ARISTOTELES CONTRA AUGUSTINUM
BOCHUMER STUDIEN ZUR PHILOSOPHIE Herausgegeben von Kurt Flasch - Ruedi Imbach Burkhard Mojsisch - Olaf Pluta
Band 21 UDO REINHOLD JECK Aristoteles contra Augustinum
B.R. GRUNER AMSTERDAM/PHILADELPHIA 1994
UDO REINHOLD JECK
Aristoteles contra Augustinum Zur Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele bei den antiken Aristoteleskommentatoren, im arabischen Aristotelismus und im 13. Jahrhundert
B.R. GRÜNER AMSTERDAM/PHILADELPHIA 1994
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Jeck, Udo Reinhold: Aristoteles contra Augustinum : zur Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele bei den antiken Aristoteleskommentatoren im arabischen Aristotelismus und im 13. Jahrhundert / Udo Reinhold Jeck. - Amsterdam ; Philadelphia : Grimer, 1993 (Bochumer Studien zur Philosophic ; Bd. 21) ISBN 90 6032 339 4 NE: GT
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Jeck, Udo Reinhold. Aristoteles contra Augustinum : zur Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele bei den antiken Aristoteleskommentatoren, im arabischen Aristotelismus und im 13. Jahrhundert / Udo Reinhold Jeck. p. cm. -- (Bochumer Studien zur Philosophie ; Bd. 21) Includes bibliographical references and indexes. 1. Aristotle-Contributions in doctrine of relation of the soul to time. 2. AristotleInfluence. 3. Aristotle-Study and teaching-History. 4. Soul-History of doctrines. 5. Time-History. 6. Philosophy, Ancient. 7. Philosophy, Arab. 8. Philosophy, Medieval. 9. Philosophy, Medieval-Islamic influences. I. Title. II. Series. B491.S6J43 1993 128'. 1--dc20 93-41209 ISBN 90 6032 339 4 CIP No part of this book may be translated or reproduced in any form, by print, photoprint, microfilm, or any other means, without written permission from the publisher. ©by B.R. Grüner, 1994 Printed in the The Netherlands B.R. Grüner is an imprint of John Benjamins Publishing Co. John Benjamins Publishing Co. • P.O. Box 75577 • 1070 AN Amsterdam • The Netherlands John Benjamins North America • 821 Bethlehem Pike • Philadelphia. PA 19118 USA
Meiner Groβmutter Anna Korte zum 90. Geburtstag (22, 1. 1992)
Inhalt
Vorwort.. Abkürzungsverzeichnis Einleitung
XI XIII XV
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5. 1.6. 1.7. 1.8.
Einführung Der Text der Aporie und ihr Status im Corpus Aristotelicum Boethos Alexander von Aphrodisias Themistios Simplikios Johannes Philoponos Die antiken Aristoteleskommentatoren zum noetischen Sein der Zeit im Kontext der griechischen Philosophie
3 6 14 17 26 37 60 71
Teil II - Der arabische Aristotelismus 2.1. 2.2. 2.3. 2.3.1. 2.3.2. 2.4. 2.4.1. 2.4.2.
Einfiihrung Avicenna Averroes Die arabisch-lateinische Übersetzung der <aristotelischen Zeitaporie> Der Kommentartext 131 aus dem Physikkommentar des Averroes Zur arabisch-jüdischen Überlieferung und Kritik an der Zeitphilosophie Galens Averroes als Erbe der spätantiken Galenrezeption Galen und die Zeitphilosophie des Moses Maimonides
99 103 114 114 125 152 152 171
Inhalt
Teil III - Das 13. Jahrhundert 3.1.
Allgemeine Einleitung und Übergang zum 13. Jahrhundert
3.2.
Die grundlegenden Dokumente: Die lateinischen Übersetzungen der <aristotelischen Zeitaporie> Der griechische Urtext Die altere lateinische Übersetzung (Translatio Vetus) Die jüngere lateinische Übersetzung (Translatio Nova/ Recensio Nova) Die arabisch-lateinische Übersetzung
3.2.1. 3.2.2. 3.2.3. 3.2.4. 3.3. 3.3.1. 3.3.2. 3.3.3. 3.3.4. 3.4. 3.4.1. 3.4.2. 3.4.3. 3.4.4. 3.5. 3.5.1. 3.5.2.
177
182 182 187 190 195
Die Vor- und Frühphase des Averroismus in der Zeitphilosophie des 13. Jahrhunderts Alexander von Hales Robert Grosseteste Roger Bacon Albertus Magnus I
200 202 206 212 219
Die zweite Phase der Aneignung der Zeitphilosophie des Averroes Albertus Magnus II Thomas von Aquino Bonaventura Robert Kilwardby
233 235 267 274 280
I
287 289
3.5.3. 3.5.4. 3.5.5.
Neue Argumente im Streit urn Averroes Ulrich von Straβburg Radikale Averroisten: Aegidius Romanus I und Siger von Brabant. Thomas von Aquino II Aegidius Romanus II Anonymus
3.6. 3.6.1. 3.6.2.
Die zeittheoretische Krise um 1277 Die Pariser These zum Sein der Zeit vom 7. März 1277 Heinrich von Gent
327 329 339
VIII
296 303 314 323
Inhalt
3.6.2.1. 3.6.2.2. 3.6.2.3. 3.6.2.4.
339 342 344
3.6.3.
Einführung Das Grundproblem: Die <aristotelische Zeitaporie> Sechs Aristoteleszitate zum seelischen Sein der Zeit Heinrichs Kurzfassung des elften Buches der Confessiones Vorbereitende Analysen zum Verhältnis von Zeit und Bewegung Die Zeit als Kontinuum, Diskretum und Diskretum im Kontinuum Abschlieβende Bemerkungen zur Zeittheorie des Heinrich von Gent Petrus Johannis Olivi
3.7. 3.7.1. 3.7.2.
Der zeittheoretische Averroismus nach 1277 Dietrich von Freiberg Meister Eckhart
427 429 445
I. Die aristotelische Zeitaporie nach der griechischen Handschrift J II. Henricus a Gandavo: Quodlibet III, Quaestio XI - Utrum tempus possit esse sine anima
453
3.6.2.5. 3.6.2.6. 3.6.2.7.
354 368 376 396 399
Anhang
459
Literaturverzeichnis Quellen I: Handschriften Quellen II: Drucke Sekundärliteratur
479 481 489
Indices Index Index Index Index Index
der Personen der Sachen griechischer Wörter lateinischer Wörter arabischer Wörter
503 509 515 517 521
IX
Österreichische Nationalbibliothek, Cod. phil. gr. 100, f. 27r
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde 1992 von der Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen. Zuerst danke ich Herrn Prof. Dr. Kurt Flasch. Er hat meine philosophische Ausbildung nicht erst seit der Arbeit an der Dissertation übernommen. Vielmehr ermutigte er mich nach schon abgeschlossener Berufsausbildung zu einem völligen Neubeginn. Der Erwerb der Hochschulreife und das Studium der Phi losophie wären mir ohne seine langjährige Unterstützung nicht möglich gewesen. Die Erforschung der Zeitphilosophie Augustins unter seiner Leitung war daher kein plötzlicher Entschluβ, sondern das Ergebnis eines kontinuierlichen Lernprozesses, der mir viel Freude bereitet hat. Herrn Prof. Dr. Burkhard Mojsisch bin ich für die Übernahme des Korreferates ebenfalls zu Dank verpflichtet. Darüber hinaus stellte er mir seine Transkriptionen zur Zeitphilosophie Ulrichs von Straβburg zur Verfügung, veranlaβte die Ausdehnung der Arbeit auf die antiken Aristoteleskommentatoren und unterstützte mich stets bereitwillig mit wichtigen Hinweisen. Seine Akribie in der philosophischen Forschung wurde mir dabei zum Vorbild. Herrn Dr. Olaf Pluta danke ich für seine geduldige und intensive Beratung bei der Herstellung des Manuskriptes. Meine Kenntnisse in der lateinischen Paläographie sind das Ergebnis seiner Schulung. Herr Prof. Dr. Ludwig Hödl stellte mir Texte zur Philosophie des P. J. Olivi zur Verfügung. Mit Herrn Prof. Dr. Gerhard Endress und Herrn Priv.-Doz. Dr. Wilfried Kühn konnte ich die arabischen Texte dieser Untersuchung besprechen. Zuletzt sei allen Bibliotheken, die mir Mikrofilme und Photographien ihrer Handschriften überlieBen, gedankt, besonders aber Frau Dipl. Bibl. Annette Ni colas von der Stadtbibliothek Hagen für ihre langjährige Unterstützung bei der Literaturbeschaffung. Bochum, den 14. November 1992
Udo Reinhold Jeck
Abkürzungsverzeichnis a a. a. corr. add. arg. art. b Bibl. Nat. c. CCL CCM cod. comm. concl. CPTMA corr. ex d. del. ed. Ed. Colon. f. ff. fasc. fol. frag. HistASt in marg. in praep. inq. 1. lat lect. m. n. om.
1. Kolumne articulus ante correctionem addidit argumentum articulus 2. Kolumne Bibliotheque nationale capitulum Corpus Christianorum Series Latina Corpus Christianorum Continuado Mediaevalis codex commentum conclusio Coipus Philosophorum Teutonicorum Medii Aevi correxit ex distinctio delevit edidit Editio Coloniensis folium folia fasciculus folio fragmentum Historisches Archiv der Stadt (Köln) in margine in praeparatio inquisitio liber latinus, latina, latinum lectio membrum numerus omisit
Abkürzungen p. prop. q. SBPK StiB sq. sub lin. sup. lin. sol. TAL TMat TN TV TVat text. t. comm. tr. V V.
pars propositio quaestio recto Staatsbibliothek Preuβischer Kulturbesitz Stiftsbibliothek sequitur sub linea supra lineam solutio Translatio Arabico-Latina Translatio Matritensis Translatio Nova Translatio Vetus Translatio Vaticana textus textus commentum tractatus verso versus
XIV
Einleitung Albert der GroBe, der wirkungsmächtigste Aristoteliker des 13. Jahrhunderts, verstand sich in seinen Aristoteleskommentaren als Peripatetiker. Sorgfältig sammelte er aus den ihm zugänglichen Schriften Dokumente der peripatetischen Schule. Dabei verglich er die unterschiedlichen Quellen miteinander. Auf diese Weise bildete er sich eine begründete Meinung von den Thesen seiner Vorgänger. Alberts Möglichkeiten waren begrenzt. Seine Arbeitsweise zeigt jedoch, daB der Traditionsfaden nicht abgerissen war. Albert verfügte aber nicht nur über Nachrichten und Informationen aus den Texten der antiken Aristoteleskommentatoren, sondern war auch auf kaum eingrenzbare Weise von der Philosophie der Araber abhängig. Die gegenwärtige Forschung zur Philosophie des 13. Jahrhunderts muβ daher die Entwicklungslinien rekonstruieren, die von der Spätantike über die arabische Philosophie zur Frühphase der lateinischen Aristoteleskommentierung fuhren. Die Arbeiten der antiken Aristoteleskommentatoren, die Texte der arabischen Philosophen und die lateinischen Aristoteleskommentare sind keine in sich abgeschlossenen Problemkreise, sondern eher drei eng miteinander vernetzte Systeme. Was für den Aristotelismus in seiner Gesamtheit gilt, bezieht sich auch auf seine speziellen Inhalte wie etwa die Philosophie der Zeit. Die hier vorgelegte Untersuchung zum Verhältnis von Zeit und Seele beschränkt sich daher nicht auf einen bestimmten Kulturkreis. Sie deutet vielmehr die überlieferten Untersuchungen zum Verhältnis von Zeit und Seele als die Verknüpfung antiker Problemlösungen mit den Entwürfen der arabischen Philosophen und der Den ker des lateinischen Westens. Der Leitfaden der Untersuchung ist dabei ein Textabschnitt aus dem Zeittraktat des Aristoteles, die sog. aristotelische Zeitaporie>. Der erste Abschnitt der Untersuchung zeigt, wie die antiken Physikkommentatoren von Boethos bis Simplikios diesen aporetischen Text erklärten. Im Zentrum steht dabei die Auslegung des Alexander von Aphrodisias. Den
der Spätantike nahmen zunächst die Araber auf bzw. wiesen ihn in kritischer Distanzierung zuriick. Ein zweiter Abschnitt stellt daher die Analysen der arabischen Zeitphilosophie vor. Während Avicenna das seelische Sein der Zeit bekämpft, steht Averroes mehr in der Tradition der Spätantike. Er nimmt mit bestimmten Modifi kationen die Konzepte des Alexandrismus in der Zeitphilosophie auf. Vermittelt
durch lateinische Übersetzungen, beeinflussen Avicenna und Averroes die Zeitphilosophie des 13. Jahrhunderts. Im 13. Jahrhundert zeigt sich der Einfluβ der Spätantike auf die Zeitphilosophie als Averroismus. Die Geschichte des allmählichen Vordringens der Konzeption des Averroes in die Auslegung der Zeitaporie im 13. Jahrhundert expliziert daher ein drifter Teil. Die Diskussionen zur Zeitaporie im 13. Jahrhundert zeigen, daB gerade dieser Text des Aristoteles immer wieder zum Vergleich mit entsprechenden ÄuBerungen des Augustinus herausgefordert hat. Das Spektrum der Stellungnahmen reicht dabei von radikaler Ablehnung bis zu uneingeschränkter Zustimmung. Erst die Philosophen dieser Zeit konnien die These des Aristoteles zum Verhältnis von Zeit und Seele mit der eigentümlichen Konzeption des Augusti nus vergleichen. Sie haben das elfte Buch der Confessiones für das 13. Jahr hundert neu entdeckt.
XVI
Erster Teil Die antiken Aristoteleskommentatoren
1.1. Einführung Im Zeittraktat des Aristoteles gibt es einen berühmten Abschnitt, der in der Se kundärliteratur als <aristotelische Zeitaporie> bekannt ist. Er erstreckt sich über mehrere Sätze. Im Kern beschäftigt er sich mit dem Verhältnis von Zeit und Seele (Phys. IV 14, 223 a 21-29). Der aporetische Charakter dieses Textes hat bewirkt, daß es bis jetzt noch keine, nach allen Seiten befriedigende Auflösung gibt.1 Der Ausdruck <Aporie> ist daher berechtigt.2 In der Antike bestand ein großes Interesse an den Aponen im Werk des Ari stoteles. Daher erregte der Textabschnitt, der heute den Titel <aristotelische Zeitaporie> trägt, die Aufmerksamkeit der Aristoteliker. Vermutlich hat schon Alexander von Aphrodisias die Bezeichnung <Aporie> dafür gebraucht, obwohl sich erst bei Simplikios die entsprechende Bezeichnung nachweisen läßt.3 Die Entstehungszeit der erhaltenen antiken Physikkommentare sowie der Fragmente von Physikkommentaren, die sich auf die Zeitaporie beziehen, er1 Die bisher umfangreichste Zusammenfassung der Forschungen zur <aristotelischen Zeitaporie> hat F. Volpi vorgelegt. Vgl. dazu: F. Volpi, Chronos und Psyche. Die aristotelische Aporie von Physik IV, 14, 223 a 16-29, in: E. Rudolph (Hrsg.), Zeit, Bewegung, Handlung. Studien zur Zeitabhandlung des Aristoteles (Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemein schaft 42), Stuttgart 1988, 26-62. Allerdings beschränkt sich F. Volpi bei den mittelalterlichen Physikkommentaren auf den Text des Thomas von Aquino. Die Tradition der arabischen Aristo telesauslegung sowie die Physikkommentare der Renaissance berücksichtigt er nicht. 2 Diese Bezeichnung geht auf Aristoteles selbst zurück, denn der erste Satz der Aporie enthält die Formulierung (ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 22). Schon sehr früh, in der Zeit unmittelbar nach der Veröffentlichung des nachgelassenen Corpus Aristotelicum, war es bei den Peripatetikem üblich, bestimmte problematische Abschnitte aus den Schrif ten des Aristoteles aufzugreifen, zu erläutern und ihre Argumentationsstruktur auf aporetische Annahmen zurückzuführen. Hier ließ sich das Pro und Contra vorführen. Zugleich erreichte die Kunst der Ausleger, bestimmte schwierige Stellen aufzulösen, ein hohes Niveau. P. Moraux hat die Spuren dieses gleichsam literarischen Kunstgriffes in den überlieferten Texten gesammelt. Neben Alexander von Aphrodisias verweist er besonders auf Sosigenes, der als einer der Lehrer des Alexander gilt. Vgl. P. Moraux, Der Aristotelismus bei den Griechen von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias, Bd. 2: Der Aristotelismus im I. und IL Jh. n. Chr. (Peripatoi 6), Berlin/New York 1984, 336, Anm. 6: «Wenn man sich daran erinnert, wie beliebt die Form der zur Behandlung philosophisch-exegetischer Probleme bei Alexander war, wird man es für sehr wahrscheinlich halten, daß auch der Lehrer Alexanders (sc. Sosigenes) mit dieser Methode arbeitete.» 3 Vgl. SIMPLICIUS, Phys. 759, 29: Selbst in dieser kurzen Zeile findet sich also eine Anspielung auf die von Alexander von Aphrodisias gepflegte Gattung der
3
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren streckt sich über einen Zeitraum von einem halben Jahrtausend.4 Die Frühge schichte der Auslegung der Zeitaporie liegt im dunkeln. Erste Spuren einer Auseinandersetzung zeigen die Fragmente des Boethos und des Alexander von Aphrodisias. Alexander hat die für die Spätantike maßgebliche Kommentierung dieses Textes vorgelegt.5 Eine Rekonstruktion aus fragmentarischen Texten entfällt bei den entspre chenden Kommentaren des Themistios, Philoponos und Simplikios. Sie sind vollständig überliefert. Ihre jeweilige Auslegung der Zeitaporie dient daher als Basis des ersten Teils dieser Untersuchung. Die spätantiken Aristoteliker erar beiten hier die Grundlagen für die Auslegung der Zeitaporie im arabischen Sprachraum. Averroes vermittelt die entsprechenden Diskurse dann den Philo sophen des 13. Jahrhunderts.6 4
Manche Kommentare und Texte zur aristotelischen Physik sind wohl für immer verloren. Schwere Defekte haben auf diese Weise das Bild entstellt, das sich aus den Diskussionen der Zeitaporie in der Antike rekonstruieren läßt. Die Reste des Physikkommentars des Alexander von Aphrodisias zeigen die Größe des Verlustes an, der auch durch die Auswertung indirekter Quellen nicht zu beheben ist. Von den frühen Untersuchungen des Boethos zur aristotelischen Zeitphilosophie blieb ebenfalls kaum etwas erhalten, obwohl Boethos als ein von Alexander hochgeachteter Kommentator zu bezeichnen ist, der gleichsam Pionierarbeit auf dem Gebiet der Kommentierung der aristotelischen Physik geleistet hat. Die Vorgeschichte der Auslegung Alex anders zur Zeitaporie liegt im dunkeln. Die Nachwirkungen seiner Exegese sind dagegen deut lich spürbar. 5 Die Rekonstruktion der Positionen des Themistios, Philoponos und Simplikios erfordert keine besonderen Maßnahmen. Bei Alexander von Aphrodisias dagegen ist die Situation anders. Hier ergibt erst die Sammlung unterschiedlicher Texte aus weitverstreuten Materialien einen klaren Befund. Allein diese sekundären Quellen gleichen den Verlust seines verschollenen Physikkommentars aus. 6 Alexanders Kommentar scheint die Hauptquelle des Averroes bei der Auslegung der aristoteli schen Physik gewesen zu sein. Aber Averroes hat auch Themistios studiert. Der Physikkommentar des Averroes ist auf diese Weise ein Spiegel der antiken Kommentare. Daher ermöglicht erst eine Untersuchung der Auslegungen der antiken Kommentatoren zur <aristotelischen Zeitaporie> das Verständnis der Ausführungen des Averroes. Indem Averroes bestimmte Ausle gungsmuster der Antike direkt oder indirekt aus diesen Quellen übernahm, wirkte er selbst wie ein Transformator der entsprechenden Leistungen der antiken Kommentatoren in den philoso phischen Diskurs des 13. Jahrhunderts im lateinischen Westen. Eine Auseinandersetzung mit Averroes war auf diese Weise auch immer eine Auseinandersetzung mit bestimmten antiken Theoremen. Die Behauptung ist nicht übertrieben, daß erst Averroes die Aristoteliker des 13. Jahrhunderts auf das Niveau erhoben hat, das die Kommentatoren der Spätantike längst erreicht hatten. Die Philosophen des 13. Jahrhunderts, die den Zeittraktat des Aristoteles kommentierten, wußten sehr wenig über die Meinungen der antiken Peripatetiker zu diesem Text. Averroes hat ihnen durch seine Auslegung der Zeitaporie das grundlegende Auslegungsschema dieser Text stelle, das in der Spätantike erarbeitet worden war, in aller Kürze mitgeteilt. Aber indem er aus 4
1.1. Einführung Eine Untersuchung, die die Entwicklungslinie der Auslegungen zur Zeitaporie von der Spätantike über den arabischen Aristotelismus bis zum 13. Jahrhun dert rekonstruiert, ist deshalb sinnvoll. Als Basis der Untersuchung erscheint es zunächst notwendig, die überlieferten Texte der antiken Aristoteleskommenta toren zur <aristotelischen Zeitaporie> einer intensiven Analyse zu unterziehen. Diese Untersuchung ist dabei immer auf Averroes und das 13. Jahrhundert aus gerichtet. Bei der Erforschung der antiken Kommentare muß der Ausgangs punkt der Entwicklungslinie erkennbar sein, die in ihrem weiteren Verlauf zu der Auslegung des Averroes und den Deutungen der lateinischen des 13. Jahrhunderts führt. Nur auf diese Weise wird sichtbar, inwieweit die Diskussion der lateinischen Aristoteliker zur Zeitaporie zwar ein Reflex spätantiker Problemstellungen, aber auch eine eigenständige, ursprüngliche Leistung ist.7
der Fülle der Texte auswählte und bestimmte Kommentarergebnisse der Antike zurückdrängte, blieben wichtige Gesichtspunkte unberücksichtigt. Dennoch hat das Studium des Physikkommentars des Averroes die Philosophen des 13. Jahrhunderts mit den Schwierigkeiten der Zeit aporie bekannt gemacht. Auf diese Weise ist die antike Tradition der Auslegung dieser schwieri gen Aristotelesstelle nicht in der Spätantike abgebrochen, sondern lebte, vermittelt durch Aver roes, im 13. Jahrhundert wieder auf, obwohl keiner der antiken Physikkommentare damals zu gänglich war. Der Physikkommentar des Averroes hat stimulierend auf die Diskussionen der Zeitaporie durch die lateinischen Peripatetiker gewirkt. Innerhalb eines halben Jahrhunderts, von etwa 1230 bis 1300, entstand eine Fülle von kontroversen Deutungen, in der sich das aus der Spätantike übernommene Konzept des Averroes trotz Widerstände immer mehr durchsetzte. Wer die Originalität der Philosophen des 13. Jahrhunderts erkennen will, muß einen Vergleich zwi schen den Auslegungsstrategien der Antike, dem daraus konzipierten Extrakt des Averroes und den Kommentaren der lateinischen Peripatetiker durchführen. 7 Die antiken Physikkommentare waren den Philosophen des 13. Jahrhunderts unzugänglich. Es wäre jedoch möglich gewesen, hier einen Zugang zu erhalten. Die lateinische Übersetzung eines kurzen Abschnitts aus dem Physikkommentar des Simplikios ist nämlich im 13. Jahrhun dert im Umlauf gewesen. Vgl. M. Clagett, The quadratura per lunulas. A thirtheenth-century fragment of Simplicius' commentary on the Physics of Aristotle, in: J. H. Mundy/R. W. Emery/ B. N. Nelson (Hrsg.), Essays in Medieval Life and Thought. Presented in Honor of A. P. Evans, New York 1965, 99-108. 5
1.2. Der Text der Aporie und ihr Status im Corpus Aristotelicum Der Text der <aristotelischen Zeitaporie>1 bietet, wie ihn W. D. Ross konstitu iert hat, keine philologischen Besonderheiten wie etwa Textverderbnisse oder Überlieferungslücken. Auch verzeichnet W. D. Ross keine übermäßig hohe Variantendichte, die die Textkonstitution erschwert. Außerdem ist fast der ge samte Text durch die griechischen Kommentare abgesichert. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29 (Ed. W. D. ROSS)
1 2 3
Nach heutiger Zählung ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29. Vgl. Aristoteles, Physica, ed. W. D. Ross, Oxonii 1950, Variantenverzeichnis.
6
1.2. Der Text der Aporie und ihr Status im Corpus Aristotelicum
Im Hinblick auf die inhaltliche Struktur des Textes und aus Gründen der Übersichtlichkeit erscheint es sinnvoll, den Abschnitt in mehrere Teilstücke zu zerlegen. Diese gesonderten Einheiten sind teils einzelne Sätze, teils bestimmte Satzteile, die hier ein besonderes Gewicht erhalten sollen. Auf diese Weise die <aristotelische Zeitaporie> in sechs Hauptabschnitte (I-VI), wobei Satz IV in drei Glieder (IVa-c) zerlegt wird: ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29 (nach Sätzen und Satzabschnitten gegliedert)
7
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Weil die antiken Kommentatoren bei der Auslegung dieses Satzgefüges un terschiedliche Schwerpunkte gesetzt haben, ist es die Aufgabe dieser Untersu chung, aus diesen Differenzierungen eine bestimmte Entwicklungslinie zu re konstruieren. Vorher bedarf es jedoch einer grundlegenden Betrachtung zur inneren Struktur der Aporie. Der Text besitzt innerhalb des Corpus Aristotelicum eine gewisse Sonderstellung, die seine Einordnung und Kommentierung erschwert. Aristoteles untersucht in der Zeitaporie das Verhältnis von Zeit und Seele. Dieser Text ist auf gewisse Weise singular im Corpus Aristotelicum. Es gibt im Zeittraktat Passagen, die mit diesem Abschnitt verwandt sind,4 aber nirgendwo schiebt Aristoteles das Verhältnis von Zeit und Seele so in den Vordergrund. Auch in seinen anderen überlieferten Schriften finden sich keine vergleichbaren Passagen. Aber einige Texte zeigen doch eine verwandte Argumentationsstruk tur. Im vierten Buch der Metaphysik des Aristoteles ist ein bestimmter Textab schnitt überliefert, der eine Verwandtschaft mit der <aristotelischen Zeitaporie> erkennen läßt.5 Während Aristoteles in der Zeitaporie das Verhältnis der Seele zum Zählbaren erforscht, untersucht er im vierten Buch der Metaphysik das Verhältnis der sinnlichen Wahrnehmung zum sinnlich Wahrnehmbaren. Aristo teles geht es zunächst um eine Kritik der Thesen des Protagoras.6 Von der Zeit 4
Diese Bezüge erforschten die Aristoteliker des 13. Jahrhunderts. Vgl. 3.6.2.3., S. 344-353. Vgl. R. Sorabji, Time, Creation and the Continuum. Theories in antiquity and the early mid dle ages, London/Ithaca N.Y. 1983, 90/1: «Next in order probably comes our passage in the Physics, in which he reverses position and says that nothing would be countable, if there were no souls. Hence only the substratum ... of time would exist. In agreement with that, he argues in the Metaphysics (at least on one interpretation [Metaph. 4.5, 1020b30-1011a2]) that if there were no beings with soul, then perhaps... there would be no perceptibles ... , but there would still exist the substrata ... which give rise to perception.» 6 Ebenso wie Platon war auch Aristoteles gezwungen, sich der Auseinandersetzung mit den So phisten zu stellen. Der Streit um das Verhältnis der sinnlichen Wahrnehmung zum Wahrnehm5
8
1.2. Der Text der Aporie und ihr Status im Corpus Aristotelicum
spricht Aristoteles an dieser Stelle nicht. Er sagt auch nichts über die Natur der Zahl oder über die Beschaffenheit des Zählbaren. Aber indem er die sinnliche Wahrnehmung in ihrer Relation zum Wahrnehmbaren untersucht, nähert er sich seinen eigenen Überlegungen zur Zeitaporie. Insofern ist es sinnvoll, die Parallelstelle hier vorzustellen. Dabei fällt auch Licht auf die Struktur der Zeit aporie. Die Analogie dieses Textes zu Phys. IV 14, 223 a 21-29 fällt sofort auf. Schon die stilistischen Ähnlichkeiten, die z.T. bis in die einzelnen Formulierun gen gehen, wären einer näheren Analyse wert. Die inhaltlichen Parallelen sind für diese Untersuchung jedoch wertvoller. Auch sie sind leicht zu finden. (1) Aristoteles fragt zunächst nach dem Sein des Wahrnehmbaren, das mit dem Sein der beseelten Entitäten verbunden ist. Wären die beseelten Dinge nicht vorhanden, dann wäre die Wahrnehmung für sich nichts. Die Ähnlichkeit der Fragestellung zu Satz ІІ der Zeitaporie ist nicht zu übersehen. Während Aristoteles dort nach dem Verhältnis der zählenden Seele zum Zählbaren fragt, untersucht er hier die Relation zwischen dem Beseelten und dem Wahrnehmba ren. (2) Aristoteles begründet die relationale Verknüpfung des Wahrnehmbaren mit den beseelten Entitäten durch einen Hinweis auf das Sein der sinnlichen Wahrnehmung. Ohne die beseelten Seienden gäbe es keine sinnliche Wahrneh mung. (3) Nachdem Aristoteles die Abhängigkeit der Grundrelation vom Sein der beseelten Entitäten diskutiert hat, geht er zur Betrachtung des sinnlich Wahr nehmbaren als dem zweiten Glied der Relation über. Auch darin kann man eine Parallele zur <aristotelischen Zeitaporie> erkennen. Was Aristoteles dort als <ö є öv> bezeichnet, erscheint hier als úπєίμєvov, eine Analogie, die schon A. Torstrik 1857 aufgefallen ist.7 Aristoteles stellt zunächst fest, daß das sinn
baren war nicht neu, sondern hatte seine Wurzeln in der vorsokratischen Philosophie. Daher ist es nicht verwunderlich, daß Aristoteles der Destruktion der sophistischen Philosophie in der Metaphysik einen bedeutenden Stellenwert einräumt. Schon Platon kannte verschiedene Deutun gen dieses Verhältnisses. So spricht er im Theaitet von der relationalen Struktur der Wahrneh mung und des Wahrnehmbaren, die gleichsam wie ein Zwillingspaar miteinander verknüpft sind, so daß immer beide zugleich entstehen und vergehen. Vgl. PLATON, Theait. 156 b 1/2:
7
Vgl. A. Torstrik, " πє őv. Ein Beitrag zur Kenntniß des aristotelischen Sprachge brauchs, in: Rheinisches Museum für Philologie, N. F. 12 (1857) 167: « ' nennt und der Aristoteles es öfter, z. B. Met. 5. 1010 b 33, wo von der Relation des
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Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
lich Wahrnehmbare und die Sinneswahmehmung (durch die Aufhebung einer wahrnehmenden Seele) auf gewisse Weise stets folgenlos wegfallen können. Die Sinneswahrnehmung ist nämlich, so fügt Aristoteles erklärend hinzu, eine Af fektion der wahrnehmenden Entität. Dies leuchtet unmittelbar ein, denn ohne ihren seelischen Bezugspunkt ist jede Rede von einer Wahrnehmung sinnlos. Davon unberührt bleiben aber die Entitäten, auf die die sinnliche Wahrneh mung zielt Sie sind es, die als die Zielpunkte der Wahrneh mung die sinnliche Wahrnehmung selbst anregen. Es ist nicht zu übersehen, daß Aristoteles dieses Zugrundeliegende deutlich von dem ihm sinn lich Wahrnehmbaren unterscheidet. Und, was noch wichtiger ist, er gibt einen Hinweis, der das notwendige Vorhandensein des Zugrundeliegenden begründen soll. (4) Es bedarf eines außerseelischen Seienden, das Aristoteles nennt. Gäbe es das nicht, dann wäre die sinnliche Wahrnehmung reflexiv auf sich gerichtet, was nach Aristoteles nicht zulässig ist. Die Wahrnehmung kann sich nicht selbst Gegenstand sein. Sie braucht ein <Etwas>, das zugleich auch ein ist, nämlich einen äußeren Anstoß. Einen Anstoß gibt hier nur das, was früher vorhanden ist. Früher als alles andere aber sind die basalen Entitä ten, auf die die Wahrnehmung zielt. (5) Aristoteles belegt diese These mit einem Hinweis auf das Verhältnis des Bewegenden zum Bewegtwerdenden, wobei sofort einsichtig ist, daß das Bewe gende, d.h. das, das den Anstoß gibt, früher sein muß als das Bewegte, das den Anstoß empfängt oder ihn erleidet.8 Neben diesem Text aus der Metaphysik gibt es noch zwei weitere Paral lelstellen aus der Psychologie des Aristoteles, die hier Beachtung verdienen. Der erste Text bezieht sich ebenfalls auf die Struktur der sinnlichen Wahr nehmung.
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1.2. Der Text der Aporie und ihr Status im Corpus Aristotelicum
Der erste dieser Texte fällt sofort durch eine gewisse Ähnlichkeit zu den Formulierungen der Zeitaporie auf. Wie dort geht Aristoteles auch hier von ei ner Relation aus und untersucht die Modalitäten, die Sein und Nichtsein dieser Relation regeln. Aristoteles bezieht sich dabei erneut auf.die sinnliche Wahrnehmung, indem er das Verhältnis der zur Wahrnehmung fähigen Entität zum Wahrnehmbaren erforscht: (a) Wenn beide Relationsglieder in eine Einheit fallen, und zwar so, daß sie in ihrer Bezüglichkeit eines, aber durch ihr jeweiliges Sein verschieden sind, dann ist ihre Verfassung auf ein relationales Zugleich abgestimmt. Damit ist gemeint, daß die Relation durch das Zugleichsein ihrer Glieder aufgebaut und durch den Fortfall dieses Zugleichseins aufgehoben wird. (b) Nachdem Aristoteles die relationale Verfaßtheit zwischen dem zur sinnli chen Wahrnehmung Fähigen und dem Wahrnehmbaren bestimmt hat, verweist er zu ihrer Erläuterung auf das Verhältnis von Gehör und Ton. Im wirklichen Hören sind das Gehör und der Ton untrennbar miteinander verknüpft, d.h. die o.g. Relation befindet sich im Modus der Aktualität. (c) Diese enge Verknüpfung beschränkt Aristoteles allein auf den Modus der Aktualität. Hinsichtlich der Potentialität bestreitet er die Notwendigkeit dieses Zusammenhanges und bekräftigt seine Auffassung durch eine Kritik der älteren Naturphilosophie. Diese Philosophen meinten, daß es ohne das Sehen, eine be stimmte Modifikation der sinnlichen Wahrnehmung, weder ein Schwarzes noch ein Weißes gäbe. Nach Aristoteles ist diese Meinung teils richtig, teils falsch. Er betrachtet die sinnliche Wahrnehmung und das Wahrnehmbare auf doppelte Weise, denn er beachtet sowohl den Aspekt der Potentialität als auch den Modus der Aktualität. Das Beispiel des Sehens und der Farbe zeigt klar, was Aristote les hier sagen will: Unter dem Aspekt der Aktualität, d.h. im wirklichen Sehen, bilden Sehen und Farbe eine Einheit. Hier hatten die alten Naturphilosophen recht. Unter dem Modus der Potentialität - bei Abwesenheit des aktuellen opti schen Wahrnehmungsprozesses - bleibt jedoch allein die Farbe bestehen. Das übersahen die Vorgänger des Aristoteles.9
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Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
In bezug auf das Verhältnis des Sehens zur Farbe hat Aristoteles hier zu nächst nur die Rahmenbedingungen abgesteckt. Die Feinstruktur dieses Ver hältnisses enthüllt sich aber erst dann, wenn noch eine weitere Aussage aus sei ner Psychologie zur Sprache kommt. Aristoteles befaßt sich dort mit dem Verhältnis des Sehens zum Sichtbaren. Sichtbar ist die Farbe. Davon ist aber das zu unterscheiden, was nur durch den Logos faßbar ist, nämlich ein namenloses, für das Sichtbare basishaftes Seien des, das an sich Sichtbare. Dieses an sich Sichtbare, d.h. die nur durch den Lo gos vom Sichtbaren unterscheidbare Entität, besitzt jedoch in sich die Ursache des Sichtbarseins.10 Themistios bezeichnet es in seinem De anima-Kommentar als das Die Parallelstellen zur Zeitaporie zeigen in ihrer Gesamtheit, daß es im Corpus Aristotelicum mehrere in Form und Argumentations struktur mit der Apo rie verwandte Aristotelesstellen gibt. Sie sagen zwar nichts zum Verhältnis von Zeit und Seele, aber sie enthalten Hinweise, die zur Interpretation der Zeitapo rie zur Verfügung stehen. Die antiken Physikkommentatoren fanden hier also folgende Informationen und Richtlinien: a) Die Zeitaporie ist, wie vergleichbare Texte zeigen, durch re lationale Momente strukturiert. Es war also notwendig, die entsprechenden Bezüge aufzusuchen. b) Aristoteles hat diese relationalen Strukturen zusätzlich durch das -Gefüge beschrieben.
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1.2. Der Text der Aporie und ihr Status im Corpus Aristotelicum
) Wie in seinen Analysen zur Wahrnehmung arbeitete Aristote les augenscheinlich auch bei der Analyse des Verhältnisses von Zeit und Seele mit der Annahme eines Es war Struktur in der also notwendig, sowohl diese Zeitphilosophie zu etablieren als auch das Verhältnis von Zeit und Seele in seiner Beziehung zur Wahrnehmungstheorie des Aristoteles zu klären. Die antiken Aristoteleskommentatoren haben diese Aspekte aufgegriffen und umfassend diskutiert.
1.3. Boethos Themistios
Simplikios
Wer die Geschichte der Kommentierung der <aristotelischen Zeitaporie> in der Antike untersucht, muß zunächst die Kommentarreste und Fragmente stu dieren, die sich aus der Frühzeit der Aristoteleskommentierung erhalten haben. Erst dann ist es möglich, die antike Diskussion bis in das 1. Jh. v. Chr. zurückzuverfolgen. Das erste dieser älteren Bruchstücke ist ein Fragment des Boethos, das Themistios und Simplikios überliefert haben.3 Wie viele Aristoteleskommentatoren nach ihm ging auch Boethos bei der Widerlegung der Zeitaporie von zahlentheoretischen Überlegungen aus. Dies ergibt sich aus der Argumentationsstruktur des Aristoteles. Aristoteles be hauptet in der Zeitaporie, daß unmöglich etwas Zählbares exi stiert, wenn nicht ein Seiendes vorhanden ist, das zu irgendeinem (künftigen) Zeitpunkt zählt Wer diesen Satz des Aristoteles angreifen wollte, mußte versuchen, die Ver klammerung der zählenden Seele mit dem Zählbaren aufzubrechen. Boethos parallelisierte daher das Zählbare mit dem Wahrnehmbaren 1
THEMISTIUS, Phys. 160, 26-28. SIMPLICIOS, Phys. 759, 18-20. 3 Der Kontext dieses Satzes etwa bei Simplikios macht es wahrscheinlich, daß sowohl Themistios als auch Simplikios dabei nicht mehr die Originalquelle benutzten, sondern das Fragment aus dem Physikkommentar des Alexander von Aphrodisias übernommen haben. 2
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1.3. Boethos Wie das Zählbare sich zum Zählenden verhält, so verhält sich nach seiner Ansicht auch das sinnlich Wahrnehmbare zum Wahrnehmenden. Mehr als diese , so scheint es, ist aus dem Fragment nicht ersichtlich.5 Dennoch ist es möglich, etwas zur Genese dieser Aristoteleskritik zu sagen. Dies gelingt nicht allein durch eine präzise Analyse des überlieferten Bruch stückes. Auch der Kontext bedarf eines sorgfältigen Studiums. Erst dann treten die Motive zutage, die Boethos bewogen haben, das Beziehungsgefüge zwischen zählender Entität und dem Zählbaren durch einen kritischen Hin weis auf das Verhältnis des Wahrnehmenden zum Wahrnehmbaren zu erhellen. Es scheint nämlich, als habe Boethos seine Kritik an Aristoteles aus der Be schäftigung mit der Kategorienschrift des Aristoteles gewonnen.6
5
P. Moraux hat sich in seinem umfangreichen Werk über die antiken Aristoteleskommentatoren auch zur Zeitphilosophie des Boethos geäußert. Vgl. P. Moraux, Der Aristotelismus bei den Griechen von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias, Bd. 1: Die Renaissance des Aristote lismus im 1. Jh. v. Chr. (Peripatoi 5), Berlin/New York 1973, 170/1: «In den zwei übrigen Fragmenten ist von der Zeit die Rede. Das erste stammt wahrscheinlich auch aus dem Kommen tar Alexanders. Es enthält nämlich einen Einwand den laut Simplikios Alexander ausführlich begründete, um ihn dann zu widerlegen. Da Themistios den Gehalt der Lösung Alexanders, allerdings ohne Namensnennung, wiedergibt, liegt die Vermutung nahe, daß das Boethos-Zitat bei unseren beiden Zeugen auf Alexander zurückgeht. Boethos scheint mit seinem Einwand darauf hinzuweisen, daß die Zeit als "Zählbares" von einem Zählenden hier von der menschlichen Seele, ebenso unabhängig sein kann, wie etwa das Wahrnehmbare unabhängig von dem Wahrnehmungsakt existieren kann. Dieser Einwand ent spricht ziemlich genau der im Kategorienkommentar beobachteten Tendenz, die Zeit als objektiv existierend zu betrachten. Er scheint also nicht, wie es bei Alexander der Fall sein wird, als ein dialektisches Moment innerhalb eines -Komplexes gestanden zu haben, sondern spiegelt wohl die eigene Ansicht des Boethos wider.» 6 P. Moraux liefen daher in diesem Zusammenhang den richtigen Hinweis, indem er bei seiner Analyse der Reste des verlorenen Kommentars des Boethos zur Kategorienschrift des Aristote les auf die besondere Bedeutung der Kategorie der Relation bei Boethos verweist. Boethos hat sogar eine heute verlorene Schrift zur Relationskategorie verfaßt, die den Titel trug (vgl. P. Moraux, Der Aristotelismus bei den Griechen von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias, Bd. 1: Die Renaissance des Aristotelismus im 1. Jh. v. Chr. (Peripatoi 5), Berlin/New York 1973, 157). Es ist daher wahrscheinlich, daß Boethos die Kategorienschrift des Aristoteles, die zu seiner Zeit im Mittelpunkt des Interesses stand, mit großer Aufmerksamkeit studiert hat. Vgl. in diesem Zusammenhang: Th. A. Szlezák, Pseudo-Archytas über die Kategorien. Texte zur griechischen Aristoteles-Exegese (Peripatoi 4), Berlin/New York 1972, 15f. Wichtig ist auch: P. M. Huby, An excerpt from Boethos of Si don's commentary on the Categories?, in: Classical Quarterly 31 (1981) 398-409; H. B. Gottschalk, The earliest Aristotelian commentators, in: R. Sorabji (Hrsg.), Aristotle Transformed. The Ancient Commentators and Their Influence, London 1990, 55-81. 15
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
In der Kategorienschrift weist Aristoteles auf die relationale Verklammerung des Wissens und des Wißbaren hin. Zudem vergleicht er diese noetische Beziehung mit der Relation der sinnlichen Wahrnehmung und des Wahrnehmbaren Aristoteles hatte also das Wißbare als Gegenstand eines noetischen Aktes mit dem Wahrnehmbaren als dem Objekt eines Aktes sinnlicher Wahrnehmung verbunden. Daher war es möglich, auch das Zählbare als Gegenstand eines noetischen Aktes mit dem Wahrnehmbaren in eine bestimmte Beziehung zu setzen. Aber Boethos konnte in der Kategorienschrift des Aristoteles noch eine an dere Mitteilung finden. Nach einem bestimmten Hinweis des Aristoteles scheint das Wahrnehmbare früher als die sinnliche Wahrnehmung zu sein.8 Indem Boethos nun diese Aussage des Aristoteles zum Wahr nehmbaren ebenfalls auf das Zählbare übertrug, be hauptete er, daß das Zählbare früher als das Zählende sei, oder mit anderen Worten, das Zählbare schien unabhängig vom Zählenden zu sein. Nichts an deres sagt das Fragment des Boethos.9 Diese zahlentheoretischen Überlegungen entfalten aber erst dann ihre zeitphi losophische Brisanz, wenn man sie als Kritik an der Zeitaporie deutet. Dann be sagen sie, daß die Zeit als die zählbare in der Bewe gung eben nicht von der Seele abhängig ist. Zeit und Seele sind dann nicht mit einander verknüpft, sondern vielmehr getrennt. So haben die späteren Kom mentatoren jedenfalls die Kritik des Boethos an der Zeitaporie des Aristoteles aufgefaßt. Der erste, der ihr widersprochen hat, war Alexander von Aphrodisias.
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Vgl. ARISTOTELES, Cat. VII 6 b 33-36: ...
Vgl. ARISTOTELES, Cat. VII 7 b 36: Wenn diese Interpretation zutrifft, dann sind die Diskussionen zur <aristotelischen Zeitaporie> in der Antike von Anfang an bestimmt durch die Forschungen, die die frühen Aristotelesausleger des 1. Jh. v. Chr. zur Deutung der Relationskategorie unternommen haben. Das Argument des Boethos war verführerisch. Es hat aber bei den späteren antiken Kommentatoren keine Nachah mer gefunden, sondern ist vielmehr auf heftige Kritik gestoßen. Erst Thomas von Aquino hat in seinem Physikkommentar im Kampf gegen Averroes auf vergleichbare Weise die Zeitaporie kommentiert. Vgl. 3.5.3., S. 310. 9
1.4. Alexander von Aphrodisias Nach gegenwärtiger Quellenlage war Alexander von Aphrodisias der erste, der die Auslegung der <aristotelischen Zeitaporie> durch Boethos kritisierte. Seine Auseinandersetzung mit Boethos wurde für die antiken Kommentatoren gera dezu klassisch, so daß sich sowohl Themistios als auch Simplikios darauf bezo gen haben. Der Versuch einer Rekonstruktion der Position des Alexander von Aphrodi sias ist mit vielen Schwierigkeiten behaftet. Das größte Hindernis für die For schung ist der Verlust seines Physikkommentars. Weil aber Simplikios eine große Anzahl von Fragmenten und Thesen aus Alexanders Physikkommentar überliefert hat, ist es möglich, sich einen Eindruck von der Konzeption des Aphrodisiers zu verschaffen.1 Eine Verbindung dieser Bruchstücke mit anderen Quellen ermöglicht einen Einblick in Alexanders Auslegung der aristotelischen Zeitphilosophie. Zu die sen sekundären Texten gehört auch die Abhandlung De tempore.2 Zusammen gewähren sie eine detaillierte Aussage zu Alexanders Erforschung der <aristo telischen Zeitaporie>. Das sicherste Zeugnis zur Exegese der Zeitaporie des Aristoteles durch Alex ander von Aphrodisias bietet das durch Simplikios überlieferte Fragment. Hier handelt es sich weder um eine durch verschiedene Übersetzungsstufen entstellte 1
Da Alexanders Physikkommentar nicht nur die späteren Kommentatoren entscheidend beein flußt hat, sondern sicher auch viele Zitate aus anderen Quellen enthielt, die schon zur Zeit des Themistios und Simplikios auf andere Weise nicht mehr zugänglich waren, ist die Analyse an entscheidender Stelle behindert. Allerdings bieten die von Simplikios überlieferten Fragmente einen gewissen Ersatz. Die Einbettung dieser Fragmente in den Text des Simplikios gestattet au ßerdem einen Einblick in den Kontext der einzelnen Bruchstücke. Der Nachteil vieler Fragment sammlungen, die die Texte aus ihrem Zusammenhang reißen und unhistorisch isolieren, entfällt daher. 2 Zum arabischen Text des verlorenen griechischen Originals vgl.: A. Badawi, Commentaires sur Aristote perdus en grec et autres épîtres (Recherches publiées sous la direction de l'Institut de Lettres Orientales de Beyrouth, nouvelle série, A. Langue arabe et pensée islamique I), Bey routh 1971, 19-24. Eine davon angefertigte lateinische Übersetzung ist bekannt. Vgl. dazu: G. Théry, Autour du décret de 1210: IL - Alexandre d'Aphrodise. Aperçu sur l'influence de sa noétique (Bibliothèque thomiste VII), Le Saulchoir Kain 1926, 92-97. Dieser Traktat ist hier deshalb von so großer Bedeutung, weil er einen gewissen Ersatz für das bietet, was durch die bei Simplikios überlieferten Fragmente nicht zu erschließen ist. Obwohl Alexander hier nach ei gener Aussage gelegentlich von Aristoteles abweicht, so bleibt er ihm doch in den Grundthesen stark verpflichtet.
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Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren Quelle noch um einen bloßen Bericht. Hier spricht Alexander mit eigenen Worten. Dieses bisher kaum beachtete Fragment befindet sich im Kommentar text des Simplikios in unmittelbarer Nachbarschaft zum Fragment des Boethos. Daraus läßt sich schließen, daß beide Textabschnitte schon im verlorenen Physikkommentar Alexanders eng beieinander standen. Die Ausführungen des Aphrodisiers sind daher als Reaktion auf die Aristoteleskritik des Boethos zu verstehen. Alexander von Aphrodisias diskutiert die<aristotelischeZeitaporie> nach ei nem ihm eigentümlichen Schema, das der literarischen Gattung der angehört. Es besteht kein Zweifel, daß auch das hier zu untersu chende Alexanderfragment dieser Gliederung gehorcht. Der erste Teil des Fragmentes formuliert die der zweite Abschnitt konzentriert sich auf die Der erste Teilabschnitt des Alexanderfragmentes hat folgende Gestalt:
Es ist der Erforschung wert, so sagt Alexander, ob folgende Aussage des Aristoteles wahr ist: Wenn das Seiende, das zählen wird nicht existiert, ist auch das Zählbare nicht vorhanden. Alexander for muliert die Frage nach dem Zusammenhang von Zeit und Seele unter Anleh nung an den zweiten Satz der Zeitaporie. Oder mit anderen Worten: Die Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele ist nach der Vorgabe des Aristoteles zunächst ein zahlentheoretisches Problem. Wenn kein zählendes Seiendes vor handen ist, gibt es auch kein Zählbares. Gemäß dem Vorbild des Aristoteles in der Zeitaporie ergänzt Alexander seine Aussage: Indem das Zählende nicht existiert, gibt es nicht nur kein Zählbares sondern auch nichts, was gezählt wird Auf diese Weise erweitert Alexander den ba3
ALEXANDER ap. SIMPL., Phys. 759, 21-28.
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1.4. Alexander von Aphrodisias
salen Satz unter Anlehnung an Aristoteles sukzessiv und baut ihn aus. Dies hat einen bestimmten Sinn: Es geht Alexander (wie Aristoteles) um das Sein der Zahl im Verhältnis zur Seele. Die Verklammerung von zählender Entität und Zahl (Gezähltes/Zählbares) ist nämlich nicht grundlos. Es gibt sie nur, weil die Zahl ihr Sein im Gezähltwerden hat. Gemäß dieser Auffassung ist die Zeit von der Seele abhängig. Alexander berücksichtigt aber auch die Gegenposition, denn es ist zu prüfen, ob die Zahl ihr Sein der Seele verdankt oder nicht. Alles, was er hier im Hin blick auf die Zahl erarbeitet, gilt zugleich auch für die Zeit. Alexander drückt die Gegenposition vorsichtig aus. Er gibt zu bedenken, daß das Zählbare selbst als das, was gezählt worden ist nicht mit der zählenden Entität zusammen aufgehoben zu werden scheint. Dafür gibt Alexander ein Beispiel. So deutet er als das Zählbare selbst einzelne Seiende wie Pferde oder Menschen. Diese Entitäten existieren für sich, auch wenn sie nie in Relation zu einem zäh lenden Seienden gestanden haben. Anschließend an diese zahlentheoretischen Überlegungen bezieht Alexander das Ergebnis seiner Untersuchung auf die Zeit. Hat Aristoteles nicht selbst gezeigt, daß die . Alexander hielt es wohl für nötig, die schwie rigen und umständlichen Formulierungen des Aristoteles in eine andere und gängigere Form zu gießen. Hier stehen sich zwei widersprüchliche Thesen ge genüber:
(a)
(b)
Das Zählbare existiert nicht ohne das Zählende.
Das Zählbare existiert. ohne das Zählende.
Was für die Zahl und ihre Modifikationen gilt, bezieht sich gemäß der Natur der Zeit als Zahl auch auf die Zeit:
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Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
(a)
(b)
Die Zeit existiert nicht ohne die Seele.
Die Zeit existiert ohne die Seele.
Die These (b) läßt sich ohne Schwierigkeit als die Position des Boethos er kennen. Indem Alexander nun die Lösung der Aporie durchführt, stellt er zugleich die Argumente zur Widerlegung des Boethos bereit. Die Auflösung der Aporie dokumentiert der zweite Teil des Alexanderfrag mentes4:
Die antithetische Tendenz dieses Textes gegenüber Boethos fällt sofort auf. Ein Zählbares an sich wie Boethos behauptete, gibt es nach Alexander nicht. Vielmehr existieren bestimmte Seiende wie Pfer de oder Menschen die in den Status des Zählbaren gelan gen. Alexander spricht daher nicht von einem Zahlbaren, sondern von einer Entität, der es zuteil geworden ist zählbar zu werden Die prozessuale der bloß vorhandenen Seienden in Zählbare bezeichnet der Infinitiv Das bloß Vorhandene existiert, aber zählbar ist es nur in Relation zur Seele.
4 Diese hier vorgenommene Aufteilung des Alexanderfragmentes in zwei Teile ist keine Inter pretation, sondern beruht auf den Angaben des Simplikios. Vgl. dazu: SIMPLICIUS, Phys. 759, 29: 5 ALEXANDER ap. SIMPL., Phys. 759, 29-760, 3.
20
1.4. Alexander von Aphrodisias
Diese Behauptung sichert Alexander durch relationstheoretische Überlegun gen ab und bezieht sie auf die Zeit. Das Zählbare besteht bei der Zeit gemäß der Anweisung des Aristoteles in den Bestimmtheiten des Früher und Später. Sie repräsentieren auf diese Weise die Zeit. Insofern diese Früher und Später zählbar sind, erscheinen sie im Modus der Relationalität. Als Teil einer Rela tion steht und fällt ihre Eigenschaft als Zählbare mit dem anderen Glied der Relation, der zählenden Seele. In Analogie zur Unterscheidung zwischen einzelnen Seienden wie Pferde und Menschen an sich und ihrem Modus als Zählbare führt Alexander im Hinblick auf die Zeit die Bewegung ein: Da die Früher und Später als Zählbare entfallen, wenn die zählende Entität nicht existiert, gibt es auch keine Zeit. Nichts hindert dann aber, daß das der Zeit Zugrundeliegende die Bewegung vorhanden ist. Indem Alexander von Aphrodisias die Rede vom Zugrundeliegenden in die Diskussion über die <aristotelische Zeitaporie> einbringt, fällt endlich das entscheidende Wort. Dieses ist die Bewegung als reine Bewegung. Das der Zeit ist also keine Quasi-Zeit oder ein irgendwie gear tetes Zeitsubstrat, das außerhalb der Seele existiert und zeithafte Bestimmthei ten haben kann, ohne selbst Zeit zu sein. Nur das Studium der antiken Kom mentare vermag zu verhindern, daß dieses moderne Konstrukt die Diskussion weiter belastet, ein Begriff, der mehr verdunkelt, als er erklärt. Indem Alexander dieses -Modell in die Diskussion einführte, gab er dem Streit um das Verhältnis von Zeit und Seele eine neue Richtung. Alexanders Modell erschien so einleuchtend, daß ihm alle anderen antiken Kommentatoren darin gefolgt sind: Ohne die Seele ist allein das der Zeit, die Bewegung, vorhanden. Als Zählbares existiert dieses jedoch erst dann, wenn die zählende Seele vorhanden ist. Dies mußte Alexander gegen Boethos und zur Lösung der Aporie festhalten. Auf diese Weise hat er das Verhältnis der endlichen Seele zur Zeit zu klären versucht und die Seele als zeitkonstituierend aufgezeigt. Alexander kennt jedoch auch eine zeitverursachende kosmische Seele. Dies beweist folgende Zitatensammlung aus drei unterschiedlichen Quellen in drei verschiedenen Sprachen:
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren I. Alexander ap. Simpl.
IIa. Alexander, De tempore «Et dico quod si destrueretur anima que numerai motus, destrueretur tempus, et si destrueretur anima non moveretur orbis, et si non moveretur orbis, destruerentur motus omnes quoniam ipse est causa motuum omnium, et sic temporis.»1 IIb.
7
ALEXANDER, De tempore; Théiy 95. Der kursiv gedruckte Satzabschnitt fehlt in der arabi schen Übersetzung. Vgl. dazu: F. W. Zimmermann/H. V. B. Brown, Neue arabische Überset zungstexte aus dem Bereich der spätantiken griechischen Philosophie, in: Der Islam 50 (1973) 315: «BADAWI (S. XII) erwähnt, daß eine lateinische Übersetzung gemacht worden ist, zieht sie jedoch nicht heran. In der Tat ist sie öfter nach dem Arabischen zu verbessern als umgekehrt, steuert aber doch einige beachtenswerte Lesarten bei... » 8 Vgl. A. Badawi, Commentaires sur Aristote perdus en grec et autres épîtres (Recherches publiées sous la direction de l'Institut de Lettres Orientales de Beyrouth, nouvelle série, A. Langue arabe et pensée islamique I), Beyrouth 1971, 22, 2-4. 22
1.4. Alexander von Aphrodisias
Es gehört zu den Leistungen, die Alexander von Aphrodisias in Hinblick auf die Auslegung der <aristotelischen Zeitaporie> zuzuschreiben sind, daß er die Auslegung der Zeitaporie in die kosmische Dimension vorangetrieben hat. Auch dabei ist es notwendig, auf ein von Simplikios überliefertes Alexander fragment zurückzugreifen. Ein Abschnitt aus Alexanders nur in arabischer und lateinischer Fassung überliefertem Traktat De tempore ergänzt dieses Bruch stück. Das erste Alexanderfragment geht indirekt von Überlegungen des Aristoteles aus dem zwölften Buch der Metaphysik aus. Alexander bezieht sich dabei auf eine bestimmte Passage, in der Aristoteles die Beziehung des Himmels zum Er sten Beweger in den Blick nimmt. Aristoteles erklärt dort die unaufhörliche und kontinuierliche Kreisbewegung des ewigen Kosmos aus der stützenden Funktion des göttlichen Dieser bewegt wie eine Begehrtes Gedachtes
und ein
Das Begehrte und Gedachte ist dabei der Zielpunkt eines Begehrens und Denkens Diese Funktionen schreibt Alexander nach den o.g. Angaben des Simplikios (Zit. I) der Seele des Himmels zu.10 Die Himmelsseele ist auf diese Weise der Verursacher der kosmischen Kreisbewe gung und damit auch die Ursache aller anderen Bewegungen bzw. Veränderun gen.11 Sie verursacht dabei auch die Zeit, denn sie konstituiert die Bewegung, das der Zeit. Durch eine Vernichtung der (Himmels-) Seele ent fällt demnach jegliche Bewegung. Hier bricht der Bericht des Simplikios zu Alexanders Konzeption einer zeiterzeugenden Weltseele ab. Nähere Hinweise zu Alexanders Verschmelzung der Philosophie der Zeit mit der Kosmologie der Himmelsseele, die genau an diese Stelle anknüpfen, gibt es
9
Vgl. ARISTOTELES, Met. XII 7, 1072 a 26/7:
10
Alexander knüpft hier an die Lehre des Aristoteles von der Beseelung des Himmels an. Vgl. ARISTOTELES, De caelo II 2, 285 a 29/30: ... 11 Vgl. zur Diskussion dieser Frage: Ph. Merlan, Ein Simplikios-Zitat bei Pseudo-Alexandras und ein Plotinos-Zitat bei Simplikios, in: Rheinisches Museum für Philologie 89 (1935) 154160.
23
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren ausreichend in der separaten Abhandlung Alexanders De tempore (Zit. II). 12 Der Aphrodisier hat seine These dort in wenigen Sätzen zusammengefaßt. Die Seele, die die kosmische Urbewegung , ist die kosmische Seele. 13 Sie bewegt den Himmelskreis, der auf seine Weise alle anderen Bewegungen aus sich entläßt. Aufgrund dieser Annahme vertritt Alexander folgende These:
Durch eine Zerstörung der {kosmischen) Seele fällt auch die Zeit weg.
Die Begründung dafür lautet: a)
Eine Vernichtung der (kosmischen) Seele beendet die Bewegung des Himmelskreises.
b)
Indem der Himmel seine fundamentale Bewegung einstellt, fehlt die treibende Ursache der anderen untergeordneten Bewegungen.
12 Alexanders Abhandlung De tempore ist nicht im Original erhalten, sondern liegt wie viele an dere Texte Alexanders nur in einer arabischen bzw. lateinischen Übersetzung vor. Die Suche nach arabischen Quellen scheint aber die einzige Möglichkeit zu sein, das Corpus der Schriften Alexanders noch zu erweitern. Die Edition des arabischen Textes von Alexanders Abhandlung De tempore durch A. Badawi besprechen: F. W. Zimmermann/H. V. B. Brown, Neue arabische Übersetzungstexte aus dem Bereich der spätantiken griechischen Philosophie, in: Der Islam 50 (1973) 314/5. Aus der arabischen Übersetzung der Abhandlung Alexanders, deren Status in nerhalb der überlieferten Schriften Alexanders noch ungeklärt ist, hat Gerhard von Cremona eine lateinische Übersetzung angefertigt, die auch Quellenwert besitzt. Dieser Text soll hier als Basis der Untersuchung dienen. Zwar kann der Traktat De tempore den verlorenen Physikkommentar Alexanders nicht ersetzen, aber er bietet in kurzen und knappen Umrissen die gesamte eigene Zeittheorie Alexanders. Viele einzelne Ausführungen lassen sich, wie R. W. Sharpies 1982 ge zeigt hat, durch die von Simplikios überlieferten Fragmente aus dem verlorenen Physikkommentar des Alexander von Aphrodisias absichern. Vgl. R. W. Sharpies, Alexander of Aphrodisias, On Time, in: Phronesis 27 (1982) 58-81. 13 Alexanders Rede von der Seele in De tempore erinnert an die kontroversen Texte zur Besee lung des Himmels aus Aristoteles' kosmologischer Hauptschrift De caelo. Alexander hat sich an dieser Kontroverse beteiligt und entsprechende Thesen dazu entwickelt. Vgl. R. W. Sharpies, The Unmoved Mover and the motion of the heavens in Alexander of Aphrodisias, in: Apeiron 17 (1983) 62-66.
24
1.4. Alexander von Aphrodisias
)
Wenn aber jede Bewegung entfällt, gibt es auch keine Zeit.14
Eine Zusammenfassung der Konzeption Alexanders ergibt also folgendes Bild: Alexander geht vom des Aristoteles aus. Dieser ist das Ziel des Den kens und der Begierde der Himmelsseele, die dabei die ewige und kontinuierliche Kreisbewegung hervorbringt. Diese kosmische Kreisbewe gung veranlaßt die anderen innerweltlichen Bewegungen und damit die Zeit. Auf diese Weise erfährt das Verhältnis von Zeit und Seele seine erste und kosmische Dimension, indem Alexander auf die zeitverursachende Seele des Universums zurückgeht. Davon ist die zweite Dimension des Verhältnisses von Zeit und Seele zu un terscheiden, die bei der menschlichen Seele ansetzt. Die kosmische Seele er zeugt zunächst die Bewegung. Diese dient der menschlichen Seele als vov für die Zeit. Nur wenn diese Seele sich zählend zur vorgefundenen Bewe gung verhält, gibt es ein Zählbares und damit auch Zeit. Fällt die endliche Seele jedoch weg, dann ist nur reine Bewegung vorhanden. Damit ist durch das dop pelte Verhältnis von Zeit und Seele jede nur denkbare Möglichkeit einer ir gendwie seelenunabhängigen Zeit negiert. Dieses Zeitmodell ist eine Rekonstruktion aus den überlieferten Resten der Auslegung des Alexander von Aphrodisias. Es zeigt jedoch nur die Grundzüge. Insofern gleichen die Fragmente Alexanders einem Trümmerfeld, das den Grundriß des Gebäudes zwar notdürftig andeutet, aber von der Gesamtheit sei ner ehemaligen Architektur nur sehr wenig erkennen läßt. Der stattliche Bau erhält erst bei den Nachfolgern Alexanders deutliche Konturen.
14
Die Nähe des hier diskutierten Abschnitts aus De tempore zur <aristotelischen Zeitaporie ist nicht zu übersehen. R. W. Sharpies hat zuerst auf diese Tatsache aufmerksam gemacht, ohne sie in einem größeren Rahmen zu untersuchen. Er erkannte jedoch die Beziehung des durch Simplikios mitgeteilten Bruchstückes aus Alexanders verlorenen Physikkommentar zu dem Traktat De tempore. Vgl. R. W. Sharpies, Alexander of Aphrodisias, On Time, in: Phronesis 27 (1982) 70: «Well, both Aristotle and Alexander hold that time would not exist in the absence of soul. Alexander however has two arguments for this conclusion where Aristotle has only one, expli citly. Both authors argue that time depends on soul on the ground that it is soul that numbers movement; but Alexander adds, apparently as a separate argument, that in the absence of soul there would not be any movement. It is his standard doctrine that the movement of the heavenly spheres is caused by the desire of their souls to emulate the changelessness of the Unmoved Mo ver. »
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1.5. Themistios Die Analyse der überlieferten Fragmente des Alexander von Aphrodisias zur Auslegung der Zeitaporie führt zwar zu grundlegenden Ergebnissen, ist aber durch die mehr indizienhafte Beweisführung mit vielen Unsicherheiten behaf tet. So hinterlassen die Texte des Aphrodisiers einen zwiespältigen Eindruck. Der Grundriß dessen, was Alexander vorgelegt hat, läßt sich in etwa erkennen, aber für die Rekonstruktion des Gesamtentwurfs ist die Überlieferungslage zu dürftig. Selbst die Äußerungen aus sekundären Quellen schaffen hier kaum Ab hilfe. Während bei Alexander von Aphrodisias nur wenige Zeugnisse zur Verfü gung stehen, ergeben sich bei der Bearbeitung der entsprechenden Passage aus der Physikparaphrase des Themistios keine Überlieferungsprobleme.1 Um die eigenständige Leistung des Themistios in bezug auf die <aristotelische Zeitaporie> voll zu würdigen, ist es notwendig, seine Paraphrase in ihre ele mentaren Bestandteile aufzulösen. Erst dann läßt sich der textliche Eigenanteil des Themistios gewinnen und von sekundären Formulierungen abtrennen.2 Eine Untersuchung der Paraphrase, die Themistios zu ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29 geschrieben hat, ergibt folgendes Bild: I
In einem ersten Textabschnitt setzt sich Themistios mit der grundle genden Relation der Aporie auseinander.
1 Vermutlich hat die Bezeichnung <Paraphrase> dem Physikkommentar des Themistios ein falsches Etikett aufgedrückt und seiner Bewertung in der neueren Sekundärliteratur geschadet. Themistios übernimmt den Text des Aristoteles fast vollständig in seine eigene Ausarbeitung. Doch es gelingen ihm dabei Formulierungen von größerer Transparenz. Insofern hat er eine ei genständige Leistung vollbracht. Daher fand sein Kommentar bei den späteren Aristotelikern große Anerkennung. Simplikios benutzte manche Passage aus dem Physikkommentar des The mistios, aber auch Averroes hat sich mit den Thesen des Themistios auseinandergesetzt. 2 Das Textsubstrat, das nach der Abtrennung des Aristotelestextes aus der Physik zurückbleibt, ist kein reiner Themistiostext, sondern enthält Satzelemente aus anderen Werken des Aristoteles, Bruchstücke von Alexanders Formulierungen und Fragmente anderer Herkunft. Erst wenn diese Bestandteile so weit wie möglich identifiziert sind, ergibt sich ein klares Bild der Arbeitsweise des Themistios. Wie der Künstler ein Mosaik, so hat Themistios seine Paraphrase zusammen gesetzt und dadurch dem Leser den schwierigen Sachverhalt der Physikvorlesung des Aristote les nahegebracht. Paraphrase, das bedeutet bei Themistios ein Verfahren, ohne das kein Kom mentator jemals auskommen wird: ein erklärendes Umschreiben, das die Dichte eines Basistex tes und damit Durchsichtigkeit erreicht.
26
1.5. Themistios
II
Auf die Disposition des Problems folgt eine Kritik an Boethos, wobei die Abhängigkeit des Themistios von Alexander besonders deutlich zu erkennen ist.
III
Einen dritten und abschließenden Abschnitt hat Themistios der kosmologischen Fundierung der Zeitaporie gewidmet.
Der erste Abschnitt (I) zeigt folgende Struktur: Textabschnitt I Aristoteles
Themistios
3
THEMISTIUS, Phys. 160, 19-26. Den hier eingeklammerten Aristotelestext hat W. D. Ross im Variantenapparat seiner Physikedition als berücksichtigt.
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Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Durch die Zerlegung des ersten Textabschnitts in seine Elemente zeigt sich das ausgewogene Verhältnis des aristotelischen Basistextes zum Eigenanteil des Themistios. Insofern ist die Paraphrase keine bloße Textübernahme, die mit einigen zusätzlichen Füllwörtern auskommt, sondern eine kunstvolle Umstruk turierung des Ausgangstextes. Themistios beginnt die Auslegung mit einer einleitenden Bemerkung, die das Grundproblem der <aristotelischen Zeitaporie> ohne Umschreibung anspricht: Wenn die Zeit (wie es die Zeitdefinition des Aristoteles verlangt) das Gezählte an der Bewegung ist, wie, so fragt Themistios, ist es dann möglich, daß das Gezählte bzw. die Zeit existieren, auch wenn kein zählendes Seiendes vorhanden ist? Nach der Eruierung der für die Aporie grundlegenden Relation <Seele/Zeit> verweist Themistios auf die Antwort des Aristoteles in Satz IVa der Zeitaporie.4 Dort stützt sich Aristoteles auf den In tellekt der Seele Wenn nichts anderes zu zählen vermag als der der Seele, wie ist es dann möglich, daß die Zeit (als Zahl) existiert, wenn keine Seele vorhanden ist? Themistios zeigt nun, daß diese Antwort des Aristoteles für alle möglichen Spielarten der Grundrelation gilt, indem er die Untersuchung durch weitere zahlentheoretische Bemerkungen verfeinert. Zunächst bezieht er sich gemäß der Anweisung des Aristoteles auf die Zahl Diese läßt sich in zwei Modifikationen aufspalten, in das Zählbare und das Gezählte Wie aber hängen diese Modifikationen mit der Zahl zusammen? Themistios unterwirft das o.g. Gefüge zunächst dem -Schema. Aber auch das zählende Seiende soll in die zwei Modifikationen der und der aufgespalten sein, ohne daß Themistios hierzu nähere Angaben macht. Dieses Verfahren enthüllt sich demnach als doppelte Applikation des -Schemas. Es ist nicht schwer, den Sinn dieses Schemas bei Themistios zu begreifen. Es soll nicht nur den Text des Aristoteles erklären, sondern auch erkennen lassen, daß jeder Einbruch in die eine Seite der Relation zur Aufhebung des anderen Relationsgliedes führt. Fällt die zählende Entität weg, ob im Akt oder in der Potenz, dann entfällt auch die Zahl, sei es in der Potenz oder im Akt. Da die zählende Entität die Seele ist, die Zahl aber die Zeit repräsentiert, so heißt das
28
1.5. Themistios
in bezug auf das Verhältnis von Zeit und Seele, daß es weder eine potentielle noch eine aktuelle Zeit gibt, wenn die Seele (potentiell oder aktuell) entfällt. Damit hat Themistios seine Argumentation auf die Spitze getrieben, so daß er zusammenfassend unterstreichen kann: Ohne die Seele gibt es keine Zeit. Die doppelte Applikation des -Schemas erfüllt also die Funktion, die Abhängigkeit der Zeit von der Seele für alle nur denkbaren Möglichkeiten zu erweisen. Themistios scheint allerdings nicht der Urheber dieser Auslegungsweise ge wesen zu sein, sondern die Indizien verweisen auf Alexander von Aphrodisias. Solange aber keine weiteren Textzeugnisse auftauchen, ist die Physikparaphrase des Themistios die erste Quelle, die die Anwendung dieses Schemas auf die <aristotelische Zeitaporie> in aller Deutlichkeit zeigt. Nachdem Themistios die Abhängigkeit der Zahl bzw. der Zeit von der Seele diskutiert hat, kritisiert er die These des Boethos vom außerseelischen Sein der Zeit. Der Textabschnitt (II) des Themistios, der sich auf die Kritik an Boethos bezieht, ist ein aus mehreren Quellen kunstvoll zusammengesetztes Textgewebe. Man findet Satz- und Wortelemente aus der Physik und der Kategorienschrift des Aristoteles, die Themistios mit Satzbruchstücken aus dem Physikkommentar des Alexander von Aphrodisias, dem Fragment des Boethos und eigenen Be merkungen verschmolzen hat.5 Die hermeneutische Kunst des Themistios be stand darin, diese unterschiedlichen Textelemente zu einem in sich geschlosse nen und einheitlichen Text zusammenzufügen. Themistios führt die Kritik an Boethos auf doppelte Weise durch: Zunächst trägt er eine auf Aristoteles gestützte These zur Verfassung der Relationskate gorie vor (IIa), dann aber wendet er das von Alexander von Aphrodisias zur Boethoskritik entwickelte -Schema an (IIb). Themistios entfaltet zunächst die grundlegende Relation zwischen Seele und Zeit (Zahl) durch die doppelte Applikation des -Gefüges. Dann verwendet er es zur Kritik an Boethos. Auf diese Weise vertieft er das Verständnis der Beschaffenheit dieser relationalen Verknüpfung und erprobt ihre kritische Brauchbarkeit. Der Text des Themistios ist dabei das Ergebnis einer Synthese aus dem Fragment des Boethos, einem Bruchstück aus der Kategorienschrift des Aristoteles und wenigen eigenen Bemerkungen:
5
Es ist nicht ausgeschlossen, daß einige dem Themistios zugeschriebene Textelemente auf bis her nicht identifizierte Quellen zurückgehen.
29
Teil І - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Textabschnitt Themistios
Aristoteles
Boethos
Ausgangspunkt der Überlegungen des Themistios ist das Fragment des Boethos. Dieser hatte behauptet, daß die Zahl auch ohne die zählende Entität vorhanden sei. Die Zeit als Zahl wäre dann von der Seele unabhängig. Zur Begründung verweist Boethos auf die Unab hängigkeit des Wahrnehmbaren von dem Wahrnehmenden. Themistios weist diese Kritik zurück. Boethos, so sagt er, habe sich hier ge täuscht. Zur Begründung seiner Kritik zieht Themistius die Relationslehre des Aristoteles heran. Aristoteles unterscheidet im siebten Kapitel seiner Kategorienschrift zwei Arten der Relationskategorie. Zu den Relationen, deren Glieder nicht zugleich sind, gehört das Verhältnis der sinnlichen Wahrnehmung zum Wahrnehmbaren. Das Wahrnehmbare existiert nämlich früher als die Wahrnehmung.7 Bei dieser Art der Relation, wo das Prinzip der strengen Gleichzeitigkeit der Relations glieder aufgehoben ist, hatte Boethos angesetzt. Wie das Wahrnehmbare früher 6 7
THEMISTIUS, Phys. 160, 26-28. Vgl. ARISTOTELES, Cat. VII 7 b 15. Vgl. ARISTOTELES, Cat. VII 7 b 36:
30
1.5. Themistios
ist als die Wahrnehmung, so sollte auch das Zählbare früher als die zählende Seele vorhanden sein. Die Zeit wäre gemäß dieser Konzeption völlig unabhän gig von der Seele. Dieser Auslegung widerspricht Themistios. Boethos hat nach seiner Meinung die Relation, die Aristoteles in der Zeitaporie zugrunde gelegt hat, nicht ange messen gedeutet. Es gibt nämlich auch Relationen, die, wie Aristoteles sagt, ih rer Natur nach zugleich bestehen.8 Als Beispiele nennt Ari stoteles das Verhältnis des Herrn zum Knecht. Wo man von einem Knecht spricht, da muß ein Herr sein, und ohne Herren gibt es keine Knechte. Auf dieses Konzept des Aristoteles bezieht sich Themistios. Er ordnet die Be ziehung dem Relationstypus zu, der das Prin zip der Gleichzeitigkeit streng bewahrt. Boethos verstieß gegen diese Regel. Er hat daher das Grundprinzip der <aristotelischen Zeitaporie> mißverstanden und der Intention des Aristoteles nicht entsprochen. Doch damit ist die Kritik des Themistios an Boethos nicht beendet. Themi stios hatte gezeigt, daß sich die fundamentale Relation der Zeitaporie aus dem Relationstypus der Gleichzeitigkeit entfaltet. Was aber geschieht, wenn diese Relation zusammenbricht? Was bleibt, wenn die zählende Seele wegfällt? Gibt es dann keine Zeit mehr? Dies beantwortet Themistios im zweiten Abschnitt seiner Boethoskritik. Themistios sichert also zunächst die Reziprozität und Gleichzeitigkeit der Relation, die der <aristotelischen Zeitaporie> zugrunde liegt. Danach diskutiert er einen weiteren Aspekt seiner Kritik an Boethos. Dabei ist der direkte Einfluß des Alexander von Aphrodisias wahrnehmbar.9 Textabschnitt IIb Themistios
8
Vgl. ARISTOTELES, Cat. VII 7 b 15: Hier ist es möglich, die Physikparaphrase des Themistios mit Alexanders Kommentar zu ver gleichen. Wäre nicht das von Simplikios tradierte Fragment Alexanders überliefert, dann ließe sich das Konzept, das Themistios hier vorlegt, nur ihm selbst zuschreiben. So aber ist gleich er kennbar, daß Themistios das Modell Alexanders bis in die Einzelheiten hinein kopiert hat. Vermutlich besteht auch bei seinen anderen Ausführungen zur Auslegung der Zeit aporie eine Abhängigkeit von Alexander. Dies ist gegenwärtig jedoch nicht mehr nachprüfbar.
9
31
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Themistios
Alexander bei Simplikios
Die Gleichzeitigkeit, so hatte Themistios gegen Boethos gezeigt, bestimmt die Grundstruktur der Relation zwischen der zählenden Entität (Seele) und der Zahl (Zeit). Dieses Zugleich durchzieht auch im Modus der Potentialität die gesamte Struktur dieser Beziehung, wobei die Seele als das Zahlenkundige der Zahl (Zeit) in der Modifikation des Zählbaren gegenübersteht. Dieses relationale Zugleich entfällt durch die Aufhebung eines der Relati onsglieder. Indem das Zahlenkundige nicht existiert, gibt es auch kein Zählba res, d.h. ohne die Seele ist keine Zeit vorhanden. Dennoch existiert etwas, das die Aufhebung der Relation nicht berührt, dem, wie Themistios mit Alexander von Aphrodisias sagt, das Zählbarsein zuteil geworden ist Es ist das von dem Aristoteles spricht. Alexander be zeichnet es als das der Zeit und interpretiert die Formel des Ari stoteles als Hinweis auf die Bewegung Ohne die zählende Seele sind Zahl bzw. Zeit undenkbar. Wohl aber existiert etwas außerhalb der zählenden Seele, das der Zeit als Basis dient. Dies hatte Boethos übersehen. Er glaubte, die Zeit sei ohne die Seele vorhanden, dabei
10
THEMISTIUS, Phys. 160, 29-161, 1. Vgl. SIMPLICIUS, Phys. 759, 29-31. Vgl. A. Torstrik, "0 Ein Beitrag zur Kenntniß des aristotelischen Sprachge brauchs, in: Rheinisches Museum für Philologie, N. F. 12 (1857) 161-173; R. Brague, Du temps chez Platon et Alistote. Quatre études, Paris 1982, 97-144. 11
32
1.5. Themistios
gibt es nach Themistios (und Alexander) ohne die Seele nur die reine Bewe gung. Die Formel und die Kritik an Boethos ist erst dann verständlich, wenn der Übergang vom der Zeit zur Zeit selbst vor Augen steht. Diesen Schritt vollzieht Themistios auf folgende Weise: Textabschnitt IIc Themistios
Aristoteles
Themistios gibt zunächst zu, daß die Bewegung ohne das Gezähltwerden existiert. Es ist daher an sich nicht notwendig, die Bestimmtheiten des Früher und des Später aus der Bewe gung abzutrennen und in ihrem Fürsichsein auszusondern , Sie befinden sich potentiell in der Bewegung. Erst ihre Aktua lisierung durch Auffassung Sonderung und Zahl bewirken die Genesis der Zeit. Wie aber, so fragt Themistios abschließend, wäre diese Determination mög lich ohne die Existenz einer Seele Auch hier stellt er abschließend fest, daß die Zeit an das Sein der Seele gebunden ist, wobei mit <Seele> immer noch die menschliche Seele gemeint ist. Diesen
THEMISTIUS, Phys. 161, 1-4.
33
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
mung mit Alexander von Aphrodisias die zeiterzeugende Funktion der durch die kosmische Seele quantifizierten und strukturierten Bewegung des Kosmos. Wie Alexander von Aphrodisias unterscheidet Themistios bei der Auslegung der <aristotelischen Zeitaporie> zwei Ebenen der Zeitkonstitution: (a)
Ebene I bezieht sich auf die individuelle Zeiterzeugung. Dabei mißt ein Individuum die Bewegung. Die Seele umgreift die das der Zeit, hebt die heraus und gewinnt dadurch die Zeit als Zahl. Auf diese Weise ist die Zeit von ei nem individuellen Intellekt abhängig.
(b)
Ebene II transzendiert den engen Rahmen menschlicher Bewegungs messung in Richtung auf die kosmische Urbewegung. Diese Himmels rotation erzeugt die kosmische Seele durch ihre Ausrichtung auf den göttlichen
Bei der Diskussion dieser zweiten kosmischen Ebene geht Themistios von der Bewegung aus, aber er begreift sie nun nicht mehr allein als der Zeit, sondern er fragt nach ihrer Ursache. Die Bewegung ist zwar als ein Ausgangspunkt der Zeit, aber ihre eigene Herkunft bleibt dabei un bekannt. Ist denn die Bewegung wirklich von der Seele unabhängig, wie Aristo teles in der Zeitaporie anzudeuten scheint? Oder existiert auch diese Bewegung nicht oline eine Seele? Jene Seele kann jedoch nicht die menschliche Seele sein. Vielmehr ist die endliche Seele in Richtung auf die kosmische Seele zu transzendieren. Themistios hat in diesem. Zusammenhang nicht viel über die kosmische Seele geschrieben. Dennoch enthält auch dieser Textabschnitt einige interessante Aspekte. Zunächst paraphrasiert Themistios Satz IVc der Zeitaporie: Textabschnitt IIIa Themistios
13
Aristoteles
THEMISTIUS, Phys. 161, 5. Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 27/8.
34
1.5. Themistios
Diesen Satz des Aristoteles interpretiert Themistios als einen Hinweis auf die Abhängigkeit der Bewegung von der kosmischen Seele. Die Himmelsseele initi iert die Kreisbewegung des Universums Sie ist das Prinzip aller anderen Bewegungen, denn sie verändert auch die körperlichen Be stimmtheiten des Wachstums und der Ab nahme Die Kreisbewegung selbst richtet sich durch das Denken und die Begierde der Himmelsseele auf den göttlichen Zum Beweis dieses Konzeptes, das Themistios von Alexander14 übernommen hat, verweist Themistios darauf, daß die Bewegung der Lebewesen das Werk einer S e e l e i s t . Warum sollte der Himmel dabei eine Ausnahme machen? Textabschnitt IIIb Themistios
14 15 16
Alexander
Vgl. 1.4., S. 22. THEMISTIUS, Phys. 161, 5-7. Statt in Zeile 7 irrtümlich ALEXANDER ap. THEM., Phys. 161, 7. Vgl. ALEXANDER ap. SIMPL., Phys. 760,
17. 17
THEMISTIUS, Phys. 161,7/8.
35
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Die kosmische Urbewegung bezeichnet Themistios nun als Basis der Zeit. Wie verhält sich aber die von der Himmelsseele initiierte Bewegung konkret zur Zeit? Zunächst weist Themistios mit Aristoteles darauf hin, daß die Zeit die Zahl jeder Bewegung ist, denn jede Bewegung besitzt die quantifizierbare . Auf diese Weise kann Themistios die Gesamtheit der innerweltlichen Beweglichkeiten von der kosmischen Kreisbewegung bis zu den anderen Bewegungsstrukturen der Zeit unterwerfen und damit aus dem aktiven Sein der Himmelsseele ableiten: Textschnitt IIIc Themistios
Aristoteles
Nimmt man alle bisher genannten Thesen zusammen, dann zeigt sich, daß Themistios gemäß seiner zweistufigen Auslegung der<aristotelischenZeitaporie> das theoretische Grundgerüst, das sowohl die individuelle Zeitmessung als auch die kosmische Verankerung der Zeit umfaßt, ohne Einschränkung von Alexander von Aphrodisias übernommen hat.
18 19 20
ARISTOTELES, Phys. IV 11, 219 b 1/2. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 28. THEMISTIUS, Phys. 161, 8-12.
36
1.6. Simplikios Im Physikkommentar des Simplikios befindet sich die umfangreichste Analyse zur<aristotelischenZeitaporie>, die aus der Antike erhalten ist.1 Darin laufen alle Strömungen und Positionen zusammen, die bisher zur Diskussion standen. Weil hier ein durch keinerlei Überlieferungsverluste entstellter Text zur Verfügung steht, entfällt bei Simplikios die Rekonstruktion seiner Position aus Fragmenten und sekundären Quellen. Auch die Zerlegung einer Paraphrase in ihre Elemente, bei der erst nach komplizierten Analysen der Eigenanteil eines Verfassers zutage tritt, ist bei Simplikios im Gegensatz zu Alexander von Aphrodisias und Themistios unnötig. Seine Auslegung zur aristotelischen Zeitaporie läßt sich daher bis in die Feinheiten studieren.2 Hindernisse in der Form oder in der Überlieferung stören die philosophische Analyse also nicht. Simplikios führt den Leser Satz für Satz durch den gesamten aporetischen Text des Aristoteles. Dabei ermöglicht er ihm ein detailliertes Verständnis selbst singulärer Formulierungen. Auf diese Weise erhellt Simplikios das Sinngefüge der Aporie sogar bis in die grammatikalischen Feinheiten der Syntax. Aus exegetischen Gründen ist es daher sinnvoll, den umfangreichen Kom mentarabschnitt3 des Simplikios ebenfalls in kleinere Sinneinheiten zu zerlegen. Dadurch präsentiert sich der Gedankengang seines Textes klarer, weil erst so die Strategie der Auslegung ungebrochen zum Vorschein kommt. Gemäß diesem Verfahren gelingt eine sinnvolle Aufteilung des Kommentar textes. Jedem Teilabschnitt steht daher hier ein bestimmter Satz des Aristoteles 1 Da der von H. Diels konstituierte Text des Physikkommentars von Simplikios aus heutiger philologischer Sicht problematisch ist, wäre eigentlich eine Verifikation an den Handschriften notwendig. Zur Problematik vgl: L. Tarán, The text of Simplicius' Commentary on Aristotle's Physics, in: I. Hadot (Hrsg.), Simplicius, sa vie, son œuvre, sa survie: actes du colloque inter national de Paris (28 Sept.-ler Oct. 1985) [Peripatoi 15], Berlin/New York 1987, 246-266; D. Harlfinger, Einige Aspekte der handschriftlichen Überlieferung des Physikkommentars des Sim plikios, in: I. Hadot (Hrsg.), Simplicius, sa vie, son œuvre, sa survie: actes du colloque interna tional de Paris (28 Sept.-ler Oct. 1985) [Peripatoi 15], Berlin/New York 1987, 267-286. 2 Der umfangreiche Kommentar des Simplikios zum Zeittraktat des Aristoteles ist selbst auf vielfache Weise die Quelle unserer Kenntnis bestimmter Zeittheorien des Neuplatonismus. Vgl. in diesem Zusammenhang: S. Sambursky/S. Pines, The Concept of Time in Late Neoplatonism. Texts with Translation, Introduction and Notes, Jerusalem 1971. 3 Simplikios hat gemäß der Methode seiner Auslegung den Zeittraktat des Aristoteles in Ab schnitte zerlegt und diese Segmente der Reihe nach analysiert. So faßt er den Text als eine in sich geschlossene Sinneinheit auf.
37
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
aus der Zeitaporie in der Reihenfolge seiner textlichen Anordnung als Über schrift voran. Diese äußere Struktur des Kommentarabschnittes spiegelt die innere Gliede rung des Stoffes, die aus dem Grundschema der Auslegung des Simplikios re sultiert. Dabei ergibt sich klar, daß Simplikios den Grundriß seiner Analyse aus dem Physikkommentar des Alexander von Aphrodisias übernommen hat, der auch die Auslegung des Themistios entscheidend mitbestimmte. Wie bei Alexander und Themistios bleibt auch bei Simplikios die folgende Doppelung der Analyse erhalten: I
Simplikios diskutiert zunächst Probleme der individuel len Zeitkonstitution.
II
Dann rekonstruiert er die Einbettung der Zeit in den kosmologischen Gesamtentwurf des Aristoteles.
Eine genetische Betrachtung zeigt, daß die Entwürfe des Alexander von Aphrodisias, des Themistios und des Simplikios in ihrem Aufbau keiner verti kalen Linie folgen, sondern eine horizontale Entwicklungsstruktur besitzen. Die späteren Kommentatoren haben den Entwurf des Aphrodisiers also nicht we sentlich vertieft, sondern nur erweitert.4 Dennoch setzte Simplikios auch eigene Akzente. Anders als Alexander war er offener für eine neuplatonische Auslegung der Zeitaporie. Daher erfordert die Interpretation seiner Aristotelesexegese eine spezielle Erforschung dieser Ten denz. Simplikios beginnt seine Untersuchung mit einer Analyse der grundlegenden Problemstruktur der Aporie:
4 Wie überall in seinem Physikkommentar hat Simplikios auch den Abschnitt zur Zeitaporie mit Texten anderer Autoren angereichert. Dadurch sind Thesen und Fragmente erhalten geblieben, die sonst unwiederbringlich verlorengegangen wären. Diese Indizien zeigen auch den Überliefe rungsstand innerhalb des Aristotelismus gegen Ende der Antike bzw. in der frühbyzantinischen Phase an. Die Kommentare zur Physik, die Simplikios nicht aufführt, waren wohl schon zu sei ner Zeit verschollen. Zur Zeittheorie des Simplikios vgl. zudem: H. Meyer, Das Corollarium De tempore des Simplikios und die Aporien des Aristoteles zur Zeit, Meisenheim 1969; E. Sonder egger, Simplikios: Über die Zeit. Ein Kommentar zum Corollarium de tempore (Hypomnemata 70), Göttingen 1982.
38
1.6. Simplikios
I
Zunächst fällt auf, daß Simplikios die Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele, so wie sie Aristoteles gestellt hat, in keiner Weise als einen Fremd körper im Zeittraktat des Aristoteles betrachtet. Ganz im Gegensatz zu späteren Interpreten hebt Simplikios die umstrittene Textpassage auch nicht besonders hervor. Dies hat seinen Grand darin, daß er die Fragestellung nicht als außer gewöhnlich empfunden hat. Er kannte ja neben den Thesen der älteren Aristo teleskommentatoren nicht nur die entsprechenden Untersuchungen Platons und Plotins zu dieser Frage, sondern auch die Texte anderer neuplatonischer Philo sophen zum Verhältnis von Zeit und Seele. Warum sollte Aristoteles die Frage nach der Beziehung von Zeit und Seele, sei es als menschliche Seele, sei es als kosmische Seele, nicht stellen und diskutieren? Dies gehörte gleichsam zur Ge pflogenheit antiker Zeittheoretiker. Es war eigentlich nichts Besonderes. Jene Schärfe der Diskussion, die die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Zeit und Seele später bei den Arabern und im 13. Jahrhundert angenommen hat, fehlt bei Simplikios völlig. Gemäß dieser Konstellation besaß der erste Satz der Zeitaporie nur den Zweck einer die Problematik charakterisierenden Überschrift. Simplikios geht zunächst von ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 16/7 aus, indem er die dort gestellte Frage des Aristoteles aufnimmt: Wie verhält sich die Zeit zur Seele?6 Dieses Problem bedarf jedoch einer Präzisierung und Verdeutlichung, Aristo teles hat daher nach Simplikios den Kern der Fragestellung in Satz I der Aporie klarer formuliert. In dieser verdeutlichten Fassung des ersten Satzes der Aporie erfährt die Grundproblematik deshalb eine Vertiefung. Aristoteles stellt nämlich jetzt zur Diskussion, ob die Zeit vorhanden ist oder nicht wenn die Seele nicht existiert Aristoteles wollte also nicht allein das Verhältnis von Zeit und Seele erforschen, sondern er wollte die ge5 6
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21/2. Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 16/7:
39
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
genseitige Abhängigkeit von Zeit und Seele unter dem Aspekt des Seins in den Blick nehmen.7 Dies gelang ihm allerdings, wie Simplikios durch die Interpre tation des zweiten Satzes der Aporie zeigt, nur durch die Einführung einer ba salen Relation, die dieses Verhältnis strukturiert.8 II
Während Aristoteles im ersten Satz der Aporie nach dem Verhältnis von Zeit und Seele hinsichtlich des Seins spricht, wählt er im zweiten Satz andere Be zeichnungen. Die Zeit ist eine Zahl. Daher liegt die Lösung des o.g. Problems in zahlentheoretischen Überlegungen. Die Seele heißt bei Aristoteles deshalb die <Entität, die zählen wird>. Die Zeit nennt er das . Welche Systematik hinter dieser Begriffsstruktur liegt, zeigt schon die Physikparaphrase des Themistios deutlich. Simplikios bearbeitet dieses Problem je doch weitaus umfangreicher. Es scheint vernünftig so argumentiert er, daß die Glieder einer Relation zusammen vorhanden sind und auch gemeinsam ver gehen Dies geschieht in der Weise der Reziprozität.10 Aristoteles hatte in der Kategorienschrift zwei Seinsweisen der Relationen dadurch unterschieden, daß er auf das Prinzip der Gleichzeitigkeit achtete. Er differenzierte dabei zwischen Beziehungen, deren Glieder zugleich bestehen
8
Zum Problem der Relationskategorie bei Simplikios vgl. auch: Luna, La relation chez Simplicius, in: I. Hadot (Hrsg.), Simplicius, sa vie, son œuvre, sa survie: actes du colloque interna tional de Paris (28 Sept.-ler Oct. 1985) [Peripatoi 15], Berlin/New York 1987, 113-147. 9 ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 22-24. 10 Vgl. SIMPLICIUS, Phys. 759, 1/2:
40
1.6. Simplikios
müssen, und anderen Beziehungen, die an diese Vorbedingungen nicht gebun den sind. Simplikios knüpfte an diese Unterscheidung an, indem er die Relation, die der Zeitaporie zugrunde liegt, als Bezug gemäß der Gleichzeitigkeit definierte. Dabei entschied sich Simplikios für den speziellen Terminus der ebenfalls auf die Kategorienschrift des Aristoteles zurückgeht.11 Dieser Be griff schien Simplikios wohl besonders geeignet, einerseits die Relationalität selbst, andererseits aber auch die Aufhebung der Beziehung mit aristotelischer Terminologie angemessen zu formulieren. Damit diese Verklammerung noch deutlicher zutage tritt, greift er zu einem erläuternden Beispiel. Auch links und rechts sind nicht voneinander trennbar, ohne daß der Sinn dieser Bestimmun gen entfällt.12 Nachdem Simplikios durch einen Rückgriff auf die Kategorienlehre des Ari stoteles die Syn-Existenz der Relationsglieder aufgezeigt hat, formuliert er die Struktur der syn-existenten Relationsglieder nach dem Schema, das schon bei Themistios nachweisbar ist. Die Relation umfaßt sowohl das Zahlenkundige als auch das Zählbare, wobei das Zahlenkundige nichts anderes meint als die Seele oder den Intellekt der Seele. Aber Simplikios begnügt sich nicht damit, den der Seele bloß zu er wähnen. Er bestimmt ihn näher als das aktive Seelenvermögen, mit dem wir zählen. Die Seelenpotenz, die zählt, kann nicht passiv sein, sondern muß in sich Aktivität besitzen. Insofern ist das erste Relationsglied eindeutig bestimmt. Das zweite Glied erweist sich dabei als die Zeit. Nach Simplikios läßt sich also zusammenfassend sagen:
Schon die Konstellation der Relation, die dem zweiten Satz der Aporie zugrunde liegt, gibt zu erkennen, daß ohne das aktive Seelenvermögen keine Zeit denkbar ist.13
41
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Mit dieser Einsicht in die grundlegende Relationalität des zweiten Satzes der Aporie gibt sich Simplikios jedoch nicht zufrieden. Er versucht, tiefer in die Terminologie und Denkweise des Aristoteles einzudringen. Im Satz II der Aporie setzt Aristoteles die <Entität, die zählen wird> in eine Beziehung zum . Merkwürdig bleibt dabei die Einführung eines futurischen Parti zips in die Relation während als Entsprechung zum 14 ken wäre. Dadurch erhalten die Glieder der Relation gleichsam eine asym im Tempus metrische Struktur: Während das Relationsglied I des Futurum erscheint, verwendet Aristoteles für das Relationsglied II den Modus der Potentialität. Simplikios bemüht sich nun, die terminologische Asymmetrie der beiden Re lationsglieder im zweiten Satz der Aporie aufzuheben. Im Gegensatz zum Ver fahren des Aristoteles, der <dem, das zählen wird> das entgegenge stellt hatte, erscheint es Simplikios vielmehr notwendig, den Begriff des zu verwenden. Dadurch enthüllt sich die Ursache der termino logischen Asymmetrie im Satz des Aristoteles. Simplikios weist darauf hin, daß die Spezialtermini und keine inhaltliche Differenz meinen: Dasselbe
ist das , und .
