Nr. 397
Archiv des Schreckens Zwei Magier in der Stadt der Vergessenen von Marianne Sydow
Nun, da Atlantis-Pthor mitt...
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Nr. 397
Archiv des Schreckens Zwei Magier in der Stadt der Vergessenen von Marianne Sydow
Nun, da Atlantis-Pthor mittels der neuen eripäischen Erfindung aus dem Korsallo phur-Stau befreit werden konnte, kommt der »Dimensionsfahrstuhl« auf seiner vor programmierten Reise der Schwarzen Galaxis unaufhaltsam näher. Es gibt nichts, was die Pthorer und Atlan, ihr König, tun könnten, um den fliegen den Weltenbrocken abzustoppen und daran zu hindern, die Schwarze Galaxis zu er reichen – jenen Ort also, von dem alles Unheil ausging, das Pthor im Lauf der Zeit über ungezählte Sternenvölker brachte. Wohl aber existiert die Möglichkeit, noch vor Erreichen des Zieles die gegenwärti ge Situation in der Schwarzen Galaxis, die allen Pthorern unbekanntes Terrain ist, zu erkunden – und Atlan zögert nicht, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Ihm geht es darum, Informationen über den Gegner zu erhalten, mit dem sich die Pthorer bald werden messen müssen. Der Informationssuche dient auch der neue Flug der GOL'DHOR. Mit Copasallior und Koratzo, den beiden Magiern von Oth, an Bord startet das goldene Raumschiff zu einem Sternenpulk, der der Schwarzen Galaxis vorgelagert ist. Am Ziel des Fluges liegt das ARCHIV DES SCHRECKENS …
Archiv des Schreckens
3
Die Hautpersonen des Romans:
Atlan - Der König von Pthor benötigt Informationen über die Schwarze Galaxis.
Koratzo und Copasallior - Zwei Magier auf dem Weg zum Archiv des Schreckens.
Sisal - Ein Carthiller.
Gophan - Ein »Leerer«.
1. Die GOL'DHOR war startbereit, und die beiden Magier schienen ungeduldig zu sein, als fieberten sie bereits dem Abenteuer eines Raumflugs entgegen. Atlan vermutete, daß Copasallior und Ko ratzo längst wußten, wohin er sie schicken wollte. Dennoch erklärte er den beiden alles sehr ausführlich, denn diese Mission war zu wichtig, als daß sie wegen einer Nachlässig keit scheitern durfte. »Sator Synk brachte uns die Koordinaten für das Archiv des Schreckens mit«, sagte Atlan. »Dieses Archiv soll zu einer Reihe von Bastionen gehören, die der Schwarzen Galaxis vorgelagert sind, und in ihm werden die Daten zu allen Einsätzen aufbewahrt, die Pthor bereits hinter sich hat oder noch durchführen soll.« In Koratzos Augen blitzte es auf. Copa sallior dagegen blickte scheinbar gelang weilt auf den Tisch, an dem die drei Männer saßen. »Wir sollen also die Daten aus dem Ar chiv stehlen«, stellte er gelassen fest. Atlan lächelte flüchtig. »Wir wissen nicht, wie groß das Archiv des Schreckens ist«, murmelte er. »Aber vermutlich hat es Abmessungen, die einen kompletten Diebstahl von vornherein un möglich machen. Aber schon ein geringer Teil dessen, was dort lagert, würde uns wei terhelfen, dessen bin ich sicher.« Er dachte an das, was Sator Synk berich tet hatte, und fuhr fort: »Wahrscheinlich werdet ihr auf Wider stand stoßen. Ich weiß, daß ihr die GOL'DHOR nicht leichtsinnig in Gefahr bringen werdet. Sie ist das einzige wirklich raumtüchtige Fahrzeug, das uns zur Verfü
gung steht. Gebt auf das Schiff acht. Und kommt zurück.« »Wir werden zurückkehren«, versprach Koratzo beruhigend. »Die GOL'DHOR wird uns schützen, und seit wir aus dem Korsallo phur-Stau heraus sind, gibt es nichts mehr dort draußen jenseits des Wölbmantels, was unsere Fähigkeiten beeinträchtigt. Welche Daten aus diesem Archiv interessieren dich am meisten?« »Ihr werdet kaum Gelegenheit bekom men, eine gezielte Auswahl zu treffen«, seufzte Atlan. »Aber falls es sich ergeben sollte, dann bringt alles mit, was dort über die Erde zu finden ist. Noch wichtiger«, setzte Atlan hinzu, »sind natürlich Informationen über die Schwarze Galaxis.« Koratzo nickte nur. Copasallior blickte zur GOL'DHOR hinüber. »Wir brauchen Raumanzüge aus der FESTUNG«, sagte er plötzlich. Atlan sah ihn verwundert an. Auf der Fahrt in den Korsallophur-Stau hatten die Magier ihre eigenen Schutzanzüge be nutzt. Der Arkonide war nach einigen Beob achtungen zu dem Schluß gekommen, daß diese merkwürdigen Umhänge jeden Ver gleich selbst mit den modernsten Monturen aushielten. »Wir begeben uns in die Nähe der Schwarzen Galaxis«, erläuterte Copasallior seinen Wunsch. »Und wenn wir Kontakt zu Wesen bekommen, die von uns Magiern schon einmal etwas gehört haben, dann soll ten wir besser in herkömmlichen Schutzan zügen stecken. Sonst wissen diese Fremden nämlich sofort, was unser Besuch zu bedeu ten hat.« Atlan nickte nachdenklich. Das war ein Argument, das man gelten lassen konnte. »Braucht ihr sonst noch etwas?« fragte er. »Waffen zum Beispiel?«
4 Koratzo verzog das Gesicht, und Copasal lior richtete sich steil auf und nahm seine sechs Hände von der Tischplatte. »Nicht alles läßt sich mit magischen Mit teln beseitigen«, gab Atlan hastig zu beden ken. Copasallior tat, als hätte er nichts gehört. Koratzo dagegen nickte schließlich zögernd. »Ein Schwert und eine Waggu«, sagte er, und er warf Atlan dabei einen vielsagenden Blick zu. Der Arkonide brauchte keine wei teren Erklärungen. Er würde dafür sorgen, daß auch für Copasallior Waffen an Bord geschafft wurden. »Das wäre wohl alles«, murmelte Copa sallior, stand auf und ging zur GOL'DHOR hinüber. Atlan sah ihm nach. Der Weltenma gier blieb vor dem goldenen Raumschiff ste hen, eine hagere Gestalt mit kahlem Kopf, in ein düsteres, sich im leichten Wind blähendes Gewand gehüllt. Jetzt hob er seine sechs Arme – dann war er spurlos verschwunden. Copasallior hatte sich mit Hilfe seiner Transmitterfähigkeiten an einen anderen Ort versetzt. Aber es war ein kurzer Sprung, den er ge tan hatte, denn Atlan sah ihn schon im näch sten Augenblick im Kopfteil der GOL'DHOR umhergehen. Er wandte sich wieder Koratzo zu. Der Stimmenmagier sah aus wie ein Ter raner, etwa fünfundzwanzig Jahre alt, schlank, hochgewachsen, mit blondem Haar und blauen Augen. Wer ihn neben Copasal lior sah, dessen Basaltaugen fremdartig ge nug wirkten, wäre von sich aus niemals auf die Idee gekommen, beide Männer zu einem Volk zu zählen. Auch Atlan war sich nicht darüber klar, wieweit die Magier eine ethno logische Einheit bildeten. Anscheinend zähl te das Aussehen eines Individuums bei ihnen wenig. Worauf es ankam, waren die magi schen Fähigkeiten. »Ich kann dir nicht versprechen, daß wir Erfolg haben werden«, sagte Koratzo, und das war für einen Magier eine geradezu fre velhafte Aussage. »Aber wir werden unser Bestes tun. Der Ort, an dem das Archiv des
Marianne Sydow Schreckens sich befindet, liegt nicht zu weit entfernt. Wenn es zum Äußersten kommen sollte, werde ich Copasallior zwingen, auf seine Weise allein zu dir zurückzukehren.« »Ich hoffe, daß dieser Fall nicht eintreten wird«, sagte Atlan. Koratzo nickte ernst. Er dachte an Glyn diszorn, der unermüdlich seine magischen Knoten flocht und versuchte, die Zukunft des Landes zu erforschen. Der Knotenma gier arbeitete so besessen, daß er von der Statur einer wandelnden Kugel auf die einer watschelnden Tonne geschrumpft war – aber er hatte keinen Erfolg. Die Linien der Zeit blieben dunkel. Atlan rief einen Techno herbei und befahl ihm, die Raumanzüge und die Waffen zu bringen. Gemeinsam mit Koratzo überprüfte er alles. Dann nahm Koratzo den Packen an sich, reichte dem Arkoniden schweigend die Hand, drehte sich um und ging davon. Eine Minute später startete die GOL'DHOR.
* »Sie hat sich weiter erholt«, sagte Copa sallior, noch ehe sie den Wölbmantel er reichten. Er meinte die GOL'DHOR. Als sie das goldene Raumschiff in der PalamandiroSchlucht zum erstenmal betraten, hatte es einen eigenen Willen besessen – es war kaum als Maschine zu bezeichnen gewesen, eher schon als ein lebendes, intelligentes Wesen. Nach der Begegnung mit dem nega tiven Magier Allersheim, der die GOL'DHOR in grauer Vorzeit geschaffen hatte, und dem Tod dieses verbannten Ma giers hatte die GOL'DHOR ihre Identität verloren. Beide Magier waren damals über zeugt gewesen, daß die GOL'DHOR nie wieder so etwas wie ein eigenes Bewußtsein entwickeln würde. Aber es schien, als hätten sie sich geirrt. Der jetzige Zustand der GOL'DHOR war von der früheren Vollkom menheit noch weit entfernt, aber sie sprach unverkennbar positiv auf die Anwesenheit
Archiv des Schreckens der beiden Magier an. »Das ist gut für uns«, murmelte Koratzo. Er berührte behutsam die Schalter und Knöpfe auf dem Pult, vor dem er saß. Die Geschwindigkeit des goldenen Raumschiffs stieg. Es durchstieß den Wölbmantel. Die Magier saßen im Bug des Schiffes. Die GOL'DHOR sah aus wie eine riesige Gottesanbeterin. Die Kommandozentrale be fand sich im Kopfteil. Das ganze Gebilde war mehr oder weniger durchsichtig. Es be stand aus einem glasähnlichen Material von goldener Tönung. Die beiden »Augen« der Gottesanbeterin waren Fenster und Sichtschirme in einem. Durch sie sah man die Umgebung so, wie sie sich dem unbe waffneten Auge darstellte. Man konnte aber auch weit entfernte Dinge vergrößern oder die Wiedergabe modifizieren lassen. Jenseits des Wölbmantels bot sich den beiden Magiern das Bild des Weltraums, wie jeder Raumfahrer es kennt – eine samte ne Schwärze mit fernen Lichtern darin. In diesem Fall waren es keine scharfen, farbi gen Punkte, denn in der Nähe Pthors gab es keine Sonnen. Noch bewegte sich die GOL'DHOR auf demselben Kurs wie das Land, das sie gerade verlassen hatte. Wider besseres Wissen versuchte Koratzo das, was am Ende dieser Höllenfahrt lag, auf der in neren Augenfläche der »Gottesanbeterin« sichtbar zu machen. Aber dort schien es nichts als eine formlose Dunkelheit zu ge ben. »Vielleicht sehen wir etwas, wenn wir nä her herangekommen sind«, meinte Copasal lior. »Das glaube ich nicht. Die Schwarze Ga laxis hat sich gut abgesichert.« Obwohl die Magier anscheinend niemals eine Raumfahrt im üblichen Sinn betrieben hatten, fanden sie sich hier draußen erstaun lich gut zurecht. Sie wußten sehr viel über das Universum. Nur wenn es um Entfernun gen und zeitliche Zusammenhänge ging, ha perte es bei ihnen bisweilen. Zum Glück war die GOL'DHOR fähig, beide Werte zu be rücksichtigen.
5 Die GOL'DHOR löste sich aus der Nähe Pthors und raste durch den Dimensionskorri dor, bis der Augenblick gekommen war, an dem sie den Kurs ein wenig ändern mußte, um das Archiv des Schreckens zu erreichen. Copasallior atmete hörbar auf, als die formlose Dunkelheit zur Seite wanderte und dafür ein paar Lichtpunkte auftauchten. »Ein scheußlicher Gedanke, daß Pthor dorthin unterwegs ist«, sagte er leise. »Spürst du es auch?« »Du meinst diesen Druck, der von dem Gebilde dort ausgeht? Ja – er wirkt lähmend und drohend.« »Wenn wir noch näherkommen, wird es schlimmer werden«, murmelte Copasallior besorgt. »Koratzo – wir müssen damit rech nen, daß es uns handlungsunfähig macht, wenn wir die Schwarze Galaxis erreichen.« Koratzo schwieg bedrückt. Auch er er kannte die Gefahr. Und sie konnten nichts tun. Es bestand kaum noch Hoffnung, daß es gelingen würde, Pthor im letzten Moment abzubremsen oder auf einen anderen Kurs zu bringen. Wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen, kehrte Pthor an seinen Ausgangspunkt zurück. Und was man dort zu den gerade eingetretenen – positiven – Veränderungen sagen würde, darüber brauchte man nicht lange zu spekulieren. Die Herren der Schwarzen Galaxis würden ganz Pthor bestrafen, auf eine Weise, die sie sich nicht vorzustellen wagten. »Dort irgendwo muß unser Ziel liegen«, sagte Koratzo in dem verzweifelten, Bemü hen, seinen Gedanken eine andere Richtung zu verleihen. »Das Archiv des Schreckens!« sagte Co pasallior nachdenklich. »Der Name wirkt abschreckend genug.« Die GOL'DHOR schoß auf die Licht punkte zu, und als sie näherkamen, erkann ten sie, daß dort vorne eine Gruppe von Son nen ihre Bahn durch die Unendlichkeit zog. Es waren rund zwei Dutzend Sterne. »Die Künste der Robotbürger unterliegen gewissen Beschränkungen«, stellte Koratzo mit leisem Spott fest. »Das Ziel, das sie uns
6 nannten, umfaßt die ganze Sterngruppe. Das Archiv müssen wir auf eigene Faust su chen.« Sie sahen sich an, und Copasallior lächel te amüsiert. »Die Robotbürger selbst wüßten natürlich sofort, wo wir mit der Suche beginnen müs sen«, murmelte er spöttisch. Copasallior erteilte der GOL'DHOR den Befehl, schon jetzt nach Planeten zu suchen. Eines der Augenfenster wurde undurchsich tig. Verschiedenfarbige Lichtpunkte erschie nen darauf, und jeder Punkt war eine Sonne. Neben zwei Sonnen standen kleinere Punk te, und sie stellten Planeten dar. Je näher die GOL'DHOR dem Sternenpulk kam, desto zahlreicher wurden diese schwächeren Lich ter. Copasallior lehnte sich schließlich seuf zend zurück. »Es ist einfach alles vertreten«, stellte er resignierend fest. »Sonnen ohne Planeten, kleine Systeme und mittlere, und auch ein paar Sterne mit Dutzenden von Welten. Eine bunte Mischung, nicht wahr? Rein rechne risch gesehen kann sich das Archiv des Schreckens überall befinden.« Koratzo betrachtete die Ansammlung von Lichtpunkten aufmerksam. »Eine bessere Tarnung gibt es nicht«, fuhr Copasallior fort. »Wer im Auftrag der Schwarzen Galaxis hierherkommt, dem ste hen natürlich genug Daten zur Verfügung. Unbefugte müssen eben suchen – und dabei verlieren sie Zeit. Inzwischen geht garantiert eine Warnung hinaus, und die Eindringlinge werden spätestens dann gefaßt, wenn sie das Ziel endlich vor Augen sehen.« »Die Schwarze Galaxis dürfte noch ziem lich weit entfernt sein«, wehrte Koratzo ab. »So schnelle Raumschiffe gibt es nicht.« »Vielleicht doch. In der Schwarzen Gala xis könnte die Kunst der Magie so gebräuch lich sein wie die Antimagie auf den Außen welten. Das hieße, daß für unsere Gegner Zeit und Raum kaum noch eine Rolle spie len.« »Hm«, machte Koratzo. »Und wozu brau-
Marianne Sydow chen sie dann ein Archiv? Und wenn sie schon eines anlegen – warum hier draußen?« Copasallior schwieg. Er hätte viele Grün de nennen können. »Andererseits«, fuhr Koratzo fort, »ist es vielleicht kein schlechter Gedanke, sich ge rade bei dieser Suche nach den Gesetzen der Magie zu richten. Es scheint, als würden die Herrscher der Schwarzen Galaxis antimagi sche Kräfte verachten. Völker, die nach die sen Gesetzen leben, werden erbarmungslos vernichtet. Das heißt, daß man in der Schwarzen Galaxis mit Widerstand eigent lich nur von antimagischer Seite aus rechnen muß. Daraus ergibt es sich fast von selbst, wie das Versteck des Archivs beschaffen sein muß.« »Falls man überhaupt ein Versteck braucht«, murmelte Copasallior pessimi stisch. Aber gleichzeitig ließ er die Darstel lung auf dem Augenfenster erlöschen. Plötz lich war er selbst davon überzeugt, daß sie ihr Ziel nicht mit Hilfe statistischer Erhe bungen finden würden. »Wir werden uns diese Sonnen direkt an sehen«, entschied er. Die GOL'DHOR hatte die Grenzen des Sternenpulks inzwischen erreicht und flog mit etwas niedrigerer Geschwindigkeit in das Gebiet der Sonnen ein. Die beiden Ma gier konzentrierten sich auf die Sterne in ih rer Nähe. Sie hofften, daß der richtige Blick im richtigen Moment ausreichen würde, um ihnen den Weg zu weisen. Sie sahen eine eisblaue Sonne mit ungefähr zwanzig Plane ten, und sie empfanden nichts. Darin einen trübgelben Stern, um den nur ein Schlacke klumpen seine Bahn zog. Einen silberweiß gleißenden Stern ohne jeden Begleiter. Ein Gespann aus einem roten und einem winzi gen, bläulichen Gestirn, das von sechs Wel ten auf aberwitzigen Bahnen umeilt wurde. Und so ging es weiter, bis plötzlich ein dü sterer Schatten über die Bildfläche huschte. Die beiden Magier schraken zusammen. »Was war denn das?« fragte Koratzo ver wirrt. »Schatten – so etwas dürfte es doch hier gar nicht geben.«
Archiv des Schreckens »Es war ein Raumschiff«, sagte Copasal lior, und unwillkürlich sprach er sehr leise, als fürchte er, man könne draußen jedes Wort hören. Koratzo faßte sich schnell. »Aus der Schwarzen Galaxis können sie nicht gekommen sein«, behauptete er. »So schnell ginge das nicht einmal mit den Kräf ten der Magie.« Copasallior deutete schweigend nach rechts. Koratzo schluckte trocken. Ein ganzer Pulk von Raumschiffen stand dort. Und es mußten wohl Raumschiffe sein, auch wenn sie höchst merkwürdig aussahen. Sie glichen beinlosen Käfern von schwarzer Farbe, und sie waren offenbar mindestens so groß wie die GOL'DHOR. Aber während die GOL'DHOR ein echtes Einzelstück war, gab es die schwarzen Käfer gleich dutzendweise. Wie ein Schwarm von räuberischen Insekten verharrten sie lauernd vor dem spärlich be stirnten Hintergrund. »Was für ein Glück, daß wir ausgerechnet in diesem Schiff sitzen«, seufzte Copasalli or. »Sie werden sich die Zähne an uns aus beißen.« Koratzo beobachtete die fremden Schiffe und stellte beunruhigt fest, daß sie ihre Posi tion änderten. Der Pulk zog sich auseinan der. Die ersten »Käfer« überholten die GOL'DHOR, und der Stimmenmagier be griff den Sinn der Manöver sehr schnell. Um das goldene Raumschiff herum gingen die Fremden in Position, und sie würden die GOL'DHOR mit tödlicher Sicherheit in die Zange nehmen. »Sie können uns nichts anhaben«, be hauptete der Weltenmagier. Koratzo hatte das bis zu diesem Augen blick auch geglaubt. Aber er sah die fremden Schiffe, und plötzlich hatte er das dumpfe Gefühl, daß sie sich zu sehr auf die überra genden Eigenschaften ihres Raumschiffs verließen. »Vorwärts!« flüsterte er, und dank seiner speziellen Fähigkeiten war der gesprochene Befehl so wirksam, als hätte er auf den be treffenden Knopf gedrückt.
7 Er blickte zu den Fenstern auf und erwar tete, daß die GOL'DHOR sich in einem ge waltigen Satz aus dem Pulk der schwarzen Käferschiffe löste. Aber nichts veränderte sich. Nur die fremden Schiffe rückten an ih re vorbestimmten Positionen vor. »Volle Beschleunigung!« rief Koratzo er schrocken, und gleichzeitig schlug er auf den Schalter, als mißtraue er plötzlich der Wirksamkeit der Magie. Im Innern der GOL'DHOR begann etwas zu summen. Das Geräusch schwoll zu einem dumpfen Brausen an. Die beiden Magier warfen sich vielsagende Blicke zu. Resignie rend schaltete Koratzo den rätselhaften An trieb zurück. Die Maschinen in dem goldglä sernen Rumpf waren einfach nicht imstande, die GOL'DHOR aus der Falle herauszurei ßen. »Wir sitzen fest«, sagte Koratzo leise. Copasallior lachte nervös auf. »Na und?« murmelte er. »Sie können auf uns schießen, aber die Schutzschirme wer den sie nicht durchdringen.« Als hätte er den Fremden ein Stichwort gegeben, zuckte von einem rechts stehenden Käferschiff aus ein gleißender Lichtstrahl zu ihnen herüber. Die GOL'DHOR schüttelte sich, und obwohl die Augenfenster sofort auf den viel zu hohen Lichteinfall reagier ten, wurden die Magier geblendet. »Damit kriegen sie uns«, stellte Koratzo nüchtern fest. »Wir müssen uns etwas ein fallen lassen.«
2. Sie wußten jetzt, daß sie zu leichtsinnig gewesen waren, aber diese Erkenntnis half ihnen wenig. Sie hätten die Käferschiffe frü her bemerken können, wären sie nicht aus schließlich auf die Suche nach dem Archiv des Schreckens konzentriert gewesen. Und sie hätten den Fremden mühelos ausweichen können, solange die Falle sich nicht ge schlossen hatte. Es war zu spät, solchen verpaßten Gele genheiten nachzutrauern.
