BAD EARTH
Die große Science-Fiction-Saga
ARMAGEDDON
Ein Planet stirbt - und öffnet das Tor zu den Sternen Von Manfr...
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BAD EARTH
Die große Science-Fiction-Saga
ARMAGEDDON
Ein Planet stirbt - und öffnet das Tor zu den Sternen Von Manfred Weinland 2019, zum 50. Jahrestag der ersten Mondlandung, setzen Nathan Cloud und drei weitere Astronauten Ihren Fuß auf den Mars. Sie sollen den Grundstein für eine spätere Kolonisierung legen. Doch ihre Mission scheitert kläglich - und die alte Furcht vor unserem Nachbarplaneten erhält unvermittelt neue Nahrung. Nachdem die Astronauten nicht aus den Tiefen des Weltraums zurückkehren, startet auf der Erde ein beispielloses Programm, das zwei Jahrzehnte später in einer zweiten bemannten Mission gipfelt. Die USA entsenden ihr modernstes Raumschiff, um die unter dem Marssand lauernde Gefahr zu erforschen. Doch noch während die RUBIKON dorthin unterwegs ist, wird. Das gesamte Sonnensystem von einem verheerenden Phänomen heimgesucht. Auf der Erde kommt es zu apokalyptischen Szenen. Und nur langsam setzt sich das Begreifen durch, dass die wahre Gefahr nicht auf dem Roten Planeten lauert, sondern dort, wo niemand sie je vermutet hätte... Prolog 2019 Das rostrote Land erstreckte sich bis zum fernen Horizont, und selbst nach zwei Monaten Aufenthalt hatte sich Nathan Cloud noch nicht wirklich daran gewöhnt. Es sah aus wie eine irdische Wüste, aber es war keine. Dies ist das Land Mars, dachte er - und sog den Sauerstoff, den der Druckrover ihm lieferte, in sich ein, so ehrfürchtig, als atmete er die originale Luft des Planeten - was ihn umgebracht hätte. »Wie weit noch, Alexeij?«, fragte Cloud. »Du hast den sehr viel besseren Überblick, mein Freund. « Das winzige Mikrofon im Kragenwulst des Raumanzugs übertrug seine Stimme zum Habitat, wo Wolinow, die knochigen Schultern weit nach vorne gekrümmt und dadurch einem Geier ähnlicher als einem Menschen, über seinen Kontrollen brütete. Der Russe überwachte den Ausflug, während Jeunet das Treibhaus auf Vordermann brachte und Oyama die chemische Fabrik inspizierte. Ohne merkliche Verzögerung erfolgte die Antwort des jungen Russen. »Du näherst dich der Randzone - bei gleich bleibendem Tempo erreichst du den optimalen Bohrpunkt in ziemlich genau 23 Minuten.« »Verstanden, das entspricht auch meiner Schätzung... Etwas Neues von Mission Control?« »Sie beobachten dich. Sie lassen dich nicht aus den Augen...« »Ich fragte, ob es etwas Neues gibt.« Wolinows raues Lachen brachte die Lautsprecher, ebenfalls im Kragen verborgen, zum Klirren. »Nolan hat noch mal betont, dass die Bilder live übertragen werden also gib dir keine Blöße.«
Cloud nickte grimmig. Rupert Nolan, oder >Sklaventreiber Nolan<, wie seine Mitarbeiter ihn hinter vorgehaltener Hand nannten, war der oberste Missionsleiter, ein kleiner, kugelrunder, kahlköpfiger Mann, Mitte fünfzig und so spröde, so absolut humorlos, dass das Gerücht umging, seine bloße Anwesenheit könne die Temperatur eines Raumes fühlbar senken. Unter denen, die das Pech hatten, ihn zu kennen, gab es kaum jemanden, der diese physikalisch eigentlich unhaltbare Behauptung in Zweifel zog. »23 Minuten also...«, murmelte Cloud. »Jetzt noch knapp 22«, korrigierte das russische Mitglied der multinationalen Crew. In Zeiten extremer Geldknappheit wäre das aufwändige Unternehmen um ein Haar gescheitert. Nur die finanzielle Kooperation der Mächte hatte den großen Traum am Ende doch noch wahr werden lassen. Mein Traum, seit ich elf war, erinnerte sich Cloud - und dachte unwillkürlich an den kleinen Jungen, der jetzt gerade, in diesem Augenblick, Millionen Meilen entfernt, in seinem Bett lag und vielleicht von seinem Vater, dem Astronauten, träumte... Cloud lehnte sich tiefer in den Spezialsitz, der den Konturen des plumpen Raumanzugs perfekt angepasst war. Vor rund zwei Monaten war die ARMSTRONG nordöstlich des Hellas Planitia gelandet, pünktlich zum fünfzigsten Jahrestag der ersten bemannten Mondlandung. Ein Medienereignis - weltweit hatten Milliarden gebannt vor ihren Bildschirmen gesessen und beobachtet, wie Nathan Cloud, der Amerikaner, die Landeeinheit verlassen hatte, um als erster Mensch seine Fußspuren im roten Marssand zu hinterlassen... Jetzt sind wir so was wie Brüder, hatte er des Mannes gedacht, der auf ganz ähnliche Weise ein halbes Jahrhundert davor Geschichte geschrieben hatte. Du wärst stolz auf mich gewesen, Neil, und ich wünschte, du hättest es noch erleben können. So wie Cloud 1969 noch nicht einmal geboren war, weilte Neil Armstrong in diesen Tagen nicht mehr unter den Lebenden. Aber Nathan Cloud hatte sich die Videos sämtlicher Mondlande-Unternehmen wieder und immer wieder angesehen. Seit frühester Kindheit hatte es ihn selbst ins All gezogen, und er hatte sich geschworen, es zu schaffen. Seine Familie, vor allem sein Vater, ein Grundschullehrer dessen Vater auch schon Lehrer gewesen war, hatte ihn anfangs belächelt. Später nicht mehr. Ich hoffe, du bist stolz auf mich, Dad, dachte Cloud. Ich hoffe, du sitzt auch heute Nacht wieder vor dem Schirm und erinnerst dich an den Jungen, der sein letztes Taschengeld für Romane, Raketenmodelle und Chemiebaukästen verschwendet hat verschwendet... so hast du es genannt. Seine Mutter war vor zwei Jahren gestorben. Ein Blutgerinnsel in ihrem Kopf hatte alles vernichtet, was einen Menschen ausmachte. Nur die Erinnerungen in den Köpfen anderer waren geblieben. Es war die erste Begegnung seines heute sechsjährigen Sohnes mit dem Tod gewesen, und sie hatte Johnny nachhaltig geprägt. Cloud würde die Worte, die er ihm zum Abschied ins Ohr geflüstert hatte, nie vergessen: »Pass auf dich auf, Dad, pass gut auf dich auf und komm gesund wieder! Ich... ich liebe dich!« Mit Tränen in den Augen hatte Nathan erwidert: »Ich liebe dich auch, mein Junge.«
Das Bild des kleinen Johnny, der beim Abschied neben seiner blassen Mutter wie der eigentliche Riese gewirkt hatte, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, das Kinn trotzig nach vorn geschoben, hatte sich in Clouds Hirnrinde gebrannt, und er betrachtete es oft, wenn er allein war und die Augen schloss. Die transparente Cockpitkanzel erlaubte einen klaren Blick über die wellige Ebene, die das gepanzerte Fahrzeug mit gut dreißig Stundenkilometern durchkurvte. Traute man den Vorhersagen der Satellitenüberwachung, würde das Wetter halten. Zur Stunde gab es keinerlei Hinweise auf eine dramatische Verschlechterung oder gar einen der unberechenbaren Sandblizzards. Seit ihrer Ankunft hatte Cloud einen davon am eigenen Leib erlebt. Zusammen mit den anderen hatte er sich im Habitat verschanzt - verschanzt und gebetet. Ja, Cloud schämte sich nicht, es zuzugeben, er hatte seit weiß Gott wie vielen Jahren zum ersten Mal wieder ein Gebet zum Himmel geschickt. Die im Regolith verankerte Station hatte geschwankt, als würden Titanenfäuste an ihr rütteln. Dazu der infernalische Lärm, mit dem Myriaden von Staubkörnern wie ein Meteoritenschauer gegen die Außenhaut geprasselt waren... Am Ende hatten alle gestaunt, dass sie dieser Apokalypse noch einmal unbeschadet entkommen waren. Mission Control hatte sie medienwirksam beglückwünscht... Die Minuten verstrichen. Irgendwann sagte Wolinow: »Alles klar, du kannst mit dem Picknick beginnen. Du hast die Stelle erreicht.« Cloud bestätigte und stoppte den Rover. Die hydraulischen Bremsen brachten das eigens für die verminderte Schwerkraft entwickelte Gefährt zum Stehen. Der Motor erstarb. Die elektrischen Systeme blieben eingeschaltet. Cloud lächelte ein letztes Mal zähnefletschend in die Kamera, die mit einer Verzögerung von etwa neun Minuten und einer zusätzlichen Minute, in der das Aufgenommene die Zensur durchlief, >Live-Bilder zur Erde lieferte. Empfangen wurden sie sowohl über kostenpflichtige Future-Web-Seiten als auch über ausgewählte Pay-TV-Kanäle. Wir haben unsere Seelen verkauft, dachte er, während er nach seinem Helm griff, ihn sich überstülpte und einarretieren ließ. Fehlt nur noch, dass sie uns beim Scheißen zusehen. Es bereitete ihm Mühe, sich auf den Job zu konzentrieren, den er zu erledigen hatte. Es gibt hier kein flüssiges Wasser, dachte Cloud in voller Überzeugung. Zumindest nicht so dicht unter der Oberfläche! Doch der Satellit, der schon lange vor ihrer Landung im Orbit stationiert worden war und seither Aufklärung betrieb, beharrte auf dem Gegenteil. In nur einem Meter Tiefe, so seine Behauptung, sollte sich ein enormes Wasservorkommen befinden. Der Satellit war mit einem verbesserten Gammastrahlen-Spektrometer ausgerüstet, und falls auf seine Messungen Verlass war, schlummerte dort unten mehr Wasser als im irdischen Lake Michigan. Wasser - nicht nur gefrorenes C02! ... aber klar doch, und ich werde der nächste Präsident der Vereinigten Staaten, dachte Cloud sarkastisch. Er ahnte nicht, dass er eigentlich schon tot war.
Er entstieg dem Marsmobil.
Die Kette verhängnisvoller Kausalitäten nahm ihren Lauf...
1.
22 Jahre später
Die Schwarze Flut
Mit dem Erwachen kamen die Gespenster. Kühl wälzte sich das Blut durch seinen Körper, und trotzdem glaubte er, in Flammen zu stehen. Seine Haut war Feuer. Sein Fleisch war Eis. Ein Chaos der Gefühle durchtobte ihn. Die Gespenster. Die Schatten. Der Schmerz. John Cloud schrie auf, als sein Bewusstsein zurückkehrte, die Erinnerungen zurückflossen. Zunächst war er unfähig, die Augen zu öffnen. Die fremden Schatten, die offenbar Seymor zum Verhängnis geworden waren, durchgeisterten auch sein Hirn und verwandelten es in ein Tollhaus. Ein paar Herzschläge lang wühlte kreatürliche Furcht in ihm, und er stellte sich vor, wie es wäre, sich einfach zu weigern, der Obhut des künstlichen Komas zu entfliehen und zur Tagesordnung überzugehen, als sei nichts geschehen... Ein sinnloser Wunsch. Das Brausen und Klingeln in seinen Ohren ließ nach, genau wie der pochende Schmerz. Durch seine Lider sickerte Licht. Es kam ihm viel zu grell vor, blendend weiß, aber er wusste, dass er sich daran gewöhnen würde. Er schluckte. Seine Kehle war wie ausgedörrt. Die Gespenster flohen. Endlich, dachte Cloud. Jemand sagte wie aus weiter Ferne: »Willkommen, Commander. Wir schreiben den 169. Tag der Reise. Ich hoffe, Sie hatten schöne Träume...« Es fiel ihm leicht, die Stimme zuzuordnen - aber unsagbar schwer, auf die darin enthaltene Ironie zu reagieren. Er fragte sich, ob während seines Dahindämmerns im Staseschlaf nicht ein elementares Missgeschick passiert sein könnte. Mit ihm. Heftiger als die Male davor zweifelte er daran. tatsächlich noch in seinem Körper zu stecken. Die Bindung dazu schien verloren gegangen zu sein. Nur holprig empfingen seine Sinne Signale, die über die Grundempfindungen von Schmerz und Taubheit hinausgingen. »Mir ist... schlecht.« Er hustete etwas aus, das weit mehr war als Schleim. Ein Ding. Der Beatmungsschlauch. Seine Kehle war rau wie Sandpapier. »Davon abgesehen.. sollten Sie wissen, Scobee, dass dieser Schlaf fast wie der Tod ist. Niemand.. träumt darin...« Etwas strich über seine verklebten Augen. Eine Hand? »Roher sollte ich es wissen?«, fragte die Stimme. »Die Stase ist mir fremd. Ich hatte nie das >Vergnügen< ...«
Nach wie vor fühlte sich Cloud seltsam abgeschnitten von seinem Körper und seiner
Umgebung. Aber er kämpfte dagegen an. konzentrierte sich.
Ihm wurde klar, dass Scobees Spott ein einziges Ziel hatte: ihm die Rückkehr ins
Wachsein zu erleichtern. Die zwischen Ironie und Zynismus schwankenden
Bemerkungen brachten seine immer noch trägen Gedanken allmählich in Fluss.
Er zögerte nicht länger, öffnete vorsichtig die Augen. Die Helligkeit schien ihm die
Retina wegsengen zu wollen. Mikroskopisch kleine Rasierklingen hagelten gegen die
Sehnerven. Abermals strich etwas über sein Gesicht, senkte sich gazeartig über seine
Augen und verschaffte ihm Linderung.
»Wie lange?«, krächzte Cloud. »Wie lange war ich >weg«
»Planmäßig«, erwiderte Scobee. Dreißig Tage.«
Die letzte große Etappe, dachte Cloud. Sie liegt hinter uns. Und nun? Was erwartet
uns dort, wo die Gräber liegen?
Es gab keine Gräber, und er wusste es.
»Besondere Vorfälle?«
Durch das Gewebe hindurch betrachtete Cloud das Gesicht, das über ihm schwebte.
Zunächst sah er es nur verschwommen, dann immer klarer. Das Gesicht eines
Engels, dem er keine Sekunde lang über den Weg traute.
»Nein.« GT-Scobee schüttelte den Kopf. »Sonst hätte ich Sie vorzeitig geweckt,
keine Sorge. Sie sind der Commander.«
Sie hatte unglaubliche Augen. Ihnen fehlte es nur ein wenig an... Leben.
Verrückt, dachte er. Und fragte laut: »Wie geht es Seymor?«
Er wischte das Tuch, das die Helligkeit auf ein erträgliches Maß gemildert hatte, vom
Gesicht - und wunderte sich im nächsten Moment, dass er schon wieder die Kontrolle
uber seinen Arm ausübte.
»Perfekt!«, sagte er.
»Sir?«
Er richtete seinen Oberkörper halb auf, stützte sich auf den Ellbogen ab. Sämtliche in
seinen Körper mündenden Schläuche und Kabel machten die Bewegung mit.
»Seymor«, erinnerte er die einzige Frau unter den GenTecs. »Wie ist sein Zustand?«
Die Kabinenwände schienen auf ihn zuzurücken. Sie waren durchsichtig, und die
Schlieren darin bildeten ständig neue
Muster. Ein spezielles Gel reduzierte die Wahrscheinlichkeit, irgendwann als Folge
dieser Reise an Krebs zu erkranken, auf ein Minimum.
So war es ihnen zumindest versprochen worden.
Die Antwort der Frau lenkte ihn ab.
»Es ist besser, Sie sehen es sich an.«
»Er schläft?«
»Es ist besser, Sie bilden sich Ihr eigenes Urteil...«
Es war Clouds letzter Befehl vor seinem Gang in die Stase gewesen, auch den
Kranken von seinem Leiden zu erlösen und in den komagleichen Schlaf zu versetzen.
Scobees mysteriöse Andeutungen weckten nun die schlimmsten Befürchtungen in
ihm - ohne dass er sie hätte in Worte fassen können.
»In Ordnung. Sobald ich wieder völlig klar und bei mir bin...« Er nickte. Mit jedem Atemzug fühlte er sich wieder mehr Herr seiner selbst. Er streckte den Arm aus. »Helfen Sie mir!« »Eine Sekunde...« Scobee jagte den Inhalt einer daumendicken Kanüle in die Injektionsnadel, die seit dreißig Tagen in Clouds rechter Beinvene steckte. Ein unangenehmes Gefühl kroch, von dort ausgehend, bis in seinen Bauch, dann in die Brust und schließlich auch in Kopf und Arme. Er schüttelte sich wie ein nasser Hund. »Eines Tages werde ich mich fürchterlich für alles rächen, was Sie mir in meinen hilflosesten Momenten angetan haben.« »Ich stehe zur Verfügung.« Sie lächelte, und ihre Iris erweiterten sich, bis das Grün das ganze Auge ausfüllte. Cloud spürte in der Gegenwart dieser Frau noch immer dieselbe Beklemmung wie am ersten Tag ihrer Begegnung. Die beiden anderen GenTecs umgab eine identische Aura - dennoch fiel dem Astronauten der Umgang mit ihnen erheblich leichter. Vielleicht weil es Männer waren. Cloud wartete geduldig, bis die dunkelhaarige Klonfrau das katheterartige Instrument aus seiner Beinvene entfernt hatte. Den kurzen Schmerz nahm er kaum wahr. Dafür lichtete sich allmählich das Chaos in seinen Gedanken. Seine Gedanken... Er hätte sich gewünscht, die Trennlinie zwischen seinem ureigenen Denken und dem, was seinem Bewusstsein aufgepfropft worden war, wäre noch so klar zu ziehen gewesen.
Das Wummern des Schiffes war zu Clouds zweitem Herzschlag geworden. GT Scobee hatte ihn allein gelassen. Er würde sie später Wieder treffen. Sobald er Seymor besuchte. Zunächst aber... Er löste die Gurte, die ihn festgehalten hatten. Sofort machte sich die Schwerelosigkeit an Bord in ihrer ganzen Konsequenz bemerkbar. Cloud entschwebte dem Stasebett, seine ausgestreckten Arme fanden die Halteschlaufen an der Decke, und er hangelte sich daran bis zu der kleinen Kabine, auf die er sich in diesen Sekunden mehr freute als auf alles andere, was ihn noch erwartete. Selbst der Mars entrückte in weite Ferne. Mit geübten, aber immer noch etwas steifen, unbeholfenen Bewegungen schlüpfte er in die Spezialkabine, schob die Tür hinter sich wieder zu, setzte die Atemmaske auf und aktivierte die Wanddüsen. Cloud wollte sich von den äußerlichen Spuren der Stase reinigen. Die Kabine erlaubte das >Duschen< in völliger Schwerelosigkeit. Die druckreichen Strahlen reinigten nicht nur, sondern massierten zugleich wohltuend. Eine Katharsis, die Cloud nicht zum ersten Mal durchführte und die im Laufe der Zeit zu einer Art Ritual geworden war.
Das Wasser war warm, fast heiß. Cloud schloss die Augen und dachte eine Weile an gar nichts. Nichts Bestimmtes jedenfalls, denn ganz ausschalten ließ sich sein Denken nicht. Verwaschene Eindrücke, Bilder blitzten durch seinen Kopf. Traumfetzen aus der Stase oder... Erinnerungen? Er wollte sich ihnen stellen, aber die Angst überschattete seine Bemühungen; die Sorge so zu enden wie Seymor. Er öffnete die Augen, wollte sich den Bildern entziehen. Doch sie überwanden die Hürde und begleiteten ihn zum ersten Mal ins absolute Wachsein. Wie ein Tagtraum. Hatte es bei Seymor auch so angefangen? Cloud hob die Fäuste und presste sie, umhagelt von feinsten Wassertröpfchen, gegen seine Schläfen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in den Dampf, der sich um ihn herum gebildet hatte. Der Dampf wurde zu Staub, knochenfarbenem Staub und trieb unter ihm vorbei, während er sich hüpfend über den gepuderten Boden bewegte, die Leichtigkeit genoss, die seinen Körper ergriffen hatte. Unweit waren die Umrisse des Mondautos auszumachen, das im Schatten eines Felsens parkte. Am sternübersäten Himmel prangte die Erdsichel. Er blieb stehen und nahm das lanzenförmige Instrument, mit dem er zuvor eine Bodenprobe genommen hatte, und schrieb damit etwas in den ascheartigen Staub vor seinen klobigen Stiefeln. Einen Namen. Den Namen seiner Frau. Sharon. Das Bild zerplatzte, als Cloud sich mit aller Vehemenz dagegen sträubte. Der Staub transformierte zurück zu Dampf. Der Mond wurde zu einer winzigen Kabine innerhalb eines von Menschenhand gebauten Raumschiffs, das auf dem Weg war, dem Mars seine Geheimnisse zu entreißen. Aber der Name in ihm wollte nicht verblassen. Sharon. Cloud war weder verheiratet noch liiert. Er kannte nicht einmal eine Frau, die so hieß. Aber etwas in ihm kannte Sharon. Und Leslie. Und - Mark. Und... Cloud beendete die Dusche überstürzt. Das Wasser versiegte, wurde von einem warmen, saugenden Luftstrom ebenso entführt wie der Dampf. Gleich als der Mechanismus verstummte, legte Cloud die Atemmaske ab und schwebte zurück in seine Kabine. Statt die erhoffte Entspannung zu finden, war er wie elektrisiert. Fahrig schlüpfte er in die bereitliegende Kleidung, Der Herzschlag der RUBIKON war unverändert. Was man von Clouds eigenem Puls nicht behaupten konnte. Zur gleichen Zeit, Erde, militärisches Sperrgebiet in der Wüste von Nevada als sich das schwere Schott hinter der de facto mächtigsten Frau der Welt schloss, erstarrte sie für einen Moment regelrecht zu Stein - so plötzlich, so ohrenbetäubend nahm die Stille Besitz von ihr. Die Beklemmung stieg noch, als sich der Aufzug in Bewegung setzte. Sarah Cuthbert, Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika, musterte ihren Begleiter verstohlen. Dr. Xander Hays schien ihre Gegenwart seinerseits nicht als sonderlich bedeutungsvoll zu empfinden. Er wirkte nicht die Spur nervös. Sein
narbiges Gesicht weckte allerdings auch wenig Sympathie. Sarah war dem Leiter des geheimen Forschungsprogramms heute zum ersten Mal begegnet, davor hatte sie vieles über ihn - eigentlich mehr über sein Projekt - gelesen. Hays war allem Anschein nach nicht der Mann, der sich Gedanken über seine Wirkung auf andere Menschen machte, erst recht nicht auf Frauen; selbst dann nicht, wenn es sich um die erste Frau im Staate handelte. Seine tief liegenden Augen hatten einen Punkt an der gegenüberliegenden Fahrstuhlwand fixiert. In Gedanken schien er sich jedoch weit außerhalb der Kabine aufzuhalten. Sarah räusperte sich. Der Wissenschaftler drehte ihr das aufgedunsene, wie von winzigen Kratern übersäte Gesicht zu. Er hatte einen kleinen Mund. Die Lippen waren aufgeworfen und erinnerten an einen Fisch Fragend sah er die schlanke, fast zierliche Person an, die ihn in die Tiefe begleitete. Allein, wie es ihr Wunsch gewesen war, obwohl ein ganzer Tross von Angehörigen ihres Stabs darauf gebrannt hätte, sie zu begleiten. Sie wusste selbst nicht genau, warum sie darauf verzichtet hatte. Vielleicht hatten die innenpolitischen Querelen der vergangenen Wochen dazu beigetragen. Die Medien sägten wildentschlossen an ihrer Integrität. Es liefen regelrechte Kampagnen, von ihren politischen Gegnern gepuscht, und ihre eigene Partei hatte ihr indirekt zu verstehen gegeben, dass die Aussichten auf eine erfolgreiche Wiederwahl in einem halben Jahr zum gegenwärtigen Zeitpunkt als äußerst gering einzustufen waren. Was Sarah umso mehr ärgerte, weil sie sich selbst wenig vorzuwerfen hatte. Ja, streu dir nur weiter selbst Sand in die Augen. Du wirst die Quittung bekommen. Das Stimmvieh muckt auf. Dein Bonus als erste Frau im Amt des amerikanischen Präsidenten ist aufgebraucht. Die Menschen wollen eine Verbesserung ihrer Lebenssituation endlich spüren. Und was das angeht, hast du versagt - auf ganzer Linie. Sie war nicht die erste Amtsinhaberin, die sich den unbarmherzigen Gesetzmäßigkeiten ihrer Präsidentschaft stellen musste. Jeder Erste Mann beziehungsweise jede Erste Frau - war nur so effektiv wie ihr Mitarbeiterstab. Und daran krankte es. Frühzeitig waren Spitzenkräfte, die sie in die Ministerien berufen hatte. wieder in die freie Wirtschaft abgewandert, wie sie sie zuvor abgeworben hatte. Bei manchen hatte Sarah im nachhinein den Eindruck, dass sie das Regierungsamt nur als Sprungbrett benutzt hatten, um ihren Marktwert kurzfristig enorm zu steigern. Bei vielen hatte es funktioniert. Wären sie heute noch in der Regierungsmannschaft und wären die Erfolge immer noch so bescheiden, hätte. dies den absolut gegenteiligen Effekt für ihre Karriere bedeutet. Es sprach für ihre Klugheit ebenso wie für ihre Skrupellosigkeit, dass sie den Absprung rechtzeitig geschafft hatten. Im Gegensatz zu mir, dachte Sarah. Sie spürte immer noch den abwartenden Blick von Hays auf sich ruhen und sagte: »Ich bin sehr gespannt auf das, was ich gleich sehen werde… Er lächelte auf eine herablassende Art, die ihre Meinung über ihn nach bestärkte. Sie war gewarnt worden.