Wer den Terminus auswählt, spricht gemäß der Potentialität wer sich (wie Aristoteles) für den Ausdruck entscheidet, formuliert nach Maßgabe der zukünftigen Zeit Das, was zu zählen vermag, zählt gegebenenfalls nicht jetzt, aber vielleicht in der Zukunft. Simplikios sieht hier keinen inhaltlichen Unterschied. Ebenso läßt sich das aus dem Modus der Potentiali tät in einen futurischen Ausdruck umwandeln. Es trägt dann die Bezeichnung Die Schwerfälligkeit dieses Ausdrucks hat Aristoteles wahrscheinlich zu seiner terminologischen Veränderung bewogen. Im Satz II der Aporie wechselte er daher die Ebene und ging von einem futurischen Ter-
42
1.6. Simplikios
minus zu einem Ausdruck über, der die Potentialität deutlicher signalisiert. Aristoteles wollte zudem wohl eine schwerverständliche Terminologie vermei den. Er entschied sich deshalb für einen klareren Ausdruck.15 Simplikios hat mit der Auslegung des zweiten Satzes der Aporie folgende Einsichten erreicht: A
Satz II der Aporie enthält eine Relation, deren Glieder unter dem Zwang der Gleichzeitigkeit stehen. Das eine Relationsglied kann nicht ohne das andere bestehen.
Die Glieder der Relation befinden sich im Modus der Potentialität oder im Tempus des Futurum. Indem Sim plikios zeigt, daß diese terminologische Asymmetrie keinerlei inhaltliche Differenz bedeutet, erklärt er Satz II der Aporie bis in die grammatikalischen Feinheiten als stimmig.
Diese Interpretation des zweiten Satzes zeigt nach Simplikios deutlich, daß die Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele eine klare Antwort zuläßt: Die Zeit vermag nicht ohne die Seele zu existieren. Mit dieser Auslegung des zweiten Satzes versucht Simplikios die Aussage des dritten Satzes zu verbinden. III
Die Bemerkungen des Simplikios zu Satz III der Zeitaporie zeigen, daß er auch hier nach einem bestimmten Konzept arbeitet, das er nicht selbst entwik-
43
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
kelt, sondern nur vorgefunden hat. Die doppelte Applikation des -Schemas, das schon Themistios benutzte, findet nämlich auch in der Auslegung von Satz III der Aporie durch Simplikios Anwendung. Nachdem er im Satz II die Basisrelation in ihrer Potentialität betrachtet hat, untersucht er nun im Satz III ihren Übergang von der Potentialität zur Aktualität, allerdings nur in Hinblick auf das zweite Relationsglied. Simplikios beginnt seine Auslegung, indem er auf die Verknüpfung von Satz II mit Satz III hinweist. Der dritte Satz ist eigentlich nur eine Fortsetzung des zweiten. Aristoteles nahm ihn hinzu, um Satz II erklärend zu erweitern. Wäh rend der zweite Satz die Grundrelation <Seele/Zeit> durch die Verklammerung der zahlentheoretischen Bestimmtheiten im Modus der Potentialität zeigt, macht der dritte Satz ihre Verbindung auch im Übergang von der Potentialität zur Aktualität sichtbar. Nachdem Simplikios auf diese Weise die Verbindung der beiden Sätze her vorgehoben hat, übersetzt er die Termini des Aristoteles in eigene, paraphrasierende Ausdrücke. Diese Formulierungen sind so gewählt, daß sie zugleich einen Hinweis auf ihren jeweiligen Modus enthalten. Das Relationsglied II (die Zahl oder die Zeit) erscheint bei Aristoteles auf der modalen Ebene der als das während es Simplikios mit dem kom plizierteren Ausdruck umschreibt. Auch für die Zahl bzw. die Zeit im Modus der Aktualität (/TÒ hat Simplikios einen anderen Ausdruck gefunden. Er nennt sie (!) Die Termini und deuten dabei den Wechsel der Modalitätsstufen an. In den relationstheoretischen Überlegungen zu Satz III liegt also die Wurzel dessen, was später als die potentielle und aktuelle Zeit bei Averroes und im 13. Jahrhundert für die größten Schwierigkeiten gesorgt hat.17 Weil Simplikios den schwierigen Gedankengang des Aristoteles für erklä rungsbedürftig hält, gibt er ein erläuterndes Beispiel. Er verweist auf eine Menge von Soldaten Die Soldaten, so sagt er, sind zählbar aber in dem Sinne, daß sie gezählt worden sein kön nen .18 Oder mit anderen Worten: Das Zählbarsein der
44
1.6. Simplikios
Soldaten ist ein Vermögen, das auf ein wirkliches Zählen angelegt ist. Insofern sind das und Modifikationen der einen Zahl. In deren Begriff sind sie aufgehoben und vereint. Und aus der Einheit dieses Begriffs fächern sie sich dann gemäß dem -Schema auf. Satz erscheint auf diese Weise als ein Anhängsel des zweiten Satzes der Aporie. Er soll zeigen, daß jegliche Modifikation der Zahl nicht ohne die Seele Bestand hat. Da die Zeit aber eine Zahl ist, vermag sie nicht ohne die Seele zu existie ren. Beide, sowohl die potentielle als auch die aktuelle Zeit, sind ohne die Seele nicht denkbar. Daß Aristoteles diesen Gedankengang genommen hat, beweist Simplikios durch die Auslegung des Satzes IVa, der auf diese Weise die Funk tion einer Zwischenbilanz erhält. IVa
Der Text des Simplikios, der sich auf Satz IVa der Zeitaporie bezieht, zeigt keine ausführliche Auslegung dieses Satzteiles. Dafür gibt es bestimmte Grün de. Simplikios faßte Satz I der Zeitaporie als Problemformulierung, Satz II und III als Ausarbeitung eines ersten Argumentationsblockes und Satz IVa als Ant wort auf die in Satz I gestellte Frage auf. In dieser Funktion der Fragebeant wortung erhält Satz IVa den Charakter einer resümierenden Zusammenfassung. Insofern hielt Simplikios keine weitere Auslegung für notwendig, sondern be nutzte die Gelegenheit, um die Argumentation des Aristoteles, die zwischen Frage und Antwort eingebettet ist, in einer gleichsam strukturell verbesserten Fassung vorzustellen. Der Text des Simplikios ist ein Alternativentwurf zu den schwierigen For mulierungen des Aristoteles. Jedenfalls hat Simplikios richtig gesehen, daß Satz II und III einen von den Sätzen I und IVa eingerahmten geschlossenen Block bilden. Gemäß dieser Struktur bietet Satz IVa nicht mehr als eine abschließende Bilanz der in Satz II und III gewonnenen Ergebnisse.
19
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 25/6.
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Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Bilanz meint in diesem Fall aber nur Zwischenbilanz, da die Zeitaporie mit Satz IVa nicht abgeschlossen ist, sondern noch eine tiefgreifende Richtungsän derung erfährt. Das Verhältnis der individuellen Seele zur Zeit hat Simplikios nämlich anschließend in den kosmologischen Bereich übertragen. Der Gedankengang des Aristoteles ist aus seinen Formulierungen in Satz II und III nur sehr schwer zu erkennen. Simplikios will nun zeigen, daß sich diese Argumentation in drei Schritten klarer und durchsichtiger gestalten läßt. Die Verknüpfung der Argumente geschieht dabei auf dreifache Weise. Sim plikios formuliert in Anlehnung an die grammatikalische Struktur von Satz IVa mit Hilfe von drei Bedingungssätzen (jeweils durch die konditionale Konjunk tion eingeleitet) eine Paralleifassung zum ersten Abschnitt der Zeitaporie. Entsprechend dieser dreifachen Struktur argumentiert Simplikios nun in drei Schritten: I
Wenn kein Seiendes zur Verfügung steht, das zählen wird ist auch das Zählbare nicht vor handen
II
Ist nun das Zählbare gibt es auch keine Zahl Zählbaren.
III
Da also der Intellekt der Seele und die Zeit eine Zahl ist, existiert, wenn die Seele nicht vorhanden ist auch die Zeit nicht.20
nicht existent, nach dem Modus des
Es ist Simplikios damit gelungen, unter Berücksichtigung der Termini des Aristoteles den Gedankengang der Sätze II und III klarer und durchsichtiger zu gestalten. Damit ist der erste Block der <aristotelischen Zeitaporie> abgeschlossen. Simplikios geht nun gemäß der Leitlinie der Aporie von der individuellen Zeit-
46
1.6. Simplikios
gewinnung zur kosmischen Fundierung des Verhältnisses von Zeit und Seele über. Dies geschieht jedoch nicht mit einem Sprung, sondern sukzessiv. Der an schließende Satz IVb erhält dabei einen zweifachen Sinn: Simplikios verknüpft ihn nicht nur mit dem Block I, sondern interpretiert ihn auch als Hinweis auf Block II. IVb
Die Auslegung des Satzes IVb vollzieht Simplikios in mehreren Schritten. a) Zunächst referiert er ausführlich die Thesen des Boethos. Die ser Abschnitt enthält keinerlei eigenständige Bemerkungen. Simplikios dokumentiert zunächst nur den Stand der Diskus sion zwischen Boethos und Alexander von Aphrodisias, indem er die These des Boethos zum außerseelischen Sein der Zeit vorstellt. b) Damit verknüpft Simplikios Äußerungen des Alexander von Aphrodisias, wobei er den entsprechenden Textabschnitt in zwei Teile zerlegt. Teil A zeigt mit Alexanders Worten die Problemstellung, Teil enthält die Auflösung der Aporie. Eine graphische Darstellung der einzelnen Textabschnitte zeigt folgende Struktur:
21
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 26/7.
47
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Simplikios
Boethos
Alexander
Fragment des Boethos
Fragment des Alexander I
Fragment des Alexander II
22
SIMPLICIUS, Phys. 759, 18-760, 3.
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1.6. Simplikios
Simplikios teilt zunächst das Fragment des Boethos mit. das auch durch Themistios überliefert ist: Boethos, so heißt es, habe gegen die These des Aristote les zur Abhängigkeit der Zeit von der Seele einen Einwand erhoben. Gegen diesen Einspruch benötigt Simplikios ein Gegenargument. Er zitiert daher das schon oben diskutierte wertvolle Fragment aus dem nur fragmentarisch über lieferten Physikkommentar des Alexander von Aphrodisias, das nur an dieser Stelle zu finden ist.23 Simplikios zerlegt das Fragment des Alexander in zwei Hälften. In der ersten Hälfte, so sagt Simplikios, hat Alexander sich sowohl mit dem Einwand des Boethos beschäftigt als auch die Lösung vorbereitet, indem er zunächst dem Aristoteles folgte. In der zweiten Hälfte löst er dann die Aporie auf Nur hier, bei Simplikios, findet sich also die Bezeichnung <Aporie> für Phys. IV 14, 223 a 21-29. Die Mitteilung des Alexanderfragmentes war für Simplikios kein Selbst zweck, sondern sollte anzeigen, daß nach seiner Ansicht das durch Alexander von Aphrodisias in Auseinandersetzung mit Boethos vorgelegte Lösungsmodell der Aporie weiterhin uneingeschränkte Gültigkeit behielt. Simplikios wollte daher die Deutung des durch Alexander, die hier die spe zielle Bezeichnung -Modell trägt, weder verbessern noch ein schränken. Er hat sich ihr vielmehr vorbehaltlos angeschlossen. Daher ist es nicht notwendig, die Einzelheiten noch einmal zu wiederholen. Welche Schlußfolgerungen hat Simplikios selbst aus der Lösung des Alexan der von Aphrodisias gezogen? Dies läßt sich aus den Ausführungen entnehmen, die der Wiedergabe der Fragmente im Kommentartext unmittelbar nachfolgen. Simplikios stimmt der Auflösung des Problems durch Alexander uneinge schränkt zu. In dem o.g. Fragment seines Physikkommentars behauptete der Aphrodisier nämlich, daß die Bewegung das der Zeit sei. Diese Lösung, so meint Simplikios ebenfalls, habe Aristoteles ohne Umschweife mit der Formel aus Satz IVb der Zeitaporie ausdrücken wol len. Nichts spricht nämlich gegen die These, daß die die der Zeit als dem Zählbaren zugrunde liegt auch dann existiert, wenn keine Seele vorhanden ist Bewegungen verlaufen nämlich gänzlich ohne die (menschliche) Psyche Nur die Zeit als die durch einen Beobachter (gemäß der Zeitdefinition des Aristoteles) festgestellte Zahl der Bewegung gibt es dann nicht mehr. 23
Vgl. 1.4., S. 18ff.
49
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Es ist kaum möglich, die Ergebnisse der Auslegung des Alexander prägnan ter zu formulieren:
Die Zeit hängt von der Seele ab, ruht jedoch auf der Bewegung als ihrem Zugrundeliegenden.24
Doch damit ist der Argumentationsgang des Simplikios noch nicht abge schlossen. Es folgt nun ein Textabschnitt, der das von Alexander übernommene -Modell durch neue Argumente absichern, aber auch die Kritik des Boethos an Aristoteles zurückweisen soll. Eine Analyse dieses Abschnittes zeigt, daß Simplikios dem Mißverständnis des Boethos auf dreifache Weise begegnet. Wie das sinnlich Wahrnehmbare auch ohne die sinnliche Wahrnehmung vorhanden sei, auf diese Weise, so glaubte Boethos, könne auch die Zeit ohne die Seele existieren. Dagegen gibt Simplikios zu bedenken: Î
Boethos hat nicht verstanden, daß die grundlegende Relation der Zeitaporie auf das Zugleich ihrer Glieder aufbaut. Daher erkannte er auch nicht, wie das -Schema die Struktur derartiger Relationen regelt: Die Relationsglieder beziehen sich sowohl im Modus der Potentialität als auch im Status der Aktualität aufeinander. Gegen Boethos ist zu daher zu sagen: Die Zeit existiert sowohl potentiell als auch aktuell niemals ohne die Seele.
50
1.6. Simplikios
II Bleibt man bei der Aussage der Zeitaporie, dann heißt das: Ist es unmöglich, daß die zählende Psyche vorhanden ist, dann gibt es auch für das Zählbare keine Möglichkeit der Existenz. Die Zähl barkeit ist nicht an sich gegeben. Ohne eine Seele ist schon der Be griff selbst sinnlos. Ein außerseelisches Sein erhält die Numerabilität allein durch die Seele. Die fußt daher lediglich auf einer realen Basis, was Boethos nach Alexander von Aphrodisias vollkommen übersehen hatte. III Boethos bezog sich bei seiner Argumentation auf die sinnliche Wahrnehmung. Weil das Wahrnehmbare von der unab hängig ist, glaubte er, auch die Zeit sei autonom. Simplikios dage gen zeigt, daß das, was für den noetischen Bereich des Zählens gilt, auch in der sinnlichen Wahrnehmung seine Berechtigung besitzt. Boethos hat also mit seinem Ausweichen auf die nichts gewonnen. Simplikios beweist dies einleuchtend aus der Struktur der Wahrnehmung selbst, indem er, durch ein Beispiel aus der Psychologie des Aristoteles25 veranlaßt, das Sehen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt. Das Sehen richtet sich auf das Sichtbare wobei beide miteinan der verklammert sind. Das Sichtbare als Farbe aber verbleibt nicht nach der Aufhebung des Sehens. Bei der Annihila tion der genannten Relationen bleibt nur ein jeweils spezifisches zurück. Hierbei gibt es nach Simplikios zwischen der sinnlichen Wahrnehmung und dem noetischen Zählakt keinen Un terschied. Nicht anders verhält es sich bei der Beziehung der Seele zur Zeit. Die Aufhebung der Seele evoziert das Verschwinden der Zeit. Nur die Bewegung als ihr eigenes ist davon nicht betroffen. Dies hatte Boethos nicht erkannt. Indem ihn Sim plikios in der Psychologie der widerlegte, demonstrierte er ihm gerade dort seine theoretische Schwäche.26
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Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Abschließend ist es noch notwendig, zu einer zusammenfassenden Wertung des Satzes IVb gemäß der Auslegung des Simplikios zu gelangen. Nach Simplikios kommt diesem Satz im Grunde eine Brückenfunktion zu. Er verweist nicht nur auf die Sätze I bis IVa der Aporie, indem er abschließend die Situation der individuellen Zeitgewinnung erklärt, sondern er hebt durch seinen indirekten Hinweis auf die Bewegung die Zeitkonstitution aus der Enge des endlichen Bewegungsraumes in die Weite des überindividuellen Kos mos. Simplikios hatte wie Alexander von Aphrodisias und Themistios keinerlei Bedenken, die <aristotelische Zeitaporie>, und damit das Verhältnis von Zeit und Seele, auch auf den kosmologischen Bereich auszudehnen. Sollte die Zeit nicht ebenfalls dem Prinzip verbunden sein, von dem nach den Worten des Aristoteles Himmel und Natur abhängen? Zudem versuchte Simplikios, die Zeitphilosophie des Aristoteles an plato nische Auffassungen anzunähern. Er schloß seine Forschungen zur Zeitaporie sogar mit einem Piatonzitat ab. Wollte er damit etwa andeuten, daß die Zeit aporie die Brücke ist, die die Zeitphilosophie Platons mit den Zeituntersuchun gen des Aristoteles verbindet? Oder glaubte er, daß Aristoteles im innersten Kern seiner Zeitphilosophie immer noch Platon verpflichtet blieb? IVc
Bei einer näheren Betrachtung dieses Satzes fallen zunächst die zwei satzein (lat. ut) verbindet zunächst Satz IVc mit Satz leitenden Partikeln auf. Das IVb. Es verdient wie das (lat. si) besondere Beachtung. Das konditionale räumt ein, daß die in IVc genannte Unabhängigkeit der Bewegung (KLvon der Seele nur in Verbindung mit Satz IVb seine Gül tigkeit besitzt. Oder mit anderen Worten: Wenn Satz IVb auf ein außerseeli sches verweist, das als zu deuten ist, dann gilt dabei die Voraussetzung, daß dieses Zugrundeliegende als Bewegung ohne die Seele
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1.6. Simplikios
existiert. Aristoteles hat also nicht gesagt, daß die ohne Einschränkung von der Seele unabhängig ist, sondern er hat ihre Unabhängigkeit von der Psy che durch die einleitenden Satzpartikeln ausdrücklich nur auf einen Sonderfall eingeschränkt. Diese Akribie des Aristoteles ist den antiken Kommentatoren nicht entgangen.28 Sie haben diesen Satz vielmehr zum Ausgangspunkt ihrer Ausdehnung der Zeitaporie auf den kosmischen Bereich gemacht. Hatte Aristo teles, wenn er von Seele und Bewegung sprach, ausschließlich das Verhältnis 28
Spätere Ausleger haben die Sonderstruktur des Satzes IVc nie richtig ernst genommen. In der Moderne verstellte außerdem das Subjekt/Objekt-Schema den Blick auf den Text des Aristoteles völlig. Vereinfachend hieß es: Hier die Seele oder das <Subjekt>, dort die selbstverständlich von der Psyche unabhängige Bewegung im Sein. Eine solche Auslegung reduziert den Satz des Aristoteles dabei auf die Formel: . Indem sie die Oberhand gewann, geriet die Frage nach der näheren Bestimmtheit dessen, was Aristoteles über den Zusammenhang von Bewegung und Seele gedacht hatte, in Vergessenheit. Kaum je mand fragte, was hier mit gemeint ist. Der Satz IVc sank gemäß dieser verkürzenden In terpretation zur trivialen Selbstverständlichkeit herab, während sich das gesamte Interesse fast ausschließlich auf den Satz IVb verlagerte. Diese durch moderne Auslegungsschemata hervorge rufene Verzerrung des Sachverhaltes bedarf unter Berufung auf die Ergebnisse der antiken Ari stoteleskommentatoren einer kritischen Prüfung. Dabei ist es notwendig, die Frage unter Be rücksichtigung der Quellen erneut zu diskutieren. Wichtig ist hier die Kontroverse zwischen E. Fink und W. Wieland. Vgl. zunächst: E. Fink, Zur ontologischen Frühgeschichte von RaumZeit-Bewegung, Den Haag 1957, 231/2: «Die Charakteristik der Zeit als Zahl der Bewegung führt zuletzt noch auf die schwierige Frage, ob denn die Zahl der Bewegung sei, gleichgültig ob ein sie Zählendes ist, d.h. gleichgültig, ob die Seele zählt. Wie steht die Seele zur Zeit? Ver nimmt sie jene nur, gleichsam sich passiv verhaltend, - oder ist das Zählen der Seele in irgendei ner dunklen Weise mit Grund dafür, daß Zeit „ist"? Nicht als ob die Seele die Zeit produzierte, aber sie bringt am Ende doch etwas ausdrücklich zum Vorschein: eben die Anzahl der Jetzte, den ARITHMOS KATA PROTERON KAI HYSTERON; das Früher und Später aber bewirkt die Seele nicht, sie kann es nicht bewirken, denn es liegt je in der Bewegung des Bewegten selbst. Aber sie bewirkt die Heraushebung des Wieviel, die Heraushebung der Zahl in Bezug auf das Früher und Später. Durch das Zählen der Seele „entsteht" Zeit. Aber ist sie damit etwas „Subjektives" oder gar etwas bloß Menschliches, eine vom Menschen mitgebrachte „reine Form seiner Sinn lichkeit" oder etwas dergleichen? Der antike Begriff der Seele und auch des NOUS ist gerade nicht zunächst „anthropologisch", sondern kosmisch, zielt ab auf die Weltseele und die Weltver nunft, und erst mittelbar auf die menschliche Seele und ihr Denken. Aristoteles geht hier an die ser Stelle der „Physik" dem problematischen Zusammenhang von Zeit und Seele nicht weiter nach, das Problem wird nur angeritzt, nicht entwickelt. Es hat seine große Stelle in der Lehre vom „unbewegten Beweger", von der NOESIS NOESEOS, - Aristoteles springt schnell zu einer anderen Aporie über.» Dagegen wendet sich W. Wieland, Die aristotelische Physik, Göttingen 1962, 328, Anm. 14: «Auch hier bleibt es natürlich die Seele, die die Zählung und Messung vornimmt. Die Pointe der aristotelischen Zeitlehre geht verloren, wenn man hinter der zählenden Seele die Weltseele sucht, wie es etwa Fink (S. 231), wohl im Anschluß an Simplicius (760, 11 ff.), etwas voreilig bei der Interpretation von 223 a 16ff. tut... »
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Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
der menschlichen Psyche zur sublimaren im Blick? Den antiken Kom mentatoren fiel es im Gegensatz zu den modernen Aristotelesauslegern nicht schwer, die kosmologische Fundierung der Beziehung von Zeit, Bewegung und Seele bei Aristoteles zu bemerken. Alexander von Aphrodisias erarbeitete das entscheidende Modell dieser Beziehung, Themistios übernahm es, und Simplikios baute es mit Akribie weiter aus. Nur dieser Genauigkeit seiner Aristoteles exegese ist es zu verdanken, daß Simplikios' Kommentarabschnitt zu Satz IVc so überzeugend wirkt. Simplikios legt nahe, daß der Verweis des Aristoteles auf den Zusammen hang zwischen Seele und Bewegung keine zufällige Randbemerkung, sondern für das Verständnis der Zeitaporie von zentraler Bedeutung ist. Durchaus ge nau, so sagt Simplikios, sei Aristoteles bei der Vorlage des Satzes IVc vorge gangen. Um diese Genauigkeit zu dokumentieren, zieht Simplikios zwei Schluß folgerungen aus dem Satz des Aristoteles. Zunächst blickt er auf die erste und naheliegende Auslegung dieses Satzes: Die Bewegung existiert dabei unabhängig von der Seele und fungiert als das einer Relation. Sofern nämlich bei einer Entgegensetzung im Sinne eines relationalen Gefüges die Seele als ein Relationsglied dem Begriff nach aufgehoben wird spricht nichts dagegen, daß zwar nicht die Zeit existiert, die Bewegung aber dennoch vorhan den ist. Diese Auslegung bezieht sich auf die Situation der individuellen Zeit gewinnung durch die endliche menschliche Seele. Die endliche Psyche und die Bewegung sind nicht wesenhaft miteinander verklammert. Der Verstand quan tifiziert nur die und gewinnt so die Zeit. Zählt jedoch keine Seele, gibt es zwar keine Zeit, aber unvermindert die Bewegung.29 Anders liegen nach Simplikios die Verhältnisse, wenn die Analyse den engen Raum menschlicher Bewegungserfahrung in Richtung auf die Himmelsbewe gung verläßt. In der kosmischen Sicht der ergeben sich andere Aspek te. Dort ist die endliche Trennung zwischen Seele und Bewegung aufgehoben. In bezug auf die Zeit heißt das: Vermag die nicht ohne eine zu existieren, dann fällt nicht nur die Zeit, sondern auch die Bewegung hinweg, wenn eine (kosmische) Seele nicht vorhanden ist.30
54
1.6. Simplikios
Es zeigt sich demnach, daß Simplikios' Auslegung des Satzes IVc keineswegs gewaltsam ist. Er hat nur die Äußerung des Aristoteles, der hier die Beziehung von Seele und Bewegung/Zeit in den Blick nimmt, als einen Spezialfall der uni versellen kosmischen Beziehung zwischen Seele und Bewegung gedeutet. Dem Sinne nach ist er dabei wie Alexander von Aphrodisias vorgegangen. Simplikios bemüht sich nun, dieses kosmologisch begründete Modell des Alexander von Aphrodisias dem Leser vorzustellen. Zunächst geht er dabei von der kosmischen Kreisbewegung aus. Die Kreisbewegung, aus der die anderen Bewegungen und Veränderungen das Sein haben, deutet er nach eigener Aussage wie Alexander von ) Aphrodisias aus dem Intellekt und dem Streben der Himmelsseele. Wenn diese Seele entfällt, dann verschwindet auch jede an dere Bewegung.31 Zeit ist dann nicht mehr möglich. Damit hat Simplikios das Fundament seiner Konzeption preisgegeben. Die weiterführenden Untersuchungen, die sich daran anschließen. sind nicht mehr als eine Absicherung seines kosmischen Grundmodells durch kosmologische, aus der aristotelischen Naturphilosophie entnommene Theo reme.32 Sie erbringen keine neuen Einsichten zur Zeitaporie und brauchen da her nicht Gegenstand dieser Untersuchung zu sein. Wichtiger ist die Einsicht, daß die kosmologische Auslegung der Zeitaporie, die Simplikios wie kein ande rer exzessiv durchgeführt hat, auch die beiden letzten Sätze der Zeitaporie be stimmt. V/VI
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Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Nachdem Simplikios im Anschluß an Alexander von Aphrodisias den Satz IVc der aristotelischen Zeitaporie als Hinweis auf die indirekte Konstitution der Zeit durch die Seele des Himmels interpretiert hatte, konnte er die Exegese der folgenden Sätze V und VI nicht isoliert vornehmen, sondern mußte sie mit den Ergebnissen aus der Auslegung von Satz IVc zu einem einheitlichen Block ver schmelzen. Simplikios analysiert die beiden Sätze, indem er sie in eine rekapi tulierende Überlegung zum Verhältnis von Zeit und Seele einbindet. Die Einsicht in die Bestimmheit des gewinnt Sim plikios dabei durch eine Reflexion, die von den bisher erzielten Einsichten aus geht. Er erinnert erneut daran, daß die Zeit als zählbare Zahl verschwindet, wenn die zählende Entität entfällt. Was bedeutet das für die Strukturbestim mungen des Simplikios gibt darauf eine klare Antwort. Er deutet das zunächst als Erstreckung der Bewegung. Ausgehend davon vervollständigt er nun die o.g. Reflexion: Mag auch die Zeit durch die Aufhebung der zählen den Seele entfallen, so verbleibt doch das als ein Ge füge, das gemäß der Erstreckung des Seins der Bewegung existiert.34 Jedenfalls empfängt die Zeit das erst durch das Diese Analyse der Determinanten der im Anschluß an Satz V und VI der Aporie ist mit einer Untersuchung der Erstreckung der Bewegung verbun den. Eine Auslegung, die von dort aus in die Tiefe geht, gelangt über die De terminanten der Bewegung nicht nur zur selbst, sondern auch zu ihrem Ursprung. Dadurch erhält die Bewegung (und damit die Zeit) Anschluß an ih ren kosmischen Urgrund. Die Zeit ruht auf der Erstreckung der aber die universelle Bewegung ist selbst von ihrer kosmischen Ursache abhängig. Gemäß seinem kosmologischen Konzept geht Simplikios von der Seele des Himmels aus. Wenn diese Seele vergeht, die der Ursprung des Entstehens und die Ursache jeder Bewegung ist, dann existiert auch die Zeit nicht mehr, insofern sie mit der (Himmels-) Seele zusammen vorhanden ist
56
1.6. Simplikios
Der Bezug zwischen Seele, Bewegung und Zeit erscheint hier aus der Per spektive des aristotelischen Universums. Mit Recht habe Aristoteles, so sagt Simplikios, daher darauf verwiesen, daß das Zählbare als Zeit aufgehoben sei, wenn die zählende Seele wegfällt. Entfällt nämlich das Prinzip des Entstehens und der Bewegung dann sind auch die Bewegung und das Entstehen aufgehoben Diese Verklammerung von Seele und Bewegung hat Aristoteles nach Simplikios im Auge gehabt, als er in Satz IVc der Zeitaporie die Frage nach dem Zusammenhang von Seele und Bewegung ansprach.36 Immer mehr drängt Simplikios den Satz IVc der Zeitaporie in den Vorder grund. Er versteht ihn als ein Symbol für die kosmologische Auslegung der Zeitaporie. Diese universelle Exegese der aristotelischen Aporie bietet gleich sam die Möglichkeit, die Zeitgewinnung der endlichen die Aristoteles im ersten Abschnitt der Aporie diskutiert, in den großen Rahmen des Kosmos ein zufügen. Die individuelle Zeitgewinnung, bei der eine endliche Seele die Bewe gung zählt, gibt es nur, weil die Himmelsseele die verursacht und da mit auf ihre Weise vorstrukturiert hat. Insofern erscheint die Zeitaporie als ein aufsteigender Weg von der individuellen zur kosmischen Seele. Dieses kosmologische Modell, das Simplikios am Ende seiner Auslegung der Zeitaporie vorstellt, bietet ihm zuletzt sogar die Möglichkeit, das Konzept des Aristoteles durch seine spezifische Theorie des Zusammenhangs von Zeit und Seele mit dem Entwurf Platons zu verbinden. Zum Abschluß seiner Auslegung faßt Simplikios zunächst die gesamten Er gebnisse seiner Untersuchungen zusammen: Die Zeit ist etwas, das an der Be wegung vorhanden ist Bewegung ist hier im kosmischen Maßstab zu verstehen. Wenn also diese entfällt, dann muß auch die Zeit als das Etwas an der Bewegung wegfallen. Ebenso fällt auch die Zeit, die im Entstehen ihr Sein besitzt, durch die Aufhebung der Seele, die die Ursache des Entstehens und der Bewegung ist, in ihrer Gesamtheit fort.37
57
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Kronzeuge dieser Verankerung der Zeit in der kosmischen Seele als dem Urgrund der Bewegung ist für Simplikios der Satz IVc der Zeitaporie, den er hier erneut anfügt: <Wenn es zulässig ist, daß die Bewegung ohne die Seele exi stiert> so heißt das im Verständ nis des Simplikios: <Wenn es zulässig ist, daß die Bewegung ohne das Bewe gende ist>. Es ist jedoch nach Simplikios nicht zulässig. Das letzte Bewegende deutet er daher mit Platon als die Quelle und den Urheber der Bewegung.38 Simplikios bezieht sich dabei auf Platons Phaidros. Platon bezeichnet dort die Seele als das immer Bewegte und insofern Unsterbliche Ein Bewegendes und ein von einem anderen Bewegtes könnte da gegen auch zu einem Stillstand des Lebens und der Bewegung gelangen. Davon grenzt Platon deshalb das Unsterbliche und sich selbst Bewegende ab, denn dieses autokinetische Seiende beendet nicht seine eigene Ak tivität. Für alle, die Bewegung erfahren, ist demnach die sich selbst bewegende Seele eine Quelle und ein Ursprung der Bewegung.39 Dies ist für Simplikios die entscheidende Formel. Platons Satz von der Seele als Quelle und Ursprung aller Bewegung erhält daher eine grundlegende Quali tät: Simplikios erhebt ihn zum Kernsatz seiner Kosmologie, den er auch an an derer Stelle gern zitiert.40 Gegen Ende der Auslegung der Zeitaporie durch Simplikios erscheint daher Platons Philosophie der als Höhepunkt der kosmologischen Interpretation der Zeitaporie. Die Himmelsseele ist nach Sim plikios die Ursache, aus der alles Entstandene hervorgeht
40
Simplikios hätte nicht den Versuch einer Synthese von Platon und Aristoteles in der Begrün dung der Naturphilosophie gewagt, wenn es nicht möglich gewesen wäre, an latente Bezugs punkte anzuknüpfen. Vgl. in diesem Zusammenhang: F. Solmsen, Plato's First Mover in the eighth book of Aristotle's Physics, in: Philomates. Studies and Essays in the Humanities in Memory of Ph. Merlan, The Hague 1971, 171-182.
58
1.6. Simplikios
Und sie ist gemäß diesem Verständnis die Seele, zu der Aristoteles in der Zeitaporie hinführen will. Die umfangreiche und komplizierte Studie, die Simplikios zur Zeitaporie an gefertigt hat, ist, entwicklungsgeschichtlich betrachtet, der Höhepunkt der aus der Antike überlieferten Forschungen zur Zeitaporie.41 Hier sind alle damals zugänglichen Möglichkeiten der Auslegung dokumentiert und analysiert. Ohne die Ausführungen und Analysen des Simplikios blieben manche Details der frü heren Diskussionen völlig unverständlich. So nahm Simplikios die von Alexan der von Aphrodisias in Auseinandersetzung mit Boethos gewonnene Ausle gungsstruktur der Zeitaporie ins Zentrum seiner textanalytischen Konzeption auf. Die Basis seiner Exegese ist dabei der Satz IVc der Aporie. Weil die Bewe gung das der Zeit ist, existiert die Zeit als etwas an der Bewe gung. Wenn daher die durch die Himmelsseele initiierte kosmische Kreisbewe gung wegfällt, gibt es auch für die endliche zählende keine Zeit mehr. In der Auslegung des Simplikios führt die Zeitaporie demnach von der menschli chen Intellektualität zur Seele des Himmels. Gemäß dem Physikkommentar des Simplikios besitzt die Rede des Aristoteles von der Seele in der Zeitphilosophie mehr Ähnlichkeit mit den entsprechenden platonischen Theoremen, als die moderne Forschung annimmt. Sie lehnt die Lösung des Simplikios zur Zeitaporie fast ausnahmslos als neuplatonisch ab. Dennoch führen seine Untersuchungen zu einer bestimmten Sensibilisierung bei der Bestimmung der Natur der in der aristotelischen Zeittheorie. Darin liegt ihr unbestreitbarer Wert für die moderne Aristotelesforschung.
41
Zur weiteren Wirkungsgeschichte des Simplikios auch im arabischen Sprachraum vgl.: I. Hadot, The life and work of Simplicius in Greek and Arabic sources, in: R. Sorabji (Hrsg.), Aristotle Transformed. The Ancient Commentators and Their Influence, London 1990, 275-
59
1.7. Johannes Philoponos Johannes Philoponos hat eine Fülle von Schriften hinterlassen, die durch die Vielfalt ihrer Themenstellung weit über das übliche Programm der Aristote leskommentatoren hinausgehen. Der Physikkommentar des Philoponos gehört dabei zu den Frühschriften. Er läßt sich sehr genau auf das Jahr 517 datieren.1 Im Vergleich zu den anderen aus der Antike überlieferten Physikkommenta ren ist der Text des Philoponos ziemlich häufig Gegenstand umfangreicher Un tersuchungen gewesen.2 Auch die exponierten Thesen des Philoponos bzw. ihre interessante Wirkungsgeschichte haben oft zu Forschungsarbeiten angeregt.3 Im Hinblick auf die Zeittheorie teilt Philoponos jedoch das Schicksal der anderen antiken Aristoteleskommentatoren. Auch seine zeitphilosophischen Texte fan den in ihrer Gesamtheit bisher wenig Beachtung.4 Hier ist es aber erforderlich, den engen Rahmen einer Einzeluntersuchung zu sprengen. Dies geschieht durch die Einordnung der Thesen des Philoponos zur Zeitaporie in die allgemeine Entwicklungslinie der Auslegung seit Boethos und Alexander von Aphrodisias. Wie auch im Hinblick auf Themistios und Simplikios bleibt Alexander der große . Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen zwischen den Thesen des Johannes Philoponos und den Texten der anderen Kommentato ren brauchen nicht zwangsläufig auf direkten Abhängigkeiten zu beruhen. Sie können auch dadurch verursacht sein, daß alle überlieferten Physikkommentare der Antike mehr oder weniger vom Entwurf Alexanders abhängen. Nichts un terstreicht auffallender die Rolle als Standardkommentar, die dieser Text in der Spätantike angenommen hatte. Der Verlust seiner Physik erschwert trotz der Reste, die Simplikios aufbewahrt hat, die genetische Einordnung der Thesen des
1
Vgl. K. Verrycken, The development of Philoponus' thought and its chronology, in: R. Sorabji (Hrsg.), Aristotle Transformed. The Ancient Commentators and Their Influence, London 1990, 239. 2 Zur Bibliographie vgl.: R. Sorabji (Hrsg.), Aristotle Transformed. The Ancient Commenta tors and Their' Influence, London 1990, 497-499. 3 Für die Wirkungsgeschichte des Physikkommentars ist wichtig: Ch. Schmitt, Philoponus' Commentary on Aristotle's Physics in the Sixteenth Century, in: R. Sorabji (Hrsg.), Philoponus and the Rejection of Aristotelian Science, London/Ithaca N.Y. 1987, 210-227. 4 Vgl. Philoponus, Against Aristotle on the Eternity of the World, ed. C. Wildberg, London/ Ithaca N.Y. 1987.
60
1.7. Johannes Philoponos
Philoponos in die allgemeine Entwicklungslinie der antiken Physikkommentare außerordentlich. Hinzu kommt, daß die Auslegung der Zeitaporie durch Philoponos völlig frei von Hinweisen und Quellenangaben ist, die bei Simplikios so reichlich zu finden sind. Weder paraphrasiert Philoponos wie Themistios, noch schmückt und be reichert er seine Ausführungen wie Simplikios mit Zitaten aus heute verlorenen Schriften. Wäre aus der Antike allein die Auslegung des Philoponos zur Zeit aporie erhalten, dann bliebe die bedeutende Leistung des Alexander von Aphrodisias auf diesem Gebiet völlig verborgen. Nur wer durch das Studium der Ex egese des Simplikios mit den Details dieses Spezialgebietes der antiken Zeitphi losophie vertraut ist, vermag im Text des Philoponos die Anspielungen zu ent decken, die auf seine Herkunft schließen lassen. Simplikios verfaßte seinen Physikkommentar nach 5325, während der Text des Philoponos 517 entstanden ist. Chronologisch gehört demnach die Ausle gung des Philoponos vor die Untersuchung des Simplikios. Die hier vorge nommene Abweichung von der zeitlichen Anordnung bedarf daher der Begrün dung. Für eine Unterbrechung der Chronologie sprechen sowohl didaktische als auch inhaltliche Gründe. Die Auslegung des Simplikios ist eine bedeutende Lei stung, die in sich die Ergebnisse der wichtigsten antiken Physikkommentatoren zur Zeitaporie versammelt. Mag sein Text zu einem großen Teil von Alexander abhängig sein und vielleicht sogar umfangreicher, als hier nachweisbar war, so hat er doch einen in sich geschlossenen und bruchlosen Gesamtentwurf vorge legt. Die Auslegung des Simplikios ist insofern die Krönung der aus der Antike überlieferten Auslegungen zur<aristotelischenZeitaporie>. Anders ist die Sachlage bei Philoponos. Philoponos hat sich bei der Ausle gung der Zeitaporie nicht von platonischen Einflüssen leiten lassen. Sein Text weist eher in Richtung auf die arabischen Kommentatoren. Philoponos stuft zu dem die Bedeutung der Zeitaporie für die Zeitphilosophie bewußt herunter. Daher zeigt sein Kommentar bestimmte Eigenheiten, die ihn vom Text des Simplikios deutlich abheben. Dazu gehört die Klarheit und Durchsichtigkeit der Argumentation ebenso wie die Konzentration des Stoffes. Auch in formaler Hinsicht gibt es Unterschiede zum Entwurf des Simplikios. Philoponos hat keinen einheitlichen Text zur Zeitaporie hinterlassen. Seine 5
Vgl. I. Hadot, The life and work of Simplicius in Greek and Arabic sources, in: R. Sorabji (Hrsg.), Aristotle Transformed. The Ancient Commentators and Their Influence, London 1990, 290.
61
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Auslegung zerfällt gleichsam in zwei Hälften von unterschiedlicher Qualität. Hinzu kommt noch, daß Philoponos diese zwei Hälften an zwei voneinander entfernten Stellen seines Physikkommentars plaziert hat. Dadurch gelangt in seine Konzeption eine bestimmte Asymmetrie. Philoponos hat daher die syste matische Vollendung der Analyse des Simplikios nicht erreicht. Eine Zuordnung der über zwei Texthälften verteilten Exegese des Philopo nos zu den einzelnen Sätzen des Zeitaporie ergibt folgende Übersicht:
Satz
Abschnitt I
Abschnitt II
І/
770, 3-23
—
III
—
775, 6-13
IVb/c
—
775, 14-19
770, 23 IVc
— 771,3
775, 20 V/VI
— 776, 4
Die inhaltliche und formale Asymmetrie der Auslegung der <aristotelischen Zeitaporie> durch Philoponos veranlaßt bestimmte Schwierigkeiten für den Rezipienten. So findet er an unerwarteter Stelle umfangreiche Äußerungen, die sich ohne Schwierigkeiten bestimmten Sätzen der Zeitaporie zuordnen lassen. Dort aber, wo Philoponos gemäß der Sukzession des aristotelischen Leittextes die Zeitaporie kommentiert, muß er mit wenigen Bemerkungen und skizzenhaf62
1.7. Johannes Philoponos
ter Ausführung zufrieden sein. Dennoch sind beide Texte aufeinander bezogen und ergänzen sich gegenseitig. Wer einen von ihnen vernachlässigt, erhält da her ein falsches Bild vom Gesamtentwurf. I
II
Philoponos hat keine direkte Auslegung von Satz I und II der Zeitaporie aus gearbeitet. Aber es gibt einen Abschnitt seines Physikkommentars, der sich die sen Texten zuordnen läßt. Philoponos behandelt dort die ersten zwei Sätze der Aporie Diese baut sich auf zwei Fragen des Aristoteles auf: In Phys. IV 14, 223 a 16/7 fragt Aristoteles zunächst nach dem Verhältnis der Zeit zur Seele.8 Wenig später erscheint die Problematik dann auf modifizierte Weise (Phys. IV 14, 223 a 21/2). Aristoteles fragt nun nicht mehr bloß nach dem Verhältnis von Zeit und Seele, sondern er stellt das Sein der Zeit zur Disposition: Existiert die Zeit, wenn die Seele nicht vorhan den ist, oder gibt es sie dann nicht mehr? Philoponos geht bei der Auslegung dieser Frage von der Zeitdefinition des Aristoteles aus. Wenn die Zeit gemäß ihrer Definition die Zahl der Bewegung ist, dann muß nach der Zeitphilosophie des Aristoteles nicht die , sondern die
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21/2. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 22-24. Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 16/7: ...
63
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
, gemeint sein. Indem also diese letzte Zahl nicht existiert, ist auch die Modifikation der Zahl nicht vorhanden, von der Aristoteles in seiner Definition spricht. Eine derartig modifizierte Zahl gibt es deshalb nur durch ei ne zählende oder, wenn man es genauer faßt, durch eine vernunftgemäße Seele.9 Nachdem Philoponos auf diese Weise die Grundtendenz seiner Argumenta tion vorgestellt hat, entwickelt er eine Beweiskette, die extensiv mit dem Ver bum (aufheben) operiert: a)
Aufhebung der Seele
Aufhebung des Zählenden
b)
Aufhebung des Zählenden
Aufhebung des Zählbaren
c)
Aufhebung des Zählbaren
Aufhebung der Zahl
d)
Aufhebung der Zahl
Aufhebung der Zeit
e) Aufhebung der Zeit10
Aufhebung der Seele
Diese übersichtliche Beweiskette erscheint zwar in sich schlüssig, läßt aber einen Einwand zu, den Philoponos kurz diskutiert. Wenn das Zählbare und die Zahl dasselbe sind, dann muß mit der Aufhebung der Seele nicht nur das Zähl bare, sondern auch die Zahl (oder die Zeit) entfallen. Philoponos geht dabei zunächst von den Sätzen c) und d) aus. Was aber geschieht, wenn das Zählbare
64
1.7. Johannes Philoponos
und die Zahl nicht dasselbe sind? Bleibt nicht bei der Aufhebung der Seele, die zwar die Annihilierung der Zeit als das Zählbare nach sich zieht, die Anzahl der Seienden selbst zurück? Philoponos gibt dafür ein Beispiel: Die Zehnzahl der Steine als ein (durch die Seele) Zählbares entfällt zwar bei der Vernichtung der Seele, aber die zehn Steine an sich bleiben bestehen, auch wenn keine Seele existiert.11 Es ist leicht zu erkennen, daß Philoponos hier auf die von Alexander von Aphrodisias entwickelte Lösung der Aporie einschwenkt. Die hier erwähnten Steine stehen für die Bewegung als der Zeit. Mag diese Bewegung auch unabhängig von der endlichen Seele existieren, so ist sie doch von der kosmischen Seele nicht abtrennbar. Philoponos lehnt sich damit eng an die von Alexander vorgegebene kosmologische Auflösung der Aporie an. IVc
Die Auflösung des Widerspruchs, auf den Philoponos bei der Auslegung der Sätze I und II der Zeitaporie hingewiesen hatte, erfolgt durch den Einstieg in die kosmologische Interpretation der Zeitaporie.13 Philoponos geht zunächst von der kosmischen Seele aus, deren konkrete Beschaffenheit er an dieser Stelle
12
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 27/8. Strukturell gleicht die Argumentation, die Philoponos dabei vorlegt, der Auslegung des Simplikios zu Satz IVc. Eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht daher dafür, daß sowohl Simplikios als auch Philoponos hier aus dem Physikkommentar des Alexander von Aphrodisias schöpfen. Es ist daher auch erlaubt, die folgenden Thesen des Philoponos als Kommentar zu Satz IVc der Zeitaporie zu verstehen, obwohl Philoponos diese Zuordnung nicht vorgenommen hat. 13
65
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
jedoch nicht weiter untersucht. Die Schlußfolgerungen, die er dabei zieht, sind einfach und übersichtlich:
a)
Aufhebung der kosmischen Seele
= Aufhebung der Bewegung,
b)
Aufhebung der Bewegung
= Aufhebung der Zeit,
c)
Aufhebung der kosmischen Seele
= Aufhebung der Zeit.14
Dieses Modell deutet die Zeit als eine Bestimmtheit an der Bewegung indem nun die Himmelsbewegung in der kinetischen Aktivität der kosmischen Urseele ihren Ursprung hat, ist auch die Zeit durch ihre Ver knüpfung mit der Bewegung als etwas an der von der Existenz dieser Seele abhängig. Die Problematik der Theorie des Philoponos liegt deshalb we niger in den Schlußfolgerungen, die sie im Hinblick auf die Zeit zuläßt, als in der Konzeption der kosmischen Seele selbst.15 Die kosmologische Auslegung der Zeitaporie und die damit verbundene Idee einer kosmischen Seele als Ursache der an die Bewegung geknüpften Zeit drängt sich bei Philoponos so massiv in den Vordergrund, daß für die anderen Aspekte der Zeitaporie kaum noch Raum bleibt. Dies zeigt die zweite Hälfte seiner Exegese der Zeitaporie. Die wenigen Äußerungen in der Sekundärliteratur zur Auslegung der Zeit aporie durch Philoponos lassen erkennen, daß die Forschung nur ihren zweiten Teil, der relativ einfach aufzufinden ist, näher zur Kenntnis genommen hat. Wer jedoch auf einen Einblick in Teil I verzichtet, erlangt nur einen ober flächlichen und verstellten Eindruck von der Analyse des Philoponos. Beide Teile ergänzen sich. Eine angemessene Lektüre des zweiten Teils ist nur nach dem Studium des hier zuerst besprochenen Abschnitts möglich.
66
1.7. Johannes Philoponos
Im zweiten Teil seiner Auslegung zur Zeitaporie überspringt Philoponos die Sätze I und II der Aporie. Eine erneute Auslegung dieser Aussagen war auch nicht notwendig, denn Philoponos hatte sie schon im ersten Teil ausführlich besprochen. Der zweite Auslegungsschritt beginnt daher mit Ausführungen zum dritten Satz des Aristoteles: III
Nach der Analyse zu ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 1917 geht Philoponos daher sofort zu Satz III über. Die Ausführungen des Philoponos sind hier im Vergleich zu den umfangreichen Analysen im ersten Teil seiner Auslegung der Zeitaporie ziemlich knapp. Satz III der Aporie zeigt eine enge Verbindung mit dem zweiten Satz der Aporie. Die grundlegende Relation zwischen Seele und Zeit ist dort auf eine zahlentheoretische Basis gestellt. Sie erscheint als Verhältnis der zählenden zum Zählbaren bzw. zur Zahl. Im Anschluß daran entfaltet Satz III die spezifischen Momente der Zahl. Philoponos zerteilt die Zahl in Modifikationen, die nach seinen Angaben alle dem -Schema unterworfen sind. Diese Struktur determiniert schon die Überlegungen des Themistios. Alexander von Aphrodisias brachte sie zuerst in die Diskussionen um die Zeitaporie ein. Auf diese Herkunft ist Philoponos allerdings nicht eingegangen. Welchen Sinn hat nun dieser dritte Satz innerhalb der Aporie? Philoponos entfaltet zunächst das Gefüge zwischen zählender Entität und Zahl nach den Modi der Potentialität und der Aktualität. Die Aktivität der Seele ist dabei innerhalb dieser Konfiguration unerläßlich. Zuletzt gelangt Philoponos zu folgenden Schlüssen:
a)
16 17
Aufhebung der Zahl
Aufhebung des Zählbaren
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 24/5. Vgl. PHILOPONUS, Phys. 774, 6-775, 5.
67
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
b)
Aufhebung des Zählenden
=
Aufhebung des Zählbaren
Da das zählende Seiende die Seele ist, fällt durch deren Aufhebung nicht nur die Zahl, sondern auch die Zeit weg. Die wenigen Sätze, die Philoponos zu Satz III geschrieben hat, dienen also allein dem Nachweis, daß die Zeit nicht ohne die Seele vorhanden ist, aber sie bringen nur dem Gewinn, der die Problematik schon kennt. Wer könnte sonst aus den spärlichen Notizen des Philoponos die Bedeutung des -Schemas für die Analyse der Aporie erah nen? Auch hier verdrängt also die spezifische Auslegung des Alexander von Aphrodisias mit ihrem Schwerpunkt auf dem kosmologischen Aspekt die ande ren Probleme der Zeitaporie.18 Der Einfluß Alexanders zeigt sich auch im Kommentartext des Philoponos zu den Satzteilen IVb/c: IVb/c
Die entsprechende Analyse des Philoponos zu den Sätzen IVb/c der Zeit aporie ist ebenfalls kaum mehr als eine Skizze. Dennoch enthält sie das von Alexander zur Auflösung der Aporie entwickelte -Modell als Grundgerüst und Hilfsmittel. Alle Elemente der Theorie Alexanders, die sich aus der Rekonstruktion der bei Simplikios überlieferten Fragmente ergeben, faßt Philoponos in wenigen Sätzen zusammen. Dabei hat er die komplizierten Analysen des Aphrodisiers, dessen Physikkommentar ihm noch in seiner Ge samtheit vorlag, auf ein Minimum reduziert und nur noch das Argumentations-
68
1.7. Johannes Philoponos
gerüst vorgestellt. Alle weiteren Aspekte des -Modells gingen da bei verloren. Selbst ein Verweis auf seine Herkunft aus dem Physikkommentar Alexanders fehlt, so daß in einer neueren Untersuchung Philoponos fast die Urheberschaft an dieser Auslegungsweise zugesprochen erhielt, obwohl er das basale Verfahren ohne Modifikation von Alexander übernommen hat.20 Daß Philoponos den Untersuchungen des Aphrodisiers eigentlich nichts hinzufügte, zeigt die nähere Betrachtung seiner Kurzbeschreibung der -Theo rie. Philoponos bemerkt, daß die als die Basis der Zeit zwei Aspekte besitzt: I
Zunächst verweist er darauf, daß auch die Zeit entfällt, wenn die Seele nicht existiert. Dabei bleibt die Bewegung als das der Zeit Zugrundeliegende zurück. Diesen Sachverhalt drückt die Formel aus dem Satz IVb aus.
II
Obwohl die zunächst von der endlichen unabhängig ist, bezeichnet Philoponos in einem zweiten Schritt die Himmels seele als die Ursache der kosmischen Bewegung. Diese Tatsache dokumentiert seiner Ansicht nach der Satz IVc der Aporie.21
Philoponos hat also die kosmologische Lösung der Aporie in ihrer Totalität von Alexander übernommen. Er geht hierbei nicht anders als Themistios vor.
20
Da Philoponos das Argumentationsgerüst des -Modells auf ein Minimum redu zierte, fiel es in seiner Einfachheit hier eher auf als in den Fragmenten Alexanders, der Para phrase des Themistios oder im umfangreichen Kommentar des Simplikios. So schreibt F. Volpi, Chronos und Psyche. Die aristotelische Aporie von Physik IV, 14, 223 a 16-29, in: E. Rudolph (Hrsg.), Zeit, Bewegung, Handlung. Studien zur Zeitabhandlung des Aristoteles (Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft 42), Stuttgart 1988, 33: «Die soeben er wähnte Antwort des Aristoteles auf die Aporie (223 a 26) wird in diesem Sinne auch von Phi loponos kommentiert. Dabei fügt Philoponos eine wichtige terminologische Bemerkung hinzu (!), die uns den Sinn des in der Aristoteles-Forschung kontroversen Ausdrucks ö πε öv er klärt. Diese Formel, die im gesamten Corpus Aristotelicum überhaupt nur zehnmal vorkommt, und die in ihrer Vollständigkeit ö lauten soll, bezeichnet nach Philoponos' Erklärung nichts anderes als das Zugrundeliegende, im besprochenen Fall das der Zeit Zugrundeliegende und das ist die Bewegung.»
69
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Auch Simplikios ist davon nicht abgewichen. Eine eigenständige Leistung kommt Philoponos bei diesem Verfahren demnach in keiner Weise zu. Ein vergleichbares Ergebnis erbringt das Studium seiner Auslegung der letzten bei den Sätze der Zeitaporie.
V/VI
Philoponos beginnt seine Analyse mit einem erneuten Hinweis auf die Theorie der Zeit. Auch hier leistet er nichts Eigenständiges. Philopo nos kommt hier kaum über eine Paraphrase des Aristotelestextes hinaus. Die wesentlichen Strukturen der Zeitaporie überschaut er jedoch, denn er konzen triert seine Aufmerksamkeit auf die aristotelische Formel Diesen Ausdruck legt Philoponos erneut als Hinweis auf die der Zeit zugrundeliegende Bewegung aus. Die Sätze V und VI deutet er dabei als Konkretisierung des Zunächst behauptet er, daß das der Zeit in der Bewegung vorliegt. Diese basale Struktur existiert in der wie in ei nem . Allein auf diese Weise verbirgt sich die Zeit in der Bewe gung. Leider hat Philoponos seine These nicht präzisiert. Die für das exakte Verständnis der Zeitaporie so fundamentale -Theorie der Zeit er fährt auch hier keine Vertiefung und Erweiterung.23
70
1.8. Die antiken Aristoteleskommentatoren zum noetischen Sein der Zeit im Kontext der griechischen Zeitphiloso phie Das Ziel der antiken Aristoteleskommentatoren bei der Auslegung der <aristo telischen Zeitaporie> war der Nachweis der Verknüpfung von kosmischer Seele und Zeit. Sie fügten dabei die endliche zählende harmonisch in den ge samten kosmischen Bereich ein. Die Himmelsseele verursacht zunächst die Kreisbewegung des Universums. Dann zählt die endliche Seele jene Bewegung und gewinnt auf diese Weise die Zeit als Zahl. Dabei befindet sich die Zahl als ein noetisches innerhalb des Geistes. Weil aber die Himmelsseele die Fundierung und Strukturierung der Bewegung des Universums sichert, be gründet sie das außerseelische Sein der Zeit. Da jedoch die Frage nach der Existenz bzw. Nichtexistenz der Zeit in der Spätantike schon eine lange Tradition besaß, mußten sich auch die Aristote leskommentatoren damit auseinandersetzen. Zudem erkannten sie, daß eine Lö sung dieses Problems die Einsicht in das Verhältnis von Zeit und Seele erheb lich erleichtert. Zwischen dem rein außerseelischen Sein der Zeit und ihrer seelischen Existenz suchten diese Philosophen einen Kompromiß. Die These vom Nichtsein der Zeit ist in den überlieferten Texten zur antiken Philosophie oft im Zusammenhang mit der Setzung einer seelischen Existenz der Zeit zu finden.1 Eine Trennung beider Probleme wäre daher nicht nur hi storisch falsch, sondern auch eine willkürliche Spaltung ihres inneren Zusam menhangs. Zudem läßt der fragmentarische Charakter der entsprechenden Überlieferung ein derartiges Verfahren nicht zu. Viele Philosophen aus den unterschiedlichsten Schulen, deren Texte nur äußerst lückenhaft zugänglich sind, haben das Nichtsein der Zeit vertreten. Eine systematische und historische Sichtung aller der zu dieser Frage überlieferten Quellen fehlt jedoch noch. Keine zukünftige Untersuchung, die Vollständigkeit erstrebt, darf dabei die Stellungnahmen der antiken Aristoteleskommentatoren vernachlässigen. Die hy pothetische Rekonstruktion der genetischen Entwicklung aller antiken Thesen zum Nichtsein der Zeit ist zwar mit vielen Unsicherheiten behaftet und durch große Überlieferungsverluste behindert, aber nicht unmöglich. Daß sich die 1
Eine erste Zusammenstellung der antiken Quellen hat W. Beierwaltes vorgenommen. Vgl. dazu: Piotili, Über Ewigkeit und Zeit (Enneade III 7). Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von W. Beierwaltes, Frankfurt am Main 19813, 288.
71
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
spätantiken Aristoteliker in das komplexe Gefüge der antiken Theorien zur Frage nach dem Sein oder Nichtsein der Zeit harmonisch einordnen lassen, sol len die folgenden Ausführungen beweisen. I. Die Frage nach dem Nichtsein der Zeit ist kein singulares Problem des an tiken Aristotelismus. Schon Aristoteles selbst versucht eine Lösung zu Beginn seines Zeittraktates. Dabei stellt er das Sein der Zeit zur Disposition. Das Ver gangene existiert nicht mehr, die Zukunft ist noch nicht vorhanden. Zur Zeit gehören aber Zukunft und Vergangenheit. Wenn diese jedoch nicht sind, wie ist dann die Zeit zu verstehen? Vermag ein Phänomen, das dem Nichtsein verhaftet ist, an der Substanz zu partizipieren?
Aristoteles stellt mit diesen Sätzen nicht seine eigene Position vor, sondern er diskutiert nur eine bestimmte historische Kritik am Sein der Zeit. Er beginnt hiermit gleichsam seine historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Zeit. Dieses Verfahren des Aristoteles ist aus vergleichbaren Ausarbeitungen zu anderen Themen der Philosophie ausreichend bekannt: Zunächst destruiert Ari stoteles die Thesen seiner Vorläufer, danach stellt er eine eigene Position vor. Im Zeittraktat ist es nicht anders. Dabei begann Aristoteles nicht streng chrono logisch, sondern ließ sich bei seiner Auswahl von sachlichen Gesichtspunkten leiten. Er untersuchte zunächst die Frage nach dem Sein der Zeit. Sie ist das Grundproblem der gesamten Zeitphilosophie. Daher gehört sie an den Anfang. Und im Anfang der Philosophie stand sie zur Diskussion.3 Durch die Destruk2
ARISTOTELES, Phys. IV 10, 217 b 32- 218 . Vgl. das Stichwon in: H. Diels/W. Kranz (Ed.), Die Fragmente der Vorsokratiker III; Berlin 61952 (7. Nachdruck Hildesheim 1987), 475/6. 3
72
1.8. Die antiken Aristoteleskommentatoren im Kontext
tion eines bestimmten historischen Standpunktes zum Nichtsein der Zeit wollte Aristoteles also zunächst Klarheit schaffen. Der weitere Verlauf seines Zeittraktates spricht für diese Annahme. Denn nachdem Aristoteles die Ableitung des Nichtseins der Zeit aus den Aporien des Jetztpunktes kritisiert hat4, beklagt er die Unzulänglichkeit der traditionellen Theorien bei der Bestimmung der Natur der Zeit.5 Danach diskutiert er ältere Hypothesen zur Identifizierung der Zeit mit dem Kosmos bzw. mit seiner Ro tation. 6 Gegen wen richten sich nun seine Ausführungen zum Nichtsein der Zeit? Simplikios gibt in seinem Corollarium de tempore dazu einen Hinweis. Er verbindet das gesamte Stück ARISTOTELES, Phys. IV 10, 217 b 32-218 mit der Passage ARISTOTELES, Phys. VI 2, 233 a 16-31. Dort beschäftigt sich Aristoteles mit der Widerlegung der Bewegungsparadoxien Zenons, die aus der Aporetik des Jetztpunktes entspringen.7 Auch der Neuplatoniker Damaskios äu ßert sich vergleichbar, wie Simplikios berichtet.8 Die Vermutung ist daher berechtigt, daß Aristoteles an der o.g. Stelle bestimmte Zeitaporien Zenons kritisiert hat. Wenn Zenon durch seine berühmten Paradoxien das Sein der Bewegung leugnete9 , mußte er dann nicht auch indirekt das Sein der Zeit bestreiten? Ze non die Zeit, indem er den Zeitfluß in Jetztpunkte auflöste und die Fragmente fixierte. Dabei erwies sich die Annahme einer kontinuierlichen Be wegung in Begleitung eines existierenden Zeitkontinuums nach Zenon als sinn los.10 Ein fixierter Bewegungspunkt ist keine Bewegung und ein statisches Jetzt keine Zeit. In den Paradoxien und Aporien der Punktualität des Augenblicks verlor sich das Sein der Zeit und verschwand im Nichts.
73
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Aristoteles, der die Zeit als Zahl der Bewegung verstand, hatte demnach einen guten Grund zur Auseinandersetzung mit den Thesen Zenons. Da er in seiner Zeitdefinition die Zeit als Zahl mit der Bewegung verknüpfte, mußte er die Frage nach dem Sein der Zeit (und damit der Bewegung) gleich zu Beginn seines Zeittraktates stellen. Dabei verteidigte er sich gegen jede Kritik am Sein der Zeit bzw. am Sein der Bewegung. Weil die Werke Zenons verloren sind, ist diese Hypothese schwer zu verifi zieren. Gewichtige Gründe sprechen aber für sie. Ohnehin ist die Frage nach dem Sein der Zeit nicht nur ein Problem der Spätantike, sondern gehört auch in die Frühzeit der griechischen Philosophie.11 Dies beweisen weitere Zeugnisse, die bisher wenig Beachtung gefunden haben. Einer der umfangreichsten Texte zur antiken Naturphilosophie ist die Schrift des Sextus Empiricus gegen die .12 Darin befinden sich außerordent lich viele Nachrichten zur griechischen Naturphilosophie. Auch über das Sein der Zeit hat Sextus dort philosophiert. Das entsprechende Kapitel aus dem oder zweiten Buch (Adv. math. X) trägt daher den Titel . 13 Sextus untersuchte dort nicht nur die älteren Theoreme zum Sein der Zeit, sondern sammelte auch die entsprechenden Zeugnisse aus allen Schulen der griechischen Philosophie. So hat er sich auch zu den Thesen der Herakliteer geäußert:
11
Das Verhältnis der Eleaten zum Sein der Zeit ist schwer zu bestimmen. Sie versuchten viel mehr eine Eliminierung der Zeitbestimmungen aus dem Sein. Vgl. PARMENIDES, fr. 8; Diels/ Kranz I 28 85/6; 235,6/7: Gemäß dieser Auffassung war das Sein nie und wird nie sein. Alles ist im Jetzt zugleich und kontinuierlich Das Sein bedarf also nicht der Zeit. Die Zeit aber benötigt Bewegung und mehrere Jetztpunkte. Daher zeigte Zenon die Paradoxien von Jetztpunkt und Bewegung bzw. der Aufspaltung der Kontinuität, um die Einheit und Unveränderlichkeit des Seins zu beweisen. Wenn das Sein ohne Zeit ist, ist die Zeit ohne Sein. Vgl. auch: MELISSUS,fi*.1; Diels/Kranz I 30 15; 268, 5: Dieser Text stammt aus SIMPLICIUS, Phys. 162, 24. Zu Parmenides vgl. außerdem: D. O'Brien, Le poème de Parménide. Texte, Traduction, Essai critique (P. Aubenque [Hrsg.], Étu des sur Parménide 1), Paris 1987; ders., L'être et l'éternité (P. Aubenque [Hrsg.], Études sur Parménide 2), Paris 1988, 135-162. 12 Vgl. Sextus Empiricus, Opera II, ed. H. Mutschmann, Lipsiae 1914, 213-374; Sextus Empi ricus, Vol. III, ed. R. G. Bury (The Loeb Classical Library), Cambridge (Mass.)/London 1936 (Repr. 1960), 1-381. 13 Vgl. SEXTUS EMPIRICUS, Adv. math. X 169-247; Mutschmann 339-354; Bury III 294331.
74
1.8. Die antiken Aristoteleskommentatoren im Kontext
Nach Sextus Empiricus war die Zeit für die Herakliteer ein Körper. Jeder Körper existiert jedoch in der Zeit. Wenn nun die Zeit ein Seiendes bzw. ein Körper wäre, befände sich die Zeit in der Zeit. Das ist paradox. Die Bezeich nung der Zeit als Körper verstößt demnach gegen die klaren Regeln der Ver nunft. Das Urteil des Sextus Empiricus ist so verblüffend wie einfach; seine Kritik an den Herakliteern einleuchtend. Dieser ganze Abschnitt aus der Schrift des Sextus Empiricus über das Sein der Zeit, der sich auf die Thesen Heraklits bzw. der Herakliteer bezieht, ist von großer Bedeutung. Eigentlich verdient er eine intensivere Untersuchung. Dabei wäre zu prüfen, ob die Behauptungen des Sextus Empiricus zu Heraklit15 und 14
SEXTUS EMPIRICUS, Adv. math. X 231; III 324. Wie konnte es zu dieser These der Herakliteer kommen? Vielleicht ist sie ein Mißverständnis bestimmter Theoreme Heraklits. Vgl. dazu: HERACLITUS, fr. 30; Diels/Kranz I 22 30; 157, 11- 158,3: 15
Heraklit bezeichnet dort den Kosmos als ewig lebendiges Feuer das er mit den drei Zeitbestimmungen in Verbindung bringt . Dieses Heraklitfragment hat zu einer großen Kontroverse zwischen E. Fink und M. Heidegger geführt. Vgl. dazu: M. Heidegger/E. Fink, Heraklit. Seminar Wintersemester 1966/ 1967, Frankfurt am Main 1970, Kap. V, 82-100: «Problem einer spekulativen Auslegung. — und Zeit? (Fragment 30).» In der spannenden Diskussion kommt E. Fink zu fol gendem Ergebnis (96): «Das Feuer als die zeitlassende Zeit bricht allererst die drei Zeitekstasen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf.» M. Heidegger stimmte dieser Auslegung nicht zu (99): «Soweit ich sehe, gibt es also nur diesen Anhalt, daß das kein Ding ist und daß deshalb von ihm kein „war", „ist" und „wird sein" ausgesagt werden kann ... » Hier ist es nicht möglich, die Kontroverse, die noch bis ins Kap. VI hineinreicht, weiter zu verfolgen. Wenn die Vermutung Finks richtig ist, dann ist das Feuer Heraklits die «zeitlassende Zeit». Nachfolgende antike Philosophen haben wohl Heraklits Feuer mißverstanden, den Kosmos als materielles Feuer verdinglicht und damit zugleich die Zeit als ein körperlich Seiendes mißdeutet. Dagegen polemisiert dann Sextus Empiricus. Gegen Heraklit und die Herakliteer stellt er sicher, daß die Zeit kein körperliches Ding ist. Vgl. dazu: SEXTUS EMPIRICUS, Adv. math. X 232/3; Bury III 324: 75
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
den Herakliteern haltbar sind. Was ist damit gemeint, wenn die Herakliteer die Zeit als einen Körper oder eine Substanz16 bezeichneten? Immerhin steht fest, daß bestimmte antike Philosophen in den Schriften Heraklits und seiner Schule Hinweise zum körperlichen Sein der Zeit fanden oder ihre Werke in diese Richtung auslegten. Warum hätte Sextus Empiricus sonst so erbittert gegen Heraklit und die Herakliteer gestritten? Vielleicht bringt eine zukünftige Untersu chung Klarheit in diese Zusammenhänge. Die bisher bekannten Indizien spre chen jedoch dafür, daß die Frage nach dem Sein der Zeit im Umkreis Heraklits zur Diskussion stand. Doch damit ist die des Sextus Empiricus zum Sein der Zeit in der vorsokratischen Philosophie noch nicht erschöpft. Sextus beschäftigt sich auch mit der antiken Atomistik, indem er sich zu Demokrits und Epikurs Zeittheorie äußert:
Dieses Fragment ist zunächst nur im Hinblick auf Demokrit wichtig. Was immer Demokrit sonst über die Zeit geschrieben haben mag18, hier wenigstens
76
1.8. Die antiken Aristoteleskommentatoren im Kontext
nähert er sie der Vorstellung an. Diese Beschaffenheit der Zeit als macht ihre Bestimmung schwierig . Sextus Empiricus ver steht diese Hinweise jedenfalls als Beweise für das Nichtsein der Zeit. Ebenso fragmentarisch wie die Werke der Eleaten, Heraklits, der Herakliteer und der Atomisten sind auch die Texte der Sophistik überliefert. Von dem So phisten Antiphon läßt sich jedoch eine Äußerung zur Zeit ermitteln, auf die W. Beierwaltes19 verweist. Hier sind keine mühsamen Rekonstruktionen nötig. Die These Antiphons steht fest. Die Zeit ist für ihn ein Gedanke und keineswegs ein Seiendes:
Antiphon verknüpfte (a) die Ablehnung der Existenz der Zeit mit einer (b) bestimmten Auffassung von ihrem seelischen Sein. Die Zeit ist (I) keine Hypo stase , sondern (II) nur ein Gedanke oder ein Maß . Einerseits existiert die Zeit nicht, weil sie keine Substanz21 besitzt, andererseits ist sie nur ein Gedanke bzw. ein Maß. Da das Werk des Antiphon zur Philosophie der Wahrheit, das diese These wahrscheinlich enthalten hat 22, bis auf wenige Reste verschollen ist, sind hier keine weiteren Angaben zum Komplex
Vgl. auch: Diels/Kranz II 68 A 71; 102, 1-5. 19 Vgl. Plotin, Über Ewigkeit und Zeit (Enneade III 7). Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von W. Beierwaltes, Frankfurt am Main 19813, 288. 20 Vgl. H. Diels, Doxographi Graeci, Berolini 19764, 318, 22/3. Vgl. auch: ANTIPHON, fr. 9; Diels/Kranz II 87 9; 339, 26/7. 21 Zum Terminus in der Zeitphilosophie vgl. auch: R. E. Witt, in: Amicitiae Corolla, presented to J. R. Harris, London 1933, 319-343; Plotin, Über Ewigkeit und Zeit (Enneade III 7). Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von W. Beierwaltes, Frankfurt am Main 19813, 289. 22 Vgl. Diels/Kranz II; 337, 26:
77
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
IL Diese Hypothesen und Diskussionszusammenhänge fanden Platon und Ari stoteles vor. Platon hat sich im Timaios zur Frage nach Sein und Nichtsein der Zeit geäußert. Seine Bemerkungen erhellen die Vorgeschichte der aristoteli schen Zeitaporie. Dabei ist folgender Abschnitt wichtig:
Platon argumentiert auf folgende Weise: Zunächst verknüpft er die Zeit mit der Genesis des Himmels. Bevor das Universum entstand, gab es daher keine Zeitbestimmungen wie Tage, Nächte, Monate oder Jahre. Oder mit anderen Worten: Außerhalb des Kosmos existiert keine Zeit. Der universelle Werkmei ster verfertigt das Universum und die Zeit gemeinsam. Diese manifestiert sich nach der Entstehung der Weltseele in der Bewegung der Himmelskörper. In diesen kosmologischen Zusammenhang stellt Platon nun die Frage nach dem Sein der Zeit. Dabei drückt er sich ziemlich vorsichtig aus. Er spricht von den Teilen der Zeit, die er als <war> und <wird sein> bezeichnet. Diese Zeitbe stimmtheiten nennt Platon dabei entstandene Bilder oder Formen der Zeit . Vergangenheit und Zukunft erhalten demnach kein eigentliches Seinsprädikat. Sie sind nur Bilder der Zeit . Das <war, ist und wird sein> in seiner Totali tät kommt selbst der ewigen Substanz im eigentlichen Sinne nicht zu, denn in Wahrheit sie nur im stehenden Jetzt der Ewigkeit. Daher erscheint es Pla23
PLATON, Tim. 37 e 1- 38 a 2.
78
1.8. Die antiken Aristoteleskommentatoren im Kontext
ton sinnvoller, die Zeitbestimmungen <war> und <wird sein> ausschließlich auf das Werden zu beziehen, das durch die Bewegungen zum Vorschein kommt. Die Zeit ist insofern das bewegliche Abbild des Unveränderlichen, das im Au genblick der Ewigkeit verharrt. Gegen die Eleaten verweist Platon auf das Sein . Die eleatischen Paradoxien des Jetzt der Bewegungen punktes hebt er im stehenden Jetzt der Ewigkeit auf. Die Himmelsbewegung ist ihm dabei der sichtbare Beweis für die Existenz der Zeit. Platon weiß also um die Schwierigkeiten des Seinsbegriffs im Hinblick auf die zwei nichtseienden Dimensionen der Zeit. Aber durch die Verbindung von Weltseele und kosmischer Bewegung, d.h. durch einen Hinweis auf die vorhan dene Bewegung, löst Platon die eleatischen Zweifel am Sein der Zeit auf. Aristoteles muß diese Ausführungen Platons vor Augen gehabt haben, als er die Zeitaporie schrieb. Seine Äußerungen zum Nichtsein der Zeit zu Beginn seines Zeittraktates, die Theorie der kosmischen Seele in De caelo und die For mulierungen der Zeitaporie erscheinen wie Bruchstücke, die er aus der Kom position Platons herausnahm und in sein <System> des Kosmos einfügte. Dabei gelangte er zu einer Position der Vermittlung. Gegen die Eleaten und mit Pla ton verankerte er die Zeit im Umschwung des Universums. Zugleich aber gab er der Zeit durch ihre Bestimmung als Zahl ein innerseelisches Sein. III. Doch hier ist zunächst die Frage wichtig, wie die Philosophen nach Ari stoteles über Sein und Nichtsein der Zeit gedacht haben. Die Kommentatoren des Aristoteles besaßen sicher auch davon Kenntnisse. Außerdem sind nicht nur entsprechende Überlegungen der Stoiker, Epikureer und Skeptiker nachweis bar. Auch Äußerungen aus dem Peripatos selbst lassen sich eruieren. In bezug auf die Stoiker fließen die Quellen reichlich. Ganz allgemein hieß es von den Stoikern in der Antike:
Nach diesem Fragment soll die Stoa in ihrer Gesamtheit die Zeit nur als ein fache Vorstellung bezeichnet haben. Das Bruchstück sagt nichts über das Sein der Zeit an sich. Es hält nur fest, daß die Zeit eine Vorstel24
Stoicorum Veterum Fragmenta II 521; Arnim 166, 6/7.
79
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
lung oder ein Gedanke sei. Gedanken befinden sich jedoch nur im Intellekt als dem denkenden Teil der Seele. Die Tendenz des Fragmentes ist demnach klar: Die Zeit ist kein Naturbestand, sie ist ein noetisches Phänomen. Was allgemein für die gesamte Stoa gilt, zeigt sich im Detail bei den einzel nen Stoikern. Dabei ist die Überlieferungslage bei den älteren Stoikern wesent lich schlechter als für den späteren römischen Zweig dieser Schule. Zunächst ist ein Fragment des Chrysippos wichtig:
Chrysippos behauptet, daß allein die Gegenwart existiert, während Vergan genheit und Zukunft in keiner Weise vorhanden sind. Der Text sagt nichts zum Sein oder Nichtsein der gesamten Zeit. Er spricht zunächst nur der Zukunft und der Vergangenheit die Existenz ab. Diese Zeitphasen sind nicht vorhanden, während die Gegenwart existiert. Über ein Sein der Zeit in der Seele sagt das Bruchstück ebenfalls nichts aus. Vermutlich stammt es mit seiner Variante aus einem Text, der innerhalb eines größeren Zusammenhangs das Nichtsein der Zeit bzw. das innerseelische Sein der Zeit diskutierte. Diese Hy pothese läßt sich durch die Thesen der späteren Stoiker stützen, denn im römi schen Zweig der stoischen Schule finden sich sowohl Äußerungen zum Sein der Zeit als auch Thesen zum Zusammenhang von Zeit und Seele. So fragt Seneca in seiner Schrift Debrevitaie vitae nach dem philosophischen Verhältnis des Weisen zur Zeit. Mit harten Worten rügt er dort den alltäglichen unspezifischen Zeitgebrauch. Seneca geht zunächst wie Chrysippos davon aus, daß die Zeiten (tempora) in drei Dimensionen geteilt sind: das, was gewesen ist, das, was sein wird, und das, was gegenwärtig .26 Diese dritte Zeitdimen sion, die Gegenwart, in der allein wir handeln, ist aber sehr kurz. Sie besteht
25
Stoicorum Veterum Fragmenta II 509; Arnim 164, 26/7. Vgl. die Variante in: Stoicorum Veterum Fragmenta II 518; Arnim 165, 35/6: 26 Vgl. SENECA, De brev. vit. 10 (2); Reynolds 250, 25/6: «In tria tempora uita diuiditur: quod fuit, quod est, quod futurum est. Ex iis quod agimus breue est... »
80
1.8. Die antiken Aristoteleskommentatoren im Kontext
eigentlich nur aus Momenten.27 Diese engen das Leben des Menschen durch ihre geringe Erstreckung28 auf das Minimum der Augenblicklichkeit ein.29 Se neca kontrahiert die Gegenwart zum punktuellen Jetzt. Aber er will die Zeit nicht wie die Eleaten im Hinblick auf das reine Sein zerstören, sondern er rettet sie für den Weisen, indem er ihn über ihre wahre Beschaffenheit aufklärt. Dies geschieht auf folgende Weise. Seneca weiß, daß manche sogar die Zeit in ihrer Gesamtheit negieren,30 denn die Zeit scheint gleichsam nichts zu sein.31 So weit geht Seneca nicht. Aber er führt den vom reißenden Zeitfluß bedrängten Men schen zunächst unbarmherzig zur Einsicht in das Nichtsein der Zeitdimensionen und
I « ... res incorporalis est ... »32
Wenn die Zeit keine Körperlichkeit besitzt, dann befindet sie sich auch nicht in der außerseelischen Welt. Sie muß also in der Seele existieren. Zeit ist dem nach für Seneca in Wahrheit ein mit philosophischer Weisheit zu behandelndes psychisches Phänomen. Damit enthüllt sich der Sinn seiner zentralen Argumen27
Vgl. SENECA, De brev. vit. 10 (4); Reynolds 251, 14/5: «Singuli tantum dies, et hi per mo menta, praesentes sunt...» 28 Vgl. SENECA, De brev. vit. 6 (4); Reynolds 245, 29/30: « ... in artissimum contrahetur ... 29 Vgl. SENECA, De brev. vit. 2 (2); Reynolds 240, 22: « ... ,exigua pars est uitae qua uiuimus' ... » Vgl. auch: MARCUS AURELIUS, Ad se ipsum II 14, 3; Dalfen 13, 15/16: Ad se ipsum III 10, 1; Dalfen 20, 3/4: . Ad se ipsum XII 26, 2; Dalfen 111, 14/5: Vgl. SENECA, De brev. vit. 10 (6); Reynolds 251, 24/5. 26: «Praesens tempus breuissimum est, adeo quidem ut quibusdam nullum uideatur ... ante desinit esse quam uenit...» 31 Vgl. SENECA, De brev. vit. 8 (1); Reynolds 248, 11-13: « ... illud uterque spectat propter quod tempus petitum est, ipsum quidem neuter: quasi nihil petitur, quasi nihil datur.» 32 SENECA, De brev. vit. 8 (1); Reynolds 248, 14.
30
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Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
tation. Er versteift sich nicht wie die Eleaten, Sophisten und Skeptiker auf das punktuelle Jetzt zur Rechtfertigung einer abstrakten Theorie. Der Weise soll vielmehr die Zeit, die ihm, wenn er sie nicht versteht, nur als das flüchtigste Phänomen erscheint, aus dem richtig verstanden Augenblick verlangsamen. Nachdem Seneca die außerseelische Zeit im Jetztpunkt kontrahiert hat, dehnt er sie in der Seele aus. Der Philosoph stürzt aus der Flüchtigkeit der Zeit nicht in ein skeptisch evoziertes Nichts, sondern er erlernt aus ihrem seelischen Sein eine neue Beziehung zur Zeit. Auch der Weise kann die Zeit nicht aufhalten, aber er vermag sie zu dehnen. Dies zeigt Seneca besonders deutlich an einer bestimmten Stelle seines Trak tates, wo er konkrete Vorschläge zur sinnvollen Verwendung der im Augen blick flüchtigen Lebenszeit unterbreitet. Die uns zur Verfügung stehende Zeit, so argumentiert er, verkleinert sich durch eine unphilosophische Lebensfüh rung, Auch große Zeiträume schrumpfen bei einem derartigen Zeitverbrauch zu kleinsten Zeitstrecken zusammen. Dabei geht die Kenntnis verloren, daß die die schnell entfliehende Zeit zu dehnen (ratio dilatat) vermag. Auf diese Weise triumphiert der Geist über die Punktualität des Jetzt. Die Überlegungen Senecas zum Verhältnis von Zeit und Seele sind daher keine müßigen Spekulationen und auch keine sophistischen Haarspaltereien. Sie sollen zu einem sinnvollen Zeitgebrauch anleiten und dadurch das mühevolle Sein des Menschen erleichtern. Einzig bei Seneca zeigt sich der ethische Aspekt der philosophischen Frage nach dem Verhältnis von Sein, Zeit und Seele in solcher Reinheit und Größe:
II «Vestra mehercules uita, licet supra mille annos exeat, in artissimum contrahetur: ista uitia nullum non saeculum deuorabunt. Hoc uero spatium quod, quamuis natura currit, ratio dilatat, cito uos effugiat necesse est... » 33
33
SENECA, De brev. vit 6 (4); Reynolds 245, 29-32.
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1.8. Die antiken Aristoteleskommentatoren im Kontext
Von diesen Thesen Senecas ist es auch nicht weit bis zu den Überlegungen des Augustinus im elften Buch der Confessiones. Die Zerstörung der Weltzeit durch die Atomisierung des präsentischen Jetzt34 findet sich auch dort, die Hinblicknahme auf innerseelische Erstreckungen ebenfalls, jedoch wesentlich diffe renzierter. Auch der ethische Aspekt Senecas fehlt nicht ganz. Augustinus sucht ebenfalls eine Rettung aus der Unverfügbarkeit der Zeit. Aber er findet sie in einer neuen Gewißheit und Verfügbarkeit.35 Das Ziel Senecas ist der Weise in der Vergewisserung seiner selbst durch ein vernunftgemäßes Zeitverständnis, das Ziel des Augustinus ist die Ewigkeit seines Gottes. Wer will, kann daher in der stoischen Position Senecas den Grundriß der Zeitabhandlung des Augusti nus erkennen. Die Thesen Epikurs und seiner Schule zum Sein der Zeit sind schwerer zu rekonstruieren als die zeitphilosophischen Analysen der Stoiker. Bedeutende Werke Epikurs zur Naturphilosophie, die Untersuchungen zur Zeit enthielten, sind wohl für immer verloren.36 Diogenes Laertius kannte noch die entspre chenden Abschnitte aus Epikurs zweitem Buch über die Natur und der großen Epitome.37 Einige wenige Fragmente und ein Brief geben den noch Aufschluß. Diogenes Laertius überliefert das Schreiben Epikurs an Hero dot, das ganz der Naturphilosophie gewidmet ist. Darin äußert sich Epikur in
34 Vgl. AUGUSTINUS, Conf. XI 15, 20 v. 53; Verheijen 204: « ... praesens autem nullum habet spatium»; Conf. XI 28, 37 v. 8/9; Verheijen 214: «Et quis negat praesens tempus carere spatio, quia in puncto praeterit?» 35 Vgl. K. Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 1980, 281: «Augustin ging es vor allem darum, das Zeitliche als ein vom Nichtsein zu Nichtsein Hinströmendes gegen das stehende Jetzt der Ewigkeit abzusetzen und zu zeigen, wie der menschliche Geist in das Vielerlei der Zeit und ihre Bewegung zum Nicht-mehr-sein verstrickt ist, wenn er nicht von dem göttli chen Einen zur Einheit geführt wird.» 36 Die herculaneischen Papyri des Philodem beweisen, daß Epikur Zugang zu den physikali schen Schriften des Aristoteles hatte. Vgl. dazu: PHILODEM, Adv. Soph. (Pap. Herc. 1005), Fr.13, Z. 7-14 Sbordone: ...
Zitiert nach: P. Moraux, Der Aristotelismus bei den Griechen von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias, Bd. I: Die Renaissance des Aristote lismus im 1. Jh. v. Chr. (Peripatoi 5), Berlin/New York 1973, 11, Anm. 22. 37 Vgl. DIOGENES LAERTIUS, De clarorum philosophorum vitis, dogmatibus et apophthegmatibus libri decern, X 73; in: Diogenes Laertius, X. Buch. Epikur, griechisch-deutsch. Über setzung von O. Apelt. Herausgegeben sowie mit Vorwort, Einleitung und Anmerkungen verse hen von K. Reich und H. G. Zekl, Hamburg 1968, 60:
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Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
einem wichtigen Abschnitt auch zur Philosophie der Zeit. Zunächst bezieht er sich auf die Frage nach dem Sein der Zeit:
Epikur weist darauf hin, daß bei der Erforschung der Zeit ein anderes Ver fahren zu wählen ist als bei den anderen Phänomenen . Diese lassen sich aus ihrem Zugrundeliegenden erschließen, die Zeit nicht. Wie ist das zu denken? Dazu gibt Epikur einen Hinweis. Derartige Phänomene, die in einem (außerseelischen) Zugrundeliegenden vorhanden sind, erforscht der Philosoph durch eine Hinführung in Richtung auf unsere eigenen Begriffe . Dort müssen sie sich bestätigen. Dies ist Epikurs Theorie der Wahrheit, die er als Angleichung in nerseelischer Vorstellungen an das außerseelische Vorliegende beschreibt. Hinsichtlich der Zeit ist die Anwendung einer anderen Methode notwendig. Hier geht es um eine bestimmte Wirkung, wenn wir quantitative Bestimmungen der Zeit durchführen, indem wir uns zum oder <Wenig> der Zeit äußern . oder <wenig> sind als quantitative Maße Setzungen des Intellektes. Aber Epikur geht es um unsere gesamte seelische Beziehung zur Zeit. Diese ist nicht allein intellektuel ler Natur. Auch der affektive Teil unserer Seele ist daran beteiligt. Dies bestä tigt das zweite Zitat aus dem Brief des Herodot:
38
EPICURUS a. DIOG. LAERT., X 72; in: Diogenes Laertius, X. Buch. Epikur, grie chisch-deutsch. Übersetzung von O. Apelt. Herausgegeben sowie mit Vorwort, Einleitung und Anmerkungen versehen von K. Reich und H. G. Zekl, Hamburg 1968, 58.
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1.8. Die antiken Aristoteleskommentatoren im Kontext
Epikur bringt hier die Zeit mit den Erregungen und Ruhephasen der Seele in einen Zusammenhang. Aber er kennt auch die Frage nach dem Verhältnis der , ein Pro Zeit zu Ruhe und Bewegung. Die Zeit erfaßt also auch die blem, das die Theoretiker des seelischen Seins der Zeit viel beschäftigt hat. Leider brechen Epikurs Bemerkungen an dieser Stelle ab. Andere Quellen verweisen dagegen darauf, daß Epikur die Zeit als ein Akzi dens an der Bewegung bezeichnet habe. Überliefert ist auch die Formel interpretiert. Marx versteht die epikureische Zeitphilosophie als philoso phischen Ausdruck eines sich nach praktischen Gesichtspunkten verwirklichen den Selbstbewußtseins, d.h. das Fürsichsein der naturphilosophischen Atomisierung des Seienden treibt die Zeit in die Reflexion des ebenfalls atomisierten Bewußtseins. Nach Marx denkt Epikur die Zeit deshalb als in sich reflektierte Sinneswahrnehmung.42 39
EPICURUS . DIOG. LAERT., X 73; in: Diogenes Laertius, X. Buch. Epikur, grie chisch-deutsch. Übersetzung von O. Apelt. Herausgegeben sowie mit Vorwort, Einleitung und Anmerkungen versehen von K. Reich und H. G. Zekl, Hamburg 1968, 60.
41
Vgl. LUCRETIUS, De rer. nat. I, 459-463; Baily: «tempus item per se non est, sed rebus ab ipsis / consequitur sensus, transactum quid sit in aevo, / turn quae res instet, quid porro deinde sequatur. / nec per se quemquam tempus sentire fatendumst / semotum ab rerum motu placidaque quiete.» 42 Vgl. KARL MARX, Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie nebst einem Anhange, in: Karl Marx-Friedlich Engels-Gesamtausgabe (MEGA) I1 1 , Karl Marx:
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Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Auch der Skeptizismus beschäftigt sich mit der Frage nach dem Wesen der Zeit. Schon ältere Skeptiker wie Pyrrhon haben ihr Sein geleugnet. Dies geht aus den umfangreich überlieferten Texten des Sextus Empiricus eindeutig her vor. So enthalten die Pyrrhonischen Skizzen einen langen Abschnitt zur Zeit.43 Man kann daher davon ausgehen, daß Pyrrhon die dort geäußerten Thesen zuerst verfaßte. Sextus gibt zwar keine wörtlichen Zi tate, aber dafür umfangreiche Beschreibungen der einzelnen Argumente. Inso fern fließen hier die Quellen reichlich. Sextus zählt zunächst eine Reihe von Argumenten auf, die gegen das Sein der Zeit sprechen oder es abschwächen. Er will beweisen, daß die Annahme von Zeit in unauflösliche Aporien führt. Sextus zeigt, daß bei einer Aufhebung der Bewegung auch die Zeit entfällt (III 140). Sowohl die Hypothese einer begrenz ten als auch die einer unbegrenzten Zeit evoziert Widersprüche (III 141/2). Ebenso gewinnt Sextus aus der Frage nach der Teilbarkeit oder Unteilbarkeit der Zeit Hinweise auf ihre Nichtexistenz (III 143-146). Entsteht die Zeit und ist vergänglich? Oder muß man sie als unentstanden und unvergänglich bezeich nen? Beide Thesen führen nach Sextus zu unauflöslichen Schwierigkeiten (III 147-148). Alles, was entsteht, hat einen Anfang in der Zeit. Und die Zeit selbst? Besitzt sie einen zeitlichen Beginn (III 149)? Wenn zudem die Gegenwart aus der Zukunft entsteht, fallen dann nicht Gegenwart und Zukunft zusammen? Oder sind Vergangenheit und Gegenwart identisch, weil die Vergangenheit aus der Gegenwart zum Vorschein kommt (III 150)? Das Ergebnis dieser Argu mente hat Sextus Empiricus in einem Satz zusammengefaßt: Keine These läßt sich in bezug auf die Zeit (mit Gewißheit) behaupten. Werke, Artikel, literarische Versuche bis März 1843, Berlin 1975, 50, 4-19: «Die Sinnlichkeit des Menschen ist also die verkörperte Zeit, die existirende Reflexion der Sinnenwelt in sich. Wie Dies aus der Begriffsbestimmung der Zeit bei Epikur unmittelbar sich ergiebt, so läßt es sich auch ganz bestimmt im Einzelen nachweisen. In dem Briefe des Epikur an den Herodot wird die Zeit so bestimmt, daß sie entstehe, wenn die von den Sinnen percipirten Accidenzen der Körper als Accidenzen gedacht werden. Die in sich reflectirte Sinnenperception ist hier also die Quelle der Zeit und die Zeit selbst. Daher ist nicht nach Analogie die Zeit zu bestimmen, noch ein An deres von ihr auszusagen, sondern die Enargie selbst festzuhalten; denn, weil die in sich reflec tirte Sinnenperception die Zeit selbst ist, ist nicht über sie hinauszugehen. Dagegen bei Lucrez, Sextus Empirikus und Stobäus wird das accidens des accidens, die in sich reflectirte Verände rung, als Zeit bestimmt. Die Reflexion der Accidenzen in der Sinnnenperception und ihre Refle xion in sich selbst werden daher als Eines und Dasselbe gesetzt.» 43 Vgl. Sextus Empiricus, Opera L, ed. I. A. Fabricius, Lipsiae 1840, 261-266; Sextus Empiri cus, Vol. I, ed. R. G. Bury (The Loeb Classical Library), Cambridge (Mass.)/London 1933 (Repr. 1987), 418-427.
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1.8. Die antiken Aristoteleskommentatoren im Kontext
Noch reichlicher als zu Pyrrhon fließen die Quellen bei Sextus Empiricus selbst. Sein Traktat zum Sein der Zeit zeigt sich als eine wahre Fundgrube von Argumentationen, die noch kaum ausgeschöpft ist. Hier bedarf es keiner müh samen Rekonstruktionen aus Fragmenten oder der Suche nach Indizien, Die Abhandlung des Sextus Empiricus ist der erste vollständig überlieferte Traktat, der sich ausschließlich mit dem Sein der Zeit befaßt. Was in späteren Phasen der Philosophiegeschichte zu einer fast unübersehbaren Anzahl philosophischer Untersuchungen zum Sein der Zeit geführt hat, ist hier in statu nascendi zu be obachten. Durch Sextus Empiricus sind viele wertvolle antike Äußerungen zur Frage nach dem Sein der Zeit überliefert. Die Auseinandersetzungen der Skeptiker mit Herakliteern45 und Atomisten, mit Platon und Aristoteles, mit Stoikern und Epikureern lassen sich durch seine Angaben mühelos rekonstruieren. Doch die Fülle des überlieferten Stoffes zwingt auch zur Konzentration, denn die Aus führungen des Sextus zum Sein der Zeit in der Abhandlung
44
SEXTUS EMPIRICUS, Pyrr. III 19, 140; Bury I 420. Sextus Empiricus berichtet von der Rezeption Heraklits und der Herakliteer durch Änesidem, ein Mitglied der jüngeren Skepsis. Änesidem hat sich nach diesen Angaben positiv zur Zeitphilo sophie Heraklits geäußert. Vgl. dazu: SEXTUS EMPIRICUS, Adv. math. X 216; Bury III 316: Wie Heraklit habe Änesidem die Zeit als einen Körper bezeichnet. Vgl. in diesem Zusammenhang auch: SEXTUS EMPIRICUS, Adv. math. X 232/3; Bury III 324:
45
Identifizierung der Zeit mit einem Seienden bei Heraklit und Änesidem zurück. Änesidem habe gesagt, das Seiende sei nach Heraklit die Luft. Aber, so wendet Sextus ein, die Zeit unterschei det sich von den vier Elementen Luft, Wasser, Feuer und Erde. Also existiert sie nicht. Falls Änesidem ein Skeptiker war, so ist seine Substantivierung der Zeit für die Skepsis nicht typisch, sondern eher singulär. Die Heraklitpassage im Text des Sextus Empiricus ist also noch dunkel und bedarf weiterer Klärung.
