete Astronaut bei der NASA war. Anfang der sechziger Jahre – als es vor allem auf den äußeren Anschein und erst danach auf die Fähigkeiten ankam – wäre so etwas undenkbar gewesen. Aber Ende der sechziger Jahre war diese Einstellung etwas lockerer geworden – auch bei der NASA. Swigert, ein hochaufgeschossener Mann mit Bürstenschnitt, galt als draufgängerischer Junggeselle – was von der NASA mit einem Augenzwinkern toleriert wurde –, der ein überaus geselliges Leben führte. Ob das zutraf, wußte man nicht genau, aber Swigert tat sein Bestes, um diesen Ruf aufrechtzuerhalten. Nach Mattinglys Ausfall mußten die Astronauten ein paar Tage lang mühsam im Simulator üben, bevor sie und die NASA überzeugt waren, daß die Zusammenarbeit der neuen Crew genausogut funktionierte wie die der alten. Erst achtundvierzig Stunden vor dem Start wurde Swigert für flugtauglich befunden. Jetzt standen die Flugplaner nur noch vor einem Problem: Sie mußten eine neue Erinnerungsplakette
für die Mondfähre anfertigen lassen. Diese Tafel, auf der die Namen der drei Besatzungsmitglieder eingraviert wurden, war bereits an das vordere Landbein genietet. An ihrer Statt sollte nun eine neue, anklemmbare Plakette hergestellt werden, auf der dem Personalwechsel Rechnung getragen wurde. Das dritte Besatzungsmitglied von Apollo 13 war der Pilot der Mondfähre, der einstige Marineflieger Fred Haise. Mit sechsunddreißig Jahren war Haise der Jüngste im Trio, und aufgrund seiner schwarzen Haare und der weichen Züge wirkte er eher noch jünger. Obwohl er verheiratet war und drei Kinder hatte – ein viertes war gerade unterwegs –, nannten ihn seine Freunde immer noch »Pecky«, ein furchtbar kindischer Spitzname, den er sich eingehandelt hatte, als er bei einem Theaterstück in der ersten Klasse den Specht spielte. Im Gegensatz zu Lovell und Swigert, empfand Haise das Fliegen als zweitrangig. Ihm kam es bei der Raumfahrt vor allem auf das Erkunden an, die wissenschaftliche Arbeit, das Forschen. Ein NASA-Wissenschaftler bezeichnete ihn einmal als »Bohrwurm«, und er bezog sich dabei auf die fast schon übernatürliche Freude, die Haise gezeigt hatte, als er die geologische Ausrüstung sah, mit der er und Lovell am Mond Bodenproben entnehmen sollten. Zu tollkühnen MercuryZeiten hätte man einen Mann wie ihn kaum unter den Astronauten erwartet. Aber in einer Crew, die vorne auf ihren Druckanzügen die Aufschrift Ex luna scientia trug, war er genau am richtigen Platz.
Apollo 13 wurde plangemäß am 11. April um 13:13 Uhr Ortszeit Houston gestartet, und drei Stunden später verließ das Raumfahrzeug die Erdumlaufbahn in Richtung Mond. Für Swigert und Haise, die noch nie im Weltraum gewesen waren, waren der Start, die Wartebahn um die Erde und der Einschuß
in Richtung Mond absolut neue Erfahrungen. Für Lovell, der bereits zum vierten Mal mit einer Rakete flog (und zum zweiten Mal mit der gigantischen Saturn 5), war es kaum mehr als eine Rückkehr zum Gewohnten. Am ersten vollen Tag des Fluges funkte der Mondveteran die Erde an, um ein bißchen zu flachsen. Er, Borman und Anders hatten diese Plänkeleien während ihres einwöchigen Fluges im Jahr 1968 schätzen gelernt. »Hallo da unten, Houston, hier 13«, sagte Lovell. »13, hier Houston, schießt los«, antwortete der CAPCOM. Wie bei allen Flügen waren die für den Sprechfunk eingeteilten CAPCOMs ebenfalls Astronauten, weil man davon ausging, daß drei Männer, die in einer Blechbüchse mit 40000 Kilometern pro Stunde dahinrasten, lieber mit einem Pilotenkollegen reden wollten als mit irgendeinem Techniker, der seine ganze Flugerfahrung auf dem Passagiersitz einer Linienmaschine gesammelt hatte. An diesem Tag war Joe Kerwin, ein relativ unerfahrener Neuling bei der NASA, der CAPCOM. Kerwin war noch nie im Weltall gewesen, aber in sämtlichen Flugmanifesten stand, daß er eines Tages fliegen würde, und so etwas zählte. »Wir hätten fast etwas vergessen«, sagte Lovell zu Kerwin. »Wir würden gerne wissen, was es in den Nachrichten gab.« »O.K. viel Neues gibt’s nicht«, erwiderte Kerwin. »Die Astros hatten mit 8 zu 7 die Nase vorn. Die Braves holten im neunten Inning fünf Läufe, haben es aber gerade so geschafft. In Manila und anderen Gegenden der Insel Luzon gab es Erdbeben. Der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt, der sich gestern euren Start am Cape angesehen hat, und Präsident Nixon werden heute ihre Gesprächsrunde beenden. Die Fluglotsen streiken immer noch, aber zu eurer Beruhigung kann ich euch mitteilen, daß die Lotsen bei der Mission Control nach wie vor ihren Dienst tun.«
»Gott sei Dank«, sagte Lovell lachend. »Außerdem«, fuhr Kerwin fort, »werden im Mittelwesten ein paar Transportunternehmen bestreikt. In Minneapolis haben einige Schullehrer die Arbeit niedergelegt. Und die heutige Lieblingsbeschäftigung im ganzen Land…« Kerwin legte eine Kunstpause ein. »Äh, habt ihr übrigens eure Einkommenssteuererklärungen fertig gemacht?« Swigert, der auf der mittleren Couch saß, schaltete sich ins Gespräch ein. »Wie beantragt man eine Fristverlängerung?« fragte er sachlich und ernsthaft. Kerwin lachte. »Joe, das ist nicht besonders komisch«, protestierte Swigert. »Da unten ist alles ein bißchen schnell gegangen, und ich brauche eine Fristverlängerung.« Jetzt konnte man über Funk auch ein paar andere Controller lachen hören. »Ich meine es wirklich ernst«, sagte Swigert. »Ich habe meine noch nicht eingereicht.« »Du bringst hier die ganze Bude durcheinander«, sagte Kerwin. »Na ja«, grummelte Swigert. »Kann sein, daß ich noch was anderes als die vorgesehene medizinische Quarantäne abreißen muß, wenn wir zurückkommen.« »Wir sehen zu, was wir tun können, Jack«, sagte Kerwin. »Übrigens, eure Uniform des Tages besteht heute aus einer Fliegerkombination mit Schwertern und Orden, und heute abend gibt’s in der unteren Ausrüstungs-Bucht den Film ›Der Flug von Apollo 13‹ mit John Wayne, Lou Costello und Shirley Temple. Over.« Lovell wunderte sich ab und zu, daß Astronauten und Bodenkontrolle soviel Zeit mit Wortgeplänkel zubringen konnten. Natürlich gab es während des Fluges keinen Film, und es gab weder Schwerter noch Orden oder gar eine Uniform des Tages. Aber ein Mann, der einst die Marineakademie in Annapolis besucht hatte, hatte immer etwas für Anspielungen
auf das betuliche Leben an Bord eines geräumigen NavySchiffes übrig. Früher, zu Zeiten des Mercury-Programms, hatte es scherzhaft geheißen, die Astronauten stiegen nicht in die Kapseln, sondern sie zögen sie an. Die Raumfahrzeuge waren ungemein klein gewesen, und die Flüge hatten im Durchschnitt allenfalls achteinhalb Stunden gedauert. Der Innenraum der Gemini-Kapseln, in denen Lovell seine ersten Erfahrungen in der Erdumlaufbahn gesammelt hatte, war etwa doppelt so groß gewesen, aber dafür war auch die Anzahl der Insassen doppelt so groß. Bereits bei Apollo 8 hatte Lovell festgestellt – und Haise und Swigert machten diese Erfahrung jetzt –, daß die Mondfahrzeuge der NASA ein völlig anderes Konstruktionsprinzip repräsentierten. Die ApolloKommandokapsel war ein dreieinhalb Meter hoher Kegel mit einer fast vier Meter breiten Basis. Die Wände der Astronautenkabine bestanden aus dünnen Aluminiumschichten in Sandwichbauweise mit isolierendem Füllmaterial in Wabenform. Außen herum befanden sich eine Hülle aus Stahl, weitere Waben und noch eine Schicht Stahl. Lediglich diese nur ein paar Zentimeter starke Außenwand trennte die Astronauten im Cockpit vom Vakuum des Weltalls, wo die Temperatur im Sonnenlicht auf bis zu 140 Grad Celsius steigen und im Schatten auf bis zu minus 140 Grad fallen konnte. Im Kapselinneren herrschten angenehme 22 Grad Celsius. Die Astronautencouchs lagen nebeneinander, aber eigentlich waren es gar keine richtigen Couchs. Da die Besatzung nahezu den ganzen Flug über schwerelos war, brauchten sie zu ihrer Bequemlichkeit keinerlei Polsterung; die sogenannte Couch bestand daher lediglich aus einem Metallrahmen mit einem Stoffbezug – einfach zu bauen und, was noch wichtiger war, leicht. Jede Couch stand auf zusammenklappbaren
Aluminiumstreben, die so konstruiert waren, daß sie den Aufprall absorbierten, wenn die an Fallschirmen hängende Kapsel zu hart im Wasser landete oder gar an Land, falls ein Fehler bei der Zielortberechnung unterlaufen sollte. Zu Füßen der drei Pritschen befand sich ein Stauraum, der als Ausweichraum (unerhört und bei den Mercury- und GeminiKapseln unvorstellbar!) diente und als untere AusrüstungsBucht bezeichnet wurde. Hier waren die Vorräte und die Ausrüstung verstaut, und hier befand sich auch die Navigationsstation. Unmittelbar vor den Astronauten war ein breites, stahlgraues Armaturenbrett. Die etwa fünfhundert Bedienungsknöpfe – hauptsächlich Kippschalter, Druckknöpfe und einrastende Drehknöpfe – waren so konstruiert, daß man sie auch mit den ungelenken Handschuhen des Raumanzugs bedienen konnte. Wichtige Schalter, zum Beispiel zum Zünden der Motoren oder zum Absprengen von Schiffsteilen, waren durch Schlösser oder Arretierungen gesichert, so daß man sie nicht versehentlich mit dem Knie oder dem Ellbogen betätigen konnte. Im Rücken der Astronauten – hinter dem Hitzeschild, der den Boden der konischen Kommandokapsel beim Eintritt in die Erdatmosphäre schützte – befand sich der rund acht Meter lange zylindrische Versorgungsteil. Aus dem Heck des Versorgungsteils ragte die glockenförmige Düse des Haupttriebwerks. Die Astronauten hatten keinen Zugang zum Versorgungsteil, und da die Fenster der Kommandokapsel nach vorne gerichtet waren, konnten sie ihn auch nicht sehen. Der Innenraum des Versorgungsteils war in sechs voneinander getrennte Bereiche unterteilt, die die Eingeweide des Schiffes enthielten – Helium als Preßgas für die Treibstoffe, Brennstoffzellen zur Strom- und Wassererzeugung, Wasserstoff tank, Lebenserhaltungssystem, Kraftstofftank und
Haupttriebwerk. In Bucht Nummer vier befanden sich außerdem zwei nebeneinander liegende Sauerstofftanks. Am anderen Ende von Versorgungs- und Kommandoteil war das mit der Kapsel durch einen luftdichten Tunnel verbundene LEM. Das vierbeinige, sieben Meter hohe Fluggerät hatte eine eigenartige Form, durch die es aussah wie eine riesige Spinne, und bei seinem Jungfernflug mit Apollo 9 bekam es auch den Spitznamen »Spider« verpaßt. Die Kommandokapsel nannte man ebenso bezeichnend »Gumdrop«, weil sie an die Form von Gummidrops erinnerte. Für Apollo 13 hatte Lovell sich etwas würdigere Namen ausbedungen und die Kommandokapsel schließlich »Odyssey« und die Mondfähre »Aquarius« getauft. (In der Presse wurde irrtümlicherweise berichtet, die Bezeichnung »Aquarius« sei eine Reverenz an Hair – ein Musical, das Lovell weder gesehen hatte noch sehen wollte. In Wirklichkeit hatte er den Namen aus der ägyptischen Mythologie entlehnt, wo der Wassermann als Inbegriff für Fruchtbarkeit und Wissen galt. Für »Odyssey« hatte er sich einfach wegen des Klanges entschieden, und weil der Begriff laut Wörterbuch für »eine lange Reise mit wechselndem Verlauf« stand – auch wenn er auf den letzten Teil hätte verzichten können.) Während die Kabine der »Odyssey« relativ geräumig war, ging es im Cockpit der Mondfähre, einem knapp zwei Meter dreißig großen, querliegenden Zylinder, der nur über zwei Dreiecksfenster und zwei winzige Instrumentenbretter verfügte, bedrückend eng zu. Mit dem LEM konnten gerade mal zwei Männer bis zu zwei Tage fliegen. Aber keinen Tag länger. Die NASA war äußerst stolz auf diese aneinandergekoppelten Raumfahrzeuge und zeigte sie nur zu gerne her. Seit dem triumphalen Erfolg der weihnachtlichen Fernsehübertragung aus Apollo 8 vor zwei Jahren hatten auch die folgenden Besatzungen Fernsehkameras für die laut Flugplan
vorgesehenen Live-Sendungen in der Ausrüstungs-Bucht mitgenommen. Während der Mondlandung von Apollo 11 im Sommer 1969 erreichte diese Praxis ihren Höhepunkt, als Fernsehstationen auf der ganzen Welt Neil Armstrongs und Buzz Aldrins erste zaghafte Schritte auf dem Mond übertrugen. Als Apollo 13 an die Reihe kam, hatten die Fernsehsender und die Öffentlichkeit hingegen ihr Interesse verloren. Kurz nach Vollendung des zweiten Flugtages war der erste Fernsehbericht der Besatzung vorgesehen, doch kein Sender gedachte, ihn zu übertragen. Die Ausstrahlung sollte am Montag, dem 13. April, um 20:24 Uhr beginnen, wenn auf NBC Rowan & Martinas Laugh-In und bei CBS Here’s Lucy lief. Bei ABC gab es den aus dem Jahr 1966 stammenden Film Where Bullets Fly. Die Zuschauer im ganzen Land hatten nur wenig Interesse an einer Programmänderung zugunsten der Sendung aus dem Weltall gezeigt, und selbst die NASA-Techniker in der Mission Control waren nur mäßig interessiert. Die Ausstrahlung sollte anderthalb Stunden vor Ende der Nachmittagsschicht beginnen, und die Mehrzahl der Männer an den Kontrollkonsolen freute sich bereits auf den Feierabend und einen kurzen Abstecher ins »Singin’ Wheel«, eine Kneipe gleich neben dem Gelände des Space Center. Die NASA und auch die Apollo-Besatzung entschieden sich, die Sendung trotzdem durchzuführen und sie sämtlichen Sendern anzubieten, damit sie dort aufgezeichnet und zumindest in Ausschnitten während der Nachrichten um 23 Uhr ausgestrahlt werden könnte. Ein kurzer Bericht, so dachte man sich, wäre allemal besser als gar kein Bericht. Außerdem freuten sich die Frauen der Astronauten auf diese unregelmäßigen Fernsehsendungen, und die NASA wollte ihnen nicht mitteilen müssen, daß der Brauch nicht fortgesetzt werden würde. An diesem Abend, so stellten die Controller in
Houston fest, hatte Marilyn Lovell mit zweien ihrer vier Kinder, der sechzehnjährigen Barbara und der elfjährigen Susan, bereits auf den Polstersesseln in der verglasten VIPGalerie am hinteren Ende der Mission Control Platz genommen. Bei ihnen befand sich Mary Haise, die Frau des Astronauten, der zum erstenmal im All flog, und bereitete sich ebenfalls darauf vor, ihren Mann auf dem Bildschirm zu sehen. Die Sendung, die außer Marilyn, Barbara, Susan, Mary und den Controllern niemand sah, begann mit einem flackernden, verschwommenen Bild von Fred Haise, der gerade auf den Tunnel zwischen Kommandokapsel und Mondfähre zuschwebte. Lovell und Swigert hatten die Plätze getauscht, damit Lovell von der mittleren Couch aus die Kamera bedienen konnte. »Wir wollen heute im Raumschiff Odyssey anfangen«, sagte Lovell, »und Sie dann durch den Tunnel zur Aquarius geleiten. Unser Kameramann ruht jetzt auf der mittleren Couch und blickt zu Fred, und Fred wird jetzt in den Tunnel steigen, so daß wir Ihnen danach ein bißchen was von der Mondfähre zeigen können.« Haise kam auf die Kamera zu, trieb dann durch die konische Kommandokapsel und stieg mit dem Kopf voran in den Tunnel zum LEM. Lovell schwebte langsam hinter ihm her. »Eins ist mir aufgefallen, Jack«, wandte sich der auf dem Kopf stehende Haise an seinen CAPCOM. »Wenn man in der Kommandokapsel in aufrechter Position ist und dann nach unten in die Aquarius umsteigen will, muß man sich völlig neu orientieren. Obwohl ich das im Wassertank geübt habe, kommt es mir immer noch ziemlich unnatürlich vor. Wenn ich runter ins LEM komme, stehe ich plötzlich mit den Füßen an der Decke.«
»Das ist ein tolles Bild, Jim«, wandte sich Jack Lousma, der CAPCOM, ermunternd an den Kommandanten. »Und das Licht ist genau richtig.« Lovell stieg ins LEM, drehte sich um und schwebte mit den Füßen voran auf eine große Ausbuchtung am Boden der Mondfähre zu. »Damit die Leute daheim Bescheid wissen«, sagte Haise. »In dieser Blechbüchse unter Jims Füßen befindet sich der Aufstiegsantrieb des LEM, mit dem wir wieder vom Mond wegkommen. Im Augenblick habe ich meine Hand auf einem weißen Kasten neben der Antriebsabdeckung. Das ist Jims Rucksack, der ihn während des Aufenthalts auf dem Mond mit Sauerstoff und Kühlwasser versorgt.« »Roger, Fred, wir sehen es«, sagte Lousma. »Die Bilder, die rüberkommen, sind sehr gut, und deine Beschreibung ist gut. Wir sehen, daß Jim die Kamera genau dahin hält, wo wir hingucken möchten, also rede weiter.« Während die Sendung auf die gleiche unbekümmerte Art weiterlief, war ein Großteil der Männer in der Mission Control mit anderen Dingen beschäftigt. Über den geschlossenen Funkverkehr, der nur für die Leute an den Konsolen gedacht war, planten die Controller weitere Manöver, die die Besatzung durchführen sollte, sobald die Sendung zu Ende war. Kranz, der Flugdirektor, leitete die Gespräche, ging auf Fragen ein, setzte Prioritäten und entschied, welche Übungen wichtig waren und welche warten könnten. Bei den Manövern, die Houston plante, handelte es sich vorwiegend um Routinevorgänge, kleinere Kurswechsel, die Ausrichtung der Hauptantenne des Versorgungsteils. Reine Routine war auch das geplante, sogenannte »Cryostir«. Der Versorgungsteil war nicht nur mit zwei Sauerstoff –, sondern auch mit zwei Wasserstofftanks bestückt, deren Gase sich in einem superkalten oder kryogenischen Zustand befanden. Im Sauerstofftank zum Beispiel konnte die
Temperatur bis auf minus 206 Grad Celsius sinken, wodurch das Gas in einer sogenannten superkritischen Dichte blieb – eine Art instabiler Aggregatzustand, in dem der betreffende Stoff weder eindeutig fest noch eindeutig flüssig oder eindeutig gasförmig ist. Diese Tanks waren so gut isoliert, daß es, wenn man sie mit gewöhnlichem Eis füllen und in einen 21 Grad warmen Raum stellen würde, achteinhalb Jahre dauern würde, bis das Eis schmolz, und weitere vier Jahre, bis das Wasser auf Zimmertemperatur erwärmt wäre. Dies jedenfalls behaupteten die Konstrukteure, und da niemand die Probe aufs Exempel machen wollte, glaubte ihnen die NASA einfach aufs Wort. Das eigentliche technische Wunderwerk jedoch kam erst zum Tragen, wenn Sauerstoff und Wasserstoff aus den superkalten Tanks ausströmten. Die Tanks nämlich waren mit drei Brennstoffzellen verbunden, die wiederum mit drei als Katalysatoren wirkenden Platin-Elektroden versehen waren. Sobald die Gase in die Zellen strömten, kam es durch die Katalysatoren zu einer chemischen Reaktion, bei der dreierlei Abfallprodukte entstanden: Strom, Wasser und Wärme. Aus nur zwei Gasen also erzeugten diese Zellen die drei lebenswichtigen Produkte, ohne die ein bemanntes Raumfahrzeug nicht auskommen konnte. Obwohl Sauerstoffund Wasserstofftanks gleichermaßen wichtig für das Überleben der Besatzung waren, kam es doch vor allem auf die Sauerstofftanks an, denn die enthielten überdies den ganzen Vorrat an Atemluft für die Besatzung. Jeder der beiden runden, Sechsundsechzig Zentimeter durchmessenden Tanks enthielt 320 Pfund Sauerstoff bei einem Innendruck von 935 Pfund pro Quadratzoll (psi). In diesen Tanks befanden sich zwei ElektroSonden, die wie zwei Finger wirkten, mit denen man die Wassertemperatur in der Badewanne ausprobiert. Die eine, die von oben nach unten durch den ganzen Tank verlief, war eine
Kombination aus Tankuhr und Thermostat; die andere, die unmittelbar daneben lag, war eine Kombination aus Heizelement und Ventilator. Das Heizelement brauchte man, um den Sauerstoff zu erwärmen, damit er sich ausdehnte, falls der Innendruck im Tank zu tief absank. Die Ventilatoren brauchte man zum Umrühren (auf englisch stir) des Tankinhalts – ein Vorgang, den der EECOM mindestens einmal pro Tag verlangte, da superkritische Gase zur Schichtbildung neigen, was wiederum die Messung des genauen Tankinhalts beeinträchtigt. Während Liebergot auf dieses Umrühren wartete und andere Controller weitere Verfahren vorbereiteten, setzte die Besatzung von Apollo 13 ihre Fernsehsendung fort. Auf einem großen Monitor in der Mission Control tauchte das milchige Bild des Mondes auf und weckte Erinnerungen an die Übertragung aus Apollo 8, als noch die ganze Welt zugesehen hatte. »Vor unserem rechten Fenster«, sagte Lovell, der Sprecher, »können Sie jetzt das Ziel erkennen. Ich will mal sehen, ob ich es per Zoom besser ins Bild bringen kann.« »Er kommt uns schon größer vor«, sagte Haise. »Ich kann mit bloßem Auge deutlich ein paar Strukturen erkennen. Bislang aber sieht er vor allem grau aus, mit einigen weißen Flecken.« Danach richtete Lovell die Kamera wieder in den Innenraum des LEM. Auf dem Bildschirm war Haise zu sehen, der mit irgend etwas beschäftigt war, das wie eine große Stoffbahn wirkte. »Jetzt sieht man Fred bei seinem Lieblingszeitvertreib«, erklärte Lovell. »Er steckt doch gar nicht in der Vorratskammer, oder?« fragte Lousma.
»Das ist sein zweitliebster Zeitvertreib«, sagte Lovell. »Im Augenblick spannt er seine Hängematte auf, damit er später am Mond drin schlafen kann.« »Roger. Schlafen und danach essen.« Lovell wandte sich von Haise ab und trieb wieder auf den Tunnel zu. »O.K. Houston«, sagte er. »Wir haben die Inspektion von Aquarius beendet, die wir extra für die Fernsehzuschauer durchgeführt haben, und begeben uns jetzt zurück in die Odyssey.« »O.K. Jim. Wir meinen, ihr solltet jetzt Schluß machen, aber was meint ihr?« »Wir sind bereit, wann immer ihr abbrechen wollt«, stimmte Lovell zu. In seinem Tonfall schwang Erleichterung mit. »Wir müssen nur das Rückhalteventil für den Kabinendruck stellen.« »Roger«, sagte Lousma. Dieses Rückhalteventil in der Mondfähre sorgte dafür, daß in den beiden Raumfahrzeugen stets die gleichen Druckverhältnisse herrschten. Haise, der das Gespräch mitgehört hatte und ihm helfen wollte, drehte am Ventil, worauf ein plötzliches Zischen ertönte und ein Ruck durch beide Raumfahrzeuge ging. Lovell, der die Kamera hielt, zuckte sichtlich zusammen. Schon zu einem früheren Zeitpunkt des Fluges hatte der Kommandant seinen übereifrigen Kollegen im Verdacht gehabt, daß er das Rückhalteventil manchmal über das unbedingt erforderliche Maß hinaus betätigte, um sich dann schelmisch darüber zu freuen, wenn seine zwei Mitinsassen sich erschreckten. Heute, am dritten vollen Flugtag, nervte der Scherz ein bißchen. »Jedesmal wenn er das macht«, sagte Lovell in aller Offenheit, »schlägt uns das Herz bis zum Hals. Jack, wir sind bereit, wann immer ihr abbrechen wollt.«
»O.K. Jim«, schloß Lousma. »Es war eine großartige Sendung.« »Roger«, antwortete Lovell. »Klingt gut. Wir, die Crew von Apollo 13, wünschen euch allen da unten einen schönen Abend. Wir machen jetzt die Aquarius wieder dicht, kehren zurück zur Odyssey und verbringen einen angenehmen Abend. Gute Nacht.« Und damit wurde der Bildschirm dunkel. Marilyn Lovell, die in Houston saß, lächelte. Ihr Ehemann sah gut aus, wenn auch ein bißchen verwegen mit seinem Dreitagebart, und seine Stimme klang ruhig und gelassen. Zwar hätte er sich während der Fernsehsendung mit Sicherheit nichts anmerken lassen, falls er sich wegen irgend etwas Sorgen machte, aber aus seinem Tonfall hätte man es trotzdem heraushören können. Doch Marilyn hatte heute abend nichts herausgehört. Bislang war ihr Mann offenbar mit dem Flug rundum zufrieden, und sie vermutete, daß er sich auf den Höhepunkt freute: die Mondlandung. Sie war ihrerseits froh, daß er fast die Hälfte hinter sich hatte, und freute sich auf die Landung im Pazifik. Marilyn schaute auf ihre Uhr, verabschiedete sich vom NASA-Betreuer, der mit ihr ferngesehen hatte, und begab sich gemeinsam mit Mary Haise nach Hause, um dafür zu sorgen, daß die Kinder rechtzeitig zu Bett kamen. In der Mission Control sah Lousma derweil die Liste mit den Manövern durch, die die Besatzung noch ausführen mußte, bevor auch sie sich zur Nachtruhe begeben konnte. Als CAPCOM hatte er zumindest etwas Einfluß darauf, wann die Astronauten ihre Aufgaben ausführen mußten, und er wollte ihnen erst ein paar Minuten Zeit lassen, damit sie die Kamera verstauen und zu ihren Couchs zurückkehren konnten, bevor er die Anweisungen zum Aktivieren der Ventilatoren und
Heizelemente in den kryogenischen Tanks, zum Zünden der Steuerraketen und zum Einstellen der Antennen durchfunkte. Noch bevor Lovell den Tunnel und Haise das LEM verlassen hatte, mußten sich Crew und Controller augenblicklich ihren Aufgaben zuwenden. Am Armaturenbrett in der Kommandokapsel blinkte eine gelbe Warnleuchte, die anzeigte, daß möglicherweise – möglicherweise – mit dem Druck in den superkalten Tanks etwas nicht stimmte. Zur gleichen Zeit blinkte auch auf Liebergots Konsole ein entsprechendes Lämpchen auf. Liebergot, der die Angaben auf seinem Bildschirm überflog, stellte fest, daß ein System zu niedrigen Druck in einem der Wasserstofftanks meldete – einem Tank, der in den vergangenen zwei Tagen schon wiederholt Schwierigkeiten gemacht hatte. Wenn die KryoTanks oder ihre Meßgeräte Sperenzchen machten, dann war das ein Hinweis darauf, daß alle vier ordentlich durchgerührt werden mußten. Während Lovell zurück zu seiner Couch auf der linken Seite schwebte und Swigert sich zu seinem Platz in der Mitte hangelte, funkte Houston seine Anweisungen durch. »Wir möchten, daß ihr auf 060 nach rechts rollt und mit den Werten auf Null geht.« »O.K. wird gemacht«, antwortete Lovell. »Und wir möchten, daß ihr eure C4-Düsen checkt.« »O.K. Jack.« »Und wir haben noch etwas für euch, wenn ihr soweit seid. Wir möchten, daß ihr eure Kryo-Tanks umrührt.« »O.K.«, sagte Lovell. »Wartet einen Moment.« Während Lovell die Einstellung der Düsen vorbereitete und Haise den Zugang zum LEM verschloß und durch den Tunnel zurück zur »Odyssey« trieb, betätigte Swigert den Schalter zum Umrühren aller vier kryogenischen Tanks. Liebergot und die Männer im Nebenkontrollraum überwachten ihre
Bildschirme und warteten darauf, daß sich nach dem Umrühren der Druck im Wasserstofftank stabilisierte. Bei der Planung einer Mondmission werden von Astronauten und Controllern alle möglichen Unglücksfälle in Betracht gezogen, aber kaum etwas gilt als schrecklicher, unberechenbarer und verhängnisvoller als ein plötzlicher Treffer durch einen verirrten Meteoriten. Bei Geschwindigkeiten, wie sie in der Erdumlaufbahn erreicht werden, würde ein nur wenige Millimeter großes kosmisches Sandkorn beim Aufprall auf ein Raumfahrzeug die gleiche Energie freisetzen wie eine rund 100 Kilometer pro Stunde schnelle Bowlingkugel. Das Hindernis wäre unsichtbar, aber es könnte das Schiff aus der Bahn werfen, ins Kreiseln bringen und möglicherweise ein Loch in die Außenwand reißen, durch das schlagartig die Atemluft entwiche. Außerhalb der Erdumlaufbahn, wo noch höhere Geschwindigkeiten erreicht wurden, war die Gefahr eher noch größer. Als die ApolloAstronauten die ersten Mondflüge unternahmen, verloren sie zwar nicht viele Worte darüber, aber nichts fürchteten sie so sehr wie den abrupten Schlag, die jähe Erschütterung und das plötzliche Aufklaffen der Außenwand, alles Hinweise darauf, daß ihr hochmodernes High-Tech-Gerät durch einen absurden und statistisch kaum berechenbaren Zufall mit einem frei durchs All schweifenden Gegenstand zusammengestoßen war. Seit dem Umrühren der Tanks waren sechzehn Sekunden vergangen, und die Astronauten von Apollo 13 führten ihre Manöver aus und warteten auf weitere Befehle, als das Raumfahrzeug urplötzlich von einem heftigen Schlag erschüttert wurde. Swigert, der an seiner Couch festgeschnallt war, spürte, wie das Schiff unter seinen Füßen erbebte. Lovell, der in der Kommandokapsel umherschwebte, hatte das Gefühl, ein Donnerschlag träfe ihn. Haise, der sich noch immer im Tunnel befand, sah, wie sich die Wände um ihn verzogen.
Lovell reagierte zunächst wütend. Haise! Es mußte an Haise und diesem verdammten Rückhalteventil liegen! Einmal mochte so ein Scherz durchaus komisch sein. Aber zweimal? Dreimal? Selbst wenn es auf den Übermut eines Grünschnabels zurückzuführen war, aber das ging zu weit. Der Kommandant wandte sich dem Tunnel zu und wollte seinem Kollegen einen wütenden Blick zuwerfen. Doch als die beiden Männer sich ansahen, erstarrte Lovell. Haise hatte die Augen weit aufgerissen und wirkte überhaupt nicht fröhlich. So sah man nicht aus, wenn man sich gerade einen Jux auf Kosten seines Chefs erlaubt hatte und allenfalls eine leichte Zurechtweisung erwartete. Diese Augen verrieten, daß Haise erschrocken war – wahrhaftig und zutiefst erschrocken. »Ich war’s nicht«, stieß Haise krächzend hervor, bevor der Kommandant seine Frage herausbrachte. Lovell wandte sich nach links, zu Swigert, aber auch von dem erfuhr er nichts. Er sah dieselbe Verwirrung, dieselbe Reaktion, denselben Blick. Über Swigerts Kopf, mitten auf der Instrumentenkonsole der Kommandokapsel, blinkte eine gelbe Warnleuchte auf. Gleichzeitig gellte ein Alarmton in Haises Kopfhörer, und auf der rechten Seite des Armaturenbretts, wo sich die Anzeigen für die elektrischen Systeme befanden, leuchtete ebenfalls ein Lämpchen auf. Swigert kontrollierte die Instrumente und stellte fest, daß sie offenbar einen jähen und unerklärlichen Energieverlust in einem von Controllern und Astronauten so genannten »main B bus« hatten – einer von zwei Stromsammelschienen, die die Energie für die Kommandokapsel lieferten. Bei einem Energieverlust in einem solchen »Bus« konnten 50 Prozent aller Systeme im Raumschiff ausfallen. »He«, wandte sich Swigert per Funk an Houston, »wir haben hier ein Problem.« »Hier Houston, sag das noch mal«, meldete sich Lousma.
»Houston, wir haben ein Problem«, wiederholte Lovell. »Wir hatten ein main B bus undervolt.« »Roger, main B undervolt. O.K. bitte warten, 13, wir kümmern uns darum.« Sy Liebergot, der wie alle anderen Controller das Gespräch mitgehört hatte, wollte sofort einen prüfenden Blick auf seine Konsole werfen. Doch bevor er dazu kam, hörte er über Kopfhörer eine schreiende Stimme. »Was ist mit den Daten los, EECOM?« Es war Larry Sheaks, einer der drei Männer im Nebenkontrollraum, die die Angaben der lebenserhaltenden Systeme überwachten und Liebergot bei eventuellen Störungen beistanden. Nach Sheaks meldete sich George Bliss, ein weiterer EECOM-Ingenieur: »Wir haben mehr als ein Problem.« Liebergot blickte auf seinen Monitor und hielt die Luft an. Allem Anschein nach spielten sämtliche Datenaufzeichnungen verrückt. Das sind nicht die „Zahlen, die man bei einem normalen Flug bekommt, dachte er. Das sind unsinnige und falsche Angaben, die dir irgendein neunmalkluger Simsup bei einem Test vorgibt, wenn er sehen will, ob du aufgepaßt hast. Aber das hier war kein Test. Die erste und schlimmste Angabe, die Liebergot auffiel, stand gleich neben den Zahlen für den Wasserstoffvorrat, die er einen Augenblick zuvor noch so gespannt beobachtet hatte, und betraf die beiden Sauerstofftanks des Raumfahrzeugs. Seinen Daten zufolge war Tank Nummer zwei, der immerhin die Hälfte des Sauerstoffvorrates für das ganze Schiff enthielt, plötzlich nicht mehr vorhanden. Die Daten waren einfach auf Null gefallen, verschwunden, oder, wie die Controller es ausdrückten, in den Keller gerutscht. »Wir haben Druckverlust auf O2-Tank zwo«, bestätigte Bliss.
Liebergot betrachtete seinen Bildschirm und entdeckte weitere schlechte Nachrichten. »O.K. wir haben Druckverlust auf Brennstoffzellen eins und zwo.« Einen Augenblick lang hatte Liebergot das Gefühl, ihm werde übel. Anhand dessen, was er über seinen Kopfhörer mitbekam und am Bildschirm sah, waren der Großteil des Energie- und Atemluftsystems der »Odyssey« ausgefallen. Diese Feststellung war furchtbar, aber sie war völlig unlogisch. Es konnte durchaus sein, daß mit den Bauteilen alles in Ordnung war und nur die Sensoren kaputtgegangen waren. So etwas passierte von Zeit zu Zeit, und ein guter EECOM zog erst die weniger schlimmen Möglichkeiten in Betracht, bevor er übereilte Rückschlüsse zog. »Wir könnten ein Problem mit den Instrumenten haben, Flight«, wandte sich Liebergot an Flugdirektor Kranz. »Lassen Sie mich das abklären.« »Roger«, sagte Kranz. Lovell, Swigert und Haise, die in der noch immer bebenden und schaukelnden »Odyssey« saßen, konnten dieses Gespräch nicht mithören, aber ihr Armaturenbrett zeigte an, daß Liebergot recht haben könnte. Haise stieß sich aus dem Tunnel, kehrte zu seiner Couch zurück, überprüfte die elektrischen Daten und sah, daß Sammelschiene B offenbar wieder in Ordnung war. Er seufzte. »O.K. Houston«, sagte er. »Im Augenblick sieht die Spannung wieder gut aus.« Dann fügte er leicht nervös hinzu: »Wir hatten einen ziemlich lauten Knall hier zusammen mit dem Spannungsabfall und dem Alarm.« »Roger, Fred«, antwortete Lousma gelassen – so als wäre ein »lauter Knall« etwas ganz Normales bei einem Flug zum Mond. »In der Zwischenzeit«, fügte Lovell hinzu, »nehmen wir uns den Tunnel vor und dichten ihn wieder ab.«
Lovells gelassener Tonfall wurde durch die Dringlichkeit Lügen gestraft, mit der das »Dichtmachen« vor sich ging. Swigert schnallte sich von der Couch los und tauchte durch die untere Ausrüstungs-Bucht in den Tunnel. Alle drei Astronauten dachten das gleiche: Möglicherweise handelte es sich um einen Meteor. Da die Kommandokapsel allem Anschein nach in einigermaßen gutem Zustand war, hatte er wahrscheinlich das LEM getroffen. Falls dem so war, wollte er so rasch wie möglich die Luke zuschlagen und den Tunnel abdichten, damit die Atemluft aus der Kommandokapsel nicht durch die Röhre in die leckgeschlagene Mondfähre und von dort ins Weltall entweichen konnte. Swigert bekam die Luke zu, konnte sie aber nicht verriegeln, so sehr er sich auch bemühte. Lovell schwebte in den Tunnel, schubste Swigert beiseite und probierte es selbst, doch nach einigen Versuchen mußte auch er sich geschlagen geben. Wenn die Außenwand des LEM beschädigt wäre, müßte mittlerweile der Innendruck in beiden Raumfahrzeugen abfallen. Wenn es sich um einen Meteor gehandelt hatte, so hatte er offenbar weder die Mannschaftskabine des LEM noch die Kommandokapsel in Mitleidenschaft gezogen. »Vergiß die Luke«, sagte Lovell zu Swigert. »Wir montieren sie einfach ab und befestigen sie irgendwo, damit sie uns nicht im Weg ist.« Swigert nickte, und Lovell schob sich aus dem Tunnel, durch die Ausrüstungs-Bucht und begab sich wieder zu seiner Couch, um einmal mehr das Armaturenbrett zu überprüfen. Allem Anschein nach hatte er weitere gute Neuigkeiten für die Mission Control. Während die Angaben für Sauerstofftank Nummer zwei in Houston abgefallen waren, waren sie im Raumfahrzeug deutlich gestiegen. Auf Lovells Armaturenbrett ‘stand die Anzeige für den Tankinhalt im obersten Bereich der Skala. Diese Angabe mochte zwar nicht unbedingt
hundertprozentig genau sein, aber sie lag doch weitaus näher an der zu erwartenden Sauerstoffmenge als die Daten am Monitor des EECOM, nach denen der Tank leer war. Lovell gab Lousma die frohe Botschaft durch, und dieser antwortete mit einem unverbindlichen »Roger«. Lousma konnte sich im Augenblick nicht genauer festlegen. Angenommen, es handelte sich um ein »Problem mit den Instrumenten«, wie Liebergot hoffnungsvoll angedeutet hatte, dann ergaben die Vorfälle im Raumschiff keinen Sinn. Theoretisch konnte es gleichzeitig zu Störungen in einem Sauerstofftank, einer Brennstoffzelle und einer Sammelschiene kommen, da der Sauerstoff aus den Tanks in die Brennstoffzellen strömte, die wiederum die Sammelschienen mit Energie versorgten. Die Wahrscheinlichkeit, daß eine dieser Komponenten versagte, war jedoch verschwindend gering. Die Wahrscheinlichkeit aber, daß ein Tank, zwei Brennstoffzellen und eine Sammelschiene gleichzeitig ausfielen, war praktisch gleich Null. Inzwischen wuchs die Aufregung in der Mission Control, als auch die anderen Controller immer neue Unregelmäßigkeiten meldeten. Kurz nach dem Ruck, der die »Odyssey« erschüttert hatte, meldete sich Bill Fenner, der Lenk-Offizier oder GUIDO, einer der für die Berechnung der Flugbahn des Raumfahrzeugs zuständigen Männer, und gab an, er habe an Bord des Schiffes einen »hardware restart« festgestellt. Dieser Begriff bezog sich auf einen Vorgang, bei dem der Bordcomputer im Falle einer Störung alle möglichen Daten sammelt, um eine mögliche Fehlerquelle zu ermitteln. In einem Raumfahrzeug wie der »Odyssey«, in dem es derart viele verwirrende Probleme gab, wäre ein Hardware-restart keine Überraschung. Allerdings schien der Computer davon auszugehen, daß sich die Ursache für den von der Besatzung
gemeldeten Knall innerhalb des Schiffes befand. Damit fiele ein Meteoritentreffer aus. Was aber hatte das Schiff so erschüttert, wenn nicht ein Felsbrocken aus dem All? Sekunden nach dem Knall meldete sich der für Instrumente und Kommunikation zuständige Offizier ebenfalls mit einem Problem. »Flight, INCO«, sagte er. »Los, INCO«, antwortete Kranz. , »Etwa zu dem Zeitpunkt, als wir das Problem hatten, haben wir auf OMNI umgeschaltet.« »O.K. Sie sagen, Sie sind auf OMNI gegangen?« »Ja.« »Sehen Sie zu, ob Sie die Zeiten korrelieren können«, sagte Kranz. Dann wiederholte er zur Sicherheit und der Verständlichkeit wegen: »Stellen Sie fest, zu welchem Zeitpunkt Sie auf OMNI gegangen sind, INCO.« Das Wiederholen war wichtig, denn der INCO hatte gemeldet, daß das Funksystem des Raumfahrzeuges seit dem rätselhaften Ruck, der die »Odyssey« erschüttert hatte, von sich aus nicht mehr über die S-Band-Richtantenne sendete, sondern auf vier kleinere, nach allen Seiten ausgerichtete Antennen am Versorgungsteil umgeschaltet hatte. Das Funkgerät eines Raumschiffes sollte jedoch ebensowenig von sich aus die Antennen wechseln wie ein Fernseher den Kanal. Einige der Controller im Raum reagierten erleichtert auf den Zwischenfall mit der Antenne. Es mußte sich einfach um ein Problem mit den Instrumenten handeln. Daß ein Sauerstofftank, eine Brennstoffzelle und eine Sammelschiene ausfielen, war an sich schon mehr als unwahrscheinlich, aber daß gleichzeitig auf eine andere Antenne umgeschaltet wurde, das war einfach zuviel des Guten. Es wäre genauso, als untersuche ein Automechaniker einen nagelneuen Wagen, um
einem dann zu erklären, daß Batterie, Lichtmaschine und Anlasser hinüber seien, und außerdem sei der Kühler geplatzt, die Reifen hätten keine Luft mehr und die Türen seien abgefallen. In so einem Fall neigt man eher dazu, die Fähigkeiten des Mechanikers in Frage zu stellen als den Zustand des Autos. Vor allem Kranz’ Vermutungen liefen in diese Richtung, und über Funk wollte er Liebergot auf die Probe stellen. »Sy, was wollen Sie unternehmen?« fragte er. »Haben Sie ein Problem mit einem kaputten Sensor oder was?« Lousma fragte sich genau das gleiche. Er unterbrach kurz die Verbindung“ mit der Kapsel und fragte Kranz: »Können wir ihnen irgendeinen Anhaltspunkt geben? Liegt das nur an den Instrumenten, oder haben wir ein echtes Problem?« Auf der Leitung des EECOM wurden ebenfalls Zweifel laut. »Larry, Sie glauben nicht an den Druckverlust im O2-Tank, oder?« fragte Liebergot Sheaks. »Nein, nein«, antwortete Sheaks. »Abgabe ist in Ordnung, Lebenserhaltungskontrollsystem ist in Ordnung.« Die Zweifel der Controller rührten vor allem daher, daß die Angaben in der »Odyssey« nicht mit denen am Boden übereinstimmten. Immerhin hatten Lovell, Swigert und Haise bereits mitgeteilt, daß ihren Daten zufolge der Sauerstofftank und die Sammelschiene wieder in Ordnung waren. Warum aber sollte man bei voneinander abweichenden Werten den schlechten Glauben schenken? Im Raumfahrzeug indessen änderten sich die zunächst vielversprechenden Datenangaben dramatisch. Haise, der die Instrumente seit dem ersten Störfall nicht mehr aus den Augen gelassen hatte, warf einen Blick auf die Sammelschienendaten, und seine Hoffnung sank. Laut den Sensoren der »Odyssey« war Sammelschiene B, die sich anscheinend erholt hatte,
wieder zusammengebrochen. Und was noch schlimmer war: Auch die Werte für Sammelschiene A wurden schlechter. Es schien, als wirke sich die Störung in der kaputten Sammelschiene auch auf die intakte aus. Bei Lovell, der die Angaben für Sauerstofftanks und Brennstoffzellen überwachte, sah es noch schlechter aus: Sauerstofftank zwei, der einen Augenblick vorher noch randvoll gewesen war, war den Instrumenten zufolge jetzt leer. Darüber hinaus waren die Werte für die Brennstoffzellen am Armaturenbrett der »Odyssey« nun ebenso schlecht wie auf Liebergots Bildschirm – demnach gaben zwei der drei Zellen überhaupt keinen Saft mehr her. Auf die letzte Anzeige hätte Lovell verzichten können. Wenn die Daten für die Brennstoffzellen stimmten, dann konnte er seinen Abstecher in die Fra-Mauro-Berge abschreiben. Bei Mondlandungen gab es bei der NASA ein paar unabänderliche Regeln, und eine davon lautete: Wenn nicht alle drei Brennstoffzellen vollkommen in Ordnung sind, wird nirgendwo hingeflogen. Theoretisch reichte eine Brennstoffzelle unter Umständen völlig aus, aber wenn es um etwas so Grundsätzliches wie die Energie an Bord eines Raumfahrzeuges ging, ließ sich die NASA auf keinerlei Risiko ein, und für die Raumfahrtbehörde boten selbst zwei intakte Brennstoffzellen nicht genügend Sicherheit. Lovell wandte sich an Swigert und Haise und deutete auf die Anzeigen für die Brennstoffzellen. »Wenn die stimmen«, sagte Lovell, »ist die Landung gestorben.« Swigert funkte die schlechte Nachricht an die Bodenkontrolle. »Wir haben jetzt auch Spannungsabfall in Sammelschiene A«, teilte er Houston mit. »Er beträgt etwa fünfundzwanzigeinhalb. Sammelschiene B steht im Augenblick bei Null.«
»Roger«, sagte Lousma. »Und noch was, Jack«, fügte Lovell hinzu. »O2-Tank Nummer zwo steht auf Null. Habt ihr das mitbekommen?« »O2-Inhalt ist Null«, wiederholte Lousma. All dies war schlimm genug, aber Lovell mußte sich noch mit einem weiteren Problem herumschlagen. Mehr als zehn Minuten nach dem Knall torkelte und trudelte das Raumfahrzeug immer noch. Jedesmal wenn sich das Schiff bewegte, zündeten automatisch die Steuerdüsen, um es wieder in eine stabile Fluglage zu bringen. Aber kaum war dies geschehen, geriet das Schiff wieder ins Schlingern, und die Düsen zündeten erneut. Lovell griff zu der rechts von seinem Platz am Armaturenbrett angebrachten Handsteuerung. Wenn die Automatik nicht in der Lage war, das Schiff in den Griff zu kriegen, dann schaffte es vielleicht ein Pilot. Lovell wollte die »Odyssey« aus einem wichtigen Grund wieder stabilisieren. Ein Apollo-Raumfahrzeug flog nicht einfach geradeaus zum Mond – die Nase der Kommandokapsel nach vorne ausgerichtet und das LEM davor angedockt wie eine überdimensionale Kühlerfigur. Vielmehr drehte sich das Schiff langsam um die eigene Achse. Dies wurde als Passive Thermal Control (passive Temperaturregelung) oder PTC bezeichnet, und dieses »Drehen am Spieß«, wie es die Astronauten nannten, sollte dafür sorgen, daß es an keiner Stelle zu einer Überhitzung durch die ungefilterte Sonne oder zu einer Unterkühlung auf der Gegenseite kam. Durch das Zünden der Steuerraketen waren diese gleichmäßigen Umdrehungen von Apollo 13 zunichte gemacht worden, und wenn es Lovell nicht gelingen sollte, das Schiff wieder unter Kontrolle zu bringen, bestand die Gefahr, daß die extrem hohen, beziehungsweise extrem niedrigen Temperaturen durch die Außenhaut des Schiffes drangen und empfindliche Geräte beschädigten. Aber
die »Odyssey« wollte sich nicht stabilisieren lassen, so sehr sich Lovell auch mit der Handsteuerung abmühte. Kaum hatte er sie im Griff, wich sie auch schon wieder vom Kurs ab. Irgend etwas – wußte der Teufel, was es war – brachte das Schiff ins Torkeln. Der Kommandant ließ die Handsteuerung los, löste seinen Gurt und schwebte zum Fenster auf der linken Seite, um festzustellen, was da draußen los war. Die Chancen, auf diese Weise einen Grund für das Flugverhalten des Schiffes entdecken zu können, waren gering, aber wie sich herausstellte, lohnte sich der Versuch. Sobald Lovell die Nase ans Glas drückte, erkannte er eine dünne, weiße gasartige Wolke, die das Schiff umgab, im Vakuum des Weltalls kristallisierte und einen schimmernden Hof bildete, der sich nach allen Seiten ausdehnte. Lovell atmete tief durch, als ihm langsam aufging, daß sie womöglich ganz tief in der Bredouille steckten. Denn eines will der Kommandant eines Raumschiffes zuallerletzt sehen, wenn er aus dem Fenster schaut: Stoffe, die aus seinem Schiff entweichen. Raumschiffpiloten fürchten entweichende Stoffe ebenso wie Flugzeugpiloten Rauch aus einer Tragfläche. Wenn etwas entweicht, läßt sich das nicht mehr als Instrumentenfehler abtun oder auf irrige Datenübermittlung schieben. Wenn etwas entweicht, dann bedeutet das, daß das Raumfahrzeug beschädigt ist und langsam, aber sicher ausblutet. Lovell betrachtete die wachsende Gaswolke. Wenn seine Landung auf dem Mond nicht schon durch die ausgefallenen Brennstoffzellen zunichte gemacht worden war, dann mit Sicherheit durch das hier. Er nahm es trotz allem philosophisch – so was ist halt Berufsrisiko, dachte er. Er wußte, daß es für das Gelingen einer Mondlandung keinerlei Garantie gab, bevor die Landebeine des LEM im Mondstaub aufsetzten, und im
Augenblick sah es nicht danach aus, als sollte dies jemals der Fall sein. Irgendwann, dessen war Lovell sich klar, würde er das noch bedauern, aber nicht jetzt. Jetzt mußte er Houston – wo man noch immer die Instrumente überprüfte und die Angaben analysierte – mitteilen, daß der Fehler keineswegs an den Daten lag, sondern daß die »Odyssey« angeschlagen und von einer leuchtenden Gaswolke umgeben war. »Meiner Ansicht nach sieht es so aus«, teilte Lovell der Bodenstation gelassen mit, »als ob wir etwas ausblasen.« Der Deutlichkeit halber – und möglicherweise auch, um sich selbst zu überzeugen – wiederholte er: »Wir blasen irgend etwas ins All hinaus.« »Roger«, antwortete Lousma so sachlich, wie es sich für einen CAPCOM gehörte. »Haben verstanden, ihr blast etwas aus.« »Es ist irgendein Gas«, sagte Lovell. »Könnt ihr uns etwas Genaueres sagen? Wo kommt es her?« »Im Augenblick kommt es aus Fenster eins, Jack«, antwortete Lovell. Genaueres hatte er aufgrund seines begrenzten Blickwinkels nicht zu bieten. Der nüchterne Bericht aus dem Raumfahrzeug schlug im Kontrollzentrum ein wie eine Bombe. »Besatzung glaubt, daß sie etwas ausblasen«, schaltete sich Lousma in das Funknetz ein. »Das habe ich gehört«, sagte Kranz. »Haben Sie das mitbekommen, Flight?« hakte Lousma nach. »Roger«, bestätigte ihm Kranz. »O.K. und jetzt soll jeder mal nachdenken, was wir ausblasen könnten. GNC, haben Sie auf Ihrem System irgend etwas, das abnormal aussieht?« »Negativ, Flight.« »Wie ist es mit Ihnen, EECOM? Können Sie anhand der Instrumentenangaben irgend etwas erkennen, das aus dem Schiff entweichen könnte?«
»Wird bestätigt, Flight«, sagte Liebergot, der natürlich an Sauerstofftank Nummer zwei dachte. Wenn eine Tankanzeige plötzlich auf Null steht und das Raumfahrzeug von einer Gaswolke umgeben ist, dann kann man davon ausgehen, daß es da einen Zusammenhang gibt, zumal das Schiff vorher von einem verdächtigen Knall erschüttert worden war. »Ich werde mir die Systeme vornehmen und sehen, was da entweichen könnte«, sagte Liebergot zum Flugdirektor. »O.K. fangen wir mit der Überprüfung an«, stimmte Kranz zu. »Ich nehme an, EECOM, Sie haben Ihr Unterstützungsteam hinzugezogen, damit wir uns der Sache mit vereinten Kräften annehmen können.« »Ist bereits geschehen.« »Roger.« Die Veränderung im Kontrollraum war geradezu greifbar. Niemand sprach es laut aus, niemand verkündete es offiziell, aber den Controllern wurde allmählich klar, daß es bei Apollo 13, die erst vor wenig mehr als zwei Tagen zu ihrem triumphalen Forschungsflug gestartet war, inzwischen ums schlichte Überleben ging. Als sich diese Erkenntnis breitmachte, meldete sich Kranz über das Kommunikationsnetz. »O. K.«, begann er. »Jedermann sollte die Ruhe bewahren. Wir sollten sichergehen, daß niemand etwas unternimmt, das die Stromversorgung ruinieren oder zum Verlust von Brennstoffzelle Nummer zwei führen könnte. Wir wollen das Problem lösen, aber wir wollen es nicht durch Herumraten noch verschlimmern.« Lovell, Swigert und Haise konnten Kranz’ Rede nicht hören, aber im Augenblick mußte ihnen niemand sagen, daß sie die Ruhe bewahren sollten. Die Mondlandung war endgültig gestorben, aber darüber hinaus befanden sie sich vermutlich nicht in unmittelbarer Gefahr. Wie Kranz festgestellt hatte, war
Brennstoffzelle Nummer zwei in Ordnung. Und soweit die Besatzung und die Controller wußten, war auch Sauerstofftank Nummer zwei noch intakt. Nicht umsonst ließ die NASA alle lebenswichtigen Systeme in einem Raumfahrzeug doppelt und dreifach auslegen. Ein Raumschiff mit einer Brennstoffzelle und einem Tank mochte einen zwar nicht mehr zur Fra-MauroRegion befördern können, aber mit Sicherheit konnte es einen zurück zur Erde bringen. Lovell schwebte zur Mitte der Kommandokapsel, um festzustellen, über wieviel Sauerstoff sie noch verfügten und welcher Spielraum ihnen damit bliebe. Wenn die Ingenieure alles richtig geplant hatten, müßte die Besatzung bei ihrer Rückkehr noch über genügend O2-Reserven verfügen. Der Kommandant warf einen Blick auf die Anzeige und erstarrte: Die Nadel für Tank zwei stand deutlich unter der höchsten Füllmenge und fiel vor Lovells Augen stetig weiter. Diese Entdeckung, so schrecklich sie auch sein mochte, erklärte eine Menge. Was immer auch mit Tank Nummer zwei passiert sein mochte, es war vorbei. Der Tank hatte sich entweder selbständig gemacht, war explodiert oder aufgeplatzt – er war jedenfalls ausgefallen und spielte für das weitere Funktionieren des Schiffes keine Rolle mehr. Tank eins jedoch entleerte sich nach wie vor langsam. Sein Inhalt strömte offensichtlich ins All, und die Wucht des Austritts verursachte zweifellos die unkontrollierten Bewegungen des Schiffes. Gut zu wissen, daß zumindest das Schlingern aufhören würde, sobald die Anzeige am Nullpunkt angelangt war. Die Kehrseite der Medaille war, daß mit dem Sauerstoffvorrat auch das Leben der Besatzung enden würde. Lovell wußte, daß in Houston höchste Aufregung herrschen mußte. Die Druckabweichung war so gering, daß die Controller sie möglicherweise noch gar nicht bemerkt hatten. Als Pilot ging er instinktiv davon aus, daß man in so einem
Fall am besten tiefstapelte, kühl und nüchtern blieb. He, Jungs, fällt euch irgendwas am anderen Tank auf? Lovell stupste Swigert an, deutete auf die Anzeige von Tank Nummer eins und dann aufs Mikrophon. Swigert nickte. »Jack«, fragte der Pilot der Kommandokapsel ruhig, »seht ihr Kryo-Druck von O2-Tank Nummer eins?« Es gab eine Pause. Möglicherweise schaute Lousma auf Liebergots Monitor, vielleicht sagte Liebergot ihm gerade Bescheid. Vielleicht wußte er es auch schon. »Wird bestätigt«, sagte der CAPCOM. Soweit Lovell wußte, würde es eine Weile dauern, bevor es mit Apollo 13 zu Ende ging. Er hatte keine Möglichkeit nachzurechnen, wie groß das Leck im Tank war, aber wenn die Anzeigenadel als Hinweis gelten konnte, hatte er mindestens noch zwei Stunden, bis die 320 Pfund Sauerstoff entwichen waren. War der Tank erst einmal leer, dann hing die ganze Stromversorgung des Schiffes von drei Kompaktbatterien ab, und die ganze verbliebene Atemluft für die Besatzung befand sich in einem einzigen kleinen Sauerstofftank. Beides sollte eigentlich erst am Ende des Fluges in Gebrauch genommen werden, wenn die Kommandokapsel vom Versorgungsteil getrennt war, aber dennoch etwas Energie und Luft für den Wiedereintritt in die Erdatmosphäre benötigt wurde. Der kleine Tank und die Batterien hielten allenfalls ein paar Stunden durch. Wenn man den Restinhalt des leckenden Sauerstofftanks hinzuzählte, dann konnte die »Odyssey« die Besatzung etwa bis Mitternacht, Ortszeit Houston, am Leben erhalten, allenfalls bis 3 Uhr morgens. Jetzt war es kurz nach 22 Uhr. Aber da war ja nicht nur die »Odyssey«. An ihrem Bug war nach wie vor die intakte »Aquarius« angekoppelt, eine »Aquarius« ohne Leck und ohne Gaswolke. Eine »Aquarius«, in der bequem zwei Mann unterkommen und überleben
konnten, und wenn man etwas zusammenrückte auch drei. Egal, was mit der »Odyssey« geschah, in der »Aquarius« konnte die Besatzung Zuflucht finden. Jedenfalls eine Zeitlang. Von ihrem jetzigen Standort im All aus, das wußte Lovell, dauerte die Rückkehr zur Erde etwa einhundert Stunden. Die Mondfähre hatte nur für etwa fünfundvierzig Stunden Atemluft und Energie – genug für den Abstieg zum Mond, einen anderthalbtägigen Aufenthalt und die Rückkehr zur »Odyssey«. Und dieser Luft- und Energievorrat reichte auch nur dann fünfundvierzig Stunden, wenn sich, wie vorgesehen, zwei Mann an Bord befanden. Bei einem weiteren Insassen wurde diese Zeit um einiges kürzer. Strom- und Wasserversorgung des Landefahrzeuges waren gleichermaßen begrenzt. Aber Lovell war klar, daß die »Aquarius« im Augenblick den einzigen Ausweg darstellte. Er blickte zu Fred Haise, denn er war derjenige, der das LEM am besten kannte und der aus den begrenzten Mitteln das Beste herausholen konnte. »Wenn wir wieder zurückkehren wollen«, sagte Lovell zu seinem Astronautenkollegen, »dann müssen wir die ›Aquarius‹ benutzen.« Etwa zur gleichen Zeit wie Lovell hatte auch Liebergot den Druckabfall in Tank eins bemerkt. Im Gegensatz zum Kommandanten war der EECOM, der sicher im Kontrollraum in Houston saß, nicht bereit, das Schiff abzuschreiben, aber große Hoffnung hatte auch er nicht. Liebergot wandte sich nach rechts zu Bob Hesselmeyer, dem für die lebenserhaltenden Systeme des LEM zuständigen Controller. Im Augenblick war es, als befänden sich der EECOM und sein Pendant für die Mondfähre in zwei völlig verschiedenen Welten. Beide arbeiteten für die gleiche Mission, beide kämpften mit der gleichen Krise, doch während Liebergot nichts als blinkende Lämpchen und Datensalat auf seiner
Konsole sah, überwachte Hesselmeyer eine ruhende »Aquarius«, die keinerlei besorgniserregende Zahlen zur Erde funkte. Beinahe neidisch schielte Liebergot zu Hesselmeyers ordentlichem kleinen Bildschirm mit all den ordentlichen kleinen Zahlen und schaute dann mit grimmiger Miene auf seine eigene Konsole. Zu beiden Seiten des Monitors befanden sich Handgriffe, mit denen das Wartungspersonal den Bildschirm herausziehen konnte, wenn Reparaturen oder Nachbesserungen notwendig waren. Liebergot stellte mit einem Mal fest, daß er sich seit etlichen Minuten krampfhaft an diesen Griffen festhielt.
5
Montag, 13. April, 23:40 Uhr, Ostküstenzeit Wally Schirra hatte sich den ganzen Abend lang auf einen Cutty Sark mit Soda gefreut. Vier Stunden lang hatte er sich mit purem Soda begnügt, ein freundliches Gesicht gezogen und allen möglichen Leuten die Hände geschüttelt, während die munter einen draufmachten. Jetzt kam endlich auch er dazu, sich einen hinter die Binde zu gießen. Schirra störte es nicht besonders, daß er der einzige Nüchterne bei einem offiziellen Empfang war. Für Wally war das heute Arbeit, einer von zig Abenden, bei denen man herumgereicht wurde. Wenn der Abend vorbei war, konnte er tun und lassen, was er wollte, aber solange er hier war, befand er sich im Dienst. Schirra nahm dienstlich an einem Empfang des American Petroleum Club in New York teil. Er war nicht nur ein besonderer Partygast, sondern auch der gefeierte Redner des Abends. Normalerweise hetzte ein Ex-Astronaut nicht einfach wegen irgendeines Empfanges nach New York; aber er mochte diesen Verein ziemlich und nahm gerne an dessen Veranstaltungen teil. Außerdem hatte er ohnehin in die Stadt gemußt. Nach seinem Ausscheiden bei der NASA Anfang 1969 hatte er einen Vertrag mit CBS geschlossen, wonach er Walter Cronkite bei der Berichterstattung über die ApolloMondlandungen beistehen sollte. Im Juli 1969, bei Apollo 11, war er zum erstenmal im Einsatz gewesen, danach im November bei Apollo 12. Erst vor zwei Tagen hatten er und Cronkite über den Start von Apollo 13 berichtet. Morgen würden sich Jim Lovell, Jack Swigert und Fred Haise für die
Landung auf dem Mond bereitmachen, und Schirra sollte wieder seinen Beitrag zur entsprechenden Sendung leisten. Doch das war morgen. Jetzt jedoch beendete Schirra seinen Auftritt beim Petroleum Club und begab sich quer durch die Stadt zu Toots Shors Laden an der West 52nd Street. Wally kannte Toots gut, und obwohl es bereits spät war, wußte er, daß der gesellige Kneipenbesitzer wahrscheinlich wieder ein ziemlich volles Haus hatte. Schirra betrat das Restaurant, begab sich an die Bar und bestellte einen Cutty mit Wasser. Wie erwartet, war der Laden voll. Und wie erwartet, tauchte zeitgleich mit dem Drink auch Toots auf, der sich eilig einen Weg durch die Kneipe bahnte. Wally lächelte ihm entgegen, aber seltsamerweise lächelte Toots nicht zurück. »Wally, rühr den Drink nicht an«, sagte Shor, sobald er bei ihm war. »Stimmt was nicht, Toots?« »Wir haben eben einen Anruf gekriegt – unten in Houston ist der Teufel los.« »Was ist passiert?« »Ich weiß nichts Genaues, aber sie haben irgendein Problem. Ein großes Problem, Wally. Draußen wartet ein Wagen der CBS auf dich. Cronkite will auf Sendung gehen, und du sollst ihm beistehen.« Schirra stürmte aus der Tür und sah das Auto. Im nächsten Moment war er schon auf dem Weg zu CBS. Dort angekommen rannte Schirra ins Studio, wo Cronkite gerade auf Sendung gehen wollte. Der Nachrichtenmoderator sah gar nicht gut aus. Er rief Schirra zu sich und schob ihm einen Stapel Agenturberichte zu. Eilig überflog Schirra den Text und wurde von Satz zu Satz blasser. Das war schlimm. Das war schlimmer als schlimm. Das war… noch nie dagewesen. Er hatte tausend Fragen, aber dafür war keine Zeit.
»Wir fangen in einer Minute an«, erklärte ihm Cronkite, »aber so können Sie nicht auf Sendung gehen.« Schirra blickte an sich herab und stellte fest, daß er noch immer offizielle Abendgarderobe trug. Cronkite schickte einen Boten zu seinem Umkleideraum, und kurz darauf brachte er eine Tweedjacke mit Ellbogenflicken und eine schmuddelige Krawatte. Schirra ließ sich kurz schminken und zog dann Cronkites Sachen über sein gestärktes Rüschenhemd. Der Journalist und der Astronaut nahmen ihre Plätze ein. Sekunden später blinkte das rote Licht an der Kamera auf, und die Fernsehzuschauer im ganzen Land sahen einen ruhigen Walter Cronkite und daneben den leicht benommenen Wally Schirra. Cronkite begann seinen Text vorzulesen, und erst da, zeitgleich mit allen anderen Amerikanern, erfuhr Schirra das ganze Ausmaß der Krise an Bord von Apollo 13. Auf der anderen Seite der Stadt war noch nicht einmal das Eis in Wallys verwaistem Drink geschmolzen.
Die Fahrt vom Manned Spacecraft Center in Houston bis zum Vorort Timber Cove dauerte etwa fünfzehn Minuten, aber an einem guten Abend, wenn kein Verkehr herrschte, konnte Marilyn Lovell es in elf oder zwölf Minuten schaffen. Heute war so ein Abend, und Marilyn wußte, daß sie früh genug zu Hause sein würde, um ihr jüngstes Kind, den vierjährigen Jeffrey, ins Bett zu stecken und Susan und Barbara zu einer vernünftigen Uhrzeit schlafen zu legen. Wie fast alle NASAFrauen war Marilyn die Strecke schon zigmal gefahren, aber an diesem Abend hätte sie gerne darauf verzichtet. Bei den drei vorherigen Raumflügen ihres Mannes, als die Fernsehstationen der NASA noch jede gewünschte Sendezeit einräumten, war alles viel einfacher gewesen.
Marilyn fühlte sich betrogen, wenn sie daran dachte, wie sehr sich seither alles geändert hatte. Vor fünf Monaten, als Apollo 12 unterwegs gewesen war, hatte Jane Conrad wenigstens einige von Petes Sendungen sehen können, ohne daß sie extra zum Space Center fahren mußte. Bei diesem Flug hatten die NASA-Bosse noch auf das gleiche gewaltige Zuschauerinteresse wie bei Apollo 11 gehofft, und um der Öffentlichkeit etwas zu bieten, hatte man den Astronauten statt der schlichten Schwarzweißkamera, die Neil und Buzz auf dem Mond verwendet hatten, sogar eine Farbbildkamera mitgegeben. Anscheinend eine gute Idee, aber nur solange, bis Al Bean und Pete Conrad tatsächlich auf dem Mond waren und ihre wunderbare neue Kamera versehentlich auf die Sonne richteten, so daß das Objektiv regelrecht gegrillt wurde und alle weiteren Übertragungen gestrichen werden mußten. Von da an ging es für die NASA und die Fernsehsender bergab, und obwohl die Techniker der Raumfahrtbehörde die Kameras an Bord von Apollo 13 mit stärkeren Filtern ausgerüstet hatten, die eine störungsfreie Übertragung zur Erde gewährleisteten, hatten die Fernsehstationen weitestgehend auf alle diesbezüglichen Angebote verzichtet. Marilyn bog mit ihrem Auto in die Auffahrt an der Lazywood Lane ein, stellte den Motor ab und blickte auf ihre Uhr. Es war zu spät, um ihr ältestes Kind, den fünfzehnjährigen Jay, in der St. John’s Military Academy in Wisconsin anzurufen und ihm mitzuteilen, daß die Sendung gut gelaufen sei und sein Vater einen großartigen Eindruck gemacht habe. Jay wußte, daß man ihn sofort verständigt hätte, wenn etwas nicht gutgegangen wäre, aber Marilyn wollte es ihm trotzdem lieber selbst sagen. Jetzt mußte sie damit bis morgen warten. Marilyn scheuchte Susan und Barbara ins Haus, während sie die Auffahrt hochlief. Elsa Johnson, eine Freundin aus der Gegend von Cape Kennedy, die während des Mondfluges bei
den Lovells wohnte, hatte sich bereit erklärt, heute abend auf Jeffrey aufzupassen, und Marilyn wollte sie so rasch wie möglich ablösen. Während der »Dienstreisen« ihrer Männer waren die Astronautenfrauen zutiefst dankbar, wenn Freunde ihnen Gesellschaft leisteten, und Marilyn wollte Elsas Großmut nicht über Gebühr in Anspruch nehmen. »Wie war Jim?« fragte Elsa, sobald Marilyn hinter Susan und Barbara ins Haus kam. »Prima«, sagte Marilyn. »Fröhlich und gelassen. Sie sehen alle aus, als hätten sie da oben viel Spaß. Wie geht’s Jeffrey?« »Der schläft schon. Ist sofort eingenickt.« Marilyn hängte ihren Pullover in den Kleiderschrank, ging ins Wohnzimmer und zuckte leicht zusammen, als sie einen Mann bemerkte, der auf ihrer Couch saß und in einer Illustrierten las. Dann lachte sie über sich und winkte ihm zu. Der Mann war Bob McMurrey, ein Protokolloffizier der NASA. Der Frau und den Kindern eines jeden Besatzungsmitglieds wurde routinemäßig wenigstens ein Protokollmann zugeteilt, der die Zeit vom Start bis zur Landung bei der Familie zubrachte, sie vor der Presse und den Schaulustigen abschirmte und alle unerwarteten Entwicklungen während des Fluges erklärte. Für gewöhnlich war dies eine anspruchsvolle Aufgabe, und McMurrey, der den Lovells bereits bei Apollo 8 zugeteilt gewesen war, war lange Arbeitszeiten gewöhnt. Bei Apollo 13 jedoch gab es bislang weder Schaulustige und Reporter vor dem Haus noch irgendwelche unerwarteten Entwicklungen. McMurrey hatte die vergangenen Tage weitgehend so zugebracht wie diesen Abend – er saß auf dem Sofa, trank Kaffee und las eine Illustrierte nach der anderen. Zu seinen Füßen lag dösend Christie, der Collie der Lovells, als habe er ihn bereits ersatzweise als Familienoberhaupt akzeptiert, solange sein eigentliches Herrchen weg war.
Marilyn hatte an diesem Abend ein bißchen Gesellschaft haben wollen und daher Betty Benware, ihre unmittelbare Nachbarin, auf einen Drink eingeladen. Doch Betty hatte sich entschuldigt. Ihr Mann Bob war der örtliche Leiter der PhilcoFord-Gruppe, die die Konsolen und Geräte in der Mission Control wartete, und das Ehepaar hatte sich gerade zwei Tage lang um seine Chefs gekümmert, die eigens angereist waren, um einmal mitzuerleben, wie die Arbeit bei einem richtigen Flug ablief. Vom Protokollmann einmal abgesehen, war der Empfänger, den die NASA vor drei Tagen in ihrem Schlafzimmer installiert hatte, die einzige weitere Verbindung, die Marilyn während des langen Fluges mit dem Space Center hatte. Dieser Kasten, ein kleiner Lautsprecher, der über eine Telefonleitung mit dem Kontrollzentrum verbunden war, ermöglichte es den Astronautenfrauen, rund um die Uhr den Funksprechverkehr zwischen ihren Männern und dem CAPCOM mitzuhören. Diese Gespräche bestanden zu über 90 Prozent aus unverständlichem Zeug – jede Menge Zahlen und Vektorenangaben, die gelegentlich sogar die Controller öde fanden. Aber Marilyn und die anderen Frauen achteten weniger auf die Worte als auf den Tonfall – den besorgten Ton –, und aus diesem Grund war der Kasten unentbehrlich. Zu dieser fortgeschrittenen Stunde, wenn die Besatzung bereits schlief, hörte man jedoch nur statisches Rauschen. Und da McMurrey gemütlich im Wohnzimmer saß und offenbar nichts zu berichten hatte, meinte auch Marilyn, sie müsse sich in Gedanken nicht ständig mit dem Flug beschäftigen. Statt dessen wollte sie in die Küche gehen und mit Elsa einen Kaffee trinken. Bevor sie dazu kam, ging die Haustür auf, und Pete und Jane Conrad kamen herein. »Hast du ihn gesehen?« fragte Jane Marilyn.
»Alle hab’ ich sie gesehen«, sagte Marilyn. »Sie sehen großartig aus. Anscheinend läuft alles genau wie geplant.« »Jim fliegt eine erstklassige Mission«, sagte Conrad. »Ich wünschte nur, sie brächten die Übertragung im Fernsehen«, sagte Marilyn. »Damit die Leute sehen, was für tolle Arbeit die leisten.« »In den Spätnachrichten soll eine Minute drüber kommen«, sagte Jane. »Wenn auch nur, um die Leute daran zu erinnern, daß sie da oben sind.« Marilyn wollte Pete und Jane gerade auf eine Tasse Kaffee in die Küche bitten, als das Telefon klingelte. »Marilyn?« meldete sich eine vorsichtig fragende Stimme. »Jerry Hammack hier. Ich rufe vom Center aus an.« Jerry Hammack und seine Frau Adeline, die auf der anderen Straßenseite wohnten, waren gute Freunde der Lovells. Hammack war Chef des NASA-Bergungsteams, das die Apollo-Kommandokapseln nach der Landung aus dem Meer fischte. »Jerry«, sagte Marilyn überrascht, »wieso arbeitest du so spät noch?« »Ich wollte dir bloß ausrichten, daß du dir keinerlei Sorgen zu machen brauchst. Die Russen, die Japaner und viele andere Länder haben bereits ihre Hilfe bei der Bergung angeboten. Wir können sie an jeder x-beliebigen Stelle im Meer runterbringen und in Nullkommanichts auf einen Träger schaffen.« »Jerry, wovon redest du da? Bist du etwa betrunken?« »Hat dir noch niemand Bescheid gesagt?« »Worüber?« »Über das Problem…« »Was für ein Problem?« fragte sie Hammack mit merklich gehobener Stimme. »Jerry, ich habe Jim eben am Bildschirm
gesehen. Alles war in Ordnung!« In der Küche drehten sich Elsa und Jane um. »Äh, na ja, es ist aber nicht alles in Ordnung. Ein paar Dinge sind schiefgegangen.« »Was für Dinge?!« »Na ja… hauptsächlich handelt es sich um ein Problem mit der Energieversorgung«, druckste Hammack herum. »Genaugenommen um ein Problem mit den Brennstoffzellen. Denen geht der Strom aus, und, na ja, es sieht nicht so aus, als könnten sie die Landung durchführen.« Marilyn hörte das andere Telefon im Arbeitszimmer klingeln und sah, wie McMurrey an den Apparat eilte. »Oh, Jerry, das ist ja furchtbar«, sagte sie. »Jim hat so hart dafür gearbeitet. Er wird sehr enttäuscht sein.« Sie bemerkte, wie Jane sie anblickte und ihr zuraunte: »Was ist passiert?« Marilyn hob abwiegelnd die Hand. »Ja, dessen bin ich mir sicher«, sagte Hammack. »Aber ich wollte jedenfalls, daß du dir keine Sorgen machst. Wir tun hier drüben alles, was wir können.« Marilyn legte auf und wandte sich an Jane. »Das ist ja furchtbar«, erklärte sie. »Mit einer Brennstoffzelle ist irgendwas schiefgegangen, und sie wollen die Landung streichen. Dabei war das der einzige Grund, weshalb Jim wieder da raus ist, und jetzt muß er einfach kehrtmachen und zurückfliegen.« »Marilyn, das tut mir ja so leid«, sagte Jane. Die beiden Freundinnen fielen sich in die Arme, und über Janes Schulter hinweg sah Marilyn Conrad und McMurrey vor dem Arbeitszimmer stehen und aufgeregt miteinander flüstern. Conrad wirkte blaß und beunruhigt. »Marilyn«, fragte Conrad heiser, »wo ist der Empfänger?« »Wieso brauchst du denn den Empfänger?« erwiderte Marilyn.
»Hat etwa noch niemand mit dir gesprochen?« »Doch, ich habe eben mit Jerry Hammack gesprochen. Er hat mir von dem Problem mit der Brennstoffzelle erzählt.« »Marilyn«, sagte Konrad leise, »es handelt sich um mehr als nur ein Problem mit einer Brennstoffzelle.« Conrad setzte Marilyn in einen Sessel und erklärte ihr alles, was der Protokollmann ihm gerade berichtet hatte: Das Verschwinden von Sauerstofftank Nummer zwei, die Schwierigkeiten mit Tank Nummer eins, das entweichende Gas, das Schlingern, der Energieabfall, die knapp werdende Atemluft und der rätselhafte Knall, mit dem alles angefangen hatte. Marilyn hörte zu, und dann wurde ihr plötzlich übel. So etwas durfte einfach nicht passieren. Bevor Jim wieder losgeflogen war, hatte er ihr versichert, daß genau so etwas niemals passieren würde. Marilyn riß sich von Conrad los, rannte zum Fernseher und stellte ihn an. Instinktiv schaltete sie nicht auf CBS, wo Wally Schirra, der Freund der Familie arbeitete, sondern auf ABC, zu Jules Bergman, der Koryphäe unter den Wissenschaftskorrespondenten. Sie bereute es beinahe augenblicklich. Bergman, so stellte sie fest, redete über genau den Sauerstofftank, den Conrad gerade erwähnt hatte, über die Kreiselbewegungen des Raumfahrzeuges und über den rätselhaften Knall. Aber im Gegensatz zu Conrad redete Bergman auch noch über etwas anderes: die Aussichten. Während Marilyn zuhörte, erklärte Bergman seinen Zuschauern, daß in so einem Fall zwar niemand eine genaue Voraussage machen könne, aber die Chancen, daß die Besatzung von Apollo 13 lebend zurückkommen werde, stünden allenfalls bei zehn Prozent. Marilyn wandte sich vom Fernseher ab und schlug die Hände vors Gesicht. Die von dem Nachrichtenmann genannte Zahl war schlimm genug, aber selbst wenn er von besseren Chancen
und einem glücklicheren Ausgang gesprochen hätte, wäre der Bericht erschreckend gewesen. Obgleich es keiner der anderen Anwesenden bemerkt hatte, war Marilyn sofort aufgefallen, daß Bergman, ebenso wie zuvor Conrad und Hammack, einen besorgten Tonfall angeschlagen hatte.