Hays ist ein Kotzbrocken, hatte Ben Sanders, ihr Verbindungsmann zur NM, sie erst wenige Minuten vor der Landung auf der Air-Base noch gewarnt. >Die Fluktuation in seiner Mannschaft ist beträchtlich. Der Staat wendet jedes Jahr Unsummen unter anderem nur dafür auf, sich das Schweigen der Abgänger zu erkaufen. Dennoch - er ist und bleibt der fähigste Mann für diesen Posten und begleitet dieses Projekt seit seinen Anfängen.< Und die Anfänge, so viel wusste Sarah, seit sie eine Position bekleidete, in der ihr auch Staatsgeheimnisse erster Güte offen gelegt werden mussten, lagen mehr als zwanzig Jahre zurück. »Ich fürchte«, sagte Hays, dessen weißer Laborkittel so klinisch sauber wirkte, als hätte er es nicht mehr nötig, sich die Hände selbst schmutzig zu machen - wobei und womit auch immer, »zu sehen gibt es nicht allzu viel. Zumindest nicht für uns Außenstehende. Der Wert des Ganzen liegt in dem, was sie sehen. Und hören. Und...« »Und?«, fragte sie. »... riechen«, sagte er. Dabei lächelte er fast hinterhältig. Er hält mich für ein Püppchen, begriff Sarah. Eines, das nur zufällig in die Verantwortung für 600 Millionen Amerikaner gerutscht ist. Er ist einer dieser alten Säcke, die Frauen überall sehen wollen, nur nicht in gleichberechtigten Positionen. Sie wusste nicht, ob sie mit dieser Einschätzung richtig lag. Es war ihr letztlich auch egal. Fakt war, dass Hays allem Anschein nach meinte, sie wie jeden anderen blutigen Laien behandeln zu müssen, der das Sakrileg beging, ihn in seinem Verantwortungsbereich zu besuchen und bei seiner täglichen Arbeit zu stören. Wenn ich daran denke, wer mich alles stört - jeden verdammten Tag. Und welche Termine ich wahrnehmen muss - ob ich will oder nicht... An diesem Punkt ihrer Überlegungen musste sie sich wider Willen eingestehen, dass sie mitunter nicht weniger allergisch auf Störenfriede reagierte, wie es Dr. Hays gerade in Perfektion demonstrierte. »Ist das Ihr Ernst?«, fragte sie. Der trotz aller Antipathie, die er in Sarah schürte, charismatische Mann nickte. »Es ist, als wären sie dort.« »Unglaublich.« »Das ist richtig.« Zum ersten Mal lächelte er, ohne dass sich Zynismus in seine Stimme oder seine Mimik schlich. Nur milder Spott. Er fuhr fort: »Wir müssen den Gremien schon etwas bieten, damit die Gelder fließen, oder?« »Wahrscheinlich«, sagte Sarah. »Die Gremien haben hoffentlich auch Mittel und Wege, zweifelsfrei festzustellen, was von Ihrer so genannten Erfolgsbilanz zu halten ist.« »Sie zweifeln?« Er wirkte keineswegs vor den Kopf gestoßen, nur... interessiert. »Nennen Sie es gesundes Misstrauen. Es scheint mir...«, sie lächelte maskenhaft, um ihm zu zeigen, dass auch sie sich im Umgang mit Menschen verstand, denen sie keinen Vertrauensvorschuss entgegenbrachte, »angebracht, oder würden Sie sich an meiner Stelle anders verhalten?«
Auch auf seinem Gesicht zeichnete sich keine Regung ab. »Ich bin froh«, sagte er,
»dass ich an meiner Stelle bin. Ich bin sehr macht bewusst, müssen Sie wissen. Und
ich weiß nicht, woran es liegt, aber ein Gefühl sagt mir, dass die Macht, die ich hier
im Kleinen ausübe, sehr viel wahrhaftiger ist als das, was Sie nach außen hin, von
Amts wegen, an Macht demonstrieren.«
Sie entschied sich, die Erwiderung, die ihr auf der Zunge lag, zu schlucken und es
dabei zu belassen.
Ein kaum merklicher Ruck ging durch die Kabine. Die Tür glitt zur Seite. »Wir sind
da«, sagte Hays. »Fast. Noch ein kleines Stück durch den Gang, dann...«
Er beendete den Satz nicht.
Sarah Cuthbert trat hinaus ins Licht, das sich stark von dem in der Fahrstuhlkabine
unterschied. Es hatte eine fast beißende Intensität. Der Gang selbst war verwaist.
Keine Wächter - was sie ein wenig verwunderte.
»Wie tief sind wir?«, fragte sie, während sie den hallenden Korridor entlang
schritten.
»Stand das nicht in den Akten, die sie studieren durften?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich merke mir nicht jede Kleinigkeit.«
»Was zum Nachteil gereichen kann. - Neunhundert Meter. Durch verschiedenste
Schichten. Von Basalt bis Granit.«
Einen Moment lang geriet Sarahs Tritt außer Takt. Abertausende Tonnen Fels über
ihrem Körper schienen urplötzlich einen zermalmenden Druck auf sie auszuüben.
Aber sie war nicht wirklich klaustrophobisch, und schon eine Sekunde später gelang
es ihr, sich wieder zu fangen. Sie glaubte nicht, dass Hays etwas bemerkt hatte.
Zumindest hätte sie ihm diesen Triumph nicht gegönnt.
Wenig später erreichten sie den Trakt der Telepathen...
Die U.S.S. RUBIKON war ein ganz anderes Vehikel als jenes, das die ersten
Menschen zum Mars gebracht hatte. Die ARMSTRONG war lediglich eine etwas
größer geratene und natürlich auch ausgefeilter Rakete gewesen, im Wesentlichen
nicht anders konstruiert als die Fahrzeuge des legendären Apollo-Programms. Im
Gegensatz dazu stellte die RUBIKON ein echtes Raumschiff dar.
Zumindest aus Clouds Sicht. Was er nichtsdestotrotz vermisste war ein Equipment,
wie es in der Science Fiction zum Alltag gehörte: künstliche Schwerkraft zum
Beispiel. Es hätte vieles erleichtert, war aber immer noch pure Utopie. Die Klippen,
die sich daraus für die Gesundheit der Raumfahrer ergaben, wurden mittels
pharmazeutischer Tricks umschifft.
Im Grunde sind wir voll gepumpt mit Drogen, dachte Cloud kritisch. Und alles nur,
um diesen Flug überhaupt zu überstehen.
Ein Flug, dem er sein Leben gewidmet hatte. Seine ganze Kraft, sein
Durchhaltevermögen.
WEIL ER HERAUSFINDEN MUSSTE, WAS MIT SEINEM VATER PASSIERT
WAR!
Mit ihm und mit den anderen Angehörigen der ersten Mission. Die so fehlgeschlagen
war, wie ein Unternehmen nur fehlschlagen konnte...
Cloud würde nie den Moment vergessen, als ihm die grausame Nachricht von seinem Großvater überbracht worden war. Danach hatte er eine Woche lang mit niemandem mehr ein Wort gesprochen. So lange hatte er gebraucht, um annähernd zu begreifen, was der Tod seines Dads bedeutete. Der Tod, für den bis heute jeder Beweis fehlte. Man hatte nie einen Leichnam gefunden. Trotz intensiver Satellitensuche. Genau wie bei Wolinow, Jeunet und Oyama. Sie waren alle, so hatte es zumindest den Anschein, einfach verschwunden. Aber durch welchen Einfluss und... wohin? Ich bin unterwegs, es herauszufinden, dachte Cloud. Und, Himmel, das schwöre ich: Ich werde es! Ich werde dich finden, Dad! Was immer der Mars von euch übrig gelassen haben mag. Irgendwo. Nur beiläufig dachte Cloud an die damit verbundenen Risiken. Immerhin: Die RUBIKON war nicht so wehrlos, wie es die ARMSTRONG gewesen war. Die GenTecs waren keine normalen Astronauten. und dies war keine normale Mission. Die Öffentlichkeit ahnte nicht einmal. dass. Jahrzehnte nach dem Scheitern der ersten Expedition, ein zweites bemanntes Unternehmen gestartet worden war. Es war das strengst gehütete Geheimnis dem Flug der ENOLA GAY...
Hays betätigte den Türkontakt. Vor ihm und Sarah Cuthbert öffnete sieh ein saalgroßer Raum, gegen den selbst das Gewimmel eines Ameisenhaufens eine Oase purer Ruhe gewesen wäre. Beiläufig erkannte die Präsidentin, dass es auf der gegenüberliegenden Seite einen weiteren Lift gab. Aus dem anderen Fahrstuhl strömte ein Heer von Kittelträgern. Ungefähr die gleiche Zahl an Männern und Frauen stand schon bereit, um den saalgroßen Raum zu verlassen. Sarah achtete nur kurz darauf. Dann zog das eigentliche Geschehen sie wieder in seinen Bann. »Ich beginne zu verstehen«, sagte sie. Hays schob sie sacht in den Raum. Hinter ihnen schloss sich die Tür mit einem saugenden Geräusch. »Was?«, fragte er. Einige Blicke richteten sich auf sie - auf sie und den Projektleiter. Aber nur kurz. Niemand grüßte. Alle wirkten in ihre Arbeit vertieft. Sarah fand auch dies erstaunlich. Sie war es gewohnt, dass ihre Person mehr Aufmerksamkeit auf sich zog. Mitunter leuchtete sogar Ehrfurcht in den Augen der Menschen, denen sie begegnete. Es hatte sie immer befremdet, aber jetzt stellte sie fest, dass der vollkommene Verzicht auf Verehrung sie mindestens ebenso stark irritierte. »Wohin die Unsummen von Geldern fließen«, sagte sie. »Wie haben Sie es geschafft, den Kongress dazu zu überreden?« Hays lachte verhalten. »Was haben Sie erwartet? Ein lauschiges Kämmerlein, in dem ein paar verschrobene alte Käuze fragwürdige Sitzungen mit einem Medium abhalten, dem Psi-Kräfte nachgesagt werden?« Sie nickte. »Wahrscheinlich etwas in der Art.«
»Und jetzt sind Sie enttäuscht.«
»Jetzt bin ich noch neugieriger«, sagte sie. »Denn ich bin sicher, dass ich trotz dieses
erschlagenden Bildes erst die Spitze des Eisbergs sehe.«
Hays schüttelte den Kopf. »Das kommt darauf an, wie Sie es meinen. Wahr ist: die
eigentliche Hauptperson ist hier noch nicht zu erblicken. Dennoch konzentriert sich
dieser gesamte Aufwand nur um sie - und ihresgleichen.«
»Wie viele gibt es von ihnen?«
»Drei«, sagte Hays ohne Zögern.
»Offiziell?«
»Auch inoffiziell.« Seine Stimme gewann an Schärfe. »Man kann mir vieles
nachsagen, aber nicht, dass ich hier mein eigenes Süppchen koche. Davon
abgesehen, wäre es auch gar nicht möglich. Ich bin nicht der Herr des Stützpunkts,
wie Sie wissen dürften, ich leite nur diese ganz bestimmte Sektion. Dort oben...«, er
wies mit dem Daumen zur Decke, »... herrscht das ganz normale Militär. Colonel
Harper - Sie hatten das Vergnügen, bevor ich Sie abholte.«
»Harper weiß, was hier unten passiert?«
Hays' Augen wurden zu Schlitzen. »Natürlich nicht.« Er wandte sich wieder dem
Saal zu. »Wenn Sie mir jetzt folgen würden...«
»Wohin?«
»Zum Eisberg.«
Auf seinem Weg zur Zentrale verinnerlichte sich John Cloud zum ungezählten Mal die Architektur der RUBIKON. Sie war bei einer Gesamtlänge von 53 Metern und einer Dicke von sieben Metern in zwei Ebenen und drei Zonen unterteilt. In Zone eins, auf dem Oberdeck, befand sich die Kommandozentrale mitsamt den Quartieren. Auf dem darunter liegenden Deck waren die Schläfer untergebracht, die erst im Ernstfall geweckt werden würden - einen Fall, den noch niemand stimmig hatte definieren können. Zone zwei beherbergte auf beiden Deckebenen die Vorratsräume, Aggregate zur Lufterneuerung und zum Recycling der Abfallstoffe. Zone drei umfasste den gesamten Antriebskomplex inklusive Fusionsreaktor. Cloud bewegte sich also auf dem Oberdeck von Zone eins. Vor ihm öffnete sich das Hauptschott zur Zentrale. Nur GT-Tarvis und GT-Scobee waren anwesend, als Cloud eintrat. Jarvis, der es sich in einem Sessel direkt unter der Sternenkuppel bequem gemacht hatte, stand auf und salutierte. »Sir!« Cloud erwiderte Jarvis’ Gruß eher lässig. Der Klon hatte sich in den vergangenen dreißig Tagen so wenig verändert wie Scobee, und wieder einmal fragte sich Cloud, wer, zur Hölle, als Erster auf die Idee gekommen war, eine gemischte Besatzung zu entsenden.
Die Wissensimplantate bewegen sich bereits an der Grenze des Zumutbaren, dachte er. Die Klone überschreiten diese Grenze deutlich... Er schaffte es nicht, die GenTecs als >normale Menschen< zu betrachten. Dies war ihm weder zu Hause, vor dem Aufbruch, gelungen, noch in den wenigen Wochen, die er wach an Bord zugebracht hatte. Und es würde ihm aller Voraussicht nach auch auf dem Mars nicht gelingen - ganz gleich wie lange ihr Aufenthalt dort dauern würde. Aber die, die mir das Kommando übertrugen, haben es gewusst, dachte er. Ich habe nie ein Hehl aus meiner Abneigung gegen die GTs gemacht. Seine Stiefel hallten über den Metallboden. Die Elektromagnete in den Sohlen erzeugten die erforderliche Haftung, schufen die Illusion von Schwere. Cloud fühlte sich ausgeruht und glaubte, die Gespenster, die in seinem Hirn nisteten, wieder unter Kontrolle zu haben. Doch das konnte sich ändern - schneller als ihm lieb war. GT Scobee kam ihm entgegen. »Können wir?«, fragte sie. Cloud nickte ihr zu. »Wo sind Resnick und Darcy?« »Darcy hat sich nicht so lange mit Duschen aufgehalten wie Sie, Sir«, antwortete Scobee. Ihr provozierender Blick berührte etwas in Cloud, von dem er lieber nicht wissen wollte, was es war. »Er tauscht eine defekte Platine aus - als >Fingerübung<, wie er es ausdrückte. Und Resnick ist bei Seymor.« Cloud ließ es vorerst dabei bewenden. Das Schott auf der anderen Seite der Brücke öffnete sich. Scobee machte eine einladende Geste. »Commanders first«, blieb sie ihrer spöttischen Linie treu. Cloud bemühte sich zu lächeln. Wenig später stand er vor Seymor. Der nicht tat, was er hätte tun sollen - schon um seinetwillen. Schlafen nämlich. Seine Augen standen weit, weit offen und starrten Cloud an wie Satan persönlich.
Die junge Frau flüsterte die Worte nur, die ihren Mund verließen. Doch das
Instrumentarium, das sie umgab, fing jedes noch so leise Wort auf, übertrug es nach
draußen und in die Aufzeichnungsgeräte.
»Wie ist ihr Name?«, fragte Sarah. Auch sie hatte ihre Stimme gesenkt. Als fürchtete
sie, sonst von der Frau auf der anderen Seite der Wand gehört zu werden - und sie
aus ihrem tranceartigen Zustand zu reißen.
»Scobee«, sagte Dr. Hays.
»Und ihr Vorname?«
»Sie hat keinen Vornamen. Schon dieser Name ist ein... Zugeständnis.«
»Ein Zugeständnis...«
»Lamentieren Sie jetzt bloß nicht, es sei unwürdig«, unterbrach der Wissenschaftler
sie brüsk. »Dieses Wesen lebt in seiner Situation. Es hat nie eine andere kennen
gelernt. Folglich weiß es auch nicht, was ihm fehlt - aus unserer Sicht wohlgemerkt.
Scobee fehlt nichts. Scobee ist zufrieden. Wir holen sie aus ihrer Wohnung ab, wo sie ein zurückgezogenes, aber durchaus erträgliches Leben führt. Wenn sie uns nicht hilft, besteht ihr Tag überwiegend aus Lesen und Filme schauen. Ausgesuchte Lektüre. ausgesuchte Filme, versteht sich. Fangen Sie jetzt bitte nicht an, mich mit Moralpredigten zu langweilen.« Sarah wandte ihm ruckartig das Gesicht zu. »Wie kommen Sie darauf, so mit mir reden zu können? Ehrlich gesagt mache ich mir fast mehr Sorgen um den Zustand Ihrer Psyche als um den Ihres Versuchskaninchens.« »Ich wusste, dass Sie es nicht verstehen würden. Ich war von Anfang an dagegen, es Ihnen zu zeigen. Aber diese Bürokraten-Arsche haben mich dazu genötigt - weil sie mir sonst den Geldhahn zudrehen wollten.« Sarah ertrug seinen Anblick nicht länger. Ihr Blick flüchtete zurück zu dem Bildschirm, der die ganze Wand des Raumes einnahm, in den Hays sie geführt hatte und der unmittelbar an den großen, pulsierenden Saal anschloss, in den sie zuerst gelangt waren. In einem sehr bequemen Ruhesessel (eigentlich schon mehr ein Bett) lag eine graue Gestalt. Das Grau war nicht real; es rührte lediglich von dem Umstand, dass die junge Frau sich in einem vollkommen lichtlosen Raum aufhielt. In einem Kerker aus Stille, hermetisch von der Außenwelt abgeschirmt. »Kann ich mit ihr sprechen?«, fragte Sarah. »Theoretisch ja.« »Und praktisch?« »Es wird den Kontakt nach drüben stören, möglicherweise beenden. Nicht nur für ein paar Momente, sondern für die gesamte heutige Sitzung.« »Was wäre daran so furchtbar?« Hays zuckte die Achseln. »Cloud wurde gerade geweckt, ebenso Darcy. Alles läuft planmäßig - bis auf das Problem, das Ihnen bekannt sein dürfte...« »Seymor«, sagte Sarah. Hays nickte. »Wenn Sie es befehlen, werden wir es riskieren.« Er führte die Art des Risikos nicht näher aus, aber Sarah konnte sich eins und eins zusammenzählen. »Ich möchte mit Scobee sprechen.« Hays vermittelte den Eindruck, als hätte dies schon von vornherein zweifelsfrei für ihn festgestanden. Er winkte sie näher an das Terminal heran, vor dem er stand. Nachdem sie seiner Aufforderung Folge geleistet hatte, sagte er: »Sprechen Sie. Sie wurde von mir darauf vorbereitet und kann sie ebenso gut hören wie umgekehrt.« Er nahm eine Schaltung vor. Sarah zögerte kurz, richtete den Blick wieder auf die junge Frau, die nur dalag und flüsterte. Dann sagte sie behutsam wie zu einem kleinen Kind: »Hallo? Hier spricht die Präsidentin - ich will Sie nicht erschrecken...« Die Stimme jenseits der Wand brach ab. Dann wurde sie erneut hörbar und färbte sich mit Emotion. »Es ist mir eine Ehre«, sagte der Klon. Aber es klang nicht, als wüsste die junge Frau in Grau wirklich, wovon sie sprach.
Cloud sah in Seymors Augen - und hatte das Gefühl, von einem halben Dutzend
Augenpaaren auf einmal angestarrt zu werden. Die Qual war in allen gleich. Seymors
Blick flackerte, und mit jedem Flackern schien sich stroboskopartig eine andere
Persönlichkeit darin abzubilden.
»Er ist wach«, sagte Cloud verblüfft. »Ich dachte...«
»Er müsste schlafen. Die erste Zeit schien auch alles glatt zu laufen - er wurde mit
Ihnen und Darcy in die Stase versetzt, Sir... Willkommen zurück übrigens... - Aber
vor sechs Tagen schlug er plötzlich die Augen auf. Und seither starrt er jeden an, der
ihn besucht. Sein Körper schläft, aber sein Verstand... Er ist bei Bewusstsein. Wir
wissen nicht, wie, aber er scheint jedes Wort, das wir sprechen, zu verstehen. Und er
hat seit einer Woche kein Auge mehr zugetan.«
Es war GT Resnick, der Cloud unterbrochen hatte und sich zu Seymors Zustand
äußerte. Resnick stand neben dem Stasebett. Offenbar war er beim Eintreten von
Cloud und Scobee gerade mit der Kontrolle der Vitalanzeigen beschäftigt gewesen.
Resnick war von ähnlicher Statur wie .Jarvis, der zweite männliche Klon. Auch sein
Gesicht war bartlos. Er trug das weizenblonde Haar streichholzkurz, über den Augen
wuchs ein halbmondförmiger, heller Flaum. Das Gesicht war markant, es wirkte
sogar ein wenig brutal.
Aber das waren Äußerlichkeiten, beruhigte sich Cloud jedes Mal, wenn er Jarvis
gegenüberstand.
»Was Sie da sagen, ist völlig absurd, Jarvis ! «
»Ich weiß, Sir.«
»Warum haben Sie ihn nicht aus der Stase geholt und sich mit seiner Befindlichkeit
auseinander gesetzt?« Cloud schüttelte ungläubig den Kopf. »Sieben Tage... Was
sagt die Erde? Es kann unmöglich sein, dass...«
»Die Erde«, erwiderte Jarvis ruhig, »hat uns verboten, ihn zu wecken. Körperlich
zurückzuholen, meine ich.«
Cloud tauschte einen Blick mit Scobee. »Ist das wahr?«
Sie nickte.
»Mit welcher Begründung?«
»Er wäre eine Belastung«, sagte Jarvis.
Cloud trat einen Schritt näher auf Seymor zu. Der Mann, der wie tot da lag, an dem
nur die Augen - und dies in absolut beunruhigender Weise - zu leben schienen, folgte
ihm mit seinem Blick.
Cloud bekam eine Gänsehaut.
Er ist wahrhaftig wach, dachte er. Seymor, alter Junge...
An Jarvis gewandt, sagte er: »Wecken Sie ihn komplett.«
Jarvis blinzelte. »Aber...«
»Ich sagte: Wecken Sie ihn! Ich nehme es auf meine Kappe.«
Jarvis zögerte immer noch. Scobee trat vor. »Commander, Sie sollten erst
Rücksprache mit der Leitstelle nehmen. Ich fürchte...«
Cloud spürte, wie sich heiße Wut in ihm aufbaute. Er hatte Monate mit Carl Seymor
auf der Erde in einem Trainingscamp verbracht, genau wie mit Mike Darcy. Zu
keinem der beiden Männer hatte sich eine wirkliche Freundschaft entwickelt,
dennoch standen sie ihm beide um ein Vielfaches näher als... der andere Teil der
Besatzung.
Obwohl er aus dem Augenwinkel sah, dass Jarvis seiner Aufforderung bereits
nachkam, setzte zu einer scharfen Erwiderung an. Doch dann wurde es urplötzlich
und ohne Vorwarnung...
... dunkel.
Stockfinster.
Und still.
Jedes Geräusch an Bord erstarb.
Selbst das starke Herz des großen Schiffes hörte übergangslos auf zu schlagen...
Das unsichtbare Band zerriss. Scobee spürte, wie es zerfaserte und dann entzweiging.
Die Worte waren schuld daran.
»... nicht erschrecken.«
Sofort erinnerte sie sich an Hays' Ankündigung, wer sein Kommen für diesen Tag
angekündigt hatte.
Die Prä-si-den-tin.
Ein abstrakter Begriff. Aber Scobee war nicht dumm. Scobee wusste, was eine
Präsidentin war.
Chefin. Boss. Königin. Herrin des Landes...
Ein Lächeln bildete sich auf Scobees schmalem Gesicht ab. Sie war nicht dumm,
nein, auch wenn sie manches nicht bis ins Letzte verstand. Dass sie >hier< lebte und
>dort< beispielsweise. Zu bestimmten Zeiten des Tages gleichzeitig. Dass sie laut
davon berichten musste, was sie hörte, was sie sah. Simultan zum Geschehen.
Oder dass jene dort draußen im Weltraum ihren Namen kannten und sie damit
ansprachen. Und dass diejenige, die Scobee zeitweilig war, nicht das sagte. was sie,
Scobee, dachte...
Verrückt!
Zumindest reichlich verzwickt. Zu schwer für sie, als dass sie es restlos hatte
verstehen können.
Immerhin: Es blieb ihre einzige wirkliche Abwechslung. Ihre einzige Möglichkeit,
der Tristesse ihres sonstigen Lebens zu entfliehen.
»Darf ich Sie Scobee nennen?«, fragte die Stimme.
»Es ist mein Name«, antwortete Scobee verstört. Sie sah immer noch durch Millionen Kilometer entfernte Augen, aber ganz allmählich beschlugen diese >Fenster<, wurden blind. Sie verlor den Kontakt. Etwas Dunkles kam auf sie zu. Im ersten Moment glaubte sie, mit all ihren Sinnen in die Finsternis der Kammer zurückzukehren, in die sie sich wie jeden Tag begehen hatte. Dann erkannte sie ihren Irrtum, und Panik sprang sie an. Sie hörte nicht, wie sich ein erstickter Laut aus ihrer Kehle quälte. Und ob die Menschen jenseits der Wand ihn hörten, blieb fraglich. Alles ging so unglaublich schnell. Wie eine Welle, wie eine dunkle, riesige, alles verschlingende Woge brandete es heran... Und dann war es da.
Sarah Cuthbert hatte sich noch nie so klein gefühlt wie in dem Moment, da sie das
Wort an Scobee richtete. Die junge Frau jenseits der Wand war ein Riese. Ihre
Präsenz schwoll explosionsartig an, gerade so, als würde die direkte Ansprache sie
stimulieren.
»Darf ich Sie Scobee nennen?«, hörte sich Sarah fragen.
Die Worte kamen nur schleppend über ihre Lippen. Und sie hörte sich dabei zu, als
würde jemand anders es sagen. Die Antwort der Telepathin wurde ihr kaum bewusst.
Ob sie auch meine Gedanken lesen kann?, dachte Sarah.
Aus den Dossiers wusste sie, dass es nicht so war. Aber in diesem Moment stellte sie
alles Gelesene und Gehörte in Zweifel. Die Nähe zu Scobee war eine unglaubliche
Erfahrung.
Neben ihr erkundigte sich Hays in geheuchelter Anteilnahme: »Fühlen sie sich nicht
wohl? Sie sehen blass aus...«
Bevor Sarah etwas erwidern konnte, wurde ihr schwarz vor Augen. Sie taumelte und
stieß gegen den wandgroßen Monitor, auf dem Scobee immer noch in Grautönen
abgebildet war.
Falsch, korrigierte sich Sarah.
Auch der Monitor war erloschen!
Überall war nur noch Dunkelheit von einer fast greifbaren Dichte.
In unmittelbarer Nähe entstand Bewegung. Sarah hatte das Gefühl, in einer tintigen
Flüssigkeit zu stecken und von der Bewegung, die anderswo verursacht wurde,
mitgerissen zu werden.
Sie erzitterte.
»Verdammt!«, fluchte Hays. »Warum springt die Notversorgung nicht an?«
Sarah stützte sich mit den Handflächen gegen das kalte Glas der Scheibe. »Was ist
passiert?«, fragte sie. »Stromausfall?«
»Die Systeme sind x-fach gesichert«, hallte die Stimme des Projektleiters überlaut
durch den Raum. »Ich kann mir keine Situation vorstellen, in der...«
Er sprach den Satz nicht zu Ende.
Sarah bekam feuchte Hände. Ihr Herz trommelte bis in den Hals. »Wo ist die Tür?«,
fragte sie. »Machen Sie schon, Hays, öffnen Sie die Tür!«
Er lachte heiser auf. »Was glauben Sie, was ich gerade versuche? Unser Pech, dass es
sich um ein elektronisches Schloss handelt. Man muss uns von der anderen Seite zu
Hilfe kommen. Bewahren Sie Ruhe. Es kann nicht lange dauern.«
Sarah wusste nicht, warum die Worte des Mannes keinerlei beruhigende Wirkung auf
sie ausübten. Sie hätte ihm vertrauen müssen - zumindest in dieser Angelegenheit.
Aber ihr Gefühl, ihr Instinkt, ihre Intuition wehrten sich dagegen.
Etwas stimmt nicht, dachte sie. Irgendetwas ist nicht normal.
»Gibt es keine manuelle Möglichkeit?«, keuchte sie.
Hays verneinte. Aber sie hörte, wie er sich weiterhin im Dunkeln an der Wand zu
schaffen machte, vielleicht seiner eigenen Prognose misstraute. Er hämmerte mit den
Fäusten gegen die Metalltür, durch die sie gekommen waren. Ob das Klopfen auf der
anderen Seite überhaupt gehört werden konnte, war fraglich. Hier unten war alles
vielfach gedämmt.
Was also, wenn es nicht gleich wieder vorüber und in Ordnung sein würde?
Sarah bemühte sich um Optimismus. Ihr nächster Gedanke galt Scobee.
»Ob sie auch eingeschlossen ist?«, fragte sie.
»Wer?«
»Das Mädchen. Die Telepathin.«
»Wer weiß. Ihr kann jedenfalls nichts
passieren. So wenig wie uns.« »Aber sie ist allein.«
Trotz der eigenen prekären Lage versuchte sie, sich in Scobees Situation zu
versetzen.