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Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
erweitern und ergänzen lediglich die schon aus dem kurzen Zeitkapitel in den Pyrrhonischen Skizzen bekannten Thesen. Wichtig sind hier vor allem die Äußerungen des Sextus Empiricus zur Zeit philosophie des Aristoteles. Sextus kennt die aristotelische Zeitdefinition, ver wirft sie jedoch:
Sextus Empiricus zeigt bestimmte Schwächen der Zeitdefinition des Aristote les. Wenn die Zeit die Zahl der Bewegung ist, dann ist das ruhende und bewe gungslose Seiende nicht in der Zeit. Oder aus einer anderen Perspektive be trachtet: Das in der Zeit bewegungslos verharrende Seiende wäre bei Annahme der Zeit als Zahl der Bewegung ein Ruhendes, das eine Definition zu erfassen versucht, die sich auf die Bewegung stützt. Dies ist nach Sextus Empiricus un möglich. Aristoteles leistet demnach mit seiner Definition nicht das, was er verspricht. Daher ist seine Zeitphilosophie gemäß dieser Auffassung falsch und in sich wi dersprüchlich. Sextus betrachtet die Zahlhaftigkeit der Zeit in ihrer Verklam merung mit der Bewegung als das große Dilemma der aristotelischen Zeitphilo sophie. Dabei zeigt er keinen Ausweg aus der Aporie. Das ist auch nicht seine Aufgabe. Sextus will vielmehr die Zeit selbst eliminieren, indem er die Wider sprüchlichkeiten ihrer Definitionen zum Vorschein bringt. Die Skeptiker retten sich anders als Stoiker und Epikureer aus den Aporien der Zeit. Sie versuchen eine Aufhebung der Zeit, indem sie das Sein der Zeit leugnen. 46
SEXTUS EMPIRICUS, Adv. math. X 176; Bury III 298.
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1.8. Die antiken Aristoteleskommentatoren im Kontext
Vergleichbares geschieht in der Argumentation Galens, der in seiner frag mentarisch erhaltenen Schrift ebenfalls die Zeittheorie des Aristoteles untersucht. In kritischer Auseinandersetzung mit Aristoteles ent wirft er ein Konzept der Zeit, das die Zeit mit den innerseelischen Bewegungen verbindet. Die Zeit ist nicht allein an äußere Beweglichkeiten gebunden. Sie mißt auch unbewegliche Entitäten wie die Pole der Welt und das Zentrum der Erde. Zeit entsteht auch dann, wenn wir unbewegte Gegenstände denken. Als innerlich Bewegtwerdende erschließen wir uns die Zeit
IV. Auch in der Schule des Aristoteles bzw. bei seinen Nachfolgern gab es keine einheitliche Meinung zur Philosophie der Zeit. Kritolaos sprach der Zeit nur ein Sein in der Seele zu. Boethos dagegen nahm eine außerseelische Exi stenz der Zeit an. Für die eigene Schule des Aristoteles ist zunächst das schon oben bearbeitete Fragment wichtig, das neben dem vorsokratischen Sophisten Antiphon auch Kritolaos nennt, der ein Philosoph des 2. Jh. v. Chr. gewesen ist und der aristo telischen Schule angehörte. Kritolaos bezeichnete die Zeit als Gedanke und Maß:
47
GALENUS ap. THEM., Phys. 144, 24/5. GALENUS ap. THEM., Phys. 144, 27-29. Zu Galen vgl. auch: 2.4., S. 152-173. 49 CRITOLAUS, fr. 14; Wehrli X 51, 27/8. Vgl. H. Diels, Doxographi Graeci, Berolini 19764, 318, 22/3. Vgl. auch: Diels/Kranz II 87 9; 339, 26/7. 48
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Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Anders äußert sich der Peripatetiker Boethos. Er verteidigt, wie oben ge zeigt50, das außerseelische Sein der Zeit gegen Aristoteles (Ia/b), indem er des sen Konzept der Zeit als Zahl und Maß als Hinweis auf die seelische Natur der Zeit auffaßt (II):
Die These des Boethos in Fragment Ia/b ist klar, aber es gibt noch ein zwei tes Fragment von Boethos, das seine eigene Position unterstreicht, obwohl sich beide Bruchstücke zunächst zu widersprechen scheinen. Das zweite Fragment des Boethos zur Zeittheorie überliefert zunächst Themistios. Aus der Physikparaphrase des Themistios übernahm es Simplikios in seinen eigenen Kommentar. Wie Kritolaos geht auch Boethos von Überlegungen zur aristotelischen Defini tion der Zeit als Zahl oder Maß der Bewegung aus:
50 51 52 53
Vgl. 1.., S. 14-16. THEMISTIUS, Phys. 160, 26-28. SIMPLICIUS, Phys. 759, 18-20. BOETHUS ap. THEM., Phys. 163, 5-7. Vgl. SIMPLICIUS, Phys. 766, 17-19.
90
1.8. Die antiken Aristoteleskommentatoren im Kontext
Beachtung verdient die Aussage des Boethos, daß die Natur kein Maß konstituiert. Wie sich aus dem Kontext des Fragmentes klar ergibt, zielt diese Aussage auf die Zeit. Weil Aristoteles die Zeit als Zahl und Maß denkt, reflektiert Boethos über die noetische Fundierung der Meßtätigkeit. Messen ist ohne eine Tätigkeit des Geistes nicht denkbar. Wer wollte bestreiten, daß das Messen und Zählen unser Werk yov) sind? Wer wie Aristoteles die Zeit als Maß denkt, drängt sie, so scheint es, aus der Natur in den noetischen Bereich ab, indem er sie als eine konstitutive Leistung des begreift. Weil Aristoteles die Zeit nun als einen Meßwert betrachtete, ist sie kein Naturphänomen. Um seine Aristoteleskritik (Fragment I) zu untermauern, mußte Boethos also zeigen, daß die Gewinnung einer Maß zahl die Tätigkeiten der Seele voraussetzt (Fragment II). Boethos widersprach sich also nicht, sondern unterstützte nur seine eigne Zeittheorie. Er vertrat das natürliche Sein der Zeit und suchte nach den Schwächen der Position des Ari stoteles. Boethos war also keinesfalls ein Anhänger des seelischen Seins der Zeit, son dern ein Kritiker der aristotelischen Zeitphilosophie. Aber er bemerkte nur ei ne Seite der Theorie des Aristoteles, denn er übersah die Fundierung der Zeit in der von der kosmischen Seele initiierten Kreisbewegung des Universums. Weil Aristoteles die Zeit als eine Zahl definierte, evozierte er Mißverständnisse. In dieser Definition lag daher für einen Aristoteliker die Gefahr einer Intellektualisierung der Zeit. Es ist die herausragende Leistung des Boethos, daß er diese Einsicht in das Wesen der aristotelischen Zeittheorie weitsichtig unterstrichen hat. Boethos be griff die Brisanz der Konzeption des Aristoteles und erregte mit seinem Hin weis die Aufmerksamkeit der spätantiken Aristoteleskommentatoren. Er stiftete auf diese Weise eine Diskussion, deren Nachwirkungen bei Alexander, Themistios und Simplikios deutlich spürbar sind. V. Die spätantiken Aristoteleskommentatoren standen vor folgender Situa tion: Nicht nur die drei großen Philosophenschulen der Spätantike, die Stoiker, Epikureer und Skeptiker bestritten das Sein der Zeit, sondern auch ein erfolg reicher philosophischer Schriftsteller und Arzt wie Galen sprach sich gegen die Position des Aristoteles aus. Die einen Philosophen betonten das seelische Sein der Zeit, andere betrachteten sie als Naturbestand, manche leugneten sie ganz. Selbst die Nachfolger des Aristoteles waren gegensätzlicher Meinung. In dieser Situation formulierte Alexander von Aphrodisias seinen großen Kommentar zur Physik des Aristoteles. Alexander versuchte die Polemik des Boethos zu widerlegen. Er zeigte, daß die Zeit gemäß Aristoteles eine Zahl ist. 91
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Insofern befindet sie sich in der menschlichen Seele. Andererseits aber verdankt sie ihr Sein einer kosmischen Seele. Diese strukturiert und ordnet die Bewe gung des Universums. Die Bewegung ihrerseits dient dabei als Fundament der individuellen Zeitgewinnung.54 Diesem Modell folgten die spätantiken Aristoteleskommentatoren. Sie über nahmen Alexanders vermittelnde Position. Die Zeit ist, wie Aristoteles sagt, zunächst eine Zahl. Dadurch befindet sie sich in der Seele. Sie ist aber keines falls eine Fiktion, wie etwa die Skeptiker annahmen, denn sie existiert als ein Phänomen an der von der kosmischen Seele initiierten universellen Kreisbewe gung. Damit ist sie der Natur verhaftet, ohne jedoch körperliches Sein zu besit zen. Auf diese Weise nahmen die spätantiken Aristoteleskommentatoren gleich sam eine mittlere Position ein. Diese entfaltete über Averroes später im 13. Jahrhundert eine außerordentliche Wirksamkeit. Nach Alexander diskutierte Themistios das Problem in seinem Physikkommentar und verlieh ihm dadurch deutlichere Konturen. Auch Themistios sah, daß die Zeit nach Aristoteles eine Zahl ist und damit von der (menschlichen) Seele abhängt. Und auch er wollte vermeiden, daß sie in die Nähe einer fiktiven Vorstellung gerät. Niemand sollte die Konzeption des Aristoteles mit den The sen der Eleaten, Sophisten, Stoiker, Epikureer und Skeptiker verwechseln. The mistios versucht daher die unverwechselbare Position des Aristoteles in einer Abschweifung zu erläutern. Ist die Annahme vernünftig, so fragt Themistios zunächst, daß die Zeit eine Vorstellung unserer Seele ist ? Besitzt sie keine eigenständige Natur ? Wenn sie ein Maß und eine Zahl ist55, dann existiert sie ausschließlich in der Seele. Das sagt Aristoteles doch auch, wenn er behauptet, daß ohne Seele keine Zeit vorhanden ist.56 Wo aber bleibt dann der Bezug der Zeit zur außer seelischen Natur? Konstituiert die Natur keine Zahlen und Maße, wie Themi stios bei Boethos las? Sind sie allein unser Werk
92
1.8. Die antiken Aristoteleskommentatoren im Kontext
Die Aristoteleskommentatoren verwahrten sich gegen diese Auffassung. Sie bewahrten dagegen die These des Aristoteles, daß die Zeit in ihrem innersten Wesen nicht nur ein Phänomen an der natürlichen Bewegung ist, sondern zu ih rer Konstituierung auch der menschlichen Intellektualität bedarf. Daß die Zeit ein mit der Bewegung verknüpfter Gedanke sei, war ein Konzept, dessen Ab straktion die antiken Aristoteleskommentatoren auf eine harte Probe gestellt hat. Aber anders als die Kritiker des Aristoteles verwarfen sie nicht die aristo telische Zeitdefinition, sondern enthüllten ihren wahren Sinn, indem sie die kosmologische Basis im Verhältnis von Zeit und Seele aufdeckten. Themistios beantwortet daher die Frage nach dem Sein der Zeit, indem er gemäß Aristoteles (und Alexander von Aphrodisias) auf die Bewegung des Kosmos verweist. Er teilt mit, daß die Zeit keine bloße Vorstellung sein kann, weil sie sich, obwohl sie eine Zahl ist, auf die Himmelsbewegung stützt. Diese ist jedoch an sich selbst strukturiert. Leider beschränkt sich Themistios nur auf eine Paraphrase aristotelischer Sätze und entwickelt seine Vorstellung sehr ver kürzt.57 Das Grundmodell Alexanders scheint jedoch durch seine wenigen Be merkungen deutlich hindurch. Im Gegensatz dazu hat sich Simplikios intensiver mit dem Problem befaßt. Von den wenigen aus der Antike erhaltenen Stellungnahmen zum noetischen Sein der Zeit ist der Text des Simplikios einer der umfangreichsten. Deshalb gehört er zu den wichtigsten Dokumenten der antiken Zeittheorie, obwohl er, wie es scheint, bisher kaum Beachtung gefunden hat.58
57
Vgl. THEMISTIUS, Phys. 163, 14-16:
Dieses Zitat ist zum großen Teil eine Paraphrase des Aristotelestextes. Vgl. dazu: ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 b 19-21. Themistios deutet hier an, daß die Zeitaporie eigentlich nicht bei 223 a 29 auf hört, sondern mit den kosmologischen Überlegungen 223 a 29 ff. zusammengehört. Das Ende der Zeitabhandlung des Aristoteles ist keine willkürliche Aneinanderreihung bestimmter Apo nen, sondern eine durchstrukturierte Argumentationskette. Hier fand vermutlich auch Alexander von Aphrodisias seine Hauptstütze zur kosmologischen Interpretation der Zeitaporie. 58 Es ist nicht möglich, die Frage nach dem noetischen Sein der Zeit bei Aristoteles zu diskutie ren, ohne auf die <aristotelische Zeitaporie> einzugehen. Auch Simplikios macht hier keine Aus nahme. Vielmehr verknüpft er die Analyse des Boethos mit Bemerkungen, die wertvolle Auf schlüsse zum Verständnis der Zeitaporie geben. Wer sich also mit der Auslegung der Zeitapoiie bei Simplikios befassen will, darf nicht allein die Stellungnahme des Simplikios zur Aporie aus seiner fortlaufenden kommentierenden Analyse des aristotelischen Zeittraktates untersuchen, sondern muß auch die Kritik des Simplikios am noetischen Sein der Zeit bzw. an Boethos mit in seine Forschungen einbeziehen.
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Teil I - Die antiken Alistoteleskommentatoren
Simplikios beginnt seine Analyse mit einem Auszug aus der Physikparaphrase des Themistios, der die o.g. Kritik des Themistios an Boethos enthält.59 Themistios hatte die Frage zur Diskussion gestellt, ob die Zeit nach der Kon zeption des Aristoteles eine Vorstellung unserer Seele sei oder eine eigene Na tur besitze. Er begründet diese Fragestellung mit einem Hinweis auf die Zeitaporie. Hatte Aristoteles dort nicht selbst gesagt, daß keine Zeit vorhanden ist, wenn die Seele entfällt? Sowohl die Bestimmtheit der Zeit als Maß als auch ihre zahlenhafte Verfaßtheit legten doch die Annahme nahe, daß sie nur im Geist existiert. Wenn Boethos zusätzlich in seiner Aristoteleskritik behauptete, daß das Maß keinen natürlichen Ursprung habe, sondern daß Messen und Zählen unser Werk seien, dann zielte er damit doch ausdrücklich in Richtung auf eine noetische Existenz der Maße. Auf diese Weise referiert Simplikios die These des Boethos und die damit zusammenhängenden Analysen des Themistios. Beide Textpassagen dienen ihm hier nur zur Dokumentation des Problems. Simplikios reagiert auf diese Frage zunächst mit einer Formulierung der beiden Grundaspekte der Zeitphilosophie des Aristoteles: Einerseits soll die Zeit eine Bestimmtheit und ein Zustand der Bewegung sein, an dererseits stuft Aristoteles sie als ein (zahlenhaftes) Abgetrenntes ein, das überall und zugleich es selbst ist. Simplikios löst das Dilemma der Zeitphilosophie des Aristoteles durch eine erneute Reflexion über das Verhältnis von Zeit und Seele. Er stellt zunächst fest, daß Aristoteles in seiner Theorie der Zeit weder die eigene Hypostase der Zeit aufgehoben noch die Zeit in die Vorstellung versetzt habe, als er die Be hauptung aufstellte, daß keine Zeit vorhanden sei, wenn die Seele nicht existie re. 60 Simplikios begründet seine Behauptung mit einer These, die den schon oben diskutierten Ausführungen des Themistios gleicht. Dennoch setzt er hier einige Akzente deutlicher. Zunächst bestimmt er die Bewegung als das der Zeit Zu , während er die Zahl als eine Form de grundeliegende finiert. Die Seele formiert demnach die Bewegung durch den Akt ihrer Zäh lung und gewinnt auf diese Weise die Zeit als Zahl. Ohne die Bestimmtheit der Zeit als Form der Bewegung näher zu untersuchen, geht Simplikios im An schluß daran zur Diskussion der kosmischen Seele über. Die (kosmische) Seele 59 60
Vgl. SIMPLICIUS, Phys. 766, 13ff. Vgl. SIMPLICIUS, Phys. 766, 27-29:
94
1.8. Die antiken Aristoteleskommentatoren im Kontext
ist die Ursache jeder Bewegung. Insofern sagt Aristoteles mit Recht, daß die Zeit entfällt, wenn es keine Seele gibt. Simplikios bedient sich also zunächst ei ner Argumentation, die seiner oben diskutierten Analyse der Zeitaporie gleicht. Diese Thesen setzt er nun gegen die Lehre vom noetischen Sein der Zeit ein. Nach Simplikios verknüpft Aristoteles die Zeit mit der universellen Ursache der Bewegung derart, daß die Zeit nicht ohne diese Instanz zu existieren ver mag. Damit hat Aristoteles gemäß Simplikios aber keinesfalls behauptet, daß die Zeit deshalb eine Vorstellung sei, weil sie zugleich mit der Aufhebung der Seele entfalle. Die kosmologische Interpretation der Zeitaporie bietet Simplikios die Mög lichkeit, ein rein noetisches Sein der Zeit auf überzeugende Weise zu verwer fen. Wenn Boethos in seiner Aristoteleskritik behauptet, daß kein Maß von Natur aus entsteht, dann übersieht er augenscheinlich die Tatsache, daß jede natürliche Form durch Maß und Zahl geordnet ist.61 Entsprechendes gilt, so ist Simplikios zu ergänzen, auch von der an sich selbst zahlenhaft vorstrukturier ten Bewegung. Sie empfängt ihr Sein von der (kosmischen) Seele. Die Him melsseele denkt Simplikios dabei als Ursache der zahlenmäßigen Ordnung in der Rotation des Universums. Doch darauf geht Simplikios nicht mehr ein. Ihm genügt es, daß auf diese Weise die Rede vom noetischen Sein des Maßes und der Zeit ausreichend widerlegt ist. Die Anstrengung der antiken Aristoteleskommentatoren, die < <aristotelische Zeitaporie> durch Hinweis auf die kosmische Seele zu lösen, enthüllt damit ih ren tiefsten Sinn: Sie soll verhindern, daß die Zeit zu einem bloß innerseeli schen Phänomen herabsinkt. Die aristotelische Zeitphilosophie hatte ihren Test durch die antike Skepsis für Jahrhunderte erfolgreich bestanden. Und die anti ken Aristoteleskommentatoren lösten auf ihre Weise eine Frage, die fast der ge samten griechischen Zeitphilosophie erhebliche Probleme bereitet hatte. Dabei hinterließen sie ihren Nachfolgern ein erfolgreiches Modell zur Interpretation der Zeitaporie, das die Araber nach dem Untergang der antiken Philosophie aufnahmen und an die lateinische Philosophie des 13. Jahrhunderts weitergaben, wo es sich erneut durchsetzte.
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Zweiter Teil Der arabische Aristotelismus
2.1. Einführung
Die im ersten Teil dieser Untersuchung vorgestellten Analysen der antiken Ari stoteleskommentatoren zur <aristotelischen Zeitaporie> haben auf doppelte Wei se nachgewirkt. Zunächst sind als die zwei unmittelbaren Anschlußstellen der syrisch-arabische und der griechisch-byzantinische Sprachraum zu nennen. Die Resonanz in der griechisch-byzantinischen Philosophie setzte erst relativ spät ein.1 Nach heutiger Forschungslage blieben die Leistungen der byzantinischen Aristoteleskommentatoren aber ohne jeden Einfluß auf das Denken der lateini schen Peripatetiker des 13. Jahrhunderts. Jene Traditionslinie ist daher für die se Untersuchung ohne Bedeutung. Anders liegen die Verhältnisse im syrisch-arabischen Sprachraum. Der Aristotelismus der Spätantike gelangte hier durch syrische Vermittlung2 in die Hände der Araber.3 Es waren arabische Philosophen, die die Ergebnisse der an tiken Aristoteleskommentatoren rezipierten und sie auf diese Weise bewahrten.4
1
Vgl. MICHAEL PSELLUS, In Physicen Aristotelis Commentarii, loanne Baptista Camotio Philosopho Interprete, Venetiis 1554, in: Commentaria in Aristotelein Graeca. Versiones Latinae temporis resuscitatarum litterarum (CAGL) 1, hrsg. von Ch. Lohr, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, 41 r 7-22. Vgl. auch: L. Benakis, Studien zu den Aristoteles-Kommentaren des Michael Psellos, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 43 (1961) 215-238, 44 (1962) 33-61; Kl. (Dehler, Aristotle in Byzantium, in: Greek, Roman and Byzantine studies 5 (1964) 133-146; W. Lackner, Zum Lehrbuch der Physik des Nikephoros Blemmydes, in: Byzantinische Forschun gen 4 (1972) 157-169; G. Podskalsky, Theologie und Philosophie in Byzanz. Der Streit um die theologische Methodik in der spätbyzantinischen Geistesgeschichte (14./15. Jh.), seine syste matischen Grundlagen und seine historische Entwicklung (Byzantinisches Archiv 15), München 1977, 109-114. 2 Zum syrischen Sprachraum vgl.: BARHEBRAEUS, Le candélabre des sanctuaires de Grégoire Aboulfaradj dit Barhebraeus, ed./trad. J. Bakoš, in: Patrologia Orientalis XXIV, fasc. 3, n. 118, Paris 1933 (Réimpression anastatique, Turnhout 1988), 366f.; H. F. Janssens, L'ENTRE TIEN DE LA SAGESSE. Introduction aux Œuvres Philosophiques de BAR HEBRAEUS (Biblio thèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l'Université de Liège 75), Liège/Paris 1937, 74, 224/5. 3 Vgl. A. Badawi, La transmission de la philosophie grecque au monde arabe (Études de philo sophie médiévale 56), Paris 1968. 4 Eine Untersuchung, die Vollständigkeit erstrebte, müßte die Entwicklungsgeschichte der Stel lungnahmen zur <aristotelischen Zeitaporie> vom Ausgang der Antike über alle Zwischenglieder bis zum Übergang der arabischen Aristoteleskommentierung in das lateinische Mittelalter schrei99
Teil II - Der arabische Aristotelismus
Die lateinischen Übersetzungen der arabischen Zeittraktate vermittelten daher nicht nur einen Einblick in die arabische Philosophie der Zeit, sondern ver schafften auf vielfache Weise Einsicht in die entsprechenden Diskussionen der Spätantike. Durch die arabischen Untersuchungen und Forschungen erhielten die Peripatetiker des 13. Jahrhunderts auf indirekte Weise Kenntnis von den Thesen der antiken Physikkommentatoren. Was Albert der Große z.B. an ara bischer Zeitphilosophie kannte, war zum großen Teil eine Modifikation und kritische Umarbeitung der Thesen der spätantiken Aristoteleskommentatoren. Von erheblicher Bedeutung für die Philosophen des 13. Jahrhunderts ist zu nächst der Zeittraktat des Avicenna. Dort zeigt sich die überraschende Vielfalt der Zeittheorien, die in den Gesichtskreis der arabischen Philosophie getreten waren. Darauf haben die Araber ihre eigenen Untersuchungen aufgebaut. Avi cenna selbst bemühte sich um Vollständigkeit. Er ordnete die verschiedenen Zeittheorien nach bestimmten Gesichtspunkten und versuchte ihre systematische Basis zu erhellen. Der Zeittraktat des Avicenna ist noch kaum erforscht. Die Basis seiner Kon zeption läßt sich jedoch leicht erkennen. Sie ruht auf einem bestimmten Axiom: Die Zeit ist für Avicenna außerseelische Weltzeit. Avicennas Gesamtentwurf resultiert daher aus einer fundamentalen Kritik am seelischen Sein der Zeit. Sein Konzept einer Philosophie der Zeit geht von der außerseelischen Weltzeit aus. Daher erübrigte sich die Begründung einer speziellen Theorie zum Ver hältnis von Zeit und Seele. Avicenna setzte sich mit dieser Problematik nur in direkt auseinander. Jene Frage ergibt nur dort einen Sinn, wo ein innerseeli sches Sein der Zeit zur Diskussion steht. Eine Theorie der Weltzeit dagegen be darf derartiger Überlegungen nur auf eingeschränkte Weise. Die Seele mißt zwar die Weltzeit, aber sie konstituiert sie nicht. Insofern verzichtet Avicenna auf eine explizite Kritik der <aristotelischen Zeitaporie>. Aber er legte ein Mo dell vor, mit dem die Philosophen des 13. Jahrhunderts bestimmte Deutungen der Zeitaporie als Hinweis auf das innerseelische Sein der Zeit bequem zurück weisen konnten. Anders ist die Position des Averroes. Averroes steht ganz im Bann der anti ken Aristoteleskommentatoren. Dies ist kein Geheimnis, das sich erst durch umständliche Forschungen enthüllt. Averroes selbst spricht mehrfach von sei nem engen Verhältnis zu den antiken Physikkommentatoren. Der Physikkommentar des Alexander von Aphrodisias ist der große Entwurf, auf den er sich ben. Ein solches Unternehmen sprengt nicht nur den Rahmen dieser Untersuchung, sondern scheitelt auch an den fehlenden Quellentexten.
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2.1. Einführung
bei der Auslegung des aristotelischen Zeittraktates bezieht.5 Aber auch die Phy sikparaphrase des Themistios kennt er und benutzt sie. Im Gegensatz zu Avicenna akzeptiert Averroes deshalb keine absolute Welt zeit. Er denkt die Zeit nicht als Disposition der Naturdinge, aber auch nicht als fiktive Vorstellung. Die Zeit ist für ihn wie bei den antiken Aristoteleskom mentatoren ein der Mitte zwischen diesen Extremen. Außerhalb der Seele ist die Zeit in der Potenz. Sie erreicht erst innerhalb der Seele die ihr eigentümliche Aktualität. Diese Überzeugung gewann Averroes aus dem Stu dium der antiken Physikkommentare. Es war Alexander von Aphrodisias' Aus legung der <aristotelischen Zeitaporie>, die Averroes in seiner Haltung zur Fra ge nach dem seelischen Sein der Zeit bestärkte. Averroes war in seiner Zeitphi losophie Alexandrist. Daher sind auch diejenigen Philosophen des 13. Jahrhun derts, die seine Thesen übernahmen, auf ihre Weise Alexandristen. Im Hinblick auf das Verhältnis von Zeit und Seele fanden die Peripatetiker des 13. Jahrhunderts bei den Arabern also zwei Alternativen vor: Bei Avicenna das Modell einer absoluten Weltzeit und im Physikkommentar des Averroes die Konzeption einer innerseelischen Zeit. Aber die Philosophen des 13. Jahrhun derts erhielten von den Arabern mehr als diese großen Gesamtentwürfe. Sie be kamen zusätzliche Informationen, die damals auf andere Weise, d.h. außerhalb der arabischen Überlieferungslinie, noch nicht zu erhalten waren. Dazu gehö ren auch die Fragmente aus dem achten Buch der Apodeiktik Galens, die eine kritische Auseinandersetzung mit der Zeitphilosophie des Aristoteles enthalten. Galen hatte in seinem Werk eine These zum seelischen Sein der Zeit entworfen, der die Aristoteliker der Spätantike niemals zustimmen konnten: Galen schrieb den Prozessen der Intellektion eine bestimmte Zeit zu. Bei ihrer Zurückwei sung Galens überlieferten die antiken Physikkommentatoren Galenfragmente, die Averroes aufgegriffen und diskutiert hat. Galens Kritik der aristotelischen Zeitphilosophie geriet auf diese Weise in den Physikkommentar des Averroes. Aber auch Moses Maimonides beschäftigt sich im Dux neutrorum mit Ga lens Zeitphilosophie. Dies zeigt die Bedeutung, die Galen als Gegenspieler des Aristoteles in der arabisch-jüdischen Zeitphilosophie erlangt hatte. Moses Mai monides' Philosophie der Zeit und die hebräische Übersetzung der Kommenta re des Averroes initiierten dann in der jüdischen Philosophie eine Diskussion
5
Averroes äußert sich zu Alexander von Aphrodisias u.a. in den Proömien zum ersten und achten Buch seines Physikkommentars. Vgl. dazu: H. Schmieja, Drei Prologe im großen Phy sikkommentar des Averroes?, in: Miscellanea mediaevalia 18 (1986) 185f.
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Teil II - Der arabische Aristotelismus
über das seelische Sein der Zeit.6 Doch auch diese Traditionslinie blieb für die Aristoteliker des 13. Jahrhunderts ohne Bedeutung. Die latinisierten Texte des Avicenna und Averroes beherrschten die Diskussionen dieser Zeit. Im jahrhun dertelangen Zeitraum zwischen den letzten antiken Physikkommentatoren und den Peripatetikern des 13. Jahrhunderts hat die arabisch-jüdische Philosophie das Problem der Zeit so intensiv diskutiert, daß ihre Analysen zum Verhältnis von Zeit und Seele das philosophische Erbe der Antike nicht nur erneuerten, sondern auch vertieften. Durch ihren Einfluß im lateinischen Westen brachten sie bestimmte antike Zeitkonzepte erneut zur Geltung.
6
Vgl. H. A. Wolfson, Crescas' Critique of Aristotle. Problems of Aristotle's Physics in Jewish and Arabic Philosophy, Cambridge 1971, 288/9.
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2.2. Avicenna Avicenna hat seine umfangreiche Zeitphilosophie im Tractatus de tempore aus dem zweiten Buch der Sufficientia entwickelt. Daneben gibt es in seiner Meta physik eine Bemerkung zum Verhältnis von Zeit und Seele. Sie führt in Avicennas Sicht der Problematik von Zeit und Seele ein.1 Avicenna entwickelt dort zwar keine Philosophie der Zeit, aber die Zeit dient ihm an dieser Stelle als De monstrationsobjekt zur Beschreibung der Natur bestimmter Relationen. Das zehnte Kapitel des dritten Traktates heißt:
«Capitulum de ad aliquid».2
Avicenna beschäftigt sich dort mit einer Relationsart, die ihr Sein allein dem Intellekt verdankt. Diese Relationsart ist nach Avicenna für die Zeitphilosophie von höchstem Interesse, denn sie läßt sich auf das und <Später> der Zeit übertragen. Ein Seiendes, so sagt Avicenna, ist erst dann in sich (prius), wenn es mit dem der Zeit übereinstimmt. Das Erkenntnisbild des und <Später> befindet sich ausschließlich im Intellekt, jedoch erst dann, wenn der Intellekt zwei Formen miteinander verglichen hat. Insofern sichtet der Geist die Momente des und des <Später>, wobei der Vergleich (comparatio) die ser zwei Strukturen ebenfalls durch das Denken geschieht. Das Ergebnis der Komparation ist eine Relation, die ihr Sein allein im Intellekt besitzt. Dieses Relations gefüge zwischen und <Später> bezeichnet Avicenna als eine intelligible Intention (intendo intelligibilis). Ihre Konstitution verdankt sie nur dem vergleichenden und Bezüge setzenden Intellekt. Sie ist in keiner Weise ein Naturbestand.3 1 Vgl. auch das Stichwort (Zeit) in: A.-M. Goichon, Lexique de la langue philosophi que d'Ibn Sinā (Avicenne), Paris 1938, 147/8. 2 AVICENNA, Liber De Philosophia prima sive Scientia divina (Metaphysica), ed. S. Van Riet, introd. G. Verbeke, Louvain/Leiden 1977, 173-183. 3 Vgl. AVICENNA, Met. tr. III 10; Van Riet 182, 89-183, 101: «Scias autem quod res in se non est prius, nisi eo quod est simul cum ea, et hoc species prioris et posterions est cum utraque sunt simul in intellectu. Cum enim praesentatur in intellectu forma prioris et forma posterioris, intelliget anima hanc comparationem incidere inter duo quae sunt in intellectu, quoniam haec
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Teil II - Der arabische Aristotelismus
Damit ist deutlich ausgesprochen, daß die keine Be stimmtheit der Sache, sondern ein Konstitutum des Intellekts ist. Fraglich bleibt jedoch, ob Avicenna diese Position konsequent in allen seinen Schriften durch gehalten hat. In den Sufficientia vertritt er jedenfalls einen davon abweichenden Standpunkt. Wer die Thesen der arabischen Philosophen über das Verhältnis von Zeit und Seele untersuchen will, darf daher den Tractatus de tempore aus den Sufficien tia des Avicenna nicht vernachlässigen.4 Dieser Text dokumentiert den hohen Standard der arabischen Zeitphilosophie. Avicenna hat dort gemäß Stoff und Form eine eigene Position gefunden. Sein Zeittraktat ist nicht nach dem Leitfa den der aristotelischen Zeitabhandlung angeordnet. Er verfügt über einen da von abweichenden systematischen Grundriß. Auch inhaltlich geht Avicenna ei gene Wege. Hier vertritt er nicht die These vom innerseelischen Sein der Zeit. Im kritischen Teil seines Zeittraktates hat er deshalb alle derartigen Theorien verworfen und entschieden zurückgewiesen. Die Philosophen des 13. Jahrhun derts, die immer auf der Suche nach neuen Quellen waren, fanden hier eine Untersuchung mit vielen interessanten Informationen vor. Durch ihr hohes Ni veau hielt sie den Vergleich mit dem Physikkommentar des Averroes leicht aus. Die spezifische Zeittheorie des Avicenna war aber nicht nur zur Auslegung des aristotelischen Zeittraktates, sondern auch zur Widerlegung des Averroes geeignet. Wer dessen Einfluß in der Zeitphilosophie zurückdrängen wollte, be diente sich gern der Argumente des Avicenna. Wer aber eine eigene These Avicennas zum Verhältnis von Zeit und Seele in diesem Traktat sucht, wird ent täuscht. In der Auseinandersetzung mit fehlerhaften Behauptungen zum inner seelischen Sein der Zeit bringt Avicenna zunächst nur den Nachweis, daß die Zeit außerhalb der Seele existiert. Daher erschien ihm allein die theoretische Begründung des außerseelischen Seins der Zeit sinnvoll. Der Zeittraktat des Avicenna befindet sich im zweiten Buch der Sufficientia, das den Titel De motu et consimilibus trägt.5 Schon diese Überschrift zeigt an, daß für Avicenna die Bewegung das primäre Phänomen ist. Die Zeit begleitet comparado est inter duo quae sunt in intellectu Sed ante hoc, res in se non est prior; quomodo enim erit prior re quae non habet esse? Igitur quae fuerint de relativis secundum hunc modum, non erit eorum relatio nisi in solo intellectu; nec intelligentur existere in esse secundum hanc prioritatem et posterioritatem. Hoc enim prius et posterius est certe de intentionibus intelligibili֊ bus ex comparationibus quas ponit intellectus ex respectibus qui acquiruntur rebus, cum compa rat inter eas intellectus et designat eas.» 4 Vgl. AVICENNA, Suff. II 10-13; Venetiis 1508, 32 v b A-36 v a S. 5 Vgl. AVICENNA, Suff. II 1-13; Venetiis 1508, 23r-36 v a S.
104
2.2. Avicenna
den motus nur als Epiphänomen. Avicennas Zeittraktat beginnt mit dem zehn ten Kapitel des zweiten Buches der Sufficientia. Avicenna hat dafür folgenden Titel gewählt:
«Initium loquendi de tempore et de diuersitate sentiendi de eo et de his que opponuntur errantibus in eo.»6
Das zehnte Kapitel hat also eine einleitende Funktion. Zunächst gibt Avicenna eine Bestandsaufnahme, die die verschiedenen damals bekannten Strömungen der Zeitdiskussion zu einer vergleichenden Übersicht bündelt. Indem Avicenna aus verschiedenen Quellen schöpfte, erhielt sein Text selbst Quellenwert. Die lateinischen Leser Avicennas im 13. Jahrhundert haben von dieser Möglichkeit eifrig Gebrauch gemacht. Weil Avicenna zunächst eine Bestandsaufnahme und Quellensichtung vor nahm, ist es nicht verwunderlich, daß das Verhältnis von Seele und Zeit ver stärkt in sein Blickfeld trat. So beschreibt er im zehnten Kapitel auch Positio nen zum innerseelischen Sein der Zeit. Avicenna untersuchte diese Theoreme, um sie zu destruieren. Seine Analysen sind daher sowohl Dokumente unter schiedlicher Konzeptionen als auch deren philosophische Kritik. Avicennas be schreibende Analyse ist so in ihrem Kern Destruktion. Avicenna bekämpft be stimmte Theorien. Über die einzelnen Urheber der verschiedenen Positionen sagt er jedoch nichts. Weil die arabische Philosophie auf gewisse Weise eine Fortsetzung antiker Kontroversen war, ist es nicht verwunderlich, daß die These vom seelischen Sein der Zeit auch im arabischen Sprachraum zur Diskussion herausforderte. Die entsprechenden Dokumente im zehnten Kapitel des zweiten Buches der Suf ficientia sind ein ausreichender Beweis dafür. Avicenna hat zwei grundlegende Positionen für seine Kritik ausgewählt: Die erste Theorie geht von der formie renden Kraft des Intellektes aus, das zweite Theorem beschreibt die Zeit als Aggregation der von der Seele gesetzten Jetztpunkte. Ausgangspunkt der Argumentation, die Avicenna zunächst durchführt, ist die Konstitution der Zeit im Gefüge zwischen Intellekt und Bewegung. Die Zeit er scheint dabei als eine im Intellekt (in intellectu) gestaltete (formare) Bestimmt6
AVICENNA, Suff. II 10; Venetiis 1508, 32 v b .
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Teil II - Der arabische Aristotelismus
heit (quoddam). Avicenna beginnt seine Analyse zunächst mit einer phänome nologischen Beschreibung der Bewegung. Der <motus localis) zeigt sich dabei als Übergang (transitus) eines Beweglichen (mobilis) innerhalb zweier Grenzen (ad duos terminos), die als (hic) und <dort> (illic) zu bezeichnen sind. In der konkreten Bewegung befindet sich ein Bewegliches zunächst in einem , und zwar so, daß es sich an dieser Stelle, d.h. an dieser Begrenzung sei ner Wegstrecke, zunächst wirklich aufhält. Diesen aktualen Zustand des Be weglichen bezeichnet Avicenna als ein Sein . Initiiert das Bewegliche aber den Prozeß der Bewegung bzw. erhält den Anstoß zur Ortsveränderung, dann erfolgt ein kontinuierlicher Übergang vom zum . Diese Ge setzmäßigkeit gilt universell innerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches. Wo im mer ein signierender Beobachter bei einer Bewegung ein setzt, folgt darauf ein . Dieser Übergang ist jedoch so beschaffen, daß immer nur ei ne dieser Setzungen dem Akt nach existiert. Die primäre Befindlichkeit der be weglichen Entität verschwindet in der außerseelischen Natur, um einem sukzedierenden Zustand Raum zu geben. Beide Bewegungszustände können nicht in der Wirklichkeit (in effectu) vorhanden sein.7 Schon die phäno menologische Beschreibung eines einfachen Bewegungsvorgangs zeigt also, daß außerhalb der Seele, d.h. in der Natur, immer nur ein Bewegungszustand ak tuell existiert.
Wie aber ist der Übergang zwischen diesen Grenzpunkten zu fassen? Offen bar nur durch einen Vergleich (comparado) des ersten (A) mit dem folgenden Zustand (B). Erst wenn diese Komparation möglich ist, erlangt der 7
Vgl. AVICENNA, Suff. II 10; Venetiis 1508, 33r: «Dixerunt ergo tempus esse quoddam quod formatur in intellectu de comparatione mobilis ad duos terminos transitus quod est circa vnum eorum in effectu: et non est circa alterum in effectu: quia hoc quod est illic non habet esse cum hoc quod est hic.»
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2.2. Avicenna
als Naturerscheinung in seiner Totalität den Status einer durch einen Beobach ter erfaßten Wesenheit. Auf dieser Basis soll nun das entstehen, was wir als Zeit bezeichnen. Obwohl die Formulierungen Avicennas hier nur kurz und außer dem schwer verständlich sind, tritt doch der Gang der Argumentation klar zu tage. Ausgangspunkt ist der Zugriff der Seele auf das . Durch die unmittelbare Aneignung beider Bewegungszustände mit Hilfe des sensiblen oder sensitiven Seelenteils gelangen die zwei Stadien des <motus> in den Modus der Simultaneität (simul). Dabei ruhen die differenten Vorstellungsbilder ge mäß ihrer jeweiligen Beschaffenheit (imaginatio utriusque) zur weiteren Aufar beitung in der Einheit des sinnlichen Bewußtseins.8 Während die sinnliche Wahrnehmung nur das und im Modus des <simul> innerhalb der Seele bewahrt, formiert der Intellekt in sich eine Be stimmtheit (aliquid), die das Bewegliche im Zwischenzustand erfaßt. Dieses ist nun näher zu explizieren. Avicenna nennt es eine Entität, die das Maß der Sukzessivität der Bewegung repräsentiert. Im Hinblick auf dieses ist der in der einen Bewegung schnell (cito) und in der ande ren langsam (tarde).9
Avicenna hat sich bemüht, die Argumentation dieser Position noch durch sichtiger zu machen. Dabei gebrauchte er ein Bild: Die Zeit ist das Maß des Be8
Vgl. AVICENNA, Suff. II 10; Venetiis 1508, 33 r : «In sensibilibus autem habet esse in anima. habet enim esse in anima simul: et imaginatio vtriusque: et imaginatio medii quod est inter illos simul. non habet autem esse in sensibilibus aliquid existens inter illos.» 9 Vgl. AVICENNA, Suff. II 10; Venetiis 1508, 33 a C/D: «Est autem in intellectu aliquid quod imaginatur in ratione scilicet quod interim dum mobile est hic et illic: est aliquid ad cuius mensu ram perficitur transitus: aut in hoc cito: aut in hoc tarde: que habent isti motus: aut quia habent istos ex motibus multis et quietibus compositos.»
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Teil II - Der arabische Aristotelismus
wegungsverlaufs, das der Verstand (ratio) in sich ein-bildet (depingit). Diese Ein-Bildung geschieht durch die Formierung der Bewegungsgrenzen im Zu stand der simultanen Aktualität. Aufmerksamkeit verdient dabei Avicennas Vergleich mit dem Prädizieren und anderen Aktivitäten der . Die Bezüg lichkeiten, die der Verstand in den erkannten Dingen (in rebus intellectis) aus findig macht (adinvenire), d.h. die Relationen, die er zwischen diesen Denkin halten setzt, gehören nicht zu den seienden Dingen.10 Wichtig ist hier die Differenz, die diese von Avicenna beschriebene Position zwischen <esse in anima> und <(esse) de numero existentium> setzt. Die Imma nenz der Zeit bedeutet hier nicht nur ein Sein in der Seele, sondern auch eine Existenz außerhalb der Naturdinge. Die Zeit erscheint jenseits des natürlichen Seins. Sie ist auf diese Weise mit der intellektuellen Leistung der Seele ver knüpft, die ihre eigenen Erinnerungsmomente zur Zeit umstrukturiert. Was aber heißt hier , was <depingere>? Und welche Rolle spielt das Ge dächtnis? Die erinnernde Aufbewahrung unterschiedlicher Bewegungszustände ermöglicht erst den Vergleich. Darin erblickten manche Zeittheoretiker des 13. Jahrhunderts eine Verwandtschaft zur Zeittheorie des Augustinus. Albert der Große hat zumindest die Nähe dieser Theorien gesehen. Daher befaßte er sich ausführlich mit dieser von Avicenna überlieferten These zum Verhältnis von Zeit und Seele.11 Das zehnte Kapitel des zweiten Buches der Sufficientia hält jedoch nicht nur die o.g. These zum seelischen Sein der Zeit bereit, sondern untersucht noch eine andere, daran anschließende Variante. Ebenso wie die zuerst genannte Po sition hat auch das zweite Theorem nach den Angaben Avicennas vielfach Ver wendung gefunden. Avicenna verzichtet auch hier auf nähere Angaben. Eine schnelle philosophiegeschichtliche Identifizierung der Urheber dieser These ist daher nicht möglich. Dies entspricht dem Verfahren, das dem gesamten zehnten Kapitel zu eigen ist: Avicenna konfrontiert den Leser weniger mit Autoritäten als mit konkreter Philosophie. Die Positionen I und II besitzen eine gemeinsame Wurzel. Daher folgen sie im Text Avicennas unmittelbar aufeinander. Auch das Ergebnis verbindet sie
10
Vgl. AVICENNA, Suff. II 10; Venetiis 1508, 33 r a D: «Ergo tempus est mensura cursus motus que non habet: nisi quia ratio depingit earn in se: cum formantur in ea vtrique termini mo ms in effectu simul. Sicut predicare et subiicere et propositio et his similia que sunt talia que ratio adinuenit in rebus intellectis: et comparationes quas ponit inter illas quorum nullum est de nume ro existentium.» 11 Vgl. 3.3.4., S. 222/3; 3.4.1., S. 240-243.
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2.2. Avicenna
miteinander: Gemeinsam ist beiden, daß sie das Sein der Zeit in die Seele verle gen. Unterschiedlich sind nur die jeweiligen Begründungen dafür. Die Theorie, die Avicenna hier vorstellt, beruht auf der Konstitution der Zeit durch eine Aggregation von Jetztpunkten oder Momenten. Diese Position führt ebenfalls zu der Einsicht, daß die Zeit kein Naturphänomen, sondern der Seele zuzuweisen ist. Auch diese Theorie war für die Zeitphilosophen des 13. Jahrhunderts von größtem Interesse. Sie fanden hier ebenfalls eine Auffassung vor, die der Zeittheorie des Augustinus vergleichbar schien.12 Avicenna geht von folgendem alltäglichen Befund aus: Wer <Jetzt> sagt, ge winnt den singulären Augenblick oder das <momentum>. Ordnet er nun diesen Augenblick dem unmittelbar nachfolgenden Moment zu und verbindet beide Jetztpunkte miteinander, dann ergibt sich ohne Zweifel die Zeit. Gemäß dieser Theorie ist die Zeit eine Anhäufung (aggregatio) der vielen Augenblicke oder Jetztpunkte. Oder mit anderen Worten: Immer dann, wenn wir Augenblicke oder Jetztpunkte festsetzen oder bestimmen, erfassen wir auch die Zeit.13 Die entscheidende Pointe dieser Auffassung vom Wesen der Zeit ist leicht erkennbar. Jede Hinblicknahme auf ein Jetzt setzt einen Beobachter voraus, der durch den Akt seiner Signierung das Jetzt nicht nur definiert, sondern in seiner Bestimmtheit erst zu sich kommen läßt. In der lateinischen Fassung des Avi cenna heißt der Beobachter, d.h. das Individuum, das die Momente setzt, <momentaton. Der Gegenstandsbereich dieser Hinblicknahme ist die Veränderung. Wer im Fluß der Veränderungen ein Akzidens kennzeichnet, markiert den An fang dieser akzidentellen Bestimmtheit. Dabei zeigt sich dem derart ein Zeichen setzenden Beobachter folgender Sachverhalt: <Jetzt> verhält sich eine bestimmte Sache so, mach zwei Tagen>, wenn wieder <Jetzt> zu sagen ist, aber anders. Avicenna erläutert diesen Zusammenhang mit einem Beispiel aus dem sinnlich wahrnehmbaren Bereich der alltäglichen Erfahrung. Dort geschieht die Zeit messung durch einen Rückgriff auf den kontinuierlichen Verlauf der Sonnen bewegung. <Jetzt> heißt für eine derartige Zeitmessung: <Jetzt, beim Aufgang der Sonne (elevatio solis)>, oder <Jetzt, nach zwei Aufgängen der Sonne (er eignet sich dies oder das)>. Der Aufgang der Sonne ist aber nur dadurch ein
12
Vgl. Anm. 11; 3.6.2.6., S. 389. Vgl. AVICENNA, Suff. II 10; Venetiis 1508, 33 r b D: «Dixit autem sententia quam prenominauimus: quod tempus non est nisi aggregatio momentorum. Cum enim tu ordinaueris mo menta sibi succedentia et coniunxeris non dubitabis quin illorum aggregatio sit tempus. Et quan do quidem sic est: tunc cum cognouerimus momenta: cognoscemus et tempus.» 13
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Teil II - Der arabische Aristotelismus
Jetzt oder ein Moment, weil ein Beobachter beim konkreten Aufgang der Sonne den speziellen Satz Jetzt, beim Aufgang der Sonne> als Aussage ausspricht. Avicenna bezeichnet diesen Vorgang als (Bezeichnung).14 Charak teristisch für diese Bezeichnung ist ihre völlige Willkürlichkeit. Auch andere Zeichen sind brauchbar. Aber die Zeit soll nachprüfbar sein. Also bedarf es eines Zeichens, das universell zugänglich ist. Daher liegt die kosmische Bewegung der Sonne oder eine andere vergleichbare himmlische Er scheinung der Zeitgewinnung zugrunde.15 Gemäß dieser These ist die Zeit nichts anderes als eine Zusammenfassung (collectio) der vielen derart bezeichneten Jetztpunkte. Wenn aber das Jetzt als Setzung des Beobachters erscheint und die Zeit als eine Zusammenfassung die ser Setzungen, dann kann die Aggregation in ihrer Gesamtheit keine andere Qualität als ihre singulären Bestandteile haben. Die Zeit wäre auf diese Weise in toto eine Setzung des Beobachters.16 Ein Vergleich der Positionen I und II hinsichtlich ihrer wesenhaften Argu mentationsstrategien zeigt neben Differenz auch Identität. Beide Theorien ge hen von diskreten Strukturen aus. Einmal ist es das und der Be wegung, aus denen sich der Intellekt das Bild der Zeit ein-bildet, dann sind es die Jetztpunkte oder Momente, die ein Beobachter signiert und zur einheitlichen Zeit aufhäuft. Es ist leicht zu erkennen, daß die Zeit in beiden Theorien als in tellektuelle Synthese aus bestimmten Diskretionen entsteht. Hier befindet sich nach Avicenna auch der Ansatzpunkt zur Destruktion dieser Theoreme. Wer zeigt, daß die Zeit keinesfalls ein Diskretum, sondern ein reales Kontinuum ist, überwindet mit einem Schlag die Theorien vom seelischen Sein der Zeit. Avicennas Zeittraktat enthält keine direkte Auseinandersetzung mit der <ari stotelischen Zeitaporie>. Seine Zeittheorie ist ein Entwurf, der eine spezifische Kritik der Zeitaporie überflüssig machen soll und auch überflüssig macht. Wer
14
Vgl. AVICENNA, Suff. II 10; Venetiis 1508, 33 r b D: «Sed non est momentum nisi quan tum concessit momentator: hoc est scilicet vt signet initium alicuius accidentis quod accidit illi: et dicat v.g. erit sic et sic post duos dies. Cuius sensus est scilicet quod erit cum eleuatione solis post duas eleuationes. Ergo momentum est eleuatio solis. Ergo eleuatio solis non fit momentum: nisi propter assignationem illius qui hoc dixit.» 15 Vgl. AVICENNA, Suff. II 10; Venetiis 1508, 33 r b D: «Si enim voluisset: aliud signum posuisset: sed eleuatio solis est communior et notabilior et diuulgatior. Et ideo elegit hoc: et alii huiusmodi ad determinandum tempus.» 16 Vgl. AVICENNA, Suff. II 10; Venetiis 1508, 33 r b D: «Ergo tempus est collectio rerum que sunt momenta designata: aut que soient poni momenta designata. Et dixerunt quod tempus non habet esse aliter nisi hoc modo. Scitur autem hoc ex rationibus prepositis.»
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2.2. Avicenna
eine außerseelische absolute Weltzeit annimmt, braucht auf das Verhältnis von Zeit und Seele keine Rücksicht zu nehmen. Eine derartige Zeit erlangt ihr wahrhaftes Sein nicht erst in der Seele, sondern ist immer schon in sich perfek tioniert. Avicennas Bemühungen um die Sicherung der Weltzeit ergeben als Re sultat einen Entwurf gegen alle Theorien zum seelischen Sein der Zeit. Insofern folgt im Zeittraktat Avicennas auf das erste Kapitel, das sich mit einer Phäno menologie der im arabischen Sprachraum damals bekannten Zeittheorien be faßt, ein zweiter Abschnitt, der zur Sicherung und Stabilisierung der Weltzeit dient.17 Zunächst beginnt Avicenna mit einer umfangreichen Analyse der Bewegung. Sinn und Zweck dieser Untersuchung ist ein Vergleich zwischen Zeit und Be wegung. Dabei steht ihre gegenseitige Beziehung zur Debatte. Offenbar will Avicenna zunächst die Annahme unterbinden, daß die Bewegung schon in sich zeithafte Strukturen enthält, die dann die Seele zur eigentlichen Zeit struktu riert. Die Zeit soll nicht durch die Aktivitäten des Intellekts an der Bewegung zu ihrem Sein finden. Als außerseelische Weltzeit besitzt sie nämlich nach Avi cenna (a) aus sich selbst die Struktur des und das <Später> nicht zu sammenfallen. Beide Thesen sind damit die Grundaxiome der Zeittheorie Avi cennas. Wie verhält sich diese welthafte Zeit nun zu den innerweltlichen Dingen? Avicenna löst dieses Problem nach dem Modell der Koexistenz. Die Dinge, so behauptet er, die ein und ein <Später> zeigen, besitzen diese Struktur momente nicht aus sich selbst. Sie verfügen vielmehr über ein koexistentielles Sein mit der so beschaffenen Zeit.18 Die reale Zeit besteht aus Teilen. Was mit einem dieser Teile, der als zu bezeichnen ist, durch Koexistenz und Begleitung verbunden ist, heißt usw. Voraussetzung dabei ist, daß sich das jeweilige Ding verändert. Was keine Veränderlichkeit besitzt, steht nicht in Relation zur Zeit. Auf diese Weise sind alle Dinge in das große Koordinatensy stem der Zeit eingefügt. Avicenna spricht es nicht explizit aus, aber nach sei nem Entwurf einer die Natur ordnenden Weltzeit existiert auch dann Zeit, wenn keine individuelle Seele vorhanden ist. Die Frage, die sich Aristoteles in
17
Vgl. AVICENNA, Suff. II 11; Venetiis 1508, 33 v b A-34 v a Ν: «De certificare quid sit tempus: et stabilire illud.» 18 Vgl. AVICENNA, Suff. II 11; Venetiis 1508, 34 r a D: «Res enim in quibus est prius et pos terius: ex hoc intellectu scilicet quod prius desiit esse: et posterius non est cum priore. Non sunt ita ex seipsis: nisi quia habent esse cum aliqua ex partibus huius temporis.»
111
Teil II - Der arabische Aristotelismus
der Zeitaporie im Hinblick auf das Verhältnis von Zeit und Seele gestellt hat, bleibt in der Konzeption Avicennas ohne Sinn. Im ersten Kapitel seines Zeittraktates beschäftigte sich Avicenna mit einer kritischen Phänomenologie der zu seiner Zeit verfügbaren Zeittheorien (Suff. II 10). Avicenna untersuchte diese verschiedenen Zeitkonzeptionen. Der These vom innerseelischen Sein der Zeit schenkte er dabei zwar große Beachtung, lehnte sie jedoch ab. Daher versuchte er, die Struktur dieser These zu erhellen, um Argumente für ihre Widerlegung zu finden. So schafft er die Vorausset zungen, um im zweiten Kapitel die Zeit in ihrer Bestimmtheit als Weltzeit ab zusichern (Suff. II 11): Die Zeit existiert, und sie besitzt ein außerseelisches Sein. Insofern ist das gesamte zweite Kapitel nicht nur eine positive Setzung und Stabilisierung der Weltzeit, sondern auch auf indirekte Weise eine sorgfäl tige Ausarbeitung zur Widerlegung der These vom seelischen Sein der Zeit. Nachdem Avicenna aus der Fülle widersprüchlichster Theorien eine eigene Zeittheorie aufgebaut hat, widmet er sich den Bestimmtheiten der innerweltli chen Zeit. Dazu gehören wesenhaft Kontinuität und Diskontinuität. Kontinuität und Diskontinuität der Zeit manifestieren sich im Augenblick (instans). Inso fern trägt das dritte Kapitel im Zeittraktat des Avicenna (Suff. II 12) den Titel:
«De declaratione instantis».19
Avicenna stellt fest, daß der Augenblick in seiner Beschaffenheit nur aus der Erkenntnis der kontinuierlichen Zeit zu begreifen ist. Er entsteht, wenn die Zeit als Kontinuum in ein Diskretum . Der Augenblick besitzt daher kein aktuelles Sein, sondern ist vielmehr eine theoretische Unterscheidung (distinctio opinata) des Intellektes. Wäre der Augenblick nämlich eine real existie rende Trennung, dann käme es zu einer Unterbrechung der Weltzeit. Ein ak tuelles Sein hat der Augenblick nur im Verstand. Dort erscheint er einerseits als verbindend, andererseits als trennend. Insofern ist er dem Punkt in der Li nie vergleichbar.20
19
AVICENNA, Suff. II 12; Venetiis 1508, 34 ν a A֊35 ν a P. Vgl. AVICENNA, Suff. II 12; Venetiis 1508, 34 ν a Α/Β: «Dicemus quod cognitio instantis habetur ex cognitione temporis. Nam quia tempus est continuum sine dubio habet distinctionem opinatami et hec vocatur instans. Hoc autem instans non habet esse in tu vllo modo: sed in in20
112
2.2. Avicenna
Wie diese Verbindungs- und Trennungsfunktion des Augenblicks zu verste hen ist, zeigt ein anderer Abschnitt aus dem dritten Kapitel. Durch den intellek tuellen Einschnitt in das außerseelische Kontinuum initiiert der Augen blick das Früher und Später. Indem ein Beobachter <Jetzt> sagt, erhält alle bis her abgelaufene Zeit den Status der Vergangenheit. Folglich gehört die gesamte Zeit, die sich noch ereignet, zur Zukunft. Daher vergleicht Avicenna das Jetzt mit dem Punkt in der Linie. Der Augenblick erzeugt nicht das
tellectu et in comparatione ipsius temporis. Alioquin interrumperetur continuado temporis. Sed non est eius esse: nisi inquantum accipitur in intellectu continuans distensionem in directum.» 21 Vgl. AVICENNA, Suff. II 12; Venetiis 1508, 35 r b M: «Cum accipitur vt instans, et facit prioritates et posterioritates numeratas: sicut puncta que lineam numeranti eo quod vnumquodque illorum punctorum est commune inter duas lineas relatiue.»
113
2.3. Averroes
2.3.1. Die arabisch-lateinische Übersetzung der <aristotelischen Zeitaporie> Der große Physikkommentar des Averroes ist im arabischen Original nicht erhalten.1 Von diesem Urtext hat vermutlich Michael Scotus etwa 1220-12352 eine lateinische Übersetzung angefertigt. Diesem Kommentar ist als Leittext ei ne Übersetzung der Physik des Aristoteles beigefügt, die hier, weil sie eben falls auf eine arabische Vorlage zurückgeht, die Bezeichnung Translatio Arab.Lat (TAL) trägt. Auch die Bezeichnung Antiqua Translatio ist im Gebrauch. Die arabische Vorlage dieses Textes hat A. Badawi veröffentlicht.3 Die mittelalterliche lateinische Übersetzung ist nicht die einzige überlieferte Translation des Physikkommentars des Averroes. Es gibt noch eine Überset zung in die hebräische Sprache, die vermutlich Kalonymos ben Kalonymos (1286-nach 1328) anfertigte. 4 Der Text ist erhalten, aber noch ungedruckt.
1
Zur Datierung des großen Physikkommentars vgl: F. E. Peters, Aristoteles Arabus. The Ori ental Translations and Commentaries on the Aristotelian Corpus, Leiden 1968, 33. Vgl. auch: H. Gätje, Averroes als Aristoteleskommentator, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 114, 1 (1964) 59-65. 2 Vgl. H. Schmieja, Drei Prologe im großen Physikkommentar des Averroes?, in: Miscellanea mediaevalia 18 (1986) 178: «Es wird allgemein angenommen, daß der Physikkommentar des Averroes... aus dem Arabischen direkt ins Lateinische übersetzt wurde und daß Michael Scotus der Übersetzer ist.» Zur Chronologie vgl.: The Cambridge History of Later Medieval Philoso phy, Cambridge 1982, 75. 3 Vgl. Aristutãlis, at-Tabica. Tarğamat Ishãq b. Hunain maca śuruh Ibn as-Samh...Haqqaqahu wa-qaddama lahü cAbdarrahmãn Badawi. Ğus' (Al-Qãhira 1384/1964-1385/1965). 4 Vgl. H. Schmieja, Drei Prologe im großen Physikkommentar des Averroes?, in: Miscellanea mediaevalia 18 (1986) 179: «Die Aristoteles-Kommentare des Averroes sind in der Zeit zwi schen 1232 und 1337 aus dem Arabischen auch ins Hebräische übertragen worden ... Was den Physikkommentar betrifft, so hält M. Steinschneider Kalonymos ben Kalonymos (1286-nach 1328) für den Übersetzer aus dem Arabischen ins Hebräische.» Vgl. auch: M. Steinschneider, Die hebraeischen Übersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher, Graz 1956, 122. 114
2.3. Averroes
Aus dieser hebräischen Übersetzung übertrug Jacob Mantinus 1552 den Prolog zu Buch I des Physikkommentars ins Lateinische.5
Der Zugang zum Physikkommentar des Averroes ist auf mehrfache Weise erschwert. Das arabische Original fehlt ganz, die hebräische Übersetzung ist ungedruckt. So bleibt als einzige bisher zugängliche Quelle die Übersetzung des Michael Scotus, die auch für das 13. Jahrhundert der maßgebliche Text war. Auch in bezug auf diese Übersetzung sind Bedenken angebracht. Wer ein mal den Prolog zum Buch I in der mittelalterlichen Übersetzung mit der ent sprechenden hebr.-lat. Fassung des Jacob Mantinus verglichen hat, wird über die inhaltlichen Differenzen beider Texte erstaunt sein. Der Text des Michael Scotus ist also mit erheblichen Mängeln behaftet. Da es im 13. Jahrhundert jedoch nicht zu einer Revision dieses Textes kam, bleibt 5
Vgl. H. Schmieja, Drei Prologe im großen Physikkommentar des Averroes?, in: Miscellanea mediaevalia 18 (1986) 180: «Eine Neuübersetzung aus dem Hebräischen ins Lateinische ist in der Renaissance nicht angefertigt worden. Eine Ausnahme bildet der Prolog zum 1. Buch, den die Junta-Edition von 1552 und die zugehörigen Nachdrucke auch in der Neufassung (hebr.lat.) des Jacob Mantinus wiedergibt.»
115
Teil II - Der arabische Aristotelismus
er hier der Ausgangspunkt der Untersuchung. Bis heute liegt nur eine ältere Edition aus der Renaissance vor.6 Die kritische Edition nach mittelalterlichen Handschriften ist jedoch in Vorbereitung. Diese grundsätzlichen Probleme be lasten das Studium des Kommentartextes zur <aristotelischen Zeitaporie> im Physikkommentar des Averroes. Die der Übersetzung des Kommentars von Averroes beigefügte lateinische Übersetzung des Textes der Physik ist für das 13. Jahrhundert ebenso bedeut sam gewesen wie der kommentierende Text des Averroes selbst. Hier ist es so gar möglich, die lateinische Übersetzung mit ihrer arabischen Vorlage zu ver gleichen, da sich eine arabische Physikübersetzung erhalten hat. Ein vollständiger Vergleich des griechischen Urtextes mit der arabischen Physikübersetzung bzw. des arabischen Übersetzungstextes mit der Translatio Arab.-Lat. ist also prinzipiell möglich. Ohne den Zugang zum arabischen Kommentartext des Averroes bleibt eine derartige detaillierte Analyse der arabischen Physikübersetzung jedoch ohne Relevanz. Der Physikkommentar des Averroes ist gegenwärtig nur in seiner lateinischen Übersetzung zugänglich. Dazu gehört auch die lateinische Fassung der Physik. Nur in dieser Gestalt haben beide Werke im 13. Jahrhundert ge wirkt. So steht hier der griechische Urtext der Physik ohne seine arabische Übersetzung der Translatio Arab.-Lat. gegenüber. Eine Analyse des arabischen Zwischengliedes unterbleibt.7 Hier ist nur wichtig, wieviel vom Sinngehalt des griechischen Aristotelestextes durch die mannigfaltigen Übersetzungsschritte in der lateinischen Endfassung noch übriggeblieben ist. Die Stationen der einzel nen Verluste bzw. die Modalitäten der Korruption des Textes bleiben unbe rücksichtigt. Die Translat. Arab.-Lat., angefertigt von Ishäq ben Hunain8, hat A. Badawi 1964/5 ediert.9 Der Text der Zeitaporie des Aristoteles (ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29) zeigt in der arabischen Übersetzung folgende Struk tur:
6
Vgl. Aristotelis Opera cum Averrois Commentariis, Vol. IV, Venetiis 1562 (Nachdruck Frankfurt a.M. 1962). 7 Nur in einem speziellen Einzelfall, der für das 13. Jahrhundert von besonderer Bedeutung ist, erfolgt hier ein Rückgriff auf alle Übersetzungsstufen. Dies ist bei Satz VI der Aporie der Fall. 8 Vgl. M. Steinschneider, Die arabischen Uebersetzungen aus dem Griechischen, in: Fünftes Beiheft zum Centralblatt für Bibliothekswesen, Leipzig 1889, 68. 9 Vgl. Aristütālis, at-Tabica. Targamat Ishāq b. Hunain maca šurŭh Ibn as-Sarnh...Haqqaqahŭ wa-qaddama lahŭ cAbdarrahmān Badawi. Ğus' (Al-Qāhira 1384/1964-1385/1965). 373/4.
116
2.3. Averroes
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21 - 29 (arabische Übersetzung)
Gemäß der an den Handschriften überprüften Edition von 1562 bietet die la teinische Übersetzung der Translatio Arab., die Transl. Arab.-Lat., folgenden (hier zeilengleich gesetzten) Text:
223a21 223a22
223a24
1 «131. Et quaeritur etiam, utrum est possibile, quod tempus sit, licet anima non sit, aut est impossibile. Dicamus igitur, quod, cum numerans 5 non fuerit, numerare non erit. Ergo manifestum est, quod numerus etiam non erit. Numerus enim est aut numeratum aut illud, per quod nume117
Teil II - Der arabische Aristotelismus
223a25
223a28 223a29
ratur. Et, cum nihil innatum sit 10 numerare praeter animam et de anima intellectus, impossibile est, ut tempus sit, cum anima non fuerit, nisi fuerit ex illo, quod, cum fuerit, erit tempus, verbi gratia quoniam pos15 sibile est, ut motus sit absque eo, quod sit anima. Et quod prius et posterius sunt in motu. Et quod tempus est hac duo, secundum quod sunt numerata.»10
2 licet . D 4 igitur: ergo Ρ1 5 numerare non erit: non erit numerare P1 6 quod numerus etiam: etiam quod numerus Ρ2 / etiam: autem Ρ1 7 enim: autem Ρ 1 9 sit: est P2 12 ut . Ρ1 13 nisi fuerit in marg. Ρ2 18 haec: hoc Ρ1 hic P2
Erst eine Gegenüberstellung des griechischen Urtextes und der lateinischer Endfassung verdeutlicht die inhaltlichen Veränderungen in ihrem vollen Um fang. Die beigefügte Tabelle vermittelt zunächst nur einen ersten Eindruck:
TAL «Et quaeritur etiam, utrum est possibile, quod tempus sit, licet
TAL anima non sit, aut est impossibile.
TAL Dicamus igitur, quod, cum numerans non fuerit,
10
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29; Transl, arab.-lat., t. comm. 131, v. 1-19. Vgl. Ρ 1 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 15453 (f. 58), Ρ2 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 16159 (ff. 72rb-72va) und D = ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29; Transi. arab.-lat., t. comm. 131, Venetiis 1562, 202 /.
118
2.3. Averroes
TAL numerare non erit.
TAL Ergo manifestum est, quod
TAL Numerus enim est aut
TAL Et, cum nihil
numerus etiam non erit.
numeratum aut illud, per quod numeratur.
innatum sit
TAL et de anima intellectus,
numerare praeter animam
impossibile est,
ut
tempus sit,
TAL cum anima non fuerit,
TAL nisi fuerit ex illo,
quod,
cum fuerit,
TAL v. g. quoniam possibile est, ut motus
TAL Et quod
TAL Et quod tempus
prius
erit
tempus,
sit absque eo, quod sit anima.
et posterius
sunt in motu.
est haec duo, secundum quod sunt numerata.»12
Der Vergleich der Translatio arab.-lat. mit dem griechischen Urtext zeigt einen unterschiedlichen Befund. Neben Abschnitten sehr großer Übereinstim-
11
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29 (Ross). ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29; Transl. arab.-lat., t. comm. 131, v. 1-19. Vgl. Ρ 1 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 15453 (f. 58ra), Ρ2 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 16159 (ff. 72rb-72va) und D = ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29; Transl. arab.-lat., t. comm. 131, Venetiis 1562, 202 /. 12
119
Teil II - Der arabische Aristotelismus
mung sind erhebliche Defekte zu finden, die daran zweifeln lassen, daß Averroes ein angemessenes Verständnis der Zeitaporie möglich war. Eine Genauig keit der Analyse, wie sie in der Antike üblich war, fehlt bei ihm. Da er außer dem mit arabischen Übersetzungen der griechischen Kommentare arbeitete, operierte er mit groben Instrumenten. Dennoch gelangte Averroes zu einer neuartigen Einschätzung der Zeitaporie. Das Verhältnis der Transi. Arab.֊Lat. zum griechischen Originaltext zeigt folgender Vergleich: I
TAL «Et quaeritur etiam, utrum est possibile, quod tempus sit,
TAL licet anima non sit, aut est impossibile.
Der lateinische Satz I stimmt mit dem griechischen Text dem Sinn nach gut überein. Das mit dem Verbum verbundene Zweifeln an der Ab hängigkeit des Seins der Zeit von der Existenz der Seele hat keine Verschie bung erfahren. Zwar haben die Translationsschritte den Wortbestand nicht er schöpfend übertragen, aber die Abweichung hält sich in vertretbaren Grenzen. Anders liegen die Verhältnisse bei der Übersetzung von Satz II. II
120
2.3. Averroes
Schwerer als die geringfügige Sinnabweichung in der Übersetzung des er sten Satzes wiegt der Defekt im zweiten Satz. Aus dem originalen ist nicht das korrekte entstanden, sondern ein . Das hat bedeutsame Folgen. Jetzt handelt es sich nicht mehr um eine Relation zwi schen dem zählenden Seienden und einem Zählbaren, sondern um eine Bezie hung, die die zählende Entität nicht transzendiert, sondern ihr immanent bleibt (numerans/numerare). Es ist daher nicht verwunderlich, daß Averroes die ge samte Relationsthematik, die die antike Diskussion des zweiten Satzes der Aporie beherrschte, kaum thematisierte. Hier hat eine übersetzungstechnische Korruption einen wichtigen Überlieferungsstrang abgeschnitten. Dabei handelt es sich, wie sich noch zeigen wird, um einen<systematischemDefekt. III
Ein ähnlicher Fehler wie in Satz II entstellt auch Satz III. Während die Translatio Arab.-Lat. in Satz II für setzt, findet sich in Satz III dafür die Formulierung
121
Teil II - Der arabische Alistotelismus
Satz II und III sind durch einen schweren Defekt entstellt. Der Satz IVa er scheint jedoch in einer angemessenen und korrekten Überlieferung, obwohl die Satzstruktur des griechischen Originals durch den Genitivus absolutus kompli zierter ist. Satz IVa hat also die mannigfaltigen Translationsschritte ziemlich gut überstanden. Es gibt sogar eine ausgezeichnete Übereinstimmung: Das griechische erscheint nun als . Satz IVa zeigt im Original den Terminus , der an dieser Stelle korrekt als überliefert ist. Die Differenz zwischen dem der Sätze und dem des Satzes IVa ist in der Translatio Arab.֊Lat. aber nicht mehr spürbar. Dadurch erhalten die Sätze II, III und IVa in der lateinischen Fassung eine einheitlichere Struktur als im Original. IVb
Der Satz IVb ist die sensibelste Stelle der <aristotelischen Zeitaporie>, da hier innerhalb der Argumentationsstruktur ein Wendepunkt vorliegt. Die durch das in den Satz eingeführte Möglichkeit einer futurischen Deu tung des Satzes ist nicht zu übersehen. Die Übersetzung greift dies auf, indem der Übersetzer eine die Partizipialstruktur auflösende Konstruktion unter Ein beziehung des temporalen Wechsels von Futur II nach Futur I verwendet.
cum fuerit
erit tempus
Die besondere futurische Struktur der Übersetzung bringt in den Satz einen prozessualen Charakter, den Averroes in seiner Auslegung aufgriff. Das hat
122
2.3. Averroes
Folgen, die weiter unten ausführlich zu diskutieren sind. Hier ist zunächst nur die Einsicht wichtig, daß die spezifische Struktur des Satzes die mehrfachen Übersetzungsschritte zwar ziemlich unbeschädigt überstanden hat, jedoch ge wisse, im Original nur latent vorhandene Tendenzen verstärkt. Gerade hier zeigt sich eindrucksvoll, daß jede Übersetzung immer auch eine Interpretation ist. IVc
Der Satz IVc ist weder inhaltlich noch grammatikalisch schwierig. Daher hat er die Translationsphasen ohne Defekt und sinnentstellende Deformation über standen. Nicht anders liegen die Verhältnisse bei Satz V, so daß keine weiteren Bemerkungen dazu notwendig sind. V
VI
Satz VI verdient wieder besondere Beachtung. Er ist auf dieselbe Weise ent stellt wie Satz II und III, da sich auch hier der Terminus als die 13 14
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29 (Ross). Vgl. Anm. 12.
123
Teil II - Der arabische Aristotelismus sensibelste Stelle im Prozeß der Translation zeigt. In der Translado Arab.-Lat. steht dafür der Ausdruck
Weil die Philosophen des 13. Jahrhunderts schon über eine korrekte griech.lat. Übersetzung verfügten, ist ihnen die terminologische Differenz zwischen / und nicht entgangen.15 Wie folgende Übersicht zeigt, verfügte die Translado Arab.-Lat. in allen drei o.g. Fällen nicht mehr über die adäquate Übersetzung:
Satz
15
griech. Urtext
Transl, arab.-lat.
II
numerare
III
illud, per quod numerare
VI
numerata
Vgl. 3.2., S. 196-199; 3.7.1., S. 435ff. 124
2.3. Averroes
2.3.2.
Der Kommentartext 131 aus dem Physikkommentar des Averroes
20
25
30
35
40
45
50
«Cum dissolvit secundam quaestionem, reversus est ad primam, et dixit: Et quaerendum est, utrum sit possibile, etc. Idest, et quaeritur de tempo re, utrum inveniatur extra animam, sicut est in anima. Et sic erit, licet non comprehendatur ab anima, si posuerimus animam deficere, sicut erit, si apprehendatur ab anima. Et ista est dispositio entium naturalium. Aut est impossibile, ut sit in actu, nisi ani ma sit. Deinde incepit declarare hoc, et dixit: Dicamus igitur, quod, cum nume ram non fuerit, ergo numerare non erit, idest, et, cum res numerans, quae est anima, non fuerit, tunc numerare, quod est actio rei numerantis, non erit. Deinde dixit: Manifestum est igitur, quod numerus, etc. Idest, et cum numerare, quod est actio numerantis, non fuerit, manifestum est, quod numerus non erit. Nume rus enim aut est numeratum aut actio numerantis in numerato, idest illud, per quod numerat numerans. Et hoc intendebat, ut mihi videtur, cum dixit, aut illud, per quod numeratur, idest, aut il lud, per quod numerat numerans. Et, cum manifestum est, quod numerus non est numeratum, ergo est actio numerantis in numerato. Et est manifestum, quod, cum numerans non fuerit, actio eius non erit. Deinde dixit: Et, cum nihil innatum sit, etc. Idest, et, cum sit declaratum, quod, cum 125
Teil II - Der arabische Aristotelismus
55
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numerans non fuerit, non erit nume rus. Et est impossibile, aliquid aliud numerare praeter animam et de ani ma intellectus. Manifestum est, quod, si anima non fuerit, non erit numerus. Et, cum numerus non fuerit, non erit tempus. Et, quia esse numeri in anima non est omnibus modis esse , quoniam, si ita <esset>, esset fictum et falsum, ut Chimera et Hircocervus. Sed esse eius extra mentem est in potentia prop ter subiectum proprium. Et esse eius in anima est in actu, scilicet quando anima egerit illam actionem in subiecto praeparato ad recipiendum illam actionem, quae dicitur numerus, dixit: Nisi sit ex illo, etc. Idest, et cum non fuerit anima, non erit tempus, nisi aliquis dicat, quod erit, et si ani ma non fuerit ex illo, quod, cum fuerit in actu, tempus erit in potentia. Et hoc est suum subiectum pro prium, scilicet motus aut motum. Et hoc intendebat, cum dixit: Verbi gratia quoniam possibile est, ut motus sit absque eo, quod anima sit. Idest, et motus erit, et si anima non erit. Et secun dum quod prius et posterius sunt in eo numerata in potentia, est tempus in potentia. Et secundum quod sunt numerata in actu, est tempus in actu. Tempus igitur in actu non erit, nisi anima sit. In potentia vero erit, licet anima non sit. Deinde dixit: Et quod prius et posterius sunt in motu, idest, et non potest aliquis dicere, quod tempus est, et si anima non erit, nisi quia motus est, et si anima non fue rit. Et similiter sunt in eo prius et pos terius. Et tempus nihil aliud est quam prius et posterius in motu, sed secundum 126
2.3. Averroes quod sunt numerata. Et ideo indiget in hoc, quod sit in actu anima, scilicet secundum quod est prius et posterius numerata. Et qua si per hoc, quod dixit: et tempus est 95 haec duo, secundum quod sunt numerata, in nuit, quod tempus diminuitur ab eo ex esse perfecto extra animam hoc, quod numeratur ab anima tantum. Secundum igitur hunc modum dicitur tempus habe100 re esse extra animam simile perfecto, et si non sit perfectum. Et ista per scrutado de tempore magis est philosophica quam naturalis, sed induxit ipsam in hoc loco, quia est causa in ip105 sum latere, scilicet quia est diminutum in se.»16
22 dixit: dicit P 2 / et . Ρ 2 / quaerendum: quaeritur D / est: etiam D P 1 27 erit add. et Ρ 2 28 apprehendatur: comprehendatur P2 30 nisi add. in P 2 32 dixit: dicit P 1 / cum in marg. P 1 32/33 numerans in marg. P 2 34 et: quod P 2 37 deinde dixit: dicendum P 1 38 etc. . Ρ 1 40 non sup. lin Ρ1 42 illud per: per illud P 2 43 numerat: numeratur P1 / numerans: numera tum Ρ 1 44 videtur add. quod Ρ1 44/45 aut illud . Ρ1 45 per quod numeratur: quod per numerat P 2 47 numerus: numerans D Ρ1 50 fuerit: fuit Ρ1 52 declaratum: declarat P 1 54 est sup. lin. Ρ 2 Ι aliud . Ρ1 60 in anima . Ρ1 Ρ2 61 si: sit Ρ 2 / esset1 . Ρ 1 Ρ 2 / et falsum om. Ρ 1 62 ut: et sicut Ρ1 / et del. ut sup. lin. P2 65 in2 del. et sup. lin in P 2 67 ac tionem . Ρ1/ quae: quare (?) P 1 68 dixit add. enim P1 / nisi sit: sicut P1 / sit ex illo: ex illo sit D 68/69 idest, et cum in marg. P1 73 est add. propter D 74 motus aut om. D 75 di xit: dicit D 76 et . D 77 et . Ρ1 86 et del. Ρ2 87/88 fuerit add. motus est Ρ1 88 et . Ρ 1 89 est in marg. Ρ 2 91 in: et Ρ1 92 in . Ρ 1 98 numeratur: mensuratur Ρ 2 / anima in marg. Ρ 2 del. substantia P 2 99 dicitur: dicere Ρ 2 102 magis est: est magis P 2 104 ipsam: ipsum Ρ 1
16 AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131, v. 20-105. Vgl. Ρ 1 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 15453 (ff. 58ra-58rb), Ρ 2 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 16159 (f. 72va) und D = AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131; Venetiis 1562, 202 r B-202 ν Η.
127
Teil II - Der arabische Aristotelismus
Die äußere Form des Physikkommentars des Averroes (und damit auch die Form des Kommentartextes 131) zeigt im Vergleich zu den antiken Physik kommentaren bestimmte Eigenheiten. Averroes verzichtet auf das Verfahren der Paraphrase. Er teilt den Aristote lestext in Abschnitte ein. Nachdem er durch Division zu abgegrenzten kleine ren Texteinheiten gelangt ist, interpretiert er die auf diese Weise gewonnenen Teilstücke bis ins Detail. Bei diesem Verfahren bleibt die Grenze zwischen dem Originaltext (bzw. seiner Übersetzung) und der kommentierenden Erläu terung gewahrt. Die Paraphrase dagegen läßt der Manipulation breiten Raum. Von allen aus der Antike überlieferten Physikkommentaren hat der Kommen tar des Simplikios formal die größte Ähnlichkeit mit der Auslegung des Aver roes. Dies ist wohl darauf zurückzuführen, daß beide Kommentare von dem Physikkommentar des Alexander von Aphrodisias abhängig sind. Averroes analysiert im Kommentartext 131 ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29. Er zieht also bei 223 a 21 und 223 a 29 eine Grenze, indem er den Text innerhalb dieser Grenzziehung als eine Sinneinheit auffaßt. ARISTO TELES, Phys. IV 14, 223 a 16-21, ein Teilstück, das in gewisser Hinsicht mit zur Aporie gehört und diese vorbereitet, bleibt damit abgetrennt. Ebenso ent fällt ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 29f. Diese Einteilung entspricht dem Verfahren des Simplikios, das dieser vermutlich ebenfalls von Alexander von Aphrodisias übernommen hat. Wie Simplikios (und Alexander von Aphrodisias?) hat Averroes auch nicht jedem Satz der Aporie auf gleiche Weise Interesse abgewonnen. Aber auf eine Einseitigkeit, wie sie bei Simplikios zu finden ist, der dem Satz IVc auf Kosten des anderen Textes der Aporie umfangreichere Ausführungen widmete, ver zichtet Averroes. Der Kommentartext 131 des Averroes zeigt in seiner Ge samtheit eine ausgewogenere Struktur. Bedauerlich ist jedoch, daß Averroes in seiner Auslegung jeden Hinweis auf seine Quellen vermeidet. Kritische Bemerkungen und Quellentexte wie bei Simplikios fehlen ganz. Da zur Zeit des Averroes neben den Übersetzungen der antiken Kommentare eine Vielzahl von Stellungnahmen zum Verhältnis von Zeit und Seele vorlagen17, verwundert dieses Schweigen. Die Auslegung der Zeitaporie durch Averroes verrät schon auf den ersten Blick ihre Abhängigkeit von den großen antiken Physikkommentaren. Aver roes ist auf diese Weise der Erbe des Alexander von Aphrodisias, des bedeu-
17
Vgl zur Analyse der umfangreichen Angaben im Zeittraktat Avicennas 2.2., S. 104 ff.
128
2.3. Averroes
tendsten Physikinterpreten der Antike. Die Wirkung des Averroes im 13. Jahr hundert ist deshalb als zu bezeichnen. Averroes untersucht die<aristotelischeZeitaporie> auf folgende Weise: I
20
«Cum dissolvit secundam quaestionem, reversus est ad primam, et dixit: Et quaerendum est, utrum sit possibile, etc. Idest, et quaeritur de tempo re, utrum inveniatur extra animam, 25 sicut est in anima. Et sic erit, licet non comprehendatur ab anima, si posuerimus animam deficere, sicut erit, si apprehendatur ab anima. Et ista est dispositio entium naturalium. Aut 30 est impossibile, ut sit in actu, nisi ani ma sit.»18 Der erste Satz der<aristotelischenZeitaporie> formuliert die Exposition des Grundproblems, das Aristoteles zur Diskussion stellt: Die Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele. Wenige Zeilen zuvor hatte Aristoteles zwei Probleme gestellt. Zunächst (a) fragt er nach dem Verhältnis der Zeit zur See le, dann aber, (b) wie die Zeit in der Gesamtheit des Universums existiert.19
18
AVERROES, In Aristotelis Phys. IV. t. comm. 131, v. 20-31 (Venetiis 1562, 202 r B/C). Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 16-18; Transl, arab.-lat., t. comm. 130, Venetiis 1562, 201 ν G: «Et quaerendum est quomodo dispositio temporis est apud animam. Et quare homines dicunt quod tempus est in quolibet, in terra, et in mari, et in coelo.» 19
129
Teil II - Der arabische Aristotelismus
Die Ausführungen in der Zeitaporie sind dabei als Antwort auf die erste Frage zu verstehen. Daher kann Averroes sagen: «Cum dissolvit secundam quaestionem, reversus est ad primam, et dixit: Et quaerendum est, utrum sit possìbile, etc.» 20, d.h. sobald Aristoteles nach Averroes die zweite Frage (պաre tempus est in quolibet>) gelöst hat, kehrt er zum ersten Problem () zurück.21 Averroes versteht die Frage nach der Disposition der Zeit als Frage nach dem Sein der Zeit innerhalb oder außerhalb der Seele. Aristoteles selbst problematisiert im Satz I jedoch nur das Verhältnis von Seele und Zeit. Gemäß dem Urtext fragt Aristoteles nach dem Sinn einer bestimmten Relation. Aver roes jedoch philosophiert über Transzendenz und Immanenz der Zeit: «Idest, et quaeritur de tempore, utrum inveniatur extra animam, sicut est in anima.»22 Die Auslegung der<aristotelischenZeitaporie>bei Averroes steht also von An beginn an unter einem anderen Vorzeichen als die Versuche der antiken Ari stoteleskommentatoren. Die Seele, von der Averroes hier spricht, ist eindeutig die menschliche Seele. Von einer kosmischen Seele, einem auf welche Weise auch immer beseelten Weltkörper oder einer Weltseele sagt er jedenfalls nichts. Indem Averroes auf diese Auslegungsmöglichkeit der Antike, die ihm mit Sicherheit bekannt war, verzichtete, reduzierte er die Frage nach dem Ver hältnis von Zeit und Seele auf das Problem der Transzendenz oder Immanenz der Zeit. Die Bemühungen des Averroes zielen nun dahin, daß die Differenz zwischen der Bestimmheit der Zeit innerhalb und außerhalb der Seele möglichst klar zutage tritt. Dies geschieht zunächst auf indirekte Weise. Averroes zeigt näm lich die Folgen auf, die bei einer Identität zu erwarten wären. In der etwas umständlichen Formulierung des Averroes hat das Problem folgende Gestalt: Existiert die Zeit (auf dieselbe Weise) ohne eine erfassende Seele, wie sie vor handen ist, wenn eine Seele sie ergreift?23 Die Antwort des Averroes ist ein fach. Wenn es für die Verfaßtheit der Zeit gleichgültig wäre, ob die Seele sie erkennt oder nicht, dann besäße sie die Disposition eines Naturdinges. Oder mit anderen Worten: Die Zeit entspräche der Anordnung der körperlichen 20
AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131, v. 20 sq. (Venetiis 1562, 202 r B). Vgl. Anm. 19. 22 AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131, v. 23-25 (Venetiis 1562, 202 r B). 23 Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131, v. 23-28 (Venetiis 1562, 202 /): «Idest, et quaeritur de tempore, utrum inveniatur extra animam, sicut est in anima. Et sic erit, licet non comprehendatur ab anima, si posuerimus animam deficere, sicut erit, si apprehendatur ab anima.»
21
130
2.3. Averroes
Natur.24 Die Naturdinge existieren außerhalb der Seele. Als Gegenstand einer Erkenntnis ändern sie nicht ihre Verfaßtheit. Sie bleiben sich im Prozeß des Erkennens durch einen Intellekt selbst gleich. Der Erkenntnisvorgang modifi ziert nicht ihre Aktualität. Anders dagegen verhält es sich bei der Zeit. Nur in der Seele gelangt diese zu der ihr eigentümlichen Verwirklichung (in actu). Gemäß der Auslegung des Averroes geht es in der Zeitaporie also auch um die Frage, ob eine Verdinglichung der Zeit zulässig ist oder ob die Zeit aus der Verfaßtheit der Naturdinge herauszunehmen ist. Die unmittelbare Folge der Entdinglichung der Zeit ist daher ihre Intellektualisierung. II
«Deinde incepit declarare hoc, et dixit: Dicamus igitur, quod, cum nume ram non fuerit, ergo numerare non erit, idest, et, cum res numerans, quae est 35 anima, non fuerit, tunc numerare, quod est actio rei numerantis, non erit. Deinde dixit: Manifestum est igitur, quod numerus, etc. Idest, et cum numerare, quod est actio numerantis, non fuerit, ma40 nifestum est, quod numerus non erit.»25
24
Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131, v. 28-31 (Venetiis 1562, 202 r C): «Et ista est dispositio entium naturalium. Aut est impossibile, ut sit in actu, nisi anima sit.» 25 AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131, v. 31-40 (Venetiis 1562, 202 C/D).
131
Teil II - Der arabische Aristotelismus
Wie aus dem Vergleich der Translatio Arab.-Lat. mit dem griechischen Ur text hervorgeht, ist der zweite Satz der Zeitaporie durch einen schweren De fekt entstellt. Diese Modifikation hat seinen Sinn stark verändert. Die im grie chischen Urtext vorhandene Gegenüberstellung
erhält durch die Termini
numerans
numerare
einen veränderten Sinn. Aristoteles scheint gemäß dieser Übersetzung nicht die dem gegenübergestellt zu haben, sondern das Zählen als des Zählenden zu betrachten. Das Zählen der Seele ist gemäß dieser Konzeption eine aktive Leistung der Seele. Averroes hat also an die relationstheoretischen Überlegungen der antiken Kommentatoren, die er aus seinen Übersetzungen der Kommentare des Alex ander von Aphrodisias und Themistios kannte, kaum angeknüpft. Vermutlich vermied er aus diesem Grunde auch jeden weiteren Bezug auf diese Problema tik. Entsprechend der Beschaffenheit seiner Vorlage war Averroes genötigt, den Ursprung des Zählens in der konstitutiven Leistung der zählenden Entität zu suchen. Dabei erarbeitete er sich eine Definition, die das Zählen (und damit die Zahl) als Aktivität des Zählenden versteht:
numerare = actio rei numerantis.
Averroes zeigte auf diese Weise, daß (a) das Zählen nicht nur vom Zählen den abhängt, sondern zugleich (b) das Ergebnis einer schöpferischen Aktivität der Seele ist. Die Intellektualisierung der Zeit ist damit in gleicher Weise eine Theorie der Genesis der Zahl aus dem aktiven Vermögen des Intellektes. Bei
132
2.3. Averroes
allen zahlentheoretischen Überlegungen des Averroes gilt das Dogma des Ari stoteles: Die Zeit ist eine Zahl. Wer die Zahl aus einer Tätigkeit des Intellektes ableitet, der leitet auch die Zeit aus diesem Ursprung ab. III
40
«Nume rus enim aut est numeratum aut actio numerantis in numerato, idest illud, per quod numerai numerans. Et hoc intendebat, ut mihi videtur, cum dixit, aut 45 illud, per quod numeratur, idest, aut il lud, per quod numerai numerans. Et, cum manifestum est, quod numerus non est numeratum, ergo est actio numerantis in numerato. Et est manifestum, quod, 50 cum numerans non fuerit, actio eius non erit.»26
Indem Aristoteles die Zeit als Zahl definiert, bindet er die Bestimmtheit der Zeit an die Verfassung der Zahl. In den Eigentümlichkeiten der Zahl und ihren Spezifikationen sind schon bestimmte Strukturmomente der Zeit verborgen. Daran knüpft Averroes bei der Auslegung von Satz III der Aporie an. Nach seiner Ansicht hat Aristoteles im dritten Satz der Zeitaporie das Zählen und damit die Zahl auf die konstitutive Aktivität der zählenden Entität zurückge führt. Sollte die Auslegung ihre innere Einheit bewahren, dann mußte Aver roes zeigen, inwieweit Satz II, der die allgemeine Natur des Verhältnisses von Seele und Zahl definiert, und Satz III, der die besonderen Arten der Zahl vor stellt, harmonisch zusammenpassen. Zunächst fällt auf, daß der dritte Satz der Aporie wie Satz II in der Fassung der Translado Arab.-Lat. durch einen Überlieferungsverlust entstellt ist. Die 26
AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131, v. 40-51 (Venetiis 1562, 202 r B).
133
Teil II - Der arabische Aristotelismus
Zahl spaltet sich nach der Translatio Arab.-Lat. in ein Gezähltes (numeratum) und in jenes, durch das gezählt wird (illud, per quod numeratur), auf. Es ist klar, daß diese Differenzierung nur z.T. zum griechischen und paßt. Da Averroes daher den Satz III mit den Ergebnissen seiner Auslegung von Satz II bruchlos verbindet, trägt er strenggenommen nur zur Einsicht in seine eigene Vorlage bei. Der originale Aristotelestext war ihm ja nicht zugänglich. Zum Verständnis der Zeittheorie des Averroes, seiner spe zifischen Aristotelesauslegung und deren Wirkungsgeschichte behält die Aus legung des Averroes zu Satz III dennoch ihren hohen Wert. Zählen, so las Averroes im zweiten Satz der Aporie, ist nicht ohne eine zäh lende Entität möglich. Sie trägt daher zu Recht den Namen . Dies ist nur ein anderer Name für die menschliche Seele. Die Tätigkeit der menschlichen Seele im Zählen bestimmt Averroes daher als Aktivität (actio) der zählenden Entität (actio rei numerantis). Obwohl der Terminus im Text des Aristoteles nicht vorkommt, vergaß Averroes nicht den Hinweis, daß hier die spontane Aktivität der Seele gemeint ist. Mit der Einsicht in die konstitutive Funktion der Seele in Hinblick auf die Zahl war zunächst nur der Ursprung der Zahl gesichert. Die Zeit als Zahl ist jedoch eine spezifische Zahl. Deren Besonderheit bedarf zur Unterscheidung von den anderen Zahlen einer spezifischen Definition. Zur Einsicht in dieses Spezifikum benutzt Averroes die ihm zugängliche Fassung des zweiten Satzes der Aporie. Aristoteles unterscheidet gemäß der Translatio Arab.-Lat. zwischen der Zahl als , d.h. der gegenstandsbezogenen Zahl, und der Zahl, mit der wir zählen (illud, per quod numeratur), d.h. der reinen Zahl. Die reine Zahl ist eine dimensionslose Zahl. Sie ist nicht mehr als ein Mittel und Instrument der Zählung. Davon ist die gegenstandsbezogene Zahl klar abtrennbar, die als Zahlausdruck ihren Gegenstandsbereich quantifi ziert. Da die Zeit die Zahl der Bewegung ist, ist sie keine reine, sondern allein eine gegenstandsbezogene Zahl. Ihr spezifischer Gegenstand ist die Bewegung. Averroes versucht nun, diese spezifisch gegenstandsbezogene Zahl in ihre Elemente zu zergliedern. Die Basis der gegenstandsbezogenen Zahl ist nach Averroes darin zu sehen, daß in ihr die Aktivität des Zählenden (actio nume rantis) zur Manifestation gelangt. Mit anderen Worten: Welcher Gegenstands bereich des Zählens auch in Betracht kommt, die zählende Entität bzw. das Zählen selbst darf dabei nicht fehlen. Die Zahl unterscheidet sich vom Gezähl ten. Sie ist vielmehr die Aktivität des Zählenden im Hinblick auf das Gezählte. Deshalb sagt Averroes: Ohne die zählende Entität gibt es keine Aktivität des
134
2.3. Averroes
Zählenden, kein Zählen, keine Zahl, keine Zahl der Bewegung und daher auch keine Zeit. IVa
«Deinde dixit: Et, u nihil innatum sit, etc. Idest, et, cum sit declaratum, quod, cum numerans non fuerit, non erit nume rus. Et est impossibile, aliquid aliud 55 numerare praeter animam et de ani ma intellectus. Manifestum est, quod, si anima non fuerit, non erit numerus. Et, cum numerus non fuerit, non erit tempus.»27 Der zweite und dritte Satz der<aristotelischenZeitaporie> besteht aus zah lentheoretischen Überlegungen. In Satz IVa geht Aristoteles dann zur Zeit über. Entsprechend dieser inhaltlichen Abfolge verfährt auch Averroes. Durch die Auslegung von Satz II und III hatte er die aktive Leistung der Seele bei der Konstitution der Zahl freigelegt. Eine Analyse von Satz IVa bestätigt und prä zisiert dieses Ergebnis. Der Intellekt ist innerhalb der menschlichen Seele für die spezifische Leistung des Zählens verantwortlich. Averroes gelingt durch Hinblicknahme auf die eigentümliche Struktur seiner Übersetzung ein für ihn charakteristischer Einblick in den inneren Zusammenhang der Sätze II, III und IVa. Alle drei Sätze erscheinen dabei als Belegstellen für die konstitutive 27
AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131, v. 51-59 (Venetiis 1562, 202 r D/E).