Andere Menschen in Houston, die weder in der Mission Control saßen noch Familienangehörige der gefährdeten Piloten waren, hörten die Neuigkeiten auf andere Art. Ingenieur Andy Saulietes, der mit drei seiner Kollegen auf dem Dach von Haus 16A des Manned Spacecraft Center übernachtete, stellte eine Anzahl kostspieliger astronomischer Geräte ein. Wie in den letzten drei Nächten richteten Saulietes und die anderen ein starkes 35-Zentimeter-Teleskop ungefähr auf den Mond aus und betrachteten die Bilder, die sie auf dem danebenstehenden Schwarzweiß-Bildschirm empfingen. Hauptsächlich konzentrierten sie sich auf ein flimmerndes, rasch kleiner werdendes Objekt, das ihren Instrumenten zufolge etwa 320 000 Kilometer von der Erde entfernt war. Mit bloßem Auge besehen, war das Objekt absolut unauffällig, aber Saulietes und die anderen Männer verfolgten genauestens seine Bahn. Was sie sahen, war die abgekühlte, ausgebrannte dritte Stufe der Saturn-5-Trägerrakete von Apollo 13, die sich mit ungefähr 3200 Kilometern pro Stunde von der Erde entfernte. Der mit einem einzigen Triebwerk versehene oberste Teil der Rakete hatte Apollo 13 vor zwei Tagen aus der Erdumlaufbahn geschossen und flog nun in Richtung Mond. Irgendwo in der Nähe mußten auch die Raumkapsel und die Mondfähre samt Versorgungsteil dahinrasen, aber das winzige Raumfahrzeug war längst außer Reichweite von Saulietes’ Teleskop. Und
selbst die dritte Stufe war, wie Saulietes und seine Kollegen feststellten, auf dem Bildschirm kaum mehr zu erkennen. Die Männer auf dem Dach hatten ein Funkgerät dabei, so daß sie den Verlauf des Fluges verfolgen und auf wichtige Ereignisse achten konnten, die eventuell für ihre Beobachtungen von Bedeutung waren. Das Ereignis, auf das sie in erster Linie warteten, war das Ablassen von Wasser oder Urin aus dem Raumschiff »Odyssey«. Sobald irgendeine Flüssigkeit aus dem Schiff geblasen wurde, gefror sie und bildete eine eisige Wolke aus funkelnden Flocken, die Wally Schirra, der Meister des Wortspiels, einst Sternbild Urion getauft hatte. Wenn die Wolke heute nacht groß genug war, und wenn das Sonnenlicht richtig darauf fiel, dann, so glaubte Saulietes, könnte er das Raumfahrzeug vielleicht entdecken. Gegen 21:35 Uhr meinte Saulietes, der gerade mit der Schärfeneinstellung seines Teleskops beschäftigt war und nur mit halbem Ohr auf das Gespräch zwischen Kapsel und Bodenstation achtete, gehört zu haben, wie Swigert etwas von einem Problem sagte. Kurz darauf meinte er zu hören, wie Lovell die Durchsage wiederholte. Saulietes verschwendete nicht viele Gedanken auf diese Funksprüche. Er hatte die Mondflüge von Apollo 8, 10, 11 und 12 begleitet, und Raumfahrzeuge meldeten immer wieder kleinere Störungen, bei denen sie Houston um Beistand anfunkten. Aufmerksam wurde er erst, als er ein paar Minuten später das Bild auf seinem Monitor sah. Mitten auf dem Bildschirm tauchte plötzlich und unerwartet ein stecknadelkopfgroßer Lichtpunkt auf, der stetig zunahm. Er war genau da, wo sich das Raumschiff befinden mußte, aber für eine Wasser- oder Urinwolke war er viel zu groß, und Saulietes hatte auch bei den vorherigen vier Mondflügen nichts dergleichen gesehen. Es sah fast aus, als umgebe eine riesige Wolke aus Gas das Schiff und breite sich langsam dreißig oder
vierzig Kilometer weit aus. Saulietes griff zu seinem Bildschirm und drückte auf die Aufnahmetaste. Das Gerät würde drei oder vier Kopien dieses Bildes ziehen, die er später abrufen und genauer untersuchen konnte. Aber es war unwahrscheinlich, daß die Bilder Saulietes viel verraten würden; vermutlich war der merkwürdige Hof um das Schiff nur auf einen Fehler an seinem Teleskop oder am Monitor zurückzuführen. Falls dem so war, wollte er rasch die Ursache herausfinden, bevor er diesen ansonsten vorbildlichen Flug weiterverfolgte. Chris Kraft, der stellvertretende Direktor des Spacecraft Center, hatte ebensowenig wie Saulietes einen Grund, sich wegen des weiteren Verlaufes der Mondmission Sorgen zu machen. Seitdem er den Platz des Flugdirektors zu Beginn des Apollo-Programms abgegeben hatte, konnte Kraft seine Arbeit etwas gelassener angehen, und die Veränderung störte ihn nicht im geringsten. Nachdem er bei sechs hochgradig stressigen Mercury- und zehn Gemini-Flügen seine Pflicht in der Mission Control getan hatte, war Kraft mehr als zufrieden, als er nach Jim Lovells und Buzz Aldrins Gemini 12 die Verantwortung auf Gene Kranz und die anderen Flugdirektoren übertragen konnte, die unter ihm arbeiteten. Im Augenblick stand Kraft unter der Dusche. Es war kurz vor 22 Uhr, und soweit er gehört hatte, lief im nahe gelegenen Space Center und in der Apollo-Kapsel alles vorbildlich. Die Crew müßte sich etwa um diese Zeit zur Ruhe begeben, und Kraft gedachte es ihr gleichzutun. Durch die Badezimmertür hörte Kraft, wie das Telefon einmal klingelte, dann ein zweites Mal, dann ging seine Frau ran. »Betty Ann?« sagte die Stimme am anderen Ende. »Hier Gene Kranz. Ich muß mit Chris reden.«
Betty Ann, die aufgrund von Krafts langjähriger Dienstzeit bei der Raumfahrtbehörde so gut wie nichts mehr überraschen konnte, reagierte gelassen auf Kranz’ Anruf. »Gene, Chris ist gerade unter der Dusche. Kann er dich zurückrufen?« »Nein, das kann er nicht. Du mußt ihn sofort herholen«, sagte Kranz. »Auf der Stelle.« Betty Ann eilte zum Badezimmer und holte Kraft tropfnaß ans Telefon. »Chris«, sagte Kranz, »du solltest lieber rüberkommen. Wir haben ein Riesenproblem. Wir haben Sauerstoff verloren, eine Sammelschiene ist ausgefallen, Brennstoffzellen sind ausgefallen. Anscheinend hat es eine Explosion gegeben.« Kraft zog sich rasch an, rannte mit nassen Haaren aus dem Haus und sprang in seinen Wagen. Mit fast hundert Sachen raste er durch die dunklen Straßen der ruhigen Vorstadt, in der sich die Menschen gerade schlafen legten, und schaffte die fünfzehn Kilometer bis zum Space Center in weniger als einer Viertelstunde. Wenn es bei einem Raumflug, zumal bei einem so komplexen Flug wie einer Mondmission, zu einer Krise kommt, arbeiten die Männer im Raumfahrzeug und die Männer am Boden in einer Art abwiegelnder Hierarchie zusammen. Geriet ein Schiff in plötzliche Schwierigkeiten, dann standen zunächst die Piloten im Mittelpunkt. Sie waren es, die den Knall hörten, eventuelle Lecks feststellten oder anhand der Instrumente feststellten, wenn etwas nicht stimmte, und daher waren sie es auch, die bei einer Krise die pessimistischste Haltung einnahmen. Obwohl kein Pilot gerne sein Schiff aufgeben oder seine Mission abbrechen wollte, gab es doch Grenzen, die er aufgrund seiner Erfahrung und seiner Eindrücke nicht überschreiten wollte. Danach kamen die einzelnen Controller an den Konsolen in Houston. Die
Mehrzahl dieser Männer hatte nie in einem Raumfahrzeug gesessen; sie mußten sich darauf verlassen, daß ihnen die Zahlen auf ihren Bildschirmen verrieten, was mit dem von ihnen überwachten Schiff nicht stimmte. Im Gegensatz zu den Männern im Raumfahrzeug wußten die Controller, daß ihr Leben und ihre Gesundheit nicht vom Zustand des Raumfahrzeugs abhing. Dies führte zwar manchmal dazu, daß sie mehr Zutrauen in ein angeschlagenes Schiff hatten, als dieses eigentlich verdiente, aber es sorgte auch dafür, daß sie an die Lösung des Problems mit einer Abgeklärtheit herangingen, zu der die Astronauten selbst nicht fähig waren. Den größten Abstand zu dem Problem hatte der Flugdirektor, der allerdings auch die höchste Verantwortung dafür trug, daß es gelöst wurde. Zusätzlich zu all den festgeschriebenen Regeln, die bei einem Flug einzuhalten waren, arbeitete der Flugdirektor auch nach einer ungeschriebenen Regel, die man als Herunterfahren bezeichnete. Bevor eine Mission offiziell abgebrochen wurde, mußte der Flugdirektor aufgrund dieser Regel zusehen, daß er sie soweit wie möglich retten konnte, ohne das Leben der Astronauten zu gefährden. Wenn eine Besatzung nicht auf dem Mond landen konnte, konnte sie ihn dann wenigstens umrunden? Und wenn sie dazu nicht imstande war, konnte sie dann wenigstens um ihn herumfliegen und eventuell ein paar rasche Eindrücke sammeln? Ein Flug zum Mond war eine komplizierte und teure Angelegenheit, und wenn sich schon die vorrangigen Ziele des Projekts nicht erreichen ließen, so mußte der Verantwortliche darauf achten, daß zumindest zweit- oder drittrangige Ziele erreicht wurden. Erst wenn bei einer heruntergefahrenen Mission alle Möglichkeiten ausgeschöpft waren, durfte der Flugdirektor die ihm anvertraute Crew zurückholen.
In der siebenundfünfzigsten Flugstunde von Apollo 13, als Marilyn Lovell und Mary Haise Anrufe von der NASA erhielten, als Chris Kraft zum Space Center raste und Jules Bergman auf Sendung ging, lief die abwiegelnde Hierarchie der NASA auf Hochtouren. Gene Kranz ging, wie immer in kritischen Momenten, rauchend hinter seiner Konsole in der Mission Control auf und ab und bediente seine Sprechanlage, als handelte es sich um die Telefonzentrale einer Kleinstadt. An den anderen Konsolen betrachteten die Controller ihre Bildschirme, analysierten die Daten und hofften, die Probleme lösen zu können, soweit sie die in ihrer Zuständigkeit liegenden Teile des Schiffes betrafen. Und im Raumfahrzeug selbst bewältigten die drei am unmittelbarsten betroffenen Männer die Krise mit einem persönlichen Einsatz, den die Männer am Boden kaum ermessen konnten. Etwa sechzig Minuten nach Beginn der Krise bereitete Lovell, Swigert und Haise nach wie vor das ununterbrochene Rollen und Schlingern ihres Raumfahrzeugs, das vermutlich durch das Leck in Sauerstofftank Nummer eins verursacht wurde, die größten Schwierigkeiten. Diese unerwünschten Bewegungen wurden in der knappen Pilotensprache Sätze genannt, und während die Controller mit aller Macht nach der Ursache für die vielfältigen Probleme der »Odyssey« fahndeten und sich um eine provisorische Lösung bemühten, versuchte Lovell weiterhin diese Sätze unter Kontrolle zu bringen. »Ich kriege das Ding nicht zur Ruhe«, knurrte der Kommandant vor sich hin, während er die pistolengriffartigen Regler für die Steuerdüsen hin und her bewegte. »Wir machen immer noch verdammt heftige Sätze, stimmt’s?« sagte Swigert, der auf seinem Platz in der Mitte saß.
»Schieb’s darauf«,, sagte Lovell und deutete mit dem Kopf auf die schimmernde Gaswolke vor dem Fenster. »Paß auf den Ball auf«, warnte ihn Swigert mit einem Blick auf ein Instrument am Armaturenbrett. »Sieh zu, daß die Kreisel nicht blockieren.« Das Instrument, das Swigert so nervös musterte, der Fluglageanzeiger – unter Piloten 8er Ball genannt –, war eine kleine, mit allerlei Winkelmarkierungen und breitengradähnlichen Linien versehene Kugel. Die Kreisel, die seinen Stand bestimmten, waren das Herz des Navigationssystems an Bord. Um sich im Weltall zu orientieren, mußte eine Crew jederzeit die Position ihres Raumfahrzeuges im Verhältnis zu einem bestimmten Himmelspunkt feststellen können. Zu diesem Zweck war das Raumfahrzeug mit einem Trägheitsführungssystem ausgerüstet. Es bestand aus einer festen Plattform, einem sogenannten stabilen Element, die in Kardanringen aufgehängt war, so daß sie ihre Richtung im Raum unabhängig von der Lage des Schiffes beibehalten konnte. Ihre Ausrichtung erfolgte nach den Sternen und wurde ungeachtet aller Drehbewegungen des Raumfahrzeuges beibehalten. Drei Kreisel hielten die Plattform in bezug auf einen Punkt im Weltraum fest. Die Kardanringe, an denen sie aufgehängt war, schwangen bei jeder Bewegung des Schiffes mit. Das Führungssystem teilte dem Bordcomputer laufend die Lage des Schiffes im Verhältnis zu dem stabilen Element und somit zu den Sternen mit, und der 8er Ball lieferte den Piloten die gleiche Information. Für ein Raumfahrzeug, das seine Flugbahn auf der rund 400000 Kilometer langen Reise zum Mond um Bruchteile von Graden korrigieren mußte, arbeitete das System außerordentlich gut – mit einer kleinen Ausnahme. Wenn das Raumfahrzeug versehentlich zu stark nach rechts oder links
gierte, konnten die Kardanringe aneinanderstoßen und in dieser Stellung blockieren, so daß der Computer keine Möglichkeit mehr hatte, die Lage des Schiffes zu bestimmen. Ein Raumfahrzeug ohne Navigationssystem nutzte niemandem etwas, zuallerletzt den Piloten, die darauf angewiesen waren, daß sie damit wieder zurückkamen, und deshalb war der 8er Ball so konstruiert, daß er die Besatzung auf eine drohende Blockierung der Kardanringe hinwies. Zusätzlich zu den in die Kugel eingravierten Linien und Winkeln waren auch zwei um 180 Grad auseinanderliegende, etwa groschengroße rote Scheiben aufgemalt. Wenn eine rote Scheibe im Fenster auftauchte, so hieß das, daß die Kardanringe demnächst aneinanderstießen. Bewegte sich die Scheibe in Fenstermitte, dann bedeutete dies, daß die Kardanringe blockiert und damit alle Angaben über die Lage des Schiffes verloren waren – und dies galt, zumindest bezüglich der Navigation, auch für das Schiff. Als nun Swigert auf das Instrument blickte, tauchte rechts ein roter Farbfleck auf. »Rot kommt in Sicht«, warnte er Lovell erneut. »Ich sehe es«, sagte Lovell mit einem Blick zum Armaturenbrett. »Und ich wünschte, es wäre nicht so.« Er zog das Schiff hart nach Backbord, und der rote Fleck verschwand. Die Instrumente an der Navigationskonsole im Kontrollraum meldeten die gefährliche Bewegung ebenso wie Lovells Lageanzeige, und der GUIDO machte Kranz darauf aufmerksam. »Flight, GUIDO«, meldete er sich über das Funknetz. »Los, GUIDO«, antwortete Kranz. »Er ist kurz vor einer Kardanblockierung.« »Roger. CAPCOM, empfehlen Sie ihm, die Düsen C-3, C-4, B-3, B-4, C-1 und C-2 einzusetzen, und weisen Sie darauf hin, daß er kurz vor einer Kardanblockierung ist.«
»Roger«, antwortete Lousma, schaltete dann auf BodenBord-Funk um und gab seine Anweisungen an die Besatzung weiter. Lovell hörte die Durchsage und nickte Swigert zu, gab aber Lousma keine Bestätigung. Während der Kommandant die Lageanzeige im Auge behielt, stellte der Pilot der Kommandokapsel die Steuerdüsen nach Lousmas Anweisung ein. »13, Houston. Versteht ihr uns?« fragte Lousma, als er keine Antwort bekam. Haise überwachte in der Zwischenzeit die immer problematischer werdende Energieversorgung des Raumfahrzeuges. »Ja«, antwortete der Pilot der Mondfähre der Bodenstation, während er sich seinen Kollegen zuwandte. »Haben verstanden.« »Bestätigen«, fügte Lovell kurz hinzu. Während Lovell und Swigert darum bemüht waren, die »Odyssey« zu stabilisieren, lief Kranz weiter hinter seiner Konsole auf und ab und befaßte sich gleichzeitig mit hundert anderen Problemen. Auf der Sprechanlage des Flugdirektors meldete sich der INCO und berichtete, daß er die allergrößten Schwierigkeiten habe, die Antennen auf dem schlingernden, energiearmen Schiff auszurichten. Der Führungs- und Navigationsoffizier oder GNC (Guidance and Navigation) meldete Probleme mit der Temperaturregelung, da die Sonnenstrahlung zu lange auf die eine Seite des Schiffes einwirke. Der EECOM meldete, die zahllosen Probleme bei der Energie- und Sauerstoffversorgung, mit denen der ganze Schlamassel angefangen hatte, seien noch nicht behoben und würden allem Anschein nach schlimmer. Es war vor allem der Bericht des EECOM, dem Kranz seine ganze Aufmerksamkeit widmete. Sy Liebergots verzweifelter
Feststellung zufolge schien es, als müsse man Sauerstofftank Nummer zwei, der nach einer Flugzeit von 55 Stunden und 54 Minuten unter so rätselhaften Umständen ausgefallen war, endgültig abschreiben; Tank Nummer eins, dessen Werte vor einigen Stunden noch bei vollen 860 psi gelegen hatten, war nun auf die halbe Füllmenge gesunken und verlor pro Minute weiterhin mehr als ein Pfund Druck; die Brennstoffzellen eins und drei waren so gut wie hinüber; Brennstoffzelle Nummer zwei, die einzige noch funktionierende, verlor rasch an Leistung, und mit ihr auch die verbliebene Sammelschiene. Das ganze labile System drohte zusammenzubrechen. Liebergot und sein aus George Bliss, Dick Brown und Larry Sheaks bestehendes Unterstützungsteam wußten, daß ihnen nur äußerst begrenzte Möglichkeiten zur Verfügung standen. Um einen völligen Ausfall des elektrischen Systems zu verhindern, konnte der EECOM jederzeit die für den Wiedereintritt in die Erdatmosphäre vorgesehenen Batterien des Raumfahrzeugs an die beiden ausgefallenen oder ausfallenden Sammelschienen anschließen. Die Batterien lieferten erstaunlich viel Energie und würden das Schiff fast sofort wieder voll mit Strom versorgen. Der Haken dabei war, daß sie nur ein paar Stunden hielten. Wenn Liebergot die Batterien jetzt einsetzte, würde die »Odyssey« die Energiereserven verbrauchen, die sie später dringend beim Eindringen in die Erdatmosphäre benötigte – vorausgesetzt, sie schaffte überhaupt den Rückflug zur Erde. Griff er aber nicht auf diese Maßnahme zurück, konnte sich die ganze Situation noch verschlimmern. Wenn der verbliebene Sauerstofftank leer war, würde das Raumfahrzeug automatisch auf den kleinen O2-Tank in der Kommandokapsel, den sogenannten Auffangtank, umschalten, der ebenfalls für den Wiedereintritt benötigt wurde. Liebergot fiel nur eine Lösung ein: Zur Unterstützung der ausfallenden Sammelschiene kurz die Batterien anschließen
und dann den Stromverbrauch so rasch und soweit wie möglich drosseln. Dadurch ließe sich zumindest die verbliebene Brennstoffzelle entlasten und der völlige Zusammenbruch der Stromversorgung so lange hinausschieben, bis man eine bessere Lösung fand. Liebergot schaltete sich in das Netz des Flugdirektors ein. »Flight«, sagte er zögernd. »Schießen Sie los«, erwiderte Kranz. »Ich glaube, im Augenblick können wir nichts anderes tun, als die Energie herunterzuschalten.« »O. K.«, sagte Kranz. »Sie wollen die Energie herunterschalten, sich die Telemetrie und das ganze Zeug vornehmen und dann wieder hochschalten?« Liebergot mußte unwillkürlich schmunzeln. Wieder hochschalten? Kranz wollte wissen, ob sich dieses Schiff wieder hochschalten ließ? Nein, wollte er ihm am liebsten sagen, so wie es im Augenblick aussah, war dieses Schiff am Ende und würde nie wieder hochgeschaltet werden können. Aber es war wohl kaum der richtige Zeitpunkt für einen derartigen Meinungswechsel. »Das ist richtig«, bestätigte Liebergot. »Wie weit wollen Sie die Energie herunterschalten?« »Um insgesamt 10 Ampere, Flight.« »Um insgesamt 10 Ampere«, wiederholte Kranz und pfiff leise. Das gesamte Raumfahrzeug verbrauchte nur etwa 50 Ampere. Liebergot schlug demnach vor, 20 Prozent seiner Systeme stillzulegen. Kranz schaltete sich beim CAPCOM ein. »CAPCOM, wir empfehlen Checkliste eins bis fünf zur Energiereduzierung im Notfall. Wir wollen den jetzigen Energieverbrauch bis zu einem Delta von 10 Ampere herunterschalten.« »Roger, Flight«, sagte Lousma und nahm Funkkontakt mit der Kapsel auf. »13, hier ist Houston. Wir möchten, daß ihr
euch die Checkliste vornehmt, die rosa Seiten eins bis fünf. Schaltet die Energie runter, bis wir bei einem Delta von 10 Ampere sind.« Lovell blickte Swigert und Haise an und lächelte verkniffen. Das Drosseln des Energieverbrauchs war der erste nützliche Vorschlag, mit dem die Bodenstation aufwartete. Während Jack Swigert anhand der Anweisungen auf den rosa Seiten die ersten Systeme abschaltete, fuhr Chris Kraft gerade auf den Parkplatz vor Haus 30, dem Gebäude der Mission Control, und rannte durch den Haupteingang auf die Fahrstühle zu. Sobald er im zweiten Stock eintraf und den hohen Raum betrat, wo er im Lauf der Jahre so viele Flüge beaufsichtigt hatte, wußte er, wie schlimm es um diese Mission bestellt war. Eine kleine Gruppe Männer drängte sich um Jack Lousmas CAPCOM-Konsole, und größere Ansammlungen hatten sich um die Konsolen des EECOM und des Flugdirektors gebildet. Kraft begab sich durch den amphitheaterartig abgestuften Kontrollraum hinab zu Kranz’ Konsole in der dritten Reihe, wo Kranz ihn mit einem dankbaren Nicken begrüßte. Kraft stöpselte seinen Kopfhörer an seiner eigenen Konsole an und schaltete sich in den Boden-Bord-Funk und in das Netz des Flugdirektors ein, um zu sehen, was er dabei erfahren konnte. Er erschrak augenblicklich. Von dem Abbruch von Gemini 8 vor fünf Jahren und dem Brand von Apollo 1 vor drei Jahren einmal abgesehen, hatte Kraft noch nie erlebt, daß ein Flugdirektor mit derart vielen Problemen zugleich konfrontiert war. »TELMU und CONTROL, von Flight«, wandte sich Kranz an die für die Lebenserhaltung und die Navigation der Mondfähre zuständigen Offiziere. »Los, Flight«, meldete sich Bob Hesselmeyer, der TELMU. »Könnten Sie sich mal die Daten vor dem Start vornehmen und zusehen, ob Sie irgendeinen Hinweis auf die Ursache des Ausblasens finden?«
»Roger, Flight.« »Und ich möchte in den nächsten fünfzehn Minuten einen Bericht darüber – knapp und anschaulich.« »Roger.« »Network, von Flight«, wandte sich Kranz an die Techniker, die sich um die Computer im Real Time Computer Complex kümmerten, einer im Erdgeschoß des Space Center untergebrachten Abteilung, in der sich die schnellsten Rechner befanden, die die NASA besaß. »Los, Flight.« »Bringen Sie mir einen weiteren Computer im RTCC, ja?« »Wir haben bereits ein Gerät im RTCC, und unten haben wir zwei Rechner.« »O.K. ich möchte ein weiteres Gerät oben im RTCC, und ich brauche zwei Mann, die sich da unten mit Delogs auskennen.« »Roger.« »GNC, Flight«, sagte Kranz. »Los, Flight«, meldete sich der Führungs- und NavigationsOffizier. »Sagen Sie mir, wieviel Treibstoff für die Steuerdüsen bislang insgesamt verbraucht wurde.« »Roger, Flight. Wir sind noch unter Limit.« »EECOM, von Flight.« »Los, Flight.« »Was können Sie über den derzeitigen Zustand der Sammelschienen sagen?« »Ich… äh… geben Sie mir noch zwei Minuten, Flight.« »O.K. Lassen Sie sich Zeit.« Kraft, der die Gespräche des Flugdirektors mithörte, war nicht überrascht, daß Liebergot Schwierigkeiten hatte, die Routineanfrage von Kranz zu beantworten. Selbst der unerfahrenste Mann im Kontrollraum konnte erkennen, daß dieser Notfall vor allem den EECOM anging, und von dessen
Konsole konnten in dieser Nacht keine raschen Antworten kommen. Womit sich Liebergot und sein Unterstützungsteam derzeit befaßten, ließ sich über das Netz des Flugdirektors nicht auf Anhieb feststellen. Auf dem Kanal des EECOM indessen war alles viel klarer – und zugleich weitaus verwirrender. Das Drosseln des Energieverbrauchs und das Anschließen der Batterien waren zwar relativ extreme Maßnahmen, um das Zusammenbrechen der Energieversorgung zu verhindern, aber offensichtlich griffen sie nicht. Die Daten auf den Bildschirmen von Sy Liebergot und seinem Unterstützungsteam ließen erkennen, daß der Druck in Tank Nummer eins auf 318 psi gefallen war, und selbst dieser Sauerstoffvorrat war niedriger, als es den Anschein hatte. Der Sauerstofftank benötigte einen Druck von mindestens 100 psi, damit das Gas durch die Leitungen in die verbliebene Brennstoffzelle strömen konnte. Verlor der Tank weitere 218 psi Druck, dann war der restliche Sauerstoff im Tank nutzlos. Und was noch schlimmer war: Der stetig abfallende Druck im Haupttank hatte dazu geführt, daß sich auch der Auffangtank allmählich leerte. Die »Odyssey« hatte damit begonnen, sich selbst zu zerstören. »He, Sy«, meldete sich Bliss aus dem Nebenkontrollraum. »Wir sollten den Auffangtank abklemmen und weitestgehend auf Kryo gehen. Wir müssen den Auffang retten.« »Geht der Tank runter?« fragte Liebergot. »Roger«, sagte Bliss mit Nachdruck. Liebergot stöhnte auf. »Flight, EECOM«, sagte er. »Los, EECOM.« »Wir sollten den Auffangtank abklemmen und retten. Wir benutzen soweit wie möglich den Kryo.« »Äh, sagen Sie das noch mal«, sagte Kranz skeptisch.
»Wir sollten den Auffangtank in der Kommandokapsel isolieren.« »Wieso das?« blaffte Kranz, der sich noch immer nicht damit abfinden mochte, daß das Schiff so gut wie verloren war. »Ich verstehe das nicht, Sy.« »Ich möchte soweit wie möglich die Kryos verwenden.« »Das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie meiner Ansicht nach tun sollten, wenn Sie die Brennstoffzellen erhalten wollen.« »Die Brennstoffzellen werden von den Tanks im Versorgungsteil gespeist, Flight. Der Auffangtank ist im Kommandoteil. Wir möchten den Auffangtank retten. Wir werden ihn beim Wiedereintritt brauchen.« »O.K.«, sagte Kranz und senkte die Stimme. »Ich kann Ihnen folgen, ich kann Ihnen folgen.« Er ging wieder auf Netz und sagte schicksalsergeben: »CAPCOM, wir isolieren den Auffangtank.« »13, hier Houston«, funkte Lousma. »Wir möchten, daß ihr euren O2-Auffangtank isoliert.« »Roger«, erwiderte Swigert und legte den Schalter für den Auffangtank an der Wiedereintritts-Konsole um. Die Männer am EECOM-Netz konnten währenddessen ihre düsteren Ahnungen kaum noch verhehlen. »George, es sieht übel aus.« »Du sagst es.« »Das geht schief. Wir verlieren es.« »Sieht so aus.« Auf Liebergots und Bliss’ Bildschirmen war der Druck im verbliebenen Sauerstofftank jetzt unter 300 psi, und pro Minute sank er um weitere 1,7 Pfund. Bliss nahm Stift und Notizblock zur Hand und stellte rasch ein paar Berechnungen an.
Seiner Schätzung nach würde der Tank in einer Stunde und vierundfünfzig Minuten unter die kritische Grenze von 100 psi fallen und wäre fortan nutzlos. »Dann wären die Brennstoffzellen hinüber«, sagte Bliss finster zu Liebergot. Liebergot jedoch hatte eine letzte Alternative, aber er griff nur ungern darauf zurück: Er könnte die Reaktanzventile an den beiden defekten Brennstoffzellen schließen lassen. Die Reaktanzventile regulierten den Sauerstoffzufluß aus den riesigen kryogenischen Tanks zu den Zellen. Wenn sich das Leck in Tank Nummer eins weder in der Außenwand noch in den Zuleitungen befand, dann war es vielleicht weiter unten, in einer der beiden Brennstoffzellen. Wenn man die Ventile schloß, würde man entweder den weiteren Sauerstoffverlust unterbinden, so daß sich die Lage in der »Odyssey« wieder stabilisierte und die Energie wieder hochgeschaltet werden konnte, oder aber es bewirkte gar nichts. Dann könnte man das Schiff getrost abschreiben und sich anderweitigen Rettungsplänen zuwenden. Das Problem war nur, daß es kein Zurück mehr gab, wenn die Reaktanzventile erst einmal geschlossen waren. Diese Ventile waren so fein und präzise eingestellt, daß man, waren sie einmal geschlossen, einen ganzen Trupp erfahrener, fachkundiger Techniker brauchte, um sie wieder zu öffnen. Liebergot wußte, daß dieser Vorschlag praktisch auf das Eingeständnis hinausliefe, daß die Mission abgebrochen werden mußte. Liebergot gab sich keinerlei Hoffnung mehr hin, die Kommandokapsel könnte nach Überstehen der Krise noch soweit funktionstüchtig sein, um auch nur den Mond zu umrunden. Aber er hätte gerne darauf verzichtet, diese schlimme Tatsache offiziell auszusprechen. Soweit er jedoch erkennen konnte, blieb ihm keine andere Wahl. »Flight, EECOM«, sagte Liebergot.
»Schießen Sie los, EECOM.« »Ich möchte die Reaktanzventile schließen, zuerst bei Brennstoffzelle drei, und sehen, ob wir das Entweichen stoppen können.« Falls Kranz von der Tragweite seines Vorschlags überrascht war, so zeigte er es diesmal nicht. »CAPCOM«, sagte er ungerührt, »Sie sollen das Reaktanzventil zu Brennstoffzelle Nummer drei schließen. Wir wollen versuchen, den O2-Verlust zu stoppen.« Lousma bestätigte Kranz’ Befehl und funkte das Raumfahrzeug an. »O.K. 13, hier ist Houston. Wie es scheint, verlieren wir über Brennstoffzelle drei O2, deshalb wollen wir das Reaktanzventil an der Brennstoffzelle schließen. Habt ihr verstanden?« »Habe ich recht gehört?« fragte Haise Lousma. »Ihr wollt, daß ich das Reaktanzventil an Brennstoffzelle drei schließe?« »Wird bestätigt«, antwortete Lousma. »Ihr wollt, daß ich die Brennstoffzellen ein für alle Mal stillege?« »Wird bestätigt.« Haise wandte sich an Lovell und nickte betrübt. »Es ist offiziell«, sagte der Astronaut, der vor einer Stunde noch damit gerechnet hatte, als sechster Mensch den Mond zu betreten. »Es ist vorbei«, sagte Lovell, der der fünfte gewesen wäre. »Tut mir leid«, sagte Swigert, der mit dem Mutterschiff in der Mondumlaufbahn geblieben wäre, während seine Kollegen unten herumspazierten. »Wir haben alles getan, was wir konnten.« Liebergot, Bliss, Sheaks und Brown behielten unterdessen gebannt ihre Monitore im Auge, während das Ventil in Brennstoffzelle drei geschlossen wurde. Die Anzeige für Sauerstofftank Nummer eins bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen: Der O2-Verlust ging weiter. Liebergot bat
Kranz, er solle befehlen, auch Brennstoffzelle eins zu schließen. Kranz tat es – und der Sauerstoffverlust ging weiter. Liebergot wandte den Blick von seinem Bildschirm. Damit, so wußte er, waren sie am Ende. Hätte sich die Explosion oder der Meteoriteneinschlag, oder was immer auch das Schiff beschädigt hatte, acht Stunden früher oder eine Stunde später ereignet, hätte ein anderer EECOM die Totenwache halten müssen. Doch der Zwischenfall ereignete sich nach 55 Stunden, 54 Minuten und 53 Sekunden, als rein zufällig gerade die letzte Stunde von Liebergots Schicht lief. Jetzt war Liebergot ohne eigenes Zutun im Begriff, als erster Controller in der Geschichte der bemannten Raumfahrt das ihm anvertraute Schiff zu verlieren. Der EECOM wandte sich nach rechts, wo Bob Hesselmeyer saß, der zuständige Offizier für die lebenserhaltenden Systeme des LEM. Als Liebergot erneut auf Hesselmeyers Bildschirm blickte, mußte er unwillkürlich an die seinerzeitige Simulation denken, diese furchtbare Simulation, die ihn vor ein paar Wochen fast um seinen Job gebracht hätte. »Weißt du noch«, sagte Liebergot, »wie wir uns mit diesen Rettungsbootmaßnahmen befaßt haben?« Hesselmeyer warf ihm einen verständnislosen Blick zu. »Als wir uns bei dieser Simulation mit Betriebsverfahren befaßt haben, wie sich das LEM als Rettungsboot einsetzen läßt?« wiederholte Liebergot. Hesselmeyer schaute nach wie vor verständnislos. »Ich glaube«, sagte Liebergot, »es wird Zeit, daß wir sie hervorholen.« Der EECOM machte sich aufs Schlimmste gefaßt, ging wieder auf Netz und rief den Flugdirektor. »Flight, EECOM.« »Schießen Sie los, EECOM.«
»Der Druck in O2-Tank eins ist bis auf 297 runter«, sagte Liebergot. »Wir sollten besser über ein Umsteigen ins LEM nachdenken.« »Roger, EECOM«, sagte Kranz. »TELMU und CONTROL, von Flight«, meldete er sich bei den für Führung und Lebenserhaltung des LEM zuständigen Offizieren. »Los, Flight.« »Ich möchte, daß Sie sich von ein paar Leuten ausrechnen lassen, wieviel Energie wir zur Lebenserhaltung im LEM mindestens brauchen.« »Roger.« »Und ich möchte LEM-Besetzung rund um die Uhr.« »Ebenfalls Roger.«
Zur selben Zeit, da dieses Gespräch stattfand, stellte Swigert fest, daß die Angaben bezüglich des Sauerstoffdruckes im Raumfahrzeug noch düsterer aussahen als am Boden: Der Druck in Tank eins war auf nur mehr 205 psi gefallen. »Houston«, meldete er sich wieder über Funk, »sieht so aus, als wäre der Druck von O2-Tank eins bloß noch knapp über 200. Habt ihr den Eindruck, daß er immer noch sinkt?« »Er geht langsam auf Null«, antwortete Lousma. »Wir denken gerade darüber nach, das LEM als Rettungsboot zu verwenden.« Swigert, Lovell und Haise nickten einander zu. »Ja«, sagte der Pilot der Kommandokapsel, »genau darüber denken wir auch nach.« Als schließlich das O.K. der Bodenstation zum Verlassen des Schiffes vorlag, verlor die Besatzung keine Zeit mehr. Wenn die drei Männer nach wie vor auf eine Rückkehr zur Erde hoffen wollten, konnten sie nicht einfach ins LEM umsteigen und ihr angeschlagenes Mutterschiff im Stich lassen. Da die
»Odyssey« für den Wiedereintritt in die Erdatmosphäre am Ende des Flugs noch gebraucht wurde, mußten sie vielmehr ein System nach dem anderen abschalten, damit die Instrumente weiter betriebsbereit und die Einstellungen erhalten blieben. Unter idealen Bedingungen erledigten dies alle drei Männer; unter den derzeitigen Bedingungen jedoch mußte sich Swigert alleine darum kümmern, weil die »Aquarius« zur selben Zeit, da die »Odyssey« stillgelegt wurde, in Betrieb genommen werden mußte, und diese Aufgabe mußten zwei Mann erledigen, bevor in der Kommandokapsel endgültig die Lichter ausgingen. Lovell und Haise schwebten in das LEM, aus dem sie vor knapp zwei Stunden ihren munteren Reisebericht gesendet hatten. Haise bezog seinen Platz auf der rechten Seite des Raumfahrzeugs und studierte die abgeschalteten Instrumente. Lovell trieb zu seinem Platz auf der linken Seite. »Ich hätte nicht gedacht, daß wir so rasch wieder hierherkommen«, sagte Haise. »Sei froh, daß du überhaupt hierherkommen kannst«, gab Lovell zurück. Die Aussicht, bald wieder ein intaktes Schiff befehligen zu können, gab Lovell vorübergehend neue Hoffnung, aber Houston war im Begriff, sie zunichte zu machen. In der Mission Control räumten die Controller der Nachmittagsschicht etwa zu diesem Zeitpunkt ihre Konsolen für die Nachtschicht. Die noch frischen Techniker aus Glynn Lunneys Team trafen an ihren Plätzen ein, stöpselten ihre Kopfhörer in die Buchsen an den Konsolen und standen schweigend neben den total erschöpften Männern, die seit zwei Uhr nachmittags im Dienst waren. An der Konsole des Flugdirektors bereitete sich Lunney darauf vor, Gene Kranz abzulösen. An der Konsole des EECOM trat Clint Burton neben Liebergot und legte ihm
mitfühlend die Hand auf die Schulter. Liebergot blickte auf, lächelte müde, schob sich von der Konsole hoch und deutete mit einem besorgten Achselzucken auf seinen Platz. Burton nickte, setzte sich vor den Bildschirm und stellte augenblicklich fest, daß sich die Lage weiter verschlimmert hatte. »George«, sagte er zu Bliss, der nach wie vor im Nebenkontrollraum arbeitete, »wie lange hält der Tank noch durch?« »Äh…« Bliss stockte, konsultierte seine Daten und berechnete die Verlustgeschwindigkeit. »Etwas über eine Stunde. Wir bekommen einen neuen Wert.« »Ich habe nicht verstanden«, sagte Burton ungläubig und wechselte einen erschrockenen Blick mit dem neben ihm stehenden Liebergot. »Wir bekommen gerade einen neuen Wert, Clint«, wiederholte Bliss. »O.K. Ich möchte, daß du so genau wie möglich nachrechnest.« »Roger.« Burton wollte der Besatzung keine neuen Schätzungen übermitteln, bevor Bliss mit seinen Berechnungen fertig war, und kurz darauf war er froh darum. Als er die Sauerstoffdaten überprüfte, stellte Bliss fest, daß die Verlustrate von 1,7 Pfund pro Minute auf 3 Pfund und mehr gestiegen war. »EECOM, ECS«, sagte Bliss. »Wir haben noch für etwas weniger als vierzig Minuten Sauerstoff in Tank eins.« Nach einer kurzen Unterbrechung meldete er sich erneut: »Die Verlustrate steigt ständig, EECOM. Jetzt sieht es aus, als blieben uns nur noch etwa achtzehn Minuten.« Einen Moment später teilte Bliss Burton mit, daß sie statt der vorausgesagten achtzehn Minuten nur mehr sieben hätten. Eine Minute darauf waren es nur noch vier.
»Flight, EECOM«, sagte Burton. »Schießen Sie los.« »Wir müssen den Auffangtank öffnen. Der Druck fällt ab.« »Sollten sie nicht lieber mit Luft aus dem LEM versorgt werden?« fragte Lunney. »Erst müssen wir das LEM in Betrieb nehmen!« drängte Bliss über Burtons Kopfhörer. »Wir müssen erst ins LEM hinein, Flight«, wiederholte Burton. »CAPCOM, sagen Sie ihnen, sie sollen ins LEM!« befahl Lunney. »Wir müssen die Sauerstoffzufuhr im LEM aktivieren!« »13, Houston«, meldete sich Lousma bei Swigert. Er war noch nicht abgelöst worden und saß nach wie vor an der Konsole des CAPCOM. »Wir möchten, daß ihr euch jetzt ins LEM aufmacht.« Swigert hörte Lousmas Befehl, war aber nicht gewillt, sofort darauf zu reagieren. Er wußte, daß er zumindest eine Zeitlang von der in der Kommandokapsel verbliebenen Atemluft leben konnte, und er wollte nicht umsteigen, bevor er mit dem Abschalten fertig war. »Fred und Jim sind bereits im LEM«, sagte er. Während Swigert in aller Eile die Geräte abstellte, bemühten sich Lovell und Haise, das LEM in Betrieb zu nehmen. Ihr erstes Augenmerk galt der Führungsplattform. Die »Aquarius« war mit einem aus drei Kreiseln bestehenden Führungssystem ausgestattet, das grundsätzlich mit dem der »Odyssey« identisch war. Bevor die Plattform benutzt werden konnte, mußte Swigert als Pilot der Kommandokapsel laut Einschaltprotokoll die Ausrichtung und die Koordinaten seines Raumfahrzeugs notieren und sie an den Kommandanten im LEM weitergeben. Der Kommandant nahm dann rasch ein paar entsprechende Berechnungen zu jeder Koordinate vor,
damit die leicht unterschiedliche Ausrichtung von LEM und Kommandokapsel berücksichtigt wurde, und tippte die angeglichenen Zahlen in den Computer des LEM ein. Diese Berechnungen und Eingaben mußten erfolgen, bevor die »Odyssey« endgültig abgeschaltet wurde, da sonst sämtliche Daten in ihrem Computer für immer verloren waren. In aller Eile riß Lovell ein leeres Blatt aus dem Flugplan und holte einen Stift aus der Oberarmtasche seiner Fliegerkombination. Lovell unterbrach Swigert und Haise, die sich Abschaltwerte zuriefen, und verlangte die ersten Koordinaten, die Swigert prompt lieferte. Doch als der Kommandant die Zahlen auf seinen Notizzettel schrieb und die notwendigen Berechnungen anstellen wollte, packte ihn kurzfristig Panik, und er war plötzlich unsicher, ob er selbst derart simple Additionen und Subtraktionen meistern könnte. »Houston«, sagte Lovell. »Ich habe ein paar Zahlen für euch, aber ich möchte, daß ihr meine bisherigen Berechnungen nachprüft.« »O.K. Jim«, erwiderte Lousma leicht irritiert. »Der Roll-CAL-Winkel ist minus 2 Grad«, sagte Lovell mit einem Blick auf sein Blatt. »Die Winkel für die Kommandokapsel lauten 355.116778 und 351.87.« »Roger, wir verstehen.« Stille kehrte ein, als die Männer an der Führungskonsole Lovells Rechenkünste überprüften und Lousma dann mit erhobenem Daumen zuwinkten. »O.K. Aquarius«, sagte er, »für uns sehen eure Berechnungen gut aus.« Lovell signalisierte Haise, er solle die Zahlen in den Computer eintippen, ließ sich von Swigert die übrigen Koordinaten geben, und während der nächsten Minuten arbeitete die Besatzung hektisch, legte Trennschalter um und betätigte jeden für die Wiederinbetriebnahme des Raumfahrzeuges notwendigen Knopf und Regler. Dies ging
ziemlich chaotisch vonstatten, da die Bodenkontrolle den Astronauten Anweisungen zurief und die Besatzung Rückfragen stellte, so daß die Gespräche sich oftmals überschnitten und keine der beiden Seiten brauchbare Informationen erhielt. Glynn Lunney, der bei diesem Wortsalat kurz die Orientierung verlor, befahl versehentlich, in der »Odyssey« die Lagesteuerraketen abzuschalten, bevor in der »Aquarius« die entsprechenden Düsen aktiviert waren, und einen Augenblick lang drohte der »Aquarius« ein Blockieren der Kreiselplattform. Zu guter Letzt aber war das Raumfahrzeug einsatzbereit und Lovell gab Houston Bescheid. »O.K.«, funkte er Lousma an. »Aquarius ist an, und Odyssey ist gemäß den Betriebsverfahren, die ihr Jack durchgegeben habt, abgeschaltet.« »Roger, wir verstehen«, antwortete Lousma. »Genau so soll es sein, Jim.« Swigert, der sich noch in der inzwischen dunklen und stillen »Odyssey« befand, ließ den Blick durch die Kapsel schweifen, noch nicht bereit, sein »Reich« aufzugeben. Oft gab es unter den Besatzungen, die zum Mond flogen, leichte Auseinandersetzungen darüber, welche zwei Astronauten auf dem Mond landen sollten und wen man mit der weit weniger attraktiven Aufgabe betrauen sollte, weiter in der Mondumlaufbahn zu bleiben. Manch ein Kapselpilot empfand dieses Herumkreisen als einen Affront, eine Beleidigung seiner fliegerischen Fähigkeiten. Schließlich vergab die NASA die anspruchsvollsten Aufgaben bei einer Mission immer an die besten Piloten. Swigert hatte die Sache nie so gesehen. Er mochte seine Aufgabe und war stolz darauf. Sicher war sie nicht ganz so aufregend wie die des Kommandanten oder des LEM-Piloten, aber dafür hatte sie andere Vorteile. Der Pilot der Kommandokapsel war es, der bei dieser Expedition ins
Unbekannte grundsätzlich am Ruder saß; der als Navigator fungierte, der das Schiff punktgenau dahin steuerte, wo die beiden anderen ihr Landefahrzeug abkoppeln und mit dem Abstieg zum Mond beginnen konnten; und er war es auch, der zur Stelle sein und das Rendezvous-Manöver leiten mußte, wenn sie wieder aufstiegen. Und notfalls wurde vom Kapselpiloten auch verlangt, sein Raumfahrzeug alleine zurückzufliegen, falls seine Kameraden den Wiederaufstieg nicht schafften. Man hatte Swigert ein wunderbares Schiff in die Hand gegeben, damit er all diese Aufgaben erfüllen konnte, und nun mußte er aufgrund von Pech und Zufall dieses Schiff aufgeben. Zumindest so lange, bis ihm, Lovell, Haise und der NASA etwas einfiele, wie sie das Raumfahrzeug wieder in Betrieb nehmen konnten. Swigert schwebte aus der rasch abkühlenden »Odyssey« durch den Tunnel in die langsam wärmer werdende »Aquarius« und ließ sich zu Lovell und Haise hintreiben. »Jetzt seid ihr dran«, sagte er.
Glynn Lunney gönnte sich einen Moment Zeit und atmete erleichtert durch – aber nur kurz. Seine Crew war gerade von einem Schiff, in dem sie die nächsten paar Minuten mit Sicherheit nicht überlebt hätte, in ein anderes umgestiegen, in dem sie wahrscheinlich die nächsten paar Tage nicht überleben würde. Das war natürlich eine Verbesserung, wenn auch nur von begrenztem Wert. Lunneys momentane Sorge galt nicht den Lebenserhaltungssystemen im LEM. Es würde sich einfach zeigen müssen, ob genügend Sauerstoff-, Wasser- und Energiereserven an Bord waren, um die drei Männer so lange zu versorgen, bis sie wieder zur Erde zurückkehrten. Was ihm Kopfzerbrechen bereitete, war die Flugbahn des Raumfahrzeugs.
Beim Abbruch eines Mondfluges gab es ein paar Möglichkeiten, das angeschlagene Schiff zur Erde zurückzuholen. Die naheliegendste war der sogenannte direkte Abort, bei dem die in Richtung Mond fliegende Besatzung Kommando- und Versorgungsteil umdrehte, so daß sie mit dem Heck voran flog, dann das Haupttriebwerk zündete und knapp über fünf Minuten lang mit der vollen Schubkraft von 9 Tonnen brennen ließ. Durch dieses Manöver sollte das Raumfahrzeug – das sich mit etwa 25000 Kilometern pro Stunde bewegte – zum Stillstand kommen und dann in die entgegengesetzte Richtung fliegen. Eine Alternative zum direkten Abort war der sogenannte circumlunare Abort. Wenn sich das Raumfahrzeug bereits zu nahe am Mond befand, blieb es weiter in der freien Rückkehrbahn, umrundete den Erdtrabanten und wurde aufgrund der Schwerkraft wie mit einer Wurf schlinge zurückgeschleudert. Dieses Manöver konnte länger dauern als der direkte Abort, hatte aber den Vorteil, daß dazu keine Zündung des Haupttriebwerks, kein Umdrehen auf halber Strecke erforderlich war – genaugenommen mußte die Besatzung einfach nur weiterfliegen. Bei Apollo 13 kam die freie Rückkehrbahn nur begrenzt in Frage. Der außergewöhnliche Kurs, auf dem das Schiff die Fra-Mauro-Region ansteuern sollte, verlief abseits der Freiflugbahn. In einer derartigen Situation sah der Flugplan ein Manöver vor, das man PC+2-Brennphase nannte. Zwei Stunden nach Passieren des Pericynthion – dem niedrigsten, auf der Rückseite gelegenen Punkt in der Umlaufbahn um den Mond – würde das Raumfahrzeug sein Haupttriebwerk zünden, wodurch der Kurs soweit korrigiert wurde, daß das Raumfahrzeug wieder auf die Freiflugbahn geriet. Zugleich
nahm auch die Geschwindigkeit zu, so daß die Zeit für den Rückflug verkürzt wurde. Die Missionsplaner bei der NASA waren froh, daß ihnen mehrere Möglichkeiten zur Verfügung standen. Und bei derart heiklen Manövern wie einer Notzündung zum Abbruch der Mission und zur Rückführung des Raumfahrzeugs zur Erde war diese Auswahl auch erforderlich. In diesem Fall jedoch hätten sie gern die eine oder andere Möglichkeit mehr gehabt. Nahezu jedes in den Flugplänen festgeschriebene und von den Besatzungen einstudierte Abortprotokoll ging von der Voraussetzung aus, daß zumindest ein wichtiger Bestandteil des Raumfahrzeugs zur Verfügung stand: Das riesige Haupttriebwerk am Versorgungsteil. Wenn das Triebwerk nicht schon bei dem Knall, der das Schiff erschüttert hatte, beschädigt worden war, dann war es durch den Energieverlust so gut wie unmöglich geworden, den für die Zündung notwendigen Strom zu erzeugen. Natürlich hatte auch das LEM ein Triebwerk – genaugenommen hatte das LEM sogar zwei Triebwerke, eins für den Abstieg und eins zum Aufsteigen –, aber für einen derartigen Flug war das LEM nicht konstruiert. Es war durchaus möglich, daß sich die aneinandergekoppelten Schiffe mit gelegentlichen Schüben durch die beiden Triebwerke des Landefahrzeuges steuern ließen – aber konnten sie auch die Schubkraft leisten, die für eine Rückkehr zur Erde erforderlich war? Die Ingenieure wollten darüber gar nicht erst nachdenken. Aber solange niemand eine Möglichkeit fand, wie man den angeschlagenen Versorgungsteil wieder flottbekam, war dies die einzige Chance für eine Rückkehr – und dieses noch nie erprobte Manöver mußte während Lunneys Schicht ausgearbeitet und durchgeführt werden.
»O.K. Alle herhören«, wandte sich Lunney über Funk ruhig an den Kontrollraum. »Wir müssen uns mit einer Menge Probleme von großer Tragweite herumschlagen.«
Das Haus von Marilyn und Jim Lovell im Houstoner Vorort Timber Cove füllte sich unterdessen mit Nachbarn, Freunden von Nachbarn, NASA-Angestellten und deren Gattinnen, Protokolloffizieren und ihren Assistenten. Marilyn empfing jeden neuen Besucher und wunderte sich nur, woher all diese Menschen die Neuigkeit wußten, die sie, die Frau des in Gefahr schwebenden Astronauten, gerade erst selbst erfahren hatte. Die Neuankömmlinge gesellten sich zu Elsa Johnson, den Conrads und anderen und halfen ihnen, die Reporter abzuwimmeln, an die ununterbrochen klingelnden Telefone zu gehen und sich um die Frau zu kümmern, deren Mann, wenn man Jules Bergman Glauben schenkte, den morgigen Tag mit 90prozentiger Wahrscheinlichkeit nicht überleben würde.
6
Dienstag, 14. April, 1:00 Uhr, Ostküstenzeit Chris Kraft hatte in dieser Nacht keine große Lust, eine Pressekonferenz abzuhalten. Aber er nahm an, daß er nicht umhin konnte; genaugenommen wußte er, daß er nicht umhin konnte. Bei den anderen Notsituationen, nach denen ihn die Presse gerne fragte – dem Carpenter-Flug, dem Glenn-Flug, den nicht funktionierenden Steuerdüsen bei Gemini 8 – hatte er nicht die Zeit gehabt, mit Reportern herumzutrödeln. Diese Notfälle waren in der Erdumlaufbahn eingetreten, so daß es bis zur Landung nur etwa eine halbe Stunde dauerte, und als die Krise soweit bereinigt gewesen war, daß er mit der Presse sprechen konnte, trieben die Kapseln bereits im Wasser, und die Kameramänner hatten Lohnenderes zu filmen als einen Flugdirektor, der am Podium saß und Fragen beantwortete. In dieser Nacht jedoch ging alles viel langsamer, und seit dem Augenblick, als es sich herumgesprochen hatte, daß es an Bord von Apollo 13 ein Problem gab, hatten die Reporter Stellungnahmen von den Männern im Kontrollraum verlangt. Sobald Lovell, Swigert und Haise in die »Aquarius« umgestiegen waren, hatte Bob Gilruth, der Direktor des Space Center, Kraft, McDivitt und Flugbetriebsdirektor Sig Sjoberg gebeten, die Presse zufriedenzustellen. Die Pressekonferenz hatte in dem ein paar hundert Meter von der Mission Control entfernten Gebäude für Öffentlichkeitsarbeit stattgefunden. Kraft war die knapp einen halben Kilometer lange Strecke gerannt, und nun, da die Konferenz zu Ende war, rannte er noch schneller wieder zurück.
Obwohl der stellvertretende Direktor des Space Center nur eine halbe Stunde fortgewesen war, sah er, sobald er wieder in die Mission Control kam, daß sich die Atmosphäre dramatisch verändert hatte. An der EECOM-Konsole herrschte nun, da das Mutterschiff weitgehend stillgelegt war, weitaus weniger Betrieb. Am Bildschirm, auf dem zuvor die alarmierenden Daten bezüglich der Sauerstoff- und Energieversorgung der angeschlagenen »Odyssey« aufgeblinkt hatten, war jetzt hauptsächlich eine gerade Linie mit Nullen und Leerstellen zu sehen. Clint Burton und eine Handvoll weiterer Techniker standen da, tuschelten miteinander und beugten sich über die Konsole, um gelegentlich einen Blick auf den Schirm zu werfen, so als gäbe es noch immer eine Chance, das stillgelegte Raumfahrzeug wieder in Betrieb zu nehmen. Aber die eigentliche Arbeit an dieser Konsole war vorüber. An anderen Kontrollpulten war die Stimmung weitaus weniger gedämpft. Obwohl mittlerweile Glynn Lunneys Team übernommen hatte, machte Gene Kranz’ Team keine Anstalten, den Raum zu verlassen. An den meisten Konsolen standen die unlängst abgelösten Controller hinter ihren Nachfolgern und blickten wie gebannt auf die Bildschirme, die sie während der vergangenen acht Stunden überwacht hatten. An der Konsole des CAPCOM saß Jack Lousma die meiste Zeit alleine, damit er seine Unterredungen mit der Besatzung in Ruhe führen konnte. Die anderen Konsolen, an denen normalerweise immer nur ein Mann saß, waren von Menschentrauben umlagert. Der größte Andrang herrschte wie schon zuvor an der Konsole des Flugdirektors, wo Lunney die Haussprechanlage bediente, während Kranz hinter ihm auf- und abging, und gelegentlich diverse Controller seines Teams zur Beratung zu sich zitierte. Als Kraft zu den beiden Flugdirektoren hinging und einen Blick auf die Konsole warf, war ihm klar, daß sie
alle Hände voll zu tun hatten. Über Lunneys Monitor leuchtete eine Reihe von grünen, gelben und roten Lämpchen, die wiederum mit den anderen Konsolen im Raum verbunden waren. Während des Starts informierten die Controller den Flugdirektor mittels dieser Lämpchen über den Zustand ihrer Systeme in der kurzen, aber heiklen Phase zwischen dem Abheben des Raumfahrzeugs von der Rampe und dem Zeitpunkt, bis es in die Erdumlaufbahn eintrat. Ein grünes Licht zeigte an, daß die Systeme der Controller normal funktionierten, ein gelbes hieß, daß es ein Problem gab und der Controller unbedingt mit dem Flugdirektor sprechen mußte, und ein rotes bedeutete, daß Gründe für einen Abbruch vorlagen. Nach der Startphase wurden diese Lämpchen überflüssig, und im Laufe der Zeit waren die Flugdirektoren dazu übergegangen, mit ihrer Hilfe festzustellen, welcher Controller sie sprechen wollte. Ein Controller, der per Kommunikationsnetz eine Frage oder eine Bitte vorbringen wollte, bekam häufig mitgeteilt, er möge »auf Gelb gehen«, damit der Flugdirektor sich mit dem Problem auseinandersetzen konnte, ohne die Rückmeldung zu vergessen. An Lunneys Konsole blinkten derzeit über die Hälfte der zwei Dutzend Lämpchen gelb auf, und als sich der Flugdirektor ins Netz einschaltete, hatte er fast alle Controller in der Leitung. »O.K.«, sagte Lunney in sein Mikrophon, »ich möchte, daß alle mal einen Moment herhören. RETRO, GUIDO, CONTROL, TELMU, GNC, EECOM, CAPCOM, INGO und FAO. Ich möchte, daß jeder sich zuschaltet. Gebt mir bitte ein Gelb.« Sofort erloschen die grünen Lichter an Lunneys Konsole, und die gelben blinkten auf.
»Aufgepaßt«, sagte Lunney, »ich möchte den derzeitigen Stand der Dinge in jeder Hinsicht durchgehen. Am wichtigsten ist zunächst einmal, daß wir das Triebwerk zünden. Dazu müssen wir zuerst Flugbahn und Lage in Ordnung bringen. Wir müssen die Energie im LEM herunterschalten und alles abklemmen, was nicht unbedingt erforderlich ist, damit wir nicht unnötig Strom verbrauchen. Und wir brauchen Leute, die nicht an den Konsolen eingespannt sind, damit sie sich mit den langfristigen Problemen befassen, die sich aus dem Einsatz des LEM als Rettungsboot ergeben. TELMU, ich nehme an, Sie arbeiten an sämtlichen Versorgungsproblemen – O2, Wasser, Energie?« »Roger, Flight«, antwortete der TELMU. »Können Sie schon einen allgemeinen Überblick geben? Haben Sie schon eine Möglichkeit herausgefunden, wie wir mit den vorhandenen Reserven zurückkommen können?« »Negativ, Flight.« »Arbeiten wir daran?« »Wir arbeiten daran.« »In Ordnung. Ich möchte darüber weiter auf dem laufenden gehalten werden.« »Roger, Flight.« »CONTROL, Flight«, meldete sich Lunney danach. »Los, Flight.« »Wir müssen nach wie vor die Lage und Bewegung des Raumfahrzeugs in den Griff bekommen, bevor wir den Motor zünden können. Arbeiten Sie an dem Problem?« »Bestätigt.« »Stehen wir kurz vor einer Lösung?« »Negativ.« »Wie lange, glauben Sie, wird es noch dauern?« »Das kann ich jetzt noch nicht einschätzen, Flight. Wir versuchen Ihnen so schnell wie möglich etwas zu liefern.
Grumman hat uns ein Verfahren mitgeteilt, wie wir den Autopilot des LEM unter Berücksichtigung des toten Kommando- und Versorgungsteils programmieren können. Ich schlage vor, Sie schicken eine Crew in den Simulator und lassen sie ausprobieren, ob es funktioniert.« »FIDO, Flight«, sagte Lunney. »Los, Flight.« »Wie ist zum jetzigen Zeitpunkt die größte Annäherung an den Mond?« »Etwa 100 Kilometer, Flight.« »Bergung, Flight.« »Los, Flight.« »Was für Schiffe haben wir in den Landegebieten stehen?« »Kümmern uns gerade um die Feststellung von Schiffen im Atlantischen und Indischen Ozean.« »O.K. Gentlemen«, sagte Lunney. »Das sind die Hauptpunkte, die mir derzeit einfallen. Ich möchte, daß wir ein paar davon bereinigen. Hat jemand sonst noch etwas zu besprechen? RETRO?« »Negativ, Flight.« »GUIDO?« »Negativ, Flight.« »GNC?« »Negativ, Flight.« »FIDO?« »Negativ, Flight.« »CAPCOM?« »Negativ, Flight.« »O.K. ihr könnt jetzt wieder auf Grün gehen. Aber wir sollten uns darüber im klaren sein, daß wir diesbezüglich am Ball bleiben und die Sache richtig durchziehen müssen.« Das komplizierteste Problem, mit dem sich Lunney befassen mußte, war die Zündung. Seit die Astronauten vor etwa einer
Stunde in die »Aquarius« umgestiegen waren, hatte man noch keine endgültige Entscheidung darüber getroffen, wie man die aneinandergekoppelten Schiffe auf Heimatkurs steuern wollte, und da die Geschwindigkeit des Raumfahrzeuges mit zunehmender Annäherung an den Mond auf bis zu 8000 Kilometer pro Stunde stieg, blieben in Bälde nur noch wenige Möglichkeiten übrig. Ein direkter Abort, falls er überhaupt versucht werden sollte, wurde immer schwieriger, je weiter sich das Schiff von der Erde entfernte. Eine PC+2-Zündung würde jede Menge Planung erfordern, und die Zeit bis zum Erreichen des Pericynthion wurde immer knapper. Natürlich konnte man das Triebwerk jederzeit nach Erreichen des PC+2Punktes zünden, aber je früher die Zündung erfolgte, desto weniger Treibstoff verbrauchte man zum Einschießen in die Flugbahn in Richtung Erde. Kraft wußte, welche Rückholroute er wählen würde. Das Haupttriebwerk fiel aus, dessen war er sicher. Kraft bezweifelte, ob die angeschlagene »Odyssey« der Belastung standhalten würde, selbst wenn man eine Möglichkeit finden sollte, die für die Zündung erforderliche Energie zu erzeugen. Niemand wußte, in welchem Zustand der Versorgungsteil war, aber der Heftigkeit des Knalls nach zu schließen, war es durchaus möglich, daß durch den jähen Schub von 9 Tonnen der gesamte hintere Teil des Raumfahrzeuges wegknickte und die aneinandergekoppelten Einzelbausteine – LEM, Kommando- und Versorgungsteil – nicht etwa in Richtung Erde befördert wurden, sondern geradewegs auf den Mond zutrudelten. Kraft war klar, daß es nur eine Möglichkeit gab, die Jungs heimzuholen: Sie mußten den Antrieb des LEM einsetzen – und, was noch wichtiger war, sie mußten ihn auf der Stelle einsetzen. Apollo 13 würde nicht vor morgen nachmittag hinter dem Mond verschwinden, und von da an würde es
weitere drei Stunden dauern, bis das Schiff den PC+2-Punkt erreichte. Mit dem Einschuß in die richtige Flugbahn über einen halben Tag zu warten, wäre bestenfalls fahrlässig und schlimmstenfalls grobe Rücksichtslosigkeit gegenüber der Crew. Kraft wollte statt dessen, daß das Abstiegstriebwerk sofort gezündet wurde, um Apollo 13 auf die freie Rückkehrbahn zu steuern. Wenn das Raumfahrzeug dann wieder hinter dem Mond hervorkam und den PC+2-Punkt erreichte, sollte die Crew alle weiteren zur Kurskorrektur und Beschleunigung erforderlichen Manöver durchführen. Kraft wollte sich gerade mit seinem Vorschlag an Kranz wenden, als dieser sich zu ihm umdrehte. »Chris«, sagte er, »verflucht, ich trau’ einfach dem Triebwerk vom Versorgungsteil nicht.« »Ich auch nicht, Gene«, erwiderte Kraft. »Ich weiß nicht genau, ob wir ihn zünden können, wenn wir ihn brauchen.« »Ich auch nicht.« »Eins steht jedenfalls fest: Ich glaube, wir müssen um den Mond herum.« »Da stimme ich zu«, erklärte Kraft. »Wann soll die Zündung erfolgen?« »Nun, bis morgen nachmittag will ich jedenfalls nicht warten«, sagte Kranz. »Wie wär’s, wenn wir jetzt mit einer kurzen Brennphase auf Freiflug gehen? Dann hätten wir das schon mal hinter uns, und danach können wir uns überlegen, ob wir ihnen morgen mit einem PC+2 ein bißchen mehr Tempo geben wollen.« Kraft nickte. »Gene«, sagte er schließlich, »ich glaube, das ist eine gute Idee.« Die drei Männer, die sich annähernd 400000 Kilometer entfernt im engen Cockpit der »Aquarius« befanden, mußten sich mit profaneren Dingen befassen als mit einer
Triebwerkzündung zum Einschuß in die Rückflugbahn zur Erde. Während sich die dreiköpfige Besatzung in dem für zwei Mann gebauten Raumfahrzeug einrichtete, hatte Lovell Gelegenheit, sich einmal genauer anzusehen, wie es um seine Chancen bestellt war. Das, was er sah, gefiel ihm ganz und gar nicht. Der Kommandant stand an seinem Platz im linken Kabinenteil, eingezwängt zwischen der Backbordwand auf der einen und einem aus der Wand ragenden Bedienungselement mit den Griffen für die Lagesteuerung auf der anderen Seite. Haise stand rechts außen, wo er sich zwischen die Steuerbordwand und die Lagesteuerung auf seiner Seite quetschen mußte. Swigert saß hinter den beiden Piloten auf einer erhöhten Stelle im Boden, unter der sich das für den Wiederaufstieg vom Mond benötigte Triebwerk befand. Wenn Lovell zu weit nach rechts geriet, stieß er gegen Swigert, der wiederum gegen Haise gedrückt wurde. Wenn Haise sich zu weit nach links treiben ließ, lief das Ganze umgekehrt ab. Da die für zwei Mann konstruierte Kabine nun von drei Mann aufgewärmt wurde, und weil die Stromversorgung und die lebenserhaltenden Systeme allmählich Wirkung zeigten, stieg die Temperatur in der zuvor eiskalten »Aquarius« langsam an – aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. In der »Odyssey« war die Temperatur nach dem Abschalten fast augenblicklich gefallen, und als Lovell vor dem Umsteigen in die »Aquarius« ein letztes Mal die Daten der lebensversorgenden Systeme überprüft hatte, stand das Thermometer bei knapp 14 Grad und sank weiter. Jetzt, da sämtliche Geräte in der Kommandokapsel abgeschaltet waren, wurde es in der Kabine deutlich kälter, und da der Tunnel zwischen den beiden Raumfahrzeugen wegen der klemmenden Luke noch immer nicht verschlossen war, sank auch die Temperatur in der Mondfähre. Schon jetzt bildete sich
aufgrund der Kälte und der Ausdünstung der drei Männer Kondenswasser an Wänden und Fenstern. »Wird nicht leicht werden, das Ding zu fliegen, wenn wir nicht mal aus dem Fenster sehen können«, sagte Lovell zu niemand speziellem, als er einen Blick durch das beschlagene dreieckige Bullauge vor seinem Gesicht warf. »Wir werden sie abwischen«, sagte Haise. »Und wir werden sie ständig abwischen müssen. Je kälter es wird, desto mehr werden sie beschlagen.« »Kannst du da draußen überhaupt etwas sehen?« fragte Haise. Lovell wischte ein Guckloch an seinem Fenster frei und spähte hinaus. Der Anblick, der sich aus der »Aquarius« bot, ähnelte weitgehend dem aus der »Odyssey«: Eine wirbelnde Wolke aus gefrorenen Sauerstoffkristallen und Partikeln, die vermutlich von der Explosion herrührten. »Genau die gleiche Mistwolke wie von nebenan«, sagte er. »Nun ja, die werden wir wohl nicht wegkriegen, oder?« sagte Haise mürrisch. »Weißt du«, sagte Lovell an Swigert gewandt, »wenn es hier drin kalt wird, dann wird’s in der Odyssey eisig. Vielleicht sollten wir etwas Verpflegung und Wasser rüberholen, bevor es zu spät ist.« »Soll ich es übernehmen?« fragte Swigert. »Das wäre eine große Hilfe. Füll so viele Trinkbeutel wie möglich mit Frischwasser aus dem Tank und nimm ein paar Essensbeutel mit.« »Bin schon unterwegs«, sagte Swigert. Die Rationen für den zehntägigen Flug zum Mond waren mehr als großzügig bemessen, so daß die Speisekammer der »Odyssey« bis zum Bersten gefüllt war. Es gab Beutel mit Truthahn und Soße, Spaghetti bolognese, Hühnersuppe, Hühnersalat, Erbsensuppe, Thunfischsalat, Rühreiern,
Cornflakes, Brotaufstrich, Schokoriegeln, Pfirsichen, Birnen, Aprikosen, Schinkenstreifen, Pasteten, Orangengetränken, Zimttoasts, Keksen und vielem anderen mehr. Die Beutel waren mit unterschiedlich gefärbten Klettverschlüssen versehen, anhand derer jedes Besatzungsmitglied seine Rationen erkannte. Swigert schnappte sich einige Handvoll Beutel und ließ sie neben sich in der Luft treiben. Dann wandte er sich dem Trinkwassertank zu, nahm ein paar Trinkbeutel und wollte sie mit Hilfe der an einem biegsamen Schlauch befestigten Plastikspritzpistole füllen. Der erste Versuch ging jedoch daneben, und eine quecksilberartige Wasserkugel trieb zu Boden und spritzte auf Swigerts weiche Stoffschuhe. »Verdammt!« stieß Swigert hervor. »Stimmt was nicht?« rief Haise. »Nein. Ich habe mir bloß die Schuhe naß gemacht.« »Die trocknen wieder«, sagte Haise. »Die gefrieren, bevor sie trocknen«, versetzte Swigert. Für Lovell war der äußere Zustand des Raumfahrzeugs wichtiger als die Haushaltsführung im Inneren. Obwohl er nicht erwartet hatte, daß die bei dem Störfall freigesetzte Wolke aus Gas und Trümmern sich so rasch auflösen würde, war der Ausblick durch das beschlagene Fenster nach wie vor entmutigend. Der das Schiff umgebende Hof stellte an sich kein Sicherheitsproblem dar. Da sich das Raumfahrzeug und die Trümmer außen herum mit annähernd gleicher Geschwindigkeit fortbewegten, war es unwahrscheinlich, daß eins der Bruchstücke mit dem Schiff kollidierte. Und sollte dies doch geschehen, war die Differenz in der relativen Geschwindigkeit von Trümmern und Raumfahrzeug so gering, daß allenfalls eine leichte Beule entstehen konnte. Weitaus mehr Sorgen machte sich Lovell denn auch wegen der Navigation.
Der Kommandant konnte nur hoffen, daß die Angaben, die er in den Computer des LEM eingegeben hatte, einigermaßen ausreichten, damit das Führungssystem die wahre Lage des LEM feststellen konnte. Aber um das Raumfahrzeug so präzise auszurichten, wie das vor einer Triebwerkzündung erforderlich war, mußte er eine weitaus genauere »Feinausrichtung« durchführen. Zu diesem Zweck sucht der Kommandant mit dem Fernrohr vorbestimmte Sterne, richtet seinen Sextanten aus, bestimmt die zu messenden Winkel und justiert das Führungssystem anhand der abgelesenen Werte. Da »Odyssey« und »Aquarius« den Mond in einem Abstand von nur knapp hundert Kilometern umkreisen würden, konnte jede Fehlberechnung beim Einschuß in die Freiflugbahn dazu führen, daß die aneinandergekoppelten Raumfahrzeuge auf der Rückseite aufschlugen. Fast die ganze letzte Stunde über hatte man in Houston schon über diesem Problem gegrübelt, immer wieder das Schiff angefunkt und nachgefragt: »Aquarius, könnt ihr schon irgendwelche Sterne sehen?« Wenn Lovell jedoch aus dem Fenster blickte, sah er nicht nur die als Orientierungspunkte für die Ausrichtung benötigten Sterne, sondern Hunderte, ja Tausende von hell schimmernden Lichtpunkten aus Partikeln und Kristallen. Unmöglich, die echten von den falschen Sternen zu unterscheiden. Lovell kam zu dem Entschluß, daß es nur eine Abhilfe gab: Er müßte »Aquarius« und »Odyssey« mittels der Steuerdüsen des LEM innerhalb der Wolke herummanövrieren und Ausschau nach einer Lücke halten, durch die er freie Sicht ins Weltall hatte. »Reich mir mal ein Tuch, Freddo«, sagte Lovell zu Haise. »Ich will sehen, ob ich nicht aus dem Zeug raussteuern kann.« Der Kommandant wischte erst das Fenster auf seiner und dann auf der Seite des LEM-Piloten ab. Die beiden Männer
warfen einen langen Blick durch ihre Gucklöcher und pfiffen unisono. »Was für eine Sauerei«, sagte Haise. »Nicht schlimmer als auf dieser Seite«, sagte Lovell. Er stellte das Lagekontrollsystem auf Handbetrieb ein und ergriff den Steuerknüppel. Wie bei der »Odyssey« waren außen an dem Raumfahrzeug in gleichmäßigem Abstand vier Bündel zu je vier Steuerdüsen angebracht. Gesteuert wurde das ganze System wie auf der »Odyssey« durch eine Art Pistolengriff. Lovell drückte die Steuerung ganz vorsichtig nach vorne, so daß die Nase gesenkt wurde. Sofort krängte das Schiff links nach oben. Waren die Steuerdüsen der »Odyssey« ruppig gewesen, so ließen sich die der »Aquarius« anscheinend überhaupt nicht regulieren. »Hua!« rief Lovell und ließ den Griff los. »Die giert ja verdammt weg.« »So dürfte sie sich eigentlich nicht verhalten«, sagte Haise. »So hat sie sich mit Sicherheit auch noch nie verhalten.« Das Problem dabei war, wie Lovell und Haise klarwurde, der Schwerpunkt der aneinandergekoppelten Raumfahrzeuge. Die Konstrukteure waren davon ausgegangen, daß das Lagekontrollsystem des LEM erst gebraucht wurde, wenn es vom Kommando- und Versorgungsteil getrennt war und allein auf den Mond zusteuerte. Die Steuercomputer in den Simulatoren, mit denen Lovell und Haise geübt hatten, waren so programmiert, daß sie die Masseverhältnisse der allein fliegenden Mondfähre simulierten; die Piloten wiederum waren es gewohnt, daß man das kleine Raumfahrzeug mit einem leichten Einsatz der Steuerdüsen praktisch in jede gewünschte Richtung drehen konnte. Das LEM jedoch, das Lovell an diesem Tag steuerte, flog nicht allein, sondern schleppte das an seinem Dach angekoppelte, rund 30 Tonnen schwere Mutterschiff als toten Ballast mit sich herum. Dadurch
verlagerte sich der Schwerpunkt deutlich nach oben, so daß er etwa in Höhe der Kommandokapsel oder gar darüber lag, und die genau abgestimmten Steuerraketen des LEM reagierten vollkommen anders als gewohnt. Swigert, der in der Kommandokapsel spürte, wie das Schiff plötzlich krängte, schwebte mit seinen Nahrungs- und Wasserbeuteln durch den Tunnel zurück, um festzustellen, was da los war. »Wie ist hier unten der Stand der Dinge?« fragte Swigert, als Lovell den Steuergriff ein weiteres Mal leicht nach vorne drückte und das Raumfahrzeug erneut mit einem unbeholfenen Krängen reagierte. »Versuchen uns nach den Sternen auszurichten«, erklärte Haise. »Wird mit dem da hinten dran nicht leicht werden«, bemerkte Swigert und deutete mit dem Daumen auf den Tunnel zur »Odyssey«. »Was du nicht sagst«, versetzte Lovell mit einem grimmigen Lachen. Sobald Lovell den Steuergriff betätigte, wurde das Ausbrechen des Schiffes von den Lagekontrollsystemen an Bord und im Kontrollraum in Houston registriert. Hal Loden, der für das Navigationssystem der Mondfähre zuständige Mann, erschrak, als er anhand seiner Skalen die Bewegungen bemerkte. Die Anzeigen für alle drei Kreisel in dem Raumfahrzeug schlugen wie verrückt aus, bis über den Bereich der unkontrollierten Bewegung hinaus, so daß es jederzeit zu einer Blockierung kommen konnte. Wenn die Kreisel blockierten und die Navigationsdaten verloren waren, die Lovell so mühsam auf den Navigationscomputer der »Aquarius« übertragen hatte, dann war auch ihre letzte Chance zunichte, das Schiff für eine Triebwerksbrennphase zur Kurskorrektur auszurichten.
»Flight, CONTROL«, sagte Loden hastig. »Los, CONTROL«, antwortete Lunney. »Sieht so aus, als ob wir von den Kreiselwinkeln abweichen. Er ist im Augenblick auf mittlerem Impuls, und ich nehme an, genau den will er auch haben, aber wenn er nicht genau aufpaßt, blockiert er ganz schnell die Kreisel.« »Vielleicht hält er Ausschau nach Sternen«, sagte Lunney. »Vielleicht, aber es wäre eine Bestätigung wert.« »Roger«, sagte Lunney. »CAPCOM, er soll auf seine Kreisel achten.« »Roger«, sagte Lousma und setzte sich per Funk mit dem Raumfahrzeug in Verbindung. »Aquarius, Houston. Ihr achtet doch auf eure Kreisel, oder?« Lovell, der gerade ausprobierte, wie sich dieses Raumfahrzeug fliegen ließ, wandte sich zu Haise um und verdrehte die Augen. Ja, er achtete auf die Kreisel. Und auf die Düsen. Und auf die Lagekontrolle. Und auf die Trümmerwolke vor seinem Fenster. In der Zwischenzeit dachten Jerry Bostick, Chuck Deiterich und die anderen RETROS, FIDOS und GUIDOS außer Dienst weiter über eine Zündungsmöglichkeit nach, mit der sich die Besatzung zurückholen ließe. In den Flugplänen sowohl der Bodenkontrolle als auch der Astronauten war eine ganze Anzahl vorbereiteter Abbruchszenarien aufgeführt, sogenannte Block-Data-Manöver, in denen sämtliche Koordinaten des Raumfahrzeuges, die Brenndauer und Informationen enthalten waren, die für ein paar der am ehesten wahrscheinlichen Abortsituationen erforderlich waren. Da jedoch bei allen Abbruchsituationen von einem intakten Versorgungs- und Kommandoteil ausgegangen wurde, erwarteten Lovell und Deiterich nicht wirklich, einen ausgearbeiteten Abort zu finden, der zu der derzeitigen Extremsituation paßte.