»Sie ist Dunkelheit gewohnt«, sagte Hays. »Jetzt hören Sie endlich auf. Die Energie
kann nicht lange ausbleiben. Das ist grotesk. Ich werde mir den Colonel vorknöpfen,
sobald wir wieder oben sind!«
Sarah schwieg. Sie hörte ein Klopfen, das zunächst wie ein Echo der Fausthiebe
klang, die Hays verursachte. Doch dann erkannte sie Abweichungen.
»Da! «, rief sie. »Es kommt von drüben. Aus der Wand, vor der ich stehe. Die
Kammer... Scobee... Sie braucht ebenfalls Hilfe!«
Hays fluchte noch derber.
Aber damit, erkannte Sarah, versuchte er nur, seine eigene Hilflosigkeit zu
übertünchen. Sie winkelte ihren Arm an, starrte auf die Leuchtdioden ihrer Uhr.
Wollte darauf schauen - aber sie waren erloschen.
»Haben Sie ein Feuerzeug?«, fragte sie.
»Nein. Sie?«
Sie schüttelte den Kopf, ohne sich zu verinnerlichen, dass er es nicht sehen konnte.
Die Minuten verstrichen. Das dumpfe Klopfen, von dem Sarah glaubte, dass die
Telepathin es erzeugte, wurde schwächer, bis es schließlich ganz aufhörte.
Auch Hays stellte seine Bemühungen ein.
»Ich verstehe das nicht.«
Ein kaltes Gefühl von Angst legte sich wie eine Fhust um Sarahs Herz. Sie tastete
sich neben Hays und merkte, dass er am Boden kauerte.
So hilflos und ohnmächtig wie wahrscheinlich noch niemals in seinem Leben.
Sie glaubte, dass auch er es fühlte - aber sie sprach ihn nicht darauf an.
Das Dunkel war nicht einfach nur die Abwesenheit von Licht.
Das Dunkel war fremd und kalt und bedrohlich, als hätte sich eine Tür ins Gestern
geöffnet - in die Nächte, die Sarah als Kind wach in ihrem Bett gelegen und überall
in den Schatten ihres Zimmers Gefahr gewittert hatte.
Es war, als wäre auch dieses Schwarz voller Dämonen.
Die sie anstarrten.
Und anstarrten.
Und...
Seine Hände streichelten ihr Gesicht. Ihren Hals. Wühlten sich in ihr Haar und zogen sie zu sich heran. Der Kuss war innig. Danach löste er sich von ihr und winkte zum Abschied. Stieg in das wartenden Shuttlefahrzeug, das ihn zum Flughafen bringen würde... ... dort aber nie ankam. Man rief sie in der Universität an, holte sie mitten aus einer Vorlesung. Sie wurde ins Direktorat gebeten, wo ihr eine Stimme am Supraphon emotionslos mitteilte, dass Mark tot sei. Das Shuttle war mit einem entgegenkommenden Fahrzeug, an dessen Steuer ein Betrunkener saß, zusammengestoßen. Beide Fahrzeuge waren bei dem Zusammenprall sofort in Flammen aufgegangen. Insgesamt waren bei dem Unglück fünf Personen ums Leben gekommen. Sie hörte sich alles an, während die Welt um sie herum in Brüche ging. Eine befreundete Professorin fuhr sie schließlich nach Hause, weil sie nicht mehr in der Lage war, ihren Wagen selbst zu steuern. Den ganzen Tag über telefonierte sie und erfuhr weitere Details über den Ablauf der Tragödie. Allmählich begriff sie, dass Mark nie mehr zur Tür hereinstürmen und sie in die Arme schließen würde. Niemals wieder. Abends wurde es dann schlimm. Sie trank mehr Alkohol, als ihr gut tat, und irgendwann wusste sie nicht mehr, was sie tat. Es folgten Tabletten. Kälte. Dunkelheit. Eine Nacht ohne Morgen... Die Erinnerungsfetzen verblassten nur zögerlich, und Cloud spürte eine würgende Enge im Hals. Vor seinen Augen schien ein ganzes Universum zu explodieren Funken, die sich in pechschwarzer, widernatürlicher Nacht rasch verloren. Eine Stimme sagte: »Commander! Warum sagen Sie nichts mehr? - Commander!«
»Schon gut, Scobee. Ich hatte... Es ist nichts.« Wie lange war ich nicht ich, sondern die tote Leslie?, lag es ihm auf der Zunge zu fragen. Aber er beherrschte sich. Er wollte die Unruhe, die auch die GenTecs erfasst hatte, nicht noch schüren. Seine Gedanken schienen zu gerinnen. Er war dieser Fata Morgana namens Leslie noch niemals so nahe gewesen wie gerade eben. Hatte sie noch nie bis zu jenem Punkt begleitet, an dem ihr Leben zu Ende gegangen war. Ich trage die Geister längst Verstorbener in mir. Genau wie Mike und Carl. Sie haben Carl in den Irrsinn getrieben! »Wir müssen etwas tun!«, keuchte Jarvis und holte Cloud endgültig in die Realität zurück. Aus größerer Entfernung gesellte sich Darcys Stimme dazu. »Grundgütiger - John! Die Sterne! Ich stehe hier unter dem Observatorium, und... die Sterne sind weg! Die Sterne sind... spurlos verschwunden...!« Cloud wusste nicht, warum er auch nicht einen Moment an Darcys Worten zweifelte. Mühsam schottete er sich gegen die Stimmen ab, die in ihm wisperten und die nur er hören konnte. »Resnick!«, befahl er. »Sie bleiben bei Seymor. Tun Sie alles, um ihn zu retten. Er hängt noch am System, und das System ist tot!« Er stockte kurz, dann fuhr er fort: »Scobee, Jarvis - Sie begleiten mich in die Zentrale zu Darcy Wir werden den Kahn wieder flott bekommen. Wir müssen nur die Anlage neu starten! Wenn wir es nicht schaffen...« »... werden wir draufgehen«, fiel ihm Scobee ins Wort. »Wir alle. In ein paar Minuten wird die Kälte die Isolierung überwunden haben. In ein paar Minuten wird uns die Luft zum Atmen ausgehen. Und eigentlich...« »Eigentlich?, fragte Cloud unwillig. Es war weder die Zeit noch die Situation, um zu diskutieren. »... müssten wir längst tot sein. Wenn ich die Folgen dieses allumfassenden Systemausfalls richtig überblicke, dürfte es die RUBIKON - und damit auch uns schon gar nicht mehr geben. Der Reaktor! Sobald die Magnetfelder ohne Energieversorgung sind, brechen sie zusammen und das Plasma frisst sich fast ungehindert den Weg. Es kann gar nicht sein, dass wir in einer solchen Situation noch zum Überlegen kämen. Die einzige Möglichkeit zur Rettung wäre die sofortige Absprengung der Reaktoreinheit - durch den Computer. Aber auch der ist ausgefallen, weil er ja zumindest Notstrom benötigte, um...« »Genug!«, unterbrach Cloud sie. »Auch wenn wir nicht verstehen, was hier geschieht, können wir nicht die Hände in den Schoß legen. Los! In die Zentrale! Ich will, dass wir alles versuchen, um die Ursache des Ausfalls zu ermitteln - und ihn beheben.« Sie tasteten sich schwebend voran. Resnick blieb bei Seymor. Aber schon nach wenigen Minuten, in denen die Temperatur an Bord, wie von Scobee prognostiziert, spürbar abfiel, musste selbst Cloud sich eingestehen, dass es aussichtslos war. Sie befanden sich in einem Schiff, das nichts anderes mehr war als ein totes Ding aus Stahl und Kunststoff. Sie würden elend darin verrecken, falls nicht noch ein echtes
Wunder geschah. Die Verbindung zur Erde, die Verbindung nach irgendwohin, war
abgerissen. Weil nichts mehr funktionierte. Und dieser zweite Fehlschlag in
Verbindung mit dem Mars würde dafür sorgen, dass vielleicht niemals mehr wieder
eine neue Expedition zum Nachbarplaneten der Erde gestartet werden konnte. Weil
niemand mehr das Risiko eingehen würde.
Wir werden nie erfahren, was dort haust, dachte Cloud. Ich werde es nie erfahren!
Wahrscheinlich war niemand an Bord verzweifelter als er. Weil niemand sonst so
viel Persönliches mit dieser Mission verband, erst recht nicht die Klone.
Ein Verdacht nahm Formen in Cloud an. Zuerst sträubte er sich dagegen, doch
dann... Nein, dachte er. Das sind Hirngespinste. >Es< hat uns nicht bemerkt. >Es<
steckt nicht hinter dieser Attacke!
Eine Attacke...
... war es das überhaupt - oder handelte es sich um ein bislang unbekanntes
Naturphänomen?
Cloud begriff, dass er so nicht weiterkam. Und noch während er es begriff, erklang
plötzlich ein neuer Schrei, gefolgt von einem dumpfen Aufprall. Falls nicht alles
täuschte, lag der Ursprung dort, von wo sich Scobee, Jarvis und er gerade
wegbewegten.
»Resnick!«, schnappte eine Stimme neben ihm: Scobee. »Das war - Resnick!« Nach
einer kurzen Pause rief sie, wie um sich selbst zu vergewissern: »Nick - alles in
Ordnung bei Ihnen?«
Statt einer Antwort ertönte ein Rauschen, das Cloud nur mühsam als tiefen,
inbrünstigen Atemzug realisierte. Und dann...
... kam etwas wie ein menschliches Projektil auf ihn zu, schleuderte ihn gegen die
Wand des Korridors...
... und war vorbei!
Er hörte Scubee und Jarvis fluchen und wusste, dass der Körper auch sie aus dem
Weg gedrängt hatte, und jetzt rief auch er nach Resnick.
Erfolglos.
Dafür stöhnte voraus jemand auf - so laut, dass auch dies einem Schrei gleichkam,
einer Mischung aus Verblüffung und Schmerz...
»Mike?«
Cloud stieß sich von der Wand ab und glitt schwerelos durch die Schwärze, in der
nichts, rein gär nichts auszumachen war, und selbst das Erfühlen der Räumlichkeit
fiel schwer.
Er rechnete mit Zusammenstößen, die aber nicht erfolgten. Scobee und Jarvis hielten
Abstand. Er verständigte sich durch knappe Sätze mit ihnen. Der Gang öffnete sich
zu einem Raum, der Brücke, und von irgendwoher klangen Geräusche, die nichts
Gutes ahnen ließen.
»Resnick?«, rief Cloud erneut.
Keine Antwort.
»Jarvis? Zur Hölle...«
»Ich... ich bin... hier...« Die Stimme des Mannes kam schleppend. Er rang um Atem. Was aber nichts mit der sich unaufhörlich verschlechternden Qualität der Luft zu tun hatte. »Wer... war das? Wer hat mir gerade... diesen Keulenhieb verpasst...?« Cloud wollte etwas erwidern. Doch in diesem Moment kehrten Strom und Licht zurück. Die Schwärze floh wie etwas Lebendiges. Und für einen phantastischem absurd in die Länge gedehnten Augenblick bildete sich Cloud ein, sie durch die Wände der Kommandozentrale sickern und entschwinden zu sehen. Dann fanden seine Stiefel wieder Halt am Boden. Die magnetischen Sohlen hafteten auf dem Metall, arretierten gleichsam ein.. Doch all dies fesselte Clouds Aufmerksamkeit nicht einmal annähernd so stark wie die Gestalt, die vor seinen Augen berserkerhaft auf eine Instrumentenkonsole eindrosch. Die Verkleidung war entfernt, und der Zerstörer wühlte in den Innereien der Gerätschaft, bis er ein funkensprühendes Bündel von Drähten in der Faust hielt und in irres Gelächter ausbrach - so triumphierend, als hätte er einen persönlichen Feind zur Strecke gebracht. Wahnsinn waberte in Seymors Augen. Und bevor es jemand verhindern konnte, stopfte er sich die blanken Enden der nun wieder stromführenden Kabel in den weit geöffneten Mund...
Als sich die Tür schließlich öffnete, wankte ihnen eine magere, verwirrte junge Frau entgegen. Sie wirkte viel jünger; als Sarah es nach Akteneinsicht erwartet hätte. Irgendwie... unfertig. Aber wahrscheinlich lag dies an der extremen Hilflosigkeit, die sie ausstrahlte. »Kümmert euch um sie!«, befahl Hays, der die Präsidentin aus dem Monitorraum in den angrenzenden Korridor geführt hatte, wo der einzige Zugang zum Nachbarraum lag.Etliche Mitarbeiter waren inzwischen aufgetaucht, umringten den Etliche Mitarbeiter waren inzwischen aufgetaucht, umringten den wissenschaftlichen Leiter des Projektes, und auch Sarah hatte das Gefühl, von ihnen bedrängt zu werden, obwohl sich niemand in direkter Ansprache an sie wandte. Bis zu diesem Moment. »Mrs. President!« Obwohl sie den Blick kaum von der Frau im weißen Catsuit wenden konnte, die von zwei Mitarbeiterinnen fortgeführt wurde und deren Gesicht tränenüberströmt war, drehte sie sich um. Ein Mann bahnte sich den Weg aus der anderen Richtung zu ihr. Er trug eine Uniform mit hohen Verdienststreifen. Mitch Dorson - so etwas wie ihr persönlicher Bodyguard, den sie sich auf ihrem Ausflug hier herunter nur mit Mühe hatte vom Leib halten können. Das hieß nicht, dass sie ihn nicht mochte - hätte sie ihn nicht geschätzt, hätte längst ein anderer seinen Posten eingenommen -, aber es gab Situationen, in denen sie ihn beziehungsweise das, was er verkörperte - einfach nicht ertragen konnte.
Sie wartete, bis er zu ihr vorgedrungen war. Sein noch etwas kindliches Gesicht
täuschte über die Härte .hinweg, mit der er vorzugehen verstand, und war mit einem
Schweißfilm aus winzigen Tröpfchen bedeckt, die Sarah im Licht des Korridors wie
durch ein Mikroskop betrachtet ins Auge stachen.
Er war nicht im mindesten außer Atem, als er sie erreichte. Das Schwanken seiner
Stimme hatte andere Gründe.
»Mrs. President... Wir dachten schon...«
»Es ist alles in Ordnung«, bremste sie ihn. »Der Stromausfall war nicht angenehm,
aber wir haben ihn überstanden. Auch das Mädchen...«, sie nickte in die Richtung, in
der Scobee gerade ihrem Blickfeld entschwand, »... wird sich wieder beruhigen.
Zumindest hoffe ich das. Und dann...«
Sie verstummte, als sie seinen Blick bemerkte.
Solange sie mit Dorson zusammenarbeitete, solange er sie auf ihren Reisen
begleitete, hatte er sie noch niemals auf diese Weise angestarrt.
»Sie wissen es noch gar nicht...?«
»Was?«, fragte sie, und mit einem Mal hatte sie das Gefühl, die Dunkelheit würde
zurückkehren. Nur zu ihr ganz allein. Würde wieder aus den Wänden, in die sie
gesickert war, zurückströmen und alle Wärme, alles Lebendige in Sarah aufzehren.
»Dieser... >Stromausfall<...«
»Ja?«
Dorson blickte sich um, als wollte er sich vergewissern, dass sonst niemand zuhörte -
niemand, der angesichts dessen, was er im Begriff stand zu sagen, in Panik verfallen
könnte.
»Es war kein auf diesen Stützpunkt beschränktes Phänomen...«
Tief im Innern hatte Sarah dies gewusst. Weil sie, wie sicher viele andere auch,
instinktiv gewusst hatte, dass die Dunkelheit, die über sie gekommen war, nicht nur
aus dem Entzug von Licht bestanden hatte...
»Nein?« Sie hörte sich selbst zu, wie sie es fragte, stand neben sich und beobachtete
die fremde Frau, die erstarrt dastand und dem Mann zuhörte, der ihr die Nachricht
überbrachte.
»Oben herrscht das totale Durcheinander. Nachdem die Handys wieder
funktionierten, erfuhren wir, dass...« Wieder stockte er.
Und in Sarah reifte ein Zustand, der sie mit dem Schlimmsten rechnen ließ, auch
wenn die Frage blieb, was das Schlimmste In dieser Situation sein konnte.
»Dass?«
»... es die Menschen weltweit getroffen hat. Und wenn es stimmt, was die ersten
Meldungen behaupten, dann...«
»Was behaupten sie denn?«
Dorson stand jetzt mit hängenden Schultern da. Seine Hände formten Gesten, die
weder ihm noch Sarah bewusst wurden. Geisterhaft quollen die Worte aus seinem
Mund.
»... dass es Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen Todesopfer zu beklagen
gibt...«
2.
Nach der Flut
Cloud blickte auf den Toten hinab. Die vordringlichste Frage war ungeachtet des von Seymor angerichteten Schadens: Hatte dieser Mann jetzt endlich seinen Frieden gefunden? Ging es seiner Seele dort, wo sie jetzt war, besser - oder musste er sich auch im Jenseits noch mit den Geistern herumquälen, die Eingang in sein Hirn gefunden hatten? Perfekte Allrounder hatten die Wissenschaftler aus den einzigen drei normalgeborenen Besatzungsangehörigen machen wollen - aber der Schutt war nach hinten losgegangen. Die Prionentechnologie steckte noch in den Kinderschuhen, und als sich herauskristallisiert hatte, dass an den aus toten Menschen gewonnenen Impfstoffen - noch - keiner wusste, wie - Fragmente ihrer Seele klebten, war die RUBIKON schon unterwegs gewesen. Und niemand hatte vor, die Mission deswegen zu stoppen. Niemand - nicht einmal die Betroffenen selbst. »John?« I)arcv rieb sich immer noch den Hinterkopf, wo sich nach Seymors Attacke eine Beule gebildet hatte. Außer ihm kniete auch Resnick neben dem Toten. Dem GenTec stand das Schuldbewusstsein ins Gesicht geschrieben. Inzwischen war annähernd klar, wie es zu der Tragödie hatte kommen können: Resnick hatte Seymor, wie befohlen, das Anti-Stasemedikament gespritzt, um ihn nach dem Ausfall der Systeme zu retten. Aber die Paralyse war nicht langsam und zögerlich wie sonst üblich von Seymor abgefallen, sondern schlagartig. Und genauso schlagartig hatte er gehandelt. Hatte er einen Plan umgesetzt, über dem er vielleicht schon seit Tagen brütete. Den Plan, sich selbst zu töten irgendwie. Offenbar hatte er es als einzigen Ausweg aus seinem Dilemma gesehen. Alle Versuche, Seymor zu reanimieren, waren gescheitert. »Was sollen wir mit ihm machen, John?« In diesem Augenblick rief Scobee: »Verdammt! Wie konnten wir sie vergessen?! « »Was ist?« Cloud drehte sich zu ihr um. Sie stand vor dem Diagramm, das den Status der einzelnen Schiffssektionen wiedergab, und zeigte jetzt mit dem Daumen nach unten - wie ein römischer Imperator im Circus Maximus, allerdings bedeutete ihre Geste etwas völlig anderes. »Die Schläfer!«, sagte sie. »Irgendetwas stimmt nicht mit ihnen. Ihre Vitalanzeigen...« Auch Cloud schwindelte bei dem Gedanken, was der mehrminütige Energieausfall unter den schlafenden KlonSoldaten angerichtet haben mochte. »Was ist mit den Vitalanzeigen?« Scobees Gesicht war aschfahl, als sie antwortete: »Ich muss sofort runter - nach dem Rechten sehen!«
Cloud begleitete Scobee nach unten.
Der Anblick der über- und nebeneinander gestapelten Behälter war überwältigend.
Scobee wandte sich sofort dem Steuerterminal zu, das in der Mitte des Raumes aus
dem Boden ragte.
Cloud spürte einen Druck auf der Brust. Die Vorahnung, die ihn erfasst hatte,
schnürte ihm fast die Luft ab. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, dass die Tanks jeden
Moment auf ihn herabstürzen und ihn unter sich begraben konnten.
Tanks, von anderer Bauart als jene, die Seymor, Darcy und ihm geholfen hatten, den
langen Flug zum Mars zu überstehen. Das Material sah aus wie Glas. Hätte Cloud
mit den Knöcheln dagegen geklopft, hätte der Klang jedoch eher an etwas
Metallisches erinnert.
In diesem Moment sagte Scobee mit einer Stimme, die noch nie so traurig geklungen
hatte: »Nichts mehr zu machen.«
»Nichts mehr zu machen?« »Sie sind alle tot.«
Es war, als gäbe es plötzlich keinen Boden mehr unter ihren Füßen. Der Tod dieser Wesen erschütterte sie mehr als der von Seymor. Es war etwas ganz anderes, denn ein Drittel der Leichen... ... sah aus wie sie. War aus dem selben Gen-Stamm entstanden wie sie. Scobee hatte einmal gelesen, dass schon normale Zwillinge so eng miteinander verbunden waren, dass, wenn einer von ihnen starb, der Verlust vom Hinterbliebenen nie verwunden werden konnte. Manche starben kurze Zeit später ebenfalls auf geheimnisvolle Weise, so als wäre ein gemeinsamer Lebensfaden zerrissen. Sie lauschte in sich hinein. Versuchte sich ihrer Gefühle klar zu werden, sie aber auch gleichzeitig nicht nach außen dringen zu lassen. Klone trauern nicht, dachte sie. Ich habe zu funktionieren. Nur zu funktionieren. Jetzt erst recht...
Das Informationsgewitter, die Geräuschkulisse, das Gewimmel hektischer Bewegung... alles, was Sarah Cuthbert in diesem Moment umgab, was sie hörte und fühlte, verdichtete sich zu einem Wust, der ihr fast körperlichen Schmerz zufügte.
Für Sekunden wünschte sie sich weit weg, in ihre Washingtoner Residenz. In die Abgeschiedenheit der dortigen Bibliothek, wohin sie sich verkroch, wann immer es ihr möglich war. Aber die Realität hier und jetzt sah anders aus, ließ solches nicht zu: Sie war die Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika - verwitwet und kinderlos, wofür sie Gott in diesem Augenblick noch vor allem anderen dankte -, und als solche musste sie Farbe bekennen! Sie fasste sich. Das Chaos in ihren Gedanken senkte sich wie die Styroporteilchen einer Schneekugel auf den Grund ihrer Seele. Die Realität: Sie befand sich an Bord der Air Force One, die immer noch auf dem Militärstützpunkt parkte Und die sich, wenn es nach Sarahs Beratern ging, auch in nächster Zukunft nicht wieder davon erheben würde. Das Risiko eines Starts, so der allgemeine Tenor, war unkalkulierbar. Das war es tatsächlich, Sarah machte sich nichts vor, und dennoch... »... Konvoi startet in einer Stunde...«, schnappte sie Worte auf, die an sie gerichtet waren. Sie nickte. Ihr Blick fasste den Mann ins Auge, der zu ihr sprach. Palmer. Sid Palmer. Doppelt so alt wie sie selbst und noch immer unverschämt attraktiv. Er erinnerte an den gereiften Frank Sinatra, den Sarah vor Jahren für sich entdeckt hatte. Seitdem sammelte sie sämtliche Bild- und Tondokumente über den vor einem halben Jahrhundert verstorbenen Entertainer und Schauspieler. Frank Sinatra... Sid Palmer war definitiv kein guter Unterhalter. Er hatte andere Vorzüge. Eine unerhörte Auffassungsgabe beispielsweise. Die Fähigkeit, logisch zu denken, ohne dabei seine Phantasie auszuschalten. Ein paar mehr von seiner Sorte, dachte Sarah, und vieles wäre in der Vergangenheit besser gelaufen. Sie wusste, dass sie unter normalen Umständen keine Chance auf eine zweite Amtsperiode bekommen würde. Die Regierung, die sie repräsentierte, hatte in den elementaren Erfordernissen versagt. Die Arbeitslosigkeit war hoch wie nie. Die Konjunktur lag am Boden, und keine noch so ambitionierte, noch so subventionierte Maßnahme hatte daran bislang etwas ändern können. Es waren globale Probleme, die an ihrem Stuhl sägten. Und nun war eine globale Katastrophe hinzugekommen, die Sarah - das erkannte sie gespenstisch klar vielleicht retten würde. Wenn sie es klug anstellte. Wenn sie bereit war, Risiken einzugehen. Persönliche Risiken... »Nein«, sagte sie scheinbar zusammenhanglos. Palmers Redefluss versiegte. »Nein?«, fragte er irritiert. »Ich brauche eine Verbindung zu Almaeida.« George Almaeida war der Vize-Präsident; verheiratet; zwei Kinder im College-Alter: eine gleichaltrige Frau, die keine Wohltätigkeitsveranstaltung ausließ.
Der Kriegsveteran war die >gemäßigte Alternative< zu Sarah und hatte den Demokraten bei der zurückliegenden Wahl einiges an Stimmen zugeführt, die sie sonst an die Republikaner verloren hätten. Ein Politiker vom alten Schrot und Korn. Sarah schätzte... nein, das war zu wenig... sie mochte ihn. Er hatte ihr nie Anlass gegeben, an seiner Loyalität zu zweifeln, und schon vor ihrer Kandidatur war er ein väterlicher Freund und Mentor für sie gewesen. Sie lächelte matt. »Wir reden später weiter, Sid. Ich will mich erst mit George beraten. Und was den Konvoi angeht... Auch darüber sprechen wir nachher.« Ein Ausdruck von Unverständnis huschte über Palmers sonst so beherrschtes Gesicht. Sie ließ ihn stehen und ging den Gang entlang auf ihre Suite zu. Bevor sie eintrat, drehte sie sich um und nickte Palmer zu, der sich noch nicht von der Stelle bewegt hatte. »Legen Sie mir den Vice President auf meinen persönlichen Anschluss...« Sie wartete die Erwiderung nicht ab, sondern tauchte in den Raum ein. Kaum hatte sie die Tür hinter sich ins Schloss gedrückt, lehnte sich mit dem Rücken dagegen, schloss die Augen und bog den Kopf so weit nach hinten, dass es schmerzte. Das Gefühl der Ohnmacht hielt nur ein paar Atemzüge lang an. Dann schrillte das Supraphon auf ihrem Schreibtisch und veranlasste sie, die kurzzeitige Starre abzuschütteln wie eine nutzlos oder zu eng gewordene, alte Haut. Seit die abnorme Finsternis sie wieder freigegeben hatte, wusste sie es: Stärke war jetzt gefragt, nicht Schwäche. Eine schier übermenschliche Stärke...
Vince Bauer inhalierte den gesundheitsfördernden Rauch seiner Zigarette und lehnte sich weit in seinem Sitz zurück. Trotz des Phänomens, das die Erde minutenlang im Würgegriff gehalten hatte, vermittelte er den Anblick eines Mannes, der die Ruhe selbst war. Vielleicht, weil er schon Schlimmeres überstanden hatte. Vor zwei Jahren hatten sie ihm ein neues Herz verpasst, und vor zehn Jahren eine neue Leber - nachdem zuvor ein bösartiges Geschwulst darin festgestellt worden war. Das Karzinom hatte bereits Metastasen gestreut, auch in die Lunge. Nur eine umfassende Therapie hatte Bauers Leben gerettet. Aber in den insgesamt achtzehn Monaten, die er praktisch weg vom Fenster gewesen war, hatte er es geschafft, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Er hatte gesehen, wie Mitpatienten den gleichen Kampf, den er gewonnen hatte, verloren. Dann war auch noch ein guter Freund umgekommen, völlig unerwartet, völlig ohne Vorwarnung. Er war mit einer Freundin nach einem guten Essen aus seinem Stammrestaurant herausgetreten und auf seinen geparkten Wagen zugegangen. Auf dem Weg war ihm eine Gruppe Maniacs in die Quere gekommen.