135
Teil II - Der arabische Aristotelismus
Funktion der Seele bei der Erzeugung von Zahlen. Dadurch konstruierte Averroes folgende zusammenfassende Beweiskette: Wenn die Seele nicht existiert, gibt es keine Zahl. Existiert aber keine Zahl, dann ist auch keine Zeit vorhan den. Der fehlerhafte Text, der Averroes vorgelegen hat, verhinderte eine kor rekte Auswertung der Sätze II, III und IVa der Zeitaporie. Ein Einblick in ihre komplexe Struktur war daher nicht möglich. Averroes übersah, daß Aristoteles mit einem durch Relationen geprägten Satzgefüge arbeitete. Er verstand nicht die Art und Weise, wie Aristoteles von einem Verhältnis der Seele zur Zeit sprach und expressis verbis nichts von einem Sein der Zeit in der Seele (Im manenz) sagte. Averroes drängte aber die Zeit deshalb in die Seele ab, weil ihm die Struktur
Seele - Zahl - Zeit
so eindeutig auf die Immanenz der Zeit hinzuweisen schien. Eine relationale Beschreibung dieser Beziehung war daher überflüssig. Wenn Averroes aber die Zeit auf diese Weise in die Seele setzte, dann mußte er sie zugleich von an deren seelischen Bestimmtheiten abtrennen. Dies leistet er in der Auslegung von Satz IVb der Zeitaporie. IVb
«Et, quia esse numeri in anima 60 non est omnibus modis esse in anima, quoniam, si ita esset, esset fictum et falsum, ut Chimera et Hircocervus. Sed esse eius extra mentem est in potentia prop ter subiectum proprium. Et esse eius 65 in anima est in actu, scilicet quando anima egerit il-
136
2.3. Averroes
lam actionem in subiecto praeparato ad recipiendum illam actionem, quae dicitur numerus, dixit: Nisi sit ex illo, etc. Idest, et cum non fuerit anima, non erit tem70 pus, nisi aliquis dicat, quod erit, et si ani ma non fuerit ex illo, quod, cum fuerit in actu, tempus erit in potentia. Et hoc est suum subiectum pro prium, scilicet motus aut motum.»28 Daß Averroes der Erbe der antiken Diskussionen zur Zeitaporie war, zeigt sich nirgendwo so deutlich wie bei seiner Auslegung des Satzes IVb. Averroes arbeitet mit dem -Modell des Alexander von Aphrodisias, das er aber seiner kosmologischen Funktion entkleidet hat. Trotz dieser Einschrän kung gelingt es ihm, Alexanders Intention aufzunehmen und für seine Ausle gung zu verwenden. Averroes vertritt eine Immanenztheorie der Zeit. Wenn die Zeit der Aktivi tät der Seele entspringt, existiert sie nach seiner Meinung nur in der Seele ak tuell. Ihre Bestimmtheit bedarf daher einer genauen Umgrenzung. Ein Fehlen dieser Grenzziehung führt nämlich zu Verwechselungen. Es besteht die Gefahr einer Identifikation der Zeit mit den fiktiven Vorstellungen. Das In-der-SeeleSein der Zeit als Zahl ist aber nicht eine realitätsfremde Fiktion, sondern eine genau bestimmte Weise der Zahlhaftigkeit. Andernfalls wäre das seelische Sein der Zeit fiktiv und falsch, wie etwa die Vorstellung einer Chimäre. Averroes löst das Problem, indem er den Gegenstandsbezug der Zeit sicher stellt. Dies geschieht durch eine Verknüpfung des Potenz/Akt-Schemas mit dem subiectum-Modell. Averroes hat beide Schemata aus den antiken Physikkom mentaren ohne nähere Begründung entnommen. Bei der Einführung in seine Auslegung reduzierte er sie auf das Wesentliche: Außerhalb des Geistes (extra mentem) existiert die Zeit in der Potenz. Sie ist dort an das ihr eigentümliche Subjekt (subiectum proprium) gebunden, das mit der Bewegung zu identifizie ren ist. Erst innerhalb der Seele erlangt die Zeit ihr aktuelles Sein. Die Seele voll zieht dabei den Übergang von der Potenz zum Akt. Sie richtet sich auf die Be wegung, die Averroes als das Subjekt der Zeit bezeichnet. Die Bewegung ist gleichsam durch ihre eigentümliche Struktur eines noch potentiellen 28
AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131, v. 59-74 (Venetiis 1562, 202 E/F).
137
Teil II - Der arabische Aristotelismus
und <Später> zur Aufnahme der Aktivität des Intellektes im Hinblick auf die Konstituierung der Zahl präpariert.29 Nähere Einzelheiten dazu teilt Averroes in der Auslegung von Satz V und VI der Zeitaporie mit. Averroes stellt zunächst die Verklammerung des Seins der Zeit <extra ani mam> und durch das Potenz/Akt-Schema sicher. Die Zeit als gegen standsbezogene Zahl ist damit vom Verdacht der Fiktivität befreit. Sie gelangt aus dem Boden ihres Subjektes, der Bewegung, durch die Aktivität der Seele zu ihrer vollen Entfaltung. Averroes vertieft diese Auffassung durch die Ana lyse von Satz IVb, die er nach dem Vorbild des Alexander von Aphrodisias vornimmt. Dabei erscheint die aristotelische Urfassung des Satzes IVb in der Translatio Arab.֊Lat. in leicht modifizierter Gestalt:
cum fuerit
erit tempus
Der Sinn des Adverbs ist mehrdeutig. Die früheren Übersetzer haben es temporal ausgelegt. Averroes fand daher für seine prozessuale Auffassung von der Konstitution der Zeit Hinweise im Text:
29 Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131, v. 65-68 (Venetiis 1562, 202 r E): « ... scilicet quando anima egerit illam actionem in subiecto praeparato ad recipiendum illam actionem, quae dicitur numerus ...»
138
2.3. Averroes
Da Averroes Einblick in die antiken Physikkommentare genommen hatte, konnte er sich deren Kenntnisse von der Kontroverse um Satz IVb verschaf fen. Einen Hinweis darauf findet man in den folgenden Ausführungen: « . . . dixit: Nisi sit ex illo, etc. Idest, et cum non fuerit anima, non erit tempus, nisi aliquis dicat, quod erit, et si anima non fuerit ex illo, quod, cum fuerit in actu, tempus erit in potentia. Et hoc est suum subiectum proprium, scilicet motus aut motum.»30 Wie Alexander von Aphrodisias geht Averroes von der Bewegung als dem <subiectum> oder der Zeit aus. Wenn dieses eigentümliche Sub jekt (subiectum proprium) in seiner vollen Aktualität besteht, dann existiert die Zeit in der Potenz. Oder mit anderen Worten: Nur die Bewegung existiert oh ne Einschränkung, wenn die Seele nicht vorhanden ist. Averroes bezieht sich damit auf die Konzeption des Alexander von Aphrodisias. Allerdings hat er die komplizierten Analysen Alexanders auf das Wesentliche reduziert und damit auch übersichtlicher dargestellt. Averroes rezipierte Alexanders Deutung der Zeitaporie nicht im Original, sondern in einer arabischen Übersetzung. Was ihm seine Übersetzung jedoch zeigte, brachte er auch in seine Analyse ein. Da mit vermittelte er den Philosophen des 13. Jahrhunderts den Stoff für zahlrei che Kontroversen. Indem Averroes aber, wie die folgende Analyse seiner In terpretation zu Satz IVc zeigt, auf die kosmologische Dimension der Auslegung der Zeitaporie nach dem Verfahren der spätantiken Kommentatoren an dieser Stelle verzichtete, brach er mit der antiken Überlieferung. IVc
«Et hoc intendebat, 75 cum dixit: Verbi gratia quoniam possibile est, ut motus sit absque eo, quod anima sit, idest et motus erit, et si anima non erit.»31
30 31
AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131, v. 68-74 (Venetiis 1562, 202 r E/F). AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131, v. 74-77 (Venetiis 1562, 202 F).
139
Teil II - Der arabische Aristotelismus
Averroes konnte dem Satz IVc der Zeitaporie kein besonderes Interesse ab gewinnen. Er betrachtete ihn als Anhängsel zu Satz IVb, d.h. als Hinweis auf die Bewegung in ihrer Funktion als <subiectum> der Zeit. Die kosmologische Auslegung dieses Satzes, die sich in der Antike in den Vordergrund geschoben hatte, fehlt bei Averroes vollkommen. Er diskutiert sie nicht einmal mehr als Alternative. Ohne Zweifel war dies die folgenschwerste Umformung, die Averroes an dem Auslegungsmodell des Alexander von Aphrodisias vorge nommen hat. Abgesehen davon änderte Averroes an dem grundlegenden Modell, mit dem Alexander die Zeitaporie des Aristoteles auslegte, überraschend wenig. Die Theorie der Beseelung des Himmels, die die antiken Kommentatoren im Aus gang von Alexander zur Erklärung der Zeitaporie benutzten, war Averroes bekannt. Dies zeigt die folgende Tabelle:
Zitat
Thematik
Moderne Zählung
Averroes
1
Beseeltheit und Begrenztheit des Kosmos
De caelo I 7, 275 b 25-29
I comm. 72 49 r E-49 ν Η
2
Kritik am Konzept der Weltseele/Ver gleich mit Ixion
De caelo II 1, 284 a 27-284 b 5
II comm. 6 98 r B-98 v K
De caelo
3
Hinweis auf die Beseeltheit des Kosmos
II 2, 285 a 29/30
II comm. 13 102 r A-102 v M
4
Partizipation der Sterne am Leben
De caelo II 12, 292 a 18-21
II comm. 61 139 v I-140 D
140
2.3. Averroes
H. A. Wolfson, der die Lehre des Aristoteles von der Beseelung des Him mels innerhalb seiner Studie über die Sphärenbeweger ausführlich untersucht hat, bezieht sich dabei auf die zentrale Stelle 3. Das Ergebnis seiner Untersu chung ist, daß Averroes in dieser Frage stark von Alexander von Aphrodisias abhängig ist.32 Der Metaphysikkommentar des Averroes zeigt diese Beziehung noch deutlicher. Es gibt im zwölften Buch der Metaphysik des Aristoteles eine Stelle, wo Aristoteles den Ersten Beweger und seine Aktivität näher definiert. Aristoteles spricht in diesem Zusammenhang von der unaufhörlichen Kreisbewegung des ewigen Himmels, dessen kontinuierliche Drehung der göttliche nicht di rekt, sondern auf indirekte Weise ununterbrochen stützt. Er bewegt wie ein Begehrtes und ein Gedachtes
Das Begehrte und Gedachte ist dabei der einer Begierde und eines Denkens , dessen Urheber näher zu bestimmen ist. Averroes hat in seinem Metaphysikkommentar diese Frage nach dem Vorbild des Alexander von Aphrodisias diskutiert. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist folgende Übersetzung:
«Et movet, sicut movet deside ratum et intellectum, cum non movetur.»34
32
Vgl. H. A. Wolfson, The Problem of the Souls of the Spheres, in: Dumbarton Oaks Papers 16 (1962) 84: «In other words, in contradistinction to Avicenna who, like Simplicius, endows the celestial bodies with a real soul which is different from their nature, Averroes, like Alexan der (!), endows them with a soul which is identical with their nature and which is called soul in an equivocal sense.» 33 ARISTOTELES, Met. XII 7, 1072 a 26/7. 34 ARISTOTELES, Met. XII 7, 1072 a 26/7; Transl, arab.-lat., comm. 36, v. 1-3. Vgl. Ρ 1 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 15453 (f. 347vb), Ρ 2 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 16159 (f.
141
Teil II - Der arabische Aristotelismus
Averroes bezieht diese Aristotelesstelle auf die himmlischen Körper (cor pora caelestia): «Et ex hoc quidem 45 apparet bene haec corpora esse ani mata, et quod non habent de virtutibus animae nisi intellectum et virtutem desiderativam, quae movet in loco.»35
46 et . Ρ1 / quod: quia Ρ2 48 desiderativam: desideratam Ρ2
Wichtig ist zunächst, daß Averroes die himmlischen Körper als beseelt (ani mata) bezeichnet. Damit bezieht er sich auf die Kosmologie des Aristoteles.36 Diese Beseelung der Himmelskörper schränkt er jedoch sofort wieder ein, in dem er der Seele des Himmels nur zwei Potenzen, Intellekt (intellectus) und begehrendes Vermögen (virtus desiderativa), zugesteht. Diese Theorie der Be seeltheit des Himmelskörpers stimmt bis ins Detail mit den Thesen Alexanders überein, von denen Simplikios in seinem Physikkommentar berichtet:37
Alexander von Aphrodisias bindet also die Kreisbewegung des Himmels, aus der alle anderen Bewegungen und Veränderungen entspringen, an das begeh363vb/frag.) und D = ARISTOTELES, Met. XII 7, 1072 a 26/7, Transl, arab.-lat.; Venetiis 1562, 318 r E. 35 AVERROES, In Aristotelis Met. XII, t. comm. 36, ν. 44-48. Vgl. Ρ 1 = Paris, Bibl. Nat, Cod. lat. 15453 (ff. 347vb-348ra), Ρ 2 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 16159 (f. 364ra) und D = AVERROES, In Aristotelis Met. XII, t. comm. 36; Venetiis 1562, 318 ν Η. 36 Vgl. ARISTOTELES, De caelo II 2, 285 a 29/30. 37 Vgl. 1A, S. 22; 1.6., S. 55. 38 SIMPLICIUS, Phys. 760, 16-18.
142
2.3. Averroes
rende Vermögen und den Intellekt des beseelten Himmelskörpers. Nichts an deres sagt Averroes. Diese Übereinstimmung des Averroes mit Alexander ist leicht zu erklären. Averroes hat sich im zwölften Buch seines Metaphysikkom mentars umfangreich mit Alexander von Aphrodisias auseinandergesetzt. Er ist dort über weite Strecken von ihm abhängig.39 Dennoch gibt es neben der Identität auch Differenz. Gemäß dem Kommentar des Simplikios und der Abhandlung De tempore hat Alexander von Aphrodi sias die These der Beseeltheit des Himmels mit seiner Auslegung der <aristote lischen Zeitaporie> zusammengeschlossen. Die auf den Unbewegten Beweger ausgreifende Begierde und Intellektualität des Himmelskörpers erzeugt die ewige Kreisbewegung, aus der alle anderen Bewegungen entspringen. Auf die se Weise existiert ohne die Seele keine Bewegung und auch keine Zeit. Eine solche These läßt sich bequem mit dem Satz IVc der Zeitaporie zusammenbrin gen. Averroes hat sich diesen Schlußfolgerungen im Physikkommentar nicht an geschlossen. Er übernahm dort von Alexander von Aphrodisias nur das Po tenz/Akt-Modell und die subiectum-Theorie. Die Lehre von der Beseelung des Himmels hielt er aus der Auslegung der Zeitaporie heraus und diskutierte sie an anderer Stelle. Im Kommentartext 131 des vierten Buches der Physik, den Averroes so detailliert auslegte, vermied er deshalb jeglichen Hinweis auf ei nen derartigen Zusammenhang. Weil Averroes diesen Zusammenschluß nicht mitvollzogen hat, blieb diese Auslegungsmöglichkeit der Zeitaporie den Denkern des 13. Jahrhunderts ver schlossen. Getrennt waren beide Theoriebereiche bekannt, ihr Zusammenhang blieb jedoch unbeachtet. Eine kosmologische Auslegung der Zeitaporie nach der Methode Alexanders ist daher im 13. Jahrhundert nicht nachweisbar. Die Lehre des Aphrodisiers von der Beseeltheit des Himmels erfuhr damals ohne hin kein günstiges Schicksal. 1277 wurde sie als 92. These in Paris verurteilt.40 In den Sätzen V und VI der Zeitaporie bestimmt Aristoteles die eigentümli che Beschaffenheit der Bewegung als Subjekt der Zeit. Die Bewegung selbst
39
Vgl. J. Freudenthal, Die durch Averroes erhaltenen Fragmente Alexanders zur Metaphysik des Aristoteles, in: Philosophische und historische Abhandlungen der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Aus dem Jahre 1884, Berlin 1885, 1-134. 40 Vgl. H. Denifle (Hrsg.), Chartularium Universitatis Parisiensis I, n. 473; Bruxelles 1964 (Nachdr. der Ausgabe Paris 1899), 548: «92. Quod corpora celestia moventur a principio in trinseco, quod est anima; et quod moventur per animam et per virtutem appetitivam, sicut ani mal. Sicut enim animal appetens movetur, ita et celum.»
143
Teil II - Der arabische Aristotelismus
zeigt Strukturen, die auf Zählung angelegt sind. Davon geht Averroes aus. Den letzten Sätzen der Zeitaporie widmet er dabei seine ganze Aufmerksamkeit. V
VI
«Et secun dum quod prius et posterius sunt in eo numerata in potentia, est tempus 80 in potentia. Et secundum quod sunt numerata in actu, est tempus in actu. Tempus igitur in actu non erit, nisi anima sit. In potentia vero erit, licet anima non sit. Deinde dixit: Et quod prius et posterius sunt in 85 motu, idest, et non potest aliquis dicere, quod tempus est, et si anima non erit, nisi quia motus est, et si anima non fue֊ rit. Et similiter sunt in eo prius et pos terius. Et tempus nihil aliud est quam 90 prius et posterius in motu, sed secundum quod sunt numerata. Et ideo indiget in 41
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29 (Ross). ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29; Transl, arab.-lat., comm. 131, v. 1-19. Vgl. Ρ 1 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 15453 (f. 58ra), Ρ2 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 16159 (ff. 72rb-72va) und D = ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29; Transl. arab.-lat., Venetiis 1562, 202 /.
42
144
2.3. Averroes
hoc, quod sit in actu, anima scilicet, secundum quod est prius et posterius numerata. Et qua si per hoc, quod dixit: et tempus est 95 haec duo, secundum quod sunt numerata, in nuit, quod tempus diminuitur ab eo ex esse perfecto extra animam hoc, quod numeratur ab anima tantum.»43 Mit Alexander von Aphrodisias stimmt Averroes darin überein, daß die Be wegung das <subiectum> der Zeit ist. Averroes verwendet dafür die Bezeich nung <präpariertes Subjekt> (subiectum praeparatum). Die Bewegung ist durch ihre Struktur gleichsam auf die Zählung ausgerichtet, indem sie sich über ein und <Später> als Zählbare im Modus der Potentialität oder als Gezählte im Modus der Aktualität erschei nen, ist für ihre Deutung nach dem Modell des Averroes zunächst gleichgültig.
43
AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131, v. 77-98 (Venetiis 1562, 202 r F-202 ν G).
145
Teil II - Der arabische Aristotelismus
Beide Bezeichnungen erscheinen insofern als zwei Aspekte, die durch das Po tenz/Akt-Modell miteinander verknüpft sind. Daher ist folgende Verteilung möglich: Der Urtext zeigt eine Aussage über die Bestimmtheiten der Zeit gemäß der Potentialität, die Translatio Arab.-Lat. erfaßt sie im Modus der Aktualität (numerata). Die differente Überlieferung des Textes gerät also nicht in Konflikt mit dem Potenz/AktSchema. Averroes hat deshalb bei der Auslegung von Satz VI ohne Schwierig keiten das in der Antike entworfene Auslegungsschema auf den Aspekt der Ak tualität reduziert. Ein anderer Ausleger, der über einen besseren Zugang zum Original als Averroes verfügte, hätte hier den Aspekt der Potentialität hervor gehoben. Folgendes Beziehungsgefüge ist daher festzuhalten:
Satz VI
Überlief.
—
Potenz
numerata
Akt
Urtext
Transl. arab.lat.
—
Modus
Aber das Potenz/Akt-Schema der Zeit enthält auch Schwierigkeiten. Bei der Bedeutung, die die Theorie des Averroes für die Zeitphilosophie des 13. Jahr hunderts besitzt, darf es hier jedoch keine Unklarheiten geben. Bestimmte Stel lungnahmen in der modernen Sekundärliteratur zur Zeitphilosophie des Aver roes leiden darunter, daß nicht nur das Konzept des Arabers in seiner Fein struktur unbekannt blieb, sondern auch die Geschichte der Zeitphilosophie des 13. Jahrhunderts noch ungeschrieben ist. Sie ist in ihren wesentlichen Sta tionen die Beschreibung eines Prozesses, der sich als das allmähliche Einsikkern der Zeitkonzeption des Averroes in die Theorien der lateinischen Peripatetiker enthüllt. Averroes äußert sich abschließend zu diesem Problem auf folgende Weise:
146
2.3. Averroes
«Secundum igitur hunc modum dicitur tempus habe100 re esse extra animam simile perfecto, et si non sit perfectum. Et ista per scrutatio de tempore magis est philosophica quam naturalis, sed induxit ipsam in hoc loco, quia est causa in ip105 sum latere, scilicet quia est diminutum in se.»44 Die größte Schwierigkeit, die der Deutung der Zeitaporie durch Averroes zu entspringen scheint, ist die vermeintliche Aufspaltung der Zeit in zwei Schichten unterschiedlicher Perfektion. Wenn Averroes das Potenz/Akt-Sche ma dazu benutzt, die Zeit in ihrer vollen Aktivität in die Seele zu verlegen, dann muß die Zeit außerhalb der Seele von minderer Perfektibilität sein. Aver roes legt durch seine Formulierungen folgendes Modell nahe:
Stufe
Zeit-Ort
Modus
Status
1
in anima
in actu
esse per fectum
in potentia
esse simile perfecto
extra 2 animam
Doch nicht nur im Kommentar zu Text 131, sondern auch an anderer Stelle formuliert Averroes entsprechende Überlegungen. So heißt es in der Ausle gung zu Text 88:
44
AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131, v. 98-105 (Venetiis 1562, 202 v G/
H).
147
Teil II - Der arabische Aristotelismus
«Sed talia non habent esse completum, sed esse horum componitur ex actio40 ne animae in eo, quod est in eis ex tra animam. Et entia completa sunt illa, in quorum esse nihil facit anima, ut post declarabitur de tem pore, scilicet quoniam est de numero entium, 45 quorum actus completur per ani mam. Et forte hoc innuebat, cum dixit: aut erit difficile et occultimi, idest, erit de entibus latentibus, quae, si anima non esset, non essent, 50 nisi in potentia.»45
38 non del. autem Ρ1 / talia: nondum habent esse in eis ex animam del. P 2 38/41 non ... animam in marg. P 2 39 horum del. eorum P 2 eorum D / componitur: completur in marg. P 2 40 est add. quod Ρ1 43 post: prius Ρ2 46 innuebat: ? Ρ1 47 et om. Ρ1 48 idest add. et Ρ2/ quae: quia D 49 si add. in D / esset: essent D / essent in marg. P 2 del. esset Ρ 2
- dies ist die entscheidende Formel, mit der Averroes die Tätigkeit (actio) der Seele bei der Konstitution der <entia completa> beschreibt. Die Zeit ist erst auf diese Weise ein <ens completum>. Diesen Status erreicht sie außerhalb der Seele nicht. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß Averroes zunächst eine ontologi sche Duplizität entwirft. Durch die Einbeziehung der fiktiven Vorstellungen, von denen er im Kommentartext 131 spricht, erhält sie den Charakter einer Triplizität. Diese Triplizität, in der die Zeit eine Mittelstellung einnimmt, ist ebenfalls ein Erbe der antiken Diskussionen zum Sein der Zeit. Dadurch hatten schon die spätantiken Peripatetiker versucht, zwischen einer kosmologisch ge sicherten Zeit und ihrer Annihilation durch die Skeptiker zu vermitteln. Die Theorie des Averroes ist auf diese Weise nichts anderes als ein Reflex der Aus45
AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 88, v. 37-50. Vgl. P 1 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 15453 (f. 51ra), P 2 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 16159 (f. 62rb) und D = AVER ROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 88; Venetiis 1562, 174 /.
148
2.3. Averroes
einandersetzungen innerhalb der griechischen Philosophie über die Seinsweise der Zeit. Eine Zusammenfassung dieser Überlegungen ergibt folgendes Schema. Da nach gibt es verschiedenartige Seiende:
I
Entitäten, zu deren Sein die Seele nichts bewirkt;
II
Seiende, die ihre volle ontologische Qualität erst durch eine bestimmte Aktivität erhalten;
III
fiktive Vorstellungen.
Dieses Gefüge bestimmt die gesamte Struktur des Kommentartextes 131. Es ist daher nicht verwunderlich, daß diese Unterscheidung im 13. Jahrhundert, wo griffige und leicht verständliche Schemata sehr begehrt waren, großen Er folg gehabt hat.
149
Teil II - Der arabische Aristotelismus
In diesem Zusammenhang gebraucht Averroes auch das forma/materia-Modell. Dabei erläutert er die Konstitution der Zeit durch den Geist (mens). Der Geist bringt in das Bewegungskontinuum bestimmte Diskretionen ein. Dadurch gestaltet er die formlose Bewegung aus ihrer Materialität zum Phänomen der Zeit um. Die Zeit ist auf diese Weise ein Inhalt des Geistes. Die Leistung der Zeitphilosophie des Averroes bestand darin, daß er bei der Analyse des Zeit phänomens sorgfältig zwischen der natürlichen Basis und der geistigen Kom ponente unterschieden hat. «Dicamus igitur ad haec, quod extra men tem non est nisi motum et motus. Et tempus non fit, nisi quando mens dividit motum in 35 prius et posterius. Et haec est intentio numeri motus, idest motum esse numeratum. Ergo substantia temporis, quae est in eo quasi forma, est numerus. Et quod est in eo quasi materia, est mo40 tus continuus, quoniam non est numerus simpliciter, sed numerus motus.»46
32 haec: hoc D 33 motum et motus: motus et motum P1 et motus . D 34 fit: sit P 2 37 ergo: igitur P 1 38 fornia add. eius P1 40 quoniam in marg. P 2 del. quando Ρ 2
Außerhalb des Geistes (extra mentem), so sagt Averroes, gibt es nur die Be wegung. Dies bedeutet in seiner ganzen Schärfe: In der Natur gibt es nur Be wegung und keine Zeit. Erst wenn der Geist (mens) die Bewegung in ein Frü her und Später aufteilt, d.h. die Zahl der Bewegung (numerus motus) bestimmt hat, ergibt sich Zeit. Bei diesem Vorgang entsteht die<substantiatemporis>, de ren Quasi-Materie die kontinuierliche Bewegung (motus continuus) und die als Quasi-Form die Zahl (numerus) ist. Diese Formulierung zeigt deutlich, daß die Rede von der Zeit als einer Entität von minderer Perfektibilität außerhalb der Seele mißverständlich ist. Sie AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 109, v. 32-41. Vgl. P 1 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 15453 (ff. 54rb-54va), P 2 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 16159 (f. 67ra) und D = AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 109; Venetiis 1562, 187
46
150
2.3. Averroes
soll nur andeuten, daß die Bewegung in sich etwas verhüllt, das erst durch eine Formierung die Zeit ergibt, aber selbst noch keine Zeit ist. Averroes nahm gleichsam aus der Triplizität der Entitäten die Zeit als das Seiende heraus, das der Aktivität der Seele bedarf. Viele Philosophen des 13. Jahrhunderts griffen dieses Modell, das Averroes den antiken Aristoteleskommentatoren verdankt, begierig auf. Daher sind gro ße Abschnitte ihrer Zeitphilosophie nicht nur durch das Konzept des Averroes, sondern - vermittelt durch Averroes - auch durch den Entwurf des Alexander von Aphrodisias bestimmt. Wenn die Geschichte dieser Rezeption heißen darf, dann ist es nicht weniger richtig, dafür auch den Terminus zu wählen.
151
2.4. Zur arabisch-jüdischen Überlieferung und Kritik an der Zeitphilosophie Galens
2.4.1. Averroes als Erbe der spätantiken Galenrezeption Zu den zeitphilosophischen Texten, die die lateinischen Philosophen des 13. Jahrhunderts von den Arabern und Juden übernahmen, gehören auch die spärli chen Reste, die sich von Galens bedeutendem Werk IIεpί αποδείξεως in diesen Kulturkreisen erhalten hatten. Im Physikkommentar des Averroes befindet sich eine Auseinandersetzung mit Galen, aber auch in Moses Maimonides' Werk Dux neutrorum. Keineswegs ist damit jedoch der volle Umfang der Ausein andersetzung der arabischen und jüdischen Philosophen mit Galens Zeitphiloso phie erfaßt, sondern nur die Texte, die ihren Weg zu den lateinischen Peripatetikern des 13. Jahrhunderts fanden.1 Auf ihrer ständigen Suche nach neuen Quellen benutzten die lateinischen Ari stoteleskommentatoren die auf diese Weise überlieferten Thesen Galens zur ei genen Erforschung des Verhältnisses von Zeit und Seele. Dadurch erhielten die Äußerungen Galens einen hohen Stellenwert in den zeitphilosophischen Dis kursen des 13. Jahrhunderts. Die lateinischen Peripatetiker wußten wenig über Galens Forschungen zur Philosophie der Zeit. Aber das, was sie kannten, ließ auf eine bestimmte Stellungnahme zum Verhältnis von Zeit und Seele schließen, die den Thesen des Augustinus im elften Buch der Confessiones nahe verwandt 1
Vgl. S. Pines, A tenth century philosophical correspondence, in: American Academy for Jew ish Research Proceedings 24 (1955) 103-136. Zu Galen vgl. die englische Übersetzung eines Briefes des Philosophen Ibn Abi Sai'd: «Galen - according to what Alexander states about him in the treatise in which he opposes [Galen's views] on time and place - held this opinion, [which] is refuted by Alexander. Galen's view was that time is eternal... , and that it does not need motion [in order] to exist... Galen states accordingly that motion does not produce for us ... time; it only produces for us days (,) months and years. Time, on the other hand, exists [according to him], per se, and is [not] an accident consequent upon (motion)» (111/2). Die wenigen Bemerkungen dieses Briefes geben kaum genaue Auskunft zur Zeittheorie Galens. Immerhin bestätigen sie seine Grundthese, daß die Zeit nicht von der Bewegung abhängig ist. Ob Galen allerdings eine absolute Zeit angenommen hat, ist durch andere Quellen nicht verifi zierbar. Die Unabhängigkeit der Zeit von der Bewegung läßt sowohl die These einer absoluten Weltzeit als auch die Annahme einer seelischen Zeit zu.
152
2.4. Zur arabischen Überlieferung und Kritik an der Zeitphilosophie Galens
schien. Der Zeittraktat des Augustinus übertrifft die wenigen Zeilen, die von Galen bekannt waren, an Quantität um ein vielfaches. Dennoch reichte Albert der innere Gehalt der Thesen Galens aus, um ihn in eine Reihe mit der Position des Augustinus zu stellen. Albert hat sich daher im vierten Buch seines Physik kommentars mehr mit Galen als mit Augustinus beschäftigt. Strenggenommen gehören die Fragmente Galens nicht zur Auseinanderset zung um die<aristotelischeZeitaporie>. Sie beziehen sich, wie noch zu zeigen ist, auf andere Passagen des aristotelischen Zeittraktates. Aber die Philosophen des 13. Jahrhunderts gebrauchten Galens Thesen bei ihren Forschungen zum Verhältnis von Zeit und Seele. Ihr Ausgangspunkt war die Diskussion der Zeitaporie. Daher sind die Fragmente und Thesen Galens, wie sie von den Arabern überliefert worden sind, in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Wieder war es Averroes, der auf diese Weise die Kontinuität zwischen den spätantiken Aristoteleskommentatoren und dem 13. Jahrhundert sicherte. Galens Werk IIεpi αποδείξεως bestand ursprünglich aus fünfzehn Büchern. Davon sind nur Fragmente, Paraphrasen und Zusammenfassungen unterschied licher Qualität erhalten. I. v. Müller hat 1894 einen Rekonstruktionsversuch ge wagt, der bis heute unüberholt geblieben ist. Er zeigt jedoch auch die Grenzen eines solchen Unternehmens.2 I. v. Müller vermutet, daß Galens Werk in den Jahren zwischen 158 und 162 n. Chr. in Pergamon entstanden ist.3 Dieses Buch, das im Gegensatz zu anderen philosophischen Studien Galens für eine breite Öf fentlichkeit bestimmt war, hatte einen wissenschaftstheoretischen Zweck. Galen suchte nach einer allseits abgesicherten Methode des wissenschaftlichen Bewei ses. Sie sollte den Medizinern seiner Zeit als verläßlicher Leitfaden durch die verwirrende Vielfalt der philosophischen Lehrmeinungen dienen und zu ge sicherter Erkenntnis führen. Das Buch erfüllte auf diese Weise zwei Bedürfnis se: Es beschrieb zunächst eine bestimmte Methode der wissenschaftlichen Ar beitstechnik. Zugleich enthielt die Apodeiktik eine umfassende Kritik am Ek lektizismus der damaligen Wissenschaft. Galen erwies sich hier nach der Mei nung I. v. Müllers als <medizinischer Logiken.4 Der Stellenwert der zeitphilosophischen Untersuchungen Galens innerhalb dieses Gesamtkonzeptes ist unsicher. Vom achten Buch der Apodeiktik blieb
2
Vgl. I. von Müller, Ueber Galens Werk vom wissenschaftlichen Beweis, in: Abhandlungen der philosophisch-philologischen Classe der königlich bayerischen Akademie der Wissenschaf ten Bd. 20, 1. Abt., München 1894, 400-478. 3 Vgl. I. von Müller, Ueber Galens Werk vom wissenschaftlichen Beweis, 414. 4 Vgl. I. von Müller, Ueber Galens Werk vom wissenschaftlichen Beweis, 416.
153
Teil II - Der arabische Aristotelismus
nicht viel erhalten. Die antiken Aristoteleskommentatoren haben nur weniges von Galens Philosophie der Zeit und des Raumes, die er dort ausgearbeitet hatte, in ihre Untersuchungen übernommen. Das achte Buch war in seiner Ge samtheit wohl Aristoteles gewidmet.5 Wenn dabei die Zeitphilosophie des Ari stoteles und ihre Problematik auf gewisse Weise in den Vordergrund rückte, dann zeigt dies, wie umstritten diese Konzeption schon zu Galens Zeiten gewe sen ist. Durch die schweren Überlieferungsverluste ist seine frühe Kritik an der Zeitphilosophie des Aristoteles allerdings nur punktuell rekonstruierbar.6 Die differenzierte Rezeption des Aristoteles durch Galen hat vor kurzem P. Moraux ausführlich untersucht.7 Er zeigt überzeugend, daß Galen die naturphi losophischen Schriften des Aristoteles sorgfältig studierte.8 Galen lernte die Physik des Aristoteles nicht nur aus zweiter Hand durch Kommentare oder an dere Sekundärliteratur kennen, sondern analysierte den Text auch direkt. Da durch war er in der Lage, die umstrittenen Thesen des Aristoteles auf origi nelle Weise zu diskutieren. Seine qualifizierte Kritik an der Zeitphilosophie des Aristoteles haben die späteren Peripatetiker sehr ernst genommen und deshalb einer ausführlichen Kritik unterworfen. Daß dabei zunächst Alexander von Aphrodisias eine entscheidende Rolle spielte, kann bei der Bedeutung seiner 5
Zum allgemeinen Charakter des achten Buches vgl.: I. von Müller, Ueber Galens Werk vom wissenschaftlichen Beweis, 467/8: «Wenn somit Galen in dem Werke πεpi αποδείξεως auf den Zeitbegriff des Aristoteles zu reden kam, so erklärt sich dies wohl am ungezwungensten aus der Annahme, dass er, nachdem die Wissenschaftslehre nach allen Seiten von ihm begründet war, nunmehr in der zweiten Hälfte seines Werkes dieselbe auf ihre Probehaltigkeit prüfte, in dem er sie zur Beurteilung wichtiger Probleme, welche namhafte Philosophen und Aerzte auf gestellt hatten und zu lösen versuchten, benützte ..., soferne die Probleme nicht schon im ersten Teile eingehend behandelt worden waren.» 6 Vgl. I. von Müller, Ueber Galens Werk vom wissenschaftlichen Beweis, 468: «Die Kritik, die Galen an dem schwierigen Problem des aristotelischen Zeitbegriffs übte, bot den Kommenta toren des Aristoteles in mehrfacher Hinsicht eine Handhabe zum Widerspruch. Die Polemik ge gen irrtümliche Auffassungen und nicht stichhaltige Einwendungen Galens hinsichtlich jenes Begriffes eröffnete Alexander von Aphrodisias in seiner nur aus den Arabern dem Titel nach be kannte Schrift: , Widerlegung des Galenos über Zeit und Ort, ein Buch' ...» Vgl. auch oben Anm. 1. 7 Vgl. P. Moraux, Der Aristotelismus bei den Griechen von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias, Bd. 2: der Aristotelismus im I. und II. Jh. n. Chr. (Peripatoi 6), Berlin/New York 1984, 685-808. 8 Vgl. P. Moraux, Der Aristotelismus bei den Griechen von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias, Bd. 2, 729: «Galen hat niemals eine naturwissenschaftliche Schrift des Aristoteles kommentiert, dennoch zweifellos viele von ihnen gekannt, gelesen und sogar sorgfältig exzer piert.»
154
2.4. Zur arabischen Überlieferung und Kritik an der Zeitphilosophie Galens
Leistung als Aristoteleskommentator, die in der Spätantike unumstritten war, niemand mehr verwundern. Die Zeittheorie Galens hat bei den Peripatetikern viel Widerspruch gefun den. Es war Alexander von Aphrodisias, der zuerst eine grundlegende Kritik an Galens Thesen zur Zeit formulierte. Seine heute verlorene Schrift, die die Araber noch kannten, hieß:
«Widerlegung des Galenos über Zeit und Ort, ein Buch.»9
Über den Inhalt dieser Schrift sind keine näheren Angaben möglich. Es ist anzunehmen, daß Alexander die wichtigsten Ergebnisse seiner Kritik an Galen in seinen Physikkommentar übernommen hat. Aber auch dafür gibt es keine si cheren Beweise. Es ist jedoch wahrscheinlich, daß die Fragmente zur Zeitphilo sophie Galens, die Themistios und Simplikios vorlegten, aus dem Physikkom mentar Alexanders stammen. Das Studium dieser Quellen ist also die einzige Möglichkeit, etwas über Galens Zeitphilosophie und die Argumente seiner Kri tiker zu erfahren. Themistios gewährt den zeitphilosophischen Thesen Galens nur einen kurzen Abschnitt in seiner Physikparaphrase.10 Es gibt bei ihm keine grundlegende Auseinandersetzung mit den Thesen Galens. Er legt einen Text vor, der kaum über die Mitteilung zweier Fragmente hinausgeht. Themistios erhellt Galens ei gene Argumentation daher kaum. Er stellt sie nur mehr oder weniger unver mittelt dem Leser vor. Die Konzentration des Stoffes ist ein der Ρhysikpara-
155
Teil II - Der arabische Aristotelismus
phrase des Themistios anhaftender Nachteil. Einen sicheren Zugang zu Galens Thesen gewährt eigentlich nur die umfangreichere Darstellung des Stoffes bei Simplikios. Entsprechend diesem Verfahren hat I. v. Müller in seiner Rekon struktion des achten Buches der Apodeiktik das Referat des Simplikios vor die Paraphrase des Themistios gestellt. Ein weiteres Problem ist die Extraktion der Galenfragmente aus ihrem Kontext. Die philologisch-philosophische Analyse muß sicherstellen, daß keine unechten Partikeln aus dem jeweiligen Umfeld den authentischen Galentext ver fälschen. I. v. Müller hat diese schwierige Aufgabe der Abgrenzung der Frag mente zuerst übernommen. Ihre nähere Auslegung steht jedoch noch aus. Nach I. v. Müller sind folgende Textabschnitte aus dem Physikkommentar des The mistios als Originalzitate aus Galens Apodeiktik zu verstehen:
I
II
Dieser Abgrenzung der beiden Galenfragmente durch I. v. Müller 11 ist grundsätzlich zuzustimmen. Fragment II kommt jedoch eine größere Sicherheit und Authentizität zu, weil Themistios es mit direktem Hinweis auf Galen ein führt. Bei Fragment I ist die Abgrenzung dagegen weniger sicher. Ausgangspunkt der Interpretation muß Fragment I sein. Offenbar erwägt Galen ein bestimmtes Verhältnis von Zeit und Bewegung innerhalb der Seele:
11
Vgl. I. von Müller, Ueber Galens Werk vom wissenschaftlichen Beweis, 469.
156
2.4. Zur arabischen Überlieferung und Kritik an der Zeitphilosophie Galens
er die Zeit.>
Es geht Galen also nicht um den Nachweis, daß bei der außerseelischen Be wegung immer zugleich auch Zeit aufzufinden ist. Er will zeigen, daß schon die mit dem Denkprozeß verknüpfte Bewegung den Zugang zur Zeit eröffnet. Den ken ist für Galen keine zeitfreie noetische Erscheinung. Im Vollzug der Intel lektion bewegen wir uns und erhalten Zugriff zur Zeit. Wie dies konkret zu verstehen ist, zeigt Fragment IL Fragment II beschreibt den Vorgang der Intellektion durch das Beispiel der denkenden Aneignung ruhender Weltinhalte:
Galen verengt in seiner Reflexion durch eine philosophische Reduktion die außerseelische Dingwelt auf die unbewegten Entitäten. Nach damaliger kosmologischer Auffassung sind dies die Pole und das Zentrum der Welt. Dennoch sind die unbewegten Dinge Ausgangspunkt einer Bewegung. Indem wir uns die se Dinge denkend aneignen, bewegen wir uns. Gemäß Fragment I erschließt sich uns dabei die Zeit. In den bisher bekannten Texten hat Galen demnach rein seelische Prozesse wie das Denken mit der Zeit in Zusammenhang gebracht. Die Zeit zieht sich in die denkende Seele des individuellen Menschen zurück, wenn der Kosmos be wegungslos ruht. Damit vollzieht Galen ein Gedankenexperiment, dessen Radi kalität in der Antike neben den Skeptikern nur noch Augustinus bei seinen Überlegungen zum elften Buch der Confessiones erreicht hat.12 12
Vgl. die Überlegungen des Augustinus zum kosmischen Stillstand der Welt: AUGUSTI NUS, Conf. XI 23, 30. Galen setzt in seinem Gedankenexperiment die Seele in Bezug zu den ruhenden Entitäten, wobei er andere Weltinhalte ausklammert. Augustinus entwickelt ein ähnli-
157
Teil II - Der arabische Aristotelismus
Simplikios legt in seinem Physikkommentar eine umfangreiche Stellung nahme zu Galens zeitphilosophischer Kritik an Aristoteles vor. 13 Es ist nicht möglich, diese Galenkritik des Simplikios hier in ihrer Vollständigkeit zu ent falten. Dies ist auch nicht nötig, denn die Äußerungen des Simplikios sind ohne Einfluß auf Averroes geblieben. Der Text des Simplikios kann aber dazu bei tragen, den Galenabschnitt des Themistios, den, wie sich noch zeigen wird, Averroes kaum verändert übernommen hat, in größerer Klarheit zu überblikken. Das innere Verhältnis beider Texte ist jedoch unklar. Beide Kommentato ren, sowohl Themistios als auch Simplikios, sind auf vielfältige Weise von dem Physikkommentar des Alexander von Aphrodisias abhängig. Der Grad der je weiligen Abhängigkeit bleibt hier jedoch unbestimmbar, da jeder Anhaltspunkt zur Rekonstruktion der Beschaffenheit ihrer gemeinsamen Vorlage fehlt. Es ist wahrscheinlich, daß dort, wo Themistios und Simplikios übereinstimmen, Alex anders Physikkommentar als gemeinsame Vorlage diente. Ein Beweis ist es je doch nicht. Simplikios kann auch direkt aus der Physikparaphrase des Themi stios geschöpft haben. Auch Simplikios überliefert einige Textpassagen, die I. v. Müller als Galen fragmente isoliert hat. Die Eruierung der Fragmente aus dem Simplikiostext ist jedoch schwieriger als das entsprechende Unternehmen bei der Paraphrase des Themistios. H. Diels kommt 1882 zu anderen Ergebnissen als I. v. Müller 1894.14 Es ist nicht unmöglich, daß die Ausführungen des Simplikios noch An ches Gedankenexperiment. Auch er eliminiert alle anderen Weltinhalte und bezieht sich auf die bewegte Töpferscheibe. Augustinus kennt auch das Phänomen des kosmischen Stillstandes. Im Gegensatz zu den natürlichen Ruhepunkten des Universums, auf die sich Galen bezieht, wählt Augustinus als Beispiel den durch die Bibel bezeugten übernatürlichen Stillstand der Sonne, der ebenfalls in keiner Weise die Konstitution der Zeit tangiert. Sowohl Galen als auch Augustinus verweisen demnach auf die Anwesenheit der Zeit trotz kosmologischer Ruhezustände. Zwar gibt es keine Identität der Auffassung, wohl aber Ähnlichkeit. Über Galen ist zu wenig bekannt, um den Unterschied zwischen der Zeitphilosophie des Augustinus und seinen Thesen noch zu ver tiefen. Die Philosophen des 13. Jahrhunderts, die Galen durch die Vermittlung des Averroes kennenlernten, zögerten jedenfalls nicht, ihn neben Augustinus zu stellen.
158
2.4. Zur arabischen Uberlieferung und Kritik an der Zeitphilosophie Galens
spielungen und Textreste aus Galens Apodeiktik enthalten, die heute nicht mehr als solche zu erkennen sind. Wie immer der Sachverhalt auch sein mag, die bis her umfangreichste Zuschreibung hat I. v. Müller vorgenommen:
I
II
III
159
Teil II -Derarabische Aristotelismus
Fragment I(S) ist mit Fragment I(Th) identisch. Fragment III(S) erscheint als eine Variante von Fragment II(Th). Auch Fragment II(S) erinnert an Fragment II(Th). Dieser Text bietet jedoch Teile, die bei Themistios nicht vorkommen. Hier erweitert Simplikios unsere Kenntnis der Zeitphilosophie Galens. Diels und v. Müller sind sich auch in der Zuschreibung dieser Passage an Galen ei nig. Dieses Fragment muß daher im Zentrum der Betrachtung zur Galenkritik des Simplikios stehen. Simplikios knüpft an einen bestimmten Abschnitt aus der Zeitabhandlung des Aristoteles an. Aristoteles spricht dort zwei Beziehungen der zur Zeit an:
I Wenn wir keine Veränderung bestimmen ist uns der Zugang zur Zeit verschlossen. Die Seele verharrt dann wie in einem einheitlichen und unteilbaren Zustand.
II Wenn wir jedoch wahrnehmen und bestimmen dann stehen wir in einem Bezug zur Zeit.
III Daraus zieht Aristoteles die Schlußfol gerung, daß die Zeit nicht ohne Bewe gung und Veränderung existiert.16
160
2.4. Zur arabischen Überlieferung und Kritik an der Zeitphilosophie Galens
Ausgehend von diesen Überlegungen tritt Simplikios in die Auseinanderset zung mit Galen ein. Er beschreibt die Position des Aristoteles auf folgende Weise: Immer wenn wir meinen, daß keine Veränderung existiert, sondern glauben, in demselben Jetzt zu stehen, dann treten wir in keinen Bezug zur Zeit. Wenn wir aber die Bewegung wahrnehmen, dann be֊ stimmen wir mehrere Jetztpunkte. Wir bemerken Anfang und Ende, Früher und Später, sowie die Zeit zwischen diesen Punkten. Daraus ergibt sich klar, daß die Zeit nicht ohne Bewegung existiert.17 Simplikios deutet die o.g. Aristotelesstelle durch Hinblicknahme auf die JetztStruktur der Zeit: Einmal verharrt die Seele in einem einzigen Jetzt, dann aber erschließt sich ihr eine durch die Bewegung eröffnete Jetzt-Mannigfaltigkeit. Dies verdeutlicht folgende Graphik:
Nach dem Bericht des Simplikios hat Galen im achten Buch seiner Apodeiktik gegen diese Konzeption Bedenken geäußert. Galen schlug eine andere Ari stotelesauslegung vor: Wenn Aristoteles meint, daß die Zeit nicht ohne Bewe gung sei, dann denkt er nicht an die äußere Bewegung. Er verweist vielmehr
161
Teil II - Der arabische Aristotelismus
auf die Bewegung dessen, der die Zeit denkt. In diesem Kontext führt Simplikios das erste Galenfragment (Fragment I [S]) ein, Dieses erste Fragment ist jedoch so kurz, daß es den Sinn des von Galen Ge meinten nicht ohne weiteres erklärt. Zur Erläuterung dessen benutzt Simplikios Fragment IL Er bezeichnet es als ein dem Begriff nach unsinniges Argument : Es ist notwendig, daß auch das ganz und gar Unbe wegliche mit der Bewegung existiert, weil das Denken dieser Entitäten für uns mit Bewegung verbunden ist. Wir denken näm lich nichts bloß durch ein unbewegtes Begreifen (άκινήτω νοήσει). 18 Was damit gesagt werden soll, ist klar. Galen verweist auf die Denkprozesse, mit denen wir uns die prozeßlosen Entitäten aneignen. Sie sind nicht zeitlos, sondern die Zeit begleitet den Vorgang des Denkens bzw. die . Auch diese These läßt sich graphisch veranschaulichen:
Simplikios stellt das Modell des Aristoteles der Konzeption Galens diametral gegenüber. Bei Aristoteles entfaltet sich die Jetzt-Mannigfaltigkeit an der Be wegung außerhalb der Seele. Galen verlegt die Mannigfaltigkeit der Jetzt-Punkte in die Seele. Auf diese Weise können beide behaupten, daß die Zeit nicht oh ne die Bewegung existiert. Auf die interessanten Aspekte der Zeittheorie Galens geht Simplikios nur kurz ein. Er beschäftigt sich nicht damit, das außergewöhnliche Zeitmodell des Galen näher zu beleuchten oder in seinen positiven Sinn einzudringen. Nach
162
2.4. Zur arabischen Überlieferung und Kritik an der Zeitphilosophie Galens
Simplikios will Aristoteles nicht, daß die Seele bewegt wird . Er drängt vielmehr darauf, daß sie tätig ist. Damit spielt Simplikios auf die These des Aristoteles an, der auf die (aktive) Tätigkeit der Seele beim Zählen der Be wegung verweist. Gemeint sind dabei die natürlichen Bewegungen. Allein diese Veränderungen verdienen nach Simplikios den Ausdruck .19 Simplikios hat mit diesen Bemerkungen die Widerlegung Galens nicht abge schlossen. Es finden sich noch interessante Bemerkungen, die zeigen, daß Ga lens spezifische Aristotelesauslegung nicht ohne Anhaltspunkt im Text des Ari stoteles gewesen ist. Galen scheint eine bestimmte Aristotelespassage im Blick gehabt zu haben. Aristoteles behauptet dort, daß die Zeit nicht ohne Verän derung ist. Dabei bezieht er sich auf die menschliche Seele:
Immer wenn wir selbst hinsichtlich des Denkens keine Veränderung vornehmen und uns als Verändernde ver borgen sind, entzieht sich uns die Zeit.20
Dies scheint der Ansicht Galens nahezustehen. Deshalb bemüht sich Simpli kios um den Nachweis, daß Aristoteles hier etwas ganz anderes als Galen meint: Wir sind durch das Denken in bezug auf die Veränderung tätig , d.h. wir konstituieren eine zahlhafte Vor stellung von der Veränderung.21 Wenn wir aber keine Vorstellung einer Ver änderung erhalten, sagt das noch nichts über das Vorhandensein oder Nichtvor handensein einer zeiterschließenden seelischen Bewegung aus. Auch hier ver weist Simplikios auf das denkende Ausgreifen nach der äußeren Veränderung bzw. das Ausbleiben einer solchen Aktivität, keinesfalls jedoch auf die innere Bewegung des Denkens. Die aktive Konstitution der Zeit durch das Denken hat
163
Teil II - Der arabische Aristotelismus
nichts mit einer Zeit zu tun, die eine eventuelle Bewegung des Denkens mißt. Galen hat den Intellekt nicht ausreichend von der empirischen Seele getrennt. Wenn wir nicht mit dem Verstand die Bewegung zählen, dann gibt es für uns keine Zeit. Dies geschieht nicht etwa, weil, wie Galen meinte, kein Denkprozeß vorhanden ist, den die Zeit in seiner Bewegung begleitet, sondern weil die Zeit als Zahl erst durch das Denken entsteht. Der Konstitutionsprozeß der Zeit kann nach Simplikios nicht selbst zeitlich oder von der Zeit begleitet sein. Diesen Widerspruch wollte Simplikios aus dem Zeitsystem des Aristoteles heraushal ten. Auf diesen Ergebnissen der antiken Aristoteliker baut die arabische Philo sophie auf. Es ist nicht bekannt, ob Averroes noch eine arabische Fassung der Apodeiktik Galens ausgewertet hat.22 Dies scheint aber wenig wahrscheinlich. Die Hin weise, die Averroes in seinem Physikkommentar zu Galen gibt, sind nämlich aus den arabischen Fassungen der antiken Physikkommentare übernommen. Averroes hat sich zunächst im vierten Buch seines Physikkommentars (t. comm. 97) mit Galens Zeittheorie beschäftigt. Schon I. v. Müller bemerkte, daß seine Ausführungen in etwa mit dem Text des Themistios übereinstim men. 23 Es besteht demnach eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß Averroes seine Kenntnisse aus der Physikparaphrase des Themistios geschöpft hat. Der Text des Averroes hat folgende Gestalt:
55
60
«Non sicut aestimavit Galenus. Galenus enim credidit, quod Aristoteles intendebat, quod nos non comprehendimus tempus, nisi cum movemur, idest, quoniam per imaginationem comprehendimus motum. Et quod hoc est signum, quod tempus non est extra motum. Et cum Galenus aestimavit hoc, contradixit Aristoteli. Et dixit, quod multotiens compre hendimus res quiescentes et move-
22
Vgl. I. von Müller, Ueber Galens Werk vom wissenschaftlichen Beweis, 408: « ... das Buch, das einen seit Farabis Zeiten beliebten Gegenstand behandelte, [ist] bis jetzt lediglich dem Titel nach bekannt ... Von Averroes ... lässt sich die unmittelbare Benützung derselben [Übersetzung] vielleicht annehmen, dagegen ist das, was sein jüngerer Zeitgenosse, der Philo soph Maimonides ... aus ihr mitteilt, aus Farabis grossem Kommentar über die ersten Analytika des Aristoteles geschöpft.» 23 Vgl. I. von Müller, Ueber Galens Werk vom wissenschaftlichen Beweis, 470, Anm. 96.
164
2.4. Zur arabischen Überlieferung und Kritik an der Zeitphilosophie Galens
65
mur, cum omnis imaginatio sit motus, ut quando comprehendimus polos mundi et centrum.»24
54/55 aestimavit: existimavit D Ρ 1 55 enim del. non Ρ 2 / Aristoteles . 1 57 nisi add. velut Ρ1/ cum add. nos Ρ 1 / idest . Ρ 2 add. dixit Ρ2 / quoniam: quando D 59 hoc est: est hoc P1 60 est . Ρ 1 61 aestimavit: existimaverit D / contradixit: cum dixit P1
Ein Vergleich der lateinischen Übersetzung des Averroes aus dem Arabi schen mit dem griechischen Originaltext des Themistios ergibt folgende Vertei lung: Themistios
Averroes «Non sicut aestimavit Galenus. Galenus enim credidit, quod Aristo teles intendebat, quod nos non com prehendimus tempus, nisi cum movemur, idest, quoniam per imaginationem comprehendimus tum. Et quod hoc est signum, quod tem pus non est extra motum. Et cum Galenus aestimavit hoc, contradixit Aristoteli. Et dixit, quod multotiens comprehendimus res quiescentes et movemur, cum omnis imaginatio sit motus, ut quan do comprehendimus polos mundi et centrum.»26
24
AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 97, v. 54-66. Vgl. Ρ 1 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 15453 (f. 52ra), Ρ 2 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 16159 (f. 63va) und D = AVER ROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 97; Venetiis 1562, 177 ν Μ. 25 THEMISTIUS, Phys. 144, 24-28. 26 Vgl. Anm. 24.
165
Teil II - Der arabische Aristotelismus
Die zwei Fragmente Galens, die Themistios mitteilt, gelangten in nur wenig veränderter Gestalt in den Physikkommentar des Averroes. Die geringfügigen Abweichungen sind wohl auf Übersetzungsverluste zurückzuführen. Die von Averroes überlieferte Fassung von Fragment I(Th) entspricht ziem lich genau dem griechischen Original, während Fragment II(Th) größere Ab weichungen zeigt: Galenus ap. Them.
Galenus ap. Averr. «... multotiens comprehendimus res quiescentes et movemur, cum omnis imaginatio sit motus,
(Π)
ut quando comprehendimus polos mundi et centrum.»27
Die vergleichende Betrachtung beider Texte zeigt, daß jeweils für die Ab schnitte II und IV die entsprechenden lateinischen oder griechischen Äquiva lente fehlen. Auch hier ist festzustellen, daß der Verlust der arabischen Zwi schenglieder derartige Detailuntersuchungen sehr erschwert. Weder der Phy sikkommentar des Averroes noch die Physikparaphrase des Themistios sind in ihren arabischen Fassungen überliefert. Zwar ist auch so eine angenäherte Ent scheidung möglich, was hier Einschub und was Verlust ist, aber die konkreten Schritte dieses Überlieferungsprozesses bleiben im dunkeln. Auch der Umgang des Averroes mit seinen Quellen ist der Erforschung damit verschlossen. Im merhin läßt sich jedoch feststellen, daß gegen Ende der langen Überlieferungs linie, d.h. in der lateinischen Fassung, ein Galentext zur Verfügung stand, der wenigstens inhaltlich der Intention seines Urhebers entsprach. Die Philosophen des 13. Jahrhunderts lasen also nichts wesentlich anderes als die Aristoteliker der Spätantike und des arabischen Sprachraumes.
27 28
Vgl. Anm. 24. GALENUS ap. THEM., Phys. 144, 27-29.
166
2.4. Zur arabischen Überlieferung und Kritik an der Zeitphilosophie Galens
Averroes hat diese Äußerungen Galens zweimal der Kritik unterworfen. Der erste kritische Abschnitt befindet sich unmittelbar nach der Zitation des o.g. Galenfragmentes. Die Kritik, die Averroes dabei gegen Galen vorträgt, ist von großer Bedeutung. Sie beweist durch ihre Ähnlichkeit mit den Thesen der anti ken Aristoteleskommentatoren, daß Averroes auch hier die Linie seiner Quel len nicht verlassen hat. Nach Averroes deutete Galen die Ansicht des Aristoteles auf folgende Weise. Wir erfassen (comprehendimus) die Zeit nur, wenn wir bewegt werden. Es geht Galen also um die Bewegung der Seele bzw. um eine innere Bewegung. Dieser Innenaspekt der Zeitphilosophie Galens ist Averroes voll bewußt. Wie die antiken Physikkommentatoren kritisiert auch Averroes dies an Ga len. Aristoteles habe dagegen, so heißt es bei Averroes, zeigen wollen, daß wir immer dann, wenn wir die Zeit wahrnehmen (sentimus), auch Bewegung erfas sen. Averroes scheint dabei zunächst nur die außerseelische Bewegung im Blick zu haben. Um die Kritik an Galen zu vervollständigen, beschreibt er nun das Verhältnis der Seele zu dieser Bewegung. Er setzt gegen Galens Gedankenex periment ein eigenes: Während Galen auf die zeithafte Intellektion unbewegli cher Entitäten reflektiert, zeigt Averroes, daß die Zeit nicht ohne Bewegung, wohl aber die Bewegung ohne Zeit vorstellbar ist. Die Bewegung ist auf natür liche Weise (naturaliter) der Zeit vorgeordnet. Averroes spricht es nicht aus, aber im Hintergrund dieser Überlegungen steht die von ihm vertretene Theorie des Verhältnisses der Seele zur Zeit. Wenn keine Seele zählt, dann gibt es nur Bewegung. Die Zeit existiert dann al lein in potentia. Dies ist der Sinn seines Gedankenexperimentes. Die Zeit er eignet sich aus der Bewegung, aber einer Bewegung, die als solche dem zählen den Intellekt unterworfen ist. Averroes faßt seine These in wenigen Sätzen zusammen:
70
«Sed Aristoteles non intendebat, nisi quia nos non sentimus tempus, quando non sentimus motum. Et quia tempus non imaginatur sine motu, et motus potest imaginan extra tempus, significai hoc, quod motus praecedit tempus na turaliter, et quod tempus accidit motui, li-
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Teil II - Der arabische Aristotelismus
cet sint consequentia se complete.»29
67 quia: quod D 68 quando: quoniam Ρ1 70 motus potest: potest motus Ρ2 / potest add. se cundum tempus Ρ1 71 imaginan add. et Ρ1 74 consequentia add. scilicet et Ρ 1 / scilicet sup. lin. P1
Damit war die Auseinandersetzung des Averroes mit Galen jedoch noch nicht beendet. In Kommentartext 98 befindet sich noch eine weitere Reaktion auf Ga lens Zeitphilosophie. Sie zeigt, daß Averroes das Problem nicht bloß oberfläch lich behandelt, sondern damit gerungen hat. Dabei fand er dann auch zu einer eigenständigen Position. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist ARISTOTELES, Phys. IV 11, 218 b 21-23, ein Text30, der in der Transl. Arab.-Lat. folgende Gestalt hat:
«... quoniam, si nos non fuerimus transmutati in nostra mente, aut fueri mus transmutati, sed non perceperimus, non reputabimus tempus esse ... » 31
Dieser Aristotelestext gab Averroes die Möglichkeit, sich stufenweise und durch Kritik an Galen einer eigenen Position zu nähern. Dies geschieht zu nächst in Kommentartext 97, dann aber auch im Auslegungsabschnitt 98. Dort beginnt er die erste Stufe mit einer scharfen Zurückweisung der Position Ga lens. Averroes kritisiert die Auffassung, daß die Bewegung des Vorstellungs vermögens (imaginatio) die Zeit konstituiert. Averroes greift hier auf seine er ste, schon oben diskutierte Galenkritik zurück. Aber er hält an dieser Stelle kei-
168
2.4. Zur arabischen Überlieferung und Kritik an der Zeitphilosophie Galens
ne neuen Quellen bereit, sondern er unterzieht die These Galens einer wieder holten kritischen Revision. Die Hauptschwierigkeit ist dabei das Problem, wie das
«fuerimus transmutati in nostra mente»
des Aristoteles zu fassen ist. Averroes diskutiert drei Stellungnahmen dazu. Jede einzelne ist dabei von großem Interesse. Averroes nähert sich damit stufenweise der eigenen Position. Dabei destruiert er die vorgegebenen Thesen sukzessiv. Dieses Beispiel beweist, daß Averroes nicht nur die antiken Physikkommentatoren rezipiert hat. Er ist auch zu eigenen schöpferischen Leistungen gelangt. Der Text des Averroes hat folgende Gestalt:
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«Et in hoc etiam peccavit Galenus et intellexit, quod Aristoteles intendebat per hoc, quod dixit, cum nos non fuerimus transmutati in nobismetipsis, quod nos non comprehendimus tempus, cum on fuerimus moti per imaginationem. Sunt enim tres intentiones, quarum una est, quod nos non percipimus tempus, nisi quando fuerimus moti in anima nostra. Et hoc aestimavit Galenus et est corrupta per se. Se cunda autem est, quod nos non percipimus tempus, nisi cum perceperimus aliquem motum, quicumque sit. Et hoc est percipere per accidens. Tertia ve ro est, quod nos non percipimus tempus, nisi cum perceperimus nos transmutan, quia sumus in esse trans mutabili. Et ista perceptio est perceptio,
169
Teil II - Der arabische Aristotelismus
quam sequitur tempus essentialiter.»32
174 et: qui D 176 fuerimus: fuimus P1 178 cum non: nisi quando Ρ2 180/181 percipimus: percepimus Ρ 2 182/183 aestimavit: existimavit D 183 corrupta: corruptus P 1 P 2 184/185 percipimus: percepimus Ρ1 185 cum add. nos Ρ1 188 percipimus: percepimus P 1 / add. motum neque D 189 tempus . 1
Ι Wir fassen die Zeit nur dann auf, wenn wir in der Seele Ver änderung erleiden. Dies war die These Galens, die Averroes entschieden zurückweist. Averroes widmet auch hier der Zeitphilosophie Galens keine besondere Un tersuchung. Die Überzeugung, daß wir nur als in der Seele Bewegte die Zeit auffassen, hielt er für verderblich. Wahrscheinlich schien ihm aber die Galen kritik, die er in Kommentartext 97 geäußert hatte, noch unvollständig. Sie war vielmehr durch eine positive Lösung des Problems zu ergänzen. Im Hinblick darauf stellte Averroes eine zweite Position vor. Sie geht über Galen hinaus: II Die zweite Konzeption beruft sich auf die Bewegung schlecht hin, ohne sie näher zu spezifizieren. Sie unterscheidet nicht zwischen außer seelischer und innerseelischer Bewegung. Wir erfassen nur dann die Zeit, wenn wir Zugang zur Bewegung an sich haben. Die zweite Position erweitert die Reflexion hinsichtlich der Bewegung. Die Zeit steht nicht mehr wie bei Galen nur mit der seelischen Bewegung in Ver bindung, sondern ist auf die Bewegung an sich ausgedehnt: Wir erfassen die Zeit, wenn wir irgendeine Bewegung begreifen. Auch diese zweite Konzeption läßt Averroes nur in eingeschränkter Weise zu. Die Lösung des Problems ge währt erst die dritte Theorie:
AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 98, v. 173-192. Vgl. P1 = Paris, Bibl. Nat, Cod. lat. 15453 (f. 52va), P 2 = Paris, Bibl. Nat., God. lat. 16159 (f. 64ra) und D = AVER ROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 98; Venetiis 1562, 179 r E/F. 32
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2.4. Zur arabischen Überlieferung und Kritik an der Zeitphilosophie Galens
III Wir erfassen weder die Zeit noch die Bewegung, wenn wir nicht wahrnehmen, daß wir selbst der Veränderung unterwor fen sind. Erst wenn sich das Individuum der Veränderlichkeit seines Seins bewußt ist, findet es Zugang zur Zeit. Averroes versucht hier eine Konzeption zu begründen, die sowohl Position I (Galen) überflüssig macht als auch Position II ergänzt. Es reicht nicht aus, daß unsere Seele sich bewegt, um die Zeit zu erfassen. Auch ein Begreifen der Be wegung an sich ist nicht genug. Wir müssen vielmehr zur Einsicht in die Ver änderlichkeit unserer gesamten Existenz gelangen. Erst diese Hinblicknahme eröffnet uns nach Averroes den Zugang zur Zeit auch dann, wenn wir z.B. nie mals die Himmelsbewegung beobachtet haben. Die Betrachtung der Himmels körper war zur Zeit des Averroes und ist noch heute der primäre, unreflektierte und vorwissenschaftliche Zugang zur Zeit. Für Averroes, nach dessen Konzept die Zeit erst in der Seele zu ihrer wahrhaften Aktualität findet, konnte die Himmelsbewegung daher nicht die primäre Ursache der Zeit sein. Daß er in dieser Frage nach eigener Aussage zur Klarheit gelangte, ist u.a. auf seine in tensive Beschäftigung mit der Zeitphilosophie Galens zurückzuführen.33
2.4.2. Galen und die Zeitphilosophie des Moses Maimonides Doch nicht nur der Physikkommentar des Averroes ist für das 13. Jahrhun dert ein Überlieferungsträger der Zeitphilosophie Galens gewesen, sondern auch der Führer der Unschlüssigen (Dux neutrorum) des Moses Maimonides. Maimonides hat dort aber keine umfangreiche zeitphilosophische Untersuchung eingefügt, die dem Physikkommentar des Averroes oder dem Zeittraktat des Avicenna vergleichbar wäre. Dennoch gab er einige Hinweise, die erkennen lassen, wie er die Unschlüssigen durch das Gewirr der schon damals vielfälti gen und sich widersprechenden Zeittheorien führen wollte. Seine über ver schiedene Abschnitte des Dux neutrorum verstreuten Bemerkungen zeigen da33
Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 98, v. 202-206. Vgl. P 1 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 15453 (f. 52va), P 2 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 16159 (f. 64ra) und D = AVERROES, In Aristotelis Phys., t. comm. 98; Venetiis 1562, 179 ν G: «Et ista quaestio numquam potuit dilucidali mihi, nisi post magnum tempus. Et quicquid scripsi de tempore, secutus sum expositores, sed hic non.»
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Teil II - Der arabische Aristotelismus
bei deutlich, daß die Frage nach dem seelischen Sein der Zeit auch im he bräisch-arabischen Sprachraum zum Grundproblem der Philosophie der Zeit geworden war. Maimonides stand dabei auf der Seite derjenigen, die ein außer seelisches Sein der Zeit annahmen. Nach Maimonides ist die Zeit für Galen und die anderen Zeitphilosophen, die ihm in ihrer Auffassung von Zeit und Seele vergleichbar waren, eine seelische Entität (res spiritualis).34 Maimonides hat seine eigene Zeittheorie in einer kurzen Proposition zusam mengefaßt. Die Zeit erscheint in dieser Definition als ein Akzidens und Begleit phänomen der Bewegung. Die Verklammerung von Zeit und Bewegung geht so weit, daß eine Auftrennung beider Phänomene nicht mehr möglich ist. Auch der Intellekt erkennt die Zeit nicht ohne Bewegung, denn, so faßt Maimonides zusammen, was sich nicht bewegt, fällt nicht unter die Zeit.35 Wie Maimonides seine These von der Akzidentalität der Zeit versteht, zeigt eine andere Stelle zur Philosophie der Zeit aus dem Dux neutrorum. Maimoni des grenzt dort die Wahrheit über die Beschaffenheit der Zeit von falschen Ein schätzungen und Vorstellungen ab. In Wahrheit ist die Zeit gemäß der o.g. Pro position ein Akzidens. Im Hinblick auf uns, d.h. auf die, denen die Zeit zugäng lich ist, fällt sie unter die Gesamtheit der Akzidenzien. Allerdings ist die Zeit kein Akzidens wie etwa das Weiße oder Schwarze, die zur Gattung der Qualität gehören. Sie ist vielmehr ein Akzidens der Bewegung. Maimonides glaubt, daß er mit seinen Thesen zur Zeit nur die Zeitphilosophie des Aristoteles referiert. In seiner Deutung vertritt Aristoteles also keineswegs eine Theorie vom seeli schen Sein der Zeit. Die Zeit ist nach Aristoteles vielmehr ein unmittelbar der Bewegung anhaftendes Epiphänomen. In diesem Zusammenhang kommt Maimonides nun auf Galen zu sprechen. Dessen Position setzt er der Zeittheorie des Aristoteles entgegen. Dabei präzi siert Maimonides seine eigenen Ausführungen. Er bestimmt nun die Zeit als ein Akzidens im Akzidens (accidens in accidente). Dies sei der Grund, der bewirke, daß vielen Philosophen das Wesen der Zeit verborgen bleibe. Sie erschreckten sich, so berichtet Maimonides, vor der Natur der Zeit. Daher wußte niemand, ob die Zeit wahrhaft sei oder auch nicht. Zu diesen Irregeleiteten zählt Mai-
34
Vgl. MOSES MAIMONIDES, Dux neutror. I 72; Parisiis 1520, 33 r: «Postquam enim sub tiles philosophorum disputauerunt de natura temporis, quam quidam eorum non intellexerunt do nec Galenus dixit, quod est res spiritualis ...» 35 Vgl. MOSES MAIMONIDES, Dux neutror. II 1; Parisiis 1520, 39 r: «Tempus est accidens motus et comitatur ipsum: et neutrum eorum inuenitur sine reliquo: nec intellectus apprehendit tempus sine motu: et quod non mouetur non cadit sub tempore.»
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2.4. Zur arabischen Überlieferung und Kritik an der Zeitphilosophie Galens
monides auch Galen.36 Nach Maimonides hat Galen die wahre Natur der Zeit verfehlt. Sie ist ihm eben nur eine Die Äußerungen des Moses Maimonides zu Galen sind kurz und knapp. Zur Vermehrung unserer Kenntnis zu Galens Zeitphilosophie tragen sie nichts bei. Auch die Peripatetiker des 13. Jahrhunderts konnten aus dem Dux neutrorum nicht mehr als das entnehmen, was schon bei Averroes zu lesen stand. Aber es ließ sich deutlicher als bei Averroes erkennen, daß nach Ansicht der Araber und Juden Galen und Aristoteles die zwei großen Widersacher im Streit um das Verhältnis von Zeit und Seele waren. Vor allem die Lektüre der arabischen und jüdischen Philosophie verschaffte den Aristotelikern des 13. Jahrhunderts ein Bewußtsein über die Schwierigkeiten der Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele. Der Einfluß dieser Texte ist zudem dafür verantwortlich, daß der Streit um dieses Problem im 13. Jahrhundert erneut aufflammte und umfang reiche Kontroversen initiierte.
36
Vgl. MOSES MAIMONIDES, Dux neutr. II 14; Parisiis 1520, 46 v: «Nunc autem ostendamus aliam rationem,... et ipsa est quia illud quod fecit naturam temporis latere plures homines sapientum adeo quod terruit eos ratio ipsius, et nescierunt vtrum vere sit an non, sicut Galenus et alii sapientes, est quia est accidens in accidente.»
173
Dritter Teil Das 13. Jahrhundert
3.1. Allgemeine Einleitung und Übergang zum 13. Jahrhundert Als Etienne Tempier am 7. März 1277 219 in Paris vertretene Thesen öffent lich verwarf, befand sich unter den von ihm verurteilten Sätzen als Nr. 200 fol gende kurze Sentenz:
«Quod evum et tempus nichil sunt in re, sed solum in apprehensione».1
Ein aufmerksamer Leser des über jeden Verdacht der Häresie erhabenen Kirchenvaters Augustinus hätte ähnliche Ausführungen auch im elften Buch der Confessiones finden können.2 Doch nicht nur Augustinus sprach vom seelischen Sein der Zeit. Wer die Physik des Aristoteles studierte, las im Zeittraktat des vierten Buches vergleichbare Bemerkungen.3 Im Physikkommentar des Averroes gab es zusätzlich eine Interpretation zur Zeittheorie des Aristoteles, die ei nen fundamentalen Zusammenhang von Zeit und Seele ausdrücklich unter strich.4 Ein solch aufmerksamer Leser des Aristoteles, Averroes und Augustinus war Dietrich von Freiberg. Er scheute sich deshalb nicht, zu Anfang der 80er Jahre des 13. Jahrhunderts in seiner Abhandlung De origine rerum praedicamentalium den intellektuellen Ursprung der Zeit zu erforschen.5 1
Vgl. H. Denifle (Hrsg.), Chartularium Universitatis Parisiensis I, n. 473; Bruxelles 1964 (Nachdr. der Ausgabe Paris 1899), 554. Zur Kommentierung dieser These vgl. auch: K. Flasch, Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277. Das Dokument des Bischofs von Paris eingeleitet, übersetzt und erklärt von K. Flasch (excerpta classica VI), Mainz 1989, 246/7. 2 Vgl. AUGUSTINUS, Conf. XI 26, 33 v. 19-21; Verheijen 211: «Inde mihi uisum est nihil esse aliud tempus quam distentionem: sed cuius rei, nescio, et mirum, si non ipsius animi.» 3 Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29. 4 Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131; Venetiis 1562, 202 r F: «Tempus igitur in actu non erit, nisi anima sit.» 5 Vgl. THEODORICUS, De orig. 5 (2); Sturlese 181, 12-18: «Attestatur autem propositae intentioni hoc, quod invenitur apud philosophos de causalitate quorundam entium, quae secundum eos per actum intellectus constituuntur. Videtur enim fuisse intentio Philosophi, et Commentator suus manifeste hoc exponit de tempore in IV Physicorum. Augustinus etiam hoc plane et late determinat in XI Confessionwn. Boethius etiam in libro De Trinitate dicit de numero, quod nu-
177
Teil III - Das 13. Jahrhundert
In den Werken des Dietrich von Freiberg läßt sich demnach bequem nachle sen, welche Argumente und Schriften diejenigen heranzogen, die sich dem Vo tum des Bischofs von Paris nicht unterwarfen. Dietrich besaß im Streit über das Wesen der Zeit die besseren Argumente. Während der Bischof von Paris den philosophischen Diskurs autoritär zu beenden versuchte, berief sich Dietrich auf die Physik des Aristoteles, den Physikkommentar des Averroes und die Forschungen des Augustinus zum seelischen Sein der Zeit. Welche Hinweise ergeben sich aus der verurteilten These von 1277 und der Reaktion Dietrichs auf diese Verurteilung? (A) Um 1277 befand sich die Philo sophie der Zeit auf dem Höhepunkt einer durch radikale Stellungnahmen zum Verhältnis von Zeit und Seele ausgelösten Krise. Dieses Problem ist daher nicht eine von vielen Fragen, die die Philosophen des 13. Jahrhunderts zur Theorie der Zeit kontrovers diskutierten. Die Beziehung von Zeit und Seele ist vielmehr das alles entscheidende zeitphilosophische Grundproblem. Daher dokumentiert die Verurteilung von 1277 vor allem den Umfang einer Diskussion, deren in nere Ursache, Verlauf und Verzweigung hier zu untersuchen sind. (B) Die Äu ßerung des Dietrich von Freiberg beweist zudem, daß die Verurteilung der These vom seelischen Sein der Zeit den Diskurs nicht aufgehalten hat. Sie über liefert auch die Quellen, die im Zentrum der Auseinandersetzung standen:
I
Die Zeittheorie des Aristoteles im vierten Buch der Physik,
II
der Physikkommentar des Averroes und
III
das elfte Buch der Confessiones des Augustinus.
merus non sit aliqua res naturae.» L. Sturlese setzt in seiner Einleitung zu dieser Edition als terminus ante quem das Jahr 1286 (131). Vgl. auch: L. Sturlese, Dokumente und Forschungen zu Leben und Werk Dietrichs von Freiberg (CPTMA Beiheft 3), Hamburg 1984, 14: «Anfang der 1280er Jahre.»
178
3.1. Allgemeine Einleitung und Übergang zum 13. Jahrhundert
Wenn Dietrich in seiner Frühschrift De origine rerum praedicamentalium vom vierten Buch der Physik sprach, dann meinte er keine beliebige Stelle aus dem Zeittraktat des Aristoteles. Er dachte, wie sich aus bestimmten Parallelstel len in seinen späteren Schriften klar ergibt, ausschließlich an die <aristotelische Zeitaporie>.6 Dietrich deutete die<aristotelischeZeitaporie> nach dem Vorbild des Averroes. Außerdem brachte er sie mit dem elften Buch der Confessiones des Au gustinus in einen Zusammenhang. Dietrich zeigte damit exemplarisch, daß die Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele im 13. Jahrhundert nicht allein durch Averroes eine angemessene Deutung erhielt. Auch mit Hilfe der Zeitphi losophie des Augustinus ergaben sich neue Aspekte. Die Philosophen des 13. Jahrhunderts haben die<aristotelischeZeitaporie> damit in einen neuen Kontext gestellt, der ihre Eigenart auf bisher nicht gekannte Weise beleuchtete. Wer diesen historischen Zusammenhang leugnet bzw. die Wirkungsgeschich te der Zeitaporie im 13. Jahrhundert von der Diskussion der Zeitphilosophie des Augustinus abtrennt, verfälscht die Geschichte der Philosophie. Wer aller dings den Hinweis Dietrichs aufnimmt, dem erschließt sich ein Beziehungsfeld interessanter Auslegungsversuche. Sie ergänzen nicht nur durch Mannigfaltig keit und Originalität die entsprechenden Forschungen der Antike, sondern sie führen die antiken Ansätze in gewisser Weise weiter. Bisweilen übertreffen die Lösungen des 13. Jahrhunderts sogar die spätantiken Interpretationen.7 Die Er forschung der Zeitphilosophie des 13. Jahrhunderts gewährt Zugang zu den Dokumenten einer Diskussion, in der Aristoteles, Averroes und Augustinus ei ne jeweils unterschiedliche Bewertung erfuhren. Robert Grosseteste, Roger Bacon und Albert der Große, die die ersten gro ßen Physikkommentare des 13. Jahrhunderts verfaßten, initiierten die For schung. Ihre unmittelbaren Schüler vertieften jene Untersuchungen und führten sie fort. Um 1270 intensivierte sich die Diskussion und geriet in eine Krise. Ein 6
Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29. Seit P. Duhem zu Beginn des 20. Jahrhunderts begonnen hat, die Zeitphilosophie des Mittel alters systematisch zu erforschen, erschienen eine große Anzahl mannigfaltiger Untersuchungen zu Teilaspekten der mittelalterlichen Zeitphilosophie bzw. zur Zeitphilosophie einzelner mittelal terlicher Autoren. Diese Bemühungen haben noch nicht zur Aufdeckung einer entwicklungsge schichtlichen Linie geführt, die die historische Genesis dieser Dokumente nachzeichnet. Neue Editionen, wiederaufgefundene Dokumente und eine Reihe kürzlich veröffentlichter For schungsarbeiten erlauben es nun, den Streit um das Verhältnis von Zeit und Seele innerhalb des 13. Jahrhunderts, in dem der Bischof von Paris und Dietrich von Freiberg nur zwei Stimmen waren, näher zu betrachten und in seiner genetischen Entwicklung zu studieren.
7
179
Teil III - Das 13. Jahrhundert
wichtiges Dokument dieser Auseinandersetzung hat Heinrich von Gent hinter lassen. Gegen Ende des Jahrhunderts faßte Dietrich von Freiberg dann die man nigfaltigen Positionen zusammen. Meister Eckhart profitierte auf seine Weise von Dietrichs Forschungen. Eine Analyse der Texte, die diese und andere hier zunächst nicht genannte Philosophen hinterlassen haben, ergibt ein komplizier tes Gefüge mannigfaltiger Beziehungen. Die Thesen der Zeitphilosophen des 13. Jahrhunderts stehen dann nicht mehr beziehungslos nebeneinander. Viel mehr tritt ihre innere Evolution deutlich zutage.8 Dennoch erstrebt diese Untersuchung keine Vollständigkeit. Das Verzeichnis der noch ungedruckten Physikkommentare zwischen 1250 und 1350, das A. Zimmermann 1971 publiziert hat, mahnt zur Vorsicht.9 Wer den Grundriß er kennt, sieht noch nicht das Gebäude. Aber er besitzt eine Orientierungshilfe, die ihn vor einer Analyse von Nebensächlichkeiten bewahrt. Trotz vieler Schwierigkeiten ist es heute möglich, die Debatte zum Verhält nis von Zeit und Seele im 13. Jahrhundert ausreichend zu dokumentieren. Ein unvoreingenommenes Studium der Texte zeigt, daß die Bemerkungen des Ari stoteles in Phys. IV 14, 223 a 21-29 damals der entscheidende Leittext waren. Die Philosophen des 13. Jahrhunderts haben diesen Abschnitt intensiv durch dacht, interpretiert und auf unterschiedliche Weise ausgelegt. An diesem Text entzündete sich der Streit, der 1277 zur Verurteilung der These vom innersee lischen Sein der Zeit führte. Daher muß er auch hier im Mittelpunkt der Unter-
8
Eine grundlegende Bedingung für die Erforschung der Zeittheorien des 13. Jahrhunderts ist eine gute Kenntnis der damals verbreiteten lateinischen Übersetzungen der Physik des Aristo teles. Hier hat die Forschung in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte gemacht, obwohl die bitische Edition der Physiktranslationen des 13. Jahrhunderts noch nicht abgeschlossen ist. Zu dem erschien eine neue Teiledition des Physikkommentars Alberts des Großen. Wichtig sind auch die innerhalb des Corpus Philosophorum Teutonicorum Medii Aevi (CPTMA) edierten Texte. Zunächst ist die schon oben erwähnte Abhandlung Dietrichs De natura et proprietate continuorwm zu nennen, die gleichsam die Summe der Bemühungen Dietrichs um das Zeitproblem zieht. Auch die Summa des Nikolaus von Straßburg verdient Beachtung. Sie läßt erkennen, auf welche Weise die Forschungen zur Zeittheorie in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts auf die Diskussionen des 14. Jahrhunderts gewirkt haben. Auch der umfangreiche Prokloskommentar des Berthold von Moosburg enthält zeitphilosophische Abschnitte. Daneben sind eine Reihe kleinerer Texte durch vereinzelte Editionen der Öffentlichkeit zugänglich. Andere Werke, die ebenfalls unentbehrlich sind, liegen bis heute in nur wenig befriedigender Textgestalt vor. 9 Vgl. A. Zimmermann, Verzeichnis ungedruckter Kommentare zur Metaphysik und Physik des Alistoteles aus der Zeit von etwa 1250-1350 I (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mit telalters IX), Leiden/Köln 1971.
180
3.1. Allgemeine Einleitung und Übergang zum 13. Jahrhundert
suchung stehen. Er erfüllte im 13. Jahrhundert die Funktion eines Kristallisati onskeims, um den sich andere verwandte Theoreme gruppierten.10 Um so unverständlicher erscheint es, daß sich die gegenwärtige Forschung im Grunde genommen geweigert hat, die zentrale Stellung der Zeitaporie in der Zeitphilosophie des 13. Jahrhunderts zur Kenntnis zu nehmen.11 Dieser of fenkundige Mißstand bedarf daher der Korrektur. Erst dann erhalten die über lieferten Dokumente ihre eigentliche Bedeutung. Dabei zeigt sich, daß die Phi losophen des 13. Jahrhunderts einen interessanten und wichtigen Beitrag zur Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele geleistet haben. Sie sind auf die se Weise mit vollem Recht die Erben der Araber und der antiken Aristoteles kommentatoren. Aber sie sind nicht nur ihre rechtmäßigen Nachfolger, son dern haben sie in mancher Hinsicht sogar weit übertroffen. Zunächst ist jedoch die Kenntnis der Qualität der Primärquellen, die im 13. Jahrhundert vorlagen, für die Forschung notwendig. Nur wer die lateinischen Übersetzungen der Zeitaporie aus der Physik genau kennt, kann die jeweiligen Auslegungsversuche in ihrem Wert angemessen beurteilen.
10 Die Leistung und Originalität der Philosophie des 13. Jahrhunderts bestand nicht nur darin, alle Möglichkeiten zur Kommentierung dieser schwierigen Stelle auszuschöpfen, sondern viel mehr in der systematischen Verschmelzung der Zeittheorie des Augustinus im elften Buch der Confessiones mit einer averroistischen Deutung der <aristotelischen Zeitaporie> zu einer einheit lichen Zeittheorie. Diesen Schritt hat Dietrich von Freiberg in seinem Traktat De natura et pro prietate continuorum vollzogen und näher begründet. Selten stand die <aristotelische Zeitaporie>, dieser rätselhafte und oft ausgelegte Text, so im Mittelpunkt wie im Zeittraktat dieses Philoso phen des 13. Jahrhunderts. 11 In der Sekundärliteratur zur Physik des Aristoteles gehört die Interpretation dieses Abschnit tes zu den häufig diskutierten Standardproblemen. Dennoch sind die Stellungnahmen der antiken Kommentatoren nur notdürftig erforscht. Immerhin gibt es einige Untersuchungen zu dieser Frage. Im Hinblick auf das 13. Jahrhundert tritt die Forschung dagegen auf der Stelle. Außer der Auslegung des Thomas von Aquino zur Zeitaporie ist im allgemeinen nichts bekannt. Ohne ihr historisches Umfeld bleibt dessen Konzeption jedoch isoliert. So fehlt zuletzt die Möglich keit, Thomas' Leistungen auf diesem Gebiet angemessen zu würdigen.
181
3.2. Die grundlegenden Dokumente: Die lateinischen Über setzungen der <aristotelischen Zeitaporie>
3.2.1. Der griechische Urtext Die mannigfaltigen Lösungen, die die Aristoteleskommentatoren des 13. Jahr hunderts zur<aristotelischenZeitaporie> vorgelegt haben, zeigen die entschei dende Bedeutung der jeweiligen lateinischen Übersetzungen für ihre Arbeit. Mehrere Veröffentlichungen zu den lateinischen Physikübersetzungen des 13. Jahrhunderts erbrachten daher wichtige Ergebnisse.1 Zunächst sind zwei Über lieferungsstränge zu unterscheiden: Zuerst die beiden griech.-lat. Übersetzun gen, dann die arab.-lat. Translation. In jeweils unterschiedlicher Weise geht je der dieser Texte auf das griechische Original zurück. Für die Beurteilung der mittelalterlichen Translationen ist daher eine genaue Kenntnis des griechischen Originaltextes bis in seine einzelnen Varianten unerläßlich. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29
1
Vgl. J. Brams, Das Verhältnis zwischen der Translado Vaticana und der Translado Vetus der Aristotelischen Physik, in: Miscellanea mediaevalia 18 (1986) 190-214. Vgl. auch J. Brams/G. Vuillemin-Diem, Physica Nova und Recensio Matritensis - Wilhelm von Moerbekes doppelte Revision der Physica Vetus, in: Miscellanea mediaevalia 18 (1986) 215-288. 2 ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29.
182
3.2. Die grundlegenden Dokumente
Eine zusätzliche Variante aus der Handschrift läßt sich aus der neuen kriti schen Edition der Translatio Vetus entnehmen:
Insgesamt zeigt die für die mittelalterlichen griech.-lat. Übersetzungen so wichtige Handschrift J folgende Varianten:
Nach diesen Angaben ergibt sich gemäß der Handschrift J für ARISTOTE LES, Phys. IV 14, 223 a 21-29 eine nach Sätzen und Satzabschnitten gegliederte Textgestalt5 , die nur wenig vom kritischen Text der neuesten Ausgabe durch Ross abweicht:
3
Vgl. Aristoteles, Physica, ed. W. D. Ross, Oxonii 1950. Variantenverzeichnis zu: Phys. IV 14, 223 a 21-29. 4 Vgl. Aristoteles, Physica, Translatio Vetus, ed. F. Bossier/J. Brams (Aristoteles Latinus VII 1.2.), Leiden/New York 1990, 346. 5 Vgl. die Abbildung des entsprechenden Abschnittes der Handschrift J im Anhang und zu Be ginn des Buches. Zur Beschaffenheit und Geschichte der Handschrift J vgl.: J. Irigoin, L՝ Aristote de Vienne, in: Jahrbuch der Österreichischen Byzantinischen Gesellschaft 6 (1957) 5-10.
183
Teil III - Das 13. Jahrhundert
184
3.2. Die grundlegenden Dokumente
Die Übersetzer des 12. und 13. Jahrhunderts besaßen keine Texte, die das Ni veau der modernen Editionen erreichten. Aber auch die neueste Ausgabe ist nur ein Konstrukt aus Handschriften des Mittelalters. Außerdem befinden sich an der hier wichtigen Stelle keine gravierenden und sinnverschiebenden Vari anten oder Textverderbnisse. Den frühen Übersetzern standen daher relativ gu te Handschriften zur Verfügung. Die Lesarten, die Ross und Bossier/Brams mitgeteilt haben, zeigen nur ge ringfügige Schwankungen. Zudem beweisen die Varianten, die aus den antiken Kommentaren stammen, daß auch den antiken Kommentatoren ein Text vorge legen hat, der sich von der gegenwärtigen Edition kaum unterscheidet. Von den Handschriften, die mit den von W. D. Ross benutzten verwandt oder identisch sind, stammen auch die mittelalterlichen Physikübersetzungen ab. Fol gende Bezeichnungen der griech.-lat. Physikübersetzungen sind üblich:
Translado Vetus
Physica Vetus
Translatio Nova
Physica Nova
Translatio Vaticana
Physica Vaticana
Recensio Matritens is
Wie J. Brams in einer Studie zu den lateinischen Physikübersetzungen be merkt, hat A. Mansion nachgewiesen, daß «die P.V. im allgemeinen auf einer Handschrift der Gruppe FU beruht».6 In einer anderen Veröffentlichung hat J. Brams in Zusammenarbeit mit G. Vuillemin-Diem gezeigt, daß die Translatio Nova eine Überarbeitung der Translatio Vetus durch Wilhelm von Moerbeke 6
J. Brams, Das Verhältnis zwischen der Translatio Vaticana und der Translatio Vetus der Ari stotelischen Physik, in: Miscellanea mediaevalia 18 (1986) 208. J. Brams bezieht sich dort auf: A. Mansion, Over de verhouding van de Vetus Translatio van Aristoteles' Physica tot de Trans latio Vaticana, in: Miscellanea historica in honorem Alberti de Meyer ..., Recueil de Travaux d'Histoire et de Philologie, 3me série, 22me fasc, Louvain/Bruxelles 1946, 477.