Allerdings gelang es den Controllern, die Koordinaten für einen zeitweise in Betracht gezogenen, aber so gut wie noch nie versuchten »docked DPS burn« auszutüfteln, eine Zündung des Abstiegs-Antriebssystems der Mondfähre bei angekoppeltem Kommando- und Versorgungsteil. Dieses Manöver war zwar praktisch unerprobt, aber soweit Bostick und Deiterich feststellen konnten, war es auch verhältnismäßig einfach. Bei einer Kurskorrektur, mit der ein 400000 Kilometer entfernt im Weltall fliegendes Schiff in eine Flugbahn gelenkt werden sollte, die es um 65000 Kilometer näher an die Erde heranführte, kam es auf absolute Genauigkeit bei Zündzeitpunkt und Dauer der Brennphase an. Aufgrund der gewaltigen Strecke, die es bis zur Rückkehr noch bewältigen mußte, konnte sich bei der Ausrichtung des Raumfahrzeuges eine Abweichung um den Bruchteil eines Grades am Ende der Reise zu einer Kursabweichung von mehreren tausend Kilometern summieren. Da die »Odyssey« und die »Aquarius« derzeit mit knapp 5000 Kilometern pro Stunde oder rund 1400 Metern pro Sekunde dahinflogen, gingen Bostick, Deiterich und die anderen davon aus, daß das Raumfahrzeug nur um etwa 5 Meter pro Sekunde beschleunigen mußte, damit es nicht wie bisher an der Erde vorbeiflog, sondern sicher im Meer landete. Die Controller waren sich sicher, daß dieses Manöver praktikabel war – und genau wie Kraft waren sie sich bewußt, daß es baldmöglichst durchgeführt werden mußte. Je später sie das Triebwerk für den Einschuß in die Rückflugbahn zur Erde zündeten, desto länger mußte die Brennphase veranschlagt werden. Aber bevor sie die Zündung riskieren konnten, mußten sie Lunney von ihrer Idee überzeugen. Und bevor Lunney sich überzeugen ließe, würde er Kranz und Kraft dafür gewinnen wollen. Die Controller außer Dienst stupsten ihre an den
Konsolen sitzenden Kollegen an und drängten sie, mit der Überzeugungsarbeit zu beginnen. »Flight, FIDO«, sagte Bill Boone, der Flugdynamik-Offizier in Lunneys Team. »Schießen Sie los«, sagte Lunney. »Wir beschäftigen uns hier mit etwas, das Sie wissen sollten. Wir untersuchen gerade ein Manöver, durch das wir unserer Meinung nach auf eine Freiflugbahn kommen müßten.« »Hmmm«, sagte Lunney unverbindlich. »Unser Nebenkontrollraum arbeitet im Augenblick sämtliche Vektoren aus, und in etwa zehn Minuten habe ich das Manöver parat, so daß wir es nach etwa 61:30 Stunden Flugzeit durchführen können.« Lunney schaute auf die Uhr an der Stirnseite der Mission Control, wo die verstrichene Zeit angegeben war. Seit dem Start von Apollo 13 waren 59 Stunden und 23 Minuten vergangen – etwa dreieinhalb Stunden seit dem Zwischenfall. »Und es ist eine Freiflugbahn?« fragte Lunney. »Wird bestätigt«, versicherte ihm Boone. »Durch die Zündung beschleunigen wir um fünf Meter pro Sekunde. Sie können also mit der Zahl arbeiten.« Lunney sagte nichts. Boone wartete nervös, und an der Konsole des Flugdirektors leuchtete statt des grünen Lämpchens für den Lenk-Offizier jetzt das gelbe auf, woran Lunney erkennen konnte, daß der GUIDO nicht nur mithörte, sondern sich ins Gespräch einschalten wollte. »Flight, GUIDO«, sagte Gary Renick. »Los, GUIDO.« »Wir haben jetzt die Führungs- und Navigationsdaten«, sagte Renick, »und wir können bestätigen, daß wir jetzt möglicherweise eine durchaus brauchbare Zündung durchführen und auf die Freiflugbahn gelangen können.« »Roger.«
Einmal mehr verfiel Lunney in Schweigen. Er kannte noch nicht alle Einzelheiten der bevorstehenden Zündung, aber er wußte auch, daß dies nicht notwendig war. Es war die Aufgabe der Führungsjungs, die Besonderheiten bei einem Manöver auszutüfteln, und wenn die sagten, sie hätten eine Zündung parat, dann hatten sie wahrscheinlich auch eine. Seine Aufgabe bestand nur darin, sein O.K. dafür zu geben. Bei einem derartigen Flug jedoch gedachte Lunney – seiner Allmacht als Flugdirektor zum Trotz – sein O.K. nicht ohne vorherige Beratung zu geben. Er schob sein Mikrophon beiseite und wandte sich nach hinten zum Gang um, wo sich in den letzten zehn Minuten eine kleine Gruppe gebildet hatte. Zu Kranz und Kraft hatten sich Bob Gilruth, der Direktor des Space Center, Missionsdirektor George Low und Chefastronaut Deke Slayton gesellt. Die fünf Männer hatten miteinander geredet, als Lunney sich umdrehte, und sie traten sofort näher, drängten sich um ihn und redeten aufgeregt. Die Controller im ganzen Raum spitzten die Ohren und versuchten, ob sie über ihre Kopfhörer etwas mitbekamen, aber von dem Gespräch auf dem Gang war kein Wort zu verstehen. Sie reckten die Hälse und blickten zu den sechs miteinander diskutierenden Männern, ohne feststellen zu können, zu welcher Entscheidung sie kamen. Ein paar Augenblicke später meldete sich Lunney wieder. »FIDO, Flight«, sagte er. »Los, Flight«, antwortete Boone. »Wie lange würden Sie für dieses Freiflugmanöver genau brauchen? Könnten Sie es auch bei 61 Stunden durchführen statt bei 61:30 Stunden?« »Äh, Roger«, sagte Bonne. »Kann ich. Es handelt sich nur um eine Frage des Vektors, an dem ich es durchführen will.«
Lunney drehte sich wieder um. Erneut herrschte ein paar Augenblicke lang Schweigen im Netz, während hinter der Konsole aufgeregte Gespräche stattfanden. Schließlich meldete sich der Flugdirektor wieder auf dem Kommunikationskanal. »Gentlemen«, ließ sich Lunney vernehmen, »bei 61 Stunden werden wir eine Zündung durchführen, die uns um fünf Meter pro Sekunde beschleunigen und auf die Freiflugbahn bringen wird. Wir wollen erst auf die Freiflugbahn, und dann geben wir bei PC+2 einen weiteren Schub. FIDOs, besorgt mir schleunigst Daten für die 61-Stunden-Marke, und danach stellt ihr weitere Berechnungen für zwei um jeweils 15 Minuten verzögerte Zündungen, für den Fall, daß wir diese nicht hinkriegen.« Lousma griff zum Einschaltknopf an seinem Mikrophon, um der Besatzung die gute – oder zumindest bessere – Nachricht durchzugeben, aber bevor er dazu kam, hörte er in seinem Kopfhörer plötzlich Stimmen aus dem Schiff. Genau wie der CAPCOM hatten auch die Astronauten Schalter an ihren Kopfhörerkabeln, auf die sie drücken mußten, wenn sie sich mit der Bodenstation in Verbindung setzen wollten. Obwohl dieses Hin- und Herschalten durchaus lästig sein konnte, beschwerten sich die Astronauten darüber nur selten. Immerhin waren durch diesen Mikrophonknopf in gewissem Maße auch Privatgespräche möglich – und dazu gab es im Weltall nicht oft Gelegenheit. Nur bei besonders schwierigen Aufgaben, wenn die Besatzung alle Hände voll zu tun hatte und in ständigem Kontakt mit dem Boden stehen mußte, wurde dies anders gelöst. In diesem Fall stellten die Astronauten ihr Kommunikationssystem auf »hot mike« oder »Vox« um, so daß die Mikrophone durch die Stimmen aktiviert wurden und der CAPCOM jedes Wort mithören konnte. Den Großteil des Fluges über hatte die Besatzung von Apollo 13 die geschlossene Mikrophoneinstellung benutzt,
aber vor etwa einer Minute hatte sie vermutlich aus Versehen auf stimmaktives Mikrophon umgeschaltet, so daß ihre Gespräche mitgehört werden konnten, ohne daß sie es wußten. »Gibt es irgendeine Möglichkeit, das Ding zu steuern, Freddo?« konnte man Lovell hören. »Was ist das?« fragte Haise. »Sieht so aus, als ob sich die Steuerbefehle gegenseitig aufheben. Ich könnte genausogut – « »Ganz genau. TTCA wird dir das beste – « »Ich möchte aus diesem Rollen rauskommen. Was ist, wenn ich auf – « »Ist egal, worauf du gehst – « »Laß mich dieses Nicken mit dem – « »Steuerst du das Rollen mit dem – « »O.K. probier das – « »Probier was – « »Probier das – « »Tja, ich krieg das hier nicht – « Lousma hörte ein paar Sekunden lang zu, und als er sich nicht an die Crew wandte, hörte auch Lunney zu. Genau wie Lousma machte sich auch der Flugdirektor Sorgen über das Gehörte. »Jack«, sagte Lunney, »Sie könnten ihnen mitteilen, daß wir über Vox mithören.« Schwer zu sagen, ob Lousma Lunney hörte oder ob er durch das Gespräch der Besatzung zu abgelenkt war. Jedenfalls reagierte er nicht, sondern lauschte weiter den Gesprächen aus dem Schiff. »Warum, zum Teufel, manövrieren wir hier so herum?« fragte Lovell gerade. »Blasen wir immer noch irgendwas aus?« »Wir blasen nichts aus«, erwiderte Haise. »Warum können wir das dann nicht abstellen? Was ist, wenn wir – «
»Jedesmal, wenn ich versuche – « » – kann dieses Rollen nicht wegkriegen.« »Versuch das Rollen abzustellen.« »Und wie sieht’s jetzt mit der mistigen Lage aus?« fragte Lovell. »Die Lage ist O.K.«, antwortete Haise. »Verflucht!« rief Swigert. »Ich wünschte, ihr würdet euch mit etwas beschäftigen, mit dem ich mich auskenne.« Lunney schaltete sich ins Netz ein. »CAPCOM«, meldete er sich wieder und diesmal etwas strenger. »Sie sollten ihnen mitteilen, daß wir über Vox mithören.« Lousma schien über die Schwierigkeiten, die die Astronauten mit der Lagesteuerung des Schiffes hatten, ebenso besorgt wie über die Wortwahl, mit der sie darüber diskutierten. Nun, da der zunächst glatt verlaufende Flug in eine kritische Phase geraten war, hatten sich die Fernsehsender direkt in den Boden-Bord-Funk eingeklinkt, und jedes Wort, das Houston oder die Besatzung von sich gaben, wurde im ganzen Land ausgestrahlt. Früher waren diese Gespräche erst nach siebensekündiger Verzögerung eingespeist worden, damit die für Öffentlichkeitsarbeit zuständigen NASA-Mitarbeiter Gelegenheit hatten, eventuelle Obszönitäten auszumerzen. Nach dem Brand in Apollo 1 jedoch hatte man bei der NASA erkannt, wie wichtig uneingeschränkte Offenheit für das Ansehen der Raumfahrtbehörde war, und die Zensur an Ort und Stelle abgeschafft. Die Folgen dieser neuen Ehrlichkeit machten sich augenblicklich bemerkbar. Letztes Frühjahr hatte es einen ziemlichen Aufschrei in der Presse gegeben, als Gene Cernan bei Apollo 10 ein ungewolltes »Scheißding!« herausrutschte, nachdem er versehentlich auf einen Abbruchschalter gedrückt und das Schiff knapp 15 Kilometer über dem Mond in wilde Kreiselbewegungen versetzt hatte. Der Großteil der NASA-
Mitarbeiter hatte durchaus Verständnis für Cernans Fluchen und ärgerte sich über die verlogene Zimperlichkeit der Medien, doch die Presse beeinflußte die öffentliche Meinung, und die öffentliche Meinung war ausschlaggebend für die Finanzierung des Mondprogramms, und bei der Raumfahrtbehörde wollte man sich weder mit der Presse noch mit der Öffentlichkeit anlegen. Sobald Apollo 10 zurückgekehrt war, wurde eine Verfügung erlassen, wonach die Piloten bei künftigen Missionen daran denken sollten, sich wie Gentlemen zu benehmen. Unfeine Redensarten – selbst ein vergleichsweise harmloses »mistig« – würden auch bei einem Notfall nicht mehr geduldet werden. »Aquarius«, wandte sich Lousma auf Lunneys Anweisung hin an das Raumfahrzeug, »wollten euch nur wissen lassen, daß wir euch auf Vox empfangen.« »Ihr empfangt was?« rief Lovell über das Rauschen hinweg. »Wir empfangen euch alle auf Vox«, wiederholte Lousma und fügte dann ausdrücklich hinzu: »Wir verstehen euch laut und deutlich.« Swigert, von dem der letzte Kraftausdruck stammte, verstand, worauf der CAPCOM hinauswollte, schaute Lovell an und zuckte entschuldigend die Achseln. Lovell, der an seine eigenen Flüche dachte, winkte ab. Haise, auf dessen Seite des Armaturenbretts sich die Kommunikationseinrichtungen des Raumfahrzeugs befanden, langte nach seinem Vox-Schalter und brachte ihn in die übliche Position. »O.K. Jack«, sagte er seinerseits mit leichtem Nachdruck, »wie verstehst du uns jetzt auf normal?« »Verstehe euch gut.« »O.K.« »Aquarius«, fuhr der CAPCOM fort, »wir würden euch gern über unseren Plan bezüglich der Zündung informieren. Wir gedenken, bei 61 Stunden ein Beschleunigungsmanöver um
fünf Meter pro Sekunde durchzuführen, das euch auf eine Freiflugbahn bringt. Dann schalten wir die Energie herunter, um die Reserven zu schonen, und bei 79 Stunden wollen wir eine PC+2-Zündung durchführen und vollen Schub geben. Wir möchten, daß ihr so schnell wie möglich auf Freiflugbahn kommt und Energie herunterschaltet. Was haltet ihr davon, in 37 Minuten mit einer Zündung um fünf Meter pro Sekunde zu beschleunigen?« Lovell nahm die Hand vom Steuergriff, ließ das Schiff treiben und wandte sich mit fragendem Blick an seine Kollegen. Swigert und Haise zuckten nur die Achseln. »Sieht nicht so aus, als hätten wir hier oben eine bessere Idee«, erklärte Lovell. »Meinst du, 37 Minuten reichen?« fragte Haise. »Eigentlich nicht«, antwortete Lovell. »Jack«, wandte er sich wieder an den CAPCOM, »wir wollen’s versuchen, wenn uns gar nichts anderes übrigbleibt, aber könntet ihr uns etwas mehr Zeit geben?« »O.K. Jim, wir können ein Manöver zu einem für euch genehmeren Zeitpunkt ausrechnen. Gebt uns die Zeit vor, und wir stellen uns darauf ein.« »Dann sollten wir uns auf eine Stunde einstellen, wenn wir können.« »O.K. wie wär’s bei etwa 61 Stunden und 30 Minuten?« »Roger«, sagte Lovell. »Aber wir sollten bis dahin in Kontakt bleiben und dafür sorgen, daß wir die Zündung richtig hinkriegen.« »Roger«, sagte Lousma. Die Stunde bis zur Zündung, mit der Apollo 13 auf eine freie Rückkehrbahn gebracht werden sollte, würde für die Besatzung hektisch werden. Bei einer planmäßig verlaufenden Mission waren laut Flugplan mindestens zwei Stunden für die sogenannten Abstiegsaktivierungsmaßnahmen vorgesehen;
darunter verstand man das Einstellen der Schalter und Knöpfe vor dem Zünden des Abstiegs-Antriebssystems der Mondfähre. Jetzt mußte die Besatzung die gleiche Aufgabe in der halben Zeit erledigen, ohne daß dies zu Lasten der notwendigen Sorgfalt gehen durfte. Überdies galt es, das Raumfahrzeug noch genau auszurichten, was Lovell aufgrund der wilden Schlingerbewegungen noch nicht annähernd geschafft hatte. Doch während die Männer an Bord des Schiffes im Verlauf dieser Stunde kaum zum Luftholen kamen, konnte man am Boden erst einmal tief durchatmen. Gene Kranz nahm seinen Kopfhörer ab, trat einen Schritt zurück und sah sich im Raum um. Im Augenblick dachte er nicht an die problematische Zündung – darum kümmerten sich seine Astronauten und Flugdynamikteams. Ihn beschäftigten vielmehr die für die Lebenserhaltung der Besatzung notwendigen Reserven. Vor ein paar Minuten hatte Kranz in der Mission Control bekanntgegeben, daß sich vor Beginn der Vorbereitung für die Zündung sein gesamtes Team unten in Zimmer 210, einem Datenanalyseraum in der Nordwestecke des Flugbetriebstraktes, versammeln sollte. Kranz wußte, daß sowohl die bevorstehende Zündung zum Einschuß in die Freiflugbahn als auch die PC+2-Zündung unbedingt notwendig waren, aber ihm war auch bewußt, daß sie gar nichts nützten, wenn man nicht irgendeine Möglichkeit fand, die an Bord des LEM vorhandenen Wasser-, Sauerstoff- und Energiereserven so einzuteilen, daß sie für den Rückflug reichten. Jetzt ging das Gerücht um, Kranz ziehe sein Team aus dem normalen Schichtbetrieb ab, damit es sich ausschließlich mit dem Problem der Grundversorgung befassen könne. Zu diesem Zweck griff Kranz auf einen Begriff aus dem militärischen und industriellen Krisenmanagement zurück und taufte seinen Stab in Tiger Team um.
Als Kranz sich in der Mission Control umsah und kurz die Anwesenden zählte, stellte er fest, daß der Großteil seiner Mitarbeiter sich nach wie vor an oder bei den Konsolen befand. An der Konsole des EECOM entdeckte er zu seiner Freude und Erleichterung zudem einen neuen Mann: John Aaron, einen siebenundzwanzigjährigen Wunderknaben aus Oklahoma. Aaron, ein Flugmechanikingenieur, war 1965 direkt vom College zur Raumfahrtbehörde gegangen. Ursprünglich mit der Konstruktion von Raumfahrzeugen betraut, zeigte Aaron soviel technisches Geschick, daß er bereits im Frühjahr 1965 einen Posten in der Mission Control zugewiesen bekam, wo er während Ed Whites historischem Spaziergang durchs Weltall im Verlauf von Gemini 4 an der EECOM-Konsole saß. Als Gemini 5 in die Umlaufbahn geschossen wurde, arbeitete er bereits regelmäßig als EECOM und übernahm meistens die Schicht beim Start einer Mission – die nervenaufreibendste und unbeliebteste Schicht, zu der normalerweise nur die besten Controller eines jeden Teams eingeteilt wurden. Aarons Arbeit war stets geschätzt worden, aber wahrhaft gefeiert wurde sie erst seit einem Zwischenfall während der Startphase von Pete Conrads, Dick Gordons und Al Beans Mondflug mit Apollo 12 im vergangenen November, bei dem er kühlen Kopf bewahrt und so die Mission gerettet hatte. Gene Kranz streifte in der Mission Control umher, trommelte sein Tiger Team zusammen, bat Aaron hinzu und brachte alle zu Zimmer 210. Es handelte sich um einen großen, fensterlosen Raum voller Konferenztische und Stühle. Wände und Arbeitsflächen waren mit Computerausdrucken bedeckt – telemetrischen Angaben aus der ruhigeren Frühphase des Fluges. Normalerweise sollten all diese Tabellen zu einem späteren Zeitpunkt, lange nach Abschluß des vermutlich
routinemäßig verlaufenden Fluges, in aller Ruhe gelesen und analysiert werden. Als die fünfzehn Männer von Kranzens Truppe jetzt in den Raum drängten und auf Stühlen und Tischkanten Platz nahmen, wurden die Ausdrucke einfach beiseitegefegt und blieben zerknüllt am Boden liegen. Kranz nahm den Platz an der Stirnseite des Zimmers ein und verschränkte die Arme. Der leitende Flugdirektor galt als emotional, ja sogar explosiv, an diesem Abend jedoch wirkte er zwar entschlossen, aber zurückhaltend. »Bis zum Ende dieses Fluges«, begann Kranz, »seid ihr alle von den Konsolen abgezogen. Die Leute draußen im Kontrollraum werden den Flug leiten, aber die Leute in diesem Raum hier werden die Vorgaben liefern, die dann von denen da draußen ausgeführt werden. Was ich von jedem von Ihnen ab sofort möchte, ist ganz einfach – Vorschläge, aber davon jede Menge.« »TELMU«, sagte Kranz und wandte sich an Bob Hesselmeyer. »Von Ihnen möchte ich ein paar Kalkulationen. Wie lange halten die Systeme im LEM bei voller Energieleistung durch? Wie lange bei teilweiser? Wie ist es um das Wasser bestellt? Was ist mit der Batterieleistung? Wie sieht es mit dem Sauerstoff aus? EECOM« – er wandte sich an Aaron – »in drei bis vier Tagen werden wir die Kommandokapsel wieder brauchen. Ich möchte wissen, wie wir die Kiste wieder so in Betrieb nehmen können, daß sie bis zur Landung durchhält – einschließlich des Führungssystems, der Steuerdüsen und des Lebenserhaltungssystems –, und zwar nur mit der Energie, die in den Batterien für den Wiedereintritt übrig ist. RETRO, FIDO, GUIDO, CONTROL, GNC«, sagte er und sah sich im Zimmer um, »ich möchte Vorschläge zu PC+2Zündungen und Kurskorrekturen von jetzt bis zum Wiedereintritt. Inwieweit können wir mit einem PC+2
beschleunigen? Welchen Ozean können wir damit erreichen? Können wir später als PC+2 zünden, falls notwendig? Außerdem möchte ich wissen, wie wir das Schiff ausrichten wollen, falls wir nicht nach den Sternen navigieren können. Können wir uns nach der Sonne richten? Können wir uns nach dem Mond richten? Wie sieht’s mit Orientierung nach der Erde aus? Zum Schluß eine Bitte an alle in diesem Raum: Ich möchte, daß jemand zu den Computern geht und weitere Ausdrucke ab dem Zeitpunkt des Einschusses in die Mondbahn besorgt. Wir wollen doch mal sehen, ob wir nicht herausfinden, was mit diesem Raumfahrzeug von Anfang an schiefgegangen ist. In den nächsten paar Tagen werden wir uns Betriebsverfahren und Manöver einfallen lassen müssen, die wir noch nie ausprobiert haben. Ich möchte sichergehen, daß wir wissen, was wir damit anstellen.« Kranz hielt inne, ließ den Blick einmal mehr vom einen Controller zum nächsten wandern und wartete, ob jemand eine Frage hatte. Niemand hatte eine, wie so oft nach Kranz’ Ansprachen. Er wandte sich um, ging wortlos aus dem Raum und begab sich wieder in die Mission Control, wo sich zig andere Controller um das Wohlergehen der drei gefährdeten Astronauten kümmerten. In dem Zimmer, das er gerade verlassen hatte, saßen derweil die fünfzehn Männer, von denen er erwartete, daß sie ihnen das Leben retteten.
Die Männer in der »Aquarius« wußten nichts von Kranz’ Ansprache, und zumindest im Augenblick brauchten sie auch keine aufmunternden Worte. In einer halben Stunde sollte die Zündung zum Einschuß in die Freiflugbahn erfolgen, und das LEM war noch nicht einmal annähernd dafür vorbereitet. Haise war in die Checkliste mit den »Abstiegsaktivierungen«
vertieft und wechselte ab und zu ein paar kurze Worte mit dem CAPCOM. Lovell verfolgte das Gespräch mit einem Ohr, wartete auf Anweisungen, die ihn betrafen, und legte ab und zu einen Schalter um, den Haise nicht erreichen konnte. Die meiste Zeit über aber war der Kommandant vollauf mit anderen Aufgaben beschäftigt. Er betätigte die Steuerung jetzt behutsamer und gekonnter und bekam allmählich ein Gefühl für das toplastige Schiff, das er mittlerweile auf allen drei Achsen um 360 Grad drehen konnte. Doch jedesmal, wenn er aus dem Fenster blickte, hing eine unverändert dichte Wolke um die »Aquarius«. Er zündete die Steuerdüsen und versuchte nach vorne aus dem leuchtenden Hof herauszufliegen, aber er schien dem Schiff zu folgen, als würden die Partikel und Kristalle mangels eines anderen Gravitationsfeldes von dessen Schwerkraft angezogen wie Eisenspäne von einem Magneten. Da die Zeit knapp wurde, hatte Lunney zwei Mann aus der Ersatzmannschaft von Apollo 13 – John Young, den Kommandanten, und Ken Mattingly, den zurückgestellten Piloten der Kommandokapsel – zu den Simulatoren beordert, wo sie einige Manöver ausprobieren sollten, auf die Lovell eventuell zurückgreifen konnte. Young wiederum hatte mit Charlie Duke telefoniert – dem Piloten der Mondfähre, dessen Röteln ursprünglich zum Austausch der Besatzung von Apollo 13 geführt hatten –, ihn vom Krankenlager aufgescheucht und ins Space Center beordert. Tom Stafford, der besser als jeder andere über die Gefahren Bescheid wußte, die beim Manövrieren eines LEM in Mondnähe auftauchen konnten, wurde Lousma zugeteilt und gebeten, ebenfalls ein paar Ideen beizusteuern. Im Verlauf der letzten Minuten hatten die eilig zusammengetrommelten Astronauten und der erschöpfte CAPCOM zahlreiche Vorschläge an Lovell durchgegeben. So sollte er unter anderem das Schiff so drehen, daß der
Versorgungsteil das Sonnenlicht abhielt und er durch die dreieckigen Fenster des LEM in die Dunkelheit blickte. Doch all diese Vorschläge führten zu nichts. Egal, wohin Lovell auch blickte, überall war ihm die Sicht auf die Sterne versperrt. Verzweifelt ließ der Kommandant den Steuergriff für die Düsen los und schwebte vom Armaturenbrett weg. Die Kreiselplattform nach den Sternen auszurichten, war unmöglich, davon war er jetzt überzeugt. Wenn Houston die Koordinaten für die Zündung durchfunkte, blieb Lovell nichts anderes übrig, als die Daten einfach in seinen Navigationscomputer einzugeben und zu hoffen, daß das Trägheitsführungssystem dazu in der Lage war, die Daten anzugleichen und das Raumfahrzeug entsprechend auszurichten. Wenn ja, würde die Besatzung zurück zur Erde fliegen. Falls nicht, flogen sie irgendwo anders hin. »Wir werden uns mit dem begnügen müssen, was wir haben«, sagte Lovell zu Haise und Swigert. »Wollen wir hoffen, daß es reicht.« Die Controller am Boden kamen etwa zur selben Zeit wie Lovell zum gleichen Schluß, und anhand ihrer Daten konnten sie ersehen, daß sich die Lage des Schiffes beruhigt hatte und der Kommandant offenbar ihrer Meinung war. Theoretisch sollten die Berechnungen, die Lovell durchgeführt hatte und die am Boden überprüft worden waren, für die Ausrichtung des Trägheitsführungssystem in der Mondfähre genügen – blieb nur zu hoffen, daß es auch in der Praxis funktionierte. Gary Renick wählte Lunney an, um ihm mitzuteilen, daß der Zeitpunkt für die Zündung gekommen sei. »Flight, GNC«, sagte er. »Los.« »O.K. wir haben die Vektoren soweit klar, daß die Crew sie einspeisen kann.«
»In Ordnung«, sagte Lunney »CAPCOM, bereiten Sie die Crew auf die Durchgabe der Daten vor.« »Roger«, sagte Lousma. »O.K. Aquarius«, rief er über Funk die Besatzung, »seid ihr bereit, die Koordinaten für das Manöver zu empfangen?« »Wird bestätigt«, sagte Lovell. »Na denn los. Bezweckt wird eine Kurskorrektur für eine Zündung auf Freiflugbahn«, begann Lousma in aller Form. »Und die Koordinaten sind NOUN 33, 061,29,4284 minus 00213. HA und HP sind NA. Die Neigung ist…« Langsam gab Lousma die Daten für die Schubkraft, die Brennzeiten, die Triebwerkstellwinkel und die Delta-VAngabe für die vorgesehene Geschwindigkeitsveränderung durch, die Haise pflichtgemäß wiederholte. Sobald sämtliche Daten notiert waren, würde Haise die Lagekoordinaten in den Navigationscomputer eingeben, der wiederum dem Raumschiff den Befehl erteilte, sich in die gewünschte Position für die Zündung zu steuern. Die Tests, die Young und Duke im Simulator durchführten, zeigten, daß der Autopilot des LEM das Schiff während des Triebwerkeinsatzes in einer stabilen Lage halten konnte. Wenn das Schiff in der für die Zündung notwendigen Lage zur Ruhe gekommen war, sollte Lovell die spinnenbeinartigen Landefüße des LEM ausfahren, damit sie dem AbstiegsAntriebssystem nicht im Wege waren. Danach würde der Computer die vier Lagesteuerungsraketen der »Aquarius« 7,5 Sekunden lang zünden. Durch diese Maßnahme, gemeinhin »Leckage« genannt, sollte das Raumfahrzeug leicht nach vorne gestoßen werden, so daß der Brennstoff für den Abstiegsmotor an den Tankboden gedrückt wurde und es nicht zu Blasenbildung kam. Danach würde das AbstiegsAntriebssystem automatisch zünden und 5 Sekunden lang bei zehnprozentiger Schubkraft brennen – gerade genug, um das
Schiff in Bewegung zu bringen. Danach mußte Lovell den Schubregler langsam auf 40prozentige Leistung schieben und ihn so halten, damit das Triebwerk genau 25 Sekunden lang mit einer steten Schubkraft von 1,78 Tonnen brannte. Nach Ablauf dieser Phase würde der Computer die Brennkammer schließen, und das Triebwerk würde zum Stillstand kommen. Theoretisch müßte Apollo 13 sich dann auf der für den Rückflug zur Erde notwendigen Bahn befinden. Haise gab die Daten des Trägheitsführungssystems in den Bordcomputer ein und blickte aus dem rechten Fenster, während Lovell links hinaussah. Swigert reckte den Hals und schaute ihnen über die Schulter, als die Steuerraketen automatisch zündeten und das Raumschiff in die vom CAPCOM vorgegebene Lage brachten. Darauf griff Lovell zum Armaturenbrett und legte den Schalter für die Landebeine des LEM um. Vor dem Flug hatte sich der Kommandant auf diesen Handgriff gefreut, da er den entscheidenden Augenblick für die geplante Mondlandung markierte. Jetzt hatte das Ausfahren der Landebeine eine andere Bedeutung, und Lovell spürte, wie tief die Enttäuschung saß – ein Gefühl, das er jedoch rasch unterdrückte. Die Beine rasteten ein, und nach einem Blick aus dem Fenster nickte Lovell Haise zu. Haise behielt den Countdown-Timer des LEM im Blick und wandte sich dann per Funk an die Bodenstation. »O.K.«, sagte er, »1 plus 30 für Zündung.« Am Boden gab Lousma die Durchsage an Lunney weiter, der die Männer über Funk um Ruhe bat und während der nächsten 30 Sekunden eine letzte Konferenzschaltung durchführte. »O.K. wir wären soweit«, sagte er schließlich. »Roger, Aquarius«, gab Lousma an Lovell durch. »Ihr habt GO für die Zündung.«
Lovell stellte den »Master Arm«-Schalter auf On und blickte sich rasch um, ob alles andere in Ordnung war. Die Führungskontrolle stand auf »Primary Guidance«, die Schubkontrolle stand auf »Auto«, die Antriebskardanringe waren gelöst, die Anzeigen für Treibstoff, Temperatur und Druck sahen gut aus, das Schiff blieb in der richtigen Lage. Jetzt übernahm der Computer, und Lovell konnte sich auf die Countdown-Anzeige konzentrieren. Dreißig Sekunden vor der Zündung blinkte auf der Anzeige »06:40« auf, woran der Kommandant ersehen konnte, daß der Computer den Antrieb aktiviert hatte. Zweiundzwanzigeinhalb Sekunden später – genau 15 Sekunden vor der Zündung – sprangen die kleinen, außen am Raumfahrzeug angebrachten Düsen an. Lovell, Haise und Swigert verspürten einen leichten Stoß, als das LEM unter ihren Füßen etwas ruckelte. »Wir haben Leckage«, sagte der CONTROL-Offizier. Lovell konzentrierte sich weiter auf die Computeranzeige, und genau fünf Sekunden vor der Zündung blinkte das vertraute »99:40« auf, mit dem der Kommandant gefragt wurde, ob er das Manöver wirklich durchführen wolle. Ohne zu zögern drückte Lovell auf den »Proceed«-Knopf, und einmal mehr wurde das Schiff von einem dumpfen Vibrieren erfaßt. »Wir haben Zündung, niedrige Schubeinstellung«, sagte der CONTROL-Offizier. Lovell blieb 5 Sekunden lang auf dieser Schubleistung, dann schob er den Regler um weitere 30 Prozent nach vorne. Das Vibrieren wurde stärker. »Vierzig Prozent«, meldete er über Funk an die Bodenstation. »Vierzig Prozent«, wiederholte CONTROL. »Zahlen sehen gut aus.« »Die Zahlen bleiben gut, ja?« fragte Lunney unsicher.
»Sieht O.K. aus, Flight«, versicherte ihm der CONTROLOffizier. »O.K. Aquarius, sieht gut für euch aus«, sagte Lousma. Lovell nickte und hielt den Schubregler weiter in Stellung, während das Vibrieren andauerte. Lovell warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Das Triebwerk brannte 10 Sekunden, 20 Sekunden, dann volle 30 Sekunden und hörte immer noch nicht auf. Dann, einen Augenblick später als geplant – 0,72 Sekunden genau, wie der Computer in der Mission Control feststellte –, war die Brennphase beendet, und das Triebwerk stellte sich ab. »Brennschluß«, erklärte CONTROL. »Auto-Brennschluß«, bestätigte Lovell. Sowohl die Controller am Boden als auch Lovell im Raumfahrzeug blickten sofort und fast gleichzeitig auf die Instrumente, an denen die Flugbahn und die Delta-V-Werte angegeben waren, und lächelten, als sie das Ergebnis sahen. Apollo 13 hatte genau so beschleunigt, wie sie es geplant hatten. Lovell wartete, daß Houston ihm den Befehl zum »Trimmen« nach der Zündung gab. Dieses Manöver, ein kurzer Einsatz der Lagesteuerungsraketen, wurde normalerweise nach einer Routinezündung zur weiteren Kursangleichung verlangt. Boone, Renick, Bostick, Deiterich und die anderen Navigationsoffiziere blickten auf ihre Konsolen und versuchten festzustellen, wieviel Trimmung erforderlich war. Um so verblüffter waren sie, als sie die Antwort parat hatten: Gar keine war nötig. Laut den Zahlen auf ihren Monitoren war die Brennphase, mit der sie gegen alle Regeln und Flugvorschriften verstoßen hatten, punktgenau gewesen. Apollo 13 befand sich jetzt auf einer Bahn, auf der das Schiff hinter dem Mond vorbei- und dann direkt auf die Erde zufliegen würde.
Etwas ungläubig rief Lousma das Schiff: »Ihr seid klar, Aquarius. Kein Trimmen erforderlich.« »Kein Trimmen, sagt ihr?« fragte Haise und warf Lovell einen Blick zu. »Wird bestätigt. Kein Trimmen erforderlich.« »Roger«, sagte Lovell grinsend. »O.K.«, meinte Haise und lächelte ebenfalls. Lovell stieß sich vom Armaturenbrett ab und rieb sich mit dem Handrücken über die Augen. Er war erleichtert, wenn auch nur vorübergehend. Die Flugbahndaten auf seinen Instrumenten waren zwar ermutigend, aber um die anderen Angaben war es ganz anders bestellt. Als er einen Blick auf die Anzeigen für die Lebenserhaltungs- und Energiesysteme warf, stellte er unwillkürlich eine kurze Berechnung an. Wenn die derzeitige Flugbahn und Geschwindigkeit des Schiffes unverändert blieben, müßte Apollo 13 nach einer Flugzeit von 152 Stunden die Erde erreichen, ab jetzt gerechnet etwa 91 Stunden oder knapp vier Tage. Das LEM aber war – bei einer Besatzung von zwei Mann – nur für etwa die Hälfte dieser Zeit ausgerüstet. Obwohl Houston eine Zündung um PC+2 nur beiläufig erwähnt hatte, war Lovell sich ziemlich sicher, daß eine geplant war. Aber selbst wenn er nach dem Umfliegen des Mondes das Abstiegs-Antriebssystem voll aufdrehte und es brennen ließ, bis die Tanks leer waren, konnte dies seiner Ansicht nach den Flug allenfalls um einen Tag verkürzen. Damit wären sie immer noch einen Tag länger unterwegs, als die knappen Sauerstoff- und Energievorräte des LEM reichen würden. »Wenn wir wieder heimkommen wollen«, sagte Lovell zu Swigert und Haise, »müssen wir uns etwas einfallen lassen, damit das Schiff durchhält.« In Zimmer 210 in der Mission Control stellte Bob Hesselmeyer seinerseits ein paar rasche Berechnungen an. Im
Gegensatz zu Lovell hatte der TELMU des Tiger Teams Stift, Papier, Computerausdrucke, Datenmaterial, Energievorgaben und ein Unterstützungsteam aus technischem Personal, das ihm beim Kalkulieren half. Aber die Zahlen, die dabei herauskamen, gefielen ihm genausowenig wie Lovell. Der erste Gedanke galt der Versorgung mit Sauerstoff, denn Atemluft war das wichtigste, wenn die Crew heil zurückkehren sollte – aber um den Sauerstoff mußte man sich anscheinend die wenigsten Sorgen machen. Laut Flugplan hatten Lovell und Haise ursprünglich zwei Tage auf dem Mond bleiben und vom LEM aus zwei Erkundungsgänge unternehmen sollen. Das hieß, daß sie die Kabine zweimal vollkommen dekomprimieren und anschließend die alten Druckverhältnisse hätten wiederherstellen müssen. Aus diesem Grund verfügte die »Aquarius« über mehr Sauerstoff als die früheren Mondfähren. Selbst bei einer dreiköpfigen Besatzung sollte sich der Sauerstoffverbrauch nur auf knapp 0,23 Pfund pro Stunde belaufen, und bei solchen Werten reichte der Tankinhalt über eine Woche lang. Ganz anders war es um den Kohlendioxidgehalt in der Atemluft bestellt. Das LEM war, genau wie die Kommandokapsel, mit Lithiumhydroxid-Filtern ausgerüstet, die die Kohlendioxidmoleküle in der Luft banden. Das Schiff verfügte über zwei Primärfilter, die über einen Tag lang hielten, und drei Sekundärfilter, die in Betrieb genommen werden konnten, wenn die beiden anderen gesättigt waren. Alles in allem würden diese fünf Luftfilter nur 53 Stunden lang funktionieren – und das auch nur, wenn sich, wie vorgesehen, zwei Mann im LEM befanden. Bei einem zusätzlichen Passagier sank die Lebensdauer der Filter auf unter 36 Stunden. Zwar verfügte auch die »Odyssey« über Lithiumhydroxid-Filter, die während des Fluges nicht mehr gebraucht wurden, aber die konnten aufgrund unterschiedlicher
Größe in der »Aquarius« nicht verwendet werden. Es kam also gar nicht darauf an, wieviel Sauerstoff die Mondfähre mitführte, denn die Atemluft würde sich bald so stark mit giftigem Kohlendioxid anreichern, daß die Besatzung spätestens am Mittwoch morgen gegen 3 Uhr ersticken mußte. Beinahe ebenso schlecht stand es um die Stromversorgung. Ein voll funktionsfähiges LEM brauchte, wenn alle Systeme in Betrieb waren, etwa 55 Ampere. Wenn die Energie statt der vorgesehenen zwei jedoch vier Tage reichen sollte, durfte das Raumfahrzeug lediglich 24 Ampere verbrauchen. Eine derartige Reduzierung war zwar radikal, aber sie ließ sich zumindest bewerkstelligen. Ähnliches galt für den Wasservorrat. Sämtliche energieverbrauchenden Geräte im LEM erzeugten Wärme, und wenn sie nicht entsprechend gekühlt wurden, überhitzten sie und fielen aus. Daher zog sich ein Netz aus Kühlrohren mit einer Lösung aus Wasser und Glykol durch das ganze Schiff, über die die überschüssige Wärme zu einem Sublimator abgeleitet und der Dampf anschließend ins All ausgeblasen wurde. Aus dem Wassertank, den das LEM mitführte, sollte sowohl das Kühlsystem gespeist als auch die Besatzung versorgt werden. Alles in allem führte das Raumfahrzeug etwa 338 Pfund Wasser mit, von dem allein die Gerätekühlung etwa 6,3 Pfund pro Stunde verbrauchte. Wenn der Vorrat bis zur Erde reichen sollte, mußte der Verbrauch auf knapp über 3,5 Pfund reduziert werden. Damit dies möglich war, mußte der Stromverbrauch bis auf 17 Ampere gesenkt werden. Angesichts dieser Zahlen schreckte Hesselmeyer zurück und rieb sich die Augen. Für einen derartigen Flug war das LEM nicht gebaut. Niemand – vielleicht mit Ausnahme der Leute bei Grumman – wußte, ob das LEM für einen solchen Flug überhaupt geeignet war.
Hesselmeyer runzelte die Stirn und wandte sich an die um ihn sitzenden Männer. »Wenn wir sie wieder heimholen wollen«, sagte er, »müssen wir uns etwas einfallen lassen, damit das Schiff durchhält.«
7
Januar 1958 Als Jim Lovell im Aircraft Test Center der Navy in Patuxent River, Maryland, eintraf, war er alles andere als ausgeruht. Der neunundzwanzigjährige Lieutenant hatte gerade mit einer im sechsten Monat schwangeren Frau, einem zwei Jahre alten Sohn, einer vier Jahre alten Tochter und einem fünf Jahre alten Chevy, der ihn in nahezu jedem Staat zwischen der San Francisco Bay und der Chesapeake Bay im Stich gelassen hatte, eine Fahrt quer durchs ganze Land hinter sich gebracht. An einem trostlosen Januarnachmittag kamen Lovell und seine Familie in Pax River an – und wurden von typischem Küstenwetter empfangen: Zu warm für Schnee, zum Regnen zu kühl, statt dessen fiel ein naßkalter Nieselregen vom endlos grauen Himmel. Nicht gerade ein schöner Willkommensgruß für einen Mann, der mehr als viereinhalbtausend Kilometer gefahren war. Aber weitaus schlimmer als Jim Lovell, der etwas bedrückt war, als er mit dem Chevy auf dem ihm unbekannten Marinestützpunkt herumfuhr, empfand Marilyn Lovell den neuen Standort. In den letzten vier Jahren hatten die Lovells in einem Außenbezirk von San Francisco gewohnt, einer kleinen Siedlung nahe der Moffett Field Naval Air Station, und Marilyn hatte sich dort überaus wohl gefühlt. Sie war in Milwaukee geboren und wegen ihres Liebsten, der die Marineakademie besuchte, nach Washington gezogen, aber sie mochte weder die bitterkalten Winter im Mittelwesten noch die schwülen Sommer am Potomac, und als die Navy ihren Mann
zu einer Air Base im gemäßigten kalifornischen Küstenklima versetzt hatte, konnte sie ihre Koffer gar nicht schnell genug packen. Kaum in Sunnyvale eingetroffen, nahm sich Marilyn vor, ein Haus zu finden, das der Vorstellung entsprach, die sie vom idyllischen Leben an der Westküste hatte, und binnen kürzester Zeit entdeckte sie eins: Ein hübscher Bungalow an einer Straße mit dem hübschen Namen Susan Way Das ganze erste Jahr über, in dem die Lovells dort wohnten, machte sich Marilyn mit aller Kraft daran, das bescheidene Haus in ein wirkliches Heim zu verwandeln; sie hängte Vorhänge auf und klebte Tapeten, kaufte die Möbel, soweit sie mit dem Sold ihres Mannes erschwinglich waren, und überall auf dem winzigen Grundstück pflanzte sie Lilien und Tulpen, Geranien und Hyazinthen an, die in der kalifornischen Sonne prächtig gediehen. Hier wohnte das Paar mit seiner zweijährigen Tochter Barbara auch, als Jay, der erste Sohn, zur Welt kam. Als die Familie 1958 den Versetzungsbefehl bekam, war Marilyn wieder schwanger. Während sie und Jim packten, beschlossen sie, das neue Baby, falls es ein Mädchen werden sollte, zu Ehren der hübschen Straße, die sie nun verließen, Susan zu nennen. In Maryland würden sie weit weniger idyllisch wohnen. Lovell war Lieutenant und angehender Testpilot, als er an die Ostküste versetzt wurde, und weder der Dienstrang noch die Aufgabe waren mit vielen Vergünstigungen oder Zulagen verbunden. Die für die jungen Offiziere und ihre Familien bestimmten Apartments am Stützpunkt befanden sich in einem Häuserkomplex, den die Bewohner als Bimssteinblocks bezeichneten. Wie der Name sagte, handelte es sich um eine Reihe viereckiger, bunkerartiger Behausungen aus den beim
Militär üblichen Betonplatten, die man in einem undefinierbaren Grauton gestrichen hatte. Die Wohnungen selbst waren noch trostloser: Winzig kleine Fenster, bedrückend niedrige Decken und freiliegende Rohre, die aus dem Boden ragten, an den Wänden hochführten und in der darüberliegenden Wohnung verschwanden. Die Navy stellte für jedes Paar, 85 Quadratmeter Wohnraum zur Verfügung, ohne Rücksicht darauf, ob man Kinder hatte oder nicht. Als die Lovells mit ihrem Chevy vor diesen kastenartigen Bauten anhielten, sank ihre Stimmung auf den Tiefpunkt. Lovell warf seiner Frau einen etwas nervösen Blick zu, als sie im Nieselregen vor ihrem neuen Zuhause standen und ihre Kisten auf den nassen Gehsteig ausluden. »Nun ja«, sagte er, »ich muß zugeben, daß es nicht ganz so ist wie in Kalifornien.« »Nein«, sagte Marilyn, die gerade zum fünften Mal die Adresse auf der regennassen Karte überprüfte, die ihr der Angestellte im Quartiermeisterbüro gegeben hatte. »Ganz bestimmt nicht.« »Ich fürchte, hier wirst du nicht allzu viele Blumen ziehen können«, sagte Lovell. »Hmm.« »Meinst du, du hältst es eine Weile hier aus?« »Ich bin mit einem Marineflieger verheiratet. So was gehört dazu.« »Vermutlich ja«, sagte Lovell erleichtert. »Aber eins sage ich dir«, versetzte Marilyn. »Falls wir je ein viertes Kind bekommen sollten, wird es bestimmt nicht Bimssteinblock heißen.« Bei der Navy war man der Ansicht, daß derart schmucklose Unterkünfte durchaus ihren Zweck erfüllten. Erstens kannten sich die Frauen der Testpiloten mit dem Leben beim Militär
aus und wußten, daß man kein großes Gezeter anstimmte, und zweitens waren die Testpiloten derart mit dem Fliegen unerprobter Maschinen beschäftigt, daß sie nicht oft genug zu Hause waren, um ihre Umgebung überhaupt wahrzunehmen. Die Aufgabe, die Lovell übernahm, konnte einen gewöhnlichen Piloten kaum reizen. Für einen Flieger mit einem gewissen Maß an Draufgängertum jedoch war sie ideal. Aber sie war gefährlich. Jeden Tag konnte es vorkommen, daß die Testpiloten, die gerade in ihren Quartieren ein Nickerchen machten oder an ihren Schreibtischen saßen und Berichte verfaßten, den unverkennbaren, markerschütternden Knall hörten – oder besser gesagt: spürten –, wenn wieder einmal ein Flugzeug ein oder zwei Kilometer weiter weg abgeschmiert war, gefolgt vom Motorengedröhn der Rettungsfahrzeuge, dem Heulen der Sirenen und der tiefschwarzen Rauchwolke, die am Horizont aufstieg. Oftmals gelang es den Piloten, sich so rechtzeitig aus der abstürzenden Maschine herauszukatapultieren, daß sie sicher am Fallschirm landen und den Konstrukteuren mitteilen konnten, was an dem Fluggerät, das sie ihnen in die Hand gegeben hatten, nicht stimmte. Genauso oft jedoch gelang es ihnen nicht, und dann galt es wieder einmal Abschied von einem ehrgeizigen Piloten zu nehmen, der sich freiwillig für das gefährliche Fliegerleben in Pax River gemeldet hatte. Zwar gab es immer wieder ein paar Piloten, die einen derart riskanten Beruf genossen, ihre Frauen jedoch – mit Sicherheit aber die Frauen mit einem zwei Jahre alten Sohn, einer vier Jahre alten Tochter und einem fünf Jahre alten Chevy, den sie ohne einen Mann im Haus niemals flott bekamen – waren weitaus weniger begeistert. Damit die Piloten bei möglichst niedrigem Verschleiß an Maschinen eine möglichst hohe Überlebenschance hatten,
mußten die Neuankömmlinge in Pax River eine beinharte sechsmonatige Ausbildung als Testpiloten durchlaufen. Im Januar 1958, als Jim Lovell und die anderen neuen Piloten ihren Dienst antraten, erprobte das Militär gerade eine neue Generation von Kampfflugzeugen, darunter die A2J Vigilante, die F4H Phantom und die F8U-2N Crusader. Wenn die angehenden Testpiloten nicht gerade mit ihren Schulflugzeugen in der Luft waren, um sich die zum Erproben dieser neuen Jets notwendigen Fertigkeiten anzueignen, saßen sie im Klassenzimmer und lernten aeronautisches Spezialwissen, wie die Berechnung von Flugbahnen, Schockwellen, Steigungsrate und Rollmoment um eine feste Längsachse. Und wenn der Arbeitstag zu Ende war und die Flugschüler in ihre winzigen Behausungen zurückkehrten, erwarteten sie weitere Aufgaben. Denn dann mußten sie für ihre Ausbilder noch die Berichte über die theoretische Schulung am Morgen und den praktischen Flugunterricht am Nachmittag anfertigen. Lovell, der sich ganz auf diese intensive Ausbildung konzentrierte, saß jeden Abend ein oder zwei Stunden zu Hause und lernte. Er hatte sich in der Kleiderkammer neben dem Schlafzimmer einen provisorischen Arbeitsraum eingerichtet, aus einer Sperrholzplatte einen Behelfsschreibtisch gebaut und trug einen mit Watte ausgestopften Helikopterhelm, damit ihn das Geschrei seiner zwei kleinen Kinder und des Neugeborenen nicht störte. Diese freiwillige Klausur sollte sich letzten Endes auszahlen. Als die sechsmonatige Büffelei überstanden war, hatte Lovell, so wurde bekanntgegeben, als Klassenbester abgeschlossen und selbst allgemein bekannte Wunderknaben wie Wally Schirra und Pete Conrad ausgestochen. Ein derart guter Klassenabschluß war für einen Piloten in Pax River von großer Bedeutung. Es gab diverse Einheiten, denen
die neuen Testpiloten zugeteilt werden konnten, und die einen waren weniger hoch angesehen als die anderen. Wer großes Glück hatte, wurde in die Flight Test Division aufgenommen, eine Mannschaft, die sich ein neues Flugzeug zuerst vornahm, damit aufstieg und feststellte, wie schnell und wendig die Maschine war. Bei der nächsten Einheit, der Service Test Division, die weniger die Flugeigenschaften, als vielmehr die Ausdauer eines Flugzeugs erprobte, flog man die neue Maschine eher gemächlich, aber dafür über weite Strecken, um festzustellen, wann sie gewartet und überholt werden mußte. Eine Stufe tiefer stand die Armaments Test Division, deren Piloten hauptsächlich mit dem Erproben von Bordwaffen, Bomben und Raketen eines neuen Flugzeugtyps befaßt waren. Am wenigsten begehrt, und damit am Ende der Skala, war die Electronics Test Division; hier kreisten die hervorragend ausgebildeten Piloten langsam über Militärstützpunkten und umliegenden Städten und sammelten mit Richtantennen und Radargeräten Daten. Alle Piloten in Pax River hatten Angst, sie könnten der Electronics Test Division zugeteilt (besser gesagt: zugeschoben) werden – mit Ausnahme des jeweiligen Klassenbesten. Es stand zwar nirgendwo festgeschrieben, war aber seit langem üblich, daß der Begabteste sich eine Einheit aussuchen konnte. In der Abschlußklasse des Jahrgangs 1958 wußte jedoch niemand, daß man in diesem Jahr von der üblichen Praxis abwich. Der Kommandeur der Electronics Test Division hatte erklärt, er habe es satt, daß man ihm ständig die Klassenbesten vorenthalte, und wolle sich auch einmal seine Piloten aussuchen dürfen. Daraufhin hatte Stützpunktkommandeur Butch Satterfield ihm versprochen, der Beste der nächsten Klasse – Jim Lovells Klasse – werde seiner Einheit zugeteilt.
»Sir?« sagte Lovell an dem Nachmittag, an dem bekanntgegeben wurde, wer welcher Einheit zugeteilt wurde, und nahm in Commander Satterfields Büro Haltung an. »Wäre es möglich, daß man mich einer falschen Einheit zugeteilt hat?« »Einer falschen Einheit, Lieutenant?« »Ja, Sir«, sagte Lovell. »Ich – ich hatte irgendwie angenommen, ich würde der Flight Test Division zugeteilt werden.« »Wie sind Sie denn darauf gekommen?« fragte Sattersfield. »Nun ja, Sir, ich habe als Klassenbester abgeschlossen…« »Lieutenant, ist mit der Electronics Test Division etwas nicht in Ordnung?« »Nein, Sir«, log Lovell. »Wußten Sie, daß der Kommandeur von Electronics Test ausdrücklich den besten Piloten Ihrer Klasse verlangt hat?« »Nein, Sir, das wußte ich nicht.« »Nun, so ist es aber. Sie sollten sich also schleunigst dort hinbegeben. Und vergessen Sie nicht, sich bei ihm zu bedanken, wenn Sie dort sind.« »Bei ihm bedanken, Sir?« »Weil er Sie persönlich angefordert hat.« Als Lovell seinen geruhsamen Posten als Radartester antrat, wurden 50 Kilometer weiter flußaufwärts, in Washington, politische Weichen gestellt, die sein Leben erneut verändern sollten. Ein halbes Jahr, nachdem die Sowjetunion die Welt mit dem Start ihrer Sputniks überrascht hatte, überlegte die Regierung der Vereinigten Staaten noch immer, wie sie diesem Schlag gegen die Ehre der technologisch führenden Nation begegnen sollte. Weil er ungehalten wegen des eigenen Versagens war, aber auch aus Angst vor weiteren Erfolgen der Sowjets, schaltete sich widerwillig Präsident Eisenhower ein. Seit dem Ersten Weltkrieg unterhielt die Bundesregierung eine
unbedeutende Behörde namens National Advisory Committee on Aeronautics oder NACA, deren Aufgabe es war, hinsichtlich der Technologie von Flugzeugen und Düsenjägern auf dem laufenden zu bleiben und der Regierung beim Ausgeben von Forschungs- und Entwicklungsgeldern zu helfen. Eisenhower wollte nun, daß die NACA künftig auch für die Entwicklung von Fluggeräten zuständig sein sollte, die außerhalb der Erdatmosphäre eingesetzt werden konnten. Daraus entstand schließlich die National Aeronautics and Space Administration oder NASA. Die vordringlichste Aufgabe der neu gegründeten NASA war der Bau eines Raumfahrzeugs, mit dem ein Mensch in die Erdumlaufbahn geschossen werden konnte. Mit der Leitung dieses Projektes wurde Dr. Robert Gilruth betraut, ein Luftfahrtingenieur an der Langley Research Facility in Virginia. Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal ein geeignetes Raumfahrzeug zur Verfügung stand, konzentrierte sich Gilruth von Anfang an auf die Auswahl der »Astronauten« – oder Sternenfahrer –, der Männer also, die es irgendwann fliegen sollten. Mehrere Wochen lang überlegten Gilruth und seine Mitarbeiter, welche Voraussetzungen in bezug auf Größe, Gewicht, Alter und Ausbildung von derartigen Piloten verlangt werden sollten, und als sie fertig waren, leiteten sie ihre Vorstellungen an Air Force und Navy weiter. Beim Militär gab man die entsprechenden Zahlen in die neuen, zimmergroßen Computer ein, und herauskam eine Liste mit 110 Namen. Noch am gleichen Tag wurden Telegramme an die ersten vierunddreißig Männer verschickt, von denen etliche ihren Militärdienst am Aircraft Test Center in Patuxent River, Maryland, ableisteten. Die Männer, die aus dem großen Saal des Dolley Madison House an der Ecke H Street und East Executive Avenue in
Washington, D. C. strömten, waren mehr oder weniger verdutzt. Angeblich, so hatte man sie glauben lassen, sollte es sich um eine Dienstbesprechung handeln, bei der es, so hatten sie angenommen, um militärische Angelegenheiten ging. Doch die Konferenz, an der sie eben teilgenommen hatten, war völlig anders verlaufen als alle Dienstbesprechungen, die sie bislang erlebt hatten. Genaugenommen hatte es zahlreiche Hinweise gegeben, daß die heutige Konferenz mehr als nur ein wenig ungewöhnlich werden würde. Erstens hatte man die Piloten angewiesen, keine Uniform zu tragen. Statt dessen war Zivilkleidung, vorzugsweise Anzug, erwünscht. Und zweitens hatte man sie gebeten, niemandem etwas von der Einladung zu erzählen – weder ihren Frauen noch ihren Kameraden, nicht einmal anderen Männern, die ihrer Ansicht nach ebenfalls daran teilnehmen würden. Die Einladung, die Jim Lovell erhalten hatte, war diesbezüglich sehr deutlich gewesen. »Melden Sie sich beim Personalbüro wegen CNO OP5 Special Projects Matter«, stand darauf. »CNO« war die Abkürzung für das Oberkommando der Marine, »OP5« hieß Operations Division 5, die Einheit, der Pax River angehörte; und »Special Projects Matter« hieß mit anderen Worten: »Stell keine Fragen, sondern gehe einfach hin, dann wird man dir schon alles rechtzeitig erklären.« Nicht minder merkwürdig war der Ort, an dem sich Lovell laut diesem geheimnisvollen Telegramm melden sollte. Es war durchaus schon öfter vorgekommen, daß ein Marineoffizier dienstlich nach Washington zitiert wurde, aber normalerweise mußte er dann entweder im Pentagon direkt oder in einer der in der ganzen Stadt verstreuten Dienststellen der Navy vorsprechen. Lovell hingegen wurde zum Dolley Madison House bestellt, einem öffentlichen Gebäude, in dem einst die
Gattin des vierten Präsidenten gewohnt hatte und wo seither eine Dienststelle der Regierung untergebracht war. Jim Lovell saß an seinem Schreibtisch in der Electronics Test Division, als das Telex für ihn eintraf. Es war an einem Mittwoch, und laut Stellungsbefehl sollte er am nächsten Morgen in Washington sein. Lovell hatte gute Lust, sofort zu den anderen Männern aus seiner Klasse zu gehen, ihnen die Vorladung zu zeigen und zu fragen, ob sie ebenfalls eine bekommen hätten und was sie davon hielten. Doch der junge Lieutenant nahm die Dienstvorschriften genau, und wenn ihm das Oberkommando der Marine auftrug, Stillschweigen zu bewahren, dann gedachte er sich auch daran zu halten. Außerdem würde er morgen früh ohnehin Bescheid wissen. Lovell wachte am Donnerstag im ersten Morgengrauen auf und zog seinen ungewohnten Anzug an. Als er seine Reisetasche auf den Rücksitz des Wagens stellte, sah er, daß er nicht der einzige Pilot aus Pax River war, der sich noch vor Sonnenaufgang davonstahl. Da war Pete Conrad, ebenfalls in steifem Zivil, der ihm verlegen zunickte, während er zum Parkplatz ging, und auch Wally Schirra, der wortlos vom Stützpunkt fuhr und dem Posten am Tor nur kurz zuwinkte. Die Männer, die an diesem Morgen aufbrachen, hatten peinlich auf die in dem CNO-Telex verlangte Geheimhaltung geachtet, doch als sie ein paar Stunden später inmitten dreißig anderer Piloten von Navy und Air Force im großen Saal des Dolley Madison House umhergingen, konnten sie jederzeit über den Grund ihres Hierseins spekulieren. Bislang hatte noch niemand etwas erfahren. Gerüchteweise hieß es, das Verteidigungsministerium wolle ein neues Raketenflugzeug entwickeln, das die alte X-15 ersetzen solle. Andere wagten immerhin die Vermutung, bei der Konferenz müsse es irgendwie um Raumfahrt gehen. Lovell tippte ebenfalls darauf, wenn auch nur insgeheim, denn an derart tollkühnen
Überlegungen wollte er die anderen Männer nicht teilhaben lassen. Nachdem die letzten Piloten eingetroffen waren, wurden die Türen an der Rückseite des Raums geschlossen, und ein Mann mit kahler Stirn, der wie ein Gelehrter wirkte, besagter Dr. Robert Gilruth, trat auf das Podium. »Gentlemen«, sagte er ohne lange Vorrede, sobald er sich vorgestellt hatte, »wir haben Sie hierhergebeten, weil wir mit Ihnen über das Projekt Mercury sprechen möchten.« Eine Stunde lang schilderte Dr. Gilruth den schweigenden Piloten seinen Plan – das bei weitem ehrgeizigste, aufregendste und hirnverbrannteste Vorhaben, von dem sie jemals gehört hatten. Gilruth, das sagte er von vorneherein, hatte vor, binnen drei Jahren einen Mann – höchstwahrscheinlich einen der Männer in diesem Raum – in die Erdumlaufbahn zu befördern. Bei dem für diese Aufgabe vorgesehenen Raumfahrzeug würde es sich weniger um einen Flugapparat handeln, als vielmehr um eine Art, nun ja, Kapsel, einen Behälter aus Titanium mit einem Durchmesser von knapp 1,80 Metern an der Basis und einer Höhe von insgesamt nur 2,70 Metern. Mit dieser Kapsel sollte ein auf einer Couch angeschnallter Pilot auf der Spitze einer Atlas-Trägerrakete, einer ballistischen Rakete mit einer Schubkraft von über 160 Tonnen, in die Erdumlaufbahn geschossen werden. Etwa ein halbes Dutzend Männer wollte man für diese Flüge auswählen, und jeder sollte die Erde etwas länger umrunden als sein Vorgänger. Der letzte Mann sollte sogar zwei Tage im Weltall bleiben. Das gesamte Programm sollte unter ziviler Verwaltung stehen, so daß die Männer, die sich dafür meldeten, zwar in Rang und Würden blieben, aber nicht mehr dem Verteidigungsministerium unterstellt wären. Zuständig für sie wäre statt dessen eine neue Regierungsbehörde, die National Aeronautics and Space Administration. Viel weiter,
so sagte Dr. Gilruth, seien die Pläne der NASA bislang noch nicht gediehen, aber wenn jemand irgendwelche Fragen habe, wolle er sie gerne beantworten. Zaghaft blickten die Piloten einander an. Sie wußten nicht, ob sie amüsiert oder interessiert reagieren sollten. Schließlich wurde eine Hand gehoben. Hieße es nicht, daß die Atlas-Rakete, nun ja, häufig auf der Startrampe explodierte, wollte ein Pilot wissen. Um ehrlich zu sein, räumte Dr. Gilruth ein, habe es in der Vergangenheit ein paar Unfälle gegeben, aber die Ingenieure seien einhellig der Ansicht, daß die Schwierigkeiten behoben seien. Sei eigentlich schon ein Prototyp der, äh, Kapsel gebaut worden, fragte jemand anders. Gebaut? Nein, gestand Gilruth. Aber ein paar erstklassige Leute hätten bereits ein paar erstklassige Pläne erstellt. Wie würde der Pilot die Kapsel während des Fluges steuern, fragte ein anderer. Gar nicht, antwortete Gilruth. Der gesamte Flug werde vom Boden aus gesteuert. Und wie stelle man sich die Landung vor, wollte ein vierter Pilot wissen. Es gebe keine Landung, sagte Gilruth, sondern eine Wasserung. Die Kapsel würde mit Hilfe kleiner Raketen die Erdumlaufbahn verlassen und an einem Fallschirm ins Meer schweben. Und wenn die kleinen Raketen nicht funktionierten? Genau deshalb, sagte Gilruth, wolle er Testpiloten. Am Ende der Fragestunde bat Gilruth die Männer, sich das soeben Gehörte über Nacht durch den Kopf gehen zu lassen. Für morgen seien weitere Besprechungen angesetzt, und tags darauf träfen sie mit Ärzten, Psychologen und anderen am
Projekt Beteiligten zusammen, und dabei würden alle weiteren Fragen beantwortet werden. Als Gilruth vom Podium trat, standen die Männer auf, brachten einander beim Hinausgehen mit Blicken zum Schweigen und begaben sich zu den Hotels, die für sie in der Stadt reserviert worden waren. Die Gruppe aus Pax River mußte zum Marriott Hotel an der Fourteenth Street, und die meisten Männer konnten es kaum abwarten, bis sie dort waren. Dieser Gilruth mochte zwar für Freitag und Sonnabend weitere Besprechungen angesetzt haben, aber im Augenblick wollten die Piloten ihre eigene Besprechung abhalten, nur für sich alleine. Nachdem sie im Hotel abgestiegen waren und sich ihrer Taschen entledigt hatten, begaben sich Lovell, Conrad und Alan Shepard, ein ehemals in Pax River stationierter Pilot, auf Schirras Zimmer, schlossen die Tür und legten vorsichtshalber die Kette vor. »Nun«, sagte Lovell. »Was denkt ihr, Gentlemen?« »Tja, um die X-15 geht’s nicht, soviel steht mal fest«, sagte Conrad. »Es ist eine gefährliche Aufgabe, soviel steht mal fest«, sagte Schirra. »Ich hätte jedenfalls ein besseres Gefühl dabei, wenn sie etwas anderes als die Atlas verwenden würden«, meinte Lovell. »Die Wände von dem Ding sollen so dünn sein, daß sie zusammenbricht, wenn sie nicht unter Druck steht.« »Je leichter sie ist, desto schneller fliegt sie«, sagte Shepard. »Und desto eher geht sie in die Luft«, fügte Lovell hinzu. »Daß ich eventuell meinen Arsch riskiere, macht mir weniger Sorgen«, sagte Schirra. »Aber ich mache mir Sorgen, ob ich eventuell meine Karriere riskiere.« Die Männer im Zimmer sahen aneinander an und nickten. Schirra hatte genau das ausgesprochen, was sie alle dachten. Sie waren zwar nicht unbedingt scharf darauf, sich oben an
einer Trägerrakete festschnallen zu lassen und genauso zu enden wie der unglückselige Satellit, der mitsamt der beim Start explodierenden Vanguard in Stücke geflogen war, aber sie hatten auch keine Angst davor. Als Testpilot lief man ständig Gefahr, daß die nächste Maschine, in die man stieg, die letzte sein konnte. Für die Piloten kam es vielmehr darauf an, daß sich ein derart hohes Risiko auch beruflich bezahlt machte. Wenn sie irgendwie auf Kurs blieben, wenn sie sich und ihre Testmaschinen wieder heil zu Boden brachten, dann förderte das, davon gingen sie aus, ihre Aufstiegschancen ganz erheblich – vom einfachen Flieger zum Staffelführer, dem achtzehn Maschinen unterstanden, oder zum Kommandeur eines vier Staffeln umfassenden Geschwaders, vielleicht sogar zu einer Laufbahn im Pentagon, zu einem eigenen Kommando, und sei es auch nur über ein kleines Schiff, einen Tanker zum Beispiel oder einen Truppentransporter, und schließlich zum Kommandeur eines Flugzeugträgers, vielleicht sogar im Admiralsrang. Es war ein langer Weg, auf dem einem alles mögliche in die Quere kommen konnte, aber er war klar vorgegeben. Die Voraussetzung war, daß man nicht auf ein Abstellgleis geriet. Brachte man hingegen ein paar Jahre mit irgendeiner versponnenen, absonderlichen Tätigkeit zu – als Freiwilliger bei einem halbausgegorenen Raumfahrtprogramm zum Beispiel –, dann konnte es passieren, daß man nie wieder die Kurve kriegte. Wally Schirra jedenfalls hatte zu hart gearbeitet, um das, was er erreicht hatte, einfach aufs Spiel zu setzen. Und je mehr er darüber nachdachte – je mehr er sich laut darüber ausließ, ob den Kerlen drüben im Dolley Madison House wirklich bewußt sei, was für ein Opfer sie von den Männern im Marriott verlangten –, desto größer wurden auch die Vorbehalte der anderen Leute in Schirras Zimmer.
Zumindest am Anfang. Lovell jedenfalls wurde nach einer Weile nachdenklich. Könnte es nicht sein, daß dieses scheinbar wahnwitzige Programm die schnellste Aufstiegsmöglichkeit bot? Wäre es nicht möglich, daß man durch diesen Flug auf einer Atlas-Rakete den Staffelführer, Geschwaderkommodore und Schiffskommandeur einfach übersprang und sich direkt in den Admiralsrang katapultierte? Und könnte es sein, daß Wally dies, bei aller Kameradschaft, ganz genau wußte? Versuchte er etwa Zweifel zu provozieren, damit ein paar seiner Konkurrenten ausstiegen, bevor sie überhaupt angefangen hatten? Man konnte ja nie wissen. Aber Lovell, der seit zwanzig Jahren nichts anderes als Raketen im Sinn hatte, der vor über anderthalb Jahrzehnten selbst eine kleine Atlas gebaut hatte, dachte nicht daran, sich jetzt wegen ein paar Sorgen um seine Karriere davon abhalten zu lassen, eine richtige Rakete zu besteigen. Eine halbe Stunde nach ihrem Eintreffen im Marriott hatten zwar alle Piloten eingesehen, daß Projekt Mercury durchaus das Ende ihrer Karriere bei der Navy bedeuten könnte. Dennoch war jeder entschlossen, alles Erforderliche zu tun, um mit dabei zu sein. An der Lovelace Clinic in Albuquerque, New Mexico, fand eine erste Tauglichkeitsuntersuchung im Rahmen des Projekts Mercury statt. Zweiunddreißig der insgesamt vierunddreißig für das Programm ausgewählten Männer hatten sich entschieden, auf das Angebot einzugehen. Danach wurden die Freiwilligen in kleinere Einheiten zu sechs oder sieben Mann unterteilt und jeweils gruppenweise eine Woche lang zur medizinischen Untersuchung nach Lovelace geschickt. Fünf der sechs Männer, die mit Lovells Gruppe in Lovelace eintrafen, standen die sieben harten Tage mit Erfolg durch. Gleich bei der Ankunft wurde den angehenden Astronauten klar, daß die NASA eine Tauglichkeitsprüfung mit ihnen durchführen wollte, wie sie noch nie eine erlebt hatten.
Bereitwillig lieferten sich sechs kerngesunde, topfitte Männer, die alle unbedingt bei der medizinischen Untersuchung durchkommen und in das Programm aufgenommen werden wollten, den Ärzten aus und ließen widerspruchslos alles mit sich geschehen, was man sich in der Klinik in New Mexico vorgenommen hatte. Den Ärzten wurde allein bei der Vorstellung fast schwindlig. In den nächsten sieben Tagen wurden den Piloten Blutproben abgenommen und Röntgenaufnahmen ihrer Herzkranzgefäße gemacht, sie mußten EEGs, EMGs und EKGs über sich ergehen lassen, man analysierte ihre Magensäure, testete ihr Atemverhalten unter Streß, unterzog sie Entwässerungs- und Leberfunktionstests, man setzte sie zum Belastungs-EKG aufs Fahrrad oder schickte sie aufs Laufband, prüfte ihre visuelle Wahrnehmungsfähigkeit und ihre Lungenkapazität, man untersuchte ihre Zeugungsfähigkeit, ihren Urin und ihre Verdauung. Die angehenden Astronauten mußten sich Farbstoff in die Leber spritzen, kaltes Wasser in die Ohren gießen und unter Strom stehende Nadeln in die Muskulatur stechen lassen, man pumpte ihnen radioaktives Barium in die Eingeweide, quetschte ihre Prostata, schob ihnen Sonden in die Nebenhöhlen, pumpte ihnen den Magen aus und piekte ihnen in die Venen. Kopf und Brust hingen voller Elektroden, und bis zu sechsmal pro Tag jagte man ihnen zu diagnostischen Zwecken ein Klistier in den Darm. Nach Überstehen dieser alptraumhaften Woche bekam jeder der sechs Männer eine Karte überreicht, auf der entweder stand, bislang sei alles in Ordnung, und sie sollten sich zu weiteren Tests bei der Wright Patterson Air Force Base in Dayton, Ohio, melden, oder es hieß, sie seien für untauglich befunden worden und sollten sich bei ihrer alten Dienststelle melden, die Regierung bedanke sich für ihren Zeitaufwand und Einsatz. Die ersten sechs Tage waren um keinen Deut weniger
scheußlich, als man den sechs Piloten vorausgesagt hatte, und am siebten bekamen alle ihre Karten, wonach sie sich bei der Wright Patterson Base melden sollten – mit einer Ausnahme. »Sind Sie in letzter Zeit krank gewesen, Lieutenant?« fragte Dr. A. H. Schwichtenberg, als Jim Lovell mit dem Marschbefehl nach Maryland in sein Büro trat. »Nicht daß ich wüßte, Sir. Warum?« »Wegen Ihrem Bilirubin«, sagte der Arzt, schlug eine vor ihm liegende Mappe auf und überflog das oberste Blatt. »Es ist ein bißchen hoch.« »Ich habe nicht mal gewußt, daß ich Bilirubin habe«, sagte Lovell. »Nun, Sie haben aber welches, Lieutenant. Wir alle haben es. Es handelt sich um ein natürliches Leberpigment, aber Sie haben ein bißchen zuviel davon.« »Kann man von so etwas krank werden?« fragte Lovell. »Eigentlich nicht. Normalerweise bedeutet das, daß Sie krank waren.« »Aber das heißt doch auch, daß es mir jetzt wieder gutgeht, wenn ich krank gewesen wäre.« »Das stimmt, Lieutenant.« »Und wenn es mir jetzt wieder gutgeht, gibt es keinen Grund, weshalb ich nicht bei dem Programm bleiben kann.« »Lieutenant, da draußen sind fünf Männer, die keine Bilirubin-Störung haben, und fünfundzwanzig weitere, die wahrscheinlich auch keine haben, sind schon unterwegs. Meine Entscheidung muß sich auf irgend etwas stützen. Ich weiß, daß Sie in der vergangenen Woche viel über sich ergehen lassen mußten, und wir danken Ihnen für Ihre Mühe.« »Könnten wir den Lebertest nicht noch mal machen?« hakte Lovell nach. »Vielleicht ist ein Fehler unterlaufen.«
»Haben wir bereits«, sagte Schwichtenberg. »Und die Antwort lautet nein. Aber wir bedanken uns trotzdem für Ihre Mühe.« »Wissen Sie«, beharrte Lovell, »wenn Sie immer nur die Vollkommensten nehmen, Sir, kommen am Ende immer die gleichen Ergebnisse heraus. Haben Sie aber jemanden mit einer kleinen Anomalie, dann können Sie viel mehr dabei lernen.« Schwichtenberg schloß Lovells Akte, schob sie beiseite und blickte auf. »Wir danken Ihnen«, wiederholte er langsam, »für Ihre Mühe.« Am nächsten Tag kehrte Jim Lovell zu den Bimssteinblocks und der Electronics Test Division in Pax River zurück. Zwei Wochen später kam auch Pete Conrad zurück. Ein paar Wochen darauf saßen beide Männer bedrückt vor ihren Fernsehgeräten, als sich ihr Kamerad Wally Schirra gemeinsam mit Al Shepard, Deke Slayton, John Glenn, Scott Carpenter, Gordon Cooper und Gus Grissom im Saal des Dolley Madison House, wo sich auch Lovell und die anderen versammelt hatten, einer Schar von Reportern stellten, denen sie als Amerikas erste Astronauten präsentiert wurden. Lovell verfolgte die Feierstunde an dem kleinen Fernsehgerät in seiner engen Wohnung, und am gleichen Apparat sah er im Laufe der nächsten drei Jahre auch zu, wie diese Männer genau die Flüge unternahmen, für die man ihn als nicht tauglich befunden hatte. Da war zunächst Al Shepards fünfzehnminütiger »suborbitaler« Flug mit einer kleinen Redstone-Rakete, dann unternahm Gus Grissom mit dem gleichen Raketentyp einen ähnlichen Flug. Dann war da John Glenns Flug mit der größeren Atlas-Rakete, bei dem erstmals ein Amerikaner in die Erdumlaufbahn geschossen wurde, und später flog auch noch Scott Carpenter mit der Atlas-Rakete.
Zur gleichen Zeit, da die Mercury-Astronauten Geschichte machten, ging es auch mit Lovells Pilotenkarriere aufwärts, allerdings in bescheidenerem Rahmen. Die Electronics Test Division, die sich doch nicht, wie er zunächst befürchtet hatte, als Abstellgleis erwies, wurde 1961 mit der weitaus dynamischeren Armament Test Division zusammengelegt und in Weapons Test Division umbenannt. Da die Düsenkampfflugzeuge ständig weiterentwickelt wurden, mußten auch die von ihnen mitgeführten Waffen immer ausgeklügelter werden, und bald wurde klar, daß ein Pilot, der seine Bomben und Raketen wirkungsvoll ins Ziel bringen wollte, eher Techniker und Elektronikexperte sein mußte als schlichter Bombenschütze. Die erste neu entwickelte Maschine mit einem vollkommen integrierten Waffen- und Elektroniksystem war die F4H Phantom, ein AllwetterFlugzeug, das speziell für den Nachteinsatz geeignet war. Lovell, der auf dem Träger »Shangri-La« genau die dafür erforderlichen Flugkünste gelernt hatte, wurde zum Programmleiter der Weapons-Test-Gruppe ernannt, die das neue Flugzeug beurteilen sollte. Diese neue Aufgabe bedeutete sowohl mehr Prestige als auch häufiges Reisen, hauptsächlich zum Werk von McDonnel Aircraft in St. Louis, wo die Maschine gebaut wurde. Und letzten Endes war damit auch ein Umzug verbunden. Als die Testphase der F4H abgeschlossen war und der Zeitpunkt kam, da die künftigen Piloten dafür ausgebildet werden sollten, betraute man Lovell auch mit dieser Aufgabe. Er zog mit seiner immer größer werden Familie aus den Bimssteinblocks aus und ließ sich an der Oceana Naval Air Station in Virginia Beach nieder, wo er als Fluglehrer bei der Fighter Squadron 101 arbeiten sollte. Im Sommer 1962 neigte sich das Mercury-Programm dem Ende zu, und nachdem Deke Slayton die niederschmetternde Nachricht bekommen hatte, daß er aufgrund einer
Herzrhythmusstörung nicht mehr starten könne, standen nur mehr die Weltraumflüge von Wally Schirra und Gordon Cooper aus. Lovell befand sich im Bereitschaftsraum des Stützpunkts Oceana, trank Kaffee und bereitete sich auf den Nachmittagsflug vor. Nebenbei griff er zu einem Exemplar von Aviation Week & Space Technology und blätterte darin herum. Angesichts des ausklingenden Mercury-Programms hatte die Zeitschrift zuletzt häufig Artikel über das bevorstehende Gemini-Programm und die Zweimannkapseln gebracht, mit denen die dafür auserwählten Männer ins All fliegen sollten. In dieser Woche gab es nichts Neues über das Raumfahrzeug, aber am Ende des Nachrichtenteils war ein anderer kleiner Artikel versteckt, in dem über die jüngste Presseverlautbarung der NASA berichtet wurde. »NASA will neue Astronauten aufnehmen«, lautete die Überschrift. Und: »Kommenden Herbst werden fünf bis zehn zusätzliche Astronauten für das bemannte Raumfahrtprogramm der NASA ausgewählt werden«. Lovell stellte seine Tasse so heftig auf den Tisch mit den Zeitschriften, daß der Kaffee überschwappte, las die kurze Mitteilung noch einmal, und noch bevor er damit fertig war, beschloß er, sich erneut zu bewerben. Ja, er war jetzt älter, beinahe vierunddreißig. Aber Alter, so dachte er sich, bedeutet auch Erfahrung. Ja, zehn freie Stellen bei der NASA hieß auch, daß sich noch mehr Männer melden würden als beim letzten Mal, aber die Leute bei der Raumfahrtbehörde kannten seinen Namen bereits. Und ja, da war noch die leidige Sache mit dem Bilirubin. Aber nun, da man vier Mercury-Flüge erfolgreich durchgeführt hatte und trotzdem über vier gesunde Piloten verfügte, nahm Lovell an – zumindest hoffte er es –, daß man bei der NASA vielleicht weniger Wert auf Musterexemplare der Gattung Mensch legte, sondern vielmehr die bestmöglichen Piloten suchte. Durchaus möglich, daß Lovell aufgrund seiner
ersten Ablehnung auch beim zweiten Mal für untauglich befunden werden würde. Aber er wollte es wenigstens noch einmal versuchen. Ins Weltall zu fliegen und ein neues Raumfahrzeug zu erproben, so dachte er sich, war doch ein ganz anderes Abenteuer, als nach St. Louis zu fliegen und einen neuen Jet zu testen.