Erst hatten sie seine Freundin beschimpft, dann - ohne erkennbaren Anlass - eine Viper-Pistole gezogen und auf ihn abgedrückt. Die Viperzähne hatten sich tief in seinen Hals, fast exakt auf Höhe seiner Schlagader, gebohrt, und über die fast unsichtbaren, hauchdünnen Drähte waren 10.000 Volt in seinen Körper geschmettert worden. Die Schützin hatte die Drähte eiskalt lächelnd aus seinem Fleisch gerissen und dabei eine fast handtellergroße Wunde hinterlassen. Aber da war er schon tot gewesen. Alle Bemühungen, sein Herz wieder in Gang zu setzen, waren gescheitert. Er war gestorben - von einer Minute auf die andere. Hatte eben noch gelacht und gescherzt und vielleicht die Fortsetzung des anregenden Abends vor Augen gehabt... ... und im nächsten Moment war sein komplettes Leben, alles, was es an Wünschen und Sehnsüchten und Ängsten beinhaltet hatte, ausgelöscht gewesen. Bauer blies den Rauch in Richtung Bildschirm, verdrängte die Erinnerung und das Gefühl der Ohnmacht und gab sich einen Ruck. Kurz darauf drang John Clouds Stimme aus den Pultlautsprechern neben dem 3-D-Schirm. »... alle tot! Ich wiederhole: Alle Klone, die in der Stase schliefen, sind tot! Bauer, wenn Sie mich hören, melden Sie sich! Hier ist etwas Furchtbares passiert, auch mit Seymor..« Bauer betrachtete das Gesicht des aufgebrachten Mannes, das den von Störungen durchlaufenen Monitor fast aus füllte. Dafür, dass die abgebildete Person Millionen Kilometer entfernt war, besaß es eine fast gespenstische Schärfe Erst als der Redeschwall sein vorläufiges Ende fand, öffnete Bauer den Kommunikationskanal und sagte: »Das klingt entsetzlich, mein Junge. Aber ich fürchte, es ist ein Klacks gegen das, was hier unten los ist...«
Almaeidas wettergegerbtes Narbengesicht erinnerte an die Oberfläche eines
atmosphärelosen Mondes, der über Äonen hinweg von Mikrometeoriten bombardiert
worden war. Wenn er die Stirn runzelte, bildeten sich tiefe Schluchten.
»Ich habe für heute Nachmittag eine Suphraphon-Konferenz anberaumt - unsere
führenden Wissenschaftler werden daran...«
»Sind Sie allein, George?«, unterbrach
ihn Sarah Cuthbert ungerührt.
Er hielt inne. »Ja«, sagte er dann. »Gibt es neue Erkenntnisse?«
Er zuckte bedauernd die Achseln.
»Leider...«
»Die Menschen draußen?«
»Ich habe den Notstand ausgerufen. Das Militär arbeitet Hand in Hand mit der
Polizei. Unsere Armee befindet sich weltweit unter Defcon 1...«
Defcon 1 - Defense Condition One bedeutete höchste Alarmstufe für alle Streitkräfte.
»Die Lage im neochinesischen Reich, in der Zentralasiatischen Allianz, im
Europäischen Konsortium...?«
»Es ist überall dasselbe. Zu unser aller Glück, möchte ich meinen.«
»Glück?«
»Nun, stellen Sie sich vor, Sarah, es hätte nur uns getroffen - oder nur die Chinesen -
oder...«
Die Präsidentin winkte brüsk ab. Vor ihrem geistigen Auge zog ein
Albtraumszenario auf: nuklear bestückte Raketen, die aus ihren getarnten Silos
aufstiegen, um den vermeintlichen Angriff eines vermeintlichen Feindes zu
vergelten; Atompilze, die über ausgelöschten Metropolen zum Himmel
emporstiegen.
»Gott schütze uns!«, flüsterte sie.
»Ich werde Sie zuschalten, sobald unsere Einsteins eingetroffen sind«, erklärte
Almaeida. »Es wäre gut, wenn Sie sich auch einbringen könnten.«
Sarah nickte geistesabwesend.
»Außerdem erreichen uns minütlich Anfragen der großen Sender. Es würde einen
besseren Eindruck machen und stabilisierend auf die Gemütsverfassung der
Bevölkerung wirken, wenn Sie zu den Menschen sprächen. Palmer wird Ihnen bei
der Ausarbeitung der Rede...«
»Dabei brauche ich keine Hilfe. Ich werde in zwei Stunden bei Ihnen sein. Die AF-1
startet innerhalb der nächsten Minuten.«
Die Blässe legte sich wie Puder über Almaeidas Bräune. »Aber...«
»Ich weiß, was Sie sagen wollen, George. Palmer ist genau derselben Ansicht.
Erstellt bereits einen Konvoi zusammen, der uns alle risikofrei nach Washington
bringen soll... Aber das ist das falsche Signal, George. Das absolut falsche Signal in
dieser nie da gewesenen Situation.«
»Wir wissen nicht, ob und wann sich das Phänomen wiederholt. Wenn Sie erst
einmal oben sind...«
»Dieses Risiko gehe ich ein. Verdammt - ich muss es riskieren, verstehen Sie doch.
Wenn ich mich in einem Truck verschanze und tagelang unterwegs bin, wird das die
Menschen noch mehr verunsichern. Sie brauchen Rückhalt. Sie müssen spüren, dass
ich keine Angst habe. Dass die Katastrophe hinter uns liegt und sich nicht mehr
wiederholen wird!«
»Das kann niemand garantieren.«
»Aber wir können... nein, wir müssen so tun, als könnten wir es.«
Nach anfänglichem Widerstand schlich sich so etwas wie Bewunderung in den Blick
des Veteranen. »Es ist Ihre Entscheidung«, sagte er schließlich. »Ich werde mit
Palmer sprechen. Ich bin sicher, er wird an Ihrem Verstand zweifeln, wenn Sie es
ihm selbst sagen. Und wir wollen doch nicht, dass er Sie aus reiner Sorge um das
Wohl der Nation abserviert...«
»Das würde er nie wagen«, sagte Sarah.
»Darauf würde ich meine Pension nicht wetten.«
Ein letztes schwaches Lächeln, dann trennte Almaeida die Verbindung.
Sarah saß noch eine Weile still da und fragte sich, wer ihr eigentlich angesichts des Wagnisses, das sie im Begriff war einzugehen, noch die Garantie gab, dass sie nicht tatsächlich längst den letzten Funken ihres gesunden Menschenverstands verloren hatte.
Vince Bauer starrte zu dem Mann empor, der gerade unangemeldet den Kontrollraum betreten... nein, regelrecht gestürmt hatte, und der sich nun mit der einzigartigen Arroganz vor ihm aufbaute, die nur wahrhaft Mächtigen zu eigen ist. Alle Gespräche verstummten. Auch der Lautsprecher, aus dem Minuten zuvor noch die Stimme John Clouds gedrungen war, schwieg. In den Gesichtern der Männer und Frauen, die seit Monaten mit Bauer zusammenarbeiteten, spiegelte sich ein tiefes Unbehagen wider, so als würden sie die volle Tragweite dessen, was gerade geschah, intuitiv begreifen. »Vince Bauer?« »Und mit wem habe ich die Ehre?«, fragte Bauer reserviert. Sein Gegenüber zückte einen ID-Chip und schob ihn eigenhändig in das UniversalLesegerät auf Bauers Pult. Auf dem Bildschirm erschien das fälschungssichere Emblem der NCIA. »Was wollen Sie hier?« Bauer hatte plötzlich das Gefühl, einen Frosch im Hals stecken zu haben. »Die Kontrolle«, antwortete sein Gegenüber in verblüffender Offenheit. »Die absolute Kontrolle über diesen sensiblen Bereich.«
Das Gesicht, das Cloud aus dem Monitor der Funkanlage entgegenstarrte, kam ihm nicht einmal flüchtig bekannt vor - weder aus irgendwelchen Nachrichtensendungen noch aus persönlichen Begegnungen. Es war unnatürlich glatt, fast konturlos - kein markanter Zug, kein unverwechselbares Merkmal darin, kein menschlich machender Makel. Ein Gesicht, das man im Normalfall sah - und sofort wieder vergaß. Es blickte nicht grimmig, nicht freundlich, aber auch nicht wirklich teilnahmslos. Herrgott noch mal, was hat das nun wieder zu bedeuten? »Hier spricht Reuben Cronenberg, NCIA - Ihre neue Anlaufstelle auf der Erde. Die Umstände -der Mission haben sich dramatisch geändert, Commander Cloud. Vince Bauer steht mir ab dieser Minute nur noch beratend zur Seite - ein Schicksal, das er, so hart es klingen mag, mit Ihnen... teilt.« Cloud glaubte, sich verhört zu haben. Etwa eine Sekunde lang - dann dämmerte ihm, dass dieser Mann zu keinen Scherzen aufgelegt war. Niemals.
»Dürfte ich jetzt, bitte, Commander Scobee sprechen...?« Cloud spürte plötzlich seine Beine nicht mehr. Er schloss die Augen. Eine Hand legte sich auf seine Schulter, und eine Stimme fragte: »Was, zur Hölle, geht hier vor, John?« »Ich weiß es nicht, Mike«, hörte er sich flüsternd antworten. »Aber vielleicht müssen wir nur genau hinhören, dann erfahren wir es.« Er öffnete die Augen und nickte in Richtung von Scobee, die darauf wartete, seinen Platz einnehmen zu können - und deren Miene nicht das Geringste von dem verriet, war ihr gerade durch den Sinn ging. »Ich habe nicht die leiseste verfluchte Ahnung, Mike...!«
Die Nachricht erreichte Sarah Cuthbert noch an Bord der AF-1, auf halber Strecke
nach Washington.
Sie hatte hinter ihrem Schreibtisch Platz genommen und sammelte sich gerade.
Gleich würde sie mit gesetzter Stimme in die Kamera sprechen, die fester Bestandteil
des Equipments war. Nur Palmer war bei ihr - er saß in einem bequemen
Kunstledersessel neben der Tür und war bereit, ihr Stichworte zu soufflieren, für den
Fäll, dass sie bei ihrer Rede ins Straucheln geriet. Es würde keine Live-Übertragung
geben, aber auch keine erkennbaren Schnitte. Wenn alles gut ging, würde die
Sendung nach kurzer >Kosmetik< über den Äther gehen.
Aber dazu kam es vorerst nicht.
Zunächst klopfte es von draußen gegen die Tür der Suite.
Auf Sarahs Stirn bildete sich der Unmut über die Konzentrationsstörung in Form
einer tiefen Furche ab.
Palmer reagierte sofort, stand auf, öffnete die Tür und streckte den Kopf hinaus. Die
Präsidentin hörte ihn scharf auf jemanden einreden, den sie nicht sehen konnte. Doch
dann verstummte er. Eine andere Stimme, leicht eingeschüchtert, spulte eine
Meldung herunter, die von Sarahs Platz aus nicht zu verstehen war.
Als Palmer die Tür wieder schloss und sich zu Sarah umdrehte, wirkte sein Gesicht
zerknautscht wie bei einem Cockerspaniel.
»Was gibt es? Probleme mit dem Flugzeug?«
Die Angst war plötzlich wieder da - in ganz ähnlicher Form, wie zwei Stunden zuvor
in der unterirdischen Bunkeranlage des Stützpunkts.
Es war eine Illusion gewesen, dass sie sich davon hatte befreien können.
Palmer schüttelte den Kopf. »Die Meldung kam auf Umwegen vom VLT in den
chilenischen Anden.«
»VLT?«
»Das Kürzel steht für Very Large Telescope... Eines der wenigen leistungsstarken
>Augen<, die von der Erde aus ins All hinausspähen.«
Sarah spürte ein Gefühl in sich aufsteigen, das sich näherer Definition entzog.
»Und worum geht es in der Meldung? Hat sie etwas mit dem Phänomen zu tun, an dem sich unsere Genies immer noch die Zähne ausbeißen?«
»Es sieht so aus.«
»Was sieht so aus?«
»Es sieht so aus, als hätte die Schwärze immer noch Bestand, wäre aber jetzt...«
»Ja?«
»... auf einen schmalen Korridor innerhalb des Sonnensystems begrenzt. Dafür spricht jedenfalls die Beobachtung des VLT.«
Sarahs Augen ließen Palmer nicht los.
»Sie meinen, es gibt einen Bereich innerhalb des Sonnensystems, der immer noch... der immer noch finster ist?«
Palmer nickte.
»Ist die Erde auf ihrem Bahnverlauf unmittelbar bedroht?«
Er verneinte.
Ein plötzlicher Gedanke ließ sie innerlich erzittern. »Mars?«
Erneutes Kopfschütteln. »Fast.«
Sie verstand nicht, was er meinte, bis Palmer die neuesten Fakten auf den Tisch legte.
»Man hat Sie offenbar als Sicherheitsrisiko eingestuft - es tut mir Leid«, sagte
Scobee. »Es war nicht meine Idee, und ich wäre froh, wenn Sie das glauben würden.
Unser Verhältnis sollte davon nicht getrübt werden...«
Cloud fragte sich, ob sie selbst glaubte, was sie gerade sagte.
Und er fragte sich, wie sie die Bilder verdrängen konnte, die sie beide im Staseraum
gesehen hatten. Da hatte sie zum ersten Mal richtiggehend, durch und durch,
menschlich und sympathisch auf ihn gewirkt.
Ein Eindruck, der unter dem Einfluss der neuesten Entwicklung völlig verschwunden
war.
»Ich bin kein >Sicherheitsrisiko<.«
»Das glaube ich ihnen, aber nach Seymors Ausraster... Und Sie selbst haben
mehrfach beteuert, dass die Visionen, von denen Sie heimgesucht werden, immer
dramatischere Formen annehmen. Was hätten Sie an seiner Stelle getan?«
Er blickte auf. Das Gespräch fand unter vier Augen statt. Scobee hatte ihn in ihre
Kabine gebeten.
»Sie kennen diesen Cronenberg schon länger«, sagte er. »Oder täusche ich mich?
Länger als ich jedenfalls...«
»Wir führten einige Gespräche«, räumte sie ein. »Lange vor dem Start.«
»Es war also vorgesehen, dass ich irgendwann von Ihnen ersetzt werde.«
Sie schüttelte den Kopf, und unter anderen Voraussetzungen hätte er ihr vielleicht
sogar geglaubt.
»Werden Sie nicht paranoid.«
»Warum nicht? Laut Einschätzung auf der Erde bin ich das ja wohl bereits!«
Es war eine andere Welt, in die sie zurückkehrte, als die, die sie verlassen hatte. Das Washington D.C., das Sarah Cuthbert gekannt hatte, war verschwunden. Der Hort vermeintlicher Sicherheit hatte sich in ein Zentrum puren Chaos verwandelt. Überall brannte es. Überall trieben Schwaden beißenden Rauches, und in der Luft lag das unentwegte Heulen von Sirenen - wie im Krieg. Die Präsidentin schauderte. Die AF-1 war sauber gelandet, aber bevor dies hatte geschehen können, waren schwere Räumfahrzeuge tätig geworden. Auch der Flughafen sah aus wie nach einem Bombenangriff. Das ausgebrannte Wrack eines Stealth-Aufklärers neuester Generation hatte sich wie ein Mahnmal in einen Grünstreifen abseits der Piste gebohrt. Auch der Tower musste von einem Trümmerstück getroffen worden sein. In der Front klaffte ein riesiges Loch, wie von einer Panzerfaust. »So schlimm hatte ich es mir nicht vorgestellt«, sagte Sarah leise. In ihr hallten noch die eigenen Worte nach, die sie vor wenigen Minuten an die Bevölkerung der USA gerichtet hatte - und die wahrscheinlich gerade in diesem Augenblick von CNN ausgestrahlt wurden. Sie hatte versucht, den Menschen Mut und Zuspruch zu geben. Aber nachdem sie im Landeanflug die Bilder der brennenden Stadt gesehen hatte - die nur eine Stadt von unzähligen rund um den Globus war -, zweifelte sie daran, dass Worte und Gesten angesichts des Ausmaßes an Zerstörung überhaupt noch etwas ausrichten konnten. Und immer wieder die Frage: Was war eigentlich geschehen? Für die NCIA schien die Antwort festzustehen. Der Mars - die dort ansässige, unbekannte Macht - hatte zugeschlagen. Als hätte sie erkannt, dass ein von Menschenhand erbautes zweites bemanntes Raumschiff unterwegs war, um endlich die Hintergründe des fehlgeschlagenen ersten Besuchs zu klären. Vier tote Raumfahrer hatten den Verantwortlichen auf der Erde gereicht, um ein nie da gewesenes Projekt auf den Weg zu bringen. Die Umstände ihres Todes hatten dies bewirkt. Vor Sarahs geistigem Auge huschten Fragmente aus den Akten vorbei, die sie unmittelbar nach ihrem Amtsantritt zu sehen bekommen hatte. Geheimnisse, die auch ihr Vorgänger und dessen Vorgänger erfahren hatten. Selbst die New Central Intelligence Agency, die Nachfolge-Organisation des alten US-Geheimdienstes, kam am Weißen Haus nicht völlig vorbei, obwohl sie mit unglaublichen Vollmachten ausgestattet war. Ein Staat im Staate beinahe. Die Pläne, ein besonderes Schiff mit besonderer Mannschaft zum Mars zu entsenden, waren unmittelbar nach dem Scheitern der ersten Mission entstanden. Damals, vor
gut zwei Jahrzehnten, hatte die Gen-Technik einen Stand erreicht, der es erlaubte,
optimierte menschliche Wesen zu klonen. Sie waren nicht mehr nur Ebenbilder,
bloße Kopien eines Originals, sondern so genannte Multiklone, in denen sich die
Eigenschaften vieler Vorbilder vereinigten.
Optimiert... Sarah wusste noch, dass sie das Wort vom ersten Moment an, da es ihr in
Zusammenhang mit diesen Experimenten zu Ohren gekommen, gehasst hatte.
Daran hatte sich nichts geändert. Aber auch an der Sache an sich war nichts zu
ändern. Das Programm existierte, heute wie vor zwanzig Jahren. Es existierte
entgegen allen Abkommen, die bereits zu Beginn dieses Jahrtausends auf
internationaler Ebene getroffen worden waren, und die USA waren mit Bestimmtheit
nicht das einzige Land, dessen Geheimdienste sich nicht daran gebunden fühlten.
Während sie darauf wartete, dass sich die Ausstiegsluke der AF-1 öffnete, dachte sie
an Kaiser Sadako.
Er und sie waren die einzigen Staatsoberhäupter, die, von der RUBIKON wussten.
Russen und Japaner, die noch an der ersten Marsmission beteiligt gewesen waren,
hatten sich zu vernachlässigbaren Größen auf dem politischen Parkett entwickelt.
Die Luke flog fauchend auf.
Palmer trat an der Präsidentin vorbei und streckte prüfend den Kopf nach draußen,
Sarah wartete, bis er ihr das Zeichen gab, dass alles halbwegs in Ordnung war, dann
verließ sie das Flugzeug.
Ein gepanzertes Fahrzeug wartete.
Und beim Verlassen des abgesperrten Areals warteten Tausende Zivilisten, die ihre
Ansprache gehört und von ihrer bevorstehenden Ankunft erfahren hatten.
Sie schrien und reckten die Arme in die Höhe. Soldaten bildeten einen Kordon, um
sie zurückzuhalten.
Sarah glaubte im ersten Moment, ihrer Wut ausgesetzt zu sein. Doch dann sah sie,
während die Sonne am Horizont hinter Rauch versank, die Gesichter der Menschen.
Sie jubelten.
Sie feierten und ließen sie hochleben.
Sarah bekam eine Gänsehaut, die auf dem ganzen Weg zum Weißen Haus nicht mehr
wich.
Cronenbergs erste >Amtshandlung< war ein mysteriöser Befehl: Die RUBIKON sollte das virtuelle Teleskop auf Jupiter ausrichten - Jupiter, nicht Mars. Cloud fühlte einen harten, kalten Klumpen dort, wo sich sein Magen hätte befinden sollen. Ihm war so übel, als wäre er gerade erneut und mit Brachialgewalt aus wochenlanger Stase gerissen worden. Der Anblick, den die Sternenkuppel bot, nachdem der Quantencomputer die gegenwärtige Position des größten Systemplaneten ermittelt und das
Bordobservatorium darauf ausgerichtet hatte, war an Bizarrerie kaum noch zu
überbieten.
Cloud, dessen selbst erworbene Kenntnisse und implantiertes Zusatzwissen sich auch
über Astrophysik und verwandte Gebiete erstreckte, fand selbst nach längerem
Nachdenken keine befriedigende Erklärung für den beobachteten Effekt.
Und damit stand er nicht alleine, wie die Kommentare der anderen
Besatzungsmitglieder erkennen ließen.
Zunächst hatte es den Anschein, als sei die virtuelle Linse des Teleskops getrübt -
denn alles, was das Observatorium von Jupiter einfing, war ein verwaschener
>Klecks<. Doch um den Klecks herum gab es auch klare Objekte, und ihre Schärfe
blieb selbst dann erhalten, als sie - jedes für sich - kurzzeitig in den Fokus des
Teleskops genommen wurden.
Io, Europa, Ganymed, Callisto...
Jupiters Monde.
An ihnen war keine Veränderung festzustellen, nur an dem Planeten, den sie
umliefen.
»Wir sollten diesen Cronenberg fragen, was das zu bedeuten hat«, meldete sich
Darcy zu Wort.
»Wenn ich seinen Tonfall richtig gedeutet habe«, sagte Cloud, »erwartet er sich die
Antwort darauf unter anderem von uns.«
Er wusste nicht, ob es stimmte, aber es war sein Gefühl.
In den nächsten Minuten richteten sie sämtliche Fernortungssysteme auf den
unscharf gewordenen Riesenplaneten, und plötzlich...
»Grundgütiger...!«
Der Ausruf kam aus Darcys Mund.
Dann winkte er die anderen zu seiner Konsole, über der sich ein knisterndes
Hologramm aufgebaut hatte. Es wurde von winzigen magnetisierten Kristallen
erzeugt, und bislang war es nur möglich, diese Technik bei völliger Schwerelosigkeit
einzusetzen -- an Bord eines Raumschiffs wie der RUBIKON beispielsweise.
Das Hologramm war würfelförmig, mit einer Kantenlänge von nur etwa fünfzig
Zentimeter. Darin eingeschlossen war ein gewaltiges Stück Weltraum: der Sektor um
Jupiter herum. Neben dem Planeten selbst waren sämtliche Monde enthalten, von
asteroidenklein bis merkurgroß.
»Was ist?«, fragte Scobee.
»Kommen Sie bitte mal her, Sir. Kommen Sie bitte alle mal zu mir...!«
»Was haben Sie entdeckt?«
Darcy schien nicht bereit zu sein, mit Worten darauf zu antworten. Er wollte das Bild
sprechen lassen, das sich vor ihm aufgebaut hatte.
Innerhalb von Sekunden umgaben ihn die anderen.
Und sie brauchten nicht lange, um zu erkennen, was Darcy entdeckt hatte.
Von ihrer Position aus betrachtet, fast hinter Jupiter.
Fast.
Aber da war noch ein schwacher Streifen zu erkennen. Eine Linie vollkommener
Schwärze, die sich, aus unbestimmter Ferne kommend, wie ein Pfeil in den Planeten
bohrte.
»Füttern Sie den Rechner des Teleskops mit diesen Daten!«, befahl Scobee ohne
lange Bedenkzeit.
Darcy nickte und gehorchte.
Minimale Korrekturen in der Aussteuerung führten dazu, dass das beobachtete
Phänomen kurze Zeit später auch in der Sternenkuppel sichtbar wurde.
Nur dass das virtuelle Teleskop die Szene sehr viel präziser und größer wiedergab.
Noch immer schwebte Jupiter leicht verschwommen im Mittelpunkt der Kuppel. Die
Blicke der Crew gingen nun jedoch an ihm vorbei und konzentrierten sich auf den
Balken, den Strahl - oder
was immer es war, das sich aus der Unendlichkeit auf ihn eingepegelt hatte.
»Es hat Ähnlichkeit mit...« Cloud sprach nicht zu Ende, was ihm auf der Zunge lag.
»Ist der Durchmesser bestimmbar?«, fragte Scobee.
Und Resnick, der am Interferometer justierte, antwortete: »Einen Moment... Gute
tausend Kilometer, falls meine Instrumente nicht trügen...«
Das war gewaltig - und doch nur hauchfein im Verhältnis zum Riesenplaneten selbst,
der ein 1400-mal größeres Volumen und eine 318-mal größere Masse als die Erde
besaß.
»Wer denkt noch, was ich denke?«, fragte Cloud in die plötzlich einsetzende Stille
hinein.
Scobee warf ihm einen undeutbaren Blick zu. »Offenbar kann das Phänomen von der
Erdposition aus nicht beobachtet werden. GT-Resnick, zeichnen Sie auf und senden
Sie die Datei nach Hause!«
Cloud trat neben sie und sagte: »Sie haben mir noch keine Antwort gegeben.«
»Was wollen Sie hören?«
»Dass ich nicht nach meinem Kommando auch noch den Verstand verloren habe.
Dass ich mir die Ähnlichkeit nicht nur einbilde.«
»Darüber sollen andere entscheiden«, sagte sie. »Das fällt nicht in unsere
Zuständigkeit.«
»Seit wann fällt Denken nicht mehr in unsere Zuständigkeit?«
Scobee zögerte. Ihre Augen wechselten die Farbe, und die Schwärze, die sie wählte,
kam der Finsternis, die sich wie ein Pfeil in Jupiters >Rücken< gebohrt hatte,
gespenstisch nahe.
»Es könnte damit zusammenhängen, was uns widerfahren ist«, sprach sie schließlich
aus, worauf Cloud die ganze Zeit wartete. »Und: Ja, es könnte ein Überbleibsel des
Phänomens sein, das uns vorübergehend in völlige Hilflosigkeit und die Erde
nachhaltig ins Chaos gestürzt hat...«
3.
Tage später
Weltuntergang
Er kam in der Abenddämmerung.
»Pack das Nötigste zusammen und steig damit ins Auto.«
Scobee starrte den Mann an wie ein Wesen von einem anderen Stern. »Packen?«,
echote sie. »Mitkommen? - Wohin?«
»Wir verlassen die Basis.«
Der Mann trug keine Uniform, aber hinter ihm, am Straßenrand, wartete ein
geschlossener Militärjeep mit abgedunkelten Scheiben.
»Aber..«
»Es muss sein. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Niemand will dir etwas
Böses. Wenn alles vorbei ist... bringe ich dich zurück.«
Er sprach zu ihr wie zu einem kleinen Kind.
Und das wai sie auch- Ein kleines, ängstliches Mädchen von zwanzig Jahren. Oder
einundzwanzig. Ein Mädchen, das nie die Umzäunung des Stützpunkts verlassen
hatte, keine Freunde besaß und die Welt draußen nur aus den Filmen und Büchern
kannte, die man es sehen ließ.
Zitternd stand sie vor dem Mann, der nur wenig größer als sie selbst war. Sie
wünschte, sie hätte seine Augen sehen können, aber er trug eine Sonnenbrille.
»Ich will den Colonel sprechen!«
»Der Colonel ist zur Zeit unabkömmlich - aber er weiß Bescheid und hat seine
Zustimmung gegeben.«
»Dann...« Ein Erinnerungsfetzen huschte an ihrem geistigen Auge vorbei - war das
wirklich erst vor ein paar Tagen gewesen? »Dann... will ich den Professor oder... die
Präsidentin sprechen!«
Er lachte rau auf. »Hays wird nachkommen. Ich warte hier, bis du fertig bist. Beeil
dich! Die anderen sitzen schon im Wagen.«
»Die anderen?«
»Beeil dich!«
Sie stellte keine weiteren Fragen. Später, als sie in den Jeep stieg, schauten ihr
zwei Augenpaare entgegen, die ähnlich verstört waren wie sie.