8 Zum Glück ließen die Fremden sich Zeit. Sie gaben nur vereinzelte Schüsse ab. Hätten nur zwei der fremden Schiffe gleichzeitig das Feuer eröffnet, so wäre es für die Magier ungemütlich geworden. »Sie spielen mit uns«, murmelte Copasal lior bitter. Die GOL'DHOR wurde in ihrem unsicht baren Gefängnis herumgeschleudert. Die Magier klammerten sich an den Sesselleh nen fest. »Wenn doch nur Waffen an Bord wären!« fuhr der Weltenmagier sehnsüchtig fort. Die Magier hatten den Herren der FE STUNG einst viele gefährliche Spielzeuge geliefert. Sie konnten alle Arten von Explo sivkörper herstellen, solche, die nichts als Zerstörung verursachten, aber auch solche, die betäubende Gase freisetzten. In der GOL'DHOR gab es solche Gegenstände nicht, und das Raumschiff selbst verfügte nur über Anlagen zur passiven Selbstvertei digung. Die beiden Magier besaßen nichts als die beiden Schwerter und die Waggus aus der FESTUNG. Für eine Raumschlacht war das kaum ausreichend. Der nächste Treffer brachte das ganze Schiff zum Dröhnen. »Ich werde in eines der Schiffe springen«, verkündete Copasallior plötzlich. »Wenn ich an ihre Waffen herankomme, kann ich sie von innen zerstören.« »Das ist doch sinnlos«, erwiderte Koratzo ärgerlich. »Sobald die Fremden auf Gegen wehr stoßen, werden sie das Feuer auf uns konzentrieren. Und dann bleibt nicht einmal mehr Staub von uns übrig.« »Sollen wir uns lieber langsam rösten las sen?« fragte Copasallior wild. »Nein«, murmelte Koratzo. »Aber wir sind Magier. Wir brauchen die Waffen der Sterblichen nicht. Auch diese Fremden müs sen einen wunden Punkt haben.« »Natürlich müssen sie das. Aber wir ha ben keine Zeit mehr, danach zu suchen.« Koratzo antwortete nicht. Er saß regungs los da, und es schien, als lausche er. Copa sallior wandte sich ab. Ratlos blickte er nach
Marianne Sydow draußen. Die schwarzen Schiffe nahmen Fahrt auf. Sie bewegten sich langsam in unterschiedli chen Richtungen um die GOL'DHOR her um. »Wie Raubfische, die ein Opfer umkrei sen«, sagte Copasallior zu sich selbst. Er sah unsicher zu Koratzo hinüber. Sie hatten At lan versprochen, daß sie zurückkehren wür den, egal wie. Nun schien es, als hätte ihre Reise schon hier ihr Ende gefunden. Aber der Arkonide mußte auf jeden Fall erfahren, was geschehen war. Im äußersten Notfall mußte Copasallior alleine nach Pthor zu rückkehren – noch war die Entfernung nicht so groß, daß er einen Sprung in das Nichts riskierte. Andererseits war Pthor zu weit ent fernt, als daß er Koratzo hätte mitnehmen können. »Es sind Maschinen«, sagte Koratzo plötzlich. Der Weltenmagier fuhr hoch und hätte fast den Halt verloren, weil gerade in diesem Augenblick die GOL'DHOR zur Seite ge worfen wurde. »Roboter«, murmelte Koratzo wie in Trance. »Nichts als Roboter. In keinem der Schiffe gibt es Leben.« Copasallior lauschte gebannt. »Sie sprechen in Symbolen. Ihre Sprache weist Ähnlichkeiten zu denen der Bürger von Wolterhaven auf. Ich muß die Symbole nur ein wenig verändern. Wo ist die Zentrale dieser Flotte? Die Schiffe handeln unselb ständig. Sie empfangen laufend Befehle.« »Dann gib ihnen welche«, sagte Copasal lior aufgeregt. Koratzo schüttelte langsam den Kopf. »Das reicht nicht«, murmelte er. »Die An weisungen müssen aus einer bestimmten Richtung kommen.« »Aber dann …« »Diese Richtung ändert sich laufend. Die Zentrale verhält sich nicht anders als alle an deren Schiffe auch. Für die Maschinen da drüben ist es leicht, die Werte ständig nach zurechnen. Ich muß jedes Schiff abtasten.« »Bis dahin ist es längst vorbei«, warnte
Archiv des Schreckens Copasallior. Koratzo schien ihn gar nicht zu hören. Sein Gesicht wirkte wie versteinert, und die blauen Augen strahlten in einem unheimli chen Feuer. Mit seinen seltsamen Sinnen erfaßte er ein Käferschiff nach dem anderen. Er dachte nicht mehr an die Gefahr, in der er und Co pasallior schwebten. Er konzentrierte sich nur noch auf die Art der Impulse, die das je weils erfaßte Raumschiff auffing und abgab. Copasallior saß wie auf Kohlen, aber er beherrschte sich eisern und wartete schwei gend ab. Er litt darunter, daß er nichts tun konnte. Seine Transmitterfähigkeiten nütz ten ihm in dieser Lage gar nichts. »Ich habe es«, sagte Koratzo nach einer schier endlos scheinenden Zeitspanne. »Dann fang endlich an!« fauchte Copasal lior. Vor den Augenfenstern irrlichterte es. Bläuliche Blitze zuckten durch die sonst un sichtbaren Schutzschirme. »Die Befehle müssen verändert werden«, murmelte Koratzo tonlos. »Sage ihnen, daß sie fliehen müssen!« rief Copasallior ungeduldig. »Drohe ihnen, daß sie alle vernichtet werden, wenn sie uns nicht augenblicklich freigeben!« »Sie nehmen keine artfremden Impulse an«, stellte Koratzo fest. »Man kann sie nur von innen her beeinflussen. Ich werde die Befehle kopieren. Halte dich fest, Copasalli or, es wird gleich einen gewaltigen Krach geben.« Im nächsten Moment wurde die GOL'DHOR von zwei Strahlschüssen ge troffen. Der eine traf frontal auf die Schutz hülle, der zweite streifte sie nur. Die GOL'DHOR bockte und stampfte, und Co pasallior stürzte trotz Koratzos Warnung aus dem Sessel und rutschte über den gläsernen Boden. »Was, beim Crallion …«, begann er, aber dann sah er Koratzo – und der Stimmenma gier lächelte kalt. »Jetzt weiß ich, wie ich die Befehle fäl schen kann«, erklärte er seelenruhig. »Paß
9 auf, Weltenmagier.« Copasallior stand auf und starrte nach draußen. Er unterdrückte den Schrei, der ihm in der Kehle saß. Die Käferschiffe be gannen zu feuern – nicht mehr nacheinander in langen Abständen, sondern gemeinsam. Ein Netz von leuchtenden Bahnen stand plötzlich im Raum. Es dauerte Sekunden, bis Copasallior begriff, daß die GOL'DHOR sich keineswegs im Zentrum dieses Netzes befand. »Ich gab ihnen den Befehl, zu schießen«, erklärte Koratzo nüchtern. »Aber ich habe die Zielwinkel ein wenig verändert.« Zwei der schwarzen Raumschiffe explo dierten. Copasallior hastete zu seinem Pult zurück und versuchte, die GOL'DHOR zu beschleunigen. Zum Glück reagierte das Schiff nicht – es wäre sonst in dieses Strah lengewitter hineingeflogen. »Warte noch!« befahl Koratzo leise. »Ich werde ihre Reihen ein bißchen in Unord nung bringen.« Copasallior wunderte sich nicht darüber, daß er keinen der Befehle, die Koratzo den fremden Schiffen gab, hören konnte. Der Stimmenmagier bediente sich der »Übersprache«. Was er sagte, wurde erst in der Entfernung hörbar, die er vorher gewählt hatte. Koratzo ahmte die Stimme der Befehls zentrale so genau nach, daß die Maschinen darauf hereinfielen. Anfangs versuchte die Zentrale, diese fremde Stimme dadurch un schädlich zu machen, daß sie ihre eigenen Befehle mit maschineller Sturheit immer noch wiederholte. Aber die untergebenen Einheiten gerieten dadurch nur in noch grö ßere Verwirrung. Die »falschen« Impulse, die daraufhin als Antwort bei der Zentrale eintrafen, lähmten das künstliche Gehirn all mählich. Es dauerte nur wenige Minuten, da hatte Koratzo die fremde Flotte fest im Griff. Dennoch konnte er nicht einfach den Rück zug befehlen, denn der war in der Program mierung der Robotschiffe nicht vorgesehen. Diese Raumer griffen einen Feind an, und
10 sie vernichteten ihn entweder, oder sie wur den selbst zerstört. Kompromisse gab es nicht. Koratzo spürte die Kraft, die die GOL'DHOR gefangen hielt. Er wußte, daß er den Schiffen nicht befehlen konnte, die entsprechenden Maschinen abzuschalten. Auch dieser Befehl hätte der Mentalität der Roboter widersprochen. Es gab jedoch noch einen anderen Weg. Der Stimmenmagier veranlaßte einige der Käferschiffe zu einer geringen Kursände rung. Für die Roboter war es selbstverständ lich, daß ein solcher Befehl erst dann erfolg te, wenn jede Kollisionsgefahr gebannt war. Und jedes Schiff achtete auch nur auf die Impulse, die direkt an seine Adresse gerich tet waren. So kam es, daß die schwarzen Raumer gehorsam auf den neuen Kurs ein schwenkten und dabei plötzlich anderen Schiffen begegneten, die unverändert ihre Bahn um die GOL'DHOR zogen. Koratzos Berechnungen waren nicht ge nau genug, um durch dieses Manöver mehr als drei oder vier Schiffe zusammenstoßen zu lassen. Aber die Flotte der Fremden ge riet in ein totales Chaos. »Ausweichmanöver«, befahl Koratzo see lenruhig und vergaß mit voller Absicht de taillierte Anweisungen. Auch die echte Zen trale drückte sich manchmal ungenau aus, wenn etwas nicht so funktionierte, wie es hätte sein sollen. Die untergebenen Schiffe gehorchten au genblicklich – jedes einzelne verließ seine feste Bahn. Dabei manövrierten sie in ein Durcheinander hinein, in dem selbst ein Ro boter über kurz oder lang die Übersicht ver lieren mußte. Die Flotte der Fremden bot nicht länger das Bild eines geordneten Schwarmes krei sender Raubfische, sie sah eher aus wie eine Horde von Fliegen, denen der Blutgeruch den Verstand getrübt hat. Aber immer noch existierte das geister hafte Gefängnis, in dem die GOL'DHOR ge fangen saß. »Angriff!« befahl Koratzo kalt. Und alle
Marianne Sydow Käferschiffe begannen zu feuern. »Weg von hier!« schrie der Stimmenma gier, und diesmal reagierte die GOL'DHOR sofort. Die Maschinen summten für einen Au genblick laut auf, dann raste das goldene Raumschiff vorwärts, genau in eine Bahn glühender Gase hinein, die vom Ende eini ger Käferschiffe kündeten. Die Gase konn ten die GOL'DHOR nicht beeindrucken. Sie stieß hindurch, schüttelte sich leicht und flog dann weiter, weg von diesem Schwarm schießender und explodierender Schiffe. Copasallior ließ sich schwer zurücksin ken. »Das war knapp«, murmelte er. »In Zu kunft werden wir vorsichtiger sein.« Er sah zu Koratzo hinüber. Der Stimmen magier war sehr blaß. »Es waren nur Maschinen!« sagte Copa sallior beruhigend. »Ihretwegen brauchst du wirklich keine Schuldgefühle zu ent wickeln.« Koratzo lächelte schwach. »Das Befehlsschiff ist eben explodiert«, erklärte er. »Es hat noch einen Impuls frei gesetzt. Copasallior – dieses Ding, das das Kommando führte, war unvorstellbar böse. Es muß mehr als nur eine Maschine gewe sen sein.« »Ein Werk der Magie?« fragte Copasalli or fassungslos. Koratzo zuckte die Schultern. »Vielleicht. Aber einer Art der Magie, die ich niemals kennenlernen möchte.« Hinter ihnen trieb die Flotte der Käfer schiffe unaufhaltsam ihrem Untergang ent gegen. Ein paar Raumer würden es überste hen, aber ohne etwas, das ihnen Befehle er teilen konnte, waren sie hilflos. Wenn sie ih re letzten Anweisungen befolgt und den Kampf bis zum bitteren Ende geführt hatten, würden sie still und tot im Raum driften. »Jedenfalls sind wir frei«, stellte Copasal lior nüchtern fest. »Suchen wir also nach dem Archiv des Schreckens, ehe die nächste Gefahr uns einholt.«
Archiv des Schreckens
* Von nun an flogen sie langsamer, und sie hielten unablässig Ausschau nach weiteren Raumschiffen. Einmal entdeckten sie eine künstliche Raumstation, die verlassen im Nichts hing, und obwohl es in dem stähler nen Gebilde kein Leben zu geben schien, wichen sie ihm sorgsam aus. Ein andermal, als sie in ein vielversprechendes Sonnensy stem vorstießen, schlugen ihnen von einer gigantischen, düster glimmenden Welt Ener giestrahlen entgegen. Aber die GOL'DHOR entkam mit geringer Mühe. Und schließlich entdeckten sie ein Sy stem, das ihnen so merkwürdig vorkam, daß sie beschlossen, es gründlicher als alle ande ren zu durchsuchen. Es bestand aus einer großen, goldgelben Sonne, die von nur zwei Planeten umkreist wurde. Die beiden Trabanten umliefen ihr Gestirn im gleichen Abstand, und sie taten dies so, daß die Sonne immer zwischen ih nen stand. Selbst die Magier erkannten auf den ersten Blick, daß eine solche Konstella tion ungewöhnlich war. »Spürst du irgend etwas?« fragte Copasal lior. »Nein«, murmelte Koratzo. »Wir sind noch zu weit entfernt. Wie ist es mit dir?« »Nichts Konkretes. Ich habe nur ein vages Gefühl, daß es zwischen den beiden Plane ten eine enge Verbindung gibt.« »Welchen nehmen wir uns zuerst vor?« »Den, der uns ohnehin am nächsten ist«, entschied Copasallior. Die GOL'DHOR bewegte sich langsam in das fremde Sonnensystem hinein. Obwohl die beiden Magier darauf brannten, sich end lich mit den beiden Planeten befassen zu können, achteten sie vorläufig mehr auf das, was sich in ihrer näheren Umgebung befand. Und ihre Vorsicht lohnte sich. »Schon wieder Raumschiffe?« fragte Co pasallior leise. Koratzo sah die silbrigen Punkte eben falls.
11 »Näher heran!« befahl er, und die GOL'DHOR wich ein wenig von ihrem Kurs ab. »Wenigstens sehen sie nicht wie Käfer aus«, stellte der Weltenmagier fest. »Und schwarz sind sie auch nicht. Wie steht es mit der Besatzung?« Koratzo runzelte die Stirn und schüttelte schließlich resignierend den Kopf. »Wieder nichts«, sagte er niedergeschla gen. »Nur Maschinen und Roboter. Gegner aus Fleisch und Blut wären mir lieber. Die kann man beeinflussen und im Notfall zum Frieden zwingen.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Ma schinen diese Stationen gebaut haben sol len«, wunderte sich Copasallior. Je näher sie kamen und je mehr Einzelhei ten sie erkennen konnten, desto ratloser wur den sie. Was dort im Weltraum schwebte, waren nichts anderes als Kuppeln. Sie sahen aus wie wirkliche Bauwerke, die man vom Boden abgeschnitten und an diesen Ort ver setzt hatte. Sie bestanden aus einem schwärzlich-silbrigen Material, und an ihren Außenflächen gab es Säulen und Balkone, Erker und hohe Portale. Hier, in so steriler Umgebung, wirkten die Kuppeln wie verlo rene Kunstwerke. »Die Erbauer haben sich zurückgezogen und die Kuppeln den Maschinen überlas sen«, stellte Koratzo nüchtern fest. »Das ist nicht ungewöhnlich. Mich beunruhigt nur, daß die Roboter da drüben sich derselben Sprache bedienen wie die Käferschiffe.« »Könnten wir uns an ihnen vorbeischie ben?« überlegte Copasallior, und nach ei nem langen Blick nach draußen beantworte te er sich die Frage selbst. »Das gelingt uns niemals. Die Kuppeln sind geschickt ver teilt. Ich glaube auch nicht, daß es Lücken in diesem Netz gibt. Sie werden uns bemerken, und wenn wir dann als unerwünschte Ein dringlinge eingestuft werden, nehmen sie uns in die Zange. Uns bleibt gar keine Wahl. Nimm Kontakt mit ihnen auf.« »Das ist leicht gesagt«, seufzte Koratzo. »Welche Ausrede soll ich benutzen?«
12 »Seit wann bist gerade du um Worte ver legen?« fragte Copasallior spöttisch. »Erzähle ihnen, daß wir aus der Schwarzen Galaxis kommen.« Koratzo zögerte. Erstens waren ihm jede Art von Intrigen, Lügen und Täuschungsma növern verhaßt. Zweitens war er sich absolut nicht sicher, ob sie auf diese Weise die Ro boter in den Kuppeln auch nur für die Dauer einer Sekunde täuschen konnten. Wenn sich auf den beiden Planeten wirk lich das Archiv des Schreckens befand, dann befanden sie sich mit Sicherheit an einem Ort, der strengstens überwacht wurde. Muß ten die Maschinen in den Kuppeln nicht ge naue Informationen darüber haben, wie eventuelle Besucher aus der Schwarzen Ga laxis aussahen und welcher Kennzeichen sie sich zu bedienen hatten? »Worauf wartest du?« fragte Copasallior ärgerlich. »Du hast dir doch immer ge wünscht, etwas gegen die Auftraggeber der ehemaligen Herren von Pthor unternehmen zu können.« Koratzo schüttelte die unangenehmen Vorahnungen ab, die ihn plagten. Er benutz te die eben erst erlernte Sprache des Robo tervolks. »Wir sind Beauftragte der Schwarzen Ga laxis«, ließ er die GOL'DHOR über Funk mitteilen. »Wir kommen, um Inspektionen vorzunehmen.« Die Antwort traf überraschend schnell ein. »Folgt dem Leitstrahl der Zentralstation.« »Das geht mir zu schnell«, murmelte Co pasallior. Der Weltenmagier starrte beklommen die Kuppel an, der sie sich näherten. Die GOL'DHOR folgte völlig selbständig dem Leitstrahl, nachdem sie einmal den Befehl dazu erhalten hatte. Aus der Ferne hatten die Kuppeln wie zierliche Spielzeuge gewirkt. Erst jetzt, da sie schon ganz nahe waren, er kannten die Magier die wahren Ausmaße dieser Gebilde. Die matt schimmernden Wände wuchsen wie die Oberfläche eines mittleren Mondes vor der vergleichsweise
Marianne Sydow winzigen GOL'DHOR auf. Die eleganten Säulen entpuppten sich als gewaltige Strän ge von untereinander verflochtenen Röhren, und die geschwungenen Torbögen schienen dazu bestimmt, Wesen von der Größe wan delnder Berge Einlaß zu gewähren. »Das ist eine Falle«, sagte Copasallior dü ster. »Ich spüre es bis in das Mark meiner Knochen hinein.« Koratzo nickte nur. Er fühlte selbst die unheimliche Drohung, die von der Kuppel ausging. Die GOL'DHOR näherte sich einem der gigantischen Tore und glitt daran entlang, bis sich eine Öffnung zeigte. Koratzo hielt unwillkürlich den Atem an, als das Raum schiff langsam in das Loch hineinschwebte. Obwohl jenseits der Schiffshülle absolute Finsternis herrschte, zeigten die Augenfen ster im Vorbeigleiten metallene Konstruktio nen, die nur einen Schluß zuließen – die GOL'DHOR glitt in eine gewaltige Schleu se. Leicht wie eine Feder sank das Schiff dem nur auf den Schirmen sichtbaren Boden entgegen. Augenblicke später erfüllte düste res, rotes Licht eine riesige Halle, in deren Mittelpunkt das goldene Raumschiff stand. »Verlaßt das Schiff und folgt den Rich tungsweisern!« befahl die geisterhafte Stim me des hier herrschenden künstlichen Ge hirns. Copasallior verstand kein Wort, Ko ratzo dagegen um so mehr. Er nickte dem Weltenmagier zu. »Komm«, sagte er bedrückt. »Jetzt wird es sich herausstellen, ob wir wirklich fähig sind, eine Chance zu nutzen.« Als sie durch den Rumpf der GOL'DHOR zur Schleuse gingen, blieben sie in stillem Einverständnis kurz stehen und nahmen die aus der FESTUNG stammenden Waffen an sich. Sie stiegen sogar in die unbequemen, antimagischen Raumanzüge, obwohl es draußen atembare Luft gab. Die Helme lie ßen sie geöffnet. Sie fühlten sich unbehag lich in den schweren Monturen – als Magier waren sie es nicht gewöhnt, sich mit solchen Beschwernissen abfinden zu müssen. Aber die Anzüge stammten aus der FESTUNG,
Archiv des Schreckens und was dort an technischer Ausrüstung la gerte, kam mit hoher Wahrscheinlichkeit aus der Schwarzen Galaxis. Vielleicht gaben solche Kleinigkeiten am Ende noch den Ausschlag über Erfolg oder Mißerfolg ihrer Mission. Sie hatten kaum den Boden der Halle be treten, da tauchte ein tanzender Lichtfleck auf, genau vor ihnen, mitten in der Luft. Die beiden Magier zuckten zusammen, dann lachte Koratzo leise auf. »Keine Magie«, stellte er fest. »Dieses tanzende Licht wird auf dem Weg der Tech nik erzeugt. Es soll uns die Richtung wei sen.« Mißtrauisch und wachsam, nach allen Sei ten Ausschau haltend, folgten sie dem Licht in die Tiefen der seltsamen Kuppel hinein.