»He, Lovell, Telefon für Sie«, rief jemand in die Schreibstube der Staffel in Oceana hinein. Jim Lovell blickte müde von dem Einsatzbericht auf, den er seit einer halben Stunde studierte, und rief zurück: »Wer ist denn dran?« »Ich habe ihn gefragt, aber er wollte es nicht sagen.« Lovell legte den Bericht hin, drückte auf den blinkenden Knopf an seinem Telefon und griff zum Hörer. »Ich suche Jim Lovell«, sagte die Person am anderen Ende. Die Stimme kam Lovell bekannt vor, aber er konnte sie nicht zuordnen. Es war der 13. September 1962, über zwei Wochen nach seiner Rückkehr von der NASA, wo er etliche Vorstellungsgespräche für das Gemini-Programm geführt hatte. Während der Zeit bei der Raumfahrtbehörde hatte er allerhand Leute kennengelernt und allerhand Stimmen gehört. Wenn er den Anrufer kannte, wußte er nicht genau, woher. »Am Apparat«, antwortete Lovell. »Jim, hier ist Deke Slayton.« Lovell setzte sich aufrecht hin, sagte aber nichts. Die Tauglichkeitsuntersuchung der NASA hatte an der Brooks Air Force Base in San Antonio, Texas, stattgefunden, und wie beim letzten Mal hatte Lovell hauptsächlich mit Ärzten gesprochen. Im Gegensatz zum letzten Mal allerdings hatte er die erste Untersuchungsrunde überstanden und war zu weiteren Gesprächen zur Ellington Air Force Base in Houston geschickt
worden. Nachdem er aus dem aktiven Dienst als Astronaut ausgeschieden war, hatte man Deke zum Direktor für den Einsatz der Flugmannschaften ernannt und ihm damit die Verantwortung für die Arbeit der derzeitigen Astronauten und die Auswahl aller künftigen übertragen. Lovell hatte in Houston ein langes Vorstellungsgespräch mit Deke geführt, und er hatte mit einem Anruf von ihm gerechnet. Aber ob dieser Anruf gute oder schlechte Nachrichten brachte, das wußte er nicht. »Jim, sind Sie dran?« fragte Slayton. »Äh, ja, Deke, ich bin da.« »Tja, ich habe gerade wegen des neuen Astronautenteams herumtelefoniert.« »Aha«, sagte Lovell, der einen etwas trockenen Hals bekam. »Und ich habe mich gefragt«, sagte Slayton, »ob Sie vielleicht Lust hätten, für uns zu arbeiten.« »Sollte ich denn?« rief Lovell so laut, daß sich die anderen Männer in der Schreibstube zu ihm umdrehten. »Genau das frage ich Sie.« Slayton lachte. »Ja, ja«, stammelte Lovell. »Natürlich.« »Gut«, sagte Slayton. »Freut mich, Sie an Bord zu haben.« »Ich freue mich, an Bord zu sein. Können Sie mir sagen, wer es sonst noch geschafft hat? Hat es Pete diesmal geschafft?« »Das werden Sie schon noch herausfinden. Wir wollen jetzt, daß alle neuen Besatzungsmitglieder runter nach Houston kommen, damit wir sie übermorgen der Presse vorstellen können. Wir möchten, daß bis dahin alles geheim bleibt, und deshalb möchte ich, daß Sie morgen hierherfliegen, sich ein Taxi nehmen und direkt zum Rice Hotel fahren. Haben Sie das notiert?« »Rice Hotel«, wiederholte Lovell, während er nach einem Notizzettel langte und mitkritzelte.
»Und wenn Sie dort sind, sagen Sie, für Sie sei im Namen von Max Peck reserviert.« »Nach Max Peck fragen«, sagte Lovell. »Nein, fragen Sie nicht nach Max Peck. Sagen Sie ihnen, Sie wären Max Peck.« »Ich bin Max Peck?« »Ganz genau.« »Deke?« »Hmm?« »Wer ist Max Peck?« »Das werden Sie schon noch herausfinden.« Slayton legte auf. Lovell hielt den Hörer in der Hand, drückte auf die Gabel und rief aufgeregt Marilyn an. »Wir ziehen um«, sagte Lovell, als seine Frau sich meldete. »Wohin?« fragte Marilyn. »Nach Houston.« Keine Reaktion. Aber Lovell hätte schwören können, daß Marilyn hörbar gelächelt hatte. »Komm nach Hause«, sagte sie. »Du solltest es den Kindern selbst sagen.«
Als Lovell tags darauf am William Hobby Airport in Houston eintraf, war kein Mensch da, der ihn in Empfang nahm. Slayton hatte die Sache mit der Geheimhaltung offenbar ernst gemeint. Als Lovell aus der Maschine stieg, empfing ihn lediglich ein Schwall heißer, feuchter Luft. Nachdem er durch die Gepäckausgabe war, tat der viel zu warm angezogene Yankee, wie ihm geheißen, und rief ein Taxi. Auf der Fahrt zum Hotel sagte sich Lovell, er müsse achtgeben, denn wenn er mit seiner Familie hierherziehen wollte, sollte er schon mal damit anfangen, sich zurechtzufinden. Als das Taxi auf dem Gulf Freeway entlangfuhr, bemerkte Lovell eine große Reklametafel auf
einem Gebäude. »Gäste in unserer Stadt wohnen im Rice Hotel. Ihre Herberge in Houston!« stand auf diesem Schild. Und darunter, in kleineren Buchstaben: »Max Peck, Manager.« Verwirrt versuchte Lovell, vom weiterfahrenden Taxi aus noch einen Blick auf das Schild zu werfen, aber er war zu langsam. Vor dem Hotel angekommen, bezahlte er den Fahrer, ging hinein und blickte sich um. Nirgendwo war etwas von Deke, Conrad oder sonst jemandem zu sehen, der auch nur entfernt nach NASA aussah. Lovell, der sich mehr als nur ein bißchen verloren vorkam, ging so lässig, wie er konnte, zur Rezeption und nickte der Empfangsdame grüßend zu. »Ich habe ein Einzelzimmer für mich reservieren lassen«, sagte Lovell. »Mein Name ist Max Peck.« Die Empfangsdame war ein knapp zwanzigjähriges Mädchen. »Bitte entschuldigen Sie? Wer sind Sie?« »Ich bin Mr. Max – ich meine Mr. Peck. Mein Name ist Max Peck.« »Äh, das glaube ich nicht«, sagte das Mädchen. »Nein, wirklich«, sagte Lovell wenig überzeugend. Auf einmal tauchte hinter der Empfangsdame ein weiterer Hotelbediensteter auf, ein großer, jovial wirkender Mann mit einem Namensschild, das ihn als Wes Hooper auswies. »Ich kümmere mich schon darum, Sheila«, sagte er zu dem Mädchen und wandte sich dann an Lovell. »Freut mich, daß Sie da sind, Mr. Peck. Wir haben Sie schon erwartet. Hier ist Ihr Schlüssel, und sagen Sie uns Bescheid, wenn irgend etwas nicht in Ordnung sein sollte.« Lovell, der etwas benommen war, dankte Mr. Hooper und ging in die Richtung, die man ihm gewiesen hatte. Das hier, dachte er, war mehr als albern. Geheimhaltung und Abschirmen vor der Presse mochte ja noch angehen, aber diese Versteckspielerei war schlichtweg lächerlich. Lovell begab sich auf sein Zimmer, warf seine Tasche auf das Bett und legte
sich dazu. Im nächsten Augenblick klingelte auch schon das Telefon. »Hallo?« sagte er müde, als er abhob. Niemand meldete sich. »Hallo«, wiederholte er, diesmal schärfer. »Wer ist da?« fragte eine Stimme am anderen Ende. »Und wer sind Sie?« erkundigte sich Lovell. »Hier spricht Max Peck.« »Wer?« Lovell wurde jetzt laut. »Max Peck.« »Sind Sie in dem Hotel beschäftigt?« »Äh, nein«, antwortete der Mann. »Ich bin ebenfalls Gast. Und ich glaube, Sie haben mein Zimmer.« »Das glaube ich nicht«, sagte Lovell. »Ich aber«, erwiderte der Mann. »Hören Sie«, blaffte Lovell, »ich weiß nicht, wie viele Max Pecks heute hier sind, aber Sie können mir ruhig glauben, daß ich einer davon bin. Das ist mein Zimmer, die Reservierung ist unter meinem Namen erfolgt, und ich gedenke, hier zu bleiben. Wenn Ihnen das nicht paßt, rate ich Ihnen, sich an den Manager zu wenden. Soweit ich weiß, ist sein Name Max Peck!« Lovell legte auf. Vielleicht hatte Slayton einen Grund für diesen Unsinn, aber er konnte ihn nicht erkennen. Einer Sache war er sich indessen sicher: Er würde nicht alleine in diesem Zimmer hocken bleiben und darauf warten, daß jemand kam und alles klarstellte. Es war kurz nach 18 Uhr, und Lovell wollte duschen, sich umziehen, nach unten gehen und etwas essen. Und wenn sein Inkognito auffliegen sollte, weil er sich zu Speis und Trank in ein Hotelrestaurant setzte, dann flog es eben auf. Sobald er im Foyer war, stellte Lovell fest, daß er umsonst darauf geachtet hatte, möglichst wenig aufzufallen, denn den anderen Männern, die die NASA hatte hierherkommen lassen,
war es anscheinend völlig gleichgültig. Mitten in der Hotellounge hatte es sich Pete Conrad bequem gemacht, rauchte eine Pfeife und genehmigte sich einen Drink. Neben ihm, ebenfalls mit einem Drink in der Hand und in der anderen eine riesige, stinkende Zigarre, saß der Navy-Pilot John Young. Lovell hätte am liebsten einen Luftsprung gemacht: Conrad und Young, beides alte Kameraden aus Pax River. Er kannte die beiden Männer gut, achtete sie beide und wäre mit jedem von ihnen sofort zum nächstbesten Planeten geflogen, egal, mit welchem Raumschiff. Eilig ging er durch das Foyer, so daß Young und Conrad ihn nicht bemerkten, schlich sich an seine Fliegerkameraden heran und schlug beiden auf die Schulter. »Dann ist die Flotte also gelandet«, rief Lovell. »Jim!« sagte Conrad, drehte sich um und musterte ihn durch die Qualmwolke, die um seinen Kopf hing. »Wie habt ihr euch denn in das Programm geschmuggelt?« fragte Lovell, während er Conrad und Young die Hand schüttelte. »Vermutlich durchs gleiche Schlupfloch wie du«, sagte Conrad. »Nun, von mir aus können sie das Schlupfloch ruhig offenlassen«, sagte Lovell. »Scheint mir, als wären wir bislang eine reine Navy-Gruppe.« »Nicht ganz«, sagte Young und schaute zu einem Sessel, der ein paar Meter weiter weg stand. Lovell folgte Youngs Blick und bemerkte zum erstenmal, daß dort ein weiterer Mann saß, unverkennbar ein Soldat, der sich ebenfalls einen Drink gönnte und Zeitung las. »Ed?« sagte Young zu dem Mann, der sich daraufhin lächelnd um drehte. »Ich möchte dir Jim Lovell vorstellen. Jim, das ist Ed White, Air Force.«
Der Mann stand auf, kam einen Schritt auf Lovell zu und streckte die Hand aus. Lovell betrachtete kurz sein Gesicht. Irgendwie kam ihm der Mann bekannt vor. »Schön, Sie kennenzulernen«, sagte Lovell und streckte ebenfalls die Hand aus. »Genaugenommen«, sagte White, »kennen wir uns bereits.« Ich wußte es, dachte Lovell, der sich dunkel an etwas zu erinnern meinte, das Jahre zurücklag. »Aber nur vom Telefon«, fügte White hinzu. »Oh?« sagte Lovell. »Ich bin der Max Peck, der auf Ihrem Zimmer angerufen hat.« »Sie waren das? Sind hier heute etwa lauter Max Pecks?« fragte Lovell. Conrad und Young nickten. »Nun ja, ich kann’s kaum erwarten, all die anderen kennenzulernen, die heute eingeflogen werden.« Keiner der vier Männer wußte, wen die NASA sonst noch im Rice Hotel unterbringen wollte, aber wenn die Raumfahrtbehörde die Neuankömmlinge schon nicht in Empfang nahm, dann wollten zumindest sie es tun. Lovell, Conrad, Young und White postierten sich in der Lounge, orderten neue Drinks und verlegten ihre Stellung dann zum Essen ins Restaurant. Den ganzen Abend über behielten sie das Foyer im Auge, und im Laufe der Zeit tauchten fünf weitere Männer auf, die allesamt ebenso verdattert wirkten wie Lovell, als dieser das Hotel betreten hatte. Da waren Frank Borman, Jim McDivitt und Tom Stafford, alle von der Air Force. Da war Elliot See, ein ziviler Testpilot von General Electric. Und zu guter Letzt war da auch Neil Armstrong, ein weiterer Zivilist – und ein Mann, der als Testpilot viel für die NASA gearbeitet hatte. In Anbetracht seiner Verdienste um die Raumfahrtbehörde hatte man davon ausgehen können, daß er diesen Schritt
unternehmen würde. Die Neuankömmlinge wurden von den bereits anwesenden Männern herbeigewinkt, vorgestellt und aufgefordert, sich zu ihnen zu setzen und einen mitzutrinken. Als der neunte und letzte Pilot eingetroffen war, setzten sich sämtliche Männer hin und sahen sich verwundert an. Hunderte von Testpiloten hatten sich vor ein paar Monaten bei der NASA beworben, und diese neun hier waren ausgewählt worden. Jeder einzelne von ihnen, Armstrong und See einmal ausgenommen, hatte den Großteil seines Berufslebens beim Militär zugebracht und sich langsam, aber stetig hochgedient, und jetzt hatte jeder von ihnen kurzerhand – und, so könnte man sagen, leichtfertig – einen Schlußstrich gezogen. Es war nicht klar, wenn sie in den Weltraum fliegen würden, wie es ihnen dort ergehen würde, oder ob sie vielleicht, wie der arme Deke, überhaupt nicht dazu kämen. Aber eins war ihnen klar, als sie im gedämpften Licht der ruhigen Hotellounge saßen, ihre Drinks genossen und vor sich hinrauchten: Wenn ihre bisherige Karriere tatsächlich vielversprechender gewesen sein sollte als diejenige, die sie jetzt einzuschlagen gedachten, dann sah es zumindest im Augenblick nicht danach aus.
8
Dienstag, 14. April 1970, 7:00 Uhr Genaugenommen wachte Marilyn am vierzehnten nicht auf, da sie die letzte Nacht gar nicht geschlafen hatte. Für Marilyn begann der Dienstag morgens um 7 Uhr, als sie nach etwa einstündigem, unruhigem Schlaf ihr Schlafzimmer verließ. Erst um 6 Uhr hatten Betty Benware und Elsa Johnson sie vom Fernseher verjagt, wo sie den Großteil der Nacht zugebracht hatte, und ins Bett geschickt. Marilyn hatte protestiert und behauptet, sie sei nicht müde, doch Elsa und Betty hatten sie daran erinnert, daß ihre Kinder bald aufwachen würden, und zumindest ihretwegen müsse sie ein kurzes Nickerchen machen. Marilyn hatte sich widerwillig gefügt und in ihr Bett gelegt, aber eine Stunde später stand sie wieder auf und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Die letzte Nacht war mehr als turbulent gewesen. Marilyn hatte keine Ahnung, wie viele Menschen sich in ihrem Haus aufgehalten hatten, aber der Anzahl der vollen Aschenbecher und der überall im Wohnzimmer herumstehenden halbvollen Kaffeetassen nach zu schließen – von den diversen Menschen, die nach wie vor im Haus herumliefen oder vor dem Fernseher saßen und leise miteinander redeten, gar nicht zu sprechen –, mußten es an die sechzig Leute gewesen sein. Wegen all diesen Freunden, Nachbarn und Protokolloffizieren, die ihr Haus bevölkerten, hatte Marilyn angenommen, daß ihre Kinder am dringendsten Zuwendung brauchten. Doch die nahmen sie bislang am allerwenigsten in Anspruch. Jeffrey war zwar zuerst von dem Tumult im
Wohnzimmer aufgeschreckt worden, aber Adeline Hammack hatte anscheinend seine Neugier gestillt, ohne ihn aufzuregen. Die Töchter hatten bislang noch keine Erklärung verlangt, und Marilyn war dankbar dafür. Barbara Lovell hatte offenbar herausgefunden, in welcher Gefahr ihr Vater schwebte, hatte aber, dem dunklen Zimmer und der fest umklammerten Bibel nach zu urteilen, beschlossen, auf ihre Art damit umzugehen und sich in den Schlaf zu flüchten. Solange sie nicht von sich aus Ermutigung suchte, zögerte Marilyn, sie deswegen aufzuwecken. Und sie wollte auch ihre jüngere Tochter Susan nicht stören, die bemerkenswerterweise während des ganzen frühmorgendlichen Tohuwabohus fest schlief. Susan würde noch früh genug von selbst aufwachen und erfahren, was die Nachbarn, die Presse und der Großteil der Welt bereits wußte. Marilyn sah keinen Grund, ihre Tochter jetzt um den Schlaf zu bringen, zumal sie so gut wie sicher wußte, daß sie in den nächsten Tagen nicht mehr allzu viel finden würde. Bei dem vierzehnjährigen Jay war es etwas anderes. Marilyn hatte um drei Uhr morgens in der St. John’s Military Academy angerufen, eine Aufsichtsperson in Jays Schlafquartier geweckt, ihm in aller Kürze die Krise erklärt und ihn gebeten, Jay sofort die Nachricht zu überbringen, bevor ein anderer Frühaufsteher das Radio anstellte und ihm vorher Bescheid sagen konnte. Am liebsten hätte Marilyn persönlich mit ihrem Sohn gesprochen, aber das, so wußte sie, hätte es ihm nur noch schwerer gemacht. Halbwüchsige Jungen neigen oft zu mehr Tapferkeit, als gut für sie ist, und bei Kadetten ist dies noch viel ausgeprägter. Wenn Jay die Nachricht von seiner Mutter erführe, würde er sich höchstwahrscheinlich dazu verpflichtet fühlen, mehr Haltung zu bewahren, als gut für ihn war. Besser, er erfuhr es von anderer Seite und rief dann, wenn er die Nachricht verdaut hatte, zu Hause an, um sich genauer zu erkundigen. Der Ausbilder hatte Verständnis dafür gehabt und
Marilyn versichert, er werde sich sofort auf Jays Zimmer begeben, und seither versuchte Marilyn, ständig erreichbar zu sein, falls Jay zurückrufen sollte. Marilyn Lovell ging in die Küche, um sich eine Tasse Kaffee zu holen, obwohl sie eigentlich gar keinen wollte. Sie konnte spüren, wie das Haus wieder zum Leben erwachte, und auch auf der Straße tat sich etwas, wie sie mit einem Blick aus dem Fenster feststellte. Gehsteig, Auffahrt und Rasen waren plötzlich voller Männer mit Notizblöcken, Mikrophonen und Fernsehkameras. Etliche Übertragungswagen waren vorgefahren und parkten überall, wo sie einen Platz hatten finden können. Etwas ungläubig betrachtete Marilyn das Schauspiel. Waren das nicht die gleichen Menschen, die während der letzten zwei Tage so verdächtig wenig Interesse gezeigt hatten? Diejenigen, die die Übertragung ihres Mannes am Abend zuvor nicht ausgestrahlt hatten, die die Nachricht von seinem bevorstehenden Start auf der Seite mit dem Wetterbericht versteckten? Im Arbeitszimmer klingelte der Apparat, über den man vom Haus aus in ständigem Kontakt mit dem Space Center stand, und Marilyn konnte hören, wie ein Protokolloffizier abnahm und sich meldete. Es folgte ein leises Gespräch, dann kam der Mann, an den sie sich vom letzten Abend nicht mehr erinnern konnte, zu ihr in die Küche. »Mrs. Lovell«, sagte er unsicher, »das war das Büro für Öffentlichkeitsarbeit. Die Fernsehstationen haben sich dorthin gewandt und wollten wissen, ob Sie damit einverstanden sind, wenn sie für die geplante Berichterstattung einen Sendemast in Ihrem Garten aufstellen.« »Einen Sendemast? Auf meinem Rasen?« »Äh, ja. Sie warten am Telefon, und ich muß wissen, was ich ihnen mitteilen soll.«
Marilyn dachte einen Augenblick nach. »Gar nichts«, sagte sie. »Mrs. Lovell, ich muß denen irgend etwas mitteilen.« »Nein, Sie müssen denen gar nichts mitteilen, aber ich habe ihnen eine Menge zu sagen.« Marilyn ging mit dem Protokolloffizier ins Arbeitszimmer und griff zum Hörer. »Hier spricht Marilyn Lovell. Ich habe erfahren, daß die Fernsehleute eine Art Sendemast in meinem Vorgarten aufstellen wollen. Stimmt das?« »Nun, ja«, sagte der Anrufer aus dem Büro für Öffentlichkeitsarbeit. »Geht das O.K.?« »Hätten die ihren Mast nicht gestern oder vorgestern aufstellen können, wenn sie gewollt hätten?« »Nun, ja«, antwortete der Anrufer. »Aber da war alles noch ganz anders.« »Wie das?« »Nun, der Flug verlief einwandfrei. Jetzt ist es… Sie wissen schon… von größerem Nachrichtenwert.« »Wenn eine Mondlandung nicht genug Nachrichtenwert hat«, sagte Marilyn, »dann weiß ich nicht, wieso das bei einer mißglückten Mondlandung anders sein sollte. Sagen Sie den Fernsehleuten, daß mir bis zum Ende dieses Fluges keinerlei Geräte auf mein Grundstück kommen. Und falls das jemandem nicht passen sollte, dann sagen Sie ihm, er kann das mit meinem Mann klären. Ich erwarte ihn am Freitag wieder zurück.« Beim Büro für Öffentlichkeitsarbeit waren Reporter entschieden willkommener, aber bislang hatte nur ein kleiner Teil der Presse die Einladung angenommen. Die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit verfügte über zwei Gebäude. Auf der einen Seite des mit Kies bestreuten Hofes befand sich ein großes Verwaltungsgebäude mit Büros für die Angestellten, Lager- und Bibliotheksräumen für die Tausende
von Dokumenten und Millionen Meter Film, aus denen das Archiv der NASA bestand. Auf der anderen Seite des Hofes stand ein längeres, niedrigeres Gebäude mit einem mehrere hundert Sitze umfassenden Auditorium, in dem die NASA ihre Pressekonferenzen abhielt. Während der monatelangen Pause zwischen den Flügen, wenn das Auditorium weitgehend ungenutzt blieb, wurde dieses Gebäude in eine Anlaufstelle für Besucher umgewandelt, in der man alte Mercury- und Gemini-Kapseln, aber auch Vitrinen voller Uniformen, Helme und anderen Gegenständen besichtigen konnte. Stand wieder einmal ein Flug an, dann wurden die Ausstellungsstücke weggeräumt und statt dessen Arbeitstische und tragbare Schreibmaschinen für die Reporter aufgestellt, die über die Mission berichten wollten. Während des Fluges von Apollo 11 im Juli 1969 stritten sich 693 akkreditierte Reporter um die begrenzten Arbeitsplätze, die ihnen die NASA zur Verfügung stellen konnte. Anläßlich von Apollo 13 hatten sich nur 250 Journalisten eingefunden, und es gab noch etliche freie Arbeitsplätze. Im Laufe der letzten zehn Stunden jedoch hatte sich dies geändert. Seit den ersten Berichten von dem Zwischenfall hatten sich Dutzende von Fernseh-, Radio- und Zeitungsreportern, die ihre Artikel aus dem von Presseagenturen übermittelten Material zusammengeschustert hatten, am Space Center eingefunden, wollten eingelassen und akkreditiert werden und verlangten Zugang zu allen für sie interessanten Informationen. Brian Duff, der sich in der Mission Control befand, ein paar hundert Meter vom Auditoriumsgebäude entfernt, war sich des rapide gestiegenen Medieninteresses bewußt, und er war froh darüber. Duff war der Direktor für Öffentlichkeitsarbeit am Space Center, und in den zehn Monaten, die er den Posten nun
innehatte, hatte er seine Abteilung nach einer einzigen, alles einschließenden Regel geleitet: Wenn die Sache gut läuft, dann erzählt den Medien alles, was sie wissen wollen; wenn die Sache schlecht läuft, dann erzählt ihnen noch mehr. An diesem Morgen versuchte Duff nach besten Kräften, sich an den zweiten Teil der Regel zu halten. Die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit hatte, ebenso wie die neuerdings zugelassenen Reporter oben auf der VIP-Galerie, eine eigene Konsole, von der aus sie den Flug verfolgen konnten. Mit der Konsole des Public Affairs Officer oder PAO – des NASA-Sprechers also –, konnte jedoch weit mehr gemacht werden, als lediglich Daten abzurufen und sich in Gespräche einzuklinken. Den ganzen Flug über wurde sämtlicher Funksprechverkehr mit der Kapsel vom jeweils diensttuenden PA-Offizier mitverfolgt, der laufend die Gespräche kommentierte, während er mit gedämpfter Stimme, wie ein Sportreporter, der von einem Golfmatch berichtet, das technische Fachchinesisch übersetzte. Dieser Sprechverkehr zwischen CAPCOM und Astronauten, überlagert vom Kommentar des NASASprechers, sollte an die Sender weitergeleitet und im ganzen Land ausgestrahlt werden. Die PAO-Männer hatten diese Aufgabe lange vor Duff versehen – seit 1961, um genau zu sein, als sie sich erstmals mit »Hier ist die Mercury-Control« meldeten, gefolgt von der Gemini-Control und der ApolloControl. Heute war die beruhigende Stimme des NASASprechers wichtiger denn je, und Duff stand persönlich hinter der Konsole bereit, damit garantiert nichts schiefging. »Hier ist die Apollo-Control bei 67 Stunden, 23 Minuten«, sagte Terry White, der diensthabende Offizier an diesem Morgen. »Flugdirektor Glynn Lunney ist noch immer in der Mission Control, und wir haben zu diesem Zeitpunkt keine genaue Vorstellung, wann er Gelegenheit zu einem
Lagebericht findet. Bislang neigen wir noch immer zu einer PC+2-Zündung bei 79 Stunden und 27 Minuten seit Beginn des Fluges, etwa gegen 20 Uhr 40 heute abend. Wir haben jetzt noch etwa 9 Stunden bis zum Abreißen des Signals, wenn das Raumfahrzeug hinter dem Mond verschwindet, aber im Augenblick ist Apollo 13 stabil. Wir werden Sie weiter auf dem laufenden halten, sowie sich die Situation verändert und sobald Flugdirektor Lunney abkömmlich ist.« Terry White schaltete sich aus, und man hörte wieder nur noch die Gespräche zwischen Kapsel und Bodenstation. »Aquarius, hier Houston«, konnte man Jack Lousma hören. »Die letzten Kursdaten zeigen, daß euer Pericynthion irgendwo um die 136 Seemeilen liegen wird, das heißt, daß eure Flugbahn immer noch gut ist. Over.« Lousmas Durchsage war klar und deutlich, ganz anders hingegen die Stimme aus Apollo 13. Man konnte die Worte vor lauter Knacken und Knistern im Äther kaum verstehen, ja man konnte nicht einmal erkennen, ob Jim Lovell oder einer seiner Kameraden sprach. »Hallo, Houston, hier Aquarius«, sagte die Stimme aus der Kapsel. »Bitte wiederholen.« »Wir sagen, ihr liegt auf 136 Seemeilen.« »Jack, wir empfangen eine Menge Störgeräusche«, meldete sich die Stimme aus der ›Aquarius‹. »Könnt ihr uns verstehen?« »Jim, ihr seid trotz Störgeräuschen verständlich, aber gerade noch so«, antwortete Lousma. »INCO checkt nach, was wir da tun können.« »Roger«, meldete sich wieder die Stimme aus der Kapsel, offenbar also doch Lovell. »Wir bleiben dran.« Etliche Sekunden lang knisterte es im Boden-Bord-Funk, dann ertönte wieder Lousmas Stimme. »Aquarius, hier Houston«, rief der CAPCOM. »Ist es jetzt besser?«
»Hier Aquarius«, meldete sich Lovell über dem Rauschen. »Negativ.« Eine ganze Weile hörte man nichts als dieses Rauschen, während sich der INCO mit seinem Unterstützungsteam besprach. Diese Störung, woran immer sie auch liegen mochte, war zwar lästig, aber keineswegs lebensbedrohend. Duff, der nach wie vor an der PAO-Konsole stand, wurde langsam nervös. Der Großteil der Zuschauer im ganzen Land schaltete jetzt zum erstenmal, seit sie von dem Zwischenfall gehört hatten, den Fernseher ein, und eine gestörte Funkverbindung mit dem angeschlagenen, unter Energieknappheit leidenden Schiff war sehr beunruhigend. Er hörte sich das Rauschen etwa eine Minute lang an, dann stupste er White an. »Einspringen«, befahl er ihm. »Reden Sie. Wiederholen Sie sich, wenn es sein muß. Aber verfallen Sie nicht in Schweigen. Schweigen klingt so, als wäre bereits alles zu Ende.« »Äh, hier ist die Apollo-Control«, sagte White. »Wir rechnen damit, daß die Funkverbindung wieder besser wird, nachdem die dritte Stufe der Saturn 5 auf dem Mond aufgeschlagen ist. Die Funkfrequenz, auf der die dritte Stufe sendet, stört unsere Verbindung etwas, aber nach dem Aufschlag, noch im Laufe des heutigen Tages, sollte das aufhören.« Duff lächelte zumindest vorübergehend erleichtert. Es kam gar nicht darauf an, mit welcher Erklärung White aufwartete, solange er nur irgendeine zu bieten hatte. Das war zwar nicht viel, aber wenigstens hätten die Leute draußen im Land und, was noch wichtiger war, die Presse, nicht das Gefühl, man ließe sie im unklaren. Aus einer im unklaren gelassenen Presse konnte leicht eine ungnädige Presse werden, und eine ungnädige Presse konnte im Handumdrehen über einen herfallen. Heute, das wußte Duff ganz genau, brauchte er das Wohlwollen der Presse mehr als jemals zuvor.
Im Cockpit der weit entfernt dahintreibenden »Aquarius« machte sich Jim Lovell mindestens ebenso viele Sorgen wie Brian Duff um die gestörte Funksprechverbindung, aber aus anderen Gründen. Terry White hatte nur einen Teil der Geschichte erzählt. Es stimmte zwar, daß die ausgebrannte dritte Stufe der Saturn-5-Rakete, die auf den Mond zusteuerte, wo ihr Aufschlag von einem Seismographen gemessen werden sollte, den Apollo 12 dort hinterlassen hatte, den Funkverkehr mit der »Aquarius« störte. Die Raketenstufe – von der NASA S-4B genannt – und das LEM sendeten tatsächlich auf der gleichen Frequenz, aber da man nicht davon ausgegangen war, daß die Mondfähre abgekoppelt und gezündet werden würde, bevor die Trägerrakete auf dem Mond einschlug, hatte man derartige Überlagerungen für unproblematisch gehalten. Verschlimmert wurde das Ganze dadurch, daß die Ersatzkommunikationssysteme, die durch eine derartige Störung normalerweise nicht beeinträchtigt wurden, nicht so funktionierten, wie sie sollten. Sobald das AbstiegsAntriebssystem nach der Brennphase zum Einschuß in die Freiflugbahn abgestellt worden war, hatte die NASA der Crew befohlen, einen Teil der weniger wichtigen Geräte abzuschalten, um Energie für die später angesetzte PC+2Zündung zu sparen. Unter diesen Geräten befand sich auch der Großteil der Sendeantennen sowie die sekundären Kommunikationssysteme, und mit jedem weiteren umgelegten Schalter wurde die Verbindung zwischen Kapsel und Bodenstation undeutlicher. Als alle Schalter gekippt waren, stand Lovell jeweils nur eine einzige Antenne zur Verfügung, so daß er immer erst die richtige finden und dann das Raumfahrzeug so beiholen mußte, daß das Signal auf der Erde deutlich ankam. »Houston, hier Aquarius«, schrie Lovell kurz nach Whites letzter Live-Übertragung über das Rauschen in seinem
Kopfhörer hinweg. »Die Kommunikation ist im Augenblick sehr, sehr gestört. Versteht ihr das?« »Aquarius, hier Houston«, schrie Lousma zurück. »Haben empfangen. Bei uns ist sie auch gestört. Bleibt dran, während wir drüber nachdenken.« »Houston, hier Aquarius«, schrie Lovell erneut, während er kurz die Steuerdüsen betätigte und das Schiff ein paar Grad nach Backbord dirigierte. »Ich kann euch nicht verstehen.« »Jim, hier Houston«, schrie Lousma zurück. »Wir können euch auch kaum verstehen. Bleibt dran.« Lovell rückte seinen Kopfhörer zurecht und schloß die Augen. »Hat einer von euch mitbekommen, was er gerade gesagt hat?« fragte er und wandte sich ratsuchend an Haise. »Kaum«, sagte Haise. »Ich glaube, er hat gesagt, daß er dich nicht hören kann.« »Tja, verflucht«, sagte Lovell. »So was ähnliches habe ich mir fast gedacht.« »Aquarius, hier Houston«, schallte Lousmas knackende Stimme plötzlich aus den Kopfhörern der Besatzung, so daß alle drei zusammenfuhren. »Schieß los, Houston«, sagte Lovell. »Im Augenblick klingt es, als wäre die Verbindung zu uns etwas besser. Wie versteht ihr uns?« »Hier ist immer noch eine starke Störung drauf.« »O.K. wir haben ein paar Vorschläge«, sagte Lousma. »Wir raten euch, den Trennschalter für die Endstufe auf Tafel sechzehn zu drücken. Over.« Lovell nickte Haise zu, der auf den entsprechenden Knopf drückte. In seinem Kopfhörer war keinerlei Veränderung festzustellen. »Houston, hier Aquarius«, meldete er sich bei der Bodenstation. »Wir haben immer noch Störgeräusche.«
»In Ordnung«, sagte Lousma. »Wir wollen versuchen, ob wir durch ein Unterbrechen und Wiedereinschalten Kommunikation und Telemetrie verbessern können. Wir werden also ein paar Minuten lang keinen Kontakt haben, und es könnte sein, daß es in euren Kopfhörern ein bißchen laut wird.« »Lauter als jetzt kann es gar nicht werden«, erwiderte Lovell. Lousma schaltete sich aus, und statt des anhaltenden Rauschens ertönte ein lautes, stetes Summen. Lovell schob den Kopfhörer ein, zwei Zentimeter weiter nach vorne, damit ihm das Gebrumme nicht direkt ins Ohr dröhnte. Durch die Unterbrechung kam der Kommandant ein paar Sekunden zum Nachdenken, und zuallererst dachte er an Schlaf. Die Sonne, die in Houston gerade aufging, schien alles andere als gleichmäßig auf die aneinandergekoppelten Teile von Apollo 13. Da das Abstiegs-Antriebssystem des LEM erdwärts gewandt war, fiel die Sonne durch das Fenster auf der Seite des Kommandanten und tauchte die Besatzung in helles Licht. Aber wenn sich die Lage des Raumfahrzeuges nur um ein paar Grad änderte, herrschte wieder tiefe Dunkelheit. Diese jähen Übergänge von Tag und Nacht störten Lovell normalerweise nicht. Durch die passive Temperaturregelung, die dafür sorgte, daß keine Seite des Schiffes zu lange der direkten Sonneneinstrahlung ausgesetzt wurde, wechselten auf dem Flug zum Mond Licht und Dunkelheit im Raumfahrzeug fortwährend. Nach etwa einem Tag hatten sich die Astronauten daran gewöhnt und hielten ihre planmäßigen Schlaf- und Wach-, Arbeits- und Ruhezeiten ein, als ginge die Sonne hier im Weltall genauso auf und unter wie zu Hause in Houston. Solange sich die Besatzung an diese Zeiteinteilung hielt, so hatten die Mediziner der NASA herausgefunden, würde ihr Biorhythmus weitestgehend unbeeinträchtigt bleiben.
Bis Dienstag morgen um sieben Uhr war dieser Rhythmus jedoch völlig durcheinandergeraten. Anhand des ursprünglichen Flugplanes hätte die Schlafphase der Besatzung am Vorabend um zehn Uhr beginnen und bis vor etwa einer Stunde andauern sollen. Aber selbst bei einem routinemäßig verlaufenden Flug erwartete niemand, daß die Crew volle acht Stunden durchschlief. Mangels körperlicher Anstrengung durch die Schwerelosigkeit und aufgrund des stetigen Adrenalinausstoßes während eines Fluges zum Mond rechneten die Ärzte allenfalls mit einer Schlafzeit von fünf bis sechs Stunden. Diese fünf bis sechs Stunden jedoch waren selbst bei einem planmäßig verlaufenden Flug absolut notwendig, wenn die Besatzung ihre alltäglichen Aufgaben ohne schwerwiegende Fehler erledigen sollte. Bei einem alles andere als planmäßig verlaufenden Flug brauchte die Crew hingegen mehr Ruhezeit. Als die Brennphase zum Einschuß in die Freiflugbahn beendet war, hatten die Ärzte den Zeitplan für die Arbeits- und Schlafstunden gründlich überarbeitet, und die Besatzung sollte sich ab sofort daran halten. Haise, so wurde entschieden, sollte zuerst schlafen und sich zu diesem Zweck etwa ab der 63. Flugstunde, gegen 4 Uhr morgens, bis zur 69. Flugstunde, gegen 10 Uhr morgens, in die Kommandokapsel zurückziehen. In der »Odyssey« gab es nicht einmal genug Sauerstoff, um einen Schlafenden zu versorgen, aber bei offener Verbindungsluke zwischen den beiden Schiffen sollte genügend Atemluft aus der Mondfähre einströmen. Während Haise schlief, sollten Swigert und Lovell Wache halten und derweil die Ersatzkommunikationssysteme und alle anderen Geräte abschalten, die man bei der NASA außer Betrieb haben wollte. Sobald Haise aufwachte, sollte er frühstücken, mit seinen Kollegen etwaige Probleme besprechen, die sich während seiner Schlafphase ergeben hatten, und dann das
Ruder alleine übernehmen, während sich Lovell und Swigert von Flugstunde 70 bis Flugstunde 76 in die Kommandokapsel zurückzogen. Bis 17 Uhr würde die ganze Besatzung wieder im Dienst sein, so daß sie in aller Ruhe die PC+2-Zündung um 20:40 Uhr vorbereiten konnte. Kaum hatte Lousma die Anweisungen der NASA-Ärzte durchgefunkt, als den Betroffenen klarwurde, daß es nicht leicht werden würde, die von den Medizinern vorgegebenen Wach- und Schlafzeiten einzuhalten. Haise war wie vom Donner gerührt, als er durch den Tunnel in die »Odyssey« schwebte. Als die Besatzung das stillgelegte Mutterschiff verlassen hatte, lag die Temperatur bereits bei unangenehmen 14 Grad Celsius, aber in den seither verstrichenen Stunden war sie noch weiter gefallen. Die zweiteiligen Fliegerkombinationen aus Beta-Stoff waren nicht zum Warmhalten geeignet, da in der Kommandokapsel ständig 22 Grad Celsius herrschen sollten, und Haise schlang augenblicklich die Arme um den Leib und schwebte in Richtung seiner Couch, um in den Schlafsack zu kriechen. Die dünnen Stoffhüllen, die die Astronauten während der Schlafphasen benutzten, dienten jedoch lediglich zur Sicherung, damit während der Nachtruhe niemand aus Versehen mit einem schwerelosen Arm oder Bein an einen Schalter geriet. Haise zog seinen Schlafsack heraus, schlüpfte hinein und drückte sich so dicht wie möglich an seine Couch. Aber trotz der zusätzlichen Stoff schichten lag er hellwach und bibbernd da, während sein Körper gegen die kalte Metallwand des Raumfahrzeugs gepreßt wurde. Ebenso störend wie die sinkende Temperatur in der »Odyssey« waren die Geräusche. Durch die offene Luke zwischen den beiden Schiffen drang nicht nur Atemluft in die Kommandokapsel, sondern auch Lärm. Selbst wenn das rasselnde Kühlsystem und die grollenden Steuerdüsen des
LEM einen Mann nicht am Schlaf hindern konnten, dann schafften es die lautstarken Unterhaltungen von Lovell und Swigert, die nach wie vor versuchten, sich trotz des Rauschens im Boden-Bord-Funk verständlich zu machen. Haise, der im Astronautenkorps berühmt dafür war, daß er so gut wie überall und unter beinahe allen Bedingungen schlafen konnte, bemühte sich nach Kräften, nicht auf den Lärm von nebenan zu achten, aber um vier Uhr morgens – weniger als zwei Stunden nach Beginn seiner sechsstündigen Schlafphase – gab er es schließlich auf, kroch aus seinem Schlafsack und schwebte durch den Tunnel in das LEM zurück. »Ist das alles?« fragte Lovell und sah auf seine Uhr, als Haise sich durch die Oberseite des LEM kopfüber zwischen ihn und Swigert treiben ließ. »Da oben ist es zu kalt«, murmelte Haise, ergriff einen der Essensbeutel, die Swigert einige Stunden zuvor herübergeschafft hatte, und riß ihn auf. »Zu kalt und zu laut. Ihr könnt es ja probieren, aber ich an eurer Stelle würde nicht damit rechnen, daß es besonders ruhig ist.« Jetzt, um 7 Uhr morgens, als die Funkverbindung aufgrund des vorübergehenden Abschaltens unterbrochen war, schloß Lovell die Augen und spürte sofort, wie die Erschöpfung ihn übermannte. Am Boden, so wußte er, würde jetzt Gerald Griffins Team, das die Nacht über zumindest einige Stunden geschlafen hatte, Glynn Lunneys Team, das nach der langen Nachtschicht abgespannt war, an den Konsolen ablösen. Selbst Jack Lousma, der gestern nachmittag angetreten war und eine Doppelschicht gearbeitet hatte, würde die Konsole des CAPCOM an Astronaut Joe Kerwin übergeben. Lovell war froh, daß ein neues Team antrat. Aber so frisch Griffins Männer an diesem Morgen auch sein mochten, sie mußten mit drei Astronauten zusammenarbeiten, die schläfriger und zweifellos gereizter waren als jede Crew, mit
der sie es bislang zu tun gehabt hatten. Lovell wollte sein Bestes versuchen, damit alles weiterhin so ruhig ablief wie möglich, aber dazu müßte man am Boden ein paar Zugeständnisse machen. »Aquarius, hier Houston«, meldete sich knackend und knisternd Lousmas Stimme in seinem Kopfhörer. »Wie empfangt ihr uns jetzt?« Lovell fuhr bei dem Geräusch zusammen und schlug die Augen auf. »Wir empfangen euch nach wie vor mit starkem Rauschen«, sagte er müde. »Die Störgeräusche scheinen darauf hinzudeuten – « »Ich habe das Letzte nicht verstanden, Jim.« »Ich – sagte – wir – haben – nach – wie – vor – Stör – ge – räusche«, erwiderte Lovell laut und langsam. »Wir ebenfalls.« »Wollt ihr, daß wir in dieser Ausrichtung bleiben?« fragte Lovell. »Bleibt noch ein, zwei Minuten so, Jim«, antwortete Lousma. »Bis dahin werden wir es beurteilt haben.« In diesem Moment hatte Lovell, der davon am allermeisten überrascht wurde, auf einmal genug von dem Rauschen, der Kälte und den vagen Ratschlägen des CAPCOM. »Ich will euch mal sagen, was ihr dringend für uns tun solltet«, blaffte Lovell. »Ihr solltet dringend versuchen, das hier zu bereinigen. Seht zu, ob ihr uns nicht die richtigen Anleitungen durchgeben könnt, die ganze Chose, bevor wir alle meschugge werden.« Es war kein schlimmer Ausbruch, aber über Funk, wo man normalerweise nüchtern und emotionslos miteinander sprach, klang es aufbrausender, als man dies in Houston je erlebt hatte. Lovell blickte zu seinen Kollegen, die ihm verständnisvoll zunickten. Lousma schaute zu den Männern neben seiner Konsole, die genauso darauf reagierten. Sowohl er als auch
Lovell wußten, daß der CAPCOM die ganze Zeit nichts anderes versucht hatte, als die richtigen Anweisungen durchzugeben. Und sowohl er als auch Lovell wußten, daß ihm der Kommandant dafür verbunden war. Lovell mußte lediglich Dampf ablassen, wozu er nach den letzten zehn Stunden auch allen Grund hatte. Und es war höchste Zeit, daß er es tat. Lousma blickte nach hinten zu Kerwin, der darauf wartete, ihn abzulösen. Jetzt, so beschloß er, war der Zeitpunkt gekommen, da er den Platz am Mikrophon räumen sollte. Er zuckte die Achseln, stand auf, nahm seinen Kopfhörer ab und zog für Kerwin seinen Stuhl zurück. Kerwin stöpselte seinen Kopfhörer ein, setzte sich hin und ging so leutselig wie möglich auf Sendung. »Jim«, meldete er sich, »wie ist jetzt die Verbindung?« »Nun ja«, grummelte Lovell, als er anhand der Stimme merkte, daß ein Personalwechsel stattgefunden hatte, und mäßigte sich mit seiner Antwort. »Wir haben noch immer eine Menge Hintergrundgeräusche.« »O.K. wir kümmern uns weiter darum«, versprach Kerwin, »aber eure Verbindung zu uns ist jetzt ausgezeichnet.« »Roger«, sagte Lovell ausdruckslos und schloß wieder die Augen. Der Kommandant ging nicht auf Kerwins kleine Aufmunterung ein. Wenn die Funkverbindung derzeit klar sein sollte, dann war das in Ordnung. Höchstwahrscheinlich handelte es sich auch in diesem Fall nur um eine vorübergehende Abhilfe, wie bei allen Maßnahmen, die den Männern am Boden bislang eingefallen waren. Binnen kurzem, so dachte Lovell, würde die Verbindung wieder zusammenbrechen, und wer wußte, was für weitere Systeme noch. Er schlug die Augen auf und blickte aus dem Fenster auf den grauweißen, gipsartig aussehenden Mond, der jetzt knapp
65000 Kilometer entfernt war und fast das ganze dreieckige Guckloch ausfüllte. Laut Flugplan sollten Fred Haise und er heute mit dem Landefahrzeug auf dem riesigen Himmelskörper aufsetzen. Das war jetzt natürlich nicht möglich – und zumindest Lovell würde wahrscheinlich auch nie mehr dazu kommen. Er war schon zweimal hierher geflogen und wußte, daß die Aussichten auf ein weiteres Mal nur gering waren. Falls er, Swigert und Haise nicht wieder zurückkamen, war sogar fraglich, ob jemals wieder jemand hierher reisen würde. »Freddo«, sagte Lovell an Haise gewandt, »ich fürchte, das wird für lange Zeit der letzte Flug zum Mond sein.« Da die Mikrophone in der »Aquarius« auf Vox geschaltet waren, konnte man die düstere Feststellung des Kommandanten 320 000 Kilometer entfernt, in der Mission Control, klar und deutlich verstehen. Und von dort wurden sie in alle Welt ausgestrahlt.
Glynn Lunney, noch immer als diensttuender Flugdirektor im Einsatz, hörte kaum hin, als Jim Lovell seine Feststellung über die künftige Erkundung des Mondes äußerte. Es kam selten vor, daß der Mann, der den Einsatz leitete, nicht zumindest mit halbem Ohr die Gespräche zwischen CAPCOM und den Astronauten verfolgte. Aber wegen der gestörten Verbindung zum Raumfahrzeug und der zahlreichen Gespräche auf seinem Anschluß hatte Lunney darauf vertrauen müssen, daß Kerwin den Funksprechverkehr mit dem LEM alleine handhabte. Die meisten anderen Controller hatten mehr Zeit, die Gespräche auf Kerwins Leitung mitzuhören, so auch Terry White, der in ein paar Minuten, nach seiner Schicht an der PAO-Konsole, nach Hause fahren wollte.
Wie alle anderen in der Mission Control und draußen im Land hörte auch White Lovells Bemerkung, und sie traf ihn genauso wie alle anderen Mitarbeiter bei der NASA. Für eine Behörde, die auf öffentliche Gelder angewiesen war und deren finanzielle Ausstattung von einer guten Öffentlichkeitsarbeit abhing, war dies schlimmer als ein beiläufiges »verflucht« oder ein ungewolltes »mistig«. Hier handelte es sich um einen nüchtern und in aller Ruhe geäußerten Zweifel – Zweifel am Ausgang des Fluges, Zweifel am Programm, Zweifel an der Raumfahrtbehörde selbst. Für die NASA war dies eine Ruchlosigkeit ersten Ranges. Kerwin, ein CAPCOM mit ansonsten guten Instinkten, reagierte auf Lovells ungewollte öffentliche Bemerkung hin auf die schlechtestmögliche Weise: Er sagte gar nichts, da er keine unnötige Aufmerksamkeit erwecken wollte. Statt dessen hing sie jedoch unkommentiert im Raum und wurde mit jeder Sekunde bedeutungsschwerer. White wartete noch ein paar endlos scheinende Momente lang ab und sprang dann in die Bresche. »Hier ist die Apollo-Control bei 68 Stunden und 13 Minuten«, sagte er. »Flugdirektor Glynn Lunney und vier seiner Controller werden sich demnächst zur Pressekonferenz in das Gebäude für Öffentlichkeitsarbeit begeben. Lunney wird von Tom Weichel, dem zuständigen Offizier für die Bremsraketen, Clint Burton, dem EECOM, Hal Loden, dem CONTROL, und Merlin Merritt, dem TELMU, begleitet werden. Ferner wird auch Major General David O. Jones von der United States Air Force daran teilnehmen, der die Bergungstrupps des Verteidigungsministeriums befehligt.« White hatte gut reagiert. Die von ihm gewählten Worte sollten nicht nur beruhigend wirken und die Zuhörer zu Hause ablenken. Vielmehr stellten sie auch eine Art Bitte an die Medien dar. Steht zu uns, besagten sie, arbeitet mit uns. Wir
haben das gleiche gehört wie ihr, und wir sind gerne bereit, mit euch darüber zu sprechen. Aber gebt uns die Gelegenheit, erst gemeinsam darüber zu reden, bevor ihr es veröffentlicht. Ob die Medien die Bedeutung von Whites Worten verstanden, war unklar, und es würde auch unklar bleiben, bis Lunney und sein Team sich mit den Reportern zusammensetzten. Im Augenblick jedoch war Lunney anderweitig beschäftigt und würde wahrscheinlich noch mehr abgelenkt werden. Seit dem Ende der Brennphase im Morgengrauen konzentrierten sich die Männer im Kontrollraum vor allem auf eines: Die PC+2-Zündung, die siebzehn Stunden später erfolgen sollte. Da Lunney an der Konsole saß und Kranz mit seinem Tiger Team in Klausur gegangen war, waren die Flugdirektoren Gerald Griffin und Milt Windler für diese Aufgabe verantwortlich, und sie hatten in der Kürze der Zeit Bemerkenswertes zustande gebracht. Während der letzten vier Stunden waren die beiden Flugdirektoren außer Dienst beinahe ununterbrochen im Kontrollraum unterwegs gewesen und an einer Konsole nach der anderen stehengeblieben, hatten die dort sitzenden Männer ausgehorcht und alle möglichen Ideen zusammengetragen, wie sich eine lange, komplizierte Brennphase des Mondfährenantriebs bei angekoppeltem Kommando- und Versorgungsteil bewerkstelligen ließe. An den meisten Konsolen saßen die diensttuenden Männer des Lunney-Teams nicht alleine, sondern wurden von den Controllern des Griffinund des Windler-Teams unterstützt, die die ganze Nacht über dageblieben waren. Überall wurde diskutiert, wurden Ideen ausgetauscht und Vorschläge gemacht. Diese improvisierten Konferenzen dauerten von drei Uhr morgens bis sieben Uhr früh, und als am Dienstagmorgen die neuen Controller bereitstanden, um das Team vom Montagabend abzulösen, hatten Griffin und Windler drei verschiedene Möglichkeiten
für eine Zündung um PC+2 entwickelt. Keine davon war ideal, das wußten sie, aber sie alle brachten Apollo 13 in eine Flugbahn, auf der die Rückkehr zur Erde weniger lang dauern würde als auf der derzeitigen. Als Brian Duff seine frühmorgendliche Pressekonferenz vorbereitete, Glynn Lunney die letzte Stunde an der Konsole zubrachte und Fred Haise von einer schlaflos verbrachten Nachtruhe aufstand, saßen Griffin und Windler müde auf dem Gang neben der Konsole des Flugdirektors, hatten die Ellbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände gestützt und hofften – zumindest schien ihre Haltung dies auszudrücken – sie könnten nur für ein paar Augenblicke dem anhaltenden Stimmengewirr in dem Raum entrinnen. Hinter ihnen tauchte Chris Kraft auf und legte beiden die Hand auf die Schulter. Die zwei Männer drehten sich um. »Was haben wir rausgekriegt?« fragte Kraft. Griffin und Windler blickten ihn einen Moment lang entgeistert an. »Was haben wir bezüglich der Zündung rausgekriegt?« stellte Kraft klar. »Wissen wir schon, wie wir dabei vorgehen wollen?« »Wir haben einige ziemlich gute Vorstellungen«, sagte Griffin. »Unserer Ansicht nach gibt es drei Möglichkeiten, und jede davon bringt uns ein gutes Stück weiter.« »Sind sie in zwölf Stunden ausführbar?« fragte Kraft. »Das sollte möglich sein«, sagte Griffin. »Wären Sie bereit, in einer Stunde darüber zu reden?« »Wie meinen Sie das?« fragte Windler. »Nachher wollen sich im Zuschauerraum ein paar Leute zusammensetzen und all das besprechen, und wir werden ihnen alles so gut wie irgend möglich erklären müssen.« »Was für Leute, Chris?« fragte Griffin. »Gilruth, Low, McDivitt, Paine – hauptsächlich Leute auf der Ebene«, sagte Kraft. »Dazu Sie zwei, Deke, Gene und alle, die
wir Ihrer Ansicht nach sonst noch brauchen könnten. Alles in allem wahrscheinlich um die fünfundzwanzig Mann.« Griffin war mehr als überrascht. Daß man Männer wie Deke, Kraft, McDivitt, Kranz und alle anderen Flugdirektoren zu einer Besprechung in die Mission Control brachte, mochte ja durchaus angehen – während eines Fluges trafen sich derart hochstehende Leute ständig in und um den Kontrollraum, um die diversen Probleme und Maßnahmen zu bereden –, aber der Chef der NASA persönlich und die anderen Oberen nahmen selten an diesen Konferenzen teil. Diese Leute hatten einen anderen Blickwinkel; sie verließen sich darauf, daß Kranz und die anderen Flugdirektoren die einzelnen Flüge durchführten, während sie für das Programm insgesamt verantwortlich waren. Noch nie zuvor hatten sich diese Männer in der schalldichten, verglasten VIP-Galerie der Mission Control zu einer Sitzung getroffen. Und diese Zusammenkunft des Ältestenrates der Raumfahrtbehörde, vergleichbar einer gemeinsamen Sitzung beider Kammern des Kongresses, sollte vor den Augen der Controller stattfinden, die noch nie zuvor derart viel NASA-Prominenz auf einmal gesehen hatten. »Und das soll in einer Stunde stattfinden?« fragte Griffin. »In weniger als einer Stunde«, sagte Kraft. »Und vorher möchte ich mich mit allen Flugdirektoren besprechen und sichergehen, daß wir unsere Eisen im Feuer haben. Holen Sie Glynn von der Konsole weg, und dann suchen wir uns ein Plätzchen, wo wir reden können.« »Kranz ist mit seinem Tiger Team unten«, sagte Windler. »Sollen wir den auch dazuholen?« »Ja«, sagte Kraft, aber dann überlegte er es sich. »Nein. Nein, lieber nicht. Ich möchte ihn nicht unnötig stören. Er soll bis zur eigentlichen Konferenz weiter an den lebensnotwendigen Reserven arbeiten. Wir berichten ihm dann alles.«
Griffin und Windler stupsten Lunney an, erklärten ihm, daß Kraft ihn brauche, und der Flugdirektor übergab die Verantwortung an seinen Assistenten und folgte den drei Männern zu einem Aufenthaltsraum. Kaum waren sie dort, schloß Kraft die Tür, setzte sich hin, deutete mit dem Kopf auf seine Flugdirektoren und forderte sie wortlos auf, ihn in ihre Erkenntnisse einzuweihen. Lunney wußte kaum mehr als Kraft, daher übergab er das Wort an Griffin, der mit Kraft alle drei Brennphasen durchging, die sie gerade ausgearbeitet hatten. Die wissenschaftlichen Grundlagen mußten sie Kraft nicht erklären; ihm ging es vielmehr um die Folgen eines jeden Manövers – welche Risiken damit verbunden waren, welche Vorteile sie boten, wie sie sich auf die Überlebenschancen der Astronauten auswirkten. Griffin sprach offen und ohne Umschweife, und Kraft hörte zu, nickte gelegentlich, sagte aber nichts. Sobald der Flugdirektor fertig war, sprang Kraft ein. Er brachte Zweifel und Einwände vor, klopfte Griffins Vorschläge ab, mißtraute seinen Kalkulationen, kurzum, er versuchte, die Fragen der Männer im VIP-Raum vorwegzunehmen. Griffin und Windler antworteten Kraft nach besten Kräften, und Lunney, der den Großteil davon zum erstenmal hörte, nickte zustimmend. Nach knapp einer Stunde schien Kraft schließlich zufrieden. Er öffnete die Tür und wollte die Gruppe zur Besucher-Galerie führen. Doch Griffin hielt ihn auf. »Wissen Sie, Chris«, sagte er, »mir wäre bestimmt wohler zumute, wenn wir da nicht alleine hineingehen würden.« »Wen brauchen Sie sonst noch?« fragte Kraft. »Nun ja, diese Daten hier haben hauptsächlich mein FIDO und mein RETRO ausgetüftelt.« »Wie heißen sie?«
»Chuck Deiterich und Dave Reed«, erwiderte Griffin. »Wenn’s nach mir ginge, würde ich nirgendwo ohne meine Zahlenjongleure auftreten.« »Holen Sie sie«, sagte Kraft. »Und Gene ebenfalls.« Kraft wartete, während Griffin Deiterich, Reed und Gene Kranz holte, und sobald sie zurück waren, begaben sich die Männer gemeinsam zum VIP-Bereich. Dort empfing sie ein beeindruckendes Aufgebot. Die Reporter, die sonst an den Pressekonsolen in der vorderen rechten Ecke der Galerie saßen, hatten weichen müssen, und in der vorderen linken Ecke warteten etwa zwei Dutzend schweigender Männer. Ein paar hatten auf den Kinostühlen Platz genommen, aber die meisten standen auf den Gängen, hockten auf Stuhllehnen oder lehnten an den Wänden. Durch das vom Boden bis zur Decke reichende Fenster an der Stirnseite der Galerie konnte man die ganze Mission Control überblicken, und ab und zu sah man, wie ein Controller einen verstohlenen Blick zu der schweigenden Versammlung hinter der Panoramascheibe warf. Kraft kam unverzüglich zur Sache. »In etwa zwölf Stunden«, so fing er an, »werden wir unsere PC+2-Zündung durchführen müssen. Wir beabsichtigen damit, die Besatzung so rasch wie möglich zurückzuholen, und zwar bei geringstmöglichem Verbrauch an lebensnotwendigen Reserven. Die Flugdirektoren haben einige Möglichkeiten für diese Zündung ausgearbeitet, und da Gerrys Team den Großteil des Zahlenmaterials geliefert hat, soll er es auch erklären.« Griffin trat einen Schritt vor, räusperte sich und schilderte langsam und bedächtig die geplanten Maßnahmen, die er gerade eben in aller Kürze mit Kraft durchgesprochen hatte. Das größte Problem der Apollo 13 war Zeit – holte man sie rasch genug zur Erde zurück, dann lösten sich alle Probleme wegen der Reserven von selbst. Dies ließe sich am einfachsten
bewerkstelligen, indem man das Abstiegs-Antriebssystem zündete und bei voller Leistung brennen ließ, solange der Treibstoff reichte, damit das Schiff so stark wie möglich beschleunigt wurde. Doch die einfachste Lösung war nicht unbedingt auch die beste. Wenn man den Antrieb brennen ließe, bis der Treibstoff ausging, hatte man später keine Möglichkeit mehr zu einer Kurskorrektur, die sich jederzeit als notwendig erweisen könnte: Apollo 13 mußte noch über 400000 Kilometer zurücklegen, so daß der geringste Fehler bei der Flugbahnberechnung vielfältige Auswirkungen haben konnte. Die Aufstiegsstufe verfügte ebenfalls über ein Antriebssystem, und notfalls konnte man auch das zünden. Aber dazu mußte die Besatzung erst die Abstiegsstufe absprengen – und in der Abstiegsstufe befand sich der Großteil der Batterien und Sauerstofftanks der Mondfähre. Länge und Intensität der Brennphase, so fuhr Griffin fort, seien nicht nur für die Treibstoffreserven und die Dauer des Rückfluges ausschlaggebend, sondern auch für das Seegebiet, in dem die Besatzung später landen werde. Da vom Weltall aus nur ein Teil der Ozeane auf der Erde erreichbar sei und nur auf einem dieser Ozeane, dem Pazifik, die entsprechenden Bergungsschiffe bereit stünden, seien die Auswahlmöglichkeiten begrenzt. Bei den drei unterschiedlichen Manövern, die Griffin und Windler ausgearbeitet hatten, werde dies auf unterschiedliche Weise berücksichtigt. Griffins Worten zufolge käme zunächst eine lange Brennphase in Frage. Lovell würde dabei den Abstiegsantrieb bei voller Leistung ganze sechs Minuten lang brennen lassen, bevor er ihn wieder abstellte. Durch dieses Manöver, das Griffin der Einfachheit halber als superschnelle Brennphase bezeichnete, würde die Crew am Donnerstagmorgen im
Atlantischen Ozean landen, knapp sechsunddreißig Stunden nach der für diesen Abend geplanten PC+2-Zündung. Bei einem derart raschen Rückflug würden die Reserven im LEM auch bei pessimistischster Einschätzung ausreichen, und das war ein schwerwiegender Grund. Doch die superschnelle Brennphase hatte auch ihre Nachteile. Sie kostete nicht nur enorme Treibstoffmengen, sondern die Besatzung würde dadurch auch in einem Seegebiet landen, in dem die Navy bislang nicht einmal einen Fischkutter stationiert hatte. Damit ein derartig radikales Manöver gelingen konnte, müßte Lovell den jetzt nutzlosen Versorgungsteil absprengen, um die Masse der aneinandergekoppelten Schiffe zu reduzieren. Die Flugdirektoren, erklärte Griffin sicherheitshalber, gäben sich keinesfalls der Illusion hin, daß der vermutlich durch eine Explosion beschädigte Versorgungsteil wieder in Betrieb genommen werden könnte, aber nichtsdestotrotz wollten sie ungern darauf verzichten. Der Versorgungsteil nämlich saß an der Basis der Kommandokapsel und schützte so den Hitzeschild. Der Hitzeschild wiederum schützte die Besatzung vor der Reibungshitze beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre. Niemand hatte bislang getestet, was passierte, wenn der Hitzeschild anderthalb Tage lang schutzlos Sonneneinstrahlung und Kälte im Weltall ausgesetzt wurde, und dies war nicht der Zeitpunkt für irgendwelche Experimente. Und selbst wenn ein Hitzeschild derartige Bedingungen normalerweise aushielt, kam erschwerend hinzu, daß man bei Apollo 13 nicht von Normalverhältnissen ausgehen konnte. Wenn bei der Explosion, die die beiden Sauerstofftanks zerstört hatte, auch nur ein Haarriß in dem dicken, mit Epoxydharz beschichteten Schild entstanden war, könnte er sich aufgrund der extrem niedrigen Temperaturen im sonnenlosen All verbreitern. Dennoch, sagte Griffin
zusammenfassend, wäre die superschnelle Rückkehr erwägenswert, falls sich das Problem mit den Reserven als unüberwindbar erweisen sollte. Die von Griffin vorgebrachte zweite Brennphase war etwas weniger radikal, so daß man zwar Treibstoff sparen würde, aber der Rückflug einige Stunden länger dauerte. Der größte Vorteil dabei war, daß sich die Erde während der längeren Rückflugzeit um eine Vierteldrehung weiter bewegte, so daß das Raumfahrzeug im Pazifik landen könnte, wo zahlreiche Bergungsschiffe bereitstanden. Der größte Nachteil dabei war, daß genau wie bei der superschnellen Brennzeit der Versorgungsteil abgesprengt werden müßte. Brennphase Nummer drei bedeutete zwar den langsamsten Rückflug, war aber die sicherste Lösung. Dabei würde Lovell das Abstiegs-Antriebssystem der »Aquarius« viereinhalb Minuten lang bei nur zeitweise voller Leistung brennen lassen, und der Versorgungsteil müßte nicht abgesprengt werden. Genau wie bei Brennphase Nummer zwei würde die Kapsel dabei im Pazifik niedergehen, aber sie würde nicht am Donnerstagmittag, sondern erst einen Tag später landen – in über drei Tagen also oder nur zehn Stunden früher als ohne PC+2-Zündung. Wenn man nur die Schonung des Hitzeschildes und einen günstigen Landeplatz in Erwägung ziehe, so schloß Griffin, dann sei diese Brennphase sicherlich der richtige Weg. Aber hinsichtlich der an Bord vorhandenen Reserven könnte es etwas eng werden. Griffin beendete seinen Vortrag und überließ die Wahl den Verantwortlichen bei der Raumfahrtbehörde. Sofort gingen mehrere Hände in die Höhe. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, daß der Hitzeschild beschädigt sei? Vermutlich gering, antwortete Griffin, aber wenn er gerissen sei, liege die Wahrscheinlichkeit, daß sie die Crew verlören,
bei etwa 100 Prozent. Wie weit würden die Reserven allenfalls reichen? Das ließe sich im Moment noch nicht feststellen, räumte Griffin ein. Kranz, der neben ihm saß, stimmte zu. Wie die genaue Geschwindigkeitsveränderung und Brennphasendauer bei allen drei Manövern aussehe, wollte ein anderer wissen. Deiterich und Reed traten vor, reichten ihre handgeschriebenen Notizen herum und erklärten die Bedeutung der aufgekritzelten Zahlen. Nahezu eine Stunde lang wurden sämtliche Möglichkeiten diskutiert. Deke Slayton, der Chefastronaut und Sprecher aller Astronauten, plädierte für den schnellstmöglichen Rückflug, und etliche andere schlossen sich ihm an. Aber die Mehrzahl der Anwesenden plädierte für Brennphase Nummer drei. Ja, die Reserven könnten sich als problematisch erweisen, aber beschäftigten sich nicht Kranz und das Tiger Team samt dem legendären John Aaron damit? Ja, es könnte schwierig werden, den Medien und den Menschen im Lande zu erklären, warum man eine Crew in einer derartigen Extremsituation auch nur eine Stunde länger als notwendig im All ließ – von einem Tag gar nicht zu sprechen. Aber wäre es nicht noch viel schwerer zu erklären, weshalb man zuließ, daß die Astronauten den Großteil des Rückfluges über ohne Treibstoff auskommen, mit einem beschädigten Hitzeschild in die Atmosphäre eintreten und in einem Ozean landen mußten, in dem die Navy mit Mühe und Not ihre Schiffe in Position bringen konnte? Kraft und seine Flugdirektoren brachten ihre Argumente vor und verfolgten dann zufrieden, wie sich die Männer in dem Raum auf die langsamste Variante festlegten. Die Flugdirektoren, die diese Option ebenfalls vorzogen, hatten gehofft, daß auch die NASA-Chefs sich darauf festlegen würden. Nun, da sich nach Vorbringen aller Argumente Einstimmigkeit abzeichnete, sorgte Chris Kraft für eine Entscheidung.
»Damit sind alle einer Meinung«, faßte er zusammen. »Bei 79 Stunden und 27 Minuten wird eine viereinhalb Minuten andauernde Brennphase erfolgen, durch die das Raumfahrzeug um 260 Meter pro Sekunde beschleunigt wird und nach 142 Stunden Flugzeit im Pazifik niedergehen müßte. Wenn alles gut geht, wird Apollo 13 am Freitagnachmittag wieder zurück sein.« Die Männer im Raum nickten, standen fast gleichzeitig auf und gingen zu den Türen. Während sich die Controller an den Konsolen umdrehten, um einen letzten Blick auf ihre abziehenden Chefs zu werfen, wandte sich Gerald Griffin an Glynn Lunney. »Was hältst du davon, wenn wir aufhören, darüber zu reden«, sagte er, »und lieber zusehen, ob wir es schaffen?«
9
Dienstag, 14. April, 14:00 Uhr Als Gene Kranz einige Stunden nach dieser Konferenz die VIP-Galerie betrat, dachten die beiden Reporter an den für die Medien bestimmten Konsolen nicht einmal im Traum daran, ihn anzusprechen. Ein weniger erfahrener Journalist hätte es getan, hätte versucht, eine Voraussage, eine Einschätzung oder zumindest eine Stellungnahme zu bekommen. Doch die Reporter an den Konsolen wußten Bescheid. Wenn Gene Kranz mitten in der Nacht auf der VIP-Galerie auftauchte, dann kam er nicht, um zu reden. Vielmehr wollte er hier ein bißchen schlafen. Seit Kranz letzte Nacht seine Konsole an Glynn Lunney übergeben hatte, war er mit seinem Tiger Team in Zimmer 210 eingeschlossen gewesen und hatte anhand von Computerausdrucken und Tabellen über die vorhandenen Reserven nachgegrübelt. Zwar stimmten ihn seine Daten alles andere als zuversichtlich, aber auf der anderen Seite des Raumes, wo die mit dem LEM beschäftigten Controller saßen, sah es zumindest etwas vielversprechender aus. Nachdem Bob Hesselmeyer im Anschluß an die Inbetriebnahme des LEM kurz die vorhandenen Reserven berechnet und die Zahlen mit Kranz noch einmal überschlagen hatte, wurde er, im Unterschied zu den meisten anderen Männern des Teams, wieder an die Konsolen geschickt. Hesselmeyer war ein guter TELMU, aber er war auch der jüngste im Dienstplan von Apollo 13. Mit der Einteilung der im LEM vorhandenen Reserven beauftragte Kranz lieber Bill
Peters, einen TELMU aus Gerry Griffins Team, der seit Gemini 3 im Jahr 1965 bei jeder Mission mitgewirkt hatte. Wie sich herausstellen sollte, vertraute der Leiter des Tiger Teams Peters zu Recht. Schon gegen Mittag konnte Bill Peters mit bemerkenswerten Fortschritten bei der Lösung der Versorgungskrise der »Aquarius« aufwarten. Peters nahm zunächst die Wasser- und Energieversorgung in Angriff, um die es am prekärsten bestellt war, und errechnete, daß sich der Verbrauch weitaus mehr senken ließe, als Kelly und Hesselmeyer für machbar gehalten hatten. Laut den Berechnungen, die Peters und seine Elektrotechniker erstellt hatten, schien es durchaus möglich, den Stromverbrauch im LEM bis auf 12 Ampere herunterzufahren. Bei voller Energieleistung standen dem LEM etwa 1800 Ampere aus vier Batterien in der Abstiegs- und zwei Batterien in der Aufstiegsstufe zur Verfügung. Damit verglichen, waren 12 Ampere nicht viel. Aber Peters rechnete aus, daß er sich einen viel höheren Verbrauch nicht leisten konnte, wenn er die für den Rückflug notwendige Energie in Betracht zog und eine kleine Notreserve einplante. Je mehr Strom der TELMU einsparen konnte, desto geringer wäre auch der Wasserbedarf, und durch Peters’ Radikalkur ließen sich die knappen Reserven eine ganze Weile strecken. Das von ihm verordnete Maßhalten hatte jedoch seinen Preis. Das teilweise Abschalten der Systeme, das die LEMIngenieure zwischen dem Einschuß in die Freiflugbahn und der PC+2-Zündung angeordnet hatten, war im Vergleich mit den von Peters für den Rückflug geplanten Maßnahmen gar nichts. Sobald das für 20:40 Uhr vorgesehene Beschleunigungsmanöver erfolgt wäre, wollte er das Abschalten von buchstäblich allen stromverbrauchenden Komponenten der Mondfähre anordnen, bis auf drei Ausnahmen: Das Kommunikationssystem und eine der
dazugehörigen Antennen, das Kabinengebläse, das für die Zirkulation der vorhandenen Atemluft sorgte, und die Pumpen der Kühlanlage, damit die beiden anderen Systeme nicht überhitzten. Stillgelegt werden sollten die Computer, das Führungssystem, die Kabinenheizung, das Rendezvous-Radar, das Landeradar, die Instrumenten- und Armaturenbeleuchtung sowie unzählige weitere Geräte. Natürlich hatte Peters’ drastischer Abschalteplan noch einige Haken. So war zum einen zu erwarten, daß es in dem bereits jetzt ziemlich ungemütlichen LEM noch ungemütlicher werden würde, wenn es nach dem Abschalten der Instrumente und der Kabinenbeleuchtung dunkel im Cockpit wurde und die Temperatur noch weiter absank. Zum zweiten hatte bislang noch niemand eine Lösung dafür gefunden, wie man ohne neue Lithiumhydroxid-Filter eine zu hohe Anreicherung der Atemluft mit Kohlendioxid vermeiden wollte. Die meisten Sorgen bereitete jedoch der Umstand, daß die Mondfähre nicht nur die Energie für ihre eigenen Systeme liefern mußte. Schon bevor Lovell, Swigert und Haise die »Odyssey« verlassen hatten, hatte die Kommandokapsel nach dem Ausfall der drei Brennstoffzellen ihren Strom aus einer der drei für den Wiedereintritt benötigten Batterien bezogen. Damit das Schiff vor dem Eintritt in die Erdatmosphäre wieder in Betrieb genommen werden konnte, mußte diese Batterie aufgeladen werden, und dies konnte nur über das bereits voll ausgelastete elektrische System der »Aquarius« erfolgen. Während Peters noch hin- und herrechnete, wie er das Raumfahrzeug mit der vorhandenen Energie eine halbe Woche über die Runden bringen könnte, kam John Aaron vorbei, um sich ein paar Ampere für die angeschlagene Kommandokapsel auszuborgen. »Bill«, sagte Aaron, nachdem er sich Peters in einer Ecke von Zimmer 210 geschnappt hatte, »Sie wissen doch, daß die Kommandokapsel nicht mit zweieinhalb Batterien auskommt.«
»Ich weiß, John«, sagte Peters. »Und Sie wissen auch, daß ich Saft von Ihnen brauche.« »Auch das weiß ich.« »Wieviel können Sie mir geben?« »Wieviel brauchen Sie denn?« fragte Peters vorsichtig. »Sie haben doch bloß klitzekleine Batterien da drin. Die brauchen nicht viel, oder?« »Wir müssen die leere auf etwa 50 Ampere aufladen«, erklärte Aaron, »und als sie das Schiff verlassen haben, war sie bis auf 16 runter. Ich muß Sie also um etwa 34 Ampere bitten.« Peters dachte einen Augenblick nach. »Vierunddreißig… vierunddreißig könnte ich schaffen, aber genaugenommen verlangen Sie viel mehr von mir. Meine Ladegeräte und Verbindungskabel haben einen Wirkungsgrad von nur 30 bis 40 Prozent. Vierunddreißig Ampere bis zu Ihnen rüberzuleiten wird mich also etwa 100 Ampere kosten.« »Das weiß ich, Bill«, sagte Aaron voller Verständnis. »Kriegen Sie es dennoch hin?« Peters ging von den ihm insgesamt zur Verfügung stehenden 1800 Ampere aus und rechnete im Kopf rasch nach. »Ja«, sagte er zögernd, »das müßte von mir aus möglich sein.« Die Männer, die sich mit der Kommandokapsel befaßten, mußten noch kompliziertere Problemlösungen finden, und hier wurde Aarons Talent zum Vermitteln und Beschwatzen weit dringender gebraucht. Am meisten Kopfzerbrechen bereitete dem leitenden EECOM nicht die Frage, wie er seine Batterien aufladen sollte, sondern wie um alles auf der Welt er in der Lage sein sollte, die »Odyssey« wieder in Betrieb zu nehmen. Normalerweise war das Wiedereinschalten der ApolloKommandokapsel sowohl energie- als auch zeitaufwendig. Bei den Vorbereitungen zum Start benötigten die Techniker an der Rampe einen ganzen Tag dazu, und sie verbrauchten Tausende
von Ampere, bis jedes System warmgelaufen und auf seine Funktionstüchtigkeit hin überprüft worden war, bevor sie die Kapsel für einsatzbereit erklärten. Es war ein mühseliger Vorgang, aber da ihnen unbegrenzt viel Strom und Zeit zur Verfügung standen, arbeiteten die NASA-Ingenieure so sorgfältig wie möglich. Bei Apollo 13 konnte sich Aaron diesen Luxus nicht leisten. Er und Kranz stellten einige Berechnungen über die Energiereserven an, und die Zahlen, die dabei herauskamen, waren beunruhigend. Selbst wenn die dritte Batterie der »Odyssey« voll aufgeladen sein sollte, würde Aarons Strom nur für zwei Stunden reichen, wenn der Zeitpunkt zur Wiederinbetriebnahme der Kapsel kam. Dennoch glaubte Aaron fest daran, daß die Sache machbar war. Er mußte sich nur noch etwas einfallen lassen, wie er seine Vorstellungen den Controllern erklären sollte, die für die Systeme des Raumfahrzeuges zuständig waren. Im Prinzip ging jedermann in Zimmer 210 davon aus, daß technische Vorbehalte hintangestellt werden müßten, wenn man die Kapsel heil zurückholen wollte, in der Praxis aber war keiner bereit, Abstriche in seinem Bereich zu machen. Aaron rief die zuständigen Controller am Konferenztisch zusammen und redete auf seine bauernschlaue Art auf sie ein, wie eine Mischung aus Cowboy und Staubsaugervertreter. »Jungs«, sagte er, »ich weiß, ich kenn’ mich mit euren Systemen nicht besonders aus, darum paßt auf und korrigiert mich, wenn ich einen Fehler mache, aber ich glaube, ich hab’ ein paar Ideen, wie wir das Schiff wieder auf die Reihe kriegen, wenn es soweit ist. So wie ich es sehe, reichen unsere Batterien etwa zwei Stunden, in denen wir von null auf hundert hochfahren müssen.«
»John«, meldete sich Bill Strable, der Führungs- und Navigations-Offizier, zu Wort, »das ist in der Zeit nicht zu schaffen.« »Tja, nun, das habe ich auch gedacht, Bill«, erwiderte Aaron leicht amüsiert. »Aber ich glaube, wenn wir bereit sind, ein paar Abstriche zu machen, könnten wir die Sache durchziehen.« »Klar kann man sie durchziehen«, sagte Strable, »aber kann man sie auch sicher durchziehen?« »Meiner Ansicht nach ist vielleicht sogar das möglich«, erklärte Aaron. »Ich habe ein paar Ideen. Vielleicht sollten wir alle mal einen Blick draufwerfen, könnte sein, daß wir sie ein bißchen aufmöbeln können.« Mit nahezu entschuldigender Miene brachte Aaron einen Stapel Computerausdrucke zum Vorschein, die mit Buntstiftmarkierungen übersät waren, lauter Kalkulationen, Voraussagen und Berechnungen, die Aaron mit Hilfe von Jim Kelly, seinem Elektrospezialisten, erarbeitet hatte. Auf den ersten Blick wurde klar, daß es sich hierbei keineswegs bloß um »ein paar Ideen« handelte. Das hier war eine brutal realistische, bis ins Detail ausgearbeitete Analyse der vorhandenen Energiereserven und wie lange das Schiff damit auskommen mußte, egal, ob die Controller sie hören wollten oder nicht. Er reichte die Unterlagen herum, wartete, bis die Controller sie sich zu Gemüte geführt hatten, und dann begann das erwartete stundenlange Verhandeln, Feilschen und Diskutieren. Die Controller hatten Einwände, und sie hatten ebenfalls Ideen, aber ihnen stand nicht viel Zeit zur Verfügung. Wenn Apollo 13 auf der jetzigen Flugbahn blieb, würde das Raumfahrzeug die Erde in weniger als zweiundsiebzig Stunden erreichen. Angenommen, die PC+2-Zündung erfolgte wie geplant, dann würde die Flugzeit nur mehr zweiundsechzig
Stunden betragen. Wenn Aaron seine Checkliste zum Wiedereinschalten der Kommandokapsel nicht binnen achtundvierzig Stunden fertig hatte, lief das Wunderkind aus Oklahoma Gefahr, seine erste Crew zu verlieren.