Zwei Männer in ihrem Alter, denen sie noch nie begegnet war.
»Hallo«, sagte sie. »Ich bin Scobee.«
»Resnick«, sagte der eine, »Jarvis...«, der andere.
Sie fuhren aus dem Stützpunkt hinaus. Am Tor schlossen sich ihnen mehrere Wagen
an. Scobee sah im Licht der Scheinwerfer Geschützaufbauten schimmern.
»Wohin bringen sie uns?«, wandte sie sich an Resnick und Jarvis.
Die beiden antworteten nicht, vermutlich weil sie es auch nicht wussten.
Die Fahrt dauerte mehrere Stunden und verlief immer nur durch die Wüste. Dann
erreichte der` Konvoi einen Stützpunkt, der sich äußerlich kaum von dem
unterschied, den sie verlassen hatten. Im ersten Moment glaubte Scobee sogar, dass
sie im Kreis gefahren waren.
Aber hinter dem Tor waren dann doch Unterschiede zu erkennen.
Und ein Mann begrüßte sie der Reihe nach freundlich beim Aussteigen. Er hatte
einen festen Händedruck. »Nennt mich Reuben«, sagte er. »Es freut mich, euch
endlich kennen zu lernen. Wir brauchen jetzt eure volle Unterstützung. Es ist wichtig, euch hier zu haben.« Scobee mochte Reuben vom ersten Augenblick an nicht. Aber sie war nur eine Kind gebliebene Träumerin - und es gewohnt, den wahren Erwachsenen zu gehorchen...
Cloud starrte auf die ihnen entgegensinkende Landschaft. Drei Tage war es her. Vor drei Tagen war er aus der letzten Stase-Phase der Hinreise erwacht... ... und hatte noch nicht einmal geahnt, an welch seidenem Faden der Fortgang der Mission hängen sollte. Dann hatten sich die Ereignisse überschlagen. Seymors Tod... Die Finsternis... Jupiters Veränderung (die inzwischen dramatische Ausmaße angenommen hatte)... Doch trotz all dieser Widrigkeiten hatten sie ihr Ziel erreicht, und auch wenn er seines Kommandos enthoben war, er war jetzt dort, wo er immer hatte sein wollen, seit er ein Kind gewesen war und begriffen hatte, wo sein Vater geblieben, warum er nicht wieder nach Hause zurückgekehrt war! Der Mars füllte den gesamten Blickwinkel der Monitore aus. Das Landemanöver war eingeleitet, die Bremstriebwerke waren gezündet. Alle Crewmitglieder waren auf ihren Positionen, und wie selbstverständlich hatte Cloud den Platz mit Scobee getauscht. Seit er die toten Klone gesehen hatte, empfand er die Abgabe des Kommandos beinahe als Erleichterung. Vielleicht versuchte er, sich dies auch nur einzureden. Ebenso wie die Überzeugung, dass es nicht darauf ankam, wer die RUBIKON befehligte, sondern einzig und allein darauf, dem Mars sein Geheimnis zu entreißen. Der dunkle, auf Jupiter gerichtete Strahl kam eindeutig nicht vom Mars. Er hatte seinen Ursprung, wie es aussah, in entgegengesetzter Richtung, vielleicht sogar jenseits der Grenzen des Sonnensystems. An ein natürliches Phänomen glaubten nicht einmal die größten Traumtänzer. Jemand beschoss Jupiter. Dabei war die Frage nach dem Womit noch ebenso unbeantwortet wie die nach dem Wer und Warum. Unübersehbar aber war die Wirkung. »Bodenkontakt in 120 Sekunden!«, meldete GT Jarvis. Und Darcy ergänzte: »Keine Probleme. Keine Störung. Alles läuft wie am Schnürchen.« »Wunderbar. Dann können wir ja bald an der frischen Luft spazieren gehen«, spottete Scobee. Niemand lachte über den Scherz, aber Cloud nahm zur Kenntnis, dass die GenTee zu ihrer alten Form zurückzufinden schien. Inwieweit sie das neue Amt belastete, war
nicht mehr erkennbar. Auch nicht, welche Spuren der Fund der toten Klone in ihr hinterlassen hatte. Cloud war dabei gewesen, als Resnick und Jarvis von ihr informiert worden waren. Die beiden anderen GenTecs hatten die Nachricht wesentlich gefasster aufgenommen als Scobee. Auch sie waren, das hatte Cloud erst in diesem Augenblick völlig begriffen, von Anfang an in die Verschwörung eingeweiht gewesen. Verschwörung. Das Wort hatte sich in Clouds Hinterkopf regelrecht festgefressen, und er stellte immer verwegenere Thesen über die Gründe auf, die die Verantwortlichen bewogen haben mochten, ihn nicht einzuweihen. Die Landung beanspruchte seine volle Aufmerksamkeit. Hellas Planitia, südlich der Syrtis Major gelegen, rückte näher. Die zweitausend Kilometer durchmessende und bis zu sechs Kilometer tiefe Region, die vor Jahrmilliarden durch den Einschlag eines gewaltigen Meteoriten entstanden war. »... sechzig Sekunden...« Das Habitat der ersten Mission stand noch immer an der Stelle, an der es Clouds Vater gelandet hatte. Und auch die Stelle, die den vier Astronauten vor 22 Jahren zum Verhängnis geworden war, das hatten die Aufnahmen aus dem Orbit gezeigt, war noch völlig unverändert gegenüber damals. Selbst die beiden Druckrover parkten noch dort, wo ihnen die Missionsmitglieder entstiegen waren, und das Bohrgerät markierte die Stelle, wo Nathan Cloud es in den Staub gerammt hatte... Dann hatten sich die Ereignisse überschlagen. Seymors Tod... Die Finsternis... Jupiters Veränderung (die inzwischen dramatische Ausmaße angenommen hatte)... Doch trotz all dieser Widrigkeiten hatten sie ihr Ziel erreicht, und auch wenn er seines Kommandos enthoben war, er war jetzt dort, wo er immer hatte sein wollen, seit er ein Kind gewesen war und begriffen hatte, wo sein Vater geblieben, warum er nicht wieder nach Hause zurückgekehrt war! Der Mars füllte den gesamten Blickwinkel der Monitore aus. Das Landemanöver war eingeleitet, die Bremstriebwerke waren gezündet. Alle Crewmitglieder waren auf ihren Positionen, und wie selbstverständlich hatte Cloud den Platz mit Scobee getauscht. Seit er die toten Klone gesehen hatte, empfand er die Abgabe des Kommandos beinahe als Erleichterung. Vielleicht versuchte er, sich dies auch nur einzureden. Ebenso wie die Überzeugung, dass es nicht darauf ankam, wer die RUBIKON befehligte, sondern einzig und allein darauf, dem Mars sein Geheimnis zu entreißen. Der dunkle, auf Jupiter gerichtete Strahl kam eindeutig nicht vom Mars. Er hatte seinen Ursprung, wie es aussah, in entgegengesetzter Richtung, vielleicht sogar jenseits der Grenzen des Sonnensystems, An ein natürliches Phänomen glaubten nicht einmal die größten Traumtänzer. Jemand beschoss Jupiter. Dabei war die Frage nach dem Womit noch ebenso unbeantwortet wie die nach dem Wer und Warum.
Unübersehbar aber war die Wirkung. »Bodenkontakt in 120 Sekunden!«, meldete GT Jarvis. Und Darcy ergänzte: »Keine Probleme. Keine Störung. Alles läuft wie am Schnürchen.« »Wunderbar. Dann können wir ja bald an der frischen Luft spazieren gehen«, spottete Scobee. Niemand lachte über den Scherz, aber Cloud nahm zur Kenntnis, dass die GenTee zu ihrer alten Form zurückzufinden schien. Inwieweit sie das neue Amt belastete, war nicht mehr erkennbar. Auch nicht, welche Spuren der Fund der toten Klone in ihr hinterlassen hatte. Cloud war dabei gewesen, als Resnick und Jarvis von ihr informiert worden waren. Die beiden anderen GenTecs hatten die Nachricht wesentlich gefasster aufgenommen als Scobee. Auch sie waren, das hatte Cloud erst in diesem Augenblick völlig begriffen, von Anfang an in die Verschwörung eingeweiht gewesen. Verschwörung. Das Wort hatte sich in Clouds Hinterkopf regelrecht festgefressen, und er stellte immer verwegenere Thesen über die Gründe auf, die die Verantwortlichen bewogen haben mochten, ihn nicht einzuweihen. Die Landung beanspruchte seine volle Aufmerksamkeit. Hellas Planitia, südlich der Syrtis Major gelegen, rückte näher. Die zweitausend Kilometer durchmessende und bis zu sechs Kilometer tiefe Region, die vor Jahrmilliarden durch den Einschlag eines gewaltigen Meteoriten entstanden war. ... sechzig Sekunden...« Das Habitat der ersten Mission stand noch immer an der Stelle, an der es Clouds Vater gelandet hatte. Und auch die Stelle, die den vier Astronauten vor 22 Jahren zum Verhängnis geworden war, das hatten die Aufnahmen aus dem Orbit gezeigt, war noch völlig unverändert gegenüber damals. Selbst die beiden Druckrover parkten noch dort, wo ihnen die Missionsmitglieder entstiegen waren, und das Bohrgerät markierte die Stelle, wo Nathan Cloud es in den Staub gerammt hatte... Cloud hätte sich gewünscht, mehr Muße zu haben, sich innerlich darauf vorzubereiten, bald mit seinen Beinen auf dem Planeten zu stehen, der seinem Vater zum Schicksal geworden war. Aber irgendwie stahlen die jüngsten Ereignisse der Situation die Schau. Selbst er, der so viel persönliche Motivation in sich trug, den Roten Planeten zu enträtseln, war nicht dagegen gefeit, fast mehr Gedanken an jenes absonderliche Phänomen zu verschwenden, dessen Nachwehen die Erde noch immer in Atem hielt. Ein Feld, in dem kein einziges technisches Gerät mehr funktionierte, das aber Leben nicht direkt bedroht hatte, obwohl auch Leben mit Elektrizität zu tun hatte. Traf es Unterscheidungen? War es... intelligent? »... dreißig Sekunden...« Am östlichen Horizont sah Cloud den Elysium-Vulkan verschwinden, von Nachmittagswolken umgeben.
»... zwanzig...«
Die einzige Frau an Bord bediente die Steuerung virtuos. Je tiefer die RUBIKON
sank, desto heftiger vibrierte die Schiffszelle. Doch zu keinem Moment hatte Cloud
das Gefühl, dass etwas schief gehen könnte.
Verrückt.
Verrückt, dass er dieser Frau immer noch Vertrauen schenkte.
Aber er unterschied zwischen ihren Fähigkeiten und ihren menschlichen Qualitäten.
Gleichzeitig fragte er sich, ob er anders gehandelt hätte, wenn die Bedingungen
umgekehrt gewesen wären - wenn er zunächst nur als normales Mannschaftsmitglied
mitgereist wäre, aber mit der Option, im Bedarfsfall das Kommando von den Klonen
zu übernehmen. Hätte er nein gesagt? Hätte er abgelehnt?
»... zehn...«
Nein, dachte er. Ich hätte alles getan, um hierher zu gelangen - ich wäre jeden
Kompromiss mit denen eingegangen, die mir diese Reise hätten ermöglichen können.
Trotz dieser Einsicht glaubte er nicht,
dass die GenTecs und er jemals Freunde werden konnten.
Aber in diesem Zustand - ohne einen Menschen, dem er blind vertrauen konnte
lebte er, seit er sechs geworden war.
»... drei... zwei... eins... Kontakt!«
Sarah Cuthbert wurde nicht müde, sich die Bilder der Katastrophe anzusehen. In den vergangenen drei Tagen hatte sie höchstens fünf Stunden geschlafen - nicht am Stück, bewahre, sondern insgesamt. In den vergangenen drei Tagen war sie fast rund um die Uhr von einem Heer von Menschen umgeben gewesen, die auf sie eingeredet hatten. Wissenschaftler, Militärs, Staatsoberhäupter und Senatoren ihres eigenen Landes ganz abgesehen vom >normalen Betrieb<. von den ungezählten Sätzen, die sie mit Beratern, Medien-Vertretern und wem auch immer noch hatte wechseln müssen. Inzwischen war sie heiser und schluckte mehr Aufputschmittel, als ihrem Körper und ihrer Seele gut tun konnte. Und noch immer war kein Ende des Ausnahmezustands abzusehen. Den Menschen im Land ging es schlecht. Die Angst war das eine - die tatsächliche Not, die viele litten, seit Angehörige gestorben oder Besitztümer in Rauch und Flammen aufgegangen waren, das andere. Noch immer lag der zivile Luftverkehr brach. Noch immer zeigten die TV-Stationen jeden Tag und zu jeder Stunde neues Elend, neue Tragödien, die eng mit dem nur wenige Minuten andauernden Totalausfall jeglicher Energie verflochten waren. Bizarrerweise hatte es die ärmsten der armen Länder am geringsten getroffen. In den meisten afrikanischen Staaten, deren Bevölkerung seit Jahrzehnten von Aids-, Ebola-
und Cholera-Epidemien heimgesucht wurden, war es zu keinem wahrnehmbar
erhöhten Sterben gekommen. Sie verfügten über keine nennenswerte Industrie, keine
Infrastruktur, nicht einmal über ein mit Hightech gekoppeltes Gesundheitswesen.
Wo in den reichen Nationen die meisten Opfer zu beklagen waren - im Reiseverkehr,
in Kliniken und Hochhäusern -, fiel es in den unterentwickelten Staaten kaum ins
Gewicht.
Dort stirbt man immer noch an >traditionellen< Ursachen, dachte Sarah.
Sie blickte auf, als es an die Tür ihres Büros klopfte.
»Ja?«
Palmer trat ein, in der Hand ein neues Sujet. Wahrscheinlich eine aktuelle Bilanz der
Schäden. Oder der Toten. Oder beides.
»Hallo, Sid. Lange nicht mehr gesehen.«
Er lächelte karg. »Dreißig Minuten?«
»Zwanzig«, sagte sie, unfähig zurückzulächeln. Sie war müde. Die Mittel, die sie
schluckte, schienen nur ihren Körper wach zu halten.
»Neuigkeiten?«
»Leider.«
»Lassen Sie hören.«
»Die RUBIKON ist gelandet.« »Aha.«
Er nickte. »Mir geht es genauso. Vor einer Woche hätte ich mir wahrscheinlich keine
spannendere Meldung denken können, aber nun... Was soll's. Das war die gute... na
ja, sagen wir die neutrale Nachricht.«
»Und die Schlechte?«
»Immer noch Jupiter«, sagte er. »Es gibt einen neuen Trend, der nichts Gutes
verheißt.«
»Und der wäre?«
Palmer legte das Dossier, aus dem er offenbar zitierte, vor ihr auf den Tisch. »Lesen
Sie selbst. Flapsig ausgedrückt, würde ich sagen, es steht zu befürchten, dass er in
Kürze kollabiert.«
»Flapsig ausgedrückt würde ich sagen, Sie spinnen, Sid.«
Der letzte Rest von Heiterkeit verschwand wie ausgeknipst von seinem Gesicht.
»Wir werden es erleben«, sagte er mit einer Stimme wie einer der Prediger, die im
Fernsehen von Tag zu Tag heftiger den bevorstehenden Weltuntergang prophezeiten.
»Wenn dieses Papier hier Recht behält, in deutlich weniger als 24 Stunden...«
Auch wenn die Schwerkraft geringer war als auf der Erde, konnte sich Cloud momentan kaum etwas Erhebenderes vorstellen, als wieder das Gewicht des eigenen Körpers spüren und nicht einfach nur von einem Magneten am Boden festgehalten zu werden.
Auch der Wind war eine Offenbarung - obwohl er im Innern des Raumanzugs
eigentlich unfühlbar blieb. Aber er trieb Staub vorbei. Roten Staub. Und er rüttelte an
der Fahne, die Darcy in den Marsboden gerammt hatte.
Das Sternenbanner.
In einem halben Kilometer Entfernung stand ein nackter, von Wind und Wetter
abgenagter Stab, an dem auch einst eine Fahne geflattert hatte. Cloud wäre am
liebsten gleich zum Habitat der ersten Mission aufgebrochen - und nach kurzem
Aufenthalt weiter zu der Stelle, an der die Astronauten gestorben waren.
Aber Scobee hatte etwas dagegen.
Und Scobee bestimmte.
Gemeinsam mit Cronenberg, der die eigentlichen Fäden zog...
Das Geräusch von Schritten, vom Außenmikrofon seines Helmes übertragen, näherte
sich.
Cloud drehte sich um und sah Resnick mit einer Schaufel in der Hand auf ihn
zukommen. Als er ihn erreichte, streckte er sie Cloud entgegen.
»Was soll das?«
»Befehl vom Commander«, sagte der GenTec. »Sie sollen ein Grab schaufeln.«
»Mein eigenes?«
»Seymors.«
»Warum ich?« Cloud witterte Schikane, doch Resnicks nächste Worte belehrten ihn
eines Besseren.
»Weil wir, der Commander, Jarvis und ich, fünfzig mal so viele Gräber ausheben
werden. Außerdem ist Darcy unterwegs, um Ihnen zu helfen. Sollen wir tauschen?«
Cloud schüttelte den Kopf, nahm die Schaufel entgegen und blickte zur RUBIKON,
die nicht wirklich eindrucksvoll aus der Weite der eintönigen Landschaft
hervorstach.
Aus der Entfernung näherte sich 'eine weitere Gestalt, ebenfalls eine Schaufel in der
Hand.
Darcy.
Resnick wandte sich ab und wollte gerade beginnen zu graben, als über Helmfunk
Scobees Stimme erklang.
»Alle sofort zurück ins Schiff! Ich wiederhole: Alle sofort...«
Einen Moment hatte Cloud den dringenden Wunsch, sich taub zu stellen und den
Befehl zu missachten. Doch als er sah, dass Darcy kehrt machte, ließ auch er die
Schaufel fallen und setzte sich in Bewegung.
Er versuchte sich einzureden, dass er nicht neugierig war, was jetzt schon wieder
passiert sein mochte. Aber als er die Schleuse passierte, konnte er seine Nervosität
kaum noch verbergen.
»Cronenberg sagt was?«
»Dass wir mit dem Schlimmsten rechnen müssen.«
»Und was wäre >das Schlimmste<, seiner Meinung nach?«
»Dass uns die Auswirkungen ebenso erreichen wie die Erde.«
»Er behauptet allen Ernstes, Jupiter könnte zerbersten?«
»Es deckt sich mit unseren eigenen Beobachtungen, oder?«
»Unsinn! Alles, was wir feststellen können, ist...«
»... dass er sich verändert. Richtig. Aber der Prozess hat sich in den letzten Stunden
beschleunigt. Mittlerweile sind keinerlei Details mehr erkennbar, nicht einmal
verschwommen. Der Große Rote Fleck oder andere markante Stellen in der
Atmosphäre... alles verschwindet.«
»Vielleicht wird er einfach nur unsichtbar«, knurrte Cloud. »Vielleicht hatte er es
einfach satt, ständig von allen möglichen Leuten angestarrt zu werden.«
Er wusste, dass er sich wie ein Idiot benahm. Aber sie reizte ihn. Sie reizte ihn
einfach und brachte ihn durch ihre bloße Selbstgefälligkeit zur Weißglut.
Umgekehrt schien er auch für Scobee zunehmend zum roten Tuch zu werden.
»Wie auch immer«, sagte sie gepresst, »wir werden tun, was er sagt. Wir werden das
Schiff nicht mehr verlassen, bis klar ist, worin die Entwicklung mündet. Wir können
nicht an zwei Fronten kämpfen.«
»Da draußen nahe Jupiter können wir nichts tun«. widersprach Cloud. »Aber
niemand hindert uns. hier tätig zu werden. Deshalb sind wir gekommen. Erinnern Sie
sich'«
Sie nickte. »Mein Gedächtnis funktioniert«_ sagte sie. »Ihres auch?«
»Durchaus.«
»Dann wissen Sie ja, wer hier mittlerweile das Sagen hat...«
Das winzige Stück Privatsphäre, die >Kabine< also, die für Cloud an Bord der RUBIKON reserviert war, schien noch mehr zusammengeschrumpft zu sein. Die Wände kommen näher, dachte er. Die Luft wird dünner... genau wie das Eis, auf dem ich mich bewege... Nach dem jüngsten verbalen Zusammenprall mit Scobee kam er sich wie ein Fremdkörper in der Mannschaft vor. Im Gegensatz zu Darcy, der sich ganz offenkundig damit arrangieren konnte, dass die GenTecs plötzlich die >Übermacht> an Bord bildeten, fiel es ihm trotz der besten Vorsätze immer schwerer, seine neue Rolle zu akzeptieren. Nicht aus gekränkter Eitelkeit, sondern weil er immer mehr hilflos mitansehen musste, wie sie sich vom eigentlichen Ziel ihrer Mission, von der eigentlichen Aufgabe entfernten. Sie waren auf dem Mars gelandet und beugten sich nun dem Diktat von der Erde, das ihnen bis auf weiteres völlige Passivität auferlegte.
Nur einen Katzensprung entfernt lag die Stelle, an der vier Astronauten vor 22 Jahren auf höchst mysteriöse Weise verschwunden waren - und was taten sie? Sie richteten ihren Blick auf Jupiter, bei dem zugegebenermaßen Beunruhigendes geschah. Aber Beunruhigendes war auch hier geschehen. In unmittelbarer Nähe. Cloud war sicher, dass das, was seinem Vater das Leben gekostet hatte, immer noch da war und vielleicht bereits sie im Visier hatte. Die Wände, die ihn umgaben, waren absolut schalldicht; keines der außerhalb gesprochenen Worte drang zu ihm vor, kein Geräusch. Und ebenso drang nichts von drinnen nach draußen. Cloud hatte sich eine Auszeit genommen, abgesegnet von der Frau, die bis vor kurzem noch seine Untergebene gewesen war... Müde setzte er sich in den Stuhl vor dem halbrunden Tisch, der ihm von seiner Kabine aus Zugang zum Hauptcomputer ermöglichte. Er rief das Dossier ab, das ihn seit dem Tag begleitete, da ihm mitgeteilt worden war, dass er zur Mannschaft der RUBIKON gehören würde. Die Datei enthielt das gesammelte Wissen über die Ereignisse, die dazu geführt hatten, das Projekt ins Leben zu rufen. Das gesammelte Material über die letzten Stunden von vier Männern, denen auf der Erde Heldendenkmäler gesetzt worden waren. Nathan Cloud war als Erster gestorben. Verschwunden. Cloud aktivierte eine Stelle der Aufzeichnung, die er schon tausendmal angeschaut hatte. Ein Zusammenschnitt der wesentlichen Szenen, die zum einen von der Kamera des Druckrovers, zum anderen aber auch von dem damals im Marsorbit befindlichen Satelliten aufgenommen worden waren. Gleichzeitig hörte er die leicht verfälschte Stimme seines Vaters, der sagte: »Ich steige jetzt aus...« Eine andere Stimme bestätigte, und wie immer ballten sich Clouds Hände zu Fäusten, sein Oberkörper bog sich nach vorne, sein Mund öffnete sich... ..* und fast hätte er geschrien: »Nein, Dad, tu es nicht!« Doch das Realitätsbewusstsein war stärker. Er wusste, dass nichts von dem, was er sich wieder und wieder angesehen und angehört hatte, noch aufgehalten werden konnte. Nathan Cloud verließ den Rover, der ihn vom Habitat zu der Stelle gebracht hatte, unter der ein gewaltiges Wasservorkommen festgestellt worden war - was im übrigen neuere Messungen nicht mehr bestätigten. Eine weitere Ungereimtheit. Nathan Cluud begann mit der Bohrung; ab und zu war sein Gesicht durch das getönte Glas seines Helmes zu sehen, und jedes Mal wurde John Cloud an den Mann erinnert, der ihm in seiner Kindheit so viel Liebe geschenkt, der ihn so stolz gemacht hatte.
Es zog ihm das Herz zusammen. Trotzdem hatte er das Empfinden, es sich ansehen, die Erinnerung immer und immer wieder auffrischen zu müssen. Erst recht in seiner momentanen Gefühlslage. Eine Weile lief alles, wie erwartet, der Bohrkopf drang in Staub und Basalt ein, doch dann erfüllte plötzlich ein Kreischen die Luft, als wäre der diamantharte Kopf auf etwas noch Härteres gestoßen. Die Bohrspitze brach ab. Nathan Cloud fluchte, verständigte sich mit dem Habitat und wollte schließlich mit der Reparatur beginnen. Doch nur Sekunden später geschah das, was seinen Sohn auch noch Jahrzehnte später mit Grauen erfüllte: Ein seltsames Licht (oder war es ein >heller< Schatten?) drang aus dem Boden und legte sich, so weit das Kameraauge reichte - auch das des Satelliten in diesem Moment - über die Landschaft. Die Aufzeichnung wurde sekundenlang völlig von Störungen überlagert, die auch mit dem höchsten technischen Aufwand nie hatten herausgefiltert werden können. Und als sich das Bild wieder klärte, als die Kamera des Rovers und der Satellit wieder brillante Bilder lieferten, war von Nathan Cloud nichts mehr zu sehen. Er war spurlos verschwunden - und blieb es. Deutlich waren die Fußabdrücke seiner Stiefel im Sand zu sehen; sie endeten an der Stelle, an der er zuletzt gestanden hatte, unmittelbar neben dem Bohrgerät. Es war, als hätte ihn das, was aus dem Boden gestiegen war, ein Gas, ein elektrisches Phänomen oder was auch immer, rückstandslos verbrannt. Samt aller Kleidung, Instrumente und Werkzeuge, die er am Körper getragen hatte! John Cloud atmete schwer. Das Geschehen, für das es bis heute keine Erklärung gab, nahm ihn noch immer mit. Zumal er wusste, dass sich die Szene, Stunden danach, noch einmal in ähnlicher Weise wiederholt hatte. Als die anderen Crewmitglieder der ARMSTRONG gemeinschaftlich zu der Stelle gefahren waren, die Nathan Cloud zum Verhängnis geworden war. Sie waren kaum angekommen und ausgestiegen, als das wabernde Schattenlicht erneut ausgeströmt war. Erneut hatten die Kameras für Sekunden gestreikt... und fortan nur noch das Bild einer menschenverlassenen Ebene übertragen. Die letzten zur Erde übermittelten Worte hatten auf keinerlei Gefahr hingewiesen, sodass der Verdacht aufgekommen war, dass der Lichtnebel nur von den Kameras, nicht aber von den Augen der Betroffenen hatte erfasst werden können - aber auch dafür war natürlich nie ein Beweis erbracht worden. Vier Männer waren auf dem Mars verschwunden, und die Bilder, die zeigten, wie es dazu gekommen war, hatten dank einer funktionierenden Zensur nie, den Weg an die Öffentlichkeit gefunden. Bis heute herrschte der Glaube vor, dass die erste Mission einem plötzlich aufgetretenen Sturm von gewaltiger Stärke zum Opfer gefallen war. Cloud war froh, die Wahrheit zu kennen. Aber es machte ihn auch unglaublich wütend, daran gehindert zu werden, die Stelle aufzusuchen, an der all das stattgefunden hatte. Die GenTecs hatten das Vorauskommando dorthin bilden sollen - ihnen traute man zu, die Gefahr rechtzeitig wahrzunehmen und wirkungsvoll darauf reagieren zu
können. Angefangen bei ihren Augen, besaß auch ihre übrige Physis Reserven, von
denen ein normaler Mensch nur träumen konnte.