3. Es war eine Umgebung, in der ein erzkon servativer Magier bei längerem Aufenthalt leicht den Verstand verlieren konnte. Die reine Antimagie herrschte in den Räumen der Kuppel. Es gab nicht einmal Reste von natürlich gewachsenem Fels, von Pflanzen und Tieren ganz zu schweigen, und die Luft war steril und still. Aber Koratzo und Copasallior fanden hin ter der glänzenden Fassade mit Hilfe ihrer besonderen magischen Sinne schon bald dü stere Winkel und vergessene Kammern, in denen es Überreste früheren Lebens gab. Sie spürten in den Wänden Stränge aus beein flußbaren Metallen und empfindliche Kri stallsysteme, und die Erkenntnis, daß sie nicht allein auf Schwert und Waggu ange wiesen waren, falls sie sich ihrer Haut weh ren mußten, gab ihnen die nötige Zuversicht, um scheinbar gelassen dem tanzenden Licht zu folgen. Sie bemerkten aber auch, daß dieses Licht sie zu zeitraubenden Umwegen verleitete. So mußten sie eine Halle durchqueren, in der sich gewaltige Maschinenblöcke türm ten, obwohl es einen leicht erkennbaren Weg gab, der an der Halle vorbei gerade
13 wegs in die Grundrichtung dieser Wande rung führte. Das zentrale Gehirn der Station schien den Besuchern imponieren zu wollen, indem es ihnen vor Augen führte, wie ausgedehnt sein Reich war. Den beiden Magiern erschi en ein solches Verhalten bei einem Roboter keineswegs als ungewöhnlich. Sie waren schließlich an den Umgang mit den Bürgern von Wolterhaven gewöhnt. Nach etwa einer halben Stunde gelangten sie in einen halbkugelförmigen Raum, der von Geräten aller Art fast ausgefüllt war. Nur ein schmaler Weg führte zwischen zahl losen Maschinen hindurch. In der Mitte des Raumes gab es einen freien Platz von etwa drei Metern Durchmesser. Als die Magier dieses Rund betraten, verschwand das Licht, das sie geführt hatte. Copasallior, der im Zusammenhang mit seiner Transmitterfähigkeit einen besonders guten Orientierungssinn entwickelt hatte, stellte überrascht fest, daß sie sich ganz dicht neben der Halle befanden, in der die GOL'DHOR auf sie wartete. Er stieß Korat zo verstohlen an und formulierte diese Er kenntnis in seinen Gedanken. Der Stimmen magier nickte kaum merklich. Koratzo konnte die Gedanken anderer Wesen für sich hörbar machen und auch auf lautlose Weise zu seinem Begleiter sprechen, woraus sich in gewissen Situationen unschätzbare Vor teile ergaben. »Wer seid ihr?« fragte eine dunkle, schleppende Stimme in der Sprache der Kä ferleute. Koratzo übersetzte die Frage lautlos für den Weltenmagier. »Beauftragte der Schwarzen Galaxis«, er widerte er dann. Eine Zeitlang blieb es still. Wir sehen offenbar nicht so aus, wie er solche Boten in Erinnerung hat, dachte Co pasallior besorgt. »Identifiziert euch!« befahl der Roboter. »Wir sprechen deine Sprache«, sagte Ko ratzo bedächtig. »Gilt das auch für deinen Begleiter?« Koratzo sandte dem Weltenmagier eine
14 kurze Warnung und »lieh« ihm seine Stim me. »Es gilt auch für mich«, antworteten Co pasalliors Lippen in der Sprache der Käfer schiffe. Wenn das nur gut geht! dachte der Wel tenmagier gleichzeitig. Tatsächlich durch schaute der Roboter den magischen Kunst griff. Ein lebendes Wesen wäre den Magiern niemals auf die Schliche gekommen. »Ihr seid nicht von derselben Art«, urteil te das Gehirn. »Das Wesen mit den sechs Armen ist ein Fremdling. Woher kommt er?« »Aus der Schwarzen Galaxis«, behauptete Koratzo stur. »Er wurde mir als Begleiter mitgegeben.« »Mit welcher Begründung?« »Ich brauche seine Hilfe, um meine Auf gabe zu erfüllen.« »Die Beauftragten werden auf ihre Arbeit gründlich vorbereitet. Sie brauchen nicht die Hilfe von Außenstehenden. Dein Verhalten weist eher darauf hin, daß du diesen Frem den eigenmächtig hergebracht hast. Das ist ein Verstoß gegen die Gesetze der Herr scher. Dieselben Gesetze verlangen von mir, daß ich den Fremden töte und dich bestra fe.« Koratzo ließ sich dadurch nicht beein drucken, denn er wußte, daß sich das Gehirn seiner Sache nicht so sicher war, wie diese Worte vermuten ließen. »Wir sind ohne Macht gegen dich«, sagte er, obwohl das eine Lüge war. »Wir können dich nicht daran hindern, das zu tun, was du für deine Pflicht hältst. Aber du wirst be straft werden, denn wir sind Beauftragte und du hast uns zu helfen.« Er überlegte, daß der Roboter sicher keine genauen Informationen über die Verhältnis se in der Schwarzen Galaxis hatte. Sonst brauchte er ja nur diesbezügliche Fragen zu stellen, um die Magier zu entlarven. Aber da der Roboter selbst nichts – oder fast nichts – wußte, konnte er nicht beurteilen, ob er rich tige Antworten zu hören bekam. Hier zeig ten sich endlich einmal Vorteile für jeden,
Marianne Sydow der sich gegen die unheimlichen Herrscher stellte. Das Gehirn fand schließlich doch einen Ausweg. »Wißt ihr, wo ihr euch befindet?« fragte es. »In einer Station, die der Sicherheit des Archivs dient«, antwortete Koratzo. Er hoff te, daß sie sich in der Beurteilung dieses Sonnensystems nicht getäuscht hatten. »Das ist richtig«, gab das Gehirn zu. »Dann weißt du aber auch, daß du mir jede Einzelheit über die Mission mitteilen mußt, die dich hierhergebracht hat.« Koratzo hatte Copasallior über den Fort gang der Verhandlungen auf dem laufenden gehalten. Der Weltenmagier stieß Koratzo an und schüttelte warnend den Kopf. Das kann nicht stimmen! behauptete er lautlos. Wenn es einen solchen Befehl gäbe, dann wären schon längst Informationen aus der Schwarzen Galaxis nach draußen ge langt. Es paßt nicht zu der absoluten Ge heimhaltung, die hier geübt wird. »Du versuchst, uns zu täuschen«, warf Koratzo dem Gehirn vor. »Wir sind dir kei ne Antwort schuldig geblieben. Gib uns end lich den Weg frei. Wir haben nicht so viel Zeit, daß wir uns stundenlang mit dir herum streiten könnten.« »Ich kann euch nicht freigeben.« »Willst du uns etwa zurückweisen?« frag te Koratzo mit gespielter Empörung. »Sollen wir deiner Dummheit wegen unverrichteter Dinge zurückkehren und uns bestrafen las sen?« Wieder trat eine Pause ein. »Der Bursche ist völlig ratlos«, erklärte Koratzo dem Weltenmagier lautlos. »Er weiß nicht, was er mit uns anfangen soll. Er wagt es nicht, uns abzuweisen, aber seine Vorschriften verbieten es ihm tatsächlich, uns einfach freizugeben. Ich glaube, er hat wenig Übung darin, mit solchen Widersprü chen fertig zu werden. Wahrscheinlich ist hier seit langem kein Besucher aus der Schwarzen Galaxis aufgetaucht.« »Merkwürdig«, erwiderte Copasallior in
Archiv des Schreckens Gedanken. »Sollte das Archiv des Schreckens so selten benutzt werden?« »Ich weiß es nicht. Etwas stimmt hier nicht. Vielleicht sind wir nur an die falsche Station geraten. Dieses Gehirn scheint mir nicht so zu funktionieren, wie seine Erbauer es sich einst gedacht haben.« »Wir können uns nicht ewig mit diesem Ding aufhalten. Ich habe inzwischen ein paar empfindliche Stellen aufgespürt. Ich werde ein paar Leitungen erhitzen. Das wird unserem seltsamen Freund hier auf die Sprünge helfen.« »Warte noch damit«, bat Koratzo hastig. »Du könntest das Gehirn beschädigen. Wir wissen nicht, was dann mit der Station ge schieht.« »Die Station ist das Gehirn«, teilte Copa sallior düster mit. »Du hast für so etwas kei nen Sinn, aber ich spüre, daß das alles eine Einheit bildet.« »Um so vorsichtiger sollten wir sein. Wir brauchen Informationen. Außerdem ist das hier nicht die einzige Kuppel. Wenn wir die ses Gehirn außer Gefecht setzen, werden wir erst recht nicht in das Archiv gelangen.« Copasallior setzte gerade zu einer ärgerli chen Bemerkung an, da meldete sich das Gehirn wieder. »Ich muß auf einer gründlichen Untersu chung eurer Gehirne bestehen«, sagte es lei denschaftslos. »Nur auf diesem Weg kann ich Gewißheit darüber erlangen, ob ihr wirk lich berechtigt seid, das Archiv zu betreten. Ich hoffe, daß ihr keinen Widerstand leisten werdet. Zwingt mich nicht, euch auszulö schen.« Fast gleichzeitig kam Bewegung in die Maschinen, von denen die Magier umgeben waren. Roboter, die wie Insekten mit runden Leibern und kurzen Beinen aussahen, kro chen aus allerlei Winkeln und Spalten und bewegten sich auf die Magier zu. »Geht auf eure Plätze«, befahl der Robo ter. Im ersten Moment wußten die Magier nicht, wer gemeint war – sie oder die emsi gen Roboter. Aber dann sahen sie die merk
15 würdigen Sessel, die sich aus einer düsterro ten Wand direkt vor ihnen herausschoben. Die Maschine, zu der diese Wand gehörte, erwachte summend zum Leben. Dünne Stan gen, die zitternden Fühlern glichen, zuckten um die Sessel herum aus dem Boden. Sie begriffen sofort, was der Roboter von ihnen erwartete. Sie sollten sich in die Sessel setzen und sich von den Fühlern untersuchen lassen. Wenn man ihre Gehirne durchstöber te, würde man nicht nur herausfinden, daß sie zu den Feinden der Schwarzen Galaxis gehörten. Der Roboter würde auch Aufklä rung darüber erhalten, daß sie Magier waren. Wenn sie sich auf die Sessel drängen ließen, waren sie so gut wie tot. »Schade«, sagte Koratzo laut. »So weit hätte es nicht kommen müssen.« Aus den Augenwinkeln sah er, daß Copasallior sich halb herumdrehte, um die bereits anvisierten Leitungen leichter erreichen zu können. Seufzend konzentrierte er sich auf die Robo ter, die langsam näherkamen. Für die Laute der Vernichtung war es völlig unwesentlich, ob sie auf magisch beeinflußbare Materie trafen oder auf die Gebilde einer antimagi schen Technik. Koratzo haßte diese Laute. Sie waren zu einer Zeit entstanden, als die Stimmenmagie noch ausschließlich negativen Zwecken ge dient hatte. Koratzo fand, daß es andere Mit tel geben müsse, um mit einem Gegner fer tig zu werden, und er hatte sich geschworen, diese Laute niemals zu mißbrauchen und sie nicht gegen lebende Wesen einzusetzen. Einmal, als die Seelenlosen drauf und dran waren, Glyndiszorns Luftschiff zu stehlen und damit die Barriere von Oth zu vernich ten, hatte er diesen Schwur gebrochen. Selbst jetzt fiel es ihm nicht leicht, zu einem so verachtenswerten Mittel Zuflucht zu neh men. Aber es waren nur Maschinen, und sie waren in so großer Zahl vorhanden, daß jede andere Methode fehlschlagen mußte. Obwohl er sie kaum jemals angewandt hatte, beherrschte Koratzo die schrecklichen Laute vollkommen. Er formte sie und schickte sie aus, und die emsigen Roboter
16 erstarrten mitten in der Bewegung, glühten von innen heraus auf und verschwanden dann nacheinander spurlos. »Ihr seid Feinde!« schrie das Gehirn, das sich irgendwo in dieser riesigen, metallenen Masse verborgen hielt. »Ich werde euch tö ten.« Koratzo drehte sich zu Copasallior um. Der Weltenmagier hatte drei von seinen Ar men ausgestreckt. Er deutete auf einen Block aus rot glänzendem Metall, und Ko ratzo sah, daß der Block schrumpfte und schwankte. Die Stimme des Gehirns kam wieder, aber sie hörte sich verändert an. »Ihr seid des Todes!« krächzte sie. »Die Herrscher der Schwarzen Galaxis werden euch furchtbar bestrafen. Verlaßt diesen Raum. Ihr steht unter Arrest …« Das Gehirn redete noch weiter, aber was es sagte, stand im krassen Widerspruch zu dem, was es noch vermochte. Seine bewegli chen Teile in Gestalt der kleinen Roboter fielen Koratzos zerstörenden Lauten zum Opfer, und der Stimmenmagier wußte, daß er mit dieser Waffe selbst in die entfernte sten Räume der Station hineingreifen konn te. Und Copasallior schickte Hitze in emp findlichen Metalladern. Diese Hitze fraß sich weiter, durch die ganze Kuppel hin durch. »Du irrst dich!« rief Koratzo laut. »Wir sind Beauftragte, denen du zu gehorchen hast. Du selbst machst dich zu unserem Feind, indem du uns zwingen willst, gehei me Informationen preiszugeben. Spürst du nicht, welche Macht wir besitzen? Die Herr scher haben sie uns verliehen. Sie haben dich längst in Verdacht, nicht mehr in ihrem Sinn zu arbeiten. Gib es auf! Wenn du dich uns unterwirfst, geben die Herrscher dir vielleicht noch eine Chance.« Copasallior spürte die Macht, die in die sen Worten lag, und er erkannte, daß der Stimmenmagier zu einem neuen Schlag aus holte. Er stellte sich auf Koratzos Taktik ein. Geduldig wartete er, bis sein Gefährte ihm ein Zeichen gab.
Marianne Sydow Mit Hilfe seiner magischen Kräfte griff Copasallior in eine dieser unverständlichen Maschinen hinein. Es waren Produkte der Antimagie, und er verstand ihre unmittelba ren Funktionen und ihren Aufbau, wäre aber nicht imstande gewesen, diese Erkenntnisse praktisch auszuwerten. Er sah einfach, wo sich Ansätze für ihn boten, und er griff zu. In der Maschine verschwanden winzige Teile, um innerhalb weniger Augenblicke an anderer Stelle wieder aufzutauchen. Von draußen hörte man nur ein kurzes Knistern und Knacken. Aber hätten die Ma gier die Verkleidung des Geräts aufgebro chen, so hätten sie nur noch verbogene und verschmorte Überreste von technischen In nereien gefunden. Leider konnte Copasallior diese Fähigkeit nur dann zum Einsatz brin gen, wenn er einem Objekt nahe genug kam. Die Stimme aus den unsichtbaren Laut sprechern geriet ins Schwanken. Der Robo ter leierte inhaltslose Drohungen herunter. Dann verstummte er, und als er sich erneut meldete, drang nur noch ein heiseres Flü stern bis zu den Magiern vor. »Geht!« befahl das Gehirn. »Geht fort!« Koratzo griff schweigend nach einer von Copasalliors Händen. Der Weltenmagier fühlte fast erschrocken, wie die Befehle des Gehirns in ihm selbst ein Echo fanden. Dann erkannte er, welche Chance sich ihm bot. Er hatte es noch nicht oft erlebt, dieses unbe schreibliche Gefühl, mit jemandem auf ma gische Weise zusammenzuarbeiten, einen Verbund zu bilden – und es stieß ihn immer noch ab, aber gleichzeitig faszinierte es ihn. Copasallior war Individualist, wie fast alle Magier. Mit jemandem die Arbeit zu teilen, hieß für ihn, auch auf einen Teil des Ruhmes zu verzichten. Hier aber gab es niemanden, der insge heim die Punkte zählte, die er oder Koratzo auf ihr Konto verbuchen konnten. Er spürte jetzt diese Stimme und sah, wo her sie kam. Er folgte, unterstützt von Korat zo, den krausen Wegen durch verschiedene Teile der Station und fand endlich die Stelle, an der die Stimme ihren Ursprung hatte –
Archiv des Schreckens das Zentrum des gigantischen, künstlichen Gehirns, das die Magier von allen Seiten umschloß. Er wagte es, einen Sprung in die se Richtung zu tun. Den Stimmenmagier nahm er mit. Sie gingen gemeinsam den kurzen Schritt durch die Welt jenseits der Wirklichkeit, und als sie herauskamen, befanden sie sich in einer anderen, ebenfalls halbkugelförmi gen Halle, die jedoch größer und weitläufi ger war. »Geht!« flüsterte die Stimme des Gehirns immer noch, und die Worte brachen sich an den gewölbten Wänden und schlugen als vielfaches Echo zurück. »Geht fort!« »Es reagiert wie ein Mensch, nicht wie ei ne Maschine«, sagte Koratzo bedrückt. »Es leidet – oder spürst du das nicht?« Copasallior sah sich ungerührt um. »Und wenn schon«, murmelte er. »Soll es leiden. Willst du ihm Trost zusprechen, oder gelingt es dir, vorübergehend auch einmal an Pthor und Atlan zu denken?« Es war ungerecht, und das wußte er. Aber er kannte auch Koratzo, dem er einmal vor langer Zeit so etwas wie ein Vater gewesen war. »Ich werde es trösten«, erwiderte Koratzo heftig. »Aber wenn es irgendwie geht, dann werde ich ihm helfen. Es ist ohne Schuld. Es folgt nur seinen Befehlen, und es ist nicht fähig, zwischen Gut und Böse zu unterschei den. Es spürt nur den Schmerz, den wir ihm zufügen.« Es schien, als hätte Koratzo tatsächlich recht. Natürlich durfte eine Maschine keinen Schmerz empfinden, aber selbst Copasallior war sich allmählich nicht mehr sicher, ob man dieses Gehirn wirklich als eine Maschi ne bezeichnen durfte. Manche ihrer Reaktio nen fielen so aus, wie man sie allein von or ganischen Wesen erwarten durfte. Copasallior sah überrascht auf, als Korat zo die Hand des Weltenmagiers losließ und in die Halle hineinging. Der Stimmenmagier blieb vor einem Gebilde stehen, das wie eine gekappte Säule aussah. »Gib auf«, sagte er ruhig. »Du hast keine
17 Macht über uns. Arbeite für uns statt gegen uns. Wir sind nicht deine Feinde.« Das Gehirn verstummte. Lange Zeit blieb es unheimlich still. »Was willst du von mir?« fragte dann das Gehirn, und plötzlich klang seine Stimme wieder normal. »Informationen«, antwortete Koratzo sanft. »Sage uns, was du weißt – über dieses Sonnensystem, über das Archiv und über die Schwarze Galaxis.« »Ihr seid Gegner der Schwarzen Galaxis«, stellte das Gehirn ohne erkennbare Emotio nen fest. Copasallior hob enttäuscht die Arme, be reit, erneut zuzuschlagen, denn er dachte, daß nun alles von vorne beginnen würde. Wie aus weiter Entfernung hörte er Koratzo sagen: »Ja, so ist es.« Ein seltsames Knistern durchlief die Wän de der Halle. Es hörte sich bedrohlich an. Copasallior ging zu Koratzo hinüber, und er bereitete sich darauf vor, in einem blitz schnellen Sprung den Stimmenmagier mit sich zu reißen – zuerst in die GOL'DHOR und dann weiter nach draußen, wo sie sicher waren, wenn diese gigantische Kuppel zu sammenbrach. Er erreichte Koratzo, und als er dessen Hand ergriff, spürte er, daß sich auch der Stimmenmagier seiner Sache längst nicht so sicher war, wie es nach außen hin scheinen mochte. Koratzo hatte Angst. Für den Weltenmagier bedeutete diese Er kenntnis einen solchen Schock, daß er fast den Schritt durch das Nichts vollzogen hätte. Gerade noch rechtzeitig hörte er die Stim me des Gehirns. »Du kannst mir deine Fragen stellen, Fremder«, sagte es schleppend. »Ich werde antworten.«
4. »Das Archiv befindet sich in diesem Sy stem?« fragte Koratzo mit gespieltem Gleichmut.
18 »Es befindet sich auf den beiden Plane ten«, erklärte das Gehirn. »Der eine Planet heißt Carthillum. Auf ihm finden sich die Daten aller Einsätze, die von dem Dimensi onsfahrstuhl Pthor durchgeführt wurden. Der zweite Planet trägt den Namen Mara nyes. In seinem Teil des Archivs ist alles ge speichert, was Pthor in der Zukunft tun soll.« »Hast du Zugang zu den Daten des Ar chivs?« »Die Frage ist unverständlich.« »Gibt es eine Verbindung zwischen dir und den beiden Planeten?« »Nein.« Koratzo nickte nachdenklich. »Das heißt, daß wir auf diesen beiden Welten landen müssen«, murmelte er, und die ganze Zeit hindurch redete er mit dem Gehirn in der Sprache der Käferschiffe, und gleichzeitig lieferte er dem Weltenmagier ei ne lautlose Übersetzung des Gesprächs. Co pasallior überließ es seinem Gefährten, die Verhandlung zu führen. Koratzo war aus na heliegenden Gründen besser für diese Auf gabe geeignet. »Du wirst uns die Erlaubnis erteilen, auf Carthillum und Maranyes zu landen.« »Das werde ich tun«, erwiderte das Ge hirn schleppend. »Du wirst auch den anderen Stationen mitteilen, daß wir Beauftragte sind, die nicht aufgehalten werden dürfen.« »Ihr dürft nicht aufgehalten werden«, be stätigte das Gehirn. »Was ist dir über die Planeten sonst noch bekannt?« fragte Koratzo. »Gibt es intelli gentes Leben auf ihnen?« »Nein.« »Keine Wächter für das Archiv?« »Nein.« »Ich habe andere Informationen.« »Ich weiß nichts von intelligenten Wesen oder von Wächtern. Die Stationen behüten das Archiv, und sie sind unfehlbar.« Copasallior unterdrückte ein verächtliches Lächeln. Dieses gigantische Gebilde merkte offenbar nicht, daß es mit dieser Behauptung
Marianne Sydow seiner augenblicklichen Verfassung hohn sprach. »Also gut«, nickte Koratzo, der ebenfalls merkte, daß sein Gesprächspartner nicht mehr imstande war, auf diesem Sektor klar und vorbehaltlos zu denken. »Berichte mir über die Schwarze Galaxis.« Sie hielten beide den Atem an. Das Ge hirn war so verwirrt, daß es jede gewünschte Information herausgab – wenigstens schien es so. Würden sie jetzt endlich etwas über das Ziel der schrecklichen Reise Pthors er fahren? Nach einigen Sekunden, die sich für die beiden Magier zu einer Ewigkeit dehnten, drang aus den Lautsprechern ein seltsamer, klagender Laut. Das klang so unheimlich und unheilverkündend, daß Copasallior un willkürlich nach Koratzos Hand griff, um im Notfall sich und den Stimmenmagier schleu nigst in Sicherheit bringen zu können. »Das Ding möchte gerne reden«, flüsterte Koratzo. »Aber es kann nicht so recht.« »Die Schwarze Galaxis ist eine Stätte der Gefahr!« jammerte das Gehirn plötzlich. »Geht nicht dorthin, bleibt weg von diesem verfluchten Ort. Zieht euch zurück, in die Tiefen des Universums, woher ihr gekom men seid. Rührt nicht an dieses schreckliche Geheimnis. Das Schicksal, das euch erwar tet, wenn ihr die Schwarze Galaxis stört, ist schlimmer als der Tod!« »Das ist nichts Neues«, brummte Copa sallior unwillig. »Wir danken dir für diese Warnung«, er klärte Koratzo diplomatisch. »Aber wie du selbst weißt, sind wir nicht ganz ohne Macht und Einfluß. Wir werden uns zu wehren wis sen. Gib uns Einzelheiten. Welche Lebewe sen werden wir in der Schwarzen Galaxis antreffen? Wer sind die geheimnisvollen Herrscher? Und was meinst du mit dem Schicksal, das schlimmer ist als der Tod?« Es war, als hätte das Gehirn ihn gar nicht gehört. »Geht zurück!« flüsterte es nur. »Geht, ehe es zu spät ist.« »Es hat keinen Sinn«, sagte Koratzo
Archiv des Schreckens nüchtern. »Wir werden nichts erfahren. Die ses Gehirn weiß nichts Genaues. Wahr scheinlich hat es nur ein paar Gerüchte von fremden Raumfahrern aufgeschnappt.« Das Gehirn stieß immer noch seine geflü sterten Warnungen aus. Copasallior sah sich beunruhigt um. »Ich spüre Veränderungen«, sagte er so leise. »Koratzo – du mußt dieses Ding zur Ruhe bringen. Es dreht sonst durch. Wenn es sich mit der Station vernichtet, werden die anderen Kuppeln Verdacht schöpfen.« »Falls das nicht längst geschehen ist«, antwortete Koratzo deprimiert. »Aber du hast recht – ich werde es versuchen.« Der Weltenmagier blieb sprungbereit, während Koratzo in der Sprache der Käfer schiffe auf das Gehirn einredete. Der Stim menmagier lieferte diesmal keine lautlose Übersetzung, denn er mußte sich voll auf den Versuch konzentrieren, das aufgeregte Gehirn von der Schwarzen Galaxis abzulen ken. »Geht weg, geht weg«, flüsterte die Stim me in endloser Wiederholung, immer schneller, bis die Silben sich verwischten. Die ganze Halle dröhnte vom Echo zischender Laute. Koratzo stellte entsetzt fest, daß er das Gehirn nicht mehr erreichte. Es sperr te sich gegen alles, was von außen zu ihm vordringen wollte. Das Gehirn wurde von einem inneren Konflikt erschüttert. Koratzo gab es schließlich widerstrebend auf. »Sehen wir zu, daß wir nach draußen kommen, ehe hier alles zusammenbricht«, murmelte er bedrückt. Copasallior hatte nur darauf gewartet. Er riß Koratzo mit sich, ehe dieser noch das letzte Wort ganz ausgesprochen hatte. Sie gelangten direkt in die Halle, in der die GOL'DHOR stand. Koratzo war erleichtert, als er das Schiff sah – es war unbeschädigt, und falls sich die beweglichen Teile des gi gantischen Roboters mit ihm befaßt hatten, so waren auch sie den Lauten der Vernich tung zum Opfer gefallen, ehe sie für die GOL'DHOR gefährlich werden konnten.
19 Copasallior brachte sich und den Stim menmagier mit einem weiteren Schritt durch das Nichts in die Kommandokanzel. »Kümmere dich um die Schleuse!« rief er Koratzo zu und setzte sich an eines der Pul te. Koratzo tastete mit magischen Sinnen nach dem Mechanismus, der den Weg nach draußen freigeben konnte. Inzwischen hatte er Übung in diesen Dingen. Er fand den Be fehlskanal und ließ dem Schleusenmechanis mus den fingierten Befehl zukommen, den Ausgang für die GOL'DHOR freizugeben. Copasallior ließ das Schiff abheben, sobald er die Öffnung sehen konnte. Die GOL'DHOR ließ die Station schnell hinter sich. In einiger Entfernung verringerte Copasallior die Beschleunigung. Schwei gend betrachteten sie die im Raum schwe bende Kuppel. Hinter den gewaltigen Torbö gen und Bogenfenstern flackerten winzige Lichter. Koratzo, der die Stimme des Ge hirns noch immer deutlich vernahm, schüt telte sich. »Das wollte ich nicht«, flüsterte er ent setzt. Die tanzenden Lichter flossen zu glühenden Flächen zusammen. Aus der Entfernung sah das sehr beeindruckend aus. Die Kuppel wurde zu einem festlich erleuchteten Schloß, das mitten in der unendlichen Finsternis trieb und auf Tausende von Gästen zu war ten schien. Der Schein trog. Drinnen herrschte eine kalte Glut, die nacheinander alles verzehrte, bis auch die Außenhülle vergehen würde. »Wir können nichts mehr ändern«, brummte Copasallior. »Mir machen die an deren Kuppeln Sorgen. Wir werden gezwun genermaßen einigen von ihnen so nahe kom men, daß sie ihre Waffen auf uns richten können.« Koratzo löste sich aus dem Bann des un heimlichen Geschehens und brach den Kon takt mit dem Untergang geweihten Gehirn ab. »Wir haben nichts zu befürchten«, erklär te er. »So unglaublich es auch scheinen mag,
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Marianne Sydow
aber das Gehirn funktioniert immer noch – wenigstens teilweise. Der einzige klare Ge danke, der in ihm noch zu finden ist, ist der, uns auf unserem Weg nach Carthillum zu schützen. Wir sollten uns beeilen, damit wir am Ziel sind, ehe unser Freund diesen Vor satz infolge des fortschreitenden Zerfalls vergißt.« Copasallior erhöhte die Geschwindigkeit. Wie ein schimmerndes Insekt schwang sich die GOL'DHOR durch den Raum, huschte zwischen den letzten Kuppeln hindurch und schwenkte in eine Kreisbahn um den Plane ten Carthillum ein.