Gerald Griffin war jetzt seit über fünf Stunden für den Flug verantwortlich, und bislang war alles relativ ruhig verlaufen. Während der Schicht von Kranz’ Team hatte sich die Explosion des Sauerstofftanks ereignet, als Lunneys Team Dienst hatte, waren das Abschalten der Energie in der Kapsel und der Einschuß in die Freiflugbahn erfolgt, und während der Schicht von Windlers Team würde die PC+2-Zündung in Angriff genommen werden. Griffin war klar, welche Aufgabe er hatte: Das Schiff funktionsfähig zu halten, dazu beizutragen, daß es keine weiteren technischen Komplikationen gab, und dafür zu sorgen, daß es soweit wie möglich bereit war für die Zündung um PC+2. Bis auf letzteres löste Griffins Gruppe ihre Aufgaben bislang gut. Die vorherigen Bemühungen von Lunneys Team, die Kreiselplattform trotz der das Schiff umgebenden Partikelwolke auszurichten, waren fehlgeschlagen, und als Lunney beschlossen hatte, die Zündung zum Einschuß in die Freiflugbahn alleine aufgrund der aus der Kommandokapsel übertragenen Daten durchzuführen, hatten die Männer im Kontrollraum lediglich die Achseln gezuckt und das Beste gehofft. Die Brennphase würde, wie sie wußten, nur kurz sein, und falls sich bei der Ausrichtung der Plattform Fehler eingeschlichen haben sollten, würde das keine allzu großen Folgen nach sich ziehen. Bei der Zündung um PC+2 jedoch war das anders. Die vorgesehene Brennphase würde nicht nur weit länger dauern, sondern sie würde auch nahezu achtzehn
Stunden später erfolgen. Das Trägheitsführungssystem neigte mit der Zeit zu Abweichungen, und selbst wenn die Koordinaten, die Lovell gestern nacht um 22 Uhr aus der »Odyssey« übertragen hatte, um 2 Uhr 45 morgens noch stimmen sollten, wären sie am kommenden Abend um 20 Uhr 10 mit Sicherheit verfälscht. Daher hatten Griffin und sein Team den Großteil der vergangenen sieben Stunden über in ständigem Kontakt mit den Technikern im Simulationsraum des Space Center gestanden, wo Charlie Duke und John Young Lösungsmöglichkeiten für die Ausrichtung zu finden versuchten, auf die die Führungs- und Navigations-Offiziere noch nicht gekommen waren. Bislang waren die Ergebnisse nicht ermutigend. Egal, wie die beiden Piloten sich auch drehten, die simulierte Sonne tauchte die Partikel rund um das LEM in gleißendes Licht, so daß nicht einmal die nächsten Sterne zu erkennen waren. Als der Nachmittag anbrach und der neueste deprimierende Bericht aus dem Simulationsgebäude eintraf, saßen Chuck Deiterich, Dave Reed und Ken Russell zusammengesackt an ihren Konsolen in der vordersten Reihe der Mission Control und wußten nicht mehr weiter. »Und was sollen wir jetzt machen?« fragte Reed und sah Deiterich und Rüssel an. »Was empfehlt ihr als nächstes?« »Ich bin für alle Ratschläge offen«, sagte Deiterich. »Ich nehme an, wir geben die Sache mit den Sternen auf«, erklärte Russell. »Wenn wir sie nicht sehen können, können wir uns auch nicht an ihnen orientieren«, bemerkte Deiterich. »Ich vermute, wir könnten immer noch warten, bis wir hinter dem Mond sind«, sagte Russell. »Sobald sie im Dunkeln sind, leuchten die Partikel nicht mehr so stark.«
»Damit wird die Zeit aber ziemlich knapp, oder?« gab Reed zu bedenken. »Die haben nur eine halbe Stunde Dunkelheit, und danach sind es nur mehr zwei Stunden bis zur Zündung. Wenn etwas schiefgeht, haben sie keine Zeit mehr, es auszubügeln.« »Seien wir doch mal ehrlich«, sagte Russell. »Das einzige, was wir da draußen sehen können, ist die Sonne, und die verursacht den ganzen Ärger.« »Ganz genau«, rief Deiterich. »Warum benutzen wir sie dann nicht, wenn sie schon da ist? Sie ist doch ein Stern, oder? Der Computer akzeptiert sie doch, oder? Egal, wie viele Partikel da draußen herumfliegen, bei der Suche nach der Sonne ist garantiert kein Irrtum möglich.« Er schaute zu Reed und Russell, die ihm ihrerseits skeptische Blicke zuwarfen. Normalerweise kam es bei der Feineinstellung der Führungsplattform auf absolute Genauigkeit an. Da sich der Sternenhimmel im Umkreis von 360 Grad dreidimensional rund um das Schiff erstreckte, kam ein einzelner Stern dem platonischen Ideal des geometrischen Punktes sehr nahe: Er war unendlich klein, unendlich genau, und eine unendliche Anzahl davon ergab einen Winkel von einem Grad. Wenn man ein paar dieser hellen Himmelspunkte anpeilte, konnte man die Plattform so genau einstellen, daß die Fehlerquote beim Navigieren praktisch bei null lag. Etwas ganz anderes war es hingegen, wenn man statt der Sterne die Sonne benutzte. Zunächst einmal war sie riesengroß und mit einem Durchmesser von rund 1,4 Millionen Kilometern nur etwa 150 Millionen Kilometer – nach kosmischen Maßstäben gerechnet, ist das lediglich eine Armeslänge – von der Erde entfernt. In ihre riesige Masse, die am Himmel einen halben Gradwinkel einnahm, paßten Dutzende kleiner Sternenpunkte. Deiterich, das war Reed und Russell auf der Stelle klar, wollte nicht etwa, daß sie die
Plattform neu auf diesen groben Punkt hin ausrichteten; er schlug lediglich vor, sie sollten anhand der Sonne die bereits vorliegende Ausrichtung überprüfen. Aber Deiterich hatte seinen Vorschlag kaum geäußert, da bekam er bereits Zweifel. »Wir haben es natürlich mit einem ziemlich großen Objekt zu tun, nicht?« sagte er. »Einem sehr großen«, sagte Russell. »Und was ist mit der Optik?« fragte Deiterich. »Wenn man ein zur Sternenbeobachtung gedachtes optisches Gerät auf die Sonne richtet, brät man sich die Augen.« »Die haben Filter, mit denen sich das verhindern läßt«, sagte Russell. »Trotzdem bin ich von dem Vorschlag noch nicht ganz überzeugt. Das ist ein ziemliches Provisorium, was wir hier vorhaben, Jungs. So was geht im Simulator, aber wollt ihr euch bei einem Flug wirklich darauf verlassen?« »Nicht unbedingt«, sagte Deiterich. »Aber haben wir eine andere Wahl?« Russell und Reed blickten einander an. »Keine«, sagte Russell. Zwei Reihen weiter oben saß Griffin und sah, daß die beiden Männer in der vordersten Reihe über irgend etwas heftig diskutierten. Er hoffte von ganzem Herzen, daß es um einen Plan zur Ausrichtung ging. Griffin führte wie alle anderen Flugdirektoren ein Logbuch, in das er bei allen entscheidenden Phasen einer Mission die entsprechenden Daten eintrug. Bislang war die Stelle, wo er die Angaben zur Feinabstimmung notieren wollte, noch leer, und er wurde allmählich nervös. Bis zu PC+2 waren es noch sieben Stunden, aber in gut vier Stunden würde es zum Abreißen des Signals kommen, wenn das Raumfahrzeug hinter dem Mond verschwand. Die Führungs- und Navigations-Offiziere mußten ihm zumindest einen guten Vorschlag liefern, und zwar möglichst schnell. Die
Männer in der vordersten Reihe gluckten noch etliche Minuten zusammen, standen dann plötzlich auf und kamen zu Griffin. »Gerry«, sagte Russell, als sie neben seiner Konsole standen, »wir werden die bestehende Ausrichtung anhand der Sonne überprüfen müssen.« Schweigend blickte Griffin seine Männer an. Schließlich bemerkte er: »Und etwas Besseres fällt uns dazu nicht ein?« »Uns jedenfalls nicht«, gab Russell zurück. »Sobald wir in den Mondschatten kommen, werden wir sehen, ob ein paar Sterne auftauchen, und dann noch mal eine kurze Überprüfung vornehmen. Aber das ist nur eine Ausweichmöglichkeit.« »Und wie wohl ist Ihnen bei einer Ausrichtung allein nach der Sonne zumute?« fragte Griffin. »Ziemlich wohl«, erwiderte Russell mit soviel Selbstsicherheit, wie er nur aufbringen konnte. »Ziemlich wohl?« »Ja«, pflichtete Deiterich bei. »Aber mehr können wir wahrscheinlich auch nicht erwarten.« Griffin musterte seine Führungs- und Navigations-Offiziere. »Rufen Sie Charlie Duke und John Young«, sagte er schließlich. »Die sollen die Sache im Simulator ausprobieren.« Die drei Astronauten im Cockpit der »Aquarius« verschwendeten keinen Gedanken auf die Sonne. Der Himmelskörper, der ihre ganze Aufmerksamkeit forderte, war vierhundertmal kleiner – obwohl er unendlich viel größer wirkte –, nicht einmal annähernd so weit entfernt und rückte von Minute zu Minute näher. Während John Young und Charlie Duke im Mondfähren-Simulator ihre Versuche machten, war die wirkliche Besatzung knapp 20000 Kilometer vom Mond entfernt und flog mit etwa 4800 Kilometern pro Stunde darauf zu. Je näher Apollo 13 dem Mond kam, desto häufiger ertappten sich die Astronauten dabei, wie sie verstohlen aus dem Fenster blickten. Zunächst hatten sie dem
Drang nicht nachgegeben, zumal sie eigentlich keine Zeit dazu hatten. Das Kommunikationssystem forderte noch immer ihre ganze Aufmerksamkeit, das Raumfahrzeug mußte wegen der Temperaturregelung ständig gedreht werden, das Energiehochfahren vor der PC+2-Zündung stand unmittelbar bevor, und außerdem mußten sie die Partikelwolke ständig im Auge behalten, falls doch irgendwo ein Stern hindurchschimmern sollte. Die riesige, gipsgraue Halbkugel jedoch, die vor ihnen schwebte, konnte keine noch so dicke Wolke aus glitzernden Partikeln verdecken. Der Mond, auf den die Besatzung zuflog, war zu drei Vierteln voll, so daß nur ein breiter, sichelförmiger Streifen an seiner Westseite im Dunkeln lag. Aus dieser Nähe sah man durch die kleinen Dreiecksfenster des LEM nur Ausschnitte dieser gewaltigen Mondmasse, so daß sich die Astronauten nach vorne beugen und den Hals soweit wie möglich recken mußten, wenn sie den ganzen Himmelskörper erfassen wollten. Lovell bereitete diese große Nähe allmählich Sorgen. Der Kommandant wandte sich vom Fenster ab und drehte sich nervös zu Haise um. »Was meinst du, wie die mit der Ausrichtung klarkommen, Freddo?« fragte er. »Toll kann’s nicht sein, sonst hätten wir schon was gehört«, erwiderte der Pilot des LEM. »Nun ja, unsere Fehlertoleranz schwindet ziemlich schnell dahin.« »Mit genau 1300 Metern pro Sekunde«, bemerkte Haise mit einem Blick auf die Geschwindigkeitsanzeige seines Computers. »Was hältst du davon, wenn wir sie anfunken und zusehen, ob wir die Sache nicht ein bißchen beschleunigen können?« fragte Lovell. Doch bevor Haise auf Sendung gehen konnte, schaltete sich Houston ein.
»Aquarius, hier Houston«, meldete sich der CAPCOM. Der Stimme nach zu urteilen, hatte Vance Brand, ein weiterer angehender Astronaut, Joe Kerwin an der Konsole abgelöst. »Schießt los, Houston«, sagte Haise. »O.K. wir haben ein Verfahren für eure Ausrichtung ausgearbeitet«, erklärte Brand. »Und zwar möchten wir, daß ihr bei ungefähr 74 Stunden eine Überprüfung anhand der Sonne durchführt. Wir geben euch die Daten in Kürze durch, und wir gehen davon aus, daß die Plattform O.K. ist und keine weitere Ausrichtung erfordert, wenn ihr innerhalb von einem Grad am Zielpunkt liegt. Falls der Sonnencheck O.K. ist, geben wir euch danach einen Stern zum Sicherheitscheck auf der Rückseite, wenn ihr im Dunkeln seid. Over.« Haise wiederholte die Anweisungen sicherheitshalber, unterbrach dann die Verbindung und wandte sich mit fragender Miene an Lovell und Swigert, die in der Kunst der Himmelsnavigation weitaus erfahrener waren. »Was haltet ihr davon?« fragte Haise. Lovell pfiff leise. »Nun ja, es müßte unsere Ausrichtung bestätigen.« Er wandte sich an Swigert. »Was hältst du davon?« »Ziemlich unpräzise Methode, meinst du nicht?« sagte Swigert. »Sehr unpräzise«, pflichtete Lovell ihm bei. »Was für eine Fehlertoleranz wollen sie uns geben?« »Ein Grad.« »Das macht zweimal die Sonne. Das ist ja so, als würde man auf ein Scheunentor zielen.« »Die Frage ist nur«, sagte Swigert, der, ohne es zu wissen, fast die gleichen Worte gebrauchte wie Reed unten auf der Erde. »Hast du eine bessere Idee?« Lovell schwieg. »Keine«, erwiderte er schließlich. »Und du?«
»Nein.« »Ruf zurück«, wies Lovell Haise an. »Machen wir uns bereit.« Haise meldete sich wieder bei Brand, und der CAPCOM gab dem LEM-Piloten die Techniken für den Sonnencheck durch. Das von Deiterich, Russell und Reed erdachte und von Duke und Young getestete Verfahren war relativ problemlos. Lovell würde in den Computer eingeben, daß er sein Navigationsteleskop auf die Sonne richten wollte, und der Genauigkeit wegen den exakten Quadranten angeben – oder das »Feld«, wie es die Navigatoren bezeichneten. In diesem Fall hatten Reed, Russell und Deiterich das nordöstliche Feld ausgesucht. Im Führungssystem war die Sonne nicht als Ausrichtungspunkt gespeichert, aber es konnte sie finden. Wenn der Computer den Befehl entgegengenommen hatte, würden die sechzehn Steuerdüsen der Mondfähre automatisch zünden und das Raumfahrzeug dorthin schwenken, wo der Computer die Sonne vermutete. Wenn das obere rechte Feld der Sonne danach bis auf ein Grad genau im Fadenkreuz des mit starken Filtern versehenen Teleskops stand, wußte Lovell, daß die Ausrichtung zufriedenstellend war. Wenn nicht, dann steckten sie in der Klemme. Lovell, so wurde entschieden, sollte sich um den Navigationscomputer kümmern, die für den Sonnencheck notwendigen Daten eingeben und die Lageanzeige im Auge behalten, um festzustellen, ob sich das Raumfahrzeug in die geplante Richtung bewegte. Swigert würde sich rechts von Haise ans Fenster begeben, auf die Sonne achten und Lovell Bescheid geben, sobald sie in Sicht kam. Haise sollte das Navigationsteleskop übernehmen und notieren, auf welchen Punkt der Sonne das Fadenkreuz gerichtet war. Das Team in Houston begab sich ebenfalls an seine Arbeitsplätze. Griffin bat um Ruhe im Netz und forderte die
hinter den Konsolen stehenden Männer auf, ihre diensttuenden Kollegen nicht zu stören. Er zog das Logbuch zu sich und trug in der Spalte »GET« (Ground Elapsed Time; die seit dem Augenblick des Abhebens verstrichene Zeit) »73:32« ein, und unter »Anmerkungen« schrieb er: »Beginn Sonnencheck«. Im Raumfahrzeug justierte Fred Haise das Kommunikationssystem ein letztes Mal und schaltete – sei es absichtlich oder zufällig – auf Vox. Sofort hörte man am Boden die knackenden Stimmen der miteinander sprechenden Astronauten. »Ich habe kein allzu großes Vertrauen in die Sache«, sagte Lovell gerade leise. »Wir werden es hinkriegen«, erwiderte Haise. »Sei da nicht so sicher. Könnte immer noch sein, daß ich mich letzte Nacht verrechnet habe.« Lovell gab die Daten, die Brand ihm übermittelt hatte, in den Computer der »Aquarius« ein. Der Computer akzeptierte die Angaben, verarbeitete sie langsam und wartete dann, daß der Kommandant auf »Proceed« – Ausführen – drückte. Nach einem kurzen Blick zu Haise und dann zu Swigert drückte Lovell auf die Taste. Eine Sekunde lang tat sich gar nichts, dann war durch die Fenster der feine Dunst der hypergolischen Gase zu erkennen, als die Düsen des Landefahrzeuges zündeten. Die Astronauten konnten spüren, wie das Schiff träge beidrehte. Lovell ließ die Nadeln der Lageanzeige nicht aus den Augen. »Wir rollen«, rief er. »Jetzt kommt Gieren – Rollen, Nicken – wieder Gieren. Houston, empfangt ihr das alles?« »Negativ, Jim«, sagte Brand. »Wir bekommen vom Computer keine hohen Bit-Werte heruntergefunkt.« »Roger«, bestätigte Lovell und wandte sich nach rechts. »Kannst du schon was erkennen, Jack?« »Nichts«, antwortete Swigert.
»Ist da drüben irgendwas?« fragte er Haise. »Nein.« Russell, Reed und Deiterich, die in der vordersten Reihe der Mission Control saßen, hörten der Besatzung wortlos zu. Auch Brand saß schweigend an der Konsole des CAPCOM, bis er wieder gerufen wurde. Griffin zog sein Logbuch zu sich und notierte »Sonnencheck eingeleitet«. Über den Boden-BordFunk hörte man weiter die Gesprächsfetzen der Besatzung. »Gieren rechte Seite«, konnte man Haise hören. »FDI des Kommandanten.« »Trägheitseinstellung – «, erwiderte Lovell. »Plus 190«, sagte Haise. »Plus 08526.« »Gib mir 16 – « »Ich habe HP auf dem FDI – « »Zwei Diameter draußen, nicht mehr – « »Zero, zero, zero – « »Gib mir das AOT, gib mir das AOT – « Etwa acht Minuten lang dauerte dieses Gemurmel der Besatzung an, während die »Aquarius« herumschwenkte und die Controller schweigend mithörten. Dann meinte Swigert, er habe auf der rechten Seite des Schiffes etwas entdeckt: Ein schwaches Blinken, dann nichts, dann wieder ein Blinken. Plötzlich sah er eindeutig einen kleinen Ausschnitt der Sonnenscheibe in der einen Ecke seines Fensters. Er riß den Kopf nach rechts, wollte sich dann nach links umdrehen und Lovell darauf aufmerksam machen, aber bevor er etwas sagen konnte, fiel ein greller Sonnenstrahl auf das Armaturenbrett, und der Kommandant, der immer noch die Anzeigen überwachte, blickte abrupt auf. »Sag an, Jack!« sagte er. »Was siehst du da?« »Wir haben eine Sonne«, sagte Swigert. »Wir haben etwas Großes«, erwiderte Lovell lächelnd. »Siehst du irgend etwas, Freddo?«
»Nein«, sagte Haise, während er durch das Teleskop spähte. Dann drang Licht in das Glas, und er rief: »Ja, vielleicht ein Drittel Diameter.« »Sie kommt noch«, sagte Lovell mit einem Blick aus dem Fenster, bevor er sich etwas abdrehte, als die Sonne einfiel. »Ich glaube, sie kommt noch.« »Schon fast da«, sagte Haise. »Wir haben sie«, rief Lovell. »Ich glaube, wir haben sie.« »O.K.«, sagte Haise, während er zusah, wie die Sonne über das Fadenkreuz des Teleskops und dann nach unten glitt. »Schon fast da.« »Hast du sie?« fragte Lovell. »Schon fast da«, wiederholte Haise. Durch das Teleskop sah er, wie sich die Sonne den Bruchteil eines Grades weiterbewegte, dann noch einen Bruchteil. Die Steuerdüsen liefen einen Moment weiter und stellten sich dann ab, so daß das Raumfahrzeug – und die Sonne – zum Stillstand kamen. »Was hast du da?« sagte Lovell. »Was hast du da?« Haise sagte gar nichts. Dann wandte er sich langsam vom Teleskop ab und drehte sich mit einem breiten Grinsen zu seinen Kollegen um. »Den rechten oberen Rand der Sonne«, verkündete er. »Wir haben es!« schrie Lovell und riß die Faust hoch. »Wir sind drauf!« sagte Haise. »Houston, hier Aquarius«, meldete sich Lovell. »Schießt los, Aquarius«, antwortete Brand. »O.K.«, sagte Lovell. »Sieht so aus, als sei der Sonnencheck in Ordnung.« »Wir haben verstanden«, sagte Brand. »Wir sind froh, das zu hören.« In der Mission Control ertönte zuerst ein Johlen aus der ersten Reihe, wo der RETRO, der FIDO und der GUIDO
saßen, in das nach und nach immer mehr Controller einstimmten, bis schließlich der ganze Raum in begeisterten Applaus ausbrach. »Houston, hier Aquarius«, ertönte Lovells Stimme über den Lärm hinweg. »Habt ihr das empfangen?« »Empfangen«, sagte Brand breit grinsend. »Ist nicht ganz zentriert«, meldete der Kommandant. »Steht etwas weniger als einen Radius seitlich.« »Klingt gut, klingt gut.« Brand blickte nach hinten und lächelte Griffin zu, der zurückgrinste, ohne sich um den Tumult um ihn herum zu kümmern. Normalerweise sollte es in der Mission Control keine Unruhe geben, aber Griffin wollte wenigstens ein paar Sekunden lang ein Auge zudrücken. Er zog das Logbuch zu sich und schrieb »73:47« in die freie Spalte unter »GET«. Unter »Anmerkungen« trug er »Sonnencheck erfolgt« ein. Dabei bemerkte er zum erstenmal, daß seine Hände zitterten und die letzten drei Eintragungen in seinem Buch unleserlich waren.
In Houston, wo Marilyn Lovell für die sichere Heimkehr ihres Mannes betete, ging die Sonne fast zur gleichen Zeit unter wie in dem knapp vierhunderttausend Kilometer entfernten Raumfahrzeug. Seit den beiden Erdumkreisungen, als sie zweimal über die Nachtseite hinweggeflogen waren, war die Sonne ständig präsent gewesen. Sie war nicht immer unmittelbar zu sehen, aber sie war immer da: Sie erwärmte das Schiff, bevor es sich zum Temperaturausgleich wieder um die eigene Achse drehte, sie wurde von den Partikeln reflektiert, die seit der Explosion des Sauerstofftanks das Schiff umgaben, und sie hatte das Armaturenbrett während der Ausrichtungsüberprüfung in gleißendes Licht getaucht.
Jetzt, um 18:30 Uhr, als Apollo 13 sich dem Mond bis auf eine Entfernung von zweieinhalbtausend Kilometer näherte – weniger als der Durchmesser des Erdtrabanten –, trennten sich die Wege von Schiff und Sonne. Wie bei allen Mondflügen üblich, näherte sich Apollo 13 dem Erdtrabanten von Westen, von der dunklen Seite aus also, da der Mond zu drei Vierteln voll war. Je näher das Raumschiff ihm kam, desto tiefer tauchte es in die Dunkelheit ein. Obwohl noch immer vereinzelte Sonnenstrahlen auf das Schiff fielen, schien von der Mondoberfläche aus nur das schwache, schimmernde Licht der Erde in das immer dunkler werdende Cockpit – das reflektierte Licht des Heimatplaneten, der wiederum das Licht der Sonne reflektierte. Diese zunehmende Dunkelheit bedeutete aber auch, daß die Wolke aus Partikeln, die das Schiff noch immer umgab, immer weniger Licht widerspiegeln konnte. Vor einer Stunde hatten Lovell, Haise und Swigert ihre gewohnten Positionen eingenommen. Während Haise über der Checkliste für die Zündung brütete und Swigert ihm dabei soweit wie möglich beistand, übernahm Lovell wieder den Platz am Fenster. »Ich habe den Skorpion!« verkündete der Kommandant. »Wirklich?« fragte Haise und begab sich sofort ans Fenster. »Jawoll. Und Antares.« »Die kommen alle raus«, sagte Swigert, der ebenfalls aus Lovells Fenster blickte. »Du sagst es«, erwiderte Lovell. »Dort ist Nunki, dort Antares. Könnte sein, daß es für einen Sicherheitscheck reicht.« Swigert pflichtete ihm bei. »Wahrscheinlich wird es mehr als reichen.« »Wollen wir es ihnen mitteilen?« fragte Haise. »Ja«, sagte Lovell und sprach in sein Mikrophon: »Houston, hier Aquarius.«
»Schieß los, Jim«, sagte Brand. »Setze euch hiermit in Kenntnis, daß ich Antares und Nunki vor dem Fenster habe, und ich wollte nur wissen, ob ihr den Ausrichtungscheck versuchen wollt.« »Roger«, sagte Brand. »Wir haben verstanden, welche Sterne ihr seht. Bleibt dran, bis wir euch wegen des Sicherheitschecks Bescheid sagen.« Brand unterbrach die Verbindung mit der Kapsel und schaltete sich in das Netz des Flugdirektors ein, um sich mit seinem GUIDO zu besprechen. Kranz’ Team war vor etwa zwei Stunden an die Konsolen zurückgekehrt und gedachte, zumindest die nächsten paar Stunden dort zu bleiben. Milt Windlers Team hatte sich am Nachmittag mehrere Stunden in der Nähe der Mission Control bereitgehalten, um Griffins Team zum Schichtwechsel kurz vor Sonnenuntergang abzulösen. Aber Kranz hatte den Männern im Saal und insbesondere seinem Freund Windler mitgeteilt, daß er trotz des Risikos, jemanden in seiner Ehre zu kränken, sobald wie möglich seine Leute einsetzen und die PC+2-Zündung durchführen lassen werde; danach könnte Windlers Team gerne übernehmen. Um 16:30 Uhr kam das Tiger Team aus Zimmer 210, verteilte sich in der Mission Control und übernahm achselzuckend und mit einem gemurmelten »entschuldige bitte« die Konsolen, die es am Vorabend um 22:30 Uhr verlassen hatte. Die Männer aus Griffins Team, die ohnehin in wenigen Minuten abgelöst werden sollten, räumten ihre Plätze und zogen sich auf die Gänge zurück, wo sie sich zu Windlers Team gesellten. Jetzt, als Brand mit Bill Fenner, dem GUIDO, die Pläne für die Ausrichtung durchsprach und Fenner darüber mit Kranz diskutierte, kam es wegen der Betreuung des Fluges zum ersten Mal zu Differenzen. Der Sternencheck zur genauen Überprüfung des Trägheitsführungssystems, so verkündete
Kranz über sein Netz, werde gestrichen. Die Ausrichtungsdaten, die Lovell aus der »Odyssey« übernommen habe, hätten sich bei der Brennphase zum Einschuß in die Freiflugbahn bewährt und seien zudem bei dem improvisierten Sonnencheck bestätigt worden. Wenn man jetzt weiter herumpfusche, so Kranz, bringe man sich nur unnötig in Schwierigkeiten und vergeude zudem Treibstoff für die Steuerdüsen und kostbare Zeit. Er teilte seine Entscheidung Fenner mit, der sie wiederum Brand mitteilte, und dieser gab sie der Besatzung durch. »He, Aquarius«, meldete sich der CAPCOM, »wir sind mit eurer derzeitigen Ausrichtung ziemlich zufrieden. Wir wollen nicht, daß ihr für einen weiteren Check noch mehr Treibstoff für die Steuerdüsen verbraucht. Bleibt also einfach so wie bisher.« »O.K. verstanden«, sagte Lovell, schob dann sein Mikrophon beiseite, wandte sich an Haise und verdrehte etwas die Augen. »Da haben wir zum erstenmal auf diesem Flug die Sterne, und jetzt wollen wir sie nicht verwenden.« »Die haben Bammel, wir könnten vor der Zündung etwas vermasseln«, sagte Haise vermittelnd. »Ich habe Bammel, daß wir etwas vermasseln, bevor wir überhaupt soweit sind.« Der Sternencheck würde sich ohnehin bald erübrigen, da die Zeit dafür rasch verstrich. In etwa anderthalb Stunden würde Apollo 13 hinter dem Mond verschwinden, und damit würde auch der Funkkontakt für fünfundzwanzig Minuten unterbrochen. Zwei Stunden danach müßten sie dann zur Zündung ihres Antriebssystems bereit sein. »Aquarius, hier Houston«, meldete sich Brand. »Wenn ihr empfangsbereit seid, kann ich euch die Daten für das PC+2Manöver durchgeben. Danach möchtet ihr euch vielleicht auf das Abreißen des Signals vorbereiten.«
»O.K.«, sagte Haise und zog Notizblock und Stift heran. »Ich bin bereit.« Brand teilte die Daten mit, gab Vektoren, Gierwinkel und die daraus resultierenden Landepunkte auf der Erde durch, und Haise notierte alles und las es zur Bestätigung noch einmal laut vor. Lovell hörte am Tonfall des CAPCOM, daß er sich Sorgen machte, aber er selbst war froh, daß er dem Abreißen des Signals und der näherrückenden Zündung relativ gelassen entgegensah. Anders als bei der Zündung zum Einschuß in die Freiflugbahn würde es sich diesmal um eine lange Brennphase handeln, bei der das Antriebssystem 5 Sekunden lang mit minimaler Schubkraft, dann 21 Sekunden lang mit 40prozentiger Schubkraft und schließlich 4 Minuten lang mit vollem Schub eingesetzt werden würde. Ausgelöst werden würde sie, genau wie die Zündung zum Einschuß in die Freiflugbahn, per Computer, aber Lovell würde die Schubkraft manuell steuern. Falls der Antrieb nicht genau bei 79:27:40.07 zünden sollte, würde Lovell auch dies übernehmen. Trotz allem empfand Lovell eine überraschende Gelassenheit, je näher der Zeitpunkt für die Zündung rückte, und während Haise fortfuhr, die von Brand durchgebenen Daten zu notieren, warf der Kommandant einen weiteren Blick aus dem Fenster. Wie sich herausstellte, hatte er sich gerade den richtigen Moment ausgesucht. Nach einer Flugzeit von 76 Stunden, 42 Minuten und einigen Sekunden ging die Sonne hinter dem Mond unter, und Apollo 13 tauchte in den Schatten ein. Die funkelnden Partikel um das Schiff verschwanden schließlich, und der Himmel war auf allen Seiten, egal, wohin man auch blickte, mit eisig weißen Sternen übersät. »Houston«, sagte Lovell, »die Sonne ist untergegangen und – Mann – schau – dir – die – Sterne – an.«
»Ist das da draußen Nunki?« fragte Haise, als er sich zum Fenster umwandte, und deutete auf einen Stern, den Lovell vorher kaum hatte ausmachen können, der aber jetzt hell wie ein Leuchtfeuer am Himmel stand. »Ja«, sagte Lovell, »und Antares kann ich auch viel besser sehen.« »Was ist das da drüben für eine Wolke?« fragte Swigert, der sich über Lovells Schulter beugte. »Die Milchstraße«, antwortete Lovell und deutete auf einen strahlendweißen Streifen, der sich über den Himmel zog. »Nein, nicht die leuchtende«, sagte Swigert. »Die dunkle – das heißt, eigentlich sind es zwei dunkle, die wie Kondensstreifen aussehen.« Lovell folgte Swigerts Blick und sah zwei schaurig dunkle Streifen, die teilweise die Sterne verdeckten. »Ich wüßte beim besten Willen nicht, was das sein könnte«, sagte er. »Es könnten die Partikel sein, die weggeflogen sind.« »Bei unseren Manövern?« fragte Haise. »Nein«, sagte Lovell, »bei unserer Explosion.« Schweigend blickten die drei Astronauten zu den beiden Wolken. Brands Stimme zerriß die Stille. »Aquarius, hier Houston.« »Schießt los, Houston.« »O.K. Jim, wir haben noch etwas über zwei Minuten bis zum Abreißen des Signals, und von uns aus sieht alles gut aus.« »Roger«, sagte Lovell. »Ich nehme an, ihr wollt nicht, daß wir irgendwelche anderen Systeme aktivieren oder sonstige Vorbereitungen treffen, bis wir das Signal wieder empfangen.« »Roger. Ganz genau«, erwiderte Brand. »O.K. dann rühren wir uns nicht. Wir sehen uns auf der anderen Seite wieder.«
Die Besatzung von Apollo 13 verfiel wieder in Schweigen, und 120 Sekunden später war die Verbindung mit Houston abgerissen. Die Crew bewahrte Ruhe, als sie aus dem Erdschein in die völlige Dunkelheit und Funkstille auf der Rückseite des Mondes hineinflog. Da auf der Vorderseite des Mondes nur ein schmaler Streifen am westlichen Rand im Dunkeln lag, war auf der Rückseite lediglich ein ebenso schmaler Streifen im Osten erleuchtet, so daß Apollo 13 bei der Umrundung des Mondes ständig in Dunkelheit gehüllt war. Allein das Fehlen der Sterne verriet, daß sich unter dem Schiff, bis hin zum Horizont, ein Himmelskörper befand. Nahezu zwanzig Minuten lang flogen die Astronauten durch dieses schwarze Nichts, bis knapp fünf Minuten vor Wiedererfassen des Signals in der Ferne eine grauweiß gesprenkelte Sichel auftauchte. Haise sah sie zuerst und griff nach der Kamera. Danach sah auch Lovell sie vom linken Fenster aus und nickte, allerdings eher bestätigend als begeistert. Swigert, der so etwas noch nie gesehen hatte, schnappte sich seine Kamera und schwebte zu Lovell hin, worauf der Kommandant sich zurücktreiben ließ, damit sein Kollege das Schauspiel genau betrachten konnte. Unter ihnen glitt jetzt dieselbe Einöde vorbei, die Lovell vor sechzehn Monaten von Apollo 8 aus erblickt hatte und die bis zum Jahr 1968 keine Menschenseele jemals zu Gesicht bekommen hatte. Seither allerdings hatten sie über ein Dutzend Menschen gesehen. Swigert und Haise betrachteten in ehrfürchtigem Schweigen die Mares und die Krater, die Gräben und die Berge – die ganze weite Landmasse des Mondes. Fünf Minuten später, zum vorgesehenen Zeitpunkt für das Wiedererfassen des Signals, stellte Lovell den Schalter an
seinem Mikrophon auf »Senden« und meldete sich rücksichtsvoll flüsternd bei der Bodenkontrolle. »Guten Morgen, Houston. Wie empfangt ihr uns?« »Empfangen euch einigermaßen gut«, erwiderte Brand. »In Ordnung. Wir empfangen euch ebenfalls ziemlich gut.« Lovell warf einen Blick über Swigerts Schulter auf die unter ihnen vorbeigleitende Formation. »Zu eurer Information: Wir überfliegen jetzt das Mare Smythii, und es sieht aus, als ob wir uns entfernen.« »Wir rücken wirklich ab«, fügte Swigert etwas bedauernd hinzu. »Oh, ja, ja.« Lovells Antwort war ebenso für seinen Kollegen wie auch für die Bodenstation bestimmt. »Wir sind nicht mehr auf 222 Kilometer. Wir fliegen weg.« »Habe verstanden, Aquarius«, sagte Brand. »Wir brauchen immer noch eine Zeitvorgabe zum Energiehochschalten für die Zündung«, erinnerte Lovell die Bodenkontrolle. »O.K. Bleibt dran.« Brand schaltete aus, und während Haise und Swigert mit den Kameras am Fenster blieben, bewegte Lovell sich im Cockpit hin und her und spielte nervös an den Schaltern für die Energieversorgung herum. Er schwebte von einem Bereich des Armaturenbrettes zum nächsten, griff um Haise und Swigert herum und murmelte ein gelegentliches »Entschuldige, Freddo« oder »Verzeihung, Jack«. Nach zwei oder drei Minuten hielt Lovell inne, verzog sich auf die Abdeckung des Aufstiegsantriebs, wo bislang Swigerts Platz gewesen war, und verschränkte die Arme. »Gentlemen«, sagte er mit absichtlich überlauter Stimme. »Wie sehen eure weiteren Pläne aus?« Verblüfft fuhren Haise und Swigert herum. »Unsere Pläne?« sagte Swigert.
»Ja«, sagte Lovell. »Uns steht ein PC+2-Manöver bevor. Gedenkt ihr, euch daran zu beteiligen?« »Jim«, sagte Haise leicht larmoyant, »das ist unsere letzte Chance, diese Bilder zu schießen. Wir sind extra bis hierher geflogen – meinst du nicht, daß wir denen ein paar Bilder mitbringen sollten?« »Wenn wir nicht heimkommen, wirst du sie nie entwickeln lassen können«, gab Lovell zurück. »Jetzt mal hergehört. Wir schaffen die Kameras aus dem Weg, und dann machen wir alles klar für die Zündung. Wird kein geruhsamer Flug werden, bis wir landen.« Haise und Swigert verstauten ihre Kameras, nahmen ihre Positionen wieder ein, und während der nächsten Stunde arbeitete die Besatzung konzentriert. Brand gab ihnen die Anweisungen zum Hochschalten der Energie durch, die Astronauten betätigten die entsprechenden Schalter, und langsam wurden die Systeme der »Aquarius« wieder in Betrieb genommen. Die letzten Minuten vor dem Manöver ließ die Besatzung schweigend verstreichen. Diesmal standen den Piloten keine Anschnallgurte zur Verfügung und auch keine Couchen. Statt dessen würden sie einfach stehenbleiben, sich an der Wand abstützen und den jähen Schub abfedern, denn mangels Schwerkraft ließ sich der leichte Andruck relativ problemlos überstehen. Lovell blickte zu Haise und hob den Daumen, dann drehte er sich zu Swigert um und wiederholte die Geste. »Übrigens, Aquarius«, drang Brands Stimme in die Stille, »wir haben die Resultate auf dem Seismographen von Apollo 12. Sieht so aus, als sei eure dritte Stufe gerade auf dem Mond aufgeschlagen und hätte ihn ein bißchen erschüttert.« »Na ja, dann hat bei diesem Flug wenigstens etwas geklappt«, sagte Lovell. »Ihr seid bestimmt froh, daß das LEM nicht auch aufgeschlagen ist.«
Lovell schaute zum Mond, als könnte er die Staubwolke und den kleinen Krater sehen, wo die Rakete aufgeschlagen war. Statt dessen sah er einen kleinen, ebenmäßig geformten dreieckigen Berg inmitten der Krater und Berge, die das Mare Tranquillitatis säumten. Es war der Mount Marilyn, der sich ihm da vermutlich zum letztenmal präsentierte, bevor Apollo 13 sich vom Mond entfernte. »Zehn Minuten bis zur Zündung«, verkündete Haise. Kurz danach rief er: »Acht Minuten bis zur Zündung«, dann: »Sechs Minuten bis zur Zündung«, dann: »Vier Minuten bis zur Zündung.« Schließlich schaltete sich Brand an der Konsole des CAPCOM ein. »Jim, ihr habt GO für die Zündung, GO für die Zündung.« »Roger, habe verstanden«, sagte Lovell. »Wir haben GO für die Zündung.« »Auf mein Zeichen noch zwei Minuten und vierzig Sekunden«, meldete Brand. »Ab jetzt.« Lovell blickte auf den Flugzeitnehmer, holte tief Luft und hielt sie an. Im Cockpit war es dunkel, und der Bug des Raumfahrzeuges war auf die schwach leuchtende Erde gerichtet, während er zusah, wie die Uhr auf Zero sprang. Dann spürte er, wie das Antriebssystem des LEM unter seinen Füßen zum Leben erwachte.
10
Dienstag, 14. April, 15:30 Uhr, Pazifischer Ozean Mel Richmond würde im Südpazifik wahrscheinlich nicht seekrank werden. Zum einen war das Schiff, auf dem er sich befand, der Helikopterträger »Iwo Jima«, zu groß, um selbst bei rauher See ins Rollen zu geraten. Darüber hinaus war Richmond schon zu oft hier draußen gewesen. Richmond war der Fachmann, was die Bergung zurückkehrender Raumfahrzeuge anging. In den Tagen vor dem Start eines Mercury-, Gemini- oder Apollo-Raumfahrzeugs stellte die NASA ein Team von Bergungsexperten ab, die sich an Bord eines zur voraussichtlichen Landestelle geschickten Schiffes begaben und das Bergen von Kapsel und Besatzung leiteten. Richmond, der zweithöchste Mann im Besucherteam der NASA, ging mehr in seiner Arbeit auf als die meisten. Lange bevor eine Rakete samt Besatzung die Rampe verließ, zog sich der ehemalige Air-Force-Mann und derzeitige Flugbahnexperte mit dem Einsatzplan des Fluges, Karten von den möglichen Wiedereintrittpunkten und einem weltweiten Wetterbericht in Klausur zurück. Allein aufgrund dieser Unterlagen verfaßte er einen Bericht über sämtliche für das zurückkehrende Raumfahrzeug in Frage kommenden Landepunkte und die bei der Bergung von Kapsel und Besatzung anzuwendenden Techniken. Dieser Bericht wurde das »Buch« – die Hauptanleitung für die Bergung – für die jeweilige Mission, und wenn der Wiedereintritt näherrückte und man Klarheit über die endgültige Landestelle bekam,
waren es diese Anweisungen, die bei der komplexen Rettungsaktion Schritt für Schritt in die Tat umgesetzt wurden. Während der vierzehn Tage auf See kam es abwechselnd zu Perioden tödlicher Langeweile und hektischer Aktivität, je nachdem, welche Übungen gerade angesetzt waren. Am anstrengendsten waren die jeden zweiten Tag stattfindenden Bergungsmanöver, wenn eine Raumfahrzeugattrappe ins Wasser geworfen wurde, worauf der Träger sich ein paar hundert Meter entfernte und das gesamte Rettungsteam – Froschmänner, Hubschrauberpiloten, Decksmannschaften, Beobachter – die Bergung übte. Etliche Tage lang hatten die Bergungsübungen für die Rückkehr von Apollo 13 gute Fortschritte gemacht. Doch nun, da das Raumfahrzeug vier Tage im All war, waren sämtliche sorgsam entwickelten Methoden und verordneten Übungen hinfällig. Nach dem ursprünglichen Flugplan sollte die Kommandokapsel von Apollo 13 am Dienstag, 21. April, um 15:17 Uhr etwa 207 Seemeilen südlich der Weihnachtsinsel im Meer niedergehen – vier Tage nach dem Start der Mondfähre aus den Randbergen des Fra-Mauro-Kraters. Im Laufe der letzten Tage jedoch war der ursprüngliche Plan verändert worden, und Apollo 13 würde nach Auskunft der Jungs in Houston am Nachmittag des 17 April zurückkehren – möglicherweise auch erst am Abend des siebzehnten oder irgendwann am achtzehnten – und im Südpazifik landen – vielleicht aber auch im Indischen Ozean oder im Atlantik. Der genaue Zeitpunkt und Ort hingen vom Ausgang der PC+2Zündung ab. Mel Richmond arbeitete nicht gern nach derart ungenauen Vorgaben. In Houston war es um 20 Uhr 40 bereits dunkel, als das Abstiegs-Antriebssystem der Mondfähre »Aquarius« zur Zündung für die viereinhalbminütige Brennphase klargemacht
wurde, aber draußen bei der Weihnachtsinsel, etwas südlich von Oahu, war um 15 Uhr 40 Ortszeit noch heller Nachmittag. Zwar konnte dank der aggressiven Öffentlichkeitsarbeit der NASA alle Welt den Boden-Bord-Funk mithören, nicht aber die Männer des Bergungsteams. Einer der Funkoffiziere der »Iwo Jima« konnte die Gespräche zwischen CAPCOM und Crew über einen Kommunikationssatelliten mitverfolgen, aber die Verbindung war schlecht, und die Übertragung konnte nicht auf dem ganzen Träger ausgestrahlt werden. Ein weiterer Funkoffizier stand in direktem Kontakt mit der Mission Control. Dieser Offizier war es auch, der die regelmäßigen Telefonkonferenzen zwischen der »Iwo Jima« und Houston vermittelte, und er würde es als erster erfahren, wenn die PC+2-Zündung erfolgreich durchgeführt worden war – oder auch nicht. Kurz vor 15 Uhr 30 tauchten Mel Richmond und eine Handvoll weiterer Mitglieder des Bergungsteams beim zweiten Funkoffizier auf und warteten auf die neuesten Nachrichten. Im Satellitenraum auf der anderen Seite des Schiffes verfolgte der zuständige Offizier die Gespräche zwischen Raumfahrzeug und Kontrollraum, die sonst niemand auf der »Iwo Jima« mithören konnte. »Auf mein Zeichen noch zwei Minuten und vierzig Sekunden«, hörte der Funkoffizier Vance Brands Stimme aus Houston, als der Zeitpunkt der Zündung näherrückte. »Roger, wir haben es«, hörte er Jim Lovells Antwort durch das Rauschen im Boden-Bord-Funk. Eine Zeitlang herrschte Schweigen. »Eine Minute«, verkündete Brand. »Roger«, antwortete Lovell. Weitere sechzig Sekunden Schweigen. »Wir brennen bei 40 Prozent«, hörte der Funkoffizier jetzt Lovell sagen. »Houston empfängt.« Fünfzehn Sekunden verstrichen.
»Hundert Prozent«, sagte Lovell. »Roger.« Im Hintergrund war starkes Rauschen zu vernehmen. »Aquarius, hier Houston. Es sieht gut aus.« »Aquarius, ihr habt GO bei drei Minuten.« »Roger.« »Aquarius, zehn Sekunden bis GO.« »Roger.« » – sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins«, zählte Brand ab. »Brennschluß!« rief Lovell. »Roger. Brennschluß. Gute Brennphase, Aquarius.« »Sag das noch mal«, rief Lovell über das Rauschen hinweg. Brand hob die Stimme. »Ich – sagte – das – war – eine – gute – Brennphase.« »Roger«, rief Lovell. »Und jetzt wollen wir so bald wie möglich die Energie herunterschalten.« Im Satellitenraum des Trägers lehnte sich der Funkoffizier zurück und nahm den Kopfhörer ab. Er zumindest wußte jetzt, wenn auch als einziger an Bord der »Iwo Jima«, daß Apollo 13 tatsächlich auf sie zukam. Im zweiten Funkraum auf der anderen Seite des Schiffes standen Mel Richmond und die anderen Männer des Bergungsteams im Halbkreis um das noch immer stille Funkgerät. Schließlich, fast eine Minute nach Brennschluß, meldete sich knackend Houston über den kleinen Lautsprecher des Funkgeräts. »Iwo Jima, Houston, bei 69 Stunden und 32 Minuten Flugzeit«, sagte die Stimme. »Pericynthion-plus-zwoBrennphase erfolgt. Voraussichtliche Landestelle 600 Seemeilen südöstlich von Amerikanisch-Samoa bei 142 Stunden und 54 Minuten GET.« »Roger«, antwortete der Funker. »Brennphase erfolgt.« Die Männer des Bergungsteams schauten sich lächelnd an.
»Nun«, sagte Richmond zu dem neben ihm stehenden Offizier, »sieht so aus, als bekämen wir am Freitag Arbeit.« Sobald die PC+2-Brennphase abgeschlossen war, nahm Gene Kranz, der an der Konsole des Flugdirektors saß, den Kopfhörer ab, stand auf und sah sich im Raum um. Die Männer schlugen einander auf den Rücken und feierten das erfolgreich durchgeführte Manöver, so daß es in der Mission Control eine Zeitlang zuging wie im Tollhaus, jedenfalls gemessen an der dort üblichen Atmosphäre. Kranz dachte nicht daran, seinen Leuten das Feiern zu untersagen; er war der Meinung, daß seine Leute sich das gegenseitige Beglückwünschen verdient hatten. Außerdem würde er demnächst wieder alle Hände voll zu tun haben. Kranz wußte, wer sich alles im Raum aufhielt, und er war überzeugt, daß sich demnächst drei Männer um seine Konsole versammeln würden. Und da er von vornherein wußte, was sie ihm mitteilen würden, war ihm auch klar, daß es bei der Besprechung turbulent zugehen würde. Er blickte eine Reihe tiefer und etwas nach links und sah, daß Deke Slayton, der hinter der Konsole des CAPCOM gestanden hatte, auf ihn zukam. Dann warf er einen Blick nach hinten und sah, wie Chris Kraft an der Konsole des Flugbetriebsdirektors den Kopfhörer abnahm und sich nach unten begab. In der verglasten Galerie hinter Kraft konnte er Max Faget erkennen, den Leiter der Abteilung für Technik und Entwicklung am Space Center, der von Bob Gilruth als einer der ersten in die Space Task Force berufen wurde, die vor zwölf Jahren den Kern der NASA gebildet hatte. Faget schob sich gerade durch das Gedränge und kam ebenfalls in den Kontrollraum. Kranz seufzte und drückte die Zigarette aus, die er zu Beginn des PC+2-Manövers angezündet hatte, und die mittlerweile bis auf seine Fingerspitzen heruntergebrannt war. Slayton traf als erster bei ihm ein.
»Und was ist unser nächster Schritt hier, Gene?« »Nun, Deke«, sagte Kranz, der seine Worte sorgfältig wählte, »wir werden daran arbeiten.« »Ich bin mir nicht sicher, ob es da soviel dran zu arbeiten gibt«, sagte Slayton. »Wir werden die Crew zu Bett schicken, stimmt’s?« »Irgendwann, klar.« »Irgendwann dürfte nicht genügen. Die letzte planmäßige Schlafperiode war vor vierundzwanzig Stunden. Die brauchen etwas Ruhe.« »Das weiß ich, Deke«, setzte Kranz an, aber bevor er ausreden konnte, hörte er von hinten eine andere Stimme. Es war Kraft. »Wie weit sind wir mit dem Herunterschalten der Energie, Gene?« »Das kommt schon noch, Chris«, antwortete Kranz ruhig. »Sind wir bereit zur Durchführung?« »Wir sind bereit, aber es ist eine langwierige Arbeit, und Deke meint, wir sollten die Crew erst schlafen schicken.« »Schlafen?« sagte Kraft. »Eine Schlafperiode dauert sechs Stunden! Wenn Sie die Crew vor dem Herunterschalten so lange aus dem Verkehr ziehen, vergeuden Sie sechs Stunden lang unnütz Strom. Außerdem ist Lovell einverstanden. Haben Sie ihn etwa nicht über Funk gehört?« »Aber wenn man sie weiter wach hält und ein kompliziertes Abschaltverfahren durchführen läßt, obwohl sie kaum die Augen aufhalten können«, sagte Slayton, »laufen wir Gefahr, daß jemand einen Fehler macht. Ich würde lieber jetzt ein bißchen Energie verschwenden, als später ein weiteres Unglück zu riskieren.« Hinter Slayton nickte Faget, der jetzt zu der Gruppe gestoßen war, Kranz grüßend zu.
»Max«, sagte Kranz, »Deke und Chris wollten mir gerade mitteilen, welche Schritte wir ihrer Meinung nach als nächstes unternehmen sollten.« »Passive Temperaturregelung, stimmt’s?« sagte Faget nüchtern. »PTC?« Slayton klang erschrocken. »Klar«, sagte Faget. »Schon seit Stunden ist die eine Seite des Schiffes auf die Sonne gerichtet und die andere zum Weltall. Wenn wir nicht bald ein Drehen am Spieß hinkriegen, friert uns die eine Hälfte der Systeme ein und die andere wird gekocht.« »Können Sie sich vorstellen, was es für die Crew bedeutet, wenn wir jetzt ein PTC-Rollmanöver von ihr verlangen?« fragte Slayton. »Oder was es für die zur Verfügung stehende Energie bedeutet?« ergänzte Kraft. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns so etwas im Augenblick leisten können.« »Und ich bin mir nicht sicher, ob wir uns ein Hinausschieben leisten können«, konterte Faget. Mehrere Minuten lang zog sich das Streitgespräch hin, und die Männer an den umliegenden Konsolen wandten gelegentlich den Kopf und warfen einen Blick hin. Zu guter Letzt hob Kranz, der die ganze Zeit über ungewöhnlich ruhig gewesen war, die Hand, und die drei anderen Männer – strenggenommen alles seine Vorgesetzten – hörten auf zu reden. »Gentlemen«, sagte Kranz, »ich danke für Ihre Beiträge. Als nächstes wird die Crew eine passive Temperaturregelung durchführen.« Er drehte sich um und nickte Faget zu, der seinerseits nickte. »Danach werden sie die Energie in ihrem Raumfahrzeug herunterschalten.« Er nickte Kraft zu. »Und schließlich«, sagte er mit einem entschuldigenden Blick zu Slayton, »werden sie sich schlafen legen. Eine müde Crew
kann mit ihrer Erschöpfung fertigwerden, aber wir können nicht damit fertigwerden, wenn wir dem Schiff weiteren Schaden zufügen.« Kranz wandte sich wieder seiner Konsole zu und damit war die Entscheidung endgültig. Die nächsten zwei Stunden über führte die müde Besatzung die Aufgaben durch, die man in der Bodenkontrolle von ihnen verlangte, und erst danach bekam sie das O.K. zum Schlafen. Selbst dann noch waren die Ruhezeiten knapp bemessen, nicht länger als drei Stunden am Stück, und Haise sollte sich als erster hinlegen, während Lovell und Swigert bis zu seiner Rückkehr in der »Aquarius« Wache hielten. Jetzt, eine Weile nach Mitternacht, war Haises Schlafperiode fast zu Ende, und die beiden Männer im Cockpit der Mondfähre stellten fest, daß sie ab und zu ebenfalls einnickten. In der kalten, lauten Kabine der »Aquarius« zu schlafen war, wie sich herausstellte, schwierig, aber nicht unmöglich. Man mußte sich lediglich einreden, daß man eigentlich gar nicht schlafen wollte, sondern nur ein paar Minuten lang die Augen zumachen – selbst wenn man wegdämmerte und im Halbschlaf vor dem Armaturenbrett schwebte –, und daß man eigentlich immer noch wach sei und für jeden Notfall bereit. »Aquarius, hier Houston«, ertönte plötzlich die Stimme von Jack Lousma, dem CAPCOM der Mitternachtsschicht, aus Lovells Kopfhörer. »Hmm, jaa«, murmelte Lovell und versuchte, hellwach zu klingen. »Hier Aquarius.« »Es wird langsam Zeit, daß ihr beide ins Bett kommt und Fred rausholt«, sagte Lousma. »Roger«, grummelte Lovell. »Freu’ mich schon drauf.« »Nehmt drei Stunden und meldet euch bei 85 Stunden 25 Minuten zurück«, sagte Lousma. »Roger.«
Der Kommandant rieb sich die Augen und schwebte hoch in die »Odyssey«. Dort ging er zu Haises Couch auf der rechten Seite und rüttelte ihn wach. Lovells Schätzung nach war die Temperatur in der Kommandokapsel mittlerweile bis auf vier, fünf Grad gesunken. Um den schlafenden Haise jedoch hatte sich eine fast körperwarme Luftschicht gebildet. Im schwerelosen und somit auch konvektionslosen Raum war die warme Luft nicht leichter als die sie umgebende kalte Luft, und deshalb konnte sie nicht aufsteigen. Lovell half Haise hoch und schickte ihn hinunter in das LEM. Dann legte sich der Kommandant auf seine Couch, schlang die Arme um den Oberkörper und rollte sich ein, damit er sowenig Körperwärme wie möglich verlor. Einen Augenblick später sank Swigert auf seine Couch und tat es ihm gleich. Von seinem Platz in der »Odyssey« aus konnte Lovell den Lärm hören, den der noch immer benommene Haise in der »Aquarius« machte, als er seinen Kopfhörer aufsetzte und sich über Funk in Houston meldete. Haise sprach zwar aus Rücksicht auf seine Kollegen mit gedämpfter Stimme, aber in dem engen Raumfahrzeug hörte man jedes Flüstern, und als Lovell sich in den Schlaf sinken lassen wollte, hörte er unwillkürlich das einseitige Gespräch mit, das auf der anderen Seite des Tunnels stattfand. »Ich bin erst vor einer Minute oben weg, Jack«, sagte Haise gerade zu Lousma, »und bin jetzt unten im LEM. Nach dem zu urteilen, was ich durchs Fenster sehe, wird der Mond mit Sicherheit kleiner.« Im LEM herrschte Schweigen. Lovell nahm an, daß Lousma Haise zu dem bislang Geleisteten beglückwünschte und ihm versicherte, daß der Mond von nun an stetig kleiner werden würde.
»Ich sag’ dir eins«, erwiderte Haise auf irgend etwas, das Lousma gesagt hatte, »diese Aquarius ist große Klasse.« Wieder Schweigen. Höchstwahrscheinlich sagte Lousma jetzt zu Haise, die Besatzung sei ebenso große Klasse. »Wenn ich höre, was da unten alles geleistet wird«, wandte Haise bescheiden ein, »dann werden die Jungs da unten bei diesem Flug wahrscheinlich auf eine größere Probe gestellt als wir hier oben.« Nein, nein, sagte Lousma vermutlich, wir tun nur das, wozu wir ausgebildet wurden. Ihr seid es, denen der schwerste Teil zufällt. »Na ja, wir versuchen bloß zurechtzukommen«, erwiderte Haise. »Wir wollen nur am Freitag bereit für den Wiedereintritt sein.« Lovell kniff die Augen fester zusammen und drehte das Gesicht zur Wand, wobei er die Luftschicht um ihn herum, die gerade warm geworden war, wieder aufwirbelte. Wenn sich sein LEM-Pilot und der CAPCOM mit diesem zuversichtlichen Gerede von wegen Wiedereintritt aufmuntern wollten, war das in Ordnung. Aber Lovell wollte nichts davon hören. Laut der letzten Mitteilung, die er von der Bodenstation bekommen hatte, waren er und seine Crew knapp 25000 Kilometer vom Mond entfernt und flogen lediglich mit 1500 Metern pro Sekunde, deutlich unter 5000 Kilometer pro Stunde. Ihre Geschwindigkeit, so wußte er, würde während der nächsten knapp 40000 Kilometer stetig weiter sinken, bis sie in das Schwerkraftfeld der Erde gerieten. Bis dahin würde Lovell sich nicht besonders wohl in seiner Haut fühlen. Ein Schiff, das 25000 Kilometer vom Mond entfernt war, war auch noch über 360000 Kilometer von zu Hause entfernt – viel zu weit weg, um von einer Wende zum Guten zu sprechen. Seit Montagabend, dachte Lovell, während ihn langsam der Schlaf
übermannte, hatte er allerhand Gefühle erlebt, aber grundloser Optimismus war nicht darunter gewesen.
Ed Smylie, der Chef der Abteilung Crew-Systeme, trat aus dem Fahrstuhl. Er hatte einen Metallbehälter unter den Arm geklemmt und hielt nervös nach Deke Slayton, Chris Kraft oder Gene Kranz Ausschau. Die Männer in der Mission Control wollten Smylie unbedingt sehen – genauer gesagt, sie wollten den viereckigen, schachtelartigen Gegenstand sehen, den er dabei hatte. Seit dem Knall, dem Ausblasen und dem Schlingern von Apollo 13 am Montagabend hatten sich die Männer im Space Center und vor allem die Ingenieure der Abteilung Crew-Systeme den Kopf über die Lithiumhydroxid-Filter zerbrochen. Das Problem, wie man die viereckigen Filter aus der Kommandokapsel in die runden Filterbehälter der Mondfähre einpassen sollte, schien relativ geringfügig, verglichen mit den sonstigen Komplikationen dieses Fluges, aber es drängte trotzdem. Wenn man bedachte, daß sich drei Männer in der »Aquarius« aufhielten, dürfte der erste der beiden Filter der »Aquarius« etwa nach einer Flugzeit von 85 Stunden mit CO2 gesättigt sein. Weit vor der Rückkehr des Schiffes würde auch der zweite Filter voll sein, und dann würden die Astronauten binnen kurzem an dem von ihnen selbst ausgeschiedenen Kohlendioxid ersticken. Smylie und seine Leute jedoch hatten nunmehr einen wunderbar simplen Plan entwickelt, wie sich das Kohlendioxidproblem in der »Aquarius« lösen ließe. Das Lithiumhydroxid-System im LEM funktionierte genau wie das in der Kommandokapsel mit Hilfe eines Kabinengebläses, das die Atemluft im Raumfahrzeug durch Einlaßschlitze an der
Vorderseite der Filterbehälter ansaugte, worauf das Lithiumhydroxid das CO2 band und die gereinigte Luft an der Rückseite wieder ausströmte. Zudem befanden sich an der Cockpitwand zwei Schläuche, so daß der Kommandant und der LEM-Pilot ihre Druckanzüge im Falle eines Lecks am Raumfahrzeug direkt an das Luftreinigungs- und Lebenserhaltungssystem anschließen konnten. Damit die übergroßen Filter der Kommandokapsel in der ungastlichen Mondfähre funktionierten, gedachte Smylie den hinteren Teil – den Austrittsteil – der sperrigen Lithiumhydroxid-Behälter in einen Plastikbeutel zu stecken und diesen mit festem, luftdichtem Klebeband zu verschließen. Ein gebogenes Stück Karton, innen an dem Beutel festgeklebt, sollte für die notwendige Stabilität sorgen und verhindern, daß die Austrittsschlitze verdeckt wurden. Anschließend wollte Smylie ein kleines Loch in den Beutel stechen, das eine Ende des Schlauchanschlusses vom Druckanzug einfügen und die Verbindungsstelle ebenfalls mit Klebeband luftdicht verschließen. Wenn das Luftreinigungssystem des LEM lief, würde die Atemluft durch die Vorderseite des viereckigen Filterbehälters angesaugt und auf der Rückseite wieder ausgeblasen, wobei sie in den Beutel und dann durch den Schlauch gedrückt würde. Von dort würde sie über das Luftreinigungssystem des LEM und dann wieder in die Kabine geleitet. Grundsätzlich würde das CO2-Filtersystem des LEM genauso arbeiten wie sonst auch, nur daß der behelfsmäßig mit dem Einlaßschlauch verbundene Filter aus der Kommandokapsel die Funktion des aufgebrauchten Filters aus dem LEM übernehmen würde. Wenn der neue Filter ebenfalls aufgebraucht war, könnte jederzeit ein neuer besorgt und eingesetzt werden.
Smylie war stolz auf seine seltsame, unhandlich aussehende Erfindung. Er wußte, daß der kleine Behälter den Astronauten wahrscheinlich das Leben retten würde. Und so etwas, sagte er sich, ließ sich eben nicht bewerkstelligen, wenn man mit einem Kopfhörer an einer Konsole saß, auch wenn man einen Titel wie TELMU innehatte. Es war mittlerweile 3 Uhr früh am Mittwochmorgen, und Fred Haise genoß es, alleine im LEM zu sein. Er mochte die ungewohnte Stille, die ungewohnte Bewegungsfreiheit, vor allem aber wollte er die kurze Gelegenheit auskosten, da er die Verantwortung für sein »eigenes« Schiff hatte. »Houston, hier Aquarius«, meldete sich Haise leise bei Lousma, während er zu Lovells verwaistem Platz schwebte. »Los, Fred«, sagte Lousma. »Ich blicke gerade auf die linke Seite des Mondes zurück«, erklärte Haise, »und kann gerade noch die Ausläufer der FraMauro-Formation erkennen. Wir haben sie nicht sehen können, als wir näher dran waren.« »O.K.«, erwiderte Lousma. »Der Monitor sagt, daß ihr jetzt 26088 Kilometer vom Mond entfernt seid, Fred, und euch mit einer Geschwindigkeit von knapp 1500 Metern pro Sekunde fortbewegt.« »Wenn dieser Flug vorbei ist«, bemerkte Haise, »wird uns erst wirklich klar werden, wozu das LEM fähig ist. Wenn es einen Hitzeschild hätte, würde ich sagen, wir bringen es zurück.« »Naja, zumindest habt ihr den Leuten daheim bei eurer Übertragung am Montagabend einen guten Eindruck vom Inneren des Schiffes vermittelt«, erwiderte Lousma. »War eine gute Sendung, die ihr da gemacht habt.« »Etwa zehn Minuten später wäre sie noch besser geworden.« »Ja«, pflichtete Lousma bei, »danach war ziemlich rasch der Wurm drin.«
Haise wandte sich vom Fenster ab und schwebte zu Swigerts Platz auf der Abdeckung des Aufstiegsantriebs. Er griff in den Stauraum und wühlte in den Essensbeuteln herum, die Swigert gestern aus der »Odyssey« herübergeholt hatte. »Und nur zu deiner Information, Jack«, funkte Haise. »Ich werde mir jetzt die Zeit mit etwas Rindfleisch in Soße und anderen erlesenen Köstlichkeiten vertreiben.« »Ich nehme doch an, du hast dazu die Erlaubnis des Kommandanten«, sagte Lousma. »Rate mal«, sagte Haise lächelnd, »wo der Kommandant in diesem Augenblick ist.« »Trotzdem, an seiner Stelle würde ich dich alles abzeichnen lassen, was du gegessen hast, damit ich auf dem laufenden bleibe.« »Verstanden.« »Und, Fred«, fügte Lousma hinzu. »Wenn du irgendwann mal nicht mit deinem Rindfleisch beschäftigt bist, könntest du uns den CO2-Stand mitteilen.« Lousmas lässiger Tonfall täuschte über die Dringlichkeit seiner Bitte hinweg. Ed Smylies Besuch in der Mission Control war sowohl für den Ingenieur als auch für die Controller zufriedenstellend verlaufen. Der improvisierte Luftfilter hatte Slayton, Kranz, Kraft und die für die lebenserhaltenden Systeme des LEM zuständigen Offiziere, die sich um die Konsole des CAPCOM geschart hatten, beeindruckt, und der Bericht von der erfolgreichen Erprobung in der Vakuumkammer hatte sie davon überzeugt, daß die Behelfs Vorrichtung tatsächlich funktionieren könnte. Jetzt, nachdem Smylie wieder weg war, lag seine Erfindung nach wie vor auf Lousmas Konsole und zog andere Controller an, die vorbeischlenderten und sie betasteten. Die Tatsache, daß Smylies Behälter im Labor leicht herzustellen war, garantierte noch lange nicht, daß man ihn im
Weltraum ebenso leicht basteln konnte, und allmählich wurde es dafür höchste Zeit. Die Kohlendioxidkonzentration in der Kommandokapsel und dem LEM wurde von einem ohne Stromversorgung auskommenden Instrument festgestellt, das einem Thermometer ähnelte und den Druck des giftigen Gases in der gesamten Atemluft maß. In einem intakten Schiff sollte die Quecksilbersäule nicht höher als 2 oder 3 Millimeter ansteigen. Wenn sie über 7 stieg, wurde die Besatzung angewiesen, die Lithiumhydroxid-Filter auszutauschen. Stieg sie über 15, so bedeutete dies, daß die Filter gesättigt waren und binnen kurzem die ersten Anzeichen einer CO2-Vergiftung – Schwindelgefühl, Orientierungslosigkeit und Übelkeit – einsetzen würden. Nachdem Fred Haise seinen RoastbeefBeutel zusammengefaltet und in den hinteren Teil des Cockpits hatte treiben lassen, schwebte er zu dem KohlendioxidMeßgerät, sah auf die Anzeige und erstarrte. »O.K.«, erklärte Haise ruhig, »auf dem Meßgerät steht 13.« Blinzelnd musterte er die Anzeige ein zweites Mal. »Jawohl, 13.« »In Ordnung«, sagte Lousma. »Da haben wir ja eine ziemlich hohe Konzentration, deshalb wollen wir jetzt anfangen, den kleinen Filterbehälter zu basteln, den wir ausgetüftelt haben.« »Willst du, daß ich mich in die Odyssey begebe und das Material zusammentrage?« »Nein«, antwortete Lousma. »Wir wollen den Skipper jetzt noch nicht damit behelligen. Wir lassen ihn noch ein paar Minuten schlafen.« Als Lousma dies sagte, hörte Haise ein scharrendes Geräusch aus dem Tunnel. Er blickte nach oben und sah, wie Lovell mit vor Müdigkeit roten Augen kopfüber in die »Aquarius« schwebte. Der Kommandant tauchte hinab zur Abdeckung des Aufstiegsantriebs, drehte sich um und nahm Platz. Er warf einen neugierigen Blick auf Haises halbleeren Roastbeef-
Beutel, der in Höhe seiner Augen schwebte, fing ihn in der Luft und warf ihn quer durch das Cockpit zu dem LEMPiloten. Haise fing den Beutel und verstaute ihn rasch in einem Müllsack. »Du bist ja furchtbar früh wieder zurück«, sagte Haise. Lovell gähnte. »Es ist zu kalt da oben, Freddo.« »Du mußt dich ganz ruhig halten.« »Ich habe versucht, mich ganz ruhig zu halten. Es nützt nichts mehr. Würde mich überraschen, wenn es da drin mehr als ein Grad hat.« Lovell langte nach vorne, setzte seinen Kopfhörer auf und meldete sich bei Lousma. »Hallo, Houston, hier Aquarius. Kommandant Lovell meldet sich zum Dienst zurück.« »Roger, Jim. Ist Jack bei dir?« »Nein, der pennt nach wie vor.« »O.K.«, sagte Lousma. »Ich schlage vor, sobald er aufsteht, sollten wir uns ranhalten und zwei von diesen Lithiumhydroxid-Behältern bauen. Ich glaube, dazu werden wir drei Paar Hände brauchen.« »In Ordnung«, erwiderte Lovell, schüttelte den Kopf, bis er wieder klar denken konnte. »Wir nehmen uns dann diese Filter als nächste Maßnahme vor.« Obwohl die Ruheperiode noch über eine Stunde dauern sollte und Swigert es im Gegensatz zu Lovell geschafft hatte, in der eiskalten »Odyssey« fest einzuschlafen, wurde er bald von dem plötzlichen Geplauder und Herumrumoren im LEM geweckt. Wenige Minuten, nachdem Lovell durch den Tunnel hinabgestiegen war, tauchte auch Swigert auf. Am Boden trat Joe Kerwin, dessen vierte Schicht als CAPCOM in ebenso vielen Tagen anstand, seinen Dienst an und nahm Lousmas Platz an der Konsole ein.
»O.K.«, meldete sich Lovell bei dem neuen Mann in Houston, »Jack ist jetzt bei mir, und sobald er seinen Kopfhörer aufhat, sind wir empfangsbereit.« »Roger, Jim«, sagte Kerwin zur Bestätigung und Begrüßung zugleich. »Wann immer ihr soweit seid.« Während der nächsten Stunde ging es an Bord von Apollo 13 zu wie bei einer Schnitzeljagd. Kerwin las die von Smylie zusammengestellte Liste mit den erforderlichen Ersatzteilen vor, und die Besatzung wurde im ganzen Raumfahrzeug herumgeschickt, um Materialien zusammenzutragen, die nie für den Gebrauch gedacht waren, für den sie jetzt benötigt wurden. Swigert schwebte zurück in die »Odyssey« und holte eine Schere, zwei der übergroßen Lithiumhydroxid-Behälter und eine Rolle mit grauem Klebeband, mit dem normalerweise in der letzten Phase eines Fluges Abfallbeutel an der Innenwand des Schiffes befestigt wurden. Haise holte das LEM-Handbuch hervor, schlug die dicken, kartonierten Seiten mit den Anweisungen zum Aufstieg vom Mond auf – die Seiten, für die er nun keinerlei Verwendung hatte –, und nahm sie aus den Ringen. Lovell öffnete den Stauraum hinten im LEM und holte die in Plastik eingewickelte Thermo-Unterwäsche heraus, die er und Haise bei ihren Ausflügen auf dem Mond unter den Druckanzügen getragen hätten. In diese einteiligen Kombinationen, die nichts mit gewöhnlichen langen Unterhosen gemein hatten, waren meterweise feine Röhrchen eingewebt, durch die Wasser zirkulierte, damit die Astronauten während ihrer Arbeit im gleißenden Licht des Mondtages gekühlt wurden. Lovell schlitzte die Plastikverpackung auf, warf das jetzt nutzlose Unterzeug wieder in die Kiste und nahm das jetzt unschätzbar wertvolle Plastik mit.
Als alle Materialien zusammengetragen waren, las Kerwin die Bauanleitung vor, die Smylie verfaßt hatte. Die Arbeit ging bestenfalls schleppend voran. »Dreht den Behälter so, daß ihr die Austrittsseite vor euch habt«, sagte Kerwin. »Die Austrittsseite?« fragte Swigert. »Die Seite mit der Befestigung. Ab sofort bezeichnen wir sie als Oberseite und das andere Teil als Unterseite.« »Wieviel Klebeband sollen wir verwenden?« fragte Lovell. »Etwa einen Meter«, antwortete Kerwin. »Einen Meter…«, wiederholte Lovell laut nachdenkend. »Nehmt etwa eine Armlänge.« »Und den Beutel ziehe ich dann so über den Behälter, daß er an den Seiten des Austrittsteils anliegt?« fragte Swigert. »Kommt drauf an, was du unter ›Seiten‹ verstehst«, erwiderte Kerwin. »Gute Frage«, sagte Swigert. »Die offenen Enden.« »Roger«, bestätigte Kerwin. So ging es eine Stunde hin und her, bis schließlich der erste Filter fertig war. Die Astronauten, die in dieser Woche technische Meisterleistungen wie eine Landung in den Mondbergen hätten vollbringen sollen, schwebten einen Schritt zurück, verschränkten die Arme und betrachteten selig das groteske Verpackungskunstwerk, das am Schlauch des Druckanzuges hing. »O.K.«, meldete Swigert stolzer als beabsichtigt an die Bodenstation. »Unser selbstgestrickter Lithiumhydroxid-Filter ist komplett.« »Roger«, antwortete Kerwin. »Sieh nach, ob Luft durchströmt.« Swigert bückte sich und hielt sein Ohr an die offene Seite des Filters. Leise, aber deutlich hörte er, wie die Luft durch die Schlitze und vermutlich über die frischen Lithiumhydroxid-Kristalle gesogen wurde. In Houston
versammelten sich die Controller um den Bildschirm an der Konsole des TELMU und starrten auf die Kohlendioxid-Werte. Langsam und zunächst kaum wahrnehmbar sank die Anzeige am CO2-Meßgerät, erst auf 12, dann auf 11, 5, schließlich auf 11 und danach noch tiefer. Die Männer in der Mission Control schauten einander an und lächelten. Die Männer im Cockpit der »Aquarius« ebenfalls. »Ich glaube«, sagte Haise zu Lovell, »ich möchte jetzt mein Roastbeef aufessen.« »Ich glaube«, sagte der Kommandant, »ich möchte mich anschließen.« An den Konsolen in Houston war man am Mittwoch keineswegs so guter Dinge wie im Raumfahrzeug. Sicherlich gab es in der Mission manch einen Grund, optimistisch zu sein. An der Konsole des TELMU, wo die Aufzeichnungen für die lebenserhaltenden Systeme des LEM ständig überwacht wurden, waren die Werte der Kohlendioxidkonzentration an Bord der »Aquarius« ständig gefallen. Knapp sechs Stunden nach Inbetriebnahme von Ed Smylies genialem Filtersystem war der CO2-Gehalt der Atemluft auf bloße 0,2 Prozent gesunken – so niedrig, daß er sich mit den Bordmeßgeräten kaum feststellen ließ, geschweige denn den Astronauten gefährlich werden konnte. An der Konsole des INCO hatte man anscheinend ebenfalls alles gut im Griff. Kurz nach der PC+2-Brennphase war das von Max Faget verlangte kurze PTC-Rollen erfolgt. Durch die kontrollierte Drehung des Schiffes um die eigene Achse stand die S-Band-Antenne des LEM zur Erde hin, so daß die Astronauten in ständiger Funkverbindung mit der Bodenstation standen, ohne hektisch zwischen den Antennen hin- und herschalten zu müssen. Auf anderen Stationen in der Mission Control jedoch waren die Zahlen auf den Bildschirmen nicht annähernd so vielversprechend wie beim INCO und beim
TELMU. Am schlimmsten sahen die Daten beim FIDO, GUIDO und RETRO aus. Als das Abstiegs-Antriebssystem der »Aquarius« zur PC+2Brennphase gezündet worden war, wollte man damit das Schiff nicht nur beschleunigen, sondern auch eine Feinkorrektur der Flugbahn durchführen. Apollo 13 mußte so auf die Erde zufliegen, daß der Winkel beim Wiedereintritt in die Atmosphäre nicht kleiner als 5,3 und nicht größer als 7,7 Grad war. Flog die Kapsel mit einem Winkel von 5,2 Grad oder weniger an, prallte sie von der Atmosphäre ab, wurde ins All zurückgeschleudert und umkreiste bis in alle Ewigkeit die Sonne. Flog sie aber in einem Winkel von 7,8 Grad oder noch steiler an, dann gelänge ihr zwar der Wiedereintritt, aber aufgrund der hohen Reibungshitze und des Andrucks wäre die Besatzung noch vor der Wasserung tot. Um dies zu vermeiden, sollte die Flugbahn von Apollo 13 durch die PC+2-Brennphase genau auf den schmalen Wiedereintrittskorridor mit einem Anflugwinkel von 6,5 Grad ausgerichtet werden. Die Bahnwerte, die kurz nach der Brennphase auf den Bildschirmen der Flugdynamiker aufgetaucht waren, hatten auch darauf hingedeutet, daß dieses Ziel erreicht worden war. Jetzt jedoch, achtzehn Stunden nach der Brennphase, ließen neue Werte darauf schließen, daß die Flugbahn auf rätselhafte Weise flacher wurde, bis auf einen Winkel von 6,3 Grad und niedriger. Chuck Deiterich an der Konsole des RETRO bemerkte die Abweichung als erster. »Verfolgt jemand diese Flugbahndaten?« fragte er, ohne sein Mikrophon einzuschalten, und drehte sich zu Dave Reed um, dem rechts von ihm sitzenden Flugdynamik-Offizier. »Ich verfolge sie«, antwortete Reed. »Und was entnimmst du ihnen?« »Wenn ich das bloß wüßte«, gab Reed zurück.