185
Teil III - Das 13. Jahrhundert aufgrund des Kodex J ist.7 Daraus ergeben sich folgende Abhängigkeitsver hältnisse:
Die Physica Vaticana ist nur in einer fragmentarischen Handschrift überlie fert. Auch die Recensio Matritensis blieb ohne großen Einfluß. Beide Texte fal len daher hier weg. Weil außerdem die Lesarten der Handschriften FIJ im Va riantenapparat der Edition von W. D. Ross verzeichnet sind, kann dieser Text
7
Vgl. J. Brams/G. Vuillemin-Diem, Physica Nova und Recensio Matritensis - Wilhelm von Moerbekes doppelte Revision der Physica Vetus, in: Miscellanea mediaevalia 18 (1986) 276: «Es hat sich gezeigt, daß die Translatio Nova der Physik, wie schon lange Zeit vermutet wurde, eine Überarbeitung der Translatio Vetus durch Wilhelm von Moerbeke ist... Im ersten Durch gang hat Moerbeke hauptsächlich textkritische Korrekturen vorgenommen, im zweiten hat er den Text systematisch auch in terminologisch-hermeneutischer Hinsicht verbessert. Seine griechi sche Vorlage war, wie bei seiner Revision der Metaphysik, und zwar in den beiden Stadien der Revision, der Vindobonensis 100 (J), im zweiten Stadium hat er jedoch, wie er selbst ausdrück lich bezeugt, eine zweite griechische Quelle herangezogen.» Da hier nur das erste Stadium der Revision von Interesse ist, d.h. die earbeitungs stufe der Übersetzung, die Thomas von Aquino benutzte (274), kommt der anderen unbekannten Quelle für diese Untersuchung keine Bedeu tung zu. 186
3.2. Die grundlegenden Dokumente
zusammen mit der Translado Vetus und der Translado Nova als Arbeitsgrund lage dienen.8
3.2.2. Die ältere lateinische Übersetzung (Translatio Vetus) Zunächst ist hier die Translado Vetus zu betrachten. Sie ist die griech.-lat. Übersetzung, die Albert der Große benutzte. P. Hossfeld hat nach mehreren Handschriften einen Text dieser Übersetzung für den Apparat zu Alberts Phy sikkommentar erarbeitet. Daraus ergibt sich für ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29 folgender Text: «Utrum autem cum non sit anima, erit tunc tempus aut non, dubitabit enim aliquis. Impossibile enim cum sit numerantem esse, impossibile est et numerabile aliquid esse, quare manifestum est, quia neque numerus est; numerus est enim, aut quod numeratur, aut numerabile. Si autem nihil aliud aptum natum est quam anima numerare et animae intellectus, impossibile est tempus esse, si anima non sit, sed aut hoc quidem aliquando cum sit, tempus est, ut si contingit motum esse sine anima. Prius autem et pos terius in motu sunt; tempus autem haec sunt, secundum quod numerabilia sunt.»9 a b d e
Nürnberg, Stadtbibl., Cent. V 59. Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 6325. Erfurt, Wiss. Allgemeinbibl., CA 20 Fol. 29. Erfurt, Wiss. Allgemeinbibl., CA 20 Fol. 31. Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 14386.10
8
Zum Forschungsstand vgl: F. Bossier/J. Brams, La Translatio Vetus de la Physique, in: Ari stoteles, Physica, Translatio Vetus, ed. F. Bossier/J. Brams (Aristoteles Latinus VII 1.1.-2), Leiden/New York 1990, IX-CIX. 9 Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29, Transl, vetus; Hossfeld 289, 75-80. 10 Zu den handschriftlichen Angaben und dem Problem der Übersetzungen vgl. P. Hossfeld in: Albertus Magnus, Physica, Libri 1-4, ed. P. Hossfeld; Editio Coloniensis IV/1, Monsterii/ Westf. 1987, XVI, 24-29: «Alberti operi 'Liber physicorum' translatio Graeco-Latina subest, translatio vetus. Secundum quinque codices manuscriptos sequentes et textum Graecum editio-
187
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Die kritische Ausgabe der Translatio Vetus überholt den durch Hossfeld vor gelegten Text durch eine große Anzahl ausgewerteter Handschriften. Diese er geben folgende Textgestalt: 188
10
223a25 15
189
18 1 2
«Utrum autem cum non sit anima, erit tempus aut non? Dubitabit enim aliquis; inpossibile enim cum sit numerantem esse, inpossibile est et numerabile aliquod esse; quare manifestum est quia neque numerus; numerus enim est aut quod numeratur aut numerabile. Si autem nichil aliud tum natum est quam anima numerare et anime intellectus, inpossibile est esse tempus anima si non sit, sed aut hoc quod aliquando cum sit, tempus est, ut si contingit motum esse sine anima. Prius autem et posterius in motu sunt; tempus autem hec sunt secundum quod numerabilia sunt.»11
11 erit + tunc {post tempus Vd) VdBmBöBü aut] өan BmBü dubitabit — aliquis om. 12 inpossibile 1 ] cum sit ө existente (vel existente post esse Af) cett. өnumerante om. BmYy : esse Mi {sed esse ante inpossibile2 . i): 13 et om. BmBü : 14 numerus1 quod] quo (өnumeratum quo Tf1) TfVdBmMi 15 aliud . 17 si (+ autem Tf) anima tv. TfGo aut] ad Af: om. Bw : autem TfVdlYy : ? Bö1 hec BwBöl(?) quod] quidem BwBm : / Bö1 : spatium 1 litt. Nq 18 contingat TqYy
nis Bekker operi Alberti textum, qui satis critice esse videtur, translationis Graeco-Latinae ad dere ausus sum.» Siehe auch die dort vorgelegten Manuskriptbeschreibungen. 11 Vgl. Aristoteles, Translado Vetus, ed. F. Bossier/J. Brams (Aristoteles Latinus VII 1.2.) Leiden/New York 1990, 188, 10-189, 2. Zur Beschreibung der Handschriften vgl. S. 2-5.
188
3.2. Die grundlegenden Dokumente Damit ist ein konkreter Vergleich zwischen der griechischen Handschrift J und der Translado Vetus möglich:
12 13
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29 (mit den Varianten der Handschrift J). ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29, Transl. vetus; Bossier/Brams 188, 10-189, 2. 189
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Die Translatio Vetus ist eine Textvorlage, die noch erhebliche Mängel und verbesserungswürdige Stellen enthält. In der Mitte des 13. Jahrhunderts genüg te sie schon nicht mehr den Ansprüchen. Daher hat Wilhelm von Moerbeke we nig später eine Revision vorgenommen. Hier ist es jedoch wichtig, einen möglichst genauen Text zu gewinnen, um die Vorlage Alberts des Großen zu rekonstruieren. Der kritische Text, den P. Hossfeld ediert hat, ist nur eine Notlösung. Er beruht auf zu wenigen Hand schriften. Außerdem legte Hossfeld als griechischen Leittext die ältere Edition der aristotelischen Physik von I. Bekker zugrunde.14 Hier schafft die neue kriti sche Edition Abhilfe. So läßt sich aus Alberts Paraphrase von ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29 in etwa seine Vorlage erschließen.15 Dennoch bleibt der Verlust des originalen Manuskriptes der Übersetzung, das Albert benutzte, gerade da schmerzlich, wo die Arbeit notwendigerweise ins Detail gehen muß.
3.2.3. Die jüngere lateinische Übersetzung (Translatio Nova/ Recensio Nova) Im Hinblick auf die Translatio Nova hat die Forschung bedeutende Fortschritte gemacht. J. Brams und G. Vuillemin-Diem zeigten, daß die Translatio Nova ei ne Revision der Translatio Vetus unter Berücksichtigung der griechischen Handschrift J ist. Aufgrund ihrer Forschungen ließ sich auch Wilhelm von Moerbeke als Urheber dieser Übersetzung identifizieren.16 Hier sind nicht die Gründe von Interesse, die zu diesem Ergebnis geführt.ha ben. Festzuhalten bleibt nur, daß Thomas von Aquino die von Wilhelm von Moerbeke aus der Translatio Vetus erstellte Übersetzung, d.h. die Translatio Nova, benutzt hat. Sie ist daher der Leittext der Edition seines Physikkommentars. Über den Zeitpunkt ihrer Anfertigung gibt es nur Vermutungen. Da Tho mas seinen Physikkommentar frühestens ab 1269 in Paris geschrieben hat, ist mit diesem Datum ein bestimmter Anhaltspunkt gegeben.17 14
Vgl. Anm. 10. Vgl. 3.4.1., S. 259/60. 16 Vgl. Anm. 7. 17 Vgl. J. Brams/G. Vuillemin-Diem, Physica Nova und Recensio Matritensis - Wilhelm von Moerbekes doppelte Revision der Physica Vetus, in: Miscellanea mediaevalia 18 (1986) 275: «Aber wann und wo Moerbeke die Physica Vetus zum erstenmal nach dem Griechischen bear beitet hat, ... wissen wir nicht.» Und weiter oben (274/5): «In Hinblick auf die erste Redaktion 15
190
3.2. Die grundlegenden Dokumente
Ein kritischer Text liegt noch nicht vor, sondern befindet sich im Stadium der Vorbereitung. Gemäß der älteren Edition von M. Maggiòlo hat ARISTO TELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29 in der Übersetzung des Wilhelm von Moerbeke folgende Gestalt: «Utrum autem, cum non sit anima, erit tempus an non, dubitabit utique aliquis. Impossibile enim cum sit numeraturum esse aliquem, impossibile est numerabile esse aliquod. Quare manifestum est quia neque numerus est: numerus enim aut quod numerator est, aut nume rabile. Si autem nihil aliud aptum natum est quam anima numerare, et animae intellectus, impossibile est tempus esse, anima si non sit. Sed aut hoc, quod utcumque ens est tempus, ut si contingit motum esse sine anima. Prius autem et posterius in motu sunt: tempus autem haec sunt, secundum quod numerabilia sunt.»18 Welche Verbesserungen Wilhelm von Moerbeke vorgenommen hat, läßt sich am besten durch eine Gegenüberstellung beider Texte erkennen. Dies leistet die folgende Zusammenstellung des griechischen Textes der Handschrift J, der Translati Vetus (TV) und der Translati Nova (TN):
TV «Utrum autem cum non sit TN «Utrum autem, cum non sit
anima, erit anima, erit
TV Dubitabit enim aliquis, inpossibile enim cum sit TN dubitabit utique aliquis. Impossibile enim cum sit
tempus aut non? tempus an non,
numerantem esse, numeraturum esse aliquem,
gibt sie uns zwar einen ungefähren terminus ante quem. Da man aber, wie schon A. Mansion gefolgert hatte und wie R. A. Gauthier jetzt bestätigt hat, für den Kommentar ein sehr viel spä teres Datum annehmen muß als ursprünglich vermutet wurde - nach Gauthier hat Thomas ihn frühestens im Jahre 1269 in Paris geschrieben -, ist dieser terminus ante quem für die Entste hungszeit von Moerbekes erster Redaktion möglicherweise eine sehr weit gesteckte obere Gren ze.» 18 ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29, Transl. nova; Maggiòlo n. 453-455, 308.
191
Teil III - Das 13. Jahrhundert
TV inpossibile est et numerabile aliquod esse; quare manifestum est quia TN impossibile est numerabile esse aliquod. Quare manifestum est quia
TV neque numerus; numerus enim est aut quod TN neque numerus est: numerus enim aut quod
numeratur aut numeratur est, aut
TV numerabile. Si autem nichil aliud aptum natum est quam anima numerare TN numerabile. Si autem nihil aliud aptum natum est quam anima numerare,
TV et anime intellectus, inpossibile est esse tempus, anima si non sit, TN et animae intellectus, impossibile est tempus esse, anima si non sit.
TV sed aut hoc quod aliquando cum sit, tempus est, ut si contingit TN Sed aut hoc, quod utcumque ens est tempus, ut si contingit
TV motum TN motum
esse sine anima. esse sine anima.
Prius autem et Prius autem et
TV motu TN motu
sunt; sunt:
sunt secundum quod numerabilia sunt, secundum quod numerabilia
tempus autem hec tempus autem haec
posterius in posterius in
TV sunt.»20 TN sunt.»21 Ein Vergleich des Urtextes (J) mit den beiden griech.-lat. Übersetzungen (TV/TN) zeigt die redigierende und verbessernde Tätigkeit des Wilhelm von 19 20 21
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29 (mit. den Varianten der Handschrift J). ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29, Transl. vetus; Bossier/Brams 188, 10-189, 2. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29, Transl. nova; Maggiòlo n. 453-455, 308.
192
3.2. Die grundlegenden Dokumente
Moerbeke besonders deutlich. Als sensible Stellen erweisen sich dabei die Par֊ tizipialkonstruktionen des Urtextes. Eine kurze Übersicht verdeutlicht die ver schiedenen Stufen der Aneignung des Urtextes durch die lateinischen Überset zungen: I.223 a 21
IL 223 a 22/3
III. 223 a 26
IV. 223 a 27
Wilhelm von Moerbeke hat die Auflösung der Konstruktionen I und III un verändert aus der Translatio Vetus übernommen. Schwieriger waren die Stellen II und IV. Auch hier hat Wilhelm bei der Übersetzung eine glückliche Hand ge habt. Gemäß seinem Grundsatz, möglichst wortgetreu bzw. der Struktur der Vorlage entsprechend zu übersetzen, ersetzte er bei der Konstruktion II das
193
Teil III - Das 13. Jahrhundert
durch ein . Dadurch blieb die futurische Struktur des Originals gewahrt. Auch die Auflösung der Konstruktion IV ist durch eine größere Anschmiegung an das Original gekennzeichnet. Für <öv> nahm Wil helm das <cum sit> der Translatio Vetus zurück und ersetzte es durch <ens>. Dies kommt dem Original wesentlich näher. Für <ποτέ > setzte Moerbeke statt nunmehr . Diese letzte Verbesserung ist von großer Be deutung. Damit verschiebt sich die inhaltliche Aussage des auch zeitlich deutba ren Adverbs ( usf.) zu dem zeitfreieren Ausdruck (<wie nur immer>). Daß Wilhelm damit noch nicht die Zufrieden heit aller erreichte, zeigt die Physikübersetzung der Renaissance. Dort erfuhren die Verbesserungen Wilhelms eine erneute Modifikation. Dabei erscheint das wieder als Übersetzung des <ποτέ>, so daß folgende Formulierung entstand:
«hoc, quod aliquando existens».22
Ein Vergleich der späteren Übersetzung aus der Renaissance mit der Trans latio Nova des Wilhelm von Moerbeke zeigt die hohe Qualität der Überarbei tung Wilhelms deutlich. Zwar waren auch dort noch problematische Wendun gen zu finden, aber für das 13. Jahrhundert hatte Wilhelm einen Text erarbei tet, der eine bis dahin unerreichbare Genauigkeit der Erforschung der Physik des Aristoteles zuließ. Beide Übersetzungen scheinen tatsächlich der Handschriftengruppe FIJ (bzw. J) zu folgen, wie ein Textvergleich beweist:
22
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 27; Venetiis 1562, 201 ν Μ.
194
3.2. Die grundlegenden Dokumente
Da noch keine kritische Ausgabe der Translatio Nova erschienen ist, ist eine detailliertere Erforschung der Textgestalt von ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29 nicht möglich. Jedenfalls stand in der zweiten Hälfte des 13. Jahr hunderts eine Übersetzung der Physik des Aristoteles zur Verfügung, die der Translatio Arab.-Lat. in jeder Hinsicht überlegen war.
3.2.4. Die arabisch-lateinische Übersetzung Mit der Überarbeitung der Translatio Vetus legte Wilhelm von Moerbeke ei ne Übersetzung vor, die mit Recht den Titel Recensio Nova trägt. Dabei hatte er viele Schwächen und Unrichtigkeiten ausgemerzt, die der Translatio Vetus noch anhafteten. Bei dem Textstück Phys. IV 14, 223 a 21-29 ist sogar ein Stu dium der Überarbeitungen Wilhelms im Detail möglich. Die lateinischen Philo sophen des Mittelalters verfügten somit in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhun derts über einen Text der Zeitaporie, der nur noch durch den direkten Zugang zum griechischen Original überholbar gewesen wäre. Anders liegen die Verhältnisse bei der arabisch-lateinischen Übersetzung. Ih re gravierenden Abweichungen gegenüber dem griechischen Original sind of fensichtlich.23 223a21 223a22
223a24 223a25
23
1 «131. Et quaeritur etiam, utrum est possibile, quod tempus sit, licet anima non sit, aut est impossibile. Di֊ camus igitur, quod, cum numeram 5 non fuerit, numerare non erit. Ergo manifestum est, quod numerus etiam non erit. Numerus enim est aut nume ratum aut illud, per quod numeratur. Et, cum nihil innatum sit 10 numerare praeter animam et de anima intellectus, impossibile est, ut tempus sit, cum anima non fue rit, nisi fuerit ex illo, quod, cum fue rit, erit tempus, verbi gratia quoniam pos-
Vgl. 2.3.1., S. 118-124.
195
Teil III - Das 13. Jahrhundert
223a28 223a29
15 sibile est, ut motus sit absque eo, quod sit anima. Et quod prius et posterius sunt in motu. Et quod tempus est hac duo, secundum quod sunt numerata.»24
2 licet . D 4 igitur: ergo Ρ1 5 numerare non erit: non erit numerare P1 6 quod numerus etiam: etiam quod numerus Ρ 2 / etiam: autem Ρ1 7 enim: autem Ρ1 9 sit: est Ρ 2 12 ut . Ρ1 13 nisi fuerit in marg. Ρ 2 18 haec: hoc P1 hic P2
Die Differenz zwischen der arabisch-lateinischen und den griechisch-lateini schen Übersetzungen erwies sich für die Philosophen des 13. Jahrhunderts im mer dann als störend, wenn sie bei schwierigen Problemen der Aristotelesexegese beide Textarten miteinander vergleichen mußten. Ein Vergleich der ver schiedenen Fassungen der Zeitaporie ergibt folgenden Befund:
24
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29; Transl. arab.-lat., t. comm. 131, v. 1-19. Vgl. Ρ1 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 15453 (f. 58ra), Ρ2 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 16159 (ff. 72rb-72va) und D = ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29, Transl. arab.-lat.; Venetiis 1562, 202 /.
196
3.2. Die grundlegenden Dokumente
TV TN TAL
et numerabile aliquod esse; numerabile esse aliquod. numerare non erit.
TV quare manifestum est quia neque numerus; TN Quare manifestum est quia neque numerus est: TAL Ergo manifestum est, quod numerus etiam non erit.
TV numerus enim est aut quod numeratur aut numerabile. TN numerus enim aut quod numeratur est, aut numerabile. TAL Numerus enim est aut numeratum aut illud, per quod numeratur.
TV Si autem nihil aliud aptum natum est TN Si autem nihil aliud aptum natum est TAL Et, cum nihil innatum sit
TV et anime intellectus, inpossibile est TN et animae intellectus, impossibile est TAL et de anima intellectus, impossibile est,
quam anima numerare quam anima numerare, numerare praeter animam
esse tempus, tempus esse, ut tempus sit,
TV anima si non sit, TN anima si non sit. TAL cum anima non fuerit,
TV sed aut hoc quod aliquando cum sit, TN Sed aut hoc, quod utcumque ens TAL nisi fuerit ex illo, quod, cum fuerit,
197
est erit
tempus est, tempus, tempus,
Teil III - Das 13. Jahrhundert
TV ut si contingit motum esse sine anima. TN ut si contingit motum esse sine anima. TAL v.g. quoniam possibile est, ut motus sit absque eo, quod sit anima.
TV TN TAL Et quod
Prius autem Prius autem prius
TV tempus autem hec TN tempus autem haec TAL tempus est haec
et posterius et posterius et posterius
sunt sunt, duo,
in motu in motu sunt in
sunt; sunt: motu. Et quod
secundum quod numerabilia sunt.»26 secundum quod numerabilia sunt.»27 secundum quod sunt numerata.»28
Aus dieser Situation einer an den entscheidenden Stellen differenten Überlie ferung eines gemeinsamen Urtextes gab es ohne Rückgriff auf den griechi schen Text nur drei Auswege: I
In der Anfangsphase der Kommentierung der Physik des Aristoteles gab es Versuche, bei schwierigen und problemati schen Stellen die Translatio Vetus mit der Translatio Arab.Lat. zu harmonisieren. Gelegentlich ist Albert der Große so vorgegangen29, allerdings nicht an dieser Stelle.
25
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29 (mit den Varianten der Handschrift J). ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29, Transl. vetus; Bossier/Brams 188, 10-189, 2. 27 ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29, Transl. nova; Maggiòlo n. 453-455, 308. 28 Vgl. Anm. 24. 29 Zur Verfahrensweise Alberts vgl.: P. Hossfeld, Studien zur Physik des Albertus Magnus. I. Ort, örtlicher Raum und Zeit. IL Die Verneinung der Existenz eines Vakuums, in: Miscellanea mediaevalia 18 (1986) 21: «Aus der arabisch-lateinischen Übersetzung übernimmt Albert für seinen Traktat ,De tempore' etwa 144 Mal Lesarten oder läßt sich von dieser Übersetzung in der Wortbildung beeinflussen. Bisweilen wird ein Wort der zugrunde liegenden griechisch-lateini schen Translatio vetus durch ein anderes der arabisch-lateinischen Übersetzung ersetzt... Öfters zieht Albert einzelne Wörter der arabisch-lateinischen Übersetzung als eine zusätzliche Lesart und Formulierung zu der griechisch-lateinischen Übersetzung heran ...» 26
198
3.2. Die grundlegenden Dokumente
II
Die nächste Stufe der Auseinandersetzung mit der mannig faltigen Überlieferung der aristotelischen Physik war nach der Revision der Translado Vetus durch Wilhelm von Moerbeke (etwa 1269) erreicht. Wer einen derart zuverlässigen Text wie die Translado Nova besaß, brauchte nicht mehr wie Albert in den 50er Jahren fragwürdige Kompromisse einzugehen. Er konnte die arabisch-lateinische Übersetzung ganz verwerfen und sich nur auf die Translado Nova verlassen. Dies taten Thomas von Aquino und andere Physikkommentatoren aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts.
III
Thomas von Aquino setzte die von Wilhelm von Moerbeke konstituierte Translado Nova nicht nur gegen die arabisch-la teinische Physikübersetzung, sondern auch gegen den Physik kommentar des Averroes ein. Wer nicht so weit gehen wollte wie Thomas, prüfte beide Überlieferungen, ohne die Unter schiede zu verwischen oder eine der beiden Übersetzungen zu verwerfen. Diesen Weg hat Dietrich von Freiberg eingeschla gen. Sein Verfahren verdient aus heutiger Sicht Kritik. Doch wer vermochte im 13. Jahrhundert mit Gewißheit zu entschei den, daß die griechisch-lateinische Übersetzung sicherer und authentischer ist als die arabisch-lateinische Translation? Das war damals nur wenigen möglich. Auch die griechisch-lateini schen Übersetzungen stützten sich auf wenige griechische Ma nuskripte. Es gab keine Sicherheit, daß diese Texte mehr dem Original des Aristoteles entsprachen. Vielleicht waren auch sie durch Überlieferungsfehler entstellt? Wer allen Zweifeln entgehen wollte, studierte Aristoteles mehr nach dem Geist als nach dem Buchstaben. Blieb aber dann nicht auch der Physikkommentar des Averroes mit der ihm beigefügten Aristotelesübersetzung eine unentbehrliche Hilfs quelle? Wer Dietrichs Verfahren gerecht beurteilen will, darf nicht die Maßstäbe moderner philologischer Kritik anlegen. Er muß vielmehr die Genauigkeit eines Philosophen würdi gen, der die vorgegebenen Texte mit allergrößter Sorgfalt ge prüft hat. Entsprechendes gilt auch für Albert.
199
3.3. Die Vor- und Frühphase des Averroismus in der Zeit philosophie des 13. Jahrhunderts Das Eindringen des Averroes in die Zeitphilosophie des 13. Jahrhunderts voll zog sich nicht synchron, sondern punktuell. Die Vor- und Frühphase dieses Mi grationsprozesses zeigt daher die heterogenen Stadien dieses Vorgangs in der Gestalt qualitativ unterschiedlicher Entwürfe zur Philosophie der Zeit. Schon in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts sind Auslegungen zur <ari stotelischen Zeitaporie> nachweisbar. Dies war nur dort möglich, wo ein Stu dium der Zeitphilosophie des Averroes den Boden dafür vorbereitet hatte. Das sukzessive Eindringen des Averroismus in die Diskussionen der Philosophen des 13. Jahrhunderts über das Verhältnis von Zeit und Seele läßt sich daher schon relativ früh dokumentieren. In der Zeitphilosophie des Alexander von Hales fehlen Überlegungen zum Verhältnis von Zeit und Seele. Alexander bezieht sich auch nicht auf Averroes. Eine Bemerkung zur Zeitaporie des Aristoteles fehlt ganz. Selbst dem elften Buch der Confessiones des Augustinus gesteht Alexander keine besondere Be deutung zu. Er vertritt eine eher altertümliche Zeittheorie, die schon bald nach ihrer Konzipierung überholt war. Etwa zur gleichen Zeit wie Alexander arbeitete Robert Grosseteste an seinem Physikkommentar. Grosseteste scheint der erste Philosoph des 13. Jahrhunderts gewesen zu sein, der die Zeitaporie mit Hilfe des Averroes analysiert hat. Zu gleich polemisiert Grosseteste gegen Augustinus. Aber sein Kommentar zur Physik des Aristoteles war nur ein vom Verfasser selbst nicht mehr vollendeter Entwurf. Tiefer drang sein Schüler Roger Bacon, der in der ersten Hälfte der 40er Jahre in seinem eigenen Physikkommentar das Verhältnis von Zeit und Seele diskutierte. Zu dieser Zeit war Averroes in der Diskussion schon fest etabliert. Bacon versuchte daher, dessen Einfluß zurückzudrängen. Um gegen Averroes an einer außerseelischen Zeit festhalten zu können, legte er die Zeitaporie kos mologisch aus. Augustinus kommt in seinen Analysen schon nicht mehr vor. Im Vergleich zum Niveau der Analysen Grossetestes und Bacons wirken die Untersuchungen Alberts des Großen aus der Mitte der 40er Jahre eher rück ständig. Albert versucht in seinem Frühwerk De IV coaequaevis, Aristoteles und Augustinus in einen Zusammenhang zu bringen. Auffällig ist die Intensität, mit der sich Albert mit Augustinus beschäftigte. Albert vermied die Auseinan dersetzung mit Averroes. Er setzte eher auf die Zeitphilosophie des Avicenna. 200
Die Vor- und Frühphase des Averroismus
Das Eindringen des Averroes in die Diskussion um das Verhältnis von Zeit und Seele vollzog sich somit in dieser frühen Phase auf höchst unterschiedliche Weise. Es war jedoch nicht mehr aufzuhalten.
201
3.3.1. Alexander von Hales Zur Frühphase der zeitphilosophischen Untersuchungen des 13. Jahrhunderts gehören die Bemerkungen, die Alexander von Hales im ersten Band seiner Summa theologica1 hinterlassen hat. Alexander begann seine Summe nach 1235. Bei seinem Tode 1245 waren Buch I, II und Teile von Buch III fertiggestellt.2 Die zeitphilosophischen Thesen Alexanders finden sich zu Beginn des ersten Buches. Ihre Entstehungszeit fällt daher in die 30er Jahre des 13. Jahrhunderts. Als eines der ältesten Dokumente zur Rezeption der aristotelischen Zeitphiloso phie ist dieser Text von hohem Wert. Er darf daher mit Recht am Anfang die ser Untersuchung stehen. Die Philosophie der Zeit ist in der Summe Alexanders kein prädominieren des Thema. Ihm geht es um die Beschaffenheit der Ewigkeit (aeternitas) und der ewigen Dauer (aevum). Alles, was sich daher auf die Zeit bezieht, ist aus der Perspektive Alexanders eher sekundär. Wo er über sie spricht, benutzt er sie zur Umgrenzung der Ewigkeit und des Aevum. Ein wichtiger Text zur Rekonstruktion seiner Zeitphilosophie ist das Kapitel
«De comparatione aevi ad tempus»
aus dem ersten Teil der Summe.3 Dort, im zweiten Artikel,
«Utrum sit aliqua mensura durationis media inter aevum et tempus»,
umreißt Alexander in wenigen Sätzen sein Grundmodell der Zeit. Die Bemer kungen lassen erkennen, daß er mit der Zeitdefinition des Aristoteles gut ver traut war. 1
Vgl. Alexander de Hales, Summa theologica I, Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1924. Zur Biographie vgl.: M. Mückshoff, Alexander von Hales, in: Lexikon des Mittelalters I, München/Zürich 1980, 377/8. 3 Vgl. ALEXANDER DE HALES, Summa theol. I inq. 1 tr. 2 q. 4 m. 3 4 n. 68-70; Ad Cla ras Aquas (Quaracchi) 1924, 105 a-110 b. 2
202
3.3.1. Alexander von Hales
Alexander geht von einer doppelten Hinblicknahme auf die Zeit aus: a) Einerseits definiert er eine Zeit, die zwar als Zahl des Früher und Später zu verstehen ist, jedoch nur so, daß ein partikulares Jetzt nach dem anderen unverbunden auftritt. Dabei gibt es keine Kontinuität zwischen den einzelnen Jetztpunkten. Auf diese Weise ist die Zeit das Maß der Veränderlichkeit der geistigen überweltlichen Substanzen. Das Jetzt besitzt hier zwar die Funktion des Begrenzens (der Vergan genheit) und des Initiierens (der Zukunft), jedoch keine kontinuierende Eigenschaft. Diese Sicht der Zeit ist für uns kaum nachvollzieh bar.4 b) Von diesem Konzept zur Zeit der überweltlichen Substanzen geht Alexander zur Weltzeit über. Diese bezieht sich nach der Zeitdefini tion des Aristoteles auf die Kontinuität der sukzessiven Bewegung, die ebenfalls gemäß der definiert ist. Die Zeit fungiert auf diese Weise als das Maß der körperlichen Dinge, die ih rerseits wieder von der Veränderlichkeit der Welt bzw. des Himmels abhängen. Insofern ist die Zeit wahrhaft kontinuierlich. Sie schmiegt sich der Kontinuität der Bewegung an. Diese selbst läßt sich wieder auf die Erstreckung des Beweglichen zurückführen. Hier erhält auch das Jetzt eine für uns verständliche Funktion. Im Sein der Zeit (in es se temporis) ist das Jetzt nun Anfang, Ende und kontinuierende Mitte, ein Ende der Vergangenheit und der Beginn der Zukunft.5 4
Vgl. ALEXANDER DE HALES, Summa theol. I inq. 1 tr. 2 q. 4 m. 3 4 . 2 n. 69 sol.; Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1924, 107 b: «Sed distinguendum, sicut prius, rationem temporis duplicem. Una est, ut tempus sit numerus secundum prius et posterius, non interveniente conti nuo, secundum quem modum tempus dicitur mensura variationum spiritualium et excedentium motum caeli: et hoc modo in ratione temporis ponitur 'nunc' post 'nunc'; unde 'nunc' hoc modo habet rationem initiantis et terminantis, sed non habet rationem continuantis.» 5 Vgl. ALEXANDER DE HALES, Summa theol. I inq. 1 tr. 2 q. 4 m. 3 . 4 a. 2 n. 69 sol.; Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1924, 107 b: «Alio modo, ut tempus sit mensura secundum continuitatem motus succedentis secundum prius et posterius: et hoc modo tempus est mensura varia tionum corporalium et dependentium a corpore, secundum variationem motus caeli; et hoc modo est continuitas temporis secundum continuitatem motus, et continuitas motus secundum continuitatem magnitudinis mobilis; et secundum hoc in esse temporis est 'nunc' sicut princípium et sicut finis et sicut continuans medium, ut sit finis praeteriti et initium futuri». Vgl. auch: ALE XANDER DE HALES, Summa theol. I inq. 1 tr. 2 q. 4 m. 3 . 4 a. 1 n. 68; Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1924, 105 b-106 a.
203
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Diese merkwürdige Aufspaltung der Zeit ist erst dann evident, wenn ihr Zweck in der Philosophie Alexanders zutage tritt. Alexander braucht gleichsam zwei Zeiten. Zunächst benötigt er eine universell abgesicherte Weltzeit, in der die Naturprozesse ablaufen. Sie ist durch die Bewegung des Himmels begrün det. Das theoretische Konzept dieser Zeit findet er in der Zeitphilosophie des Aristoteles. Daneben konzipiert er aber auch eine Zeit. Diese Zeit soll vor der Bewegung des Himmels einsetzen und nach dessen Stillstand weiterströmen. Die transzendiert also die Grenzen der physikalischen Zeit nach beiden Seiten.6 Die naturphilosophische Zeit dagegen beginnt und endet mit der Bewegung des Himmels. Erst diese Dichotomie erklärt einleuchtend, warum in Alexanders System, das sowohl die Philosophie als auch die Theologie in sich aufzuheben versucht, die Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele keinen Platz hatte. Alexander dokumentiert in der Summa eine umfangreiche Kenntnis zeitphilosophischer Theorien. Daher blieb ihm das elfte Buch der Confessiones nicht verborgen. Aber er benutzte es nicht zur Einsicht in das Wesen der Zeit, sondern nur zur Bestimmung der Natur der Ewigkeit.7 Die Zeitanalyse des Augustinus, wie sie im elften Buch der Confessiones vorliegt, paßte nicht in seine Konstruktion. Weder ließ sich mit der Zeitkonzeption des Augustinus eine absolute außer seelische Weltzeit begründen, noch umfaßte sie die Zeit der überweltlichen gei stigen Substanzen.
6
Vgl. ALEXANDER DE HALES, Summa theol. I inq. 1 tr. 2 q. 4 m. 3 4 . 2 n. 69; Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1924, 108 a/b: «... dicendum quod tempus duplicem habet radicationem, et secundum hoc duplex esse, prout tempus dicitur mensura variationis corporalis. Una est in variatione materiae: et secundum hoc tempus est mensura indeterminata; alia vero radicatio est in motu caeli: et secundum hoc est determinata mensura secundum momentum, diem, annum et huiusmodi. Primo modo tempus, secundum theologos, coepit ante motum caeli, sicut et variatio, quae facta est ante quartam diem in materia, et erit cessante motu caeli, quemadmodum ipsa variabilitas quae contingit ex imperfectione materialitatis, quae remanebit in reprobis, sicut dicit Augustinus. Secundum autem modum alium tempus incipit cum motu caeli et desinit. Cum motu ergo caeli protenditur tempus secundum quod est determinata mensura; secundum vero quod est indeterminata antecedit et sequitur.» 7 Vgl. ALEXANDER DE HALES, Summa theol. I inq. 1 tr. 2 q. 4 m. 3 . 1 n. 65; Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1924, 99 a: «Item, Augustinus, XI Confessionum: »Praesens, si semper est praesens, iam non est tempus, sed aeternitas'.... » Alexander bezieht sich auf AUGUSTINUS, Conf. XI 14, 17 v. 14-16; Verheijen 203: «Praesens autem si semper esset praesens nec in praeteritum transiret, non iam esset tempus, sed aeternitas.»
204
3.3.1. Alexander von Hales
Im Gegensatz dazu machte es sich Alexander im Hinblick auf Aristoteles ein fach. Da er dessen Konzeption unreflektiert allein der Weltzeit zuordnete, schien sie sich bruchlos in die Dichotomie der Zeit einzufügen. Die sensiblen Stellen im Zeittraktat des Aristoteles wie etwa die Zeitaporie überging Alexan der mit Schweigen. Daher hat die nachfolgende Generation seine Zeittheorie schnell durch neue Entwürfe ersetzt. Schon kurze Zeit nach ihrem Entstehen war Alexanders Analyse veraltet. Unter den frühen zeitphilosophischen Untersuchungen des 13. Jahrhunderts nach der ersten Rezeption der aristotelischen Physik zeigt Alexanders Versuch daher eine eher altmodische Struktur. Hier ist deutlich zu erkennen, wie be fruchtend die Kenntnis der Zeittheorie des Averroes für die späteren Philoso phen war. Alexander arbeitete seine Zeitkonzeption noch ohne den Einfluß des Kommentators aus. Daß jede Spur von Averroes in der Zeitphilosophie des Alexander fehlt, erklärt den merkwürdig oberflächlichen Charakter seiner Ein lassungen zur Zeittheorie des Aristoteles.
205
3.3.2. Robert Grosseteste Die Kommentierung des aristotelischen Zeittraktates beginnt nach Lage der Quellen im 13. Jahrhundert mit dem Physikkommentar R. Grossetestes, den R. C. Dales 1963 veröffentlicht hat.1 Grosseteste verfaßte sein Werk zu einer Zeit, als er selbst noch nicht ausreichend Griechisch verstand. Der Basistext seiner Auslegung ist daher die noch vielfach verbesserungswürdige Translatio Vetus. Auf diese Weise war die Kommentierung der aristotelischen Physik von An fang an durch eine Sprachbarriere gehemmt. R. C. Dales bezeichnet Grossetestes Auslegung zur Physik des Aristoteles als den wahrscheinlich ältesten Kommentar des 13. Jahrhunderts zu diesem Werk.2 Vermutlich ist der überlieferte Text kein einheitliches Opus aus einem Guß, sondern vielmehr eine posthume Kompilation mannigfaltiger Notizen und Ent würfe.3 Grosseteste hielt wohl seine Forschungen für eine spätere Bearbeitung zurück, zu der es dann nicht mehr gekommen ist.4 Diese uneinheitliche Struktur des Textes ist auch dafür verantwortlich, daß die Datierung so große Schwierigkeiten macht. R. C. Dales schlägt als Termin die Jahre zwischen 1220 und 1240 vor, wobei der größte Teil der Notizen wohl
1
Vgl. Roberti Grosseteste Episcopi Lincolniensis Commentarius in VIII libros Physicorum Aristotelis e fontibus manu scriptis nunc primum in lucem edidit R. C. Dales, Boulder (Colora do) 1963. 2 Vgl. R. Dales, Einleitung zu: Roberti Grosseteste Episcopi Lincolniensis Commentarius in VIII libros Physicorum Aristotelis e fontibus manu scriptis nunc primum in lucem edidit R. C. Dales, Boulder (Colorado) 1963, IX: «Grosseteste's Commentary on the Physics then stands as one of the earliest (in fact, the earliest of which I know) attempts in Latin Europe to provide a systematic investigation of the text of Aristotle's Physics and a discussion of the problems raised by the work.» 3 Vgl. R. . Dales, Einleitung, XIII: «We have established above that Grosseteste's Com mentary on the Physics is a posthumous compilation of his notes for such a commentary. Dr. D. A. Callus has suggested, and I emphatically agree, that these notes were written over a period of years.» 4 Vgl. R. C. Dales, Einleitung, XIV: «We may assume that the bulk of the Commentary on the Physics was written before Grosseteste began his Greek studies. Despite the fact that the Latin text of the Physics was often obscure and the translation faulty ... , there are no questions con cerning the translation, no suggested corrections, and, with one exception, no hint in the entire work that Grosseteste knew any Greek. Surely if he had made any progress at all in the Greek language he would have made some remarks of this nature.»
206
3.3.2. Robert Grosseteste
zwischen 1228 und 1232 entstand.5 Wann genau Grosseteste innerhalb dieser Begrenzung den Zeittraktat des Aristoteles bearbeitet hat, läßt sich daher nicht näher feststellen. Grossetestes Kommentar zeigt die Auseinandersetzung der Peripatetiker des 13. Jahrhunderts mit der Zeitphilosophie des Aristoteles in statu nascendi. Da bei kommentiert er keinesfalls den gesamten Text der Translatio Vetus zur Zeit. Grosseteste greift vielmehr bestimmte Abschnitte aus der Textmasse her aus. Diese nach nicht näher bezeichneten Kriterien ausgewählten Sentenzen hat er oft nur kurz und skizzenhaft, manchmal aber auch detailliert und ziemlich gründlich kommentiert. Der Physikkommentar Grossetestes zeigt, daß schon in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts eine große Zahl sich widersprechender Zeittheorien bekannt war. Dazu gehörte auch die These von der zeiterzeugenden Himmelsseele. Grosseteste bezeichnet sie in Anlehnung an Aristoteles als . Er mei det also bewußt die platonische Formulierung . Grosseteste be richtet, daß die Zeit gemäß dieser Theorie in der kosmischen Seele existiert. Diese reguliert durch ihre innere Einbildungskraft den kosmischen Umlauf un ter Einbeziehung der .6 Das Konzept der kosmischen Seele, das Grosseteste hier mitteilt, erinnert durch bestimmte Züge an den Traktat De tempore des Alexander von Aphrodisias. Damit ist nicht bewiesen, daß er dieses Opusculum jemals studiert hat. Aber es zeigt doch, daß das Konzept einer zeiterzeugenden Himmelsseele im 13. Jahrhundert bekannt war. Es scheint sich auch abseits der platonischen Lehre von der Weltseele entwickelt zu haben. Grosseteste selbst bringt es in die Nähe der aristotelischen Zeitdefinition. Einen Zusammenhang mit der <aristote-
5
Vgl. R. C. Dales, Einleitung, XVIII: «The extreme limits, then, of the period during which these notes were written would be 1220 to ca. 1240. The evidence indicates, however, that the bulk of them was written between 1228 and 1232.» 6 Vgl. ROBERTUS GROSSETESTE, In Aristotelis Phys. IV; Dales 95/6: «Aliqui autem putaverunt aliter esse tempus in anima celi, utpote ponamus capud arietis in oriente, ipsa anima tunc ymaginatur a puncto quod vocetur capud arietis in oriente, et ymaginatur illud communiter se cundum prius et posterius per totam viam linee equinoxialis; et ipsa est vis motiva faciendi a puncto esse communiter secundum prius et posterius per totam lineam equinoxialem donec sit itenim in oriente. Hec ita ymaginacio unius revolucionis possibilis movere ad punctum per revo lucionem ymaginatam putatur tempus unius diei proxime futurum, et sic intelligebant de ceteris futuris temporibus. Memoria vero retenta de revolucione preterita quamvis revolucionem fecit ipsius anime ymaginalia est dies preteritus. Forte autem essencia temporis sic propinquius tange retur.»
207
Teil III - Das 13. Jahrhundert
lischen Zeitaporie> sieht er allerdings nicht. Damit beschäftigt sich Grosseteste an anderer Stelle. Was für den gesamten Kommentar Grossetestes gilt, trifft auch auf seine knappen Bemerkungen zur Zeitaporie zu: Die Ausführungen sind kurz, rätsel haft und schwer zu verstehen. Grosseteste hat sich nur seine wichtigsten Be merkungen notiert. Trotzdem erlauben die wenigen Formulierungen einen Ein blick in seine Lösung des Problems. Grosseteste bearbeitet die Zeitaporie in zwei Schritten. Zunächst geht er von der Zeitdefinition des Aristoteles aus. Wenn die Zeit die Zahl der Bewegung ist, die Zahl aber nicht ohne die Seele existiert, scheint ohne die Seele keine Zeit möglich zu sein. Soweit umschreibt Grosseteste die erste Hälfte der Aporie (Satz I-IVa).7 Danach widmet er sich ihrem zweiten Teil (Satz IVb-VI). Wie Aristoteles bringt Grosseteste dort die Bewegung in seine Überlegung ein. Wenn die Be wegung außerhalb der Seele vorhanden ist, dann vermag auch die Zeit unab hängig von der Seele zu existieren.8 Grosseteste erkennt demnach die Grund struktur der Aporie. Über eine knappe Paraphrase des aristotelischen Textes gelangte er allerdings nicht hinaus. Nachdem Grosseteste auf diese Weise die Argumentation des Aristoteles und ihre aporetische Struktur mitgeteilt hat, versucht er eine vermittelnde Lösung. Grosseteste erkannte, daß er bei der Bestimmtheit der Zeit als Zahl ansetzen mußte. Was bedeutet die Zahl in der Definition der Zeit? Nach Grosseteste bezieht sich die Zahl in der Zeitdefinition des Aristoteles nicht auf die aktuelle Zählung (numeracio actualis). Sie zielt vielmehr auf eine Eignung zur Zählung (numeracio aptitudinalis).9 Damit meint Grosseteste, daß die zahlhafte Struktur der Bewegung, von der die Zeitdefinition spricht, nicht gleichsam an sich und aktuell vorhanden ist. Sie tendiert vielmehr in Richtung auf das aktuelle Zählen. Averroes nannte deshalb die Bewegung:
7
Vgl. ROBERTUS GROSSETESTE, In Aristotelis Phys. IV; Dales 104: «Item quia tempus est numerus motus, et numerus non est sine anima, videtur tempus non posse esse sine anima.» 8 Vgl. ROBERTUS GROSSETESTE, In Aristotelis Phys. IV; Dales 104: «Tamen si ponatur motus sine anima erit necessario tempus.» 9 Vgl. ROBERTUS GROSSETESTE, In Aristotelis Phys. IV; Dales 104: «Numerus enim se cundum quod ponitur in diffinicione temporis non dicit actualem numeracionem, sed aptitudinalem ab anima.»
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3.3.2. Robert Grosseteste
«... subiecto praeparato ad recipiendum illam actionem, quae dicitur numerus».10
Es scheint also, als habe Grosseteste die Zeitaporie mit den Methoden des Averroes zu lösen versucht. Bei der Gegenüberstellung von und liegt ein Bezug Grossetestes zu Averroes nahe. Die deutet dabei auf eine potentielle Zahl und indirekt auf die potentielle Zeit. Die besitzt dagegen einen Zusammenhang mit der aktuel len Zeit. Unterstützend kommt hinzu, daß Grosseteste - wie Averroes - die Zeitphilosophie nur auf eingeschränkte Weise der Physik zuweist.11 Daß diese Hinweise auf Averroes keine willkürlichen Konstruktionen sind, zeigen die Forschungen R. Dales'. Dales weist ausdrücklich auf eine Benut zung des Physikkommentars von Averroes durch Grosseteste hin.12 Nach seiner Ansicht ist Grossetestes Rezeption des Averroes die früheste nachweisbare Re aktion auf dessen Physikkommentar im lateinischen Westen gewesen.13 Ob diese Behauptung zu Recht besteht, muß hier offenbleiben. Vielleicht ergeben spätere Forschungen ein anderes Bild. Soviel ist jedoch sicher, daß Grosseteste einer der ersten war, die den Physikkommentar des Averroes für ihre eigenen Ana lysen benutzt haben. Es ist daher wahrscheinlich, daß er sich auch bei der Aus legung der Zeitaporie der Auflösung des Averroes bedient hat. Wie sonst sollte
10
AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131; Venetiis 1562, 202 . Vgl. ROBERTUS GROSSETESTE, In Aristotelis Phys. IV; Dales 95: «Forte non pertinet ad physicum sed secundum comparaciones solum quas habet ad motum et ad mobilia.» Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131; Venetiis 1562, 202 v H: «Et ista perscruta no de tempore magis est Philosophica, quam Naturalis. sed induxit ipsam in hoc loco, quia est causa in ipsum latere, scilicet quia est diminutum in se.» 12 Vgl. R. C. Dales, Einleitung, XIX: «The only work of Averroes which Grosseteste used was the Commentary on the Physics ... These citations show that Grosseteste had read Averroes closely. He welcomed whatever of value he might find in the Moslem's Commentary, but he clearly perceived its dangers and spoke out in refutation of them.» 13 Vgl. R. C. Dales, Einleitung, XXI: «Grosseteste apparently acquired Averroes' Commentary on the Physics too late to make any extensive use of it in his own commentary. It is likely that his citations of this work are the earliest in Latin Europe.» Vgl. dazu: R. A. Gauthier, Notes sur les débuts (1225-1240) du premier "Averroïsme", in: Revue des sciences philosophiques et théologiques 66 (1982) 337/8. 11
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Teil III - Das 13. Jahrhundert
das nur wenig modifizierte Potenz/Akt-Schema in seine Untersuchung gelangt sein? Während der Einfluß des Averroes auf die Auslegung der <aristotelischen Zeitaporie> durch Grosseteste nur schwer greifbar ist, liegen die Verhältnisse im Hinblick auf die Zeitphilosophie des Augustinus anders. Zwar fehlt in dem Abschnitt zur Zeitaporie jeder Hinweis auf Augustinus, aber die Kenntnis der Confessiones war im 13. Jahrhundert sehr verbreitet. Ein Gelehrter wie Gros seteste konnte das elfte Buch der Confessiones nicht übersehen. Daher findet sich in seinen Zeitanalysen schon der Vergleich des Augustinus mit Aristoteles. Die Rezeption der aristotelischen Zeittheorie im lateinischen Westen ist daher seit ihren Anfängen von der Auseinandersetzung mit Augustinus geprägt. Die verschiedenen Phasen der Auf- und Abwertung der Zeitanalysen des Augusti nus hinterließen auf diese Weise ihre Spuren in der Rezeption der Zeitphiloso phie des Aristoteles. Obwohl die Geschichte der Auslegung der aristotelischen Zeitphilosophie von der Antike über die Araber bis zum 13. Jahrhundert eine kontinuierliche Strömung ist, gelangt doch mit der Einführung des Augustinus ein völlig neues Element in dieses Diskussionsfeld. Warum aber hat Grosseteste die Thesen des Augustinus nicht in einen Zu sammenhang mit der Deutung der<aristotelischenZeitaporie> gebracht? Dafür gibt es mehrere Gründe. Sie lassen sich aus den entsprechenden Äußerungen Grossetestes leicht eruieren. Das erste Zeugnis setzt direkt bei der Zeittheorie des Augustinus an. Augustinus gehört nach Grosseteste zu denjenigen Philoso phen, die die Zeit ausschließlich in die Seele verlegen. Sie bleibt aus den Ein wirkungen der beweglichen Dinge auf die Seele im Geist zurück. Augustinus hat dabei nach Grosseteste aus der Erinnerung an das Vergangene, der Verge genwärtigung des Gegenwärtigen und der Erwartung des Zukünftigen drei Zei ten konstruiert, die in der Seele im Modus der Präsenz vorhanden sind. Die De terminanten der Zeit wie oder erscheinen auf diese Weise als in nerseelische Bestimmtheiten.14 Grosseteste war mit der Zeittheorie des Augustinus vertraut. Er hat auch be stimmte Schwerpunkte im elften Buch der Confessiones gesetzt. Insgesamt aber hielt er den Entwurf für verfehlt. Darüber informiert ein anderes und für die
14
Vgl. ROBERTUS GROSSETESTE, In Aristotelis Phys. IV; Dales 95: «Quidam autem, ut invenirent tempus esse aliquod, putaverunt quod tempus esset affeccio relicta in anima ex trans itu rerum mobilium. Et sic videtur velle Augustinus ut memoria de preteritis et continuacio de presentibus et expectacio de futuris putantur ab ipso esse tria tempora; ibi sunt tria presencia et ibi sunt longa aut brevia.»
210
3.3.2. Robert Grosseteste
Augustinusrezeption des 13. Jahrhunderts bedeutsames Zeugnis. Grosseteste geht dabei von der Zeitdefinition des Aristoteles aus. Sie sei, so behauptet er, gleichsam durch sich selbst unmittelbar zugänglich. Alle, die den Namen auch nur vernehmen, begreifen sofort, daß Zeit und Bewegung zusammenhän gen müssen. Augustinus dagegen lotet die Untiefen und die Rätselhaftigkeit der Zeit aus. Dabei hebt er immer die Unzugänglichkeit dieses Phänomens hervor. Dies werten die Philosophen in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts jedoch nicht als Zeugnis fruchtbarer philosophischer Arbeit. Sie legen es vielmehr als theoretische Schwäche aus. Grosseteste liest das elfte Buch der Confessiones aus der Perspektive eines Aristotelikers. Daher kritisiert er die Konzeption des Au gustinus. Augustinus habe nach eigener Aussage nach dem Wesen (essencia) der Zeit geforscht. Trotzdem mußte er zugeben, daß ihm die Beschaffenheit der Zeit unbekannt sei.15 Die Zeittheorie des Augustinus ist nach Grosseteste mit schweren Mängeln behaftet. Aristoteles zieht er daher vor, während er Augustinus abwertet. Wohl deshalb wollte Grosseteste die Diskussion um die Zeitaporie nicht mit der Zeit theorie des Augustinus belasten. Daher überging er Augustinus und stützte sich eher auf Averroes. Mit seinem negativen Urteil weist Grosseteste auf Alberts Stellungnahme zu Augustinus im Physikkommentar voraus und bereitet sie vor.16 Doch nicht nur Albert, sondern auch Roger Bacon ist hier zu nennen. Eine Äußerung zu Au gustinus fehlt in Bacons Kommentaren zum Zeittraktat des Aristoteles. Die Auseinandersetzung mit der Zeitphilosophie des Augustinus schien ihm wohl überflüssig.
15
Vgl. ROBERTUS GROSSETESTE, In Aristotelis Phys. IV, Dales 88: «Nulla enim diffinicio temporis nocior ista, ut puto, potest inveniri, et omnes qui audiunt hoc nomen tempus intelligunt statim quod illud quod nominatur per tempus quicquid illud sit; mensura quidem motus est secundum prius et posterius. Et Augustinus cum quesivit essenciam temporis adhuc sibi ignotam apertissime novit et pronunciavit tempus esse mensuram motus. Non novit temporis essenciam et tamen novit quod tempus quicquid illud sit, habet comparacionem ad motum sicut mensura ad illud quod per illam mensuratur.» 16 R. Dales glaubt einen Zusammenhang feststellen zu können. Vgl. dazu: R. C. Dales, Ein leitung, XXII: « ... and Albertus Magnus, in his Commentary on the Physics, ... reproduce fairly closely Grosseteste's arguments against the eternity of time and the world ... » R. C Da les bezieht sich auf ALBERTUS, Phys. VIII tr. 1 . 13; Borgnet 3, 550-552 (XXII, Anm. 62).
211
3.3.3. Roger Bacon R. Bacon, der Schüler R. Grossetestes, nimmt in der Geschichte der Kommen tierung der <aristotelischen Zeitaporie> im 13. Jahrhundert einen Sonderplatz ein. Kaum ein Auslegungsversuch dieser Zeit ist so originell wie sein Entwurf. Dies zeigt ausreichend, daß in der Frühphase der lateinischen Aristotelesausle gung noch jene Erstarrung fehlte, die die Lektüre der späteren Kommentare oft zu einer Geduldsprobe macht. R. Bacon kommentierte die naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles in den 40er Jahren zu Paris.1 Etwa in diese Zeit (1241-1245)2 fallen auch die beiden Auslegungen zur Physik, die von ihm erhalten sind.3 Ihre zeitliche Be ziehung zueinander scheint geklärt. Die Auslegung der ersten vier Bücher er folgte vor dem Kommentar zu allen acht Büchern der Physik des Aristoteles.4
1
Vgl. D. C. Lindberg, Roger Bacon's Philosophy of Nature. A Critical Edition, with English Translation, Introduction, and Notes, of De multiplicatione specierum and De speculis comburentibus, Oxford 1983, XVII: «It was doubtless during the 1240s that Bacon began to lecture in the faculty of arts at Paris. Bacon's lectures covered Aristotle's Metaphysics, Physics, De sensu et sensato ... That Bacon's second set of questions on the Physics was written in Paris is con firmed by a remark contained therein: '... if I could touch the Seine with my palm ...' It thus ap pears that Bacon was one of the early lecturers on Aristotle's libri naturales at Paris after the bans of 1210, 1215, and 1231.» 2 Vgl. Th. Crowley, Roger Bacon. The Problem of the Soul in his Philosophical Commenta ries, Louvain/Dublin 1950, 73: « ... we may safely assume that Bacon's teaching career in the Faculty of Arts at Paris covered the period from 1241 to 1245.» 3 Vgl. Rogerus Baconus, Questiones supra libros quatuor physicorum Aristotelis, ed. F. M. Delorme/R. Steele (Opera hactenus inedita Rogeri Baconi, Fasc. VIII), Oxonii 1928; Rogerus Baconus, Questiones supra libros octo physicorum Aristotelis, ed F. M. Delorme/R. Steele (Opera hactenus inedita Rogeri Baconi, Fasc. XIII), Oxonii/Londoni 1935. 4 F. M. Delorme hat in seiner Einleitung zu: Rogerus Baconus, Questiones supra libros octo physicorum Aristotelis, ed. F. M. Delorme/R. Steele (Opera hactenus inedita Rogeri Baconi, Fasc. XIII), Oxonii/Londoni 1935, XXX, folgende Chronologie der Aristoteleskommentare Ba cons aus dieser Zeit aufgestellt: 1. Questiones prime supra libros Physicorum, 2. Questiones su pra undecimum prime Philosophie, 3. Questiones supra IV libros prime Philosophie, 4. De XIo libro, 5. Questiones supra librum de Generatione et Corruptione, 6. Questiones supra XVIII de Animalibus, 7. Questiones altere supra libros Physicorum, 8. Questiones altere supra libros pri me Philosophie, 9. Questiones supra librum de Plantis, 10. Questiones supra librum de Anima, 11. Questiones supra librum de Causis, 12. Questiones supra librum de Celo et Mundo. Die er ste Physikauslegung (Fasc. VIII, 1-266) ist also älter als der zweite Kommentar zur Physik des Aristoteles (Fasc. XIII, 1-428). 212
3.3.3. Roger Bacon Weitgehend ungeklärt ist dagegen der innere Bezug der beiden Texte.5 Hier kann jedoch eine derartige Untersuchung entfallen. Nur eines der beiden Ma nuskripte enthält eine umfangreiche Stellungnahme zum Verhältnis von Zeit und Seele.6 Dort sind die Fronten Bacons klar zu erkennen. Seine Zeitphilo sophie ist zunächst gegen Averroes gerichtet. Aber auch von einer theologisch argumentierenden Zeittheorie nimmt er sofort Abstand.7 Die Philosophie der Zeit ist damit für Bacon Naturforschung. Bacon nähert sich der schwierigen Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele auf doppelte Weise. Zunächst bestreitet er die Immanenz der Zeit in der Seele. Nachdem er diese Konzeption zugunsten einer außerseelischen Weltzeit widerlegt hat, diskutiert er die Möglichkeit einer Absicherung jener Weltzeit durch eine kosmische zeiterzeugende Seele. Die Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele erscheint in Bacons Ge samtkommentar der Physik schon ziemlich früh als dritte Fragestellung.8 Bacon wägt zunächst die Gründe ab, die für das Sein der Zeit in der Seele sprechen. Dabei lehnt er sich eng an die Argumentationsstruktur der aristotelischen Zeitaporie> an: Die Zeit ist die Zahl der Bewegung, die Zahl aber existiert in der 5
Im älteren Physikkommentar hält sich Bacon in der Zeitphilosophie noch an das Konzept der Summe des Alexander von Hales und unterscheidet eine von der Zeit. Allerdings drängt er schon dort die Zeit zurück. Vgl. dazu: ROGE RUS BACONUS, Quaest. IV Phys. Arist.; Delorme/Steele 240, 6-16: « ... dicendum quod du plex est tempus; quoddam est tempus quod est tempus et est mensura cujuslibet tarn spiritualis <substantie> quam corruptibilis, et tale est mensura affectionum substantiarum angelicarum et omnium operationum earum, et tale tempus est agregatio ipsorum momentorum, et tale tempus est tempus creationis quod est theologice considerationis, et tale tempus 'ipsum nunc' quod est tota temporis physici essentia precedit, et de hujusmodi tempore hic ad presens non intendimus; aliud est tempus physice considerationis vel physicum, de quo hic intendimus.» 6 Der ältere Text geht von einer außerseelischen Realität der Zeit aus. Vgl. ROGERUS BACO NUS, Quaest. IV Phys. Arist., Delorme/S teele 242, 3-13: «Unde nota quod tempus est nume rus motus simpliciter et realiter vel substantialiter, motus autem numerus temporis quantum ad manifestationem et quoad nos, et propter hoc non dicitur quod sit numerus temporis. Set NOTA quod etsi tempus simpliciter et substantialiter sit numerus motus, non tamen tempori essentialiter primo et per se ratio numerandi competit, set accidentaliter solum numerus dicitur, cum sit quid continuum, unde numerus est secundum quod numerus sub 'nunc' accipitur; unde ex priori et posteriori sumitur binarius quia in ipso intelligitur.» 7 Dies unterstreicht Bacon anders als im älteren Kommentar sofort zu Beginn seiner zweiten Auslegung des aristotelischen Zeittraktates. Vgl. ROGERUS BACONUS, Quaest. VIII Phys. Arist; Delorme/Steele 247, 9/10: «Hic incipit capitulum de tempore, quod est de consideratione physici.» 8 Vgl. ROGERUS BACONUS, Quaest. VIII Phys. Arist.; Delorme/Steele 248, 31/2: «QUERITUR tertio utrum tempus sit apud animam vel extra.» 213
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Seele, d.h. sie entspringt der Aktivität des Zählenden. Dies ist eine aus dem Physikkommentar des Averroes ausreichend bekannte Argumentation.9 Die Zeit scheint also in der Seele zu sein. Eine zweite Aristotelesstelle stützt diese Auffassung: In der Finsternis ist keine außerseelische Bewegung wahrnehmbar. Dann befindet sich die Zeit nur in der Seele.10 Auf diese Weise zeigt sich schon früh die Intention der Aristotelesausleger des 13. Jahrhunderts, bestimmte Textabschnitte aus dem Zeittraktat des Aristoteles mit der Zeitaporie zu parallelisieren. Dementsprechend faßt Bacon unter Hinweis auf die Aristotelesaus legung des Averroes zusammen: Aristoteles scheint also zu behaupten, daß die Zeit in der Seele existiert.11 Gegen Averroes führt Bacon nun eine Reihe von Gegenargumenten ein. Sie gewähren interessante Aufschlüsse über die Mannigfaltigkeit seiner Argumenta tion: I
Als eine Quantität existiert die Zeit deshalb nicht in der Seele, weil die Psyche eine nichtquantitative Entität ist.
II
Außerdem ist die Zeit die Ursache aller Vergänglichkeit. Eine derartige Ursächlichkeit befindet sich nicht in der Seele.
III
Wie aus der Ethik des Aristoteles hervorgeht, gibt es nur drei Strukturen in der Seele: <potentia>, <passio> und . Zu keiner dieser Seelenpotenzen gehört die Zeit. Auch zu den ve getativen, sensitiven und intellektuellen Seelenkräften paßt sie nicht.
9
Vgl. 2.3., S. 133-135. Vgl. ROGERUS BACONUS, Quaest. VIII Phys. Arist; Delorme/Steele 248, 35-38: «ITEM, in littera: si non esset motus extra animam, set tantum in anima, esset tempus in anima; quare si tenebre essent et non esset motus nisi in anima, motus esset in anima.» Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 11, 219 a 4-6: 10
Transl. vetus; Bossier/Brams 174, 3-5: « ... et namque si sint tenebre et nichil per corpus patiamur, motus autem quidem est in anima in qua est, subito simul videtur quoddam fieri et tem pus.» 11 Vgl. ROGERUS BACONUS, Quaest. VIII Phys. Arist. IV; Delorme/S teele 248, 38-249, 2: «Et ita videtur quod Aristoteles velit quod tempus possit esse in anima, et hoc vult Commen tator.»
214
3.3.3. Roger Bacon
IV
Da sich die Zeit auf die Bewegung bezieht, entspringt sie nicht aus der Seele, die eine unbewegliche Entität ist.
Bacon faßt also die Summe der Argumente gegen das innerseelische Sein der Zeit zu einer scharfen Kritik an Averroes zusammen: Averroes lügt, wenn er vom innerseelischen Sein der Zeit spricht. Alle Bewegungen sind nämlich au ßerhalb der Seele. Insofern muß auch die Zeit extra animam existieren.12 Wie viele nach ihm versteht auch Bacon den Hinweis des Aristoteles in der Zeitaporie auf die Bewegung als sicheren Nachweis einer außerseelischen Zeit. Dem aus der Spätantike übernommenen Auslegungsmodell des Averroes ist Ba con also nicht gefolgt. Zur Vollständigkeit seiner Widerlegung des Averroes greift Bacon abschlie ßend zu zahlentheoretischen Überlegungen. Eines der Hauptargumente des Averroes in seiner Auslegung der Zeitaporie ist die Behauptung, daß die Zahl einer spezifischen Aktivität der Seele entspringt. Bacon sah, daß er hier dem Averroes ein eigenes Modell entgegensetzen mußte. Dabei ging er von einer <doppelten Natun der Zahl aus. Die Zeit, so meint Bacon, ist keine Zahl nach dem Modus einer seelischen Aktivität (1). Sie ist auf diese Weise Zahl, daß sie eine Bestimmtheit (passio) an den Dingen repräsentiert (2). Bacon läßt nur eine Einschränkung zu: Etwas Seiendes vermag in der Seele auch als ein von ihr Erkanntes und Vorgestelltes zu existieren. Averroes hat Recht, wenn er die Zeit auf diese Weise auffaßt. Aber die Zeit ist mit der Be wegung bzw. mit ihrem Subjekt verbunden. Daher denkt die Seele die Zeit als ein an der Bewegung vorhandenes Seiendes.13 In der Diskussion über das Ver hältnis von Zeit und Seele kommt Bacon also seinem Hauptgegner in keiner Weise entgegen. Nachdem Bacon das Sein der Zeit in der Individualseele widerlegt hat, geht er zur Hypothese einer zeitkonstituierenden Weltseele über. Der eigentliche Sinn dieser Argumentationsweise Bacons ist nicht schwer zu fassen: Bacon po12
Vgl. ROGERUS BACONUS, Quaest. VIII Phys. Arist.; Delorme/Steele 249, 15/6: «Quare Commentator mentitur hic, quia omnis motus est extra animam, et ideo tempus.» 13 Vgl. ROGERUS BACONUS, Quaest. VIII Phys. Arist.; Delorme/S teele 249, 16-26: «Ad objectum respondeo quod numerus dupliciter: aut numerus pro actione numerantis aut pro forma distinguente res et numerante, que est passio rerum. Primo modo numerus est actio, et sic est in anima, set sic non est tempus numerus, set secundo modo secundum quod numerus est passio rerum distinguens res et numerans ipsas. Ad aliud, aliquid potest esse apud animam aut sicut in cognoscente et ymaginante, et sic est verum quod dicit; aut sicut in subjecto, et sic est falsum, quia anima ymaginatur apud earn motum et sic ymaginatur tempus.»
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Teil III - Das 13. Jahrhundert
stuliert gegen Averroes nicht nur die Existenz einer außerseelischen Zeit. Er stellt auch, ebenfalls im Gegensatz zu Averroes, die Hypothese einer zeitkonsti tuierenden Weltseele zur Diskussion. Zum Verständnis dieser These entwickelt Bacon eine Reihe von Argumenten, die auch seine Deutung der<aristotelischenZeitaporie> auf ungewöhnliche Wei se erhellen. Da Bacons Kommentar die Form einer Quaestio hat, läßt sich sein Argumentationsgang bequem verfolgen. Bacons Hauptfrage ist daher leicht zu erkennen: Wenn die Zeit, so fragt er, nicht in der Seele existiert, wie kann sie dann ein Sein ohne einen Bezug zur Seele besitzen?14 Schon diese Grundfrage zeigt, daß es Bacon nun nicht mehr um die Imma nenz der Zeit in der Seele geht. Er fragt, welchen Bezug die Weltzeit zur kos mischen Seele besitzt. Bacon untersucht die<aristotelischeZeitaporie> unter der Voraussetzung, daß sie einen Hinweis auf die kosmische Seele als Ursprung al ler Zeit enthält. Zunächst entwickelt Bacon Argumente für die Annahme einer Weltseele. Auch dabei bezieht er sich zunächst auf die einleitenden Passagen der Zeitaporie. Wenn eine Zahl existiert, dann muß auch eine zählende Entität vorhanden sein. In bezug auf die Zeit heißt das: Die Zeit ist die Zahl und die Seele das Zählende. Wenn also die Zeit existiert, dann gibt es auch eine Seele. So weit der Rückbezug zur Zeitaporie. Dann aber nimmt Bacons Argumentation eine über raschende Wendung. Zur Stützung der kosmologisch ausgelegten <aristoteli schen Zeitaporie> greift Bacon auf den Liber de causis wie auf eine echte Schrift des Aristoteles zurück.15 Durch den Liber de causis fließt der neupla tonische Gedanke einer zeiterzeugenden Weltseele unter dem Namen des Ari stoteles in die Diskussion über die Zeitaporie ein. Diese in diesem Zusammen hang außergewöhnliche Rezeption des Liber de causis ist dafür verantwortlich, daß nun erstmals seit den Entwürfen der spätantiken Aristoteleskommentatoren ein Philosoph die Zeitaporie unter Hinblicknahme auf eine kosmische Seele dis kutiert. Gemäß dem Automatismus der literarischen Form einer Quaestio folgt auf das Pro zwangsläufig das Contra. Unter diesem Abschnitt subsumiert Bacon al le Argumente, die gegen das Sein einer zeiterzeugenden kosmischen Seele zu
14 Vgl. ROGERUS BACONUS, Quaest. VIII Phys. Arist.; Delorme/Steele 249, 27/8: «QUERITUR, si tempus non sit in anima, utrum possit habere esse sine comparatione ad animam.» 15 Vgl. ROGERUS BACONUS, Quaest. VIII. Phys. Arist.; Delorme/Steele 249, 31-33: «ITEM, in commento secunde propositionis de Causis: 'anima est causa temporis'; set effectus non est sine causa ...»
216
3.3.3. Roger Bacon
sprechen scheinen. So gibt es durchaus Bewegungen, die sich ohne die Annah me einer kosmischen Seele erklären lassen. Darunter versteht Bacon die Bewe gung des Leichten und Schweren im Raum. Es ist daher auch nicht notwendig, daß Zeit und Bewegung von einer kosmischen Seele abhängen. Es gibt jedoch noch ein anderes Argument, das schwerer wiegt: Wenn die zeiterzeugende See le als Himmelsbeweger (motor caeli) und Weltseele (anima mundi) gesetzt ist, ergeben sich vom Standpunkt eines Aristotelikers bestimmte Schwierigkeiten. Ist der Beweger des Himmels überhaupt von seelenhafter Struktur? Ohne dar auf einzugehen, scheint Bacon die Argumentation des Aristoteles gegen die pla tonische Weltseele in De caelo vor Augen gehabt zu haben.16 Dabei findet er interessante Formulierungen: Bei einer Identifizierung des Himmelsbewegers mit der Weltseele stehen Zeit und Seele in einem Zusammenhang. Weil aber der Himmelsbeweger keine seelische Beschaffenheit hat, ist die Zeit ohne eine (kosmische) Seele vorhanden.17 Die Zeit vermag daher ohne eine Weltseele zu existieren. Die Untersuchung der Frage nach der Existenz einer zeiterzeugen den kosmischen Seele führt also zur Autonomie der Zeit. Bacon vertritt deshalb die Unabhängigkeit der Weltzeit von der Seele. Ähnlich wie im Hinblick auf das Problem der Immanenz der Zeit in der Seele kommt er auch hier zu einer klaren Entscheidung gegen jegliche seelische Abhängigkeit der Zeit.
ARISTOTELES, De caelo II 1, 284 a 27-35, Transl. arab.-lat. (Gerhardi Cremonensis); Hoss feld 108, 68-75: «Et dico, quod caelum non oportet, ut sit sempiternum fixum propter animam, quae est in eo. Sunt enim ex hominibus, qui dicunt, quod caelum est sempiternum fixi esse, quoniam habet animam, et quod anima cogit ipsum, ut sit sempiternum fixum. Sermo autem est impossibilis, quoniam haec vita non est possibile, ut sit absque labore et poena neque ut sit bona laudabilis, quoniam ipsa movet corpus non secundum partem sui motus. Cum ergo est ita, est proculdubio impedita privata omni quiete facta ex habente rationem. Cum ergo est ita et non est ei quies omnino neque similitudo quietis factae animalis omnino in somno, est tunc simile illud exemplo, quod exemplificaverunt primi et nominaverunt ipsum Yxion sempiterni motus motu violento, cui non est ultimum neque quies.» 17 Vgl. ROGERUS BACONUS, Quaest. VIII. Phys. Arist.; Delorme/Steele 250, 2-6: « ... si loquamur de anima communiter pro motore celi et anima mundi, sic est anima si tempus est; set quia motor celi non habet aliquam proprietatem anime, ideo potest dici quod precise potest esse tempus sine anima.»
217
Teil III - Das 13. Jahrhundert
In bezug auf die Auslegung der Zeitaporie vermutete Bacon wahrscheinlich, daß Aristoteles dort zwar von einer Seele sprach, aber in Wirklichkeit den Himmelsbeweger gemeint habe. Bacon versucht nämlich, die Zeitaporie nicht auf die menschliche Seele zu beziehen. Er hat bemerkt, daß Averroes bei seiner Auslegung dieser schwierigen Aristotelesstelle ausschließlich an die menschli che Seele (anima humana) denkt. Von einer kosmischen Seele hat der Araber dabei nicht gesprochen. Damit steht Averroes nach Bacon nicht allein. Auch ge wisse Theologen vertraten diese Auffassung. Wer diese Theologen waren und was sie im Detail gelehrt haben, sagt Bacon jedoch nicht.18 Bacon sympathisierte mit der kosmologischen Auslegung der Zeitaporie. Die Rede des Aristoteles von der Seele verstand er als Hinweis auf die We!tseele. Diese identifizierte er mit dem aristotelisch gedachten Himmelsbeweger. Bacon kannte nicht die Entwürfe der antiken Aristoteleskommentatoren, die die Him melsseele, den Ersten Beweger und die Zeit zu einem widerspruchslosen Ge samtentwurf harmonisch verknüpft hatten. So blieb seine kosmologische Ausle gung der Zeitaporie unvollständig und in den Anfängen stecken. Sie fand daher auch keine Rezipienten. Bacons kosmologische Interpretation evozierte deshalb nach Lage der Quellen im 13. Jahrhundert keine Wende in der Auslegung der aristotelischen Zeitaporie.'
18
Vgl. ROGERUS BACONUS, Quaest. VIII. Phys. Arist. IV; Delorme/Steele 250, 24-26: «Vel potest exponi de anima mundi; set de illa non loquitur hic Commentator, set de anima hu mana, et similiter quidam theologi.»
218
3.3.4. Albertus Magnus I Alberts Philosophie der Zeit ist neuerdings wieder mehr ins Bewußtsein getre ten. Die Forschung übersah jedoch weitgehend, daß sich Albert innerhalb sei ner philosophischen Entwicklung mehrfach zur Zeitphilosophie geäußert hat. Insofern blieb das entwicklungsgeschichtliche Moment in seiner Zeitlehre unbe rücksichtigt. So beschränkt sich die umfangreiche Studie P. Hossfelds, die aus seinen Editionsarbeiten am Physikkommentar Alberts hervorgegangen ist, aus schließlich auf diesen Text.1 Hossfelds Aufsatz erfüllt daher die Funktion einer Pilotstudie. Seine Ergebnisse bedürfen noch der Vertiefung. Der Ausgangspunkt der entwicklungsgeschichtlichen Analyse zu Alberts Zeitphilosophie ist die Frühschrift De IV coaequaevis. Dieser Text ist vor 1246 entstanden.2 Etwa zehn Jahre trennen ihn von dem Physikkommentar R. Gros setestes.3 Alberts Schrift ist aber kein Kommentar. Er diskutiert vielmehr na turphilosophische Fragen in der Form von Quaestionen. Alberts Aussagen zur Zeitphilosophie befinden sich innerhalb einer groß angelegten Studie zu Ewigkeit, Aevum und Zeit. Die Quaestio
«De tempore»
ist insofern ein in sich abgerundeter Zeittraktat.
1
Vgl. P. Hossfeld, Studien zur Physik des Albertus Magnus. I. Ort, örtlicher Raum und Zeit. . Die Verneinung der Existenz eines Vakuums, in: Miscellanea mediaevalia 18 (1986) 1-42. 2 Vgl. F. Van Steenberghen, Die Philosophie im 13. Jahrhundert, hrsg. von M. A. Roesle, aus dem Französischen übertragen von R. Wagner, München/Paderborn/Wien 1977, 111; «Einige Jahre später finden sich in der Summa de creaturis Alberts des Großen aus dem Jahr 1240 in ih ren beiden ersten Teilen ... 80 Stellen, in denen auf Averroes Bezug genommen wird. Dagegen werden von Albert die Kommentare zur Physik ... nicht zitiert.» Zu den neuesten Datierungen vgl. den Ausstellungskatalog: H. Stehkämper (Hrsg.), ALBERTUS MAGNUS. Ausstellung zum 700. Todestag, Köln 1980, 122: «Paris - vor 1246». Diese Datierung ist gegenüber der Van Steenberghens vorzuziehen, denn sie erweckt nicht den Eindruck einer Sicherheit bei der Zeitbestimmung, die die Quellen nicht zulassen. 3 Vgl. 3.3.2., S. 206/7.
219
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Im Hinblick auf die ihm bekannten Zeittheorien setzt Albert dort eine grund legende Unterscheidung: Er differenziert zwischen der Zeit der Theologen (se cundum theologos) und der Zeit der Philosophen (secundum philosophos): 1
«Dicimus, quod tempus mulipliciter accipitur: Uno modo se cundum theologos, alio modo secundum philosophos.»4
1 modo add. accipitur 2 philosophos: physicos D
Die Zeit, die sich u.a. auch auf die Zeitbestimmungen überir discher Intelligenzen bezieht, klammert Albert aus. Er beschäftigt sich aus schließlich mit der natürlichen Zeit, die durch die Zeitdefinition des Aristoteles bestimmt ist. Alberts Hauptquelle ist daher die Zeittheorie des Aristoteles. Eine Restaura tion der anderen überlieferten Zeittheorien unter Ausschluß des Aristoteles wäre ein Anachronismus gewesen. Daneben trägt die Quaestio De tempore auch die Spuren anderer Quellen. Vor allem Avicenna ist hier zu nennen, während Averroes keine Rolle zu spielen scheint.5 Der Leitfaden, der die Entwicklung der Zeitphilosophie Alberts zeigt, ist die Analyse seiner unterschiedlichen Stellungnahmen zum Verhältnis von Zeit und Seele. In seiner Frühschrift untersucht Albert dieses Problem im ersten Artikel der Quaestio De tempore. Sie trägt den Titel:
«An tempus sit a natura, an in anima tantum?»6
4
ALBERTUS, S. de creat. I (De IV coaequ.) tr. 2 q. 5 a. 2. Vgl. = Berlin, SBPK, Hamilton 9 (f. b), = Köln, HistASt, GB f°193 (f. 20va), L = Lilienfeld, StiB, 209 (f. 78rb), P = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 18127 (f. 18va), W = Wien, Dominikanerkl., 150/120 (f. 88vb) und D = ALBERTUS, S. de creat. I (De IV coaequ.) tr. 2 q. 5 a. 2; Borgnet 34, 369 b. 5 Vgl. Anm. 2. 6 ALBERTUS, S. de creat. I ( De IV coaequ.) tr. 2 q. 5 a. 1; Borgnet 34, 364 a-368 b.
220
3.3.4. Albertus Magnus I
Gemäß der inneren Struktur einer Quaestio diskutiert Albert zunächst die Argumente, die für das Sein der Zeit in der Seele sprechen. Danach formuliert er Alternativen zu dieser Position. Erst wenn alle Aspekte des Problems vorlie gen, läßt die <solutio> Alberts eigene Position erkennen. Zuerst legt Albert ver schiedene Argumente für das Sein der Zeit in der Seele vor. Dabei bezieht er sich auf Aristoteles. Aber er wählt als Ausgangspunkt seiner Überlegungen nicht die<aristotelischeZeitaporie>, sondern einen anderen Text. Es ist leicht zu erkennen, daß es sich hier um eine Paraphrase einer Passage aus dem Beginn des aristotelischen Zeittraktates auf der Basis der Translatio Vetus handelt. 7 Mit dieser Auswahl stützt Albert folgende Überlegung: Das Vergangene existiert nicht mehr. Die Zukunft ist noch nicht vorhanden. Weil die Zeit auf diese Weise aus zwei nichtseienden Dimensionen zusammengesetzt ist, existiert sie selbst auch nicht. Sie muß sich daher im Verstand (ratio) befin den: 1
4
«Dicit Aristoteles, quod hoc temporis "factum est et non est, illud vero futurum, et nondum est", sed "ex his" "componitur tempus", et "compositum" "ex his", "quae non sunt", non est. Ergo tempus non est, nisi forte in ratione.»8
1 Aristoteles: Philosophus L / factum est: est factum P 2 futurum add. est quod dum est L add. sup. lin. est W / sed add. quod P 2/4 ex ... ergo in marg. P 3 tempus add. dicit Philo sophus L
Diese besondere Hinblicknahme auf das Nichtsein der Zeitdimensionen er möglicht Albert den Übergang von Aristoteles zu Augustinus. Nach Albert ar gumentiert Augustinus im elften Buch der Confessiones auf vergleichbare Wei7
Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 10, 217 b 32-218 a 3, Transi, vetus; Bossier/Brams 170, 1318: «Quod quidem igitur omnino non sit aut vix et obscure sit, ex his aliquis concipiet. Hoc quidem enim ipsius factum est et non est, illud vero futurum et nondum est; ex his autem et in finitum et semper acceptum tempus componitur; ex his autem que non sunt compositum inpos sibile esse videtur participare aliquando substantia» (218 a 3 griech.: ουσίας !). 8 ALBERTUS, S. de creat. I (De IV coaequ.) tr. 2 q. 5 a. 1. Vgl. = Berlin, SBPK, Hamilton 9 (ff. 27va-27vb), L = Lilienfeld, StiB, 209 (f. 76va), P = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 18127 (f. 17rb), W = Wien, Dominikanerkl., 150/120 (f. 88rb) und D = ALBERTUS, S. de creat. I (De IV coaequ.) tr. 2 q. 5 a. 1; Borgnet 34, 364 a.
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Teil III - Das 13. Jahrhundert
se. Diesem Text widmet Albert seine ganze Aufmerksamkeit. Dabei orientiert er sich bei der Einordnung der These des Augustinus vom seelischen Sein der Zeit an Avicenna. Avicenna beschrieb im einleitenden Kapitel seines Zeittraktates die Mannig faltigkeit der überlieferten Zeittheorien.9 Daher beschäftigte er sich auch mit dem Verhältnis von Zeit und Seele. Wichtig waren ihm die Theorien, die das Sein der Zeit in die Seele verlegten. Doch Avicenna beschrieb diese Thesen nicht nur. Er versuchte auch, den innersten Kern ihrer Struktur zu eruieren. Beim Studium dieses Textes erkannte Albert, daß in dieser Vielfalt der Zeit theorien ein bestimmtes Modell mit den Überlegungen des Augustinus überein stimmte:
5
«His rationibus consentit Augustinus dicens, quod tempus non est nisi in anima, et tempus est secundum eum distensio animi accepta per imaginationem inter designationem duorum mo mentorum. Momenta autem duo nihil aliud vocat quam duas renovationes sitas in mobili, quod movetur, sicut duas elevationes in sole, quia sol secundum cursum communes distinguit horas et momenta. Unde collectio horum momentorum per imaginationem tempus est.»10
1 non . 2 est nisi in anima: nisi in anima est D / animi del. ? Ρ 3 accepta . D 6 sol: solum ? / sol secundum cursum: solis cursus L P / solis con. ex solus Ρ / solis cursui W / communes: continuus L communius W
Albert liest Augustinus also mit dem Wissen, das er bei Avicenna erworben hat. Avicennas Auflistung und Diskussion der mannigfaltigsten Zeittheorien ist auf diese Weise nicht nur das Vorbild des hier diskutierten Artikels der Quae-
9
Vgl. 2.2., S. 105. ALBERTUS, S. de creat. I (De IV coaequ.) tr. 2 q. 5 a. 1. Vgl. = Berlin, SBPK, Hamil ton 9 (ff. 28rb-28va), L = Lilienfeld, StiB, 209 (f. 77ra), Ρ = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 18127 (f. 17vb), W = Wien, Dominikanerkl., 150/120 (f. 88va) und D = ALBERTUS, S. de creat. I (De IV coaequ.) tr. 2 q. 5 a.1; Borgnet 34, 365 b. 10
222
3.3.4. Albertus Magnus I
stio De tempore, sondern auch die Keimzelle des entsprechenden Abschnitts in Alberts Physikkommentar.11 Albert verschmolz Theoreme des Avicenna mit den Gedanken des Augusti nus. Die Ausdehnung der Seele (distensio animi) ist ein Gedanke des Augusti nus. Damit verknüpfte Albert die Vorstellungskraft (imaginatio). Diese setzt zwei Punkte im kontinuierlichen Bewegungsverlauf der Sonne. Die Sammlung der Einschnitte durch die Einbildungskraft konstituiert dann die Zeit. Dieses Konzept hat Albert nicht nur inhaltlich von Avicenna übernommen, sondern auch mit der Terminologie des Arabers ausgedrückt. Albert hatte auf diese Weise Klarheit über den allgemeinen Typus der Zeit theorie des Augustinus gewonnen. Nun dokumentierte er dessen Auffassung mit umfangreichen Auszügen aus dem elften Buch der Confessiones:
5
10
15
20
«Hoc autem accipitur ex verbis Augustini in XI Ģonfessionum, ubi dicit: "Mihi" videtur "nihil aliud esse tempus quam distensionem, sed cuius rei, nescio, et mirum, si non ipsius animi. Quid enim metior, obsecro, deus meus, et dico, aut indefinite 'longius est hoc tempus quam illuď, aut etiam defi nite, 'duplum est hoc ad illud?' Tempus metior, scio; sed non metior futurum, quia nondum est", sed "non metior praesens, quia nullo spatio tenditur", sed "non metior praeteritum, quia iam non est". "Quis igitur negat futura nondum esse? Sed tamen iam est in animo expectado futurorum. Et quis negat praeterita iam non esse? Sed tamen adhuc est in animo me moria praeteritorum. Et quis negat praesens tempus carere spatio, quia in puncto praeterit? Sed tamen perdurat attentio, per quam peragat abesse quod aderit. Non igitur longum tempus futurum," quia nondum est, "sed longum futurum longa exspectatio futuri est, nec longum praeteritum tempus, quod non est, sed longum praeteritum longa memoria praeteriti est." Item Augustinus in eodem: "Si quid" intelligitur "temporis, quod in nullas iam vel minutíssimas momentorum partes di vidi possit, illud solum est, quod praesens dicatur; quod tamen ita raptim a futuro in praeteritum transvolat, ut nulla morula
11
Vgl. ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 c. 3; Hossfeld 263, 18-265, 13: «і est digressio declarans sententiam eorum qui dicunt tempus non esse nisi in anima.»
223
Teil III - Das 13. Jahrhundert
extendatur. Nam si extenditur, dividitur in praeteritum et fu turum: praesens autem nullum habet spatium." "Quod autem 25 nunc liquet et claret, nec futura sunt praeterita, pro prie dicitur: tempora sunt tria, praesens, praeteritum et fu turum, sed fortasse proprie diceretur: tempora sunt tria, prae sens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris. Sunt enim haec in anima tria quaedam et alibi ea non vi30 deo, praesens de praeteritis memoria, praesens de praesenti bus" intuitus, "praesens de futuris expectatio. Si" haec permittitur dicere, tria tempora video fateorque, tria sunt. Dicitur etiam: Tempora sunt tria, praesens, praeteritum et fu turum', sicut abutitur consuetudo; dicatur. Ecce non curo, n 35 resisto,nreprehendo, dum tamen intelligatur quod dicatur" scilicet "neque id, quod futurum est, esse iam, neque id, quod praeteritum est. u" "enim, quae proprie loquimur, plura non proprie" loquimur.»12
1 autem . LW / in add. libro D 2 dicit add. sic (?) / esse tempus: tempus esse 4/5 enim ... longius in marg. 5 illud:id L 6 tempus: et L 7 nondum: non idem D / sed . D 8 sed . D / metior . D 9 futura: futurum 11 praeterita iam: iam praeterita / sed: cum 12 tempus . LW 13 attentio: detendo L corr. ex intendo W 14 abesse: ad esse / aderii: abest adest L 15 quia nondum: quod non D 19 Augustinus: alibi LW . 20 vel add. in 21 illud: id L P W /dicatur: dicitur B D 23 extenditur: extendatur 26 tria sup. lin. W .L 26/27 praesens, praeteritum et futurum: praeteritum, praesens et fu turum D 27/28 praesens de praeteritis, praesens de praesentibus: praesens de praesentibus, praesens de praeteritis D 29 enim: autem / haec . / in anima tria: tria in anima LW / et . L 30/31 praesentibus add. de 31 intuitus: contuitus D / si: sed LW add. enim D / haec: hoc 31/32 permittitur: permittimus permittuntur L permittimur W 32 video: videre L / fateorque: fateor quia 32/33 dicitur: dicatur D 33 etiam: enim L W / tempora sunt tria: tempora tria sunt tria sunt tempora W tria sint tempora L / praesens, praeteritum: praeteri tum, praesens D 34 non: nunc L 35 dicatur: dicitur LW 36 scilicet: sed . D / quod sup. lin. W / pauca add. sunt D 38 loquimur om. L W in marg.
12
ALBERTUS, S. de creat. (De IV coaequ.) tr. 2 q. 5 a. 1. Vgl. = Berlin, SBPK, Hamilton 9 (ff. 28va-28vb), L = Lilienfeld, StiB, 209 (f. 77ra/b), P = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 18127 (f. 17vb), W = Wien, DominikanerkL, 150/120 (f. 88va) und D = ALBERTUS, S. de creat. (De IV coaequ.) tr. 2 q. 5 a. 1; Borgnet 34, 366 a/b.
224
3.3.4. Albertus Magnus I
Alberts spezifische Arbeitsweise im Umgang mit dem elften Buch der Con֊ fessiones veranschaulicht folgende Gegenüberstellung: Albert
Augustinus XI 26, 33 v. 19-26
«Mihi videtur
«Inde mihi uisum est
nihil aliud esse tempus quam distensionem: sed cuius rei nescio, et mirum, si non ipsius animi. Quid enim metior, obsecro, deus meus, et dico, aut indefinite: aut etiam definite: Tempus metior, scio; sed non metior futurum, quia nondum est, sed non metior praesens, quia nullo spa tio tenditur. Non praeteritum, quia iam non est.
nihil esse aliud tempus quam dis tentionem: sed cuius rei, nescio, et mirum, si non ipsius animi. Quid enim metior, obsecro, deus meus, et dico aut indefinite: „Longius est hoc tempus quam Ulud" aut etiam definite: „Duplum est hoc ad Ulud?" Tempus metior, scio; sed non metior futurum, quia nondum est, non metior praesens, quia nullo spa tio tenditur, non metior praeteritum, quia iam non est.»13 XI 28, 37 v. 5-13
Quis igitur negat futura nondum es se? Sed tarnen iam est in animo expectatio futurorum. Et quis negat praeterita iam non esse? Sed tarnen adhuc est in animo memoria praeteritorum. Et quis negat praesens tempus carere spatio, quia in puncto praeterit? Sed tarnen perdurat attentio, per quam peragat abesse quod aderit. 13
«Quis igitur negat futura nondum es se? Sed tarnen iam est in animo expectatio futurorum. Et quis negat praeterita iam non esse? Sed tarnen adhuc est in animo memoria praeteritorum. Et quis negat praesens tempus carere spatio, quia in puncto praeterit? Sed tarnen perdurat atten o, per quam pergat abesse quod aderit.
AUGUSTINUS, Conf. XI 26, 33 ν. 19-26; Verheijen 211.
225
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Non igitur longum tempus futurum, quod non est, sed longum futurum longa exspectatio futuri est, neque longum prae teritum tempus, quod non est, sed longum praeteritum longa memoria praeteriti est».14
Non igitur longum tempus futurum quia nondum est, sed longum futurum longa exspectatio futuri est, neque longum praeteritum tempus, quod non est, sed longum praeteritum longa memoria praeteriti est.
XI 15, 20 v. 48-53
Item, Augustinus in eodem:
«Si quid intellegitur temporis, quod in nullas iam uel minutissimas mentorum partes diuidi possit, id so lum est, quod praesens dicatur; quod tarnen ita raptim a futuro in praete ritum transuolat, ut nulla morula extendatur. Nam si extenditur, diuiditur in praeteritum et futurum: praesens autem nullum habet spatium.»15
Si quid intelligitur temporis, quod in nullas iam vel minutissimas momen torum partes dividi possit, Ulud so lum est, quod praesens dicitur; quod tarnen ita raptim a futuro in praete ritum transvolat, ut nulla morula extendatur. Nam si extenditur, dividitur in praeteritum et futurum: praesens autem nullum habet spatium.
XI 20, 26 v. 1-13 Quod autem nunc liquet et claret, n futura sunt praeterita, pro prie dicitur: tempora sunt tria, prae sens, praeteritum et futurum, sed fortasse proprie diceretur, tempora sunt tria, praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris. Sunt enim haec in anima tria quaedam et alibi ea non video. Prae sens de praeteritis memoria, praesens de praesentibus intuitus,
14 15
«Quod autem nunc liquet et claret, futura sunt praeterita, proprie dicitur: tempora sunt tria, praeteritum, praesens et futurum, sed fortasse proprie diceretur: tempora sunt tria, praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris. Sunt enim haec in anima tria quaedam et alibi ea non uìdeo, prae sens de praeteritis memoria, praesens de praesentibus contuitus,
AUGUSTINUS, Conf. XI 28, 37 v. 5-13; Verheijen 213/4. AUGUSTINUS, Conf. XI 15, 20 v. 48-53; Verheijen 204.
226
3.3.4. Albertus Magnus I
praesens de futuris exspectatio. Si haec permittitur dicere, tria tempora video fateorque, tria sunt. Dicatur etiam:
praesens de futuris expectatio. Si haec permittimur dicere, tria tempora uideo fate orque, tria sunt. Dicatur enim: „Tempora sunt tria, praeteritum, praesens et fu turum", sicut abutitur consuetudo; di catur. Ecce non curo nec resisto nec reprehendo, dum tarnen intelle gatur quod dicitur, neque id, quod futurum est, esse iam, neque id, quod praeteritum est. sunt enim, quae proprie loquimur, plura non proprie, sed agnoscitur quid uelimus».11
loquimur».16 Albert hat den des Augustinus sorgfältig studiert. Aus dem um fangreichen Text wählte er zielsicher alle Stellen aus, die ihm mit der Physik des Aristoteles vergleichbar erschienen. Albert zitierte auch ungewöhnlich ge nau. Dabei entkleidete er jedoch den Zeittraktat aller theologischen Implikatio nen. Auf diese Weise erhielt Albert eine äußerst komprimierte Fassung des elf ten Buches der Confessiones. Diese Genauigkeit der Lektüre und Analyse hat im 13. Jahrhundert, soweit die Quellen sprechen, erst etwa dreißig Jahre später Heinrich von Gent erreicht.18 Der Sinn von Alberts Auswahl ist klar: Weil einige zentrale Passagen des Augustinustextes um das Nichtsein von Zukunft und Vergangenheit außerhalb der Seele kreisen, gelang Albert der Nachweis einer Übereinstimmung zwi schen Aristoteles und Augustinus. Ein Beispiel veranschaulicht diesen Sachver halt:
16 17 18
Vgl. Anm. 12. AUGUSTINUS, Conf. XI 20, 26 v. 1-13; Verheijen 206/7. Vgl. 3.6.2.4., S. 354-367.
227
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Aristoteles «Quod quidem igitur omnino non sit aut vix et obscure sit, ex his aliquis concipiet. Hoc quidem enim ipsius
Augustinus «... non metior
factum est et non est,
illud vero
futurum et nondum est;
ex his autem et infinitum et semper acceptum tempus componitur; ex his autem que non sunt compositum, in possibile esse videtur participare aliquando substantia.»19
futurum, quia nondum est,
non metior praesens, quia spatio tenditur, non metior
nullo
praeteritum, quia iam non est.»20
Albert fand also in diesem wesentlichen Punkt eine enge Übereinstimmung zwischen Aristoteles und Augustinus. Er hat diese Kongruenz nicht willkürlich konstruiert, sondern durch Zitate belegt. Bei Augustinus führt die Theorie des Nichtseins der Zeit'dimensionen zur Annahme eines innerseelischen Seins der Zeit. Da Aristoteles ähnlich argumentierte, betrachtete Albert seine Aussage auch als einen Hinweis auf das seelische Sein der Zeit. Interessant ist nun die Untersuchung dessen, was Albert den so verstandenen Thesen des Aristoteles und Augustinus entgegengesetzt hat. Albert widerlegt
19
ARISTOTELES, Phys. IV 10, 217 b 32-218 a 3, Transl. vetus; Bossier/Brams 170, 13-18 (218 a 3 <substantia>. Im griechischen Text dagegen: ουσίας!). 20 AUGUSTINUS, Conf. XI 26, 33 v. 24-26; Verheijen 211.
228
3.3.4. Albertus Magnus I Aristoteles mit Aristoteles. Dabei bezieht er sich auf den Mythos von den sardischen Schläfern21, den Aristoteles in seinem Zeittraktat diskutiert: 1 «Si forte dicatur, quod mensura illa in anima est, cuius sig num est, quod dolentes et infirmantes prolongant tempus propter multam attentionem motus infirmitatis et doloris. Voluptuosi autem et domini breviant tempus propter parvam at5 tentionem motus delectationis. Dormientes autem omnino non percipiunt, sed continuant nunc praecedens somnum ad nunc, ad quod terminatur somnus, non percipientes tempus medium, sicut legitur de his, qui dormiunt apud eroas in caverna, et sicut legitur de Sanctis septem dormientibus.»22
1 in anima est: est in anima L P cum in anima W 2 dolentes: dementes L dolores P / et add. etiam B D 3 multam attentionem: attentionem multam D / et: vel L 4 et del. vel L 8 qui dormiunt . L / dormiunt: dormierunt P W / eroas: heroas D emas P / caverna: Sardo D 9 legitur de Sanctis: de Sanctis legitur P
Transl. vetus; Bossier/Brams 173,7-13:«... sicuti neque in Sardo qui fabulantur certo dormire apud eruas, cum expergescantur; copulant enim primum nunc posteriori nunc et unum faciunt, removentes propter insensibilitatem medium. Tamquam igitur si non esset alterum nunc sed idem et unum, non esset tempus, sic et quoniam latet alterum esse, non videtur medium esse tempus.» 22 ALBERTUS, S. de creat. I (De IV coaequ.) tr. 2 q. 5 a. 1. Vgl. = Berlin, SBPK, Hamil ton 9 (ff. 28vb-29ra), L = Lilienfeld, StiB, 209 (f. 77rb-va ), P = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 18127 (f. 18), W = Wien, Dominikanerkl., 150/120 (f. 88ra) und D = ALBERTUS, S. de creat. I (De IV coaequ.) tr. 2 q. 5 a. 1; Borgnet 34, 366 b-367 a. Albert bezieht den Mythos des Aristoteles auf die Legende von den Siebenschläfern. Vgl. dazu: IACOBUS A VORAGINE, Le genda Aurea, ed. Th. Graesse, 18903 (Reproductio phototypica, Osnabrück 1969), 435-438: «De septem dormientibus.» 229
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Auch Avicenna hat diese Anspielung aufgegriffen.23 Albert wertet diese Textstelle bei Aristoteles keineswegs als Hinweis auf eine Abhängigkeit der Zeit von der Seele. Daß während der Unterbrechung des bewußten Lebens durch Schlaf eine bestimmte Zeiterstreckung ausfällt, ist für Albert kein Beweis für die Konstitution der Zeit durch die Seele. Er betrachtet diesen Vorgang eher als einen Ausfall der Teilhabe an der für alle verbindlichen außerseelischen Welt zeit. Das Konzept dieser Weltzeit sichert Albert mit den Argumenten Avicennas. Zugleich ist es das zentrale Dogma seiner Zeittheorie. Davon ist er auch später niemals abgewichen. Für die frühe Phase seiner zeitphilosophischen Ent wicklung trifft Alberts Selbstzeugnis aus dem Physikkommentar also nur be dingt zu:
«Sed haec de temporis natura sententia est ARABUM, li cet MULTI LATINORUM aliter sapiant, quos ego ALIQUANDO secutus; aliter forte dixi et scripsi. Sed hic per omnia Arabes sequi disposili, quia puto, quod intellectus eorum de tempore est verus.»24
Dieser Text zeigt, wie Albert in den 50er Jahren des 13. Jahrhunderts seine eigene philosophische Entwicklung in der Zeitphilosophie eingeschätzt hat: weg von den Lateinern und hin zu den Arabern. Dennoch steht fest, daß Albert schon in seiner Frühphase Avicenna intensiv studiert hat. Daher ist er in seiner Zeitphilosophie auf vielfache Weise von ihm abhängig. Mit Avicenna hielt Al bert fest, daß nicht die Seele das Sein der Zeit konstituiert.25
23
Vgl. AVICENNA, Suff. II 10; Venetiis 1508, 33 r b F-33 v a F: «Nos enim non putamus esse tempus: nisi cum sentimus motum. Infirmo enim vel dolenti elongatur tempus: et abbreuiatur voluptuoso: ideo quod motus diuersi retinentur memoriter in mentibus illorum duorum. sed delentur de memoria voluptuosi propter voluptatem eius. Qui autem non percipit motum: non percipit tempus. Sicut dormientes in cauema. quia qui non perceperunt motus qui fuerunt inter princípium recumbendi et dormiendi et inter horam expergescendi: nescierunt se nisi vna die dormiuisse. Auctor autem primus significauit quod aliquibus hominibus diuinis contigit simile huic. Et significat hora quod isti antea fuerunt quam dormitores caueme. Unde sunt dictiones an tique de certificatione esse temporis.» 24 ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 c. 6; Hossfeld 271, 6-10. 25 Vgl. ALBERTUS, S. de creat. I (De IV coaequ.) tr. 2 q. 5 a. 1; Borgnet 34, 367 a: « ... esse temporis non dependet ab anima ...»