* Durch die Augenfenster nahmen sie diese Welt in Augenschein. Carthillum war so na he, daß man scheinbar nur die Hand auszu strecken brauchte, um den Planeten zu be rühren. »Das sieht vielversprechend aus«, mur melte Copasallior nach einiger Zeit. »Jedenfalls werden wir nicht lange nach dem Archiv suchen müssen. Es gibt nur einen Ort, an dem es sich befinden kann.« Koratzo, der nicht annähernd so viele fremde Welten gesehen hatte, wie sein Be gleiter, blickte fasziniert auf die Oberfläche von Carthillum hinab. Es war ein schöner Planet, mit mehreren Kontinenten und schimmernden Meeren. Das Land war von dichter Vegetation bedeckt, aber auch schneebedeckte Berggipfel zeichneten sich ab. Nur ein Kontinent paßte nicht in dieses Bild. Auf ihm war fast nichts von der unbe rührten Natur übriggeblieben. Das Land war bis an die teilweise steil abfallenden, felsi gen Küsten heran so dicht bebaut, daß kein grüner Fleck mehr Platz hatte. In der Mitte des fast runden Kontinents befand sich eine gigantische freie Fläche. Die GOL'DHOR, die gehorsam Teilvergrö ßerungen des Gesamtbildes lieferte, zeigte den Magiern ein paar Dutzend fremdartiger Raumschiffe, die am Rand des Landefelds
standen. »Sie sind verlassen«, behauptete Copasal lior. »Und die meisten dürften schon seit Hunderten von Jahren dort stehen.« »Sie sehen alle verschieden aus«, mur melte Koratzo nachdenklich. »Verschaffen wir uns zuerst einen Über blick«, schlug Copasallior vor. »Von hier oben sehen wir vielleicht manches, was uns sonst verborgen bliebe.« Die GOL'DHOR zeigte ihnen Bild um Bild, und sie sahen aufmerksam hin. Der Kontinent bildete eine einzige, riesige Stadt. Die Bauwerke waren um das Lande feld herum niedrig, aber nach außen hin wurden sie immer höher und größer. Der Vergleich mit einem gewaltigen Trichter drängte sich auf. Das Landefeld wirkte wie das Innere eines Strudels, und es sah dro hend aus mit den verlassenen, teilweise halb zerfallenen Raumschiffen darauf. Auch die Bewohner dieser erstaunlichen Stadt schie nen die Landefläche zu meiden. Die Häuser zum Rand des Kontinents hin waren nicht nur größer, sondern auch prächtiger als die, die sich direkt am Landefeld befanden. An den Küsten entlang zogen sich Reihe um Reihe Gebäude, die wie gigantische Pfeiler Hunderte von Metern hoch in die Luft rag ten, von Brücken und schmalen, freitragen den Straßen untereinander verbunden. Auf den Fassaden aus Glas und Metall spiegelte sich die goldgelbe Sonne. Auf den ersten Blick bildete diese giganti sche Stadt ein sehr einheitliches Gebilde, aber die beiden Magier entdeckten schnell, daß hier auf sehr verschiedene Weise gebaut worden war. »Also gut«, murmelte Copasallior nach einiger Zeit. »Sehen wir uns das einmal aus der Nähe an. Übrigens – kannst du Leben dort unten spüren?« Koratzo zog die Schultern hoch. »Ich weiß nicht«, sagte er leise. »Was soll das heißen?« fuhr Copasallior auf. »Entweder du spürst etwas, oder …« »Ich fühle Stimmen«, unterbrach Koratzo den Weltenmagier hastig. »Aber sie sind
Archiv des Schreckens verschieden stark und völlig fremdartig. Es ergibt keinen Sinn. Dort unten werden Wör ter gesprochen, hinter denen keine Gedan ken stehen, und umgekehrt. Ein solches Ge wirr habe ich noch niemals gefunden.« Copasallior verzichtete auf jeden Kom mentar. Dies war Koratzos Fachgebiet, und jeder Magier hatte eine natürliche Scheu, sich zu intensiv mit den Belangen seiner Artgenossen zu befassen. Er gab der GOL'DHOR die nötigen Be fehle, und das goldene Raumschiff verließ die Kreisbahn um Carthillum. Lautlos schwebte es durch die Lufthülle des Plane ten, glitt über die ersten turmhohen Bauten hinweg und senkte sich schließlich langsam auf das Landefeld herab. Etwa hundert Me ter von einem fremden Raumschiff entfernt setzte die GOL'DHOR auf. »Wir brauchen die Raumanzüge nicht«, stellte Copasallior fest. »Aber die Waggus und die Schwerter sollten wir bei uns behal ten.« Koratzo nickte nur. Auch er hatte ange sichts dieser prächtigen, aber leblosen Stadt das Bedürfnis, etwas für seine persönliche Sicherheit zu tun. Natürlich konnten sie sich auch auf magische Weise vor eventuellen Angriffen schützen, aber sie waren sich still schweigend darüber einig, daß sie mit diesen Kräften sparsam umgehen würden. Sie wa ren weit von Pthor entfernt, weiter vielleicht als jemals zuvor in ihrem langen Leben, das nach Jahrtausenden zählte. Draußen gab es keine mit magischer Energie aufgeladenen Gesteinsadern und Wasserläufe, mit deren Hilfe sie innerhalb von Minuten verbrauchte Kräfte ersetzen konnten. »Sehen wir uns dieses andere Schiff an«, schlug Koratzo vor. »Es könnte aus der Schwarzen Galaxis stammen. Wenn wir Glück haben, verrät es uns etwas über die Wesen, die es befördert hat.« Sie verließen die GOL'DHOR über die schimmernde, gläserne Rampe. Copasallior war fest entschlossen, von seinen Transmit terfähigkeiten solange keinen Gebrauch zu machen, wie nicht feststand, ob nicht doch
21 heimliche Beobachter in dieser leeren Rie senstadt verborgen waren. Es war Mittagszeit in diesem Teil von Carthillum. Die Sonne brannte senkrecht vom wolkenlosen Himmel herab. Es war sehr heiß, und die Luft roch ungewohnt, nach technischen, antimagischen Gegenstän den und ihren unangenehmen Ausdünstun gen. Langsam gingen sie zu dem fremden Schiff hinüber. Es bestand aus einem halben Dutzend Kugeln, die durch eine gitterförmi ge Metallkonstruktion zusammengehalten wurden. Das Metall war alt und fleckig, aber weder Staub noch Schmutz hatten sich auf den Gitterstreben und den Kugelflächen an gesammelt. Auch der Boden unter den Fü ßen der Magier war sehr sauber. Nichts rühr te sich um sie herum, nicht einmal Insekten schien es hier zu geben. Es war absolut still. Die Luft staute sich in dem ungeheuren, fla chen Trichter aus unzähligen Gebäuden. Nicht der leiseste Windhauch strich zwi schen den Wänden hindurch. »Wer immer dieses Schiff gebaut hat«, sagte Copasallior bedächtig, »es war jeden falls kein Anhänger der reinen Antimagie. Siehst du diese Metalleinschlüsse an den un tersten Streben?« Koratzo beugte sich vor. Er entdeckte ei ne kreisförmige Anordnung winziger Dämo nenköpfe. Vorsichtig streckte er die Hand aus. Aber er spürte nicht den geringsten Rest von magischer Energie. Mehr noch, er war sicher, daß in diesen Dämonenköpfen nie mals etwas Derartiges vorhanden gewesen war. »Reiner Aberglaube«, murmelte er. Er entdeckte eine Lücke in dem Gewirr von Streben und trat vorsichtig hindurch. Als er nach oben blickte, sah er die Kugeln über sich. Aus diesem Blickwinkel wirkten die Kugeln viel zu schwer und gewaltig, als daß das zierliche Gitterwerk sie über längere Zeit hinweg zu tragen vermochte. Aber Ko ratzo fand diesen Anblick keineswegs unge wöhnlich. Er war ganz andere Sachen ge wöhnt. Auch die meisten Magier nahmen auf die Gesetze der Schwerkraft wenig
22 Rücksicht, wenn es um architektonische Fra gen ging. »Ich sehe eine Tür!« rief er Copasallior zu. »Man kommt von innen her leicht an sie heran.« Copasallior schob sich behutsam zwi schen den Streben hindurch. Er warf einen Blick auf die Falltür über seinem Kopf. Erst jetzt sah er die Leiter, die zwischen zwei Streben verborgen angebracht worden war. Die Sprossen waren sehr dünn und lagen weit auseinander. Es schien sehr fraglich, ob diese Leiter das Gewicht der Magier zu tra gen vermochte. Es war nicht so, daß Copasallior das Risi ko scheute oder zu bequem war, um sich an diese Kletterei zu begeben. Er war sich nur voll der Tatsache bewußt, daß er und Korat zo hier, auf diesem Planeten, von jeder Hilfe abgeschnitten waren. Darum erwog er die Möglichkeit, in diesem Fall alle guten Vor sätze zu vergessen, und auf seine Weise in die Kugel einzudringen. Von der Stadt aus konnte man den Raum zwischen den Gitter stäben nicht einsehen, das wußte er. Vor sichtshalber blickte er sich trotzdem noch einmal um. Im nächsten Moment hatte er jeden Gedanken an eine Erkundung dieses fremden Schiffes vergessen. »Wir bekommen Besuch«, sagte er zu Koratzo. Der Stimmenmagier drehte sich so hastig um, daß er sich den Ellenbogen an einer Strebe stieß. Er murmelte einen Fluch – einen harmlosen, natürlich – und ver schluckte sich fast, als Copasallior ihm einen spöttischen Blick zuwarf. Über das Landefeld rollte ein seltsames Gefährt mit einem halben Dutzend Rädern und Dingen an seiner Rückfront, die wie ge stutzte Flügel aussahen. In dem offenen Fahrzeug saßen Wesen. Sie waren noch zu weit entfernt, als daß die Magier Einzelhei ten an ihnen hätten ausmachen können, aber es reichte, um zu erkennen, daß sie es dies mal nicht mit Robotern zu tun bekamen. Zuerst schien es, als hätten die Fremden den Aufenthaltsort der Magier bereits er-
Marianne Sydow kannt. Aber dann wurde ersichtlich, daß sie doch auf die GOL'DHOR zuhielten. »Gehen wir hinüber«, schlug Koratzo leicht beunruhigt vor. »Unsinn!« fauchte Copasallior. »Haben wir es nötig, uns wie ertappte Sünder zu be nehmen? Die Fremden können ruhig wissen, daß wir uns bereits ein wenig umgesehen haben.« »Wir sind ungebetene Gäste.« »Und diese Leute dort haben auf Carthil lum auch nichts zu suchen«, versetzte der Weltenmagier grob. »Erinnere dich an das, was das Gehirn uns mitteilte. Für das Archiv sind keine Wächter vorgesehen.« »Die Zeiten ändern sich bekanntlich«, murmelte Koratzo. »Die Informationen des Gehirns waren überholt.« Aber Copasallior hörte nicht auf ihn. Er blieb selbst dann noch zurück, als die Frem den ihr Gefährt vor der Rampe der GOL'DHOR stoppten und ausstiegen. Korat zo schlängelte sich zwischen den metallenen Streben hindurch und schritt schnell, aber keineswegs hastig, auf die GOL'DHOR zu. Copasallior folgte ihm in einigem Abstand. Die Fremden warteten beinahe regungs los, bis sie beide Magier vor sich hatten. Schweigend musterten sie sich gegenseitig. Koratzo sah beschuppte, eineinhalb Meter große Zweibeiner, deren flache Köpfe auf merkwürdigen Doppelhälsen saßen. Diese Hälse waren in der Mitte der Länge nach ge spalten, als seien Luft- und Speiseröhre auf diese Weise voneinander getrennt. Die Sin nesorgane der Fremden saßen am Rand der Köpfe, jeweils acht Stück, jedes von einer anderen Farbe und alle kugelförmig. Oben auf dem Kopf wuchsen beulenförmige Erhe bungen. Die Hände der Carthiller, wie Ko ratzo sie in Gedanken nannte, waren drei fingrig und wirkten kraftlos, wie Lappen, in denen es bestenfalls ein paar Knorpel gab. Die Fremden steckten bis zum Hals in pan zerartigen Kleidungsstücken aus aneinander gefügten Platten, die aus einem künstlichen Material bestanden. Sie sahen aus wie höchst seltsame Ritter, denen die Helme ab
Archiv des Schreckens handen gekommen waren. Für die Fremden mochten die Magier ebenso fremdartig aussehen, denn auch sie ließen sich Zeit, ehe einer von ihnen vortrat und mit zwitschernder Stimme zu reden be gann. Copasallior warf Koratzo einen fra genden Blick zu, aber der Stimmenmagier schüttelte nur den Kopf. Die Sprache der Käferschiffe hatte er sehr schnell lernen können, weil sie – wie die Sprachen wohl aller Roboter – aus mathe matischen Impulsen bestand, die von allge meiner Gültigkeit zu sein schienen. Die Ro botbürger von Wolterhaven verwendeten sie ebenfalls, und Koratzo konnte sich nicht ent sinnen, jemals maschinellem Pseudoleben begegnet zu sein, daß sich in puncto Sprache anders verhielt. Um die Sprache dieser organischen Frem den zu erlernen, würde er dagegen etwas Zeit brauchen. Nicht viel, denn seine Art der Magie ermöglichte es ihm, die Grundregeln jeder Sprache weit schneller zu erfassen, als es den meisten anderen intelligenten Wesen jemals möglich war. Zudem beherrschte er die verschiedenen Grundsprachen, mit deren Hilfe sich eine primitive Verständigungsba sis selbst dann ganz von selbst ergab, wenn man noch kein Wort einer neuen Sprache verstand. So gelang es ihm auch diesmal, in groben Umrissen die Art der Wünsche zu erfahren, die der Sprecher in seiner Sprache ausdrück te. Er war sehr überrascht. Die Carthiller gaben sich überaus freund lich. Sie wollten nichts anderes, als ihre Gä ste zu einer Fahrt in die Stadt einladen. Koratzo, der Lug und Trug haßte, war stets gerne bereit, einem fremden Wesen zu nächst Glauben zu schenken und das Beste von ihm zu denken. Das verleitete ihn je doch nicht dazu, in diesem Fall, da sie der Schwarzen Galaxis nahe waren und schon ein paar Kostproben der hier herrschenden Gepflogenheiten bekommen hatten, jede Vorsicht zu vergessen. Er tat, als verstünde er gar nichts, was die
23 Carthiller wohl kaum anders erwartet hatten. Die Fremden sahen sich genötigt, ihre Ver ständigungsversuche auszudehnen. Koratzo beobachtete sie dabei, und er konzentrierte sich besonders auf jene, die nicht zu den Magiern sprachen. Er studierte das, was sie mit ihren Körpern ausdrückten. Gestik und Mienenspiel waren fremd, aber sie standen in Harmonie zur Form der Körper. Koratzo mit seinen seltsamen Sinnen forschte nach Mißklängen in diesem Spiel, nach Lügen, die er, wenn ihm vertraute Lebensformen gegenüberstanden, auf diese Weise schneller aufdeckte, als wenn er sich auf die noch un ausgesprochenen Gedanken konzentrierte. Im Fall der Carthiller fand er nichts. Diese Wesen schienen es absolut ehrlich zu mei nen. Ihre Sprache, das merkte Koratzo, wür de er in wenigen Stunden beinahe perfekt beherrschen, vorausgesetzt, er war in dieser Zeitspanne ständig mit Carthillern zusam men. »Es ist gut«, sagte er schließlich zu Copa sallior. »Sie wollen uns offenbar die Stadt zeigen und uns wohl auch an einen besonde ren Ort führen, von dem sie meinen, daß er für uns interessant wäre.« »Das Archiv des Schreckens?« fragte der Weltenmagier. »Gewöhne dir diesen Beinamen schleu nigst ab«, empfahl Koratzo. »An diesem Ort halte ich es nicht einmal für ausgeschlossen, daß uns jemand über den Weg läuft, der Pthora versteht. Du würdest dich sofort als einer verraten, der nicht hierher gehört. Es heißt Das Archiv. Der Zusatz stammt von Wesen, die wie wir die Schwarze Galaxis hassen und fürchten.« »Tun wir das?« murmelte Copasallior spöttisch. Koratzo ging schweigend darüber hinweg. »Vielleicht bringen sie uns wirklich zum Archiv«, meinte er. »Auf jeden Fall ist dies eine gute Gelegenheit, etwas von der Stadt zu sehen, ohne stundenlang zwischen den Gebäuden umherirren zu müssen. Komm endlich, diese Burschen werden allmählich ungeduldig. Sie halten uns offenbar für das,
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was das Gehirn uns nicht abkaufen wollte, nämlich für Leute, die von der Schwarzen Galaxis aus hierher geschickt wurden.« Copasallior nickte und ging auf die Cart hiller zu. Koratzo spürte die Erleichterung der Fremden, als die Magier endlich auf ihre Bemühungen reagierten. Er folgte dem Wel tenmagier und setzte sich auf einen Wink ei nes Carthillers im hinteren Teil des Fahr zeugs auf eine harte, ungepolsterte Bank.
5. Von oben gesehen, hatte diese riesige Stadt verlassen gewirkt. Jetzt, da sie zwi schen den Gebäuden dahinfuhren, empfan den sie die Leere der Straßen als be drückend. Auch hier, jenseits der flachen Hallen, die das Landefeld umgaben, war alles sauber und aufgeräumt. Die beiden Magier spürten das ungeheure Alter dieser Stadt. Sie hatten einen besonderen Sinn dafür. Sie wußten in stinktiv, daß viele Jahrtausende vergangen waren, seit man diese Häuser errichtet hatte. Aber es gab nicht die geringsten Spuren von Zerfall. Alles war sorgsam gepflegt, die Farben wirkten frisch, und die wenigen ver glasten Fenster sahen aus, als hätte man sie gerade erst geputzt. Es fehlte nur eines in der Stadt: Leben. Sie sahen weder Tiere noch Pflanzen, von Menschen oder anderen Intelligenzen ganz zu schweigen. Ihr Wagen war das einzige, was sich bewegte. Sie sahen auch keine ab gestellten Fahrzeuge. »Wer mag das alles in Ordnung halten?« fragte Copasallior sich nach geraumer Zeit, und unwillkürlich dämpfte er seine Stimme. »Die Carthiller? Sie sehen mir nicht so aus, als wären sie zu einer solchen Arbeit fähig.« Koratzo, der sich nicht nur auf die Umge bung, sondern vor allem auf die anderen In sassen des Wagens konzentrierte, nickte nachdenklich. »Nach allem, was ich bis jetzt herausge funden habe, sind die Carthiller im Grunde harmlos und friedlich. Sie sind nicht gerade
faul, aber zu solchen Anstrengungen, wie sie die Pflege aller Gebäude hier erfordert, sind sie sicher nicht fähig. Sie sind auch nicht sehr intelligent.« »Wie kommst du mit ihrer Sprache vor an?« »Es geht. Sie reden viel zuwenig.« »Kannst du ihnen schon einfache Fragen stellen?« »Ich könnte es, aber ich möchte noch dar auf verzichten. Sie fühlen sich vorläufig noch sicher und denken nicht im Traum dar an, daß wir imstande wären, sie zu belau schen. Ich halte es für besser, wenn ich sie noch für einige Zeit in diesem Glauben las se.« »Du bist mißtrauisch!« stellte Copasallior überrascht fest. »Ja«, erwiderte Koratzo gelassen. Copasallior setzte zu einer Bemerkung an, schwieg dann aber wohlweislich doch. Da für dachte er sich sein Teil. Er beschloß, noch wachsamer als bisher zu sein. Allmählich gelangten sie in einen Teil der Stadt, in dem die Gebäude zu immer größe rer Höhe aufwuchsen. Die Straße lag im Schatten der Mauern, und die beiden Magier fühlten sich fast wie auf dem Grund einer Schlucht. Sie fuhren durch eine sterile, anti magische Welt, die ihnen tiefstes Unbeha gen einflößte. Hinzu kam das Bewußtsein, daß hinter all diesen Mauern irgendwann einmal Leben geherrscht hatte. Für die Ma gier war es schier unvorstellbar, daß Wesen es fertigbrachten, auf so engem Raum ne ben-, unter- und übereinander zu hausen. Aber auch den Wesen, die die Gebäude einst mit wimmelndem Leben erfüllt hatten, war die Enge nicht gut bekommen. Das, was sich von ihrer persönlichen Ausstrahlung in den Wänden über die lange Zeit hinweg er halten hatte, war gezeichnet von Haß, Ner vosität, Aggressionen – beide Magier zogen es schon nach relativ kurzer Zeit vor, sich mit schwachen, magischen Sperren zu um geben, die diese Impulse von ihnen fernhiel ten. Sie hätten es nicht viel länger ertragen können.
Archiv des Schreckens »Eine Stadt des Irrsinns!« murmelte Co pasallior angewidert. »Was für eine grauen hafte Welt!« Der Wagen beschrieb eine Kurve und fuhr in eine andere Straße hinein, über der sich zahllose schmale Brücken spannten. Koratzo zuckte zusammen und ließ für einen Mo ment die Sperre fallen. Aber das, was für ein paar Sekunden an sein magisches Gehör ge drungen war, zog sich blitzschnell zurück – oder es wurde gezogen, er konnte es nicht mehr so genau erkennen. »Was ist los?« fragte Copasallior leise. »Laute ohne Gedanken dahinter«, erklärte Koratzo lakonisch. Copasallior sah sich unbehaglich nach al len Seiten um. »In dieser Stadt ist – etwas!« sagte er lei se. »Ich spüre es. Aber ich kann es nicht fas sen. Ein paarmal dachte ich, ich hätte es be reits berührt, aber es ließ sich nicht festhal ten.« Koratzo lächelte gequält. Ihm ging es ge nauso. Es gab Leben in dieser Stadt, Leben, das nicht mit den Carthillern identisch war. Aber es zeigte sich nicht. Wieder bog der Wagen um eine Ecke. »Sie umfahren ein Gebiet«, sagte Copa sallior leise und nickte zu den Carthillern hin. Die Fremden unterhielten sich in ihrer zwitschernden Sprache. »Sie umfahren das Gebiet der Leeren«, sagte Koratzo plötzlich. »Der Leeren?« fragte Copasallior ver ständnislos. »Bist du sicher, daß du sie rich tig verstanden hast?« »Allerdings. Ich weiß, es hört sich merk würdig an, aber – da, eben habe ich es wie der gespürt. Jemand hat gesprochen, ohne dabei zu denken.« »Ein Lautsprecher«, behauptete Copasal lior spontan. »Wir sind auf einer antimagi schen Welt, Koratzo!« »Wem sagst du das? Glaubst du, ich könnte einen Lautsprecher nicht von einer Stimme unterscheiden?« Copasallior sah hastig zur Seite.