»Wir sind zu flach, das steht mal fest.« »Definitiv.« »Meinst du, die Brennphase war richtig?« fragte Deiterich unsicher. »Herrje, Chuck, sie muß richtig gewesen sein. Die Daten waren zufriedenstellend. Das einzige, was mir dazu einfällt, ist, daß die Flugbahndatenübermittlung an sich nicht stimmt. Das Schiff ist immer noch so weit weg, daß wir vielleicht noch nicht den genauen Kursverlauf haben.« »Diese Zahlen sinken aber schon seit einer ganzen Weile, Dave«, sagte Deiterich nachdrücklich. »Die Datenübermittlung stimmt.« Wenn sowohl Deiterich als auch Reed recht hatten und weder bei den Zahlen noch bei der Brennphase ein Fehler unterlaufen war, dann gab es für die flache Flugbahn kaum eine Erklärung. Die naheliegendste Lösung – genaugenommen die einzige Lösung – lautete, daß irgendwo an der »Odyssey« oder der »Aquarius« etwas ausgeblasen wurde und die aneinandergekoppelten Raumfahrzeuge durch diese seitlich auf sie einwirkende Schubkraft leicht vom Kurs abkamen. Doch woher dieses Ausblasen kommen sollte, wußte niemand. Die beschädigten Tanks des Versorgungsteils waren längst leer, und alle anderen Systeme, aus denen etwas entweichen könnte – die Wasserstofftanks zum Beispiel oder die Lagesteuerungsraketen –, waren stillgelegt. Die konische Kommandokapsel hatte keine gasbetriebenen Aggregate, mit Ausnahme der kleinen Steuerdüsen, und die waren ebenso abgeschaltet wie alle anderen Geräte an Bord. Am LEM war ein derart unerklärlicher Gasaustritt ebenso unwahrscheinlich wie an der Kommandokapsel. Fast alle Systeme waren seit der PC+2-Brennphase abgeschaltet, und die verbliebenen wurden vom TELMU und vom CONTROL genau überwacht. Falls aus
irgendeiner Leitung oder einem Tank Gas entweichen sollte, wäre dies längst entdeckt worden. Es gab nicht viele Möglichkeiten zur Korrektur der Flugbahn. Falls man tatsächlich feststellen sollte, daß etwas ausgeblasen wurde, und falls man auch noch das Leck fand, könnte man das Raumfahrzeug möglicherweise so drehen, daß der Austrittsdruck in die entgegengesetzte Richtung wirkte. Dadurch würde vermutlich der Anflugwinkel von Apollo 13 steiler werden und damit auch der Wiedereintritt in die Erdatmosphäre riskanter. Da es aber unwahrscheinlich war, daß man die Ursache des Ausblasens feststellen konnte, blieb – auch wenn die überarbeiteten FIDOs, GUIDOs und RETROs gar nicht daran denken wollten – nur eine Alternative: Man mußte die Energie im LEM wieder hochschalten, die Führungsplattform neu ausrichten und eine weitere Zündung des Abstiegs-Antriebssystems vornehmen. »Wenn sich der Eintrittswinkel nicht von selbst stabilisiert«, sagte Deiterich, »müssen wir das Ding noch einmal zünden.« »Dann können wir bloß hoffen, daß er sich von selbst stabilisiert«, sagte Reed. Aber wenn die GUIDOs, FIDOs und RETROs den Abstiegsantrieb der »Aquarius« erneut zünden wollten, mußten auch die Zahlen auf dem Schirm des CONTROL-Offiziers – des Mannes, der die nicht-lebenserhaltenden Systeme des LEM überwachte – mitspielen. Im Augenblick sah es nicht danach aus. Wie Milt Windler schon vor der PC+2-Zündung befürchtet hatte, stieg allmählich der Druck in dem superkritischen Heliumtank, der das Triebwerk mit Treibstoff versorgte. Das auf minus 268 Grad gekühlte Gas stand normalerweise unter einem Druck von 80 psi, aber Helium dehnt sich rasch aus, so daß die Tanks ein Vielfaches dieses Drucks aushalten konnten. Erst wenn der Druck in den runden, doppelwandigen
Behältern auf über 1800 psi stieg, wurde es problematisch. An diesem Punkt würde dann die in die Gasleitung eingebaute Membran, die sogenannte »burst disk« reißen, und das Gas würde ins All entweichen. Dadurch würde zwar ein weiterer Druckanstieg verhindert, aber man hätte auch kein Helium mehr, um den Treibstoff in die Brennkammer zu pressen, und somit keinerlei Möglichkeit, das Triebwerk noch einmal zu zünden, falls ein weiteres Manöver erforderlich sein sollte. Die Besatzung konnte nur darauf hoffen, daß von der vorherigen Brennphase noch genügend Treibstoff – sogenannter ausgepreßter Treibstoff – für eine weitere Zündung in den Zuleitungen war, ein bestenfalls fragwürdiges Unterfangen. Während Deiterich und Reed noch ungerührt über eine neuerliche Zündung des Triebwerks sprachen, bemerkte Dick Thorson, der CONTROL-Offizier, mit einem Mal, daß der Heliumdruck stieg. »CONTROL«, meldete sich Glenn Watkins, der für das Antriebssystem zuständige Offizier in Thorsons Unterstützungsteam. »Schieß los, Glenn«, antwortete Thorson. »Ich weiß nicht, ob du die Daten verfolgst, aber die Werte für das superkritische Helium steigen.« »Ich verfolge sie«, sagte Thorson. »Wann ist deiner Schätzung nach die Druckgrenze erreicht?« »Das wissen wir nicht genau«, antwortete Watkins. »Wir überprüfen das noch. Aber im Augenblick stehen wir bei 1881 psi.« »Und wann haben wir den Höchststand erreicht?« »Das wissen wir auch nicht genau«, sagte Watkins. »Aber wir rechnen mit einem Ausblasen bei etwa 105 Stunden.«
Thorson blickte auf seinen Flugzeitnehmer: Apollo 13 war jetzt seit 96 Stunden unterwegs. »Ich möchte, daß ihr Diagramme anlegt und dafür sorgt, daß wir verstehen, was da vor sich geht«, sagte er. »Ich möchte wissen, wie dieses Ausblasen passieren wird, wann es passieren wird und in welche Richtung es losgehen wird. Ich möchte keinerlei Überraschung erleben.« Die Astronauten in ihrem weitgehend abgeschalteten Raumfahrzeug mit dem nutzlosen Armaturenbrett hatten keine Möglichkeit festzustellen, daß der Druck in dem Heliumtank unter ihren Füßen stieg und ihre Flugbahn immer flacher wurde. Am Mittwochnachmittag um ein Uhr war man in der Bodenkontrolle unschlüssig, ob man ihnen die schlechten Nachrichten mitteilen sollte. In den zehn Stunden, die seit dem Einbau der Lithiumhydroxid-Filter vergangen waren, hatte man an Bord der »Aquarius« alle Hände voll zu tun gehabt. Die Besatzung hatte die meiste Zeit über die passive Temperaturregelung, das sogenannte Drehen am Spieß, überwacht, die Betriebsverfahren zum Wiedereinschalten der »Odyssey« diskutiert, die in zwei Tagen anstand, und sich mit der Bodenkontrolle beraten, wie man mit den vier vollen Batterien des LEM die teilweise leere Batterie in der Kommandokapsel aufladen könnte. Zwar hatte Haise vor der langen Schicht von Morgengrauen bis zum späten Nachmittag ein paar Stunden schlafen können, Lovell und Swigert jedoch nicht, und gegen Mittag befahlen Deke Slayton und Flugarzt Willard Hawkins dem Kommandanten und dem Kapselpiloten, sich in die »Odyssey« zu begeben und es noch einmal zu versuchen. Am frühen Mittwochnachmittag lagen die beiden Männer auf ihren Couchen und schliefen, und die »Aquarius« war wieder in der Hand von Fred Haise.
»Aquarius, hier Houston«, meldete sich Vance Brand, der kurz zuvor Joe Kerwin an der Konsole des CAPCOM abgelöst hatte. »Schießt los, Houston.« »Wollten euch bloß mitteilen, daß ihr im Augenblick ziemlich gut auf Kurs liegt, etwa um die 6,5 Grad«, berichtete Brand mit aufmunterndem Tonfall. Dann schwieg er kurz. »Aber wir haben eine leichte Abweichung, und wenn wir die nicht korrigieren, wird euer Wiedereintrittskorridor zu flach.« »In Ordnung«, sagte der derzeitige Kommandant. »Was wollen wir dagegen unternehmen?« »Wir haben uns gedacht«, sagte Brand, »daß wir bei etwa 104 Stunden eine Mittkurs-Zündung durchführen. Nur eine kleine, um etwa 20 Meter pro Sekunde.« »O.K.«, sagte Haise. »Klingt gut.« »Die einzige Schwierigkeit dabei ist«, fügte Brand hinzu, »daß wir auch den Druck in eurem superkritischen Heliumtank im Auge behalten und damit rechnen, daß die Membran reißt. Wir wissen nicht genau, wann das passieren wird – möglicherweise bei etwa 105 Stunden. Aber selbst wenn es früher losgeht, sollten wir unserer Ansicht nach genügend ausgepreßten Treibstoff haben, so daß wahrscheinlich alles klargeht.« »Das klingt ebenfalls O.K.«, sagte Haise. Ob dies für Haise tatsächlich O.K. war, ließ sich anhand seines Tonfalls über Boden-Bord-Funk nicht feststellen. Wenn sich die Flugbahn derart geändert hatte, daß eine weitere Zündung erforderlich war, dann handelte es sich keineswegs um eine »leichte Abweichung«. Darüber hinaus dürfte dem LEM-Piloten der Gedanke daran, daß wieder unkontrolliert Gas aus einem der Tanks von Apollo 13 ausgeblasen wurde – diesmal zudem aus der Abstiegsstufe von Haises geschätzter Mondfähre –, gar nicht gefallen.
Zwischen Bodenkontrolle und Raumfahrzeug herrschte Schweigen, als Haise vom linken Pilotenplatz des LEM aus wieder zum Stauraum im hinteren Teil des Cockpits schwebte. Unter den wenigen persönlichen Gegenständen, die die Besatzung mit an Bord genommen hatte, befanden sich auch ein kleiner Kassettenrekorder und eine Handvoll Kassetten mit Songs, die die Astronauten ausgesucht hatten. Niemand hatte erwartet, daß sie auf dem Weg zum Mond viel Zeit zum Musikhören haben würden, aber gegen Ende der Woche, nach dem Umladen der aus der Fra-Mauro-Region mitgebrachten Mondsteine und dem Abtrennen des LEM, gedachte die Crew auf dem Heimflug die Kassetten zu genießen. Jetzt natürlich war die »Aquarius« nach wie vor an die »Odyssey« angekoppelt, und der für die Mondsteine gedachte Stauraum war leer, aber Apollo 13 befand sich zweifellos auf dem Rückflug, und Haise wollte Musik hören. Als Vance Brand nun an seiner CAPCOM-Station saß, wurde das Rauschen in der Funkverbindung nicht etwa von einer besorgten Frage des zeitweiligen Kommandanten unterbrochen, sondern durch die Anfangsakkorde von »The Age of Aquarius«, einem der ersten Stücke auf der Wunschliste der Astronauten. Die Controller im Raum schauten einander an und lächelten. Fred Haise ließ sich anscheinend nicht so leicht aus der Fassung bringen. »He, Fred, hast du eine Frau da oben, oder was?« meldete sich Brand. »Damit könnte ich gar nichts anfangen«, antwortete Haise lachend. »Tja, nachdem du schon so gute Laune hast«, sagte Brand, »will ich dich noch mehr aufmuntern. Jemand hat mir gerade den neuesten Bericht über eure Reserven gereicht, und es sieht so aus, als würdet ihr nur zwischen 11 und 12 Ampere pro Stunde verbrauchen. Das sind zwei Ampere unter dem
errechneten Wert des TELMU, und es sieht richtig gut für euch aus.« »Roger«, sagte Haise. »Außerdem seid ihr aufgrund unserer Flugbahnerfassung jetzt etwa 70000 Kilometer vom Mond entfernt. Wie der FIDO mir mitteilt, heißt das, daß ihr in den Einflußbereich des irdischen Schwerkraftfeldes kommt und allmählich wieder beschleunigt.« »Ich dachte mir doch, daß es langsam Zeit dafür wird«, sagte Haise. »Roger«, sagte Brand. »Wir sind auf dem Heimflug.« »Ganz genau.« Haise stellte seinen Kassettenrekorder etwas leiser, ließ ihn hinter sich in der Luft treiben und schwebte zum Fenster. Wenn Apollo 13 inzwischen tatsächlich das Gravitationsfeld des Mondes verlassen hatte, dann wollte er zumindest einen letzten langen Blick zurückwerfen. Da die Unterseite des LEM auf den Mond gerichtet war und auch die Fenster in die gleiche Richtung wiesen, sollte er freie Sicht auf den Erdtrabanten haben. Und da seine Kollegen schliefen und es bis auf die blechernen Töne aus dem Kassettenrekorder still im Cockpit war, herrschte genau die richtige Atmosphäre für einen Blick zum Abschied. Doch plötzlich schlug die Stimmung um. Haise wollte sich gerade zum rechten Fenster begeben, als ein sattsam bekannter Knall das Schiff erschütterte. Er streckte sofort die Hand aus und hielt sich am Schott fest. Es hatte fast genauso geklungen wie bei der Explosion am Montagabend, auch wenn der Knall zweifellos leiser gewesen war; und die Erschütterung war ebenfalls so ähnlich gewesen, allerdings weniger heftig. Diesmal jedoch war eine andere Stelle betroffen. Wenn Haise sich nicht irrte – und er wußte, daß er recht hatte –, dann war die Erschütterung nicht vom
Versorgungsteil ausgegangen, sondern von der Abstiegsstufe des LEM, direkt unter seinen Füßen. Haise mußte heftig schlucken. Es müßte die Überdruckmembran am Heliumtank gewesen sein. Wenn einem die Bodenstation mitteilte, man müsse mit einem Ausblasen rechnen, und einen Augenblick später knallte und bebte es an Bord, dann konnte man davon ausgehen, daß zwischen beidem ein Zusammenhang bestand. Aber Haise, der die »Aquarius« in- und auswendig kannte, wußte, daß dem nicht so war. Die Druckmembranen klangen nicht so, wenn sie rissen, und es gab auch keine solche Erschütterung. Vorsichtig schwebte er hinauf zu seinem Bullauge, spähte hinaus und erschrak genauso wie vierzig Stunden früher Jim Lovell, als er ausströmendes Gas vor dem Fenster entdeckt hatte. Die dichte weiße Wolke aus eisigen Schneeflocken, die aus der Abstiegsstufe der »Aquarius« entwich, sah ganz und gar nicht so aus wie der feine Heliumdunst, der bei einer gerissenen Membran ausströmte. »O.K. Vance«, sagte Haise so ruhig wie möglich. »Ich habe eben einen leisen Knall gehört. Klang, als wäre es aus der Abstiegsstufe gekommen. Und ich habe wieder Schneeflocken aufsteigen sehen, so ähnliche wie vor ein paar Tagen. Ich frage mich«, sagte er mit hoffendem Unterton, »wie die Druckwerte für das superkritische Helium aussehen.« Brand saß wie erstarrt da. »O.K.«, sagte er. »Habe verstanden, daß du einen Knall und einige Schneeflocken wahrgenommen hast. Wir werden uns die Sache hier unten mal vornehmen.« Die Männer in der Mission Control reagierten auf diese Meldung wie elektrisiert. »Hast du diesen Funkspruch empfangen?« fragte Dick Thorson von der CONTROL-Konsole aus bei Glenn Watkins an, dem Antriebsspezialisten in seinem Unterstützungsteam.
»Habe empfangen.« »Wie steht’s ums Superkritische?« »Unverändert, Dick«, sagte Watkins. »Sicher?« »Sicher. Druck steigt weiter. Das kann es nicht gewesen sein.« »CONTROL, Flight«, meldete sich Gerry Griffin von der Konsole des Flugdirektors. »Sprechen Sie, Flight«, antwortete Thorson. »Haben Sie eine Erklärung für den Knall?« »Negativ, Flight.« »Flight, CAPCOM«, meldete sich Brand. »Los, CAPCOM«, antwortete Griffin. »Weiß jemand, was da geknallt haben könnte?« »Noch nicht«, sagte Griffin. »Und was wollen wir ihm dann mitteilen?« fragte Brand. »Sagen Sie ihm nur, daß es nicht das Helium war.« Während Brand sich wieder mit dem Raumfahrzeug in Verbindung setzte und Griffin auf Konferenzschaltung mit seinen Controllern ging, musterte Bob Hesselmeyer, der TELMU, die Daten auf seiner Konsole. Er überprüfte die Sauerstoffwerte und die Kohlendioxidkonzentration, die Wasserreserven und den Lithiumhydroxid-Vorrat, und dann bemerkte er die Batteriewerte: Die vier kostbaren Energiequellen in der Abstiegsstufe der »Aquarius« konnten auch zusammen kaum genügend Strom für das angeschlagene und überlastete Schiff liefern. Die Werte von Batterie Nummer zwei waren gefährlich tief gesunken und sanken stetig weiter. Wenn die übermittelten Daten in Ordnung waren, dann mußte es, ähnlich wie am Montagabend im Versorgungsteil, irgendwo einen Kurzschluß gegeben haben. Und wenn es einen Kurzschluß gegeben hatte, würde die Batterie bald nicht mehr zur Verfügung stehen, und mit ihr ein Viertel der
Energiereserven, die man in Houston bereits bis zum letzten Ampere eingeteilt hatte. Aber die Daten waren noch zu unvollständig, als daß man Rückschlüsse hätte ziehen können, und so wies Hesselmeyer Griffin nicht darauf hin. Und da Hesselmeyer seine Feststellung Griffin nicht meldete, wurde sie damit auch nicht an die Besatzung weitergeleitet. In diesem Moment war das vermutlich auch gut so. Fred Haise, der am Fenster stand und auf die größer werdende Wolke rund um das Unterteil des LEM blickte, hatte im Augenblick mehr als genug um die Ohren.
11
Mittwoch, 15. April, 13:30 Uhr Don Arabian war in Haus 45, im Mission Evaluation Room oder MER, als in der »Aquarius« Batterie Nummer zwei hochging. Obwohl Arabians Arbeitsräume knapp einen halben Kilometer von der Mission Control entfernt waren – in einem gesichtslosen, barackenartigen Bau, in dem auch Leute wie Ed Smylie arbeiteten –, befand Arabian sich keineswegs am Rande des Geschehens. Er und sein Personal waren mit den gleichen Bildschirmkonsolen ausgestattet wie die Männer in der Mission Control, sie hörten dieselben Gespräche zwischen Raumfahrzeug und Bodenstation mit, sie verfolgten die gleichen vom Schiff übermittelten Telemetriedaten. Der einzige Unterschied war, daß in der Mission Control jeweils ein Mann für einen Bereich der Kommandokapsel oder des LEM zuständig war. Von Arabian aber erwartete man, daß er alles im Auge behielt. Als in der »Aquarius« die Leistung von Batterie Nummer zwei abfiel, wußte er, daß gleich sein Telefon klingeln würde. Don Arabian war der Fachmann für Systeme. Für »Mad Don«, wie man ihn allgemein nannte, und die fünfzig oder sechzig anderen Männer, die im MER arbeiteten, stellten jede Schraube, jeder Bolzen und jedes Geräteteil in einem Raumfahrzeug ein System dar. Eine Brennstoffzelle war ein Energiesystem; das LEM war ein Landesystem; ein Warnlämpchen – bestehend aus Glühfaden, Schraubfassung und Glaskolben – war ein Beleuchtungssystem. Selbst die Astronauten, deren Aufgabe darin bestand, die Knöpfe zu
drücken, damit die anderen Geräte liefen, waren für Arabian und seine Mitarbeiter Systeme. Insgesamt gab es in der Kommandokapsel 5,6 Millionen derartiger Systeme; im LEM waren noch etliche Millionen mehr. Wenn eines davon nicht funktionierte, mußte Don Arabian herausfinden, warum. Als Fred Haise einen Knall in der Abstiegsstufe meldete und die Daten auf dem LEM-Bildschirm im Missionsbeurteilungsraum einen Energieabfall in Batterie zwei anzeigten, machte Arabian sich an die Arbeit. Er war gerade ein paar Minuten dabei, als das Telefon an seiner Konsole klingelte. »MER«, meldete sich Arabian. »Don? Hier Jim McDivitt.« »Wie ich sehe, habt ihr da drüben ein Problem«, sagte Arabian. »Überwachen Sie Batterie zwo?« fragte McDivitt. »Wird überwacht.« »Und was halten Sie davon?« »Ich glaube, ihr habt ein Problem.« Auf der anderen Seite herrschte sorgenvolles Schweigen. »Jim«, sagte Arabian, und fast klang es, als lache er, »haben Sie schon zu Mittag gegessen?« »Äh, nein.« »Na denn, warum kommen Sie nicht vorbei und essen etwas mit mir. Ich bestelle uns eine Pizza, und dann nehmen wir uns die Sache vor.« Arabians Lässigkeit beruhte weniger auf Überheblichkeit als vielmehr auf Zuversicht. Obwohl er bisher kaum Zeit gehabt hatte, sich eingehender mit dem Problem in der »Aquarius« zu befassen, war er sich ziemlich sicher, daß er die Ursache gefunden hatte. Jede der vier Batterien des LEM bestand aus einer Reihe von Zink- und Silberplatten, die in einen Elektrolyten getaucht waren und auf diese Weise Strom
erzeugten. Dabei entstanden als Abfallprodukte Wasserstoff und Sauerstoff. Normalerweise bildeten sich die beiden Gase in so geringen Mengen, daß man sie kaum messen konnte. Aber ab und zu kam es zu einer Überproduktion, und dann konnte es vorkommen, daß die Dämpfe sich in einer Mulde der Batterieabdeckung sammelten. Arabian war diese Mulde nie ganz geheuer gewesen. Wenn Wasserstoff und Sauerstoff sich auf engstem Raum im richtigen Verhältnis mischen, bedarf es nur noch eines winzigen Funkens, und es gibt eine Explosion. In einer Batterie konnte es natürlich am ehesten zu einer Funkenbildung kommen, und als Haise den Knall und die Schneeflocken gemeldet hatte, mußte Arabian sofort an diese Gefahrenquelle denken. Die Batterien, die man bislang in alle Mondfähren eingebaut hatte, waren potentielle Zeitbomben, und nun war eine davon hochgegangen. Die Diagnose war jedoch gar nicht so schlimm. Nachdem er sich mit dem vor Ort weilenden Vertreter der Eagle Picher Company, der Firma, die die Batterien herstellte, zusammengesetzt hatte, kam Arabian zu dem Schluß, daß der dadurch entstandene Schaden am LEM durchaus zu verkraften war. Es war eindeutig eine leichte Explosion gewesen, denn die Batterie funktionierte noch. Noch wichtiger aber war – da die Batterie mit Sicherheit beschädigt war –, daß die übrigen Teile des elektrischen Systems den Ausfall allem Anschein nach ausglichen. Arabian, der Mann von Eagle Picher und ein Elektroingenieur des MER begaben sich in das Konferenzzimmer von Haus 45. Nach wenigen Minuten tauchte auch Jim McDivitt in Begleitung zweier Vertreter von Grumman auf, dem Hersteller der Mondfähre. Kurz danach traf Arabians Pizza ein. »Männer«, sagte der MER-Chef, während er ein Stück Pizza abriß und den Karton quer über den Tisch zu McDivitt schob,
»wir haben uns die Werte angesehen, und die gute Nachricht lautet: Es ist nichts Großartiges.« Er wandte sich an den Ingenieur von Eagle Picher. »Einverstanden?« Der Ingenieur pflichtete bei. »Dann bleibt die Batterie also funktionstüchtig?« fragte McDivitt. »Sollte sie«, erwiderte Arabian. »Und mit der Energie, die uns zur Verfügung steht, können wir den Rückflug schaffen?« »Sollten wir«, sagte Arabian. »Wir verbrauchen ohnehin weniger Ampere, als wir dachten, und wir sollten auch innerhalb der Fehlertoleranz bleiben.« »Dann hat also gar keine Explosion stattgefunden?« fragte der Mann von Grumman. »Oh, natürlich hat es eine Explosion gegeben«, sagte Arabian. »Aber dabei ist nichts… hochgegangen«, half der Mann von Grumman nach. »Aber klar doch«, sagte Arabian, während er seine Pizza vertilgte. »Die Batterie ist hochgegangen.« »Aber müssen wir das wirklich so formulieren? Ich meine, die Batterie funktioniert doch noch. Sie werden die Leute nur unnötig aufregen, wenn Sie sagen, es sei etwas hochgegangen.« »Welche Formulierung würden Sie vorschlagen?« Der Mann von Grumman sagte nichts. »Jetzt hören Sie mal«, sagte Arabian nach kurzem Schweigen, »Sie und ich wissen, daß es zwischen uns keinerlei Probleme gibt. Aber wenn die Batterie Mist baut, dann drücke ich das auch so aus. Und wenn ein Tank Mist baut, dann sage ich das genauso. Und wenn die Crew Mist baut, ebenfalls. Männer, das sind doch bloß Systeme, und wenn man nicht
bereit ist, Fehler einzugestehen, dann kann man sie auch nicht beheben.« Arabian war mit dem ersten Stück Pizza fertig, holte sich ein neues aus dem Karton und warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. An Bord von Apollo 13 gab es noch acht Millionen andere Systeme, die heute seine ganze Aufmerksamkeit erforderten. Er wollte seine kostbare Zeit nicht mit einem Arbeitsessen vergeuden.
Jim Lovell war unangenehm überrascht, als er feststellte, was während seiner Schlafperiode im LEM vorgefallen war. Am Mittwoch morgen um kurz nach zehn hatte er sich durch den Tunnel in die »Odyssey« begeben, und erst kurz vor drei war er wieder heruntergeschwebt. Er hatte seit der Tankexplosion keine viereinhalb Stunden mehr am Stück geschlafen, und da sie in etwa achtundvierzig Stunden landen würden, kam die Ruhepause gerade zum rechten Zeitpunkt. Lovell war wie immer auf diesem Flug vor dem planmäßigen Weckruf von der Bodenstation aufgewacht. Er erhob sich von der eiskalten Couch in der Kommandokapsel, schaute sich mit trübem Blick um und schwebte durch die untere AusrüstungsBucht zum Tunnel. Bevor er jedoch in das LEM hinabtauchte, hielt er inne und dachte nach. Lovell hatte ab und an schon mit dem Gedanken gespielt, gegen eine eiserne Regel bei jedem Raumflug zu verstoßen, und jetzt entschloß er sich dazu. Er öffnete die oberen zwei oder drei Knöpfe seiner Fliegerkombination, griff unter sein Thermo-Unterhemd, tastete nach den biomedizinischen Sensoren, die man ihm am Samstag vor dem Start auf die Brust geklebt hatte, und riß sie mit zusammengebissenen Zähnen ab. Lovells Ansicht nach gab es allerhand Gründe, weshalb die Elektroden weg mußten. Zunächst einmal juckten sie. Der
Klebstoff, mit dem die Sensoren befestigt waren, war vermutlich so verträglich wie möglich, aber nach vier Tagen wurde einem selbst der hautfreundlichste Kleister lästig. Außerdem konnte er Strom sparen, wenn er die Sensoren abmontierte. Das biomedizinische Überwachungssystem, das die Bio-Daten der Astronauten zur Erde funkte, wurde ebenso wie alle anderen Geräte von den vier Batterien der »Aquarius« gespeist, und auch wenn es nicht gerade ein Energiefresser war, verbrauchte es trotzdem Strom. Und schließlich spielte auch die Intimsphäre eine Rolle. Jim Lovell war wie jeder Testpilot stolz darauf, daß man anhand seines Tonfalls keinerlei Gefühlsregung feststellen konnte. Aber nicht alle Körperreaktionen ließen sich willentlich steuern, und selbst der abgebrühteste Pilot hatte schon erlebt, daß es in Notsituationen zu unkontrollierbaren Schweißausbrüchen und beschleunigtem Herzschlag kommen konnte. Lovell wußte nicht, wie hoch sein Puls nach der Explosion am Montagabend gewesen war, aber es wurmte ihn, daß es anscheinend sonst jeder wußte, vom Flugarzt über die FIDOs bis zu den akkreditierten Reportern. Er sah nicht ein, daß seine Pulswerte in alle Welt ausgestrahlt werden sollten, falls es in den nächsten zwei Tagen zu einer weiteren Krise kommen sollte. Nachdem er die Elektroden abgezupft hatte, knüllte er sie zusammen, steckte sie in die Tasche und stieß sich in Richtung der Mondfähre ab. »Morgen«, sagte Haise, als Lovells Kopf aus dem Tunnel ragte. »Sieht so aus, als hättest du endlich ein bißchen geschlafen.« Lovell blickte auf seine Uhr. »Wow«, sagte er. »Sieht ganz so aus.« »Kommt Jack auch runter?« fragte Haise. »Nee.« Lovell schwebte ins Cockpit herunter. »Sägt immer noch vor sich hin. Wie sieht die Lage hier unten aus?«
»Tja«, sagte Haise, »die haben definitiv entschieden, daß wir irgendwann heute nacht eine Mittkurs-Zündung vornehmen sollen. Wahrscheinlich bei etwa 105 Stunden. Unsere derzeitige Flugbahn wird zu flach.« »Hmmm«, meinte Lovell. »Und sie sind ziemlich sicher, daß wir es versuchen werden, bevor das Helium entweicht.« »Wäre sinnvoll.« »Außerdem«, sagte Haise, »sieht es so aus, als hätte es in der Abstiegsstufe einen kleinen Zwischenfall gegeben.« »Einen… Zwischenfall?« »Einen Knall. Und wir haben etwas ausgeblasen.« Der Kommandant warf seinem LEM-Piloten einen langen Blick zu, griff zu seinem Kopfhörer und drückte auf die Sprechtaste. »Houston, hier Aquarius«, meldete sich Lovell. »Roger, Jim«, sagte Brand in Houston. »Guten Morgen.« »Sag mal, Vance, was habt ihr bezüglich des Ausblasens in der Abstiegsstufe festgestellt? War es ein Ausblasen? Blasen wir nach wie vor aus?« Brand, der den Bericht von Arabian und McDivitt aus Haus 45 noch nicht erhalten hatte, wich aus. »Fred hat es gemeldet. Sieht er es immer noch?« Lovell wandte sich mit fragender Miene an Haise. Haise schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte Lovell. »Fred hat nichts weiter gesehen.« »O.K.«, erwiderte Brand kurz angebunden. Lovell wartete, ob der CAPCOM noch etwas hinzufügen wollte, aber Brand sagte nichts mehr. In dem mit allerlei Codes und Kürzeln versetzten Funksprechverkehr zwischen Raumfahrzeug und Bodenstation war dieses Schweigen mehr als vielsagend. Brand wußte noch nicht, was der Knall zu
bedeuten hatte, und er zöge es ganz gewiß vor, wenn der Kommandant nicht weiter nachhakte. Lovell ließ noch einen Augenblick verstreichen und wandte sich dann anderen Dingen zu. »Außerdem höre ich, daß wir damit rechnen müssen, daß das superkritische Helium bei etwa 105 Stunden entweicht«, fuhr Lovell fort. »Eher bei 106 oder 107«, erwiderte Brand. »Und vorher führen wir eine kleine Mittkurskorrektur durch?« »Roger«, sagte Brand. »Das garantiert nicht nur, daß ihr den Treibstoff auspressen könnt, sondern es bedeutet auch, daß eure Lagesteuerungsraketen durch den Überdruck im Heliumtank betriebsbereit sind. Dadurch könnt ihr dagegenhalten, falls ihr durch das Ausblasen ein bißchen herumgestoßen werdet.« »Roger«, wiederholte Lovell skeptisch. »Ich kann dagegenhalten.« Er unterbrach die Verbindung, schürzte die Lippen und kam zu dem Entschluß, daß ihm das soeben Gehörte ganz und gar nicht gefiel. Er spürte, wie er unter der jähen Anspannung die Zähne aufeinanderbiß. Plötzlich meldete sich Brand wieder über seinen Kopfhörer. »Und es gibt im Augenblick noch etwas, Jim. Könntest du den Schalter für deine biomedizinischen Systeme in die andere Richtung kippen? Wir empfangen zwar ein Signal, aber keine Daten.« Lovell schwieg. Brand schwieg ebenfalls. Drei Sekunden vergingen, in denen der Mann, der gelassen an seiner Konsole in der Bodenkontrolle saß, auf eine Antwort aus dem Raumfahrzeug wartete.
»Wißt ihr was, Houston«, sagte der Kommandant schließlich. »Ich habe das biomedizinische Zeug nicht mehr dran.« Lovell blieb in Funkverbindung mit dem Boden und wappnete sich für den Tadel, den er vermutlich gleich zu hören bekommen würde. Statt dessen herrschte ein paar Sekunden lang Schweigen. »O.K.« war alles, was der CAPCOM schließlich sagte. Als in Houston die Nacht anbrach, hatten Lovell, Swigert und Haise an viel mehr zu denken als an die in ein paar Stunden bevorstehende Mittkurskorrektur. Die Mission Control hatte eben beschlossen, die seit Montag abgeschaltete Kommandokapsel für kurze Zeit wieder in Betrieb zu nehmen und die Energie hochzuschalten. Seit die Astronauten vor nahezu achtundvierzig Stunden die Kapsel verlassen hatten und in die Mondfähre umgestiegen waren, war die »Odyssey« mehr und mehr abgekühlt. So schlimm das auch für die Männer in dem relativ gut isolierten Cockpit sein mochte, viel schlimmer war es noch für die in der dünnen Außenhaut des Raumfahrzeugs eingebauten elektronischen Geräte. Bei einer Außentemperatur vom minus 173 Grad ließen sich die elektronischen Eingeweide des Schiffes selbst bei bester passiver Temperaturregelung nicht warmhalten. Aus diesem Grund waren die empfindlichsten Apparaturen an Bord mit zusätzlichen Heizelementen ausgerüstet, die sich automatisch ein- und wieder ausschalteten, aber seit dem Abschalten der »Odyssey« waren auch die Heizelemente außer Betrieb. Kaum eines der zig Millionen Systeme an Bord der Kommandokapsel war so kälteempfindlich – und zugleich so wichtig für den Wiedereintritt – wie die Lagesteuerungsraketen und die Kreiselplattform. Die Steuerdüsen der Kommandokapsel liefen genau wie die Raketen des LEM mit Flüssigtreibstoff, der als Gas ins All ausgeblasen wurde. Wie
jede Flüssigkeit durfte er nur eine ganz bestimmte Zeit der Kälte ausgesetzt werden, sonst erstarrte er und war für die Raketen nicht mehr zu gebrauchen. Noch empfindlicher war das Trägheitsführungssystem. Wenn das Gerät soweit abkühlte, daß das Schmiermittel für die drei Kreisel zu zähflüssig wurde, funktionierte die Plattform nicht mehr genau. Zumal sich gleichzeitig die fein gerändelten Beryllium-Komponenten verzogen, so daß das genauestens vermessene Instrument noch mehr aus dem Gleichgewicht geriet. Am Mittwochabend, als abzusehen war, daß die Kommandokapsel weitere vierundzwanzig Stunden durch das eiskalte All fliegen mußte, beschloß Gary Coen – der Führungs-, Navigations- und Leit-Offizier oder GNC – sich zu erkundigen, wieviel Kälte die Systeme unbeschadet aushalten konnten. Zuerst wandte er sich an den vor Ort anwesenden Vertreter der Firma, die das Trägheitsführungssystem hergestellt hatte. »Sie müssen etwas für mich erledigen«, sagte Coen zu dem Gastingenieur, nachdem er in den GNC-Nebenkontrollraum geeilt war, wo die Repräsentanten der Herstellerfirmen saßen. »Ich brauche Einsicht in Ihre Firmenunterlagen, um festzustellen, welche Erfahrungen Sie bei der Inbetriebnahme eines völlig kalten Trägheitsführungssystems gemacht haben.« »In völlig kaltem Zustand?« fragte der Ingenieur. »Völlig«, sagte Coen. »Ohne Heizelemente.« »Das wird nicht einfach sein. Diesbezügliche Erfahrungen liegen nicht vor.« »Gar keine?« fragte Coen. »Gar keine. Wozu auch? Das Gerät wird normalerweise beheizt. Wir wissen bereits, daß das Ding nicht funktioniert, wenn man ohne Heizelemente fliegt.« »Dann gibt es also nicht die geringsten Erfahrungswerte?« fragte Coen.
»Nun ja«, sagte der Ingenieur nach kurzer Pause, »einer unserer Mitarbeiter hat abends mal ein Führungssystem mit nach Hause genommen und es versehentlich über Nacht in seinem Kombi gelassen. Es ist bis auf minus ein Grad abgekühlt, war aber tags darauf sofort wieder funktionstüchtig.« Coen schaute den Mann an. »Das ist alles?« Der Mann zuckte die Achseln. »Tut mir leid.« Da mehr Erfahrungswerte nicht zur Verfügung standen, wußte der GNC, daß es nur eine Möglichkeit gab. Irgendwann vor dem Wiedereintritt mußten die Hitzesensoren und die Telemetrie in der Kommandokapsel für kurze Zeit eingeschaltet werden, um den Zustand dieser Geräte zu überprüfen. Falls die Systeme zu weit abgekühlt waren, mußte man sie eventuell beheizen. Das Hochfahren der Energie in der Kommandokapsel ginge natürlich – auch wenn man nur kurz die Temperatur an Bord messen wollte – zu Lasten der für den Wiedereintritt wichtigen Batterien. Aber da man die Batterien notfalls über das LEM wieder aufladen konnte, ließen sich eventuell ein oder zwei Ampere erübrigen. Am Mittwochabend um 19 Uhr wurde Swigert aufgefordert, die Kommandokapsel vorübergehend wieder in Betrieb zu nehmen. »Aquarius, hier Houston«, meldete sich Vance Brand an der Konsole des CAPCOM. »Schießt los, Houston«, antwortete Lovell. »Während wir uns für die Mittkurs-Zündung bereit machen, haben wir hier einen Plan zum Hochfahren der Energie und zum Einschalten der Instrumente in der Kommandokapsel, damit wir die Telemetrie überprüfen können.« »Heißt das, wir sollen die Kommandokapsel einschalten?« »Wird bestätigt«, sagte Brand.
Lovell unterbrach die Verbindung mit der Bodenstation und wandte sich zu Swigert um, der in den Nahrungsbeuteln herumgekramt und eine Bestandsaufnahme gemacht hatte. Swigert blickte ebenso überrascht auf. »Hast du das mitbekommen?« fragte der Kommandant. »Sicher«, antwortete Swigert. »Ich nehme bloß an, es handelt sich um einen Irrtum.« »Überzeugen wir uns«, sagte Lovell und ging dann wieder auf Sendung. »O.K. Houston. Jack holt sich ein Blatt Papier und notiert sich alle Betriebsverfahren, die ihr für ihn habt.« Swigert schnappte sich den Flugplan, holte einen Stift aus seiner Ärmeltasche und meldete sich persönlich. »Vance, hier ist der dritte Offizier der LEM-Besatzung, bereit zum Empfang«, sagte er. »In Ordnung, Jack, das ist ein etwas längeres Verfahren. Du wirst wahrscheinlich zwei bis drei Blatt brauchen.« Während Brand diktierte, schrieb Swigert wie wild mit, aber es war ein mühseliges Unterfangen. Es galt, Batterien in Betrieb zu nehmen, Stromsammelschienen anzuschließen, Inverter hinzuzuschalten, Sensoren zu aktivieren, Antennen auszurichten, die Telemetrie anzustellen. Im Gegensatz zu allen Reaktivierungsmaßnahmen, die Swigert geübt hatte, handelte es sich diesmal um eine reine Improvisation, ein teilweises Hochfahren der Energie, an das er nicht einmal zu denken gewagt hätte. Doch knapp eine halbe Stunde später hatte Swigert alle Vorgaben notiert. Er nahm den Kopfhörer ab und sprang durch den Tunnel hinauf zur »Odyssey«, um Brands Anweisungen auszuführen. Lovell und Haise, die unten in der »Aquarius« blieben, hatten keine Ahnung, was Swigert machte. Nur ab und zu hörten sie, wie er einen Schalter umlegte oder auf einen Knopf drückte. Ganz anders unten am Boden. Am Mittwoch abend um 19 Uhr hatte Griffins Team Dienst. Das hieß, daß Buck Willoughby an
der GNC-Konsole saß, Chuck Deiterich an der RETROKonsole, Dave Reed der FIDO war und Sy Liebergot – der den Platz mit John Aaron vom Tiger Team getauscht hatte – der EECOM. Auf Liebergots Bildschirm, wo während der letzten zwei Tage nur Nullen geblinkt hatten, flackerten jetzt Bildpunkte auf. Binnen kürzester Zeit wurden daraus Zahlen, und die Zahlen ergaben solide, zufriedenstellende Daten. »Empfängst du diese Werte?« fragte Liebergot Dick Brown im EECOM-Nebenkontrollraum. »Bestätigt.« »Sieht sehr gut aus«, sagte Liebergot. »Sehr gut«, pflichtete Brown bei. Auf anderen Bildschirmen im Raum tauchten ähnliche Angaben für die Steuerraketen, die Treibstoffleitungen und das Führungssystem auf. Die Controller an den Konsolen, die sich bereits mit dem Verlust der »Odyssey« abgefunden hatten, waren ebenso gebannt wie der EECOM. Swigert beendete derweil seine Arbeit in dem Raumfahrzeug, tauchte durch den Tunnel hinab in das LEM und setzte seinen Kopfhörer auf. »In Ordnung, Vance«, meldete er sich. »Ich habe sämtliche Betriebsverfahren ausgeführt. Wie sieht es mit eurem Empfang aus?« »O.K. wir empfangen tatsächlich Daten von euch, Jack«, erwiderte Brand. »Und wie sieht es mit der Telemetrie der alten ›Odyssey‹ aus?« Brand überflog die Angaben auf seinem Bildschirm und hörte sich die Berichte an, die von den anderen Controllern auf dem Anschluß des Flugdirektors eingingen. »Sieht nicht zu kalt aus«, sagte er nach kurzer Pause. »Sieht sogar ziemlich gut aus. Die Temperaturen bewegen sich zwischen plus 30 und minus 6 Grad, je nach Sonneneinfall. Es sieht also nicht schlimm aus.«
»Roger. Besten Dank«, sagte Swigert. »Jetzt möchten wir, daß du zurückgehst und gemäß der Abschaltverfahren wieder alles stillegst.« »Roger«, sagte Swigert, der bereits seinen Kopfhörer abnahm. »Bin schon unterwegs.« Als Jack Swigert durch den Tunnel verschwand, ließ Jim Lovell sich nach hinten treiben und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Er war erleichtert über den Zustand der Kommandokapsel – aber nur ein bißchen. Die Temperaturangaben aus dem Schiff waren zweifellos verheißungsvoll, lagen aber teilweise dennoch 6 Grad unter dem Gefrierpunkt, und dies war in Anbetracht der kälteempfindlichen Geräte alles andere als optimal. Außerdem war, auch wenn die Kommandokapsel zumindest vorübergehend intakt wirkte, die Mondfähre nicht in Ordnung. Kurz vor dem Wiedereinschalten der »Odyssey« hatte sich Brand wieder gemeldet und Lovell schließlich doch noch mitgeteilt, daß der Knall und die von Haise beobachteten Schneeflocken auf eine Explosion in Batterie Nummer zwei der Abstiegsstufe zurückzuführen seien. Zwar fügte der CAPCOM gleich hinzu, nach Ansicht von Don Arabian handle es sich um ein nur geringfügiges Problem, aber dem Kommandanten war dennoch nicht ganz wohl zumute. Aufgrund der schwachen Batterie leuchtete am Armaturenbrett ständig ein Alarmlämpchen auf, und da die Ingenieure nicht vorausgesehen hatten, daß die Batterie hochgehen würde, traute Lovell auch ihren jetzigen optimistischen Prognosen nicht. Zudem machte Lovell sich wegen der Mittkurs-Zündung Sorgen. Selbst wenn die Batterie im LEM genug Strom liefern sollte, und auch wenn die Kommandokapsel so warm bliebe, daß sie zu gegebener Zeit funktionierte, wäre damit niemandem gedient, wenn das Raumfahrzeug nicht möglichst
rasch in den Wiedereintrittskorridor gesteuert würde. Lovell betätigte die Sprechtaste, um sich bei Brand zu melden und ihn zu fragen, wann genau man in Houston von der Besatzung erwartete, daß sie mit der Vorbereitung für die Zündung beginne. Doch bevor er auf Sendung gehen konnte, funkte Brand das Schiff an. Offenbar beschäftigte den CAPCOM der gleiche Gedanke. »O.K. Jim, wir möchten, daß ihr Seite 24 eures Systembuchs aufschlagt und euch für ein Wiedereinschalten bei 105 Stunden bereitmacht.« »O.K. Vance«, sagte Lovell und griff dankbar nach dem Buch. »Mittkurs bei 105. Ich gehe auf Seite 24.« »Nun sieht die Situation im Augenblick so aus«, sagte Brand, »daß wir gegenwärtig ein bißchen flach fliegen, und eine 14 Sekunden lange Brennphase mit einer Schubkraft von 10 Prozent wird uns mitten in den Korridor führen.« »Roger. Verstehe.« Lovell holte einen Stift aus der Tasche an seinem Ärmel und schrieb mit. »Wir wollen das Raumfahrzeug nicht komplett einschalten, also keinen Computer oder Flugzeitnehmer. Wir nehmen einfach eine manuelle Zündung vor, bei der du das Triebwerk über die Start- und Stop-Knöpfe regelst.« »Roger«, sagte Lovell, der immer noch mitschrieb. »Und was die Lage angeht, da wollen wir das Raumfahrzeug per Handsteuerung so ausrichten, daß die Erde bei euch in Fenstermitte steht. Stellt eure Optik so ein, daß die horizontale Linie des Fadenkreuzes parallel zur Beleuchtungsgrenze der Erde liegt. Wenn ihr sie während der ganzen Brennphase so haltet, wird die Lage korrekt sein. Hast du das?« »Ich glaube schon.« Lovell schrieb auch diese Anweisung auf, aber nachdem ihm deren Sinn klargeworden war, hielt er inne. Wenn die Energie im LEM nach der PC+2-Zündung heruntergeschaltet worden
war, dann war auch das Trägheitsführungssystem stillgelegt. Dadurch war die Ausrichtung hinfällig, deren Daten Lovell am Montagabend so mühsam aus der Kommandokapsel übernommen und deren Einstellung er am Dienstag nicht minder mühselig überprüft hatte. Bei der langen Brennphase zum Einschuß in die Freiflugbahn oder der noch längeren PC+2-Brennphase wäre dies katastrophal gewesen, vor der kurzen, ganze 14 Sekunden dauernden Brennphase zur Mittkurskorrektur, zu der man Lovell jetzt auffordern würde, stellte dies jedoch kein großes Problem dar. Dafür brauchte man nur eine ungefähre Ausrichtung mit einer Fehlertoleranz von bis zu 5 Grad. »He«, sagte er zu Brand, »das klingt ja genau wie das, was wir uns seinerzeit bei Apollo 8 ausgedacht haben.« »Ja, wir haben uns schon alle gefragt, ob du dich wohl dran erinnern würdest. Und weiß Gott, so ist es«, sagte Brand. »Und Fred, wenn Jim die Erde im Fenster stehen hat, solltest du durch das Teleskop auch die Sonne sehen können. Sie müßte ganz oben im Blickfeld sein, genau auf Cursormitte. Dies würde bestätigen, daß eure Lage korrekt ist.« »Ich verstehe, Vance«, sagte Haise. »Freddo«, sagte Lovell an Haise gewandt, »was sagst du, wenn wir die PTC stoppen und uns auf die Suche nach der Erde begeben?« »Jederzeit, wenn du bereit bist.« Lovell brauchte ein paar Minuten, bis er die Checkliste auf Seite 24 durchgelesen hatte, dann aktivierte er alle für die Zündung erforderlichen Geräte, darunter auch die Trennschalter für die Lagesteuerungsraketen. Als er damit fertig war, umfaßte er den Steuergriff und zog ihn leicht nach rechts, so daß die in Gegenrichtung zur Drehbewegung des Schiffes wirkenden Düsen eingesetzt wurden. Erstaunlich mühelos kam die »Aquarius« zum Stillstand. Swigert, der sich
auf der anderen Seite des Tunnels befand, spürte das Grollen und erriet, was seine Kollegen vorhatten. Er schaltete noch die letzten paar Geräte ab, schwebte zurück in das LEM und nahm wieder seinen Platz auf der Triebwerksabdeckung ein. Als Lovell das Raumfahrzeug auf der Suche nach dem Heimatplaneten herumzog, beugte Haise sich an sein Dreiecksfenster. »Wow!« rief er Lovell zu. »Ich habe die Erde.« »Ich auch«, antwortete Lovell. »Du hast diese Manöver allmählich ganz gut drauf, Jim.« Lovell sah zu, daß sein Sextant auf die Erde ausgerichtet blieb, und Haise blickte durch sein Teleskop. Wie Houston versprochen hatte, stand die Sonne genau auf Cursormitte. »Houston«, meldete er sich. »Jim hat die Ausrichtung auf die Erde, und ihr habt recht: Die Sonne ist auf AOT.« »Roger. Gut gemacht, 13«, antwortete der CAPCOM. Anhand der Stimme erkannte Haise, daß Brand in den letzten paar Minuten von Jack Lousma an der Konsole abgelöst worden war. »Wenn die Lage eurer Meinung nach O.K. ist, nun, dann könnt ihr euch von mir aus aussuchen, wann ihr zünden wollt.« Lovell blickte auf seine Uhr. Es war noch nicht einmal annähernd Zeit für die Zündung. »Wir führen doch einen Countdown durch, oder?« fragte er. »Oder sollen wir einfach irgendwann anfangen?« »Könnt ihr euch aussuchen«, antwortete Lousma. »Ihr macht es euch leicht.« »Es kommt nicht auf den Zeitpunkt an, Jim.« »Ich verstehe.« Lovell wandte sich an seine Kollegen. »Seid ihr bereit, es zu versuchen?« Haise und Swigert nickten.
»In Ordnung«, sagte der Kommandant. »Jack, da wir keine Uhr für den Countdown haben, mußt du die Zeit für die Brennphase mit deiner Uhr nehmen. Wir brennen 14 Sekunden lang mit 10 Prozent. Freddo, da wir keinen Autopiloten haben, nimmst du den Steuergriff und achtest darauf, daß wir nicht zu sehr eiern. Nicken und Rollen regle ich von meiner Steuerung aus, und ich kümmere mich auch um Zündung und Brennschluß. Verstanden?« Wieder nickten Haise und Swigert. »Ich hoffe nur, die Jungs, die sich das ausgedacht haben, wissen, was sie tun«, murmelte Lovell. »Houston«, meldete er sich dann, »sagen wir doch einfach, wir zünden in zwei Minuten.« »Roger. Zwei Minuten. Haben verstanden.« Lovell stellte die Schubregelung auf 10 Prozent, legte die Hand über die Start- und Stop-Knöpfe und ergriff mit der anderen die Lagesteuerung. Rechts von ihm achtete Haise darauf, daß die Erde auf Fenstermitte stand, und umfaßte mit der rechten Hand seinen Steuergriff. Swigert hatte den Blick auf die Uhr geheftet. »Zwei Minuten von meinem Zeichen ab«, sagte er. »Ab jetzt.« Sechzig Sekunden Stille verstrichen. »Eine Minute«, verkündete Swigert. »Eine Minute«, meldete Haise an die Bodenkontrolle. »Roger«, antwortete Houston. »Fünfundvierzig Sekunden«, sagte Swigert. »Dreißig Sekunden.« Dann: »Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins.« Lovell drückte auf den roten Knopf und spürte einmal mehr das Vibrieren des Triebwerks unter seinen Füßen. »Zündung«, sagte der Kommandant zu seinen Kollegen.
Swigert achtete auf den Sekundenzeiger seiner Uhr. »Zwei Sekunden, drei Sekunden.« Haise stand am Fenster und starrte auf die Erde. Der Planet wich nach links ab, und der LEM-Pilot steuerte mit den Düsen gegen, bis sie wieder auf Mitte stand. »Beim Gieren festhalten«, murmelte er. »Fünf Sekunden, sechs Sekunden«, sagte Swigert. »Nicken und Rollen O.K.«, sagte Lovell, als der Planet vor seinem Sextanten tanzte. »Acht Sekunden, neun Sekunden«, rief Swigert. »Dranbleiben«, sagte Lovell. Der Planet ruckelte leicht weg, aber der Kommandant zog das Raumfahrzeug hoch und fing ihn wieder ein. »Bleibe dran«, sagte Haise. »Zehn, elf«, zählte Swigert. »Gleich haben wir’s, Fred«, sagte Lovell und legte den Zeigefinger auf den Stop-Knopf. »Zwölf, dreizehn.« Der Planet zitterte wieder. Vierzehn Sekunden. Lovell drückte kräftig auf den Knopf, viel kräftiger als notwendig. »Brennschluß!« rief er. »Brennschluß!« wiederholte Haise. Sofort verstummte das Triebwerk der Mondfähre, und das Vibrieren hörte auf. Durch den Sextanten sah man die Erdsichel genau oberhalb der horizontalen Linie des Fadenkreuzes stehen. »Houston, Brennphase beendet«, verkündete Lovell. »O.K. Jungs«, erwiderte Lousma. »Gute Arbeit.« Lovell warf einen weiteren Blick durch sein Meßkreuz, dann auf das dunkle Armaturenbrett und schließlich wieder durch das optische Gerät auf die ferne, etwa groschengroße Erde.
»Ich möchte, daß jeder in diesem Raum seine derzeitige Tätigkeit beendet und nach Hause geht.« Kranz stand an der Stirnseite von Zimmer 210 und hoffte, daß man ihn trotz des Stimmengewirrs der etwa zwei Dutzend über ihre Computerausdrucke und Energieberechnungen gebeugten Controller verstand. Soweit er feststellen konnte, hatte ihn niemand gehört. »Ich möchte, daß jeder in diesem Raum seine derzeitige Tätigkeit beendet und nach Hause geht«, wiederholte er etwas lauter. Wieder reagierte niemand. »He!« brüllte der ehemalige Air-Force-Mann. Diesmal hielten die Controller inne und wandten sich ihm zu. »Das Tiger Team macht Feierabend. Ich erwarte, daß sich jeder von Ihnen sechs Stunden aufs Ohr legt, und ich möchte vor morgen früh niemanden hier sehen.« Für kurze Zeit herrschte Stille im Raum, dann machten ein paar Controller Anstalten zu widersprechen. Nach einem Blick zu Kranz jedoch überlegten sie es sich anders. Der leitende Flugdirektor dachte offensichtlich nicht daran, sich irgendwelche Einwände anzuhören. Es war Donnerstag morgen, kurz nach Mitternacht, sechsunddreißig Stunden vor der Landung, und von wenigen Gelegenheiten abgesehen, hatte das Tiger Team Zimmer 210 seit Montag nacht nicht mehr verlassen. Seinerzeit hatten sie sich hierher zurückgezogen, um eine Möglichkeit zu finden, wie man die Kommandokapsel mit dem nur für drei Stunden reichenden Strom, den die für den Wiedereintritt vorgesehenen Batterien lieferten, in Betrieb nehmen und fliegen konnte. Heute nacht sah es so aus, als hätten sie zumindest dieses Problem gelöst. Natürlich war John Aaron die Aufgabe zugefallen, den Energieverbrauch der »Odyssey« einzuteilen. Viele Controller im Raum glaubten nicht, daß Aaron eine derartige Energieeinsparung gelingen könnte. Doch mit der Zeit
deuteten die bunt ausgemalten Tabellen und Diagramme des leitenden EECOM ganz auf einen Erfolg hin. Aaron verrichtete aber nur die eine Hälfte der in Zimmer 210 anfallenden Arbeit. Ebenso wichtig war es, den genauen Stromverbrauch eines jeden einzelnen Systems in der Kommandokapsel festzustellen, damit man wiederum festlegen konnte, in welcher Reihenfolge sie zugeschaltet werden sollten. Bei einem normalen Flug hielt man sich beim Einschalten der Kommandokapsel an einen festgelegten Plan, aber bei Apollo 13 galt keine Normalität mehr, und da bei diesem Energiehochfahren eine Vielzahl von Systemen auf der Strecke würde bleiben müssen, mußte eine völlig neue Checkliste angelegt werden. Diese Aufgabe fiel Arnie Aldrich zu. Aldrich kannte die Kommandokapsel so gut wie kaum ein anderer Ingenieur am Space Center, und ihm war klar, daß für ihn wie auch für John Aaron Einsparen das oberste Gebot war. Sobald Aaron den zulässigen Stromverbrauch eines Systems oder Subsystems errechnet hatte, reichte er die Aufstellung an Aldrich weiter, der daraufhin eine Schaltfolge entwarf, die sich an diesen Einschränkungen orientierte. Kurz nach der Mittkurskorrektur und anderthalb Tage vor der Landung war die gesamte Checkliste – alles in allem weit über zehn Seiten mit Hunderten von Einzelschritten – komplett. Deshalb wollte Kranz sein Team endlich über Nacht nach Hause schicken. Kurz bevor er seine Ankündigung machte, mußten sich Aaron und Aldrich noch einer Aufgabe zuwenden, die, wie sie wußten, einen Sturm der Entrüstung hervorrufen würde. Den abfallenden Energiekurven nach zu urteilen, würde der vorhandene Strom gerade noch reichen, um die Kommandokapsel notdürftig wieder in Betrieb zu nehmen, vorausgesetzt, ein System bliebe abgeschaltet: Die Telemetrie,
durch deren Datenübermittlung die Controller und die Astronauten wußten, ob sie alles richtig machten. Als die letzten Seiten der Checkliste fertiggestellt waren, riefen Aaron und Aldrich die anderen Mitglieder des Tiger Teams zusammen, um ihnen ihr Vorhaben zu erklären. »Gentlemen«, begann John Aaron, als er am Kopfende des Konferenztisches in Zimmer 210 Platz nahm. »Arnie und Gene und ich haben mit den Zahlen hin- und herjongliert. Und wir sind jetzt mit der Checkliste zwar ziemlich zufrieden, aber es gibt da einen kleinen Haken.« Er hielt einen Augenblick inne. »Den bisherigen Ampere-Angaben nach zu urteilen, sieht es so aus, als müßten wir die Energie blind hochschalten.« »Und das heißt?« fragte jemand. »Keine Telemetrie«, sagte Aaron kurzum. Die Proteste, die sich rund um den Tisch in Zimmer 210 erhoben, trafen Aaron, aber sie überraschten ihn nicht. »John, damit fordern wir die Komplikationen geradezu heraus«, wandte jemand ein. »Wenn wir es nicht machen, fordern wir noch mehr heraus«, gab Aaron zurück. »Aber so etwas hat noch nie jemand versucht. An so etwas hat noch nicht einmal jemand zu denken gewagt.« »Wäre nicht das erste Mal, daß bei diesem Flug etwas irregulär ist«, bemerkte Aaron. »Das ist nicht nur irregulär, John«, wehrte sich ein anderer. »Das ist schlichtweg fahrlässig. Angenommen, irgendein System überhitzt und brennt durch. Wir würden es erst erfahren, wenn es zu spät ist.« »Und angenommen, wir verbrauchen unseren ganzen Saft fürs Überwachen der Systeme und haben dann nicht mehr genug übrig, um sie in Betrieb zu nehmen?« entgegnete Aaron. »Wo stehen wir dann?«
Das Gemurre am Tisch ging weiter, und Aaron, das wurde deutlich, hatte sich noch nicht durchgesetzt. Er klappte seine Energiediagramme auf, betrachtete sie lange, und mit einem Mal schien er etwas zu bemerken. »Wartet mal kurz«, sagte er und blickte mit einem beschämten Lächeln auf, als wollte er sagen: Wie konnte ich das bloß übersehen. »Wie wär’s mit was anderem. Wie wär’s, wenn wir noch ein paar Ampere einsparen, damit wir die Telemetrie ein paar Minuten anschalten und die Systeme überprüfen können, wenn alles andere in Betrieb ist. Ich gebe zu, es ist nicht so gut wie eine laufende Überwachung, aber zumindest hätten wir dadurch die Möglichkeit, eventuelle Probleme festzustellen, bevor irgendwelcher Schaden entstehen kann. Wie wäre es damit?« Die Männer am Tisch blickten zu Aaron, dann sahen sie einander an. Daß es ein Zugeständnis war, ließ sich nicht leugnen, und nach und nach erklärten sich die Mitglieder des Tiger Teams damit einverstanden.
Um drei Uhr morgens stellte Fred Haise fest, daß er Fieber bekam. Es fing an wie üblich: Mit Schwindelgefühl, aschgrauer Haut und Gliederschmerzen. Das war zwar unerfreulich, überraschte Haise aber nicht weiter. Schon gestern morgen hatte er erste Anzeichen einer beginnenden Krankheit bemerkt, als er – was in den vergangenen Tagen nicht oft vorgekommen war – pinkeln wollte und plötzlich heftige Schmerzen verspürt hatte. Natürlich hatte keiner der drei Männer an Bord von Apollo 13 in letzter Zeit viel gepinkelt, und der Grund dafür war ganz einfach: Sie hatten nicht viel getrunken. Gleich zu Beginn der Krise hatten die TELMUs den Astronauten erklärt, daß ihre
Wasserreserven äußerst knapp seien. Da das Wasser in der »Odyssey« rasch gefror, mußten sie mit den Vorräten der »Aquarius« auskommen. Aber da der dortige Tank zugleich auch das Kühlsystem speiste, mußten sie ihren Trinkwasserverbrauch knapp bemessen. Gingen sie zu sorglos mit den Reserven um, dann stillten sie ihren Durst womöglich auf Kosten der Technik, die sie am Leben erhielt. Die Astronauten waren sich sehr wohl bewußt, daß eine derartige Einschränkung ernstliche Folgen nach sich ziehen könnte. Während der Ausbildung hatten die NASA-Ärzte ein ums andere Mal darauf hingewiesen, daß ihr Körper im All keine Giftstoffe ausscheiden könne, wenn sie nicht genug Wasser zu sich nähmen. Und wenn sie die Giftstoffe nicht ausschieden, würden die schädlichen Rückstände sich in ihren Nieren ansammeln und eine Infektion verursachen, die sich zunächst durch Schmerzen beim Wasserlassen und dann durch Fieber äußerte. Bereits am Mittwochmorgen um zehn Uhr hatte Haise leichte Anzeichen eines Fiebers festgestellt, und jetzt, am Donnerstag morgen – knapp dreißig Stunden vor dem möglicherweise gefährlichsten Wiedereintritt in der Geschichte der Mondflüge –, spürte er es zum zweitenmal. Jim Lovell fiel auf, wie blaß sein Kollege war. »He, Freddo, ist mit dir alles in Ordnung?« »Ja, klar«, murmelte Haise. »Mir geht’s gut. Warum?« »Weil du alles andere als gut aussiehst, darum.« »Na ja, es ist aber so.« »Soll ich das Thermometer holen, Fred?« fragte Swigert. »Es ist oben im Sanitätskasten.« »Nein, nicht nötig.« »Bist du sicher?« fragte Swigert. »Absolut.« »Es macht keine Mühe.«
»Ich habe gesagt, es geht mir gut«, wiederholte der LEMPilot mit Nachdruck. »O.K.«, sagte Swigert und warf Lovell einen Blick zu. »O.K.« Lovell betrachtete seine beiden Kollegen und überlegte, was er unternehmen könnte, doch bevor er zu einem Entschluß kam, wurde er in seinen Gedanken unterbrochen. Unter dem Boden des LEM ertönte ein dumpfer Schlag, gefolgt von einem Zischen, und dann wurde das Cockpit von einem weiteren Knall und einem leichten Vibrieren erschüttert. Lovell beugte sich sofort zum Fenster. Unter dem Raketenbündel links außen sah er die nur allzu vertrauten Eiskristalle aufsteigen. Einen Moment lang war Lovell verdutzt, dann fiel ihm sofort wieder ein, was das Geräusch und das Ausblasen bedeuteten. »Damit«, sagte er an seine Kollegen gewandt, »hätten wir keine Probleme mehr mit dem Helium.« »Wurde auch Zeit«, sagte Haise mit einem Blick auf seine Uhr. »Aquarius, hier Houston«, meldete sich Jack Lousma. »Ist euch in der letzten Sekunde etwas aufgefallen?« »Ja, Jack«, antwortete Lovell. »Ich wollte mich gerade bei dir melden. Mir ist aufgefallen, daß unter Quadrat vier allerhand Geblubber abgegangen ist. Ich vermute, das war das Helium.« »Roger«, sagte Lousma. »Die Angaben hier zeigen an, daß euer Druck bis auf 1921 Pfund gestiegen war und jetzt auf 600 runter ist, bei rasch fallender Tendenz.« »Nun ja, das hört man gern«, sagte Lovell. »Aber das heißt wahrscheinlich, daß wir Probleme bekommen, wenn wir die passive Temperaturregelung wiederaufnehmen wollen.« Als der Kommandant aus seinem Fenster auf die sich ausbreitende Heliumwolke blickte, sah er, daß Erde und Mond, die sich bei der PTC-Rotation nach der letzten Brennphase ungefähr in
Fenstermitte bewegten, merklich verschoben hatten. Jetzt stand die Erde höher, während der Mond tiefer sank, und beide drohten gänzlich aus seinem Blickfeld zu entschwinden. »Sieht so aus, als hätte das Ausblasen meinem Gieren entgegengewirkt und die Neigung etwas verändert. Nennen die so was ein rückstoßfreies Entweichen?« »Genau«, sagte Lousma. »Dann möchte ich keines mit Rückstoß sehen.« »Das gilt für uns beide.« »Tja, der Druck sinkt jetzt auf unter 50 Pfund. Seht ihr jetzt weniger Geblubber?« Lovell blickte aus dem Fenster. »Ja«, sagte er, »weit weniger.« »O.K.«, sagte Lousma. »Warum überwacht ihr im Augenblick nicht einfach die Position des Raumfahrzeuges, achtet darauf, wie sich Nicken und Gieren entwickeln und haltet uns auf dem laufenden? Wir äußern uns dann später dazu, ob wir eine Wiederaufnahme der PTC für richtig halten.« »Roger. Wir überwachen.« Lovell blieb am Fenster, schlang wegen der Kälte im Cockpit die Arme um den Oberkörper und sah zu, wie Erde und Mond vorbeiglitten. Die Bewegung der beiden Himmelskörper hatte etwas beinahe Hypnotisches an sich, und Lovell stellte fest, daß ihn in dieser Zeit der Untätigkeit am frühen Donnerstag morgen eine merkwürdige Ruhe überkam. Er wußte, daß er in den nächsten ein, zwei Stunden wieder die Lagesteuerungsraketen betätigen und einmal mehr die langweilige Prozedur der PTC-Rotation durchführen mußte, doch darüber machte er sich im Augenblick wenig Gedanken. Während der Kommandant aus dem linken Bullauge blickte, wurden die beiden anderen Besatzungsmitglieder anscheinend von der gleichen seltsamen Gelassenheit erfaßt und beschlossen, eine nicht vorgesehene Ruheperiode einzulegen.
Haise, der sich wegen seines Fiebers nicht in die Kommandokapsel begeben wollte, zog sich ein Stück in den Tunnel zurück, so daß sein Kopf über der Abdeckung des Aufstiegstriebwerks hing, und schlief auf der Stelle ein. Swigert nahm die von Haise verlassene Position des LEMPiloten an Steuerbord ein, rollte sich am Boden zusammen und schlang einen Draht um seinen Arm, damit er an Ort und Stelle blieb. Lovell sah zu, wie die beiden sich zur Ruhe legten, und meldete sich nach einer Weile bei der Bodenkontrolle. »Houston«, sprach er leise in sein Mikrophon. »Hier Houston«, antwortete Lousma, der unwillkürlich ebenfalls die Stimme senkte. »Wie geht es dir, Jim?« »Nicht schlecht. Überhaupt nicht schlecht.« »Bist du allein da oben, oder sind Jack und Fred bei dir?« »Jack und Fred schlafen, und im Augenblick«, sagte Lovell mit einem Blick auf Erde und Mond, deren Lage sich jetzt stabilisierte, »sieht es nicht so aus, als hätten wir bezüglich der PTC Schwierigkeiten.« »Gut. Von uns aus sieht auch alles ziemlich problemlos aus. Wir behalten das im Auge und sagen dir Bescheid, falls weitere Verfahren anstehen.« »Roger«, sagte Lovell. »Genaugenommen«, fügte Lousma hinzu, »gibt es ein Verfahren, das wir durchsprechen könnten, falls du Zeit dazu hast. Die Lenk-Offiziere haben mir gerade ein paar Notizen überreicht, über die du dir ein paar Gedanken machen sollst.« Der CAPCOM schwieg kurz. »Was hältst du davon, wenn wir ein paar Ideen bezüglich Wiedereintritt und Landung durchsprechen?« Lovell antwortete nicht sofort, sondern ließ einfach den Blick durch das Cockpit schweifen. Zunächst musterte er das dunkle Armaturenbrett, dann seine schlafenden Kollegen, er betrachtete Erde und Mond, die etwas seitwärts verschoben an
seinem leicht aus dem Lot geratenen LEM vorbeistrichen, und dann die verbliebenen Schneeflocken, die aus dem mittlerweile so gut wie nutzlosen Abstiegs-Antriebssystem ins All entwichen. Ja, stellte er fest. Die Landung wäre genau das, worüber er jetzt gerne sprechen würde.
12
Donnerstag, 16. April, 8:00 Uhr Die Morgenschicht hatte noch nicht einmal angefangen, aber Jerry Bostick, dem Flugdynamik-Offizier, reichte es an diesem Tag schon wieder. Und er befürchtete, daß es bald noch schlimmer kommen würde. »Verflucht«, murmelte Bostick leise, der an seiner Konsole in der ersten Reihe stand und angewidert den Bildschirm musterte. Er beugte sich über die Schulter von Dave Reed, dem diensthabenden FIDO, und warf einen weiteren Blick auf die leuchtenden Zahlen. »Verflucht!« wiederholte er, und diesmal sprach er so laut, daß Reed sich umdrehte. »Wo ist das Problem, Jerry?« fragte Reed. »Das willst du gar nicht wissen«, antwortete Bostick. »Probier’s doch.« Bostick deutete auf den Bildschirm, fuhr mit dem Zeigefinger an einer Spalte mit Zahlen entlang und hielt bei einem bestimmten Wert inne. Reed beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. Über der Spalte, auf die Bostick deutete, stand »Flugbahn«. Und die Zahl, auf die er zeigte, lautete »6,15«. »O nein«, stöhnte Reed und ließ den Kopf auf die Hände sinken. Seit gestern abend um 22 Uhr die Mittkurskorrektur von Apollo 13 erfolgt war, hatten die Zahlen auf diesem Schirm vielversprechender ausgesehen als die ganze andere Telemetrie, die von dem Raumfahrzeug übermittelt wurde. Vor
der Zündung des Abstiegs-Antriebssystems war die Flugbahn von »Aquarius« und »Odyssey« auf 5,9 Grad abgeflacht und lag somit nur knapp einen halben Grad über der beim Wiedereintrittskorridor zu beachtenden Untergrenze. Nach der Brennphase zur Mittkurskorrektur war der Winkel auf beruhigende 6,24 Grad gestiegen, annähernd auf den beim Wiedereintritt idealen Wert von 6,5 Grad. Jetzt jedoch, am Donnerstagmorgen um 8 Uhr, achtundzwanzig Stunden vor der Landung, war die Flugbahn allem Anschein nach wieder flacher geworden. »Jerry, was, zum Teufel, geht da vor?« fragte Reed und wich etwas zur Seite, damit Bostick näher an den Bildschirm herankam. »Ich habe keine Ahnung.« »Nun, das abgeblasene Helium kann es nicht gewesen sein.« »Nee, das reicht für so etwas bei weitem nicht aus.« »Vielleicht sind die Flugbahnberechnungen falsch.« »Die Berechnungen sind in Ordnung, Dave.« »Vielleicht ist die Datenübermittlung gestört.« Bostick blickte auf die 6,15, die unverändert auf dem Bildschirm stand. »Sieht das für dich nach Datensalat aus?« Wenn der Fehler weder am Helium noch an den Flugbahndaten lag und das Raumfahrzeug sich weiterhin dem unteren Bereich des Korridors näherte, dann mußte eine weitere Korrektur erfolgen und das Abstiegs-Antriebssystem des LEM erneut gezündet werden. Da aber das als Preßgas für den Treibstoff notwendige Helium entwichen war, war es unwahrscheinlich, daß sich das Triebwerk noch einmal zünden ließ. Bevor Bostick über diese neue Entwicklung nachdenken konnte, näherte sich von hinten Glynn Lunney. »Jerry«, sagte Lunney, »ich muß mit Ihnen reden. Wir haben da ein Problem.«
»Ich habe hier ebenfalls ein Problem, Glynn«, sagte Bostick. »Sieht so aus, als würde die Flugbahn wieder flacher.« »Stimmen Ihre Bahnberechnungen?« fragte Lunney. »Allem Anschein nach, ja«, antwortete Bostick. »Blasen wir irgend etwas aus?« »Nein, soweit wir das erkennen können«, sagte Bostick. »Nun, setzen Sie Ihre Prioritäten«, erklärte Lunney. »Aber befassen Sie sich auch mit folgendem: Ich habe eben einen Anruf von der Atomenergiekommission erhalten. Die machen sich Sorgen wegen des LEM.« Bostick hatte so etwas befürchtet. Während ihres kurzen Aufenthaltes auf dem Mond sollten Jim Lovell und Fred Haise nicht nur Steine sammeln, sondern auch eine Anzahl automatischer Meßinstrumente zurücklassen, unter anderem einen Seismographen, einen Sonnenwind-Kollektor und einen Laser-Reflektor. Da sich die vorgesehenen Messungen über ein Jahr erstrecken sollten, aber keine Batterie derart lange hielt, wurden die Geräte durch einen kleinen Atomreaktor betrieben, der mit verbrauchtem Uran aus Kernreaktoren gespeist wurde. Auf dem Mond stellte dieses winzige Kraftwerk keinerlei Gefahr da. Was aber würde geschehen, so hatten einige Beteiligte eingewandt, wenn der kleine Brennstab gar nicht bis zum Mond gelangte? Was wäre, wenn die Saturn 5 explodierte, bevor das Raumfahrzeug die Erdumlaufbahn erreichte, und das Uran irgendwo niederginge? Um eine eventuelle Gefährdung zu verhindern, hatten die Konstrukteure der Mondfähre das nukleare Material in einem dicken, hitzebeständigen Keramikbehälter untergebracht, der selbst eine Explosion, ein Ausglühen beim Wiedereintritt und einen Aufprall auf der Erde überstehen sollte, ohne daß Strahlung freigesetzt werden würde. Sobald das Raumfahrzeug die Erdatmosphäre verließ und sich auf dem Weg zum Mond
befand, war der Schutzbehälter überflüssig, und niemand verschwendete einen weiteren Gedanken darauf. Aber jetzt war die Mondfähre von Apollo 13 auf dem Heimflug, und der gefürchtete Wiedereintritt rückte immer näher, so daß Jerry Bostick bereits damit gerechnet hatte, daß die Atomenergiekommission bald herumschnüffeln und sich über den Kernbrennstab und die Keramikumhüllung auslassen würde. »Wann haben die sich bei Ihnen gemeldet, Glynn?« fragte Bostick jetzt Lunney. »Erst vor kurzem. Die sind ziemlich nervös wegen des Brennstabes.« »Haben Sie denen gesagt, daß wir den Behälter wiederholt getestet haben?« »Habe ich.« »Und haben Sie ihnen auch gesagt, daß wir keinen Grund sehen, wieso er den Wiedereintritt nicht überstehen sollte?« »Habe ich.« »Und die haben Ihnen nicht geglaubt?« »Oh, geglaubt haben sie mir schon, aber sie wollen trotzdem eine Rückversicherung. Sie wollen sichergehen, daß wir ihn nicht einfach irgendwo ins Meer werfen, wenn das LEM runterkommt, sondern so tief wie möglich im Ozean versenken. Können Sie sich darum kümmern?« Bostick ging an die Decke – jedenfalls gemessen am normalerweise eher moderaten Umgangston in der Mission Control. »Oh, so ein Mist, Glynn, das ist doch lächerlich. Wir haben den verfluchten Keramikbehälter gebaut, damit wir uns darüber keine Sorgen zu machen brauchen. Solange wir das LEM irgendwo herunterbringen, wo es niemandem auf den Kopf fällt, stellt es nicht die geringste Gefahr da.« Glynn Lunney pflichtete Jerry Bostick wohl durchaus bei, aber er behielt es für sich.
Die Atomenergiekommission war eine Regierungsbehörde, und die Regierung finanzierte die NASA, und wenn die Leute, die über den Etat der Raumfahrtbehörde mitzubestimmen hatten, wollten, daß sich ein Flugdirektor dieses Problems annahm, dann mußte sich der Flugdirektor wohl oder übel fügen. Lunney hörte mehrere Minuten lang verständnisvoll zu, während sein FIDO Dampf abließ, zuckte in Gedanken an die Washingtoner Bürokraten ebenso wie er die Achseln und wandte dann ein, daß die Atomenergiekommission vielleicht, aber nur vielleicht, nicht ganz unrecht haben könnte. Die Korrektur der wieder flacher werdenden Flugbahn von Apollo 13 ginge mit Sicherheit vor, aber sobald dies geklärt sei, sollte die Atomenergiekommission ihren Willen haben. Warum nicht einfach eine besonders tiefe Stelle im Meer suchen und dafür sorgen, daß die Mondfähre genau dort herunterkäme? »Wir kümmern uns darum, Glynn«, sagte Bostick schließlich. »Kein Problem. Ich glaube, vor der neuseeländischen Küste gibt es eine Stelle, die genau dem entspricht.« Lunney nickte dankbar, ging weg und widmete sich anderen Dingen, und Bostick kümmerte sich wieder um seine Aufgabe. Er wandte sich der Konsole zu und sah, daß Reed sich aufgeregt mit dem FIDO beriet. Bostick beugte sich über die beiden Männer, musterte mit zusammengekniffenen Augen den Bildschirm und sah, daß die zuvor schon flacher gewordene Flugbahn anscheinend völlig weggesackt war: Der entsprechende Wert in der Spalte mit den Flugbahndaten lag nur noch knapp über 6,0 und sank weiter ab. Der Tag, der so schlecht begonnen hatte, wurde in der Tat noch schlimmer. Jim Lovell aß gerade ein Hot-Dog, als Joe Kerwin sich meldete und ihm von der Flugbahnveränderung berichtete. Genaugenommen versuchte Jim Lovell, ein Hot-Dog zu essen, aber er kam nicht dazu. Für die Astronauten in der »Aquarius« und das Team in der Bodenkontrolle begann der Arbeitstag am
Donnerstag frühmorgens, und Lovell konnte zwar nicht für die Crew in Houston sprechen, aber seine Jungs kamen ihm zumindest einigermaßen munter vor. Als Fred Haise und Jack Swigert morgens um 3:30 Uhr ihre spontane dreistündige Ruheperiode eingelegt hatten, hatte Lovell es für besser gehalten, sie nicht zu stören, und die Entscheidung erwies sich als richtig. Swigert wirkte heute morgen regelrecht aufgekratzt. Und Haise, der gestern grau und kränklich gewirkt hatte, hatte heute sogar etwas Farbe im Gesicht. Lovell war sich nicht sicher, ob die leichte Röte ein Anzeichen dafür war, daß es ihm wieder besser ging, oder lediglich ein Fiebersymptom. Aber Haise hatte bereits klargestellt, daß er diesbezüglich keinerlei Fragen wünschte, und Lovell gedachte dies zu respektieren. Ein, zwei Stunden lang wuselte die Crew an diesem letzten vollen Tag des Fluges im Cockpit herum und kümmerte sich um ihre diversen Pflichten, und sie wirkten wie drei Männer in einer Fischerhütte, die sich für einen Angelausflug fertigmachten. Jetzt, um 8 Uhr 30, während Jerry Bostick, Glynn Lunney und David Reed über die flacher werdende Flugbahn und den nuklearen Brennstoff diskutierten, hielt Lovell die Zeit für gekommen, seine Besatzung zu verpflegen. »Sag mal, Jack«, meinte der Kommandant nach hinten gewandt. Swigert saß wie üblich auf der Triebwerksabdeckung und blätterte in einem Systembuch herum. »Wie sieht es mit unseren Vorräten dahinten aus?« »Ich gucke mal nach«, sagte Swigert. Er ließ sein Buch neben sich in der Luft schweben und öffnete den großen Tragebeutel, in dem er die Nahrungsmittelpackungen verstaut hatte. »Nicht allzu gut, Jim«, sagte er, während er in den Klarsichtbeuteln herumkramte. »Kalte Suppe, noch mal kalte Suppe und… das hier sieht wie Kompott aus.«
»Wie wär’s, wenn du ins Schlafzimmer läufst und ein paar Rationen holst?« »Kein Problem.« »Möchtest du irgendwas, Freddo?« fragte Lovell. »Klar«, sagte Haise. »Wie wär’s mit ein paar Hot-Dogs?« Swigert sprang hoch in die eiskalte Kommandokapsel, schwebte zum Nahrungsmittelschrank und wühlte in den restlichen Packungen herum. Ganz unten waren die luftdicht verschlossenen Beutel mit den Hot-Dogs. Alle waren sie, wie Swigert zu seinem Erstaunen feststellte, stocksteif gefroren. Er holte einen Beutel heraus, betrachtete ihn neugierig, nahm noch zwei und schwebte lachend durch den Tunnel zurück. »Tja, Gentlemen«, verkündete er, sobald er wieder auftauchte, »ich habe das Gewünschte, aber ich bin mir nicht sicher, ob ihr es wollt.« Lovell streckte die Hand aus, nahm das eisüberzogene Päckchen, das Swigert ihm anbot, und schlug es dann lachend an das Schott. Ein dumpf hallender Ton ertönte. »Klingt ja köstlich«, bemerkte Lovell. »Sieht auch köstlich aus«, sagte Haise. »Laßt’s euch schmecken«, rief Swigert. Bevor Lovell das gefrorene Würstchen weglegen konnte, ertönte Joe Kerwins Stimme in seinem Kopfhörer. »Aquarius, hier Houston.« »Schießt los, Houston«, meldete sich Swigert. »Sagt mal, Männer, wollte euch bloß wissen lassen, daß ihr laut Anzeige noch 200000 Kilometer weg seid, das sind etwa 15000 Kilometer weniger als noch vor zwei Stunden. Da bin ich nämlich gekommen. Und euer lächelnder FIDO sagt mir, daß ihr über 5500 Kilometer pro Stunde drauf habt, und das in einer 5000-Kilometer-Zone.« »Sehr gut«, sagte Swigert.