Scobee könnte mich mit ihren bloßen Händen umbringen, dachte Cloud. Wenn sie es
wollte.
Aber trotz aller Vorbehalte ging er auch jetzt noch davon aus, dass das nicht zu ihren
Instruktionen gehörte.
Der Türsummer riss ihn aus seinen Gedanken. Er stand auf und öffnete.
Darcy stand vor ihm_
»Du wirst es nicht glauben, was gerade passiert ist, John's. krächzte er mit hochrotem
Gesicht und weit aufgerissenen Augen.
Es wurde immer schwieriger, die Zusammenhänge zu erfassen - die eigenen
Gedanken davor zu schutzen, ins völlige Tohuwabohu abzudriften.
Cloud starrte in die Sternenkuppel, wo sich das virtuelle, computeraufbereitete Bild
des Jupiter abzeichnete.
Insgesamt fünf Augenpaare starrten dorthin.
Fassungslos.
Selbst die GenTecs - fassungslos...
»Er... er explodiert nicht«, keuchte Darcy, »er implodiert... !«
Niemand widersprach.
Auch nicht das Bild, das alle sahen - das auch die Erde sah, nur mit mehrminütiger
Verspätung.
Traute man den Anzeigen, war Jupiters Masse noch dieselbe wie zuvor, aber seine
Struktur war völlig verändert - und sein Volumen.
»Kein Zweifel«, sagte Scobee, »er schrumpft. Er hat nur noch ein Drittel seines
ursprünglichen Umfangs... und es geht weiter!«
Die Szene erinnerte an eine Zeitrafferaufnahme.
Aber der unheimliche Prozess lief, wie die Uhreinblendung verdeutlichte, in Echtzeit
ab.
Der Riesenplanet verlor immer mehr von seiner eindrucksvollen Größe, und
erstaunlicherweise blieben seine Trabanten davon verschont, ebenfalls in
Mitleidenschaft gezogen zu werden.
»Umlaufbahnen sämtlicher Monde bleiben stabil«, sagte Resnick. »Jupiters Masse ist
unverändert. Er verliert keine Substanz, wird nur... kompakter. Seine Dichte nimmt
in gleichem Maße zu, wie sein Umfang schrumpft! «
»Status des Strahls?«, fragte Scobee.
»Verschwunden«, meldete Jarvis. »Nicht mehr wahrnehmbar.«
Der Schwarzstrahl aus der Unendlichkeit existierte also nicht mehr...
..- und dafür implodierte jetzt der Planet, auf den er für unbestimmte Zeit gerichtet
gewesen war?
Hatte die unbekannte Energie ihn dazu angeregt?
War das die Absicht gewesen, die von Anfang an dahinter gesteckt hatte - einen
Planeten zerstören?
»Es macht keinen Sinn«, flüsterte Cloud. »Es macht überhaupt keinen Sinn...«
Die Gedanken an seinen Vater - wie ausradiert.
Die Gedanken an den Auftrag, mit dem sie zum Mars gekommen waren - wie
ausgelöscht.
Aus dem Funk dröhnte Cronenbergs Stimme. Er verlangte einen Bericht. Niemand
kümmerte sich darum, nicht einmal Scobee. Wie gebannt stand sie da, als wollte sie
sich keine Sekunde des Schauspiels entgehen lassen. Vielleicht sagte ihr auch nur ihr
Logikvermögen, dass es keine Bedeutung hatte, ob sie der Erde eine Statusmeldung
gab - ebenso schnell, wie diese dort ankam, waren auch die Bilder dort, die sie
beschreiben konnte.
Rasend schrumpfte Jupiter.
Und nicht nur dass er kleiner wurde, er verlor auch noch den Rest von Farbe, wurde
erst grau, dann immer dunkler, finsterer, bis er die Qualität an Lichtlosigkeit
erreichte, die schon das Phänomen ausgezeichnet hatte, mit dem alles in Gang
geraten war.
.Dieser ganze Wahnsinn.
»Dahinter steckt Kalkül«, behauptete Cloud, ohne damit zu rechnen, dass ihm
jemand zuhörte.
»Und welches?«, spöttelte Scobee.
Er zuckte die Achseln, verlor jede Angriffslust. In diesem Moment hätte er jede
Gesellschaft akzeptiert, die etwas Menschliches ausstrahlte. In diesem Moment war
er froh, nicht allein zu sein.
»Das ist unglaublich... Er hat jetzt nur noch Erdumfang...!«
Auch Cloud las die Werte, während er hörte, wie Darcy weiterplapperte. »Wo soll
das noch enden?«
Cloud schüttelte den Kopf. Die Splitter fremder Bewusstseine, die Schatten
Verstorbener begannen sich in ihm zu formieren. Brachten ihn auf einen Gedanken,
der ihm selbst nie gekommen wäre. Wiesen ihn auf eine Ähnlichkeit hin, die er für
völlig unmöglich abtun wollte... es dann aber doch nicht konnte.
»Es erinnert an etwas, was nicht sein kann«, machte er den Versuch, sich den
anderen mitzuteilen.
»Woran'?«, ermunterte ihn Scobee. Der Blick, den sie ihm schenkte, überraschte ihn.
Er zeigte, dass unter der harten Schale, die sie speziell seit dem Führungswechsel zur
Schau stellte, etwas sehr viel Weicheres, Verletzlicheres schlummerte.
Cloud spürte plötzlich alle Augen auf sich gerichtet.
Er zögerte - doch dann sprach er seinen Verdacht aus, den er inzwischen mit den
Gespenstern in seinem Gehirn teilte.
»Wir gehen von der Einflussnahme einer fremden Macht aus, korrekt?«, sagte in
diesem Moment Millionen Kilometer entfernt die Präsidentin der Vereinigten
Staaten.
Sarah Cuthbert ließ ihren Blick über die versammelten Köpfe schweifen. Kluge
Köpfe. Geniale Geister.
So hatte man sie ihr jedenfalls angepriesen.
Ihre Worte riefen Nicken hervor. Hie und da sogar verbale Bestätigung.
Die Begegnung fand im Auditorium des Weißen Hauses statt. Unter Ausschluss der
Öffentlichkeit und unter strengsten Sicherheitsmaßnahmen.
Viele der Versammelten waren unter Lebensgefahr von weither angereist. Jede Reise
bedeutete mittlerweile Lebensgefahr.
»Aber was könnte sie beabsichtigen? Warum sollte sie Jupiter zerstören? Wenn sie
uns Böses will, hätte sie doch gleich die Erde ins Visier nehmen und... beschießen
können.«
»Wir können wochen- und monatelang darüber spekulieren und werden doch zu
keinem Ergebnis kommen«, sagte der letztjährige Gewinner des Nobelpreises für
Physik, ein grauhaariger Europäer, dessen Name Sarah entfallen war. »Ganz einfach,
weil sich sowohl der Strahl als auch seine Verursacher jedweder Analyse entziehen.
Wir wissen nicht, woraus er sich zusammensetzt. Wir messen Veränderungen an
Jupiter, ohne sagen zu können, worin diese letztlich gipfeln. Und wir sehen weit und
breit nicht einmal den Zipfel der Spezies, die all dies zu verantworten hat!«
Sarah nickte. »Sie sind also nicht nur rat-, sondern regelrecht hilflos. Und ebenso
hilflos sind wir dem ausgeliefert, was da noch auf uns zukommen mag.«
Niemand widersprach.
Was für ein Armutszeugnis für eine Zivilisation, dachte Sarah. Ob die Fremden, die
uns aufs Korn genommen haben, wussten, was für ein leichtes Spiel sie hier haben
würden? Haben sie uns deshalb sogar herausgesucht?
Sie hätte die Versammlung am liebsten sofort verlassen.
»Wir können nicht einmal mit Gewissheit sagen, wozu der dunkle Strahl Jupiter
anregt?«, fragte sie in die Runde hinein.
Betretenes Schweigen.
Dann: »Im schlimmsten Fall - aber das habe ich bereits schriftlich ausgeführt - wird
er auseinander brechen. Und seine Trümmer könnten uns durchaus gefährlich
werden. Schon der Einschlag eines >nur< kilometergroßen Brockens kann
verheerende Folgen nach sich ziehen und...«
»Besteht Jupiter nicht vorwiegend aus Gas?«, unterbrach Sarah den Mann, dessen
Dossier sie gelesen hatte.
Er nickte. »Aber nicht ausschließlich. Seine festen Bestandteile wären ausreichend,
das System mit einem neuen Trümmerfeld zu verseuchen. größer als der bereits
bestehende Asteroidengürtel.«
Plötzlich trat von hinten eine Gestalt zu Sarah ans Rednerpult.
Sid Palmer.
Er lehnte sich vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Sarah erbleichte. Mit bebenden Lippen wandte sie sich an die Elite der Wissenschaft. »Zumindest was Jupiter angeht, sind wir nicht mehr lange auf Spekulationen angewiesen. Mir wurde gerade mitgeteilt, dass die Veränderung ihrem Höhepunkt entgegenstrebt. Die neuesten Messungen behaupten, dass er sich in ein Objekt verwandelt, das allgemein als...« Sie zögerte, holte noch einmal tief Atem und wiederholte dann das, was Palmer ihr ins Ohr geflüstert hatte; dabei hatte sie das Gefühl, sich zur kompletten Närrin zu machen. »... das allgemein als Schwarzes Loch bekannt ist«. führte sie ihren Satz zu Ende. Dann wartete sie auf das mitleidige Gelächter, auf den Widerspruch, der solchen Worten fast zwangsläufig folgen musste.
Die Gesichter um Cloud herum waren wie versteinert.
Seit er seinen Verdacht ausgesprochen hatte.
Mit einem sterbenden Stern hatte er das verglichen, was Jupiter gerade widerfuhr.
Und die gespenstische Veränderung erinnerte tatsächlich frappierend an einen
kollabierenden Stern, der immer mehr in sich zusammenfiel. immer dichter wurde,
bis...
Aber Jupiter war ein Planet.
Er unterlag ganz anderen physikalischen Gesetzmäßigkeiten als ein Stern.
Nur...
... er schien es vergessen zu haben!
Er reagierte wie ein kollabierender Neutronenstern, schrumpfte immer schneller,
immer heftiger zusammen und hatte vor einer Minute nur noch einen Umfang von
tausend Kilometern gehabt.
Inzwischen waren es nur noch hundert, und gleich...
Der Prozess kam zum Stillstand. Aber erst, als er den Planeten fast vollständig vom
Bildschirm gefegt hatte.
»Ein Kilometer«, staunte Darcy. »Nur noch ein läppischer Kilometer! Entweder die
Instrumente sind verrückt - oder wir sind es! Wer da nicht den Verstand verliert... ! «
Aber es blieb dabei, und wenige Minuten später kam die Bestätigung der irdischen
Observatorien.
Die Bestätigung für etwas nie für möglich Gehaltenes.
Der ehemalige Planet Jupiter - ehe
malig dick unterstrichen - hatte sich in ein Gebilde verwandelt, dem ein
fürchterlicher Ruf vorauseilte.
In einen gefräßigen Moloch, der noch immer dieselbe Masse wie zuvor besaß, diese
aber nun auf einem Raum konzentrierte, der im Durchmesser kaum noch tausend
Meter betrug.
Ein Schwarzes Loch, das die Raumzeit um sich krümmte und faltete, aber nicht Hunderte, Tausende Lichtjahre entfernt, in sicherer Entfernung rotierte, sondern in fast >greifbarer< Nachbarschaft der Erde, nur einen >Steinwurf< von Mars entfernt... »Wir werden alle sterben«, sprach Darcy den Gedanken aus, der jeden befiel, der sah, was sie sahen. »Wir werden alle elend krepieren! Die Strahlung - denkt eigentlich irgendjemand an die Strahlung, die hier freigesetzt wird...?!«
Minutenlang blieb das Bild stabil.
An die Stelle Jupiters war ein lichtschluckendes Gebilde von nur noch einem
Bruchteil seiner ehemaligen Größe gerückt.
Ein Schwarzes Loch.
Oder zumindest etwas, das wie ein Schwarzes Loch aussah.
»Warum reißt es nicht die Monde ins Verderben?«, fragte Resnick. »Warum geraten
sie nicht aus ihrer Bahn?«
»Weil«, antwortete Cloud, der dem Wissen lauschte, das ihm auf künstlichem Wege
aufgepfropft worden war, »das Objekt, das wir optisch kaum noch wahrnehmen, an
Masse offenbar überhaupt nichts verloren hat. Die Gravitation ist noch völlig mit der
des Jupiters identisch. Die Monde werden, falls nicht noch eine weitere
eklatanteVeränderung ansteht, den unsichtbar gewordenen Winzling noch in
Jahrmillionen umkreisen.«
»Es macht keinen Sinn«, griff Scobee die Worte auf, die auch Cloud schon benutzt
hatte. »Was sollte das für einen Zweck haben?«
Sie erhielt die Antwort schneller, als ihr lieb war.
Jupiter veränderte sich kein weiteres Mal.
Aber er spie etwas aus, das niemals Teil von ihm gewesen war.
Von einem Moment zum anderen waren sie da.
Zehn, zwanzig, fünfzig und mehr Objekte.
Sie brachen aus dem dunklen Kern hervor wie aus dem perfektesten aller Verstecke,
und es war GT-Jarvis, der sie als Erster ortete und auf den Schirm brachte.
»Allmächtiger!«, flüsterte Cloud.
Am ehesten hätte er noch erwartet, dergleichen irgendwo unter dem Marssand
verborgen zu finden - aber nicht hervorströmend aus einem Gebilde, das eigentlich
eine Sternleiche war.
»Sie sind künstlicher Natur - kein Zweifel! Jarvis, versuchen Sie uns eine klare
Darstellung von einem der Objekte zu liefern!«
Unbewusst war er wieder in die Rolle
des Kommandanten verfallen.
Eine Maßregelung blieb aus.
GT Scobee war so überwältigt wie er. »Schiffe...«, hörte er sie stammeln.
»Das sind tatsächlich... fremde Raumschiffe!«
Das Gebilde war etwa fünfhundert Meter lang und hatte einen Durchmesser von knapp sechzig Metern. Seine Grundform erinnerte entfernt an eine Rakete irdischer Bauart, in der Summe seiner Details wirkte es jedoch völlig anders, ungleich fortschrittlicher und fremder als alles, was Menschenaugen je erblickt hatten. Um seinen konisch zulaufenden Grundkörper schlängelte sich spiralartig ein >Schlauch<, der aus keiner festen Materie zu bestehen schien und wie geronnene Schwärze aussah, von elektrischen Entladungen durchlaufen. Vorangetrieben wurden die Gebilde von Triebwerken, deren Ausstoß keinen Rückschluss auf das angewendete Prinzip zuließ - zumindest von jemandem, der dergleichen noch niemals begegnet war. »Jetzt beginnt es, einen Sinn zu machen«, sagte Cloud. »Ach?« Die letzten Tage hatte ihm Scobee nie mehr so nahe gestanden - räumlich betrachtet -, wie in diesem Moment. Er konnte sogar ihren ganz speziellen Duft auffangen. Sie war eine Exotin, nicht nur von ihrem Äußeren und nicht nur von ihrer Herkunft betrachtet. »Was dagegen, wenn ich mal munter drauflos spinne?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf, so heftig, dass ihr blauschwarz schimmerndes Haar das Gesicht regelrecht peitschte. »Nur zu. Ich habe Ihren Unterhaltungswert immer zu schätzen gewusst.« »Dieser Einbruch von Schwärze vor drei Tagen«, sagte er, »könnte deren Methode gewesen sein, unser Sonnensystem zu vermessen. zu... wie soll ich sagen... zu scannen.« »Wozu?« »Um alles über uns herauszufinden? »Und Sie meinen, sie waren zufrieden mit dem, was sie fanden?« »So zufrieden, dass sie das geeignete Objekt heraussuchten, um sich Zugang hierher zu verschaffen.« »Zugang?« »Der schwarze Strahl, den wir beobachtet haben, hat Jupiter angeregt, sich in ein Wurmloch zu verwandeln.« »Ein Wurmloch?« Cloud zeigte auf die Schiffe (der automatische Objektzähler blieb bei 76 stehen), die sich mit atemberaubendem Tempo von der Position des kollabierten Planeten wegbewegten. »Wir haben es nicht einfach nur mit einem künstlich geschaffenen Schwarzen Loch zu tun«, sagte er im Brustton der Überzeugung, »sondern mit dem, was die theoretische Wissenschaft als Einstein-Rosen-Brücke bezeichnet. Jemand...«, er spürte, wie sich um seinen Mund herum das erste echte Lächeln seit Tagen herum bildete, »... hat ein Tor geöffnet und ist dabei, uns einen Besuch abzustatten. Jemand,
der eine Technik beherrscht, gegen die wir noch Steinzeitmenschen sind, deren
höchste Errungenschaft der Faustkeil ist...«
Scobee wandte nicht den Blick von ihm, als sie fragte: »Und? Was meinen Sie?
Kommen sie in Frieden?«
Ihm wurde bewusst, dass dies genau die Frage war, die auch er sich stellte - die
wichtigste Frage überhaupt, auf die er aber keine Antwort hatte.
Zumindest noch nicht.
»Können wir schon sagen, welchen Kurs sie eingeschlagen haben?«, wandte er sich
an Resnick.
Der GenTec bejahte. »Erde«, sagte er. »Mit hundertprozentiger Gewissheit fliegen all
die Äskulap-Schiffe Richtung Erde und werden sie bei gleichbleibender
Geschwindigkeit in zirka einer Stunde erreicht haben.«
Eine Stunde!
»Äskulap-Schiffe?«, hakte Scobee nach, als wäre der Umstand, dass Resnick die
Schiffe der Fremden bereits mit einem Namen belegt hatte, das einzig
Bemerkenswerte an dem, was er gerade gesagt hatte.
»Sehen sie nicht aus wie dieses Symbol der Arzteschaft, der von einer Schlange
umwundene Stab des Askulap?«, erwiderte der Klon.
Ein verwegener Vergleich, aber irgendwie schien er Scobee zu gefallen, denn sie
verwendete ihn eine Minute später, als sie Verbindung zur Erde herstellte.
Wo vielleicht noch niemand ahnte, was auf sie zukam.
4. Invasion! Mehrere Dutzend Schiffe, ein jedes so groß wie ein Wolkenkratzer, schwenkten in
einer Distanz von knapp 1.500 Kilometer zur Erdoberfläche in den Orbit ein.
»Ich dachte immer, das sei Science
Fiction«, sagte Sarah Cuthbert tonlos.
»Pure Phantasterei...«
»Ich schätze«, erwiderte Sid Palmer,
»ein jeder auf der Welt - von ein paar
durchgeknallten Endzeitfanatikern abgesehen - wünschte sich, es wäre so. Aber diese
verfluchten Dinger sind real. Und der Flottenstärke nach zu schließen, die hier
aufgeboten wird, handelt es sich endgültig nicht um einen Höflichkeitsbesuch.«
»Was sagt General Murdock?«
»General Murdock sagt gar nichts mehr. Vielleicht hat er einen Infarkt erlitten - die
wahrscheinlich sanfteste Methode, sich vor dem Inferno zu drücken, das uns noch
bevorstehen könnte...«, mischte sich Almaeida ein. Er saß linker Hand von Palmer.
»Als Zyniker kannte ich Sie bisher noch gar nicht, George.«
»Ich erkenne mich selbst nicht wieder.«
Der riesige Wandmonitor, dessen gestaffelte Projektionsfelder eine täuschend echte
3-D-Ansicht ermöglichten, zeigte eine Simulation, die auf aktuellsten Daten irdischer
Radarsatelliten basierte. Der blau gefärbte Erdball war zu sehen, umgeben von 74
roten Markierungen - was der exakten Zahl der fremden Raumschiffe entsprach, die
sich jetzt in regelmäßigen Abständen zueinander um den Globus verteilt hatten.
Der Computer hatte ein Raster erstellt, das die Längen- und Breitengrade der Erde
zublendete. Auf diese Weise war es leicht, die Präzision zu erkennen, mit der die
fremden Einheiten agierten.
Fremd, ja, dachte die Präsidentin und sah sich in dem fensterlosen Raum um, der sich
unter dem Weißen Haus befand, aber deshalb auch automatisch feindselig?
Sie antwortete sich selbst mit einer Häme, die problemlos mit Palmers neu
entdecktem Hang zum Zynismus konkurrieren konnte: Wie würdest du die
Verwandlung Jupiters sonst nennen? Sie haben mal eben den größten Planeten
unseres Systems verschwinden lassen und in ein Schwarzes Loch... ein Wurmloch...
oder was auch immer verwandelt! Selbst wenn sie nur Hallo sagen wollen, wird nach
ihrem Fortgang nichts mehr so sein, wie es einmal war.
Das würde es ganz gewiss nicht.
Erst recht nicht, wenn sie blieben.
Dies war der erste Kontakt mit einer fremden Intelligenz.
Mit Wesen aus den unerforschten Tiefen des unendlichen Alls...
Bis zum heutigen Tag hatte sich die seriöse Wissenschaft trotz der Abermilliarden
Sternen, die allein diese Milchstraße bildeten, nicht entblödet, lautstarke Zweifel an
der Existenz intelligenten Lebens außerhalb der Erde anzumelden. Die
aberwitzigsten Thesen waren aufgestellt worden, um diese Zweifel zu untermauern
Inzwischen stellte sich nicht mehr die Frage, ob fremde Intelligenz existierte,
sondern nur noch, wie diese beschaffen war.
Waren die Fremden menschenähnlich? Wenigstens annähernd humanoid?
Was hatten sie für eine Mentalität, wie waren ihre Moralvorstellungen, wie lauteten
die ethischen Grundsätze, auf denen ihre Zivilisation fußte?
Was das angeht, sollten sie uns vielleicht nicht zu ähnlich sein - wenn wir noch ein
Fünkchen Hoffnung haben wollen, diese Begegnung zu überstehen, dachte Sarah.
Laut sagte sie: »Hat die RUBIKON nicht von 76 Schiffen gesprochen? Dann würden
zwei fehlen. Ich brauche eine Verbindung zu Murdock - sofort!«
In diesem Augenblick grellte ein Blitz auf.
Er kam von draußen, und seine Lichtfül1e bahnte sich mühelos ihren Weg durch die
gardinenverhangenen Fenster des Raumes und explodierte auf Sarahs Retina.
Sie schrie auf, tastete instinktiv um sich und dachte, für immer erblindet zu
Seih.
Auch Almaeida und Palmer stöhnten
oder schrien, je nach Temperament.
Dann kehrte, langsam, das Sehvermögen zurück, blieb aber zunächst eingeschränkt.
Glühende Punkte schienen vor Sarahs Augen zu tanzen. Der Raum wurde wie durch
Milchglas betrachtet wieder sichtbar.
»Was war das?«
Obwohl sie noch am ganzen Leib zitterte, versuchte sie sich nichts von den Ängsten
anmerken zu lassen, die in ähnlicher Heftigkeit über sie gekommen waren, wie
Stunden zuvor (war das wirklich erst Stunden her?) während des Einfalls der abnormen Dunkelheit. Der Wandmonitor arbeitete immer noch, zeigte aber jetzt nur eine schneeweiße Fläche - als hätte jemand den Verbindungsstecker zum Rechner gezogen. Palmer recherchierte bereits über das Terminal des Infopools, vor dem er saß. Und nachdem wieder relative Ruhe eingekehrt war, sagte er: »Es waren die Fremden.« Sarah hatte nichts anderes erwartet, aber bevor sie Palmer darauf hinweisen konnte, wurde er bereits konkreter: »Offenbar haben die fremden Schiffe unsere sämtlichen im Orbit befindlichen Satelliten mit einem Schlag ausgelöscht - alles von Menschenhand Erbaute, das einmal dort oben kreiste, existiert nicht mehr. Die Energie, die hinter dem Blitz steckte, hat jeden Satelliten, jeden Uraltschrott zerstrahlt. Der Orbit ist wieder so sauber, wie in den Tagen des PräRaumfahrtzeitalters... ! « »Skytown?«, stellte Almaeida die Frage nach der radförmigen, einen knappen halben Kilometer durchmessenden Weltraumstation, die vor einem Jahrzehnt in gemeinsamer Anstrengung fast aller Weltstaaten als Nachfolgeprojekt zur ISS entstanden war - und seither sowohl der Wissenschaft als auch dem Kommerz gedient hatte. Skytown war eine Touristenattraktion und bewegte sich in einem Abstand von gut dreitausend Kilometern über der Erde - höher als alle ehemals zivilen oder militärischen Satelliten. »Ist davon ausgenommen«, erklärte Palmer, nachdem er sich im Infopool noch einmal vergewissert hatte. Sarah versuchte, die Erleichterung darüber in sich wirken zu lassen. Wie viele Menschen lebten, arbeiteten oder urlaubten permanent auf Skytown? Ein paar Hundert? Tausend? Doch in die Erleichterung mischte sich Palmers neueste Meldung: »Bodenradar stellt fest, dass sich bei den fremden Schiffen etwas tut. Moment... Ich leite um auf den Monitor...« Augenblicklich füllte sich die Wand mit neuen Mustern, einer neuen Simulation der Verhältnisse im Raum über der Erde. Der zivile Luftverkehr lag immer noch nieder, lediglich Militärmaschinen flogen wieder in vollem Umfang - aber sie wurden von der Radardarstellung ausgeklammert, um keine Verwirrung zu erzeugen. Alles, was der Schirm an Objekten über der Erde zeigte, war - mit Ausnahme Skytowns - extraterrestrisch. 74 Raumschiffe, die entlang der Meridiane Position bezogen hatten... ... und aus denen jetzt wahre Schwärme weiterer Objekte hervorquollen! Sarah ballte bei dem Anblick unwillkürlich ihre Fäuste. »Bomben?« Palmers Blick pendelte kurz zwischen ihr, Almaeida, dem Terminaldisplay und dem großen Wandschirm hin und her. »Ich weiß nicht, was es ist, aber kann feststellen, dass es nicht fällt. Es könnten Sonden sein... Tiber ihren Sinn und Zweck vermag ich aber nicht einmal zu spekulieren...« »Sonden«, echote Almaeida. »Soll das heißen, diese Arschlöcher haben unsere Satelliten gekillt, um Platz für ihre eigenen zu haben?«
»Drastisch formuliert: ja. Es könnte so sein. Aber ich bin kein Militärexperte, erst recht keiner für außerirdische Belange, und...« »Murdock!«, erinnerte ihn Sarah. Sie brauchte nicht mehr zu sagen. Palmer schaltete hin und her und versuchte gleichzeitig, ein Echtbild einer der Sonden über eines der vernetzten irdischen Teleskope zu erhalten. Hubble III existierte nicht mehr. Der Blitz hatte es verschlungen, wie alles andere. Erst jetzt begriff Sarah, was das bedeutete, welche Folgen dieses neuerliche Ereignis für ihre Zivilisation haben musste. Sie warf einen Blick hinter sich, wo in der Ecke ein kleinerer Monitor lief, über den sich wahlweise jeder irdische TV-Sender empfangen ließ und der nahezu permanent lief. Auch jetzt war er eingeschaltet, aber er zeigte nur schwarzweiße Pünktchen, untermalt von statischem Rauschen. Es mochte noch immer TV-Sendungen geben - aber keine Relaisstationen im Orbit mehr, die die Programme in die Haushalte speisten. Was gegenwärtig an Informationen Einlass ins Weiße Haus fand, wurde über Bodenantennen gesendet. Auch lokale Kanäle mochten weiterhin empfangen werden, aber das gesamte Netzwerk überregionaler oder gar internationaler Verbindungen war zusammengebrochen. Sie haben uns in Sachen Telekommunikation in eine mildere Form der Steinzeit zurückversetzt, dachte Sarah - und spürte, wie sie die Fremden zu hassen begann, ohne bislang auch nur einen Einzigen von ihnen zu Gesicht bekommen zu haben. Und letztlich war es diese Gesichtslosigkeit des Gegners, die das Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins ins schier Unermessliche steigerte. »Achtung!«, sagte Palmer, »Murdock auf Leitung drei.« Sarah drehte sich halb in ihrem Sitz und drückte die entsprechende Taste ihres satellitenunabhängigen Supraphons. Auf dem kleinen Display erschien das verkniffene Veteranengesicht. Murdock hätte längst in Ruhestand sein können, eigentlich sogar müssen, aber in der gegenwärtigen Situation war die Präsidentin dankbar, auf seine Erfahrung zurückgreifen zu können. Auch wenn alle Erfahrung gegen einen solchen Feind am Ende wohl nichts nützen würde. Am Ende..., dachte sie, während sie dem Drei-Sterne-General zunickte,... sind wir das schon? Am Ende unseres Lateins - und unmittelbar vor dem Untergang stehend? Nein, dieses Szenario war keine Science Fiction. Die Erde hatte Besuch erhalten; Besuch, der noch rigoroser vorging als die frühen irdischen Entdecker, die ferne Kontinente erobert und ihre Ureinwohner bestohlen oder umgebracht hatten... kaum weniger rücksichtslos, als die Besucher in den Askulap-Schiffen es womöglich vorhatten, nur eben mit deutlich primitiveren Mitteln. Äskulap... Die Bezeichnung, von der RUBIKON-Besatzung übernommen, grenzte an Perversion. Der Äskulap-Stab stand für die Kunst zu heilen, Krankheiten zum Wohle der Menschheit auszumerzen. Das Einzige, was diese fliegenden Stahlungetüme auszumerzen trachteten, falls sich die schlimmste aller Befürchtungen bestätigte, war eben diese Menschheit...