230
3.3.4. Albertus Magnus I
Die Annahme einer außerseelischen Weltzeit gestattete auch die Widerlegung der aristotelischen These vom Nichtsein der Zeitdimensionen. Daß die Dimen sionen der Zeit zum Nichtsein zu tendieren scheinen, verweist nach Albert kei neswegs auf ein Sein der Zeit in der Seele. Es zeigt nur, daß die außerseelische Weltzeit nicht wie eine bleibende Entität aufzufassen ist. 1 «His suppositis, respondemus ad obiectum primum, quod par tes temporis non tendunt omnino in non esse. Et idcirco illa obiectio non concludit nisi quod de esse temporis nihil est ac4 cipere manens. Et hoc verum est.»26
1 his add. tribus L / suppositis: habitis P 2 tendunt: contendunt L 4 vemm est: est verum D
Mit dieser Argumentation versuchte Albert sowohl Aristoteles als auch Au gustinus zu treffen. Wie Grosseteste kritisierte Albert Augustinus. Aber er ging damals noch nicht so weit wie in den 50er Jahren des 13. Jahrhunderts. Dort eliminierte er Augustinus fast ganz aus seinem Physikkommentar. Mit Avicenna glaubte Albert an die Substanz und Existenz der Zeit. Wie Avicenna lehrte er, daß sie ein außerseelisches Kontinuum ist. Avicennas Zeitphilosophie besaß für Albert einen Vorzug: Sie sicherte eine für alle verbindliche Weltzeit. Wenn die Zeit nur in der Seele wäre, dann gäbe es nur für jenen Beobachter Zeit, der auf die Bewegung achtet. Alle anderen dagegen, die die Bewegung nicht zur Kenntnis nehmen, erlangen keine Zeit. Diese These weist Albert entschieden zurück. Da es eine außerseelische Weltzeit gibt, hängt die Zeit nicht von einer individuellen Seele ab. Die Seele leistet al lein die spezifische Auffassung der Weltzeit. Albert bemüht sich um eine Absicherung seiner Zeittheorie. Aber das Ergebnis dieser Bemühungen wirkt wenig überzeugend. Die Intersubjektivität des Zählprozesses ist nicht dadurch gefährdet, daß unterschiedliche Beobachter jeweils verschieden auf die Bewegung reagieren. Weil sich viel26
ALBERTUS, S. de creat. I (De IV coaequ.) tr. 2 q. 5 a. 1. Vgl. = Berlin, SBPK, Hamil ton 9 (f. 29rb), L = Lilienfeld, StiB, 209 (f. 77va), P = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 18127 (f. 18rä), W = Wien, Dominikanerkl., 150/120 (f. 88vb) und D = ALBERTUS, S. de creat. I (De IV coaequ.) tr. 2 q. 5 a. 1; Borgnet 34, 367 a.
231
Teil III - Das 13. Jahrhundert
mehr alle auf eine kontinuierliche Bewegung beziehen, erschließt sich ihnen eine gemeinsame Zeit. Doch darauf achtet Albert in seinem kurzen Gegenar gument nicht: 1 «A simili si tempus non esset nisi in anima, secundum unum esset tempus, scilicet attendentem motum, secundum alium non esset, scilicet non attendentem motum. Ergo esse temporis 4 non dependei ab anima, sed temporis perceptio.»27
1 a simili: sed a simili D 2 scilicet .P/motum del. tempus W add. et L W 2/3 atten dentem ... esset in marg. P 3 esset add. tempus L W
Alberts Stellungnahme zu Aristoteles ist ambivalent. Auf der einen Seite scheint ihm, daß Aristoteles das Sein der Zeit in der Seele postuliert. Dann aber findet er Textstellen, die ihn genau das Gegenteil vermuten lassen. Mit Avicen na versucht Albert daher, die Zeitphilosophie des Aristoteles in Richtung auf eine absolute Weltzeit zu drängen. Mit keinem Wort geht er dabei auf die <ari stotelische Zeitaporie> ein. Da Avicenna dazu schwieg, hielt sich auch Albert zurück. Die Bedeutung dieser Textstelle für das Verhältnis von Zeit und Seele hat er erst dann erkannt, als er selbst seinen eigenen Physikkommentar ausar beitete. Dabei griff er dann kontinuierlich auf die Analysen des Averroes zu rück.
27
ALBERTUS, S. de creat. I (De IV coaequ.) tr. 2 q. 5 a. 1. Vgl. = Berlin, SBPK, Hamil ton 9 (f. 29ra), L = Lilienfeld, StiB, 209 (f. 77va ), P = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 18127 (f. 18ra), W = Wien, Dominikanerkl., 150/120 (f. 88va) und D = ALBERTUS, S. de creat. I (De IV coaequ.) tr. 2 q. 5 a. 1; Borgnet 34, 367 a.
232
3.4. Die zweite Phase der Aneignung der Zeitphilosophie des Averroes In den 50er Jahren des 13. Jahrhunderts ließ sich bei der Diskussion der Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele die Auseinandersetzung mit Averroes nicht mehr vermeiden. In der ersten Phase der Averroesaneignung diskutierten die lateinischen Philosophen die Zeitphilosophie des Averroes nur sporadisch. Jetzt aber schob sich dessen Konzeption unaufhaltsam in den Vordergrund. Das Verhältnis von Zeit und Seele fand daher verstärkt Beachtung. Die Rezeption des Averroes verdrängte zudem alternative Lösungsmöglichkeiten. Zugleich führte sein Kommentar zu vertiefter Einsicht in die problematische Struktur der Zeitphilosophie des Aristoteles. Dennoch ist die Reaktion auf die Theorie des Averroes differenziert. Aver roes steht nun im Mittelpunkt der Diskussion. Seine Theorie löst jedoch unter schiedliche Rezeptionen aus. Die Stellungnahmen reichen von uneingeschränk ter Zustimmung über vorsichtige Kritik bis zu kompromißloser Ablehnung. Während Albert der Große in seiner Frühschrift De IV coaequaevis die Auseinandersetzung mit Averroes noch vermieden hat, holt er im Physikkom mentar den theoretischen Rückstand gegenüber Grosseteste und Bacon auf. Averroes rückt so sehr ins Zentrum seiner zeitphilosophischen Überlegungen, daß für die Beschäftigung mit Augustinus kein Platz mehr bleibt. Albert kriti siert Augustinus heftig. Darin folgt er der Intention Grossetestes und Bacons. Wie sie setzt er sich mit der von Averroes vorgelegten Deutung der <aristoteli schen Zeitaporie> auseinander. Dabei transformiert Albert das Auslegungssche ma des Averroes von der Transi. Arab-Lat. auf die griech.-lat. Übersetzung. Daneben versucht er jedoch, eine eigene Lösung zum Verhältnis von Zeit und Seele zu finden. Weniger vorsichtig als Albert verhält sich Thomas von Aquino. Er über nimmt in seinem Sentenzenkommentar die Deutung des Averroes zum Ver hältnis von Zeit und Seele, indem er das Perfektionsmodell der Zeit in seine Überlegungen einbezieht. Entschiedener als Albert drängt er Augustinus ganz aus der Diskussion heraus. Weniger distanziert gegenüber Augustinus philosophiert Bonaventura. Er übernimmt in seine Überlegungen bestimmte Positionen aus dem elften Buch der Confessiones. Aber auch sein im Sentenzenkommentar niedergelegtes Zeit konzept zeigt die Kenntnis des Averroes.
233
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Während Albert, Thomas und Bonaventura unter dem Einfluß des Averroes ihre Position modifizieren oder neu entwickeln, verfolgt R. Kilwardby in der Diskussion zum Verhältnis von Zeit und Seele im Anschluß an R. Bacon eme radikal antiaverroistische Strategie. Es gibt also seit Bacon eine bestimmte Li nie der Kritik an der Konzeption des Averroes. Aber niemand vermochte des sen Einfluß noch zurückzudrängen. Kilwardby stellt sich keineswegs nur gegen Averroes. Er kritisiert auch Augustinus. Immerhin zeigen seine Forschungen, daß die zeitphilosophische Diskussion in den 50er Jahren an Intensität gewon nen hatte: Kilwardby verfaßt einen Traktat, der ganz der Philosophie der Zeit gewidmet ist.
234
3.4.1. Albertus Magnus II Während Alberts Frühwerk De IV coaequaevis vor 1246 zu datieren ist, fällt sein Kommentar zur Physik des Aristoteles in die 50er Jahre des 13. Jahrhun derts. In dieses Werk brachte Albert alles ein, was er seit Mitte der 40er Jahre an naturphilosophischen Kenntnissen erworben hatte. Das war nicht wenig. Die Umformung der im Frühwerk De W coaequaevis niedergelegten Thesen be gann schon wenige Jahre später. Damals übernahm Albert die Aufgabe der uni versellen Kommentierung des Corpus Aristotelicum. Albert setzte gemäß der Anordnung der Werke des Stagiriten mit der Auslegung der logischen Schrif ten an. So war er gezwungen, gewisse zeittheoretische Aussagen, die erst in der Physik ihre eigentliche Begründung erfahren, vorwegzunehmen. Im ersten Buch seiner Logik legte er die Theorie der Kategorien vor. Im Zusammenhang damit erarbeitete Albert schon zu Beginn der 50er Jahre eine umfangreiche Konzeption der Zeit als kontinuierliche Quantität. Wichtig ist dabei besonders das Kapitel: «Qualiter tempus est quantitas continua»1. Es enthält Alberts zeit philosophisches <Systemprogramm>: 1 «Alia autem, quae dicenda sunt de tempore, vel ad physicum pertinent, vel ad metaphysicum, et ideo usque illuc differantur. In quarto enim Physicorum determinabitur natura tem poris. In parte autem illa Primae philosophiae. quae est De 5 causis, determinabitur, qualiter tempus se habet ad aeternitatem, et qualiter se habet nunc temporis ad nunc aeternitatis, et qualiter se habet quando temporis ad quando aeternitatis. Quantum autem pertinet ad intentionam logicam de tempore, sufficere videtur, quod nunc dictum est» 2
1 sunt: erant D 2 usque . D illuc corr, ex illud P 1 6/7 et2 ... aeternitatis om. D in marg. P 1 9 nunc: modo D
1
Vgl. ALBERTUS, Logica I (De praedicamentis) tr. 3 . 4; Borgnet 1, 200 a-202 b. ALBERTUS, Logica I tr. 3 . 4. Vgl. P 1 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 14382 (f. 48rb), P 2 = Paris, Bibl. Nat., Cod. Lat. 15449 (f. 113vb) und D = ALBERTUS, Lògica I (De praedica mentis) tr. 3 4; Borgnet 1, 202 b.
2
235
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Albert hat also eine systematische Einteilung der Philosophie der Zeit gefun den. Damit waren die Grundlinien der Zeittheorie abgesteckt, die er dann bis Ende der 60er Jahre ausarbeitete: I
Logischer Aspekt der Zeittheorie;
II
physischer Aspekt der Zeittheorie;
III
metaphysischer Aspekt der Zeittheorie.
Den oben angekündigten physischen Teil der Zeittheorie hat Albert im Physikkommentar vorgelegt. Er enthält die reifste Gestalt seiner Zeittheorie. In der Verteilung des Stoffes folgte Albert dem Gedankengang und der Anordnung des Aristoteles. Die Form der Darbietung aber ist von seinen eigenen Überle gungen geprägt. Durch gliedernde Überschriften und eingeschobene Digressio nen versuchte er eine Enthüllung der inneren Systematik des aristotelischen Zeittraktates. Dabei verstand sich Albert nicht bloß als Erklärer des Aristoteles, sondern legte auch eigene Ansichten vor. Daher gibt es verschiedene Schichten in seinem Physikkommentar. Albert schrieb komplizierte Paraphrasen der la teinischen Übersetzung des Aristoteles. Dort ist es schwierig, seinen Eigenanteil zu eruieren. Zwischen diesen Paraphrasen finden sich längere Abschnitte, die durch bestimmte Stellungnahmen den Text auflockern. Daneben hat Albert zahlreiche Digressionen abgefaßt, die wie kleine Traktate den Stoff aufarbeiten. Sie sind zumeist frei von Paraphrasen. Auf diese Weise zeigen Alberts Texte ei ne differenzierte Struktur: Zwischen völlig eigener Ausarbeitung und größt möglichem Aristotelesanteil gibt es in seinem Werk viele Zwischenstufen mit unterschiedlichem Eigenanteil. Inhaltlich erarbeitete Albert grundlegende Neuerungen. Neu gegenüber dem Frühentwurf ist der unübersehbare Einfluß des Averroes auf seine Konzeption der Zeitphilosophie. Ständig schwankt Albert zwischen Averroes und Avicenna. Averroes erschloß ihm die Bedeutung zahlreicher Aristotelesstellen. Mit Avi cenna wehrte er daneben bestimmte Theoreme des Averroes ab.3 Alberts Lei stung besteht daher in der sorgfältig konstruierten Kombination unterschiedli cher Ansätze.
3
Vgl. ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 6; Hossfeld 271, 9-: «Sed hic per omnia Arabes sequi disposili, quia puto, quod intellectus eorum de tempore est verus.»
236
3.4.1. Albertus Magnus II
Im Hinblick auf die Theorie von Zeit und Seele in Alberts Physikkommentar sind mehrere Aspekte zu berücksichtigen: I
Die skeptischen Fragen nach dem Sein der Zeit, die Aristote les zu Beginn seines Zeittraktates vorgestellt hat, haben für Albert ihre Funktion als Hinweis auf das seelische Sein der Zeit verloren. Jetzt gewinnt die<aristotelischeZeitaporie> an Bedeutung.
II
Daher rückt auch die Frage nach dem seelischen Sein der Zeit in den Mittelpunkt. Zum näheren Verständnis dieses Problems hat Albert eine umfangreiche Digression angefertigt.
III
Albert untersucht deshalb die<aristotelischeZeitaporie>, weil er nun erstmals in der Lage ist, diesen Text in seiner zentralen Bedeutung einzuschätzen.
IV
Da Albert die Zeitaporie mit Averroes als Hinweis auf das seelische Sein der Zeit versteht, ist er als Anhänger einer au ßerseelischen Zeit gezwungen, eine eigene Theorie des Ver hältnisses von Zeit und Seele zu entwickeln. Dies geschieht im Anschluß an seine Auslegung der Zeitaporie.
Die Auslegung Alberts zu ARISTOTELES, Phys. IV 10, 217b 32-218 a 3 in der Frühschrift De IV coaequaevis beweist, daß Albert damals aus dieser Stelle einen Beweis für die Theorie des seelischen Seins der Zeit herauslas. Im Phy sikkommentar ist das nicht viel anders, wie seine Paraphrase dieses Abschnittes deutlich zeigt: Aristoteles
Albert
«Quod igitur omnino non sit tempus aut sit vix et obscure, ex dicendis aliquis concipere poterit; quod enim vere
237
Averroes
Teil ΠΙ - Das 13. Jahrhundert
Aristoteles
Albert
Averroes
est, cum sit compositum ex partibus continuïs, ha bet partes existentes, ex quibus est sua continuitas; sed tempus non habet partes existentes; ergo tempus non videtur es Partium se enim temporis duae sunt, scilicet praeteritum et futurum... Praeteritum autem non est, sed factum est et transiit. Futurum autem nondum est Praesens autem, cum sit indivisibile, non est pars continui temporis; ergo infinitum tempus, quod semper accipitur sine fine, componitur ex his quae non sunt. Ex his autem quae non sunt compositum, non videtur participare aliquando substantiam, qua sit; ergo tempus omnino nihil est, aut si est, vix est, sicut sunt ea quorum esse est permixtum privationi, et cum hoc obscure est, quia secundum potentiam est, et forte apud intellectum est actus eius, ut QUIDAM dixerunt. Sed nos de hoc INFERIUS quaeremus.»4 4
ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 c. 1; Hossfeld 259, 57-260, 14.
238
3.4.1. Albertus Magnus II
Wie in seiner Frühschrift deutet Albert diesen Textabschnitt als Hinweis auf das seelische Sein der Zeit. Allerdings hat er nun, wie durch P. Hossfelds Edi tion des Physikkommentars drucktechnisch sichtbar ist, Satzelemente bzw. For mulierungsstrukturen aus dem Kommentar des Averroes in die Paraphrase ein gebunden. Augustinus dagegen fehlt in diesem Zusammenhang ganz. Im Hin blick auf das Grundproblem, die Frage nach dem Verhältnis von Zeit und See le, hat diese Stelle ihre frühere zentrale Bedeutung verloren. Albert verweist nun auf spätere Ausführungen, die den Zusammenhang von Intellekt und Zeit näher erläutern sollen. Dieser Befund zeigt deutlich, daß Averroes bei Albert in der Zwischenzeit erheblich an Einfluß gewonnen hatte. Augustinus dagegen büßte die Bedeutung ein, die er noch in der Frühschrift Alberts besaß. Wie sich die Gewichte verschoben haben, zeigt ein zentraler Abschnitt aus Alberts Zeit abhandlung, der sich allgemein mit den Theoretikern des seelischen Seins der Zeit auseinandersetzt. Alberts Zeittheorie ist eine sorgfältig ausbalancierte Kombination verschie denster Einflüsse. Ausgangspunkt seiner Überlegungen bleibt Aristoteles. Aber die Wertung dessen, was die Zeitphilosophie des Aristoteles sein soll, nimmt Albert aus der Perspektive der arabischen Philosophie vor. Zunächst ist hier Avicenna zu nennen. Dessen Lehre einer für alle verbindlichen außerseelischen Weltzeit hat Albert nicht aufgegeben. Daneben schien ihm wohl auch die Form von Avicennas Zeittraktat vorbildlich. Wenn jener seine Untersuchungen mit einem Kapitel über die Mannigfaltigkeit der überlieferten Zeittheorien begann, so folgte ihm Albert darin. Da er die Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele als Grundfrage der Zeitphilosophie ansah, schrieb er eine Digression, die sämtliche damals verfügbaren Thesen zum seelischen Sein der Zeit zusammen faßte. Avicennas entsprechendes Kapitel diente ihm dabei als Textsammlung. Aber auch das intensive Studium des Physikkommentars des Averroes hatte Albert großen Gewinn gebracht. Daher finden sich in seinem eigenen Kom mentar nicht nur Spuren dieser Lektüre, sondern Albert ist in einem noch zu bestimmenden Umfang massiv von Averroes abhängig. Averroes vermittelte ihm jedoch nicht nur Hilfen bei der Kommentierung des Aristotelestextes. Er verschaffte ihm darüber hinaus Kenntnisse der antiken Kommentare, die Albert bis dahin verschlossen waren. Durch das Studium dieser für ihn neuen Texte vertiefte sich Alberts Einblick in die Problematik der Frage nach dem Ver hältnis von Zeit und Seele. Er erhielt zum ersten Mal eine detaillierte Analyse der aristotelischen Zeitaporie>. Daher ist es nicht verwunderlich, daß Albert aus diesem <Weiterbildungsprozeß> verändert hervorging.
239
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Neben diesen arabischen Einflüssen verfügte Albert noch über das Erbe. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, daß er davon kaum Ge brauch machte. Aber Albert konnte es nicht ganz beiseite schieben. Dafür war die Zeittheorie des Augustinus, die das Verhältnis von Zeit und Seele in den Mittelpunkt der Zeittheorie stellte, im 13. Jahrhundert zu bekannt. Diese drei Quellen wertete Albert aus. Das Ergebnis seiner Forschungen war ein kleiner , der den Titel trug:
«Hic est digressio declarans sententiam eorum qui dicunt tempus non esse nisi in anima».5
Die erste Quelle, die Albert für seine Digression benutzte, war das einlei tende Kapitel im Zeittraktat Avicennas.6 Albert fand dort Typologien und Sche mata vor, die die Theorie vom seelischen Sein der Zeit kurz und faßlich auf das Wesentliche reduzierten. Zwei Theorien, das Komparations- und das Aggrega tionsmodell, übernahm Albert ohne grundlegende Modifikation aus dem Text Avicennas.7 Avicenna «Dixerunt ergo tempus esse quoddam quod formatur in intellectu de comparatione mobilis ad duos termi nos transitus quod est circa vnum eorum in effectu: et non est circa alterum in effectu: quia hoc quod est illic non habet esse cum hoc
Albert «Et sunt illi qui dicunt, quod ex re bus, quae sunt absolute in rebus, surgunt formae comparationum, quae non sunt nisi in anima compa rante et non in rerum sunt natura.
5
ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 3; Hossfeld 263, 18-265, 13. Vgl. AVICENNA, Suff. II 10; Venetiis 1508, 32 v b A-33 v b H: «Initium loquendi de tem pore et de diuersitate sentiendi de eo et de his que opponuntur errantibus in eo.» 7 Zur allgemeinen Charakteristik dieser Theorien vgl: 2.2., S. 104-111. 6
240
3.4.1. Albertus Magnus II
Avicenna
Albert
quod est hic. In sensibilibus autem habet esse in anima. habet enim esse in anima simul: et іmaginatio vtríus que: et imaginat io medii quod est in ter illos simul. non habet autem esse in sensibilibus aliquid existens inter illos. Est autem in intellectu aliquid quod imaginatur in ratione scilicet quod interim dum mobile est hic et Ulic: est aliquid ad cuius mensuram perficitur transitus: aut in hoc cito: aut in hoc tarde: que habent isti mo tus: aut quia habent istos ex motibus multis et quietibus compositos. Ergo tempus est mensura cursus mo tus que non habetur: nisi quia ratio depingit earn in se: cum formantur in ea vtrique termini motus in effectu simul. Sicut predicare et subiіere et prsitio et his similia que sunt talia que ratio adinuenit in rebus intellectis: et comparationes quas ponit inter illas quorum nullum est de numero exisļ tentium.»8
Ita etiam dicunt hic, quod cum mo bile sit in transitu spatii, accipit ipsum anima ante et post, et remanet in anima ante et post, licet in re non sit remanens, et comparat, quam cito est mobile de anteriori spatio in posterius. Et haec comparatio, qua sic mensurat motus mobilis, vocatur tempus, cum tamen in re ipsa actu non sit nisi hic et potentia in ulteriori parte spatii et quod prius fuerit in anteriori, quod pertransit; et sic transitum illum comparando de anteriori in ulterius et distinguendo per hoc quod est me dium inter ante in spatio et post, facit anima tempus ... »9
Albert verfährt hier weniger nach dem Buchstaben, sondern eher nach dem Geist Avicennas. Er lockert dessen schwerverständliche Diktion auf und arbei tet dabei den Sinn klar heraus. Gemäß dieser Position konstituiert der innerseelische Vergleich (comparatio) des Übergangs zweier Bewegungspositionen, die in der außerseelischen Realität nicht zusammen auftreten, die Zeit. Dieses rela tiv einfache und übersichtliche Komparationsmodell ergänzt Avicenna durch das Aggregationsmodell. 8 9
AVICENNA, Suff. II 10; Venetiis 1508, 33 r a C/D. ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 . 3; Hossfeld 263, 23-38.
241
Teii III - Das 13. Jahrhundert
Albert
Avicenna «Dixit autem sententia quam prenominauimus: quod tempus non est nisi aggregatio mo mentorum. Cum enim tu ordinaueris momenta sibi succedentia et coniunxeris non dubitabis quin illorum aggregatio sit tempus. Et quando quidem sic est: tunc cum cognouerimus momenta: cognoscemus et tempus. Sed non est momentum nisi quantum concessit momentator: hoc est scilicet vt signet initium alicuius accidentis quod accidit illi: et dicat verbi gratia erit sic et sic post duos dies. Cuius sensus est scilicet quod erit cum eleuatione solis post duas eleuationes. Ergo momentum est eleuatio solis. Ergo eleuatio solis non fit momentum: nisi propter assignationem illius qui hoc dixit. Si enim voluisset: aliud signum posuisset: sed eleuatio solis est communior et notabilior et diuulgatior. Et ideo elegit hoc: et alii huiusmodi ad delerminandum tempus. Ergo tempus est collectio rerum que sunt momen ta designata: aut que soient poni momenta designata. Et dixerunt quod tempus non habet esse aliter nisi hoc modo. Scitur autem hoc ex rationibus prepositis.»10
10
«Dicit autem ista sententia, ut refert AVICENNA, quod in ventate ,tempus non est nisi aggregatio momentorum'.
Huius autem signum esse dicit, quod percipitur tempus, quando momenta congregantur. Momenta autem de signare sic vel aliter est in voluntate aggregai)tis et designantis;
verbi gratia, cum dicit, erit sic vel sic cras vel post duos dies, quando elevabitur sol,
et posset, si veliet, aliud designare, quod esset momentum determinans quam solis elevationem.
AVICENNA, Suff. Π 10; Venetiis 1508, 33 r b D.
242
3.4.1. Albertus Magnus II
Albert Cum autem momentorum aggregationem sic dicant illi esse tempus, dicunt tarnen, quod anima comparat momentum momento secundum suc cessionem motus, et ideo tempus est per modum extensionis continuae; protenditur enim imaginatio vel alia vis animae in praeteritum ex praesenti vel in futurum, et hanc protensionem vocant isti temporis continuitatem.»11 Auch die zweite Reflexion, die Albert aus dem Zeittraktat Avicennas ent nommen hat, ist kein bloßes Referat, sondern trägt die Züge einer eigenständi gen Umarbeitung. Albert charakterisiert das Aggregationsmodell, indem er ihm durch beigefügte Zusätze sowie durch paraphrasierende Umarbeitungen eine neue und verständlichere Gestalt gibt. Es ist die Seele, die aus den einzel nen Momenten eine kontinuierliche Zeit konstituiert. Anders als Avicenna wid met Albert der Seelenkraft, die diese Aggregation vornimmt, größere Beach tung. Er spricht von der Einbildungskraft, die sich aus der Gegenwart in die Vergangenheit und in die Zukunft erstreckt. Albert hatte demnach bei der Be trachtung dieses Zeitmodelles die Zeittheorie des Augustinus immer mit im Blickfeld. Wie seine Frühschrift zeigt, waren ihm die zeitphilosophischen Überlegungen des Augustinus bis ins Detail vertraut. Wenn Albert daher ähnli che Formulierungen bei Avicenna las, dann begutachtete er sie aus dem Blick winkel seiner Kritik an der Zeitkonzeption des Augustinus. Albert hatte in seinem Frühwerk De IV coaequaevis Augustinus umfang reich zu Wort kommen lassen. Er zitierte das elfte Buch der Confessiones aus führlich. Dadurch trat die Konzeption des Augustinus detailliert zutage. Aristo teles dagegen behandelte er in Form einer Paraphrase. In der Digression zum seelischen Sein der Zeit änderte sich das. Albert vollzog eine radikale Kehrt wendung. Jetzt ist es nämlich Augustinus, dem er nur noch wenig Raum ge währt. Selbst eine Paraphrase scheint Albert nicht mehr angebracht. Er faßt das Anliegen des Augustinus nur in einem kurzen Abschnitt zusammen. Auch der 11
aLBERTUS, Phys. IV tr. 3 c. 3; Hossfeld 263, 39-54.
243
Teil III - Das 13. Jahrhundert
wohlwollende Ton gegenüber Augustinus, der in Alberts Frühwerk noch spür bar ist, verschwindet ganz. Schon damals teilte Albert nicht die Auffassung des Augustinus über die Natur der Zeit. Aber er stellte sie wenigstens vor und be schäftigte sich mit ihr. Nun jedoch, etwa zehn Jahre später, ist Alberts Respekt vor den Leistungen des Augustinus auf diesem Gebiet vollständig verschwun den:
«AUGUSTINUS etiam disputans, an tempus sit in anima, quaerit, si tempus sit extra animam, ubi sit. Praeteritum enim cum non sit, nusquam est in rerum natura; futurum etiam cum nondum sit, non habet esse in rerum natura; ergo si tempus est in rerum natura extra animam, hoc erit praesens. Quaeramus ergo, quid sit praesens. Hoc au tem est, cuius nihil praeteriit et nihil futurum est. Hoc autem non est annus vel mensis vel dies vel hora vel aliqua pars horae divisibilis; ergo praesens non est nisi in divisibile nunc. Sed indivisibile nunc non est tempus n pars temporis; ergo ratione illius non erit tempus extra animam.»12
Albert hat mit wenigen Worten zusammengefaßt, was ihm als das zentrale Anliegen des Augustinus erschien. Schon in dem Augustinusreferat, das er in seinem Frühwerk niedergelegt hat, befindet sich der diesem Konzentrat zu grundeliegende Abschnitt.13 Der übrige Kontext fehlt jedoch. Albert hat jetzt die Theorie des Augustinus auf einen einzigen Aspekt verengt. Die Vergangen heit ist nicht mehr, die Zukunft existiert noch nicht. Allein die Gegenwart ist gegeben. Jene ist jedoch progressiv teilbar. Zuletzt bleibt von der Gegenwart nur noch das unteilbare Jetzt übrig. Das ist jedoch weder die Zeit noch ein Teil der Zeit. Also befindet sich die Zeit in der Seele. Dieses seelische Sein der Zeit, das aus der Verengung der präsentischen Gegenwart hervorgeht, steht nun im Zentrum der Betrachtung Alberts. Ein wörtliches Zitat oder eine Paraphrase erschien ihm im Physikkommentar als zu umfangreich. Die komplizierten und schwierigen Forschungen des Augustinus zur Zeitproblematik sind bei Albert 12 13
ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 3; Hossfeld 264, 51-62. Vgl. 3.3.4., S. 223-227.
244
3.4.1. Albertus Magnus II
zur stichwortartigen Zusammenfassung heruntergekommen. Albert wollte durch den Verzicht auf genaue Zitation den Überblick erleichtern. Dabei unter schlug er jedoch den ganzen Reichtum und die Originalität des elften Buches der Confessiones. Doch damit begnügte sich Albert noch nicht. Er kannte zwar den erheblichen Einfluß der Thesen des Augustinus14, ließ sich jedoch dadurch nicht determi nieren. Diese Distanzierung Alberts von Augustinus zeigt, welch große Bedeu tung die arabische Zeitphilosophie für seine Konzeption nun besaß.15 Diese Re zeption ging jetzt erheblich weiter als in seinem Frühwerk. Albert hielt nun eine philosophische Auseinandersetzung mit der Zeittheorie des Augustinus, die er auf das reduziert hatte, nicht mehr für not wendig. Neben Augustinus kannte Albert mit Galen noch einen weiteren Theoretiker, der das Verhältnis von Zeit und Seele auf provokante Weise behandelte. Die Argumentation des Augustinus konnte Albert intensiv studieren. Er hat sich auch, wie die längeren Zitate in der Frühschrift De IV coaequaevis beweisen, mit dem elften Buch der Confessiones intensiv befaßt. Im Hinblick auf Galen war dies jedoch nicht möglich. Albert studierte nur die Textfragmente aus Ga lens Apodeiktik, die Averroes aus den antiken Kommentaren in seinen eigenen Physikkommentar übernommen hatte.16 Albert der Große nahm also durch Averroes einen Einblick in die Kontro verse zwischen Galen und den antiken Physikkommentatoren. In den 50er Jah ren des 13. Jahrhunderts verstand er sich ohnehin mehr und mehr selbst als und Erbe dieser Philosophenschule. Ihre Texte und Schriften wertete er, soweit sie ihm zugänglich waren, sorgfältig aus. Daher griff er auch die Textbruchstücke aus der Schrift Galens begierig auf und untersuchte sie in tensiv. Im Vergleich mit diesen Dokumenten aus dem Umkreis des Aristotelismus trat die Zeitphilosophie des Augustinus in den Hintergrund.
14 Vgl. ALBERTUS, Phys. IV tr 3 3; Hossfeld 264, 62-65: «His rationibus et quibusdam aliis videntur QUIDAM magnae auctoritatis VIRI inducti, ut dicant tempus non esse nisi in ani ma intantum ...» 15 Vgl. ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 . 6; Hossfeld 271, 6-10: «Sed haec de temporis natura sententia est ARABUM, licet MULTI LATINORUM aliter sapiant, quos ego ALIQUANDO secutus; aliter forte dixi et scripsi. Sed hic per omnia Arabes sequi disposui, quia puto, quod intellectus eorum de tempore est verus.» 16 Vgl. 2.4., S. 164-171.
245
Teil ΠΙ - Das 13. Jahrhundert
Vor jeder Kritik vollzieht Albert eine Rezeption. Er nähert sich dabei der Zeitphilosophie Galens in mehreren Schritten. Die erste Stufe beginnt aber mit einem Mißverständnis. Albert bezieht sich auf folgenden Averroestext:
35
40
45
50
«Et, si poneremus ipsum sequi aliquem motum proprium, verbi gratia motum corporis caelestis, tunc qui non senserit in aliqua hora ipsum, non sentiet tempus aut non sentiet ipsum omnino, ut dicit Plato de incarceratis a pueritia sub terra, scilicet quod, si non comprehenderetur nisi per comprehensionem alicuius motus sensibilis, verbi gratia motus caeli, tunc isti incarcerati non sen tirent tempus, quia numquam senserunt motum corporis caelestis. Et ideo dixit: Quoniam insimul sentimus motum et tem pus, etc. Idest, quoniam sentire tempus non est per sentire aliquem motum comprehensum per aliquem sensum. Nos enim sen timus tempus existendo in obscuro absque eo, quod accidit sensibus nostris aliquis motus. Et hoc non est, nisi quia sentimus motum in nos tra anima qualemcumque et quemcumque.»17
33 poneremus: posuerimus D 37/38 ipsum omnino: omnino ipsum P 1 48 enim: autem P2 50 accidit: accidat D 53 et quemcumque om. D et quamcumque P1
AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 98, v. 32-53. Vgl. P 1 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 15453 (f. 52ra/b), P 2 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 16159 (f. 63vb) und D = AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 98; Venetiis 1562, 178 v G-l. 17
246
3.4.1. Albertus Magnus II
Aus dieser Textvorlage fertigt Albert eine Paraphrase an, indem er den Sinn der Aussage des Averroes in eigene Worte faßt. Dabei geht er von einzelnen Termini des Arabers aus, die ihm als Stützpfeiler seiner Überarbeitung dienen: Albert
Averroes
«Adhuc autem, est obiectio GALIENI, quia si tempus non est nisi in caelo per motum caeli, illi nihil percipiunt de motu caeli, nihil percipiunt de tempore. Sunt ergo aliqui nati claustris, qui caeli viderunt nec perceperunt; illi er go nihil perceperunt de tempore, quod falsum est, quia percipiunt tempus per ergo tempus est in anima per motus animae.»18
tunc qui
incarcerati sub terrae numquam motum
motus animae;
Zunächst ist festzuhalten, daß Albert hier Galen eine Meinung zuschreibt, die dieser nicht vertreten hat. Im vierten Buch von Averroes' Physikkommentar, auf das sich Albert bezieht, steht im Druck von 1562 an dieser Stelle .19 Auch die hier geprüften Handschriften zeigen keinen anderen Befund, Viel leicht hat Albert ein Manuskript vorgelegen, das fehlerhaft war und statt enthielt, Möglich ist auch, daß Albert den Text eigenmächtig geändert hat.20 Im Hinblick auf Galen ist der Text dunkel. Durch einen Verweis auf Plato erhält er jedoch einen leicht zugänglichen Sinn. Gemeint ist nämlich Platos Höhlengleichnis.21 Wenn die Zeit an die Bewegung des Himmels gebun18
ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 3; Hossfeld 264, 18-25 (Zuordnung des Averroestextes ab weichend von Hossfeld). 19 Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 98; Venetiis 1562, 178 ν Η. 20 Eine Überprüfung der Handschriften zeigte bei den entsprechenden Stellen immer . Vgl. Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 14385 (f. 82rb); Cod. lat. 15453 (f. 52rb); Cod. iat. 16159 (f. 63vb). 21 Im platonischen Höhlengleichnis erschließt sich der freigelassene Gefangene mit dem Zu gang zur Sonne und ihrem Umlauf auch die Zeit. Vgl PLATO, Resp. 516 b 9- 2: Και μετά
247
Teil III - Das 13. Jahrhundert
den ist, dann ist denjenigen die Zeit unzugänglich, die niemals die Himmelsbe wegung gesehen haben. So bleiben die Gefangenen unter der Erde (die Höhlen bewohner aus Platos Höhlengleichnis), denen der Blick zum Himmel verwehrt ist, völlig von der Zeit abgeschnitten. Diese Theorie sei - so referiert Albert den von ihm Galen zugeschriebenen Text - jedoch abzulehnen, weil die Zeit (nach Galen) durch eine Bewegung der Seele entsteht. Da die Höhlenbewohner ohne Kenntnis der Himmelsbewegung dennoch die Zeit empfinden, wäre damit bewiesen, daß die Zeit ein Konstrukt der Seele ist. Auf diese Weise modifiziert Albert das Höhlengleichnis Platos zu einem Theorem Ga lens. Ausgehend von dieser philosophiegeschichtlich falschen Voraussetzung nä hert sich Albert in einem zweiten Schritt den Galenfragmenten des Averroes. Er bezieht sich dabei auf folgenden Text:
55
60
65
«Non sicut aestimavit Galenus. Galenus enim credidit, quod Aristoteles intendebat, quod nos non comprehendimus tempus, nisi cum movemur, idest, quoniam per imaginationem comprehendimus motum. Et quod hoc est signum, quod tempus non est extra motum. Et cum Galenus aestimavit hoc, contradixit Aristoteli. Et dixit, quod multotiens compre hendimus res quiescentes et move mur, cum omnis imaginatio sit motus, ut quando comprehendimus polos mundi et centrum.»22
54/55 aestimavit: existimavit D P 1 55 enim del. non Ρ2 / Aristoteles . Ρ 1 57 nisi add. velut Ρ 1 / cum add. nos Ρ 1 / idest . Ρ 2 add. dixit Ρ 2 / quoniam: quando D 59 hoc est: est hoc P1 60 est . Ρ1 61 aestimavit: existimaverit D / contradixit: cum dixit Ρ1
248
3.4.1. Albertus Magnus II
Albert
Averroes
«Si autem quis diceret Galieno, quod percipitur tempus, cum percipitur motus, non animae, sed rerum exteriorum, et ita tempus non est in anima per mo tus animae, sed potius per motum rei exterioris, sic enim intelligere de na GAUENUS Aristotelem tura temporis imponit et arguii eum instantiam ferens huic dicto et dicens, quod saepe imagina mur res stantes et in ipsis et super ipsas movetur imaginatio nostra et in illo motu percipimus tem pus, tempus ergo causatur a motu ani mae etiam stantibus rebus immobilibus in natura; ergo essentiale erit tempori esse in anima per motum animae et non per motum rei.»23 Albert hat sich hier bemüht, die Position Galens adäquat zu interpretieren. Nach Galen begleitet die Zeit die seelischen Prozesse des Erkennens. Sie ist da her von außerseelischen Bewegungen völlig unabhängig. Albert verknüpfte die se Überlegungen mit Platos Höhlengleichnis, das er fälschlicherweise Galen zu schrieb. Die von der kosmischen Bewegung abgeschlossenen Höhlenbewohner erfahren die Zeit auch ohne die Kenntnis der bewegten Himmelskörper allein aus ihren seelischen Veränderungen. Albert rückte daher Galens Theorie eines Zusammenhangs der Zeit mit der psychischen Bewegung in die Nähe der Kon zeption des Augustinus. Wenn Galen die Zeit mit der Bewegung der Seele ver bindet, dann ergibt sich für Albert zwanglos eine Nähe zur Zeitphilosophie des Augustinus. Diesen auf den ersten Blick merkwürdigen Zusammenschluß hat Albert als erster vollzogen. Nach dem Referat des Averroes setzt Galen Zeit und in einen Zusammenhang. Daher nahm Albert sich das Recht, Augustinus und Galen miteinander zu verknüpfen. In einem anderen Abschnitt verurteilte er sie sogar gemeinsam. Dieser Text trägt den Titel:
23
ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 3; Hossfeld 264, 25-37.
249
Teil III - Das 13. Jahrhundert
«Quod cognitio temporis dependet a cognitione motus, eo quod non percipitur tempus sine motu.»24
Albert bezieht sich auf folgende Ausführungen des Averroes:
175
180
185
190
«Et in hoc etiam peccavit Galenus et intellexit, quod Aristoteles intendebat per hoc, quod dixit, cum nos non fuerimus transmutati in nobismetipsis, quod nos non comprehendimus tempus, cum non fuerimus moti per imaginationem. Sunt enim tres intentiones, quarum una est, quod nos non percipimus tempus, nisi quando fuerimus moti in anima nostra. Et hoc aestimavit Galenus et est corrupta per se. Se cunda autem est, quod nos non percipimus tempus, nisi cum perceperimus aliquem motum, quicumque sit. Et hoc est percipere per accidens. Tertia ve ro est, quod nos non percipimus tempus, nisi cum perceperimus nos transmutari, quia sumus in esse trans mutabili. Et ista perceptio est perceptio, quam sequitur tempus essentialiter.»25
174 et: qui D 176 fuerimus: fuimus P 1 178 cum non: nisi quando P 2 180/181 percipimus: percepimus P 2 182/183 aestimavit: existimavit D 183 corrupta: corruptus P 1 P 2 184/185 percipimus: percepimus P 1 185 cum add. nos P1 188 percipimus: percepimus P 1 / add. mo tum neque D 189 tempus . 1 24
ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 . 4; Hossfeld 265, 14-267, 34. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 98, v. 173-192. Vgl. P 1 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 15453 (f. 52va), P2 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat: 16159 (f. 64) und D = AVER ROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 98; Venetiis 1562, 179 r E/F.
25
250
3.4.1. Albertus Magnus II
Die einzelnen Motive Alberts zeigt folgende Paraphrase: Albert
Averroes
«Cum enim dicatur transmutari se cundum animam secundum tres modos, scilicet quod nos non percipimus tempus, nisi quando fuerimus moti motu animae, qui est motus imaginationis vel intelligentiae, et hoc modo dixerunt GALIENUS et AUGUSTINUS nos percipere tem pus esse in tempore, dixerunt enim, quod esse in tempore est esse in vicibus motuum animae vel alterius creaturae spiritualis, et cum motus animae sit simplex et non habeat proprie prius et posterius, constat, quod iste motus proprie non dicit nos percipere tem pus, et ideo est sensus corruptus, eo quod nec GALIENUS AUGU STINUS sciverunt bene naturas re rum.» 26 Weil Augustinus die Zeit nicht nur in die Seele versetzt, sondern auch als in nere Veränderung der spirituellen Substanzen versteht, brachte Albert Galen und Augustinus in einen Zusammenhang. Zugleich warf er ihnen mangelnde naturwissenschaftliche Kenntnis vor. Mag dies zumindest in Hinblick auf Galen fragwürdig sein, so hatte Albert in bezug auf Augustinus vom Standpunkt des 13. Jahrhunderts her mehr recht. Die naturphilosophischen Ausführungen des Augustinus erschienen damals im Vergleich zu den umfangreichen naturwissen schaftlichen Schriften des Aristoteles eher rückständig. Indem Albert jedoch die Forschungen des Augustinus zur Zeittheorie verwarf, beraubte er sich selbst der Möglichkeit, die Originalität des Augustinus auf dem Gebiet der Philoso phie der Zeit für sich zu nutzen.
26
ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 4; Hossfeld 265, 24-36.
251
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Ist dieses harte Urteil über Augustinus und Galen singulär im umfangreichen Werk Alberts? Oder gibt es an anderer Stelle vergleichbare Aussagen? Ist viel leicht sogar eine entwicklungsgeschichtlich erklärbare Veränderung im Urteil Alberts erkennbar? Diese Fragen müssen hier offenbleiben. Ihre Beantwortung setzt nämlich eine vollständige Sichtung der Werke Alberts unter diesem Ge sichtspunkt voraus. Davon ist die Forschung jedoch noch weit entfernt. Aller dings gibt es eine frühe Äußerung Alberts im Sentenzenkommentar, die als Vorstufe zur Augustinus- und Galenverurteilung im Physikkommentar zu be zeichnen ist. Es handelt sich um eine Art <Wissenschaftsprogramm>, das es Al bert erlaubte, die schon damals unübersichtliche Vielfalt der Überlieferung nach aktuellen Gesichtspunkten zu ordnen. Das Diktum befindet sich im zweiten Buch von Alberts Kommentar zu den Sentenzen des Petrus Lombardus. Dieses Werk entstand nach der Pariser Summe zwischen ca. 1246 und 1249.27 Albert versuchte dort eine philosophische Erklärung der Natur des Lichtes.28 Dazu er forschte er die entsprechenden Theorien unterschiedlicher Autoritäten. Da es sich einerseits um philosophische Thesen des Aristoteles etc., andererseits um Aussagen des Augustinus handelt, gab Albert sein Grundsatzprogramm zur Entscheidung zwischen diesen Alternativen bekannt: 1 «Unde sciendum, quod Augustino in his, quae sunt de fide et moribus, plusquam Philosophis credendum est, si dissentiunt. Sed si de medicina loqueretur, plus ego crederem Galeno vel Hipocrati; et si de naturis rerum loquatur, credo Aristoteli 5 plus vel alii experto in rerum naturis.»29
1 unde: tarnen 4/5 credo Aristoteli plus: plus credo Aristoteli
27
Vgl. Η. Stehkämper (Hrsg.), ALBERTUS MAGNUS. Ausstellung zum 700. Todestag, Köln 1980, 124: «vor 1246 - 1249». 28 Vgl. ALBERTUS, In Π Sent. d. 13; Borgnet 27, 244 a-254 b: «De productione creaturae corporalis quantum ad principium formale, generale omnibus corporibus, quod est forma lucis: et dicitur haec productio distinctio.» Der zweite Artikel des dritten Teils dieser zielt direkt auf die Grundverfassung des Lichtes. Vgl. ALBERTUS, In Π Sent. d. 13 . 2; Borgnet 27, 245 a-248 b: «Utrum illa lux de qua dicitur, Et divisit lucem a tenebris, fuerit nubecula luci da, vel corpus, vel forma corporis?» 29 ALBERTUS, In II Sent. d. 13 . 2. Vgl. = Berlin, SBPK, Theol. lat., fol. 320 (f. 37 vb) und D = ALBERTUS, In II Sent. d. 13 . 2; Borgnet 27, 247 .
252
3.4.1. Albertus Magnus II
Albert hat die Fächer säuberlich voneinander getrennt und jeder Autorität das ihr gemäße Sachgebiet zugewiesen. Bei der graphischen Darstellung dieser Wissenschaftstheorie ergibt sich folgendes Schema:
Albert stellt also fest: Wer in der (christlichen) Sittenlehre auf widersprüch liche Aussagen zwischen den Philosophen und Augustinus stößt, muß Augusti nus mehr glauben als ihnen. In der Medizin dagegen gibt Albert Galen und Hip pokrates den Vorzug. Bei den Wissenschaften, die sich auf die Natur der Dinge beziehen, sollte der Unschlüssige dagegen dem Aristoteles oder einem anderen <Experten> folgen. Ein Vergleich dieser Ausführungen mit den radikalen Formulierungen, die Albert zu Augustinus und Galen im Physikkommentar gebraucht hat, ergibt folgenden Befund: Zwar erkennt Albert Augustinus und Galen im Sentenzen kommentar auf ihrem jeweiligen Gebiet als Autoritäten an, aber diese Umgren zung ihres Zuständigkeitsbereiches bedeutet auch eine Eingrenzung auf be stimmte Wissenschaftszweige. Albert beschränkt die Glaubwürdigkeit des Au gustinus auf die Angelegenheiten des Glaubens und der christlichen Sittenlehre. Galen und Hippokrates sind nur für medizinische Fragen zuständig. Dort, wo Aristoteles die höhere Kompetenz hat, müssen Augustinus und Galen weichen. Von dieser frühen Äußerung Alberts bis zu den drastischen Formulierungen im
253
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Physikkommentar ist es im Grunde nur ein kleiner Schritt. Albert hat im Phy sikkommentar nur das deutlicher ausgesprochen, was er im Sentenzenkommen tar schon längst, wenn auch etwas zurückhaltender, gesagt hatte. Die Verdrän gung des Augustinus aus der Naturphilosophie war also kein Schritt, den Albert erst in den 50er Jahren des 13. Jahrhunderts vollzogen hat. Albert zog vielmehr die Konsequenzen aus einem Entwicklungsprozeß, den er schon vor den großen Dionysiuskommentaren gegen Ende des Pariser Aufenthaltes oder zu Beginn der Kölner Jahre in Gang gesetzt hatte. Und er war dabei so gründlich und konsequent, daß der Name in manchen seiner naturphilosophi schen Schriften überhaupt nicht mehr vorkommt. Albert benutzte den Physikkommentar des Averroes, um Informationen über Galen zu gewinnen. Dessen Position zum seelischen Sein der Zeit war für Al bert mit der Zeittheorie des Augustinus verwandt. Aber eine Bemerkung zu Averroes selbst durfte bei Albert ebenfalls nicht fehlen. In seiner Digression zum seelischen Sein der Zeit umreißt er dessen Position allerdings nur kurz:
« ... ut etiam dicere AVERROES videatur, quod tempus est extra animam in mobili, scilicet per motum, in potentia et complementum eius in actu fit ab anima et in ani ma.» 30
Albert gibt hier mit wenigen Worten nur jene Zeittheorie wieder, die Aver roes bei der Auslegung der<aristotelischenZeitaporie> entwickelt hatte. Einen detaillierten Vergleich mit den Thesen des Augustinus oder Galens nimmt er nicht vor. Außerdem fehlt zunächst jede Kritik an Averroes. Dies hat einen ein sehbaren Grund: Albert konnte nicht einem Philosophen Unkenntnis in natur philosophischen Fragen vorwerfen, von dem er selbst bei der Auslegung des Aristoteles in vielfacher und massiver Weise abhängig war. Zu einem Ausfall wie gegenüber Augustinus und Galen hätte sich Albert in bezug auf Averroes nicht hinreißen lassen. Dennoch teilte er dessen Auffassung nicht. Alberts Ver hältnis zu Averroes schwankt hier zwischen Ablehnung und stillschweigender Übernahme. Es ist die Aufgabe des folgenden Abschnittes, die Abhängigkeit Alberts von den Thesen des arabischen Kommentators bei der Deutung der <aristotelischen Zeitaporie> näher zu betrachten. 30
ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 3; Hossfeld 264, 65-68.
254
3.4.1. Albertus Magnus II
Albert nimmt die Auslegung der<aristotelischenZeitaporie> im sechzehnten Kapitel des dritten Traktates innerhalb des vierten Buches seines Physikkom mentars vor. Das entsprechende Kapitel trägt den Titel:
«Quare in omnibus sit tempus, et utrum tempus habeat esse extra animam.»31
Schon bei der Exposition der Fragestellung zeigt sich eine Übereinstimmung zwischen Albert und Averroes. Wie Averroes ist auch Albert dafür, daß die hier zu diskutierende Problematik über das Sein der Zeit eher in die Metaphy sik als in die Naturphilosophie gehört. Schon bei der Formulierung dieser The se arbeitet Albert gezielt Textelemente aus dem Physikkommentar des Averroes in seinen Text ein. P. Hossfeld hat dies in der Edition von Alberts Physikkom mentar deutlich gekennzeichnet: Averroes
Albert
«Deinde revertemur ad quaestionem naturalis, primam, eo quod ipsa non est sed PHILOSOPHIAE PRIMAE; esse extra animam vel in anima ostendere enim tempus philosophia naturali, non est de quae non considerat tempus, nisi se cundum quod est numerus motus. Tamen propter bonitatem doctrinae, ut melius sciatur esse temporis, hic de hoc inquiremus.»32 Albert übernahm also nicht nur Satzbruchstücke und einzelne Termini von Averroes, sondern auch dessen gesamte These über die systematische Einord nung der Philosophie der Zeit in die von Aristoteles vorgegebenen philosophi schen Disziplinen. Doch dies ist kein Einzelfall. Es zeigt sich, daß Albert in
31 32
ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 16; Hossfeld 289, 9-290, 56. ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 16; Hossfeld 289, 30-36.
255
Teil III - Das 13. Jahrhundert
weit größerem Umfang den Physikkommentar des Averroes für seine Ausle gung der<aristotelischenZeitaporie> benutzt hat. Schon auf den ersten Blick ist Averroes im Physikkommentar Alberts da durch präsent, daß Albert ganze Satzteile aus dessen Physikkommentar in seine Paraphrase einbaut. Albert lehnte die Zeittheorie des Arabers in ihrer Totalität ab. Aber er machte sich doch dessen Auslegung der Zeitaporie zu eigen. An der Qualität des arabischen Philosophen hat Albert nie gezweifelt. Eine Kritik wie gegenüber Augustinus und Galen findet sich hier nicht. Anders als Roger Bacon bemühte er sich um eine angemessene Beurteilung der Leistung des Averroes bei der Auslegung der Zeitaporie. Eine grundlegende Übereinstimmung zwischen Averroes und Albert bestand schon darin, daß Albert in Abhängigkeit von Averroes die Frage nach dem Sein der Zeit nicht für ein naturphilosophisches Problem hielt, sondern der Meta physik zuordnete. Der Einfluß des Averroes auf Albert ist damit im allgemeinen nachgewiesen. Aber seine Rezeption des Arabers zeigt sich auch in den Einzelheiten. Ein Mu sterbeispiel dafür ist die Auslegung der Zeitaporie. Den einzelnen Textelemen ten, die Albert aus Averroes in seine Paraphrase übernommen hat, kommt da bei eine unterschiedliche Bedeutung zu. Durch die von P. Hossfeld erarbeitete vorzügliche Edition des Physikkommentars ist es leicht möglich, den Text gra phisch so umzuordnen, daß die Komposition aus lateinischem Aristotelestext, Satzelementen des Averroes und Alberts Eigenanteil sofort sichtbar ist. Zwar hat Hossfeld in seiner Edition die einzelnen Elemente sorgfältig voneinander geschieden, doch bleibt es die Aufgabe des Interpreten, diese Forschungshilfe ausreichend zu nutzen und den Sinn von Alberts Komposition zu erklären. Zunächst ist festzustellen, daß Albert die Translatio Vetus als Leittext ge wählt hat. Diese griech.-lat. Übersetzung erschien ihm wohl zuverlässiger als die arab.-lat. Translation. Niemals ist die letztere, so scheint es, in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts der Basistext eines lateinischen Physikkommentars gewesen. Albert hat sich gelegentlich nicht davor gescheut, beide Texte mitein ander zu kombinieren. 33 Doch ist davon in der hier zu betrachtenden Passage seiner Physikparaphrase nichts nachweisbar.
33
Vgl. P. Hossfeld, Studien zur Physik des Albertus Magnus. I. Ort, örtlicher Raum und Zeit. II. Die Verneinung der Existenz eines Vakuums, in: Miscellanea mediaevalia 18 (1986), 9: «Nicht selten übernimmt Albert einzelne Wörter oder Wortgruppen der schon erwähnten ara bisch-lateinischen Übersetzung der aristotelischen Physik, wobei diese übernommenen Wörter hier die entsprechenden der Translatio vetus ersetzen ...»
256
3.4.1. Albertus Magnus II
Vor der Interpretation dieser Paraphrase ist es jedoch sinnvoll, einen glie dernden Überblick über ihre innere Struktur zu gewinnen. Dieses Verfahren gibt der Albertforschung die Möglichkeit, auch bei Texten, die eine Vielzahl von Elementen unterschiedlicher Herkunft enthalten, Alberts Eigenanteil zu eruieren. Aristoteles
Albert
Averroes
«Dubitabit ergo aliquis, utrum tempus est aliquod, cum non sit anima, aut non. Cum enim non sit possibile esse aliquem numerantem, nisi sit anima, videtur, quod impossibile sit aliquod esse numerabi le secundum actum [numeratum] existens; ergo etiam im possibile videtur esse numerimi Cuius probatio est, quod numerus non [videtur] esse nisi duplex, scilicet quo numeratur, qui [est actio numerantis], et numerabile ipsum, quod est nume rantis materia, circa quam est actio numeran tis. Si autem nihil aptum tum sit numerare nisi anima et non omnis anima, sed anima intellectualis tantum, impossibile est tempus esse, si non sit anima intellectualis. Quod au tem nihil numeret nisi intellectus animae tan257
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Aristoteles
Sed aut tempus est cum sit
Albert
Averroes
tum, patet per alia animalia, quae sui quantitatem et pullorum suorum quantitatem non deprehendunt per numerum, sed homines tantum. Vi detur ergo nihil numera re nisi anima intellectua lis tantum. tunc oportet dicere, quod aliquando, anima, et non habeat esse extra animam, et tunc erit esse temporis [fictum sicut esse chimerae et] tragelaphi; aut oportet dicere, quod motus est, cuius passio est tempus. Et
si contingit motum esse sine anima, tunc contingit tempus esse per quendam mo tum sine anima quodammodo, quia prius et posterius sunt in motu numerabilia quidem sine anima, sed non [actu] [numerata] sine anima. Et ideo tem [in potential pus est sine anima, actualem autem accipit [perfectionem ab anima] numerante.»34
34
ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 c. 16; Hossfeld 289, 37-63.
258
3.4.1. Albertus Magnus II
Zunächst ist festzuhalten, daß Albert der Translatio Vetus folgt. Er hat aber nach einer Fassung gearbeitet, die in manchen Lesarten vom kritischen Text ab weicht. Da jedoch die Handschrift der Translatio Vetus, die Albert selbst be nutzt hat, verloren ist, besteht keine Möglichkeit einer weiteren Prüfung seiner Paraphrase. Ob die in folgender Tabelle gekennzeichneten Wörter, die von der kritischen Fassung abweichen, Änderungen Alberts sind, bleibt daher offen. Vielleicht handelt es sich auch um Manuskriptvarianten. Eine Gegenüberstel lung der Translatio Vetus mit Alberts Aristotelestext ergibt folgendes Bild: TV ALB
«Utrum autem cum non sit anima, erit tempus aut non? «Utrum cum non sit anima tempus aut non
TV Dubitabit enim aliquis; ALB dubitabit aliquis
inpossibile [non possibile]
enim cum sit numerantem enim cum sit numerantem
TV esse, inpossibile est et numerabile ALB esse impossibile numerabile
aliquod aliquod
esse; esse
TV quare manifestum est quia neque numerus; numerus enim est ALB numenim [esse] numerus [esse] TV aut quod numeratur aut numerabile. numerabile ALB [quo] numeratur
Si autem nichil aliud si autem nihil
TV tum natum est quam anima numerare et anime intellectus, ALB aptum natum anima numerare et anima [intellectualis] TV inpossibile est esse tempus anima si non sit, sed aut hoc quod aliquando ALB impossibile est esse tempus anima si non sit sed aut aliquando TV cum sit, tempus est, ut si contingit motum esse sine anima. ALB cum sit tempus est si contingit motum esse sine anima
Prius prius
TV autem et posterius in motu sunt; tempus autem hec sunt secundum ALB et posterius in motu sunt tempus
259
Teil III - Das 13. Jahrhundert
TV quod numerabilia sunt.»35 ALB numerabilia.»36 Aus der graphischen Zergliederung von Alberts Text ist sofort erkennbar, daß er mehrfach Satzbruchstücke oder Wörter aus dem Physikkommentar des Averroes in seine Paraphrase der <aristotelischen Zeitaporie> aufgenommen hat. Jede dieser Einfügungen bedürfte einer sorgfältigen Untersuchung, um die Gesamtkonzeption dieses Mosaiks aus Wort- und Satzelementen zu überblicken. Dies ist hier nicht möglich. Albert dehnt seine Betrachtungen sogar auf die Zoologie aus: Er vergleicht menschliches und tierisches Zählvermögen miteinander. Die Tiere erfassen ihre eigene Quantität und die Zahl ihrer Jungen nicht durch die Zahl. Dies leistet allein die menschliche Seele.37 Nur der Mensch verfügt daher über die Zeit. Dennoch besitzen die Tiere einen Zugang zu Zahl und Zeit. Die Gründe dafür gibt Albert in seiner Mineralogie an: «Nec est verum, quod has virtutes animata potius habere debeant, quia sicut est in omni re naturali, quod res occupata altioribus virtutibus, abstrahitur et impeditur ab inferioribus. Cuius signum est, quod intellectualia, sicut homines, non bene 5 percipiunt immutationes elementorum, quemadmodum bruta, sicut pulli diversitates horarum et temporum melius iudicant quam homines.»38
1 has virtutes animata: animata has virtutes W 4 non add. adeo W 6 sicut: sic D1 / iudicant: indicant D1 W
35
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29, Transl. vetus; Bossier/Brams 188, 10-189, 2. ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 16; Hossfeld 289, 37-63. 37 Vgl ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 . 16; Hossfeld 289, 48-52: «Quod autem nihil numeret ni si intellectus animae tantum, patet per alia animalia, quae sui quantitatem et pullorum suorum quantitatem non deprehendunt per numerum, sed homines tantum.» 38 ALBERTUS, Mineralia II tr. 1 c 1. Vgl. D1 = Liber Mineralium Domini Alberti Magni / Alemanni / ex Laugingen oriundus, Ratisponensis Ecclesie Episcopus, Vir in Diuinis scripturis Doctissimus, & in Secularis Philosophia Scientia Peritissimus Sequitur, Oppenheym 1518, HAB: 52 Med. (4), (f. 16v.), D2 = ALBERTUS, Mineralia II tr. 1 . 1; Borgnet 5, 24 b und W = Mineralia, Wien, Dominikanerkl, 150/120 (f. 12va). 36
260
3.4.1. Albertus Magnus II
Albert betrachtet demnach die Zeitaporie nicht nur als Naturphilosoph und Theoretiker der Seele, sondern er untersucht sie auch als empirischer Naturfor scher. Dies ist in der gesamten Auslegungsgeschichte dieser Textstelle singular. Hier ist Albert originell und als produktiver Philosoph in seiner Zeit ohne Bei spiel. Anders verhält es sich bei der konkreten Auslegung der Zeitaporie. Hier lehnt sich Albert deutlich an Averroes an. Daher ist dies der Textabschnitt, in dem er dem Araber den größten Einfluß eingeräumt hat. Die umfangreichste Einbindung des Averroes hat Albert im letzten Abschnitt seiner Auslegung der Zeitaporie vorgenommen. Der Grund dafür ist nicht schwer zu erkennen. Albert gleicht dort die griech.-lat. Aristotelesübersetzung der Aristotelesauslegung des Averroes an. Es hatte sich schon oben gezeigt, daß die ältere griech.-lat. Übersetzung, die Translatio Vetus, verbesserungswürdig war. Entsprechende Korrekturen finden sich später in der Translatio Nova. Al bert konnte noch nicht auf einen verbesserten Text zurückgreifen. Ihm fehlte jeglicher Zugang zum griechischen Original. Aber er hat die griech.-lat. Über setzung mit der arab.-lat. Translation verglichen. Dieser Vergleich legte ihm dann nahe, bei der griech.-lat. Übertragung zu verbleiben. Dennoch ergriff Al bert die Möglichkeit, die Auslegung des Averroes vom arab.-lat. Text zu tren nen und auf die griech.-lat. Übersetzung anzuwenden. Dieses Verfahren schien ihm wohl erfolgversprechend. Er löste damit das Auslegungskonzept des Aver roes von seiner Basis, der Translatio Arab.-Lat., ab und stülpte es der Transla tio Vetus über. Daß dieses Verfahren möglich war, ist nicht verwunderlich. Das Auslegungssystem des Averroes stammte, wie oben gezeigt, aus den Ent würfen der antiken Kommentatoren. Indem Albert auf diese Weise die mannig faltig verdorbene arab.-lat. Physikübersetzung ausschied und zum Kern der Auslegung des Averroes vordrang, leistete er einen wichtigen Schritt zur Er schließung des Aristoteles selbst. Seine Nachfolger, die mehr als er dem Aver roes folgten, haben diese Transformationsmethode übernommen. Der letzte Abschnitt von Alberts Paraphrase zur Zeitaporie zeigt eine dreifa che Struktur, die dem Kommentartext 131 des Averroes angeglichen ist: Albert unterscheidet zwischen einer Theorie der Zeit als fiktiver Vorstellung (I) und ihrer Auffassung als Bestimmtheit (passio) der Bewegung (II). Als Vermittlung erscheint dann wie bei Averroes das Perfektionsmodell (III). All dies geschieht durch Einbeziehung von Textelementen aus dem Physikkommentar des Aver roes, die Albert geschickt in seine Paraphrase einbaut.
261
Teil III - Das 13. Jahrhundert I
Die Zeit, so paraphrasiert Albert Aristoteles im Hinblick auf die erste Möglichkeit, existiert zwar, wenn die Seele vorhan den ist, hat aber außerhalb der Seele kein Sein und gleicht des halb einer fiktiven Vorstellung:
Aristoteles «Sed aut tempus est cum sit
II
Albert
Averroes
tunc oportet dicere, quod aliquando, anima, et non habeat esse extra animam, et tunc erit esse temporis [fictum sicut esse chimerae et] tragelaphi ... »39
Oder die Zeit wäre gemäß der zweiten Möglichkeit eine Be stimmtheit (passio) der Bewegung. Weil die Bewegung ohne die Seele existiert, könnte gemäß dieser Auffassung auch die Zeit ohne die Seele vorhanden sein:
Aristoteles
Albert
Averroes
« ... aut oportet dicere, quod motus est, cuius passio est tempus».40 III
39 40
Zwischen diesen Extremen, d.h. zwischen der Zeit als fiktiver Vorstellung und ihrer vollständigen Bindung an die Bewe gung, setzt Albert als Mitte eine These, die, wie die Paraphra se zeigt, ganz von Averroes abhängig ist:
ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 16; Hossfeld 289, 53-56. ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 16; Hossfeld 289, 56/7. 262
3.4.1. Albertus Magnus II
Aristoteles
Albert
Averroes
«Et si contingit motum esse sine anima, tunc contingit tempus esse per quendam motum sine anima quodammodo, quia prius et posterius sunt in motu numerabilia quidem sine anima, sed non [actu] [numerata] sine anima. Et ideo tem pus [in potentia] est sine anima, actualem autem accipit [perfectionem ab anima] 41 numerante.» Hier ist ohne Zweifel die quantitativ umfangreichste und qualitativ bedeut samste Einfügung von Textteilen aus Averroes in Alberts Paraphrase zu beob achten. Albert übernimmt nicht nur vollständig die Auslegung des Averroes in ihrer dreifachen Struktur, sondern er löst sie von der Translatio Arab.-Lat. ab und überträgt sie auf die Translatio Vetus. Auf diese Weise paßt er die alte la teinische Übersetzung aus dem Griechischen an das Potenz/Akt-Schema des Averroes an. Im Hinblick auf die <prius/posterius-Struktur> der Bewegung heißt dies, daß jene Determinanten der Bewegung ohne die Seele nur im Modus des Potentiellen bzw. des Zählbaren verbleiben: Aristoteles
Albert
« . . . prius et posterius sunt in motu numerabilia quidem sine anima, sed non sine anima.»42
41 42
ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 . 16; Hossfeld 289, 57-63. ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 . 16; Hossfeld 289, 60/1.
263
Averroes
[actu] [numerata]
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Deshalb spricht Albert hier mit Averroes von einer potentiellen Zeit. Ihre Aktualität findet die Zeit erst in der Seele, die aus der zählbaren <prius/posterius-Struktur> ein Gezähltes konstituiert: Aristoteles
Albert
Averroes
«Et ideo tempus [in potential est sine anima, actualem autem accipit [perfectionem ab anima] 43 numerante.» Albert benutzt die alte griech.-lat. Übersetzung des Aristoteles, aber ihre Auslegung vollzieht er ganz nach dem Muster des Averroes. Eine andere, neue Möglichkeit der Auslegung, die auf andere Weise die Schwierigkeiten dieser Stelle in Angriff nähme, hat Albert nicht erarbeitet. Nur in dieser Transforma tion besteht seine eigentümliche Leistung. Die transformative Auslegung Alberts {Translat. Vetus + Auslegung des Averroes) war so überzeugend, daß viele Aristotelesausleger des 13. Jahrhun derts, die in ihren Kommentaren dem Averroes folgten, dabei auf Alberts Me thode zurückgegriffen haben. Bei der Auslegung der Zeitaporie folgte Albert der Strategie des Averroes. Er war sogar bereit, die griech.-lat. Übersetzung, die einem ganz anderen hi storischen Überlieferungsstrang entstammte, der Auslegung des Averroes anzu passen. Dennoch hielt Albert, der die Deutung des Averroes für die Zeitaporie akzeptiert und übernommen hatte, die These von der Konstitution der Zeit durch den Intellekt für unvollkommen.44 Um seine Behauptung zu beweisen und zugleich eine Theorie der Zeit vorzustellen, fügte Albert sei ner Paraphrase der Zeitaporie einen längeren Abschnitt mit einem eigenen Konzept bei. Weil die Zeit gemäß Aristoteles eine Zahl ist, geht Albert zunächst von zah lentheoretischen Überlegungen aus:
43
ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 16; Hossfeld 289, 61-63. Vgl. ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 16; Hossfeld 289, 64-66: «Ecce, haec videtur esse sen tentia ARISTOTELIS, et est expositio AVERROIS de hoc, qualiter tempus se habeat ad animam, et est imperfecta, ut mihi videtur.»
44
264
3.4.1. Albertus Magnus II
I
Die Seele, so behauptet er, kann niemals etwas zählen, wenn nicht in ihr selbst das Prinzip der Zahl (princípium numeri) vorhanden ist. Dieses Prinzip empfängt sie aber von den Din gen.
II
Das Ding selbst ist jedoch keine zahlhafte Materie (materia numeralis).
Gemäß diesen Überlegungen unterscheidet Albert drei wesentliche Momente der Zählung:
a)
gezählte Materie
materia numerata
b)
formelle Zahl
numerus formalis
c)
aktuell zählende Seele
anima efficienter et non formaliter numerans
Wenn die Seele nicht existiert, so meint Albert aufgrund dieser Vorausset zungen, fällt zunächst das aktuell zählende Seiende fort. Über das Sein der Zahl in ihrem formellen Wesen und im Hinblick auf die gezählte Materie ist damit aber noch nichts ausgesagt. Beide Seinsarten der Zahl existieren auch ohne die zählende Seele. Mit dieser These versucht Albert, die Konzeption des Averroes zu entkräften. Wenn die Seele nicht existiert, befindet sich die Zahl nicht in der Potenz, wie Averroes meinte, sondern ist als Numerus vielmehr an den Seins bestand der diskreten Dinge in der Natur gebunden. Es existieren vereinzelte Entitäten. Sie sind aufgrund ihrer Vereinzelung zahlhaft. Was von der Zahl gilt, trifft auch auf die Zeit zu. Die Zeit bedarf zu zu ihrer Existenz keiner See le. Allein durch die Tätigkeit des Zählens (actio numerantis) setzt die Seele die Aufnahme und den Zugang zur Zeit. Im Hinblick auf diese Tätigkeit existiert
265
Teil III - Das 13. Jahrhundert die Zeit allerdings nicht außerhalb der Seele.45 Diese Auffassung der Zeit be gründet jedoch keine allein seelische Zeit, sondern nur den ab gesicherten seelischen Zugang zur Zeit.46 Es ist nicht schwer zu erkennen, daß sich Albert bei seiner Analyse zum Ver hältnis von Zeit und Seele zwischen Widersprüchen bewegte. Einerseits bemüh te er sich, das außerseelische Sein der Zeit zu beweisen, andererseits konnte er auf eine seelische Aktivität beim Zugang zur Zeit nicht verzichten. Erst legte er die Zeitaporie des Aristoteles nach der Methode des Averroes47 aus. Dann aber erarbeitete er sich eine eigene Hypothese zum Verhältnis von Zeit und Seele. Ein derart widersprüchliches Konzept überzeugt nur in Teilbereichen, nicht je doch in seiner Gesamtheit. Dennoch hat Albert die Diskussion auf eine neue Stufe gehoben. Dies ist in seinem vollen Umfang nur durch einen Vergleich der Leistung Alberts mit analogen Bemühungen aus den 50er Jahren des 13. Jahr hunderts erkennbar.
45
Vgl. ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 16; Hossfeld 290, 4-16: « ... ergo si non sit anima, adhuc numerus est secundum esse formale et secundum materiam numeratam; ergo ,quo numeratur' est duplex, scilicet ,quo numeratur efficienter' et ,quo numerami' formaliter'. Non ergo se cundum potentiam solum est numerus non existente anima, sed etiam secundum habitualem formam discretionis rerum numeratarum, et hoc modo penitus est etiam tempus extra animam, et cum ad esse rei in se non exigatur nisi forma et materia, non exigitur anima ad esse temporis in seipso. Sed anima actione numerantis ponit et causat temporis deprehensionem, et quoad hunc actum non est tempus extra animam.» 46 Vgl. ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 . 16; Hossfeld 290, 28-35: «Quod autem obiciunt de nu mero numerante, quem dicunt esse animam, et de materia numerata, iam patet per ANTEDICTA, quod insufficiens est distinctio. Quod autem dicunt tempus non esse nisi numerum motus animae, irrisorium est, quia secundum hoc apud unum hominem esset tempus et non esset apud alium. Sed verum est, quod motus animae est causa deprehensionis temporis.» 47 Albeit hat die weitere Entwicklung der Problematik noch Ende der 60er Jahre des 13. Jahr hunderts verfolgt. Vgl. ALBERTUS, De caus. II tr. 1 8; Fauser 71, 2-5: «Propter quod etiam MULTI dixerunt, quibus et ARISTOTELES et AVERROES consentire videntur, quod huiusmodi mensuram esse, quae extrinsecus adiacent, non esset nisi in anima»; ALBERTUS, De caus. II tr. 1 9; Fauser 72, 60-62: «Haec enim vel in anima simpliciter sunt, ut videtur dicere ARI STOTELES, vel maximam sui raüonem habent in anima.» 266
3.4.2. Thomas von Aquino I Die Lösung, die Thomas von Aquino im Physikkommentar für die <aristotelische Zeitaporie> fand, hat die Forschung oft beachtet. Andere Auslegungen aus dem 13. Jahrhundert nahm sie dagegen kaum zur Kenntnis. Diese Entwürfe ge rieten in Vergessenheit. Das Konzept des Thomas von Aquino dagegen ist ziem lich bekannt. Es gibt ältere Sekundärliteratur, die Thomas' spezifische Deutung im Zusammenhang mit seiner gesamten Zeittheorie untersucht hat1, aber auch relativ neue Forschungen zu diesem Thema, die Thomas' Philosophie der Zeit berücksichtigen.2 Dabei steht Thomas' Konzeption häufig isoliert da. Einige Interpreten rissen sie zunächst aus ihrem historischen Zusammenhang. Dabei glaubten sie zu gleich, bei Thomas die für das gesamte Mittelalter repräsentative Auslegung ge funden zu haben. Diese Einschätzung ist heute veraltet. Durch einen Einblick in die Fülle der überlieferten Texte entstehen neue Einsichten. Die Auslegung, die Thomas zur <aristotelischen Zeitaporie> vorgelegt hat, gewann erst in ihrer Funktion als Reaktion auf alternative Auslegungsmöglichkeiten ein spezifisches Profil. Nur aus dieser Perspektive erscheint sie in ihrer unbestrittenen Bedeu tung. In der Sekundärliteratur, die sich mit der Zeitphilosophie des Thomas von Aquino befaßt hat, steht der Physikkommentar nicht nur auf diese Weise im Vordergrund. Er gilt zuweilen auch als der Text, der die zentrale Fassung der Zeitlehre des Thomas von Aquino enthält. Diese Position unterschlägt die ande ren Varianten. Ist diese einseitige Stellungnahme erst einmal rückgängig ge macht, dann finden auch hier wie bei Albert entwicklungsgeschichtliche Be trachtungen mehr Beachtung.
1
Vgl. F. Beemelmans, Zeit und Ewigkeit nach Thomas von Aquino (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters XVII 1), Münster 1914. 2 Vgl. A. J. Festugière, Le temps et l'âme selon Aristote, in: Revue des sciences philosophi ques et théologiques 23 (1934) 5-28; P. F. Conen, Aristotle's Definition of Time, in: New Scholasticism 26 (1952) 441-458; P. F. Conen, Die Zeittheorie des Aristoteles (Zetemata 35), München 1964; J. Dubois, Signification ontologique de la définition aristotélicienne du temps, in: Revue thomiste 60 (1960) 39-79, 234-248; J. Dubois, Trois interprétations classiques de la définition aristotélicienne du temps, in: Revue thomiste 61 (1961) 399-429; M. de Tollenaere, Aristotle's Definition of Time, in: International Philosophical Quarterly 1 (1961) 453-467; J. Dubois, Les présupposés originels de la conception aristotélicienne du temps, in: Revue thomi ste 63 (1963) 389-423, 548-562; J. Dubois, Le temps et l'instant selon Aristote, Paris 1967.
267
Teil III- Das 13. Jahrhunden
Der Physikkommentar des Thomas von Aquino entstand in den Jahren ab 12693. Thomas schrieb ihn mehr als zehn Jahre nach Alberts Physikkommen tar, der aus den 50er Jahren des 13. Jahrhunderts stammt.4 Der Kommentar zur Physik des Aristoteles gehört damit zum Spätwerk des Aquinaten. Thomas ver faßte ihn zu einer Zeit, als er sich mit dem prominentesten Vertreter des latei nischen Averroismus, mit Siger von Brabant, auseinandersetzen mußte. Dieser hatte selbst viele kontroverse naturphilosophische Probleme diskutiert. Dabei schrieb er auch über die Aporien der Zeit.5 Von dieser spätesten Phase der Zeitphilosophie des Aquinaten sind die The sen der Frühzeit zu unterscheiden. Thomas hat sie in einem ganz anderen hi storischen Kontext ausgearbeitet. Das grundlegende Dokument dieser Entwick lungsphase ist der Sentenzenkommentar. Dieser Text stammt aus den Jahren 1254/5. Etwa gleichzeitig arbeitete Albert an seinem Physikkommentar. Die Thesen, die Albert dort zur Philosophie der Zeit erarbeitete, konnte Thomas also noch nicht rezipieren. Alberts Frühschrift De IV coaequaevis dagegen, die ihm sicherlich zugänglich war, enthielt keinen Bezug zu Averroes. Sie fiel des halb als veraltet hinter das damals schon erreichte Niveau der Aristotelesausle gung zurück. Albert genügte diese Schrift in den 50er Jahren selbst nicht mehr. Wollte Thomas nicht längst Überholtes reproduzieren, dann mußte er einen Neuansatz wagen. So griff er - wie etwa zeitgleich Albert bei der Ausarbeitung seines Physikkommentars - auf Averroes zurück. Die Polemik, die Roger Ba con gegen die Zeitphilosophie des Averroes geäußert hatte, war Thomas dabei fremd. Wie Albert setzt er sich zunächst unbefangen mit dem Physikkommen tar des Arabers auseinander. Thomas hatte im Sentenzenkommentar keine Gelegenheit, eine in allen Ein zelheiten ausgearbeitete Zeittheorie vorzulegen. Er mußte sich daher auf einen 3
Vgl. J. Brams/G. Vuillemin-Diem, Physica Nova und Recensio Matritensis - Wilhelm von Moerbekes doppelte Revision der Physica Vetus, in: Miscellanea mediaevalia 18 (1986), 274/5. 4 Vgl. P. Hossfeld in: Albertus, Physica, Libri 1-4, ed. P. Hossfeld; Editio Coloniensis IV/1, Monasterii/Westf. 1987, VI, 4-6: «Itaque non est vitiosum concludere Albertum anno aut 1251 aut 1252 Physicorum libros coepisse et ad summum anno 1257 illud De anima scripsisse.» 5 Vgl. an älterer Literatur: P. Mandonnet, Siger de Brabant et ľ Averroisme latin au XIIIe siècle, 2. partie (Les Philosophes Belges VII), Louvain 1908-1911, 71-94. Für die Einordnung der Zeitphilosophie des Siger von Brabant in die allgemeine Entwicklung des 13. Jahrhunderts ist immer noch wichtig: Cl. Baeumker, Die Impossibilia des Siger von Brabant. Eine philosophi sche Streitschrift aus dem XIII. Jahrhundert (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mit telalters II 6), Münster 1898, 148-165. Vgl. auch die neuere Edition: Siger de Brabant, Écrits de logique, de morale et de physique, ed. B. Bazán (Philosophes Médiévaux XIV), Louvain/Paris 1974, 77-79.
268
3.4.2. Thomas von Aquino I
Grundriß beschränken. Um so bedeutsamer erscheint es, daß er dabei die Frage nach dem Zusammenhang von Zeit und Seele nicht übergangen hat:
«Invenitur autem in actu qui motus est, successio prioris et posterions. Et haec duo, scilicet prius et posterius, se cundum quod numerantur per animam, habent rationem mensurae per modum numeri, quae tempus est. Unde di rit Philosophus, IV Physicorum, text. 101, quod tempus est numerus motus secundum prius et posterius. Et est numerus numeratus, et non numerus simpliciter. Sicut enim dicimus quod duo canes est numerus numeratus, et duo est numerus simpliciter; ita etiam numerus prioris et posterions in motu est numerus numeratus, qui est tem pus. Ex quo patet quod illud quod est de tempore quasi materiale, fundatur in motu, scilicet prius et posterius; quod autem est formale, completur in operatione animae numerantis: propter quod dicit Philosophus, IV Physic, text. 131, quod si non esset anima, non esset tempus».6
Die Ausführungen des Thomas von Aquino zu Zeit und Seele sind sehr kurz. Dennoch enthalten sie wertvolle Informationen zu seiner Deutung der Zeitaporie: a) Zunächst ist festzuhalten, daß Thomas von Anfang an die Bedeutung der <aristotelischenZeitaporie>für die Zeitphilosophie erkannt hat. Er konnte sie nicht mehr wie Albert in der Frühschrift De IV coaequaevis folgenlos überge hen. b) Zur Einsicht in die Bedeutung dieser Textstelle hat ihm das Studium der Zeitphilosophie des Averroes verholfen. Auch darin überholt Thomas den frü hen Albert. Er vollzieht aber damit nur das, was Albert etwa zur gleichen Zeit in seinem Physikkommentar ebenfalls unternimmt. Roger Bacon hatte schon in den 40er Jahren eine umfangreiche Kritik an Averroes verfaßt.7 Anders als Ba con bezieht sich Thomas bei der Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele jedoch kritiklos auf die Zeitphilosophie des Averroes. Er übernahm daraus die 6 7
THOMAS AQUINAS, In I Sent. d. XIX q. 2 a. 1 sol.; Mandonnet/Moos I, 467. Vgl. 3.3.3., S. 215/6.
269
TeilIII- Das 13. Jahrhundert Rede vom materialen Sein der in der Bewegung, das in der Seele seine formale Vollendung findet. Zwar ließ sich Thomas nicht auf das Potenz/Akt-Schema des Averroes ein, aber wenn er das materiale Sein der Zeit in der zählenden Seele zur Vollendung kommen läßt, dann steht eindeutig das Komplettierungsschema des Averroes im Hintergrund.8 Der bei Albert stets präsente Avicenna fehlt jedoch ganz. Vor die Alternative gestellt, zwischen Avicenna und Averroes zu wählen, entschied sich Thomas für Averroes. c) Im Hinblick darauf fiel es ihm nicht schwer, die Abhängigkeit der Zeit von der Seele zu lehren, wobei er sich auf die Zeitaporie des Aristoteles be rief.9 Der frühe Thomas stimmt also mit Averroes10 darin überein, daß Aristo8
Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 109; Venetiis 1562, 187 r C: «Dicamus igitur ad hoc, quod extra mentem non est nisi motum, et tempus non fit, nisi quando mens diuidit motum in prius, et posterius: et haec est intentio numeri motus, idest motum esse numeratum: ergo substantia temporis, quae est in eo quasi forma, est numerus, et quod est in eo, quasi materia, est motus continuus: quoniam non est numerus simpliciter, sed numerus motus.» Vgl. auch: AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 88; Venetiis 1562, 174 r A/B: « ... sed ta lia non habent esse completum, sed esse eorum componitur ex actione animae in eo, quod est in eis extra animam: et entia completa sunt illa, in quorum esse nihil facit anima, vt post declarabitur de tempore, scilicet quoniam est de numero entium, quorum actus completur per animam.» AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131; Venetiis 1562, 202 v G/H: «Secundum igitur hunc modum dicitur tempus habere esse extra animam simile perfecto, et si non sit perfec tum.» 9 Vgl. THOMAS AQUINAS, In I Sent. d. XIX q. 2 a. 1 sol.; Mandonnet/Moos I, 467: « ... propter quod dicit Philosophus, IV Physic., text. 131, quod si non esset anima, non esset tem pus.» 10 Auf diese den späteren Ausführungen im Physikkommentar widersprechende These im Sen tenzenkommentar des Thomas von Aquino hat schon F. Beemelmans hingewiesen. Vgl.: F. Beemelmans, Zeit und Ewigkeit nach Thomas von Aquino (Beiträge zur Geschichte der Philoso phie des Mittelalters XVII 1), Münster 1914, 20/1: «Wenn es aber in der Physik heißt, es kann nichts Zählbares geben, wo keine Seele ist, so ist das falsch. Thomas hat diese Ansicht nicht immer vertreten; in dem Sentenzenkommentar löst er die Frage durch folgende Unterscheidung. Die Zeit enthält ein formales und ein materiales Element; sonst versteht er unter der Form der Zeit ihr „Vorher und Nachher", ihre Kontinuität unter der Materie; aber hier im Sentenzenkom mentar ist Materie der Zeit das „Vorher und Nachher" so, wie es in der Bewegung sich findet; die Zahl dagegen ist ihre Form, und sie erhält diese Form erst im Geiste, der sie zählt. Gegen stand der Zählung ist das „Vorher und Nachher", es bildet die Grundlage der Zeit in der wirkli chen Welt. Die Zeit hat einen halb subjektiven, halb objektiven Charakter; sie existiert nicht wie ein Mensch oder ein Stein außerhalb der Seele, noch ist sie darum ein Traum oder eine Chimäre; sie ist ein Mittelding; sie gleicht darin den Allgemeinbegriffen oder der Wahrheit, die alle ein Fundament in der Wirklichkeit besitzen, durch die Tätigkeit der Seele aber hinsichtlich ihrer Form vollendet werden. Wie man sieht, ist dies alles nur eine Ausschmückung der Lehre des Aristoteles.» F. Beemelmans merkt dabei an (21 Anm. 2): «Averroes legt die Stelle ähnlich aus, 270
3.4.2. Thomas von Aquino I
teles in der Zeitaporie die Lehre vom innerseelischen Sein der Zeit vertreten habe. Eine Stellungnahme zum Problem der Weltseele, das Robert Grosseteste angedeutet und Roger Bacon umfangreich diskutiert hatte, findet sich bei Tho mas nicht. Wie Averroes spricht auch der Aquinate stets von der Individualseele. Er scheut sich auch keinesfalls, seine Dependenz von dem Araber offen zulegen. Sehr deutlich geschieht dies bei seiner Rezeption der von Averroes entwickelten Theorie der Abhängigkeit des Zeitempfindens von der Himmelsbe wegung. 11 Hier hätte sich Thomas auch zur Theorie einer zeiterzeugenden Weltseele äußern können. Da aber Averroes in seiner Zeitphilosophie niemals davon sprach, verzichtete auch Thomas auf eine entsprechende Bemerkung. d) Im Sentenzenkommentar des Thomas von Aquino ist Augustinus allgegen wärtig. Das elfte Buch der Confessiones erwähnt Thomas in seinen zeitphiloso phischen Bemerkungen jedoch nicht. Die Theorie des Averroes hatte alles an dere in den Hintergrund gedrängt. Thomas übernahm jedoch nicht nur kritiklos die Zeitphilosophie des Aver roes. Er stellte vielmehr das von Averroes konzipierte Komplettierungsmodell zusätzlich auf ein intellekttheoretisches Fundament. Die Zeitphilosophie er schien auf diese Weise als ein Spezialgebiet der Intellekttheorie. Thomas löste das Problem der Zeit wie die Frage nach der Wahrheit. Die Zeit erhielt daher denselben Status wie die Universalien. Thomas verfügte auf diese Weise über ein leicht einsichtiges Zeitmodell, das gerade deshalb immer wieder Nachahmer gefunden hat. Der Ausgangspunkt der systematischen Überlegungen des Tho mas von Aquino zur Zeit sind seine wahrheitstheoretischen Forschungen, die später in den Quaestiones disputatae (1256-1258/9) ihre bis heute bekannteste Gestalt erhalten haben. Thomas fußt dabei jedoch auf einer Fassung, die als die Keimzelle seiner Wahrheitstheorie zu bezeichnen ist. Sie befindet sich ebenfalls im Sentenzenkommentar (1254/5). Es scheint, als habe Thomas allein in dieser frühen Fassung eine Verknüpfung zwischen Wahrheitstheorie, Intellekttheorie und Zeittheorie hergestellt.
Ρhys. IV com. 131 ... » Die Entdeckung des Averroismus in der frühen Zeittheorie des Thomas von Aquino fällt daher in das Jahr 1914. 11 Vgl. THOMAS AQUINAS, In I Sent. d. XIX q. 2 a. 1 sol; Mandonnet/Moos I, 469: «Un de dicit Commentator, IV Physic., quod sentimus tempus, secundum quod percipimus nos esse in esse variabili ex motu caeli. Et inde est quod omnia quae ordinantur ad motum caeli sicut ad causam, cujus primo mensura est tempus, mensurantur tempore; et quicumque sentit quamcumque variabilitatem quae consequitur ex motu caeli, sentit tempus, quamvis non videat ipsum motum caeli.»
271
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Thomas klassifizierte zunächst die Entitäten auf dreifache Weise, indem er ihre innere Verschiedenheit systematisch zu begründen versuchte: I
Zunächst gibt es Seiende, die sich außerhalb der Seele in gänzlicher Vollendung befinden. Thomas nennt sie daher voll endete Seiende (entia completa). Als Beispiel verweist er auf Mensch und Stein.
II
Dem entgegengesetzt sind Entitäten, die keinerlei Bezug zur außerseelischen Gegenständlichkeit besitzen. Thomas denkt dabei an Träume oder andere fiktive Vorstellungen (Chimäre etc.).
III
Zwischen diese Extreme setzt Thomas eine dritte Gruppe. Diese Seiendheiten verfügen über ein Fundament in der au ßerseelischen Dingwelt, erhalten aber die Vervollständigung ihrer Sachheit durch eine Tätigkeit der Seele (operatio animae).12
Thomas verweist zunächst erläuternd auf die Natur der Universalien. Als konkretes Beispiel nennt er den Begriff der . Die ist ir gend etwas <extra animam>. Sie erhält aber dort nicht ihre immanente Allge meinheit. Erst wenn der Intellekt diesen Begriff auffaßt und eine for miert, erhebt er die zur <species>.13 Nach der Analyse des Universalienbegriffs vollzieht Thomas den Übergang zur Philosophie der Zeit. Die Zeit besitzt als außerseelisches Fundament eine 12 Vgl. THOMAS AQUINAS, In I Sent. d. XIX q. 5 a. 1 sol.; Mandonnet/Moos I, 486: «Respondeo dicendum, quod eorum quae significantur nominibus, invenitur triplex diversitas. Quaedam enim sunt quae secundum esse totum completum sunt extra animam; et hujusmodi sunt entia completa, sicut homo et lapis. Quaedam autem sunt quae nihil habent extra animam, sicut somnia et imaginado chimerae. Quaedam autem sunt quae habent fundamentum in re extra ani mam, sed complementum rationis eorum quantum ad id quod est formale, est per operationem animae, ut patet in universali.» 13 Vgl. THOMAS AQUINAS, In I Sent. d. XIX q. 5 a. 1 sol.; Mandonnet/Moos I, 486: «Humanitas enim est aliquid in re, non tarnen ibi habet rationem universalis, cum non sit extra animam aliqua humanitas multis communis; sed secundum quod accipitur in intellectu, adjungitur ei per operationem intellectus intentio, secundum quam dicitur species ...» Zur Theorie der vgl.: J. Pinborg, Logik und Semantik im Mittelalter. Ein Überblick, mit einem Nach wort von H. Kohlenberger (problemata 10), Stuttgart-Bad Cannstatt 1972, 90 f.
272
3.4.2. Thomas von Aquino I
materiale Basis. Dies ist die durch <prius> und <posterius> strukturierte Bewe gung. Seine Ergänzung findet dieses Fundament durch einen formalen Aspekt. Dies leistet die Zählung als Tätigkeit des Intellektes.14 Auf diese Weise ist die Zeit der Wahrheit vergleichbar.15 Möglich war diese Verschmelzung von Zeit philosophie, Wahrheitslehre und Intellekttheorie nur deshalb, weil Thomas so wohl auf den Metaphysikkommentar16 als auch auf den Physikkommentar des Averroes zurückgriff. Doch diese Konzeption mußte zwangsläufig dann zu sammenbrechen, als sich Thomas allmählich aus dem Einflußbereich der Philo sophie des Averroes zurückzog.
14
Vgl. THOMAS AQUINAS, In I Sent. d. XIX q. 5 a. 1 sol.; Mandonnet/Moos I, 486: « ... et similiter est de tempore, quod habet fundamentum in motu, scilicet prius et posterius ipsius motus; sed quantum ad id quod est formale in tempore, scilicet numeratio, completilr per Opera tionem intellectus numerantis.» 15 Vgl. THOMAS AQUINAS, In I Sent. d. XIX q. 5 a. 1 sol.; Mandonnet/Moos I, 486: «Si militer dico de veritate, quod habet fundamentum in re, sed ratio ejus completur per actionem in tellectus ...» 16 Vgl. AVERROES, In Aristotelis Met. VI, t. comm. 8; Venetiis 1562, 152 r D/E.