»Da wäre nur noch eins«, fuhr Kerwin fort. »Der gute FIDO läßt uns wissen, daß die Flugbahn ein bißchen flach ist, und er spielt sozusagen ein bißchen mit dem Gedanken an eine weitere Mittkurskorrektur etwa fünf Stunden vor dem Wiedereintritt. Wenn wir sie machen, geht es allenfalls um 0,6 Meter pro Sekunde.« Lovell, Swigert und Haise warfen sich zweifelnde Blicke zu. »Der FIDO legt sich heute ja richtig ins Zeug«, bemerkte Swigert aufgebracht. »Oh, es macht ihm einen Heidenspaß«, antwortete Kerwin und schaltete dann rasch ab. Lovell gefiel das ganz und gar nicht. Falls das Triebwerk nach dem Entweichen des Heliums nicht mehr funktionieren sollte, ließe sich das Manöver wahrscheinlich auch mit den Lagesteuerungsraketen durchführen. Aber um das Schiff um 0,6 Meter pro Sekunde zu beschleunigen, müßten die kleinen Düsen eine gute halbe Minute lang mit voller Kraft laufen, so daß sie danach womöglich nicht mehr zu gebrauchen wären, während bei dem großen Triebwerk der Abstiegsstufe ein paar Sekunden bei niedriger Schubkraft genügten. »Das klingt ganz und gar nicht gut«, sagte Lovell zu Haise, während er seinen Hot-Dog wegwarf. »Ganz meine Meinung«, pflichtete Haise ihm bei. Der Kommandant verließ seine Position und wollte gerade im Tunnel verschwinden, um sich auf die Suche nach einem leichter verdaulichen Frühstück zu begeben, als Kerwin sich wieder meldete. »Jim, wir wollen dich und Jack noch mal einspannen. Und zwar möchten wir, daß ihr ein bißchen Energie vom LEM in die Kommandokapsel abzweigt, damit wir die Wiedereintrittsbatterie aufladen können.« »O.K.«, antwortete Lovell und winkte Swigert zu. »Ich gebe dir Jack.«
Swigert meldete sich, und Lovell nahm den Kopfhörer ab, damit er ungehindert durch den Tunnel kam. Aber sobald Kerwin Swigert das Betriebsverfahren erklärte und das »Aha« und »Hm« des Piloten der Kommandokapsel zu ihm hochdrang, machte Lovell sich Sorgen. »Sind die sicher, daß sie jetzt mit dem Saft herumpfuschen wollen?« rief er Swigert zu und steckte den Kopf wieder aus dem Tunnel. »Wir müssen immerhin noch vierundzwanzig Stunden mit dem LEM fliegen.« Swigert gab dies an die Bodenstation weiter. »Eine Frage von hier aus. Wenn wir jetzt Strom abzweigen, werden dann nicht die Reserven im LEM knapp, die wir bis zum Wiedereintritt brauchen?« »Das ist negativ, Jack. Laut der neuesten Berechnung haben wir Ampere-Stunden bis zu 203 Flugstunden, und die Landung ist bei 142 angesetzt.« »Kein Problem«, rief Swigert Lovell zu. »Die haben 203 Stunden ausgerechnet.« »Haben sie die Sache getestet?« rief Lovell zurück. »Oder kann es passieren, daß wir beide Batterien leerorgeln, wenn wir Energie in die Kommandokapsel ableiten?« »Sagt mal, Houston«, meldete sich Swigert. »Jim möchte wissen, ob diese Methode ausprobiert und für O.K. befunden wurde. Wir laufen doch nicht etwa Gefahr, daß wir die Batterien leer machen, oder?« »O.K. Jack, das Verfahren an sich wurde noch nicht ausprobiert, aber in Anbetracht der Geräte, durch die der Strom fließt, sollte keinerlei Gefahr für die Batterien bestehen. Aber denkt an den Grund für die ganze Aktion: Eure Wiedereintrittsbatterie hat 20 Amperestunden zu wenig, und uns bleibt nichts anderes übrig, als sie aufzuladen, wenn wir euch zurückholen wollen.«
Murrend erklärte sich Lovell einverstanden. Swigert ging wieder auf Sendung und war den Großteil des Vormittags damit beschäftigt, sich die Betriebsverfahren zum Aufladen zu notieren, zwischen den beiden Schiffen hin und herzuschwimmen, um die entsprechenden Schalter zu betätigen, und den Stromaustausch vom einen Raumfahrzeug zum anderen zu überwachen. Während er voll ausgelastet war, meldete sich der CAPCOM – mittlerweile hatte Vance Brand Dienst – bei Lovell und Haise und wies ihnen ebenfalls ein paar Aufgaben zu. Es ging um die Gewichtsverteilung. Vor der Zündung des Abstiegs-Antriebssystems mußten die FIDOs das genaue Gewicht von Fracht und Besatzung der »Aquarius« wissen, und auch die Führungs- und Navigationsoffiziere mußten wissen, wieviel Ballast die »Odyssey« mitführte, bevor die Kreiselplattform ausgerichtet und die Kapsel auf Wiedereintrittskurs gebracht werden konnte. Die Computer eines Apollo-Raumfahrzeuges waren so programmiert, daß sie das Gewicht der Kommandokapsel auf dem Rückflug vom Mond um etwa einen Zentner höher veranschlagten als auf dem Hinflug – soviel wogen die Gesteins- und Bodenproben, wegen denen die Astronauten ursprünglich dort hinflogen. Aber Apollo 13 kehrte ohne Mondgestein zurück, und vor dem Wiedereintritt sollte die Besatzung etliche Ausrüstungsgegenstände aus dem LEM in die Kommandokapsel umladen, sie in den Staukisten unterbringen, die für die kostbaren Mondproben gedacht waren, und darauf hoffen, daß das Gewicht stimmte und der Computer sich täuschen ließ. »O.K. Jim«, meldete sich Brand, während Swigert arbeitete, »wenn du ein bißchen Zeit zum Mitschreiben hast, haben wir hier die Stauliste, in der festgelegt ist, welche Geräte ihr vor der Landung umladen müßt.«
»Ich kann sofort mitschreiben«, sagte Lovell, holte seinen Stift aus der Ärmeltasche und gab Haise ein Zeichen, ihm einen Flugplan als Notizblock zuzuwerfen. »In Ordnung, ihr sollt die zwei 70-Millimeter-HasselbladKameras hinübertragen, die schwarzweiße Fernsehkamera, sämtliche belichteten 16- und 70-Millimeter-Filme, den Datenrekorder des LEM, zusätzliche Sauerstoffschläuche, zusätzliche Sauerstoffilteraufsätze, die Klappe des Abfallbeseitigungssystems und den Flugdatenordner des LEM. Hast du das empfangen?« »Empfangen.« Lovell zeigte Haise die Liste, und die beiden Männer machten sich daran, die vom CAPCOM genannte Fracht zusammenzutragen. Haise öffnete einen Stauraum, holte die beiden Fotoapparate heraus und ließ sie hinter sich in der Luft schweben; Lovell öffnete den nächsten und zog die Sauerstoffschläuche heraus. Inzwischen öffnete Haise den dritten, entdeckte etwas Merkwürdiges und hielt inne. In diesem Fach lagen übereinandergestapelt die PPKs (Personal Preference Kits) der Astronauten, aus Beta-Tuch bestehende Beutel, in denen jedes Besatzungsmitglied ein paar persönliche Erinnerungsstücke oder Glücksbringer mitnehmen durfte, die zwar nicht ausschlaggebend für das Gelingen der Mission, aber wichtig für das Wohlbefinden der Männer waren. Manche Astronauten nahmen alten Familienschmuck mit, manche eine Münze oder eine kleine Flagge. Lovell hatte eine kleine Goldbrosche mit einer diamantenbesetzten »13« dabei, die er vor dem Flug hatte anfertigen lassen, und die er Marilyn bei seiner Rückkehr schenken wollte. Als Fred Haise seinen PPK vor sich liegen sah, bemerkte er einen zugeklebten und mit der Aufschrift »Für Fred« versehenen Umschlag, der obenauf geheftet war. Die Handschrift erkannte er sofort. Nachdem er sich umgeschaut
und festgestellt hatte, daß der Kommandant nicht zusah, nahm Haise den Umschlag an sich und riß ihn auf. Sofort trieben etliche Bilder heraus. Auf dem ersten war seine Frau Mary zu sehen, auf dem zweiten sein ältester Sohn Fred, auf dem dritten sein zweiter Sohn Stephen und seine Tochter Margaret. Haise schnappte sich die in der Luft schwebenden Porträts und schaute in den Umschlag hinein. Darin steckte ein in der gleichen gestochenen Handschrift verfaßter Brief. Lieber Fred, stand da. Wenn Du dies liest, wirst Du bereits auf dem Mond gelandet und hoffentlich wieder auf dem Rückflug zur Erde sein. Hiermit wollen wir Dich wissen lassen, wie sehr wir dich lieben, wie stolz wir auf Dich sind, und wie sehr du uns fehlst. Komm rasch wieder heim! In Liebe, Mary. »Von Mary?« fragte Lovell leise von hinten. Haise blickte verdutzt auf. »Hmm«, sagte er. »Sie muß es demjenigen zugesteckt haben, der letzte Woche die PPKs verstaut hat.« »Nett«, sagte Lovell mit einem wissenden Lächeln. Er hatte zuvor einen Brief von Marilyn in seinem Beutel gefunden. Wie durch ein stillschweigendes Übereinkommen verloren die Männer kein weiteres Wort mehr über den Brief, sondern trugen stumm die restlichen Ausrüstungsgegenstände zusammen. Lovell konnte zwar nicht wissen, was Haise empfand, aber er vermutete, daß ihm ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen wie ihm. Dieser Flug, stellte er mit plötzlichem Verdruß fest, reichte ihm allmählich. Es war schmerzlich genug, daß er ständig an die gescheiterte Mondlandung erinnert wurde, sei es beim Betrachten der in der Ferne verschwindenden Fra-Mauro-Berge, bei jedem sehnsüchtigen Blick auf seinen ungebrauchten Raumanzug oder wenn er die nutzlose Checkliste für das Abstiegsmanöver sah. Nun gut, die Landung, für die er und Haise so lange trainiert hatten, sollte nicht stattfinden; aber dann war es
höchste Zeit, daß sie ihre Sachen verstauten und sich bereit machten, diesen unglückseligen Flug hinter sich zu bringen.
»Hier ist die Apollo Control bei einer Flugzeit von 119 Stunden und 17 Minuten«, meldete sich Terry White kurz nach der Mittagspause von der Konsole des NASA-Sprechers aus. »Das Raumfahrzeug ist jetzt 112 224 Seemeilen von der Erde entfernt. Die Geschwindigkeit beträgt derzeit 5993 Kilometer pro Stunde und nimmt weiter zu. Wir rechnen mit Beginn des Wiedereintritts nach 142 Stunden, 40 Minuten und 42 Sekunden, das sind ab jetzt noch 23 Stunden und 22 Minuten. Etwa 5 Stunden vor dem Wiedereintritt wird wahrscheinlich eine Brennphase zur Mittkurskorrektur von etwas weniger als 0,6 Meter pro Sekunde erfolgen. Heute nachmittag um 15 Uhr wird Neil Armstrong, der Kommandant von Apollo 11, im großen Auditorium der Mission Control eine Pressekonferenz halten, bei der diverse technische Aspekte von Apollo 13 zur Sprache kommen werden. Außerdem hat der Präsident des Chicago Board of Trade folgende Nachricht an die Mission Control gesandt: ›Die Chicagoer Börse hat heute morgen um 11 Uhr für eine Minute ihre Geschäfte unterbrochen, um des Mutes und der Tapferkeit von Amerikas Astronauten zu gedenken und für ihre Unversehrtheit bei der Rückkehr zur Erde zu beten.‹ Hier ist die Apollo Control.« Chuck Deiterich stand vor der Schiefertafel im Bereitschaftsraum gleich neben der Mission Control. Wohin er auch blickte, überall sah er, wie es schien, einen FIDO, einen RETRO oder einen GUIDO. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte Deiterich bei der Zusammenarbeit mit den erfahrenen Navigations-Offizieren viel Glück gehabt, und er hoffte, daß es auch an diesem
Nachmittag noch etwas anhielt. Während Bostick, Reed und Bill Peters sich mit der wieder flacher werdenden Flugbahn von Apollo 13 befaßt und über eine Möglichkeit nachgedacht hatten, die Mondfähre zur Zufriedenheit der Atomenergiekommission im Ozean zu versenken, war Deiterich mit anderen Problemen beschäftigt gewesen. Am wichtigsten war jetzt die Frage, wie die Besatzung ihren ausgefallenen Versorgungsteil und das intakte LEM abtrennen konnte, wenn es Zeit wurde, die Kommandokapsel für den Wiedereintritt in die Erdatmosphäre auszurichten. Wäre der Flug von Apollo 13 planmäßig verlaufen, dann hätte sich die »Odyssey« mit Hilfe der Steuerdüsen am Versorgungsteil von der »Aquarius« entfernt, und das Landefahrzeug wäre in der Mondumlaufbahn zurückgelassen worden. Nach dem gleichen Prinzip wäre auch der Versorgungsteil von der Kommandokapsel abgetrennt worden, wenn es an der Zeit war, den Hitzeschild freizulegen und mit dem Wiedereintritt zu beginnen. Doch bei diesem Flug lief längst nichts mehr planmäßig, und die Steuerdüsen, auf die es bei diesen Manövern ankam, funktionierten schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Deiterich und seine Kollegen hatten jedoch einige elegante Lösungsmöglichkeiten gefunden. Sie entschieden, daß Jim Lovell und Fred Haise im LEM bleiben sollten, wenn der Versorgungsteil abgetrennt wurde, während Jack Swigert in die Kommandokapsel umsteigen sollte. Kurz vor dem Abtrennen sollte Lovell die Steuerdüsen des LEM einmal kurz betätigen, so daß die aneinandergekoppelten Schiffe vorwärtsgeschoben würden. Danach sollte Swigert auf den Knopf drücken, mit dem die kleinen Explosivkörper zwischen Versorgungs- und Kommandoteil gezündet wurden, und die Kapsel abtrennen. Gleichzeitig würde Lovell die Steuerdüsen erneut auslösen, diesmal allerdings in die entgegengesetzte
Richtung, so daß sich das LEM und die daran angekoppelte Kommandokapsel – mit Swigert an Bord – rückwärts vom Versorgungsteil entfernten. Einfacher, aber nicht weniger elegant, war das Verfahren zum Abtrennen des LEM. Bei einem normalen Flug schlossen die Astronauten vor dem Zurücklassen der Mondfähre sowohl die Luke im Landefahrzeug als auch in der Kommandokapsel, so daß der Tunnel von beiden Schiffen aus abgedichtet war. Daraufhin öffnete der Kommandant ein Ventil im Tunnel, blies die Atemluft aus und paßte den Druck an die Verhältnisse im Weltall an. Dadurch konnten beide Schiffe voneinander getrennt werden, ohne daß es zu einem unkontrollierten, explosionsartigen Entweichen der Luft kam. Während des Fluges von Apollo 10 im letzten Frühjahr hatten die Controller erstmals mit einem teilweise unter Druck stehenden Tunnel experimentiert. Wenn man die Verbindungen löste, durch die beide Raumfahrzeuge aneinandergekoppelt waren, so ihre Vorstellung, müßte das LEM vom Mutterschiff weggedrückt werden, aber weitaus langsamer und weniger unkontrolliert, als wenn der Durchgang zwischen Kapsel und Mondfähre unter vollem Druck stünde. Nach Ansicht der Controller wäre diese Methode durchaus nützlich, falls einmal die Steuerdüsen am Versorgungsteil ausfallen sollten. Jetzt, ein Jahr später, waren die Düsen ausgefallen, und die Flugdynamik-Offiziere waren froh, daß sie das Manöver in den Flugplänen für eventuelle Notfälle abgeheftet hatten. Gestern hatte man Jack Lousma das Verfahren erklärt, und er hatte es stolz an Lovell übermittelt. »Wenn wir das LEM abtrennen«, hatte er berichtet, »gehen wir genauso vor wie bei Apollo 10 – die Gute wird einfach losgemacht.« »O.K«, hatte Lovell weitaus skeptischer zurückgefunkt.
Jetzt, am Donnerstag nachmittag, mußte Deiterich ein weiteres neues Verfahren mit seinen Kollegen abklären. Diesmal ging es um das Führungssystem von Apollo 13. Bevor die Kommandokapsel in die Atmosphäre eindringen konnte, mußte das Führungssystem aktiviert und dann – mit Hilfe einer Teleskop-Peilung auf Sonne und Mond – ausgerichtet werden. Das konnte eine mühselige Arbeit sein, und da sämtliche optischen Geräte durch Kondenswasser beeinträchtigt waren, würde sie diesmal wahrscheinlich noch mühsamer werden. Trotzdem waren Deiterich und die anderen FlugdynamikOffiziere zuversichtlich, daß es die Besatzung ohne allzu große Schwierigkeiten schaffen müßte. Zur Sicherheit müßte die Ausrichtung, sobald sie erst vorgenommen war, noch einmal überprüft werden. Normalerweise behielt der Pilot der Kommandokapsel dabei durch das Fenster den Horizont der vorbeiwandernden Erde im Blick. Wenn die Ausrichtung des Raumfahrzeuges stimmte, deckte sich die Erdkrümmung mit Gradmarkierungen, die in bestimmtem Abstand ins Fenster eingraviert waren. Bewegte sich der Planet wie vorgesehen, dann konnte während des Wiedereintritts der Computer die Steuerung übernehmen. Wenn nicht, wußte die Besatzung, daß mit der Kreiselplattform etwas nicht stimmte, und das Raumfahrzeug mußte per Hand durch die Atmosphäre zur Landestelle gesteuert werden. Das Problem bei Apollo 13 jedoch war, daß man kurz vor dem Wiedereintritt keinen Horizont würde anpeilen können. Weil man das Raumfahrzeug so rasch wie möglich zurückholen wollte, näherte sich Apollo 13 der Erde von der Nachtseite aus, so daß die Astronauten zum kritischen Zeitpunkt allenfalls eine dunkle Masse würden erkennen können. Aber Chuck Deiterich hatte eine Idee. »Männer«, sagte er zu den andern Flugdynamik-Offizieren im Bereitschaftsraum, »morgen mittag werden wir ein Problem bekommen – genauer
gesagt, wir werden unsere Ausrichtung anhand eines nicht vorhandenen Horizonts überprüfen müssen.« Er drehte sich zur Tafel um und zeichnete einen langen, nach unten verlaufenden Bogen, der den Rand der Erdkugel darstellen sollte. »Nun wird zwar die Erde nicht zu sehen sein, aber die Sterne sind immer da«, sagte er und malte über dem Erdhorizont ein paar Kreidepunkte auf die Tafel. »Aber bei der hohen Geschwindigkeit des Schiffes bleibt uns vielleicht nicht genügend Zeit, um festzustellen, mit welchen wir es zu tun haben.« Er wischte die Sterne mit dem Schwamm weg. »Natürlich steht uns da draußen auch noch der Mond zur Verfügung«, sagte Deiterich. Oberhalb des Erdumrisses malte er einen kleinen Mond auf die Tafel. »Während das Raumfahrzeug den Planeten umkreist und sich der Atmosphäre immer mehr nähert, wird es so aussehen, als ginge der Mond unter.« Deiterich malte einen zweiten Mond unter den ersten, dann einen weiteren, dann noch einen und immer mehr, wobei jeder näher an dem mit Kreide gezeichneten Erdhorizont lag, bis der letzte teilweise von ihm überlagert wurde. »An einem bestimmten Punkt«, sagte er, »wird der Mond hinter der Erde untergehen und verschwinden. Er wird immer zum gleichen Zeitpunkt verschwinden, egal, ob es Tag ist oder Nacht, ob wir den Horizont sehen können oder nicht.« Der RETRO berührte die Tafel nur mit der Kante des Schwammes und wischte vorsichtig den langgezogenen Bogen weg, der den Horizont darstellte, ließ aber die Monde stehen. Er deutete auf den Mond, der zuvor halb vom Horizont verdeckt gewesen war. »Wenn wir auf die Sekunde genau wissen, wann der Mond verschwindet, und wenn uns der Pilot der Kommandokapsel mitteilt, daß er tatsächlich verschwindet, dann, Gentlemen, ist unsere Ausrichtung für den Wiedereintritt punktgenau.«
Es war über einen Tag her, seit die Besatzung von Apollo 13 aus den Fenstern der Kommandokapsel hatte blicken können. Die Sicht aus der Mondfähre war natürlich seit Montag etwas eingeschränkt gewesen, da durch die ständigen Ausdünstungen der Astronauten die Luftfeuchtigkeit gestiegen war und sich wegen der niedrigen Temperatur Kondenswasser an den Dreiecksfenstern niedergeschlagen hatte. Die Kommandokapsel war lange davon verschont geblieben – hauptsächlich deshalb, weil sich die Astronauten den Großteil des Fluges über unten in der »Aquarius« aufgehalten hatten. Jetzt, als für Apollo 13 der letzte Abend im All anbrach, war die Temperatur in der Kommandokapsel niedriger als je zuvor, und es kam trotz der beträchtlich niedrigeren Luftfeuchtigkeit zu Kondenswasserbildung. Beunruhigt stellte die Besatzung fest, daß sämtliche Fenster, Wände und Instrumente in dem klammen Cockpit mit perlengroßen Wassertropfen bedeckt waren. Aufgrund der Schwerelosigkeit konnten die Tropfen nicht zu Boden fallen, aber sobald sich die irdische Schwerkraft bemerkbar machte, würden sich die Astronauten in der »Odyssey« vorkommen wie in einer Karsthöhle. Lovells Ansicht nach bedeutete dies Ärger. Wenn die Fenster, die Wände und die Instrumente derart naß waren, dann drang die Feuchtigkeit garantiert auch hinter das Armaturenbrett, wo alles voller Drähte, Glühbirnen und elektrischer Anschlüsse war. Die Ingenieure von North American Rockwell hatten zwar dafür gesorgt, daß die zahllosen Stromanschlüsse des Schiffes wasserfest waren, aber das Isoliermaterial schützte nur vor der unter normalen Umständen in der Kabine herrschenden Luftfeuchtigkeit. Niemand hatte es für notwendig gehalten, die Elektronik so zu isolieren, daß ihr auch derartige Mengen von Kondenswasser nichts anhaben konnten. Wenn das Schiff morgen angeschaltet
wurde und die Instrumente wieder unter Strom standen, konnte es durchaus geschehen, daß wegen eines einzigen blanken Drahtes oder einer porösen Isolierung das ganze System zusammenbrach. Als es Zeit zum Abendessen wurde, schlürfte Lovell in dem unwesentlich wärmeren LEM lustlos kalte Suppe aus einem Verpflegungsbeutel, gab es dann auf und machte sich auf den Weg zur Kommandokapsel, um den Zustand des Schiffes zu überprüfen. »Was hast du vor?« fragte Haise, der Lovells Ansicht nach fiebriger aussah – und sogar klang – als gestern. »Die Kondensation oben überprüfen«, sagte Lovell. »Ich komme mit«, bot Haise an. »Warum bleibst du nicht hier? Du siehst schlecht aus, Freddo, und da oben ist es eiskalt.« »Mir geht’s gut«, sagte Haise. Lovell sprang durch den Tunnel nach oben. Haise folgte ihm, und die beiden Männer schwebten zum Fenster auf der linken Seite, der Seite des Kommandanten, durch das Lovell vor zweiundsiebzig Stunden das Ausblasen entdeckt hatte. Jetzt konnte man durch das nasse Glas überhaupt nichts erkennen, und als Lovell mit dem Finger darüber strich, lösten sich ein paar Tropfen und trieben in der Luft. »Das ist vielleicht eine Sauerei«, sagte er kopfschüttelnd. »Eine Sauerei«, wiederholte Haise. »Nun ja, wir werden erst Bescheid wissen, wenn wir den Strom einschalten.« »Und den Strom werden wir nicht einschalten, bevor sie uns die Checkliste durchgegeben haben.« Seitdem Lovell und Haise die Geräte aus der »Aquarius« in die »Odyssey« umgeladen hatten, forderte Lovell in Houston die Liste an, an der John Aaron und Arnie Aldrich so lange gearbeitet hatten. Sie wußten, daß die Übermittlung Stunden
dauern konnte, da Swigert jeden einzelnen Schritt aufschreiben und zur Bestätigung noch einmal vorlesen mußte. Als der Kommandant den diensttuenden CAPCOM, Kerwin, das erste Mal nach der Liste gefragt hatte, reagierte dieser ausweichend. »Sie existiert«, sagte Kerwin. »Sie existiert«, hatte Lovell Haise zugeraunt, und dann zurückgefunkt: »O.K. das ist gut.« Als Lovell sich das letzte Mal erkundigt hatte – mit nachdrücklichem Hinweis darauf, daß es mittlerweile Donnerstag sei und Freitag mittag die Landung erfolgen sollte –, hatte Brand versucht, ihm gut zuzureden. »Wir sind fast fertig«, hatte der CAPCOM mit einem entschuldigenden Lachen gesagt. »Spätestens am Samstag oder Sonntag haben wir sie für euch vorliegen.« Der Kommandant fand das gar nicht komisch. Jetzt, am Donnerstag abend um 18 Uhr 30, achtzehn Stunden vor der Landung, reichte es Lovell. Er schwebte, gefolgt von Haise, durch den Tunnel zurück und rief nach Swigert. »He, Jack, bist du bereit, dich an die Arbeit zu machen?« »Sehe ich etwa so aus, als wäre ich beschäftigt?« antwortete Swigert. »Dann hol die Jungs an die Strippe und laß dir die Betriebsverfahren durchgeben. Ich habe die Warterei satt.« Lovell drückte auf die Sprechtaste. »Houston, hier Aquarius.« »Schieß los, Jim«, meldete sich Brand. »Ich möchte daran erinnern, daß ich auf die Betriebsverfahren zum Hochschalten warte, damit ich sie mit der Crew einmal durchspielen und sichergehen kann, daß wir eure Weisungen kapiert haben.« »Jim, wir werden sie euch garantiert noch durchgeben«, sagte Brand.
»O.K…« Lovells Tonfall verriet, wie ärgerlich er war. »Wir haben sie so gut wie fertig.« »O.K…« »Wir müßten sie in… etwa einer Stunde haben.« »Ich warte darauf«, sagte Jim Lovell und schaltete sich mit einem heftigen Druck auf die Taste aus. Obwohl er Brands Versprechen nicht glaubte – und wahrscheinlich glaubte Brand selbst nicht einmal daran –, sagte der CAPCOM, wie sich herausstellen sollte, die Wahrheit. Sobald Lovell die Verbindung unterbrochen hatte, ging hinten in der Mission Control die Tür auf, und Aaron, Aldrich und Gene Kranz tauchten auf. Aaron reichte Brand eine Kopie der Checkliste, woraufhin Brand augenblicklich über Boden-Bord-Funk das Schiff rief. »Houston, Aquarius.« »Schießt los, Houston«, meldete sich Lovell. »O.K. wir sind soweit, daß wir euch den ersten Teil der Checkliste durchgeben können.« »In Ordnung, Vance. Ich verbinde dich mit Jack, also bleib dran.« Lovell gab Swigert ein Zeichen, daß er seinen Kopfhörer aufsetzen sollte, besorgte sich zwei oder drei überflüssig gewordene Flugpläne, holte einen Stift heraus und überreichte alles dem Piloten der Kommandokapsel. »Du bist dran, Jack.« »O.K. Vance«, sagte Swigert über Funk. »Ich bin empfangsbereit.« »O.K. Jack«, antwortete Brand, »aber du mußt dich noch einen Augenblick gedulden. Wir wollen den Flugdirektoren und dem EECOM ebenfalls eine Kopie der Checkliste zukommen lassen, und das kann ein, zwei Sekunden dauern.« »Roger, Houston.« Swigerts Tonfall war kaum weniger scharf als Lovells.
Aaron griff zum Telefon an der Konsole des CAPCOM und bestellte weitere Kopien. Zwei Minuten lang herrschte Funkstille, während die Männer an der CAPCOM-Konsole auf und ab gingen, die Besatzung im Raumfahrzeug wartete und die Leute in der Mission, Control gelegentlich zur Tür schielten, um nachzusehen, ob die Kopien eintrafen. Kranz, der zunehmend ungeduldiger wirkte, gab Brand ein Zeichen, daß er weitersprechen sollte. »Sag mal, Jack«, meldete sich der CAPCOM bei Swigert. »Wie sieht’s mit dem Wasser in der Kommandokapsel aus? Habt ihr noch Wasserbeutel übrig?« »Negativ. Ich bin hochgegangen und wollte den Trinkwasser tank ablassen, aber da ist nichts rausgekommen.« »Ah«, sagte Brand. »Uns war schon klar, daß im Trinkwassertank nichts mehr drin ist, aber wir haben uns gefragt, ob vielleicht noch Beutel übrig sind?« »Nein.« »O.K.« Brand dachte gerade über weitere Gesprächsthemen nach, als die Tür zur Mission Control aufgerissen wurde. Die Männer an der Konsole des CAPCOM, die damit gerechnet hatten, einen Ingenieur mit einem Stapel Kopien hereinstürmen zu sehen, stöhnten auf, als statt dessen ein halbes Dutzend Controller zum CAPCOM hingingen. Diese Männer wollten ebenso wie Kranz, Aaron und Aldrich zugegen sein, wenn ihr Meisterstück an die Astronauten durchgegeben wurde, und natürlich wollten sie alle eine Kopie der Vorlage haben. »Jack, wir werden uns wahrscheinlich noch fünf Minuten gedulden müssen. Wir bekommen hier immer mehr Zuhörer. Dieses Betriebsverfahren ist von allerhand Leuten erarbeitet worden, und ein paar davon haben es ausprobiert, und die hätten wir gern dabei, während wir es durchgeben.«
Brand wartete auf eine Antwort, erntete aber nur ein fünf Sekunden langes, frostiges Schweigen. Auf einmal schaltete sich eine andere Stimme in den Boden-Bord-Funk ein. Es war Deke Slayton, und Brand war froh darum. Als Astronaut – auch wenn er bislang noch nicht ins All geflogen war – erkannte Brand anhand des Tonfalls, daß die Besatzung allmählich aufsässig wurde, und er wußte, daß er nur begrenzte Autorität hatte. Slayton als Chefastronaut hatte – auch wenn er ebenfalls nie ins All geflogen war – sicher mehr Einfluß. »Wie sieht’s mit der Temperatur da oben aus, Jack?« fragte Slayton wie beiläufig. »Seid ihr schon mächtig am Holzhacken?« Swigerts Tonfall änderte sich auf der Stelle. »Deke, im LEM liegt sie derzeit bei 10 Grad, glaube ich«, sagte er so freundlich wie lange nicht mehr. »In der Kommandokapsel ist sie niedriger.« »Ein schöner Herbsttag, was?« »Ganz genau. Und nur damit du es weißt: Anhand eurer vorigen Checkliste wurde alles in der Kommandokapsel verstaut. Ausgenommen die Hasselblads, weil wir mit denen den Versorgungsteil fotografieren wollen, wenn wir ihn abtrennen.« »Roger. Habe verstanden, Jack.« »Im LEM ist ebenfalls alles gut verstaut, ausgenommen die paar Sachen, die wir noch rüberschaffen müssen.« »Roger. Habe ebenfalls verstanden.« Slaytons Eingreifen bewirkte bei Swigert genau den Umschwung, den sich der Chefastronaut erhofft hatte. Lovell hingegen ließ sich von Deke Slayton nicht so leicht beschwichtigen. »Hör zu, Vance«, blaffte der Kommandant, der Slayton einfach überging und sich, wie es das Protokoll vorschrieb, direkt an den CAPCOM wandte, »du mußt dir darüber
klarwerden, daß wir uns hier oben an unsere Arbeits- und Ruhezeiten halten müssen. Wir können nicht ständig herumsitzen und warten, bis du uns die Betriebsverfahren durchgibst. Wir müssen sie vor uns liegen haben, sie uns anschauen, und wir müssen unsere Leute ins Bett schicken. Also denk dran und sieh zu, daß du uns die Checkliste durchgibst.« Viereinhalb Minuten lang herrschte buchstäblich Funkstille zwischen Apollo 13 und der Bodenkontrolle. Dann flog ein weiteres Mal die Tür zur Mission Control auf, und ein atemloser Ingenieur mit einem Stapel Checklisten kam hereingestürmt. Von 19 Uhr 30, Ortszeit Houston, bis fast zwanzig nach neun wurde die endlose Checkliste durchgegeben, und Swigert schrieb alles mit. Fünfzehn Stunden vor dem errechneten Zeitpunkt der Landung und etwas mehr als zwölf Stunden vor Beginn des Hochschaltens wurde die letzte Anweisung übermittelt, und Swigert klappte sein Buch zu. »O.K. Jack«, sagte der CAPCOM. »Ich wundere mich ja selber, aber allem Anschein nach haben wir alles unter Dach und Fach.« »In Ordnung«, sagte Swigert. »Falls wir noch Fragen haben sollten, melden wir uns wieder.« »O.K. Wir haben das alles im Simulator durchgespielt, und unserer Meinung nach dürfte nichts Unvorhergesehenes mehr passieren.« »Das will ich doch hoffen«, sagte Swigert, »weil es morgen nämlich darauf ankommt.«
Trotz all der Schlafperioden, die man in Houston für die Crew ansetzte, kam keiner der Männer in der Apollo 13 groß zum Schlafen. Jedesmal wenn einer der Astronauten sich nach drei-
oder vierstündiger Ruhezeit wieder zurückmeldete, fragte ihn der CAPCOM beiläufig, wie viele Stunden er tatsächlich geschlafen habe. Und fast immer bekam er die gleiche Antwort: Eine Stunde, vielleicht ein bißchen mehr. Aber meistens war es erheblich weniger. Der Flugarzt hatte die von den Männern genannte Stundenzahl mitgeschrieben, und das Ergebnis beunruhigte ihn zunehmend. Seit Montag abend hatte die Besatzung pro Tag durchschnittlich etwa drei Stunden am Stück geschlafen. Jetzt war Freitag morgen um 2 Uhr 30, zehn Stunden vor der Landung, und Swigert hatte diesen Durchschnitt noch nicht erreicht. Lovell und Haise anscheinend auch nicht, dem rastlosen Herumrumoren nach zu urteilen. »Fred«, meldete sich Lousma bei dem Astronauten, der wach sein sollte. »Schläfst du gerade?« »Schieß los«, grummelte Haise, öffnete die Augen und setzte den Kopfhörer auf. »Ich habe ein paar Minuten Arbeit für euch. Ein paar Änderungen in der Anordnung der Schalter auf der Checkliste.« »O.K.«, sagte Haise. »Ich hole Jack.« Als Swigert dies hörte, meldete er sich sofort. »O.K. Houston, hier Aquarius«, sagte er müde. »Wie lange hast du dich ausgeruht, Jack?« fragte Lousma. »Oh, ich schätze, etwa zwei oder drei Stunden«, log Swigert. »Es war furchtbar kalt, und ich habe nicht besonders gut geschlafen.« »Roger. So wie es aussieht, kannst du es noch etwa zwei Stunden lang versuchen, bevor wir uns mit der Mittkurskorrektur befassen müssen.« »Na ja«, sagte Swigert, »versuchen können wir’s ja, aber es ist furchtbar kalt.«
Swigert stupste Lovell an, der gar nicht geweckt werden mußte. »Es gibt Arbeit«, sagte er. »Toll«, erwiderte Lovell. Die drei Astronauten rafften sich auf und begaben sich schwerfällig auf ihre Positionen. Die Controller in der Bodenstation tauschten besorgte Blicke aus. Deke Slayton schaltete sich ein. »He, Jim. Da du gerade auf bist und im Augenblick alles hübsch ruhig ist, möchte ich dir ein, zwei Dinge sagen, über die du nachdenken kannst. Vor allem eins. Ich weiß, daß keiner von euch vernünftig schläft, und vielleicht solltet ihr den Sanitätskasten aufmachen und zwei Dexedrin-Tabletten pro Nase auspacken.« »Nun ja… ich habe das noch nicht angesprochen«, sagte Lovell. »Es wäre… es wäre eine Überlegung wert.« »O.K.« Slayton schwieg kurz. »Ich wünschte, uns fiele etwas ein, wie wir euch eine Tasse mit heißem Kaffee hochschaffen könnten. Würde euch jetzt wahrscheinlich ziemlich gut schmecken, nicht wahr?« »Ja, mit Sicherheit. Du kannst dir nicht vorstellen, wie kalt es hier drin werden kann, vor allem, wenn die PTC langsamer wird. Im Augenblick steht die Sonne auf der Düse des Haupttriebwerks vom Versorgungsteil und kommt überhaupt nicht bis zum LEM herunter.« »Haltet aus«, sagte Slayton wenig überzeugend. »Es wird jetzt nicht mehr lange dauern.« ›Nicht mehr lange‹ war, wie Slayton sehr wohl wußte, ein relativer Begriff. Da die Mittkurskorrektur frühestens in vier Stunden erfolgen sollte, würde es mindestens noch drei Stunden dauern, bis die Mondfähre wieder hochgeschaltet und damit auch wärmer werden würde. Für die dreißig Männer, die zur Frühschicht in der Mission Control arbeiteten, waren drei
Stunden keine lange Zeit, aber den Astronauten in der eiskalten Apollo 13 mußte es wie eine Ewigkeit vorkommen. Slayton hatte wie alle anderen Männer im Raum seit Montag den Energieverbrauch der »Aquarius« überwacht, und angesichts der übermittelten Daten wurde er zunehmend zuversichtlicher. Slayton meldete sich über das Controller-Netz beim Flugdirektor und fragte Milt Windler, ob es vielleicht möglich wäre, ein bißchen überschüssige Energie aufzuwenden, um das LEM etwas früher einzuschalten. Das Team des TELMU führte ein paar rasche Energieberechnungen durch und meldete sich mit einer guten Nachricht zurück: Die Besatzung durfte das Schiff einschalten. Windler leitete dies an Lousma weiter. »CAPCOM, sagen Sie ihm, er soll das Licht anschalten.« »Aquarius, hier Houston«, meldete sich Lousma. »Schießt los, Houston«, antwortete Lovell. »O.K. Skipper. Uns ist etwas eingefallen, wie ihr euch warmhalten könnt. Wir haben beschlossen, sofort mit dem Hochfahren der Energie im LEM zu beginnen. Nur im LEM allerdings, nicht in der Kommandokapsel. Nehmt euch also die Checkliste zum Klarmachen des LEM vor und schlagt die Dreißig-Minuten-Aktivierung auf. Verstanden?« »Äh, verstanden«, sagte Lovell. »Und ihr seid sicher, daß wir ausreichend Energie für so etwas haben?« Slayton schaltete sich ein. »Jim, ihr steht mit allen Systemen bei 100 Prozent.« »Das klingt ermutigend.« Der Kommandant wandte sich an seine Kollegen, hob beide Daumen und machte sich dann mit Haises Hilfe daran, in aller Eile die entsprechenden Schalter umzulegen, so daß sie für das halbstündige Hochschalten der Energie nur einundzwanzig Minuten brauchten. Kaum waren die Systeme der »Aquarius«
wieder in Betrieb, spürte die Besatzung, wie die Temperatur in dem kalten Cockpit langsam stieg. Sobald dies geschah, sorgte Lovell dafür, daß sie noch schneller stieg. Er faßte zum Lagesteuerungsgriff, der jetzt wieder aktiviert war, und drehte das Raumfahrzeug so herum, daß die Sonne mitten auf das LEM schien. Fast augenblicklich strömte gelbweißes Licht ins Cockpit. Lovell hob den Kopf, schloß die Augen und lächelte. »Houston, die Sonne fühlt sich wunderbar an«, sagte er. »Sie scheint genau durch die Fenster, und hier drin wird es bereits wärmer. Habt vielen Dank.« »Im Ansitz wird es immer wärmer, wenn die Enten fliegen«, sagte der CAPCOM. »Genau.« Lovell schlug die Augen auf. »Und wenn ich aus dem Fenster schaue, Jack, dann kommt uns die Erde entgegengedüst wie ein D-Zug. Ich glaube nicht, daß viele LEMs die Erde aus dieser Perspektive gesehen haben. Ich halte immer noch Ausschau nach dem Fra Mauro.« »Nun denn«, sagte Lousma, »dann fliegst du in die falsche Richtung, Mann.«
Als am Freitag die Sonne aufging und auf der Straße vor dem Haus der Lovells wieder die Reporter und Kamerateams aufmarschierten, fanden sich im Wohnzimmer erneut allerhand Freunde, Astronauten und Familienangehörige ein. Gemeinsam saßen sie vor dem Fernseher und sahen sich die Sonderberichte an. »Apollo 13 ist jetzt 60000 Kilometer von der Erde entfernt und fliegt mit einer Geschwindigkeit von 11200 Kilometern pro Stunde.« Mit diesen Worten eröffnete Korrespondent Bill Ryan die Today-Show. »Der Kurs steht nun fest, so daß in etwa sechs Stunden mit einer Landung im Pazifik zu rechnen
ist. Der Helikopterträger ›Iwo Jima‹ ist vor Ort in Position gegangen, und das Wetter, das ein paar Tage lang wechselhaft war, hat sich nun wieder beruhigt. Noch steht dem Raumfahrzeug eines der kritischsten Manöver bevor. 8 Uhr 23 Ostküstenzeit sollen die Astronauten den Versorgungsteil absprengen, und um 11 Uhr 53 gilt es, die Mondlandefähre abzutrennen, die ihnen als Rettungsboot diente, seit die Energieversorgung im Mutterschiff ausfiel. Alan Bean, ein Astronaut von Apollo 12, erklärte in diesem Zusammenhang, wenn etwa eine Stunde vor der Landung die Mondfähre abgetrennt und der Wiedereintritt wie gewohnt erfolgen werde, sei der eigentliche Notfall überstanden…« Plötzlich hörte Marilyn Lovell aufgeregte Stimmen im Vorgarten, dann so etwas wie Applaus. Sie stürzte ans Fenster und sah gerade noch, wie sich etliche Nachbarn, die offenbar Sektkisten trugen, durch den Reporterpulk drängten und über den Rasen kamen. Marilyn lächelte etwas skeptisch. Sie war ihnen dankbar für diese Geste und freute sich über den Besuch. Aber den Sekt würde sie noch eine Weile auf Eis liegenlassen, zumindest vorerst. In der Mission Control herrschte keinerlei Aufregung, als Jim Lovell die Lagesteuerungsraketen kurz zündete, um eine leichte – und, wie er hoffte, letzte – Kurskorrektur vorzunehmen und das Raumfahrzeug genau in die Mitte des etwa 40 Kilometer breiten Wiedereintrittskorridors zu dirigieren. Die vier Steuerdüsen hatten fünf Tage lang einwandfrei funktioniert, und daher bereitete den Controllern auch die jetzige kurze Zündung keinerlei Kopfzerbrechen, auch wenn diesmal das Überleben der Astronauten beim Wiedereintritt davon abhing. Aber die Männer an den Konsolen waren an diesem Morgen mit nichts anderem beschäftigt als mit dem Überleben der Astronauten beim Wiedereintritt. In der Mission Control in Houston ging es um
kurz nach 7 Uhr morgens – als gerade die zweite Stunde der Today-Show anbrach und Jim Lovells Manöver mit den Steuerdüsen gelang – zu wie in einem Ameisenhaufen. Drei Stunden zuvor hatte laut dem Plan, den Gene Kranz während der Woche ausgearbeitet hatte, Milt Windlers Team die Konsolen verlassen, und zum erstenmal seit der PC+2Zündung am Dienstagabend traten wieder Kranz’ Controller an – jetzt nicht mehr als Tiger Team. Windlers Team räumte auf der Stelle seine Plätze für sie, aber keiner der Männer verließ den Kontrollraum. Statt dessen standen sie in der Nähe ihrer Konsolen herum oder lehnten an der Wand und tranken Kaffee. Der Großteil der Männer aus den beiden anderen Teams schloß sich ihnen an. Keiner wollte den diensttuenden Controllern in die Quere kommen, aber niemand hatte Lust, das Auditorium zu verlassen. Kranz’ Männer stöpselten ihre Kopfhörer ein, drehten sich zu den Monitoren um und nahmen sich ihr erstes und vielleicht kitzligstes Manöver an diesem Tag vor: Das Absprengen des Versorgungsteils. »Aquarius, hier Houston«, meldete sich Joe Kerwin, der diensttuende CAPCOM. »Schieß los, Joe«, antwortete Fred Haise. »Wenn du mitschreiben willst: Ich habe Lage und Neigung für Abtrennung des Versorgungsteils. Dafür brauchst du keinen Block, ein einfacher Notizzettel tut es auch.« Lovell, Haise und Swigert befanden sich auf ihren gewohnten Positionen im Raumfahrzeug, allesamt wach und halbwegs munter. Lovell hatte sich gegen die Dexedrin entschieden, die Slayton seiner Crew letzte Nacht verordnen wollte. Er wußte, daß die stimulierende Wirkung bald vorüber sein würde, und danach ginge es ihnen nur um so schlechter. Im Augenblick, so hatte der Kommandant beschlossen, mußten sie sich mit ihrem Adrenalin begnügen. Haise, dessen Gesicht noch immer fiebrig
rot war, brauchte einen Adrenalinstoß am allernötigsten, und allem Anschein nach bekam er gerade einen. »Schießt los, Houston«, sagte er, riß ein Blatt aus einem Flugplan und zückte seinen Stift. »O.K. die Vorgehensweise ist folgendermaßen: Erstens, LEM in folgende Lage manövrieren: Rollen, 000 Grad; Nicken, 91,3 Grad; Gieren, 000 Grad.« Haise schrieb eilig mit und reagierte nicht sofort. »Soll ich diese Lagedaten wiederholen, Fred?« »Negativ, Joe.« »Danach soll Jim mit den vier Steuerdüsen des LEM einen Schub um 0,15 Meter pro Sekunde auslösen, Jack die Trennung vornehmen lassen, und dann einen Schub um 0,15 Meter pro Sekunde in die Gegenrichtung auslösen. Hast du das?« »Ich habe es. Wann sollen wir das tun?« »In etwa dreizehn Minuten. Manöver ist aber nicht zeitkritisch.« Lovell schaltete sich ein. »Können wir es jederzeit vornehmen?« »Wird bestätigt. Ihr könnt abtrennen, wann immer ihr soweit seid.« Sobald die Freigabe von der Bodenstation vorlag, sprang Swigert durch den Tunnel hinauf in die »Odyssey« und bezog seine Position vor den Absprengschaltern in der Mitte des Armaturenbretts. Lovell und Haise begaben sich an ihr jeweiliges Fenster. Neben den drei Männern schwebten griffbereit Kameras, da sie hofften, den vermutlich durch eine Explosion beschädigten Versorgungsteil fotografieren zu können. Swigert hatte bereits vorsichtshalber das Kondenswasser an sämtlichen fünf Fenstern der »Odyssey« abgewischt, damit die Sicht nach draußen nicht beeinträchtigt wurde. »Houston, hier Aquarius«, meldete sich Lovell. »Jack ist jetzt in der Kommandokapsel.«
»Sehr schön, sehr schön«, sagte Kerwin. »Fahrt jederzeit fort.« »Jack!« rief der Kommandant durch den Tunnel hinauf. »Bist du bereit?« »Alles klar, wenn ihr es seid«, schallte es zurück. »In Ordnung, ich zähle von fünf rückwärts, und bei Zero drücke ich auf die Tube. Wenn du die Bewegung spürst, trennst du sie ab.« Swigert rief sein »Roger«, ergriff mit der linken Hand die große Hasselblad und legte den Zeigefinger der rechten Hand über den mit SM JETT gekennzeichneten Schalter. Im LEM nahm Lovell die Kamera in die linke Hand und legte die rechte um den Griff für die Steuerdüsen. Haise hielt seine Kamera ebenfalls bereit. »Fünf«, rief Lovell durch den Tunnel, »vier, drei, zwei, eins, zero.« Der Kommandant schob den Griff nach oben, löste so die Düsen aus und setzte die aneinandergekoppelten Raumfahrzeuge in Bewegung. In der Kommandokapsel reagierte Swigert sofort und betätigte den Schalter für den Versorgungsteil. »Absprengung!« verkündete er. Die drei Besatzungsmitglieder hörten den dumpfen Knall und spürten gleichzeitig den Ruck. Lovell zog daraufhin den Steuergriff nach unten und aktivierte so die in Gegenrichtung wirkenden Düsen. »Manöver ausgeführt«, rief er. Lovell, Swigert und Haise beugten sich aufgeregt ans Fenster, hoben die Kameras und suchten den Himmel ab. Swigert hatte sich für das große, runde Lukenfenster in der Mitte der Kapsel entschieden, aber als er jetzt die Nase dagegen drückte, sah er… gar nichts. Er stürzte nach links, zum Fenster des Kommandanten, und sah auch von dort aus nichts. So schnell wie möglich schwebte er zur anderen Seite
des Raumfahrzeugs, spähte durch Haises Bullauge ins All hinaus, soweit dies möglich war, und entdeckte wieder nichts. »Nichts, verdammt!« brüllte er durch den Tunnel nach unten. »Gar nichts!« Lovell stand an seinem dreieckigen Fenster, drehte den Kopf hin und her und sah ebenfalls nichts. Er blickte zu Haise, der ebenso fieberhaft wie er Ausschau hielt und auch nicht mehr entdeckte. Leise vor sich hin fluchend wandte sich Lovell wieder dem Fenster zu und mit einem Mal sah er es: Links oben trieb ruhig und elegant, fast wie ein großes Kriegsschiff, ein riesiger silberner Körper am Fenster vorbei. Er machte den Mund auf, um etwas zu sagen, brachte aber kein Wort heraus. Der Versorgungsteil schwebte genau an seinem Fenster vorbei, füllte es vollkommen aus, und als er langsam zurückfiel, geriet er ins Rollen, so daß man ein Teilstück der vernieteten Außenhülle sehen konnte. Als er weiter abtrieb, drehte er sich noch mehr und zeigte ein weiteres Teilstück. Dann, nach einer weiteren Sekunde, riß Lovell angesichts dessen, was er sah, die Augen weit auf. Der riesige silberne Zylinder hatte sich gerade wieder weitergedreht, als ein besonders greller Sonnenstrahl auf die Stelle fiel, wo’ sich Teilstück Nummer vier befand – oder hätte befinden sollen. Statt dessen klaffte dort ein Loch, ein riesiger Schlitz, der sich über die ganze Länge des Versorgungsteils erstreckte. Teilstück vier, immerhin ein Sechstel der gesamten Außenhülle des Versorgungsteils, war wie eine Tür konstruiert, die man aufklappen konnte, damit die Ingenieure Zugang zu den technischen Apparaturen im Inneren hatten, und die vor dem Start fest verschlossen wurde. Jetzt war diese ganze Tür allem Anschein nach fort, losgerissen und vom Schiff weggesprengt. Aus dem dabei entstandenen Riß hingen dicke Bündel gekappter Drähte, aufgeringelter Gummidichtungen und in Fetzen gerissenes, in der Sonne
funkelndes Mylar-Isolationsmaterial. Darunter lagen die lebenswichtigen Organe des Schiffes: Die Brennstoffzellen, die Wasserstofftanks, dazwischen die zahllosen Rohre, die sie miteinander verbanden. Und in der anderen Hälfte dieses Segments, dort, wo Sauerstofftank Nummer zwei hätte sein sollen, befand sich, wie Lovell voller Erstaunen feststellte, nur mehr ein großes, schwarzes Loch. Der Kommandant packte Haise am Arm, schüttelte ihn und deutete hinaus. Haise sah, worauf der Kommandant deutete, und riß ebenfalls die Augen auf. Hinter Lovell und Haise kam Swigert hektisch aus dem Tunnel getaucht und brachte seine Hasselblad mit. »Und die halbe Seite des Raumfahrzeugs fehlt!« teilte Lovell Houston per Funk mit. »Stimmt das?« sagte Kerwin. »Gleich neben der – schau mal da, siehst du das? Gleich neben der S-Band-Antenne. Die ganze Außenverkleidung wurde weggerissen, fast bis hinunter zum Triebwerksboden.« »Habe es notiert«, sagte Kerwin. »Sieht so aus, als hätte die Düse des Haupttriebwerks ebenfalls etwas abgekriegt«, sagte Haise, packte Lovell am Arm und deutete auf die große Triebwerksglocke, die unten aus dem Versorgungsteil herausragte. Lovell sah eine lange braune Brandspur an der konischen Düse. »Ihr meint, es hat die Glocke erwischt, ja?« fragte Kerwin. »So sieht es jedenfalls aus. Ist eine richtige Sauerei.« »O.K. Jim«, sagte Kerwin. »Wir möchten, daß ihr ein paar Bilder schießt, aber wir möchten auch, daß ihr Treibstoff spart. Führt also keine unnötigen Manöver durch.« Bei diesem Funkspruch riß Lovell sich zusammen, als ihm klarwurde, daß es hier vor allem darum ging, Bilder zu machen, und bislang hatte die Besatzung noch keine. Der bei der Explosion beschädigte Versorgungsteil trieb bereits davon.
Lovell bewegte sich nach links, packte Swigert am Arm und zog ihn ans Fenster. Augenblicklich nahm der Pilot der Kommandokapsel per Teleobjektiv ein Foto nach dem anderen auf. Lovell setzte seine Kamera an und knipste ebenso fieberhaft durch den schmalen Fensterausschnitt, der für ihn übrigblieb. Auf der rechten Seite des Schiffes fotografierte Haise ebenfalls. Die Besatzung ließ den Versorgungsteil nicht aus den Augen, bis er nur mehr wie ein torkelnder Stern wirkte, der Hunderte von Metern vom Schiff entfernt durchs All trieb. Erst über zwanzig Minuten, nachdem Swigert den mit SM JETT gekennzeichneten Schalter betätigt hatte, lösten sich die drei Astronauten vom Fenster. »Mann«, murmelte Haise vor sich hin, »das ist ja unglaublich.« »Tja, James«, meldete sich Kerwin, »wenn ihr nicht besser auf ein Raumfahrzeug achtgebt, können wir euch vielleicht keins mehr geben.«
»Hier ist die Apollo Control, Houston, bei einer Flugzeit von 138 Stunden, 15 Minuten. Apollo 13 ist derzeit 34350 Seemeilen von der Erde entfernt und fliegt mit einer Geschwindigkeit von 11600 Kilometern pro Stunde. Mittlerweile versammeln sich immer mehr Menschen im Zuschauerraum der Mission Control. Bereits eingetroffen sind Dr. Thomas Paine, der Chef der NASA, Mr. George Low, einer der stellvertretenden Leiter der NASA, die Abgeordneten George Miller aus Kalifornien, zugleich Vorsitzender des Raumfahrtkomitees des Repräsentantenhauses, Olin Teague aus Texas und Jerry Pettis, ebenfalls aus Kalifornien. Anwesend sind ferner die Astronauten Dave Scott und Rusty Schweickart von Apollo 9 sowie Lew Evans, der Präsident von Grumman. Man muß nicht eigens darauf hinweisen, daß all
diese hochrangigen Besucher im Kontrollraum sehr an dem Bericht von Apollo 13 über den Zustand des Versorgungsteils interessiert waren, als sich die Besatzung nach dem Abtrennen davon entfernte. Hier ist die Apollo Control, Houston.« Um die Position des EECOM hatten sich etliche Controller versammelt, als der Zeitpunkt zum Hochschalten der »Odyssey« gekommen war. John Aaron war natürlich schon seit 4 Uhr morgens da, als das Tiger Team aus Zimmer 210 gekommen war und die Plätze an den Konsolen wieder eingenommen hatte. Aber gegen 10 Uhr morgens – etwa drei Stunden vor der Wasserung des Raumfahrzeuges – nahm die Anzahl der Männer an der EECOM-Konsole in der zweiten Reihe zu. Zuerst tauchte Sy Liebergot auf, zog sich einen Stuhl heran und nahm links von Aaron Platz, dann gesellten sich Clint Burton und Charlie Dumis dazu. An den meisten anderen Konsolen hielt sich mindestens ein Angehöriger eines anderen Teams neben dem diensttuenden Controller auf, aber nur an der EECOM-Konsole waren die Ingenieure in voller Stärke vertreten. »Flight, EECOM«, meldete sich Aaron über Funk, während er einen Blick auf die drei anderen Controller warf, die ihn umlagerten. »Los, EECOM«, antwortete Kranz. »Wenn die Crew bereit ist, können wir jederzeit die Energie hochfahren.« »Roger, EECOM«, sagte Kranz. »CAPCOM, Flight.« »Los, Flight«, antwortete Kerwin. »Der EECOM sagt, die Kommandokapsel kann jederzeit in Betrieb genommen werden.« »Roger, Flight«, sagte Kerwin. »Aquarius, Houston.« »Schießt los, Houston«, antwortete Lovell. »Ihr habt GO zum Hochschalten der ›Odyssey‹.«
Im Cockpit der »Aquarius« sah Lovell Swigert an und winkte ihn zum Tunnel. Im Gegensatz zum Aufzeichnen der Checkliste vor vierzehn Stunden war die Ausführung relativ einfach, und der Pilot der Kommandokapsel sollte nicht mehr als eine halbe Stunde dafür benötigen. Als der erste Schalter umgelegt wurde und wieder Strom durch die kalten Drähte floß, machte Lovell sich darauf gefaßt, daß es jeden Augenblick knallen und zischen könnte, falls sich tatsächlich Kondenswasser auf einem ungenügend isolierten Kabel niedergeschlagen hatte und einen Kurzschluß auslöste. Aber als das Hochschalten der Kapsel weiterging, als Swigert den ersten Trennschalter umlegte, dann den zweiten, den dritten und so weiter, vernahmen die Besatzungsmitglieder lediglich ein beruhigendes Summen und Glucksen, was darauf hindeutete, daß ihr Raumfahrzeug wieder zum Leben erwachte. Wenn es bei diesem Vorgang überhaupt irgendwo Aufregung gab, dann eher an John Aarons Konsole als an Bord von Apollo 13. Aarons Berechnungen zufolge durfte das Schiff nicht mehr als 43 Ampere verbrauchen, wenn es über genügend Strom für den zwei Stunden dauernden Wiedereintritt verfügen sollte. Aber da er sich bei der Diskussion in Zimmer 210 durchgesetzt hatte, als es um den Zeitpunkt zum Einschalten der Telemetrie gegangen war, würde er erst dann wissen, ob er sich im Bereich des Erlaubten befand, wenn sämtliche Systeme in der Kommandokapsel in Betrieb waren und die Datenübermittlung zur Erde wieder funktionierte. Sollte sich herausstellen, daß die »Odyssey« mehr als 43 Ampere verbrauchte, und sei es auch nur für kurze Zeit, dann bestand die Gefahr, daß die Batterien noch vor der Landung im Wasser leer waren. Als Lovell Swigert hinauf in die »Odyssey« schickte, beugten sich Aaron, Liebergot, Dumis und Burton gespannt über die EECOM-Konsole. Zwanzig Minuten lang fand so gut wie kein
Funkverkehr mit dem Schiff statt. Schließlich meldete Lovell der Bodenkontrolle, die letzten Schalter seien umgelegt, darunter auch die für die Telemetrie. Langsam wurde der Bildschirm des EECOM wieder hell. Als die Ampere-Daten auftauchten, zuckten die vier EECOMs zurück, als hätten sie sich die Finger verbrannt. Dort stand die Zahl 45. »Mist«, fluchte Aaron. »Was, zum Teufel, haben diese 2 Ampere da zu suchen?« »Ich habe keine Ahnung«, sagte Liebergot. »Ich würde was dafür geben, wenn ich’s wüßte«, ließ sich Burton vernehmen. »Tja, die haben da jedenfalls mit Sicherheit nichts verloren. Wir sind weit über unserem Limit!« Aaron meldete sich bei seinem Unterstützungsteam. »Elektronik, EECOM.« »Los, EECOM«, tönte es zurück. »Wir verbrauchen hier 2 Ampere zuviel.« »Ich sehe es, EECOM.« »Geht die Checkliste durch und seht nach, was wir noch wegnehmen können.« »Roger.« Aaron unterbrach die Verbindung und beugte sich zur Führungs- und Navigationskonsole. »Ist bei euch irgend etwas an, das nicht laufen sollte?« »Nein, soweit ich sehen kann, John.« »Gut, überprüft es. Irgend etwas schluckt 2 Ampere.« Während Aaron sich mit seinem GNC unterhielt, verteilten sich Liebergot, Dumis und Burton in den vorderen drei Reihen und sahen nach, ob möglicherweise ein anderer Controller ein Instrument angelassen hatte, das jetzt unnötig Strom verbrauchte. Noch bevor jemand anders reagieren konnte, meldete sich Aarons Unterstützungsteam zurück. »EECOM, ECS«, sagte der Controller. »Schieß los.«
»Wir haben es. Es sind die B-MAGs, die Ersatzkreisel. Sag dem GNC, die Crew soll sie abstellen.« Aaron beugte sich sofort wieder nach links. »Check deine BMAGs, GNC. Sind sie an?« Der Führungs- und Navigationsoffizier blickte auf seinen Bildschirm und sackte zusammen. »Ach, verflucht«, stöhnte er. »Flight, EECOM«, meldete sich Aaron. »Sagen Sie dem CAPCOM, er soll die Crew die Ersatzkreisel abstellen lassen.« Joe Kerwin gab Aarons Nachricht an die »Odyssey« weiter, wo Swigert den entsprechenden Schalter betätigte, worauf die Ampere-Daten am Bildschirm des EECOM wieder auf 43 sanken. Aber wie Aaron befürchtet hatte, waren ein paar kostbare Ampere vergeudet. Mit dem Hochschalten der Kommandokapsel – auch wenn dies nur teilweise erfolgte – war die Mondfähre »Aquarius« entbehrlich geworden. Nach einer Flugzeit von 140 Stunden und 52 Minuten – weniger als zwei Stunden vor der Landung – war Apollo 13 25 000 Kilometer von der Erde entfernt und näherte sich ihr mit einer Geschwindigkeit von mehr als 15 000 Kilometern pro Stunde. Die Erde war längst nicht mehr eine in weiter Ferne liegende Scheibe inmitten von Sternen, sondern eine riesige blaue Masse, die, vom dreieckigen Fenster des LEM aus betrachtet, den ganzen Himmel ausfüllte. Während er durch das Bullauge hinausblickte, sagte Lovell: »Freddo, es wird Zeit, daß wir aus dem Schiff hier abhauen.« Von Haise kam kein Ton. »Freddo?« Lovell drehte sich zu seinem Kollegen um und erschrak bei dessen Anblick. Haise stützte sich mit aschfahlem Gesicht an das Schott.
Er hatte die Augen geschlossen, die Arme um den Oberkörper geschlungen und zitterte am ganzen Leib vor Kälte. »Fred!« sagte Lovell. Es klang besorgter, als er beabsichtigt hatte. »Du siehst furchtbar aus.« »Vergiß es«, sagte Haise abwinkend. Es fiel wenig überzeugend aus. »Vergiß es. Mir geht’s gut.« »Genau«, sagte Lovell und schwebte zu ihm hin. »Du siehst einfach Klasse aus. Kannst du noch zwei Stunden durchhalten?« »Ich kann so lange durchhalten, wie ich muß.« »Zwei Stunden, das reicht allemal. Danach treiben wir im Südpazifik, machen die Luke auf, und draußen hat es 27 Grad.« »Siebenundzwanzig Grad«, wiederholte Haise etwas verträumt und fing wieder an zu zittern. »Mann«, murmelte Lovell, »du bist völlig fertig.« Der Kommandant stellte sich hinter Haise und legte die Arme um ihn, damit er etwas von seiner Körpertemperatur abbekam. Zuerst schien es nichts zu bewirken, aber nach und nach legte sich das Zittern. »Fred, warum gehst du nicht nach oben und hilfst Jack?« sagte Lovell. »Ich mache hier alles fertig.« Haise nickte und wollte in den Tunnel springen. Aber vorher hielt er inne und sah sich eine ganze Weile im Cockpit der »Aquarius« um. Plötzlich schwebte er zu seinem Platz. Dort hing ein großes Netzgewebe an der Wand, mit dem verhindert wurde, daß kleinere Gegenstände hinter das Armaturenbrett treiben konnten. Haise packte das Netz, zog einmal heftig daran und riß es ab. »Als Souvenir«, sagte er achselzuckend, knüllte das Gewebe zusammen, stopfte es in die Tasche und verschwand im Tunnel.
Sobald er alleine in der Mondfähre war, blickte Lovell sich ebenfalls lange um. In den vier Tagen, die sie auf engstem Raum gemeinsam verbracht hatten, hatte sich im Cockpit allerhand Müll angesammelt, und das am Montagabend noch makellose Mondlandefahrzeug »Aquarius« sah mittlerweile aus wie ein galaktischer Schrottkahn. Lovell watete durch Papierfetzen und Abfälle zu seinem Fenster. Bevor er selbst das Schiff verließ, hatte er noch etwas zu erledigen: Er mußte die aneinandergekoppelten Schiffe in die von Jerry Bostick vorgegebene Lage steuern, damit das LEM vor der neuseeländischen Küste im Ozean versank. Lovell packte ein letztes Mal den Lagesteuerungsgriff und zog ihn zur Seite. Das Schiff gierte leicht, und einige herumtreibende Blätter gerieten in Bewegung. Ohne den Versorgungsteil, durch den der Schwerpunkt so weit nach hinten verlagert worden war, ließ sich die »Aquarius« weitaus besser steuern. Sie war jetzt fast so wendig, wie Lovell es von der Arbeit am Simulator in Houston und Florida her in Erinnerung hatte. Mit ein paar gekonnten Steuermanövern brachte er das Landefahrzeug in die gewünschte Position und meldete sich dann bei der Bodenkontrolle. »O.K. Houston, Aquarius. Ich bin in der für das Abtrennen des LEM gewünschten Lage und gedenke jetzt auszusteigen.« »Etwas Besseres fällt mir auch nicht ein«, erwiderte Kerwin. Lovell schaltete die letzten Systeme ab und beschloß dann, ebenfalls ein Souvenir mitgehen zu lassen. Er streckte die Hand aus, ergriff den über dem Fenster angebrachten Sextanten und drehte einmal daran. Er ließ sich leicht abschrauben, und Lovell steckte ihn ein. Als er sich in dem Stauraum hinten im Cockpit umschaute, sah er den Helm, den er auf dem Mond hätte tragen sollen, ergriff ihn und klemmte ihn sich unter den Arm. Schließlich nahm er sich das andere Fach vor und holte die Plakette heraus, die Haise und er am
vorderen Landebein des LEM befestigen wollten, sobald sie ausgestiegen und zur Erkundung losgezogen wären. Lovell hielt seine Beute fest, sprang durch den Tunnel in die untere Ausrüstungs-Bucht der »Odyssey«, packte seine Souvenirs in eine Staukiste und begab sich zu den Couchs. Er wollte sich instinktiv zum Platz auf der linken Seite begeben, doch als er sich aus der Ausrüstungs-Bucht hervorwand, stellte er fest, daß Haise sich zwar auf der Couch an der rechten Seite angeschnallt hatte, Swigert aber den Platz des Kommandanten eingenommen hatte. Während der Abstiegs- und Wiedereintrittsphase nach einem Mondflug war es üblich, daß der Kommandant seinen gewohnten Platz dem Piloten der Kommandokapsel überließ. Da die kritischsten Aufgaben bei diesen Flügen dem Kommandanten und dem Piloten der Mondfähre zufielen, wurde der Kapselpilot häufig übersehen. Während des Wiedereintritts jedoch, wenn das LEM, mit dem die beiden anderen Astronauten zum Mond geflogen waren, längst abgetrennt war, übernahm grundsätzlich der Pilot der Kommandokapsel die Verantwortung. In Anerkennung seines fliegerischen Könnens und als Ausgleich für die undankbare Aufgabe, die er bislang übernommen hatte, durfte er die Kapsel landen. Deshalb mußte der Kommandant dieser Mission jetzt, als der Wiedereintritt näherrückte, mit der mittleren Couch vorliebnehmen. »Skipper meldet sich an Bord«, sagte Lovell zu Swigert. »Aye-aye«, antwortete Swigert etwas befangen. Lovell setzte seinen Kopfhörer auf und nickte, dann meldete sich Swigert über Funk. »O.K. Houston, wir sind bereit zum Schließen der Luke.« »O.K. Jack. Hat Jim sämtliche Filme aus der Aquarius mitgenommen?« Lovell nickte Swigert zu.
»Ja«, sagte Swigert. »Wird bestätigt. Und wir haben auch daran gedacht, Jim rauszuholen.« »Gut gemacht, Jack«, sagte Kerwin. »Dann wollen wir jetzt, daß ihr die Luke verschließt und den Tunnel bis auf etwa 3 psi ausblast. Wenn die Luke den Druck etwa eine Minute zurückhält, ist das O.K. und ihr könnt die Aquarius abtrennen.« »O.K.«, sagte Swigert. »Habe verstanden.« Lovell bedeutete Swigert, er solle an seinem Platz bleiben, stand von seiner Couch auf und schwebte zur unteren Ausrüstungs-Bucht. Er tauchte in den Tunnel, klappte die Luke zum LEM zu und legte den Hebel um. Dann zog er sich in die »Odyssey« zurück, holte die Luke, die er am Montag abend entfernt und gesichert hatte, und paßte sie wieder ein. Falls die Luke sich als ebenso widerspenstig erweisen sollte wie vor vier Tagen, konnte das LEM nicht abgetrennt werden, und der Wiedereintritt konnte nicht so erfolgen wie geplant. Selbst wenn die Luke schließen sollte, würde es ein paar Minuten dauern, bis die Drucksensoren bestätigten, daß alles dicht war und das Schiff keine Atemluft verlor. Ohne diese Bestätigung wäre der Wiedereintritt natürlich nicht möglich. Argwöhnisch betrachtete Lovell die Luke und betätigte den Verschlußmechanismus. Mit einem satten Klicken rastete die Verriegelung ein. Er stellte den Schalter zum Ausblasen des Tunnels ein und ließ die Atemluft ins All entweichen, bis nur mehr ein Druck von 2,8 psi herrschte. Dann kippte er den Schalter zurück und schwebte wieder zu seiner Couch. »Dicht?« fragte Swigert. »Ich hoffe es«, sagte Lovell. Auf diese laue Bestätigung hin betätigte der Kapselpilot etliche Schalter am Armaturenbrett und nahm das Sauerstoffsystem in Betrieb, worauf frisches CO2 ins Cockpit
strömte. Mehrere Sekunden lang starrte er gespannt auf die Anzeige. »O nein«, stöhnte Swigert auf. »Stimmt etwas nicht?« fragten Lovell und Haise fast einstimmig. »Der Zustrom ist zu hoch. Sieht so aus, als hätten wir ein Leck.« John Aaron, der in der Bodenkontrolle über den Bildschirm des EECOM gebeugt war, entdeckte den Sauerstoff-Wert zum gleichen Zeitpunk wie Swigert. »O nein«, stöhnte er. »Stimmt etwas nicht?« fragten Liebergot, Burton und Dumis fast einstimmig. »Der Zustrom ist zu hoch. Sieht so aus, als hätten wir ein Leck.« Swigert meldete sich über den Boden-Bord-Funk: »O.K. Houston, wir haben hohen O2-Zustrom.« »Roger, Jack«, antwortete Kerwin. »Wir überprüfen es.« Während Swigert den Blick nicht von den Instrumenten nahm, meldete sich Aaron bei seinem Unterstützungsteam. Er und die anderen Ingenieure unterhielten sich leise über die mögliche Ursache eines Lecks, während die drei anderen EECOMs in der zweiten Reihe laut miteinander diskutierten. Nach wenigen Minuten meinte Aaron das Problem gelöst zu haben. Im LEM herrschte etwas weniger Druck als in der Kommandokapsel. Da während der letzten vier Tage die Luke offen und die »Odyssey« abgeschaltet gewesen war, war der Druck in beiden Raumfahrzeugen von der »Aquarius« aus geregelt worden. Als die Kommandokapsel hochgeschaltet war und die Luke verschlossen wurde, stellten die Drucksensoren den Unterschied fest, worauf sofort der Zustrom erhöht wurde, um den üblichen Kabinendruck herzustellen. In wenigen
Augenblicken, so dachte sich Aaron, müßte dieser Wert erreicht sein, und dann sollte auch der hohe Zustrom aufhören. »Reißt euch mal eine Minute zusammen«, sagte er zu den Umstehenden. »Ich glaube, es regelt sich von selbst.« Vierzig Sekunden später pendelten sich die Daten auf dem Bildschirm des EECOM und im Raumfahrzeug ein. »O.K.«, sagte Swigert hörbar erleichtert, »er sinkt jetzt, Joe.« »Roger«, meldete sich Kerwin. »In diesem Fall könnt ihr das LEM abtrennen, wenn ihr dazu bereit seid.« Lovell und Swigert blickten auf den Zeitnehmer am Armaturenbrett. Ihre Flugzeit betrug jetzt 141 Stunden und 26 Minuten. »Kann ich’s in vier Minuten machen?« fragte Swigert. »Eine hübsche runde Zahl«, antwortete Lovell. »O.K. Houston«, meldete sich Swigert. »Wir trennen ab bei 141 plus 30.« Von den fünf Fenstern in der Kapsel aus konnten die Astronauten lediglich das silbern spiegelnde Dach der »Aquarius« sehen. Dreieinhalb Minuten verstrichen. »Dreißig Sekunden bis zum Abtrennen des LEM«, sagte Swigert. »Zehn Sekunden.« »Fünf.« Swigert griff zum Armaturenbrett. »Vier, drei, zwei, eins, zero.« Der Kapselpilot legte den Kippschalter um, und die drei Besatzungsmitglieder vernahmen einen dumpfen, beinahe komisch klingenden Knall. Von ihren Fenstern aus sahen sie, wie die Mondfähre zurückfiel, und sie sahen den Verbindungstunnel, dann die S-Band-Antenne, danach die wie Grasbüschel abstehenden anderen Antennen. Langsam vollführte die jetzt nicht mehr angekoppelte »Aquarius« eine anmutige Rolle vornüber.
Lovell blickte gebannt hinaus auf das sich drehende Schiff, sah die Fenster, die Lagesteuerungsraketen. Er konnte die vordere Luke erkennen, durch die Haise und er nach der Landung im Staub der Fra-Mauro-Berge ausgestiegen wären. Er erkannte das Trittbrett, auf dem er gestanden hätte, um die Ausrüstungsbucht zu öffnen, bevor er den Fuß auf den Mond gesetzt hätte. Und er sah, wie die neunstufige Leiter, über die er hinabgestiegen wäre, beinahe höhnisch in der Sonne glitzerte. Das LEM rollte sich weiter ab, so daß es kopfüber hing und mit den vier ausgestellten Landebeinen zu den Sternen deutete, während die knittrige goldene Haut der Abstiegsstufe das Licht einfing und zur »Odyssey« warf. »Houston, LEM-Abtrennung ist erfolgt«, verkündete Swigert. »O.K. habe verstanden«, sagte Kerwin leise. »Lebwohl, ›Aquarius‹, und vielen Dank.« Nach dem Abtrennen des Landefahrzeugs war nur mehr der Grundbaustein von Apollo 13 übrig. Ohne die 36stöckige Saturn-5-Rakete, mit der es von der Rampe abgehoben hatte, die 14,5 Meter lange dritte Raketenstufe, mit der der Einschuß in die Mondbahn erfolgte, dem etwas über 8 Meter langen Versorgungsteil, das Atemluft und Energie hätte liefern sollen, und das 7 Meter hohe LEM, mit dem Lovell und Haise zum Mond fliegen sollten, war von dem Raumfahrzeug lediglich noch die dreieinhalb Meter hohe Kapsel übrig, die nun auf die Erde zusteuerte, wo sie nach einem kontrollierten Rücksturz durch die Atmosphäre im Meer landen würde. Vorher jedoch mußte die Besatzung noch eine Aufgabe erledigen. »Wie sieht es mit dem Monduntergangs-Check aus?« fragte Haise Lovell. »Bist du bereit dafür?« fragte Lovell Swigert. »Sobald wir auf der Nachtseite sind«, antwortete Swigert. Die von Swigert angesprochene Nachtseite der Erde war nur noch einige Minuten entfernt, aber obwohl der Planet unter
ihnen hell erleuchtet war, konnten Lovell, Swigert und Haise nichts erkennen. Apollo 13 näherte sich der Erde rückwärts. Das Raumschiff mußte mit dem Heck voran in die Erdatmosphäre eindringen, denn dort befand sich der Hitzeschild, der die dabei entstehende Reibungsenergie ableitete. Während der letzten Stunde näherten sich die Astronauten deshalb der Erde im Blindflug und in Rückenlage. Lediglich ihre Instrumente verrieten ihnen, wie hoch sie sich noch über dem Ozean befanden. Die Kapsel blieb mehrere Minuten lang auf diesem Kurs, dann schwenkte sie in die Erdumlaufbahn ein, flog bei Dämmerung über Westeuropa und Westafrika hinweg und bei Dunkelheit über den Nahen Osten. Das Raumfahrzeug näherte sich der Erde immer mehr, und die dunkle Masse unter seinem Heck breitete sich zunehmend aus. Schließlich sahen auch die Astronauten von ihren Fenstern aus den großen, abgerundeten Schatten, und sie wußten, sie waren wieder zu Hause. Darüber hing – ungewohnt klein – ein weißer, zu drei Vierteln voller Mond. »Houston«, meldete sich Swigert, »nehmen MonduntergangsCheck vor.« Der Kapselpilot warf einen Blick auf seine 8er Kugel, um sich von der Lage der »Odyssey« zu überzeugen, und sah dann aus dem Fenster auf den Mond. Als die Kapsel zunehmend an Höhe verlor und der Horizont immer höher aufragte, sank der Mond tiefer und tiefer. »Er geht unter, Joe«, meldete sich Swigert bei Kerwin. »Wir sind jetzt auf etwa 45 Grad runter, und er geht weiter unter.« »Roger.« »Jetzt ist er auf 38 Grad.« »O.K. Jack. Klingt sehr gut.« Lovell und Haise achteten auf den Flugzeitnehmer am Armaturenbrett, während Swigert aus dem Fenster schaute.
Der Mond sank von 38 auf 35 Grad, dann auf 20 und noch tiefer. Der Zeitpunkt, zu dem laut Jerry Bostick der Mond untergehen sollte, rückte immer näher. Schließlich blieben nur mehr fünfzehn Sekunden. »Siehst du irgend etwas, Jack?« fragte Lovell. »Bis jetzt nicht.« »Jetzt?« »Negativ.« »Jetzt? Nur noch drei Sekunden.« »Noch nichts«, antwortete Swigert. Dann, genau zu dem vom FIDO vorausgesagten Zeitpunkt, sank der Mond noch ein Stück, und mit einem Mal tauchte am unteren Rand eine dunkle Einkerbung auf. Mit einem breiten Grinsen drehte sich Swigert zu Lovell um. »Monduntergang«, sagte er und ging auf Sendung. »Houston, Lage ist gecheckt und O.K.« »Gut gemacht«, sagte Joe Kerwin. Jim Lovell drehte sich zu den links und rechts von ihm sitzenden Männern um und lächelte. »Gentlemen«, sagte er, »wir sind kurz vor dem Wiedereintritt. Ihr solltet euch auf einiges gefaßt machen.« Der Kommandant überprüfte unwillkürlich die Sitzgurte um Schulter und Schoß und straffte sie etwas. Swigert und Haise taten instinktiv das gleiche. »Joe, wie weit draußen sind wir jetzt?« fragte Swigert den CAPCOM. »Ihr fliegt mit einer Geschwindigkeit von 40000 Kilometern pro Stunde und seid so nahe an der Erde, daß wir euch auf unserer Projektionswand kaum mehr sehen können.« »Ich weiß, daß wir alle euch für die prima Arbeit danken wollen, die ihr geleistet habt«, sagte Swigert. »Wird bestätigt, Joe«, stimmte Lovell zu.