Ich möchte nicht in meiner Haut stecken, dachte Sarah. Aber alle Selbstironie half nicht weiter. »Welche Optionen stehen uns noch offen, um unseren uneingeladenen Gästen begreiflich zu machen, dass sie hier nicht willkommen sind, General?« Murdock lachte in einer Weise, als müsste er sich erst vergewissern, ob die Frage überhaupt ernst gemeint war. Sarah hatte sein faltiges Schildkrötengesieht noch nie so starr, so maskenhaft gesehen. »Realistisch betrachtet?« »Mit nichts anderem ist uns gedient.« »Keine«, sagte er und hob die Hände. »Ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt, Mrs. President, das können Sie mir glauben - aber die Fremden sind uns technisch um Jahrhunderte oder mehr voraus. So wie sie den Orbit ohne ein Zeichen von Anstrengung leergefegt haben, wird es ihnen auch gelingen, jede Angriffsrakete, ganz gleich womit sie bestückt ist, abzuwehren, auszuradieren, zu vernichten! Bedauere, aber das ist meine feste Überzeugung.« Aschfarbene Blässe breitete sich über Sarahs Gesicht aus. Sie wusste nicht, welche Antwort sie von Murdock erwartet hatte, sicher war nur, dass die von ihm gewählten Worte auch noch den letzten Funken Zuversicht in ihr erstickten.
»Sie scheinen ihre Endpositionen erreicht zu haben«, sagte Palmer. Und meinte
damit die von den ÄskulapSchiffen ausgestreuten Sonden... oder was immer es war.
Das Bild wechselte.
Es dauerte eine Weile, bis Sarah, die immer noch unter dem Eindruck des kurzen
Gesprächs mit Murdock stand, es überhaupt wahrnahm.
»Die Aufnahme stammt von einer Sternwarte in den Rockys.« Palmer schien
Gefallen an der Moderation der eingehenden Daten gefunden zu haben. Es war
nichts, was man ihm vorwerfen konnte. Er war in seinem Element und schien alle
Gedanken an das Morgen ausgeblendet zu haben.
Vielleicht das Beste, was man in einer Situation tun konnte, in der nicht sicher war,
ob es dieses Morgen überhaupt geben würde.
Sarah blickte auf den ovalen Gegenstand, dessen wahre Größe mit zirka zwanzig mal
fünfzehn Meter ermittelt worden war.
Das Bild, das ihn wiedergab, war unscharf, von Schlieren durchzogen, aber es reichte
aus, sich einen Eindruck zu verschaffen.
Ein Ei, dachte Sarah. Ein Kuckucksei.
Die Assoziation setzte sich in ihr fest, während sie das Gebilde, dessen stumpfgraue
Oberfläche kaum Sonnenlicht reflektierte, näher in Augenschein nahm. Stacheln
ragten daraus hervor. Spitze Dornen.
»Was ist das.?«, hörte sich Sarah fragen.
»Vielleicht Antennen«, sagte Palmer. »Dies zumindest ist die am weitesten verbreitete Ansicht unter unseren Eierköpfen.« Sarah nahm seine despektierliche Ausdrucksweise kaum wahr. Ein bizarrer Gedanke erwachte in ihr. »Vielleicht...« Sie stockte. »Ja?«, fragte Palmer. »Vielleicht diente alles, was bisher geschah, nur der Vorbereitung zur... Kontaktaufnahme. Vielleicht ist es ihnen nicht anders möglich, Verbindung mit uns herzustellen. Unser bestehendes Satellitennetz könnten die Frequenzen...« Sie verstummte, weil ihr bewusst wurde, welchen Unsinn sie da redete. Dann klatschte sie in die Hände, hilflos. »Trotzdem, wie es aussieht, sind wir die letzten Hinterwäldler für sie. Was würden wir alles achtlos beiseite räumen, weil es uns den Weg zu einem im tiefsten Urwald lebenden Indianerstamm verstellt, wir aber hingelangen wollten, um ihn zu studieren?« »Würden wir so vorgehen«, sagte ihr Stellvertreter sanft, »bekämen wir sehr rasch ganz gehörigen Ärger mit irgendwelchen Instanzen, die sich der Wahrung der Menschenrechte verschrieben haben.« »Und wenn ihnen...«, sie zeigte nach oben, »...solche Instanzen fehlen? Wenn sie nicht ins Schema ihrer Denkweise passen? Modifizieren wir mein Beispiel. Nehmen wir einen Forscher, der sich auf Termiten spezialisiert hat - und der an deren Bau absichtlich ein paar Zerstörungen hervorruft, nur um herauszufinden, wie sie darauf reagieren.« »Dann sollten wir schon lieber bei Ihrem ersten Beispiel bleiben, Mrs. President«, erwiderte Palmer. »Der Vergleich mit einer Termite widerstrebt mir im...« Er hielt inne. Offenbar empfing er über sein Terminal eine neue Information von Belang. »Was ist?« Sarah rutschte in 'ihrem Sitz hin und her. Sie waren mit sämtlichen Nervenzentren der USA verbunden. Dieses Netzwerk hatten die Außer irdischen noch nicht zerschlagen. Dass sie es noch nicht getan hatten, obwohl sie dazu zweifellos in der Lage gewesen wären, musste indes nicht bedeuten, dass sie es nicht noch nachholen würden. »Spannen Sie uns nicht auf die Folter! Eine neue Katastrophe? Geht es um die RUBIKON?« »Auf dem Mars ist die Lage unverändert - zumindest ist dies der letzte Stand meiner Informationen. Dafür rumort es vermehrt hier unten auf der Erde. Gerade kam ein Gespräch mit höchstem Dringlichkeitsvermerk herein. Es trägt die Signatur Sadakos.« Für einen Moment tauchte das Bild eines antiquierten roten Telefons vor Sarahs geistigem Auge auf - in Zeiten des Kalten Krieges hatte es eine direkte Verbindung zwischen den verfeindeten Weltmächten ermöglicht. Das, wovon Palmer gerade sprach, war das heutige Äquivalent zur damaligen Einrichtung. »Her damit!« »Aber...« »Ich will wissen, was er uns mitzuteilen hat.«
Ein Teil des Pults, hinter dem Sarah Platz genommen hatte, schien seine Festigkeit zu verlieren. In Wahrheit strukturierten sich die Nanoteilchen auf der Oberfläche nur um, als der entsprechende Befehl sie erreichte. Eine Wiedergabefläche erschien; gleichzeitig drang aus einem verborgenen Lautsprecher die kaiserliche Stimme. Sie sprach fließendes Englisch. »Wir haben die Kontrolle verloren. Wir werden gemeinsam untergehen. Aber ich gedenke nicht, kampflos die Waffen zu strecken. Mein Volk ist bereit zu sterben - falls nötig, werden wir die heimtückischen Fremden mit in den Untergang nehmen!« Sarah überging Sadakos ungewohnte Unhöflichkeit; sie vermisste die sonst üblichen Begrüßungsfloskeln nicht wirklich. »Wenn auch nur die geringste Aussicht bestünde, dass wir mit unseren Arsenalen etwas ausrichten könnten...« »Wir haben es bislang nicht einmal versucht«, unterbrach der Kaiser sie mit der kalten Arroganz, die ihm bei seinem eigenen Volk den Nimbus eines Halbgottes eingebracht hatte. »Aber jede Geduld ist einmal erschöpft.« »Ich kann nur für mich sprechen«, erwiderte Sarah ungerührt, »und ich befürchte, dass der Start auch nur einer Nuklearrakete eine Gegenreaktion auslösen würde, die uns endgültig und todsicher das Genick brechen würde. Wir haben es hier nicht mit irgendeinem aufmüpfigen Bananenstaat zu tun.« Sadakos Augen weiteten sich kurz. Er trug das Haar nach alter Sitte im Nacken zu einem Zopf geflochten. Ziegenbart und buschige Augenbrauen ließen ihn wie einen Greis erscheinen, obwohl er, falls hier keine innerstaatliche Kosmetik seitens der Chinesen betrieben worden war, erst die Mitte der fünfzig erreicht hatte. Manche Menschen werden eben schon alt geboren, dachte Sarah. Sie hatte noch nie ein gutes Gefühl in der direkten Konfrontation mit Sadako gehabt. »Sie glauben noch immer an die Möglichkeit eines Dialogs mit den... Eindringlingen?« »Ja!« In dem Moment, da sie es so vehement sagte, wusste sie selbst nicht, ob es ihre feste Überzeugung war. Sadako schüttelte fassungslos den Kopf. Im Hintergrund waren seine festlich gekleideten, engsten Verwandten zu erkennen, mit denen er sich stets umgab, wie mit einem menschlichen Schild. Gegen das, was aus dem Orbit drohte, würden sie ihn nicht schützen können, aber er war klug genug, um dies zu wissen. »Dann habe ich eine kleine Überraschung für sie«, sagte der Gottkaiser des Neochinesischen Reiches. »Ihre Leute sollen den Anhang freigeben, der diese Verbindung begleitet. Wenden Sie den üblichen Schlüssel an, um ihn zu dechiffrieren.« Sarah tauschte einen Blick mit Palmer. Er nickte, veranlasste alles Notwenige, und zwei Sekunden später öffnete .sich ein weiteres Fenster in ihrem Pult. »Es handelt sich um eine Aufzeichnung«, erläuterte der Kaiser, »aber sie ist keine zehn Minuten alt.«
Sarah nickte und richtete ihre Aufmerksamkeit auf das Geschehen, das einen Raum
zeigte, in dem sich eine große Anzahl von Asiaten in Raumanzügen aufhielten.
Tyconauten, wie Astronauten in China genannt wurden. Die Männer und Frauen
befanden sich in heller Aufregung. Die Wände des Raumes bestanden aus einer
besonders widerstandsfähigen Glaslegierung und ermöglichten den Blick ins Freie.
Luna, erkannte Sarah. Es sind Bilder aus einer der lunaren Förderungsstätten.
Dort war, unter strengster Geheimhaltung, die RUBIKON entstanden, und von dort,
von der der Erde abgekehrten Mondseite aus, war sie auch zum Mars aufgebrochen.
Im gleißenden Sonnenschein hatte sich nun ein gigantischer Schatten über die
Mondlandschaft und die weitläufige Fabrikanlage gesenkt. Die Tyconauten
gestikulierten eindringlich und zeigten immer wieder aufgeregt nach draußen, wo...
... etwas kam.
Wo sich ihnen etwas aus dem atmosphärelosen Abgrund zwischen den Sternen
näherte.
Ein Gebilde, dem Anschein nach groß wie ein Berg.
»Ein Schiff«, ächzte Almaeida, der zum Pult getreten war und die Aufzeichnung
ebenso mitverfolgte wie Palmer.
»Einer der vermissten Askulaps...!«
Die Präsidentin nickte. »Beim Austritt aus dem Wurmloch meldete die RUBIKON,
76 Schiffe geortet zu haben. Aber lediglich 74 davon wurden später von uns erfasst
und hängen nun im Orbit über der Erde. Zwei fehlen. Jetzt wissen wir, wo zumindest
eines davon abgeblieben ist...«
»Sehen Sie sich alles genau an«, forderte Sadako sie auf, »sehen Sie sich an, was auf
dem Mond geschehen ist - vor wenigen Minuten...«
Der Äskulap senkte sich herab, wirbelte Tonnen von Staub auf, blieb aber stets
sichtbar, während er in einiger Entfernung mit seiner Breitseite aufsetzte. Um seine
Hülle zuckten bläuliche Blitze, auch noch nachdem er zur Ruhe gekommen war. Die
Glaswände hielten den Erschütterungen, die das landende Schiff auslöste, stand -
immerhin.
Bis... bis die entlang des fremden Raumschiffs züngelnden Blitze sich plötzlich an
einem Punkt der Hülle sammelten, sich zu einem einzigen gewaltigen verdichteten -
und dieser genau in Richtung der aufzeichnenden Kamera abgefeuert wurde.
Auf die Station mit all ihren Menschen zu.
Sarah sah das stahlhafte Glas zerbersten. Glaubte auch noch zu erkennen, wie die
Körper sich unter dem abrupten Vakuumeinbruch aufblähten, dann...
... dann riss die Aufzeichnung ab.
Gnädigerweise.
Sarah war froh, dass ihnen letzte Details über die genauen Umstände, unter denen die
Tyconauten den Tod gefunden hatten, erspart geblieben waren. Aber schon ihr
nächster Gedanke war: Mörder!
Und als sie sich wieder Sadako zuwandte, schien sich ihr warmes Blut in etwas
Gletscherkaltes verwandelt zu haben. »Was schlagen Sie vor?«, fragte sie den
Herrscher über zwei Milliarden Erdenbürger.
Die Sternenkuppel war neu ausgerichtet worden. War dem Flug der fremden Armada gefolgt und hatte sich nun dort eingepegelt, wo sie zum Stillstand gekommen war. Seither prangte die Erde im Wiedergabefeld des virtuellen Teleskops. Der blaue Planet, der eine fürchterliche Sehnsucht in der RUBIKON-Besatzung weckte, selbst in den GenTecs, die sich in gewisser Weise wurzellos fühlten. »Sie verteilen sich entlang der Meridiane«, sagte Darcy. »Aber zwei fehlen - ich zähle zwei weniger, als wir bei ihrem Austritt aus dem Wurmloch orten konnten...« Resnick bestätigte dies. In den folgenden Minuten wurde die RUBIKON-Besatzung Zeuge, wie die im Erdorbit befindlichen Äskulap-Schiffe ganze Schwärme von Sonden ausschleusten und diese sich ebenfalls im Orbit verteilten. »Wenn das keine neue Teufelei bedeutet«, sagte Darcy. »Ich verspeise meinen Raumhelm, wenn zur Abwechslung mal was Gutes dahintersteckt.« An friedliche Absichten der Fremden glaubte niemand mehr. Nicht, nachdem man Zeuge geworden war, wie die Äskulaps die im Erdorbit befindlichen irdischen Satelliten rücksichtslos beseitigt hatten. Cloud war an die Pulp-Magazine erinnert worden, die ihm sein Vater hinterlassen und in denen schon dessen Vater geschmökert hatte. Als Jugendlicher hatte er sie verschlungen, hatte begierig alles über glubschäugige, Tentakelbewehrte Monster von den Sternen verschlungen, was ihm in die Hände gefallen war. Nun wurde dieses stets wiederkehrende Motiv des bösen Außerirdischen von der Wirklichkeit mehr und mehr bestätigt. Das virtuelle Teleskop zeigte eine neue Veränderung der Lage an: Die Erde schien plötzlich aufzuflammen, hinter einem gleißenden Teppich aus Licht zu verschwinden und sekundenlang hundertfach heller als die Sonne selbst zu leuchten. »0 mein Gott!« Filter bauten sich in der virtuellen Linse auf, bewahrten die Augen der Betrachter vor Schaden. Dann erlosch die blendende Lichtfülle wieder, und es sah zunächst so aus, als wäre die Erde verschwunden. Doch dann entdeckte Darcy: »Sie ist noch da. Hinter dem Vorhang...« Was geht da vor?, dachte Cloud. Die außerhalb des >Vorhangs< befindlichen Askulap-Schiffe tauchten wenig später in das diffuse Feld ein, wo auch sie aus der Gerätewahrnehmung verschwanden. Ein weiteres Indiz dafür, dass die Erde noch existierte, nur den Blicken aus dem All entzogen. Auch die Ortung stieß ins Leere, und Scobee informierte die anderen: »Der Funkkontakt zur Erde ist völlig abgebrochen. Als das Licht aufflammte, hatte ich Cronenberg an der Strippe. Er brach mitten im Satz ab. Seitdem versuche ich, ihn wiederzukriegen - aber es scheint aussichtslos.«
»Die ausgeschleusten Maschinen«, sagte Cloud. »Sie haben eine Art Wall um die
Erde errichtet.«
In diesem Augenblick rief GT Jarvis etwas, was ihnen schlagartig bewusst machte,
dass sie sich selbst viel zu lange sicher gewähnt hatten: »Da kommt was auf uns zu
...! «
Kein Zweifel, eines der Askulap-Schiffe hielt genau auf die Oberflächenposition der
RUBIKON zu!
»Wir müssen hier raus«, sagte Cloud.
»Sie sind wirklich wahnsinnig - wohin denn, bitte? Wohin sollten wir gehen?«,
erwiderte Scobee.
»Wenn wir an Bord bleiben, ist das unser sicherer Tod. Wir liegen hier wie
auf dem Präsentierteller. Wir könnten
vielleicht noch starten und versuchen,
von hier wegzukommen. Aber glauben
Sie im Ernst, wir würden es schaffen, mit
einer Nussschale vor einem ultramodernen Flugzeugträger zu flüchten...?«
»Und die Alternative?«, schnarrte sie zurück.
»Wir verlassen die RUBIKON und versuchen uns zum Habitat der ARMSTRONG
durchzuschlagen. Dort gibt es alles, was uns auf Monate hinaus ein Überleben sichert
- gesetzt den Fall, die Außerirdischen erachten es als nicht wert, sich um die
ARMSTRONG zu kümmern. Wir schalten die Funkanlage hier auf Dauersendung -
wahrscheinlich haben wir die Fremden ohnehin mit unserem permanenten Kontakt
zur Erde auf uns aufmerksam gemacht. Der Askulap, den Jarvis geortet hat, hält
schnurgerade auf uns zu und wird in wenigen Minuten hier sein. Dann geht's uns an
den Kragen. Sie werden nichts von der RUBIKON übrig lassen - und falls doch,
werde ich über meine Fehleinschätzung auch nicht traurig sein. Aber Sie sind der
Commander. Wenn Sie hier bleiben und auf Gott vertrauen wollen, bitte. Nur:
Erlauben Sie wenigstens mir, mich zur Armstrong abzusetzen.«
»Und wenn ich diesen Irrsinn nicht unterstütze?«
»Gehe ich auch. Sie können mich dafür ja vor ein irdisches Gericht schleifen. Falls
das Jüngste Ihnen nicht zuvorkommt.«
Scobee starrte ihn fünf Sekunden lang nur an, wie sie ihn noch nie angestarrt hatte.
Dann wandte sie sich abrupt von ihm ab und stapfte auf das Schott zu, das aus der
Zentrale führte.
»Wohin wollen Sie?«, rief Cloud ihr nach.
Ohne sich umzudrehen, erwiderte sie: »Glauben Sie, es wäre ratsam, das Schiff
unbewaffnet zu verlassen?«
Er verstand.
»Vielleicht werden wir doch noch Freunde«, sagte er. »Richtig dicke Freunde.«
»Wenn das keine Drohung ist...« Das Schott öffnete sich, und auch Cloud schloss sich ihr jetzt an. Bereits fünf Minuten später waren sie auf dem Weg ins Freie, wo sie eines der ausgeschleusten Fahrzeuge bestiegen. Weitere drei Minuten später legte sich ein gigantischer Schatten über das rostrote Land. Wind kam auf, der sich rasch zu Sturmstärke auswuchs, und schließlich senkte sich aus dem wolkenlosen Himmel ein von Blitzen umwaberter Titan herab.
Sarah Cuthbert starrte auf das Furcht einflößende Raumschiff, das vom Himmel über Washington herabschwebte. Da hatten sie die Stadt schon hinter sich gelassen. »Wohin fliehen wir?«, wandte sie sich an Palmer und Almaeida, die mit ihr im Flugzeug saßen. »Dorthin, wo wir in Sicherheit sind - zumindest laut Cronenberg und falls es überhaupt noch irgendwo auf der Erde einen Ort gibt, über den sich dies sagen ließe«, antwortete Palmer. »Cronenberg...« Sie lauschte in sich, um herauszufinden, wie viel Vertrauen sie in eine Aussage Cronenbergs setzte. Dann wandte sie sich an Almaeida. »Etwas Neues von Sadako?« »Die letzte Meldung war, dass China nuklear bestückte Missiles gegen die Schiffe der Fremden auf den Weg gebracht hat. Aber bislang wurde uns nichts von einer Detonation und freiwerdender Strahlung bekannt.« »Ich bin froh«, sagte Palmer, »dass Sie sich doch noch entschlossen haben, sein Vorhaben nicht zu unterstützen. Sich nicht zu beteiligen.« »Was hätten wir gewinnen können?«, erwiderte sie. »Eine atomar verseuchte Welt, die die Fremden vielleicht nicht mehr interessiert hätte, aber auch für uns selbst unbewohnbar geworden wäre?« Sie blickte aus dem Fenster. Die AF-1 flog so bodennah, wie Sarah es noch nie zuvor erlebt hatte, und sie erwartete jeden Moment eine Kollision - oder einen Schuss des Raumschiffs, der alle Hoffnung auf ein Entkommen zunichte gemacht hätte. Die eingehenden Nachrichten verrieten, dass weltweit Äskulap-Schiffe niedergingen. Bevorzugt über den Metropolen, aber auch in völlig unbewohnten Gebieten. An den Polen. Es waren sogar Schiffe beobachtet worden, die im Meer versanken. Sie verteilen sich, dachte Sarah. Sie lassen nichts aus. Ein neues Phänomen ließ die Menschen erbeben. Dort auf der Welt, wo gerade Nacht war, bemerkte man es zuerst: Selbst am wolkenlosen Himmel standen keine Sterne mehr! Was tun sie uns an - und warum?! Die AF-1 flog unbehelligt weiter, und mit jeder Minute schöpfte Sarah neue Zuversicht, wohl noch nicht hier und jetzt sterben zu müssen.
Aber die Zukunft sah düster aus.
Das Askulap-Schiff landete so nah bei der RUBIKON, dass es sie beinahe berührte,
beinahe unter sich zermalmte. Zumindest sah es aus der Entfernung so aus.
»Es scheint eines der Schiffe zu sein, die nicht bei der Erde ankamen«, sagte Cloud.
»Keine Ahnung, wo das andere abgeblieben ist.«
»Wenn sie uns hätten vernichten wollen«, sagte Darcy hoffnungsvoll, »hätten sie es
schon aus der Luft tun können. Vielleicht liegen wir völlig falsch. Vielleicht wollen
sie uns ja gar nicht ans Leder. Unser Plan stinkt. Wir sollten ihn nicht umsetzen. Zur
Hölle, John, wenn das alte Habitat sich nicht wieder hochfahren lässt, sind wir für'n
Arsch!«
Heftig gestikulierend wandte er sich an Scobee, die am Steuer des Marsmobils saß.
»Sagen Sie etwas! Sie sind doch jetzt der Boss!«
»Sind Sie sicher«, verblüffte ihn die GenTec, »dass das noch eine Rolle spielt?«
Darcy schwieg verdutzt, hörte in seiner Verblüffung sogar auf, wild herumzuzappeln.
Scobee und Cloud tauschten Blicke, die jeden, der es bemerkte, vor noch größere
Rätsel stellte.
Seit wann herrschte zwischen den beiden Einverständnis?
Oder mehr noch, Eintracht?
»Irgendeine Vorstellung, woraus das Schiff der Fremden besteht?« Cloud musste
plötzlich schreien, um sich noch verständlich zu machen.
Ein pochendes Geräusch, von draußen kommend, schwoll immer mehr an. Die
Monitore, die die Außenwelt wiedergaben, zeigten, dass die >Blitze< jetzt in immer
rascherer Folge entlang der Spirale huschten. Dröhnendes Pulsieren begleitete den
Vorgang. Die dabei entstehende Erschütterung erreichte selbst die gepanzerte Zelle
des Fahrzeugs, in das die kleine Gruppe sich geflüchtet hatte.
»Ist das nicht völlig egal?« Darcy verlor immer mehr die Selbstbeherrschung. »Wir
schaffen es nicht! Wir schaffen es nicht mal bis zum alten Habitat - und du
Wahnsinniger willst die RUBIKON in die Luft jagen?«
Cloud musste sich eingestehen, dass Darcy nicht völlig Unrecht hatte.
Die Fremden waren schneller da gewesen, als sein improvisierter Plan es vorgesehen
hatte. Selbst wenn sie das Habitat noch erreichten, konnten sie sich dort kaum noch
erfolgreich vor den Außerirdischen verbergen. Wenn sie nicht völlig blind waren,
hatten sie das davoneilende Mobil längst entdeckt und viel
leicht schon im Visier...
In diesem Augenblick zerriss es die RUBIKON.
»John!«
Darcy drehte nun völlig durch. Während immer neue, immer heftigere Detonationen
das Schiff zerrissen, mit dem sie den langen Weg von der Erde hierher gekommen
waren, starrte Cloud auf den Impulsgeber in seiner Hand, mit dem er die vorbereiteten Ladungen hatte fern zünden wollen. Plötzlich wurde es totenstill. Der hämmernde Puls hatte aufgehört, und ein Blick auf die Monitore zeigte, dass auch die Blitze entlang der Hülle des extraterrestrischen Raumschiffs erloschen waren. Clouds Stimme klang plötzlich überlaut in der Fahrzeugkabine - obwohl er fast flüsterte. »Das - war ich nicht.« »Dann können es nur die Fremden gewesen sein«, sagte Scobee. »Womit sich hoffentlich auch für Sie, Darcy, die Frage beantwortet hat, ob uns überhaupt eine Wahl bleibt. Wir müssen zum...« Sie wurde von Resnick unterbrochen. »Da! Da tut sich etwas aul! Ein... Spalt...« In der Tat hatte sich die Hülle des Äskulaps an einer Stelle zu öffnen begonnen. »Wie lange noch bis zum Habitat?«, fragte Cloud, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen. »Eine Minute.« Die Sekunden schleppten sich auf holpriger, halsbrecherischer Fahrt dahin, während die Öffnung im Äskulap größer und größer wurde. »Warum schießen sie uns nicht einfach ab?«, rätselte Jarvis. »Sie wissen, dass wir hier sind - oder zweifelt daran noch jemand?« Kopfschütteln. Eine Antwort auf seine Frage hatte jedoch niemand. Niemand wagte auch nur im Traum zu hoffen, dass man sie lebend in die Finger bekommen wollte. Und wer den Gedanken weiter verfolgte, hätte in diesem Augenblick auch nicht sicher zu sagen vermocht, ob er denn überhaupt lebend in die Gewalt der Unbekannten geraten wollte. »Wir haben keine Chance!«, keuchte Darcy. »Ich wiederhole: Keine - Chance. Cloud wünschte sich, er hätte endlich den Mund gehalten. Die Coolness der GenTecs begann ihm immer sympathischer zu werden. Der Spalt im Askulap hatte offenbar seine Endgröße erreicht. Und während die Menschen von der Erde darauf warteten, dass der unbekannte Feind endlich sein Gesicht zeigte, begann sich entlang der Außenhülle des Raumschiffs erneut ein Blitz aufzubauen - aus unzähligen Einzelblitzen, die entlang der sich windenden >Schlange< huschten. »Sie bereiten den nächsten Schuss vor«, sagte Jarvis, während Scobee sich fast völlig darauf konzentrierte, immer wieder auftauchenden Hindernissen auszuweichen. Der Boden war keineswegs glatt. Überall lagen Felsen im Weg. Überall gab es Risse und Schründe. Das alte Habitat, in dem Clouds Vater und drei weitere Astronauten vor ihrem Verschwinden gelebt hatten, war nur noch Sekunden entfernt, samt aller >Nebengebäude<: die chemische Fabrik, das Treibhaus... Alles wirkte unversehrt, wie in einem Dornröschenschlaf liegend und nur darauf wartend, wieder erweckt zu werden.