25 »Schon gut«, murmelte er. »Hoffentlich sind wir bald am Ziel. Diese Stadt macht mich nervös, und wir sehen auf diese Weise auch nicht viel. Allmählich wird es langwei lig.« Der Wagen beschrieb noch zwei Kur ven, und jedesmal spürte Koratzo jeweils kurz vorher oder hinterher diese »Stimme ohne Gedanken« auf. Dann kehrte das Fahr zeug in die ursprünglich eingeschlagene Richtung zurück. Die beiden Magier waren sich nun völlig sicher, daß die Carthiller sie um etwas herumtransportiert hatten, was sie den Besuchern nicht zu zeigen wünschten. Dieses Etwas waren zweifellos die »Leeren«, und sie wiederum standen in Zu sammenhang mit Koratzos »Stimme«. Aber was sich hinter alledem verbarg, blieb offen. »Ich hätte gute Lust, für eine Unterbre chung dieser Fahrt zu sorgen«, brummte Co pasallior schlechtgelaunt. Die Bank wurde vom langen Sitzen nicht bequemer, und wenn er die Carthiller ansah, deren Gesten ihm unverständlich blieben und die nicht einmal Augen hatten, die etwas von ihrem Innenleben verrieten, dann sank seine Laune auf den Nullpunkt. »Wir müßten gleich da sein«, sagte Korat zo beruhigend. »Sisil hat seine Leute eben daran erinnert, daß sie uns am Ziel bis zum Abend umherzuführen hätten. Sie sollen es nicht an Freundlichkeit fehlen lassen.« »So. Wer ist Sisil?« »Der Anführer dieser Gruppe. Er sitzt vorne, neben dem Carthiller, der das Fahr zeug steuert.« »Dann haben sie also die Absicht, uns bis zum Abend nicht aus den Augen zu lassen. Hör mal, ich habe keine Lust, so viel Zeit zu verschwenden.« »Warte doch erst einmal ab, wohin sie uns bringen.« Sie erfuhren es wenige Minuten später. Das Fahrzeug bremste sanft ab und hielt auf einem der relativ wenigen größeren, frei en Plätze, die es in diesem Teil der Stadt gab. Der Platz war rund, und in seiner Mitte erhob sich etwas, das an einen Brunnen erin nerte, nur daß kein Wasser darin war. Rings
26 um gab es die üblichen, glatten Fassaden. Nur an einer Stelle klaffte eine Lücke. Eine kurze, breite Gasse tat sich auf, die vor der gewölbten Wand einer Kuppel endete. Die Carthiller kletterten behäbig aus ih rem Fahrzeug und forderten die Magier mit Bewegungen ihrer schlaffen Hände auf, es ihnen gleichzutun. Sisil, den man an einem breiten, glänzenden Streifen in seiner pan zerartigen Bekleidung erkennen konnte, hielt eine kurze Ansprache, die offenbar an die Gäste gerichtet war. »Er sagt, daß er alles tun werde, um die Gesandten der Herrscher zufriedenzustel len«, übersetzte Koratzo, und er tat es auch diesmal lautlos, um nicht unnötig Argwohn zu erwecken. »Er und seine Leute stehen uns zur Verfügung. Sie haben den Befehl erhal ten, uns jeden Wunsch zu erfüllen, der im Rahmen ihrer Möglichkeiten liegt.« »Kannst du herausbekommen, wer ihnen diesen Befehl gab?« fragte Copasallior. »Leider nein. Diese Carthiller haben ein einmaliges Talent dafür, stets um das her umzureden, was mich wirklich interessiert.« Sisil hatte seine Ansprache beendet und trat auf Copasallior zu. Ein anderer Carthil ler näherte sich dem Stimmenmagier. Korat zo ignorierte die einladende Geste, lächelte den Fremden freundlich an und rückte de monstrativ näher an Copasallior heran. »Richtig so«, murmelte der Weltenma gier. »Was immer auch geschieht, wir wer den zusammenbleiben. Ich weiß, daß dies nicht der richtige Augenblick für Geständ nisse dieser Art ist, Koratzo, aber eines muß ich zugeben – Zusammenarbeit macht stark. Das gilt natürlich nur für bestimmte Situa tionen«, schränkte er hastig ein. Er warf dem Stimmenmagier einen arg wöhnischen Blick zu, als sei er darauf ge faßt, daß Koratzo die augenblickliche Stim mung des anderen ausnützen werde. Aber Koratzo hatte anscheinend gar nicht hingehört. Er wirkte abwesend. »Schon wieder die Stimmen ohne Gedan ken?« fragte Copasallior. Der Stimmenmagier zuckte leicht zusam-
Marianne Sydow men. Er atmete tief durch, dann nickte er. »Es war diesmal ganz nahe«, sagte er lei se. »Es kam aus der Kuppel da vorne. Es war grauenhaft, Copasallior. Zum erstenmal habe ich etwas von dem erfaßt, was hinter dieser Stimme steht. Keine Gedanken, keine Gefühle, nur eine unvorstellbare Leere. Eine schreckliche Kraft steckt in der Kuppel. Ich kann sie nicht genau erfassen, aber sie exi stiert. Und sie wartet auf uns.« »Vielleicht ist die Kuppel das Archiv!« »Die Stadt ist das Archiv«, korrigierte Koratzo und schüttelte sich. »Laß uns ge hen.« Sisil war ihnen bereits ein paar Schritte voraus. Er wandte sich nicht einmal um, um sich zu überzeugen, daß die Magier ihm folgten. Das mochte bedeuten, daß er sich seiner Sache absolut sicher war. Ebensogut konnte man aber auch annehmen, daß der Carthiller sich nicht umzusehen brauchte, weil er mit seinen merkwürdigen Sinnesor ganen mühelos nach allen Seiten die Lage überblicken konnte. Die anderen Carthiller blieben beim Wa gen zurück. Sie machten es sich auf dem harten Boden so bequem wie möglich. »Ich denke, sie wollen uns herumführen«, brummte Copasallior. »Oder gilt der Befehl vielleicht doch nicht für alle?« »Sie werden sich abwechseln«, vermutete Koratzo. »Ich sagte dir ja schon, daß sie recht bequem sind.« Je näher er der Kuppel kam, desto unbe haglicher fühlte er sich. Vor langer Zeit hat te er sich, weil es zu seiner Art von Magie gehörte, in der Kunst geübt, sich in die Ge fühle und Gedanken anderer Lebewesen zu verschlüsseln. Dabei war er einmal verse hentlich in die Psyche eines kleinen Insekts geraten, das geradewegs in das Netz einer Spinne flog. Das winzige Tier hatte die Fä den des Netzes wahrgenommen, und sein Unterbewußtsein hatte die drohende Gefahr klar erkannt. Aber es war völlig unfähig, sei nen Kurs zu ändern. So flog es vorwärts, bis es zu spät war. Koratzo fühlte sich in diesem Augenblick
Archiv des Schreckens auf seltsame Weise mit diesem längst ver gangenen Insekt verwandt. Er ahnte die Gefahr, aber er konnte sie nicht klar definieren. Noch weniger war er imstande, etwas am Ablauf des Geschehens zu ändern. Um ihre Aufgabe zu erfüllen, mußten sie Kontakt mit dem Archiv bekom men – und hier, an diesem Ort, bot sich ih nen die Gelegenheit dazu. Wenn sie jetzt die Flucht ergriffen, und das wußte er sehr ge nau, würden sie niemals einen Weg finden. Copasallior schien seltsamerweise nichts zu spüren. Er war natürlich mißtrauisch und wachsam, aber er wurde offenbar nicht von dunklen Vorahnungen beeinflußt. Sisil bog dicht vor der gebogenen Wand in eine winzige Gasse ein, die sich rechts auftat. Dem Stimmenmagier, dessen Nerven bis zum Zerreißen gespannt waren, gab die ses Ausweichmanöver den Rest. »Wozu der Umweg?« fragte er in der Sprache der Carthiller. Sisil blieb stehen, als wäre er gegen eine Mauer geprallt. »Du verstehst unsere Sprache?« fragte er nach einiger Zeit verwundert. Koratzo ärgerte sich bereits über seinen Ausrutscher. »Sie ist leicht genug zu erlernen«, erwi derte er abweisend. Er besann sich auf die Rolle, die sie eigentlich hatten spielen wol len. »Wir sind Gesandte aus der Schwarzen Galaxis, und unser Ziel ist das Archiv. Und du weißt, daß es so ist. Warum also führst du uns nicht auf dem direkten Weg dort hin?« »Ihr befindet euch seit dem Augenblick euer Landung im Archiv«, versetzte Sisil ge lassen. »Dessen sind wir uns bewußt«, versicher te Koratzo grimmig. »Aber da du schon so viel weißt – was habt ihr überhaupt hier auf Carthillum zu suchen? Meinen Informatio nen zufolge hat das Archiv keine organi schen Wächter nötig. Welche Rolle spielt ihr hier?« »Ich verstehe dich nicht.« »Wer hat euch nach Carthillum gebracht!
27 Seit wann lebt ihr auf diesem Planeten? Welche Aufgabe erfüllt ihr in dieser Stadt? Antworte mir, Sisil!« Es irritierte ihn, daß der Carthiller ihm immer noch den Rücken zuwandte. »Niemand hat uns hergebracht, Gesand ter«, erwiderte Sisil in respektvollem Ton fall. »Wir haben schon immer hier gelebt. Unsere Aufgabe ist es, anwesend zu sein. Wäre es denkbar, daß man dir falsche Infor mationen gab, um dich zu prüfen, Gesand ter?« Koratzo sah den kleinen Fremden nach denklich an. Er war sicher, daß das Gehirn in der Kup pel ihn nicht belogen hatte. Dazu war es – zumindest gegen Ende dieser kurzen Be kanntschaft – gar nicht mehr fähig gewesen. »Nein«, sagte er langsam. »Das ist nicht denkbar, Sisil. Diese Kuppel stellt eine der Kontaktstellen dar, nicht wahr? Führe uns hinein!« Für einen Augenblick wirkte Sisil unsi cher. Es schien, als suche er verzweifelt nach einer Ausrede. »Nicht jetzt«, sagte er schließlich. »Erst bei Anbruch der Dunkelheit wird die Kon taktstelle aktiv. Wie kommt es, daß du das nicht weißt? Niemand befragt das Archiv, solange die Sonne noch am Himmel steht.« Koratzo zögerte, seine Forderung zu wie derholen. Er fühlte, daß er sich auf gefährli chen Boden begab. Existierte diese Bestim mung wirklich, oder stellte Sisil ihn nur auf die Probe? Er besann sich auf seine Fähig keiten und konzentrierte sich auf das, was die Körpersprache des Carthillers ihm ver riet. Sisil war selbst überzeugt von dem, was er sagte. Aber Koratzo spürte etwas anderes auf. »Es ist schon gut, Sisil«, sagte er freund lich. »Und jetzt solltest du die Übersetzer herausgeben. Mein Begleiter braucht mehr Zeit als ich, um eure Sprache zu erlernen. Seine Talente liegen auf anderen Gebieten.« Der Carthiller stand eine Weile bewe gungslos da, dann nestelte er etwas aus den
28 Fugen seines Panzers und reichte den beiden Magiern zwei flache Kunststoffplatten. Ko ratzo verfolgte jede Bewegung Sisils und er fuhr gerade noch rechtzeitig, daß die Über setzer bereits arbeiteten und wie man sie wieder außer Betrieb setzen konnte. Er nahm das Gerät, das für Copasallior be stimmt war, und schaltete es aus. »Die Geräte sind auf Pthora eingestellt«, erklärte er dem Weltenmagier. »Jemand in dieser Stadt kennt unsere Sprache.« »Dann sind wir also belauscht worden?« »Vielleicht.« Koratzo sah, wie Copasallior den Carthil ler musterte. »Nein«, murmelte er kaum hörbar. »Er hat kein weiteres Gerät bei sich. Aber das hat nicht viel zu bedeuten.« Und lautlos füg te er hinzu: »Das Archiv des Schreckens ist riesen groß. Wir wissen, daß Pthor bereits eine sehr lange Reise hinter sich hat. Aber die Daten dürften trotzdem nicht ausreichen, um so viel Platz zu beanspruchen. Vielleicht gibt es noch mehr Dimensionsfahrstühle, und je der mag seine eigene Sprache haben.« »Dann haben wir uns in dem Augenblick verraten, in dem wir den Mund aufmach ten«, gab Copasallior in Gedanken zurück. »Ja, und das hieße, daß die Sprache als ein Kennzeichen dient. Aber wenn es so wä re, hätte auch das Gehirn in der Kuppel die sen Umstand erkannt. Wir wären niemals bis nach Carthillum gelangt. Und wenn es uns wirklich gelungen wäre, so hätten die Cart hiller uns entlarvt. Wir wären schon längst nicht mehr am Leben.« »In der Schwarzen Galaxis erwartet uns ein Schicksal, das schlimmer ist als der Tod«, erinnerte Copasallior den Stimmen magier. »In diesem Spiel gelten andere Re geln, als wir sie gewohnt sind.« »Das ist mir klar. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was ich noch glauben soll. Die Cart hiller kennen das Pthora jedenfalls nicht. Aber sie gehören auch nicht hierher. Irgend etwas stimmt nicht mit dem Archiv des Schreckens. Die Carthiller sind Fremdkörper
Marianne Sydow in dieser Welt, das spüre ich. Mir geht die Sache mit dem Pthora nicht aus dem Sinn. Copasallior, als die Magier nach Oth zogen, ließen sie auch die Ursprache hinter sich, und sie blieb nur in Form der überlieferten Sätze erhalten. Gut und schön, man befand sich in einem fremden Land und mußte ler nen, sich mit dessen Bewohnern zu verstän digen. Aber alles, was in Pthor geschah, wurde bis vor kurzem von den Herren der FESTUNG befohlen. Zum Zweck der Ver ständigung wäre es nicht nötig gewesen, Pthora zur Umgangssprache in Oth zu ma chen. Was geschah damals?« Copasallior sah den Stimmenmagier nach denklich an. Koratzo war noch ein Kind gewesen, als die Magier in das Land Pthor übersiedelten, und er hatte im Revier der Sterblichen ge lebt, obwohl seine Eltern echte Magier wa ren. Zweifellos hatte Koratzo viel von dem wahrgenommen, was damals geschehen war, aber einige Dinge waren ihm sicher entgan gen. »Die Umstellung erfolgte nicht freiwil lig«, erklärte Copasallior auf dem lautlosen Weg der Gedanken. »Die Herren befahlen, daß das Pthora von nun an unsere Sprache zu sein hätte – und wir gehorchten. Viele Völker kamen und verschwanden, und allen geschah dasselbe. Ich kann mir vorstellen, was du jetzt denkst. Vielleicht hast du recht, und Pthora ist die Sprache der Schwarzen Galaxis. Alle, die mit Pthor in Berührung kamen, dienen den Zielen dieses Gebildes, und sie bedienen sich derselben Sprache.« Sie sahen sich an, und in Koratzos Augen funkelte es. Für ihn war das gesprochene Wort mehr als ein Mittel der Kommunikati on. Es war eine Waffe, ein Machtinstrument. »Wenn wir beide das Richtige denken«, teilte Koratzo dem Weltenmagier lautlos mit, »dann haben die Magier beim Kampf gegen die Schwarze Galaxis tatsächlich ein Wörtchen mitzureden, und das buchstäblich. Alle Waffen, die wir der FESTUNG jemals geliefert haben, waren mit der Sprache von Pthor eng verbunden. Unsere eigentliche
Archiv des Schreckens Macht aber basiert auf der Ursprache unse res Volkes. Und von der wußten die ehema ligen Herren so gut wie nichts. Was sie nicht wußten, dürfte auch der Schwarzen Galaxis nicht bekannt sein.« »Das verleiht uns neue Macht«, stellte Copasallior nüchtern fest. »Ich fürchte, wir werden sie schon bald brauchen können. Und zwar nicht erst dann, wenn Pthor sein Ziel erreicht, sondern hier, auf diesem Pla neten. Sisil wartet darauf, daß du mir den Übersetzer gibst. Keine Angst, ich werde vorsichtig, mit meinen Worten umgehen.« Koratzo reichte dem Weltenmagier das Kunststoffplättchen. Lächelnd betrachtete er den Carthiller, der noch gar keine Gelegen heit erhalten hatte, ungeduldig zu werden. Einer der unschätzbaren Vorteile dieser Ver ständigung auf lautlosem Wege bestand dar in, daß Gedanken schneller als Wörter wa ren. Die Unterhaltung der Magier hatte nur wenige Sekunden gedauert. »Das Gerät ist einwandfrei«, sagte Korat zo laut, und diesmal arbeitete der Übersetzer bereits. »Du kannst es ohne Risiko tragen.« »Das ist sehr beruhigend«, murmelte Co pasallior. »Nun, Sisil, ich denke, daß wir auf deine Begleitung vorerst verzichten können. Warten wir das Sinken der Sonne ab. Wir werden uns in dieser Gegend umsehen und zur rechten Zeit zu dir und deinen Leuten zurückkehren.« »Ich habe den Befehl, bei euch zu bleiben und euch zu dienen!« sagte Sisil, der Cart hiller, und es klang fast demutsvoll. »Es ist ein Befehl, dem ich mich nicht widersetzen darf.« Geschickt gelöst hast du das Problem, dachte Copasallior sarkastisch. Ahnst du überhaupt, wie mühelos ich dich trotzdem abhängen könnte? Aber ich darf es nicht tun. Ich weiß mittlerweile wirklich nicht mehr, ob wir Magier so einmalig sind, wie wir alle es immer geglaubt haben. Mag sein, daß Pthor eine ganze Reihe von Doppelgän gern hat und es überall Gruppen von Wesen gibt, die uns ähnlich sind. Trotzdem werde ich mich hüten, dir und dieser Stadt eine
29 Kostprobe meiner Macht zu geben. Laut sagte er indessen: »Du erfüllst deine Pflicht, und das ehrt dich. In der Schwarzen Galaxis weiß man Wesen zu schätzen, die es verstehen, Befeh le auch dann zu befolgen, wenn sie unbe quem erscheinen. Du wirst uns begleiten, wie man es dir befahl, und du wirst unsere Fragen beantworten – alle Fragen, Sisil, auch wenn sie dir unsinnig erscheinen mö gen. Wir sind Gesandte, aber auch wir durchschauen die Befehle der Schwarzen Galaxis nicht in allen Einzelheiten. Auch wir befolgen Befehle. Dafür wirst du mehr als irgendein anderer Verständnis haben.« Der Carthiller stimmte eifrig zu. Copasallior fand zum erstenmal seit dem Zusammenstoß mit den Käferschiffen Spaß an diesem Spiel. Er fand sich gleichsam in jene Rolle versetzt, die die Magier seit eh und je gespielt hatten. Als Gesandter der Schwarzen Galaxis war er dem Carthiller grenzenlos überlegen. Aber gleichzeitig erweckte er den Anschein, als sei auch er alles andere als frei. In der Barriere von Oth stimmte das sogar in ge wisser Weise, denn selbst Copasallior, der zur Zeit mächtigste aller Magier, mußte sich nach unzähligen Gesetzen und Vorschriften richten. Hier, auf Carthillum, brauchte er nur noch wenige von diesen Vorschriften zu be achten. Er hätte seine volle Macht entfalten können. Aber er hielt es für besser, dem Carthiller gegenüber zu untertreiben. Wenn Sisil die angeblichen Gesandten als Befehls empfänger einstufte, so ergab sich daraus vielleicht ein Gefühl der Kameradschaft mit dem Carthiller. Tatsächlich fiel Sisil auf den simplen Trick herein. Er bemühte sich noch eifriger als vorher, die Wünsche der Magier zu erfül len. Er führte sie im weiten Bogen um die Kuppel herum, durch Gassen, die oft gerade breit genug waren, um einen ausgewachse nen Menschen hindurchzulassen, durch dü stere Höfe und muffige Gewölbe, und spä ter, als die Sonne bereits ziemlich tief stand, über schwindelerregend schmale Brücken
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und enge, gewundene Treppen auf das Dach eines gewaltigen Hauses. Von oben konnten sie in weiter Ferne den Raumhafen sehen. Zwischen ihnen und der GOL'DHOR dehnte sich ein Labyrinth von Häusern und Straßen. Die schmalen Türme, die hier und da aus dem unregelmäßigen Muster der meist flachen Dächer hervorsta chen, warfen lange Schatten. »Es wird Zeit«, sagte der Carthiller. Die bunten Kugeln an seinen Sinnesfühlern schimmerten geheimnisvoll. »Die Sonne wird bald hinter den Horizont gesunken sein. Kommt jetzt!« Sie folgten ihm schweigend hinab in die Tiefe. Auf dem Platz, auf dem noch immer der Wagen stand, war es schon fast dunkel. Die Carthiller scharten sich aufgeregt zwit schernd um die beiden Magier. Sie freuten sich auf etwas, aber sie verrieten mit keinem Wort, worum es sich dabei handelte. Mit den beiden Magiern schritten sie eilig zu der gewölbten Wand hinüber. Als sie noch etwa zehn Meter von ihrem Ziel entfernt waren, öffnete sich ein breites, niedriges Tor. Hell blaues Licht fiel in die kleine Gasse hinaus. Von den Carthillern umringt, die jetzt an dächtig schwiegen, durchschritten die Ma gier das Tor. Das Licht war so grell, daß sie zunächst gar nichts sehen konnten. Sie blie ben stehen und warteten.
6. Es war still um sie her. Langsam gewöhn ten sich ihre Augen an das Licht, und sie sa hen, daß sie sich in einer großen, leeren Hal le befanden. Überall an den Wänden gab es Tore, und alle, bis auf das, durch das sie her eingekommen waren, waren geschlossen. »Ihr seid am Ziel«, sagte Sisil nach eini ger Zeit. »Öffnet die Tore, und ihr werdet al les finden, was ihr im Auftrag der Schwar zen Galaxis sucht.« Die Magier sahen sich schweigend an. »Versuchen wir es«, murmelte Copasalli or. »Wenn wir die Tore nicht aufbekommen,
wird es sicher Ärger geben.« Er hatte den Übersetzer ausgeschaltet. Koratzo nahm sein Gerät ohnehin nur selten in Anspruch. Sie entschieden sich für ein Tor auf der rechten Seite der Halle. Langsam gingen sie darauf zu. Beide tasteten mit ihren magi schen Sinnen die Schlösser und Riegel ab. Als sie dicht vor dem Tor stehenblieben, wußten sie bereits, daß sie es eigentlich schon jetzt aufgeben konnten. Keine der gängigen magischen Techniken vermochte dieses Tor zu öffnen. Es gab kei ne Befehlsadern, an denen Koratzo hätte an setzen können, und selbst Copasallior, der mit seiner Transmitterfähigkeit in das Innere eines Schlosses greifen konnte und dort Tei le zu versetzen verstand, mußte sich ge schlagen geben. Trotzdem versuchten sie es auf jede nur denkbare Weise. Sie suchten nach verborge nen Schaltern und anderen, antimagischen Vorrichtungen, tasteten das ganze Tor ab, soweit sie es mit den Händen erreichen konnten und bewirkten damit überhaupt nichts. Das Tor blieb geschlossen. Koratzo, der stets in das Metall hineinhorchte, ver nahm nicht das leiseste Klicken, das Bewe gung in einem der Riegel verraten hätte. »Sinnlos«, kommentierte Copasallior ent täuscht. »Lassen wir diese zeitraubenden Spielereien. Wir können auf meine Weise durch dieses Tor gehen. Komm!« »Und die Carthiller?« »Glaubst du, daß sie das Geheimnis dieser Schlösser kennen? Na also. Sie können uns nicht folgen, und wenn wir erst drüben sind, kann es uns gleichgültig sein, was sie von uns denken.« Koratzo zögerte immer noch. Er hielt es für zu riskant, wenn sie ihre Fähigkeiten schon jetzt ausspielten. Er sah sich nach den Carthillern um. Überrascht stellte er fest, daß die Fremden sich fürchteten. Wovor, das war ihm nicht klar, denn sie waren ja freude strahlend in die Halle gezogen. »Warte noch einen Augenblick!« flüsterte er Copasallior zu. »Etwas stimmt nicht.«
Archiv des Schreckens Die Carthiller drängten sich furchtsam an einander. Jemand rief etwas, und Koratzo er kannte Sisils Stimme. »Die Leeren! Rette sich, wer kann!« Und dann stoben die Carthiller nach allen Seiten davon, liefen wie kopflos gegen die Wände der Halle, sammelten sich überra schend und schafften es tatsächlich, einen halbwegs geordneten Rückzug durch das ge öffnete Tor anzutreten. »Was hat das nun wieder zu bedeuten?« fragte Copasallior verwirrt. »Wer oder was sind diese Leeren? Es ist doch niemand zu sehen!« Er hatte kaum gesprochen, da öffnete sich ein zweites Tor, und Wesen tauchten auf und tappten schwerfällig in die Halle hinein. Die beiden Magier starrten schweigend und entsetzt auf diese traurigen Gestalten. Vertreter von mindestens einem Dutzend verschiedener Völker bildeten eine auf den ersten Blick farbenfroh wirkende Gruppe. Eine gallertige Masse wogte zwischen zwei insektenähnlichen Wesen, andere Gestalten trugen Federn oder Pelze oder Schuppen, ei nige sahen wie seltsame Tiere aus, andere wie Menschen aus dem Lande Pthor, nur daß sie eben fremdartige Gesichter hatten oder vier Beine oder lange, spitze Köpfe. Es gab keine zwei Wesen, die zu einer Art ge hörten, und sie alle hatten nur eines mitein ander gemeinsam – sie wirkten so stumpf und leer, als wären ihnen Geist und Verstand abhanden gekommen. Was dort daher stampfte, war eine Ansammlung von seelen losen Körperhüllen. Was diese bedauerns werten Kreaturen überhaupt noch am Leben erhielt, konnten sich die beiden Magier beim besten Willen nicht vorstellen. Und diese armen Kreaturen redeten. Sie sprachen fast unaufhörlich, und es wa ren Wörter in der Sprache der Carthiller. Aber sie ergaben keinen Sinn. Sie wurden einfach aneinandergereiht, ob sie nun zu sammenpaßten oder nicht. Die Leeren – und die Magier verstanden jetzt sehr genau, was sich hinter dieser Bezeichnung verbarg, – plapperten, quietschten, murmelten und
31 knurrten all die Wörter, die sie irgendwann gelernt hatten, vor sich hin und tappten da bei schwerfällig durch die Halle, und dem Stimmenmagier sträubten sich die Haare an gesichts dieser Menge. »Ob sie gefährlich sind?« flüsterte Copa sallior, als er sich von seinem ersten Schrecken erholt hatte. »Die Carthiller sind jedenfalls vor ihnen geflohen«, gab Koratzo zu bedenken. »Dann werden wir uns in diesem Fall nach ihrem Vorbild richten«, schlug Copa sallior vor. Aber dann fiel sein Blick auf das zweite Tor, das immer noch offenstand, und er nickte grimmig. Er stieß Koratzo an und deutete hinüber, und der Stimmenmagier be griff sofort. In stillem Einverständnis ver stärkten sie ihre magischen Sperren und schritten den Leeren entgegen. Sie hielten sich in der Nähe der Wände, und als sie auf einer Höhe mit den vorder sten der stumpfsinnigen Wesen waren, war teten sie gespannt auf eine Reaktion. Sie rechneten mit allem. In diesen bedauerns werten Kreaturen existierten nicht einmal mehr Andeutungen von Gefühlen, also auch keine Aggressivität. Aber das mochte sich schlagartig ändern, sobald sie die Magier er blickten. Irgend etwas mußte in ihren Gehir nen erhalten geblieben sein, denn sonst wä ren sie binnen kürzester Frist gestorben. Aber nichts änderte sich, und fast hatte es den Anschein, daß die Leeren die Anwesen heit der Magier gar nicht bemerkten. Das konnte natürlich auch an den Sperren liegen, die Koratzo und Copasallior errichtet hatten. Sie nahmen sich jedoch keine Zeit, dies ge nauer zu überprüfen, sondern eilten an dem traurigen Zug der fremden Wesen entlang, auf das immer noch geöffnete Tor zu. Das Ende der seltsamen Prozession zeichnete sich ab, und sie liefen schneller. Als der letz te der Leeren durch das Tor trat, huschten die Magier an ihm vorbei ins Innere der Kuppel. Sie schafften es im letzten Augen blick. Kaum hatten sie den entscheidenden Schritt getan, da spürten sie einen leichten Luftzug, und als sie sich umdrehten, da hatte
32 sich das Tor bereits geschlossen. Sie verschwendeten keine Sekunde an den Gedanken, daß sie nun eingeschlossen wa ren. Sie waren sicher, daß sie mit Hilfe der Transmitterfähigkeiten des Weltenmagiers jederzeit entkommen konnten. Aufmerksam sahen sie sich um. Ihre magischen Sperren erhielten sie aufrecht. Sie befanden sich in einer Halle wie der, die sie gerade verlassen hatten. Nur war die ser Raum nicht leer und kahl. Häßliche, unsymmetrische, vieleckige Kästen standen überall herum. Von der Kup peldecke herab hingen tropfsteinähnliche Gebilde von schmutzigbrauner Farbe. An den Wänden entlang türmten sich Maschi nen und Geräte, mit denen die Magier nichts anzufangen wußten. Copasallior nickte schließlich. »Das sieht mir schon eher nach einem Ar chiv aus«, murmelte er. »Ich gehe jede Wet te ein, daß diese Kästen Speicher sind. Wenn wir Glück haben, finden wir schon hier die wichtigsten Daten.« »Diese Halle kann nur einen winzigen Ausschnitt darstellen«, meinte Koratzo skeptisch. »Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß wir auf Anhieb an der richtigen Stelle gelandet sind. Und selbst wenn – wie be kommen wir die Daten aus den Speichern heraus?« »Das laß nur meine Sorge sein«, wehrte Copasallior lächelnd ab. »Ich habe es nicht zum erstenmal mit solchen Geräten zu tun.« In der Mitte der Halle stand ein Kasten mittlerer Größe, der durch seine regelmäßige Form auffiel. Sie gingen hinüber und sahen die Bedienungselemente an der dem Tor ab gewandten Seite. Copasallior suchte nach ei nem Mechanismus, der das, was sich in den Speichern des Archivs befand, in irgendei ner Form sichtbar machte. Er hatte viel von den Robotbürgern von Wolterhaven gelernt, denn bei seinen Aus flügen in die Außenwelten traf er immer wieder auf antimagische Informationsspei cher. Und da Copasallior sich bei seinen Be suchen in fremden Welten von einer schier
Marianne Sydow unersättlichen Neugier treiben ließ, ärgerte es ihn, wenn gerade diese Speicher sich wei gerten, ihm auf magisch untermauerte Be fehle hin ihr Wissen preiszugeben. Nach kurzer Lehrzeit in Wolterhaven begriff er, wo der Grund für seine Mißerfolge lag. Bei den nächsten fünfzig Aufenthalten Pthors auf fremden Welten nutzte er jede Gelegen heit, praktische Erfahrungen im Umgang mit den antimagischen Speichermethoden zu sammeln. Er bekam viel Übung darin, und je besser er mit den Speichern umzugehen ver stand, desto geringer wurde sein Interesse an ihrem Inhalt. Der Reiz des Neuen verblaßte, und Copasallior befaßte sich mit Speichern dieser Art nur noch dann, wenn er alle ande ren Informationsquellen ausgeschöpft hatte und immer noch neugierig war. Alle Speicher, die Copasallior bisher ken nengelernt hatte, gaben die in ihnen gesam melten Informationen auf Wunsch in einer Form ab, in der man sie mühelos in die Schatzhallen am Crallion transportieren konnte. Copasallior bewahrte in diesen Höh len tonnenweise Tonspulen, Bildkristalle, Schriftbänder und ähnliche Dinge auf. Man ches, das er mangels Sprachkenntnissen nicht auf Anhieb verstand, hatte Koratzo ins Pthora übertragen. Das Gerät in dieser Halle stellte den Ma gier für kurze Zeit vor ein Rätsel, denn an ihm gab es keine Vorrichtungen, die Bilder, Töne oder Schriftzeichen festhalten konnten. Er verlor nach wenigen Minuten die Geduld, denn die Zeit brannte ihnen auf den Nägeln. Irgend jemand – oder irgend etwas – würde die Magier bemerken und als das einstufen, was sie waren: unerwünschte Eindringlinge. »Sehen wir wenigstens nach, was in den Speichern nun wirklich steckt«, murmelte Copasallior ärgerlich. Er tippte ein paar Schalter an, wobei er sich von seinen Instinkten und seinen Erfah rungen leiten ließ. Und tatsächlich geschah etwas. Zuerst senkte sich eines der tropfsteinähn lichen Dinger von der Decke herab. Es blieb mitten in der Luft stehen. Dann spürte der
Archiv des Schreckens Magier etwas, das ihren Geist berührte. Eine Stimme, die keine gebräuchliche Sprache benutzte und die sie trotzdem verstanden. Ein Tasten wie von unsichtbaren Fingern mitten in ihren Gehirnen. Koratzo wich erschrocken vor dem un heimlichen Kasten zurück. Auch in dem Weltenmagier erwachten für einen Moment Zweifel daran, ob er wirklich fähig war, es mit den Speichern von Carthillum aufzuneh men. Aber dann erfaßte er den Sinn der unhör baren Frage, und er sah sich suchend um, denn er mußte einen der vielen Speicher auswählen. Er überlegte, ob er nicht einfach nach Pthor fragen sollte, ließ es dann aber doch lieber bleiben. Mit jeder Frage konnte er seine Unwissenheit offenbaren und diese Maschine zur Befehlsverweigerung anstif ten. So bezeichnete er aufs Geratewohl einen der Speicher, und der »Tropfstein« glitt durch die Luft, blieb über dem betreffenden Kasten stehen und sank langsam, bis er das häßliche Gebilde berührte. Copasallior tippte den nächsten Knopf an. Das hätte er besser nicht tun sollen. Die geisterhafte Berührung durch die un sichtbaren Finger wurde zu einem schier un erträglichen Druck. Es war, als senke sich eine imaginäre Faust auf die Gehirne der beiden Magier herab. Eine Sturzflut von In formationen schwappte über ihren Verstand und warf sie zu Boden. Copasallior verlor den Kontakt zu den Bedienungselementen. Seine Augen, die wie gebrochener Basalt aussahen, starrten blicklos auf den »Tropfstein«, der zu glühen begann und in tausend Splitter zersprang. Dann wurde Co pasallior von einem Schmerz, der alles über traf, was er jemals gespürt hatte, in tiefe Be wußtlosigkeit geschleudert.