273
3.4.3. Bonaventura Die Zeittheorie Bonaventuras ist nicht direkt greifbar, sondern bedarf einer Rekonstruktion aus verstreuten Bemerkungen.1 Hauptquelle ist dabei der Sen tenzenkommentar. Bonaventuras zeitphilosophische Bemerkungen dienen dort aber nicht der Erforschung der Zeit, sondern eher zur Bestimmung der Natur des Aevum. Trotzdem ist es nicht notwendig, sich auf die Gesamtheit der Ar gumentationsweise Bonaventuras einzulassen. Zur Standortbestimmung seiner Denkweise genügt die Auswahl einiger zentraler Gesichtspunkte. Bei der Diskussion über die Natur des Aevum erhebt sich die Frage nach der Einheit der Zeit. Ihre Lösung soll einen Rückschluß von der Natur der Zeit auf die Bestimmtheit des Aevum ermöglichen. Im Hinblick auf die Einheit der Zeit stellt Bonaventura mehrere Positionen vor. Deren Analyse und Destruktion durch Bonaventura ergeben interessante Einblicke in seine Konzeption des Ver hältnisses von Zeit und Seele. Die erste Position demonstriert die Einheit der Zeit durch einen Hinweis auf die Einheit ihres Trägers, des Primum Mobile. Die Zeit ist deshalb einheitlich, weil sie auf der Einheit dieser Bewegungsursache basiert. Ruht die Bewegung des Primum Mobile, dann entfällt auch die Zeit. Gegen diese Position führt Bo naventura Augustinus an. Augustinus, so sagt er, habe selbst bei Aufhebung der Himmelsbewegung noch die Bewegung der Töpferscheibe zugelassen. Die Zeit existiert also nicht nur in der Bewegung des Primum Mobile, sondern auch in anderen beweglichen Dingen.2 Bonaventura bezieht sich dabei auf eine Äußerung aus dem elften Buch der Confessiones des Augustinus:
1
Zur Zeittheorie Bonaventuras vgl: V. C. Bigi, La dottrina della temporalità e del tempo in San Bonaventura, in: Antonianum 39 (1964) 437-488, 40 (1965) 96-151; Il concetto di «tempo» in S. Bonaventura e in Giovanni Duns Scoto, in: De doctrina Ioannis Duns Scoti. Acta Congressus Scotistici Internationalis Oxonii et Edimburgi 11-17 sept. 1966 celebrati. Vol. II: Problemata Philosophica (Studia Scholastico-Scotistica 2), Romae 1968, 349-359. 2 Vgl. BONAVENTURA, In II Sent. d. 2 p. 1 a. 1 q. 2 conci.; Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1885, 59 a: «Dixerunt ergo aliqui, quod tempus est unum ratione subiecţi, in quo primo est et per se, quo remoto, removetur et tempus. Unde dixerunt, quod tempus est unum, quia est in primo mobili, cuius motu cessante, cessat et tempus. - Sed illud non sufficit dicere, quia, sicut dicit Augustinus, si cessaret motus primi mobilis, adhuc posset moveri rota figuli; et constat, quod mensuraretur ille motus: ergo non tantum est ibi, immo et in aliis rebus mobilibus.»
274
3.4.3. Bonaventura
I Conf. XI 23, 29 «An uero, si cessarent caeli lumina et moueretur rota figuli, non esset tempus, quo metiremur eos gyros et diceremus aut aequalibus morulis agi, aut si alias tardius, alias uelocius moueretur, alios magis diuturnos esse, alios minus?»3
Damit ist eine zweite Sentenz verwandt:
II Conf. XI 23, 30 «Nemo ergo mihi dicat caelestium corporum motus esse tempora, quia et cuiusdam uoto cum sol stetisset, ut uictoriosum proelium perageret, sol stabat, sed tempus ibat. Per suum quippe spatium temporis, quod ei sufficeret, il la pugna gesta atque finita est. Video igitur tempus quandam esse distentionem.»4
Das Diktum I nimmt seinen Ausgang von einer Diskussion der kosmologischen Fundierung der Zeit. Augustinus fragt zunächst, ob die Zeit aus den Be wegungen der Himmelskörper abzuleiten sei. Diese These lehnt er mit Hinweis auf die Mannigfaltigkeit der Bewegungen ab. Aber auch dabei ist eine Ein schränkung notwendig: Wäre jede Bewegung ohne Unterschied der Ausgangs punkt von Zeit, dann gäbe es eine Vielfalt von Zeiten nebeneinander. Zur Ver deutlichung vollzieht Augustinus ein Gedankenexperiment. Was geschieht, so 3 4
AUGUSTINUS, Conf. XI 23, 29 v. 3-7; Verheijen 208. AUGUSTINUS, Conf, XI 23, 30 v. 39-43, Verheijen 209.
275
Teil III - Das 13. Jahrhundert
fragt er, wenn sich eine Töpferscheibe (rota figlili) trotz ruhender Himmels körper bewegt? Womit soll ein Beobachter die Bewegung der Töpferscheibe messen? Und wie stellt er fest, daß sie sich einmal schneller, dann aber auch langsamer bewegt? Grundsätzlich sind zwei Aspekte denkbar: I
Während eines einheitlichen Zeitraumes durchlaufen zwei Scheiben bei verschiedener Umdrehungsgeschwindigkeit zwei unterschiedlich lange Umdrehungsstrecken (Abb. I).
II
Oder eine identische Umdrehungsstrecke verbraucht unter schiedliche Zeiten (Abb. Π).
Daß sich die rechte Töpferscheibe doppelt so schnell wie die linke dreht, ist durch einen Vergleich mit der kontinuierlichen Himmelsbewegung leicht fest stellbar. Dabei ist die Himmelsbewegung nicht die Zeit, sondern nur eine Be zugsgröße. Absolut mißt ein Beobachter die Bewegungen mit der Zeit. Wenn aber, und hier setzt das Gedankenexperiment des Augustinus an, die Himmels bewegung ruht, fehlt die Bezugsgröße. Steht dann die beobachtende Seele den Töpferscheiben isoliert und ohne Maßstab gegenüber? Das Ziel des Augustinus bei der Beantwortung dieser Frage ist klar. Er versteht die durch die Seele konstituierte Zeit als einen absoluten Maßstab, der die Messung der Umdre hungsgeschwindigkeit der Töpferscheiben ohne jeden Vergleich mit der Him melsbewegung erlaubt. Augustinus führt diesen Vergleich ein, um seine Zeit theorie zu erläutern. Der Verweis auf Josuas Schlacht, die eine Zeitstrecke
276
3.4.3. Bonaventura durchlief, während die Gestirne ruhten, dient ihm dabei als theologisch-kosmologische Absicherung seines Gedankenexperimentes.5 Bonaventura benutzte das Gedankenexperiment des Augustinus6, um die kos mologische Verankerung der Zeit im Primum Mobile zur Diskussion zu stellen. Weil Augustinus die Zeitmessung beim Stillstand der Himmelsbewegung an der bewegten Töpferscheibe vollzog, ist die Zeit an keine privilegierte Bewegung gebunden. Sie bleibt nach Augustinus seelischen Ursprungs. Diese Schlußfolge rung hat Bonaventura aufgegriffen. Die Zeit, so sagt er abschließend, ist für Augustinus eine Affektion des freien Willens, die nicht der Himmelsbewegung unterworfen ist.7 Die Zeittheorie des Augustinus dient Bonaventura dazu, die kosmologische Fundierung einer einheitlichen außerseelischen Zeit kritisch zu befragen. Wie paßt diese Theorie zur eigenen Konzeption Bonaventuras im Sentenzenkommentarl Dies geht aus seiner unmittelbar sich anschließenden Diskussion einer zweiten Position klar hervor. 5
Vgl. IOS. 10, 12-13; Colunga/Turrado 181: «Tunc locutus est Iosue Domino, in die qua tradidit Amorrhaeum in conspectu filiorum Israel, dixitque coram eis: Sol, contra Gabaon ne movearis, Et luna contra vallem Aialon. Steteruntque sol et luna, Donec ulcisceretur se gens de inimicis suis. Nonne scriptum est hoc in libro iustorum? Stetit itaque sol in medio caeli, et non festinavit occumbere spatio unius diei.» Eine spätere Reflexion dieser Problematik findet sich z.B. bei Thomas von Straßburg. Vgl. THOMAS AB ARGENTINA, In II Sent. d. 2 q. 1 a. 2; Venetiis 1564, 131 v b: «Praeterea, tempore Iosuae stetit sol et per consequens alia corpora caelestia steterunt, alias corpora caelestia non mansissent in ea proportione in qua fuerunt ante Sta tionem illam, et tarnen tunc fuit tempus secundum Beatum Augustinum lib. 11. confes. ubi ait sic, Nemo mihi dicat motus caelestium corporum esse tempora, quia cuiusdam uoto dum perageret bellum sol stabat et tempus ibat.» 6 Die Diskussion dieses Gedankenexperiments findet sich keineswegs nur bei Bonaventura, sondern auch bei Richard von Mediavilla, der es vermutlich aus dem Sentenzenkommentar Bo naventuras übernommen hat. Vgl. RICARDUS DE MEDIA VILLA, In II Sent. d. 2 a. 1 q. 2 conci.; Brixiae 1591, 37 b: «Ad tertium dicendum, quod si non esset Angelus, nisi ille qui modo est inferior suum esse, non mensuraretur aeuo proprie dicto: sed mensura propria quae plene ra tionem aeui non haberet. Sicut si coelum non moueretur et vna rota ibi moueretur ad huc secun dum August. 11. libr. confessionum longe vltra medium, iudicaremus illum motum breuem, vel longum: sed hoc etiam per propriam illius mensuram quae tarnen proprie rationem temporis non haberet.» 7 Vgl. BONAVENTURA, In II Sent. d. 2 p. 1 a. 1 q. 2 conci.; Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1885, 59a: «Item, tempus est in affectionibus et cogitationibus liberi arbitrii, quod non subest motui caelesti, sicut vult Augustinus.» Bonaventura bezieht sich auf AUGUSTINUS, Conf. XI 27, 36 v. 48-52; Verheijen 213: «Affectionem, quam res praetereuntes in te faciunt et, cum illae praeterierint, manet, ipsam metior praesentem, non ea quae praeterierunt, utfieret;ipsam metior, cum tempora metior. Ergo aut ipsa sunt tempora, aut non tempora metior.» 277
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Auch hier untersucht Bonaventura die Frage nach der Einheit der Zeit. Diese zweite Konzeption findet die Einheit der Zeit ebenfalls in der Einheitlichkeit ihres Subjektes. Jetzt ist aber das Subjekt nicht mehr der außerseelische Kosmos bzw. das Primum Mobile als Fundament des Kosmos, sondern die Einheitlich keit der Seele. In der Seele erscheint (apparet) die Zeit zuerst. Die Zeit ist Zahl und Maß der Bewegung. Gemäß ihrem Wesen und Habitus befindet sie sich in der bewegten Sache oder im Bewegten. Jenes vollzieht gemäß den Determinan ten der Bewegung, dem Früher und Später, seinen Verlauf. Ihre aktuelle Zäh lung erhält die Zeit jedoch von der Seele. Diese Position schreibt Bonaventura Aristoteles und Augustinus zu. Es ist die Seele, die durch Hinblicknahme auf das Maß der Bewegung des Primum Mobile alle Bewegungen und Veränderun gen zählt.8 Wichtig ist in diesem Zusammenhang, welchen Philosophen Bonaventura diese Position zuschreibt. Er setzt zunächst Augustinus und Aristoteles in einen Zusammenhang. Aber Bonaventura nimmt auch, wie der Hinweis auf die numeratio actuali s zeigt, Averroes dazu. Bonaventura hat den Sentenzenkommen tar 1252 beendet. Bei ihm findet sich demnach eines der ersten historisch nach weisbaren Zeugnisse zum Bestand einer Allianz:
Augustinus - Aristoteles - Averroes.9
Bedauerlicherweise hat Bonaventura keinerlei konkreten Hinweis auf die Philo sophen gegeben, die ihre Zeittheorie in der Mitte des 13. Jahrhunderts auf Ari stoteles, Averroes und Augustinus stützten. Er selbst schloß sich dieser Mei nung nicht an. Dennoch ist seine Stellungnahme zur Aristotelesauslegung des 8
Vgl. BONAVENTURA, In II Sent. d. 2 p. 1 a. 1 q. 2 concl.; Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1885, 59 a/b: «Et ideo dixerunt alii, quod tempus est unum ratione subiecţi, in quo primo appa ret. Cum enim tempus sit numerus sive mensura motuum, et numerus iste secundum essentiani et habitum sit in re mobili vel mota, in qua est prius et posterius, secundum actualem vero numerationem sit a parte animae, sicut vult Philosophus et Augustinus, cum anima omnes motus et mutationes numeret aspiciendo ad mensuram motus primi mobilis, scilicet per diem, annum et horam; voluerunt dicere, quod unum est tempus ratione subiecti, in quo primo apparet; quia, etsi omnia habeant proprias periodos, tarnen omnia numerantur et mensurantur per mensuram motus regularis et certi et nobis notissimi, scilicet motus mobilis primi.» 9 Die entsprechenden Hinweise in Alberts Physikkommentar sind geringfügig später anzuset zen.
278
3.4.3. Bonaventura
Averroes differenziert. Die Zeit, so sagt Bonaventura unter Hinweis auf Aristo teles, ist keine zählende Zahl, sondern gezählte Zahl (numerus numeratus). Und deshalb erhält sie einen gesicherten Status. Die Zeit ist demnach kein irreales Gebilde der Seele (fictio animae). Sie fußt vielmehr auf der Anordnung der Dinge außerhalb der Seele (dispositio rei extra).10 Analog zu der Auslegung der <aristotelischen Zeitaporie> durch Averroes weist auch Bonaventura die Verwechslung der Zeit mit einer fiktiven Vorstellung zurück.11 Und wie der Araber diskutiert er die Zeit als eine nach Perfektion drängende Entität.12 Die Stellungnahme Bonaventuras zu Averroes ist daher schwer zu rekonstruieren. Deutlicher drückt sich in dieser Frage R. Kilwardby aus.
10
Vgl. BONAVENTURA, In II Sent. d. 2 p. 1 a. 1 q. 2 concl.; Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1885, 59 b: «Tunc non posset dici unum ratione subiecti, in quo primo esset,nin quo primo appareret, cum utrumque esset aeque primum et evidens; ratione animae, quia tempus non est numerus numerans, sed numeratus, ut Philosophus vult, et tempus est dispositio rei extra, non fictio animae.» 11 Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131; Venetiis 1562, 202 r E: «Et, quia esse numeri in anima non est omnibus modis esse in anima: quoniam, si ita esset, esset fictum, et falsum, vt Chimera, et Hircoceruus.» Was für die Zahl gilt, bezieht sich bei Averroes auch auf die Zeit. 12 Vgl. BONAVENTURA, In II Sent. d. 2 p. 1 a. 2 q. 1; Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1885, 64 b: « ... tempus est mensura secundum esse imperfectum ... »
279
3.4.4. Robert Kilwardby Zu den bisher wenig beachteten Texten zur Zeitphilosophie des 13. Jahrhun derts gehört auch Robert Kilwardbys Traktat De tempore, den O. Lewry 1987 erstmals ediert hat.1 Dieser Text ist wahrscheinlich in den späten 50er Jahren nach dem Physikkommentar Alberts entstanden.2 Auch vom Frühentwurf des Thomas von Aquino trennen ihn einige Jahre. Der Umfang und der systemati sche Aufbau des Traktates zeigen zudem, daß Kilwardbys Untersuchung nicht mehr zu den frühen zeitphilosophischen Forschungen des 13. Jahrhunderts ge hört. Deren Mannigfaltigkeit und innovative Lebendigkeit fehlen der Ausarbei tung Kilwardbys. Seine Leistung ist eher in der systematischen Zusammenfas sung des Stoffes zu suchen. Kilwardbys Zeittraktat ist eine Quaestionensammlung, die nicht nur im In halt, sondern auch im äußeren Aufbau noch stark an den zweiten Physikkom mentar Roger Bacons erinnert. Wie Bacon dort, so beginnt Kilwardby hier sei ne zeitphilosophischen Untersuchungen mit der Frage nach dem Sein der Zeit:
«Questio 1. Vtrum tempus sit de entibus extra animam».3
Zunächst bespricht Kilwardby vier Argumente für das seelische Sein der Zeit: 1) Jedes Seiende besteht aus Teilen, die zugleich existieren. Dies ist bei der Zeit nicht der Fall, obwohl auch sie aus Teilen zu sammengesetzt ist. Sie ist also nicht nach Art eines außersee lischen Seienden vorhanden.
1
Vgl. Robert Kilwardby O. P., On Time and Imagination. De tempore, De spiritu fantastico, ed. O. Lewry (Auctores Britannici Medii Aevi IX), Oxford 1987. 2 Vgl. O. Lewry, Einleitung zu Robert Kilwardby O. P., On Time and Imagination. De tem pore, De spiritu fantastico, ed. O. Lewry (Auctores Britannici Medii Aevi IX), Oxford 1987, XX: «... it seems plausible that the De tempore is the work of the Oxford master, perhaps in the late 1250s.» 3 ROBERTUS KILWARDBY, De temp. q. 1; Lewry 7, 2-8, 21.
280
3.4.4. Robert Kilwardby
2) Zudem besteht die Zeit aus nichtseienden Teilen, denn Ver gangenheit, Zukunft und Gegenwart sind nicht wahrhaft vor handen. Eigentlich gibt es nur den präsentischen Augenblick. Die Zeit selbst existiert nicht. 3)
Ganz in diesem Sinne verweist Kilwardby auf die Zeitdefini tion des Aristoteles. Er versteht sie als Hinweis auf das seeli sche Sein der Zeit. Wenn die Zeit aus der Zählung des Früher und Später der Bewegung erwächst, dann können die Bewe gungsdeterminanten und <Später> nur in der Seele zugleich sein. Dort tragen sie dann zur Konstitution von Zeit bei. Also existiert die Zeit nur in der Seele. Sehr leicht ist hier das nur wenig modifizierte Komparationsmodell zu erkennen, das Avicenna in seinem Zeittraktat vorgestellt hat.4
4) In diesem Zusammenhang diskutiert Kilwardby auch die Zeit philosophie des Augustinus. Aus den o.g. oder ähnlichen Gründen habe Augustinus in den Confessiones behauptet, daß die Zeit nur in der Seele existiere. Die Zeit sei nicht die Er streckung irgendeines außerseelischen Seienden, sondern eine Affektion der Seele aus dem Fluß der Dinge. Dabei konstitu iere sich die präsentische Intention der Seele aus der Erwar tung der zukünftigen und der Erinnerung der vergangenen Dinge die Zeit.5 Interessant ist nun, wie Kilwardby die Gegenthesen zum seelischen Sein der Zeit einbringt. Auch dabei begegnen einige aus anderen Texten dieser Zeit ver traute Argumente. Sie zeigen deutlich, wieviel Kilwardby dabei Roger Bacon zu verdanken hat.
4
Zur Diskussion vgl.: 2.2., S. 105-108. Vgl. ROBERTUS KILWARDBY, De temp. q. 1 n. 4; Lewry 7, 15-21: «Propter has et consimiles rationes posuit Augustinus quod tempus non sit nisi in anima, sicut patet libro 13 (!) Confessionum, et sicut patet ibidem, capitulo 30, tempus secundum ipsum est quedam distensio non alicuius existentis extra animam set affectionis animi presentís eidem et derelicte in eo ex re bus transeuntibus, in qua scilicet affectione intentio animi presens trahicit expectationem futurorum in memoriam preteritorum.» Die ungenaue Zitierung zeigt, daß R. Kilwardby seine In formationen über Augustinus nicht aus einer Lektüre des Originals gewonnen hat. 5
281
Teil III - Das 13. Jahrhundert'
5) Wie Bacon verweist Kilwardby zunächst auf die Zeit als Ur sache aller Vergänglichkeit. Die (individuelle) Seele kann je doch nicht der Grund dieser (universellen) Vergänglichkeit sein. 6) Ebenfalls wie Bacon erinnert Kilwardby an das außerseelische Sein der Bewegung. Alles, was die Bewegung bestimmt, de terminiert auch die Zeit. Daher muß die Zeit wie die Bewe gung ihr wahrhaftes Sein außerhalb der Seele besitzen. Erst nachdem diese Grundvoraussetzungen geklärt sind, beginnt Kilwardby mit der Widerlegung der o.g. drei Punkte (1-3). 7) Die Zeit gehört zu den Seienden, die ihrem Wesen nach in der Sukzession und im Transitus existieren. Ihre Bestandteile sind daher nur auf sukzessive Weise vorhanden. 8) Deshalb kann niemand behaupten, daß die präsentische Zeit nicht existiert. Hierbei ist nämlich die Sukzessivität zu beach ten. Sie garantiert, daß die Zeit ihre Totalität zwar nicht zu gleich, jedoch in der sukzessiven Folge erreicht. 9) Eine sukzessive Entität bedarf daher keiner zusammenfassen den intellektuellen Instanz. Vielmehr empfängt sie ihre Struk turen aus der strömenden Bewegung. Eine Widerlegung des Augustinus nimmt Kilwardby in diesem Zusammen hang nicht vor. Dies geschieht erst in der zweiten Quaestio, die folgenden Titel trägt: «Quid sit tempus».6
Hier führt Kilwardby eine grundsätzliche Klärung des Verhältnisses zwi schen Aristoteles und Augustinus herbei. In der Frage nach der Definition der Zeit folgt er wie Grosseteste und Bacon eher Aristoteles als Augustinus. Weil 6
ROBERTUS KILWARDBY, De temp. q. 2; Lewry 8, 22 f.
282
3.4.4. Robert Kilwardby
die Zeitdefinition des Augustinus nach seiner Ansicht metaphysisch ist, akzep tiert Kilwardby sie nicht.7 Wie seine Vorgänger Grosseteste und Bacon be grenzt er die Zeitphilosophie gemäß Aristoteles auf die Naturphilosophie bzw. auf die naturphilosophische Betrachtungsweise (secundum phisicam considerationem). Und wie alle bisher bekannten zeitphilosophischen Untersuchungen der 50er Jahre geht auch der Traktat De tempore nur ganz oberflächlich auf die Konzeption des Augustinus ein. Kilwardbys Diskussion der Frage nach dem Sein der Zeit erinnert damit in vielfacher Weise an die Antworten seiner Vor gänger Robert Grosseteste und Roger Bacon. Diese Abhängigkeit zeigt sich auch in der Auslegung der Zeitaporie in der vierzehnten Quaestio seines Zeit traktates:
«An possit esse tempus cum non sit anima»:
Kilwardby entwirft diese Fragestellung nach der vertrauten Weise einer Quaestio: a) Gibt es nicht Gründe, die dafür sprechen, daß die Zeit ohne die zählende und unterscheidende Seele vorhanden ist? Nach Aristoteles existieren doch Bewegung und Zeit gemäß ihrer Aktualität zugleich.9 Damit verbindet Kilwardby den aporetischen Einwand der Zeitaporie, daß es die Bewegung ohne die Seele gibt.10 Also muß auch die Zeit ohne die Seele vorhanden sein.11 7
Vgl. ROBERTOS KILWARDBY, De temp. q. 2 n. 10; Lewry 8, 23-27: «Si est tempus, quid est? Quid sit secundum Augustinum dictum est; set quia hec con sideratio quoniam secundum Augustinum magis metaphisica videtur, videamus quid sit secundum phisicam considerationem Aristotilis, qui dicit in 4 Phisicorum, tempos est numerus motus secundum prius et posterius.» 8 ROBERTOS KILWARDBY, De temp. q. 14; Lewry 28, 8-29, 25. 9 Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 20/1: ... - Transl. vetus; Bossier/Brams 188, 9/10: «... tempus autem et motus simul secundum quod potentia et actu sunt?» 10 Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 27/8: ... Transl. vetus; Bossier/Brams 188, 18: « ... ut si contingit motum esse sine ani ma.» 11 Vgl. ROBERTUS KILWARDBY, De temp. q. 14 n. 73; Lewry 28, 9-13: «Potestne esse tempus cum non sit anima distinguens et numerans ipsum? Videtur quod sic, quia dicit Aristoti-
283
Teil III - Das 13. Jahrhundert
b) Nachdem Kilwardby auf diese Weise die eine Seite der Aporie unter deutlicher Bezugnahme auf den Aristotelestext der Translatio Vetus vorgetragen hat, stellt er das Gegenargument vor. Dabei geht er jedoch nicht von dem Text der Zeitaporie aus. Vielmehr umschreibt er die These, daß die Zeit nicht oh ne die Seele zu sein vermag, mit einer anderen Aristotelesstel le: Erst wenn die Seele selbst zwei Jetztpunkte setzt, nämlich den einen hier und den anderen dort, diesen als , je nen als <später>, dann entsteht Zeit.12 Gemäß dieser Konzep tion ist die Zeit von der Seele abhängig.13 Die Aporie zwischen der Abhängigkeit und der Unabhängigkeit der Zeit von der Seele ist damit in ihren Verzweigungen formuliert. Kilwardby geht nun zur eigentlichen Diskussion über. Die Auslegung des Averroes belegt die Abhän gigkeit der Zeit von der Seele. Hier beschränkt sich Kilwardby auf eine kurze zusammenfassende Paraphrase der zentralen Aussagen des Averroes zum 131. Kommentartext des vierten Buches der Physik des Aristoteles: Außerhalb der Seele ist die Zeit in der Potenz, während sie in der Seele ihre Aktualität er hält.14 Kilwardbys Beschreibung der Auslegung des Averroes ist also korrekt und objektiv.
les in capitulo de tempore quod tempus et motus simul sunt secundum actum et formam, et infra, si contingit motum esse sine anima, et prius et posterius in motu sunt sine anima; tempora au tem hec sunt secundum quod mensurabilia sunt.» 12 Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 11, 219 a 26-30:
vetus; Bossier/Brams 175, 8-12: « ... cum enim altera extrema medii intelligimus, et dicat anima ipsa nunc duo, hoc quidem prius illud vero posterius, tunc et hoc dicimus esse tempus. Determi nato enim ipso nunc, tempus esse videtur ... » 13 Vgl. ROBERTUS KILWARDBY, De temp. q. 14 n. 74; Lewry 28, 14-18: «Contra, in eodem supra, cum intelligimus extrema motus et motum medium, et dicit anima ipsa nunc duo, hoc quidem prius, illud vero posterius, tunc et hoc dicimus esse tempus. Determinato autem ipso nunc, tempus esse videtur. Ex quo videtur quod non sit tempus antequam determinet et numeret motum.» 14 Vgl. ROBERTUS KILWARDBY, De temp. q. 14 n. 75; Lewry 28, 19-29, 1: «Responsio Auerroys consentit ultime auctoritati, dicens quod tempus non est in motu sine anima nisi in potentia, et fit in actu per animam numerantem. Vnde dicit quod tempus non erit si anima non erit: secundum enim quod prius et posterius sunt numerata in potentia, est tempus in potentia; et se cundum quod sunt numerata in actu, est tempus in actu.»
284
3.4.4. Robert Kilwardby
Die Diskussion der Zeitaporie bleibt jedoch unvollständig, wenn kein Aus weg aus ihrer Aporetik erkennbar ist. Kilwardby beginnt daher, ihre Auflö sung vorzubereiten. Dabei greift er nicht etwa auf das Komplettierungsmodell des Averroes zurück wie etwa noch wenige Jahre vorher Thomas von Aquino. Er nähert sich vielmehr dem Verfahren Roger Bacons, der eine scharfe Wider legung des Averroes verfaßt hatte.15 Allerdings ist der Ton Kilwardbys weni ger hart und zurückweisend. Zunächst verweist Kilwardby auf eine Aristotelesstelle, die in den Umkreis der Zeitaporie gehört.16 Wenn die Zeit nach den Worten des Aristoteles eine Bestimmtheit (passio) an der Bewegung ist, dann kann sie nur außerhalb der Seele existieren. Auf diese Weise ist sie nicht nur mit der Bewegung verbun den, sondern sie quantifiziert auch die Bewegung als ihr Maß. Im Anschluß daran formuliert Kilwardby noch einige zusätzliche Überle gungen. Dabei macht er sich seine eigene Stellungnahme nicht leicht. Er ver sucht vielmehr, zu einer differenzierten Position zu gelangen. Kilwardby stellt zwei basale Theoreme auf: Die Zeit ist sowohl (a) unbegrenzt und unbestimmt als auch (b) begrenzt und bestimmt. Allein die Begrenzung und Bestimmung der Zeit vollzieht die zählende Seele. Nur hier ist nach dem Verständnis Kil wardbys der Ort, wo Averroes ansetzt. Damit drängt er die diffizile Argumen tation des Averroes auf einen geringfügigen Rest zusammen. Zugleich ver drängt Kilwardby jeden Gedanken an eine intellektuelle Konstitution der Zeit.17 Kilwardby hält fest, daß wir der Zeit nicht durch unsere Definition oder Zählung zur Existenz verhelfen. Wir quantifizieren nur etwas, was auch ohne uns existiert. Die Zeit erhält von ihren Beobachtern nur noch eine ihr eigen-
15
Vgl. 3.3.3., S. 215/6. Vgl. ROBERTUS KILWARDBY, De temp. q. 14 n. 75; Lewry 29, 1-3: «Aristotiles autem dicit in eodem passu quod tempus est passio quedam motus vel habitus, numerus existens, quod concordat prioribus auctoritatibus.» Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 18/9: ... Transl. vetus; Bossier/Brams 188, 7/8: «Aut quia motus quedam passio est habitus numerus existens ... » 17 Vgl. ROBERTUS KILWARDBY, De temp. q. 14 n. 77; Lewry 29, 8-17: «Propterea dicendum est secundum predeterminata quod est tempus simpliciter inlimitatum et indeterminatum vel limitatum et determinatum, et hoc est tempus sine omni actione anime, et hoc volunt omnes auctoritates ad hoc inducte. Secundo modo non est sine numeratione anime et determinatione, et hoc vult auctoritas illa cui consentit Auerroes. Vnde ibidem ubi sumpta est auctoritas ista, dicit Aris totiles quod sic cognoscimus tempus cum diffinimus motum, prius et posterius determinantes, et tunc dicimus fieri tempus quando prioris et posterioris in motu percipimus se usum. Et iterum ibidem,determinamiustempus in accipiendo aliud et aliud nunc et medium ipsorun alterum.» 16
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Teil III - Das 13. Jahrhundert
tümliche Maßeinheit zugewiesen.18 Hinter der komplexen Argumentations struk tur Kilwardbys steht demnach Avicennas Konzept einer allgemeinen, für alle verbindlichen außerseelischen Weltzeit. Eine Vermittlung zwischen Averroes und Avicenna bzw. eine Anlehnung an Averroes, wie sie Albert und Thomas jeweils auf unterschiedliche Weise wenige Jahre vorher propagiert hatten, ist bei Kilwardby nicht denkbar. Weil er die Intellektualisierung der Zeit ablehnte, ist in seiner von Roger Bacon herzuleitenden Methode der Interpretation der aristotelischen Zeittheorie eine intellekttheoretische Reflexion vollkommen aus geklammert.
18 Vgl. ROBERTUS KILWARDBY, De temp. q. 14 n. 77; Lewry 29, 18-25: «Nota bene verba, quod non dicit quod 'facimus' tempus per nostram diffinitionem vel numerationem, set per hoc cognoscimus illud; et non dicit quod tunc 'fit' tempus quando percipimus prioris et pos terions distinctionem, set quod tunc dicimus fieri tempus. Item, non dicit 'facimus' tempus in accipiendo nunc aliud et aliud, set determinamus, quasi dicens priusquam numeremus nunc in motu et motum, fuit tempus, set non fuit nobis determinatum et notum secundum certas quantitates et diffinitas horarum et dierum et huiusmodi.»
286
3.5. Neue Argumente im Streit um Averroes Um 1270 war die Denkweise des Averroes in die zeitphilosophischen Forschun gen der Aristoteliker so weit eingedrungen, daß sie die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Zeit und Seele ganz beherrschte. Gleichzeitig lag erstmals eine verbesserte Übersetzung der aristotelischen Physik (Translatio Nova) vor. Sie bestimmte als entscheidender Faktor den weiteren Verlauf der Diskussion. Zunächst entwickelte Ulrich von Straßburg eine Position, die zwar ganz un ter dem Einfluß der Thesen Alberts stand, aber auch eigene Konturen erkennen läßt. Albert übernahm im Physikkommentar nur die Lösung der Zeitaporie von Averroes. Daneben arbeitete er einen eigenen Vorschlag zum Verhältnis von Zeit und Seele aus. Ulrich dagegen schloß sich teilweise dem von Averroes ent wickelten Perfektionsmodell an. Auf diese Weise rückte er vorsichtig an Aver roes heran. Weniger um Ausgleich bemüht als Ulrich, der unmittelbare Schüler Alberts, war Aegidius Romanus. Er erweist sich zunächst in der Zeitphilosophie seines Sentenzenkommentars als ein getreuer Schüler des Averroes. Ohne jede Modi fikation übernimmt er die Anschauungen des Arabers zum Verhältnis von Zeit und Seele. Darin stimmt Aegidius mit den wenigen Äußerungen, die von Siger von Brabant zum Verhältnis von Zeit und Seele überliefert sind, vollkommen überein. Im Physikkommentar verfeinert Aegidius die Methode der Aristotelesausle gung, ohne jedoch seine Grundintention aufzugeben. Wie Albert deutet er die Zeitaporie mit den Methoden des Averroes. Er löste dessen Auslegung von der arab.-lat. Physikübersetzung ab und übertrug sie auf den Text der Translatio Nova. Die Interpretation der Zeitaporie durch Averroes gilt nun nicht mehr al lein (wie bei Albert) als korrekte Auslegung des Aristotelestextes, sondern über Albert hinaus als eine angemessene Umschreibung des Verhältnisses von Zeit und Seele. Ein vergleichbares Verfahren verfolgt ein Anonymus, dessen Auslegung der Zeitaporie ebenfalls ganz von Averroes abhängig ist. Es gab demnach um 1270 eine Gruppe von Philosophen, die, ausgehend von Alberts Physikkommentar, die Averroesrezeption in der Zeittheorie noch weiter verstärkten und vertief ten. Den Versuchen dieser Gruppe entgegengesetzt sind die Konstruktionen eines älteren Albertschülers, der dessen Averroesrezeption überwinden wollte: Tho mas von Aquino bemühte sich, die averroistische Auslegung der Zeitaporie un287
Teil III - Das 13. Jahrhundert
ter Benutzung der Translatio Nova zurückzudrängen. Er versuchte, im Text der Zeitaporie jene Tendenzen aufzuspüren, die auf ein außerseelisches Sein der Zeit zu deuten schienen. Daß er damit wenig Erfolg hatte, zeigt die Isolation an, in die Thomas mit seiner Zeitphilosophie geraten war. Die von Averroes inspirierte Lehre zum Verhältnis von Zeit und Seele hatte um 1270 auf breiter Front gesiegt.
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3.5.1. Ulrich von Straßburg Albert der Große hat oft über die Philosophie der Zeit geschrieben und gelehrt. Die reifste Gestalt und umfangreichste Ausarbeitung zur Theorie der Zeit legte er jedoch in seinem Physikkommentar vor. Weil es daneben noch andere ver gleichbare Texte gibt, in denen er sich zu zeitphilosophischen Problemen geäu ßert hat, ist seine Zeittheorie über verschiedene Werke verstreut und vielfach zersplittert. Auf diese Weise blieben Zeugnisse aus allen Phasen der philosophi schen Entwicklung Alberts erhalten. Neben älteren Texten, die seinen frühen Entwurf zur Zeitphilosophie dokumentieren, sind jüngere Ausarbeitungen überliefert, die im Umkreis der Physikvorlesung oder auch später entstanden. Niemals aber hat Albert alle seine Thesen zu einem einheitlichen Traktat zu sammengefaßt. Selbst die Darstellung im Physikkommentar macht hier keine Ausnahme, da Albert dort vom Aspekt der Zeitphilosophie abstra hierte. 1 Daher gibt es keine abschließende und alles zusammennehmende Fas sung der Zeitphilosophie Alberts des Großen. Nur durch eine hypothetische Re konstruktion ließe sich erschließen, wie seine Zeittheorie ausgesehen haben mag, nachdem er Ende der 60er Jahre die Kommentare zum Corpus Aristotelicum abgeschlossen hatte. Der Abschnitt zur Zeitphilosophie in der Summa theologiae bietet hier keine näheren Aufschlüsse, denn die Echtheit dieses Tex tes ist stark umstritten. Auch der Kommentar zum Liber de causis hilft kaum weiter. Er beschäftigt sich mehr mit dem Begriff der Ewigkeit als mit der Struktur der Zeit. Zu dieser Zeit, gegen Ende der 60er Jahre, hat Alberts Mitarbeiter Ulrich von Straßburg ein Werk unter dem Titel De summo bono ausgearbeitet. Ulrich versuchte dabei die Überwindung der systematischen Defizite in der Philoso phie Alberts. Die Edition dieses Textes ist neuerdings in Gang gekommen.2 Zu den bisher unveröffentlichten Teilen von De summo bono gehört auch ein Ab schnitt, der für das Verständnis der zeitphilosophischen Diskussion im Jahr1
Vgl. 3.4.1., S. 235/6. Vgl. Ulrich von Straßburg, De summo bono, Liber 1, hrsg. von B. Mojsisch, mit einer Ein leitung von A. de Libera und B. Mojsisch und einem Anhang zur Einleitung von R. Imbach [CPTMA I, 1], Hamburg 1989; De summo bono, Liber 2, Tractatus 1-4, hrsg. von Α. de Li bera, mit einer philologischen Vorbemerkungen zur Edition "Ulrich von Straßburg, De summo bono" von . Flasch und L. Sturlese und einem Vorwort von A. de Libera, [CPTMA I, 2 (1)], Hamburg 1987; De summo bono, Liber 4, Tractatus 1-2, 7, hrsg. von S. Pieperhoff [CPTMA I, 4 (1)], Hamburg 1987. 2
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Teil III - Das 13. Jahrhundert
zehnt vor der Krise von 1277 von großer Bedeutung ist. Noch im 15. Jahrhun dert wurde die darin enthaltene Zeittheorie Ulrichs studiert und zur Kenntnis genommen. 3 Eine kritische Edition bereitet B. Mojsisch vor. Seine vorläufige Transkription ist die Arbeitsgrundlage dieser Untersuchung.4 Ulrichs Zeittraktat zeigt eine stark systematisierte Grundstruktur. Ulrich be mühte sich gemäß der Form seiner 'Summe' um eine eigenständige Gliederung des Stoffes. Er löste sich zunächst von der äußeren Form des Physikkommen tars. Damit verzichtete er auf den leitenden Grundriß des aristotelischen Zeit traktates. Für Ulrich war es weniger wichtig, den gesamten überlieferten Stoff in aller Breite vorzuführen. Er arbeitete vielmehr daran, die einzelnen Theo rieelemente aus ihren traditionellen Standorten innerhalb der Aristoteleskom mentare zu lösen und systematisch enger miteinander zu verbinden. Insofern ist Ulrichs Zeittraktat ein wichtiger Schritt in Richtung auf eine Systematisierung der Zeitphilosophie, wie sie gegen Ende des 13. Jahrhunderts durch Dietrich von Freiberg ihren konzentriertesten Ausdruck fand. Wie viele andere Zeitphilosophien aus dem 13. Jahrhundert bedarf auch Ul richs Entwurf nicht nur der Edition, sondern auch der systematischen Erfor schung. Die grundlegende Ausrichtung seiner Zeittheorie ist jedoch durch die Erörterung seiner spezifischen Stellungnahme zum Verhältnis von Zeit und Seele leicht zu ermitteln. Ulrich hat zu diesem Problem einen speziellen Ab schnitt verfaßt, der sich eng an Alberts entsprechende Digression aus dem Phy sikkommentar anschließt.5 Aber sein Entwurf trägt auch eigenständige Züge der Deutung und Bewertung. Wie bei Albert basiert Ulrichs gesamte Zeitphilosophie auf Avicennas The se einer außerseelischen, universell zugänglichen und abgesi cherten Weltzeit. Daher beginnt Ulrichs Untersuchung mit einem Hinweis auf Avicenna. Nach Ulrich war Avicenna derjenige Philosoph, der die Zeit als eine außerhalb der Seele in der Natur existierende Quantität aufgefaßt hat.6 Wie 3
Vgl. DIONYSIUS CARTUSIANUS, In II Sent. d. II q. 2; Opera omnia 21, 130 b B: «Udalricus demum in Summa sua, libro quarto, fatetur quod tempus sit aliquid extra animam, et realis mensura motus realiter a motu distincta.» 4 Vgl. Ulrich von Straßburg, De summo bono, Liber 4, Tractatus 2, 15-24, hrsg. von . Moj sisch [CPTMA I, 4 (3)], Hamburg (in praep.). 5 Vgl. ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 3; Hossfeld 263, 18-265, 13: «Hic est digressio declarans sententiam eorum qui dicunt tempus non esse nisi in anima.» 6 Vgl. ULRICUS DE ARGENTINA, De summo bono IV 2, 23; Mojsisch: «Liquet etiam ex omnibus praemissis, quod tempus est species quantitatis, et ex hoc arguit Avicenna, quod sit quid existens in rerum natura ...»
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3.5.1. Ulrich von Straßburg
Avicenna und Albert versteht Ulrich deshalb die Zeit in erster Näherung als ein natürliches Kontinuum. Er deutet sie als außerseelische Weltzeit. Mit dieser These des Avicenna konfrontiert Ulrich die skeptischen Argu mente, die Aristoteles zu Beginn seines Zeittraktates diskutiert hat. Sie stellen das Sein der Zeit auf radikale Weise in Frage. Eine solche Untersuchung gehört daher mit Recht an den Anfang der Zeitphilosophie. Erst wenn die Zeit in ih rem Bestand gesichert ist, darf ihre Erforschung beginnen. Ulrich bezieht sich zunächst auf die skeptische Zerstörung des Seins der Zeit durch einen Hinweis auf das Nichtsein der Zeitdimensionen.7 In der frühesten Phase seiner zeitphilosophischen Entwicklung hatte Albert diese These vom Nichtsein der Zeit und ihrer Dimensionen mit den Überlegungen des Augusti nus aus dem elften Buch der Confessiones verbunden.8 Im Physikkommentar unterblieb dieser Hinweis. Auch Ulrich nimmt von dieser Parallelisierung Ab stand. Er hat für Augustinus einen anderen systematischen Platz vorgesehen. Nach diesem Hinweis geht Ulrich zu den Aporien des Jetzt (nunc) über. Wenn Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart nicht sind, sondern nur das Jetzt existiert, ergeben sich bestimmte Konsequenzen. Ist nur das Jetzt vorhanden, dann gibt es notwendigerweise verschiedene Jetztpunkte. Ein Jetzt allein paßt nicht zu allen Zeitdimensionen. Mehrere Jetztpunkte vermögen aber nicht zu gleich zu existieren. Die Zeit wäre sonst in sich permanent. Nun besitzen aber mehrere Momente in einer Jetztfolge eine bestimmte Beschaffenheit: Bevor ein späteres Jetzt folgen kann, muß das frühere vernichtet sein. Das zieht zwei Schwierigkeiten nach sich: Entweder vergeht das frühere Jetzt in sich selbst, oder es entschwindet durch den nachfolgenden Augenblick. Die erste Weise der Vernichtung ist unmöglich. Ein Jetzt, das in sich existiert und aus sich selbst zur Vernichtung strebt9, ist ein Widerspruch in sich. In ihm wären Existenz 7
Vgl. ULR1 JUS DE ARGENTINA, De summo bono IV 2, 23; Mojsisch: « ... tempus nihil esse, quia paites eius non sunt. Praeteritum enim fuit et non est; futurum vero erit et nondum est; praesens similiter non est... » Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 10, 217 b 34. 8 Vgl. 3.3.4., S. 221-228. 9 Vgl. ULRICUS DE ARGENTINA, De summo bono IV 2, 23; Mojsisch: « ... constat enim ex praedictis, quod ipsum non est nisi nunc; illa necessario sunt plura et non unum in diversis partibus temporis; illa autem plura nunc non possunt simul esse, quia tunc tempus esset de nu mero permanentium; ergo sunt plura sibi succedentia, et tunc oportet, quod, antequam succedat posterius nunc priori, quod primum sit corruptum. Et hoc etiam est impossibile, quia vel est corruptum in se ipso vel in nunc sequenti; non primo modo, quia ipsum est in se ipso, id est, quando ipsum est; cum autem corruptum est, tunc non est; ergo simul est et non est, quod est impossibile; item non secundo modo, quia, cum inter illa nunc necessario sit tempus, quod su pra probavimus, et in tempore sint infinita nunc potentia, primum nunc manet cum infinitis
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Teil III - Das 13. Jahrhundert
und Nichtexistenz zugleich gegeben. Dies ist jedoch undenkbar. Ebensowenig erweist sich der zweite Argumentationsgang als schlüssig. Er fordert, daß ein früheres Jetzt den nachfolgenden Augenblick vernichtet. Auch diese Annahme enthält eine Aporie. Zwischen jenen beiden Jetztpunkten befindet sich nämlich Zeit. In dieser Zwischenzeit sind aber potentiell unendlich viele Momente denkbar. Das erste Jetzt verbleibt also mit einer unendlichen Anzahl von Jetzt punkten, die erst nach ihrer Vernichtung eine Existenz des zweiten Augenblicks ermöglichen. Auf diese Weise wäre das erste Jetzt zur Annihilation unfähig. Ohne die Überwindung der unendlichen zwischenzeitlichen Jetztpunkte verblie be es allein in der Permanenz. Die skeptische Diskussion des Jetztpunktes zer stört also die präsentische Zeit und löst ihr Sein in ein Nichts auf. Weder exi stieren die Zeitdimensionen, noch gibt es eine Jetztfolge. Daher bleibt nur üb rig, eine innerseelische Zeit anzunehmen. Nachdem Ulrich Avicenna und die skeptischen Thesen zum Sein der Zeit in einen Gegensatz gesetzt hat, stellt er Augustinus und Galen zwischen diese Ex treme. 10 Wie begründet Ulrich diese Zwischenstellung? Warum ordnet er Galen und Augustinus nicht der zweiten - skeptischen - Position zu? So war Albert in sei ner Frühschrift De IV coaequaevis im Hinblick auf Augustinus vorgegangen.11 Ulrich dagegen schlägt einen anderen Weg ein. Seiner Meinung nach leugnen Galen und Augustinus nicht das Sein der Zeit. Sie denken nicht nach dem Ver fahren des Skeptizismus, ein Ausdruck, den Ulrich zwar nicht gebraucht, der aber sachlich gerechtfertigt ist. Augustinus und Galen stimmen mit der ersten Position (Avicenna) darin überein, daß die Zeit existiert. Aber sie behaupten dennoch, daß die Zeit in der Seele ist. Keinesfalls befindet sie sich innerhalb der Natur. Nur insofern lassen sie sich auf eingeschränkte Weise der zweiten, radikal skeptischen Position zuordnen. Ulrich sichert also zunächst den systematischen Ort der Zeittheorie des Galen und Augustinus zwischen Avicenna und dem Skeptizismus. Danach untersucht er die innere Struktur ihrer Theorie. Dabei verläßt er sich auf die Aufarbei tung der Quellen, die Albert im Physikkommentar vorgenommen hat. Ulrich hat hier, so scheint es, kein eigenes Quellenstudium durchgeführt.
nunc, quae sunt in tempore intermedio, et sic nunc esset de permanentibus, quod falsum est; ergo praesens non est; ergo nec tempus est.» 10 Vgl. ULRICUS DE ARGENTINA, De summo bono IV 2, 23; Mojsisch: «Inter haec autem quidam philosophi media via gradiuntur, ex quibus est Galenus, et consentit ei Augustinus ...» 11 Vgl. 3.3.4., S. 221-228.
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3.5.1. Ulrich von Straßburg
Ulrich versucht zunächst, den allgemeinen zeitphilosophischen Typus der Theorie eines innerseelischen Seins der Zeit zu verdeutlichen. Dabei bedient er sich der Analysen Alberts, der selbst wieder aus Avicennas Zeittheorie ge schöpft hatte. Durch Albert lernt Ulrich Avicennas Begriffe und Denkmodelle kennen. Wichtig ist für Ulrich vor allem das Aggregations- bzw. Kongregati onsmodell.12 Wie Albert sieht auch er hier Analogien zu den Modellen des Au gustinus und Galens. Ulrich stellt also mit Albert und Avicenna zunächst die allgemeine Struktur jeder Theorie des seelischen Seins der Zeit vor. Dabei verzichtet er wie Albert auf vertiefte Quellenstudien. Ulrich berührt die Zeittheorie des Augustinus in haltlich nur ganz oberflächlich. Galens fragmentarische Bemerkungen zum Verhältnis von Zeit und Seele finden eher seine Beachtung. Das bedeutet nicht, daß Ulrich Galens Überlegungen den Analysen des Augustinus prinzipiell vor gezogen hätte. Das Gegenteil ist der Fall. Nach Ulrich geht Galen bei seinen Theorien roher (rudius) als Augustinus vor. Er setzt die Zeit nicht nur in die Seele, sondern er läßt sie aus den Bewegungen der Seelenkräfte entspringen.13 Ulrich stützt sich bei seiner Analyse der Galenfragmente ebenfalls auf Alberts Physikkommentar. Es fehlt eine erneute und an den Quellen sich orientierende eigenständige Auslegung. Immerhin läßt sich der tiefste und innerste Grund der Zusammenstellung von Galen und Augustinus erkennen. Er ist zwar in erster Näherung im gemeinsa men Bekenntnis des Galen und Augustinus zum innerseelischen Sein der Zeit zu suchen. Dies ist jedoch noch zu vage. Die Übereinstimmung geht viel tiefer. Wenn Augustinus die Zeit aus den inneren Veränderungen der geistigen Sub stanzen ableitet, dann scheint er ähnlich wie Galen zu verfahren.14 In die Gruppe zwischen Avicenna und den skeptischen Negationen der Zeit stellt Ulrich neben Augustinus und Galen die Zeitphilosophie des Averroes. 12
Vgl. ULRICUS DE ARGENTINA, De summo bono IV 2, 23; Mojsisch: «Et sicut dicit Avi cenna, isti dicunt tempus esse congregationem momentorum, quia non percipitur tempus, nisi quando momenta congregantur, et quia haec congregatio fit secundum extensionem imaginatio nis vel alterius potentiae animae ex praesente in praeteritum vel in futurum, haec protensio est conünuitas temporis, ut isti dicunt.» 13 Vgl. ULRICUS DE ARGENTINA, De summo bono IV 2, 23; Mojsisch: «Galenus autem multo rudius dixit, quia vult, quod tempus non solum sit in anima sicut in abstrahente rationem prioris et posterioris a momentis motus rerum extra animam, sed quod essentialiter consistat in motibus animae secundum actum imaginationis vel alterius potentiae animae ...» 14 Vgl. ULRICUS DE ARGENTINA, De summo bono IV 2, 23; Mojsisch: «Et ideo patet, quod ratio Galeni nihil valet. Tarnen Augustinus videtur ei consentire, quia ipse in libro Super Genesim ponit tempus in vicissitudinibus creaturae spiritualis ...»
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Teil III - Das 13. Jahrhundert
Auch hier legt Ulrich keine detaillierte Analyse vor, sondern schöpft ebenfalls aus Alberts Physikkommentar. Wie Albert wiederholt er nur kurz die aus dem Kommentartext 131 zum vierten Buch der Physik bekannte These zum Sein der Zeit, die Averroes aus den Analysen der antiken Aristoteleskommentatoren zur <aristotelischen Zeitaporie> entnommen hatte. Außerhalb der Seele ist die Zeit in der Potenz. Ihre Komplettierung geschieht in und durch die Seele.15 Ulrich legt Wert auf die Feststellung, daß er über die mannigfaltigen Thesen zum seelischen Sein der Zeit zuverlässig (fideliter) berichtet habe. Im Hinblick auf dieses Problem stellt er jedoch zuletzt jedem die eigene Entscheidung frei.16 Diese erstaunliche Äußerung Ulrichs bedarf eines näheren Kommentars. Zu nächst ist daran zu erinnern, daß Ulrich die Darstellung der einzelnen Thesen zum seelischen Sein der Zeit fast vollständig aus Alberts Physikkommentar übernommen hat. Eine eigene Prüfung der Texte fand also nicht statt. Insofern ist Ulrich von Albert abhängig. Aber er setzt auch eigene Akzente. Weder Ga len noch Augustinus weist er zurück. Auch ihre naturwissenschaftliche Qualität bezweifelt er nicht. Ulrich macht also die eindeutige und mehrfache Verurtei lung ihrer Zeitphilosophie durch Albert rückgängig. Er bereitet damit die er neute Augustinusrezeption der 70er Jahre des 13. Jahrhunderts vor, die ihrer seits auf die völlige Rehabilitierung der Zeittheorie des Augustinus durch Diet rich von Freiberg vorausweist. Aber auch die Zeitphilosophie des Averroes ist zulässig. Ulrich sieht inhaltliche Bezüge zu Galen und Augustinus. Ulrich läßt daher anders als Albert in bezug auf das seelische Sein der Zeit einen gewissen Meinungspluralismus zu. Dennoch ist seine persönliche Haltung zu dieser Frage nicht indifferent. Ulrich bietet vielmehr selbst eine bestimmte Lösung an. Grundsätzlich hält er nach eigener Aussage mit den an der Existenz der Zeit fest. Damit folgt Ulrich wie Albert der Position Avicennas. Er lehnt also die skeptischen Thesen, die das Nichtsein der Zeit postu lieren, entschieden ab. Auf dieser Grundvoraussetzung ruht Ulrichs Antwort auf die Frage nach dem seelischen Sein der Zeit. Sie ist nicht schwer zu ver stehen. Ihre Konzeption basiert auf einer Vermischung der Theorie eines realen außerseelischen Zeitkontinuums (Avicenna) mit der These von der Komplettie rung der Zeit durch die Aktivität der Seele (Averroes). Dieses Modell war 15 Vgl. ULRICUS DE ARGENTINA, De summo bono IV 2, 23; Mojsisch: «Averroes autem consentiens in hoc, quod tempus sit media via, ... et dicit, quod tempus in potentia est extra animam in mobili per motum et complementum eius fit ab anima et in anima.» Vgl. ALBER TUS, Phys. IV tr. 3 3; Hossfeld 264, 66-68. 16 Vgl. ULRICUS DE ARGENTINA, De summo bono IV 2, 23; Mojsisch: «Fideliter ergo expositis istis opinionibus, ut quilibet eligat, quod voluerit... »
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3.5.1 Ulrich von Straßburg
nicht neu. Ulrich hat es auch nicht selbst entwickelt. Aber er tmg das Konzept in konzentrierter und leicht verständlicher Fassung vor. Die Zeit erfordert eine Betrachtung unter verschiedenen Aspekten. Einmal erscheint sie als Konti nuum, dann aber als Diskretum. Insofern die Zeit zur Gattung des Kontinuums gehört, fällt sie unter die außerseelischen Dinge. Dadurch entspricht dieses spezifische Zeitmodell der Konzeption Avicennas. Daneben ist die Zeit jedoch unter die Form des Diskretums subsumiert. Dieses Diskretum spaltet sich selbst wieder in zwei Modifikationen auf. Als gezählte Zahl (numerus numeratus), die durch die außerseelische Bewegung einen Gegenstandsbezug erhält, existiert die Zeit <extra animam>. Daneben aber ist sie eine formale oder zählende Zahl, die ihren Status der komplettierenden und zählenden Seele verdankt. Auf diese Weise integriert Ulrich die Zeittheorie des Averroes in sein Gesamtmodell. Averroes erhält dadurch eine eigentümliche Wertung innerhalb der Zeitphilo sophie Ulrichs.17 Dieses sorgfältig zwischen Avicenna und Averroes austarierte Modell fand Ulrich bei Albert dem Großen vor. Hier schien der Widerspruch zwischen Avi cenna und Averroes aufgehoben und zu einer höheren Einheit vereinigt. Albert hat daher viele Nachfolger gefunden. Zu ihnen gehörte auch Ulrich von Straß burg. Obwohl Ulrich im Streit um das Sein der Zeit eigene Akzente setzte und andere Bewertungen als Albert vornahm, folgte er bei der speziellen Auflösung voll und ganz Albert. Daher läßt sich auch hier sagen: «Unverhältnismäßig prädominierende Autorität war für Ulrich ... Albert der Große ... » 18
17
Vgl. ULRICUS DE ARGENTINA, De summo bono IV 2, 23; Mojsisch: « ... et sic verum dicit Averroes et alii, qui dicunt tempus esse in anima.» 18 Vgl. A. de Libera/B. Mojsisch, Einleitung zu: Ulrich von Straßburg, De summo bono, Liber 1, hrsģ: von . Mojsisch, mit einer Einleitung von A. de Libera und B. Mojsisch und einem Anhang zur Einleitung von R. Imbach [CPTMA I, 1], Hamburg 1989, XI.
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3.5.2. Radikale Averroisten: Aegidius Romanus I und Siger von Brabant 1. Ulrich von Straßburg war in der Zeitphilosophie kein Averroist. Aber er zeigte Verständnis für die Thesen des Averroes. In gewisser Beziehung gab er dem Araber sogar Recht. Ulrich schrieb sein Werk gegen Ende der 60er Jahre des 13. Jahrhunderts. Etwa zur gleichen Zeit arbeitete Aegidius Romanus am ersten Band seines Sentenzenkommentars. Dort entwickelte er seine spezifische Ansicht zur Zeitphilosophie. Dabei durfte Aegidius das Verhältnis von Zeit und Seele nicht übergehen. Seine Analyse dieses Problems zeigt den außerordentlich großen Einfluß, den die Zeitphilosophie des Averroes damals gewonnen hatte. Aegidius befindet sich ganz auf der Linie des Averroes. Er entwickelte zu nächst keine eigene alternative Zeitphilosophie. Selbst den arabisch-lateinischen Aristotelestext zieht er nicht in Zweifel. Wenn jemand um 1270 in der Zeitphi losophie ein Averroist war, dann war Aegidius Romanus mit Sicherheit Aver roist. Die zentrale Fassung seiner Zeittheorie hat Aegidius Romanus im Physik kommentar niedergelegt. Die Thesen zur Philosophie der Zeit, die sich im er sten Buch des Sentenzenkommentars finden, sind jedoch früher entstanden. Als Vorstufe zur Ausarbeitung der Physik zeigen sie die Zeitphilosophie des Aegi dius Romanus in statu nascendi. Mit seinen Bemerkungen legt Aegidius eine Untersuchung über das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit vor. Dabei beschäftigt er sich in diesem frühen Entwurf nur kurz mit der Theorie des seelischen Seins der Zeit. Als konsequenter und radikaler Averroist modifiziert er dort die The sen des Averroes kaum. Er wendet sie vielmehr uneingeschränkt an und erklärt ihren Inhalt. Aegidius beginnt nach dem Vorbild des Aristoteles mit der Bestimmung der Zeit als Zahl. Da die Zeit keine beliebige, sondern eine spezifische Zahl ist, be darf sie einer näheren Bestimmung. Die Zeit als Zahl ist eine gezählte Zahl. Dies geht, so bemerkt Aegidius, klar aus den Untersuchungen des Aristoteles hervor. Auch Averroes hat jene Definition aus der Physik des Aristoteles ent nommen. Und er hat ihr eine bestimmte Interpretation gewidmet. Aegidius übernimmt diese Auslegung. In bezug auf die Zeit bedeutet das, daß erst die Seele die in der Bewegung verborgene heraushebt.
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3.5.2. Radikale Averroisten: Aegidius Romanus I / Siger von Brabant
Indem sie jene Bewegungsmomente zählt, erschließt sie sich die Zeit als ge zählte Zahl. Ohne die Seele gibt es demnach keine Zeit.1 Aegidius begnügt sich jedoch nicht mit einer oberflächlichen Beschreibung der Theorie des Averroes. Er geht vielmehr ins Detail. Und auch dabei erweist er sich ganz und gar als Schüler des Arabers. Die Zeit als gezählte Zahl (nume rus numeratus) ist nur dann ein aktuell Gezähltes (aliquid actu numeratum), wenn eine aktuell zählende Seele (anima actu numerans) den Prozeß der Zäh lung durchführt. Die Zeit hat demnach ohne die Seele nur ein potentielles Sein (esse potentiale). Sie empfängt ihre Aktualität (actualitas) ausschließlich von der Seele.2 Aegidius belegt seine Position durch einen Rückgriff auf Averroes. Dabei faßt er die Theoreme des Arabers aus den Kommentartexten 109 und 131 zum vierten Buch der Physik des Aristoteles zu einem einheitlichen Konzept zu sammen. Zunächst bezieht er sich auf Kommentartext 109. Dieser Abschnitt ist von besonderer Bedeutung, da er über das commentum 131 hinaus den konkre ten Prozeß der Zeitgewinnung beschreibt. Averroes begreift dort die Zeit als das Produkt einer geistigen Formierung der Bewegung im Modus ungestalteter Materialität. Die Zeit erscheint dabei als ein seelisches Phänomen. Außerhalb der Seele existiert nur die reine Bewegung. Die Zeit ist also eine von der Intellektualität an der Bewegung erzeugte intelligible Struktur: «Dicamus igitur ad haec, quod extra men tem non est nisi motum et motus. Et tempus non fit, nisi quando mens dividit motum in 35 prius et posterius. Et haec est intentio numeri motus, idest motum esse nume ratum. Ergo substantia temporis, quae est in eo quasi forma, est numerus. Et 1 Vgl. AEGIDIUS ROMANUS, In I Sent. d. XIX p. 1 q. 2 a. 1; Venetiis 1521, 106 r a D: «3. Ex ista secunda sequitur tertia. nam si tempus habet rationem numeri et non cuiuslibet numeri: sed numen numerati: vt plane Philosophus in IVo determinat: et Commentator suus qui dicit quod prius et posterius in motu vt sunt numerata ab anima hoc est tempus: cum ad esse talium faciat anima: sequitur quod ad esse temporis faciat anima: quod Commentator dupliciter decla rat.» 2 Vgl. AEGIDIUS ROMANUS, In I Sent. d. XIX p. 1 q. 2 a. 1; Venetiis 1521, 106 r a D: «Nam cum tempus habeat rationem numeri numerati: cum non sit aliquid actu numeratum: nisi sit anima actu numerans: licet esse potentiale possit habere tempus absque anima: actualitatem tarnen ab anima suscipit.»
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Teil III - Das 13. Jahrhundert
quod est in eo quasi materia, est mo40 tus continuus, quoniam non est numerus simpliciter, sed numerus motus.»3
32 haec: hoc D 33 motum et motus: motus et motum P1 et motus om. D 34 fit: sit P2 37 ergo: igitur P 1 38 forma add. eius P1 40 quoniam in marg, P 2 del. quando P 2
Aegidius referiert die These des Averroes mit leicht veränderter Termino logie. Die Zeit ist ein Kontinuum, das die <prius/posterius-Struktur> nicht ak tuell enthält. Nur wenn der Geist (mens), wie Averroes sagt, signierend in den Fluß des Kontinuums eingreift, erhält die potentielle Zeit ihre eigentümliche Aktualität. Die Bewegung selbst existiert ohne die Seele. Weil sie die <prius/ posterius-Struktur> nur potentiell enthält, repräsentieren ihre Determinanten nur dann die Zeit, wenn eine aktuell zählende Seele numeriert. Die vollständige Abhängigkeit des Aegidius von Averroes ist jedoch noch besser durch einen Vergleich seines Textes mit den Ausführungen des Averroes erkennbar: Aegidius
Averroes commentimi 109
«Praeterea. Cum sit quid continuum: prius et posterius non sunt ibi in ac tu: nisi secundum quod per animam signantur: et ideo nisi esset anima signans et numerans: licet tempus potentialiter esset: eo quod talia sig nari et numerari pos sent: actu tarnen non esset.
«Dicamus igitur ad haec, quod extra mentem non est nisi motum et mo tus. Et tempus non fit, nisi quando mens dividit motum in prius et pos terius.»4
3
AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 109, v. 32-41. Vgl. P 1 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 15453 (ff. 54rb-54va), P 2 = Paris, Bibl. Nat., Cod, lat. 16159 (f. 67) und D = AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 109; Venetiis 1562, 187 r C. 4 Vgl. Anm. 3.
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3.5.2. Radikale Averroisten: Aegidius Romanus I / Siger von Brabant
Aegidius
Averroes
commentum 131 Et ista est sententia Commentatoris. qui ait. quoniam possibile est [vt motus sit absque eo quod anima sit]. [Secundum quod prius et poste rius sunt in eo numerata in potentia, est tempus in potentia. Secundum quod sunt numerata in actu: tempus est in actu. tempus іgitur in actu non erit nisi anima sit. potentia vero erit: licet anima non sit.]»5 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß sich Aegidius ohne jede Kritik auf Averroes bezieht. Wie die Formulierung zeigt, benutzte er auch die Transl. Arab.- Lat. als Ausgangstext seiner Überlegungen. Im Phy sikkommentar hat Aegidius diese Textgrundlage aufgegeben. Er bezieht sich nun auf die neue Übersetzung des Wilhelm von Moerbeke. Das von Averroes geprägte Auslegungsschema behält er jedoch bei. Wenig später war ein derartiger Kompromiß jedoch nicht mehr möglich. Aegidius mußte sich mit den neuen Theorien und Texten zur Naturphilosophie auseinandersetzen, die Thomas von Aquino initiiert hatte. Der Aquinate arbei tete seinen Physikkommentar ab 1269 in Paris aus. Darin benützte er die neue Übersetzung der Physik des Aristoteles aus der Feder des Wilhelm von Moer beke. Im frühen Entwurf der Zeitphilosophie des Aegidius fehlt davon jede Spur. Aegidius schrieb also das erste Buch seines Sentenzenkommentars noch ohne Kenntnis der neuesten philosophischen Entwicklungen. Er muß es also vor dem Physikkommentar des Thomas von Aquino verfaßt haben. Nachdem Tho mas seinen Kommentar veröffentlicht hatte bzw. nachdem die neue Physiküber setzung erschienen war, mußte Aegidius seinen Standpunkt neu begründen. Deshalb kommentierte er die Physik auf der Basis des neuen Textes. Die Phy sikauslegung des Aegidius Romanus entstand also nach 1272. Der Sentenzen-
5
AEGIDIUS ROMANUS, In I Sent. d. XIX p. 1 q. 2 a. 1; Venetiis 1521, 106 r a D-b E; AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131; Venetiis 1562, 202 r F.
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Teil111 - Das 13. Jahrhundert
kommentar ist jedoch älter. Aegidius hat ihn in den Jahren vor 1272 verfaßt.6 Aegidius gehörte damit vermutlich zu den radikalen Aristotelikern und Averroisten, die Thomas von Aquino mit seinem Physikkommentar bekämpfte.7 2. Die Position des Aegidius Romanus bedarf keiner weiteren Exposition. Sie ist mit den Thesen des Averroes vollkommen identisch. Dabei rezipierte Aegi dius den Araber mit einer gezielten Auswahl. Er verknüpfte bestimmte Theo reme des Averroes zu einem bestimmten Argumentationsgang. Dieser scheint für die Averroisten dieser Zeit typisch gewesen zu sein. Daher erlaubt er Rück schlüsse auf die Zeitphilosophie des Siger von Brabant. Der Rückgriff des Ae gidius auf commentum 109 läßt sich nämlich auch bei Siger nachweisen. Siger schreibt in seinem Kommentar zum Liber de causis:
«,Est autem tempus, ut dicitur quarto Physicorum, nume rus motus secundum prius et posterius', ita quod in motu est successio partis post partem; et qui apprehendit prius et posterius in motu numerando et distinguendo ea, tem pus apprehendit, eo quod ratio temporis in numeratione prions et posterions in motu consistit.»8
Siger verweist zunächst auf die aristotelische Zeitdefinition. Die Zeit ist die Zahl der Bewegung im Hinblick auf das Früher und Später. Dann jedoch geht Siger zur Bestimmung der Bewegung als Kontinuum über. Die Bewegung ist ein Kontinuum. Ihr Sein entsteht sukzessiv. Die Gewinnung von Zeit richtet sich nun gemäß der Zeitdefinition des Aristoteles auf dieses Bewegungskontinuum aus. Averroes beschreibt diesen Prozeß der Zeitgewinnung als Teilung (dividere) der Bewegung durch den menschlichen Geist (mens). Bei Aegidius signiert (signare) und numeriert (numerare) ein Beobachter die Bewegung. Si ger von Brabant verweist auf das Numerieren (numerando) und Trennen (dis tinguendo) der Bewegung. Aegidius und Siger gebrauchen also fast die gleiche 6
J. M. Quinn setzt für das ersten Buch des Sentenzenkommentars 1275 an (vgl. J. M. Quinn, The Concept of Time in Giles of Rome, in: Augustiniana 29 (1979) 25, Anm. 148). Aus den o.g. Gründen ist ein Termin in der Nähe von 1270 wahrscheinlicher. 7 Um 1270 entstehen somit eine Reihe interessanter zeitphilosophischer Entwürfe, deren inne rer Zusammenhang noch einer näheren Klärung bedarf. Erst wenn das geschehen ist, verläßt die hier vorgeschlagene Chronologie den Status der Hypothese und gewinnt Sicherheit. 8 SIGERUS DE RABANTIA, De caus. q. 8; Marlasca 56, 6-11.
300
3.5.2. Radikale Averroisten: Aegidius Romanus I / Siger von Brabant
Terminologie. Und beide beziehen sich dabei auf Averroes. Averroes und die Averroisten beschreiben also den Entstehungsprozeβ der Zeit als Teilen und Zählen des Bewegungskontinuums. Darüber hinaus zeigen die Formulierungen des Siger von Brabant noch eine weitere Besonderheit. Siger bezeichnet die Numerierung, die nach Averroes nichts anderes als ein Akt des Geistes bzw. des Intellektes ist, als Apprehension. Der zählende Intellekt erfaßt (apprehendit) die Zeit, wenn er das Bewegungskontinuum zählt. Die Bestimmtheit (ratio) der Zeit erweist sich dabei als Zählung (numeratio) der Bewegungsdeterminanten. Wenn diese Signierung jedoch ein Prozeß des Intellektes ist, dann befindet sich die Zeit bei Siger ebenso wie bei Averroes in der Seele. Zugleich ist Siger mit seiner spezifischen Terminologie und seinem Hinweis auf die ein Vorläufer der in Paris verurteilten 200. These zum seelischen Sein der Zeit. R. Hissette hat zuerst einen Zusammenhang der o.g. ÄuBerung Sigers mit der 200. Pariser These hergestellt.9 Seine Argumentation ist überzeugend. Sie bestätigt sich in diesem Zusammenhang. Siger von Brabant paßt mit seiner Sentenz ohne Probleme in das Netz gegenseitiger Abhängigkeiten, die sich für die Zeittheorien der Jahre um 1270 nachweisen lassen. Mit der Position des Aegidius Romanus ist Sigers Auffassung ohne Zweifel nah verwandt. Leider sind die Texte, die Siger zur Auslegung der Zeitphilosophie des Aristoteles geschrieben hat, verloren. Daher ist eine genauere Rekonstruktion seiner Position nicht möglich. Erhalten blieb nur Sigers Sophisma aus den Impossibilia:
«Quod bellum troianum esset in hoc instanti.»10
Siger spricht dort nicht vom Sein der Zeit in der Seele. Aber wenn er die Antinomien des Jetztpunktes diskutiert, dann führt er seine Leser zugleich in die Aporien der Zeit. Von dort war es nur ein Schritt bis zur Absage an ein auBerseelisches Sein der Zeit. Siger hat diesen Schritt vollzogen. Die Indizien 9
Vgl. R. Hisette, Enquête sur les 219 articles comdamnés à Paris le 7 Mars 1277 (Philosophes Médiévaux XXII), Louvain/Paris 1977, 153/4. 10 Vgl. Siger de Brabant, Écrits de logique, de morale et de physique, ed. B. Bazån (Philosophes Médiévaux XIV), Louvain/Paris 1974, 77-79.
301
Teil III - Das 13. Jahrhundert
sprechen hier für sich. Aber durch den Verlust der Quellen sind weitere konkrete Aussagen unmöglich. Sicher ist nur, daB die Positionen der radikalen Averroisten auf den Widerspruch des Thomas von Aquino stießen. Ist es ein Zufall, daB Thomas von Aquino damals in Paris einen Physikkommentar in Angriff nahm?
302
3.5.3. Thomas von Aquino II Wie sich aus den Ausführungen des Thomas von Aquino zur <aristotelischen Zeitaporie> im Sentenzenkommentar ergibt, war er bei der Auslegung dieser Stelle in hohem Maβe von Averroes abhängig. Zwar hatte er die Einbindung seiner Auffassung in eine Theorie des Intellektes versucht, aber er gelangte über das Komplettierungsschema des Averroes nicht hinaus. Dennoch lieBen sich auf diese Weise die Lehre vom Intellekt und die Philosophic der Wahrheit harmonisch mit der Zeittheorie verkniipfen. Etwa fünfzehn Jahre später gab Thomas in einem anderen historischen Umfeld seine frühe Auslegung der Zeitaporie auf. Er versuchte, zu einer neuen Kornmentierung zu gelangen. Seine Bemühungen betrafen aber nicht nur die Exegese, sondern auch die Textbasis. Weil ihm Wilhelm von Moerbeke eine verbesserte Übersetzung der Physik des Aristoteles zur Verfügung gesteilt hatte, befand sich Thomas in einer günstigeren Situation als Albert. Albert löste die Probleme der mangelhaften Übersetzungen gelegentlich mit abstrusen Konstruktionen. Diese frühe und fehlerhafte Stufe der Aristotelesrezeption iiberwand Thomas von Aquino. Bei seiner Auslegung der Zeitaporie hat Thomas das Grundproblem gleich zu Beginn scharf umrissen. Die Frage ist, ob die Zeit existiert oder nicht, wenn die Seele nicht vorhanden ist.1 Dennoch fehlt bei Thomas jeder Hinweis auf die Brisanz dieses Problems. Dessen Bedeutung geht kaum aus seinem Text hervor. Thomas, der hier an der Schwelle der 70er Jahre des 13. Jahrhunderts stand, diskutierte immerhin eine Frage, die zu den umstrittensten Problemen der Zeitphilosophie zählte. Eine Notiz zu Averroes fehlt ganz. Albert hatte noch in seinem Physikkommentar jenen Theoretikern der Zeit, die das Sein der Zeit auBerhalb der Seele leugneten, eine eigene Digression gewidmet. Ulrich von Straβburg, der etwa zur gleichen Zeit wie Thomas an seinem Zeittraktat schrieb, war ihm darin gefolgt. Eine vergleichbare ÄuBerung bei Thomas gibt es jedoch nicht. Er übergeht die Confessiones des Augustinus mit Stillschweigen.2 Auch von den Fragmenten Galens berichtet er nichts. Auffällig ist daher 1
Vgl. THOMAS AQUINAS, In Aristotelis Phys. IV lect. 23 n. 627; Maggiòlo 309: «Est ergo dubitatio, utrum non existente anima esset tempus, aut non.» 2 Das Fehlen des Augustinus bemerkte schon F. Beemelmans. Vgl. F. Beemelmans, Zeit und Ewigkeit nach Thomas von Aquino (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters XVII 1), Münster 1914, 23: «Es ist auffallend, daβ Bonaventura an der Stelle, wo er die objek tive Realität der Zeit bespricht, nicht auf die Gedanken Augustins eingeht; daB er sie gekannt hat,
303
Teil III - Das 13. Jahrhundert
die Liberalität des Ulrich von Straβburg, der etwa zur gleichen Zeit wie Tho mas an seinem Zeittraktat schrieb. Er lieB dem Leser die Wahl zwischen divergierenden Möglichkeiten in der Beurteilung des Verhältnisses von Zeit und Seele.3 Im Hinblick darauf erscheint die starre Haltung des Aquinaten besonders deutlich. Indem Thomas so verfuhr, trug er mit dazu bei, daB die Kenntnis alternativer Zeittheorien abhanden kam. Thomas verschwieg Averroes. Aber seine Auslegung der Zeitaporie ist der groBangelegte Versuch, den Einfluβ des Averroes aus der Diskussion um das seelische Sein der Zeit zurückzudrängen. Thomas gab seine eigene frühere Position auf. Dabei lieB er Albert, der in der Auslegung der aristotelischen Zeitphilosophie stark von Averroes abhängig gewesen war, hinter sich zurück. Nach Thomas von Aquino besteht der Text der <aristotelischen Zeitaporie> aus drei Teilen:
a) Problemstellung:
Satz I
b) Problemlösungsversuch: Satz II-IVa c) Problemlösung:
Satz IVb-VI
Für den ersten Abschnitt (a) ist keine umfangreiche Auslegung erforderlich. Dort ergibt sich die Problemstellung klar aus den Formulierungen des Aristoteles: Ist die Zeit in ihrer Existenzweise von der Seele abhängig oder nicht? Auch der zweite Abschnitt (b) bereitet Thomas keine Schwierigkeiten. Seine Auslegung beschränkt sich daher auf eine Paraphrase. Thomas zeigt in Anlehnung an die Formulierung des Aristoteles dessen Grundposition. Wenn es unmöglich ist, daB ein des Zählens fähiges Seiendes existiert, dann gibt es auch kein Zählbares, das in sich die Möglichkeit zum Erleiden einer Zählung einschlieBt. Ohne das Zählbare ist keine Zahl vorhanden. Eine Zahl existiert nur bei einer aktuellen Zählung. Es gibt sie allein dort, wo ein Zählbares in der Potenz vorhanden ist. Wenn also kein Seiendes vorliegt, das zählen kann, existiert lä8t sich kaum bezweifeln. Albertus gibt die Meinung des groβen Kirchenvaters kurz und tref fend wieder und scheut sich nicht, dennoch anders zu denken. Thomas wiederum schweigt von Augustinus.» 3 Vgl. 3.5.1., S. 294.
304
3.5.3. Thomas von Aquino II
auch keine Zahl. Zum Zählen ist jedoch nur die Seele bzw. der intellektuelle Teil der Seele (anima intellectiva) fähig. Da jedoch die Zeit eine Zahl ist, entfällt ohne eine intellektuelle Seele auch die Zeit.4 Thomas bedient sich hier des Potenz/Akt-Schemas, um Ordnung in das Gefüge der Zahlenkonstitution zu bringen. Aber er benutzt es nicht nach Art des Averroes. Von einer potentiellen oder aktuellen Zeit spricht Thomas in diesem Zusammenhang nicht. Die entscheidende Passage der Zeitaporie ist für Thomas der dritte Abschnitt (c). Damit setzte er sich umfangreich auseinander. Hier fand Thomas den zentralen Hinweis, der ihm den Ausstieg aus der Konzeption einer innerseelischen Zeit zu ermöglichen schien. Thomas faβt diesen zweiten Abschnitt als Diskussion einer Alternative auf:
I
Entweder ist die Zeit ein von der Seele abhängiges Seiendes (ens),
II
oder sie ist eine von der Seele unabhängige Entität. Dann ware sie, wie Aristoteles in Satz IVb der Aporie sagt, ein .
Die zweite Auffassung lieβ sich nach Thomas auch durch den Hinweis auf die auβerseelische Seinsweise der Bewegung stützen, von der Aristoteles in Satz IVc der Aporie spricht. Was für die Bewegung gilt, bezieht sich auch auf die Zeit. Die der Bewegung ist als Zählbares die Zeit
4
Vgl. THOMAS AQUINAS, In Aristotelis Phys. IV lect. 23 n. 628; Maggiòlo 309: «Quia si impossibile esset esse aliquod potens numerare, impossibile esset esse aliquod numerabile, potens scilicet numerari. Sed si non est numerabile, non est numerus; quia numerus non est nisi in eo quod numeratur actu, vel quod est numerabile in potentia. Relinquitur ergo quod si non est aliquod potens numerare, quod non sit numerus. Sed nihil aliud natum est numerare quam anima, et inter partes animae non alia quam intellectus; quia numeratio fit per collationem numeraiorum ad unam primam mensuram, conferre autem rationis est. Si igitur non est anima intellectiva, non est numerus. Tempus autem est numerus, ut dictum est. Si ergo non est anima intellectiva, non est tempus.»
305
TeilIII- Das 13. Jahrhundert (Satz V?VI).5 Die Rede des Aristoteles in Satz IVb vom erreicht bei Thomas den Status eines alles entscheidenden Fixpunktes der Auslegung. Thomas von Aquino hat hier den grundlegenden Wendepunkt der Aporie gesetzt. Dies war nur dadurch möglich, weil ihm mit der Translatio Nova die genaueste und sicherste Übersetzung des 13. Jahrhunderts zur Verfügung stand. Dadurch erregte das
«hoc, quod utcumque ens»
seine Aufmerksamkeit.6
5
Vgl. THOMAS AQUINAS, In Aristotelis Phys. IV lect. 23 n. 629; Maggiòlo 309: «Et dicit quod aut oportet dicere quod tempus non sit, si non est anima; aut oportet hoc dicere verius, quod tempus est utcumque ens sine anima, ut puta si contingit motum esse sine anima. Sicut enim ponitur motus, ita necesse est poni tempus: quia prius et posterius in motu sunt; et haec, scilicet prius et posterius motus, inquantum sunt numerabilia, sunt ipsum tempus.» 6 Zu diesem Ergebnis kommt auch F. Volpi. Vgl. F. Volpi, Chronos und Psyche. Die aristotelische Aporie von Physik IV, 14, 223 a 16-29, in: E. Rudolph (Hrsg.), Zeit, Bewegung, Handlung. Studien zur Zeitabhandlung des Aristoteles, Stuttgart 1988, 34/5: «Die ganze Stelle sieht Thomas als eine Antwort auf die Frage nach der Seinsweise der Zeit. Entscheidend ist dabei, wie er den aristotelischen Text einteilt. Er betrachtet nämlich die Zeilen 223 a 16-23 als dia(lat. sed lektische Entfaltung der Aporie und läBt die Antwort des Aristoteles erst beim aut) beginnen. Dabei hat er möglicherweise im Text der von ihm benutzten lateinischen Übersetzung einen festeren Anhaltspunkt gefunden, als ihn der griechische Text eigentlich bietet... Thomas betrachtet somit den Satz, in dem die Abhängigkeit der Zeit von der Seele behauptet wird (impossibile est tempus esse, anima si non sit beziehungsweise nur als den Schluβsatz in der Darstellung der Aporie, nicht aber als die eigentliche These des Aristoteles. Diese läBt er erst im darauf folgenden Satz beginnen. Sie besagt, daB die Zeit unabhängig von der Seele ein gewisses Seiendes (utcumque ens = ) ist ...» Die Interpretation von F. Volpi ist angemessen. Volpi sieht deutlich die Bedeutung, die die neue Physikübersetzung für Thomas von Aquino gewonnen hat. Hätte er die Spur weiter verfolgt, dann wäre er notwendigerweise auf die ältere Übersetzung sowie auf Albert und Averroes gestoBen. Dazu befindet sich in seinem Aufsatz jedoch kein Hinweis.
306
3.5.3. Thomas von Aquino II
Den Fortschritt, den die Physica Nova für die Kommentierung des Thomas von Aquino bedeutete, verdeutlicht ein Vergleich der Auslegung Alberts mit dem Kommentar des Thomas: Aristoteles
Albert
Averroes
«Sed tunc [1] aut oportet dicere, quod tempus est aliquando, cum sit anima, et non habeat esse extra animam, et tunc erit esse temporis fictum sicut esse chimerae et tragelaphi; [2] aut oportet dicere, quod motus est, cuius passio est tempus.»7 Das «aut» [1] im lateinischen Aristotelestext veranlaβt Albert, eine Alterna tive zu setzen («aut» [2]). Weil er zudem für das
die Übersetzung
«hoc quod aliquando cum sit»
zur Verfiigu g hatte, kam es zu einem sinnentstellenden Miβverständnis. Gemäβ Alberts Paraphrase entsteht aus der Translatio Vetus:
7
ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 c. 16; Hossfeld 289, 53-57.
307
Teil III - Das 13. Jahrhundert
[tempus] est.»8
«... sed aut hoc quod .... aliquando cum sit.
folgende Überformung:
« ... quod tempus est
[anima] ... »9
aliquando, cum sit
Albert formt das «cum sit» zu einem Nebensatz aus, der auf die Abhängigkeit der Zeit von der Seele verweist, indem er den Terminus «[anima]» einfügt. Das der Zeit, die Bewegung, erscheint auf diese Weise als Seele. Albert deutete also vornehmlich den cum-Satz. Das beachtete er weniger. Ein solches Miβverständnis wäre mit der Translatia Nova
est tempus ... » 10
quod utcumque ens
«Sed aut hoc,
kaum möglich gewesen, da die gesamte grammatikalische Struktur hier klarer zutage tritt. Die neue Translation eliminierte den Nebensatz {cum sit) und ersetzte ihn durch das genauere «ens»:
ens
cum sit
Albert verfehlte also aufgrund der ungenauen Übersetzung den Sinn dieser Stelle und verdrehte ihren Gehalt ins Gegenteil. Sie bezog sich nunmehr nicht auf etwas, das auf nicht näher definierte Weise auBerhalb der Seele die Zeit aus
8
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 26/7, Transl. vetus; Bossier/Brams 188, 17/8. ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 c. 16; Hossfeld 289, 54. 10 ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 26/7, Transl. nova, n. 455; Maggiòlo 308.
9
308
3.5.3. Thomas von Aquino II
sich entläβt (= Bewegung), sondern auf die Abhängigkeit der Zeit von der Seele. Doch nicht nur das. Albert legt diese Stelle mit Averroes aus. Dies beweist das angeschlossene Textstück «fictum sicut esse chimerae et». In der Alternative zwischen der vollständigen Abhängigkeit der Zeit von der Seele [1] und ihrer gänzlichen Unabhängigkeit [2] erscheint das
«hoc quod aliquando cum sit»
in der Argumentation Alberts als Hinweis auf das ausschlieBlich seelische Sein der Zeit. Albert hatte also den Sinn dieser spezifischen Aristotelesstelle vollständig miBverstanden. Thomas bemerkte dies. Daher bemühte er sich um eine Korrektur. Er sah, daB mit der o.g. Formulierung des Aristoteles nicht die Seele gemeint war. Deshalb bezog er diese Formel auf die auBerseelische Bewegung. Mit seiner Auslegung gelang ihm daher ein entscheidender Schritt nach vorn. Er bewirkte zudem, daβ sich das Interesse der späteren Aristoteleskommentatoren auf den Satz IVb der Zeitaporie konzentrierte. Dabei blieb Thomas jedoch nicht stehen. Er nutzte seine neue Einsicht in das Wesen des zu einer völlig neuen Interpretation. Zugleich versuchte er damit eine umfangreiche Begründung seiner These einer auBerseelischen Zeit. Sein Ziel war es, den Einfluβ des Averroes, dem auch Albert in gewisser Weise nachgegeben hatte, zurückzudrängen. Thomas bemiihte sich, das Sein der Zeit möglichst weit in die auBerseelische Natur zu verschieben. Auch dabei ging er in mehreren Schritten vor. a) Thomas postuliert zunächst die Prädominanz der auβerseelischen Dingwelt. Er gibt zu bedenken, daB die Zahlen erst nach den vorhandenen Dingen entstehen. Zwar sind die gezählten Seienden ebenso wie die Zahl von einer zählenden Entität abhängig, aber das Sein der gezählten Entitäten verursacht nicht der zählende (endliche) Intellekt. Nur ein übergeordneter Verstand, der zugleich die Ursache der Dinge ist, verfügt über ihr Sein. Niemals aber besteht
309
Teil III - Das 13. Jahrhundcrt
eine Abhängigkeit der seienden Dinge vom Intellekt der menschlichen Seele. Daher hängt auch die Zahl nicht von der menschlichen Seele ab (wie Averroes meinte), sondern allein die Zählung.11 Es ist leicht erkennbar, daB diese zahlentheoretische Argumentation Vorläufer in der antiaverroistischen Polemik eines Bacon und Kilwardby hat.12 Thomas bemüht sich zudem um die Unterordnung des menschlichen Intellektes unter den . Für einen sekundären Intellekt sind die Dinge nicht das Ergebnis seiner eigenen Konstitution. Ihm ist das sinnlich Wahrnehmbare nur gegeben. Daher beruft sich Thomas auch bei der folgenden Darlegung auf die VerfaBtheit der sinnlich wahrnehmbaren Seienden (sensibilia). b) Die sinnlich wahrnehmbaren Dinge existieren, auch wenn keine sinnliche Wahrnehmung (sensus) besteht. Daher ist auch die Existenz des Zählbaren und der Zahl nicht an das zählende Seiende gebunden.13 Diese Argumentation ist alt. Schon die Philosophie der Spätantike entwikkelte vergleichbare Überlegungen.14 Es erscheint zwar unwahrscheinlich, daB Thomas hiervon nähere Kenntnis besaB. Ausgeschlossen ist es jedoch durch seine Kontakte zu Wilhelm von Moerbeke nicht. Sicher ist z. Zt. nur, wie Thomas dieses Beziehungsgefüge benutzt hat. Dabei bleibt zweifelhaft, ob eine solche Parallelisierung zwischen den Gegenständen der sinnlichen Erfahrung (sensibilia), des Intellektes (intelligibilia) und der Zählung (numerabilia) überhaupt zulässig ist. Thomas' Konzeption bot hier eine weite Angriffsfläche. Dennoch versuchte er, diese wenig gesicherte Position zu stützen und weiter auszubauen. Damit griff er dann in das von Aristoteles im ersten Abschnitt der Aporie gebrauchte Gefüge der Abhängigkeit der Zeit von der Seele ein. c) Zunächst läBt sich Thomas auf eine Diskussion des zweiten Satzes der Aporie ein. Vielleicht ist es zutreffend, daB das Zählbare ebenfalls unmöglich ist, wenn ein zählender Intellekt nicht zu existieren vermag. Wahr bleibt näm11
Vgl. THOMAS AQUINAS, In Aristotelis Phys. IV lect. 23 n. 629; Maggiòlo 309: «Ad evidentiam autem huius solutionis considerandum est, quod positis rebus numeratis, necesse est poni numerum. Unde sicut res numeratae dependent a numerante, ita et numerus earum. Esse autem rerum numeratarum non dependet ab intellectu, nisi sit aliquis intellectus qui sit causa rerum, sicut est intellectus divinus: non autem dependet ab intellectu animae. Unde nec numerus rerum ab intellectu animae dependet: sed solum ipsa numeratio, quae est actus animae, ab intellectu animae dependet.» 12 Vgl. 3.3.3., S. 215, Anm. 13; 3.4.4., S. 285, Anm. 17. 13 Vgl. THOMAS AQUINAS, In Aristotelis Phys. IV lect. 23 n. 629; Maggiölo 309: «Sicuti ergo possunt esse sensibilia sensu non existente, et intelligibilia intellectu non existente, ita possunt esse numerabilia et numerus, non existente numerante.» 14 Vgl. 1.3., S. 14-16.
310
3.5.3. Thomas von Aquino II
lich, daβ durch die Unmöglichkeit einer wahrnehmenden Seele auch das Wahrnehmbare selbst unmöglich ist. Die Rede vom Wahrnehmbaren verliert ihren Sinn, wenn nie jemand wahrnimmt. Soweit ist diese Frage unter dem Gesichtspunkt der Unmöglichkeit zu beurteilen. Im Gegensatz dazu, d.h. in bezug auf die Möglichkeit, läβt sich aber følgendes sagen: Besteht ein sinnlich Wahrnehmbares, dann ist es auch wahrnehmbar. Es kann Gegenstand einer sinnlichen Wahrnehmung sein. Damit ist aber nach Thomas noch nicht gesagt, daB dieses sinnlich Wahrnehmbare, um mit Recht den Namen <Wahrnehmbares> zu tragen, auch Gegenstand einer aktuellen sinnlichen Wahrnehmung eines aktuell vorhandenen Wahrnehmenden sein muβ. Wann dieser <Wahrnehmungstrager> hinzutritt, ist an sich gleichgültig. Wichtig ist nur, daB dessen Existenz prinzipiell möglich ist. Thomas beharrt also zunächst auf der Autonomie der auBerseelischen Dingwelt. Dieses <erkenntnistheoretische> Dogma transformiert er dann auf die zahlentheoretische Ebene und damit auf die Zeit. Weil die Autonomie der Dinge gegenüber der seelischen Instanz gegeben ist, deshalb ist auch die Zeit als das Zählbare von dem zählenden Seienden unabhängig.15 Mit dieser Argumentationskette verbindet Thomas eine Reflexion iiber Zeit und Bewegung. Sie soll alle bisher genannten Beweise für das auBerseelische Sein der Zeit bekräftigen und in sich zusammenfassen. d) Thomas geht davon aus, daB sich die Bewegung in der auBerseelischen Natur befindet. Sie verfügt (auf gewisse Weise) iiber ein weltliches Sein wie etwa ein Stein oder ein Pferd. Diese Dinge besitzen nach Thomas durch ihr diskretes Sein an sich und absolut eine Zahl. Wie es z.B. eine bestimmte Anzahl von Steinen gibt, selbst wenn keine zählende Seele existiert, so muβ auch die Zahl der Bewegung auBerhalb der Seele vorhanden sein. Insoweit hält Thomas streng am auBerseelischen Sein der Zeit fest. Dennoch ist die Seele an der Konstitution der Zeit nicht ganz unbeteiligt. Dies liegt an einer bestimmten Unvollkommenheit der auBerseelischen Zeit. 15
Vgl. THOMAS AQUINAS, In Aristotelis Phys. IV lect. 23 n. 629; Maggiölo 309/10: «Sed forte conditionalis quam primo posuit, est vera, scilicet quod si est impossibile esse aliquem numerantem, impossibile est esse aliquod numerabile: sicut haec est vera, si impossibile est esse aliquem sentientem, impossibile est esse aliquid sensibile. Si enim est sensibile, potest sentiri, et si potest sentiri, potest esse aliquod sentiens; licet non sequatur quod si est sensibile, quod sit sentiens. Et similiter sequitur quod si est aliquid numerabile, quod possit esse aliquid numerans. Unde si impossibile est esse aliquod numerans, impossibile est esse aliquid numerabile: non tarnen sequitur quod si non est numerans, quod non sit numerabile, ut obiectio Philosophi procedebat.»
311
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Allerdings definiert Thomas diese Unvollkommenheit präzis, um seine Konzeption vom Perfektionsmodell des Averroes zu unterscheiden. Dies geschieht durch folgende Reflexion: Es gibt zwischen den gewöhnlichen Dingheiten und der Bewegung eine wichtige Differenz. Die Bewegung besitzt in der Natur kein statisches Sein. Dadurch unterscheidet sie sich von der fixierten Existenz permanenter Entitäten. Allein die Seele konstituiert die Totalität der Bewegung. Sie verklammert die frühere Anordnung des Beweglichen mit seiner späteren Disposition. Diesen Befund überträgt Thomas auf die Zeit. Auch die Zeit hat nur als unteilbares präsentisches Jetzt ein Sein auβerhalb der Seele. Ihre Totalität empfängt sie ebenfalls von der Seele. Sie zählt die in der Bewegung. Insofern ist die Zeit nach den Worten des Aristoteles ein und daher unvollkommen (imperfecte). Dies will Thomas aber allein in Analogie zur Bewegung verstanden wissen. Wie die Bewegung ohne die Seele unvollkommen ist, so ist auch die Zeit ohne die Seele unvollständig. Das Verhältnis von Zeit und Seele ist nach dem Verhältnis von Bewegung und Seele konstruiert. 16 Weil Thomas mit Hilfe der neuen Textübersetzung nachgewiesen zu haben glaubte, daB es bei Aristoteles eine auBerseelische Vorform der Zeit als gibt, kommt er immer wieder darauf zurück. Die Diskussion des ist auf diese Weise die Basis seiner Auslegung und seine eigenstandige Leistung. Ohne die neue Übersetzung des Wilhelm von Moerbeke wäre dieser exegetische Neuansatz jedoch nicht möglich gewesen. Aber was war damit gewonnen? Hatte nicht auch Averroes das auBerseelische Sein der Zeit un-
10
Vgl. THOMAS AQUINAS, In Aristotelis Phys. IV lect. 23 n. 629; Maggiölo 310: «Si ergo motus haberet esse fixum in rebus, sicut lapis vel equus, posset absolute dici quod sicut etiam anima non existente est numerus lapidum, ita etiam anima non existente esset numerus motus, qui est tempus. Sed motus non habet essefixumin rebus, nec aliquid actu invenitur in rebus de motu, nisi quoddam indivisibile motus, quod est motus divisio: sed totalitas motus accipitur per considerationem animae, comparantis priorem dispositionem mobilis ad posteriorem. Sic igitur et tempus non habet esse extra animam, nisi secundum suum indivisibile: ipsa autem totalitas temporis accipitur per ordinationem animae numerantis prius et posterius in motu, ut supra dictum est. Et ideo signanter dicit Philosophus quod tempus, non existente anima, est utcumque ens, idest imperfecte; sicut et si dicatur quod motum contingit esse sine anima imperfecte. Et per hoc solvuntur rationes supra positae ad ostendendum quod tempus non sit, quia componitur ex partibus non existentibus. Patet enim ex praedictis, quod non habet esse perfectum extra animam, sicut nec motus.»