Wir hätten nur etwas schneller sein müssen, dachte Cloud, oder die anderen
langsamer. Dann hätte der Plan funktionieren können. Wir hätten die RUBIKON
zerstört. Die Fremden hätten geglaubt, wir wären dabei draufgegangen, und sie
wären wieder abgezogen.
Niemand konnte mit Gewissheit sagen, oh es tatsächlich hätte funktionieren können.
Fakt war, dass es nicht funktioniert hatte.
Etwas wischte über sie hinweg, trieb das Marsmobil weit aus seinem
eingeschlagenen Kurs...
.., und dann stand auch das alte Habitat in Flammen.
Das zuvor wieder laut gewordene Dröhnen, der hämmernde Puls, erstarb aufs Neue.
Scobee bremste das Fahrzeug bis zum völligen Stillstand ab.
Aus, dachte Cloud. Selbst wenn die Fremden jetzt unverrichteter Dinge wieder
abgezogen wären, hätte es keine Oberlebenschance für ihn und die anderen gegeben.
Wie lange reichten die Sauerstoffvorräte ihrer Anzüge?
Im Innern des Äskulap-Schiffes bildete sich ein Glühen, und dann ging ein Ruck
durch das Fahrzeug, in dem die Crew der zerstörten RUBIKON mit ihrem Leben
abschloss.
Ein Ruck, der allen klar machte, dass sich das fremde Schiff nicht etwa geöffnet
hatte, um seine eigene Besatzung ins Freie zu entlassen, sondern lediglich...
... um etwas wie mit einem Supermagneten zu sich hereinzusaugen!
»Wer möchte aussteigen?« Cloud wusste selbst nicht, woher er seinen Galgenhumor noch nahm. Niemand meldete sich. Aber selbst die Mienen der GenTecs drückten Bestürzung aus. Alles war schief gegangen. Das ehrgeizige Projekt, im zweiten Anlauf ein Bein auf den Mars zu bekommen und vielleicht nebenbei sogar das Rätsel um das Verschwinden der ersten Menschen hier zu lösen, musste endgültig als gescheitert betrachtet werden - genau wie die menschliche Zivilisation als Ganzes. Fremde Eroberer waren gekommen, und sie gingen nicht zimperlich vor. Sie hatten, ohne Rücksicht auf mögliche Folgen, Jupiter quasi in einen anderen >Aggregatzustand< versetzt und, auch an der Erde - so viel konnte mit Fug und Recht gesagt werden, auch ohne Details zu kennen - wurde munter von ihnen manipuliert. Mit welchem Ziel? Die Menschen, die Ureinwohner, auszurotten und den Weg frei zu machen für die eigene Kolonisierung? Cloud wusste, dass es sinnlos war, darüber zu spekulieren. Ihr Fahrzeug wurde unerbittlich in das Äskulap-Schiff gezogen, in einem inzwischen atemberaubenden
Tempo, die ihre Geschwindigkeit, mit der sie das alte Habitat zu erreichen versucht hatten, mindestens um das Doppele übertraf. Und dann, schneller als sich der Verstand darauf einstellen konnte, verschwand die vertraut gewordene Umgebung des Mars. Der Äskulap schluckte die Menschen von der Erde. Sie und ihr winziges Fahrzeug verschwanden wie im Bauch eines stählernen Wals.
Scobee spürte die Veränderung als Erste - zumindest war sie die Erste, die es ansprach: »Wir sind... schwerer geworden.« Um einiges sogar. Cloud hatte das Gefühl, binnen einer Sekunde zwanzig Pfund zugelegt zu haben. »Dafür gibt es nur eine Erklärung«, sagte er. »Die hier beherrschen die Erzeugung künstlicher Gravitation... aber wer hätte auch ernsthaft daran gezweifelt? Immerhin haben sie uns offenbar auch mit einer Abart davon eingefangen...« Jarvis sagte, mit Verweis auf die Instrumente, die Daten über die Außenbedingungen lieferten: »Zumindest der Raum, in den sie uns gesperrt haben, ihr Hangar - oder wie ich es nennen soll -, ist völlig luftleer.« »Das wäre unsere Schleuse auch«, erwiderte Resnick, »bis die Flutung mit Atemluft stattgefunden hätte.« »Hier flutet aber niemand.« »Was nicht ist, kann ja noch werden«, mischte sich Darcy ein, dessen käsige Gesichtsfarbe durch den geschlossenen Helm seines Anzugs hindurchleuchtete. »Hölle, vielleicht können wir ein Ticket zur Erde lösen. Vielleicht bringt man uns ohne Umweg dorthin...« Cloud unterdrückte ein mitleidiges Lächeln - und ertappte sich bei der Einsicht, das Darcys Wunschgedanke letztlich nicht phantastischer war als jeder andere. Alles war möglich. Auch dass sie sterben würden. Wer kannte schon die Mentalität der Fremden? Nach menschlichem Ermessen hätten sie die Gruppe nicht erst einfangen müssen, wenn es in ihrer Absicht lag, sie umzubringen. Aber nach außerirdischem Ermessen mochte das überhaupt kein Hinderungsgrund sein. »Vielleicht sind wir ihre Studienobjekte. Vielleicht wollen sie uns erforschen, sezieren...« Darcys Stimme wurde immer leiser, bis er ganz verstummte. »Wenn nicht alles täuscht, stehen ihnen auf der Erde Milliarden Studienobjekte zur Verfügung... nein...« Er zeigte auf die Waffen, die sie bei sich trugen und die sie in aller Schnelle aus der RUBIKON gerettet hatten. »Wir können hier weiter sitzen bleiben, Däumchen drehen und darauf warten, bis sie zu uns kommen, oder...« »Oder?«, fragte Scobee, die sich auffallend zurückhielt und überhaupt keine Anstalten mehr machte, ihre Position als Anführerin durchzusetzen. »... oder wir kommen zu ihnen.«
Nichts und niemand reagierte auf das Öffnen der Luke. Scheinwerfer flammten auf.
Nacheinander entstiegen alle fünf Insassen dem Mobil.
»Sie beobachten uns«, keuchte Darcy. »Ich bin sicher, sie beobachten jeden unserer
Schritte. Sie testen uns.«
Cloud fragte sich, ob Darcys Verhalten noch normal und allein auf die Stresssituation
zurückzuführen war - oder ob bei ihm schon ein ähnlicher Faktor zum Tragen kam,
der bei Seymor letztlich in der Katastrophe und im Suizid geendet hatte.
Die eigenen Gespenster ließen ihn zur Zeit in Ruhe, aber Cloud wusste, dass es nicht
so bleiben würde. Die Auswirkungen der Implantate auf die Psyche ihrer Träger war
von den Verantwortlichen völlig unterschätzt worden.
Scobee übernahm die Spitze. »Hier entlang!«, sagte sie und zeigte mit dem
gebündelten Strahl ihrer Lampe in die Richtung, die sie meinte. »Da scheint ein
Gang zu sein. Unverschlossen.«
Eine Schleuse ohne Trennschotts zum restlichen Schiffsbereich?
Cloud schloss sich Scobee an, ohne Fragen zu stellen. Sie und die beiden anderen
GenTecs waren klar im Vorteil. Der Raum war dunkel, bis auf die mitgebrachten
Lampen brannte kein Licht. Aber die Augen der Klone waren in der Lage, auf
Infrarotsicht >umzuschalten<. Die Stablampen dienten nur der Unterstützung.
Cloud versuchte, sich mit Hilfe seiner Lampe ein Bild von der Umgebung zu
machen. Die Finsternis löste klaustrophobische Gefühle in ihm aus. Ängste, die er an
einem normalen Ort so nicht empfunden hätte.
Ihre Unterhaltung untereinander beschränkte sich auf das Allernötigste. Fast
schweigend durchschritten sie den von Scobec entdeckten Korridor. Hier, wie auch
schon im Hangar, schienen die Wände aus lichtabsorbierendem Material zu bestehen.
Es fiel schwer, überhaupt eine Struktur darin zu erkennen, eine Form. Cloud machte
sich immer wieder bewusst, dass sie sich durch etwas völlig Fremdes bewegten, aber
es verwirrte ihn, dass er das Wenige, das er den Schatten entreißen konnte, nicht in
Worte zu fassen vermochte.
Ein Raum... Ein Gang... Dunkelheit, Kälte, Luftleere...
Er spürte, wie ihm die Situation immer mehr entglitt.
Tot. Mike hat Recht, wir sind doch alle schon so gut wie tot...
Einige Schritte entfernt blieb Scobee stehen.
»Hier ist der Gang zu Ende. Es muss eine Tür sein. Ich...«
Lautlos glitt das Hindernis beiseite.
Licht strömte in den Korridor. Angenehmes, mildes, wunderbares Licht.
»Wie haben Sie das geschafft?«, fragte Cloud, Die Faustwaffe, die er seit Verlassen
des Fahrzeugs nichts mehr losgelassen hatte, noch fester umfassend, rückte er zu ihr
auf.
Der winzige Lautsprecher in seinem Helm übertrug ihre Antwort. »Das... war ich
nicht.«
Cloud spürte einen Anflug von Panik, den er aber im Zaum hielt. »Dann«, erwiderte
er, »sollten wir es als eine Einladung betrachten.«
Die Waffe im Anschlag trat er an ihr vorbei in den gewaltigen, lichterfüllten Raum.
Und hier, abseits der Finsternis, schaffte er es zum ersten Mal, Worte für die
wunderlichen Dinge zu finden, die sich seinen Augen boten.
Zugleich aber entdeckte er auch etwas anderes, was ihn völlig unvorbereitet traf, fast
wie ein Schock...
Es dauerte Sekunden, die ihm wie Stunden erschienen, bis er begriff, was die Bilder
an den Wänden vermittelten.
Wir sind nicht mehr auf dem Mars. Wir sind schon weit draußen im Weltraum...!
Nichts war vom Start zu spüren gewesen. Nicht einmal die leiseste Vibration, die
sich durch die Stiefelsohlen bis in ihre Körper gepflanzt hätte, nicht der leiseste
Andruck!
Er musste um sein Gleichgewicht kämpfen. Das Gefühl, mitten im All zu treiben,
wurde übermächtig.
Schuld daran waren die Wände - beziehungsweise die fehlenden Wände. Oder waren
sie aus Glas? Waren sie nur perfekt durchsichtig?
Nein, begriff er. Sie sind da. Aber es scheint ihre Form von Monitoren zu sein.
Wären sie aus Glas, hätten wir es von draußen bemerkt.
Ein Raum, etwa fünfhundert Quadratmeter groß (eine Schätzung, die angesichts
der Eigenart der Wandbegrenzungen extrem schwer fiel) und in seiner Höhe
überhaupt nicht schätzbar. Weil auch die Decke Sterne zeigte. Den Weltraum.
Woher das Licht kam, das dennoch in der Lage war, den Raum in einem für
Menschen fast idealen Maß zu erhellen, blieb verborgen.
Hinter und neben Cloud drängten sich die anderen in ihren geschlossenen Anzügen,
und ein Blick auf das Ärmeldisplay zeigte, dass sich erstaunlicherweise auch hier
drinnen, in dieser Umgehung, die wie das Herz des Schiffes anmutete, seine Zentrale,
keine Atmosphäre feststellen ließ.
Nur Vakuum.
Und Weltraumkälte.
Gab es gar kein Leben an Bord? Hatten sie es mit einem von künstlicher Intelligenz
gesteuerten Körper zu tun?
Cloud ließ seinen Blick schweifen. Vor ihnen ragten Konturen auf, eine davon an einen riesigen Sitz erinnernd, der mit seiner hohen Rückenlehne zu ihnen wies. Daneben Konsolen. Aufbauten, Steuerelemente, durchaus für eine humanoide Besatzung denkbar.
Aber es gab keine Besatzung.
Waren alle 76 Schiffe wie dieses?
Waren auch die Schiffe. die die Erde angesteuert hatten, leer - oder verbarg sich die Besatzung in anderen Bereichen des Askulaps?
Es musste so sein_
Nur - warum gaben sie den Menschen, ihren Gefangenen, dann einen Raum preis, der zumindest wie eine Kommandozentrale aussah?
Gedanken, die auch die anderen bewegten.
In diesem Augenblick schwang der schwere Sessel im Zentrum des Raumes unvermittelt herum.
Und eine Gestalt stemmte sich in die Höhe.
Das war der Moment, in dem Darcy die Nerven verlor, nach vorn trat - und warnungslos schoss.
Der Fremde überragte Cloud und die anderen fast um das Doppelte - und war auch doppelt so breit. Allein was er war, ließ sich nicht so einfach sagen. Er schien keine Kleidung zu tragen - was angesichts der Umgebungsverhältnisse eigentlich unmöglich war -, und seine >Haut< war marmoriert wie edler Stein; er hatte zwei Arme und zwei säulenartige Beine, aber keinen... Kopf. Jedenfalls keinen, der sich dort befand, wo man ihn suchte. Ein Torso, war Clouds Gedanke - bevor er nicht mehr dazu kam, weiterzudenken. Er handelte nur noch instinktiv, weil Darcy schoss und damit die Weichen in eine Richtung stellte, die niemand so geplant hatte. Die Kugel prallte von der >Haut< des Kolosses ab und sirrte als Querschläger durch den Raum, schlug irgendwo ein. Die Reaktion des Wesens, das in luftleerem, eisig kaltem Raum zu existieren vermochte (ein Roboter, dachte Cloud, es kann nur eine Art Roboter sein!), erfolgte postwendend und absolut kompromisslos. Es hob einen seiner Arme, und erst als es zurück schoss, wurde erkennbar, dass es ebenfalls eine Waffe hielt -- dass diese Waffe gleichsam mit der >Hand< verschmolzen war. Ein rotierender Blitz schlug in Darcy ein. In seine Brust, die davon regelrecht zerfetzt wurde. Er taumelte, fiel und war, noch bevor er den Boden erreichte, bereits tot. Einen anderen Rückschluss ließ die Art der Verletzung gar nicht zu. Durch das Leck im Anzug entwich die Luft fast auf einen. Schlag.
Für den Bruchteil einer Sekunde war Cloud ebenso gelähmt wie alle anderen. Er sah, wie der Koloss auch noch den zweiten Arm hob und auf sie richtete. Dann ging alles rasend schnell. Fast zeitgleich entluden sich die Waffen der GenTecs. Sie schalteten die Automatiken auf Dauerfeuer, und im ersten Moment hatte es den Anschein, als könnten auch sie nicht mehr verrichten als die vereinzelte Kugel aus Darcys Waffe. Doch sie brauchten nur wenige Querschläger, um einen gemeinsamen Punkt zu finden, den sie fortan traktierten. Es folgte intensiver Punktbeschuss, während sich an den Enden der Arme des Kolosses etwas glosend sammelte, das an die Blitze erinnerte, die schon der RUBIKON und dem Habitat der ersten Mission zum Verhängnis geworden waren. Es entlud sich in derselben Sekunde, als etwas Unglaubliches, grausig Faszinierendes geschah. Während sich die Klone zu Boden warfen - wo Cloud bereits Momente vor ihnen Deckung suchend angelangt war -, bildeten sich Risse und Sprünge im Körper ihres Widersachers. Und dann - noch während die Schüsse aus seinen Fäusten über die Gruppe hinwegrasten und im Hintergrund einschlugen - zerbarst der Koloss in völliger Lautlosigkeit in unzählige Splitter.
Ungläubig richtete sich Cloud wieder auf. Ungläubig starrte er zu der Stelle, an der
eben noch der unzerstörbar geglaubte Fremde gestanden hatte.
In dieser Sekunde wurde das Schiff von etwas geschüttelt, und zum ersten Mal
kamen Beharrungskräfte durch, schleuderten die Menschen zu Boden.
Im nächsten Moment war wieder alles ruhig.
Cloud rappelte sich auf und eilte zu Darcy. Eine kurze Untersuchung genügte, um
seine schlimmste Befürchtung zu bestätigen. Wortlos blickte er zu den GenTecs
empor, die ihn umstanden. Ein Nicken genügte.
Scobee legte ihm eine Hand auf die Schulter.
Cloud streifte sie im Aufstehen ab, versuchte aber gleichzeitig durch einen Blick zu
signalisieren, dass ihre Geste angekommen war.
»Was jetzt?«, fragte er.
»Eine berechtigte Frage«, sagte Jarvis, der den Blick auf Darcy vermied.
Resnick kniete neben einem größeren Splitter, der von dem Koloss übrig geblieben
war. »Ich habe so etwas noch nie gesehen«, sagte er. »Es fühlt sich völlig hart an,
dabei bewegte er sich mit solcher Geschmeidigkeit...«
»Es muss eine uns unbekannte Form von Maschine gewesen sein«, sagte Cloud.
»Vielleicht werden wir es nie erfahren. Hoffen wir nur, dass es der Einzige seiner Art
hier an Bord war.«
»Und wenn?«, fragte Scobee, als erneut ein Ruck durch das Schiff ging, der sie in die Knie zwang. »Ich fürchte«, ergriff Jarvis das Wort, »wir haben so oder so die Arschkarte gezogen.« Er zeigte auf eine Stelle in der Wand, die von den Schüssen des Geborstenen getroffen worden waren. Die frei werdende Energie hatte die Transparenz offenbar aufgehoben, gleichzeitig die Verkleidung zerstört. Dahinter waren verwirrende Verflechtungen zu erkennen, die die Wände offenbar wie Adern durchliefen und entfernt an zerstörtes Kabelgestrüpp erinnerten. »Offenbar haben wir irgendetwas zerstört, was dem Schiff nicht gut bekommt. Es... schwächelt, wenn mir der laxe Ausdruck gestattet ist.« »>Nicht gut bekommt< ist die Untertreibung des Jahrhunderts«, sagte Scobee mit veränderter Stimme. »Wie meinen Sie das?« Cloud drehte ihr wieder das Gesicht zu. »Mag sein, dass er. ..« Sie wies auf die Scherben am Boden, »... uns tatsächlich zur Erde schaffen wollte. Aber...« »Aber?« »... das haben wir wohl verdorben.« »Ich verstehe nicht...« Sie zeigte ins All hinaus, das kurzzei tig völlig Clouds Aufmerksamkeit ent rückt war. Er zuckte zusammen. Konnte das Stöhnen nicht zurückhalten, das mit elementarer Macht aus seiner Kehle drängte. Nein, dachte er, auf Erdkurs sind wir nicht. Nicht einmal annähernd. Sie blickten in den gefräßigen Strudel des Wurmlochs. Ihr Schiff raste geradewegs darauf zu!
Erde
»Kannst du noch irgendetwas sehen oder hören?«
»N. .. nein...«, stammelte sie. »Da ist... nichts mehr... Der Kontakt ist... abgerissen.«
»Dann war's das also«, sagte der Mann, der sie seit Stunden damit quälte, ihm jedes
Detail zu schildern, das sie über GT-Scobees Sinne wahrnahm - als wären es ihre
eigenen Augen und Ohren.
Auch wenn es ihr niemand gesagt hatte, ahnte sie. dass auch Resnick und Jarvis
traktiert wurden.
»Dann sind sie tot oder... an einem Ort, der zu weit weg ist. um noch etwas zu
empfangen«, ergänzte Nennt-mich-Reuben.
Er war so dumm Er dachte, die Verbindung sei an Entfernungen gebunden war.
»Sind tot«, stimmte Scobee flüsternd zu. »Müssen tot sein... Spür's...«
Der Mann sagte nichts mehr, verließ den Raum. Kurz darauf kam jemand, der Scobee zu den anderen brachte. Auch in deren Blicken wucherte ein Grauen, das verriet, dass sie durch die gleiche Hölle gegangen waren wie Scobee.
»Alle tot«, murmelte Resnick. »Alle.«
»Aber mussten nicht leiden«, ergänzte Jarvis. »Kein Schmerz....
Über Scobees Wangen rollten Tränen. Ein paar davon fanden den Weg in ihre Mundwinkel, und sie konnte schmecken, wie salzig sie waren.
Sie hatte jemanden verloren, die ihr wie eine Schwester gewesen war.
Und irgendwie hatte sie das Gefühl, selbst gestorben zu sein - dort draußen in dem dunklen, schrecklichen Schlund...
Es war, als würde alles Denken unter dem Einfluss der Singularität stocken,
gerinnen, gefrieren.
Das Schiff durchstieß eine Grenze, hinter der eine psychedelische, vollkommen
aberwitzige Welt wartete, bunter und grotesker kaum vorstellbar.
Aber auch diese Phase dauerte nur.. Sekunden? Minuten?
Cloud merkte, dass er keinerlei verlässliches Zeitgefühl mehr besaß.
Vor ihnen schien sich ein Tunnel in die Unendlichkeit zu öffnen. Jenseits seiner
Wände schillerten blasenförmige Gebilde, erfüllt vom Licht unendlich vieler Sterne.
Es war, als gleite das Schiff durch eine Sphäre, die außerhalb des Raumes
angesiedelt war, der es entstammte. Diese >Umgehung< ermöglichte es, einen Bogen
zu schlagen, eine Brücke zu spannen...
... die an anderer Stelle schließlich wieder in das zuvor verlassene Kontinuum mit all
seinen physikalischen Zwängen und Beschränkungen zurückführte...
»Ich fasse es nicht«, flüsterte Cloud, der wie aus einem beklemmenden Traum erwachte. »Wie können wir das überlebt haben?« »Die andere Frage ist«, meldete sich Scobee aus dem Helmfunk, »ob es uns etwas nützt, dass wir es geschafft haben.« Erneut wies sie dorthin, wo kein Hindernis den Blick selbst in die tiefsten Tiefen des Weltraums zu trüben schien. Unweit spalteten Blitze das All. Eine Weile ließen die Entführten das Szenario auf sich wirken. Schließlich fragte Jarvis: »Zweifelt irgendjemand daran, dass wir uns inmitten eines Schlachtengetümmels befinden?« Die Frage, wo sie sich befanden, stellte niemand. Irgendwie war jedem klar - auch wenn es außerhalb des Verständnishorizonts lag -, dass sie das heimatliche
Sonnensystem verlassen hatten. Auf dem umgekehrten Weg, den die Invasoren
genommen hatten.
Die Invasoren.
Kämpften sie dort in der Ferne? Und wenn ja, gegen wen? Hatten auch sie Feinde;
Feinde, mächtig genug, um ihnen auf gleicher Stufe der Entwicklungsleiter - oder
sogar noch darüber - die Stirn zu bieten?
»Ich wünschte, wir könnten das Geschehen etwas näher heranholen. Es ist fast nichts
zu sehen«, haderte Resnick mit den Umständen.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Cloud eine Bewegung. Sofort stieß er einen
Warnruf aus und brachte die eigene Waffe in Anschlag.
»Da ist nichts«, beruhigte ihn Scobee wenig später - als auch ihm klar wurde, dass er
sich getäuscht hatte. »Was dachten Sie denn zu sehen?
»Ich... weiß es nicht. Es war mehr ein - Schemen...«
In diesem Moment geschah etwas Merkwürdiges.
Resnicks Wunsch erfüllte sich mit leichter Verspätung und ohne dass erkennbar
geworden wäre, wodurch.
Die Bilder an den Wänden veränderten sich. Es sah aus, als fahre eine Kamera näher
an das Geschehen heran. So nah, dass einer der fernen, blitzenden Punkte zu einem
Raumschiff anwuchs, einer waffenstarrenden, fliegenden Festung, aus der sich
immer wieder grelle Strahlbahnen lösten, um ihr Ziel zu finden.
Cloud spürte, wie sein Mund trocken wurde, regelrecht ausdörrte. Er starrte auf das
wie bestellt erschienene Bild, das etwas zeigte, womit niemand hatte rechnen
können.
»Heh!«, rief Scobee. »Was soll das? Wer verscheißert uns hier?!«
So flapsig es sich anhörte, es traf den Kern der Sache. Dennoch war niemand in der
Lage, ihr zu antworten. Aller Blicke klebten förmlich an der Hülle des Giganten -
einer von vielen, die in das Raumgefecht verstrickt waren.
Ein Schiff, das so überhaupt keinen Sinn machte.
Denn es sah nicht nur, was seine Form anging, aus, als wäre es von Menschengeist
entworfen worden, auf seiner Hülle prangten auch Zeichen, wie sie aller
Wahrscheinlichkeit nach auf keinem anderen Planeten der Galaxis zu finden waren.
Cloud merkte nicht, dass seine Lippen stumm die Silben formten, die er gerade las.
Den Namen einer irdischen Stadt. PEKING.
Epilog Zuerst glaubte sie, es sei ein Traum.
Sie hatte sich hingelegt, auf eine Pritsche in einer winzigen Kammer tief unter der
Erde.
Es war dunkel, aber plötzlich wurde es hell.
Und plötzlich war er wieder... da. Der einzigartige Kontakt.
»O mein Gott!«, rann es über ihre Lippen.
Es passierte.
Sie wusste nicht, wie, und sie wusste nicht, warum. Aber sie träumte nicht; sie schlief
nicht einmal. Ihr Geist hatte nur die finstere kleine Kammer verlassen und befand
sich nun wieder dort, wo er gewesen war, als der Kontakt abgerissen war.
Sie hörte Stimmen, die sie aus Millionen heraus erkannt hätte.
Cloud... Resnick... Jarvis... Und sich selbst... Scobee.
Ja, in diesem Moment war sie wieder GT-Scobee, nicht mehr das kleine Mädchen im
Körper einer erwachsenen Frau.
Sie hörte sich rufen: »Heh! Was soll das? Wer verscheißert uns hier?!«
Und sie sah.
Zitterte wie Espenlaub, aber hörte nicht auf zu sehen.
Das war der endgültige Beweis, dass ihre Verbindung nicht an Entfernung gebunden
war.
Aber die Wahrheit... die ganze, furchtbare Wahrheit ahnte auch das Mädchen auf der
Erde in diesem Augenblick noch nicht...
ENDE Sie lasen einen Roman mit der Bastei Zinne. Wo gute Unterhaltung zu Hause ist. Sie finden uns auch im Internet: unter http//www.bastei.de. Hier können Sie aktuelle Informationen zu unseren Serien und Reihen abrufen, mit anderen Lesern in Kontakt treten, an Preisausschreiben und Wettbewerben teilnehmen oder in Fan-Shops stöbern. Schauen Sie mal rein - es lohnt sich!