* Als die beiden Magier wieder zu sich ka men, fühlten sie sich wie gerädert. Koratzo glaubte, eine Gestalt vor sich zu sehen, eine
33 turmhohe Stange auf zwei spindeldürren Beinen, die mit langen Gummiarmen nach ihm griff. Er blinzelte – die Gestalt war ver schwunden. Dafür bevölkerten unzählige grünhäutige Zwerge die Halle, tanzten schwerelos in der Luft herum und veranstal teten Kletterübungen an den Speicherkästen. Ein Blinzeln beförderte die Zwerge in das Reich der Halluzinationen, wo sie auch hin gehörten. Aber das konnte Koratzo zu die sem Zeitpunkt noch nicht wissen. Er krümmte sich zusammen, als er ein stampfendes, rumpelndes Ungetüm mit glü henden Augen auf sich zukommen sah. Es sah dem Heraskawanu aus den Bergen von Oth täuschend ähnlich, und es schickte sich an, den Magier unter seinen zahlreichen Stelzenbeinen zu Brei zu trampeln. Koratzo versuchte verzweifelt, sich zur Seite zu rollen. Erst als er schmerzhaft mit einem harten Gegenstand zusammenstieß, merkte er, daß er sich tatsächlich von der Stelle bewegt hatte. Dem PseudoHeraskawanu schien das jedoch nicht aufzu gehen, denn er kam unbeirrt näher. Das vor dere Stelzenpaar hob sich – Koratzo schloß erschrocken die Augen. Erst nach Sekunden kam ihm der Ver dacht, daß etwas nicht stimmte. Er lebte nämlich immer noch. Er blinzelte vorsichtig unter halbgeschlossenen Augenlidern – da wogte mitten zwischen den häßlichen Spei cherkästen ein Meer von leuchtenden Blü ten, die allesamt menschlich wirkende Au gen besaßen. »Der Speicher … übertragen auf uns«, sagte eine unendlich weit entfernte Stimme. »Fremde … nur Wahnsinn.« Und dann überraschend deutlich und so laut, daß es in den Ohren des Stimmenma giers zu dröhnen begann: »Wir haben die gesammelten Gehirnin halte Hunderter von Wahnsinnigen über nommen.« Koratzo verstand es nicht ganz. Aber es reichte, um ihn die Blüten als das sehen zu lassen, was sie waren – Trugbilder, die sein Gehirn ihm vorgaukelte. Er versuchte, diese
34 lästigen Bilder loszuwerden. Aber sobald er etwas abgeschüttelt hatte, sah er die näch sten Widerwärtigkeiten vor sich. Er spürte, daß Copasallior ihn am Arm berührte, aber er war völlig unfähig, darauf zu reagieren. »Eine Falle!« keuchte Copasallior müh sam. »Man hat uns hereingelegt.« Koratzo hörte es, aber es drang nicht bis zu seinem Bewußtsein vor. Er war voll und ganz damit beschäftigt, sich die Bilder vom Leibe zu halten. In seinem durch die Überla stung getrübten Geist hatte sich die Über zeugung gebildet, daß er die Bilder am ehe sten besiegen konnte, indem er sie regelrecht »verbrauchte«. Er hatte, so dachte er, nichts anderes zu tun, als in möglichst schneller Folge alle Eindrücke Revue passieren zu las sen. So schloß er die Augen, sobald er ein fremdes Bild erfaßt hatte, und dann machte er sie wieder auf und wartete ein paar Se kunden, und so ging es immer weiter. Obwohl Copasallior von den seltsamen Bildern heimgesucht wurde, vermochte er noch halbwegs klar zu denken. Er bemühte sich gar nicht erst, die frem den Eindrücke aus seinem Gehirn zu ver drängen. Er nahm sie, soweit das praktisch durchführbar war, gelassen hin. Er wehrte sich nicht gegen sie, sondern versuchte, ge wissermaßen an ihnen vorbeizudenken. Sie waren hilflos jedem ausgeliefert, der jetzt zufällig in diese Halle kam. Das war die erste, schockierende Erkenntnis. Nicht nur, daß sie in ihrem derzeitigen Zustand au ßerstande waren, die Waffen aus der FE STUNG zu benutzen – auch die magischen Sperren waren zerbrochen. Copasallior fühl te sich ohne diese Sperren nackt und ver wundbar. Er versuchte, seine Transmitterfähigkeiten zu aktivieren. Es gelang ihm, Koratzo zu fassen zu bekommen. Dann konzentrierte er sich auf den Schritt durch das Nichts. Für gewöhnlich mußte er dazu die Arme hoch ausstrecken – zumindest zwei davon. Aber er war auch schon in Situationen durch das Nichts gegangen, in denen das durch diesen
Marianne Sydow oder jenen Umstand unmöglich war. Darum war er zuerst noch ganz zuversichtlich. Aber es fand keine Ortsversetzung statt. Er richtete sich mühsam auf und kam auf die Knie. Die Welt, die für ihn in diesem Augenblick in erster Linie aus jenen Bildern bestand, die sein überfüttertes Gehirn ihm vorspielte, wirbelte im Kreis um ihn herum. Er versuchte es trotzdem. Mit demselben negativen Ergebnis. Gegen seinen Willen sank er auf den Bo den zurück. Er dachte nach und kam zu dem Schluß, daß es sich um eine vorübergehende Störung handeln mußte. Seine magischen Kräfte waren nach wie vor vorhanden, aber die fremden Eindrücke, die in seinem Ge hirn umherschwirrten, überdeckten sie. Er mußte den fremden Kram loswerden. Bedauerlicherweise standen ihm hier nicht die Mittel der Barriere von Oth zur Verfügung. Dort, in den Bergen, hätte er die überschüssigen Energien einfach an seine Umgebung abgeleitet, und die Gedanken und Eindrücke der Hunderte Wesen wären diesen Energien gefolgt. Diese Halle jedoch vermochte mit der Energie, die Copasallior ihr anbot, nichts an zufangen. Bis der Überschuß auf natürliche Weise abgebaut war, würden Wochen verge hen, und es mochte sein, daß auch dann noch etwas hängenblieb, was den Welten magier behinderte. Solange konnte er nicht warten, das war klar. Aber er hatte nicht die leiseste Ahnung, was er anderes tun sollte. Als er bis zu diesem Punkt in seinen Überlegungen gelangt war, hörte er plötzlich ein leises Schnurren. Nun hörte er in seinem seltsamen Zustand viele Geräusche, denn das, was sich in seinem Geist festgesetzt hat te, beschränkte sich nicht auf die Erzeugung von Trugbildern. Dennoch war er vom er sten Augenblick an sicher, daß dieses Schnurren echt war. Er drehte mühsam den Kopf und sah sich um. Im Augenblick sah er sich auf einer blauen Wiese, über die halbkugelförmige, metergroße Wesen glitten, wie Käfer, die
Archiv des Schreckens das Gras abfraßen. Mitten zwischen den Halbkugeln tauchte eine hohe Gestalt auf, die in einen schwarzen Kapuzenumhang gehüllt war. Man sah nichts vom Gesicht dieses Fremden. Und Copasallior fühlte sich bei der Frage, ob es sich um einen Bestand teil der fremden Erinnerung oder ein echtes Bild war, total überfordert. Immerhin – als die schwarze Gestalt ihn erreichte, fühlte er sich plötzlich hochgeho ben. Ihm wurde schwindelig. Er war es ge wöhnt, sich nicht nur durch das Nichts zu bewegen, sondern auch auf unsichtbaren, selbst erschaffenen Flugfeldern durch die Lüfte zu gleiten. Daß Kräfte von außen ihn gegen seinen Willen herumzustoßen ver mochten, war für ihn eine völlig neue Erfah rung. Zu allem Überfluß funktionierte sein überproportional entwickelter Orientierungs sinn einwandfrei. So konnte er genau erken nen, in welcher Weise er sich bewegte, auch wenn ihm der Blick auf die Halle selbst noch immer von den fremden Bildern ver sperrt wurde. Er merkte schnell, daß jede Gegenwehr sinnlos war. Er verschwendete nur seine Kräfte, wenn er dagegen ankämpfte. Er glaubte, Hände zu spüren, die ihn an den Schultern und an den Beinen gepackt hiel ten. Aber als er mühsam mit einer Hand da nach tastete, fühlte er nichts. Er fragte sich, ob wohl auch Koratzo auf diese Weise davongeschleppt wurde. Er spürte zwar die Nähe des Stimmenmagiers, aber das hatte nicht viel zu bedeuten. Die Verbindung zwischen den beiden Magiern war ungewöhnlich stark, und sie spürten ein ander auch dann, wenn sie viele Kilometer voneinander entfernt waren. Diese Verbin dung war nicht einmal während jener Zeit abgerissen, in der sie einander mit allen er laubten Mitteln bekämpft hatten. Im ersten Moment ärgerte sich Copasalli or über die Erinnerungen, die ungerufen in seinem Geist erschienen. Dann erkannte er die Chance, die sich ihm bot, und er ließ den Dingen ihren Lauf. Diejenigen, die die Falle in dieser Halle errichtet hatten, waren sicher
35 nicht auf den Besuch von Magiern einge richtet. Auch wenn es unbescheiden klingen mochte – Copasallior war nach wie vor da von überzeugt, daß ein Magier etwas Beson deres darstellte. Und damit hatte er vermut lich sogar recht. Er spürte, daß sie die Halle verließen. Gleichzeitig spulte sich vor seinem inneren Auge wie ein Film die Erinnerung an einen dieser gnadenlosen, hinterlistigen Kämpfe ab, die er gegen den Stimmenmagier geführt hatte. Damals, als er ein paar Kristalle ver tauschte und Koratzo dem Gespött der ande ren auslieferte … Es war gut so. Sein Bewußtsein wehrte sich gegen die fremden Dinge in seinem Ge hirn. Durch einen Schleier fremder Gestalten sah er sich selbst und Koratzo in den Bergen von Oth, und das Bild wurde deutlicher. Die fremden Eindrücke wichen zurück. Wenn es so weiterging, war er vielleicht früher wie der einsatzfähig, als er zu hoffen gewagt hat te. Die Wesen, die ihn unterdessen durch die Gegend transportierten, machten ihm einen Strich durch die Rechnung. Sie hielten an, und dann wurde Copasalli or aufgerichtet und gegen etwas Kühles ge lehnt. Er spürte einen flüchtigen Druck auf seinem Schädel. Plötzliche Wärme durchflu tete ihn. Minutenlang war er gefangen in ei ner Mischung von Halbschlaf und Trance. Mit einem spürbaren Ruck kehrte er in die Wirklichkeit zurück. Die fremden Dinge wa ren aus seinem Geist verschwunden. Er spürte seine Umgebung wieder mit allen Sinnen – und jähes Entsetzen befiel ihn, als er die Wahrheit erkannte.
7. »Nein«, sagte er zu sich selbst, und ihm wurde nicht ganz bewußt, daß er laut sprach. »Es war keine Falle. Nur ein Versehen. Nie mand konnte damit rechnen, daß es uns ge lingen würde, einen dieser Speicher anzu zapfen. Was dieser Kasten enthielt, war nicht für Eindringlinge wie uns bestimmt.
36 Alle Speicher in diesem Teil des Archivs enthalten nichts als die Geistesinhalte frem der Wesen. Es gibt hier keine Daten von Pthor!« »Was sagst du da?« Copasallior drehte mühsam den Kopf. Er war gefesselt und durch Dutzende von Lei tungen mit einer Maschine verbunden. Hätte er es nicht schon vorher gewußt, so wäre es ihm klargeworden, als er Koratzo sah. Der Stimmenmagier steckte in einer lockeren Hülle von Schnüren, und ein Ring saß auf seinem Kopf. »Das Archiv ist verrückt geworden«, sag te Copasallior langsam. »Es speichert nichts mehr über die Reisen von Pthor. Es sammelt statt dessen die Erinnerungen von Wesen, die ihm mehr oder weniger zufällig in die Quere kommen.« »Die Leeren!« stieß Koratzo hervor, und Copasallior sah das Entsetzen in den Augen des Stimmenmagiers. »Wir werden bald zu ihnen gehören«, be stätigte Copasallior. »Diese Maschine saugt uns aus. Bis jetzt hat sie nur aufgenommen, was uns vorhin eingetrichtert wurde. Aber es wird weiter gehen, immer weiter, bis wir zu lallenden Idioten werden.« Koratzo blieb ganz still. Er zerrte nicht an seinen Fesseln, und er sah sich nicht einmal um, als interessiere es ihn gar nicht, wie er an diesen Ort gekommen war. »Kannst du da heraus?« fragte er ruhig. Copasallior schloß die Augen und kon zentrierte sich auf die Welt jenseits der Wirklichkeit, in der man so große Schritte machen konnte, daß man mühelos binnen Sekunden das ganze Land Pthor zu durch queren vermochte. »Es hat keinen Zweck«, erklärte er. »In ein paar Minuten schaffe ich es vielleicht.« »Bis dahin ist es zu spät.« Das war kein Vorwurf, sondern eine Fest stellung. Copasallior verzichtete daher auf eine Antwort. Er spürte selbst, wie etwas an ihm zog und zerrte. Es gab nichts, was sie dieser Maschine entgegenzusetzen hatten. Sie saugte sie leer,
Marianne Sydow und sie würde erst aufhören, wenn es nichts mehr für sie zu holen gab. Und sie ließ sich Zeit dabei, soviel Zeit, daß Copasallior den Verdacht hegte, es könne mehr dahinter stecken als die typisch robotische Sturheit, diese zweckgebundene Denkweise, in der für Gefühle wie Mitleid und Gnade kein Platz ist. »Es ist ein Spiel, Copasallior«, sagte Ko ratzo genau in diesem Augenblick und be stätigte damit die Befürchtungen des Wel tenmagiers. »Ein grausames Spiel. Dieses verdammte Ding schenkt uns eine Frist, da mit wir uns noch ein wenig das vorstellen können, was mit uns geschehen wird. Es will nicht nur unseren Verstand, Weltenma gier, sondern auch unsere Gefühle. Es sehnt sich danach, unsere Angst zu empfangen – und Haß, Verzweiflung, Resignation. Hörst du mich, Copasallior? Alle, die vor uns hier waren, sind daran zerbrochen. Die meisten wurden wahnsinnig.« Daher also der makabre Inhalt des Spei chers, den sie angezapft hatten. »Es will uns leiden sehen, Copasallior!« fuhr Koratzo eindringlich fort. »Und es hat Zeit, grauenhaft viel Zeit!« Der Weltenmagier begriff plötzlich, daß er sich beinahe verraten hätte. »Es kann nicht mehr lange dauern«, sagte er mit rauher Stimme. »Das denke ich auch«, antwortete Koratzo zweideutig. Die Maschine würde warten. Sie konnte es sich leisten. Es landeten nicht so furchtbar viele Raumschiffe auf Carthillum. Die »Leeren« waren eine magere Quelle für das, was dieses gigantische Gebilde benötigte. Die beiden Magier brauchten nichts als et was Zeit, um ihre Kräfte wieder zu erlangen. Und die Maschine würde ihnen diese Zeit schenken, wenn sie zu der Überzeugung ge langte, daß anschließend so etwas wie eine reiche Mahlzeit sie erwartete. »Ich fürchte mich!« sagte Koratzo leise, und Copasallior hätte beinahe die magischen Sperren errichtet ein Reflex, den er gerade noch unterdrückte.
Archiv des Schreckens Ihn schauderte es, als die magischen Kräf te auf ihn eindrangen. Es war unvorstellbar lange nicht mehr geschehen, daß ein Magier Copasalliors Sperren durchbrochen hatte. Seine Angst in diesem Augenblick war echt – nur galt sie weniger dem Robotgehirn von Carthillum als der Frage, ob er nicht zwangsläufig den magischen Einflüssen des Stimmenmagiers von nun an ausgeliefert sein würde. Aber gleichzeitig hoffte er, daß diese grausame Maschine die eine Angst nicht von der anderen zu unterscheiden ver mochte. Wenige Augenblicke später vermochte Copasallior den Unterschied selbst nicht mehr zu definieren. Koratzo hatte ihn voll erwischt, so genau, daß er es nicht einmal mehr merkte. Grauenhafte Angst schüttelte ihn. Er krümmte sich in den Fesseln der Ma schine und spürte das Metall an seinem Rücken, den Ring um seinen Schädel, die vielen Leitungen um ihn herum. Die Angst wurde so schlimm, daß er fürchtete, er wür de den Verstand verlieren … »Jetzt!« Koratzos Stimme drang klar und deutlich in sein Bewußtsein, und die Angst zerstob. Eben noch hatte er sich vor Furcht ge wunden – jetzt griff er mit seinen seltsamen Sinnen zu. Wilder Triumph erfüllte ihn, als er merkte, daß seine Kräfte wieder zu seiner Verfügung standen. Er tastete nach seinen Leitungen, nicht mit den Händen, sondern mit magischer Kraft. Er riß sie weg, sprang vorwärts und stürmte zu Koratzo hinüber. Er bekam den rechten Arm des Stimmenma giers zu fassen, und dann tat er endlich den Schritt in die Welt jenseits der Wirklichkeit.
* Sie kamen außerhalb der Kuppel in der dunklen Gasse wieder heraus. Copasallior senkte die Arme und blickte verwundert auf Koratzo hinab, der regungslos vor seinen Füßen lag. Zuerst verstand er nichts. Dann spürte er, was Koratzo getan hatte, und er beugte sich
37 vor. »Verdammter Narr!« murmelte er, aber es klang eher anerkennend. Die kurze Zeit, in der der Weltenmagier die Ängste durchlebte, die Koratzo ihm ein gegeben hatte, hätte niemals ausgereicht, um die natürliche Regenerationsfähigkeit aller Magier voll auszunutzen. Koratzo hatte das erkannt und die Konsequenzen gezogen. Er übertrug seine eigenen Kräfte auf Copasalli or. Jetzt war er ausgesaugt und dem totalen Zusammenbruch nahe. Copasallior lud sich Koratzo auf die Schultern und stolperte die Gasse entlang. Er hörte ein schleifendes Geräusch. Blaues Licht flammte hinter ihm auf, und sein Schatten schwankte lang und unförmig über den glatten, grauen Boden. Hände zerrten an ihm, aber als er sich umsah, sah er nichts, was sich bewegte. Er spürte die Hände wie der und drehte sich um, wild und unbe herrscht. Nichts. Die Gasse war leer. Da war das Tor, weit geöffnet, mit dem blauen Licht da hinter. Niemand befand sich in der Nähe. Trotzdem waren da die Hände. Sie krallten sich um seine Arme, versuchten, ihn zu Bo den zu zwingen und zum Stolpern zu brin gen, hielten seine Beine fest, rissen an sei nem Gewand. »Geht!« sagte Copasallior wütend. »Macht euch davon. Mich bekommt ihr nicht. Nicht noch einmal!« Er vernahm ein widerwärtiges Kichern. Unsicher tappte er vorwärts. Koratzo hing schwer über seiner Schulter. Es war, als trü ge er einen Toten. Aber die magische Aura des Stimmenmagiers war immer noch deut lich spürbar. Und spürbar war auch die Kraft, die zu Copasallior hinüberströmte – eine Kraft, die bald versiegen würde. »Hör auf damit!« schrie Copasallior den Stimmenmagier an. »Willst du dich unbe dingt umbringen?« Wieder spürte er die Hände, und diesmal brachten sie ihn fast zu Fall. Er fing sich mit Mühe ab und richtete sich schweratmend auf.