312
3.5.3. Thomas von Aquino II
vollkommen genannt?17 Was unterschied die Konzeption des Thomas von Aquino von der Aussage des Averroes? Zunächst ist zu sagen, daβ Thomas versuchte, das von Averroes bekannte Potenz/Akt-Schema aus der Zeitphilosophie hinauszudrängen. Zwar kennt auch er wie Averroes Stufen in der Vervollkommnung der Zeit, aber er spricht nicht von einer potentiellen Zeit. Das ist schon Zeit. Die Seele faβt dieses Vorgegebene nur noch zu einer Totalität zusammen. Sie überführt keine potentielle Zeit in die Aktualität. Ebensowenig formiert der Intellekt eine auBerseelische Materialität. Die Seele umgreift nach Thomas nur noch, was auBerhalb der Seele schon vorhanden ist, jedoch wegen der Sukzessivität der Teile der Zeit in der Natur getrennt existiert. Thomas glaubte, er habe das Sein der Zeit auBerhalb der Seele nachgewiesen. Daher konnte seiner Meinung nach die Zeit nicht auBerhalb der Seele nur in der Potenz vorhanden sein. Albert konstruierte diese These als des Aristoteles, Thomas fand sie aufgrund seiner genaueren Textkenntnis bei Aristoteles selbst. Aber gerade dort, wo er den entscheidenden Schritt zum verbesserten Aristotelesverständnis gefunden zu haben glaubte, bei der Philosophie des , setzten seine Gegner an. Sie hielten den Entwurf des Aquinaten für widersprüchlich und nicht angemessen. Befindet sich die der Zeit <extra animam> in der Natur? FaBt die Seele das schon Gegebene nur noch zusammen? Oder ist es die Seele, die diese Struktur erst hervorbringt? Bleibt die Zeit in der Natur nur deshalb unvollkommen, weil die Seele ihre an sich vollendeten Teile noch nicht zu einer Einheit zusammengefügt hat? Oder muβ die Seele eine potentielle Struktur erst zur vollen Aktualität erheben? An dieser Problematik zerbrach die Überzeugungskraft der Argumente des Thomas von Aquino. Seine Gegner fanden für das eine andere Deutung. Die Dokumente ihrer Auseinandersetzung mit Thomas befinden sich im Physikkommentar des Aegidius Romanus und in den naturphilosophischen Fragmenten eines Anonymus aus der Pariser Artistenfakultät. Beide Texte sind daher als unmittelbare Reaktion auf die Konzeption des Thomas von Aquino zu werten.
17
Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131; Venetiis 1562, 202 v G/H: «Secundum igitur hunc modum dicitur tempus habere esse extra animam simile perfecto, et si non sit perfectum.»
313
3.5.4. Aegidius Romanus II Aegidius Romanus hat sich an vielen Stellen seines umfangreichen Werkes zur Philosophie der Zeit geäuBert. Die zentrale Fassung seiner Zeittheorie befindet sich jedoch im vierten Buch seines Physikkommentars. Im Gegensatz zu anderen zeitphilosophischen Texten des 13. Jahrhunderts hat die Erforschung der Konzeption des Aegidius Romanus im Phy sikkommentar Fortschritte erzielt. A. Maier versuchte 1950 eine allgemeine entwicklungsgeschichtliche Einordnung1, während J. M. Quinn 1978/9 eine systematische Untersuchung vorlegte.2 Zur Datierung des Phy sikkommentar s schlug J. M. Quinn die Zeit um 1272 vor.3 Wenn jene Einordnung richtig ist, dann kommt diesem Text eine besondere Bedeutung zu. Er entstand nämlich in zeitlicher Nähe zur Verurteilung von 1277. Daher gehört er in eine Reihe mit dem Phy sikkommentar des Thomas von Aquino und dem Text des Pariser Anonymus. Wichtig ist hier besonders die Beziehung der Zeitkonzeption des Aegidius Romanus zu Thomas von Aquino. Eine solche Rezeption ist schon dadurch wahrscheinlich, daB Aegidius nun im Gegensatz zu seinem Sentenzenkommentar die Translatio Nova als Basistext zur Auslegung der Physik ausgewählt hat. Es war Thomas von Aquino, der die neue Übersetzung zuerst benutzen konnte. Damit sorgte er zugleich fiir ihre Verbreitung. Diesen neuen Stand der Forschung muβte Aegidius daher berücksichtigen. Aegidius kannte den Physikkommentar des Thomas von Aquino. Aber auch Thomas' älteres Zeitkonzept aus dem Sentenzenkommentar hat er wahrscheinlich studiert. Die Nähe dieses frühen Entwurfs zu Averroes war für Aegidius sicher hilfreich. Der erste Band seines eigenen Sentenzenkommentar s zeigt daher ebenfalls eine Rezeption des Averroes. Diese Vorgeschichte blieb nicht ohne Folgen. Die Analyse zum Verhältnis von Zeit und Seele, die Aegidius in seinem eigenen Physikkommentar vorgelegt hat, zeugt vom unveränderten Einfluβ des arabischen Kommentators auf das Denken des Aegidius Romanus.
1 Vgl. A. Maier, Die Subjektivierung der Zeit in der scholastischen Philosophie, in: Philosophia Naturalis 1 (1950) 379f. 2 Vgl. J. M. Quinn, The Concept of Time in Giles of Rome, in: Augustiniana 28 (1978) 310352, 29(1979)5-42. 3 Vgl. J. M. Quinn, The Concept of Time in Giles of Rome, in: Augustiniana 29 (1979) 25, Anm. 148.
314
3.5.4. Aegidius Romanus II
Aegidius stützte sich zunächst wie Thomas von Aquino bei der Auslegung der <aristotelischen Zeitaporie> auf den von Wilhelm von Moerbeke angefertigten Text der Translatio Nova. Daher begriff er leicht den Wendepunkt der Aporie. Er teilte deshalb seine Auslegung in zwei Hälften. Die erste Hälfte bezieht sich auf die Auslegung der Sätze I bis IVa, während der zweite Abschnitt die Sätze IVb bis VI untersucht. Schon J. M. Quinn erkannte, daβ Aegidius in diesem Teil seiner Untersuchung stark von Averroes abhängig ist.4 Da er aber keine entwicklungsgeschichtliche Analyse vornahm und nur den Physikkommentar des Thomas von Aquino gelegentlich zum Vergleich heranzog, blieb ihm der wahre Stellenwert der Auslegung des Aegidius Romanus innerhalb seines historischen Kontextes verborgen.5 Aegidius suchte den Sinn des ersten Abschnittes der Zeitaporie in der Frage, ob die Zeit als ein Seiendes bei der Seele (ens apud animam) zu betrachten sei. Er löste dieses Problem, indem er zunächst die formale Struktur der Auslegung der Zeitaporie des Averroes beibehielt. Insofern blieb Aegidius seiner frühen Konzeption treu. Da er jedoch die neuesten Ergebnisse der Textkritik nicht vernachlässigen wollte, löste er sich von der fehlerhaften arabisch-lateinischen Übersetzung. Aegidius stiitzte sich nun auf die Translatio Nova. Sie war der neueste und beste der damals verfügbaren Texte. Aegidius benutzte die neue Übertragung aber nicht wie Thomas als Waffe gegen Averroes. Er erkannte vielmehr, daB das Auslegungsmuster des Averroes bestens zum Text der Translatio Nova paBte. Die Auslegung des Aegidius Romanus ist darin nicht nur von dem Verfahren Alberts abhängig, sondern auch mit der Methode eines Anonymus aus der Pariser Artistenfakultät und der Auslegung des Dietrich von Freiberg verwandt. Sie ist aber auch die konsequente Fortführung der eigenen Zeittheorie des Aegidius Romanus aus dem Sentenzenkommentar. Zwischen der radikal averroistischen Position des Aegidius Romanus im Sentenzenkommentar und im Phy sikkommentar gibt es keinen Unterschied. Das ist auch ohne die chronologisch-genetischen Überlegungen, die immer mit einem Unsicherheitsfaktor belastet sind, nachweisbar.
4
Vgl. J. M. Quinn, The Concept of Time in Giles of Rome, in: Augustiniana 29 (1979) 23, Anm. 142: «Giles undoubtedly relies heavily on Averroes throughout his analysis of the connection between time and the soul.» 5 J. M. Quinn versucht gelegentlich, den Kommentar des Aegidius Romanus mit dem Physikkommentar des Thomas von Aquino zu berichtigen, statt die Konzeption des Aegidius als Gegenentwurf zu Thomas zu verstehen.
315
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Zunächst paraphrasiert Aegidius bei der ersten Hälfte der Zeitaporie (Satz IIVa) die Translatio Nova. Dann deutete er den Text durch das von Averroes übernommene Potenz/Akt-Schema. Dabei vereinigte er dieses Denkschema mit dem causa/effectus-Modell. Die Aristotelesparaphrase hat bei Aegidius zunächst einen propädeutischen Sinn. Sie soll den Leser in den Text des Aristoteles einführen. Aristoteles fragt zunächst, ob die Zeit existiert oder nicht, wenn keine Seele vorhanden ist (Satz I). Dabei ist es unmöglich, daβ ein Zählbares existiert, wenn keine zählende Seele zur Verfugung steht (Satz II). Folglich ist weder die gezählte Zahl noch das Zählbare ohne die Seele denkbar (Satz III). Diese beiden Modifikationen der Zahl unterwirft Aegidius mit Averroes dem Potenz/Akt-Schema. Das Zählbare ist die Zahl in der Potenz, das Gezählte die Zahl im Akt. Nachdem Aegidius derart die Modifikationen der Zahl gedeutet hat, vollzieht er mit Aristoteles den Übergang zur Zeit. Da nichts anderes zur Zählung in der Lage ist als der Intellekt, ist die Zeit nicht ohne die Seele vorhanden (Satz IVa).6 Diese Paraphrase bringt nur in erster Näherung eine korrekte Aristotelesauslegung. Durch die Einbindung des Potenz/Akt-Schemas signalisiert Aegidius zunächst seine Nähe zu Averroes. Diese Annäherung ist in der auf die Paraphrase folgenden Auslegung noch deutlicher zu erkennen. Dort hat Aegidius das Potenz/Akt-Schema mit dem causa/effectus-Modell auf eindrucksvolle Weise verknüpft. Wenn eine Wirkung gegeben ist, dann muβ auch eine Ursache vorhanden sein. Dies ist der Ausgangspunkt der Argumentation des Aegidius. Mit dieser Aussage verbindet er dann das Potenz/Akt-Schema. Daraus ergeben sich bestimmte Konsequenzen: Aktuelle Wirkungen haben aktuelle Ursachen, potentielle Wirkungen potentielle Ursachen. Wenn nun die Ursache un möglich ist, dann ist auch die Wirkung sowohl potentiell als auch aktuell unmöglich. In bezug auf das Verhältnis von zählender Seele und Zahl heiβt dies: Wenn die Ursache (zählende Seele) unmöglich ist, dann ist im Hinblick auf die 6
Vgl. AEGIDIUS ROMANUS, In Aristotelis Phys. IV lect. 28; Venetiis 1502, 112 v b: «Dicit ergo quod dubitabit utique aliquis utrum cum non sit anima: si utique erit tempus aut non videtur enim non esse tempus cum non sit anima: quia cum impossibile sit esse aliquem numerantem impossibile est esse aliquod numerabile: quare manifestum est quod neque est numerus numeratus uel numerabilis: si non sit anima numerans. numerus autem omnis: aut est quod numeratur in actu: aut quod est numerabile in potentia. Si autem nihil aliud quam anima est aptum natum numerare et anime intellectus: quia numerabile est opus rationis et intellectus. sequitur si anima per intellectum est numerans tempus: aut est numerus numeratus uel numerabilis impossibile est esse tempus si non sit anima numerans ipsum.»
316
3.5.4. Aegidius Romanus II
Zahï als Wirkung sowohl die potentielle Zahl (Zählbares) als auch die aktuelle Zahl (gezählte Zahl) unmöglich.7 Wie Averroes halt Aegidius an dem Ursprung der Zahl aus der Seele fest. Ebenso versucht er eine Analyse der Zahl nach dem von Averroes vorgegebenen Potenz/Akt-Schema. Ihre Modifikationen entfalten sich nach der Vorgabe dieses Modells. Was aber für die Zahl gilt, bezieht sich auch auf die Zeit. Die Zeit kann weder potentiell als Zählbares (numerus numerabilis) noch aktuell als gezählte Zahl (numerus numeratus) ohne die Seele zur Existenz gelangen. Aegidius' Kommentar der ersten Hälfte der Zeitaporie ist ganz von der entsprechenden Auslegung des Averroes abhängig. Die Analyse der zweiten Hälfte gestaltet er interessanter und lehrreicher. Wie im ersten Teil, so zeigt sich auch hier, daβ die Auslegungsmethode des Averroes nicht an die Translatio Arab.Lat. gebunden war. Sie lieβ sich vielmehr problemlos auf die Translatio Nova übertragen. Nachdem Aristoteles im ersten Teil der Aporie auf die Abhängigkeit der Zeit von der Seele verwiesen hat, untersucht er im zweiten Teil die Möglichkeit einer Einschränkung. Aristoteles macht dort auf die von der Seele unabhängige Bewegung aufmerksam. Ist die Zeit nicht (gemäβ der lateinischen Fassung sei nes Textes) auf diese Weise ein , eine auBerseelische Entität, die eine innere Beziehung zwischen Zeit und Seele negiert? Aegidius begreift daher den zweiten Teil der Zeitporie des Aristoteles als Alternative zwischen zwei Möglichkeiten:
I
Entweder ist die Zeit ein , wie Aegidius mit der Translatio Nova sagt, ein Seiendes, das der Ergänzung (ens suppletum) bedarf,
7
Vgl. AEGIDIUS ROMANUS, In Aristotelis Phys. IV lect. 28; Venetiis 1502, 112 v b: «Notandum autem quod sicut ponuntur esse effectus: sic oportet quod ponantur et cause. Si ergo effectus sunt in actu habuerunt causas in actu. Si autem sunt in potentia habent causas in potentia. propter quod si impossibile est esse causas non erunt effectus in actu nec in potentia. Si igitur impossibile est esse numerans non erit numeratum aliquid in actu nec numerabile in potentia quare si non potest esse anima numerans non videtur quod esse possit nec tempus ut est numerus numeratus nec ut est numerus numerabilis.»
317
Teil III - Das 13. Jahrhundert
II
oder sie ist ohne jeden Rückbezug zur Seele an die Bewegung gebunden.
Aegidius faβt also den zweiten Teil der Aporie nicht als einen homogenen Block auf, der dem ersten Teil in seiner Gesamtheit entgegenzusetzen wäre. Er zerlegt ihn vielmehr in zwei Hälften. Satz IVb und IVc ergänzen sich nicht gegenseitig. Sie repräsentieren vielmehr die zwei Seiten einer Aporie: a) Satz IVb («Sed aut hoc, quod utcumque ens est tempus») soll auf die (durch die Seele) ergänzungsbedürftige Zeit verweisen. Das ist daher als konkreter Hinweis auf eine für die Zeit notwendige Perfektion zu verstehen. Die perfektive Kraft der Seele ergänzt die so aufgefaBte Zeit. Die Zeit ist demnach von der Seele abhängig. Das deutet bei Aegidius also nicht wie bei Thomas auf die Unabhängigkeit der Zeit von der Seele hin. Es signalisiert vielmehr ihre Konstitution durch die seelische Aktivität. In diesem Zusammenhang ist leicht erkennbar, daB dieselbe Formel bei und unterschiedliche Reaktionen hervorrief. Der Einfluβ der Zeitphilosophie des Averroes war in dieser Phase seiner Rezeption so angewachsen, daB er die Diskussion bis in die Einzelheiten des Aristotelestextes beherrschte. b) Satz IVc («ut si contingit motum esse sine anima») erscheint dagegen als Indiz für eine von der Seele unabhängige Bewegung, die auf eine ebenfalls von der Seele unabhängige Zeit verweist.8 8
Vgl. AEGIDIUS ROMANUS, In Aristotelis Phys. IV lect. 28; Venetiis 1502, 112 v b: «Soluit ad quaestionem quesitam dicens: quod aut hoc quod est tempus est utrumque (1) ens id est aliquo modo ens suppletum sic non fit: aut (2) quia si contingit esse motum sine anima et prius et posterius in motu sunt absque eo quod sit anima: erit tempus aliquo modo absque eo quod sit anima: Nam hoc scilicet prius et posterius in motu secundum quod sunt numerabilia sunt tempus.» (1) Die Lesart des Druckes von 1502 «utrumque» ist sicher falsch. Die Handschrift Brügge, Stadtbibliothek, 513, f. 243 v a Z. 2 zeigt an dieser Stelle: «utcumque». (2) Vgl. auch hier: Brügge, Stadtbibliothek, 513, f. 243 v a Z. 2: statt «sic non fit: aut» lies: «si non sit anima».
318
3.5.4. Aegidius Romanus II
Zur Entscheidung zwischen diesen Alternativen beginnt Aegidius eine Untersuchung, die mit der Analyse des Thomas von Aquino zu Zeit und Seele im Sentenzenkommentar verwandt ist. Sie verdankt ihre wesentlichen Strukturen Averroes. 9 Daner steht sie der eigenen friihen Zeitphilosophie des Aegidius Romanus nahe. Die Analyse des späten Thomas von Aquino, die im Physikkommentar ausgearbeitet ist und sich durch einen radikalen Antiaverroismus auszeichnet, hat Aegidius dagegen nicht übernommen. Aegidius erläutert seine Analyse in vier Schritten. Wie Thomas im Sentenzenkommentar wendet er zunächst ein dreigliedriges Grundschema an:
a)
Es gibt sinnlich wahrnehmbare Dinge (res sensibiles), die im realen Sein existieren und zu deren Existenz die Seele nichts beiträgt.
b)
Daneben existieren Entitäten, die ihr gesamtes Sein der Seele verdanken. Dazu gehören die fiktiven Vorstellungen.10
c)
Nur die dritte Art des Seins ist hier von Interesse. Sie nimmt eine Mittelstellung zwischen den beiden ersten Gruppen ein. Bei dieser Seinsklasse ist das Sein einerseits von der Seele abhängig, andererseits jedoch autonom.11
9
Vgl. 2.3., S. 148/9; 3.4.2., S. 272/3. Wenn Aegidius als Beispiele für fiktive Vorstellungen die Termini und wählt, dann verweist dies nicht allein, wie J. M. Quinn meinte (vgl. J. M. Quinn, The Concept of Time in Giles of Rome, in: Augustiniana 29 (1979) 24, Anm. 144), auf Averroes, sondern ebensosehr auf den Physikkommentar Alberts des Groβen. Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131; Venetiis 1562, 202 r E: « ... esset fictum, et falsum, vt Chi mera, et Hircoceruus.» Albert nimmt diese Formulierung nur z.T. auf. Vgl. ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 c. 16; Hossfeld 289, 56: « ... [fictum sicut esse chimerae et] tragelaphi.» 11 Vgl. AEGIDIUS ROMANUS, In Aristotelis Phys. IV lect. 28; Venetiis 1502, 112 v b-113 r a: «Dubitaret forte aliquis utrmm tempus sit solum ens apud animam. Dicendum quod aliqua sunt 10
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Teil III - Das 13. Jahrhundert
Auch der Hinweis des Aegidius auf die Universalien ist mit der Analyse des Thomas von Aquino verwandt. Wie Thomas parallelisiert Aegidius die Zeit mit den Universalien. Dadurch transformiert er sie in die Intellekttheorie. Die dritte Gruppe der Entitäten, die ihren ontologischen Status zwischen völliger Abhängigkeit und gänzlicher Unabhängigkeit von der Seele besitzt, enthüTlt sich dabei als eine Klasse spezifischer Seiendheiten. Sie erhalten ihre perfektive Bestimmtheit vom Intellekt. Diese Wesenheiten besitzen zunächst ein materiales Fundament in den Dingen. Ihre Vollendung und Ergänzung dagegen ubernimmt die Seele. Der Intellekt ist es, der das sachlich Vorliegende ohne die Spezifikationen der Materie betrachtet und auf diese Weise das Sein der Universalien gewinnt. Aegidius fiihrt seine Konzeption direkt auf den De animaKommentar des Averroes zurück.12 Was für die Universalien gilt, trifft auch auf die Zeit zu. Die Seele wirkt bei der Konstitution des Seins der Zeit mit. Aber nicht das gesamte Sein der Zeit geht von der Seele aus. Materialiter ist die Zeit, auch wenn es keine Seele gibt, als in der Bewegung verborgen. Die formale Bestimmtheit der Zeit erhält ihre Vollendung nur dadurch, daβ diese Strukturmomente der Bewegung als von der Seele zählbare Bestimmtheiten eine faBbare Gestalt erhalten. Wenn keine Seele existiert, gibt es also nur das materiale Gefiige der Bewegung. Es repräsentiert nach Aegidius das, was Aristoteles in Satz IVb der Zeitaporie als bezeichnet hat. Ist die Zeit auf diese Weise material vorhanden, so fehlt ihr nur noch ihre formale Ergänzung (formale complementum). Es existiert nur das Früher und Später in der Bewe-
ad quorum esse nihil facit anima cuiusmodi iste res sensibiles ut habent esse in esse reali: aliqua vero sunt que toturn esse quod habent: habent ab anima et non sunt nisi entia apud animam: ut chimera et tragelaphus et cetera talia figmenta aliqua autem sunt ad quorum esse aliquo modo facit anima. non tarnen totum esse quod habent: habent ab anima ut universalia ...» 12 Vgl. AEGIDIUS ROMANUS, In Aristotelis Phys. IV lect. 28; Venetiis 1502, 113 r a: « ... ut universalia que secundum esse materiale quod habent sunt in re extra formalitatem: tamen et complementum recipiunt ab anima, universale enim materialiter est ipsa natura rerum particularium. formaliter autem est huius natura prout consideratur absque conditionibus materie: et quia intellectus est qui considerat talia absque conditionibus materie: intellectus est qui facit universalitatem in rebus: ut vult Commentator in primo de anima. facit ergo intellectus ad esse universalium. non tamen totum esse quod habent: habent ab anima. essent enim universalia materialiter etiam si non esset anima.» Aegidius Romanus bezieht sich auf AVERROES, In Aristotelis De an. I, t. comm. 8; Crawford 12, 21-26: «Demonstratur per hoc quod ipse non opinatur quod diffmitiones generum et specierum sunt diffinitiones rerum universalium existentium extra animam; sed sunt diffinitiones rerum particularium extra intellectum, sed intellectus est qui agit in eis universalitatem.»
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3.5.4. Aegidius Romanus II
gung in seiner rein materialen Unbestimmtheit. Diese rohe und ungeformte Materialität bedarf zu ihrer Vervollständigung der Strukturierung. Die Momente der Bewegung bleiben sonst nur im Modus der Zählbarkeit zurück, während sie erst als Gezählte (numerata) den vollen Status der Zeit empfangen.13 Aus dieser Konzeption ergibt sich ein Problem, das Aegidius abschlieβend löst. Warum ist es überhaupt notwendig, daB die Seele die materiale Bewegungsstruktur zum Zweck der Formalisierung zählt? Aegidius erläutert die Berechtigung dieser Frage nicht näher. aber seine Absicht ist klar. Er will verhindern, daB die materiale Bewegungsstruktur schon den vollen Seinsbestand der Zeit zugesprochen erhält. Dies kommt ihr nicht zu. Zur Auflösung des Problems greift Aegidius erneut auf das Potenz/Akt-Schema des Averroes zurück. Die Bewegung ist kontinuierlich. Sie enthält die diskrete nur potentiell. Ihre Aktualität erhält jene erst durch eine Signation der Seele. Dies ist nach Aegidius mit den Punkten vergleichbar, die ihr potentielles Sein in der Linie nur durch eine spezielle Bezeichnung verlieren und dadurch zugleich ihre Aktualität gewinnen. Wenn dies so ist, dann kann die der Bewegung, das materiale Fundament der Zeit, aus der potentiellen Verschlossenheit in der Bewegung nur durch die zählende Seele zur Aktualität gelangen. Also ist eine Zählung zur Konstitution der Zeit unerläBlich. Die Zeit bliebe sonst in der Bewegung verborgen und verschlossen. Wie Averroes faBt auch Aegidius den Zählakt der Seele als <Entbergung> der Zeit aus ihrer Latenz in der Bewegung auf.14 13
Vgl. AEGIDIUS ROMANUS, In Aristotelis Phys. IV lect. 28; Venetiis 1502, 113 r a: «Essent enim universalia materialiter etiam si non esset anima: sic etiam suo modo et ad esse temporis facit anima. non tarnen tempus totum esse quod habet: habent ab ea. esset enim tempus materialiter et si anima non esset que numeraret illud ipsa enim prius et posterius in motu sunt tempus materialiter completur tarnen ratio formalis ipsius temporis ex eo quod talia sunt numerabilia ab anima. bene ergo dictum est quod si non esset anima quod esset tempus utcumque: quia esset materialiter non esset tamen secundum suum formale complementum. essent enim ipsa prius et posterius in motu ut sunt materialiter. tempus etiam si non esset anima. non tamen essent talia ut complent formalem rationem temporis: quia non essent ut sunt numerata secundum quem modum completur formalis ratio temporis.» 14 Vgl. AEGIDIUS ROMANUS, In Aristotelis Phys. IV lect. 28; Venetiis 1502, 113 r a: «Ulterius forte dubitaret aliquis ad quod oportet prius et posterius in motu numerari ab anima ad hoc quod com leatur formalis ratio temporis. Dicendum quod cum motus sit continuus ipsa prius et posterius in motu sunt in potentia et si sunt in actu hoc est per signationem anime: sicut in linea continua puncta sunt in potentia etfiuntin actu: eo quod signamus illa: oportet ergo ipsa prius et posterius in motu numerari ab anima: et anima facit ad quoddam complementum temporis. inquantum numerando et signando ipsa prius et posterius in motu facit ad quandam actualitatem eorum.»
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Teil III - Das 13. Jahrhundert
Wie Thomas und der unbekannte Physikkommentator aus der Pariser Artistenfakultät setzt auch Aegidius Romanus das aristotelische ins Zentrum seiner Auslegung. Sowohl der Anonymus als auch Aegidius legen diese Stelle mit dem Verfahren des Averroes als potentielle Zeit aus. Thomas dagegen verdrängt dieses Schema aus seiner Auslegung. Auch er denkt das als unvollkommene Zeit. Aber er faβt diese unvollkommene Zeit schon als auβerseelisch existierende Zeit auf, die nur noch der Zusammenfassung bedarf. Eine Zusammensetzung gleichwertiger Teile zu einem Ganzen unterscheidet sich aber erheblich von einer aus potentiellen Mo menten verfertigten Perfektion. Im Unterschied zu der averroistischen Auslegung der Zeitaporie findet Tho mas im den Hinweis auf eine rein auβerseelische Zeit. Aegidius bleibt mit dem anonymen Kommentator eher auf der Linie des Averroes, indem er das seelische Sein der Zeit in den Vordergrund schob. Aegidius knüpfte damit nicht nur an die Konzeption des frühen Thomas an, sondern blieb auch seiner eigenen Position im Sentenzenkommentar treu.
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3.5.5. Anonymus Wenn Thomas von Aquino mit seinem Physikkommentar die Absicht gehabt haben sollte, den Einfluβ des Averroes bzw. der Averroisten in naturphilosophischen Fragen zuriickzudrängen, dann ist er mit seinem Vorhaben gescheitert. Davon zeugt nicht nur der Physikkommentar des Aegidius Romanus, sondern auch ein anonymer Kommentar zur Physik, den A. Zimmermann 1968 veröffentlicht hat.1 Der Text liegt in einer Abschrift Gottfried von Fontaines vor. Gottfried hatte auch, wie kürzlich nachgewiesen worden ist, Interesse an den Schriften des Dietrich von Freiberg.2 Wahrscheinlich schrieb er diese fragmentarischen Notizen in seiner Studienzeit. Dann ist der anonyme Physikkommentar möglicherweise eine Vorlesungsnachschrift. A. Zimmermann hat in diesem Text Beziige zum Physikkommentar des Thomas von Aquino gefunden. Aber auch Parallelen zu den Werken des Siger von Brabant fielen ihm auf.3 Der Text ist zwischen 1270 und 1277 zu datieren. Wahrscheinlich ist jedoch der Zeitraum zwischen 1271 und 1274.4 Die angegebenen Daten schwanken und sind unsicher. Dennoch bleiben die wenigen erhaltenen Notizen des Anonymus zur Theorie der Zeit ein wertvolles Dokument. Es erlaubt einen zusätzlichen Einblick in die Entwicklung der Zeitdiskussion zwischen dem Physikkommentar des Thomas von Aquino (1269f.) und der auf den Anfang der 80er Jahre des 13. Jahrhunderts zu datierenden ÄuBerung Dietrichs in der Abhandlung De origine rerum praedicamentalium.5 Zusammen mit den Texten des Aegidius Romanus, der Bemerkung des Siger 1 Vgl. A. Zimmermann, Ein Kommentar zur Physik des Aristoteles aus der Pariser Artistenfakultät um 1273 (Quellen und Studien zur Geschichte der Philosophie XI), Berlin 1968. 2 Vgl. M. R. Pagnoni-Sturlese, Per una datazione del De origine di Teodorico di Freiberg, in: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa, s. 3,11 (1981) 431-445; L. Sturlese, Einleitung zu: THEODORICUS, De origine rerum praedicamentalium, ed. L. Sturlese, in: Dietrich von Freiberg, Opera omnia, Tom. III (CPTMA II, 3): Schriften zur Naturphilosophie und Metaphysik, mit einer Einl. von K. Flasch hrsg. von J.-D. Cavigioli, R. Imbach, B. Mojsisch, M. R. Pagnoni-Sturlese, R. Rehn, L. Sturlese, Hamburg 1983, 132f.; L. Sturlese, Dokumente und Forschungen zu Leben und Werk Dietrichs von Freiberg (CPTMA, Beiheft 3), Hamburg 1984, 14. 3 Vgl. A. Zimmermann, Ein Kommentar zur Physik des Aristoteles aus der Pariser Artistenfakultät um 1273, XVf., XIXf. 4 Vgl. A. Zimmermann, Ein Kommentar zur Physik des Aristoteles aus der Pariser Artistenfakultätum 1273,XIIIf. 5 Vgl. 3.1., S. 177/8., Anm. 5.
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TeilIII- Das 13. Jahrhundert von Brabant, der 200. verurteilten These von 1277 und den Forschungen des Heinrich von Gent zur Philosophie der Zeit gewährt dieser Text einen Einblick in die schwer zu durchschauenden zeitphilosophischen Strömungen der 70er Jahre des 13. Jahrhunderts. Das komplizierte Gefüge der gegenseitigen Abhängigkeiten und Beziehungen dieser Theoreme gewinnt damit deutlichere Konturen. Die überlieferten Notizen des Anonymus zum vierten Buch der Physik sind kurz und knapp. Dennoch nimmt die Diskussion über die Struktur der Zeit darin einen groβen Raum ein. Daraus läβt sich erkennen, welche Bedeutung dieses Problem damals in Paris hatte. Aus einem Randproblem war allmählich eine wichtige Frage geworden. Sie ist mit Recht den anderen damals heiβ diskutierten und heftig umstrittenen Fragen zur Naturphilosophie an die Seite zu stellen. Im Text des Anonymus findet sich auch ein längerer Abschnitt zur <aristotelischen Zeitaporie>. Der anonyme Kommentator hat seine Analyse dieses Textes sorgfältig ausgebaut und stringent durchdacht. Aber seine Auslegung steht nicht isoliert da. Sie läBt sich leicht aus ihrem historischen Kontext begreifen. Durch verbesserte Textkenntnis rückte um 1270 die Rede des Aristoteles von der auBerseelischen Zeit als in den Mittelpunkt der Diskussion. Im Hinblick darauf waren zwei Auslegungen möglich: I
Das lieB sich zunächst als Hinweis auf das reale auBerseelische Sein der Zeit verstehen. Dies versuchte Thomas von Aquino, um die Konzeption des Averroes vom auBerseelischen potentiellen Sein der Zeit zurückzudrängen.
II Es war aber auch das Gegenteil denkbar. Dann erschien das als Beweis fiir das potentielle Sein der Zeit. Die Zeitphilosophie des Averroes blieb dabei berücksichtigt. Und ihre prinzipiellen Ergebnisse in der Auslegung fanden Beachtung. Diesen Weg schlug schon Aegidius Romanus ein. Ein vergleichbares Verfahren wählte auch der anonyme Kommentator aus der Pariser Artistenfakultät, dessen Kommentar hier zur Diskussion steht.6
6
Da keine exakte Datierung der beiden Texte möglich ist, bleibt unentschieden, wer hier die Priorität besitzt. Wahrscheinlich sind jedoch die Überlegungen des Aegidius Romanus älter.
324
3.5.5. Anonymus
Zentraler Ausgangspunkt der Überlegungen des Anonymus ist also wie bei Thomas und Aegidius Romanus das aus Satz IVb der Zeitaporie. Ohne eine vorbereitende Bemerkung beginnt der Anonymus seine Analyse sofort mit einem Hinweis darauf. Er scheut sich auch nicht, ohne Ausweichen die Verbindung mit Averroes herzustellen. Nach der Theorie des Averroes, so sagt er, habe Aristoteles damit das potentielle Sein der Zeit gemeint.7 Wie Aegidius Romanus deutet der Anonymus diese Formulierung <ens qualecumque> (oder <ens utcumque>) als Hinweis auf das auβerseelische Fundament der Zeit. Und wie Aegidius Romanus löst der anonyme Physikkommentator die Auslegungsmethode des Averroes von der Translatio Arab-Lat. ab und bezieht sie auf den Text der Translatio Nova. Auch der Anonymus hat sich von der Intention des Aquinaten nicht leiten lassen. Er mu8 erkannt haben, daβ dessen Versuch, allein mit Hilfe einer neuen Übersetzung die Deutung des Averroes zu widerlegen, gescheitert war. Ihm war auBerdem bewuBt, daB die neue griech.lat. Übersetzung der <aristotelischen Zeitaporie> der Exegese des Averroes sogar entgegenkam. Nur so schien es ihm möglich, zu einer angemessenen Auslegung der Aporie zu gelangen. Nachdem der Anonymus die allgemeine Tendenz seiner Analyse vorgestellt hat, geht er ins Detail. Dabei diskutiert er beide Seiten der Aporie. Die Zeit ist eine Zahl. Wenn nun keine zählende Seele existiert, ist immer noch das Zählbare als Bewegung vorhanden. Deren Sein hängt bekanntlich nicht von der zählenden Seele ab. Aber es bleibt zu bemerken, daB die Zahl eine durch die Einheit gemessene Vielheit ist. Dies ist jedoch ohne die Seele nicht möglich. Wenn es also keine Seele gibt, existiert auch kein Zählbares in seiner Eigenschaft als Zählbares. Daraus ergibt sich, daβ das Zählbare in der Potenz auf eine Aktualisierung zielt. Diesen ProzeB führt allein die Seele durch. Ohne ein derartig Tätiges muβ das Zählbare in der Potenz verbleiben. Aus dem Zählbaren entsteht kein Zählbares . Auch eine Zahl ist ohne den Intellekt nicht möglich. Erst wenn wir die der Bewegung begreifen, gelangen wir demnach zur Zeit. Nur in ihrer Aktualisierung erreicht jede einzelne Entität die ihr angemessene Auffassung.8 7
Vgl. ANONYMUS, In Aristotelis Phys. IV, Zimmermann 87, 18-20: «ARISTOTELES dicit, quod tempus est ens qualecumque, si sit motus, etsi non sit anima. Quod exponit COMMENTATOR dicens, quod est ens in potentia.» 8 Vgl. ANONYMUS, In Aristotelis Phys. IV, Zimmermann 87, 20-29: «Est enim numerus. Nunc autem etsi non sit anima numerans, nihilominus est numerabile, ut motus, cuius esse ex anima numerante non dependet. Sed cum numerus sit multitudo mensurata per unum, quod non est sine anima - si etiam non posset esse anima, non posset esse numerabile secundum quod
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Teil III - Das 13. Jahrhundert
Nach Thomas von Aquino ist nun folgendes Faktum festzuhalten: Wenn es unmöglich ist, daβ eine zählende Entität existiert, dann gibt es auch nichts Zählbares. Erst im Hinblick auf eine Seele ist es sinnvoll, von einem Zählbaren zu sprechen. Das Zählbare befindet sich auf diese Weise in einer Beziehung zur Seele. Daraus folgt nach der Philosophie des Aquinaten aber nicht, daB in jedem Fall eine zählende Entität aktuell existieren muβ. Es kann auch dann ein Zählbares geben, wenn die zählende Entität zwar möglich ist, aber gerade nicht existiert. Dieses Seiende führt keinen konkreten Zählvorgang durch, weil es augenblicklich nicht existiert. Aber es wäre prinzipiell dazu in der Lage. Wenn es zur Existenz gelangt, dann kann es zählen.9 Auch für den Anonymus gibt es nur im Zusammenhang mit einer Seele ein Zählbares. Aber anders als Thomas besteht er zusätzlich darauf, daB dieses Zählbare ohne die aktuell zählende Seele stets in der Potenz verharrt. Das Zählbare bedarf also in jedem Fall zu seiner Verwirklichung der Seele. Die Existenz einer Seele muB nicht nur an sich möglich sein, sie muB auch den ZählprozeB durchführen. Andernfalls ist das Zählbare zwar nicht unmöglich, aber eben nur möglich, keinesfalls jedoch verwirklicht. Der anonyme Kommentator zeigt sich also auch bei diesem Problem als ein gelehriger und erfindungsreicher <Schüler> des Averroes.
numerabile - ergo, cum numerabile sit in potentia ad aliquem actum, qui ex anima dependet, sine agente non erit numerabile nisi in potentia. Et sic non erit actu numerabilis, qui est actu numerus, nisi sit anima numerans actu. Quando enim prius et posterius in motu percipimus, tunc tempus percipimus. Unumquodque autem percipitur secundum quod in actu.» 9 Vgl. THOMAS AQUINAS, In Aristotelis Phys. IV lect. 23 n. 629; Maggiölo 310: «Unde si impossibile est esse aliquod numerans, impossibile est esse aliquid numerabile: non tarnen sequitur quod si non est numerans, quod non sit numerabile, ut obiectio Philosophi procedebat.»
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3.6. Die zeittheoretische Krise urn 1277 Nachdem der Einfluβ des Averroes in der Zeitphilosophie um 1270 einen bestimmten Höhepunkt erreicht hatte, war die Diskussion zum Verhältnis von Zeit und Seele in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Die Auslegung des Averroes hatte zunächst wichtige und neue Einsichten in die Konzeption des Aristoteles verschafft. Aber der Streit um das seelische Sein der Zeit war damit nicht geschlichtet. Er verschärfte sich vielmehr. Ein Zeichen flir die Heftigkeit und Radikalität der Diskussion ist die 1277 verurteilte 200. Pariser These vom seelischen Sein der Zeit. In dieser Situation der Verurteilung des innerseelischen Seins der Zeit durch den Bischof von Paris erschien es notwendig, die bisher bekannten Theoreme zum Verhältnis von Zeit und Seele erneut und vertieft zu überprüfen. Welchen Standpunkt nimmt Aristoteles ein? Lehrt er in der Zeitaporie tatsächlich das innerseelische Sein der Zeit? In welcher Beziehung zu Aristoteles steht die Konzeption des Averroes? Wie ist die Zeittheorie des Augustinus in diesem Zusammenhang zu beurteilen? Die frühen Aristoteliker des 13. Jahrhunderts hatten diese Fragen schon vor 1277 gestellt. Aber erst nach 1277 erhielten sie ein besonderes Gewicht. Auf wen bezog sich die Verurteilung des seelischen Seins der Zeit? Auf Aristoteles und Averroes? Oder gar auf Augustinus? Es ist daher nicht verwunderlich, daB Heinrich von Gent kurze Zeit nach 1277 einen groBangelegten Versuch untemahm, die Zeittheorie des Aristoteles, Averroes und Augustinus aus einem einheitlichen theoretischen Konzept zum Verhältnis von Zeit und Seele zu erklären. Dabei stand Heinrich in der Tradition der averroistischen Auslegung der Zeitaporie. Im Ausgang von dieser Position entwickelte er zudem eine spezifische Kritik an der Zeittheorie des Augustinus. Das hat ihn auBerdem veranlaBt, das elfte Buch der Confessiones einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen. Diese Akribie war für das 13. Jahrhundert ohne Beispiel. Davon profitierte Petrus Johannis Olivi. Die 1277 in Paris verurteilte These vom seelischen Sein der Zeit veranlaBte ihn zu einer Auseinandersetzung mit den Theoretikern des seelischen Seins der Zeit. Dabei stellte er sich gegen die Zeitphilosophie des Augustinus. Zugleich bekämpfte Olivi die Aristotelesauslegung des Averroes. Olivi hielt am auBerseelischen Sein der Zeit fest. Er war auf diese Weise der legitime Erbe der Zeittheorien des Roger Bacon, Bonaven-
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Teil III - Das 13. Jahrhundert
tura, Robert Kilwardby und Thomas von Aquino. Olivi setzte ihren Kampf für das natürliche Sein der Zeit in den schwierigen Jahren nach 1277 fort.
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3.6.1. Die Pariser These zum Sein der Zeit vom 7. März 1277
«200. Quod evum et tempus nichil sunt in re, sed solum in apprehensione».1
Die Thesen, die Bischof Etienne Tempier am 7. März 1277 in Paris verurteilt hat, sind in jüngster Zeit der Gegenstand mehrfacher Untersuchungen gewesen.2 Dabei hat die 200. Sentenz, die sich auf die Natur des Aevum und der Zeit bezieht, erstmals die Beachtung gefunden, die sie verdient. Sie gehort nicht nur zur Wirkungsgeschichte der <aristotelischen Zeitaporie> im 13. Jahrhundert, sondern sie dokumentiert auch die durch die Diskussion über das seelische Sein der Zeit ausgebrochene Krise der Zeitphilosophie in den Jahren um 1270. Die mit der Auslegung der Zeitaporie zusammenhängenden Thesen waren nun nicht mehr rein akademische Spezialfragen zur Auflösung eines schwierigen philosophischen Textes. Durch ihre Brisanz drangen sie vielmehr aus der Werkstatt der Aristoteleskommentatoren in die ideologischen Kämpfe der Tagespolitik ein. Um die Tragweite dieser These zu erkennen, ist zunächst eine grundlegende Bestandsaufnahme des Satzinhaltes notwendig. Die 200. These lä6t sich leicht in zwei Hälften zerlegen. Sie nimmt sowohl zum Problem des Aevum als auch zum innerseelischen Sein der Zeit Stellung. Die Forschung hat diese Zweiteilung gelegentlich übersehen. Sie konzentrierte sich bisher fast ganz auf die zeitphilosophische Aussage der 200. These. Dagegen halt die Sentenz ausdrücklich fest, daβ die Zeit (tempus) und die ewige Dauer (aevum) nichts Dingliches sind, sondern allein zur gehören. Die Theorie des Aevum ist jedoch ein Sonderproblem. Es kann deshalb hier nicht Gegenstand der Untersuchung sein. Jene These, daB das Aevum neben der
1
Vgl. H. Denifle (Hrsg.), Chartularium Universitatis Parisiensis I, n. 473; Bruxelles 1964 (Nachdr. der Ausgabe Paris 1899), 554. 2 Vgl. R. Hissette, Enquête sur les 219 articles condamnés å Paris le 7 Mars 1277 (Philosophies Médiévaux XXII), Louvain/Paris 1977, 152-154; K. Flasch, Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277. Das Dokument des Bischofs von Paris, eingeleitet, übersetzt und erklärt von K. Flasch (excerpta classica VI), Mainz 1989, 246/7.
329
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Zeit nicht auβerseelisch begründet, sondern ein innerseelisches Konstituens ist, bedarf noch einer näheren Erforschung an anderer Stelle. Auffällig ist, daB der Satz von 1277 die Ewigkeit (aeternitas) nicht berücksichtigt.3 Wie immer dieses Fehlen auch zu erklären ist, es berührt die Aussagen zur ewigen Dauer und zur Zeit nicht. Die These von 1277 bezieht sich allein auf das seelische Sein dieser zuletzt genannten Bestimmtheiten. Die Pariser These zum Sein von ewiger Dauer und Zeit zerfällt in zwei Abschnitte:
I
Die erste Teilthese (200/1) negiert, daB der Zeit und dem Aevum ein Sein nach Art der auBerseelischen Dingheiten zukommt. Sie befinden sich vielmehr in der Seele.
II
Die zweite Teilthese (200/2) umschreibt dieses innerseelische Sein. Die soll als ein spezifischer Seelenakt Zeit und Aevum in sich enthalten.
Beide Teilthesen hängen dadurch zusammen, daB die erste Teilthese die Voraussetzung der zweiten ist. Abschnitt 200/1 nimmt im Hinblick auf die Zeit aber nur eine Frage auf, die sich den Kommentatoren des Zeittraktates des Aristoteles zu dieser Zeit oft gesteilt hat. Die Beziehung zur Diskussion der Zeitaporie ist dabei leicht zu erkennen. Wie dort liegt auch hier eine Aussage zum Verhältnis von Zeit und Seele vor. Es handelt sich also um ein Problem, das jeden gewissenhaften Kommentator der Physik des Aristoteles zu einer Stellungnahme zwang. Die Frage nach dém Verhältnis von Zeit und Seele hatte sich somit zur Kernfrage der Zeitphilosophie des 13. Jahrhunderts entwickelt. Welche Positionen dabei möglich Waren, ist der Gegenstand dieser Untersuchung. Jener erste Teil3
Probleme der Ewigkeit bzw. mit der Ewigkeit zusammenhängende Fragen behandeln folgende 1277 verurteilte Thesen: 4, 12, 31, 45, 51, 52, 70, 71, 72, 80, 83, 87, 91, 93, 95, 98, 107, 109, 125, 202, 203. Wenn 21 von 219 Thesen sich mit Fragen zur Ewigkeit, Aevum und Zeit befassen, dann zeigt diese Statistik, daB jene Problematik zu den umstrittensten Themen in der Philosophie der zweiten Halfte des 13. Jahrhunderts zählt.
330
3.6.1. Die Pariser These zum Sein der Zeit vom 7. März 1277
abschmtt bedarf also zunächst keiner weiteren Diskussion. Die 200. These von 1277 zeigt nur eine extreme Ansicht dessen, was die Zeittheoretiker vor 1277 und danach immer wieder diskutiert haben.4 Der Anonymus, der die 200. These verfaBt hat, ist dabei keine Ausnahme. Er verfolgte in diesem Zusammenhang nur eine Ansicht, die sich der Auffassung jener Philosophen näherte, die das Sein der Zeit mit der Seele in einen Zusammenhang brachten. Aber er übersteigerte diesen Anspruch durch seinen Hinweis auf die reine Immanenz der Zeit. Dies hat ihm den Widerspruch des Bischofs eingetragen. Doch auch andere Philosophen und Aristoteleskommentatoren seiner Zeit wären ihm hier nicht gefolgt. Diese spezifische Stellungnahme zum innerseelischen Sein der Zeit spiegelt sich auch in der Terminologie des zweiten Abschnittes der 200. These wider. Die Zeit, so heiβt es dort, sei allein in der . Dabei bedarf es zu nächst der Klärung, was hier mit gemeint ist. Dieser Terminus enthält bestimmte Schwierigkeiten. Eine sichere Übersetzung ist dabei schwer möglich. Selbstverständlich sind keine Bezüge zur neuzeitlichen BewuBtseinsphilosophie gegeben. Formulierungen wie <Subjektivität der Zeit> ergeben nur Fehldeutungen, die den komplizierten Seelentheorien des 13. Jahrhunderts in keiner Weise entsprechen. Zur Aufklärung dieses Problems hat R. Hissette versucht, in den Schriften der radikalen Aristoteliker mit dem o.g. Satz übereinstimmende ÄuBerungen zu finden. Im Kommentar des Siger von Brabant zum Liber de causis stieB er auf die oben schon analysierte ÄuBerung5:
« ... et sicut apprehensione prioris et posterioris in motu distinguendo et numerando ea tempus apprehendimus ... »6
4
Albert der Grofie fragt in der Summa de creaturis, ob die Zeit aus der Natur stammt oder sich in der Seele befindet («An tempus sit a natura, an in anima tantum?»). Im Physikkommentar überprüft er das Verhältnis der Zeit zur Seele («Hic est digressio declarans sententiam eorum qui dicunt tempus non esse nisi in anima»). Dabei durchdenkt Albert im Grunde nur die Problematik, die auch der Verfasser der 200. These vor Augen hatte, aus dessen Text oder mündlicher Rede der Bischof von Paris diese These entnahm. 5 Vgl. 3.5.2., S. 300-302. 6 SIGERUS DE BRABANTIA, De caus. q. 8; Marlasca 56, 14-16.
331
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Wenn wir uns, so heiβt es in diesem Text, durch das Friiher und Später in der Bewegung angeeignet haben, d.h. wenn wir die Zeitdeterminanten voneinander geschieden und gezählt haben, erfassen wir die Zeit. Diese Auffassung steht, wie ebenfalls oben gezeigt, den Thesen des Averroes nicht fern. Dort heiBt es: «Dicamus igitur ad haec, quod extra mentem non est nisi motum et motus. Et tempus non fit, nisi quando mens dividit motum in 35 prius et posterius. Et haec est intentio numeri motus, idest motum esse numeratum. Ergo substantia temporis, quae est in eo quasi forma, est numerus. Et quod est in eo quasi materia, est mo40 tus continuus, quoniam non est numerus simpliciter, sed numerus motus.»7
32 haec: hoc D 33 motum et motus: motus et motum P 1 et motus om. D 34 fit: sit P 2 37 ergo: igitur P 1 38 forma add. eius P1 40 quoniam in marg. P 2 del. quando P 2
Trotz dieser Übereinstimmung bleiben Unklarheiten. Averroes spricht von <mens>, Siger und der Pariser Anonymus sagen . Dies allein zeigt schon die Notwendigkeit einer näheren Definition jenes Seelenaktes. Da Zählen und Trennen intellektuelle Tätigkeiten sind, ist die Beziehung der zum Intellekt zu untersuchen. Eine Analyse der Bedeutung von in der Mitte des 13. Jahrhunderts kann sich als repräsentatives Beispiel zunächst auf die Psychologie Alberts des Groβen berufen. Von ihm waren die radikalen Aristoteliker des 13. Jahrhunderts in vielfacher Weise abhängig. Zu ihnen gehorte wohl auch der Anonymus, der die 200. These verfaBt hat.
7
AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 109, v. 32-41. Vgl. P 1 = Paris, Bibl. Nat, Cod. lat. 15453 (ff. 54rb-54va), P 2 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 16159 (67ra) und D = AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 109; Venetiis 1562, 187 r C.
332
3.6.1. Die Pariser These zum Sein der Zeit vom 7. März 1277
Albert der Groβe hat sich im zweiten Buch seines De anima-Kommentar s ausführlich zur Bestimmtheit der geäuβert. Im vierten Kapitel des dritten Traktates, das den Titel trägt:
«Et est digressio declarans gradus abstractionis et modum.»1
befindet sich eine umfangreiche Analyse dazu. Gemäβ Albert ist die Frage nach der eine Frage nach den erfassenden Potenzen (potentiae apprehensivae) der Seele. Der Bereich dieser Potenzen ist dabei ziemlich weit gefaβt. Das erschwert zunächst die Analyse. Doch auch darin liegt ein Erkenntniswert. Weil der Geltungsbereich der wächst, erhalten ihre einzelnen Verzweigungen eine genau abgegrenzte Funktion. Albert unterscheidet in seiner Psychologie vier Stufen der : a) Auf der ersten und untersten Stufe der erfolgt die Abtrennung der Form von der Materie. Die wahrnehmende Kraft (vis apprehensiva) bleibt hier auf die Gegenwart der wahrgenommenen Materie und ihrer Begleitphänomene angewiesen.9 Darüber geht die zweite Stufe hinaus. b) Diese Stufe der ist mit der <potentia imaginativa> verknüpft, ein Seelenvermögen, das die Form durch Abstraktion von der Materie gewinnt. Auf die Gegenwart der Materie verzichtet dieses Seelenvermögen. Die der Materie, die die Form individuieren und sich daher an einem singulären Seienden befinden, entfernt jene Seelenpotenz allerdings noch nicht.10 Daher ist auch dieser Grad der Abstraktion noch zu transzendieren. 8
ALBERTUS, De an. II tr. 3 c. 4; Stroick 101, 48-102, 65. Vgl. ALBERTUS, De an. II tr. 3 c. 4; Stroick 101, 68-71: «Quorum primus et infimus est, quod abstrahitur et separator forma a materia, sed non ab eius praesentia nec ab eius appendiciis; et hanc facit vis apprehensiva deforis, quae est sensus.» 10 Vgl. ALBERTUS, De an. II tr. 3 c. 4; Stroick 101, 72-78: «Secundus autem gradus est, quod separatur forma a materia et a praesentia materiae, sed non appendiciis materiae sive condicionibus materiae; et hanc apprehensionem facit imaginativa potentia, quae etiam singularibus non praesentibus retinet formas sensibilium, sed non denudat eas a materiae appendiciis.» 9
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Teil III - Das 13. Jahrhundert
c) Die dritte Stufe der erfaβt Intentionen, die zwar ohne die sinnliche Wahrnehmung nicht erkennbar waren, aber dennoch höherer Natur sind. Albert denkt an die sozialen Beziehungen. Diese Stufe der ist der Erkenntnis benachbart, aber an Vergleich (collatio) und Meinung (aestimatio) gebunden.11 Es ist klar, daB damit noch nicht die Endstufe erreicht ist. Dies geschieht erst in Richtung auf den Intellekt, der als höchste Erkenntnisinstanz gilt. d) Albert bestimmt den Intellekt als vierte und oberste Stufe der . Der Intellekt erfaBt hier die reine, von allem Beiwerk der Materie entblöBte Washeit.12 Albert ordnet die vierte Modifikation der dem Intellekt zu. Daher ist es erlaubt, die hier gewonnene Einsicht über die intellektuelle Struktur der mit dem zweiten Abschnitt der 200. These zu verknüpfen. Dort heiBt es, die Zeit sei allein in der . Damit ist gemeint, daB die Zeit - wenn dem Intellekt auch eine spezifische zukommt - allein im Intellekt existiert. Die Tätigkeit des Intellektes erstreckt sich ja nicht nur auf die Erkenntnis der reinen Washeit, sondern auch auf das Zählen. Wenn die Zeit in der existiert, dann bedeutet das nichts anderes, als daB sie im Intellekt vorhanden ist. Damit ist der Zusammenhang der 200. These mit der Diskussion zur Zeitaporie im 13. Jahrhundert gesichert.13 11
Vgl. ALBERTUS, De an.II tr. 3 c. 4; Stroick, 101, 90-102, 4: «Tertius autem gradus apprehensionis est, quo accipimus non tantum sensibilia, sed etiam quasdam intentiones quae non imprimuntur sensibus, sed tarnen sine sensibilibus numquam nobis innotescunt, sicut est esse socialem et amicum et delectabilem in convictu et affabilem et his contraria, quae quidem cum sensibilibus accipimus, et tamen eorum nullum sensibus imprimitur.» 12 Vgl. ALBERTUS, De an. II tr. 3 c. 4; Stroick 102, 11-20: «Quartus autem et ultimus gradus est, qui apprehendit rerum quiditates denudatas ab omnibus appendiciis materiae nec accipit ipsas cum sensibilium intentionibus, sed potius simplices et separatas ab eis. Et ista apprehensio solius est intellectus, sicut est intellectus hominis per hoc quod convenit omni homini, vel intellectus substantiae et, ut universalitet* dicatur, intellectus quiditatis universalis omnis rei, secundum quod est quiditas ipsius, et non per hoc quod convenit isti et non illi.» 13 Allerdings bleibt noch die Frage, warum der anonyme Verfasser der 200. These nicht selbst den Terminus gebraucht hat. Darüber sind nur Vermutungen möglich. Für eine Entscheidung dieser Frage bedürfte es einer umfangreichen Untersuchung der Theorie der in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Erst dadurch wäre eine befriedigende Lösung dieses Problems möglich. Das ist hier nicht zu leisten. Wichtig ist nur der Beweis, daB die
334
3.6.1. Die Pariser These zum Sein der Zeit vom 7. März 1277 Eine Analyse der Wirkungsgeschichte der 200. These ergibt erstaunliche Resultate. I. Zunächst ist festzuhalten, daβ die 200. These von 1277 in eine bestimmte Richtung keinerlei abschreckende Wirkung hatte. So nahm Dietrich von Frei berg direkt zu der These Stellung14, ohne ihrer Forderung zu entsprechen. Sei ne Philosophie der Zeit, die weiter unten näher zu untersuchen ist, folgt ohne jede Einschränkung der 1277 verurteilten zeitphilosophischen Konzeption. II. Neben dieser negativen gab es auch positive Reaktionen. Dazu gehört die Stellungnahme des Raimundus Lullus in dem Dialog Declaratio Raimundi, per modum dialogi edita.15 Innerhalb dieses Werkes diskutiert Lullus die vom Pariser Bischof verurteilte These als Aussagen der Philosophie, die er als <Socrates> 200. These in den Umkreis der Diskussion um die <aristotelische Zeitaporie> gehört. Insofern ist sie ein bedeutendes Dokument flir die Wirkungsgeschichte der aristotelischen Zeittheorie im 13. Jahrhundert. 14 Wichtig ist in diesem Zusammenhang der immer noch nicht ausreichend gewürdigte Traktat De mensuris des Dietrich von Freiberg. Vgl. THEODORICUS, De mensuris, ed. R. Rehn, in: Dietrich von Freiberg, Opera omnia, Tom. III (CPTMA II, 3): Schriften zur Naturphilosophie und Metaphysik, mit einer Einl. von K. Flasch hrsg. von J.-D. Cavigioli, R. Imbach, B. Mojsisch, M. R. Pagnoni-Sturlese, R. Rehn, L. Sturlese, Hamburg 1983, 203-239. Zur ersten Orientierung vgl.: N. Largier, Zeit, Zeitlichkeit, Ewigkeit. Ein Aufriss des Zeitproblems bei Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, Bd. 8), Bern/Frankfurt a. M./New York/Paris 1989, 40f. Gegen Ende des Traktates fragt Dietrich nach der Verfassung der Maβe , und . Vgl. THEODORICUS, De mens. 8 (1); Rehn 238, 40-44: «Ultimo autem quantum ad propositum negotium quaerendum, quid importent mensurae durationis circa entia, quorum sunt mensurae, utrum videlicet aliquam rem naturae extra animam seu conceptum intellectus, vel utrum [solum in apprehensione] consistant et sint quidam modi determinati circa rem mensuratam opere rationis vel intellectus.» Dietrich nimmt also mit der Formulierung <solum in apprehensione> Bezug auf die 200. These. Er übernimmt sogar ihre spezifische Terminologie. Dietrichs Antwort ist klar. Wenn die Zeit gemäβ den Thesen des Aristoteles, des Averroes und des Augustinus ein Werk der ist, dann gilt dies um so mehr bei den MaBen der einfacheren und körperlosen Dingheiten. Vgl. THEODORICUS, De mens. 8 (5); Rehn 239, 59-67: «Si igitur mensura alicuius corporalis passionis, qualis est motus, non est aliquid reale naturale extra animam existens, sed determinatur talis mensura motui opere rationis, quae mensura seu numerus motus est tempus secundum Philosophum IV Physicorum et Commentatorem ibidem et Augustinum XI Confessionun, multo magis in rebus simplicioribus et a corporeitate separatis mensura durationis eis determinabitur opere rationis. Et sic universaliter omnium entium durationis mensura non erit aliquid reale naturale extra animam existens.» 15 Vgl. Raimundus Lullus, Declaratio Raimundi, per modum dialogi contra aliquorum philosophorum et eorum sequacium opiniones erroneas et damnatas a venerabili patre domino episcopo Parisiensi, ed. Kl. Pereira/Th. Pindl-Büchel, in: Raimundi Lulli Opera Latina, Tom. XVII, nn. 76-81 (CCM LXXIX), Turnholti 1989, 219-402. 335
Teil III - Das 13. Jahrhundert
personifizierte: «Socrates dixit, quod aeuum et tempus nihil sunt in re, sed solum in apprehensione,»16 Dieser mit <Socrates> bezeichneten Personifikation tritt Lullus selbst als Dialogpartner gegenüber. Dabei entwirft er entsprechende Antithesen. Im Hinblick auf die 200. These erscheinen so die Motive, die die orthodoxe Theologie dem innerseelischen Sein der Zeit gegenüberstellte. Lullus hat ihnen eine literarische Gestalt verschafft. Er geht zunächst von der Schöpfung der Welt als einem realen Akt des Neuanfangs aus. Aber ohne die Zeit als <ens reale> wäre ein derartiger Schöpfungsakt nicht möglich. Auch die Bewegung könnte ohne die Realität (realitas) der Zeit nicht existieren. Lullus nimmt also eine absolute Weltzeit an, die durch ihr auβerseelisches Sein Raum für reale Ereignisse vorgibt. Zeit und Bewegung sind so eng miteinander verknüpft wie Ton und Hören bzw. Farben und Sehen. Lullus bezieht sich jedoch nicht nur auf die Schöpfung als reales zeitliches Ereignis in der Vergangenheit, sondern er denkt auch an die zukünftige Auferstehung (resurrectio). Im Hinblick darauf erscheint die ewige Dauer (aevum) als unumgänglich.17 Lullus hat also sowohl zur Zeit als auch zum Aevum Stellung genommen. Seine Bemerkungen zeigen deutlich, warum die Lehre vom seelischen Sein der Zeit und des Aevum der Orthodoxie so unerträglich erschien: Sie verstöβt gegen die Dogmen von der Erschaffung der Welt und der Auferstehung des Menschen. Indem bestimmte Philosophen des 13. Jahrhunderts indirekt daran rüttelten, führten sie die Zeitphilosophie in die Krise des Jahres 1277. III. Nach dieser unmittelbaren Reaktion war die Wirkungsgeschichte der 200. These noch nicht beendet. Weil die Zeitphilosophie des 13. Jahrhunderts die Diskussionen der Folgezeit determinierte, ist auch die Verurteilung des seelischen Seins der Zeit weiterhin von Bedeutung gewesen. Ein interessantes Beispiel dafür befindet sich im Sentenzenkommentar des Johannes von Baconthorpe. Baconthorpe diskutiert nach bekannter Manier die Frage, ob die Zeit auBerhalb der Seele vorhanden sei oder nicht. Unter den Argumenten, die das auBerseelische Sein der Zeit postulieren, findet die Pariser These nun indirekt ihren 16
RAIMUNDUS LULLUS, Decl. c. 200 v. 2-3; Pindl-Büehel 391. Vgl. RAIMUNDUS LULLUS, Deel. c. 200 v. 4-11; Pindl-Büehel 391: «Raimundus ait: In 87 capitulo probatum est, quod mundus creatus est et inceptus de nouo. Cuius initium esset impossibile, si tempus non esset ens reale. Et idem sequitur de motu, qui sine realitate temporis esse non posset, sicut audire, quod sine sono esse non posset, neque uidere sine colore. Item, probatum est in 17 capitulo, quod resurrectio erit futura, ratione cuius aeuum erit necessarium, cuius necessitas significata est in praedicto capitulo.» 17
336
3.6.1. Die Pariser These zum Sein der Zeit vom 7. März 1277
Platz. Wer das welthafte Sein der Zeit postuliert, muβ die Pariser These be streken, Im Dokument von 1277 erscheint die Theorie vom seelischen Sein der Zeit auch deshalb als verurteilte Position, weil Bischof Tempier am Sein einer auβerseelischen Weltzeit festhielt. Das Argument, von dem Baconthorpe berichtet, schlieBt sich der Position Tempiers an. Es liefert aber eine Begründung, die bei Tempier fehlt. Anders als Lullus verzichtet diese Begründung jedoch auf dogmatische Überlegungen. Aber wie Lullus setzt sie auf die auBerseelische Realität der Bewegung. Diese philosophische Argumentation ist aus der Diskussion der Zeitaporie im 13. Jahrhundert bekannt. Wenn die Zeit ihr Fundament in der Bewegung hat, so heiBt es nun unter Zurückweisung der 200. These, sei niemand von den modernen Philosophierenden (modernis phylosophantibus) so ungebiidet (rudis), daB er das Sein der Bewegung auBerhalb des Intellektes abstreite. Vielmehr ist die Zeit die Zahl der Bewegung usw.18 Hier ist es unwichtig, welche Thesen Baconthorpe dieser Behauptung entgegensetzt. Seiner eigenen Entscheidung kommt in diesem Zusammenhang nur eine geringe Bedeutung zu. Wichtiger erscheint vielmehr der Nachweis, daB die Pariser These weiterhin ihren Platz in der Diskussion um das seelische Sein der Zeit behauptet hat. IV. Die Pariser These von 1277 entstammt einem bestimmten Diskussionszusammenhang. Um 1270 nahm der Einfluβ des Averroes auf die Zeitphilosophie der lateinischen Aristoteleskommentatoren derart zu, daB Thomas von Aquino und einige Jahre später auch der Bischof von Paris in die Diskussion eingriffen. Thomas schrieb einen neuen Physikkommentar, der Bischof von Paris verurteilte bestimmte zeitphilosophische Thesen ohne jede Begründung. Die Kenntnis dieser Zusammenhänge ging jedoch allmählich verloren. So ordnete Konrad von Megenberg in seiner Yconomica die Pariser Verurteilung ganz anders ein. Er versteht sie als Kampfansage an Wilhelm von Ockham und seine Schule («Wilhelmus de Occham et suos sequaces»). Auch Konrad beruft sich auf die Bewegung. Und er verbindet die Apprehension mit der Aktivität des Intellektes. Wenn alle Apprehension des Intellektes aufgehoben ist, so bleibt immer
18
Vgl. IOHANNES BACHON, In II Sent. d. 2 q. 1 a. 3 § 2 arg. 2; Cremonae 1618, 463 C/D: «Ad hoc est secundus articulus Parisiensis, quod aeuum, et tempus nihil sunt in re, sed solum in aprehensione; error. Sed iste articulus non potest intelligi contra aliquos ponentes, qui ponerent, quod tempus nihil est quantum ad suum fundamentum, quod est motus, quia numquam fuit aliquis ita rudis errans de modernis phylosophantibus, qui negauit motum esse ens extra intellectual; ergo intelligitur, quod sit error, quod nihil sit in re, sed solum in aprehensione, secundum quod est numerus motus, quod est propositum.»
337
Teil III - Das 13. Jahrhundert
noch der kontinuierliche Fluβ der auBerseelischen Zeit. Weitergehende Untersuchungen nahm Konrad jedoch nicht vor.19 V. Besser informiert als Konrad war Dionysius der Kartäuser. Ein sehr spates Dokument der Reaktion auf die verurteilte These von 1277 befindet sich in seinem Sentenzenkommentar. Dionysius diskutiert die Pariser These im Kontext seiner Zeitphilosophie, die überwiegend auf den Thesen der Theoretiker des 13. Jahrhunderts beruht. Er beweist dabei eine ausgezeichnete Quellenkenntnis. So ist es nicht verwunderlich, daB er auch von der 200. Pariser These wuBte. Allerdings erwähnt Dionysius sie nur am Rande. Nach seinen Angaben haben bestimmte Philosophen behauptet, daB sich die Zeit nicht von der Bewegung des <primum mobile> unterscheide. Diese Himmelsbewegung enthält das Früher und Später, insofern die Seele diese Determinanten zählt. Jene Theoretiker beriefen sich nach Dionysius auf Augustinus, der in seiner Genesisauslegung die Zeit als Bewegung der Schöpfung bezeichnet habe. Weil nun die Bewegung etwas in der Sache ist, entgeht diese Zeittheorie der 1277 verurteilten These, gemäβ der die Zeit und das Aevum allein in der Seele und nicht in der Natur sind. Aber es ist nicht allein die auBerseelische Bewegung, die der Konzeption von 1277 entgegensteht. Jene Bewegung ist vielmehr kosmologisch ver ankert. Dadurch sichert sie die auBerseelische Zeit ab. 20 Deshalb findet in der von Dionysius diskutierten Zeitkonzeption nicht das elfte Buch der Confessiones Erwähnung, sondern die Zeittheorie des Augustinus aus der Genesisauslegung. Es ist sehr wahrscheinlich, daB eine systematische Erforschung der mittelalterlichen Zeittheorien noch weitere Reaktionen auf die 200. Pariser These von 1277 zutage fördern könnte. Hier müssen jedoch weitere Nachforschungen entfallen. Die oben angeführten Belegstellen sollen nur zeigen, daB die Verurteilung von 1277 nicht nur im 13., sondern auch im 14. und 15. Jahrhundert die zeitphilosophische Diskussion beeinfluβt hat. 19
Vgl. CONRADUS, Yconomica III 1; Krüger 164: «Error est, quia cessante omni apprehensione intellectus humani adhuc partes temporis succederent sibi et fieret preteritum, presens et futurum. Ille articulus est contra Wilhelmum de Occham et suos sequaces, qui ponunt motum temporis et omnes successiones preter animam res indistinctas a permanentibus rebus.» 20 Vgl. DIONYSIUS CARTUSIANUS, In II Sent. d. 2 q. 2; Opera omnia 21, 128 a C/D: «Aliqui tarnen dicunt, quod tempus non differt a motu primi mobilis secundum rem aliquam absolutam. Sunt namque (ut dicunt) prius et posterius in motu primi mobilis in quantum ab anima numerantur. Et allegant pro se illud Augustini quinto super Genesim: Tempus est creaturae motus. Quumque motus sit aliquid in re, dicunt se non impingere in illum articulum condemnatum seu excommunieatum: Tempus et aevum nihil sunt in re, sed solum in apprehensione.»
338
3.6.2. Heinrich von Gent
3.6.2.1. Einführung Nachdem der Bischof von Paris am 7. März 1277 die These vom seelischen Sein der Zeit verurteilt hatte, kam die Diskussion dieses Problems keineswegs zum Stillstand. Das Verbot steigerte vielmehr die Qualität des Diskurses mit einer bis dahin unbekannten Intensität des Quellenstudiums. Ein wichtiges Dokument, das den Stand der Auseinandersetzung einige Jahre später belegt, findet sich im dritten Quodlibet des Heinrich von Gent.1 Heinrich hat diesen Text zu Ostern 1278/9 vorgetragen.2 Eine Analyse der Konzeption des Heinrich von Gent erlaubt aber nicht nur einen Einblick in die kontroversen Diskussionen zur Philosophic der Zeit nach 1277. Sie vermag auch die Lücke zu schlieβen, die sich zwischen 1277 und der auf Anfang der 80er Jahre des 13. Jahrhunderts zu datierenden Abhandlung De origine rerum praedicamentalium des Dietrich von Freiberg auftut. Dietrich hat diesem Traktat einen kurzen Abschnitt zur Philosophie der Zeit eingefügt. Daraus geht hervor, daβ er damals - und nicht erst später in der Abhandlung De natura et proprietate continuorum - der Zeittheorie des Augustinus in bestimmten Punkten folgte. In dieser Zeit vollzog sich die Rückkehr des Augustinus. Dietrich revidierte die Eliminierung des Augustinus aus der Naturphiloso1
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodlibet III q. 11: «Utrum tempus possit esse sine anima», in: Quodlibeta Magistri Henrici Goethals a Gandavo doctoris Solemnis: Socii Sorbonici: et archidiaconi Tornacensis. cum duplici tabella. Voenumdantur ab Iodoco Badio Ascensio, sub gratia et privilegio ad finem explicandis, Parisiis (1518) ff. 63 r X-65 r E. Alle folgenden Zitate aus sind nach den Handschriften überprüft. Die Paginierung der Ausgabe von 1518 bleibt in Klammem bestehen, um das Auffinden der Zitate zu erleichtern. Zum kritischen Text vgl. auch: Anhang, S. 463-476. 2 Vgl. A. Maier, Die Subjektivierung der Zeit in der scholastischen Philosophie, in: Philosophia Naturalis 1 (1950) 365: «Heinrich hat in seinem dritten Quodlibet, das Ostem 1279 disputiert worden ist ... » R. Macken kommt zu einer anderen Datierung. Vgl. Henricus de Gandavo, Quodlibet I, ed. R. Macken; Henrici de Gandavo Opera omnia V, Leuven/Leiden 1979, XVII: «Quodl. III Temps de Pâques 1278 (ou temps de Pâques 1279 selon Paulus)». R. Macken bezieht sich auf: J. Paulus, Henri 'e Gand. Essai sur les tendances de sa métaphysique (Études de Philosophie Médiévale XXV), Paris 1938, XV, n. 1.
339
Teil III - Das 13. Jahrhundert
phie, die Albert der Groβe in seinem Physikkommentar vollzogen hatte. Auf dem Gebiet der Philosophie der Zeit kam Augustinus trotz groBer Widerstände zu neuem Ansehen. War Dietrich damit ein Einzelgänger? Oder hatte er Vorläufer, an deren Ergebnisse er anknüpfen konnte? Diese Fragen muβ sich jeder stellen, der die noch weitgehend im dunkeln liegende Vorgeschichte der Zeittheorie Dietrichs untersuchen will. Licht auf dieses wenig erforschte Gebiet vermag eine Analyse der elften Quaestio des dritten Quodlibet von 1278/9 zu werfen. Wie dieser Text zeigt, war Heinrich vermutlich der erste, der sich zu dieser Zeit wieder intensiv mit der Zeittheorie des Augustinus auseinandersetzte. Viele Philosophen des 13. Jahrhunderts kannten die Zeitphilosophie des Augustinus. Das elfte Buch der Confessiones war niemals verlorengegangen. Aber die scharfe Verurteilung durch Albert hatte dem Ansehen der Zeitphilosophie des Augustinus zunächst doch erheblich geschadet. Erst allmählich kam es zu einer Umwertung. Ende der 50er Jahre setzt sich R. Kilwardby in seinem Traktat De tempore wieder mit Augustinus auseinander. Selbst Ulrich von StraBburg, Alberts eigener Schüier, wertet um 1270 die Zeitphilosophie des Augustinus weitaus positiver als Albert. Aber erst Heinrich von Gent legte unter dem Eindruck der Verurteilung von 1277 eine vertiefte Analyse zum Text des Augustinus vor. Die Augustinuspassagen aus Quodlibet III q. 11 sind weitaus umfangreicher als alle anderen Texte, die einzelne Philosophen des 13. Jahrhunderts zur Zeitphilosophie des Augustinus veröffentlicht haben. Seit Alberts Frühschrift De IV coaequaevis hatte sich niemand mehr, soweit die Quellen diese Aussage zulassen, so umfassend mit dem Text des Augustinus beschäftigt. Schon daraus läBt sich erkennen, welche Bedeutung Heinrich der Frage nach dem seelischen Sein der Zeit einräumte. Warum hatte er sonst seine gesamten Ausfuhrungen auf dieses Problem konzentriert? Und warum wäre es nötig gewesen, sich so intensiv mit Augustinus auseinanderzusetzen? Es kann kein Zweifel daran bestehen, daB sich Heinrich von einer eingehenden Analyse und Kritik der Zeittheorie des Augustinus einen groBen theoretischen Gewinn versprach. Der sich immer mehr verschärfende Konflikt zum Verhältnis von Zeit und Seele, der 1277 zur Verurteilung der These vom seelischen Sein der Zeit gefiihrt hatte, verlangte nicht nach aufgezwungenen Lösungen, sondern dem philosophischen Niveau der Zeit entsprechend nach rationaler Klärung. Der Bischof von Paris hatte die 200. These zum seelischen Sein der Zeit verurteilt. Was aber war darunter zu verstehen? Inwieweit waren Aristoteles, Averroes und Augustinus von dieser Verurteilung betroffen? Diese Fragen benötigten eine Klärung. Es ist daher nicht verwunderlich, daB Heinrich von Gent unmittelbar nach 1277 eine genaue Un340
3.6.2. Heinrich von Gent
tersuchung dieser Probleme in Angriff nahm.3 Es versteht sich von selbst, daβ dazu ein vertieftes Quellenstudium notwendig war. Heinrichs Zeittraktat ist die elfte Quaestio zur Philosophie der Zeit innerhalb des umfangreichen dritten Quodlibet.4 Die Bezeichnung erscheint hier in mehrfacher Hinsicht berechtigt. Heinrich behandelt ein spezifisches Problem innerhalb eines genau abgegrenzten Rahmens. Diesen vorgegebenen Bedingungen ist die Argumentation angepaβt. Alberts Digression zum seelischen Sein der Zeit («Hic est digressio deelarans sententiam eorum qui dicunt tempus non esse nisi in anima»), Heinrichs elfte Quaestio und Dietrichs Zeittraktat («De natura et proprietate continuorum») sind Entwicklungsstufen einer zunehmend fortschreitenden Systematisierung der philosophischen Darstellung der Frage nach dem seelischen Sein der Zeit. Heinrichs Quaestio besetzt auf dieser Entwicklungslinie die Mitte zwischen den kaum gegliederten Ausführungen Alberts und der streng systematischen Argumentation Dietrichs. Heinrichs Quaestio besteht fast ausschlieBlich aus einem sorgfältig vorbereiteten Vergleich zwischen Aristoteles und Augustinus. Heinrich konfrontiert bestimmte Thesen des Aristoteles und gezielt ausgewählte Sätze aus dem elften Buch der Confessiones miteinander.5 Dabei spielte Averroes als Ausleger des Aristoteles eine zentrale Rolle. Heinrich hat auch die Thesen Galens nicht übersehen. Aber die Schwerpunkte seiner Untersuchung sind doch Aristoteles und Augustinus. Wichtig ist dabei, wie Heinrich die Akzente setzt. Sofort fällt auf, daB er ungewöhnlich breit und
3 Heinrich hat die Bedeutung der 1277 in Paris verurteilten 200. These vom seelischen Sein der Zeit erkannt. Flir die Einschätzung seiner Beziehung zur Verurteilung von 1277 sind folgende Selbstzeugnisse von Bedeutung. Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. XIII q. 14; Decorte 149, 2-4: «Hinc etiam iamdiu, occasione disputationum et altercationum quas magistri Parisienses habebant inter se de perfectione statuum maiori vel minori, audivi dominum papam CLEMENTEM, cum adhuc esset legatus ... » Diese Aussage zeigt, daB Heinrich schon friih in die inneren Auseinandersetzungen der Pariser Professoren eingeweiht war. Heinrich war sogar Mitglied der Kommission, die 1277 den Pariser Bischof beriet. Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodlibet II q. 9; Wielockx 67, 21-23: « ... in hoc enim concordabant omnes magistri theologiae congregati super hoc, quorum ego eram unus ... » 4 Eine erste umfangreiche Analyse der Zeitphilosophie des Heinrich von Gent hat P. Porro vorgelegt. Vgl. P. Porro, Enrico di Gand nella scolastica del XIII secolo. Una questione controversa: La natura del tempo (Universitå degli studi di Bari, Facoltå di Lettere e Filosofia, Corso di Laurea in Filosofia), Bari 1986/7. Vgl. bes. S. 114 f. 5 Vgl. P. Porro, Enrico di Gand sul problema della realtå del tempo in Agostino (Quodl. III, q. 11), in: L'Umanesimo di Sant'Agostino, Atti del Congresso intemazionale, Bari 28 - 30 ottobre 1986, a cura di M. Fabris, Bari 1988, 589-611.
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Teil III - Das 13. Jahrhundert
umfangreich Augustinus zitiert. Er fertigt aus dem elften Buch der Confessiones gleichsam eine Kurzfassung an. Dieses kontrahierte Exzerpt vergleicht er dann mit einer gezielten Auswahl von Aristoteleszitaten. Beide Textgruppen bilden die Basis seiner Abhandlung. Das grundlegende Problem, das in Heinrichs elfter Quaestio zur Diskussion steht, ist jedoch die von Aristoteles in der Zeitaporie aufgeworfene Frage nach dem seelischen Sein der Zeit. Daher beginnt Heinrich seine Ausführungen mit einer Analyse dieses Textes.
3.6.2.2. Das Grundproblem: Die<aristotelischeZeitaporie> Die elfte Quaestio des Heinrich von Gent ist harmonisch gegliedert. Der Text besitzt eine genau festgelegte Struktur. Heinrich beginnt die Untersuchung mit der Frage nach dem seelischen Sein der Zeit. Die Aufgabe dieser Untersuchung ist daher, den inneren Aufbau seiner Argumentation aus der Konfrontation des Aristoteles mit Augustinus hinreichend zu erklären. Heinrichs Sätze sind zunächst nichts anderes als eine Paraphrase verschiedener Aristoteleszitate: Heinrich von Gent
Aristoteles
«Circa secundum arguitur, quod tempus non possit esse sine anima, quoniam numerus non est sine numerante.6 Tempus autern secundum Philosophum IV Physicorum est [numerus motus],7 et non est numerans ipsum nisi anima concipiens 8 prius et posterius in tem[prius et posterius in motu], 9 pore secundum 10 ut vult Philosophus ibidem.» 6 Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 22/3, Transl. nova; Maggiölo n. 454, 308: «Impossibile enim cum sit numeraturum esse aliquem, impossibile est numerabile esse aliquod.» 7 ARISTOTELES, Phys. IV 11, 219 b 2, Transl. nova; Maggiölo n. 409, 281. 8 Vgl ARISTOTELES, Phys. IV 11, 219 a 27-29, Transl. nova; Maggiölo n. 409, 281: « ... et duo dicat anima ipsa nunc, hoc quidem prius, illud vero posterius, tunc et hoc dicimus esse tempus.» 9 ARISTOTELES, Phys. IV 11, 219 a 31, Transl. nova; Maggiölo n. 409, 281. 10 HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 463, 1-5 (Parisiis 1518, 63 r).
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3.6.2. Heinrich von Gent
Dagegen stellt Heinrich ein Verzeichnis aller Aristotelesstellen, die möglicherweise auf ein auβerseelisches Sein der Zeit verweisen. Innerhalb der Zeitphilosophie des Aristoteles schien es demnach einen Dissens zu geben: Heinrich von Gent
Aristoteles
«Contra est illud, quod dicit Philosophus in IV Physicorum [Tempus] [et motus simul sunt, et] 11 , non sunt potentia et actu. Sed motus habet [esse sine anima].12 Ergo etc.» 13 Formal ergibt sich folgende Zusammenfassung der Aristoteleszitate:
tempus in anima
11 12 13
tempus extra animam
I
219 a 27-29
II
219 a 31/b 2
III
223 a 22/3
IV
223 a 20
V
223 a 27/8
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 20, Transl. nova; Maggiòlo n. 452, 308. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 27/8, Transl. nova; Maggiölo n. 455, 308. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 463, 6-8 (Parisiis 1518, 63 r).
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Teil III - Das 13. Jahrhundert
Die Basis der Auswahl Heinrichs ist der Text der Zeitaporie (Phys. IV 14, 223 a 21-29). Dabei wählte er zwei charakteristische Bruchstücke so aus, daβ der Gegensatz zwischen auBerseelischer und innerseelischer Zeit sofort greifbar ist. Um diese zentralen Aussagen gruppierte Heinrich verwandte Texte aus dem Zeittraktat des Aristoteles. Weiter unten hat er dieses Verfahren noch ausgeweitet und vertieft.14 Das Grundproblem der Zeitphilosophie des Heinrich von Gent ist damit vorgestellt. Nun beginnt Heinrich eine Reihe allgemeiner Reflexionen zur Philosophie der Zeit. Sie verdeutlichen die Schwierigkeiten dieser naturphilosophischen Disziplin. Heinrich entnimmt seine Informationen aus verschiedenen Quellen (Moses Maimonides, Aristoteles, Averroes). Dadurch erhält jener Abschnitt die Form eines historischen Abrisses. Die Frage nach dem Sein der Zeit erscheint dabei als das schwierigste Problem der Zeitphilosophie.15
3.6.2.3. Sechs Aristoteleszitate zum seelischen Sein der Zeit Das Grundproblem der Untersuchung Heinrichs ist also die Frage nach dem rechten Verständnis der Zeitaporie des Aristoteles. Diese Problematik ist mit groBen Schwierigkeiten verbunden. Heinrich stellt daher eine Reihe von Abschnitten aus dem Zeittraktat des Aristoteles vor, die zur Erhellung dieser dunklen Aristotelesstelle beitragen sollen. Jene Textabschnitte bringen mehr oder weniger deutlich das Verhältnis von Zeit und Seele in den Blick, Es ist nicht mehr die Zeitaporie allein, die nach Heinrich als Hinweis auf das seelische Sein der Zeit zu verstehen ist. Heinrich kennt ein ganzes System miteinander vernetzter Textstellen, die sich alle um das zentrale Problem der Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele zentrieren. Er hat diese Stellen gesammelt, 14
Heinrich von Gent war mit den philosophischen Fragen der Physik des Aristoteles vertraut. Vgl. L. Bellemare, Authentické de deux Commentaires sur la ,Physique' attribués å Henri de Gand, in: Revue philosophique de Louvain 63 (1965) 545-571. 15 Vgl HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 463, 9-16 (Parisiis 1518, 63 r X): «Cum quaestio ista sit de esse temporis, oportet intelligere in principio, quod esse debile valde habet et obscurum, quoniam, ut dicit Rabbi Moses in libro suo secundo, duae res coniunguntur in tempore simul, et quod est accidens cohaerens motui. Et Veritas motus per se exigit, ut non quiescat ullo modo. Et hoc est, quod facit naturam temporis latere plures hominum, et nesciverunt, utrum vere sit an non, sicut Galenus et alii sapientes. Unde Plato non discemens esse temporis ab esse motus posuit, quod tempus esset motus caeli...»
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3.6.2. Heinrich von Gent
paraphrasiert und knapp gedeutet. Dabei hielt sich Heinrich bei jedem einzelnen Zitat eng an den lateinischen Aristotelestext. Seine Ausfuhrungen gleichen einer fortlaufenden Paraphrase mit unterschiedlicher Dichte an Aristotelestext. Heinrich beginnt mit einem Aristoteleszitat, das durch einen Hinweis auf das Nichtsein der Zeitdimensionen die Aufhebung des Seins der Zeit andeutet: Zitat I Heinrich von Gent
Aristoteles
«Propter quod etiam Philosophus tractans de tempore in IV Phy si corum in principio quaerit, tempus de numero an Et persuadet, aut... Si enim aspiciamus ad partes temporis, ex quibus tamquam totum continuum debet constitui, quae sunt praeteritum et futurum, cum non sint, illud enim sic ... hoc autem....... est, sic Quod autem constituitur ex non entibus, est, quod sit ens inquantum huiusmodi. Secundum hoc ergo, ut videtur, tempus in rei veritate extra animam non est ... »16
[utrum] [sit] [eorum, quae sunt], [non]. [quod] [omnino non sit aut vix et obscure].
[factum est, et] [non est], [futurum] [et] [nondum est]. [impossibile]
16 HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 463, 19-464, 8 (Parisiis 1518, 63 r X); vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 10, 217 b 31-34; 218 a 2, Transl. nova; Maggiòlo n. 390/1, 273.
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Teil III - Das 13. Jahrhundert
Heinrich versteht diese Reflexion, die Aristoteles zu Beginn seines Traktates vorlegt, als Hinweis auf das seelische Sein der Zeit. Er bezieht sich dabei indirekt auf die Auslegung des Averroes. Nach Averroes ist dieser Abschnitt eine der für die Frage nach dem Sein der Zeit entscheidenden Äuβerungen des Ari stoteles. lm 88. Kommentartext seines Physikkommentar s bezeichnet er die Zeit zunächst als eine verborgene Entität. Aber er begreift die Ausführungen des Aristoteles auch als Verweis auf das seelische Sein der Zeit. Auβerhaib der Seele existiert die Zeit nur in der Potenz.17 Auch Albert deutet die hier diskutierte Aristotelespassage in seinem Frühwerk De IV coaequaevis als Hinweis auf das seelische Sein der Zeit.18 Inwieweit Albert damals schon der Auslegung des Averroes folgte, ist noch ungeklärt. In seinem Physikkommentar ist dieser Einfluβ jedoch unübersehbar. Dort versteht Albert diese Textstelle mit Averroes als Verweis auf das potentielle Sein der Zeit. Er bezieht sich dabei ausdrücklich auf die Meinung einiger nicht näher bestimmter Philosophen, die die Aktualität der Zeit erst beim Intellekt (apud intellectum) erfolgen lassen. Er selbst legt sich allerdings zunächst nicht näher fest.19 Heinrich dagegen schlieBt sich der These des Averroes an.20 Während Albert im Physikkommentar noch eine gewisse Unsicherheit erkennen läBt, nimmt Heinrich mit gröBerer GewiBheit an, daB Aristoteles hier das innerseelische Sein der Zeit gelehrt habe. Mit dieser problematischen Stelle verkniipft Heinrich einen zweiten Abschnitt, der deutlicher das Verhältnis von Zeit und Seele in den Blick nimmt:
17 Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 88; Venetiis 1562, 174 r B: «Et forte hoc innuebat, cum dixit, aut erit difficile, et occultum, idest erit de entibus latentibus, quia, si in anima non essent, non essent nisi in potentia.» 18 Vgl. 3.3.4., S. 221. 19 Vgl. ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 c. 1; Hossfeld 260, 9-14: « ... ergo tempus omnino nihil est, aut si est, vix est, sicut sunt ea quorum esse est permixtum privationi, et [cum hoc obscure est, quia secundum potentiam est, et forte apud intellectum est actus eius, ut QUIDAM dixerunt. Sed nos de hoc INFERIUS quaeremus].» 20 Vgl. dazu: P. Porro, Enrico di Gand nella scolastica del XIII secolo. Una questione controversa: La natura del tempo (Università degli studi di Ban, Facoltà di Lettere e Filosofia, Corso di Laurea in Filosofia), Bari 1986/7. Vgl. bes. S. 114 f. Porro diskutiert Heinrichs Stellungnahme zu dieser spezifischen Aristotelesstelle. Er erkennt jedoch nicht, daB Heinrichs Grundproblem in der Philosophie der Zeit die Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele ist. AuBerdem bleibt ihm der Standort Heinrichs im Gesamtzusammenhang der Diskussion des 13. Jahrhunderts weitgehend verborgen.
346
3.6.2. Heinrich von Gent
Zitat II Heinrich von Gent
Albert {Paraphrase ans Textelementen des Aristoteles und Averroes)
«Unde secundum quod vult Philosophus, cum non percipimus motu intelligentiae transmutationem aliquam currere a priori in posterius, non percipimus tempus esse, quemadmodum dormientes in Sardis tempus dormitionis suae [non perceperunt], sed copulabant nunc primum, [quo dormire] coeperunt, [cum nunc posteriori, quo evigilaverunt, et non perceperunt tempus intermedium, sed putabant, quod] unum esset, [quando dormire inceperunt et quando surrexerunt, et] removebant [totum tempus medium propter] [insensibilitatem].»21 Dieser zweite Abschnitt aus dem Beziehungsgefüge der Aristotelesstellen, die nach Heinrich Hinweise auf das seelische Sein der Zeit geben, ist besonders wichtig. Hier bestand die Möglichkeit einer Rezeption für jene Philosophen, die Widerspruch gegen eine Theorie der Zeit erhoben. Die Auslegung dieses Textes hat deshalb eine lange Vorgeschichte. Sie reicht bis zu den spätantiken Aristoteleskommentatoren. Averroes deutet die mythologische Anspielung des Aristoteles ebenfalls als Hinweis auf das seelische Sein der Zeit.22 Aber Heinrich hat nicht nur den Physikkommentar des Averroes zur Kenntnis
21
HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 464, 10-17 (Parisiis 1518, 63 r X); vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 11, 218 b 21 sqq., Transl. nova; Maggiòlo n. 403, 277; ALBERTUS, Phys. IV ti*. 3 c. 4; Hossfeld 266, 3-9. Der von Heinrich aus Albert exzerpierte Text ist selbst wieder eine Mischung aus Alberts eigenen Worten mit Formulierungen des Aristoteles und Averroes. Zur weiteren Auflösung vgl. die Edition Hossfelds. 22 Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys., t. comm. 97; Venetiis 1562, 178 r A/B.
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Teil III - Das 13. Jahrhundert
genommen. Er benutzte auch Alberts Auslegung. Und er scheute sich nicht, einen ganzen Abschnitt aus dessen Paraphrase zu übernehmen. Im weiteren Verlauf seines Kommentars zu Phys. IV 11, 218 b 24-27 bezieht sich Averroes auch auf die Thesen Galens. Heinrich nimmt diesen Hinweis auf. Zugleich rezipiert er hier Albert. Allerdings teilt er dessen radikale Intervention gegen Augustinus nicht. Heinrich beschränkt sich zunächst auf eine kurze Reflexion zu Galen und Augustinus. Beide haben nach Heinrich das Sein der Zeit in die Seele gesetzt, denn sie leiteten die Zeit aus der Reaktion der innerseelischen Veränderungen auf auβerseelische Bewegungen ab. 23 Heinrich von Gent setzte also die Tradition der Zusammenstellung von Augustinus und Ari stoteles fort. Zugleich vertiefte er sie, indem er die Anzahl der Kontaktpunkte zu erweitern versuchte. Nur so ist es zu verstehen, daB er auch das folgende dritte Aristoteleszitat mit Augustinus (und Galen) zusammenstellte: Zitat III Heinrich von Gent «Quorum opinio videtur confirmari per hoc, quod dicit Philosophus fit et
Aristoteles
[Si sint tenebrae et nihil per corpus patiamur, motus autem] [in anima], [simul videtur fieri] [tempus]. [Et tempus cognoscimus, cum definimus motum prius et posterius determinantes, et tunc dicimus fieri tempus, quando prioris et posterioris in motu sensum percipimus].»24
23
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 465, 2-4 (Parisiis 1518, 63 v Y): «Idcirco [Galenus et Augustinus] non posuerunt esse temporis nisi in anima, scilicet [in vicibus motuum animae] circa conceptus paitium motus, quarum una iam praeteriit, alia nondum est»; ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 c. 4; Hossfeld 265, 28-32: « ... [et hoc] modo dixerunt [GALIENUS] et AUGUSTINUS nos percipere tempus esse in tempore, dixerunt enim, quod esse in tempore est esse in vicibus motuum animae vel alterius creaturae spiritualis ...» 24 HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 465, 4-9 (Parisiis 1518, 63 v Y); vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 11, 219 a 4-6, 22-25, Transl. nova; Maggiòlo n. 404, 408, 281.
348
3.6.2. Heinrich von Gent
Im 98. Kommentartext seines Physikkommentars nutzt Averroes diese Textstelle zu einer umfangreichen Diskussion des Zusammenhangs zwischen Zeit, Seele und Bewegung. Galens Kritik an Aristoteles, aber auch Platons Höhlengleichnis spielen dabei eine grundlegende Rolle. Albert schlieβt sich der Pole mik des Averroes gegen Galen an. Er stellt dabei die Argumente vor, auf die Heinrich hier nur zurückzugreifen brauchte.25 Heinrich beschränkt sich daher darauf, die Ausführungen des Aristoteles zu paraphrasieren. Ihm ist es zunächst nur wichtig, den Zusammenhang dieses Zitats mit den anderen Textabschnitten, die sich im Zeittraktat des Aristoteles auf das seelische Sein aer Zeit beziehen, möglichst einsichtig zu präsentieren. Er bemüht sich daher auch nicht, die inhaltliche Struktur dieses Textes näher zu explizieren, sondern hastet eilig zum nächsten Zitat weiter. Die Methodik seiner Zeit, gleichsam quantitativ die Autoritäten zu kumulieren, macht sich auf diese Weise bemerkbar: Zitat IV Heinrich von Gent
a medio, autem determinato enim aut et
Aristoteles «[Cum enim altera extrema] [et dicat anima duo], [hoc quidem prius, illud] [posterius, tunc] [dicimus tempus esse] [enim ipso nunc; tempus] [videtur]. [Quando] [tamquam unum ipsum nunc sentimus], [sicut] [idem] [prioris] [et posterius alicuius] [non] [sicut prius et posterius in motu], [non videtur tempus fieri], [quia neque motu s]».26
25
Vgl. 3.4.1., S. 245-254. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 465, 9-14 (Parisiis 1518, 63 v Y); vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 11, 219 a 26-33, Transl. nova; Maggiölo n. 409, 281.
26
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Teil III-Das 13. Jahrhundert
Das vierte Aristoteleszitat gehort mit Recht in diese Konfiguration. Es zählt zu den wenigen Belegstellen im Zeittraktat des Aristoteles, wo Aristoteles direkt die Funktion der Seele bei der Zeitkonstitution in den Blick nimmt. Heinrich hat seinen Text nicht unmodifiziert von Aristoteles übernommen. Er setzte vielmehr aus einer groβen Anzahl von Bruchstücken kunstvoll eine zweite Fassung zusammen. Ziel dieses Umformungsprozesses ist der Nachweis, daB die Seele bei der Zeitgewinnung aktiv beteiligt ist. Sie nimmt zwei Einschnitte in das Bewegungskontinuum vor. Die erste Diskretion bezeichnet sie als das , die zweite als das <Später>. Erst durch diese Signation ist uns Zeit zugänglich. Das vierte Zitat bereitet insofern die Einsicht in den ProzeB der Zählung vor, aus dem die Zeit als Zahl hervorgeht. Erst das Sein der Zeit als Zahl läβt ihren seelischen Ursprung ohne Hindernisse erkennen. Daher geht Heinrich zur Diskussion der eigentlichen aristotelischen Zeitdefinition über: Zitat V Heinrich von Gent « ... ut dicit Philosophus: ipse id,