»Ich will euch eins sagen«, erwiderte Kerwin. »Wir haben das gerne getan.« Daraufhin schwieg die Besatzung im Raumfahrzeug, und auch im Kontrollraum in Houston kehrte Stille ein. In vier Minuten würde die Kapsel in die obersten Schichten der Atmosphäre eindringen, und aufgrund der Reibungshitze würden Temperaturen bis zu knapp 3000 Grad auf den Hitzeschild einwirken. Wenn die dabei entstehende Energie in Elektrizität umgewandelt würde, entspräche sie einer Leistung von 86000 Kilowatt-Stunden, genug, um Los Angeles anderthalb Minuten lang mit Strom zu versorgen. An Bord des Raumfahrzeugs jedoch hätte diese Hitze nur eine Wirkung: Mit steigender Temperatur würde die Kapsel von einer Schicht aus ionisierter, elektrisch leitender Luft eingehüllt, so daß etwa vier Minuten lang die Funkverbindung zwischen Schiff und Bodenkontrolle abreißen würde. Erst hinterher, wenn der Funkkontakt wiederhergestellt wurde, würden die Controller am Boden erfahren, ob der Hitzeschild intakt geblieben war und die Crew überlebt hatte. Wenn nicht, mußten sie davon ausgehen, daß die Besatzung den Hitzetod gestorben war. An der Konsole des Flugdirektors stand Gene Kranz auf, zündete sich eine Zigarette an und setzte sich mit seinen Controllern in Verbindung. »Sprechen wir vor dem Wiedereintritt noch einmal alles durch«, verkündete er. »EECOM, haben Sie GO!« »GO, Flight«, antwortete Aaron. »RETRO?« »GO.« »GUIDO?« »GO.« »GNC?« »GO, Flight.« »CAPCOM?«
»GO.« »INCO?« »GO.« »FAO?« »Wir haben GO, Flight.« »CAPCOM, Sie können der Crew mitteilen, daß sie GO für den Wiedereintritt haben.« »Roger, Flight«, sagte Kerwin. »Odyssey, hier Houston. Wir hatten gerade eine letzte Konferenzschaltung, und jeder sagt, daß ihr großartig ausseht. In etwa einer Minute wird das Signal abreißen. Willkommen daheim.« »Vielen Dank«, sagte Swigert. In den folgenden sechzig Sekunden starrte Swigert wie gebannt aus dem linken Fenster, Haise richtete den Blick zum rechten Fenster des Raumfahrzeugs und Lovell zum mittleren. Draußen wurde ein schwaches rosa Schimmern erkennbar, und gleichzeitig spürte Lovell die ersten Anzeichen der wieder einsetzenden Schwerkraft. Dann ging die rosa Farbe in einen Orangeton über, und die eher andeutungsweise vorhandene Schwerkraft stieg auf etwa ein g. Langsam verwandelte sich der Orangeton in ein sattes Rot, als sich glühende Partikel vom Hitzeschild lösten, und die Schwerkraft stieg auf zwei, drei, fünf g, und erreichte kurzfristig Spitzenwerte von bis zu sechs g. In Lovells Kopfhörer ertönte nur statisches Rauschen. Auch die Männer an den Konsolen in der Mission Control empfingen über ihre Kopfhörer nichts als dieses Rauschen. Sobald es einsetzte, wurden sämtliche Gespräche auf dem Netz des Flugdirektors, zwischen den Controllern und ihren Nebenkontrollräumen und auch im Auditorium selbst eingestellt. Der digitale Flugzeitnehmer an der Stirnseite des Raumes stand bei 142 Stunden und 38 Minuten. Sobald er bei 142 Stunden und 42 Minuten angelangt war, würde Joe Kerwin das Raumfahrzeug rufen. Während der ersten beiden Minuten
ohne Funkkontakt gab es im Kontrollraum und auf der Besuchergalerie keinerlei Bewegung. Als die dritte Minute verstrich, rutschten etliche Controller unruhig auf ihren Sitzen hin und her. Als die vierte Minute sich dem Ende zuneigte, reckten einige Männer im Kontrollraum den Hals und blickten zu Gene Kranz. »In Ordnung, CAPCOM«, sagte der Flugdirektor und drückte die Zigarette aus, die er sich vier Minuten vorher angezündet hatte. »Teilen Sie der Crew mit, daß wir auf Meldung warten.« »Odyssey, Houston wartet auf Meldung, over«, meldete sich Kerwin. Vom Raumfahrzeug war nichts als statisches Rauschen zu hören. Fünfzehn Sekunden verstrichen. »Versuchen Sie es noch mal«, ordnete Kranz an. »Odyssey, Houston wartet auf Meldung, over.« Weitere fünfzehn Sekunden vergingen. »Odyssey, Houston wartet auf Meldung, over.« Weitere dreißig Sekunden verstrichen. Die Männer an den Konsolen starrten gebannt auf ihre Bildschirme. Die Gäste auf der VIP-Galerie sahen einander an. »CAPCOM, versuchen Sie es noch mal«, befahl Kranz. Langsam vergingen weitere drei Sekunden, dann auf einmal änderte sich das Rauschen in den Kopfhörern der Controller. Eigentlich war es nicht mehr als eine leichte Frequenzschwankung, aber sie war deutlich feststellbar. Unmittelbar darauf ertönte unverkennbar eine menschliche Stimme. »O.K. Joe«, meldete sich Jack Swigert. Joe Kerwin schloß die Augen und atmete tief durch, Gene Kranz stieß die Faust in die Luft, und die Menschen auf der VIP-Galerie umarmten sich und klatschten. Die Astronauten in der nicht länger vom Kontakt mit der Außenwelt abgeschnittenen Kapsel verbrachten einen relativ
ruhigen Flug. Als sich der Ionensturm um das Schiff legte, hatte die immer dichter werdende Atmosphäre den zunächst 40000 Stundenkilometer schnellen Sturz bis zu einem vergleichsweise sanften freien Fall bei knapp 500 Kilometern pro Stunde abgebremst. Das feurige Rot vor den Fenstern war in einen hellen Orangeton übergegangen, dann in ein Hellrosa und schließlich in den altbekannten Blauton. Während der letzten Minuten der Funkstille hatte die Kapsel die Nachtseite der Erde verlassen und flog in den Tag hinein. Lovell schaute auf die Schwerkraft anzeige: Dort stand 1,0 g. Er warf einen Blick auf den Höhenmesser: Er zeigte 35000 Fuß an, etwa 10500 Meter. »Bereitmachen für die Bremsfallschirme«, sagte Lovell zu seinen Kollegen. »Und wollen wir hoffen, daß sie richtig zünden.« Der Höhenmesser fiel von 28000 auf 26000 Fuß, knapp 8000 Meter. Bei 24000 Fuß hörten die Astronauten einen dumpfen Knall. Sie blickten aus den Fenstern und sahen zwei helle Stoffstreifen. Dann blähten sie sich auf. »Wir haben zwei geöffnete Bremsfallschirme«, meldete Swigert der Bodenkontrolle. »Roger«, antwortete Kerwin. Inzwischen flog die Kapsel zu langsam und zu niedrig, als daß sich Geschwindigkeit und Höhe am Armaturenbrett ablesen ließen, aber Lovell wußte, daß sie sich laut Flugplan im Augenblick knapp 20000 Fuß (etwa 6000 Meter) über dem Wasser befanden und mit einer Geschwindigkeit von lediglich 280 Kilometern pro Stunde fielen. Vor weniger als einer Minute hatten sich die beiden Bremsfallschirme von selbst abgesprengt und drei weitere waren ausgelöst worden, gefolgt von den drei Hauptfallschirmen. Einen Sekundenbruchteil lang schossen diese Stoffbahnen durch die Luft, dann blähten sie sich so ruckartig auf, daß die Astronauten an ihre Couchen gepreßt wurden. Lovell warf instinktiv einen Blick zum
Armaturenbrett, aber der Geschwindigkeitsmesser zeigte keine Veränderung an. Er wußte jedoch, daß ihre Sinkgeschwindigkeit jetzt nur mehr 32 Kilometer pro Stunde betragen müßte. An Deck der USS »Iwo Jima« blickte Mel Richmond blinzelnd zum Himmel, sah aber nichts als blauen Äther und weiße Wolken. Der Mann links neben ihm suchte ebenfalls schweigend den Himmel ab und stieß dann einen leisen Fluch aus, was darauf hindeutete, daß auch er nichts sah. Dem Mann rechts von ihm ging es genauso. Die Matrosen traten an Deck an und richteten nach allen Seiten Laufplanken aus. Plötzlich schrie jemand hinter Richmonds Rücken: »Da ist sie!« Richmond drehte sich um. Nur ein paar hundert Meter entfernt sank ein winziger schwarzer Kegel, der an drei riesigen Fallschirmen hing, dem Wasser entgegen. Er jubelte, und die Männer links und rechts von ihm fielen ebenso ein wie die Matrosen an Deck. Die in der Nähe stehenden Kameramänner folgten ihren Blicken und stellten ihre Objektive ein. In der Mission Control flackerte der riesige Projektionsschirm an der Stirnseite des Raumes auf und zeigte die herabschwebende Kapsel. Auch hier stimmten die Männer Jubelrufe an. »Odyssey, hier Houston. Wir sehen euch an den Hauptfallschirmen«, rief Joe Kerwin, der sich das eine Ohr zuhalten mußte. »Sieht wirklich großartig aus.« Kerwin wartete auf eine Antwort, konnte aber bei dem Lärm rundum nichts hören. Er wiederholte den eigentlichen Sinn der Mitteilung: »Wir haben euch im Fernsehen, Jungs!« Von der Kapsel aus, der der Applaus der Männer in der Mission Control und auf der »Iwo Jima« galt, funkte Jack Swigert ein »Roger« zurück, aber er achtete weniger auf die Stimme im Kopfhörer als auf den rechts von ihm liegenden
Mann. Jim Lovell, der einzige in der Kapsel, der so etwas schon mitgemacht hatte, warf einen letzten Blick auf den Höhenmesser und hielt sich dann unwillkürlich am Rahmen der mittleren Couch fest. Swigert und Haise taten instinktiv das gleiche. »Festhalten«, sagte der Kommandant. »Wenn es so ähnlich geht wie bei Apollo 8, kann es etwas ruppig werden.« Dreißig Sekunden später spürten die Astronauten, wie sie abrupt, aber schmerzlos abgebremst wurden, als die Kapsel – ganz anders als Apollo 8 – glatt ins Wasser tauchte. Sofort blickten die drei Besatzungsmitglieder zu den Bullaugen auf. Vor allen fünf Scheiben sahen sie Wasser. »Männer«, sagte Lovell, »wir sind wieder daheim.«
Marilyn stieß einen Freudenschrei aus. Mit Tränen in den Augen saß sie inmitten der Menschen in ihrem Wohnzimmer und sah am Fernseher zu, wie die »Odyssey« auf dem Wasser aufschlug und die drei Fallschirme, an denen die Kapsel herab geschwebt war, ins Meer sanken. Sie hatte ihren Sohn Jeffrey die ganze Zeit über auf dem Schoß sitzen gehabt, und als das Raumschiff tiefer und tiefer schwebte, hatte sie ihn unwillkürlich immer fester an sich gedrückt. Als die Wasserung erfolgte, schrie Jeffrey protestierend auf. »Tut mir leid«, sagte Marilyn lachend und weinend zugleich und küßte ihn auf den Kopf. »Tut mir leid.« Sie drückte ihn noch einmal an sich und ließ ihn dann herunter. Augenblicklich tauchte Betty Benware auf und umarmte sie kräftig. Dann erschienen Adeline Hammack und Susan Borman. Weiter hinten öffnete Pete Conrad die erste Flasche Sekt, gefolgt von Buzz Aldrin und Neil Armstrong, und die anderen taten es ihnen gleich. Marilyn stand auf, suchte ihre anderen Kinder und umarmte sie, während auf allen Seiten der
Sekt spritzte. Jemand gab ihr ein Glas in die Hand. Sie trank einen langen, prickelnden Schluck, und wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen – diesmal allerdings wegen des Sekts. Von weitem hörte Marilyn das Telefon im Schlafzimmer klingeln. Es klingelte ein zweites Mal, und Betty verschwand, um den Hörer abzunehmen. Einen Augenblick später tauchte sie wieder auf. »Marilyn, das Weiße Haus ist dran.« Marilyn reichte einem der Umstehenden ihr Glas, rannte ins Schlafzimmer und ergriff den herunterbaumelnden Hörer. »Mrs. Lovell«, meldete sich eine Frauenstimme. »Ich verbinde Sie mit dem Präsidenten.« Mehrere Sekunden vergingen, und dann vernahm Marilyn die tiefe, bekannte Stimme. »Marilyn, hier ist der Präsident. Ich wollte mich erkundigen, ob Sie Lust haben, mich nach Hawaii zu begleiten und Ihren Mann abzuholen.« Marilyn schwieg geistesabwesend, lächelte im Gedanken an das Raumfahrzeug, das sie gerade im 27 Grad warmen Wasser des Südpazifik hatte schaukeln sehen, vor sich hin. Ein leichtes Knacken ertönte in der Verbindung mit Washington. »Mr. President«, sagte sie schließlich. »Von Herzen gerne.«
Epilog
Weihnachten 1993 Wenn Jim Lovell sich nur eine Sekunde später umgedreht hätte, hätte seine Enkelin vielleicht den Hitzeschild der »Odyssey« kaputtgemacht. Genaugenommen war es nicht der ganze Hitzeschild, den die zehn Monate alte Allie Lovell beschädigt hätte, als sie sich an der Kredenz im Arbeitszimmer ihres Großvaters hochziehen wollte, sondern nur ein flaschenkorkengroßes Stück, das in einen Briefbeschwerer aus Plexiglas eingegossen war. Lovell hing sehr an dieser bescheidenen Trophäe. Immerhin hatte er in den Monaten nach der Wasserung von Apollo 13, als die NASA Andenken im Dutzend anfertigen ließ, gehofft, ein Stück vom Hitzeschild ergattern zu können. Die kleinen Überbleibsel waren eigentlich gar nicht für die Besatzungsmitglieder bestimmt gewesen, sondern für die Staatsoberhäupter, mit denen die Astronauten auf ihrer nach der Rückkehr aus dem All in aller Eile organisierten Reise durch fünf Länder zusammentreffen würden. Als die Auslandsbesuche jedoch beendet waren, war eines der Andenken übriggeblieben, und der Mann, der das Raumfahrzeug kommandiert hatte, von dem dieses verkohlte Stück stammte, hatte es als Souvenir eingesteckt und mit nach Hause genommen. »Holla!« sagte Lovell jetzt, als Allie mit der Hand über die Kredenz fegte und das dreiundzwanzig Jahre alte Andenken um ein Haar heruntergeworfen hätte. »Faß das lieber nicht an.«
Mit zwei raschen Schritten war Lovell bei seiner Enkelin, hob sie hoch, legte sie wie einen Mehlsack über die Schulter und küßte sie auf die Stirn. »Vielleicht sollten wir lieber deinen Daddy suchen gehen«, sagte er. Der Tag fing gerade erst an, und Lovell hatte das Gefühl, daß ihm ein paar hektische Stunden mit noch etlichen BeinaheUnfällen bevorstanden. Nicht nur Jeffrey, sein jüngster Sohn, würde mit seinem Nachwuchs zum Weihnachtsessen anwesend sein, sondern auch seine anderen Kinder. Die Lovells der zweiten Generation würden alles in allem sieben Lovells der dritten Generation mitbringen – von zehn Monaten bis zu sechzehn Jahren alt –, und vermutlich würden noch allerhand weitere Erinnerungsstücke, die in dem getäfelten Zimmer auslagen, in Gefahr geraten. Da waren reihenweise Plaketten, eine ganze Wand voller Urkunden, die eingerahmten Glückwunschbriefe von Präsidenten und Vizepräsidenten, Gouverneuren und Senatoren, die nach den erfolgreichen Flügen mit Gemini 7, Gemini 12 und Apollo 8 eingegangen waren. Ebenfalls unter Glasrahmen waren die kleinen Stofflaggen und Uniformaufnäher, die Lovell bei diesen Flügen getragen hatte. Ferner war da der »Emmy«, den man Lovell, Frank Borman und Bill Anders allen Ernstes für ihre Übertragung aus der Mondumlaufbahn zu Weihnachten vor fünfundzwanzig Jahren verliehen hatte. Links und rechts des »Emmy« lagen weitere Pokale und Orden aus – die Collier Trophy, die Harmon Trophy, die Hubbard Medal, die deLavaulx Medal –, die Lovell allesamt nach seinen ersten drei Raumflügen überreicht worden waren. Am stolzesten aber war er auf die Mitbringsel aus den drei Raumfahrzeugen, die er geflogen hatte: die Systembücher, Flugpläne, Stifte und anderen Utensilien, darunter sogar Zahnbürsten.
Was in diesem mit Erinnerungen erfüllten Raum jedoch fast völlig fehlte, waren Andenken an Lovells vierten und letzten Flug, seinen einzig nicht erfolgreichen. Für eine Mission, die ihr vornehmliches Ziel nicht erreicht, gibt es keine Harmon Trophy, und wenn ein Raumfahrzeug explodiert, bevor es sein Ziel erreicht, wird einem auch keine Collier Trophy verliehen. An den Flug von Apollo 13 erinnerten neben dem Stück vom Hitzeschild lediglich ein gerahmter Glückwunschbrief von Charles Lindbergh sowie – auf dem Fensterbrett – die in letzter Minute aus der längst verglühten Mondfähre »Aquarius« mitgenommenen Souvenirs: der Sextant und die für das vordere Landebein gedachte Erinnerungsplakette. Lovell riß sich von diesen Andenken los und trug Allie in die Küche seines gemütlichen Hauses in Horseshoe Bay, Texas, wo Marilyn sich mit Jeffrey und dessen Frau Annie unterhielt. »Ich glaube, die gehört euch«, sagte Lovell zu Jeffrey, als er ihm seine Tochter übergab. »Hat sie wieder herumgekramt?« fragte Jeffrey. »Wollte gerade anfangen.« »Tja, dann mach dich mal auf etwas gefaßt«, sagte Marilyn. »Da kommen noch sechs andere dazu.« Lovell lächelte bei dieser Warnung, aber sie wäre eigentlich nicht notwendig gewesen. In den sechzehn Jahren, die er und Marilyn mit vier Kindern in dem kleinen Häuschen in Timber Cove gewohnt hatten, hatten sie sich an turbulente Feiertage gewöhnt. Timber Cove war natürlich längst Vergangenheit, ein Stück Erinnerung, das, wie so vieles aus den Zeiten des Apollo-Programms, in immer weitere Ferne rückte. Mitte der siebziger Jahre hatten die Familien, die sich rund um das Manned Space Center in den Vorortsiedlungen von Houston niedergelassen hatten, ihre Siebensachen gepackt, die Zelte abgebrochen und sich in alle Winde zerstreut. Diese Abwanderung hatte ganz langsam begonnen – Neil Armstrong
verkündete, er ginge wieder nach Ohio zurück, um als Industrieberater und Dozent am College zu arbeiten; Michael Collins zog nach Washington und stieg beim State Department ein; Frank Borman übernahm einen Posten bei Eastern Airlines –, aber sie war nicht aufzuhalten gewesen. Als 1969 Apollo 11 auf dem Mond landete, hatten sich begeisterte NASA-Planer vorgestellt, sie würden in den frühen siebziger Jahren noch mindestens neun weitere LEMs zu neun weiteren Landepunkten auf dem Mond schicken. Bis zu Beginn der achtziger Jahre, so die optimistischsten Erwartungen, würde das Fundament für die erste ständige Mondbasis stehen, erbaut an genau einer der Stellen, die zuvor von den Astronauten erkundet worden waren. Es kam natürlich ganz anders. Als Apollo 13 noch flog, war Apollo 20 bereits gestrichen, ein Opfer des neuen Sparkurses der Regierung, nachdem die Öffentlichkeit laut gefragt hatte, warum Amerika weitere Mondflüge unternehmen wollte, wo man doch bereits bewiesen habe, daß man hinkommen könne. Nach Apollo 13, als bei soviel kosmischem Übereifer beinahe drei Astronauten ums Leben gekommen wären, wurden rasch auch Apollo 19 und Apollo 18 gestrichen. In Washington gestattete man jedoch die planmäßige Durchführung der Apollo-Flüge 14 bis 17, für die das Gerät bereits gekauft und bezahlt war, und im Laufe der nächsten zweieinhalb Jahre wurden diese letzten Flüge – mit den glücklichen Astronauten, die dafür ausgesucht wurden – zum Mond unternommen. Im Dezember 1972, als die letzte vom Mond zurückkehrende Besatzung im Pazifischen Ozean gelandet war, beschlossen ein paar Mitglieder dieser rund um das Apollo-Programm gewachsenen Gemeinschaft der Testpiloten, in der Gegend zu bleiben. Fred Haise, der aufgrund der Umstände, von Pech und eines schludrig gewarteten Versorgungsteils nicht die Gelegenheit hatte, den Fuß auf den Mond zu setzen, versprach
man andeutungsweise das Kommando bei Apollo 19. Als dieser Flug gestrichen wurde, arbeitete der einstige Pilot der Mondfähre bei den ersten Gleittests des Prototypen für das spätere Space Shuttle mit, bevor er ausstieg und Ende der siebziger Jahre zu Grumman ging. Ken Mattingly, der aufgrund der Umstände, von viel Glück und fehlender Antikörper gegen die Röteln nicht an Bord der gescheiterten Apollo 13 sein durfte, flog schließlich bei der erfolgreichen Mission von Apollo 16 mit und übte sein fliegerisches Können beim anschließenden Shuttle-Programm aus. Deke Slayton, dem man 1959 einen Weltraumflug versprochen hatte, und der dann 1961 erleben mußte, wie dieses Versprechen gebrochen wurde, als man bei ihm Herzrhythmusstörungen feststellte, hielt sich bis 1975 beharrlich im Umfeld des Astronautenkorps auf. Dann durfte er schließlich an Bord einer ausgemotteten Apollo-Kapsel zu einem politisch unschätzbar wertvollen, wissenschaftlich allerdings nutzlosen Rendezvous mit einer sowjetischen Sojus-Kapsel in die Erdumlaufbahn fliegen. In diesem Sommer stieg Deke Slayton zusammen mit Tom Stafford und Vance Brand in das Cockpit des letzten ApolloRaumfahrzeugs der NASA und kam schließlich zu seinem Flug auf der Spitze einer Rakete, auf den er über anderthalb Jahrzehnte hatte warten müssen. Mit Ausnahme dieser und ein paar anderer Piloten, hatten die meisten Männer, die sich in den Anfängen des MondflugProgramms der NASA angeschlossen hatten, ihren Abschied genommen, als die Raumfahrtbehörde sich um andere Dinge kümmerte. Jim Lovell verließ das Astronautenkorps im Jahre 1973 und arbeitete zunächst für eine Schiffsfirma und danach in der Telekommunikationsbranche. Harrison Schmitt, der Pilot der Mondfähre bei Apollo 17, kehrte nach New Mexico zurück und kandidierte erfolgreich für den Senat der USA. Selbst Jack Swigert, der sich bei einem derart unmöglichen
Flug so großartig bewährt hatte, und dem bei der NASA alle Türen offengestanden hätten, beschloß sein Glück nicht überzustrapazieren, kehrte nach Colorado zurück und stieg ebenfalls in die Politik ein. Wie Schmitt kandidierte auch Swigert für den Senat, aber im Gegensatz zu Schmitt verlor er die Wahl. Im Jahre 1982 erklärte der Astronaut im Ruhestand erneut seine Kandidatur, diesmal für das Repräsentantenhaus, und diesmal gewann er. Einen Monat vor seiner Wahl im November jedoch stellte man einen besonders aggressiven Blutkrebs bei ihm fest. Drei Tage vor der Amtseinführung im Januar war er tot. Armer Jack, dachte Lovell oft. Für ihn fing alles immer so gut an und endete immer so schlecht. Im Frühjahr 1970, als Swigert, Lovell und Haise sicher aus dem Weltall zurückkehrten, hatte es natürlich so ausgesehen, als würde es das Schicksal gut mit ihnen meinen. Laut Ortszeit Houston war die Kommandokapsel »Odyssey« am 17 April um 12 Uhr 7 im Pazifik niedergegangen, und seit John Glenns Rückkehr, der vor acht Jahren als erster Amerikaner in einer Umlaufbahn um die Erde geflogen war, hatte die ganze Nation nicht mehr so einhellig vor Erleichterung aufgeseufzt. »Astronauten landen nach viertägiger Tortur sanft und unverletzt im Zielgebiet«, hatte die New York Times verkündet. »Landung der Kapsel mit Applaus, Zigarren und Trinksprüchen begrüßt.« Kurz nachdem die Kapsel ins Wasser getaucht war, hatte man Lovell, Swigert und Haise in ein Rettungsboot geholfen und sie an Bord eines Helikopters gehievt. Auf dem Deck der »Iwo Jima« stiegen sie aus dem Hubschrauber, winkten müde und verschlafen lächelnd den jubelnden Matrosen zu und wurden nach unten gescheucht. Die Männer unterzogen sich der nach einem Flug üblichen medizinischen Untersuchung, bei der abgesehen von der Feststellung, daß sie nicht mehr bei
allerbester Gesundheit waren, nichts Überraschendes herauskam. Haise hatte sich eine fiebrige Infektion zugezogen, und darüber hinaus litten sie alle drei unter Flüssigkeitsverlust, wiesen die bei einem derartigen Erschöpfungszustand üblichen Schwindelgefühle und Orientierungsprobleme auf und hatten allesamt beträchtlich an Gewicht verloren. Lovell, der vor dem Flug 77 Kilo gewogen hatte, hatte am meisten verloren: Fast sechseinhalb Kilogramm in sechs Tagen. Nach der Untersuchung brachte man Lovell und Swigert in den Gästequartieren unter, und Haise kam auf die Krankenstation. An diesem Abend nahmen die beiden gesundgeschriebenen Astronauten an einem gemeinsamen Essen mit den Offizieren der »Iwo Jima« teil. Es gab ein Menü mit Krabben und Salat, Steak, Hummer und alkoholfreiem Sekt, und dazu, so jedenfalls stand es auf der hastig hektographierten Speisekarte, als Nachtisch unter anderem »Mondfrüchte-Melba« und »Apollo-Törtchen«. Obwohl diese Kost, gemessen an den Maßstäben der zivilisierten Welt, vielleicht nicht weiter erwähnenswert war, kam sie den drei Männern, die fast eine Woche lang kalte Rationen aus Plastikbeuteln geschlürft hatten, wie die reinste Ambrosia vor. Tags darauf wurden alle drei Astronauten, die jetzt frischgewaschene blaue Fliegerkombinationen mit einem rechts auf der Brustseite angenähten Apollo-13-Emblem trugen, per Helikopter nach Amerikanisch-Samoa geflogen, wo sie sich an Bord einer Transportmaschine vom Typ C-141 begaben und nach Hawaii gebracht wurden. Dort, so hatte man ihnen mitgeteilt, würden sie von der Air Force One erwartet, der Maschine des Präsidenten. Präsident Nixon hatte Wort gehalten und war an diesem Tag nach Houston geflogen, wo er Marilyn Lovell, Mary Haise und Dr. und Mrs. Leonard Swigert, Jacks Eltern, abholte und sie zur Begrüßung der zurückkehrenden Apollo-Besatzung nach
Honolulu mitnahm. Laut Protokoll müssen der Präsident und sein Gefolge bei derartigen Anlässen zuerst landen, damit das Staatsoberhaupt die Ehrengäste persönlich empfangen kann. Als sich die C-141 jedoch Hawaii näherte, war von der Air Force One weit und breit nichts zu sehen, und so mußten die Männer, die einen Gutteil der letzten Woche in einer Umlaufbahn um den Mond hätten zubringen sollen, nun am Sonntag stundenlang über Honolulu kreisen und darauf warten, daß der Präsident auftauchte. Erst als Nixons Maschine auf der Rollbahn stand und die ihn begleitenden Personen auf dem Flugfeld Aufstellung bezogen hatten, konnte die C-141 landen. Dann allerdings hielt Nixon sich nicht mehr an das Protokoll. »Warum gehen Sie nicht zuerst hin?« sagte er zu den Familien. »Das hier sollte eine private Begrüßung sein.« Marilyn Lovell, Mary Haise und die Swigerts rannten über die Rollbahn zu den etwas benommenen Astronauten. Trotz Nixons Zugeständnis gab es für die Beteiligten an diesem und am nächsten Tag nicht einmal annähernd Gelegenheit zu einer privaten Begegnung. Während der achtundvierzig Stunden, die sich die Astronauten von Apollo 13 im Südpazifik aufhielten, wurden sie auf Schritt und Tritt von den Medien verfolgt, die ihre Berichte von den Begrüßungsfeierlichkeiten in alle Welt ausstrahlten. Die Bilder und Geschichten waren allesamt positiv, genaugenommen fast kriecherisch. Erst als die Astronauten wieder in Houston eintrafen, wurde die Berichterstattung in der Presse etwas kritischer. Am Montagabend um 18 Uhr 30, eine Woche nach dem Zwischenfall, setzte die NASA eine Pressekonferenz an, bei der sich die Astronauten erstmals seit dem Start den Medien stellten. Kurz nach den einleitenden Worten eines Pressesprechers der NASA stellte ein Reporter genau die Frage, die Lovell – und die Raumfahrtbehörde – am meisten
gefürchtet hatten, auch wenn sie gehofft hatten, niemand werde sie stellen. »Captain Lovell«, rief einer der Reporter im Raum, »was haben Sie damit gemeint, als sie während der Mission die Bemerkung machten: ›Ich glaube, das hier wird für lange Zeit der letzte Flug zum Mond sein‹?« Lovell zögerte einen Augenblick. Auf dem Flug von Hawaii hierher hatte er versucht, sich eine Antwort auf diese nahezu unvermeidliche Frage zurechtzulegen – auf so eine Frage mußte man vorbereitet sein. Die ehrlichste Antwort lautete, daß er es genau so gemeint habe. Wenn man in einem Raumschiff mit zu wenig Atemluft und zu knapper Energie auf die Rückseite des Mondes zutorkelt und sich kaum eine Chance ausrechnet, jemals wieder zur Erde zurückzukehren, dann wirkt das im Hinblick auf die Aussichten der anderen Männer, die ins All fliegen sollten, alles andere als vertrauensfördernd, und Lovell bezweifelte tief und aufrichtig, daß jemals wieder ein Flug stattfinden würde. Aber diese Antwort vertraute man allenfalls seinen Freunden, seiner Frau oder seiner Besatzung an, aber man sprach sie nicht vor einem Saal voller Reportern aus. Eine derartige Antwort wollte wohlüberlegt sein, und Lovell setzte stockend zu seiner Erwiderung an. »Eine gute Frage«, schmeichelte der Astronaut dem Reporter. »Zunächst einmal müssen Sie sich unsere Situation zum damaligen Zeitpunkt klarmachen. Wir würden demnächst den Mond umrunden, wir wußten nicht, was mit unserem Raumschiff passiert war, und wir schauten aus dem Fenster und versuchten, so viele Fotos wie möglich zu schießen, bevor wir auf der anderen Seite wieder herauskamen und auf Heimatkurs gingen. Vielleicht habe ich damals gedacht, wir sollten so viele Bilder wie möglich machen, weil dies auf lange Sicht der letzte Flug zum Mond gewesen sein könnte. Aber
wenn ich jetzt zurückblicke, und auch im Hinblick darauf, wie es der NASA gelungen ist, uns zurückzuholen, glaube ich das nicht mehr. Ich nehme an, es wird darauf hinauslaufen, daß man unsere Probleme genau analysiert, und ich sage Ihnen voraus, daß wir diesen Zwischenfall überwinden und weitere Fortschritte machen werden. Ich hätte keine Bedenken, demnächst wieder zu fliegen.« Lovell hielt inne und blickte ins Publikum. Es war nicht die beste Antwort gewesen, und sie wäre anders ausgefallen, wenn er nur ein wenig mehr Zeit zum Überlegen gehabt hätte. Aber grundsätzlich, so wurde ihm klar, stimmte sie. Er konnte nur hoffen, daß schnell die nächste Frage kam, damit er es dabei belassen konnte. Ein anderer Reporter tat ihm den Gefallen. »Jim, apropos ›wieder fliegen‹ – Sie haben gesagt, dies wäre Ihr letzter Flug, aber Sie möchten vorher unbedingt noch auf dem Mond landen. Wie denken Sie jetzt darüber? Würden Sie es gern noch einmal versuchen, vielleicht mit Apollo 14, 15, 16, oder ist Marilyn…« Der Reporter ließ die Frage mit diesem »Marilyn« ausklingen, und im Saal erhob sich beifälliges Gelächter. Lovell lachte mit und wartete, bis wieder Ruhe einkehrte, bevor er antwortete. »Nun ja«, sagte er, »ich bin sehr enttäuscht, genau wie Fred und Jack übrigens, daß wir unsere Mission nicht zu Ende führen konnten. Sicherlich haben wir uns eine Landung auf dem Mond gewünscht. Fra Mauro klingt so verheißungsvoll, dachten wir. Aber das war mein vierter Raumflug, und in unserem Betrieb gibt es so viele Leute, die noch nie geflogen sind, die es aber verdienen und auch das Talent dazu haben. Und sie verdienen einen Flug. Wenn die NASA den Eindruck hat, unser Team sollte noch einmal zum Fra Mauro fliegen,
wäre ich gewiß dazu bereit. Aber ansonsten denke ich, daß jetzt andere an der Reihe sind.« Lovell hatte über diese Antwort weit weniger lange nachgedacht als über die anderen. Doch als er sie laut aussprach, wußte er, daß auch sie genau so gemeint war. Vier Flüge reichten; über zwanzig andere Piloten warteten auf ihre Chance; und wie der Reporter angedeutet hatte, ging es auch um Marilyn. Nach Pax River und Oceana, Gemini 7 und Gemini 12, Apollo 8 und Apollo 13 konnte eine Astronautenfrau, deren Mann länger im Weltall gewesen war als jeder andere Amerikaner, mit Recht erwarten, daß es nicht ewig so weiterging. Jim Lovell, obwohl mit Leib und Seele Testpilot, gedachte diese Erwartung zu respektieren.
Auch wenn der Kommandant von Apollo 13 persönlich nicht mehr zum Mond fliegen wollte, gedachte die NASA weiterzumachen. In den Fabriken von Grumman und North American Rockwell und in den Montagehallen auf dem Gelände des Space Center standen noch immer etliche Saturn 5 und Apollo-Raumfahrzeuge startbereit. Bevor man bei der Raumfahrtbehörde auch nur daran denken konnte, eine weitere Besatzung ins All zu schicken, mußte man die Ursache des Unfalls feststellen, bei dem die letzte beinahe ums Leben gekommen wäre. Bislang gab es wenig Anhaltspunkte. Nach einer Untersuchung der Bilder, die die Besatzung von Apollo 13 mit zurückgebracht hatte, kam man bei der NASA zu dem Schluß, daß die Schäden an dem Schiff nicht von einem Meteoriteneinschlag oder dergleichen herrühren konnten. Das Loch im Versorgungsteil von Apollo 13 konnte nicht durch einen von außen auftreffenden Felsbrocken entstanden sein, der den Sauerstofftank zerstört hatte; vielmehr mußte es
eine Explosion im Tank selbst gegeben haben, bei der ein Teil der Rumpfverkleidung weggerissen worden war. Am 17. April, nur wenige Stunden nach der Landung der Kommandokapsel, ernannte NASA-Chef Thomas Paine eine Kommission, die feststellen sollte, was diese Explosion ausgelöst hatte. Das von Paine eingesetzte Gremium wurde von Edgar Cortright geleitet, dem Direktor des Langley Research Centers in Virginia. Mit ihm arbeiteten vierzehn weitere Ausschußmitglieder, darunter der nach wie vor umjubelte Neil Armstrong, ein Dutzend Ingenieure und Manager der NASA und, bezeichnenderweise, ein unabhängiger Beobachter. Bei der NASA wußte man, daß der Kongreß, der noch immer über die im internen Kreis und hinter verschlossenen Türen erfolgte Untersuchung nach dem Brand von Apollo 1 verärgert war, einen derartigen Beobachter dabeihaben wollte, der die Arbeit der Gruppe überwachte. Und weil man sich bei der NASA noch genau an die Prügel erinnerte, die man seinerzeit bezogen hatte, fügte man sich bereitwillig. Die Cortright-Kommission machte sich sofort ans Werk. Zwar wußte niemand in dem Ausschuß, was man bei ihrer Suche nach der Ursache der Explosion an Bord von Apollo 13 finden würde, aber alle waren sich bewußt, daß es sich nicht nur um ein einzelnes Versagen gehandelt hatte. Wie Flugpioniere und Testpiloten seit den Anfangstagen der Luftfahrt feststellten, werden schwere Unfälle so gut wie nie durch ein technisches Versagen allein hervorgerufen; sie sind vielmehr immer die Folge einer Reihe nicht miteinander in Verbindung stehender kleinerer Störungen, die für sich genommen keinerlei Schaden anrichten würden, in ihrer Gesamtheit aber durchaus zum Absturz selbst des erfahrensten Piloten führen können. Im Zuge der Materialprüfung befaßte sich die CortrightKommission zuallererst mit der Entstehungsgeschichte von
Sauerstofftank Nummer zwei. Normalerweise war für jeden größeren Baustein eines Apollo-Raumfahrzeugs, von der Kreiselplattform über die Funkgeräte bis zu den Flüssiggastanks, ein Qualitätskontrolleur zuständig, der ihn von der ersten Entwurfsphase bis zum Start regelmäßig überprüfte. Jede Unregelmäßigkeit bei Herstellung oder Erprobung wurde vermerkt und zu den Akten gelegt. Je dicker der Ordner zum Zeitpunkt des Starts, davon konnte man im allgemeinen ausgehen, desto mehr Kopfzerbrechen hatte das Teil bereitet. Über Sauerstofftank Nummer zwei lag, wie sich herausstellte, ein ganzes Dossier vor. Die Probleme mit dem Tank begannen im Jahr 1965, etwa zu dem Zeitpunkt, als Jim Lovell und Frank Borman mitten in der Vorbereitung für Gemini 7 steckten und man bei North American die Apollo-Kommandokapsel baute, den Nachfolger der zweisitzigen Raumfahrzeuge. Wie bei derart umfassenden Vertragsgeschäften üblich, hatte North American nicht vor, die ganzen Entwicklungs- und Konstruktionsarbeiten selbst auszuführen, sondern ließ einzelne Teile von Zulieferfirmen anfertigen. Eine der heikelsten Aufgaben, die auf diese Weise nach außerhalb vergeben wurden, war die Konstruktion der superkalten Flüssigkeitstanks für das Raumfahrzeug, mit der man die Beech Aircraft in Boulder, Colorado, betraute. Bei Beech und North American wußte man, daß die Tanks für das neue Schiff mehr als nur gut isolierte Flaschen sein mußten. Bei einer so unberechenbaren Füllung wie flüssigem Sauerstoff und Wasserstoff brauchte man allerhand Sicherheitsmaßnahmen in den halbrunden Behältern, darunter Ventilatoren, Thermostate, Drucksensoren und Heizelemente, die sich unmittelbar in der superkalten Flüssigkeit befinden und allesamt über elektrischen Strom betrieben werden mußten.
Das Stromsystem der Apollo-Raumfahrzeuge war auf eine Spannung von 28 Volt ausgelegt – das entsprach genau der Leistung der drei Brennstoffzellen im Versorgungsteil. Trotz dieser relativ niedrigen Spannung mußte man besonders die Heizelemente in den kryogenischen Tanks gut im Auge behalten. Normalerweise betrug die Temperatur in den Tanks konstant minus 205 Grad. Dadurch waren der gekühlte Sauerstoff und Wasserstoff zwar gerade noch flüssig, aber es konnte auch ständig Gas verdunsten, das wiederum die Brennstoffzellen speiste und das Cockpit mit Atemluft versorgte. Gelegentlich jedoch sank der Druck in den Tanks zu weit ab, so daß die Versorgung der Brennstoffzellen und der Besatzung gefährdet war. Um dies zu verhindern, wurden ab und zu die Heizelemente eingeschaltet, um die Flüssigkeit »aufzukochen« und den Innendruck wieder zu erhöhen. Natürlich war es nicht ohne Risiko, ein Heizelement in einem unter Druck stehenden Sauerstofftank anzubringen. Um aber die Explosionsgefahr so gering wie möglich zu halten, hatte man die Heizelemente mit einem Thermostaten ausgestattet, der automatisch die Stromzufuhr unterbrechen sollte, wenn die Temperatur in den Tanks zu hoch anstieg. Die vorgesehene Höchsttemperatur lag vergleichsweise niedrig: Nach Ansicht der Ingenieure durften die superkalten Tanks keinesfalls wärmer als 27 Grad werden. Verglichen mit der sonst in den Behältern herrschenden Temperatur aber war das eine Erwärmung um immerhin 230 Grad. Wenn die Heizung angestellt wurde und normal funktionierte, blieben die Schalter an den Thermostaten geschlossen – oder aktiv –, so daß die Heizelemente mit Strom versorgt wurden. Stieg die Temperatur im Tank über 27 Grad, dann schaltete der Thermostat ab, und der Stromkreis wurde unterbrochen. Als North American den Auftrag zur Herstellung des Tanks an Beech Aircraft vergab, wies man die Zulieferfirma darauf
hin, daß die Thermostate – wie der Großteil aller anderen elektrischen Systeme an Bord – für die 28 Volt-Spannung im Raumfahrzeug ausgelegt werden müßten, und Beech garantierte dies. Aber die Apollo-Kapsel mußte auch eine weit stärkere Spannung verkraften. Während der Gerätetests und Ausrüstungserprobungen vor dem Start hingen die Schiffe wochen- und monatelang an den Rampengeneratoren in Cape Kennedy und das waren im Vergleich mit den Brennstoffzellen mächtige Maschinen, die eine konstante Spannung von 65 Volt erzeugten. Schließlich machte man sich bei North American Gedanken darüber, daß das empfindliche Heizungssystem durch einen derartigen Stromstoß noch vor dem Start beschädigt werden könnte. Man beschloß, die Vorgaben entsprechend zu ändern, und teilte Beech mit, daß die bisherige Planung für die Heizelemente hinfällig sei und die gewünschten Geräte auch die relativ hohe Stromspannung an der Startrampe aushalten müßten. Bei Beech vermerkte man den Änderungswunsch und baute das gesamte Heizungssystem um – oder zumindest fast das gesamte Heizungssystem. Unerklärlicherweise tauschten die Ingenieure die Schalter an den Thermostaten nicht aus, so daß die neuen, auf 65 Volt ausgelegten Heizelemente mit den alten, auf 28 Volt ausgelegten Thermostatschaltern ausgestattet waren. Sowohl bei Beech, als auch bei North American und bei der NASA selbst überprüften Ingenieure die von Beech gelieferten Bauteile, aber niemand entdeckte die Schwachstelle. Obwohl durch einen falschen Schalter nicht notwendigerweise der Tank beschädigt werden konnte – ebensowenig wie ein Haus beim ersten Lichteinschalten abbrennt, weil die Kabel schlampig verlegt wurden –, war dies ein schwerer Fehler. Allerdings waren andere, gleichermaßen geringfügige Nachlässigkeiten notwendig, damit es schließlich
zu einem Unglück kam. Die Cortright-Kommission fand sie rasch. Die Tanks, die schließlich in Apollo 13 eingebaut wurden, wurden – mitsamt den auf 28 Volt ausgelegten Thermostatschalter – am 11. März 1968 zum Werk von North American Rockwell in Downey, Kalifornien, transportiert. Dort wurden sie in ihre aus Metall bestehende Halterung, normalerweise Rahmen genannt, eingesetzt und in Versorgungsteil Nummer 106 eingebaut. Versorgungsteil 106 war für Apollo 10 vorgesehen, eine Mission, bei der Tom Stafford, John Young und Gene Cernan das LEM erstmals in der Mondumlaufbahn erproben wollten. Doch im Laufe der nächsten Monate wurden kleinere technische Verbesserungen an der Konstruktion der Sauerstofftanks vorgenommen, so daß sich die Ingenieure entschlossen, die Tanks aus dem Versorgungsteil von Apollo 10 auszubauen und durch neuere zu ersetzen. Die alten Tanks sollten nach den neuen Vorgaben umgebaut werden und für einen anderen Versorgungsteil bei einem der nächsten Flüge verwendet werden. Der Ausbau der Flüssiggastanks aus einem ApolloRaumfahrzeug war keine leichte Aufgabe. Da es aufgrund der zahllosen Röhren und Leitungen so gut wie unmöglich war, die Tanks einzeln auszubauen, mußte man den ganzen Rahmen mit allen Geräten entfernen. Dazu hängten die Techniker den Rahmen an einen Kran, lösten die vier Bolzen, mit denen er befestigt war, und zogen ihn heraus. Am 21. Oktober 1968, dem Tag, an dem Wally Schirra, Donn Eisele und Walt Cunningham nach ihrem elftägigen Flug mit Apollo 7 landeten, lösten Ingenieure bei Rockwell die Bolzen am Tankrahmen von Raumfahrzeug 106 und wollten ihn vorsichtig herausziehen. Dabei übersah man jedoch, daß einer der vier Bolzen nicht gelöst worden war. Als die Winde in Gang gesetzt wurde, hob
sich der Rahmen um etwa fünf Zentimeter, wurde dann durch den Bolzen festgehalten, der Kranhaken rutschte ab, und der Rahmen sackte wieder zurück. Dabei gab es zwar nur eine leichte Erschütterung, aber die Vorgehensweise in so einem Fall war eindeutig: Nach jedem noch so kleinen Zwischenfall im Werk mußten die betroffenen Bauteile des Raumfahrzeugs auf eventuelle Schäden untersucht werden. Die Tanks in dem abgesackten Rahmen wurden überprüft und für in Ordnung befunden. Kurz danach wurden sie ausgebaut, auf den neuesten technischen Stand gebracht und in Versorgungsteil Nummer 109 eingebaut, das wiederum bei einem gemeinhin unter der Bezeichnung Apollo 13 bekannten Raumfahrzeug Verwendung finden sollte. Anfang 1970 wurde die Saturn 5 mit der auf der Spitze sitzenden Apollo 13 zur Rampe gerollt und für April startbereit gemacht. Hier, so stellte die CortrightKommission fest, wurde dann der letzte der Fehler gemacht, die schließlich zum Verhängnis führten. Eine der wichtigsten Maßnahmen in den Wochen vor einem Apollo-Start war der Countdown-Demonstrations-Test. Im Verlauf dieser stundenlangen Übung probten die Männer im Raumfahrzeug und die Bodenmannschaft zum erstenmal alle Schritte bis zur tatsächlichen Zündung der Trägerrakete am Tag des Starts. Damit diese Generalprobe unter möglichst realistischen Bedingungen ablief, wurden die Flüssiggastanks unter Druck gesetzt, steckte man die Astronauten in volle Montur und brachte den Kabinendruck auf genau den Stand, den er auch beim Start haben würde. Beim Countdown-Demonstrations-Test von Apollo 13, bei dem Jim Lovell, Ken Mattingly und Fred Haise auf ihren Couchs festgeschnallt waren, traten keinerlei größere Probleme auf. Gegen Ende der langen Generalprobe jedoch meldete die Bodenmannschaft eine kleinere Unregelmäßigkeit. Bevor das Raumfahrzeug abgeschaltet werden konnte, mußten die
Flüssiggastanks entleert werden, aber das kryogenische System machte Schwierigkeiten. Normalerweise war das Ablassen der Tanks nicht schwierig – die Ingenieure mußten lediglich durch eine Leitung gasförmigen Sauerstoff hineinpumpen und den Flüssigsauerstoff durch die andere herauspressen. Beide Wasserstofftanks und auch Sauerstofftank Nummer eins ließen sich problemlos leeren. Aber aus Sauerstofftank Nummer zwei entwichen nur etwa 8 Prozent der 320 Pfund superkalten Flüssiggases. Als die Ingenieure am Cape und bei Beech Aircraft den Aufbau des Tanks und seine Entstehungsgeschichte untersuchten, meinten sie, das Problem gefunden zu haben. Als der Rahmen vor achtzehn Monaten heruntergefallen war, so vermuteten sie nun, hatte der Tank mehr Schaden erlitten, als den Technikern im Werk zunächst klargeworden war: Ein Ablaßstutzen am oberen Teil des Sauerstoffbehälters mußte dabei verbogen worden sein. Dadurch strömte der in den Tank gepumpte gasförmige Sauerstoff sofort wieder aus, ohne daß der flüssige Sauerstoff herausgepreßt wurde. Angesichts einer derart offensichtlichen Fehlfunktion an einem Raumfahrzeug, bei dessen Bau sich die Ingenieure so gut wie keine Fehlertoleranz erlauben durften, hätten sofort alle Alarmglocken losgehen müssen. In diesem Fall war dem nicht so. Das Entleeren der Tanks wurde nur bei den Tests auf der Rampe vorgenommen. Während des Fluges spielte dieser Ablaßstutzen keine Rolle, da der in den Tanks enthaltene Sauerstoff über ein völlig anderes Leitungssystem sowohl zu den Brennstoffzellen strömte als auch zum sogenannten atmosphärischen System, das den Kabinendruck regelte und das Cockpit mit Atemluft versorgte. Sollte es den Ingenieuren also gelingen, den Tank an diesem Tag zu entleeren, dann könnten sie ihn vor dem Start wieder auffüllen, ohne sich noch einmal Sorgen wegen der Einfüll- und Ablaßstutzen machen zu
müssen. Die Methode, die sie sich dafür einfallen ließen, war ebenso elegant wie simpel. In seinem derzeitigen superkalten Zustand und bei dem relativ geringen Innendruck würde man den Flüssigsauerstoff niemals aus dem Tank bekommen. Aber was würde passieren, so fragten sich die Techniker, wenn man das Beheizungssystem einsetzte? Warum nicht einfach den Tauchsieder einschalten, die Suppe kurz aufkochen, damit der Druck erhöht und der gesamte Sauerstoff durch den Ablaßstutzen herausgedrückt werden konnte? »Ist das die beste Lösung, die uns einfällt?« fragte Jim Lovell die Techniker an der Rampe, als er zu einer Besprechung im Betriebsgebäude am Cape eingeladen wurde, bei der man ihm das Verfahren erklärte. »Jedenfalls die beste, die uns einfällt«, sagte man ihm. »Ansonsten aber funktioniert der Tank so wie geplant?« »Ganz sicher.« »Und soweit ihr ersehen könnt, liegen keine weiteren Mängel vor?« »Ganz sicher nicht.« »Und der Ablaßstutzen spielt während des Fluges keine Rolle?« »Nicht die geringste.« Lovell dachte einen Augenblick nach. »Wie lange würde es dauern, den ganzen Tank auszubauen und durch einen neuen zu ersetzen?« »Nur fünfundvierzig Stunden, aber wir müßten ihn erst erproben und überprüfen. Wenn wir das Startfenster verpassen, müssen wir den ganzen Flug um wenigstens einen Monat verschieben.« »Nun ja«, sagte Lovell nach einer Denkpause, »wenn euch allen dabei wohl zumute ist, schließe ich mich an.«
Mehrere Monate später, bei seiner Aussage vor der CortrightKommission in Cape Kennedy, stand Lovell zu seiner Entscheidung. »Ich war mit dieser Lösung einverstanden«, sagte er. »Wenn sie funktionierte, konnten wir rechtzeitig starten. Wenn nicht, müßten wir möglicherweise den Tank austauschen, und der Startzeitpunkt würde sich verschieben. Niemand in der Testcrew an der Rampe wußte, daß die falschen Thermostate im Tank waren, oder dachte daran, was passieren könnte, wenn die Heizelemente zu lange eingeschaltet blieben.« Doch in dem Tank befand sich der falsche Thermostat – der mit dem für 28 Volt ausgelegten Schalter –, und die Heizung lief viel zu lange. Am Abend des 27 März, fünfzehn Tage vor dem geplanten Starttermin von Apollo 13, wurden die Heizspiralen im zweiten Sauerstofftank des Versorgungsteils Nummer 109 eingeschaltet. Angesichts der riesigen Sauerstoffmenge in dem Tank konnte es nach Schätzung der Ingenieure bis zu acht Stunden dauern, bevor das letzte Gas entwichen war. Diese Zeit müßte mehr als genügen, um den Tank bis auf etwa 27 Grad Celsius zu erwärmen, aber die Techniker wußten, daß sie sich notfalls auf den Thermostaten verlassen konnten. Als dieser Thermostat jedoch die kritische Temperatur erreichte und der Schalter sich öffnen sollte, wurde er durch die 65 Volt-Spannung, unter der er stand, sofort kurzgeschlossen. Die Techniker an der Startrampe in Cape Kennedy konnten beim besten Willen nicht wissen, daß dieser winzige Baustein, der eine Überhitzung des Tanks verhindern sollte, verschmort war. Zwar beaufsichtigte ein Ingenieur das Entleeren des Tanks, aber anhand seiner Instrumente konnte er lediglich erkennen, daß der Schalter am Thermostat geschlossen blieb, worauf er davon ausging, daß der Tank noch nicht soweit erhitzt war. Den einzigen Hinweis darauf, daß das System
nicht ordnungsgemäß funktionierte, hätte eine Anzeige an der Kontrolltafel der Startrampe geben können, auf der ständig die Innentemperaturen in den Sauerstofftanks gemessen wurden. Sollte dort die Temperatur über 27 Grad steigen, dann wußte der Techniker, daß der Thermostat versagt hatte, und er würde das Heizungssystem abschalten. Unglücklicherweise konnte die Anzeige an diesem Meßgerät nicht über 27 Grad steigen. Da es so gut wie nie vorkam, daß im Tank derart hohe Temperaturen herrschten, und 27 Grad ohnehin schon im unteren Gefahrenbereich lagen, hatten die Männer, die diese Kontrolltafeln entwickelt hatten, keinen Anlaß gesehen, die Skala über die 27 Grad hinaus anzulegen. Daher konnte der diensttuende Ingenieur an diesem Abend nicht wissen, daß die Temperatur in diesem Tank bis auf 538 Grad stieg. Die Heizung lief fast den ganzen Abend lang, und ständig stand die Temperaturanzeige bei ungefährlichen 27 Grad. Als die acht Stunden vorüber waren, hatte sich der Großteil des Flüssigsauerstoffs verflüchtigt, genau wie die Ingenieure gehofft hatten – zugleich aber waren durch die Hitze Teile der Teflonschicht weggeschmolzen, die das Stromkabel für die Ventilatoren isolierte. Daher ragten jetzt blanke Kupferkabel in den leeren Tank, der bald mit einer der hochexplosivsten Flüssigkeiten gefüllt werden würde, die es gibt: mit reinem Sauerstoff. Siebzehn Tage später und etwa 320000 Kilometer draußen im Weltall hatte Jack Swigert auf eine tägliche Routineanweisung von der Bodenkontrolle hin den Ventilator im Sauerstofftank eingeschaltet, um den Inhalt aufzurühren. Als Swigert dieser Aufforderung an den zwei Tagen zuvor nachgekommen war, hatte der Ventilator problemlos funktioniert. Diesmal jedoch entstand an dem blanken Draht ein Funken, der das restliche Teflon entzündete. Explosionsartig waren in dem reinen
Sauerstoff Temperatur und Druck gestiegen, so daß der Hals des Tanks platzte, die schwächste Stelle. Die 300 Pfund Sauerstoff strömten aus, rissen die Außenverkleidung des Versorgungsteils ab und verursachten so den Knall, den die Besatzung gehört hatte. Als das Rumpfteil davonflog, prallte es gegen die S-Band-Richtantenne und verursachte das mysteriöse Umschalten, das der Kommunikationsoffizier am Boden im gleichen Augenblick feststellte, als die Astronauten den Knall und die Erschütterung meldeten. Tank Nummer eins war zwar durch die Explosion nicht unmittelbar beschädigt worden, war aber durch ein Röhrensystem mit Tank Nummer zwei verbunden. Als ein Teil dieser Leitungen durch die Explosion abgerissen wurde, strömte auch der Inhalt von Tank eins ins All. Verschlimmert wurde dies noch dadurch, daß sich aufgrund der Explosion mehrere Ventile verklemmten, die die Treibstoffversorgung der Lagesteuerungs-Raketen regelten, so daß diese nicht mehr zur Verfügung standen. Als das Schiff durch die Explosion des Tanks und das anschließende Ausblasen aus der Trimmung geriet, zündete der Autopilot die Steuerdüsen, um die Lage des Raumfahrzeuges zu stabilisieren. Aber da nur einige Raketen funktionierten, konnte das Schiff nicht wieder auf Kurs gebracht werden, und als Lovell auf Handsteuerung überging, kam er mit dem teilweise ausgefallenen System auch nicht besser zurecht. Innerhalb von zwei Stunden war das Raumfahrzeug ohne Sauerstoff und Energie. Damit blieb nur noch die Frage ungelöst, was die rätselhafte Abflachung der Flugbahn auf dem Rückweg verursacht hatte, und hierzu durften sich die TELMUs eine Lösung einfallen lassen. Die »Aquarius«, so schlossen die Controller, war immer wieder von selbst vom Kurs abgekommen, und zwar nicht durch ein unentdeckt gebliebenes Leck in einem beschädigten Tank oder Leitungssystem, sondern durch den
austretenden Dampf des eigenen Kühlsystems. Diese nach dem Verdunsten der Kühlflüssigkeit am Sublimator ausgeschiedenen Dampfschwaden hatten die Flugbahn des LEM bisher noch nie beeinträchtigt, weil das Landefahrzeug normalerweise erst in der Mondumlaufbahn in Betrieb genommen, vom Mutterschiff abgekoppelt und zum Abstieg auf den Mond eingesetzt wurde. Auf einem derart kurzen Flug war der austretende Dampf nicht stark genug, um die Mondfähre von ihrem Kurs abzubringen. Im Verlauf des rund 380000 Kilometer langen antriebslosen Rückfluges zur Erde konnte dieser kaum meßbare Rückstoß jedoch die Flugbahn des Raumfahrzeugs durchaus so verändern, daß es vom Wiedereintrittskorridor abkam. Im Frühsommer veröffentlichte die Cortright-Kommission den Bericht mit ihrer Feststellung, wobei man zerknirscht einräumte, daß von Anfang an keiner dieser Fehler hätte unterlaufen dürfen, aber auch andeutete, es habe sich lediglich um technische Probleme gehandelt – immerhin habe die NASA verhindern können, daß drei tote Astronauten mit ihrer Kapsel auf ewig die Erde umkreisten. Als der Bericht veröffentlicht wurde, stürzte man sich in Houston förmlich darauf. Aber Jim Lovell, Jack Swigert und Fred Haise waren nicht darunter. Zu dieser Zeit befanden sich die Männer, die am unmittelbarsten von den Folgen eines verschmorten Thermostats, eines nicht für hohe Temperaturen ausgelegten Thermometers, eines geplatzten Tanks und eines Dampf erzeugenden Sublimators betroffen waren, außer Landes. Als letzte Aufgabe in Zusammenhang mit ihrer Mission absolvierten sie im Auftrag der NASA eine Reise durch fünf befreundete Staaten. Sechs Monate nachdem die Besatzung von Apollo 13 von ihrer Goodwilltour zurückgekehrt war, startete Apollo 14 – mit verbesserten Thermostatschaltern, gut isolierten Drähten und
einem dritten Sauerstofftank ausgerüstet, der in einem eigenen Rahmen im Versorgungsteil untergebracht war – zu den FraMauro-Bergen. Jim Lovell hielt sich während des Fluges meistens in der Mission Control auf und sah mit ausdrucksloser Miene zu, wie Al Shepard und Ed Mitchell ihre Fußstapfen im Mondstaub hinterließen. Kurz danach verließ Lovell, der bereits endgültig aus dem Kreis der für einen Mondflug in Frage kommenden Astronauten ausgeschieden war, das Apollo-Programm und stieg bei der Entwicklung des neuen Space Shuttle ein, für das er zusammen mit den Herstellerfirmen an der Konzeption des Armaturenbretts arbeitete. Lovell befand sich eines Nachmittags im Werk von McDonnel Aircraft in St. Louis, studierte Baupläne und Schalteranordnungen und prüfte Armaturenbrettattrappen, als er den Kopf hob und sich langsam umblickte. Mit einem Mal dämmerte ihm, daß er vor fünfzehn Jahren als junger NavyMann aus Pax River in genau diesem Raum dazu beigetragen hatte, das Armaturenbrett für die neue F4H Phantom zu entwerfen. Nach einem erfüllten Pilotenleben mit zwei Flügen in der Erdumlaufbahn und zwei weiteren zum Mond, so wurde ihm mit einem Mal klar, hatte sich der Kreis geschlossen. An diesem Abend stieg Jim Lovell in seine T-38 und kehrte diesmal endgültig zu seiner Familie in Timber Grove zurück.
Kurz vor Mittag trafen am Heiligabend auch die übrigen Familienmitglieder in Jim und Marilyn Lovells Haus in Horseshoe Bay ein. Wie immer seit der Geburt des fünften, sechsten und siebten Enkelkindes, ging es dabei lautstark zu. Zuerst kam die sechzehnjährige Lauren herein, dann der vierzehnjährige Scott und die neunjährige Caroline. Hinter ihnen kamen Thomas, zwölf Jahre alt, Jimmy, acht, und John,
vier, durch die Tür gefegt. Ihnen wiederum folgten die bereits völlig entnervten Eltern. Allie, das Baby, das sich gerade von der Suche nach allen möglichen zerbrechlichen Gegenständen im Haus ausruhte, wurde in Gegenwart so vieler Leute wieder munter und krabbelte mitten hinein ins Getümmel. Es gab ein allgemeines Hallo, Sack und Pack wurden fallengelassen, und dann – Lovell hätte es voraussagen können – raste John, einer seiner Enkel, zu seinem Arbeitszimmer. Soweit Lovell sich erinnern konnte, hatte John bislang bei keinem Besuch der Anziehungskraft dieses holzgetäfelten Raumes mit den wunderbaren, ideal als Spielzeuge geeigneten Trophäen widerstehen können. Und jedesmal hatte Lovell sich gefragt, ob sein Enkel hinter dem ganzen Schnickschnack mehr als nur Spielzeug sah. Heute ließ Lovell John ein paar Minuten lang allein spielen und ging erst dann hinter ihm her. John stand, wie schon so oft, wieder vor dem Mondglobus in der einen Ecke des Zimmers. Es war ein großer Globus, mit einem Durchmesser von über einem Meter, auf dem die Mondoberfläche bis ins letzte landschaftliche Detail genau dargestellt war. Fünfzehn kleine, aufgeklebte Papierpfeile markierten darauf die Stellen, wo im Laufe der Jahre bemannte oder unbemannte Raumfahrzeuge gelandet waren: die amerikanischen Ranger- und die sowjetischen Luna-Sonden, die amerikanischen Surveyor und die russischen Lunochods – und natürlich die Apollos der Amerikaner. Auf Lovells Globus konnte man im Augenblick weder die Pfeile noch irgendwelche Landschaftsmerkmale erkennen. John ließ den Globus wie üblich kreiseln und versetzte ihm, sobald er langsamer zu werden drohte, sofort wieder einen Schubs. Lovell blieb stehen und betrachtete die Krater und die Mares, die Berge und Schluchten, die verschwommen an ihm vorüberflitzten, dann trat er hinter seinen Enkel. Er streckte
den Arm aus, bremste den Globus mit der flachen Hand ab und führte den Jungen zum Fensterbrett, wo der Sextant aus der »Aquarius« stand. »John«, sagte der einstige Kommandant, »ich zeige dir etwas, was dir gefallen wird.« Hinter Lovell kam der Globus zum Stillstand. Einer der kleinen Papierpfeile deutete genau auf den Fra-Mauro-Krater.
ANHANG Missionsverlauf von Apollo 13 Flugzeit in Datum und (Std:Min:Sek) Zeit in Houston
Ereignis
00:00:00
Sa. 11. April 13:13 Uhr Sa. 11. April 15:48 Uhr So. 12. April 19:53 Uhr Mo. 13. April 20:24 Uhr
Start
Mo. 13. April 21:07 Uhr Mo. 13. April 22:50 Uhr Di. 14. April 02:42 Uhr Di. 14. April 18:15 Uhr Di. 14. April 20:40 Uhr
Sauerstofftank 2 explodiert
02:35:46 30:40:50 55:11:00 55:54:53 57:37:00 61:29:43 77:02:39 79:27:39
Einschuß in Bahn zum Mond Mittkurskorrektur zum Verlassen der Freiflugbahn Beginn der letzten Fernsehübertragung
Besatzung verläßt »Odyssey« »Aquarius«-Antrieb gezündet; Rückkehr auf Freiflugbahn Apollo 13 umfliegt Rückseite des Monds »Aquarius «-Antrieb gezündet für PC+2-Beschleunigung
Flugzeit in Datum und (Std:Min:Sek) Zeit in Houston 86:24:00 Mi. 15. April 03:38 Uhr 97:10:05 Mi. 15. April 14:23 Uhr 105:18:28 Mi. 15 April 22:31 Uhr 108:46:00 Do. 16. April 01:59 Uhr 137:39:52 Fr. 17 April 06:52 Uhr 138:01:48
Fr. 17 April 07:14 Uhr
141:30:00
Fr. 17 April 10:43 Uhr Fr. 17 April 11:53 Uhr Fr. 17 April 12:07 Uhr
142:40:46 142:54:41
Ereignis
Besatzung bastelt CO2Filterbehälter Batterie Nummer 2 in der »Aquarius« explodiert »Aquarius«-Antrieb zu Kurskorrektur gezündet »Aquarius« verliert HeliumPreßgas »Aquarius« zündet Lagesteuerdüsen zur Kurskorrektur Versorgungsteil abgesprengt »Aquarius« wird abgetrennt Wiedereintritt beginnt Wasserung
Bei Apollo 13 beteiligte Personen John Aaron
Arnie Aldrich Don Arabian Stephen Bales Jules Bergman George Bliss Bill Boone Jerry Bostick Vance Brand
Dick Brown Clint Burton Gary Coen
EECOM (Electrical and Environmental Command Officer; Elektrizitäts- und Nachrichten-Übertragungssystem-Offizier) System-Chef, Flugbetriebsleitung Direktor, Flugbeurteilungsraum GUIDO (Guidance Officer; Lenk-Offizier) Wissenschaftlicher Sonderkorrespondent, ABC News Unterstützungsingenieur des EECOM FIDO (Flight Dynamics Officer; Flugdynamik-Offizier) FIDO CAPCOM (Capsule Communicator; Raumfahrzeug-Verbindungsmann) und Astronaut
EECOM-Unterstützungsingenieur EECOM GNC (Guidance, Navigation and Control Officer; Führungs- und NavigationsOffizier) Edgar Cortright Langley Research Center, NASA Chuck Deiterich RETRO (Retro Fire Officer; BremsraketenOffizier)
Brian Duff
Direktor, Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit, NASA Charlie Duke Ersatzpilot für LEM bei Apollo 13; LEMPilot bei Apollo 16 Charlie Dumis EECOM Max Taget Direktor, Abteilung Entwicklung und Konstruktion, Manned Spacecraft Center Bill Fenner GUIDO Bob Gilruth Direktor, Manned Spacecraft Center Alan Glines INCO (Instrumentation and Communications Officer; Instrumenten- und Kommunikations-Offizier) Jay Greene FIDO Gerald Griffin Flugdirektor Jerry Hammack Chef des Kapsel-Bergungsteams Willard Hawkins SURGEON (Flugarzt) Bob TELMU (Telemetry, Electrical, EVA Hesselmeyer Mobility Unit Officer for the lunar modul; für die Mondfähre zuständiger Telemetrieund Funküberwachungs-Offizier) Tom Kelly Für die Mondfähre zuständiger leitender Ingenieur, Grumman Aerospace Joe Kerwin CAPCOM und Astronaut Jack Knight TELMU Chris Kraft Stellvertretender Direktor, Manned Spacecraft Center Gene Kranz Leitender Flugdirektor Sy Liebergot EECOM Hal Loden LEM-Flugkontrolloffizier(CONTROL) Jack Lousma CAPCOM und Astronaut
Jim Lovell George Low Glynn Lunney Ken Mattingly
Kommandant bei Apollo 13 Direktor, Abteilung Space and Flight Missions Flugdirektor
Ersatz-Kapselpilot bei Apollo 13; Kapselpilot bei Apollo 16 Jim McDivitt Kommandant bei Gemini 4 und Apollo 9; Leiter des Apollo-Programm-Büros Bob McMurrey NASA-Protokoll-Offizier Merlin Merritt TELMU Thomas Paine NASA-Angestellter Bill Peters TELMU Dave Reed FIDO Gary Renick GUIDO Mel Richmond Bergungsoffizier Ken Russell GUIDO Phil Schaffer FIDO Larry Sheaks Unterstützungsingenieur der EECOM Sig Sjoberg Direktor, Flight Operations Deke Slayton Direktor, Flight Crew Operations Ed Smylie Chef der Abteilung Crew Systems; Erfinder des Lithiumhydroxid-Adapters Bobby Spencer RETRO Bill Stoval FIDO Bill Strable GNC Larry Strimple CONTROL Jack Swigert Kapselpilot bei Apollo 13 Ray Teague GUIDO
Dick Thorson Glenn Watkins John Wegener Tom Weichet Terry White Buck Willoughby Milt Windler John Young
CONTROL Offizier für Antriebssysteme; Unterstützungsingenieur für TELMU CONTROL RETRO NASA-Offizier für Öffentliche Angelegenheiten GNC Flugdirektor Ersatzkommandant bei Apollo 13; Kommandant bei Apollo 16
Die bemannten Apollo-Missionen APOLLO 7 Besatzung: Start: Landung: Auftrag:
APOLLO 8 Besatzung: Start: Landung: Auftrag: APOLLO 9 Besatzung:
Wally Schirra, Kommandant Donn Eisele, Kapselpilot Walt Cunningham, Pilot der Mondfähre 11. Oktober 1968 21. Oktober 1968 Erste Erprobung des Apollo-Versorgungs- und Kommandoteils in der Erdumlaufbahn. Ohne Mondfähre Frank Borman, Kommandant Jim Lovell, Kapselpilot Bill Anders, Pilot der Mondfähre 21. Dezember 1968 27. Dezember 1968 Erster bemannter Flug in die Mondumlaufbahn; nur Versorgungs- und Kommandoteil. James A. McDivitt, Kommandant David Scott, Kapselpilot Rusty Schweickart, Pilot der Mondfähre
Start: Landung: Auftrag:
3. März 1969 13. März 1969 Erste Erprobung von Kommando- und Versorgungsteil mit Mondfähre in der Erdumlaufbahn
APOLLO 10 Besatzung: Start: Landung: Auftrag:
APOLLO 11
Tom Stafford, Kommandant John Young, Kapselpilot Gene Cernan, Pilot der Mondfähre 18. Mai 1969 26. Mai 1969 Erste Erprobung von Kommando- und Versorgungsteil mit Mondfähre in der Mondumlaufbahn. Stafford und Cernan steuern LEM bis auf 50000 Fuß (etwa 15000 Meter) an den Mond heran
Besatzung:
Neil Armstrong, Kommandant Michael Collins, Kapselpilot Buzz Aldrin, Pilot der Mondfähre
Start: Landung: Auftrag:
16. Juli 1969 24. Juli 1969 Erste Mondlandung. Armstrong und Aldrin landen im Meer der Ruhe, und laufen 2 Stunden und 31 Minuten auf dem Mond herum. Collins bleibt mit Kommando- und Versorgungsteil in der Umlaufbahn
APOLLO 12 Besatzung:
Pete Conrad, Kommandant Dick Gordon, Kapselpilot Alan Bean, Pilot der Mondfähre
Start: Landung: Auftrag:
14. November 1969 24. November 1969 Zweite Mondlandung. Conrad und Bean landen im Meer der Stürme, sammeln Gesteinsproben und bergen Teile der unbemannten Mondsonde Surveyor, die im April 1967 in der Nähe gelandet war
APOLLO 13 Besatzung:
Jim Lovell, Kommandant Jack Swigert, Kapselpilot Fred Haise, Pilot der Mondfähre
Start: Landung: Auftrag:
13. April 1970 17 April 1970 Versuch der dritten Mondlandung. Nach 55 Stunden, 54 Minuten und 53 Sekunden explodiert ein Flüssigsauerstofftank; dadurch Ausfall der Energie- und Atemluftversorgung in Kommando- und Versorgungsteil. Besatzung verläßt Kapsel und überlebt Flug bis wenige Stunden vor der Landung im LEM; steigt dann für Wiedereintritt in die Erdatmosphäre in Kapsel um und trennt Mondfähre ab
APOLLO 14 Besatzung: Start: Landung: Auftrag:
Alan Shepard, Kommandant Stuart Roosa, Kapselpilot Ed Mitchell, Pilot der Mondfähre 31. Januar 1971 9. Februar 1971 Dritte Mondlandung. Shepard und Mitchell setzen in der Fra-Mauro-Region auf, dem Ziel von Apollo 13
APOLLO 15 Besatzung: Start: Landung: Auftrag:
Dave Scott, Kommandant Al Worden, Kapselpilot Jim Irwin, Pilot der Mondfähre 26. Juli 1971 7. August 1971 Vierte Mondlandung. Scott und Irwin setzen am Hadley-Graben im Apennin-Gebirge auf. Erste Erprobung des allradgetriebenen MondMobils
APOLLO 16 Besatzung:
John Young, Kommandant Ken Mattingly, Kapselpilot Charlie Duke, Pilot der Mondfähre
Start: Landung: Auftrag:
16. April 1972 27. April 1972 Fünfte Mondlandung. Young und Duke landen in den Cayley-Descartes-Bergen, fahren 27 km mit dem Mond-Mobil und sammeln 96 Kilo Mondproben
APOLLO 17 Besatzung:
Start: Landung: Auftrag:
Gene Cernan, Kommandant Ron Evans, Kapselpilot Harrison Schmitt, Pilot der Mondfähre 7 Dezember 1972 19. Dezember 1972 Sechste und letzte Mondlandung. Cernan und Schmitt setzen im Taurus-Gebirge in der Nähe des Littrow-Kraters auf, sammeln 110 Kilo Mondproben und heben fünfundsiebzig Stunden später nach drei Ausflügen wieder ab
Anmerkungen des Autors
Es ist eine der Ironien des historischen Journalismus, daß die Wiedergabe eines Ereignisses, das einst für Schlagzeilen sorgte, oftmals länger dauern kann als das eigentliche Ereignis. Die Besatzung von Apollo 13 bereitete sich etwa zwei Jahre lang auf den Flug zum Mond vor und war dann nur sechs Tage unterwegs. Die Recherchearbeiten und das Schreiben von Apollo 13 dauerten alles in allem nicht viel länger – etwa zweieinhalb Jahre vom Beginn bis zur Fertigstellung des Manuskripts –, aber sie dauerten länger. Wie bei vielen derartigen Sachbüchern war einer der Autoren an dem hier wiedergegebenen historischen Ereignis beteiligt; anders als bei vielen derartigen Büchern jedoch ist Apollo 13 in der dritten Person geschrieben. Hätten die Schlüsselereignisse ausschließlich im Raumfahrzeug stattgefunden, wäre es erzählerisch am sinnvollsten gewesen, den Bericht in der ersten Person zu verfassen, aus der Sicht des Kommandanten dieser Mission. Aber die an dem Flug beteiligten Männer und Frauen vertraten einhellig die Meinung, daß die Geschichte von Apollo 13 an vielen Schauplätzen stattgefunden habe. Aus diesem Grund haben wir versucht, den Leser an möglichst viele dieser Örtlichkeiten zu führen – in Fernsehstudios und Konferenzzimmer, in Privatwohnungen, Hotels und Fabriken, auf Schiffe, in Büros, Bereitschaftsräume und Laboratorien und natürlich in die Mission Control und das Raumfahrzeug. Ein solcher Gesamtüberblick schien nur bei einer Erzählung in der dritten Person möglich. Glücklicherweise gab es auch dreiundzwanzig Jahre nach dem Flug von Apollo 13 noch eine reiche Hinterlassenschaft an Papieren, Bandaufzeichnungen und ähnlichem. In den
Bibliotheken der NASA sind tausende Seiten Unterlagen und etliche hundert Stunden Bandmitschnitte aufbewahrt, die sich sowohl auf den Flug an sich als auch auf die anschließende Untersuchung beziehen, und die uns dankenswerterweise alle zugänglich gemacht wurden. Am hilfreichsten waren die Mitschnitte und Abschriften der während des Fluges geführten Gespräche, über das Netz des Flugdirektors, über Boden-BordFunk und die diversen Anschlüsse zu den Nebenkontrollräumen in der Mission Control. Oftmals ist Lesen und Anhören dieser Wortwechsel von sich aus spannend. Ebenso häufig jedoch verfallen die Gesprächsteilnehmer in technischen Jargon. Daher haben wir, obwohl die im Text zitierten und während des Fluges entstandenen Funkgespräche unmittelbar aus den Bändern und Abschriften übernommen wurden, in vielen Fällen redaktionelle Veränderungen vorgenommen, komprimiert oder der besseren Verständlichkeit und des Erzählflusses wegen umgeschrieben. In keinem Fall aber wurde dadurch die Bedeutung oder Aussage eines Gesprächs verändert. Andere in diesem Buch vorkommende Dialoge, von denen es weder schriftliche Unterlagen, noch Bandaufzeichnungen gab, wurden durch Interviews mit mindestens einem – normalerweise aber mehreren – der Hauptbeteiligten rekonstruiert. Die Auskünfte bezüglich Jack Swigerts Gedanken und Empfindungen wurden teils seinen schriftlichen Hinterlassenschaften entnommen, teils stammen sie aus den Erinnerungen der anderen Besatzungsmitglieder oder von einem auf Band aufgezeichneten Interview, das kurz vor seinem Tod geführt wurde, und das uns der Drehbuchautor und Filmemacher Al Reinert großzügigerweise zur Verfügung stellte. Es versteht sich auch ohne große Worte – obgleich dies nachlässig wäre –, daß wir ebenso wie die Astronauten, die
ihre Rückkehr einer ganzen Heerschar von Mitarbeitern verdanken, in der Schuld etlicher Menschen stehen, die uns ihre kostbare Zeit zur Verfügung stellten, damit Apollo 13 entstehen konnte. Viele dieser Menschen waren direkt und persönlich am heroischen Geschehen während dieser grauenhaften Woche im April 1970 beteiligt. Andere erinnerten sich an Apollo 13 lediglich als historisches Ereignis, waren aber weise genug, die Denkwürdigkeit des Vorfalles zu erkennen. Zur ersteren Gruppe zählen Eugene Kranz, Christopher Kraft, Sy Liebergot, Gerald Griffin, Glynn Lunney, Milt Windler, John Aaron, Fred Haise, Chuck Deiterich und Jerry Bostick, denen wir zu besonderem Dank verpflichtet sind. Unschätzbare Hilfe leisteten außerdem Don Arabian, Sam Beddingfield, Collins Bird, Clint Burton, Gary Coen, Brian Duff, Bill Fenner, Don Frenk, Chuck Friedlander, Bob Hesselmeyer, John Hoover, Walt Kapryan, Tom Kelly, Howard Knight, Russ Larsen, Hal Loden, Owen Morris, George Paige, Bill Peters, Ernie Reyer, Mel Richmond, Ken Russell, Andy Saulietes, Ed Smylie, Dick Snyder, Wayne Stallard, John Strakosch, Jim Thompson, Dick Thorson, Doug Ward, Guenter Wendt und Terry Williams.