38 »Zeigt euch!« rief er wütend. »Wo steckt ihr?« Wieder dieses Kichern. Copasallior drehte sich langsam im Kreis. Er hatte nicht Korat zos Sinne, mit denen sich die Anwesenheit denkender, insbesondere sprechender Wesen so leicht feststellen ließ. Er spürte zwar et was, aber er konnte es nicht fassen. Es war, als tanzten Geister um ihn herum, unsicht bar, nicht faßbar, aber sehr wohl imstande, ihn zu behindern, zu verletzen, sogar zu tö ten. Er spürte das Gewicht an seiner Hüfte, und plötzlich hielt er die Waggu in der Hand. Er drückte auf den Abzug und drehte sich im Kreis. Ein geisterhaftes Heulen und Winseln er klang. Copasallior lachte rauh und bestrich die Gasse mit den lähmenden Energiestrah len. »Das dürfte reichen!« sagte er grimmig. Zehn Schritte weiter waren die Hände wieder da. Copasallior steckte wütend die Waggu zu rück und griff nach dem Schwert. Die Klin ge sauste durch die Luft, aber sie traf nicht. Dabei hatte er so gut gezielt. Er spürte ja die Hand auf seinem einen Arm. »Zum Skatha-Hir mit euch!« murmelte Copasallior gedankenlos den uralten Fluch der Magier. Er erschrak vor seinen eigenen Worten und riß sich los, stolperte ein paar Meter weiter und schoß abermals mit der Waggu um sich. Dutzende von Stimmen heulten laut auf. Copasallior preßte den Daumen auf den Knopf und ging rückwärts, bestrich systematisch den Raum zwischen dem Tor und sich, bis er hinter sich wilde, kreischende Stimmen vernahm. Die Carthiller! Er hatte sie fast vergessen, wohl auch mehr oder weniger unbewußt damit gerech net, daß sie in ihrer kopflosen Flucht vor den »Leeren« davongestürmt waren, weit weg, an einen Ort, an dem sie sich verkriechen konnten. Statt dessen vernahm er Sisils Stimme. »Haltet sie auf! Sie dürfen nicht entkom-
Marianne Sydow men!« »Was seid ihr doch für ein freundliches Völkchen«, murmelte Copasallior. Er wir belte herum und schoß. Und dann stand Sisil vor ihm. Copasallior erlebte es nicht zum ersten mal, daß eine Waggu ein Wesen nicht zu fällen vermochte. Aber er hatte hier, auf dem Planeten Carthillum, nicht mit dieser Art der Unverwundbarkeit gerechnet. Er schoß noch, als er längst wußte, daß es sinn los war. Sisil kam näher, und er bewegte sich haargenau in dem Energiestrahl, der ihn hätte lähmen sollen. Copasallior ließ die Waggu fallen. Er spürte Koratzo auf seiner Schulter, aber das Gewicht des Stimmenmagiers belastete ihn nicht besonders. Der Weltenmagier mochte ausgesprochen dürr aussehen, aber er ver fügte über erstaunliche Kräfte. Er schwang das Schwert, und das Metall der Klinge, die in Oth geschmiedet worden war, reagierte schnell und sicher. Das Schwert wurde zu einer glühenden Waffe, die ein eigenes Leben zu führen schien. Sie zuckte auf den Carthiller herab und drang in Sisils Schulter. Der Carthiller brach fast lautlos zusammen. Copasallior stieg über ihn hinweg und ging weiter, genau auf die ande ren Carthiller zu, die ihn schweigend erwar teten. Copasallior hob das Schwert. Seit er Sisils Stimme gehört hatte, wußte er, daß der Übersetzer wieder eingeschaltet war. Korat zo mußte dafür gesorgt haben. Hatte er am Ende sogar geahnt, was sie hier draußen er wartete? »Kommt her!« schrie Copasallior. »Kommt, ihr Feiglinge, und kämpft!« Und gleichzeitig war ihm bewußt, daß er sich völlig daneben benahm. Er verstieß ge gen seine eigenen Prinzipien. Hätte Jarsyn thia ihn jemals so erlebt … Aber Jarsynthia war kein Thema mehr, und die Barriere von Oth war weit weg. Niemand sah ihm zu, als er mit dem Schwert in der Hand auf die Carthiller zumarschierte, den Stimmenma gier über der Schulter tragend. Seine Basal taugen glühten, und eine unfaßbare Wut er
Archiv des Schreckens füllte ihn. Er haßte diese Welt, die von der Schwarzen Galaxis beherrscht wurde. Er schalt sich einen Narren, daß er den Carthil lern auch nur einen Funken von Vertrauen entgegengebracht hatte. Was durfte man im Bannkreis der Schwarzen Galaxis anderes erwarten als Lü ge und Verrat? Die Carthiller wichen langsam vor ihm zurück. Copasallior stapfte unbeirrbar wei ter. Und plötzlich warfen diese gepanzerten Fremden sich herum und flohen vor ihm. Der Anblick tat ihm gut. So gut, daß er laut auflachte. Das Lachen kehrte als Echo von den hohen Wänden zu ihm zurück. »Lauft nur«, murmelte Copasallior. »Ich erwische euch schon noch.« Dann hörte er das tiefe Brummen einer antimagischen Maschine, und er atmete tief durch. Die Carthiller war er vorerst los. Fast hätte er geglaubt, es geschafft zu ha ben. Aber plötzlich waren diese Hände wie der da. »Mit euch werde ich auch noch fertig!« versicherte Copasallior und schwang wütend das Schwert. Die Hände blieben und zerrten an ihm. »Mir scheint, ihr seid unsichtbar, wie?« fragte der Weltenmagier. »Aber wartet, auch dagegen gibt es ein paar Mittelchen. Was ist mit dir, Koratzo? Willst du nicht endlich zu dir kommen?« Aber der Stimmenmagier rührte sich nicht. »Ist das die vielgerühmte Kraft der Ju gend?« fragte Copasallior bitter. Gleichzei tig tastete er nach Koratzo und bekam des sen Waggu zu fassen. Er drückte ab. Das Winseln und Heulen war diesmal so laut und schrill, daß ihm die Ohren davon dröhnten. Er schoß um sich und drehte sich langsam im Kreis. Er erziel te viele Treffer, wie die Schreie verrieten, aber er bekam keinen seiner Gegner zu Ge sicht. Einige erwischte er aus nächster Nähe. Er spürte ihre Hände, schoß und war frei. Aber seine Füße stießen gegen keinen Wi derstand, wenn er einen Schritt in die Rich
39 tung tat, in der die Gelähmten liegen muß ten. Der gespenstische Kampf dauerte höch stens zwei Minuten. Dann trat Ruhe ein. Und einen Augenblick später schloß sich das Tor in der Kuppel. »Na also!« knurrte Copasallior zufrieden. »Sie geben es auf. Jetzt aber nichts wie weg von hier.« Er hob zwei freie Arme und konzentrierte sich auf den Weg zur GOL'DHOR. Aber die GOL'DHOR war vorläufig uner reichbar. Die Folgen des gefährlichen Aben teuers in der Kuppel machten sich nun auch bei Copasallior bemerkbar. Er konnte den Schritt durch das Nichts nicht tun. Es war nicht einmal mehr fähig, Koratzo auf diese bequeme Weise in das goldene Raumschiff zu schicken, wo der Stimmenmagier sich schnell erholt hätte. Copasallior stieß einen Fluch aus, der ihm niemals über die Lippen gekommen wäre, hätte er einen wachen Magier in seiner Nähe gewußt. Es war stockfinster in der engen Straße. Dieser Planet besaß keinen Mond, und die wenigen Sterne spendeten praktisch gar kein Licht. Copasallior dachte an den langen Weg, der vor ihm lag, an die Carthiller mit ihrem seltsamen Gefährt, an die Unsichtba ren aus der Kuppel und die »Leeren«, die ir gendwo in diesem Häusermeer ihre Gebiete hatten, und seine Laune sank auf den Null punkt. Wenn wenigstens Koratzo endlich zu sich käme! Der Magier überquerte den Platz, auf dem die Carthiller gewartet hatten, und drang kurz entschlossen in eines der riesigen Häu ser ein. Drinnen legte er Koratzo vorsichtig auf den Boden. »Ich brauche Licht«, murmelte er. »Aber woher soll das hier kommen?« In seinen Höhlen am Crallion reichte ein Fingerschnippen, um Dutzende von hell strahlenden Kristallkugeln zu aktivieren. Er erinnerte sich an die Gewohnheiten an timagisch denkender Wesen und tastete die
40 Wand in der Nähe des Eingangs ab. Er fand nichts, was ein Schalter oder ein anderer Mechanismus hätte sein können. Ein paar Minuten später pries er sich glücklich wegen dieses Mißgeschicks. Da drangen nämlich von draußen Geräusche herein. Es klapperte und summte, und plötz lich war auch Licht da. Es war blau und fiel in breiten Bahnen durch mehrere Fenster in den Raum. Copasallior duckte sich neben Koratzo zu Boden. Er hielt den Atem an. Er war fest davon überzeugt, daß die Unsicht baren sich auf die Suche gemacht und die Spuren der beiden Magier entdeckt hatten. Als nach einer Minute immer noch nichts geschah, außer daß das Klappern und Sum men lauter wurde und dünne Schatten an den Fenstern entlangglitten, stand er vor sichtig auf, schob sich an eines der Fenster heran und spähte hinaus. Es waren tatsächlich die Unsichtbaren. Je denfalls fand Copasallior keine bessere Er klärung für das, was er sah. Über dem Platz hingen zehn blauleuch tende Kugeln. Und darunter bewegten sich Gegenstände, als wären sie zum Leben er wacht. Im Boden taten sich Falltüren auf, die nicht einmal die Magier zuvor bemerkt hatten. Metallene Stangen, an die zehn Me ter lang und absurd verbogen, schwebten darüber hin und produzierten dabei winzige Lichtblitze. Neben ihnen trieben stumpf schwarze Gegenstände durch die Luft, die Copasallior mühelos als Waffen identifizier te. Und da, wo die Waffen waren, mußten sich auch die Unsichtbaren befinden. Copasallior stellte fest, daß diesmal die Übermacht zu groß war. Er wußte nicht, wie groß die Zahl der Gegner war, die er vor der Kuppel abgewehrt hatte. Aber sie hatten im Gegensatz zu jenen, die jetzt auf dem Platz umhergingen, keine Waffen getragen. Au ßerdem waren ihm diese Stangen unheim lich. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes schwang die Tür zu einem Haus auf, und gleich darauf gab es Licht hinter den Fenstern. Copasallior nickte grimmig und
Marianne Sydow duckte sich. Er hoffte, daß es in diesem Gebäude ein halbwegs sicheres Versteck gab. Und er wünschte sich, daß die Unsichtbaren weiter hin so gründlich und langsam vorgehen mochten. Er glaubte, ihre Achillesferse er kannt zu haben. Sisil hatte behauptet, daß man nur bei Nacht Kontakt mit dem Archiv erhalten kön ne. Die Unsichtbaren aber waren aus der Kuppel gekommen. Copasallior hielt sie für die Diener der Maschinen. Das waren die Carthiller sicher auch, aber die Unsichtbaren nahmen eine Sonderstellung ein. Das künst liche Gehirn, das in der Kuppel herrschte, war zweifellos ein wenig verrückt, zumin dest aber in seinen Funktionen schwer ge schädigt. Copasallior hielt es für wahr scheinlich, daß dieses Gehirn mit Rücksicht auf seine Diener auf Besuche am hellichten Tag verzichtete. Aus irgendeinem Grund, so folgerte er, vertrugen die Unsichtbaren das Licht der Sonne nicht. Sie brauchten diese blauen Lampen. Wenn er richtig vermutete, mußten die Gegner sich spätestens bei Tagesanbruch zurückziehen. Er rüttelte Koratzo an der Schulter, aber der Stimmenmagier gab noch immer kein Lebenszeichen von sich. Allmählich wurde das besorgniserregend. Obwohl ihm die Zeit auf den Nägeln brannte, nahm Copasallior sich die Zeit, Koratzo einer schnellen Unter suchung zu unterziehen. Erleichtert stellte er fest, daß der Stim menmagier keine Verletzung davongetragen hatte. Er lud sich den Gefährten wieder auf die Schulter und ging von den Fenstern weg tiefer in den Raum hinein. Erst jetzt sah er, daß es auch hier überall diese unförmigen Speicher gab. Er warf einen Blick zur Decke hinauf – tatsächlich, da hingen die »Tropfsteine«, dicht an dicht. Er erreichte die gegenüberliegende Wand und suchte im hier schon sehr schwachen Licht nach einer Tür. Als er endlich eine fand, war sie verschlossen. Diesmal kannte
Archiv des Schreckens Copasallior keine Rücksicht mehr – von sei nen Transmitterfähigkeiten war ihm gerade noch genug geblieben, um mit so geringfü gigen Hindernissen fertig zu werden. Er riß das Schloß aus seiner Fassung und schleu derte es in die Welt jenseits der Wirklich keit, wo es sich im selben Augenblick in Nichts auflöste, in dem der Weltenmagier es aus seinem Griff entließ. Er stieß die Tür auf und spürte die lange Treppe dahinter mehr, als daß er sie mit seinen Augen sah. Ein nor maler Sterblicher hätte wahrscheinlich den Mut verloren. Es schien glatter Wahnsinn, in totaler Finsternis dort hinunterzusteigen, noch dazu mit einem Bewußtlosen auf den Schultern. Aber Copasallior verließ sich auf seine ungewöhnlichen Augen und jenen sechsten Sinn, der es ihm erlaubte, sich auch in völlig fremder Umgebung fast so unbekümmert zu bewegen, als befinde er sich in seinem eige nen magischen Revier in Oth. Er zog die Tür sorgfältig hinter sich zu und stieg hinab, mindestens zehn Minuten lang, bis er einen ebenfalls stockfinsteren Raum erreichte, in dem die Luft feucht und dumpf roch. Er legte Koratzo auf den Bo den, dann lauschte er angestrengt. Und wirk lich – er hörte das Geräusch von fallenden Tropfen. Er ging darauf zu und fand einen Riß in der Wand. Eine Pfütze hatte sich dar unter gebildet. Copasallior fing einen der Tropfen auf und kostete. Das Wasser schmeckte nicht so gut wie das, das aus den Gebirgsquellen der Großen Barriere kam, aber es war genießbar. Zum Glück waren Copasalliors magische Beziehungen zu Wasser in jeder Form recht gut. Aus den Falten seines Gewandes zog er einen Becher aus federleichtem Bmuuhrt baumkork hervor, dann konzentrierte er sich auf die schmale Öffnung in der Wand. Se kunden später schoß ein dünner Wasser strahl heraus und füllte den Becher. Copasallior trank mehrmals, dann kehrte er zu Koratzo zurück. »Wach auf«, sagte er leise. »Zeit fürs Frühstück.«
41 Koratzo bewegte sich schwach, und der Weltenmagier atmete auf. »Wo sind wir?« fragte Koratzo verwirrt. »In irgendeinem Keller in der Nähe der Kuppel«, erklärte Copasallior nüchtern. »Oben sucht man nach uns. Wir müssen bis zum Tagesanbruch hier bleiben, wenn wir eine Chance haben wollen. Da, trink das. Es ist nicht gerade Sternblumennektar, aber es wird dir guttun.« Koratzo spürte den Becher an seinen Lip pen und schluckte gehorsam. Hinterher schüttelte er sich. »Das schmeckt ja grauenhaft«, murmelte er. »Kein Wunder. Es stammt aus einer ge borstenen Leitung. Warum hast du Narr dich eigentlich so verausgabt? Ich hätte es auch ohne deine Kräfte geschafft.« Koratzo verzog das Gesicht, was Copasal lior in dieser Finsternis allerdings nicht se hen konnte. »Ich habe Hunger«, sagte er gelassen. »Springe doch bitte mal schnell in die GOL'DHOR und hole etwas von unseren Vorräten.« Copasallior starrte betroffen auf jenen Fleck in der Finsternis, an dem er Koratzos Gesicht wußte. »Du wirst den Hunger ertragen müssen«, sagte er schließlich widerstrebend. Koratzo schwieg. Er hatte keine andere Antwort erwartet. Er hatte seine Kräfte auf Copasallior übertragen, weil er ahnte, daß der Weltenmagier nur dann eine Chance hat te, aus der Kuppel zu entkommen. Viel frü her als Copasallior hatte er nämlich die Un sichtbaren entdeckt. »Hast du dein Schwert noch?« fragte er. »Ja. Warum?« »Du könntest es ein bißchen glühen las sen«, schlug Koratzo vor. »Mir ist es hier entschieden zu finster.« Copasallior schalt sich einen Narren, daß er nicht selbst darauf gekommen war. Wenig später erhellte schwaches Dämmerlicht den Winkel in dem großen Raum, in dem die Magier saßen. Koratzo blickte sich aufmerk
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sam um und nickte zufrieden. Die Wände hier unten bestanden aus Kunststein und wa ren für seine Sinne unangreifbar. Aber es gab zahllose Risse und Spalten, an denen Feuchtigkeit eingedrungen war. Dort wu cherten winzige Kristalle. Er brachte sie mit einem Wort aus der magischen Ursprache zum Leuchten. Im Gegensatz zu dem Metall des Schwertes brauchten diese Kristalle kei nen ständigen Nachschub an Energie. Sie würden ein paar Tage lang schwaches Licht verströmen. »Warten wir also bis morgen«, seufzte Copasallior, ohne ein Wort über die nun we sentlich bessere Beleuchtung zu verlieren. Schweigend legten sie sich auf den harten Boden. Sie schliefen sofort ein. Sie waren völlig sicher, daß sie rechtzeitig aufwachen würden, wenn jemand oder etwas sich ihnen näherte oder draußen die Sonne aufging.
8. »Für eine kurze Strecke reicht es wieder«, sagte Copasallior am nächsten Morgen. »Komm!« Er nahm Koratzo bei der Hand, und fast ohne Zeitverlust gelangten sie in jenen Raum, in dem Copasallior die Treppe ent deckt hatte. Der Platz war wieder leer und leblos. Schwaches Licht sickerte durch die Fenster. Sie verließen das Gebäude und gingen bis zur Mündung jener Gasse, anderen Ende die Kuppel lag. »Sisil ist weg«, sagte Copasallior plötz lich. »Die Unsichtbaren werden ihn mitgenom men haben.« »Das kann ich mir nicht vorstellen.« »Oder seine Freunde haben ihn geholt.« »Die nicht. Sie sind geflohen, als wären die Horden der Nacht hinter ihnen her!« »Dann hast du ihn nur leicht verletzt, und er ging davon, sobald er zu sich kam.« »Ich war sicher, daß er tot ist«, murmelte Copasallior nachdenklich. »Ich wollte ihn gar nicht so schwer treffen, und er erhielt
nur einen Stich in die Schulter. Aber er brach zusammen, als hätte der Blitz ihn ge troffen.« »Wir sollten sehen, daß wir weiterkom men«, schlug Koratzo vor, um Copasallior von der Frage, was mit dem Carthiller ge schehen sein mochte, abzulenken. Der Stim menmagier hatte eine sehr konkrete Ahnung, was Sisils derzeitiges Schicksal betraf, aber er wollte um keinen Preis darüber sprechen. »Wir brauchen dringend Proviant«, be merkte Copasallior, während sie durch die Straßen gingen. »Der Weg zur GOL'DHOR ist weit, und ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis ich uns auf bequemere Wei se dorthin bringen kann.« »Wir werden eines der Häuser untersu chen«, murmelte Koratzo. »Es haben einmal Wesen darin gelebt, ehe man die Speicher darin unterbrachte. Vielleicht finden wir ein paar vergessene Vorräte.« »Daran glaubst du doch selbst nicht«, pro testierte Copasallior ärgerlich. »Was ist mit den Gebieten der ›Leeren‹? Auch sie müssen essen. Und von ihnen wissen wir wenigstens ungefähr, wo sie sich aufhalten.« »Vergiß es, Weltenmagier!« sagte Korat zo ausdruckslos. »Warum?« »Es wäre zu gefährlich.« Copasallior bog schweigend in eine Sei tenstraße ein. Mit dem Wagen waren sie hier vorbeigefahren. Es war eine jener Stellen, an denen Koratzo die »Stimmen ohne Gedan ken« bemerkt hatte. »Komm zurück!« rief Koratzo entsetzt. Copasallior blieb stehen. »Warum, Koratzo?« Der Stimmenmagier war immer noch er schöpft, und sein Schädel schmerzte. Er fühlte sich völlig außerstande, Diskussionen mit dem Sechsarmigen zu führen. »Weil sie uns auffressen werden, wie sie es mit den Carthillern schon seit langen Zei ten tun!« schrie er wütend. Copasallior drehte sich überrascht um. »Seit wann weißt du es?« fragte er. Koratzo wischte sich den Schweiß von
Archiv des Schreckens der Stirn. Wenn nur diese Kopfschmerzen nicht gewesen wären! »Seit gestern abend. Ein Carthiller machte so eine Bemerkung. Dann flohen Sisil und seine Leute vor den ›Leeren‹, die aus der Kuppel kamen. Und schließlich war Sisil verschwunden.« Copasallior kehrte schweigend um. Aber es war zu spät. Plötzlich waren die »Leeren« da. Sie tra ten aus den schmalen Lücken zwischen den Häusern hervor und versperrten den Magi ern den Weg. Die meisten hielten Metall stücke in den Händen, improvisierte Waffen, die primitiv wirkten. »Die Sperren!« flüsterte Copasallior, aber Koratzo schüttelte nur den Kopf. »Dazu ist es zu spät«, murmelte er, wäh rend die »Leeren« näherkamen. »Und wir haben jetzt nicht genug Kraft dazu.« »Kannst du sie wenigstens verstehen? Was wollen sie?« »Woher soll ich das wissen? Sie denken nicht, und was sie da reden, bleibt ohne jeden Sinn.« Die »Leeren« plapperten wirres Zeug und drängten sich um die Magier. Dann setzten sie sich in Bewegung. Wenn die beiden Männer aus der Großen Barriere nicht ein fach zu Boden getrampelt werden wollten, so blieb ihnen nichts anderes übrig, als mit den Fremden zu gehen. Nach kurzer Zeit gelangten sie auf eine etwas größere Kreuzung. Hier wimmelte es von den absonderlichsten Gestalten. Sie hockten entlang der Wände und redeten vor sich hin. Andere liefen auf und ab, wie ge fangene Tiere im Käfig. In der Mitte der Kreuzung herrschte wildes Gedränge. Gera de als Koratzo und Copasallior hinübersa hen, stürzte ein vogelähnliches Wesen aus der Menge hervor. Es schleppte den Arm ei nes Carthillers mit sich. Ein Dutzend ande rer Wesen machten sich sofort an die Ver folgung. Copasallior schluckte trocken, und Korat zo sah hastig zu Boden. »Das wäre ein zu unrühmliches Ende für
43 zwei Magier wie uns!« murmelte Copasalli or und erwog die Möglichkeit, die beiden »Leeren«, die sich zwischen ihn und Korat zo gedrängt hatten, blitzschnell zur Seite zu stoßen und mit Koratzo den Schritt durch das Nichts zu tun. Weit würden sie zwar nicht kommen, aber wenigstens gelangten sie auf Distanz zu diesen Wesen, die offen bar alles fraßen, was ihnen zwischen die fremdartigen Finger geriet. »Magier?« wiederholte da plötzlich ein Geschöpf, das aussah wie ein Ball auf Stel zen. Copasallior schrak zusammen. Er hatte gar nicht mehr an den Übersetzer gedacht. Er musterte die fremde Kreatur. »Ja, wir sind Magier«, sagte er gedehnt. Der Ball auf Stelzen fuhr ein gutes Dut zend Stielaugen aus und betrachtete den Weltenmagier. »Magier schlecht«, entschied es, und Co pasallior zuckte unwillkürlich zusammen. Da fuhr die seltsame Kreatur fort: »Schlecht für Essen. Kommt!« Koratzo hatte jedes Wort gehört. Behut sam schob er die beiden »Leeren« zur Seite. Sie wehrten sich nicht, sondern machten ihm bereitwillig Platz. Das ballförmige Wesen setzte sich hüpfend in Bewegung. Die Magier waren erstaunt über das Ver halten der »Leeren.« Niemand traf Anstal ten, die Gefangenen zurückzuhalten. Im Ge genteil, man wich vor ihnen zurück und bil dete eine breite Gasse. Sie folgten dem hüp fenden Fremden und achteten darauf, daß sie nicht wieder voneinander getrennt wurden, denn sie trauten dem Frieden nicht. Jenseits der Kreuzung, zwischen Bergen von stin kenden Abfällen, blieb der Fremde stehen. »Ich Gophan«, erklärte er holperig. »Namen?« Sie stellten sich vor, und der »Ball« hüpf te aufgeregt auf der Stelle. »Kommt!« sagte er hastig. »Schnell!« Gophan legte ein beeindruckendes Tempo vor. Sie hasteten mit ihm durch die Straßen und fragten sich verzweifelt, wovor sie ei gentlich wegliefen, denn dies war ohne je
44 den Zweifel eine Flucht. Nach etwa zehn Minuten hielt Gophan abrupt an. »Das wäre geschafft«, sagte er mit völlig veränderter Stimme. »Es waren Kontrolleure unterwegs, wahrscheinlich wegen des Cart hillers, den wir gefunden haben.« »Du gehörst nicht zu den ›Leeren‹?« frag te Copasallior mißtrauisch. »Oh, doch«, versicherte Gophan. »Aber ich hatte in der letzten Zeit Glück. Ich konn te den Kontrolleuren entkommen und den Transportern entwischen. Ich bin schon wie der fast normal.« Das klang so rührend stolz, daß selbst Co pasallior einen Teil seines Mißtrauens ver gaß. »Seid ihr wirklich Magier?« fragte Go phan gespannt. »Ja«, antwortete Koratzo ruhig. »Aber wir werden dir und den anderen nicht helfen können. Man brachte uns gestern in die Kuppel. Wir konnten zwar fliehen, ehe diese Maschinen uns den Verstand zu nehmen vermochten, aber wir sind geschwächt.« »Ich habe keine Hilfe erwartet«, versi cherte Gophan ein wenig betrübt. »Das wäre wohl auch zu viel verlangt. Aber in meiner Heimat gab es Magier.« Copasallior sah den lebenden Ball ver wundert an. »Sie sahen fremd aus«, berichtete Gophan eifrig. »Und alle waren verschieden. Sie konnten Wunder vollbringen. Wasser wurde zu Wein, wenn sie es berührten.« Copasallior runzelte die Stirn, als er Ko ratzos Blicke auffing. Er haßte solche De monstrationen, und er fast es würdelos, ein Wesen wie Gophan auf so billige Weise be eindrucken zu wollen. Aber auch er sah ein, daß er solche Vorbehalte in der gegenwärti gen Situation besser vergaß. So zog er sei nen Becher hervor und wandte sich an Go phan. »Wein kann ich dir liefern«, sagte er mit leiser Ironie. »Aber zuvor brauche ich das Wasser, woraus er gemacht wird.« Gophan hüpfte so heftig auf und ab, daß seine Stielaugen wippten.
Marianne Sydow »Komm!« sagte er nur, und dann führte er Copasallior zu einem winzigen Brunnen, der in einer Nische verborgen lag. Copasallior füllte den Becher und strich mit der Hand darüber – es war wirklich die einfachste Sa che der Welt. Außerdem war es in den Au gen des Weltenmagiers die nutzloseste Ma gie, die es überhaupt gab, denn er trank nichts, was auch nur einen Tropfen Alkohol enthielt. Gophan nahm den Becher aufgeregt in Empfang. Zu diesem Zweck bildete er zwei kurze Arme im unteren Teil seines Körpers. Gleichzeitig entstand eine Öffnung in sei nem Körper. Gophan leerte den Becher mit atemberaubender Geschwindigkeit. »Oh«, murmelte er danach verzückt. »Das tut gut. Ja, ich glaube es. Ihr seid wirklich Magier.« »Was geht hier eigentlich vor?« fragte Copasallior ein wenig ungeduldig. »Hm«, machte Gophan – jedenfalls war das der Laut, den der Übersetzer von sich gab. »Genau weiß ich es auch nicht. Wir sind im Archiv des Schreckens, soviel habe ich wieder einmal herausbekommen.« »Wieder einmal?« Gophan kicherte und richtete alle seine Stielaugen auf Copasallior. »Ich denke, ich war schon öfter soweit«, meinte er. »Ihr müßt wissen, daß wir Leeren alle ein sehr langes Leben haben. Wir sind irgendwann auf dieser Welt gelandet. Dann kamen die Carthiller und brachten uns in die Kuppel. Dort saugte etwas unseren Geist aus unseren Hirnen. Danach brachte man uns in die Reviere, und hier leben wir seither. Die Maschinen in der Kuppel sind schlau. Sie saugen uns nicht ganz und gar leer, sondern lassen einen winzigen Rest übrig, gerade ge nug, um uns am Leben zu erhalten.« Koratzo, der nicht nur die Übersetzung aus Copasalliors Gerät, sondern auch die Laute hörte und analysierte, die Gophan tat sächlich von sich gab, sah das Wesen voller Mitleid an. Er spürte, daß Gophan einst ein ungewöhnlich intelligenter Vertreter seiner Art gewesen war, ein Genie wahrscheinlich
Archiv des Schreckens sogar. Ein Rest seiner Intelligenz hatte sich erhalten. Es war nicht die Erinnerung, die Gophan dazu befähigte, die Situation einzu schätzen, sondern die Kapazität seines Ge hirns. »Wenn wir aus dieser Kuppel kommen«, fuhr Gophan fort, »dann wissen wir gar nichts. Wir sind unfähig, zu denken und zu planen. Maschinen nehmen uns draußen in Empfang und betreuen uns. In den ersten Tagen ist keiner von uns fähig, nach Nah rung zu suchen oder sie überhaupt zu erken nen. Die Roboter müssen uns füttern. Aber dann kommen die Erfahrungen, die man im Lauf der Tage macht. Wir sind immer noch fähig, zu lernen. Es dauert nur kurze Zeit, da beginnen wir die Maschinen zu hassen. Wir machen Fluchtversuche. Dann kommen die Carthiller. Sie bringen uns hierher. Die Ma schinen liefern auch weiterhin Nahrung, aber sie kümmern sich nicht mehr darum, ob jeder genug davon abbekommt. So sind wir gezwungen zu kämpfen. Wir sammeln Er fahrungen und entwickeln Gefühle. Wenn wir uns soweit eingelebt haben, daß uns die Verhältnisse bewußt werden, holt man uns wieder in die Kuppel, und alles beginnt von vorne. Ich hatte Glück. Ich habe mindestens eine dieser Phasen übersprungen.« Copasallior starrte den ballförmigen Fremden mit seinen unheimlichen Basaltau gen an, und plötzlich füllte er den Becher aufs neue und hielt ihn Gophan schweigend hin. »Ob es wohl nur diese eine Kuppel gibt?« fragte er Koratzo auf dem lautlosen Weg. »Nein«, kam die Antwort des Stimmen magiers auf dieselbe Weise. »Es müssen viele sein. Überall in der Stadt gibt es Grup pen von diesen bedauernswerten Kreatu ren.« »Können wir etwas dagegen tun?« »Ich fürchte, nein.« »Aber Gophan – was ist mit ihm? Wir könnten ihn mitnehmen.« »Auch das hat keinen Sinn, Copasallior. Er ist schon viel zu lange hier.« Er wandte sich an den Fremden und frag
45 te: »Von welchem Volk stammst du, Go phan?« »Das weiß ich schon seit langem nicht mehr«, bekannte Gophan betrübt. »Es ist al les verloren. Ich weiß nicht einmal mehr, was mich auf diese Welt führte. Vielleicht besaß ich einmal Macht und Einfluß. Das ist längst vorbei.« »Du hast es gehört«, teilte Koratzo dem Weltenmagier mit. »Er ist einsamer, als wir es uns jemals vorzustellen vermögen. Er hat alles verloren. Aber hier, in dieser grausa men Welt, ist er unter Wesen, die sein Schicksal teilen. Stell dir vor, was geschieht, wenn wir ihn nach Pthor mitnehmen. Gewiß, wenn du ihn auf deine Weise durch den Wölbmantel bringst, wird er alle seine Erin nerungen behalten – aber was für Erinnerun gen sind das? Wir dürfen ihn nicht mitneh men, Copasallior. Wir würden ihm seine letzte Chance nehmen.« »Hat er denn eine?« fragte der Weltenma gier bitter. »Ich glaube schon. Die Speicher in dieser Stadt enthalten nichts mehr, was mit Pthor in Verbindung steht. Die Daten sind verloren gegangen. Vielleicht haben die Herren der Schwarzen Galaxis selbst die Speicher ge leert und irgendwo ein neues Archiv ange legt. Oder es waren Plünderer am Werk. Wir werden es wohl niemals genau wissen. Eines aber steht fest: Das Archiv von Carthillum wehrt sich bis auf den heutigen Tag gegen das, was mit ihm geschah. Seine Aufgabe war es, Daten zu speichern. Da es keine In formationen über Pthor erhält, nimmt es wahllos alles in sich auf, was sich ihm bie tet.« Plötzlich erinnerte sich Koratzo an den Wölbmantel. Alle Wesen, die ihn von außen durchdrangen und nicht aus Pthor stammten, verloren das Gedächtnis. Gab es da nicht ei ne Parallele? Vor seinem geistigen Auge entstand das bedrückende Bild eines anderen Archivs, das in den Tiefen von Pthor existierte und die Erinnerungen all jener speicherte, die
46 durch den Wölbmantel gingen. Auch sie blieben ja am Leben und waren gezwungen, in einer fremden, grausamen Umgebung neue Erfahrungen zu sammeln. »Das Archiv hat sich Diener beschafft«, fuhr er nachdenklich fort. »Die Carthiller – und die Unsichtbaren. Alle anderen, die mehr oder weniger zufällig nach Carthillum kommen, fallen dem Sammeleifer dieses Gehirns zum Opfer. Da es nicht gerade oft Besuch gibt, sorgt das Gehirn dafür, daß sei ne Datenlieferanten am Leben bleiben. Sie werden gepflegt, bis sie sich selbst durch schlagen können. Und dann müssen sie neue Daten liefern.« Er sah sich nachdenklich um. »Niemand weiß, wie lange das schon so geht«, murmelte er. »Aber ich schätze, daß schon sehr viel Zeit vergangen ist. Die Ka pazität der Speicher ist nicht besonders hoch, und wir wissen aus eigener Erfahrung, daß alles aufgesaugt wird. Das Gehirn unter scheidet nicht zwischen wichtigen und weni ger wichtigen Informationen. Irgendwann müßten die Speicher doch gefüllt sein.« Copasallior lächelte spöttisch. »Es sind antimagische Speicher!« »Das ist mir klar. Trotzdem – es müßte inzwischen wenigstens der Punkt erreicht sein, an dem das Archiv einigermaßen ge zielt zuzugreifen vermag. Und das tut es eben nicht. Es speichert sowohl das Wissen als auch die Emotionen seiner Opfer. Weißt du, ich denke, daß etwas dafür sorgt, daß das Archiv von Carthillum im Defizit bleibt.« »Die Schwarze Galaxis?« »Möglich ist alles. Aber es gibt etwas, das wesentlich näher liegt, in jeder Beziehung.« »Maranyes«, nickte Copasallior nach denklich. »Der zweite Teil des Archivs.« Er hatte Gophans Becher inzwischen mehrmals gefüllt, und ihm fiel auf, daß der Fremde sich bereits ziemlich unsicher be wegte. Der Wein tat seine Wirkung. Copa sallior kam sich schäbig vor, als er den Be cher erneut füllte. »Wir werden eine Sperre um ihn legen«, sagte Koratzo leise. »Das schützt ihn zumin-
Marianne Sydow dest für einige Zeit vor den Kontrollen.« Gophan leerte den Becher auch diesmal auf einen Zug, aber er verschüttete die Hälf te von dem Wein dabei. Dem Inhalt des nächsten Bechers verlieh Copasallior eine schlaffördernde Komponente, und wenig später sank Gophan lautlos in sich zusam men. Die beiden Magier fanden einen Weg in das Innere der umliegenden Häuser. Sie brachten den kleinen Fremden in einem ge schützten Raum unter und errichteten eine magische Sperre um ihn, obwohl sie dafür Kräfte verbrauchten, die sie für andere Zwecke bitter nötig hatten. »Wir müssen nach Maranyes«, sagte Co pasallior, als sie wieder auf der schmutzigen Straße standen. »Nicht nur wegen der Lee ren und Gophan – wir haben Atlan verspro chen, daß wir ihm Daten mitbringen.« Koratzo sah den Weltenmagier nachdenk lich an. »Nein«, murmelte er schließlich. »Wir ha ben nur versprochen, alles zu tun, was in un serer Macht liegt. Wo es keine Daten gibt, können auch wir sie nicht herbeischaffen.« »Du glaubst wirklich, daß auf Maranyes nichts mehr zu holen ist?« »Zuallererst müssen wir in die GOL'DHOR zurückkehren«, wich Koratzo aus. Einen Augenblick später hörten sie ein Geräusch, das sie nur zu gut kannten. Ein Wagen der Carthiller näherte sich ih nen.
* »Da hinein«, zischte Copasallior und zog Koratzo mit sich in den schmalen Durch gang zwischen den beiden nächsten Häu sern. Er hätte einen Schritt durch das Nichts wagen können, aber es schien ihm besser, noch ein wenig damit zu warten. Den Cart hillern würden sie auch so entkommen. Wenn er aber den Sprung tat, sollte er auch beide Magier in die GOL'DHOR führen. Co pasallior schonte seine Kräfte. Er war sicher,
Archiv des Schreckens daß er sie noch brauchen würde. Sie liefen zwischen den Wänden dahin, bis sich rechts ein düsteres Gewölbe auftat. Die Magier schlüpften blitzschnell hinein und spähten dann nach draußen. Das Brummen des Wagens war schon ganz laut. Wenig später sahen sie das Fahr zeug, das langsam durch jene Straße fuhr, die sie gerade verlassen hatten. Sie sahen vor allem die Carthiller auf dem Wagen. Sie hatten sich klobige Helme überge stülpt, unter deren transparenter Oberseite die kugelförmigen Sinnesorgane leuchteten und schillerten. Dazu trugen sie Waffen, ge fährlich aussehende Dinger, deren Wirkung die Magier nicht unbedingt am eigenen Lei be hätten erproben mögen. Als sei es damit nicht genug, waren auf der gepanzerten Bordwand des Wagens kleine Geschütze montiert. »Sie haben Angst«, teilte Koratzo seinem Gefährten lautlos mit. »Das sieht man«, dachte Copasallior sar kastisch. »Kannst du auch herausbringen, ob sie nach uns suchen?« »Nein. Es ist eine der Kontrollen, von de nen Gophan sprach. Uns scheinen sie bereits vergessen zu haben.« »Sie denken sicher, daß die Leeren uns längst verspeist haben, oder daß wir in den anderen Teilen der Stadt herumirren.« »So ungefähr ist es«, bestätigte Koratzo. Der Wagen war vorübergefahren, und die Carthiller hatten zwar in den düsteren Gang hineingesehen, es aber nicht einmal für nötig erachtet, von ihrem Wagen herabzusteigen. »Da entlang geht es weiter«, sagte Copa sallior. Sie erreichten die nächste Straße. Von dem Wagen der Carthiller war dort nichts zu sehen und zu hören. Statt dessen wimmelte es von Leeren. Diese hier schienen noch üb ler dran zu sein als ihre Gefährten, die im merhin imstande gewesen waren, die beiden Magier einzufangen. »Müssen wir da hindurch?« flüsterte Ko ratzo entsetzt. Copasallior zuckte die Schultern.
47 »Ich könnte uns auf die andere Seite brin gen«, murmelte er. »Aber das kostet mich Kraft, und wenn wir der Versuchung einmal unterliegen, werden wir diesen Unannehm lichkeiten immer auf die bequeme Art aus weichen. Das heißt dann, daß wir Tage brau chen, um zur GOL'DHOR zurückzukom men.« Koratzo trat schaudernd auf die Straße hinaus. Er kam sich vor, als hätte er soeben den Fuß in die Hölle gesetzt. In der Geschichte derer von Oth gab es gewiß viele dunkle Punkte, aber selbst die negativsten unter den negativen Magiern hatten kein solches Grauen verursacht. Tausende von brabbelnden Wesen hielten sich in dieser Straße auf. Sie alle waren ein mal intelligent gewesen. Jetzt reichte es bei den meisten nicht einmal mehr dazu, sich selbst richtig wahrzunehmen. Die meisten hockten stumpfsinnig auf dem Boden, starr ten vor sich hin oder stopften sich alles in den Mund, was in der Reichweite ihrer Hän de zu finden war, selbst wenn es sich dabei um die Hand eines Nachbarn handelte. Fast alle wiesen Wunden auf, und es schien, als würde niemand dafür sorgen, daß diesen Wesen ein Mindestmaß an medizinischer Fürsorge zuteil wurde. Koratzo errichtete sofort starke Sperren um sich herum. Gegen das, was seine Augen auffingen, konnte er sich jedoch nicht schüt zen. Die beiden Magier hatten die Straße kaum betreten, da rafften sich einige der Leeren auf und torkelten auf diese Fremden zu, die sicher und aufrecht zu gehen verstanden. Andere krochen auf allen vieren heran und streckten Arme, Klauen oder Tentakel aus, um die ungewohnte Beute zu fassen. Die Magier hatten keine Mühe, den ungelenken Angriffen auszuweichen, denn die Leeren bewegten sich viel zu langsam und griffen zudem meist daneben. Aber der Anblick alleine reichte, um sie mit Grauen zu erfüllen. Sie hatten schon mancherlei Kämpfe bestanden, aber das hier war bei weitem schrecklicher als selbst die
48 Auseinandersetzungen mit den wilden Stäm men des Blutdschungels, fürchterlicher als die Begegnung mit den Horden der Nacht. Sie liefen schneller, hasteten zwischen den Leeren hindurch, wichen den Gliedma ßen aus, die aus der in Bewegung geratenen Masse heraus auf sie zukamen, sprangen über Körper hinweg, in denen das Leben schon fast erloschen war, und drängten sich endlich aufatmend in einen dieser Seiten gänge, der erstaunlicherweise leer und ver lassen war. Ihre Erleichterung wandelte sich in eisi ges Entsetzen, als unmittelbar vor ihnen breitschultrige Gestalten aus einem Tor quollen und brüllend ihre primitiven Waffen schwangen. Die Magier warfen sich zur Sei te, aber diese beweglicheren Leeren hatten ein ganz anderes Ziel. Im Vorbeilaufen warf einer von ihnen dem Stimmenmagier eine schwere Eisenstange zu, ein anderer drückte Copasallior das Bruchstück eines Treppen geländers in die Hand. Ehe die beiden Ma gier es sich versahen, wurden sie mit nach draußen gerissen, auf die Straße, deren Schrecken sie gerade erst hinter sich gelas sen hatten. Jetzt zeigte es sich, daß die armen Kreatu ren da draußen gute Gründe hatten, die en gen Gassen zu meiden – auch wenn man sich fragen mußte, wie sie zu solchem Be greifen überhaupt fähig waren. Die bewaffneten Leeren stürzten sich auf ihre der Gegenwehr kaum fähigen Artgenos sen und knüppelten sie nieder. Wo einer zu sammenbrach, war Eile geboten, damit die Beute rechtzeitig in die Gasse geschafft wur de, denn sonst verschwand sie binnen kürze ster Frist unter den Körpern plappernder Wesen, die sich in keiner Weise scheuten, die günstige Gelegenheit zur Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse zu nutzen. »Koratzo!« schrie Copasallior außer sich vor Zorn, Abscheu und Grauen. »Steh nicht herum. Bring diese Meute zur Vernunft!« Der Stimmenmagier versuchte es bereits, aber es dauerte viel zu lange, bis die Laute, mit denen er Hunderte von Wesen zugleich
Marianne Sydow zu lähmen vermochte, auf die Leeren wirk ten. Er vergeudete Zeit, indem er anfangs nur versuchte, die Raserei der Leeren zu dämpfen. Als endlich Ruhe eintrat, gab es bereits Dutzende von Toten. Die Straße glich in der Nähe des Seitenweges einem Schlachtfeld. Koratzo schüttelte verzweifelt den Kopf. »Wenn ich es doch nur früher begriffen hätte!« sagte er leise. Copasallior zog den Stimmenmagier ener gisch in die dunkle Gasse zurück. »Hör auf, dir Vorwürfe zu machen«, be fahl er grob. »Gut, ich habe auch die Beherr schung verloren. Aber es ist sinnlos, darüber nachzudenken. Und was du getan hast – wenn sie wieder zu sich kommen, machen sie da weiter, wo sie aufgehört haben.« »Wir sollten Gophan doch mitnehmen.« »Nein«, widersprach Copasallior ener gisch. »Das werden wir nicht tun. Vorhin war ich anderer Meinung, aber das ist vor bei. Du hattest vollkommen recht.« »Es gibt für diese Wesen keine Chance mehr!« antwortete Koratzo heftig. »Oh doch, die gibt es. Dann nämlich, wenn sich die Verhältnisse auf diesem ver dammten Kontinent ändern. Sie sind immer noch lernfähig, vergiß das nicht. Sie brau chen nur Zeit.« »Na und? Was willst du? Hingehen und das verdammte Ding in der Kuppel mit den bloßen Händen zerschlagen?« Copasallior sah den Stimmenmagier be trübt an. »Unsere Chancen stehen schlecht, wie?« fragte er. »Aber wir sind Magier, und als solche dürfen wir nicht aufgeben. Es ist nicht unsere Aufgabe, diesen Kreaturen zu helfen. Wir müssen uns um die Daten küm mern, die Atlan so dringend braucht. Hier, auf Carthillum, können wir nichts mehr aus richten. Gehen wir also nach Maranyes. Ich spüre, daß die beiden Planeten miteinander in enger Verbindung stehen. Vielleicht gibt es auf der Schwesterwelt etwas, das wir tun können. Und möglicherweise lösen wir da mit auch die Probleme von Carthillum.«
Archiv des Schreckens »Und wenn nicht?« »Dann berechnen wir mit Hilfe der GOL'DHOR, wieviel Zeit wir noch haben«, erwiderte Copasallior ruhig. »Wenn es reicht, kommen wir hierher zurück und ver suchen es noch einmal.« Koratzo schwieg lange Zeit. Dann nickte er nachdenklich. »Also gut«, murmelte er. »Ich denke, wir sollten uns jetzt wieder auf den Weg ma chen.« Aber das war leichter gesagt als getan, denn als sie sich der nächsten Straße näher ten, hörten sie schon wieder einen von die sen Wagen, mit denen die Carthiller die Ge biete der Leeren durchkämmten. »Diesmal sind sie hinter uns her«, flüster te Koratzo überrascht. »Ich denke, sie halten uns für tot?« »Das taten sie auch – bis ich dort hinten für Ruhe sorgte. Jetzt wissen sie, daß wir in der Nähe sind.« »Die Carthiller haben nicht die Spur einer magischen Begabung«, protestierte Copasal lior ärgerlich. »Sie können nichts gemerkt haben. Es sei denn, einer von ihnen hat uns beobachtet.« »Es war kein Carthiller in der Nähe. Co pasallior, ich weiß, es klingt verrückt – aber schließlich ist dieses Archiv für Pthor zu ständig, und wir Magier gehören zu dem Di mensionsfahrstuhl. Das Ding in der Kuppel hat die Möglichkeit, jede Entfaltung magi scher Energien aufzuspüren. Anders kann ich es mir nicht erklären, daß die Carthiller uns jetzt auf den Fersen sind.« Copasallior starrte den Stimmenmagier ausdruckslos an, dann zog er ihn mit sich, zurück in den finstersten Teil der Gasse. »Ich brauche nur ein bißchen Zeit«, mur melte er. »Eine Stunde, das reicht. So lange müssen wir uns verstecken.« Sie fanden eine Tür und gelangten in eine stockfinstere Halle, in der es nichts als diese häßlichen Speicher gab. Weiter hinten ent deckten sie eine Treppe. Von oben fiel mat tes Licht herein. Die beiden Magier stiegen hinauf und gelangten in eine Art Licht
49 schacht. Es gab eine Verbindung zur Straße. Von unten mochte die Öffnung wie ein Fen ster aussehen. Sie lagen dicht an der Kante und sahen die Carthiller, die die ganze Um gebung absuchten, mit den Waffen in der Hand die Leeren zusammentrieben und mu sterten, als hofften sie, in diesem armseligen Haufen die entflohenen Gefangenen zu ent decken. Die Carthiller waren unangenehm hart näckig. Nach geraumer Zeit nickte Koratzo dem Weltenmagier zu. »Es wird Zeit«, murmelte er. »Sie sind jetzt auf der Treppe.« »Wissen sie, wo wir sind?« »Nicht direkt. Sie werden das Gebäude durchkämmen.« »Dann bleibt uns noch etwas Zeit«, sagte Copasallior gelassen. Sie saßen schweigend da und warteten. Koratzo konzentrierte sich völlig auf die Carthiller. Er analysierte Geräusche und Stimmen, die so weit entfernt waren, daß Copasallior sie gar nicht wahrnahm. Als Koratzo dann plötzlich nach einer Hand des Weltenmagiers griff, wußte dieser sofort, was die Stunde geschlagen hatte. Aber jetzt war er darauf vorbereitet. Die Carthiller, die vom Lichthof her in den engen Schacht spähten, sahen für einige Sekunden die Umrisse der beiden Magier. Aber als sie die Waffen hoben, um die Ge fangenen endlich wieder in die Gewalt zu bekommen, lösten die beiden Gestalten sich wie ein Trugbild auf und blieben ver schwunden. Die Magier waren zu dem Zeitpunkt, als die Carthiller sich noch den Kopf über den ungewöhnlichen Vorfall zerbrachen, bereits auf dem Weg nach Maranyes. Die GOL'DHOR flog in sicherer Entfernung an der goldgelben Sonne des Systems vorbei, und Koratzo und Copasallior, die sich in der Sicherheit des goldenen Raumschiffs schnell erholten, sahen beklommen das Ziel ihrer Reise auftauchen. Sie hatten nichts über die Vergangenheit des Landes Pthor erfahren. Wie es um die
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Marianne Sydow
Zukunft bestellt war, mußte sich in wenigen Stunden zeigen. ENDE ENDE